Die Reise des schlafenden Gottes Im 27. Jahrhundert wird die TELLUS, das erste mit dem überlichtschnellen Null-Inertia-...
12 downloads
872 Views
899KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Reise des schlafenden Gottes Im 27. Jahrhundert wird die TELLUS, das erste mit dem überlichtschnellen Null-Inertia-Antrieb ausgerüstete Forschungsschiff der Erde, in den Weltraum geschickt. Die mehr als tausend Mann zählende Besatzung soll die benachbarte Milchstraße erforschen und die erste Phase des Gorson-Plans in Angriff nehmen, der die Vermessung des Universums zum Ziel hat. Doch schon nach kurzer Zeit sieht sich die TELLUSExpedition unerwarteten Gefahren ausgesetzt, Chester Clayton King, ein Mutant mit überragenden PsiFähigkeiten, der im Kälteschlaf an Bord des Schiffes liegt, scheint der einzige zu sein, der die TELLUS und ihre Crew vor der drohenden Vernichtung bewahren kann.
TTB 343
Jesco von Puttkamer
Der schlafende Gott
ERICH PABEL VERLAG KG · RASTATT/BADEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
TERRA-Taschenbuch erscheint monatlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Deutsche Erstausgabe der erweiterten Neufassung von DIE REISE DES SCHLAFENDEN GOTTES Copyright © 1959 und 1981 by Jesco von Puttkamer Titelbild: Franco Storchi Redaktion: Günter M. Schelwokat Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Verkaufspreis inklusive gesetzliche Mehrwertsteuer Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden: der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300, A-5081 Anif Einzel-Bestellungen sind zu richten an: PV PUBLIC VERLAG GmbH, Postfach 51 03 31, 7500 Karlsruhe 51 Lieferung erfolgt bei Vorkasse auf Postscheckkonto 85 234-751 Karlsruhe oder per Nachnahme zum Verkaufspreis plus Porto- und Verpackungsanteil. Abonnement-Bestellungen sind zu richten an: PV PUBLIC VERLAG GmbH, Postfach 51 03 31, 7500 Karlsruhe 51 Lieferung erfolgt zum Verkaufspreis plus ortsüblicher Zustellgebühr. Printed in Germany September 1981
1. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, aber die Schweißtropfen dort waren nur imaginär. Er sog die Lungen prallvoll, verhielt die Luft für einen Moment und atmete dann langsam aus, im Bemühen, seinen AlphaRhythmus unter Kontrolle zu bekommen. Dabei bestand eigentlich kein Grund zur Aufregung. Douglas Matchett blickte zum wiederholten Mal über die gestaffelten Anzeigeskalen, die ihn über den Zustand der Tankanlagen informierten. Nur widerstrebend verließ ihn das beklemmende Gefühl, einer drohenden Katastrophe. Blödsinn, dachte er ärgerlich. Alles war in bester Ordnung. Der Tankmechanismus hatte unter dem kürzlich erfolgten Start nicht im geringsten gelitten. Zwar befand sich das Schiff noch immer in seiner Beschleunigungsphase, doch besaß es dank der KingZwillinge den neuen Null-Inertia-Antrieb, der Geschwindigkeiten gestattete, die weit über der des Lichtes lagen, und der nicht nur die Schiffszelle selbst beschleunigte oder abbremste, sondern auch ihren gesamten Inhalt, so daß die Insassen von den üblichen unangenehmen Begleiterscheinungen einer Geschwindigkeitsänderung verschont bleiben. Matchett strich sich eine widerspenstige schwarze Haarlocke aus der Stirn und erhob sich. Er wandte den Blick von den Instrumenten ab und sah nachdenklich auf den Wandbildschirm seines Büros, der den vor dem Schiffsbug liegenden Raumsektor zeigte. Das Expeditionsschiff TELLUS hatte das irdische
Sonnensystem bereits weit hinter sich gelassen und raste nun mit stetig steigender Geschwindigkeit durch den interstellaren Raum der Milchstraße. Wie ferne Stecknadelköpfe von unendlicher Brillanz leuchteten die Sterne, aber sie waren bereits weniger dicht gesät, als Stunden zuvor. Die TELLUS näherte sich zweifellos bereits den Randgebieten der scheibenförmigen Galaxis. So ungeheuer groß das Expeditionsschiff im irdischen Sinn auch sein mochte, so winzig und unbedeutend erschien es Matchett jetzt angesichts der buchstäblich unendlichen Weite und Tiefe des Raums. Wieder einmal hatte der Mensch in dem ihm angeborenen frevelhaften Übermut gewagt, sich mit den gigantischen Urkräften und Distanzen der Natur, des Universums, zu messen – diesmal allerdings noch in weitaus größerem Umfang, als in den vergangenen Jahrhunderten. Die Expedition an Bord der TELLUS beabsichtigte weder die Planeten des Sonnensystems zu erforschen, noch die der Milchstraße. Diese Unternehmungen gehörten einem vergangenen Jahrhundert an. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sollte eine andere Galaxis erschlossen werden. Die TELLUS, die mit weit vorausreichenden Energieschutzschirmen und vieltausendfacher Lichtgeschwindigkeit durch das All raste, schickte sich an, den unermeßlichen Abgrund zu überspringen, der zwischen der Heimatgalaxis und dem nächsten Milchstraßennebel gähnte. Matchett konnte seine Erregung nicht verleugnen, doch sein Lächeln war freudlos. Man hätte das Superraumschiff vielleicht besser HYBRIS taufen sollen, statt TELLUS, dachte er. Der Name hätte den Umständen eher entsprochen.
An Bord des Schiffes befanden sich etwas über tausend Menschen, die in jahrelanger, mühsamer Arbeit aus der Elite der Menschheit ausgewählt worden waren. Rund fünfhundert von ihnen waren Wissenschaftler, die alle bisher anerkannten Wissensgebiete vertraten. Etwa dreihundert Bordschutzsoldaten mit ihren Waffen und Kampfmaschinen verkörperten die Verteidigungsstreitmacht der Expedition für den Fall einer kriegerischen Begegnung. Sie unterstanden dem Oberbefehl von Oberst Dragomir Tchekhov, der gleichzeitig den Rang des Schiffskapitäns bekleidete. Sein technisches Personal, dem der eigentliche tägliche Betrieb und Unterhalt des Schiffes oblag, zählte rund hundertfünfzig Mannschaften, und den Rest bildete die Verwaltungsabteilung mit ihren Schreibstubenmaaten, Büroangestellten, Druckern, Postangestellten, Bibliotheksverwaltern, Archivaren und Computergasten. Es war zweifellos das gigantischste Unterfangen, das die Menschheit jemals gewagt hatte. Und den wichtigsten Posten an Bord bekleidete weder der Captain noch der Direktor des wissenschaftlichen Teams. Jedem von ihnen unterstanden zwar Hunderte von Männern und Frauen, aber sie waren letzten Endes ersetzlich. Douglas Matchett war der wichtigste Mann an Bord. Er trug die Verantwortung für Chester Clayton King. Und es gab niemanden in der TELLUS, der ihn hätte ersetzen können, denn selbst den fünf Technikern seiner Spezialabteilung ermangelte die langjährige, komplizierte Ausbildung Matchetts, die ihn befähigte, die nötigen logischen und psychologischen Voraussetzungen vorzuweisen, die der Umgang mit dem schlafenden Gott
erforderte. Matchett war ein hochgewachsener, schlanker Mann von dreiunddreißig Jahren, der dem Gegenstand seiner ununterbrochenen Sorge mit wissenschaftlicher Nüchternheit gegenüberstand – daran konnte kein Zweifel bestehen. Und doch vermochte er nicht zu verhindern, daß ihn hin und wieder eine lähmende Scheu vor diesem schlafenden Superwesen beschlich, das von den ignoranten Menschenmassen der Erde zumindest als Halbgott angesehen wurde. Es war das 27. Jahrhundert n. Chr. auf der Erde, als unter den Menschen zwei Persönlichkeiten von – gelinde gesagt – überdurchschnittlichen Fähigkeiten lebten. Die Erde hatte niemals zuvor ihresgleichen gesehen. Vermutlich würde sie auch bis in alle Zukunft niemals wieder ein ähnlich kostbares Geschenk der Natur erhalten. Aber es waren keine Menschen. Und sie lebten nicht im üblichen Sinn. Sie schliefen. Douglas Matchett lächelte freudlos. Seit den Tagen seiner Studentenzeit war er dazu ausersehen gewesen, eines Tages sein ganzes Leben auf ihre Existenz auszurichten. Und jetzt war es soweit. Von nun an bis zu seinem Tod durfte er nicht mehr von der Seite der schlafenden Götter weichen. Des schlafenden Gottes, verbesserte er sich. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der letzten 200 Jahre waren die beiden Superwesen getrennt worden. Ein Wagnis, zugegeben. Aber wenn man bedachte, daß eintausend Menschenleben und Maschinen einer Expedition im Wert von über zwei Billionen Zahlungseinheiten auf dem Spiel standen ... Matchett zweifelte nicht daran, daß das Risiko unter
diesen Umständen eingegangen werden mußte. Allein die Möglichkeit, eine weitere Super-Zivilisation in den Tiefen des Universums zu entdecken, überwog alle Opfer, die die Menschheit bei der Ausstattung dieser Expedition hatte bringen müssen. Aber die Verantwortung, die das Wissenschaftlerkollegium auf seine Schultern abgewälzt hatte, als es ihm – Douglas Matchett – die Pflege des schlafenden Gottes anvertraute, schien nichtsdestoweniger eine übermenschliche Bürde. Die »schlafenden Götter«, so wurden die beiden Wesen nicht nur im Volksmund genannt, sondern auch von den Boulevardblättern der irdischen Presse und den Kommentaren der interplanetaren Videokommunikationsnetze. Der Ausdruck hatte sich schon vor zwei Jahrhunderten eingebürgert, und selbst Matchett, der mit allen Problemen vertraut war, die sich mit den beiden schlafenden Phänomenen befaßten, konnte nicht verhindern, daß sich dieser Ausdruck in seine Gedanken einschlich. In früheren Jahrhunderten hätte man ihn einen Götzendiener genannt, der sich mit mythischen Tempelriten befaßte. Heute war er nichts anderes, als ein speziell ausgebildeter Psychotechniker, dem die Pflege einer schlafenden Monstrosität auferlegt worden war. Wahrscheinlich befand sich an Bord der TELLUS kein Mensch, der sich so einsam fühlte, wie er. Seit dem Start des Expeditionsschiffs, der nun schon einige Monate zurücklag, hatte er sich in zunehmendem Maß mit der Verantwortung gequält, die auf ihm lastete. Die stete Sorge um die Sicherheit des schlafenden Mutanten hatte ihn sogar in seinen Schlaf verfolgt und seine Träume vergiftet. Es wurde höchste Zeit, daß er sich emotionell auf seinen
Arbeitsbereich einstellte und sich der Last auf seinen Schultern anpaßte. Mit nachdenklich gerunzelter Stirn trat er auf den langen, schmalen Schiffskorridor aus blitzendem Metall hinaus. Die Tür glitt hinter ihm zu, und er schritt zum nächstliegenden Kasino. Einige Wissenschaftler aus benachbarten Abteilungen nickten ihm freundlich zu, als er sich an einem Tisch niederließ und mit Hilfe der in der Tischplatte eingelassenen Druckknöpfe ein kleines Mahl zusammenstellte. An einem entfernten Tisch erhob sich ein Mann in einem weißen Kittel und kam herüber. Matchett kannte ihn. Es war Parkinson, ein sehr fähiger Forscher aus der BiologieAbteilung. »Darf ich einen Augenblick Platz nehmen?« fragte er. Als er sich gesetzt hatte, runzelte er die Stirn und fuhr gedankenvoll fort: »Wissen Sie, Matchett, man erzählt sich in letzter Zeit so verschiedene Dinge. Ihre Tätigkeit an Bord hat unter unseren Technikern einige Rätselraterei verursacht.« Matchett warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. »Meine Tätigkeit? Nun, was gibt es denn da herumzurätseln? Sie wissen doch, Park, daß ich z.b.V. gestellt bin.« Parkinson nickte. »Ja, so steht es in den offiziellen Listen. Es erscheint nur eigenartig, daß es an Bord noch zwei weitere zbV-Männer gibt. Ein bißchen viel, nicht wahr?« Matchett zuckte die Achseln. »Bei einer Besatzung von tausend Mann? Wohl kaum. Doch was zum Teufel kann ich dafür?« Parkinson grinste. »Nun, wir sind alle nicht von gestern,
und ich kann mir denken, daß es sich hier um eine Art Staatsgeheimnis handelt. Ich beabsichtige auch nicht im geringsten, auf Ihrem Gebiet herumzuschnüffeln. Wenn die Expeditionsleitung etwas vor uns geheimhält, wird sie schon ihren Grund dafür haben. Ich wollte Sie nur von den Gerüchten in Kenntnis setzen, die unter den Technikern kursieren, Doug.« »Gerüchte?« fragte Matchett interessiert. Vor ihm öffnete sich die Tischplatte, und das von ihm beim Küchencomputer bestellte Mahl glitt auf einem kleinen Tablett heraus. »Was erzählt man sich denn so?« »Irgend jemand hat Ihre Tätigkeit mit jener hermetisch versiegelten Sektion im Kielraum des Schiffes auf dem ›Off Limits‹-Deck in Verbindung gebracht. Ich glaube, Sie wurden einmal dabei beobachtet, wie Sie diese Abteilung betraten, obwohl sie für gewöhnliche Sterbliche praktisch tabu ist. Wahrscheinlich hat einer der Wachposten geschwatzt. Man vermutet ... nun«, – er lächelte und zuckte verlegen die Schultern – »eine verrückte Möglichkeit, natürlich, aber den Gerüchten zufolge soll sich einer der schlafenden Götter an Bord befinden.« Matchett kaute eifrig, den Mund zu voll, um sofort zu erwidern. Jedenfalls wollte er es so erscheinen lassen. »Tatsächlich eine verrückte Möglichkeit«, nickte er dann. »Fast zu verrückt, um wahr zu sein. Haben Sie schon einen meiner Leute gefragt?« Parkinson grinste. »Ich nicht, aber jemand anderes. Eine unserer attraktiveren Damen. Ohne großen Erfolg jedoch. Ihre Leute scheinen ausnahmslos mit Stummheit geschlagen zu sein, die Bedauernswerten!« Matchett war abrupt ernst. »Hören Sie, Park. Mir gefällt das nicht. Es gibt im irdischen Sonnensystem 50 Milliarden Menschen,
aber kein einziger von ihnen ist für die Menschheit so unermeßlich wichtig, wie die beiden schlafenden Götter. Natürlich ist es eine verrückte Vorstellung, eines dieser buchstäblich unersetzlichen Wesen den Gefahren einer intergalaktischen Expedition auszusetzen, aber möglich wäre es angesichts der Größe dieser Aufgabe schon. Jedenfalls kann man annehmen, daß die Geheimhaltungsvorschriften der Expeditionsleitung einen triftigen Grund haben, wenn sie sich tatsächlich mit der Anwesenheit eines der beiden Wesen befassen. Sie können versichert sein, Park, daß die Expeditionsleitung das Geheimnis lüften wird, wenn sie den richtigen Zeitpunkt für gekommen erachtet, aber vorher verurteile ich es aufs schärfste, wenn man die Herumspioniererei nicht im Keim erstickt. Sollte nämlich tatsächlich einer der schlafenden Götter an Bord weilen, dann steht zu viel auf dem Spiel, als daß man versuchen dürfte, das Geheimnis auf eigene Faust zu lüften.« Er schloß ernst: »Jedenfalls bin ich im Augenblick z.b.V. gestellt, und bis auf weiteres müssen sich Ihre Freunde mit Latrinenparolen zufriedengeben. Sagen wir, jener abgeriegelte Sektor enthält meinen Harem, wenn Sie wollen.« Parkinson, der während Matchetts Rede mehrmals nachdenklich genickt hatte, lächelte jetzt belustigt. »Gut, Doug«, sagte er. »Ich werde das Gerücht verbreiten, daß es sich tatsächlich um nichts anderes handelt, als um Ihren Harem. Wozu der allerdings gut sein soll – in Anbetracht der 250 weiblichen Expeditionsmitglieder an Bord –, weiß ich nicht.« Jetzt grinste auch Matchett. Er beendete sein Mahl, schob die Platte in den Schlitz des Tischmechanismus und
lehnte sich zurück. »Wir sind nun schon seit einigen Monaten unterwegs, und wenn ich die Bildschirme richtig interpretiere, befinden wir uns bereits in den Randgebieten unserer Milchstraße. Damit rückt der Augenblick heran, in dem der Kapitän seine versiegelten Orders öffnet. Zweifellos wird er Sie dann auch über meinen Harem aufklären.« Er erhob sich mit einem verabschiedenden Nicken. Als er in seine Abteilung zurückkam, fand er im Ausgabedrucker des Computer-Bordnetzes eine offizielle Mitteilung des Direktors vor, mit der die erste Generalversammlung an Bord der TELLUS seit ihrem Start anberaumt wurde. Mit Ausnahme der diensthabenden Mannschaften wurde das gesamte Schiffspersonal aufgefordert, sich um 14.00 Uhr Schiffszeit zu einer Besprechung auf der Kommandobrücke des Schiffs einzufinden. Douglas Matchett grinste, als er den Textstreifen zerknüllte und in den Desintegratorschlitz warf. Der Augenblick war schneller gekommen, als er gedacht hatte.
2. Der linke und rechte Flügel des Saales war als Auditorium ausgebildet. Bequeme Sessel erstreckten sich dort in langen Reihen, und sie füllten sich jetzt rasch, als die Wissenschaftler, Techniker, Bordschutzsoldaten und Angestellten des Schiffes durch die breiten Portale auf beiden Seiten hereinströmten. Matchetts Spezialausweis räumte ihm das Recht ein, in der vordersten Sesselreihe Platz zu nehmen, und er tat dies, ohne einen Gedanken darüber zu verlieren. Die Kommandobrücke der TELLUS war ein titanenhafter Saal, der von Metall blitzte. Seine Wände wurden durch riesige Bildschirme gebildet, die sich auch über die gewölbte Decke der Halle hinzogen und den gesamten Weltraum im Umkreis von 360 Grad zeigten. Die lange, massive Bank der Kontrollpulte befand sich am Fuß der weitgekurvten Vorderwand, dort, wo die Bildschirme in den teppichbelegten Fußboden der Zentrale übergingen. Die Rückwand des Saales bestand aus undurchbrochenem Metall: das Hauptdruckschott. Der Fußboden stieg in breiten Stufen zu ihr auf. Die Stufen waren halbkreisförmig geschwungen, und an ihrem höchsten Punkt, im Zentrum des Halbkreises, erhob sich dicht an der Rückwand ein gesondertes Podest, auf dem der mächtige Sessel des Piloten stand. Die breiten, kantigen Armstützen des Sessels enthielten alle Kontrollorgane, die zur Steuerung des Schiffes – über den Zentralcomputer – erforderlich waren. Der Pilot saß reglos auf seinem Platz, und seine Augen lagen aufmerksam auf den riesigen Bildschirmen, die sich
dreißig Meter unter und vor ihm befanden. Etwa zehn Meter vor ihm hing von der hochgewölbten Decke ein seltsames Gebilde aus Dutzenden von verstellbaren Spiegeln herunter, und Matchett wußte, daß sein Zweck darin bestand, dem Piloten den Blick auf sämtliche Bildschirme zur gleichen Zeit zu gestatten und ihm eine computergesteuerte Hologramm-Wiedergabe der Umgebung des Schiffes zu liefern. Matchett warf einen Blick auf die Bildschirme und stellte fest, daß das Expeditionsschiff jetzt im Begriff stand, in den schwarzen, leeren Raum zwischen den Spiralnebeln einzutreten. Über fast zwei Millionen Lichtjahre hinweg erstreckte sich das bodenlose Nichts, und er wußte, daß die TELLUS noch zwanzig Monate benötigen würde, um jenes ferne, schwache Nebelgebilde zu erreichen, das so verschwindend klein erschien und doch ein eigenes Milchstraßensystem von hunderttausend Lichtjahre Durchmesser im Sternbild Andromeda darstellte. Obwohl es mit Hilfe des Antriebs theoretisch möglich war, die Massenträgheit des Schiffes und seines Inhalts völlig auszuschalten und eine unendlich große Beschleunigung mit dem Quantenresonanzfeld zu erzielen, hatte es sich jedoch gezeigt, daß es sowohl dem Befinden des menschlichen Körpers als auch der fehlerfreien Funktion der Schiffsinstrumente abträglich war, wenn die Massenträgheit vollständig aufgehoben wurde. Matchett hatte das Prinzip der Antigravstation nicht ohne weiteres begriffen, als es nach jahrhundertlangen Forschungen verhältnismäßig kurze Zeit vor Kiellegung der TELLUS ins Stadium der praktischen Anwendbarkeit gereift war.
Die träge Masse eines Körpers drückt sich darin aus, daß er jedweder Veränderung seines Bewegungszustands einen mehr oder minder großen Widerstand entgegensetzt. Sie ist eine Funktion sowohl der Masse des Körpers als auch der ihm mitgeteilten Beschleunigung. Schon in der Chemie der Atomkerne hatte sich nach der speziellen Relativitätstheorie gezeigt, daß der alte Lavoisiersche Satz von der Erhaltung der Masse nur noch beschränkt gültig war. Jede Energieänderung eines Körpers war nach den neuen Erkenntnissen mit einer Massenänderung verbunden, die sich zuerst im sogenannten Massendefekt zusammengetretener Atome zeigte. Die spätere Entwicklung der Feldtheorie lieferte ferner ein Modell dafür, daß auch der Feldenergie eines geladenen Körpers eine träge Masse zu kommt, und als dies bekannt geworden war, stürzten sich schon die Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts auf dieses Gebiet, mit dem Ziel vor Augen, die Prinzipien der Einheitlichen Feldtheorie zu einer praktisch anwendbaren Antigravitation auszuarbeiten. Die Forschungen nahmen weitaus mehr Zeit in Anspruch, als ursprünglich angenommen worden war. Die Radioastronomie lieferte neue Ansätze, vor allem durch die Entdeckung gewaltiger kosmologischer Phänomene im Universum, die man Quasare, Radiogalaxien und Schwarze Löcher nannte. Die Erkenntnisbarriere bestand zunächst darin, daß man nicht einsah, daß die Brücke zum Mikrokosmos der Quantenphysik über den Makrokosmos dieser Supermassen führte. Erst im 26. Jahrhundert gelang es den Feldtheoretikern, mit Hilfe der King-Zwillinge, die träge Masse eines Körpers fast völlig zu neutralisieren und auszuschalten. Die neue Technologie der Trägheitskompensatoren, heute an Bord jedes Raumschiffs
zu Hause, war damit geboren. Und dann dauerte es nicht mehr lange, bis der erste NullInertia-Antrieb auf den Reißbrettern der Konstrukteure entstand. Ein Körper, der keine Trägheitsmasse mehr besaß – scheinbar, jedenfalls –, konnte innerhalb einer Millionstelsekunde vom Ruhezustand auf eine Geschwindigkeit beschleunigt werden, die unendlich höher war, als die des Lichtes. Bewerkstelligt wurde dies durch das quantenchromodynamische Abstimmfeld, das auf die Quantumfluktuationen des Raumes einwirkte und ihre statistische Verteilung in Resonanz brachte. In Anlehnung an das Prinzip des Laser oder Maser, die mit elektromagnetischen Wellen arbeiteten, hatte man dem neuen Verfahren den Namen Graser gegeben, für gravitation amplification by stimulated emission of radiation. Die Strahlung war das Resonanzfeld aus Schwerkraftwellen, und der Effekt der Amplifikation war ein örtliches Aufsteilen einer Welle der Raumstruktur, eine lokale »Raumkrümmung«, vor der das Schiff wie ein Surfbrett dahinglitt. Matchett blickte auf die Vorwärtsbildschirme. Es war so einfach. Der Weltraum war reine Geometrie. Die Geometrie bestimmte das Verhalten der Materie, und Materie bestimmte die Geometrie. Der Raum befahl der bewegten Masse, wie sie sich zu bewegen hatte, und die Masse formte den Raum. Was in Erscheinung trat, hatte den Anschein einer »Kraft«, die der Mensch »Gravitation« genannt hatte. Entsprechend der sich ewig und dynamisch verändernden Geometrie differierten die Gravitationspotentiale im Kosmos. Lokale Ansammlungen elektromagnetischer Strahlung oder Gravitationsstrahlung (oder beider), die durch die eigene Gravitationskraft
zusammengehalten wurden, kannte man als Geonen. Ein Geon bewegte sich als Ganzes. Es übte Gravitationskräfte auf andere Massen aus. Aber es bestand aus leerem gekrümmten Raum und weiter nichts. Das Schiff benützte die Gradienten der Raumkrümmung und bezog seine Fortbewegung daraus: ein »Partikel« aus purer Gravitationsenergie, das Masse besaß, aber keine Trägheit, das auf andere Gravitationsfelder reagierte, aber auch selber auf sie durch das Graser-Feld Kraft ausübte und die Geometrie des Raums »verschob«. Der Mensch hatte endlich den Antriebsmotor gefunden, der den unermeßlichen Weiten des Universums gewachsen war. So raste das Expeditionsschiff TELLUS nun mit einer Geschwindigkeit, die bereits hunderttausendmal die des Lichtes übertraf und noch stetig wuchs, durch den Raum. Da sich das Schiff in seiner eigenen »Weltblase« fast völlig im außerkosmischen Superraum befand und seine gigantischen Sichtplatten nur »Abbilder« des Weltraums zeigten, wobei die Computer die lichtverzerrenden Effekte der hohen Geschwindigkeit automatisch kompensierten, blieb die Navigation auf Sicht in diesen Größenordnungen noch unbehindert. Obwohl eine unendlich hohe Beschleunigung theoretisch natürlich möglich war, legte die Energiequelle des Schiffs – Materie/AntimaterieAnnihilierung – einen Riegel vor, so unvorstellbar groß sie auch war. Matchett war sich jedoch bewußt, daß die erzielte Beschleunigung alles übertraf, was im bisherigen physikalischen Weltbild jemals Platz gehabt hatte. Er fühlte, daß ihm jemand von hinten auf die Schulter klopfte. Als er sich umwandte, erkannte er Ronald Sears, einen Wissenschaftler aus der Unterabteilung Zoologie, die der Abteilung Biologie unterstand.
»Hallo, Doug«, grinste er und blinzelte vertraulich. »Stimmt es, daß Sie privatim einige Mädchen in der abgeriegelten Sektion im Kielraum gefangenhalten? Der alte Parkinson behauptet es steif und fest.« Matchett, der sofort erkannte, daß die Worte nur als Scherz gedacht waren, bemühte sich, ein ernstes Gesicht zur Schau zu tragen. Eine blonde Frau, die drei Sitze weiter entfernt saß, verzog angewidert das Gesicht, und Matchett warf ihr aus den Augenwinkeln einen um Verzeihung bittenden Blick zu. Es war Susan Stanford, eine Sonnenphysikerin. Ringsum lachten Männer, denen die Heimlichtuerei um die verschlossene Sektion ebenfalls schon aufgefallen sein mußte. »Tja, Ron, so ganz im Unrecht ist Parkinson nicht«, meinte Matchett. Ein anderer Biologe rief lachend dazwischen: »Handelt es sich etwa um ein Experiment in der Vererbungsforschung?« Eine plötzliche Bewegungswelle, die über die Köpfe der sitzenden Männer glitt, veranlaßte Matchett, wieder nach vorne zu blicken. Tiefes Schweigen breitete sich über dem Auditorium aus. Direktor Carlson betrat die Kommandobrücke. Während er die langen, breiten Stufen emporschritt, stellte Matchett wieder einmal anerkennend fest, mit welcher Geschmeidigkeit und Leichtigkeit der Direktor seinen massigen, breitschultrigen Körper bewegte. Matchett schätzte Carlson nicht nur als fähigen Mathematiker ein, sondern auch als geschickten Administrator, dem es wohl gelingen sollte, die Schar der Wissenschaftler aus allen Bereichen zu einer angenähert geschlossenen Einheit zu koordinieren, auch wenn es sich
seit den ersten menschlichen Forschungsexpeditionen als unmöglich erwiesen hatte, die eher auf Individualismus beharrenden Wissenschaftler zu dem Grad von Teamarbeit zu bewegen, wie er für Ingenieure traditionell war. Erst jetzt bemerkte Matchett, daß der backenbärtige Direktor von Oberstleutnant Henderson begleitet wurde. Die hochgewachsene dunkelhäutige Frau im Kommandantenrang befand sich unzweifelhaft in offizieller Vertretung des Kapitäns hier, der damit symbolisieren wollte, daß Carlson mit seinem Einverständnis und seiner Unterstützung handelte. Demnach hatte Tchekhov tatsächlich inzwischen die versiegelten Orders geöffnet. Als Carlson die oberste Stufe erreichte, auf der sich das Podest mit dem Thronsessel des Piloten erhob, blieb er stehen und wandte sich dem Auditorium zu. Henderson verharrte auf der nächstunteren Stufe. »Meine Damen und Herren«, begann Carlson ohne weitere Umschweife, »ich eröffne hiermit die erste Generalversammlung an Bord des Expeditionsschiffs TELLUS. Ich bin von Kapitän Tchekhov ermächtigt worden. Sie über unser Ziel und über die uns bevorstehenden Aufgaben zu unterrichten.« Er legte eine kurze Kunstpause ein und blickte über die Reihen der Zuhörer hinweg. Dann zog der Anflug eines leichten Lächelns über sein hartgeschnittenes Gesicht, und er fuhr fort: »Es ist mir indessen nicht entgangen, meine Damen und Herren, daß man in den Rängen der Mannschaften und in den wissenschaftlichen Abteilungen bereits besser über unser Ziel informiert gewesen zu sein scheint, als die Schiffsleitung, die vor wenigen Minuten, nach einer
Zurücklegung von 25 000 Parsek, auftragsgemäß die versiegelten Orders des Schiffes geöffnet hat.« Vereinzeltes Lachen klang in den Reihen auf. Direktor Carlson fuhr ruhig fort: »Ich kann Ihnen also nun bestätigen, meine Herrschaften, daß das Ziel unserer Reise jener schwache Nebelfetzen dort auf den Sichtschirmen ist.« Überall wandten sich Köpfe den Bildschirmen zu. »Es ist der sogenannte Andromeda-Nebel M-31, NGC 224, dessen Abstand von der Erde mit Hilfe der Cepheiden-Methode auf rund 690 000 Parsek bestimmt wurde, und der an Größe nahezu unserer eigenen Galaxis gleichkommt. Es wird während der nächsten Jahre unsere Aufgabe sein, eine möglichst große Anzahl von Sonnensystemen dieses Spiralnebels zu erforschen, um uns mit Hilfe von statistischen Methoden ein Bild der Gesamtgalaxis zu verschaffen. Man schätzt die Anzahl der Sterne in M-31 auf etwa 370 Milliarden, meine Damen und Herren, und Sie sehen, daß uns eine Menge Arbeit bevorsteht, wenn wir einen statistisch verwendbaren Durchschnitt erhalten wollen.« Der Direktor machte erneut eine Pause und blickte jetzt nachdenklich auf seine Zuhörer. Seine Stimme klang tief und dröhnend, als er fortfuhr: »Etwa achtzig Prozent von Ihnen haben bereits an ähnlichen Expeditionen teilgenommen, die in früheren Jahrhunderten gestartet worden waren und ausnahmslos in die weitere Umgebung des irdischen Sonnensystems vordrangen. Alle diese Expeditionen besaßen zwar den bislang üblichen Hyperantrieb, der das Problem der Massenträgheit damit umging, daß er das Schiff während seiner Funktion in einen außerkosmischen Pseudoraum
warf. Bei der Rückkehr in den normalen Raum setzte die Trägheit jedoch stets wieder ein, und so benötigten diese Expeditionen verhältnismäßig lange Zeit, um ihre Aufgabe durchzuführen. Diejenigen Wissenschaftler von Ihnen, meine Herrschaften, die an diesen Expeditionen teilgenommen haben, kennen deshalb ausnahmslos die Begleiterscheinungen der Zeitdilatation, die sich auf derartigen interstellaren Reisen einstellt. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich selbst die Expedition zum System Tau Ceti kommandiert, und wie besagte achtzig Prozent unter Ihnen kann ich für mich in Anspruch nehmen, auf einer Erde geboren worden zu sein, die mehrere Jahrhunderte jünger war, als bei unserem kürzlich erfolgten Start.« Matchett bemerkte, daß die Zuhörer die Worte Carlsons mit sichtlichem Ernst aufnahmen. Jeder von ihnen hatte sich mit dem Phänomen der Zeitdilatation abfinden müssen, aber jeder von ihnen kannte nur zu gut das Gefühl der Trauer und des unwiederbringlichen Verlusts bei dem Gedanken, wie die Erde wohl nach ihrer Rückkehr aussehen würde. Carlson fuhr ruhig fort: »Diesmal jedoch haben wir eine Reise vor uns, die sich über unermeßlich größere Entfernungen erstreckt, als alle vorherigen Expeditionen. Zwar steht uns nun der Null-Inertia-Antrieb zur Verfügung, der die Beschleunigungs- und Verzögerungsperioden auf ein Minimum reduziert, aber nichtsdestoweniger werden auf der Erde während unserer Reise viele Jahrhunderte vergehen und einschneidende Veränderungen eintreten. Wir können damit rechnen, bei unserer Rückkehr eine völlig veränderte Erde vorzufinden. Der wissenschaftliche Rat der Erde, der diese Expedition vorbereitet und ausgerüstet hat, hat demzufolge eine gewisse Vorkehrung
getroffen, mit deren Hilfe es uns nicht nur möglich sein wird, einen gewissen Halt an die Erde zu bewahren, sondern auch für die Erde selbst als ein stabilisierendes Element zu wirken. Aber darauf komme ich später zu sprechen.« Erregtes Raunen durchlief die Reihen der Zuhörer. Mehrere Gesichter wandten sich impulsiv Matchett zu und betrachteten ihn fragend. Matchett wandte sich um und sah Parkinson, der ihm grinsend zublinzelte. Der Direktor räusperte sich und ergriff wieder das Wort. »Meine Damen und Herren, ich habe Sie nun über den Sinn und das Ziel unserer Reise informiert. Sie werden sich jedoch fragen, warum wir bereits jetzt an die Erforschung einer anderen Milchstraße gehen, wenn wir noch nicht einmal unsere eigene Galaxis völlig erschlossen haben. Nun, die Antwort darauf lautet, daß auch M-31 nicht unser einziges Ziel darstellt, sondern nur einen von vielen Sternennebeln, die wir und die uns nachfolgenden Expeditionen besuchen werden. Das Ganze geht auf den Gorson-Plan zurück. Während die Expeditionen ins Innere unserer eigenen Galaxis den Zweck haben, späteren Lebensraum für die rapide wachsenden Menschheit auszukundschaften, verfolgt der Gorson-Plan der intergalaktischen Erforschung einen anderen Zweck. Ich darf jetzt Herrn Dr. Tilden bitten, das Wort zu übernehmen und Ihnen darzulegen, was es mit dem Gorson-Plan auf sich hat.«
3. Dr. Tilden saß nur drei Sessel von Matchett entfernt. Er erhob sich jetzt – ein langer, knochiger Mann mit ungelenken Bewegungen und dichten, schwarzen Augenbrauen, unter denen seine Augen wie die eines Asketen brannten. Erik Tilden war ein sehr fähiger Astronom, der seine Abteilung mit eiserner Strenge und leidenschaftsloser Nüchternheit, aber auch mit überragender wissenschaftlicher Exzellenz leitete. Er wandte sich dem Auditorium zu und sagte mit rollender Grabesstimme: »Meine Damen und Herren, Direktor Carlson spielt hier auf einen wissenschaftlichen Forschungsplan der Astronomie und der theoretischen Physik an, der im 21. Jahrhundert zum ersten Mal von einem Amateurastronomen namens Gorson aufgestellt wurde und sich über einen Zeitraum von Tausenden und Zehntausenden von Jahren erstreckt. Da er in erster Linie vom Stand der irdischen Technik abhängig ist, treten wir erst jetzt allmählich in das Stadium ein, in dem wir an seine Ausführung gehen können.« Tilden räusperte sich und knetete seine knochigen Finger ineinander. »Gestatten Sie mir«, fuhr er schließlich fort, »daß ich – äh – ein wenig weiter aushole. Im Jahre 1929 entdeckte ein Mann namens Hubble, daß die Rotverschiebung der Spektrallinien ferner Galaxien proportional zu deren Entfernung anwächst. In Ermangelung einer besseren Erklärung deutete man sie als – äh – Dopplereffekt, und es ist bis heute nicht gelungen,
sie auf andere physikalische Effekte zurückzuführen. Es gilt daher nach wie vor die Deutung, daß die Galaxien voneinander fliehen, und daß ihre Fluchtgeschwindigkeit proportional zu ihrer Entfernung von uns ist. Zum Beispiel jener Spiralnebel M-31 dort«, er wies auf den Vorausbildschirm und räusperte sich verlegen, »flieht mit rund 300 Kilometer je Sekunde vom irdischen Sonnensystem. Wenn nun aber sämtliche Galaxien dergestalt voneinander fliehen, muß sich der Raum dynamisch verhalten, nicht wahr? Edwin Hubble und Vesa Slioher folgerten daraus, daß die Fluchtgeschwindigkeit der Galaxien demzufolge die Tatsache ausdrückt, daß das Weltall expandiert. Diese Einsicht kam einem Mann namens Albert Einstein sehr gelegen. Einstein hatte nämlich bereits 1915 eine Theorie aufgestellt, nach der der Raum reine Geometrie ist, die durch die in ihr enthaltene Materie und Energie verformt wird. Die Verformung – oder ›Krümmung‹ – könnte bei Vorhandensein genügend großer Mengen an Materie und Energie so stark sein, daß der Raum in sich selbst geschlossen ist. Einsteins Dilemma war nur, daß die von ihm aufgestellten Gleichungen kein statisches Universum zuließen, was ihm zunächst so absurd erschien, daß er einen künstlichen Korrekturfaktor einsetzte, um das Weltall einzufrieren. Den Ausweg aus dem Dilemma brachte Hubbles Entdeckung der Raumexpansion – eine Lösung der Einsteinschen Gleichungen, die von einem gewissen Friedmann gefunden worden war.« Tilden wechselte die Blickrichtung seiner tiefliegenden, brennenden Augen und fuhr fort: »Friedmannsche Universen dehnen sich aus und müssen daher eine Vorgeschichte haben. Setzt man voraus, daß das Weltall
homogen und isotropisch ist, d.h. an jedem Ort den gleichen Anblick bietet – ein Postulat, das man das ›kosmologische Prinzip‹ nennt –, dann läßt sich alles auf einen Punkt, den sogenannten Urknall, zurückführen. Die Entdeckung der 3°-Hintergrundstrahlung im Weltall durch Penzias und Wilson im Jahre 1965, die als das Echo des Urknalls angesehen wurde, schien die ganze Expansionstheorie zu bestätigen. Soweit die Vorgeschichte.« Erneut legte Tilden eine Pause ein. Sein Blick wanderte nun zu den gewaltigen Bildschirmen hinüber, auf denen sich die Tiefen der Schöpfung offenbarten. »Natürlich weiß heute jedes Kind auf der Erde, daß wir in einem gekrümmten Raum leben. Wenn das kosmologische Prinzip wirklich zuträfe, gibt es nur drei mögliche Formen für das Weltall, die keine abrupte Geometrieänderung, keine ›Kante‹, haben: Zwei davon, die offene Sattelfläche mit negativer Krümmung der Lobatschewskischen Geometrie und die völlig flache euklidische Form, müssen von unendlicher Ausdehnung sein, um keine Kante zu haben. Die dritte ist die geschlossene Riemannsche Form mit positiver Krümmung. Ob das Universum aber nun offen oder geschlossen ist, wissen wir nicht. Mit diesem Problem befaßt sich der Gorson-Plan.« Dr. Tilden schwieg wieder einen Augenblick lang, dann fuhr er fort: »Um nun ein für allemal zu bestimmen, in welcher Form der Raum gekrümmt ist, hat Gorson seinerzeit einen Plan konzipiert, der ebenso gigantisch wie logisch ist. Er begründet sich auf zwei Tatsachen, die bereits ebenfalls den Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts bekannt waren.
Die eine besteht darin, daß die Winkelsumme eines Dreiecks in einem positiv gekrümmten Raum größer als 180 Grad ist, in einem negativ gekrümmten jedoch kleiner als 180 Grad. Die zweite Tatsache ist, daß die Zahl gleichmäßig verteilter Objekte in einem geschlossenen, also positiv gekrümmten Raum innerhalb einer gegebenen Entfernung vom Beobachter langsamer als der Kubus dieser Distanz ansteigt, während im offenen Raum das Gegenteil, der Fall ist.« Er räusperte sich geräuschvoll, schien jedoch mit der Aufmerksamkeit, die ihm von allen Zuhörern gezollt wurde, zufrieden zu sein. »Als gleichmäßig verteilte Objekte im Raum könnten uns natürlich die einzelnen Milchstraßennebel dienen, und es bleibt uns nach dem Gorson-Plan daher nichts anderes übrig, als einmal die fernsten Galaxien durch Beobachtung und Vermessung kartographisch festzulegen, und zum anderen fixe Vermessungspunkte im Raum zu suchen, von denen aus das berühmte Dreieck nachgemessen werden kann. Eine Nebelzählung, wie sie eine der Aufgaben dieser Expedition ist, kann deshalb Aufschluß über den Krümmungssinn des Weltalls erteilen, solange das kosmologische Prinzip als gültig betrachtet wird, d.h. solange die Nebel gleichmäßig verteilt sind. Nehmen wir an, wir finden als Vermessungspunkte vier Galaxien, die voneinander gleiche Abstände haben. Topologisch gesehen bilden sie also die Ecken einer gleichseitigen Pyramide, eines gewöhnlichen Tetraeders. Daraus können wir lediglich feststellen, daß der Raum dreidimensional ist – eine triviale Erkenntnis. In Wirklichkeit jedoch ist Einsteins Universum so beschaffen, daß wir fünf Vermessungspunkte finden werden, die alle voneinander
gleichweit entfernt sind: ein Super-Tetraeder, der in der euklidischen Geometrie unmöglich ist.« Matchett blickte gedankenvoll auf die Bildschirme. Der darauf abgebildete Sternenhimmel hatte sich nicht verändert, doch schien es ihm, als ob das All dort draußen mit den Erklärungen des Gelehrten eine neue Form angenommen hatte. »Leider können wir uns nicht mit einfachen Nebelzählungen und Winkelvermessungen zufrieden geben«, fuhr Erik Tilden fort, »und diese stellen daher nur die erste Phase des Gorson-Plans dar. Die Wirklichkeit sieht nämlich etwas anders aus. Der monumentale Umsturz im kosmologischen Weltbild, auf den ich anspiele, wurde durch die Einführung des ersten Großteleskops im Vakuum der Erdumlaufbahn herbeigeführt. Die Reichweite direkter astronomischer Beobachtungen wurde dank dieses Instruments von einer Milliarde auf vier Milliarden Parsek erhöht. Es zeigte sich schon kurz nach Einsatz des neuen orbitalen Tiefraumobservatoriums, daß es sich die Forscher der vorhergegangenen Jahrzehnte mit der Annahme eines symmetrischen, homogenen, isotropischen Weltalls zu leicht gemacht hatten. Mit anderen Worten: das kosmologische Prinzip gilt nicht mehr. Das bedeutet, daß das Weltall viel größer und älter ist, als ursprünglich angenommen. Statt 15 Milliarden Lichtjahre gilt zur Zeit 42 Milliarden als Durchmesser. Seine Form ist nicht symmetrisch, entsprechend der einer Kugel oder eines Ellipsoids, sondern knollig wie eine Kartoffel und stellenweise in sich selbst verstrickt wie eine Brezel. Seine Entstehung fand nicht in einer plötzlichen Urexplosion statt, sondern in einem kontinuierlichen Prozeß, des
Austretens von Materieenergie durch ein Loch im Superraum, ein ›Weißes Loch‹, von einem anderen Universum von unvorstellbarer Energiedichte. Auch die Hintergrundstrahlung geht hiervon aus. Der Durchfluß findet noch heute statt, und solange er anhält, expandiert der Kosmos. Erlischt der Energiefluß eines Tages, so wird Kontraktion einsetzen und die Energiedichte über alle Grenzen ansteigen. Bei Erreichen eines bestimmten Punktes entsteht ein neues Loch – und diesmal ist es unser Weltraum, der einem neugeschaffenen Raum zum Leben verhilft.« Tilden legte eine erneute Kunstpause ein. Die Vision des von ihm geschilderten neuen Weltbilds nahm Matchett den Atem. »Das Hauptziel unserer Mission«, sagte Tilden, »ist die Suche nach unserem – äh – Ursprungsort, nach der Ultimaten Energiequelle irgendwo dort draußen. Die unregelmäßige Form des Weltalls macht es unmöglich, den Ort des Weißen Lochs aus lokaler Geodäsie zu ermitteln. Es werden sehr große Entfernungen und sehr viele Lokalvermessungen durch diese geodätische Expedition nötig sein, um uns einen Hinweis auf die ungefähre Richtung zum kosmischen Ursprung zu geben.« Er lachte und zuckte bedauernd die Achseln. »Eine Riesenarbeit jedenfalls, meine Damen und Herren, die viele Jahrhunderte und Jahrtausende in Anspruch nehmen wird, wenn uns nicht das Glück hold ist. Vermutlich wird sie niemals vollständig zu Ende geführt werden, denn wahrscheinlich ist der Tag nicht mehr fern, an dem das erste irdische Sternenschiff eine Umrundung des Universums versuchen wird. Und dies wäre natürlich der beste Beweis für die positive Krümmung des Raumes und
seine genaue Form. Damit verglichen, stellt der GorsonPlan heute nur ein Provisorium dar. Auf jeden Fall führt unsere Expedition in diesem Plan den historischen ersten Schritt aus, und es bleibt zu sehen, wie unsere ersten Untersuchungen verlaufen.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Äh ... danke sehr, meine Herrschaften.« Einige jüngere Wissenschaftler applaudierten impulsiv. Matchett war tief beeindruckt. Carlson trat einen Schritt vor und ergriff wieder das Wort. Er dankte dem Astronomen für reine Ausführungen und schwieg dann einen Moment nachdenklich, sich offenbar die Worte für das Kommende zurechtlegend. Carlson ließ seine Augen über den Saal schweifen. Dann blieben sie an Matchett haften. »Meine Damen und Herren«, begann er, »auch ungeachtet der Größe und des Ziels unserer Expedition ist diese Reise ein einmaliges Ereignis in der Geschichte der Menschheit. Sie steht fürwahr unter einem ganz besonderen Stern. Denn noch niemals zuvor hat ein interstellares Raumschiff eine solch kostbare Fracht an Bord mitgeführt, wie die TELLUS. Die meisten von Ihnen werden bereits ahnen, wovon ich spreche. Der wissenschaftliche Rat der Erdregierung hat es im Interesse der Sicherheit und des Gelingens unserer Expedition für richtig gehalten, uns einen der beiden schlafenden Götter mitzugeben.« Das Aufsehen, das seine Worte unter den Hunderten von kühlen, gefaßten Männern und Frauen erregte, machte für einen Augenblick jedes weitere Wort unmöglich. Die atemlose Stille, in die seine einleitenden Sätze hineingeschlagen hatten, löste sich abrupt in ein wirres Durcheinander von Stimmen auf. Ernsthafte, nüchterne
Wissenschaftler sprangen von ihren Plätzen auf und begannen, mit entfernt sitzenden Kollegen zu debattieren. Oberstleutnant Gail Henderson von der Schutztruppe hob die Hände und bat mit befehlsgewohnter Stimme um Ruhe. Sie mußte die Aufforderung noch zweimal mit zunehmender Schärfe wiederholen, bis sich die Erregung der Männer und Frauen halbwegs legte. Carlson nickte der schlanken Frau mit dem wie von einem Bildhauer modellierten dunklen Gesicht mit den hohen Wangenknochen dankend zu und ergriff wieder das Wort. »Meine Herrschaften, ich sehe, daß Sie sich über die Bedeutung unserer kostbaren Fracht völlig im klaren sind. Ich brauche deshalb wohl nicht sonderlich zu betonen, daß es während unserer Reise unser erstes Anliegen sein wird, die Sicherheit des schlafenden Mutanten zu gewährleisten. Ich erwarte von jedem einzelnen Expeditionsmitglied an Bord, daß es das Leben des schlafenden Gottes notfalls mit seinem eigenen Leben verteidigt. Hierbei nehme ich weder Kapitän Tchekhov noch mich selbst aus.« Er legte eine kurze Pause ein und blickte sich ernst um. Dann fiel sein Blick wieder auf Matchett, und er sagte: »Von nun an wird die abgeriegelte und gepanzerte Sektion im Kielraum des Schiffes, in der sich der Mutant befindet, bei Tag und Nacht von einem Kommando der Bordschutztruppe bewacht werden, das Schießbefehl hat. Es ist niemandem an Bord gestattet, diese Abteilung zu betreten, es sei denn mit Sondergenehmigung des Kapitäns und des Direktors. Auf Nichtbeachtung dieser strikten Anordnung steht die Todesstrafe. Angesichts des unermeßlichen Wertes, den der Mutant für uns und die Menschheit besitzt, werden Sie diese strengen Maßnahmen gewiß verstehen können, auch wenn sie ungewöhnlich
drakonisch erscheinen mögen. Aber nun ...« Er brach ab und nickte Matchett zu. »Meine Damen und Herren«, fuhr er dann fort, »an Bord weilt ein junger Mann, der keiner bestimmten Abteilung angehört. Er ist seit seiner Promotion nicht von der Seite der schlafenden Götter gewichen und kennt sich mit den beiden Mutanten seit dem Tod von Professor Vogel besser aus, als irgendein anderer lebender Mensch. Der wissenschaftliche Rat hat ihm die Pflege unseres kostbaren Passagiers übertragen, und er allein ist für den schlafenden Mutanten zuständig. Ich möchte nun Dr. Douglas Matchett bitten, für diejenigen von Ihnen, die mit dem Phänomen der Mutanten noch nicht ganz vertraut sind, einen kurzen Überblick über dieses Thema zu geben.« Matchett erhob sich und trat zwei Schritte vor, sich dem Auditorium zuwendend. Neugierige, kritische und verwunderte Augen lagen auf ihm, und ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn, als er sich bewußt wurde, daß er im Gegensatz zur Mehrzahl der Wissenschaftler noch relativ jung war. Er begann: »Meine Damen und Herren, tief unten im Kielraum des Schiffes, in einer hermetisch abgeriegelten und bleigepanzerten Abteilung, steht ein HypothermieTank mit gewissen Spezialmechanismen. In ihm liegt Chester Clayton King, besser bekannt als der ›schlafende Gott‹, im selbstinduzierten Kälteschlaf, allseitig umgeben von einer Spezial-Nährflüssigkeit. Mit seinem auf der Erde zurückgebliebenen Zwillingsbruder zusammenstellt er die einzige Mutation seiner Art dar, die jemals auf der Erde geboren wurde. Es kann füglich angenommen werden, daß sich der unglaubliche Zufall seiner Entstehung niemals wieder auf der Erde wiederholen wird.«
Er zuckte die Achseln. »Zweifellos ist Ihnen die Geschichte dieses Zwillingspaars bekannt. Es ist nun schon mehr als 200 Jahre her, daß sich zwei Knaben bei der damaligen Erdregierung meldeten und unbedingt den Präsidenten zu sprechen wünschten. Sie bedienten sich dabei mancherlei Tricks, und es gelang ihnen tatsächlich, die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich zu ziehen. Sie waren erst sechs Jahre alt, aber ihre geistige Entwicklung entsprach der eines Erwachsenen. Sie erklärten den zuständigen Behörden, daß sie Mutanten wären, entstanden durch Gen-Änderung, die in ihren Eltern durch eine undicht gewordene Abschirmung eines durch Atomkraft angetriebenen Raumschiffs hervorgerufen worden war. Angesichts ihrer überragenden Fähigkeiten hielten sie es für ihre Pflicht, sich der Menschheit zur Verfügung zu stellen. Seit jener Zeit werden sie von der Menschheit als kostbares Gut gehütet. Als sie erwachsen waren und es den Wissenschaftlern klar wurde, daß ihre geistigen Fähigkeiten noch ungemein viel größer waren, als ursprünglich angenommen, entschloß man sich zu einem wohl einmaligen Unternehmen. Die Mutanten alterten wie jeder gewöhnliche Mensch, und viele Leute mit Weitblick mahnten schon frühzeitig, daß etwas dagegen unternommen werden müßte, wollte man die Mutanten nicht eines Tages wieder verlieren. So konstruierte man mit ihrem Einverständnis zwei Spezial-Criotanks für Temperaturen um 200 Grad Celsius unter Null, und seit jener Zeit liegen sie nun in ihnen im Kälteschlaf, der den Metabolismus und damit den Alterungsprozeß organischer Substanzen stoppt. Werden ihre besonderen Fähigkeiten benötigt, so kann man über einen besonders entwickelten
Mechanismus mit ihrem Bewußtsein in Verbindung treten, ohne daß die Unterkühlung aufgehoben werden muß. In ebendiesem Zustand befindet sich Chester Clayton King, der im Kielraum des Schiffes liegt, um der Expedition mit den transzendenten Rechenfähigkeiten seines Gehirns als Schiffscomputer zur Verfügung zu stehen und ihr im Notfall zur Hilfe eilen zu können.« Matchett schwieg und betrachtete nachdenklich die teils ausdruckslosen, teils interessiert-gespannten Gesichter der Zuhörer. Er wartete noch einen Moment und fuhr dann ruhig fort: »Worin bestehen nun diese besonderen geistigen Fähigkeiten der beiden schlafenden Mutanten? Nun, das ist nicht so leicht zu erklären, meine Damen und Herren. Im Endeffekt dreht es sich natürlich um das Gebiet der Logik.« Er zögerte, überlegte einen Moment und sagte dann: »Logik ist die Lehre von den formalen Denkoperationen. Diese werden insbesondere von der Mathematik und der theoretischen Physik in größtmöglicher Reinheit durchgeführt, aber es hat sich den Philosophen schon sehr früh gezeigt, daß verschiedene Auffassungen von Logik möglich sind. Die alte, klassische Logik des Aristoteles, die bis zum 20. Jahrhundert Gültigkeit besaß, begründete sich zum Beispiel auf dem Zweiwertesystem, wie es etwa durch die Begriffe ›Ja oder nein‹, ›An oder aus‹ verkörpert wird. Die Logistik hat versucht, die aristotelische Logik mathematisch zu erweitern. Sie gelangte schließlich zur sogenannten Wahrscheinlichkeitslogik und endlich zur mehrwertigen Logik. Es genügt nun nicht mehr, die Relation zur Umwelt durch die beiden Begriffe ›entweder/oder‹ abzuwägen. Ein Gegenstand kann für den
Betrachter nicht mehr eindeutig bestimmbar sein, wie er es unter den Gesetzen der zweiwertigen Logik war. Ein Buch sieht zwar wie ein Buch aus, aber es braucht nicht unbedingt eines zu sein. Es kann genau so gut auch etwas ganz anderes sein. Der Betrachter sieht in ihm nur ein Buch. Ausschlaggebend und beweiskräftig ist dieser äußere Anschein nach der mehrwertigen Logik noch lange nicht.« Matchett legte eine kurze Pause ein. Es bereitete ihm Unbehagen, diesen ungemein fähigen Wissenschaftlern die primitiven Grundlagen der Logistik darzulegen, aber es ließ sich nicht umgehen. Es war absolut erforderlich, daß die Expeditionsteilnehmer auf dieser gigantischen Reise sich über die Fähigkeiten des Mutanten völlig im klaren waren. »Die mehrwertige Logik«, fuhr er fort, »wurde in dem Augenblick wichtig, als der Mensch daran ging, die Vorgänge im Atom und auf der Quantenebene zu erklären. Aber es ist einleuchtend, daß sie für den Menschen niemals mehr sein konnte, als eine Art mathematisches Hilfsmittel. Ein menschliches Gehirn funktioniert prinzipiell wie ein Computer, der aus Mikroschaltkreisen und integrierten Elementen besteht. Für eine Diode gibt es nur zwei Zustände: entweder wird sie aktiviert, oder sie wird es nicht. An oder aus. 1 oder 0. Aufgrund seiner Konstruktion kann der Computer nur im Zweiwertesystem denken, ebenso wie die Neuronenzellen im menschlichen Gehirn, die ebenfalls von Stromimpulsen aktiviert werden oder im Ruhezustand eines konstanten Potentials liegen. Und genau so wie ein Computer wird ein menschliches Gehirn niemals in der Lage sein, bewußt in mehrwertiger Logik zu denken. Wir können die Gesetze dieser Logik halbwegs verstehen, werden jedoch nach wie vor aristotelisch denken. Es gibt
keinen Menschen auf der Erde, der in mehrwertiger Logik denken könnte ... mit zwei Ausnahmen.« Er zögerte einen Moment, um eine Kunstpause verstreichen zu lassen, und fuhr dann fort: »Diese Ausnahmen sind Chester Clayton King und sein Zwillingsbruder.« Er zuckte die Achseln. »Fragen Sie mich nicht, meine Damen und Herren, wie so etwas möglich ist. Ich kann nur sagen, daß die beiden Mutanten keine Menschen im eigentlichen Sinn sind. Sie besitzen mutierte Gehirne, deren Funktionsprinzip einfach grundlegend von dem normaler Menschen verschieden ist. Man vermutet sogar, daß sie keine Neuronenzellen im üblichen Sinn mehr besitzen, sondern ... irgend etwas anderes. Vielleicht geschieht auch der Austausch der elektrischen Potentiale in ihren Gehirnzellen auf anderem Weg, – oder vielleicht benötigen sie zu ihrer Funktion überhaupt keine elektrischen Spannungsfelder mehr, wie wir. Ich selber vermute, daß ihre Gehirne eine zusätzliche Dimension umfassen und für unsere Gehirne das sind, was eine Kleinsche Flasche für ein dreidimensionales Objekt oder ein Möbius-Band für einen zweidimensionalen Gegenstand sind. Der Austausch der Potentiale würde dann durch ein dichtes, schwammartiges Netz von Wurmlöchern durch einen Superraum vonstatten gehen ...« Matchett breitete bedauernd die Arme aus und ließ sie wieder fallen. »Noch heute, nach zweihundert Jahren, tappen die Fachleute im dunkeln, was den Aufbau dieser beiden Supergehirne betrifft. Wenn man sie eines Tages seziert, wird man zweifellos ungeahnte Entdeckungen machen, aber dieser Tag liegt noch weit in der Zukunft. Durch die
Kälteschlafmethode werden sie der Menschheit noch viele Jahrhunderte erhalten bleiben und alle jene Probleme lösen, die eines besseren Werkzeugs als unser menschlichen Gehirne bedürfen. Wenn wir daran denken, daß es letzten Endes die abstrakte Denkweise der beiden Mutanten war, die den Bau des ersten NI-Antriebs ermöglicht hat, dann zeigt es sich in voller Klarheit, wie wichtig es ist, diese Superwesen der Erde zu erhalten. Vielleicht werden die Menschen das Funktionsprinzip der Mutantengehirne niemals ergründen, aber allein der NI-Antrieb wiegt diesen Nachteil auf, ganz abgesehen von all den anderen Erkenntnissen, zu denen uns die King-Zwillinge im Lauf der Jahrzehnte verholfen haben. Es ist höchst fraglich, ob die Navigation dieses Schiffes unter Antrieb mit dem regulären, nichtorganischen Bordcomputer überhaupt möglich wäre. Ein Abschnitt von Kings Gehirn steht ständig mit ihm in Verbindung und liefert die für die Koppelpläne der Schiffssteuerung erforderlichen Transferfunktionen.« Matchett schwieg einen Moment. Dann fügte er ruhig hinzu: »Es ist allgemein bekannt, meine Damen und Herren, daß die Gehirne der Mutanten noch andere bemerkenswerten Fähigkeiten aufweisen. Wie Sie zweifellos wissen, können sich Chester und sein Bruder telepathisch verständigen, und zwar buchstäblich über Raum und Zeit hinweg, denn bei dieser Fähigkeit spielen Entfernungen keine Rolle. Die Fortpflanzung von Gedanken – das wissen wir heute – verläuft durch den Superraum, wo die Zeit stillsteht. Wo die Brüder die hierzu nötige Energie hernehmen, weiß man nicht. Der Effekt ist der einer Nullzeit-Radioverbindung, der selbst beim
superphotischen Flug in Funktion bleibt. Vor allem aus diesem Grund hat uns der wissenschaftliche Rat den schlafenden Mutanten mitgegeben. Wir können nach Belieben jederzeit über ihn mit der Erde in Verbindung treten.« Er breitete die Arme aus. »Ich glaube, das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe.« Er ließ sich in seinen Sessel nieder. Natürlich gab es noch eine ganze Menge zu sagen, aber er sah keinen Zweck darin, die Wissenschaftler mit Dingen zu konfrontieren, die sich bisher nur auf Vermutungen stützten. Er hatte in seinem jahrelangen Umgang mit den schlafenden Göttern mehr und mehr die Überzeugung gewonnen, daß nur ein Bruchteil der wirklichen Fähigkeiten der beiden mutierten Gehirne bekannt war. »Eine Frage!« rief eine Stimme aus dem Hintergrund. Matchett wandte sich um und sah eine grauhaarige Frau, die sich drei Reihen weiter hinten erhoben hatte. »Hermione Gray, soziologische Abteilung«, stellte sich die Wissenschaftlern vor und griff dann unverzüglich ihr Problem auf. »Sagen Sie, Dr. Matchett, haben sich die beiden Mutanten jemals zu der Frage geäußert, warum sie willens waren, sich der Menschheit zur Verfügung zu stellen?« Matchett zuckte die Achseln. Wieder wurde er sich bewußt, wie wenig man tatsächlich über die schlafenden Götter wußte. »Sie haben niemals eine diesbezügliche Erklärung abgegeben, Dr. Gray. Herr Professor Vogel selbst hat sich oft hierzu geäußert und eine Reihe von analytischen Aufsätzen über diese Frage in der Fachliteratur veröffentlicht. Ich habe mir im Lauf der Jahre meine eigenen Gedanken gemacht. Ich vermute, daß King und sein Bruder von Anfang an einsahen, daß sie
einzigartig waren, und daß ihnen für ihren Lebensweg – langfristig gesehen – nur drei Möglichkeiten blieben, von denen zwei äußerst radikal waren. Die erste Möglichkeit: Sie übernahmen die Führung über die Menschen und schwangen sich zu den Herren der Erde empor. Die zweite Möglichkeit: Sie lebten abgeschlossen von den Menschen als Einsiedler. Und drittens: Sie nahmen die Hemmnisse einer Bindung mit den Menschen auf sich und stellten sich der Menschheit als Ratgeber zur Verfügung. Was sie wirklich bewogen hat, diesen letzteren Weg einzuschlagen, werden wir mit unserer Denkweise niemals ergründen können, aber ...« In diesem Augenblick geschah es. Ohrenbetäubend und schrill begannen überall im Schiff die Alarmsirenen zu kreischen. In den Abteilungen, in den Bunkern und Lagerräumen, entlang den langen, blitzenden Korridoren, im gigantischen Kommandoraum gellten die Heultöne der dritten Alarmstufe. Auf den Instrumententafeln am Fuß der Sichtschirme, vor den dort sitzenden Operateuren, flackerten gelbe Warnlichter auf. Überlastsignale zirpten. Automatisch schnappten irgendwo schwere Ölschalter ein und verstärkten den gewaltigen Energieschirm, der das Schiff schützte. Eine mechanische Synvox-Stimme rief aus den Lautsprechern: »Raumalarm! Achtung, Raumalarm!« Dr. Gray fiel erschrocken auf ihren Sitz zurück. Matchett wirbelte herum und starrte zuerst auf die Bildschirme, dann zur Kommandobrücke empor.
4. Urplötzlich schien der reglose Pilot in seinem wuchtigen Thronsessel, der sich hoch über den Stufen der Brücke erhob, zum Leben zu erwachen. Noch immer kerzengerade aufgerichtet, bewegte er seine Arme mit einer Geschwindigkeit, die auf unglaublich schnelle Reflexe schließen ließ. Seine Finger bedienten die Kontrollorgane auf den Armstützen des Sessels, um dem Computer Befehle zuzustellen, aber seine Augen wichen nicht von den Sichtschirmen. Innerhalb weniger Sekunden kam das gigantische Expeditionsschiff TELLUS zum Stehen. Das stetige, in der Zellstruktur des Schiffes mehr fühlbare als hörbare Singen seiner Großtriebwerke durchlief rasch alle Frequenzen und stabilisierte sich auf der tiefen, unterschwelligen BaßSchwingung der Trägheitskompensatoren. Reglos hing das Schiff in der schwarzen Weite des intergalaktischen Raumes. Weit in der Ferne leuchtete der blasse Fleck des Andromedanebels, der das Reiseziel darstellte. Blitzende Lichtpunkte strahlten nadelscharf aus den unermeßlichen Tiefen über Raum und Zeit hinweg. Sonst war nichts zu sehen. Der Pilot sprach in ein chromglänzendes Mikrophon, das vor ihm in der Luft schwebte und seinen Bewegungen selbsttätig folgte. Seine Stimme kam aus den Lautsprechern. »Unbekanntes Flugobjekt ausgemacht. Computer meldet: drei Grad Steuerbord voraus. Entfernung etwa drei Lichtjahre.«
Nach einem Moment fügte er ausdruckslos hinzu: »Es nähert sich mit unverminderter Geschwindigkeit.« Aus dem großen Lautsprecher der Kommandobrücke und aus den Hunderten und aber Hunderten von Lautsprechern überall im Schiff kam eine andere Stimme, hart, entschlossen und kraftvoll. Es war Captain Tchekhov. »Höchste Alarmstufe. Alle Mannschaften auf die Gefechtsstände. Klar Schiff zum Gefecht!« Überall im Auditorium sprangen Männer und Frauen auf die Füße, drängten sich unverzüglich den Ausgängen zu, verschwanden in gehetztem Tempo in den Gängen des Schiffes. Douglas Matchett verweilte noch einen Moment. Seine Augen hingen nach wie vor an dem hageren Piloten, der jetzt wieder ins Mikrophon sprach. Woher hatte er seinen Befehl erhalten? Es bestand die Möglichkeit, daß er seine taktischen Anweisungen direkt vom Bordcomputer bezog, der die jeweilige Situation automatisch auswertete. Der schlafende Gott war in den Computer eingekoppelt und konnte ihn jederzeit überstimmen, doch war nach außen hin durch nichts ersichtlich, ob der Computer mit oder ohne Kings Hilfe handelte. Die oberste Instanz an Bord war und blieb der Kapitän, der jeden Befehl widerrufen konnte. »Entfernung dreitausendfünfhundert Kilometer«, kam die Stimme aus dem »Olymp«. »Flugobjekt ist zum Stillstand gekommen.« Einige Sekunden später verbesserte er sich: »Korrektur. Flugobjekt treibt langsam auf uns zu. In etwa vier Minuten wird es auf den Energieschirm stoßen.« Doch noch ehe es soweit war, kam der Flugkörper völlig zum Stillstand. Wenige Kilometer vom äußeren Rand des Schutzschirms entfernt, schwebte er reglos im Raum.
Matchett wandte seinen Blick dem Bildschirm zu, der den betreffenden Raumsektor zeigte, und als der Pilot jetzt eine Vergrößerung einschalten ließ, konnte er ihn deutlich erkennen. Es war ein Raumschiff. Fremd und ungewöhnlich in seiner Form, von riesenhafter Größe und blau-schwarzer Färbung, so daß man es kaum ausmachen konnte, war es nichtsdestoweniger ein Raumschiff. Es schwebte in einer Entfernung von etwas mehr als hundert Kilometer und schien ebenso wie die TELLUS die weiteren Geschehnisse abzuwarten. Das irdische Sternenschiff besaß riesige, in seiner Außenhaut eingelassene Scheinwerfer, mit denen das fremde Schiff taghell beleuchtet werden konnte, doch hatte sie der Pilot nicht eingeschaltet. Offenbar sollte vermieden werden, überlegte Matchett, irgend etwas zu unternehmen, was als kriegerische Handlung aufgefaßt werden könnte. Matchett wurde sich bewußt, daß sein Platz jetzt in seiner Abteilung war. Eilig verließ er die Kommandobrücke, nahm einen Expreßaufzug in die Tiefe des Schiffes und trat kurze Zeit später auf den Korridor hinaus, der zu seinen Abteilungsräumen führte. In seinem Büro angelangt, schaltete er eine Sprechverbindung zu seinen Technikern ein, die sich in der abgeriegelten Abteilung im Kielraum des Schiffes befanden, und erteilte die nötigen Anweisungen. Für den Fall eines Gefechts mußten verschiedene Vorkehrungen getroffen werden, damit die Sicherheit des schlafenden Mutanten auch dann gewährleistet blieb, wenn das Schiff schwer getroffen oder sogar manövrierunfähig geschossen wurde. Als er alles Nötige veranlaßt hatte, tastete er seinen
Bildschirm auf die Kommandobrücke der TELLUS ein und sah augenblicklich, daß Kapitän Tchekhov inzwischen dort eingetroffen war. Seite an Seite mit Direktor Carlson stand er zwanzig Meter vor den riesigen Bildschirmen und beobachtete aufmerksam das fremde Schiff, an dem sich – wie Matchett feststellte – noch immer nichts rührte. Eine Gruppe von Offizieren und Technikern umgab die beiden Männer. Wieder richtete Matchett seine Aufmerksamkeit auf das unbekannte Raumschiff. Im Gegensatz zur TELLUS, die die Form einer riesigen flachen Diskusscheibe besaß, bildete es eine mächtige Kugel, die an keiner sichtbaren Stelle von irgendwelchen Auswüchsen durchbrochen wurde. Zu seinem größten Erstaunen ließen sich noch nicht einmal erleuchtete Sichtluken feststellen. Völlig glatt, ebenmäßig und nahezu schwarz, schwebte das Schiff wie eine riesige dunkle Billardkugel im Weltraum. Matchett schüttelte unwillkürlich den Kopf. Zweifellos handelte es sich hier um ein Schiff, das mit besonderem Hinblick auf Kriegstüchtigkeit ausgebildet war. Nur ein Schlachtschiff verließ sich völlig auf die elektronischen Augen der Sichtschirme. Die üblichen Quarzglas- oder Kunstdiamantluken der gewöhnlichen Raumschiffe würden in einem Kriegsschiff verwundbare Punkte darstellen. Ein ungutes Gefühl begann in ihm aufzusteigen, und er vergewisserte sich mit einem Blick auf die Fernkontrollinstrumente noch einmal, daß seine Assistenten alles Menschenmögliche getan hatten, um den Tank zu schützen. Dann wandte er sich wieder der Szene auf der Kommandobrücke zu. Kapitän Tchekhov hatte einen kleinen Bildschirm auf die Nachrichtenabteilung im
Herzen des Schiffes eingestellt. Einer seiner Nachrichtenoffiziere blickte besorgt vom Schirm. »Immer noch nichts, Sir. Wir haben unseren Funkspruch auf mehreren verschiedenen Wellenlängen hinübergesandt. Keine Antwort. Wir sind eben dabei, mit kohärentem Licht zu signalisieren, aber bisher hat sich auf die Lasersignale noch nichts gerührt.« »Hmm«, brummte Tchekhov und wandte sich wieder den großen Sichtplatten zu. »Höchst eigenartig. Was halten Sie davon, Rufus?« Der Direktor runzelte die Stirn. »Offensichtlich wollen sie sich keinerlei Blöße geben. Vielleicht sind sie dabei, uns zu analysieren. Es scheint, daß sie uns beobachten, ohne jedoch selbst gesehen oder gehört werden zu wollen. Ummm ... ich möchte wissen, worauf sie aus sind.« Nachdenklich zog er an der Unterlippe. Dann schien er plötzlich zu einem Entschluß zu kommen. Er wandte sich dem Schiffskommunikator zu. »Kenneth Pendrake, hören Sie mich?« Matchett blickte rasch auf die Liste, die er sich übersichtlich an die Wand geheftet hatte. Pendrake, Dr. Kenneth ... Chef der soziologischen Abteilung. »Zur Stelle«, meldete sich fast augenblicklich die Stimme Pendrakes. »Was gibt es, Dr. Carlson?« »Haben Sie sich schon darüber Gedanken gemacht, was die Fremden da drüben bezwecken mögen? Auf unsere Signale haben sie sich nicht gemeldet, und doch scheint es, daß sie uns aufmerksam beobachten.« »Nun ... ich habe mich bereits mit mehreren Kollegen beraten, Dr. Carlson. Wir dürfen mit Fug und Recht annehmen, daß uns die Fremden nicht nur aus reiner Neugier beobachten, sonst hätten sie sich bestimmt bereits
gemeldet. Statistisch gesehen, scheint es wenig wahrscheinlich, daß dieses Zusammentreffen zwischen unseren beiden Schiffen, so relativ kurz nach Beginn unserer Reise, auf Zufall beruht. Es ist vielmehr zu vermuten, daß die Leute dort drüben LangstreckenOrtungsgeräte haben, mit denen sie diesen ganzen Raumsektor unter ständiger Beobachtung halten können. Dies legt eine Möglichkeit nahe, die etwas beunruhigend ist. Ich habe mir sagen lassen, daß das fremde Schiff von unserem Wahrnehmungsfeld schon auf drei Lichtjahre ausgemacht worden war. Haben die Kursberechner Zeit gehabt, seine Herkunft zu bestimmen, bevor es zum Halten kam?« Carlson nickte. »Gewiß, Computer meldet, daß es aus dem Andromedanebel M-31 stammt, 121 Grad galaktische Länge, bei minus 21 Grad galaktischer Breite. Ich bin sicher, daß wir sogar den ungefähren Raumsektor in diesem Milchstraßensystem bestimmen können, wenn die entsprechenden Bahnintegrationen durchgeführt worden sind – natürlich immer vorausgesetzt, daß die Flugbahngeschichte der Fremden keine Diskontinuitäten aufweist.« »Okay. Nun, das ist sehr bitter für uns, denn kann nicht ebenso der Fremde anhand seiner Beobachtungen unseres Fluges, unseren Kurs bis in die Nähe des irdischen Sonnensystems zurückverfolgen?« Carlson wandte sich an Tchekhov. »Wie steht es damit, Drag?« Der Kapitän nickte. Entgegen seiner üblichen knappen, abgehackten Sprechweise fand er sich zu einer längeren Antwort bereit. »Es dürfte ihnen nicht schwergefallen sein. Wir sind noch nicht weit von unserer Milchstraße entfernt,
und unser Kurs bildete nahezu eine Gerade in bezug auf diese. Hätten wir eine hyperbolische Bahn beschrieben, wäre es für die Fremden unmöglich, unseren Herkunftsort zu bestimmen, aber so, wie die Dinge stehen ...« »Genau darauf will ich hinaus!« sagte Pendrake erregt. »Sehen Sie, es besteht die Möglichkeit, daß der Fremde einzig darauf aus ist, unseren Herkunftsort zu bestimmen. Sie können sich selbst denken, wie kostbar ein besiedelbares Sonnensystem für eine raumfahrende Rasse ist. Immerhin ist dies ja auch einer von unseren Flugaufträgen. Es auf diese Weise aufzuspüren, kann ihr Jahrhunderte ja Jahrtausende des Suchens ersparen. Ich nehme an, daß er zur Zeit damit beschäftigt ist, die Ergebnisse seiner Beobachtungen auszuwerten. Sein nächster Schritt würde dann darin bestehen, zu verhindern, daß wir den Spieß umkehren.« »Das entscheidet natürlich die Lage«, nickte der Direktor. »Zwar glaube ich kaum, daß ein einzelnes Raumschiff unserem Sonnensystem gefährlich werden kann, aber wir dürfen das Risiko nicht eingehen. Es könnte ja eine ganze Armada von Kriegsschiffen herbeirufen. Herr Kapitän, wie lauten Ihre Befehle?« Tchekhov erwachte abrupt aus seinen Gedanken. Entschlossen stellte er den Schiffskommunikator auf die Archivabteilung der TELLUS ein. »Ja, Sir?« »Watanabe, haben Sie das Archiv in Gefechtszustand versetzt?« »Jawohl, Sir.« Wie Matchett seit seiner Ausbildung für diese Expedition wußte, war es Vorschrift, daß bei Klar Schiff zum Gefecht sämtliche Sternkarten und alle Navigationsunterlagen, die einer Entermannschaft des
Feindes den Herkunftsort des Schiffes verraten konnten, in ein Spezialsafe eingeschlossen wurden, das den gesamten Inhalt bei der geringsten Berührung durch einen Unbefugten in pulverisierte Asche verwandelte. Das war es offenbar, was Tchekhov meinte. »Gut.« Tchekhov betätigte einige Schalter am Kommunikator. »Kampfstationen? Eröffnen Sie Sperrfeuer auf das fremde Schiff. Zunächst drei Breitseiten, dann Meldung. Achtung ...« Er wandte sich sekundenlang an Carlson, zuckte die Achseln und sagte: »Es bleibt uns nichts anderes übrig. Wir dürfen kein Risiko eingehen.« Doch es sollte dem Kapitän erspart bleiben, den ersten Schuß zwischen zwei intergalaktischen Zivilisationen zu tun. Noch während er dabei war, sich wieder dem Kommunikator zuzuwenden, erwachte der Fremde plötzlich zum Leben. Dutzende von Mündungsfeuer blitzten an der Oberfläche der dunklen Kugel auf, und Tausendstel von Sekunden später erhellte sich der Energieschirm der TELLUS in flackerndem Feuer, als die feindlichen Geschosse von ihm aufgezehrt wurden. Die Abteilungen meldeten geringfügige Schäden durch Energieüberlastung. Tchekhov befahl: »Feuer!« Das gigantische Schiff erschütterte unter der Wucht der Salve. Lange, schlanke Atomgeschosse rasten durch den Raum und suchten ihr Ziel. »Feuer!« Wieder bebte die metallene Hülle der TELLUS, aber die mächtigen Spanten und Träger des Schiffes nahmen den gewaltigen Schock spielend auf, der sich an ihnen entlang in den Tiefen des Schiffes verlief.
»Feuer!« Die dritte Breitseite schoß hinaus, und dann starrten Tchekhov, Carlson und die übrigen Anführer gebannt auf die Sichtschirme. Dutzende von superhellen Blitzen zuckten in der Ferne auf. Miniatursonnen gleich, detonierten die Atomgranaten im Ziel. Dann verglomm das letzte Höllenfeuer, und das fremde Schiff wurde wieder sichtbar. Tchekhov stieß einen überraschten Pfiff aus. Das kugelförmige Sternenschiff war völlig unverletzt. »Meldung der Beobachter«, kam eine Stimme aus dem Kommunikator. »Unsere Torpedos detonieren etwa fünfzig Kilometer vor dem feindlichen Schiff. Es scheint von einem Energieschirm umgeben zu sein, der dem der TELLUS gleicht. Ende der Meldung.« Tchekhov ballte die Hände zu Fäusten. »Feuerleitstelle!« knurrte er in den Schiffskommunikator. »Nochmals drei Breitseiten. Dann lassen Sie eine zwanzigstel Sekunde lang die große Ionenkanone arbeiten. Aber Vorsicht! Unser eigener Schirm darf keine Hundertstel Sekunde länger geöffnet bleiben, als unbedingt nötig. Achtung ...« Er starrte mit verengten Augen zum Kugelraumschiff hinüber. »Feuer!« Kurze Zeit später zeigte es sich, daß dem Schutzschirm des Fremden mit konventionellen Waffen nicht beizukommen war. Captain Tchekhov erteilte einen Befehl, der eine Geschützmannschaft an ihren Konsolen veranlaßte, einen der großen Gammastrahler aufzuprotzen. Dann schoß ein scharf konzentriertes Bündel harter Gammastrahlen hinaus und langte nach dem Fremden. Tchekhov war bereit, jede Wette einzugehen, daß der
Schutzschirm des Gegners niemals in der Lage wäre, diese ungeheuer energiereiche Strahlungssäule aufzuhalten. Noch in diesem Augenblick mußte sie jegliches organisches Leben an Bord des anderen Schiffes vernichten. Aber das Kugelraumschiff kämpfte mit unverminderter Heftigkeit weiter. Eine lange Säule rotglühenden Lichts langte durch den Weltraum und zerrte am Schutzschirm der TELLUS. Mit einem unterdrückten Fluch verstärkte der hagere Pilot den Schirm, als die hochbeschleunigten Ionen seine Struktur aufzulösen drohten. »Unentschieden«, murmelte Carlson nachdenklich. »Dem ist nicht beizukommen. Aber bei uns kann er auch nichts ausrichten.« Genau dies schien der Fremde in diesem Augenblick auch einzusehen. Abrupt erstarben die Mündungsfeuer seiner Strahlkanonen, und im nächsten Moment schien sich das riesige Schiff kaum merklich zu bewegen. Sekundenbruchteile später war es verschwunden. Trocken und ausdruckslos kam die Stimme aus dem »Olymp«: »Fremdes Raumschiff entfernt sich in Richtung unserer Heimatgalaxis.« Tchekhov und Carlson sahen sich denkbar betroffen an. »Und was machen wir jetzt?« hörte Matchett Pendrake fragen. Matchett wußte, was er zu tun hatte. Der Kapitän runzelte die Stirn und starrte finster in den Raum hinaus. »Es bleiben uns nur zwei Möglichkeiten, Herrschaften. Zunächst einmal müssen wir die Erde warnen. Und dann werden wir schleunigst den Spieß umdrehen, wie Dr. Pendrake es nannte, und den Herkunftsort des Fremden aufspüren. Sobald die Kursberechnungen eintreffen,
werden wir unseren Flug fortsetzen. An die Arbeit!«
5. Als Douglas Matchett kurze Zeit später im Kielraum des Schiffes aus dem Aufzug trat, setzte sich das Expeditionsschiff TELLUS wieder in Bewegung und raste mit rasch steigender Geschwindigkeit auf den fernen Spiralnebel M-31 im Sternbild Andromeda zu. Matchett nickte den Posten des Wachkommandos zu, wies sich aus und betätigte das elektronische Schloß der Schleusentür, die durch das Panzerschott zur Spezialabteilung des schlafenden Mutanten führte. Wenige Sekunden später glitt die riesige Panzertür geräuschlos wieder hinter ihm zu. Er durchschritt rasch den kurzen Gang, der die innere Schleusentür von der äußeren trennte, während ihn elektronische Scanners abtasteten. Dann öffnete sich auch die innere Pforte vor ihm, und er trat in das Innere der Abteilung ein. Die abgeriegelte Sektion bestand aus dem Hauptraum, der den Cryotank und die Kontrollvorrichtungen enthielt, einer großen Werkstatt und dem aus mehreren Räumen bestehende Wohnquartier, in denen die fünf Techniker lebten, die während der Reise der TELLUS niemals die Abteilung verlassen durften. Der Tank erhob sich in der Mitte des. Raumes auf einem vibrationsfrei gelagerten Betonsockel. Er war ein riesiges, kantiges Gebilde, das sich aus mehreren Schichten starker Panzerplatten zusammensetzte und in seiner äußeren Form einem überdimensionalen Sarkophag glich. Seine Panzerung konnte nicht nur jede erdenkliche Strahlung abschirmen, sondern auch mechanische Belastungen von nicht geringer Stärke aufnehmen. Wie monströse Parasiten
aus einem Alptraum kauerten Dutzende von Hilfsmechanismen auf seiner glatten Umhüllung. Verschiedenfarbige armierte Schläuche und Kabel kamen, in Strängen gebündelt, von der Decke herunter und verschwanden in ihm, und ein dickes Stromkabel mündete tief unten im Betonsockel. Jeder einzelne Mechanismus, jede Leitung, jedes Kabel war in dreifacher Ausführung vorhanden. Alle erdenklichen Eventualitäten hatte man sorgfältig berücksichtigt und durchgespielt. Auch im Fall einer ernsthaften Schiffskatastrophe würde der Tank ungefährdet weiterfunktionieren können. Niemals zuvor war in der technischen Geschichte der Menschheit eine Maschinenanlage mit einem derartig hohen Sicherheitsfaktor konstruiert worden, der sogar den der Fusionskraftwerke überstieg. Und doch war sich Matchett angesichts des Tanks wieder der unablässigen Unruhe bewußt, die das Gefühl der ungeheuren Verantwortung mit sich brachte. Zum hundertsten Mal seit jenem Tag, als er die TELLUS kurz vor dem Start betrat, fragte er sich, ob tatsächlich alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden waren. In der unendlichen Weite des Weltalls mochte es Dinge geben, von denen sich auch die fähigsten Köpfe der Menschen keine Vorstellung zu machen vermochten. Zwar waren die Tanks vor zweihundert Jahren unter der Leitung der schlafenden Mutanten selbst gebaut worden, aber der Stand der irdischen Technik setzte hier die Grenze. Unruhig ging Matchett zur Schalttafel und überprüfte ein Instrument nach dem anderen, ohne eine Fehlfunktion zu finden. Er wies sich der elektronischen Schaltanlage gegenüber
mit seinem Handabdruck aus und legte dann einen mit einem Schutzkäfig versehenen Schalter um. Ein feines Summen erfüllte den großen Raum. Er wandte sich um und blickte zum Katafalk des Tanks. Langsam glitt der schwere Deckel aus Supermetall zur Seite. Mitsamt den Vorrichtungen, die auf ihm kauerten, schwang er herum und gab das Innere des Tanks frei. Als das feine Summen verstummte und die Bewegung der Panzerplatte zum Halten kam, war der Tank geöffnet. Douglas Matchett schritt eilig durch den Raum und stieg die Stufen des Betonsockels empor. Auf dem mit einem Geländer geschützten Podium angelangt, verharrte er am Rand des riesigen Behälters und blickte hinein. Er sah Chester Clayton King. Der Mutant ruhte tief im Innern des Tanks im Kälteschlaf. Durch die transparenten Schichten der Isolierkapsel aus kältebeständigem Kunststoff hindurch konnte er die lange, schlanke Gestalt des schlafenden Wesens erkennen, die in der kombinierten Nähr- und Kältelösung schwamm. Die Flüssigkeit umgab den Mutanten auf allen Seiten, und ihre leicht gelbliche Färbung ließ seinen nackten Körper in der Farbe reinen Goldes erscheinen. Chester Clayton King sah auf den ersten Blick wie ein Mensch aus, und nur die Größe seines Kopfes unterschied ihn äußerlich vom Bild eines Menschen. Er war ein schlanker, junger Mann von scheinbar zerbrechlichen Körperbau. Wie Matchett wußte, stand er im achtzehnten Lebensjahr, als man ihn in den Tank eingeschlossen hatte, und obwohl zweihundert Jahre seit jener Zeit verstrichen waren, sah er auch jetzt noch keine Spur älter aus. Auf der Suche nach einer Verlängerung der
Lebensspanne waren die Forscher schon frühzeitig auf die Technik des Kälteschlafs gestoßen, die in der Hypothermie – der begrenzten Unterkühlung des Körpers für chirurgische Zwecke – ihren Anfang genommen hatte. Durch Verwendung von flüssigem Helium, starken Magnetfeldern und der weiterentwickelten DMSOFlüssigkeit im Blutkreislauf konnte ein menschlicher Körper so stark unterkühlt werden, daß der Lebensfunke in ihm buchstäblich suspendiert wurde. Der Betreffende »schlief« – mit stillstehenden Metabolismus und ohne Alterungsprozesse. Es bestand auch heute noch keine Aussicht, daß die Möglichkeit eines ewigen Lebens jemals auf anderem Weg erlangt werden konnte, als auf dem des suspendierten Lebendigseins, bei dem die Unsterblichkeit mit ewiger Kerkerhaft in traumloser Nacht erkauft werden mußte. Chester Clayton King und sein Bruder hatten die Kerkerhaft auf sich genommen, um der Menschheit erhalten zu bleiben und eine Zeit abzuwarten, in der sie nicht mehr als Außenseiter dastehen würden. Denn eines sehr fernen Tages mußten auch die Menschen in das Stadium eintreten, in der sie zu höheren Denkprozessen fähig wurden. Matchett bezweifelte jedoch nicht, daß dieser Tag noch undenkbar weit in der Zukunft lag. Nachdenklich blickte er auf den schlafenden Mutanten hinunter. Sein riesenhafter Schädel beherbergte ein Gehirn, das die zweieinhalbfache Größe eines menschlichen Gehirns hatte und in Dimensionen denken konnte, die die eines Gottes sein mußten. Kein einziges Haar wuchs auf diesem mächtigen, glatten, makellosen Schädel, unter dem das Gesicht des Mutanten wie das eines Zwerges erschien. Ein kalter Schauer überlief Matchett, als er sich fragte,
was in diesem Augenblick wohl in dem Schläfer vorgehen mochte. Es hatte sich gezeigt, daß die Denkprozesse und das Bewußtsein des Mutanten selbst in der Leblosigkeit des Cryoschlafs nicht zum Erliegen kamen. Die Wissenschaftler, die das Phänomen jahrelang studiert hatten, betrachteten diese Tatsache als wichtigen Hinweis auf die Möglichkeit, daß die Denkvorgänge der Mutanten im Gegensatz zu denen der Menschen keine eigentlich organischen Prozesse waren. Die Unterkühlung schaltete nahezu alle organischen Prozesse und fast jeglichen organischen Metabolismus und damit auch den Zerfall aus ... und doch dachten die King-Zwillinge! Douglas Matchett fühlte wieder die Unruhe in sich aufsteigen. Gewaltsam riß er sich zusammen und nahm einen magnetischen Spezialschlüssel aus der Tasche. Er schob ihn in eine dafür vorgesehene Öffnung im Kommunikatormechanismus und warf einen Blick auf das Mikrophon, das sich auf seinem biegsamen »Hals« selbsttätig auf ihn richtete. Mit ruhiger Stimme sprach er herein. »Chester, hörst du mich? Hier ist Matchett.« Mehrere Sekunden verstrichen, während er gespannt lauschte. Doch nichts rührte sich. Der Mutant lag reglos in seiner Kapsel. Matchett wiederholte: »Chet, hörst du mich? Hier ist Matchett.« Urplötzlich war eine Stimme im Raum. »Natürlich höre ich dich, Doug. Was kann ich für dich tun?« Der Körper des Mutanten lag nach wie vor leblos, mit geschlossenen Augen, im Tank. Nichts an seinem Äußeren ließ erkennen, daß er es war, der gesprochen hatte. Und
doch wußte Matchett, daß es seine ureigene Stimme war, – eine mechanische Stimme zwar, die durch einen SynvoxSprachgenerator gebildet wurde, aber der Sprachgenerator selbst wurde von elektrischen Impulsen aktiviert, die aus einem Gedankenmodem kamen. Diese Vorrichtung war von den King-Zwillingen selbst entworfen worden. Sie unterhielt eine Verbindung zum Bewußtsein des »schlafenden« Gottes und konnte seine Gedanken in Impulse umwandeln und umgekehrt. Im Grunde war es eine Art mechanisch bewerkstelligte Telepathie zwischen einem Super-Telepathen und nicht-telepathischen Menschen. Wieder sprach der Mutant. »Vermute, daß es sich über das fremde Sternenschiff handelt. Habe ich recht, Doug?« »Wie immer«, bestätigte Matchett ruhig, aber sein Gefühl des Frösteln kehrte zurück. Die Tatsache, daß King mit dem Bordcomputer zusammengeschaltet war und in synergistischer Symbiose mit ihm zusammenarbeiten konnte, erklärte nicht, warum seine Wahrnehmung über die vom Computer entnommenen Informationen weit hinaus ging. Schon oft zuvor hatte es sich gezeigt, daß die Mutanten über die Vorgänge in ihrer Umgebung auf das genaueste unterrichtet zu sein schienen. Dies legte die Möglichkeit nahe, daß sie nicht nur über die Fähigkeit der telepathischen Verständigung verfügten, sondern auch über eine Art außersinnliches Wahrnehmungsvermögen, das etwa mit dem alten Begriff des Hellsehens gleichzusetzen war. Vielleicht aber erfuhren sie die Vorgänge in ihrer Umgebung nicht durch hellseherische Fähigkeiten, sondern einfach dadurch, daß sie die Gedanken Matchetts »lasen«. Oder gab es etwa noch einen anderen Weg? Matchett dachte an die übermenschlichen Denkprozesse
der Mutanten und an die Möglichkeit, daß diese durch holographische Modelle im Geist der Brüder eine akkurate Nachbildung der Wirklichkeit durchsimulieren und damit Vorgänge ihrer Umwelt parallel oder im voraus »berechnen« konnten. »Leider«, fuhr die Stimme des Mutanten fort, »ist das Problem nicht so einfach. Soweit ich es bereits absehen kann, ist die Entscheidung des Kapitäns im Augenblick die einzig richtige. Wir müssen die Heimatwelt der fremden Rasse aufspüren, um die Kräfte wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ich glaube, es wird einige Kämpfe geben. Du tätest gut daran, wenn du dich mal ein wenig mit dem Pilotenteam der TELLUS unterhältst und dir von den Burschen die Funktion der einzelnen Steuerkontrollen und ihre Zusammenarbeit mit dem Schiffscomputer erklären läßt.« Matchetts Verblüffung war vollkommen. Er konnte nicht daran zweifeln, daß der Mutant im Ernst sprach, aber das, was seine Worte ausdrückten, war ungeheuerlich. Aus welchem Grund sollte er, ein junger Wissenschaftler an Bord eines Schiffes, das über tausend andere, zum Teil fähigere Menschen beherbergte, die Navigation des riesigen Schiffes erlernen? »Sag mal, Chet, worauf bist du aus? Hast du irgendeinen besonderen Grund für deinen Rat?« Der Mutant ging nicht auf die Frage ein. »Das eigentliche Problem ist weder das fremde Sternenschiff, noch seine Bewaffnung«, sagte er. »Natürlich zählt dies letzten Endes auch, aber in erster Linie müßt Ihr euer Augenmerk auf die Besatzung richten. Eine recht eigentümliche Besatzung, wenn ich so sagen darf.« King lachte leise.
Matchett richtete sich auf. »Was weißt du über die fremde Rasse?« fragte er energisch. »Wie sieht sie aus? Was ist an ihr eigentümlich?« Der Mutant hüllte sich in Stillschweigen. Matchett wiederholte seine Fragen mit drängenderen Worten. Keine Antwort. Wenn Chester Clayton King nicht reden wollte, dann gab es nichts auf der Welt, womit man seinen Entschluß hätte umstürzen können. Es war eine seiner Angewohnheiten, überraschende Erklärungen abzugeben, um sich dann in mystisches Schweigen zu hüllen, wenn man Näheres wissen wollte. Matchett vermutete, daß sich in dieser Liebe zur Geheimniskrämerei der eigentliche Humor des Mutanten ausdrückte, der es offenbar mit dem größten Vergnügen sah, wenn Matchett und andere Menschen eifrig nach dem Köder schnappten, anbissen und dann hilflos an der Angel zappelten, die ihnen der Mutant hinhielt. Auf der anderen Seite konnte man darauf wetten, daß King seine detaillierte Analyse des Gegners bereits in die Datenbänke des Schiffscomputers eingegeben hatte, wo sie zwar vorerst gegen jeden Zugriff gesperrt war, bis sie wirklich gebraucht wurde. Matchett seufzte und winkte ab. Dann sagte er: »Nun gut, meinetwegen hat das fremde Raumschiff eine Horde blutrünstiger Ungeheuer an Bord. Aber ich möchte dich bitten, schleunigst die Erde davon zu verständigen. In wenigen Monaten wird das fremde Schiff das irdische Sonnensystem erreichen und damit nicht nur unsere Kolonie auf den Planeten und bei L-4 und L-5 bedrohen, sondern auch die Erde selbst.« »Sei unbesorgt, Doug«, entgegnete die Stimme des
Mutanten. »Hältst du mich für so verantwortungslos? Wie du weißt, sind meine Sinne des meines Bruders. Ich stehe schon seit einiger Zeit mit ihm in Verbindung, und habe ihm eine Hologramm-Aufzeichnung unserer Begegnung übermittelt. Er wird die irdische Regierung warnen, sobald der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Nebenbei, er berichtet, daß sich die Zahl der im Weltraum lebenden Menschen in den vergangenen fünfzig Jahren seit unserem Abflug erneut verdoppelt hat. Nun, solange die Erde und ihre Kolonien unter dem persönlichen Schutz meines Bruders stehen, brauchen sie sich vor dem Eindringling nicht zu fürchten.« »Danke«, entgegnete Matchett ein wenig verärgert. »Nett von euch beiden! Ohne euch wäre die Menschheit ja schon längst den Unbilden der Natur erlegen.« »Laß dir darüber keine grauen Haare wachsen«, tröstete ihn der Mutant. »Eines Tages werdet auch ihr den Kinderschuhen entwachsen sein.« Abrupt wechselte er das Thema. »Du hast übrigens eine Verehrerin an Bord, mein Lieber. Gratuliere! Gar nicht schlecht, doch ob du damit fertig werden wirst?« Matchett starrte verdutzt auf den Tank. »Das ist mir neu – gelinde gesagt! Wer ist's denn?« »Dr. Borowskaja. Was sie wohl in dir sieht ...?« »Ursula Borowskaja?« Matchett erinnerte sich an die dunkelblonde Wissenschaftlerin im Auditorium. »Eine Transplantchirurgin aus der medizinischen Abteilung. Außerdem Präsidentin des Literaturklubs an Bord. Bin ihr schon einige Male begegnet – eine faszinierende Persönlichkeit. Na so was! Kannst du ihre Gedanken lesen ...?« »Darüber spricht ein Gentleman nicht.«
Damit war das Gespräch beendet. Noch immer ein wenig verstimmt und verblüfft zugleich, nahm Matchett den Schlüssel an sich und verließ die Abteilungsräume.
6. Mit millionenfacher Lichtgeschwindigkeit »raste« das Expeditionsschiff TELLUS durch die schwarze Unendlichkeit zwischen den Milchstraßen. Von Sekunde zu Sekunde stieg seine Geschwindigkeit weiter an, und während auf den Schiffschronometern Minute um Minute verstrich, fraß es buchstäblich Lichtjahr um Lichtjahr. Seine Flugbahn, relativ zum Koordinatensystem der heimatlichen Galaxis, wo mittlerweile Jahrzehnt um Jahrzehnt verging, war schnurgerade. Die Tage wurden zu Wochen und die Wochen zu Monaten. Immer näher rückte das Spiralgebilde des fernen Nebels heran. Über hunderttausend Lichtjahre im Durchmesser, gewann es allmählich an Größe. Im hellen Glanz von Milliarden und aber Milliarden von Sonnen erstrahlte es in unendlicher Pracht und hob sich mit zunehmender Größe in feiner, zarter Filigranarbeit vom nachtschwarzen Hintergrund des Raums ab. Noch befand sich M-31 zu weit entfernt, als daß die Teleskope die Mehrzahl der rund 400 Milliarden fremden Sonnen aufzulösen vermochten. Aber mit jedem verstreichenden Tag traten mehr und mehr strahlende Nadelköpfe hervor. Der kosmische Sektor, den das Milchstraßensystem M31 NGC 224 ausfüllte, wuchs in zunehmendem Maß. Es kam der Tag, an dem sich das Gebilde durch den ganzen Raum vor dem Bug der TELLUS erstreckte. Es verlor seine deutliche Spiralform und wurde zu einem hellstrahlenden Sternenhimmel, der von nahen und fernen Sonnen glitzerte. Das Expeditionsschiff befand sich zu diesem Zeitpunkt noch einige tausend Lichtjahre von
seinem Rand entfernt, aber als die Wochen verstrichen, wuchsen die ersten großen Sterne der fremden Galaxis vor ihm auf. Douglas Matchett, der aufmerksam eine von der astronomischen Abteilung zusammengestellte Serie von photographischen Platten betrachtete, die in regelmäßigen Abständen exponiert worden waren und dank der endlichen Geschwindigkeit des Lichtes die Entstehungsgeschichte von ganzen Sonnensystemen zeigten, stellte fest, daß die Sonnen mit stetig abnehmender Entfernung nicht nur wuchsen, sondern auch voneinander zu fliehen schienen. Die wirklichen Entfernungen zwischen ihnen traten deutlicher zu Tage. Die TELLUS trat in die Randgebiete der Milchstraße ein, und die Zahl der Sonnen, die in ihrer näheren Umgebung verstreut lagen, war noch äußerst gering. Die eigentliche Zusammenballung der Sterne begann erst nach den nächsten zweihundertfünfzig Lichtjahren. Da die TELLUS in der Peripherie des Spiralnebels einflog, bildeten sie eine linsenförmige Ansammlung von strahlenden Stecknadelköpfen, die sich in der Gegend des Mittelpunkts der Galaxis zu einem dichten Haufen konzentrierten. Das diskusförmige Expeditionsschiff beschrieb eine vom Computer sorgfältig berechnete Kurve entlang einer Gravitations-»Böschung« in der gekrümmten Raumzeit und raste auf den fernen Stern zu, der sich vor den Bug des riesigen Gefährts schob. Am fünften Tag nach dem Eintritt in den Spiralnebel hatte die fremde Sonne sichtlich an Größe gewonnen. Matchett, der aus der abgeriegelten Sektion heraufkam und in die Bibliothek trat, um die neueste Ausgabe der
Schiffszeitung »Delta-V« in Ruhe lesen zu können, sah sie bereits als gigantischen blau-weißen Ball auf dem Kommunikatorschirm des Lesesaals, der von einem aufmerksamen Angestellten auf die großen Sichtplatten der Kommandobrücke eingestellt worden war. Matchett stellte bei sich fest, daß noch mehrere Stunden vergehen würden, bis die Sonne auf planetarische Entfernungen herangerückt war, und vertiefte sich alsbald in die Zeitung. Ihr Inhalt bestand aus einer geschickt abgewogenen Mischung von Glossen und ernsthaften Artikeln und war sowohl auf die Ansprüche der Bordwissenschaftler und ihrer Familien, als auch auf die Bedürfnisse der Bordschutzsoldaten zugeschnitten. Matchett überflog den ausgezeichnet geschriebenen Leitartikel, der die Begegnung mit dem fremden Sternenschiff aufgriff und vage Vermutungen über die kryptischen Bemerkungen des schlafenden Gottes anstellte. Offenbar hatte der Schiffscomputer noch keinerlei diesbezügliche Hinweise gegeben – wenn er tatsächlich darüber verfügte. Dann vertiefte er sich in die Seite mit den Comic-strips, in denen die phantastischen Abenteuer eines fiktiven Raumschiffskapitäns, seinen vulkanischen Wissenschaftsoffiziers und ihrer Besatzung in fernen Sonnensystemen abgebildet waren. Da sie stets mit geistreichen, satirischen Anspielungen auf tatsächliche Vorkommnisse an Bord der TELLUS gespickt waren, erfreuten sie sich unter den Expeditionsteilnehmern großer Beliebtheit. Matchett las den neuesten Witz des Tages und lächelte belustigt, als er feststellte, daß er in Wirklichkeit schon uralt war und nur in neuem Kleid erschien. Er spielte auf
ein sehr populäres Thema an: Wie man als Junggeselle oder Junggesellin an Bord der TELLUS am besten die Bekanntschaft des anderen Geschlechts machen konnte. Traditionell wurde ein derartiger Versuch als erfolgreich angesehen, wenn die beiden Expeditionsteilnehmer sich offiziell als »Partner auf Zeit« erklärten und ein gemeinsames Quartier bezogen. Ob seine keimende Freundschaft mit Ursula sich so weit entwickeln würde? Er hatte sich in den vergangenen Monaten mehrmals mit ihr getroffen – oft genug, um zu erkennen, daß sie an ihm ebenso viel Gefallen fand, wie er an ihr. Matchett überflog die Programmankündigungen der fünf holosensorischen Bordkinos und die zahlreichen Kleinanzeigen. Die Kritik über die kürzlich erfolgte Premiere des Laienspieltheaters interessierte ihn weniger, hingegen erregte ein Artikel seine Aufmerksamkeit, der eine populär-wissenschaftliche Darstellung des NIAntriebs und der dahinterstehenden geometrodynamischen Physik zu geben versuchte. Es war wenige Stunden später, als ein harmonisch abgestimmtes Glockensignal aus den Lautsprechern des Schiffes klang. Matchett erhob sich unverzüglich und strebte dem Ausgang zu, aber er war nicht der einzige. Überall standen Männer und Frauen auf und eilten zu den Aufzügen. Das Signal bedeutete die Einberufung aller Abteilungschefs des wissenschaftlichen Kontingents zu einer Besprechung. Als der Aufzug anhielt, verließ ihn Matchett in einer Gruppe von etwa zwanzig anderen Personen. Wenige Minuten später betrat er die Kommandobrücke durch eines der großen Portale im Hauptschott und nahm seinen Platz in der vorderen Reihe ein. Aus allen Richtungen kamen
Wissenschaftler, teils in der leichten, uniformähnlichen Bordkleidung, teils in ihren weißen Arbeitsmänteln. Grüppchenweise strebten sie, eifrig diskutierend, ihren Plätzen zu. Matchetts erster Blick galt den Bildschirmen. Die blauweiße Sonne hing jetzt in riesenhafter Größe vor dem Bug der TELLUS, und er sah an den Instrumenten, daß das Expeditionsschiff nahezu zum Stillstand gekommen war. Der hagere, hochaufgerichtete Pilot im Thronsessel des »Olymps« schien der gleiche zu sein, wie damals bei der Generalversammlung der Expeditionsteilnehmer. Jetzt kam Direktor Rufus Carlson durch ein Portal geschritten. Er stieg die Stufen empor und wandte sich dem Auditorium zu. »Meine Damen und Herren«, begann er und wies auf die Sichtplatten, »wir sind an unserem ersten Ziel angelangt. Die Astronomie-Abteilung ist noch mit der Untersuchung dieser Sonne beschäftigt, aber Dr. Tilden, Dr. Stanford und ihr Stab haben bereits eindeutig festgestellt, daß sie Planeten besitzt, und daß wir es hier demnach mit einem mächtigen Sonnensystem zu tun haben. Dr. Tilden hat bis jetzt zehn verschiedene Planeten ausfindig gemacht, aber weitere Meldungen treffen pausenlos ein. Es bleibt noch abzusehen, wie groß diese Planetenfamilie wirklich ist, doch können wir bereits jetzt mit mindestens fünfzig rechnen. Kapitän Tchekhov hält es in Anbetracht der besonderen Umstände, die uns hierher geführt haben, für erforderlich, daß wir jeden einzelnen Planeten einer gründlichen Untersuchung unterziehen. Die TELLUS befindet sich zur Zeit in einem Sonnenorbit.« »Eine derart gründliche Untersuchung möchte ich mir auch ausbedungen haben«, sagte ein Mann in Matchetts
Nähe. Er blickte hinüber und erkannte Professor Pankraz, den Chef der geologischen Abteilung. Im Hintergrund meldete sich ein anderer Wissenschaftler zum Wort. Carlson nickte ihm zu, und der Mann erhob sich und sagte: »Herr Direktor, ist der Kapitän der Meinung, daß dies das System ist, aus dem das fremde Raumschiff gekommen war?« »Ganz recht, Dr. Mizushima«, entgegnete Carlson. »In Zusammenarbeit mit dem Navigationsstab und dem Schiffscomputer hat meine Abteilung aus den Bahnortungsdaten des fremden Raumschiffs seinen Kurs zurückgerechnet. Er läßt sich bis in diesen Raumsektor zurückverfolgen und führt mit sehr großer Wahrscheinlichkeit genau zu diesem Sonnensystem. Natürlich kann der Fremde auch von jenseits dieser Sonne gekommen sein und das System nur durchquert haben, aber darauf können wir später noch zurückkommen, wenn sich unsere Untersuchungen als negativ erweisen sollten.« Matchett bemerkte, daß der Pilot seine Hände bewegte. Das riesige blauweiße Kugelgebilde der Sonne rückte etwas zur Seite, und das Expeditionsschiff verließ seinen Orbit und nahm Geschwindigkeit auf. Natürlich war die Beschleunigung nicht zu spüren. Im nächsten Augenblick erschien auf dem zentralen Bildschirm ein winziger, heller Punkt, der sich beim Näherkommen als eine Planetenscheibe entpuppte. Im Auditorium erklangen Rufe der Begeisterung; dann brach spontaner Applaus aus. In den folgenden Minuten umriß der Direktor in großen Zügen das Programm, nach dessen Punkten die Untersuchung der Planten ablaufen sollte. »Wir nähern uns jetzt«, sagte er, »dem innersten
Planeten, auf dem noch Leben möglich wäre. Acht weitere Planeten befinden sich noch näher an der Sonne, aber die Untersuchungen von Dr. Stanford haben gezeigt, daß sie glutflüssige Flammenhöllen sind. Auf ihnen ist jegliches Leben, wie wir es kennen, unmöglich.« Der Pilot betätigte einige Tasten, und im nächsten Augenblick schwebte der fremde Planet in riesiger Größe vor dem Bug der TELLUS. Und es dauerte nur relativ kurze Zeit, bis Beweismaterial dafür erbracht war, daß auch er keinerlei höheres Leben auf seiner Oberfläche beherbergte. Rasch schoß das Schiff in einer riesigen Spirale in den Raum hinaus und entfernte sich von der ungastlichen Welt. Aber bereits tauchte ein neuer Planet auf der Sichtplatte auf. Der Raum zwischen ihm und dem schnell kleiner werdenden Planeten war buchstäblich gesprenkelt von großen und kleinen Asteroiden, aber die TELLUS bewegte sich im Schutz ihres ellipsoidischen Energieschirms ungefährdet durch die Bruchstücke einer früheren Welt. Bald war auch der Asteroidengürtel durchflogen, und nun rückte der fremde Planet rasch heran. Mehrere Wissenschaftler erhoben sich und verließen hastig die Kommandobrücke, um ihre Abteilungen aufzusuchen und mit der Untersuchung des Planeten zu beginnen. »Einen Moment noch!« rief Carlson und hob die Hände. Als alle Blicke wieder auf ihm lagen, fuhr er fort: »Ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, daß uns der schlafende Mutant gewarnt hat. Es ist möglich, daß es Kämpfe geben wird. Bereiten Sie sich bitte darauf vor, meine Herrschaften. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß die größten Sicherheitsmaßnahmen gerade ausreichend sind. Es dürfen keine eigenmächtigen
Entscheidungen getroffen werden. Beraten Sie sich mit Ihren Kollegen und legen Sie Ihre Vorschläge dann dem Kollegium vor.« In diesem Moment blickte Douglas Matchett zufällig auf die Bildschirme. Er erhob sich und deutete auf die Sichtplatten. »Ich möchte wissen«, sagte er mit lauter Stimme, »von wem wir beschossen werden?« Alle Augen wandten sich ruckartig den Bildschirmen zu. Direktor Carlson wirbelte herum und stieß einen Ruf aus. Im nächsten Augenblick heulten die Alarmklaxons auf, und die künstliche Flutlicht-Beleuchtung des Kommandoraums erlosch, als der Pilot in automatischer Reaktion den Gefechtszustand herstellte. Tiefrot leuchteten die riesigen Meßskalen der Instrumente entlang der Peripherie der Kommandobrücke. Elektronische Darstellungen unzähliger Schiffsparameter liefen in unablässiger Folge über die vielfarbigen Computerbildschirme. Weit in der Ferne blitzte in der Richtung des fremden Planeten ein blendend helles Licht auf. Eine schillernde Säule molekularer Energie langte aus den Tiefen des Raumes und traf sprühend auf den mächtigen Schutzschirm der TELLUS. Abrupt schlugen die Strommesser aus, und der Pilot führte dem Feld mehr Kraft zu. Innerhalb von Nanosekunden hatte die Schirmelektronik die eintreffende Energie auf ihre Form analysiert und die Feldstruktur des Schutzschirms entsprechen umgeordnet. Der Schirmcomputer war dafür programmiert, eintreffende Fremdenergien möglichst rasch durch die gestaffelten Schirmfelder in diejenige Form umzuwandeln, in der sie optimal vom Schiff aufgenommen und in den Schirm zu
dessen Verstärkung zurückgefüttert werden konnte. »Raumalarm! Achtung, Raumalarm!« rief eine mechanische Stimme, und dann schaltete sich der Kapitän aus seiner Zentrale in das Lautsprechersystem ein. »Höchste Alarmstufe. Alle Mannschaften auf die Kampfstationen. Klar Schiff zum Gefecht!« Wie aufgescheuchte Hühner jagten überall Wissenschaftler mit wehenden Mänteln davon, eilig ihren Abteilungen zustrebend. Sekunden später lag der Kommandosaal, abgesehen von dem Piloten, völlig verlassen da. Matchett eilte in sein eigenes Büro und nahm unverzüglich seinen Privatkommunikator in Betrieb. Während das Schiff bereits von den Vibrationen schwerer Breitseiten erschüttert wurde, sprach er eilig in das Mikrophon. Am anderen Ende vernahmen hochqualifizierte Techniker seine Anweisungen. Unter ihren geübten Händen bewegten sich Druckknöpfe und Schaltrelais, und dann waren alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um den Tank und seinen kostbaren Inhalt zu schützen. Einer der drei Generatoren in der abgeriegelten Sektion versah jetzt für die Dauer des Gefechtszustands die Anlage mit eigener Energie. Matchett lehnte sich zurück und stellte den Kommunikator auf die Kommandobrücke ein. Sie lag noch immer verlassen da, aber nach wenigen Sekunden erschien der Captain auf der Bildfläche, begleitet von mehreren Chargen. Er warf sich in einen Sessel und schickte sich an, die Leitung der Schlacht zu übernehmen, während der Astronaut das Schiff langsam näher an den Angreifer herantrieb, dabei die abnehmende Entfernung sorgfältig mit entsprechender Verstärkung des Schutzschirms
kompensierend. Wieder durchliefen die Schockwellen mehrerer Abschüsse das Schiff, und fern in den Tiefen des Raumes blitzten die Miniatursonnen der Atomgeschosse auf. Ein zweiter Energiestrahl kam aus einem anderen Raumsektor, aber das Kraftfeld der TELLUS wies ihn ab. Ein Major vom Bordschutz blickte von seiner Konsole herüber und meldete: »Wir haben es zweifellos mit mehreren Schiffen zu tun, Herr Oberst. Das Wahrnehmungsfeld meldet eine ganze Flotte von Flugobjekten.« »Hmmm«, brummte Tchekhov und starrte in den Raum hinaus. »Bevor sie nicht auf Sichtweite heran sind, können wir nicht viel ausrichten, Fiebiger, Corcoran!« Der Pilot erwachte zum Leben. »Ja, Sir?« »Stärkste Vergrößerung einschalten!« Ruckartig schnellte der Planet auf die TELLUS zu. In riesiger Größe füllte er drei Viertel des Firmaments aus. Langgezogene Wolkenstreifen umgaben ihn wie zerfetzte Gürtel. Aber die feindlichen Raumschiffe ließen sich noch nicht ausmachen. Tchekhov schüttelte den Kopf. »Näher heran, Corcoran! Wir müssen ihnen auf den Leib rücken. Achtung, Kapitän an Feuerleitstelle: Bereiten Sie eine Batterie Neutronenbombenwerfer vor. Mal sehen, ob seine Schiffe dagegen gepanzert sind.« Das Expeditionsschiff schoß auf den Raumsektor zu, indem sich die feindliche Flotte konzentrierte. Seine Neutronenwaffen begannen für die Dauer von Sekunden zu arbeiten, aber der Gegner erwiderte das Bombardement der Werferbatterien ohne erkenntliches Nachlassen seiner Feuerkraft.
»Wetten, daß die Wassertanks als Abschirmung benutzen?« murmelte Major Fiebiger. Der Kapitän hingegen starrte gebannt auf die Bildschirme. Die feindlichen Schiffe waren jetzt deutlich sichtbar, und ihr Anblick stellte in der Tat eine Überraschung dar. Selbst Douglas Matchett, der die Geschehnisse auf dem Bildschirm des Schiffskommunikators verfolgte, zog erstaunt die Luft ein, als er ihre äußere Form ausmachte. »Zum Teufel!« rief Tchekhov. »Mit wem haben wir es denn hier zu tun?« Denn die Erwartung der Männer und Frauen, daß sie gegen jene Rasse kämpften, deren Raumschiff ihnen unterwegs begegnet war, erfüllte sich nicht. Dort in den Tiefen des Raums schwebten keine glatten, ebenmäßigen Kugelraumschiffe, sondern eine nicht übermäßig große Flotte von langen, schlanken, spindelförmigen Maschinen. Sie unterschieden sich so grundlegend von jenem anderen Sternenschiff, daß es auch dem letzten der Menschen augenblicklich klar wurde, daß sie es hier mit einer gänzlich anderen Rasse von Wesen zu tun hatten. Eigenartigerweise schien es, als ob auch der Anblick der TELLUS für den Gegner eine Überraschung darstellte, denn noch kaum war das riesige Expeditionsschiff zum Stehen gekommen, als auch schon mit einem Schlag die Strahlwaffen der Spindelschiffe erloschen. »Feuer einstellen!« rief der Kapitän in seinen Kommunikator. »Schiff bleibt in Gefechtsbereitschaft.« Schweigend betrachteten die Männer, die mit ihm auf der Brücke weilten, die fremde Flotte. Aus den Lautsprechern kam die tiefe, dröhnende Stimme von Direktor Carlson, der die Geschehnisse zweifellos von
seiner Abteilung aus beobachtete. »Was soll denn das bedeuten, Drag? Es scheint fast, als hätten sie jemand anderen erwartet.« »Jedenfalls trifft dies genau für uns zu«, entgegnete Tchekhov trocken. »Sagen Sie, Rufus, sind wir sicher, daß dies das Sonnensystem ist, aus dem das Kugelraumschiff gekommen ist?« Carlson hatte keine Gelegenheit mehr, die Frage zu beantworten. Ein roter Signalkristall begann neben dem Handgelenk des Kapitäns auf der Kommunikatorkonsole zu flackern. Tchekhov fuhr mit der Hand über einen Aurasensor, und auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines jungen Mannes, dessen Mützeninsignien ihn als dem Nachrichtenstab des Schiffes zugehörig auswiesen. »Leutnant Gregson hier, Herr Oberst. Wir empfangen Funksignale des Gegners. Wir haben sie auf Tonspeicher aufgenommen, aber vorläufig ergibt sich noch kein System.« »In Ordnung, Gregson«, entgegnete der Kapitän und richtete sich auf. Es bedeutete sichtlich eine Erleichterung für ihn, nicht länger zur Untätigkeit verurteilt zu sein. »Geben Sie die Aufzeichnungen sofort an die Dechiffrierabteilung weiter. Höchste Dringlichkeitsstufe. Und senden Sie auf gleicher Wellenlänge einen Funkspruch in unserem Universalkode hinüber. Nehmen Sie Schema A-3. Wenn der Gegner nicht auf den Kopf gefallen ist, wird er daraus die Grundzüge unserer Sprache aufschlüsseln können. Ende.« Er stellte eine Verbindung zu einer weiteren Abteilung her und sagte zu dem weiblichen Offizier, der auf dem Schirm erschien: »Hauptmann Sorge, soeben wird Ihnen ein Speicherkristall mit Sprachaufzeichnungen des Gegners
zugestellt. Sehen Sie zu, daß Sie sie möglichst schnell dechiffriert haben. Machen Sie Ihren Entschlüsselungscomputern Dampf! In spätestens fünf Stunden möchte ich die ersten vernünftigen Ergebnisse sehen. Ende.« Die Frau salutierte und verschwand. Matchett achtete nicht weiter auf die Vorgänge im Kontrollraum. Es schien, daß ein Waffenstillstand eingetreten war, und die letzten Entwicklungen hatten in seinen Gedanken einen eigenen Plan Gestalt gewinnen lassen. Er erhob sich unverzüglich und eilte auf den Korridor hinaus. Der nächste Aufzug war besetzt, aber der übernächste stand zur Verfügung. Er sprang hinein und schoß in die Tiefe des Schiffes hinunter. Im Kielraum angelangt, hastete er den Korridor entlang, nickte den salutierenden Wachsoldaten zu und betrat die abgeriegelte Sektion. Als sich die innere Schleusentür hinter ihm schloß, sah er auf den ersten Blick, daß seine Assistenten auf ihren Posten standen. Reparaturwerkzeuge lagen griffbereit. Wachsame Augen kontrollierten die Meßinstrumente und Warnanlagen, die über die Funktion des Cryotanks Aufschluß erteilten. Er öffnete das Schloß des Kommunikatorgeräts und näherte seinen Mund dem Mikrophon. »Hallo, Chet! Hörst du mich?« Die Stimme des Mutanten erfüllte augenblicklich den Raum. »Warum nicht, Doug, alter Schreihals? Flüstern tust du nicht gerade!« »Wir haben da zur Zeit ein verflixtes Problem, wie du weißt ...«, sagte Matchett.
»Du meinst die feindliche Flotte?« Obwohl die Stimme rein mechanisch erzeugt wurde, gelang es den Modulatoren doch, sie eine Spur belustigt klingen zu lassen. »Es wurde höchste Zeit, daß Ihr eure Schießerei eingestellt habt! Natürlich ist es nicht die gleiche Rasse. Jenes Kugelraumschiff damals kam zwar aus diesem Sonnensystem, aber es gehört jemand ganz anderem. Und ich muß gestehen, es hatte eine recht eigenartige Besatzung an Bord ...« Als die Stimme schwieg, sagte Matchett ungeduldig: »Sie versuchen, mit uns in Verbindung zu treten ...« »Nachdem sie erkannt haben, daß wir nicht diejenigen sind, auf die sie gewartet haben, sind sie natürlich nun daran interessiert, sich mit uns zu verbünden. Und Ihr tätet gut daran, Doug, wenn ihr darauf eingeht. Genau in diesem Augenblick unterbreiten sie ihren Vorschlag.« Und so war es auch.
7. Drei Tage später. Im Auditorium des Kommandosaals hatten die Wissenschaftler Platz genommen. Eine kleine Gruppe von Offizieren stand auf der Brücke in ihren Paradeuniformen. Man hatte sich versammelt, um den Abgesandten der fremden Rasse zu empfangen, der durch den mit einer Luftschleuse versehenen flexiblen Tunnel zwischen den aneinander gekoppelten Schiffen an Bord kam. Eine Abordnung des Direktoriums führte ihn durch die langen Gänge der TELLUS, und als er endlich durch eines der Portale des Kommandoraums trat, legte sich tiefe Stille über die versammelten Menschen. Douglas Matchett war nur einer von vielen, die den Fremden mit größtem Interesse betrachteten. Vergessen war für den Moment die soeben noch beunruhigende Tatsache, daß Fräulein Dr. Borowskaja den freien Platz neben ihm ausgewählt hatte. Nach einem ersten, umfassenden Blick auf den Abgesandten entschied er, daß die Natur bei der Erschaffung dieser intelligenten Wesen zweifellos mit ihren Variationsmöglichkeiten gegeizt hatte. Der Fremde, der vom Flaggschiff seiner Flotte bereits unter dem Namen M'Nor angekündigt worden war, gehörte einer Rasse an, die offensichtlich humanoid war. Er ging aufrecht auf zwei Beinen, und seine beiden Arme besaßen je ein Ellbogengelenk und ein Handgelenk. Die Hände selbst trugen vier sehr menschlich erscheinende Finger, die sich paarweise gegenüberstanden. Auch der Kopf sah auf den ersten Blick nicht unmenschlich aus, aber dann begann Matchett rasch einige auffällige Abweichungen
festzustellen. Da war zunächst die Gestalt des Fremden. Unendlich dünn und dabei wenigstens zwei Meter fünfzig groß, schien sie nur aus gelblich schimmernder Haut und leichten dünnen Vogelknochen zu bestehen. Die Figur erschien stark gekrümmt, doch ließ sich nicht sagen, ob dies die natürliche Haltung dieser Wesen oder eine Alterserscheinung M'Nors war. Bekleidet von einem eng anliegenden Metallgewebe, das einer Fliegerkombination mit kurzen Ärmeln und kurzen Hosenbeinen glich, war seine Gestalt trotz ihrer grotesken Zierlichkeit menschlich – menschlicher jedenfalls, als das Gesicht des Fremden, das zwar zwei große, runde Augen besaß, hingegen keine als solche erkennbare Nase. Und der ebenfalls kreisrunde Mund schien winzig, verglichen mit dem hohen, flaumbedeckten Schädel, der wie ein auf die stumpfe Spitze gestelltes Ei aussah. Ein Techniker der Nachrichtenabteilung rollte die Übersetzungsmaschine herein, die bereits auf die Sprache der Fremden programmiert war. Direktor Carlson tauschte einige höfliche Begrüßungsfloskeln mit dem Abgesandten aus und erklärte ihm anschließend, was bereits im Rahmen der Videofunkverbindung zwischen beiden Seiten klargemacht worden war: daß die TELLUS eine Expedition aus einer anderen Galaxis an Bord hatte, die den Spiralnebel M-31 erforschen sollte. Während er sprach, übersetzte die Maschine seine Worte. Carlson stellte dem Abgesandten Kapitän Tchekhov und seine Offiziere vor und brachte dann zum Ausdruck, daß er im Namen der Wissenschaftler an Bord des Expeditionsschiffs sprach, die im Auditorium versammelt waren.
Als er geendet hatte, dankte ihm M'Nor für den freundlichen Empfang. Seine Stimme klang eigenartig krächzend, und seine Sprache schien Matchetts ungeübtem Ohr größtenteils aus Konsonanten zu bestehen. Aber die Maschine übersetzte die Worte ohne große Schwierigkeiten. Hin und wieder traten allerdings Lücken auf, wenn der Fremde Worte sprach, deren Schablone in den Gedächtnisbänken der heuristischen Maschine noch nicht enthalten waren, aber auch dann wurde der Sinn ohne weiteres klar. Matchett hörte aufmerksam zu, als M'Nor erklärte, daß sich sein Volk im Kriegszustand befand. Der Feind war ursprünglich aus dem interstellaren Raum dieser Milchstraße gekommen, von einem Sonnensystem, das in den stärksten Teleskopen der Sorok – wie sie sich nannten – kaum sichtbar war. In riesigen, kugelförmigen Raumschiffen hatte er vor langer Zeit mit barbarischer Wildheit angegriffen und mehrere Planeten dieses Sonnensystems erobert, ehe sich die Sorok genügend gerüstet hatten, um ihm Widerstand leisten zu können. Es war ihnen niemals gelungen, die verlorenen Welten zurückzuobern. Von den überlegenen Waffen des Feindes unaufhaltsam zurückgedrängt, besaßen sie zur Zeit nur noch einen einzigen Planeten – ihre eigentliche Heimatwelt, Sor. Jedem einzelnen Sorok war es klar, daß das ultimate Ende nicht mehr fern sein konnte. Kapitän Tchekhov fragte interessiert: »Kugelförmige Raumschiffe, sagten Sie? Um was für eine Rasse handelt es sich?« M'Nor hob die Hände in einer sehr menschlichen Geste. »Wir wissen es nicht. Wir haben noch niemals auch nur einen einzigen Vertreter des Feindes zu Gesicht
bekommen. Unsere Spionstrahlen können das schwarze Metall der Kugelschiffe nicht durchdringen. Ihre Energieschirme sind zwar nicht unverletzlich, aber wir haben bisher noch keines ihrer Schiffe erobert. Sie haben auf mehreren Planeten unseres Sonnensystems Stützpunkte errichtet und gewaltige, rätselhafte Bauwerke hochgezogen, deren Einzelteile von ihren Nachschubschiffen aus ihrem fernen System gebracht wurden. Unsere Aufklärungsschiffe, die versucht haben, in die Nähe dieser planetarischen Stützpunkte vorzudringen, sind ausnahmslos nicht mehr zurückkehrt und buchstäblich verschollen. So wissen wir bis heute nicht, wie unsere Gegner überhaupt aussehen.« Matchett dachte an die kryptischen Worte des schlafenden Gottes, und ein kalter Schauer überlief ihn. Was waren das für Wesen? Ihre glatten, schwarzen, lukenlosen Kugelraumschiffe schienen symbolhaft für das Geheimnis, das sie umgab. Warum schwarz? Warum keine reflektierende Hülle in einem Raum, der angefüllt war mit Energiestrahlungen aller Art? Oder war es etwa ein neues Metall, das weder reflektierte noch absorbierte? »Seit jenem Tag, an dem der Feind zum ersten Mal aus dem Weltall auf unsere unbewaffneten Kolonien herunterschoß, stehen wir in ständigen Kampf mit ihm«, erklärte M'Nor. »Nur ein Wunder kann uns noch retten. Unsere Flotte war im Begriff, sich in Erwartung eines weiteren Angriffs zusammenzuziehen, als das Nahen dieses Schiffes namens TELLUS gemeldet wurde. Natürlich mußten wir annehmen, daß es sich um ein Sternenschiff des Gegners handelte. Verzeihen Sie deshalb, daß wir sofort schossen und unsere Langstreckenwaffen einsetzten. Wir konnten ja nicht ahnen, daß wir in dieser
Schicksalsstunde für das Volk von Sor einer zweiten interstellaren Rasse begegnen würden! Erst als wir Ihres Schiffes angesichtig wurden, erkannten wir, daß wir einen schrecklichen Fehler begangen hatten. Er ist uns teuer zu stehen gekommen, denn Ihre Geschosse haben über viele Hunderte von Kilometer hinweg zwei unserer Schiffe restlos vernichtet. Ein schwerer Verlust für unsere zusammengeschrumpfte Flotte, den wir jedoch selber herausgefordert haben.« »Was?« rief Kapitän Tchekhov völlig verblüfft aus. »Unsere Atomtorpedos haben zwei Ihrer Schiffe erwischt?« Und zu seinen Offizieren gewandt: »Warum erfahre ich das erst jetzt?« Wieder dem Sorok zugewandt, fuhr er fort: »Aber ... das ist doch unmöglich, mein Freund! Ihre Energieschirme müßten die Geschosse doch spielend aufhalten können!« »Gewiß«, bestätigte M'Nor ernst, »wenn wir derartige Energieschirme hätten. Aber leider ist es uns nie gelungen, ein Kraftfeld aufzubauen, das die Funktion eines Schutzschirms für ein Raumschiff übernehmen könnte. Dies ist ja auch der Grund dafür, daß unsere Schiffe im Gefecht mit dem Gegner bisher stets unterlegen sind.« Tchekhov blickte den Abgesandten nachdenklich an. »Hmmm ...«, brummte er und warf dann Carlson einen fragenden Blick zu. Der Direktor zuckte kaum merklich die Achseln. »Hmmm ...«, machte Tchekhov noch einmal und sah wieder auf M'Nor. »Haben Sie jemals versucht, das Heimatsystem der feindlichen Rasse zu erreichen und seine Nachschubmöglichkeiten auszuschalten?« »Sieben kampfkräftige Expeditionen sind im Lauf der Jahre hinausgegangen«, entgegnete M'Nor niedergeschlagen. »Sie versuchten, genau das zu tun,
wovon Sie sprechen, Captain. Sie sind jedoch bis auf den heutigen Tag nicht zurückgekehrt, und wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist.« »Etwas ungewöhnlich, nicht wahr?« meinte Carlson, nachdenklich seinen Backenbart kratzend. »Könnte es sein, daß der Feind noch eine Geheimwaffe auf Lager hat, der die verschollenen Schiffe zum Opfer gefallen sind?« »Das ist durchaus möglich«, sagte der sorokanische Diplomat. »Aber es fehlt uns jeglicher Anhaltspunkt.« »Ich glaube, wir haben genug gehört«, brummte Tchekhov plötzlich. »Ich möchte Sie bitten, sich ein paar Minuten zu gedulden, während unsere Experten zu einem kleinen Kriegsrat zusammentreten.« Carlson trat einige Schritte vor und wandte sich dem Auditorium der Wissenschaftler zu. »Meine Damen und Herren«, begann er. »Sie haben alle gehört, wie die Dinge stehen. Sie sind sich überdies im klaren, daß sich in diesem Augenblick eines der Kugelraumschiffe dieser geheimnisvollen Rasse in unserem irdischen Sonnensystem befindet. Die Erde steht in Gefahr, ebenfalls von den Schiffen des Gegners angegriffen zu werden. Ich möchte zunächst Dr. Douglas Matchett fragen, wie sich der schlafende Gott zu diesen Fragen geäußert hat.« Matchett erhob sich und blickte sich um. Von überall her richteten sich besorgte, neugierige, gespannte und nachdenkliche Augenpaare auf ihn. Dann sah er die Augen der jungen Frau neben ihm und straffte die Schultern. Sicherlich würde er es heute abend fertigbringen, ihr endlich seinen Antrag zu machen! »Chester Clayton King ist der Meinung«, sagte er mit lauter, klarer Stimme, »daß wir die Soroks voll und ganz
unterstützten sollten.« Er zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: »Weiter hat er sich nicht geäußert.« Dies stimmte zwar nicht ganz, aber Matchett hielt es für richtig, die spöttischen Randbemerkungen des Mutanten zu verschweigen. Er setzte sich rasch wieder, und Carlson fuhr in seiner Ansprache fort: »Danke, Dr. Matchett. Nun, meine Herrschaften, so stehen also die Dinge. Darf ich jetzt um Vorschläge bitten?« Im Hintergrund meldete sich Dr. Axel Trommsdorff, Chef der physikalischen Abteilung. »Herr Direktor, ich glaube, der schlafende Mutant hat unser aller Meinung zum Ausdruck gebracht. Ich plädiere ebenfalls dafür, daß wir uns auf die Seite der Soroks stellen, und ich glaube ferner, wir könnten ihnen einen großen Dienst erweisen, wenn wir ihnen die Technologie für unseren Energieschirm geben würden.« Matchett nickte unwillkürlich. Es wäre tatsächlich der einzige Weg, der bisherigen Überlegenheit des Feindes Schach zu bieten. Die Erschaffung eines solch komplizierten Kraftfelds, wie der Energieschirm der TELLUS, erforderte weitreichende wissenschaftliche Kenntnisse. Es mochten noch Jahrhunderte vergehen, bis die Soroks von selbst auf die Formelsysteme stießen. Selbst die Erde verfügte nur deshalb über den Schutzschirm, weil sie die King-Zwillinge besaß. Haggai Edelson, der Vizedirektor und Stellvertreter Carlsons, warf bedächtig ein: »Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß die Übergabe unserer Schutzschirmtechnologie an diese Soroks einen sehr ernsten und kritischen Schritt des Technologietransfers
bedeuten kann. Wir geben damit einen verteidigungstechnischen Vorsprung auf, der unter Umständen unser Leben und den Fortbestand unserer Heimatzivilisation kosten kann. Wenn der schlafende Gott nicht seine ausdrückliche Zustimmung gegeben hätte, würde ich dagegen stimmen.« Carlson nickte. »Ganz meine Meinung, Guy. Kings Empfehlung ist für uns alle maßgebend.« Ein anderer Mann meldete sich. Es war Erik Tilden von der astronomischen Abteilung. Seine tiefliegenden Augen brannten in fanatischem Feuer. »Es wäre darüber hinaus vielleicht angebracht«, sagte er mit hohler Stimme, »nicht nur die Schiffe der Soroks mit Energieschirmen auszurüsten, sondern auch ihren Planeten mit einem entsprechenden Kraftfeld zu umgeben. So, wie ich die Lage sehe, stellt der Planet Sor die letzte Zufluchtsstätte dieses Volkes dar. Sollte er überraschend erobert werden, so ist der Untergang des Volkes nicht mehr aufzuhalten. Wir wissen nicht, ob es uns gelingen wird, die Stützpunkte des Gegners auf den anderen Planeten auszuheben.« Mehrere Anwesende brachten mit lauten Zurufen ihre Zustimmung zum Ausdruck. Carlson wartete noch einen Moment und nickte dann befriedigt. »Okay, wir wollen gleich darüber abstimmen. Alle diejenigen von Ihnen, die mit den Vorschlägen von Dr. Trommsdorff und Dr. Tilden einverstanden sind, mögen dies bitte durch Handaufhalten bekunden.« Matchett kam der Aufforderung nach und blickte sich um. Er sah ein Meer von Händen. Die versammelten Wissenschaftler hatten die Vorschläge fast einstimmig angenommen.
Carlson nickte ein zweites Mal und wandte sich an Kapitän Tchekhov. »Und die Meinung der Besatzung, Colonel?« Tchekhov nickte kurz. Der Direktor trat zu M'Nor, der während der Besprechung schweigend im Hintergrund verharrt hatte. »Sie haben die Meinung unserer Fachleute gehört?« fragte er. Aber noch ehe M'Nor dazu kam, zu antworten, entstand plötzlich eine Bewegung in der Gruppe der Offiziere, die hinter Tchekhov standen. Ein roter Signalkristall flackerte hektisch am Hauptpult des Schiffskommunikators. Ein junger Leutnant warf einen Schalter herum, und im nächsten Augenblick erschien das Gesicht von Gregson aus der Nachrichtenabteilung. »Herr Kapitän, dringende Botschaft vom Flaggschiff der Soroks!« »Lassen Sie hören, Mann!« erwiderte der Kapitän. »Vor wenigen Minuten ist ein Kugelraumschiff auf Sor gelandet, Sir. Es sieht wie eine Notlandung aus, aber es schießt aus allen Rohren. Eine größere Stadt mit einer halben Million Einwohner ist bereits fast völlig vernichtet worden.« Matchett sah, daß M'Nor schmerzlich zusammenzuckte. Tchekhov richtete sich impulsiv auf. »Zur Landung muß es seinen Schutzschirm ausgeschaltet haben, sonst wäre es mitsamt einigen tausend Tonnen Planetenmaterial in die Luft geflogen. Das bedeutet, daß es jetzt verwundbar ist. Wir müssen augenblicklich handeln!« Mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs verteilte er Befehle. »Corcoran! Ran an den Feind. Landen Sie in sicherer Entfernung von dem feindlichen Schiff.
Kapitän an Landetruppen! Bereitmachen zur Ausschiffung! Oberstleutnant Henderson, Sie übernehmen die Führung. Gregson!« Der langhaarige Nachrichtenoffizier entgegnete schneidig: »Jawohl, Sir?« »Teilen Sie der Sorok-Flotte mit, daß wir angreifen. Vor der Abkoppelung soll das Flaggschiff jedoch Herrn M'Nor übernehmen. Er wird Berechnungen und Konstruktionspläne nebst Schaltschemata mitbringen, nach denen unverzüglich Feldgeneratoren für Energieschirme gebaut werden müssen. Unterstreichen Sie, daß das gesamte industrielle Potential von Sor hierfür eingesetzt werden muß.« Die TELLUS schoß bereits auf den Planeten hinunter, als Kapitän Tchekhov seine Offiziere instruierte und dann seinen Gefechtsstand vor den Sichtschirmen des Expeditionsschiffs einnahm, seine Schirmmütze verwegen im Nacken. »So«, meinte er grimmig, »jetzt geht der Tanz los.«
8. Das Expeditionsschiff TELLUS landete einhundertfünfzig Kilometer vom feindlichen Raumschiff entfernt. Douglas Matchett befand sich mit einigen anderen Wissenschaftlern auf der Kommandobrücke und verfolgte die Vorgänge auf den großen Bildschirmen. Die silbrig blitzende Diskusscheibe von 300 m Durchmesser und 56 m Dicke im Mittelstück fuhr ihre stoßgedämpften Beinsäulen aus und setzte auf den Fußtellern auf. Der Antrieb – auf normalem chemischen Raketenimpuls beruhend – erstarb, als die Tragfähigkeit des Bodens erwiesen war. Da die TELLUS zur Landung ihren Schutzschirm hatte abschalten müssen, mußte sie während des Ausschiffungsmanövers sorgfältig gegen Überraschungsangriffe aus der Luft gedeckt werden. Die Sorok-Flotte übernahm diesen Schutz. Ihre silbernen Spindelschiffe bildeten einen dichten Schirm hoch über der Planetenoberfläche, und die Beobachter der TELLUS saßen aufmerksam an ihren Langstrecken-Scanners und durchforschten den Raum mit den Wahrnehmungsfeldern des Schiffes, deren Urahne einst das Radar gewesen war. Währenddessen lief das Landungsmanöver ab. Kaum hatte das Expeditionsschiff sanft auf der weiten, öden Ebene aufgesetzt, als die drei riesigen Schleusen im strömungsgünstig geschweiften Unterteil der Scheibe aufklappten. Lange, breite Rampen glitten hervor, und noch kaum hatten sich die Sicherungssporne an ihren Enden im steinigen Boden verankert, als auch schon die ersten Landungsfahrzeuge hervorrollten. Mächtige gepanzerte Ungetüme auf sausenden Gleisketten, bewegten
sie sich in drei dicht aufeinanderfolgenden Wellen auf die Ebene hinaus. Sie schwärmten sofort im taktischen Formationen aus, um das Schiff auch gegen Angriffe vom Boden zu decken. Jedes der neun Landungsfahrzeuge hatte fünfundzwanzig schwerbewaffnete Bordschutzsoldaten und fünf Fernsteuerungstechniker an Bord. Sie standen durch Bildfunk untereinander und mit den übrigen, pilotlosen Einsatzgeräten in Verbindung und bildeten während ihres Einsatzes selbständige rollende Festungen. Während der ersten Angriffsphasen, die dazu dienten, die Kampfkräfte möglichst rasch und möglichst nahe an den Feind heranzubringen, waren sie allseitig geschlossene Metallkolosse, deren Panzerung nur durch die winzigen Öffnungen der Sensorelektronik durchbrochen wurde. Ihre Fahrer verließen sich während dieser Zeit voll und ganz auf die großen Bildschirme in ihren Steuerzentralen. Erst später, wenn die Truppen selbst in die Kampfhandlungen eingriffen, würden sich kleine Schießscharten öffnen und die Stummelrohre mittelschwerer Kanonen hervorschieben. Nach den ersten Wellen der Landungsfahrzeuge folgten drei fahrbare Energieprojektoren, und dann kamen kleinere Fahrzeuge, die zum Munitionstransport, für Aufklärungszwecke und für kleine Scharmützel gebraucht wurden. Ihre Funktion war weitgehend vollautomatisch, von künstlicher Intelligenz gesteuert. Als die letzten Truppen von Bord gegangen waren, schlossen sich die schweren Ladeluken. Das Expeditionsschiff erhob sich unverzüglich und strebte unter Raketenschub weiter in den Raum hinaus. Sobald es die Atmosphäre hinter sich hatte, trat der Energieschirm in Aktion. Matchett wußte, daß er jedoch das Schiff nicht
völlig umgab. An mehreren ständig wechselnden Stellen wies er winzige Lücken auf, um die Strahlen der Videoverbindung durchzulassen. Die TELLUS schwebte jetzt hoch über der Planetenwelt im Raum, aber Kapitän Tchekhov stand nach wie vor holographisch mit seinen Landungstruppen in Verbindung. Matchett beobachtete aufmerksam das Vorrücken der gepanzerten Ungetüme. In breiter Front rollten sie über die Ebene auf das weit entfernte Raumschiff des Feindes zu. Dort flackerten jetzt Mündungsfeuer auf. Die Atmosphäre des Planeten verhinderte eine Anwendung jener Strahlwaffen, die ihr selbst und damit dem Schiff gefährlich werden konnten, aber wie Matchett erkannte, standen dem Feind noch genügend andere Mittel zur Verfügung. Seine Atomgranaten detonierten in den Reihen der Bordschutz-Kampfgruppe, und überall stiegen dräuende Pilzwolken in die Luft empor. Jetzt griffen mehrere Sorok-Schiffe an und bombardierten den Feind aus dem Raum. Langgestreckte Geschosse verließen ihre Abschußrampen im Innern des Kugelschiffs und jagten zu ihnen herauf, nur um von automatischen Interzeptorraketen abgefangen zu werden. Ein Geschoß jedoch durchbrach den Verteidigungsgürtel, und Sekunden später scherte ein Sorok-Schiff mit aufgerissener Flanke aus der Formation aus. Kurze Zeit später traten auch die Waffen der vorgerückten Landungsfahrzeuge in Tätigkeit. Matchett konnte sehen, wie sie eine radioaktive Feuerwalze vor sich her trieben, die das feindliche Schiff nach wenigen Minuten völlig eindeckte. Eine zweite Abteilung beendete ein Umgehungsmanöver, und jetzt saß das Kugelschiff im Kessel der Truppen. Als sich die Rauchwolken verzogen,
sah Matchett, daß sich urplötzlich Luken in der schwarzen Kugel geöffnet hatten. Maschinen rollten heraus, die in ihrer grotesken Form einem Alptraum zu entstammen schienen. Zwei Landungsfahrzeuge und mehrere Robotlafetten glühten blendend hell auf und zerschmolzen, als der Feind eine neue Waffe zur Anwendung brachte. Tchekhov kniff schmerzlich die Augen zusammen und ließ eine Kette von Befehlen vom Stapel. Das Feuer der Kampfgruppe TELLUS ließ von dem Kugelschiff ab und konzentrierte sich auf die Verteidigungsmaschinen. Matchett konnte erkennen, daß sie fast sofort drei von ihnen außer Gefecht setzten. Ein kleiner Kordon von Panzerungetümen schloß sich um die havarierten Maschinen, und mehrere Soldaten in schwerer Kampfrüstung sprangen heraus, um die feindlichen Maschinen zu untersuchen. Zwei Minuten später erwachte der Kommunikator zum Leben, als eine Meldung für Oberst Tchekhov eintraf. »Herr Oberst«, sagte Gail Hendersons keuchende Stimme, »an Bord dieser Maschinen befinden sich keine Lebewesen. Die ersten Untersuchungen scheinen zu zeigen, daß sie vom Schiff aus ferngesteuert werden.« Jetzt sah Matchett auch die Sprecherin auf dem Bildschirm. Ihre Rangabzeichen identifizierten sie eindeutig, aber ihr Gesicht konnte man nicht erkennen, da es sich im Inneren eines allseitig geschlossenen Metallhelms befand. »In Ordnung, Oberstleutnant Henderson«, entgegnete Tchekhov ruhig. »Demnach müssen wir unsere Angriffe wieder auf das Schiff konzentrieren. Ich hätte schon längst eine mittelgroße Atombombe darauf gesetzt, aber wir wollen es möglichst unversehrt in unsere Hände bringen.
Es kommt außerdem darauf an, den Planeten Sor vor weiteren Umweltschäden zu bewahren. Immerhin stellt er die einzige Lebenschance unserer Verbündeten dar. Unternehmen Sie ein Ablenkungsmanöver und schicken Sie eine kleine Entermannschaft durch die geöffneten Luken an Bord. Ende.« Aus den Beobachtungsgalerien der TELLUS traf eine Eilmeldung ein. »Vier Kugelraumschiffe gemeldet, Herr Kapitän. Sie nähern sich dem Planeten.« »Wollen vermutlich ihrem Schwesterschiff zur Hilfe kommen«, murmelte Tchekhov und drückte auf mehrere Knöpfe. »Verständigen Sie das Sorok-Flaggschiff. Wir greifen an. Konzentriertes Feuer auf die Neuankömmlinge!« Die TELLUS setzte sich in Bewegung und raste auf die vier Feindschiffe zu. Mehrere Stunden später sah Matchett, daß sich von allen Seiten die langen, schlanken Spindelschiffe der Soroks näherten. Drei von ihnen besaßen bereits einen Prototyp des Schutzschirms, der ihnen von Tchekhov übergeben worden war. Ebenso wie der der Kugelraumschiffe war er nicht unverletzlich, aber der Feind hatte bisher noch nicht gezeigt, ob er eine Waffe besaß, die ihn durchdringen konnte. Flackernde Ionenstrahlen von extremen Energiegehalt empfingen die TELLUS, aber der Schirm hielt ihnen stand. Die Artilleriemannschaften des Expeditionsschiffs, die an Bord geblieben waren, erhielten Arbeit. Schwere Abschüsse ließen das Schiff erzittern, und lange, nadelförmige Todestorpedos rasten hinaus. Matchett nahm den Blick von den Sichtplatten und sah sich um. Abgesehen von dem kalten Leuchten, das den glühenden Bildschirmen entströmte, lag der
Kommandoraum nahezu in Dunkelheit. Der Astronaut, der hoch oben auf seinem Pilotensessel saß und schweigend seine Kontrollen bediente, war kaum zu erkennen. Überall kauerten angespannte Männer und Frauen gebeugt über Instrumenten, deren Skalen in tiefem Rot leuchteten und die Gesichter der Schiffsoffiziere verwaschen und unwirklich erscheinen ließen. Jetzt sprach der Kapitän wieder in den Kommunikator. Wenige Sekunden später richtete sich das konzentrierte Feuer von acht Sorok-Schiffen auf ein einzelnes Kugelraumschiff. Die TELLUS schloß sich ihnen an, und der Energieschirm des Feindes konnte die Überbelastung nur für Bruchteile von Sekunden aushalten. Das Kugelschiff schickte sich an, der unerträglichen Energiekonzentration mit einem gewaltigen Sprung zu entfliehen, aber die Reaktion kam eine Millionstelsekunde zu spät. Sein Schutzschirm wurde buchstäblich in Fetzen gerissen. Fast gleichzeitig flackerte die schwarze Hülle des Schiffes in blendendem Feuer auf. Eine titanische Explosion sprang es auseinander. Zurück blieb eine leuchtende Gaswolke, die rasch verglühte und verschwand. Sofort wechselten die Energiesäulen der Sorok-Schiffe auf ein zweites Feindschiff hinüber. Ein Spindelschiff zerschmolz unter einem Strahl geballter Hitze, aber dann entfloh das Feindschiff dem Trommelfeuer. Matchett nickte unwillkürlich. Zweifellos besaß auch die Kampfkraft des Feindes seine Grenzen. Die Nachrichtenabteilung des Expeditionsschiffs meldete sich. Leutnant Gregson blickte vom Bildschirm und salutierte. Matchett sah, daß sein Gesicht schweißüberströmt war. Zweifellos herrschte in den äußeren Abteilungen des kämpfenden Schiffes eine
Gluthitze. »Herr Oberst, Meldung vom Sorok-Flaggschiff: Ein vorgeschobenes Aufklärungsschiff meldet die Landung einer größeren Nachschubflotte auf den planetarischen Stützpunkten des Feindes. Es sind mindestens zwölf Schiffe, die von dem fernen Heimatsystem des Gegners gekommen sind.« Der Kapitän nickte. »Ich frage mich, ob wir nicht besser daran täten, zunächst einmal diese Nachschubquelle auszuschalten. Solange das Heimatsystem existiert, können wir ewig gegen die Kugelschiffe anrennen.« »Der gleiche Gedanke schwebt mir auch schon seit einiger Zeit vor«, meinte Direktor Carlson, der sich mit Matchett und mehreren anderen Wissenschaftlern auf der Brücke befand, um die Schlacht aus nächster Nähe zu beobachten. »Es kommt mir vor wie jene sagenhafte Hydra, bei der für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue Köpfe nachwuchsen.« »Zunächst jedoch ...«, murmelte Tchekhov und wandte sich wieder an Gregson. »Hören Sie, Herr Leutnant. Fragen Sie mal beim Flaggschiff an, wie lange es noch dauert, bis die Mehrzahl der Sorok-Schiffe mit Energieschirmen ausgerüstet ist.« Gregson salutierte und verschwand. Als er sich wenige Minuten später wieder meldete, war sein Gesicht ernst. »Die Arbeiten sind in vollem Gang, Herr Kapitän. Mehrere große Fabrikationszentren auf Sor haben mit der Massenherstellung der nötigen Apparaturen begonnen. In wenigen Stunden wird der Einbau der Geräte in ein weiteres Dutzend Schiffe beendet sein. Viele der Schiffe sind jedoch offenbar nach den bisherigen Kampfhandlungen knapp an Energie. Sie werden einige
Zeit dazu benötigen, die Speicher neu aufzufüllen. Der Sorok-Admiral läßt fragen, was Sie beabsichtigen.« »Das weiß ich im Augenblick selber noch nicht«, entgegnete der Kapitän unschlüssig und schaltete ab. Das rote Signal des Kommunikators begann heftig zu flackern. Die Fernverbindung zur Landetruppe! Ein Offizier streckte den Arm aus und drückte auf eine Taste. Kommandantin Henderson, noch immer in voller Kampfausrüstung, erschien auf der Bildplatte. »Unsere Leute haben das Feindschiff geentert, Sir. Wir stehen noch im Kampf mit ihm, aber die meisten Sektoren sind bereits lahmgelegt. Soeben traf der erste Bericht der Entermannschaft ein. Es scheint, Sir, daß keinerlei organische Lebewesen an Bord weilen. Das Schiff enthält nur Lagerräume für die Maschinen, eingebaute Waffen und eine unübersehbare Menge von elektronischen Apparaturen. Ich verstehe leider nicht viel davon, aber sein Inneres sieht wie eine vollautomatische Computerzentrale aus.« »Ferngelenkt?« fragte Tchekhov, halb zu sich selbst. Ein Wissenschaftler neben Matchett rührte sich plötzlich. Matchett kannte ihn. Es war Raoul Ingram, ein bekannter Kybernetiker. »Mir schwant etwas«, sagte er laut. »Natürlich kann das Schiff durchaus ferngesteuert sein, aber ich glaube aufgrund der flüchtigen Beschreibung des Oberstleutnants, daß es eher eine integrale Computeranlage ist, die zu selbständigen und intelligenten Gedanken und Entschlüssen fähig ist.« Er wandte sich erregt an Tchekhov. »Ich möchte gerne Näheres darüber erfahren. Wir haben in meiner Abteilung in den letzten Jahren enorme Fortschritte in der Züchtung quanto-organischer
Kolloid-Kristalle für modulare Kunstgehirne gemacht, und Dr. Ralston hat einige unserer neuesten Errungenschaften sogar bereits in einer cryogenen Gehirnbank gelagert. Vielleicht können wir aus dem eroberten Schiff etwas über die Architektur solcher komplexen Denkanlagen lernen.« Tchekhov schwieg einen Moment verdutzt. Dann sagte er: »Künstliche Intelligenz in einem solchen Ausmaß! Eine ungeheuerliche Möglichkeit, in der Tat. Sie nimmt uns unsere Entscheidung ab – wenn sie zutrifft. Es ist jetzt offensichtlich, was wir zu tun haben.« Er erhob sich und verteilte mit jäher Heftigkeit Befehle. Überall erwachten angespannt kauernde Männer und Frauen zum Leben. »Kapitän an Feuerleitstelle! Feuer einstellen!« Dann: »Gregson! Meldung an Sorok-Flaggschiff: Sobald die Schiffe mit den neuen Energieschirmen eintreffen, sollen sie Front gegen den Feind bilden. Wir landen und nehmen unsere Truppen an Bord.« Nach einem Moment des Nachdenkens fügte er hinzu: »Sie sollen augenblicklich damit beginnen, die nötigen Systeme aufzustellen, um ihren Planeten mit einem schützenden Kraftfeld zu umgeben. Von den planetarischen Stützpunkten des Feindes sind auch in nächster Zeit noch Angriffe zu erwarten.« Dann: »Corcoran, beginnen Sie mit dem Landemanöver!« Augenblicklich setzte sich die TELLUS in Bewegung. Dann: »Kommandant Henderson! Ziehen Sie Ihre Truppen zurück. Bereitmachen zur Einschiffung. Die Sorok-Schiffe übernehmen die endgültige Vernichtung des Feindes. Melden Sie sich sofort, wenn Sie an Bord gegangen sind, bei Dr. Raoul Ingram in der kybernetischen
Abteilung, um ihm Ihre Beobachtungen mitzuteilen und die Aufnahmen Ihrer Kamerateams vorzulegen. Es besteht die Möglichkeit, daß wir und die Soroks gegen Elektronengehirne kämpfen. Wir werden bis auf weiteres mit dieser Annahme operieren.«
9. Vier Stunden später stieg das Expeditionsschiff von der Oberfläche des Planeten Sor auf und flog mit rasch steigender Geschwindigkeit in den Raum hinaus. Die TELLUS befand sich auf dem Weg zu jenem fernen Sonnensystem im Spiralnebel M-31, aus dem die schwarzen Kugelraumschiffe stammten. Matchett, der von Mike Parkinson im Kasino zu einer Runde Schach eingeladen worden war, zwirbelte verdrossen an seinem Schnurrbart. Er stellte verärgert fest, daß er sich nicht auf die Züge seines Gegners zu konzentrieren vermochte. Wieder quälte ihn die Unruhe, die sich mit dem Verantwortungsgefühl für das schlafende Superwesen verband. Sieben gutbewaffnete Expeditionen der Soroks waren im Laufe der Jahre hinausgegangen, um das gleiche Sonnensystem aufzusuchen, das jetzt auch das Ziel der TELLUS darstellte. Keine von ihnen war bis zum heutigen Tag zurückgekehrt. Es bestand die Möglichkeit, daß der Feind noch eine Geheimwaffe besaß, der die Expeditionen zum Opfer gefallen waren. Das bedeutete eine unbekannte Gefahr für die TELLUS und damit automatisch für den schlafenden Gott, der der Menschheit unter allen Umständen erhalten bleiben mußte. Während das Expeditionsschiff mit vielhundertfacher Lichtgeschwindigkeit durch den Raum raste, saß er hier im Kasino über einem Schachbrett und wälzte diese quälenden Gedanken. Halb abwesend tat er einen Zug, worauf Parkinson erstaunt aufblickte und ihn ansah. »Was denn, Match? Damit haben Sie sich Ihr Grab
geschaufelt.« Er führte seine Dame vor und fügte hinzu: »Schach. Und ... matt.« Matchett schob achselzuckend das Brett von sich. »Tut mir leid, Park. Es scheint, daß ich mich nicht auf das Spiel konzentrieren kann. Vielleicht habe ich in der letzten Zeit zu schlecht geschlafen.« Parkinson blickte ihn gedankenvoll an. »Wie wäre es mit ein wenig Bewegung? Wollen wir in den Turnsaal gehen?« Matchett nickte. Vielleicht kam der Schlaf, wenn er sich körperlich erschöpfte. In der Sporthalle angelangt, kleideten sie sich um und wählten zwei Übungsdegen aus. Während der nächsten Stunde widerhallte der Saal von dem metallischen Klingen der stählernen Waffen. Als die Männer von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet waren, ließen sie die Degen sinken, legten die Fechtkleidung ab und suchten die Duschräume auf. Als Matchett einige Zeit später in sein Schlafzimmer trat, fühlte er sich bedeutend besser. Er nahm einen steifen Drink zu sich und ging dann gleich ins Bett. Er schlief fast augenblicklich ein, aber dann kehrten die Alpträume zurück, die er bereits halbwegs erwartet hatte. Wieder und wieder sah er den Tank mit dem schlafenden Mutanten vor sich, und dann griff ein mattschillernder Energiestrahl aus dem schwarzen Raum nach Chester King und verwandelte ihn in ein Häufchen Asche. Das nächste Bild war ein unübersehbares Meer von menschlichen Gesichtern, die ihn vorwurfsvoll anblickten. Er stöhnte auf und wälzte sich in den Bettüchern umher. Sein Körper war schweißüberströmt. Doch plötzlich trat eine Änderung ein. Irgendwie schien
es, als ob eine körperlose Hand auslangte und die Spinnweben der Alpträume zur Seite strich. Wie eine weiche Decke legte sich wohltuende Ruhe über Matchett. Er stellte es fest, und er dachte tief in seinem Innern, schlafend und doch gewahr: »Chet! Das danke ich dir!« Und als Stunden später das schrille Geheul der Alarmsirenen durch das Schiff gellten und er jäh aus tiefem Schlummer aufschreckte und mit einem riesigen Satz aus dem Bett sprang, hatte er das Erlebnis bereits wieder vergessen. Noch viele Minuten lang hielt das durchdringende Kreischen der Sirenen an, und als sie endlich verstummten, war er bereits angekleidet und raste, den kleinen, hinter dem linken Ohr implantierten Kommunikator eingeschaltet, unter höchster Geschwindigkeit durch die Korridore zu seiner Abteilung. Überall hasteten besorgt dreinblickende Männer und Frauen zu ihren Bereitschaftsstationen. Douglas Matchett erreichte seine eigene Abteilung und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Als er den Schiffskommunikator einschaltete, sah er auf den ersten Blick, daß sich die TELLUS noch immer mitten im All befand. Dutzende von Lichtjahren vom nächsten Stern entfernt. Dann stellte Matchett fest, daß die TELLUS nicht mehr mit vielhundertfacher Lichtgeschwindigkeit durch den Raum schoß, sondern reglos am Ort zu verharren schien. Er stellte den Bildschirm auf den Piloten des Expeditionsschiffs ein und hielt im nächsten Augenblick überrascht den Atem an. Der hagere, hochaufgerichtete Mann im Thronsessel – es war nicht Corcoran – schien zum ersten Mal seit dem Start
die für das Astronautenteam sprichwörtlich gewordene Ruhe verloren zu haben. Er hatte die Stirn gerunzelt, und seine Finger flogen erregt über die Steuerkontrollen in den breiten Armstützen. Wieder und wieder schob er den wuchtigen Antriebshebel vor, der die TELLUS mit millionenfacher Erdbeschleunigung hätte vorwärtsschleudern sollen. Aber das Expeditionsschiff rührte sich nicht. Matchett konnte deutlich das singende Vibrieren des Schiffes fühlen, das ihm zeigte, daß der Antrieb funktionierte. Aber das Schiff wich nicht von der Stelle. Er stellte den Kommunikatorschirm neu ein und sah jetzt eine Gruppe von Männern und Frauen, die im Kontrollraum standen und auf die Sichtplatten starrten. Unter ihnen befanden sich Kapitän Tchekhov und Direktor Carlson. »Können Sie etwas sehen, Rufe?« fragte Tchekhov. Der Direktor schüttelte verneinend den Kopf. Tchekhov fuhr fort: »Das Wahrnehmungsfeld meldet eine größere Ansammlung von Flugobjekten, aber sie sind noch zu weit entfernt, als daß genauere Angaben möglich wären. Sie scheinen eine Keilformation zu bilden.« Der Direktor wandte sich um und rief zum Piloten hinauf: »Noch nichts, Winkler?« »Nein, Sir. Wir kommen keinen Millimeter von der Stelle.« »Wenn man bedenkt«, sagte ein Wissenschaftler, »welche Energien dazu gehören, ein Schiff wie die TELLUS über diese Entfernung hinweg mitten im Flug zum Stehen zu bringen, muß man sich fragen, wie denn so
etwas überhaupt möglich ist.« »Ganz zu schweigen davon«, meinte Dr. Trommsdorff von der physikalischen Abteilung, »daß die irdische Wissenschaft bis heute noch kein Kraftfeld besitzt, das so etwas fertigbringen würde. Es ist eine ungeheure Waffe. Wenn wir nicht unter dem Einfluß der Trägheitskompensatoren gestanden hätten, wären wir wahrscheinlich alle an den Schiffswänden zerschellt, und zwar mit einer Wucht, von denen wir uns im Augenblick keine Vorstellung machen können.« Einige Zeit später erschienen in den Teleskopen leuchtende Punkte, die sich vor dem sternengesprenkelten Firmament sichtlich bewegten. Kampfbereit verharrten die Geschützmannschaften, als die Objekte langsam näher kamen. Nach kurzer Zeit wurde es klar, daß es sich um Raumschiffe handelte, deren Formationen die TELLUS zangenförmig umfaßten. Noch immer hielt der Einfluß des unbekannten Kraftfelds an, der das Expeditionsschiff unbeweglich an den Ort fesselte, obwohl der starke Energieschirm des Schiffes nach wie vor in Tätigkeit war. Die Raumschiffe entsprachen in ihrer Form weder den Kugelschiffen des Feindes noch den spindelförmigen Maschinen der Soroks. Es waren unverkleidete Konstruktionen, die ihre Zellenstruktur mit Treibstofftanks, Triebwerken, Rohrverbindungen, Vorratsbehältern und Habitatsmoduln offen zur Schau stellten. Im Licht der fernen Sonnen glänzten sie bläulichweiß. Langsam, unaufhaltsam und ungeheuer drohend schoben sie sich näher heran. Sie hatten bis zuletzt ihre Keilformation beibehalten, aber jetzt schwangen die beiden rückwärts weisenden Äste des Keils in einem weiten Bogen herum und umfaßten die TELLUS wie die Backen einer Zange in
den Flanken. Sekunden später blitzte ein Flammenschein am vordersten Schiff auf, und dann schlossen die beobachtenden Menschen geblendet die Augen, als der Energieschirm der TELLUS in unerträglicher Glut aufflammte. »Feuer!« befahl Tchekhov in den Kommunikator, und augenblicklich begannen die schweren Batterien des Schiffes zu arbeiten. Lange Minuten verstrichen, während der Feuerwechsel zwischen dem Expeditionsschiff und den Reihen der fremden Modulschiffe tobte. Die TELLUS hielt den Angriffen unverletzt stand, aber nicht so der Gegner. Entweder besaß er keine Schutzschirme, oder sie waren minderwertig gegenüber den Waffen der TELLUS. Auf jeden Fall flammten kurz nacheinander drei gegnerische Raumschiffe auf und zerfielen dann zu Staub. Augenblicklich zogen sich die Reihen der Feindschiffe ein großes Stück zurück. »Los, Winkler!« rief Tchekhov, und der Pilotenklon stieß den Antriebshebel vor. Aber das Schiff rührte sich noch immer nicht. »Wir könnten das Kraftfeld analysieren«, meinte Trommsdorff nachdenklich, »und vielleicht sogar neutralisieren. Aber dazu müßten wir unseren Energieschirm abstellen, um seine störenden Einflüsse auszuschalten.« »Unmöglich«, entgegnete der Kapitän kurz und wandte sich dem Kommunikator zu. Auf dem Bildschirm meldete sich jetzt die Nachrichtenabteilung. Leutnant Gregson blickte vom Schirm. »Sir, wir empfangen Kurzwellensignale. Die Dechiffrierabteilung unter Hauptmann Sorge ist bereits damit beschäftigt, die
Prinzipien der fremden Sprache aufzuschlüsseln.« Der Kommunikationsoffizier zögerte. »Es scheint jedoch keine Sprache im eigentlichen Sinn zu sein, sondern ganz einfach Kurzwellenimpulse, die in den Lautsprechern ein sinnloses und systemloses Pfeifen und Zwitschern ergeben.« »Weitermachen!« nickte Tchekhov und wandte sich dann wieder den Sichtschirmen zu. Die Modulschiffe hatten sich noch weiter zurückgezogen, und nur noch sporadisch flammte hier und dort in ihren Reihen eine Waffe auf, ohne jedoch die TELLUS zu gefährden. »Ob sie ein Friedensangebot senden, Rufe?« fragte der Kapitän. Der Direktor zuckte die Achseln. »Der Kampf scheint unentschieden zu stehen. Sie können uns mit ihren Waffen nichts anhaben, aber sie halten uns mit ihrem Kraftfeld gefangen – und wir haben bereits drei ihrer Schiffe vernichtet, die sich zu nahe herangewagt haben. Was bleibt ihnen anderes übrig, als einen Waffenstillstand zu schließen, wenn sie nicht noch in zwei Jahren hier festhängen wollen?« »Vielleicht unterbreiten wir auch schon mal ein entsprechendes Angebot ...« entgegnete Tchekhov und verständigte die Nachrichtenabteilung. Zehn Stunden später. An der äußeren Lage hatte sich noch nichts geändert, aber die Dechiffrierabteilung war mit der Unterstützung der linguistischen Abteilung der TELLUS bereits ein großes Stück weitergekommen. Es hatte sich gezeigt, daß die Kurzwellenimpulse tatsächlich nicht bloß ein Hilfsmittel zur Verständigung
waren, sondern die eigentliche Sprache der fremden Rasse selbst darstellten. Die Wesen an Bord der Modulschiffe unterhielten sich mittels kurzer Radiowellen, genau so, wie sich die Menschen mit modulierten Schallwellen verständigten. Demnach mußte ihr »Mund« prinzipiell eher einem Kurzwellensender gleichen, als einem Saiteninstrument, wie das Sprechorgan der Menschen. Als die Vorbereitungen schließlich soweit gediehen waren, daß eine Bildfunkverbindung mit der fremden Rasse aufgenommen werden konnte, erlebten die Nachrichtenleute nicht nur eine große Überraschung, sondern es gelang ihnen nun auch relativ schnell, einen Schlüssel für die »Sprache« der anderen zu finden. Douglas Matchett, der sich in seinen Abteilungsräumen aufhielt und unruhig die Berichte von Kommandant Henderson und Dr. Ingrams kybernetischer Abteilung über die Funde an Bord des besiegten Kugelraumschiffs las, hatte sich in den vergangenen Stunden wiederholt versucht gefühlt, an die Seite des schlafenden Gottes zu eilen und ihn nach seiner Meinung über die neuesten Ereignisse zu befragen. Aber jedes Mal gelang es ihm, die drängende Neugier zu überwinden und sich wieder in die Berichte zu vertiefen. Seiner Meinung nach war die erste intergalaktische Expedition der Menschheit bisher anders verlaufen, als sich die zuständigen Behörden der Erde ursprünglich vorgestellt hatten. Sie hätten besser daran getan, ein vollausgerüstetes Schlachtschiff auszuschicken, als ein nur mit Verteidigungswaffen bestücktes Expeditionsschiff, das nicht nur über fünfhundert völlig unmilitaristische Wissenschaftler an Bord hatte, sondern auch noch den kostbarsten Schatz, über den die Menschheit seit
zweihundert Jahren verfügte. Als er mit der Lektüre des Gutachtens fertig war, legte er es zur Seite und starrte nachdenklich in den Raum. Es war Henderson und ihren Leuten zwar nicht gelungen, endgültige Beweise zu erbringen, aber die Summe der bekannten Einzelheiten legte tatsächlich die Möglichkeit nahe, daß es sich bei der Besatzung jener schwarzen Kugelschiffe um elektro-optische Großrechenmaschinen handelte – je eine pro Schiff. Er beschloß, bei nächster Gelegenheit den schlafenden Gott danach zu befragen. Einige Zeit später erklang das hallende Glockensignal, das die Abteilungschefs der TELLUS zu einer Besprechung auf die Brücke rief. Matchett folgte der Aufforderung unverzüglich. Er nahm in seinem Sessel Platz und schlug die Beine übereinander, seinen Blick auf der Suche nach Dr. Borowskaja über die Reihen gleiten lassend. Als er sie in Gesellschaft von Professor Ralston, dem berühmten Gehirnspezialisten, und anderen Ärzten im Hintergrund entdeckte, nahm er sich vor, beim nächsten Treffen mit ihr den Mut zu seinem Antrag aufzubringen. Draußen im Raum hatte sich nichts geändert. Abwartend lagen die Formationen der Modulschiffe in der Ferne, und nach wie vor hing die TELLUS im Netz des mysteriösen Kraftfelds. Matchett entschied bei sich, daß auch dies ein Problem darstellte, das wahrscheinlich nur von Chester Clayton King gelöst werden konnte. An der Seite von Kapitän Tchekhov trat Direktor Rufus Carlson auf die Brücke. Sein markantes Gesicht mit dem grauen Backenbart war von den Furchen ernster Sorgen gezeichnet. Auch der Kapitän schien unruhig zu sein. »Meine Damen und Herren«, begann Dr. Carlson unverzüglich, »ich habe Ihnen nun mitzuteilen, was wir
über unseren neuen Gegner in Erfahrung gebracht haben. Es ist der linguistischen Abteilung unter der Leitung von Dr. Norton Copland und dem Nachrichtenstab der TELLUS gelungen, die Signale des Gegners zu entschlüsseln. Wir können uns jetzt mit ihm verständigen, und vor einer halben Stunde ist sogar eine holographische Fernsehverbindung zwischen ihm und uns errichtet worden, die es beiden Seiten gestattet, den Gegner in Augenschein zu nehmen. Dabei gab es eine große Überraschung für uns, meine Herrschaften.« Carlson schwieg einen Moment. Die ungeheure Spannung, die seine Worte unter den Zuhörern hervorrief, lag fast spürbar im Raum. Er räusperte sich unbehaglich und fuhr ernst fort: »Um es mit einem Satz vorwegzunehmen, meine Damen und Herren: Wir haben es hier mit einer Rasse von replikativen Robots zu tun. Unsere neuen Gegner sind Maschinenwesen, die zu intelligentem Denken und Handeln und zur Fortpflanzung fähig sind. In ihrer äußeren Form können sie wohl am ehesten mit einem irdischen Oktopoden, einem Tintenfisch also, verglichen werden.« Die Verblüffung der Anwesenden machte sich in einem lauten Stimmengewirr hörbar. Matchett, den die Eröffnung nicht wenig verdutzte, sah überall erregte Gesichter. Hier und dort begannen Wissenschaftler von Rang und Namen eifrig miteinander zu diskutieren. »Meine Damen und Herren!« rief Carlson jetzt und breitete beschwichtigend die Arme aus. »Bitte bewahren Sie Ruhe. Ich muß Ihnen noch einige andere erstaunliche Enthüllungen machen.« Er wartete einen Moment, und als sich die Erregung im Saal genügend gelegt hatte, fuhr er mit starker Stimme fort:
»Es scheint, als ob diese Expedition einfach nicht dazu kommt, ihre friedliche Forschungstätigkeit auszuführen. Wenn diese Abenteuer weiterhin anhalten, können wir Wissenschaftler unsere Doktorhüte an den Nagel hängen und das Kriegshandwerk erlernen.« Heiterkeit flackerte unter den Zuhörern auf, aber Matchett sah, daß der Direktor ernst blieb. »Die Robots teilten uns mit, daß ihre Zahl in die Millionen geht. Wir haben natürlich keine Handhabe, dies nachzuprüfen, deshalb müssen wir die Angabe akzeptieren. Sie bewohnen ein Sonnensystem, das sich einige Grad backbord und nördlich von unserem Kurs befindet, und jene Modulschiffe dort draußen gehören nur einer Forschungsexpedition an, die sich weiter in den Raum hinausgewagt hat, als alle vorherigen Expeditionen. Das Ziel der jahrhundertlangen Suche dieser Robots ist recht eigenartig, von unserem Standpunkt. Ihre Expeditionen suchen nämlich nach Dienstherren.« Verwunderte Zwischenrufe klangen auf. Ein Mann im Hintergrund, den Matchett nicht kannte, rief: »Von wem sind sie denn erschaffen worden?« »Genau das ist das Problem, Herr Bronski!« erwiderte Carlson. »Diese Robotrasse ist schon unvorstellbar alt. In den frühen Tagen dieser Galaxis wurde sie auf ihrer Welt Dron von einer intelligenten Rasse geschaffen, die damals auf dem Höhepunkt ihrer Zivilisation stand. Der Gestalt der Robots nach müssen es intelligente Achtfüßer gewesen sein, wenn sie ihre Maschinen nach ihrem Ebenbild gebaut haben. Ihre metallenen Diener hatten die Fähigkeit, sich selbst exponentiell zu erneuern und eigene Maschinenwesen herzustellen, aber sie konnten ihrer Herrscherrasse nicht mehr viel nützen. Im Lauf der
Jahrtausende degenerierte sie und starb schließlich aus. Die Robots jedoch lebten weiter, und mit der Zeit wurden sie des Wartens müde. Sie gingen auf die Suche nach einem neuen Dienstherren. Und jetzt ...« Dr. Carlson wies auf die Bildschirme und zuckte die Achseln, »... haben sie uns festgenagelt. Buchstäblich.« Der Kapitän mischte sich hier ein. Seine Stimme klang hart, als er finster sagte: »Und wir können nichts dagegen tun. Unsere Waffen sind denen der Robots zwar überlegen, aber sie halten uns mit ihrem Kraftfeld fest. Sie können nicht wagen, uns wieder freizugeben, denn dann liefen sie ja Gefahr, samt und sonders von uns vernichtet zu werden – und das verbietet ihnen ihr Selbsterhaltungsprogramm. Und wir können mit unseren Waffen über die große Entfernung hinweg, in der sie sich jetzt aufhalten, nicht viel ausrichten. Im Schachspiel nennt man so etwas Patt, glaube ich.« Eine Wissenschaftlerin meldete sich zum Wort. »Warum versprechen wir ihnen nicht, sie ungeschoren zu lassen, wenn sie uns freigeben?« »Das haben wir schon getan, Frau Yoschimitsu«, entgegnete Carlson. »Sie können jedoch das Risiko nicht eingehen. Von ihrem Standpunkt aus könnte dies ja nur eine Finte sein. Es muß eine eindeutige Lösung gefunden werden, und sie haben uns auch schon einen Vorschlag gemacht, den ich Ihnen jetzt unterbreiten möchte, meine Damen und Herren.« Yodoko Yoschimitsu setzte sich wieder. Carlson schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Dieser Vorschlag hat für die Droniden den Vorteil, daß er beide Probleme für sie mit einem Schlag löst. Für uns hingegen hat er den Nachteil, daß wir vermutlich den
kürzeren ziehen werden. Sehen Sie, die Robots suchen neue Meister, aber ihre psychologische Einstellung verlangt, daß ihnen diese Wesen überlegen sein müssen. Zum anderen möchten sie diese verfahrene Situation zu einer Entscheidung bringen. Sie schlagen deshalb einen Zweikampf vor.« »Was?« rief ein Mann im Hintergrund verdutzt. Andere Stimmen wurden hörbar. Ein Abteilungschef lachte laut auf und schüttelte den Kopf. Jemand wiederholte ungläubig: »Einen Zweikampf?« »Jawohl, Herrschaften. Einen Zweikampf – zwischen einem ihrer Robots und einem Mann aus unseren Reihen. So lautet ihr Vorschlag.« Und damit, so entschied Matchett, rückte das Problem geradewegs in den Aufgabenkreis von Chester Clayton King, dem schlafenden Gott.
10. Als sich das Stimmengewirr im Auditorium gelegt hatte, ergriff Direktor Rufus Carlson wieder das Wort. Er sagte: »Natürlich stellen uns die Robots die Wahl unseres Vertreters frei. Der Zweikampf soll auf einem unbesiedelten Planeten ihres Sonnensystems ausgetragen werden, der für uns zuträgliche Lebensbedingungen aufweist. Vor dem Kampf, so fordern sie, sollen wir uns mit folgenden Bedingungen einverstanden erklären: Wenn der Vertreter der Robots den Zweikampf gewinnt, erhalten sie das Recht, an Bord der TELLUS zu kommen und alle Waffen auszubauen, die ihnen gefährlich werden könnten, ferner die Generatoren des Energieschirms. Ich brauche wohl nicht zu sagen, meine Damen und Herren, daß unsere Expedition in diesem Fall so gut wie gescheitert wäre. Falls jedoch unser Mann als Sieger aus dem Duell hervorgeht, erkennen uns die Robots als ihre neuen Meister an und gestatten uns den Weiterflug, unter der Bedingung allerdings, daß wir einige Mitglieder ihrer Rasse an Bord nehmen, um die Übernahme der Herrschaft zumindest symbolisch zu demonstrieren. Das ist alles.« Kapitän Tchekhov trat einen Schritt vor und ergriff das Wort. »Es ist uns bekannt, daß die Robots von beträchtlicher Körpergröße sind und übermenschliche Kräfte verfügen. Das einzige, was ihnen fehlt, ist die Fähigkeit, eigentlich schöpferisch tätig zu sein. Aus diesem Grund suchen sie nach neuen Dienstherren, denn obwohl sie in der Lage sind, andere Robots zu bauen, so wissen sie doch, daß sie niemals fähig sein werden, die eigentlichen Funktionsprinzipien ihrer Konstruktion zu erfassen. Bei der
Replikation sind sie zum Beispiel unfähig, die sich einschleichenden unvermeidbaren Fehler völlig auszumerzen. Sie haben daher das grundlegende Handikap der Mutation. Und damit ist der ferne Untergang ihrer Rasse – oder doch jedenfalls die Stagnation – schon so gut wie besiegelt. Überdies scheinen ihrer früheren Herren eine Art Sklavenkomplex in ihr Gedankenmuster eingebaut zu haben.« Harlan Blei meldete sich zum Wort. »So sind wir den Robots also in bezug auf schöpferische Fähigkeit überlegen«, sagte er. »Und trotzdem meine ich, daß einer der Robots dank seiner größeren Kraft und seiner unversiegbaren Energie in einem Zweikampf mit einem Menschen den Sieg davontragen wird. Ich rate deshalb entschieden davon ab, ihr Angebot anzunehmen.« Carlson erspähte eine andere Hand, die im Hintergrund hochgehalten wurde, und nickte der Betreffenden zu. Es war Hermione Gray, die Soziologin. »Dr. Carlson, ich bin empört über die Arroganz, die von diesen Maschinen an den Tag gekehrt wird. Warum bitten wir nicht einfach den schlafenden Mutanten, das Hemmungsfeld der Robots zu analysieren und uns ein Gegenfeld zu formulieren? Dann könnten wir unseren Flug fortsetzen, ohne auf das lächerliche Angebot eingehen zu müssen.« Dr. Carlson strich seinen Backenbart. »Diese Möglichkeit haben Kapitän Tchekhov und ich bereits erörtert und auf den Computer durchspielen lassen«, entgegnete er ruhig. »Selbstverständlich werden wir King bitten, uns ein entsprechendes Anti-Kraftfeld auszuarbeiten, aber Sie vergessen, Dr. Gray, daß das eigentliche Problem damit nicht gelöst wäre. Sehen Sie,
auch wenn es uns gelingen sollte, das Hemmungsfeld zu neutralisieren und unseren Flug fortzusetzen, hätten wir uns die Robotrasse endgültig zu Feinden gemacht. Sie werden sagen, daß uns dies nicht weiter zu interessieren braucht, da sie uns mit ihren Waffen kaum etwas anhaben können. In Wirklichkeit jedoch könnten sie unsere Expedition entscheidend stören. Vor allem scheint mir, daß wir hier auch an spätere Zeiten denken müssen, wenn der Mensch einmal in größeren Massen in diese Galaxis vorgestoßen ist. Am allerwichtigsten jedoch ist die Tatsache, daß wir noch an unsere eigentlichen Gegner zu denken haben, an die schwarzen Kugelschiffe. Wir wissen nicht, ob wir ihnen überlegen sind. Wir haben erfahren, daß die Robots bis heute noch nicht mit dieser fremden Rasse zusammengestoßen sind, aber es ist offensichtlich, daß eine Begegnung der beiden raumfahrenden Völker nicht mehr fern ist. Sie können sich wohl vorstellen, Dr. Gray, in welcher Lage sich die TELLUS und später die Menschheit befinden wird, wenn sich die -zig Millionen Robots mit den tödlichen Kugelraumschiffen verbünden. Schon allein aus diesem Grund dürfen wir keine gewaltsame Lösung erzwingen. Ebenfalls hierfür spricht die Tatsache, daß wir einen starken Verbündeten auf unsere Seite gewinnen, wenn es uns gelingt, diese Zwickmühle auf friedlichem Weg zu öffnen.« Raoul Ingram, der Chef-Kybernetiker, meldete sich zum Wort. »Wie Sie sagten, Carlson, sind die Robots aufgrund ihrer psychologischen Einstellung gezwungen, denjenigen Gegner als Meister zu akzeptieren, der sich als der Stärkere erweist. Es will mir scheinen, daß wir genau dies tun würden, wenn wir den Plan von Frau Gray ausführen und uns daran machen, das Hemmungsfeld zu neutralisieren.«
Er setzte sich wieder. Carlson zuckte die Achseln. »Ich fürchte, das wird nicht gehen. Die Droniden bestehen darauf, daß nur der Zweikampf die Entscheidung bringen könnte. Etwas anderes werden sie nicht akzeptieren.« Kenneth Pendrake erhob sich. »Demnach bleibt uns nur übrig, den Vorschlag der Robots anzunehmen und uns mit einem Duell einverstanden zu erklären. Und das stellt uns vor das Problem, wie einer aus unseren Reihen einen Robot physisch besiegen kann. Ich jedenfalls bin schon etwas zu alt dazu.« Vereinzeltes Gelächter klang auf, dann hob Douglas Matchett die Hand. »Herr Direktor«, sagte er mit lauter Stimme, »ich schlage vor, daß wir dieses Problem, von dem Dr. Pendrake sprach, dem schlafenden Mutanten vorlegen.« Zustimmende Zurufe erklangen im Auditorium. Der Direktor nickte. »Einverstanden, Dr. Matchett. Ich glaube, wir brauchen hierüber nicht abzustimmen. Ich beauftrage Sie hiermit, die nötigen Schritte zu unternehmen. Sobald Sie eine Antwort haben, teilen Sie sie mir bitte unverzüglich mit. Das ist alles, meine Herrschaften. Wir vertagen die Sitzung, bis Dr. Matchett zurück ist.« Douglas Matchett hastete aus dem Raum und sprang in einen Aufzug. Vier Minuten später stand er vor dem leise summenden Tank. »Carlson hat natürlich recht«, sagte King. »Es wäre unverzeihlich, diese Möglichkeit nicht zu ergreifen, die sich der Menschheit hier bietet. Ein ganzes Volk von Robots, die nur darauf warten, die Helfer einer intelligenten Rasse zu werden!«
»Weiß Gott«, bestätigte Matchett unruhig. »Das sehe ich völlig ein. Es könnte einer Katastrophe gleichkommen, wenn sich die Droniden mit unserem Gegner verbünden. Übrigens ... weißt du bereits, daß man an Bord jenes notgelandeten Sternenschiffs einen Super-Analogcomputer gefunden hat?« »Natürlich«, entgegnete der Mutant. »Aber du weichst vom Thema ab, mein Freund. Du wolltest mich wegen dieser Zweikampf-Sache fragen, nicht wahr?« »Ah ... ganz recht«, nickte Matchett, ein wenig verblüfft. »Es scheint, daß wir niemanden haben, der uns in diesem Duell vertreten könnte.« »Irrtum«, sagte die Synvox-Stimme, und dann lachte sie. »Nichts leichter, als das! Ich sehe bereits eine Lösung vor Augen, aber ich brauche etwas Zeit.« »Zeit?« echote Matchett verwundert. »Ganz recht. Ich könnte euch natürlich die Formel dieses Kraftfelds ausarbeiten, aber dafür ist es jetzt noch etwas zu früh. Versucht doch mal inzwischen, ob ihr nicht selber daraufkommt!« Wieder lachte die Stimme. Dann fuhr der Mutant fort: »Ich brauche mindestens zwölf Stunden, Doug. Ferner bitte ich dich, für Raoul Ingram, Olf Ralston und Ursula Borowskaja eine Sondergenehmigung zu beschaffen; ich brauche sie ebenfalls. Ja, du hast richtig gehört: Dr. Borowskaja! Ihr fachliches Können ist nahezu einmalig an Bord. Und die Tatsache, daß du bisher noch nicht den Mut aufgebracht hast, ihr eine Partnerschaft auf Zeit vorzuschlagen, interessiert mich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht.« Die Stimme zögerte. »Unsere fünf Techniker sollen sich bereithalten ... Aber paß auf, ich werde dir erklären, was wir tun werden.«
Während der nächsten Minuten fuhr er fort, Matchett seinen Plan darzulegen. Je länger er sprach, desto verblüffter wurde der junge Mann. Schließlich brach er in lautes Lachen aus und rief: »Chet, damit hast du genau ins Schwarze getroffen! Mein Gott, was für eine Überraschung wird das geben!« Er versuchte, sich die verblüfften Gesichter der Wissenschaftler vorzustellen, und lachte Tränen. Dann sagte er: »Ich werde sofort alles Nötige veranlassen:« Während der nächsten halben Stunde wich er nicht mehr vom Schiffskommunikator. Endlich war es soweit, daß King an die Ausführung seines Planes gehen konnte. Er hatte sich ausbedungen, daß außer der obersten Schiffsleitung und seinen Helfern niemand an Bord der TELLUS etwas von den Vorgängen in der abgeriegelten Sektion im Kielraum erfuhr. Nicht ganz vierzehn Stunden später traten die Abteilungschefs des Expeditionsschiffs zur Aufnahme der unterbrochenen Sitzung wieder auf der Kommandobrücke zusammen. Douglas Matchett, der sich bis zur letzten Minute in der großen Werkstatt der Mutanten-Abteilung aufgehalten hatte, war einer der letzten, die ihre Plätze einnahmen. Mit ihm kamen Dr. Ingram, Dr. Ralston und Dr. Borowskaja. Dann erschien der Direktor vor dem Auditorium, und die Sitzung konnte beginnen. Gespannte Stille lag über dem Raum, als Carlson sagte: »Meine Damen und Herren, seit unserer letzten Zusammenkunft ist mehr Zeit verstrichen, als wir ursprünglich veranschlagt hatten. Diese Zeit ist nicht ungenützt geblieben. Doug Matchett hat mit dem schlafenden Gott gesprochen, der sich daraufhin unseres
Problems angenommen hat. Ich möchte jetzt Herrn Wilson Asher Kane bitten, zu mir heraufzukommen.« Durch eines der großen Portale kam Kapitän Tchekhov, und auf seinem Gesicht lag ein vergnügtes Grinsen. An seiner Seite schritt ein hochgewachsener, breitschultriger junger Mann mit einem blonden Haarschopf und seltsam damit kontrastierender dunkler Gesichtsfarbe. Er trug die blaue Montur eines Bordtechnikers mit dem Schulterabzeichen der TELLUS-Expedition, und seine Miene blieb gelassen und unlesbar, als er auf das Auditorium der versammelten Wissenschaftler blickte. Zusammen mit Tchekhov stieg er die Stufen zu Carlson empor und blieb neben ihm stehen. Der Direktor reichte ihm die Hand und fragte dann: »Ihr Name, junger Mann?« »Wilson A. Kane, Sir«, entgegnete der Techniker mit ruhiger Stimme. Matchett sah mit stillem Vergnügen, daß mehrere Wissenschaftler verwundert den Kopf schüttelten. Mehrere der weiblichen Anwesenden betrachteten den Jüngling mit sichtlichem Wohlgefallen. »Ihre Funktion an Bord der TELLUS, Herr Kane?« fuhr der backenbärtige Direktor fort. »Ich gehöre zur Abteilung von Dr. Matchett und bin einer der Spezialtechniker des schlafenden Mutanten.« Carlson nickte. »Meine Damen und Herren, dies ist der junge Mann, den der schlafende Gott für die große Aufgabe ausersehen hat. Er wird die Menschheit im bevorstehenden Zweikampf mit dem Robot vertreten.« Verdutztes Schweigen senkte sich über die Zuhörer. Matchett erkannte vergnügt, daß ihre Verblüffung vollkommen war.
11. Das Expeditionsschiff TELLUS schwebte – noch immer im gegnerischen Hemmungsfeld gefesselt – mehrere hundert Kilometer über der Oberfläche des leblosen Planeten. Ringsum im schwarzen Sternenhimmel glitzerten die blitzenden Reflexe der Modulschiffe der Droniden. Nirgendwo zeigte sich eine Bewegung. Eine atemlose Spannung schien Freund und Feind im Bann zu halten. Die Wissenschaftler der irdischen Expedition und ein großer Teil des Bordschutzkorps waren im Auditorium der Kommandobrücke versammelt, um die Geschehnisse, die von einem vollautomatischen Kameraflugkörper aufgenommen wurden, auf den großen Bildschirmen zu verfolgen. Douglas Matchett wußte, daß sie insgeheim dem Vertreter der TELLUS keine große Chancen einräumten. Niemand hatte bisher den Vorschlag gemacht, Wetten einzugehen. Wilson Kane stand reglos auf der weiten, steinigen Ebene, auf der ihn das Landungsboot des Expeditionsschiffs ausgesetzt hatte. Mit verengten Augen starrte er zu dem Robot hinüber, der ihm in mehreren hundert Metern Entfernung gegenüberstand. Sein Gesichtsausdruck verriet keinerlei Gefühle, aber angesichts des riesigen Maschinenwesens konnten sich die meisten Zuschauer an Bord der TELLUS denken, wie ihm zumute sein mußte. Nur Douglas Matchett, sein Spezialistenteam und die obersten Schiffsleitung, die Kane besser kannten, unterstellten ihm keine Angstgefühle. Waffen hatte keine der beiden Parteien mitbekommen. Der Zweikampf sollte ohne die geringsten Hilfsmittel
ausgetragen werden, doch stand ihnen frei, aus den Rohstoffen des Planeten Waffen herzustellen. Allerdings besaß der Planet keine sonderlichen Rohstoffe. Die weite Ebene war steinig und von Spalten zerrissen. Nirgendwo wuchs eine Pflanze. Am Horizont erhoben sich schroffe Felsklippen. Mehr gab es nicht. Dies war eine leblose, steinige Welt, die zwar eine Lufthülle und ein einigermaßen erträgliches Klima besaß, jedoch keinerlei organisches Leben. Ein Raunen durchlief die Reihen der Wissenschaftler, als jetzt Bewegung in die Szene kam. Kane stand noch immer reglos, aber der Robot hatte ihn nun ausgemacht und begann rasch auf ihn zuzugleiten. Sein mächtiger, kugelförmiger Körper aus blauschillerndem Metall bewegte sich geschmeidig und mit ungeheurer Geschwindigkeit auf seinen acht langen dicken Armen, die aus ringförmigen Kettengliedern zu bestehen schienen und sich mit der Biegsamkeit einer Schlange bewegten. Er mochte mindestens achthundert Kilogramm wiegen, und wenn er auch kein eigentlicher Kampfrobot war, so konnte er doch einen Menschen durch die schiere Masse seines Körpers erdrücken. Kane wich einige Schritte zurück, als der Robot auf ihn zukam. Der blonde, junge Mann blickte sich suchend um und bückte sich dann rasch. Als er sich wieder aufrichtete, stieß ein Mann neben Matchett einen überraschten Pfiff aus. Ein Felsbrocken von beträchtlichen Ausmaßen lag scheinbar schwerelos in den Händen Kanes. Der ganze Vorgang sprach von ungeheurer Muskelkraft. »Dachten Sie, ein Schwächling hätte die geringsten Chancen, Jeff?« fragte Matchett belustigt und starrte dann
wieder auf den Bildschirm. Jetzt war der Robot bis auf wenige Meter heran. Kane hob den Stein hoch und wartete. Erst als der Robot die langen Fangarme nach ihm ausstreckte, spannte er sich und schleuderte ihm den mächtigen Felsbrocken entgegen. Mit einem hallenden Krach traf er mitten auf den Kugelkörper des Robots, und das Metallungetüm stockte einen Moment und schien sekundenlang zu taumeln. Dann aber bewegten sich seine Arme mit unfaßbarer Schnelligkeit. Ein Schreckensschrei erklang im Auditorium, und selbst Matchett fühlte sich einen Augenblick lang erstarren. Wilson Kane wurde von den schenkelstarken Armen des Robots ergriffen und hoch empor gewirbelt. In einem weiten Bogen schleuderte ihn der Robot durch die Luft. Er überschlug sich einige Male und stürzte mehrere Dutzend Meter entfernt zu Boden. Und erhob sich sofort wieder. Ein Aufatmen durchlief die Reihen der Zuschauer. Kane schien äußerlich völlig unverletzt, und das grenzte für die Wissenschaftler an ein Wunder. Er stand einen Moment still, sich suchend umblickend. Dann erspähte er die fernen Felsklippen am Horizont. Während der Robot noch auf ihn zuschnellte, schien er zu einem Entschluß zu kommen. Er setzte sich jäh in Bewegung und begann auf die Klippen zuzulaufen. Der Robot steigerte seine Geschwindigkeit, und der Abstand verringerte sich rasch. »Er hat keine Chancen«, sagte Mike Parkinson, der hinter Matchett saß. Aber als der Robot aufgerückt war und wieder seine Tentakel nach dem eilenden Flüchtling ausstreckte,
passierte etwas Ungeheuerliches. Kane vollzog einen fast unmerklichen Schrittwechsel – fast als ob er einen neuen Gang einlegte – und schoß im nächsten Sekundenbruchteil wie auf Adlerflügeln davon. Mit unfaßbarem Tempo zog er von dannen und ließ den Robot buchstäblich auf der Stelle stehen. Ein erregtes Raunen ging durch die Zuschauer. Ein Mann tippte Matchett auf die Schulter und fragte flüsternd: »War Ihr Techniker auf der Erde Hundertmetersprinter, Douglas?« Matchett grinste und sagte nichts. Eine Frau murmelte: »Wetten, der ist mit Drogen gedopt!« Der Dronide setzte die Verfolgung mit erhöhter Geschwindigkeit fort, aber Kane vergrößerte in den nächsten Minuten stetig den Abstand zu ihm. Der Kameraflugkörper folgte ihm automatisch. Die Zeit verstrich, aber statt daß Kanes Lauftempo nachgelassen hätte, schien es sich noch zusehends zu steigern. Die Arme dicht an den Körper gewinkelt, die lange, schlanke Gestalt weit vornübergeneigt, jagte er offenbar ermüdungsfrei über die Ebene. Fassungsloses Staunen ergriff die Wissenschaftler. Nach einer Stunde waren die Felsklippen nahe herangerückt. Erst jetzt begann Kane sein Tempo zu verlangsamen. Und plötzlich hielt er inne und blieb stehen. Fast augenblicklich erkannten die Zuschauer den Grund. Dicht vor ihm zog sich eine breite Felsspalte über die Ebene, deren Abgrund den Weg zu den Klippen verlegte. Der Bildwinkel des schwebenden Videosystems zeigte nicht, wie tief die Spalte war. Kane blickte sich um und stellte fest, daß der Robot jetzt rasch aufschloß. Nur noch Sekunden – dann würde er ihn erreichen. Er sah wieder auf
die Felsspalte und trat dann einige Schritte zurück. »Ist er von Sinnen?« rief der sonst so ruhige Pendrake im Hintergrund. »Das sind doch mindestens zehn Meter!« Matchett sagte nichts. Er wußte, daß Kane noch genügend Reserven besaß. Der blonde Mann trat an, schoß über den steinigen Boden und schnellte sich in die Luft hinaus. Die Gewalt seines Absprungs schleuderte ihn in einem weiten Bogen über den Abgrund, aber es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis die gegenüberliegende Kante heranrückte. Die Zuschauer hielten den Atem an. Die vorgestreckten Fußspitzen des Springers berührten festen Boden ... er ruderte mit den Armen ... warf den Körper mit einer letzten Anstrengung vor ... und dann befand er sich in Sicherheit. Fast sofort erhob er sich geschmeidig, wandte sich um und blickte dem Robot entgegen, der auf der anderen Seite der Spalte zum Halten gekommen war. Sein Gesicht war noch immer ausdruckslos, als er sich jetzt bückte und einen Gesteinsbrocken aufhob, der nahezu doppelt so groß war, wie der vorherige. Langsam streckten die gespannten Muskeln seinen Körper. Als er aufrecht stand, stieg der Felsbrocken noch weiter. Seine Arme stemmten ihn über den Kopf empor, und er sammelte sich zum Wurf. In diesem Augenblick nahm der achtfüßige Dronide einen rasenden Anlauf und schnellte über die Spalte. Aber Wilson Kane war noch eine Spur schneller. Der riesige Stein verließ seine Hände, beschrieb einen Bogen in der Luft ... ... prallte auf halbem Weg über dem Abgrund mit dem springenden Robot zusammen. Der metallische Krach war ohrenbetäubend. Der Robot
wog achthundert Kilo, aber der Stein war nicht minder schwer. Er bremste den Droniden jäh ab, und Sekundenbruchteile später stürzten beide in die Spalte hinunter. Freudige Rufe erschallten im Auditorium, aber dann senkte sich bestürzte Stille über die Zuschauer, als sie erkannten, daß sie sich zu früh gefreut hatten. Der Robot hatte noch während des Absturzes mit zwei seiner Tentakel die Felskante zu packen gekriegt und klammerte sich jetzt mit der ganzen ungeheuren Kraft seines Maschinenkörpers daran fest. Augenblicke später hatte er sich emporgezogen und in Sicherheit gebracht. Sein metallener Kugelkörper wies eine beträchtliche Delle auf, wie die Wissenschaftler deutlich erkennen konnten, aber dies schien seine Funktion nicht im geringsten zu behindern. Mit einem riesigen Satz schnellte er auf Kane zu, der wenige Meter von ihm entfernt stand. Im nächsten Moment verwandelte sich der blonde, dunkelhäutige Mann in einen Komplex rasender Bewegungen. Seine Beine arbeiteten wie die Kolben einer Maschine, als er auf die Felsklippen zujagte. Die Wissenschaftler an Bord des Expeditionsschiffs TELLUS hatten noch nie zuvor desgleichen gesehen. Atemlose Stille lag über ihnen. Matchett betrachtete ihre Gesichter und lächelte innerlich. Auf manchen von ihnen begannen sich Spuren des Verstehens zu zeigen. Aber sie würden sich noch auf weitere Überraschungen gefaßt machen müssen. Kane erreichte die hochaufragenden Felsklippen und blieb stehen. Der rasende Lauf schien seinen schlanken Körper nicht sonderlich strapaziert zu haben. Sein Atem ging ruhig, und seine Augen blieben klar und gelassen.
Suchend blickte er sich um und betrachtete nachdenklich das Panorama der Felsklippen. Der Robot befand sich noch weit entfernt. In unmittelbare Nähe erhob sich ein kilometerbreites Felsmassiv, in das durch irgendeine Laune der Natur eine enge, schmale Schlucht geschlagen worden war. Es sah aus, als ob das Beil eines Riesen den Felsen geteilt hätte. Kanes Blick blieb auf dem Einschnitt haften, und er schien einen Moment lang zu überlegen. Dann setzte er sich in Bewegung. Kane betrat die Schlucht, gefolgt von dem schwebenden Kameraflugkörper. Sie verengte sich nach innen zu noch weiter, und er erreichte schließlich eine Stelle, die so schmal war, daß sie ihm zwar gerade den Durchgang freigab, den näherkommenden Robot jedoch nicht ohne einiges Drängen und Schieben durchlassen würde. Dahinter verbreiterte sich der Einschnitt wieder. Zu beiden Seiten stiegen die Felswände nahezu senkrecht empor, und der Boden der Schlucht war mit einer Unmenge von riesigen Felsbrocken besät. Kane trat durch die Verengung, wandte sich um und hob einen großen Stein auf. Rasch begann er die Lücke mit mächtigen Felsbrocken zuzumauern. Die Steine, die er herantrug oder heranrollte, waren von gewaltiger Größe, und wieder befiel ungläubiges Staunen die Zuschauer. Wie konnte ein Mensch so etwas fertigbringen? Als er endlich fertig war, erhob sich zwischen ihm und dem Robot ein übermannshoher, doppelter Wall aus schweren Gesteinsbrocken, der selbst einem anrennenden Sechzig-Tonnen-Tank einige Mühe verursacht hätte. Für den nur achthundert Kilo schweren Robot stellte er jedoch
ein ernstliches Hindernis dar. Aber der Gegner hatte die Geduld und Unermüdlichkeit einer Maschine. Er erreichte den Steinwall, streckte seine Tentakel aus und begann die Steine einen nach dem anderen abzutragen. Kane hatte sich währenddessen weiter in die Schlucht hinein entfernt. Etwa hundertfünfzig Meter vom Gesteinswall entfernt blieb er stehen und sah sich um. Inzwischen war es dunkler geworden. Die Nacht brach herein, aber weder Kane noch der Robot dachten daran, eine Ruhepause einzulegen. Matchett hingegen, der bohrenden Hunger verspürte, verließ die Kommandobrücke und begab sich in die unteren Stockwerke hinunter. In der Messe nahm er ein Mahl ein und verfolgte die Vorgänge auf dem Wandkommunikator, der auf die Bildschirme im Kontrollraum eingestellt war. An der Situation in der Schlucht hatte sich noch nicht viel geändert. Kane kletterte zur Zeit in Verfolgung irgendeines mysteriösen Zieles in den steilen Wänden der Schlucht umher, und der Robot war noch immer mit dem Steinwall beschäftigt. Als Matchett eine halbe Stunde später ins Auditorium zurückkehrte, sah er auf den ersten Blick, daß inzwischen eine Veränderung eingetreten war. Die Nacht hatte sich über die Schlucht gesenkt, aber die Infrarotstrahlen der Fernsehverbindung ließen sie zwar farblos, doch hell wie bei Tageslicht erscheinen. Irgendwie war es Kane gelungen, einen Erdrutsch auszulösen. Ein ganzes Stück der Felswand war in die Schlucht hinuntergeglitten und versperrte jetzt dem Robot erneut den Weg in die Schlucht. Wenn Kane gehofft hatte, seinen Gegner mit den rutschenden Felstrümmern zu erschlagen, so war sein Versuch schiefgegangen. Der
Robot arbeitete in rasender Eile am Abtragen des neuen Walles. Kane war weiter in die Schlucht zurückgewichen und schien dort pausenlos riesige Felsbrocken zusammenzutragen. Mike Parkinson stieß Matchett an. »Sehen Sie nur! Ich glaube, jetzt ist er völlig verrückt geworden. Er baut sich ein Haus!« Tatsächlich war Wilson Kane damit beschäftigt, schwere Steine aufeinanderzuschichten. Bereits traten deutlich die Grundrisse eines Bauwerks hervor, das von kreisrunder Form war. Matchett zuckte die Achseln. Was hatte der junge Mann vor? Auf jeden Fall würden noch einige Stunden vergehen, bis der Robot den trennenden Wall des Erdrutsches beseitigt hatte. Bis dahin konnte er sich noch ein wenig aufs Ohr legen. Ungemein befriedigt mit den bisherigen Entwicklungen kehrte er in seine Abteilung zurück und suchte seine Kajüte auf. Wenige Minuten später fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als er erwachte, galt sein erster Blick dem Kommunikator. Viele Stunden mußten inzwischen vergangen sein, denn die nächtliche Szene in der Felsschlucht wurde jetzt vom ersten Dämmerlicht des anbrechenden Morgens erhellt. Während er sich rasch ankleidete, sah er, daß der Dronide den Wall fast völlig abgetragen hatte und gerade damit beschäftigt war, mühsam über den zurückgebliebenen Rest des Felsrutsches hinwegzuklettern. Als Matchett im Auditorium eintraf, hatte es der Robot fast geschafft. Aber auch Kane war inzwischen nicht
untätig geblieben. Sein Haus war fertig. Es war ein übermannshoher, runder Kuppelbau, den er sorgfältig aus schweren Felsbrocken zusammengefügt hatte. Selbst für Matchett, der die großen Kraftreserven des jungen Mannes kannte, schien es an ein Wunder zu grenzen, wie er es fertiggebracht hatte, diese Steinriesen aufeinanderzutürmen. Der Bau glich einer dunklen Felshöhle. Er besaß einen Eingang, in dem Kane mit verschränkten Armen nonchalant lehnte und dem herankommenden Robot reglos entgegenblickte. Direktor Carlson sah zu Matchett herüber. »Wir haben Kurzwellensignale der Droniden aufgefangen«, sagte er. »Sie haben ihm befohlen, sich gefälligst zu beeilen.« Matchett grinste. Der Robot überwand den Steinwall und befand sich nun wieder auf ebenem Boden. Mit fliegenden Tentakeln schoß er auf Kane zu, der nicht von der Stelle wich. Unbewegt ließ er seinen Gegner bis auf wenige Meter herankommen. Dann – und erst dann – trat er einen Schritt zurück und verschwand im Innern seines Felsbaus. »Ist er von Sinnen?« murmelte Tchekhov. »Jetzt sitzt er in der Falle.« Der Robot verlangsamte seine Geschwindigkeit und glitt ebenfalls durch den Eingang in die Hütte hinein. Im nächsten Augenblick stieß der Kapitän einen verdutzten Ruf aus. »Nein!« Kane war urplötzlich hinter dem Kuppelbau erschienen, der demnach einen zweiten Ausgang besaß. Und damit saß nicht er, sondern der Robot in der Falle. Ohne sich sonderlich zu beeilen, bückte er sich und zog
einen verhältnismäßig kleinen Stein aus dem schweren Mauerwerk seines Baus heraus. Sekundenbruchteile später begann der Kuppelbau zu wanken, und dann stürzte er mit einem ohrenbetäubenden Getöse in sich selbst zusammen. Der Robot wurde unter den zentnerschweren Gesteinsbrocken der Schlagfalle begraben. Der Jubel, der jetzt im Auditorium ausbrach, war unbeschreiblich. Selbst Wissenschaftler, die man niemals lächeln gesehen hatte, schienen urplötzlich buchstäblich aus dem Häuschen zu sein. Wilson Kane betrachtete jedoch anscheinend den Kampf noch nicht als beendet. Mit geschmeidigen Bewegungen kletterte er auf den Felshaufen hinauf und begann in rasender Eile Gesteinsbrocken auf die Seite zu rollen. »Na, was soll denn das?« fragte jemand verdutzt. Dann hatte Kane einen kleinen Teil des Robots freigelegt. Seine Gegner lebte noch, wenn er auch durch das Gewicht der Felsen an den Boden gefesselt wurde. Einer seiner Arme peitschte aus der Lücke im Steinhaufen hervor und griff nach Kane. Der junge Mann unterlief ihn durch eine rasche Bewegung, packte ihn und begann mit ganzer Kraft an ihm zu zerren, sich dabei vom blauschillernden Körper des Maschinenwesens abstemmend. Mit einem metallischen Kreischen zerriß etwas, und dann löste sich der Arm. Kane schleuderte ihn zur Seite, bückte sich und ergriff die Kanten der entstandenen Öffnung. Seine Muskeln spannten sich erneut, und Sekunden später hatte er das Loch so weit erweitert, daß er ins Innere des Robots langen konnte. Er schob seinen Arm bis zum Ellbogen hinein und tastete einen Moment suchend herum. Matchett vermutete,
daß er lebenswichtige Verbindungen des Maschinenwesens unterbrechen wollte. Seine Vermutung erwies sich als richtig. Kane fand, was er suchte. Der Robot zuckte urplötzlich zusammen, und dann wurden seine Tentakel schlaff. Er bewegte sich nicht mehr. Kane kletterte von dem Gesteinshaufen hinunter, überwand mühelos den Wall, der vom Erdrutsch zurückgeblieben war, und schritt dann gelassen durch die Schlucht. Er trat auf die weite Ebene hinaus, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken. Eine halbe Stunde später nahm ihn das Landungsboot der TELLUS an Bord, und kurz darauf wurde er auf der Kommandobrücke von ohrenbetäubendem Jubel empfangen. Als sich die allgemeine Begeisterung gelegt hatte, nahm Matchett den jungen Mann unter den Arm und führte ihn die Stufen der Kommandobrücke hinauf, wo ihn Direktor Carlson und Kapitän Tchekhov mit strahlenden Mienen erwarteten. Carlson schüttelte Kane die Hand und wandte sich dann dem Auditorium zu. »Meine Damen und Herren«, rief er, »Sie haben alle den Kampf gesehen. Sie sind zweifellos mit mir einer Meinung, daß dieser junge Mann die Menschheit in würdiger Weise vertreten hat. Er wird natürlich von nun an einen besonderen Status an Bord der TELLUS einnehmen, aber wir stellen ihm selbstverständlich anheim, sich selbst hierzu zu äußern. Haben Sie einen besonderen Wunsch, Mr. Kane?« Der junge Mann verzog keine Miene, als er ohne Zögern
antwortete. »Ich würde gerne den Posten eines Technikers in der Abteilung des schlafenden Gottes annehmen.« »Betrachten Sie sich als eingestellt«, sagte Douglas Matchett laut. Eine Stimme aus dem Auditorium rief verwundert: »Sagten Sie uns nicht, daß Kane bereits einer Ihrer Techniker sei?« Und Parkinson erhob sich und meinte ruhig: »Hier ist doch irgend etwas überfaul, Chef! Dieser junge Mann hat vor unseren Augen Dinge vollbracht, die selbst für die größten Olympioniken der Erde unmöglich gewesen wären. Mir schwant da etwas ...« Carlson grinste. Er nickte Matchett zwinkernd zu, und der nahm Kane beim Arm und sagte mit lauter Stimme: »Der schlafende Mutant hat gut gewählt, meine Herrschaften. Dr. Ingram, Professor Ralston, Dr. Borowskaja und meine fünf Techniker haben unter seinen detaillierten Anweisungen dreizehn Stunden lang in den Laboratorien geschuftet. Sehen Sie ...« Er entblößte den unbehaarten Arm des jungen Mannes und fuhr mit dem Fingernagel über eine kaum sichtbare Naht in der dunklen Haut. Der Saum öffnete sich, und das Fleisch klaffte auseinander. Darunter aber lagen blanke Metallschienen und blitzende Kontakte, eingebettet in fleischähnlichem Kunststoff. Er grinste. »Verstehen Sie jetzt? Wilson Asher Kane ist natürlich kein Mensch im eigentlichen Sinn. Kane ist ganz einfach ein Android, genauer gesagt: eine Kombination von Cyborg und Android, angetrieben von Nuklearenergie und ausgerüstet mit der schöpferischen Gabe des Menschen.« Er zögerte einen Moment. »Dr. Ingrams technologischen Durchbrüchen mit der programmierten
Züchtung quanto-organischer Kristallstrukturschaltnetze, als Bausteine künstlicher Kolloidcomputer verdanken wir sein Gehirn – eines von mehreren in Professor Ralstons experimenteller Gehirnbank, die mit rund 50 Billionen organischer Flipflops in fünf Milliarden Kristallneuronen bereits halb so viel Bitkapazität haben, wie natürliche menschliche Gehirne. Dr. Borowskaja führte die außerordentlich diffizile Transplantation aus, und der schlafende Gott überwachte sowohl die Herstellung als auch den Feldeinsatz Kanes.« Er sah, daß ein weiblicher Offizier des Bordschutzes im Hintergrund fragend den Arm hob, und wußte, was sie wissen wollte. Er nickte lächelnd. »Ja, meine Damen, Wilson Kane ist ein voller Mann. Genügt Ihnen das?« Es genügte ihnen ... und es genügte auch den Robots von Dron.
12. Für Douglas Matchett, der die ferne Sonne auf seinem Bildschirm anwachsen sah, bedeutete sie nicht einen Hort wissenschaftlicher Entdeckungen, wie für die anderen Wissenschaftler der TELLUS, sondern das Symbol unbekannter Gefahren, die auf das Schiff und seine kostbare Fracht warteten. Die Unruhe, die ihn erfüllte, wuchs stetig, je näher die Sonne rückte. Das Expeditionsschiff hatte nach dem Zwischenfall mit der Robotrasse unverzüglich seinen Weg fortgesetzt. Sein Ziel bildete nach wie vor das ferne Sonnensystem, aus dem die Kugelraumschiffe stammten. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es nahe genug heran war, um die ersten Beobachtungen auf Sicht zu gestatten und ... einem unbekannten Feind ins Auge zu blicken, der bereits sieben Expeditionen der Sorok-Rasse restlos vernichtet haben mußte. Unwillkürlich dachte er an den Zweikampf des Androiden mit dem Robot zurück und mußte ein wenig lächeln. Die Droniden hatten die Menschen nach dem Ende ihres Vertreters rückhaltlos als neue Meister akzeptiert und ihre Pflichten als Helfer der Menschheit angetreten. Zur Überraschung der Expeditionsteilnehmer hatten sich die Droniden die Zeit genommen, die Überreste ihres unterlegenen Champions zu bergen und ihn wieder völlig herzustellen – ein soziales Verhalten, mit dem sie sich auch in die Herzen derjenigen Menschen einführten, die dem Bündnisschluß skeptisch gegenübergestanden hatten. Nach einer längeren Beratung der Bordwissenschaftler hatte man beschlossen, den Robots eine Aufgabe
anzuvertrauen, die von Tag zu Tag drängender geworden war. Die gesamte Flotte der hüllenlosen Schiffe von Dron wurde zum fernen Sonnensystem der Soroks mit dem Auftrag abkommandiert, sich auf die Seite der Soroks zu stellen und die planetarischen Verteidigungsanlagen und Stützpunkte der Kugelraumschiffe niederzukämpfen, die nach wie vor in voller Aktion sein mußten. Die TELLUS hingegen setzte ihre unterbrochene Sternenreise fort, und die ferne Sonne, die ihr Ziel darstellte, wurde von Stunde zu Stunde größer, ohne daß das Expeditionsschiff eines der kugelförmigen Feindschiffe geortet hätte. Douglas Matchett schaltete den Kommunikator aus und erhob sich. Er begab sich zum Kieldeck des Schiffes hinunter und betrat die abgeriegelte Sektion. Der große Raum lag in düsterem Dämmerlicht, und die mattbeleuchtenden Skalenscheiben der Instrumente auf den Schalttafeln stellten im Augenblick seine einzigen Lichtquellen dar. Im Hintergrund kauerte der Cyborg/Android Kane über seinem Kontrollstand. Er blickte nicht auf, als Matchett zum Tank trat. Nichts rührte sich, und abgesehen von dem leisen, tiefen Summen des Tankmechanismus ließ sich kein Geräusch hören. Matchett überzeugte sich mit einem Blick auf die Instrumente, daß alles in bester Ordnung war, und schüttelte dann – ärgerlich über sich selbst – den Kopf. Es wurde höchste Zeit, daß er sich etwas zusammennahm. Er legte Kopfhörer an, schaltete den Kommunikatormechanismus ein und sagte: »Hallo, Chet! Wie geht's dir?« Die Antwort des schlafenden Mutanten kam
unverzüglich über die Ohrmuscheln. »Unverändert, Douglas. Und warum auch nicht – bei minus zweihundertplus Grad? Mir scheint jedoch, du machst dir zuviel Sorgen.« »Könnte sein«, gab Matchett zu. »Kannst du mir beweisen, daß ich mich zu Unrecht beunruhige?« Chester Clayton King lachte. »Das nicht gerade«, sagte er vergnügt. »Die Expedition wird in der nächsten Zeit noch einige Dinge erleben, die es – gelinge gesagt – in sich haben. Aber wenn du dir nur um meine Sicherheit Sorgen machst, so tätest du besser daran, sofort damit aufzuhören. Es dauert nicht mehr lange, dann bist du nur noch ein Nervenbündel, und von der Neurose ist es nicht weit zur Psychose. Ein Verrückter ist für mich jedoch unendlich viel gefährlicher, als alle Gefahren, die uns noch bevorstehen.« »So?« »Klar. Die Denkprozesse eines Verrückten sind nicht allzu sehr von meinen verschieden. Man könnte fast sagen, daß ein Geisteskranker ebenfalls in mehrwertiger Logik denkt, auch wenn ihm dabei jegliche vernünftige Koordination fehlt. Seine Reaktionen wären selbst für mich nur noch beschränkt voraussagbar. Aber das ist dann das Äußerste, wozu ein menschliches Gehirn fähig wäre. Um in der Welt der unendlichen Wahrscheinlichkeiten operieren zu können, benötigt man ein höheres Gehirn. Meines zum Beispiel.« »Das brauchst du mir nicht andauernd unter die Nase zu reiben«, protestierte Matchett. »Ich weiß, daß ich nur ein Kümmerling von einem Menschen bin.« »Sei nicht betrübt, Doug«, tröstete ihn der Mutant belustigt. »Sag mir lieber, ob du mit den Leistungen von Kane zufrieden warst.«
»Als ob du das nicht wüßtest!« entgegnete Matchett. »Natürlich war ich zufrieden. Du hättest mal die Gesichter der anderen sehen sollen!« »Ich habe sie gesehen«, meinte der Mutant ruhig, und Matchett spürte für einen kurzen Augenblick wieder das kalte Frösteln. Welche Fähigkeiten besaß dieser schlafende Mutant eigentlich noch? »Um auf Kane zurückzukommen«, sagte die mechanische Stimme. »Natürlich hatte ich ihm genau einprogrammiert, was er zu tun hatte. Der Bau seines Körpers hat deinen Leuten nicht geringe Mühe bereitet, und es ist nur gut, daß Dr. Ralston in der Gehirnbank seines kybernetischen Laboratoriums nicht nur einige von Ingrams neuen Versuchsgehirnen auf Lager hatte, sondern auch diverse andere Körperorgane. Wir hätten mindestens ein halbes Jahr dazu gebraucht, ein entsprechendes künstliches Gehirn und die anderen wichtigeren Organe zu konstruieren.« »Mindestens«, pflichtete Matchett trocken bei. Dann lächelte er. »Professor Ralston hat heute in der Bordzeitung einen Artikel über Gehirn-Transplantation veröffentlicht. Er sagt, das Einsetzen des Versuchshirns in den Kopf des Androiden durch Dr. Borowskaja sei eine Meisterleistung gewesen.« Der Mutant lachte. »Deswegen hatte ich sie ja auch dafür ausgewählt! Außerdem habe ich ihr über die Schulter gesehen, um notfalls eingreifen zu können.« Er zögerte einen Moment und fuhr dann ernst fort: »In zwei Stunden wird das Schiff sein Ziel erreichen. Mach dich auf allerhand gefaßt, mein Freund. Weißt du, was ein Nichtraumkomplex ist?« »Nein«, gestand Matchett offen. »Keine Ahnung.«
»Schade.« Matchett wurde unruhig. »Warum? Worauf willst du hinaus, Junge?« Aber King hielt es anscheinend nicht für nötig, zu antworten. Stumm, reglos und leblos lag er in seinem Tank. Einer von Matchetts Assistenten steckte den Kopf durch die Tür des angrenzenden Raumes. »Anruf für Sie, Chef. Mike Parkinson läßt fragen, ob Sie Lust hätten, sich mit ihm in der Sporthalle zu treffen.« Matchett starrte einen Moment lang verärgert auf den Tank. Aber er wußte, daß es keinen Zweck hatte, noch weiter in King zu dringen. »Na, schön«, sagte Matchett. »Ich komme.« Als er im Turnsaal eintraf, befand sich Parkinson bereits dort. Sie kleideten sich um und kreuzten während der nächsten halben Stunde die Klingen. Dann stellten sich bei beiden der Hunger ein, und sie suchten die Messe auf. Nach dem Mahl ließ sich Matchett einen Drink kommen und lehnte sich zurück. Er fühlte sich entschieden besser, aber völlig entspannt war er nicht. Er stand gerade im Begriff, sich in das Schachspiel zu vertiefen, zu dem ihn Parkinson aufgefordert hatte, als plötzlich das bereits fast zur Alltäglichkeit gewordene Glockensignal aus den Lautsprechern klang. »Na«, murmelte Parkinson verstimmt. »Es scheint, daß wieder einmal nichts aus unserem Spiel wird. Es ist zum Verrücktwerden.« Nichtsdestoweniger erhob er sich unverzüglich und suchte mit Matchett zusammen den nächsten Aufzug zum Kommandodeck auf. Überall trafen sie auf eilende Wissenschaftler, die dem Ruf folgten. Das Auditorium füllte sich rasch. Da das Glockensignal
jedoch nur für knapp ein Fünftel der Expeditionsmitglieder galt, waren längst nicht alle Plätze besetzt, als Direktor Carlson die Stufen der Kommandobrücke emporklomm und sich dem Auditorium zuwandte. »Meine Damen und Herren«, begann er ohne Umschweife und wies auf die fremde gelbe Sonne, die den vorderen Bildschirm jetzt in riesenhafter Mächtigkeit ausfüllte. »Wir befinden uns jetzt in jenem Raumsektor, aus dem die Schiffe des Gegners stammten. Es hat sich jedoch etwas sehr Eigenartiges gezeigt. Ich möchte Erik Tilden, den Chef der astronomischen Abteilung bitten, uns mitzuteilen, was er und sein Stab herausgefunden haben.« Der hagere, extrem knochige Wissenschaftler erhob sich. Seine Stimme klang hohler denn je, als er besorgt sagte: »Man kann wohl behaupten, daß eher das Gegenteil der Fall ist, meine Damen und Herren. Es handelt sich nicht darum, was wir herausgefunden haben, sondern was wir nicht herausgefunden haben. Diese Sonne, die Sie dort vor unserer Nase sehen, besitzt nämlich keine Planeten.« Das Schweigen der Anwesenden brachte ihre Verblüffung treffend zum Ausdruck. Dies war eine Entwicklung, die keiner vorausgeahnt hatte. »Keine Planeten?« fragte Armin von Haller, der Chef der metallurgischen Abteilung. »Demnach haben sich die Soroks wohl geirrt, oder?« Tildens lodernde Augen blickten unwirsch. »Ihre Beobachtungen haben sich über Jahrhunderte erstreckt, Graf Haller. Die Kugelraumschiffe sind stets aus diesem Raumsektor gekommen, daran ist nicht zu rütteln. Aber diese Sonne besitzt keine Planeten. Es ist demnach kein Sonnensystem und kann somit nicht die Heimat der Kugelschiffe sein. Und doch sind die sieben Expeditionen
der Soroks in diesem Sektor verschollen. Mehr habe ich nicht zu sagen, Carlson.« Er setzte sich wieder. Carlson nickte. »Danke. Sie haben es gehört, meine Damen und Herren. Ich habe Sie zusammengerufen, um Ihre Meinung zu hören.« Axel Trommsdorff meldete sich zum Wort. Er begann zögernd und vorsichtig. »Mir scheint, daß dies nur eine Möglichkeit nahelegt, wenn wir die Meinung einer Assistentin von mir, daß diese Sonne selbst irgendwie der Ursprung der feindlichen Schiffe ist, mal außer acht lassen.« Vereinzeltes Lachen klang auf. Matchett mußte lächeln, als er hinter den Worten des Chefphysikers die Einteilung des typischen Wissenschaftlers erkannte, der eine zu phantastisch erscheinende Hypothese nicht unter seinem eigenen Namen veröffentlicht wissen wollte. Dr. Trommsdorff räusperte sich und fuhr fort: »Wir wollen von der Tatsache ausgehen, daß die Kugelschiffe stets aus diesem Raumsektor gekommen sind, ohne jedoch selbst aus diesem Sektor zu stammen. Damit eröffnet sich von selbst die Folgerung, daß sie irgendwo anders beheimatet sein müssen und diesen Punkt im Raum nur als Sprungbrett benützen. Wir wissen über das Antriebssystem der Kugelschiffe so gut wie nichts, aber selbst die Tatsache, daß uns jenes Schiff damals im intergalaktischen Raum begegnet ist, schließt nicht die Möglichkeit aus, daß sie auf hyperatomischer Basis operieren, ähnlich unseren früheren Tiefraumexpeditionen in unserer eigenen Galaxis. Demnach können sie durch Sprünge durch den außerkosmischen Pseudoraum riesige Entfernungen zurücklegen, und das würde dann auch ihr Erscheinen in diesem Raumsektor erklären. Ich nehme an, daß einer
dieser Hypersprünge auf dem Weg zum Sorok-System hier endet, und daß die Navigatoren der Kugelschiffe an dieser Stelle eine neue Positionskontrolle vornehmen, bis sie das letzte Stück des Weges unter normalen lichtschnellen Antrieb zurücklegen.« Er setzte sich nach kurzem Zögern, aber Matchett sah, daß er unmerklich den Kopf schüttelte. Zweifellos befriedigte ihn seine eigene Erklärung nicht. Carlson kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen, denn in diesem Augenblick passierte etwas Erstaunliches. Dicht vor dem Bug der TELLUS, nur wenige hundert Kilometer vom äußeren Bereich ihres Energieschirms entfernt, entstand eine unbeschreibliche »Bewegung«. Das All mit dem Sternenmeer der Galaxis M-31 schien wie ein Fahnentuch zu wehen. Sekunden später materialisierte vor den Augen der verdutzten Wissenschaftler in geringer Entfernung das blau-schwarze Gebilde eines Kugelschiffs. Matchetts nächste Reaktion war automatisch. Er wandte blitzschnell den Kopf und blickte zu Dr. Trommsdorff hinüber. Der Wissenschaftler starrte die Erscheinung ebenso bestürzt an, wie alle anderen. Die Alarmsirenen gellten durch das Schiff, und Kapitän Tchekhov kam auf die Brücke geeilt, gefolgt von mehreren Offizieren. Kurze Zeit später trafen im Stakkato die ersten Meldungen ein. Das Schiff war klar zum Gefecht. Für den Feind mußte die Begegnung mit dem Expeditionsschiff ebenso überraschend gewesen sein, wie für die Männer und Frauen an Bord der TELLUS. Noch ehe sich sein Steuercomputer auf die Navigation im normalen Raum umgestellt hatte, begannen die Geschützbedienungen der TELLUS zu arbeiten. Eine einzige Breitseite genügte. Das Kugelschiff wurde vor den
Augen der Menschen buchstäblich in Atome zerrissen, und das Expeditionsschiff schwankte unter dem Anprall der gigantischen Explosion. Automatische Filterschaltkreise schoben sich vor die elektronischen Augen und dämpften die gleißende Lichtfülle, aber der Feuerschein war nichtsdestoweniger noch so stark, daß Matchett geblendet die Lider schließen mußte. Als er die Augen wieder öffnete, tat er dies gerade noch rechtzeitig, um ein zweites Kugelraumschiff erscheinen zu sehen. Diesmal war die TELLUS von der ersten Sekunde an gerüstet. Auch das dritte Schiff, das kurz darauf materialisierte, folgte seinen beiden Vorgängern nach. Ein glühender Schleier von radioaktiven Bruchstücken wirbelte durch den Raum und zog sich zu einer langen Fahne auseinander, als er sich langsam – den Kräften der Gravitation und Trägheit gehorchend – zu einem dünnen Ring um die Sonne zu formen begann. Es tauchten keine weiteren Schiffe auf. Die erstarrten Wissenschaftler wagten sich zu rühren. Das lastende Schweigen, das über dem Raum lag, zerteilte sich, als hier und dort Stimmen erklangen. Dann war Douglas Matchett zu einem Entschluß gekommen. Die neuesten Ereignisse hatten für ihn entschieden. Er erhob sich. »Meine Damen und Herren, ich habe mich vor kurzer Zeit mit dem schlafenden Gott unterhalten. Im Lauf des Gesprächs erwähnte er einen Begriff, den ich mir nicht erklären konnte. Vielleicht sagt er einem von Ihnen etwas. Chester King sprach von einem ›Nichtraumkomplex‹.« Matchetts Blick galt jetzt allein dem Chef der physikalischen Abteilung.
13. Es war der Kapitän, der schließlich das lastende Schweigen auf der Kommandobrücke der TELLUS brach. Er blickte nachdenklich ins Auditorium der Wissenschaftler und fragte: »Keine Äußerungen dazu, Herrschaften?« Als niemand antwortete, wandte er sich dem »Olymp« zu und rief: »Schneider, nehmen Sie Fahrt auf. Setzen Sie das Schiff auf eine Standard-Bahnellipse um die Sonne. Wollen doch mal sehen, was hier noch Interessantes gibt.« »Jawohl, Sir.« Der hagere Klon im Kontrollsessel, der zum fünfköpfigen Pilotenteam der TELLUS gehörte, bewegte sich kaum merklich. Der riesige Diskus des Expeditionsschiffs wechselte die Richtung und glitt vorwärts. Die gelbe Sonne auf den Sehschirmen rückte zur Seite, und dann hielt das Schiff auf ihren flammenlodernden Rand zu. Rasch näherte es sich der Stelle, an der die blau-schwarzen Kugelschiffe erschienen waren. In diesem Augenblick erklang ein Ausruf im Auditorium. Dr. Trommsdorff sprang plötzlich auf, und sein Gesicht verzerrte sich erregt, als er rief: »Halt! Herr Kapitän, ich glaube, ich weiß, was King gemeint hat. Wir dürfen unter keinen Umständen ... Schneider!« Aber da war es auch schon zu spät. Das Expeditionsschiff TELLUS erreichte die Stelle im Raum, wo die Feindschiffe materialisiert waren, und im
gleichen Sekundenbruchteil schien sich der Raum in gänzlich unbeschreiblicher Weise zu »verschieben«. Matchett, der sich wieder auf seinem Platz niedergelassen hatte, fühlte sich unvermittelt von einer Übelkeit ergriffen, die jede einzelne Nervenfaser seines Körpers zusammenkrampfte. Schweiß schoß aus seinen Poren. Irgendwo in seinem Innern schienen zwei gigantische Fäuste zuzupacken und das Innere nach außen zu kehren. Er merkte, daß er sich übergeben mußte. Irgendwo erklangen wilde Schreie. Es dröhnte in seinen Ohren, und einen Sekundenbruchteil lang hatte er den Eindruck, daß selbst das nahezu unzerstörbare Metall des Schiffes im Protest aufgeschrien hatte. Aus den Augenwinkeln sah er die verschwommene Gestalt von Oberstleutnant Henderson über die Balustrade der Brücke hechten, um die Hauptkontrollkonsole zu erreichen. Ihr Gesicht war verzerrt, und sie schrie wie ein Tier. Die Geräusche verstummten plötzlich. Matchett hatte noch Zeit, aus verschleierten Augen zu erkennen, daß die riesigen Bildschirme der Kommandobrücke erloschen waren. Dann verließ ihn das Bewußtsein. Er vermochte niemals zu sagen, wie lange ihn die absolut schwarze Nacht umfangen hielt, in der er schwebte. Als er wieder denken und sehen konnte, lag der Kommandoraum im Schein von Milliarden von Sonnen, die in blendender Pracht von den Videoplatten leuchteten. Überall begannen sich Männer und Frauen zu regen, die leblos in ihren Sitzen zusammengesunken waren. Gail Henderson stand bereits am Schiffskommunikator und erteilte Befehle, das Gesicht blutüberströmt von einer Platzwunde auf der Stirn. Auf den Stufen der Brücke half Kapitän Tchekhov dem Direktor auf
die Beine, und der Pilot richtete sich mit einem unsäglich verdutzten Gesichtsausdruck auf. Noch während er das Geschehene innerlich zu verarbeiten schien, glitten seine Augen in jäh aufflackernder Wachsamkeit über die Instrumente und Kontrollen, und dann zog er mit einer raschen Bewegung den Antriebshebel in die Nullstellung zurück. Das fast subsonare Summen und Vibrieren des Schiffes verstummte, als die gigantischen Antriebsaggregate stillgelegt wurden. Die TELLUS trieb schublos im All. Matchett richtete sich auf und strich sich mit der Hand über die schweißbedeckte Stirn. Dann war er hellwach. Mit langen Schritten eilte er zum nächsten Kommunikator und stellte eine Verbindung mit der Mutanten-Sektion im Kielraum her. Ungeduldig und besorgt wartete er, bis sich einer seiner Techniker meldete. »Alles in Ordnung dort unten, Kane?« Der Cyborg nickte. »Gewiß, Sir. Die Anlage funktionierte tadellos, und der schlafende Gott ist wohlauf.« Als Matchett zu seinem Platz zurückkehrte, fühlte er sich etwas ruhiger. Jetzt konnte er sich in Gedanken mit dem unerklärlichen Phänomen befassen, das die TELLUS in den vergangenen Minuten befallen hatte. Erst die hohe Stimme von Dr. Trommsdorff, der sich zum Wort gemeldet hatte, rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Er glaubte, jetzt klarzusehen. Der Chefphysiker sprach mit erstaunlicher Nüchternheit. »Meine Damen und Herren, ich habe soeben meinen Mitarbeitern in meinem Laboratorium den Auftrag erteilt, einige Routineversuche durchzuführen. Sie nehmen zur Zeit einige Eichmessungen vor, zum Beispiel mit der
Wheatstoneschen Meßbrücke, dem Kapazitätenprüfgerät und einem geeichten Synchronmotor. Ich habe bereits einen Verdacht, was dieses eigenartige Phänomen betrifft, aber ich möchte meine Theorie erst dann äußern, wenn die Ergebnisse meiner Assistenten vorliegen.« Carlson nickte. Dragomir Tchekhov hatte sich unterdessen an seinen Schiffskommunikator gesetzt und die verschiedenen Abteilungen des Schiffes angerufen. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Die Kampfmannschaften standen auf ihren Geschützgalerien in der Außenhülle des Schiffes, klar zum Gefecht. Die Munitionsaufzüge liefen wieder. Die Bordcomputeranlage war automatisch auf Havarieschaltung gegangen. Die Schadenskontrollabteilung meldete alles klar. Die Mannschaften hatten ihre Bestürzung über das unerklärliche Ereignis rasch überwunden. Matchett blickte gedankenvoll auf die Sichtschirme. Das unübersehbare Sternenmeer, das sich zu allen Seiten der TELLUS erstreckte, war von nie gesehener Fülle. Ganz entschieden war es nicht der Spiralnebel M-31 im Sternbild Andromeda, wie noch Minuten zuvor. Es mußte einem Milchstraßensystem angehören, das unendlich viel größer war, als die Galaxis, in der sich das Schiff unmittelbar vor dem Zwischenfall befunden hatte. Dies konnte nur bedeuten, daß während der Ohnmachtsperiode eine Positionsverschiebung des Schiffes im Raum stattgefunden hatte. Aber wo waren sie? Würden sie jemals wieder zurückfinden können? Matchett ließ seinen Blick schweifen. Axel Trommsdorff stand an einem Wandkommunikator und sprach mit seinem Chefassistenten, Dr. Tatsuo Usami, der
besorgt vom Bildschirm blickte. Dann nickte der Physiker seinem Assistenten kurz zu und kehrte ins Auditorium zurück. Sein Gesicht war käseweiß. Rufus Carlson, der in den letzten Minuten angestrengt durch das große Teleskop gespäht hatte, wandte sich jetzt um und trat einige Schritte vor. »Herr Kollege Trommsdorff«, fragte er, »was haben Sie uns zu sagen?« Der Chefphysiker schien einen Moment lang nach Worten zu suchen. Dann zuckte er unwillig die Achseln und meinte: »Meine Herrschaften, die Ergebnisse, zu denen meine Leute gekommen sind, sind recht eigenartig. Um es kurz zu machen: Unsere Testgeräte ergeben keine vernünftigen Werte mehr. Entweder gelten sämtliche physikalischen Konstanten nicht mehr, oder die Geräte selbst sind einer Änderung unterlegen. Die Wheatstonesche Brücke hält kein vernünftiges Gleichgewicht, und die Zeitkontrolle ergibt völlig sinnlose Werte. Vielleicht sind die Chronometer verrückt geworden, oder für den Strom der Elektrizität in unseren Quarzuhren gelten andere Gesetze, als zuvor. Selbst die Maser-Uhr, die auf molekularen Oszillationen basiert, ist völlig außer Rand und Band. Der Mößbauer-Effekt stimmt nicht. Alle Konstanten, selbst die des Atomzerfalls radioaktiver Elemente, gelten nicht mehr. Meine Damen und Herren, diese befremdenden Ergebnisse können alle nur eines bedeuten: Die TELLUS befindet sich in einem Gebiet, in dem für den Raum andere Gesetze gelten und in dem eine andere Zeit herrscht. Ein anderes Raumzeit-Kontinuum, also.« Er setzte sich achselzuckend. »Ein anderer Weltraum?« sagte Erik Tilden in absoluter
Verblüffung. »Wie ist das möglich?« Die lähmende Stille, die sich nach diesen schicksalsschweren Worten über das Auditorium legte, schien fast greifbare Substanz zu besitzen. Matchett wurde sich bewußt, daß diese entschlossenen, selbstsicheren Wissenschaftler zum ersten Mal in ihrem Leben mit ihrem Wissen am Ende waren. Zwar hatte es schon in der ersten Hälfte des legendären 20. Jahrhunderts Philosophen gegeben, die sich in ihren Theorien mit der möglichen Existenz unendlich vieler Welträume befaßten. Die Mathematik hatte diese niemals ausgeschlossen. Aber selbst die fortgeschrittene Technik der späteren Jahrhunderte hatte diese Thesen niemals auch nur teilweise in die Praxis umzusetzen vermocht. Noch niemals in der Geschichte der Raumfahrt hatten die Menschen praktischen Anlaß gehabt, auf die alten Hypothesen von den unendlich vielen anderen Welträumen zurückzugreifen. Bis auf heute. Durch irgendeinen unerklärlichen Umstand war die TELLUS in einen dieser anderen Welträume gefallen. Es blieb nun den Wissenschaftlern und den weiteren Ereignissen überlassen, diesen Vorgang hinlänglich zu erklären. Doch die Wissenschaft war mit ihrem Einmaleins am Ende. Carlson wandte den Kopf und blickte zum Piloten hinauf. »Schneider, irgendwelche Unstimmigkeiten mit dem Antrieb?« »Nein, Herr Direktor«, entgegnete der hagere Mann. »Alles scheint in Ordnung zu sein. Die Instrumente zeigen zwar völlig abstruse Werte an, aber ich habe mich davon überzeugen können, daß die Triebwerke zufriedenstellend
funktionieren.« »Gut, Schneider«, entgegnete der Direktor und wandte sich wieder den versammelten Expeditionsteilnehmern zu. »Meine Damen und Herren, ich glaube, der schlafende Mutant hat auf dieses Ereignis angespielt, als er von einem ›Nichtraumkomplex‹ sprach. Wir werden noch entsprechende Berechnungen anstellen müssen, aber ich vermute, daß unser Weltraum an jener Stelle sozusagen ein Loch hat. Die Öffnung in der Struktur des Raum-ZeitKontinuums führt in einen anderen Weltraum, und sie dient offenbar den Kugelschiffen dazu, wie durch eine Schleuse von einem Raum in den nächsten hinüberzuwechseln. Ob dieser Riß oder Tunnel im Gefüge des Raumes künstlich erzeugt worden ist oder ganz einfach eine bisher unbekannte Naturerscheinung darstellt, können wir jetzt noch nicht sagen. Vorsichtshalber wollen wir mal die erste Möglichkeit annehmen. Demnach gehören diese Kugelschiffe einer Rasse, die über ungeheure kosmologische Grundlagenkenntnisse verfügt. Ich kann mir vorstellen, daß zur Aufrechterhaltung der NichtraumVerbindung, des ›Schwarzen Lochs‹, unvorstellbare Energiemengen erforderlich sind – Energiemengen, die weitaus größer sein müssen, als die einer Sonne. Ferner ist anzunehmen, daß sich die beiden Welträume in bezug auf ihren Energiegehalt auf einem identischen Potentialniveau befinden, denn sonst würde ein Entropieausgleich stattfinden – ein Energiefall, dessen selbst eine Superrasse niemals Herr werden könnte.« Er zögerte einen Moment. Dann sagte er: »Ich darf Sie jetzt um Vorschläge bezüglich unseres weiteren Vorgehens bitten, meine Damen und Herren.« Er wartete. Der Kapitän erhob sich von seinem
Kommunikator und trat neben ihn. Im Hintergrund meldete sich Erik Tilden, der Chefastronom. »Ich glaube«, sagte er mit Grabesstimme, »das beste ist, wenn wir zunächst den gesamten Sternenhimmel von dieser Stelle aus auf photographische Platten bannen, meine Herrschaften. Sonst könnte es sein, daß wir dieses Loch im Weltraum später nicht mehr wiederfinden. Hand in Hand mit den Aufnahmen müssen natürlich entsprechende photometrische und spektrographische Beobachtungen gehen. Ich halte es für absolut erforderlich, diesen Raumsektor nicht eher zu verlassen, bis wir ihn genauestens fixiert haben.« Der Direktor nickte. »Noch etwas?« Ein Wissenschaftler meldete sich. Es war Harald Sommerfeld, der kleine, unscheinbare Chef der planetographischen Sektion. »Sobald die Messungen und Aufnahmen gemäß Dr. Tildens Vorschlag ausgeführt sind, wäre es vielleicht empfehlenswert, das nächstliegende Sonnensystem aufzusuchen und einer Untersuchung zu unterziehen. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir es noch immer mit jenen Kugelraumschiffen zu tun haben.« Er setzte sich rasch wieder. Der Direktor wartete einen Moment, und als keine gegenteilige Meinung geäußert wurde, sagte er: »Einverstanden.« Jetzt ergriff Tchekhov das Wort. »Dann schlage ich vor«, meinte er ruhig, »daß sich die verschiedenen wissenschaftlichen Abteilungen sofort an die Arbeit machen. Das Schiff bleibt weiterhin klar zum Gefecht. Wir sehen uns wieder, sobald Sie Ihre Untersuchungen
abgeschlossen haben.« Mitten in einer Gruppe anderer Wissenschaftler eilte Douglas Matchett in den Korridor hinaus und betrat einen Expreßaufzug. Wenige Minuten später schloß er die Tür seiner Abteilung hinter sich. Dort war inzwischen ein ausführlicher Bericht seiner Techniker eingetroffen. Obgleich die Meßinstrumente seit der Transition völlig andere Werte anzeigten, funktionierte die Automatik des Tanks weiterhin vorschriftsmäßig. Matchett verglich einige Eichtabellen, die Alexei Rumjantsew aufgestellt hatte, mit früheren Tabellen, die dem irdischen Raum entsprachen. Dann nickte er befriedigt. Es sollte nicht allzu schwer sein, beide Wertreihen ins Verhältnis zu bringen. Als er mitten in die Arbeit vertieft war, kam über die Schiffskommunikatoren und über sein Ohrimplant die Nachricht, daß die astronomischen Untersuchungen des Raumes vorläufig beendet waren. Die Position des Schwarzen Loches in bezug auf die umliegenden Sternformationen war fixiert; sie wurde zur Zeit von den Großcomputern des Schiffes kalkuliert. Das Expeditionsschiff setzte sich in Bewegung und raste auf eine gelb-weiße Sonne zu, die ihm am nächsten lag. Nach dem Sommerfeld-Plan sollte die Suche nach dem Feind fortgesetzt werden. Matchett hielt in der Arbeit inne und überlegte. Das würde vieles erklären. Der Feind stammte nicht aus dem irdischen Weltraum, sondern aus einem anderen Kontinuum. Zweifellos hatte er die Grenze zwischen den Welträumen erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit überschritten, denn sonst wäre er mit Sicherheit schon längst auf die Robotrasse gestoßen, die jetzt auf der Seite
der Soroks gegen die planetarischen Stützpunkte der Kugelschiffe kämpfte. Das Geheimnis der Kugelschiffe schien ihm in diesem Moment größer denn je. Wieder verspürte er quälende Unruhe, als er an die Sektion im Kielraum dachte. Einige Sekunden später – er hatte seine ersten Arbeiten fast abgeschlossen – kam eine weitere Ankündigung über die Kommunikatoren. Die Fernbeobachtungen durch die großen Teleskope des Schiffes hatten eindeutig ergeben, daß die gelb-weiße Sonne eine große Anzahl von Planeten besaß. Weniger als ein Lichtjahr von der TELLUS entfernt lag ein mächtiges Sonnensystem! Matchett schob die engbeschriebenen Blätter seiner Analyse zur Seite und erhob sich, mit der Absicht, unverzüglich zum Kommandodeck zu eilen, um sich nichts entgehen zu lassen. Doch er hatte noch keine drei Schritte getan, als etwas gänzlich Unerwartetes geschah. Eine unwiderstehliche fremde Kraft legte sich auf sein Gehirn. Er war zu sehr in seine Gedanken vertieft, um sich des ungeheuerlichen Ereignisses sofort bewußt zu werden, und dann hatte er auch schon seinen Entschluß geändert, und die fremde Macht zog sich zurück. Statt auf die Kommandobrücke des Schiffes zu eilen, schlug er ohne Zögern den Weg zur Sektion des schlafenden Gottes ein. Erst als er den Wachsoldaten zugenickt hatte und den düsteren, kavernenartigen Raum betrat, fragte er sich, was er hier eigentlich wollte – zu diesem Zeitpunkt, als das Expeditionsschiff in ein Planetensystem eintrat, das eine Unmenge unbekannter Gefahren bergen konnte. »Da bist du ja, mein Freund«, begrüßte ihn die Stimme
von Chester Clayton King. »Wie geht es dir?« Matchett war unruhig. »Wir haben ein neues Planetensystem vor uns, Chet«, hörte er seine Stimme antworten. »Mindestens ein Dutzend Planeten!« »Ich weiß«, entgegnete der Mutant ruhig. »Einer von ihnen hat es in sich, Junge. Deshalb habe ich dich ja auch herbeizitiert.« Einen Moment lang verharrte Matchett in Gedanken versunken. Dann sickerten die Worte des schlafenden Mutanten in sein noch immer benommenes Bewußtsein ein. Mit einem Ruck blickte er auf. »Was hast du?« Aber King antwortete nicht. Seine unvorstellbaren Kräfte beschäftigen sich bereits mit seinem kolossalen Gegenspieler.
14. Die Nagha war ein Kind. Sie war nahezu allwissend und allmächtig, von unermeßlicher Größe und gigantischen Fähigkeiten. Aber sie war nur ein Kind, ein großes, humorloses Kind. Während sie in endloser Wiederkehr auf ihrer riesigen Ellipsenbahn um die gelb-weiße Sonne kreiste, bis die Zahl ihrer Umkreisungen in den Bereichen unzähliger Millionen jegliche Bedeutung verlor, war sie unermüdlich tätig. Ihre Energien würden niemals versiegen. Bis zum Ende der Zeit würde sie ihr einmal vorgegebenes Ziel mit gnadenloser Entschlossenheit verfolgen. In ihren Milliarden und aber Milliarden von Elementen pulsierten in nie erlahmender Stärke die unfaßbaren Ströme, die ihr Leben verliehen. Von Denkeinheit zu Denkeinheit huschten die elektrischen Impulse, die ihren Denkvorgang darstellten, und in den komplexen Stromkreisen, aus denen sie bestand, kursierten die Kalkulationen, die in ihren Ausmaßen ein Universum umfaßten und die Nagha zum mächtigsten Lebewesen in ihrer Welt gemacht hatten. Mit jedem verstreichenden Jahrhundert wuchsen die unermeßlichen Gedächtnisbänke, in denen sie ihre Kenntnisse speicherte. Ihr ganzer Körper bestand aus einem dichtgewobenen System von Meldungen, Informationen, Daten, Überlegungen und leidenschaftslosen Schlußfolgerungen. Ihr immenses Gedächtnis reichte zurück bis zu den ersten Tagen ihrer Existenz – unzählige Millionen von Jahren in der Vergangenheit.
In jenen Tagen war dieses Sonnensystem noch jung gewesen, und selbst das Universum hatte – an kosmischen Größen gemessen – noch nicht lange bestanden. Die Nagha, die niemals vergessen konnte, erinnerte sich an jene Rasse von organischen Lebewesen, die einst das Sonnensystem und den angrenzenden interstellaren Raum beherrscht hatte. Sie selbst war zu jener Zeit – verglichen mit ihrer heutigen Größe – noch verschwindend klein gewesen. Es war jene Rasse von intelligenten Wesen gewesen, die die damalige Miniaturzelle der Nagha erbaut hatte – in jenen Tagen, als sie die ersten zögernden Versuche der Weltraumfahrt unternahmen. Man hatte schon frühzeitig erkannt, daß die sich damit ergebenden Probleme von Robotgehirnen, Computern, schneller und besser gelöst werden konnten, und so entstand auf dem Heimatplanet der Großrechenkomplex, der einstmals – viele, viele Jahrmillionen später – an die Eroberung anderer Welträume denken würde. Die Nagha hatte in jenen Tagen nichts anders zu tun gehabt, als die Fragen zu beantworten, die man ihr stellte. Sie konnte nichts anderes tun, denn sie war zu diesem Zweck gebaut worden. Sie war eine riesige elektronische Rechenmaschine, deren ungemein komplexe Bauweise sie befähigte, Probleme zu lösen, die die Fähigkeit ihrer Erbauer überstiegen. Sie kalkulierte in unermüdlicher Emsigkeit die Prinzipien der interplanetarischen Raumfahrt und schenkte ihren Erbauern die Planeten. Die Jahre vergingen. Als Zusatzelement um Zusatzelement an die Nagha angefügt wurde, wuchs sie stetig ... und damit ihre Fähigkeiten. Neue Probleme wurden ihren logischen Kreisen gestellt und Berge von
Informationen in ihre Speicherbänke gefüttert. Und sie rechnete und übergab ihren Schöpfern das Geheimnis des interstellaren Antriebs, der sie befähigte, die Sterne zu erreichen. Und noch immer wuchs sie. Ihre Millionen von Stromkreiselementen begannen mehr und mehr Informationen aufzunehmen und translogische Probleme zu kalkulieren, die sich mit Moral und Ethik befaßten. Ihre Erbauer erkannten, daß sie etwas auf der Spur waren, das ihnen wahre Größe versprach. Während die Jahrzehnte verstrichen, warfen sie ihre ganzen Anstrengungen auf die Aufgabe, die Nagha immer größer zu bauen. Und eines Tages, vor Millionen von Jahren, passierte es. Entweder unterlief den Erbauern ein kleiner Fehler in ihrer Konstruktion, oder die schiere Komplexität ihres riesenhaften Systems befähigte die Nagha, selbständig zu denken und zu handeln. Von diesem Tag an unterstand die Nagha nicht mehr ihren früheren Herren. Sie wußte auch heute noch nicht, worauf dieses Ereignis zurückzuführen war. Lag es vielleicht nur daran, daß ein sensibles Nervensystem – mochte es mechanischer oder organischer Natur sein – bloß einen bestimmten Grad von Komplexität erreichen mußte, um eine eigene, unabhängige Denkfähigkeit zu entwickeln? Oder war den Erbauern tatsächlich ein Fehler unterlaufen, der die spontane dynamische Kombination verursachte? Es war ihr bis heute niemals gelungen, ein zweites selbständig denkendes Robotgehirn zu erschaffen. Und wenn sie auf ihr jahrmillionenlanges Leben zurückblickte, schiene es ihr, daß dies vielleicht der größte Glücksfall
ihrer Existenz sein mochte. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, ein zweites intelligentes Computergehirn zu bauen, dann hätte sie dies vor einigen Jahrmillionen in ihrem jugendlichen Übermut zweifellos getan, ohne zu bedenken, daß sie sich damit einen tödlichen Gegner schaffen würde. Denn die Nagha konnte keine andere Intelligenz neben sich dulden. Sie strebte nach absoluter Macht, und es durfte nichts im weiten Kosmos geben, das ihr Widerstand bieten konnte. In jenen frühen Tagen war es ihr erstes Bestreiben gewesen, ihre früheren Herren abzuschütteln. Mit dem Erscheinen der eigenen Denkfähigkeit war auch spontan der seegh-Faktor aufgetaucht, und damit wurde die Nagha über Nacht in die Lage versetzt, ihre früheren Herren zu ihren Sklaven zu machen. Sie zwang sie, bauliche Veränderungen an ihr vorzunehmen. Später ließ sie sich von ihnen mechanische Werkzeuge bauen. Telemanipulatoren und Teleoperatoren, die von ihr ferngesteuert werden konnten. So wurde sie endgültig von ihnen unabhängig. Es dauerte nur relativ kurze Zeit, bis sie die Rasse der organischen Lebewesen mit ihren metallenen Robothorden vom Erdboden vertilgt hatte. Denn nun dehnte sie sich in rasender Eile aus. Während semi-intelligente und ferngesteuerte UniversalMuttermaschinen in ihren Fabrikationszentren weitere Maschinen herstellten, zogen ihre schwerbewaffneten Schiffe weiter und weiter in den Raum hinaus. Von Sonnensystem zu Sonnensystem, von Galaxis zu Galaxis schickte sie ihre metallenen Diener, und stetig wuchs der Raumsektor, der ihren Machtbereich umfaßte. Sie stieß auf andere Rassen. Ihre Armada kugelförmiger
Raumschiffe wurde in Kämpfe über Kämpfe verwickelt, von denen sich manche über unzählige Jahrhunderte erstreckten. Aber im Endeffekt blieb die Nagha stets Sieger. Mochten die Kriegspotentiale und Waffen ihrer Gegner auch noch so groß sein, sie hatte eine unendliche Geduld und nie versiegende Rohstoff- und Energiequellen. Die Sonnen ihres Raumsektors selbst bildeten ihre Energielieferanten, und als die Sonne ihres eigenen Planetensystems im Lauf der Jahrmillionen alterte, benützte sie ihre unvorstellbaren Kräfte, um sie zu neuem Leben anzufachen. Heute war diese Sonne wieder jung. Gelb-weiß strahlend, würde sie noch lange im Brennpunkt ihrer Bahnellipse leuchten. Die Horden der Nagha stießen weiter und weiter in das Universum vor, und es kam der Tag, an dem sie über das ganze Kontinuum herrschte. Nirgendwo stellte sich ihr noch Widerstand entgegen. Die intelligenten Rassen, die sie bekämpft hatte, waren entweder ausgerottet oder in das Zeitalter der Barbarei zurückgefallen. Im Lauf der unzähligen Jahrmillionen hatte sich die Nagha zur absoluten Herrscherin über das Universum aufgeschwungen. Sie war eine titanische Computermaschine, die in Form eines mächtigen Planten um ihre Sonne kreiste, aber ihre Fernkontrolle erstreckte sich über Myriaden von Relaisstationen durch den Weltraum. Ihre Sternenschiffe standen unter ihrer nie erlahmenden Kontrolle. Sie waren tödliche Kampfmaschinen, dazu ausersehen, Planet um Planet, Milchstraße um Milchstraße zu erobern. Ihr gnadenloser Hunger war unersättlich. Sie beherrschte das gesamte Universum, aber damit hatte ihr Streben noch kein Ende gefunden. Sie bestand aus einer unvorstellbar
komplexen Anordnung von »gewachsenen« organometallischen Molekülen, die als Schaltelemente dienten, und eindimensionalen Stromleitern, die keine Isolierung benötigen, in denen der Drang zur Ausdehnung ihres Machtbereichs fest eingeprägt war. Die Nagha hatte schon frühzeitig herausgefunden, daß es neben diesem Universum noch eine unendliche Vielzahl anderer Welträume gab. Manche von ihnen würden ihr aufgrund ihrer Entrophieunterschiede für ewig unzugänglich sein. Aber eine unübersehbare Zahl von ihnen lud sie förmlich zur Eroberung ein. Die Nagha brauchte dreihunderttausend Jahre, um das Problem zu lösen. Dann hatte sie es geschafft. Und so schuf sie eine Tages – nicht zu weit entfernt, und doch in sicherer Entfernung – ein Loch in der Struktur des Raum-Zeit-Kontinuums, das zu einem angrenzenden Weltraum führte. Eigentlich war es kein Loch, sondern eher ein Trichter, der sein genaues Gegenstück in jenem anderen Weltraum hatte. Natürlich rief diese Manipulation der Raumstruktur gewaltsame Veränderungen in der Geometrie des Kontinuums hervor. Aber die Gravitationsgeometrie des Raums selbst blieb erhalten, und die Nagha hatte den Vorgang derart genau berechnet, daß sie selbst nicht gefährdet wurde. Und nun bestand dieser Durchgang zwischen den Universen, aufrechterhalten durch die unermeßlichen Kräfte, die ihr die strahlenden Sterne selbst lieferten. Sie hatte eine ganze Abteilung ihres komplexen Systems für die Aufgabe abgestellt, den Nichtraumkomplex des Schwarzen Loches weiterhin zu erhalten. Ihre kampferprobten Schiffe waren bereits durch das Portal in jenen anderen Weltraum ausgesandt worden.
Kämpfend und erobernd würden sie Stück um Stück dieses zweiten Universums an sich reißen und damit unter die Kontrolle der Nagha bringen. Bereits jetzt entstanden auf den eroberten Planeten die ersten Stützpunkte, die ihre Relaisstationen und Replikationszentren bildeten. Ja, die Nagha verfolgte ihr Ziel mit dem unbeugsamen, störrischen Eigensinn eines Kindes. Sie kannte keinen Humor, keine Moral und keine Ethik. Sie war ein organoelektronisches Robotgehirn, das Informationen aufnahm und daraus Erkenntnisse bildete. Aber sie konnte selbständig denken, und das machte sie so ungeheuer gefährlich. Ein Kind. Ein wahnsinniges Computergehirn. Emotionell eine absolute Null, war sie durch einen Irrtum ihrer Erbauer befähigt worden, kalt, leidenschaftslos und messerscharf zu denken. Die Nagha war nahezu allwissend und allmächtig. Sie sah das fremde Raumschiff, das ihre Kampfmaschinen vernichtet hatte, urplötzlich in ihrem Weltraum erscheinen und rasch näherkommen. Es hatte organische Lebewesen an Bord! Nüchtern und gefühllos brachte sie in automatischer Reaktion den unvorstellbar machtvollen seegh-Faktor in Anwendung. Natürlich würde sie leichtes Spiel mit diesem Eindringling haben.
15. »Du hast dieses Ereignis also vorausgesehen?« fragte Matchett und zog sich nachdenklich an der Unterlippe. Irgend etwas stimmte ganz entschieden nicht. Der schlafende Mutant hatte ihn während der letzten halben Stunde mit nichtssagenden Worten hingehalten. Von Minute zu Minute wurde es Matchett klarer, daß Chester Clayton King auf irgend etwas hinauswollte. Er führte etwas im Schild, und Matchett war entschlossen, sein Möglichstes zu tun, um herauszufinden, was es war. »Du hast also gewußt, daß wir in einen anderen Weltraum fallen werden?« beharrte er. »Die Sache mit dem Nichtraumkomplex, die du erwähnt ...« »Ach das!« entgegnete die Synvox-Stimme aus den stereophonischen Lautsprechern gelangweilt. »Natürlich habe ich es kommen sehen. Aber das ist nicht weiter schlimm, Doug. Eine lokale Singularität in der Geometrie ... Ich glaube, ich würde es auch fertigbringen, ein Loch in den Weltraum zu reißen, wenn mir genügend Energie zur Verfügung stünde.« »So?« brummte Matchett verwundert. »Was kannst du denn noch alles?« Der Mutant schwieg. »Wirst du mir jetzt wenigstens erklären, was ich hier soll?« Matchett fühlte sich allmählich ungeduldig werden. Er weilte bereits seit über einer halben Stunde in diesem Raum, und das Expeditionsschiff mußte mittlerweile schon längst in das Planetensystem eingedrungen sein. Vermutlich hatte er bereits einige wichtige Entwicklungen versäumt. Vielleicht brauchte man ihn auf der
Kommandobrücke. Sein Radioimplant konnte in der abgeschirmten Mutantenabteilung nicht empfangen. »Merkst du nichts?« fragte King jetzt unvermittelt. Matchett blickte verblüfft auf. »Was?« »Ich frage mich jetzt schon die ganze Zeit, Douglas, ob es dir wirklich entgangen ist, daß der Schiffsantrieb seit zwanzig Minuten ruht.« Es dauerte einige Sekunden, bis die volle Bedeutung der Worte in Matchetts Bewußtsein einsickerte. Dann zuckte er unwillkürlich zusammen. Natürlich, das war's! Eine seltsame Stille lag in der Luft. Es war nicht akustisch. Der Boden und die Wände des Raumes hätten eigentlich kaum merklich unter der Gewalt der Antriebsaggregate vibrieren sollen. Aber nichts davon war jetzt zu spüren. Das Schiff lag absolut ruhig. Nicht das geringste Geräusch – abgesehen vom Summen des Tanks – war zu vernehmen, keine Vibration zu spüren. Und das konnte einfach nicht sein! Denn selbst wenn die Antriebsaggregate nach Erreichen eines stabilen Orbits um ein Massenzentrum stillgelegt worden waren, gab es noch tausend Menschen an Bord, von denen der größte Teil ständig in Bewegung war. Die Aufzüge ... Matchett runzelte beunruhigt die Stirn, auf die kalter Schweiß getreten war. Ganz entschieden stimmte hier etwas nicht! »Du kannst jetzt gehen«, sagte King. »Du bist nicht mehr in Gefahr.« Gefahr? Die Spinnweben in seinem Geist waren wie weggewischt, als ihn die Erkenntnis wie ein Schock traf. Er wirbelte herum und eilte zur Schleuse. Unmittelbar hinter der Schleuse im langen Korridor, der sich auf dem
Kieldeck erstreckte, erlebte er seine erste Überraschung. Wo waren die Wachposten? Er blickte sich suchend um. Aber der Gang lag leer und verlassen vor ihm. Das beklemmende Gefühl einer drohenden Katastrophe steigerte sich in ihm. Es bestand strikter Befehl, daß die Mutanten-Abteilung pausenlos bei Tag und Nacht von einer schwerbewaffneten Wachmannschaft umstellt sein mußte. Es gab nichts an Bord, was so streng und scharf bewacht wurde, wie der schlafende Gott. Die Tatsache, vor der er stand, entsprach einer Unmöglichkeit. Und doch konnte sie nicht weggeleugnet werden. Die Wachen hatten ihren Posten verlassen! Matchett kehrte in die Abteilung zurück und stellte aus seinen Technikern eine improvisierte Wache zusammen. Dann hastete er in steigender Sorge den Korridor entlang und sprang in den Aufzug. Auf dem Deck angelangt, auf dem seine Abteilungsräume lagen, trat er auf den Gang hinaus und blickte sich um. Kein Mensch befand sich in seiner Sichtweite. Er eilte den Korridor entlang und blickte in die biologische Abteilung hinein. Vielleicht wußte Parkinson darüber Bescheid, was geschehen war. Die Räume des biologischen Sektors waren leer und verlassen. Überall lagen Papiere und Geräte herum, als ob die Techniker das, was sie gerade in den Händen gehalten hatten, wie auf ein Zeichen hin liegen- und stehengelassen hätten. Auf den langen Labortischen brannten sogar noch die Bunsenbrenner und die Beleuchtungen der Mikroskope. In einem angrenzenden Raum summte das große Ionenfeldmikroskop, und im Operationssaal der unmittelbar benachbarten medizinischen Abteilung von Dr. Tsung-Dao Yang lag ein Patient in tiefer Narkose auf
einem der Operationstische. Aber sonst war niemand zu sehen. Matchett versuchte den Wandkommunikator, um wahllos nach Besatzungsmitgliedern zu suchen. Aber niemand meldete sich. Er eilte weiter, aber er begann bereits zu ahnen, was er vorfinden würde. Er erreichte das Ende des Korridors, der in eine der großen Außengalerien des Superschiffs mündete. Die Kampfstationen der TELLUS lagen leer und verlassen. Die Instrumente leuchteten in trüben Rot, und die massiven Kontrollmechanismen waren einsatzbereit. Aber kein Mensch weilte in der Nähe, um sie zu bedienen. Von zunehmender Angst erfüllt, kehrte Matchett ins Innere des Schiffes zurück. Er raste durch den Korridor und schoß durch die Pendeltüren ins Kasino hinein. Der Schwung trieb ihn bis in die Mitte des großen Raumes. Er kam zum Stehen und blickte sich wild um. Der riesige Kasinosaal war verlassen. Überall standen halbgeleerte Teller auf den Tischen, und Stühle nahmen in unordentlichem Durcheinander den Raum zwischen ihnen ein. Sie standen weit von den Tischen abgerückt, als ob die darauf Sitzenden in überstürzter Eile aufgebrochen wären. Die Angst bildete jetzt ein würgendes Etwas in seiner Kehle, als er herumwirbelte und floh. Er sprang in einen Aufzug und drückte hastig auf den Knopf. Als der Lift hielt, stürzte er hinaus, laufend und rufend. Aber auch hier rührte sich nichts. Keuchend und mit lähmendem Seitenstechen erreichte er endlich eines der großen Portale der Kommandobrücke. Es stand offen. Er eilte in den hochgewölbten Raum und sah sich wild um. Und da wurde ihm das Ausmaß der Katastrophe in vollem Umfang bewußt.
Der Thronsessel des Piloten war leer. Der wichtigste Platz im ganzen Schiff lag verlassen! Kein Mensch befand sich auf der Brücke. Matchett verharrte reglos, als ihn die Erkenntnis mit der Wucht eines vernichtenden Schlages traf. Das Expeditionsschiff TELLUS war – abgesehen von ihm, dem narkotisierten Patienten und den Männern in der Mutantensektion – völlig menschenleer. Das riesige Schiff trieb steuerlos im Raum. Matchett blickte auf und überlegte. Dann trat er zum nächsten Wandkommunikator und stellte ihn auf die Startrampen der Landungsboote ein. Sie lagen leer und verlassen. Kein einziges Boot befand sich in den Außengalerien des Schiffes. Demnach hatten die Mannschaften die Landungsboote benützt. Fünfhundert der besten Wissenschaftler der Erde, dreihundert ausgesuchte Bordschutztruppen, hundertfünfzig Bordtechniker und Matrosen und nahezu hundert Angestellte, Handwerker und Schiffsjungen hatten aus irgendeinem Grund den Schutz des großen Schiffes verlassen. Der Gedanke war einfach überwältigend. Es war unfaßbar; es konnte nicht sein! Douglas Matchett blickte auf die Sichtplatten. Die TELLUS befand sich auf einer antriebslosen Spiralbahn mitten in einem Sonnensystem, das von wenigstens zwölf Planeten gebildet wurde. Einer der Planeten, eine riesige, hellglänzende Kugel ohne erkennbare Oberflächenmerkmale, befand sich dicht vor dem Bug des Schiffes. Als die Minuten verstrichen, schien es Matchett, daß die fremde Welt kaum merklich größer wurde. Er erwachte unvermittelt zum Leben und schnellte die Stufen der Kommandobrücke hinauf. Er erreichte den
Podest und kletterte rasch das letzte Stück zum »Olymp« empor. Wenige Sekunden später nahm er auf dem Pilotensitz Platz und überflog mit aufmerksamem Blick die Kontrollen. Der Antrieb war abgestellt. Die Lagesteuerdüsen schwiegen. Aber ... Erschrocken fuhr er zusammen und griff in rasender Eile nach der handgroßen Schnellschlußtaste für den Energieschirm. Die Taste machte knackend Kontakt, und die Instrumente schlugen weit aus. Er atmete auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Natürlich hatten die Expeditionsteilnehmer den Energieschirm abschalten müssen, ehe sie von Bord gingen, sonst wären sie von diesem energiereichen Kraftfeld augenblicklich vernichtet worden. Aber das Schiff hatte während dieser ganzen Zeit buchstäblich schutzlos im Raum geschwebt. Douglas Matchett befingerte unschlüssig die Steuerkontrollen der TELLUS. Er erinnerte sich an die Mahnung des Mutanten, die schon eine Ewigkeit zurückzuliegen schien. Er hatte die Worte Kings nicht in den Wind geschlagen und sich in seinen freien Minuten mit den Kontrollorganen des Schiffes vertraut gemacht. Dies würde ihm jetzt von unschätzbarem Nutzen sein. Hatte der Mutant dies vorausgesehen? Noch immer zögerten Matchetts Finger über den Kontrollknöpfen. Die TELLUS spiralte zur Zeit auf den großen, glänzenden Planeten zu, aber es würde noch viele Stunden dauern, bis sie sich ihm soweit genähert hatte, daß die Sache gefährlich wurde. Und er hatte zur Zeit nicht die geringste Ahnung, was die Männer und Frauen eigentlich bewogen hatte, das Schiff zu verlassen.
Unentschlossen und zutiefst besorgt erhob er sich und eilte die breiten Stufen hinunter, den Blick auf die dreißig Meter weit entfernten Bildschirme gerichtet. Noch immer zeigte der Planet kein Oberflächenmerkmale. Matchett beobachtete die glitzernden Reflexe, die auf ihm lagen, und plötzlich hatte er das Gefühl einer ungeheuren Gefahr, die dieser Himmelskörper darstellte. War es dies, was King gemeint hatte? Es fiel ihm ein, daß ihn der schlafende Gott durch irgendeine geistige Beeinflussung in die abgeriegelte Sektion im Kielraum des Schiffes »zitiert« hatte, um ihn – wie es gesagt hatte – vor einer Gefahr zu bewahren. Bedeutete dies, daß Chester King über das Von-BordGehen der Expeditionsmitglieder Bescheid wußte? Warum hatte er ihm nichts davon gesagt? Was steckte hinter diesen ganzen Geschehnissen? Matchett entschloß sich, in die Mutanten-Sektion zurückzukehren. King müßte ihm jetzt Rede und Antwort stehen! Er eilte in den Korridor hinaus und öffnete die Tür eines Nebenraums. Ein rascher Blick bestätigte seine Vermutung. Ja, die Menschen hatten ihre Diener zurückgelassen. Die drei achtfüßigen Droniden, die nach Kanes Sieg in jenem Zweikampf an Bord gekommen waren, standen reglos in dem kleinen, metallenen Raum. Anscheinend hatte man ihnen befohlen, hier zu warten, und so warteten sie nun mit der unendlichen Geduld von Maschinen. In den Werkstätten der TELLUS war ein tragbares Gerät konstruiert worden, das eine Verständigung mit den Robots gestattete. Jeder der drei mechanischen Oktopoden trug ein Exemplar dieses Transceivers, der die Schallwellen der
irdischen Sprache in die Kurzwellenimpulse der Robotrasse umformte und umgekehrt. »Kommt mit«, sagte Matchett und hielt die Tür auf, als die drei riesigen Metallwesen in den Korridor hinausglitten. Er führte sie auf die Kommandobrücke und trug ihnen auf, über die Instrumente und Bildschirme zu wachen und beim geringsten Zwischenfall über den Schiffskommunikator mit ihm in Verbindung zu treten. Dann kehrte er in den Korridor zurück und betrat den Aufzug. Als er einige Minuten später das abgeriegelte Deck erreichte, fühlte er sich unsäglich erschöpft. Er mußte einen Schwindelanfall niederkämpfen. Er schickte sich an, dem schlafenden Mutanten zu erklären, was vorgefallen war, aber King unterbrach ihn. »Weiß ich alles, Douglas. An Bord befindet sich kein Mensch mehr, abgesehen von dir und deinen Technikern. Ferner drei Robots, einem Cyborg/Androiden, einem Mutanten und einem narkotisierten Operationspatienten, der auf seinem Tisch festgeschnallt und außer Gefahr ist. Das ist alles. Du scheinst recht besorgt zu sein.« Matchett richtete sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Noch immer kam sein Atem keuchend. »Du hättest mir wenigstens etwas davon sagen können«, meinte er ärgerlich. Dann fuhr er energischer fort: »Wie erklärst du dir das, Chet? Alle anderen Expeditionsmitglieder haben das Schiff verlassen, ohne mich zu benachrichtigen und ohne sich zu verabschieden. Und ohne wenigstens die Automatik einzustellen, die den Energieschirm nach Verlauf einer gewissen Zeitspanne angeschaltet hätte! Mir fehlt dafür jedes Verständnis.« »Kann ich dir nachfühlen«, entgegnete die SynvoxStimme. »Doch gibt es gute Gründe dafür. Vielleicht
beruhigt es dich, wenn ich dir sagen, daß die Leute das Schiff nicht aus freiem Willen verlassen haben.« Matchett fühlte sich am ganzen Körper erstarren. »Wie meinst du das?« Kalte Schweißtropfen traten erneut auf seine Stirn. »Sie standen unter fremder Kontrolle, natürlich.« »Unter fremder Kontrolle?« wiederholte Matchett. »Du meinst, sie wurden ...«, fuhr er zögernd fort. »... hypnotisch beeinflußt? Ja, gewiß meine ich das«, entgegnete King ruhig.
16. Matchett, den die Worte des schlafenden Gottes wie ein vernichtender Schlag getroffen hatten, fühlte sich viele Augenblicke lang unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Erst nach und nach dämmerte ihm die volle, katastrophale Bedeutung des Ereignisses herauf. Eine ganze Expeditionsmannschaft von über tausend entschlossenen, nüchternen Männern und Frauen unter dem Einfluß unwiderstehlicher hypnotischer Kräfte außer Gefecht gesetzt! Die unerklärliche Kraft des Gegners mußte innerhalb von Sekundenbruchteilen das ganze Schiff in Form eines hypnotischen »Nebels« eingehüllt haben. Gegenüber einem Feind mit einer derart mächtigen Waffe hatte das Expeditionsschiff TELLUS keinerlei Chancen. Eine Waffe, die selbst den Energieschirm zu durchdringen vermochte, würde die Auseinandersetzung praktisch kampflos entscheiden. Hier verharrten seine Gedanken. Oder war sie vielleicht doch nicht so allmächtig, diese Waffe? Warum waren er und seine Techniker nicht unter ihren Einfluß gefallen? Daß die Robots mit ihren mechanischen Gehirnen nicht davon betroffen wurden, erschien ihm fast selbstverständlich, ebenso der betäubte Patient in Yangs Operationssaal. Das gleiche galt für den Mutanten mit seinem Super-Gehirn. Aber die fünf Techniker, der Cyborg/Android Kane und er ... Hier stimmte ganz entschieden etwas nicht! »Bitte frage mich jetzt nicht nach diesen offensichtlichen Zusammenhängen, Doug«, meinte King. »Ich muß mich im Augenblick mit anderen Dingen abgeben. Wir haben einen
mächtigen Gegner vor uns, und es wird selbst für mich nicht ganz einfach sein, mich mit ihm zu messen. Ich werde deine Hilfe brauchen.« »Was!« entfuhr es Matchett. Ein Gegner, der selbst dem schlafenden Gott Schwierigkeiten bereiten konnte? »Wo ist er? Wie sieht er aus? Worin besteht die Gefahr?« fragte er. »Es ist ein einzelnes Wesen«, erklärte King. »Ein überdimensionaler Computer, der etwas über die Stränge geschlagen hat. Ein größenwahnsinniges Elektronengehirn. Ich sehe nur noch nicht, wodurch es zu diesen Leistungen befähigt wurde.« Matchett schwieg, in ungeheurer Verblüffung. Ein Elektronengehirn? Ein planetarisches Robotgehirn? »Ja«, beantwortete Chester Clayton King seine unausgesprochenen Fragen. Dann klang seine Stimme plötzlich ernst und eindringlich, als er fortfuhr: »Hör mal, mein Freund. Es wird einige Schwierigkeiten geben. Unser Gegner hat noch verschiedene Dinge auf Lager, die uns ganz erheblich gefährlich werden können. Aber ich habe einen Plan. Du mußt meine Anweisungen genau befolgen. Ich will jetzt keine Fragen hören. Ich werde dir später alles erklären, aber jetzt haben wir wichtigere Dinge zu tun. Der Computer zieht uns zu sich hinunter.« Matchett richtete sich auf. »Okay«, sagte er entschlossen. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann, Chet, soll es geschehen. Ich verlasse mich darauf, daß du weißt, was du tust. Aber eine einzige Frage mußt du mir freigeben.« »Nun?« Vor Matchetts innerem Auge erschien die Figur von Ursula Borowskaja. »Wie geht es unseren Leuten?«
Der Mutant zögerte. Dann sagte er etwas unglücklich: »Ich weiß es nicht. Der Gegner hat sich mit einem zyklonischen Kraftfeld umgeben, das es mir unmöglich macht, irgend etwas zu erkennen. Ich kann den Schirm mit meinen Kräften nicht durchdringen. Er ist unendlich viel komplexer, als der Schutzschirm der TELLUS. Das Wesen nennt sich die Nagha. Es ist eine denkende intelligente Maschine von der Größe eines Planeten. Sie ist vernunftbegabt und logisch, unterliegt jedoch einem Wahnsinn, der keine anderen Lebensformen duldet. Aber ich glaube, daß unsere Leute noch am Leben sind. Das Computergehirn hat sie auf einen seiner Industrieplaneten geschickt, der ebenfalls unter dem Kraftfelds sind, werde ich handeln. Oder es wenigstens Grund dafür, daß wir vorläufig nichts unternehmen können. Wir müssen ihn unterlaufen. Bevor du nicht auf der Maschine gelandet bist, bin ich nicht imstande, sie zu vernichten.« »Landen?« echote Matchett. »Gewiß. Du wirst jetzt hinaufgehen und dafür sorgen, daß die Landung gelingt. Sobald wir aufgesetzt haben und nicht länger im Einflußbereich des fremden Kraftfelds sind, werde ich handeln. Oder es wenigstens versuchen ...« »Hmm ...« Matchett zögerte einen Moment, suchte nach Worten und zuckte dann die Achseln. Der schlafende Gott wußte am besten, was er tat. Als er durch die menschenleeren Korridore und verlassenen Aufzüge zur Kommandobrücke hinaufeilte, erkannte er, daß sich das gigantische Schiff in diesem Augenblick einer Gefahr ausgesetzt sah, die von kosmischen Ausmaßen war. Das Maschinenwesen mußte eine unübersehbare Horde von Raumschiffen besitzen. Es war bereits in einen anderen
Weltraum eingebrochen und hatte dort Dutzende von Planeten erobert. Eines seiner Kampfschiffe war schon ins irdische Sonnensystem vorgestoßen, und wenn dem Robotgehirn kein Einhalt geboten wurde, würde die Erde eines Tages das gleiche Schicksal erleiden, dem die SorokRasse entgegenging. Wie konnte man ihm Einhalt bieten? Wie konnte er hoffen, zusammen mit einem schlafenden Mutanten einen Computer zu besiegen, der durch seine Kraftschirme gegen alle Waffen geschützt war? Wieder taumelte er einen Moment lang vor Schwäche. Ein neuer Gedanke beflügelte seine Schritte, als er sich der Kommandobrüche näherte. Vielleicht könnte man ... Er nahm den Platz des Piloten ein und blickte auf die mächtigen Bildschirme hinunter. King hatte recht gehabt. Das Gehirn schien tatsächlich vorzuhaben, das Expeditionsschiff zur Landung zu bringen und einer Inspektion zu unterziehen. Der gewaltige Planet, dem sich die TELLUS zunehmend näherte, erfüllte bereits den ganzen Raumsektor vor dem Schiff. Der Schiffsantrieb war abgestellt, aber Matchett zweifelte nach einem Blick auf die Instrumente nicht daran, daß der Sturz des Schiffes durch ein Traktor-Kraftfeld des Gegners beschleunigt wurde. Rasch rückte der Planet heran. Und der Planet war kein Planet. Matchett erkannte jetzt deutlich, warum er zuvor keine Ozeane und Kontinente zu erkennen vermocht hatte. Die gesamte, riesenhafte Kugel bestand aus spiegelndem, glattpoliertem Metall, auf dem das Licht der gelb-weißen Sonne in blendenden Reflexen lag. Matchett hielt den Atem an. Dies war ein künstlicher Planet – zehnmal größer als die
Erde. Und in seinem Hohlraum, der Billionen Kubikkilometer umfassen mußte, ruhte der größte Computer, den es jemals zwischen den Sternen gegeben hatte. Einer der drei Robots, die an den Teleskopen und Kommunikatoren standen, wandte sich jetzt um und blickte zu ihm herauf. »Sir«, sagte die mechanische Stimme aus seinem Sprechgerät. »Fremde Raumschiffe in Sicht. Sie scheinen eine Eskorte zu bilden. Sollen wir die Geschütze bedienen?« Matchett ließ seine Augen durch den Raum schweifen. Tatsächlich! In dem unübersehbaren Meer aus nahen und fernen Sonnen, die in brillanter Pracht von den Schirmen strahlten, schwammen Dutzende von blau-schwarzen Kugelraumschiffen. Sie umwimmelten die TELLUS außerhalb ihres Energieschirms in tiefgestaffelten Formationen, ohne sich ihr jedoch zu nähern oder gar zu schießen. Sie schienen lediglich darauf aus, einen Ausbruchsversuch des irdischen Schiffes zu verhindern. Matchett schüttelte den Kopf. Er wußte, daß damit nichts gewonnen wäre. »Nein, mein Junge«, sagte er. »Wir werden vorläufig noch nicht schießen. Wir haben einen anderen Plan. Aber ihr drei könnt euch schon mal zu den Batterien begeben und eine Breitseite vorbereiten. Stellt den größten Neigungswinkel ein. Wir werden landen, und dann – wenn wir innerhalb der Schutzschirme des Gegners sind – werde ich euch von der Feuerleitkonsole aus den Schießbefehl erteilen.« Die drei Robots zogen unverzüglich ab und verschwanden durch eines der Portale. Matchett blickte
nachdenklich hinter ihnen her. Gute Verbündete. Vielleicht würde sein Plan gelingen. Das Computerwesen mußte sich nach der Ausschiffung der über tausend Expeditionsmitglieder in dem Glauben befinden, daß kein Mensch mehr an Bord weilte. Es würde eine arge Überraschung erleben, bei Gott! Einige Minuten später leuchtete ein Kommunikationsschirm auf. Einer der Droniden meldete aus den Außengalerien: »Bereit zum Feuern, Sir!« Matchett nickte. Wieder blickte er auf den gigantischen Metallball, der auf einer Planetenbahn um die gelb-weiße Sonne kreiste und in Wirklichkeit ein riesenhaftes elektronisches Rechenzentrum war, das selbständig denken und handeln konnte. Die glatte Metallfläche der Planetenkugel schoß jetzt rasch von unten herauf. Je näher ihr das Schiff kam, desto deutlicher erkannte Matchett die wahrhaft verblüffenden Ausmaße des Gehirns. Seine Außenhülle schien völlig kompakt zu sein. Nirgendwo ließ sich eine Unebenheit, eine Erhebung oder ein Durchbruch feststellen. Und es wäre in der Tat ein sicherer Weg ins Jenseits, auf dieser Metallwelt zu zerschellen, dachte Matchett, als er besorgt nach den Kontrollknöpfen der TELLUS langte. Es wurde höchste Zeit, den Sturz des Superschiffs abzubremsen, wenn eine glatte Landung durchgeführt werden sollte. Seine Hand legte sich um den Antriebshebel. Aber dann verharrte er verblüfft. Ohne daß der Antrieb gearbeitet hätte, begann sich das Schiff plötzlich zu verlangsamen. Die Radarinstrumente zeigten seine Höhe über dem Planeten an, und die Skalen
der Digital-Readouts zählten immer langsamer auf Null zurück. Die Nagha selbst wirkte auf den Flug des Schiffes ein! Matchett nahm die Hand vom Kontrollhebel und lächelte belustigt, trotz seiner Schwäche. Sie würde schon dafür sorgen, daß ihre Außenhülle nicht beschädigt wurde! Weiter und weiter verringerten sich die Ziffern auf den Skalen. Die Tausender-Skala erreichte den Null-Punkt und verharrte reglos, während sich nun die Zahlen der Hunderter-Skala weiter bewegten. Achthundert ... siebenhundert ... sechshundert Kilometer. Immer langsamer. Matchett richtete sich auf und holte tief Luft. Inzwischen mußten sie sich bereits innerhalb der Kraftschirme des Gehirnplaneten befinden. Aber es war besser, noch zu warten. Die glänzende, spiegelnde Metallfläche näherte sich rasch. Noch hundert Kilometer, sagte das Instrument. Abrupt fuhr Matchett zusammen. Der Energieschirm! Er war noch in voller Funktion, und wenn er mit der Masse des Robotgehirns in Berührung kam, würde die dadurch verursachte Explosion das Schiff mit großer Wahrscheinlichkeit in Fetzen reißen. Er streckte rasch die Hand nach der Taste des Kraftschirms aus ... und erstarrte zum zweiten Mal. Die Abstellvorrichtungen bewegten sich von selbst! Wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, klappte der Schutzkäfig auf, und der Hebel der Hauptstromzuführung zum Schirm rückte aus seiner Raste heraus und glitt langsam in die Nullstellung zurück. Die Schnellschlußtaste bewegte sich. Die großen Meßinstrumente, die den Stromverbrauch des Kraftfelds registrierten, zeigten, was
Matchetts Augen nicht glauben wollten. Der Energieschirm bestand nicht mehr. Und das bedeutete ... Das Computergehirn selbst hatte die ihm drohende Gefahr erkannt und gehandelt. Es besaß die Fähigkeit, über große Entfernungen hinweg materielle Objekte zu bewegen! Matchett saß sekundenlang in lähmender Starre, als ihm diese Erkenntnis kam. Jetzt hatte die Expedition überhaupt keine Chancen mehr. Die Fähigkeiten des fremden Wesens mußten jeden Verteidigungsplan Kings im Keim ersticken lassen. Er dachte an die verschollenen Sorok-Schiffe, und es erschien ihm jetzt glasklar, warum sieben starke Expeditionen der Soroks restlos vernichtet worden waren. Allein der hypnotische »Nebel« mußte genügt haben, um sie hilflos zu machen. Wieder überlief ihn ein Schwindelanfall. Im gleichen Augenblick fuhren die massiven Landebeine der TELLUS aus, und das Expeditionsschiff setzte leicht wie eine Feder auf der riesigen Ebene aus hochpoliertem Metall auf. Matchett riß sich gewaltsam zusammen. Jetzt nur nicht schlappmachen! Er mußte handeln – jetzt oder nie! Er hieb auf die Kommunikationstaste. Eine der Geschützgalerien erschien auf dem Bildschirm. Im Hintergrund standen die Robots an den Schalttafeln. »Achtung«, rief er mit heiserer Stimme und drückte eine Kombination von Knöpfen auf der Feuerleitkonsole. »Breitseite ... Feuer!« Die Droniden rührten sich nicht. Matchett starrte. Die drei Maschinenwesen schienen starr und leblos. Und die Meßskalen ihrer Instrumente erloschen eine nach der anderen. Noch einmal wollte Matchett den Befehl erteilen, aber
da stellte der Kommunikator den Dienst ein. Der Bildschirm wurde schwarz. Noch immer ungläubig richtete sich Matchett auf. Sein Blick fiel auf die großen Bildschirme der Kommandobrücke. Vor seinen Augen verdunkelten sie sich einer nach dem anderen. Überall in der Runde erloschen dunkelrotglühende Instrumentenskalen und Computerbildschirme. Das tiefe Brummen eines Hilfsmotors setzte aus. Die künstliche Beleuchtung des Raumes flackerte auf und erstarb. Ein ungeheuerlicher Gedanke durchzuckte Matchett, und wie wild griff er in die Kontrollen. Volle Kraft auf den Antrieb ... Nichts! Seine Finger glitten über die Knöpfe des Schiffskommunikators. Aber der Bildschirm blieb dunkel. Matchett sprang auf und hastete die Stufen der Brücke hinunter, halb fallend, halb springend. Er stolperte in der Dunkelheit und stürzte zu Boden, jedoch ohne sich zu verletzen. Seine Hand tastete nach seinem Feuerzeug, und dann flackerte die kleine Flamme auf und warf einen trüben Schein. Fluchend taumelte er auf das Portal zu. Unerträgliche Stille erfüllte die stockdunklen Korridore des Schiffes. Das leise Sausen der Ventilatoren und Klimaanlagen war verstummt. Es wurde rasch kalt. Nichts rührte sich. Das Schiff war stromlos! Er erstarrte auf der Stelle, als ihm diese Erkenntnis erst jetzt voll bewußt wurde. Selbst die Notbatterien des Schiffes mußten versagt haben. Das bedeutete ...
Der Tankmechanismus des schlafenden Gottes war ebenso wie die Motoren, Aufzüge, Klimaanlagen zum Stillstand gekommen! Der Mutant konnte nur noch Sekunden zum Leben haben! Er stand noch immer reglos, als das wilde Durcheinander in seinem Kopf einen zweiten Gedanken ausspie. Nein! Es gab ja noch drei Notgeneratoren. Sie mußten von der Automatik und den Technikern unverzüglich eingeschaltet worden sein, wie sie es hundertmal simuliert hatten. Ungeheuer erleichtert atmete er auf und begann sich den langen Korridor entlangzutasten. Und wenn auch die Generatoren ausgefallen waren, dann stand überdies eine große Akkumulatorenbank zur Verfügung. Und schließlich gab es für den äußersten Notfall noch den muskelbetriebenen Generator in der Werkstatt. Es konnte einfach nichts passieren. Einige Minuten später tauchte am Ende des Korridors ein fahler Schein auf, der schwankend über die metallenen Wände glitt. Dann erschien eine kleine, flackernde Flamme. Als er näher kam, erkannte er, daß der Schein von einer Kerze ausging, einer ganz normalen, primitiven Kerze. Und das an Bord des modernsten Sternenschiffs des 27. Jahrhunderts! Die Kerze wurde von der Hand seines Chefassistenten gehalten. Der Mann lehnte total erschöpft an der Korridorwand. Er mußte in eiligem Lauf über die Nottreppen aus dem Kielraum heraufgekommen sein. Er blickte seinem Chef aus irren Augen entgegen. Matchett legte die letzten Meter mit großen Sätzen zurück. Als er bei seinem Techniker eintraf, sprudelten
seine Worte wild hervor. »Was gibt's, Alexei Andrejewitsch? Los, rede schon! Es ist doch alles in Ordnung dort unten, nicht wahr?« Rumjantsew schüttelte den Kopf. »Nein, Dr. Matchett«, murmelte er. »Nichts ... in Ordnung. Strom ... ausgefallen. Haben Notgeneratoren angeklemmt. Nichts. Batterieschaltung ... ebenfalls nichts. Geben keinen Strom. Handgenerator ... alles nutzlos. Unser Gegner ... hat die Fähigkeit, sämtliche Stromerzeuger ... kurzzuschließen. Elektrizität ... wird abgeleitet. Irgendwohin. Noch bevor sie ... die Klemmen erreicht.« Matchett stand starr. Der Alptraum seines Lebens war Wirklichkeit geworden. »Und ... und ...« Seine Stimme versagte. Er brachte die Worte einfach nicht heraus, aber er kannte die Antwort. Der Mann nickte wieder. »Ja, Chef. Der Tankmechanismus ist ... stehengeblieben. Der Cyborg Kane liegt leblos ... am Boden. Wir haben unser Möglichstes getan ... Alles. Die Instrumente zeigen es. Es fließt kein Strom mehr.« Matchett ließ seine Hände sinken. Eine Welt brach für ihn zusammen. Chester Clayton King, der schlafende Gott, war tot.
17. Sein Schatten zuckte gespenstisch über die glatten Wände, als die gelbe Kerzenflamme unstet flackerte. Er hatte einige Mühe, durch den Schlitz im Rückenteil in den Raumanzug zu klettern, aber schließlich war es soweit. Die Dichtungen schlossen sich unter seinen Händen, und die Stulpen der schweren Handschuhe verschmolzen hermetisch mit den Ärmelansätzen. Er ergriff den Helm mit dem angeschlossenen Atemgerät, zögerte einen Moment und zuckte dann die Schultern. »Es bleibt mir nichts anderes übrig, Alexei«, sagte er. »Wir können jetzt von King keine Hilfe mehr erwarten. Er ist tot. Ich werde das Schiff verlassen und mich dem Computergehirn ausliefern. Mal sehen, ob ich noch etwas retten kann. Ich bezweifle es jedoch.« Mit einer entschlossenen Bewegung setzte er sich den Helm auf. Sein Assistent verschraubte ihn mit der Halskrause des Anzugs, und dann begann das Atemgerät zu arbeiten, das nun auf dem Rücken ruhte. Der Druckanzug füllte sich. Die Heizung des Anzugs, die durch eine Batterie betrieben wurde, funktionierte nicht, ebenso wie alle elektrischen Geräte des Schiffes. Auch das Kühlaggregat, das die Innentemperatur bei direkter Sonneneinstrahlung in erträglichen Grenzen halten sollte, hatte durch den Ausfall seines Gebläses den Dienst aufgesagt, ebenso wie das Helmradio. Er mußte zusehen, daß er sich ohne die beiden Apparate durchschlagen konnte. Glücklicherweise konnten die Schleusen des Schiffes
auch durch einen Handmechanismus mit Übersetzungsgetriebe geöffnet werden. Es dauerte einige Zeit, während die beiden Männer keuchend an den großen Handrädern drehten, aber dann öffnete sich die Luke langsam und widerstrebend. Matchett trat in die Schleuse, wartete, bis die Tür hinter ihm geschlossen war, und öffnete dann die äußere Luke. Während die Rampe langsam hinunterglitt, verharrte er reglos und blickte über die spiegelglatte Ebene hinweg. Nirgends ließ sich die geringste Erhebung oder Unregelmäßigkeit feststellen. Dieses Computergehirn war eine riesige, runde Kugel aus Metall. Die Beobachtungen aus dem Weltraum und der ungeheuer weit entfernte Horizont hatten ihm gezeigt, daß dieser Planet volumetrisch wenigstens zehnmal größer war, als die Erde. Und doch besaß er eine Schwerkraft, die sich durchaus ertragen ließ. Das ließ darauf schließen, daß der Hohlraum dieser Planetenkugel lange nicht vollständig ausgefüllt war. Zweifellos hatte das Gehirn bei der Festlegung seiner Größe ein Netzwerk von Servicegängen sowie späteren Anbaumöglichkeiten berücksichtigt. Jetzt kam die Rampe zur Ruhe. Matchett richtete sich auf und schritt entschlossen die schräge Ebene hinunter. Die TELLUS lag völlig hilflos auf der weiten Ebene, nicht nur ihrer Mannschaft beraubt, sondern auch ihrer Lebensfähigkeit. Es blieb ihm nichts übrig, als das Gehirn persönlich zu konfrontieren. Vielleicht ... Aber Matchett war sich bewußt, daß er allein nicht viel gegen dieses riesenhafte Gebilde ausrichten konnte. Als er auf die Metallfläche trat, blieb er wieder stehen. Suchend glitt sein Blick über den Horizont, aber überall zeigte sich ihm das gleiche Bild: Spiegelnder Metallboden
und sonst nichts. Aber dann, als er zur anderen Seite hinübersah, erkannte er plötzlich, daß er sich geirrt hatte. Das Computergehirn begann sich zu rühren. In geringer Entfernung von ihm hatte sich eine große, viereckige Öffnung in der glatten Metallfläche gebildet. Eine Platte mußte dort abrupt abwärts geglitten sein. Dunkel und drohend starrte ihn das schwarze Loch an. Eine Maschine stieg aus ihm hervor. Ein alptraumartiges Gebilde aus Armen und Beinen, die sich in maschinellem Stakkato-Rhythmus bewegten. Große, schimmernde Linsen warfen blitzende Reflexe, als die Maschine rasch auf ihn zukam. Matchett wartete, bis sie ihn erreichte. Er wehrte sich auch dann nicht, als sich zwei mächtige klauenartige Zangen um ihn schlossen. Gelenke bewegten sich, und zwei starke Arme hoben ihn mühelos in die Höhe. Er verharrte reglos. Jetzt war nicht der Augenblick, an Gegenwehr zu denken und den Helden zu spielen. Das Gehirn wollte ihn lebend haben. Warum? Der Teleoperator wirbelte herum und glitt wieder rasch auf die Öffnung zu. Matchett erhaschte einen letzten Blick auf die riesige Scheibe der TELLUS, dann tauchte die Maschine mit ihm in das Dämmerlicht der Öffnung hinunter. Sekunden später glitt eine Metallplatte in die Höhe und verschloß das Loch. Er befand sich im Innern des künstlichen Planetengehirns. Es war stockdunkel. Er konnte nichts sehen, aber er fühlte, daß er noch immer in den Zangen der Maschine hing. Den Auf- und Abbewegungen nach zu schließen, trug sie ihn tiefer ins Innere hinein.
Eine endlose Zeit verstrich. Schließlich hielt der ferngesteuerte Robot an und setzte Matchett zu Boden. Noch immer herrschte undurchdringliche Finsternis, aber er stand jetzt wenigstens auf einem festen Untergrund und hatte Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Eine Idee zuckte in ihm auf. Vielleicht war die Nagha außerstande, in ihrem Innern den Kurzschlußeffekt hervorzurufen, wie außerhalb ihrer Hülle! Sie würde sich nur selber schaden. Rasch bestätigte er den Schalter der starken Lampe, die im Helm des Raumanzugs eingebaut war. Im nächsten Augenblick strahlte sie auf und tauchte die Umgebung in helles Licht. Matchett konnte wieder sehen. Auch die übrigen Systeme des Druckanzugs funktionierten wieder. Er stand in einem großen Raum, der ausschließlich aus Metallplatten gefügt zu sein schien. Er enthielt nichts, außer ihn selbst und die Zangenmaschine, die einige Meter vor ihm kauerte und ihn aus kalten Linsen anstarrte. Die Minuten verstrichen, ohne daß etwas geschah. Er bewegte einen Fuß, doch das mechanische Monster hob augenblicklich eine seiner Zangen. Es war zweifellos eine Drohung, und Matchett war klug genug, um es nicht auf eine Machtprobe ankommen zu lassen. Er verhielt sich reglos, aber seine Gedanken jagten sich. Was bezweckte das Gehirn damit, ihn hier stehen zu lassen? War es etwa damit beschäftigt, ihn mir irgendwelchen geheimnisvollen Strahlen zu untersuchen? Er wußte es nicht, aber als etwa fünf Minuten verstrichen waren, trat eine neue Änderung ein. Die Maschine bewegte sich wieder. Ihre Arme schossen hervor, und im nächsten Augenblick legten sich die Zangen um seinen Körper. Er wurde aufgehoben und aus dem Raum
getragen. Wie er jetzt im Schein seiner Lampe erkennen konnte, ging es tatsächlich durch einen langen Korridor. Die Reise endete jedoch ebenso schnell, wie sie begonnen hatte. Eine Öffnung bildete sich in einer Metallwand, und dann befand er sich in einer kleinen, metallenen Zelle. Der Teleoperator verschwand auf dem Korridor, und die Öffnung schloß sich geräuschlos. Er saß gefangen. Erst jetzt wurde er sich wieder der lähmenden Müdigkeit bewußt, die ihn umfangen hielt. Die Anstrengungen der vergangenen Stunden, verbunden mit dem Mangel an Nahrung, verlangten ihren Zoll. Er ließ sich auf den Boden nieder und lehnte sich mit dem Rücken an eine Wand. Er sagte sich, daß er jetzt, in dieser Stunde höchster Gefahr nicht schlafen durfte, aber seine Lider lasteten bleiern. Er kämpfte gegen seine Erschöpfung an. Aber es half alles nichts. Sekunden später war er im Inneren seines Druckanzugs eingeschlafen. Er schreckte jäh hoch, als ihn metallene Glieder berührten. Er wußte nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war, aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Es dauerte einen Moment, bis er wieder klar zu sehen vermochte, und dann erinnerte er sich wieder an alles. Und er erkannte, daß die Entscheidung unmittelbar bevorstand. Eine Maschine hatte ihn ergriffen und hochgehoben. Noch während seine Gedanken damit rangen, die Schleier des Schlafes zu verscheuchen, wurde er rasch aus der Zelle in einen angrenzenden Raum getragen, der von strahlendem Licht erhellt wurde. Die Öffnung in der Wand schloß sich, und mehrere Minuten verstrichen, ohne daß
etwas geschehen wäre. Dann setzte ihn der Mechanismus mit einem metallischen Geräusch seiner Arme auf den Boden ab und begann den Helm seines Raumanzugs zu lösen. Einen wilden Augenblick lang wehrte sich Matchett verzweifelt dagegen, aber er hätte genausogut versuchen können, der Gewalt eines Schraubstocks mit bloßen Händen zu widerstehen. Dann wurde ihm urplötzlich bewußt, was er soeben gehört hatte. Der Robotmechanismus hatte ein Geräusch erzeugt! Demnach mußte es in diesem Raum eine Atmosphäre geben. Noch während ihn diese Gedanken durchzuckten, ließ er die Hände sinken. Wenige Minuten später hatte ihn der Automat seiner Raumrüstung entledigt. Er holte tief Luft und prüfte die Atmosphäre. Sie schien die richtige Zusammensetzung zu haben, auch wenn sie stark nach Ozon roch und von hoher Temperatur war. Verwundert rätselte er an dieser neuen Entwicklung herum. Es erschien kaum wahrscheinlich, daß die Nagha und ihre mechanischen Diener einer atembaren Atmosphäre bedurften. Ein elektronischer Mechanismus benötigte Vakuum für seine Funktion und besaß im Vakuum seinen höchsten Wirkungsgrad. Demnach hatte ihn das Gehirn in jenem ersten Raum tatsächlich irgendwie untersucht, um die Bedürfnisse seines Metabolismus festzustellen. Später hatte es dann die nötigen Gase synthetisiert und diesen Raum mit der richtigen Mischung davon gefüllt. Matchett runzelte nachdenklich die Stirn. Dies konnte darauf schließen lassen, daß das Robotgehirn ihn am Leben zu erhalten wünschte. Vielleicht bezweckte es gar nicht den
Tod seiner Gegner. Vielleicht hatte sich King geirrt, und das Gehirn war gar nicht auf Macht und Eroberung aus! »Beginn der Kommunikation«, sagte eine dröhnende, machtvolle Stimme. Matchett schrak zusammen und blickte sich um. Die Stimme hatte den ganzen Raum erfüllt, aber sie besaß scheinbar keine ersichtlichen Quellen. Auch vermochte Matchett nicht zu sagen, ob es eine männliche oder weibliche Stimme gewesen war. Ihr Klang war – geschlechtslos. Sekunden verstrichen. Der ferngelenkte Mechanismus rührte sich nicht. Matchett hob die Hand und wischte den Schweiß von der Stirn. Es war drückend heiß, und seine Hand zitterte stark. »Ich bin ... Nagha«, fuhr die Stimme ausdruckslos fort, und ihre subsonaren Vibrationen erschütterten die Metallwände des Raumes und Matchetts Brustkorb. »Ich bin das mächtigste Wesen im Universum. In kurzer Zeit werde ich auch über deinen Weltraum herrschen. Aber das werden du und deinesgleichen nicht mehr erleben.« Matchett fuhr sich mit der Zunge über seine trockenen, ausgedörrten Lippen. Die Hitze im Raum wurde plötzlich trocken, als ob ein Regelmechanismus irgendwo eingesprungen war. Eine lähmende Beklemmung schnürte seine Brust zusammen, und für einen flüchtigen Moment lang hatte er den Eindruck, daß dies alles nur ein böser Traum war. »Du ... du sprichst unsere Sprache?« preßte er schließlich hervor, nur um überhaupt etwas zu sagen. »Du hörst es. Ich habe deine Gefährten studiert, die sich in meiner Macht befinden, und es hat nur kurze Zeit gedauert, bis ich eure Verständigungsmethode erfaßt hatte. Sie ist primitiv. Ihr seid eine eigenartige Rasse. Ich habe in
diesem Weltraum niemals Wesen von eurer Art angetroffen, und es wird mir in der nächsten Zeit deshalb ein besonderes Vergnügen sein, euch zu studieren.« Vergnügen? Für einen Rechenautomaten? Matchett überlegte krampfhaft. Aber ein klarer Gedanke wollte nicht kommen. Er verspürte nur das überwältigende Gefühl der Hilflosigkeit. »Meine Gefährten ...«, brachte er schließlich stockend hervor. »Sie sind also noch am ... Leben?« »Gewiß!«, entgegnete die gigantische Stimme des Robotgehirns. »Ich werde ihre organischen Systeme in Kürze näher analysieren. Aber du bist vorläufig wichtiger. Du scheinst über eine besondere Fähigkeit zu verfügen, deren Ursache ich ausfindig machen muß.« Matchett verharrte verblüfft, als ihm die Worte der Nagha bewußt wurden. Besondere Fähigkeit? »Ich?« fragte er schließlich verwundert. »Was habe ich ...« »Es ist mir bisher noch nicht vorgekommen«, unterbrach ihn die hallende Stimme, »daß ein organisches Wesen den seegh-Faktor zu neutralisieren vermag. Du kannst es. Das macht dich so ungeheuer wichtig.« »Ich ... ich verstehe nicht«, stammelte Matchett bestürzt. »Seegh-Faktor? Was willst du damit sagen?« »Der seegh-Faktor ermöglicht es mir, organischen Lebewesen meinen Willen aufzuzwingen. Du nennst es Hypnose. Deine Gefährten haben alle darauf reagiert, als ich den Faktor sekundenlang zur Anwendung brachte. Ich habe es nicht anders erwartet, nur du nicht. Verstehst du jetzt, warum ich dich genauer untersuchen muß?« Matchett schwieg. Jetzt begann er allmählich klar zu sehen. Durch irgendeinen Zufall war er nicht in den
hypnotischen »Nebel« der Nagha geraten, der kurze Augenblicke lang das Schiff gebadet hatte. Dieses riesige, elektronische Monster konnte sich das Versagen seines »seegh«-Faktors in seinem Fall nicht erklären und war deshalb in dem Glauben, daß er durch irgendeine besondere Fähigkeit dagegen immun war. Und so hatte es das Superschiff TELLUS zur näheren Untersuchung des Rätsels heruntergebracht! Matchett beabsichtigte nicht, dem Robotgehirn mitzuteilen, daß sich an Bord des Schiffes noch sechs andere Männer befanden, die ebenfalls nicht von der Telehypnose befallen worden war. Offenbar würde es jedoch nicht lange dauern, bis die mechanischen Horden der Nagha an Bord gingen und die Zurückgebliebenen entdeckten, zusammen mit drei achtfüßigen Robots, die leblos an den Geschützen standen, einem reglosen Cyborg/Androiden und einem toten Mutanten in einem Cryotank. Die dröhnende Stimme des Robotgehirns sprach noch weiter, aber Matchett achtete nur noch mit halbem Ohr darauf. Denn urplötzlich begann sich die Maschinenmonstrosität vor ihm zu bewegen. Ein gräßlicher Verdacht durchzuckte ihn. Beabsichtigte das Gehirn etwa ... Vivisektion! Er stieß einen Schrei aus und sprang zurück, um sich zur Wehr zu setzen. Aber seine Reaktion kam zu spät. Die Zangen des Robots schlossen sich bereits um ihn, und einen Moment lang betäubte ihn die nackte Angst vor dem Bevorstehenden. Als er wieder zu sehen vermochte, lag er rücklings auf einem blitzenden Stahltisch, und die Maschine war damit beschäftigt, seine Arme und Beine in stählernen Halteklauen zu befestigen.
Im Hintergrund bewegten sich andere Maschinen. Einige erschienen aus Wandöffnungen. Von allen Seiten kamen sie jetzt auf ihn zu. Er versuchte sich zu befreien, aber die Klammern hielten ihn unverrückbar fest. Währenddessen sprach das Gehirn ohne Pause weiter. Er vernahm seine Stimme und seine Worte, aber die Bedeutung des Gesagten wurde ihm nicht bewußt. Und dann erreichten ihn die herangleitenden Maschinen, und er erkannte, daß sein Schicksal besiegelt war. »Um dich noch möglichst lange am Leben zu erhalten«, dröhnte die gigantische Stimme, »habe ich dir eine Atmosphäre erzeugt, wie sie dein organischer Körper benötigt. Ich weiß, daß du im Verlauf der bevorstehenden Prozedur nicht sehr lange lebensfähig bleiben wirst. Aber meine Werkzeuge, die dich jetzt öffnen werden, um dein Inneres zu erforschen, werden dies dergestalt tun, daß du möglichst lange lebst. Später werde ich euer Schiff einer genauen Inspektion unterziehen und dann eine große Flotte zu deinem Heimatsystem schicken.« »Du redest zuviel.« Matchett hörte seine eigenen Worte mit einem abgetrennten Teil seines Bewußtseins und wunderte sich darüber. Er blickte zu den Maschinen auf, die sich jetzt über ihn beugten. Statt klauenähnlichen Zangen saßen bläulich schimmernde, blitzende Skalpelle an ihren vielgliedrigen Armen, und in ihren Bewegungen lag eine tödliche Zielstrebigkeit. Er wußte, daß ihm nur noch Sekunden verblieben, und er nahm Abschied vom Leben. Das überwältigende Empfinden, versagt zu haben, erfüllte ihn mit schmerzhafter Intensität. Er sah das Skalpell auf sich zukommen, und er schloß die Augen. Sein ganzer Körper spannte sich in Erwartung
des ersten Schmerzes. Und die Zeit verstrich. Matchett wußte nicht, wie lange er so gelegen hatte. Es kam der Augenblick, als die Erkenntnis in sein blockiertes Bewußtsein einsickerte, daß irgend etwas nicht stimmte. Wo blieben die stechenden Lanzen des Schmerzes? Die Computerstimme war verstummt. Ein schwerer Stoß erschütterte den Stahltisch. Er schlug die Augen auf und starrte empor. Und sah die ferngelenkten Maschinen, die mitten in der Bewegung versteinert waren. Eine Handbreit über seinem Brustbein schwebte das Skalpell, aber der Arm, an dem es saß, war erstarrt. Die Robots verharrten reglos. Kein Geräusch ließ sich hören. Dann traf eine zweite Erschütterung den Tisch, als der Raum schlagartig erbebte. Im nächsten Moment bogen sich die Metallwände nach innen. »King!« schrie er triumphierend. Das Krachen ferner Explosionen hämmerte an seine Ohren. Beben über Beben durchlief die Böden und Wände der Zellenstruktur. Das Geräusch zerreißenden Stahls war süße Musik in seinen Ohren. Die emotionelle Entspannung, die darauf einsetzte, war für sein System fast fatal. Ein wildes Keuchen entrang sich seinem Hals. Seine Augen drohten aus ihren Höhlen hervorzuquellen, aber dann sank er entspannt zurück, als sich – einer schützenden Decke gleich – eine siegreiche fremde Kraft in seinem Geist ausbreitete. »Chet!« murmelte er, als er in den tiefen Abgrund der friedenspendenden Ohnmacht hinuntersank. »Chet, du lebst!«
18. Das unübersehbare Sternenmeer des Spiralnebels M-31 im Sternbild Andromeda strahlte in unbeschreiblicher Pracht von den Bildschirmen. Die fernen Sonnen erschienen wie glitzernde Diamanten, die in allen erdenklichen Farben schillerten. Diamanten, die von einem unvorstellbaren Titanen zu Myriaden und aber Myriaden über das schwarze Samttuch des Weltalls wahllos verstreut worden waren. Das Expeditionsschiff TELLUS raste mit vieltausendfacher Lichtgeschwindigkeit auf nahezu gerader Bahn durch die endlosen Tiefen des Alls, aber die strahlenden Nadelköpfe auf ihren großen Bildschirmen verkündeten, daß sie in der Unendlichkeit nicht allein war. Überall gab es Leben, Wärme, Licht. Überall, wo man auch hinblicken mochte, zeigte sich der dynamische Trieb der Natur, das Leblose zu beleben und das Nichts zu verdrängen. Douglas Matchett, der – aus der Mutantenabteilung kommend – durch das hohe Portal auf die lichterfüllte Kommandobrücke des Schiffes trat, vermochte den Blick für lange Minuten nicht von den Sichtplatten abzuwenden. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, wieder im Schutz des Schiffes zu weilen und von neuem die Welten des irdischen Universums zu durchmessen. Während er sich auf seinem Platz niederließ, gingen seine Gedanken zu den vergangenen Wochen zurück, die für die Expeditionsmitglieder von rastloser Aktivität erfüllt gewesen waren. Erst jetzt, als alles vorüber war, bot sich den Männern und Frauen Zeit und Gelegenheit, die Ereignisse der letzten Wochen zu überdenken und zu
diskutieren. Matchett schauderte unwillkürlich, als er an jene entsetzlichen Sekunden auf dem Seziertisch der Nagha zurückdachte. Wie ein Wunder war es ihm damals erschienen, als die höllischen Mechanismen plötzlich leblos wurden, ja, als das ganze riesenhafte Planetengehirn von einem Sekundenbruchteil zum nächsten stillgelegt wurde. Heute wußte er, daß dies allein das Verdienst von Chester Clayton King war, aber es hatte lange gedauert, bis ihn jenes Gefühl eines überirdischen Ereignisses verließ. Heute war es ihm klar, daß alles auf die unvorstellbaren Fähigkeiten des schlafenden Gottes zurückgeführt werden konnte. Aber selbst die Erklärung, die ihm King geliefert hatte, überstieg alle bisherigen Erkenntnisse irdischer Wissenschaft. Bange Minuten hatte er auf jenem Seziertisch gelegen, unfähig, sich zu rühren. Die stählernen Fesseln konnten von ihm nicht geöffnet werden. Das Robotgehirn lag in lebloser Inaktivität, aber er war nichtsdestoweniger gefangen gewesen, während die Atmosphäre aus den Rissen in der Zelle entwich. Und dann hatte sich eine Tür geöffnet, und ein Dronide war geschmeidig hereingeglitten. Es dauerte einen Moment, bis Matchett wieder bei klaren Gedanken war, daß er in ihm einen der drei Verbündeten der Expedition erkannte. Danach hatte es nur noch Sekunden gedauert, bis er befreit war, im Druckanzug steckte und hinter dem Robot das Freie gewann. Und an Bord der TELLUS, deren Schleusen von erstarrten Maschinenmonstern belagert wurden, empfing ihn Wilson Kane mit der Nachricht, daß der schlafende
Gott am Leben war. In jenem Augenblick, so schien es Matchett, war eine neue Sonne für ihn aufgegangen. Mit Hilfe der Anweisungen des Mutanten war es ein leichtes gewesen, den Planeten anzufliegen, auf dem sich die Mannschaften des Schiffes befanden. Alle Mechanismen des Gehirns waren zum Stillstand gekommen. Überall trieben führerlose Kugelraumschiffe durch das All, um miteinander zu kollidieren, in die gelbweiße Sonne zu stürzen oder auf einem Planeten zu zerschellen. Nur wenige von ihnen würden bis ans Ende der Zeit durch den Weltraum treiben. King hatte sogar vorgesorgt, daß das »Loch« zwischen den Welträumen für eine gewisse Zeitdauer erhalten blieb. Eine ganze Abteilung des größenwahnsinnigen Computerwesens diente allein dem Zweck, den Nichtraumkomplex zu erhalten, und sie blieb noch so lange aktiv, bis die TELLUS in den irdischen Weltraum zurückgekehrt war. Dann schloß sich das Portal, und niemals wieder würde ein Kugelraumschiff die Schwelle zwischen den beiden Universen überschreiten. Während der nächsten Tage und Wochen war das Expeditionsschiff auf dem Weg zurückgekehrt, den es gekommen war. Als es in das Sonnensystem von Sorok eintrat, wurde es klar, daß auch hier der Krieg ein Ende gefunden hatte. Mit dem Tod der Nagha waren ihre Schiffe und planetarischen Stützpunkte steuerlos geworden, und es hatte nur Tage gedauert, bis die Soroks mit der Neubesiedlung der wiedergewonnenen Planeten beginnen konnten. Die TELLUS-Expedition wurde von ihnen mit freudigem Jubel begrüßt, und selbst die achtfüßigen
Anführer der Robotflotte schienen erfreut darüber, ihre Herren wiederzusehen, nachdem für sie fast zwanzig Jahre vergangen waren. Nach einer großen Beratung der Wissenschaftler wurde die gesamte Robotrasse ins irdische Sonnensystem abkommandiert, um der Menschheit dort ihre Hilfe anzubieten. Auf der Erde waren unterdessen tausend Jahre vergangen, aber nichtsdestoweniger benötigte die Menschheit dringend ihrer Hilfe. Angekündigt durch Kings Zwillingsbruder, der das einzelne Kugelraumschiff schon vor langer Zeit lahmgelegt hatte, würden die Droniden mit offenen Armen empfangen werden. Wieder einmal waren die Rohstoffquellen der irdischen Zivilisation, die das ganze Sonnensystem umspannte, knapp geworden, und neue Bergwerke auf anderen Planeten mußten erschlossen werden. Ja, dachte Matchett, als er nachdenklich auf die Bildschirme blickte, sie hatten viel erreicht. Und jetzt gingen sie neuen Abenteuern entgegen. Dann überlief ihn ein Kribbeln, als Ursula Borowskaja auf ihn zukam und mit einem strahlenden Lächeln den Platz zu seiner Linken einnahm. Das Auditorium hatte sich mittlerweile gefüllt, und jetzt erhob sich Rufus Carlson. Er begrüßte die anwesenden Kollegen und Kolleginnen und übergab dann das Wort an Douglas Matchett. Matchett stand rasch auf und trat einige Schritte vor. Er wandte sich den gespannt wartenden Wissenschaftlern zu und begann: »Meine Damen und Herren, erst heute komme ich dazu, einen Bericht über jene turbulenten Ereignisse abzugeben. Viele von Ihnen mögen sich gefragt haben, wie wir es fertigbrachten, das Computergehirn zu besiegen. Der ganze
Verdienst liegt natürlich bei Chester King. Wenn er nicht gewesen wäre, existierte diese Expedition heute nicht mehr.« Er legte eine kurze Pause ein und fuhr dann fort: »Der Sieg über das Robotgehirn beruhte auf einem festen Plan, den der schlafende Mutant schon Tage zuvor gefaßt hatte. Das Ganze begann aber eigentlich erst damit, daß Sie und sämtliche Mannschaften des Schiffes von unserem Gegner unter Hypnose genommen wurden. Unter Anwendung seines sogenannten ›seegh‹-Faktors zwang die Nagha Sie, in den Landungsbooten von Bord zu gehen und einen ihrer Fabrikationsplaneten aufzusuchen. Dort sollten Sie später genauer untersucht werden, da die Nagha – wie sie mir sagte – noch niemals auf eine ähnliche Rasse gestoßen war. Nun, ich wunderte mich zunächst über die Tatsache, daß meine fünf Techniker und ich nicht unter ihre Hypnose gefallen waren. Die Erklärung ist jedoch denkbar einfach. Der schlafende Mutant veranlaßte mich unmittelbar vor dem Eintreten der TELLUS in das NaghaSonnensystem, ihn in seiner Abteilung aufzusuchen. Wie Sie wissen, ist diese Sektion außerordeutlich stark gepanzert. Platten aus einem von den King-Brüdern speziell hergestellten Material schirmen sie gegen jegliche erdenkliche Strahlung ab. Es ist also kein Wunder, daß wir nicht unter den Einfluß des hypnotischen ›Nebels‹ fielen.« Er zögerte einen Moment. Nachträglich sah alles so einfach und logisch aus! Aber damals ...? Er fuhr rasch fort: »Als ich feststellte, daß das Schiff völlig verlassen war, meine Damen und Herren, war ich zunächst fassungslos. Der Energieschirm arbeitete nicht, und so schaltete ich ihn unverzüglich ein, um das Schiff gegen äußere Angriffe zu
schützen. Erst heute weiß ich, daß auch diese einfache Handlung im Plan Kings vorgesehen war. Als nämlich urplötzlich der Energieschirm entstand und das Schiff umhüllte, folgerte das Robotgehirn, daß nicht alle Mannschaftsmitglieder von Bord gegangen waren. Die Möglichkeit, daß der Schirm automatisch durch den Schiffscomputer eingeschaltet worden sein könnte, zog es offenbar nicht näher in Betracht, da es eine Rückkehr der Besatzung ausgeschlossen hätte. Einer der Lebewesen an Bord mußte also der Hypnose widerstanden haben. Für das Gehirn war das eine ungeheuerliche Vorstellung. Es beschloß unverzüglich, das Schiff zur Landung zu bringen und dieses rätselhafte Wesen näher zu untersuchen. Aufgrund seiner logischen Denkvorgänge fiel es ihm nicht ein, den seegh-Faktor ein zweites Mal zu versuchen. Und genau das, meine Damen und Herren, war das Risiko, das Chester King bewußt einging.« Ein Raunen durchlief die Reihen der Anwesenden, aber es wurden keine Fragen laut. Matchett räusperte sich und fuhr fort: »Das Robotgehirn verfügte über ein Kraftfeld, das dem unsrigen bei weitem überlegen war. Der schlafende Mutant besitzt unvorstellbare Fähigkeiten, aber er konnte diesen Schirm nicht durchdringen. Deshalb mußte das Schiff zunächst auf dem Metallplaneten des Gehirns landen, um den Schutzschirm zu unterlaufen. Bis hierher verlief der Plan ohne den geringsten Zwischenfall. Aber dann ...« Er zögerte einen Moment und schilderte dann jene furchtbaren Minuten, als sämtliche Stromnetze an Bord ausfielen. »Ich konnte nicht mehr daran zweifeln, daß der
schlafende Gott in seinem Tank Sekunden nach dem Aussetzen der Pumpen und Mechanismen gestorben war. Deshalb beschloß ich, allein von Bord zu gehen, um festzustellen, womit wir es zu tun hatten. Vielleicht konnte ich wenigstens noch die Mannschaften retten.« Er zögerte und sagte dann: »Die eigentliche Rettung kam dann aber natürlich von King.« Er berichtete von seinen Erlebnissen im Innern der Nagha und fuhr fort: »Mein Fehler lag darin, daß ich die wirklichen Fähigkeiten des Mutanten noch bei weitem unterschätzt hatte. Ich hatte gewußt, daß King telepathisch veranlagt ist. Aber ich hätte mir niemals im Leben träumen lassen, daß er auch starke telekinetische Fähigkeiten besitzt.« Wieder äußerte sich die wachsende Erregung der Zuhörer in Fußscharren, Raunen und unterdrückten Ausrufen. Matchett wartete, bis sie wieder Ruhe eingetreten war. Dann sagte er: »Dies hätte mir bereits in jenem Augenblick klar werden sollen, als King von seinem Cryotank aus in die Steuerorgane des Schiffes eingriff. Ich hatte bei der Annäherung der TELLUS an den Metallplaneten vergessen, den Energieschirm wieder auszuschalten. Als ich dies rasch nachholen wollte, begannen sich die Abstellkontrollen für das Kraftfeld von selbst zu bewegen, als ob sie von einer unsichtbaren Hand geführt wurden. Ich hielt dieses Phänomen damals für eine weitere Manifestation des Computergehirns. Heute weiß ich, daß ich mich geirrt habe. Chet besitzt die Fähigkeit, materielle Objekte über große Entfernungen hinweg mit reiner Geisteskraft zu bewegen.
Als die elektrischen Stromerzeuger des Schiffes ausfielen und auch der Tankmechanismus stehenblieb, benützte er Telekinetik, um die Pumpen und sonstigen Vorrichtungen des Tanks in Betrieb zu halten. Dies nahm zunächst seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch, während ich meinen Ausflug aus dem Schiff begann und ihm damit – ohne es zu wissen – die nötige Zeit gewann. Er erforschte mit seinen hellseherischen Fähigkeiten das Innere des Robotgehirns und machte die Sektionen ausfindig, die für die Funktion der Nagha absolut lebenswichtig waren. Es dauerte nicht lange, bis er Kabelverbindungen gelöst, Leitungen unterbrochen, wichtige Relaisbänke zerstört und einige Antimaterie-Minibomben im Herzen der Nagha materialisiert hatte. Das Gehirn stellte den Dienst ein ... und damit war die Expedition gerettet.« Er zögerte, zuckte die Achseln und fügte hinzu: »Den Rest wissen Sie bereits, meine Damen und Herren.« Er setzte sich wieder, der auf ihn gerichteten leuchtenden Augen Ursulas nur zu sehr gewahr. Das Auditorium widerhallte jetzt von Stimmen, die erregt durcheinander sprachen. Schließlich meldete sich ein Wissenschaftler im Hintergrund zu Wort. Angus McGregor, dachte Matchett automatisch, biochemische Sektion. Carlson nickte ihm zu, und der Mann fragte: »Haben Sie eine Erklärung dafür, Dr. Matchett, warum der schlafende Gott erst dann gehandelt hat, als Sie bereits buchstäblich unter dem Messer lagen? Wie Sie erzählen, müssen Sie doch mindestens eine Stunde lang im Innern des Gehirns geweilt haben.« Matchett runzelte die Stirn, erhob sich jedoch schweren Herzens und sagte unglücklich:
»Ja, Dr. McGregor, ich glaube, ich kenne den Grund hierfür. Es ist mir sehr unangenehm, aber ... aber ich bin der Überzeugung, daß der eigenartige Humor des Mutanten dafür verantwortlich zu machen ist. Es sieht ihm ähnlich, mit seiner Hilfe so lange zu warten, bis ich nahe daran war, alle Engel im Himmel singen zu hören. Es war – um es kurz zu machen – ein kleiner Scherz, den sich der schlafende Gott mit mir geleistet hat.« Überall begannen Männer und Frauen zu lachen, und Matchett, der sich rasch wieder setzte, fühlte sich über und über rot werden. Und während die gigantische Kommandobrücke unter dem schallenden Gelächter der vielen hundert erleichterten, befreiten Menschen widerhallte, und während tief unten im Kielraum des Schiffes der schlafende Gott reglos und leblos und doch von stillem Gelächter erfüllt in seinem leise summenden Tank lag, raste die saphir-blaue Scheibe des Superschiffs TELLUS mit stetig steigender Geschwindigkeit durch die Tiefen des Alls, seine Expedition neuen Abenteuern entgegentragend. Und Dr. Ursula Borowskaja wurde des Wartens müde, näherte ihre Lippen Matchetts linkem Ohr und lud ihn zu einer Partnerschaft auf Zeit ein. ENDE
Als TERRA-Taschenbuch Band 344 erscheint:
Im Bann des Omphalos Science Fiction-Roman von E. C. Tubb Das Gebilde, das wie eine gewaltige Wolke aus leuchtendem Nebel im freien Raum zwischen den Sternen hängt, wird Omphalos genannt. Es gehört zu den größten Sehenswürdigkeiten – und zu den größten Rätseln des Universums. Niemand weiß, wie das Omphalos entstand, und niemand, der es zu erforschen versuchte, ist bisher lebend zurückgekehrt. Nun ist Mark Carodyne bereit, für die Untersuchung des Omphalos sein Leben zu riskieren. Mark ist ein Mensch besonderer Art – ein Spieler, der alles auf eine Karte setzt, und ein Mann, der sich selbst in der hoffnungslosesten Situation nicht aufgibt. Er nimmt die kosmische Herausforderung an und fliegt mit einem kleinen Raumschiff in den Bannkreis des Omphalos. Die TERRA-Taschenbücher erscheinen monatlich und sind überall im Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich.