Achim Hiltrop präsentiert
Folge 7: Der Golem in der Greenfield Road Colin Mirth erwachte mit Kopfschmerzen. Durch die h...
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Achim Hiltrop präsentiert
Folge 7: Der Golem in der Greenfield Road Colin Mirth erwachte mit Kopfschmerzen. Durch die halb offenen Vorhänge vor dem Fenster blitzte Sonnenlicht. Mit einem Grunzlaut drehte sich Colin auf die andere Seite und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz seinen rechten Arm hinaufschoß. Stöhnend setzte er sich im Bett auf. Ein dumpfes Pochen breitete sich in seinem Schädel aus, und die verhärteten Knoten in seinen Schultern wetteiferten mit den Schmerzen in seinen Armen und Beinen um seine Aufmerksamkeit. Er hatte einen mörderischen Muskelkater. Das zurückliegende Wochenende hatte sich zu einem wahren Alptraum entwickelt. Die Jagd nach dem entfesselten japanischen Dämon, der in London gewütet hatte, war ein ernster Test für seine Kondition gewesen. Er selbst hatte einige Prellungen und Schnittwunden davongetragen, als eine Pfandleihe in Soho in unmittelbarer Nähe zu ihm explodiert war, und die Verfolgungsjagd durch die Straßen und über die Dächer von London hatte Kraft gekostet. Er schlug die Augen auf. Er war zu Hause, in seinem bequemen Bett in seinem Haus in der Tottenham Court Road. Inzwischen wohnte er seit einem halben Jahr hier, und er fühlte sich allmählich heimisch in seiner neuen Bleibe. Der Kauf des Hauses hatte alle seine Ersparnisse aus der Zeit beim Secret Service aufgezehrt, und ein beträchtlicher Zuschuß seitens seiner Eltern war notwendig geworden, um die nötigsten Renovierungsarbeiten ausführen lassen zu können. Dafür wohnte er nun schließlich in seinem eigenen Haus und nicht in einem winzigen Apartment wie Archibald Moore. Gähnend schwang er die Beine über die Bettkante – und verharrte mitten in der Bewegung, als sich die Muskeln in seinen Oberschenkeln plötzlich wie gespannte Stahlseile anfühlten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ging er zu Boden. Sein erster Impuls war es, reglos liegen zu bleiben, bis der Schmerz wieder abebbte. Er wußte jedoch aus Erfahrung, daß es danach nur noch schlimmer sein würde. Keuchend rappelte er sich wieder auf, und an seiner Kommode zog er sich hoch. Einen Moment lang stand er schwankend auf unsicheren Füßen. Dann wurde die Schlafzimmertür aufgestoßen, und die Kante der Tür traf unglücklich auf Colins Nasenbein. Ein stechender Schmerz schoß ihm direkt bis ins Gehirn. Blut sprudelte aus seinen Nasenlöchern, während er das Gleichgewicht verlor und mit einem derben Fluch erst gegen die Kommode, dann vor den Nachttisch und schließlich aufs Bett prallte. Stöhnend blieb er liegen, die Hände schützend an seine malträtierte Nase gelegt. Zögernd spähte Abdul um die Tür herum. "Ihr seid schon wach, Efendi?" Colin murmelte leise eine Verwünschung. Der maurische Flaschengeist hatte es sich offenbar in den Kopf gesetzt, ein richtiger britische Butler für Colin zu sein. Da Colin bisher keinen Bediensteten angestellt hatte, ließ er Abdul gewähren. Der Eifer, mit dem der Geist dabei jedoch bei der Arbeit war, ließ ihn manchmal über das Ziel hinausschießen.
Colin Mirth Abdul trat verlegen ein. Er trug ein Silbertablett auf den Händen, auf dem eine große Schüssel Porridge stand. "Ich habe Euch Euer Frühstück gebracht, Efendi." "Du hast mir die Nase gebrochen", murmelte Colin anklagend, während er behutsam seine Nase betastete. "Oh, das tut mir aber leid, Efendi", sagte Abdul. Er stellte das Tablett auf dem Tischchen am Fenster ab und öffnete die Vorhänge. Sonnenlicht flutete den Raum, und Colin schloß geblendet die Augen. "Soll ich Euch Verbandsmaterial bringen?", fragte Abdul höflich. Colins Antwort war durch das dicke Daunenkissen, unter dem er seinen Kopf vergraben hatte, nicht zu verstehen. * "Gütiger Himmel", stieß Archibald Moore hervor, als Colin das Büro betrat, "wie sehen Sie denn aus, Colin?" Colin hängte Hut und Mantel auf den Kleiderständer und schlurfte schwerfällig zu seinem Schreibtisch. Beide Nasenlöcher waren mit Bandagen tamponiert, und der angeschwollene Nasenrücken war dunkelblau verfärbt. "Fragen Sie besser nicht", brummte Colin. "Sie sehen aus, als habe man Ihnen das Nasenbein gebrochen", bemerkte Archibald. "Ich habe Ihnen doch gerade gesagt—", brauste Colin auf. "Das war eine Feststellung, keine Frage", entgegnete Archibald unbeirrt. "Von Feststellungen war nicht die Rede." "Ach, Archie...", Colin setzte sich auf seinen Stuhl und blätterte lustlos durch die Akten, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, "ich fürchte, das ist heute nicht mein Tag." "Kopf hoch, alter Junge", grinste Archibald, "ich wette, daß der Nächste, der den Kopf zu dieser Tür hereinsteckt, uns einen faszinierenden Fall hereinreicht, der Sie Ihre Sorgen vergessen läßt." Colin lächelte müde. Im nächsten Moment wurde von außen an die Tür geklopft. "Sehen Sie?", fragte Archibald mit einem siegesgewissen Lächeln. "Herein!" Archibalds Lächeln gefror, als die häßliche Gestalt von Mrs. Florence Worthington im Türrahmen erschien und zielstrebig Kurs auf Colin Mirth nahm. Colin schluckte hart. "Mrs. Worthington", er erhob sich höflich von seinem Platz, "was verschafft mir die Ehre Ihres unerwarteten Besuches?" "Mein lieber Sergeant Mirth", zwitscherte Mrs. Worthington, "stellen Sie sich nur vor, meine liebe Tochter Gwendolen – Sie erinnern sich doch sicher noch an meine Gwendolen? – redet ja seit Wochen nur noch von Ihnen. Sie müssen einen bleibenden Eindruck auf das junge Ding gemacht haben, guter Mann!" Das allerdings beruhte auf Gegenseitigkeit. Wenn es eine Frau in Großbritannien gab, die es an Häßlichkeit, Dummheit und Vulgarität mit Florence Worthington aufnehmen konnte, dann war es ihre Tochter Gwendolen. Colin beschlich das unangenehme Gefühl, daß dies wirklich nicht sein Tag war. "Jedenfalls haben wir – also meine kleine Gwendolen und ich – beschlossen, Ihnen Ihr taktloses Benehmen von neulich zu verzeihen, Sergeant Mirth", fuhr Mrs. Worthington mit einem Seitenblick auf Archibald Moore fort. "Äh... danke", stammelte Colin. "Bitte, bitte, keine Ursache", winkte sie ab. "Und als Zeichen unseres guten Willens möchten wir Sie gerne erneut zum Dinner einladen. Sagen wir, am Freitag um acht in unserem Haus in Mayfair?" Seite 2
Colin Mirth Colin rang nach Worten. "Ich plane eigentlich nie so weit im voraus", sagte er ausweichend, "aber ich lasse es Sie wissen, ob es sich einrichten läßt, Mrs. Worthington." Gwendolens Mutter seufzte theatralisch. "Nun gut, wenn es denn sein muß. Aber hüten Sie sich, meine Tochter zu enttäuschen, mein lieber Sergeant Mirth! Gwendolen könnte es Ihnen nie verzeihen, wenn Sie ihre Einladung nicht annehmen würden." "Gewiß." Jetzt erst bemerkte Mrs. Worthington, daß etwas mit Colins Gesicht nicht stimmte. Sie kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt näher, so daß er ihr aufdringliches Parfüm inhalieren mußte. "Sagen Sie mal, Sergeant, hat man Ihnen etwa die Nase gebrochen?" "Ja", brummte Colin, "heute morgen." "Ach, Sie Ärmster!", rief Mrs. Worthington. "Der Polizeidienst ist ja viel zu gefährlich für einen netten jungen Mann wie Sie. Wenn Sie meine kleine Gwendolen heiraten, werde ich als Erstes dafür sorgen, daß Sie einen ruhigen Posten in der Geschäftsleitung eines unserer Unternehmen bekommen." Colin wechselte einen verstohlenen Blick mit Archibald. Sein Kollege sah zum Abreißkalender an der Wand, der das heutige Datum anzeigte, und dann zu Colin und schüttelte dabei mitleidig den Kopf. Heute war wirklich nicht Colins Tag. "Wir werden sehen", sagte Colin mit gespielter Fröhlichkeit und steuerte Mrs. Worthington in Richtung des Ausgangs. "Jetzt entschuldigen Sie mich bitte, Madam, aber Sergeant Moore und ich haben zu tun." "Natürlich, natürlich", trällerte sie, "viel Erfolg. Und gute Besserung, Sergeant Mirth!" Als sie gegangen war, lehnte sich Colin schwer gegen die geschlossene Tür. "Ich wußte noch gar nicht, daß Sie die kleine Gwendolen Worthington heiraten wollen", bemerkte Archibald mit einem schadenfrohen Grinsen. Colin schüttelte benommen den Kopf. Dann warf er Archibald einen giftigen Blick zu. "'Signor, wenn Ihr Euren Witz gegen mich richtet, so denk ich ihm in seinem Rennen standzuhalten. Habt die Güte und wählt ein anderes Thema.'" Archibald dachte kurz nach. "War das nicht aus 'Ende gut, alles gut'?" "Nein", widersprach Colin gereizt. "aus 'Viel Lärm um nichts'. Fünfter Akt, erste Szene." * Kurze Zeit später betrat Inspector Pryce das Büro der beiden Polizisten. "Guten Morgen, Gentlemen." "Guten Morgen, Sir." Die Augenbrauen des Inspectors wanderten in die Höhe, als er Colin ansah. "Gütiger Himmel", platzte er heraus, "Sie sehen aus, als hätte man Ihnen die Nase gebrochen!" "Das liegt vermutlich daran", antwortete Colin zerknirscht, "daß man mir in der Tat die Nase gebrochen hat, Sir." "Nun ja", Pryce schmunzelte, "ich habe da etwas, das Sie auf andere Gedanken bringen wird, Gentlemen. Einen neuen Fall." "Entschuldigung, Sir, aber wir sind eigentlich mit den Ermittlungen bezüglich der Gasexplosion in Soho am Wochenende beschäftigt", meldete sich Archibald zu Wort. "Ach das", winkte Pryce ab, "vergessen Sie's. Der Fall kommt zu den Akten. Der Commissioner hatte gestern Abend ein Gespräch unter vier Augen mit dem Direktor der Gaswerke. Ihre Ermittlungen sind hiermit offiziell eingestellt." Colin und Archibald sahen sich stumm an. Die beiden Polizisten wußten nur zu gut, daß es sich bei den Vorkommnissen in Soho mitnichten um eine Gasexplosion Seite 3
Colin Mirth gehandelt hatte, wie sie es ihrem Vorgesetzten gegenüber zu Protokoll gegeben hatten. Aber wie hätten sie ihm auch erklären sollen, daß ein Jahrtausende alter Dämon aus Japan in der Londoner Innenstadt gewütet hatte? "Was haben Sie denn für uns, Inspector?", fragte Colin. "Ein Mord und ein Vermißter", antwortete Pryce, "und zwar mitten in einer der malerischsten Gegenden unserer schönen Stadt, Segeant Mirth. Es wird Ihnen bestimmt gefallen." * "Wenn das eine malerische Gegend sein soll, wüßte ich gerne, welchen Maler unser Inspector im Sinn hatte", knurrte Archibald Moore und sah sich um. Die beiden Polizisten gingen Petticoat Lane hinunter. Die Häuser auf beiden Seiten der Straße waren dunkel und baufällig, und Colin hätte schwören können, daß die meisten von ihnen längst von ihren Bewohnern verlassen worden waren. Doch immer wieder sah er Gesichter hinter den schmutzigen, rissigen Fensterscheiben auftauchen, die ihn eines Besseren belehrten. In den Erdgeschossen der meisten Gebäude befanden sich kleine Geschäfte, in denen von Fisch und Brot über Gemüse und Obst bis hin zu Kleidung und Trödel so ziemlich alles feil geboten wurde, was man zum täglichen Leben brauchte. Die meisten der Passanten, denen Colin und Archibald begegneten, sahen jedoch nicht so aus, als könnten sie sich viel leisten. Zudem verströmten die Lebensmittel, die auf kleinen Theken an der Straße auslagen, nicht wirklich appetitliche Gerüche. Genau genommen roch es nach Unrat. Im Dunkeln zwischen den Häusern huschten Ratten umher. "Spitalfields und Whitechapel sind ein einziger Slum." Archibald sprach die Namen der Stadtteile aus wie Schimpfworte. "Es ist eine Schande für London, daß sich so etwas in so kurzer Entfernung vom Tower entwickeln konnte. Wenn Sie hier auf die Straße spucken, mein Freund, wird davon das Pflaster sauber. Und passen Sie um Himmels Willen auf Ihre Geldbörse auf. Die Hälfte der Kreaturen, die sich hier tummeln, sind Taschendiebe." "Eine der Kreaturen, wie Sie sie zu nennen pflegen, Archie, braucht aber unsere Hilfe. Deshalb sind wir hier", ermahnte Colin seinen Kollegen. "Sonntags ist hier in der Straße Markt. Da ist die Gefahr, einem Taschendieb zum Opfer zu fallen, noch größer als jetzt." Archibald seufzte ergeben. "In Soho gibt es wenigstens noch ein paar anständige Pubs. Aber das hier... das ist..." "Wir sind da", sagte Colin und zeigte auf ein kleines Geschäft auf der anderen Straßenseite. "Das ist die Adresse, die uns der Inspector gegeben hat." Archibald runzelte die Stirn. "'Happy Dagger'? Was soll denn das für ein Laden sein?" "Wir werden es gleich sehen. Wer auch immer der Eigentümer ist, er scheint auch Shakespeare zu mögen." * Das silberne Glöckchen über der Tür bimmelte hell, als Colin die Tür aufstieß. Er und Archibald Moore betraten einen kleinen Laden, in dem es nach Leder und Wachs roch. Auf den Regalen, die die Wände säumten, reihten sich etliche Paare von Herren- und Damenschuhen. Im hinteren Teil des Geschäftes arbeitete ein Mann an einer Werkbank. Er sah auf, als die Polizeibeamten eintraten. "Guten Tag, Gentlemen", begrüßte er sie. "Sie wünschen?"
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Colin Mirth Colin und Archibald zückten ihre Dienstmarken. "Sergeant Mirth und Sergant Moore von Scotland Yard", sagte Archibald, "sind Sie Ronald Foster?" Der Schuster zuckte zusammen. "Ja, das bin ich." "Sie haben gestern Ihre Frau als vermißt gemeldet, Mister Foster", sagte Colin. "Wann haben Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen?" "Das... das war... vorgestern. Sie ist morgens aus dem Haus gegangen, wie immer. Sie kocht und putzt für einige Herrschaften hier in der Gegend, wissen Sie", Foster scharrte verlegen mit dem Fuß und sah zu Boden. "Das Geschäft geht nicht so gut, und wir brauchen das Geld." "Ich verstehe, Mister Foster. Ihre Frau ist also vorgestern nicht nach Hause gekommen, und darum haben Sie gestern eine Vermißtenmeldung aufgegeben. Ist das richtig?", fragte Colin. "Ich war sogar noch am gleichen Abend bei unserem Constable unten an der Ecke", protestierte Foster, "aber er hat mich wieder nach Hause geschickt. Er meinte, meine Frau wäre vielleicht irgendwo im Pub, oder bei Freunden. Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht..." "Und gestern?" Foster zuckte mit den Schultern. "Nachdem Mina die ganze Nacht weg war, habe ich zuerst alle Leute aufgesucht, bei denen sie tagsüber arbeitet. Bei denen ist sie aber ganz normal gekommen und nach getaner Arbeit wieder gegangen." "Wie sieht denn ein normaler Tagesablauf bei Ihrer Frau aus?", erkundigte sich Archibald, der eifrig in sein Notizbuch kritzelte. "Nun, morgens geht sie nacheinander zu den Hendersons, zu den Bloomfields und zu der alten Mrs. Hayworth. Denen bereitet sie das Mittagessen. Dann geht sie nachmittags putzen, und zwar bei den Carlisles, bei Mr. Witherspoon, bei den Strongs und beim Rabbi." In diesem Moment brach Archibalds Bleistift ab. "Bitte, bei wem?" "Bei Isaac Rosenthal, dem Rabbi von der Synagoge in der Fieldgate Street", sagte Foster. "Aber warum fragen Sie mich das alles?" Colin seufzte schwer und legte dem Schuster die Hand auf die Schulter. "Es tut mir sehr leid, aber wir müssen Ihnen eine traurige Mitteilung machen, Mister Foster. Man hat eine Frauenleiche gefunden, auf welche die Beschreibung Ihrer Frau paßt." * Die Identifizierung eines Mordopfers durch einen Angehörigen nahm Archibald Moore immer sehr mit. Er selbst war schon kurz nach der Hochzeit verwitwet, und so konnte er nachfühlen, was in Ronald Foster vorgehen mußte, als Doktor Ebenezer MacKinnon das Laken zurückschlug, welches den Leichnam seiner Frau Mina bedeckte. "Ja", würgte Foster hervor, ehe er sich zitternd abwandte. Archibald mußte ihn stützen, als der Schuster auf unsicheren Beinen aus dem Raum wankte und sich draußen auf dem Korridor übergab. Colin wartete, bis er mit dem Gerichtsmediziner allein war. "Können Sie mir etwas über die Todesursache erzählen, Doktor?" MacKinnon sah ihn leidenschaftslos durch seine dicken Brillengläser an und simulierte mit beiden Fäusten ein brechendes Genick. "Knack!" "Und der Todeszeitpunkt?", fragte Colin unbeirrt. "Nun, vorgestern, würde ich schätzen. Entweder am späten Nachmittag oder am frühen Abend. Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist Folgendes – sie ist
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Colin Mirth mit Sicherheit nicht auf dem Müllhaufen umgebracht worden, auf dem sie gefunden wurde, sondern woanders." "Hmm", machte Colin nachdenklich. "Was haben Sie eigentlich mit Ihrer Nase gemacht?" fragte MacKinnon unvermittelt. "Gebrochen", grollte Colin. Allmählich war er es leid, darauf angesprochen zu werden. "Ah. Dachte ich's mir doch. Aber was das Erstaunliche ist", brummte MacKinnon und kratzte sich mit dem Griff eines Skalpells am Ohr, "wir haben das hier unter Mrs. Fosters Fingernägeln gefunden." Er reichte Colin einen kleinen Teller aus Blech, auf dem einige Krümel einer hellbraunen Substanz lagen. Colin sah sie sich prüfend an. "Erde?", fragte er dann. "Nicht ganz, Sergeant. Lehm. Die Hände der Frau sehen aus, als habe sie vor ihrem Tod noch eine Vase töpfern wollen", gluckste MacKinnon. "Ab und zu findet man bei Mordopfern schon mal Hautfetzen oder Wollfäden, die sie ihrem Mörder im Todeskampf abgerissen haben, aber so etwas habe ich noch nie gesehen." "Lehm", echote Colin. "Seien Sie bitte so gut, Sergeant, und holen Sie den Mann bitte noch einmal herein, ja?" MacKinnon holte ein Formular von seinem Schreibtisch. "Er muß mir noch unterschreiben, daß wir seine Frau beerdigen können." Colin schüttelte mißbilligend den Kopf. "Haben Sie eigentlich gar kein Taktgefühl, Doktor MacKinnon?" Der Gerichtsmediziner blinzelte verdutzt. "Sollte ich das?" * "So, das war also nun der Mordfall, von dem der Inspector gesprochen hat", brummte Archibald Moore, als er und Colin Mirth die Kellergewölbe der Gerichtsmedizin verließen. "Was war jetzt mit der Vermißtenmeldung?" Colin warf einen Blick auf das Papier, das Pryce ihm gegeben hatte. "Aaron Rubinstein. Ein Lebensmittelhändler in der Fieldgate Street. Seit gestern vermißt, aber im Gegensatz zu Mrs. Foster noch nicht wieder aufgetaucht. Sagen Sie, woran erinnert mich die Adresse, Archibald?" "Fieldgate Street?" Archibald schmunzelte. "Nun, dort liegt die Synagoge, welche Mister Foster vorhin erwähnte. Die Gegend dort ist das Zentrum der jüdischen Gemeinde Londons." "Das trifft sich gut", sagte Colin und faltete den Zettel säuberlich zusammen. "Dann können wir, wenn wir uns nach dem Verbleib von Mister Rubinstein erkundigen, auch gleich mal dem Rabbi dort einen guten Tag wünschen. Wenn ich Mister Foster richtig verstanden habe, ist das derjenige, der Mrs. Foster zuletzt lebend gesehen hat." "Einverstanden", Archibald nickte, "gehen wir!" * Die Synagoge war, wie fast alle Häuser im Stadtteil Whitechapel, ein baufälliges Gemäuer. Rundbögen, die auf massiven Säulen lasteten, überspannten die Galerien, welche die Längsseiten der großen Gebetshalle säumten. Am südöstlichen Ende der Halle befand sich hinter einem Altar ein mit Goldbrokat verzierter Vorhang, der eine Replika der Bundeslade verbarg. Darüber befand sich ein Ewiges Licht. In die Wand waren Steintafeln eingelassen, auf denen jeweils die ersten Worte der zehn Gebote standen. "Gar nicht so viel anders als unsere Kirchen", murmelte Archibald. "Es fehlen nur die Kruzifixe." Seite 6
Colin Mirth "Und das aus gutem Grund", schmunzelte Colin. Er selbst hatte wie viele seiner Landsleute die Bedeutung der Kirche in seinem Leben stark eingeschränkt; dieser Trend hatte sich in England seit der Industrialisierung immer weiter fortgesetzt, besonders in den großen Städten wie London, Birmingham und Liverpool. Archibald hingegen war gläubiger Christ und regelmäßiger Kirchgänger. Er schien sich in dem jüdischen Gotteshaus sichtlich unwohl zu fühlen. Er hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Ein bärtiger Gentleman von etwa fünfzig Jahren kam ihnen freundlich lächelnd entgegen. "Shalom. Ich bin Isaac Rosenthal, der Rabbi dieser Gemeinde", stellte sich der Mann vor. "Mein Schammasch sagte mir, Sie haben mich rufen lassen, Mister...?" "Sergeant Moore und Sergeant Mirth, Scotland Yard", entgegnete Colin. "Vielen Dank, daß Sie sich für uns Zeit nehmen konnten, Sir. Wir haben nur ein paar Fragen." "Bitte." Rosenthal breitete die Arme aus. "Ich habe nichts zu verbergen, Gentlemen." "Wann haben Sie Mina Foster zum letzten Mal gesehen?", fragte Archibald. Der Rabbi sah ihn aus traurigen Augen an. "Das hat mich ihr Mann auch schon gefragt. Ist ihr etwas zugestoßen?" "Beantworten Sie bitte meine Frage", beharrte Archibald ungerührt. "Nun, sie war vorgestern bei mir zum Putzen, und danach ist sie wieder gegangen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen." "Vorgestern?" Colin zog fragend die Augenbrauen hoch. "Am Samstag?" "Warum nicht?", erwiderte Rosenthal. "Der Sabbat ist nur uns Juden heilig. Mrs. Foster ist keine Jüdin und darf deshalb in meinem Haus Arbeit verrichten. Wir nennen jemanden wie sie einen Schabbes-Goy. Ich schätze sie sehr, sie ist eine zuverlässige Putzfrau. Was ist denn mit ihr, Sergeant?" "Sie wurde allem Anschein nach ermordet", sagte Colin ernst. "Und zwar am Samstag abend. Es sieht so aus, als seien Sie der letzte gewesen, der Mrs. Foster lebend gesehen hat." "Abgesehen von ihrem Mörder", ergänzte Archibald düster. "Gewiß", pflichtete Colin ihm bei. "Abgesehen von ihrem Mörder natürlich. Deshalb ist es für uns sehr wichtig, daß wir die letzten Momente ihres Lebens möglichst komplett rekonstruieren." Der Rabbi schluckte hart. "Ich verstehe." "Wann genau hat Mrs. Foster Ihr Haus verlassen?", erkundigte sich Archibald. "So gegen achtzehn Uhr", sagte Rosenthal. "Ich war auch gerade auf dem Weg in die Synagoge. Wir sind zusammen aus dem Haus gegangen. Ich habe es nicht weit, ich wohne hier in der Nähe. Sie hat mich bis zur Synagoge begleitet und ist dann in Richtung Whitechapel High Street und Petticoat Lane verschwunden, das arme Ding." "Hatte Mrs. Foster Feinde?", fragte Colin. Der Rabbi zuckte mit den Schultern. "Gläubiger vielleicht, aber keine Feinde, die ihr so etwas antun könnten." Colin nickte. "Vielen Dank. Ich denke, das wäre es für den Moment." "Keine Ursache, Sergeant. Shavua Tov", verabschiedete sich Rosenthal von den beiden Polizisten. * Das kleine Lebensmittelgeschäft von Aaron Rubinstein lag nur einen Steinwurf weit von der Synagoge entfernt. Auch dieses Gebäude hatte schon bessere Zeiten gesehen, doch hatte es sein Besitzer offenbar zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Die Fenster waren intakt, die Tür schloß richtig, und die feilgebotenen Gemüse und Früchte sahen sogar richtig appetitlich aus, fand Colin. Seite 7
Colin Mirth Die wenigen Kunden machten den Polizeibeamten respektvoll Platz. Colin ging zielstrebig auf eine kleine, rundliche Frau zu, die neben der Obsttheke an der Kasse stand. Sie war gerade damit beschäftigt, einer Kundin ihre Einkäufe in Zeitungspapier einzuwickeln. "Mrs. Rubinstein?" Die Frau des Lebensmittelhändlers erbleichte, als Colin und Archibald ihre Dienstmarken zückten. "Äh... ja, Gentlemen. Einen Moment bitte." Nachdem Mrs. Rubinstein ihre Kundin abgefertigt hatte, wandte sie sich wieder an Colin. Sie schien sich merklich über seine malträtierte und geschwollene Nase zu wundern, sprach ihn aber nicht darauf an. "Entschuldigen Sie bitte, aber Kunden darf man nicht warten lassen, sonst kommen sie nicht wieder. Sie sind Mister...?" "Sergeant Mirth, Scotland Yard. Das ist Sergeant Moore", sagte Colin. "Sie haben Ihren Mann als vermißt gemeldet, Mrs. Rubinstein?" Die Frau nickte stumm. "Wann haben Sie Ihren Mann denn zuletzt gesehen?", fragte Archibald. "Gestern", antwortete Mrs. Rubinstein wie aus der Pistole geschossen. "Er ist gestern morgen in die Synagoge gegangen und nicht wieder nach Hause gekommen." Colin stutze. "In die Synagoge?" "Ja, natürlich. Zu Rabbi Rosenthal." Archibald zwirbelte nachdenklich seinen buschigen Schnauzbart. "Haben Sie den Rabbi denn gefragt, wo Ihr Gatte geblieben sein könnte?" "Natürlich, Sergeant. Aber der Rabbi konnte mir auch nichts sagen. Warum fragen Sie?", erkundigte sich Mrs. Rubinstein beunruhigt. "Ach, nichts", sagte Colin schnell und warf Archibald einen warnenden Blick zu. Archibald verstand, daß Colin keine Informationen über den anderen Fall hier streuen wollte. Er räusperte sich vernehmlich. "Wie der Zufall es will, Mrs. Rubinstein, kommen wir gerade von dort." "Was wollte denn Ihr Mann von Rabbi Rosenthal?", fragte Colin interessiert. Mrs. Rubinstein vergewisserte sich, daß keiner der anderen Kunden in Hörweite war, dann fuhr sie im Flüsterton fort: "Wir hatten uns doch Geld vom Rabbi geliehen, für die Renovierung unseres Geschäfts. Mein Mann wollte ihm das Geld zurückbringen." "Ich verstehe." Colin nickte verständnisvoll. "Aaron... also mein Mann... jedenfalls sagt Aaron immer, daß aus Whitechapel nie ein sauberer und anständiger Stadtteil wird, wenn nicht jeder Einzelne mit seinem eigenen Haus anfängt", sagte Mrs. Rubinstein nicht ohne Stolz. "Sie und Ihr Gatte haben da in der Tat eine Vorreiterrolle eingenommen, Mrs. Rubinstein", bemerkte Colin anerkennend. "Danke, Sergeant. Aber haben Sie denn gar keine neuen Anhaltspunkte über den Verbleib meines Mannes?", flehte Mrs. Rubinstein die beiden Polizisten an. "Wir tun, was in unseren Kräften steht", wich Archibald einer direkten Antwort aus. * "Das stinkt doch zum Himmel", polterte Archibald, als sie wieder auf der Straße waren. "Innerhalb von vierundzwanzig Stunden gehen zwei Leute zu diesem Rabbi und sind hinterher tot oder vermißt. Und er hat keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist? Wenn Sie mich fragen, hat er Dreck am Stecken." Colin lächelte dünn. "Ich bin sicher, daß dem Rabbi an diesem Wochenende mindestens hundert Menschen begegnet sind, Archie, und nicht alle von denen sind jetzt tot oder vermißt." "Mir erscheint die Quote schon viel zu hoch", knurrte Archibald.
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Colin Mirth Colin klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. "Mir ja auch, Archibald. Wenn es sich hier um einen Zufall handelt, dann wirklich um einen sehr bemerkenswerten." "Ich frage mich, warum der Rabbi den verschwundenen Mister Rubinstein uns gegenüber mit keiner Silbe erwähnt hat", sagte Archibald, als sie die Tür der Synagoge erreicht hatten. "Wir haben ihm nicht gesagt, daß wir auch in diesem Fall ermitteln", gab Colin zu bedenken, "daher gab es für ihn keine Veranlassung, uns darauf anzusprechen." "Trotzdem", grollte Archibald und hielt Colin die Tür auf. "Ich denke, er ist... wie sagt man bei denen hier? Nicht ganz koscher?" Colin trat ein und nahm seinen Zylinder ab. Archibald folgte ihm. Der Erste, den sie antrafen, war der Schammasch, der Hausmeister der Synagoge. "Ah, Gentlemen", er stützte sich auf seinen Reisigbesen, "Sie sind ja schon wieder da!" "Ganz recht, guter Mann", sagte Colin jovial, "wir hätten gerne noch ein paar Worte mit dem Rabbi gewechselt." Der Hausmeister kratzte sich am Kopf. "Das tut mir sehr leid, Sie haben ihn knapp verpaßt, Gentlemen. Er ist vorhin nach Hause gegangen." "Zu dumm", murmelte Colin. "Können Sie uns sagen, wo er wohnt?" "Kann das denn nicht bis morgen warten?", fragte der Schammasch. "Nein, das kann es leider nicht", erwiderte Archibald energisch. "Erheben Sie bitte nicht die Stimme in einem Gotteshaus", ermahnte ihn der Hausmeister streng. Ehe Archibald darauf antworten konnte, kam Colin ihm zuvor. "Es ist wirklich dringend", sagte er mit Nachdruck, "sonst würden wir es nicht wagen, den Rabbi in seinen Privatgemächern zu belästigen." "Greenfield Road", erwiderte der Schammasch mürrisch, "Nummer drei. Sie können es gar nicht verfehlen, es ist gleich da drüben die Straße. Und was ich Sie noch fragen wollte..." Colin wandte sich um. "Ja, bitte?" "Hat man Ihnen eigentlich die Nase gebrochen?" * "Vielleicht ist er auf dem Weg in die Synagoge überfallen worden, weil jemand mitbekommen hat, daß er viel Bargeld in der Tasche hatte", überlegte Colin, während sie die Greenfield Road hinuntergingen. "Nein, Colin, nein. Mein Instinkt sagt mir, daß der Rabbi in beide Fälle verstrickt ist, mein Freund." Archibald tippte sich an die Nasenspitze. "Ich habe für so etwas ein Näschen." Colin lachte heiser. "Das kann man von mir momentan nicht gerade behaupten", bemerkte er sarkastisch. Das heftige Pochen in seiner Nase, das ihn den ganzen Morgen gepeinigt hatte, war im Laufe des Nachmittags einem dumpfen Druckschmerz gewichen. Zudem schien sein Riechorgan auf das Dreifache seiner normalen Größe angeschwollen zu sein. "Sie haben mir immer noch nicht erzählt, wie Sie das angestellt haben", sagte Archibald kopfschüttelnd. "Gestern ging es Ihnen doch noch ganz gut, abgesehen von den Blessuren aus dem Kampf mit diesem Dämon." "Nennen wir es einen Unfall im Haushalt." Colin knirschte mit den Zähnen. "Ist das alles?", platzte Archibald heraus. "Und ich dachte schon, Gott weiß was für ein Schicksalsschlag hätte Sie ereilt."
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Colin Mirth "Es war mehr ein Schlag mit der Tür. Abdul hat die Tür aufgestoßen, während ich dahinter stand." "Sie machen Sachen", schmunzelte Archibald. "So, da wären wir. Nummer drei, nicht wahr?" Colin nickte. Er stieg die Stufen zur Haustür hinauf und betätigte den Türklopfer. Nichts geschah. "Er wird doch wohl zu Hause sein?", fragte Archibald nach einer Weile. "Das waren zumindest die Worte des Hausmeisters", entgegnete Colin achselzuckend, "aber vielleicht hat sich der Rabbi ja ein wenig aufs Ohr gelegt." Archibald beobachtete skeptisch die Fenster des Hauses, die mit schweren Vorhängen verdunkelt waren. "Oder er ist gerade damit beschäftigt, die Leiche von Mister Rubinstein verschwinden zu lassen", sagte er zynisch. "Archibald, ich muß doch sehr bitten!" Colin bemühte sich, ernst zu bleiben. "Warum? Ich würde es ihm zutrauen." Colin klopfte erneut an die Tür. "Lassen Sie uns lieber überlegen, wie wir in das Haus hineinkommen." Archibald ging die Stufen zum Trottoir wieder hinunter und wanderte nachdenklich einige Schritte auf und ab. "Wir warten. Es gibt ja lediglich zwei Möglichkeiten. Entweder, er kommt irgendwann heraus – dann fragen wir ihn, warum er uns nicht die Tür geöffnet hat. Oder er kommt irgendwann von irgendwoher nach Hause. Dann fragen wir ihn, wo er gewesen ist. So oder so, er benimmt sich verdächtig." "Ja, sicher. Aber das meinte ich nicht, Archie. Angenommen, ich würde mich gerne in seinem Haus umsehen, ohne daß der Rabbi davon weiß?", fragte Colin. Archibald legte die Stirn in Falten. "Ohne Erlaubnis?" "Nehmen wir mal an, Mister Rubinstein ist noch am Leben. Unterstellen wir ferner für einen Moment, daß Sie recht haben und der Rabbi etwas mit Rubinsteins Verschwinden zu tun hat." Archibald schnippte aufgeregt mit den Fingern. "Dann haben wir Grund zu der Annahme, daß sich der Vermißte in diesem Haus befindet." "Richtig. Und dann ist es unsere Pflicht, einen Rettungsversuch zu unternehmen", grinste Colin. "Aber wir brauchen Verstärkung." Mit diesen Worten zog er eine kleine, blau schimmernde Glasphiole aus seiner Jackentasche. * Abdul materialisierte sich in der abgedunkelten Eingangshalle des Hauses. Die blau leuchtende Erscheinung des orientalischen Flaschengeistes verschaffte sich schnell einen Überblick über seine Umgebung. Gekachelter Fußboden, Tapeten mit floralem Muster, zugezogene Samtvorhänge. Eine gerahmte Landkarte von Palästina an der Wand, offenbar antik. Weder der vielarmige Kerzenleuchter auf der Anrichte noch das Gaslicht waren angezündet. Alles war still. Er schien allein im Haus zu sein. Trotzdem... Irgend etwas stimmte nicht. Seine feinen, durch jahrhundertelange Erfahrung geschärften Sinne fühlten, daß ein dunkler Schatten über diesem Haus lag. Irgend etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Es roch förmlich nach Schwarzer Magie. Abdul drehte sich zu der Haustür um, durch deren Schlüsselloch er gekrochen war. Dann betätigte er die Klinke und öffnete seinen beiden Kollegen. "Danke, Abdul", sagte Colin leise, als er eintrat. "Wie ist Dein erster Eindruck?" "Es ist keine Menschenseele im Haus, Efendi", antwortete der Flaschengeist, "aber ich spüre die Präsenz eines anderen Wesens." Seite 10
Colin Mirth Archibald schloß die Tür hinter sich und nahm den Hut ab. "Ein Geist etwa?" Abdul dachte einen Moment nach. "Nein, Sergeant Moore, ein Geist ist es nicht. Es ist etwas Anderes. Es fühlt sich für mich fast so an wie dieser Dämon, dem wir am Wochenende begegnet sind." "Oh nein", seufzte Colin, "nicht schon wieder, bitte." "Nein, Efendi", sagte Abdul schnell, "es ist keiner von denen. Hier ist Magie am Werk. Hört Ihr das?" Archibald und Colin hielten gespannt den Atem an und lauschten. "Ich höre nichts", brummte Archibald. Colin schüttelte den Kopf. "Ich höre gar nichts", betonte er, "noch nicht einmal..." Er stutzte und zückte seine Taschenuhr. "Na so was", bemerkte er, "meine Uhr ist stehengeblieben!" Archibald grub ebenfalls in der Westentasche nach seiner Uhr. "Meine auch", stellte er überrascht fest. "Was hat das zu bedeuten, Abdul?" Der Flaschengeist kraulte sich nachdenklich seinen spitzen Kinnbart. "Ich bin nicht sicher, Sergeant. Es scheint aber so, als ob in diesem Haus seltsame Dinge mit toter Materie geschehen." "Was denn nun, Abdul?", fragte Colin ungeduldig, "ein fremdes Wesen, Magie oder tote Materie – was für eine Gefahr bedroht uns?" Abdul stieß ein zischendes Geräusch aus. "Von allem etwas, Efendi." Archibald ging zögernd einige Schritte auf die Treppe zu, die zum ersten Stock hinauf führte. Auf der ersten Stufe blieb er stehen. "Offenbar hat Mrs. Foster hier doch nicht mehr sauber gemacht." Colin trat neben ihn und kniete neben der Substanz, die sein Kollege entdeckt hatte, nieder. "Das ist Lehm, Archie. Ordinärer Lehm. Und an den Händen der Frau waren ebenfalls Reste davon. Sie hat also sehr wohl hier sauber gemacht, ehe sie starb." Abdul wurde eine Spur blasser. Kleine Lehmklumpen lagen überall auf der Treppe und auf dem Fußboden herum. Sein Blick wanderte zu den Kerzenleuchtern und der gerahmten Landkarte an der Wand. "Efendi", sagte er mit Grabesstimme, "ist dies das Haus eines Hebräers?" "Das Haus eines Rabbis", bestätigte Colin, "warum?" Abdul stieß einen deftigen Fluch in seiner Muttersprache aus. "Dann weiß ich, was uns in diesem Haus erwartet." * "Ein Golem", erklärte Abdul seinen Gefährten, als sie nach kurzer Überprüfung des Erdgeschosses die Treppe hinaufstiegen, "wurde zum ersten Mal im Talmud erwähnt. Die Schaffung eines solchen Wesens setzt beachtliches magisches Wissen voraus, Efendi." "Ich weiß, Abdul", sagte Colin finster. "Selbst Euridicus hatte keine Antwort auf dieses Problem." "Habe ich das jetzt richtig verstanden – wir reden hier über einen künstlichen Menschen?", fragte Archibald ungläubig. "Keinen von der Sorte, wie Sie ihn vielleicht aus diesem Schauerroman da kennen... wie hieß er doch gleich?" "Frankenstein", sagte Archibald. "Genau den meinte ich, Archibald. Danke", antwortete Colin. "Nein, wir reden hier von einem Wesen, das einzig und allein aus Lehm gemacht wurde, und dem man auf geradezu göttliche Art Leben eingehaucht hat."
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Colin Mirth "Es ist eine geheime Kunst, die seit Jahrhunderten von einigen jüdischen Gelehrten praktiziert wird", ergänzte der Flaschengeist mit einer Mischung aus Abscheu und Ehrfurcht, "zuletzt wurden solche Kreaturen meines Wissens in Chelm und sogar in Prag gesichtet." "Kein Mensch kann einfach so toter Materie Leben einhauchen", widersprach Archibald entrüstet, "das ist allein unserem Schöpfer vorbehalten." "Und selbst daran gibt es berechtigte Zweifel, wenn man Mister Darwins Theorien Glauben schenken darf", schmunzelte Colin. "Es bedarf eines besonderen Lehms, Sergeant. Und zudem ist reinstes Quellwasser vonnöten, um die Masse zu formen. Welche geheimen Gebete und Zaubersprüche allerdings den Golem dann zum Leben erwecken, entzieht sich leider meiner Kenntnis", entschuldigte sich Abdul. "Aber warum um Himmels Willen—" "Um einmal selbst Gott zu spielen", nahm Colin Archibalds Frage vorweg. "Um einen willenlosen Diener zu haben. Irgend etwas in der Richtung." "A propos Richtung", sagte Abdul, "wohin gehen wir jetzt, Efendi?" Colin sah sich kurz um. Hier in der ersten Etage führte ein kurzer Korridor zu einer weiteren Treppe, über die man das Obergeschoß erreichen konnte. Drei Türen säumten den schmalen Flur. "Wir schauen überall nach", beschloß Colin. Archibald nickte. Mit vorgehaltenem Revolver stieß er die erste der drei Türen auf, hinter der sich allerdings lediglich eine Toilette befand. "Nichts", urteilte er nach kurzer Überprüfung. Die zweite Tür war ebenfalls eine Enttäuschung. Hier befand sich ein kleiner, schmucklos eingerichteter Salon. Der einzige Zierrat bestand aus einem dekorativen Teppich, welcher an der Wand hing. Als Colin die dritte Tür zu öffnen versuchte, stellte er fest, daß sie von innen durch ein schweres Objekt blockiert war. Gemeinsam mit Archibald stemmte er sich gegen die Tür, und schließlich gelang es ihnen, den Spalt zu vergrößern, so daß Colin sich hindurchzwängen konnte. Als er sah, was hinter der Tür gelegen hatte, erstarrte er. "Wir haben den Ladenbesitzer gefunden", sagte er leise. "Mister Rubinstein?", fragte Archibald und trat neben Colin. Colin kniete neben dem leblosen Körper nieder. "Er ist schon länger tot", sagte er nachdenklich. "Und sehen Sie sich die Hände an, Archie!" Archibald kniff die Augen zusammen. "Sie sind voller Lehm", stellte er fest. "Genau wie die von Mrs. Foster", brummte Colin. "Was sagt uns das?" Abdul kratzte sich am Kopf. "Daß beide von dem Golem umgebracht worden sind, und daß beide sich nach Kräften gewehrt haben. Dabei müssen sich ihre Finger in den Lehm gedrückt haben." Archibald steckte seine Waffe weg und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. "Höchst bemerkenswert. Nun stellt sich die Frage, wo dieser... dieser Golem nun stecken mag." "Und sein Schöpfer, der Rabbi", ergänzte Colin. "Zumindest müssen wir davon ausgehen, daß der Rabbi den Golem zum Leben erweckt hat. Er könnte immerhin theoretisch das Wissen gehabt haben, das dazu nötig ist." "Ich weiß", nickte Archibald, "und wir befinden uns in seinem Haus. Damit steht er für mich an erster Stelle der Verdächtigenliste." Colin grinste schief. "Haben Sie noch andere Verdächtige?" Archibald stutzte. "Nun... ich..." Ein dumpfes Geräusch ließ sie aufhorchen. "Schritte", zischte Abdul. "Auf der Treppe, Efendi." Seite 12
Colin Mirth Archibald zückte seinen Revolver und ging hinter einer Kommode in Deckung. Abdul schrumpfte zu einem winzigen Lichtpunkt zusammen und schlüpfte hinter einen Vorhang. Colin preßte sich neben der Tür flach an die Wand und wagte nicht zu atmen. Die stampfenden Schritte hatte inzwischen den Korridor erreicht. Langsam und gleichmäßig stapfte jemand den Gang hinauf. Von seinem Versteck im Schatten aus erhaschte Colin durch die halb geöffnete Tür einen Blick auf die Kreatur. Der Golem reichte beinahe bis zur Decke; er war gewiß mehr als sechs Fuß hoch. Der gesamte Körper bestand aus hellbraunen Lehm, von dem bei jedem zweiten Schritt kleine Bröckchen zu Boden rieselten. Das Gesicht, wenn man es so nennen konnte, war eine unförmige Masse mit tiefen, leeren Augenhöhlen und einer grotesken Nase. Sein Mund stand offen, und die Mundwinkel waren mürrisch heruntergezogen. Auf der Stirn des Golems befanden sich geometrische Muster, welche Colin in der Kürze der Zeit jedoch nicht genau erkennen konnte. Mit quälender Langsamkeit stampfte die Kreatur den Korridor entlang. Dann begann er, die Treppe zum zweiten Stock hinaufzusteigen. "Allmächtiger", japste Archibald mit wild klopfendem Herzen. Er hatte die ganze Zeit den Atem angehalten. "Haben Sie etwas erkennen können, Colin?" Colin hielt den Finger an die Lippen. "Er könnte uns hören", flüsterte er. Abdul pumpte sich lautlos wieder zu seiner vollen Größe auf. "Habt Ihr ihn gesehen, Efendi?" "Ja. Es ist in der Tat ein Golem." Colin tupfte sich den Schweiß von der Stirn. "Aber er war wahrlich kein schöner Anblick." Archibald grinste breit. "Das sagt der Richtige", schmunzelte er. Colin sah ihn vorwurfsvoll an. "Wenn das jetzt wieder eine Anspielung auf meine malträtierte Nase sein soll—" "Schon gut." Archibald räusperte sich. "'Oh, ich sehe deine Nase, aber noch nicht den Hund, dem ich sie vorwerfen will'", intonierte er plötzlich. "Othello", knurrte Colin, "vierter Akt, erste Szene." "Genau", antwortete Archibald, "danach habe ich die ganze Zeit gesucht." "Und ich habe die ganze Zeit darauf gewartet." "Was tun wir nun, Efendi?", fragte Abdul beunruhigt. "So lange der Golem im obersten Stockwerk ist, können wir gefahrlos das Haus verlassen und Verstärkung holen", sagte Archibald entschlossen. Colin lachte spöttisch. "Und was sagen wir denen? Daß ein Golem in diesem Haus herumstapft und ahnungslose Besucher erwürgt? Sie wissen doch, wie der Inspector über paranormale Phänomene denkt!" Archibald zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart. "Das stimmt nun auch wieder. Daran hatte ich nicht gedacht." Colin ballte die Fäuste. "Wir müssen allein mit ihm fertig werden. Und wir sollten schnell etwas unternehmen, ehe der Golem auf den Gedanken kommt, das Haus zu verlassen und draußen sein Unwesen zu treiben." * "Es muß irgendwo hier sein", wisperte Colin, als er das Ende der Kellertreppe erreicht hatte. "Folgen wir doch den Lehmspuren", schlug Archibald vor. In dem schwachen blauen Licht, das Abdul verbreitete, waren die Lehmklumpen, die der Golem beim Laufen verloren hatte, deutlich zu sehen.
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Colin Mirth Colin zuckte mit den Schultern. Der Golem mochte in den vergangenen Tagen etliche Male in dem Haus herumgelaufen sein. Er bezweifelte, daß sich aus den Bröckchen, die überall herumlagen, eine wirkliche Spur herauslesen lies. Sie inspizierten die Kellergewölbe des Hauses und kamen nach einigen Minuten in einen großen Raum, der von einigen fast abgebrannten Wachskerzen schwach beleuchtet war. In der Mitte des Zimmers stand ein großer hölzerner Bottich, der zu einem Drittel mit klebrigem Lehm gefüllt war. Überquellende Bücherregale säumten die rauhen Wände, und vor einem Schreibpult, auf dem sich Papiere stapelten, lag eine leblose Gestalt am Boden. Colin kniete neben dem Toten nieder. "Rabbi Rosenthal", stellte er fest. "Das muß sein geheimes Studierzimmer gewesen sein", murmelte Archibald. "Und das da sind bestimmt seine Aufzeichnungen über die Erschaffung seines Monsters." Schnell verschaffte sich Colin einen Überblick über die Dokumente, die auf dem Pult verstreut lagen. "Natürlich", seufzte er, "hebräisch. Abdul?" Abdul verzog das Gesicht. "Mein hebräisch ist nicht das beste, Efendi." "Besser als meins ist es alle Mal", erwiderte Colin unwirsch, "schau doch mal, ob Du etwas findest, was uns nützen könnte." "Sehr wohl, Efendi." Mit einer übermenschlichen Geschwindigkeit blätterte der Flaschengeist durch die Dokumente. "Und?", fragte Archibald nach einigen Minuten ungeduldig. "Das hier sind Protokolle über den Fortschritt der Arbeiten an dem Golem", stellte Abdul fest, "so etwas wie ein Tagebuch." "Hat er in den letzten Tagen noch etwas notiert?", erkundigte Colin sich. "Ja, am Samstag: 'Die neugierige Putzfrau hat den Keller geöffnet', steht hier", las Abdul vor, "und weiter '... jähzornig, wie er ist, hat er sie erwürgt. Was tue ich nun bloß mit der Leiche?' Wir hatten also mit unserer Vermutung recht, Efendi." Ehe Colin etwas sagen konnte, ließ ein Geräusch wie ein Donnerschlag die beiden Männer und den Flaschengeist zusammenfahren. Feiner Staub rieselte von der Decke. Wenige Sekunden später wiederholte sich der infernalische Lärm. "Er ist direkt über uns", zischte Colin. "Vermutlich irrt er ohne seinen Gebieter nun planlos im Haus umher", vermutete Archibald, "vom Keller bis zum Dachboden und wieder zurück." "Das ist gut möglich", räumte Colin ein. "Abdul, was schreibt er über die Erweckung des Golems?" "Einen Moment bitte, Efendi", antwortete der Geist zwischen zwei donnernden Schritten, welche die Dielenbretter über ihren Köpfen ächzen ließen. "Wir haben keinen Moment mehr", rief Archibald, "der einzige Ausweg aus diesem Keller ist blockiert! Wir sitzen in der Falle!" "Beruhigen Sie sich, Archie", sagte Colin versöhnlich, "noch ist nicht gesagt, daß –" Die Kellertreppe erzitterte unter den schweren Tritten des Golems. "— er in den Keller kommen wird", vollendete Colin matt seinen Satz. "Abdul?" Schneller, als seine Begleiter ihm mit den Blicken folgen konnten, wühlte sich der Flaschengeist durch die geheime Bibliothek des Rabbis. "Seitenweise Gebete und magische Formeln, aber nichts, was uns jetzt weiterhelfen könnte, Efendi." Der Golem hatte das Ende der Kellertreppe erreicht und stapfte nun schwerfällig auf den Raum zu, in dem er erschaffen worden war. "Abdul", sagte Colin langsam, "ungefähr jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, uns gute Neuigkeiten zu überbringen." "Ich glaube, Efendi... ah ja, hier!" Abdul schien einen Moment intensiver zu leuchten, als sich seine Miene aufhellte. "Das könnte es sein. Das entscheidende Element bei der Erweckung des Golems ist der Name Gottes." Seite 14
Colin Mirth Colin runzelte die Stirn. "So?" "Auf der Stirn des Golems befindet sich eine Inschrift", berichtete Abdul aufgeregt, "und zwar das Wort aemaeth, was so viel wie 'Wahrheit' oder 'Gott' bedeutet." Nun erinnerte sich Colin an die Muster, die er vorhin auf der Stirn des Wesens gesehen zu haben glaubte. Es hatte sich also um Buchstaben gehandelt. "Und weiter?" In dem Moment erschien die monströse Gestalt des Golems in der offenen Tür, und zum ersten Mal erhielten Colin und seine Begleiter einen guten Blick auf die Kreatur. Der Anblick ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren; der Golem hatte offenbar angefangen, Aaron Rubinsteins Leiche mit bloßen Händen zu zerreißen. Er schleifte den zerfetzten Oberkörper des jüdischen Händlers wie eine Puppe hinter sich her. Als er Colin, Abdul und Archibald erblickte, blieb er unschlüssig stehen und stieß ein drohendes Grollen aus. "Wenn man die erste Silbe auslöscht", fuhr Abdul heiser fort, "steht dort nur noch maeth, also 'Tod'. Das wäre dann sein Ende." Colin verzog das Gesicht. "Nichts leichter als das." Archibald legte mit seinem Revolver auf den Golem an. "Sie sind verhaftet", schnarrte er, "wegen Mordes an Mina Foster, Aaron Rubinstein und Rabbi Isaac Rosenthal." Der Golem starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an. "Mein Gefühl sagt mir, daß ihn das nicht beeindruckt hat", bemerkte Colin lakonisch. "Reine Formalität", gab Archibald knapp zurück. Dann schleuderte die Kreatur ihm die verstümmelte Leiche des Gemüsehändlers entgegen, und Archibald mußte sich ducken, um dem Wurfgeschoß auszuweichen. Dabei löste sich ein Schuß aus seinem Revolver. Die Kugel schlug in die breite Brust des Golems ein, ohne erkennbaren Schaden anzurichten. Geistesgegenwärtig nutzte Colin den kurzen Augenblick der Ablenkung. Mit einer schwungvollen Bewegung schob er einen Stuhl zwischen sich und den Golem, und mit zwei großen Schritten sprang er zuerst auf die Sitzfläche und von dort auf die Schulter des Golems. Entschlossen krallte er sich am Hals des Wesens fest, während er die andere Hand nach dessen Stirn ausstreckte. Ehe er aber dazu kam, die alles entscheidende Silbe auszuwischen, traf ihn die linke Faust des Golems ins Gesicht. Ein dicker Blutstrom schoß aus seiner malträtierten Nase, und für einen Moment kämpfte Colin darum, nicht das Bewußtsein zu verlieren. Vor seinen Augen explodierten Sterne. Mit letzter Kraft hielt er sich am Nacken des Golems fest, und ehe dieser die Gelegenheit zu einem weiteren Fausthieb hatte, gruben sich Colins Fingernägel in die lehmige Stirn. Der Golem tobte weiter und versuchte, seinen Peiniger abzuschütteln. Als ihm dies nicht gelang, warf er sich gegen die Kellerwand, um ihn zu zerquetschen. Colin fühlte sich an ein Rodeo erinnert, dem er vor Jahren in Amerika beigewohnt hatte. "Efendi", rief Abdul, "die erste Silbe!" Plötzlich verstand Colin, warum der Golem noch immer auf den Beinen war, obwohl er das erste Schriftzeichen längst zerkratzt hatte – der Rabbi hatte das magische Wort auf hebräisch geschrieben, also von rechts nach links! Erneut traf ihn die Faust des Golems, diesmal an den Rippen. Colin schrie vor Schmerzen auf, als einige seiner Rippen unter der Wucht des Aufpralls nachgaben. Verzweifelt langte er erneut in das Gesicht der Kreatur. Nach einigen bangen Momenten gelang es ihm, das rechte Schriftzeichen auszuwischen. Augenblicklich hielt der Golem inne. Seine Arme und Beine erschlafften, und seine Gesichtszüge wurden weich. Dann begann der ganze Körper zu zerfließen. Nach einigen Augenblicken war nur noch ein formloser Lehmklumpen übrig. Seite 15
Colin Mirth "Sind Sie verletzt?", fragte Archibald besorgt, als er Colin wieder auf die Beine half. "Nicht viel mehr, als ich es ohnehin schon war", ächzte dieser. Archibald sah sich kopfschüttelnd um. "Wie sollen wir das nur dem Inspector erklären?" "Nach einer Gasexplosion sieht es diesmal nicht aus", Colin ließ sich schwer atmend auf dem Stuhl nieder, "es sei denn, wir helfen etwas nach." * "Glauben Sie, Pryce hat uns unsere Geschichte geglaubt?", fragte Archibald, als er abends mit Colin im Red Lion saß. Colin zuckte gleichgültig mit den Schultern. Sie hatten ihrem Vorgesetzten die im Haus des Rabbis gefundenen Leichen präsentiert und den Lehm im Haus als Handwerkszeug eines Freizeitbildhauers erklärt. Es entsprach ja immerhin in gewisser Weise den Tatsachen, daß der Rabbi in seiner Freizeit eine Skulptur modelliert hatte. Problematisch an der Geschichte war natürlich, daß es nun den Anschein hatte, daß der Rabbi selbst der Mörder von Mina Foster und Aaron Rubinstein gewesen war. Innerhalb der jüdischen Gemeinde von London würde diese Neuigkeit nicht gerade freudig aufgenommen werden. Die einzige andere Erklärung setzte jedoch die Existenz eines geheimnisvollen Fremden im Hause des Rabbis voraus, und dafür gab es wiederum keine Anzeichen. "Worauf trinken wir?", wollte Archibald wissen. Colin lachte heiser und erhob sein Glas. "Auf den Rabbi. 'Dank, Jude, daß du mich das Wort gelehrt.'" Sein Kollege mußte schmunzeln. "'Der Kaufmann von Venedig'?" "Vierter Akt, erste Szene", bestätigte Colin. "Hoffentlich hat sich Ihre Nase bis Freitag ein wenig erholt", grinste Archibald. "Freitag?", fragte Colin verdutzt. "Damit Sie mir bei den Worthingtons keine Schande machen..." Demnächst: "Die Mumie von Marylebone"
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