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Zu diesem Buch Enwor steht am Abgrund: In der Stadt der brennenden Mauern beschließt die Herrin der Silberkrieger Daarts und Carnacs Tod – und schickt ihnen die Blutdrachen auf den Hals. Daart gebraucht die dunkle Seite der Macht, um sich ihnen entgegenzusetzen. Doch der Preis, den er dafür zahlen muss, ist hoch. Wie ein entfesseltes Raubtier verfolgt er Freund und Feind, unfähig, dem Drang zur Zerstörung zu widerstehen. Erst als er mit gezogenem Schwert vor seiner geliebten Carnac steht, begreift er, dass er sich zwischen dem brennenden Hass, der ihn treibt, und der Verantwortung, die ihm sein Erbe aufbürdet, entscheiden muss …
Dieter Winkler, geboren 1956 in Berlin, lebt heute bei München. Der zweifache Familienvater arbeitete als Chefredakteur für mehrere Computerzeitschriften und veröffentlichte bislang über 30 Bücher sowie zahlreiche Hörspiele. 1999 schrieb er gemeinsam mit Wolfgang Hohlbein »Das elfte Buch« der erfolgreichen EnworReihe. Danach erschien sein Enwor-Roman »Das magische Reich«, der den Auftakt der »Neuen Abenteuer« bildet. Weiteres zum Autor: www.dieterwinkler.de Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, hat unzählige Bestseller geschrieben und gilt als Meister der phantastischen Spannung. Die gemeinsam mit Dieter Winkler entwickelte Enwor-Reihe hat längst Kultstatus erreicht. Weiteres zum Autor: www.hohlbein.de
Wolfgang Hohlbeins Enwor
Der entfesselte Vulkan neue Abenteuer 4 ROMAN VON DIETER WINKLER
Mit einem Vorwort von Wolfgang Hohlbein
Piper München Zürich
Von Wolfgang Hohlbein liegen in der Serie Piper vor: Das Vermächtnis der Feuervögel (6508) Im Enwor-Zyklus liegen in der Serie Piper vor: Das magische Reich. Neue Abenteuer 1 (von Dieter Winkler, 6531) Die verschollene Stadt. Neue Abenteuer 2 (von Dieter Winkler, 6532) Der flüsternde See. Neue Abenteuer 3 (von Dieter Winkler, 6533) Der entfesselte Vulkan. Neue Abenteuer 4 (von Dieter Winkler, 6534)
Für Friedel Wahren und Angela Kuepper, ohne deren engagierte Lektoratsarbeit die neuen Enwor-Abenteuer nicht denkbar gewesen wären
Originalausgabe September 2005 © 2005 Piper Verlag GmbH, München Umschlagkonzept: Büro Hamburg Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Umschlagabbildung: Jon Sullivan Papier: Munken Print von Arctic Paper Munkedals AB, Schweden Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN-13: 978-3-492-26534-8 ISBN-10: 3-492-26534-0 www.piper.de
Feuersturm schien Verderben zu bringen doch dann sah ich, dass ich mich getäuscht, dass es Freundschaft war, die mir angeboten und Hilfe im Kampf gegen meine Feinde, die mich mit Lug und Trug zu vernichten gedachten und mich in eine teuflische Falle lockten. Das zwölfte Buch
Vorwort Was ist eigentlich aus Skar geworden? Diese Frage stellen mir zu meiner Freude immer wieder Fans der ersten Enwor-Romane, denn Skar ist einer meiner eigenen Lieblingshelden. Dabei ist die Frage nach seiner weiteren Lebensgeschichte mehr als berechtigt, denn schließlich war es Skar, aus dessen Augen wir – als Autoren wie Leser – Enwor viele Abenteuer lang wahrgenommen haben. Dass der Geburtsort dieses außergewöhnlichen Satais nicht auf der Enwor-Karte am Ende dieses Buches zu finden ist, sondern ganz profan auf jeder Deutschlandkarte, ist dabei nur Bestandteil seiner ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte. Der eigentliche geistige Vater Skars ist Dieter Winkler, der auch den vorliegenden Roman verfasst hat und ihn nebst einigen anderen netten Details in unser gemeinsames Fantasy-Projekt einbrachte, das wir wenig später dann Enwor nannten. Erwachsen gemacht, so betont Dieter dann allerdings immer wieder bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, habe ich ihn. Denn nachdem wir beide Skar und seinen engen Freund Del in einigen unserer Kurzgeschichten laufen gelehrt hatten, war es mir vergönnt, Skar zehn Bände lang die verrücktesten Abenteuer erleben zu lassen. Dann war erst einmal für zehn Jahre lang Sendepause, bis wir – Dieter war nach einem längeren Ausflug auf die andere Seite des Verlagsgewerbes wieder zurück ins Autorenlager gewechselt – mit dem elften Buch einen 9
Neuanfang machten. Die Reaktionen auf diesen erstmals als Hardcover erschienenen Enwor-Band waren gespalten, vielleicht, weil es kaum möglich ist, genau an der Stelle anzusetzen, an der man vor zehn Jahren aufgehört hat, vielleicht aber auch, weil Skar hier im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr ganz der Alte ist. Das wäre auch schlecht gegangen. Im Band davor kam er so ernsthaft zu Schaden, dass ihn nur eine ganz außergewöhnliche Rettungsmaßnahme wieder ins Leben zurückbefördern konnte. Dort hielt er sich aber nicht lange. Schuld daran waren weder seine Gegenspieler rund um die herrschsüchtige Skarissa Marna noch die Auflagenentwicklung – denn die übertraf alle Erwartungen der bis dato sowieso schon erfolgreichsten deutschen Fantasy-Reihe –, sondern vielmehr der Verkauf des Weitbrecht Verlags, in dem »Das elfte Buch« erschienen war. Schon wieder also etwas, das ganz profan in Deutschland stattfand, aber deutliche Auswirkungen auf Enwor hatte – und damit auf Skar, der auf Verlegerwunsch nun zunächst erst einmal überhaupt keine Rolle mehr spielen sollte. Vollständig auf diesen Wunsch einzugehen erschien uns aber unmöglich. Skar erwies sich als so zäh, dass er bereits im zweiten Band der neuen Abenteuer in persona wieder auftrat. Auch seitdem ist er nicht mehr aus der Handlung wegzudenken. Beantwortet das die Frage, was aus Skar geworden ist? Ja und nein. Es ist kein Zufall, dass Daart, der Held der neuen Enwor-Abenteuer, wie schon zuvor Skar auf die Spur einer dunklen Seite in sich stößt. Auch wenn er sie auf andere Weise wahrnimmt als Skar und auf ähnli10
che Fragen nicht unbedingt ähnliche Antworten bekommt, so ist das doch genau ein Teil der inneren Verbindung zwischen ihm und Skar – einer Verbindung, die sich wie ein roter Faden durch die neuen Abenteuer zieht. Immer wieder kommt es zu Begegnungen zwischen den beiden, wenn auch auf ganz andere Art, als sich das Daart erträumt haben mag. Skar bleibt auf seine eigene Art quicklebendig und präsent auf Enwor, so viel mag ich schon verraten. Alles andere allerdings überlasse ich Ihrer Phantasie und den nächsten Buchseiten, auf denen sich eine mehr als turbulente Geschichte abspielt. Viel Spaß mit dem neuen Enwor-Abenteuer wünscht Wolfgang Hohlbein
TEIL 1
Nur wer die zwei Seiten des Todes willkommen heißt, wird überleben. Das zwölfte Buch
1 Der Plan war genial. Zumindest hatte Carnac das behauptet, bevor sie sich die erbeutete Silbermaske vors Gesicht geschoben und sorgfältig zurechtgerückt hatte, um danach in die Kleidung eines der beiden Silberkrieger zu schlüpfen, die so unvorsichtig gewesen waren, sich zu weit von ihrem Patrouillentrupp zu entfernen. Das war ihnen schlecht bekommen. Daart hatte nicht genau gesehen, was Carnac mit den beiden Männern gemacht hatte, die sie rücklings überfallen hatte, und wenn er ehrlich war, wollte er es auch gar nicht wissen. Sie hatte etwas von einem Raubtier an sich, seit sie im letzten Moment aus dem versunkenen Feuertempel entkommen waren; das Funkeln in ihren tiefschwarzen Augen hatte sich verändert, war böser geworden. Doch vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Schließlich war er es, der auf etwas in sich gestoßen war, das fremdartiger und bösartiger nicht sein konnte und ihn alles um ihn herum mit einem mühsam unterdrückten Groll betrachten ließ – einschließlich der Frau an seiner Seite, mit der ihn eigentlich viel angenehmere Empfindungen verbinden sollten … Er verscheuchte die Gedanken und ging neben Carnac in die Hocke, um gleich ihr aus der Deckung des Felsvorsprungs heraus den Aufmarsch der Silberkrieger im Auge zu behalten. Sie beide waren am Ende ihrer Kraft und, vielleicht schlimmer, am Ende ihrer Geduld. Es war zu viel geschehen in den letzten Wochen und Monaten. 15
Daart wollte nichts weiter, als den Kampf gegen Nubina und Zar’Toran auszusetzen und sich eine Weile irgendwohin zurückzuziehen, wo sie vor dem ganzen Wahnsinn in Sicherheit waren. Aber auf diesem Ohr war Carnac taub. Sie hatte ihn in den letzten Tagen so erbarmungslos vorangetrieben, als könnten er und sie im Alleingang eine Auseinandersetzung gewinnen, die ganz Enwor in einen vernichtenden Strudel zu reißen drohte. Als er den Kopf in den Nacken legte, um hinaufzublicken auf das unüberschaubare Gewusel über sich, wurde ihm klar, was der Unterschied zwischen einem guten Plan und der Wirklichkeit war. Der Hang, der sich über ihnen auftat, zerfaserte in unterschiedlichste Pfade, Wege und Serpentinen, die durch das graue, nur spärlich bewachsene Gestein schnitten. Einige mochten durch pure Wasserkraft entstanden sein, Bachläufe, die im Frühjahr vor Schmelzwasser überquollen, dann zu reißenden Strömen wurden und nun ausgetrocknet waren. Andere waren offensichtlich künstlichen Ursprungs, in mühsamer Kleinarbeit in den Stein gehauen und gehämmert worden. Auf all diesen Pfaden wimmelte es jetzt von Nubinas Silberkriegern, schwarz gekleideten Männern mit glänzenden Masken und Waffen, die das strahlende Licht der frühen Morgensonne reflektierten. Es war ein Anblick, der Daarts Herzschlag beschleunigte wie der zunehmend schneller geschlagene Takt der Trommel im Bauch einer Galeere, bevor diese, durch die Wogen schießend, sich in die Seite eines feindlichen Schiffes bohrte. »Wie kann das sein?«, murmelte Carnac. Ihre Stimme klang fremd, fürchterlich dumpf und dunkel, unter der 16
Maske hervor, und Daart musste sich zusammenreißen, um nicht herumzufahren und sie feindselig anzustarren. »Wir haben doch beide gesehen, wie Nubinas Heer von den Wassermassen hinweggerissen wurde, als du den Feuertempel auf dem Grund des Glutsees geflutet hast!« Daart sagte erst einmal gar nichts darauf. Vor seinem inneren Auge tobten erschreckende, aufwühlende Bilder. Er sah die Wassermassen in die unterirdische Anlage der Alten einschießen, die sie vor Äonen im Abwehrkampf gegen die Sternengeborenen errichtet hatten, und erbebte bei der Erinnerung an das Gewitter aus grellweißen Blitzen, das von der zusammenstürzenden Kuppel auf die fliehenden Silberkrieger herabzuckte und unzählige von ihnen zerfetzte, während andere durch die unbändige Gewalt des überschäumenden Wassers von der Rampe gerissen wurden, auf der sie soeben noch in beeindruckend präziser Marschordnung unterwegs gewesen waren. »Wir haben gesehen, wie ein Teil ihres Heeres jämmerlich untergegangen ist«, flüsterte Daart, und als Carnac nicht sofort darauf reagierte, fügte er hinzu: »In diesem verfluchten Tempel sind mehr Krieger umgekommen, als selbst Ikne unter Waffen hält. Aber es war dennoch nur ein Teil ihres Heeres, verstehst du? Nicht mehr und nicht weniger.« Carnac wandte in einer raschen Bewegung den Kopf. Die Reflexion eines Lichtstrahls traf Daart und ließ ihn blinzeln. Durch die Silbermaske, die sie dem überwältigten Krieger abgenommen und ohne zu zögern aufgesetzt hatte, waren es nicht mehr Carnacs Gesichtszüge, in die Daart nun blickte, sondern die ebenmäßigen Züge des 17
jungen Mannes, der bei der Herstellung der Masken Pate gestanden hatte. Daart unterdrückte nur mit Mühe das aufkommende Hassgefühl, das ihn beim Anblick dieser erstarrten und in Silber gegossenen Züge überkam. Er versuchte sich auf Carnacs Augen zu konzentrieren, deren vertrautes Funkeln aus den Sehschlitzen heraus das metallische Schimmern der Maske übertraf. Es war Carnac, die Gefährtin, mit der er seit Monaten einen verzweifelten Kampf gegen die schier übermächtigen Feinde Enwors führte – und kein Silberkrieger. Er musste aufpassen, dass er das nicht durcheinander brachte, wenn er sie jetzt ansah. »Was soll das?«, fragte Carnac mit ihrer Silberkrieger-Stimme. »Nubina mag die mächtigste Herrscherin südlich von Enwor sein und über ein riesiges Heer gebieten – aber sie kann doch niemals über solch unerschöpfliche Reserven an bestausgebildeten Kriegern verfügen!« Daart rückte ärgerlich die eigene, verhasste Maske zurecht, die exakt die gleichen Gesichtszüge wie die Carnacs aufwies – als seien sie nicht Waffengefährten und Mann und Frau, sondern Zwillinge, in derselben Stunde vom selben Schoß geboren. Dann schüttelte er den Kopf. »Denk an die riesige Festungsanlage in Nyingma.« »Diesen muffigen Palast, in den sie sich mit ihren Hofschranzen verkrochen hatte, bevor es ihr einfiel, Enwor erobern zu wollen?«, erwiderte Carnac verächtlich. »Palast ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort«, antwortete Daart. »Erinnerst du dich, wie wir auf dem 18
Dach dieser gigantischen Anlage gestanden haben? Wir konnten beinahe nach den Wolken greifen!« »Und ob ich mich daran erinnere.« Carnacs Augen verengten sich hinter der Maske zu Schlitzen. »Aber ich weiß nicht, was du mir damit sagen willst.« »Vielleicht nicht mehr, als dass wir Nubina trotz allem noch unterschätzt haben.« Daart deutete auf die Stelle, an der sich die breite, von Purgatory kommende Straße vor dem Hang in das Gewimmel kleinerer Wege und Pfade auflöste. Die unabsehbare Masse der Krieger, die aus der Stadt der brennenden Mauern heranströmte, schob sich mit der Sturheit einer Herde Wasserbüffel voran, die alles mitreißt, was sich ihr in den Weg stellt. Das Blitzen der Waffen, der Gleichklang der Bewegungen, das dumpfe Stampfen ihrer Schritte, all das verdichtete sich zu einem Bild, das ihn auf eine fürchterliche Weise faszinierte wie auch erschreckte. Verglichen mit diesem Riesenheer der Silberkrieger waren die Satai nicht mehr als eine kleine Splittergruppe, die irgendwo in den Bergen ausgebildet wurde, um dann vollkommen sinnlos in einem Kampf gegen eine erdrückende Übermacht verheizt zu werden. »Hör mal, Daart«, sagte Carnac. »Wenn du einen besseren Plan hast, als dich jetzt unter dieses Heer zu mischen, dann wäre dies der richtige Augenblick, ihn offen zu legen.« Daart öffnete den Mund, um ihr zu sagen, was er für vernünftig hielt oder nicht. Aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, stemmte stattdessen die Hände in die Hüften und fuhr ihn an: »Ich habe nicht vor, Nubina an der Seite von jemandem gegenüberzutreten, der von 19
einem kuscheligen Lagerfeuer träumt, statt entschlossen sein Schwert zu führen.« Ihr Angriff verschlug Daart die Sprache. Natürlich war er willens, sein Schwert mit aller Entschlossenheit zu führen, wenn es darauf ankam, doch im Augenblick war er alles andere als erpicht auf einen Kampf auf Leben und Tod. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Etwas Dunkles und abgrundtief Böses war in ihm aufgebrochen, etwas, das auf eine geradezu verzweifelte Weise Besitz von ihm zu erlangen suchte. Er hatte Angst – Angst nicht einmal so sehr vor dem, was ihm zustoßen könnte, wenn sie allein gegen Nubina antraten, sondern Angst vor dem, was in ihm lauerte und nur darauf zu warten schien, dass er sich schwach und hilflos zeigte, um dann mit erbarmungsloser Wut zuzuschlagen. Das konnte und wollte er nicht zulassen. »Was ist nun?«, fauchte Carnac unter ihrer Silbermaske. »Ziehst du alles ein, was du noch bewegen kannst, und krauchst wie ein geprügelter Hund davon – oder kommst du mit und trittst gegen Nubina an, ganz so, wie es von einem Mann zu erwarten ist?« »Um dann was zu tun?«, fragte Daart mühsam beherrscht. Er ballte die Fäuste so stark, dass die Fingernägel in seine Handflächen schnitten, aber das schien seine Wut erst richtig zu entfachen, statt sie zu besänftigen. »Um sie ein bisschen mit unseren Schwertern zu pieksen«, sagte Carnac. Ihre Stimme drang gleichermaßen vorwurfsvoll wie irritiert, und als Daart ihr einen bitterbösen Blick zuwarf, musste er blinzeln, als er in das gleißende Silber mit den erstarrten Zügen blickte statt in 20
ihr vertrautes Gesicht; und merkwürdigerweise war es das, was ihn wieder halbwegs zur Vernunft brachte. »Oder was sonst hast du mit ihr vor?«, setzte Carnac nach, als Daart nicht antwortete. »Ich glaube nicht, dass es so entscheidend ist, was ich mit ihr vorhabe – eher, was sie mit uns vorhat.« Daart deutete nach oben auf den Hang, dessen oberen Rand die ersten Krieger bereits erreicht hatten. »Vielleicht kommen wir tatsächlich dort unbemerkt hoch, und wenn wir etwas Glück haben, sogar in ihre Nähe. Aber dann? Glaubst du tatsächlich, wir kämen ihr wirklich nahe genug, um sie ein bisschen mit unseren Schwertern zu pieksen, wie du es ausgedrückt hast?« Carnac starrte ihn eine ganze Weile schweigend an. Dann schien etwas in ihrem Blick zu zerbrechen. »Ich habe es die ganze Zeit über gewusst«, sagte sie leise. »Du stürmst ohne nachzudenken in die größte Schlacht, bringst mit deinem Ungestüm Freund und Feind in Gefahr – aber wenn es darauf ankommt, kneifst du.« »Ich kneife überhaupt nicht«, donnerte Daart. Er schnappte unter der Maske fast krampfhaft nach Luft, bevor er mit erzwungener Ruhe fortfuhr: »Ich sehe nur, dass wir von vollkommen falschen Voraussetzungen ausgegangen sind. Wir haben geglaubt, das Rückgrat von Nubinas Heer sei zerbrochen und ihre restlichen Truppen demoralisiert oder in Auflösung begriffen. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Der Feuerritus, den sie zusammen mit Zar’Toran hier irgendwo zelebrieren will, ist alles andere als das letzte Aufflackern ihrer Macht. Es ist eher der Auftakt zu noch mehr Chaos und Leid, das sie über das Land bringen wird.« 21
Carnac nickte langsam. »Ich würde dir in all diesen Punkten gern widersprechen. Leider kann ich das nicht. Und trotzdem: Welche Wahl haben wir schon? Welch anderen Plan kann es geben, als eine fast allmächtige Herrscherin an ihrer einzig empfindlichen Stelle zu treffen?« Daart griff nach der Unterseite der Maske und schob sie ein Stück hoch, weit genug, dass ihr Rand nicht so fest auf seinen Hals drückte und er nicht länger das Gefühl hatte zu ersticken. Carnacs Worte trafen ihn in doppelter Hinsicht. Es war ihre plötzliche Sanftmut, die etwas in ihm berührte, was er die letzte Zeit mühsam unterdrückt hatte; all die vielen verwirrenden Gefühle, die er für sie hegte und die immer dann aufbrachen, wenn sie alles andere als kämpferisch oder sogar verächtlich mit ihm sprach. Und es war die zwingende Logik in ihren Worten. Jemandem, der nach der Unsterblichkeit griff und sie zumindest zum Teil schon erlangt hatte, konnte nur eines wirklich Angst machen: wenn man ihn mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontierte. Am besten, indem man ihm das Schwert mitten durchs Herz stieß. »Ich hoffe nur, wir kommen wirklich in ihre Nähe«, sagte er. Carnac starrte ihn schweigend an. »Was soll das heißen?« Daart zuckte mit den Achseln. »Was schon? Wir haben doch sowieso keine andere Möglichkeit, als jetzt alles auf eine Karte zu setzen.« »Wir könnten immer noch zurück«, wandte Carnac ein, »und ganz so, wie du es ursprünglich wolltest, den 22
Ältesten und die Caverner aufsuchen, um uns mit ihnen zu besprechen.« »Was ja auch dringend nötig wäre, nachdem unser Plan mit dem Feuertempel nur zur Hälfte aufgegangen ist.« Daart warf einen prüfenden Blick auf das Gewusel der Silberkrieger. Es sah mittlerweile so aus, als wimmele der Hang vor silbrig glänzenden Ameisen, die mit sturer Beharrlichkeit vorgegebenen Bahnen folgten. Es war an der Zeit, sich ihnen anzuschließen, wenn sie tatsächlich das Wagnis auf sich nehmen wollten, im Schutz der Anonymität ihrer Masken den Hang zu erklimmen und sich dem zu stellen, was auch immer sie oben erwarten mochte. »Also gut«, sagte er, drehte sich zu Carnac um und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Wenn wir jetzt da hinaufgehen, darf nichts zwischen uns stehen.« »Was meinst du damit?« Carnac machte Anstalten, sich von ihm zu befreien, und Daart zog seine Hand schnell zurück. »Was sollte nicht zwischen uns stehen?« »Du weißt ganz genau, was ich meine«, antwortete er, während er einen Schritt zurücktrat, beinahe so, als fliehe er vor ihr. »Nein, das weiß ich nicht«, sagte Carnac ernsthaft. »Ich weiß nur, dass du dich verändert hast. Und das nicht unbedingt zu deinem Vorteil.« Daart biss sich auf die Unterlippe und starrte an ihr vorbei, unfähig, die widersprüchlichen Gefühle in den Griff zu bekommen, die ihn zu übermannen drohten. »Und was«, fragte er schließlich betont ruhig, »wenn ich dir nun sage, dass auch du dich verändert hast?« »In welcher Hinsicht?«, fragte Carnac scharf. 23
Daart starrte sie eine ganze Weile an, während er verzweifelt bemüht war, die heftige, verletzende Antwort zu unterdrücken, die ihm auf der Zunge lag. Schließlich hob er die Hand, als wolle er abwinken, ließ sie dann jedoch wieder sinken. »Die Strapazen der letzten Wochen haben wohl bei uns beiden Spuren hinterlassen.« Er räusperte sich, um seiner Stimme die Schärfe zu nehmen, die sich gegen seinen Willen in sie eingeschlichen hatte. »Und bevor du es mir noch einmal vorwirfst: Ja, du hast Recht, ich träume zurzeit tatsächlich eher von einem ruhigen Plätzchen am Lagerfeuer statt von einer blutigen Schlacht.« »Das habe ich mir doch gedacht«, sagte Carnac enttäuscht. »Du willst also, dass wir unseren Plan aufgeben.« Zu Daarts eigener Überraschung schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich fürchte, dass wir das mit dem Lagerfeuer noch ein bisschen aufschieben müssen. Wer weiß, wann wir wieder die Gelegenheit bekommen, uns unter Nubinas Krieger zu mischen.« »Wir wollen uns nicht nur unter ihre Krieger mischen«, erinnerte ihn Carnac. »Wir wollen ihre Herrin und Göttin töten. Du weißt, was das heißt.« »Natürlich weiß ich das.« Daart lachte rau auf. »Es ist keine Leibwache, mit der wir es dann aufnehmen müssen, es ist ein ganzes Heer. Und das bedeutet, dass wir ihr unbedingt ganz nahe kommen müssen, bevor einer von uns auch nur die Hand auf den Schwertgriff legt.« »Und vor allem bedeutet es, dass es dann kein Zurück mehr gibt«, sagte Carnac leise, »und das im wahrs24
ten Sinn des Wortes. Wenn wir Nubina verletzen oder gar töten, sind wir Freiwild. Ich fürchte, dass wir dort oben kein Schlupfloch finden werden, durch das wir uns schnell verdrücken können.« »Das wollen wir doch erst einmal sehen.« Daart richtete sich hinter seiner Deckung auf, was kaum gefährlich war, denn schließlich trug er die gleiche Kleidung und vor allem die gleiche Maske wie die Krieger, die nach wie vor über die Straße strömten und sich über den Hang verteilten. »Los jetzt. Fordern wir unser Glück heraus.« Carnac sagte nichts darauf; sie drängte sich stattdessen recht grob an ihm vorbei und hielt auf den nächsten Pfad zu, der sich vor ihnen auftat. Mit Bewegungen, die trotz ihrer Erschöpfung katzengleich und elegant wirkten, setzte sie über Felsvorsprünge oder die Wurzeln der wenigen zähen Bäume hinweg, die sich an den kargen Boden klammerten. Daart hätte sie mit Leichtigkeit einholen können, wenn er einen kleinen Zwischenspurt eingelegt hätte, aber das verbot sich von selbst. Die Krieger, die links von ihnen den Hang erklommen, bewegten sich allesamt zügig, aber kein Einziger rannte. »Nicht ganz so hastig«, rief er Carnac mit gedämpfter und von der Maske zusätzlich verzerrter Stimme hinterher. »Wir müssen kein Rennen gewinnen.« Carnac tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. Diese Art von beinahe kindlichem Trotz hatte sie gelegentlich auch schon vorher gezeigt, jedoch nur, wenn sie sich dadurch nicht in Gefahr bringen konnte. Hier und jetzt sah das anders aus. Daart wollte es nicht, aber er spürte, wie feurige Wut durch seinen Körper fauchte. Am liebsten 25
wäre er Carnac hinterher gerannt, um sie bei den Schultern zu packen und so lange durchzuschütteln, bis sie wieder Vernunft annahm. Stattdessen beließ er es dabei, seine Schritte zu beschleunigen und zu ihr aufzuschließen. »Was soll das?«, herrschte er sie an, als er neben ihr angelangt war. »Willst du mit Gewalt auf uns aufmerksam machen?« Carnac machte sich nicht einmal die Mühe, den Kopf in seine Richtung zu drehen. »Wen denn?«, drang es dumpf unter ihrer Maske hervor. »Vielleicht einen von Nubinas Heerführern, der oben steht und ein wachsames Auge auf den Aufmarsch ihrer Krieger hält.« »Um nach jemandem zu suchen, der so verrückt ist, sich in der Verkleidung eines Silberkriegers in die Höhle des Löwen zu wagen?«, erwiderte Carnac ungehalten. »Und selbst wenn – bei all dem Gewimmel hier werden wir zwei bestimmt nicht auffallen.« »Das sehe ich anders«, widersprach Daart. »Gerade, weil wir nur zu zweit sind, werden wir auffallen. Auf den anderen Wegen sind immer durchgehende Kolonnen unterwegs.« Carnac sagte erst einmal gar nichts dazu. Stattdessen beschleunigte sie erneut ihre Schritte, was Daart nötigte, es ihr gleichzutun, wollte er nicht hinter ihr zurückbleiben. Dass er sich selbst kaum im Zaum halten konnte, war ihm überdeutlich bewusst, aber was Carnac zu ihrer Reaktion veranlasste, war ihm ein Rätsel. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie hatten fast die nächste Kolonne erreicht, eine 26
Zweierreihe von Silberkriegern, die sich in sturer Monotonie nach oben schob, als seine unausgesprochene Frage beantwortet wurde – wenn auch ganz anders, als er erwartet hatte. Es war Blut. Blut, das am Rücken das schwarze Gewand benetzte, in das Carnac geschlüpft war, ungefähr auf der Höhe des Schulterblatts. Als Daarts Blick darauf fiel und er begriff, dass es nicht ein wasserfeuchter Fleck war, sondern etwas anderes, der rote Saft, der aus schlecht verheilten oder frischen Wunden quoll, wäre er beinahe stehen geblieben. Doch dann beschleunigte er seine Schritte. Es war kein großer Fleck, der sich dort auf Carnacs Rücken abzeichnete, kaum größer als eine der Muscheln, die man am Ufer des Flüstersees fand. Doch er war nicht alt und verkrustet, sondern hatte jenen flüchtigen Schimmer, der frischem Blut zu Eigen ist, das ohne Unterlass aus einer Wunde quillt. Und er schien auszufasern, selbst in dem kurzen Augenblick, in dem Daart fassungslos auf ihn starrte. Mit weit ausgreifenden Schritten schloss er zu Carnac auf. Einige der Männer, auf die sie zuhielten, wandten die Köpfe in ihre Richtung, und Daart schluckte die schroffen, angstvollen Sätze, die ihm schon auf der Zunge lagen, schnell herunter. Carnac sah nicht einmal auf, als er neben ihr angelangte. Ihr Blick war starr auf das Geröll gerichtet, das hier über den Weg gerutscht war und einen dazu zwang, aufmerksam einen Fuß nach dem anderen zu setzen. Aber das war keineswegs der Grund, warum sie ihm keine Beachtung schenkte. Etwas anderes ging in ihr 27
vor; es brodelte in ihr, und dies war vielleicht mehr als nur eine Reaktion auf sein eigenes, zunehmend schrofferes Verhalten. Er musste unbedingt herausbekommen, was es damit auf sich hatte und ob es etwas mit der frisch blutenden Wunde zu tun hatte. Der Augenblick hätte nicht ungünstiger sein können. In den dunklen Augen hinter den Sehschlitzen der Silbermaske des Mannes, der ihnen am nächsten war, blitzte es kurz auf. Misstrauen, Zorn, vielleicht eine Mischung von beidem, jedenfalls nichts, dem er noch zusätzliche Nahrung geben wollte. Er zwang sich dazu, seine Bewegungen so weit wie möglich an Carnacs anzupassen, senkte sogar den Blick, als müsse er sich wie sie vollkommen auf das Geröll konzentrieren, das ihr Fortkommen hier erschwerte. Dann hatten sie den Weg erreicht. Der Mann, der sie so misstrauisch gemustert hatte, war jetzt schon ein ganzes Stück über ihnen, und die Nachrückenden machten Daart ebenso wortlos wie selbstverständlich Platz, als sie in die Kolonne einscheren wollten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit den fremden, gesichtslosen Kriegern zu einer Truppe zu verschmelzen, die stumm, aber beharrlich auf die Kuppe der Anhöhe zuhielt, hinter der die schneebedeckten Flanken des Schattengebirges steil und zerfurcht in den Himmel ragten. Daart starrte auf die Rücken der Männer vor sich, maß die Entfernung, die sie noch zurückzulegen hatten – aber er nahm nichts von alledem wirklich wahr. Seine Gedanken waren bei Carnac. Er musste unbedingt mit ihr reden, musste herausfinden, was es mit der Verletzung auf sich hatte, die er gerade an ihrem Rücken bemerkt hatte 28
– und das noch bevor sie die Kuppe erreichten, die sich nur allzu leicht als Falle erweisen konnte. Doch dazu bestand nicht die geringste Gelegenheit. Es dauerte nicht lange, dann hatten sie die letzte Windung des Wegs überwunden. Sie befanden sich in den letzten Ausläufern des Schattengebirges, dieser gewaltigen Formation, die die Nonakesh-Wüste von den CorSeen trennte. Es war eine Art Niemandsland, eine bergige Gegend, in der kaum etwas wuchs und die Witterung solche Kapriolen schlug, dass sich nur selten ein Mensch hierher verirrte. Zumindest war das so gewesen, bis Nubina ihr Riesenheer hatte aufmarschieren lassen, ergänzt um die Guhulan, die Feuerkrieger Zar’Torans. Jetzt schoben sich gewaltige, silbrig glänzende Raupen über den Rand der Erhebung, Daart und Carnac mitten unter ihnen. Hätte er nicht Carnacs Wunde entdeckt, hätte Daart seine Ungeduld wahrscheinlich im Zaum halten können. Doch so hatte er das Gefühl, als schlüge sein Herz in seiner Kehle statt in seinem Brustraum, und seine Hände waren trotz des recht kühlen Morgens schweißnass. Er nahm so wenig von seiner Umgebung wahr, dass er später gar nicht mehr hätte sagen können, wie lange es dauerte, bis der recht steile Weg ebener wurde und in die sanfte Steigung zur Bergspitze überging. Daart blinzelte und wäre fast vor Überraschung stehen geblieben, als er neben Carnac und hinter den beiden vor ihm gehenden Kriegern auf die Ebene hinaustrat. Er hatte alles Mögliche erwartet, ein Heerlager schier unüberschaubarer Größe, eine in aller Eile errichtete Stadt oder auch einen Feuertempel, der hier schon 29
seit ewigen Zeiten stand. Aber warum auch immer Nubina diesen Ort als Sammelpunkt ihres Heeres ausgesucht hatte, als Aufmarschplatz war er denkbar ungeeignet. Ein dichter, üppiger Wald wucherte hier, in den zwar Schneisen geschlagen waren, der aber alles andere als einladend wirkte für die schier unüberschaubare Zahl der Krieger, die sich über den Rand der Anhöhe drängten. Ob Daart wollte oder nicht, er musste weitergehen, wenn er nicht auffallen wollte. Trotzdem hatte er Mühe, im Gleichklang mit den Männern vor und hinter ihm zu bleiben, als sich der Strom der Krieger auf eine der breitesten Schneisen zuschob. Seine Verwirrung steigerte sich von Schritt zu Schritt. Er hatte geglaubt zu wissen, was Nubina vorhatte, hatte geglaubt, dass es ihm und Carnac nur irgendwie gelingen musste, in ihre Nähe zu kommen, und sich der Rest schon von selbst ergeben würde. Doch während der trockene Boden unter seinen Stiefeln knirschte, fragte er sich, ob er Nubina nicht abermals falsch eingeschätzt hatte. Die hoch gewachsene Herrscherin und Göttin der Aralu hatte ihn schon mehr als einmal mit einer vollkommen unerwarteten Taktik überrascht. »Nach rechts«, zischte ihm Carnac zu. Daart warf ihr einen irritierten Seitenblick zu. »Du läufst aus der Formation heraus«, setzte sie nach, so leise, dass Daart ihre Worte kaum verstand. Er reagierte sofort und schloss die Lücke, die zu dem vor ihm gehenden Krieger entstanden war. Es war ihm alles andere als wohl dabei, als sie weiter auf die Schneise zwischen den knorrigen, ausladenden Bäumen zuhielten. 30
Das Gefühl, geradewegs in eine Falle zu laufen, drohte ihm die Kehle zuzuschnüren, als rechts und links von ihnen andere Silberkrieger auf sie zuhielten und sie nicht länger in einer Zweier-, sondern jetzt in einer SechserFormation auf den Wald zumarschierten. Carnac und er waren plötzlich auf beiden Seiten eingerahmt durch je zwei Krieger, die die Silbermasken nicht aufgesetzt hatten, um etwas zu verbergen, sondern um damit ihre Zugehörigkeit zu Nubinas Heer zu bekräftigen. Dann hatten sie die Schneise erreicht. Wenn Daart auch nur die geringste Möglichkeit gesehen hätte, sich unbemerkt zwischen die Bäume zu verdrücken, er hätte Carnac aufgefordert, ihm zu folgen, und sich so schnell wie möglich durchs Unterholz gezwängt. Doch so blieb ihm nichts anderes übrig, als weiter den Biegungen zu folgen, mit denen der leicht abschüssige Weg sie tiefer in den Wald hineinlockte. Es hatte etwas fast Gespenstisches, als Bestandteil eines feindlichen Heeres durch einen dunklen Wald zu marschieren, ohne zu wissen, wohin der Weg ihn führte und was sie erwartete – und ohne zu wissen, wie es in Wirklichkeit um Carnac stand, die aus einer Wunde blutete, von deren Vorhandensein er vor wenigen Augenblicken noch nichts geahnt hatte. Dann lichteten sich die Baumkronen über ihnen, und in dem verwirrenden Spiel der durch das Geäst fallenden Morgensonne erkannte er vor sich etwas, das auf den ersten Blick ein Bergsee hätte sein können, in dem sich die Schatten von Bäumen und Astwerk auf einer unruhig tanzenden Wasseroberfläche brachen. Über die Schultern der vor ihm gehenden Männer hinweg ver31
suchte er zu erkennen, worauf sie da eigentlich zuhielten. Als er dann endlich einen freieren Blick hatte, sog er scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Es war kein Bergsee, sondern eine etwas tiefer liegende, von den umgebenden Anhöhen eingerahmte wasserlose Senke, und die Reflexionen stammten nicht von einer unruhigen Wasseroberfläche, wie er geglaubt hatte, sondern in Wirklichkeit von blitzenden Waffen, blank poliertem Pferdegeschirr und mannigfaltigen Ausrüstungsgegenständen. Es war das Heerlager, das er bereits auf der Bergkuppe erwartet hatte, und auch wieder nicht. Es war viel größer und geradezu unüberschaubar, so wie es sich in dem Tal ausbreitete; der Treffpunkt einer geballten Streitmacht, deren Anblick Daart den Atem stocken ließ. Zelte, Wagen, Hütten, so weit das Auge reichte, und dazwischen ein unsägliches Durcheinander von Menschen, nicht von nur Silberkriegern, sondern auch Männern in den Gewändern der Feuerkrieger Zar’Torans oder in der armseligen Kleidung der Dorfbewohner, die am Rand des Schattengebirges ihr kärgliches Dasein fristeten; ja, Daart erkannte auch mehrere Frauen und sogar Kinder, die zwischen den sorgfältig aufgestellten Speeren und Pferden umherliefen. Der Anblick sprach allem Hohn, was er erwartet hatte. Es war das Lager des sicherlich größten Heeres, das Enwor in den letzten Jahren gesehen hatte, aber es war auf der anderen Seite auch ein ganz normales Heerlager und kein streng abgezirkelter Bereich, wie er es bei den Silberkriegern erwartet hatte, sondern vielmehr voller Lärm und Gerüche, die bis zu ihnen heraufdrangen und davon kündeten, dass eine unüberschaubar große Men32
schenmenge auf engstem Raum zusammengepfercht war. Was sollte das? Hier, in dieser entlegenen Gegend im Norden Enwors, gab es nichts, das einen solchen Truppenaufmarsch gerechtfertigt hätte. Bevor Daart dazu kam, den Gedanken weiter zu verfolgen, sah er etwas, das ihm einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Bislang waren ihm die Krieger Nubinas immer in ihren bedrohlich wirkenden Silbermasken begegnet, und so war er davon ausgegangen, dass sie diese, außer zum Essen und Trinken, auf einem Kriegszug niemals lüften würden. Jetzt sah er sich getäuscht. Kaum hatten die ersten Männer vor ihnen den Boden der Senke erreicht, da rissen sie sich auch schon mit dem Anzeichen deutlicher Erleichterung die Masken vom Kopf. So einheitlich sie bislang auch ausgesehen hatten, jetzt kamen die unterschiedlichsten Gesichter zum Vorschein, die meisten überraschend jung, aber auch ein paar ältere, allesamt von einer dunklen Gesichtsfarbe mit überwiegend markanten Zügen und nicht wenige gezeichnet von den Strapazen des Marsches, der dieses Heer quer durch Enwor geführt hatte. So diszipliniert die Formation bislang gewesen war, löste sie sich im gleichen Moment auf, als sich die Krieger ihrer Masken entledigten und sie an ihre Gürtel hingen. »Verdammt«, fluchte Carnac neben ihm. Sie packte ihn am Handgelenk und zog ihn mit sich. Der Mann neben ihr sprang zur Seite. Die Art, wie sein Kopf zu ihr herumruckte, hatte etwas von einem Raubvogel an sich, der ein Opfer erspäht hat und sich 33
auf es stürzen will. Doch da war Carnac schon an ihm vorbei. Der Mann sagte etwas, aber nicht auf Tekanda, sondern im hart und merkwürdig guttural klingenden Tonfall der Aralu; Daart verstand kein einziges Wort. Er nickte nur hastig, schüttelte dann nur einen Atemzug später den Kopf und deutete hinab aufs Lager. Die Augen des Kriegers funkelten hinter der Maske kurz auf, doch dann drängten die nachfolgenden Männer heran, und er musste eine Entscheidung treffen. Zu Daarts Erleichterung verzichtete er darauf, endgültig aus der Reihe auszuscheren und seiner ersten schroffen Bemerkung eine weitere folgen zu lassen, sondern beeilte sich stattdessen, seinen Platz in der Formation wieder aufzunehmen. Mit ein paar schnellen Schritten war Daart am Waldrand. Carnac hatte bereits das Unterholz auseinander gebogen und drängte sich nun rücksichtslos durch die Farne, Büsche und fast mannshohen Gräser. Daart folgte ihr. Er spürte eine merkwürdige Art von Erregung in sich, fast so etwas wie die Mischung aus Angst und Ungeduld vor einem Kampf mit ungewissem Ausgang, den man schnell hinter sich bringen wollte. Etwas stimmte hier nicht. Das Lager unter ihnen warf nicht nur alles über den Haufen, was er über die disziplinierten Silberkrieger zu wissen geglaubt hatte, es passte auch nicht zu dem Bild, das er sich über Nubinas und Zar’Torans Strategie gemacht hatte. Aber darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Er hatte im wahrsten Sinn des Wortes alle Hände voll zu tun, um Carnac zu folgen. 34
Ein Ast, den sie brutal beiseite gebogen hatte, um sich an ihm vorbeizudrängen, schnellte zurück, und obwohl Daart sich blitzschnell bückte, klatschte er auf seine Silbermaske. Es gab ein hartes, metallisches Geräusch, beinahe so, als wäre nicht ein Zweig, sondern ein Schwert auf Silber aufgeschlagen, und Daart war froh, dass sein nacktes Gesicht verschont worden war. Schnell wich er ein Stück zur Seite, um dem nächsten Zweig auszuweichen. »He, warte!« Er beschleunigte seine Schritte, was alles andere als einfach war, denn der Wald wurde zunehmend dichter; allerdings war es auch genau das, was Carnac bremste. Er wischte mit seinem Ärmel die dornigen Auswüchse eines Busches zur Seite, die sich ihm wie die Fangarme eines Ungeheuers entgegenstreckten, tauchte unter einem fast armdicken Ast hinweg und zerdrückte mit seinem puren Körpergewicht Gezweig, das knackend wegsplitterte. Dann war er neben ihr. »He!«, sagte er noch einmal und fischte nach ihrem Handgelenk. Carnac wich einen halben Schritt zur Seite aus, was ihr alles andere als gut bekam; die Ausläufer einer knorrigen Eiche, die sich durch dichtes Buschwerk bohrten, waren ihr im Weg, und sie knallte mit dem Kopf gegen einen Ast. »Verdammt!« Sie riss sich die Silbermaske vom Gesicht und starrte Daart wütend an. »Was soll das?!« Daart blinzelte. Carnac war unnatürlich bleich, ihr Gesicht fahl wie das einer Toten. Die schwarzen Haare hingen ihr verschwitzt in die Stirn, und als sie sie beiseite wischte, machte sie es fast noch schlimmer, da ihre 35
Blässe und die schwarzen Ringe unter ihren Augen dadurch noch betont wurden. »Bei allen Göttern«, murmelte Daart. »Was ist mit dir los?« Carnac rieb sich mit einer übertriebenen Geste über den Hinterkopf. »Es wird eine Beule geben. Mehr nicht. Aber trotzdem war es nicht nötig.« Daart schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht.« »Aber ich«, fauchte Carnac. »Wir müssen weg. Wer weiß – vielleicht sind sie schon hinter uns her. Der Spur, die wir hinterlassen haben, könnte jedenfalls ein blinder Greis folgen.« »Aber …« »Nichts aber«, unterbrach ihn Carnac schroff. Sie setzte die Maske wieder auf und rückte sie ungeduldig zurecht. »Du solltest mich besser nicht noch einmal vom Weg drängen«, tönte ihre Stimme dumpf und dunkel unter der Maske hervor. »Es kommt auf jeden Moment an.« Daart hätte ihr erklären können, dass er sie keineswegs hatte vom Weg drängen wollen, aber das hätte wenig Sinn gemacht. »Wieso glaubst du, dass sie uns folgen werden?« »Ich glaube es nicht. Ich weiß es.« Sie wischte mit einer ungeduldigen Handbewegung Daarts mögliche Einwände beiseite und drehte sich wieder um. »Und jetzt los.« Daart starrte ihr sprachlos nach, als sie sich anschickte, sich wieder durch das Dickicht zu zwängen, bevor er überhaupt zu der Frage kam, was es mit ihrer Rückenwunde auf sich hatte. 36
Er verstand rein gar nichts mehr. Sicherlich, Carnac hatte bereits erschöpft und mitgenommen ausgesehen, als sie in die Uniform des Silberkriegers geschlüpft war. Aber die Veränderung, die unterdessen von ihr Besitz ergriffen hatte, war ungewöhnlich. Zusammen mit ihrer zunehmenden Launenhaftigkeit und dem frischen Blutfleck auf dem Rücken ergab dies ein erschreckendes Bild. Irgendetwas stimmte nicht mit Carnac. Es machte Daart Angst.
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2 Seine Besorgnis um Carnac hätte sich vermutlich noch gesteigert, wenn nicht das geschehen wäre, wovor sie ihn gewarnt hatte. Sie wurden verfolgt. In das Geräusch der brechenden Zweige und Äste, mit denen sich Carnac zunehmend rücksichtsloser durch den Wald drängte, mischten sich andere, viel brutalere Laute. Es klang beinahe so, als bräche eine gewaltige Echse durch den Wald, und als würden unter ihrem ungestümen Ansturm nicht nur Zweige und Äste genickt, sondern gleich ganze Bäume beiseite gewischt. Holz krachte und barst, stampfende Schritte erschütterten den Boden. Daart warf einen gehetzten Blick zurück, aber er sah nichts außer einer fernen, vagen Bewegung, die von einem großen, missgestalteten Schatten auszugehen schien, einer dräuenden Gewitterwolke gleich, die sich hinter ihnen zusammenzog. Was immer sie verfolgte, war noch nicht nahe genug, um mehr als den dunkel geballten Schemen preiszugeben – aber den Geräuschen nach zu urteilen würde sich das schneller ändern, als es ihnen lieb sein konnte. »Was ist das?«, schrie er. Carnac hatte schon einige Schritte Vorsprung gewonnen, und so wie es aussah, dachte sie gar nicht daran, ihn aufzugeben, nur um Daarts Frage zu beantworten. »Wir müssen weg!«, schrie sie, ohne sich umzudrehen. Daart erriet ihre Worte mehr, als dass er sie wirklich 38
verstand. Abgesehen davon halfen sie ihm auch nicht wirklich weiter. Wer immer da hinter ihnen herantobte, Nubinas Silberkrieger waren es mit Sicherheit nicht. Aber vielleicht irgendjemand – oder irgendetwas –, das sie ihnen auf den Hals geschickt hatten. Vielleicht hatten er und Carnac ja einen unausgesprochenen Befehl missachtet, indem sie kurz vor Erreichen des Lagers in den Wald verschwunden waren, und vielleicht war das Grund genug gewesen, die Jagd auf sie zu eröffnen. Carnac bückte sich unter einem besonders tief hängenden Ast hinweg und tauchte damit fast vollständig in das hüfthohe Gras ein, das hier, an einer abschüssigen, nicht ganz so dicht von Bäumen und Büschen bewachsenen Stelle, besonders hoch und ungehindert wucherte. Daart warf erneut einen Blick zurück. Flüchtig hatte er den Eindruck, der schwarze Schatten verdichte sich zu einer einzigen riesigen Gestalt, keiner Echse und keinem Drachen, wie er sie zum Teil aus eigener Beobachtung und zum Teil vom Hörensagen her kannte, sondern zu etwas ganz anderem; einem Koloss mit wirbelnden Armen und einem Gebilde auf den Schultern, das wie zwei Köpfe aussah. Der Anblick überraschte Daart so sehr, dass er einen Herzschlag lang unachtsam war und nicht genau mitbekam, wohin er mit rückwärts gewandtem Blick, aber in vollem Tempo stürmte. Das bekam ihm schlecht. Er streifte mit dem Kopf einen Ast der vereinzelt stehenden Bäume, wich instinktiv zur Seite aus und knallte, mit nun wieder nach vorne gedrehtem Kopf, gegen den Stamm eines zweiten Baumes. Der Hieb war so heftig, als hätte ihn ein Angreifer mit einer Axt erwartet, um sie ihm mit dem stumpfen Ende 39
über den Kopf zu ziehen. Daart taumelte ein, zwei Schritte zurück, bevor er sich wieder fing. Graue Schatten waberten über sein Sichtfeld, und obwohl er heftig blinzelte, wollten sie nicht weichen, ganz im Gegenteil; sie erstickten jede Farbe und ließen ihn seine Umgebung nicht deutlicher erkennen, als das im fahlen Mondlicht der Fall gewesen wäre. Es konnten nicht mehr als einige wenige rasche Herzschläge vergangen sein, bevor sich der Schleier vor seinen Augen wieder so weit lichtete, dass er es wagen durfte, erneut loszustürmen. Aber es war zu spät. Der Koloss brach mit brutaler Gewalt durch das Unterholz, und er hatte tatsächlich zwei Köpfe. Ohne Rücksicht darauf, dass er seine Umgebung alles andere als deutlich wahrnehmen konnte, sprang Daart nach vorn und stürmte los. Sein Herz raste nicht allein durch den Versuch seines Körpers, die Benommenheit infolge des unsanften Zusammenstoßes mit dem Baum durch eine gewaltige Kraftanstrengung zu kompensieren. Der Anblick des Kolosses hatte ihn verstört. Es gab nichts und niemanden mit zwei Köpfen. Was, bei allen Göttern, war da hinter ihm her? Es war tatsächlich ein Hang, auf den er zustürmte, und dann war er aus dem Wald heraus. Die Erleichterung darüber, nun verhältnismäßig ungehindert durch das im Wind wogende Gras stürmen zu können, hielt nicht lange an. Bald hörte er die bedrohlich stampfenden Schritte des Giganten hinter sich und spürte auch, dass das riesige Ungetüm nun noch rascher aufholte als zuvor, getrieben von einem mörderischen Jagdinstinkt 40
oder Blutdurst oder was auch immer seine Schritte weiter beschleunigte. Aus seinem Rachen drang ein gieriges Keuchen, offensichtlich gepaart mit der Vorfreude, gleich seine Zähne in das Opfer schlagen zu können, das da vollkommen sinnlos vor ihm zu fliehen versuchte, obwohl es längst verloren war. »Verdammt, wirst du wohl stehen bleiben!«, schrie der Riese hinter Daart her. Es war eine Stimme, die so gar nicht zu der Erscheinung passte, die Daart aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Sie war hoch, beinahe piepsig. Daart war sich durchaus bewusst, dass Stimme und Körper nicht immer im Gleichklang waren, dass mitunter winzige Menschen über dröhnende Stimmen verfügten und mancher Hüne eher kläglich vor sich hin fistelte. Aber das hier war etwas anderes. Vielleicht schon allein deshalb, weil ihm die Stimme mehr als nur vage bekannt vorkam. Er hätte gern eine Entscheidung getroffen, aber die Wahrheit war, dass er über eine Wurzel stolperte, die vom hohen Gras verborgen gewesen war. Weit davon entfernt, lang hinzuschlagen, geriet er zumindest ins Stolpern, und ehe er es sich versah, war er plötzlich in Schräglage und musste sich mit beiden Händen abfangen, um nicht vollends hinzustürzen. Mit einem Satz war er wieder auf den Beinen und wirbelte herum. Der Hüne war mittlerweile nah genug heran, dass er erkennen konnte, was es mit seinen zwei Köpfen auf sich hatte. Der eine Kopf war so groß und klobig, dass er zum Körper passte, mit wulstigen Lippen, einer Knollennase und einem Paar eng zusammen41
stehender, riesiger Augen. Das grobporige, von rötlichen Flechten überwucherte Gesicht war fast vollständig von Haaren bedeckt, die überall hervorsprossen, aus der Nase, den Ohren, ja sogar aus dem Halsansatz des unförmigen Kittelgewands, in das der Koloss mehr gehüllt als gekleidet war. Nur auf dem Kopf war der Riese vollständig kahl, sah man einmal von einem Büschel lächerlich hochstehender Haare genau an der Stelle ab, die sich wie ein Wulst von der Stirn zur Kopfmitte schob. Daart war sich sicher, niemals zuvor eine solch hässliche und abstoßende Erscheinung gesehen zu haben. Das aber bezog sich nicht auf den zweiten Kopf. Der war kleiner als sein eigener, dabei durchaus ansprechend geformt und so ganz und gar menschlich, wie der andere eher einem Ungeheuer statt einem Menschen zu gehören schien. Die beiden Köpfe gehörten nicht zusammen. Das, was Daart zunächst für einen Buckel gehalten hatte, war in Wahrheit der Körper eines Jungen, der auf den Schultern des Kolosses hockte und die Arme um den haarigen Hals geschlungen hatte, um bei dem schnellen Tempo nicht abgeworfen zu werden. Außer ein paar frischen Kratzern im Gesicht, die er sich offensichtlich von den Zweigen eingehandelt hatte, durch die sie sich hindurchgezwängt hatten, wirkte der Junge unversehrt, sogar geradezu vergnügt. »Thross!« Daart schüttelte verwirrt den Kopf. Den schmalen Jungen mit den für sein Alter viel zu erwachsenen Augen auf den Schultern eines abgrundtief hässlichen Kolosses zu sehen, traf ihn wie ein Schlag. Als Creeper hatte sich Thross jahrelang durch die dunkels42
ten Gänge und Spalten unterhalb des Schattengebirges gezwängt, und als das nicht mehr ausgereicht hatte, um seinen Beitrag für das Überleben der Sippe zu leisten, war er zu einem der treuesten Begleiter geworden, die Daart und Carnac im Kampf gegen ihre gemeinsamen Feinde je gehabt hatten. Das erklärte allerdings nicht, was er hier tat. Der Koloss war stehen geblieben, aber jetzt stampfte er ungeduldig mit dem Fuß auf, dass die Erde bebte. »Soll ich der Blechschüssel eins auf den Nischel hauen?«, drohte er. Der Koloss hatte keine Fistelstimme, ganz im Gegenteil. Es war eine tiefe, dröhnende, aber unangenehm kratzende Stimme, die beinahe so klang, als würden zwei Felsen aneinander gerieben. »Nur nicht!«, rief Thross erschrocken. »Das ist der alte Freund von mir, von dem ich dir erzählt habe.« Der Koloss legte den Kopf schief und musterte Daart aus böse funkelnden Augen. »Nee, das ist kein alter Freund. Das ist eine Blechschüssel. Und Blechschüsseln haue ich immer eins auf den Nischel.« Thross verschluckte sich beinahe vor lauter Schreck, als der Koloss einen weiteren donnernden Schritt auf Daart zuging – was Daart nicht im Geringsten beruhigte. Trotzdem blieb er scheinbar ungerührt stehen. Der Koloss mochte über gewaltige Körperkräfte verfügen, und die eisenbeschlagene Keule, die an seinem Gürtel baumelte, würde einen Menschen geradewegs in den weichen Boden treiben, wenn es der Gigant wirklich ernst meinte – aber Daart bezweifelte, dass er auch nur ihren Griff umklammern konnte, bevor er selbst sein 43
Schwert gezogen und mit der Klinge voran in sein Herz getrieben hätte. »Runter mit der Silbermaske!«, rief Thross. »Schnell!« Rumps, machte es, als der Koloss erneut eines seiner Säulenbeine gehoben und den Fuß auf den Boden hatte krachen lassen. Die Erschütterung, die Daart mehr als deutlich spürte, und die Tatsache, dass der unförmige Fuß fast bis zum Knöchel im Boden versank, machten Daart jetzt doch nervös. Kurz rang er mit sich, ob er Thross’ Aufforderung Folge leisten sollte oder doch lieber sein Schwert ziehen … Der Koloss ließ die kurze Zeitspanne nicht ungenutzt verstreichen, sondern machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. Einen verdammt schnellen Schritt. Die Zügigkeit, mit der dabei seine Pranke nach der Keule griff und sie fest umklammerte, ließ Daart an seiner Einschätzung zweifeln, ob er es hier wirklich mit einem plumpen Tollpatsch zu tun hatte, der sich statt auf sein Geschick ausschließlich auf seine gewaltigen Körperkräfte verließ. »Schnell!«, schrie Thross noch einmal. Das gab den Ausschlag. Daart griff mit beiden Händen nach der Silbermaske und riss sie mit einem Ruck nach oben. Die Innenseite schrammte rau über seine Nase, und dann verkantete sich die Unterseite an seiner Nasenspitze. Das war in doppelter Hinsicht unangenehm, denn jetzt befanden sich die Sehschlitze nicht mehr vor seinen Augen, wodurch er von einem Moment auf den anderen blind war. Und außerdem verlor er Zeit, die der Koloss nutzte, um weiter auf ihn zuzustapfen. Thross schrie irgendetwas, was Daart nicht verstand; 44
aber es hätte auch keinen Unterschied gemacht. Eine Pranke donnerte auf seine Schulter – für einen verzweifelten Augenblick glaubte Daart bereits, es sei die Keule des Riesen, aber Keulen hatten keine Finger, die sein Schulterblatt umklammern und schmerzhaft zusammenpressen konnten – und eine andere packte den oberen Rand der Maske und rüttelte daran. Daart hätte vor Schmerz beinahe laut aufgebrüllt. Der Koloss riss die Maske mit einem Ruck nach oben, und es fühlte sich so an, als werde nicht nur ein Teil von Daarts Nase mitgezerrt, sondern gleich sein ganzes Riechorgan. Dann hatte Daart endlich wieder einen freien Blick auf seinen Peiniger, was ihn jedoch alles andere als beruhigte: Der Koloss bleckte die Zähne, und es hätte Daart nicht gewundert, wenn er sich vorgebeugt und die gelblichen Hauer in seinen Hals geschlagen hätte. Er versuchte nach seinem Schwert zu greifen, aber sein Arm war fast vollständig gelähmt durch den unbarmherzigen Druck, mit dem der Riese sein Schulterblatt nach vorn drückte. »Ja, wen haben wir denn da?«, brummte der Koloss. »Ein Langgesicht!« Er machte einen Schritt zurück, erinnerte sich offensichtlich im allerletzten Moment daran, dass er Daarts Schulter nach wie vor umklammert hielt, und lockerte den Griff, um ihn kurz darauf vollends loszulassen. Daart ging in die Knie und biss die Zähne aufeinander, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. »Oder bist du doch ein Rundgesicht?« »Nein«, brachte Daart zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während er spürte, wie Blut über seinen 45
Mund lief und von seinem Kinn herabtropfte. »Weder das eine noch das andere. Ich bin ein Satai.« Der Koloss kratzte sich am Kopf, oder besser gesagt, er zwirbelte das abstehende Haarbüschel auf seiner Kopfmitte. Dann legte er den Kopf zur Seite und nickte kummervoll. »Ja. Die Satai. Ich habe von ihnen gehört. Eine kleine Räuberbande in den Bergen, die sich vor lauter Gier gegenseitig fast vollkommen ausgelöscht hat.« Das verschlug Daart auch noch den Rest seiner Sprache. Die Satai als Räuberbande zu bezeichnen, war das Aberwitzigste, was er je gehört hatte. Dabei schien der Koloss durchaus richtig informiert zu sein, zumindest halbwegs. Der Hohe Rat der Satai hatte sich tatsächlich fast gegenseitig ausgelöscht, wenn auch wohl kaum aus Gier. Er war den Intrigen Nubinas und Zar’Torans zum Opfer gefallen. »Immerhin bist du kein Flachgesicht wie die anderen Blechschüsseln«, fuhr der Koloss fort. »Was allerdings nicht viel zu sagen hat. So oder so muss ich dir eins auf den Nischel hauen.« Daart blinzelte den Schleier weg, der sich über sein Sichtfeld gelegt hatte, und starrte nach oben, dort, wo Thross hockte und mit weit aufgerissenen Augen zu ihm hinabblickte. »Schön, dich zu sehen«, krächzte er. »Aber vielleicht wäre es klüger, du würdest uns jetzt erst einmal richtig vorstellen.« Thross nickte hastig. »Was … was ist mit deiner Nase passiert?« Daart wollte die Hand heben, um den Teil des Gesichts zu befühlen, an dem eben noch seine Nase gewe46
sen war. Eine Welle aus purem Schmerz jagte durch seine Nasenwurzel und fegte alle anderen Empfindungen hinweg, sodass er erschrocken die Hand wieder herunterriss. An seinen Fingerspitzen klebte Blut. »Wieso?«, krächzte er. »Nun.« Thross wand sich verlegen. »Sie ist nicht nur rot und blutig und …« »Und?« »Und dick«, antwortete Thross rasch, »sondern auch …« »Was auch?« Daart brüllte fast. »Nun sag es schon!« Thross griff nach seiner eigenen Nase und drückte deren Spitze so weit nach oben, wie es ging. »Sie steht auch ein bisschen, eh, hoch. Zumindest das … das, was noch von ihr übrig ist.« Daart starrte ihn einen Herzschlag lang wütend, fast hasserfüllt an. Thross wand sich sichtlich unter seinem Blick, aber der Junge wäre nicht das Großmaul gewesen, das er nun einmal war, wenn er deswegen die Klappe gehalten hätte. »Das kriegen wir schon hin«, winkte er ab. »Hauptsache, dass ich euch gefunden habe, bevor ihr noch irgendwelchen Blödsinn anstellen könnt.« »Wir … irgendwelchen Blödsinn?« Jetzt hob Daart doch die Hand, wenn auch langsam und vorsichtig, um den Koloss nicht zu einer unbedachten Reaktion zu provozieren, und strich mit den Fingerkuppen ganz sanft über die tropfende Stelle, an der bislang seine Nase gewesen war. Ein scharfer Schmerz schoss über seine Nasenwurzeln in seinen Kopf und trieb ihm die Tränen in die Augen. »Es sieht mir eher so aus, als ob jemand ganz anderer hier Blödsinn angestellt hätte.« Der Koloss 47
legte den Kopf schräg und stieß ein dumpfes Grollen aus. »Nubina, zum Beispiel«, sagte Daart rasch. »Sie zieht hier vollkommen sinnlos Truppen zusammen.« »So ganz sinnlos ist das nicht«, brummte der Koloss. Daart blinzelte überrascht. Es fiel ihm schwer, sich dieses muskelbepackte, hässliche Ungetüm anders als einfältig vorzustellen. Aber es schien nicht dumm zu sein. Oder plump oder langsam. Daart beschloss, auf der Hut zu sein. »Ich glaube, du suchst etwas«, fuhr der Koloss fort. »Ich wüsste nicht, was.« »Na ja.« Der Koloss hob die rechte Pranke, in der er immer noch die Silbermaske hielt. »Das hier zum Beispiel.« »Die Maske?« Daart schüttelte vorsichtig den Kopf. »Behalte sie. Ich brauche sie nicht mehr.« »Blödsinn.« Der Koloss hielt sich die Maske umgedreht vor das Gesicht und fingerte mit der anderen Hand darin herum. Zuerst glaubte Daart, er wolle allen Ernstes versuchen, sie sich aufzusetzen. Doch dann kam ihm ein ganz anderer, schrecklicher Verdacht. »Bei dir ist was abgegangen«, nuschelte der Koloss. »Was … abgegangen?« »Wo ist eigentlich Carnac?«, fragte Thross rasch. »War sie nicht eben noch da?« Das waren zwei wirklich gute Fragen, fand Daart, und bei anderer Gelegenheit hätte er wohl jeden weiteren Gedanken aufgegeben und sich umgedreht, um nach Carnac Ausschau zu halten. Aber nicht jetzt. Nicht ausgerechnet in dem Moment, in dem dieser ungehobelte, 48
hässliche Riesenkerl vor ihm behauptete, dass bei ihm etwas abgegangen sei. »Wie viel«, begann Daart. »Wie viel von … von meiner … meiner Nase …« »Ach, eigentlich ist sie vollkommen unversehrt«, behauptete Thross großspurig. Aber dann grinste er so schief und verkrampft, dass er den Effekt seiner Worte nicht nur zunichte machte, sondern sie geradezu ins Gegenteil verkehrte. »Ich hab’s gleich.« Der Koloss streckte leicht die Zunge vor und kaute darauf herum, was ihn nicht nur unbeschreiblich dämlich aussehen ließ, sondern auch auf eine ganz perfide Weise bedrohlich. Daart fragte sich, was er mit dem Stück seiner Nase tun würde – denn dass er ein solches aus der umgedrehten Silbermaske herausfischen wollte, war für ihn mittlerweile schreckliche Gewissheit. Er traute dem Koloss alles zu. Aber nicht das, was er vorhatte. »Ah, hab ich dich.« Der Koloss ließ die Linke vorschnellen, umfasste irgendetwas und schnalzte mit der Zunge, während er die mittlerweile zur Faust geballte Hand wieder hochbrachte. Daart spürte, wie ihm flau wurde. Wenn dieser Kerl nicht ganz so riesig und nicht ganz so stark gewesen wäre, hätte er ihn in diesem Moment wohl an den Schultern gepackt und kräftig durchgeschüttelt. »Immer und immer wieder entwischst du mir«, sagte der Koloss vorwurfsvoll. »Oder dein Bruder. Oder deine Schwester. Oder wer auch immer.« Daart verstand kein Wort. Welche Brüder und Schwestern sollten seine Nasenspitze haben? 49
Der Koloss verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Daart erst einmal nicht einordnen konnte – bis er bemerkte, dass die Mundwinkel unter all den wild wuchernden Nasen- und sonstigen Haaren nach oben gewandert waren. Dann riss der Koloss auch schon den Mund auf und stieß einen grollenden Laut aus, der sich in Windeseile zu einem donnernden Lachen steigerte. Daart wich unwillkürlich einen Schritt zurück und presste die Hände auf die Ohren. Der Koloss öffnete die linke Hand, und jetzt sah Daart, was er umklammert hatte. Es war relativ klein, verlor sich auf der riesigen Handfläche – und es bewegte sich, erst krabbelnd, dann torkelnd wie ein sturzbesoffener brachmarnischer Söldner. Dann breitete es die Flügel aus, erhob sich zitternd in die Luft und flog davon. Es war keine Nasenspitze, natürlich nicht, sondern nichts weiter als eine harmlose Fliege. Das hatte ihm noch gefehlt. Der Koloss hatte Humor, wenn auch eine besonders albtraumhafte Variante davon. Ein Blick in Thross’ Gesicht überzeugte Daart davon, dass der Junge selbst nicht ganz genau wusste, was er von dem Scherz halten sollte. Dann klopfte Thross dem Koloss kräftig auf den fast nackten Schädel. Der Koloss prustete noch einmal los, verschluckte sich, rülpste lautstark und sagte: »Ach, das war jetzt wirklich nett.« »Ich will ja nicht meckern«, sagte Daart. »Aber was ist mit meiner Nase?« Der Koloss sah ihn verständnislos an, streckte den linken Arm weit von sich, und Thross rutschte auf seine 50
linke Schulter und dann den ausgestreckten Arm hinab, bevor er auf den weichen Boden sprang. »Alles in Ordnung«, nuschelte der Koloss. »Ist noch alles dran, wenn auch etwas, äh, verrubbelt. War nur ein kleiner Spaß.« In seinen Augen glomm etwas auf, das Daart gar nicht gefiel. »Ich hoffe, du verstehst einen guten Scherz.« Daart atmete tief und sehr lange ein, bevor er die Luft wieder schlagartig ausstieß. »Selbstverständlich«, sagte er dann. »Einen guten Scherz verstehe ich immer.« »Eh, ja.« Thross klopfte sich umständlich nicht vorhandenen Staub aus den Kleidern und sah sich dann aufmerksam um. »Ich habe Carnac doch vorhin gesehen. Oder war sie das gar nicht, die vor dir davongelaufen ist?« Daart drehte sich zu dem Jungen um. »Carnac ist nicht vor mir davongelaufen«, stellte er fest. »Sondern vor Grobian.« Thross rettete sich in ein verlegenes Schulterzucken. »Ich weiß.« Grobian, fand Daart, war ein durchaus passender Name für den Koloss, der ihm mit einer beiläufigen Bewegung fast die Nase abgerissen hatte. Das änderte aber nichts daran, dass auch er wissen wollte, wo Carnac geblieben war. »Ich war gerade beschäftigt«, sagte er zu Thross, der nun direkt vor ihm stand und zu ihm aufsehen musste, statt auf ihn herabblicken zu können wie noch kurz zuvor. »Du hast doch von dort oben einen guten Ausblick gehabt. Wo ist sie hingelaufen?« Der Junge zwinkerte nervös. »Das habe ich von Grobians Schultern aus nicht sehen können. Aber …« 51
»Ein Aber akzeptiere ich nicht«, sagte Daart grob. »Ich will wissen, wo sie ist.« »Ja, aber …« Daart seufzte. »Thross, bitte.« Der Junge streckte den Arm aus und deutete in die Richtung, in die Daart zuvor gelaufen war. »Erst ist sie da lang, und dann … in jedem Fall kommt sie gerade hinter dir den Hang hinauf.« Daart fuhr herum, und sein Herz machte einen schmerzhaften Satz, als er sie entdeckte. Sie war gar nicht so weit entfernt gewesen, wohl nur in dem Gras in Deckung gegangen, das ein Stück weiter unten deutlich höher und dichter wucherte als hier. Die Silbermaske hatte sie abgenommen und an ihrem Gürtel eingehakt. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, und ihr Atem ging stoßweise; kaum möglich als Reaktion auf den kurzen Spurt, dafür war sie viel zu durchtrainiert, sondern auf etwas ganz anderes, etwas, das in ihr war, vielleicht schon immer gewesen war, aber jetzt an die Oberfläche trat. »Carnac«, sagte Daart hilflos. »Alles in Ordnung?« Sie nickte nur müde und strich dann die langen verschwitzten Haare nach hinten, die sie zuvor hochgesteckt hatte. »Lass doch Thross in Ruhe …« Sie starrte ihn erschrocken an, und der Ausdruck in ihren Augen veränderte sich. »Was ist denn mit deiner Nase passiert?« »Hab ihm geholfen, das Blechdings loszuwerden«, brummte Grobian. »Ja, und ich kann mir auch vorstellen, wie.« Mit einem kurzen, aber wilden Kopfschütteln brachte Carnac 52
ihre Haare einigermaßen in Form; erst dann warf sie einen Blick nach oben in Grobians Gesicht. »Und du bist …« »Ein Groll«, sagte Grobian stolz. Er klopfte sich gegen die Brust, dass es nur so krachte. »Einer der Letzten meines Stammes.« »Ein Groll …« Carnac runzelte die Stirn. »Ich dachte …« »Dass es keine mehr gäbe?« Der Groll lachte donnernd. »Weit gefehlt, Prophetin. Mein Stamm hat ganz weit im hohen Norden die Hetzjagd überlebt, die man hundert Jahre oder länger auf uns veranstaltet hat. Die Quorrl haben uns Unterschlupf gewährt. Und dafür haben wir ihnen gezeigt, wie man mit Lang- und Kurzgesichtern umspringen muss, wenn die mal wieder frech werden.« Carnac starrte Grobian schweigend an – wobei sie den Kopf fast in den Nacken legen musste – und nickte dann. »Aha.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, ließ es dann aber bleiben und wandte sich stattdessen an Thross. »Also hast du uns wieder einmal gefunden. Und das, obwohl wir die Silbermasken getragen haben.« »Na klar«, sagte Thross stolz. »Du weißt doch, ich komme überallhin und finde jeden.« »Nein.« Carnacs Gesichtszüge veränderten sich. Daart hätte im ersten Moment gar nicht sagen können, auf welche Weise. Ihr Gesicht schien schmaler zu werden, ihre Wangen noch hohler als zuvor, und in ihrem Blick war plötzlich etwas, das ihn warnte. »Das kann nicht sein, Thross, und das weißt du ganz genau«, sagte 53
sie streng. »Ein riesiges Heer von Silberkriegern ist auf dem Weg ins Heerlager, alle in der gleichen Art gekleidet, und alle mit diesen verfluchten Masken vor den Gesichtern. Es ist vollkommen unmöglich, dass du uns in der Menge entdeckt hast.« »Habe ich ja auch nicht«, sagte Thross nervös. »Ach? Und wie kommt es dann, dass du uns trotzdem aufgespürt hast?« »Das war mein Plan, Prophetin«, sagte Grobian stolz. Carnac wandte sich betont langsam dem Groll zu. »Wie bitte?« Grobian legte den Kopf schief und blickte auf Carnac hinab. Sein Gesicht wirkte so einfältig wie zuvor, aber Daart argwöhnte, dass dies nur Taktik war. »Ich kann dich riechen, Prophetin.« Carnacs Gesicht blieb ausdruckslos, aber ihr rechtes Augenlid zuckte. »Wie meinst du das?« »Nuuuun«, sagte der Groll gedehnt. »Ich kann Wesen deiner Art riechen. Schon von weitem. Soll ich dir erklären, warum?« Carnac winkte rasch ab. »Nein. Aber selbst wenn das stimmt, was du sagst: Wie konntest du mich inmitten des Heerzuges finden?« »Weil ich mich mit Thross im Wald auf die Lauer gelegt habe«, sagte der Groll stolz. »Wir wussten, dass ihr nur diesen Weg entlangkommen konntet«, fügte Thross hinzu. »Deswegen mussten wir uns nur im Wald an der Schneise verstecken.« »Aber warum?«, fragte Carnac kalt. »Warum habt ihr uns hier erwartet? Und warum habt ihr uns nicht einfach das tun lassen, was getan werden muss?« 54
»Durch den Wald zu laufen, als sei eine ganze Echsenhorde hinter euch her?«, fragte der Groll verwundert. »Nein«, sagte Carnac schroff. »Wir sind hier, um diese Wahnsinnige aufzuhalten, die sich selbst für eine Göttin hält.« »Nubina.« Der Groll nickte langsam und bedächtig. »Ja. Es ist nicht gut, dass sie hier ist. Sie hätte im Süden bleiben sollen. Der Norden könnte ihrer Schönheit schaden.« »Ihr werdet Nubina nicht aufhalten können«, sagte Thross rasch. »Ihr werdet ihr nicht einmal nahe kommen.« Daart legte Carnac eine Hand auf den Unterarm, als sie antworten wollte. »Das mag wohl sein. Aber ich nehme nicht an, dass ihr lediglich hier seid, um uns zu warnen.« »Nein, in der Tat, das sind wir nicht. Es hat einige … unangenehme Entwicklungen gegeben. Ask und die Caverner, die im Glutsee gewartet haben, um euch zu unterstützen …« »Waren nicht da, als wir sie gebraucht hätten«, unterbrach ihn Carnac besorgt. »Ich weiß. Was ist mit ihnen? Sind sie von Nubinas Kriegern angegriffen worden?« »Angegriffen und vertrieben«, antwortete Thross. »Es gab Tote. Nicht allzu viele«, fügte er rasch hinzu, als er Daarts und Carnacs Erschrecken bemerkte. »Aber es hätte keinen Sinn gemacht, den Kampf an Ort und Stelle fortzusetzen.« »Es macht nie Sinn, den Kampf an Ort und Stelle ge55
gen Nubina fortzusetzen«, erwiderte Carnac heftig. »Das ist ja gerade das Problem. Doch was sollen wir deswegen tun? Immer und ständig weglaufen, nur weil wir ihr in jedem einzelnen verfluchten Moment nicht gewachsen sind?« Es war natürlich nicht Thross, den sie mit diesen Worten meinte, vielleicht nicht einmal überhaupt ein Mensch, sondern eher die Situation als solche. Und sie hatte Recht. Dies war das Schlimmste daran. Das feurige Funkeln in Thross’ Augen erlosch und machte einem dumpfen Glanz Platz, dann senkte er betreten den Blick. »Wieso sind wir ihr nicht gewachsen, eh?« Die Stimme des Grolls erinnerte jetzt wieder an Steine, die aneinander gerieben wurden. »Man muss den Blechschüsseln nur kräftig eins auf den Nischel hauen, dann bekommt auch diese Nubina weiche Knie. Und wer weiche Knie hat, macht Fehler.« Thross sah wieder auf, und der Blick, den er von unten herauf Grobian zuwarf, war fast so bewundernd wie der eines Fünfjährigen, der einen strahlenden Helden anhimmelt. »Das klingt mir nach einem ausgesprochen guten Plan«, sagte er dann. »Plan?« Daart verschluckte sich fast. »Was soll denn das für ein Plan sein?« Der Groll drehte den Kopf in seine Richtung und beugte sich ein Stück herab. Er setzte eine Miene auf, die wohl nicht nur zufällig Ähnlichkeit mit der eines Vaters hatte, der seinem besonders begriffsstutzigen Sprössling etwas erklären musste. »Auf den Nischel hauen verunsichert immer. Das tut nämlich mehr weh, als die Nase lang zu ziehen.« 56
3 Die Stelle, an die sie Thross geführt hatte, erwies sich als ausgesprochen klug gewählt. Sie lag ein Stück höher als der umgebende Wald und war durch dicht ineinander verzahntes Gebüsch von dem Tal abgeschirmt, in dem Nubinas Heer das Lager aufgeschlagen hatte. Jetzt hockte Daart neben Carnac. Mit den Schwertern hatten sie eine kleine Lücke in die dornigen Sträucher geschlagen, durch die sie nun auf das Gewimmel unter sich hinabstarrten. Ein Gemisch unterschiedlichster Laute drang zu ihnen hinauf, aber auch eine verwirrende Vielfalt von Gerüchen, von denen einige streng und unangenehm, andere dagegen fast lieblich waren. Daart hätte sich eigentlich vollkommen auf das bunte Treiben unterhalb des recht steilen Hangs konzentrieren müssen, aber das wollte ihm beim besten Willen nicht gelingen. Schulter an Schulter mit Carnac hier zu hocken, weckte Erinnerungen an die wenigen glücklichen Augenblicke, die ihnen bislang vergönnt gewesen waren. Sie waren sich schon lange nicht mehr nahe gewesen. Und vielleicht würde das auch nie wieder möglich sein. Carnac hatte sich weitaus drastischer verändert, als ihm lieb sein konnte. Auch jetzt, wo er nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren, und eigentlich die Vertrautheit hätte spüren müssen, die so lange zwischen ihnen geherrscht hatte, kam es ihm vor, als sei sie eine Fremde. Vielleicht war sie das auch. Vielleicht war sie das so57
gar immer gewesen. Möglicherweise waren es ja ganz andere Gründe gewesen, die sie zusammengebracht hatten, als er bislang geglaubt hatte, etwas, das mit der schrecklichen kriegerischen Auseinandersetzung zu tun hatte, zu deren Ende die Alten keinen anderen Ausweg gewusst hatten, als Menschen und ihre von den Sternen kommenden Todfeinde miteinander zu verschmelzen … »Das ist seltsam«, murmelte Carnac. »Was?« Daart schrak hoch und beugte sich ein Stück vor, um so zu tun, als sei er lediglich an dem bunten Treiben im Lager unter ihnen interessiert. »In jedem Heerlager gibt es einen Bereich, der von den anderen abgeschottet ist«, sagte Carnac. »Natürlich«, murmelte Thross altklug. Der Junge hatte sich ein Stück weit zu ihrer Rechten sein eigenes kleines Guckloch im Gebüsch geschaffen. »Dort, wo sich Könige und Heerführer Köstlichkeiten vorsetzen lassen. Es ist unglaublich, was ihre Vorratskammern hergeben. Als ich mich als Küchenjunge in Purgatory, die Stadt der brennenden Mauern, eingeschmuggelt habe …« »Hast du bestimmt keine Wildschweinhälften am Spieß gesehen, wie dort unten«, unterbrach ihn Carnac. »Und auch nicht riesige Bottiche, in denen Mehl zerstampft wurde, um daraus Fladenbrot zu backen. Die Sache stinkt im wahrsten Sinne des Wortes.« »Es müsste hier irgendwo eine Art Küche geben, in der die speziellen Speisen für Nubina und ihr Gefolge zubereitet werden«, pflichtete ihr Daart bei. »Und ganz in der Nähe prachtvolle Zelte, behelfsmäßige Tempel, irgendetwas, das darauf hinweist, dass sich die Heerführer hier häuslich eingerichtet haben. Aber ich kann nicht 58
mehr als einfache Lagerstätten, hastig errichtete Zelte und ein paar Holzhütten entdecken, die aussehen, als ob sie schon seit einer Ewigkeit dort stünden und inzwischen fast vollkommen vermodert und vergammelt wären.« »Ja. Und das ist seltsam.« Carnac bewegte sich unruhig und presste sich für einen Moment mit dem Gewicht ihres Oberkörpers an Daart, als sie sich gleich ihm ein weiteres Stück vorbeugte. »Ich sehe nur gemeines Volk, Soldaten, Kinder, Frauen, was auch immer – und alles wimmelt fröhlich durcheinander. Das passt doch nicht zu Nubina.« »Und was sagt uns das?« Carnacs Antwort bestand darin, dass sie ihm den Kopf zuwandte, und Daarts Reaktion darauf, dass ihm ganz heiß wurde. Ob Zufall oder nicht, sie war ihm so nah wie in den wenigen Momenten, in denen sie wie von selbst zueinander gefunden und sich geküsst hatten … »Was ist?«, fragte Carnac rau. Daart schluckte hart und trocken. »Ich … ich dachte nur …« »Ja.« Carnac nickte flüchtig. »Ich auch. Nubina hat zwar ihr Lager hier errichten lassen, aber sie selbst ist gar nicht hier.« Das war zwar nicht das, was Daart gerade durch den Kopf geschossen war – doch er musste gestehen, dass der Gedanke nahe lag. »Ich verstehe das nicht. Wir haben doch selbst gehört, dass sie hier das Feuerritual zelebrieren will. Ein Ritual, das alles in den Schatten stellt, was Enwor je zuvor in dieser Art erlebt hat.« 59
»Ja«, gab ihm Carnac Recht. »Das haben wir allerdings gehört. Aber von wem?« »Na, von den zwei Kriegern, die du ausgeschaltet hast.« Carnac rutschte ein Stück zurück und damit weg von ihm. »Von zwei Silberkriegern, die sich einfach haben überrumpeln lassen.« »Was?« Daart blickte sie über die Schulter hinweg fassungslos an. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sie sich absichtlich haben überwältigen lassen.« »Der Gedanke schoss mir in der Tat gerade durch den Kopf.« Carnac grinste humorlos. »Aber das wäre Unsinn. Nein, es muss schon einen Grund haben, warum Nubina ihren Männer einredet, dass hier ein Feuerritual stattfinden wird – ohne dass sie irgendetwas in dieser Richtung vorbereitet hätte.« »Nicht hier, aber in einem Seitental«, vermutete Daart. »Es ist nicht ihr Stil, inmitten eines Heerlagers ein Ritual zu zelebrieren.« Carnac sah ihn schweigend und mit ausdruckslosem Gesicht an, dann wanderte ihr Blick nach oben. »Bald hat die Sonne den Zenit erreicht. Und die Menschen dort unter uns richten sich häuslich ein, als hätten sie Befehl, hier für längere Zeit ihr Lager aufzuschlagen.« »Das ist zwar …«, begann Daart, aber dann wurde er von einem schabenden Geräusch direkt hinter sich abgelenkt. Es war Grobian. Der Groll hatte sich an Thross’ Rat gehalten und sich bäuchlings auf den Boden gelegt, um nicht vom Lager aus von jemandem entdeckt zu werden, der zufällig nach oben blickte und sich über den fast kahlen Riesenschädel wunderte, der da plötz60
lich über dem Buschwerk schwebte. Aber jetzt wurde es ihm offensichtlich zu bunt. »Will auch sehen«, brummte er. Er schob sich vor, streckte die Hand aus, umklammerte den Busch vor sich knapp über der Wurzel und riss ihn kurzerhand aus. Mit einer beiläufigen Bewegung warf er ihn hinter sich, wo er gegen einen Baum prallte und deformiert am Stamm hängen blieb wie ein Besoffener, der verzweifelt Halt zu finden sucht – nur um kurz darauf abzurutschen und sich am Boden wieder zu finden. Daart hätte Grobian am liebsten an der Schulter gepackt und nach hinten gezogen. Aber er ahnte, wie dieser Versuch ausgehen würde. Seine Nase – oder das, was davon übrig geblieben war – schmerzte noch immer höllisch, auch nachdem er die Blutung hatte stoppen können, und er beabsichtigte nicht, ein weiteres Körperteil von Grobian lädieren zu lassen. Ganz abgesehen davon war fraglich, ob er das Muskelpaket überhaupt mehr als einen Daumenbreit bewegen könnte – wenn überhaupt. »Jede Menge Blechschüsseln ohne Blechmasken!«, sagte der Groll begeistert. »Da muss ich unbedingt runter.« »Ja, vielleicht, keine schlechte Idee.« Thross rutschte in aller Eile zu Grobian hinüber und legte ihm die kleine Hand auf die Schulter. »Aber nicht jetzt.« Der Groll wandte ihm den massigen Schädel zu. »Und warum nicht, kleiner Mann?« »Weil das später noch kommt.« Thross warf Daart einen Hilfe suchenden Blick zu, den dieser aber nur mit einem Schulterzucken quittierte. »Später … wenn wir … wenn wir wissen …« 61
»Wo Nubina ist«, sprang ihm Carnac bei. »Dann brauchen wir jemanden, der kräftig unter den Blechschüsseln aufräumt.« Als der Groll enttäuscht das Gesicht verzog, fuhr sie fort. »Außerdem macht es dir doch bestimmt viel mehr Spaß, die Blechschüsseln durcheinander zu wirbeln, wenn sie ihre Silbermasken tragen.« Grobian sah sie einen Herzschlag lang zweifelnd an, dann vollzog sich auf seinem Gesicht eine erstaunliche Veränderung. Die Mundwinkel, die eben noch ganz unten gehangen hatten, wanderten mitsamt den üppig wuchernden Haaren nach oben, und er grinste breit. »Auch wieder wahr. Wisst ihr denn, wo Nubina ist?« Daart und Carnac wechselten einen Blick, und für einen flüchtigen Moment fühlte sich Daart fast schmerzlich an das alte Vertrauen zwischen ihnen erinnert, eine Art von wortlosem Verstehen, das mehr wert war als die besten Absprachen. »Ich glaube nicht …«, begann Daart, und Carnac beendete seinen Satz: »… dass sie hier ist.« »Auch gut«, meinte der Groll. »Aber wo ist sie dann?« Carnac warf einen fragenden Blick zu Thross hinüber, und Daart tat es ihr gleich, sodass sich der Junge nun zwei Satai gegenübersah, die ganz offensichtlich eine treffende Antwort von ihm erwarteten. »Oh, nein«, sagte Thross hastig. »Warum gerade ich? Warum glaubt ihr, ich wüsste, wo sie steckt?« »Vielleicht, weil du immer sagst, du findest als Creeper überallhin«, brummte der Groll. »Äh, ja.« Thross kratzte sich am Kopf. In diesem Moment sah er genauso hilflos und verloren aus, wie es jeder andere Junge in seinem Alter gewesen wäre, den 62
man aufgefordert hätte, mal eben den aktuellen Aufenthaltsort einer leibhaftigen Göttin aus dem Ärmel zu schütteln. »Und wie soll ich …?« »Vielleicht, indem du dich auf deine ganz besondere Fähigkeit besinnst«, sagte Daart sanft. »Wenn du überall hinfindest, dann musst du doch auch wissen, wohin du zu gehen hast.« Thross’ Blick flackerte. »Ja«, sagte er unsicher. »Vielleicht.« Er wirkte in diesem Augenblick so verloren, dass Daart sich fast gemein vorkam, weiter nachzusetzen. »Du hast doch uns gefunden. Also musst du auch Nubina finden können.« Thross öffnete und schloss mehrmals hintereinander den Mund. »Ja. Ich weiß nicht. Es ist nicht so, dass … ich es bewusst steuern könnte.« Er lächelte unsicher. »Es überkommt mich einfach.« »Dann lass es dich eben überkommen«, brummte Grobian. »Du weißt schon, wie. So wie es die Vögel und die Drachen machen, wenn sie einen geeigneten Brutplatz finden wollen.« Thross kroch ein Stück zurück, setzte sich mitten auf die Stelle, auf der der Groll gerade bäuchlings gelegen hatte (und die jetzt so platt war, dass Daart bezweifelte, ob in diesem Jahr dort noch etwas wachsen würde) und zog eine angestrengte Miene. »Ich kann es ja versuchen«, flüsterte er schüchtern. Carnac seufzte. »Männer«, murmelte sie, womit sie offensichtlich nicht den Jungen meinte, sondern Grobian und Daart. Sie stand auf, ging zu Thross hinüber und ließ sich neben ihm auf dem Roden nieder. »Schon gut, 63
Thross«, sagte sie, während sie ihm die Hand auf die Schulter legte, »lass dich nicht unter Druck setzen.« Grobian warf Daart einen irritierten Blick zu. »Männer?«, murmelte er. »Wen meint sie damit? Ich seh hier keinen Mann. Schließlich ist ja hier kein Bergsee in der Nähe, in dem ich mich spiegeln könnte.« Er lachte grollend, und Daart winkte erschrocken ab. Es war zwar unwahrscheinlich, dass jemand unten im Tal das Lachen hörte, und wenn, dass er es für etwas anderes als ein fernes Gewittergrollen hielte, aber Daart fand, dass sie nicht unbedingt mit Gewalt auf sich aufmerksam machen mussten. Als er sich wieder zu Carnac und Thross umwandte und sah, dass Carnac mittlerweile ihren Arm fest um den Jungen gelegt hatte, wäre er fast zusammengezuckt. Es war lächerlich, Eifersucht gegenüber dem Jungen zu empfinden. Aber da war etwas tief in ihm, das mit einem bösen Grollen erwachte, etwas Düsteres und Finsteres, von dem er geglaubt hatte, es tief in einen Winkel seiner Seele verbannt zu haben, und eine Woge kalten Hasses durchströmte ihn. Er ballte die Faust so fest, dass es wehtat. Carnac schien zu merken, dass sie angestarrt wurde, und Daart wandte sich schnell ab, trat einen Schritt auf den Hang zu und versuchte zu unterdrücken, was immer dort aus seinem tiefsten Innern empordrängte. Du bist kein Mensch, flüsterte die Stimme in ihm, jene Stimme, die er immer und immer wieder hörte, wenn er verwirrt war oder in Bedrängnis geriet, und es wird Zeit, dass du dein Erbe annimmst. »Nein«, flüsterte er. 64
Der Wind biss scharf in seine Augen und trieb eine einzelne Träne hervor. Daart wischte sie mit dem Handrücken ab. Und als er sich wieder umwandte, mit einem Gesichtsausdruck, von dem er hoffte, dass er möglichst gleichgültig wirkte, hatte er einen Entschluss gefasst. Er hoffte nur, dass es der Richtige war. Ihr Aufbruch glich fast einer Flucht. Geführt von Grobian und Thross, der wieder auf den Schultern des Kolosses hockte, stürmten sie durch ziemlich dickes Unterholz, oder besser gesagt: durch die Schneise, die Grobian im wahrsten Sinn des Wortes im Vorbeigehen in den Wald schlug. Thross hatte sich tief hinter den wuchtigen Schädel des Grolls geduckt, um nicht ständig von Zweigen und Geäst getroffen zu werden, und doch schaffte er es irgendwie, den Riesen in die richtige Richtung zu lenken. Zumindest hoffte Daart das, denn sicher konnte er sich dessen nicht sein. Er selbst hatte mittlerweile vollständig die Orientierung verloren. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, immer wieder an dem kraftvoll voranstürmenden Koloss vorbeizuspähen, um die Art von Abkürzung zu begreifen, die Thross zurück nach Purgatory zu nehmen behauptet hatte. Vom Sonnenstand aus gesehen, schlugen sie eher einen Bogen, doch Thross hatte gesagt, dass mancher Bogen schneller zum Ziel führe als ein vermeintlich gerader Weg. Das war sicherlich irgendwie richtig – schließlich konnte man auf gerader Strecke direkt seinen Feinden in den Weg laufen –, aber auf der anderen Seite klang es eher danach, als ob Thross nicht so genau wüsste, was er da 65
eigentlich tat. In diesem Punkt befand er sich in bester Gesellschaft. Während er an Carnacs Seite hinter dem Koloss herlief, versuchte Daart dem Chaos hinter seiner Stirn Herr zu werden. Nubina ging ihm nicht aus dem Kopf, seit er sie kennen gelernt hatte – oder, besser gesagt, seit er ihr in die Hände gefallen war und sie ihn hatte foltern lassen, um Informationen aus ihm herauszupressen. Sie verströmte eine Aura der Macht, der sich niemand in ihrer Umgebung entziehen konnte, wohl nicht einmal Zar’Toran, der versuchte, mit der Göttin Schritt zu halten und doch ewig der Zweite blieb. Das Schlimmste aber war, dass Nubina nicht davor zurückschreckte, ganz Enwor in einen Strudel der Vernichtung zu ziehen, nur um ihrem Ziel der Unsterblichkeit näher zu kommen. Daart wollte sie aufhalten, die Grundfesten ihrer Macht erschüttern, ihrer Selbstgefälligkeit einen gehörigen Dämpfer versetzen oder, besser noch, sie töten und ihr das Herz aus der Brust reißen. Als er sich diese Szene vorstellte, sich über ihr knien sah, um ihr bei lebendigem Leib das Messer auf die Brust zu setzen und die Klinge tief in ihr Fleisch zu versenken, hätte er fast aufgestöhnt. Er wusste selbst nicht, warum, und schon gar nicht wusste er, was ihn zu diesen blutrünstigen Phantasien trieb, die ihn nun schon seit Tagen quälten. Es erfüllte ihn mit Abscheu vor sich selbst. Daart beschleunigte seine Schritte. Vor ihm krachte Grobian durch den nun bereits lichter gewordenen Wald, als müsse er überschüssige Kraft loswerden, und Thross flüsterte ihm ständig irgendetwas ins Ohr. Daart 66
hatte kaum Augen für die beiden. Alles in ihm war in Aufruhr. Er versuchte die Bilder zurückzudrängen, die ihn ohne Unterlass bestürmten. Das Messer tief in Nubina zu stoßen, einen kreisrunden Schnitt auszuführen, das Messer wegzuwerfen, mit beiden Händen in die blutige, aufgeregt pochende Masse zu greifen, ihr Herz mit aller Gewalt zu umschließen, die Muskeln anzuspannen, den Schweiß zu spüren, der ihm von der Stirn lief, die Götter anzurufen, auf dass sie sein Opfer annähmen … Er sprang über eine dicke Wurzel hinweg, packte im Lauf einen tief hängenden Ast, der ihm nicht wirklich im Weg war, sondern nur nahe, bog ihn durch, bis es splitterte und krachte, und lief weiter, den Ast wie eine Trophäe in der Hand schwenkend. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Schon früher hatten ihn düstere Phantasien gequält, aber niemals so gewalttätige und grausame. Es war eine Sache, Nubina den Tod zu wünschen – etwas, das er sicherlich mit einer Unzahl anderer Menschen teilte, die das Missvergnügen hatten, ihr in den Weg zu kommen –, und eine ganz andere, sich wieder und wieder und mit immer neuen und böseren Varianten vorzustellen, wie er ein grausames Blutopfer an ihr vollzog. Du weißt ganz genau, woran das liegt, meldete sich seine innere Stimme zu Wort. Er schleuderte den Ast weit von sich, so nah an Carnac vorbei, dass sie fast getroffen wurde, was sie mit einem irritierten Seitenblick bedachte. In der Verfassung, in der er war, wollte er Nubina nicht gegenübertreten. Er wusste nicht, was er tun würde, sollte es ihm und Carnac wider Erwarten gelingen, Nubina zu überwin67
den. Aber auf keinen Fall wollte er seine Phantasien Realität werden lassen. Er musste erst einmal mit sich selbst ins Reine kommen, bevor er Gefahr lief, sich in ein Blutbad unvorstellbaren Ausmaßes zu verstricken. Doch dazu musste er mit Carnac reden, allein, ohne diesen muskelbepackten Tollpatsch und den Jungen, der immer dann unvermittelt auftauchte, wenn man ihn überhaupt nicht gebrauchen konnte. Die Gelegenheit ergab sich, als Grobian auf eine Reihe lichter Bäume zusteuerte, langsamer wurde und schließlich ganz stehen blieb. Thross drehte sich auf seinem Rücken um, so weit es ging. »Wir sind jetzt schon ganz in der Nähe von Purgatory. Hier haben sie in den letzten Wochen Feuerholz geschlagen.« Er deutete auf den sanft abfallenden Hang vor sich, auf dem Baumstumpf neben Baumstumpf, Geäst und halb verwelkte Blätter davon kündeten, dass hier vor nicht allzu langer Zeit ein Wald gewuchert hatte. »Sie haben einen enormen Bedarf an Brennholz. Es wird nicht lange dauern, bis sie alle Wälder im Umkreis mehrerer Tagesritte gerodet haben.« »Und was machen sie dann?«, fragte Carnac. »Bauen sie dann weiter nördlich eine neue Stadt und wiederholen das ganze Spiel?« Thross zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber das glaube ich nicht. Der Älteste hat gesagt, dass die Entscheidung sehr schnell fallen wird.« Der Älteste. Ja, das passte. Daart hatte in den letzten Tagen nicht nur ständig an Nubina denken müssen, sondern auch an den weißhaarigen Alten, der ihn zum Glutsee geschickt hatte. Er war beeindruckt gewesen 68
von der Begegnung in den Tiefen des Schattengebirges, beeindruckt von der schneeweißen Gestalt, die sich trotz ihres offensichtlich hohen Alters mit erstaunlicher Eleganz zu bewegen verstand, und das sowohl in körperlicher wie auch in geistiger Hinsicht. Wenn es überhaupt jemanden gab, der ihm helfen konnte, das Chaos hinter seiner Stirn zu ordnen, dann sicherlich dieser Mann. Daart hakte den Daumen in den breiten Gürtel ein; die Silbermaske, die er zuvor dort eingehängt hatte, stieß klirrend gegen den Knauf seines Schwertes. »Wir sollten unsere Entscheidung noch einmal überdenken«, sagte er schroff. Carnac drehte sich überrascht zu ihm um. »Welche Entscheidung?« »Die, wieder einmal überhastet und schlecht vorbereitet gegen Nubina anzutreten.« Carnac blinzelte überrascht. Er ließ ihr keine Zeit, sich eine Erwiderung zurechtzulegen, mit der sie ihn überzeugen konnte, packte stattdessen ihr Handgelenk und zerrte sie ein paar Schritte mit sich, bevor Carnac sich sträubte und mit einem Ruck losmachte. »Was soll das?«, zischte sie. »Ich habe da etwas entdeckt.« Daart warf einen Blick in Grobians Richtung, ohne ihn und den Jungen vor dem Hintergrund des lichtdurchfluteten Waldes wirklich wahrzunehmen. »Wartet hier. Wir sind gleich wieder da.« »Wir?« Carnac schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein. Wenn du irgendetwas entdeckt hast …« Sie brach ab, als sie Daarts Blick begegnete. »Andererseits …« »Ja, genau.« Daart griff erneut nach ihrem Handge69
lenk, aber diesmal nur ganz flüchtig und sehr viel lockerer. »Und nun komm schon.« Er verschwendete keinen weiteren Blick an Grobian, obwohl er aus den Augenwinkeln heraus durchaus bemerkte, wie der Koloss den Kopf schräg legte, die Stirn in runzlige Falten legte und ihn herausfordernd anstarrte. Mit weit ausgreifenden Schritten eilte er den Hang hinunter, der von der Richtung wegführte, in der sie ursprünglich unterwegs gewesen waren. Angenehm milde, fast warme Luft hüllte ihn wie ein Mantel ein, als er die Mulde erreichte, die sich hier auftat. Das war ungewöhnlich. Meistens war es an tiefer gelegenen Waldstellen feuchter und kühler als in dem umgebenden Wald. Als ihn Carnac erreichte, entglitt ihm dieser Gedanke ebenso wie die Beobachtung des verbrannten Fleckens Erde, der von der Mitte der Senke in nördlicher Richtung in die Vegetation einschnitt. »Also«, sagte Carnac kurz angebunden, und ihre Augen funkelten kämpferisch. »Was gibt es?« »Ich muss mit dir reden«, gab Daart kaum freundlicher zurück. »Ja, stell dir vor, das habe ich mir schon gedacht. Also mach’s nicht so spannend.« Carnac sah auf, als hätte irgendetwas ihre Aufmerksamkeit erregt, wirkte für einen Moment irritiert und schüttelte dann ganz leicht den Kopf, als wollte sie einen Gedanken abhaken, der sich ihr aufgedrängt hatte. »Was hast du mir zu sagen?« Ja, dachte Daart, als ob das so einfach wäre. Im Prinzip wusste er, was er ihr mitteilen musste – aber nicht wie. Und schon gar keine Ahnung hatte er, wie sie es aufnehmen würde. 70
»Hör mal«, sagte Carnac, »das ist mir jetzt wirklich zu blöd. Ich habe keine Lust, hier noch länger herumzustehen.« Sie sah sich erneut um, und diesmal schien sie trotz der Wärme in der Senke ein kühles Frösteln zu überlaufen. »Wir sollten sehen, dass wir endlich weiterkommen. Schließlich wollen wir heute noch bis nach Purgatory.« »Das wir sowieso nicht erreichen werden, wenn uns Thross weiter kreuz und quer durch die Wälder führt«, sagte Daart. »War es das, was …« »Nein«, unterbrach Daart Carnac schroff. »Es geht um etwas anderes. Etwas … das wir vielleicht in ähnlicher Art schon die letzten Tage besprochen haben.« »Die letzten Tage«, sagte Carnac verächtlich, »würde ich am liebsten aus meinem Kopf streichen.« Ich auch, dachte Daart, und nicht nur die. Aber er verzichtete darauf, es laut auszusprechen. Es hätte nichts gebracht. »Wir müssen eine Entscheidung treffen«, sagte er laut. Carnac fuhr zu ihm herum. »Ach ja«, fauchte sie. »Komisch, dass das in meinen Augen so klingt, als hättest du bereits eine Entscheidung getroffen. Und komisch auch, dass ich die Entscheidung bereits kenne.« »Umso besser«, sagte Daart steif. »Dann wirst du ja auch wissen, dass ich Recht habe.« »Womit? Den Kampf gegen Nubina auszusetzen, bis du wieder der geworden bist, der du mal warst?« Carnac schüttelte den Kopf. »Niemals. Du kannst nicht mehr zurück, Daart. Es geht nur noch vorwärts. Immer weiter vorwärts, bis wir entweder in unserem eigenen 71
Blut ertrinken oder Nubina, Zar’Toran und all die anderen besiegt haben, die sich zusammengeschlossen haben, um unsere Brüder und Schwestern zu töten.« »Wessen Brüder und Schwestern?« Daart lachte humorlos auf. »Du liegst vollkommen falsch, Carnac, wenn du mir mit diesem Einwand kommst. Ist mein Bruder eine Kreatur von den Sternen, bösartig und verschlagen und bereit, alles zu tun, um die Menschheit auszulöschen? Und meine Schwester eine Intrigantin, die sich in die Herzen der Menschen geschlichen hat, nur um sie allesamt zu verderben?« Carnac starrte ihn eine ganze Zeit lang schweigend an, dann wandte sie sich ab und machte ein paar Schritte auf den verbrannten Flecken Erde zu. »Ich weiß in der Tat nicht, wer deine Geschwister sind und ob du überhaupt welche hast. Aber du machst einen Fehler, wenn du dein außergewöhnliches Erbe hochspielst, nur weil du dir plötzlich seiner bewusst geworden bist. Der Teil von dir, der nicht vollständig menschlich ist, war schon immer in dir, und er hat auch nicht tatenlos geschlummert, um mit aller Gewalt plötzlich zum Vorschein zu kommen.« Sie ließ sich in die Hocke nieder und nahm eine Hand voll der verbrannten Erde auf, um sie dann zwischen den Fingern hindurchrieseln zu lassen. »Du hast diesen Teil nicht nur immer schon in dir getragen, du hast ihn auch gelebt. Der einzige Unterschied ist, dass du jetzt von ihm weißt – und ihn damit maßlos überbewertest.« »Das sehe ich etwas anders«, widersprach Daart. Es hätte viel gegeben, was er noch hätte hinzufügen können – oder auch müssen, denn schließlich war er es, der 72
mit ihr sprechen wollte und nicht umgekehrt –, aber irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen. »Dann siehst du es falsch«, sagte Carnac betont. »Du quälst dich, Daart«, fuhr sie mit einer leisen Spur von Ungeduld fort, als er nicht antwortete. »Seit Tagen quälst du dich mit düsteren Gedanken, statt nach vorne zu schauen. Findest du es sinnvoll, das Messer, das dir Nubina in die Brust gestoßen hat, auch noch selbst herumzudrehen?« »Es war nicht Nubina, die mir das Messer in die Brust gestoßen hat«, sagte Daart. »Im Grunde genommen hat sie damit überhaupt nichts zu tun. Schließlich war nicht sie es, die auf die perfide Idee kam, Menschen und Sternengeborene zu kreuzen. Es waren die Alten.« Carnacs Lippen zuckten. »Das ist zwar richtig«, sagte sie gepresst. »Aber es waren Zar’Toran und Nubina, die dich gerade wegen deiner Abstammung zu ihrem Werkzeug machen wollten und deswegen von Anfang an dein Leben in die falsche Richtung gelenkt haben. Und alles, was du jetzt tun musst, ist, dich von ihrem Einfluss zu befreien und dein eigenes Leben zu leben …« Daart hob mit einer so abrupten Bewegung die Hand, dass Carnac überrascht abbrach und in ihrer halb hockenden Stellung geradezu erstarrte, bevor sie sich langsam aufrichtete und sich die Erde von den Händen rieb. »Du glaubst also tatsächlich, ich könnte mich von meinem Erbe befreien, wenn ich Nubina und Zar’Toran töte?« Daart schüttelte den Kopf. »Genau das glaube ich nicht. Das, was mich zu einem Ungeheuer macht, ist in mir. Ich könnte die ganze Welt auslöschen, und es wäre weiterhin in mir. Selbst wenn ich auf den tiefsten Grund 73
des Meeres hinabtauchte, würde es mich begleiten. Nur mein eigener Tod könnte mich davon befreien.« »Ich hoffe nicht, dass es die Richtung ist, in die du denkst.« »Mich selbst zu töten?« Daart lauschte dem Klang seiner Stimme nach und schüttelte dann den Kopf. »Keinesfalls. Es ist nicht einmal im Entferntesten die Richtung, in die ich denke. Aber ich kann auch nicht so tun, als sei nichts geschehen. Ich muss herausbekommen, wer ich eigentlich bin. Und wie ich damit umgehen kann, dass ich nur zur Hälfte Mensch bin – höchstens.« »Du solltest damit aufhören, Daart«, sagte Carnac leise. »Sich selbst zu suchen mag gut sein, wenn die Umstände entsprechend sind. Aber das sind sie nun einmal nicht. Wir brauchen deinen Schwertarm und deine Entschlossenheit im Kampf gegen eine Feindin, die uns erbarmungslos töten wird, wenn wir ihr in die Hände fallen.« »Das mag sein. Aber welche Quelle in mir soll meine Entschlossenheit speisen? Die menschliche oder die nicht menschliche?« »Beide, natürlich«, antwortete Carnac mit Nachdruck. »Wenn es denn wirklich zwei verschiedene Quellen sind und nicht nur eine, aus der du deine Kraft ziehst.« Daart sah sie zweifelnd an und auch ein bisschen unwillig, denn er hatte nicht vor, dieses Thema zu vertiefen; selbst mit Carnac nicht. »Ich sehe ein, dass unser Plan vielleicht etwas überhastet war«, fuhr sie in verändertem, bewusst sachlichem Ton fort. »Aber zum Glück haben wir ja Thross getroffen. Er wird uns dahin führen, wo wir tatsächlich etwas ausrichten können. 74
Und dann werden wir …« Sie brach ab, runzelte die Stirn und blickte nach oben, dorthin, wo sich das Sonnenlicht im Blätterdach brach. Daart setzte zu einer Frage an, doch dann hörte auch er es. Es war ein fernes Rauschen, so als käme ein mächtiger Wind auf, Vorbote eines Unwetters, das jeden Moment über sie hereinbrechen konnte. Aber da war auch noch etwas anderes. Ein rhythmisches Auf und Ab, untrennbar mit dem Rauschen verwoben und doch von ganz anderer, bedrohlicher Qualität. Daarts Hand wanderte zum Schwertgriff, eine ganz und gar unsinnige Bewegung, wenn es tatsächlich ein Unwetter war, das sich dort ankündigte. Und trotzdem. Irgendetwas an dem Geräusch kam ihm mehr als nur vage bekannt vor, obwohl er beim besten Willen nicht hätte sagen können, woran es ihn erinnerte. Carnac hatte die Kiefer fest aufeinander gepresst, und als sie sich ihm wieder zuwandte, war es Daart, als ob er in ihren Augen ein Flackern sähe, wie er es noch nie bei ihr bemerkt hatte. »Das kann doch nicht sein«, murmelte sie. »Was kann nicht sein?« Daart schrie fast, was auch nötig war, denn das Rauschen kam beängstigend schnell näher. »Wir müssen hier weg.« Carnac warf einen Blick auf die Schneise, die in den Waldboden gebrannt war. »Schnell. Dort entlang!« Sie hatte die Worte kaum hervorgestoßen, als sie sich auch schon vollends umdrehte und loslief. Daart starrte ihr einen Herzschlag lang unschlüssig nach – schließlich hatte sie eine Richtung gewählt, die nicht nur weg von 75
dem bedrohlichen Geräusch führte, sondern auch weg von Grobian und Thross –, bevor er sich ebenfalls in Bewegung setzte. Über den Boden, über den sie jetzt liefen, musste erst kürzlich eine Feuerwalze hinweggegangen sein, denn nur an ganz wenigen Stellen war das erste zarte Grün eines spärlichen Bewuchses zu erkennen, das sich durch halbwegs lockeren Untergrund bohrte. Aber auch das änderte sich rasch. Der Boden wurde zunehmend fester und ging dann schon sehr bald in einen viel härteren Belag über. Daart musste aufpassen, um nicht auf dem glasähnlichen Untergrund auszurutschen, der hart und glatt wie Eis war, dabei aber in mehrfach gesprungenen, teilweise ineinander und übereinander geschobenen Schichten verzahnt war. Er hatte keine Zeit, dem Phänomen genauere Beachtung zu schenken. Das Geräusch hinter ihm schwoll weiter und weiter an, und es schien direkt auf sie zuzuhalten. Daart wusste, wie tückisch das Wetter im Schattengebirge sein konnte, mit reißenden Fallwinden und plötzlich auftretenden Orkanböen, und wie verrückt es sich in letzter Zeit gebärdete, nachdem Nubina die Wettergötter mit ihrem anmaßenden Griff nach der Unsterblichkeit herausgefordert hatte. Es wäre nicht das erste Mal in den letzten Tagen, dass sie sich in aller Hast vor einer dunklen Gewitterfront oder einem reißenden Sturm in Sicherheit bringen müssten. Aber das hier war anders. Wenn es eine Naturkatastrophe war, die sich unvermittelt ankündigte, dann war es die merkwürdigste, die er je erlebt hatte. Einen verrückten Moment lang erwog er allen Ernstes die Möglichkeit, dass es Nubina war, die 76
Donner, Blitz und Hagel als Waffe gegen sie einsetzen wollte. Dann rutschte Carnac vor ihm auf einer besonders glatten und tückischen Scholle aus, und er war mit einem Satz bei ihr, um sie aufzufangen, falls es notwendig sein sollte. Natürlich war es das nicht. Carnac fing sich viel schneller, als er zupacken konnte, was vielleicht auch ganz gut war. Der Blick, den sie ihm über die Schulter zuwarf, war alles andere als freundlich. »Schneller«, keuchte sie. »Er ist gleich hier. Wir müssen aus der Senke raus!« Er – der Sturm? Bevor Daart eine entsprechende Frage stellen konnte, hetzte Carnac schon weiter. Daart wollte es ihr gleichtun, aber dann sah er, wie sich etwas grau und dunkel vom Horizont heraus auf sie zuschob. Er wollte sich umdrehen, um dem mit zornigem Blick entgegenzusehen, was immer da auf sie zujagte. Weiter, du Narr, donnerte die innere Stimme, oder willst du in einer Feuerlohe verglühen? Der dräuende Schatten über dem Rand der Senke verdichtete sich, und Daart zögerte keinen Augenblick länger. Mit langen Sätzen jagte er Carnac hinterher, die mittlerweile abgebogen war und sich nun zwischen verkrüppelt wirkenden, dornigen Büschen hindurchzwängte. Als Daart die Stelle erreichte, an der Carnac in das pieksende Grün eingetaucht war, hörte er hinter sich ein Kreischen, hell, hart, laut und so unmenschlich, dass es ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Mit der rechten Hand packte er einen dornenbewehrten Zweig und drückte ihn zur Seite; dann zwängte er sich auch schon durch die entstandene Lücke, ohne auf die bluti77
gen Kratzer zu achten, die ihm die Dornen in Hände und Gesicht rissen. Er hatte es plötzlich mehr als eilig. »Hier«, hörte er irgendwo vor sich, tief in dem Gestrüpp und überraschend weit weg. »Schnell! Er ist gleich da.« Es war kein Sturm, keine Böe, kein Gewitter, wovor ihn Carnac warnte, und auch keine andere Art von Naturkatastrophe; es war etwas Lebendiges, das jetzt auf den verbrannten Teil der Senke zuschoss, etwas Riesiges, Fürchterliches, und Daart war sich plötzlich sicher, dass er sterben würde, wenn ihn die Kreatur entdeckte. Rücksichtslos drängte er weiter voran. Dorniges Gestrüpp schnellte auf ihn zu, kaum dass er es gepackt und wieder losgelassen hatte, um weiter zu stürmen. Er spürte keinen Schmerz, so sehr ihn auch die Zweige peitschten und Dornen tiefe Schrammen in seine Haut rissen, und es war ihm erst recht gleichgültig, dass der strapazierfähige schwarze Stoff der Kleidung, die er dem Silberkrieger abgenommen hatte, an etlichen Stellen einriss. In ihm war kein bewusster Gedanke mehr, ihn trieb nur noch der Instinkt einer gejagten Kreatur voran, die wusste, das sie nicht das Geringste gegen ihren Verfolger auszurichten vermochte. Das Kreischen wiederholte sich, und es war lauter und näher, und dann folgten harte, abgehackte Laute, die widernatürliche Version eines schnatternden Vogels, und vor Daarts innerem Auge entstand das Bild einer riesigen geflügelten Bestie, mit ledrigen Schwingen, einem gierig aufgerissenen Maul und kalt glitzernden, wachsamen Augen, die über die Senke auf der Suche nach ihm und Carnac hinwegschoss. 78
»Verdammt, duck dich endlich!« Daarts Kopf fuhr herum, und er begriff, dass er stehen geblieben war, um zurückzublicken, statt weiterzulaufen oder es Carnac gleichzutun, die einige Schritte von ihm entfernt in die Hocke gegangen war und sich so klein wie möglich machte. »Was …«, begann er. »Später«, zischte Carnac. Daart nickte hastig, und dann endlich ging auch er in die Hocke, drückte den letzten störenden Zweig beiseite. »Was ist da hinter uns her?« »Ich … ich weiß nicht.« Carnac machte eine rasche Handbewegung, als Daart aufbegehren wollte. »Jedenfalls nicht genau. Es gehen Geschichten um.« »Geschichten von geflügelten Bestien?«, fragte Daart ungeduldig. »Von Drachen? Oder von riesigen Raubvögeln, die über harmlose Wanderer herfallen?« Carnac schüttelte schnell und entschlossen den Kopf. »Nein. Jedenfalls nicht so, wie du meinst.« Daart schob ein paar weitere Zweige beiseite, um Carnac besser sehen zu können. Ihr Blick flackerte, und ihre Hände zitterten leicht, aber Daart wusste, dass dieser Anblick täuschte. Carnac mochte bis aufs Äußerste erregt sein, aber sie war nicht vor Furcht gelähmt, sondern zur erbitterten Gegenwehr entschlossen, was immer sie angreifen sollte. Allerdings bezweifelte er, dass sie sich irgendwelche Erfolgsaussichten ausrechnete, so wie sie sich in den zweifelhaften Schutz des Gebüschs drückte. »Das Blutmeer«, begann sie. »Du weißt doch, was das Blutmeer ist?« Daart zuckte mit den Achseln. Er hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. 79
»Es gibt drei Cor-Seen«, fuhr Carnac hastig fort. »Der Glutsee ist der am südlichsten gelegene See. Nordöstlich von ihm liegt das Blutmeer. Es trennt die riesigen Wälder des Nordens vom Schattengebirge. Es ist eine Art Niemandsland. Oder«, sie warf einen unruhigen Blick nach oben, in die Richtung, aus der das Geräusch der heranjagenden Kreatur weiter anschwoll, »besser gesagt: Es wird von Geschöpfen jenseits aller Vorstellungskraft bewohnt – und deshalb von Menschen wie Tieren gemieden.« Das Geräusch kam beständig näher, verstärkte sich. Es klang jetzt so, als teilte zumindest ein riesiges Paar lederner Schwingen die Luft, aber da war noch etwas anderes, das Knattern, das Daart schon vorhin bemerkt hatte und das an- und abschwoll, nicht vollkommen gleichmäßig, aber doch einem nachvollziehbaren Rhythmus folgend. Daarts Phantasie überschlug sich. Er war auf Enwor schon den merkwürdigsten Kreaturen begegnet, und die allerwenigsten dieser Begegnungen waren erfreulich verlaufen. Die Alten und die Sternengeborenen hatten, eng umschlungen im Todeskampf, die Natur selbst herausgefordert, indem sie unvorstellbare Wesen gezüchtet hatten, manche so unglaublich fremd, dass sie bei jedem, der ihnen begegnete, nur Abscheu hervorrufen konnten, andere in scheinbar vertrauter Hülle und doch mit Eigenschaften ausgestattet, die weder begreifbar noch nachvollziehbar waren. Vielleicht gehörte Daart ja selbst mit zu diesen Geschöpfen, aber mit Sicherheit hatte er außer dem Geheimnis einer ähnlichen Abstammungsgeschichte nichts mit dem gemein, was da hinter ihnen herjagte. 80
Carnac verlagerte in ihrer Hockstellung das Gewicht und lehnte sich so weit wie möglich nach vorne, bis sie ihre Hand vorstrecken und ihn sanft mit den Fingerspitzen an der Hand berühren konnte. »Es darf uns nicht entdecken.« »Was darf uns nicht entdecken?« »Das, was auch immer aus dem Blutmeer emporgestiegen ist, um nach uns zu suchen«, antwortete Carnac so leise, dass er sie kaum verstand. Und dann veränderte sich das Geräusch. Erst brach es ab, und Daart glaubte schon, das riesige, durch die Luft gleitende Etwas hätte den Rand der Senke erreicht und bereite sich nun darauf vor, wieder emporzusteigen, um die Suche irgendwo anders fortzusetzen. Aber sein verhaltener Optimismus war unangebracht. Noch während er den Kopf drehte, um in die Richtung zu schauen, in der er das rhythmische Geräusch zuletzt gehört hatte, setzte es wieder ein, schneller und stoßhafter diesmal. Es erinnerte Daart auf unangenehme Art an das schnelle Flattern von Vögeln, die irgendwo niedergehen wollten und dafür mehr Kraft und Geschick einsetzten als für den vorangegangenen Flug. Carnac riss ihre Hand förmlich zurück, und ihre Finger schmiegten sich schon den Hauch eines Augenblicks später um den blank polierten Griff ihres Schwertes. Daart musste gar nicht den Kopf wenden, um zu wissen, was er in ihrem Gesicht lesen würde. Wohl kaum etwas anderes, als sein eigenes Gesicht in diesem Moment ausdrückte: eine Mischung aus Entsetzen und Entschlossenheit. »Still jetzt«, zischte Carnac. »Kein Wort mehr.« 81
Das kraftvolle Flattern wurde schneller, und durch das Gebüsch peitschte der Wind wie der Vorbote des Sturms, den sie zu erwarten hätten, wenn das riesige geflügelte Geschöpf sie tatsächlich entdeckte und zum Angriff ansetzte. Daart zog sein Schwert. Es war nicht die gewohnte Waffe aus speziell gehärtetem Sternenstahl, die ihm schon mehrfach das Leben gerettet hatte, doch es war ein gutes Schwert, hervorragend ausbalanciert, scharf und von jener seltenen Beschaffenheit, die es selbst bei einem kraftvollen Hieb auf einen Stein kaum splittern ließe, obwohl es andererseits durch Fleisch wie durch Wasser schneiden konnte. Aber es war eben keines der Tschekals, wie die Satai sie trugen und denen sie in nicht geringem Maße ihre sprichwörtlich gewordene Kampfkraft verdankten. Daarts flüchtiger Gedanke löste sich in einem stummen Entsetzensschrei auf, als ein harter Ruck durch den Boden ging, so als hätte sich nur wenige Schritte von ihnen entfernt eine Erdspalte aufgetan, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Fauchen und einer Feuerlohe, die irgendwo vor ihnen hoch brach und in das Gebüsch fuhr, hinter dem sie Deckung gesucht hatten. Ein wabernder Hitzeschleier schoss über das Gestrüpp hinweg. Daart unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und wegzulaufen, und duckte sich stattdessen tiefer in das schützende Grün. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Carnac seinem Beispiel folgte und zugleich auch noch die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug. Daart drehte sich in der Hocke zu ihr um und zog das Kinn auf die Brust. Keinen Augenblick zu früh. Es fauchte erneut, näher 82
und noch lauter diesmal, mit einer fast infernalischen Wut, so als schreie die Erde selbst auf, und obwohl er sich durchaus bewusst war, dass das Fauchen seinen Ursprung irgendwo hinter ihnen hatte, in der verbrannten Schneise, in der ein Ungetüm unvorstellbaren Ausmaßes vor wenigen Augenblicken niedergegangen war, schien es ihm, als komme der Laut von überallher, beinahe so, als stecke er mit dem Kopf in einer Glocke, die sturmgeläutet wurde. Die Umgebung zerriss in einem zackenden, blutig roten Licht, und obwohl Daart sofort die Augen schloss, schien sich das Licht auf seinen Netzhäuten festzubrennen und ihn von innen zu überfluten. Zweige knackten vor Hitze, Blätter zerstoben und verkohlten, trockene Pflanzenfasern wurden in Brand gesetzt, und Daart glaubte alles mit geradezu übernatürlicher Deutlichkeit zu hören, kaum dass das Fauchen verklungen war. Er öffnete wieder die Augen. Das Buschwerk hinter ihnen und um sie herum stand in hellen Flammen, und auch Carnacs Kleidung drohte Feuer zu fangen. Wie bösartige kleine Kobolde fraßen sich die Funken in den schwarzen Stoff. Daart beugte sich vor, schlug auf Carnacs Rücken, dorthin, wo sich neben dem mittlerweile getrockneten Blutfleck (den er ganz vergessen hatte, obwohl er Carnac unbedingt nach dessen Ursache hatte fragen wollen) zwei, drei besonders hartnäckige Funken erst winzige und dann rasch größer werdende Löcher in den Stoff brannten. Carnac, die gerade damit beschäftigt war, ihre Arme abzuklopfen, um die verheerende Kraft des Funkenflugs im Keim zu ersticken, wandte sich um. Ihre Augen wa83
ren schreckgeweitet. Daart konnte sich nicht vorstellen, dass es an dem Feuer lag, dessen Brandherde hier und da beängstigend, aber noch nicht lebensbedrohlich emporzüngelten. Es war nicht der erste Brand, den sie erlebten, seit sie mit den Feuerkriegern zusammengestoßen waren, über die Nubina und Zar’Toran geboten, nicht das erste Mal, dass ihnen kochend heiße Luft den Atem zu nehmen drohte und ein wilder Funkenregen auf sie niederprasselte, während bereits die ersten größeren Flammen nach ihnen züngelten. All das war Grund genug, um schnellstens das Weite zu suchen, aber keinesfalls, um in Panik zu geraten. Doch genau das war es, was in Carnacs Augen aufflackerte. Und Daart ahnte den Grund, noch bevor er gleich ihr den Kopf wandte. Obwohl er auf den Anblick vorbereitet war, stieß er zischend die Luft aus, als er sich dem Kopf des Ungeheuers gegenübersah, das die Feuerlohen hervorgestoßen hatte. Der von grünlichen Schuppen bedeckte Schädel hatte entfernte Ähnlichkeit mit dem Haupt eines der wenigen Drachen, die Daart bislang zu Gesicht bekommen hatte. Er war nicht so groß, wie Daart vermutet hatte, er war überhaupt nicht groß in dem Sinne, wie Daart dieses Wort bislang gebraucht hatte: Er war gewaltig. Das Maul mit den zwei Reihen nadelspitzer Zähne war so ausufernd, dass Daart wahrscheinlich vollends hineingepasst hätte und höchstens noch seine hilflos strampelnden Füße herausgeschaut hätten, während sein Kopf durch den Schlund des Ungeheuers langsam hinab in die Speiseröhre gerutscht wäre. Auf der flachen Nase 84
saß ein Widerhaken, dahinter funkelten tückische Augen von einer durch und durch boshaften und brutalen Intelligenz, und was dahinter wuselte und zuckte, war so unglaublich, dass Daart zwei Mal hinsehen musste, bevor er auch nur halbwegs sicher war, seinen Augen trauen zu können: Es war ein Gewirr fest mit dem lang gestreckten Hals des Ungeheuers verbundener oder aus ihm herauswachsender Schlangen, manche winzig, andere so lang wie sein Arm, und die größten, sich aus dem Nacken nach oben ringelnden Schlangen hätten ihm ausgestreckt wahrscheinlich von den Fußsohlen bis zu den Haarspitzen gereicht. Der Anblick ließ ihn vergessen, in welcher Gefahr er und Carnac schwebten. Hätte der Drache in diesem Augenblick einen dritten Feuerstoß ausgestoßen, wäre es um sie geschehen gewesen. Doch entweder hatte er seinen feurigen Atem für den Moment verschwendet, oder es ging ihm um etwas ganz anderes, als sie auf der Stelle zu töten. An diesem Punkt angekommen, begriff Daart, was er gerade im Begriff war zu tun: in der Haltung eines vor Furcht gelähmten Opfers auf die Entscheidung des Jägers zu warten, was dieser mit ihm zu tun gedachte. Ohne übertriebene Hast machte er einen Schritt rückwärts, dann noch einen und noch einen. Hinter sich hörte er, wie Carnac es ihm gleichtat. Die Bestie legte den Kopf schief und blickte aus ihren schräg stehenden Reptilienaugen auf sie herab. In die Schlangen um ihren Hals kam Bewegung, sie wanden und kräuselten sich, und manch einer der Köpfe zuckte züngelnd zu ihnen herum, je weiter sie sich entfernten; 85
eine Schlangenbrut, die darauf aufmerksam wurde, dass sich ihre Opfer entfernten, bevor sie die Giftzähne in sie schlagen konnte. »Ganz langsam«, hörte Daart hinter sich Carnac flüstern, fast tonlos und doch mit einem leichten Zittern in der Stimme, das ihm zeigte, wie angespannt sie war. »Provoziere ihn nicht.« Das hatte Daart mit Sicherheit nicht vor. Aber sie konnten auch nicht länger hier verharren. Die Flammen, die scheinbar aus dem Boden züngelten, machten jeden Schritt blind nach hinten zum Glückspiel. Es dauerte nicht lange, bis er in ein Flammennest trat; züngelnd leckten rötlich gelbe Flammen empor, und er beeilte sich, den Fuß hoch zu reißen, warf einen Blick über die Schulter zurück, um eine freie Stelle in dem sich unruhig ausbreitenden Flammenteppich zu finden, während er mit der rechten Hand auf die Stelle schlug, an der sein Hosenbein Feuer gefangen hatte … Der Drache fauchte. Es war ein markerschütternder Laut, der jedes andere Geräusch übertönte und mit seinem Nachhall vollständig auszulöschen schien, so als halte die Natur im Angesicht dieser unglaublichen Kreatur den Atem an. Daart wandte den Kopf in Richtung des Drachen; er erwartete, aus seinem Maul eine Flammenwand auf sich zuschießen zu sehen, glaubte schon den heißen Atem zu spüren, der ihn in wenigen Augenblicken lichterloh in Brand setzen würde … Die Bestie senkte den Kopf, und ihr geöffnetes Maul schoss auf Daart zu. Er sah rasiermesserscharfe Zähne, das ekelhafte Gewirr sich windender Schlangenköpfe, das triumphierende Funkeln in den Augen der Kreatur. 86
Er ahnte, nein, er wusste, dass das Ende nah war und dass die Bestie nur mit ihnen gespielt hatte wie eine Katze mit der Maus; jetzt aber wurde sie ihres Spiels überdrüssig, und er würde sterben, zusammen mit Carnac. Das Schwert, das er nach wie vor in der Hand hielt, zuckte in einer vollkommen sinnlosen Geste nach oben. Der Kopf der Bestie sauste hoch, schnell und sich doch windend, und das Gewusel an ihrem Hals überschlug sich fast. Wieder fauchte der Drache, und obwohl der Laut diesmal leiser und Daart auf ihn vorbereitet war, spürte er ein wachsendes Entsetzen in sich. Das Fauchen hatte wohlig geklungen, wie in gespannter Vorfreude ausgestoßen, und dazu passte auch der erwartungsvolle Ausdruck der Augen … Daart war nicht bereit, so einfach aufzugeben. Er musste nur nah genug heran an den Drachen, er musste sehen, dass er in Reichweite seines Kopfes kam, um dann nach den Augen zu hacken, die wohl einzige nicht durch den Schuppenpanzer geschützte Stelle. Der Drache schien zu ahnen, was er vorhatte, denn jetzt zuckte sein Kopf hoch, bis er drei, vier Mannslängen über ihm verharrte, unerreichbar für sein Schwert, aber nah genug, um ihn und Carnac mit einem einzigen Feuerstoß auszulöschen. Das triumphierende Funkeln in den Augen der Kreatur verstärkte sich. Daart erstarrte. Sein Atem beschleunigte sich nicht mehr, er wurde langsamer, und aus seiner Aufmerksamkeit wurde alles ausgeblendet, was nicht wichtig war. Er wusste, dass der Busch um ihn herum brannte und er inmitten der Flammen stand, er ahnte, dass sich mittlerweile Dutzende von Funken gierig in seine Kleider verbissen hatten 87
und sich ihren Weg bis auf seine Haut bahnten, aber all das kümmerte ihn nicht. Sein Blick versank in den Augen des Drachen, wanderte tiefer, versuchte zu ergründen, was in der geschuppten Bestie vor sich ging, wo ihre Schwachpunkte waren. Er hätte später nicht mehr sagen können, wie lange er so dagestanden hatte. Und was dabei wirklich in ihm vorgegangen war. Außer, dass ihn etwas streifte, etwas fast Vertrautes, so als wäre der Drache trotz seines bedrohlichen Äußeren gar nicht so fremd, wie er zuerst geglaubt hatte. Er hatte nichts mit all den verrückten Lebensformen gemein, denen Daart mittlerweile auf Enwor begegnet war, er war vollkommen anders, und doch war da irgendetwas … etwas, das an Dingen rührte, die tief in Daart vergraben waren. Es sprengte die Kategorien von Gut und Böse, es war nicht einmal wirklich bedrohlich, nicht für ihn, nicht wenn er tief in sich hineinlauschte – und doch würde es ihn töten. Der Drache und er erkannten im selben Moment die Folgen. Der Hals des Drachen zuckte vor, und die im flirrenden Licht fast kupferfarben glänzenden Schlangen an seinem Hals zischelten und schienen gleich ihm vorzuschnellen. Daart aber ging in die Knie und packte sein Schwert fest, bereit für den Sprung, mit dem er sich so weit wie möglich nach oben katapultieren würde …
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4 Es ging alles so schnell und ganz anders und so vollkommen unerwartet, dass Daart keine Zeit mehr blieb, sich darauf einzurichten. Hinter dem Drachen schoss etwas heran, winzig im Vergleich zu der riesigen Kreatur und doch voll ungebremster Kraft. Grobian. Daart hätte fast aufgeschrien, als er erkannte, dass Thross nach wie vor auf seinen Schultern hockte. Was hatte der durchgeknallte Groll vor? Er glaubte doch wohl nicht allen Ernstes daran, dass er es mit dem Drachen aufnehmen konnte? Aber genau das schien der Fall zu sein. Grobian sauste mit einer geradezu unglaublichen Geschwindigkeit heran. Der Kopf des Drachen zuckte herum, blitzschnell, aber sein riesiger, schwer gepanzerter Körper folgte ihm weitaus langsamer, fast träge. Grobian nutzte die Gelegenheit. Seine Füße schienen den Boden kaum zu berühren, so schnell wirbelten sie ihn voran. Thross stieß einen hellen, schrillen Schrei aus, und zu seiner Verblüffung erkannte Daart, dass es kein Angst-, sondern vielmehr ein Kampfschrei war. Der Auftakt zu einem Kampf, bei dem Daart nicht tatenlos zusehen wollte. Doch bevor er mit gezogenem Schwert losstürmen konnte, war Carnac bei ihm, packte ihn am Arm, zerrte ihn zu sich herum. »Wir müssen weg!«, brüllte sie ihm ins Gesicht. »Schnell!« »Aber Thross und …« 89
»Kommen schon allein zurecht.« Carnac war geradezu außer sich vor Ungeduld. »Aber nicht, wenn du hier noch länger rumstehst.« Daart konnte ihren Worten keinen Sinn entnehmen, aber er sah das aufrichtige Entsetzen in Carnacs Augen, gepaart mit wilder Entschlossenheit. Sie war gewiss niemand, der kniff, wenn ein Kampf drohte. Es musste einen anderen Grund für ihren ungewöhnlichen Appell geben. »Daart, verdammt nochmal!« Carnac zerrte mit aller Kraft an seinem qualmenden Ärmel. »Wir müssen weg, oder es war alles umsonst.« Es war keine Zeit, eine Frage zu stellen. Er musste eine Entscheidung treffen. Sein Kopf ruckte wieder herum, zum Schwanzende des Drachen, das Grobian und Thross gerade erreicht hatten. Wäre der Drache so gebaut gewesen wie seine Brüder und Schwestern, denen zu begegnen Daart das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte, dann wäre der Kampf wohl schon entschieden gewesen, noch bevor er überhaupt richtig begonnen hatte. Aber das war nicht der Fall. Statt mit einem gefährlich peitschenden Schwanz den heranstürmenden Groll und den Jungen auf seinen Schultern hoch in die Luft zu schleudern, sodass sie sich mehrfach überschlugen, um dann hart auf dem Boden aufzuschlagen, verließ sich der Drache auf seinen langen biegsamen Hals, der mit erschreckender Geschwindigkeit herumzuckte. Gleich darauf erkannte Daart auch, warum. Sein Hinterteil lief in einer quastenförmigen Flosse aus, die eher zu einem riesigen Fisch gepasst hätte als zu einem Drachen. Wie kann sich dieses Ungetüm damit überhaupt in 90
die Lüfte erheben?, schoss es Daart fast panisch durch den Kopf. Es war keine Frage, die nach einer augenblicklichen Beantwortung verlangte. Grobian sprang hoch, hinauf in das obere Ende der überdimensionierten Flosse, und dann zerrte Carnac so heftig an Daarts Schulter, dass er den Drachen aus dem Blickfeld verlor. »Los jetzt!«, brüllte sie ihm ins Ohr. »Er kann ihn nicht lange ablenken.« Es war das vielleicht verrückteste Ablenkungsmanöver, das Enwor je erlebt hatte. Als Daart einen letzten Blick auf den Drachen und den Groll erhaschte, erkannte er zu seiner Verblüffung, dass Grobian nun wieder an der Flosse herabglitt, geschickt dem zuschnappenden Maul des Drachen ausweichend, während Thross sich mit einer Hand in dem einzigen verbliebenen Haarbüschel auf dem Kopf des Grolls festklammerte und mit der anderen Hand, in der eine Waffe blitzte, nach den kupferfarben Schlangenköpfen hackte, die ihm gefährlich nahe zu kommen drohten. Wäre es nicht ausgerechnet Carnac gewesen, die ihn zur Flucht aufgefordert hätte, er hätte alles andere getan und wäre vorwärts gestürmt. Einem auch noch so gefährlichen Angreifer auszuweichen – vor ihm wegzulaufen – lag ihm überhaupt nicht, schon gar nicht, wenn andere in Gefahr waren, denen er sich verbunden fühlte. Dennoch eilte er Carnac hinterher, als sie auf den nur spärlich bewachsenen Hang zustürmte, der sich vor ihnen auftat, mehrfach Brandnester überspringend und sich mit einem raschen Blick über die Schulter überzeugend, dass er ihr auch folgte. 91
Trotz seiner gewaltigen Körperkräfte und seiner Tollkühnheit konnte Grobian nicht wirklich etwas gegen den Drachen ausrichten. Immerhin schienen er und Thross sehr genau zu wissen, was sie taten, und Daart ahnte, dass er sie höchstens zusätzlich in Gefahr brächte, wenn er blindlings mit dem Schwert auf den Drachen losginge, mit kaum mehr Erfolgsaussichten als ein Fünfjähriger, der mit einem Holzschwert bewaffnet gegen einen Berglöwen antrat. Trotzdem verlangsamte er seine Schritte, als Carnac das brennende Buschwerk hinter sich ließ und sich ohne zu zögern daran machte, den mit unzähligen kleinen Steinen und scharfkantigen Kieseln bedeckten Hang hochzuklettern. Er warf einen Blick über die Schulter zurück, blieb stehen und drehte sich um. Der Anblick, der sich ihm über dem brennenden Buschwerk bot, war so bizarr und unglaublich, dass ihm schier der Atem stockte. Der Kopf des Ungeheuers zuckte voll wilder Wut vor und zurück, während der flossenähnliche Schwanz kraftvoll, aber in einer beinahe trägen Bewegung nach oben schwang, um dann mit zerschmetternder Wucht wieder nach unten zu donnern. Daart sah, wie zwei Gestalten wegspritzten, bevor sie das Ende der Flosse erwischen konnte, eine kleine, durch die Rauchschwaden und züngelnden Flammen fast vollständig verdeckte Gestalt und eine weitaus größere, kräftige, die noch im Ausweichschritt herumschwang und sich nach vorn warf, um den Drachen kräftig in den Schwanz zu zwicken. Dabei konnte sie nicht gerade zimperlich vorgegangen sein, denn der Drache machte einen grotesk anmutenden Satz nach 92
vorn und stieß ein schrilles, markerschütterndes Kreischen aus. Das Schlangengewimmel an seinem Hals schien geradezu zu explodieren, und kaum war das Kreischen abgeklungen, glaubte Daart auch schon das wütende Zischeln aus Dutzenden von Schlangenhälsen zu hören. »Verdammt, Daart, jetzt komm endlich!«, schrie Carnac hinter ihm. Der Kopf des Drachen ruckte herum und mit ihm die meisten der weitaus kleineren, aber nicht minder bedrohlich wirkenden Schlangen. Ein dichtes Flammenmeer schoss vom Boden empor, von trockenem Buschwerk, das fast explosionsartig verpuffte und mit einem wahren Funkenregen in den Himmel schoss. Für einen kurzen Augenblick blendete es Daart wie auch offensichtlich den Drachen, der den Kopf hin und her schüttelte, als könne er dadurch seine Sicht verbessern. Noch bevor der Funkenregen niederprasseln konnte, war Daart bereits in die Hocke gegangen. Es war eine instinktive Bewegung, aber sie kam wohl zur rechten Zeit. Der Drache machte zwei, drei stampfende, den Boden erschütternde Schritte vor, genau in seine Richtung, verhielt dann aber mitten in der Bewegung, als er Daart nicht mehr entdecken konnte, den linken Vorderfuß kurz über den Boden schwebend und in geduckter, angespannter Haltung; ein Jäger, der nach der schon sicher geglaubten Beute Ausschau hielt und es nun nicht fassen konnte, dass er sie nicht mehr entdeckte. Daart hielt unwillkürlich den Atem an, als er durch qualmendes Gebüsch hindurch auf den Giganten blickte, und duckte sich noch ein Stück tiefer. Er konnte aus seiner 93
Position nicht erkennen, ob Grobian zu einem erneuten Angriff ansetzte. Aber falls das der Fall sein sollte, dann hatte sich der Drache wohl entschieden, es zu ignorieren; kaum anders als ein menschlicher Jäger auf der Pirsch, der gerade von einer Mücke gezwickt wurde. Vorsichtig und sich mit den Händen auf dem von scharfkantigen Steinen und Trümmerstücken übersäten Boden abstützend, kroch Daart zurück, bis er den Sichtschutz eines moosbewachsenen Findlings zwischen sich und den Drachen gebracht hatte. Erst dann drehte er sich um und begann in die Richtung zu laufen, in der Carnac verschwunden war. Vorerst gewährten ihm weitere größere Felsbrocken und der halb vermoderte, aber immer noch beeindruckende dicke Stamm einer Zeder Sichtschutz. Das schien auch bitter notwendig zu sein, denn der Drache hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, mit Schritten, die so laut und stampfend waren, dass Daarts Herz zwei, drei Schläge vollkommen aus dem Takt geriet, um dann weitaus lauter und heftiger direkt unterhalb seiner Kehle weiter zu schlagen. Der Drache war hinter ihm her, daran konnte jetzt kein Zweifel mehr bestehen. Daart hoffte nur, dies bedeute nicht, dass er Grobian und Thross in den Staub geworfen und mit seinen Säulenbeinen zerstampft hatte, sondern dass sie sich rechtzeitig in Sicherheit hatten bringen können. Dann kam der Moment, den er gefürchtet hatte: Der letzte größere, wie von scharfkantigen Schwertern halb zerschlagene und von Brandspuren geschwärzte Felsbrocken, der ihm noch Sichtschutz gewähren konnte, tauchte vor ihm auf. Dahinter stieg der Hang steil an, 94
übersät von Geröll und Gesteinssplittern, an die sich nur wenige dürre Pflanzen klammerten. Er zögerte einen Herzschlag lang, dann sprang er auf und begann zu laufen. Kleinere und größere Steinchen rutschten unter seinen Füßen weg, und schon nach den ersten Schritten drohte er auszurutschen und der Länge nach hinzuschlagen. Es war der Drache, der ihn dazu brachte, aus der Fallbewegung einen verzweifelten Vorwärtssprung zu machen. Ein grölender, triumphierender Laut, nah, viel zu nah, erscholl hinter und unter ihm. Daart schnellte nach vorn und stürmte blindlings weiter, auf die Hügelkuppe zu, die Carnac längst erreicht haben musste, denn von ihr war nichts mehr zu sehen. Unter seinen Füßen lösten sich immer mehr Steine und Geröll, und aus dem gelegentlichen Rieseln und Rascheln wurde eine regelrechte Steinlawine, die den Hang unter ihnen hinabdonnerte und sogar das näher kommende Stampfen des Drachen übertönte. Daart fand seinen Rhythmus, indem er die Füße so schräg wie möglich aufstellte und dann mit einer federnden Bewegung nach der anderen von einem Fleck zum nächsten sprang. Trotzdem war er zu langsam. Das Stampfen des Drachen näherte sich mit erschreckender Geschwindigkeit, die Säulenbeine des Ungetüms krachten fast im Takt seines eigenen, sich überschlagenden Herzschlags auf den Boden und machten auf der Ebene eilends Strecke gut. Die rettende Kuppe schien indes überhaupt nicht näher zu rücken. Der Drache stieß ein triumphierendes, durch und durch böses Röhren aus, als Daart erneut den Halt zu verlieren drohte und ein ganzes Stück zu95
rückschlitterte. Hätte er in diesem Moment einen Feuerstoß ausgestoßen, hätte er Daart zweifellos gegrillt. Daarts linker Fuß fand wieder festen Stand, und er drückte sich nach vorn. Er stand zu schräg, um seiner Bewegung optimalen Schwung zu verleihen, aber er kam wieder voran – und konnte gleichzeitig aus den Augenwinkeln seinen Verfolger beobachten. Das mächtige, bizarr geformte Ungetüm war in einen Laufschritt verfallen, den Daart angesichts seines mächtigen Körpers zuvor für vollkommen ausgeschlossen gehalten hätte. Von Flammen und Funkenwirbeln umtost, die Beine in wabernden Rauchschwaden wie in einem tiefen Sumpf steckend, donnerte der Drache in einer Art Schweinsgalopp hinter ihm her, wobei sein überdimensionierter Körper bei jedem Schritt hin und her schwankte wie ein Schiff, das Spielball eines Sturms geworden war. Es war ein gleichermaßen lächerlicher wie bedrohlicher Anblick. Und da war noch etwas, das er auf den ersten Blick für einen Höcker auf dem Rücken des Ungetüms gehalten hatte. Doch jetzt erkannte er, dass er sich getäuscht hatte. Es war nicht etwas, sondern jemand, ein Mensch, der in einer Art Sattel zu hocken schien. Ein Drachenreiter? Daart konnte das nicht glauben. Er kannte die uralten Geschichten über die längst zerschlagene Priesterinnenkaste der Errish zur Genüge, der es gelungen war, sich eine ganz spezielle Gruppe Drachen gefügig zu machen. Aber das Schicksal der Errish war mit dem Untergang Elays besiegelt gewesen, und obwohl sich nach wie vor viele Mythen um sie und andere Drachenreiter rankten, 96
waren doch sicherlich die allermeisten reine Phantasiegebilde. Die flüchtige Erinnerung an die Errish zerstob, als sich die Gestalt im Sattel hoch aufrichtete und den Arm in seine Richtung ausstreckte, als wolle sie ihm drohen. Oder vielleicht zuwinken? Konnte es sein, dass es Thross war? Wenn er es geschafft hatte, auf den Rücken des Drachen zu klettern, wenn er es den Errish gleichtun und auf eine geheimnisvolle Art mit dem Drachen in Kontakt treten konnte, um ihn nach seinen Willen zu steuern … Auch dieser Gedanke war nicht mehr als ein kurzes Aufflackern. Der Drache stapfte und schwankte weiter auf ihn zu, ein dumpfes Grollen entrang sich seiner Kehle. Die Erschütterungen infolge seiner stampfenden Schritte waren so groß, dass sich jetzt auf breiter Front Kiesel und scharfkantiges Gestein vom Hang lösten. Nichts an ihm wirkte weniger bedrohlicher als noch vor wenigen Augenblicken. Daart hatte zwar keine Ahnung, wie das Ungetüm den Hang erklimmen wollte, aber das hatte es natürlich auch gar nicht nötig. Eine einzige, nicht einmal besonders heftige Feuerwoge, und Daarts Kleidung und Haare wären sofort in Brand gesetzt, die Haut darunter würde Blasen werfen und die Hitze mit verheerender Wucht in seine Lungen dringen. Die Vorstellung erschütterte Daart weitaus mehr als die Frage nach der Identität des Drachenreiters. Er fuhr herum und kletterte mit beinahe hektischen Bewegungen weiter nach oben. Sein Blick huschte über den unruhigen Untergrund, aus dem einzelne Steinchen und Splitter hervorbrachen, als dränge unter ihnen eine 97
Heerschar faustgroßer Skorpione nach oben, um in einer schwarzen Woge über ihn herzufallen. Seine Füße rutschten jetzt nicht mehr hin und wieder ab, sondern ständig und bei fast jedem weit ausgreifenden Schritt, und mehr als einmal glitt er weiter zurück, als er vorangekommen war. Er wollte nicht zurückblicken, wollte sich auf den Hang, auf jeden einzelnen Schritt konzentrieren, aber dann drehte er doch die Schulter so weit, dass er nach hinten sehen konnte, dorthin, wo der Drache gerade aus dem brennenden Buschwerk hervorbrach und nun auf die fast kahle Stelle unterhalb des Hangs zusteuerte. Vielleicht rettete ihm dies das Leben. Es war das weit aufgerissene Maul des Drachen, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er glaubte, bis tief hinein in den grässlichen, blutroten und alles verschlingenden Schlund sehen zu können, was wahrscheinlich Unsinn war; ganz anders als der Eindruck, dass die riesigen, gelbweißen Reißzähne in dem lang gestreckten Maul kräftig genug waren, um selbst einen Giganten wie Grobian mit einem Biss zu zermalmen. Aber nicht das machte ihm Sorgen (zumindest nicht solange er überhaupt noch Stückchen für Stückchen und trotz des ständigen Nachrutschens des Hangs weiter nach oben kam), sondern das Züngeln von Flammen im Maul des Ungetüms, die zwar noch winzig waren, doch jederzeit mit dem Ungestüm einer Naturgewalt hervorschießen könnten. Daart ließ sich nach vorn fallen, um wenig elegant, aber weitaus effektiver als bisher das letzte Stück des Hanges überwinden zu können, und warf nochmals und 98
aus einem vollkommen unerklärlichen Impuls einen Blick zurück. Keinen Augenblick zu früh. Der Drache machte einen letzten donnernden Schritt – einen, der fast den ganzen Hang zum Klingen und Vibrieren brachte – und verhielt dann mit tückisch hin und her ruckendem Kopf. Ganz im Gegensatz zu seinem Reiter, der sich hoch im Sattel aufrichtete. Es war eine recht schmale und kleine Gestalt, aber sie war dunkel gekleidet und hatte langes schwarzes Haar, das sich in scharfem Kontrast von den immer noch hell lodernden Flammen des Buschbrands abhob. Das konnte unmöglich Thross sein. Es war eine Frau. Das erkannte Daart, als sie sich vorbeugte und ihr das offene Haar in einer Weise über das scharf geschnittene Profil fiel, wie es kein Krieger zulassen würde. Die Entfernung war noch immer zu groß, um Genaueres zu erkennen, und doch glaubte Daart die Anspannung der Frau zu spüren. Dann bemerkte er auch den Grund. Die Frau hatte etwas vom Hals des Drachen gepflückt. Mit einer flüssigen, tausendfach geübt wirkenden Bewegung hob sie einen Bogen mit der linken Hand und legte gleichzeitig mit der rechten auch schon den Pfeil ein, um die Sehne zu spannen. Daart begriff beinahe zu spät, in welcher Gefahr er sich befand. Er hatte mit einem verheerenden Feuerstoß gerechnet, damit, dass der Drache blindlings gegen den Hügel anstürmte und aus dem Rieseln und Bröckeln, das ihn mitzureißen drohte, etwas sehr viel Schlimmeres machte, nämlich eine Steinlawine, die den ganzen Hang zum Rutschen brachte und ihn mit sich in die Tiefe riss. Aber niemals hätte er damit gerechnet, dass sich eine 99
Bogenschützin vom Rücken des Drachen anschicken könnte, ihn mit einem gezielten Schuss vom Hang zu holen. Der Bogen der Kriegerin fuhr in seine Richtung, und mit ihm der Pfeil, den sie gleich von der Sehne lassen würde. Daart sprang auf und gleichzeitig zur Seite. Die Kriegerin ließ sich jedoch nicht zu einem vorschnellen Schuss verleiten; der Pfeil folgte präzise seiner Bewegung, aber noch ließ sie ihn nicht abschnellen. Wäre ihre Reaktion anders gewesen, hätte Daart möglicherweise alles auf eine Karte gesetzt und wäre auf allen Vieren weiter den Hang hochgehetzt, darum bemüht, einen Zickzackkurs einzuschlagen, der ein ruhiges Anvisieren erschwerte. Aber so blieb ihm nichts anderes übrig, als den Körper so zu verdrehen, dass er sie weiter im Auge behalten konnte. Seine rechte Hand krallte sich in einer recht kräftigen Wurzel ein, und er zog sich ein Stück hoch. Wäre er anstelle der Bogenschützin gewesen, er hätte in diesem Moment geschossen. Aber das tat sie nicht. Sie wartete auf jenen winzigen Augenblick, in dem er den Fuß umsetzen musste und wieder ein paar Steine unter ihm ins Rutschen kamen, er aber noch nicht wusste, wie er dagegenhalten sollte, um das Gleichgewicht zu wahren. Daart sah den Schuss, noch bevor der Pfeil die Sehne verließ. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Der Pfeil flog mit wahnsinniger Geschwindigkeit heran und würde ihn am Brustkorb, vielleicht sogar direkt im Herzen treffen. Trotzdem gelang es Daart, ihn mit den Augen einzufangen und ihm einen Teil seiner Geschwindigkeit zu neh100
men, indem er selbst seine Wahrnehmung schlagartig beschleunigte, genau so, wie er es während der zweijährigen Satai-Ausbildung im Tormon-Gebirge immer und immer wieder geübt hatte. Er drehte den Oberkörper, oder besser gesagt, sein Oberkörper drehte sich von selbst, gesteuert nicht mehr durch seinen bewussten Willen, sondern durch etwas ganz anderes, das die Kontrolle über ihn übernommen hatte und ihn den Arm hochreißen ließ. Er fischte den Pfeil aus der Luft, als er so dicht an seinem Brustkorb vorbeijagte, dass es für die Bogenschützin beinahe wie ein Treffer aussehen musste, und riss ihn an sich vorbei und halb hinter seinen Rücken, um ihm den ärgsten Schwung zu nehmen. Im gleichen Moment wünschte er sich auch schon, er hätte es nicht getan. Der Pfeil war kein Pfeil, er bestand nicht aus Holz oder Metall, war nicht in der Werkstatt eines Waffenmeisters oder von Bogenschützen an einem Lagerfeuer gefertigt worden; er war überhaupt nicht gefertigt worden. Er wand sich, seine Spitze – sein Kopfende! – fuhr zu Daart herum, zuckte auf seinen Unterarm zu, das Maul weit aufgerissen. Daart reagierte rein instinktiv. Er packte mit der Hand nach dem, was er eben noch für ein Pfeilende gehalten hatte. Seine Finger glitten über glatte, kühle Haut, fanden Halt, drückten mit aller Kraft zu. Gleich darauf riss er die Hand auch schon zurück und zerrte die Schlange, die die Bogenschützin aus dem Hals des Drachen geklaubt und wie einen gefiederten Pfeil abgefeuert hatte, mit aller Gewalt zurück. Er spürte, wie etwas Glitschiges über seinen Unterarm glitt, wie winzi101
ge Zähne sich in seine Haut bohren wollten. Schnell vollführte er eine Drehbewegung einmal um die eigene Achse. Der Schlangenkopf wurde dadurch vollends zurückgeschleudert, und als Daart das Schwanzende losließ, sauste der schmale Körper davon und schlug irgendwo weit unter ihm auf dem Geröll auf. Er konnte sich nicht darum kümmern, denn er hatte im wahrsten Sinn des Wortes alle Hände voll zu tun, um sein Gewicht auszubalancieren, während er ein ganzes Stück weit nach unten rutschte, einen wahren Hagel von Steinen und Kieseln auslösend, die sich aus dem trügerischen Hang gelöst hatten. Dann, endlich, fand er wieder Halt und drehte sich, so vorsichtig und schnell er konnte, in die Richtung, in die er die Schlange geschleudert hatte. Sie war nicht mehr zu sehen, irgendwo zwischen den Steinen verschwunden. Dafür hatte er den Drachen genau im Blickfeld, und mit ihm seine Reiterin, die sich erneut vorbeugte und nach einem Schlangenhals fischte. »Lauf!«, schrie jemand über ihm, so laut und schrill, dass er die Stimme erst gar nicht erkannte. Dann ruckte sein Kopf herum, und er sah Carnac hoch über sich stehen, mit verzerrtem Gesicht und drohend gezücktem Schwert. Sie war zurückgekommen. Das war nicht gut. Sie hätte die Zeit nutzen sollen, um sich in Sicherheit zu bringen vor den bösen Überraschungen, mit denen der Drache und seine Reiterin noch aufwarten mochten. Als hätte die Drachenreiterin seine Gedanken gelesen, legte sie auch schon die nächste wie stocksteif erstarrte Schlange auf die Sehne und fuhr noch in derselben Bewegung herum, um dem ersten Schuss einen zweiten 102
folgen zu lassen. Daart sah sofort, dass diesmal nicht er ihr Ziel war. Er wollte Carnac eine Warnung zurufen, aber es war schon zu spät. Sie hatte sich leicht vorgebeugt und starrte angestrengt in seine Richtung, besorgt und mit viel zu wenig Aufmerksamkeit gegenüber der Drachenreiterin. Sie war wohl gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass auch sie in Gefahr sein könnte – und in Reichweite der Bogenschützin. Die Drachenreiterin hatte höher gehalten, und die Schlange flog auf einer Parabel, gar nicht so stocksteif und gerade, wie Daart zuerst angenommen hatte. Ganz im Gegensatz balancierte sie ihren Flug aus, neigte den Kopf ein Stück und krümmte sich kaum merklich, als sie den Scheitelpunkt hinter sich gebracht hatte, kaum anders als jemand, der von einem Felsen in einen deutlich tiefer gelegenen See springt und dabei ein bestimmtes Ziel anvisiert. Carnac bemerkte die Gefahr zu spät. Ihr Schwert zuckte hoch, tödlich und schnell, und wenn es tatsächlich nichts weiter als ein gefiederter Pfeil gewesen wäre, der da auf sie zugesaust kam, hätte sie ihn wohl kaum verfehlt. Aber die Schlange war aggressiv und bösartig, veränderte im letzten Moment (Daart konnte nicht genau sehen, wie) ihre Flugbahn, glitt unter der Klinge hindurch – und klatschte dann auf der Schulter ihres Opfers auf. Carnac stieß einen hellen, schrillen Laut aus, taumelte zurück und warf ihr Schwert weg, um mit beiden Händen zuzupacken. Sie bekam den glatten, kühlen Schlangenkörper zu fassen, aber irgendetwas geschah an ihrem 103
Halsansatz; der Kopf des Reptils verschwand in ihrem Gewand, und dann schrie sie erneut, fast unmenschlich, während sie verzweifelt an dem Schlangenkörper zerrte. In Daart krampfte sich alles zusammen, und er setzte an, zu ihr hochzustürmen. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Carnac verschwand von einem Augenblick auf den anderen aus seinem Sichtfeld. Es sah aus, als würde sie von unten weggezogen – oder, genauer, von irgendetwas eingesaugt. Für einen winzigen Augenblick war noch ihre Hand zu sehen, die verzweifelt am Schwanzende der Schlange zerrte, um das Reptil wieder aus ihrem Gewand hervorzuzerren, dann verschwanden auch sie beide, die Hand und das, was Daart gerade noch von dem sich windenden, tobenden Schlangenkörper gesehen hatte. Und die Drachenreiterin schoss den nächsten ihrer fürchterlichen Pfeile ab, diesmal wieder auf Daart gezielt und mit einer erschreckenden Treffsicherheit. Daart drohte das zum Verhängnis zu werden, was auch Carnac widerfahren war: seine Aufmerksamkeit zu sehr auf den Menschen zu richten, den er liebte, statt sich voll und ganz auf den bizarren Kampf zu konzentrieren, der ihnen von dem Drachen und seiner Reiterin aufgezwungen worden war. Doch das, was er bei Carnac beobachtet hatte, bevor sich die Schlange in ihr verbissen hatte, kam ihm jetzt zugute. Er riss sein Schwert hoch, mit der Schneide in die Flugbahn der heranrasenden Schlange schlagend. Doch anders als Carnac zuckte seine Hand in der gleichen Bewegung wieder zurück, und mit ihr das Schwert. 104
Die Schlange hatte keine Chance. Die gehärtete Klinge schlug durch sie hindurch, als spüre sie keinen Widerstand. Rechts und links von Daart sausten die beiden Hälften des Schlangenkörpers vorbei und klatschten irgendwo hinter ihm auf den Boden. Daart kümmerte sich nicht um sie. Gestein knirschte unter seinen Stiefeln, als er loshetzte, sich nicht darum kümmernd, wie trügerisch der Untergrund auch beschaffen sein mochte, sondern einzig und allein darauf konzentriert voranzukommen, statt wieder und wieder ein Stück zurückzurutschen. Die Drachenreiterin bereitete sich auf ihren nächsten Schuss vor. Hätte sie nur einen vergifteten Pfeil aus einem Köcher ziehen müssen, dann hätte sie ihn jetzt zweifellos erwischt. Aber es schien alles andere als einfach zu sein, dem zuckenden Hals des Drachen eine neue Schlange zu entwinden. Zudem wurde das Ungeheuer zunehmend unruhiger, es stampfte auf und stieß drohende, grollende Laute aus, als könne es seinen Jagdtrieb nicht länger beherrschen. Schritt für Schritt kam Daart voran, mit bis zum Hals schlagendem Herzen, schweißnassen Händen, die verzweifelt Halt zu finden suchten, wenn er wieder abzurutschen drohte; ihm war beinahe so, als pulsiere ein die Sinne verwirrendes Gift in seinen Adern. Ihn trieb nicht nur die Furcht vor den Schlangen voran, sondern viel mehr noch die Angst um Carnac, die Gewissheit, dass es auf jeden Augenblick ankam, wenn er sie retten wollte. Dann hielt die Drachenreiterin wieder eine Schlange in den Händen. Daart zauderte, unschlüssig, ob er den Schritt – einen der letzten, die er tun musste, wenn er die Kuppe in geradem Lauf erreichen wollte – zu Ende 105
bringen oder stattdessen lieber herumfahren sollte, um den nächsten Schuss auch diesmal mit dem Schwert abzuwehren. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Etwas rutschte in sein Hosenbein und krabbelte hoch. Seine Abwehrbewegung kam zu spät. Bevor er mit der Hand nach der glitschigen Schlange schlagen konnte, die sich in seine Hose gewunden hatte, hatte sie ihre spitzen Zähne auch schon in seine Wade verbissen. Fast gleichzeitig spürte er den scharfen Lufthauch der soeben von der Drachenreiterin abgefeuerten Schlange, als sie, ohne ihn zu treffen, dicht über seinem Kopf vorbeisauste. Dass seine Ausweichbewegung genau im richtigen Moment gekommen war, nutzte ihm nichts mehr. Ausgehend von der Bisswunde in seiner Wade, spürte er einen scharfen, lähmenden Schmerz, und kurz darauf jagte eine Hitzewelle durch seinen Körper. Er war nun doch gebissen worden. Zweifellos von der Schlange, die er zuerst hatte abwehren können, die sich dann aber schneller als er selbst durch das Gewirr rutschender Kiesel und Gesteinssplitter vorwärts geschlängelt hatte, begierig darauf, ihr Opfer einzuholen und die Giftzähne in dessen Körper zu schlagen. Daarts Schwert schlitzte das Hosenbein auf, unter dem es zuckte und sich wand, und riss einen blutigen Kratzer in seine Haut, während die Klinge unter die Schlange fuhr. Er spürte einen erneuten scharfen Schmerz, als sich die Schlange mit aller Kraft verbeißen wollte und dann doch von der ungestümen Wucht des Schwerthiebes hochgerissen wurde. Der Schlangenkörper überschlug sich mehrfach, be106
vor Daart ihn mit der gehärteten Klinge erwischte. Mit einem scharfen Zischen durchtrennte das Schwert die Schlange, und noch bevor sie zu Boden fiel, fuhr die Klinge noch zwei-, dreimal durch ihren Körper. Die Schlange war tot, ihre widerlich zuckenden Überreste auf dem Boden verteilt; sie hatte ihren Triumph über ihr Opfer nur wenige Augenblicke überlebt. Doch leider nutzte das Daart herzlich wenig. Es war nicht das erste Mal, dass er von einer Schlange gebissen worden war. Aber diesmal war es anders. Mit feuriger Energie durchströmte das Gift seine Adern, und als er weiterstolperte, trat ihm der Schweiß auf die Stirn, und seine Beine fühlten sich so hart und verkrampft an, als hätte er einen wochenlangen Gewaltmarsch hinter sich. Trotzdem zwang er sich weiter. Er wollte, er musste zu Carnac. Er musste versuchen, sie zu retten, koste es, was es wolle.
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5 Er fand Carnac gar nicht weit entfernt von der Hügelkuppe. Sie lehnte zitternd an einem Baum. Auf ihren Lippen perlten feine Schaumbläschen, und ihre Hände zitterten so stark, dass sie fast nichts Menschliches mehr hatten. Das Schlimmste aber war der Ausdruck ihrer Augen. Es funkelte eine Art Wahnsinn darin, wie Daart ihn erst bei wenigen Menschen erblickt hatte. Nichtverstehen und Panik, die Gewissheit, verloren zu haben, und der nackte Überlebenswille paarten sich zu einem wilden Durcheinander. »Daart«, keuchte sie. Es drehte ihm fast den Magen um, als sie ihre zitternde Hand nach ihm ausstreckte, als wollte sie nach ihm greifen und ihn zu sich heranziehen. Auf halbem Weg ließ sie die Hand stehen, und der fürchterliche Ausdruck in ihren Augen wandelte sich in etwas ganz anderes, tausendfach Schlimmeres. »Also … du auch.« Ihre Stimme war kaum zu verstehen, aber Daart traf sie dennoch wie ein Peitschenhieb. Ja, er auch. Jeder Schritt war schon längst zur Qual geworden, und seine Hände zitterten, wenn auch bei weitem nicht so stark wie die Carnacs. Er fragte sich, was in seinen Augen zu lesen war. Die gleiche Qual, das gleiche Nichtverstehen wie in Carnacs Blick? »Wo …«, krächzte er, als er sie erreicht hatte und sich mit einem Aufstöhnen neben sie an den Baum lehnte. »Wo hat dich das Vieh erwischt?« 108
Carnac wandte den Kopf ab, als könne sie seinen Anblick nicht ertragen. »Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr.« »O doch«, erwiderte Daart heftig. »Und wozu willst du … das wissen?« Carnacs Stimme entglitt ihr bei den letzten Worten fast, dann riss sie sich sichtlich zusammen, wischte sich mit dem Handrücken die Schaumbläschen vom Mund und wandte sich ihm wieder zu. Daart suchte in ihrem gleichermaßen verzweifelten wie fragenden Blick nach der Spur eines Vorwurfs, aber da war nichts. Wäre sie nicht wieder zurückgelaufen, um nach ihm zu sehen, hätte die Drachenreiterin sie niemals erwischen können. Wenn sie starb, dann war es seine Schuld. Er hatte gezögert, bevor er ihr hinterhergelaufen war, vielleicht nicht einmal so lange, wie ein Blatt braucht, das von einem großen Baum herabschwebt, bevor es von einem Windstoß auf einen Stapel Herbstlaub getragen wird. Aber es war genau die Zeitspanne gewesen, die die Drachenreiterin gebraucht hatte, um sie mit ihren ungewöhnlichen Pfeilen unter Druck zu setzen. Die Zeit, die ihr letztlich gereicht hatte, um sie beide – ihn und Carnac – doch noch zu erwischen. »Ich werde deine Wunde aussaugen.« Carnac sah ihn an, als hätte er vollends den Verstand verloren. »Du bist verrückt«, flüsterte sie. »Das Gift ist in meinem ganzen Körper. Da kann man nichts mehr aussaugen.« Daart ignorierte sie. Er streckte die Hand aus, und seine Fingerspitzen glitten fast zärtlich Carnacs Hals 109
entlang, bis sie die zerrissene Stelle Stoff fanden, die ihm zuvor aufgefallen war. »Lass das sein.« Carnac versuchte ihn abzuwehren, aber sie war schon zu schwach. Er drückte ihre Hand ganz sanft beiseite, riss den Stoff an der von scharfen Schlangenzähnen perforierten Stelle weiter auf und beugte sich vor. Die Wunde sah fast harmlos aus, zumindest was ihre Größe anging. Es waren die sauberen Abdrücke mehrerer kleiner, nadelspitzer Zähne und zweier regelrechter Hauer, die die Schlange in Carnacs Fleisch hinterlassen hatte. Daart konnte sich nicht daran erinnern, schon jemals einen solchen Abdruck eines Schlangengebisses gesehen zu haben. Und schon gar nicht einen, der in allen Farben schillerte wie dieser hier. So unscheinbar die Schlangen in ihrem Kupfergrau auch waren, so gefährlich waren die Bisswunden, die sie zufügten. Daart schauderte, aber dann überwand er sich und beugte sich hinab, um Carnacs Wunde auszusaugen. Seine eigenen Lippen waren hart und trocken, und so fühlte sich auch Carnacs Haut an, vollkommen ungewöhnlich, rau und rissig, vor allem direkt im Umkreis der Wunde. Daart zögerte keinen Augenblick länger. Er saugte an der Wunde, bis ekelhafte, giftige Flüssigkeit in seine Mundhöhle schoss. Angewidert riss er den Kopf zurück und spuckte das mit Carnacs Körperflüssigkeit vermischte Schlangensekret aus. »Schluss jetzt«, protestierte Carnac. Sie hob die Hand, um ihn wegzustoßen, aber auch diesmal ging er darauf nicht ein, sondern wiederholte die widerliche, ungemein anstrengende Prozedur. Nachdem er zwei, 110
drei weitere Male ausgespuckt hatte, hielt er erschöpft inne. Er schwankte leicht, und hätte Carnac nicht die Hand vorgestreckt und ihn an sich herangezogen, er wäre wohl an Ort und Stelle zu Boden getaumelt. Schwer atmend und erschöpft lehnten sie eine Weile aneinander. Vor Daarts Augen kreisten bunte Punkte, und ganz abgesehen von dem üblen Geschmack in seinem Mund war seine Kehle so ausgedörrt, als hätte er schon tagelang nichts mehr getrunken. Mit Sicherheit war das eine Nachwirkung des Schlangengiftes. Und nicht die einzige. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Lebenskraft aus ihm weichen würde, er einknickte … »Da!« Carnacs Mund war so nah an seinem Ohr, dass er erschrocken zusammenzuckte, und dann stieß sie ihn auch schon mit beiden Händen von sich, so kraftvoll diesmal, dass er tatsächlich zurücktaumelte und fast verzweifelt um sein Gleichgewicht kämpfen musste. »Die zwei Augen!« Carnac deutete auf irgendetwas hinter ihm. So gut es ging und auf Beinen, die so wackelig waren, dass sie ihn kaum trugen, drehte er sich um. Er wusste nicht, was er erwartet hatte – aber sicherlich nicht das, was hinter ihm war. Nämlich nichts. Zumindest nichts weiter als eine raue, zerklüftete Felsformation, die ihm zuvor schon aufgefallen war, ohne dass er sie genauer in Augenschein genommen hätte. »Die zwei steinernen Augen.« Carnac stieß sich von dem Baum ab und torkelte an ihm vorbei. »Ich habe es geahnt … Aber ich hätte nie geglaubt, sie hier zu finden.« Daart wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, sie 111
an sich heranziehen, ihr klarmachen, dass sie halluzinierte, dass das Gift in zunehmendem Maße ihre Sinne verwirrte. Aber er war zu langsam und zu ungeschickt und Carnac schon zwei Schritte weiter, bevor er überhaupt die Hand hochgereckt hatte. Und dann sah er sie selbst, die zwei steinernen Augen. Sie waren so riesig, dass in jedem von ihnen drei, vier Quorrls nebeneinander hätten stehen können, ohne sich zu behindern. Der Schädel, zu dem sie gehörten, überragte sie beide so sehr, dass Daart kurz (aber nur ganz kurz, bis ihm klar wurde, dass er dadurch wohl endgültig das Gleichgewicht verlieren würde) mit dem Gedanken spielte, den Kopf in den Nacken zu legen, um seine wahren Ausmaße zu erfassen. Es war ein Totenschädel, der hier lag, von vager menschlicher und doch schrecklich falscher Form, mit Linien, deren Anblick in seinen Augen schmerzte, und Einbuchtungen, die gleichzeitig nach außen gewölbt zu sein schienen, unbegreiflich und abstoßend in einem. Er wirkte auf Daart wie die Einladung, das Totenreich seiner Vorväter zu betreten, und obwohl er wusste, dass dieser riesige Schädel nichts weiter als das Produkt seines durch das Schlangengift umnebelten Verstandes war, kam er ihm realer vor als alles andere in seiner Umgebung. Er verstand Carnacs Faszination, die mit schwankenden, aber dennoch erstaunlich sicher wirkenden Schritten auf den Schädel zuhielt. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, folgte er ihrem Beispiel. Wahrscheinlich hatte das Aussaugen der Wunde doch etwas Positives bewirkt, denn Carnacs Schritte wurden zunehmend kraftvoller, während er selbst das Gefühl hat112
te, als wären seine Beine unter ihm verschwunden, und er sich insgeheim fragte, wie er sich dennoch vorwärts bewegen konnte. Carnac erreichte das rechte Auge, drehte sich zu ihm um und winkte ihm zu. »Schnell!«, sprudelte sie aufgeregt hervor. »Wir müssen die Formation durch die steinernen Augen betreten.« Daart hatte nicht die geringste Ahnung, was sie damit meinte. Aber er hatte schließlich nichts zu verlieren. Zurückzubleiben hätte bedeutet, vollkommen allein und ohne jegliche Hoffnung auf den harten Griff des Todes warten zu müssen, der ihn bereits ins Visier genommen hatte. Steine knirschten unter seinen Schritten, Staub wirbelte auf, aber er spürte seine Beine immer noch nicht. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich die Stelle erreicht hatte, an der Carnac das Innere des Schädels betreten hatte. Sie hatte von steinernen Augenhöhlen gesprochen, doch als Daart die Hand ausstreckte und über die zerrissene Einfassung fuhr, glaubte er hinter dem zarten Moosbewuchs uralte Knochen zu spüren. Er hätte das Phänomen gern genauer untersucht, aber das ließen weder sein schlechter Zustand noch Carnac zu, die bereits ein ganzes Stück weiter im Halbdunkel verschwunden war und ihm erneut heftig zuwinkte. »Komm endlich, Daart.« Ihre Stimme klang nach wie vor mitgenommen, aber auch heiser und aufgeregt, so als hätte sie an Hoffnung gewonnen. Daart erging es ganz ähnlich. Eben hatte er noch mit dem Leben abgeschlossen, einzig und allein davon ange113
trieben, vielleicht noch Carnac retten zu können. Doch nun spürte er die gleiche Erregung wie in einer Schlacht in sich, die einen die schrecklichen Verwundungen vergessen lässt, die feindliche Waffen einem geschlagen haben. Irgendetwas an diesem riesigen Schädel hatte sie nicht nur angelockt, irgendetwas war hier, lauernd und darauf wartend, dass sie kamen, zu welchem Zweck auch immer. Und sie hatten nicht das Geringste zu verlieren. Wenn hier irgendetwas über sie herfiele, wäre das nur ein willkommener Anlass für einen Kampf, den zu verlieren Daart diesmal keine Angst hatte; alles war besser, als jämmerlich an dem Schlangengift zugrunde zu gehen. Carnacs Schritte hallten ungewohnt laut von den Wänden des Schädelinneren wider. Sie hielt auf den im Halbdunkeln liegenden Hintergrund zu, langsamer als zuvor, zögernd, so als müsse sie sich erst orientieren. Daart gab sich keine Mühe, leise zu sein oder besonders vorsichtig, sondern war lediglich bemüht, sie so schnell wie möglich einzuholen. Dabei kam es ihm vor, als gehe er nicht auf dem unebenen, rissigen und leicht abschüssigen Boden, den er vor sich sah, sondern auf weichem, nachgiebigem Untergrund, der ihn voll boshafter Heimtücke in sich aufsaugen wollte. Es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis das taube Gefühl von seinen Beinen weiter hinaufwanderte, und spätestens wenn es seinen Kopf erreichte, dessen war er sich sicher, würde er sterben. Aber noch war es nicht so weit. Carnac blieb schließlich stehen, sicherer als zuvor am Baum, aber alles andere als in normaler Haltung. Der rechte Arm hing merk114
würdig schlaff herunter, und als Daart endlich zu ihr aufschloss, bemerkte er, dass ihr Oberkörper unnatürlich verbogen war. Kein Wunder, so wie sich das Gift von seiner Wade nach oben ausbreitete, fand es bei Carnac durch die Schulterwunde immer tieferen Zugang in Arm und Oberkörper. Vielleicht hätte er tatsächlich noch einiges von diesem verfluchten Gift aus ihrem Körper heraussaugen können; es war in jedem Fall zu wenig gewesen, was er getan hatte, um sie vollends zu retten, und es würde den Zerfall und das endgültige Ende höchstens für wenige Stunden aufhalten, wenn überhaupt. »Wir haben Glück gehabt«, flüsterte Carnac. »Was?« Daart wandte ihr fassungslos den Kopf zu. Die Helligkeit, die durch die zwei Augenhöhlen ins Innere des gigantischen Schädels fiel, zauberte weiche Übergänge von Licht und Schatten auf ihr Gesicht und verlieh ihren Zügen einen heiteren, fast entspannten Ausdruck. »Du nennst es Glück, dass wir sterben werden?« Carnac schüttelte den Kopf. »Gewiss nicht. Aber so schnell stirbt es sich nicht. Jedenfalls nicht, solange wir unser Schicksal noch selbst in die Hand nehmen können.« »Und was soll unser Glück sein?« Carnac verzog das Gesicht, ob zu einem Lächeln oder zu einer angeekelten Grimasse, hätte Daart in diesem Augenblick nicht einmal sagen können. »Dort vorn«, meinte sie, während sie den linken Arm ausstreckte und nach vorn deutete, »ist ein Schlangennest.« Diese Neuigkeit verschlug Daart erst einmal die Sprache. Er starrte angestrengt in die Richtung, in die Carnac unverdrossen deutete. Und dann erkannte er, dass 115
sie Recht hatte. Vor ihnen, in einer tiefen und mindestens zwei Mannslängen durchmessenden Mulde nahm er tatsächlich ein ekelhaftes Wimmeln wahr, und dann glaubte er auch ein Zischeln zu hören, leise zwar, aber dennoch bedrohlich. »Du meinst, wir sollen ein paar der Mistviecher mit in den Tod nehmen?« Daart schüttelte müde den Kopf. »Ich habe so etwas schon immer albern gefunden.« »Was? Schlangen umzubringen?« »Wenn tapfere Krieger ihre Feinde mit in den Tod nehmen wollen«, antwortete Daart mühsam. »Ja«, sagte Carnac. »Ich auch. Aber das ist es nicht. Wenn unser Glück nur noch etwas anhält, dann werden wir dort vielleicht die richtige Schlangenart finden.« »Eine, die uns gleich umbringt.« Jetzt war es Carnac, die den Kopf schüttelte, wenngleich viel mühsamer als Daart. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis das Gift ihren Hals erreicht hatte und ihr die Luft abschnitt. Es wurde Zeit, etwas zu tun, und wenn es auch noch so geringe Aussichten auf Erfolg hatte. »Diejenige, die das Gegengift produziert.« Daart warf ihr einen verwirrten Blick zu. »Gegengift?« »Der Blutdrache.« Carnac schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass es sie wirklich gibt. Es sind uralte Geschichten, Mythen, die sich die kleinwüchsigen Menschen erzählten, die einst an der Grenze zum Quorrl-Gebiet wohnten – in der Zeit, als die Reptilienkrieger sich noch nicht über die Cor-Seen hinaus in den Süden wagten.« 116
»Ich habe noch nie etwas von Blutdrachen gehört.« Daart wurde langsam ungeduldig. Die ihnen verbleibende Lebenszeit zerrann ihnen zwischen den Fingern, und Carnacs Gedanken verstrickten sich in alten Mythen. Vielleicht war das bereits der Vorbote der Verwirrung, die ihren Geist vergiftete, bis sie schließlich nur mehr sinnloses Zeug vor sich hinbrabbeln würde. »Was soll das sein?« »Nordöstlich vom Glutsee liegt das Blutmeer, der größte der drei Cor-Seen.« Carnac machte einen Schritt auf das Schlangennest zu, und Daart tat es ihr instinktiv gleich; dann aber musste er um sein Gleichgewicht kämpfen, so schwindlig wurde ihm mit einem Mal. Das Zischeln unzähliger Schlangen begleitete seinen Versuch, die Schwäche wegzublinzeln; es klang böse und triumphierend. Daart versuchte das unruhige Sichringeln und -winden in der Schlangengrube mit Blicken einzufangen, aber es wollte ihm nicht gelingen; irgendetwas stimmte nicht mit seinen Augen. »Es ist sehr tief und in zahlreiche Buchten und angrenzende Gewässer untergliedert und soll von Lebewesen bewohnt sein, wie es sie sonst nirgends mehr auf Enwor gibt. Dazu gehören auch die Blutdrachen.« Es war Daart eigentlich egal, welchen Namen jene ausgestorbenen kleinwüchsigen Menschen der Drachengattung gegeben hatten, die ihn und Carnac zum Verhängnis zu werden drohte. Und er fragte sich, was sie mit den immer unruhiger zischelnden Schlangen zu tun haben sollten, auf die Carnac leicht schwankend, aber erstaunlich zielsicher zuhielt. »Das Gegengift«, erinnerte er sie. »Ja.« Carnac war der Schlangengrube bis auf wenige 117
Schritte nahe gekommen. Daart sah sie nur als undeutlichen Schemen. Sein Blickfeld schien zunehmend schmaler zu werden, ein Zustand, wie er ihn nur kannte, wenn er vollkommen erschöpft oder sturzbetrunken war, und zudem legten sich graue Schlieren über sein Blickfeld. Jeder Herzschlag pochte schmerzhaft in seinem Kopf und hämmerte das Wort Gegengift in seine Gedanken. Wenn Carnac tatsächlich glaubte, dass die Schlangen dort vorn das Gegengift für die Substanz enthielten, die sie mit erschreckender Geschwindigkeit ins Delirium trieb, dann sollte sie verdammt nochmal endlich irgendetwas unternehmen. Das tat sie auch. Sie ging in die Hocke. Streckte die Hand aus. Etwas glitt aus der Mulde, wand und schlängelte sich, ein Kundschafter des übrigen ekelhaften Gewimmels, oder auch ein Todesbote, der nichts anderes im Sinn hatte, als seinem Vernichtungsdrang freien Lauf zu lassen. Es machte keinen großen Unterschied mehr. Es sei denn, die sich auf Carnac zuwindende Schlange trug tatsächlich das Gegengift in sich, das sie so dringend benötigten. Daart blinzelte immer krampfhafter, darum bemüht, die grauen Schlieren wegzubekommen, die sich erst auf sein Blickfeld gelegt hatten und nun über die Augen in seinen Schädel einzudringen schienen, um ihn taub und gefühllos werden zu lassen. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihnen noch blieb, aber er ahnte, dass das Ende nicht mehr sehr weit entfernt war – und dass es unausweichlich kommen würde, wenn nicht ein Wunder geschah. »Die Blutdrachen werden von zwei verschiedenen Sorten Schlangen befallen«, murmelte Carnac. »Oder viel118
leicht ist es auch nur eine Sorte von Schlangen, die aber jeweils unterschiedliche Gifte produzieren. Vielleicht ist aber an den alten Mythen auch nichts dran, und es gibt gar kein Gegengift.« Sie beugte sich ein Stück weiter vor. Die Schlange hob den Kopf, lauernd, abwartend und offensichtlich bereit, jederzeit zuzustoßen. »Nein.« Carnac erhob sich wieder, langsam und unsicher, aber auch sehr zielstrebig, wie es Daart schien. »Das sind sie jedenfalls nicht«, sagte sie enttäuscht. »Das sind nur braune Höhlenschlangen. Giftig, aber nicht tödlich, zumindest, wenn man nicht mehr als einen Biss abbekommt.« Das war nicht unbedingt das, was Daart hatte hören wollen. Das Gift verwirrte in zunehmendem Maß seine Sinne, gaukelte ihm Dinge vor, die nicht da sein konnten, und verwischte andererseits Carnac zu einem gesichtslosen Schemen, der von Herzschlag zu Herzschlag mehr an Stofflichkeit zu verlieren schien. »Wir … brauchen unbedingt eine … Schlange, die das Gegengift in sich trägt«, sagte Carnac mühsam. Ihre Stimme veränderte sich, klang kaum mehr menschlich, eher wie das heisere Krächzen eines Vogels. »Es ist … unsere einzige Chance.« Daart nickte. Er verstand, was Carnac meinte, aber er war kaum in der Lage, die Konsequenz zu erfassen. Dieses eine Wort, dieses ganz wichtige Wort hämmerte nun wieder in seinem Kopf – Gegengift … Gegengift … Gegengift. Er hatte das Gefühl, dass es unentwegt rings um sie herum raschelte und huschte, als zögen zahllose winzige Kreaturen ihre Bahnen, als löse sich die Höhle stückweise auf, als träten Schatten direkt aus den Wän119
den hervor, um sich gleich darauf wieder in Luft aufzulösen – oder als begänne nun das Delirium, mit dem sein Körper und sein Geist den Widerstand gegen das tödliche Schlangengift aufgaben. Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff, dass er stumm vor sich hinstierte und dass dort, wo eben noch Carnac gewesen war, nichts weiter als eine Kundschafterschlange zischelnd am Boden lag und ihn mindestens so argwöhnisch beobachtete wie er jetzt sie. Er hörte Carnac sprechen, kurze, abgehackte Laute, die aus ihr drangen wie das trockene Bellen einer sich im Todeskampf windenden Kreatur. Sie sprach mit jemandem. Er hob träge den Kopf und sah hinüber, unfähig, so etwas wie Schrecken zu empfinden, und doch darauf vorbereitet, dass es die Drachenreiterin oder sie begleitende Krieger waren, die sie hier aufgestört hatten, vielleicht, um sich an ihrem Todeskampf zu weiden oder aber ihn mit ein paar raschen Schwerthieben zu beenden. Durch die Schlieren, die sich über sein Gesichtsfeld gelegt hatten, konnte er zuerst nicht erkennen, wer da vor ihr stand, dann aber klärte sich sein Blick. Es war weder die Drachenreiterin noch sonst einer ihrer Feinde. Es war eine kleine, zierliche Gestalt, von zartem Knochenbau, wie geschaffen, um sich durch dunkle Spalten granitharten Gesteins zu zwängen. Thross. Diesmal war der Junge nicht wie so oft zuvor in eine Rolle geschlüpft, die es ihm ermöglichte, sich irgendwo einzuschmuggeln, diesmal war es Thross pur, und noch dazu ein erschöpfter und mitgenommener Thross, der fast wieder so aussah wie bei ihrer ersten Begegnung, als 120
er gerade von einem gewagten Erkundungsgang durch ein Labyrinth gefährlich enger Gesteinsspalten zurückgekehrt war. Seine rechte Wange war rußgeschwärzt und wirkte angesengt, von der Schulter herab lief ein blutiger Streifen quer über seine Brust, seine Kleidung war eingerissen und verkohlt, und als er herübersah, war in seinen Augen ein so irres Flackern, dass Daart regelrecht aus seiner Lethargie gerissen wurde und sich ihm das Bild des mitgenommenen Jungen mit übernatürlicher Genauigkeit einprägte. Die Begegnung mit dem Blutdrachen war an Thross offensichtlich nicht spurlos vorübergegangen. Ganz flüchtig streifte Daart der Gedanke, welch immenses Wagnis der Junge auf sich genommen hatte, als er zusammen mit Grobian auf den Drachen losgegangen war. Dann entglitt ihm jede Bewunderung für diese Tollkühnheit, und er starrte voller Faszination auf das, was sich in Thross’ Hand wand und krümmte. Es war eine Schlange, deutlich kleiner als die, welche die Drachenreiterin auf sie abgefeuert hatte, um genau zu sein, höchstens halb so groß. Das hinderte sie allerdings nicht daran, sich mit aller Kraft aus dem Griff des Jungen befreien zu wollen, der sie kurz hinter dem Kopf gepackt hatte, um nicht in den zweifelhaften Genuss eines Schlangenbisses zu kommen – der für ihn wahrscheinlich tödlich hätte sein können, während er für Daart und Carnac Rettung versprach. »Zuerst ihn«, belferte Carnac. Der Junge setzte dazu an zu widersprechen, aber Carnac packte ihn mit einer erstaunlich kraftvollen Bewegung an der Schulter und schubste ihn vorwärts. 121
Als sich Thross in Bewegung setzte, schien er aus Daarts Sichtfeld zu verschwinden, so als könnten seine Augen keine schnellen Bewegungen mehr einfangen; dann tauchte der Junge von einem Lidschlag auf den nächsten direkt vor ihm auf. Daart war so schwindlig, dass er das Gefühl hatte, vollkommen die Kontrolle über sich zu verlieren. Das Gesicht des Jungen verschwamm zu einem verwaschenen Fleck, aber das war es auch gar nicht, was seine Augen verzweifelt zu fixieren versuchten; es war das, was Thross nach wie vor fest umklammert hielt. Die winzige Schlange. Daart blinzelte erneut. Endlich schälten sich die Umrisse der sich unruhig windenden, ihm Rettung verheißenden Schlange heraus, als strecke Thross sie ihm durch dichten, nun plötzlich zurückweichenden Nebel entgegen. Das kleine Reptil zappelte so stark, dass Thross alle Mühe hatte, es festzuhalten. Auf den ersten Blick sah es genauso aus wie die Exemplare, die die Drachenreiterin aus dem Hals des Blutdrachen geklaubt hatte, doch dann begriff Daart, was nicht stimmte: Die Farbwechsel von Kupfer zu Grau waren genau entgegengesetzt zu dem, was er bislang zu Gesicht bekommen hatte. Gegengift, hämmerte es in seinem Kopf. Als Thross die Hand ausstreckte, einen letzten Moment zögerte und dann dem Schlangenkopf so viel Spielraum ließ, dass er nach vorn schnellen und in Daarts Handfläche beißen konnte, wusste er noch nicht, worauf er sich da einließ. Und was er Carnac antat, indem er sich mit rücksichtsloser Lebensgier für den Schlangenbiss entschied.
TEIL 2
Der Tod klopft nicht an, wenn er dir das Liebste rauben will. Das zwölfte Buch
1 Sie hatten die Nacht in der Schädelhöhle verbringen müssen. Am nächsten Morgen, als Daart schweißnass und mit einem so trockenen Mund aufgewacht war, dass er einen ganzen See hätte leer trinken können, hatte Carnac bereits mit an den Leib gezogenen Beinen an dem einfachen Lagerfeuer gesessen, das Thross in der Nacht zuvor entzündet hatte. Ihr Körper zitterte vor Kälte, und ihre Lippen waren blau gefroren, während es Daart so vorkam, als dringe heiße Wüstenluft durch die beiden Augenhöhlen in den riesigen Schädel ein und wolle ihn mit trockener Hitze ersticken. Mühsam stemmte er sich hoch und ging zu Carnac hinüber. Als er die erschöpfte Schlange neben ihr eingerollt liegen sah, auf deren überwiegend kupferfarbener Haut der Widerschein des Lagerfeuers bizarre Muster zauberte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Der Biss der Schlange war nicht schlimm gewesen, aber das, was an Schmerzen durch seinen Körper gezuckt und an wirren Bildern entstanden war, hatte ihn fast um den Verstand gebracht. Er wusste nicht mehr genau, was mit ihm passiert war, und er versuchte, die Schatten der Erinnerung genau dort zu belassen, wo auch jeder Albtraum seinen Ursprung hatte: tief in seinem Innern. Carnac schien es keineswegs besser ergangen zu sein, eher noch schlimmer, denn die Schlange hatte sich erst eine halbe Ewigkeit erholen müssen, bevor ihr Gift ausreichte, um auch sie zu retten. So zumindest hatte es ihm Thross erzählt. 125
»Daart.« Es war mehr ein Keuchen als ein gesprochener Laut, und als Carnac den Kopf wandte, erschrak er umso mehr. Sie sah fürchterlich aus. Die Ränder unter ihren Augen hatten sich so tief eingegraben, wie er es niemals für möglich gehalten hätte, und ihre Gesichtshaut erinnerte eher an die Farbe des riesigen Totenschädels, in dem sie Zuflucht gefunden hatten, statt an die eines lebenden Menschen. »Wie … wie geht es dir?« Sie rang sich jedes einzelne Wort ab. Aber das Schlimmste, das, was Daart einen solchen Schmerz zufügte, als hätte jemand einen glühend heißen Dolch in seiner Brust versenkt, war, dass sie sich ein Lächeln abzuringen versuchte. Es misslang gründlich. Warum nur, dachte Daart verzweifelt, habe ich nicht zuerst Carnac von der Schlange beißen lassen? »Setz dich zu mir«, sagte Carnac. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, bis Thross von seinem Erkundungsgang zurückkehrt. Wir sollten sie nutzen, um miteinander zu reden.« Ja, dachte Daart. Zum Beispiel darüber, dass sie sich beinahe aufgeopfert hatte für ihn. Aber er brachte kein Wort heraus. »Das Gegengift«, begann Carnac mühsam. »Ja, ich weiß«, sagte Daart voll schlechten Gewissens, »du hast nicht mehr genug abbekommen.« Carnac wartete, bis er sich neben sie gesetzt hatte, was eine ganze Weile dauerte. Erst dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Du hast es immer noch nicht verstanden, nicht wahr?« Daart brachte es nicht über sich, ihr ins Gesicht zu 126
sehen. Stattdessen blickte er in das Feuer vor sich, in die flackernden und prasselnden Flammen, die gierig über das wenige trockene Holz leckten, das Thross hier kunstvoll aufgeschichtet hatte, bevor er gegangen war, um nach Grobian und dem Drachen zu sehen. Daart war immer noch viel zu heiß, und trotzdem erschien ihm der Anblick des Feuers wie der eines vertrauten Freundes, den er lange nicht gesehen hatte. »Doch, ich habe es verstanden«, sagte er schließlich. »Du wolltest dich aufopfern. Du wusstest, dass das Schlangengift nicht für uns beide reichen würde …« Carnac machte eine müde, schrecklich erschöpft wirkende Handbewegung, die ihn mitten in der Rede abbrechen ließ. »Du irrst dich. Wie immer weigert sich dein Verstand, den wahren Ablauf der Zeit zu begreifen.« Daart sagte gar nichts dazu. Er fand Carnacs Bemerkung unangebracht und vor allem vollkommen unnötig, aber es war keine Spitze darin gewesen wie so oft zuvor, wenn sie ihn hatte kränken oder ärgern wollen. Als sie ihm eine weitere Erklärung schuldig blieb, fragte er schließlich: »Was verstehst du unter dem wahren Ablauf der Zeit?« Carnac zuckte leicht zusammen, so als habe sie ihn vergessen – und erst recht das, was sie ihm gerade gesagt hatte. »Du glaubst offensichtlich, das Gegengift habe uns gerettet?«, fragte sie schließlich. Als Daart nickte, fuhr sie fort: »Aber das stimmt nicht. Die Dosis der kleinen Schlange, die Thross dem Blutdrachen geraubt hat, könnte nicht einmal ein Kind retten, geschweige denn einen Erwachsenen, in dessen Adern das Gift schon stundenlang pulsiert.« 127
Jetzt wandte Daart doch den Kopf in Carnacs Richtung. »Was meinst du damit?« »Ist das nicht offensichtlich?« Carnac griff nach Daarts Hand, drückte sie kurz und hielt sie dann hoch, sodass das flackernde Licht des Feuers sie in blutig rotes Licht tauchte. »Fällt dir denn gar nichts auf?« Was soll mir denn auffallen?, hätte Daart beinahe gefragt. Doch dann sah er es selbst. Dort, wo sich auf dem Handrücken für gewöhnlich die Adern nur schwach abzeichneten, verliefen jetzt giftig grüne Bahnen, manche kupferfarben schimmernd, einige fast schwarz, so als hätte Fäulnis nach seinem Körper gegriffen. Und Carnacs Hand sah keineswegs besser aus, wie er erkennen musste. Erschrocken hob er den Blick, sah ihr mitten ins Gesicht – und erkannte auch hier Anzeichen einer vollkommen unnatürlich wirkenden Verfärbung, wenn auch bei weitem nicht so ausgeprägt wie auf den Händen. »Die Blutschlange hat uns gezeichnet«, sagte Carnac düster. »Ihr Gift ist weiter in uns. Und wenn wir es nicht mit dem Gift einer größeren Schwesternschlange vollkommen neutralisieren können, werden wir sterben. Und das schon sehr bald.« Daart sagte gar nichts dazu. Die Worte hätten ihn überraschen sollen. Aber das taten sie nicht. Der Tod war sein ständiger Begleiter gewesen, solange er denken konnte. In Guan, diesem erbärmlichen Dorf, in dem ihn Zar’Toran untergebracht hatte, waren die Menschen wie die Fliegen gestorben. Einmal war er inmitten einer moosigen Felslandschaft Zeuge geworden, wie jemand an den Folgen eines Schlangenbisses gestorben war, ein 128
älterer Mann. Es hatte nicht lange gedauert, höchstens ein paar Stunden, und zum Schluss war ihm weißer Schaum aus dem Mund gelaufen und aus seinen Augen blutige Tränen. Daart war weggelaufen, damals, ein kleiner, verängstigter Junge, der so getan hatte, als wolle er Hilfe aus dem Dorf holen, in Wirklichkeit aber nur vor dem Tod hatte fliehen wollen, der seine Knochenhand schon nach dem Alten ausgestreckt hatte und sich vielleicht auch ihm zugewandt hätte, wäre er nicht vor ihm davongelaufen. Jetzt, nach all den Jahren, hatte ihn der Tod wieder eingeholt. Es war ein grausames Spiel, das er mit ihnen trieb. Ein Spiel, bei dem der Einsatz ihr Leben war und die verzweifelte Hoffnung, doch noch irgendwie davonkommen zu können, das Einzige, an das sie sich klammern konnten. »Du musst mir schon ein bisschen mehr erzählen.« Er räusperte sich in dem verzweifelten Versuch, seiner Stimme wieder einen halbwegs menschlichen Klang zu verleihen. »Was ist eine Schwesternschlange?« Carnac streckte die Hand vor, ganz langsam, wie eine uralte Frau, und dann griff sie nach einem Zweig, um damit das langsam in sich zusammenfallende Feuer so gut es ging wieder neu zu entfachen. »Ich habe wirklich nicht gewusst, dass an den alten Geschichten etwas dran ist.« Sie schüttelte ganz sachte den Kopf und sah ihn dann an. Er wich ihrem Blick aus. »Der Norden Enwors ist das wahrscheinlich am wenigstens erforschte Gebiet der ganzen Welt.« Als er keine Anstalten machte, darauf zu antworten, fuhr sie fort: »Es liegt wohl daran, dass dort das Reservat lag, in welches man die Quorrl ge129
sperrt hatte. Selbst heute ist es noch fest in der Hand der dort verbliebenen Reptilienkrieger, und soviel ich weiß, hat es nie ein Mensch betreten – zumindest kein Mensch, der lebend wieder zurückgekehrt wäre.« Daart nickte. »Ich weiß. Wie auch übrigens jeder andere, der seine Ohren nicht vor den Geschichten verschließt, die man sich an allen Lagerfeuern zwischen dem Drachenland und dem Nebelmeer erzählt. Es wird Zeit, dass du mir etwas Neues sagst.« Carnac wandte sich wieder dem Feuer zu und stocherte eine Weile schweigend in der Glut herum. Es hätte etwas Behagliches haben können, wenn die Umstände anders gewesen wären. »Die Sümpfe um das Blutmeer herum sind rot gefärbt, und es heißt, dass man wie durch Blut watet, wenn man sich ihnen nähert«, berichtete sie schließlich. »Es gibt nicht viele Menschen, die sich in diese Gegend verirrt haben, und wenn sie zurückkehrten, waren sie wie von Sinnen, zitterten am ganzen Leib und zuckten zusammen, sobald jemand nur hilfreich die Hand nach ihnen ausstreckte.« »So, als hätten sie etwas Schreckliches erlebt?« Carnac nickte langsam. »Etwas Schreckliches erlebt – oder gesehen.« »Drachen zum Beispiel, aus deren Hälsen sich Schlangen wanden?« Carnac zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Unter den Prophetinnen kursieren uralte Geschichten, die sich zum Teil widersprechen und so wirr sind, dass man ihnen kaum einen Sinn abringen kann. Nur in einem Punkt ähneln sie sich alle.« Carnac riss mit ihrem Stock etwas zu heftig einen brennenden 130
Zweig hoch, der daraufhin durch die Luft peitschte und so nah an Daarts Wange vorbeizischte, dass er die Hitze spüren konnte, bevor er irgendwo hinter ihm aufschlug. »Es geht immer um den Ausgleich. Man erzählt sich, dass in den Blutsümpfen alles zweifach existiert, nicht wie Mann und Frau, und auch nicht als Unterschied zwischen Gut und Böse, sondern eher wie … wie zwei Seiten ein und desselben Dinges.« Daart brauchte eine Weile, um ihren Worten einen Sinn abringen zu können. »So wie die Schlangen?«, vermutete er. »Es gibt zwei Sorten, die sich auf irgendeine Weise ergänzen.« »Nicht nur auf irgendeine Weise«, antwortete Carnac leise. »Diese Schlangen sind tödlich – nicht für ihren Wirt, den Blutdrachen, aber für alle anderen Lebewesen. Es sei denn, das Gift ihrer Zähne gelangt in einer ausgewogenen Dosis beider Arten in den Körper eines Opfers.« »Dann hebt sich das Gift auf.« Daart griff seinerseits nach einem Stock, um nun ebenfalls in der Glut herumzustochern, beließ es dann aber dabei, zwei Linien vor sich in den Staub zu ziehen. »So weit habe ich das verstanden. Aber was heißt das? Dass man sich ständig neu beißen lassen muss: erst von der einen Schlangensorte«, er verlängerte den einen Strich im Staub vor sich, »und dann wieder von der anderen«, er verlängerte den anderen Strich, bis er die Länge des anderen erreichte, »um den Giftanteil beider Sorten ausgewogen zu halten?« »Hoffentlich nicht«, entfuhr es Carnac erschrocken. »Aber wie soll es dann funktionieren?« Carnac legte den an seinem Ende glimmenden Stock 131
beiseite, zog die Knie an den Körper und umschlang sie mit beiden Armen. »Ich habe mir diese Frage nie gestellt. Es war nur eine alte Geschichten von vielen, die die Große Prophetin Fatama an uns weitergegeben hat.« Sie sah kurz zu ihm hinüber. »Vielleicht hast du Recht. Vielleicht müssen wir bis zum Ende unserer Tage mit dem Schlangengift in unserem Körper leben, immer auf der Suche nach Exemplaren, die uns mit der jeweiligen Gegendosis versorgen können.« »Schöne Aussichten.« »Nein, nein«, sagte Carnac bestimmt. »Ich habe nur gesagt, dass es so sein kann. Aber ich glaube nicht daran. Und deswegen müssen wir los. Sofort. Lass uns Thross entgegengehen.« Daart sah sie überrascht an. Carnac wirkte wahrhaftig nicht so, als habe sie sich zu einem sofortigen Aufbruch gerüstet. Sie hatte noch immer die Arme um die angezogenen Knie geschlungen und versuchte offensichtlich das Zittern ihres Körpers durch die kauernde Haltung nahe am Feuer zu unterdrücken. »Mal ganz abgesehen von dem, was uns Thross berichten wird«, meinte Daart, »wohin willst du denn eigentlich?« »Ich will nichts weiter als Nubina bekämpfen«, sagte Carnac düster. »Aber ich fürchte, das müssen wir für den Moment zurückstellen. Und ganz abgesehen davon, dass wir das Riesenglück haben, in einer solchen Situation jemanden wie Thross an unserer Seite zu wissen – du solltest nicht vergessen, dass er trotz seiner Tapferkeit und seiner erstaunlichen Fähigkeiten nichts weiter als ein kleiner Junge ist.« 132
»Ganz im Gegensatz zu Grobian«, gab Daart zu bedenken. »Der ist nichts weiter als ein etwas zu groß geratener Junge.« Carnac warf Daart einen fast scheuen Seitenblick zu, bevor sie sich wieder dem Feuer zuwandte. »Im Zweifelsfall kannst du von Thross weitaus mehr Verstand erwarten als von dem Groll. Es sind Geschichten über die Grolle im Umlauf, die dich, gelinde gesagt, in Erstaunen versetzen würden. Ihre Art, eins und eins zusammenzuzählen, unterscheidet sich … nun, lass es mich mal so ausdrücken, doch sehr von der Art, wie wir das für gewöhnlich tun.« »Ist er denn trotzdem unser Verbündeter?« »Wenn du ihn richtig zu nehmen weißt, sicherlich der treueste, den du finden kannst«, sagte Carnac ernsthaft. »Aber mach niemals den Fehler, ihn anders als einen Groll zu behandeln. Er ist nun mal kein Mensch.« »Und was genau bedeutet das?« »Ich fürchte, dass wirst du allein herausfinden müssen.« Carnac unterbrach sich, räusperte sich mühsam und atmete zwei-, dreimal tief durch, bevor sie weitersprach. »Vollkommen unabhängig, ob uns der Groll nun weiterhelfen wird oder nicht: Uns bleiben nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder machen wir uns auf dem kürzesten Weg zum Blutmeer auf. Denn nur dort können wir sicher sein, auch wirklich die Schlangen zu finden, die wir brauchen.« »Und die andere?«, fragte Daart voll düsterer Vorahnung. »Wir müssen dem Drachen hinterher.« Carnac schloss einen Herzschlag lang die Augen, und dann überlief sie 133
ein Frösteln, das von ihren Fingerspitzen auszugehen schien, ihre Arme erfasste und dann ihren ganzen Oberkörper erbeben ließ. »Auf jedem Blutdrachen leben beide Schlangenarten.« Daart sagte nichts dazu. Die Vorstellung von Schlangenleibern, die sich in den Hals des riesigen Drachen bohrten, war für sich genommen schon abstoßend genug. Viel schlimmer aber war das, was Carnac mit ihrer knappen Bemerkung andeutete. »Du meinst also, wir gelangen so ohne weiteres auf den Drachenrücken und können uns dann die am besten passende Schlange rauspflücken?« Carnac umfasste ihre Ellbogen mit aller Kraft, aber das Zittern in ihren Armen und ihrem Oberkörper wollte einfach nicht nachlassen. »So ungefähr.« »Das gefällt mir nicht.« »Ach – mir vielleicht?« Carnac ließ jetzt die Arme sinken, stützte sich auf die Hände auf und drückte sich hoch. Ihre Bewegung wirkte erstaunlich flüssig und kraftvoll. Auch als sie sich umdrehte und die ersten Schritte machte, sah das nicht anders aus als sonst. Doch dann, an der Schwelle des flackernden Lichtscheins, den das Feuer warf, schien es, als griffen die dunklen Schatten der Schädelhöhle nach ihr, um sie zu Boden zu zerren. Sie knickte in den Knien ein und taumelte ein Stück weiter, bevor sie sich wieder fing. Daart beeilte sich, ihr zu folgen. Das hieß, er versuchte es, aber er kam weit weniger elegant als Carnac in die Höhe, stolperte schon beim ersten Schritt und wäre wohl der Länge nach hingeschlagen, wenn sie ihn nicht am Arm gepackt und bis zur nächsten Wand gezogen 134
hätte, die gekrümmt war, wie man es im Innern eines riesigen Schädels erwarten konnte. Sie lehnte sich an, und Daart beeilte sich, ihrem Beispiel zu folgen. Vor seinen Augen flirrten bunte Kreise, und sein Atem ging stoßweise. »Ich weiß nicht«, keuchte er, »aber so richtig gerüstet für die Jagd auf einen Blutdrachen scheinen wir nicht zu sein.« Carnac stieß einen Laut aus, den Daart zuerst für ein erschrecktes Keuchen hielt, bevor er begriff, dass es ein Lachen war – eines von der verzweifelten, düsteren Sorte. »Ja«, stieß sie hervor, »wir sollten uns dringend einen Verbündeten suchen, der uns die Drecksarbeit abnehmen kann.« »Ich glaube, an Drachentötern herrscht augenblicklich ein ziemlicher Mangel«, sagte eine müde Stimme vom Eingang der Schädelhöhle her. Es war Thross, der nun doch von seinem Erkundungsgang zurückgekehrt war, bevor sie ihm hatten entgegengehen können, und Daart fragte sich, ob er nicht vielleicht schon länger dort gestanden und ihr Gespräch belauscht hatte. »Doch es gibt auch eine gute Nachricht«, sagte der Junge, während er mit raschen und dennoch irgendwie schleppenden Schritten näher kam. »Ich habe Grobian gerade noch erwischt, bevor er weg ist.« Daart drehte sich mühsam zu dem Jungen um. »Und das soll eine gute Nachricht sein?« »Aber ja.« Thross blieb stehen, musterte erst Carnac und dann Daart mit einem aufmerksamen Blick, bevor er sich durch das verschwitzte Haar fuhr und einen lei135
sen, erschöpften Seufzer ausstieß. »Wir müssen ihm hinterher. Grobian hat die Spur des Blutdrachen aufgenommen. Aber es kann sein, dass er ihn wieder verliert, wenn der Drache nicht bald landet.« Daart starrte den Jungen eine ganze Zeit lang sprachlos an. »Willst du damit etwa behaupten, dass der Groll dem Drachen hinterhergeflogen ist?« Thross starrte Daart an, als zweifelte er an dessen Verstand, dann stahl sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. »Grolle können wirklich viel, und sie sind zudem erstaunlich tapfer und weitaus schlauer, als sie aussehen – aber fliegen tun sie höchstens, wenn sie jemand von einem Hang runterschubst, und dann auch nur ein kurzes Stück, bevor sie so heftig wie eine Steinlawine aufschlagen.« »Ja, natürlich.« Carnac versetzte Daart einen Rippenstoß, der wahrscheinlich nur wegen ihres angeschlagenen Zustands erstaunlich sanft ausfiel. »Daart weiß sehr gut, dass Grolle nicht fliegen können. Er will nur wissen, wie es sein kann, dass Grobian mit dem Blutdrachen mithalten kann, wenn der weiterfliegt.« »Weil Grolle keine besonders große Rücksicht auf das nehmen, was ihnen in den Weg kommt«, antwortete Thross sofort. »Das liegt nun einmal in ihrer Natur.« »Aber bedeutetet das nicht auch, dass der Blutdrache Grobian zwangsläufig bemerken muss?«, fragte Daart. »Schließlich kann es ihm doch kaum verborgen bleiben, wenn da ein Groll unter ihm durch die Landschaft tobt und alles aus dem Weg räumt, was ihm in die Quere kommt.« »Blutdrachen kümmern sich nicht um jede Kleinig136
keit«, sagte Thross. »Aber im Prinzip hast du natürlich Recht. Außerdem besteht leider kaum eine Chance, dass Grobian mit dem Blutdrachen mithält. Dafür ist er viel zu schnell.« Daart zählte in Gedanken ganz langsam bis fünf. »Das alles bringt mich jetzt nicht wirklich weiter«, sagte er dann betont ruhig. »Vor allem beantwortet es mir nicht die Frage, wohin sich der Drache nun gewendet hat.« »Ja.« Thross kratzte sich unglücklich am Kopf. »Ich verstehe ganz genau, was du damit meinst. Aber immerhin ist Grobians Spur kaum zu übersehen.« »Weder für uns noch für unsere Feinde«, sprach Carnac Daarts Befürchtung aus. »Schon allein aus dem Grund sollten wir sehen, dass wir jetzt endlich loskommen.« Und damit schwankte sie auch schon auf den Ausgang der Höhle zu. »He!«, rief ihr Daart nach. »Hast du nicht etwas vergessen?« »Die Schlange«, keuchte Thross. »Bei allen Göttern, ihr habt die Blutschlange doch nicht etwa in der Höhle gelassen?« Und damit stürmte er auch schon los, in Richtung des verglimmenden Feuers, das er mit so viel Mühe vor wenigen Stunden entzündet hatte. Du solltest dich auf deine Schritte etwas besser konzentrieren, meldete sich Daarts innere Stimme zu Wort. Sonst könnte dein nächster dein letzter sein.
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2 Der Spur des Grolls zu folgen erwies sich auf der einen Seite als Kinderspiel, auf der anderen Seite aber auch als wahrer Hindernislauf. Wenn man bedachte, dass es nur ein Groll gewesen war, der diese Spur der Verwüstung durch den Wald geschlagen hatte, über den der Drache mit Hilfe seiner riesigen Schwingen wahrscheinlich mühelos hinweggeglitten war, dann wollte Daart gar nicht wissen, wie es in der Umgebung einer Groll-Ansiedlung aussah. Während er sich den Weg durch ein Gewirr aus abgerissenen, teilweise regelrecht zerfetzten Ästen und achtlos beiseite geworfenem Gezweig und abgeknickten kleineren Bäumen suchte (wobei er wenigstens nicht darauf achten musste, ob er irgendwelche Pflanzen niedertrampelte, da alles, was unter die Füße des Grolls geraten war, sowieso bereits zu einer unkenntlichen gelblich grünen Masse zerstampft war), begriff er, was Carnac damit gemeint hatte, bei den Grollen ergebe eins und eins nicht unbedingt das, was sie gewohnt seien. Vor allem fragte er sich, woher der Groll die Energie nahm, seinen zuerst fast schnurgeraden, dann eher im Zickzack verlaufenden Weg mit sturer Zerstörungswut Schritt um Schritt weiterzuverfolgen. Nicht, dass ihn diese Frage wirklich tief beschäftigte. Dafür musste er sich viel zu sehr darauf konzentrieren, nicht zu stolpern oder das Gleichgewicht zu verlieren, wenn er über einen umgeknickten Baumstumpf hinweghumpelte – denn als etwas anderes konnte man seinen Versuch, einigerma138
ßen mit dem vorauseilenden Thross mitzuhalten, nicht bezeichnen. Daart hatte darauf gesetzt, dass es ihm nach einer Weile leichter fallen würde, neben Carnac herzuhetzen. Die Hoffnung hatte sich tatsächlich bewahrheitet: für einhundert, zweihundert Schritte vielleicht, dann war es ihm nicht nur leichter gefallen zu laufen, sondern er hatte beinahe seine alte Form wiedergefunden und beharrlich die Distanz zu dem leichtfüßigen Thross verringern können. Dann war er zum ersten Mal gestolpert, eingeknickt und fast nicht mehr hochgekommen, wie ein alter Mann, der Mühe hatte, den täglichen Weg von seiner Hütte ins Dorfzentrum zu bewältigen. Es war nicht bei dem einen Stolpern geblieben. Zwar hatte er seine Geschwindigkeit ungefähr beibehalten können, aber seine Bewegungen waren so unkontrolliert, dass er fürchten musste, jeden Moment der Länge nach hinzuschlagen. Carnac – das erkannte er mit den wenigen Seitenblicken, die er für sie erübrigen konnte – erging es nicht viel besser. Dazu hielt sie noch in der Rechten die kleine, Leben spendende Schlange umklammert, die sie beinahe in der Schädelhöhle vergessen hätten, wenn Thross sie nicht im letzten Moment darauf aufmerksam gemacht hätte; und das behinderte sie zusätzlich. Die Schlange dachte gar nicht daran, den Ausflug aus der stickigen Höhle zu genießen, sondern wand sich hin und her, so als spüre sie, dass die Hand, die sie umklammert hielt, sich jederzeit öffnen könnte, um einen Sturz abzufangen oder einen herabfallenden, von Grobian gelockerten Ast beiseite zu schlagen. Was dann passieren würde, musste 139
auch Carnac klar sein. Umso weniger verstand er, warum sie nicht so vernünftig war, die Schlange Thross zu übergeben, der sie ja schließlich auch sicher in die Höhle getragen hatte. Schließlich blieb Carnac stehen, stemmte die verbliebene linke Hand in die Hüfte und atmete ein paar Mal keuchend ein und aus. Daart folgte ihrem Beispiel, bevor er sich zu ihr umdrehte und fragte: »Brauchst du eine Pause?« »Genauso wenig … wie du«, keuchte Carnac. »Schließlich … geht es um keine andere Kleinigkeit … als um unser Leben. Dafür halte ich gern so lange aus, bis wir den verrückten Groll vor uns durch den Wald toben sehen.« »Vorausgesetzt, der Drache ist in der Nähe«, erinnerte sie Daart. Er warf einen kurzen Seitenblick auf Thross, der noch ein Stück weiter gerannt war, dann aber umgedreht war und jetzt mit besorgtem Gesichtsausdruck auf sie zuhielt. »Wobei ich mich frage, was wir eigentlich tun werden, wenn wir den Drachen finden. Er sah mir nicht gerade so aus, als ob er sich in aller Ruhe von uns besteigen ließe, um ihm eine geeignete Schlange aus dem Hals zu rupfen.« »Wir vergessen Plan A und setzen gleich auf Plan B«, stieß Carnac hervor. »Was war denn Plan A?«, fragte Daart irritiert. »Keine Ahnung«, murmelte Carnac, während sie der sich unruhig zwischen ihren Fingern windenden Schlange einen misstrauischen Blick zuwarf. »Und Plan B?« Carnac sah kurz auf. »Improvisieren – was sonst?« 140
»Ich will euer Gespräch ja nicht stören«, sagte Thross, als er bis auf wenige Schritte herangekommen war, »aber wir können hier nicht einfach stehen bleiben.« »Und warum nicht?«, fragte Carnac, ohne den Blick von der Schlange zu wenden. »Weil es kein guter Rastplatz ist.« Thross deutete auf die sie umgebenden Hügel. »Wenn dort jemand ist, wird er Grobians kleinen Trampelpfad kaum übersehen können. Und uns damit auch nicht.« »Und das, ob wir nun laufen oder hier herumstehen«, entgegnete Daart bissig. »War das die umwerfende Erkenntnis, die du uns mitteilen wolltest?« Der Junge starrte ihn sprachlos an. Daart bedauerte augenblicklich die ihm unbedacht entwichenen Worte – und vor allem den beißenden Spott, der sich in seine Stimme geschlichen hatte. Thross hatte sein Leben riskiert, als er auf den Schultern des Grolls gegen den Blutdrachen angestürmt war, ganz zu schweigen davon, dass er es danach auf sich genommen hatte, dem Drachen auf irgendeine abenteuerliche Weise die kleine Schlange zu entreißen. Hätte er das alles nicht für sie getan, würden sie sich jetzt wahrscheinlich im Todeskrampf in der Schädelhöhle winden. »Entschuldige«, sagte er etwas unbeholfen; schließlich war er es nicht gewohnt, sich bei Kindern zu entschuldigen, »ich wollte dich nicht beleidigen.« »Schon gut«, sagte Thross kurz. In seinem Blick flackerte etwas, das Daart gar nicht gefiel, aber auch ein pures Zeichen seiner Nervosität sein konnte. »Wahrscheinlich hast du sowieso Recht. Aber wir sollten zu141
mindest in den Schatten eines der größeren Bäume gehen …« Er hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als Carnac auch schon losging und sich zwischen zwei hoch gewachsenen Zederntannen hindurchpresste, um sich ein Stück entfernt von dem Weg, den der Groll hier im Sturmschritt angelegt hatte, im Moos niederzulassen. Daart folgte ihrem Beispiel, während sich Thross umdrehte und zu den Hügeln hinaufstarrte, von denen er gerade gesprochen hatte. »Hast du etwas entdeckt?« Daart ließ sich wacklig und mit einem leichten Seufzer neben Carnac nieder. »Vielleicht die Reflexionen der Silbermasken von ein paar Kriegern, die uns auf den Fersen sind?« »Nein«, antwortete Thross knapp. Dann wandte er sich ab, trat ebenfalls in den Schatten der Zederntannen und lehnte sich an den Stamm eines der Bäume. »Die Schlange müsste bereits wieder genug Gift gebildet haben. Und so wie es aussieht, gerade noch rechtzeitig. Denn wenn nicht bald etwas passiert …« Er brauchte den Satz nicht zu beenden, Daart wusste auch so, was er meinte. Carnac hatte die Augen geschlossen und gab sich offenbar Mühe, ruhig und gleichmäßig zu atmen, aber so ganz wollte ihr das nicht gelingen. Daart beobachtete mit wachsender Sorge, wie sich ihr Brustkorb ungleichmäßig hob und senkte und ihre Nasenflügel unruhig flatterten. Ihm selbst machte das Atmen nicht solche Mühe, was aber daran liegen mochte, dass ihn die Schlange an einer weitaus tiefer gelegenen Stelle erwischt hatte als Carnac. Dafür zitterten seine Hände genauso wie die ihren, und er spürte 142
den gleichen kalten Schweiß auf der Stirn, wie er in glitzernden Perlen zwischen den verklebten Haarsträhnen Carnacs zu erkennen war. »Ihr seid jetzt auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden«, sagte Thross leise. Das Flackern in seinem Blick verstärkte sich, und plötzlich wusste Daart, was es war: Angst. Der Junge fürchtete den Moment, an dem ihre Kräfte nachließen und sie anfingen, blutigen Schaum auszuatmen, und ihre Augen glasig wurden. Er hatte Angst davor, Zeuge ihres Todeskampfes zu werden. »Keine Sorge«, sagte Daart. »Wir sind schon länger auf diese Art miteinander verbunden.« »Das meine ich nicht.« Thross’ Blick huschte zwischen ihnen beiden hin und her. »Es wird vielleicht noch eine Weile … dauern, bis wir den Blutdrachen eingeholt haben.« »Ja«, sagte Carnac grimmig. »Aber glaube mir: Er wird uns nicht entkommen. Zumindest nicht, solange dein großer hässlicher Freund ihm auf den Fersen bleibt.« »Und was, wenn er nun wieder zum Blutmeer zurückfliegt?«, fragte der Junge fast schüchtern. Carnac sah hoch und maß ihn mit einem misstrauischen Blick. »Weißt du vielleicht mehr als wir?« »Möglich.« Thross zuckte unglücklich mit den Schultern. »Zumindest darüber, wie ihr jetzt miteinander verbunden seid.« »Ja.« Carnac machte eine unwillige Handbewegung, die die Schlange dazu brachte, sich fast panisch zu winden, und es kostete sie wohl einige Mühe, den sich er143
staunlich weit zurückbiegenden Schlangenkopf weit genug von ihrem Handrücken entfernt zu halten, damit das Tier sie nicht biss – obwohl ihr das in diesem besonderen Fall eher Linderung als Qual versprochen hätte. »Du meinst, weil wir uns dieses kleine Viech hier teilen müssen – und uns nicht trennen dürfen, solange wir beide darauf angewiesen sind, regelmäßig von ihm gebissen zu werden.« »Das auch«, antwortete Thross leise. »Aber nicht nur. Es sind schließlich Blutschlangen, die euch gebissen haben. Und über den Biss dieser Schlange, die du da umklammert hältst, vermischt sich euer eigenes Blut.« Daart, der dem Gespräch bislang eher abwesend gefolgt war, hob alarmiert den Kopf. »Also gehen wir durch sie eine Art Blutbindung miteinander ein?« »Ja.« Thross nickte flüchtig. »Die Leute, die in der Nähe des Blutmeeres wohnen, messen solcherart Bindungen eine göttliche Bedeutung bei. Es heißt, dass sich Menschen, die durch das Blut der Schlangen verbunden sind, nie wieder voneinander trennen dürfen. Und dass der Schmerz des einen zeit ihres Lebens der Schmerz des anderen sein wird. Genauso, wie sie künftig auch andere Empfindungen miteinander teilen werden, ob sie nun wollen oder nicht.« Daart wechselte einen langen Blick mit Carnac. Es gab viel Unverständliches und schwer Nachvollziehbares auf Enwor, aber das war mit das Verrückteste, was Daart je gehört hatte. »Ein Aberglauben«, sagte er schließlich. Carnac nickte heftig. »Ich wollte es euch ja nur sagen, bevor ihr das nächste Mal euer Blut über die Schlange zu teilen gedenkt«, 144
fuhr Thross ungerührt fort. »Und bevor ich euch das andere sage, was mir aufgefallen ist.« »Welches andere?«, fragte Daart beunruhigt. »Entweder die Sonne verhält sich ganz merkwürdig«, antwortete Thross, »oder Grobian ist im Kreis gelaufen.« Daart starrte Thross einen Herzschlag lang sprachlos an, bevor er den Kopf in den Nacken legte und den Blick hinauf in den wolkenverhangenen Himmel richtete. Der Anblick traf ihn wie ein Schlag. Er hätte es schon vorher bemerken müssen – und er war sich sicher, dass er das in jeder anderen Situation auch getan hätte: Die Sonne war tatsächlich nicht dort, wo sie sein sollte, wenn sie von der Schädelhöhle aus der zuerst eingeschlagenen Richtung auch nur annähernd gefolgt waren, sondern sie stand fast genau an der entgegengesetzten Stelle. »Und das ist noch nicht alles«, sagte Thross. »Ich habe auch die Hügel erkannt. Wir sind auf dem Weg zurück zu Nubinas Heerlager.«
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3 Daart starrte Thross eine ganze Zeit lang drohend an, während sich seine Gedanken überschlugen und er verzweifelt versuchte, den Worten des erschöpft und mitgenommen wirkenden Jungen einen Sinn abzuringen. Thross schien seinen Gesichtsausdruck vollkommen falsch zu deuten, denn er stieß sich vom Stamm ab und machte einen unsicheren Schritt zurück, bevor er Daarts Blick so ruhig wie möglich zu begegnen suchte. »Ich kann doch nichts dafür«, sagte er schließlich kläglich. »Was? Dass wir im Kreis gelaufen sind?« Daart winkte mit einer müden Geste ab. »Natürlich nicht. Obwohl du es uns ruhig etwas früher hättest sagen können.« »Ich habe mich einfach auf Grolls Spur verlassen«, verteidigte sich der Junge. »Und außerdem auch ein bisschen auf euch beide. Schließlich heißt es, dass Satai einen untrüglichen Orientierungssinn hätten.« »Normalerweise«, brummte Daart. »Aber nicht ausgerechnet heute.« Und schon gar nicht in diesem Augenblick, fügte er in Gedanken hinzu. Er hätte sich vorhin erst gar nicht hinsetzen sollen. Jetzt war ihm nicht länger ein bisschen schwindlig, wie die ganze Zeit über, in der sie der Schneise der Zerstörung gefolgt waren, die der Groll im Wald hinterlassen hatte; jetzt hatte er eher das Gefühl, als drehe sich ständig etwas in seinem Kopf, und wenn er versuchte, einen Punkt zu fixieren – wie Thross’ Gesicht –, verschwamm es vor seinen Augen. 146
Er war eindeutig schon einmal besser in Form gewesen. »Die Frage ist, was wir jetzt tun«, begann er mühsam. Seine Zunge fühlte sich geschwollen, pelzig und vor allem vollkommen fremd an, so als gehöre sie gar nicht ihm. »Wenn wir schnell genug laufen, erwischen wir vielleicht den Schwanz des Drachen, während er schon mit dem Kopf hinter uns her ist.« »Genau das befürchte ich auch«, sagte Thross unglücklich. »Was?«, fragten Daart und Carnac wie aus einem Munde. »Es muss einen Sinn haben, dass der Drache hier im Kreis fliegt.« Etwas leiser und mit verschwörerischer Miene fuhr Thross fort: »Ich glaube auch gar nicht, dass es nur ein Kreis ist. Ich glaube, er zieht hier einen Kreis nach dem anderen.« »Aber warum sollte er das tun?«, fragte Carnac schleppend. Daart warf ihr einen raschen Blick zu. Ihr Gesicht schien erst zu flirren und zu zerfließen, dann aber schälten sich ihre Züge heraus, und als er blinzelte, um sie schärfer zu sehen, wünschte er sich noch im selben Moment, er hätte es nicht getan. Zu behaupten, Carnac sähe schlecht aus, wäre geprahlt. Ihr sowieso schon schmales Gesicht wirkte eingefallen und grau, und die Schatten unter ihren Augen waren keine Schatten mehr, sondern schwarze Balken. Das Schlimmste aber war die Hoffnungslosigkeit in ihrem Blick. Wenn sie sich nicht schon selbst aufgegeben hatte, dann war sie zumindest nahe dran. »Vielleicht sucht der Drache uns genau so, wie wir ihn suchen«, sagte Thross leise. 147
Carnac lachte rau und vollkommen humorlos auf. »Und dafür die ganze Plackerei? Wenn ich gewusst hätte, dass er uns sucht und früher oder später finden wird, wäre ich einfach in der Nähe der Höhle geblieben, statt mich auf diese wahnsinnige Stolperei einzulassen.« Sie warf Daart einen kurzen Blick zu. »Du warst nahe dran, lang hinzuschlagen, weißt du das eigentlich?« Daart hätte sie mit der Nase darauf stoßen können, dass es mit ihr in diesem Punkt wohl kaum besser bestellt war. Ihr eigener Gang hatte alles katzenhaft Leichte verloren und glich mittlerweile eher dem unsicheren Watscheln einer verschreckten Ente. Aber das auszusprechen wäre nicht gerade förderlich gewesen, und so behielt er den wenig schmeichelhaften Vergleich für sich. Viel wichtiger war, dass sie jetzt etwas gegen ihre augenblickliche Schwäche unternahmen. Sonst würden sie bei ihrer Drachenjagd früher oder später im wahrsten Sinn des Wortes auf die Nase fallen – und aus dieser Position heraus war schlecht gegen einen Drachen zu kämpfen, noch dazu gegen ein so gewaltiges Exemplar wie dem von der geheimnisvollen Drachenreiterin gelenkten Blutdrachen. »Die Schlange«, begann er, »du musst …« »Was muss ich?«, unterbrach ihn Carnac kraftlos. Sie hob die Hand, in der sich die kleine, kupferfarben schillernde Blutschlange mit aller Kraft wand und krümmte, als spüre sie, dass es jetzt um sie und ihr weiteres Schicksal ging. »Ich muss sie dir geben. Damit sie dich beißen kann und das tödliche Gift, das in deinen Adern pocht, mit ihrem eigenen Gift in ein Gleichgewicht bringt – ganz so, wie in den alten Heldenliedern der 148
Endoraner der Kriegsgott Ragort und die Liebesgöttin Arora immerfort um ein kämpferisches Gleichgewicht rangen.« »Nein«, sagte Daart entsetzt, und Thross fügte hinzu: »Bloß nicht.« »Und warum nicht?«, fragte Carnac. »Einen von uns muss sie doch schließlich zuerst beißen.« Daart setzte zu einer Antwort an, aber Thross kam ihm zuvor. »Ich kenne die Heldenlieder nicht, von denen du sprichst, aber ganz ähnliche Geschichten, von der Kraft des Wassers und der des Feuers, die sich im ewigen Gleichgewicht befinden. Doch um dies zu erreichen, muss man einen anderen Weg gehen. Wenn sich jetzt nur einer von euch dem Schlangenbiss ausliefert, reicht das Gift zwar, um sein Leben zu verlängern, aber der andere müsste dann unweigerlich sterben.« »Unsinn«, beschied ihm Carnac. »Daart ist schlechter dran als ich. Die Schlange soll ihn zuerst beißen. Dann kümmert ihr beiden euch um den Drachen, und ich bleibe hier mit der Schlange zurück und warte, bis sie wieder so viel Gift gebildet hat, dass sie auch mich in den Genuss ihrer kleinen, spitzen Zähne bringen kann.« »Das könnte dir so passen, mir die ganze Arbeit zu überlassen«, sagte Daart mit aller Heftigkeit, die er noch zustande brachte – was wahrscheinlich nicht einmal einen Spatzen beeindruckt hätte, den er hätte verscheuchen wollen. »Bitte, es ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für eine eurer unsinnigen Streitereien.« Thross hatte seine Stimme erhoben, als müsse er sie niederbrüllen, aber irgendwie hatte Daart das Gefühl, dass er eher 149
den Tränen nahe war, statt aus einem anderen Grund die Nerven zu verlieren. Das war auch kein Wunder angesichts ihres Zustands; schließlich hatte er sich in der Vergangenheit immer auf ihrer beider Kraft und Stärke verlassen können, von der im Augenblick nun wirklich keine Rede sein konnte. Ganz im Gegenteil waren sie jetzt eher auf ihn angewiesen. »Es bedarf einer besonderen Art der Giftabsonderung, und das Gift der Schlange könnte für euch beide reichen.« Die Stimme des Jungen wurde immer leiser. »Jedenfalls glaube ich das, nein, vielmehr bin ich fest davon überzeugt. Der Älteste hat uns einmal davon erzählt.« »Von den Schlangen?«, fragte Daart erstaunt. »Ja, von den Blutschlangen. Und der Blutbindung, die man durch sie erlangen kann.« »Was, bitte«, fragte Carnac abgehackt, so als bereite es ihr Mühe, jedes Wort zwischen Gaumen und Mundhöhle zu formen und dann von ihren Lippen zu entlassen, »bedeutet das?« »Ich müsste es versuchen.« Der Junge stieß einen tiefen, zittrigen Seufzer aus und ging dann auf Carnac zu, um sich neben ihr niederzuhocken. Sein Blick blieb dabei wie gebannt auf den Schlangenkopf gerichtet. »Gib mir die Schlange«, verlangte er. »Um dann was zu tun?«, fragte Carnac argwöhnisch. Thross zuckte mit den Achseln. »Hoffentlich das Richtige.« Er streckte die Hand aus, vorsichtig und langsam. Die Schlange zischte und versuchte vor ihm zurückzuweichen, so als spüre sie, dass er irgendetwas Unangenehmes mit ihr vorhatte. 150
»Die Blutbindung ist eine ganz besondere Bindung«, fuhr der Junge mit unsicherer Stimme fort. Daart nickte. Das hatte Thross bereits angedeutet, und er fand, es wurde Zeit, dass er langsam auf den Punkt kam – schon allein um Carnacs willen, deren rascher, sich in unzähligen Kleinigkeiten abzeichnender Verfall Daart mehr erschreckte, als er es sich eingestehen wollte. Es schien beinahe, als entweiche ihr mit jedem Wort und mit jeder noch so kleinen Bewegung ein Stück wertvoller Lebensenergie, als falle es ihr nun schon schwer, auch nur den Kopf zu heben; und er war sich nicht einmal sicher, ob sie dem Jungen die Schlange vorenthalten wollte, die er ihr abzunehmen gedachte, oder ob sie einfach nicht mehr die Kraft hatte, sie loszulassen. »Ihr solltet vorher wissen, was es damit auf sich hat«, fuhr Thross fort. Er ließ die ausgestreckte Hand wieder sinken, als Carnac keine Anstalten machte, ihm die Schlange zu reichen. Sein Blick war nach wie vor starr auf das ständig zuschnappende Schlangenmaul gerichtet – und auf die zwei gebogenen Giftzähne, die das kleine Reptil so blitzschnell in der Haut eines Opfers vergraben konnte … Daart sehnte sich nach dem rettenden Biss durch die spitzen Zähne, und als hätte die Schlange seine Gedanken erraten, zuckte ihr Kopf zu ihm herum. Die zwei kalten, fast schwarzen und nur zu den Rändern hin bläulichen Reptilienaugen fixierten ihn, und es schien Daart, als schimmere ein tiefes Verstehen in ihnen und so etwas wie eine tückische Intelligenz. Er hatte das Gefühl, als streife ein kalter, aber keineswegs unangenehmer Hauch seine Seele, so etwas wie das Versprechen, 151
ihm die Ruhe zu schenken, nach der er so lange gesucht hatte, allumfassend und für alle Zeiten. »Es heißt, dass sich manchmal auch in die Höhlen unterhalb des Schattengebirges eine Blutschlange verirrt«, drang Thross’ Stimme wie durch einen Nebel in seine Gedanken. »Vielleicht leben deshalb die vielen Geschichten und Legenden um sie bei allen Menschen und Völkern weiter, die sich vor den Feuerkriegern in die Tiefen des Schattengebirges zurückgezogen haben.« »So wie die Prophetinnen, bei denen ich groß geworden bin«, murmelte Carnac. »Und bei den Creepern und Cavernern …« Der Kopf der Schlange zuckte zu Carnac herum, und der unheimliche Bann, der Daart erfasst hatte, brach. Im gleichen Moment fuhr ein stechend scharfer Schmerz durch seinen Kopf, fast unerträglich, aber nicht länger anhaltend als ein Lidzucken. Was zurückblieb, war ein Gefühl schmerzlicher Leere – und die wachsende Gier nach dem, was ihm die Schlange versprochen zu haben schien, wenn sich ihre spitzen Zähne in seinen Unterarm bohrten wie schon einmal und das rettende Gegengift durch seine Adern schoss, die Wärme in seinem Körper steigen ließ und die Schwäche vertrieb, die ihn zu lähmen drohte … »Ja.« Der Junge fuhr sich durch das dreckige verschwitzte Haar, eine Geste, die ebenso zu ihm zu gehören schien wie seine Vorliebe für weitschweifige Erklärungen. »Wir Creeper stammen von den Menschen ab, die sich in einem der großen Kriege am tiefsten in das weitläufige Höhlensystem zurückgezogen haben. Deswegen kennen wir auch Geheimnisse, die kein anderer kennt …« 152
Daart schluckte hart und bitter und wandte sich ganz bewusst von der Schlange ab und dem Jungen zu, der sich in vollkommen überflüssigen Erklärungen verstrickte, statt endlich auf den Punkt zu kommen. »Auch die von den Blutschlangen?«, fragte er schroff. Thross nickte bekümmert. »Ja. Wir sind vielleicht die einzigen Menschen außerhalb des Blutmeers, die wissen, wie man mit ihnen umgehen muss. Ganz im Gegensatz zu den Blutdrachen. So ein Vieh hat sich natürlich nie in die Höhlen verirrt.« Wovon, bei allen Göttern, redest du da eigentlich?, hätte Daart den Jungen beinahe angefahren; schließlich war in diesem Augenblick nicht das Geheimnis der Blutdrachen für ihn überlebenswichtig, sondern das der Schlange, die Carnac nach wie vor umklammert hielt, als wäre sie mit ihr verwachsen. »In den alten Geschichten hieß es, die Blutdrachen seien so groß wie eine Tropfsteinhöhle der Caverner«, die Stimme des Jungen wurde ganz kläglich, »aber ich konnte ja nicht ahnen, dass das stimmt.« Er machte eine kleine Pause, und auf seinem Gesicht spiegelten sich Empfindungen, deren Ursache Daart im Augenblick nicht mehr kümmerte als der Dreck unter seinen Fingernägeln. »Als Grobian mit mir auf den Schultern dem Drachen folgte, wäre ich am liebsten abgesprungen. Es war schrecklich. Dieser riesige Drache mit einem Schweif, der eigentlich kein Schweif war, sondern fast so etwas wie eine Flosse … Und als die auf uns zugesaust kam, musste ich mich ganz tief bücken, und trotzdem hätte sie mir und Grobian beinahe den Kopf abgerissen. Und dann ist der völlig außer Rand und Band geratene 153
Groll nicht etwa abgehauen, nein, dann hat er versucht, die Drachenflosse mit beiden Händen zu packen; wozu weiß ich nicht, denn er hätte ja schlecht den Drachen durch die Luft wirbeln können, wie er das schon mal so zum Spaß mit Ziegen oder Schweinen macht, und ein Mal sogar mit einem Pferd, wo der Reiter noch drauf saß …« »Und vielleicht auch noch die Schwester des Reiters.« Daart schüttelte ärgerlich den Kopf, was seiner wachsenden Ungeduld nur unzureichend Ausdruck verlieh, aber sein Schwindelgefühl explodieren ließ. »Nun verrate uns schon, was es mit der Blutbindung auf sich hat«, murmelte er. »Und erzähl uns bei einer anderen Gelegenheit von deinen Erlebnissen«, fügte Carnac hinzu. Sie musste sich fast krampfhaft räuspern, bevor sie fortfahren konnte. »Uns rennt die Zeit davon. Sag uns deshalb besser gleich, was es mit den Schlangen auf sich hat.« »Ja, die Schlangen, die aus dem Hals des Drachen wachsen.« Der Junge nickte hektisch. »Dieses ekelhafte Gewimmel hättet ihr sehen sollen! Also, Grobian hat den Drachen am Schwanz, eh, an der Flosse gepackt – Drachen, die Flossen haben, wer hat so etwas überhaupt schon einmal gehört! –, und dabei muss er den Drachen wohl unglücklich erwischt haben – oder auch glücklich, je nachdem, wie man das sieht, und ich sehe es eigentlich …« »Thross!« Daarts Stimme zitterte leicht, und er konnte selbst nicht entscheiden, ob vor Schwäche oder Empörung, wahrscheinlich vor beidem. Jedenfalls war seine Stimme laut und vor allem schneidend genug, um den 154
Jungen zusammenzucken und sich ihm zuwenden zu lassen. »Ja?« »Die Schlange.« Thross blinzelte, als müsse er erst wieder in die Wirklichkeit zurückfinden, und dann sagte er schließlich: »Eigentlich war es ja Glück. Der Drache hat einen richtigen Hüpfer gemacht …« Angesichts des drohenden Blicks, mit dem ihn Daart bedachte, machte er selbst zwar keinen Hüpfer, aber eine leichte Rückwärtsbewegung, bevor er wieder stehen blieb und sein verschmutztes, zerschlissenes Gewand zurechtrückte, als wäre es aus kostbarem Leinen gefertigt und er selbst im Begriff, einer hochrangigen Persönlichkeit Rede und Antwort zu stehen. »Also«, begann er betont ruhig und gefasst, »die Schlange. Ich fürchte, bevor ich auf das zu sprechen komme, was euch jetzt erwartet, muss ich etwas ausholen.« Carnac stieß einen leisen Seufzer aus, und Daart knirschte bedrohlich laut mit den Zähnen. Thross aber blinzelte nicht einmal. Er stand stocksteif da, offensichtlich willens, sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen zu lassen – und schon gar nicht von Daart, vor dessen Augen es mittlerweile flimmerte, als hätte er einen schweren Kopftreffer einstecken müssen. Seine Muskeln schmerzten und verhärteten sich zunehmend, und er glaubte zu spüren, wie sich das Gift in seinen Eingeweiden festfraß. In seinen Gedanken war kaum noch für etwas anderes Platz als das, was er die ganze Zeit über fest im Blick behielt: die tückische kleine Blutschlange. Es würde nicht mehr lange dauern, und 155
er würde sich vorbeugen und sie Carnac entreißen, notfalls mit Gewalt, und obwohl er sich einzureden versuchte, dass er es nur tun würde, damit die Schlange endlich Carnac beißen konnte, war er sich nicht ganz sicher, ob er sich nicht doch eher selbst ihrer Giftzähne bedienen wollte … »Das Wissen über die Blutschlangen wird bei uns Creepern zwar von Generation zu Generation weitergeben, sodass wir ziemlich genau wissen, was wir tun müssen, wenn wir einer begegnen«, sagte Thross. »Aber gesehen hat schon seit langer Zeit keiner mehr eine. Das letzte Mal, dass ein Creeper von einer Blutschlange gebissen wurde, muss schon ein paar hundert Jahre her sein …« Daarts linkes Augenlid begann zu zucken. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll«, unterbrach er ihn so beherrscht wie möglich, was nichts anderes bedeutete, als dass seine Stimme noch nicht ganz so knirschendaggressiv klang wie die eines jähzornigen Vaters, der seinem begriffsstutzigen Sohn zum fünften Mal eine vollkommen simple Sache klarzumachen versuchte, »doch falls du uns die Geschichte der Creeper erzählen willst, solltest du nicht allzu weit ausholen. Es könnte sonst sein, dass dir dein Publikum wegstirbt.« »Oh«, machte Thross. Er wiederholte die vollkommen sinnlosen, glättenden Bewegungen, mit denen er sein Gewand in Form zu bringen versuchte, womit er aber nichts weiter erreichte, als dass er dem sowieso schon löchrigen Stoff einen weiteren Riss hinzufügte, sodass jetzt noch mehr nackte Haut durchschimmerte als zuvor. Irgendetwas an dem Zustand des Stoffes kam 156
Daart merkwürdig vor, aber er war viel zu sehr auf die Frage fixiert, wie er das schlanke, zappelige Reptil in die Hände bekommen konnte, das sich aus Carnacs Fingern zu winden versuchte, als dass er den Gedanken hätte weiterverfolgen können. »Ich beeile mich«, versicherte Thross hastig. »Also: Wir Creeper kennen uns zwar vielleicht am besten im Umgang mit den Blutschlangen aus – wie auch mit vielen anderen Schlangensorten, weil wir sozusagen mit ihnen die allerengsten Gänge und Höhlenschründe bewohnen –, wussten aber fast nichts von ihrem Hintergrund. Es war erst der Älteste, von dem ich lernte, was eine Blutbindung ist.« Als Daart eine ungeduldige (ungeduldig? nein, eher eine drohende) Bewegung machte, verdoppelte Thross seine Sprechgeschwindigkeit. »Der Älteste hat uns erzählt, dass es nur ganz wenige Menschen gegeben hat, die je eine solche Bindung eingegangen sind«, stieß er hervor. »Und dass es einmal die Anführer zweier verfeindeter Heere getroffen hat.« »Warum sollten Feinde eine Blutbindung eingehen?«, fragte Carnac mit schleppender Stimme. Daart beugte sich ein Stück in ihre Richtung, um die Schlange erneut mit seinem Blick einzufangen, bereute die Bewegung aber sogleich, denn ein scharfer, stechender Schmerz fuhr durch seinen Kopf und drohte ihm die Orientierung zu rauben. »Die beiden Tölpel haben sich mitten in einer erbitterten Schlacht von einer Blutschlange beißen lassen«, sagte Thross. Er sprach jetzt so schnell, dass Daart kaum noch die einzelnen Worte auseinander halten konnte und ihm Thross’ Redefluss wie das Summen eines vorbeifliegen157
den Bienenschwarms vorkam. »Ganz ähnlich wie ihr. Äh, natürlich bis auf die Tölpel. Die seid ihr ja nicht, und vielleicht waren es auch die beiden Heerführer nicht – wie könnte ich das schon beurteilen –, aber jedenfalls hatten sie nun das gleiche Problem wie ihr …« »Ich kann mir schon vorstellen, wie die Geschichte ausgegangen ist.« Carnac winkte mit einer schwächlichen Bewegung ab, die die Schlange gezwungenermaßen mitmachen musste – eine Tatsache, die sie mit einem heftigen Zischen quittierte. »Aber was hat das mit uns zu tun?« »Alles oder nichts.« Thross brachte das Kunststück fertig, seine Worte nochmals zu beschleunigen und so dem Wutausbruch zuvorzukommen, der Daart zu packen drohte. »Die beiden Feinde mussten zusammenhalten, wenn sie nicht sterben wollten.« »Langsam«, keuchte Carnac. Sie machte Anstalten, sich die Ohren zuhalten zu wollen, und besann sich erst im letzten Moment, kurz bevor der Schlangenkopf ihr Ohrläppchen erreicht hatte. »Sie mussten ihr Blut über eine Schlange teilen«, fuhr Thross unwesentlich langsamer, aber besser verständlich fort. »Und so wie ihr mussten sie das passende Exemplar finden, um das Gift vollkommen zu kompensieren.« »Was ihnen aber kaum gelungen sein dürfte.« Carnac hustete hart und trocken. »Ich glaube dir ja, dass das Gift dieser Schlange uns das Leben verlängern kann. Aber ich kann mir nicht vorstellen … dass … dass …« Ihre Stimme wurde schwächer, dann riss sie sich sichtlich zusammen und fuhr lauter und erstaunlich deutlich fort: »Dass es eine Schlange gibt, die genau die Dosis 158
aufweist, um das Gift in jedem von uns zu neutralisieren.« »Vielleicht muss ja jeder für sich die passende Schlange finden«, sagte Thross geheimnisvoll. »So etwas hat jedenfalls der Älteste erwähnt. Leider erinnere ich mich nicht mehr an alle Einzelheiten. Aber was ich weiß«, er ließ die Hand sinken und starrte Carnac offen ins Gesicht, »ist, dass ihr das Gift dieser Schlange, die du in den Händen hältst, hier und jetzt teilen müsst.« »Na, dann los«, prustete Daart ungehalten. Er schloss die Augen, um das bunte Flirren zurückzudrängen, das es ihm zunehmend schwerer machte, seine nähere Umgebung im Blickfeld zu behalten. Aber dadurch wurde es eher noch schlimmer. Ihm blieb nichts anders übrig, als die Augen wieder aufzureißen und zu versuchen, das Schwindelgefühl und die Lichtreflexe so weit wie möglich zu ignorieren. »Her jetzt mit der Schlange«, forderte Thross und streckte auffordernd die Hand in Carnacs Richtung. Carnac sah kurz und müde zu ihm auf. »Hier«, sagte sie dann, »fang.« Sie holte aus, als wolle sie ihm die Schlange tatsächlich zuwerfen, aber Thross war mit zwei schnellen Schritten bei ihr und packte die Schlange mit einer geschickten Bewegung hinter dem Kopf. »Hab ich dich, du kleiner Ausreißer«, sagte er fast sanft und trat wieder ein Stück zurück. »Also«, fuhr er fort, »ihr müsst jetzt die Hände nebeneinander legen.« »Und wozu?«, brachte Carnac mühsam hervor. »Wegen des Blutrituals.« Thross drehte den Schlangenkopf so, dass er dem Reptil direkt in die Augen blicken konnte. Die Schlange stieß ein wütendes Zischen 159
aus und versuchte nach seiner Nase zu schnappen, was Thross nicht im mindesten zu beeindrucken schien. Jetzt glaubte auch Daart, dass die Creeper ein besonderes Verhältnis zu Schlangen hatten – schließlich begegneten sie den Reptilien bei ihren waghalsigen Klettertouren durch die engsten Stollen und Schächte direkt auf Augenhöhe und mussten deshalb andere Strategien entwickeln, sich ihrer zu erwehren, als jemand, der höchstens einmal in freier Natur auf eine Schlange stieß. »Also, ich sehe schon, ihr seid zu schwach dazu«, sagte Thross nervös. Er trat auf Daart zu, packte seine rechte Hand und zerrte sie so weit wie möglich in Carnacs Richtung, dann wiederholte er das Gleiche mit Carnacs linker Hand. Daart machte den Mund auf, um zu protestieren, und schloss ihn dann wieder, als er spürte, dass ihn selbst das übermäßig überanstrengen würde. Ein merkwürdiges Ziehen ging durch seinen Körper, ganz anders als direkt nach dem Biss der Schlange, die die Drachenreiterin auf ihn abgefeuert hatte. Von den Beinen ausgehend, schoss ein scharfer, nicht einmal besonders heftiger Schmerz nach oben. Er fürchtete, dass das der Anfang vom Ende war und es nicht mehr lange dauern würde, bis über ihre Lippen keine Worte mehr kamen, sondern flockiger Schaum, und seine Glieder im letzten Aufbäumen gegen den eisigen Zugriff des Todes zu zucken anfingen … »Ich nehme dein Messer, Carnac, ja?«, sagte Thross. Er klang angespannt, und als er sich bückte, um Carnac das Messer aus dem Gürtel zu ziehen und ihm eine Strähne seines dunklen Haars ins Gesicht rutschte, wirkte er plötzlich sehr jung und verletzlich. 160
Genau das war er ja auch, dachte Daart entkräftet. Er wusste nicht, was Thross vorhatte, zumindest nicht im ersten Moment, bis der Junge die Messerspitze an Carnacs Hand ansetzte und einen daumenlangen roten Strich über den Handrücken zog. Die Wunde konnte nicht besonders tief sein, aber sie begann sofort heftig zu bluten. Daart beobachtete mit einer Art morbiden Entsetzens, wie der Lebenssaft aus Carnac hinauslief, hell und pulsierend und ganz anders aussehend, als er erwartet hätte. Dann war er an der Reihe. Carnac hatte während der Prozedur keinen Laut von sich gegeben, und Daart hatte nicht vor, ihr in diesem Punkt nachzustehen. Thross hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Klinge abzuwischen, wodurch sich bereits jetzt sein Blut und das von Carnac mischten. »Was …«, begann Carnac, doch dann brach sie ab, als Thross sich erneut zu ihr herabbeugte und sich an ihrem Gürtel zu schaffen machte. Daart konnte nicht genau erkennen, was er da tat, doch die Frage, die sich in seinen Gedanken formte, wollte ihm einfach nicht über die Lippen kommen. Es war ein schrecklicher Moment, in dem er begriff, wie hilflos und ausgeliefert er tatsächlich war. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass er verletzt war und sich nicht richtig zu rühren vermochte. Doch diesmal war es anders. Er war bald vollständig gelähmt durch das Schlangengift, das sich unter ziehenden Schmerzen seines gesamten Körpers zu bemächtigen versuchte, zwar noch in der Lage, die Hand zu heben und mühsam ein paar Laute hervorzubringen, aber mehr auch nicht. 161
Und Thross war dabei, irgendein verrücktes Ritual an ihnen zu vollziehen, das er höchstens vom Hörensagen kannte; ein kleiner Junge, der zeit seines Lebens durch Gänge gekrochen war, die so schmal waren, dass sich normalerweise höchstens ein paar Reptilien und Aasfresser auf Futtersuche hindurchquetschten, ein Außenseiter in der Welt der Außenseiter, der Männer und Frauen, die sich in die Unterwelt verkrochen hatten, statt ihre Herausforderungen zwischen Himmel und Erde zu suchen. »Das müsste gehen«, murmelte Thross. Als seine Hand wieder hochkam, glänzte es silbern. Daart brauchte eine Weile, bis er begriff, dass es keine Schale war, die der Junge hervorgebracht hatte, sondern die Silbermaske, die er von Carnacs Gürtel gelöst und umgedreht hatte. »Sie hat zwar Löcher, aber das habe ich gleich.« Thross legte die Silbermaske ab und klaubte etwas vom Boden auf, zwei Steine, die er umgedreht in die Silbermaske legte, oder, wie Daart trotz des Nebels, der sich um seine Gedanken legte, mit beängstigender Schärfe erkannte, in die Augenhöhlen drückte, sodass sie nun zwei Steinaugen hatte – aber nicht um die Illusion des Sehens zu vervollständigen, sondern die Maske endgültig zu einem Behältnis umzuformen, mit dem man Flüssigkeit auffangen konnte. »Das … das ist nicht dein Ernst«, keuchte Carnac. Sie hatte offensichtlich genauso schnell wie Daart begriffen, was der Junge vorhatte. »Ich fürchte doch«, sagte Thross unglücklich. »Ihr habt keine andere Möglichkeit, wisst ihr?« Als Carnac 162
ihn nur weiter fassungslos anstarrte, fuhr er fort: »Keine Sorge, der Älteste hat mir alles genau erklärt.« »Erklärt?«, fragte Carnac mühsam. »Oder eine Geschichte erzählt?« Thross verharrte mitten in der Bewegung. »Wo ist da der Unterschied?« Daart hätte, wenn er die Kraft dazu aufgebracht hätte, laut aufgelacht. So kam nur ein Röcheln aus seiner Kehle. Das Flirren, das ihn kurz zuvor alles nur undeutlich hatte wahrnehmen lassen, hatte sich gelegt, und er nahm nun seine Umgebung mit einer fast übersteigerten Klarheit wahr, Carnacs elenden, resignierenden Gesichtsausdruck, die Silberschale, die Thross zwischen ihnen ablegte, und die Schweißtropfen auf der Stirn des Jungen und seinen angespannten Gesichtsausdruck, während er mit nur einer Hand hantierte und mit der anderen weiterhin die Schlange routiniert, fast beiläufig festhielt. Er wünschte sich in diesem Moment fast, nicht alles so überdeutlich zu erkennen. Nicht zusehen zu müssen, wie der Junge ihrer beider Hände über die improvisierte Silberschale legte und Blut hinabtropfte, und schon gar nicht, wie er das Messer wieder packte und erneut bei Carnac ansetzte, diesmal aber nicht auf ihrem Handrücken, sondern über der Handwurzel, dort, wo besonders viele Adern verliefen, an ihrem Handgelenk. »Was soll das?«, murmelte Carnac. »Willst du mich umbringen?« »Nein«, antwortete Thross heftig. »Überhaupt nicht. Ich bin vorsichtig, ich verspreche es.« »Ein tiefer Schnitt quer rüber, und ich blute aus«, 163
fuhr Carnac fort, als hätte dieser Gedanke etwas Verlockendes. Thross setzte zu einer Antwort an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe so etwas noch nie gemacht.« »Das … das bedeutet, du musst besonders vorsichtig sein.« Carnac versuchte den Kopf zu heben und Thross zu fixieren, doch ihr Kinn sackte wieder zurück, und all das sah Daart vollkommen klar, während seine Gedanken durcheinander wirbelten wie ein Floß, das aufs offene Meer getrieben und in einen Sturm geraten war. Irgendetwas tief in ihm verstand durchaus, was Thross da tat – das Blut mischen, seines und das Carnacs, um ihnen die gleiche Dosis des Schlangengifts zukommen zu lassen –, aber ein anderer begriff nicht, warum das auf diese barbarische Weise geschehen musste. »Nur ein kleiner Ritz«, murmelte Thross. Er hielt Wort. Das Messer schnitt kaum in das Gewirr der Adern ein, als auch schon roter Lebenssaft daraus hervorsprudelte. Thross warf das Messer neben sich, packte die Schlange kurz hinter ihrem tückischen kleinen Reptilienkopf und drückte sie in die Wunde. Daart erkannte diesmal nicht ganz genau, was geschah. Aber es schien ihm, als schlürfe die Schlange Carnacs Blut, bevor sie in die Wunde biss. »Jetzt muss es schnell gehen«, Thross’ Stimme überschlug sich fast, »ganz schnell, Daart. Kannst du mir helfen? Ich brauche das Messer.« Daarts Hand fuhr nach unten, auf den aufgewühlten Boden. Sein rechter Zeigerfinger ritzte sich an der Messerschneide, aber er achtete nicht darauf, sondern tastete weiter nach dem Griff. Seine Hand fühlte sich wie 164
aufgepumpt und ganz fremd an, so als gehöre sie ihm gar nicht selbst. Aber immerhin gehorchte sie den chaotischen Gedanken hinter seiner Stirn, angetrieben durch das irre, verzweifelte Funkeln in Thross’ Augen. Der Junge hatte sich übernommen. Was auch immer er vorhatte, drohte ihm zu entgleiten. Und das würde letztendlich bedeuten, dass er und Carnac sterben mussten, wenn er nicht endlich seine Schwäche überwand und das tat, was notwendig war. Nicht, dass er mehr als eine Ahnung hatte, was das sein könnte. Aber die Angst um Carnac trieb ihn an. Er riss das Messer hoch, auf Thross zu. Der Junge zuckte zusammen, aber er reagierte richtig; er umklammerte den Messergriff, den Daart immer noch festhielt, mitsamt Daarts Hand. »Du musst loslassen!«, schrie er. »Schnell.« Daart nickte, eine kleine, abgehackte Kopfbewegung, gefolgt von dem verzweifelten Versuch, seine verkrampften Finger zu lösen, auf denen Thross’ Hand lag, gleichzeitig fest zudrückend wie auch bereit, sich sofort zurückzuziehen, wenn Daart losließ, um dann den Messergriff zu packen. »Du musst dein Blut mit dem Gift mischen!« Die Stimme des Jungen überschlug sich fast. »Schnell, bevor es zu spät ist.« Daart hatte keine Zeit mehr zu verlieren, doch sein Körper, darauf trainiert, blitzschnell die richtigen Entscheidungen zu treffen, wollte ihm diesmal nicht gehorchen. Aus Carnacs Handgelenk pulste Blut, gemischt mit Schlangengift, es schoss nicht in einer Fontäne hervor, aber es fehlte nicht viel daran. Der Silberhelm be165
gann sich zu füllen, aber Blut gerann, und was mit dem darin enthaltenen Gift passierte, daran wagte Daart gar nicht zu denken. Thross hob die andere Hand, holte aus und schleuderte die Schlange weit von sich. Mit einem Laut, der eher einem Kreischen als einem Zischen glich, sauste sie durch die Luft und schlug irgendwo weit außerhalb von Daarts Gesichtsfeld auf dem Boden auf. Da packte der Junge mit der nun freien Hand auch schon Daarts Arm und zerrte an ihm in dem Versuch, ihn zurückzureißen; und diesmal waren es ausgerechnet die Reflexe des Kriegers und das jahrelange Training, die Daart in die Quere kamen – und damit Thross’ Bemühungen. »Lass los, du verdammter Dickkopf!«, schrie ihn Thross an. »Es geht um dein Leben!« Das war zweifelsohne richtig, und diesmal reagierten Daarts Finger so, als hätten sie Thross’ Worte direkt gehört: Sie öffneten sich. Thross ließ selber los, und während Daarts Arm nach unten sackte, kraftlos jetzt, und seine Hand auf dem Boden aufschlug, hatte der Junge den Messergriff schon wieder umklammert. Mit der Schlangenhand (wo war bloß die verdammte Schlange geblieben?, echote es durch Daarts Gedanken) packte Thross Daarts rechten Unterarm und riss ihn über die umgedrehte Silbermaske. Den Messerschnitt sah Daart zwar, aber er spürte ihn nicht, und dann drückte Thross seine Hand auch schon tief in die Silbermaske. »Du musst die Hand drehen!« In seiner Stimme schwang nun kein Ansatz von Panik mehr mit, sondern eher schon reines losgetretenes Entsetzen. Daart spürte, wie er nach vorn kippte. Seine Hand lag 166
in warmer, strömender Flüssigkeit, sein und Carnacs Blut, der Lebenssaft, der sich, um das Schlangengift angereichert, nun vermischte. Vor seinen Augen flackerte es kurz auf, und dann sackten seine Empfindungen weg, und Schwärze trübte seine Gedanken ein, und das Letzte, was er dachte, war: Wo, bei allen Göttern, ist bloß diese verdammte Schlange?
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4 Die Schlange beherrschte Daarts Gedanken auch nachdem sie sich längst wieder auf den Weg gemacht hatten – die Schlange und das riesige Ungeheuer, in dessen Hals sie mit ihren Schwestern gelebt hatte, bevor Thross sie in die Hände bekommen hatte. Und das war alles andere als ein Zufall. Ihre Schnitte am Handgelenk hatte ihnen Thross unter Carnacs Anleitung nach dem Blutbad in dem Silberhelm verbunden, bevor sie in der beständig kälter werdenden Nacht unruhig und wie im Fiebertraum gedöst hatten und allenfalls ein Mal kurz eingenickt waren. Doch dann hatte sie etwas aufgeschreckt, ein mächtiges, fernes Geräusch, ein Rauschen und Schlagen gewaltiger Schwingen, fremdartig und bedrohlich. Daart war aufgesprungen, hatte benommen nach dem Griff seiner Waffe genestelt, während sein Blick gen Himmel gewandert war. In der Nacht hatten sich zuerst dichte Wolken zwischen den hell leuchtenden Mond und ihre improvisierte Lagerstatt im Schutz einer mächtigen Ulme geschoben, und dann war von dem nachtfeuchten Boden auch noch Nebel aufgestiegen, sodass er nicht einmal eine Chance gehabt hätte, den Drachen zu erkennen, wenn er direkt über sie hinweggeglitten wäre. Aber das war er nicht, ganz im Gegenteil. Die Fluggeräusche verklangen, noch bevor Daart ihre Richtung in der stockfinsteren Nacht genau hatte ausmachen können, schwollen dann zwar noch einmal an, härter und 168
deutlich aggressiver klingend, als er es von seiner ersten Begegnung mit dem Blutdrachen in Erinnerung hatte … Doch dann, als Daart schon mit gezücktem Schwert auf einen Angriff wartete, drehte das Untier endgültig ab und ließ ihn aufgewühlt und hellwach zurück. Jetzt ging er neben Carnac her, mit keineswegs sicheren Schritten, geschwächt durch das Schlangengift und vielleicht auch durch den zusätzlichen Blutverlust im Verlauf der befremdlichen Zeremonie, die Thross an ihnen vollzogen hatte. Er war müde, erschöpft und verwirrt, und immer wenn er auch nur blinzelte und sich seine Augen für ein flüchtiges Lidzucken schlossen, sah er entweder das fürchterliche Drachenmaul vor sich oder den weit aufgerissenen Rachen der Schlange, ihre zwei gebogenen Zähne, von denen Menschenblut tropfte, und vor allem diese hypnotischen schwarzen Augen, die ihn in ihren Bann zu ziehen versuchten. Carnac hielt die Schlange längst nicht mehr in der Hand, und auch Daart hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen. Es war Thross gewesen, der sie wie selbstverständlich an sich genommen hatte, kaum dass er das vollkommen erschöpfte Reptil in einem Erdloch zusammengerollt wieder gefunden hatte. Aber das änderte nichts daran, dass Daart sie einfach nicht aus dem Kopf bekam, auch nicht, als sie eine Anhöhe hinaufwanderten, immer noch der Schneise der Vernichtung folgend, die Grobian in den Wald geschlagen hatte. Dabei kamen sie ungleich langsamer voran als am Vortag. Das lag weniger an der Steigung, die sie zu überwinden hatten, und auch nicht unbedingt daran, 169
dass sie sich von den Strapazen des Blutrituals noch nicht erholt hatten, als vielmehr an der Dunkelheit und der Feuchtigkeit, die an diesem Morgen überhaupt nicht weichen wollten. Es kam Daart beinahe so vor, als halte der Wald inne, um sie so lange wie möglich weiter mit finsterer Nacht zu ummanteln. Und das war bei weitem noch nicht alles, was ihn die morgendliche Kälte an diesem Tag ein ganzes Stück schlechter ertragen ließ als an den Tagen zuvor. Es waren die vielen Kleinigkeiten, die er wahrzunehmen glaubte und die ihn in eine ständige Anspannung versetzten. Der vom Boden aufsteigende Frühnebel schien ihm heute ein Stück bedrohlicher, stofflicher als sonst, kein Freund, der ihn einhüllte, um ihn vor seinen Feinden zu verbergen, sondern eher wie die kalte, feuchte Hand eines Riesen, die ihn umfassen und ihm den Atem nehmen wollte. Auch das frühmorgendliche Zwitschern der Vögel klang in seinen Ohren heute ganz anders als sonst, schriller und misstönend, durchsetzt von fernen Warnlauten, denen er keinen Sinn abgewinnen konnte. Je länger sie unterwegs waren, umso schwerer fiel es ihm, die Vielfalt der Geräusche einzuordnen, in denen sich das Knirschen des Bodens unter ihren Füßen mit ihrem Atem und den vielfältigen Klängen der erwachenden Natur zu einer frühmorgendlichen Symphonie verbanden. Das galt auch für das Wenige, was er im Nebel erkennen konnte. Immer wieder zuckte er zusammen, wenn etwas vor ihm auftauchte, was er beim ersten Anblick für zerfetzte menschliche Gliedmaßen hielt, um sich dann als abgerissenes Geäst herauszustellen; und mehr als ein Mal glaubte er hinter einem nahen Baum 170
einen Krieger zu erkennen, der seine Waffe packte, um sich im nächsten Moment auf ihn zu stürzen … Seine Sinne waren nicht stumpfer als sonst, aber sie schienen anders zu funktionieren. Das beunruhigte ihn fast mehr als die Schreckensbilder, die er zu sehen glaubte. Thross’ Worte kamen ihm in den Sinn, mit denen er ihnen zu erklären versucht hatte, dass sich sein und Carnacs Leben wie auch ihre Persönlichkeit durch die Blutbindung stärker vermischen würden als je zuvor. Das war zweifellos richtig, zumindest so lange ihrer beider Leben vom Gift ein und derselben Schlange abhing und sie aufpassen mussten, dass sich keiner zu sehr vom anderen entfernte. Was aber ihre Empfindungen anging – so konnte es doch wohl kaum sein, dass sie sich vermischten, nur weil sie ihr Blut zusammen mit dem Gift der Schlange getauscht hatten. Oder etwa doch? Es war jedenfalls eine der Fragen, die Daart dringend zu klären gedachte. Der Einzige, der darauf vielleicht eine Antwort wusste, war der Älteste, dieser beeindruckende weißhaarige Mann, der ihn losgeschickt hatte, Nubina einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Derselbe Mann, wie sich Daart jetzt mit einem leichten Schaudern erinnerte, der Thross irgendwann zuvor in der Handhabung der Blutschlange unterrichtet und somit erst das Blutritual ermöglicht hatte, das sie letzte Nacht vollzogen hatten. Ein Zufall? Daart glaubte nicht an Zufälle dieser Art, jedenfalls nicht, wenn sie sich häuften. Auf alle Fälle gab es sehr viel, was er den Ältesten zu fragen gedachte, sobald er ihm wieder gegenüberstand. Vor allem aber wollte und musste er von ihm 171
erfahren, was es mit der inneren Stimme zu tun hatte, die ihn leitete, seit er denken konnte, und was sie mit seinem tückischen Erbe zu tun hatte, dessen sich Daart erst im Feuertempel auf dem Grund des Glutsees vollends bewusst geworden war – und von dem er argwöhnte, dass der Älteste sehr viel mehr darüber wusste, als er bei ihrer letzten Begegnung in der Tiefe des Schattengebirges preisgegeben hatte. Thross, der selbstverständlich die Führung übernommen hatte, verlangsamte plötzlich seine Schritte. Carnac wäre fast in ihn hineingestolpert, aber Daart packte sie bei den Fingern – unterhalb des Verbands aus Blättern und einem aus ihrem Gewand herausgeschnittenen Stofffetzen – und zog sie ein Stück an sich heran. Einen Moment lang waren sie sich ganz nahe, bevor sie ihn unsanft von sich stieß und neben Thross trat. »Was gibt es?«, fragte sie spröde. »Ich weiß nicht.« Thross’ Stimme klang irgendwie kläglich, fand Daart. »Da vorn …« Daart hörte das typisch schabende Geräusch, mit dem ein Schwert aus der Lederscheide glitt. Carnacs Schwert. Da trat sie auch schon einen weiteren Schritt vor. »Ja«, sagte sie. »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.« »Was ist los?« Daart legte seine Hand auf den Griff der eigenen Waffe, aber er zog sie nicht. Noch nicht. Sein Blick war auch nicht auf Carnac gerichtet, sondern schweifte über die dunklen, verwaschenen Schemen der Bäume in ihrer unmittelbaren Umgebung. Also doch, dachte er. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. »Das«, sagte Carnac, während das Geräusch ihrer 172
Schritte verriet, dass sie noch ein Stück weiter nach vorne ging, »solltest du dir unbedingt ansehen, Daart.« »Was?« »Nichts«, antwortete Carnac rätselhaft. »Oder eine ganze Menge. Wie auch immer du willst.« Daart war plötzlich hellwach. Er zog seine Waffe noch immer nicht, aber er war mehr als nur wachsam, als er an Thross vorbeitrat und auf Carnac zuhielt. Einige Schritte später blieb er überrascht stehen. Es bedurfte keiner erklärenden Worte mehr, um ihn erkennen zu lassen, was Carnac und Thross aufgeschreckt hatte. Der Wald vor ihnen wirkte vollkommen unversehrt. Keine Äste, die abgeknickt oder ausgerissen waren, keine Abdrücke riesiger Füße in dem aufgeweichten Boden, keine gewaltsam durchs Unterholz geschlagene Bresche – der Wald sah genauso aus, wie ein Wald aussehen musste, dem eine Begegnung mit Grobian erspart geblieben war. Daart legte den Kopf in den Nacken. Die dunklen Schatten der Baumkronen schienen ihm ein ganzes Stück weiter auseinander zu liegen als gewöhnlich, das Blätterdach nicht ganz so dicht, wie es hier üblich sein sollte. Jedenfalls sah er einen sanften Lichtschimmer von dort durchbrechen, entweder noch vom Vollmond, der die Nacht hell erleuchtet hatte, bevor sein gelblicher Schimmer fast vollständig vom Nebel geschluckt worden war, oder von der Sonne, die bereits genug Kraft besaß, um mit ihren wärmenden Strahlen das feuchte Nass in der Luft zurückzudrängen. »Also doch«, murmelte Daart. »Grobian kann fliegen.« 173
Carnac seufzte. »Es ist wohl kaum der rechte Zeitpunkt für schlechte Scherze.« Daart schüttelte eigensinnig den Kopf. »Das ist kein Scherz. Irgendwohin muss der Groll ja wohl verschwunden sein.« Er deutete nach oben. »Schau dir mal das Blätterdach dort an. Es scheint mir aufgerissen zu sein. Ich schätze, weil Grobian dort durchgeflogen ist.« Carnac sah gehorsam nach oben – und starrte ihn dann auf eine Weise an, die Daart gar nicht gefiel. »Es muss wohl an der Dunkelheit liegen, dass ich die Flugspuren des Grolls nicht entdecken kann«, spottete sie. »Im Nebel hat er jedenfalls keine Abdrücke hinterlassen.« »Du nimmst mich nicht ernst.« Daart seufzte. »Ich fürchte, damit begehst du einen Fehler. Oder hast du vielleicht eine bessere Erklärung dafür, dass Grobians Spur hier so plötzlich endet?« Carnac runzelte die Stirn und schien etwas sagen zu wollen, doch dann drehte sie sich einmal langsam um sich selbst, wobei sie sich sehr, sehr aufmerksam umsah. »Hm.« »Aber er kann doch auf seiner eigenen Spur zurückgelaufen sein«, bemerkte Thross scharfsinnig. »Ja«, murmelte Daart. »Und als er uns entdeckt hat – und er muss uns ja entdeckt haben, weil wir seine Spur nicht für den Hauch eines Augenblicks verlassen haben, genauso wie wir den kleinen Kerl bestimmt nicht übersehen hätten – hat er sich einfach abgestoßen und ist im weiten Bogen um uns herumgeflogen.« »Daart«, sagte Carnac ungehalten, drehte sich um und sah ihm direkt in die Augen. »So kommen wir nicht weiter.« 174
»Wie denn dann?«, gab Daart mürrisch zurück. »Hast du mir nicht gesagt, bei den Grollen ergibt eins und eins nicht unbedingt das, was wir darunter verstehen?« »Ja schon, aber …« »Vielleicht ergeben ein Groll und ein Drache ja eine ganz ungewöhnliche Art, sich in die Lüfte zu erheben«, unterbrach sie Daart. Carnac starrte ihn eine Weile sprachlos an und sah dann wieder nach oben. »Das Blätterdach ist hier tatsächlich nicht so dicht, wie es sein sollte«, sagte sie nach einer Weile. »Und es könnte sein, dass sich hier etwas Großes durchgedrängt hat. Aber ich kann mir trotzdem nicht vorstellen …« »… dass der Groll eine ganze ungewöhnliche Fluggelegenheit gefunden hat«, beendete Daart ihren Satz. »Grobian hat sich schon einmal am Schwanz, äh, an der Flosse des Drachen festgehalten«, sagte Thross aufgeregt. »Ich kann mir das trotzdem nicht vorstellen.« Carnac schüttelte den Kopf. »Der Blutdrache ist schon für sich so riesig und schwer, dass es mir ein Rätsel ist, wie er sich zusammen mit seiner Reiterin in die Lüfte erheben kann; zudem ist Grobian alles andere als ein Leichtgewicht. Und dann soll sich Grobian an der Flosse des Drachen festgehalten und dieser sich mit ihm in die Lüfte erhoben haben?« »Und wenn es so wäre – wo sind dann die Spuren eines Kampfes?« Thross deutete auf den unversehrten Wald vor sich. »Wenn der Drache und Grobian hier aneinander geraten sind, müssten zumindest ein paar 175
Bäume quer liegen, der Boden wäre aufgewühlt – wenn nicht sogar der Wald angesengt, weil der Drache mal wieder eine Kostprobe seines Feuerzaubers gegeben hätte.« »Da kann ich dir nur beipflichten.« Carnac schüttelte den Kopf. »Nein. Der Groll hat sich sicherlich nicht von dieser Stelle aus in die Lüfte erhoben, schon gar nicht mit Hilfe des Blutdrachen.« »Ganz wie ihr beiden Drachenexperten meint«, grollte Daart. »Dann habt ihr ja bestimmt eine bessere Erklärung auf Lager.« »Nun ja«, sagte Thross fast schüchtern. »Vielleicht ist Grobian einfach auf Zehenspitzen davongeschlichen.« Daart würdigte ihn nicht einmal einer Antwort. Sein Blick blieb auf Carnac geheftet, die den Kopf wieder in den Nacken gelegt hatte und hinaufstarrte auf die Lücken in dem Blätterdach, auf die er sie zuvor aufmerksam gemacht hatte. »Ich glaube, du hast doch Recht, Daart«, sagte sie plötzlich. In ihrer Stimme war ein Unterton, der Daart alarmierte, und ihre Körperhaltung schien plötzlich so angespannt, dass er mit einem Satz neben ihr war und jetzt doch das Schwert zog. Zuerst sah er gar nichts, jedenfalls nicht mehr als ein düsteres Wogen in den Baumkronen, jetzt schon ein bisschen mehr durchdrungen durch flirrende Sonnenstrahlen, die es bislang aber nicht einmal annähernd geschafft hatten, den Nebel aufzureißen und die Dunkelheit zu vertreiben. Doch dann glaubte er etwas ganz anderes zu gewahren, ein drohendes Leuchten, ausgehend von zwei riesigen Augen, die seinen Blick zu erwidern schienen, und darüber eine helle 176
Fläche, in der sich das dürftige Sonnenlicht spiegelte, so weit es das wattige Grau um sie herum zuließ. Und das war bei weitem noch nicht alles. Hoch über ihnen war plötzlich ein schwerfälliges Rauschen zu hören, ein kraftvolles Auf und Ab wie das von ledrigen Schwingen, mit denen sich ein Drache mühevoll in der Luft hielt. Daart riss das Schwert nach oben. Er glaubte Bewegungen wahrzunehmen, hörte es erneut rauschen und rascheln, und dann, bevor er auch nur im Entferntesten begriff, was geschah, krachte es plötzlich, und Blätter und Zweige regneten auf sie herab, während gleichzeitig etwas auf sie zuschoss. Er und Carnac sprangen gerade noch im allerletzten Moment zurück, bevor das Etwas, nun ungebremst, so richtig Schwung bekam, einen jaulenden Laut ausstieß und wie ein über eine Klippe gestoßener Felsbrocken genau auf die Stelle zugesaust kam, an der sie eben noch gestanden hatten. Den Knall, mit dem es auf dem Boden aufschlug, glaubte Daart noch bis in die Zähne hinein zu spüren. Er ging automatisch in Kampfstellung, irritiert nur durch die Tatsache, dass Carnac es ihm nicht gleichtat, sondern stattdessen einen weiteren Schritt nach hinten machte, erleichtert die Luft zwischen den Zähnen ausstieß und in einer fließenden Bewegung ihr Schwert in die Lederscheide zurückstieß. »Grobian!«, entfuhr es ihr. Daart blinzelte. Das, was da vor ihm auf dem Boden hockte, hatte tatsächlich eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Groll. Aber er wirkte angesengt und schien ge177
schrumpft zu sein; auf jeden Fall überragte er Daart bei weitem nicht mehr so sehr, wie dieser es in Erinnerung gehabt hatte. Der Eindruck hielt allerdings nur so lange an, bis Grobian einen knurrenden Laut ausstieß, sich mit beiden Händen auf dem feuchten Boden abstützte und dann mit einer erstaunlich schnellen Bewegung hochkam. Der Groll war nicht geschrumpft, aber er sah noch mitgenommener aus als Thross, und er war stinksauer. »Was willst du mit dem Zahnstocher, du Wicht?«, donnerte er mit einem Blick auf Daarts Schwert. Daarts Blick wanderte die Brandspuren entlang, die sich in einem wirren Muster durch Grobians Bart schlängelten, offenbar dort, wo ihn heftiger Funkenflug getroffen hatte. »Und was gibt’s da zu glotzen?«, fuhr der Groll fort, ohne seine Stimme zu zügeln; ganz im Gegenteil schwang in ihr jetzt eine so unverhohlene Drohung mit, dass sich Daart beeilte, die Schwertspitze zu senken und mit der anderen Hand beruhigend abzuwinken. »Nichts. Ich wundere mich bloß, dass du plötzlich vom Himmel fällst.« »Kein Grund, mir frische Luft zuzufächeln«, knurrte der Groll, wobei er Daarts wedelnde Hand nicht aus den Augen ließ. »Die hatte ich nämlich schon zu Genüge. Es war ziemlich windig dort oben auf dem Baum.« »Bist du mit einem Drachen geflogen?«, platzte Thross heraus, der seine Neugier offensichtlich nicht länger zügeln konnte. »Klar, Kleiner. Die Drachen lechzen ja geradezu danach, sich mit mir auf dem Rücken in die Luft zu erhe178
ben.« Er fuhr sich mit der Hand durch den Bart, einmal, zweimal, dreimal, prüfend und angesichts der Schmauchspuren, die er ertastete, alles andere als begeistert. »Verfluchte Drachen. Müssen immer Feuer spucken. Das sollte ihnen mal einer abgewöhnen.« Mach doch, hätte Daart am liebsten gesagt. Stattdessen steckte er sein Schwert weg und starrte nach oben in die Baumkronen. »Da war doch gerade was.« »Ja«, gab ihm Grobian Recht. »Ich.« Daart schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Ich habe etwas anderes … gesehen. Und gehört.« »Lederschwingen von einem blöden Lederdrachen.« Der Groll fuhr sich über den Mund und gähnte dann herzhaft, eine Reihenfolge, die Daart einigermaßen seltsam vorkam. »Lederdrache?«, erkundigte sich Thross überrascht. »Kein Blutdrache?« »Mein lieber Junge.« So, wie es der Groll aussprach, klang es eher nach einer Drohung als nach einer freundlichen Redewendung, und als Grobian sich umdrehte und einen Schritt auf Thross zumachte, wirkte das kaum weniger einschüchternd, als wenn er ihn gepackt und an sich herangezogen hätte. »Es gibt Drachen und Drachen. Das solltest du doch eigentlich wissen. Und erst recht, dass wir hier auf einem uralten Drachenhügel stehen.« »Äh, ja natürlich«, antwortete Thross mit allen Anzeichen hochgradiger Verwirrung. »Aber warum eigentlich?« »Weil es ein Hügel ist, der Drachen anzieht, so wie … wie eine aufgetakelte Tempeldirne männliche Pilger, die 179
sich nach einer beschwerlichen Reise nicht nur nach seelischer Erbauung sehnen«, brummte Grobian. »Glaube ich zumindest. Denn es kann doch wohl kein Zufall sein, dass sich hier gleich zwei ganz verschiedene Drachen eingefunden haben.« »Vielleicht tatsächlich nicht«, sagte Thross aufgeregt. »Ich hatte auch mit einem Drachen zu tun …« »Einem Blut- oder einem Lederdrachen?« »Weder noch. Es war ein …« »Ich unterbreche euch Drachenliebhaber ja ungern«, sagte Carnac säuerlich. »Aber ich glaube, wir haben andere Dinge zu klären, als über irgendwelche Drachenunterarten und Drachenhügel zu fachsimpeln.« »Ah, jaaaa.« Der Groll wandte sich jetzt zu Carnac um; er ballte die rechte Hand zur Faust und hämmerte damit auf seine geöffnete Linke. Es klang, als schlage er gerade ein Schwein tot. »Dir passt also nicht, was ich sage? Glaubst du vielleicht nicht, dass es ein Drachenhügel ist, auf dem wir stehen?« »Doch, natürlich«, beeilte sich Carnac zu sagen. Sie war blass geworden. »Aber es ist ja nicht so, dass man auf Enwor ständig über Drachen stolpert, weder auf Hügeln noch sonst wo. Eigentlich überhaupt nicht. Es dürften höchstens ein paar hundert Exemplare die Drachenjagden der letzten Jahrhunderte überstanden haben, wenn überhaupt, und die leben so abgeschieden, dass sie normalerweise kein Mensch zu Gesicht bekommt.« »Oh«, machte der Groll, erstarrte mitten in der Schlagbewegung und fasste sich dann betroffen an den Kopf, an dem das einzige Unversehrte das einsame Haarbüschel war, das von seiner Glatze abstand. »Das 180
habe ich ja gar nicht gewusst.« Er lachte dumpf und dunkel. »Umso größer das Glück, dass wir jetzt gleich mehrere davon zu Gesicht bekommen werden, nicht wahr?« Daart konnte sich täuschen, aber er hatte das Gefühl, dass Carnac noch blasser wurde. »Thross hat uns berichtet, dass du dem Blutdrachen auf den Fersen geblieben bist, damit wir ihn noch einholen können, bevor er endgültig verschwindet – und mit ihm die Blutschlangen, die wir so dringend brauchen …« »Weil ihr Gift in euch tragt«, sagte Grobian ernsthaft. »Ich weiß. Auch, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt, um ihn einzuholen.« Er sagte uns und nicht ihr, was Daart merkwürdig berührt registrierte. »Ich habe mein Bestes gegeben …«, er breitete die Hände in einer fast hilflos wirkenden Geste aus, »aber das war wohl nicht genug. Der Blutdrache hat vielleicht gemerkt, dass ich ihm auf den Fersen war, und dann hat er es natürlich mit der Angst zu tun bekommen, hat abgedreht und ist so schnell davongeflogen, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte, ihn einzuholen.« »Vielleicht haben wir doch noch eine Gelegenheit«, sagte Carnac rasch und bevor Daart den Groll darauf aufmerksam machen konnte, dass seine Erklärung wohl mehr Wunschdenken als alles andere war. »Wie war das mit dem anderen Drachen, diesem Lederdrachen? Ich habe diesen Ausdruck noch nie gehört.« »Ja«, antwortete Grobian prompt. »Ich auch nicht.« Sein eben noch betroffener Gesichtsausdruck wandelte sich in ein unbekümmertes Grinsen, und dann lachte er einmal mehr sein donnerndes Lachen. »Aber irgendwie 181
passt dieser Ausdruck zu dem Vieh, das plötzlich hier aufgetaucht ist. Das ist nämlich tiefschwarz, und seine Schwingen sind knöchrig und bespannt mit etwas, das wie uraltes, gehärtetes Leder aussieht. Ach ja, und was ich vergessen habe …« Er warf einen Blick nach oben. »Ich glaube, der Lederdrache ist ein Kumpel von dem Blutdrachen. Die beiden haben sich umkreist wie alte Freunde, doch was dann passierte, war gar nicht gut … denn die haben mich entdeckt.« Die Stimme des Grolls wurde ein Stück leiser, verhaltener, und er sah plötzlich aus wie ein zu groß geratener Junge, fand Daart, allerdings wie ein deutlich zu groß geratener Junge. »Ich habe keine Lust, mit Drachen zu streiten. Die sind anstrengend. Aber was soll ich sagen: Dieser Drache hatte Lust zu streiten.« »Hatte er eine Reiterin?«, fragte Carnac erregt. »Ja, wenn du mich so fragst.« Grobian kratzte sich erneut am Kopf und sah mit einem Mal ganz nachdenklich aus. »Ich glaube schon.« »Das musst du doch wissen, wenn du gegen den Drachen gekämpft hast«, sagte Carnac ungeduldig. Sie wirkte so, als ob sie auf etwas Bestimmtes hinauswollte, und Daart glaubte die Anspannung zu spüren, die sie erfasst hatte. Aber vielleicht war es nichts weiter als der Widerhall seiner eigenen Enttäuschung. Er hatte gehofft, dass ihnen der riesige Groll mehr zu berichten habe, als dass ihm der Blutdrache entwischt war. »Ja, wenn es ein regelrechter Kampf gewesen wäre, dann hätte ich eine Reiterin schon bemerken müssen.« Der Groll faltete die Hände vor dem Bauch, und seine mächtigen Schultern sackten ein Stück ein. »Es war eher 182
so … also, als der Drache angeflogen kam … ich dachte, ich muss ja diesmal niemanden retten, außer mich selbst vielleicht … ja, dann habe ich mich halt unsichtbar gemacht, so wie nur wir Grolle uns unsichtbar machen können.« »Hör mal«, sagte Carnac streng. »Ich will nur wissen, ob der Drache eine Reiterin hatte.« »Und nicht wie der, äh, Kampf ausgegangen ist?« Der Groll öffnete den Mund, dass man bis tief in seinen Rachen schauen konnte, wenn man denn unbedingt wollte (worauf Daart allerdings verzichtete). Doch das war nur der Auftakt, denn dann stieß Grobian erleichtert die Luft aus, und Daart drehte so schnell wie möglich den Kopf beiseite und rang nach Luft, und er sah, dass Thross es ihm nicht nur gleichtat, sondern davoneilte und erst ein ganzes Stück entfernt stehen blieb, wobei er nach dem dunklen Schatten eines jungen Baumes griff. Dann glaubte Daart würgende Geräusche zu hören. Er konnte den Jungen nur zu gut verstehen. Der Gestank, der dem Rachen des Grolls entwich, war mörderisch; toter, wochenlang vergammelter Fisch roch eindeutig besser. Er beeilte sich, möglichst unauffällig ein paar weitere Schritte zwischen sich und den Groll zu bringen, was aber nicht viel nützte; der Gestank veränderte sich zwar, wurde aber keine Spur angenehmer, ganz im Gegenteil, und auch Daart musste jetzt gegen einen heftigen Würgereiz ankämpfen. Nur Carnac ließ sich davon nicht beeindrucken, sie starrte den Groll weiter herausfordernd an, während ihre Gesichtsfarbe allerdings erst käsig und dann langsam grünlich wurde. »Du hast gesagt, dass du dich unsichtbar gemacht 183
hast«, erinnerte Carnac den Groll, »indem du auf den nächsten Baum geklettert bist?« Grobian schüttelte den Kopf. »Nicht auf den nächsten Baum. Auf den dicksten, den ich hier gesehen habe. Und der die dichteste Krone hat. Damit man mich von oben nicht sehen kann.« Carnac schluckte, gab sich aber weiter Mühe tapfer zu sein und ganz, ganz flach zu atmen. Daart konnte sich nicht vorstellen, dass das half. Er entfernte sich so unauffällig wie möglich ein weiteres Stück, bis Grobian und Carnac im Nebel zu zwei, wenn auch sehr unterschiedlichen Schemen verschwammen. »Der Nebel hat mir geholfen«, sagte Grobian. »Wie auch der Baum. Aber das ist es nicht. Wir Grolle können uns nämlich wirklich unsichtbar machen.« »Ja«, stieß Carnac hervor. Es klang so, als ob sie die Luft angehalten hätte, aber das konnte ihr höchstens kurzfristig Entlastung bringen und würde es nur verschlimmern, wenn sie anschließend einen tiefen Atemzug nahm. »Doch was war nun mit dem Drachen? Hatte er eine Reiterin oder nicht?« »Schon, wenn ich es mir so richtig überlege.« Der Groll verzog das Gesicht, als bereite ihm das Denken Schmerzen; zumindest kam es Daart aus der Entfernung so vor. »Aber sie war kaum zu erkennen«, fuhr Grobian fort. »Klein und zierlich wie ein Kind, gekleidet in schwarzes Leder, sodass sie sich kaum von dem Drachen abhob, auf dem sie ritt.« Carnac stieß scharf die Luft aus, drehte sich um und lief los, nein, eigentlich sprang sie aus dem Stand mit einem Riesensatz in die Richtung, in der Grobian zuvor 184
den Blutdrachen verfolgt hatte, auf das Unterholz zu, das sie hier wie eine Mauer erwartete, mit gierig vorgestreckten Dornen und tückischen Schlingpflanzen. »Schnell«, rief sie über die Schulter zurück. »Wenn der Lederdrache das ist, was ich vermute, müssen wir uns beeilen.« Daart und Thross wechselten einen raschen Blick. »Hat sie das öfters?«, fragte Thross. »Was?« »Diese plötzlichen Einfälle.« »Ja«, sagte Daart und lief los. Er wurde das unbestimmte Gefühl nicht los, dass Carnac sehr genau wusste, warum sie Grobian nicht eingehender nach dem Blutdrachen und seiner Flugbahn befragt hatte, und stattdessen die Spur dieses ominösen Lederdrachen aufnehmen wollte. Er befürchtete, dass ihr Gebaren alles andere als etwas Gutes zu bedeuten hatte, und ihm graute schon jetzt bei dem Gedanken, einen Umweg einschlagen zu müssen, anstatt ihr Ziel – die richtigen, auf Dauer lebensrettenden Schlangen zu finden – direkt anzusteuern. Aber er würde sich gedulden müssen, bis er Carnac eingeholt hatte, um auf eine Erklärung zu hoffen – wenn sie denn überhaupt bereit war, ihm eine zu geben.
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5 Daart gab sein Bestes, Carnac einzuholen, aber sie lief, als wäre sie von Sinnen, holte alles aus ihrem angeschlagenen Körper heraus und vergrößerte den Abstand zwischen ihnen beiden eher noch, statt ihn schrumpfen zu lassen und auf Daart zu warten. Immerhin blieb es ihnen erspart, sich durch das tückische Unterholz zwängen zu müssen. Grobian hatte sich wie selbstverständlich Thross auf die Schultern geladen und war vorangestürmt. Die Schneise, die er schlug, war diesmal nicht ganz so breit wie jene, die sie bis auf den Drachenhügel geführt hatte, wie Grobian die Anhöhe hinter ihnen nannte; es ging bei seinem Vorwärtsstürmen auch deutlich weniger zu Bruch als bei seiner wilden Verfolgungsjagd nach dem Blutdrachen. Daart argwöhnte, dass Grobian Rücksicht nahm auf ihn und Carnac, damit ihnen die frisch produzierten Kleinteile nicht wie Wurfgeschosse um die Ohren flogen. Daart war indessen viel zu sehr damit beschäftigt, darauf zu achten, dass er nicht stolperte oder das Gleichgewicht verlor, als dass er viel davon mitbekommen hätte, was zwischen Carnac und Grobian vorging. Hin und wieder stieß sie Richtungsangaben hervor, die der Koloss sofort in die entsprechende Laufrichtung umzusetzen schien. Es herrschte eine Art Einverständnis zwischen ihnen beiden, das er nicht einordnen konnte. Vielleicht, weil sie dich hintergehen wollen, sagte eine böse Stimme in ihm. 186
Auf diese Weise hatte sich die innere Stimme schon lange nicht mehr gemeldet, wie sie überhaupt in letzter Zeit erstaunlich ruhig geblieben war. Daart beschloss sie zu ignorieren. Niemand wollte ihn hier hintergehen – schon gar nicht Carnac und Thross. Bist du dir da wirklich sicher? Daart trat so wuchtig gegen einen Stein, der ihm in den Weg gerollt war, nachdem ihn Grobian irgendwo losgetreten hatte, dass dieser hochschoss und dicht an den Schultern des Grolls vorbeisauste, bevor er ein Stück vor ihm auf den Boden schlug. Irgendein morbider Teil in ihm wartete geradezu sehnsüchtig darauf, dass sich Grobian umdrehen und ihn böse anfunkeln würde. Doch statt ihm diesen Gefallen zu tun, stapfte der Koloss seelenruhig voran. Mach nur weiter so, meldete sich die Stimme erneut zu Wort. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Daart seufzte. Er war sich nicht sicher, ob es nun die Stimme war, die ihn seit Kindheitsbeinen begleitete oder eine andere; möglicherweise hatte sie sich auch nur verändert. Seit er wusste, dass er nicht nur Mensch, sondern zum Teil auch etwas ganz anderes war, etwas, das von den Sternen gekommen war, um die Menschheit auszulöschen (was auch beinahe gelungen wäre), hatte sich alles für ihn verändert. Nichts hat sich verändert, nörgelte die Stimme. Du warst schon immer das, was du bist. Du musst es nur annehmen. Dein Erbe. Das dich zu etwas Besonderem macht. Ja, dachte Daart ärgerlich, während er weiter vorwärts stürmte und so manchen Zweig beiseite schlug, 187
der durch Grobian erst weggerissen worden war und gerade in dem Moment zurückschnellte, als er auf ihn zulief. Ein Monstrum in Menschengestalt. Eine Gefahr für alle, die sich in seiner Gegenwart aufhielten. Die Stimme schwieg. Dafür veränderte sich der Wald um sie herum. Die Bäume wichen zurück, als flöhen sie vor ihnen, und der Boden wurde zunehmend felsiger. Der Nebel hatte sich immer noch nicht aufgelöst, sondern war, ganz im Gegensatz zu seinen Erwartungen, eher noch dichter geworden. Doch nun wandelte er sich abermals. Um sie herum war kein wattiges, alles erstickendes Grau mehr, sondern Nebelbänke, in die sie hineinliefen. Eben noch konnte er jede Einzelheit von Grobian erkennen, den massigen Körper, der, wie von schweren Erschütterungen gebeutelt, mit unermüdlicher Energie vorwärts stürmte, dann wurden sowohl er als auch Carnac vollständig vom Nebel aufgesogen, und er selbst konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen. Bis das felsige Gelände vor ihnen anstieg und der Nebel an vielen Stellen aufbrach. Grobian blieb stehen, so abrupt, dass der auf seinen Schultern sitzende Thross ein Stück nach vorn geschleudert wurde und nach dem Erstbesten griff, an dem er sich festhalten konnte – dem einsamen Haarbüschel auf der kahlen Schädelplatte des Kolosses. Der Groll stieß einen knurrenden Laut aus, griff mit seiner Riesenpranke nach oben und umfasste Thross’ Hand, um sie roh zurückzuschieben. Dann rieb er sich ein paar Mal selbstvergessen über die Stirn, bevor er sich zu Carnac und Daart umdrehte, die ebenfalls stehen geblieben waren. 188
»Was ist das denn für ein Riesenkerl?«, knurrte er, während er nach oben auf den Hügel starrte, der sich vor ihnen auftat. »Der ist ja noch größer als ich. Das finde ich gar nicht gut.« Thross machte Anstalten, sich auf die Schultern des Kolosses zu stellen, wohl um besser erkennen zu können, was Grobian dort entdeckt hatte, und Daart begriff, dass er sich auf die Zehenspitzen stellen musste, wollte er überhaupt auch nur ansatzweise erkennen, was der Groll meinte. Als er es sah, krampfte sich sein Herz zusammen. Es waren zwei riesige Augen, die auf ihn herabfunkelten, nur mehr halb verdeckt durch den Nebel, der sich hier im Rückzugsgefecht vor der zunehmend kräftiger strahlenden Sonne befand. Daart duckte sich unwillkürlich unter dem Blick hinweg, und das Schwert war schneller in seiner Hand, als der Gedanke eigentlich brauchen konnte, um seine Schwerthand zu erreichen. »Was ist das?«, keuchte er. »Das wüsste ich auch gern«, knurrte Grobian. »Ich dachte eigentlich, ich wäre hier der Größte landauf, landab. Ich mag es gar nicht, wenn sich da irgendein frecher Kerl künstlich aufbläst.« Carnac legte ihm die Hand auf den Unterarm, drehte den Kopf gleichzeitig in die Richtung des massigen Grollschädels und sagte etwas so leise, dass Daart kein Wort verstand. »Ruhe«, befahl er, um der inneren Stimme zuvorzukommen, bevor sie ihn mit einem erneuten Hinweis auf Carnacs und Grobians Geheimniskrämerei nerven konnte. »Kein Wort.« 189
Thross drehte sich auf den Schultern des Grolls herum und blickte ihn unsicher an. Daart schüttelte den Kopf. Er bezweifelte, dass es der Junge verstanden hatte, hätte er ihm erklärt, dass er nicht Carnac damit gemeint hatte, sondern seine innere Stimme. Wahrscheinlich hätte der Junge dann nur geglaubt, dass er verrückt sei. Was ja wahrscheinlich auch stimmte. Denn normal war es bestimmt nicht, wenn man zumindest zum Teil von den Sternengeborenen abstammte, die mit fürchterlicher Wut unter seine menschlichen Vorfahren gekommen waren, um sie allesamt auszulöschen und ihre Kultur vollständig zu vernichten … Der Groll stampfte mit dem Fuß auf. »Das wollen wir doch mal sehen«, maulte er. Thross riss den Kopf wieder herum, duckte sich aber im nächsten Augenblick so tief hinter den massigen Schädel des Grolls, wie er nur konnte, und dann setzte sich auch Carnac schon in Bewegung. Seite an Seite stürmte das ungleiche Paar den Hügel hinauf. Carnac hatte ihr Schwert gezogen und wirkte so angespannt, als würde sie einen heimtückischen Angriff erwarten, noch bevor sie die Hügelspitze erreicht hatten. Ich habe es dir ja gesagt, meinte die innere Stimme leise und kaum vernehmbar. Wie immer hatte Daart das Gefühl, sie sitze direkt in der Mitte unter seiner Schädeldecke, aber diesmal war irgendetwas … anders. Der hämische Satz hallte länger als sonst in seinem Kopf wider. »Ja, ich weiß«, murmelte Daart schließlich. »Aber es ist trotzdem nicht wahr.« Dann stürmte auch er los.
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Es dauerte nicht lange, bis er die anderen eingeholt hatte. Das war nicht besonders schwierig, denn sie wurden immer langsamer, je mehr sie sich den Hügeln näherten, bis sie schließlich im Schutz eines großen, überhängenden Felsens stehen blieben. »Thross, mein Ausguck!« Der Groll schielte nach oben, und bei dem Versuch, den Blick des Jungen zu fixieren, verdrehte er die Augen so sehr, dass Daart schon Angst hatte, sie würden ihm aus dem Kopf quellen. »Jetzt bist du an der Reihe.« Thross wirkte alles andere als erfreut darüber. Doch als Grobian ihm noch einmal auffordernd zuzwinkerte – was den Eindruck verstärkte, seine Augen würden sich gleich selbstständig machen –, beeilte er sich. Mit beiden Händen drückte er sich nach oben, und nur einen Moment später stand er schon auf den Schultern des Grolls und lugte über den Rand des Felsens hinaus. Er stand erstaunlich stabil, aber nur so lange, bis er auf die Idee kam, sich auch noch auf die Zehenspitzen zu stellen – und dabei offensichtlich genauer ins Sichtfeld bekam, wonach er Ausschau gehalten hatte. »He, Vorsicht.« Thross geriet ins Taumeln, krallte sich Halt suchend an Grobians einsamem Haarbüschel fest und rutschte dann, ob freiwillig oder nicht, mit der Geschwindigkeit eines herabstoßenden Raubvogels an seinem Körper herab. Kurz darauf stand er leicht zitternd neben dem Hünen, der ihn um mehr als eine volle Mannslänge überragte. »Da ist …«, stotterte Thross, »da ist …« »Ja, was, verdammt, ist da?« Der Groll senkte den Kopf und starrte auf Thross hinab, wie dieser vielleicht 191
auf einen Dackel hinabgestarrt hätte. »Nun rede schon, kleiner Mann.« »So ein Riiiiiesenvieh.« Thross breitete die Hände aus, so weit es ging, was nicht besonders weit war und geradezu lächerlich angesichts seiner Worte. »Ganz wie du gesagt hast, Grobian.« »Wie ich was gesagt habe?« Der Groll gab sich offensichtlich Mühe, möglichst leise zu reden – was aber nicht viel nutzte, sondern nur dazu führte, dass Thross erschrocken einen Schritt zurück tat und den Finger auf die Lippen legte. »Vorsicht! Sie könnten uns hören.« »Wie denn …« Der Groll senkte die Stimme noch einmal, und jetzt tatsächlich so drastisch, dass es einem Flüstern zumindest entfernt nahe kam. »Ich zumindest rede doch ganz leise.« Thross nickte. »Es muss der Drache sein, von dem du gesprochen hast.« »Der Lederdrache?« Grobian runzelte die Stirn und richtete sich wieder auf. »Na warte, Freundchen. Mit dir habe ich noch ein paar Takte zu reden.« »Nicht ganz so hastig.« Carnac hatte die Stimme nicht einmal erhoben, aber sie klang trotzdem so schneidend, dass Grobian unwillkürlich den Kopf in ihre Richtung drehte. »Wir sollten jetzt nichts überstürzen.« »Was meinst du damit?«, grollte der Groll. »Dass ich jetzt besser die Sache übernehme.« Sie drehte sich zu Daart um. »Ich erkläre dir alles später.« Rasch strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn und eilte los. Muss ich noch irgendetwas sagen?, meldete sich die Stimme zu Wort. 192
Daart hätte ihr antworten können. Aber das wäre lächerlich gewesen. Die Stimme war in seinem Kopf, und was immer hinter ihr steckte, wusste sehr genau, was er erwidern wollte. Trotzdem machte er sich Sorgen. Große Sorgen. Der Blutdrache hatte ihm schon gereicht, da fehlte es ihm noch, dass sich Grobian und Carnac darum stritten, wer sich als Erster von ihnen mit einem finsteren schwarzen Lederdrachen anlegen durfte. Was ihn anging, war sein Bedarf an Drachen für die nächsten Jahre vollauf gedeckt. Er war so weit in seinen Überlegungen gekommen, bis er sich an Carnacs Rat erinnerte, hier auf ihn zu warten. Nur gut, dass er sowieso meist nicht auf sie hörte. »Dann mal los«, murmelte er, nur für sich, aber Thross fuhr erschrocken zu ihm herum, und Grobian sah ihn ganz merkwürdig an. »Solltest du hier nicht …«, begann Thross. Daart nickte. »Ja, genau.« Und damit lief er auch schon los. Carnac hatte bereits den Rand des Hügels erreicht, aber zu Daarts Erleichterung war sie nicht weitergelaufen, sondern hatte sich in den Schutz eines trockenen Dornbuschs gekauert, um in die Richtung zu starren, in der sie die riesigen Augen entdeckt hatten. Als sie Daart bemerkte, wandte sie nur kurz den Kopf, um ihm zuzunicken und ihn mit einer Geste an ihre Seite zu winken. »Wir sind wieder da angekommen, wo wir losgegangen sind«, sagte sie, statt ihm Vorwürfe zu machen, dass er ihr gefolgt war. »Nur aus einer anderen Richtung.« Daart schüttelte den Kopf. Er war ganz sicher, dass 193
sie nicht den Weg zurück in Nubinas Heerlager gefunden hatten, egal von welcher Seite aus. Doch als er in gebückter Haltung an Carnacs Seite angelangte und gleich ihr vorsichtig ein paar dornenbewehrte Zweige mit der Spitze seines Schwertes wegschob, begriff er, dass sie Recht gehabt hatte. Sie waren tatsächlich wieder dort, wo sie aufgebrochen waren. Aber Carnac hatte nicht Nubinas Heerlager gemeint, sondern die Schädelhöhle. Und auf die blickten sie jetzt. Doch sie hatte sich verändert. Hinter den leeren Augen des Schädels flackerten und züngelten Flammen, kein ungezügeltes Feuer, sondern wie von mehreren kleineren und größeren Feuerstellen, die jemand im Innern der Höhle entzündet hatte. Das war es gewesen, was auf sie gewirkt hatte wie der böse funkelnde Blick einer riesigen Kreatur. Daart hatte allerdings keine Augen dafür. Er starrte auf die Frau, die direkt neben der breiten Mundöffnung des nackten Schädels hockte und sich mit ihrem Messer an etwas zu schaffen machte, das wie überdimensioniertes Zaumzeug aussah. Die Frau trug schwarze Lederkleidung, grober und fester als die, welche er und Carnac getragen hatten, als Skarissa Rabork sie in den Süden Enwors geschickt hatte. Ansonsten sah sie auf den ersten Blick Carnac erstaunlich ähnlich. Auch sie hatte langes, schwarzes Haar, das ein schmales Gesicht umschloss, und ihre Bewegungen waren von ähnlicher Anmut und Leichtigkeit, wie er es immer bei Carnac bewundert hatte. Und sie war offensichtlich auch kein bisschen weniger 194
aufmerksam. Ihr Kopf zuckte herum wie der eines wachsamen Tieres, und ihr langes Haar flog, während ihre rechte Hand zum Griff der Waffe fuhr, die sie neben sich auf den Boden gelegt hatte. Ihr Blick schweifte ruhig und zugleich flink über die Büsche, die auf der Höhe ihres Verstecks fast so etwas wie ein Spalier bildeten. Daart und Carnac reagierten auf ganz ähnliche Weise. Schnell, aber ohne übertriebene Hast, um keine zusätzlichen verräterischen Bewegungen des stachligen Gezweigs zu verursachen, zogen sie ihre Waffen aus dem Buschwerk zurück, während sie sich gleichzeitig etwas tiefer duckten. Die Drachenreiterin (dass es sich um eine solche handelte, daran zweifelte Daart keinen Augenblick) ließ ihren Blick kaum merklich länger auf dem Busch ruhen, hinter dem sie sich versteckt hatten, dann wanderte er weiter und wieder zurück. Daart wollte schon aufatmen, als sich die Drachenreiterin mit einer fließenden Bewegung erhob. Das Leder ihrer Kleidung knarrte hart und laut; viel zu laut, um die Kleidung einer Kriegerin sein zu können, die gewohnt war, sich an ihre Feinde anzuschleichen. Doch das beruhigte Daart keineswegs. Wer nicht darauf achten musste, gleichermaßen feste wie geschmeidige Lederkleidung zu tragen, der musste es gewohnt sein, dass ihm seine Feinde nicht wirklich gefährlich werden konnten. Er hatte den Gedanken kaum gedacht, als in den flackernden Lichtschein auch schon Bewegung kam, ausgelöst durch mehrere dunkle Schatten, die auf den Ausgang der Schädelhöhle zustrebten. Daart nahm das verräterische Blitzen von Metall wahr und schnelle, huschende 195
Bewegungen. Er wollte sich ein Stück aufrichten, um besser sehen zu können, doch Carnac packte ihn an der Schulter und drückte ihn erstaunlich kraftvoll weiter herunter. »Nicht«, zischte sie kaum hörbar. Es hätte ihrer Warnung nicht bedurft. Die ersten Gestalten hatten den Ausgang der Höhle erreicht, und es sah aus, als spucke sie das Maul des Schädels aus, eine nach der anderen. Es waren in Leder gekleidete Drachenreiterinnen wie diejenige, die vor der Höhle das Zaumzeug pflegte und dabei Wache hielt – oder umgedreht. Keine war wesentlich älter als er oder Carnac, einige jünger; nur eine einzige Frau mit einem Anflug grauer Haare war unter ihnen. Durch das Gewirr ineinander greifender dorniger Zweige konnte Daart ihr Gesicht zwar nicht richtig erkennen, aber er hatte den flüchtigen Eindruck von harten Gesichtszügen und einer Narbe, die quer über die linke Wange der Frau verlief. Die Drachenreiterin, die draußen gewartet hatte, sprang auf, als die anderen Frauen – sieben an der Zahl – auf sie zuhielten. »Habt Ihr sie gefunden, Quarterma?«, fragte sie. Daart hatte Mühe, den Sinn ihrer Frage zu verstehen; sie hatte sie nicht auf Tekanda gestellt. Wenn ihr Dialekt nicht dem der Guhulan geglichen hätte, unter denen sie aufgewachsen war, hätte er wohl kaum ein Wort verstanden. »Was ist …«, begann Carnac, aber Daart legte ihr die Hand auf den Mund (etwas zu grob vielleicht, denn sie japste instinktiv nach Luft) und flüsterte ihr ins Ohr: »Sie sprechen einen Guhulan-Dialekt.« »Das sind doch keine Feuerkrieger«, gab Carnac fast unhörbar zurück. 196
»Nein«, hauchte ihr Daart ins Ohr. »Aber ich habe lange genug unter ihnen gelebt, um zu wissen, dass sie eine Menge Verbündete in dieser Gegend haben. Vielleicht gehören die Drachenreiterinnen auch dazu. Und …«, er senkte seine Stimme noch einmal, »vielleicht sind sie sogar hinter uns her. Vergiss nicht, dass Zar’Toran und Nubina einen Pakt eingegangen sind. Die Guhulan und Nubinas Silberkrieger haben allen Grund, uns zu suchen, nachdem wir ihnen im Feuertempel so schwere Verluste zugefügt haben.« »Den hatten sie schon vorher«, flüsterte Carnac, »weil sie der Meinung sind, dass du ihnen bei der Suche nach wahrer Unsterblichkeit helfen kannst.« Daart winkte ab, wollte etwas sagen, aber Carnac kam ihm erneut zuvor: »Was bereden sie gerade?« »Wenn du ruhig wärst, könnte ich vielleicht sogar etwas verstehen«, sagte Daart tonlos. Was nicht ganz richtig war. Er hatte auch nebenbei mitbekommen, dass die Drachenreiterinnen dabei waren, ihre Suche enttäuscht abzubrechen. Sie hatten offensichtlich die ganze Höhle abgesucht und die Feuer entzündet, um die Spuren derer zu finden, hinter denen sie her waren – und Daart war überzeugt, dass er selbst und Carnac damit gemeint waren. »Vielleicht verhält sich auch alles ganz anders«, murmelte Carnac. »Wie meinst du?«, fragte Daart. Er ließ die Drachenreiterinnen jetzt nicht mehr aus den Augen. Sie packten das überdimensionierte Zaumzeug aus schwarzem Echsenleder zusammen, das neben der Höhle gelegen hatte, neben diesem bizarr beleuchteten Riesenschädel, wäh197
rend die Feuer bereits in sich zusammenfielen. Nichts deutete darauf hin, dass sie sich besonders viel Zeit ließen, aber sie schienen auch nicht gerade in übertriebener Eile zu sein. Was ihn weit mehr beschäftigte, war die Frage, wo sie ihre Drachen gelassen hatten. »Ich … ich habe von diesen Reiterinnen immer wieder gehört«, flüsterte Carnac. »Das letzte Mal ist schon eine ganze Weile her. Aber es hieß damals mit Sicherheit nicht, dass sie Verbündete der Guhulan seien. Ganz im Gegenteil.« »Ein Bund ist schnell geschlossen und gebrochen«, erinnerte sie Daart. »Das meine ich nicht …«, begann Carnac. Sie kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu beenden. Hinter ihnen waren erst ein, dann mehrere stampfende Schritte zu hören, gefolgt von dem Geräusch herabrutschender und achtlos beiseite getretener Steine. Die Drachenreiterinnen verharrten mitten in der Bewegung, und Daart glaubte schon, er habe sich in ihnen getäuscht und es seien keine Kriegerinnen, die genau wussten, was zu tun war, wenn etwas von der Größe eines Grolls auf sie zustapfte. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Wie auf ein geheimes Kommando hin zogen alle Reiterinnen ihre Waffen und nahmen ebenso routiniert wie hastig zu beiden Seiten des ungewöhnlichen, an das gierig aufgerissene Maul eines Ungeheuers erinnernden Höhleneingangs Aufstellung. Die ältere, grauhaarige Kriegerin, die von den anderen Quarterma genannt worden war, drehte sich hingegen auf dem Absatz um und verschwand mit raschen Schritten in der Höhle. 198
»Dieser Idiot.« Daart hatte noch immer nicht die Stimme erhoben oder es zumindest nicht vorgehabt; aber er hatte wohl lauter gesprochen als zuvor, denn zwei, drei Drachenreiterinnen wandten den Blick in seine Richtung, und die Art, wie sie ihre Waffen schlagbereit erhoben hatten, ließ ihn befürchten, dass sie ihn gesehen, zumindest aber gehört hatten. Er kam nicht dazu, darauf zu reagieren. Grobian tobte von hinten heran, so wie es Grolle nun einmal zu tun pflegen, und jetzt noch irgendetwas aufhalten zu wollen, wäre ein lächerlicher, von vornherein aussichtsloser Versuch gewesen. Daart wollte aufspringen, aber wieder war es Carnac, die ihn am Arm packte und festhielt, grober diesmal als zuvor. »Nicht«, zischte sie. »Warten wir erst einmal ab, wie sich die Begegnung entwickelt.« Was Carnac Begegnung genannt hatte, konnte sich Daart nur zu gut vorstellen. Wenn Grobian richtig sauer war, dann würde er wie ein Wirbelwind unter die Drachenreiterinnen fahren, und wenn sie dann nicht gleich Unterstützung durch ihre ungewöhnlichen Flugtiere bekamen, konnte ihnen das äußerst schlecht bekommen. Die Frage war: Was war in den Groll gefahren, dass er alle Vernunft hatten fallen lassen und nun plötzlich hier angestürmt kam? Daart stellte die Frage hintan, als Grobian näher kam. Der Koloss bereitete sich mit ungestümer Gewalt seinen Weg durch das Buschwerk und räumte dabei auf unnachahmliche Art alles beiseite, letztlich wohl auch ihn und Carnac, wie Daart erkannte, wenn er nicht im letzten Moment seinen Kurs änderte. Darauf wollte es Daart 199
nicht ankommen lassen. Er packte Carnac am Arm und riss sie hoch und gleichzeitig zur Seite, und dann war Grobian schon heran, brach durch das Dornengestrüpp, als sei es nichts weiter als Steppengras, machte noch zwei weitere schnelle Schritte voran und hielt dann so abrupt, dass der noch immer auf seinen Schultern hockende Thross nach vorn geschleudert wurde, um ein Haar den Halt verloren hätte und heruntergepurzelt wäre. »Drachenreiterinnen aus der Steppe«, knurrte Grobian angesichts der schwer bewaffneten Amazonenschar, und es klang bei weitem nicht so unfreundlich wie bei der Begrüßung, die er Daart bei ihrer ersten Begegnung hatte zukommen lassen; ja, es schwang sogar eine Vorfreude darin mit, deren Grund sich Daart nicht vorzustellen getraute. »Ein Groll!«, schrie eine der Kriegerinnen, eine andere ließ ihr Schwert sinken, und eine dritte drehte sich auf der Stelle um, um Quarterma hinterherzulaufen; all das geschah so schnell, dass Daart überhaupt nicht dazu kam, sich ernsthaft zu fragen, was dieses ungewöhnliche Verhalten bedeuten konnte. »Gut.« Carnac stieß erleichtert die Luft aus. »Meine Erinnerung hat mich also doch nicht getrogen.« Auch mit dieser Äußerung konnte Daart nicht wirklich etwas anfangen, zumal drei der Drachenreiterinnen mit grimmigen Gesichtern und gezogenen Schwertern stehen blieben, und eine vierte etwas tat, was ihm gar nicht gefiel: Sie riss einen Pfeil aus dem Köcher auf ihrem Rücken, den Daart erst in diesem Moment bemerkte, und legte ihn in einen Bogen ein, den sie plötzlich wie hingezaubert in der Hand hielt. 200
Grobian war dagegen stehen geblieben und ließ seine gewaltigen Pranken baumeln, wovon er sich wahrscheinlich eine beruhigende Wirkung versprach. Thross hatte sich inzwischen aufgerappelt und sich leicht aufgerichtet, offenbar hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, auf den Schultern des Grolls oder doch besser im Schutz des Kolosses sitzen zu bleiben. »Keine Sorge, Mädels«, sagte Grobian da bereits. »Ich bin einer von den Guten. Ein Groll. Der tapferste und am meisten gefürchtete von allen.« Die letzte Bemerkung konnten die Drachenreiterinnen nur als Drohung auffassen. Zwei weitere von ihnen zogen die Waffen, während die anderen näher zusammenrückten, aber nicht ängstlich, sondern in gewohnter Kampfformation. »Nicht!«, schrie jemand aus der Schädelhöhle und stürmte dann auch schon hervor; es war Quarterma. Ihr Blick wanderte zwischen Grobian, Carnac und Daart hin und her, und sie schien blitzschnell die Situation zu erfassen. Als sie sich zu ihren Drachenreiterinnen umdrehte, hatte sie beide Handflächen erhoben, eine Geste des Friedens, die auf ganz Enwor verstanden wurde. Auf ganz Enwor und auch von den Kriegerinnen, die sich sogleich sichtbar entspannten, wie Daart mit einem erleichterten Blick feststellte – aber nicht von der Bogenschützin. Sie hatte den Pfeil nicht nur in den Bogen eingelegt, sie hatte ihn auch schon gespannt. Die Spitze des Pfeils schien nirgends hinzuzielen, und Daart war voller Gewissheit, dass sie ihre Waffe gleich sinken lassen würde. Aber sie dachte gar nicht daran. Die Bogen schwang herum wie ein eigenständiges Wesen, eine fast schlan201
gengleiche Bewegung, die so schnell war, dass sie Daart kaum mit dem Auge verfolgen konnte. Trotzdem begriff er sofort, worauf sie abzielte. »Nein!«, schrien er und Quarterma gleichzeitig. Ihr gemeinsamer Aufschrei kam zu spät. Die Bogenschützin hatte ihr Ziel bereits erfasst. Und sie schien nicht mehr willens zu sein, sich von irgendetwas oder irgendjemand aufhalten zu lassen, konnte es in diesem Augenblick vielleicht gar nicht mehr. Der Kopf des Grolls fuhr herum, genau in die Schussrichtung hinein. Wäre Daart anstelle der Bogenschützin gewesen, dann hätte er eines der Augen des Grolls anvisiert. Aber dazu zielte sie ein winziges Stück zu hoch. Daart erfasste die Katastrophe, bevor sie geschah. Er stieß sich ab, oder vielmehr, er wollte sich abstoßen, und er wollte dem Groll gleichzeitig eine Warnung zurufen; doch bevor er dazu kam, hatte der Pfeil bereits die Sehne verlassen und jagte auf sein Opfer zu. Erst im allerletzten Moment schien Grobian zu merken, was vor sich ging. Er versuchte noch die Hand hochzureißen und gleichzeitig nach hinten auszuweichen. Doch so schnell er auch war, war er doch viel zu langsam. Der Pfeil traf sein Opfer. Mitten in die Brust oder, schlimmer noch: Genau ins Herz. Thross stieß einen entsetzlichen Schrei aus, riss die Arme nach oben, kam noch einmal hoch, griff mit der linken Hand nach dem Pfeilschaft – und kippte dann nach hinten, überschlug sich und krachte hart in das Dornengebüsch. 202
6 Der einzige Trost war, dass Thross sofort tot gewesen sein musste. Die Bogenschützin wurde sogleich von zweien ihrer Artgenossinnen überwältigt, und Quarterma lief zu der Stelle, wo Thross in das Gebüsch gestürzt war, und dann zu Carnac und Daart, die bereits niederknieten, nachdem sie den Jungen hochgenommen und ein Stück weiter vorsichtig auf den harten Boden gelegt hatten. »Beiseite«, zischte die Anführerin der Drachenreiterinnen, nicht laut, aber Carnac und selbst Daart reagierten sofort und machten ihr Platz. Sie beide wussten, dass es zu spät war; der Pfeil steckte tief in der Brust des Jungen, und seine Augen waren gebrochen, aber sie hofften dennoch auf ein Wunder, auf die Heilerfähigkeiten der Drachenreiterin mit der tiefen Narbe auf der Wange. Sie hofften und sahen auf Thross hinab. Grobian hatte sich inzwischen umgedreht, so langsam, als wäre er gar nicht mehr in der Lage, seinen Körper zu steuern. »Abgebrochener«, murmelte er. Eine einsame Träne lief seine Wange hinab, glitt über die Brandspur durch seinen Bart und blieb irgendwo weiter unten in dem haarigen Gestrüpp hängen. Es dauerte nicht lange, bis Quarterma wieder hochkam, nachdem sie mit der Hand über die Augen des jungen gefahren war und sie geschlossen hatte. Ihre Miene wirkte wie eingefroren. Dann schüttelte sie den 203
Kopf. »Es tut mir Leid«, sagte sie leise und wie an niemand anderen als an sich selbst gerichtet, »aber ich kann ihm nicht mehr helfen. Er ist tot.« Daart spürte, wie ein bitterer Kloß seine Kehle hochstieg. Gestern Nacht hatte er noch gedacht, dass Thross überfordert sei bei dem Versuch, ihn und Carnac mit einem gewagten Blutritual zu retten. Aber er hatte sich in dem Jungen getäuscht. Der schmale, ausgemergelt wirkende Creeper hatte alles gegeben, was er zu geben hatte, und Carnac und ihn damit gerettet. Und nun war er tot, hingestreckt durch einen lächerlichen Pfeil. »Nein.« Der Groll schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Du lügst. Du kannst ihm helfen. Du musst nur den Pfeil rausziehen und die Wunde versorgen.« Quarterma wandte sich zu dem Groll um. »Ich wünschte, es wäre so. Und ich wünschte, es wäre nicht eine meiner eigenen Reiterinnen, die diese Tat vollbracht hat. Aber Groll, dessen Namen ich nicht kenne: Es ist zu spät. Der Pfeil war vergiftet. Und selbst wenn er es nicht gewesen wäre …« Grobian starrte sie an, als könne er ihre Worte nicht begreifen, und seine Hände öffneten und schlossen sich krampfhaft, ein bedrohlicher Anblick bei einem kraftstrotzenden Hünen wie ihm. Sie brauchte ihren Satz nicht zu beenden, und doch schien der Groll genau darauf zu warten. Schließlich schüttelte er eigensinnig den Kopf. »Es kann nicht sein«, sagte er fast sanft. »Er war noch so jung. Er war so tapfer. Er wäre der größte aller Creeper geworden …« Dann öffneten sich seine Augen plötzlich, und Daart 204
begriff erst bei diesem Anblick mit ganzer schrecklicher Konsequenz, dass Thross tot war. Unwiederbringlich und für alle Zeit tot. Es war ein Schrecken, der zuerst auf Quarterma und dann auf ihre Drachenreiterinnen übergriff. Keine von ihnen machte eine vorschnelle Bewegung, aber sie versteiften sich, und die eine oder andere Hand glitt zum Griff einer Waffe. Grobian drehte sich um, langsam und fast bedächtig. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt, und in seinen Augen funkelte es verdächtig. In Daart war dumpfes Entsetzen. Ihn hätte der Pfeil treffen sollen, ihn, Carnac oder Grobian. Er hatte immer geglaubt, es gäbe nichts Schlimmeres, als wenn Carnac im Kampf fiele oder jämmerlich an einem Gift zugrunde ginge, wie es ihr immer noch nach den Folgen des Schlangenbisses drohte, aber in diesem fürchterlichen, zeitlosen Moment, in dem er zwischen dem verkrümmt am Boden liegenden Leichnam des Jungen und Grobian hin und her sah, spürte er, dass das nicht stimmte. »Ich habe viele gekannt, kleine wie große.« Die mächtigen Schultern des Grolls sackten ein Stück herab. »Aber niemanden wie ihn. Er war nur ein Kind, aber aus diesem Kind …« Er brach ab, und ein Laut entrang sich seiner Brust wie das Aufheulen eines Windes, der Kraft sammelt, um im nächsten Moment alles von den Füßen zu fegen, was sich ihm entgegenzustellen versuchte. »Aus diesem Kind wäre ein ganz Großer geworden, jemand, der die Seinen mit List und Tapferkeit von Sieg zu Sieg geführt hätte …« Er brach mitten im Wort ab, so als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, und dann ging eine erschreckende Veränderung in ihm vonstatten. Statt 205
immer weiter in sich zusammenzusacken, schien er jetzt zu wachsen. Sein Brustkorb schwoll zu einer unglaublichen Größe an, seine Schultern strafften sich, und in seinen tränennassen Augen funkelte es plötzlich hart. »Du da!« Er deutete auf die Bogenschützin, die nach wie vor von zwei anderen Drachenreiterinnen im festen Griff gehalten wurde, obwohl sie nicht die geringsten Anstalten gemacht hatte zu fliehen. »Sag mir, warum du das getan hast!« In den Augen der Bogenschützin flackerte es, doch dann spuckte sie aus und verzog angewidert das Gesicht. »Um dich zu treffen, du widerlicher, großer Fettwanst! Du bist eine Gefahr für uns alle. Du musst ausgelöscht werden.« Der Groll hob die rechte Hand, ballte sie zur Faust und starrte darauf, als wüsste er nicht genau, was er mit ihr anfangen sollte. »Ach, so ist das.« Er sah wieder auf, drehte den Kopf. »Anführerin …« »Quarterma«, sagte die grauhaarige Drachenreiterin. »Quarterma.« Der Groll nickte. »Ich glaube, deinen Namen habe ich schon einmal gehört.« Quarterma zuckte kaum merklich mit den Schultern. Ihren Gesichtsausdruck als angespannt zu bezeichnen, wäre maßlos untertrieben gewesen. »Du siehst das also auch so. Du hast deine Bogenschützin angewiesen, jeden Groll niederzustrecken, der in eure Nähe kommt, ja?« Ein abgrundtief böses Lächeln huschte über seine Züge. »Deswegen auch der vergiftete Pfeil. Weil du weißt, dass jemandem wie mir ein paar Nadelstiche nichts ausmachen und du es deshalb mit Heimtücke versuchen wolltest.« 206
»Nein, Groll«, sagte Quarterma mit fester Stimme. Sie deutete auf die Bogenschützin. »Sie hat gegen meinen Befehl gehandelt. Sie wird gerichtet werden. Ich verspreche bei allem, was mir heilig ist, dass der Tod des Jungen gesühnt wird …« Sie brach ab, offenbar begreifend, dass es ein fürchterlicher Fehler war, den Jungen zu erwähnen. Grobians Gesicht verdunkelte sich voller Zorn. »Sie hat nicht auf mich gezielt.« Die Stimme des Grolls war kaum mehr als ein Flüstern, aber ein Groll-Flüstern, das mühelos noch jedes andere Gespräch übertönt hätte, und es schwang so viel Hass darin mit, dass Quarterma zweimal kurz blinzelte, bevor es ihr gelang, ihre Gesichtszüge wieder wie aus Stein gemeißelt aussehen zu lassen. »Ich kenne euch, euch Drachenreiterinnen, auch wenn ich noch nie eine von euch von Angesicht zu Angesicht gesehen habe. Es eilt euch ein Ruf voraus. Nämlich der, dass ihr sehr genau wisst, was ihr tut.« Grobian beugte sich ein Stück herab, und sein mächtiger, halb versengter Schädel kam dem Kopf der Drachenreiterin gefährlich nahe. Sie blinzelte wieder, kürzer diesmal, dann strafften sich ihre Gesichtszüge und sie erwiderte den Blick des Grolls, ohne ein weiteres Zeichen von Furcht oder Schwäche zu zeigen. »Ja«, sagte sie dann. »Es ist wahr. Wir wissen sehr genau, was wir tun. Aber wir sind nicht deine Feinde, Groll. Ganz im Gegenteil.« Sie machte eine kaum wahrnehmbare Kopfbewegung zu Daart und Carnac hin. »Wir haben die beiden gesucht. Wir müssen sie von hier fortbringen. Und das schnell. Nubinas Truppen planen einen Vernichtungsschlag gegen den Norden Enwors, 207
und wir müssen unsere Reihen schließen, bevor die Silberkrieger wie Heuschrecken bei uns einfallen.« Daart hatte nicht das Gefühl, dass Grobian ihre Worte überhaupt zur Kenntnis nahm. Auch ihm selbst fiel es schwer, Quartermas Worten einen Sinn abzugewinnen; sie durchdrangen nicht die dumpfe Betäubung, die sich beim Anblick des toten Jungen über seine Gedanken und Gefühle gelegt hatte. »Ich weiß um die Wichtigkeit der beiden.« Der Groll richtete sich wieder auf, aber er ließ dabei Quarterma nicht aus den Augen. »Der Junge hat mir davon erzählt. Er hatte mich aufgesucht, weil er glaubte, dass ich ihm als Einziger helfen könnte, die beiden zu finden und zu beschützen. Und wie habe ich ihm sein Vertrauen gedankt?« Er drehte den Kopf in die Richtung, in der Thross nun direkt neben dem Dornengebüsch lag, in das er gestürzt war, lang hingestreckt, friedlich wie im Schlaf, aber auch kümmerlich und ausgemergelt aussehend. Mit seiner Energie und seinem Erfindungsreichtum hatte Thross immer viel älter, und auf eine merkwürdige Art auch viel kräftiger ausgesehen, als er es in Wirklichkeit gewesen war, und Daart begriff, dass der Groll durchaus nicht übertrieben hatte: Thross hätte das Zeug gehabt, sein Volk im Kampf gegen die Guhulan und ihre anderen Feinde anzuführen … Vielleicht war es dieser Gedanke, der kochend heiße Wut durch Daarts Adern jagte und das Gefühl der Trauer und Hilflosigkeit hinwegfegte, das sich zuvor wie ein betäubender Ring um seine Gedanken gelegt hatte. Er blickte auf den toten Jungen herab, auf dessen zarte, ausgezehrte Gestalt, der noch im Tod etwas von der 208
Zähigkeit anzuhaften schien, mit der Thross sein viel zu kurzes Leben gemeistert hatte. Es war ungerecht, dass es ausgerechnet er war, der hier tot im Staub lag; eine Ungerechtigkeit, die gesühnt gehörte … »Ich habe nicht auf ihn aufgepasst, als es darauf ankam«, fuhr der Groll fort. »Das ist nicht richtig.« Daart drehte sich zur Bogenschützin um, die mit flackerndem Blick die Szene verfolgt hatte. »Der Pfeil war gut gezielt und kraftvoll geschossen. Niemand hätte ihn aufhalten können.« Die Bogenschützin versuchte seinem Blick standzuhalten, aber das wollte ihr nicht gelingen. Daart machte erst einen Schritt auf sie zu, dann noch einen und noch einen. Die Drachenreiterin, die ihm am nächsten stand, wollte ihm den Weg vertreten, aber er blickte sie so eisig an, dass sie mitten in der Bewegung erstarrte. Auch die beiden Frauen, in deren Griff sich die Bogenschützin jetzt unruhig wand, schienen unschlüssig zu sein, was sie tun sollten. »Ich werde euch lehren, euch an einem Freund von mir zu vergreifen«, knurrte der Groll in diesem Augenblick. Dann fuhr seine Hand auf den Knüppel nieder, den er zwischen seinen breiten Ledergürtel und das über den prallen Bauch gespannte Wams geschoben hatte, mit der ausladenden Seite nach oben, damit er nicht versehentlich durchrutschte. Vielleicht gab das den Ausschlag. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf den Groll, und niemand achtete mehr auf Daart, nicht einmal mehr die Bogenschützin. In Daart war kein klarer Gedanke mehr, kein Zaudern, kein ruhiges Abwägen; in ihm war nur brodelnde, an Hass 209
grenzende Wut. Er beschleunigte seine Schritte so weit, dass es noch kein Rennen war, aber dem schon sehr nahe kam. Thross war tot, gemeuchelt, gestorben durch die Hand der Frau, die jetzt angstvoll auf Grobian blickte. »Bevor du irgendetwas Unüberlegtes tust, Groll«, drang Quartermas Stimme wie aus weiter Ferne an seine Ohren, »dann denke daran, was wir sind.« »Drachenreiterinnen, na und?«, antwortete Grobian patzig. »Genau«, fuhr Quarterma mit mühsam beherrschter Stimme fort. »Und unsere Drachen sind ganz in der Nähe. Das solltest du nicht vergessen.« Grobian gab ein verächtlich klingendes Grollen von sich. »Du willst mir drohen?« »Nein …« Der Rest von Quartermas Worten ging in dem harten Hämmern von Daarts eigenem Plusschlag unter. Seine Kiefer begannen zu mahlen, die Hand, die verkrampft auf dem Griff seines Schwertes lag, zitterte. Es war, als steige eine tiefe dunkle Kraft aus seinem Innersten empor, als habe sie dort jahrelang in Ketten gelegen und sei nun im Begriff, diese zu sprengen. Der Blick der Drachenreiterin löste sich von der massigen Gestalt des Grolls. Die nackte Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Als sie Daarts Blick begegnete, der sie fast erreicht hatte, wurde aus der Angst etwas anderes, Schlimmeres. Panik. Daart ließ ihr nicht den Hauch einer Chance. Ehe die beiden Frauen, die sie umklammert hielten und nach wie vor in Richtung des Grolls starrten (der jetzt den 210
beeindruckenden, mit Stahlspitzen gespickten Knüppel in der Hand hielt), auch nur begreifen konnten, was er vorhatte, riss er auch schon das Schwert hoch. Die Klinge zuckte vor, als werde sie gar nicht von ihm selbst gesteuert, sondern von etwas anderem in ihm, von etwas so Gewaltigem, Fremdem und Bösem, dass jeder Versuch, es aufzuhalten, vergebens gewesen wäre. Doch Daart wollte gar nichts aufhalten. Er sah das bleiche Gesicht des toten Jungen vor sich. Es war so grausam gewesen, ihn zu töten. Und so unnötig. Die Klinge des Schwertes, die von einem AraluSchmied im fernen Nyingma geschmiedet und gehärtet worden war, schnitt einen Fingerbreit unterhalb des Kinns der Bogenschützin durch Haut, Sehnen, Wirbel und Adern und fuhr auf der anderen Seite wieder heraus, zischte haarscharf am Hals der daneben stehenden Drachenreiterin vorbei und durch die Luft. Die Bogenschützin stieß einen schrecklichen, gurgelnden Laut aus. Ihr Kopf, jedes Haltes beraubt, fiel ihr von den Schultern, und Blut pulste aus ihrem Hals hervor, sprudelnd und schäumend, und bespritzte alles in ihrer Umgebung: die beiden Drachenreiterinnen, Daart, die Waffe und den nur von spärlichem Unkraut bewachsenen Boden. Doch da hatte Daart schon abgedreht. Angeekelt warf er die blutverschmierte Waffe von sich, die krachend auf dem Boden aufschlug und ein paar Schritte weitersegelte, bevor sie klirrend gegen einen Felsen schlug. Und Daart hatte das Gefühl, als schreie das Etwas, das ihn zu dieser grausamen Bluttat getrieben hatte, tief in seinem Innern in wildem Triumph auf. 211
7 Der Triumph hatte nicht lange angehalten. Nach seiner Bluttat fühlte Daart sich einfach nur noch leer und ausgebrannt, bar jeden Gefühls und unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Er war sich durchaus bewusst, was er getan hatte – aber er hätte beim besten Willen nicht mehr zu sagen vermocht, was ihn dazu getrieben hatte. Die Erinnerung an das, was in ihm aufgestiegen war, verblasste mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit. Man hatte ihn in der Höhle untergebracht, nicht weit entfernt von der Stelle, an der er zuvor mit Carnac gelagert hatte. Die anderen hatten miteinander gesprochen und gestritten, und im vorderen Bereich der Höhle war immer wieder hektische, aufgeregte Bewegung auszumachen gewesen, vor allem, nachdem sich der Groll in die Höhle gedrängt hatte und es ausgesehen hatte, als sei ein grober, schimpfender Vater zu seinen widerspenstigen Kindern heimgekehrt. Aber er hatte dafür keine Augen gehabt, nur für die dunklen Schatten, die sich in der Tiefe der Höhle zusammendrängten, unruhig und voller angespannter Bewegung, so als ertrügen sie es kaum, in der nur von unruhigem Flackerlicht erhellten Höhle ausharren zu müssen. Es waren die Drachen der Reiterinnen, die diese hier wohl mühsam hineingeführt und untergebracht hatten, damit sie aus der Luft nicht zu entdecken waren. Der Ausdruck Lederdrachen passte tatsächlich zu diesen 212
Wesen. So weit Daart erkennen konnte, waren sie abgrundtief schwarz, ihre Flügel wirkten knochig und überspannt mit uraltem, an manchen Stellen schon brüchigem Leder, und ihre Flanken sahen auf dem ersten Blick aus, als wären sie mit mehreren sich überlappenden Lederflicken verdeckt. Das Einzige, was an ihren Körpern das flackernde Licht der Lagerfeuer reflektierte, waren die Metallverbindungen des Zaumzeugs, das alle Tiere trugen bis auf eines, das größte und stolzeste von allen. Daart vermutete, dass es Quarterma gehörte und dass es das Zaumzeug ihres Drachen war, was die Wache haltende Kriegerin draußen vor der Höhle ausgebessert hatte. Nicht, dass ihn das besonders beschäftigt hätte. Im Grunde genommen beschäftigte ihn überhaupt nichts mehr. Thross’ Mörderin den Kopf abzuschlagen hatte ihm weder Erleichterung noch inneren Frieden verschafft. Aber es war wie ein Fanal gewesen, der Auftakt zu etwas, das kurz und grausam in ihm aufgeflackert war, bereit, jederzeit wieder zuzuschlagen. Er würde sich vorsehen müssen. Dann, schon zum Abend hin, hatten sie ihn geholt, zwei der Frauen – in denen Daart eine derjenigen erkannte, die die Bogenschützin festgehalten hatte – und nach draußen vor die Höhle gebracht. Der kurze Strick, mit dem man seine Beine auf Knöchelhöhe zusammengebunden hatte, gestattete ihm nicht mehr als kurze Trippelschritte. Es war ihm egal, und auch, dass sein langsames Vorankommen die beiden Frauen in Rage brachte und eine von ihnen ihn mit derben Worten beschimpfte, während die andere ihm in den Rücken 213
schlug, um ihn anzutreiben, berührte ihn nicht wirklich. Draußen warteten Carnac und Quarterma auf ihn. Sie schienen in ein angeregtes Gespräch vertieft zu sein, und als Carnac aufsah, zeichneten sich auf ihren Wangen hektische rote Flecken ab, und ihre Augen flackerten, als sei sie kurz davor zu explodieren. Der Blick, mit dem sie Daart maß, war weit davon entfernt, liebevoll oder auch nur annähernd freundlich zu sein. Doch dann gab sie sich einen Ruck und kam auf ihn zu. »Lasst uns mit ihm allein«, herrschte sie die beiden Drachenreiterinnen an, die ihn bis draußen begleitet hatten. Die beiden Frauen sahen fragend in Quartermas Richtung, und als diese nickte, ließen sie Daart los – wenn auch erst, nachdem ihm eine von ihnen noch einen kräftigen Stoß in den Rücken versetzt hatte, der ihn vorwärts taumeln ließ. Carnac machte sich keine Mühe, ihn aufzufangen, ganz im Gegenteil. Sie drehte sich ein Stück zur Seite und ließ ihn vorbeitaumeln, erst dann ergriff sie seinen Arm und zog ihn zu sich heran. Daart schwankte, und als er das Gleichgewicht wieder fand, starrte er an Carnac vorbei und zurück zur Höhle. Dort waren die Drachen zurückgeblieben, die einzigen Lebewesen, zu denen er sich im Moment hingezogen fühlte. »Warum?«, fragte Carnac. Nicht mehr, nur dieses eine Wort. »Warum was?« Daart erwiderte ihren Blick, doch als er sie ansah, hatte er das Gefühl, eine Fremde vor sich zu haben. Es lag nicht daran, dass sich Carnac in den letzten Stunden verändert hätte. Er hatte sich verändert. 214
»Warum die Reiterinnen ihre Drachen in der Höhle versteckt haben? Ja, das frage ich mich auch. Es muss sie viel Mühe gekostet haben, sie durch den Eingang zu quetschen. Wahrscheinlich mussten ein paar am Zügel ziehen, und die anderen haben geschoben.« Carnac starrte ihn an, als wäre er endgültig übergeschnappt. »Du musst dich nicht mit mir unterhalten, weißt du? Ich kann auch einfach zulassen, dass dich die Drachenreiterinnen auf einen Todesflug mitnehmen.« »O ja, gern.« Daart versuchte die Worte zurückzuhalten, aber es gelang ihm nicht, sie sprudelten ohne sein Einverständnis aus ihm hervor. »Ich wollte immer schon mal die Aussicht von dort oben genießen. Sag mir einfach, wann wir losfliegen, ja? Damit ich mir noch etwas Warmes anziehen kann, falls es da oben zu zugig sein sollte.« »Schluss jetzt«, sagte Quarterma herrisch und in akzentfreiem Tekanda. »Wenn er nicht endlich Vernunft annehmen will, soll er seinen Flug in die Unendlichkeit haben.« »Nein, bitte«, Carnac drehte sich zu der Anführerin der Drachenreiterinnen um, »es ist das Schlangengift, das seine Sinne verwirrt hat. Er ist sonst ganz anders.« »Das will ich auch hoffen.« Quarterma kniff die Augen zusammen und musterte Daart von oben bis unten. »Es heißt, er sei bei den Guhulan aufgewachsen. Ich denke, das erklärt viel mehr sein Verhalten als der Biss der Schlange. Schließlich bist du auch gebissen worden, Prophetin. Und es will mir scheinen, als wäre dein Verstand noch nicht einmal vom Ansatz her verwirrt.« »Das täuscht«, entfuhr es Daart. »Carnac ist voll215
kommen verwirrt, ständig und unheilbar. Abgesehen davon wundert es mich, dass Ihr von meinem kleinen schmutzigen Geheimnis meiner Herkunft wisst, Quarterma. Aber das macht natürlich alles einfacher.« Er beugte sich ein Stück vor, so weit zumindest, wie es ihm möglich war, ohne mit den zusammengebundenen Füßen einen Hüpfer in ihre Richtung machen zu müssen. »Zar’Toran hat mich höchstpersönlich ausgesucht und ausgebildet, damit ich später einmal genau hier stehen kann – und Euch entweder mein Messer ins Herz stoße oder Euch mit meinem Schwert den Kopf abschlage.« Carnac machte einen Schritt zurück und starrte ihn vollkommen entsetzt an, Quarterma dagegen mit einer Mischung aus Eiseskälte und Verachtung. »Du sollst deinen Flug haben. Der kräftigste meiner Drachen soll dich so hoch wie möglich in die Lüfte tragen. Und dann werde ich dich von seinem Rücken stoßen.« »Natürlich, ganz wie Ihr beliebt.« Daart deutete, so gut es mit seinen eng zusammengebundenen Händen ging, in die Richtung, in der Thross vom Rücken des Grolls gestürzt war. »Erst Thross, dann ich, nicht wahr? Und als Nächstes ist Carnac dran.« Quarterma starrte ihn eine ganze Weile lang schweigend an, dann schüttelte sie kühl den Kopf. »Ask war höchstpersönlich bei mir, um mir deines und Carnacs Schicksal ans Herz zu legen. Sie hat dich mir ganz anders geschildert. Als einen Mann, in dessen Herzen das Verlangen nach Gerechtigkeit und Anstand schlägt. Entweder hast du ihr und allen anderen etwas vorgespielt, oder es ist etwas passiert, was aus einem aufrechten Mann ein abstoßendes Monstrum gemacht hat.« 216
Daart wollte ihr eine weitere Frechheit an den Kopf schleudern, als sie die Heerführerin der Caverner erwähnte, die er unter ganz merkwürdigen Umständen kennen gelernt und wieder getroffen hatte. Aber er konnte es nicht. Quartermas Worte hatten etwas in ihm berührt, das er zusammen mit Thross für gestorben gehalten hatte. Doch vielleicht war es ein Irrtum gewesen. Vielleicht war es die ganze Zeit über da gewesen, nur verdeckt durch den Nachhall der Tat, zu der ihn der abstoßend fremde Teil seiner selbst gezwungen hatte. »Du bist aufsässig und verstockt«, fuhr Quarterma fort. »Und ich beginne mich zu fragen, was du damit bezweckt hast, die Mörderin gleich von eigener Hand zu richten.« »Rache?«, schlug Daart vor, obwohl er selbst nicht daran glaubte. Er verabscheute Krieger, die sich aus puren Rachegelüsten zu Bluttaten hinreißen ließen. »Das dachte ich zuerst auch. Doch jetzt kommt mir ein ganz anderer Verdacht.« Quarterma fuhr sich gedankenverloren über die Narbe auf ihrer Wange. »Der Groll hat nämlich Recht, weißt du? Die Mörderin hat nicht auf ihn gezielt, sondern ganz eindeutig auf den Jungen. Sie war meine beste Bogenschützin und hat auf so kurze Entfernung noch nie ein Ziel verfehlt.« »Dann seid letzten Endes doch Ihr selbst für den Tod des Jungen verantwortlich.« »Vielleicht ja«, antwortete Quarterma. Sie wirkte weniger betroffen, als mit einem Mal sehr nachdenklich. »Ich habe befürchtet, dass eine meiner jüngeren Kriegerinnen vorschnell zum Schwert greifen könnte, aber niemals damit gerechnet, dass ausgerechnet die beson217
nene Ramara einen Pfeil auf ihren Bogen legen würde, um damit den Creeper-Jungen zu erschießen.« »Ein Fehler«, schlug Daart vor. Doch der Hohn, der eigentlich in seiner Stimme liegen sollte, machte plötzlicher Unsicherheit Platz. Und das war noch nicht alles. Etwas in ihm begann sich wieder zu verändern, beinahe so, als kehre sich der Prozess um, der aus einem besonnenen Krieger ein Monstrum gemacht hatte. Es war fürchterlich, als kehre sich etwas von innen nach außen und umgekehrt. Nicht unähnlich dem Gefühl nach einer weiteren durchschwitzten Nacht, wenn er aus einem seiner schrecklichen Albträume aufwachte, noch unfähig, die Schreckensgestalten zurückzudrängen, die aus dem Traum nach ihm greifen wollten, aber schon wach genug, um zu begreifen, dass sie, den Göttern sei Dank, nicht wirklich waren. Ganz im Gegensatz zu dem, was vor wenigen Stunden passiert war. Der Schuss der Bogenschützin, der Thross getötet hatte, die gebrochenen Augen des Jungen, seine verkrümmte Haltung in dem Dornbusch. Und seine eigene … Reaktion darauf, das, was ihn dazu gebracht hatte, mit dem Schwert in der Hand auf die Bogenschützin zuzugehen, es hochschnellen zu lassen und ihr den Kopf abzuschlagen … »Ja, ein Fehler«, antwortete Quarterma kühl. »Und dann noch ein weiterer, dass ich nicht zu verhindern wusste, dass du die Mörderin umbringst. Und das, bevor ich aus ihr herausbringen konnte, wer sie gedungen hat.« Daart starrte sie verwirrt an. Durch die wattige Schicht seiner Benommenheit drangen die Worte der Drachenreiterin nur mit einiger Verspätung, und als er 218
endlich ihren Sinn verstand, weigerte er sich, die Schlussfolgerung daraus zur Kenntnis zu nehmen. Ganz im Gegensatz zu Carnac. »Ihr könnt doch nicht glauben, dass Daart mit der Mörderin unter einer Decke steckte?«, entfuhr es ihr. »Sicherlich nicht. Aber vielleicht war es ihm ja bekannt, wer sie gedungen hat.« Quartermas Augen verengten sich. »Und vielleicht wollte er verhindern, dass etwas über ihre Auftraggeber bekannt wurde.« »Wir wissen doch noch nicht einmal, ob es wirklich einen Auftraggeber gegeben hat …«, begann Carnac, aber als Quarterma eine energische Handbewegung machte, brach sie ab. »Ramara hat niemals aus eigenem Antrieb gehandelt. Und wozu sollte sie das auch tun?« Das war eine gute Frage, fand Daart. Aus seinem Innersten stiegen jetzt andere Bilder auf, nicht mehr die fürchterlichen voller Blut und Gewalt, die ihn gequält hatten, kaum dass er sein Schwert weggeworfen und sich hatte binden lassen, sondern ältere, aus wirklichen Träumen und aus frühen Erinnerungen stammend: Zar’Toran, der sich mit wallendem Feuermantel über ihn beugte und ihn mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme schalt, ihn auf einen »rechten« Weg bringen wollte, von dem Daart schon seit frühesten Kindheitsbeinen geargwöhnt hatte, dass es nur ein falscher, ins Verderben führender Weg sein konnte … »Es ist doch ganz klar, wer hinter dem Mord steckt«, murmelte Daart, »falls es denn tatsächlich ein Mord war und nicht die unmittelbare Tat einer Verwirrten.« »Ach ja?«, fragte Quarterma. »Dann wäre es nett, wenn du uns dein Geheimnis verraten würdest.« 219
»Nubina ist es sicherlich nicht«, antwortete Daart. Als er aufsah, hatte er das Gefühl, für einen Moment in das strenge, hagere Antlitz des Feuermagiers zu sehen, doch bevor er auch nur erschrecken konnte, verblasste das Bild schon wieder und machte dem nicht minder harten, aber deutlich vertrauenswürdiger wirkenden Gesicht Quartermas Platz. »Sie stammt nicht aus dieser Gegend und hatte keine Vertrauten, die … die Kontakte zu den verschiedenen Volksgruppen pflegen«, fuhr Daart stockend fort. »Ganz im Gegensatz zu Zar’Toran. Seine Feuertempel erstrecken sich über die ganze westliche Flanke der Schattengebirge. Und er hat schon mehr Mörder gedungen, als ich Finger an meinen Händen habe.« Zum ersten Mal, seit dieses absurde Gespräch begonnen hatte, wirkte Quarterma ernsthaft verwirrt. »Du belastest dich selbst, ist dir das eigentlich klar?« Daart schloss die Augen und versuchte das harte Pochen hinter seinen Schläfen zu ignorieren. Er empfand immer noch nicht wirklich etwas, jedenfalls nichts, das über den morgendlichen Schrecken hinausging. Aber da war auch etwas anderes in ihm, das aufbrechen wollte, nicht die finstere, unverständliche Kraft seiner Ahnen, die von den Sternen kamen, sondern etwas Altes und Vertrautes, das ihn zurückholen wollte auf den Boden der Tatsachen. »Du willst mir nicht antworten?«, fragte Quarterma in forderndem Ton. Daart öffnete die Augen wieder, schüttelte dann den Kopf, nur um sofort darauf zu nicken. »Doch. Es ist richtig, dass ich unter der Obhut Zar’Torans aufge220
wachsen bin. Aber das habe ich mir nicht ausgesucht, ganz im Gegenteil. Es gibt niemanden, den ich mehr verachte und verabscheue.« »Aber du hast dich dennoch immer wieder auf ihn eingelassen«, stellte Quarterma fest. »Wer hat dir das gesagt?«, fragte Daart. »Carnac?« »Nein«, erwiderte Quarterma hart. »Ask.« »Die gleiche Ask, die voll Hochachtung von mir gesprochen hat?« Daart schüttelte den Kopf. »Es ist heute viel passiert, was nicht hätte passieren sollen. Ich weiß nicht, warum deine Bogenschützin Thross erschossen hat, aber ich weiß, dass es nicht hätte geschehen dürfen. Genauso wenig, dass ich … dass ich daraufhin …« Er suchte nach Worten, nach einer Erklärung, in sich selbst, aber auch nach etwas, was er den beiden ungleichen Frauen sagen konnte, ohne etwas von dem zu verraten, was wirklich in ihm vorgegangen war. Aber er fand keine Worte. Und er sah Quarterma an, dass sie alles, was er in diesem Zusammenhang von sich gegeben hätte, nur als einen Versuch empfunden hätte, sich herauszureden. »Wenn du noch etwas zu sagen hast, dann sage es«, forderte Quarterma in verächtlichem Tonfall. »Ansonsten ist es jetzt an der Zeit aufzubrechen.« Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und starrte nach oben, zum oberen Rand der Schädelhöhle hin. Daart folgte ihrem Blick. Es dauerte eine Weile, bevor er dort eine Drachenreiterin hocken sah, fast vollständig verborgen von einem dicken Gewirr von Zweigen, welche sie wohl über sich gelegt hatte, um sich auf diese Weise vor allzu neugierigen Blicken zu schützen. 221
»Wie sieht es aus?«, rief Quarterma nach oben. Der Kopf der Drachenreiterin kam unter ihrem natürlichen Sichtschutz hervor. »Der Blutdrache scheint sich verzogen zu haben. Ich habe ihn jedenfalls schon eine ganze Zeit lang nicht mehr gesehen.« In Quartermas Gesicht arbeitete es. »Wir brauchen eine Weile, um alle Drachen aus der Höhle herauszubekommen.« »Ich weiß«, gab die Drachenreiterin zurück. »Aber wenn wir heute noch aufbrechen wollen, bleibt uns nicht mehr viel Zeit.« Quarterma stieß einen Seufzer aus. »Also gut. Dann halte den Himmel weiter unter Beobachtung – und gib uns Bescheid, sobald sich auch nur der Schweif eines Blutdrachen am Himmel abzeichnet.« Auf einen Drachen zu steigen, um sich auf seinem Rücken auf einen Flug einzulassen, war eine Sache; dies aber an den Händen gefesselt tun zu müssen, war eine ganz andere. Quarterma hatte nicht Wort gehalten. Man hatte Daart nicht zu dem kräftigsten ihrer Drachen geführt, sondern zu einem weitaus kleineren. Wobei kleiner durchaus relativ war. Er war so groß und massig, dass sich hinter ihm bequem ein ganzer berittener Kundschaftertrupp verbergen konnte, und allein sein Kopf war so groß, dass Grobian auf ihm bequem ein Nickerchen hätte machen können – wenn der Drache es denn zugelassen hätte. Trotzdem: Leder- und Blutdrachen hatten kaum etwas miteinander gemein. Die Flugechse, auf die zwei Amazonenkriegerinnen Daart umständlich hinaufgehievt 222
hatten, war weitaus schlanker als der Blutdrache, den sie verfolgt hatten. Es klackte und rauschte gewaltig, als sie jetzt die Flügel ausbreitete, und es war auch keine einzelne fließende Bewegung, in der dies geschah, sondern der Drache klappte seine Flügel in mehreren Stufen aus. Zunächst rastete ein recht überschaubares Paar Flügel mit einem hörbaren Ruck ein, bevor sehr schnell die nächste Stufe der Entfaltung folgte, wobei hier der Ruck deutlich härter zu spüren war. Schon jetzt war die Flügelspannweite beachtlich, aber dem Drachen schien das nicht zu genügen. Er fing an zu vibrieren und am ganzen Körper zu zittern, und als wäre das noch nicht genug, nahm Daart plötzlich eine Bewegung hinter sich wahr und spürte, wie sich jemand an seinen Schultern testhielt und hinter ihm in den Sattel glitt. Der Drache verschränkte mit deutlich spürbarer Anstrengung seine Lederschwingen, und unterhalb seiner ausgebreiteten Flügel schoss plötzlich eine nochmalige Verlängerung hervor. Knurrend und schaukelnd stampfte er los, machte eine Kehrtwende und jagte immer schneller werdend auf den Abhang hinter der Schädelhöhle zu. Das unruhige Manöver trieb Daart den Schweiß ins Gesicht, und er klammerte sich, so gut es ging, an dem überdimensionierten Sattelknauf fest in Erwartung dessen, was als Nächstes kommen musste … Die Flugechse, auf deren Rücken er und seine Begleiterin hockten – von welcher er annahm, dass es Quarterma war –, erreichte auf ihren gewaltigen Säulenbeinen ein Tempo, das jeden Halter eines Rennpferdes vor Neid hätte erblassen lassen. Auch Daart erblasste, wenn auch aus einem ganz anderen Grund. Der Abhang, von 223
dem aus sich immerhin bereits drei Echsen in die Luft erhoben hatten, wie er sich zu beruhigen versuchte, war schneller da, als er erwartet hatte, und er sah fürchterlich schroff und zerklüftet aus. Der Drache mochte ja Erfahrung haben, was in dieser Situation zu tun war, wie die Drachenreiterin in seinem Rücken auch; er hatte jedenfalls keine. Die Hände der Amazone griffen an ihm vorbei und packten zwei wohl speziell dafür vorgesehene Einkerbungen am Sattelknauf so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, und dann schoss der Drache schon über den Rand des Abhangs hinaus … … und sackte durch. Daart hatte das Gefühl, als dränge sein Magen bis weit über die Kehle nach oben. Er selbst fühlte sich emporgerissen, als könne er einfach in der Luft hocken bleiben, während der Drache wie ein schwerer Steinbrocken hinabschoss. Hätte sich die Drachenreiterin nicht fest in seinen Rücken gepresst, während sie sich mit aller Kraft an dem Knauf festklammerte, Daart wäre womöglich aus dem Sattel gekippt und an der Flugechse vorbei in die Tiefe gestürzt. Die fing nun, kraftvoll und gleichmäßig mit den Flügeln schlagend, ihren Sturz auf und leitete damit eine Art kontrollierten Sinkflug ein. Die Spitzen von Ulmen und Zederntannen waren schon zum Greifen nahe, als sie endlich an Höhe gewann. Eine Welle von Übelkeit verschleierte Daarts Blick und ließ ihn mehrere Herzschläge lang alles andere vergessen, und als er wieder klar sehen konnte, erkannte er, dass die Flugechse tatsächlich einen Rhythmus gefunden hatte, der sie beständig höher steigen ließ. 224
Und sie war nicht die einzige Flugechse am Himmel. Über und neben ihnen schraubten sich andere in gleichförmigen Spiralen hoch. Auf jeder Echse saß eine Drachenreiterin. Auf jeder bis auf einer. Es war das größte und kräftigste Tier, die geborene Führerin ihrer Artgenossen. Im Augenblick sah es jedoch so aus, als sollten die anderen besser nicht ihrem Beispiel folgen, wollten sie sich nicht geradewegs in den harten Talboden rammen, der sich jetzt unter ihr auftat. Daart beugte sich so weit vor, wie er es sich traute, um dem Kampf des mächtigen Lederdrachen zu folgen. Schon die Echse, auf der er saß, hatte mächtig zu arbeiten, um den anderen folgen zu können, die beständig an Höhe gewannen; kein Wunder angesichts des doppelten Gewichts, das sie zu tragen hatte. Der Leitdrache dagegen hatte es ungleich schwerer, und das im wortwörtlichen Sinne. Grobian hockte auf ihm wie ein zu groß geratenes Kind auf einem Spielzeugpferd. Er klammerte sich mit der einen Hand am Sattelknauf fest, während er mit der anderen wild durch die Luft fischte. Und das durchaus nicht lautlos. Inmitten der schlagenden Geräusche der Drachenflügel hörte Daart seine wilden Rufe, mit denen Grobian wohl hoffte, den Leitdrachen anfeuern zu können. Es sah nicht so aus, als ob er damit besonders erfolgreich wäre. »Dieser Schwachkopf«, ertönte eine Stimme hinter Daart. Er verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, sich umzudrehen. »Bleib du wenigstens ruhig sitzen«, zischte ihm Quarterma ins Ohr, deren besorgten Aus225
druck er nur flüchtig zu Gesicht bekommen hatte. »Die Drachen sind sehr empfindlich, was Gewichtsverlagerungen angeht.« »Das hätte Ihr Grobian vielleicht besser gesagt«, meinte Daart. Quarterma stöhnte auf. »Was meinst du, womit ich ihm die ganze Zeit über in den Ohren gelegen habe.« Das konnte sich Daart sehr gut vorstellen. Aber der Groll war schon immer mehr als eigensinnig gewesen. Und genau das drohte ihm jetzt zum Verhängnis zu werden. Quarterma richtete sich hinter Daart im Sattel auf und war mit einem Satz auf den Füßen, und das so leichtfüßig und ohne den Drachen aus dem Gleichgewicht zu bringen, dass dieser weiter stur seine Bahn ziehen konnte. »Groll!«, schrie sie in beachtlicher Lautstärke und auf eine Art, die Daart befürchten ließ, dass sie die Hände zum Trichter über ihren Mund gelegt hatte – frei stehend auf einem sich stetig höher schraubenden Drachen. »Hör endlich auf, da rumzuzappeln«, brüllte Quarterma. »Du bringst den Drachen sonst vollkommen aus dem Gleichgewicht.« Der Groll schien sie durchaus gehört zu haben. Allerdings reagierte er ganz anders, als sie beabsichtigt hatte. Er beugte sich so weit wie möglich vor (was den Drachen sogleich ein kleines Stück vorwärts kippen ließ), lehnte sich zur Seite und winkte wild. »Das blöde Vieh will nicht so, wie ich will«, brüllte er. »Ich werde gleich landen müssen.« »Nein, das wirst du nicht!«, schrie Quarterma außer 226
sich vor Wut zurück. »Dreh dich wieder um und verhalte dich vollkommen ruhig. Den Rest macht Speerspitze schon allein.« Der Drache hob den Kopf, als er seinen Namen hörte, und Grobian rutschte ein Stück zurück, bevor es ihm wieder gelang, sich gut festzuhalten. Das war das Letzte, was Daart für eine ganze Weile von ihm sah. Denn da drehte ihr eigener Drache auch schon ab, um den anderen Flugechsen zu folgen, die soeben den Hügel auf der anderen Seite verließen und der blutroten Abendsonne entgegenflogen.
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8 Als Daart mit wackeligen Beinen neben dem Drachen stand, der gerade in dem weit gestreckten Tal niedergegangen war, musste er sich an dem Ast einer Zederntanne festhalten, sonst hätte er das Gleichgewicht verloren. Sein Magen hatte während des letzten Teils des Fluges ständig revoltiert; es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich mitten in der Luft übergeben müssen. Es war ein mehr als unruhiger Flug gewesen, der es ihm zunehmend schwerer gemacht hatte, sich auf dem tanzenden Drachenrücken festzuhalten. Wenn Quarterma nicht schon sehr bald seine Handfesseln mit einem schnellen Messerschnitt aufgetrennt und es ihm so ermöglicht hätte, sich weit nach vorn über den Drachenhals zu legen und dennoch gleichzeitig die Hände links und rechts in wohl speziell dafür vorgesehenen Haltegriffen zu vergraben, dann hätte ihn früher oder später eine Bö aus dem Sattel gerissen. Die dunklen Wolken, die sich vor den Mond geschoben hatten, waren nur die Vorboten eines Unwetters gewesen, das wenig später mit erbarmungsloser Wucht auf sie niedergegangen war. Erst Regen, dann Hagel, wild aufgepeitscht, der die Drachenformation auseinander gerissen und die Lederdrachen innerhalb kürzester Zeit in die verschiedensten Richtungen versprengt hatte … »Wir müssen Feuersturm absatteln und vom Zaumzeug befreien«, sagte Quarterma. Sie hatte gleich nach der harten Landung angefangen, sich um den Drachen 228
zu kümmern und ihm mit einem Tuch die blutig unterlaufenen Augen so gut es ging trockengewischt. In ihrer Stimme schwang ein Tonfall mit, der Daart in jeder anderen Lage hätte alarmiert aufhorchen lassen. Doch im Augenblick war ihm viel zu übel, dass er in der Lage gewesen wäre, über irgendetwas nachzudenken – geschweige denn Quarterma zur Hand zu gehen, die schon dabei war, ihre eigenen Worte in die Tat umzusetzen, und soeben unter dem Bauch des Drachen verschwand. »Verdammt, Daart«, drang ihre Stimme darunter hervor. »Hilf mir. Feuersturm ist völlig erschöpft. Wenn wir ihm nicht gleich Erleichterung verschaffen, wird er sich vielleicht nie wieder in die Lüfte erheben – und wir sitzen in diesem verfluchten Tal fest.« »Gleich«, murmelte Daart. »Nur noch … einen Moment.« Er meinte es durchaus ernst. Aber seine wackligen Beine wollten nicht so wie er. Als er sich von der Zederntanne abstieß und auf den Drachen zugehen wollte, knickte er ein und musste keuchend verharren, bevor er mit kleinen, fast winzigen Schritten weitertaumelte. Der riesige Lederdrache, der vollkommen erschöpft und apathisch vor ihm stand, mit ausgebreiteten Flügeln, so als glaube er, immer noch zu fliegen, schien zu zerfließen, je näher er ihm kam. Daart wusste sehr genau, was mit ihm los war. Es waren nicht nur die Spätfolgen des Fluges und des Hagels, der ihm ungeschützt ins Gesicht gepeitscht war, dass er seine Haut an vielen Stellen blutig aufgerissen hatte. Es war die Nachwirkung des Schlangengiftes, die einmal mehr ihren Tribut forderte. Das fragile Gleichgewicht 229
zwischen den beiden Giftsorten der Schwesternschlangen hatte erstaunlich lange gehalten. Aber jetzt brauchte er wieder eine neue Dosis des Gegengiftes, um mehr als nur die nächsten Stunden irgendwie zu überstehen. »Die Schlange …«, murmelte er, als er endlich den Drachen erreicht hatte und sich unter seinen Flügeln hinwegduckte, um Quarterma bei ihrem verzweifelten Kampf gegen glitschiges, hart gewordenes Leder und ineinander verkantete Verschlüsse zu helfen, »wisst Ihr … wo die Schlange ist?« Quarterma wandte sich ihm nur ganz kurz zu, packte wenig rücksichtsvoll sein von Thross verbundenes Handgelenk und schob seine Hand in die Richtung, wo einer der Verschlüsse der breiten Lederriemen saß, die den Sattel und die Satteltaschen festhielten, den Drachen jetzt aber in seiner freien Bewegung einschränkten wie ein Kettenhemd einen erschöpft aus der Schlacht zurückkehrenden Krieger. »Rede nicht, hilf dem Drachen. Wir müssen ihn von allem befreien, was seine Atmung behindert.« Daart verstand zwar nicht genau, was sie damit meinte, aber darauf kam es jetzt auch nicht an. Seine Finger nestelten wie von selbst an dem Verschluss herum, den zu öffnen ihn Quarterma angewiesen hatte. Es gelang ihm nicht auf Anhieb, doch als er erst einmal den Mechanismus begriffen hatte, schienen seine Finger wie selbstständige Lebewesen hin und her zu huschen, bis sie den Verschluss geöffnet und den Lederriemen abgestreift hatten. Nach einem kurzen Seitenblick auf Quarterma, die auf der anderen Seite des Drachen verschwunden war und sich jetzt an den Zügeln Feuersturms zu schaffen machte, wandte sich Daart dem 230
nächsten Verschluss zu und nach diesem dem letzten noch nicht von Quarterma gelösten. Endlich hatten sie es geschafft, den Drachen von allem störenden Lederzeug einschließlich der voluminösen, aus schwarzem Echsenleder bestehenden Satteltaschen zu befreien, die so geschickt geformt und eingepasst waren, dass Daart sie zuvor kaum wahrgenommen hatte. Quarterma gönnte ihnen jedoch keine Pause. Sie drückte Daart ein zusammengeknülltes, fast trockenes Stück Stoff in die Hand, das auseinandergefaltet sicherlich groß genug gewesen wäre, um darin ein Ferkel mitsamt der Muttersau einzuwickeln. »Trockenwischen«, befahl sie. »Du übernimmst die linken Flügel. Ich die anderen. Wir müssen fertig sein, bevor sich die nächste Regenwolke über uns entlädt.« Daart begriff diesmal sofort, was sie meinte. Auch ein über Gebühr gefordertes Pferd musste man trockenreiben, und etwas Ähnliches war wohl bei dem Drachen nötig. Ohne zu zögern, machte er sich an die Arbeit. Der Drache ließ es sich gefallen, dass man mit dem überdimensionierten Tuch über seine rauen Lederschwingen rieb. Ab und an musste sich Daart auf seinen Flügel stützen, um nicht einfach vor Schwäche umzukippen, aber auch das ließ Feuersturm geduldig über sich ergehen. Ganz im Gegenteil schien er es dankbar zu registrieren, dass ihn Daart von dem feuchten Nass befreite, denn als dieser einmal in die Knie ging und hilflos mit dem rechten Arm nach ihm hangelte, ohne ihn aber zu erreichen, streckte er ihm seine Schwinge so weit entgegen, dass Daart sich daran festhalten konnte. Von der anderen Seite war ein lautes Rascheln und 231
Klacken zu hören, dann erbebte der ganze Lederdrache und klappte mit lautem Getöse die rechte Schwinge ein, Stück für Stück, bis es einen regelrechten Knall gab. Daart ahnte, was kommen würde, und war gerade einen Schritt zurückgetaumelt, als ein starkes Schütteln und Beben durch Feuersturm ging. Und dann versuchte er den linken Flügel einzuklappen. Das erste Stück schaffte er auch bis zur Hälfte, dann hakte irgendetwas. Daart machte einen schnellen Schritt vorwärts, als Feuersturm gerade den Kopf drehte und ihn aus seinen blutunterlaufenen Augen anblickte. Es war, als spreche er eine stumme Bitte aus, und als Daart flüchtig nickte und nach dem Flügel griff, hatte er das Gefühl, dass auch Feuersturm ihn verstand. Feuersturm gab sein Bestes, den Flügel doch noch einzuklappen, und Daart packte ihn mit beiden Händen und schob so kräftig, wie er nur konnte. Dann brach der Widerstand, und der Flügel nahm klickend und krachend die erste Hürde, kurz darauf die zweite, faltete sich auf neue Weise und fuhr auch noch das letzte Stück Schwinge ein. Daart wäre fast gestürzt, als der Rest des Flügels plötzlich vor ihm zurückwich. Er fand erst sein Gleichgewicht wieder, als Quarterma an Feuersturms Schwanzende vorbeistürmte und auf ihn zuhielt. »Was tust du da!«, schrie sie. Ihre Stimme kippte fast vor Zorn. »Lass gefälligst Feuersturm los! Du darfst ihn nicht berühren, wenn er seine Flügel einklappt!« Daart war viel zu erschöpft, um auf ihren Zornesausbruch zu reagieren. Aber das war auch gar nicht nötig. 232
Feuersturm drehte seinen gezackten und zerfurchten Drachenschädel noch ein Stück weiter herum und gab dann einen tiefen, seltsam traurig klingenden Ton von sich. Quarterma, die schon bis auf wenige Schritte an ihn herangekommen war, verhielt mitten in der Bewegung. Sie runzelte die Stirn, legte den Kopf schief und gab dann ihrerseits einen Laut von sich, der ganz ähnlich wie der des Drachen klang – nur, dass er etwas Fragendes hatte. Feuersturm schloss einmal kurz die Augen und öffnete sie wieder. Dann wandte er sich wieder ab. »Aha«, sagte Quarterma. Sie schien verwirrt zu sein. »Wenn das so ist, sollten wir jetzt sehen, dass wir einen Tümpel, einen Weiher oder besser noch einen See finden, an dem Feuersturm seinen Durst stillen kann.« Sie schien noch etwas sagen zu wollen, druckste ein wenig herum und fuhr schließlich fort: »Mir scheint, du hattest schon vorher mit Drachen zu tun?« Daart schüttelte müde den Kopf. »Nein. Aber mit Schlangen schon. Und in letzter Zeit vor allem mit Blutschlangen. Was mich zu der Frage führt …« Er hielt kurz inne, seufzte dann. »Thross hielt die Schlange in seiner Hand, als er …« Quarterma runzelte die Stirn. »Ja, ich weiß, von welcher Schlange du sprichst. Keine Sorge. Sie ist nicht verlorenen gegangen. Carnac hat sie.« »Aha. Und Carnac ist …?« »Sie ist nach uns gestartet. Und nun komm. Wir müssen dafür sorgen, dass Feuersturm seinen Flüssigkeitsverlust ausgleichen kann.« Es schien, als habe Feuersturm ihre Worte verstanden. 233
Der abgrundtief schwarze Drache setzte einen Fuß vor und zog einen anderen nach, schwerfällig und erschöpft. Daart setzte sich gleich ihm sofort in Bewegung, schaffte es sogar, bis vor zu seinem Kopf zu eilen, bevor Feuersturm in einen gleichmäßigen Trab fiel. Der riesige Drache wandte den schartigen Schädel in Daarts Richtung, und als begrüße er einen alten Freund, stupste er ihn kurz und ganz sanft mit der Nase an. Dann liefen sie Seite an Seite weiter, beide leicht schwankend und gezeichnet von den Spuren der Erschöpfung, die sie in ihrem unbarmherzigen Griff hielt, weiter in die Richtung, in der Feuersturm Wasser gewittert hatte. Nachdem Feuersturm mehr als den halben Tümpel leer getrunken hatte, den sie talwärts gefunden hatten, hockte er sich auf den feuchten Boden und rollte sich ein wie ein kleiner Hund. Dazu passte auch, dass er ganz in der Nähe von Daart blieb, der sich erschöpft mit dem Rücken an einen Baum gelehnt hatte. Es hätte wohl nicht viel gefehlt, und Feuersturm hätte seinen riesigen Schädel in Daarts Schoß gebettet. Quarterma schien das gar nicht zu gefallen. Sie hatte sich ein Stück von Daart und dem Drachen entfernt auf den Boden gesetzt und beobachtete die beiden im Zwielicht des unruhigen, von dunklen Wolken verdeckten Mondlichts. »Da scheinst du ja einen Freund fürs Leben gefunden zu haben«, sagte sie finster. Feuersturm gab einen rasselnden Laut von sich, und dann begann er so laut zu schnarchen, dass es klang, als würde direkt neben Daart ein ganzer Wald umgesägt. 234
»Ich frage mich, wie du das geschafft hast. Unsere Drachen sind ausgesprochen menschenscheu. Sie würden eher jemandem die Hand abbeißen, der ihnen zu nahe kommt, statt seine Nähe zu suchen.« »Vielleicht ist es das Schlangengift in meinen Adern, das ihn anlockt«, antwortete Daart. Quarterma schüttelte ernsthaft den Kopf. »Nein. Es muss etwas anderes sein. Und ich frage mich, was es ist.« Sie sah nach oben, als suche sie dort nach Feuersturms Artgenossen. »Ich werde nicht schlau aus dir. Das, was mir Ask erzählt hat … es passt nicht zu dem, was ich in deinen Augen gelesen habe, nachdem du Ramara umgebracht hast. Und das, was ich dort gesehen habe, das, was ich aus deinem Mund wenige Stunden später gehört habe – das passt nicht zu dem, was ich hier und jetzt mit dir erlebe.« »Ask«, sagte Daart, »ist noch viel rätselhafter als ich.« Quarterma schien ihm nicht den Gefallen tun zu wollen, auf seine Äußerung zu reagieren, aber dann sah sie ihn direkt an und sagte schlicht und einfach: »Nein.« »Aha«, machte Daart. Er suchte in seiner Erinnerung nach Ask, aber da waren vollkommen verschiedene Gedankenfetzen, die er nicht zusammenfügen konnte. Als er sie kennen gelernt hatte, war sie jung und scheu gewesen, doch wenig später, als er sie bei den Cavernern wieder getroffen hatte, war sie viel älter, alles andere als scheu und sogar die Anführerin einer wehrhaften Kriegerschar gewesen. »Ask scheint sehr wandelbar zu sein«, sagte er schließlich. »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sein Alter innerhalb kürzester Zeit ändern kann.« 235
»Jedes Volk hat seine lebenden Legenden, Daart«, sagte Quarterma beinahe sanft. »Ihr habt Skar. Wir haben Ask. Beiden gemeinsam ist, dass sie völlig anders in den Fluss der Zeit eingebunden sind als wir beide und jeder andere normale Mensch.« Daart hätte beinahe laut und bitter aufgelacht. Normaler Mensch? Diese Beschreibung traf auf ihn nun wirklich nicht zu. Wenn Quarterma in die Abgründe seiner Seele geschaut hätte, dort, wo sich die Triebkräfte seiner vollkommen verschiedenen Wesenskräfte einen erbitterten Kampf lieferten, hätte sie mit Sicherheit anders geredet. »Aber was hast du mit Feuersturm gemacht?« Der Tonfall Quartermas verriet, dass sie diese Frage brennender beschäftigte als alles andere. »Selbst anderen Drachenreiterinnen gegenüber ist er misstrauisch und abweisend. Ganz im Gegensatz zu dir.« »Ich weiß nicht.« Daart zuckte mit den Schultern. »Ist das wichtig? Wolltet Ihr mich nicht für meine Tat bestrafen, dafür, dass ich Thross’ Mörderin umgebracht habe?« Quartermas Gesichtszüge verfinsterten sich. Ein fahler Finger gelben Mondlichts stahl sich auf ihre Wange und ließ ihre Narbe unnatürlich deutlich hervortreten. »Ja und nein.« Als Daart etwas erwidern wollte, winkt sie mit einer energischen Bewegung ab. »Was würdest du tun, wenn dir dein Ehrenkodex eine bestimmte Handlung vorschreibt und Skar sich einmischt und etwas anderes anordnet?« »Hmm«, machte Daart. »Ich weiß nicht. Das ist eine sehr theoretische Frage. Skar ist längst tot. Genauso wie 236
Del. Die beiden haben schon vor einer halben Ewigkeit den Tod gefunden.« »Was?« Quarterma lachte kurz und heiser auf. »Es hieß doch immer, dass ihr Satai eine Möglichkeit gefunden hättet, Skars Leben für eine schier unbegrenzte Zeit zu verlängern.« »Ja, so heißt es.« Daart hätte noch eine ganze Menge mehr dazu sagen können. Aber er ließ es sein. Es hätte keinen Unterschied gemacht, nicht jetzt, wo er spürte, wie das tödliche Gift der Blutschlange in ihm wieder die Oberhand gewann. Noch war er nicht so schwach wie vor Thross’ Blutritual, aber es würde nicht mehr lange dauern. Und diesmal war keine Blutschlange zur Hand. Wenn Quarterma die Wahrheit gesprochen hatte, dann hatte Carnac die Schlange an sich genommen. Und Carnac war mit ihrem Drachen im Unwetter offensichtlich vom Kurs abgekommen, genauso wie alle anderen Drachenreiterinnen. »Wie also würdest du dich entscheiden?«, drang Quartermas Stimme in seine Gedanken. »Entscheiden?« »Wenn Skar etwas anordnen würde, was gegen deine lebenslange Überzeugung verstößt.« »Du meinst, wenn Skar plötzlich vor mir stünde, um mir zu befehlen, dass ich Carnac ein Messer ins Herz stoßen solle?« Daart schüttelte den Kopf. »Ich würde es natürlich nicht tun.« »Und warum hast du dann Ramara auf so bestialische Weise getötet?«, setzte Quarterma nach, und wieder war dunkler Zorn in ihrer Stimme. Es hätte viel gegeben, was Daart darauf hätte antwor237
ten können. Aber nichts davon wäre dazu angetan gewesen, Quartermas Zorn zu besänftigen, wahrscheinlich ganz im Gegenteil. Also schwieg er. »Ja«, sagte Quarterma finster, »das habe ich mir gedacht.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, aber stattdessen erhob sie sich, und kurz darauf verschmolz ihr Schatten auch schon mit dem nahen Buschwerk. Daart atmete tief aus. kauerte sich noch ein Stück tiefer in sich zusammen – und war schon im nächsten Moment eingeschlafen. Er erwachte, als sich etwas unruhig in seinem Rücken bewegte. Schlaftrunken richtete er sich auf – und blinzelte überrascht zu den zwei Feuern hinüber, die ein Stück weiter fröhlich prasselten. An dem nächstgelegenen war Quarterma gerade damit beschäftigt, einen länglichen Metallgegenstand – fast so etwas wie eine Röhre – mit einer Art Zange über das Feuer zu halten. Sie hatte sich vorgebeugt und eine angestrengt kauernde Haltung angenommen, um dem Feuer so nahe wie möglich zu kommen, ohne sich dabei zu verbrennen. Ihr Haar, das zuvor streng verknotet gewesen war, hatte sie geöffnet, und es floss lang und füllig ihren Rücken hinab. Hätte sie nicht nach wie vor die schwarze Lederkleidung getragen, so hätte man sie in diesem Augenblick eher für eine Schamanin als für eine Drachenreiterin halten können. Um das zweite, ein Stück weiter weg und tiefer gelegene Feuer kauerten drei Drachenreiterinnen. Zwei von ihnen hatten ihm den Rücken zugewandt, und die dritte, die die Hände gerade so weit wie möglich ans Feuer 238
hielt, um sich zu wärmen, war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihn zu bemerken. Nicht ihn, aber den Drachen, der sich in Daarts Rücken unruhig bewegte und ihm dann mit seiner Riesenschnauze einen kleinen Schubser verpasste, als wolle er ihn auf etwas aufmerksam machen. Erst da wurde sich Daart bewusst, dass er im Schlaf wohl immer näher an Feuersturm herangerutscht war und dann irgendwann seinen Kopf auf den riesigen Drachenschädel gebettet hatte. Die ihm zugewandte Kriegerin starrte zu ihnen herüber, riss dann die Hände zurück und sprang auf, das alles in einer einzigen fließenden Bewegung. Im nächsten Augenblick hielt sie bereits ihr Schwert in den Händen. »Er ist wach, Herrin«, sagte sie. Nicht dass es nötig gewesen wäre, Quarterma darauf aufmerksam zu machen. Sie wandte langsam, fast bedächtig den Kopf in seine Richtung und nickte dann knapp. »Es ist gleich angerichtet.« Daart starrte sie verblüfft an. Hatte er irgendetwas nicht mitbekommen? »Komm zu mir herüber«, fuhr Quarterma ohne Hast fort. »Ich habe mit dir zu reden.« Damit wandte sie sich wieder ab und richtete ihre volle Konzentration auf das Metallrohr, dessen Farbe sich ganz langsam veränderte. Die Kriegerin, die aufgesprungen war, blieb noch einen Moment lang unschlüssig stehen. Erst als sie Daart noch einmal finster gemustert hatte, ließ sie sich wieder nieder, steckte das Schwert aber nicht weg, sondern legte es in Griffweite neben sich. Die beiden anderen Frauen waren in der Zwischenzeit ein Stück zur Seite gerutscht, sodass auch sie jetzt Daart im Blickfeld hatten. 239
Daart drehte sich um. Es war ein merkwürdiges Gefühl, direkt in die schwarzen Augen eines riesigen Drachen zu blicken, der bloß das Maul hätte aufreißen und eine fast beiläufige Bewegung machen müssen, um ein Stück aus ihm herauszubeißen. Daart wusste, dass es vollkommener Unsinn war, aber er hatte das Gefühl, dass ihm Feuersturm vertrauensvoll zublinzelte – und dann versetzte er ihm tatsächlich noch einmal einen sanften, freundschaftlichen Stubser, wie um ihn aufzufordern, jetzt endlich Quartermas Aufforderung zu folgen. »Ja«, sagte Daart und gähnte herzhaft. »Ich glaube, du hast Recht.« Es fiel ihm erstaunlich leicht aufzustehen – und im nächsten Moment wieder in die Knie zu gehen. Es war fast ein Schlag, der ihn getroffen hatte, erbarmungslos und ohne Vorbereitung, und er führte dazu, dass er erst einmal drei, vier keuchende Atemzüge hockend verharren musste, bevor sich die tanzenden Schleier vor seinen Augen auch nur halbwegs beruhigten. Dabei hätte er es wissen müssen. Das Schlangengift wütete nach wie vor mit verzehrender Wut in seinen Adern. Der Schlaf hatte ihm zwar gut getan, ihn aber unaufhaltsam dem Tod näher gebracht. Mühsam stemmte er sich wieder hoch. Es waren vielleicht sieben, acht Schritte, die er zu überwinden hatte, aber sie kamen ihm im Augenblick wie eine unüberbrückbare Distanz vor. Er setzte einen Fuß vor den anderen, darum bemüht, den Drachenreiterinnen kein weiteres Schauspiel seiner Schwäche zu bieten. Dann, endlich, nach einer halben Ewigkeit, wie es 240
ihm vorkam, war er neben Quarterma angekommen. Er schwankte wie ein Schilfhalm im Wind, und es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre nach vorn gekippt und kopfüber ins Feuer gefallen. Doch Quarterma packte ihn, ohne aufzusehen, mit ihrer freien Hand am Arm und zog ihn mit einer erstaunlich kraftvollen Bewegung zu sich herunter. Daart prallte gegen ihre Schulter, was sie aber nicht weiter zu stören schien, und versuchte dann, eine Position einzunehmen, die aufrechtem Sitzen zumindest entfernt nahe kam. Quarterma beachtete ihn überhaupt nicht, sondern drehte und wendete mit ihrer Zange die Metallröhre über der heißesten Glut, als wolle sie sie zum Schmelzen bringen. Daart hätte sie fragen können, was sie damit bezweckte, aber in Wirklichkeit kümmerte es ihn nicht. Inmitten seiner hämmernden Kopfschmerzen war er vielleicht nicht mehr in der Lage, klar zu denken, aber er wusste sehr genau, worum er sich Sorgen zu machen hatte. Um Carnac. »Was ist mit den anderen Drachen?«, fragte er mühsam. »Sind auch sie hier gelandet?« »Außer uns und den dreien hat es niemand bis hierher geschafft«, murmelte Quarterma. »Aber das hat nichts zu sagen. Bei einem Unwetter muss jeder sehen, wie er selber klarkommt.« »Und … Carnac?« Quarterma zog die Metallröhre ein Stück zurück, begutachtete die gelblich-rote Verfärbung an ihrem unteren Ende und hielt sie dann wieder übers Feuer. »Ihr und Terkana wird es ähnlich ergangen sein wie uns bei241
den. Sie waren zu zweit auf einem Drachen. Das zusätzliche Gewicht ist eine große Herausforderung für jeden Flugdrachen.« »Also …« »Nichts also.« Quarterma kniff die Augen zusammen, als müsse sie jetzt ganz genau aufpassen, was die prasselnden Flammen mit der Metallröhre machten. »Wir sind nur mit den erfahrensten Drachenreiterinnen aufgebrochen. Jede weiß, was sie im Notfall zu tun hat. Und die Drachen sowieso.« »Aber das Unwetter …« »Das Unwetter, der lange Flug durch die finstere Nacht – all das sind außergewöhnliche Belastungen.« Quarterma warf mit einer energischen Kopfbewegung ihr langes, von grauen und weißen Strähnen durchzogenes Haar zurück, als es den Flammen zu nahe zu kommen drohte. »Aber ich würde mir trotzdem keine allzu großen Sorgen machen. Terkana ist eine der besten Drachenreiterinnen, die ich kenne, und sie wird rechtzeitig zur Landung angesetzt haben. Vielleicht ist deine Carnac gar nicht weit entfernt von hier.« Daart nickte. Vielleicht. Aber was, wenn sie mit zerschmetterten Knochen in irgendeiner Felsspalte lag, neben ihr der abgestürzte Drachen? Das wagte er sich gar nicht vorzustellen. Er zog die Knie an den Körper. Obwohl das Feuer eine immense Hitze abstrahlte, fror er. Ein weiteres Zeichen, dass das Ende nicht mehr weit entfernt sein konnte. Sein Ende. Quarterma warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu. »Das Gift?«, fragte sie. 242
»Ja«, antwortete Daart. »Das Gift. Es wird nicht mehr lange dauern.« »Bis du tot bist?« Quarterma schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn ich es verhindern kann.« Eine Mischung aus jähem Schrecken und plötzlich aufkeimender Hoffnung durchzuckte Daart. »Die Schlange? Du hast sie hier?« »Und röste sie gerade in Metall eingeschlossen über dem Feuer?« Quarterma schüttelte den Kopf. »Nein. Oder zumindest nicht ganz richtig. Es ist tatsächlich eine Schlange, die in der Metallröhre steckt. Aber keine Blutschlange.« »Aber was dann?«, fragte Daart enttäuscht. Quarterma seufzte. »Es ist nicht einfach zu erklären.« Sie fuhr sich mit der freien Hand durch das lange Haar und seufzte dann erneut. »Es gibt nicht mehr viele Drachen auf Enwor. Selbst im Drachenland an der Westküste, so habe ich es mir sagen lassen, sind sie fast ausgestorben. Die meisten leben hier, nördlich des Schattengebirges, in abgelegenen Tälern oder am Blutsee. Doch es gibt mehrere Arten.« »Ja, und?« »Wir Drachenreiterinnen kennen jede Art«, fuhr Quarterma ruhig fort, ohne das im Feuer röstende Metallrohr aus den Augen zu lassen. »Auch die Blutdrachen, die wahrscheinlich seltsamsten Geschöpfe ganz Enwors. Sie sind eigentlich gar keine richtigen Drachen, leben halb an Land, halb im Wasser – und erheben sich nur äußerst selten in die Lüfte. Und das auch nur dann, wenn eine äußerst geschickte Drachenreiterin sie zu lenken versteht.« 243
Daart riss den Blick vom Feuer los und starrte Quarterma überrascht an. »Dann war die Frau, die vom Rücken des Blutdrachen aus auf mich und Carnac schoss, eine von euch?« »Ja und nein.« Quarterma zog die in einem Metallsarg über dem Feuer geröstete Schlange ein Stück zurück, und Daart fragte sich, was von dem Schlangenkörper bei dieser Hitze überhaupt noch übrig geblieben sein konnte. »Wir leben in Sippen. Die meisten Sippen halten freundschaftlichen Kontakt untereinander. Aber es gibt auch einige, die sich vollkommen gegen die Gemeinschaft stellen. Und zu so einer gehört die Drachenreiterin, der du es verdankst, dass jetzt das Gift einer Blutschlange durch deine Adern pulst.« »Dann wisst Ihr auch, warum uns die Reiterin verfolgt und mit Blutschlangen beschossen hat?«, fragte Daart rasch. Quarterma lächelte böse. »Vielleicht. Aber das gehört jetzt nicht hierher.« »Das sehe ich anders«, widersprach Daart. »Wer nicht weiß, was seinen Gegner antreibt, kann sich seiner auch nicht richtig erwehren.« »Ja«, sagte Quarterma trocken. »Aber wenn du tot bist, wirst du deine Feinde erst recht nicht mehr besiegen können.«
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9 Quarterma hatte eine ihrer Kriegerinnen herangewunken, damit sie ihr bei dem zur Hand gehen konnte, was jetzt nötig war, um Daart einen erneuten Aufschub zu verschaffen. Er nahm es nur mehr wie durch einen Schleier wahr. Am Horizont zeichnete sich bereits das erste Morgenrot ab, das ungehindert von Nebel oder Feuchtschwaden über die im Osten steil und steinig aufragende Felswand glitt und den Himmel in dieser Richtung in ein blassrotes Licht tauchte, während im Westen noch pechschwarze Nacht war. Er wusste nicht, was ihm die nächsten Stunden bringen würden, den strahlenden Sonnenschein des Lebens oder die tiefe Nachtschwärze des Todes. Aber er wusste, dass es von Quarterma abhing, in welche Richtung das Pendel ausschlagen würde. »Wir müssen das Serum in den Tonkrug gießen, Werana«, sagte sie. Sie erhob sich, wobei sie die Zange mit der dampfenden Metallröhre in leichter Schräglage einen Halbkreis über dem Feuer beschreiben ließ, gleich einer Kriegerin, die ihr Schwert mit beiden Händen umfasst hatte und sich in einem dunklen Raum zu einem bislang unsichtbaren Feind umdrehte. »Und du musst aufpassen. Es darf kein Tropfen danebengehen. Es gibt hier kaum geeignete Schlangen, und davon abgesehen kann und will ich nicht noch mehr Zeit mit der Suche verschwenden. Wir müssen weiter, bevor die Sonne das Tal bis in seinen letzten Winkel ausleuchtet.« Werana nickte nur flüchtig. Sie packte den Tonkrug, 245
auf den Quarterma gedeutet hatte, mit beiden Händen und hielt ihn so weit wie möglich von sich. Daart konnte das nur zu gut verstehen. Quarterma hatte die Hände mit der Metallröhre weit ausgestreckt, als fürchte sie, die heißen Dämpfe einzuatmen, die daraus hervordrangen. Als sie die Röhre drehte und eine grünliche, zähe Flüssigkeit in dicken Tropfen daraus hervorquoll, nahm ihr Gesicht einen Ausdruck konzentrierter Anspannung an. Dann schlugen die ersten Tropfen in dem Tonkrug auf. Augenblicklich drang ein Brodeln und Zischen daraus hervor, und grünliche Schwaden stiegen empor. »Ich muss aufpassen, dass die Überreste der Schlange nicht nachrutschen«, murmelte sie. Daart drehte sich bei dem Anblick der Magen um. Was auch immer dieses Serum war, das Quarterma da gerade abfüllte – er argwöhnte, dass es nicht dazu gedacht war, ihn damit einzureiben. Höchstwahrscheinlich sollte er dieses fürchterliche Gebräu seine Kehle hinunter rinnen lassen. »Vorsicht«, quetschte Quarterma hervor. »Jetzt!« Weranas Hand schoss nach oben und mit ihr der Krug. Der Tonrand schlug gegen das Metallröhrchen und drückte es nach oben. Wohl gerade rechtzeitig, denn es wollte hindurchrutschen, das kaum noch Ähnlichkeit mit einer Schlange hatte, ein schwarz-grün verkohltes Etwas, das dennoch in schlängelnder, unruhiger Bewegung zu sein schien, sich krümmte und wand … Daart hatte das Gefühl, als sammele sich unter seiner Zunge bittere Galle. Die Bewegungen des Schlangenkadavers hatten etwas Widernatürliches, etwas, das in seinen Augen schmerzte. Dann war der widerlich zuckende Schlangenkörper 246
auch schon wieder zurückgerutscht. Quarterma drehte das Röhrchen um, ging in die Hocke und lehnte es dann umständlich gegen einen Ast. »Schnell jetzt«, befahl sie Werana, »es darf nicht kalt werden. Seine Wirkung entfaltet es nur, wenn es kochend heiß ist.« Werana nickte angespannt. Auf ihrer Stirn standen Schweißtropfen. Daart dagegen überlief ein eiskaltes Frösteln. »Ich weiß, es ist nicht angenehm«, sagte Quarterma, während sie sich zu ihm umdrehte. »Aber es muss sein.« »Was muss sein?«, fragte Daart nervös. Quarterma nickte Werana zu. »Halte ihn am Hinterkopf fest. Er muss alles schlucken.« Damit machte sie einen Schritt auf die Drachenreiterin zu, nahm ihr den Krug aus der Hand und beugte sich zu Daart hinab. »Nein«, stieß Daart hervor. »Es gibt sicherlich auch noch etwas anderes, was mir helfen kann.« »Ja«, antwortete Quarterma ernsthaft. »Eine Blutschlange. Dummerweise habe ich gerade keine zur Hand. Aber keine Sorge, es ist gleich vorbei.« Das glaubte Daart durchaus, er fragte sich nur, was alles gleich vorbei sein würde. Doch er hatte keine Wahl. Werana hatte sich schon hinter ihn gehockt und nahm jetzt seinen Kopf in beide Hände, eine zuerst nicht einmal unangenehme Berührung, bis sie den Druck verstärkte und er das Gefühl hatte, als wäre sein Kopf zwischen zwei Drachenpranken eingespannt. Quarterma hingegen schien gewillt zu sein, ihm ohne weiteren Aufschub die viel zu heiße und vor allem viel zu ekelhafte Schlangenbrühe in den Hals zu kippen. 247
»Warum …«, stieß Daart voller Panik hervor, »wollt Ihr mir eigentlich helfen? Ich denke, Ihr wolltet meinen Tod als Sühne für den der Bogenschützin?« »Eins nach dem andern«, sagte Quarterma ohne jede Spur von Humor. Sie warf einen Blick auf den dampfenden Krug in ihrer Hand, seufzte dann und setzte ihn Daart an die Lippen. Der Abflug aus dem Tal erwies sich als noch viel abenteuerlicher als ihr waghalsiger Start von der Schädelhöhle aus. Zuerst mussten sie die noch immer erschöpften Drachen einen Weg hinaufführen, der gerade einmal für eine Eselkarawane halbwegs passierbar gewesen wäre. Dabei bekam Daart auf drastische Weise vorgeführt, dass das Fliegen nicht das Einzige war, was für Drachen beschwerlich war. Mit dem Gehen – oder besser gesagt mit dem Watscheln – taten sie sich noch viel schwerer. Es war ein Wunder, dass nicht zumindest eines der Untiere aus seiner gelegentlichen Rutschpartie auf dem unsicheren Untergrund einen Überschlag machte und hinab auf den harten Felsen des Talbodens stürzte. Endlich standen sie da, wo Quarterma sie haben wollte. Es war ein Plateau, kaum mehr als zwei Drachenkörper breit, aber lang genug, um die Tiere gehörigen Anlauf nehmen zu lassen – wie zumindest Quarterma behauptete. Die Blicke, die sich ihre drei Drachenkriegerinnen daraufhin zuwarfen, sprachen allerdings eine ganz andere Sprache. Und das Problem bestand ja zudem darin, dass die Drachen diesen Anlauf und den anschließenden Sturz in die Tiefe (von Quarterma großspurig Start genannt) nicht allein machen würden, son248
dern zusammen mit den Reitern auf den Rücken. Zu denen Daart jetzt gehörte, ob er nun wollte oder nicht. Das Ganze ging schneller vonstatten, als ihm lieb war. Denn natürlich waren sie als Erste an der Reihe, kaum dass die Drachen auf ihre merkwürdige Weise die Flügel ausgebreitet hatten. »Und wenn wir das zu zweit auf Feuersturms Rücken schaffen, dürfte es für euch doch eine Kleinigkeit sein«, sagte Quarterma zu Werana und ihren beiden Mitstreiterinnen. Diesmal waren es Feuersturm und Daart, die einen befremdlichen Blick tauschten; zumindest kam es Daart so vor, als sei es Befremden, was er in den tiefschwarzen Augen des Lederdrachen las. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Feuersturm nicht nur jedes einzelne gesprochene Wort verstand, das sie wechselten, sondern auch noch einen außergewöhnlichen Sinn für Übertreibungen und sarkastische Bemerkungen besaß. Feuersturm jedenfalls schien ihren Start für keine Kleinigkeit zu halten. Er nahm Anlauf, setzte sich auf seine watschelnde Weise in Bewegung, gewann überraschend schnell an Geschwindigkeit, stieß einen halb knurrenden, halb quietschenden Laut aus – und spurtete dann auf eine Weise los, die geradezu atemberaubend war, zumindest für Daart und Quarterma, die alle Mühe hatten, sich bei dem rasanten Hinundhergeschaukel festzuhalten. Dann kam der Moment, vor dem sich Daart fast noch mehr gefürchtet hatte als vor dem Schlucken der brennend heißen, ekelhaften Substanz, die Quarterma Serum genannt und die ihm fast die Kehle verbrannt hatte, bevor sie in seinen Magen geraten war. Feuersturm machte einen verzweifelten Satz nach oben – und sauste hinab 249
in die Tiefe, statt wenigstens so zu tun, als könne er mit der Eleganz eines Vogels in die Lüfte steigen. Daart schloss die Augen, aber das half nichts, er hörte das verzweifelte Rauschen der schnell geschlagenen Drachenschwingen, spürte das angespannte Vibrieren des gewaltigen Körpers, jedoch nichts, was auf eine Aufwärtsbewegung hindeutete. Sogleich riss er die Augen auf. Im selben Moment wünschte er sich auch schon, er hätte es nicht getan. In dem verzweifelten Bemühen, nur nicht nach unten zu schauen, in die Richtung des Bodens, auf den sie in wenigen Augenblicken aufschlagen würden, wenn der Drache nicht an Höhe gewann, sah er nach oben … … direkt auf den Bauch eines verzweifelt mit den Flügeln schlagenden Drachen über ihnen. Im Gegensatz zu Feuersturm tat dieser Drache nicht einmal so, als könne er fliegen, sondern wirkte eher panisch in dem Versuch, zumindest seine Sinkgeschwindigkeit zu verringern. »Was soll das!«, schrie Quarterma hinter ihm. Daart glaubte zu spüren, wie sie die Faust hob und nach oben drohte. »Ihr sollt einen vernünftigen Abstand halten, verdammt nochmal!« »Die Blutdrachen!«, schrie die gemaßregelte Drachenreiterin herab. »Werana hat einen Blutdrachen auf der anderen Seite des Tals entdeckt. Wir müssen hier weg!« Feuersturm reagierte auf seine ganz eigene Weise. Im Vergleich zu dem herabstürzenden Drachen wirkte es geradezu elegant, wie er einen Bogen schlug, aus ihrem Sturz zuerst so etwas wie einen kontrollierten Sinkflug machte und sich dann Stück für Stück hochkämpfte. 250
»Was soll das mit den Blutdrachen?«, rief Daart, während er sich fast den Hals verrenkte, um Quarterma anzusehen. »Egal«, fauchte Quarterma. »Wir dürfen uns nur nicht noch einmal erwischen lassen.« »Noch einmal?« Quarterma versetzte ihm einen kräftigen Stoß zwischen die Schulterblätter, was sie offensichtlich für Antwort genug hielt. Daart war nicht bereit, so einfach nachzugeben. Blutdrachen am Himmel bedeutete auch, dass die Rettung ganz nah war. Alles, was er brauchte, war die richtige Blutschlange aus dem Hals eines Blutdrachen – und der ganze Albtraum mit dem Schlangengift würde so schnell zu Ende gehen, wie er begonnen hatte. »Nochmal, ja«, fuhr Quarterma zu seiner Überraschung fort; er hatte nicht mehr damit gerechnet, dass sie antworten würde. »Kurz bevor ihr uns gefunden habt, hatte Feuersturm schon einmal das Vergnügen, die Bekanntschaft mit einem Blutdrachen aufzufrischen.« Der Drache stieß einen knurrenden Laut aus; dann bekam er plötzlich Aufwind unter seine Flügel, und was eben noch wie ein verzweifelter Kampf gegen den Absturz gewirkt hatte, wurde zu etwas, was zumindest entfernte Ähnlichkeit mit dem Flug eines Vogels hatte – allerdings nicht mit dem eines eleganten Raubvogels, sondern eher einer voll gefressenen Gans, die mit verzweifelten Flügelschlägen über ihr Übergewicht und ihre Plumpheit hinwegzutäuschen versuchte. Daart machte sich so flach wie möglich und klammerte sich gleichzeitig mit beiden Händen an die Haltegriffe des Zaumzeugs. 251
»Ich würde auch gern die Bekanntschaft mit einem Blutdrachen auffrischen«, murmelte er. Zu seiner Überraschung hatte ihn Quarterma verstanden. »Das wirst du auch«, sagte sie. »Ich hoffe nur, dass du dir nicht wünschen wirst, du hättest nie wieder einen zu Gesicht bekommen.«
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10 Der Flug war diesmal weitaus kürzer als beim ersten Mal, aber nicht weniger rau. Feuersturm gab sich alle Mühe, jede auch noch so kleine Deckung auszunutzen, und die drei anderen Drachen, die erstaunlich schnell zu ihnen aufgeschlossen hatten, machten es ihm in dieser Beziehung nach. Mehrmals sackte Feuersturm gefährlich durch, und zumindest einmal streiften die Baumspitzen nicht nur die Unterseite seines massigen Leibes, sondern auch Daarts Stiefel. Am gefährlichsten aber wurde es, als er in ein Tal hinabtauchte, auf steinige Hügel zuschoss und erst im allerletzten Moment wieder genug Auftrieb gewann, um einen Aufprall mit felsigem Gestein zu verhindern. Daart hatte seinen Versuch, von Quarterma mehr über die Blutdrachen zu erfahren, sehr schnell aufgegeben. Jetzt war er vollauf damit beschäftigt, seinen ständig auf und ab sinkenden Magen wieder einzufangen, bevor er sich über die Flanke des Drachen beugen und sich erleichtern musste. Das ging so lange gut, bis sie wieder zur Landung ansetzten. Es war diesmal kein Tal, das sie ansteuerten, sondern das genaue Gegenteil – eine fast gezirkelt wirkende Ebene, ein weit gestrecktes, bis auf ein Wäldchen auf der anderen Seite nur spärlich bewachsenes Plateau, das vor ihnen auftauchte, noch bevor die Sonne ihren Zenit erreicht hatte. »Hinab!«, rief Quarterma. »Schnell, Feuersturm – bevor es zu spät ist.« 253
Feuersturm gehorchte sofort. Er jagte auf das Plateau zu, als wolle er sich im vollen Flug dort hineinbohren. Daart war sicher, dass hinter ihnen ein Blutdrache aufgetaucht war, der Quarterma so in Panik versetzt hatte. Nicht, dass es irgendeinen Unterschied gemacht hätte. Tot war tot, und so schnell, wie sie jetzt herabstürzten, konnte sich Daart nicht vorstellen, dass sie irgendeine Chance hätten, die Landung zu überleben. »Feuersturm«, brüllte Quarterma. Daart spürte, wie sie sich hinter ihm versteifte. »Langsamer. Du bringst uns sonst um!« Daart war nicht im mindesten erleichtert, dass Quarterma seine insgeheimen Befürchtungen teilte. Die Ebene schien mit rasender Geschwindigkeit auf sie zuzurasen, ein Eindruck, der genauso falsch war, wie er durchaus zutraf, zumindest in dem Sinn, dass es keinen Unterschied machte, ob Feuersturm auf dem Plateau aufschlug oder ihnen eine Eruption Gesteinsbrocken entgegenschleuderte. Feuersturm schien das offensichtlich ganz ähnlich zu sehen. Im allerletzten Moment, als Daart sich schon auf den harten Aufprall einzustellen versuchte, mit dem der Drache sogleich auf der Ebene aufschlagen musste, schwenkte er nach links ab, schoss so knapp über den Rand des Plateaus hinweg, dass sein Bauch über Stein schleifte, etwas hart knallte und sich zu öffnen schien, nämlich ein Teil der Sattelhalterung, wie sie feststellen mussten, als der Sattel in eine gefährliche Schieflage rutschte und sowohl Daart als auch Quarterma einen erschrockenen Schrei ausstießen. Feuersturm schien das nicht zu bekümmern, er sauste 254
über den Rand des Plateaus hinweg, ohne auch nur eine Landung ernsthaft zu versuchen. Erst jetzt begriff Daart sein Flugmanöver. Ganz offensichtlich hatte er seinen Artgenossen zeigen wollen, wo sie niedergehen sollten, denn schon waren die anderen Drachen heran, langsamer und vorsichtiger als Feuersturm, aber wie ihre Reiterinnen von deutlicher Nervosität gezeichnet. Daart erkannte den Grund dafür, als Feuersturm eine enge Runde einschlug und gleichzeitig kräftig mit den Flügeln schlagend abzubremsen versuchte. Es war ein riesiger, dunkler Schatten am Horizont, deutlich anders geformt als der der Lederdrachen, massiger und auf eine seltsame, kaum beschreibbare Art furchteinflößender. Beim zweiten Ansatz brachte Feuersturm das Kunststück fertig, in einem fast gemächlichen Gleitflug auf dem Plateau aufzusetzen. Es wäre auch alles gut gegangen, wenn er nicht noch ein Stück hätte weiter trippeln müssen, um seine Geschwindigkeit aufzuzehren – und ganz zum Schluss der Sattelgurt nicht noch einmal nachgegeben hätte. Daart rutschte endgültig zur Seite, verlor den Halt und knallte aus beträchtlicher Höhe auf dem felsigen Boden auf. Als er sich aufrappelte, waren die anderen Drachen bereits niedergegangen, vielleicht nicht eleganter als Feuersturm, aber ein Stück weiter zur Mitte hin und damit dem bewaldeten Rand des Plateaus auf der anderen Seite näher. Feuersturm war wie sie losgewatschelt, mit immer noch ausgebreiteten Flügeln und schwankenden Bewegungen, Quarterma neben sich, die immer wieder einen gehetzten Blick in den Himmel warf. Daart wollte ihnen schon folgen, doch dann erinnerte 255
er sich daran, was da gerade auf sie zuhielt: ein Blutdrache. Das einzige Wesen auf ganz Enwor, das eine ganze Auswahl verschiedener Schlangengifte am oder sogar im Körper trug; darunter sicherlich auch eines, das ihn zu heilen vermochte. Er wäre ja dumm, wenn er ausgerechnet davor davonlief. Also blieb er stehen und drehte sich um. Der Blutdrache war näher gekommen, zumindest glaubte er das, denn ganz sicher war er sich nicht. Dafür aber, dass mit dem riesigen Drachen irgendetwas nicht stimmte. Er schwankte hin und her, schien gefährlich an Höhe zu verlieren, nur um kurz darauf auch schon unter wildem Flügelschlagen wieder emporzusteigen. Nach einem kontrollierten Flug sah das nicht gerade aus, sondern eher nach dem verzweifelten Versuch, unter allen Umständen in der Luft zu bleiben. Daart war sich alles andere als sicher, dass ihm das gelingen würde. Und noch etwas anderes fiel ihm auf: Der Blutdrache sah ganz anders aus als das bislang einzige Exemplar dieser Gattung, das er zu Gesicht bekommen hatte. Nicht ganz so breit, dafür aber höher, als er es in Erinnerung hatte, beinahe so, als hätte er auf seinem Rücken einen unförmigen Auswuchs, statt eine zierliche Drachenreiterin zu tragen. Eigentlich sah er gar nicht wie ein Blutdrache aus, sondern wie etwas ganz anderes … Und plötzlich wusste er, was da verzweifelt auf sie zuhielt. Kein Blut-, sondern ein Lederdrache. Aber nicht irgendein Lederdrache, sondern der größte seiner Rasse, den Daart bislang zu Gesicht bekommen hatte: Speer256
spitze. Und auf seinem Rücken ragte niemand anderer als Grobian empor. »He!« Daart warf beide Hände in die Höhe und fing wie wild an zu winken. Er hatte vergessen, wo und in welcher Lage er sich befand. Die Enttäuschung, dort keinen Blutdrachen vor sich zu sehen, hatte sich in Erleichterung, ja, beinahe so etwas wie Freude verwandelt. Und das war nicht das Einzige. Irgendetwas in ihm beharrte darauf, dass der unverwüstliche Groll nicht allein gekommen war, sondern dass noch jemand auf seinen Schultern hockte, ein schmaler, blasser Junge, der nicht wirklich tot gewesen war, als er ihn das letzte Mal mit geschlossenen Augen gesehen hatte, sondern nur gelähmt durch das Gift des Pfeils, den die Bogenschützin auf ihn abgefeuert hatte … Speerspitze steuerte unverdrossen weiter auf ihn zu, aber sein Flug war alles andere als geradlinig. Die Bewegungen, mit denen er seinen Absturz zu verhindern suchte, wirkten unruhig und kraftlos. Daart bezweifelte ernsthaft, dass er es schaffen würde, bis zum Plateau hochzuziehen – von einer sauberen Landung ganz zu schweigen. »Hierhin!«, brüllte er. »Nicht nachlassen!« Da fühlte er sich am Arm gepackt und herumgewirbelt. Es war Quarterma. Er hatte ihre Schritte zwar gehört, aber den Grund für die Eile, mit der sie auf ihn zugehalten hatte, offensichtlich vollkommen falsch verstanden. In ihren Augen blitzte kalter Zorn. »Du verdammter Narr«, zischte sie. »Kannst du nicht endlich dein verfluchtes Mundwerk halten und sehen, dass du von hier wegkommst?« 257
Daart starrte sie verständnislos an. »Aber ich wollte doch nur …« »Den Blutdrachen endgültig auf unsere Fährte locken?« Sie zerrte an seinem Arm, und Daart tat ihr den Gefallen nachzugeben, aber nur, um sich nach zwei, drei Stolperschritten wieder zu versteifen. »Ihr versteht überhaupt nicht …« »Oh, doch, ich verstehe schon, dass du nach dem Gegengift gierst«, fauchte Quarterma. »Aber nicht, dass du damit uns alle vorsätzlich in Gefahr bringst.« »Aber das da …« »Ist ein Blutdrache.« Quarterma legte die Hand auf den Griff ihres Schwertes, und es hätte wohl nicht viel gefehlt, und sie hätte die Waffe gezogen. »Und er hat uns gleich entdeckt. Wenn du jetzt nicht mitkommst …« »Das da«, unterbrach sie Daart aufgebracht, »ist kein Blutdrache. Das ist einer deiner Drachen: Speerspitze! Und er trägt Grobian auf seinem Rücken. Wir müssen ihm helfen.« Quarterma sperrte den Mund auf und starrte in die Richtung, in die Daart deutete. Dann schloss sie den Mund wieder und nickte. »Wie konnte ich nur so blind sein! Du hast ja vollkommen Recht.« Sie drehte sich um. »Feuersturm! Zu mir! Schnell!« Der Effekt war verblüffend. Feuersturm hatte das kleine Wäldchen am Rand des Plateaus schon fast erreicht. Doch jetzt drehte er sich mit erstaunlicher Schnelligkeit um, und als er Quarterma am anderen Rand der Hochebene stehen sah und sein Blick in die Ferne wanderte, dorthin, wo Speerspitze mehr durch die Luft torkelte als flog, ging ein Ruck durch seinen riesi258
gen Körper – und er setzte sich in Bewegung, zuerst langsam und dann zunehmend schneller werdend. Er hatte kaum den halben Weg zurückgelegt, da war aus dem am Boden sonst zu plumpen Drachen ein gefährlich spurtendes Raubtier geworden. Er riss das Maul auf und stieß einen markerschütternden Schrei aus, der Daart erschrocken hätte zurücktaumeln lassen, wenn er sich des Abgrunds hinter sich nicht bewusst gewesen wäre. In Feuersturms weiß glänzenden Reißzähnen schien sich die Sonne blutrot zu spiegeln. Daart kam nicht einmal auf den Gedanken, sein Schwert zu ziehen. Wahrscheinlich hätte es ihm der Drache aus der Hand geprellt und ihn gleich darauf über den Rand des Plateaus gestoßen, aber das war es nicht. So erschreckend und vollkommen anders Feuersturm in diesem Moment auch wirkte, und so kurz er ihn kannte und so unterschiedlich sie sich auch waren – er kam ihm beinahe wie ein alter Freund vor. Ein alter Freund, der einem anderen helfen wollte. Daart besann sich gerade noch rechtzeitig, um aus dem Weg zu springen. Ganz im Gegensatz zu Quarterma. Sie erwartete den Drachen mit ausgebreiteten Armen, als sei er ihr Liebhaber, den sie stürmisch zu empfangen trachtete. Es schien, als wolle Feuersturm sie mit weit ausgebreiteten Flügeln umrennen, doch dann, als die Schatten von Mensch und Drachen schon verschmolzen, geschah etwas, so schnell und auf eine so unglaubliche Weise eingespielt wirkend, dass selbst Daart mit seinen weit mehr als durchschnittlich entwickelten Sinnen es kaum verfolgen konnte. Nur den Hauch eines Augenblicks später saß Quarterma auch schon im Sattel des Untiers, 259
und die beiden donnerten über den Abgrund und sackten gemeinsam durch, scheinbar verloren und doch in nichts anderes verstrickt als in das, was Drachen und ihre Reiterinnen als einen ganz normalen Start ansehen mochten. Daart beobachtete mit klopfendem Herzen, wie Feuersturm verzweifelt und geschickt mit den Flügeln schlagend nach Auftrieb suchte, der ihn im Kampf gegen die Schwerkraft unterstützen konnte. Obwohl er in diesem kritischen Moment alles andere als elegant aussah, wirkten Feuersturms Flugbewegungen weitaus kontrollierter als die seines größeren Artgenossen. Speerspitzes Flug als taumelnd bezeichnen zu wollen, wäre untertrieben gewesen; er schien kaum noch Kraft zu haben, die Flügel herabzudrücken, sondern ließ sie mehr oder weniger fallen, und seine Versuche, sie danach wieder hochzuziehen, wirkten unbeholfen und schwerfällig. Bevor Daart auch nur auf eine Idee kommen konnte, wie Speerspitze – und Grobian – zu helfen wäre, jagte auch schon der nächste Drache heran. Im Gegensatz zu Feuersturm trug er bereits eine Reiterin, wie auch die beiden anderen Drachen, die hinter ihm herhetzten. Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie der lange Flug über Gebühr ermüdet hatte, stürzten sie sich voller Todesverachtung in die Tiefe. Feuersturm hatte inzwischen an Höhe gewonnen. Aber es war fraglich, ob er noch rechtzeitig kommen würde. Speerspitzes Bewegungen in der Luft glichen jetzt denen eines angeschossenen Falken, der noch einmal aufgeflattert war, bevor er, vom Todeskampf zermürbt, endgültig zu Boden stürzte. 260
Den übrigen drei Lederdrachen erging es anfangs nicht viel besser, wie Daart mit einem Blick in die Tiefe feststellte. Doch immerhin stabilisierte sich ihr ruckhaftes Auf und Ab allmählich, und schon bald gewann einer nach dem anderen an Höhe. »Verdammte Idioten!«, brüllte Grobian so laut, dass seine Stimme bis zu Daart herüberschallte. »Was ist bloß mit euren blöden Drachen los? Die haben ja die Fallsucht.« Feuersturm machte geradezu einen Hüpfer in der Luft, und jetzt war sich Daart sicher, dass er jedes Wort verstand. Einen Moment sah es so aus, als wolle Feuersturm abdrehen und zum Plateau zurückfliegen, doch dann wurde aus der Kehre, die er schon eingeleitet hatte, etwas anderes: ein wildes Manöver, das auf den ersten Blick wie ein unkontrolliertes Trudeln wirkte und ihn dann doch schnell näher an Speerspitze heranbrachte. Quarterma beugte sich zur Seite, immer weiter und gefährlich tief. »Was …«, murmelte Daart. Quarterma kippte wieder in die Senkrechte zurück, gerade noch rechtzeitig, denn Feuersturm legte sich jetzt in eine scharfe Kurve, die seinen rechten Flügel sich weit hinab neigen ließ. Statt sich festzuhalten, riss Quarterma das hervor, was sie wohl zuvor aus der verborgenen Satteltasche geholt hatte, und versuchte es zu entwirren. Es war ein Seil, lang und schwer, und sicherlich brauchte sie beide Hände, um es zu ordnen, doch diese hätte sie ebenso gebraucht, um bei Feuersturms unruhigem Flug nicht den Halt zu verlieren. Als Feuersturm durchsackte, ein Mal mehr, wie es Drachen immer dann 261
taten, wenn sich das unter ihnen auftat, was Quarterma Daart gegenüber als Luftloch bezeichnet hatte, flog sie fast aus dem Sattel und konnte sich gerade noch an dem breiten Sattelknauf festhalten – den sie gleich darauf aber schon wieder losließ, denn das Seil war ihr aus den Händen geprellt worden und drohte über den rauen Körper des Lederdrachen in die Tiefe zu rutschen. Quarterma schwang wild herum, bekam das Seil im letzten Augenblick noch zu fassen … … und dann schob sich der dunkle Schatten von Speerspitze zwischen sie und Daart. Feuersturm hatte sich mit seinem gewagten Flugmanöver nah an den anderen Drachen herangeschoben. Vielleicht sogar etwas zu nah, denn seine Flügelspitzen schrammten kurz über die noch breiteren Schwingen seines Artgenossen, und einen verzweifelten Moment sah es so aus, als ob sie zusammenprallen würden … Dann aber lösten sie sich wieder voneinander, und Feuersturm setzte sich ein Stück über Speerspitze, bemüht, jede seiner unsicheren Bewegungen auszugleichen. Auch die anderen Lederdrachen schlossen jetzt auf, zwei mit recht kraftvollen und nur einer mit mehr torkelnden als zielsicheren Bewegungen. Daart ahnte, was als Nächstes kommen würde, und doch glaubte er seinen Augen kaum zu trauen. Getreu dem Motto »Vier Mann, vier Ecken«, das Daart im Zusammenhang mit dem Tragen gleichermaßen sperriger wie schwerer Gegenstände bekannt war, setzten sich die Drachen in einer unruhigen Rechteckformation über Speerspitze. Das Ganze sah allerdings flatteriger aus als eine frisch aufgescheuchte Spatzenschar. 262
Dann wurde Daart Zeuge einer nahezu unglaublichen Rettungsaktion: Jede der Drachenreiterinnen hielt plötzlich ein Seil in der Hand, und damit nicht genug, beugten sie sich auch noch alle weit über die Hälse ihrer Drachen, ließen die an ihrem Ende mit Schlingen versehenen Seile rotieren und hinabschießen. Gleichzeitig trampelte Speerspitze in der Luft, und Daart glaubte seinen Augen kaum zu trauen, als der gewaltige Drache zielsicher in eine der durch die Luft schwingenden Schlingen trat, die daraufhin bis zu seinem Oberschenkel hinauf sauste, und dann auch schon das nächste Bein folgen ließ. Die beiden Drachenreiterinnen, die die Seile ausgeworfen hatten, hatten sich bereits wieder in ihren Sätteln aufgerichtet. Daart war sich sicher, dass sie bei der nächsten Abwärtsbewegung von Speerspitze hinabgerissen werden würden. Doch als der Riesendrache tatsächlich nach vorn absackte, riss er nicht die Amazonen aus den Sätteln, sondern gleich die Sättel mitsamt ihrer Drachen ein Stück herab. Ein vielstimmiger Aufschrei erscholl, überdeckt von Grobian, der brüllte: »Haut ab! Wir kommen schon allein zurecht!« Das war alles andere als ein guter Auftakt zu dem, was dann folgte. Speerspitze gab sich offensichtlich alle Mühe, eine weitere Schlinge zu erwischen, er hüpfte regelrecht durch die Luft, gefolgt von Grobian, der mehrfach im Sattel hochgedrückt und wieder mitgerissen wurde und sich mit aller Kraft am Sattelknauf festhalten musste, um nicht abgeworfen zu werden. Da rutschte auch schon das nächste Bein mit einem harten Ruck in die ausgeworfene Schlinge und Speer263
spitze in eine noch schlimmere Schieflage. Jetzt war es nicht mehr ein Drache, der abzustürzen drohte, jetzt waren es gleich vier. Quarterma schrie etwas, was Daart nicht verstand, und die Reiterin des letzten Drachen riss ihr Seil wieder nach oben, während ihr Reittier die Flügel anlegte und ein Stück herabschoss, nicht in gerader Linie, sondern in einem wahren Zickzackkurs. Der war auch nötig, denn Speerspitze und seine mittlerweile drei Schleppdrachen waren nicht gewillt, wie ein Stein in die Tiefe zu plumpsen, sondern versuchten Luft aufwirbelnd und wild mit den Flügel schlagend auf das Plateau zuzuhalten. Es gelang ihnen nur sehr unvollkommen. Ganz abgesehen davon schien es nicht wirklich eine gute Idee zu sein, Speerspitze in den Schlepptau zu nehmen, dazu war er zu groß und zu schwer – und zu sehr belastet durch den Groll, der wahrscheinlich jedes Reittier, ob fliegend oder laufend, in den Staub gezwungen hätte. Daart hätte später nicht zu sagen vermocht, was ihn ausgerechnet in dem Moment, in dem Speerspitze die letzte Seilschlinge verfehlte, herumwirbeln ließ. Es war vielleicht nicht einmal ein Geräusch, das ihn aufgeschreckt hatte, und auch kein Schatten, den er aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Es war vielleicht nichts anderes als das Gefühl, dass jemand in Not war, der ihm mehr als nur ein wenig nahe stand … Als er den fernen Schemen sah, der weit hinter den Baumspitzen, die über den äußersten Rand des Plateaus in den Himmel wucherten, am Horizont auftauchte, gefror etwas in ihm. Es hätte alles Mögliche sein können, ein dicht zusammen fliegender Vogelschwarm, ein 264
Flügelspannler, von denen es hieß, dass sie in abgelegenen Gebieten wie in alten Zeiten Jagd auf Jungtiere und Reptilien machten, oder auch nur eine schwarz zusammengeballte Wolke, die sich jeden Moment entladen konnte. Aber es war nichts von alledem. Es war ein Drache. Ein abgrundtief schwarzer Lederdrache wie Feuersturm, der erstaunlich schnell auf ihn zuhielt. Es hätte Daart weder überraschen noch erschrecken dürfen. Die Lederdrachen waren vom Unwetter in alle Himmelsrichtungen versprengt worden, und nun sammelten sie sich hier, so einfach war das. Der Gedanke hätte Daart beruhigen sollen, aber er tat es nicht. Hinter ihm war Grobian gerade dabei, gleich vier Drachen und drei Reiterinnen mit in den Tod zu reißen. Eigentlich sollte er Ausschau halten, ob er ihnen nicht irgendwie helfen konnte, wenn sie es wider Erwarten doch noch bis in die Nähe des Plateaus schafften. Doch es waren nicht Grobian und Quarterma, um die er sich sorgte. Es war Carnac. Er hätte nicht sagen können, warum er sich sicher war, dass sie es war, die dort auf dem Lederdrachen heranflog. Aber er glaubte geradewegs zu spüren, dass sie sich mit schweißnassen Händen in die Griffmulden am Sattel eingrub, während sie sich weit vorbeugte und mit wehenden Haaren durch den Himmel schoss. Sein Herz begann laut und heftig zu schlagen, so wie auch ihr Herz schlagen mochte, und sein Blick suchte unstet den Himmel hinter ihr ab, um in den sich zusammenballenden Wolken etwas zu erkennen, was sie verfolgen mochte. Und dann entdeckte er es. Es war ein großer, plumper 265
Umriss, der sich aus einer lichten Wolke schob, größer und gewaltiger als der Lederdrache, den er verfolgte. Auf die Entfernung hin hätte Daart noch gar nicht beurteilen können, ob es nicht auch ein Lederdrache war. Trotzdem war er sich sicher: Es war ein Blutdrache, und wahrscheinlich nicht nur irgendeiner, sondern das Exemplar, das ihn und Carnac zuvor gejagt hatte. Aus zusammengekniffenen Augen verfolgte er, wie der Blutdrache aufholte, nicht wahnsinnig schnell, aber stetig. Das war auch kein Wunder. Mit Carnacs Drache stimmte irgendetwas nicht. Einer seiner Flügel hing schief und bewegte sich träger als der andere, so als verlöre der Drache zunehmend die Kontrolle über ihn. Dadurch geriet er nicht nur in Schieflage, was Carnac zwang, sich über Gebühr festzuhalten, um nicht abzurutschen, sondern ihn auch zusätzliche Kraft kostete, um den Flug einigermaßen zu stabilisieren und nicht abzudriften. Dann war Carnac so nah heran, dass er ihre Nähe nicht nur spürte, sondern sie auch sah. Ihr langes Haar flatterte tatsächlich im Wind, und ihre Gestalt verschmolz fast mit dem Drachenhals, als wolle sie sich so klein wie möglich machen, um den Luftwiderstand zu verringern. Daart fragte sich nicht, was ihn so sicher machte, dass es nicht eine von Quartermas Drachenreiterinnen war, sondern Carnac. Es spielte keine Rolle, er wusste es einfach. Und auch, dass sie in Gefahr war. Er lief los. Sein Verlangen, Carnac zu helfen, war größer als alles andere. Er hatte nicht nur Grobian und die Drachenreiterinnen vollends aus seinem Kopf verbannt, sondern auch die Frage, warum er nicht einfach 266
stehen blieb und erst einmal abwartete, was passierte. Der Lederdrache, auf dem Carnac ritt, brachte noch einmal seine letzten Kräfte auf. Er schoss in eine Rechtskurve, nutzte eine Luftturbulenz aus, die ihn nach oben trug, und schlug so kraftvoll mit den Flügeln, dass beide Seiten fast wieder im Gleichtakt durch die Luft wirbelten. Carnac klammerte sich an seinem Hals fest, als hinge ihr Leben davon ab (was es ja wahrscheinlich auch tat), und wandte dann den Kopf, um zu dem bedrohlichen Schatten zurückzublicken, der ihnen beharrlich folgte, als ihr Drache in einen Sinkflug ging. Erst in diesem Augenblick begriff Daart, was nicht stimmte. Carnac hätte nicht allein auf dem Drachen sitzen dürfen. Sie war zusammen mit einer Drachenreiterin namens Terkana aufgebrochen, zumindest hatte ihm das Quarterma erzählt, und es gab wohl kaum einen Grund, ihn in solch einer Angelegenheit zu belügen. Was auch immer mit Terkana passiert war: Daart konnte sich nicht vorstellen, dass sie freiwillig einer wildfremden Begleiterin ihren Drachen überlassen hatte. Was das letztendlich bedeutete, konnte er sich nur zu gut vorstellen. Er blieb stehen. Sein Kopf zuckte in die Richtung, aus der der Blutdrache auf gewaltig ausgebreiteten Schwingen heranglitt. Er war riesig, funkelte grünlich, in kupfergleichen Farben, ein Wesen wie aus einer anderen Welt, die nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun hatte, was Daart am Rande des Schattengebirges bislang zu Gesicht bekommen hatte. Ein beängstigender, schweißtreibender Anblick, dazu angetan, den Vormarsch eines ganzen Heeres zum Stocken zu bringen und Menschen wie Tiere voller Panik abdrehen zu las267
sen. Dabei war der Flug des Blutdrachen selbst ruhig und gleichmäßig, geprägt von der Gewissheit, dass ihm sein hektisch flatterndes Opfer nicht mehr entkommen konnte, was auch immer für Manöver es versuchen mochte. Genauso wenig wie Daart, wenn er hier weiter wie auf dem Präsentierteller stehen blieb. Er sah zu dem schmalen Waldstück hinüber, in dessen zweifelhaften Schutz sich die Lederdrachen hatten zurückziehen wollen. Der hämmernde Schlag seines Herzens, der Schreck, den er empfand, wenn er zu dieser riesigen Kreatur hinaufblickte, die den Himmel verdunkelte, all das wollte ihn antreiben, ihn dazu bringen, in geduckter Haltung zu dem Wald herüberzuhetzen und sich dort zu verbergen, so gut es ging. Es war eine tiefe, kreatürliche Angst, die dieses Gefühl begleitete, von ganz anderer Art, als er es je zuvor empfunden hatte. Es waren nicht einmal die gewaltigen Ausmaße der Flugechse, die ihn so aus der Fassung brachten, oder die Flügelspannweite, die alles übertraf, was er sich je in der Richtung hätte vorstellen können; es war die Ausstrahlung des Blutdrachen, die erdrückende Gewissheit, dass etwas abgrundtief Böses auf ihn zuhielt, etwas, das seinen und Carnacs Tod mit derselben Hartnäckigkeit einforderte, wie er selbst vielleicht ein lästiges Insekt vertreiben mochte. Doch statt Hals über Kopf zu fliehen, blieb er stehen. Er zwang sich dazu, den Blick von der gewaltigen Kreatur zu wenden, sich umzudrehen und zurückzublicken. Was er aus der anderen Richtung auf sich zukommen sah, war so unglaublich, dass er für die Dauer von zwei, drei hämmernden Herzschlägen sogar den Blutdrachen 268
in seinem Rücken vergaß. Grobian hatte sich in seinem Sattel hoch aufgerichtet und umklammerte mit seinen mächtigen Pranken die beiden vorderen Seile, um zu verhindern, dass sie sich ineinander verhedderten. Das war auch bitter nötig, denn die vier Lederdrachen, die Speerspitze mit vereinten Kräften in der Luft hielten, waren kaum in der Lage, einen geraden Kurs zu halten, geschweige denn in sauberer Rechteck-Formation die bereits deutlich zusammengeschrumpfte Entfernung zum rettenden Plateau zu überbrücken. Speerspitze wurde durch die unkontrollierten Ausgleichbewegungen seiner Artgenossen mal in die eine und dann wieder in die andere Richtung gezerrt, unfähig, mit seinen eigenen hilf- und kraftlosen Flügelschlägen selbst die Richtung zu bestimmen. Doch das war nicht einmal das Schlimmste. Der kräftezehrende Flug führte zwar näher an das Plateau heran, doch unausweichlich abwärts; er konnte beim besten Willen nicht dort enden, wo Rettung war, sondern nur ein ganzes Stück tiefer, in den scharfkantigen, todbringenden Felsen der zerklüfteten Felswand … »Daart!« Es war Carnacs Stimme, und sie war so voller Panik, dass Daart herumwirbelte in der Befürchtung, sie auf ihrem Lederdrachen auf sich zusausen zu sehen, den Blutdrachen knapp hinter sich. Seine Erwartung war nicht vollkommen falsch, und doch trog sie im entscheidenden Punkt. Es war nicht der angeschlagene Lederdrache, der vorne lag, sondern der größere und gefährliche Blutdrache. Er hatte von seinem ursprünglichen Opfer abgelassen, um direkt auf Daart zuzusteuern, und im 269
Gegensatz zu Grobians Fünfer-Schlepp-Formation war er nicht nur schnell, sondern folgte auch so unbeirrbar seinem einmal eingeschlagenen Kurs, als laufe er durch die Luft, statt zu fliegen. Carnacs Lederdrache dagegen schoss von links heran. Daart konnte nicht ganz unterscheiden, ob er im Begriff war abzustürzen, weil ihm auf den letzten Metern die Luft ausging, oder ob er vorhatte, ganz in seiner Nähe zur Landung anzusetzen; und eigentlich war es ihm auch herzlich egal. Die Reiterin des Blutdrachen hatte sich aufgerichtet, und obwohl er ihr Gesicht nur als undeutlichen Schemen erkannte, war er sicher, dass es sich bei ihr um die Bogenschützin handelte, die ihn mit den Giftschlangen beschossen hatte. Er hatte keinen Blick für sie, und auch nicht für die sich windenden Blutschlangen, die sich tief in den Hals des Drachen eingegraben hatten. Es waren die Augen des Drachen, die ihn in den Bann zogen, kalt und grausam funkelnd, nicht schwarz und dunkel wie die der Lederdrachen, sondern von einem grünlich kupferfarbenen Glanz durchzogen. Wieder spürte er die Fremdheit und die Boshaftigkeit des Wesens, das da mit der Wucht einer alles verheerenden Gewitterwolke auf ihn zuhielt. Aber da war noch etwas anderes, tief in ihm, das auf den bohrenden Blick des Drachen ganz unerwartet reagierte. Weil ihr euch erkennt, sagte seine innere Stimme, mehr nicht. »Weg da!«, kreischte Carnac. Instinktiv hechtete er zur Seite. Keinen Augenblick zu früh, denn da war der Blutdrache auch schon heran. Daart spürte den Luftzug seiner Schwingen und machte 270
einen Riesensatz, um aus ihrer Reichweite zu kommen. Zu spät, hämmerte es in seinem Kopf, und dann auch schon: Carnac hat es gewusst. Sie wollte nie hier landen. Sie will es auch jetzt noch nicht. Sie will dich retten. Es war verrückt, und hätte er die Gelegenheit gehabt, mit Carnac über ihren Plan zu diskutieren, er hätte alles daran gesetzt, ihn ihr auszureden. Aber dazu war es zu spät. Der Ausläufer einer Drachenschwinge streifte seinen Kopf, nur ganz leicht, fast zärtlich wie die Hand einer liebenden Frau. Daart stolperte, fing sich wieder und taumelte los. Die gewaltige Kreatur stieß einen schrillen, wilden Laut aus, als sie begriff, dass ihr das schon sicher geglaubte Opfer im letzten Moment zu entwischen drohte; dann ging sie in die Kurve und versuchte, mit einem zweiten, kräftigen Schwingenstoß nachzusetzen … Daarts Füße hämmerten über das lose Geröll, das den Boden hier bedeckte. Er war schnell und wendig und der Blutdrache groß und plump, zumindest wenn es darum ging, seine Flugrichtung zu ändern. Aber Daart machte sich nichts vor. Der Drache würde ihn einholen, bevor er auch nur ein Drittel des verbleibenden Weges zurückgelegt hatte; und selbst wenn es anders gewesen wäre: Welchen Schutz konnten ihm schon ein paar kümmerliche Bäume vor einer Kreatur bieten, gegen die selbst Grobian wie ein hilfloser Junge wirkte? Auf diesen Gedanken schien Carnac schon weit vor ihm gekommen zu sein. Statt die Atempause, die ihr die Kursänderung des Blutdrachen verschafft hatte, zur Flucht zu nutzen, schien sie gewillt, alles auf eine Karte zu setzen. 271
»Bleib stehen!«, schrie sie. Ihre Stimme kippte fast über, und als Daart einen Blick zur Seite warf, in die Richtung, aus der der Lederdrache in gefährlich aussehender Schieflage auf ihn zugesaust kam, sah er, dass sie fast vollständig aus dem Sattel gerutscht war und nun in vollkommen verkrampfter Haltung an seiner Seite hing. Er wusste sehr gut, was sie vorhatte, und doch lief er noch ein paar Schritte weiter, bevor er stehen blieb und sich endgültig umdrehte. Es war nicht Feuersturm, der da auf ihn zuhielt, sondern ein etwas kleinerer Lederdrache, und er war nicht nur erschöpft, sondern auch verletzt, aber er schien genauso stur zu sein wie seine Reiterin. Doch das würde ihnen kaum etwas nützen. Daart warf einen Blick zurück, dorthin, wo der Blutdrache gerade gewendet hatte und nun dabei war, mit zornigen und vollkommen verrückt hin und her schwingenden Flügelbewegungen die Verfolgung aufzunehmen. Es dauerte einen schrecklich Moment, bevor er begriff, was dort nicht stimmte. Hinter dem Blutdrachen war – nichts. Kein Grobian, der mit erhobener Faust drohte oder seinem Erzfeind wüste Beschimpfungen hinterher rief, kein Feuersturm, der sich mächtig ins Zeug legte, um den DrachenKonvoi auf Kurs zu halten, und auch keine Speerspitze, die kraftlos mit den Flügeln ruderte. Es sah beinahe so aus, als habe der Blutdrache die fünf anderen Drachen mit einer beiläufigen Bewegung vom Himmel gewischt. Und als habe er das Gleiche nun mit dem sechsten Lederdrachen vor, der so unverschämt gewesen war, ihm in die Quere zu kommen. Das jeden272
falls, was er tat, um seinen massigen Körper durch die Luft zu schieben und dabei schneller und schneller zu werden, strotzte nur so vor Kraft; es war ein wildes Durcheinanderschlagen seiner verschiedenen Flügelpartien, die sich dabei verkanteten, aufstellten, schräg legten, umklappten, und das auf eine Art und Weise, dass Daarts Augen zu tränen anfingen bei dem Versuch, ihn mit seinem Blick einzufangen und seinen Kurs vorauszuberechnen, der entweder ihn selbst oder Carnacs Lederdrachen zum Ziel haben musste. »Hier bin ich!«, brüllte Carnac. »Mach dich bereit!« Daart begriff, dass der Blutdrache gar keine Entscheidung würde treffen müssen. Carnac und ihr angeschlagener Lederdrache waren so nah, dass er und sie zu einem einzigen Ziel verschmolzen, und das im wortwörtlichen Sinne, wenn er nicht aufpasste. Kurz bevor der Lederdrache im vollen Flug in ihn hineinkrachte, machte Daart seinen Satz zur Seite. Und dann war auch schon Carnac heran. Irgendetwas traf seine Wange und riss sie auf, dann klatschte Carnacs Hand gegen seine Schulter. Er packte instinktiv zu, erwischte ihren rechten Arm mit beiden Händen, klammerte sich daran fest. Der Drache, Carnac und Daart wurden durch den Aufprall ein Stück zur Seite gerissen. Die lederne Schwinge des Drachen klatschte gegen seine Schulter, ein Teil des Ledergeschirrs drohte sich in seinem Ärmel zu verfangen. Daart duckte sich, sprang ab, in Carnac hinein. Ihr verzweifelter Versuch, ihn zu packen und zu sich hochzuziehen, misslang schon im Ansatz. Hätte sich der Drache gleich mit kraftvollen Flügelschlägen emporge273
hoben, wären sie beide unweigerlich eng aneinander geklammert abgerutscht und auf dem Fels aufgeschlagen. Doch so hatte Daart plötzlich wieder Boden unter den Füßen. Er knickte weit in den Knien ein und federte mit aller Kraft ab – die etwas missglückte und dennoch kraftvolle Variante eines Standsprunges, wie sie ihn in der SataiAusbildung bis zur Erschöpfung geübt hatten. Diese Fertigkeit machte sich nun bezahlt. Sein Ellbogen knallte in Carnacs Gesicht, was ihr einen dumpfen Schmerzenslaut entlockte, doch dann hatte er auch schon einen der breiten Lederriemen gepackt. Er zog sich und Carnac daran ein Stück nach oben, fand mit der anderen Hand Halt, und dann unterstützte endlich auch Carnac seine Bewegungen. Sie zogen und zerrten sich gegenseitig hoch, bis sie beide endlich hintereinander im breiten Echsensattel saßen … und einen freien Blick auf den Blutdrachen hatten, der mit seinem verrückten Flügelrhythmus herangeschossen kam, schnell wie ein Raubvogel, der es auf eine Maus abgesehen hatte, und doch ganz anders, viel gewaltiger und bedrohlicher. Daart begriff, dass der Blutdrache vorhatte, sie unter keinen Umständen entkommen zu lassen. »Zuckerbrot!«, brüllte Carnac. Zuckerbrot war ganz eindeutig kein Name für einen tiefschwarzen Lederdrachen, der einem Menschen mit einem gelangweilten Biss den Arm abreißen konnte. Doch das schien Carnacs Drache anders zu sehen. Kaum hatte er seinen Namen gehört, da machte er auch schon einen verzweifelten Hüpfer nach vorn, von dem allein er glauben mochte, dass er die Vorbereitung für 274
einen Flug war oder ihn sogar unmittelbar in die Luft abheben lassen würde. Sehr lange konnte dieser Glaube allerdings nicht währen. Zuckerbrot stieß ein halb wütendes, halb erschrockenes Fauchen aus und verdoppelte seine Anstrengungen, was dazu führte, dass sein nächster Hüpfer Daart und Carnac härter durchschüttelte als beim ersten Mal und er auch eindeutig weiter kam – aber nur vorwärts, nicht in die Höhe. »Verdammt, wir müssen abspringen!«, schrie Carnac in sein Ohr, in dem es daraufhin knallte, als wäre ein Felsbrocken direkt neben ihm geborsten. »Wir sind zu schwer für Zuckerbrot.« Daart wäre gern abgesprungen. Aber Carnac hatte sich so fest an ihn geklammert wie er sich an die Mulden des Sattels, und wenn er nur hätte tief durchatmen wollen, hätte er ihren Griff gewaltsam sprengen müssen. Er wandte den Kopf, so weit es Carnacs harter Griff zuließ, und wollte ihr genau das sagen – da klappte er den Mund wieder zu, kaum dass er ihn aufgemacht hatte. Der Blutdrache war heran. Er würde in vollem Flug in sie hineinkrachen. Nicht irgendwann. Sondern hier und jetzt. Die Bestie stieß ein fürchterliches Grollen aus und fixierte Daart mit einem Blick aus ihren kupfergrünen Augen, die helle Blitze zu schleudern schienen. Carnac presste sich noch enger an Daart und drückte ihn gegen Zuckerbrots Hals. Die durcheinander wirbelnden Schwingen des Drachen schienen in einer einzigen, völlig verdrehten Bewegung zu explodieren, und dann tat der 275
Blutdrache genau das, was Zuckerbrot nicht gelungen war – er hob ab. Daart sah sich plötzlich dem lang gestreckten Hals des Drachen gegenüber, dem Gewimmel in dem Hals, dem gierigen Zischen, mit dem Dutzende von Schlangenköpfen zu ihm herumfuhren, und die Schlangen jagten heran wie der gesamte massige Körper des mächtigsten Drachen, den Daart je gesehen hatte. Der Aufprall würde ihn, Carnac und den Lederdrachen nicht nur aus der Bahn werfen, sondern sie in die Luft schleudern und so hart aufschlagen lassen, dass sie zumindest für die nächsten Augenblicke wehrlos wären, hilflose Opfer, wenn der Drachen mit seinen Säulenbäumen auf sie eintrampelte und sie in den Staub stampfte … Daart sah all das so deutlich vor sich, als wäre es bereits geschehen. Und er war vollkommen machtlos, unfähig, irgendetwas zu tun, um der Katastrophe zu entgehen. Ganz im Gegensatz zu Zuckerbrot. Carnacs Drache reagierte auf eine Art, die man andernorts vielleicht als duckmäuserisch betrachtet hätte, aber die einzige Möglichkeit war, ihrer aller Tod zumindest für einige Herzschläge aufzuschieben … Er ging nicht in die Knie, er brach in sie ein, und statt sich mit einem verzweifelten Hüpfer vollständig dem Blutdrachen auszuliefern, tauchte er unter ihm hinweg, so gut es sein eigener Körperumfang zuließ. Plötzlich waren die Schlangen und der Hals des Drachen über Daart, dann tauchte das rechte, lederbewehrte Bein der abtrünnigen Drachenreiterin vor ihm auf, und es schob sich etwas in sein Blickfeld, das kaum mehr Ähnlichkeiten mit 276
einem Bauch hatte, sondern eher mit einem Felsen, der in einer Steinlawine einen Hang herunterkrachte. Zuckerbrot ließ sich zur Seite fallen. Carnac schrie auf, und Daarts Trommelfell schien zu bersten; dann war der Lederdrache schon auf die Seite gefallen, knickte den linken Flügel nach oben weg, so weit es ging – und begrub Daarts und Carnacs linkes Bein, die Hüfte und den größten Teil ihrer Oberkörper unter sich. Das Bersten und Krachen, das Daart hörte, stammte nicht nur von Zuckerbrots Sattelzeug, und der scharfe Schmerz, der durch seine linke Körperhälfte jagte, war mehr als nur ein Zeichen einer augenblicklichen Überbeanspruchung. Als Nächstes sah er einen tiefen, dunklen Schatten, der über ihn glitt: Es war der Blutdrache, der über sie hinwegschoss, ohne auf die Finte des kleineren Lederdrachen noch reagieren zu können. Zumindest glaubte das Daart. Bis ihn ein ekelhaftes Geräusch eines Besseren belehrte, eine Art Zischen, gefolgt von einem harten Aufprall, wahrscheinlich von der Flosse des Blutdrachen. Die Erschütterung war so stark, dass Carnacs Drache schwer getroffen ein Stück über den steinigen Boden schlitterte. Daart hatte das Gefühl, als würden Tausende feiner Messer seinen Unterschenkel aufschrammen, als der Stoff seines Gewandes an dieser Stelle aufriss und regelrecht zerfetzt wurde. Dann bäumte sich der schwarze Lederdrache noch einmal auf und krachte schwer und hart zurück. Daart spürte, wie die Luft aus seinen Lungen getrieben wurde; jede einzelne Rippe schien zu brechen, und schwarze Dunkelheit drohte ihn einzuhüllen. Da rauschte und krachte es ein weiteres Mal über ih277
nen, und Zuckerbrot stieß einen Laut aus, der wie eine Mischung aus einem Aufstöhnen und einem Laut der Erleichterung klang. Daart kam gar nicht erst dazu, sich zu fragen, was das wohl bedeutete; Zuckerbrot drehte und wendete sich und stampfte ihn und Carnac damit noch ein Stück tiefer in den Boden. Gerade als vor Daarts Augen bunte Punkte aufflackerten und ihm fast das Bewusstsein schwand, ließ der Druck nach, und der Drache schwang endlich zurück, versuchte sich vollends aufzurichten – und Daart bekam wieder Luft. Zuckerbrot stieß ein Röcheln aus und schwankte hin und her, als könne er sich nicht entscheiden, ob er stehen, liegen oder vor Erschöpfung ganz einfach zusammenbrechen sollte. Carnac stöhnte auf und wühlte mit ihren Händen auf Daarts Brust herum, um Halt zu finden und sich hochstemmen zu können. Schließlich rollte sie sich auf ihn und blieb einen Herzschlag lang zitternd und bebend auf ihm liegen, bis es ihr gelang, ihm den Ellbogen in den Magen zu rammen und sich so den nötigen Schwung zu verschaffen, um auf der anderen Seite wieder herunterzurutschen. Daart robbte hinter ihr her, bis sie beide ein Stück weit entfernt auf dem harten Boden liegen blieben, weit genug von dem Drachen entfernt, um nicht ein zweites Mal unter ihm begraben zu werden. »Los … jetzt.« Carnac war kaum zu verstehen, ihre Stimme zitterte und bebte, so wie auch ihr ganzer Körper nur einen Moment später. Sie versuchte aufzustehen und dabei gleichzeitig Daart mitzuziehen, was ihr natürlich nicht gelingen konnte, dazu war sie selbst viel zu schwach. Daart stieß ihre Hand beiseite und drehte sich 278
dann weg, bevor er sich mit beiden Händen auf dem Boden aufstützte und hochstemmte. Der Blutdrache hatte, von seinem eigenen Schwung weiter getragen, mittlerweile den schmalen Baumstreifen erreicht und versuchte so etwas wie eine schnelle Kehre. Baumspitzen splitterten unter ihm hinweg, ohne dass dadurch seine Geschwindigkeit sichtbar nachließ, aber er kam ein Stück weit vom Kurs ab und schlingerte über die Wipfel hinweg, in Gefahr, sich der dort herrschenden tückischen Luftströmung auszuliefern. »Wir müssen weg.« Carnacs Stimme war kaum mehr als ein heiseres, panisches Krächzen. Daart kam schwankend hoch und drehte sich zu ihr um. Ihr Blick flackerte, als er dem seinen begegnete, und es spiegelte sich ein Entsetzen darin, das ihn erschütterte; vielleicht, weil er den Grund dafür nicht vollständig begriff. Zuckerbrot hatte sich inzwischen in Bewegung gesetzt und watschelte zielstrebig auf den Abgrund zu. Er sah kaum mehr wie ein stolzer Lederdrache aus. Sein linker Flügel stand in einem merkwürdigen Winkel vom Körper ab, und sein Rücken war an einigen Stellen aufgerissen. Schwarzes Echsenblut quoll daraus hervor und lief in dicken Tränen über seine Seiten. Der Drache schien es nicht einmal zu merken. Seinen Bewegungen war das gleiche Entsetzen anzumerken, wie Daart es in Carnacs Gesicht gesehen hatte. Er versuchte nicht einmal mehr den Anschein zu erwecken, dass er ein Flugdrache war, er lief einfach weiter – und würde gleich den felsigen Abgrund erreicht haben und kopfüber dort hinunterstürzen, wenn er nicht vorher abdrehte. Aber danach sah es nicht aus, ganz im Gegenteil. 279
»Zuckerbrot!«, kreischte Carnac, und jetzt war aus der Panik in ihrer Stimme etwas anderes, Schlimmeres geworden. Taumelnd setzte sie sich in Bewegung. Sie hielt die Hand gegen die Hüfte gepresst und schien Mühe zu haben, sich vollends aufzurichten, aber sie war erstaunlich schnell. Daart ahnte, was sie vorhatte. Er musste sich beeilen, bevor sie den Abgrund erreichte. So wie es aussah, würde sie keinen Augenblick zögern und dort herunterspringen – oder versuchen, herunterzuklettern, was angesichts der steilen, rissigen Felswand ungefähr auf das Gleiche herauskäme. Er versuchte es Carnac gleichzutun und zu laufen. Aber es wurde nur ein unbeholfenes Torkeln daraus, begleitet von harten Stichen in seiner Leistengegend und dem Gefühl, als müssten sich seine Knochen erst einmal schmerzhaft knirschend richtig einrenken, bevor sie ihren ursprünglichen Platz wieder einnahmen. Aus seinem Hals kamen bei jedem Luftholen merkwürdig pfeifende Geräusche, und das Tanzen der bunten Punkte vor seinen Augen wetteiferte jetzt mit einem grauen Nebel, der ihm den Blick verschleiern wollte. Und doch war er schnell genug. Zuckerbrot wurde nämlich plötzlich langsamer, und dann, nach zwei oder drei weiteren Schritten, blieb er endgültig stehen. Ein kurzer Schauder überlief seinen geschuppten schwarzen Echsenkörper, dann streckte er den Kopf vor und gefror geradezu. Als Daart ihn endlich erreicht hatte, wirkte er so versteinert wie die Drachenstatue in Gowyn, der Hauptstadt des Drachenlandes an der Westküste. 280
Daart stemmte die Hände in die Hüften und versuchte Luft zu bekommen. Das Flimmern vor seinen Augen war weniger geworden, und auch der störende graue Nebel war fast abgeklungen, aber dafür fiel es ihm immer schwerer zu atmen. Carnac, der es etwas besser als ihm zu gehen schien (was kein Kunststück war, denn wenn es jemandem schlechter ginge als ihm, wäre er wahrscheinlich tot), war mittlerweile auf der anderen Seite des Drachen verschwunden und machte sich an seiner Satteltasche zu schaffen. Daart öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch hervor kamen nur abgehackte einzelne Worte: »Wir … wir … haben nicht … viel …« »Zeit, ich weiß.« Carnac warf einen Blick zurück in die Richtung, aus der der nächste Angriff des Blutdrachen erfolgen musste. Daart war viel zu träge, um ihrem Blick zu folgen; er ahnte auch so, was er sehen würde. Das Schlagen vielfältig verwinkelter Drachenschwingen war jedenfalls kaum zu überhören. »Aber ich muss Zuckerbrot erst versorgen.« »Versorgen?«, krächzte Daart. »Dafür ist doch wohl kaum … der rechte Zeitpunkt.« »Und ob.« Carnac war wieder hinter dem Drachen verschwunden, doch als sie hochkam, lag auf ihrem zerschlagenen Gesicht ein fast erleichterter Ausdruck. »Bevor Terkana aus dem Sattel gefallen ist, hat sie mir ganz genau erklärt, was ihr Drache braucht, wenn er zu erschöpft ist, um …« »… um sich vom Felsen zu stürzen?«, beendete Daart ihren Satz. »Sei nicht albern«, wies ihn Carnac zurecht. »Nie281
mand will sich hier herunterstürzen.« Ihr Blick wanderte gen Himmel, und was sie dort sah, ließ sie einen raschen Schritt machen, und kurz darauf stand sie neben dem wie versteinert wirkenden Drachenkopf. Das, was sie in der Hand hielt, war so lang wie Daarts Unterarm und nur unwesentlich dicker, von einem bröckeligen Braun, das mit irgendetwas Hellem bestreut war, und es sah aus, als wäre es … Nein. Daart schüttelte unwillkürlich den Kopf. Der Gedanke war zu abwegig. »Keine Sorge, ich weiß, was ich tue«, fuhr Carnac fort. Sie brach etwas von dem Gegenstand ab, den sie aus der Satteltasche hervorgeholt hatte, und dann hielt sie es dem erstarrten Lederdrachen unter die Nase. Augenblicklich kam Bewegung in ihn. Zuerst begann sein linkes Augenlid zu flattern, dann sein rechtes, und schließlich streckte er die Nase vor und schnupperte, ganz langsam und vorsichtig … und dann sackte sein Kopf herab, und seinem Rachen entrang sich ein fürchterlicher Schnarchlaut. »Zuckerbrot«, sagte Carnac. Der Drache schüttelte den Kopf, und Carnac wich hastig einen Schritt zurück, hielt den Arm aber weiter ausgestreckt. Zuckerbrot schüttelte noch einmal den Kopf. Seine Augenlider flatterten wie in einem wilden Traum, dann riss er sie endgültig auf. »Zucker-Brot«, sagte Carnac eindringlich. »Hast du mich verstanden, Zuckerbrot? Ich meine: Zucker-Brot.« Der Drache schien wie aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. Daart, dessen Blick zwischen Carnac und dem 282
Drachen hin- und hergewandert war, blieb schließlich an dem abgebrochenen Etwas in Carnacs ausgestreckter Hand hängen. »Was hast du da?«, fragte er. »Zuckerbrot«, antwortete Carnac. Der Drache schnüffelte, jetzt sichtlich angetan, und es sah nicht so aus, als werde er wieder ins Koma fallen, ganz im Gegenteil. »Ich habe dich gefragt, was du da hast«, setzte Daart nach. Carnac warf ihm einen Blick zu, als sei er ein Narr. »Zuckerbrot«, wiederholte sie. »Nichts weiter als …« Die Zunge des Drachen schnellte hervor und Carnacs Hand zurück, und dann hatte sich die Drachenzunge auch schon um das abgebrochene Stück gewickelt, verschwand mit einem schnalzenden Geräusch im Rachen des Drachen – und Zuckerbrot kaute ganze drei Mal, bevor er herunterschluckte, was auch immer es war. »Zuckerbrot«, beendete Carnac ihren Satz und reichte dem Drachen ein weiteres Stück. »Wie Quarterma erzählt hat, verdankt jeder Drache seinen Namen einer Eigenschaft oder einer besonderen Vorliebe für etwas.« »Und bei Zuckerbrot ist es Zuckerbrot?« Der Kopf des Drachen fuhr zu Daart herum, und sein Blick streifte seine Hände. Als er sie leer vorfand, runzelte er fast vorwurfsvoll die Stirn, bevor er sich wieder Carnac zuwandte. »Ja«, sagte Carnac. Sie fütterte den Drachen mit aller gebotenen Vorsicht weiter, was sich als durchaus vorausschauend erwies, denn Zuckerbrot wurde zunehmend lebhafter, und seine Zunge schnellte gierig hervor, 283
um auch noch den letzten Rest des süßen Brots zu erwischen. »So, jetzt reicht es, Zuckerbrot«, sagte Carnac streng, »mehr habe ich nicht.« Der Drache legte den Kopf schief, und es sah aus, als überlege er, ob ihm Carnac die Wahrheit gesagt hatte. Doch dann spitzte er die Ohren, drehte den schwarzen, ledernen Schädel und starrte in die Richtung, in der der Blutdrache gerade davon abgelassen hatte, das kleine Wäldchen abzuholzen … Zuckerbrot ächzte und machte einen kleinen Hüpfer, der ihn gefährlich nah an den Abhang brachte und ihn mit einer Bewegung abbremsen ließ, die eindeutig erschrocken wirkte. »Los jetzt!« Carnac packte Daart an der Hand und zerrte ihn mit sich. »Rauf auf Zuckerbrot!« Daart sparte sich jede weitere Frage, griff in die breiten Lederriemen und zog sich so gut es ging hoch, dicht gefolgt von Carnac. Der Blutdrache donnerte heran, und Carnac presste sich eng gegen Daart. Der scharfe Schmerz, der durch seine Hüfte fuhr, als er das Gewicht verlagerte, trieb ihm die Tränen in die Augen und verschleierte seinen Blick. Sonst hätte er vielleicht aufgeschrien, als Zuckerbrot einen zweiten Hüpfer machte, einen wilden, verzweifelt klingenden Drachenschrei ausstieß und kopfüber den Abhang hinunterstürzte.
TEIL 3
Den Tod überwinden heißt sich selbst erfinden. Das Zwölfte Buch
1 »Sieben gebrochene Rippen, eine ausgekugelte Schulter, ein verrenkter Fuß, Hautabschürfungen bis hinunter auf die Knochen …« Quarterma schüttelte den Kopf und erhob sich von der schmalen Lagerstatt, auf der sie gesessen hatte, um an das in der Wand eingelassene schmale Guckloch zu treten. »Es scheint mir nicht gerade, als wärst du der geborene Drachenreiter.« Daart starrte hinab auf seine frisch zerschundene, blutverkrustete Hand und den groben Lederriemen, mit dem seine beiden Handgelenke gebunden waren. Erst nach zwei, drei hämmernden Herzschlägen sah er wieder zu der Frau hoch, die ihn in seinem kleinen Gefängnis so selbstverständlich aufgesucht hatte, als werde er hier nicht seit Tagen in Isolationshaft gehalten. Die einzige Abwechslung in seinem tristen Tagesablauf war ein mürrischer Alter gewesen, der ihm zu essen und zu trinken gebracht hatte, und eine hinkende, maulfaule Heilerin unbestimmten Alters, die ihn ohne viel Mitgefühl, aber immerhin mit Sachverstand behandelt hatte. Zweimal hatte sie ihm sogar – mit Hilfe des zeternden Alten – heißes Schlangenserum eingeflößt, gerade noch rechtzeitig bevor die durch das Schlangengift hervorgerufene Schwäche seinen angeschlagenen Körper aufgezehrt hatte. Ansonsten hatte er niemanden zu Gesicht bekommen, keine Carnac, keinen Grobian (was auch schlecht möglich gewesen wäre, denn in Daarts winziger Zelle hätte er sich nicht einmal um die eigene Achse 287
drehen können) – und auch sonst keinen, der mit mehr als ein paar Knurrlauten oder abweisenden Halbsätzen auf seine Fragen geantwortet hätte. Daart sah wieder auf, starrte auf Quartermas rechte, unversehrte Gesichtsseite, die weitaus weicher wirkte als die vernarbte und auf eine zeitlose Art schön war wie ein aus Granitstein gehauenes Frauenprofil. »Ich hoffe inständig, dass ich nie wieder auf einen Drachen steigen muss«, sagte er inbrünstig. »Ich fürchte, dass dich deine Hoffnung da trügen wird.« Quarterma wandte sich wieder um, und ein einzelner Lichtfinger, der durch das Guckloch fiel, wanderte die scharfe, gezackte Linie auf ihrer linken Wange entlang. »Du hast eine von uns getötet. Das können wir nicht hinnehmen.« Daart schloss die Augen. Er hatte es oft getan in den letzten Tagen, hatte dem hämmernden Schlag seines Herzens gelauscht und darauf gewartet, bis er sich beruhigt hatte. Immer wieder waren dabei Bilder in ihm aufgestiegen, Bilder voller Gewalt und Blut. Er wusste, was er getan hatte, aber er wusste auch, dass Ramara zuvor Thross brutal ermordet hatte. Der Junge hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt. »Was hättet ihr mit Ramara getan, wenn ich sie nicht …« Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen, aber Quarterma tat ihm nicht den Gefallen, darüber hinwegzugehen. »Wenn du ihr nicht den Kopf vom Hals geschlagen hättest?« Ihre Augen verdunkelten sich vor Zorn. »Sie hätte längst vors Drachentribunal treten müssen.« 288
»Und die Strafe …« »Wäre typischerweise ein Todesflug mit einem unserer Drachen gewesen«, beendete Quarterma seinen Satz. »Die gleiche Strafe, die auch dir durch den Ratsschluss der sieben weisen Frauen droht.« »Dann habe ich doch nichts anderes getan, als euch die Drecksarbeit abgenommen«, sagte Daart leise. Das zornige Funkeln in Quartermas Augen verstärkte sich, und sie ballte die Faust, beinahe so, als habe sie vor, ihn zu schlagen. »Das, was du getan hast, war Mord.« »Ah ja?« Daart hätte ihr dazu eine ganze Menge sagen können. In den von Fieberträumen und Schmerzen geprägten Tagen in diesem viel zu engen Raum waren immer wieder Bilder in seinem Kopf herumgepurzelt, die er nicht hatte einordnen können. Ihnen allen gemeinsam war die dumpfe Ahnung von Gewalt und etwas so Grauenhaftem, dass er davor zurückgeschreckt war, noch tiefer in die düstere Welt einzutauchen, die sich ihm offenbaren wollte. »Hast du wenigstens deinen Frieden gefunden, nachdem du dich auf so barbarische Weise gerächt hast?«, fragte Quarterma. »Meinen Frieden?«, krächzte Daart fast entsetzt. »Ja«, fuhr Quarterma fort. »Denn irgendetwas wird dich ja zu deiner Tat getrieben haben. Und etwas wirst du dir davon … versprochen haben.« »Wenn Ihr damit meint, dass ich Thross’ Mörderin tötete, um zu verhindern, dass man ihre Hintermänner enttarnt …«, begann Daart. Quarterma schnitt ihm mit einer herrischen Geste das 289
Wort ab. »Das mag ich seinerzeit angedeutet haben. Aber nach einem langen … Gespräch mit Carnac weiß ich, dass diese Vorstellung absurd ist. Nein, wir beide – deine Satai-Sjen-Carnac und ich – können uns nicht den allergeringsten Grund vorstellen, warum ein Satai einen solchen unglaublichen Frevel begangen hat.« »Einen Frevel?« Daart schüttelte den Kopf. »Das ist wohl kaum das richtige Wort für eine Bluttat.« »Und ob es das ist«, sagte Quarterma scharf. »Schließlich war es mehr als nur eine Bluttat. Du hast dich damit gegen unsere Gerichtsbarkeit gestellt.« »Gerichtsbarkeit? Was soll der Unsinn?« Daart wollte sich von der schmalen Pritsche erheben, um Quarterma von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, aber sie drückte ihn zurück, kaum dass er sich halb erhoben hatte. »Nubinas Heer ist längst auf dem Vormarsch und die ganze Gegend in hellem Aufruhr. Es steht uns ein Kampf bevor, wie ihn der Norden Enwors noch nie gesehen hat. In dieser Lage müssen wir alle zusammenstehen.« »Ja.« Daart nickte. »Das sehe ich ein. Und da eure Feinde auch meine Feinde sind …« »Schweig«, herrschte ihn Quarterma an. »Es geht nicht um unsere äußeren Feinde. Sondern um unsere inneren. Die sind nämlich schlimmer als ein Gegner, der einem in offener Feldschlacht mit einem Schwert in der Hand gegenübersteht.« Innere Feinde … ja. Daart hätte beinahe laut aufgelacht. Was wusste Quarterma schon von inneren Feinden? In den unzähligen Stunden, die er hier in seinem kleinen Gefängnis am Rand der Drachenhöhlen ver290
bracht hatte, hatte er verzweifelt versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie er mit seinem eigenen inneren Feind umgehen konnte. Mit gebundenen Händen in unbequemer Position an der Wand abgestützt, hatte er in den schmalen Ausschnitt der Höhle unter sich hinabgeblickt, den er von hier oben durch das Guckloch einsehen konnte. Nur sehr selten hatte er einen Drachen zu Gesicht bekommen, und dann auch nur einen Teil von ihm, den Kopf oder das Schwanzende oder eine der ledernen Schwingen. Feuersturm war nicht dabei gewesen. Doch er glaubte ihn immer wieder zu hören, sein Schnauben von dem der anderen Lederdrachen unterscheiden zu können, die in dem weit verzweigten Höhlensystem versorgt wurden und nach den Strapazen der letzten Tage wieder zu Kräften zu kommen versuchten. Irgendetwas war geschehen, nachdem sich das Schlangengift in seinem Körper ausgebreitet hatte, und hatte sich mit der finsteren und bösen Kraft verbunden, dem dunklen, erschreckenden Etwas, von dem er bis vor kurzen nicht einmal geahnt hatte, dass es all die Jahre in den Tiefen seiner Seele gelauert hatte. Seine qualvollen Versuche, es zu ergründen, hinter sein tiefstes Geheimnis zu kommen, hinter das, was das Erbe der Sternenkreaturen aus ihm machte und in welche Richtung es ihn drängte, waren allesamt kläglich gescheitert. Und schlimmer noch: In ihm war die Gewissheit gewachsen, dass es ihm nicht gelingen würde, es wieder dorthin zurückzudrängen, wo es die ganzen Jahre über gelauert hatte. »Es bleibt uns vielleicht nicht mehr viel Zeit, das zu tun, was getan werden muss«, sagte Quarterma. »Des291
wegen bin ich gekommen, noch bevor deine Wunden vollständig verheilt sind.« Sie blickte auf seine blutverkrustete Hand. »Und, wie ich sehe, hätte ich da sowieso lange warten können. Ich habe es kaum glauben können, als die Heilerin mir erzählte, dass du dich selbst verletzt. Warum tust du das?« Daart blickte auf seine schlecht verheilte Hand hinab, mit der er in den letzten Tagen wiederholt gegen die Wand wie gegen einen erbitterten Gegner geschlagen hatte, bis die Haut aufgeplatzt und Blut über seinen Unterarm gelaufen war. Nach vorne gucken, nicht rückwärts, das hatte ihnen Skarissa Rabork immer wieder gepredigt. Das war so einfach gesagt. Aber in seiner jetzigen Lage war die Erinnerung an die Worte des Hohen Satai kaum mehr als ein Hohn. Er wusste auch so, dass er nichts weiter tun konnte, als einen Schritt nach dem anderen zu tun, zu versuchen, mit der dunklen Bestie in sich zu leben und das Beste daraus zu machen. Er musste Carnac finden und sie mitnehmen, nur raus aus dieser Höhle unterhalb des Plateaus, in die Zuckerbrot in einem wahnsinnigen Sturzflug hineingedonnert und fast auf Speerspitze und die anderen Drachen geprallt war, die nach ihrer eigenen, rauen Landung dicht gedrängt im Einflugloch gestanden hatten. Und dann den Blutdrachen suchen, eine passende Schlange finden und sich von dem Gift befreien, dessen Wirkung Quartermas Serum zwar gedämpft, aber nicht endgültig besiegt hatte. Und anschließend Nubina bekämpfen, sie auslöschen, ihr die Eingeweide aus dem Leib reißen, ihr zeigen, wie weit sie noch von der Unsterblichkeit entfernt war, nach der sie und Zar’Toran so sehr gierten … 292
Und dann … Das ganze Gedankengebäude krachte immer spätestens an dieser Stelle ein. Er wusste nicht wirklich, was er tun wollte, sollte es ihm und Carnac gelingen, Nubina tatsächlich aufzuhalten. Er wusste ja nicht einmal, wie er die passende Blutschlange erkennen sollte, die sie zu retten vermochte, jetzt, wo Thross tot war. »Nun, wenn du mir diese Frage nicht beantworten willst, ist das deine Sache«, sagte Quarterma. »Was?« Daart streifte nur mit Mühe die düsteren Gedanken ab. Der scharfe Geruch, der aus der Drachenhöhle hochwaberte, die vielfältigen Geräusche, das Schaben, Schnauben und die Stimmen von Männern und Frauen, die nur verhallt und kaum verständlich zu ihm empordrangen, all das versuchte ihn erneut einzulullen und in dem Dämmerzustand zu halten, in dem er die letzten Tage verbracht hatte. Aber er wehrte sich dagegen. Er wollte erwachen, zurückkehren ins Leben, kämpfen um das, was ihm wichtig war. »Für Mord kennen wir nur eine Strafe«, drang Quartermas Stimme in seine Gedanken. Daart zuckte zusammen. Mord. Was für ein unsinniges Wort. Er spürte ein seltsames Pulsen in sich, begleitet von einem Gefühl, das in den letzten Tagen zunehmend schwächer geworden war, um nun unvermittelt wieder emporzusteigen: kalte Wut. Ihn hier einzusperren, während die Feinde Enwors weiter in den Norden einrückten, seine Schwerthand zu binden, statt sie frei zu machen für den Kampf gegen Nubinas Schergen, war ein weitaus größerer Fehler als der, den er unmittelbar nach Thross’ Tod begangen hatten. »Wenn Ihr mich 293
töten wollt, Quarterma, dann nur zu«, sagte er rau. »Zieht Euer Schwert und stoßt mir die Klinge in den Leib. Aber kommt mir nicht damit, dass es nur Euch zugestanden hätte, Thross’ Mörderin nach einem formellen Urteilsspruch zu töten. Tot ist tot, und wer Euer Urteil vollstreckt hat, darauf kommt es doch nun wirklich nicht an.« Quarterma ließ die Faust ganz langsam sinken, aber es kostete sie sichtlich alle Mühe. »Ich kann nicht von dir verlangen, dass du unsere Sitten und Gebräuche kennst oder auch nur im Entferntesten ahnst, was du da eigentlich getan hast. Aber es ändert nichts daran. Sich der Blutrache hinzugeben ist barbarisch und bei euch Satai genauso verpönt und unter Strafe gestellt wie bei uns.« »Aber jemanden zu verurteilen und ihn dann abzuschlachten, das ist ganz in Ordnung, ja?« Daart unterdrückte nur mit Mühe das hämische Lachen, das über seine Lippen kommen wollte. »Ihr macht es Euch allzu leicht, Quarterma. Wir sind mitten im Krieg. Da braucht Ihr jede Schwerthand. Schneidet mich los, gebt mir ein Schwert und zeigt mir, wo Nubinas Heer steht …« Daart hatte den Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da tat Quarterma etwas, mit dem er bei dieser kühlen Amazone überhaupt nicht gerechnet hatte. Sie trat auf ihn zu und riss mit einer wütenden Bewegung ein Messer aus ihrem Waffengurt aus schwarzem Echsenleder. Hart geschmiedetes Eisen glitt über Leder, dann funkelte die glatt polierte Klinge in dem spärlichen Licht, das in den kleinen, finsteren Raum fiel, in den 294
man ihn gesperrt hatte. Daart starrte in Quartermas Gesicht, nicht auf die Klinge. »Was soll das?«, fragte er scharf. »Wollt Ihr mich gleich an Ort und Stelle richten? Ist es etwa das, was Ihr unter Gerechtigkeit versteht?« »Du redest wie immer Unsinn«, antwortete Quarterma kühl. »Ich will dich nicht töten. Hätte ich das gewollt, hätte ich nur unserer Heilerin verbieten müssen, dir in regelmäßigen Abständen das Schlangenserum einzuflößen, das dein erbärmliches Leben vielleicht noch ein paar Wochen verlängern kann, bevor seine Wirkung gegen das Gift der Blutschlange nicht mehr ankommt. Nein, ich folge nur deinem Wunsch.« Das Messer fuhr auf Daart herab, zischte so nah an seinem Gesicht vorbei, dass er den Luftzug spüren konnte. Dann durchschnitt es auch schon seine ledernen Handfesseln; sie rutschten herab und fielen zu Boden, kleine geringelte Schlangen aus schwarzem Leder, die ihn unangenehm an das Nest in der Schädelhöhle erinnerten. »Du hast Recht, weißt du?« Quarterma ließ das Messer wieder in ihrem Waffengurt verschwinden. Sie packte Daart an der Schulter und machte Anstalten, ihn auf die Füße zu ziehen, aber Daart kam ihr zuvor, stemmte sich hoch. Für einen flüchtigen Moment verhakten sie sich aneinander, und als Quarterma zurücktrat, um ihm Platz zu machen, klickte etwas metallisch, und dann zog Daart die befreite Hand wieder zurück und mit ihr das Messer, das er aus einem Impuls heraus der Drachenreiterin aus dem Gürtel entwendet hatte, ohne dass es ihr aufgefallen war. »Wir sind tatsächlich im Krieg«, fuhr 295
Quarterma fort. »In dem vielleicht fürchterlichsten, seit die Alten gegen die Sternenbestien gekämpft haben. Und da brauchen wir Männer wie dich. Männer ohne Gewissen, die morden und töten und es dabei zu einer gewissen Fertigkeit gebracht haben.« Daart spürte, wie eine Ader an seinem Hals zu pochen begann. Fr packte Quarterma mit der freien Hand bei der Schulter und schob sie ein Stück zur Seite. »Ich bin so wenig ein Mörder wie Ihr, Quarterma.« Er schob das erbeutete Messer rasch und unauffällig unter sein Gewand in den schmalen Gürtel, der seine Hose festhielt. »Und genau so wie Ihr verabscheue ich jede unnötige Gewalt.« »Ach ja?« Quarterma drehte sich zu ihm. Wieder war sie ihm ganz nah, und Daart spürte eine merkwürdige Verwirrung in sich hochsteigen. »Und wie nennst du dann das, was du getan hast?« »Ich habe dafür vielleicht keinen Namen«, sagte er. »Aber es war weder Mord noch Blutrache. Es war …« »Ja?«, fragte Quarterma, als er nicht weitersprach. »Ich weiß es nicht«, antwortete Daart, »und es kommt auch nicht darauf an. Zumindest im Augenblick nicht.« Oh, doch, das tut es. Quarterma sprach diesen Satz nicht aus, aber er las ihn in ihren Augen. Laut sagte sie: »Dann lass uns gehen.« Sie blieben nicht allein. Kaum hatten sie den Gang betreten, durch den Daart nach Zuckerbrots wilder und nur mit viel Glück einigermaßen glimpflich verlaufener Landung in halb bewusstlosem Zustand hereinge296
schleppt worden war, schlossen sich ihnen zwei Drachenreiterinnen an. Das dicke, raue Leder ihrer Kluft knarrte bei jeder Bewegung. Daart verstand durchaus, warum sie so ungewöhnliche Lederkleidung trugen; auf den Rücken der Drachen konnten einem die Kälte und der Wind nur allzu leicht in die Knochen fahren. Doch dafür gaben sie den Vorteil auf, sich so leicht und katzengleich wie Carnac bewegen zu können. Daart fand, dass das ein schlechter Tausch war. Aber das war nicht mehr als ein flüchtiger, oberflächlicher Gedanke. Darunter lauerte etwas anderes. Er wusste nicht, was es war, und während sie den gewundenen, durch wenige Lichtschächte nur spärlich beleuchteten Gang entlanggingen und ihre Schritte sich zu einem harten Klock, Klock, Klock vermischten, klopfte in Daarts innerem etwas ganz anderes an. Die innere Stimme hatte in den letzten Tagen beharrlich geschwiegen – ausgerechnet in der Zeit, in der er, abgeschnitten von allen menschlichen Kontakten, geradezu darauf gelauert hatte, dass sie sich meldete –, aber dennoch war er sich die ganze Zeit über bewusst gewesen, dass er nicht der alleinige Herr über seine Gedanken war. Vielleicht nicht einmal mehr über seine Gefühle. Der Gang gabelte sich. Daart warf einen letzten Blick zurück zu dem Einflugloch. Unter den überhängenden, schartigen Felsen drang helles Tageslicht in den vorderen Bereich der Höhle, das erste, das er seit einer knappen Woche zu Gesicht bekam. Es war nicht allzu viel, was er aus der Entfernung erkennen konnte. An den glatt polierten Wänden der sich nach innen hin erweiternden Öffnung hingen Drachensättel, Zaumzeug, Seile 297
und alles mögliche andere, was die Drachen an Ausrüstungsgegenständen benötigten. Es war kein Wunder, dass ihm die Öffnung in dem Felsen und die dahinter liegende Höhle bei ihrem Anflug verborgen geblieben waren; die Höhle war innerhalb eines Knicks in der felsigen Außenwand so sorgfältig vor neugierigen Blicken abgeschirmt, dass man sie wohl nur durch Zufall entdecken konnte, wenn man nicht schon vorher hier gewesen war. Die Frage war, ob er jemals die Gelegenheit bekommen würde, nach einem letzten Drachenflug überhaupt noch einmal hierher zurückzukommen. Oder überhaupt irgendwo hinzukommen. Denn wenn er Quarterma richtig verstanden hatte, sollte sich ein Drache nach dem Urteilsspruch mit ihm und einer Vollstreckerin immer höher in den Himmel schrauben, bis ihn die Drachenreiterin schließlich vom Sattel stieß. Quarterma packte ihn am Arm und zerrte ihn mit sich, und die letzten Ausläufer des Tageslichts verschwanden aus seinem Sichtfeld, wurden ersetzt durch säuberlich abgegrenzte Quadrate gelblichen Lichtes, das in dem anschließenden breiten Gang durch Schächte fiel, die in regelmäßigen Abständen knapp unterhalb der Decke endeten. Die Luft wurde mit jedem Schritt schlechter und zunehmend abgestandener. Schließlich gab es auch keine Lichtschächte mehr, und das diffuse Halbdunkel, durch das sie schritten, wich nach und nach, und es dauerte nicht mehr lange, da hüllte die Dunkelheit sie wie eine finstere, erstickende Decke ein. Quarterma schien das nicht zu bekümmern. Sie schritt genauso schnell aus wie zuvor, und auch die beiden 298
Drachenreiterinnen hinter ihnen ließen kein Zeichen von Unsicherheit erkennen. Daart war durchaus in der Lage, sich in vollständiger Dunkelheit zu bewegen, sich an dem Widerhall von Schritten und anderen kleinen Geräuschen zu orientieren. Aber es passte ihm nicht. Schon gar nicht angesichts des dunklen Gegenparts in ihm selbst, der nur auf eine Schwäche lauerte, um hervorzubrechen. Und ob er ihm das nächste Mal dann wieder so kampflos die Oberhand ließe wie nach der Bluttat, die er an Thross’ Mörderin vollzogen hatte, wusste Daart nicht. Er hatte auch nicht vor, es darauf ankommen zu lassen. Gerade als er fragen wollte, wie weit es noch sei, blieb Quarterma stehen. Daart lief noch einen Schritt weiter, bevor er ebenfalls anhielt. Er bemerkte, wie sich Quarterma zu den beiden Drachenreiterinnen umdrehte. »Bleibt hier«, sagte sie, »egal, was passiert.« Dann hörte Daart ein schabendes Geräusch, und einen Augenblick später schwang ein Teil der Gangwand zurück, die sich als geschickt in den Felsen eingelassene Tür entpuppte. Das Licht Dutzender von Kerzen flackerte auf, als Luft aus dem Raum heraus auf den Gang entwich. Daart musste blinzeln, so sehr hatten sich seine Augen bereits auf die völlige Dunkelheit eingestellt. Als ihn Quarterma recht unsanft in den überraschend großen Raum hineinstieß, der sich vor ihm auftat, wäre er beinahe gestolpert. Er taumelte ein paar Schritte weiter, bevor er sich fing und wieder aufrichtete … Sein Herz begann wild zu klopfen, als er die weißhaarige, gekrümmte Gestalt sah, die an einem großen Tisch inmitten des Raumes hockte und im Kerzenlicht ein brüchiges 299
Pergament studierte. Und es überschlug sich fast, als er Carnac einige Schritte entfernt auf einem Stuhl sitzen sah, zusammengekrümmt in einer Haltung, als wäre sie gerade eingedöst. »Daart!« Der Alte wedelte mit der Hand, ohne hochzusehen. »Komm näher.« Daart warf einen unsicheren Blick zu Carnac hinüber – sie blinzelte, als versuche sie mit aller Gewalt, wach zu werden –, bevor er der Aufforderung des Mannes folgte, der ihn auf die gefährliche Reise in den Norden Enwors geschickt hatte, jenes Mannes, der nicht nur alt war, sondern vollkommen zu Recht der Älteste genannt wurde, so als habe er seinen eigentlichen Namen schon vor einer Ewigkeit aufgegeben. Der Älteste seufzte und warf einen letzten Blick auf das Dokument, bevor er es auf einen Stapel ähnlicher Papiere vor sich auf den Tisch legte. »Das hätte nicht geschehen dürfen«, sagte er fast sanft und anstelle einer Begrüßung. »Niemals.« Daart brauchte einen Moment, um den Sinn seiner Worte zu verstehen. »Was?«, fragte er dann. »Die Sache mit Thross«, antwortete der Älteste. Daart starrte ihn eine ganze Zeit lang schweigend an. Die dunklen Augen des Ältesten strahlten hart und klar wie die eines weitaus jüngeren Mannes und ließen das Gewirr von Falten und Runzeln vergessen, die sich in ungezählten Jahren in sein Gesicht eingegraben hatten. Und da war noch mehr in diesen Augen. Ein unausgesprochenes Versprechen, ihm hier und jetzt den Prozess zu machen? Ein knarrendes Geräusch riss Daart aus seiner Erstar300
rung, ließ ihn den Kopf in Carnacs Richtung drehen. Sie hatte sich aufgerichtet, mühsam und mit kleinen, sparsamen Bewegungen. Die Müdigkeit war aus ihrem Gesicht gewichen und hatte einem Ausdruck Platz gemacht, der Daart gar nicht gefiel; er glaubte fast so etwas wie Vorwurf darin zu lesen. »Ich weiß«, Daart riss den Blick von Carnac los und wandte sich wieder dem Ältesten zu, »ich hätte nicht …« »Nein.« Der Älteste hatte nicht einmal die Stimme erhoben, aber es lag so viel Autorität darin, dass Daart unwillkürlich abbrach. »Es geht nicht nur darum, dass du die Bogenschützin gerichtet hast«, sagte Carnac, als die Stille unerträglich wurde. »Sondern auch, dass du sie dazu gebracht hast, Thross von Grobians Schultern zu schießen.« »Ich … soll sie dazu gebracht haben?« Daarts Blick irrte von einem zum anderen. Er verstand die offensichtliche Einigkeit nicht, die zwischen Carnac und dem Ältesten herrschte. Er verstand auch nicht, warum man ihn hierher gebracht hatte statt zu einer wie auch immer gearteten Gerichtsverhandlung der Drachenreiterinnen. Und schon gar nicht begriff er, dass man ihm vorwarf, schuld an Thross’ Tod zu sein. »Ja.« Der Älteste seufzte erneut. »Ich weiß nicht, was in diesem Moment in dich gefahren ist.« »Aber … aber …« Daart starrte in das zerfurchte Antlitz des Ältesten, ohne darin eine Spur Verständnis oder gar Milde zu finden. Der weißhaarige Mann meinte seine Worte bitterernst. »Aber auch Euch kann ich einen gewissen Vorwurf nicht ersparen«, fuhr der Älteste fort, in Quartermas 301
Richtung gewandt. »Ihr hättet den Flug in den Süden sorgfältiger planen müssen. Und bessere Vorkehrungen treffen, um alle zu schützen, die schützenswert waren.« »Das ist mir bewusst«, sagte Quarterma tonlos. »Ich habe alles versucht, aber im entscheidenden Moment war ich zu langsam.« »Ja«, sagte der Älteste. »Und nun ist Ramara tot.« Er griff nach dem Pergament, in dem er zuletzt gelesen hatte, und schob es ein Stück zur Seite, bevor er sich in seinem Sessel aufrichtete und die Hände vor sich auf die Platte legte. »Ganz zu schweigen von Thross. Wir haben von dem Jungen stets als von unserer größten Hoffnung gesprochen, Quarterma. Vielleicht nicht unsere einzige, aber doch mit Sicherheit unsere größte.« Quarterma war klug genug, nichts darauf zu sagen. Daart spürte die Anspannung der Drachenreiterin, und ihm entging auch nicht, dass sie den Blick fast demutsvoll gesenkt hatte, kaum dass sie den Raum betreten hatten. Verzweifelt fragte er sich, was hier eigentlich los war. »Aber der Eigentliche, der gefehlt hat«, sagte der Älteste, »bist du, Daart.« Daarts Verwirrung stieg von Augenblick zu Augenblick. »Ja«, gab er zu. »Ich hätte besser auf ihn aufpassen können. Besser auf ihn aufpassen sollen. Aber gegen einen schnell und präzise geschossenen Pfeil bin auch ich machtlos.« Das Stirnrunzeln des Ältesten verstärkte sich noch. »Du bist ein Satai«, sagte er sanft. »Ja. Nein. Eigentlich bin ich noch ein Satai-Sjen, da ich nicht die abschließende Zeremonie …« 302
»Du bist ein Satai«, unterbrach ihn der Älteste. »Und du hast gelernt, wie man auch einem schnell abgeschossenen Pfeil ausweichen kann.« »Ja, sicherlich.« Daart hatte keine Ahnung, worauf der Älteste hinauswollte, aber die Art der Befragung brachte ihn zum Schwitzen. »Ich wüsste nur nicht, wie man einen Pfeil aufhalten könnte, der hoch genug geschossen ist, um einen auf den Schultern eines Grolls sitzenden Jungen zu treffen.« Der Älteste schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, was er da hörte. »Du verstehst offensichtlich weder den Grad deiner Verfehlung noch ihren Grund.« Er beugte sich ein Stück vor, und die Kerzen begannen zu flackern, als fliehe ihr Licht vor dem Vorwurf, der jetzt kommen musste. »Carnac hatte dich angewiesen zu warten. Stimmt das?« »Zu warten?«, fragte Daart ehrlich verblüfft. »Aber wo hätte ich denn warten sollen?« »Hat sie euch gesagt, ihr solltet zurückbleiben, als sie sich zur Schädelhöhle aufgemacht hat, oder nicht?«, donnerte der Älteste. »Doch.« Daart zwang die Erinnerung an die Geschehnisse zurück. Thross und Grobian waren alles andere als glücklich gewesen, als er Carnac dennoch gefolgt war, sie hatten jedoch auch keine Anstalten gemacht, ihn aufzuhalten. »Aber es war doch nur …« »Nur der Grund, warum Thross in Todesgefahr geriet?« Die Stimme des Ältesten hatte jetzt einen unangenehm schneidenden Klang angenommen. »Nichts weiter als eine kleine Verfehlung, die in einem vollkommen ungünstigen Moment den Bogenschuss auf einen un303
schuldigen Jungen und eine unserer größten Hoffnungen provoziert hat?« Daart hatte plötzlich ein ganz flaues Gefühl im Magen. Er hatte bislang keinen Zusammenhang gesehen zwischen der Tatsache, dass er Carnac gegen ihren ausdrücklichen Wunsch gefolgt war und dass Thross von der Bogenschützin erschossen worden war. Aber im Grunde genommen hatte der Älteste nicht ganz Unrecht. »Seit wann ist es zwischen Satai üblich, Verabredungen nicht mehr einzuhalten?«, fuhr der Älteste gnadenlos fort. »Habt ihr nicht sogar einen Eid geschworen, einander zu vertrauen und nicht zu hintergehen?« »Aber ich habe doch Carnac nicht hintergangen«, begehrte Daart auf. »Und wie hätte ich überhaupt wissen sollen …« »… dass eine Prophetin eine Vorahnung haben kann, die sie dazu veranlasst, vorsichtiger als ein gewöhnlicher Mensch zu sein?«, unterbrach ihn der Älteste. »Oder hattest du schon vergessen, dass deine Satai-Sjen mehr als eine normale Frau, mehr als eine bestausgebildete Kriegerin und vor allem und in erster Linie eine Prophetin ist?« »Nein, natürlich nicht.« Daart wandte sich an Carnac. »Aber warum hast du denn nichts gesagt!« »Das habe ich doch«, antwortete Carnac unglücklich. »Aber du hast nicht auf mich gehört.« »Das meine ich nicht«, widersprach Daart. »Ich meine, warum du mir nicht erzählt hast, dass du Angst um Thross hattest und ich deshalb mit ihm zurückbleiben sollte.« »Ich konnte dir das nicht erzählen, weil ich es nicht 304
wusste«, sagte Carnac heftig. »Es war eine Vorahnung, etwas, das mich vorsichtiger sein ließ.« »Ja, aber trotzdem …« »Nichts trotzdem.« Carnac hob die Hand, als Daart ihr widersprechen wollte. »Ich hatte wirklich gehofft, mich in solch einer Situation auf dich verlassen zu können. Ich konnte ja nicht ahnen, dass dir mein Wort überhaupt nichts wert ist.« »Aber das stimmt doch gar nicht«, protestierte Daart. »Ich habe einen fürchterlichen Fehler gemacht, ja, aber ich habe doch nicht mit Vorsatz oder gar in böser Absicht gehandelt.« Carnac sagte nichts darauf, sah ihn nur ganz traurig an, und der letzte Satz blieb in dem hallenden Raum hängen. »Bist du dir wirklich ganz sicher?«, fragte der Älteste schließlich.
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2 »Sie kommen!« Es war nur ein Satz, ein einziger Aufschrei, aber er hallte in dem Raum wider wie Donnergrollen. Der Älteste zuckte zusammen, starrte erst auf die Drachenkriegerin, die die Tür aufgerissen und die Neuigkeit zu ihnen hereingebrüllt hatte, dann auf Daart und Quarterma und schließlich auf den Stapel alter, vergilbter Pergamente auf dem Tisch. Seine vom Alter gezeichneten Hände zuckten wie eigenständige Lebewesen vor und griffen die Dokumente, zogen einzelne Blätter hervor, ordneten sie, und das alles so schnell und mit einer Hast, dass Daart den Bewegungen kaum zu folgen vermochte. »Also gut«, murmelte er unterdessen, »sollen sie kommen.« Sein Kopf ruckte wieder zur Drachenkriegerin hoch, die wie erstarrt an der Tür stehen geblieben war. »Wie weit sind sie noch entfernt? Wie viele sind es? Nur Silberkrieger oder auch Guhulan?« »Ich weiß … nicht.« Die Drachenreiterin hob hilflos die Schultern. »Eine schwarze Staubwolke am Horizont. Mehr weiß ich nicht.« Der Älteste verharrte mitten in der Bewegung. »Aber Ihr habt einen Drachen losgeschickt, um nähere Erkundigungen einzuholen?« »Äh, ja, nein«, quetschte die Drachenreiterin unglücklich hervor, »Quarterma hat ausdrücklichen Befehl gegeben …« Quarterma wirbelte herum, bevor die Drachenreiterin 306
ihren Satz beenden konnte. »Schickt Parana auf Donnerkeil!«, rief sie. »Aber schnell!« »Ja, natürlich.« Die Drachenreiterin fuhr auf der Stelle herum und rannte davon, als wäre gerade Grobian am anderen Ende des Ganges aufgetaucht, um sich mit wütendem Gebrüll auf sie zu stürzen. Der Älteste seufzte. »Sie hätte wenigstens die Tür zumachen können. Und ganz abgesehen davon«, er wandte sich zu Quarterma um, »scheint es mir, dass Ihr Eure Truppe ein bisschen zu gut im Griff habt. Die trauen sich ohne Euren ausdrücklichen Befehl ja nicht einmal, ihre Notdurft zu verrichten.« »Ich wüsste nicht, wer Euch das Recht gibt, mich zu maßregeln …«, begann Quarterma aufgebracht. »Ja, ich auch nicht«, unterbrach sie der Älteste. »Ihr habt vollkommen Recht. Ich tauche hier ohne Vorwarnung auf und spiele mich auf, als hätte ich irgendetwas zu sagen.« Seine rechte Hand fuhr fast liebkosend über das Pergament, das er mit der letzten Bewegung zur Seite geschoben hatte, dann ergriff er es kurz entschlossen und rollte es ein. »Wir sollten sehen, dass wir hier wegkommen. Ich selbst habe noch eine kleine Aufgabe zu erledigen. Aber Ihr solltet sehen, dass Ihr nach oben gelangt. Von dort aus habt Ihr einen weit besseren Ausblick auf das, was auf uns zukommt.« »Aber wir können doch nicht so einfach tun, als sei das nur ein harmloser Freundschaftsbesuch, den wir zu erwarten haben«, widersprach Quarterma. »Wir müssen uns auf einen Kampf vorbereiten. Die Drachen zusammenziehen. Unsere Verbündeten verständigen. Unsere Wasserversorgung sichern.« 307
Der Älteste hatte mittlerweile das Pergament fertig zusammengerollt und ließ es nun in der Tasche seines Faltengewands verschwinden. »Ja, wir werden uns auf einen Kampf vorbereiten.« Er sah wieder zu Quarterma auf, und über sein runzliges Gesicht huschte ein ganz und gar nicht freundliches Lächeln. »Aber ich würde das mit den Wasservorräten lassen. Schließlich wollen wir unseren Feinden einen heißen Empfang bereiten. Und nicht einen feuchten.« »Ich verstehe nicht ganz, was Ihr damit meint«, sagte Quarterma steif. »Ich meine damit, dass wir auf ziemlich feurigem Boden stehen«, antwortete der Älteste. Quarterma starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Was soll das heißen?«, schnappte sie. »Wollt Ihr etwa die Urkräfte erwecken, die die Göttin Kor’mana hier vor unendlichen Zeiten gebannt hat, um uns in ihrem Schutz eine sichere Zuflucht zu ermöglichen? Seid Ihr gekommen, um uns aus unserem Heim zu vertreiben und alles zu vernichten, was uns lieb und teuer ist?« »Ich heiße weder Zar’Toran noch Nubina«, sagte der Älteste mürrisch. »Und ganz abgesehen davon«, er deutete auf den Stapel Pergamente vor sich auf dem Tisch, »geht Ihr mit Eurem Erbe auch nicht gerade pfleglich um. Die meisten Eurer alten Schriften und Pergamente sind vergammelt und vermodert. Den kümmerlichen Rest, den Ihr da vor Euch seht, habe ich aus den Ritzen einer Wand herausgezogen, in die sie jemand vor Ewigkeiten achtlos gestopft hat.« »Was hat das denn mit Nubina zu tun?« 308
»Vielleicht mehr, als Ihr meint.« Der Älteste warf einen kurzen Blick zu Carnac hinüber. »Ich nehme an, du hast von der Göttin Kor’mana und ihrem Geheimnis gehört?« Carnac zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Flüchtig. Es sind wirklich sehr, sehr alte Geschichten. Und eigentlich weiß niemand etwas Genaues.« »Das ist nicht ganz richtig«, korrigierte sie der Älteste. »Ich zum Beispiel weiß mittlerweile schon eine ganze Menge von ihr. Nicht nur das, was ich vor vielen Jahren aufgeschnappt habe, als ich mich mit Del an irgendeinem unwirtlichen Ort befand, der gar nicht weit von hier entfernt war und wir mitten in einem Sandsturm von einer Horde Quorrl angegriffen und in die Nonakesh-Wüste abgedrängt wurden …« Die Augen des Ältesten verloren sich in weiter Ferne, dann ging ein Ruck durch seinen Körper. »Aber das ist eine andere Geschichte. Was mich viel mehr beschäftigt, ist, welche Geheimnisse außer ein paar alten Pergamenten sonst noch in den Wänden dieses Labyrinths stecken, das Eure Vorfahren vor vielen tausend Jahren hier bezogen haben.« »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, sagte Quarterma. In ihrer Stimme war ein leichter Anflug von Unsicherheit, aber ihre Miene war so eisern, als kenne sie die Bedeutung des Wortes Gefühle gar nicht. »Und es kümmert mich nicht. Wer auch immer zum ersten Mal auf einem Drachen geritten oder diese Höhlen entdeckt hat – es hat nicht das Geringste damit zu tun, dass nun dringende Entscheidungen getroffen werden müssen.« »Das sehe ich anders«, antwortete der Älteste. 309
»Kor’mana war eine Drachenreiterin. Vielleicht sogar die Erste, der es gelang, das Vertrauen eines Drachen zu gewinnen und sich auf ihm durch die Lüfte zu schwingen. Mit Sicherheit aber war sie die Erste, die es wagte, den Drachen bis in ihre Behausung zu folgen und den Einklang mit ihnen zu suchen.« »Kor’mana war viel mehr als eine Drachenreiterin«, widersprach Quarterma. »Sie war eine Göttin. Sie war es, die den Drachen die Weisheit brachte und den Menschen den Verstand, diese Weisheit zu sehen und annehmen zu können. Ohne sie hätten die Drachen und ihre Reiterinnen niemals zusammengefunden.« »Du erzählst die gleiche Geschichte wie ich, nur mit anderen Worten.« Der Älteste beugte sich vor, fuhr wie selbstvergessen durch den Stapel alter Pergamente und zog schließlich eines hervor. »Es ist nicht in Tekanda verfasst und auch nicht in der Sprache, die ihr untereinander gebraucht, wenn ihr euch allein wähnt. Aber es hat Ähnlichkeiten mit beiden.« »Und du kannst sie lesen?« Der Spott in Quartermas Stimme war unüberhörbar, doch der Älteste ließ sich nicht davon provozieren. »Ja, ich kann sie lesen«, bestätigte er. »Und ein bisschen verstehe ich sogar davon. Jedenfalls genug, um zu begreifen, dass Kor’mana einen guten Grund hatte, sich in die Abgeschiedenheit dieses Gebietes zurückzuziehen, und sich als Anführerin ihrer Sippe lieber der Willkür der Drachen ausgeliefert sah statt der der Menschen, die hier früher über dieses Gebiet herrschten.« »Und wer sollen diese Menschen gewesen sein?«, fragte Quarterma. 310
»Wer schon.« Das Pergament in der Hand des Ältesten raschelte wie dürres Laub im Herbstwind. »Es waren Guhulan. Die Feuerkrieger hatten hier schon immer großen Einfluss. Die Gründung ihrer Kaste geht auf eine Zeit zurück, als die Alten den Sternengeborenen noch erfolgreich Widerstand leisten konnten.« »Also vor Anbeginn der Zeit«, stellte Quarterma fest. »Ich wüsste nicht, was das mit uns zu tun haben könnte.« »Nun, Männer wie Zar’Toran muss es auch schon früher hier gegeben haben.« Der Älteste hielt das Pergament ganz nah an sein Gesicht. »Einen Feuermagier namens Rak’Teran zum Beispiel. Wenn ich das hier richtig verstanden habe, hat er zur gleichen Zeit wie Kor’mana gelebt. Er muss ihr Todfeind gewesen sein; er hat ihren Mann erschlagen und ihre Kinder bei lebendigem Leib schmoren lassen, bis ihnen die Haut vom Fleisch fiel. Erst dann hat er sie mit einem Schwertstreich erlöst.« »Ja«, sagte Quarterma widerwillig. »Ich kenne jede Einzelheit dieser grausigen Geschichte. Sie wird von der Mutter auf die Tochter überliefert, seit unzähligen Generationen.« »Und wenn sie auch nur halbwegs stimmt, dann gründet wohl euer bis heute friedliches Zusammenleben mit den Drachen genau auf dem Schrecken, den Kor’mana erleben musste. Dabei war, wenn ich den wenigen Hinweisen dazu in den alten Schriften glauben darf, die erste Zeit von fürchterlichen Unglücken geprägt, weil Menschen und Drachen zunächst überhaupt nicht zusammenfinden konnten.« Der Älteste legte das Pergament sorgfältig und mit Bedacht auf den Tisch zurück. »Und eigentlich fände ich es ganz passend, 311
wenn wir die alte Drachentradition wieder aufleben ließen und dafür sorgten, dass es auch jetzt wieder zu heftigen Unglücken kommt.« »Zu Unglücken, in deren Mittelpunkt die Guhulan oder die Silberkrieger Nubinas stehen«, vermutete Quarterma. »Ja, so ungefähr habe ich mir das vorgestellt«, bestätigte der Älteste. »Aber dafür muss ich mich noch etwas genauer mit Euren alten Schriften beschäftigen. Und daher brauche ich einen schnellen Zugang zu ihnen.« »Wenn Ihr die sagenhafte Bibliothek meint, von der in den alten Überlieferungen die Rede ist, muss ich Euch enttäuschen«, sagte Quarterma. »Falls es sie jemals gegeben hat, so sind ihre Zugänge doch mittlerweile längst verschüttet. Und ganz davon abgesehen glaube ich nicht, dass uns das weiterhelfen könnte. Ich verlasse mich jedenfalls eher auf mein Schwert als auf ein Stück vergilbten, unleserlichen Pergaments.« »Wohl gesprochen«, sagte der Älteste. »Ich hätte das früher ganz genauso gesehen. Aber mittlerweile weiß ich, dass schon ein kleiner Wissensvorsprung über Gedeih und Verderb entscheiden kann. Und den hätte ich gern auf unserer Seite gewusst.« Er schob den Sessel ein Stück zurück und erhob sich mit einer fließenden, nicht allzu schnellen Bewegung, die eher zu einem weitaus jüngeren Mann gepasst hätte. »Ich werde mich jetzt nach Schriftstücken umsehen, die mir mehr als die Geschichte Kor’manas offenbaren. Und ich möchte, dass mich Daart dabei begleitet.« »Warum ausgerechnet er?«, fragte Quarterma misstrauisch. 312
»Nun«, der Älteste lächelte leicht, »vielleicht liegt das daran, dass ich eine alte Schwäche für die Satai habe.« »Dieser Grund allein reicht mir nicht«, sagte Quarterma streng. »Schließlich ist er kein freier Mann.« »Sondern harrt des Urteilsspruchs des Drachentribunals, ich weiß«, sagte der Älteste. »Aber wir alle wissen ja, wie er lauten wird, nicht wahr?« »Allerdings, und das ist auch kein Geheimnis«, antwortete Quarterma gereizt. »Also soll Daart sterben?«, setzte der Älteste nach. »Selbstverständlich.« »Nun, ich denke, das lässt sich einrichten.« Der Älteste deutete in die Richtung, aus der Feuersturm sie herangeflogen hatte. »Ihr wisst, was da auf uns zukommt, ja?« »Nubinas Heer«, antwortete Quarterma. »Ja«, sagte der Älteste leise, »das vielleicht gewaltigste Heer, das Enwor je gesehen hat.« »Ist das nicht ein bisschen übertrieben …«, begann Quarterma. »Nein!« Das Gesicht des Ältesten hatte sich verfinstert. »Es ist leider nur zu wahr. Und es ist ja auch nicht gerade das erste Mal, dass ich Euch darauf hinweise.« »Ein Hinweis, der zutreffen kann oder auch nicht«, erwiderte Quarterma kühl. »Also werde ich ihn überprüfen müssen.« »Ja, natürlich, also rasch«, der Älteste deutete nach oben, »erhebt Euch in die Lüfte, überzeugt Euch selbst. Oder fragt Carnac, Daart oder den Groll. Alle drei haben das riesige Heer gesehen, oder zumindest einen Teil davon.« 313
»Ich frage keinen Mörder«, sagte Quarterma, während sie Daart provozierend ansah. Als dieser nicht darauf einging, wandte sie sich wieder an den Ältesten. »Ich kann keinen Grund erkennen, warum eine Herrscherin aus dem Süden Enwors hier mit einem gewaltigen Heer einfallen sollte.« »Genauso wenig, warum sie mit eben diesem Heer quer durch das ganze Land gezogen ist, südlich des Glutsees eine riesige Stadt errichtet und ihre Truppen mit den Guhulan vereint hat«, sagte der Älteste ruhig. »Ist es das, was Ihr meintet?« Quarterma ballte die Faust, und in ihren Augen funkelte es verdächtig. Aber sie beherrschte sich. Noch. »Ihr mögt nicht allzu viel auf mein Wort geben«, sagte der Älteste. »Dann gebt umso mehr auf Eure eigenen Augen.« »Das werde ich tun, verlasst euch darauf«, erwiderte Quarterma grimmig. »Und tut Ihr selbst das, was Ihr für notwendig erachtet. Aber Daart wird Euch nicht begleiten.« Der Älteste seufzte. »Ich kann nur hoffen, dass Euer Kampfglück Eurer Sturheit in nichts nachsteht. Aber selbst wenn dem so wäre: Das größte Kampfglück kann nichts gegen das ausrichten, was da auf uns zukommt. Also werden wir allesamt nur allzu bald verlässlich tot sein, auch der Satai, um den Ihr Euch so sorgt.« Quarterma kniff die Augen zusammen. »Demnach ratet Ihr uns zur Flucht?« »Zur Flucht? Wohin denn? An die Ufer des Blutsees, um den Blutdrachen die Mühe abzunehmen, uns suchen zu müssen? Oder in das alte Quorrl-Reservat, in dem 314
die Reptilienkrieger einen Freudentanz aufführen werden, dass sich ihnen endlich ein paar Schwarzdrachen, wie sie sie nennen, freiwillig ausliefern? Nein.« Der Älteste schüttelte entschieden den Kopf. »Eine Flucht würde uns nicht weiterbringen.« »Aber Ihr selbst seid doch auch geflohen«, sagte Quarterma. »In die Höhlen unterhalb des Schattengebirges.« »Das war keine Flucht«, erklärte der Älteste, »sondern eine strategische Entscheidung.« »So kann man es natürlich auch nennen«, erwiderte Quarterma spitz. »Hätten wir nicht dank der Creeper und der Caverner die Oberhoheit über das Höhlensystem unter Tausenden von Tonnen Fels und Gestein behalten, dann säßen jetzt dort die Guhulan oder ihre Verbündeten«, antwortete der Älteste. »Aber leider hat unsere Strategie einen Nachteil: Wir haben alle größeren Zugänge verschüttet. Es wäre fraglich, ob sich ein Groll durch einen der verbleibenden Zugänge hineinquetschen könnte. Ein Drache aber würde garantiert darin stecken bleiben.« »Ohne unsere Drachen gehen wir nirgendwo hin«, sagte Quarterma entschieden. »Und außerdem ist hier unsere Heimat. Wir werden sie schon zu verteidigen wissen.« »Die Antwort habe ich erwartet.« Der Älteste ballte die Faust so fest um das Pergament in seiner Hand, dass es klang, als drängen Termiten in einen Papierstapel. »Also werden wir kämpfen. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit uns die Götter in dieser ungleichen Schlacht beistehen.« 315
»Die Götter werden uns wohl kaum helfen können«, sagte Quarterma schroff. »Nein?« Der Älteste zauberte einen Ausdruck ehrlich wirkender Überraschung auf sein Gesicht. »Wart Ihr es nicht gerade, die mir davon erzähltet, dass Kor’mana mehr als nur eine Drachenreiterin sei – nämlich eine Göttin?« Quarterma winkte ungeduldig ab. »Für diesen Unsinn fehlt uns die Zeit. Ich habe noch eine Menge zu erledigen und …« »Es ist kein Unsinn«, sagte der Älteste sanft. »Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich werde den Beistand Eurer ureigensten Götter erflehen. Und Daart wird mir dabei helfen. Und nun gebt ihm ein Schwert, damit er sich notfalls verteidigen kann!« Daart hätte geschworen, dass ihn Quarterma niemals der Obhut des Ältesten überlassen würde. Sie hatte sich mächtig aufgeregt wegen der Forderung des Ältesten, Daart ein Schwert auszuhändigen, und diese mit mehr als deutlichen Worten zurückgewiesen. Aber dann hatte sie sich um die Verteidigung der Drachenhöhle gekümmert, statt sich auf einen weiteren Disput mit dem starrsinnigen alten Mann über die Frage einzulassen, ob es sinnvoll war, mit einem »Mörder wie Daart« auf die Suche nach alten Schriftstücken zu gehen oder nicht. Sie hatte Daart ziehen lassen, ohne Waffe und nicht ohne ihm mit ein paar drastischen Worten klarzumachen, dass sie ihm bei lebendigem Leib die Haut vom Körper pellen würde, wenn er sich auch nur die geringste Kleinigkeit zuschulden kommen ließe. Daart war das 316
nur recht gewesen. Zunächst. Aber mittlerweile zweifelte er daran, ob er an der Seite des Ältesten wirklich gut aufgehoben war. Es wäre ihm bedeutend lieber gewesen, wenn er sich Quarterma und Carnac als freier Mann hätte anschließen können, um sich in den Kampf gegen die anrückenden Truppen einzuschalten, statt nun auf Händen und Knien hinter dem Ältesten herzukrauchen. Überall war Staub, unter ihnen, neben ihnen und über ihnen – und bald auch in ihnen –, und der Gang, den sie entlangkrochen, war mittlerweile so eng und niedrig, dass Daart sich schon mehrfach den Kopf angeschlagen hatte. Aber immerhin war es noch nicht stockfinster. An einigen Stellen schienen die Wände wie von innen zu glühen und tauchten die Umgebung in ein schwaches rötlich gelbes Licht, und als Daart probeweise die Hand auf eine dieser Stellen legte, zog er sie schnell wieder zurück, so heiß war sie. »Durch enge Gänge zu krauchen«, keuchte der Älteste vor ihm, »ist nichts für unsereins. Die Creeper können das tausend Mal besser. Und deswegen …«, es gab ein dumpfes Geräusch, als der Älteste mit der Schulter gegen eine vorspringende Steinkante knallte, »… war ja auch Thross von Anfang an mit von der Partie. Unser Treffen hier war von langer Hand geplant. Thross sollte mit euch kommen, ich selbst bin mit einer anderen Drachenreiterin vorausgeflogen.« In Daarts Ohren klang das alles andere als nach einem ausgeklügelten Plan. Ein kleiner Junge und ein uralter Mann, die glaubten, gemeinsam einen Weg zu finden, um Nubinas Heer aufhalten zu können? »Ohne einen Creeper sind wir in einer schwierigen 317
Lage.« Der Älteste verlangsamte sein Tempo und wand sich an einem fast rot glühenden Vorsprung vorbei. »Vorsicht«, warnte er Daart. »Komm nur nicht da ran. Das ist kochend heiß.« »Wieso sind wir ohne Creeper in einer schwierigen Lage?«, fragte Daart. Als er dem glühenden Vorsprung näher kam, spürte er schon aus der Entfernung etlicher Handspannen die unglaubliche Hitze, die er verströmte. Es hätte ihn nicht einmal gewundert, wenn rot glühende Steinnasen die Felswand heruntergetropft wären. Als sein Gesicht auf Höhe des Glutnestes war, fühlte er sich, als stünde er in der Mittagshitze ungeschützt in der Nonakesh-Wüste. Es war unglaublich, welche Hitze der glühende Gesteinsfleck ausstrahlte. Der Älteste hatte angehalten und verrenkte sich fast den Hals, um zu ihm zurückblicken zu können. Dichte Strähnen kräftigen weißen Haares fielen ihm halb über das Gesicht, aber er konnte offensichtlich noch genug sehen, denn er sagte: »Wegen Stellen wie dieser. Ein Creeper hätte sich an so einem Vorsprung vorbeigewunden, ohne ihm mehr Beachtung zu schenken als wir einem Blatt, das von einem Baum herab auf den Boden vor unsere Füße segelt. Ganz abgesehen davon: Thross konnte sich durch Gänge winden, die nicht dicker sind als der Eingang eines Kaninchenbaus.« So übertrieben das auch klang: Daart war nicht abgeneigt, es zu glauben. Thross war unglaublich gewesen. Und er selbst war so blind gewesen, dass er es erst nach seinem Tod wirklich begriffen hatte. »Wir werden sehen, wie weit wir kommen«, fuhr der Älteste fort. »Die Drachenreiterinnen haben ihre Ge318
heimnisse gut zu schützen gewusst. Vor Jahren habe ich eine sehr umfangreiche Bücherliste gefunden, die sich hier auf die Drachenbibliothek bezieht. Eine wirklich beeindruckende Liste. Geendet hat sie mit einer hastigen Notiz darüber, dass ihr Zugang während eines Aufstands verschüttet worden ist. Auch in einem der Pergamente, die ich hier gefunden habe, ist davon die Rede.« Daart schluckte hart. Die Luft wurde zunehmend trockener und wärmer und schmerzte in seinen Lungen, und in seinem Mund war der bittere, metallische Geschmack von Überanstrengung und Blut. Aber das allein war es nicht. Es war das Bild des toten Jungen, das ohne Vorwarnung vor ihm aufgetaucht war, beinahe so, als läge er mit gebrochenen Augen vor ihm in dem schmalen Gang. »Jetzt müssen wir die Bibliothek nur noch finden«, sagte der Älteste. »Ich bin überzeugt davon, dass wir dort auf den Hinweis stoßen werden, nach dem ich suche.« »Was für einen Hinweis?«, fragte Daart. »Nun, der Aufstand, von dem ich erzählte …« Der Älteste musste sich mehrfach räuspern, bevor er weitersprechen konnte, was ihn aber nicht daran hinderte, während dieser Zeit unverdrossen voranzukriechen. »Er wurde nicht durch einen Kampf im herkömmlichen Sinne beendet. Um die Männer wieder zur Vernunft zu bringen, wie es in den alten Schriften heißt …« »Die Männer?«, unterbrach ihn Daart ungläubig. »Ja, die Männer.« Die Stimme des Ältesten war mittlerweile so heiser, dass Daart ihn kaum noch verstehen 319
konnte, und trotzdem hörte er ihm angespannt zu. Alles war besser, als an die Unmengen von Gestein zu denken, die sie umschlossen und jederzeit nachgeben konnten; ganz zu schweigen von der Hitze und der schlechten, staubigen Luft, die jeden Atemzug zur Qual werden ließ. »Die Männer der Drachenreiterinnen waren kaum mehr als Domestiken, notwendig, um den Fortbestand zu sichern und allerlei lästige Verrichtungen zu erledigen. Irgendwann wollten sie sich damit nicht mehr zufrieden geben. Es kam zum Aufstand.« »Den die Männer zu gewinnen drohten?« »Vielleicht. Aber viel gefährlicher war, dass sie Kontakt zu den Guhulan suchten, die schon seit Jahrhunderten ein begehrliches Auge auf die Drachenhöhlen geworfen hatten …« Daart war einen Moment unaufmerksam und schlug mit dem Kopf gegen einen Felsvorsprung. Es gab ein hässliches, dumpfes Geräusch, und er stöhnte auf, gefolgt von einem zweiten Aufprall, diesmal mit der Schulter gegen die Wand, als er versuchte, seinen Kopf einzuziehen. »Kannst du noch?«, fragte der Älteste besorgt. »Ob ich noch kann?«, fragte Daart ungläubig. Wenn ihn Carnac das gefragt hätte, hätte er es noch verstanden – aber diese Frage aus dem Munde eines uralten Mannes in einem Tonfall zu hören, als sei er viel besser in Form als er selbst, ging ihm doch ein bisschen zu weit. Und trotzdem: Wenn er ehrlich war, dann musste er sich eingestehen, dass er langsam an die Grenze seiner Möglichkeiten kam. Im Vergleich zu Thross war er viel zu breit und ungelenk, um es auch nur annähernd selbst 320
mit dem ungeschicktesten aller Creeper aufnehmen zu können. »Es hängt davon ab, ob der Gang noch wesentlich enger wird«, sagte er schließlich. »Ja, das tut es wohl.« Der Älteste wandte wieder den Kopf, was er sehr langsam und bedächtig tun musste, um seine Wange nicht an der Wand zu zerschrammen. »Es wird langsam ungemütlich.« »Und was heißt das?« »Es heißt, dass wir uns auf unser Glück verlassen müssen.« Der Älteste kroch weiter. »Irgendwo hier muss ein Abzweig kommen, eine Öffnung, irgendetwas, das uns aus diesem Gang bringt.« »Wisst Ihr das oder glaubt Ihr das?«, fragte Daart, während er sich ebenfalls weiterschob, langsamer und vorsichtiger als zuvor. »Ich hoffe es, mein Junge«, antwortete der Älteste. »Denn die alten Schriften strotzen in diesem Punkt nicht gerade vor Präzision. Es hieß nur, dass kein ausgewachsener Mann je wieder den Fuß in die geheime Bibliothek der Drachenreiterinnen setzen könne. Stattdessen solle es der zierlichsten unter ihnen überlassen bleiben, sich durch den verborgenen Zugang wie eine Schlange zu winden, an hitzigen Stellen der Mutter Erde vorbei und mit der frischen Luft Tausender von Drachen gegen den Pesthauch gewappnet, der hier aus dem Schoß der Höhle strömt.« »Eine ziemlich gute Ortsbeschreibung.« »Ja«, bestätigte der Älteste. »Nur von den Fallen habe ich noch nichts gesehen, vor denen die alten Schriften so blumenreich warnen.« 321
»Fallen?«, ächzte Daart. »Was denn für Fallen?« »Glaube mir, mein Junge«, sagte der Älteste, »das willst du gar nicht wissen.« Das war für eine ganze Weile das Letzte, was er sagte, auch wenn Daart mehrmals nachfragte. Sie krochen beharrlich weiter, fürchterlich langsam zwar, aber immerhin stetig und ohne eine weitere Pause zu machen. Daart wurde immer mulmiger zumute. Das, was er für schlechte Luft gehalten hatte und jetzt höchstens zwanzig, dreißig Schritte hinter ihm lag, kam ihm mittlerweile wie eine frische Seebrise vor im Vergleich zu dem, was ihn jetzt umwaberte. So sehr er sich auch bemühte, ruhig Luft zu holen, wurde sein Atem doch immer schneller und flacher. Er durfte gar nicht daran denken, was er machen sollte, wenn sich der Gang noch weiter verengte oder ihnen ein herabhängendes Glutnest den Weg versperrte. Umdrehen war unmöglich, und rückwärts zu kriechen ein kräftezehrendes Abenteuer, an das er erst gar nicht denken wollte. Der Älteste musste sich immer öfter an zwar nicht rot glühenden, dafür aber scharfkantigen Vorsprüngen vorbeiquetschen und seinen Körper verbiegen, um überhaupt noch weiterzukommen. Daart hatte den Vorteil, dass er sich an seinen gelungenen oder auch missglückten Ausweichbewegungen orientieren konnte. Trotzdem begann er langsam hinter dem Ältesten zurückzufallen. Die Wunde an seiner Hand war mittlerweile wieder aufgeplatzt, sodass er einen roten Abdruck an der Wand hinterließ, und seine Lungen schmerzten, als atme er nicht Luft, sondern flüssiges Eisen. Schließlich wurde der Älteste langsamer, drückte sich 322
um eine Biegung herum – und verhielt dann mitten in der Bewegung. Er keuchte wie ein Fisch, der an Land gespült worden war, was Daart allerdings kaum hörte, und schließlich rang er genauso laut und verzweifelt um Luft. »So«, stieß der Älteste schließlich hervor. »Da wären wir.« »Haben wir … unser Ziel … erreicht?« »Nein«, keuchte der Älteste. »Aber den Punkt, ab dem nur noch ein Creeper weiterkommt.« »Was … was suchen wir hier … überhaupt?« »Die Lösung unserer Probleme.« Der Älteste wollte weiterreden, aber dann fing er an zu husten, erst einoder zweimal, dann heftiger und rauer, bis sein ganzer Körper durchgeschüttelt wurde, so weit es das Steingrab zuließ, in das sie sich selbst hineingewunden hatten. Auch Daart spürte den Staub in der Kehle und einen Hustenreiz, der ihn genauso durchgeschüttelt hätte wie den Ältesten, hätte er ihm nachgegeben. Tränen stiegen ihm in die Augen, als er gegen das Kratzen in seiner Kehle ankämpfte, und eine feuchte Spur lief seine Wange hinab. Ein heißes, stickiges Grab, das war es, in das der Älteste sie geführt hatte. Wenn sie es nicht schafften, hier rückwärts wieder herauszukriechen, wenn sie stecken blieben und zuließen, dass ihnen der Staub die Atemwege verklebte und Hustenkrämpfe sie bewegungsunfähig machten, würden sie auf eine viel jämmerlichere Art untergehen als Quarterma und ihre Drachenkriegerinnen bei dem Versuch, Nubinas weit überlegenem Heer zu trotzen. Der Husten des Ältesten endete in einem erstickten 323
Laut. Es klang nicht nur nach einem Keuchen, es war auch Überraschung darin. »Ich habe ja gewusst«, würgte er kaum hörbar hervor, »dass uns die Götter nicht im Stich lassen.« »Warum?«, krächzte Daart. »Weil sie uns ein Grab aus tonnenschwerem Gestein spendieren?« »Weil sie uns den rechten Weg weisen«, widersprach der Älteste. »Ich muss nur noch ein Stück weiterkommen. Ein kleines Stück. Vielleicht zwei Schritte weit. Vielleicht auch drei.« »Und dann was?«, fragte Daart. »Dann könnte es sein … ich bin mir nicht ganz … ganz sicher …« Der Älteste kämpfte offenbar erneut gegen einen Hustenanfall an, aber diesmal schien er nicht gewillt zu sein, ihn gewinnen zu lassen. »Eine Entfernung von zwei, drei Schritten«, überlegte Daart laut, »das ist unter den Bedingungen hier unten eine gewaltige Entfernung.« »Für unsereins … schon.« Der Älteste wand sich wie eine Schlange, und langsam, kaum merklich, kam er frei. Obwohl es noch immer nicht vollkommen dunkel war, konnte ihn Daart nur als Schemen erkennen, denn ihrer beider Körper versperrten die Röhre fast vollständig, sodass nur durch wenige Ritzen Licht drang. »Was ist denn da … vor uns?«, fragte Daart. »Hoffentlich etwas, das sich öffnen lässt«, murmelte der Älteste. »Denn zurück können wir nicht mehr.« »Warum nicht?« »Weil wir uns durch den Gang gepresst haben, wie ein Korken in eine Flasche gedrückt wird«, antwortete der Älteste. »Ohne Korkenzieher ist da nicht viel zu 324
machen. Und ich bin nicht gerade erpicht darauf, erst durchbohrt und dann zurückgezogen zu werden.« Seine letzten Worte gingen in einem Donnern und Poltern unter, und dann gab der Boden unter ihnen nach.
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3 Dass eine Falle etwas mit einem Fall in eine schier unendliche Tiefe zu tun haben könnte, begriff Daart erst, als er bereits ein ganzes Stück herabgestürzt war. Er schrammte mit seiner Schulter an einer Wand entlang, bevor er zur Seite prallte und herumgerissen wurde. In beängstigender Schräglage schoss er in einer fast glatt polierten Röhre herab. Ein bläuliches Leuchten drang aus den Wänden hervor, diffus und von merkwürdiger, fast stofflicher Beschaffenheit. Es schien den vor ihm herabstürzenden alten Mann wie eine geisterhafte Aura zu umwabern und an seinen wehenden Haaren zu haften; widernatürlich und Daart an etwas erinnernd, was er in Eternity, der verschollenen Stadt der Alten, erlebt hatte. »Vorsicht!«, schrie der Älteste vor ihm. »Der Tanz der Messer!« Daart kam nicht dazu nachzufragen, was er damit meinte, ja, er kam nicht einmal mehr dazu, sich diese Frage in Gedanken zu stellen. Vor ihm blitzte etwas in dem bläulichen Licht auf. Eine scharfe Messerklinge, auf die er zusauste. Daart schrie auf und riss erst die Beine und dann den ganzen Körper so weit zur Seite, wie es nur ging. Die Klinge schnappte wieder zurück, verschwand in der Wand, doch eine zweite, größere, schoss aus der gegenüberliegenden Seite hervor, mitten in die Richtung hinein, in die er sich gerade geworfen hatte. Daart rea326
gierte instinktiv, mit all der Schnelligkeit und Geschicklichkeit, die er immer und immer wieder schweißtreibend trainiert hatte. Seine Beine fuhren hoch, die Klinge zischte zwischen ihnen durch und auf seinen Unterkörper zu. Daart ließ sich kurz hochschnellen, zog Brust und Oberkörper nach und hüpfte geradezu über die scharfe Messerspitze hinweg – fast, jedenfalls, denn etwas ritzte sein Gesäß und streifte kurz darauf seinen Hals. Der Tanz der Messer. Daart brauchte keine Erklärung mehr, was das bedeutete. Die nächste Klinge schnellte aus dem blauen Leuchten hervor, und wieder konnte er nur im letzten Augenblick ausweichen, knallte dafür mit dem Kopf gegen die Wand. Der Älteste war irgendwo unter ihm, kämpfte ebenso verzweifelt wie er selbst gegen die aus der Wand schnellenden Klingen; ein huschender Schemen, der sich vor Daarts Augen immer wieder aufzulösen und kurz darauf zu stabilisieren schien. Daart versuchte den Tanz der Messer vorauszuahnen, ein System dahinter zu erkennen, irgendetwas, was es ihm erleichterte, den Klingen auszuweichen, bevor sie ihm gefährlich werden konnten. Wäre die Röhre so eng wie der Gang gewesen, durch den sie sich gerade geschleppt hatten, er hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt, sie lebend hinter sich zu bringen; er wäre zersäbelt worden, bevor er nur richtig begriffen hätte, wie ihm geschah. Aber auch so war es mehr als einmal eng, sehr eng. Eine kleine, fast harmlos aussehende Metallspitze stach aus der Wand hervor und in seine Wade, noch bevor er das Bein auch nur ein kleines Stück weit hatte 327
anziehen können. Er schlug mit beiden Fäusten gegen die Wand, um sich in eine andere Richtung abzustoßen. Und doch war er zu langsam. Das kleine metallische Etwas war nur der Vorbote eines viel größeren Dolches, der ihm nachsetzte, wie von der Hand eines kampferprobten Kriegers gestoßen. Daart machte eine scharfe Kehrtwendung, knallte mit Kopf und Oberkörper gegen die Röhrenwand und schrappte mit der Nase ein Stück weiter, haarscharf an dem Dolch vorbei – und gleich auf das nächste Messer zu. Seine Füße und Hände reagierten wie eigenständige Lebewesen, hämmerten mit aller Kraft gegen die vorbeisausende Röhrenwand, katapultierten ihn regelrecht auf die andere Seite. Diesmal war es nicht knapp, diesmal war es im wahrsten Sinne des Wortes haarscharf. Die Schneide zischte so dicht an seinem Auge vorbei, dass sie beinahe in seine Hornhaut schnitt und ein paar Wimpern abtrennte. Daart polterte zwischen den Röhrenwänden hin und her, bis es ihm wieder halbwegs gelang, seine Körperdrehung auszugleichen. Den nächsten Klingen auszuweichen war ein Albtraum schnell zuckender, kaum wahrnehmbarer Messerstöße und Ausweichmanöver. Daart dachte nichts mehr, er handelte nur noch, stieß sich von der einen in die andere Richtung, riss Arme und Beine herum, versuchte über allem seinen Oberkörper und seinen Kopf zu schützen. Die Röhre veränderte sich, wurde ein Stück schmäler – was Daart in solche Bedrängnis brachte, dass er zwei-, dreimal nicht vollständig ausweichen konnte und ein paar Schnitte abbekam, ohne sie in dem wilden Messertanz mehr als nur 328
flüchtig registrieren zu können. Dann wurde sie wieder breiter und flachte sich schließlich ab. Ihm blieb keine Zeit zum Aufatmen. Ein scharf gebogenes Etwas mit scharfen Zacken, dazu geeignet, selbst einem Groll mit einem einzigen Schnitt die Kehle durchzuschneiden, jagte heran, und Daart verrenkte sich beinahe bei dem Versuch, sich blitzschnell zur Seite zu drehen und die Beine nahe genug an die gegenüberliegende Röhrenwand zu bringen, um nicht in zwei Hälften zerteilt zu werden. Kaum war er an der Zackenklinge vorbei, erwartete er, es erneut aufblitzen zu sehen, aus welcher Richtung auch immer. Doch er wurde enttäuscht. Nach dem Tanz der Messer gab es Prügel. Schwarz lackierte Stöcke schossen aus der Wand hervor, einer rechts, einer links, und genauso wurde Daart auch getroffen, erst rechts und dann links. Er war immer noch viel zu schnell, um dem Prügelhagel zu entgehen, in den er hineindonnerte. Nach zwei, drei weiteren harten Treffern – davon einer gegen die Stirn, der seinen Kopf herumriss und für den Hauch eines Augenblicks finstere Schwärze über ihn senkte – begriff er das System, nach dem die Stöcke hervorschnellten. Er nahm einen weiteren Treffer gegen die Schulter in Kauf, schwang rechtzeitig vor dem nächsten schwarzen Stock zur Seite, bemüht, auch bei der nächsten Attacke vor allem seinen Kopf zu schützen. Ein einziger schwerer Kopftreffer, und er wäre erledigt. Aber dazu kam es nicht mehr. Einigermaßen gebremst durch eine leichte Krümmung, aber auch durch die Prügel, die er hatte einstecken müssen, rauschte er auf eine Öffnung zu. Dahinter war nichts, jedenfalls 329
nichts, was er erkennen konnte. Der Älteste war längst aus seinem Sichtfeld verschwunden, wahrscheinlich schwer verletzt, möglicherweise tot und bis zur Unkenntlichkeit durch unzählige Messerschnitte und Stocktreffer erschlagen. Jedenfalls war er in dem fast weißen Licht verschwunden, in das Daart nun mit immer noch beachtlicher Geschwindigkeit hineinjagte … Dann war er über den Rand hinweg. Unter ihm war nichts. Er stürzte in weiße, unfassbare Leere, versuchte noch im Fallen seinen Körper zu drehen, um wenigstens nicht mit dem Rücken auf dem aufzuschlagen, was kommen musste … Es gelang ihm nicht mehr. Der Aufprall erfolgte viel schneller, als er geglaubt hatte, und er war auch ganz anders. Er hatte sich darauf eingestellt, erbarmungslos zusammengestaucht zu werden, seine eigenen Knochen splittern zu hören, kurz darauf das Bewusstsein zu verlieren. Aber nichts von alledem war der Fall. Er fiel wie durch eine weiche Wolkenschicht, schlug nicht auf, sondern glitt eher in etwas Weiches, Nachgiebiges, bevor er sachte gebremst wurde und der Sturz mit einem sanften Aufprall endete. Er lag auf einem Stapel sich erstaunlich weich und nachgiebig anfühlender Matten, und es schoss ihm nichts Besseres durch den Kopf als die Erinnerung an eines der weichsten Betten, in denen er je gelegen hatte, mit dem Kopf einer schönen Frau auf seiner Brust … Die Erinnerung zerplatzte. Er war verletzt, und wenn er auch keine Schmerzen spürte – dazu war er noch viel zu aufgewühlt –, wusste er doch, dass ihm durch die zahl330
reichen Messerschnitte ein nicht ungefährlicher Blutverlust drohte. Sein Herz hämmerte laut und schmerzhaft, um ihn kampfbereit zu halten. Aber zumindest vorerst stürzte sich nichts und niemand auf ihn, und auch irgendeine neue Art selbsttätig ablaufender Angriffe unterblieb. Schließlich stemmte er sich von den Matten hoch. Sie waren so nachgiebig, dass er mehr als einmal zurückfederte, bevor es ihm gelang, erst einen und dann den zweiten Fuß über ihren Rand zu setzen und sich aufzurichten. Das Licht, das von oben aus der Röhre strömte, fiel nur eng begrenzt auf die Matten und durchtränkte sie an dieser Stelle mit ihrem Blau. Aber das war nicht die einzige Lichtquelle. Weit über ihm, gegenüber der Röhre, fiel das fast weiße Licht ein, das er gesehen hatte. Vielleicht war dort ein Schacht, der ins Freie führte, vielleicht aber auch etwas ganz anderes. Daart ahnte, was das alles zu bedeuten hatte. Er befand sich in einer Anlage der Alten. In der Endphase ihres Kampfes gegen die Sternengeborenen hatten sie sich unter die Erde zurückgezogen, in das weitläufige Höhlensystem unterhalb des Schattengebirges genauso wie in die Anlage auf dem Grunde des Glutsees. Und offensichtlich war hier tief im Innern des Drachenturms eines ihrer geheimen Zentren gewesen. Irgendwann vor einer Zeit, die so lange her war, dass sie sich mit normalen menschlichen Zeitbegriffen gar nicht mehr fassen ließ, hatten sie Räume, Röhren und Gänge und wer weiß was sonst noch angelegt. Möglicherweise waren andere nach ihnen ebenfalls fleißig mit Umbau- und Gestaltungsarbeiten der tief in den Stein gegrabenen Anlage beschäftigt 331
gewesen. Aber das änderte nichts daran, dass er sich hier noch auf einige Überraschungen gefasst machen konnte. Die Alten hatten nicht nur unvorstellbar langlebige Bauten und Einrichtungen im Untergrund Enwors geschaffen, wohl dazu gedacht, mehr als nur eine Katastrophe zu überstehen, sondern auch ausgeklügelte Schutzmechanismen ersonnen, um unwillkommenen Eindringlingen einen heißen Empfang zu bescheren. Wie auch immer: Es war alles andere als hell hier unten, und er hatte ernsthafte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Seine Augenlider brannten und schienen geschwollen, und der trübe Schleier vor seinen Augen wollte sich einfach nicht wegblinzeln lassen. Das ganz leise, schwach verhallte Echo seiner Atemzüge verriet ihm, dass er sich in einem großen, vielleicht sogar sehr großen Raum befand. Er atmete ein paar Mal bewusst ein, sog die Luft tief in seine Lungen, so abgestanden und metallisch schmeckend sie auch sein mochte, wandte den Kopf in die andere Richtung – und sah sich großen, dunklen, massigen Schemen gegenüber. Sein immer noch heftig schlagendes Herz machte einen Satz bis in die Kehle hinauf, als sich einer der Schemen bewegte. Kurz entschlossen machte Daart einen Schritt nach vorn, auf den Schemen zu. Es fiel ihm überraschend leicht. Nach all den harten Treffern, die er hatte einstecken müssen, hätte er sich eigentlich schwächer fühlen müssen. Das dachte er, bevor er einen weiteren Schritt in das hinein machen wollte, was sich mit grauen, düsteren Schatten in dem unübersichtlichen, sich scheinbar ins 332
Endlose erstreckenden Raum vor ihm auftat. Doch dann schlug die Schwäche so erbarmungslos zu, als wäre plötzlich Grobian hinter ihm aufgewacht, um ihm einen kräftigen Hieb auf die Schulter zu versetzen. Er ging zwar nicht gleich zu Boden, aber es hätte nicht viel gefehlt. Mühsam griff er nach dem Erstbesten, was er zu fassen bekam, und hielt sich daran fest. Es war ein Drachenkopf. Daart prallte zurück. Ein Schweißtropfen war in sein Auge geraten und ließ sein Lid flattern, bis er mit dem Handrücken darüberwischte. Erst dann konnte er genauer erkennen, was es mit dem Drachenkopf auf sich hatte. Es waren funkelnde Augen, die seinen Blick erwiderten. Aber es war kein Leben in ihnen. Zwei kindskopfgroße smaragdgrüne Edelsteine, die in Holz eingelassen waren, und ein Gebiss, das zwar weit aufgerissen war, aber in dem nicht Drachenhauer das spärliche Licht reflektierten, sondern eine in künstlicher Pose erstarrte Zahnformation gewaltigen Ausmaßes – das war es, was ihn hatte erschrecken lassen. Das und die Kopfform des Drachen, die ihn entfernt an die der Lederdrachen erinnerte, aber weit ausladender war und irgendwie … bedrohlicher wirkte. »Ein Frarr«, sagte eine Stimme hinter ihm. Daart wirbelte herum. Es war der Älteste, der hinter ihm stand, direkt neben dem Stapel Matten. Auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen, und über seinen rechten Handrücken lief eine frische Schnittwunde. Daart hatte erwartet, ihn tot oder zumindest zerschnitten, zerschlagen und kaum bei Bewusstsein vorzufinden. Aber der 333
Älteste sah aus, als hätte er nichts weiter als einen etwas anstrengenden Spaziergang hinter sich. »Ich bin einmal einem lebenden Frarr begegnet«, fuhr er fort. »Ein Erlebnis, das bleibende Spuren bei mir hinterlassen hat. Und mich übrigens zum ersten Mal darauf gebracht hat, dass die Macht des geschriebenen Wortes durchaus größer sein kann als die des Schwertes.« »Aha«, krächzte Daart. Er sah an sich herab. Sein Gewand war an mehreren Stellen zerschnitten oder zerfetzt, von seiner Brust und seinem rechten Bein liefen Blutfäden herab, und wenn er sich bewegte, fielen rote Sprenkel aus unzähligen Wunden auf den Boden. Seine linke Hand sah so blau, zerquetscht und breit getreten aus, als hätte Feuersturm auf ihr einen Freudentanz veranstaltet, und auch einige andere Körperstellen verunzierten durch die Stocktreffer verursachte Platzwunden. Und der Älteste sah aus, als hätte er kaum etwas abbekommen. Wie war das möglich? »Ich dachte damals, ich müsste mich unbedingt in den Besitz eines ganz bestimmten Buches bringen«, sagte der Älteste, ohne Daarts fassungslosen Blick mit einer Bemerkung zu quittieren. »Eines, das mir die Antworten auf all meine Fragen geben könnte. Zum Beispiel, wie sich die damalige Bedrohung Enwors durch eine gewaltige Netzkreatur in den Griff bekommen ließe. Aber dann, als mir endlich das Elfte Buch in die Hände fiel, wurde mir klar, dass es kein Buch geben kann, das alle Fragen beantwortet. Und das machte mich neugierig. Du glaubst gar nicht, welche Geheimnisse sich mir seitdem durch das Studium alter Bücher und Schriftstücke erschlossen haben.« 334
»Das ist ja sehr schön«, sagte Daart verzweifelt. »Aber wie kommt es …« »Dass ich noch keinen Weg gefunden habe, Nubina endgültig in die Schranken zu verweisen?« Der Älteste breitete die Hände aus, als wolle er den weit gestreckten, im Halbdunkel liegenden Raum segnen, wie Priester das mit ihren Heiligtümern taten. »Hier wartet ein neuer Schatz nur darauf, von mir geborgen zu werden. Ich würde einiges darum geben, mich in aller Ruhe hier umsehen zu können. So vielleicht für die nächsten zwei, drei Jahre. Vielleicht wäre ich nach dieser Zeitspanne in der Lage, eine unfehlbare Strategie gegen Nubinas und Zar’Torans Würgegriff zu entwickeln, mit dem sie Enwor die Luft zum Leben nehmen.« »Ja, aber …« »Du hast selbst mitbekommen, was sie anrichten«, unterbrach ihn der Älteste. »Unsterblichkeit wollen sie erreichen, und was tun sie? Sie spielen mit Kräften, denen sie nicht gewachsen sind. Es ist ihnen egal, dass deswegen das Wetter verrückt spielt und es zu Missernten kommt oder Kriege und Aufstände ganze Landschaften verwüsten.« »Ja«, sagte Daart mit einem Anflug schlechten Gewissens. Natürlich wusste er das. Aber wenn er ehrlich war, hatte er in den letzten Tagen kaum noch daran gedacht. Es war ihm alles so fremd und fern geworden, was mit seinem früheren Leben zu tun hatte und mit den Menschen, die ihm zuvor wichtig gewesen waren. Er und Carnac waren lebende Tote, beinahe vollends getötet durch das Schlangengift, das sie nach wie vor nicht aus ihrem Körper hatten verbannen können, und nur am 335
Leben erhalten durch ein Serum, das nicht heilte, sondern den endgültigen Verfall lediglich eine Zeit lang aufhielt. Er wollte nicht, dass er starb, und er wollte nicht, dass Carnac starb. So einfach war das. Was kümmerten ihn da die Menschen, die irgendwo anders verhungerten oder mit dem Schwert erschlagen wurden? »Ich sehe, dass dein Blick starr geworden ist und du kein Auge mehr hast für das, was um dich ist«, sagte der Älteste. »Das ist bedauerlich. Wenn du nicht wenigstens versuchst, die Zusammenhänge zu begreifen, die dich in diesem Moment ganz genau hierher geführt haben, dann wirst du versagen. Und Versagen bedeutet Tod. Nicht nur deinen, sondern auch den vieler anderer.« Der Älteste trat auf Daart zu und machte eine Bewegung, als wolle er ihn bei den Schultern packen. Doch dann ließ er die bereits erhobenen Hände wieder sinken. »Sieh dich an. Du bist Satai. Und doch haben dich die Messer übel zugerichtet, und genauso die Drachenknüppel. Du hast den Messertanz ohne Herz getanzt, du hast dich nicht hineinfinden können in den Rhythmus der Klingen, genauso wenig wie in den der Drachenknüppel.« »Ich war nicht auf sie vorbereitet so wie Ihr«, brummte Daart mürrisch. »Ja, das ist richtig«, antwortete der Älteste. »Ich wusste zwar genauso wenig wie du, dass mich hier ein Schlaggewitter von aus den Wänden schnellenden Knüppeln erwartete. Aber zumindest auf den Messertanz hatte ich in einem alten Pergament einen Hinweis gefunden.« 336
»Den Ihr durchaus an mich hättet weitergeben können«, murrte Daart. Der Älteste seufzte. »Es scheint ein Vorrecht der Jugend zu sein, das eigene Versagen Älteren in die Schuhe zu schieben. Aber jetzt genug davon. Uns bleiben nur noch wenige Stunden. Ich habe zwar schon eine einigermaßen klare Vorstellung davon, wie wir Nubinas Heer aufhalten können. Aber es fehlt mir noch die eine oder andere Einzelheit. Und über die muss ich mir im Klaren sein, bevor das Heer auf Pfeilschussweite herangerückt ist. Denn wenn es ihm gelänge, den Drachenturm zu besetzen – es wäre gar nicht auszudenken.« »Warum?« »Wegen der Geheimnisse, die hier verborgen sind.« Der Älteste packte Daart jetzt doch bei den Schultern und schob ihn ein Stück mit sich. »Und zwar handfesten Geheimnissen, übrigens, die dazu führen könnten, dass Nubina eine fürchterliche Waffe in die Hände fällt.« Er ließ Daart wieder los, um an ihm vorbeizugehen, auf den Drachenkopf zu und um ihn herum. Der Schatten dahinter entpuppte sich als lang gestreckter Körper mit einem angedeuteten Flügelpaar, und daneben … daneben und ein Stück nach hinten versetzt, glaubte Daart einen weiteren Drachen zu erkennen, und dann noch einen und noch einen, eine ganze Reihe, die sich weit entfernt in finsterer, erstickender Schwärze verlor. »Die Drachen wachen über das alte Wissen Kor’manas«, sagte der Älteste. »Auch wenn sie zu Stein erstarrt und nicht in der Lage sind, sich zu bewegen, sollte man sie nicht unterschätzen. Sie wissen ihre Geheimnisse durchaus zu schützen.« 337
»Lasst mich raten«, knurrte Daart. »Mit tanzenden Messern? Oder hervorschnellenden Knüppeln?« »Ich glaube kaum, dass sie es uns so einfach machen werden.« Der Älteste hatte mittlerweile den Drachenkopf erreicht und legte jetzt die Hand auf seine Wange, als wolle er ihn tätscheln. »Aber keine Sorge. Ich bin gut vorbereitet. Und deswegen glaube ich auch nicht, dass wir in wirklicher Gefahr sind.« Daart kniff die Augen zusammen. Die Schwäche, die ihn gepackt hatte, kehrte zurück. Der Älteste schien vor ihm zu verschwimmen, und nicht nur er, sondern auch der ganze Raum. Daart wich einen Schritt zurück, legte den Kopf schräg und beschattete die Augen mit der Hand, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Er war nicht ganz sicher, ob es ihm gelang. Im Hintergrund schien sich etwas zu bewegen, aber es mochte ebenso gut eine Täuschung sein, hervorgerufen durch das diffuse Licht, das alle Konturen zu verwischen schien, als löse sich die Welt hier unten auf, sodass die Dinge ineinander zu fließen begannen. Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, blinzelte ein paar Mal und sah erneut hin. Diesmal war er fast sicher, eine Bewegung in dem wogenden Grau wahrzunehmen. Aber die Entfernung war einfach zu groß, um Einzelheiten zu erkennen. Er schüttelte resignierend den Kopf, wandte sich wieder um und sah noch in der Drehung eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Es war der Drachenkopf. Er wogte hin und her, zerfloss und nahm wieder Kontur an, wie eine Fata Morgana, die Dinge vorgaukelte, die gar nicht da waren – und dann hörte Daart ein dumpfes Grollen aus dem 338
Maul des Drachen, und er glaubte zu sehen, wie er die Lefzen verzog, die Augen zusammenkniff und drohend die Stirn runzelte. Der Älteste machte einen hastigen Schritt zurück. »Mir scheint, ich habe doch nicht alles gelesen, was es über die versteinerten Drachen hier unten zu berichten gibt«, sagte er besorgt. Er wandte sich zu Daart um. »Aber keine Sorge. Was auch immer du zu sehen oder zu hören glaubst …« Diesmal glaubte Daart nicht nur ein Grollen zu hören, diesmal schnarrte, knarzte und donnerte es so laut, dass sowohl er als auch der Älteste zusammenzuckten – und dann riss der Frarr das Maul ein gutes Stück weiter auf und ließ ein bedrohliches Fauchen erklingen, das an eine überdimensionierte Katze erinnerte, die sich gerade eine Maus einverleiben wollte. »Wirklich erstaunlich«, stieß der Älteste hervor. Er packte Daart grob an der Schulter und zerrte ihn mit sich. »Ich glaube, es ist besser, erst noch ein paar alte Dokumente zu studieren, bevor wir uns näher mit den Drachen befassen …« Seine letzten Worte gingen in einem erneuten Fauchen unter, und dann riss der Frarr das Maul noch weiter auf, und das Licht brach sich auf seinen Zähnen, und es konnte nur noch einen Augenblick dauern, bis er sich von seinem Platz löste und angriff … »Das ist ja fast wie in alten Zeiten«, keuchte der Älteste. Er beschleunigte seine Schritte, und Daart blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er hatte keine Ahnung, was hier vorging. Der Drache war versteinert gewesen 339
und bar jeden Lebens, dessen war er ganz sicher. Es gab keine Magie, die steinerne Drachen zum Leben erwecken konnte. Also musste es etwas anderes sein. Aber was? Der Älteste stürmte auf einen Durchgang zu, und Daart tat es ihm gleich. Hinter ihm donnerte und grollte es, dann schien der Boden zu beben, und er wurde nach vorn geworfen. Mit beiden Händen stützte er sich an der Wand neben dem Durchgang ab, hinterließ rote Bluttupfer auf schwarzem Untergrund. Er sprang zurück, taumelte, korrigierte seine Richtung, um sich durch die Öffnung zu schieben … Und dann war er durch den Eingang hindurch, stolperte in die Höhle, die sich dahinter auftat, beleuchtet durch ein rotes Glühen, das aus unzähligen Stellen an den Wänden hervorbrach, Lava-Nasen gleich, die aus flüssig gewordenem Stein hervortropften. Eine Wand aus Hitze und stickiger Luft schlug ihm entgegen. Er stöhnte auf, unfähig, seine Umgebung anders als abschreckend und bedrohlich zu empfinden. Sein Blick glitt über das rote Glosen, die rauen, vielfach zerklüfteten Felswände, die schweren dunklen Regale, die teilweise eingeknickt, teilweise umgefallen und zerschlagen waren, teilweise aber noch beeindruckend wuchtig am gegenüberliegenden Ende der Höhle standen. Überall waren Bücher und Pergamente, auseinander gerissen, als sei ein fürchterlicher Sturm unter sie gefahren, manche angekokelt, andere wie mit einem scharfen Schwert zerteilt. Es war die Bibliothek, von der der Älteste gesprochen hatte. Sie war in einem unvorstellbar schlechten Zu340
stand, aber es gab sie tatsächlich; Daart hatte schon daran gezweifelt. Das allerdings war es nicht, was ihn erstarren ließ. Seine Knie zitterten, und für die Dauer eines Herzschlags wurde ihm so schwindlig, dass er beinahe fast nichts mehr erkennen konnte. Und dann begann sich die Höhle um ihn zu drehen, wie aus purer Barmherzigkeit, um ihm den Anblick möglichst lange zu ersparen, auf den er unter keinen Umständen hatte vorbereitet sein können. Die Gestalt, die am Boden gehockt hatte, erhob sich, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Daart nahm sie nur wie durch einen Tränenschleier wahr. Er wollte etwas sagen, aber die Stimme versagte ihm den Dienst. Dann knickte er endgültig in den Knien ein. Mit beiden Händen fing er den Sturz auf, und ein scharfer Schmerz jagte durch seine Arme. Er registrierte ihn kaum. Sein Blick versuchte nur die kleine, schmale Gestalt einzufangen, die sich ganz zu ihm umgedreht hatte. Er konnte es nicht glauben. Es war unmöglich, schlicht und einfach unmöglich. »Daart!« Die Stimme des Jungen klang vertraut. Und dann warf Thross das Buch achtlos weg und stürmte auf ihn zu.
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4 Daart starrte auf seine frisch bandagierte Hand hinab und dann auf den Beinverband, den ihm der Älteste aus Stofffetzen angelegt hatte, mit denen alte Papierrollen umwickelt gewesen waren. Erst dann wanderte sein Blick wieder zu dem Jungen hinüber, der sich mit untergeschlagenen Beinen nicht weit entfernt auf den Boden gehockt hatte. Es war ein schmerzliches Gefühl, ihn hier sitzen zu sehen. Die Erleichterung, Thross in dieser Bibliothek lebendig vorzufinden, war etwas anderem gewichen. Es war keine übersprudelnde Freude, die in ihm aufgestiegen war, sondern etwas Dunkles, Zweifelndes. Thross war tot. Das dort drüben musste ein Trugbild sein. Es war unmöglich, dass der Junge da hockte, elendig und blass, als sei er gerade von den Toten auferstanden! »Hier«, sagte Thross gerade. Er hatte den Finger auf eine bestimmte Stelle in dem Buch gelegt und beugte sich nun vor, um sie dem neben ihm sitzenden Ältesten zeigen zu können. »Das ist vielleicht etwas!« Der Älteste legte das Pergament zur Seite, in dem er gerade geblättert hatte, und nahm Thross das Buch ab. Daart achtete nicht auf ihn. Er hatte nur Augen für den Jungen. Thross fuhr sich durch das Haar und warf ihm einen scheuen Blick zu. Er war nicht nur blass, sondern schon fast fahl, und unter seinen Augen lagen tiefe Ringe. So 342
weit das möglich war, schien sein Gesicht noch schmaler und hagerer geworden zu sein. Daart hatte anfangs geargwöhnt, dass es jemand war, der Thross erstaunlich ähnlich sah und jetzt auf eine heimtückische Art seinen Platz eingenommen hatte. Aber das stimmte nicht, jedenfalls nicht, wenn er sich auf seine Augen und vor allem auf sein Gefühl verlassen konnte. Es war der Junge selbst, den Daart zuletzt tot am Boden hatte liegen sehen. Daart räusperte sich mühsam, und dann sprach er das eine Wort aus, das ihm die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte: »Wie?« »Wie was?«, fragte Thross zurück. Seine Stimme klang unsicher, und als er sich jetzt erneut durchs Haar fuhr, sah es aus, als wolle er damit einen störenden Gedanken wegwischen. »Wie kommt es«, Daart räusperte sich erneut, rang nach Worten und sprach dann doch aus, was ihm auf der Seele lag, »wie kommt es, dass du nicht tot bist?« Thross fuhr zusammen, ganz leicht und fast unmerklich, aber sein Blick flatterte plötzlich, und seine Hand fuhr wieder nach oben. Doch diesmal strich er sich nicht durch die Haare, diesmal verhielt er mitten in der Bewegung und starrte seine eigene Hand an, als sehe er sie zum ersten Mal. »Der Pfeil war vergiftet«, sagte er dann. Daart nickte. »Ja. Das hat Quarterma auch behauptet. Aber wie kann es dann sein, dass du mit dem Leben davongekommen bist?« »Ein Schlangengift.« Thross’ Blick flackerte. »Nicht das Gift einer Blutschlange. Von irgendeiner anderen, 343
sehr seltenen Sorte. Es wirkt sofort, und man fällt dann in eine Art Totenstarre. Ich kenne mich nicht damit aus. Aber Quarterma.« »Aha.« Hinter Daarts Stirn rasten die Gedanken. »Du und Quarterma – ihr kanntet euch also schon vorher?« »Was?« Der Junge sah fast erschrocken auf. »Nein. Natürlich nicht.« »Aber dieser Bogenschuss«, in Daarts Stimme schlich sich ein unangenehmer Unterton ein, »der mit dem vergifteten Pfeil. Der war kein Zufall, oder?« »Nein, wohl nicht«, antwortete Thross unglücklich. »Ich weiß aber … auch nicht genau …« »Quäl den Jungen nicht.« Der Älteste sah kurz von dem Buch auf und lächelte humorlos. »Es gibt Dinge, in die muss man alle einweihen, um Erfolg zu haben. Und andere, da muss man genau umgekehrt verfahren.« »Also ist es ein Geheimnis«, sagte Daart böse. »Eines von der Sorte, in das man zwar kleine Jungen, aber keine Satai einweiht.« »So spricht vielleicht ein kleiner Junge, aber kein Satai«, antwortete der Älteste ruhig. »Was soll das heißen?«, fragte Daart scharf. »Ich denke, das weißt du genau.« Der Älteste sah Daart geradewegs in die Augen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in diese uralten und doch fast zeitlos wirkenden Augen zu blicken. In ihnen war kein Vorwurf, eher so etwas wie die Wachsamkeit eines Raubtiers, das keinen Schritt seines Gegenübers unbeobachtet lässt. »Du legst ein sprunghaftes Verhalten an den Tag. Nicht, wenn es angebracht wäre – zum Beispiel, wenn du aus einer Röhre herausjagst und du dich auf eine rein kör344
perliche Art des Springens konzentrieren müsstest –, sondern dann, wenn es absolut fehl am Platz ist.« »Ich verstehe nicht ganz, was das jetzt soll.« Daart unterdrückte nur mit Mühe den Impuls aufzuspringen und auf und ab zu laufen. Es hätte nur das Vorurteil des Ältesten bestätigt. »Ich habe doch wohl ein Recht darauf zu erfahren, was mit Thross passiert ist.« »Ja«, bestätigte der Älteste. »Aber vielleicht wäre es besser, wenn du nicht auf diesem Recht beharren würdest.« »Und warum sollte ich das nicht?«, fragte Daart finster. »Weil du Dinge erfahren könntest, die mehr als unangenehm sind«, antwortete der Älteste prompt. Daart wandte sich an Thross. »Siehst du das auch so?« »Ich … ich weiß nicht«, stammelte der Junge unglücklich. »Es ging mir tagelang sehr schlecht. Eine Drachenreiterin hat mich in der Schädelhöhle gepflegt. Aber ich habe kaum etwas davon mitbekommen. Sie hat mir gesagt, dass ich so gut wie tot gewesen wäre und dass alle anderen bereits zum Drachenturm aufgebrochen wären und sie nur wegen mir zurückgeblieben sei. Und dann … dann …« Er brach ab, und es hätte wohl nicht viel gefehlt, und er hätte geschluchzt. Daart hatte den Jungen noch nie so erlebt. So schwach und verletzlich. Aber auch so voller Entsetzen über das, was er nicht auszusprechen wagte. Siehst du, wohin das führt?, meldete sich seine innere Stimme zu Wort. Sie versuchen dich verrückt zu machen. Erst gaukeln sie dir vor, der Junge sei tot. Und dann lassen sie ihn Vorwürfe gegen dich erheben. 345
»Welche Vorwürfe?«, fragte Daart laut. Thross blinzelte nervös. »Bitte?« »Ich meine, was für Vorwürfe willst du mir machen?«, setzte Daart nach. »Es reicht«, fuhr der Älteste dazwischen. »Du hast dem Jungen schon genug angetan.« »Ich?« Daart wandte den Kopf ruckartig in Richtung des alten Mannes. »Was wollt Ihr damit sagen? Dass ich es war, der auf den perfiden Plan kam, einen Pfeil auf Thross abschießen zu lassen? Oder dass ich ihn vorher mit Schlangengift tränkte, damit er wie tot von Grobians Schultern fiel? Er hätte sich dabei den Hals brechen können!« »Die Wut vernebelt deinen Verstand«, sagte der Älteste. »Die Wut und das, was in dir ist.« »Was …« »Nicht in diesem Ton, und nicht hier«, unterbrach ihn der Älteste schroff. Er erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung, die eher einem jungen trainierten Mann angemessen war als jemandem, dessen Gesicht und Schultern schlohweißes Haar umspielte. »Komm mit. Ich habe mit dir zu reden.« Er wartete Daarts Antwort erst gar nicht ab, sondern umklammerte sein Buch und ging damit auf die Mitte des Raumes zu, in der Bücher und Pergamente kreuz und quer verstreut lagen, und dazu noch anderer Unrat, abgebrochene Stuhlbeine, schiefe Bilderrahmen, zertrümmerte Überreste von Skulpturen. Seine Füße hinterließen in der dicken Staubschicht Spuren, als ob er in Pulverschnee träte. »Du weißt doch längst, was passiert ist«, sagte er leise, kaum dass sie außerhalb von Thross’ 346
Hörweite waren. »Dich gegen die Folgen zu wehren, heißt alles nur schlimmer zu machen.« »Ich verstehe nicht im Geringsten, was Ihr damit meint«, sagte Daart steif. Doch das stimmte nicht ganz. Ein furchtbarer Verdacht begann in ihm Gestalt anzunehmen. »Also gut.« Der Älteste ging in die Hocke und legte das Buch beiseite. »Das hier ist ein Pfeil«, er malte einen Strich mit der dazugehörigen Pfeilspitze in die dicke Staubschicht. »Und das hier ein Puffer, eine Art Scheibe, direkt hinter der eigentlichen Pfeilspitze.« Er zeichnete sie mit einem kleinen Strich hinter der Pfeilspitze ein. »Die Kunst des Pfeilschnitzers besteht darin, diese Scheibe aus einem Material herzustellen, das einerseits fest genug ist, um dem Aufprall des Pfeils die ärgste Wucht zu nehmen und zu verhindern, dass er tief ins Fleisch des Getroffenen eindringt, und ihn andererseits so fragil zu gestalten, dass er dabei seine ganze Energie aufzehrt und in sich zusammenfällt.« »Der krybanische Pfeiltrick«, sagte Daart tonlos. Er hatte davon gehört, nicht bei den Satai, sondern kurz zuvor, als er von den Guhulan aufgebrochen war und sich in einer kalten Nacht am Feuer eines malabesischen Händlers gewärmt hatte. »Wenn es richtig gemacht wird, zerbröselt das Material der Scheibe so vollständig, dass kaum noch Spuren übrig bleiben.« »Richtig.« Der Älteste richtete sich wieder auf und klopfte sich den Staub von den Händen. »Das ist der Vorteil unserer Gemeinschaft in den Höhlen unterhalb der Schattenberge. Es gibt kaum ein Volk, das dort nicht vertreten ist. Und zu unserem Glück ist vor ein paar 347
Jahren auch ein krybanischer Pfeilschnitzer zu uns gestoßen.« »Nein«, sagte Daart entsetzt, als er begriff, was das hieß. »Doch«, antwortete der Älteste. »Und fast möchte ich sagen: leider.« »Dann … dann hat die Bogenschützin …« »In meinem und Quartermas Auftrag gehandelt, ja.« Die Augen des Ältesten verdunkelten sich. »Ramara war die beste Bogenschützin unter den Drachenreiterinnen. Sie konnte Pfeile aus großer Entfernung von ihrem Drachen aus auf ihre Feinde herabregnen lassen, und jeder noch so hastige Schuss war ein Volltreffer.« Daart spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. »Das … das … das kann doch nicht sein.« Er sah sich auf Ramara zugehen, er spürte den Zorn über Thross’ Tod in sich, diese brodelnde, urgewaltige Kraft, die aus ihm herausdrängte, die töten und vernichten wollte, was immer ihr in den Weg kam … und dann war da plötzlich Blut, roter Lebenssaft, der aus ihrem Hals sprudelte, und das Entsetzen in den Augen der anderen Drachenreiterinnen, die zurücksprangen, ihre Waffen hochrissen, und der kalte, böse Stoß in ihm, die Genugtuung, getan zu haben, was getan werden musste. Er hätte am liebsten aufgeschrien vor Entsetzen. Stattdessen ballte er nur die Fäuste. Er merkte kaum, dass der Verband, den der Älteste sorgfältig um seine rechte Hand gewickelt hatte, aufriss, dass Blut aus der zerschlagenen, malträtierten Hand floss und in dicken roten Tropfen auf die grauweiße Staubschicht fiel. 348
»Warum …«, stöhnte er. »Warum habt Ihr mich nur nicht in Euren Plan eingeweiht?« »Das hätten wir tun können«, sagte der Älteste, »aber was hättest du dann getan?« Alles in Daart versteifte sich. Was hättest du dann getan … Der Satz echote in seinem Kopf herum. Ja, was hättest du dann getan, griff seine innere Stimme den Satz auf. »Nichts hätte ich getan«, brach es aus Daart hervor. »Überhaupt nichts.« »Wir haben so wenig Menschen wie nur möglich eingeweiht«, fuhr der Älteste fort. »Es gibt mindestens eine Drachenreiterin, die mit Zar’Toran in Verbindung steht. Wir wissen nicht, welche es ist. Wir wissen aber mit Sicherheit, dass sie den Guhulan melden sollte, wenn Thross auftaucht. Oder du. Oder Carnac.« »Aber … wozu?«, fragte Daart tonlos. Sein Blick wanderte an den herausgerissenen Buchseiten, den zerknickten, besudelten Pergamenten und halb verkohlten Buchrücken vorbei zu den wuchtigen Regalen im Hintergrund des Raumes. Was auch immer hier gewütet hatte, war nicht bis dorthin vorgedrungen. Die Bücher in den Regalen standen so sauber aufgereiht da, dass man meinen könnte, sie wären gerade erst frisch einsortiert worden. Dabei waren sie von einer unberührten Staubschicht umgeben, die bewies, dass hier schon seit Ewigkeiten niemand mehr gewesen war. »Der Frarr in der Drachenhalle«, sagte der Älteste, dem sein Blick nicht entgangen war, »und seine erstarrten Brüder und Schwestern – sie mögen bedrohlich wirken. Aber sie sind harmlos im Vergleich zu dem, was sich in diesen Regalen verbirgt. Es sind Bücher aus allen 349
Gegenden Enwors dabei, zusammengetragen in einer Zeit, in der die allgemeine Hatz auf Drachen noch nicht eingesetzt hatte. Die Errish herrschten damals in Elay, und wenn sie sich auf ihren riesigen Daktylen in die Luft erhoben, war das jedes Mal eine reine Demonstration ihrer Macht. Sie mögen geglaubt haben, dass es ewig so weitergeht. Sie verfügten über Waffen, die mit einem schmalen Blitzstrahl aus der Ferne töten konnten, und wer sich gegen sie stellte, musste entweder verrückt oder größenwahnsinnig sein.« »Die Errish, ja«, murmelte Daart. Er war mit den Gedanken ganz woanders. Bei Ramara, der Bogenschützin, die Thross mit einer Finte hatte retten wollen und der er es gedankt hatte, indem er sie bestialisch abgeschlachtet hatte. »Es waren nicht die Daktylen, denen sie ihre Macht verdankten.« Der Älteste trat ein paar Schritte vor, ging in die Hocke und griff nach einem Pergament. Es zerbröselte ihm zwischen den Fingern. »Es waren auch nicht die Scanner, die sie mit so viel Geschick einzusetzen verstanden. Sie waren im Besitz uralten Wissens, das sie allen anderen überlegen machte. Und einen Teil dieses Wissens hatten sie hier in dieser geheimen Bibliothek in Sicherheit gebracht.« Das ist nicht alles, sagte Daarts innere Stimme. Hier ist noch mehr. Viel mehr. »Das ist nicht alles«, sagte der Älteste. »Hier ist noch mehr. Viel mehr.« Daart erstarrte. Er hatte es noch nie erlebt, dass jemand wiederholte, was ihm die innere Stimme einzuflüstern versuchte. Es war aberwitzig und verrückt. 350
Aber vielleicht war es ja so, dass er dabei war, verrückt zu werden … Der Älteste drehte sich zu ihm um. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Es spiegelte sich plötzlich Besorgnis darin. »Du spürst es auch, nicht wahr?« »Was?«, fragte Daart heiser. »Die Anwesenheit der alten Macht.« Der Älteste winkte ab, als Daart etwas sagen wollte. »Du brauchst es mir nicht zu erklären. Natürlich spürst du es. Schließlich trägst du ihr Erbe in dir.« »Ich … verstehe nicht.« Daart würgte die Sätze fast hervor. Natürlich verstand er, was der Älteste meinte. Den Grund dafür, dass er sein Schwert gepackt und der Bogenschützin den Kopf abgeschlagen hatte. Der Grund für die Veränderungen, die eingesetzt hatten, nachdem sie den Glutsee verlassen hatten. Der Grund für all das, was aus ihm hervorbrechen wollte. »Nubina lässt dich an einer ganz langen Leine laufen«, sagte der Älteste. »Du glaubst, du hättest sie abgeschüttelt – und dass du jetzt der Jäger bist und sie die Gejagte?« »Nein. Ja. Das heißt …« Daart brach ab. Er wusste selbst nicht mehr, was er denken sollte. »Natürlich bin ich hinter Nubina her. Genauso wie Carnac. Wir alle zusammen müssen sie aufhalten.« »Selbstverständlich. Und das werden wir auch.« Der Älteste wandte sich wieder ab. Aber er hatte Daart vorher noch einen prüfenden Blick zugeworfen, in dem etwas gelegen hatte, was Daart ganz und gar nicht gefiel. Vielleicht lag es nur daran, dass ihm überhaupt nichts 351
mehr gefiel. Nicht das, was er jetzt erfahren hatte. Ja, dass Thross noch lebte, war wunderbar – aber die große, grenzenlose Erleichterung, die er deswegen empfinden sollte, blieb aus, zumindest vorläufig. Es passte einfach alles nicht mehr zusammen. Solange er hatte glauben können, dass es eine Mörderin war, die er gerichtet hatte, und dass sie sowieso getötet worden wäre – so lange war zwar nicht alles in Ordnung, aber für ihn zumindest doch halbwegs erträglich gewesen. »Warum hat mir Quarterma nicht die Wahrheit gesagt?« In seiner Stimme lag ein bitterer Vorwurf. »Selbst jetzt noch hat sie angedeutet, dass Ramara verurteilt worden wäre.« »Quarterma ist eine sehr disziplinierte Frau«, antwortete der Älteste. Er bückte sich und klaubte mit langsamen, fast bedächtigen Bewegungen die Überreste eines Buches auf. »Solange sie keine Veranlassung sieht, eine einmal beschlossene Geschichte zurückzunehmen, wird sie das auch nicht tun.« »Aber was für eine Geschichte?«, fragte Daart, obwohl es ihn eigentlich gar nicht interessierte. Doch er wollte und musste sich von dem ablenken, was in ihm brodelte. »Nubina will dich nicht töten lassen«, sagte der Älteste, ohne aufzusehen. »Sie will dich schwächen, dich in ihre Gewalt bekommen. Und dich dann benutzen. Denn nur jemand, der das Erbe der Sternengeborenen in sich trägt, hat auch Zugang zu den Gewalten, die sie zu beherrschen trachtet.« Der Älteste stocherte mit dem Zeigefinger in den Seiten herum, blätterte um, las mit gerunzelter Stirn ein paar 352
Zeilen. »Es ist erstaunlich, was man immer wieder für Hinweise findet. Das hier ist ganz offensichtlich nur eine schlampige Abschrift, aber das ursprüngliche Werk …« Er erhob sich wieder und warf einen nachdenklichen Blick zu den Regalen im Hintergrund des Raumes. »Es ist wichtig, dass du lernst die Kräfte zu beherrschen, die sich losgerissen haben.« Seine Stimme verlor sich fast, als er ein paar Schritte weiterging, sorgsam darum bemüht, nicht auf irgendwelche Papiere oder Bücher zu treten. »Sonst werden sie dich zerreißen. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede. Es ist die Strafe für das, was die Alten in ihrem Wahnwitz schufen, getrieben von dem Irrglauben, damit ihren eigenen Untergang hinausschieben zu können.« »Was wisst Ihr davon?« Daart lief dem Ältesten hinterher, ohne sich die Mühe zu machen, die wenigen freien Flecke zu nutzen, die nicht von irgendwelchem Papier oder Bucheinbänden verdeckt waren. Brüchiges Pergament splitterte unter seinen Füßen, Buchrücken glitten beiseite, und lose Seiten wirbelten auf. Der Älteste war stehen geblieben und sah ihm stirnrunzelnd entgegen. »Angesichts der Zerstörungen, die diese wertvollen Dokumente oder Bücher bereits erdulden mussten, mag es dir merkwürdig erscheinen, dass ich darauf bestehen muss, dass du sie nicht in Grund und Boden trampelst.« »Ja, und angesichts Nubinas Heer, das hierhin unterwegs ist und alles in Schutt und Asche legen wird, umso mehr«, fuhr ihn Daart ärgerlich an. Er hatte mittlerweile den Ältesten erreicht, stand mit dem rechten Fuß auf einem verkohlten Buchrest und mit dem linken auf ei353
nem Pergament. Er scherte sich nicht darum. »Was glaubt Ihr von mir und meinem Erbe zu wissen?« »Glauben?« Der Älteste sah erst auf Daarts linken Fuß und dann auf den rechten, und der Ausdruck von Missbilligung auf seinem Gesicht verstärkte sich noch. »Von glauben kann hier nicht die geringste Rede sein. Ich weiß es. Genauso wie ich weiß, dass man Thross wirklich und tatsächlich ermordet hätte, wenn wir nicht zu der kleinen Finte mit dem vergifteten Pfeil gegriffen hätten. Sie waren schon viel zu nah an ihm dran.« Er deutete mit einer kleinen, kaum erkennbaren Bewegung an Daart vorbei. »Dass uns der Junge jetzt überhaupt besorgt zuschauen kann, wie wir dieses reichlich unsinnige Gespräch führen, ist ein Triumph, den du gar nicht hoch genug schätzen kannst.« »Ich denke, Nubina will uns gar nicht umbringen.« »Dich nicht, solange es sich vermeiden lässt, und vielleicht nicht einmal Carnac«, antwortete der Älteste. »Aber mich. Weil ich alles verkörpere, was sie hasst. Und weil ich einfach viel zu viel weiß. Und Thross, weil sie sich darüber im Klaren ist, welche Fähigkeiten er hat. Sie musste ihn einfach umbringen lassen.« »Durch eine Drachenreiterin?« Der Älteste nickte. »Wenn es eine wie auch immer bestochene oder erpresste Drachenreiterin ist, die als nächste die Gelegenheit dazu erhält: dann selbstverständlich.« »Und was können wir dagegen unternehmen?« »Wir können nicht nur, wir werden etwas dagegen unternehmen«, versicherte der Älteste grimmig. »Aber alles zu seiner Zeit. Schließlich geht es jetzt nicht nur um 354
ein Menschenleben, sondern um viele. Und selbst das ist nicht das Wichtigste.« »Ich weiß nicht, was Euch einfällt zu sagen, dass Menschenleben nichts wert sind.« »Ich habe nicht gesagt, dass Menschenleben nichts wert sind«, sagte der Älteste scharf. »Ganz und gar nicht. Aber das hier – dieser Drachenturm, in dem wir uns befinden – ist alles andere als ein zufälliges Ziel von Nubina.« »Was, außer den Drachen und dieser Bibliothek, ist denn so Besonderes an ihm?« »Was hier besonders ist? Fragst du mich das im Ernst?« Der Älteste atmete scharf aus. »Du hast wirklich keine Ahnung, warum Nubina ausgerechnet in dieser abgelegenen Gegend ein riesiges Heer zusammenzieht, nicht wahr?« »Nein, das habe ich nicht.« Daart hätte um ein Haar noch ein »Verdammt nochmal« hinzugefügt. »Es drängt sich mir sowieso langsam der Eindruck auf, dass Ihr von mir verlangt, mich blind und orientierungslos in einen Kampf zu stürzen, dessen Hintergründe Ihr mir hartnäckig verschweigt.« »Von ›hartnäckig‹ und ›verschweigen‹ kann überhaupt keine Rede sein«, polterte der Älteste. Eine ganze Spur versöhnlicher fuhr er fort: »Aber du hast vollkommen Recht. Es war geplant, dass Ask dich in alle neuen Entwicklungen einweiht, wenn ihr am Ufer das Glutsees zusammentrefft.« »Wenn Ask mich hätte einweihen sollen über das, was Nubina im Norden Enwors vorhat«, sagte Daart trotzig, »dann hättet Ihr das doch schon bei unserem ersten Zu355
sammentreffen erledigen können. Über die Hintergründe wart Ihr ja wohl schon damals informiert.« Der Älteste reagierte ganz anders, als Daart erwartet hatte. Ganz ruhig sagte er: »Ja. Das hätte ich. Wenn unser Gespräch damals wie auch heute nicht unter unsäglichem Zeitdruck stattgefunden hätte.« Bevor Daart dazu kam, mit einer entsprechenden Bemerkung zu antworten, fügte er hinzu: »Nubina hat es hier auf Reichtümer abgesehen, die nicht mit allem Gold und Edelsteinen aufzuwiegen wären. Allein diese Bibliothek ist es ihr wert, in die Schlacht zu ziehen.« »Und was hindert Euch dann daran, hier ein Feuer zu legen, wenn es ihr zu gelingen droht, den Turm zu besetzen? Dann können ihr diese Schriftstücke wenigstens nicht in die Hände fallen!« »Sieh dich um.« Der Älteste deutete auf die Zerstörung inmitten des Raumes und tippte, als würde das noch nicht reichen, mit der Fußspitze ein halb verkohltes Manuskript an. »Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas versucht wurde. Aber das alte Wissen ist erstaunlich hartnäckig. Es lässt sich nicht mit einem einfachen Feuer auslöschen.« »Das kann ich mir nun beim besten Willen nicht vorstellen«, widersprach Daart. »Nun ja, ich gebe zu, dass es mir ausgesprochen schwer fallen würde, diese Bibliothek in Flammen aufgehen zu sehen«, antwortete der Älteste. »Aber trotz allem ist das nicht der eigentliche Grund für meine Besorgnis. Es ist vielmehr das, was die geheime Waffenkammer hier beherbergt.« »Und was ist das?«, fragte Daart. 356
»Eine Waffe, die auf gar keinen Fall in die falschen Händen fallen darf.« Daart starrte ihn fassungslos an. »Das verstehe ich nicht.« »Was ist denn daran nicht zu verstehen?« In der Stimme des Ältesten schwang jetzt Ungeduld mit. »Nubina will diese Waffe in die Hände bekommen. Und sie dann gegen uns wie auch gegen alle einsetzen, die ihr erbittert Widerstand leisten.« Daart deutete in die Richtung, in der er Süden vermutete; die Richtung, aus der Nubinas Heer heranmarschierte. »Ihr habt nicht wie ich gesehen, wie viele Männer Nubina und Zar’Toran unter Waffen haben. Sie werden sich von ein paar Drachen schwerlich aufhalten lassen. Also: Wenn Ihr hier so eine mächtige Waffe habt, warum setzt Ihr sie nicht ein? Oder, anders gefragt: Warum habt Ihr sie nicht schon längst eingesetzt?« Der Älteste nickte. »Ich sehe, du stellst langsam die richtigen Fragen. Und es gibt darauf eine Antwort: Um die Waffe zu aktivieren, bedarf es dreier ganz spezieller Personen.« »Und welche sollen das sein? Drei unerschrockene Kämpfer, die alles mit dem Schwert niedermachen, was sich ihnen in den Weg stellt?« »Ganz und gar nicht«, verneinte der Älteste. »Der Erste von ihnen muss ein unerbittlicher Bekämpfer ungelegener Bücher- und Papierstapel sein. Der Zweite ein Mann, der sich mit der erschreckend fremden Kraft in seinem Innern weit genug aussöhnen kann, um sie nutzbringend einzusetzen. Und der Dritte jemand, der überall hinkommt.« 357
»Das ist nicht Euer Ernst, oder?« Daart versuchte zu lachen. »Ihr meint Euch selbst, mich und Thross?« »Allerdings«, sagte der Älteste ernsthaft. »Und glaube mir: Auch Nubina kennt unsere Konstellation nur zu genau. Deswegen setzt sie alles daran, mich und Thross zu töten und dich in die Hände zu bekommen.« »Und warum will sie mich nicht auch töten?« »Weil sie dich genauso zwingend braucht wie wir, um die Waffe zu aktivieren«, antwortete der Älteste. »Aber im Grunde weißt du ja längst, dass dich Nubina lebend in die Hände kriegen will. Sie hätte schon des Öfteren Gelegenheit gehabt, dich zu töten. Aber stattdessen hat sie mit immer neuen Strategien versucht, dich auf ihre Seite zu ziehen.« »Und bei all dem ging es nur um diese ominöse Waffe?«, fragte Daart ungläubig. »Aber nein.« Der Älteste schüttelte entschieden den Kopf. »Bei all dem geht es ihr darum, das zu erlangen, was sie unter Unsterblichkeit versteht.« Er schloss einen Moment die Augen, und als er weitersprach, tat er das leiser, fast verhalten. »Unsterblichkeit ist wie ein Fluss, der kein Anfang und kein Ende hat. Ein Rad, das niemals zum Stillstand kommt. Ein Vogel, der fliegt, ohne je ruhen zu müssen.« Er hob ganz bedächtig die rechte Hand und ballte sie zur Faust. »Und doch ist sie eingeschlossen wie die Luft in meiner Faust. Sie kann niemals entweichen. Sie fällt nur auf sich zurück. Sie ist nicht ewige Verzückung, sondern ewiger Umklammerung ausgesetzt.« Seine Hand zitterte leicht, und dann lächelte er, aber auf eine Weise, die Daart einen kalten Schauder über 358
den Rücken jagte. »Eines der größten Wunder, das uns die Alten in ihrem Streben nach Unsterblichkeit hinterließen, sind die sehenden Augen.« »Sehende Augen?«, fragte Daart. »Sind denn nicht alle Augen sehend?« Der Älteste schüttelte den Kopf und ließ die Hand wieder sinken. »Wenn das so wäre, wäre vieles in der Welt einfacher. Nein. Ich meine es viel konkreter. Es sind richtiggehende Wunder. Blasen, oder eben riesige Augen, die in der Luft schweben. Wer in ihnen ist, kann alles in seiner Umgebung beobachten. Aber er selbst kann nicht gesehen werden. Genauso wenig wie das Auge, in dem er sich befindet.« »Ich verstehe kein Wort«, bekannte Daart. »Das musst du jetzt auch nicht.« Der Älteste schob eine Strähne seines dichten weißen Haars zurück und atmete tief durch, als müsse er eine Erinnerung vertreiben, die ihm zu nahe gekommen war. »Vielleicht wird es dir ja vergönnt sein, schon sehr bald eines dieser schwebenden Augen zu betreten. Ich will jedenfalls hoffen, dass es dein Fuß ist, der den nächsten Schritt in solch ein Auge macht, und nicht Nubinas. Denn auch das ist eines der Wunder im Norden Enwors, auf das sie es abgesehen hat und die es ihr lohnend erscheinen lassen, hier vor dem Drachenturm mit ihrer geballten Heeresmacht aufzumarschieren.« »Eines der Dinge?« Daart warf einen nachdenklichen Blick auf den unversehrten Teil der Bibliothek und die schweren Holzregale mit ihren Drachenbeinen. »So wie auch die Bibliothek mit all ihren geheimen Schriften und uralten Büchern?« 359
»Ja«, sagte der Älteste knapp. »In deinen Augen mag es so aussehen, als sammle Nubina wahllos alles ein, was man zum Erbe der Alten zählen könnte. Aber das ist nicht so. Durch all diese Dinge hofft sie ihre Position zu stärken. Und letztlich will sie dadurch etwas in die Hände bekommen, was die Alten in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch schufen: eine Schleife durch die Zeit, die in sich selbst zurückläuft, die sich immer wieder erneuert, die vorantreibt, ohne je zu ermüden. Oder anders ausgedrückt: den Schlüssel zur Unsterblichkeit.« »Das klingt verrückt.« »Ja und nein«, antwortete der Älteste. »Studiere, wenn du die Gelegenheit dazu hast, das, was die Sternengeborenen hinterließen. Linien laufen bei ihnen in sich selbst zurück, berühren auf ihrem Weg immer wieder die Unendlichkeit, schwingen in Rhythmen, die bei uns Unbehagen, fast Panik auslösen. Bei komplexeren Strukturen verlieren wir endgültig den Überblick. Aber nicht so die Alten. Sie haben beharrlich und mit fast unmenschlicher Geduld die Werke und Strategien ihrer Todfeinde erforscht. Und dann, ganz zum Schluss, haben sie das Werk derer, die von den Sternen kamen, mit ihren eigenen Werken kombinieren können. Die allerältesten der alten Schriften behaupten, dass sie damit das Rätsel der Zeit gelöst und Unsterblichkeit geschaffen haben.« Daart schüttelte den Kopf. »Ich kann das alles nicht glauben«, sagte er heftig. »Ganz abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen kann, woher Ihr das alles wissen wollt!« 360
Der Älteste lächelte leicht. »Ich sagte doch: Einer von uns muss ein unerbittlicher Bekämpfer ungelesener Bücher- und Papierstapel sein. Und deswegen habe ich mich auf die Abschriften von Abschriften von Abschriften gestürzt.« »Und trotzdem stimmt da etwas nicht«, beharrte Daart. »Denn wenn die Alten wirklich die Rätsel der Zeit und der Unsterblichkeit gelöst haben: Wieso sind sie kurz darauf wie vom Erdboden verschwunden?« »Vielleicht liegt die Antwort schon in der Fragestellung.« Der Älteste zuckte mit den Achseln. »Aber wenn ich ehrlich bin: Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Er zögerte eine Weile, bevor er weitersprach, aber dann sprudelten die Fragen nur so aus ihm heraus. »Was nun, wenn die Alten nicht durch vernichtende Feuerschläge ausgelöscht worden sind, wie es uns die überall auf Enwor erzählten Geschichten weismachen wollen? Und wenn die Letzten von ihnen eine Möglichkeit gefunden haben, der endgültigen Vernichtung zu entgehen? Und wenn sie tatsächlich den Schlüssel zur Unsterblichkeit gefunden haben und einige von ihnen nun noch immer unerkannt unter uns leben?« Diese Vorstellung war so ungeheuerlich, dass sich Daart hütete, sie auch nur ernsthaft in Erwägung zu ziehen. »Ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll. Und schon gar nicht sagt mir das, wie es jetzt weitergehen soll und wie wir an diese Waffe kommen und Nubinas Heer aufhalten können.« »Durch Disziplin und indem du das tust, was ich von dir erwarte«, antwortete der Älteste. »Du darfst dich durch nichts und niemanden davon abhalten lassen.« 361
»Das allein kann doch nicht die Lösung all unserer Probleme sein!« »Nein, sicherlich nicht«, gab ihm der Älteste Recht. »Aber es ist die Grundlage. Erinnerst du dich, wie Carnac dir gesagt hat, du solltest zurückbleiben, als sie allein zur Schädelhöhle aufbrach?« »Selbstverständlich.« »Und hättest du das getan, dann würde Ramara noch leben«, sagte der Älteste offen heraus. »Und vielen Menschen wäre Leid und Kummer erspart geblieben.« Daart konnte und wollte dazu nichts sagen. Jedes Wort hätte es nur noch schlimmer gemacht. »Es hatte schon seinen Grund, warum ich diese Disziplinlosigkeit erwähnte, als dich Quarterma zu mir brachte.« In der Stimme des Ältesten schwang eine Schärfe mit, die eben noch nicht darin gewesen war. »Wenn du diesmal wieder fehlst, wird es nicht nur den Tod eines Menschen bedeuten, sondern den von uns allen. Und zudem wird er Nubina zu einer Stärke verhelfen, die sie nahezu unbesiegbar macht.« Daart schwieg noch immer. Er spürte die Ernsthaftigkeit in den Worten des Ältesten, und er glaubte ihm durchaus. Aber er wusste immer noch nicht, was dahinter steckte. »Wenn Ihr von mir verlangt, genau das zu tun, was Ihr wollt, dann müsst Ihr mir auch sagen, was ich tun soll.« »Das ist zweifellos richtig.« Der Älteste zögerte einen Herzschlag lang, bevor er weitersprach. »Ich werde dich vorerst der Führung des Jungen anvertrauen. Bis ich zu euch stoße, wird er dir sagen können, was du zu tun hast.« 362
»Bitte?« Daart schüttelte ungläubig den Kopf. »Thross mag über erstaunliche Fähigkeiten verfügen. Aber er ist doch nur ein Kind. Und ich bin ein Satai. Ich habe noch nie gehört, dass sich ein Satai von einem Kind herumkommandieren ließe!« »So weit wird es auch nicht kommen«, sagte der Älteste milde. »Es ist auch nicht so, dass Thross genau weiß, was er zu tun hat. Aber bis zu einem gewissen Punkt wird er sich einfach besser zurechtfinden. Und bis dahin solltest du auf ihn hören.« »Und dann kommt Ihr und übernehmt das Kommando?« »Von Kommando übernehmen kann überhaupt keine Rede sein«, widersprach der Älteste. »Wir alle drei müssen uns aufeinander verlassen. Und letztlich wirst sogar du derjenige sein, der angibt, was zu tun ist.« »Könntet Ihr nicht ein kleines bisschen konkreter sein?«, fragte Daart. »Ich wünschte, ich könnte es«, antwortete der Älteste. »Ich wünschte auch, ich könnte dir mehr zu dem sagen, was dich in deinem tiefsten Innern bewegt. Zu dem Konflikt, der in dir heranwächst und der immer weiter auszuufern droht. Aber stattdessen kann ich dich nur bitten, mir zu vertrauen. Höre in dich hinein, aber wähle die richtige Seite der Kraft. Diejenige, die dich Menschen helfen lässt, statt sie zu zerstören.« Daart fühlte sich auf eine ganz merkwürdige Weise berührt. Er spürte, dass der Älteste nicht ins Blaue hinein gesprochen hatte, sondern sehr genau wusste, was in ihm vorging. Vielleicht sogar genauer als er selbst. »Deine Gabe kann uns alle retten«, fuhr der Älteste 363
fort, als habe er seine Gedanken gelesen, »sie kann uns aber auch alle vernichten. Du musst vorsichtig sein. Und auf deine Gefährten hören, nicht auf die dunkle Seite in dir, die dich zu unvorstellbar schrecklichen Taten verführen will.« Daart schüttelte den Kopf. Nicht, weil er verneinen wollte, was der Älteste sagte, sondern weil er es so unglaublich fand, dass dieser alte Mann seine tiefste Qual und seine geheimsten Befürchtungen in so wenige Sätze zusammenzufassen verstand. »Es ließe sich zu all dem noch eine Menge sagen«, meinte der Älteste. »Genauso wie zu den Fragen zu deiner Herkunft, die dir so heiß auf der Seele liegen, dass sie dich zu verbrennen drohen. Aber im Augenblick läuft uns die Zeit davon. Thross!« Der Junge reagierte erst einmal gar nicht, aber als sich Daart zu ihm umdrehte, sah er, dass Thross aufgestanden war und mit leichten, flinken Schritten auf sie zulief. »Nimm Daart und führe ihn in die Waffenkammer«, rief ihm der Älteste zu. »Ich komme nach, sobald ich gefunden habe, wonach ich suche.« »Und was soll das sein?«, fragte Daart misstrauisch, aber ohne sich wieder zum Ältesten umzuwenden. »Den Schlüssel für die Waffe, mit der wir Nubina zerschmettern können.« Thross blieb mitten im Schritt stehen, und Daart drehte sich jetzt doch zum Ältesten um. Der weißhaarige alte Mann hatte die Augen zusammengekniffen und starrte an Daart vorbei ins Nichts. Er schien die beiden nicht einmal wahrzunehmen. Es sah eher so aus, als lausche er einer inneren Stimme. 364
5 »Ich wusste nichts davon«, sagte Thross, als er vor Daart auf einen Treppenaufgang zueilte. »Du musst es mir glauben, Daart. Ich hatte keine Ahnung, dass man mich von Grobians Rücken schießen wollte. Und schon gar nicht, dass es nur eine Finte war.« »Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an«, brummte Daart. Das Gespräch mit dem Ältesten hatte ihn mehr aufgewühlt, als er es sich eingestehen wollte. Sich im Vorfeld einer Schlacht mit Fragen nach seiner Herkunft zu beschäftigen, war schon dumm genug. Darüber hinaus aber nicht die Schuld aus dem Kopf bekommen zu können, die er auf sich geladen hatte, war noch viel törichter. Schließlich konnten ihm die quälenden Gedanken nur allzu leicht den Blick auf das versperren, was jetzt zu tun war, und das war gefährlich. Ja, er war schuldig geworden. Ja, und es war wichtig, der Frage nachzugehen, wie es dazu hatte kommen können. Allein schon deshalb, weil er auf diese Weise vielleicht einen Weg fand, um eine solche Katastrophe künftig zu vermeiden. Aber doch nicht hier und jetzt. Und trotzdem, und obwohl das vielleicht noch viel weniger hierhin gehörte als alles andere, war da noch eine Menge mehr, was in ihm brodelte. Der Älteste verschwieg ihm etwas. Um sein wahres Alter machte er ein großes Geheimnis. Vielleicht war das kein Zufall. Vielleicht gierte er genauso wie Nubina und Zar’Toran nach der Unsterblichkeit, und vielleicht war er wie die beiden 365
schon sehr weit auf dem Weg gekommen, sein Leben über alle Maßen zu verlängern. »Die Essenz des Lebens«, murmelte Daart. Er nahm immer zwei der ausgetretenen Stufen der Wendeltreppe auf einmal, aber trotzdem kam er kaum hinterher. »Was?« Thross, der so leichtfüßig die Treppe hinaufeilte, dass es aussah, als berührten seine Füße gar nicht die Stufen, blieb ungeduldig stehen. »Sagtest du: die Essenz des Lebens?« »Ja.« Daart stapfte unverdrossen weiter. »Das ist es doch, was den Ältesten am Leben erhält, oder? Was ihn so quicklebendig in der Gegend herumspringen lässt.« »Ich weiß nicht genau, worauf du hinauswillst.« Thross hüpfte zur Seite, als Daart ihn erreicht hatte. Die Treppe war eng, aber es reichte gerade, dass sie Schulter an Schulter weiterlaufen konnten. »Auf die Frage, wie alt der Älteste eigentlich ist«, antwortete Daart. »Es könnte doch sein, dass er schon ein paar Generationen übersprungen hat.« »Ich weiß es nicht«, sagte Thross unglücklich. »Es ranken sich viele Geschichten und Gerüchte um ihn. Es heißt, dass er früher, vor vielen Jahren einmal, ein Satai war.« »Das habe ich mir gedacht«, sagte Daart finster. »Obwohl das Ganze einen kleinen Fehler hat, weißt du? Einmal Satai, immer Satai.« »Das mag ja für normale Menschen gelten«, widersprach Thross. »Aber doch nicht für jemanden wie den Ältesten.« Da war etwas dran. Trotzdem setzte Daart noch einmal nach: »Der Älteste bekämpft Nubina und 366
Zar’Toran, weil sie mit aller Gewalt nach der Unsterblichkeit greifen. Aber ist es nicht vielleicht so, dass er selbst sich nichts sehnlicher wünscht, als unsterblich zu sein?« Thross blieb abrupt stehen, sodass Daart nichts anderes übrig blieb, als es ihm gleichzutun. »Warum fragst du mich das alles? Reicht es dir nicht, dass du die Bogenschützin ermordet hast, die versucht hat, mich zu retten? Willst du jetzt auch noch alles andere kaputtmachen?« Damit wandte er sich ab und sprang mit einem Satz über die nächsten Treppenstufen, bevor er in die letzte Kehre einbog. Daart begriff, dass es ein Fehler gewesen war, dieses Thema überhaupt anzuschneiden. Aber er würde darauf zurückkommen – und das vielleicht schon früher, als es dem Ältesten recht sein konnte. Der Älteste hatte von einer Waffenkammer gesprochen, in die ihn Thross führen sollte. Daart hatte schon die verschiedensten Waffenkammern zu Gesicht bekommen. Die in der Korona, der Bergfestung der Satai, war die bislang größte und am besten sortierte gewesen, die er je betreten hatte, weitaus ordentlicher geführt und mit viel ausgefalleneren Waffen bestückt als die in Purgatory, aus der er vor wenigen Wochen zusammen mit Carnac geflohen war. Das Wort Waffenkammer war für ihn gleichbedeutend mit einer Sammlung der unterschiedlichsten Hieb- und Stichwaffen, ergänzt durch Schleudern, Wurfapparate, Shuriken, Pferdepanzerungen, Harnische und was sonst noch alles zur aktiven und passiven 367
Bewaffnung von Enwors Kriegern zur Verfügung stand. Der Raum, in den ihn Thross führte, war erst einmal keine Kammer, sondern eine ausladende Kuppel, und zum Zweiten war das einzig Gefährliche in ihr die scharfkantige Bruchstelle des langen Risses, der sich quer durch den Raum schlängelte und irgendwo zwischen den großen Apparaturen verschwand, die den Kuppelboden fast bis zur Gänze ausfüllten. Aber das war nicht alles. Thross war in den Raum gestürmt, hatte dann aber sofort abgebremst und war stehen geblieben. Seine geduckte Haltung erinnerte Daart unangenehm an eine Katze, die sich auf der Mäusejagd unvermittelt einem drohend gebleckten Hundegebiss gegenübersieht. Angst. Das war das Wort, das Thross’ Körperhaltung am besten beschrieb. Und Daart konnte es mehr als nur nachempfinden. An dem Bau selbst, der Kuppel, war nichts Ungewöhnliches, sah man einmal davon ab, dass von der Decke schwachrotes Licht fiel, auf die rätselhafte Weise künstlich erzeugt, wie die Alten ihre unterirdischen Anlagen zu beleuchten pflegten. Es waren die Apparaturen. Dieses Wort traf vielleicht nicht ganz, was Daart vor sich sah. Aber es beschrieb es noch am besten. Es waren wirre, ineinander laufende Formen, scheinbar gleichzeitig nach außen wie nach innen gekrümmt, ohne Anfang und Ende, und stattdessen auf eine Art begrenzt, die Daarts Augen zwar sahen, die sein Verstand aber nicht nachvollziehen konnte. Irgendetwas zog sich in Daart zusammen, als er die Apparatur in Augenschein nehmen wollte, neben der Thross angehalten hatte. Seine rechte Hand begann zu zittern, und sein Magen verkrampfte 368
sich. Er sah dunkles Metall, schwärenden Eiterbeulen gleich gewölbt und aufgeplatzt, Linienführungen die keinen Sinn ergaben, die aus dem Unendlichen zu kommen schienen und wieder dorthin zurückführten, dabei in sich vibrierten und zitterten. Sein Atem beschleunigte sich, und seine Nackenhaare stellten sich auf … Und dann kniff er ganz bewusst die Augen zusammen, und als er sie wieder öffnete, sah er Thross an, der sich mit angstvoll verzerrtem Gesicht zu ihm umgedreht hatte. »Ich habe mir eine Waffenkammer immer anders vorgestellt«, sagte Daart heiser. Er klopfte auf seine leere Lederscheide. »Nachdem sich Quarterma geweigert hat, mir eine Waffe auszuhändigen, hatte ich gehofft, mir hier endlich wieder ein Schwert beschaffen zu können …« »Was ist das?«, unterbrach ihn der Junge. In seiner Stimme lag die Art von Panik, die Menschen in vollkommen unkontrollierter Flucht über den Rand eines Abgrunds in den sicheren Tod stolpern lässt. »Keine Sorge«, sagte Daart betont ruhig. »Ich habe so etwas schon einmal zu Gesicht bekommen. Und wie du siehst, bin ich damals auch mit dem Leben davongekommen.« Sein Versuch, die Situation mit einem Scherz zu entspannen, misslang kläglich. Er sah es an der Reaktion des Jungen, der jetzt unkontrolliert zu zittern anfing, und er hörte es in seinen eigenen Ohren. »Das ist doch keine Anlage der Alten«, murmelte Thross. Daart warf einen vorsichtigen Blick nach oben. Das Licht, das aus dem Kuppeldach strömte, war weitaus 369
weniger gleichmäßig, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Kabel und Verstrebungen hingen wie die Eingeweide eines riesigen Ungeheuers herunter, und an einigen Stellen war die ansonsten ebenmäßige Rundung durch unschön gezackte Löcher unterbrochen. »Doch«, widersprach er. »Die Kuppel trägt sogar allzu deutlich die Handschrift der Alten. Aber ich fürchte, sie haben nicht allzu lange Freude an ihr gehabt. Es scheint zu einer Art … feindlicher Übernahme gekommen zu sein.« »Feindliche Übernahme?«, ächzte Thross. »Was soll das denn heißen?« »Es soll heißen, dass es keinen Grund zur Aufregung gibt«, gab Daart betont ruhig zurück. »Was auch immer hier passiert ist: Es geschah vor unendlicher langer Zeit.« »Das ist mir schon klar.« Thross wollte sich umdrehen, wohl um auf die Apparaturen hinter sich zu deuten, doch dann besann er sich. »Diese … Dinger …« »Das sind Anlagen der Sternengeborenen.« »Es ist mir egal, was es ist«, sagte Thross heftig. »Sie sind fürchterlich! Sie anzugucken schmerzt in den Augen.« »Ja, ich weiß«, sagte Daart leise. Und er sagte es mit einer Spur Verwunderung. Denn schließlich trug er das Erbe der Sternengeborenen in sich. Irgendetwas in ihm sollte auf diese schrecklichen Apparaturen anders als mit Panik und Abscheu reagieren. Aber das tat es nicht. Er verspürte nur den Drang, Thross zu packen, um mit ihm von hier zu verschwinden. 370
»Der Älteste hat mir die Waffenkammer beschrieben«, fuhr Thross fort. »Aber er hat mir nicht gesagt, dass über dem Raum ein böser Fluch liegt, der ungebetene Eindringlinge abschrecken soll.« Ein böser Fluch … Ja, das war eine Beschreibung, die mehr traf als alles andere. Es gab viele Arten von Sprüchen und Flüchen, mit denen Magier versuchten, ihren Einfluss zu wahren und geweihte Orte vor dem Zugriff ihrer Feinde zu schützen. Daart wusste nicht, ob auch nur ein einziger von ihnen wirklich funktionierte. Aber das, was die Sternengeborenen hier in diese Kuppel der Alten gebracht hatten, das hatte tatsächlich etwas von einem bösen Fluch an sich, und noch dazu von einem höchst wirkungsvollen. »Was genau hat dir der Älteste aufgetragen, hier zu tun?« »Es sind … es sind eigentlich nur kleine Dinge.« Thross atmete tief durch, drehte sich um und tat einen Schritt in den Raum hinein. »Er hat mir gesagt, dass eigentlich alles ganz einfach sei. Doch jetzt, wo ich hier bin, finde ich mich überhaupt nicht zurecht.« Seine Stimme wurde immer kläglicher. »Ich weiß nicht einmal, ob das hier wirklich die Waffenkammer ist, von der er immer gesprochen hat. Oder sieht du hier irgendwelche Waffen?« Daart schüttelte den Kopf. Es kostete ihn alle Mühe, das ruhig zu tun und auch seine Stimme von dem freizuhalten, was an Abscheu und Ekel in ihm aufsteigen wollte. »Nein, aber du solltest dich auch nicht zu sehr an einem Wort festhalten. Wie hat dir denn der Älteste diesen Ort beschrieben?« 371
»Als groß«, antwortete Thross zögerlich. »Als ähnlich wie unsere Zufluchtsstätte – du weißt schon, dort, wo du dem Ältesten zum ersten Mal begegnet bist.« »Ja, ich erinnere mich noch sehr genau«, sagte Daart betont langsam. »Auch das ist ein Kuppelbau der Alten gewesen. Aber es gibt einen großen Unterschied.« »Und welchen?« »Der Unterschied ist das, was du hier siehst und spürst.« Daart zwang sich, neben Thross zu treten und noch einen weiteren Schritt in den Raum hinein zu tun. »Das, was du einen Fluch nennst. Das, was uns den Magen umdreht und in unseren Augen schmerzt. Das Erbe der Sternengeborenen.« »Aber warum hat uns der Älteste nicht davor gewarnt?« »Das hat er sogar«, widersprach Daart. »Zumindest was mich betrifft. Aber ich glaube beinahe, dass er das alles hier als deutlich weniger schlimm empfindet als wir.« Daart versuchte, die nächstgelegene Apparatur mit seinem Blick einzufangen. Es gelang ihm nur auf sehr unvollständige Weise. Die Kanten und Rundungen sprachen allem Hohn, was seine Augen gewohnt waren zu sehen. Es passte einfach nichts zusammen. Es gab nichts, was gleichzeitig vor- und zurücklaufen konnte, zumindest nicht in der Welt, in der er bislang gelebt hatte, keine Geraden, die gleichzeitig gekrümmt waren, und keine Linien, die aus dem Nichts zu kommen schienen wie Boten aus einer fremden Welt, um in verrückten Drehungen und Windungen wieder dorthin zu verschwinden. Es war das Gefühl abstoßender Fremdheit, 372
das ihm vor allem zusetzte und es ihm unmöglich machte, den Blick länger als nur ein paar Momente auf der Apparatur ruhen zu lassen. »Vielleicht hat der Älteste ja tatsächlich einen ganz anderen Bezug zu … dem hier«, sagte er schließlich. »Vielleicht spürte er gar nicht das, was wir spüren.« »Weil sein Zauber mächtiger ist als der Fluch, der auf all dem hier lastet?«, fragte Thross leise. »Ja. Möglicherweise.« Daart wandte sich wieder dem Jungen zu. Es tat gut, ihn zu sehen, und das nicht, weil Thross wie das blühende Leben aussah (was er ganz und gar nicht tat), sondern weil es eine Wohltat war, ein vertrautes menschliches Antlitz zu sehen – und überhaupt irgendetwas, das nicht in den Augen schmerzte. Das war auch nicht das Einzige. Thross in der Bibliothek vorzufinden, war ein Schock für ihn gewesen, und seine Freude darüber wurde von vielen anderen Gefühlen überlagert. Doch hier, unter dem Einfluss des Erbes der Sternengeborenen, spürte er plötzlich eine grenzenlose Erleichterung darüber, dass der Junge noch am Leben war. Am liebsten wäre er vorgetreten und hätte ihn umarmt, wie man das mit jemandem tat, den man tot geglaubt hatte und nach ewig langer Zeit plötzlich quicklebendig vor sich stehen sah. Aber diese Geste käme zu spät, um jetzt noch aufrichtig zu wirken. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er stattdessen. »Dieser Fluch, wie du ihn nennst, wird uns nicht treffen. Es gibt hier keine Sternengeborenen mehr, die uns gefährlich werden könnten.« »Aber diese … diese Dinger hier, mit denen der ganze 373
Raum voll gestellt ist.« Thross kaute auf seiner Unterlippe herum. Sein Blick flackerte, als er an Daart vorbeisah. »Ist denn kein Leben mehr in ihnen?« Das, fand Daart, war eine sehr gute Frage, und wie zur Antwort lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. »Doch, wahrscheinlich schon. Aber ich denke nicht, dass es uns gefährlich werden kann.« Thross sah ihn noch eine ganze Weile geradezu verzweifelt an, dann ging ein spürbarer Ruck durch seinen Körper. »Also gut«, sagte er mit einer Entschlossenheit, die im krassen Widerspruch zu seinem immer noch flackernden Blick stand. »Dann bleibt uns ja wohl nichts anderes übrig, oder?« Er schob sich an Daart vorbei und hielt auf den Rand der Kuppel zu, dem Daart bislang noch keine Bedeutung beigemessen hatte. Als er Thross folgte, wunderte er sich über sich selbst. Das Ende der Kuppel wölbte sich wie die Finger einer auf dem Schwertgriff ruhenden Kriegerhand über Schaltpulte und Anlagen, die beinahe normal aussahen und ihm eigentlich gleich hätten auffallen müssen. Aber vielleicht hatte er sie nicht wahrgenommen, weil es auch hier Dinge gab, die offensichtlich nachträglich angebracht oder verändert worden waren. Das Pult, vor dem Thross gerade stehen blieb, wirkte wie durchwoben von den wirren Apparaturen der Sternengeborenen. Schon die Anlagen der Alten verstand Daart nicht einmal ansatzweise; das, was er hier vor sich sah, erst recht nicht. Er wollte es auch gar nicht verstehen. Thross’ Körperhaltung veränderte sich. Sie erinnerte nun nicht länger an eine ängstliche, fluchtbereite Katze, 374
sondern an einen neugierigen Jungen, der beim Buddeln im Schlamm auf einen Schatz gestoßen war. »Das muss es sein«, sagte er aufgeregt. »Was muss es sein?« Thross drehte sich zu ihm um. Das Flackern in seinen Augen war etwas anderem gewichen, einem nicht minder nervösen, aber eher begeisterten Funkeln. »Ich bin einer von ganz wenigen, der davon weiß«, sprudelte er hervor. »Der Älteste hat jedenfalls ein Riesengeheimnis darum gemacht.« Daart gefiel dieser plötzliche Stimmungsumschwung ganz und gar nicht. »Nichts gegen ein Geheimnis«, sagte er. »Aber vielleicht wärst du so nett, mir zu erklären, was das hier soll?« »Ja, natürlich, und im Grunde ist es auch ganz einfach.« Thross kratzte sich am Kopf, und entgegen seiner euphorischen Einleitung schien er jetzt doch plötzlich unsicher zu sein, wie er fortfahren sollte. »Also … ich meine … Also eigentlich ist doch … Ich meine, eigentlich bist du doch …« »Ja?«, fragte Daart unschuldig. »So etwas wie …«, Thross hob die Hand, als wolle er etwas abwehren. »Aber keine Sorge«, sagte er in einem beschwichtigenden, fast verschwörerischen Ton, »der Älteste hat es nur mir erzählt. Glaube ich jedenfalls. Allenfalls noch Ask. Und die ist verschwiegen wie ein Grab, genau wie ich.« »Schön«, sagte Daart. »Also wissen davon nur der Älteste, Ask und du. Richtig?« Thross nickte erleichtert. »Ja, genau.« 375
»Wovon denn überhaupt?« Daart schrie jetzt beinahe. »Hättest du vielleicht die Güte, mich darüber aufzuklären?« »Ja, aber … Aber du weißt doch am besten …« »Was weiß ich am besten?« Daart starrte auf seine rechte Hand. Sie blutete nicht mehr. Aber sie sah so übel mitgenommen aus, dass er wahrscheinlich vor Schmerzen aufschreien würde, wenn er mit geballter Faust irgendwo dagegen schlüge. Und doch hatte er das Bedürfnis, genau das zu tun. Es hätte ihm ein mörderisches Vergnügen bereitet, mitten auf dieses abscheulich überwucherte und von Auswüchsen verunstaltete Schaltpult der Alten zu schlagen, immer und immer wieder, bis alles zerstört war, was vielleicht doch noch nach unendlich langer Zeit darauf wartete, wieder zu gespenstischem Leben zu erwachen. »Nun, es geht wohl um deine«, Thross nahm sichtlich inneren Anlauf, bevor er das letzte Wort beinahe ausspuckte, »Abstammung.« »Abstammung?« In Daarts Kopf formten sich Bilder, explodierten die ganzen Fragen, die er mühsam in den letzten Tagen weggeschoben hatte, um nicht an ihnen zu zerbrechen. Sein Bedürfnis, zuzuschlagen und sich von dem Druck zu befreien, der sich in ihm aufbaute, steigerte sich ins Unermessliche. Der Älteste hatte ihn aufgefordert, dem Jungen zu folgen, und er war auch gern bereit dazu, wenn das bedeutete, mit der Waffe in der Hand gegen ihre gemeinsamen Feinde anzustürmen. Aber er hatte nicht vor, Thross zu folgen, wenn er ihm mit unangemessenen Fragen zu seiner Herkunft kommen wollte, und zu dem, was ihn in seinem tiefsten In376
nern mit den Kreaturen verband, die diese Anlage vor unendlich langer Zeit verstümmelt und verunstaltet hatten. Doch statt dem Jungen die Faust ins Gesicht zu schlagen, wie er es am liebsten getan hätte, schleuderte er ihm eine bewusst missverstehende und in scharfem Ton formulierte Frage entgegen: »Meinst du, weil ich bei den Guhulan aufgewachsen bin?« »Nein, überhaupt nicht.« Thross schien immer mehr in sich zusammenzuschrumpfen, und so, wie es aussah, wäre er wohl am liebsten in dem Riss verschwunden, der sich durch den Kuppelboden zog. »Ich meine die Sache, die viel länger zurückliegt.« Er versuchte sich ein Lächeln abzuringen, aber es wurde eine Grimasse daraus. »Als die Alten glaubten, es könne ihnen helfen, wenn sie Menschen mit Sternengeborenen … kreuzten.« »Interessant«, sagte Daart kalt. »Und wie sieht dann so ein Mischling aus? Hat er fünf Augen oder einen Tentakel statt einer Nase?« »Nein.« Thross presste die Zähne so fest zusammen, dass es knirschte. »Er sieht eigentlich ganz normal aus«, fuhr er schließlich fort. In seinen Augen blitzte blanker Trotz auf. »So wie du und ich. Oder eher nur so wie du.« »Aha.« Daart befühlte seine Nase. »Kein Tentakel. Du siehst also, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bin definitiv nicht von den Sternen herabgestiegen, um euch heimzusuchen.« »Das habe ich ja auch nicht gesagt.« Thross’ Stimme wurde eine Spur lauter. »Ich kann ja sowieso nur das wiedergeben, was mir der Älteste erzählt hat. Und da 377
war auch nie die Rede davon, dass du ein … ein Sternengeborener bist …« »Sehr schön«, unterbrach ihn Daart mit beißendem Spott. »Aber was bin ich dann? Ein Ungeheuer? Ein Bastard? Etwas, das schnellstens erschlagen und verscharrt gehört?« Carnac hätte wahrscheinlich »Sei nicht albern« gesagt oder hätte mit einer Mischung aus Empörung und Resignation den Kopf geschüttelt. Thross war zu all dem nicht fähig – wie sollte er auch? –, aber seine Reaktion war auch nicht die eines verschüchterten Jungen. »Nein, du gehörst nicht erschlagen und verscharrt«, sagte er kaum weniger schroff, »auch wenn du manchmal so redest, dass man dich am liebsten erschlagen möchte.« Daart ließ die Faust ein Stück sinken und blickte den Jungen stirnrunzelnd an. Thross hielt seinem Blick stand, doch es war ihm anzusehen, wie unwohl er sich dabei fühlte. »Nun, vielleicht hast du da nicht ganz Unrecht«, sagte Daart knapp. »In den letzten Tagen bin ich mitunter vielleicht ein bisschen … unbeherrscht. Aber das meine ich nicht so …« Er ließ unausgesprochen, was er noch hatte sagen wollen; die Erinnerung an Ramaras Kopf, wie er von ihrem Hals fiel und herabpolterte, und an das viele Blut, das aus dem Rumpf sprudelte, sprang ihn an wie ein feindlicher Krieger und ließ seine letzten Worte höhnischer und böser klingen als alles, was er zuvor gesagt hatte. »Aber … aber lassen wir das«, fuhr er hilflos fort. Er räusperte sich, mühsam darum bemüht, den Faden aufzunehmen, den er zuvor hatte fal378
len lassen. »Du wolltest sowieso etwas anderes sagen, nicht wahr?« »Ja«, sagte Thross mit fester Stimme. »Du bist kein Sternengeborener und auch kein Mischling. Aber irgendetwas in dir … irgendetwas hat mit denen zu tun, die von den Sternen herabstiegen.« Er erwartete offensichtlich eine bestimmte Reaktion von Daart, aber als die nicht kam, fuhr er fort: »Viele halten diejenigen, die von den Sternen zu uns herabstiegen, für Götter. Für gewalttätige, zornige Götter. Vielleicht hast du ja ein bisschen etwas von einem zornigen Gott in dir.« Die Bemerkung hätte eigentlich Daarts Wut erneut entfachen sollen, aber merkwürdigerweise war das genaue Gegenteil der Fall. Ein zorniger Gott. Nein, das war er sicherlich nicht. Eher ein an sich selbst zweifelnder Mensch, an den man Ansprüche stellte, denen er nicht gewachsen war. »Und das glaubst du tatsächlich?«, fragte er schließlich so versöhnlich, wie er es fertig brachte. »Ich weiß es nicht.« Thross zuckte mit den Schultern. »Nubina behauptet von sich, sie sei eine Göttin. Und tatsächlich, als ich sie gesehen habe … so, wie sie ihre ganze Umgebung überstrahlt, hat sie wirklich etwas Göttliches an sich.« »Aber ganz überzeugt bist du nicht?«, setzte Daart nach. »Nein«, antwortete der Junge. »Vielleicht liegt es daran, dass ich zu oft mit dem Ältesten gesprochen habe. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich nicht glauben will, dass die Götter nur gekommen sind, um uns zu quälen und zu vernichten.« 379
Wieder Worte, dachte Daart, wie man sie von einem Jungen in Thross’ Alter nicht erwarten sollte. Das passte zu dem, was Quarterma und Carnac von ihm behauptet hatten. Thross hatte sich wie jeder andere Junge beinahe in die Hosen gemacht vor lauter Angst, als sie diesen unsäglichen Ort betreten hatten. Aber er hatte die Furcht so schnell abgeschüttelt wie ein Hund die in seinem Fell haftende Nässe eines heftigen Regengusses. Das war tatsächlich mehr als nur ein bisschen außergewöhnlich und ein weiterer Hinweis auf seine besonderen Fähigkeiten, die ihn dazu wie geschaffen wirken ließen, vielleicht schon in wenigen Jahren sein Volk kraftvoll gegen seine Feinde zu führen. Merkwürdigerweise durchfuhr Daart bei diesem Gedanken ein scharfer Stich. Nicht mehr allzu lange, und dieser schmächtige Junge würde ihm ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen sein. Doch hier und heute war er es noch nicht. »Vielleicht gibt es ja gute Gründe dafür, dass uns die Götter bestrafen wollen«, sagte er. »Und vielleicht gehört es zum Plan ebendieser Götter, dass wir uns gegen die vernichtende Kraft auflehnen und sie in ihre Schranken verweisen sollen.« »Etwas Ähnliches hat der Älteste auch gesagt.« Thross drehte sich wieder halb zu dem Schaltpult um, dessen ursprüngliche Schalter und Anzeigen in ein Gewirr widernatürlicher Verschränkungen und Formen übergingen. »Deswegen sind wir ja auch hier. Und wenn du tatsächlich etwas von den Göttern in dir hast, dann bist du doch dafür wie geschaffen, um den Kampf gegen eine Göttin aufzunehmen, oder?« 380
»Du meinst Nubina«, vergewisserte sich Daart. »Nubina und das Riesenheer aus Guhulan und Silberkriegern, das den Drachenturm jederzeit erreichen kann.« Thross kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. »Ich weiß nicht, warum der Älteste diesen Raum Waffenkammer genannt hat. Eigentlich ist er ja etwas ganz anderes.« »Und was?« Thross’ Finger strichen fast liebevoll über einen roten Schalter, eines der wenigen unversehrt gebliebenen Überbleibsel der Alten. »Ich wette, hier war schon seit Ewigkeiten niemand mehr. Bestimmt jedenfalls nicht mehr seit dem Aufstand der Männer gegen die Drachenreiterinnen.« »Wie kannst du dir da so sicher sein?« »Weil damals der einzige richtige Zugang verschüttet wurde«, antwortete Thross prompt. »Aber dafür gibt es nach wie vor die Drachenröhre. Durch die kommt man ganz schnell wieder raus, wenn es sein muss.« Er wandte den Kopf Daart zu. »Aber jetzt geht es erst einmal um diesen Schalter hier. Damit kann ich die Anlage starten.« »Ich verstehe nicht ganz …« »Doch, doch, ich bin mir sicher«, unterbrach ihn Thross aufgeregt. »Der Älteste hat mir eine Zeichnung auf einem alten Pergament gezeigt. Ich wusste bloß nicht, was sich sonst noch in diesem Raum befindet, oder auch nur, dass es eine Kuppel ist. Er hätte mich darauf hinweisen können. Aber vielleicht hat er es ja selbst nicht gewusst.« »Was hat es mit diesem Schalter auf sich?«, fragte Daart. 381
»Ja.« Thross runzelte die Stirn und wandte sich ebenfalls dem Schalter zu. »Er sieht genauso aus wie auf der Zeichnung. Oder zumindest: fast. Aber das nützt uns gar nichts, wenn wir nicht dieses andere Teil finden …« Sein Blick irrte über das Schaltpult. »Es ist geformt wie ein Handabdruck.« »Darunter kann ich mir jetzt wenig vorstellen«, bekannte Daart, während auch er sich vorbeugte. »Etwas, in das du die Hand reinlegen kannst«, erklärte Thross, »den Handballen und die gespreizten Finger.« Die Erregung des Jungen war längst auf Daart übergegangen. Die falschen Formen und Farben flirrten an ihm vorbei, als er sich auf das zu konzentrieren versuchte, was ursprünglich von den Alten stammte. Es waren Dinge dabei, die er schon mehrfach gesehen hatte. Tote Augen, in denen wie durch Hexenwerk Bilder aufflammen konnten, wenn eine solche Anlage zum Leben erwachte, bunte Lämpchen, die dann aufleuchteten, und Schalter und Knöpfe, über die sich dem geheimnisvollen Mechanismus Befehle eingeben ließen. Aber hier war noch mehr und für ihn Neues. Mulden und Versenkungen, deren Bedeutung völlig rätselhaft blieb, wie auch die mit ihm unbekannten Schriftzeichen versehenen Quadrate. Dazwischen und mit all dem verwoben war das, was die Sternengeborenen hier später eingepflanzt hatten. Für das meiste davon hatte Daart nicht einmal Worte, geschweige denn, dass er es hätte beschreiben können. Das, was Thross suchte, konnte er allerdings nicht entdecken. »Warum ist denn dieser Handabdruck so wichtig?«, fragte er schließlich. 382
Thross richtete sich kerzengerade auf und starrte ihn an, als hätte er eine überaus törichte Frage gestellt. »Ich dachte, du wüsstest das. Hat dir der Älteste denn nicht erzählt …« »Nein, hat er nicht«, unterbrach ihn Daart. »Ich weiß nicht, warum wir hier raufgehen sollten. Also: Was ist nun?« Thross sah ihn erst eine Weile schweigend an, dann nickte er. »Es hängt mit dem zusammen, was du in dir trägst«, sagte er leise. »Mit deiner besonderen … Gabe.« »Als Gabe würde ich es nun nicht gerade bezeichnen«, grollte Daart. »Eher als Fluch.« »Wie auch immer«, meinte Thross. »Jedenfalls kannst nur du dieser Anlage hier wieder Leben einhauchen und damit der Waffe, mit der wir in der Lage sind, Nubina zurückzuschlagen …« Sein Blick fiel auf irgendetwas hinter Daart, und dann wurde er plötzlich ganz käsig. »Bei allen Göttern!«, keuchte er. »Was?« Daart drehte sich auf dem Absatz um. Er erwartete, irgendjemanden aus den Tiefen des Raumes auftauchen oder unheimliches Leben in die Apparaturen der Alten einfließen zu sehen. Aber er bemerkte überhaupt nichts Auffälliges. Bis sich Thross plötzlich von seinem Platz löste, nach ein paar Schritten wieder stehen blieb und aufgeregt auf eine der Apparaturen deutete. »Hier«, rief er. »Hier ist es.« Daart kniff die Augen zusammen. Er konnte nicht glauben, was er da sah. Dabei war es nicht die Tatsache, dass Thross nicht auf dem Schaltpult, sondern an anderer Stelle fündig geworden war. Es war auch nicht die 383
Form des Handabdrucks, den er eingebettet in verwirrende Linien entdeckt hatte. Es war die Tatsache, dass von dem Handballen aus nicht fünf Finger abstanden, sondern insgesamt sieben.
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6 »Nein.« Daart schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Ich kann meine Hand nicht da hineinlegen. Wie sollte das auch funktionieren? Ich habe nun einmal keine sieben Finger.« »Es wäre ja auch schlimm, wenn das anders wäre.« Thross wirkte ganz verzweifelt. »Aber irgendwie muss es doch gehen!« »Außerdem stecke ich meine Hand nicht in irgendetwas, das die Sternengeborenen hier hinterlassen haben«, fuhr Daart fort. »Wer weiß, was dann passiert?« »Ja, aber …« Thross warf einen gehetzten Blick zurück zu den Schaltpulten. »Es gibt hier nichts anderes, das auch nur im Entferntesten wie ein Handabdruck aussieht.« »Ja, das sehe ich auch.« Daart beugte sich ein Stück vor. Ein Geruch wie nach geschmolzenem Leder schlug ihm entgegen, durchzogen von etwas eklig in der Nase Beißendem. »Es riecht beinahe so, als hätte hier schon einmal jemand die Hand reingelegt, und sie wäre ein bisschen angeschmort worden. Kann übrigens noch gar nicht lange her sein. Da!« Er deutete auf ein paar winzige Fetzen, die in dem siebenfingerigen Handabdruck steckten. »Ich fresse einen Groll zum Frühstück, wenn das nicht die verschmorten Überreste eines allzu feurigen Händeabdrucks sind.« »Ich … weiß nicht«, murmelte Thross mit schiefem Gesichtsausdruck. »Aber es passt zu dem, was mir sonst noch aufgefallen ist.« »Und das wäre?« 385
»Unten war alles mit einer dicken Staubschicht überzogen. Aber hier – nichts. Kein einziges Staubkorn.« Daart richtete sich wieder auf und sah sich aufmerksam um. Thross hatte vollkommen Recht. »Vielleicht hat Feuersturm hier mal laut gehustet. Und der ganze Staub ist auf und davon geflogen.« »Drachen kommen hier nicht rein«, sagte Thross ernsthaft. »Wie auch übrigens sonst niemand. Es sei denn, er überlebt den Tanz der Messer.« »Und dann wird er wohl kaum hierher eilen, um diesen Raum auszufegen und zu putzen.« Daart schüttelte den Kopf. »Aber mach dir darüber nicht so viele Gedanken. Bevor ich zu euch in die Katakomben unterhalb des Schattengebirges kam, war ich mit Carnac in Eternity, einer unterirdischen Stadt der Alten. Dort gab es auch solche Merkwürdigkeiten.« »Du meinst, es könnte eine Magie der Alten sein, die den Staub fern hält?« Daart nickte. »So etwas Ähnliches. Immerhin haben sie das Rätsel der Zeit gelöst, wenn ich den Ältesten richtig verstanden habe. Da liegt es doch nahe, dass sie Staub und Dreck den Garaus machen konnten, ohne einen Besen in die Hand zu nehmen.« Thross wirkte nicht gerade überzeugt. »Aber was machen wir jetzt?« »Nun«, Daart warf einen flüchtigen Blick auf den Handabdruck, »bevor ich hier meine Hand reinlege, sollte das vielleicht jemand anderes tun. Nur für den Fall, dass sie weggebrannt wird.« Thross’ Augen wurden groß. »Du meinst doch nicht etwa, dass ich …« 386
»Nein, natürlich nicht.« Daart klopfte auf die leere Lederscheide an seinem Gürtel. »Das ist zwar keine Hand. Aber es könnte trotzdem gehen.« Er schnallte sich den Schwertgürtel ab. »Mein Gewand hängt in Fetzen, ich habe keine Waffe, und langsam verliere ich die Geduld mit diesem ganzen Irrsinn hier. Wir sollten sehen, dass wir ein Stück vorankommen.« Thross sagte nichts dazu, sondern beobachtete nur aus großen Augen, wie Daart das untere Ende der Lederscheide zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, einen letzten misstrauischen Blick auf den Handabdruck warf – und dann das Stück Leder in eine der Fingermulden drückte. Der Effekt hätte gar nicht verheerender sein können. Es zischte, brodelte und qualmte, und bläuliche Flämmchen zischelten zwischen den Fingermulden hin und her. Daart sprang mit einem Satz zurück und starrte entgeistert auf die versengte Lederscheide, deren unterer Teil weggebrannt war, mit schwarz verkohlten Rändern an dem Teil, wo er mit Daumen und Zeigefinger zugepackt hatte. »Da ich kein Schwert habe, brauche ich zwar nicht unbedingt eine Schwertscheide«, er sah zu Thross auf, »aber umso mehr eine gute Idee, was wir jetzt machen sollen. Fällt dir etwas ein?« Thross schüttelte den Kopf. Er wirkte fassungslos. »Nein. Außer man … warte.« Er nahm die Hände hoch, spreizte sie und legte die Zeigefinger übereinander. »Wenn man die Hände so hält«, sprudelte er aufgeregt hervor. »Siehst du das? Dann sehen sie beinahe so aus, als passten sie in den Abdruck.« Daart starrte erst ihn, dann seine Hände an. Er erkannte sofort, dass der Junge Recht hatte. 387
»Wenn ich die Hände so halte, sieht man die Daumen nicht mehr«, meinte Thross. »Die beiden äußeren Finger des Abdrucks sind die kleinsten, und sie sind gleich lang, aber sie sind sehr schmal. Gerade so, als handele es sich um ein Paar kleiner Finger.« »Ja. Aber was soll das?« »Wir haben doch beide gedacht, das sei ein Abdruck von einer Hand der Sternengeborenen, nicht wahr?«, wisperte Thross. »Und wahrscheinlich sollten wir das auch glauben: So wie alle anderen, die den beschwerlichen Weg bis hierher geschafft haben.« »Und du meinst …« »Ja.« Thross nickte andächtig. »Ich meine, dass es der Abdruck zweier speziell übereinander gelegter menschlicher Hände ist. Siehst du?« Er drehte sich um und brachte sein Handpaar in Position, um es auf den siebenfingrigen Abdruck herabzusenken. »Nein!«, schrie Daart. Er war mit einem Satz bei dem Jungen, packte sein rechtes Handgelenk und riss es zurück. »Tu das nur nicht.« »Hatte ich auch nicht vor«, wehrte Thross übermütig ab. »Ich wollte dir doch bloß zeigen, dass es passt.« »Ja.« Daart nickte. »Aber das glaube ich auch so. Dazu brauchst du mich nicht so zu erschrecken.« »Also«, begann Thross wichtigtuerisch. »Dann müssen wir uns ja nur noch überlegen, wozu das hier angebracht worden ist.« »Und wer es getan hat«, ergänzte Daart. »Denn wenn du Recht hast – und daran zweifle ich nicht einen Augenblick –, dann ist es nicht gesagt, dass es die Sternengeborenen waren.« 388
Thross nickte anerkennend. »Richtig. Da hätte ich auch drauf kommen können.« Er streckte diesmal nur eine Hand vor und strich mit dem Zeigefinger ganz vorsichtig und mit gebührendem Abstand zu dem Handabdruck über das dunkle Metall. »Siehst du das hier? Das ist später eingesetzt worden. Kann man an den ganz feinen Nähten hier erkennen.« Daart trat näher. »Ja«, murmelte er, nachdem er einen vorsichtigen Blick auf die verwirrenden Linien oberhalb des Handabdrucks geworfen hatte und ihm von dem Flirren und Schwingen ganz schlecht zu werden drohte, sodass er sich rasch wieder auf die sieben Fingermulden konzentrierte. »Das ist nicht von den Sternengeborenen. Das muss jemand später angebracht haben.« »Weil es viel zu normal aussieht, nicht wahr?« »Das ist richtig.« In Daart überschlugen sich die Gedanken. Feuerblitze waren auf die Städte und Verteidigungsanlagen der Alten niedergegangen, und dann waren die Kreaturen gekommen, die die Sternengeborenen geschickt hatten, grauenvolle, zerstörerische Abgesandte zorniger Götter, unter denen die Quorrl gewesen waren und andere, noch viel abscheulichere und machtvollere Wesen. Die alten Lieder und Gesänge berichteten noch heute von dem Gemetzel und den zahlreichen Schlachten, mit denen die Alten ihren Feinden von den Sternen erbitterten Widerstand zu leisten versuchten – und auch davon, dass sie Schritt für Schritt zurückgedrängt und schließlich niedergemacht worden waren, unfähig, den wütenden Attacken ihrer Feinde am Ende zu widerstehen. Aber vielleicht war das nicht die volle Wahrheit. Viel389
leicht hatten einige der Alten den Niedergang ihrer eigenen Rasse überlebt und im Verborgenen den Kampf gegen die ebenfalls schwer von den Kämpfen gezeichneten Sieger aufgenommen. Vielleicht waren sie es gewesen, die aus einer Niederlage dann doch noch ein Unentschieden gemacht hatten, indem sie ihre Erzfeinde mit sich in den Tod gerissen hatten. Und wenn das so war, dann stand er mit Sicherheit vor einer Anlage, die die Alten für ihre Erben hinterlassen hatten. Aber was für eine Nachkommenschaft hatten sie erwartet? Kreaturen mit sieben Fingern? Ganz normale Menschen? Oder Mischlinge wie Daart, äußerlich unauffällig und in ihrem Innern hin und her gerissen zwischen unvereinbaren Gegensätzen? »Der Alte hat mir einmal ein pergamentgroßes Bild gezeigt, das ihm fast unter den Fingern zerbröselt ist«, drang Thross’ Stimme in seine Gedanken. »Er hatte zuvor mehrere Kopien davon gemacht. Aber er war der Meinung, dass nur das Original wirklich das wiedergeben kann, was sein Verfasser hineingelegt hat. Und er hatte Recht damit.« Daart wandte sich zu ihm um. »Warum?« »Es war in Farbe«, sagte Thross. »Und nicht nur das. Wenn man darauf guckte, hatte man das Gefühl, als blicke man in die Tiefe, als eröffne sich unter einem der ganze Raum, den es zeigte. Und auch das war noch nicht alles. Wenn man es in einem anderen Winkel hielt, dann schien sich der Raum unter einem wegzudrehen.« »Ein Zauberpapier«, sagte Daart. »Ich habe davon gehört, dass es so etwas geben soll. Aber ich habe noch nie eines gesehen.« 390
»Die allermeisten von ihnen sind wohl schon längst zerfallen«, sagte Thross. »Und ich glaube, auch das, was mir der Älteste gezeigt hat, gibt es mittlerweile schon lange nicht mehr.« Er tippte sich an den Kopf. »Aber hier oben habe ich alles gespeichert.« »Und das soll uns jetzt weiterhelfen?« »Ja. Schließlich konnte ich da den Schalter sehen – oder einen ganz ähnlichen, wie wir ihn auf dem Schaltpult gefunden haben. Und auch eine Handmulde.« Der Blick des Jungen schien sich in weiter Ferne zu verlieren. »Und dann, wenn man versucht hat, beides mit einem Blick zu erfassen, hat sich etwas getan. Die Farben auf vielen Stellen des Zauberpapiers wurden kräftiger, und Dinge leuchteten auf und huschten über das Bild.« »Das könnte bedeuten, dass die Anlage zum Leben erwacht, wenn man beides gleichzeitig betätigt«, vermutete Daart. »Ja.« Thross nickte. »Das glaube ich auch. Aber so richtig begreife ich es erst jetzt, wo ich es vor mir sehe.« Daart schwieg eine Weile. Er fing an zu verstehen, warum ihm der Älteste Thross mitgegeben hatte. »Also gut«, er wies mit einem angedeuteten Kopfnicken auf das Schaltpult, »dann geh jetzt da rüber. Und sieh zu, dass du den Schalter im gleichen Moment betätigst, in dem ich meine Finger in die Mulden lege.« Thross starrte ihn ungläubig an. »Aber das Leder …« »War Leder.« Daart schüttelte entschieden den Kopf, als Thross erneut etwas einwenden wollte. »Missversteh mich nicht falsch. Auch ich weiß nicht so genau, ob es funktionieren wird. Aber da draußen«, er deutete in Richtung des Schaltpults, »tobt in diesem Augenblick 391
wahrscheinlich ein erbitterter Kampf. Oder sollte ich besser sagen: eine Vernichtungsschlacht? Denn so gefährlich die Lederdrachen und ihre Reiterinnen auch sein mögen, der geballten Macht von Nubinas Heer können sie unmöglich länger als ein paar wenige Stunden widerstehen.« »Zumal auch noch die Blutdrachen auf Nubinas Seite sind«, sagte Thross unglücklich. »Ich weiß. Aber das bedeutet doch nicht, dass du dir die Hände verschmoren lassen musst.« Statt zu antworten, betrachtete Daart seine beiden Hände. Die von ihm selbst zerschlagene und zuletzt wieder am Handrücken aufgeplatzte Rechte sah fürchterlich aus, ließ sich aber zumindest fast noch normal bewegen. Die Linke dagegen war nicht nur grünblau und auf fast das Doppelte ihrer normalen Größe angeschwollen, sondern fühlte sich zudem noch so an, als ob sich mit ihr nicht einmal mehr ein Messer aus dem Gürtel ziehen ließe, geschweige denn ein Schwert führen. »Oh«, sagte Thross, dem es bislang offensichtlich gar nicht bewusst gewesen war, wie es um Daarts Hände stand. »Was hast du denn gemacht? Versucht, ein paar Felsen umzuhauen?« »Nein«, knurrte Daart, »ich hab nur schon mal ein paar Trockenübungen für diesen Sieben-FingerMechanismus ausprobiert. Und jetzt will ich endlich wissen, ob sich das gelohnt hat.« Thross war sichtlich unwohl in seiner Haut. »Wir könnten auch auf den Ältesten warten«, schlug er vor. »Er hat uns vorgeschickt, weil wir eben nicht warten können«, sagte Daart. »Schon vergessen?« 392
»Natürlich nicht«, antwortete Thross heftig. »Wir müssen die Anlage starten und …« »Ja?«, fragte Daart. »Und was?« »Die Waffe in Betrieb nehmen.« Thross schüttelte den Kopf. »Frag mich nicht, wie das gehen soll. Der Älteste hat mir alles Mögliche darüber erzählt, aber vieles davon ist sehr … widersprüchlich.« »Und außerdem fehlt ihm dazu wohl noch die eine oder andere Einzelheit, die er sich gerade in der Bibliothek anlesen will.« Daart ließ die Hände wieder sinken. »Aber Schluss jetzt. Geh an den Schalter.« Thross schien noch etwas sagen zu wollen, doch als er Daarts entschlossenen Gesichtsausdruck bemerkte, drehte er sich schweigend um und trat an das Schaltpult. Daart schenkte ihm keinen einzigen Blick. Er atmete tief durch, legte die Hände so übereinander, wie Thross es ihm zuvor gezeigt hatte, und versuchte, die Finger zu spreizen, was ihm nur sehr unvollkommen gelang … »Bist du so weit?«, fragte Thross. »Ja, gleich.« Er zwang seinen linken kleinen Finger, sich so weit wie nötig abzuspreizen, was er nur äußerst widerwillig und unter Schmerzen tat. Seine zerschlagenen Hände hatten in dieser Pose kaum noch etwas Menschliches, sahen eher aus wie die schlagbereit erhobene Klaue eines Ungeheuers. »Jetzt«, brüllte er. Er hätte vielleicht zählen sollen oder Thross noch einmal vorwarnen, aber dieser Gedanke kam ihm erst, als seine Finger bereits in die Mulde fuhren. Grelle Lichtblitze schossen zwischen den Ritzen seiner Finger hindurch, und gleichzeitig raste eine Hitze393
welle durch seine Handfläche und seine Unterarme hinauf. Sein Schrei überlagerte das Bersten und Krachen, das überall um ihn herum erklang. Er versuchte die Hände zurückzureißen, aber es gelang ihm nicht. Er hing wie festgeklebt in den Fingermulden. Etwas surrte direkt neben ihm, dann begann es sich vor ihm zu drehen und gleichzeitig vor und zurück zu schieben und zu vibrieren, alles auf einmal, seine Sinne überfordernd. Der Wärmestoß erreichte seine Schultern und jagte weiter … Er versuchte sich mit aller Gewalt zu lösen, sich mit den Füßen abzustoßen, zurückzuspringen. Es wäre ihm wohl kaum gelungen, wenn nicht Thross in diesem Moment da gewesen wäre, ihn am Arm gepackt, sich gegen die Apparatur der Sternengeborenen gestemmt und nach hinten geworfen hätte. Der Junge war schmächtig, aber erstaunlich stark, und vor allem von einer Entschlossenheit erfüllt, die Daarts in keiner Weise nachstand. Ein scharfer Ruck ging durch Daarts Finger, erst durch seinen Ring-, dann durch seinen Mittelfinger, dann löste sich die ganze Hand. Durch den Schwung wurde er nach rechts gerissen, und das so heftig, dass seine Schulter krachte, als würde sie ausgekugelt. Dann kam auch seine linke Hand frei, und er stolperte nach hinten. »Vorsicht!«, schrie Thross. Daart starrte nach oben, zur Decke. Überall blitzte und flackerte es, ganz ähnlich, wie Thross es auf dem Zauberpapier gesehen hatte. Die Anlage erwachte zum Leben. Aber sie tat es einem Bär gleich, der gewaltsam 394
aus dem Winterschlaf gerissen und mit hell flackernden Fackeln und harten Stockschlägen hochgejagt wurde und nun wild um sich schlug. Irgendetwas löste sich von der Decke und krachte nieder. Ein Stück weiter stieg Rauch aus einer der Apparaturen der Sternengeborenen; es war kein verdrehter, in sich gekrümmter, sondern ganz normaler, irdischer Rauch, der den Geruch von Verschmortem und Verbranntem mit sich führte. In der Schaltanlage hinter ihnen krachte es, und dann barst etwas, winzige Gehäuseteile und Splitter wurden durch die Luft geschleudert. Sie hatten die Anlage zum Leben erweckt. Aber entweder wehrte sie sich auf ihre ganze eigene Art gegen diese Prozedur, oder sie war einfach so altersschwach, dass sie ihnen letztendlich um die Ohren fliegen würde. Thross zerrte Daart mit sich durch das Chaos, weg von den bedrohlich fremdartigen Apparaturen und auf die einzigen Hinterlassenschaften der Alten zu, die noch halbwegs unversehrt wirkten. Daart ließ es willenlos mit sich geschehen. In seinen Armen schien die Hitze vor und zurück zu fließen, so als könne sie sich nicht entscheiden, wohin sie wolle. Seine Hände aber brannten, als hätte er sie in ein offenes Feuer gesteckt, um zu testen, bei welcher Temperatur sich das Fleisch von den Knochen löste. »Die Waffe«, kreischte Thross. »Wenn sie uns um die Ohren fliegt, ist alles verloren.« Daart hatte nicht die geringste Ahnung, was es mit dieser ominösen Waffe auf sich hatte. Und wenn er ehrlich war, wollte er das auch gar nicht wissen. »Irgendwo hier muss es eine Sicherheitsschaltung ge395
ben.« Thross zerrte an Daart herum, stolperte über aufgeplatzte Leitungen, vorbei an rotierenden, sich überschlagenden Formen, die sich aus den Apparaturen lösten, als wollten sie Jagd auf sie machen; ein Durcheinander, dem Daart weder einen Sinn abgewinnen konnte noch wollte. »Wenn wir die erwischen …« Daart kam nicht dazu, sich zu fragen, warum ein Junge, der sich jahrelang durch die engsten und dreckigsten Spalten des Schattengebirges gequält hatte, Worte in den Mund nahm, von denen er selbst noch nie das Geringste gehört hatte. Aber Sicherheitsschaltung klang gut, sehr gut sogar. Es klang nach etwas, das diesen ganzen Wahnsinn hier aufhalten konnte. »Hier runter!« Thross bückte sich, und da er viel kleiner war, kam er noch rechtzeitig unter der Verstrebung hindurch, die plötzlich vor ihnen aufgetaucht war. Daart war zwar nicht wesentlich langsamer als er, aber ungleich größer. Er wollte sich von Thross losreißen und abbremsen, aber stattdessen knallte er mit dem Kopf voll gegen die Strebe. Als er in den Beinen einknickte, glaubte er, sich aus der Bewegung wieder nach oben federn zu können. Aber das ging nicht. Er rutschte ab. Zuerst glaubte er, es seien seine Beine, die ihm nicht mehr gehorchen wollten. Doch dann taumelte er nach vorn, als der Boden unter ihm wegrutschte, fast langsam und gemächlich. Er griff nach oben, packte zu und bekam die Strebe zu fassen. Der Schmerz, der durch seine Hände jagte, war fast mehr, als er ertragen konnte. Um ein Haar hätte er wieder losgelassen. Doch dann sah er, was unter ihm war – nämlich ein sich immer weiter in Schräglage absenken396
der Boden, und darunter etwas, das seine Augen überhaupt nicht erfassen konnten. Es war eine Wölbung, aus Glas oder einem ähnlichen Material, in allen Farben schillernd und doch durchsichtig und so riesig, dass er von seiner Position aus weder einen Anfang noch ein Ende erkennen konnte. Das musste das sehende Auge sein, von dem der Älteste gesprochen hatte, von dem aus man alles in seiner Umgebung beobachten konnte, ohne selbst wahrgenommen zu werden. Es sah unglaublich … groß aus. Beeindruckend und auf eine schwer zu erklärende Weise gleichermaßen befreiend wie bedrückend. Und es verschluckte Thross. Der Junge fiel, rutschte ab; eines von beiden oder beides zusammen, es schien keinen großen Unterschied zu machen. Genau erkennen konnte Daart nicht, was mit dem Jungen geschah, außer, dass er an der Wölbung herabrutschte, schneller und schneller werdend und direkt auf den Mittelpunkt zu. »Daart!« Der Junge drehte sich im Fallen um. Seine Arme und Beine schlackerten hin und her, dann hatte er seine Lage einigermaßen stabilisiert – und es schien Daart für einen flüchtigen Augenblick, als winke er ihm zu. »Komm! Spring!« Daart hätte nichts lieber getan, als loszulassen. Aber Thross’ Aufforderung kam ihm verrückt vor. Er wusste nicht, was ihn dort unten erwartete. Es sah jedenfalls nicht so aus, als ob sie dort die Waffe fänden, hinter der der Älteste her war … Thross raste auf die Mitte des überdimensionierten Auges zu und jagte darüber hinweg, nur um dann wie397
der zurückzurutschen, erneut über die Mitte hinweg. Dabei drehte er sich ein paar Mal um seine eigene Körperachse. Es sah nicht länger gefährlich aus, sondern eher lächerlich. Daart zögerte. Seine Hände, mit denen er sich nach wie vor verzweifelt anklammerte, waren ein einziger brennender Schmerz. Er hätte dennoch nicht losgelassen. Sein angeborener Trotz und das jahrelange harte Training hatten dazu geführt, dass er für lange Zeit Schmerzen ignorieren konnte; manchmal sogar deutlich länger, als gut für ihn war. Aber das, wovor sie geflohen waren, holte zumindest ihn jetzt ein. Irgendetwas zischte, lauter und gefährlicher, als ein Drache es je vermocht hätte. Dann gab es einen Knall, und noch einen und noch einen. Eine ganze Reihe von Explosionen, keine für sich genommen besonders heftig. Aber sie rasten heran. Durch die Verstrebung, an der Daart hing, ging ein Schütteln wie durch einen dürren Ast, auf dem ein Raubvogel niedergeht. Die erste Erschütterung konnte er noch ausgleichen, doch schon bei der zweiten lösten sich die Finger seiner rechten Hand von ihrem Halt, und als aus den Erschütterungen ein regelrechtes Beben wurde, rutschte er endgültig ab. Der Sturz in die Tiefe war anders, ganz anders, als er erwartet hatte. Er prallte hart auf der bunt schillernden und doch durchsichtigen Krümmung auf, wurde herumgeschleudert. Das Material aber gab nach, wurde weich, verformte sich, wo auch immer er sich gerade befand. Es war, als glitte er in der festen und doch nachgiebigen Faust eines Riesen herab, schneller und schneller werdend, auf den tiefsten Punkt zu. Es gab nichts, an dem 398
er sich hätte festhalten können, nichts, woran er sich zu orientieren vermochte … Zumindest nichts innerhalb der Krümmung. Aber dafür außerhalb. Er versuchte sich auf den Rücken zu drehen, rollte über die Schulter ab, doch ein Stück zu weit. Und er blickte hinaus auf das, was sich unter und neben ihm abspielte. Es war ein so unglaublicher Anblick, dass er sich vor lauter Aufregung verschluckte und verzweifelt seine Schlingerbewegung abzubremsen versuchte. So rutschte er auf die Schlacht zu, die in den Tiefen des unter ihm liegenden Tals um den Drachenturm entbrannt war. Das eigentliche Kampfgeschehen war noch ein ganzes Stück weit entfernt, und das in jeglicher Hinsicht, sowohl der Länge als auch der Höhe nach gerechnet. Daart sah auf den ersten Blick nicht mehr als eine riesige Staubwolke, die vom Boden aufstieg und vom Wind verwirbelt wurde, und dann metallisches Aufblitzen und Reflexionen, ineinander verkeilte Bewegungen, deren Sinn und Stoßrichtung er nicht erkennen konnte. An seine Ohren drang die entfernte Ahnung von Schlachtenlärm, das vielfache Aufeinanderprallen von Metall und Leder und wuchtigen Körpern, die Kampfschreie Angreifender und die Schreie Getroffener: all das ein wirres Durcheinander, vom Wind zerrissen und ohne Sinn und Verstand wie immer dann, wenn Menschen und Tiere im Blutrausch übereinander herfallen. Bevor er auch nur einen klaren Gedanken fassen und eine Entscheidung treffen konnte, bevor er seine eigene Bewegung auch nur so weit koordiniert hatte, dass er aus seinem Schlingern eine halbwegs geradlinige 399
Rutschpartie gemacht hatte, wurde sein Kopf in die andere Richtung geprellt, und er sah … Lederdrachen. Drei, vier, fünf, die sich allein in sein Blickfeld schoben. Sie hatten die Flügel angelegt, als wollten sie gerade in den Sturzpflug übergehen. Einer von ihnen sauste dicht unter Daart hinweg. Er sah das schwarze Haar seiner Reiterin im Flugwind flattern, den schimmernden Knauf ihres Schwertes, ihre Hände, die sich in die Griffmulden krallten, während sie sich tief hinabbeugte. Er sah alles so nah und deutlich vor sich, als sause er auf Feuersturm hinter diesem Drachen durch die Lüfte. Dann entglitt ihm der Drache, als er hinab zu den anderen tauchte, die in Angriffsformation ihrem Ziel entgegenschossen. Daart sauste in die andere Richtung, auf den Mittelpunkt dessen zu, was wohl tatsächlich nichts anderes als ein großes Auge war. »Vorsicht!«, schrie Thross. Der Junge versuchte aus dem Weg zu hüpfen, als Daart auf ihn zujagte. Er sprang hoch, fiel zurück, versuchte sich selbst einen anderen Drall zu geben, als er wieder hochgefedert wurde. Daart zischte haarscharf an ihm vorbei, über den tiefsten Punkt hinaus, nur um dann gleich wieder zurückzuprallen. In dem Versuch, seine Bewegung zu bremsen, war er nicht vorsichtig genug; er drehte und verkantete sich so, dass er plötzlich mit dem Gesicht über das glatte und doch nachgiebige Material rutschte. Es tat weh, aber das war es nicht, was ihn einen dumpfen Entsetzenslaut ausstoßen ließ. Einer der Drachen hatte kehrtgemacht. Irgendetwas 400
schien mit seinen Flügeln nicht zu stimmen; er bewegte sie kräftig, aber nicht vollkommen gleichmäßig, sodass es aussah, als tänzele er leicht hin und her, statt einfach geradeaus zu fliegen. Daart wusste sofort, wer er war, noch bevor er weitere Einzelheiten ausmachen konnte. Zuckerbrot. Und auf seinem Rücken saß eine Reiterin, die sich auf den ersten Blick nicht von den anderen unterschied und Daart doch merkwürdig bekannt vorkam. Sie trug die gleiche derbe Kleidung wie alle anderen, und auch ihre schwarzen Haare flatterten im Wind. Und doch … Daart verspürte einen scharfen Stich in der Magengegend. Mit aller Kraft versuchte er zu bremsen und den Kopf gleichzeitig so weit zu drehen, dass er der Flugbahn des Drachen folgen konnte. Er verdrehte sich dabei so unglücklich, dass er stattdessen vollends die Kontrolle über sich verlor und seine überstürzte Bewegung in einer Rolle endete, die ihn direkt auf Thross fallen ließ. »Vor … uppps …« Thross stieß keuchend die Luft aus, als Daart in ihn hineinpurzelte. Eng aneinander geklammert, schlitterten sie ein Stück weiter, bevor sie in eine lang gestreckte Kurve gingen und trudelnd in den Mittelpunkt rutschten. Daart ließ los und stieß Thross von sich, kaum dass seine Bewegungen einigermaßen zur Ruhe gekommen waren. Seine Augen suchten Zuckerbrot. Der Drache war ein Stück weit unter ihm weggetaucht. Und jetzt erkannte Daart auch, dass es kein Zufall war, dass sie hier so viele Drachen sahen: Sie befanden sich direkt über dem Einflugloch, in das Zuckerbrot bereits einmal mit ihm und Carnac eingetaucht war. 401
Jetzt war es nur Carnac, die auf seinem Rücken saß und sich verzweifelt festzuklammern versuchte, um bei der bevorstehenden harten Landung nicht aus dem Sattel geschleudert zu werden … Kaum hatte Daart diesen Gedanken gedacht, begriff er seinen Irrtum. Zuckerbrot war zu langsam, und er flog zu tief. Er würde es niemals bis ins Einflugloch schaffen, er würde schon vorher an dem Felsen zerschellen. Daart schrie auf, als Zuckerbrot mit einer verzweifelten Anstrengung hochzukommen versuchte. Seine verkrümmten, verwinkelten und doch noch immer mächtigen Schwingen schlugen wild. Er versuchte abzudrehen, aber zu spät, viel zu spät. Seine linke Schwinge streifte das Gestein, warf Moos und sich hartnäckig in den Spalten festklammerndes Wurzelwerk auf. Der Drache stieß ein wildes Kreischen aus, flatterte hoch, sodass es aussah, als ob er ein ganzes Stück an der Wand emporkletterte. Aber es war nichts weiter als ein verzweifeltes Manöver, das keine Rettung bringen konnte. »Nein!«, brüllte Daart. Er griff nach Thross, bekam ihn am Kragen zu packen, riss ihn an sich heran. »Tu was!«, herrschte er ihn an. Thross starrte ihn an, als sei er irre. Vielleicht war er das auch, in diesem Moment. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass Zuckerbrots verzweifelter Versuch, es einem Kolibri gleichzutun, in einer Katastrophe zu enden drohte. Statt Abstand von der Felswand zu gewinnen, hatte ihn eine Bö noch stärker hineingedrückt. Wäre er nur ein Stück weiter oben gewesen, dann hätte ihn der Windstoß in das Einflugloch geschoben, und er 402
wäre gerettet gewesen. Doch so sah es aus, als könne er den drohenden Absturz nur noch um wenige Augenblicke hinausschieben. Daart musste etwas unternehmen, »Ich will hier raus«, keuchte er. »Diese Blase zerstören. Ich muss zu Carnac!« »Und mit ihr abstürzen?« Thross schüttelte entschieden den Kopf. »Wir kommen hier nicht raus. Und das ist auch gut so.« Daart starrte Thross sprachlos an. »Was redest du da für einen Unsinn? Wir müssen sie hochziehen!« »Am besten noch mitsamt Zuckerbrot …« Daart schlug zu, bevor der Impuls zum Schlagen überhaupt seinen Verstand erreicht hatte. Thross’ Kopf wurde herumgeworfen. Der Junge reagierte darauf genau so, wie er selbst reagiert hätte: nicht weinerlich, sondern wütend. Er riss den Kopf wieder vor und funkelte Daart an. »Wir müssen hier auf den Ältesten warten«, zischte er. »Die Waffe …« »Ja. Die Waffe.« Daart schob Thross von sich weg und griff unter sein Gewand, dorthin, wo er das Messer versteckt hatte, das er Quarterma gestohlen hatte. Vielleicht reichte es. Es musste reichen. Er riss das Messer hervor. Ein Blick zurück überzeugte ihn, dass Zuckerbrot den ungleichen Kampf gegen die Schwerkraft und die ungünstigen Windverhältnisse immer noch nicht aufgegeben hatte. Er hatte sich sogar ein Stück hochgekämpft, versuchte offensichtlich mit allerletzter Kraft das im Felsenknick liegende Einflugloch zu erreichen. Doch so hektisch seine ungleichen Flügelschläge waren, so kraftlos wirkten sie. Da nutzte es 403
auch nichts, dass sich Carnac verzweifelt an dem Drachen festhielt, um bei den wilden Manövern nicht abgeworfen zu werden. Und schon gar nicht, dass Daart sie jetzt ganz genau erkannte; nicht nur an den vielen kleinen, für sie so typischen Bewegungen, sondern auch an ihrem Gesichtsausdruck mit den fest zusammengebissenen Zähnen, als sie den Kopf in Richtung der Einflugschneise wandte. »Wir brauchten ein Seil!«, schrie ihm Thross ins Ohr. »Und ein Loch in dieser verdammten Blase«, gab Daart zurück. Er setzte die Messerspitze an, um sie tief in das Material zu stoßen. Thross umklammerte mit aller Kraft sein Handgelenk. »Nicht! Du weißt ja nicht, was du da tust!« Ganz kurz flackerte vor Daart das Gesicht des Ältesten auf, wie er ihn ermahnt hatte, nicht noch einmal eigenmächtig zu handeln. Dann wurde es durch die Realität ersetzt, durch das, was mit dem angeschlagenen Drachen und seiner Reiterin geschah. »Ein Seil würde uns nichts nützen, wenn wir es nicht werfen könnten«, murmelte Daart. »Also brauchen wir ein Loch in diesem verdammten Ding.« »Wir haben doch gar kein Seil!« »Nein. Aber in der Drachenhöhle gibt es genug davon.« Daart stieß das Messer mit aller Kraft in die Außenhaut des Auges. Seine überstrapazierte Hand reagierte dabei mit einer so wilden Schmerzattacke, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Als er wieder klarer sehen konnte, starrte er entsetzt auf das, was er angerichtet hatte. Die schillernde Außenhülle hatte nur einen winzigen, haarfeinen Riss be404
kommen – was immerhin bewies, dass sie nicht unverletzlich war und ihr mit roher Gewalt beizukommen war –, aber das, was aus dem winzigen Schnitt quoll, war etwas, das er nicht im Geringsten erwartet hatte. Es sah aus wie zähes, dickflüssiges Blut. Auch die Messerspitze war rot gefärbt, so, als hätte er sie in einen menschlichen Leib gerammt und nicht in eine von den Alten auf künstliche Weise geschaffene Außenhaut. Und trotzdem – darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Wieder und wieder stieß Daart zu. Obwohl es jedes Mal und immer heftiger rot hervorsprudelte, hatte er eher das Gefühl, in das harte Holz einer hundertjährigen Buche zu stechen, als in etwas, das menschlicher Haut und menschlichem Fleisch ähnelte. Es steigerte nur seine Entschlossenheit. Die anfangs beinahe unerträglichen Schmerzen in der Hand nahm er mittlerweile kaum noch bewusst wahr, genauso wenig wie den Umstand, dass mittlerweile nicht nur seine Hand, sondern auch sein Arm rot besudelt waren. Dafür aber bemerkte er etwas anderes. Es stieg langsam und fast bedächtig in ihm empor, so leise erst, dass er es kaum registrierte, ein Gewisper und Geraune, das nichts mit ihm zu tun zu haben schien und ihm doch auf merkwürdige Weise ganz nah war. Bevor er auch nur annäherungsweise begriff, was da mit ihm passierte, steigerte es sich, wurde mit jedem Laut schlimmer und heftiger. Es war wie ein vielstimmiger Aufschrei, ein schreckliches Gemisch aus vielen verschiedenen Stimmen und Lauten. Verrückterweise hatte er das Gefühl, dass sie aus der von ihm geschlagenen Wunde hervor405
schallten und gleichzeitig in ihm selbst ertönten. »Hör auf!«, schienen die Stimmen zu rufen. »Lass ab!«, »Versündige dich nicht!« Der Magen drehte sich ihm um, und dicke Schweißperlen tropften von seiner Stirn auf die blutverschmierte Hand. Sein Arm begann zu zittern, ob aus Überlastung oder als Reaktion auf das, was er da zu hören glaubte, wusste er nicht. Es war auch ohne Bedeutung für ihn. Alles, was ihn in diesem Augenblick kümmerte, war Carnac. Er hatte nicht nur gesehen, dass sie in Gefahr war, er spürte es auch, mit jeder Faser seines Körpers, beinahe so, als hocke er selbst auf dem Drachen und versuche sich klein und leicht zu machen, um die verzweifelten Ausgleichsbewegungen Zuckerbrots nicht noch unnötig zu erschweren. Die Mischung aus Hilflosigkeit und Entsetzen, die Carnac gepackt hielt, wurde zu seiner eigenen, aber auch ihre Entschlossenheit, der Wille, alles zu tun, um die drohende Katastrophe zu verhindern. Dummerweise konnte sie kaum etwas ausrichten. Ganz im Gegensatz zu ihm. Sie war in Gefahr, und er musste alles daran setzen, sie zu retten, so einfach war das. Erst nach dem fünften oder sechsten Stich hatte er das Gefühl, dass die Haut anfing nachzugeben. Spät, viel zu spät. Zuckerbrot hatte es mittlerweile geschafft, sich halb zu drehen und ein kleines Stück von der zerklüfteten Wand im Schatten des Überhangs wegzukommen. Aber dummerweise war er gleichzeitig ein weiteres Stück abgesackt. Er taumelte und schwankte wie ein Besoffener, der seine eigene Haustür nicht mehr findet. 406
»Du willst zu der Höhle rüberspringen, nicht wahr?« Thross’ Stimme kippte fast über. »Aber das ist viel zu weit!« »Drachen rettet man mit Seilen«, stieß Daart mühsam hervor. »Und in der Höhle sind genug davon. Wir müssen es einfach schaffen!« »Das ist doch Wahnsinn«, wandte Thross ein. »Selbst wenn du da rüber kämest: Willst du etwa den Drachen mit purer Muskelkraft hochziehen?« »Dort sind sicherlich andere Drachen, die ich einspannen kann.« Daart stieß erneut so kraftvoll mit dem Messer zu, wie er nur konnte. Der Aufschrei der Stimmen steigerte sich zu einem unerträglichen Gezeter und Gejammer, schlug ihm jetzt aus allen Richtungen entgegen, drang in seinen Kopf, in seine Gedanken ein, überflutete ihn. Er stöhnte auf, ließ beinahe die Waffe fallen. Der Impuls, die Hände auf die Ohren zu pressen, um diese fürchterlichen Stimmen zum Verstummen zu bringen, wurde übermächtig. Es waren schrille, sich überschlagende Stimmen, vollkommen unverständlich mittlerweile, aber auch genauso klar in ihrer Botschaft. Er solle ablassen von dem Frevel, den er beging, er solle aufhören, aufhören, aufhören. Aber er dachte gar nicht daran. Was getan werden musste, musste getan werden. Er hatte Carnac wiedergefunden, in all dem Chaos hier, und er hatte nicht vor, sie einen vollkommen sinnlosen Tod sterben zu lassen und dabei noch tatenlos zuzusehen. Er packte den Messergriff so fest, wie er nur konnte, bereit, erneut zuzustechen, egal was als Nächstes geschehen würde. »Da, sieh!« Thross deutete an Daart vorbei auf das 407
schwarze Loch, in dem Zuckerbrot hatte niedergehen wollen. Hilfreiche Hände waren dort erschienen, und im Gegensatz zu ihm hielten sie ein, nein, mindestens zwei oder drei Seile; und im Hintergrund glaubte Daart die dunklen Schatten mehrerer Drachen zu erkennen. Der Anblick schien Zuckerbrots letzte Reserven zu mobilisieren. Seine arg ramponierten Schwingen flatterten noch einmal kraftvoll auf. Statt voran bewegte er sich allerdings rückwärts, schob sich immer näher an die Stelle heran, an der Daart wie ein Verrückter mit seinem Messer herumsäbelte … und jetzt erschrocken innehielt. »Was willst du?«, fragte Thross panisch. »Dich auf Zuckerbrot fallen lassen – damit er wie ein Stein abstürzt?« Daart spürte ein Gefühl schrecklicher Hysterie in sich emporkriechen. Wieder einmal, nicht wahr?, höhnte die innere Stimme. Du hast schon wieder einmal alles verkehrt gemacht. Und wer ist es diesmal, der für deine Undiszipliniertheit büßen soll? Thross? Geschlagen hast du ihn ja schon, warum ziehst du ihm nicht auch noch das Messer übers Gesicht, bevor du dich auf Zuckerbrot fallen lässt und ihn und Carnac mit in den Tod reißt? Der Drang, genau das zu tun, was die innere Stimme so höhnisch vorgeschlagen hatte, wurde schier übermächtig. Wenn er schon alles so schrecklich falsch gemacht hatte, dann konnte er diesen ganzen Wahnsinn auch mit einer entsprechenden Tat zu Ende bringen. Thross musste das irre Funkeln in seinen Augen gesehen haben, denn er sprang zurück. Die Wölbung des Auges, in dessen Zentrum sie standen, war nicht allzu 408
groß, und doch geriet er ins Taumeln. Er schlug wild mit den Armen um sich, um das Gleichgewicht wieder zu finden. Sein Blick riss sich von Daart los, und dann starrte er nach oben. Irgendetwas passierte mit seinem Gesicht. Seine Züge entgleisten. Daart, noch in der Hocke, das Messer neben sich auf Hüfthöhe in einer Haltung, in der er es jederzeit nach oben ziehen konnte, während er selbst aufsprang, erstarrte. Verzweifelter Zorn hielt ihn nach wie vor in festem Griff, aber es erwachte auch etwas in ihm. Vielleicht war es nicht mehr als pure Neugierde, die ihn ebenfalls nach oben sehen ließ. Was er sah, raubte ihm fast den Verstand. An der Verstrebung, an der er sich eben noch verzweifelt festgeklammert hatte, um nicht in das Auge abzurutschen, hing jetzt jemand anderes. Wer es war, war unschwer zu erkennen. Er hatte lange weiße Haare, hielt sich aber nur mit einer Hand fest, während er mit der anderen ein Pergament wild hin und her schwenkte. »Ich hab’s!«, schrie der Älteste. »Ich habe die Waffe gefunden!«
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7 Als sich Daart endlich von dem Anblick abgewandt hatte, war Zuckerbrot längst aus seinem Sichtfeld verschwunden. Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Seine Augen glitten fieberhaft über alles, was er von hier oben einsehen konnte: die Staubwolke über der Schlacht, zu der jetzt beißender Qualm hinzugekommen war, der die Sicht zunehmend erschwerte, die zerklüftete Ebene und das Bett des kleinen Flusses, der durch das Tal schnitt. Keine Spur von Zuckerbrot. Auch als sich Daart in Richtung des Drachenturms drehte, erkannte er nicht den geringsten Hinweis auf Carnacs Verbleib oder den irgendeines anderen Drachen. Schließlich ließ er sich auf Hände und Füße nieder und starrte nach unten. Der Anblick und die überwältigenden Gefühle, die dabei in ihm aufstiegen, ließen etwas in ihm gefrieren. Er spürte den dumpfen Schmerz, der noch immer in seinen Händen wühlte, das Hämmern seines Herzens; aber auch etwas anderes, das ganz und gar nicht ihn und seinen Körper betraf, sondern den von Carnac. In ihrer größten Not schien sich seine Wahrnehmung zu erweitern und aus ihm herauszufließen, zu Carnac hin, alles aufzunehmen und aufzusaugen, was sie im Zustand des tiefsten Entsetzens empfand. Es war so, als sähe er mit zwei Augenpaaren, einem inneren und einem äußeren. Leider passte beides zusammen; das gefährlich zerklüftete Gelände, auf das er herabstarrte, und der 410
jähe Schmerz, den er fühlte, als sich Carnac auf dem steinigen Untergrund zu bewegen versuchte, auf dem sie zuvor aufgeschlagen sein musste. Es war, als hätten sie ihre Positionen getauscht, zumindest einseitig, als wäre ein Teil von ihm in Carnac geschlüpft, um dort, in dem fremden und ihm doch so vertrauten Körper, zu verbleiben und alles wahrzunehmen, was sie selbst auch empfand. Er wusste nicht genau, wo sie war, aber er spürte ihren Schmerz, als sei es sein eigener. Die Hand, deren Empfindungen er in diesem Moment so überdeutlich wahrnahm, war nicht die seine, genauso wenig wie die Entschlossenheit, sich in irgendetwas zu verkrallen, das festen Halt versprach. Es war ein ganz und gar verrücktes Gefühl, übermächtig und gnadenlos, und es nahm immer mehr zu, verdichtete sich zu etwas, das sein ganzes Denken und Fühlen überschwemmte. Nicht nur die Hand, mit der Carnac jetzt gerade im Begriff war, eine Wurzel zu umklammern, um sich hochzuziehen, heraus aus der Senke, in die sie gestürzt war, schien ihm selbst zu gehören, sondern auch der stechende Schmerz im Bein und das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er kniff die Augen gewaltsam zusammen und versuchte sich von der Verzweiflung und dem Schmerz zu lösen, die Carnac erfasst hatten und die er auf unfassbare Weise mit ihr teilte. Das Blutritual. Thross hatte nicht nur ihrer beider Handgelenke in den mit ihrem Blut und Schlangengift gefüllten Silberhelm getaucht, er hatte dabei auch behauptet, dass sie sich künftig noch weitaus näher sein würden als je zuvor. Irgendetwas musste da dran sein. Doch das Gefühl der Verbundenheit entglitt 411
ihm genauso schnell, wie es ihn überschwemmt hatte. Eben war noch alles so überdeutlich gewesen. Er hatte das qualvolle Hineinpressen der Luft in Carnacs Lungen gespürt und jeden einzelnen schmerzenden Knochen und Muskel. Jetzt zerfloss alles in einem diffusen Brei von Empfindungen. Es machte ihm Angst. Vielleicht war Carnac ja dabei, das Bewusstsein zu verlieren. Er riss die Augen wieder auf, beugte sich ein Stück vor, drehte den Kopf, ließ den Blick schweifen. Er sah weder einen zerschmetterten Drachen noch den zerschlagenen Körper einer schwarzhaarigen Frau in der rauen Lederkluft der Drachenreiterinnen. Aber das hatte überhaupt nichts zu bedeuten. Dort unter ihm war das Gelände so rau und zerklüftet, so voller Felsformationen, die jäh aufragten, und durchzogen von dunklen, zugewucherten Mulden, dass Carnac in irgendeiner Spalte liegen konnte, ohne dass er auch nur die geringste Chance gehabt hätte, sie von hier oben zu entdecken. Carnac war abgestürzt, und er konnte ihr nicht helfen, das war die bittere Wahrheit. Er hatte versagt. Wieder einmal. Als er sich erhob, mühsam und sich mit äußerster Gewalt dazu zwingend, füllte ihn die Kälte vollständig aus. »Daart«, flüsterte Thross. »Was ist mit dir?« Er antwortete nicht. Er nahm kaum wahr, dass der Junge vor ihm stand. Es kümmerte ihn auch nicht. »Die Waffe«, fuhr Thross fort. »Der Älteste hat sie gefunden. Wir müssen zu ihm!« Die Waffe? Daart schüttelte den Kopf. Was sollte das? 412
Er jedenfalls brauchte keine Waffe. Schon ohne Waffe war er in der Lage, die schlimmsten Katastrophen anzurichten. »Hier!« Thross trat einen Schritt vor und hielt ihm ungeduldig etwas entgegen. Daart blinzelte, und erst dann sah er hoch. Es war das lose Ende eines Seils, das in Thross’ Hand baumelte. Der Älteste musste es ihm wie einen Rettungsanker aus einer anderen, besseren Welt zugeworfen haben. Aber auch das ging Daart nichts mehr an. »Carnac stirbt«, murmelte er. »Unsinn.« Thross kniff die Augen zusammen, als er Daarts Blick begegnete. »Wirklich Unsinn! Der Drache, auf dem sie saß, war angeschlagen, ich weiß. Aber sie wird irgendwo gelandet sein.« »Gelandet?« Daarts Stimme kippte fast. »Hast du dir das Gelände unter uns angesehen? Da kann kein Drache der Welt landen. Es ist zerklüftet, voller scharfer Vorsprünge …« »Ja«, sagte Thross heftig. »Ein schwieriges Gelände für jeden Angreifer, der es wagen sollte, sich zu Fuß dem Drachenturm zu nähern. Selbst Nubinas Heer wird es schwer haben, diesen natürlichen Festungsring zu durchbrechen.« Daart schüttelte den Kopf. »Darum geht es mir nicht. Sondern darum, dass dort unten kein noch so geschickter Drache landen kann. Und dass Carnac deshalb stirbt!« Thross starrte ihn an. In seinem Blick veränderte sich etwas. Seine Wange war von Daarts Schlag noch rot geschwollen, aber in seinen Augen spiegelte sich eine 413
wilde Entschlossenheit. »Natürlich können dort Drachen landen. An geheimen Plätzen. Jeder Drache und jede Drachenreiterin kennt sie.« Er drückte Daart das Seil so ungestüm in die Hand, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als zuzugreifen und es festzuhalten. »Und jetzt nimm das hier. Klettere hoch, wenn du das mit deinen zerschlagenen Händen schaffst. Oben wartet der Älteste auf uns.« »Aber Carnac …« »Wirst du hier nicht finden, und wenn du noch so viel rumjammerst.« Daart starrte den Jungen wortlos an. Thross erwiderte mühelos seinen Blick … anfangs, dann aber begann etwas in seinen Augen zu flattern. »Bitte«, fügte er hinzu. »Wenn Carnac tatsächlich dort unten ist und deine Hilfe braucht, solltest du sehen, dass du jetzt erst einmal hier rauskommst. Und der einzige Ausstieg ist über uns.« Daart öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber in diesem Moment traf ihn die nächste Empfindung Carnacs, und diesmal war sie so heftig, dass er taumelnd in die Knie ging. Ein dumpfer Laut kam über seine Lippen, kein Stöhnen, sondern etwas anderes. »Was ist los?«, fragte Thross besorgt. »Nichts«, stieß Daart zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. In Wirklichkeit wusste er nicht, was los war. Die Empfindung, die ihn getroffen hatte, war von enormer Kraft und voller Schmerz gewesen, aber völlig unklar. Er wusste nur eines: Er musste sich beeilen. Entschlossen packte er das Seil und zog sich nach 414
oben. Er musste die Zähne ganz kräftig zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Seine Hände gehörten gekühlt, mit einer Heilpaste bestrichen und frisch bandagiert – und dann mindestens zwei Wochen in Ruhestellung belassen. Eine Vorstellung, die angesichts der Situation, in der er sich befand, vollkommen lächerlich war. Er war kaum losgeklettert, als er einen Ruck im Seil spürte. Thross. Er hatte sich ebenfalls das Seil geschnappt und kletterte nun nach oben, so schnell und geschickt, dass er gleich darauf wieder abbremsen musste, um nicht von Daarts Stiefeln getroffen zu werden. »So geht das nicht«, knurrte Daart. »Du bist schneller als ich. Viel schneller.« »Ich hätte vor dir hochklettern sollen«, gab ihm Thross Recht. »Ja. Und das kannst du immer noch.« Daart umklammerte das Seil so gut es ging mit Händen und Füßen und presste sich eng daran. »Klettere einfach über mich hinweg.« »Aber ich kann doch nicht …« Als Daart den Kopf drehte und zu ihm hinabsah, verstummte Thross mitten im Satz. »Ja, schon gut. Kein Problem.« Und das war es wirklich nicht. Mit wenigen geschickten, Kraft sparenden Bewegungen war Thross an ihm vorbei und zog sich weiter nach oben. Unter normalen Bedingungen hätte ihm Daart mühelos folgen können. Doch noch immer geschwächt durch den Blutverlust, den ihm der Tanz der Messer eingebracht hatte, und gehandikapt durch seine schweren Handverletzungen, war er schon froh, überhaupt voranzukommen. 415
Das Seil schien kein Ende zu nehmen. Thross war längst über ihm verschwunden – wie auch der Älteste, wie Daart mit einem Blick feststellte. Wahrscheinlich waren sie in der Waffenkammer dabei, die ominöse Waffe auf ihren Einsatz vorzubereiten, mit der sie Nubinas Heer aufzuhalten hofften. Sollten sie nur. Daart hatte weder vor, sich ihnen in den Weg zu stellen, noch sie dabei zu unterstützen. Zumindest nicht im Augenblick. Die dünne Schnur, die seine und Carnacs Empfindungen miteinander verband, schien immer wieder zu reißen; doch jedes Mal schoss kurz darauf eine scharfe Schmerzempfindung durch seinen Körper, als versuche Carnac verzweifelt, eine andere Position einzunehmen oder auch nur gegen die schwarzen Schleier zu kämpfen, die sie mit auf eine Reise in die Ewigkeit nehmen wollten. Daart dachte an nichts anderes mehr als daran, dass er so schnell wie möglich aus diesem verdammten Drachenturm raus musste, um sie zu suchen, ihr zu helfen. Die Vorstellung, dass sie irgendwo in ihrem eigenen Blut lag und nur deshalb starb, weil er hier unnötig Zeit vertrödelte, war unerträglich. Irgendwann hatte er wenigstens die Hälfte des Weges zurückgelegt. Sein Atem ging rasselnd, und von seiner Stirn perlten dicke Schweißtropfen. Wenn er nicht riskieren wollte abzustürzen – und damit wäre Carnac am wenigsten gedient –, brauchte er dringend eine Pause. Erneut klammerte er sich mit Händen und Füßen ganz nah am Seil an. Es war eine Haltung, die seine Hände weitgehend entlastete und es ihm ermöglichte, aus seinem rasselnden wieder in einen normalen Atemrhythmus zu finden. 416
Kurz bevor er weiterklettern wollte, warf er einen Blick zurück. Von hier oben aus wirkte die Sicht durch das Auge verzerrt und merkwürdig verfremdet. Und doch konnte er manche Einzelheiten fast klarer erkennen als zuvor. Er wünschte sich beinahe, das wäre nicht der Fall. Es waren winzige, krabbelige Bewegung dort unten. Immer wieder blitzte es auf, Licht, das sich auf dem Metall von Waffen und Ausrüstungsgegenständen spiegelte. Nubina trieb ihr Heer in die Schlünde und Abgründe vor dem Drachenturm. Was das bedeutete, konnte sich Daart unschwer vorstellen. Das, was er für eine Schlacht gehalten hatte, war offenbar nicht viel mehr als ein kleines Scharmützel gewesen, kaum dazu geeignet, den Vormarsch des Riesenheers auch nur ernsthaft ins Stocken zu bringen. Das verringerte Carnacs Überlebenschancen drastisch. Daart fuhr herum, etwas zu heftig, sodass er fast den Halt verlor und das Seil unangenehm lange nachwippte. Er achtete nicht darauf. Nubina, die Frau, die er mehr hasste als alles andere auf der Welt, war im Begriff, ihm das Liebste zu nehmen, was er hatte. Und wie er sie kannte, würde sie das mit voller Absicht und grausamer Genugtuung tun, wenn ihr Carnac erst in die Hände fiele. Doch wahrscheinlich kam es gar nicht dazu. Viel wahrscheinlicher war, dass irgendein Guhulan oder Silberkrieger sie mit einem beiläufigen Schwerthieb tötete, wenn er sie neben dem sich im Todeskampf windenden Drachen im Staub liegen sähe. Die zweite Hälfte des Aufstiegs bewältigte Daart viel schneller als die erste. Dann hatte er endlich die Strebe 417
erreicht, an der das Seil festgebunden war. Mühsam und doch energisch pendelte er ein paar Mal hin und her, bevor er genug Schwung hatte, um sich abstoßen zu können und über den Rand hinwegzuspringen. Er kam direkt neben einem gefährlich gezackten Riss in der Kuppel heraus, der zuvor noch nicht da gewesen war. Und das war nicht das einzige Anzeichen der Zerstörung, die hier weiter gewütet hatte, als er und Thross schon aus der Kuppel geflohen waren. Ein Schaltpult der Alten qualmte wie ein mit nassem Laub geheizter Backofen, einige der Apparaturen der Sternengeborenen standen seltsam schräg, und aus dem Kuppeldach rieselte es wie nach einem schweren Sandsturm. Thross und den Ältesten entdeckte er erst, nachdem er ein paar Schritte in den Raum hinein gegangen war. Sie hockten nebeneinander auf dem Boden und studierten ein Pergament, das sie vor sich ausgebreitet und deren ausgerollte Seiten sie mit ein paar Trümmerstücken beschwert hatten. »Es ist doch alles wieder anders, als ich gedacht hatte.« Der Kopf des Ältesten fuhr zu Daart herum, blieb stirnrunzelnd an seinen verletzten Händen hängen und drehte sich dann wieder zurück. »Wir gucken uns gerade an, wie ihr am schnellsten aus dem Turm rauskommt.« »Wenn es um die Waffe geht …«, begann Daart mühsam. Thross stand auf, eilte Daart ein paar Schritte entgegen, blieb dann erschrocken stehen, als er seinen Blick bemerkte. »Hast … hast du noch etwas gesehen?« Als Daart nicht gleich antwortete, fuhr er fort: »Ich meine … irgendeine Spur von Carnac?« 418
»Nein«, sagte Daart hart. »Nicht von ihr. Aber es wimmelt dort unten von unzähligen Kriegern, die ganz eindeutig nicht auf unserer Seite stehen. Quartermas Amazonen scheinen sie nicht lange aufgehalten zu haben.« Der Älteste nickte, ohne aufzusehen. »Natürlich nicht. Quarterma verfügt über keine Fußtruppen.« Jetzt sah er doch auf. »Eigentlich über gar keine Truppen. Die Drachen sind eine fürchterliche Bedrohung für jeden Angreifer, der so verrückt ist, den Drachenturm stürmen zu wollen. Und das unwegsame Gelände tut das Übrige. Es war nicht nötig, darüber hinaus auch nur den kleinen Finger zu rühren, um einen zusätzlichen Verteidigungsring aufzubauen.« »Was sich jetzt rächt«, stellte Daart grimmig fest. »Was einer der Gründe für den immer wieder aufbrechenden Konflikt zwischen den Drachenreiterinnen und ihren Männern war«, bestätigte der Älteste. »Die Männer wurden seit Urzeiten von den Drachen fern gehalten. Sie wollten ihrem kriegerischen Temperament auf andere Weise Ausdruck verleihen, doch die Frauen ließen sie nicht.« Er seufzte. »Das rächt sich nun in doppelter Weise. Zum einen, weil es gerade die kraftvollsten unter den Männern waren, die gegen die Frauen rebellierten – und dann, nach ihrem niedergeschlagenen Aufstand, aus lauter Enttäuschung Kontakt mit den Guhulan aufnahmen. Und zum anderen, weil sie von den Frauen als Reaktion darauf so massiv unter Druck gesetzt wurden, dass jetzt nur die wenigsten von ihnen ein Schwert überhaupt richtig zu halten verstehen.« Er winkte Daart heran. »Aber genug jetzt davon. Es gäbe 419
sowieso nicht ausreichend Männer hier, um den Widerstand gegen Nubinas Heer auch nur um eine bedeutende Zeitspanne verlängern zu können. Wichtiger ist das, was ich über die Waffe herausgefunden habe.« »Das will ich nicht wissen«, sagte Daart grob. »Ich muss hier raus und zu Carnac. Sie braucht Hilfe.« »Die soll sie auch bekommen«, antwortete der Älteste. »Aber dazu musst du wissen, wie du sie findest. Und ich fürchte, das wird nicht ohne ein paar Vorbemerkungen gehen.« »Und ich fürchte, Ihr versteht mich nicht.« Daart streckte den Arm aus, um hinter sich zu zeigen, dort, wo er Carnac vermutete. Aber dann schwankte er und wäre fast gestürzt; der Blutverlust, den er geglaubt hatte, leicht wegzustecken, forderte nun doch seinen Tribut. »Dort liegt sie«, stieß er mühsam hervor. »Irgendwo dort, wo vielleicht schon in diesem Augenblick ein Guhulan sie entdeckt und sein Schwert hervorreißt …« »Mach dich nicht verrückt«, unterbrach ihn der Älteste scharf. »Damit hilfst du niemandem. Und jetzt setz dich zu mir.« Daart zögerte, doch dann folgte er der Aufforderung des Ältesten, wenn auch vielleicht nur, weil er sich sowieso nicht länger auf den Beinen hätte halten können. »Also«, sagte er knapp, während er sich mit ungelenken Bewegungen neben Thross in die Hocke niederließ. »Hier«, der Älteste deutete auf die Zeichnung inmitten des Pergaments. »Das ist sicherlich auch nur eine Kopie einer Kopie. Aber es ist das einzige Bild, das ich in der Bibliothek von der Waffe gefunden habe. Es ist vielleicht etwas ungenau – aber doch eindeutig.« 420
Daart nickte entgeistert. Der Älteste hatte vollkommen Recht. Die Zeichnung einer Blase, die über einem Abgrund schwebte, die Form und vor allem die schillernden Farben, in denen es dargestellt war, ließen keinen Zweifel zu. »Es ist das Auge«, murmelte er. »Ja.« Der Älteste lachte kurz auf. »Verrückt, nicht? Ich habe immer gedacht, es wären zwei ganz verschiedene Dinge, das Auge und die Waffe. So ähnlich, wie das Auge eines Bogenschützen etwas anderes ist als die Hand, die den Pfeil von der Sehne schnellen lässt. Dabei habe ich völlig außer Acht gelassen, dass Hand und Auge ja beide dem Bogenschützen gehören. Und hier ist es ganz ähnlich. Nur dass sich beides noch näher ist.« »Aber ich verstehe nicht.« Thross deutete auf die rot eingemalten Linien, die aus dem Auge ausbrachen, in einer fernen Felsformation einschlugen und sie durcheinander wirbelten. »Hier wird doch offensichtlich eine Szene festgehalten, wie die Waffe einen ganzen Felsenhang zum Einsturz bringt. Aber wie soll das funktionieren? Als Daart und ich unten im Auge waren, haben wir nicht den geringsten Hinweis auf irgendetwas gefunden, das Feuer spucken könnte.« »Weil es so etwas dort auch nicht gibt.« Der Älteste deutete auf einen anderen Teil des Bildes, der einen Halbkreis über einem ganzen Liniengewirr zeigte. Daneben standen krakelige, für Daart unleserliche Zeichen. »Das hat jemand hier später eingetragen. Es ist viel einfacher und schematischer … aber darauf kommt es nicht an.« »Könnt Ihr die Schrift lesen?«, hörte sich Daart zu seiner eigenen Überraschung fragen. 421
Der Älteste brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln. »Ich verstehe den Sinn der Worte, die dort vermerkt sind. Ihr ahnt sicherlich schon, dass dieser Halbkreis hier«, er fuhr die Krümmung mit dem Finger nach, »für die Kuppel steht, in der wir uns befinden.« »Und die Ihr wohl nicht ganz ohne Grund Waffenkammer nennt.« »Richtig. Die ihr aktiviert habt – und damit auch das Auge, dessen Zugang zuvor so gut verborgen war, dass ihn weder die Drachenreiterinnen noch sonst irgendjemand hätte entdecken können. Und von hier ab«, er deutete auf eine schmale Linie unterhalb des Halbkreises, »führt ein Treppenschacht hinab, dessen Zugang zu dieser Kuppel hier oben so lange verschlossen war, wie die Anlage im Todesschlaf lag. Dadurch, dass du sie zum Leben erweckt hast, müsste sich mittlerweile auch die Verriegelung gelöst haben. Wenn das so ist, kommt ihr von hier aus auf direktem Weg aus dem Turm.« Daart richtete sich auf. »Also, worauf warten wir noch? Dann kommen wir ja jetzt hier ganz schnell raus!« »Ja, aber nicht ohne dass du die Hintergründe kennst«, sagte der Älteste scharf. Er packte Daarts Handgelenk und zog ihn wieder zu sich herunter. »Wir müssen besprechen, wie wir weiter vorgehen. Sonst läufst du blind wie ein geblendetes Pferd in dein Verderben.« »Weiter vorgehen womit?« Daart deutete in die Richtung, aus der er gerade gekommen war. »Das Gelände dort unten ist so unwegsam, dass Dutzende, vielleicht 422
Hunderte Krieger bei dem Versuch, es zu überwinden, getötet werden. Trotzdem wird es Nubinas Heer nicht aufhalten können. Nichts und niemand wird es aufhalten können – schon gar nicht eine Waffe, von der Ihr doch im Grunde genommen wohl noch immer nicht genau wisst, worum es sich dabei handelt, geschweige denn, wie man sie bedient.« »Ich weiß vielleicht noch nicht alle Einzelheiten«, gab der Älteste zu. »Aber ich bin schon einen entscheidenden Schritt weitergekommen.« »Dann wäre es gut, wenn Ihr den letzten Schritt in dieser Angelegenheit tun könntet, bevor Euch ein Silberkrieger ein Messer an die Kehle setzt«, sagte Daart und machte erneut Anstalten aufzustehen. Der Älteste lächelte flüchtig, griff aber erneut nach Daarts Handgelenk, offenbar nicht bereit, ihn so einfach gehen zu lassen. »In der Tat schoss auch mir schon ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf. Aber wenn ich eines in meinem langen Leben gelernt habe, dann, dass es völlig falsch ist, Entscheidungen überhastet zu treffen, wenn man in Wirklichkeit noch Zeit hat.« »Wie viel Zeit?«, fragte Daart barsch und nahe daran, sich mit Gewalt aus dem Griff des Alten zu befreien. »Ein paar Stunden? Die Zeit, die die Sonne braucht, um unterzugehen? Oder bis Carnac tot ist?« »So weit werden wir es nicht kommen lassen«, antwortete der Älteste bestimmt. »Ganz abgesehen von dem, was Carnac dir bedeuten mag: Sie ist von viel größerer Wichtigkeit für unseren Kampf, als ich bislang geglaubt habe. Ich habe herausgefunden …« »Ich habe auch etwas herausgefunden«, unterbrach 423
ihn Daart schroff. »Und zwar das, was für mich wirklich wichtig ist. Und das ist nicht der Versuch, Enwor zu retten. Zumindest nicht allein. Oder, genauer gesagt: zumindest nicht ohne Carnac.« Wieder lächelte der Älteste, was Daart mehr als unangebracht fand. Er spürte, wie eine Ader in seinem Hals zu klopfen anfing. »Das klingt in meinen Ohren ganz danach, als ob wir uns in diesem Punkt einig wären«, sagte der Älteste. Daart starrte den Ältesten verblüfft an. In seinen altersweisen Augen war keine Spur von Falschheit, und es spiegelte sich auch nicht der Versuch darin, die aufgeheizte Atmosphäre durch eine scherzhafte Bemerkung zu entspannen. »Was soll das heißen?«, fragte Daart scharf. »Ganz einfach.« Der Älteste ließ Daart los und deutete auf ein aufgeschlagenes Buch neben sich, das Daart zwar bemerkt, dem er aber keine besondere Beachtung geschenkt hatte. »Hier habe ich die Bestätigung für etwas gefunden, was ich bislang allenfalls vermutet habe.« »Natürlich«, spottete Daart. »In einem alten Buch steht meine Beziehung zu Carnac in blumigen Lettern beschrieben.« »Im übertragenen Sinne – vielleicht.« Der Älteste griff nach dem Buch und blätterte darin herum. »Die Hüterinnen der Zeit … du hast von ihnen gehört?« »Ein anderer Ausdruck für die Prophetinnen«, antwortete Daart prompt. »Und was soll mir das jetzt sagen?« »Die Linie dieser … Prophetinnen geht auf eine Zeit 424
zurück, in der die Alten in zwei Gruppen zersplittert waren: diejenigen, die mit ihren Zeitexperimenten glaubten, den schon fast verlorenen Kampf gegen die Sternengeborenen doch noch gewinnen zu können. Und denjenigen, die stattdessen auf die Feuerkraft ihrer Waffen setzten.« »Das alles habe ich schon einmal gehört«, antwortete Daart. »Und auch schon damals hatte es nichts mit mir zu tun.« »Die Prophetinnen gegen die Feuerkrieger«, fuhr der Älteste unbeirrt fort. »Carnac gegen Zar’Toran, wenn du so willst. Das war damals so, und das ist heute so.« »Das mag sein. Aber wisst Ihr, wie ich die Sache sehe?« Daart beugte sich ein Stück vor. »Carnac und ich sind vergiftet worden. Sie liegt irgendwo dort draußen im Sterben, allein und ohne Aussicht auf Rettung. Und ich spüre in mir eine Schwäche hochsteigen, die vielleicht mit an dem Blutverlust durch die Messerschnitte liegt, die Ihr mit so viel Sorgfalt verbunden habt. Aber es wird wohl vor allem das Schlangengift sein, das mir die Kraft aus dem Körper saugt. Wir beide – Carnac und ich – sind todgeweiht. Und jetzt will ich zu ihr, um, wenn es nicht anders geht, gemeinsam mit ihr zu sterben.« Der Älteste schüttelte mitleidlos den Kopf. »So schnell stirbt es sich nicht. Dass dich das Schlangengift wieder schwächt, mag sein. Aber ich glaube es nicht einmal. Die Heilerinnen der Drachenreiterinnen verstehen sich auf Schlangenbisse. Und Quarterma hat mir versichert, dass ihr beide zwar nicht geheilt seid – aber dass es weit mehr als ein kleiner Aufschub ist, den euch 425
die mehrfache Gabe des Schlangenserums gewährt hat.« »Außerdem brauchen wir Carnac ja«, fügte Thross aufgeregt hinzu. »Lebend.« »Na, da bin ich ja beruhigt.« Daart erhob sich endgültig. Ein schmerzhaftes Ziehen ging durch seine Beine, und bunte Punkte flimmerten vor seinen Augen. »Also gut«, sagte er mühsam. »Jetzt zeigt mir, wo ich diese verdammte Treppe finde.« Thross wechselte einen Blick mit dem Ältesten. Als er sich wieder Daart zuwandte, nickte er. »Ja, das werde ich. Aber ich lasse dich nicht allein. Ich habe sogar schon eine Idee, wie wir den Weg nach draußen abkürzen können!« »Und vergesst nicht, sogleich mit Carnac zurückzukommen, sobald ihr sie gefunden habt«, fügte der Älteste hinzu. »Ich brauche sie genau hier. Oder genauer gesagt: euch alle drei. Und dann werden wir Nubina so richtig einheizen.«
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8 »Keine Sorge«, sagte Thross, während er vor Daart die Stufen herabeilte und geschickt dem Schutt auswich, der aus der Decke gebrochen war, als sich der uralte Mechanismus zurückgeschoben und den Zugang zum Treppenschacht frei gelegt hatte. »Du weißt doch: Wir Caverner kommen überallhin.« »Ich bin aber kein Caverner«, murmelte Daart. »Und so wie ich mich fühle …«, er nahm wie zuvor zwei Treppenstufen auf einmal, verfehlte aber diesmal den Anschluss und musste nach vorn springen, um nicht zu fallen; dann hatte er wieder festen Boden unter den Füßen und torkelte mit ungelenken Bewegungen weiter, »so wie ich mich fühle, schaffe … schaffe ich es nicht einmal mehr bis nach unten. Geschweige denn, mit Carnac wieder hier hoch.« »Dann halte an.« »Ich denke … ja gar nicht … daran«, stieß Daart zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Ich habe aber etwas, was dir helfen kann.« Thross nahm die letzte der ausgetretenen Stufen, die in einer Wendeplattform endeten, und wartete. Daart sauste an ihm vorbei und knallte gegen die Wand. Mit ausgebreiteten Armen blieb er so eine Weile stehen. Sein Atem ging keuchend, und vor seinen Augen drehten sich bunte Kreise. »Es gibt eine Menge Geheimnisse, die wir Caverner von einer Generation zur nächsten vererben«, sagte Thross hinter ihm. 427
Daart drehte sich mühsam um. »Ist das nicht bei jedem Volk so?« »Ja. Aber nicht jedes hat so etwas wie ich hier.« Daart blinzelte. Thross hatte die rechte Hand zur Faust geschlossen, trat näher an ihn heran und öffnete sie. Das Licht, das durch die wenigen Schächte fiel, war so spärlich, dass Daart erst nach einer ganzen Weile das kleine schwarze Kügelchen bemerkte, das auf seiner Handfläche lag. »Jeder Caverner trägt davon ein paar an seinem Körper.« »Wo?« »Äh … glaub mir«, winkte Thross ab, »das willst du gar nicht wissen. Es spielt ja auch keine Rolle. Man darf sowieso nicht zu viel davon nehmen.« »Ich will ja nicht undankbar sein«, sagte Daart, »aber könntest du jetzt vielleicht auf den Punkt kommen?« »Ja. Natürlich. Entschuldige.« Thross streckte die Hand auffordernd aus. »Es ist nur für Notfälle. Für absolute Notfälle, wie Shaila immer wieder betonte …«, als Daart seufzte, fuhr er schneller fort, »du kennst sie ja. Sie hätte vom Alter her zwar meine große Schwester sein können, aber sie hat sich immer wie meine Mutter aufgespielt.« Daart nickt ungeduldig. Natürlich kannte er Shaila, die Creeperin, die zusammen mit Thross durch die finstersten Gänge unterhalb des Schattengebirges gekrochen war. Aber er wusste nicht, worauf der Junge hinauswollte. »Eigentlich darf niemand davon wissen«, sprudelte Thross hervor. »Geschweige denn, eine davon nehmen. 428
Du musst mir versprechen, es für dich zu behalten, ja? Und … und erzähle bloß Shaila nicht davon, dass ich dir eine gegeben habe, falls du sie mal wieder siehst.« Daart nickte ungeduldig. »Ja.« »Ja für was?«, fragte Thross nervös. »Dass du niemandem davon erzählst? Oder dass du das auch Shaila gegenüber verschweigen wirst …« »Dass ich darüber schweigen werde wie ein Grab«, unterbrach ihn Daart mürrisch. »Und wenn du dich nicht bald beeilst, im wortwörtlichen Sinne.« »Oh, natürlich, und ich sehe ja, du hast es jetzt bitter nötig …« Thross rang sichtlich noch einen Moment mit sich, dann nickte er. »Nimm es einfach.« »Du meinst …?« »Runterschlucken und wohl fühlen, wie Shaila immer zu sagen pflegt.« Daart starrte misstrauisch auf das Kügelchen. Sein Herz hämmerte währenddessen, als wäre er gerade in einen Kampf gegen mindestens fünf Quorrl und drei Drachen verstrickt. Das gab den Ausschlag. Schlimmer konnte es jedenfalls nicht mehr werden … glaubte er. Bis er das Kügelchen zwischen die Fingerspitzen nahm und in den Mund führte. Er braucht nicht draufzubeißen oder es zu schlucken, die Wirkung setzte augenblicklich ein. Eben noch war ihm schwindelig gewesen, seine Beine hatten gezittert und sein Herz hatte viel zu laut und hart gehämmert. Jetzt aber schien sich die Welt in irrem Tempo zu drehen, seine Beine sackten weg, und sein Herz machte verrückte Zwischenschläge. Wäre Thross nicht gewesen, der ihn gepackt und an die Wand zu429
rückgeschoben hätte, er wäre wohl einfach vornüber gekippt. »Was … ist … DAS?«, keuchte Daart. »Ein klitzekleines Stärkungsmittel«, antwortete Thross nervös. »Irgendetwas aus einem Moosgeflecht, mit pulverisierten Echsenschwänzen, dem Auge eines Wildschweins, dem Hoden eines Zwerziegenbocks, die wir in unseren Höhlen halten – ja, und, ich hätte es beinahe vergessen: dem Ohrenschmalz einer Eselsstute.« Daart gab ein würgendes Geräusch von sich. »Aber es wirkt bei dir … wohl anders als bei mir oder Shaila.« Daart versuchte seinen revoltierenden Magen daran zu hindern, sich von innen nach außen zu stülpen. Währendessen rutschte er ganz langsam an der Wand hinab. »Oh, verdammt, was habe ich getan?« Thross war mit einem Satz bei ihm und packte ihn unter den Achseln, um ihn wieder hochzuziehen, was ihm aber nicht recht gelingen wollte. Immerhin rutschte Daart nicht weiter. »Mach nicht schlapp, bitte, hörst du? Wir müssen doch zu Carnac!« Daart nickte. »Klar … müssen …« Er schluckte hart. Irgendetwas schien sich in ihm zusammenzuziehen. Doch statt sich immer mehr zu verkrampfen, kehrte sich der Prozess plötzlich um, und es begann in seinen Fingerspitzen zu kribbeln, dann in seinen Armen, Beinen und Füßen – und schließlich in seinem ganzen Körper. Plötzlich hatte er das Gefühl, als liefen Tausende winziger Käfer über seine Haut. Es hätte fürchterlich sein können, aber das war es nicht; es schien eher so, als 430
kehrten gleichzeitig Gefühl und Leben in seine Haut, in seinen ganzen Körper zurück. »Gut, gut, erhole dich einfach noch ein bisschen.« Thross ließ ihn probehalber los und trat einen Schritt zurück. »Du siehst immerhin schon nicht mehr grün im Gesicht aus. Aber vielleicht … vielleicht hätte ich das mit dem Ziegenhoden nicht erwähnen sollen. Oder das mit dem Ohrenschmalz einer Eselsstute.« »Nur … immer weiter.« Daart wollte auffordernd mit der Hand wedeln, aber es wurde nur ein schwächliches Zucken seiner Finger daraus. »Erzähl mir mehr von Ziegenhoden und Ohrenschmalz.« »Oh, ja natürlich, du hast Recht: Das sollte ich besser nicht tun. Aber warte … es gab da ja auch noch andere Dinge, die du unbedingt wissen musst.« »Die mit der Zusammensetzung dieser Pille zu tun haben?«, ächzte Daart. »Nein, natürlich nicht«, wehrte Thross ab. »Dir geht es bestimmt gleich wieder besser, und bis dahin erzähle ich dir einfach noch das, was für dich wichtig sein könnte.« Daart blieb nichts anderes übrig, als ergeben zu nicken. »Die Alten haben vorgebaut«, fuhr Thross hastig fort. »Diejenigen von ihnen, die die Zeitlinien manipuliert haben. Zumindest nennt der Älteste das so. Ich weiß auch nicht genau, warum: Aber du und Carnac, ihr seid beide von entscheidender Wichtigkeit. Du, weil du das Erbe der Sternengeborenen in dir trägst. Und Carnac, weil sie eine Hüterin der Zeit ist. Sie haben ihre Waffe geschützt, indem sie dafür sorgten, dass immer jeweils einer von eurer, äh, Gattung mit dabei sein 431
muss …« Thross’ Worte glitten wie das Rauschen einer Meeresbrandung an Daart vorbei. Die imaginären Käfer schienen von ihm abzufallen, und dann wurde aus dem Kribbeln in seinen Gliedmaßen allmählich Wärme. Und aus der Wärme Hitze. »Sie wollten verhindern, dass die Sternengeborenen wie auch die Feuerkrieger Zugriff zu dieser Waffe bekamen«, sagte Thross gerade. »Und deswegen brauchen wir dich und Carnac. Euch beide zusammen. Vielleicht war das von Anfang das Geheimnis eurer Bindung. Es würde mich gar nicht einmal wundern, wenn ihr deswegen zusammengebracht worden wäret … Aber nein, wahrscheinlich ist das zu abwegig.« »Mir … geht’s … schon wieder viel besser«, lallte Daart. Er stieß sich von der Wand ab. »Siehst du? Wir können los!« »Wirklich?«, fragte Thross skeptisch. Er legte den Kopf schief und betrachtete Daart misstrauisch. »Nimm es mir nicht übel, aber du siehst aus wie ein volltrunkener endoranischer Schifffahrtskapitän.« »Ich fühle mich auch so«, bekannte Daart. Er ballte die Faust und starrte auf sie herab. Merkwürdig. Eben war sie ihm noch viel deformierter vorgekommen als jetzt. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass er keine Schmerzen mehr spürte. Und diesen Zustand gedachte er unbedingt auszunutzen. »Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren.« Er legte Thross die Hand auf die Schulter und schob ihn voran. »Los jetzt. Zeig mir den schnellsten Weg zu Carnac.« Thross nickte knapp, drehte sich um und hetzte los. 432
Daart folgte ihm. Seine Bewegungen waren zwar eine Spur ungelenker, aber viel kraftvoller und müheloser als zuvor. Schon bald hatte er Thross eingeholt, und Seite an Seite stürmten sie weiter und tiefer hinab. Ihre Schritte hallten hohl und laut von den ausgetretenen Treppenstufen wider, die man hier vor einer Ewigkeit angelegt hatte. »Langsam«, keuchte Thross schließlich. »Ich glaube … hier ist etwas.« Wie um seine eigenen Worte zu bestätigen, bremste er auch schon ab und blieb schließlich ganz stehen. Daart lief noch zwei Stufen weiter, hielt dann ebenfalls inne und drehte sich zu Thross um. »Was ist?« Thross war bereits an die Wand herangetreten. Seine Hände glitten über die raue Oberfläche, die wie bröckeliger alter Putz aussah und sich auch genauso verhielt. Kleinere und größere Stücke fielen unter der Berührung seiner Hände zu Boden und zersprangen dort. »Was tust du?«, fragte Daart. »Ich suche etwas«, murmelte Thross. »Den geheimen Ausgang, den die Männer hier irgendwo in die Wand gestemmt haben. Und ich glaube beinahe, ich habe ihn entdeckt.« Daart öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber dann schloss er ihn wieder genauso schnell. Carnac. Er hatte schon geglaubt, die innere Bindung zu ihr verloren zu haben. Aber jetzt spürte er sie aufs Neue. Sie versuchte … irgendetwas. Vielleicht, sich zu verstecken, Zweige und Äste über sich zu ziehen, sich tiefer in das Loch zu drücken, das erst ihr Gefängnis und nun ihr 433
Versteck geworden war. Er nahm ihre Angst wahr. Ihre Anstrengung. Ihre Atemlosigkeit. Schritte, die näher kamen. Thross, der vor ihm stehen blieb, besorgt den Kopf auf die Seite legte. Irgendjemand anderer, der vor Carnacs Versteck stehen blieb. Der nicht fürsorglich war wie Thross; der gekommen war, um zu töten. Carnac fauchte wie eine Raubkatze. Daart riss die Arme nach oben, vielleicht ganz genau so wie Carnac. Laub und Dreck wirbelten auf, die den Angreifer blenden sollten. »Was soll das?« Thross taumelte zurück, gegen die Wand. Irgendetwas krachte, und Thross stolperte haltlos weiter. Nicht so Carnacs Angreifer. Etwas blitzte auf. Ein Schwert oder die Maske eines Silberkriegers, irgendetwas. Und dann war er über ihr. »He, ich hab es gefunden!« Thross machte wieder einen Satz nach vorn, packte Daart an den Handgelenken und zog ihn mit sich. Daart stöhnte vor Enttäuschung auf. Das unsichtbare Band zu Carnac drohte zu reißen. Es waren jetzt kaum mehr als vereinzelte Eindrücke von Schmerz und Verzweiflung, und sie zuckten in ihm auf wie grelle Blitze eines fernen Gewitters, die eine tiefschwarze Nacht zerrissen. »Jetzt kommen wir schnell zu Carnac!« Thross war ganz aufgeregt. Er zog Daart einfach mit sich. »Der Älteste hat von einer Rutsche gehört, die nach draußen führt. Die Drachenreiterinnen wussten von ihr, haben sie aber nie gefunden. Männerrutsche haben sie sie genannt! Wenn das nicht passt.« 434
Daart war viel zu benommen, um mehr als ein paar Wortfetzen mitzubekommen. Aber er wehrte sich nicht länger. Thross hatte versprochen, dass sie jetzt gleich bei Carnac sein würden. Und das allein war es, was zählte. Es kam auf jeden Augenblick an. »Jetzt rauf auf die Männerrutsche.« Thross zog Daart ein Stück weiter. »Hier ist sie. Vorsicht!« Daart konnte so gut wie nichts mehr sehen. Das bisschen Licht, welches das Treppenhaus beleuchtet hatte, war hinter ihnen geblieben. Vor ihnen war nichts weiter als Dunkelheit. Aber immerhin schien Thross keine Probleme zu haben, sich hier zu orientieren. »Runter jetzt.« Thross packte Daart an beiden Schultern und drückte ihn hinab. Daart ließ es mit sich geschehen. Er war benommen. Benommen und geschockt. Carnac kämpfte vielleicht gerade den letzten Kampf ihres Lebens. Er musste zu ihr. Er musste den Silberkrieger packen und töten, bevor er ihr den Garaus machen konnte. »Vorsicht jetzt!«, schrie ihm Thross ins Ohr. »Ich bin direkt hinter dir.« Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da schoss Daart auch schon in die Tiefe. Es war tatsächlich eine Rutsche, und sie führte steil und eng in die völlige Finsternis hinab. Er wurde in eine scharfe Kurve gedrückt und schrammte immer schneller an der wohl ehemals glatt polierten, mittlerweile aber rauen Röhre entlang. Schnell – und doch zu langsam. Carnac war verletzt, nicht kampffähig. In diesem Zustand konnte sie einem gut ausgebildeten Silberkrieger nicht länger als wenige Augenblicke standhalten. 435
Seine sich überschlagenden Gedanken zersplitterten in tausend Stücke, als die Rutsche plötzlich wieder ein Stück nach oben führte. Er hob ab, als er über die oberste Stelle hinwegschoss, und kam hart wieder auf. Der Schmerz, der durch seinen Rücken jagte, verschleierte seinen Blick. Da wurde er auch schon erneut in eine atemberaubend enge Kurve gedrückt. Und dann, plötzlich, war Helligkeit vor ihm. Er sauste über den Rand der Rampe hinaus und auf grünes Dickicht zu. Sein Entsetzensschrei ging unter in dem splitternden Geräusch, mit dem er auf dürres, aber hartes Buschwerk prallte. Dann senkte sich Schwärze über ihn. Er konnte nicht länger als ein paar Augenblicke bewusstlos gewesen sein. Neben ihm rappelte sich gerade Thross mühsam auf. »Ich sagte doch«, keuchte er, »wir Creeper kommen überallhin.« Daart sparte sich eine Bemerkung. Es war Kampfeslärm, der an sein Ohr drang. Das typische metallische Geräusch, mit dem Klingen aufeinander prallten. Das Reiben von Leder, das Klirren von Ketten, das Trampeln schwerer Stiefel auf Steinen, das Keuchen, Schreien und Stöhnen von Kriegern, die sich ineinander verbissen hatten. Er stemmte sich hoch. In seinem Kopf war kein Platz für irgendetwas anderes außer für Carnac. Sie war hier ganz in der Nähe. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie Thross es so zielsicher geschafft hatte, sie hierher zu bringen. Es kümmerte ihn auch nicht. Es waren dürre Büsche, in die sie gefallen waren, voller dornengespickter Zweige, die ihn jetzt aufhalten 436
wollten. Er nahm nur am Rande wahr, wie sein Gewand noch weiter einriss, wie sich Dornen in seine Haut bohrten und Blut hervorquoll. Er roch den Kampf, den Tod, und etwas in ihm erwachte. Es waren nicht nur die Instinkte des Kriegers, die ihn vorantrieben, es war eine viel finsterere, bösere Kraft, die jetzt in ihm erwachte. Sie war von genau der gleichen Art, wie sie ihn dazu getrieben hatte, Ramara, die Bogenschützin, zu köpfen. Damals war es ein Fehler gewesen, sich gehen zu lassen. Heute konnte es keiner sein. Er brauchte nur ein paar Schritte, bis er eine kleine Baumgruppe erreichte. Dahinter wurde gekämpft. Er sah es an den huschenden, schemenhaften Bewegungen, die durch Äste und Gebüsch hervorschimmerten. Er hatte keine Ahnung, wer außer einer Hand voll Drachenreiterinnen Nubinas Heer hier am Rand des Drachenturms so erbitterten Widerstand lieferte, und es war ihm auch egal. Ihn trieb es zu Carnac, zu sonst nichts. Und diese Krieger standen ihm im Weg, auf welcher Seite sie auch kämpften. Er durchquerte die Baumgruppe, riss Zweige beiseite, wich Baumstämmen aus. Seine Augen suchten ein Opfer. Er musste sich in den Besitz einer Waffe bringen, wenn er sich zu Carnac durchschlagen wollte. Ob von Freund oder Feind, darauf kam es nicht an. Dann schlug er den letzten störenden Zweig beiseite. Und blieb überrascht stehen. Eine Frau mit offenen schwarzgrauen Haaren und der rauen Kluft der Drachenreiterin setzte sich verzweifelt gegen zwei Guhulan zur Wehr. Die Flammen auf den Gewändern der Feuerkrieger schienen zu gespensti437
schem Leben zu erwachen, als sie Quarterma mit schnellen Schwertattacken eindeckten. Quarterma sprang zurück, um einer ihr gefährlich nahe kommenden Guhulan-Klinge auszuweichen, wandte den Kopf, und Daart konnte ihr Profil sehen, die linke Gesichtshälfte mit der tiefen, jetzt blutrot schimmernden Narbe. Beinahe hätte er aufgestöhnt. Er hätte alles erwartet, aber nicht, Quarterma hier unten im Kampf gegen die Guhulan vorzufinden. Sie kämpfte nicht allein gegen die erdrückende Übermacht der Feuerkrieger. Aber es waren keine Drachenreiterinnen, die ihr beistanden: Es war eine bunt gemischte Gruppe von Männern unbestimmten Alters. Sie trugen keine Lederkleidung, sondern einfache, zum Teil aber recht bunte Gewänder unterschiedlicher Machart, und auch die Waffen, mit denen sie sich mit mehr Mut als Sachverstand zu verteidigen versuchten, waren wild zusammengewürfelt. Einige hieben mit Schwertern um sich, die denen der Drachenreiterinnen bis in die kleinste Einzelheit glichen, andere versuchten mit Lanzen ihre Gegner aufzuspießen, und wieder andere schwangen Äxte oder auch nichts weiter als einfache Knüppel. Es war das letzte Aufgebot, das der Drachenturm ausgespuckt hatte, bevor er von Nubinas Heer gestürmt und besetzt werden würde. Quarterma im Kreis ihrer entmachteten, gedemütigten Männer, die im Angesicht der überlegenen Gegner ihre mangelnde Kampfausbildung und Ausrüstung mit Todesmut wettmachen wollten. Aber das konnte nicht gut gehen. Während Daart losstürmte, auf Quarterma und die beiden Guhulan zu, die sie mit ihren Schwertern erbittert in die Enge zu trei438
ben versuchten, sah er aus den Augenwinkeln, wie einer der Drachenmänner seine Axt hochreißen wollte, um sie einem Feuerkrieger über den Kopf zu ziehen. Er bekam sie nicht einmal zur Hälfte hoch. Der Guhulan ließ seine Klinge in einer fast beiläufigen Bewegung einen Halbkreis beschreiben und schlitzte den Drachenmann auf. Da war Daart bereits heran. Die dunkle Macht erwachte in ihm wie ein bis aufs Blut gepeinigtes Raubtier. Daart stieß sich ab, sprang von schräg hinten auf den nächsten Guhulan zu. Der Feuerkrieger fuhr in einer fließenden Bewegung herum, ein Krieger, der in der Lage war, blitzschnell jede Situation zu erfassen und entsprechend zu reagieren. Aber vielleicht war es gerade das, was ihm zum Verhängnis wurde; die viel zu schnelle Einschätzung, es mit einem der Männer zu tun zu haben, die noch nicht einmal ein Schwert richtig halten konnten, wie es der Älteste ausgedrückt hatte. Der Guhulan sprang mit einer leichten, federnden Bewegung zurück, steppte dann zur Seite und brachte sein Schwert hoch, bereit, zuzuschlagen und den Irren mit einem Stoß niederzustrecken, der so vermessen war, ihn mit bloßen Händen angreifen zu wollen … Aber dann begegnete er Daarts Blick. Jäher Schrecken jagte über seine Züge. Es war unwahrscheinlich, dass er Daart erkannt hatte. Aber er wusste wohl seinen Gesichtsausdruck zu deuten, und die Art, wie sein waffenloser Gegner auf ihn zuhetzte. Daart ließ ihm nicht die geringste Chance. Er sprang im gleichen Moment zur Seite, in dem die feindliche Klinge auf ihn zuraste, tauchte unter ihr weg, griff mit beiden Händen nach dem Dreck unter sich und wirbelte 439
ihn in Richtung seines Gegners, als der Guhulan sein Schwert auf ihn niedersausen lassen wollte. Der Feuerkrieger schrie auf, riss die linke Hand vors Gesicht. Seine Waffe zischte haarscharf an Daart vorbei in den Boden. Daart packte das Handgelenk des Mannes und verdrehte es bis weit über die Schmerzgrenze hinaus. Der Mann jaulte auf wie ein Hund, der von einem Pfeil getroffen worden war. Aber er ließ nicht locker. Daart verstärkte den Druck, bis das Handgelenk des Guhulan krachte und splitterte wie trockenes Holz im Feuer. Da endlich gab der Feuerkrieger das Schwert frei und taumelte zurück. Er kam nicht weit. Daart packte die Guhulan-Waffe, riss sie aus dem Boden, sprang hoch und jagte sie dem Mann in den Bauch. Der Feuerkrieger gab einen gurgelnden Laut von sich. Seine Hände zuckten in einer sinnlosen Geste nach oben, dann knickte er in den Knien ein und stürzte zu Boden. Daart blieb keine Atempause. Der zweite Guhulan konnte sich nicht auf ihn stürzen, weil er vollends damit beschäftigt war, die wie eine wütende Furie kämpfende Quarterma abzuwehren. Dafür waren zwei Silberkrieger auf ihn aufmerksam geworden, die eben noch eine Horde Drachenmänner vor sich her getrieben hatten. Rasch ließen sie von ihren Gegnern ab und stürmten auf ihn zu, federnd, schnell und siegessicher. Sie mussten zumindest aus den Augenwinkeln heraus gesehen haben, wie es dem Guhulan ergangen war, und deswegen würden sie ihn kaum unterschätzen. Aber sicherlich ahnten sie auch nichts von der Bestie, die in Daart erwacht war. 440
Daart wartete, bis der Erste heran war. Das Verlangen in ihm, zu töten und auszulöschen, hatte sich längst verselbstständigt, war der Gier gewichen, seine Waffe tief in die Leiber seiner Gegner zu jagen und sie von oben bis unten aufzuschlitzen, die Klinge durch Haut, Eingeweide und Blutgefäße zu ziehen und das Entsetzen in ihren Augen zu sehen, wenn sie begriffen, dass es mit ihnen zu Ende ging. Er war kein kühl kämpfender Satai mehr, er war eine Bestie in Menschengestalt. Und so kämpfte er auch. Er sprang an dem Ersten vorbei, ignorierte die mit einem scharfen Zischen hinter seinem Rücken vorbeisausende Klinge, und war bei dem zweiten Krieger, bevor dieser auch nur im Entferntesten damit rechnen konnte. Trotzdem reagierte der Mann schnell und routiniert. Sein Schwert kam mit tödlicher Präzision hoch. Daart wich nicht aus, er sprang in die Bewegung hinein, direkt unter der erbeuteten Waffe des Guhulan hinweg. Seine eigene Klinge durchbohrte den Mann, bevor dieser auch nur begriff, wie ihm geschah. Seine Augen wurden glasig, auf seine Lippen trat weißer Schaum, und dann spuckte er Blut. Es war kein sauberer Stil, in dem Daart kämpfte, es war ein wahnsinniges Toben. Mit seinem Angriff hatte er riskiert, vom Schwert seines Gegners getroffen zu werden, noch bevor er auch nur die Gelegenheit hatte, ihn auszuschalten. Der zweite Silberkrieger, der zu ihm herumgefahren war, schien das genauso zu sehen. Die Augen hinter den Sehschlitzen seiner Silbermaske waren weit aufgerissen, während sein Blick zwischen seinem zusammenbrechenden Waffenbruder und Daart hin und 441
her wanderte. Er schien kaum glauben zu können, was er da sah. »So«, sagte Daart. Er wischte sich mit der freien Hand über den Mund. Es war Blut darauf, auf dieser zerschlagenen Klaue, die kaum noch aussah wie eine Hand. Blut von dem sterbenden Silberkrieger, mit dem er Daart angespuckt hatte, bevor er in die Knie gegangen war. »Und jetzt zu dir.« Der Silberkrieger packte sein Schwert fester. Daart erkannte einen roten Streifen an seinem Bein und einen blutigen Kratzer auf seiner Brust, Wunden, die darauf hinwiesen, dass der Vormarsch von Nubina doch nicht ganz so einfach vor sich gegangen war, wie sie das womöglich geglaubt haben mochte. Umso besser. »Wer bist du?«, fragte der Silberkrieger. »Ich gehöre zur Leibwache der Drachen«, sagte Daart. Er grinste böse. »Ich schätze, ihr wusstet nichts von uns, nicht wahr? Nubina wird es euch verschwiegen haben. Wie auch so manches andere.« Der Mann verlagerte kaum merklich das Gewicht. Er wartete auf eine günstige Gelegenheit für eine Attacke. Daart wollte es ihm leicht machen, senkte sein blutiges Schwert und tat einen Schritt vor. »Es kann sein, dass ihr es schafft, diesen kleinen Vorposten zu überrennen«, sagte er. »Aber glaubt mir: Ihr werdet niemals den Sperrgürtel um die Drachenburg einnehmen. Geschweige denn die Burg selbst. Gegen Tausende von Drachen ist selbst ein Heer eurer Größe nicht gefeit.« Der Blick des Silberkriegers begann zu flackern. Er glaubte Daart nicht, natürlich nicht; schließlich war es ja auch vollkommener Schwachsinn, was er von sich 442
gegeben hatte. Aber er war verunsichert. Und das allein zählte. »Was ist nun?«, fragte Daart. »Willst du warten, bis dir ein Drache auf den Kopf fällt? Oder rennst du lieber in mein Schwert wie dein leichtsinniger Waffenbruder?« Die Augen des Silberkriegers zogen sich zusammen. Er würde nicht einfach vorstürmen. Sondern auf eine viel intelligentere Art angreifen … »He!«, brüllte Daart. »Hier bin ich!« Der Silberkrieger zuckte zusammen. Er ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen. Nur entging ihm dabei das, was in seinem Rücken geschah. Quarterma hatte inzwischen den Guhulan mit ihrer wilden Schwertattacke zu Boden geschickt, und jetzt humpelte sie, aus einer Beinwunde blutend, auf ihn zu. Der Silberkrieger, abgelenkt von Daart, kehrte seinem wirklichen Gegner den Rücken zu. Daart wollte auch, dass das so blieb. »Nun greif schon an, du Idiot«, fuhr Daart lautstark fort. »Ich habe schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.« Der Silberkrieger verlagerte das Gewicht vom linken auf das rechte Bein. Er würde sich nicht so einfach provozieren lassen. Er begriff nicht, dass die tödliche Gefahr aus einer ganz anderen Richtung kam. Er bemerkte Quarterma erst, als es zu spät war, wollte noch heimfahren, aber da fuhr das Schwert der Drachenreiterin schon zwischen seine Schulterblätter.
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9 Es war keine Schlacht, es war ein Scharmützel, an dessen Ausgang es keinen Zweifel geben konnte. Immer mehr und mehr Silberkrieger und Guhulan stürmten mitten ins Kampfgeschehen, bedrängten die Verteidiger, machten Schritt für Schritt Boden gut, so erbittert sich die Drachenmänner und die wenigen Kriegerinnen an ihrer Seite auch wehren mochten. Es war kein disziplinierter Aufmarsch, sondern ein zerrissenes Voranstürmen, gebremst durch die Schlünde, Grate und wassergefüllten Mulden. Nubinas Heer hatte einen Gewaltmarsch hinter sich, der es mitgenommen und geschwächt hatte, doch jetzt spuckte es dem Drachenturm seine stärksten und ausdauerndsten Krieger entgegen. Daart kümmerte sich nicht darum. Genauso wenig wie Quarterma, die die Führung übernommen hatte, um ihn um das Kampfgeschehen herum dorthin zu lotsen, wo er Carnac vermutete. Oder, besser gesagt: wo Carnac war. Das unsichtbare Band zwischen ihnen blieb zwar weitgehend zerrissen, aber jetzt spürte er mehr als deutlich ihre Nähe. Es konnte gar nicht mehr allzu weit sein. Es durfte nicht mehr allzu weit sein. »Vorsicht!« Quarterma packte Daart am Arm und riss ihn unsanft in den Schutz mehrerer ausladender Büsche. »Feuerkrieger.« In Daart brüllte etwas enttäuscht auf, als er sich weg444
duckte. Es drängte ihn danach, sein Schwert zu packen und sich den Guhulan entgegenzuwerfen, die in einer lockeren Zweierreihe gerade einen Tümpel mit schwarzem, morastigem Wasser umgingen. Aber die Vernunft hielt ihn zurück. Die Vernunft und Quartermas fester Griff, mit dem sie immer noch seinen Arm umklammert hielt. »Mach jetzt bloß keinen Blödsinn«, zischte sie. Daart spähte durch die Blätter hindurch. Ungefähr ein Dutzend Guhulan. Viel zu viel, um sie mit einem Überraschungsangriff in die Knie zwingen zu können. Er musste sich gedulden. Aber gerade das war es, was ihm jetzt am schwersten fiel. »Also hat der Älteste die Waffe doch noch gefunden«, vergewisserte sich Quarterma. Daart warf ihr einen überraschten Seitenblick zu und nickte dann. Er hatte in wenigen abgehackten Worten erzählt, was passiert war; und auch das nur, um sich ihre Unterstützung bei der Suche nach Carnac in diesem unübersichtlichen Gelände zu ermöglichen. »Ich selbst habe schon darin gestanden«, bekannte er. »Aber wieso hast du sie dann nicht gleich ausgelöst?«, flüsterte Quarterma. »Weil es so nicht geht.« Daart starrte auf Quartermas Hand, die seinen Arm umklammerte, bis sie den Griff lockerte und ihn schließlich ganz losließ. »Es gab zwei Gruppen der Alten. Ich weiß nicht einmal, ob sie sich bekämpft haben. Aber sie haben verschiedene Wege beschritten.« Quarterma deutete auf die Guhulan, die gerade eine schroffe Felsformation umgingen. »Die einen waren 445
Feuerkrieger wie die da, ich weiß. Aber wer waren die anderen?« Daart zuckte mit den Achseln. »Vielleicht eine gemischte Gruppe. Wie auch immer. Jedenfalls gehörten die Hüterinnen der Zeit dazu. Frauen wie Carnac. Und wenn nicht wenigstens eine von ihnen dabei ist, dann kann man auch nicht die unglaubliche Waffe auslösen, die die Alten vor ihrem Untergang schufen.« Quarterma nickte mit einer übertrieben wirkenden grimmigen Genugtuung. »Damit wollten sie wohl verhindern, dass die Feuerkrieger sie benutzen, um alles unkontrolliert in Flammen aufgehen zu lassen.« »So ähnlich«, murmelte Daart. »Und ich Närrin habe jahrelang gehofft, es wäre allein jemand wie du notwendig …« Sie brach ab. Vielleicht, weil es ihr unangenehm gewesen wäre, den einmal begonnenen Satz zu beenden. Viel eher aber, weil sich der Letzte der Feuerkrieger umdrehte, bevor er seinen Waffenkameraden hinter die Felsen folgte. Der Blick des Guhulan schweifte misstrauisch über das Buschwerk, hinter dem Quarterma und Daart hockten. Daarts rechte Hand begann unkontrolliert zu zittern. Der Drang, aufzuspringen, zu dem Mann hinüberzuhetzen und ihn niederzumachen pochte im Rhythmus seines Herzens bis in seine Schläfen hinauf. Das Schwert, dessen Griff er umklammert hielt, war bereits zweimal mit Blut getränkt worden. Es gierte nach mehr. Der Guhulan überschattete seine Augen mit der Hand. Seine angespannte Haltung verriet, dass er misstrauisch geworden war. In diesem Moment tat Quarterma etwas, das Daart 446
im ersten Moment vollkommen verrückt vorkam. Sie beugte sich vor, senkte den Kopf etwas und gab einen gurrenden Laut von sich. Der Kopf des Feuerkriegers ruckte in ihre Richtung. Und Quarterma hatte nichts Besseres zu tun, als den Laut noch zweimal in kurzen Abständen zu wiederholen. Daart hätte ihr den Hals umdrehen können. Aber dann schien es zu wirken; wahrscheinlich hatte sie den Gurrlaut eines hier lebenden Bodenvogels imitiert, den Daart nicht kannte. Der Guhulan senkte jedenfalls die Hand, klopfte zweimal auf seinen Schwertgriff und wandte sich dann ab, um in den Schatten des Felsens einzutauchen. »Was sollte das denn?«, zischte Daart. »Wolltet Ihr den Mann mit aller Gewalt auf uns aufmerksam machen?« »Es hat doch gewirkt, oder?«, gab Quarterma zurück. »Und jetzt weiter. Wo ist Carnac?« Daart lauschte in sich hinein. Gefühle. Furcht. Klopfendes Herz. Er spürte sie. Aber ausgerechnet in diesem Moment keimte in ihm die Angst hoch, die Verbindung wieder zu verlieren, die so plötzlich zwischen ihnen im Augenblick größter Not entstanden war; vielleicht deshalb, weil er zuvor in seinem einsamen Gefängnis nicht einmal ihre Anwesenheit gespürt hatte. Er wollte sie nicht wieder verlieren. Nie wieder. Er sprang auf und lief los. Der Untergrund war steinig und uneben, und mehr als einmal rutschte er aus und geriet ins Stolpern. Er registrierte es nur ganz am Rande. Alles in ihm drängte zu Carnac. Sie war hier ganz in der Nähe. Sie war … 447
Er stolperte einen Abhang herunter, dessen Steigung er unterschätzt hatte. Sofort versuchte er wieder in den Tritt zu kommen, herauszuspringen aus der unsicheren Stolperbewegung. Steine spritzten unter seinen Füßen auf. Ein dürres Bäumchen knickte in der Mitte ab, als er sich an ihm festzuklammern versuchte. Er drehte sich halb um seine Achse, warf die Arme hoch, rutschte endgültig weg und fiel hin. Hart krachte er mit der Schulter auf, rollte weiter, überschlug sich ein paar Mal, donnerte gegen einen Felsen und über ihn hinweg, rutschte ein ganzes Stück herab … und blieb zitternd und bebend liegen. Sein Herz hämmerte so hart, dass er das Gefühl hatte, es werde ihm aus der Brust springen. Er wusste, wo er war. Natürlich wusste er, wo er war. In der Mulde, in der auch Carnac lag. Nur ein kleines Stück von ihm entfernt. Wenn er sich jetzt aufrichtete und die Hand ausstreckte … »Daart?« Ihre Stimme klang schwach und verletzlich. Aber sie lebte. Sie war hier. Nicht ganz so nah, wie er gehofft hatte, aber nur wenige Schritte von ihm entfernt. Er brauchte sich jetzt bloß aufzurappeln und zu ihr herüberzugehen. Und das würde er auch tun. Er stemmte sich mit beiden Händen in dem weichen Erdreich hoch, in das er gestürzt war. Seine Gefühle schlugen Purzelbäume. Carnac war hier, und sie lebte, und alles würde gut werden … »Das würde ich an deiner Stelle nicht tun«, schnitt eine befehlsgewohnte Stimme in seine Gedanken. »Was?« Daarts Kopf fuhr hoch. Quarterma stand nur ein paar Schritte über ihm. Sie 448
hielt die Spitze ihres Schwertes drohend in seine Richtung. Ihr Gesicht war angespannt, und auf ihrer Stirn glänzte Schweiß. Ihre drohende Stellung war aber noch nicht einmal das Schlimmste. Es waren die drei Guhulan, die, ebenfalls mit gezogenen Schwertern, hinter ihr standen. Einer von ihnen war der Mann, der misstrauisch in ihre Richtung gesehen hatte, als Quarterma die merkwürdigen Laute von sich gegeben hatte. Und der daraufhin zweimal auf den Griff seines Schwertknaufes geklopft hatte. »Nein«, stöhnte Daart auf. »Das darf doch nicht wahr sein. Ihr seid …« »Ich bin Quarterma, die Herrin über die Drachen«, sagte Quarterma stolz. »Und nur allzu bald schon wieder über alle Drachen. Und nicht nur über die wenigen Lederdrachen, die in diesem fürchterlichen alten Turm hausen, der schon seit vielen hundert Jahren zu unserem Gefängnis geworden ist.« Hinter Daart war ein Geräusch zu hören, und als er den Kopf wandte sah er, wie Carnac sich mühsam hochstemmte, um gleich darauf wieder ein Stück zurückzusinken. In ihrer dunklen Kluft hob sie sich kaum von ihrer Umgebung ab. Aber ihre Augen schimmerten hart und hell. Diese tiefgründigen, schwarzen Augen, die er so liebte. Sie sahen nicht ihn an, sondern Quarterma. Es war kalte Wut die in ihnen funkelte, aber auch ein so abgrundtiefes Entsetzen, dass Daart erneut erschrak. »Wie könnt Ihr es wagen!«, zischte sie. Quarterma kniff die Augen zusammen. »Wie ich es wagen kann? Hast du das wirklich gefragt, du dummes 449
Gör? Du hältst dich wohl für etwas Besseres, nur weil ich dich brauche, um eine alte Waffe zu aktivieren?« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung. Als sich Kor’mana hier in diesen stinkenden alten Turm verzogen hat, hat sie das nicht getan, um das Vertrauen der hier lebenden Drachen zu gewinnen. Die Wahrheit ist, dass sie vor den Drachen geflohen ist. Denn zuvor, in ihrer alten Residenz am Blutmeer, war sie die Herrscherin über alle Drachen und Drachenreiterinnen. Aber sie war zu schwach, um sich gegen ihre Feinde aus den eigenen Reihen durchzusetzen. Auch damals gab es schon einen Aufstand der Männer. Und was hat sie getan? Sie wollte sie an der Macht beteiligen. Aber das konnte ja nicht gut gehen. Und so kam es, wie es kommen musste: Schon kurz darauf versuchten die Männer sie endgültig zu stürzen. Und es blieb ihr nichts anderes übrig, als mit wenigen Getreuen hierhin, in diese entlegene Residenz, zu fliehen.« »Aber das kann doch nichts damit zu tun haben«, Carnac deutete mit einer Kopfbewegung auf die Guhulan, »dass Ihr ausgerechnet mit denen da paktiert. Schließlich sind das auch nur Männer.« »Männer, die wissen, wem sie zu dienen haben«, sagte Quarterma verächtlich. »Nämlich der Göttin Nubina.« »Unter deren Befehl Ihr Euch selbst stellt?« Quarterma machte einen weiteren Schritt hinab, auf sie zu. Ihr Blick blieb dabei auf Daart gerichtet, obwohl sich ihre Worte an Carnac richteten. »Es ist ganz einfach, mein Kind. Ich habe einen Pakt mit Nubina geschlossen. Um dieses Land hier dauerhaft in ihr Reich 450
einzufügen, braucht sie eine starke Hand. Und die habe ich nun einmal.« »Und deshalb verratet Ihr Eure eigenen Drachenreiterinnen?« Quarterma schüttelte den Kopf. »Ich verrate sie nicht. Ich beteilige sie an meiner Macht. Nachdem ich hier eine Kleinigkeit erledigt habe.« Ohne Daart aus den Augen zu lassen, machte sie eine Kopfbewegung zu dem Guhulan hin, der neben ihr stand. »Gebt auf ihn Acht. Er ist ein Tier.« »Was habt Ihr vor?«, fragte Carnac. »Was wohl.« Quarterma schüttelte bedauernd den Kopf. »In jedem Krieg gibt es Opfer. Leider gehören auch einige meiner Drachenreiterinnen dazu …« »Nicht zu vergessen die Männer, die sich mit Todesmut gegen ihre Angreifer werfen«, unterbrach Daart sie. Seine Stimme zitterte vor Wut. Das Pulsen in seinem Kopf wurde immer härter und stärker. Es drängte zur Explosion. Seine zerschundenen Hände gruben sich in den Boden ein, um ihn kraftvoll zu unterstützen, wenn er hochsprang, um Quarterma zu … »Vorsicht«, sagte Quarterma. Ihr Blick war jetzt voll eisiger Kälte. »Ich weiß, was du vorhast, Daart. Aber du hast keine Chance. Du hast ja nicht einmal mehr eine Waffe.« »Nein, die habe ich nicht«, sagte Daart. Er blickte an der Drachenreiterin und den drei Guhulan vorbei nach oben. Der Anblick überraschte ihn nicht. Quarterma hatte die anderen Männer ein Stück oberhalb platziert, sodass sie auf einen Überraschungsangriff angemessen reagieren konnten. Das machte alles sehr viel schwieriger. 451
»Ich musste alles so echt wie möglich aussehen lassen«, fuhr Quarterma. »Ich wusste ja, wo ihr den Turm verlassen würdet.« »Ihr wusstet von …?« »Von der Männerrutsche?« Quarterma nickte. »Natürlich. Auch wenn ich ihren Eingang nicht kannte, so kannte ich doch das stinkende Loch, aus dem die Männer herauspurzelten, die sich gegen uns verschworen hatten. Im Übrigen liegt es ganz in der Nähe des regulären Eingangs. Ich konnte mein kleines Schauspiel also ganz in Ruhe genau dort inszenieren, wo du mich gefunden hast.« »Und Ihr habt dabei das Leben Eurer eigenen Gefolgsleute aufs Spiel gesetzt?« Quarterma zuckte mit den Achseln. »Du sprichst wie eine Memme. Natürlich bedauere ich den Tod meiner Drachenreiterinnen und ihrer Drachen, die bei den Kämpfen in Mitleidenschaft geraten sind. Ach ja, natürlich, auch die Krieger Nubinas, die ich niederstechen musste, um das Ganze glaubwürdig aussehen zu lassen.« Der Hohn in ihrer Stimme war unüberhörbar, aber das war es nicht, worauf Daart achtete. Er spürte, wie das dünne Gefühl von Hass in seinem Inneren wuchs, wie das tödliche, böse Etwas in ihm die Kontrolle über ihn zu übernehmen versuchte. Der Panzer aus Willenskraft und Selbstbeherrschung, den er über die Abgründe seiner Seele gestülpt hatte, als er sich gemeinsam mit Quarterma auf die Suche nach Carnac begeben hatte, wurde brüchig. Der Kreis schließt sich, sagte die innere Stimme. Er 452
wusste, dass sie Recht hatte. Es war eine Drachenreiterin gewesen, die ihn und Carnac mit Blutschlangen beschossen hatte. Und es war Quarterma gewesen, die behauptet hatte, dass es verschiedene Gruppen von Drachenreiterinnen gab und sie keinen Einfluss auf die habe, die auf dem Rücken des Blutdrachen Jagd auf ihn gemacht hatte. »Jetzt verstehe ich«, murmelte er. Irgendetwas musste in seiner Stimme sein, was Quarterma aufhorchen ließ. Sie kniff die Augenbrauen zusammen. »Was?« »Ich fange an zu begreifen, warum Nubinas Heer nicht von Blutdrachen begleitet wurde«, sagte Daart. »Ihr hättet niemals Drachen gegen Drachen kämpfen lassen.« Quarterma schwieg einen Moment. Dann nickte sie. »Nein, das hätte ich niemals zugelassen. Und keine Sorge. Auch von den Lederdrachen ist keiner ernsthaft zu Schaden gekommen. Nicht einmal dieses dumme, unfähige Exemplar von Drache, der Carnac hier abgeworfen hat, ohne sicherzugehen, dass sie wirklich tot ist – und dann auch noch auf und davon geflogen ist, ohne mich vorher hierher zu führen. Aber«, sie lächelte böse, »diesen Part hast ja dann du übernommen. Und damit habe ich jetzt euch beide in der Falle.« »Also das auch noch!« Die Erkenntnis fraß sich wie mit flammenden Linien aus rotem Schmerz in Daarts Schädel. »Ihr hattet von Anfang an geplant, dass Zuckerbrot Carnac in den Tod reißen sollte.« »Zuckerbrot!« Quarterma stieß einen Laut aus, der eher wie das Fauchen einer Raubkatze klang als wie ein 453
Lachen. »Glaubst du tatsächlich, ich würde es zulassen, dass einer meiner Drachen einen so vollkommen schwachsinnigen Namen trägt? Nein, Daart. Es war eine der vielen Lügen, die ich dir und den anderen aufgetischt habe.« Daart sog tief und scharf die Luft ein. Es ist also so weit, sagte die innere Stimme. Du hast die Frau gefunden, die Carnac ermorden wollte. Es war gar nicht Nubina. Zumindest nicht diesmal. Es war Quarterma. »Ich kann dir zwar nicht versprechen, dass ich dir kein Haar krümmen werde«, sagte Quarterma. »Aber glaube mir: Ich werde dich nicht töten.« Sie machte eine kleine Pause, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme verändert, bösartiger. »Bei Carnac sieht das anders aus. Kurz vor dem Angriff auf unseren Turm habe ich die Nachricht erhalten, dass wir sie nicht länger schonen müssen. Nubina hat bereits eine andere Prophetin in ihre Gewalt gebracht. Eine Frau, die weitaus gefügiger ist als deine kleine widerspenstige Carnac. Und die uns zu Diensten sein wird, wann immer wir sie brauchen. Damit kann ich meine schützende Hand leider nicht länger über deine Hüterin der Zeit halten.« Sie gab dem neben ihm stehenden Mann ein Zeichen. »Töte sie.« Die Dinge und Geräusche in Daarts Umgebung verschwammen, entglitten ihm wie Teile eines Bildes, in das jemand immer wieder mit einem Messer hineinschnitt, bis es in Fetzen hing. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf einen einzelnen Mann, auf den Guhulan, den Quarterma vorgeschickt hatte, um Carnac zu töten. Der Krieger war nervös. Daart roch seine Angst und spürte sein Unbehagen, als er einen Fuß vor den 454
anderen setzte, vorsichtig und fast bedächtig, um nicht auszurutschen und unkontrolliert in Daart hineinzusausen. Die Waffe in seiner rechten Hand sah aus wie eine tödliche Verlängerung seines Arms. Er war bereit, Quartermas Auftrag auszuführen. Und Daart war bereit, ihn daran zu hindern. Der Guhulan erreichte die Senke. Hinter Daart raschelte es. Es war Carnac, die ihr Gewicht verlagert hatte, die sich anspannte, die wie er selbst darauf wartete, dass der Mann näher kam. Aber sie war verletzt, lag schon seit Stunden hier in ihrem Blut. Sie würde sich nicht selbst verteidigen können, nicht gegen diesen Mann und auch nicht gegen die anderen, die oben auf dem Abhang standen. »Worauf wartest du?« Quartermas Stimme klang hart und schneidend, aber auch fast lauernd. »Tu, was ich dir befohlen habe.« Der Guhulan spannte sich an. Es war eine Mischung aus Ärger und Entschlossenheit, die ihn den nächsten Schritt tun, das Schwert zum Schlag heben lassen wollte. Es war der Moment, auf den Daart gewartet hatte. Er rollte zur Seite, auf Carnac zu, als ob er sich schützend über sie werfen wollte. Dabei nahm er Schwung, drückte sich mit aller Kraft ab, kam hoch, federte kurz in die Knie und stieß sich mit aller Macht ab. Seine Füße krachten in den Magen des Guhulan und rissen ihn von den Füßen. Der Mann ruderte hilflos mit den Armen, stolperte und fiel nach hinten. Da war Daart schon bei ihm, entriss ihm das Schwert, brachte es, wenn auch schräg und in kraftloser Position, hoch. Keinen Augenblick zu früh. Quartermas Klinge sauste 455
auf ihn nieder. Funken sprühend krachte Metall auf Metall. Daart wurde die gerade erst in seinen Besitz gebrachte Waffe fast aus der Hand geprellt. Er sprang zurück, rutschte aus, schlitterte und fing sich wieder. Da war Quarterma auch schon heran. Die Narbe auf ihrer linken Wange leuchtete blutrot, und ihre Augen schienen Blitze zu schleudern. Sie deckte ihn mit einem Hagel harter Schläge ein, die ihn weiter zurückzutreiben drohten. Er hielt dagegen, drängte in eine andere Richtung, nur weg von Carnac. Quarterma kämpfte gut und voller Wut, und Daart war geschwächt und in ungünstiger Position, kaum in der Lage, sich ihrer zu erwehren, geschweige denn zum Gegenangriff überzugehen. »Daart!«, schrie Carnac. Ein Guhulan hatte sie erreicht, er sah es aus den Augenwinkeln, sah, wie der Mann sein Schwert hob, es umdrehte, mit beiden Händen packte, um es auf Carnac niederfahren zu lassen – und noch bevor das Entsetzen Daarts Verstand erreichen konnte, erwachte die Bestie in ihm, riss sich von den Fesseln los, die sie gefangen gehalten hatte, explodierte wie in purer Agonie. Mit einem einzigen, vollkommen unmöglichen Sprung erreichte er den Guhulan. Hinter ihm zischte Quartermas Schwert durch die Luft, er merkte es nicht einmal, hatte den Feuerkrieger schon erreicht, schlug ihm mit einem einzigen wuchtigen Schlag die Waffe aus der Hand, rammte ihm die Schulter ins Gesicht und stürzte, von seinem eigenen Schwung mitgerissen, mit ihm zu Boden. Sein eigenes Schwert grub sich irgendwo ein, wurde überdehnt: dann splitterte die Klinge, und der Schwertgriff sauste davon und traf einen Krieger in den 456
Kniekehlen, der ebenfalls gekommen war, Carnac zu töten. Daarts Hand fuhr in den Gürtel des Guhulan, mit dem zusammen er über den Boden rollte, fand den Dolch. Mit einer wütenden Bewegung riss er dem Mann die Klinge aus dem Gürtel und stach zu, immer und immer wieder, bis der Körper des Mannes erschlaffte und er den Sterbenden endlich von sich schieben konnte. Mit einem Satz war er auf den Beinen. Das Schwert des Mannes, den er getötet hatte, lag nur ein Stück von ihm entfernt … »So nicht«, brüllte Quarterma. Gefolgt von zwei, drei Guhulan, stürzte sie sich auf ihn. Daart ließ sich zur Seite fallen, rollte weg, auf den Mann zu, den er mit dem Schwertgriff in der Kniekehle getroffen hatte. Der Feuerkrieger kam gerade wieder hoch, drehte sich um, aber nicht zu ihm, sondern zu Carnac, um ihr den Todesstoß zu versetzen. Daart hielt sich nicht damit auf zu zielen; er schleuderte den Dolch aus der offenen Handfläche heraus. Bis zum Heft fuhr die Klinge direkt neben dem rechten Schulterblatt in den Rücken des Guhulan. Der Mann stolperte einen Schritt vor, drehte sich um, riss sein Schwert hoch … und taumelte zurück, als er Daart brüllend vor Hass und Gier auf sich zustürzen sah. Sein Pech war, dass ihm Carnac im Weg lag. »Du Schwein!«, schrie sie, und dann zuckte ihr Fuß hoch und traf den Mann genau in der Kniekehle, in der ihn kurz zuvor der abgerissene Schwertgriff erwischt hatte. Der Guhulan stieß einen dumpfen Laut aus und wäre 457
nach hingekippt, wenn da nicht schon Daart herangewesen wäre. Er packte das Handgelenk des Mannes und verdrehte es, bis dieser sein Schwert fallen lassen musste. Daart ließ ihn los und trat ihm mit voller Wucht in den Bauch, und der Guhulan wurde regelrecht abkatapultiert. Daart fing seine Waffe auf, bevor sie zu Boden fallen konnte, und wirbelte mit dem Schwert in der Hand herum. Ungeachtet ihrer eigenen Beinverletzung war Quarterma schon heran. In ihren Augen funkelte so kalter Hass, dass sie wie eine leibhaftige Todesgöttin aussah. Daart riss das erbeutete Schwert hoch, erwischte Quartermas Klinge und prellte sie ihr fast aus der Hand. »Doch, genau so«, brüllte er. Er sprang an Quarterma vorbei, wirbelte ansatzlos herum; seine Klinge zuckte mit der Wut einer vorschnellenden Schlange auf ihren Kopf zu. Quarterma war schnell, schneller, als vielleicht selbst Daart an ihrer Stelle gewesen wäre. Sie schaffte es, den Kopf zurückzudrehen und ihn gleichzeitig nach unten zu ziehen. Trotzdem war sie zu langsam. Daarts Klinge schlitzte ihre Wange auf, von unten nach oben, und trat erst kurz neben ihrem rechten Auge wieder aus. Quarterma schrie nicht, sie gab sich keine Blöße, in die er mit einem zweiten Schwertstreich hätte nachsetzen können; sie sprang aus dem Stand zurück. Und dann waren die Guhulan heran, drei, vier Männer, die gleichzeitig auf ihn eindrangen. Daart hechtete mit einer Rolle zur Seite, kam federnd wieder hoch und ließ sein Schwert einen Halbkreis beschreiben, mit dem er die Deckung des ihm am nächsten 458
stehenden Guhulan unterlief und ihm mit einem mörderischen Schlag fast das Bein abtrennte. Dann aber traf ihn ein wuchtiger Fußtritt in der Magengrube, der ihm die Luft aus den Lungen trieb. Er stolperte zurück, wehrte eine weitere Attacke ab und prellte einem Guhulan die Waffe aus der Hand, bevor dieser ihm damit gefährlich werden konnte … und sah sich plötzlich etwas gegenüber, mit dem er nie gerechnet hatte. Einer Silbermaske, diesem verfluchten Ding mit den ewig gleichen, jugendlichen Zügen, das er selbst noch vor kurzem getragen hatte. Natürlich war es nicht dieselbe Maske, und doch hatte er für einen verrückten Augenblick beinahe das Gefühl, als stünde er sich selbst gegenüber. Die Illusion zerplatzte, als der Mann seine Waffe hochriss und ungestüm auf ihn eindrang. Daart musste ihn mit zwei, drei wuchtigen Schwerthieben zurückdrängen, um wieder Luft zu bekommen. Die Guhulan hatten Verstärkung bekommen. Über den Hang stürmten weitere silbergesichtige Krieger aus dem Süden Enwors heran. Daart blieb nur ein gleichermaßen flüchtiger wie verzweifelter Blick, um die Situation einzuschätzen. Ein Dutzend Guhulan einschließlich Quarterma davon abzuhalten, Carnac zu töten, war fast unmöglich, aber er hätte zumindest eine Chance gehabt. Durch die Silberkrieger, die nun gegen ihn stürmten, hatte sich das Blatt jedoch endgültig gegen ihn gewendet. Er stieß einen markerschütternden Kampfschrei aus, und das tobende Etwas in ihm antwortete mit einem 459
wilden Aufbäumen, mit dem feurigen Verlangen, zu töten oder selbst getötet zu werden, doch niemals aufzugeben. Es war ein wahrer Schwerthagel, mit dem er seine Gegner eindeckte und zurückdrängte, als wären nicht sie, sondern er selbst im Vorteil. Und es war mehr als blindes Toben. Er musste sich einen Freiraum erkämpfen, alles auf eine Karte setzen. Er wich dem nächsten Schwerthieb aus, tauchte unter der Klinge eines Guhulan hinweg, schlug einen Bogen, als ihm zwei Silberkrieger in Doppelformation entgegenstürmten, und jagte an ihnen vorbei auf Carnac zu. Sich bücken, sie ergreifen und mit sich hochreißen, bevor einer seiner Gegner auch nur überhaupt begriff, was er vorhatte … Er kam nicht einmal in Carnacs Nähe. Plötzlich war Quarterma vor ihm. Die blutrote Narbe auf ihrer linken Wange sah blass aus im Verhältnis zu dem Schnitt, den er ihr auf der anderen Seite zugefügt hatte. Neben ihr schlossen zwei Silberkrieger auf, und zu dritt griffen sie ihn an. In Quartermas Augen tobte blanker Hass. Sie und die gesichtslosen Silberkrieger führten ihre Waffen schnell und sicher, wechselten sich in Angriffsformationen ab, als wären sie jahrelang aufeinander eingespielt. Daart war kaum in der Lage, sich ihrer zu erwehren, geschweige denn, zu einem ernsthaften Gegenangriff überzugehen. Und dann tauchten zu allem Überfluss rechts und links von ihm Guhulan auf, die sich dem Tanz der Vernichtung anschlossen. Schritt für Schritt wurde Daart zurückgedrängt. Die Hiebe und Stiche prasselten immer rascher auf ihn nieder, und mehr als einer durchbrach 460
seine Deckung. Schon nach wenigen Sekunden blutete er aus zahlreichen schmerzenden Wunden. Er spürte, wie seine Kräfte nachließen. Er schlug zu, duckte sich, parierte mit einer verzweifelten Bewegung drei, vier Hiebe gleichzeitig und tötete mit einem blitzschnellen Konter einen Guhulan, dessen Platz aber beinahe augenblicklich von einem anderen eingenommen wurde. Schließlich stand er mit dem Rücken an einem Felsen, eingekreist von fast einem Dutzend Guhulan. Seine Hände zitterten. Ein Stich hatte seine Schulter aufgerissen, und der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. »Gib auf, Daart!«, keuchte Quarterma. Die Guhulan und Silberkrieger wichen wie auf ein geheimes Kommando zurück – kaum mehr als einen halben Schritt, gerade genug, um aus der Reichweite seines Schwertes zu kommen –, aber der Kreis aus drohend vorgestreckten Schwertern, in dessen Zentrum er sich befand, lockerte sich nicht. »Du hast verloren.« Quarterma fuhr sich mit der Hand über die rechte Wange. Sie warf einen Blick auf das Blut, das sie sich aus dem Gesicht gewischt hatte, und ihre Mundwinkel verzogen sich hasserfüllt. »Glaube mir, ich würde nichts lieber tun, als dir mein Schwert ins Herz zu stoßen. Aber so leicht lasse ich dich nicht davonkommen. Ich werde dich Nubina übergeben, sobald wir hier raus sind.« »Nichts wirst du«, zischte Daart. »Komm doch her, wenn du dich traust. Ein Kampf auf Leben und Tod, nur zwischen uns beiden.« Quarterma sah aus, als wäre sie nahe daran, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Doch dann schüttelte sie 461
angewidert den Kopf. »Nichts dergleichen werde ich tun. Wirf deine Waffe weg. Dann können wir über alles reden.« »Auch darüber, dass ihr Carnac am Leben lasst?« »Warum nicht.« Quarterma zuckte mit den Achseln. »Ich kann euch genauso gut beide an Nubina ausliefern.« »Damit sie Carnac umbringen lässt?« Daart schüttelte den Kopf. Sein Herz raste, Blut quoll aus seiner Wunde, und er wusste, dass es nur eine Frage war, bis ihm das Schwert vor lauter Erschöpfung aus der Hand fiel. Aber noch war es nicht so weit. »Du bekommst mich nicht lebend«, zischte er. »Wenn du mich haben willst, musst du dich schon herbemühen.« Es war eine Herausforderung, die anzunehmen durchaus in Quartermas Sinne gewesen wäre. Er sah es an dem Blitzen in ihren Augen. Doch dann schüttelte sie erneut den Kopf. »Nein. Wir machen das ganz anders. Wenn du jetzt nicht gleich deine Waffe wegwirfst, werde ich Carnac heranschleifen und vor deinen Augen ausweiden lassen.« Die Welt um Daart herum schien zu verschwimmen. Er hörte kaum noch etwas, weder sein eigenes angestrengtes Keuchen noch die Atemgeräusche seiner Gegner oder die winzigen Geräusche, die entstanden, wenn sich Krieger in voller Montur kampfbereit hielten. Das also ist es, sagte die innere Stimme. Sie will Carnac vor deinen Augen niedermetzeln, um dich in die Knie zu zwingen. Willst du das wirklich zulassen? Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Die Stille dehnte sich scheinbar bis ins Unendliche. 462
»Also?«, fragte Quarterma schließlich lauernd. Daart öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber er kam nicht mehr dazu. »Lasst von ihm ab«, donnerte eine helle Stimme von oberhalb des Hangs herab. Quartermas Kopf ruckte herum, und auch die meisten Krieger wandten sich der Stimme zu. Es hätte ein Moment sein können, um einen Ausfall zu wagen. Doch es waren einfach zu viele Männer, die ihn hier in die Enge getrieben hatten, und nicht alle von ihnen hatten ihren wachsamen Blick von ihm gelöst. Er wäre nicht einmal zwei Schritte weit gekommen. Dann, endlich, folgte er Quartermas Blick. Es war Thross, der gerufen hatte. Das war einfach lächerlich. Ein kleiner Junge, der Quarterma und ihrer Streitmacht Befehle erteilen wollte. Es wäre vollkommen größenwahnsinnig gewesen, wenn Thross allein gewesen wäre. Aber das war er nicht. Mit ihm kam ein riesiger grober Kerl, auf dessen Schultern er hockte. Grobian. Daart spürte, wie seine Knie weich zu werden drohten. Aber das schien ihm nicht allein so zu gehen. Durch die Männer, die ihn eingekreist hatten, ging eine Bewegung, die weniger von Selbstvertrauen als vielmehr von Furcht zeugte. Und dann begann das, was Daart bis zu seinem Lebensende nicht vergessen würde.
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10 Wenn Grobian allein gewesen wäre, hätten die Krieger sicherlich anders reagiert, als sie es jetzt taten. Aber von weiter hinten, wo Daart nicht viel mehr als die dunklen Schatten von Bäumen und schroff aufragenden Felsen sah, war plötzlich lautes Gebrüll zu hören, und dann brach etwas hervor, was Daart hier zu sehen am allerwenigsten erwartet hätte. Ein Lederdrache. Und noch dazu einer, der es offensichtlich nicht besonders gut mit den fremden Kriegern meinte, die Quarterma um sich geschart hatte. Mit einem Fauchen, das lauter als das von zehn Berglöwen war, stürmte er heran. Seine gewaltigen Schwingen warfen Männer zu Boden, knickten Bäume um, rissen Buschwerk samt Wurzeln aus. Daart kam nicht dazu, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Er sah zu Thross hoch, wollte ihm eine Warnung zurufen, verhindern, dass er sich auf Grobians Schultern in das Kampfgeschehen warf. Es war vielleicht verrückt: Aber er hatte in diesem Augenblick vor nichts mehr Angst als davor, dass Thross ein Unglück geschehen könnte, ähnlich dem, das ihm Quartermas beste Bogenschützin mit ihrem angeblichen Todesschuss vorgegaukelt hatte. Aber Thross war alles andere als dämlich. Als Grobian brüllend und tobend losstürmte, sprang der Junge von seinen Schultern, bekam einen Ast zu fassen, schwang sich über ihn und zog sich dann mit ge464
schickten Bewegungen weiter in der Baumkrone nach oben. Gleichzeitig kam Bewegung in die Männer, die Daart nach wie vor umringten. Etliche von ihnen fuhren herum, nicht in Richtung des Drachen, der noch ein ganzes Stück entfernt war, sondern offensichtlich, um sich Grobian in den Weg zu stellen, der mit Riesenschritten auf sie zugesaust kam. Die nagelbewehrte Keule des Grolls fuhr hoch und schleuderte drei, vier der Krieger, die zur Absicherung auf dem Hang gestanden hatten, auf einen Streich zur Seite, während andere, die nicht schnell genug waren, von ihm einfach über den Haufen getrampelt wurden. Das war die Gelegenheit, auf die Daart gewartet hatte. Er ließ sich einfach zur Seite fallen. Zwei, drei Krieger fuhren in einer instinktiven Bewegung herum und drangen erneut auf ihn ein, aber ihre Reaktion kam zu spät. Denn da hatte Grobian schon den Hang hinter sich gelassen und schlitterte das letzte Stück auf einem Bett aus kleinen Steinen, herausgerissenen Wurzeln und abgerissenem Gezweig heran. Wie der Faustschlag eines zornigen Rachegottes kam der Groll über die Männer, die ihm nicht schnell genug hatten ausweichen können. Krieger schrien auf, brachen zusammen oder suchten ihr Heil in der Flucht. Einer der Männer prallte gegen Daart und riss ihn zu Boden. Als er wieder hochkam, war Grobian schon neben ihm, mit der Keule in der einen Hand und einem Guhulan in der anderen, den er am Genick gepackt hatte und so wild hin und her schlenkerte, dass der Mann schon ganz grün im Gesicht war. 465
»Ich hole Carnac«, brüllte Grobian. Sein grobporiges Gesicht mit der wuchtigen Knollennase in der Mitte und den rötlichen Flechten war zu einer abstoßenden Grimasse verzogen, aber hätte der Groll von ihm einen Kuss mitten auf seine Glatze verlangt, Daart wäre seiner Aufforderung zweifelsohne gefolgt. »Und ich schnapp mir Quarterma, diese verdammte Verräterin«, rief Daart. Doch da war Grobian schon an ihm vorbei und inmitten einer Meute Silberkrieger verschwunden. Daart sah Arme, Beine, Köpfe in wirrem Durcheinander, und dann flogen die ersten Krieger beiseite. Daart kümmerte sich nicht darum. Er sah sich um. Neben ihm lagen wimmernde und sterbende Männer, die wohl gar nicht begriffen hatten, wie ihnen geschehen war. Und auf der anderen Seite drehte der Lederdrache gerade mit halb ausgebreiteten Flügeln einen Kreis, der alle Krieger von den Füßen riss, die so verrückt waren, ihn angreifen zu wollen. Von Quarterma aber war keine Spur zu sehen. Dafür stürmte eine Horde Silberkrieger vom Hang aus in seine Richtung. Neue Männer, vom Kampflärm angelockt oder einem zuvor erteilten Befehl Quartermas folgend, es machte keinen Unterschied. Sie mussten hier weg. Daart torkelte los, in die Richtung, in der Grobian verschwunden war. Es lagen nur wenige Männer hier am Boden, niedergemäht von dem Koloss, der gewohnt war, alles zur Seite zu fegen, was sich ihm in den Weg stellte. Das hatten wohl auch seine Feinde erkannt, und 466
diejenigen, die klug genug gewesen waren, hatten es vorgezogen davonzulaufen. Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie mit Verstärkung wiederkämen. Auch ein Groll war nicht unbesiegbar. Und Grobian blutete bereits aus zahlreichen Wunden, wie Daart erschrocken feststellte. Er kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Grobian sich aufrichtete. Er hielt jemanden in den Armen. Es war Carnac. Sie sah so schwach und zerbrechlich aus, wie sie sich dort festzuklammern versuchte, und das Zittern, das sie erfasst hatte, sprach ebenso seine eigene Sprache wie das rechte Bein, das in unnatürlichem Winkel abstand. Die Schmerzen, die Daart zu spüren geglaubt hatte, als er aus dem Auge heraus auf diese Gegend hier herabgestarrt hatte, waren also tatsächlich die ihren gewesen. Es wäre Daart trotz seiner eigenen Verletzungen ein Leichtes gewesen, die letzten Schritte zu überbrücken, die ihn von ihr trennten. Stattdessen blieb er wie angewurzelt stehen. »Carnac«, flüsterte er. Trotz des Lärms und der Schreie rund um sie herum hatte Carnac ihn wohl gehört. Sie verdrehte den Kopf, um in seine Richtung zu starren. Ihre Augen waren unnatürlich geweitet, aber als sie Daart erkannte, lief ein schwaches Lächeln über ihre Züge. »Jetzt«, murmelte sie, »wird alles gut.« »Ja«, knurrte der Groll. »Wenn wir schnell genug hier wegkommen.« Er starrte in die Richtung, aus der die Silberkrieger heranjagten. »Das sieht gar nicht gut aus. Wird Zeit, dass ihr euch in die Lüfte erhebt.« 467
Daart kam gar nicht erst dazu, eine Frage zu stellen. Der Groll drehte sich um und pfiff mit einem so durchdringenden Laut durch die Zähne, dass Daart das Gefühl hatte, sein Trommelfell müsse platzen. Die Antwort erfolgte augenblicklich. Der Drache stieß einen markerschütternden Schrei aus, ließ davon ab, seine Gegner mit schnellen Flügelschlägen durcheinander zu wirbeln, und setzte sich mit anfangs noch recht schwerfälligen Schritten in ihre Richtung in Bewegung. Daart glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er die vertraute Kopfform des tiefschwarzen Drachen erkannte und das freudige Funkeln in seinen Augen, als er Daart entdeckte. Es war Feuersturm. »Aber wie …«, begann er. »Schnell«, fuhr ihm Grobian dazwischen. »Du musst einfach aufspringen. Feuersturm kann nicht hier stehen bleiben. Sonst kommt er nie mit euch beiden hoch, bevor die anderen da sind.« Einfach aufspringen? Daart hätte beinahe laut aufgelacht. Feuersturm hatte mittlerweile die Geschwindigkeit eines gut dressierten Rennpferds aufgenommen. Wie sollte er da aufspringen? Und wie Carnac mitnehmen? »Und pass mir auf Carnac auf«, brüllte Grobian. Da war der Drache auch schon fast heran. Daart sah fassungslos zu, wie Grobian Carnac zur Seite riss wie ein Kleinkind, das er etwas zu grob schaukeln wollte – und sie dann mit einer schwungvollen Bewegung in die andere Richtung warf. Carnac schoss durch die Luft, machte eine Drehung, die auch beim besten Willen kaum als Salto durchge468
gangen wäre, und krachte hart auf Feuersturms Rücken auf. Sie schrie vor Schmerz, und im nächsten Moment sah es so aus, als ob sie auf der anderen Seite des Drachen gleich wieder hinunterrutschen würde. Aber dann gelang es ihr irgendwie, sich doch noch festzuklammern. Und Daart begriff, dass nun er an der Reihe war. Er hatte schon zu viel Zeit vergeudet, um jetzt noch loslaufen und seine Geschwindigkeit auch nur halbwegs an die des Drachen anpassen zu können. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als aus dem Stand abzuspringen, sobald Feuersturm nahe genug heran war. Der Drache senkte den Kopf, als wolle er es ihm erleichtern, von vorn auf seinen Rücken zu springen. Aber Daart nahm diese Aufforderung nicht an. Schließlich hatte er nicht vor, durch einen unbedachten Sprung Carnac gleich wieder aus dem Sattel zu werfen. Stattdessen sprang er in die Seite des Drachen hinein. Er bekam einen Teil des Sattelzeugs mitsamt dem rechten Bein von Carnac zu fassen und klammerte sich mit aller Macht daran fest. Ein Stück weit wurde er mitgeschleift. Spitze Steine und Dornen zerrissen die Reste seiner Hose und hinterließen blutige Kratzer auf seiner Haut. Der frische, wenn auch nicht sehr tiefe Schnitt in seiner Schulter brannte, als ob jemand siedendes Öl dort hineingekippt hätte. Aber er biss die Zähne zusammen, versuchte sich an Feuersturms Flanke in die Höhe zu ziehen, und betete darum, dass der Drache nicht zu nah an einem Baum oder einem Fels vorbeilief und ihn dabei zerquetschte. Feuersturm nahm eine scharfe Kurve. Daarts Füße schleiften jetzt gefährlich nah über dem Boden, aber er 469
schaffte es einfach nicht, sich hochzuziehen, ohne gleichzeitig Gefahr zu laufen, Carnac damit herabzuzerren. Dann durchbrachen sie loses Buschwerk. Blätter, Stängel, Blüten peitschten über Daarts Gesicht hinweg, und das Nächste, was er sah, war … nichts. Feuersturm hatte einen steilen Abhang angesteuert, der Daarts Aufmerksamkeit zuvor vollkommen entgangen war. Der Drache sackte durch, und Daart hätte um ein Haar den Halt verloren und wäre wahrscheinlich endgültig abgerutscht, wenn sich nicht ausgerechnet Carnac zu ihm heruntergebeugt, seine Hand ergriffen und ihn mit einer verzweifelten Anstrengung zu sich hochgezogen hätte. Der Flug auf Feuersturm hatte etwas Gespenstisches. Die Schwingen des schwarzen Giganten peitschten die Luft, trugen seinen geschuppten, von zahlreichen Wunden gezeichneten Echsenkörper mit scheinbar schwerfälligen, schaufelnden Bewegungen nach oben und schlugen immer schneller. Der Abhang und das Dickicht, wo sie Quarterma mit den Guhulan gestellt und in die Enge zu treiben versucht hatte, huschten wie grün-braunschwarze Farbtupfer unter ihnen weg, schmolzen mit absurder Schnelligkeit zusammen und verschwanden schließlich ganz, als sich der Lederdrache weiter in den Himmel hinaufschraubte, um so schnell wie möglich Abstand zu seinen Feinden zu gewinnen. Daart beugte sich im Sattel des Drachen vor, so weit es seine pochende Schulterwunde und die wilden Flugmanöver zuließen. Das Gewirr von Schluchten, Felsnasen, Tümpeln und zugewucherten Vorsprüngen verschmolz zu einem einzigen Durcheinander. Nirgends ein 470
Aufblitzen von Waffen und Silbermasken, nirgends das Anzeichen für einen Kampf – oder irgendeine Spur von Grobian und Thross. Schließlich, als sie genug Höhe gewonnen hatten, breitete der Drache die gewaltigen ledernen Schwingen aus und stieß einen Seufzer aus, der so menschlich klang, dass Daart unwillkürlich zusammenzuckte. Er lag mittlerweile halb über und halb neben Carnac, darum bemüht, ihr gleichzeitig Halt zu geben und sie nicht zu sehr mit seinem eigenen Körpergewicht zu belasten. Seine blutverkrusteten Finger glitten wie von selbst an ihrer Schulter herab, streichelten sanft ihren Oberarm, bevor sie sich an ihr vorbei wieder in eine der Griffmulden klammerten, die den Flug mit dem Lederdrachen zu einer einigermaßen sicheren Sache machte. »Ich hatte schon gedacht …«, begann er, ließ dann aber den Satz unbeendet. Trotzdem wartete er mit klopfendem Herzen auf eine Antwort Carnacs. Er hatte keine Ahnung, wie schwer sie verletzt war und ob sie ihm nicht gerade unter den Händen wegstarb. Aber er hätte sich in diesem Moment lieber die Zunge abgebissen, als eine entsprechende Frage zu stellen. Feuersturm glitt währenddessen so ruhig, und entspannt dahin wie ein Adler, der eine abendliche Runde über seinem Revier dreht. Es war vollkommen friedlich hier oben. Die wenigen, von der untergehenden Sonne rötlich beleuchteten Wolken schienen fest am Himmel zu stehen, so als verharrten sie seit Anbeginn aller Zeiten in genau dieser Formation. Als Daart den Kopf nach links wandte, fiel sein Blick auf die ferne Bergkette des 471
Schattengebirges. Sie wurde in eine in vielfältigen Rotschattierungen schimmernde Abendstimmung getaucht, die in all ihrer Farbenpracht geradezu grotesk idyllisch wirkte. Auch das Tal unter ihnen gab sich ganz dem weichen, verspielten Abendlicht hin, und selbst die Staubwolke, die Daart zuvor aus dem schwebenden Auge heraus beobachtet und fälschlicherweise für die Anzeichen einer großen Schlacht gehalten hatte, hatte sich mittlerweile vollständig verflüchtigt. »Ja, ich auch«, murmelte Carnac endlich. Sie drehte den Kopf so weit, dass sie ihn zumindest halbwegs ansehen konnte. Unter ihren Augen lagen tiefe Ränder, die Wangen waren eingefallen. Das Schlimmste aber war die fast fahle Farbe ihres Gesichts; die Haut in den Augenhöhlen und um die Mundwinkel herum sah beinahe aus wie die einer Toten. »Wie … wie schwer bist du verletzt?«, fragte Daart mit klopfendem Herzen. »Ich werde schon wieder, keine Sorge.« Sie gab sich Mühe, den Mund zu einer spöttischen Grimasse zu verziehen, was ihr immerhin halbwegs gelang. »Wo hast du nur so lange gesteckt?« Daart ächzte. »Wo ich gesteckt habe? Das kannst du dir doch denken, oder?« Als Carnac nicht darauf antwortete, fuhr er in bewusst leichtem Tonfall fort: »Ich habe mir erst von einer Drachenreiterin ein warmes Bad bereiten lassen. Ja, und dann … dann habe ich mich von ihr zu ihrem Gemach führen lassen …« In Carnacs Augen blitzte es ganz kurz auf. Sie war viel zu angeschlagen, um auf ihre gewohnte Art mit einer spöttischen Antwort darauf zu reagieren. Aber es tat 472
auch so gut zu sehen, dass sie trotz ihres miserablen Zustands noch in der Lage war, zumindest mit einem Augensignal auf seine leichtfertige Bemerkung einzugehen. »Und was machen wir jetzt?«, fragte sie nach einer Weile und nachdem sie sich wieder umgedreht hatte, um sich dann ganz eng an den Drachenhals zu schmiegen. »Hast du einen Plan?« Daart starrte besorgt auf das zähe schwarze Drachenblut, das aus einer Wunde neben seinem Bein austrat, bevor er hastig nickte. »Eigentlich nicht ich, sondern der Älteste …« »Er ist hier?«, unterbrach ihn Carnac überrascht. Feuersturm sackte durch, und Daart wurde die Antwort, die er sich schon zurechtgelegt hatte, regelrecht aus dem Mund gerissen. Carnac stöhnte auf, als sich der Drache in eine Kurve legte und abdrehte von dem schillernden Abendrot, in das er zuvor hineingeflogen war. Daart drohte den Halt zu verlieren und musste fester zupacken, was Carnac erneut schmerzhaft aufstöhnen ließ. Als Daart zurückblickte, erkannte er den Grund für Feuersturms plötzlichen Richtungswechsel. Am Horizont waren dunkle Punkte aufgetaucht. Daart bezweifelte, dass es sich dabei um einen Vogelschwarm handelte. »Was ist?«, keuchte Carnac. »Willst du mich zerquetschen?« »Nein, entschuldige.« Daart rutschte so gut es ging zur Seite. »Besser so?« »Ja«, stieß Carnac hervor. Gleich darauf schüttelte sie ein heftiger Husten. »Schon … viel … besser«, keuchte 473
sie, kaum dass sie den Husten in den Griff bekommen hatte. »Aber warum … warum haben wir den Kurs gewechselt? Ist irgendetwas passiert?« »Nein«, log Daart. Obwohl sich beim Anblick der dunklen Punkte eine eisige Hand um sein Herz gelegt hatte, spürte er doch gleichzeitig eine riesige Erleichterung. Es waren Drachen, die dort aufgetaucht waren, vielleicht Lederdrachen, die ihren abtrünnigen Genossen jagen sollten, vielleicht auch Blutdrachen. Aber noch waren sie nicht heran. Noch lagen er und Carnac dicht aneinander gepresst auf dem Rücken des eigentümlichsten Drachen, den Daart je zu Gesicht bekommen hatte. Es waren vielleicht nur wenige Momente des Friedens, die ihnen vergönnt waren. Aber es waren unendlich kostbare Momente. Durch nichts und niemanden würde er sie sich nehmen und die friedliche Stimmung zerstören lassen. »Erzähl mir, was geschehen ist«, verlangte Carnac. Daart nickte. Natürlich. Während Feuersturm in einem ruhigen Gleitflug dahinschwebte und der Wind ihrer beider Haar zerzauste und den Schweiß auf ihren Stirnen trocknete, begann er zu erzählen. Zuerst fand er kaum die richtigen Worte, doch dann berichtete er zunehmend flüssiger und nur von gelegentlichen kurzen Kommentaren Carnacs unterbrochen, was sich zugetragen hatte, seitdem sie das letzte Mal in Ruhe miteinander gesprochen hatten. »Aber was ist mit Grobian und Thross?«, fragte Carnac besorgt, als er geendet hatte. »Wenn zum Schluss wirklich so viele Silberkrieger aufgetaucht sind, wie du behauptest, dann sind sie doch in größter Gefahr!« 474
»Mach dir keine Sorgen um Grobian – der weiß sich schon durchzuschlagen«, versuchte Daart sie zu beruhigen. »Und Thross hat wohl mehr Leben als eine Katze. Er wird sich rechtzeitig verdrückt haben, bevor es für ihn brenzlig wurde.« »Wenn ich mir keine Sorgen um Thross und Grobian machen muss«, sagte Carnac, »um was dann?« Daart spähte vor sich in den Himmel. Feuersturm hatte einen riesigen Bogen geschlagen, aber jetzt waren sie wieder in Richtung Drachenturm unterwegs. Zurück zum Ältesten. Und dem, was er »die Waffe« genannt hatte. »Feuersturm ist erstaunlich, und er ist der mutigste und klügste Drache den es vielleicht gibt«, begann Daart. Feuersturm wackelte erst mit dem einen und dann dem anderen Flügel, als wollte er dazu seine Zustimmung geben. »Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie er das Auge oder den Ältesten finden will.« Wie zur Antwort ging ein Ruck durch Feuersturm, und dann teilten seine gewaltigen ledrigen Schwingen die Luft mit ungeheurer Macht, während er sich kraftvoll nach oben drückte. Daart hielt die Luft an und presste sich härter an Carnac. Aus weit größerer Höhe als beim ersten Mal schossen sie auf das Plateau zu. Es hatte sich verändert. Auf der rauen, aber erstaunlich ebenen Fläche waren rote Glutnester aufgebrochen, und breite Ströme rotgelbflüssiger Lava schoben sich über den Rand hinaus und darüber hinweg, tropften in breiten Nasen hinab, beinahe so, als sei es nicht der Drachenturm, auf den sie 475
zuhielten, sondern ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. »Was ist das?«, schrie Carnac. Daart setzte zu einer Antwort an, aber er kam nicht einmal mehr dazu, den Mund zu öffnen. Feuersturm setzte völlig unvermittelt und ohne jede Vorwarnung zum Sturzflug an, stürzte sich schnell, rasend schnell hinab, und seine Geschwindigkeit nahm immer mehr zu. Daart hielt sich verzweifelt in den Griffmulden fest, drückte gleichzeitig mit aller Kraft die Schenkel zusammen und presste sich und Carnac jetzt so fest an den schuppigen Hals des Tieres, wie es nur ging. Feuersturm schrie auf, spreizte die Flügel, zog sie plötzlich ganz eng an den Leib und wurde dadurch noch schneller. Das Plateau sprang mit einem gewaltigen Satz auf sie zu. Erst als es schon so aussah, als ob sie mitten auf dem Fels aufschlagen würden, entfaltete der Drache seine gewaltigen Flügel wieder und segelte über den Rand des Drachenturms hinweg. Der Ruck schleuderte Daart beinahe von Feuersturms Rücken. Aus dem fast senkrechten Sturz des Drachen wurde ein erst sehr sanfter, dann immer enger werdender Bogen, dessen Schnittpunkt irgendwo im Nichts zu liegen schien. Doch Daart ahnte, worauf er zuhielt. »Vorsicht!«, brüllte er. Seine Warnung kam keinen Augenblick zu früh. Feuersturm zog plötzlich wieder hoch, aber er war zu langsam. Seine Füße streiften etwas, und er wurde herumgeschleudert. Daart verlor den Halt, rutschte ab, versuchte sich wieder zu fangen, bekam Carnacs Arm zu fassen und klammerte sich fest, zog sich hoch, bemühte sich verzweifelt, sicheren Halt finden … 476
Vergebens. Feuersturm schüttelte sich wie ein nasser Hund, der Wasser aus dem Fell schleudern wollte. Eine der gewaltigen schwarzen Drachenschwingen streifte Daart, ganz flüchtig nur, aber die Berührung war trotzdem stark genug, um ihn aus dem Sattel zu reißen. Er versuchte sich noch irgendwo festzuhalten, aber seine Hand rutschte an frisch verkrustetem Drachenblut ab – und dann war er plötzlich nicht mehr auf, sondern neben dem fliegenden Riesen. Daart überschlug sich unzählige Male in der Luft, bevor er abstürzte … Und dann war plötzlich etwas unter ihm, eine schillernde Hülle, ein wirbelndes Etwas, das ihn geradezu aufzusaugen schien, und er begriff, dass ihn Feuersturm zielsicher dorthin geschleudert hatte. Daart stürzte durch etwas hindurch, das seinen Fall mit Tausenden von feinen Fäden aufzuhalten schien. Dann war er durch, prallte auf der Haut des riesigen Auges auf, dort, wo seine oberste Begrenzung fast mit dem Fels zu verschmelzen schien. Er rollte sich instinktiv zu einem Ball zusammen, überschlug sich unzählige Male, ehe er an der glatten Innenseite der Hülle weiterrutschte und schreiend vor Schmerzen liegen blieb. In seiner Schulter tobte das reinste Inferno, und sein ganzer Körper fühlte sich an, als hätten ihn Dutzende Fäuste stundenlang mit Schlägen traktiert. Eine ganze Weile blieb er auf dem Rücken liegen und schnappte verzweifelt nach Luft. Sein Schädel dröhnte, als würde hinter seiner Stirn ununterbrochen ein gigantischer Gong anschlagen, und jeder einzelne Atemzug schickte schmerzhafte Stiche durch seinen Leib. Neben 477
ihm stöhnte Carnac auf, doch das Geräusch schien nur wie durch eine dichte, dämpfende Nebelwand in sein Bewusstsein zu dringen. Aber immerhin lebte sie. Er stemmte sich mühsam hoch und sah zu Carnac hinüber. Sie lag fast neben ihm, und ihr Atem ging so laut und hektisch, dass er im ersten Moment einen Schreck bekam. Aber als sie seinen Blick bemerkte, wandte sie den Kopf in seine Richtung und rang sich ein Lächeln ab. »Ich … ich bin in Ordnung«, flüsterte sie. »Nur … nur mein Bein.« Daart nickte. »Bei mir ist es die Schulter.« Carnac starrte ihn erst verständnislos an, dann nickte sie grimmig. »Wir sollten künftig vielleicht ein klein wenig mehr auf uns Acht geben. Sonst müssen wir uns noch auseinander schneiden lassen, damit man aus unseren Gliedmaßen wenigstens einen halbwegs brauchbaren Krieger zusammenschneidern kann.« Ihre letzten Worte gingen in einem entfernten Fauchen unter. Daart riss den Kopf herum. Es war Feuersturm. Der Drache war schon erstaunlich weit entfernt, aber wegen seiner gewaltigen Größe konnte Daart ihn trotzdem deutlich erkennen. Der fliegende Riese drohte soeben die Kontrolle über sich zu verlieren. Seine Schwingen peitschten in heller Panik die Luft, das Abwerfmanöver schien ihn vollkommen aus dem Gleichgewicht geworfen zu haben. Für einen kurzen, schreckerfüllten Augenblick fürchtete Daart, er werde abstürzen. Aber dann entschied die ungeheure Körperkraft des Drachen den lautlosen Kampf. Mit einer gewaltigen 478
Anstrengung warf sich Feuersturm herum und schoss sodann mit einem erleichterten Schrei in den Himmel empor.
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11 Daart hockte sich neben Carnac, legte den Arm um ihre Schulter und zog sie vorsichtig ein Stück an sich heran. Sie stöhnte auf, ob vor Schmerz oder Wohlbehagen oder aus einer Mischung von beidem, er hätte es nicht zu sagen vermocht. »Wie fühlst du dich?«, fragte er. Es war eine dumme und überflüssige Frage, doch es fiel ihm nichts Besseres ein – zumindest nichts, was nicht noch dümmer und törichter gewesen wäre. Carnac versuchte zu lächeln, aber ihre Lippen machten die Bewegung nur unvollständig mit. »Ich glaube, ich fühle mich ungefähr so, wie du aussiehst«, antwortete sie. Die gezwungene Fröhlichkeit in ihrer Stimme versetzte Daart einen schmerzhaften Stich. »Und es wäre sicherlich nicht verkehrt, wenn du dich um meine Wunden kümmern würdest.« Er spürte den Vorwurf hinter ihrer Bemerkung und wollte von ihr abrücken, um ihrer Aufforderung nachzukommen. Doch sie nahm nur seine Hand und drückte sie – um sie dann schnell wieder loszulassen und zu fragen: »Was hast du denn damit gemacht? Unter einen Schmiedehammer gelegt?« Daart lächelte schmerzhaft. »So ungefähr. Aber darauf kommt es jetzt nicht an. Wenn wir hier jemals wieder herauskommen, werden wir uns von boranischen Tempelheilerinnen gesund pflegen lassen, deren sanfte, heilende Hände sogar Tote zum Leben erwe480
cken können, wie es heißt. Also: Was ist nun mit deinem Bein?« Carnac zuckte mit den Achseln. »Geprellt oder gebrochen oder beides. Jedenfalls hat es mich daran gehindert, einfach aufzustehen und wegzulaufen.« »Und sonst?« Er warf einen besorgten Blick auf die blutverkrustete Stelle kurz unter dem Ansatz ihrer Brüste, dort, wo etwas das schwarze Leder zerfetzt und ihre Haut aufgerissen hatte. »Und sonst wäre ich wohl tot, wenn ich nicht die schwere Ledermontur der Drachenreiterinnen getragen hätte und mein Sturz durch ein dichtes Blätterdach abgebremst worden wäre«, antwortete Carnac leise. »Es war ein unglaublich harter Aufprall. Dieser verfluchte Drache hat mich einfach aus dem Sattel geworfen und ist dann weitergeflogen, als wäre nichts geschehen.« Daart nickte. »Dieses Kunststück hat ihm wohl Quarterma beigebracht.« Carnac nickte geistesabwesend und beugte sich ein Stück vor. Ihr Gesicht verzog sich vor Überraschung. Daart konnte es nur zu gut nachempfinden. Er war nun schon zum zweiten Mal in der riesigen Blase, deren Wölbung aus einem durchsichtigen und dennoch in allen Farben schillernden Material bestand, das blutete, wenn man mit dem Messer hineinstieß. Aber für Carnac war es der erste Blick, den sie aus diesem riesigen Auge heraus auf das warf, was unter ihnen war. »Das ist ja unglaublich. Wir schweben in diesem … Ding hier hoch über dem Tal. Sieh dir das nur an! Dort unten ist der Fluss, der sich durch den Talgrund windet. Und das da«, sie deutete in eine andere Richtung, 481
»muss die Stelle sein, an der mich der Drache abgeworfen hat.« »Ja«, sagte Daart unbehaglich. Er starrte nun auch herab. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich auf allen Wasserflächen, auf die es fiel, und verzauberte die Landschaft mit seinem milden Farbenglanz. »Ich wüsste nur zu gern, wo Nubinas Streitmacht dort unten steckt.« »Diese Frage kann ich dir beantworten«, sagte eine Stimme hinter ihm. Daart fuhr herum und stöhnte auf, genauso wie Carnac, die er nicht losgelassen hatte und durch deren Körper nun wohl ein ähnlich scharfer Schmerz zuckte wie durch den seinen. Er hatte die ganze Zeit über gehofft, dass der Älteste auftauchen würde, aber als er es jetzt tat, spürte Daart, wie ihn eine Woge blinden Zorns zu übermannen drohte. Es war nicht gerecht, dass der Älteste ausgerechnet jetzt kam und den kostbaren Augenblick zerstörte, in dem er Carnac ganz für sich hatte. »Nubina hat den größten Teil ihres Heeres in einem Kessel zusammengezogen, der von hier oben aus nicht einsehbar ist.« Der Älteste kam mit langsamen Schritten näher. Er sah angestrengt aus; die weißen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und er zog einen Fuß etwas nach. Daart erinnerte sich daran, dass er es auch bei ihrer Begegnung in einer dunklen Höhle im Schattengebirge getan hatte. Vielleicht, weil er sich damals wie heute in einer Ausnahmesituation befand? »Sie bereitet sich zum Abmarsch vor«, fuhr der Älteste fort. »Ihre nächste Station ist das Blutmeer. Und danach hat sie es auf das Quorrl-Reservat abgesehen.« 482
»Aber«, Carnac streifte Daarts Hand ab und verrenkte sich fast den Hals, um in die Richtung des Ältesten zu blicken, »wo kommt Ihr so plötzlich her?« Die Frage war mehr als berechtigt. Die von innen durchsichtige Außenhülle umschloss sie wie eine gigantische Faust, und es gab hier keinen Bereich, der nicht von allen Seiten aus einsehbar gewesen wäre. Zumindest war Daart bislang dieser Meinung gewesen. Doch die Antwort des Ältesten belehrte ihn eines Besseren. »Von dort«, sagte er und deutete in die Richtung, aus der er gekommen war. »Siehst du diesen Bereich, der stärker strahlt und schillert als alles andere?« Carnac nickte flüchtig. »Dort ist etwas, das in der Zeit selbst verborgen liegt.« Der Älteste zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Ich habe lange danach gesucht. Und jetzt, wo ich es gefunden habe, habe ich dort meine Vorbereitungen getroffen für das, was wir tun müssen.« »Und was«, flüsterte Carnac, »was ist das?« Der Älteste presste die Lippen zusammen, und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Du weißt, was Nubina im Begriff ist zu tun?«, fragte er rau. »Ja«, hauchte Carnac. »Sie bringt die Zeitlinien durcheinander. Sie greift nach der Unsterblichkeit und zerstört damit gleichzeitig die Lebensgrundlage für alle, die sterblich sind.« Der Älteste lächelte leicht. »Jetzt redest du nicht wie eine Satai-Sjen, sondern wie eine Prophetin.« Er wurde schlagartig wieder ernst. »Aber leider hast du Recht. Hier, im hohen Norden und durch das Schattengebirge weitgehend abgeschottet, merken wir nicht viel von 483
dem, was an Chaos und Leid über die Menschen und alle anderen Bewohner Enwors kommt. Die Silberkrieger haben auf ihrem Weg vom Süden zum Schattengebirge eine Schneise der Verwüstung geschlagen. Sie haben aufs Übelste geplündert, gemordet, gebrandschatzt und vergewaltigt. Und das war dennoch nur der Auftakt zu weit Schlimmeren.« »Ich weiß«, sagte Carnac tonlos. »Nubina hat die Ordnung der Dinge selbst durcheinander gebracht. Das Wetter spielt in vielen Landstrichen vollkommen verrückt. Die Jahreszeiten drohen außer Rand und Band zu geraten. Seuchen und Krankheiten greifen um sich.« »Es ist als habe der Atem der Götter die Erde gestreift, um Ernten zu vernichten und Vieh und Menschen zu verderben«, erwiderte der Älteste heftig. Er ballte die Faust. »Aber es ist nicht der Atem der alten Götter. Es ist Nubinas Atem. Und jetzt, wo sie sich mit Quarterma verbündet hat, um sich mit eurer Hilfe in den Besitz auch dieses Wunderwerks der Alten zu bringen, in dem wir uns befinden, ist es an der Zeit dagegenzuhalten. Ihr zu zeigen, wo ihre Grenzen liegen.« »Aber wie …« »Diese Frage hast du schon einmal gestellt, und ich will dir nicht länger die Antwort verweigern«, unterbrach sie der Älteste. Er trat einen weiteren Schritt vor. »Den Kampf um den Drachenturm haben Quarterma und Nubina nur vorgetäuscht, um uns hierher zu locken und uns das Geheimnis ergründen zu lassen, das sie uns dann wieder abzunehmen gedachten. Doch genau diese Intrige wird sich jetzt gegen sie selbst wenden.« »Ihr wollt die Waffe gegen ihr Heer richten?« 484
Der Älteste machte eine unbestimmte Geste. »Was ich will, ist nicht einmal so entscheidend. Ihr beide werdet es sein, die tun, was getan werden muss. Aber keine Sorge: Ich habe alles bei mir, um den Vulkan zu entfesseln, der Nubina in die Schranken verweisen wird. Und das Auge selbst ist bereits dabei, sich von seinem angestammten Platz zu lösen und Kurs auf Nubinas Heerlager zu nehmen.« Er trat einen Schritt vor. »Jetzt muss ich euch leider bitten, euch voneinander zu lösen. Daart!« »Ja?« Daart zuckte regelrecht zusammen. »Ich brauche dich hier bei mir.« Der Älteste ließ sich in die Hocke nieder. Erst jetzt sah Daart, dass er etwas umfasst hielt. Es blitzte metallisch auf, als er die Hand hochnahm und den Gegenstand dann neben sich ablegte, sodass ihn Daart nicht länger sehen konnte. Daart stemmte sich umständlich hoch und humpelte zu dem Ältesten hinüber. »Was genau habt Ihr vor?« Der Älteste sah zu ihm empor. »Setz dich einfach zu mir. Und lass geschehen, was geschehen muss.« Daart war nicht ganz wohl bei der Sache. Er warf einen letzten Blick auf Carnac. Sie nickte ihm zu, und doch glaubte er auch auf ihrem Gesicht ein leises Zögern zu erkennen. Sie schien die gleiche Befürchtung zu haben wie er selbst. Was, wenn der Älteste im Begriff war, einen riesigen Fehler zu begehen, wenn er mit Kräften spielte, denen er und sie beide letztlich nicht gewachsen waren? Der Gedanke entglitt ihm, war zu abstrakt, um wirklich zu Ende verfolgt zu werden, aber er ließ eine seltsame Leere in ihm zurück. 485
Daart ging in die Hocke. »Schließ die Augen«, verlangte der Älteste von ihm. Auch in diesem Punkt gehorchte Daart. Aber dann blinzelte er doch, als ihn etwas an der Wange berührte. »Nicht«, sagte der Älteste sanft. »Du darfst die Augen während der Prozedur nicht öffnen.« »Und warum …« »Psst. Keine Fragen mehr. Keine Antworten.« Die Stimme des Ältesten wurde immer leiser. »Lass es einfach geschehen. Wehr dich nicht. Dann wirst letztlich du es sein, der die Kraft des entfesselten Vulkans über Nubinas Heer bringt.« Die Finger des Ältesten krochen weiter, tasteten über seine Augen und glitten über Nasenwurzel und Stirn, dann berührte etwas Hartes und schmerzhaft Heißes seine Schläfen. »Jetzt!« Linien aus rotem Schmerz durchfuhren Daarts Lider und zuckten wie glühende Dolche in seine Augen. Ein grausamer Schmerz schoss durch seinen Kopf. Einen schrecklichen Moment lang hatte er das Gefühl, sein Gehirn werde explodieren. Dann, so rasch wie der Schmerz gekommen war, verging er wieder, und stattdessen breitete sich ein taubes, prickelndes Gefühl der Erschöpfung zwischen seinen Schläfen aus. Er wusste nicht, was mit ihm geschah. Wie schon einmal, als er mit dem Messer auf die Außenwand des Auges eingestochen hatte, ertönte ein Gewisper und Geraune um ihn herum, zunächst fast unhörbar und dann doch immer deutlicher werdend. Es waren Stimmen, die auf ihn einflüsterten und einsprachen, von selt486
sam fernen, fremd klingenden und doch vertrauten Geräuschen begleitet. Die Hitze, die über seine Schläfen in seinen Schädel gefahren war, verteilte sich, strömte in seinen Kopf, breitete sich vollständig in ihm aus. Das vielstimmige Gemurmel wurde lauter, drängender, und dann war da noch eine andere Stimme, eine Stimme, die antwortete. Er erschrak zutiefst, als er erkannte, dass er selbst es war, der auf Fragen antwortete, obgleich er die Worte nicht verstand. Er redete mit leisen Worten, die mit den Stimmen um ihn herum zu einem monotonen Singsang verschmolzen. Sein Zeitgefühl löste sich vollkommen auf. Er wusste nicht, wie lange er in diesem tranceähnlichen Zustand verharrte oder was genau um ihn herum geschah. Irgendwann, nach einer Zeitspanne, die ihm wie eine Unendlichkeit vorkam, strömte etwas aus ihm heraus und gleichzeitig in ihn ein … und dann spürte er plötzlich Carnacs Nähe mit so schmerzhafter Deutlichkeit, dass es ihn fast um den Verstand brachte. Sie war ganz nah bei ihm, und das nicht auf eine körperliche, sondern auf eine ganz andere Weise; sie berührte seine Seele, kam ihm so nahe wie kein Mensch je zuvor. Er erkannte Dinge in ihr und in sich, die er sich nie zuvor hätte erträumen lassen. Sie rissen ihn mit sich fort und spülten ihn wieder zurück, ein scheinbar ewiges Hin und Her. Da war etwas … Tastendes in ihr, das auf ihn zukam und ihn erschrecken ließ, und dann war wieder er es, der sie zu ertasten, auf vollkommen unbeschreibliche Weise zu berühren versuchte. Es war die Berührung einer Ewigkeit, und sie veränderte etwas in dem Ding in ihm, das nur darauf lauerte, 487
mit vernichtender Gewalt hervorzubrechen, stärker als je zuvor. Carnac und dieses … Ding berührten sich, und dann geschah etwas, was alle Dämme in ihm brechen ließ und mit sich fortriss auf eine Reise, die er nicht verstand und auch nicht verstehen konnte. Etwas in ihm wurde abgelenkt, prallte zurück, schob sich ungelenk wieder in den Vordergrund … Und nun war es Carnac, die zurückwich, nicht sanft und verständnisvoll, sondern abrupt, in einer einzigen, schrecklichen Bewegung … Dann war er wieder allein, allein. Schwärze umwaberte ihn. Die Einsamkeit schlug mit solcher Wucht über ihm zusammen, dass sie ihm den Verstand zu rauben drohte. Er wollte schreien, aber es ging nicht. Stattdessen spürte er, wie sich etwas veränderte, wie jetzt nur noch etwas aus ihm herausdrängte, wie der dunkle Teil in ihm endgültig zum Leben erwachte. Ein unerträglicher Schmerz zuckte durch sein Genick, raste wie eine feurige Woge an seinem Rückgrat herab, explodierte in seinem Leib und flutete wieder zurück. Irgendetwas zerbrach in ihm. Etwas Dunkles, Schweres, Brodelndes schien aus den Tiefen seiner Seele emporzuschießen, seine Gedanken hinwegzufegen und ihn mit einer Kraft zu erfüllen, die nicht mehr menschlich war. Der Schmerz erlosch, verschwand und wurde von etwas Neuem, Fremdem und Bösem abgelöst. Und dann zerriss ein heller, greller gezackter Blitz die Dunkelheit um ihn und brannte sich trotz der geschlossenen Lider auf seiner Netzhaut ein, jagte mit einem hämmernden Schlag weiter und schmetterte jeden Rest eines bewussten Gedankens beiseite. 488
Das Auge erbebte. Ein tiefes, stampfendes Zittern lief durch den Untergrund, auf dem Daart hockte, ein grollendes, dumpfes Vibrieren, als wanke das Auge unter den Hammerschlägen eines Riesen. Es war ein Laut, der weit über das Spektrum des eigentlich Hörbaren hinausging und jede Faser seines Körpers zum Schwingen brachte. Daart krümmte sich vor Schmerz, dann fiel er vornüber, und der barmherzige Schleier der Bewusstlosigkeit senkte sich über ihn. Mit einem Schrei fuhr er in die Höhe. Carnac stand in verkrümmter Haltung neben ihm, hatte die Hand gegen den Magen gepresst. Sie sah nicht einmal zu ihm hin. Der Älteste dagegen drehte sich um, als er ihn bemerkte, aber statt mit sicheren Schritten auf ihn zuzugehen, taumelte er, stieß einen erstickten Laut aus und ging in die Knie. Daart wankte, presste die Hände gegen die Ohren und sah aus tränenden Augen nach unten, darauf gefasst den Himmel in Feuer gebadet zu sehen, im Widerschein einer gewaltigen flammenden Explosion, mit der sich die Waffe auf Nubinas Streitmacht entladen hatte. Er sollte nicht enttäuscht werden. Das Auge hatte sich wohl tatsächlich, ganz wie es der Älteste angekündigt hatte, zu der Stelle bewegt, an der er den Lagerplatz von Nubinas Heer vermutet hatte. Aber im Augenblick war davon nichts mehr zu sehen. Die Luft selbst schien in Brand gesetzt zu sein. Fließende, rotschwarze Flammenwirbel rollten wie eine ko489
chende Flutwelle über den Himmel, schoben sich immer weiter, verdeckten den fernen Ausschnitt des Schattengebirges; ein einziger flammender Schrecken ohne sichtbare Konturen und ohne Anfang und Ende. Es war, als ziehe sich die Dämmerung aus diesem Teil der Schöpfung angstvoll zurück, als fliehe sie vor einem unbeschreiblichen Albtraum, der plötzlich aus dem tiefsten Schlund der Verdammnis emporgestiegen war … Und Daart spürte, wie etwas in ihm darauf antwortete, einen schrillen Willkommensschrei ausstieß, Herausforderung, Hass, Wut, aber auch eine bizarre Freude, Befriedigung darüber, dass Nubinas Streitmacht nun endgültig geschlagen und vernichtet war, verkocht und verschmolzen mit ihrer Umgebung, vernichtet durch die Waffe, die er und Carnac aus ihrem fast Ewigkeiten währenden Dämmerschlaf gerissen hatten. Der Älteste kam wieder hoch, war mit ein paar Schritten bei ihm, packte ihn bei den Schultern. »Wir müssen weg«, sagte er. »So schnell wie möglich.« Daart starrte ihn verständnislos an. Er hatte das Gefühl, aus einem unendlich tiefen Albtraum zu erwachen, und der Schrecken, der damit verbunden war, drohte ihn fast um den Verstand zu bringen. »Was?«, keuchte er. »Das Auge treibt ab …« Der Älteste schüttelte den Kopf und verbesserte sich. »Es treibt zurück. Es wird nicht mehr lange dauern, bis … bis wir wieder am Drachenturm angelangt sind.« »Aber dann …« »Dann werden die Drachen kommen, um sich zu rächen.« Der Älteste deutete unter sich. »Siehst du, was 490
du dort angerichtet hast? Siehst du diese Flammenwand?« »Ja, natürlich.« Daart machte sich mit einer ärgerlichen Geste los. »Aber was soll das heißen: Was ich angerichtet habe? Nubinas Heer ist vernichtet, und ich hoffe nur, dass sie mit unter den Opfern ist.« »Nubinas Heer ist keineswegs vernichtet!« Der Älteste schrie fast. Sein Mund hatte sich verzerrt, und Daart sah, dass er nahe daran war, die Selbstbeherrschung zu verlieren. Irgendwie machte ihm das beinahe mehr Angst als das flammende Inferno um sie herum. »Es ist nur die Außenhülle des Auges, die uns vor der Hitze schützt«, sagte der Älteste, als sei das etwas, was Daart in diesem Moment unbedingt wissen müsste. Dann packte er ihn erneut am Arm, aber diesmal um seinen Blick nach unten zu zwingen. »Sich selbst, was du getan hast!« Und Daart sah. Er starrte hinab in die Flammenwirbel, die sich aufzulösen begannen und denen dichter schwarzer Rauch folgte. Aber es war nicht Rauch, der von einer Fläche aufstieg, sondern von einem Kreis. Von einem sehr großen Kreis. Oder, um genauer zu sein: Von einem breiten, rot kochenden Ring, der ein riesiges Heerlager umschloss. Durch die Rauchschwaden hindurch, die von dem Wind in alle Richtungen gewirbelt wurden, sah Daart auf ein unglaubliches Gewimmel hinab. Menschen und Pferde hetzten durcheinander, einige von ihnen in Flammen stehend und mit nach oben geworfenen Armen, brennenden Fackeln gleich, andere dabei, sich Funken sprühende Kleidung vom Leib zu zerren, und wieder andere, 491
die mit frisch gefüllten Wasserbehältern jeglicher Art hin und her liefen, um ihre Ladung auf Menschen, Tiere, Wagen oder Zelte zu ergießen. »Was …«, stammelte er. »Kochendes Gestein, rote Lava, brodelnder, schmelzender Untergrund!« Die Worte sprudelten aus dem Ältesten nur so heraus. »Du hast dieses verdammte Heer in einem Feuerkreis eingeschlossen! Warum hast du es nicht vernichtet?« Daart erinnerte sich deutlich an das Gefühl, von Carnac berührt zu werden, während er in Trance abgetaucht war. Sie hatte irgendetwas mit ihm gemacht. Die Bestie in ihm besänftigt, zum Teil wenigstens, bevor sie vor ihr geflohen war. Durch das Auge ging ein Ruck, und dann veränderte sich ihre Perspektive. Der Älteste hatte Recht gehabt, auch in diesem Punkt. Sie trieben weg, auf den Drachenturm zu. Das ferne Gewimmel unter ihnen verschwamm bereits auf Ameisengröße, wurde zu einem verwaschenen Fleck, der kaum mehr erahnen ließ, welche Katastrophe sich dort unten ereignete. »Ich … ich weiß nicht«, murmelte Daart. »Du weißt nicht!« Der Älteste stand vor ihm, als ob er ihn schlagen wollte. Daart musste paradoxerweise daran denken, wie er fast an der gleichen Stelle Thross eine schallende Ohrfeige versetzt hatte. Aber noch etwas schoss ihm in diesem Augenblick durch den Kopf: dass es gar kein so kapitaler Fehler gewesen war, die Bogenschützin zu töten, die Thross mit dem vergifteten Pfeil von Grobians Schultern geholt hatte. Er war sicher, dass sie eine Vertraute Quartermas gewesen war, nicht mehr 492
als ihr verlängerter Arm. Und den abzuschlagen konnte nur richtig gewesen sein. Als sich Daarts Gedanken an dieser Stelle verhedderten, ließ der Älteste seine Hand wieder sinken. Er blinzelte ein paar Mal. Fast schien es, als habe er Mühe, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Daart konnte es ihm nicht verdenken. Ihm ging es in diesem Punkt nicht besser. »Und … was jetzt?«, fragte er hilflos. Der Älteste atmete tief durch. »Feuersturm. Er ist unsere einzige Rettung.« »Feuersturm?« Daart schüttelte den Kopf. »Der ist längst auf und davon geflogen.« »Nein«, widersprach der Älteste. »Er wartet am Plateau auf uns. Ganz in der Nähe der Magmastellen, die ausgebrochen sind, als ich allein versucht habe, das Auge zu aktivieren.« Daart hätte bei dieser Bemerkung normalerweise aufgehorcht. Aber nicht hier und jetzt. Das Auge trieb weiter, weg von dem flammendroten, zunehmend verrußten Himmel, hinein in die vermeintlich friedliche Abendstimmung auf der anderen Seite des Tales. Es war eine Strecke, die zu überwinden Nubinas Krieger sicherlich mehr als einen Tag gekostet hatte. Aber auf die sonderbare Weise, auf die sie reisten, konnte es nicht mehr lange dauern, bis das Plateau wieder in Greifweite vor ihnen auftauchte. Der Aufruhr in Daart begann sich zu legen und einer unendlich tiefen, allumfassenden Erschöpfung Platz zu machen. Es war ihm unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Tief in sich spürte er, dass dort 493
etwas lauerte, dem er nicht entkommen konnte, selbst wenn er auf ein Boot stieg und über das Nebelmeer bis über die Grenzen der bekannten Welt hinaussegelte. Aber hier und heute musste er sich dem nicht stellen. Sein Blick wanderte wie von selbst zu Carnac. Sie stand noch immer in gekrümmter Haltung da; ihr ganzes Körpergewicht ruhte auf dem rechten Bein, um das verletzte linke zu entlasten. Aber was ihm mehr als alles andere einen scharfen Stich versetzte, war, dass sie nicht die geringsten Anstalten machte, seinen Blick zu erwidern. Trotz der offensichtlichen Kälte, die von ihr auf ihn überschwappte, gab er sich einen Ruck und humpelte auf sie zu. »Carnac«, sagte er leise. Sie antwortete nicht. Ihr Atem ging schnell und unregelmäßig. »Ich … ich weiß nicht, was geschehen ist«, fuhr er fort. »Ich auch nicht.« Jetzt, endlich, wandte sich Carnac ihm doch zu. Ihre Augen schimmerten feucht. »Es ist einfach zu viel!« Daart nickte. »Ja. Ich weiß. Jetzt … jetzt werden wir alle zusammen auf Feuersturm steigen, und er wird uns aus diesem verfluchten Tal bringen. Und dann werden wir erst einmal genug Zeit haben, um unsere Wunden zu kurieren und etwas zur Ruhe zu kommen.« Carnac sah ihn auf eine Weise an, die Daart vollkommen machtlos machte. Sie sah … unendlich traurig aus. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals zuvor so gesehen zu haben. Doch dann riss sie sich sichtlich zusammen. »Ein Lederdrache kann nicht drei Men494
schen tragen«, sagte sie ganz langsam und ruhig, beinahe so, wie man mit einem kleinen Kind oder einem Greis spricht. »Oh, doch.« Es war der Älteste, der das gesagt hatte. Er kam nicht auf sie zu, bedachte sie aber sie mit einem Blick, unter dem sich Daart zunehmend unwohler fühlte. »Er wird uns tatsächlich keine weite Strecke tragen können. Aber der Drachenturm ist hoch genug, dass er mit uns starten und uns aus dem Tal herausbringen kann.« »Feuersturm«, sagte Carnac nachdenklich. Sie drehte sich dem Ältesten zu. »Seid Ihr sicher, dass Feuersturm uns nicht auch abwerfen wird wie der Drache, den Quarterma mich hat reiten lassen?« Der Älteste wirkte einen Moment lang verwirrt, doch dann lächelte er leicht. »Keine Sorge. Quarterma hat eine Drachenreiterin mit Feuersturm geschickt, um mich abholen zu lassen. Aber es fügt sich nun einmal, dass wir vor einiger Zeit einer anderen Drachenreiterin Asyl gewährt haben. Und es ist ganz gewiss mehr als nur Zufall, dass sie die Vorgängerin Quartermas war. Sie kannte Feuersturm von früher, hat ihn sogar selbst zugeritten. Muss ich mehr sagen?« Carnac schüttelte den Kopf. Sie starrte an dem Ältesten vorbei. »Wir sind gleich da«, sagte sie. »Und dort hinten kann ich sogar schon Feuersturm erkennen.« Daart folgte ihrem Beispiel und drehte sich auch um. Carnac hatte Recht. Auf dem Plateau, inmitten der aufgebrochenen Magmastellen, die das Halbdunkel erleuchteten, als stünden dort Fackelträger, wartete ein 495
einsamer Drache und starrte ihnen entgegen. Daart konnte ihn kaum mehr als Schemen wahrnehmen. Trotzdem wurde ihm ganz warm ums Herz. »Aber was ist mit Grobian und Thross?«, hörte er hinter sich Carnac fragen. »Wie ich die beiden kenne, sind sie schon fast aus dem Tal heraus«, antwortete der Älteste, »und auf dem Weg zum Blutmeer. Genau dorthin müssen wir auch. Schon allein, damit ihr endlich eine passende Schlange findet, mit der ihr das Gift in euren Körpern endgültig neutralisieren könnt.« Daart hörte nicht mehr zu. Er starrte weiterhin auf Feuersturm. Quarterma hatte gesagt, dass jeder Drachenname eine ganz besondere Bedeutung habe. Feuersturm. Dieser Name war ein Versprechen. Ein Versprechen, das Daart einlösen würde, sobald er Quarterma das nächste Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Zusammen mit dem Drachen, der ihm schon jetzt ans Herz gewachsen war wie ein alter Freund.