Schriften der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Nr. 20 (2008)
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Schriften der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Nr. 20 (2008)
Volker Becker
Der Einbruch der Naturwissenschaft in die Medizin Gedanken um, mit, u¨ ber, zu Rudolf Virchow
Mit 9 Abbildungen
Professor Dr. Volker Becker Rathsberger Straße 32 91054 Erlangen
ISBN 978-3-540-71051-6 Springer Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ¨ Dieses Werk ist urheberrechtlich gesch¨utzt. Die dadurch begr¨undeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielf¨altigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielf¨altigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zul¨assig. Sie ist grunds¨atzlich verg¨utungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2008 Printed in Germany Umschlaggestaltung: WMXDesign GmbH, Heidelberg Satz und Umbruch durch PublicationService Gisela Koch, Wiesenbach mit einem modifizierten Springer LATEX-Makropaket Gedruckt auf s¨aurefreiem Papier 543210
Vorwort
Die Krankheitsauffassung, der Krankheitsbegriff, das Krankheitsverst¨andnis sind Kennzeichen der kulturellen Denkart einer Zeit. Der Krankheitsbegriff hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Naturwissenschaften eine vorher nicht gekannte wissenschaftliche Grundlage erhalten. Heute, da die Vielfalt des medizinischen Wissens durch ganze Gruppen von Fach¨arzten und Spezialisten scheinbar un¨ubersehbar geworden ist, heute, wo immer gr¨oßere, gesonderte, verfeinerte Diagnosen und Behandlungsarten – durch einen nicht mehr u¨ berschaubaren Aufwand – m¨oglich werden. Heute ist der Blick des Arztes scheinbar verstellt durch Ger¨ate, durch große Blutuntersuchungen, durch physikalische und chemische Werte u. A. ¨ gar nicht Heute kann man die Medizin vor der naturwissenschaftlichen Ara mehr als eine Wissenschaft erkennen und anerkennen. Wie hat dieser Umbruch angefangen? Die Zeit war vorbereitet durch Ren´e Descartes und Andreas Vesal. Bei dem Wandel spielte Rudolf Virchow eine f¨uhrende Rolle als Pathologischer Anatom, als Pathologe und Naturforscher. Als Pathologischer Anatom st¨oßt man, ob man will oder nicht, immer wieder auf Rudolf Virchow und ist voll des Wunderns u¨ ber die große und vor allem vielseitige Leistung des Meisters. Daher darf man sich Gedanken machen um, mit, u¨ ber, zu Rudolf Virchow. Erlangen, Juni 2008
Volker Becker
Inhaltsverzeichnis
1 Die Bedeutung Rudolf Virchows f¨ur die heutige Medizin . . . . . . . . . . . . .
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2 Die Entwicklung der Krankheitsvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Der erste Paradigmawechsel: Anatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4 Krankenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 5 Pathologische Anatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Romantische Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 Der zweite Paradigmawechsel in der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 8 Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff und Virchows Lebenssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 8.1 Literarische Vorarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 8.2 Die Zellularpathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 9 Krankheitsursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 10 Benennung der Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 11 Entfaltung der wissenschaftlichen Medizin im Gefolge des Paradigmawechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 12 Erg¨anzungen zur Zellularpathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 12.1 Gegenstr¨omungen der Zellularpathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 12.2 Erg¨anzungen zu der Zellularpathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 13 Und die Res cogitans? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 14 Die Pathologische Physiologie – Ludolf Krehl und die Heidelberger Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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15 Was war das f¨ur ein Jahrhundert in Biologie! und Medizin! . . . . . . . . . . .
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16 Virchow und die Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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17 Virchow und die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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17.1 Einheit der Pers¨onlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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17.2 Oberschlesienreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 17.3 Medizinische Reform (1848) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
VIII
17.4 17.5 17.6 17.7 17.8
Inhaltsverzeichnis
Fortschrittspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortschrittspartei und Bismarck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Duell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krieg 1870/71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Kulturkampf“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105 108 111 111 112
18 Naturwissenschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
1 Die Bedeutung Rudolf Virchows ¨ die heutige Medizin fur
Warum sollte man sich Gedanken machen um eine Pers¨onlichkeit, u¨ ber deren wissenschaftliche Leistung die F¨ulle neuer Befunde und Ansichten lagern? Die Frage kann beantwortet werden durch die Auff¨uhrung, was Rudolf Virchow f¨ur die heutige Medizin bedeutet, die stolz auf die tiefere Einsicht in das Zellenleben mit molekularen Methoden ist. Die großen Virchow-Biographien der letzten Jahre in Deutschland – Ackerknecht (1957), Vasold (1988), Goschler (2001) und auch Schipperges (1994) – haben die Vielfalt der Arbeiten, der Interessen, der Wirkungen, der Erfahrungen, der Erfolge und auch Misserfolge abgehandelt. Es wurde stets – z.T. aus praktischen und didaktischen Gr¨unden der Darstellung die Trennung der T¨atigkeiten des Arztes, des Politikers, des Anthropologen vorgenommen. Diese Dreiteilung der Arbeiten Virchows war das Ph¨anomen des einen Kopfes, in dem sich alles, scheinbar so verschiedenes, abspielte. Charakteristischerweise ist dies zwar mit zeitlichen Schwerpunkten der Arbeiten, aber keineswegs mit Unterbrechung der Interessen verbunden. Virchow war immer Naturforscher, Anthropologe und Politiker zugleich. Die „Gedanken“ begleiten Rudolf Virchow auf seinem Lebensweg (ohne Biographie zu sein), weil dieser eng mit den verschiedenen Facetten seiner Pers¨onlichkeit verbunden ist. Aus dem gleichen Grund betrachten wir Streiflichter der Zeit.
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1 Die Bedeutung Rudolf Virchows f¨ur die heutige Medizin
Gedanken sollte man sich machen u¨ ber dieses f¨ur die Naturwissenschaft und die Medizin so dramatische, ereignisreiche Jahrhundert. Mitten drin war Rudolf Virchow in all seiner Vielseitigkeit und der Rolle, die er in dieser Entwicklung spielt. Im Anfang seines wissenschaftlichen Lebens galt er als Revoluzzer, dann als reformierender Fortschrittler, schließlich „nur noch“ als Institution. Aber es gab ja auch etwas zu revolutionieren: Die naturwissenschaftliche Denkweise in der Medizin. Es war etwas zu reformieren: die Zellenlehre und die Zellularpathologie, und es war eine gewisse Institution n¨otig in der „Gesellschaft f¨ur Naturwissenschaftler ¨ und Arzte“, ebenso auch bei der Begr¨undung der „Gesellschaft f¨ur Anthropologie und Ethnologie“ – und immer der unverwandelte wandelbare Rudolf Virchow. Daher ist es notwendig, die Biographie zu kennen. – Die Sch¨opfung des Lehrfaches Pathologische Anatomie wandelte den akademischen Unterricht f¨ur Medizinstudenten, machte das Fach „akademief¨ahig“ und pr¨ufungsnotwendig. Die Politische T¨atigkeit war erfolgreich in der Berliner Stadtverordnetenversammlung im Hinblick auf Kanalisation, Trichinenschau, Schlachth¨auser, Krankenh¨auser von langfristiger Erfahrung gekennzeichnet. Die politische T¨atigkeit im preussischen Abgeordnetenhaus wurde durch die Duellforderung Bismarcks geschichtsf¨ahig, wenn auch der Einzelerfolg nicht zu Buche schl¨agt. Seine Bedeutung in der Anthropologie war die eines Gr¨undervaters. ¨ Seine u¨ ber 50-j¨ahrige Rolle in der Gesellschaft der Naturforscher und Arzte und die sich aus dieser heraus entwickelnde Deutsche Gesellschaft f¨ur Pathologie zeigen Virchows vielseitige Interessen. Schipperges, (1968), Degen (1968), D. v. Engelhardt (1997) haben die Schwerpunkte herausgearbeitet. Die Referate Virchows spiegeln die wissenschaftliche Entwicklung der Zeit, sind zugleich ein Spiegel der zunehmenden Bedeutung der Naturwissenschaft und Technik in der Medizin. Es werden medizinisch-naturwissenschaftliche Referate erstattet bei na¨ hezu jeder der j¨ahrlichen Versammlung der Naturforscher und Arzte u¨ ber aktuelle naturwissenschaftliche Themen oder mitten aus seiner politischen Arbeit heraus. Das war f¨ur ihn – und seine Biographen – ein Zugang zu seiner Denkart bei augenblicklich vorrangigen wissenschaftlichen Problemen und auch politischen Aktualit¨aten. Virchow macht es leicht, die eigentlich nicht vorhandene Trennung von Arzt–Politik–Anthropologie durch die pers¨onliche Verlagerung seiner Arbeitsschwerpunkte nachzuvollziehen. Nachdem die Medizin von dem naturwissenschaftlichen Gedanken ergriffen, selbst eine Naturwissenschaft geworden war, konnte man meinen, die gesamte Problematik der Krankheitsvorstellung erfasst zu haben. Es zeigte sich bald, dass man zwar die Naturgeschichte der Krankheit verstehen konnte, dass bei der Betrachtung des Kranken aber Fehlstellen offenbar wurden. Die Krankheit muss von dem Kranken erfasst und geformt werden. Das
1 Die Bedeutung Rudolf Virchows f¨ur die heutige Medizin
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ist eine sehr pers¨onliche Modulation der („naturwissenschaftlich auftretenden“) Krankheit: Pathogenese (Krankheitsformung). Dadurch gewinnt die Krankheitslehre eine anthropologische Seite – ein zweites oder drittes wissenschaftliches Standbein, das die naturwissenschaftliche und psychosomatische Krankheitssicht erg¨anzt und erf¨ullt. Gedanken zu, um, mit, u¨ ber Virchow beleuchten und fangen Schlaglichter einer schillernden, bewegten Zeit eines Jahrhunderts ein, das durch seinen inneren Wandel und durch a¨ ußere Ereignisse, in Wissenschaft wie auch im Alltag sein Gesicht v¨ollig ver¨anderte: Das Ende des Alten Reiches (1806), die Befreiungskriege, die Revolution von 1848, dazu die große Wende in der technischen Physik, der Gewerbefleiß, die „Industrialisierung“ mit allen sozialen Folgerungen des allgemeinen Wohlstandes und des Arbeiterelends. Die Erweiterung der Naturwissenschaft hatte zun¨achst u¨ ber die Kenntnisse der Physik Einfluss auf die Technik und die Industrie, die das Leben der Menschen grundlegend a¨ nderte. Es kam die Ver¨anderung des Lebens durch die Dampfmaschine und die Eisenbahn, durch die Schifffahrt und schließlich durch die industrielle Revolution. – Der Einbruch der Naturwissenschaft in die Medizin brachte ein g¨anzlich gewandeltes Bild. Die Medizin begann sich von der Scholastik, von Paracelsus – im weitesten Sinne – zu l¨osen, was schwierig wurde wegen der immer neu sich darbietenden Vielfalt der menschlichen Reaktionsweise in k¨orperlicher, geistiger, kultureller, sozialer Hinsicht, wegen der Unterschiedlichkeit der individuellen Krankheitsabwehr. Daher war es notwendig, ein ordnendes Prinzip in die Krankheitslehre einzubringen – und das war der naturwissenschaftliche Gedanke mit den vorgegebenen Methoden der Beobachtung, der Deutung und des Experimentes. Die naturwissenschaftliche Ordnung, die in das so verworrene Gedankenbild der Medizin einzog, war so bedeutend, dass Berlin (und auch Wien) zu einem ¨ Wallfahrtsort von Arzten aus der ganzen Welt wurde. Berlin l¨oste damit Paris ab, ¨ das vor dem das Mekka aller interessierten Arzte war. Dort wirkten Laennec, Dupuytren, Bichat, Magendie, Cruveilhier – um nur einige zu nennen. So wie wir heute nach den USA fahren, um Leistungsmedizin zu lernen, so kamen damals Interessierte aus der ganzen Welt in die preußische Hauptstadt. Virchow hatte immer Ausl¨ander in seinem Institut, um die er sich – zu Lasten der eigenen Leute – besonders k¨ummerte. Sicher war die Berliner medizinische Fakult¨at ein besonderer Anziehungspunkt geworden – aber als besondere Zugkraft galt Rudolf Virchow. In der Medizin hat im 19. Jahrhundert im wesentlichen Rudolf Virchow den Schritt zum Verst¨andnis der Krankheit mit der naturwissenschaftlichen Methode u¨ ber Zellenlehre und Zellularpathologie vollzogen. Er leitete das neue Paradigma der Medizinischen Wissenschaften ein, das eine F¨ulle von Einzelbefunden und gedankliche Vernetzung n¨otig machte. Indem wir die Folgen des Einbruchs der Naturwissenschaft in die Medizin betrachten, muss zun¨achst Rudolf Virchow betrachtet werden. Sein Wirken er-
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1 Die Bedeutung Rudolf Virchows f¨ur die heutige Medizin
streckte sich in der Pathologischen Anatomie und (damit) in der Medizin weit u¨ ber sein eigenes Arbeitsgebiet hinaus. Man bewertet seine Bedeutung unrichtig, wenn man nicht sein Leben in dieser Zeit betrachtet. Rudolf Virchow wurde in eine Zeit geboren, in der die Wissenschaft – auf allen Gebieten – allm¨ahlich Konturen gewann. Die Chemie und die Physik entwickelten sich zu eigenst¨andigen, u¨ bergreifenden und f¨uhrenden Wissenschaftszweigen. Man muss den Lebenskreis Virchows im kleinen Schivelbein und dem Gymnasium ¨ in K¨oslin verfolgen und dann den Ubergang in die preußische Hauptstadt Berlin in die P´epini`ere – der Milit¨ar¨arztlichen Akademie – und damit in den akademischen Unterricht erfassen. Die Vielfalt der Pers¨onlichkeit, die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der sch¨opferischen Begabung, die Energie, die Unerm¨udlichkeit, der Reichtum seiner gedanklichen und effektiven Erfolge – alles das sind Blickpunkte, die die Biographie Virchows ausmachen. Wenn man an Virchow denkt, sollte man zun¨achst seine Rolle in der Pathologischen Anatomie, der Pathologie, der Medizin u¨ berdenken. Er hat den naturwissenschaftlichen Einbruch in die Medizin vollzogen. Dazu geh¨ort, dass er 1846 – in der Ersten der Zwei Reden – meinte: „Die Medizin will nicht bloß eine einzige Wissenschaft, sie will Naturwissenschaft und zwar die h¨ochste und sch¨onste sein.“ Sp¨ater auf der 43. Naturforscherversammlung 1869 (Innsbruck) meinte er, dass „die Medizin die Mutter der Naturwissenschaften geworden ist.“ Die a¨ rztliche T¨atigkeit war entwickelt und gebeutelt von Theorien und Vorstellungen als Virchow in politisch unruhiger Zeit im Zeichen der Revolution in Berlin t¨atig und am wissenschaftlichen Leben teilnahm. Wie in der Politik so sollte auch in seinem Fache nicht mehr alles nur „den Großen“ u¨ berlassen werden. Er sp¨urte – und das war ein der politischen Zeit analoger Gedanke – dass in der Medizin nicht die „Autorit¨aten“ bestimmen d¨urften, sondern dass die Methode entscheidend sein m¨usse. Dass Virchow (aus der Provinz) durch die Verbindungen seines Onkels zur P´epini`ere kommen konnte – dass er damit zur Medizin stieß, entsprach auch seinen fr¨uh entwickelten naturwissenschaftlichen Interessen. Brinkhous et al. haben (im amerikanischen Arch. Pathology 1968) die von Virchow selbst gegebene Begr¨undung seines Entschlusses, Medizin zu studieren, mitgeteilt. Trotz Eifer im Studium und fr¨uher Erfolge in seinem Fache, der Pathologischen Anatomie, blieb Virchow ein auch politisch besetzter Mensch, dem die Aufkl¨arung der „dumpfen Masse“ am Herzen lag. Das war gerade im Vorm¨arz besonders n¨otig. Als Virchow im Vorm¨arz vor 1848 „agierte“, Vortr¨age in Arbeitervereinen hielt, ging es ihm keineswegs um Macht – er wollte vielseitig die Verh¨altnisse bessern. Das kann man deutlich sehen in seinen Artikeln in der „Medizinischen Reform“ 1848/1849. Ackerknecht (1957) rechnet ihn zu den „Radikalen“. So merkw¨urdig uns Heutigen dies klingen mag: Er wollte die Aufkl¨arung, die Verbreitung von Wissen bei Leuten, die sonst nicht zu erfassen waren. Ihnen wollte
1 Die Bedeutung Rudolf Virchows f¨ur die heutige Medizin
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er zeigen, worum es in dem Alltag, in der Verwaltung, in der Sorge um das „Volk“, um was es in der unmittelbar nahe liegenden Politik ging, u¨ ber die sie z.T. selbst abstimmen sollten. Seine Art, seine Energie, seine Belastbarkeit, seine Zielstrebigkeit, die Logik seiner Gedanken waren in der Zeit des politischen Aufbruches besonders wirkungsvoll. Er war in eine politisch unruhige Zeit hineingeboren – als Politiker hat sie ihn und er sie bewegt. Die weitere Entwicklung ging zu dem, was man „Agitation“ nennen k¨onnte, dann in der „Medizinischen Reform“ und ganz besonders pr¨agend in der Oberschlesienreise. Dort empfing er die „Einsicht in die sozialen Probleme“ (Ackerknecht 1957, Vorwort). Schipperges (1949) registriert Erstaunen und Best¨urzung u¨ ber das „fluktuierende Wechselspiel mit der Politik“. Dabei liegen die Wurzeln tiefer: es bestand kein eigentlicher Wechsel zu der Politik, es kam vielmehr zu einem Auskeimen und dadurch zu einem Hervortreten „alter Gedanken des jungen Virchow“. Er hatte – was man bei seinem sonstigen Ehrgeiz und seinen Aussichten heute denken m¨usste – niemals Minister werden wollen. Man konnte damals auch nicht auf der Schulbank beschließen, Politiker zu werden. Der Begriff und die T¨atigkeit des Politikers war zu Virchows Zeiten etwas g¨anzlich anderes als heute – und auch anders wie es in manchen Geschichtsb¨uchern zu lesen ist, die von Metternich, Talleyrand und dem Freiherrn vom Stein handeln. WennVirchow in der Medizin durch den Einbruch der Naturwissenschaft durch Ingenium, Beobachtung, gedanklichen Schluss, Erfahrung die neue Richtung bestimmte, war dies bei seinen anderen T¨atigkeiten, in die er sich auch voll einbrachte, nicht in dem Maße der Fall.
2 Die Entwicklung der Krankheitsvorstellung
Die Krankheitsvorstellungen in den verschiedenen Epochen weisen eine F¨ulle von Systemen, Prinzipien, Theorien, Glauben auf, die sich mit der menschlichsten aller menschlichen Reaktionen – eben der Krankheit – befassen. Die Krankheitsvorstellung spiegelt die Denkweise einer Zeit. Keine Epoche, keine Kultur, kein Volk ist ohne Besch¨aftigung mit der Krankheitsvorstellung. Die Art des Umganges mit Krankheit und Kranken ist ein Kulturmerkmal. Die Krankheitsvorstellung ist ein Kennzeichen des Wissenstandes einer Zeit. Wie eine Gesellschaft mit ihren Kranken umgeht, o¨ ffnet einen Blick in ihre Denkart, in ihr Traditionsbewusstsein, in ihre „Kultur“. Wie ein Mensch mit seiner Krankheit umgeht, er¨offnet einen Blick auf seine Denkart („wie er sich darein schickt“) und zeigt seine biologische Beschaffenheit (Immunlage, Abwehr). Bei der Betrachtung von allgemeiner Kultur und dem Krankheitsverst¨andnis ist es notwendig, die Krankheitsauffassung von Krankheitswissenschaft und Krankenbehandlung – also von Theorie und klinischer Medizin – zu trennen. Mit dem Eindringen der Naturwissenschaft in unser Leben und Denken hat sich auch der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff verfestigt. In dem Zusammenwirken aller Naturwissenschaft hat die Industrialisierung einen epochalen Einbruch in der Kulturgeschichte gebracht. Sie hat die Volkswirtschaft gewandelt, hat das Leben aller V¨olker grundlegend aufgew¨uhlt und ver¨andert. „Das große Faktum der auf Mathematik gegr¨undeten Naturwissenschaft war eine echte Revolution in der Wissenschaft – am Ende doch wohl die einzige, die diesen Namen wirklich verdient“ (H. G. Gadamer, 1995). Werner Siemens hat – 1886 – seine Zeit das Jahrhundert der Naturwissenschaft genannt, weil er sah, wie die Naturwissenschaft, also Chemie und Physik vor allem, sich ausbreitete und auf die wissenschaftliche Umgebung, vor allem auf die Medizin, u¨ bergriff. Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff war zun¨achst ein nur medizinisches Ereignis. Aus dem schlecht erfassbaren, nebul¨osen Gewirre der romantischen Krankenvorstellung f¨uhrte mit einem Male eine gradlinige – gewiss noch ausbaun¨otige und ausbauw¨urdige – Medizin zur Krankheitserkenntnis und war lehrbar.
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2 Die Entwicklung der Krankheitsvorstellung
Der neue naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff hat zun¨achst die Lenkung der theoretischen Medizin und danach die Krankenbehandlung u¨ bernommen. Sie ist Zeichen eines Umdenkens im Rahmen des revolution¨aren Wechsels auch des allt¨aglichen Lebens der Gesellschaft in den Industriel¨andern. F¨ur den einzelnen Kranken hat die Wendung eine auch „verwaltungstechnische“ Wirkung gehabt: Krankmeldung (im Industriebetrieb), Krankschreibung, Krankenkasse etc., Krankheit wurde zum soziologischen Faktum. Das bedeutet: Arztbesuch auch bei Kleinigkeiten, die bisher mit Umschlag, Tees, Br¨uhen und dgl. „erledigt“ wurden. Die Entwicklung von Industrie, Verkehr, Mobilit¨at hat die Bev¨olkerung durchmischt. Dadurch wurde das Wissen u¨ ber einzelne Entdeckungen der Naturwissenschaft und der Medizin unter das Volk gemischt, popul¨ar gemacht. Die Konstituierung des naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffes mit der Darstellung des „Krankheitsbildes“ – in Form des patho-anatomischen Befundes und der pathophysiologischen Erkl¨arung des Krankseins – brachte die personalbezogene Krankheitsausfassung und damit die Grundlage der a¨ rztlichen Behandlung des kranken Menschen. Wenn es noch eines Beweises bedurft h¨atte, dass die Krankheitsvorstellung sich in der kulturellen Entwicklung spiegelt, so ist diese Zeitspanne geradezu ein Musterbeispiel. Die Naturwissenschaft hat das 19. Jahrhundert erobert. Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff hat die Krankheitsvorstellung geordnet, die klinische Medizin, die Diagnose und die Krankenbehandlung erm¨oglicht und durch die Institution der Pharmakologie in ein System gebracht. Hippokrates hat die Medizin – gel¨ost von der Philosophie – zu einer eigenst¨andigen Disziplin gemacht (H. H. Jansen 1980). Galen (∗ um 200 p. Chr.) war der erste, der ein System in die Krankheitslehre gebracht hat – welches immerhin fast 1000 Jahre Bestand hatte. In dem Galenischen Jahrtausend entsprach der Kenntnisstand der Anatomie etwa dem der Opferpriester, die die K¨orper der Opfertiere o¨ ffneten und einen Einblick in die Anatomie nahmen und daraus auch ihre Schl¨usse zogen (Haruspices). Man glaubt, dass Galen selbst nie eine menschliche Sektion vorgenommen habe, sondern sich ausschließlich auf die Tieranatomie bezog. Immerhin hat er als erster die Medizin in einer fassbaren Systematik gelehrt, die sicher eine Ursache f¨ur die lange Dauer seines Systems bildet. Dahin kam er durch die Anatomie zum Ausgangspunkt seiner Krankheitsvorstellung. Virchow sagt (1895), dass man im Mittelalter Galen den Rang eines Kirchenvaters einger¨aumt habe. Unter Kranksein – im heutigen Sinne – wurden zumeist Symptome gefasst: Fieber – es gab hunderte verschiedene Arten des Fiebers –, „Typhus“ wurde jede Art von Durchfall genannt, Blattern waren alle Arten von Pocken, Br¨aune im Hals, F¨aule, Dyskrasien, Friesel und Frais (Kr¨ampfe), sog. Spitzblattern und viele andere mehr. Man hielt die Krankheit f¨ur das Symptom und das Symptom f¨ur die Krankheit. Symptome unter denen man litt, Symptome die immer gleichartig, gleichschwer,
2 Die Entwicklung der Krankheitsvorstellung
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Hippokrates Griechenland
mit gleicher g¨unstiger oder ung¨unstiger Prognose behaftet waren – Symptome deren Herkunft und Schicksal gleichermaßen unbekannt waren. Das a¨ nderte sich lange nicht. Bis in die Fr¨uhe Neuzeit war das Kranksein unbestimmt, auf einzelne Symptome bezogen. Die (alten) Beobachtungen und Beschreibungen der Kranken sind oft sehr genau – aber naturgem¨aß auf Schmerzpunkte beschr¨ankt, sodass allgemein „von der Materie“ geredet wird, ohne zu kennzeichnen, was darunter verstanden werden kann. Krankheit war ein Ph¨anomen, das f¨ur den Kranken, f¨ur den Einzelnen und f¨ur seine Umgebung sich als ein r¨atselhaft gewobenes Schicksal darstellte, das u¨ ber den Einzelnen, seine Familie hereinbrach. Woher Krankheit kam, wen sie traf, was man sich unter Krankheit vorzustellen hatte – was Schuld des Einzelnen oder der Gemeinschaft war – alles war r¨atselhaft und wurde den h¨oheren M¨achten angelastet („D¨amon der Krankheit“). Die Krankheit war als Strafe Gottes angesehen und eingeordnet, der Mensch, der einzelne Mensch, war in guten und in kranken Tagen gebunden in all seinen k¨orperlichen und seelischen Absonderlichkeiten an Gottes Gnade. Der kranke Mensch erhielt einen Hinweis, vielleicht eine Warnung, eine Drohung, sicher eine Strafe. Der Stand der Priester¨arzte in allen Kulturen ist aus diesem Umstande zu verstehen – und auch im christlichen Abendland war die Medizin an die Theologie gefesselt. Die Unsicherheit des Schicksals, die sich in der Krankheit a¨ ußerte, hat o¨ fter eine wissenschaftliche Bem¨uhung und
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2 Die Entwicklung der Krankheitsvorstellung
gedankliche Durchdringung gezeitigt: Paracelsus, van Helmont, Brown – und viele andere. Hippokrates, Celsus, Galen waren im 17. Jahrhundert noch dauerhafte Diskussionspartner. Weder Ursachen noch Pathomechanismen konnten verstanden werden. Als Beispiel: Was verbirgt sich unter „Schwindsucht“. Nat¨urlich war seit langem die Lungenschwindsucht, die Lungenkrankheit schlechthin, bekannt, ja Laennec (1781–1826) stritt sich um die Frage, ob der Tuberkel – also der Knoten – mit der cavern¨osen Lungenkrankheit etwas zu tun habe. Virchow (1865) hielt noch lange die Tuberkulose nicht f¨ur eine einheitliche Krankheit – der Tuberkelbazillus war noch nicht entdeckt! Dann kam in das ganz unbekannte, wirre schicksalsbetonte, von Schuld und von der Gottheit bestimmte Los der Krankheit der erste Hinweis eines Ordnungsprinzips – die menschliche Anatomie.
3 Der erste Paradigmawechsel: Anatomie
Andreas Vesal (1514–1564) lieferte mit der Bearbeitung der menschlichen Anatomie die Grundlage einer Beurteilung auch des lebenden menschlichen K¨orpers. R. Wittern (1988) bezeichnetVesal als den Reformator derAnatomie, der Galen von dem Podest der Unfehlbarkeit herab holte.
Andreas Vesal
F¨ur die Medizin bedeutet der Wandel durch Andreas Vesal in der Anatomie ein erster Paradigmawechsel. Vesal musste als Leibarzt von Karl V. und Philipp II im Kriege und auch im Frieden hin und herziehen, er musste sich seine Studienobjekte – manchmal unter großen Schwierigkeiten – beschaffen. Dennoch war er u¨ beraus fleißig und fruchtbar. Er starb auf einer Pilgerreise in das Heilige Land. Der Vesalsche Paradigmawechsel fand etwa im gleichen Jahr – 1543 – statt, in dem das Werk des Nicolaus Copernikus „De revolutionibus“ erschien. Vesal, Copernikus und Luther waren nahezu Coaetane.
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3 Der erste Paradigmawechsel: Anatomie
Der Paradigmawechsel – im Sinne von T. S. Kuhn (1922–1996) – muss zu einem grunds¨atzlich anderen Aspekt f¨uhren, einen Wechsel der Theorie bringen, eine „kopernikanische Wende“. Dazu geh¨ort, dass die Anh¨anger des neuen Paradigma voller Unverst¨andnis f¨ur ¨ sind. die Gedankeng¨ange der u¨ berwundenen wissenschaftlichen Ara Wie immer bei einem Epochenwechsel gibt es Baumeister und Vorarbeiter, Hilfen und dazu sog. Br¨uckenmenschen. Paradigmawechsel darf nicht als einfache Stufe verstanden – und als solche missbraucht und verw¨assert – werden. Nicht einem Paradigmawechsel entspricht die wenn auch noch so sensationelle Weiterentwicklung des Wissens wie z. B. die Entdeckung des Blut-Kreislaufes (1628) durch Harvey (1578–1657). Auch die Entwicklung der Physiologie durch Albrecht von Haller (1708–1777) bedeutet eine grundlegende Weiterbildung, entspricht aber nicht einem Paradigmawechsel (einer „kopernikanischen Wende“). Im Unterricht f¨ur Mediziner bot gewiss Boerhaave (1668–1738) etwas ganz Neues, eine besondere Entwicklungsstufe der vorher ge¨ubten Weiterbildung – aber kein neues Paradigma. Die Verbesserung eines Medikamentes z. B. gegen hohen Blutdruck kann gewiss nach einem neuen, anderen Prinzip hervorragendes leisten: Aber damit ist kein Paradigmawechsel der Behandlung der Hypertonie eingeleitet. Die Anatomie war seit Andreas Vesal (1914–1564) greifbar, systematisch, real und lehrhaft geworden. Von dem ersten Vesalschen Paradigmawechsel profitierte f¨ur die Medizin vor allem die Anatomie, die wegen ihrer Systematik und durch die Nachpr¨ufbarkeit Vorbote einer genaueren Krankheitsvorstellung wurde. So war Anatomie erstes akademisches Lehrfach in der Medizin, die ja „die Folge jeder praktischen Lehrbet¨atigung sein musste, das erste wissenschaftliche Institut der Universit¨at“ (W. H. Welch). Die Anatomie erwarb – mit der aus ihr erwachsenden Physiologie und der scheinbar nicht verwandten Botanik – eine gesicherte Stellung in der universit¨aren Medizin. Die Rolle der Medizin im Kreise der universit¨aren Wissenschaften war eine besondere: Die Mediziner hatten im Kreise der akademischen Wissenschaften, die von Philosophie und Theologie bestimmt wurde, eigentlich keine Aufgabe. Und doch war nicht auf sie zu verzichten, weil es eben Kranke gab. Die Medizin war an der alten Universit¨at nicht in den F¨acherkanon der „artes liberales“, der Artistenfakult¨aten, aufgenommen. In Salerno, der a¨ ltesten universit¨aren Gr¨undung, wird eine Civitas Hippokratica gebildet, die im 13. Jahrhundert ein „Regimen sanitatis Salernitanum“ als Gesundheitsregel erl¨asst. Kant nennt zwar die Medizinische Fakult¨at in seinem Essay „Streit der Fakult¨aten“, legt aber im Weiteren keinen Wert auf die Mediziner. ¨ Arzte bildeten einen akademischen Stand mit einer Theorie, die erst durch die Praxis geh¨artet werden sollte. Sie waren eine Notwendigkeit wegen der u¨ berall
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sichtbaren Krankheiten. Noch Wunderlich und Roser (1842) sprachen davon, dass Viele „eine echte wissenschaftliche Consequenz in der Heilkunde f¨ur eine Chim¨are, f¨ur einen sanguinen Traum erfolgloser Theoretiker halten“ (Rotschuh, 1975). Einzelne Mediziner imponierten in den Fakult¨aten als u¨ berragende Pers¨onlichkeiten. Mit ihrer Systematik hat die Anatomie ersten Eingang in das akademische Bewusstsein gefunden. Die Medizin-Professoren lehrten die Medizin ihrer Zeit nach scholastischer Manier in ihren Wohnungen meist nach vorher angesagten B¨uchern und Schriften. Sie sahen die Krankheit als a¨ ußere Zeichen von in den K¨orper eingedrungenen fremden Wesen an – Ontologie der Krankheit – und ersch¨opften sich in Vorschriften zur Di¨atetik als allgemeiner Lebensweise und zu der des Kranken. Sie hielten Unterricht fernab von Patienten – die a¨ lteren Studenten durften ihre Lehrer bei deren poliklinischen Krankenbesuchen in der Stadt begleiten. Die Medizin hielt sich fern von aller handwerklichen T¨atigkeit. ¨ Die Chirurgie wurde nicht von den Arzten selbst betrieben. Muzell (1715– 1784) schreibt in seinem Charit´e Bericht, er habe das und das – unter seiner Aufsicht – machen lassen. Die Anatomie machte in der akademischen Achtung eine Ausnahme, weil sie eine u¨ berindividuelle fassbare Wissenschaft („Zergliederungskunst“) war. Sie war im Gefolge von Vesal akademief¨ahig geworden. Dadurch erkl¨aren sich die vielen und bedeutenden Anatomischen Theater, um die sich die Universit¨aten bem¨uhten. Die allenthalben entstehenden Bauten der Anatomischen Theater waren von betr¨achtlicher Gr¨oße – z. B. in Pavia wurde es 1785 er¨offnet mit 200–400 Pl¨atzen (nach J. P. Frank). Das Anatomische Theater war ein Zeichen des Prestiges einer Universit¨at aber auch des Bekenntnisses zu dem systematischen Teil der Medizin. Es waren dies die einzigen wirklich repr¨asentativen akademisch-medizinischen architektonischen Festpunkte gewesen: Hier wurde akademische Wissenschaft, akademische Medizin repr¨asentiert. Die Anatomischen Theater geh¨orten viel fr¨uher zum Bilde der Universit¨aten als Spit¨aler und Kliniken1 . Mit ihrer Systematik hat die Anatomie als Erste Eingang in das akademische Bewusstsein gefunden. Aber die eigentliche Lehre der Medizinprofessoren – also vorwiegend der Theorie der Medizin – erfolgte gem¨aß der jeweiligen wechselnden Zeitstr¨omung und der Theorie: Es fehlte die einheitliche Krankheitsauffassung. 2 Erst als die Medizin eine Naturwissenschaft wurde, hatte sie – entfernt von der Philosophie – eine solide, beobachtbare, messbare, statistisch erfassbare Basis 1 Berlin – ohne Universit¨at – erhielt 1713 ein Anatomisches Theater, gegr¨undet von Christian
Maximilian Spencer (1678–1714). 2 Wie wenig die Mediziner im Rahmen der Universit¨at eine Rolle spielten, l¨asst sich aus dem Bei-
¨ spiel Osterreichs ablesen, wo ein Mediziner nicht Rector magnificus werden konnte. Es bestanden Studien-Hof Commissions Decrete vom 19. 1. 1810 und 13. 1. 1818: „Auf keiner Universit¨at darf bei der juridischen und der medicinischen Fakult¨at das Amt eines Rectors, Dekans oder Notars bekleiden.“ (Lesky: Rokitansky ein Professor (1960)).
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gefunden: Das Tentamen philosophicum wurde in der Ausbildung der Medizinstudenten 1862 zum Tentamen physicum umgewandelt. Die klinische Medizin, das ist Arzttum im engeren Sinne, war f¨ur ein akademisches Fach im klassischen Sinne nicht geeignet. Das wurde erst anders, als Herman Boerhaave (1668–1738) in Leiden den Unterricht am Patienten systematisch betrieb. Boerhaave war ein großer Neuerer. In Leiden war der Unterricht f¨ur die Studenten am Krankenbett bereits eingef¨uhrt (Max Joseph Kraus, 1991). Aber Zentrum der Medizin wurde Leiden erst durch Boerhaave. Er brachte seinen studentischen Unterricht und die klinische Untersuchung in eine Systematik. Er stand unter dem Eindruck der Physik von Galilei und betrachtete die Reaktionsweise des Menschen – wie Andere auch – unter dem Einfluss physikalischer Abl¨aufe. Er war Vertreter der Iatromechanik. Neben seiner a¨ rztlichen T¨atigkeit gr¨undete er in Leiden den botanischen Garten zur Anpflanzung und Zucht von Heilkr¨autern. Medizin und Botanik waren in einem Lehrstuhl vereint. Daneben er¨offnete er ein Chemisches Laboratorium und ein Anatomisches Theater. Vor allem war er ein begnadeter Lehrer. Er erteilte den klinischen Unterricht an Kranken und am Krankenbett. Das wurde erst anders in der Mitte des 19. Jahrhunderts, anders vielleicht durch die offensichtliche Unzul¨anglichkeit, dass nach diesem Usus ein Mann wie Carl Rokitansky nicht Rektor werden konnte. Rokitansky spielte in Wien im akademischen Leben eine außergew¨ohnliche Rolle. Nicht nur, dass er in seinem Fache – zusammen mit Skoda – die Gr¨underfigur der II. der sog. „ jungen“ Wiener Schule (E. Lesky, 1981) wurde. Er erreichte, dass sein Fach, die Pathologische Anatomie, als Pflicht- und Pr¨ufungsfach in den Medizinischen Unterricht bestimmt wurde und damit zur Spitze des medizinischen Unterrichts vordrang. „Es traf ihn“, wie er selbst in seinen Lebenserinnerungen sagt, „die Ehre, 1852/53 der erste Rector magnificus aus der Reihe der Universit¨atsprofessoren, denen bis dahin auf dem ganzen ¨ Erdkreis nur in Osterreich diese W¨urde unzug¨anglich war, zu werden.“ Wie stark sich Anatomie und Physiologie gegen¨uber den u¨ brigen medizinischen F¨achern akademisch abhob, l¨asst sich daran erkennen, dass die Wissenschaftlichen Akademien den klinischen Medizinern (und was daran hing) fast nicht zug¨anglich waren. Nur der Anatom (sp¨ater auch der Physiologe, der aus der Anatomie erwachsen war) konnte Mitglied einer wissenschaftlichen Akademie werden. Rudolf Virchow wurde noch 1864, obwohl von dem Physiologen Du Bois-Reymond zum Mitglied vorgeschlagen, nicht in die Kgl. Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen, weil die Pathologische Anatomie, die Virchow vertrat, nicht wie die Anatomie anerkannt war. Erst 10 Jahre sp¨ater (1873) wurde er auf Antrag wieder von Du Bois-Reymond und des „Physikers“ (eigentlich Physiologen) Hermann von Helmholtz aufgenommen, u. a. weil er mittlerweile als Anthropologe einen auch akademischen Ruf erworben hatte (Knoblauch, 2002). Virchow hat seine anthropologischen, oft recht umfangreichen Monographien in den Berichten der Preußischen Akademie publiziert. Die klinischen Mediziner tr¨osteten sich mit den Naturwissenschaftlern durch eigene Gesellschaften, z. B. die Kaiserliche Akademie der Naturforscher „Leopoldina“ in Schweinfurt 1652 ¨ oder die Gesellschaft der Naturforscher und Arzte (1822) und die regionalen Soziet¨aten, z. B. die Physiko-Medica in W¨urzburg (1849) und Erlangen (1808) u. v. a. m.
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Zu Boerhaave kamen aus aller Herren L¨ander lernwillige Mediziner und Naturwissenschaftler – alle, die damals etwas entdeckt oder gefunden haben, waren in Leiden gewesen. Seine Lehrmethode und sein Ruf als Lehrer verbreiteten sich u¨ ber ganz Europa: „communis Europae praeceptor“.
Hermann Boerhaave
Aus der Schule von Boerhaave kamen unter vielen anderen Gerhard van Swieten (1700–1772), Anton de Haen (1704–1766), Albrecht von Haller (1708–1777), Hermann Ludwig Muzell (1715–1784) und der Botaniker Karl von Linn´e (1707– 1778). Ein hervorragendes Beispiel hat Boerhaaves bedeutendster Sch¨uler geliefert: Gerhard van Swieten (1700–1772) hat in Wien unter der Kaiserin Maria Theresia die Universit¨at reformiert, man kann sagen: revolutioniert. In Wien wurde unter dem Einfluss van Swietens zun¨achst eine klinische Medizin aufgebaut: Anton de Haen (1704–1766) wurde 1754 Leiter einer Wiener medizinischen Klinik mit 12 Betten und der M¨oglichkeit des Unterrichtes von Studenten. Auch de Haen war aus Holland gekommen, wo er den Unterricht der Stu¨ denten am Krankenbett bei Boerhaave gelernt hatte. Die Arzte wirkten auf das Gesundheitswesen ein und auf das Gesundheitsgef¨uhl der Bev¨olkerung, sie betreuten gelegentlich die Hebammen – aber die Universit¨at hatte daran einen nur geringen Anteil (Wittern, 1993).
4 Krankenpflege
Noch hatte die Medizin nicht das Gebiet der Krankenpflege und Krankenversorgung f¨ur sich entdeckt. Die Medizinische Fakult¨aten des Mittelalters hatten keine Spit¨aler – die Spitale hatten keinen Platz f¨ur die Medizinischen Fakult¨aten. Die Spit¨aler wurden versorgt durch mindere Heilberufe, wie Barbiere und auch Chirurgen. Pflege war die Aufgabe der Kirche – misericordia – vor allem der M¨onche und Nonnen. Es entstanden die „Barmherzigen Br¨uder“. Krankenspit¨aler im Dienst der universit¨aren Lehre gab es erst an der Wende des 18./19. Jahrhunderts. Das Ziel war die Einrichtung einer Universit¨atsklinik, wie wir heute sagen w¨urden. W¨ahrend van Swieten in Wien vor allem die Medizinische Fakult¨at erneu¨ erte, reformierte nur wenig sp¨ater Johann Peter Frank (1745–1821) das Offentliche Gesundheitswesen in Wien in Form der „Medizin-Polizey“ unter Joseph II. Johann Peter Frank leitete (ab 1804) zuerst das damalige Allgemeine Krankenhaus in Wien. Man muss ein solches Krankenhaus unterscheiden von den allgemeinen Armenh¨ausern, den Geb¨aranstalten, den Siechenh¨ausern, den Spitalen und Lazaretten, die dem akademischen Unterricht nicht zur Verf¨ugung standen (Murken, 1991). Ein preußischer Sonderweg war die Gr¨undung der Charit´e in Berlin durch Friedrich Wilhelm den Ersten. Zun¨achst wurde das Krankenhaus als Pesthaus, dann als Armen-Arbeitshaus, schließlich als Garnisonslazarett gebraucht (David, 2004). Der „Soldatenk¨onig“ war besorgt um die Ausbildung seiner Milit¨ar¨arzte und benutzte die Charite f¨ur deren Ausbildung (1727), also fast 100 Jahre vor der Gr¨undung der Berliner Universit¨at. Das „Friedrich Wilhelm Institut“ wurde 1797 gegr¨undet „mit dem unerh¨orten Zweck, eine Vereinigung von Medizin und Chirurgie ins Leben zu rufen“ (R. Virchow 1845). Die Chirurgie verdankt ihre besondere Stellung – gegen¨uber dem Bader – vor allem der Tatsache, dass sie in Kriegszeiten den verwundeten Soldaten helfen konnte, manchmal lebensrettend – immer auch im Interesse des jeweiligen Kriegsherren (z. B. Napoleon I.). Im u¨ brigen Europa war die Entwicklung unterschiedlich durch die verschiedene Akzentuierung der medizinischen Interessen. Die akademische Ausbildung kam in Paris erst nach der Revolution 1789 in Gang – vorher nur k¨onigliche Ans¨atze. Die durch die Revolution ausgegebene Parole der Medizinerausbildung: „peu lire, beaucoup voir, beaucoup faire“ hatte deswegen so große Wirkung, weil die vormalige medizinische Literatur fast nur
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4 Krankenpflege
wirres, mythisches Zeug enthielt. So entstand eine bedeutende Pariser Schule: Dupuytren, der Chirurg, Laennec der Allgemeinmediziner, Bichat der Gewebelehrer, der u¨ berragende pathologische Anatom Cruveilhier a¨ nderten Wissenschaft und Ausbildung, „der franz¨osischen Glanzm¨anner, jene erhabenen Geister, welche hervorgegangen sind aus der großen Revolution auf allen Gebieten der Naturforschung“ (Schipperges, 1994). In Frankreich arbeiteten viele Wissenschaftler nicht an der Universit¨at – z. B. Claude Bernard und Louis Pasteur waren nie Mitglieder einer Medizinischen Fakult¨at (W. Doerr, 1985). Im Z¨uricher Kantonspital, das 1836 in Betrieb genommen wurde, stand die H¨alfte der Betten zu Lehre und Forschung der Universit¨at Z¨urich zur Verf¨ugung. Diese Teilung erfolgte unter dem Einfluss von Lukas Sch¨onlein, der 1836–1842 in Z¨urich lehrte.
5 Pathologische Anatomie
DieAnatomie als anerkannte St¨utze der Medizinischen Fakult¨at musste, um f¨ur das Kranksein und seine Behandlung brauchbar zu werden, die ver¨anderte Anatomie, also die pathologische Anatomie entwickeln. Diese hat ihre Wurzel in der Schule von Padua. Dort lehrte Morgagni. Das Werk von Giovanni Battista Morgagni (1682–1771) brachte einen entscheidenden Fortschritt. Morgagni hat Ursache und Sitz der Krankheit im menschlichen Leichnam im Vergleich mit den Symptomen am Lebenden gesucht und erarbeitet. Aber er konnte mit dem symptomatologischen Standpunkt noch nicht zum Wesen der Krankheit durchdringen. Er hat den „Anatomischen Gedanken“, wie es Virchow sp¨ater (1894) formuliert hat, in die Medizin eingef¨uhrt. Morgagni hat den „Sitz“ und vielleicht die Theorie der Krankheit erkennen wollen. Das war eine große Tat, aber es fehlte noch die Pathologische Physiologie, d. h. es fehlt die Funktion, das Geschehen, das Prozesshafte der Krankheit. Zu „Sitz der Krankheit“ muss kommen die Pathogenese, die Krankheitsformung, und die daraus folgende Funktionsbehinderung, die St¨orung und Zerst¨orung der Leistungsf¨ahigkeit bis zum Zerfall der Organisation des Organismus. Der anatomische Gedanke in der allt¨aglichen Medizin war etwas ganz Ungewohntes, ganz Neues. Solange die Universit¨aten von Philosophie und Theologie bestimmt wurden, war es nicht m¨oglich, den Menschen, das Ebenbild Gottes, „nur“ als Objekt aufzufassen und wie andere Gegenst¨ande zum Studienobjekt zu machen. Dies wurde erst m¨oglich, als Ren´e Descartes (1596–1650) die gedankliche Basis schaffte. Dabei wurde die doppelte Natur des Menschen durch Descartes betont, wie dies Viele vor ihm taten. Ren´e Descartes, der Mathematiker, war gewohnt, vor allem geometrische verwundert Probleme durch Teilung des Gesamtproblems in mehrere Einzelst¨ucke zu erfassen, deren Probleme im Einzelnen zu l¨osen, und sie dann zum Ganzen zusammenzuf¨ugen. So gedachte er auch – methodisch – das humane Problem anzugehen, in dem er im Menschen „res extensa“ und „res cogitans“ teilte, – eine gedankliche Maßnahme, die ihm u¨ ber einige Zeit vor allem als zu maschinen-artig u¨ bel genommen wurde, so sehr sich auch ihre Berechtigung erwies. Durch diese „vorl¨aufige Teilung“ war es m¨oglich, die organischen Probleme – die res extensa – naturwissenschaftlich beobachten, erkennen und erforschen zu
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5 Pathologische Anatomie
k¨onnen. Man gab sich der Hoffnung hin, die „andere, die geistige Seite“, die „res cogitans“, auch irgendwann definieren und beobachten zu k¨onnen. Dann k¨onne man alles zusammenf¨ugen. Ren´e Descartes hat durch die Teilung die anatomische und auch die anthropologische Forschung m¨oglich gemacht. Die Natur des Menschen konnte naturwissenschaftlich – res extensa – und davon unabh¨angig philosophisch – Seele – Geist – res cogitans – erforscht werden. Dass es zu einer horrenden Distanz bei der Erkennung der Gegenst¨ande beider „res“ kam, konnte Descartes nicht ahnen – und hatte es nicht zu verantworten. Die Teilung des Individuum in die beiden „res“ durch Descartes machte es m¨oglich, in der Forschung die Fessel von Theologie und Philosophie abzusch¨utteln. Die „res extensa“ konnte mit der Schwester „res cogitans“ ein Abkommen ohne Alleinvertretungsanspruch erlangen immer mit dem Hinweis, dass sp¨ater, wenn die Erkenntnis auf beiden Gebieten weiter fortgeschritten sei, alles wieder zusammenk¨ame.
Ren´e Descartes Frankreich
Descartes bewirkte mit der Methodenteilung, dass das anthropologische Problem, aber auch die menschlichste aller menschlichen Reaktionen, die Krankheit, forscherisch angegangen werden konnten. Die Naturwissenschaft war psychoentlastet, die Philosophie war physisch entlastet. Die cartesische Teilung als Instrument der anthropologischen Forschung kann nicht beschr¨ankt sein bei der a¨ rztlichen T¨atigkeit des Heilens. Durch die cartesische Teilung ist die Notwendigkeit offenbar geworden, neben der k¨orperlichen a¨ rztlichen Behandlung auch die Seele, – „res cogitans“ – zu betreuen. Vor Descartes hat man seelische Krankheiten nicht a¨ rztlich zu behandeln sich bem¨uht, seelische Krankheiten waren nicht eigentlich „Krankheit“, sie waren als Geistesst¨orungen definiert. Mit dem Riss zwischen Soma und Geist
5 Pathologische Anatomie
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standen die Krankheiten der Psyche zun¨achst hilflos da – im wahrsten Sinne des Wortes. Erst viel sp¨ater hatten die geistig-philosophischen Denker den eigenartigen Prozess der Geisteskrankheit des Menschen erkannt und in den Blick genommen.
6 Romantische Naturphilosophie
Um den geistigen, den unmechanischen Teil des Menschen – nach der cartesischen Teilung – zu u¨ bernehmen, trat die Romantische Naturphilosophie auf den Plan. Die Romantische Naturphilosophie sah den Menschen als Ganzes im System der Natur. Die Philosophie lieferte ein Denksystem, aus dem die Ereignisse der Naturbetrachtung abzulesen seien. Die Konstruktion der spekulativen Philosophie bildet die gedankliche Basis der Deutung der nat¨urlich ablaufenden Vorg¨ange in dem kranken Menschen. Die Beobachtung k¨onne h¨ochstens Hinweis und Anlass geben. Schelling (1775–1854), der prominente Vertreter der Naturphilosophie, meinte, dass die „Natur der Geschichte des Geistes“ entspreche. Bei aller Romantik haben Schelling und Hegel etwas von derAnatomie verstanden „und zwar aus praktischer Arbeit auf dem Pr¨aparierboden – weit mehr, als alle Philosophen der Gegenwart zusammen davon wissen“ (Gadamer, 1995). Trotz dieses Wissens, dieses Erlebens der nat¨urlichen Verh¨altnisse ist die Vorstellung der Krankheit nicht nur fern des kranken Menschen, sondern auch fern jeder praktischen Vorstellbarkeit. Man stelle sich Rudolf Virchow vor, der aus dem Sektionssaal kommend diese Hirngeb¨aude vorfindet. Die Naturphilosophie hatte sich in ihr System eingeh¨ullt und eingewoben wie in einen Kokon, aus dem es keinen Ausweg gab, aus dem heraus alles zu erkl¨aren war. Aber: Nichts war in der Natur beobachtet und bewiesen, alles war Konstrukt, gedankliche Spekulation. Die Problematik der Spekulativen Naturphilosophie am Beginn des 19. Jahrhunderts hat Dietrich von Engelhardt (1984), zusammenfassend dargestellt. Er hat die Bem¨uhungen von Schelling und Hegel um das damalige Naturwissen mit ¨ dem Ubergang in die Naturphilosophie herausgestellt. Beide verstehen sich als Naturphilosophen und nicht als Naturforscher. „Krankheit ist“ nach Schelling „ein Zwiespalt in der Identit¨at des Organismus, eine Grundfunktion beginnt unangemessen zu dominieren, wodurch der Organismus aufh¨ort, reiner, ungetr¨ubter Reflex des All zu seyn“. Bei aller Kenntnis der medizinischen Probleme f¨uhrt Schelling doch die Krankheit und das Leben als rein gedankliches Konstrukt vor (Dr. v. Engelhardt, 1984). So schrieb Schelling (1854): „Die Anatomie . . . m¨usste zuv¨orderst erkennen, dass es einer Abstraktion, einer Erhebung u¨ ber die gemeine Ansicht bedarf, um der wirklichen Form auch nur historische Wahrheit auszusprechen. Er (der Anatom) begreife das Symbolische der Gestalten. Krankheit entsteht, wenn das niedere Prinzip das h¨ohere ausschließt, wenn das, was Leben
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6 Romantische Naturphilosophie
und die Freiheit nur daher hat, dass es im Ganzen lebe, f¨ur sich zu sein strahlt“ (Ringeis 1841). Der Pathologe David von Hansemann: „Die Geschichte der Naturphilosophie ist eine Kette von Beweisen daf¨ur, wie h¨aufig die noch so strenge Logik der Philosophen durch die Natur L¨ugen gestraft wird“. Das System der Philosophie stand u¨ ber der Naturbetrachtung. Das Kennzeichen der Naturphilosophie war freie Spekulation ohne Beobachtung, ohne Erfahrung und ohne Experiment „ein Morast der Theorien und Systeme“ (Ackerknecht, 1957). Es war eine Medizin aus Bibliotheken, nicht vom einzelnen Kranken, nicht vom Krankenbett her, nicht von der Klinik, nicht von dem Laboratorium, auch nicht von der Pathologischen Anatomie. Es war, wie sp¨ater Virchow (1895, S.600) sagte, „eine bequeme Methode der aprioristischen Spekulation“. Manchesmal widersprach der nat¨urliche Ablauf von k¨orperlichen Vorg¨angen oder von Krankheitsverl¨aufen dem philosophischen System – aber das st¨orte die Theoretiker nicht, die Praxis hatte sich dem System zu beugen. Die Entwicklung der Medizin in der ersten H¨alfte des 19. Jahrhunderts hat eine Hauptst¨utze in der Naturphilosophie in Deutschland erhalten. Einzelne Seitenwege sind nicht von der Philosophie gest¨utzt worden – wie die Lehren von Messmer und von Gall. Beide beherrschten nie das Denken g¨anzlich. ¨ In Osterreich hat die Romantische Naturphilosophie nie recht Fuß fassen k¨onnen. Vielleicht hat die strenge Zucht van Swietens ein halbes Jahrhundert vorher dazu beigetragen, dass nicht so viel Naturphilosophie ins Kraut schoss. ¨ Die verst¨andigen Arzte flohen vor der romantischen Naturphilosophie mit ihren Ausw¨uchsen in die Naturhistorische Richtung, die man als Schritt zum Ziele auffassen kann. Die naturhistorische Schule hat sich bei aller Hinneigung zur naturwissenschaftlichen Seite abgegrenzt von der sog. „Physiologischen Medizin“ von Wunderlich und Roser (1842) (Bleker, 1981). Der f¨uhrende Kopf der klinischen naturhistorischen Schule war Lukas Sch¨onlein (1793–1864). Er lehrte in deutscher Sprache. Dies allein war schon revolution¨ar, da bisher alle Vorlesungen in Latein gehalten wurden. Von Sch¨onlein kann man annehmen, dass er bei der naturhistorischen Lehre den Gedanken der medizinischen Naturwissenschaft bereits hatte und auch praktizierte. Er sah sich aber nicht im Stande, den naturwissenschaftlichen Gedanken expressis verbis in seine Wissenschaft einzuf¨uhren. Er praktizierte in seinem Unterricht – Rudolf Virchow war unter seinen Studenten – naturwissenschaftliche Methoden. Sch¨onlein schrieb so gut wie nichts. Sein Ruf als akademischer Lehrer aber erstrahlte zuerst in W¨urzburg, dann vor allem in Z¨urich und sp¨ater ungebrochen in Berlin. ¨ In Bonn vollzog sich was Ahnliches durch den vielseitigen Friedrich Nasse (1778–1851), der als klinischer Lehrer physikalische Diagnostik am Krankenbett betrieb und sogar ein Mikroskop benutzte. Vielleicht ist gerade dieser Umstand
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wichtig, weil unter seinen Sch¨ulern Johannes M¨uller war, der ja sp¨ater in Berlin seine Sch¨uler aufforderte, „mikroskopisch zu denken“ (Schipperges, 1984). An dem Begriff-Wechsel zwischen der Naturhistorie (Sch¨onlein) erkennt man die langsame gedankliche Konzentration auf die Wissenschaft von der Natur in der Medizin. Als dann in relativ kurzer Zeit die Naturwissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Medizin „¨ubernahm“, „eroberte“, „befruchtete“, d. h. als der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff entwickelt wurde, zeigte es sich warum die Anatomie so fr¨uhzeitig akademische Anerkennung gefunden hatte. Sie brachte etwas Handfestes, „Unphilosophisches“, etwas Vorzulegendes und auch zu Widerlegendes. Es darf nicht geschlossen werden, dass die akademische Medizin etwas gegen die Philosophie als Denkform h¨atte – aber Krankheit als Naturvorgang kann man philosophisch bewerten, nicht aber erkennen und behandeln. Der Beginn der Medizin in der Naturwissenschaft stellt z.T. eine Reaktion auf die Romantische Naturphilosophie und zugleich deren Beendigung dar. Sie bedeutet auch das Ende einer (noch) mittelalterlichen Krankheitsauffassung, deren Ausl¨aufer eben die Romantische Naturphilosophie war. Als Vesal den Paradigmawechsel brachte, war dieser Vorgang Voraussetzung f¨ur den 300 Jahre sp¨ater erfolgten Paradigmawechsel durch den naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff. Durch die Naturwissenschaft wurde die moderne Medizin nicht weiterentwickelt, sie wurde dadurch geboren. So wie der Paradigmawechsel an die Entwicklung der Anatomie – und an den Namen Vesal – gebunden ist, so ist der zweite, der naturwissenschaftliche Paradigmawechsel an den Namen Rudolf Virchows gebunden. Der Einbruch der Naturwissenschaft in der Medizin ist verbunden mit dem Lebensweg Virchows.
7 Der zweite Paradigmawechsel in der Medizin
Der zweite medizinische Paradigmawechsel der Medizin ergab sich durch die Erarbeitung des naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffes, durch die Ausmerzung der ontologischen Krankheitsvorstellung. H. Schipperges (2003) nennt das ¨ den Perspektivenwechsel am Ubergang der Neuzeit, Rothschuh (1977) den Konzeptionswechsel. Rothschuh (1977), der den Paradigmawechsel-Begriff Kuhns ablehnt, z¨ahlt eine ganze Reihe von Konzeptionswechsel – wie er es nennt – auf, die sich gewissermaßen von einander ableiten – aber nicht zu einem Paradigmawechsel sich hochstilisieren (Humoralpathologie mit der Dyskrasie, Mechanopathologie etc.) Toellner (1977) bietet (auf dem gleichen Symposium in M¨unster) eine breitere Erkl¨arung eines Konzeptionswechsels an. Toellner meint „Die Koinzidenz von Galileischer Physik und Harveys Kreislauflehre mit der Maschinentheorie des Lebendigen durch Descartes hat eine erste große Matrix in der Physiologie der Neuzeit geschaffen.“ Dagegen – so Toellner – hat Haller (1708–1777) mit der Erkenntnis der Kontraktion der Muskelfaser und der nervalen Empfindsamkeit die entscheidende Basis f¨ur eine Physiologie gelegt. Das ist sicher richtig. Aber diese Ph¨anomene machen eigentlich nicht das aus, was Kuhn unter dem Paradigmawechsel versteht, n¨amlich den der evolution¨aren Revolution, die ihn u¨ ber einen Konzeptionswechsel heraushebt. Durch ihn wird alles anders, weil der neue, der andere Blickpunkt gefunden war. Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff hat alles in der Medizin ver¨andert: Die Theorie der Krankheit, die Untersuchung, die Beobachtung, die Diagnose, die Behandlung, die Ursachenforschung und auch die juristische Bedeutung (Krankschreibung). Vorbereitet war dieser zweite Paradigmawechsel der Medizin durch die Entwicklung der Anatomie. Zur Erfassung des naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffes musste die Anatomie erg¨anzt werden durch die humane Pathologie, durch die Kenntnis des „Sitzes“ der Krankheit. Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff schließt zun¨achst nicht an die klinische Medizin, an die a¨ rztliche Handlung, also an Diagnose und Therapie. Sie bezeichnet nur die Krankheit in ihrer Bedeutung in Physiologie und Pathophysiologie, in pathologischer Anatomie, also nur f¨ur die Theorie der Krankheit. Es ist ein Kennzeichen der medizinischen Naturwissenschaft, dass sie zuerst das Wesen ¨ der Krankheit, ihre Atiologie und ihren Ablauf betrachtet. Dass bei Kenntnis der
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7 Der zweite Paradigmawechsel in der Medizin
Rudolf Virchow
Pathogenese und der Pathomechanik eine Therapie erm¨oglicht wird, ist das Ziel, aber nicht der erste Gegenstand der Forschung. Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff bedeutet einen Paradigmawechsel in der Krankheitsauffassung mit nachfolgender entscheidender Konsequenz f¨ur die klinische Medizin durch die Erweiterung der Krankheitserkennung und der sich daraus ergebenden Krankenbehandlung. Man konnte die Krankheit sehen, ihre Morphologie erfassen und ihre Pathophysiologie erschließen. Rudolf Virchow leitete diesen Paradigmawechsel des Krankheitsbegriffes im Wesentlichen ein. Die Versuche am Anfang des 19. Jahrhunderts waren vielf¨altig, die ¨ Gedanken waren wesentlich gekennzeichnet durch den Uberdruss, den die Naturphilosophie brachte. Zun¨achst Jakob Henle – auch ein M¨uller-Sch¨uler – (den Virchow 1860 im Archiv XVIII bek¨ampfte), dann Roser und Wunderlich, die mit der „Physiologischen Heilkunde“ (1842) hervortraten. Das Problem war gereift. Einer musste kommen, der nicht nur das Problem erkannt hat, sondern auch die Instrumentalisierung, die „Technische Einordnung“ des naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffes, seine Einarbeitung und seine Anwendung bewerkstelligte. Sicher waren Viele am Werke – und doch war es Rudolf Virchow der den entscheidenden Gedanken formulierte und propagierte. Ackerknecht (1957) kennzeichnet die Situation: „Virchow vervollst¨andigte, systematisierte und setzte die Orientierung definitiv fest“.
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Das Besondere und f¨ur die Zukunft des Faches Entscheidende war, dass ein Pathologe wie Rokitansky und ein pathologischer Anatom wie Virchow die neue Krankheitslehre formulierten und definierten, eigenartigerweise nicht ein am Patienten t¨atiger Arzt. Das Besondere, dass es ein Pathologe war, der den Schritt in die Naturwissenschaft machte, ist zu verstehen aus der Betrachtung der Zeit – war aber angesichts der entwickelten Physiologie, die der Naturwissenschaft doch n¨aher zu sein schien, nicht unbedingt vorauszusehen. Dies war auch angesichts der sich durch die klinische Schule Wiens (Skoda) und Berlins (Sch¨onlein) formierenden medizinischen Methoden nicht ohne weiteres gegeben. ¨ Es waren Theoretiker, die das Allgemeine erkannten und den Arzten, die den Kranken behandelten, vermitteln konnten. Die bessere Einsicht Virchows in den Organverband, in die Organisation der K¨orperfunktionen, war neben der ver¨anderten Denkart durch die Verwendung des Mikroskops m¨oglich geworden. Durch die Beobachtung des Zellverbandes erkannte man den Krankheitsprozess in seinem Beginn und in seiner Folgerung. Dem naturwissenschaftlichen Einbruch in der Medizin, der gerade in Deutschland so m¨achtig und auch pl¨otzlich erfolgte, waren schon Wellenbewegungen in ¨ Frankreich, in England und in Osterreich vorausgegangen, die jedoch nicht die M¨achtigkeit eines grundlegenden Wechsels besaßen. So wie heute nur die amerikanische bzw. angels¨achsische Literatur zu lesen und auch zu zitieren erforderlich ist, so war um diese Zeit die deutsche Wissenschaft auch literarisch so f¨uhrend, dass kaum eine andere Sprache – außer dem lateinischen und vielleicht franz¨osischen – n¨otig war. Einzig die Tradition von Harvey und Hunter in England, dazu einige Lehren der Pariser Medizinschule bildeten den Urgrund und hatten Vorreiterdienste (Bichat, Magendie, Laennec, Cruveilhier, Andral) gebracht. Xaver Bichat (1771–1802) hatte bereits alle Funktionsst¨orungsst¨orungen durch anatomische Gewebsver¨anderungen zu erkl¨aren versucht, zur Zelle war er nicht weiter durchgestoßen (Bieganski, 1909). Er hatte nie ein Mikroskop benutzt. Vielleicht ist sein fr¨uher Tod – mit 31 Jahren! – die Ursache f¨ur diese Grenzen seiner Sicht.
8 Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff und Virchows Lebenssituation
Wer dem naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff, dem wir heute noch anh¨angen, nachsinnt, st¨oßt auf Rudolf Virchow. Wer Rudolf Virchow nachsinnt, trifft auf eine reiche Pers¨onlichkeit, der die Zellenlehre von Johannes M¨uller, Mathias Schleiden (Botaniker) und Theodor Schwann (Zoologie) in der Cellulartheorie zusammenfasste und als Cellularpathologie f¨ur die Medizin nutzbar machte. Dadurch wurde die Medizin eine Naturwissenschaft. Der Schritt in der Anwendung der Zellenlehre auf die Krankheitslehre – „Zellularpathologie“ – hat gezeigt, dass Physiologie und Pathologie den Regeln der Zellenlehre gehorchen. Wie kam Rudolf Virchow zu einem solchen Krankheitsbegriff? Selbstverst¨andlich war eine geeignete Umgebung n¨otig, ein wissenschaftlicher Humus. Dieser lieferte entscheidende Voraussetzungen. Einmal ergab die cartesische Teilung – 200 Jahr zuvor – erst die M¨oglichkeit, den menschlichen Organismus und sein Versagen, also die Krankheit, naturwissenschaftlich zu erfassen, ohne durch psychisch-geistige Dinge dabei beeinflusst – „abgelenkt“ – zu werden. Dabei mussten die bisher herrschenden Krankheitsvorstellungen – vor allem aktuell die Krasenlehre und die Krankheitsontologie – u¨ berwunden werden. Und das war die zweite Voraussetzung f¨ur den tats¨achlichen Wechsel. Die naturwissenschaftliche Fassung des Krankheitsbegriffes war Virchow zum dritten nur m¨oglich zu denken in Opposition zu der nebul¨osen Naturphilosophie. Virchow – der Sch¨uler des Physiologen Johann M¨uller (1801–1858) – verfocht mit der naturwissenschaftlichen Methode den Gegensatz zu der herrschenden „Wolke der Naturphilosophie“. Dagegen wandte er sich mit aller Vehemenz. Das Selbstehen, die Selbstbeobachtung, das Experiment, eben naturwissenschaftliche Methoden f¨uhrten zu einer einheitlichen Krankheitslehre. Als viertes Moment kommt die Entwicklung der Naturwissenschaft schlechthin, vor allem der Physik und Chemie. Die Physik begann der Medizin schon bewusst zu werden anl¨asslich der Entdeckung des Blutkreislaufes durch William Harvey (1578–1657) und deren Komplettierung durch die Auffindung der Kapillaren durch Marcello Malpighi (1628–1694). Die Chemie brachte durch Lavoisier (1743–1794) und danach
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Liebig (1803–1873) eine Aufsehen erregende Entwicklung und einen ganz neuen Zweig der Naturwissenschaft, der mit der fr¨uheren Alchemie nichts mehr zu tun hatte. Die Physiologische Chemie beginnt in der humanen Forschung schon mit Lazzaro Spallanzani (1729–1799), der den Verdauungsprozess z. B. des Magensaftes durch W¨armehaltung unter der eigenen Achsel erforschte. Die Physik konnte zeigen, was zu messen und was zu berechnen war. Die Physik ist nicht nur Vorreiter in den Ergebnissen der Forschung, sondern auch Vorbild der Methodik geworden. Die Medizin greift bei ihren Methoden immer schon um sich, um alle Neuerungen in der eigenen Disziplin zu pr¨ufen und zu u¨ bernehmen. Mit der Physik kam die Technik. Der Einbruch der Technik und in ihrem Gefolge die Industrialisierung und als deren Folge die Hebung des Wohlstandes und des Anspruchs, aber auch der Arbeitslosigkeit und des Massenelends mit dem sich daraus ergebenden Arbeitskampf: Dies alles waren Folgen der neuen M¨oglichkeiten. Die epochale Entwicklung der Naturwissenschaft und der Technik mit der Wirkung auf die Gesellschaft brachte zugleich den Einbruch der Naturwissenschaft in die Medizin, in die Kenntnis der K¨orperlichkeit des Einzelnen in dem Alltag. Die Medizin musste sich, um Anschluss an die klassischen Naturwissenschaften zu gewinnen, erst freischaufeln von der Romantischen Naturphilosophie und sich durchringen zu der naturwissenschaftlichen Ansicht. Alles dies f¨uhrte zu einer Unruhe in der wissenschaftlichen Welt mit einer Emsigkeit, etwas Handfestes f¨ur die Medizin zu finden. Es ist selbstverst¨andlich, dass Virchow – zum f¨unften – auf den Schultern seiner wissenschaftlichen Vorl¨aufer steht; er war ein Sohn seiner Zeit und seiner wissenschaftlichen Herkunft. Eine sehr wesentliche Voraussetzung war Virchows Zugeh¨origkeit zu der „Schule“ von Johannes M¨uller. Sein Lehrer Johannes M¨uller (1801–1858) f¨uhrte ihn in die Physiologie ein. Robert R¨ossle (1929) bezeichnet Johannes M¨uller als „Johannes den Vorl¨aufer“. Er gab ihm den Gedanken ein, dass die Krankheit durch Pathophysiologie erkl¨art werden m¨usse, ein Gedanke, der ihm als Ziel auch u¨ ber die Zeit der Zellularpathologie und der Pathologischen Anatomie beherrschte. Im ersten Heft seines neu gegr¨undeten Archivs (1847) gab Virchow dazu ein Glaubensbekenntnis ab: „Die Pathologische Physiologie als die Veste der wissenschaftlichen Medizin, an der die pathologische Anatomie und die Klinik nur Außenwerke sind.“ In der Schule von Johannes M¨uller war die Zellenlehre durchaus gebr¨auchlich und im Gespr¨ach. Johannes M¨uller selbst hat ein großes Atlaswerk (1838) verfasst, der die zellul¨are Basis der Geschwulstentstehung aufzeigt. Er spricht ohne Einschr¨ankung von Zellen. ¨ (Joh. M¨uller: Uber den feinen Bau und die Formen der krankhaften Geschw¨ulste, Berlin 1838).1 1 Will man Rudolf Virchow mit seinem Lehrer Johannes M¨uller vergleichen, so zeichnen sich
beide durch ihre Vielseitigkeit und die Vielschichtigkeit ihrer Interessen (und Arbeitsgebiete), die
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Johannes M¨uller hat als erster die Zellen der Chorda dorsalis erkannt und beschrieben – jene Zellen, die noch heute im Histologischen Kursus als „pflanzenzellartig“ beschrieben werden. Bei M¨uller erarbeitete der Botaniker Mathias Schleiden (1810–1881) die zellul¨are Basis f¨ur die Pflanzenwelt. Zur gleichen Zeit und im Gefolge seines Freundes Schleiden war der Zoologe Theodor Schwann (1810– 1882) mit der Erkennung des Zellverbandes bei Tier und Mensch besch¨aftigt. Alle waren hervorragende Mikroskopiker. F¨ur die Pathologische Anatomie war in diesem Kreise Rudolf Virchow zust¨andig. Rudolf Virchow als Nachfolger seines Lehrers, des Prosektors der Charit´e Robert Friedrich Froriep (1804–1861), hatte im Sektionssaal damals wie heute die Aufgabe, nicht nur die Todesursache von Verstorbenen festzustellen, sondern auch die Krankheits- und Todesf¨alle in ihrer Pathogenese aufzukl¨aren. Er tat dies im Sinne der pathologischen Anatomie, aber auch entsprechend seiner Schulung im Sinne der Pathologischen Physiologie. In eine solche Richtung gelenkt entstanden die Gedanken um die Beobachtungen im Sektionssaal, mittels des Experimentes – Dinge, die durch Physik, durch Physiologie und damit durch Naturwissenschaft gedeutet und so auf die klinische Medizin u¨ bertragen werden konnten. Virchow wandte das naturwissenschaftliche Prinzip zun¨achst makroskopisch bei der Obduktion von Verstorbenen an. Dabei ist es sicher die Folge seines physiologisch geschulten Denkens, dass er die Befunde nicht nur beschrieb, sondern die Entstehungsweise, also Pathogenese und Prognose, und deren Folgen u¨ berdachte. Erstes eindrucksvolles Beispiel f¨ur diese Art der Obduktionsdeutung ist die Beobachtung der Thrombose und der Embolie. Virchow hat – als junger Mann mit 24 Jahren – im Sektionssaal die Lungenembolie beobachtet. Auch Morgagni hat – 100 Jahre zuvor – „polypartige Gebilde“ in den Lun¨ genarterien (Brief VI, 12) beschrieben. Uber die Beobachtung hinaus hat Virchow sich Gedanken nach dem „Woher“ und „Wohin“ gemacht. Erg¨anzend zu dem o¨ rtlichen Befund – der verstopften Lungenarterie – folgerte er die Entstehung im Kreislauf: Dass er von „Embolie“, vom „Hineinwerfen“ gesprochen hat, zeigt sei¨ ne pathophysiologische Uberlegung, die bei der losgerissenen Thrombose ansetzt und deren Schicksal – losgel¨ost – dem Blutstrom folgend betrachtet. Was gibt es eindeutigeres als die Beobachtung von Thrombose und Embolie in Pathologie und Physiologie? Umsicht ihren Problemen gegen¨uber und durch die Unerm¨udlichkeit des Bed¨urfnisses, anderen die Gedanken mitzuteilen, zu publizieren. Johannes M¨uller besaß eine reiche Phantasie und unerh¨ortes Wissen von Einzelheiten. Allerdings brachte das Handbuch der Physiologie eine Grundlage aber keinen dramatischen Wechsel (Paradigmawechsel). Nach dem großen Handbuch der Physiologie widmete sich M¨uller fast nur noch zoologischen Einzelbeobachtungen – dies allerdings in großer Vielfalt. Du Bois-Reymond sagte in seiner Ged¨achtnisschrift f¨ur Johannes M¨uller (S. 145) „statt der Haufen von Gold und Silber, die er aufgeh¨auft hat, (h¨atte er) manchen Edelstein“ bergen k¨onnen.
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Auch bei anderen Dingen, die grundlegend waren und noch heute g¨ultig sind, liegen a¨ hnliche Sachverhalte vor. Bei der Leuk¨amie, die Virchow beschrieb und benannte, ging er aus von dem makroskopischen Befund der großen Milz. Er stellte im Mikroskop – an ungef¨arbten Schnitten! – die massive Vermehrung von weißen (= kernhaltigen) gegen¨uber den roten (= kernlosen) Blutk¨orpern fest. Dhom (2002) hat diejenigen Beobachtungen Virchows zusammengestellt, die heute noch wissenschaftsselbstverst¨andlich sind – die wir ausgebaut und erkl¨art benutzen, ohne dass wir uns der historischen Herkunft bewusst werden. Sie stammen vorwiegend aus einem Jahrzehnt (1847–1856), der ersten Berliner Zeit und den „sieben fetten Jahren“ (Altmann, 1990, 1992) in W¨urzburg. Virchow handelte nicht „aus dem Stand“, sondern war verwurzelt in der Schule von Johannes M¨uller – und in der gerade anlaufenden Entwicklung der Technik, vor allem mit dem Mikroskop als angewandte Physik schlechthin. Er hatte, wie alle M¨uller-Sch¨uler, „mikroskopisch denken“ gelernt. Durch die Zellenlehre der Schule von Johannes M¨uller (Schleiden, Schwann, Remak) war der im Obduktionssaal besonders und im pathophysiologischen Denken auf die Beobachtung geschulte Virchow pr¨adestiniert, seine „schulischen“ Kenntnisse auf die Pathologie zu u¨ bertragen: die „Zellularpathologie“ zu erstellen. Virchow war mit den M¨uller Sch¨ulern – Schleiden, Schwann, Henle – in der Diskussion u¨ ber die Frage, woher die Zellen sich entwickelten. Man hatte die Vorstellung, dass die Zellen aus einem „Cytoblastem“, gewissermaßen aus dem „amorphen Urschleim“ entst¨unden, etwa wie der Krystall aus der Mutterlauge. Herkunft und Enstehung der Zellen aus dem Cytoblastem war das unbefriedigende Problem der Zellenlehre. Virchow war das Blastem zu vage und nicht beobachtbar. Noch hatte er den Gedanken des Cytoblastems nicht so u¨ berwunden, dass er ganz darauf verzichtete. Doch schon in der Rede anl¨asslich des Jubil¨aums der P´epin`ere (1845) dr¨uckte er diesen Gedanken drastisch aus: „Mit dem Menschen ist die Sch¨opfung fertig; es entsteht kein lebendes Wesen mehr, es sei denn gezeugt. Die Lebenskraft erwacht nirgends, schafft nichts; kein G¨arpilz, keine Kr¨atzemilbe, kein Eingeweidewurm ist ohne Ahnen“. Diese Feststellung schloss den Rahmen und gab der Zelle f¨ur Entwicklung, Wachstum, Differenzierung eine zentrale Stelle. Die Zelle als Tr¨ager von Physiologie und Pathologie zeigt das Ziel: Es soll die Physiologie – das Normale – und die Krankheit – die Pathologie – und damit auch die menschliche Natur und ihre Reaktionsweise unter den unterschiedlichen Bedingungen erfasst werden. Virchows Begriff der Physiologie umfasst alles Normale in dem anatomischen Aufbau, dem funktionellen Ablauf, sowie in der Funktion. So erkl¨aren sich die Begriffe, die er gerne gebraucht: Pathologische Anatomie und Pathologische Physiologie als Gegensatz zu dem Normalen: der Anatomie und Physiologie.
8.1 Literarische Vorarbeit
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8.1 Literarische Vorarbeit Die sich anbahnende Umstellung hat eine geistige und literarische Vorgeschichte. In dieser Zeit – politisch der „Vorm¨arz“ – „war eine G¨ahrung in den Gem¨utern der Mediziner“ (Virchow im Nachruf Sch¨onlein). Auf die grundlegenden Arbeiten des Botanikers Schleiden und des Zoologen Schwann, auf den Tumoratlas von Johannes M¨uller (1838) – alles St¨utzen der Zellenlehre – haben wir hingewiesen. Die „Zelle“ war in der Diskussion. Das Mikroskop lieferte die ersten unmittelbar beobachtbaren Ergebnisse. Dabei soll man nicht vergessen, dass die mikroskopischen Untersuchungen an ungef¨arbten Rasiermesserschnitten vorgenommen wurden. Durch diesen Umstand versteht sich die Vorreiterrolle der Botanik, die durch die deutlich gezeichneten markanten Zellmembranen einen Vorzug hatte. Die Zellenlehre litt unter dem immer noch nicht gekl¨arten „Cytoblastem“. Dieses Cytoblastem konnte man nicht sichtbar machen, es war das ungel¨oste, fast peinliche Problem. Kennzeichnend f¨ur die geistige Entwicklung sind die literarischen Vorarbeiten von Rudolf Virchow. Der Erkenntnis des naturwissenschaftlichen Gedankens f¨ur die Theorie der Medizin, die sich durch den t¨aglichen Eindruck im Sektionssaal und am Mikroskop ergab, machte eine Verbreitung der Gesichtspunkte, die als recht erkannt worden waren, notwendig. Der Weg Virchows zu der naturwissenschaftlichen Medizin beginnt mit den Zwei Reden (1845). Dann kommen als „Glaubensbekenntnis“ die Einheitsbestrebungen der Medizin (1849), das beim Weggang von Berlin nach W¨urzburg abgelegt – und sp¨ater (1856) ver¨andert wurde, danach Die Cellularpathologie im Archiv (1855), schließlich die „Cellularpathologie“ (1858) als Gesammelte Vorlesungen in Buchform. Die erste grunds¨atzliche Stellungnahme von Rudolf Virchow erfolgte in den (sp¨ater sogenannten) „Zwei Reden“. Virchow bekam 1845 als 24-j¨ahriger, als „P´epin“ der Milit¨ar¨arztlichen Akademie in Berlin, Gelegenheit, seinen wissenschaftlichen Standpunkt vor einem sachverst¨andigen und repr¨asentativen H¨orerkreis darzulegen. Der Stiftungstag der Mi¨ lit¨ar¨arztlichen Akademie (1845) brachte eine Gelegenheit, in breiter Offentlichkeit mit ungeschminkter (vielleicht auch gelegentlich ungeschickter) Offenheit seine „Thesen anzuschlagen“. Er sprach u¨ ber „Das Bed¨urfnis und die M¨oglichkeit einer Medicin vom mechanischen Standpunkt“. 2 Man muss fragen, durch welche Umst¨ande der Jugendliche diese M¨oglichkeit vor den alten Recken anl¨asslich einer Jahresfeier (des 95. Geburtstages des Gr¨un2 So hieß die Rede – entgegen der sp¨ater von Orth (in Virchows Archiv 188, 1907) getitelten Form.
Dies wird deutlich aus dem Faksimile-Abdruck der „Zwei Reden“ herausgegeben von Werner Scheler, Akademie-Verlag 1986.
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ders und dann des 50-j¨ahrigen Bestehens der P´epini`ere) erhielt. Es m¨ussen Verantwortliche gegeben haben, die die Begabung und die Zukunft des Jugendlichen erkannt hatten. Vielleicht war es – bei der ersten Rede zum mindestens – die Folge eines besonders guten Abschlusses. Seine G¨onner, die ihm die M¨oglichkeit gaben, wussten, dass im Publikum viele Konservative saßen, deren Gegnerschaft offensichtlich werden w¨urde, die – tats¨achlich – auch nachher protestierten. Zun¨achst geht Virchow gegen die Gleichg¨ultigen vor, die sich dem Fortschritt der Wissenschaft verschließen. Zu den Gleichg¨ultigen gesellen sich, so sagt Virchow, die „Cohorten der Propheten des Aberglaubens“ („Hom¨oopathie, Hydrotherapie, Magnetismus und Exorzismus – Phantome des Mittelalters“). Virchow wendet sich ¨ im gleichen Atemzug gegen die „Ubergl¨ aubigen“, denen eine Autorit¨at u¨ ber alles geht. Er wendet sich gegen die Lehre von der „Lebenskraft“ (Vitalismus). Dem setzt er entgegen die „mechanische Anschauungsweise der neuen Medizin“. Die Reden erfolgten zeitlich noch vor der voll entwickelten Erkenntnis der Zellenlehre, also noch zu Zeiten des „Cytoblastem“. Nach grunds¨atzlichen Thesen geht er auf praktische Beispiele aus dem Gebiete seiner eigenen Forschungsarbeiten ein u¨ ber das „fl¨ussige Gewebe“, u¨ ber das Blut, und beschreibt die Blutk¨orperchen, wie man sie im Mikroskop sehen kann. Das zweite große Thema seiner eigenen Arbeiten ist der „Faserstoff“, der bei der Blutgerinnung eine Rolle spielt. Außer den Bemerkungen zur Pathologie des Blutes folgen solche zur Kenntnis des Fettes, vor allem durch Beobachtungen der Leber bei Trinkern („S¨aufer verhalten sich wie Mastg¨anse!“). Vielleicht waren es seine vielf¨altigen eigenen aktuellen Untersuchungen, die ermutigten, auch bei dem zweiten Jubil¨aum wieder den gleichen Redner auszuw¨ahlen. Ihm war gesagt worden, er m¨usse relativ kurzfristig einspringen, da der vorgesehene Redner abgesagt habe. Daher hat Virchow wenige Monate sp¨ater – August 1845 – vor dem fast gleichen Publikum die sog. „Zweite Rede“ gehalten. Hier erl¨auterte er zun¨achst seinen Standpunkt zu der modernen, der mechanischen, der naturwissenschaftlichen Medizin. Virchow war keinesfalls schon im Besitze der „sicheren Wahrheit“. Aber es kommt schon: „Die Zelle ist f¨ur uns das organische Molek¨ul“. „Die Entwicklung des Leibes von der einfachen Zelle bis zum fertigen Organismus, die Bildungsgesetze jedes einzelnen Teils, des Baus derselben setzen die gr¨undlichsten anatomischen Untersuchungen voraus, wenn man sie verstehen will. Da aber jeder Wechsel der Form, jede T¨atigkeit der Ern¨ahrung, des Stoffumsatzes, das Denken, die Bewegung mit chemischer Ver¨anderung der Materie verkn¨upft sind, oder vielmehr durch sie zustande kommen, so sind detaillierte Beobachtungen n¨otig, die leider noch so sehr fehlen.“ (II. Rede, S. 69). Die Zelle wird als zentrale Einheit allen biologischen Lebens dargestellt. „Der Mensch stellt so gut ein Zellensystem dar, als die einfache Pflanze; er ist nur ein
8.1 Literarische Vorarbeit
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Zellsystem mit Seele.“ Es folgen weitere Ergebnisse der eigenen Untersuchungen, diesmal f¨ur die Thrombose und die Venenentz¨undung. ¨ Uber diese Rede schrieb Virchow an seinen Vater (am 27. 8. 1845): „Die alten Milit¨ar¨arzte wollten aus der Haut fahren, ob so neuer Weisheit; dass das Leben so ganz mechanisch construiert werden sollte, schien ihnen vollkommen umw¨alzerisch, wenigstens ganz unpreussisch; . . . ,Haben Sie das geh¨ort? Wir wissen also gar nichts mehr!‘ . . . Solch ein Tag wird nur einmal geboten; ich w¨urde es nie wieder gut gemacht haben, wenn ich ihn (h¨atte) ungen¨utzt vor¨ubergehen lassen.“ Die Zwei Reden stellen, abgesehen davon, dass sie dem jungen Forscher Gelegenheit gaben, seine aktuelle Forschungsarbeit u¨ ber den Faserstoff und die Thrombose einem interessierten H¨orerkreis darzulegen, Bekenntnis zur Medizin als Natur¨ wissenschaft dar. Freilich ist die Basis, auf der diese Uberzeugung steht, noch schwach. Von „Zellularpathologie“ ist noch keine Rede. Die Zwei Reden haben den Charakter einer Wegaufzeigung. ¨ Die Uberzeugung der naturwissenschaftlichen Medizin „von 1845“ ist so klar und fest vorgetragen, dass die H¨orer z.T. u¨ berzeugt waren, aber auch z.T. sich gegen die bestimmende Weise des jugendlichen Redners wendeten. Mit den Zwei Reden war das Programm gegeben, das so zur allgemeinen Anerkennung gebracht werden musste. Und wenn die Zellenlehre und ihre Weiterungen das tats¨achliche neue Konzept war, dann musste das Verst¨andnis geweckt, aber auch die vorhandenen Denkstrukturen durchschaut und vielleicht berichtigt werden. In den „Einheitsbestrebungen der Medizin“ (1849) hat Virchow anl¨asslich seines Abschiedes von Berlin seinen medizinischen, naturwissenschaftlichen, fast weltanschaulichen Standpunkt festgelegt. F¨ur seine pers¨onliche Situation ist interessant, dass er das Heft „Herrn Dr. Carl Mayer, dem Vorstande der Geburtshilflichen Gesellschaft zur Berlin“ – seinem zuk¨unftigen Schwiegervater – gewidmet hat. Die Kapitel¨uberschriften zeigen das Ziel: „Mensch“, „Leben“, „Medicin“, „Krankheit“, „Seuche“. F¨ur die Zeit ist es bezeichnend, dass „Krankheit“ und „Seuche“ eigene von einander unabh¨angige Kapitel haben. F¨ur Virchows Lebensart und Denkweise ist bemerkenswert, dass er im Kapitel „Seuche“ die Gedanken aufgreift, die er anl¨asslich seiner Schlesienreise ausgef¨uhrt hat. Das soziale Umfeld ist f¨ur die ¨ Entstehung und das Uberstehen der Seuchen entscheidend. ¨ Virchows Uberzeugung von der Bedeutung der Zelle kommt in den u¨ bergeordneten Themen vom „Leben“ und von „Krankheit“ mit Deutlichkeit zum Ausdruck – weniger als Ergebnis seiner Forschung, vielmehr als These. Das „Blastem“ als formlose Masse entsprechend der Mutterlauge der Krystallbildung wird noch erw¨ahnt. Bei dieser Betrachtung sp¨urt man seinen inneren Vorbehalt. Es wird auch hier schon klar, welch eine Erl¨osung f¨ur ihn und welche Evolution die Erkenntnis
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8 Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff
bedeuten wird, wenn er sich zu dem Satz „Omnis cellula a cellula“ durchgerungen (oder sollte ich sagen: durchgedacht?) haben wird. Insofern sind die „Einheitsbestrebungen“ ein wichtiger Schritt zu der Erkenntnis der alles entscheidenden Zelle, wenn auch noch nicht deren „Werdegang“ aufgezeigt werden kann. Nebens¨achlich, nicht entscheidend aber kennzeichnend: Der Begriff der Zelle kommt im Kapitel „Leben“ und „Krankheit“ vor – nicht aber in dem „Medicin“. W¨ahrend die „Zwei Reden“ (1845) und die Einheitsbestrebungen (1849) noch den Charakter von Stufen erkennen lassen, so ergießt sich die F¨ulle der Beobachtungen der Speziellen Pathologie – in den eigenen Deutungen – in dem in W¨urzburg (1854) entstehenden „Handbuch der Speziellen Pathologie und Therapie (1854– 1876). Das Handbuch ist offenbar die Basis f¨ur seine systematische Vorlesung in W¨urzburg und zugleich Sammelpunkt und Projektion der Gedanken f¨ur die Gesamtmedizin. Zur Literarischen Vorarbeit geh¨oren auch die Gr¨undung und die zahlreichen Publikationen in der „Medizinischen Reform“ 1847/49. Hier ist ein Grossteil der standespolitischen Ziele festgelegt, die wissenschaftlichen Visionen einer Umw¨alzung werden nur am Rande erw¨ahnt: Virchow als „Revoluzzer“. Vor allem sind hier die Grundlagen seiner politischen Aktivit¨aten in einem (relativ beschr¨ankten) Wirkungskreis festgehalten. 1855 war ein Schicksalsjahr f¨ur die Einf¨uhrung des naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffes und f¨ur die wissenschaftliche Entwicklung Virchows. 1855 formulierte er in seinem Archiv (Band VIII) zum ersten Male das Prinzip „Omnis cellula a cellula“. Fr¨uher sind zwar schon a¨ hnliche Gedanken zur Zellenlehre, wie er sie bei Johannes M¨uller gelernt hatte, bei ihm laut geworden: z. B. in der zweiten der Reden von 1845 und in den „Einheitsbestrebungen“. Aber immer schwebte im Hintergrund die unerledigte Frage nach der Neuentstehung der Zelle, der Zellentstehung, die „Krystallisation“ aus dem Cytoblastem, die „Generatio aequivoca“. Dann kam die Erkenntnis, dass jede Zelle sich aus einer Mutterzelle entwickele, dass alle Folgen einer St¨orung des Zellverbundes zur Krankheit f¨uhren. Daraus entwickelte sich die Konsequenz, das alle Zellen aus einer Mutterzelle entstehen. Den gesamten Organismus mit den verschiedenen Organen und unterschiedlichen Funktionen auf eine einzige, die befruchtete Eizelle zur¨uckzuf¨uhren, war eine horrende Novit¨at. Man mache sich die Revolution im Denken klar, dass mit einem Male alle Zellen aus einer Zelle entstehen und alle mit den unterschiedlichen Formen und Funktionen eben aus dieser einen Zelle sich entwickeln sollen. Im Versagen des Verhaltens und der Funktion der Einzelzelle und deren Folgen ergab sich die Einsicht, dass die Zelle selbst an die Stelle des Cytoblastems treten m¨usse (W. Doerr, 1954). „Die Zellen in legitimer Sukzession von ihresgleichen besitzen Selbstst¨andigkeit in formativem Verbund.“
8.1 Literarische Vorarbeit
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Mit der fundamentalen Erkenntnis der Omnisformel war die Lehre von dem Cytoblastem u¨ berwunden. Virchow gebraucht die Formel Omnis cellula a cellula zuerst 1855 (in Archiv VIII). Der gedankliche weitere Fortschritt besteht in einem Buchstaben: Aus „a cellula“ wird „e cellula“ und damit wird die Linie geschlossen. 3 Die Omnis-Formel wird in ihrer revolution¨aren Wirkung deutlich, wenn man sieht, dass Omnis cellula e cellula zu der umfassenden Erweiterung gef¨uhrt hat, zu Omnes cellulae e una cellula. Alles entwickelt sich aus der Eizelle. Der R¨uckgriff aller Zellen auf die Eizelle und deren F¨ahigkeit, alle Organe und den geordneten funktionierenden Organismus durch zellul¨are Teilung zu bilden, macht eine geistige Umw¨alzung n¨otig und rechtfertigt, darin den zweiten Paradigmawechsel zu sehen. Die Entwicklung der omnipotenten Eizelle zu der differenzierten Zelle war vorgezeichnet. Ebenso ist der Weg zur Pathologie bei der Erzielung einzelner Funktionseinheiten (Organe) und auch durch deren Nichtfunktionieren – Missbildung und schließlich Krankheit – aufgezeigt. Freilich war das Problem u¨ bersichtlicher aber nicht einfacher geworden. Wenn jedes Gewebe, jedes Organ, der Organismus aus den eigenen Zellen sich entwickelt, dann wird denkbar, dass Krankheit ein Produkt eines gest¨orten Zellwachstums, einer Fehlentwicklung oder einer mangelnden oder andersartigen Funktion des Zellverbandes bedeutet. Die Omnis-Formel ist der große Schritt, den Virchow in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Krankheit getan hat – so konnte er auch die Krankheit in der ver¨anderten Zelle und deren Sukzession suchen. 3 Sp¨ater – 1877 – hat Virchow u¨ ber „diesen Satz“ folgendes erz¨ahlt („Die Freiheit der Wissenschaft
¨ im modernen Staat“ 1877 – Naturforscher und Arzte). „Ich habe z. B. einmal den Satz aufgestellt – im Gegensatz zu der damals herrschenden Lehre von der Entwicklung des Organischen Lebens aus unorganischer Masse – dass jede Zelle von einer Zelle herstamme, allerdings zun¨achst mit besonderer R¨ucksicht auf die Pathologie und vorzugsweise f¨ur den Menschen. Ich bemerke nebenbei, dass ich in beiden Beziehungen auch noch heutigen Tages den Satz f¨ur vollkommen richtig halte. Allein als ich diesen Satz ausgesprochen und den Ursprung der Zelle aus der Zelle formuliert hatte, haben die anderen nicht gefehlt, welche diesen Satz nicht blos im Organischen u¨ ber die Grenzen dessen, wof¨ur ich ihn aufgestellt hatte, hinaus ausgedehnt, sondern welche ihn u¨ ber die Grenzen des organischen Lebens hinaus als allgemeing¨ultig hingestellt haben. Ich habe die wundervollsten Zusendungen aus Amerika und Europa bekommen, in welchen die ganze Astronomie und Geologie auf Zellenlehre basiert war, weil man es f¨ur unm¨oglich hielt, dass etwas, was f¨ur das Leben der organischen Natur auf dieser Erde entscheidend sei, nicht auch auf die Gestirne angewendet werden sollte, die doch auch runde K¨orper seien, welche sich geballt haben und Zellen darstellen, die in dem grossen Himmelsraume umhergefahren und dort eine a¨ hnliche Rolle spielen, wie die Zellen in unserem Leibe. Ich kann nicht sagen, dass das etwa alles ausgemachte Narren und Thoren gewesen waren, die das gemacht haben; . . . “
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8 Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff
Wenn Krankheit durch eine Form- und Funktionsst¨orung des Zellverbandes bedingt ist, wird der Blick mehr und mehr auf o¨ rtliche Verh¨altnisse, und dann auf Organe und Organkrankheiten gelenkt und deren u¨ bergeordnete Regelmechanismen des Gesamtorganismus. So kam Virchow zu dem im Organismus selbst begr¨undeten Krankheitsbegriff, der durch die Autopsie, durch mikroskopische Einsichten und durch messbare physiologische Gr¨oßen gest¨utzt wird. Damit war das Problem f¨ur Entwicklung und Wachstum mit verschieden differenzierten Zellen aufgeworfen und die Br¨ucke geschlagen von der Zellenlehre zu der Zellulartheorie, schließlich zur Zellularpathologie. Die Zellularpathologie ist die logische Folge aus der Erkenntnis „Omnis cellula e cellula“. Rudolf Virchow definiert in der Zellularpathologie seine Auffassung der Krankheit als Sch¨adigung („mit dem Charakter der Gefahr“) im Zellverband. Damit war eine Krankheitsanschauung „von innen heraus“, aus dem gesch¨adigten oder versagenden Zellleben dargestellt. Krankheit ist gewebs- oder organeigen, k¨orpereigen. Damit ist der Weg frei geworden f¨ur die Erkenntnis der Krankheit aus einem gest¨orten Zusammenleben der Zellen, f¨ur die „Zellularpathologie“, die auch in diesem Jahr (1855) zum ersten Male expressis verbis in seinen Ausf¨uhrungen erscheint (sein Archiv Bd. VIII). Da Virchow nicht nur im Obduktionssaal naturwissenschaftlich denkend arbeitete, sondern am Mikroskop die Zellenlehre beforschte, fiel ihm, dem Pathologen, die Zellularpathologie (nicht vielleicht gerade in den Schoss) aber folgerichtig zu. Nach dieser Festlegung war es eine logische Konsequenz die Art des Zellenlebens auch auf Organkrankheiten anzuwenden. Der Schritt von der naturwissenschaftlichen Krankheitslehre zu der Zellularpathologie war ein vorgezeichneter Weg. Man muss sich die Situation klarmachen: Virchow sah jeden Tag an der menschlichen Leiche die Krankheit und musste sie deuten – und in seiner Studierstube sah er am Mikroskop das ver¨anderte Gewebe, und die eigenartigen, ungef¨arbten Zellen – er sah im makroskopischen und mikroskopischen Bereich die Pathologie. Und dann die Auseinandersetzung mit Carl Rokitansky und der Wiener Pathologie. Eine scheinbar neue Gegnerschaft zu der geplanten naturwissenschaftlichen Richtung sah Virchow in der Krasenlehre, die sich u¨ ber Jahrhunderte als „Humoralpathologie“ gehalten hatte und nun offenbar eine neue Bl¨ute trieb. Rokitansky hatte eine immense Erfahrung als Pathologischer Anatom. Aber er erlebte auch – wie jeder der Fachgenossen – dass er bei manchenVerstorbenen einen pathologisch anatomisch erkennbaren Todesmechanismus nicht erkennen konnte. Da „floh“ er in die Krasenlehre, also in die Ansicht, dass „falsches Blut“ oder mangelnde S¨afte in dem Organismus diesen zum Erliegen bringe. Es ist die Krasenlehre, die Virchow zu einer vehementen Rezension von Rokitanskys Handbuch der Allgemeinen Pathologischen Anatomie veranlasste. Will der pathologische Anatom sich nicht mit seinen toten Verh¨altnissen begn¨ugen, „so bleibt ihm nur eines u¨ brig, n¨amlich gleichzeitig pathologischer Physiolog zu werden, wozu Lebert den Anfang gemacht hat.“
8.1 Literarische Vorarbeit
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Karl von Rokitansky
Nach Besprechung vieler Einzelheiten, die dem Referenten absurd erscheinen und die sich vorwiegend auf die Anwendung der Dyskrasie beziehen, kommt er zum Generaleinwand. Bei dieser Besprechung handelt es sich um den 1. Band des Handbuches der Allgemeinen Pathologie von 1846, dessen zweiter Band der Speziellen Pathologie bereits Jahre vorher erschienen war. Die Spezielle Pathologie war von Virchow anerkannt und wurde auch sp¨ater noch als Fundgrube gepriesen. Aber dieser Erste Band, die Allgemein Pathologie, konnte den jungen Virchow – 25 Jahre, kaum Examen – nicht befriedigen, weil die alte Krasenlehre wieder aufschien. Das war der Grund, warum er das Buch total mit harschen Worten „verriss“, wie auch sp¨ater, sobald die Krasenlehre in irgendeiner Weise wieder auftauchte, er wie durch ein rotes Tuch gereizt war. „Ich glaube dem gegen¨uber hier namentlich eine Eigenschaft erw¨ahnen zu m¨ussen, welche seit Rokitanskys ersten Werken in der Wiener Schule zu einer recht remarquabeln H¨ohe gediehen ist, n¨amlich jener kategorischen, dogmatischen, imperatorischen Darstellungsweise, welche eine Angabe der Literatur fast ganz verschm¨aht, die Anf¨uhrung beweisender Tatsachen h¨aufig unterl¨asst, und endlich ihre Hypothesen auf eine so innige Weise mit den wirklichen faktischen Beobachtungen verschmilzt, dass eine Gefahr f¨ur den Leser nicht mehr zu entdecken ist. „Alles, was ich zu sagen habe, betrifft den Rokitansky, der u¨ ber die Grenze der pathologischen Anatomie hin¨ubergreift, ohne jenseits dieser Grenzen Untersuchungen anzustellen; dass das Gebiet der pathologischen Anatomie aus den sicheren Bereichen der Tatsachen in die Welt der Hypothesen hinausr¨uckt; der die Chemie, die Physiologie, die Klinik seinem Zepter zueignet – Rokitansky der Reformator der Medicin.“
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„Das ist nicht mehr der einfache pathologische Anatom, den wir in dem fr¨uheren Theile kennengelernt haben; es ist der anerkannte Meister, dem sein angestammtes Gebiet zu klein geworden ist.“ „Die Hauptwichtigkeit erlangt aber diese allgemeine Pathologie durch das in ihr niedergelegte System . . . das aber selten ein pathologisches System mit einer solchen Consequenz seine Irrt¨umer durchgef¨uhrt hat.“ „In allen F¨allen, wo es an Ver¨anderungen in den Solidis gebricht, nimmt die pathologische Anatomie Anomalien der S¨afte namentlich des Blutes in Anspruch . . . Dass man auf diese Weise leicht zu einer Humoralpathologie kommen k¨onne, ist sehr einleuchtend.“ „Fassen wir schließlich unser Urteil u¨ ber dieses Buch zusammen, so m¨ussen wir gestehen, dass wir selten ein f¨ur die Medizin gef¨ahrlicheres gesehen, dass wir selten eines mit traurigeren Empfindungen gelesen haben . . . Rokitansky hat . . . gezeigt, was er kann, wenn er will. Man lese die Beschreibung, welche er von den Leichen der Typh¨osen und der S¨aufer liefert; das sind k¨unstlerische Meisterst¨ucke der Darstellung.“ Der „Streit“ zwischen Virchow und Rokitansky bezieht sich letzen Endes „nur“ auf die Frage, was man naturwissenschaftlich sehen kann. Die Krasenlehre, wie sie Rokitansky betrieb, war nicht beobachtbar, war spekulativ. ¨ Virchow stellt in dieser Besprechung fest, dass er nur gegen die Uberschreitung der „Gr¨anze“ sich wende, die Grenzen zu der Hypothese weg von der Pathologischen Anatomie z. B. in das Gebiet der Chemie. Hier wird das Problem des „Faserstoffes“ angesprochen, da ist Virchow sachverst¨andig. Virchow lehnt die ¨ chemischen Ubergriffe in der Krankheitslehre bei Rokitansky ab. Er bezieht sich auf „den Anachronismus“ der Unterscheidung von Solidar- und Humoralpathologie. „Die Methode, die uns als Norm und Maßstab gilt, ist die einfach naturwissenschaftliche wie sie von Magendie begonnen und von Johannes M¨uller weiter begr¨undet ist.“ Im scheinbar sicherem Besitz der neuen, ihm so gefestigt erscheinenden, aber noch keineswegs abgerundeten oder vollendeten Lehre hat der „junge Mann“ – er war fast 20 Jahre j¨unger als Rokitansky – das Werk des alterfahrenen Wiener Pathologen Rokitansky in einer Weise rezensiert, die zum mindesten nicht vornehm war. Rokitansky hatte den gewaltigen Fundus des eigenen Beobachtungsgutes geordnet – nach den M¨oglichkeiten der Zeit – und etwas mehr. Und dann der Schlag aus Berlin! Rokitansky, das wird deutlich, erkannte die Entwicklung. Er „verkraftete“ nicht nur den Schlag, sondern sah, was da in der Wissenschaft auf die Medizin auch f¨ur ihn Brauchbares zukam. Rokitansky hatte f¨ur die Entwicklung der Medizin in Wien eine ganz besondere Bedeutung. Durch das Verst¨andnis der Krankheit, das ¨ Rokitansky aus dem Befund an der Leiche f¨ur die klinische Arzte ableitete, wurde er die Gr¨underfigur der sog. II. Wiener Schule (auch der „Jungen Wiener Schule“, wie Erna Lesky, 1981, sie nannte).
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Diese Schule ist nicht die unmittelbare Folge der ersten Wiener Schule, die durch G. v. Swieten u. A. repr¨asentiert wurde. Sie ist vielmehr die Folge der neuen Medizin, die die Krankheitsauffassung von der Naturphilosophie befreit, ihr entrissen hat – und naturwissenschaftlich wurde. 1855 war auch das Jahr des Erscheinens des u¨ berarbeiteten Lehrbuchs f¨ur allgemeine Pathologie von Carl Rokitansky, Wien. Es ist bekannt – und nicht oft genug zu betonen – in welcher Weise Rokitansky reagiert hat: Er hat sich zu der Besprechung aus Berlin nicht ge¨außert. Er hat in der folgenden Auflage alle Beziehungen zu der Krasenlehre ausgelassen und u¨ berarbeitet – auch f¨ur ihn war dieses Kapitel u¨ berwunden. Virchow besprach auch diese Auflage. W¨ahrend er die erste Auflage in Grund und Boden verdammt hatte, war er u¨ ber die zweite Auflage verwundert: Rokitansky hatte alle Ankl¨ange an die „Krasenlehre“ herausgenommen! Virchow war verbl¨ufft von dieser wissenschaftlichen Grosstat Rokitanskys. In der Besprechung der Neuauflage von 1855 lobt Virchow nicht nur das Werk und seinen Verfasser – er nennt ihn „den ersten wahren deskriptiven pathologischen Anatomen“. Virchow hebt, – und man merkt seine Bewunderung und sein Erstaunen, – die geistige Gr¨oße dieses Wissenschaftlers hervor, der sich nochmals ans Werk gemacht habe. Zugleich fasste er diese „Bekehrung“ des erfahrenen Pathologen aus Wien auch als Best¨atigung seiner naturwissenschaftlichen Krankheitsauffassung auf. Er hatte gleichsam die gesammelte Erfahrung des Wiener Pathologen „mit ins Boot“ genommen. Rokitansky, der eine ungleich gr¨oßere Erfahrung im Sektionssaal und ein riesenhaftes Untersuchungsgut hatte, hat sich zun¨achst zur¨uckgehalten. Erst als er durch die Besprechung seiner „Allgemeinen Pathologie“ durch Virchow gleichsam „zurechtgewiesen“ worden war, schloss er sich dem naturwissenschaftlichen Gedanken an und brachte die reiche eigene Erfahrung ein (V. Becker, 2005, II). Rokitansky war mit seiner ungeheuren Erfahrung und seiner Kenntnis ein Br¨uckenmensch – sozusagen zwischen den beiden Auflagen seines Lehrbuches – von der scholastischen, dann naturhistorischen zu der naturwissenschaftlichen Medizin, der er sich in der zweiten Auflage seines Lehrbuches anschloss. (V. Becker, 2005, II). Auch a¨ ußerlich hat Rokitansky die Wiener Medizin zur Anerkennung gebracht. So hat er die Pathologie als Pflichtfach und als Pr¨ufungsfach f¨ur Medizinstudenten 1856 durchgesetzt – (in Preußen erst 1862).
8.2 Die Zellularpathologie Die Zellenlehre von Th. Schwann, J. Henle, Th. K¨olliker fand ihre Erf¨ullung in der Omnis-Formel und dann in der Zellularpathologie. Der Weg war vorgezeigt zur pathologisch-anatomischen und pathophysiologischen Krankheitsauffassung. Es ist einleuchtend, dass Virchow im gedanklichen Besitz der Formel „Omnis“ (die u¨ brigens zun¨achst in dem Buche „Die Cellularpathologie“ nicht erscheint)
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die Ausdehnung der Zellenlehre auf die Pathologie in verschiedenen Gebieten gesammelt hatte, dass er dies alles darlegen wollte. Die „Cellularpathologie“, dies uns so grundlegend erscheinende Buch, war ¨ von Virchow „in einem Guss“ aus o¨ ffentlichen Vorlesungen vor Berliner Arzten hervorgegangen – also nicht aus Studentenvorlesungen. Es kam darauf an, herauszustellen, dass Zellen und der Zellverband f¨ur Physiologie und Pathologie, f¨ur normalen Aufbau und Funktion ebenso wie f¨ur die – dann auch anatomisch erkennbare – Krankheit verantwortlich sind. „Seitdem wir erkannt haben, dass Krankheiten nichts f¨ur sich Bestehendes, in sich Abgeschlossenes, keine autonomischen Organismen, keine in den K¨orper eingedrungene Wesen, noch auf ihm wurzelnde Parasiten sind, sondern dass sie nur den Ablauf der Lebenserscheinungen unter ver¨anderten Bedingungen darstellen, – seit dieser Zeit muss nat¨urlich Heilen den Begriff haben, die normalen Bedingungen des Lebens zu erhalten oder wiederherzustellen“ (Arch. I, 1847). Virchow machte die ¨ Zellularpathologie in den Kreisen der Berliner Arzte publik. Er selbst hat diese ¨ Vortr¨age vor der Arzteschaft in ihrer weltweiten Bedeutung scheinbar nicht so erfasst und beurteilt. Er hatte keine Zeit – er nahm sie sich nicht – alles selbst zusammenzuschreiben. So stellte er einen Studenten – cand. med. Langenhaun – an, der seine Vorlesungen mitstenographierte. Virchow sah bei der ersten Auflage seines Werkes dessen epochale Wirkung nicht voraus: Aber es musste in jeden Jahr eine neue, eine neu zu bearbeitende ¨ Auflage, bald auch Ubersetzungen herausgebracht werden. Die Kenntnis der Zelle als Funktionstr¨ager ist entscheidend geworden f¨ur das Verst¨andnis der Physiologie von Zelle und Zellverband, schließlich von der Organfunktion. Das Konzept „Omnis cellula e cellula“ gab eine Vorstellung von der Vielfalt der M¨oglichkeiten in gesunden und pathologischen Verh¨altnissen und u¨ berzeugte zugleich durch die Logik des gleichartigen Vorganges. Wie die Zellenlehre den Zusammenhang der Organisation im Organismus erkl¨art, so wurde die Zellularpathologie deren Folge bei der Erkl¨arung der Krankheit. Die Zellularpathologie, das sagte Rudolf Virchow stets, ist kein (neues) System in der Konkurrenz der fr¨uheren Krankheitssysteme. Es wird angezweifelt, ob Virchow die Zellularpathologie „erfunden“ hat – und damit die neue Medizin begr¨undete. Sicher waren viele beteiligt, weil ja so etwas „in der Luft liegt“ (Archiv Bd.1, 1847). Neben der Schule von Johannes M¨uller, zu der auch der st¨andige Gegner Jakob Henle geh¨orte, spielten die Diskussionen mit Rudolf Albert K¨olliker (1876–1905) in W¨urzburg eine Rolle, mit dem Virchow t¨aglich sprechen konnte. Bei alledem war das punctum saliens die Frage, woher die Zelle k¨ame, wie sie sich entwickele. Der entscheidende epochale Gedanke von Virchow bestand darin, dass er die vielen ungekl¨arten Sachverhalte in ein System brachte, eben das, was er mit der „Omnis-Formel“ ausdr¨uckte. Er mag nicht der erste gewesen sein, der diesen
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Satz gebraucht hat (M. Heidenhain, 1907). „Aber er hat es in wunderbarer Weise verstanden, die wissenschaftliche Stimmung seiner Zeit zu erfassen und sich zum Sprecher derselben zu machen“ (Dhom, 1992).4 Es ist nicht genug zu betonen, dass nicht die nach außen so imponierende „Zellularpathologie“ das revolutionierende Element gewesen ist, vielmehr sind Gedanke und Beobachtung „e cellula“ das Neue, das den naturwissenschaftlichen Einbruch in die Medizin beweist. Deswegen konnte Virchow in seinem ersten Akademie-Vortrag (1873) sagen: „Es ist nicht mehr die Krankheit, welche wir suchen, sondern das ver¨anderte Gewebe, es ist nicht mehr ein fremdartiges in den Menschen eingedrungenes Wesen, sondern unser eigenes Wesen, das wir erforschen.“ Die pathologische Anatomie diente dazu als Entwicklungsfeld, so wie das Mikroskop ein entscheidendes Hilfsmittel wurde. Mit einem Male war eine Basis f¨ur vielseitige Einzeluntersuchungen denkbar von der Eizelle bis zur Tumorbildung, u¨ ber die unterschiedliche Organentwicklung und der untergeordneten Wichtigkeit des Zwischengewebes, u¨ ber die Zellsch¨adigung als das zentrale Ereignis der Krankheit. Die Zellularpathologie ist das Beispiel f¨ur die Anwendung der Zellenlehre, Beispiel f¨ur das beobachtbare Abbild des Geschehens im Zellverband und der damit verbundenen St¨orung der Zellfunktion. Zellenlehre und Zellularpathologie sind Instrumente, die es erm¨oglichen, den naturwissenschaftlichen Gedanken und die sich daraus ergebenden Maßnahmen in den Alltag der Heilkunde einzuf¨uhren. F¨ur Virchow war die „Cellularpathologie“ eine folgerichtige Ansicht aus der Zellenlehre. Trotzdem war er gen¨otigt, sie mit Standfestigkeit und der ihm eigenen scharfen Polemik bis zum Zynismus darzustellen und zu verteidigen. Virchow setzte die neue Krankheitsauffassung an die Stelle derjenigen aus der Zeit der Scholastik, des Paracelsus, der Iatrochemiker, der Naturphilosophie, der naturhistorischen Schule. Aus der geschulten Beobachtung, aus der Assoziation entwickelte er seine Ansicht, er war ein Mensch seiner Zeit und dachte wie ein Mensch dieser Zeit. Dazu geh¨ort auch, dass er in Vielem dem Alten verhaftet war (mit dem er sich auseinandersetzen musste). Der Paradigmawechsel der Medizin war der Eintritt – ja sogar Einbruch – der Naturwissenschaft. (Fast) alle bisherigen an Aberglaube orientierten, an fremdbestimmter Krankheitsontologie, an naturphilosophischer Gedankenspekulation, auch die Krasenlehre, konnten als u¨ berwunden gelten. Es war der naturwissenschaftliche Gedanke in der Medizin, ohne den eine eigene gemeinsame Krankheitsauffassung, eine Diagnose, unerkl¨arbar wird. Es fehlte bisher die durchgehende reale Theorie von der normalen beobachtbaren K¨orperlichkeit, der Gesundheit, der Physiologie bis zur Krankheit. Es fehlte ei4 Harvey (1578–1657) sprach von Omne vivum ab ova und: ex ovo omnia.
Pasteur: Omnis vivum e ovo. L. Bard (1857–1930) Omnis cellula e cellula ejusdem (generis) naturae (1882). Fleming: Omnis nucleus e nucleo. In W. Hueck, Leipziger Antrittsvorlesung. M¨unch. med. Wochenschrift 69 (1922).
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ne Theorie, die das immer wieder neu zu Beobachtende festhielt – nicht eine Theorie an sich – wie die der Romantischen Naturphilosophie – nach der sich die Verh¨altnisse zu richten hatten. Durch die Zellenlehre ergab sich eine Verbindung von Physiologie und Pathologie von selbst. Durch den naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff hat die Krankheitslehre eine Theorie und ein Modell erhalten. Es war eine gradlinige naturwissenschaftliche Vorstellung gefunden. Mit der Implikation der Zellenlehre und der Zellularpathologie ergaben sich ausser der praktischen Wirkung auf das Krankheitsverst¨andnis erhebliche Ver¨anderungen in der Krankheitstheorie. Zun¨achst verschwanden die Gedanken der Romantischen Naturphilosophie, die Naturhistorische Schule wurde weiterentwickelt: vervollst¨andigt, auch, dass Virchow in Vielem dem Alten verhaftet war (mit dem er sich auseinandersetzen musste). Die Ontologie, also die Personifikation der Krankheit war u¨ berwunden. Sie war von Paracelsus und van Helmont, wenn auch in eigenen Ver¨anderungen in Form des Archaeus – um nur ein Schlagwort zu nennen – propagiert worden. Die Ontologie der Krankheit – (die nichts mit der philosophischen Richtung der Ontologie zu tun hat) – besagte vor allem, dass das Eigenwesen Krankheit von außen in den K¨orper eindringt. So verschwanden mit dem Eigenwesen der Krankheit die vielen abh¨angigen, dann nicht mehr verst¨andlich erscheinenden therapeutischen Versuche, wie die Unmengen von Aderl¨assen, Brechmittel und Purgatorien („Austreibung“). Die „Ontologie“ kam in Andeutung scheinbar in Virchows sp¨aten Jahren wieder auf, als die Bakterien als von außen eindringende Krankheitserreger entdeckt und ganz in den Mittelpunkt der urs¨achlichen Krankheitsforschung kamen. Vielleicht h¨angt mit dieser Vorgeschichte die anf¨angliche Zur¨uckhaltung Virchows zusammen, der viele M¨uhe darauf verwandte, auszuf¨uhren, dass Krankheit und Krankheitsursache zu unterscheiden seien. Die Zellularpathologie hat nicht nur die Ontologie der Krankheit, auch die althergebrachte Krasenlehre und die Humoralpathologie u¨ berwunden. Dass diese in dem 20. Jahrhundert durch die Hintert¨ure der Endokrinologie und Immunologie wieder gekommen sei, steht auf einem anderen Blatt – auch weil sie grundlegend anders geartet als es die alte Humoralpathologie gewesen ist. Man kann die Endokrinologie nicht als Fortsetzung der Humoralpathologie auffassen, wohl aber verstehen als Zweig der pathophysiologischen Medizin, die die endokrinen Organe in ihrer sekretorischen Funktion erkannt und die Allgemeinwirkung erkl¨art hat. Es ist sachlich begr¨undet, dass zu diesen Zeiten der o¨ rtliche – zellul¨are – Krankheitskomplex im Mittelpunkt stand. Es konnte noch keine gesamte K¨orperpathologie, keine Konstitutionspathologie geben. Die Spezielle Pathologie musste erst – z. B. durch Obduktionen – die Variationsbreite der Norm herausarbeiten, ehe man daraus Schl¨usse ziehen konnte.
8.2 Die Zellularpathologie
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In der n¨achsten Generation – nach Virchow – gewann man einen Blick f¨ur die anatomische Konstitution und auch f¨ur die geistige Konstitution (Kretschmer). Hier sind als aktive Forscher L. Aschoff, R. R¨ossle, C. Froboese, W. Selberg zu nennen – um nur einige deutsche Forscher aus der „n¨achsten und u¨ bern¨achsten“ Generation zu nennen. Aschoff sah die Chance f¨ur die k¨orperliche Konstitutionsforschung in der leider viel zu großen Zahl von Obduktionen junger, gesunder M¨anner im Gefolge der Kriegshandlungen (im ersten Weltkrieg). R¨ossle sah in der fehlenden Beziehung der pathologischen Anatomie zu der Konstitutionsforschung den entscheidenden Mangel der Virchowschen Doktrin. C. Froboese stellt in der „Individualpathologie“ die Besonderheiten des Einzelmenschen heraus, Selberg suchte in einem großen Sektionsgut den Konstitutionsgedanken durch Messungen. Robert R¨ossle (1921) meint, dass die Zellularpathologie, der Zellenstaat, keinen Konstitutionsgedanken entwickeln k¨onne. (Das ist wohl auch das Motiv von Ernst Haeckel, jeder Zelle eine Seele zuzusprechen, damit jede Zelle individuell konstitutionell als Einzelwesen reagiere). Virchows Zellularpathologie war das „Flaggschiff“ des Einstiegs in die naturwissenschaftliche Krankheitsauffassung, in die naturwissenschaftliche Medizin schlechthin. Die Kompetenz und das Prestige, das Ansehen, das Rudolf Virchow mit der Zellularpathologie erreicht hat, haben der naturwissenschaftlichen Medizin zum Durchbruch verholfen, die sich schon mit der Naturhistorischen Schule angedeutet hatte. Die Zellularpathologie hat zur Erkenntnis der medizinischen Naturwissenschaft gef¨uhrt, sodass heute noch – nach mannigfacher Ausformung! – darauf Bezug genommen werden muss. Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff ist der, auf dem wir heute noch stehen und bauen (V. Becker 2005 I). So ist die „Omnis-Formel“ die gedankliche Basis f¨ur die Molekularbiologie, so wie die Zellularpathologie die der Molekularpathologie ist. Dass heute eine genetisch bestimmbare und molekulare Krankheitsvorstellung entwickelt werden kann, ist der vorausgehenden Zelltheorie zu verdanken. Der Fortschritt hat sich in der Entwicklung der Medizin in der Krankenerkennung und Behandlung ergeben. Wie k¨onnte eine genetisch bestimmte und molekulare Krankheitsvorstellung entwickelt werden, wenn nicht die rein morphologische Sicht des Zellbegriffs im 19. Jahrhundert gewesen w¨are. Gleichzeitig war eine „Popularisierung“ der Naturwissenschaft (die C. Gossler perhorresziert) n¨otig, in der Medizin eine selbstverst¨andliche Notwendigkeit, weil alle Menschen doch zur Vorsorge und eigenem Zutun gewonnen werden mussten. Heute wird die Popularisierung durch einf¨altige Bedenklichkeit und vor allem Werbung u¨ berschattet und damit verdeckt. Immerhin wurde die Medizin erst durch den naturwissenschaftlichen Gedanken „naturhaft“. Sie wurde erstmals eine durchscheinende Wissenschaft, sie ist durch die Naturwissenschaft nicht nur gef¨ordert, sie wurde neu geboren.
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8 Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff
Wir haben heute die tiefere Einsichtsm¨oglichkeit durch die vielhundertfache Vergr¨oßerung und durch ausgefeilte molekularbiologische Methoden und k¨onnen damit das Verst¨andnis vieler nicht nur zellul¨arer, sondern auch qualitativ subzellul¨arer, innerzelliger, molekularer Krankheitsprozesse gewinnen. Die Molekularbiologie ist eine intensivierte Zellularpathologie auf subzellul¨arer Ebene. Sie hat uns gezeigt, dass die subzellul¨aren (submikroskopischen) Partikel eine eigene Dynamik entwickelt haben, die es zu finden gilt. Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff umfasst nicht nur anatomische, stoffwechselchemischeVorg¨ange, sondern heute auch anatomischeVer¨anderungen durch molekulare Mechanismen, die zu erkennen man sich bem¨uht, mit den Folgen der zellul¨aren und geweblichen Ver¨anderungen in Physiologie, pathologischer Physiologie und pathologischer Anatomie. Es ist selbstverst¨andlich, dass der Grundgedanke der Zellpathologie in vielfacher Weise weiterentwickelt wurde: Einerseits in Richtung der Bereicherung des Zusammenspiels der Zellbezirke und ihrer (genetischen, nervalen, metabolen, humoralen, endokrinen, parakrinen, vaskul¨aren usw.) Regulation im Sinne der Pathophysiologie und andererseits in dem reichen, noch l¨angst nicht erschlossenen Gebiete der Molekularbiologie. Damit war eine verwirrende F¨ulle von methodischen Neuerungen verbunden. Das ist das Kennzeichen der Fortentwicklung. „Das Zellenleben oder, was dasselbe sagt, das Leben u¨ berhaupt, hat als erste Voraussetzung die Existenz relativer universaler Membranen und Kerne, denn ohne diese gibt es keine wahren Zellen“ (Archiv 14, 1–63, 1858 „Cellularpathologie“). Mit der Zellenlehre waren nicht alle Probleme wissenschaftlich angehbar oder gar zu l¨osen. Dazu geh¨orten die Krankheitsgruppe, die wir als Stoffwechselkrankheiten bezeichnen: Diabetes mellitus, pernizi¨ose An¨amie, Gicht u. a¨ . Diese waren anatomisch nicht zu fassen. Bernhard Naunyn, der Kliniker, hat es in einem Bonmot gefasst: „Es gibt nichts Langweiligeres als die Sektion eines Diabetikers, es sei denn, die Sektion von zwei Diabetikern.“ Die Pathologischen Anatomen – Rokitansky und Virchow – sahen das Problem. Sie zogen die Konsequenz. Beide – unabh¨angig voneinander – gr¨undeten in ihren jeweils neuen Instituten eine Chemische Abteilung. Rokitansky hat dies schon fr¨uhzeitig gefordert, aber erst 1862 bei seinem Institutsneubau in Wien durchsetzen k¨onnen. Virchow f¨uhrte 1856 eine Chemische Abteilung in seinem neuen Berliner Institut ein. Aus ihr gingen bedeutende Wissenschaftler hervor. Dort wurde begr¨undet das Fach „Physiologische Chemie“ sicher mit dem R¨uckenwind der mittlerweile zur Institution gewordenen Kompetenz Virchows. Vor allem ist Ernst Felix Hoppe-Seyler (1825–1895) zu nennen, der das Fach Physiologische Chemie organisatorisch und literarisch repr¨asentiert hat. Er war 1856 unter Virchow t¨atig, wurde a. O. Professor f¨ur „Angewandte Chemie“ in T¨ubingen und ord. Professor f¨ur Physiologische Chemie in Strassburg. Ferner ist aus diesem Hause Willy K¨uhne
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(1837–1900) hervorgegangen. Er vertrat das Fach der Physiologischen Chemie in Amsterdam und Heidelberg. Dies ist die Folge der Zuwendung der Medizin zu der Naturwissenschaft in der pathophysiologischen Form. Was brachte das neue Paradigma der naturwissenschaftlichen Krankheitsvorstellung? Der Unterschied gegen¨uber den fr¨uheren, oft wirren, immer unbestimmten Krankheitsvorstellungen besteht darin, dass man lernte, den Krankheitsvorgang – die Pathophysiologie – mit naturwissenschaftlicher Methodik somatisch zu beobachten, zu bestimmen, kennen zu lernen und zu verstehen. Es wurde die Krankheit im eigenen K¨orper gesucht, die dort entsteht und abl¨auft – und nicht von a¨ ußeren M¨achten bestimmt wird. Der eigene K¨orper bestimmt Ausmaß und Abwehr der Krankheit. Mit den naturwissenschaftlichen Methoden kann man sehen, verstehen und pathophysiologisch erkl¨aren. Man war nicht angewiesen auf a¨ ußere Einfl¨usse. Der Organismus konnte selbst die Erkl¨arung der Funktionsst¨orung bieten: Es gelang mit der neuen pathophysiologischen Auffassung die Unterschiedlichkeit der Genese des Krankheitsvorganges zu erkennen und zu analysieren. Mit dieser Krankheitsauffassung war der Status einer Krankheitstheorie gegeben. Daraus erwuchs die Aussicht einer gezielten Krankheitsbehandlung. Der Weg von der Zellularpathologie in eine angewandte Heilkunde war noch ein weiter und enthielt viele H¨urden. Durch die pathologische Anatomie, die Pathophysiologie, die Pathogenese und durch die Bakterien als Krankheitsursache wurde die Krankheitsvorstellung erweitert – bis dann zus¨atzlich die psychosomatische Krankheitsbeeinflussung hinzu kam. Der Krankheitsbegriff wurde komplettiert (entsprechend von „res extensa“ und „res cogitans“ des Descartes) auch durch die soziale Umgebung des Kranken. Es wurde gefolgert, dass außer einer Wachstumsbehinderung, außer einem Fehlverhalten der Zellen untereinander ein wesentlicher Gesichtspunkt in der „falschen Lenkung“ einer Zelle oder eines Zellverbandes als Krankheitsursache wirksam werden kann. Dass die „falsche Lenkung“ von Vielfachem beeinflusst ist – vaskul¨ar, humoral (im weitesten Sinne), endokrin, nerval, immunologisch, pathogene Bakterien u.v.a.m. – ergibt eine Bereicherung der Kenntnis der Krankheitsentwicklung: Alles dies ist ein – komplexer, komplizierter – naturwissenschaftlicher Mechanismus, die Best¨atigung der Notwendigkeit einer fein abgestuften Zellularpathologie. Die naturwissenschaftliche Einzelanalyse wurde immer verwickelter, im wahrsten Sinne des Wortes. Viele Einzelstr¨ange sind untereinander verkn¨upft. Rudolf Virchow erkannte in dem pathologisch-anatomischen Befund der Krankheit – in der Krankheit des Einzelnen – die Reaktion des menschlichen Organismus, dieses gr¨oßten Mehrfaktorenproblems, und auch dass der Tod als Summationseffekt vieler einzelner pathophysiologischer (und auch psychologischer) Einzelsummanden aufzufassen ist.
9 Krankheitsursache
Bei allen Kranken stand und steht die Frage nach der Ursache der Krankheit im Vordergrund. Die alte Vorstellung des Fluches der Gottheit, der d¨amonischen Krankheit, der Strafe, der S¨unde und S¨uhne, des kosmischen und klimatischen Einflusses, des Schicksalseingriffes – alles dies sind Kennzeichen der Sehnsucht, der Forderung, des Bed¨urfnisses nach Kenntnis der Ursache. Zu Virchows Zeiten hatte man M¨uhe – und sp¨ater ist die M¨uhe nicht geringer geworden – Krankheit (in der akademischen Krankheitslehre) von der Krankheitsursache zu trennen. Der Krankheitsursache nachzuforschen, heißt noch nicht, die Krankheit zu verstehen, denn die Krankheit ist, wenn man es primitiv sagen will: was die Zelle mit der Ursache macht. Das war bei Virchow schon so gewesen – und ist auf der molekularen Ebene aktuell wie eh und je. Das Bed¨urfnis nach der Auffindung der Krankheitsursache in jedem Einzelfall ist entscheidend f¨ur den Krankheitsumgang. Die Krankheit des Einzelnen greift entscheidend in dessen Alltag wie auch in seine Lebensstruktur ein. Es kn¨upfen sich an diese Einschnitte Vorstellungen, die den ganzen Tag, mehr noch die Nacht beherrschen k¨onnen: Es wird dem Ereignis nachgegangen, das Schuld an dieser Krankheit haben k¨onnte. Eine Schuldzuweisung – auch wenn es einen selbst betrifft - befriedigt offenbar. Bei der Suche nach der „Schuld“ entsteht ein eigenartiger Krankheitsglaube, der mit der Krankheit selbst und ihrem An- bzw. Ablauf gar nichts mehr zu tun haben braucht. Der pers¨onliche Krankheitsglaube bestimmt zwar kaum den Wissensstand des Einzelnen, entscheidet kaum die Diagnose aber bestimmt ganz wesentlich den Umgang mit der Krankheit. Er ist wesentlich beeinflusst von der pers¨onlichen Einstellung und auch u. U. von der Zeitstr¨omung. Sie ist das Kennzeichen der Individualpathologie und der Individualpsychologie. Bei der Suche nach der Krankheitsursache, bei der pers¨onlichen Krankheitsauffassung f¨allt auf, wie wenig der Einzelne vertrauen zu seiner eigenen Krankheitsabwehr hat. Es fehlt die Kenntnis der Selbstreinigung unserer Organe – von der Haut angefangen, aber auch die des Bronchialsystems u.v.a.m. – Der Reklameslogan „f¨ordert die Abwehr“ wird unerkl¨art hingenommen. Bei den Infektionskrankheiten ist es verst¨andlich, dass man die Infektionsquelle herauszufinden sucht (und den beschuldigt, der einen angesteckt haben konnte). Komplizierter bei angeborenem Herzfehler, bei dem man nur auf die Frage der
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9 Krankheitsursache
J¨unger an Christus zur¨uckgreifen kann: Haben die Eltern oder das Kind ges¨undigt? Ungel¨ost bleibt die Frage bei den Tumorkrankheiten, bei denen gerade wegen der Ungewissheit die Schuldfrage nicht gekl¨art werden kann und die Ursachenvorstellung trotz der Kenntnis vieler Einzelheiten ganz nebul¨os bleibt. Wenn Wesen und Instrument der Krankheit die molekulare Struktur der Zelle in ihrer eigenen Beschaffenheit und im Verband ist, dann muss an dieser Zelle, an ihrem Bestand, an ihrer Funktion oder an ihrem Zusammenleben die Ursache der Krankheit liegen. Was brachte den „Zellenstaat“ durcheinander? Was f¨uhrte zu dem umschriebenen Zelltod? Was hindert den physiologischen Zelltod (z. B. beim Tumor)? Eine gewaltige, epochale Entwicklungsstufe in der zweiten H¨alfte des 19. Jahrhunderts bildet in der naturwissenschaftlichen Krankheitsbetrachtung die Erkenntnis der pathogenen Bakterien als Krankheitserreger. Es ist von geschichtlich logischer Folgerichtigkeit, dass erst die zellul¨are Krankheitsmechanik und zwei Jahrzehnte sp¨ater eine wesentliche Krankheitsursache, die pathogenen Bakterien, entdeckt und Eingang in die Krankheitslehre gefunden haben. Sicher sind Bakterien schon fr¨uher gesehen worden, aber die Zellbeziehung im Organismus war von entscheidender Bedeutung f¨ur die Krankheitsauffassung: ein Angriff der Bakterien auf den Zellverband. Pasteur und Koch sind die Protagonisten. Louis Pasteur (1822–1895) erkannte als Chemiker die Bedeutung der Bakterien bei der G¨arung und der F¨aulnis. Er entwickelte sp¨ater Impfstoffe, z. B. gegen die Tollwut. Seine f¨ur die praktische Medizin ganz besondere Bedeutung erlangte er dadurch, dass er den Chirurgen Lord Joseph Lister (1827–1912) zu seiner Methode gegen die Sepsis („Antisepsis“) anregte. Dann Robert Koch (1843–1910). Zun¨achst war n¨otig, geeignete Kulturmedien f¨ur die Z¨uchtung der Bakterien kennen zu lernen. Das war die große Tat von Robert Koch: Z¨uchtbare Bakterien als Erreger der Krankheiten, der Seuchen! Koch entdeckte u.a. den Milzbrandbazillus (1873), die Cholera-Vibrionen (1883) und vor allem den Tuberkelbazillus (1882). Bei der weiten Verbreitung der „Lungenkrankheit“ kann dieses Ergebnis nicht hoch genug eingesch¨atzt werden. Unabh¨angig von der wissenschaftlichen Bedeutung war die Entdeckung pathogener Bakterien f¨ur die Menge des Volkes – also der Patienten – wie eine Offenbarung. Die alte Vorstellung der Entstehung v¨olkermordender Seuchen als Fluch Gottes erkl¨arte sich nun aus der Wirkung von Bakterien. Die Miasma- und Contagiumlehre hatte einen realen Hintergrund bekommen. Die Entdeckung wurde bald popul¨ar und auch in der Laienpresse verbreitet. Die Krankheitsauffassung der Menschen wandelte sich drastisch. Die Lehre von den Bakterien f¨uhrte zur Erziehung einer allgemeinen Hygiene – bis zur Bakterienfurcht. Mit einem Male spielte Wasser und Seife eine große Rolle!
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Die Krankheitsansicht war eine andere geworden. Die Hygiene mit ihren allgemeinen Vorschriften trat mehr und mehr in den Vordergrund sowohl in der allgemeinen Krankheitsauffassung als auch bei den staatlichen Massnahmen der – erst entstehenden – Gesundheitsbeh¨orden. Die neue Ansicht weitete sich aus auf die allgemeine Verhaltensform des Einzelnen. Die k¨orperliche Ert¨uchtigung bis hin zur Sportkultur zeigt die enge Vermehrung von Krankheitsauffassung und eigenem Bem¨uhen, eine „Diaitea“ der Alten, wenn auch in ganz anderer Form. Mit einem Male war das Gesundheitsgef¨uhl in den Mittelpunkt der Denkweise vieler Menschen gestellt und nicht die Krankheit. Unabh¨angig von der Volkserziehung entwickelte sich das Fach Hygiene mit staatlichen Gesundheits¨amtern, mit Verordnungen und Vorschriften zur o¨ ffentlichen Gesundheitserziehung. Dass die Lebenserwartung mit den Jahren gewaltig anstieg, ist zu einem Teil der Kenntnis der Ansteckungsgefahr durch Bakterien und die dadurch ausgel¨osten allgemeinen hygienischen Maßnahmen zu verdanken. Man hatte die Bakterien als Krankheitsursache erkannt und es ging z¨ugig weiter mit der Entdeckung neuer Krankheitserreger der meisten Infektionskrankheiten. Im Labor von Rudolf Virchow entdeckte Otto Obermeier (1843–1873) 1873 den Erreger des Flecktyphus Spirillum febris recurrentis. Aber man wusste noch nicht, wie die pathogenen Bakterien im menschlichen und tierischen Organismus die Krankheit erzeugen. Die Bakterienkultur auf der Agarplatte ist noch keine Krankheit. Da musste wieder das Grundschema der Zellularpathologie und das Experiment her: es war n¨otig zu zeigen, wie das pathogene Bakterium sich zu der Zelle verh¨alt und was daraus wird. Die Verbindung des Bakteriums mit der Zelle, die Vermehrung in der Zelle konnte die Bakterien als Krankheitsursache erkl¨aren, weil sie den Zellverband in seinem Bestand und seinen geweblichen Aufgaben, in seinem Chemismus und in dem Zusammenleben st¨oren. Die Mikroorganismen werden als Ursache der Pathologie der Zelle erkannt. Die St¨orung bis Zerst¨orung der Zelle oder die Reizung zu einer ver¨anderten Funktion – z. B. Abwehrmechanismen aus der Zelle – erst dies war die Krankheit. Gelegentlich ist das Blut der N¨ahrboden: Die Bakteri¨amie wird zur Sepsis. Das Verst¨andnis der Bakteriologie, die bald f¨uhrend in der Lehre von den Krankheitsursachen wurde, kann ohne Zellenlehre und Zellularpathologie nicht erfasst werden. Die Pathogenit¨at von Bakterien kann als nat¨urlicher Gegner der Einzelzelle und des Zellenverbandes verstanden werden (wie auch Virchow in seinem Artikel „Der Kampf der Zellen und Bakterien“ – Arch. 101, 1–13 (1885), deutlich macht). Aber dennoch: „Die Zellen sind immer die Hauptsache“ (1885). Emil von Behring (1854–1917) hatte (1894) eine ganz andere Vorstellung. Er lehnte die Zellularpathologie strikt ab und bezeichnete sie als ein Irrweg der Erkenntnis. Er bek¨ampfte die Bakterien mit Antiseren, Antik¨orpern und Antitoxin. Jeder Hinweis, dass diese auch von Zellen produziert w¨urden, dass er mit seinen Methoden die Zellen zu einer derartigen „Antileistung“ provoziere, lehnte er
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ab. Unabh¨angig von diesem Widerspruch: Behring gilt als Vater der Serum- und Antiserumtherapie. Durch die Immunit¨atslehre „trat eine neue Situation geistesgeschichtlicher Art in der Medizin“ (Zeiss und Bieling, 1940). Die Bakteriologie hat sich als die vordringliche, wichtigste Methode der Feststellung der Krankheitsursache (f¨ur viele Krankheiten) entwickelt. Die Erkenntnisse der Bakteriologie zum Ende des 19. Jahrhunderts fußten auf methodischen Fortschritten der Bakterienz¨uchtung und des Mikroskops. Durch die Kenntnis der Bakterien als Krankheitsursache war ein neues Zeitalter eingeleitet. Dar¨uberhinaus kam unabh¨angig von der Medizin eine neue Weltsicht auf, weil die Bakterien ja u¨ berall waren. F¨ur die Krankheitsforschung begann ein neuer, hervorragender Wissenschaftsschub, der folgenreich f¨ur die Medizin, vor allem f¨ur die Therapie wurde. Sie wurde die praktische Grundlage jeder urs¨achlichen Therapie. Virchow war zun¨achst zur¨uckhaltend, weil er fr¨uher schon durch die Zellularpathologie die sog. Ontogenese der Krankheit – also das Eindringen der Krankheit als selbst¨andiges Wesen von außen – bek¨ampft hatte. Nun schien diese Art der Krankheitsauffassung in ganz anderer Form weder aufzukommen. Trotz aller Zur¨uckhaltung hat er die Bedeutung der Bakterien als Krankheitserreger gesehen. In seiner Rede u¨ ber die Kriegsheilkunde (1874) – also vor der Entdeckung des Tuberkelbazillus und nach derjenigen des Milzbrandbazillus – anl¨asslich des Stiftungstages der P´epini`ere hat er die Bedeutung der Bakterien f¨ur die Infektionskrankheiten und f¨ur die Wundinfektion hervorgehoben – mit allen ihm immer eigenen Vorbehalten. Wie er sich mit der Bakteriologie in der Verbindung zu seiner Krankheitsauffassung immer noch hart tat, ergibt sich charakteristischerweise auch aus den medizinischen politischen Reden im Preußischen Abgeordnetenhaus noch 1897, als er u¨ ber Epidemien sprach. Virchow und Koch kannten sich seit langem. Sie hatten 1875 einen gemeinsamen „Ausgrabungsnachmittag“ an einem pommerschen Burgwall verbracht. Man sagt, Virchow habe Koch, als er in Berlin einen Antrittsbesuch machte, „k¨uhl empfangen“. Vasold (1988) macht mit Recht darauf aufmerksam, dass Virchow seine Besucher stets k¨uhl empfing. Beide, Virchow und Koch, waren selbstbewusste Pioniere auf ihren Gebieten. Die Anh¨anger der jeweiligen Gr¨oßen veranlassten einseitige Parteiungen. Wie so oft wurden die „Kriege“ von den Sch¨ulern heftiger und hemmungsloser ausgetragen als von den Meistern selbst. Die Situation ist kennzeichnend geschildert in den Lebenserinnerungen von Otto Lubarsch („Ein bewegtes Gelehrtenleben“, 1931, S. 60): „In der nach den gewaltigen Erfolgen Robert Kochs und seiner Schule sich immer mehr zuspitzenden Gegnerschaft zwischen den Vertretern der pathologischen Anatomie und der bakteriologischen Hygiene spielte jedenfalls die Besorgnis vor einer Entthronung mit. Die pathologische Anatomie hatte seit Rokitanskys und mehr noch seit Virchows u¨ berragenden Leistungen einen sehr großen, zum Teil beherrschenden Einfluss ausge¨ubt. Dieser Einfluss ging allm¨ahlich verloren und an die Bakteriologie u¨ ber. Was Wunder, dass dies
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bei den bisherigen Herrschern Unlustgef¨uhle aus¨ubte, die das klare Urteil tr¨ubten. Es ist nicht unm¨oglich, dass bei dem Gegensatz Virchow–Koch auch noch politische Gr¨unde mitspielten, zudem Koch, der von allen Regierungsstellen und dem Milit¨ar unterst¨utzen und gefeierten Mann, den Fortschrittlern um Virchow verd¨achtig und unsympathisch war . . . Ich pers¨onlich habe . . . wo ich nur gelegentlich in den Ferien in Berlin mit Kochianern zusammenkam, schwer einen gemeinsamen Boden finden k¨onnen, ¨ sondern eine fast st¨arkere Uberheblichkeit als bei den Mitarbeitern Virchows aus seiner sp¨ateren Zeit gefunden. Wer Beobachtungen machte, die in das Kochsche Dogma nicht hineinpassten, wurde damit abgetan, dass er nicht ,bakteriologisch arbeiten‘ k¨onnte.“ G. B. Gruber (1939) hat sp¨ater ein beg¨utigendes Schlusswort gebracht: „Man muss in Dingen der Infektionskrankheiten die wissenschaftlichen Verdienste Virchows und Kochs vereint betrachten und Legenden auszumerzen suchen, die auf dem Boden unfruchtbaren Werkstubenklatsches der K¨arrner erwachsen sind.“
10 Benennung der Krankheiten
Die naturwissenschaftliche Vorstellung der Krankheit soll das Krankheitsgef¨uhl, das Symptom, pathophysiologisch erkl¨aren und endlich pathologisch anatomisch best¨atigen. Damit war dem Arzt ein Rahmen an die Hand gegeben. Die Diagnose war gesichert und das Krankheitsbild erkannt – und sollte mit einem Namen versehen werden. Seit der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Pathologischen Anatomie – vor der bakteriellen Umw¨alzung – wurden die „neuen“ Krankheiten nach ihrer pathologisch-anatomischen Lokalisation benannt: Leuk¨amie. Virchow war ein besonderer Sprachf¨orderer – er soll u¨ ber 50 neue, heute noch gebr¨auchliche Namen in die Medizin eingebracht haben (Ackerknecht, 1957). Virchow selbst betont (1867), dass die pathologisch-anatomische Bezeichnung nicht die h¨ochste Form der Anschauung sei und daher, wenn auch zu Anfang vor¨ubergehend nach dem anatomischen Organbefund genannt werden solle, was sp¨ater – wenn m¨oglich – nach der Ursache oder dem Wesen benannt werden wird. Mit der Registrierung durch Namen wird die Sehnsucht nach der Ordnung gespeist. Voller Neid wird auf die Botanik mit einem Linn´e, auf die Chemie mit dem Periodischen System von Meyer und Mendelew (1869) geschaut. H¨aufig sind die Krankheits-Namen erhalten geblieben, auch wenn sie einen anderen Sinn bekommen. Wenn die Krankheitsterminologie ohne Wort¨anderung in den Wandel des Sinnes weiterbenutzt war, sind die Wortbildungen gelegentlich Spiegelbild des Erkenntniszuwachses, Zeichen der Krankheitserkenntnis. Das f¨uhrte zu Merkw¨urdigkeiten: Es u¨ berwiegt die pathologische Anatomie, die dann erst sp¨ater durch die bakterielle Ursache erg¨anzt wurde: Diphtherie (= „h¨a diphtheria“ = „abgezogene Haut“), danach der Diphtherie-Bazillus, der in den abgezogenen H¨auten gefunden wurde als Zeichen der „Diphthe¨ ritis“ (L¨offler, 1852–1915). Ahnlich ist es mit dem Typhus ergangen, der zun¨achst nur durch das klinische Symptom des Durchfalls gekennzeichnet war (Virchow spricht 1849 von den „Typhen“). Der Name Typhus aber bezeichnet nicht die Darmerscheinungen,vielmehr die Benommenheit (typhos – Umnebelung, Dampf). Er wurde erst durch den Nachweis des Erregers eine einheitliche Krankheit, zumal die Lymphknotenbeteiligung die Allgemeinkrankheit anzeigte. Man war anspruchsvoller in der Differenzierung geworden. Es sollte in der Krankheitsbenennung zugleich u¨ ber Art, Herkunft etc. etwas ausgesagt werden.
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10 Benennung der Krankheiten
Das wird besonders evident bei Infektionskrankheiten, deren Name entweder auf den Erreger u¨ bergegangen ist (Pestbazillus), oder deren Name weiter bestehen bleibt, auch wenn die Naturgeschichte der Krankheit bekannt geworden ist: z. B. Syphilis. Die Tuberkulose ist das Beispiel: Die Alten sahen die vielfachen Kn¨otchen – Tuberkel –, sp¨ater erhob sich ein Streit, ob die Kn¨otchen – die Tuberkel – und die Verk¨asung – die Kavernenbildung – einem Krankheitsbild zuzuordnen seien. Als der Tuberkelbazillus bekannt wurde, blieb der Name der Kn¨otchenkrankheit, der Erreger wurde nach der Krankheit benannt. Dann kam die Welle der neuen Beobachtungen mit den anatomischen Benennungen und den Eigennamen: Arteriitis nodosa Kussmaul Meier Neurofibromatose = Recklinghausensche Erkrankung Plasmozytom = Kahlersche Erkrankung und viele andere mehr. Oft kamen Eigennamen als Krankheits- und Syndrombezeichnungen ins Spiel – nicht etwa aus Eitelkeit des einzelnen Untersuchers. Einer wollte sagen, er habe das auch beobachtet, was gerade Herr XY beschrieben hat. So kamen die Eigennamen in die Syndromlehre, die nach der weiteren Erkenntnis des pathophysiologischen Sachverhaltes verschwinden (sollten). Die Namengebung gibt Auskunft u¨ ber Sitz, Pathophysiologie, Entstehung durch Bakterien, oft u¨ ber eine kurze Entstehungsgeschichte, u¨ ber den Erstbeobachter. Eine ganze Reihe von Krankheiten haben Namen behalten, deren Ursprung lang vor ihrer eigentlichen Erforschung und Deutung zur¨uckreicht: Das sind vor allem die großen Stoffwechselkrankheiten. Diabetes mellitus („honigs¨ußer Durchmarsch“), Gicht – darunter verstand man ganz unterschiedliche Krankheitsbilder, z. B. solche mit Kr¨ampfen und solche mit L¨ahmungen („Gichtbr¨uchige“). Schwieriger die Benennung der b¨osartigen Tumoren: Erst seit dem der Tumor nach seiner zellul¨aren Herkunft bestimmt werden kann, erfolgt die Benennung nach dieser. Die Fortf¨uhrung erfolgte mit der Kultur der Nomenklatur, die vor allem in der zweiten H¨alfte des zwanzigsten Jahrhunderts aufbl¨uhte, gepflegt (und manchmal auch als Geisel geschwungen) wurde. Nicht waren hier die Psychosen einzuordnen, zum Teil weil sie kein sicheres anatomisches Substrat boten und auch nicht durch Bakterien verursacht waren. Sp¨ater erhielten sie eine Klassifizierung, der die Ordnung der k¨orperlichen Krankheiten als Beispiel vorangegangen waren.
11 Entfaltung der wissenschaftlichen Medizin im Gefolge des Paradigmawechsels
Es waren mehrere erstarkte theoretische S¨aulen, auf den sich die Entwicklung der a¨ rztlich-praktischen Medizin an der Wende zum 20. Jahrhundert st¨utzen konnte: 1. Die rasch voranschreitende Pathologische Anatomie, die immer mehr Einzelbefunde und zusammenfassende Themen lieferte und Basis des akademischen Unterrichts wurde. 2. Der entscheidende Schritt zur L¨osung der Frage nach der Ursache der Krankheit, die Bakteriologie mit der nachfolgenden Serologie und Immunologie – und der darauf aufbauenden Behandlung („Therapia magna sterilisans“ von Paul Ehrlich), – brachte ganz neue, ursachenbezogene therapeutische Aspekte. 3. Die Pharmakologie wendete sich von den in Erfahrung und Konvention vielseitig benutzten „Hausmitteln“ den im Experiment erprobten Therapiemechanismen zu. Damit wurde eine Beeinflussung des Zell- und Organ-Verbandes bekannt: Krankheitsabwehr durch medikament¨osen Angriff auf Krankheitsursache und -herde. 4. Das vielseitig erkennbar gewordene Krankheitsgeschehen auf naturwissenschaftlicher Grundlage, Entstehung, Ablauf, Ursache, Pathogenese machte eine immer mehr sachgerecht werdende Therapie m¨oglich. Der Weg f¨ur eine reich verzweigte experimentell-pharmakologische Forschung, f¨ur eine wissenschaftliche Pharmakologie war vorgezeigt. 5. Die klinische Medizin entwickelte sich explosionsartig. Die Innere Medizin benutzte ein breites Spektrum unmittelbarer Beobachtungen, ferner Labordaten, die je nach den verschiedenen Organkrankheiten eine gewisse Spezifit¨at bildeten. Mit dem Gedanken der Zellenlehre war mit einem Male ein Großteil der t¨aglich zu beobachtenden Krankheit zu erkl¨aren, besonders wenn diese durch den Obduktionsbefund der Verstorbenen best¨atigt wurde. Darin wird die Bedeutung der Obduktion in dieser Zeit ersichtlich. Erst erfolgte die Beobachtung an Verstorbenen mit dem Vergleich der klinischen Befunde, dann wurden klinische Befunde durch pathologisch-anatomische Beobachtungen verst¨andlich, schließlich kam die Deutung durch die pathophysiologische Erkl¨arung, das Experiment und die R¨uck¨ubersetzung in die klinische Symptomatik.
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11 Entfaltung der wissenschaftlichen Medizin
Die Obduktion hat einen wesentlichen Teil der Medizinentwicklung und der Qualit¨atskontrolle erbracht – und bringt sie heute noch immer. Die sog. Theoretischen F¨acher der Medizin konnten sich durch die cartesische Teilung und nach der Annahme des naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffes eigenst¨andig entwickeln: Pathologie, Pharmakologie, Biochemie, Molekularbiologie. Es gen¨ugt nicht, die Medizin als Naturwissenschaft anzuerkennen, man muss auch die Instrumente besitzen und die Methoden entwickeln. Der Wechsel der klinischen Medizin in die Naturwissenschaft erfolgt schrittweise. Die Zellularpathologie und die naturwissenschaftliche Medizin hat zun¨achst die a¨ rztliche Heilkunde nicht erfasst. Erst nachdem die Krankheit erkl¨art war, konnte die Suche nach einer Behandlung oder Vorbeugung erfolgen. Die naturwissenschaftlich fundierte Medizin machte ungeheure Fortschritte in Krankheitserkennung, Krankheitsverst¨andnis und Therapie. Die Theoretischen F¨acher sind Zulieferer der handelnden klinischen Medizin (Wieland, 2004). Mit dem naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff war nichts u¨ ber die Ursache einzelner Leiden, nicht u¨ ber die Krankheitskondition, auch nichts u¨ ber die konstitutionellen Faktoren gesagt. Auf den theoretischen S¨aulen stand die klinische Medizin um die Jahrhundertwende und baute jedes Fach unerm¨udlich weiter aus: Daraus entwickelten die einzelnen Fachdisziplinen spezielle Untersuchungsmethoden und Behandlungsmaßnahmen. Sie wurden so zu selbstst¨andigen F¨achern (sp¨ater mit „Fach¨arzten“). Die Medizin ist durch Aufgliederung, Aufsplitterung, ja Zersplitterung gekennzeichnet. Virchow nannte dies „Fragmentierung“. „Virchows Beharren auf dem Lokalismus machte ihn paradoxerweise zu einer der treibenden Kr¨afte der modernen Spezialisierung, die er so ganz und gar nicht sch¨atzte“ (Ackerknecht, S. 4). Die pathologische Anatomie gab der Chirurgie – deren „Pfadfinder“ sie ist – die M¨oglichkeit, den Krankheitsherd auszurotten. Ihr kam zu Hilfe die sich anbahnende Narkose und vor allem die Erkenntnis der Antisepsis/Asepsis. Dadurch wurde ein großer Schritt voran gemacht in Verst¨andnis und Behandlung. Feinsinnige, klug ausgedachte, vergleichsweise primitive Methoden der klinischen Untersuchung – Perkussion, Auskultation – ließen Internisten das Ziel erreichen, durch a¨ ußere Untersuchung zu erkennen, was in den einzelnen Organen vor sich ging. Angesichts der F¨ulle und Breite der Aufsplitterung der heutigen wissenschaftlichen und behandelnden Medizin ist die Frage berechtigt, ob denn alle diese Disziplinen auf die entscheidende Wende des 19. Jahrhunderts sich zur¨uckverfolgen lassen? Kann man bei der Vielfalt, in der sich die Medizin in unserem heutigen Leben darstellt, einen gemeinsamen Grundgedanken erkennen? Kann man nach einer Wurzel graben? Oder ist alles durch die Zersplitterung wirr geworden? Wenn man den Entfaltungsbaum – wie ihn R. B¨assler (1985) f¨ur das Fach Pathologie erarbeitet hat – auf die gesamte Medizin aufzeigen wollte, w¨urde es ein undurchdringliches buschartiges Gestr¨upp ergeben. In allen Verzweigungen,
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Ver¨astelungen, Zersplitterungen ist der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff gefestigt, alle Weiterungen umranken diese Krankheitsauffassung – und verdecken sie auch zum Teil – oder entwickeln sich daraus – bis hin zur Molekularbiologie. W¨ahrend es bei einzelnen Gebieten der Medizin gelingt, mit mehr oder weniger ausgebildetem historischem Sp¨ursinn aus dem heutigen Gestr¨upp von neuen sich formierenden Gebieten den naturwissenschaftlichen Stamm herauszufinden wie z. B. bei der An¨asthesiologie, so ergibt es andere, bei denen es kaum gelingt. Es gibt gerichtete F¨acher, die ein Organ – Auge, Ohr, Niere, Leber – schwerpunktm¨aßig behandeln – und es gibt komplexe F¨acher – z. B. die An¨asthesiologie, Intensivmedizin, die Perinatologie usw. Bei den „großen F¨achern“ wie Innere Medizin (zu Virchows Zeiten: „Spezielle Pathologie und Therapie“), Chirurgie, Frauenheilkunde l¨asst sich die Spezialisierung und Aufsplitterung ohne weiteres verstehen. Die Innere Medizin ist – ohne den Patienten als Ganzes aus dem Auge zu verlieren – gegliedert in Kardiologie, Nephrologie, Gastroenterologie, Hepatologie, Neurologie usw. also mit Organbezug. Die Teilung der Chirurgie erfolgte mehr nach topographischen Gesichtspunkten: Abdominal-, Thorax-, Gef¨aßchirurgie, Neurochirurgie, weiter die Unfallchirurgie und die Orthop¨adie. Die Frauenheilkunde ist traditionell aufgegliedert in Gyn¨akologie und Geburtshilfe. Daraus entwickelten sich weitere F¨acher z. B. die Endokrinologie und Perinatologie. Beide sind Beispiele f¨ur komplexe F¨acher, an denen sich praktische Physiologie, P¨adiatrie u. a. beteiligen. Das Problem und das Dilemma der Aufsplitterung der praktischen Medizin wird deutlich an dem fast paradox klingenden „Facharzt f¨ur Allgemeine Medizin“. Bei allen F¨achern sind die jeweiligen Tumorkrankheiten je nach der Therapiem¨oglichkeit einer Sonderabteilung zuzuordnen. Es ist die Behandlungsart, die eine Abgrenzung erfordert. Die Erkrankungen des Nervensystems und des Gehirns brachten zun¨achst neue betreuerische Aufgaben. Die „wissenschaftliche Psyche“ (Pinel, 1745–1826), die Entwicklung der Psychiatrie als eigene Disziplin, machte nur langsame Fortschritte. Man baute Anstalten f¨ur die Geisteskranken – mehr zum Wegsperren – z. B. in Wien den gewaltigen „Narrenturm“. Bei den Geisteskrankheiten ist eine naturwissenschaftliche Einordnung teilweise noch schwer m¨oglich. Wenn ein Pharmakon bei Depression oder Schizophrenie d¨ampft oder hilft, dann besteht offenbar ein pharmakologisch erkennbarer Mechanismus im Gehirnstoffwechsel als Begr¨undung f¨ur die Wirkung, auch wenn dieser Mechanismus im Einzelnen zellular bestimmt aber noch nicht genau bekannt ist. – Wie vielfach in der Alltags-Medizin kommt hier die Beobachtung und Erfahrung mit erst sp¨aterer Erkl¨arung zusammen. Damit ist eine urs¨achliche Therapie noch nicht begr¨undet. Heute im „Jahrhundert der Neuropathologie“ wird in den Zellen des Zentralnervensystems eine unendlich aktive Molekulart¨atigkeit
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erkannt. Die Molekularbiologie gibt eine Vorstellung von der Vielfalt der Leistungen und der zellul¨aren Vernetzungsm¨oglichkeiten und l¨asst ahnen, in welcher Richtung diese bisher nicht n¨aher bekannten Mechanismen Aufkl¨arung bringen werden. F¨ur Vieles gibt es molekularbiologische Erkenntnisse, f¨ur fast alles sind nur Andeutungen vorhanden. Die Molekularbiologie l¨asst die Phantasie f¨ur alle je erkennbare M¨oglichkeiten offen. Wir k¨onnen uns von der Zellularbiologie auch nach deren Verzweigungen, ja Wucherungen in alle Richtungen nicht l¨osen, weil wir gerade wegen der Bereicherung im subzellularen und molekularen Raume neue Kennzeichen der (zellul¨aren) naturwissenschaftlichen Krankenvorstellung sehen. Jede Aufgliederung erfordert nicht unbedingt eine „eigene Station“ – wohl aber ist ein Fachmann n¨otig. Der Einzelne kann sich erst einem Sondergebiet zuwenden, wenn er die allgemeine Technik als Grundvoraussetzung beherrscht. Deutlich wird das bei der Chirurgie – gilt aber auch bei allen anderen F¨achern. Alle Medizinischen F¨acher setzen voraus, dass jeder Einzelne ein gelerntes Maas an a¨ rztlichem Denken und Verstehen erworben hat („geschulter Mediziner“). Es ist der Krankheitsmechanismus der Kl¨arung n¨aher gebracht, was immerhin ¨ eine Neuerung bedeutet. Es war die Ubersetzung der Krankheitsvorstellung in den a¨ rztlichen Alltag n¨otig. Es war eine neue Gedankenwelt er¨offnet. Diese scheinbare Vollst¨andigkeit barg freilich die Gefahr der Sicherheit: Man konnte vergessen, dass keineswegs alle R¨atsel des Krankwerdens gel¨ost seien, ja l¨osbar waren. Es ist Virchows naturwissenschaftliche Krankheitsvorstellung, die Medizin als Naturwissenschaft zu sehen und hochtrabend: das naturwissenschaftliche Paradigma, von dem sich auch die Heutigen nicht l¨osen wollen und k¨onnen. Die Nachfolger haben die Zellularpathologie bereichert, entwickelt, umkr¨anzt, komplettiert – aber nicht u¨ berwunden, (wie dies C. R. Pr¨ull (1997) in seiner Studie u¨ ber die B¨ucher der Medizingeschichte 1858–1945 bedauert). Ohne geordneten Krankheitsbegriff ist eine urs¨achliche oder auch symptomatische Krankenbehandlung nicht m¨oglich. Die Zellenlehre, die Zellularpathologie und die Bakteriologie gaben der Behandlung von Krankheiten das feste naturwissenschaftliche Fundament. Die a¨ rztliche Behandlung, der einzelne Arzt, vor allem der Patient profitiert davon. Aber es gab viel zu tun. Eine Masse von Krankheiten konnte man nun urs¨achlich und im Ablauf verstehen. Dadurch wurden Vorsorge und Therapie m¨oglich. Die Aufnahme von pathogenen Bakterien bedeutet nicht notwendigerweise „Krankheit“. Von dem bakteriellen Infekt hat man lernen k¨onnen, u¨ ber welch großartigen vielf¨altigen zellul¨aren Abwehrapparat unser Organismus verf¨ugt. Aus diesen Gedankeng¨angen erwuchsen gezielt Forschung und Kenntnis der nat¨urlichen Abwehr, die Immunit¨atslehre, die allgemeine Hygiene.
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¨ Neben der Aufkl¨arung der Krankheitsvorstellung und deren Ubertrag auf die Handlung des Arztes am Krankenbett war Virchows Wirkung zuv¨orderst gegeben durch seine T¨atigkeit im o¨ ffentlichen Gesundheitswesen. Neben dem allseits erkennbaren medizinischen Fortschritt in Therapie und Praxis hatte der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff noch andere Folgen: Man sollte gewissermaßen objektiv feststellen, ob ein Mensch krank war, unabh¨angig von den geklagten Beschwerden. So wurde die Diagnose einer Krankheit formuliert. Das war die Voraussetzung f¨ur die „juristische Erfassung“ der Krankheit von Bismarcks Sozialgesetzgebung („Krankschreibung“). Es ist von einer gewissen pikanten Invektion, dass Bismarck sein Krankenversicherungsgesetz nur pr¨azisieren konnte, weil die Medizin den naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff Rudolf Virchows u¨ bernommen hatte, desselben Virchow, den Bismarck im Land- und Reichstag bis zur Duellforderung (!) bek¨ampft, zum mindesten nicht ernst genommen hatte. Die alte Innere Medizin besaß neben verschiedenen Tees (z. B. Salbei, Arnika, Johanneskraut u. a¨ .) und Salben – praktisch keine medikament¨ose Therapie. An der Wende des 19./20. Jahrhunderts gab es insgesamt nur wenige wirkliche Arzneimittel. Da war Digitalis f¨ur Herzkranke, das Chinin gegen Malaria, Quecksilber gegen Lues – dazu noch gerade das Aspirin als Schmerzmittel, das Morphin von Sert¨urner. Dann kam die Wende durch Paul Ehrlichs Gedanke von der Therapie magna sterilisans mit der praktischen Umsetzung bis zum Salvarsan (1909). Damit wird deutlich, welch eine Masse von therapeutischen Versuchen und Erfolgen in der ersten H¨alfte des zwanzigsten Jahrhunderts aufkommen musste. Die neuartige medizinische Behandlung besaß durch die naturwissenschaftliche Basis und damit die pathophysiologische Grundlage, durch die Kenntnis der Krankheitsursache (Bakterien) und K¨orpermechanismen (Zellularpathologie) einen Ausgangspunkt f¨ur sehr viele Krankheitsvorg¨ange.
12 ¨ Erganzungen zur Zellularpathologie
¨ 12.1 Gegenstromungen der Zellularpathologie Der Paradigmawechsel in der Medizin und vor allem in der Krankheitslehre war so deutlich, dass alle, die Pathologie betrieben, aus der ganzen Welt nach Berlin zu Virchow oder zu Rokitansky nach Wien schauten. Selbstverst¨andlich hatte Rudolf Virchow f¨ur die mit einem gewissen Alleinvertretungsanspruch vorgetragene Doktrin auch Gegner. Man kann sich denken, dass es Gegner seiner Wissenschaft gab – aber auch pers¨onliche Gegner, die auf politischen Gebieten mit seiner Einstellung nicht einverstanden waren. Dass die Zellularpathologie in der wissenschaftlichen Diskussion der Fachgenossen nach allen Richtungen besprochen, untersucht, angezweifelt und diskutiert wurde, ist eine Selbstverst¨andlichkeit, geh¨ort zur Sache. Das „Prinzip“ Virchows wurde nicht ohne weiteres von allen angenommen und begeistert betrieben. Einige Schotten machten Primatrechte geltend, die Virchow zur¨uckwies (Arch. 59, 1874). Die Diskussion wurde – wie oft – scharf gef¨uhrt. Mit der Gruppe der politischen Gegner wollen wir uns nicht besch¨aftigen, auch wenn es sich um prominente Pers¨onlichkeiten, wie z. B. Otto von Bismarck handelt, der sich von der autorit¨aren, selbstbewussten Art des seiner Auffassung nach politisch laienhaften Anatomen abgestoßen f¨uhlte. In unserem Zusammenhang interessieren aus dem akademischen Umfeld solche Gegner, die der Zellularpathologie und den naturwissenschaftlichen Gedankeng¨angen nicht folgen konnten. Es gibt solche aus der Anfangszeit, die meist schon vor der Formulierung der Zellularpathologie auftraten. Mit Carl R. A. Wunderlich und der „T¨ubinger Gruppe“, die eigentlich mit der „physiologischen Heilkunde“ von Virchows Gedanken nicht allzu weit entfernt waren, hat sich eine dauernde Gegnerschaft entwickelt. Roser und Wunderlich haben die Physiologie als Ausgangspunkt ihrer Krankheitsvorstellungen genommen und sprachen von der „physiologischen Medizin“ (Rothschuh 1975). Ihnen war alles Mikroskopische suspekt. Wunderlich forderte die Physiologie als Partner der Klinik – was die Pathologie doch nicht sein k¨onne. Die T¨ubinger Gruppe um Wunderlich war aus der Opposition gegen die Naturphilosophie auf dem Boden der Physiologie entstanden. Das hatte sie mit der
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12 Erg¨anzungen zur Zellularpathologie
Berliner Schule gemeinsam. Sie hat den systematischen und experimentellen letzten Schritt zu der „Medizin als Naturwissenschaft“ nicht getan. Sie passte offensichtlich nicht in ihre Philosophie. Es geh¨ort zu den Besonderheiten, dass durch diesen Streit Virchow zur Gr¨undung seines Archivs – zusammen mit Benno Reinhardt – veranlasst wurde: Wunderlich hatte die Annahme der „Zwei Reden“ (1845) in seiner Zeitschrift abgelehnt. Als die „Cellularpathologie“ erschienen war (1858), wurden in allen einschl¨agigen Zeitschriften Rezensionen ver¨offentlicht, so auch im „Archiv f¨ur physiologische Heilkunde“ von Wunderlich. Beide Gruppen – Wunderlich, Griesinger und Roser auf der einen Seite, Virchow auf der anderen – gerieten scharf aneinander, was sich besonders bei der Buchbesprechung der „Cellularpathologie“ durch Griesinger erkennen l¨aßt. Dabei ergab sich gelegentlich eine reine z.T. auch unsch¨one Polemik, ohne dass auf die Sache wesentlich Bezug genommen worden w¨are. Beide Seiten waren nicht kompromissbereit. Der Rezension antwortete Virchow in seinem Archiv (Archiv 16, 1859; 18, 1860) mit bissiger Polemik sowohl gegen „Herrn Wunderlich“, noch mehr gegen „Herrn F¨uhrer“, der ihm (Virchow) Unterlassung im Zitieren bekannter Vorarbeiten vorwirft. Derartige Streitigkeiten sind im Nachhinein am¨usant zu lesen. Sie entbehren aber jeder wissenschaftlichen Bedeutung. Ein Gegner, der o¨ fter in dem Archiv erscheint, war der praktische Arzt Gustav Adolf Spiess. Er hatte ein Buch u¨ ber die Pathologische Physiologie (1857) geschrieben. Virchow vermutet, dass seine Stellungnahme zur Zellularpathologie ¨ „eng an die verbl¨umte Anspielung auf meine politische Uberzeugungen“ bestimmt wird. Die Gedanken, die Spiess zur Zellularpathologie a¨ ußert, zeigen eine gewisse Verbl¨uffung und Verwirrung des Physiologen, der unerwartet – ohne „Muskelreiz“ und „Nervenphysiologie“ – die Zellenlehre f¨ur physiologische Fragen herangezogen sieht. Virchow zog in seinem Archiv, in dem Spiess auch publizierte (Archiv 8, 1855), summarisch folgende Konsequenz (Archiv 13, 1858): „Jede pathologische St¨orung, jede therapeutische Wirkung findet erst dann ihre leichte Deutung, wenn es m¨oglich ist, die bestimmte Gruppe von zelligen, lebenden Elementen anzugeben, welche davon getroffen wird, und die Art von Ver¨anderungen zu bestimmen, welche an die einzelnen Elemente einer solchen Gruppe angetreten ist. Das viel gesuchte Wesen (ens) der Krankheit ist die ver¨anderte Zelle.“ Spiess meint, dass die Zellularpathologie noch lange nicht alles sei, sie werde vergehen, wie die anderen Theorien auch vergangen sind. ¨ Uber die Gruppe der Gegner, die gegen das Prinzip der Zellularpathologie schlechthin waren, ist die Zeit hinweggeschritten. Eine st¨andige Fehde verband Jakob Henle (1809–1885) mit Virchow – beide Sch¨uler von Johannes M¨uller – immer u¨ ber die Zellenlehre, selten um grunds¨atzliche Fragen (Hoepke, 1975).
12.1 Gegenstr¨omungen der Zellularpathologie
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Zu den erbittertsten Gegnern Virchows geh¨orte Emil von Behring – der auch P´epin gewesen ist. Von der Bakteriologie herkommend stellte er die Serologie als Grundlage der Krankheitsvorstellung in den Mittelpunkt seiner Theorien. Virchows Forderungen zur Typhusepidemie von 1847/48 – in Oberschlesien – mit sozialen Maßnahmen zu bek¨ampfen, hat – 50 Jahre sp¨ater! – Behring mit Hohn angegriffen. Virchow habe in der Zellularpathologie kein Gef¨uhl f¨ur die ¨ Atiologie entwickelt. Das sei erst durch Robert Koch zurecht ger¨uckt worden (Zeiss-Bieling, 1940). ¨ Uber Virchow a¨ ußerte er: „Seine Lehre von dem Zustandekommen der Krankheit halte ich f¨ur eine Irrlehre, und aus diesem Grunde bek¨ampfe ich Virchow, den medizinischen Theoretiker und Doktrin¨ar“ (1894). Vierzig Jahre nach der Zellularpathologie und etwa 20 Jahre nach Beginn der bakteriellen Aera hat Behring seine so erfolgreiche antitoxische Therapie zuerst gegen die Diphtherie und den Tetanus entwickelt. In sp¨ateren Jahren haben beide – Virchow und Behring – sich angen¨ahert, vor allem weil Virchow, was Behring nicht f¨ur m¨oglich gehalten hatte – die therapeutischen Zielsetzungen Behrings anerkannte. Wir wollen aus der nicht geringen Zahl der zweifelnden Stimmen und Gegner nur wenige behandeln, die Virchow besonders nahe waren, weil sie seine Sch¨uler gewesen waren. Diese wissenschaftlichen Gegner schmerzten Virchow, wenn sie durch Einw¨ande gegen die Zellularpathologie eine eigene Lehre schafften und dann auch gegen das Prinzip der Zellularpathologie vorgingen. Von den „Gegnern“ wollen wir Edwin Klebs (1834–1913) – den ehemaligen Sch¨uler – herausgreifen, weil das Verhalten beider Kontrahenten charakteristisch ist. Von den anderen, die sich an Virchow st¨orten, m¨ogen nur wenige genannt werden. Edwin Klebs (1834–1913) hatte einen Zug ins Genialische, aber auch ins Unstete. Er war immer kreativ. Er f¨uhrte z. B. das Paraffin in die histologische Technik ein, eine Methode die im Prinzip noch immer in abgewandelter Form benutzt wird. Er war Assistent von Virchow und arbeitete auch unter Robert Koch. Er leitete pathologische Institute in Bern, Prag, Z¨urich u. a. m. In Vielem folgte er seinem Meister. Er gab in Prag eine Zeitschrift heraus, begr¨undete mit Naunyn und Schmiedeberg das Archiv f¨ur experimentelle Medizin. Er besch¨aftigte sich mit der Wasserversorgung von Prag (1877) und auch Z¨urich (1885), er verfasste ein umfangreiches Lehrbuch f¨ur Pathologie, das leider nie fertig geworden ist. Durch seinen Aufenthalt bei Robert Koch meinte er sich im Besitz einer breiteren Basis der Krankheitslehre. Diese k¨onne nicht ausschließlich auf der pathologischen Anatomie aufgebaut sein. Sie muss notwendigerweise wesentlich die Bakteriologie mit einschließen. Klebs stellt Virchows Ansicht von der Reizbeantwortung der Zelle („nutritive Reizung“) in Frage. Er meinte, dass die k¨orperliche Reaktion weitgehend von a¨ ußeren Einfl¨ussen abh¨angt, wobei er zielstrebig auf die Bedeutung der Bakterien kommt. ¨ Uber Klebs in den verschiedenen Facetten seines Lebens und u¨ ber sein darin begr¨undetes Schicksal hat Otto Lubarsch, der bei ihm Assistent gewesen ist, eini-
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ges mitgeteilt. Lubarsch bezeichnet ihn als „den bewunderten und angesehensten F¨uhrer der deutschen Ursachenforscher“. Eine gewisse Kulmination der unterschiedlichenAnsicht waren die Reden 1877/78 u¨ ber „Die Freiheit der Wissenschaft.“ Es sprachen Virchow, Klebs und Haeckel. Die Charakteristik der einzelnen Redner kommt in der Auffassung und in dem Umfang des Problems, aber auch in der Art zum Ausdruck, an das Problem heranzugehen. Die Reden von 1877 (M¨unchen) und 1878 (Cassel) auf der 50. und 51. Ver¨ sammlung der Naturforscher und Arzte von Klebs, Haeckel und Virchow m¨ussen zusammen betrachtet werden. Sie behandeln alle scheinbar den gleichen Gegenstand. Sie haben eine ganz unterschiedliche Auffassung des eigentlich doch klaren Themas. Das Thema „Die Freiheit der Wissenschaft“ l¨asst eine Kompromisslosigkeit vermuten – und man wird erstaunt durch die Subjektivit¨at und die Eingrenzung des behandelten Gegenstandes. Die Rede Virchows war ein St¨uck Politik, in der man sp¨urte, dass er sich mit der Verfassungsfrage als Politiker befasst hat. „Jetzt ist es leicht, in deutschen Landen von der Freiheit der Wissenschaft zu reden“. Er versucht, die Stellung der Wissenschaft in dem sich neu formierenden Reich in geringerem Masse auch in den schulischen Unterricht einzufordern – und das letzte ist der Streitpunkt gegen¨uber Ernst Haeckel. Virchow ist gerade mit der Unterrichtsreform in Preußen befasst und kann bei seinem Thema nicht aus seiner Haut. Er meint unter der „Freiheit der Wissenschaft“ keineswegs nicht nur die Forschung, sondern vor ¨ allem den Ubergang der wissenschaftlichen Ergebnisse in den Alltag und vor allem in den schulischen Unterricht. Dort ist die Frage aktuell wie weit die forschende Naturwissenschaft f¨ur die Schulen geeignet ist. Virchow meinte, dass die Deszendenztheorie von Darwin durchaus Unterrichtsstoff an den H¨oheren Schulen sein sollte, dagegen meint er (ohne Haeckels Name zu nennen), dass die „Plastidule-Seele“ (diese „Genossenschaft Kohlenstoff und Cie.“) im Unterricht nur Verwirrung stiften k¨onnte. Man sollte „Grenzen zwischen den spekulativen Gebieten der Naturwissenschaften und dem tats¨achlichen errungenen und vollkommen festgestellten Gebiet“ respektieren. Edwin Klebs forderte ohne politische Absicht die ideale Freiheit der Forschung. F¨ur ihn war die Contagiumlehre das aktuelle Beispiel. Seiner Auffassung nach habe Virchow in seiner Rede von 1877 eben diesen Punkt vernachl¨assigt. Klebs lehnt auch die Thesen und die Art von Haeckel – vor allem dessen „Zell-Seele“ als absurd ab. Klebs bestreitet die „Autonomie der Zelle als Krankheitsprinzip“ schlechthin und setzte dem gegen¨uber den Reiz von außen. Statt „Cellularpathologie“ fordert er „Cellulartherapie“, die sich vor allem in systematischer antimykotischer Therapie darstellt. Zur Zellularpathologie mache Virchow unter dem Gesichtspunkt der „Reizung“ – also durch die bakterielle Infektion – einige Angaben, die z.T. richtige Beobachtungen darstellten, in großen Teilen aber durch die Forschung
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der letzten Jahre u¨ berholt seien. Der Standpunkt von Klebs ist so einseitig, dass er die M¨oglichkeit einer bakteriellen Infektion in den Gegebenheiten der Zellularpathologie gar nicht, somit die Cellularpathologie als u¨ berholt ansieht. ¨ Klebs griff die Zellularpathologie auf der Naturforscher- und Arzte-Tagung in Cassel (1878) an: „Die cellulare pathologische Theorie stellt ein erhebliches Hindernis dar, z. B. ist sie nicht das Krankheitsprinzip bei Generalisation.“ Virchow war bereits gegangen, er war nicht im Saal. Er antwortete sp¨ater in seinem Archiv (79, 1880). Klebs meinte, die Bakteriologie k¨onne die zellul¨are Krankheitslehre ersetzen. Er setzte Krankheitsursache – Bakterien – und Krankheit gleich, weil er k¨orperinterne Vorg¨ange nicht als Wesen der Krankheit ansehen wolle. „Die sog. Reaktionsf¨ahigkeit des Gewebes liegt wesentlich an a¨ ußeren Einfl¨ussen“ (1878). Durch die zellularpathologische Ansicht sei die Therapie behindert, es g¨abe eben z. B. keine Zellulartherapie. „Die cellular-pathologische Theorie stellt ein erhebliches Hindernis dar“. Bei der Tumorentstehung erkennt Klebs die Autonomie der Zelle nicht an. Er denkt auch hier an eine exogene Infektion oder an einen exogenen bedingten Intoxikationsprozess. Seine Zellulartherapie muss sich nicht zuv¨orderst auf die Anatomie, vielmehr auf die Pathophysiologie st¨utzen. Virchow und Klebs sind unterschiedlicher Ansicht in Sachen der zentralen Bedeutung der Bakterien – die Klebs als Tr¨ager der allgemeinen Krankheitslehre auffasst und somit dem von außen eindringenden Krankheitsmoment den absoluten Primat einr¨aumt. Virchow dagegen betont immer wieder den Unterschied zwischen Krankheit und Krankheitsursache, von denen eine die Bakterien sind. Virchows Stellungnahme zu den Ausf¨uhrungen von Klebs ist differenzierter. Virchow meint, die fr¨uheren Jahrhunderte haben ein Contagium angenommen, aber es nicht fassen k¨onnen. Erst im 19. Jahrhundert wurde das contagium animatum gesehen. „Der Stand unseres Wissens zu dem Contagium-Problem ist jetzt in einem hoffnungsvollen Stadium, aber noch keine Grundlage.“ (Arch. 79, 1880). „Die parasit¨are Wesen, namentlich die Bakterien, sind immer nur Ursache. Das Wesen der Krankheit besteht im Verhalten der Organe und Gewebe, welche von den Bakterien und ihren Produkten betroffen werden“ und: „Bakterien – sind das nicht auch cellul¨are Vorg¨ange?“ (Arch. 79, 1880). Nebenbei: Die Zweifel an der Bedeutung der Contagiumlehre konnten erst durch die methodische Vervollkommnung der Bakterienzucht durch Robert Koch, eigentlich erst durch die Kochschen Postulate beseitigt werden. Klebs Kritik an Virchow, den er „seinen verehrten Lehrer und Freund“ nennt, ist im Vergleich zu Haeckel durchaus maßvoll. „Wenn bei dieser durch ihn angeregten wissenschaftlichen T¨atigkeit der Einzelne zu Resultaten gelangt, welche den Lehren des Meisters widersprechen – wer wollte ihn deshalb tadeln, wenn er sich nicht scheut, seine Meinung frei und offen auszusprechen? Auch d¨urfen wir uns nicht wundern, wenn ein Forscher wie Virchow, nach so langer wissenschaftlicher T¨atigkeit nicht mehr mit voller Freudigkeit auf die Arbeiten der J¨ungeren eingeht.“
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Diese letzte Bemerkung von Klebs hat Virchow verletzt (Arch. 79, 1880). Er sagte dagegen, dass er „freudig“ aber nat¨urlich (wie stets) mit gewisser Zur¨uckhaltung z. B. die bakteriellen Ergebnisse beobachte. Immer betont er, dass die Zelle das eigentliche Feld auch der Bakterien im Organismus sei. Und Virchow: „Man muss suchen, wie das Contagium sich u¨ bertr¨agt, wo es herkommt, wo es seine Wirkung entfaltet – dazu geh¨ort eben die Zellularpathologie“ (Arch. 79, 1880). Das ist eine entscheidende Frage, die Klebs noch nicht l¨osen kann: „Nein, Herr Klebs die Theorie wird erst da sein, wenn jemand die Wirkung des Contagium cellularpathologisch ergr¨undet.“ Ganz anders sprach Ernst Haeckel. Die Entfremdung gegen¨uberVirchow hat nichts mit der Zellularpathologie zu tun, mehr mit Haeckels Sendungsbewusstsein. Virchow war nicht im Saal, als Haeckel sprach. Er hat die Rede nachgelesen. Ernst Haeckel hatte seit den freundschaftlichen Zeiten, in denen er im Institut in W¨urzburg unter Virchow arbeitete, einen eigenen Weg gefunden. Er war als Zoologe in Jena von erstaunlich wissenschaftlicher Fruchtbarkeit. Er bearbeitete „Stammb¨aume“ der Tiere nach den Vorstellungen der Deszendenzlehre. Er wollte die Autonomie der Zelle deutlich machen durch eine „Zellseele“, eine „PlastiduleSeele“, die f¨ur die Reaktion der Einzelzelle, besonders auch der Einzeller verantwortlich sei. In einem furiosen Gesamt¨uberblick propagiert Haeckel die Zellseele, die Plastidule (aus Protoplasmamolek¨ulen) und fordert „weitgreifende Reformen des Unterrichtes in der Entwicklungslehre als dem wichtigsten Bildungsmittel der Schule“. Er wendet sich gegen diejenigen – Virchow – die noch immer Beweise f¨ur die Deszendenztheorie fordern (Virchow nicht namentlich genannt). Die Rede ist eine begeisterte Schilderung der Darwinschen Deszendenzlehre, die als Grundlage der gesamten Naturwissenschaft gelten soll. Haeckel f¨uhlte sich als deutscher Prophet von Charles Darwin und gab sich in den Weiterungen als Missionar einer religionsartigen Weltanschauung („Monismus“, „Zellseele“, „Plastidule“ usw.). Alle, die sich nicht ohne weiteres seinen Gedanken anschlossen, waren das Ziel seiner k¨ampferischen Diskussion. Nicht bei dieser Gelegenheit: Der Hass – auch gegen Virchow – kannte verbal ¨ keine Grenze. Uber die p¨obelhafte Beschimpfung seines alten Lehrers berichtet Chr. Andree (2005) in dem Artikel zu Rokitansky (Rumpler, Denk und Ottner (Hrsg.) C. v. Rokitansky, 2005). In einer ausf¨uhrlichen Fußnote aus der Wiener Medizinischen Wochenschrift 1878, 334–335, wird der ganze Hass deutlich. Haeckel war von seiner Sendung, die Lehren von Darwin missionarisch-apostolisch auszubreiten, so durchdrungen, dass seine Reden geradezu Pamphlete wurden. Wie stark sein Hass ihn beherrschte, zeigt sich (auch) darin, dass er die Rede von 1877 noch nach 30 Jahren – 1908 – mit hasserf¨ullten Erweiterungen zu einem Pamphlet gegen Virchow, der schon 7 Jahre tot war, ausbaute. Das Generalthema: die Freiheit der Wissenschaft wurde von ihm vor allem als Freiheit der Lehre, nat¨urlich der Darwinlehre, auch in allen Schulen eingefordert. Darin traf er vor allem auf die gr¨oßere Bed¨achtigkeit, auf die propagierte
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¨ Zur¨uckhaltung Rudolf Virchows, die ihn offenbar reizte. Ubrigens war in der Haeckelschen Sache Edwin Klebs ganz auf der Seite Virchows. Klebs nahm auf der Naturforscherversammlung 1878 gegen Haeckel und dem Gedanken der „Zellseele“ Stellung. „Es kann nicht ernstlich genug betont werden, dass das philosophische System Haeckels . . . an ganz erheblichen und offenbaren logischen Fehlern leidet.“ Als schließlich durch Haeckel die neue Lehre zur „Religion“ („Deutscher Monistenbund“) erhoben wurde, war f¨ur Virchow die Diskussion beendet.
¨ 12.2 Erganzungen zu der Zellularpathologie Julius Cohnheim (1839–1884) widersprach dem Meister in seiner Auffassung der Entz¨undungslehre. Virchow hatte bei der Entz¨undung die o¨ rtliche Sch¨adigung und die damit verkn¨upfte zellul¨are Antwort (Attraktion) betont (1863). Er lehnte den Austritt der Entz¨undungszellen aus der intakten Kapillare ab. Es musste also eine Erkl¨arung her f¨ur die Ansammlung der weißen Blutk¨orperchen am Entz¨undungsort. Wie schon v. Recklinghausen (1863) beschreibt Cohnheim die „am¨oboide Eigenschaft“, also die Beweglichkeit, der Leukozyten. Diese verlassen nach seinen Untersuchungen die intakte Kapillarwand, um an den Ort der Entz¨undung zu kommen (1897). Cohnheim wies in sinnreichen experimentellen Darstellungen die Kapillarreizung nach und die damit erfolgende Wirkung der durch eine Alteration der Gef¨aßwand austretenden Entz¨undungszellen (Doerr, 1960, 1985). Dazu nahm Virchow bei seinem Jahrhundertr¨uckblick (1895) Stellung und sagte, dass die Befunde der beiden Forscher – v. Recklinghausen, Cohnheim – die Beweglichkeit der Leukozyten und deren Auswanderung „die Lehre von der Exsudation g¨anzlich im cellularpathologischen Sinne ver¨andert habe“. Cohnheim war kein eigentlicher Gegner. Er entwickelte einen Zweig der Zellularpathologie, den Virchow zun¨achst anders gesehen hatte. Er war sich der unterschiedlichen Meinung zu der Lehre des Meisters bewusst. Cohnheim war auch anderer Ansicht in Bezug auf die Geschwulstentstehung. Er nahm eine embryonale Keimversprengung an. Diese lehnte Virchow ab. Hugo Ribbert war mit der Zellularpathologie als allgemeinem Krankheitsprinzip nicht einverstanden. Krankheit ist ein Vorgang, kein anatomischer Zustand. Sie ist die Summe der von den ver¨anderten Zellen abh¨angigen abnormen modifizierten Lebensprozessen.
Ganz anders, ein wirklicher Gegner der Zellularpathologie, war: Gustav Ricker (1870–1949) hat sich schon in seinem Habilitationsvortrag in Bonn gegen die Zellularpathologie Virchows gewandt, weil sie zu weit von der Physiologie und Pathophysiologie entfernt sei. Er benimmt sich der Zellularpathologie gegen¨uber wie ein Reiter, der gegen Pferdehaare allergisch ist. Er hat 1924 die „Pathologie als Naturwissenschaft“ proklamiert. Er meint, dass die „Virchowsche
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12 Erg¨anzungen zur Zellularpathologie
Zellularpathologie ein Gemisch von physiologischen, biologischen und medizinischen Gedanken sei“. Da hat er nicht Unrecht. Ricker begreift die Naturwissenschaft sehr eng. Bereits 1912 hat er die „Grundlage einer Logik der Physiologie als Wissenschaft“ und darin die Naturwissenschaft in einer streng geisteswissenschaftlichen Weise gefordert. In seiner Lehre von der Pathologie als Naturwissenschaft hat er die dominierende Rolle des (peripheren) Nervensystems herausgestellt und zwar in einer so einseitigen Weise, dass dadurch seine ganze Lehre in Misskredit geriet. Lubarsch (V. A. 205, 1924) bezeichnet Ricker als erbitterten Gegner der Virchowschen Lehre, gleichzeitig fast aller biologischen und physiologischen Theorien, die sich Anerkennung und Einfluss erworben haben. Werner Hueck (1882–1962) konnte nicht verstehen, dass Virchow die Interzellularsubstanz vernachl¨assigte. Sicher war die Zwischensubstanz zu Zeiten Virchows auch durch die damalige Mikroskopie-Technik nur gering geachtet und bedacht. Hueck sieht die Einzelzelle durch die Zwischensubstanz in den Verband genommen und auch durch sie in funktionellen Konnex mit der Nachbarzelle, so dass dadurch ein „Gewebe“ zustande kommt. In der „Cellularpathologie“ (1871, 4. Auflage) sagte Virchow: „Nirgends ist Interzellularsubstanz erregbar“. Damit war Hueck nicht einverstanden. „Nicht nur die Zelle lebt, auch die Grundsubstanz lebt“ (1922). Man k¨onne, so meint er, weil eine Substanz nicht erregbar sei, nicht ganz auf sie verzichten. Es handele sich auch bei der Zwischensubstanz um ein durch den ganzen K¨orper ausgebildetes Zwischenzellsystem, das unabh¨angig von dem „Parenchym“ ausgebreitet ist. Hueck leugnet keineswegs den Zellbegriff – er weist auf das Zwischenzellsystem hin, das nicht nur Lager f¨ur Kapillaren und Nerven, sondern auch „Kittsubstanz“ und Ort der Zellverbindung darstellt. Der Blick auf die Zelle verstellt denjenigen auf die Zwischenzellmasse.
Wie ging es weiter? Es war in einem Jahrhundert die Medizin v¨ollig ver¨andert worden, auf eine sichere Bahn gestellt, grundlegend neu geordnet. Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff hatte die Schiene geliefert, auf der die Entwicklung – Fortschritt? – vor allem der Erkenntnis der Krankheitsauffassung weitergebracht werden konnte. In einem halben Jahrhundert war eine v¨ollige Umkehr und Erneuerung der Heilkunde erfolgt. Das war der Paradigmawechsel in der Medizin durch die naturwissenschaftliche Krankheitsvorstellung, die auch der Krankenbehandlung zu Gute kam. Die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Gedankens f¨ur die Medizinischen Wissenschaft l¨asst sich am Beispiel des Faches der pathologischen Anatomie erkl¨aren. 1 1 Als Virchow nach Berlin zur¨uckkam, forderte er eine klinische Station. Er legte ferner Wert dar-
auf, dass sein Lehrstuhl und sein Institut „Pathologische Anatomie und Allgemeine Pathologie“ benannt w¨urden.
12.2 Erg¨anzungen zu der Zellularpathologie
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Ein Blick auf die Entwicklung dieses Faches im 20. Jahrhundert zeigt, was aus dem „Fache Virchows“ geworden ist. Der Akzent hat sich seit Virchows Zeiten erheblich verschoben: Zun¨achst stand die Obduktion ganz im Mittelpunkt von Erkl¨arung und Forschung der Krankheit. Dabei wird nicht nur einfach die Todesursache festgestellt. Nat¨urlich wird das erkrankte Organ gesucht. Gerade das erkrankte Organsystem zeigt die individuelle M¨oglichkeit eines Widerstandes in der Krankheit. Es wird der ganze Organismus mit vielleicht angeborenen Betriebsst¨orungen, mit anatomischen Besonderheiten und mit mehreren Krankheiten und deren Wechselwirkungen behafteter Mensch vorgestellt. Die Ergebnisse der Obduktion werden dem behandelnden Arzt demonstriert. Die klinisch-pathologische Konferenz zeigt, dass Pathologen (die letzten?) Ganzheitsmediziner sind. Die Klinische Obduktion ist der Mittelpunkt des Alltags des Pathologen gewesen. Das hat sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ge¨andert. Die Arbeitszeit und die Gedankenwelt des Pathologen werden seitdem von der „Eingangsdiagnostik“, also von der pathohistologischen diagnostischen Untersuchung der Gewebsproben bestimmt. Damit ist die Zellenlehre in allen Disziplinen des a¨ rztlichen Denkens eingegangen (V. Becker, 1994). Dass das Operationsmaterial – entnommenes Gewebe aller operativ t¨atigen F¨acher (Chirurgie, Gyn¨akologie, Hals-Nasen-Ohren, Gastroenterologie usw.) – histologisch von dem Fachmann untersucht wird, ist eine Selbstverst¨andlichkeit. Dazu kommen die internistischen Gastroenterologen, die den ganzen Digestionstrakt einsehen und Gewebeproben entnehmen. Das Bronchialsystem wird einsehbar und durch die Biopsie histologisch und zytologisch erfasst. Selbst Niere, Herzmuskel und Gehirn k¨onnen durch geeignete Maßnahmen erreicht, punktiert und biopsiert, d. h. zytologisch und histologisch untersucht werden. Mit der BiopsieNadel k¨onnen die Organe unter der Sicht des Auges, des Computertomographen oder auch „blind“ erreicht werden: Leber, Milz, Lymphknoten, Zentralnervensystem. Durch die Entwicklung der Histopathologischen Diagnostik mit der Bereicherung durch immunhistochemische Methoden hat das Fach Pathologie seinen Schwerpunkt verlagert. Die Diagnostik wurde verhundertfacht. Ohne eine intensive Kenntnis und Erfahrung in der Gewebsdiagnostik kann ein Pathologisches Institut nicht bestehen. H¨aufig sind besondere unterschiedliche Schwerpunkte der Organuntersuchung institutionell eingerichtet. Das f¨uhrte zur Abspaltung einzelner Untersuchungsfelder. Es entstanden spezialisierte Laboratorien z. B. f¨ur die Gyn¨akologie, f¨ur die Dermatologie usw. Die „Abspaltung der Gyn¨akologie“ von der allgemeinen Histopathologie ist historisch beispielhaft. (V. Becker, 1979). Der Berliner praktische Arzt und Geburtshelfer Carl Ruge war ein Schwager von Virchow. Er schlug Virchow vor, das gyn¨akologische Abradat histologisch zu untersuchen, um ein Endometriumkarzinom fr¨uhzeitig feststellen zu k¨onnen.
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George Nicholas Papanicolaou
Virchow meinte, dass man das nicht k¨onne, weil man nicht wisse, was oben und unten ist, und damit eine Invasion nicht feststellen k¨onne. Ruge war entt¨auscht und sagte: Dann mache ich das eben selbst! Er bekam einen Platz im Labor der Universit¨ats-Frauenklinik unter der Bedingung, dass er auch die Abrasionen der Klinik untersuche. Damit war eine diagnostische M¨oglichkeit mit sensationellen Erfolgen gegeben. Als Ruge nach langen Jahren 1902 ausschied, wurde sein Freund, Robert Meyer (1864–1947) sein Nachfolger (R. Meyer, 1952). Robert Meyer wurde der „Vater der Gyn¨akolgischen Histologie“ in der ganzen Welt. 2 Die praktisch-diagnostische Cytologie hat unabh¨angig von den theoretischen Weiterungen einen gewaltigen Aufschwung genommen. Dieser ist durch die Pionierarbeit von Papanicolaou (1883–1962), New York, gekennzeichnet. Die diagnostische Cytologie hat sich zun¨achst auf dem Gebiete der gyn¨akologischen Abstrichuntersuchung bew¨ahrt. Sie ist z. B. wesentliche Ursache daf¨ur, dass durch die fr¨uhzeitige Diagnose das Collumkarzinom als Todesursache der Frau weit zur¨uckgedr¨angt wurde. Die diagnostische Cytologie wurde auf fast alle Organe ausgedehnt. Hervorzuheben ist die Ausweitung der cytodiagnostischen M¨oglichkeit des Bronchialsekretes und des Pleuraexsudates. Mittlerweile gibt es kein Organ, das der cytologischen Diagnostik nicht zug¨angig geworden w¨are und nicht von ihr profitiert. 2 Siehe seine Biographie im T¨urkischen Archiv f¨ur Gyn¨akologie 17, Heft 65–66, 1952.
12.2 Erg¨anzungen zu der Zellularpathologie
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Die moderne Tumorzytologie bezieht sich charakteristischerweise auch auf den Tumoratlas von Johannes M¨uller (1838) (Grunze 1960). Die weitere Entwicklung der Zellenlehre geht vielf¨altige Wege: Von der klinischdiagnostischen Cytologie einerseits und der Chromosomenlehre (Th. Cremer, 1985) andererseits entwickelte sich die Cytogenetik, die elektronenoptische Darstellung der Zellbestandteile, der Vorstoß in die Subzellularit¨at, die gesamte Molekularbiologie u.v.a.m. – alles dies sind Weiterentwicklungen der Zellenlehre. Hier ist nicht der Ort die z.T. umw¨alzenden Erfahrungen und Erfolge dieser diagnostischen M¨oglichkeiten f¨ur die klinische Medizin zu schildern. Der histopathologische und zytologische Diagnostiker an seinem Mikroskop muss die Probleme aller medizinischen F¨acher kennen, in diese sich eindenken und sie beurteilen. Der klinische Arzt ist derjenige, der Forderungen aus seiner eigenen Problematik an die differenzierte Diagnostik des Pathologen stellt. Die F¨ahigkeiten der einzelnen Spezialisten, die die intime Kenntnis der jeweiligen Problematik des Kranken erfordert, haben die Entwicklung gefordert und gef¨ordert. Jeder Pathologe muss sich auf die klinische Situation, auf die Gedanken und wissenschaftlichen Interessen seiner klinischen Partner einstellen. Dies ist ein Zeichen daf¨ur, wie stark der Grundgedanke der Zellularpathologie in das Denken des Arztes eingedrungen ist. Dies ausschließlich zur Situation der morphologischen Diagnostik, nicht eine Schilderung der Pathologie als Fach – eine solche muss viel weiter gehen. Georg Dhom (2001) hat die Entwicklung der Histopathologie in vorz¨uglicher, umfassender Weise dargestellt. Er zeigt, wie die Zellularpathologie durch die Histopathologie in die allt¨agliche Krankheitsbeurteilung und in die behandelnde Medizin eingezogen und eingebaut ist.
13 Und die Res cogitans?
Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff war scheinbar die eigentliche Krankheitstheorie. Er war Ausl¨oser – was bei einem neuen Paradigma dazu geh¨ort – einer F¨ulle von Detailforschung und neuen Ergebnissen f¨ur das Verst¨andnis vieler Krankheitsvorg¨ange und damit auch der M¨oglichkeit einer anderen, neuen Therapie. Und doch wurden Fehlstellungen im a¨ rztlichen Alltag immer deutlicher. Wie stand die naturwissenschaftliche Krankheitsvorstellung zu der einst von Descartes abgetrennten „res cogitans“, zu den geistig-seelischen Anteilen des Krankseins? Kann die res cogitans mit der naturwissenschaftlichen Forschung mithalten und ebenso reichhaltig entwickelt werden? Je weiter die Kenntnis der k¨orperlichen – res extensa – Krankheitsverh¨altnisse fortschritt, desto eindringlicher wurden Bed¨urfnis und Beachtung nach Betonung auch der anderen Seite. Die seelisch-geistige Seite musste nach der Vorstellung der cartesischen Teilung besonders erarbeitet werden. Erst dann konnten beide cartesischen „res“ in einer f¨orderlichen Konkurrenz wieder vereinigt werden. Alle bedeutenden Medizin-Vorstellungen hatten das Bed¨urfnis nach einem geistigen, sogar geistlichen Bezug. Im Grunde war die Romantische Naturphilosophie am Beginn des 19. Jahrhunderts die Bem¨uhung um Geist und Seele ¨ f¨ur die Krankheitsforschung. Sie bedeutet Uberspitzung der Erkenntnis und eine Wurzel der Bem¨uhungen um die res cogitans in der Krankheitsauffassung. Mit dieser war aber eine Vereinigung der beiden „res“ undenkbar, ebenso wenig wie mit der ausschließlich k¨orperlichen (somatischen) Krankheitsbetrachtung. Nachdem der „Nebel der Naturphilosophie“ durch die einsehbaren Fortschritte der Naturwissenschaft vertrieben war, wurde der Mangel eines geordneten Wissens auch der seelischen pathogenetischen Faktoren schmerzlich empfunden. Es wurde klar, dass die Krankheit rein naturwissenschaftlich nicht voll erfasst und a¨ rztlich betreut werden k¨onne. Daher war eine Komplementierung n¨otig. Wie der Krankheitsbegriff auch weiterhin gestaltet, erg¨anzt, komplettiert, erweitert wurde – die naturwissenschaftliche Grundlage bleibt unanfechtbar. Die naturwissenschaftliche Auffassung der Krankheit ber¨ucksichtigt scheinbar nicht die seelische Komponente. Die cartesische Teilung bezog sich in erster Linie auf die Krankheitsforschung, also auf den Teil der Krankheit, der allein – „clare et distincte“ – erfasst werden kann, ohne dass die „Seele“, die res cogitans, vergessen oder gar geleugnet wird.
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13 Und die Res cogitans?
Die res cogitans ist aber mit der naturwissenschaftlichen Methode nicht zu fassen. So wie die naturwissenschaftliche Richtung – res extensa – Vorl¨aufer hatte, so hat auch die geistige Erfassung von Krankheiten – res cogitans – viele, z.T. massive Vorstufen. Im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts – etwa im ersten Drittel – kam in Deutschland die Wende, wenn auch auf dem Umwege u¨ ber Pathologische Physiologie. Schon in dem ersten Heft seines Archivs betonte Rudolf Virchow, dass die pathologische Anatomie, die er vertrat, und auch die klinische Medizin nur die Vorfelder seien. Die eigentliche „Veste“ der Medizin seien Physiologie und Pathologische Physiologie. Virchow meint (Archiv 2), dass Pathologische Anatomie und Pathologische Physiologie gleiche Gebiete mit anderer Methode bearbeiten – beide ein gleiches Gebiet darstellen. So lag die Physiologie und deren Entgleisungen im Falle der Krankheit im wissenschaftlichen Trend. In Leipzig war Carl Ludwig (1816–1894) t¨atig als Physiologe von u¨ berragender Bedeutung. Jeder, der in der Physiologie – oder auch in der Klinik – etwas leisten wollte, war einmal bei Carl Ludwig gewesen, um sich das experimentelle und auch klinisch anwendbare R¨ustzeug zu holen.
14 Die Pathologische Physiologie – Ludolf Krehl und die Heidelberger Schule
In Deutschland war Ludolf Krehl (1861–1937) der erste, der einen Weg zur Pathologischen Physiologie beschritten hat. Er hatte vor seiner klinischen Zeit eine Ausbildung in der Physiologie bei Carl Ludwig in Leipzig, dann eine solche in pathologischer Anatomie absolviert. Der Allgemeinen Pathologie blieb er ein Leben lang verbunden. Er gab 1908 zusammen mit dem Pathologen Felix Marchand das in seiner Zeit f¨uhrende, mehrb¨andige Sammelwerk, „Handbuch der Allgemeinen Pathologie“ heraus. Krehl betrieb die Pathologische Physiologie in der Klinik und entwickelte dieses Fach auch f¨ur den studentischen Unterricht. Die Masse der neuen Ergebnisse u.a. der Klinischen Chemie machte es notwendig, dass seine „Grundz¨uge der allgemeinen klinischen Physiologie“ – seit 1893 – immer neue Auflagen erforderten. Sein Lehrbuch der Pathologischen Physiologie erlebte 13 Auflagen (1930). Durch die reichlich neu entwickelten Methoden zur Untersuchung von Blut, Urin, Magensaft, Liquor cerebrospinalis u.a. und durch die Zunahme der physikalischen Methoden wurde das Buch immer umfangreicher. Es ist nicht bekannt, ob Rudolf Virchow von dieser Entwicklung der Pathologischen Physiologie Kenntnis genommen hat. Die st¨urmische Entwicklung der Pathologischen Physiologie zum Ausgang des 19. Jahrhunderts brachte durch die epochale Entwicklung der klinischen und physiologischen Untersuchungsmethoden auch eine lawinenhafte Bereicherung der Therapie. Alles was an K¨orperausscheidungen zu untersuchen war, vervollst¨andigten die Kenntnisse der Einzelheiten der physiologischen Funktionen des Organismus, gaben neue diagnostische Daten der Krankheiten. Die Funktionsst¨orungen des Stoffwechsels wurden ein eigenes umfangreiches Feld von Untersuchungen und Therapie. F¨ur den Kliniker war also die Krankheitsauffassung, die Diagnostik und die Behandlung der Krankheiten in wenigen Jahren umsturz¨ahnlich erneuert. Die Pathologische Physiologie, so wie sie Krehl betrachtet, ist in Wahrheit eine Erg¨anzung der Pathologischen Anatomie, was jede klinisch-pathologische Konferenz deutlich macht. Das Buch kann als Grundlage der modernen klinischen Medizin gelten. Krehl holte, als er 1907 die Medizinischen Klinik in Heidelberg u¨ bernahm, einen „gelernten Physiologen“, um eine sachverst¨andige Hilfe bei der dauerhaften Neubearbeitung seines Werkes zu haben. Der Physiologe, der in Freiburg bei Johann von Kries (1853–1928) ausgebildet war, war Viktor von Weiz¨acker (1886–1957)!
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14 Die Pathologische Physiologie
Nicht nur die Labormedizin, auch die klinische Forschung war im Voranschreiten. Aber was war mit dem Kranken? Es geschah etwas, was so nicht vorauszusehen war: Krehl, der als „Vater der Pathophysiologie“ durch sein so erfolgreiches Buch u¨ ber die Pathophysiologie gelten kann, bemerkte fast urpl¨otzlich, dass er zunehmend mehr „Daten“ des Kranken in H¨anden hielt – aber den Patienten selbst aus dem Auge verlor. Ihn erfasste eine „monumentale Unruhe“ (W. Jacob, 1985). Der naturwissenschaftlich geschulte und handelnde Arzt erkannte, dass doch der kranke Mensch mit den pathophysiologischen Ver¨anderungen vor dem Arzt stand. Ludolf Krehl zeigt das Bed¨urfnis nach Komplementarit¨at in der Erfassung der gesamten Pers¨onlichkeit des Kranken. Durch die Zusammenstellung und die Zusammenwirkung der Krankheitssymptome und der Laborwerte hoffte er, zu einem klaren Bilde des Kranken und der Krankheit zu kommen. Und damit kam kurz vor dem ersten Weltkrieg die Einsicht in das Ganze, die gesamte Pers¨onlichkeit – die seit Descartes getrennt betrachtet und beforscht wurde. W¨ahrend der T¨atigkeit als Beratender Internist im Kriege kam der Gedan¨ ke zum Durchbruch. Ahnlich ging es dem „Physiologen“ Viktor von Weiz¨acker, der zwar mit Krehl in st¨andiger Verbindung war, aber als Arzt im Kriege eigene Beobachtungen und Erlebnisse hatte. Die Hinwendung zu dem Kranken, der vor dem Arzt stand, ver¨anderte die Wertigkeit der vorhandenen und erw¨unschten Masse der anfallenden Labordaten. Der theoretisch vorgebildete Kliniker versuchte, ohne sich dessen bewußt zu sein, die res extensa mit der res cogitans im Sinne Descartes’ in Beobachtung und Behandlung des Kranken zusammenzuf¨uhren. Der Wandel in der Denkart war auch in den folgenden Auflagen des Krehlschen Buches zu erkennen. R. Siebeck, der Sch¨uler, sprach (von der 9. Auflage 1918) von einem ganz anderen Buche. Selbstverst¨andlich war dies eine Wendung, die in der ganzen Welt vielerorts gleichsinnig verlief gerade in einer Zeit, in der die Psychotherapie zur großen Bl¨ute gedieh – und zugleich die Gedanken der Psychosomatik „entdeckt“ wurden: Das war nichts anderes als die Vereinigung der cartesischen res. Wie soll man die vielgepriesene – und unendlich notwendige, aber sehr oft missverstandene, weil isoliert betrachtete – wie soll man die Psychosomatik in die Ordnungsreihe der Krankheitslehre einbinden, wenn nicht die Fessel zwischen Soma und Psyche erkannt, ber¨ucksichtigt und als nutzbar erwiesen wird. Das gilt f¨ur die reine Morphologie ebenso wie f¨ur die reine Psychologie. Gleichwohl ist es oft schwierig, das eine zu erkennen und das andere lediglich aus der selbstverst¨andlichen Zugeh¨origkeit zu erschließen. Schon die fr¨uhmittelalterliche Heilkunde war durchaus zweigeteilt – psychosomatisch. Durch die Auffassung der Krankheit als Strafe Gottes war das
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Ziel der Heilkunde sowohl die k¨orperliche Besserung als auch den Weg zu Gott zur¨uckzufinden, den s¨undigen („ungesunden“) Weg zu meiden. Die modernen Entwicklungen der Medizin in Richtung einer sog. anthropologischen Medizin, der Ganzheitsmedizin, f¨uhren u¨ ber Psychosomatik und praeventive Medizin. Das sind Entwicklungsstufen aber keine grunds¨atzlichen Wandlungen. Wenn ein Arzt der „Schulmedizin“, d.h. doch der geschulte Arzt, sich auf die Naturwissenschaft bezieht, wird leicht angenommen, dass er die Wirkung seelischer Einfl¨usse auf das Krankheitsgeschehen in seiner vorwiegend naturwissenschaftlichen Ausbildung nicht kennengelernt habe, dass er keine psychische, seelisch-geistige Beeinflussung von Krankheitsursache und Krankheitsgeschehen kennt, mindestens nicht anerkennt. Gewiss – es gibt kein Kranksein ohne psychische Komponente. Es gibt Psychosen, die auf das k¨orperliche Befinden einwirken. Psychosomatische Krankheiten in der u¨ blichen Auffassung sind k¨orperlich bestimmt, auch wenn sie zuerst und vielleicht zumeist psychisch imponieren und vielleicht die Psyche die erste therapeutische Erfordernis darstellt. Noch bei Sigmund Freud (1856–1939) hat man den Eindruck des unbefriedigend pathophysiologischen Denkens, das verstellt wird durch den Blick auf die im Vordergrund stehenden Gedanken auf das Seelische. Die seelische Komponente ist ein betont individueller Krankheitsfaktor, der oft nicht ohne weiteres zu erkennen ist, aber zur Krankheitsformung immer in Rechnung gestellt werden muss. Die Fortschritte der eigentlichen psychosomatischen Medizin – wie sie bald genannt wurde – bestanden darin, dass diese nicht nur die Anamnese, vielmehr die Biographie in den a¨ rztlichen Plan aufnahm. M. Seitz nennt das „das lebensgeschichtlich gepr¨agt sein“ des Kranken und der Krankheit. Die naturwissenschaftliche Theorie scheint in der Fortsetzung mit der Psychosomatik zu wanken oder durchl¨ochert zu werden. Sicher bringt die Psychosomatik eine ganz wesentliche Erg¨anzung, auch andere Gesichtspunkte – aber keinen Ersatz. Man kann die Auffassung drehen wie man will, die res cogitans kommt ohne die res extensa – um mit Descartes zu reden – nicht aus. Die Pr¨agung der Krankheit ¨ durch Lebensgeschichte, durch eigene Empfindung und Ahnliches – reproduziert die pers¨onliche Krankheitsformung: Pathogenese. Die Kenntnis der Krankheitsursache, dazu der anatomische Befund, besagt nicht immer Allgemeing¨ultiges u¨ ber die Pathogenese als Krankheitsmechanik und Krankheitsreproduktion des Einzelnen. Das sind die Schwierigkeiten f¨ur den Arzt bei Behandlung und bei Prognosestellung. Zun¨achst: wie nimmt ein Kranker seine Krankheit auf und auch, was macht die Krankheit aus ihm, wie ver¨andert sie seine Schwerpunkte. Das alles nicht nur bei der erschreckenden Diagnose des Krebses, sondern auch bei jeder Form einer Diagnose, die der Arzt dem Kranken darzubringen hat: Wie er sich gegen die Krankheit wehrt, wie er mit ihr umgeht, wie er sich mit ihr auseinandersetzt. Es ist dies eine geistige Form nicht nur des Einzelnen, sondern auch der Gesellschaft, vorab der Familie, und auch des Arztes.
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Die Zuwendung an den Kranken ist eine naturwissenschaftlich unterbaute geisteswissenschaftliche Tat. Das Kranksein ist ein menschliches Grunderlebnis (Schipperges, 2003). Die Krankheit ist die pers¨onlichste, personalste der menschlichen Reaktionen bestimmt durch somatische Krankheitsvorg¨ange im Organismus und bestimmt durch die Individualit¨at des Krankheitserlebnisses, wie die Krankheit sein geistiges Gebiet beherrscht und wie er sich geistig auf die neue Situation einstellt. Durch die Zusammenstellung und die Zusammenwirkung der beiden „res“ erkl¨art sich die Individualit¨at der Krankheit in Hinsicht der Biologie der Pers¨onlichkeit, die Krehl in die Krankheitslehre eingef¨uhrt hat. Dies alles bestimmt die individuelle Pathogenese. Die plastische Krankheitsformung im Individuum im Rahmen der beiden „res“ verursacht die Schwierigkeit der Beurteilung des individuellen Krankheitsgef¨uhls, der individuellen Krankheitsbeschreibung, der pers¨onlichen Annahme und der pers¨onlichen Ertr¨aglichkeit der Krankheit. So macht die Krankheitsformung (Pathogenese) sichtbar, wie Krankheit k¨orperlich (somatisch), und cognitiv (geistig-seelisch) akzentuiert und daher individuell verarbeitet und geformt wird. Die Bedeutung der Pathogenese kann nicht ohne Beachtung der beiden „res“ gesehen werden. Nicht nur die Psychosomatik – im wahrsten, also w¨ortlichen Sinne – weist den Arzt auf die Doppelnatur des Menschen hin. Der Kranke muss erfasst werden in der individuell gest¨orten Physiologie mit der – dadurch! – gest¨orten Pers¨onlichkeit, Geistigkeit, mit seinem menschlichen Dasein und Anderssein. Das ist eine a¨ rztliche – und keine rein naturwissenschaftliche – Aufgabe. Dadurch wird klar: die Medizin ist mehr als nur eine Naturwissenschaft! Die Medizin muss in dem jeweiligen Krankheitsfall die Beschaffenheit des ganzen Menschen erfassen – sozusagen das Ph¨anomen des Menschen. Es wird Virchow der Vorwurf gemacht, er sei – als Kind seiner Zeit – einseitig mechanistisch, eben „nur“ naturwissenschaftlich ausgerichtet. Dazu lese man die ¨ Folgerungen, die er f¨ur die Uberwindung der oberschlesischen Krankheitslage in seinem Erlebnisbericht – 1848! –, also lange vor der Zellularpathologie, zieht. Sie sind durchaus fortschrittlich und weit seiner Zeit voraus. Trotzdem ist er naturgem¨aß ganz Sohn seiner Zeit, allerdings mit der klaren Sicht der Gesamtverh¨altnisse des Kranken und der Krankheit. Durch die unmittelbare Beobachtung der Krankheitsausbreitung werden ihm damals auch die allgemeine, die soziale Seite des Krankseins bewusst (die viel sp¨ater in verzerrtem Sinne in die Krankheitsvorstellung der UNESCO Aufnahme gefunden hat). Alle modernen Heilmethoden beruhen auf dem naturwissenschaftlichen Gedanken, der einerseits durch die Molekularbiologie weiter verfolgt, andererseits
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durch die psychische Komponente komplettiert wird (was in der modernen molekularen Neuropathologie kein Gegensatz ist oder sein m¨ochte). Der naturwissenschaftliche Gedanke hat die Krankheitslehre erobert – die Krankheitslehre hat den einheitlich naturwissenschaftlichen Gedanken in Besitz genommen. Unter diesem Gesichtspunkt m¨oge man die „Heiler“ und die „alternative Medizin“ betrachten, die immer in scheinbarem Gegensatz zu der „geschulten Medizin“ („Schulmediziner“) genannt werden. Die Alternativen (und auch die Hom¨oopathen) sagen, sie vertrauen den Heilkr¨aften der Natur. Kein Schulmediziner kann auf diese Kr¨afte verzichten! Ist es aber nicht auch etwas durchaus nat¨urliches, wenn das nicht voll wirksame Enzym, welches die ¨ – unterst¨utzt Harns¨aure abbaut, durch ein Medikament – z. B. Allopurinol u. A. oder gar ersetzt wird? Ist es gegen die Natur gerichtet, wenn das Vitamin B12 durch eine Injektionsspritze zugef¨uhrt wird, wenn es nat¨urlicherweise nicht gen¨ugend vorhanden ist – ist es gegen die Natur, wenn durch Antibiotika zellzerst¨orende Keime abget¨otet werden, damit die Zelle lebt? Der Unterschied zwischen der naturwissenschaftlichen Bildung und dem a¨ rztlichen Beruf zeigt sich bei der Anlage des Medizinstudiums, das rein theoretische F¨acher n¨otigerweise auff¨uhrt und solche, die dem Kranken zugewandt sind. Darauf: auf dieser Doppelk¨opfigkeit beruht der akademische Gedanke des Medizinertums. Der Mediziner ist der Naturwissenschaftler, der Arzt ist der naturwissenschaftlich gebildete Helfer, der den Kranken in seiner ganzen personalen Individualit¨at sieht.
15 ¨ ein Jahrhundert Was war das fur in Biologie! und Medizin!
Die Entwicklung der Physik und Chemie ergaben den Hintergrund f¨ur die aufkommende naturwissenschaftliche Denkweise der Medizin, die durch die Zellenlehre – als Instrument und Methode – zu neuem, logischem Krankenverst¨andnis kam. Aus diesem „Jahrhundert der Naturwissenschaft“, wie es W. Siemens (1886) nannte, haben sich die u¨ ppig sprießenden Triebe der Medizin aufgesplittert zum 20. Jahrhundert hin – und erneut insbesondere nach dem II. Weltkrieg. Die klinische Medizin fand sich zusammen mit der in voller Entwicklung begriffenen Physik und Chemie. Beide wurden von der Medizin als „Hilfswissenschaften“ benutzt. Methodisch greift die Medizin immer um sich! Dann die Entdeckung der pathogenen Bakterien mit dem grundlegend neuen Krankheitsursachenbegriff. Pathogene Bakterien dringen in den Organismus ein und besetzen – oder zerst¨oren – die befallenen Zellen. Sie provozieren eine o¨ rtliche oder allgemein organisierte, organismische Reaktion. Und dann die Pathologische Physiologie, die o¨ fter angemahnte Lehre von der Funktion auch in kranken Tagen. Wie verh¨alt sich die Krankheit zu Zeiten der gest¨orten Funktion – auch aus pathologisch-anatomischer Sicht. Wie wirkt sie auf die Regulation und Korrelation des Gesamtorganismus? Fr¨uhzeitig (1847) hat Virchow die Pathologische Physiologie als Zielansprache formuliert – und sie in das Programm seines Archivs aufgenommen. Erst als die Krankheit „naturwissenschaftlich“ geworden war, konnte die Physiologie der Krankheit erfasst werden. So hat die Medizin – wie auch die gesamte Biologie – in diesem Jahrhundert umst¨urzlerische Fortschritte gemacht. Der allgemeine naturwissenschaftliche Gedanke war ausgebreitet worden bis zu Selbstverst¨andlichkeit nach dem Verst¨andnis und der Verselbstst¨andigung, nach der Aufkl¨arung der bakteriellen Krankheitsursachen und der Abwehrmechanismen. In dieser kaum erst konsolidierten Lage kam die „Darwinsche Wende“. Es war wie eine Revolution der Biologie: die Abstammungslehre von Charles Darwin (ohne unmittelbare Beziehung zum Krankheitsbegriff). Darwin geh¨ort nicht zu dem Bilde des bisher betrachteten naturwissenschaftlichen Einbruchs in die Medizin. Dennoch ist er eine Hauptfigur in der Biologie der Epoche. Er brachte f¨ur die allgemeine Biologie einen Paradigmawechsel (Cramer, 1986).
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Darwin bearbeitete die Entwicklung w¨ahrend der Descendenz von Pflanzen und Tieren – wie auch des Menschen – er u¨ bersah die gesamte Biologie, sein Feld war vor allem in der Zeit unbegrenzt. Er sah die Beziehungen aller Lebe¨ wesen zueinander, ihren Einfluss und ihre Abh¨angigkeiten, die Uberg¨ ange der verschiedenen Arten in einem Zeitraum von Millionen Jahren. Etwa um die gleiche Zeit, in der die Bakteriologie ihren Siegeszug zur Erkennung von Krankheitsursachen nahm, kam die Evolutionslehre von Charles Darwin. Sie trat bald in den Mittelpunkt der gesamten Biologie. Noch wurde das 19. Jahrhundert als das der Naturwissenschaft (W. v. Siemens) genannt. Der Physiker E. Schr¨odinger sieht sich veranlasst, dieses Jahrhundert als das der Deszendenztheorie bzw. der Entwicklungsgeschichte zu nennen. Durch die Deszendenztheorie kam eine Wendung des allgemeinen Interessens an der Biologie. Sie ist begr¨undet auf der Ph¨anomenologie und wurde durch die Genetik im folgenden Jahrhundert gest¨utzt und erg¨anzt. Mit der Welle der Deszendenztheorie von Darwin kam eine v¨ollige Ver¨anderung der Interessen der Biologie. Jeder naturwissenschaftlich Interessierte war ganz beherrscht von Darwin und seinen Theorien – von der Deszendenzlehre, der Evolution, von Selektion und Mutation. Es war wie ein „neuer pythagoraeischer Lehrsatz“ (L. Boltzmann). Wie stets bei umfassenden Neuerungen blieb Virchow auch bei der Deszendenztheorie zun¨achst bedeckt, wie er immer gegen¨uber neuen Theorien distanziert sich a¨ ußerte. Immerhin schrieb er: „im Herzen bin ich Darwinist, wie ich im Herzen Kosmopolit bin“ (Arch. 70, 1877). Laut dieser Aussage ist er sich der zeitlichen ¨ „Ubergr¨ oße“ des Arbeitsgebietes von Darwin bewusst. Das veranlasste Haeckel zu seiner Aussage, dass Virchow den Lehren Darwins seine „kaltbl¨utige Anthropologie“ entgegensetze. So war Virchows Art – k¨uhl, zur¨uckhaltend, aber bestimmt – obwohl die Deszendenztheorie seine anthropologischen und praehistorischen Interessen ber¨uhrte. Mehr noch war die Aufmerksamkeit geweckt durch das Schlagwort von dem „Kampf ums Dasein“ und von der ihm zugeschriebenen Abstammung des Menschen vom Affen. In welch geradezu unerh¨orten Weise die Theorien Darwins in der gebildeten Bev¨olkerung in Verallgemeinerungen erlebten, zeigt das Beispiel von Ernst Haeckel. Der Zoologe in Jena besch¨aftigte sich mit der Systematik der Einzeller und mit großen Entwicklungsz¨ugen der Tierwelt. Er gab prachtvolle Atlanten mit hervorragenden Zeichnungen heraus. Haeckel hatte sich mit der Entwicklung der Tierarten besch¨aftigt und ein „Biogenetisches Grundgesetz“ aufgestellt. Von der vergleichenden Entwicklung des Einzelwesens kam er zu der Evolutionstheorie und Deszendenzlehre von Darwin. Er verstand sich als Missionar – bis zum Religionsgr¨under („Monismus“) – von Darwin, dessen Lehre er mit Vehemenz, mit Intoleranz und gelegentlich auch ohne Anstand vertrat.
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Die Lehre besteht in der Erfassung des Einheitsgedankens als Ursprung aller Evolution u¨ ber die Zeiten. Als die Gesetze der Vererbung – sp¨ater – erarbeitet worden waren, fanden die Ergebnisse beider Forschungsrichtungen zusammen. Darwin war eine Generation vor Gregor Mendel (1822–1884), dessen Erbgesetze erst um die Jahrhundertwende anerkannt wurden. Darwin war ein Jahrhundert vor der Entdeckung der Zytogenetik, der Doppelhelix (1953). Diese bilden „Grundwissenschaften“ zur Einf¨uhrung dessen was Darwin in seinen Vorstellungen voraussetzt. Die Darwinsche Entwicklungslehre hatte (und hat?) Schwierigkeiten, zur Selbstverst¨andlichkeit zu werden. Sie war revolutionierend f¨ur die Biologie der Abstammungslehre. Darwins Lehre wurde in drei Grundwerken dargelegt: „Die Entstehung der Arten durch nat¨urliche Zuchtwahl“ 1859 „Die Entstehung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ 1871 Schließlich: „Der Ausdruck der Gem¨utsbewegungen bei Menschen und Tieren“ 1872. Es waren in Darwins Lehre einige Stromschnellen f¨ur die Einsicht der Gesellschaft. Seine Lehre nahm erheblichen Einfluss auf das gesellschaftliche Denken; damit war ein reichliches Maß an Unverst¨andnis verbunden. Die Lehre gab zu ausgedehnten o¨ ffentlichen DiskussionenAnlass – weil sie, wie derAutor, ein gelernter Theologe, voraussah – gegen tief verwurzeltes wissenschaftliches und religi¨oses
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Gedankengut in Gegensatz kam. Sie w¨uhlte die Gem¨uter auf, gerade weil sie nicht ¨ unmittelbar erfahrbar, erst in der Ubersicht langer Zeitl¨aufe erkennbar war. Die Evolutionslehre wurde von der Fachwelt angenommen. Aber es wurde dar¨uberhinaus eine ideologisch bestimmte, biologische Volkslehre daraus (bis zu Ausw¨uchsen des „Sozialdarwinismus“), die sich auch im „Neodarwinismus“ a¨ ußerte. Darwin hatte in den verschiedenen Kreisen Gegner – und hat sie noch. Er litt unter den wissenschaftlichen und pers¨onlichen Anw¨urfen, aber er verteidigte seine Theorien nur selten, er beteiligte sich nie an o¨ ffentlichen Diskussionen und ging nur selten aus seinem Hause in der N¨ahe von London. ¨ Es kam eine breite Diskussion in der Offentlichkeit auf, sicher wesentlich bedingt durch das Phaenomen der „Affenabstammung“, durch das Schlagwort vom „Kampf ums Dasein“, aber auch durch die Opposition gewisser theologischer Kreise. Wenn auch die „Affentheorie“ so nie, wie sie im Volke verbreitet, ausgesprochen worden war, machte sie im Denken des Volkes, auch in der Laienpresse, ja in Witzbl¨attern eine ungeheure „Karriere“.
16 Virchow und die Anthropologie
Virchow hatte die Krankheit als eine Form des Lebens gesehen, als Lebens¨außerung, als Eigenart der menschlichen Reaktionsform. Das Konzept der Krankheit als menschliche Reaktionsform erf¨ullte Virchow mit der Neugier, nach anderen Reaktionen des Menschengeschlechts zu anderen Zeiten und in anderen Kulturbereichen zu suchen. Der entscheidende Punkt scheint zu sein, dass Virchow nachdem er die Krankheit als die besondere Reaktionsm¨oglichkeit des Menschen ansah und den Weg zum System und zur Katalogisierung in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten gezeigt hatte, dass er nun die menschlichen Reaktionen im weitesten Sinne und in fr¨uheren Zeiten mit deren Entwicklung auch in anderen Kulturkreisen erkennen wollte. Und er erweiterte seine Auffassung von den menschlichen Eigent¨umlichkeiten auf eine ganz andere Weise. Nach 20-j¨ahriger T¨atigkeit in der Pathologischen Anatomie wandte sich Virchow schwerpunktm¨aßig einem scheinbar neuen Arbeitsgebiet zu, ohne sich von der Pathologischen Anatomie abzuwenden. Er lehrte Pathologie nach wie vor an der Berliner Universit¨at (wenngleich er den Studentenunterricht h¨aufig vernachl¨assigte). Er selbst arbeitete aber nicht mehr kreativ auf diesem Gebiet. Wenn ich recht sehe, sind die Trichinenexperimente an Hunden die letzen eigenen Versuche (um 1860). Dennoch erschienen in seinem Archiv regelm¨aßig Arbeiten mit Beobachtungen pathologisch-anatomischer Art. Virchow schrieb diskussionsreiche, oft in scharfem Ton gehaltene Aufs¨atze zur Zellularpathologie (z. B. „Die Kritiker der Zellularpathologie“ Arch. path. Anatomie 18, 1–14, 1860). Er hielt fast in jedem Jahr Referate bei den Tagungen der Deutschen ¨ Gesellschaft der Naturforscher und Arzte mit allerdings mehr allgemein medizinischen Themen. Er war also „auf dem Laufenden“ bei der Beobachtung der Medizin als Ganzem und der Pathologie im Besonderen. Seine eigene Reaktion auf die scheinbar „einseitige“ naturwissenschaftliche Auffassung des Menschen war eine ganz unerwartete. Sein Bed¨urfnis nach Vollst¨andigkeit ging in eine andere Richtung. Es erfolgte eine Verlegung des Schwerpunktes seiner kreativen Arbeit, seiner wissenschaftlichen aber auch menschlichen Neugier in die Richtung der Anthropologie. Eigenartig deswegen, weil die „Zellularpathologie“ zwar – fast – allgemein anerkannt war, aber noch vieler M¨uhen zur Unterbauung bedurfte. Virchow reagierte anders, „eigenartig“. Er, der pathologische Anatom, der Somatiker schlechthin, hatte offensichtlich das Bed¨urfnis, den Menschen „dar¨uberhinaus“ zu erfassen.
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16 Virchow und die Anthropologie
Seine so fast totale Hinwendung zur Anthropologie ist aus dem Bestreben zu verstehen, dass er den ganzen Menschen in seinen Reaktionen erfassen und so „die Schnittstellen, des Somatisch-psychischen, des Sozialen, des Ethnischen und des Politischen“ (Schipperges, 2003, S. 104) aufzeigen wollte. Es ist eigenartig, dass Virchow in diesem Zusammenhang auf den Begriff Anthropologie Rekurs nimmt, der neben der unterschiedlichen fr¨uheren Nutzung gerade in der gleichzeitigen Philosophie bewusst gemacht und ausgerechnet von Schelling und Novalis ausgearbeitet wurde. Diese Philosophen kennt Virchow und hatte sie fr¨uher als Vertreter der Romantischen Naturphilosophie bek¨ampft. Der Begriff Anthropologie als Lehre vom Menschen wird wegen der umfassenden Zielsetzung je nach dem Ausgangspunkt der Gedanken nicht einheitlich und immer wieder neu gefasst und gebraucht. Die verwirrende F¨ulle und die vielf¨altigen Schicksalswege des Gebrauchs des Begriffes Anthropologie hat Axel Bauer (1984) aufgezeigt. Hier ist nur von dem Anthropologie-Begriff die Rede, den Virchow gebraucht – und f¨ur seine Zwecke zurecht gestutzt hat. Er ist „ganz anders“, als er fr¨uher in Philosophie und auch in der Naturgeschichte gebraucht wurde. Man kann Virchows Anthropologie-Begriff unter Ausschluss allen bisherigen Gebrauchs als „Entwicklungsgeschichte des Menschseins“ bezeichnen. Virchow besch¨aftigte sich in seiner Anthropologie mit der Entwicklung des t¨atigen Menschen. Auch wird in der Anthropologie die Anpassung an die Umwelt und ihrer Gesch¨opfe, in der Aktivit¨at des Menschen gerade in Hinblick auf diese seine Umwelt – Jagd –Ackerbau – in der Herstellung von Gebrauchsgegenst¨anden, Steinkeilen, dann auch Metallger¨ate, um nur einige Beispiele des weiten Feldes zu nennen. Damit ist die Pal¨aontologie („Pal¨aoanthropologie“) ein Gegenstand dieser Forschungsrichtung. Die Anthropologie sammelt Zeugnisse der Wehrhaftigkeit, also Waffenherstellung, z.T. nicht nur zu Jagdzwecken. Es werden Schl¨usse zu ziehen sein aus aufgefundenen T¨opferwaren (und deren Stile). Damit kann man die Entwicklung des Menschen in seiner und zu seiner Umwelt erkennen, was er f¨ur seinen Alltag lernt, was er gebraucht und selbst herstellt – welche Kleidung ihn gegen die K¨alte sch¨utzt – Leder, Schafwolle o. a¨ . („Anthroposoziogenese“). Es bieten sich bei der Erkennung des Umfeldes fr¨uherer Menschen Untersuchungen u¨ ber Pfahlbauten bis zu den heutigen Hausbauten an. Virchow hat sich mehrfach mit den pommerschen Schutzwallanlagen besch¨aftigt. Die Anthropologie zeigt die Fortf¨uhrung der F¨ahigkeiten des Menschen. Mit der Darstellung der Lebensgebrauchsgegenst¨ande wird die Frage nach der Kommunikationsm¨oglichkeit, bis hin zu Sprache und Schrift, aktuell. Mit der Andeutung nur einzelner Forschungsgegenst¨ande der Anthropologie ist die Weite und die Gr¨oße des Arbeitsfeldes nur gering erfasst. Jede Zeit hat ihre eigene Vorstellung von der Anthropologie, weil jede Zeit sich in eigener Weise mit dem Problem des Menschen und der Menschheit in Entwicklung, Gedanken, Besonderheiten besch¨aftigt.
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Der Begriff Anthropologie ist zu allen Zeiten und in allen Geistesrichtungen vielf¨altig benutzt worden. „Es hat nie eine Heilkunde gegeben, die auf ihre anthropologische Dimension Verzicht geleistet h¨atte“ (Schipperges, 1972). Wenn man sich auf die Medizin allein beschr¨anken will, muss man das Zeitalter und seine geistige Situation zum Verst¨andnis heranholen. Vor Virchow hatte die „Anthropologie“ sowohl in der Medizin als auch in der Philosophie bis zu I. Kant (1798) einen festen Platz und wurde – wenn auch zeitlich unterschiedlich – behandelt (vgl. dazu A. Bauer, 1984). Nach Virchow hatte der Begriff Anthropologie z. B. in der Philosophie (A. Gehlen, M. Scheler) einen besonderen Stellenwert erhalten. Sp¨ater gibt es eine „Neue Anthropologie“, die H. G. Gadamer und P. Vogler (1974) zusammen mit Naturwissenschaftlern, Medizinern, Historikern, Philosophen u. v. a. m. erstellt haben. Die heutige Anthropologie ist der Psychologie angelehnt und zu einem Grossteil „Verhaltensforschung“. Dies sind nur einige Stationen auf dem langen Weg der wissenschaftlichen Anthropologie: Keine Zeit ohne ihren eigenen nur in der und durch die Zeit verstehbaren Anthropologie-Begriff. Virchow sprach wegen der auch von ihm nicht u¨ berschaubaren Vielfalt der Begriffsbenutzung von der „Anthropologie im weitesten Sinne“. Auch f¨ugt Virchow seinen Anthropologie-Studien die Bemerkung an „wie ich sie verstehe“. Virchows Anthropologie-Vorstellung war unabh¨angig von den Begriffen in Philosophie und Naturwissenschaft, in Religion und Alltag, in qualifizierter und unqualifizierter Form. „Als Anthropologie versteht Virchow – bereits 1849 in den Einheitsbestrebungen – eine auf dem a¨ rztlichen Bereich basierende und das gesamte menschliche Wesen umfassende Erfahrungswissenschaft“ (Schipperges, 1972). In der „Oberschlesienreise“ (1848) sagt er, dass f¨ur die Ausf¨uhrungen seiner theoretischen Anregungen der „Anthropolog“ zust¨andig sei. Das war also hier ganz anders wie sp¨ater der Politiker und Verwaltungsmann, der mit dem menschlichen Alltag zu schaffen hat. Virchow will keine Einengung der Anthropologie-Lehre. Alles, Entwicklung, Bef¨ahigung, T¨atigkeit, Umfeld, Umwelt – alles, was der Mensch kann, macht und mit sich ausf¨uhrt – das geh¨ort zur Anthropologie. Man muss auch in dem Gedankenspiel eine Br¨ucke sehen. So wie sich Virchow f¨ur die Krankheit als die menschlichste aller menschlichen Reaktionen nicht nur interessierte, sondern durch sein „Prinzip“ in gedankliche Ordnung gebracht hat, so wollte er auch in Anthropologie und Ethnologie eine prinzipielle Ordnung herbeif¨uhren, vielleicht sogar schaffen. Um es primitiv zu sagen: Virchow wollte, so wie es ihm in der Krankheitslehre gelungen ist, in der „Omnis“ – Formel eine Basis zu schaffen, so wollte er auch eine gemeinsame Basis der Anthropologie finden. Dass dann die Ethnologie und die Pal¨aontologie so wie die allgemeine Kulturgeschichte logischerweise hinzukamen, schien ihm u¨ ber den Kopf zu wachsen.
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Dass er bei dieser F¨ulle keine „Omnis“ Formel finden konnte, war die bald erkannte Tragik und Unm¨oglichkeit dieser Arbeitsrichtung. In diesem Felde hat er viel angestoßen, sah auch Erfolge aber der epochale Durchbruch war unm¨oglich. Die bahnbrechenden Erfolge in der Medizin waren f¨ur Virchow Verlockung und Verf¨uhrung auch in dem neuen Arbeitsgebiet durch die Anwendung einer Methode ¨ zu Ordnung und Ubersicht zu kommen. Was dem menschlichen Organismus mit der verschiedenen Funktion der Einzelzellen, der Gewebe und Organe in ihrer Funktion untereinander entspricht, das findet sich wieder in einer menschlichen Gemeinschaft – so war der Grundgedanke. Freilich wollte er, der gerade den naturwissenschaftlichen Gedanken in die Medizin hineingetragen hatte, die Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen in allen Zeiten und allen Kulturen mit naturwissenschaftlicher Methode erfassen. Die fast hauptamtliche Zuwendung zur Anthropologie kann, wenn auch nicht auf den ersten Blick, in ihren Wurzeln erkannt werden. Nicht nur, dass sich Virchow seit seiner Jugend mit den kulturellen Dingen aller Zeiten befasste. Wie wenig Virchow den „Ausbruch“ seiner wissenschaftlichen Aktivit¨aten aus seiner bisherigen Arbeit als solchen empfunden hat, zeigt sich daran, dass er schon vor und zu seinen „Pathologie-Zeiten“ in mehreren Aufs¨atzen u¨ ber medizin-kulturhistorische Themen, z. B. u¨ ber die Geschichte der Pest und vor allem der Pestspitale in seinem Archiv gehandelt hat. Das sind kulturgeschichtlich genau recherchierte Darstellungen, zu denen er die (spontane?) Hilfe von vielen Fachkundigen und vor allem o¨ rtlichen Mitarbeitern in Anspruch nahm – so wie er kurze Zeit sp¨ater die Altert¨umer und die Inhalte der Heimatmuseen in seine Untersuchungen mit einbezog. Der Weg Virchows zur Anthropologie zeigte ihm klar, dass nach Erkennung des naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffes – also des kranken Menschen – die Natur des (gesunden) Menschen nur fassbar ist in der Sicht seiner kulturellen Entwicklung. Um die gleiche Zeit wird der Entwicklungsgedanke in der Biologie durch Charles Darwin das beherrschende Diskussionsthema der Naturgeschichte, ja der Kulturgeschichte schlechthin. Die Evolutionslehre Darwins beobachtet einen ungleich gr¨oßeren Zeitraum als die Anthropologie, selbst wenn diese die Pal¨aontologie mit einbezieht. Wir wollen hier den Begriff Anthropologie so gebrauchen, wie ihn Virchow gemeint und benutzt hat, n¨amlich in Beziehung zu der menschlichen Reaktionsweise in verschiedenen Kulturen und in allen Zeiten von der Praehistorik bis zur Gegenwart. „Anthropologie“ ist die Lehre von der menschlichen Reaktionsweise auf die Umwelt, die menschliche F¨ahigkeit sich mit der Umwelt rezeptiv und kreativ auseinanderzusetzen, sich anzupassen und mit ihr sich zu entwickeln, sie zu nutzen, sie zu beeinflussen, zu lenken. Er sieht darin einen Treffpunkt der Naturwissenschaft mit der Geschichte. Virchow m¨ochte die Entwicklungsphasen des Menschengeschlechts in den ver-
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schiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen kennenlernen und aufzeigen. Er beschreibt bei der Anthropologie auch das Verhalten unterschiedlicher Menschheitsgruppen (in seinem Falle besonders der Slawen), auch wie sich die V¨olker kriegerisch auseinandersetzen und ausrotten. Die Anthropologie soll erfassen, wie durch Handwerk – von der Keramik bis zum Hausbau – der Mensch sein Leben gestaltet hat. Virchows Lebensgnade ist, dass er schon fr¨uh – mit 25 Jahren! – sein naturwissenschaftliches Ziel erkannt und durchgesetzt hat. Es war sein Lebensgl¨uck, dass er seine Begabungen – und Neigungen! – so zu einer pers¨onlichen Vollkommenheit bringen konnte. Er konnte dann – sicher durch seinen Bekanntheitsgrad in der medizinischen Wissenschaft beg¨unstigt – seinen anderen wissenschaftlichen Gedanken in dem neuen Fach verfolgen. Oder war es eine zweite wissenschaftliche Leidenschaft, die schon lange in ihm keimte und die er jetzt gerne verfolgte? Er konnte der Anthropologie nachgehen, daneben seine politischen Ziele verfolgen. Beides ist nicht von außen herangetragen, sondern liegt in der Begabung seiner Pers¨onlichkeit. Der Weg, den Rudolf Virchow in der Medizin – in seinen jungen Jahren – ¨ zur¨uckgelegt hat, n¨amlich durch die Uberwindung der Naturphilosophie zu der Naturwissenschaft, den gleichen Weg sah er jetzt vor sich in dem un¨ubersichtlichen vielf¨altigen „ungeordneten“ Gebiet der Anthropologie. Das „Prinzip“, das ihn zu dem Krankheitsbegriff gef¨uhrt hatte, wollte er u¨ bertragen auf die somatische und kulturelle Entwicklung des Menschengeschlechtes. Er glaubte, dass das menschliche, – das anthropologische – Moment mit wissenschaftlicher Methode zu erarbeiten sei. Vielleicht schwebte ihm vor, dass er ¨ auf diesem Gebiet auch eine Systematik der Außerungen und Entwicklungen erkennen k¨onne. Anthropologie, eine Wissenschaft, die sich bem¨uht, das Individuum kennenzulernen und einzuordnen in den Kreis der Menschenart, in den verschiedenen Lebens¨außerungen, in anderen Kulturen und andererseits das Menschliche zu anderen Zeiten im Gegen¨uber mit der Natur herauszuarbeiten. z. B. in Form der Individualpathologie, der Konstitutionslehre, der nat¨urlichen Ungleichheit der Menschen, Alter und Sterben – das menschenspezifische in allen Reaktionsformen zu finden. Sollte es nicht gelingen, in der Anthropologie mit der Vielfalt der Folgebereiche – Anthropologie, Ethnologie, Praehistorie, Gesellschaft, Ausgrabungen, Volkskunde etc. – eine a¨ hnliche Ordnung zu schaffen? Er hat das Problem der u¨ berbordenden Vielheit erkannt und versuchte es – nach Art der Zellenlehre und der Zellularpathologie – zu organisieren. Bei der mit soviel Energie betriebenen Physiologischen Anthropologie mag er keinen so augenf¨alligen Erfolg gehabt zu
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haben, wie er sich das erhoffte. Die F¨ulle seiner eigenen anthropologischen Arbeiten zeigt die Vielfalt seiner Interessen, vor allem die gewollte Aufzeigung und Unterschiedlichkeit dieses „chaotischen Forschungsgebietes“. Sollte es nicht ebenso m¨oglich sein, die menschlichen Zeugnisse der Kultur fr¨uherer Zeiten Kulturgegenst¨ande, Gebrauchsgegenst¨ande, Totenpflege, Waffen, Hausbau, Trachten u.v.a.m., sollte es nicht m¨oglich sein, alles dies zusammenzutragen und als Zeichen der menschlichen Reaktionsweise sowohl in seiner K¨orperlichkeit (vgl. Sch¨adelvermessungen) und seiner kulturellen Aufnahme der Umwelt (z. B. Lausitzer Keramik), in seiner unterschiedlichen Reaktion auf die Umgebung, in verschiedenen Kulturen und verschiedenen Zeiten – im Vergleich – zu erfassen? Virchow hatte die Hoffnung, in der Anthropologie einen Ausgangspunkt in Richtung der Ordnung auch der allgemeinen Reaktionsweise zu finden, wie es in dem individuellen Organismus der Fall war. Das Interesse war vorbereitet: Der junge Rudolf Virchow hat schon w¨ahrend seiner Schulzeit in Schivelbein sich mit den Zeugnissen der Vorzeit in seiner Heimat – Pommern – im Grenzbereich der Kulturen zu der slawischen Urbev¨olkerung befasst. Er publizierte als junger Mann – und noch als Prosektor an der Charit´e in den „Baltischen Bl¨attern“ – u¨ ber die Geschichte seiner Heimat. Er verlor diese Interessen nie aus dem Auge und wurde aktiv z. B. w¨ahrend sp¨aterer Urlaubstage mit der Familie. Er beschrieb fr¨uhzeitig die charakteristische Keramik in dem deutsch-slawischen Grenzbereich und bezeichnete sie als Lausitzer Typ. Unter Lausitzer Kultur aus der f¨uhren Bronzezeit (15.–7. Jahrhundert v. Chr.) verstand Virchow die Keramiken, Buckelvasen, Gesichtsurnen, auch Burgwallforschung, an Slawengr¨abern, an Bauten aus dem 11. Jahrhundert. Nebenbei: Diese Keramikformen verglich Virchow sp¨ater mit den Funden aus der Troas. In der W¨urzburger Zeit beschrieb Virchow das „Spessarthaus“ (Roth 1986) anl¨asslich seiner Forschungsreise zu der „Noth im Spessart“ (Verhandl. phys.med. Ges. W¨urzburg III, 1852). Die praehistorischen Forschungen Virchows wurden von Chr. Andree (1976) in einem grundlegenden Werk beleuchtet. Wie alles, was Virchow anfing, bearbeitete er im Grossformat und mit letzter Konsequenz. So auch die Anthropologie. In seiner W¨urzburger Zeit hat Virchow die Sch¨adel von Kretins aus dem Frankenland vermessen und die Besonderheiten herausgearbeitet. Er beschrieb noch in W¨urzburg in einem grundlegenden Werk die Entwicklung der Sch¨adelbasis. Es waren nicht nur die Sch¨adelmessungen, die er unabl¨assig in allen Landen, wohin er kam, ausf¨uhrte, Sch¨adelmessungen f¨uhrte er unabh¨angig von Krankheitsf¨allen immer wieder in großem Stile weiter, je nach dem Material, das er erhalten konnte („bradycephal, mesocephal, dolichocephal“). In Berlin hatte er ganz andere M¨oglichkeiten. So ließ er in einer groß angelegten von ihm organisierten Aktion Schulkinder vermessen, dazu Aufzeichnungen
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der Haarfarbe und der Augenfarbe. Dabei kamen ihm sein wissenschaftlicher Bekanntheitsgrad und seine politische Stellung zu Hilfe. Ohne hier auf weitere Einzelheiten einzugehen: Das Bestreben, physiologische Untersuchungen zur Anthropologie zusammenzustellen, m¨undet in der großen Volksuntersuchung an u¨ ber einer Million Schulkindern in Haar-, Augen- und Hautfarbe, dazu Kopfformen. Der Schluss, den Virchow aus allen medizinischen und statistischen Untersuchungen zog, liegt in der summarischen Feststellung, dass eine rein erhaltene Rasse nicht besteht. Das war auch, als er sich den Sch¨adeln der Bev¨olkerung aus Kaukasus und Troja zuwendete, das gleiche Ergebnis der mangelnden Einheitlichkeit. In der Anthropologie war zun¨achst ein Forschungsgebiet von ungeheurem Ausmaß abzustecken mit einer Vielzahl von physischen und kulturellen Gesichtspunkten – ein Programm, das mit der jahrhundertlangen Tradition, der Vielfalt der Ansatzm¨oglichkeiten, der Unterschiedlichkeit der Beurteilung erst erkannt und angestrebt werden musste. Er suchte in der Entwicklung des Menschengeschlechtes eine konkrete Ordnung in der Unordnung der Vielheit. Wir wissen, dass eine derartige Ordnung praktisch unm¨oglich ist und daher in der angestrebten Weise nur unvollkommen – und nur in Einzelst¨ucken – gelang. Es gibt daher gar keinen Zweifel, dass die Ergebnisse der anthropologischen Forschung weit hinter denen in der Medizin zur¨uckbleiben mussten. Aber aus diesem Bestreben erwuchsen neben vielen anderen z.T. o¨ rtlichen Aktionen, vielfach die Heimatmuseen. Es wurde das breite Bewusstsein f¨ur Sitten und Gebr¨auche fr¨uherer Zeiten geweckt. Um eine organisierte Basis dieser Interessen zu haben, gr¨undete er die Berliner (1869) und auch die Deutsche Anthropologische Gesellschaft (1870). Virchow wusste, dass vielerorts Lehrer und Pfarrer – Hobby-Forscher w¨urden wir heute sagen – die Zeugnisse fr¨uher Kultur in den jeweiligen Heimatorten sammelten und f¨orderten. Diese Kr¨afte wollte Virchow zusammenfassen, um ihnen einen R¨uckhalt und eine sachverst¨andige Hilfe zu bieten. Damit wollte er das dabei u¨ berreich anfallende Material einheitlich erfassen und den einzelnen Forschern eine Publikationsm¨oglichkeit er¨offnen. In der von ihm redigierten „Zeitschrift f¨ur Ethnologie“ und in den „Verhandlungen der Berliner Gesellschaft f¨ur Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ wollte er alles wissenschaftlich sammeln, was fr¨uhgeschichtlich, rassenartig, im u¨ berkommenden Volkstum bis zur Jetztzeit – Trachten etc. – bekannt und zu erfassen war. Es sollten die Zeugnisse der nat¨urlichen, vor allem auch kulturellen Entwicklung des Menschen gesammelt werden, um ein Gesamtbild in den jeweiligen Zeiten zu erhalten, das sich aus vielen Mosaiksteinchen zusammensetzte. Zu vielerlei Themen lieferte Virchow selbst Beitr¨age, z. B. in dem Vortrag u¨ ber die Urbev¨olkerung Europas, (1866) oder u¨ ber den „Sch¨adel der Heiligen Cordula“ (Zeitschr. f. Ethnologie VII, 136–140, 1875) – um nur extreme Beispiele der Interessensbreite zu nennen.
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Die Vereinst¨atigkeit Virchows in der Berliner Anthropologischen Gesellschaft und die Redaktion der Zeitschrift f¨ur Ethnologie hat ausf¨uhrlich C. Goschler (2002) geschildert. Ackerknecht (1957) betont – vielleicht mit einem bedauernden Unterton – dass Virchow in der physischen Anthropologie zwar ein fleißiges, reichhaltiges Oevre vorweisen k¨onne, aber doch nicht eine solche umw¨alzende Erkenntnis gewonnen habe wie in der Medizin. Er meint, dass im wesentlichen seine organisatorische Funktion das Bleibende gewesen sei. Das ist – so meine ich – dem Umstande zuzuschreiben, dass Virchow mit der Zellenlehre den naturwissenschaftlichen Einbruch in die Medizin ausgel¨ost hat – eben den Paradigmawechsel. Die gesamte deutsche, sp¨ater so vielf¨altige Anthropologische Forschung hat von hier ihren Ausgang genommen. Dass dabei auch Fehldeutungen vorkamen – wie im Falle des Neandertalers, – war verst¨andlich, aber bei der anerkannten Autorit¨at, (die er war), peinlich. Der Gedankenweg hatte in dieser Zeit eine offenbare Logik. Das zeigt sich auch in dem Umstand, dass der Wiener Sch¨opfer der Pathologie, Carl Rokitansky, unabh¨angig von seinem Berliner Fachgenossen den gleichen Weg nahm und in Wien einer Anthropologischen Gesellschaft pr¨asidierte. Je mehr Virchows Interesse bekannt wurde, desto mehr Funde wurden ihm zugetragen. Das steigerte sich in den kommenden Jahren so sehr, dass sein Berliner Arbeitszimmer in der Charit´e mit Skeletteilen angef¨ullt war. Es gibt ein bekanntes Bild von dem alten Virchow inmitten der Skelette. In den Abhandlungen der kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften lieferteVirchow fast j¨ahrlich eine umfangreiche Schrift (hier nur eine kleineAuswahl. N¨aheres bei Ch. Andr´ee, 1976): 1876: Beitr¨age zur physischen Anthropologie der Deutschen mit besonderer Ber¨ucksichtigung der Friesen. 1882: Alttrojanische Gr¨aber und Sch¨adel. ¨ 1884: Uber alte Sch¨adel aus Assos und Cypern. ¨ 1895: Uber die culturgeschichtliche Stellung des Kaukasus unter besonderer Ber¨ucksichtigung der ornamentierten Bronceg¨urtel aus transkaukasischen Gr¨abern. Das bedeutendste Ergebnis dieser Wirkperiode war das Zusammentreffen mit Heinrich Schliemann (1822–1890). In Berlin h¨orten Historiker und Arch¨aologen von den Ausgrabungen Schliemanns in Troja. Sie r¨umpften die Nase und waren ungehalten, dass ein Laie ohne Sachkenntnis der Grabungstechnik diese Ausgrabung betrieb. Man sprach vom „Schatzgr¨aber“ oder gar vom „Tr¨uffelschwein“. In der Tat ging der Autodidakt Schliemann laienhaft vor und grub zuerst in die Tiefe, ohne die Bodenschichtungen und dergleichen zu beachten, ohne Messungen vorzunehmen. Die Fachleute in Berlin schimpften – Virchow handelte.
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Er fuhr zu Schliemann nach Troja und versuchte, ihn zu einem fachm¨annischen Vorgehen zu veranlassen. Das war nicht leicht, weil Schliemann, der Autodidakt und Egozentriker, schwer lenkbar war. Er war durchdrungen von seiner Sendung, durch Homer an die Stelle des trojanischen Krieges gef¨uhrt worden zu sein. Virchow verfolgte sein Ziel mit einem f¨ur diesen sonst so bestimmten Mann ungew¨ohnlichen Zartgef¨uhl und diplomatischem Geschick. Virchow sp¨urte die zielstrebige Besessenheit: ein ihm vertrauter Charakterzug. Schliemann war beeindruckt, dass der weltbekannte Gelehrte zu ihm kam und fasste Vertrauen. Mit den Jahren entwickelte sich eine enge Freundschaft, die bis zu dem Tode Schliemanns anhielt und zu h¨aufigen gegenseitigen Besuchen und gemeinsamen Reisen f¨uhrte. Dieser Freundschaft ist es zu danken, dass Schliemann seine Ausgrabungssch¨atze nicht nur aus Troja sondern auch aus Mittelgriechenland nach Berlin gab (und nicht, wie er es zun¨achst vorhatte, nach London). Er stellte nur die Bedingung, dass die Sch¨atze in einer geschlossenen Darstellung gezeigt w¨urden. Virchow sorgte daf¨ur, dass dies durch eine Verf¨ugung des Kaisers erwirkt wurde. (Dass der Schatz nach dem II. Weltkrieg aus Berlin entf¨uhrt wurde, war nicht vorauszusehen). Aus dieser Anthropologie entwickelte sich sp¨ater die „Verhaltensforschung“, die sich ja erkl¨artermaßen mit dem menschlichen (und auch tierischen) Verhalten unter bestimmten ver¨anderten Lebensbedingungen und in den verschiedenen Zeiten besch¨aftigt – wie es Virchow vorschwebte. Dazu passt – wie es in der Zeit lag, – das B¨uchlein von Darwin „Der Ausdruck der Gem¨utsbewegungen bei Menschen und Tieren“ (deutsch 1872). Hier wollte Charles Darwin die Verbindung der Gem¨uts¨außerung von Mimik und Gestik nicht nur in der Evolution sondern im Vergleich der verschiedenen Tierarten gesammelt zeigen.
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¨ 17.1 Einheit der Personlichkeit Jede biographische Betrachtung Virchows versucht eine Aufteilung der Pers¨onlichkeit in den Naturwissenschaftler (Pathologe) und Anthropologen, schließlich in den Politiker. Das ist einsehbar und didaktisch praktisch, weil sich die aktive Forschungst¨atigkeit Virchows auch zeitlich in die angegebenen Sparten trennen l¨asst. Will man aber Virchow in seiner Pers¨onlichkeit verstehen und zu erfassen suchen, wird die Einheitlichkeit seiner Begabung in allen seinen erkennbaren Talenten anzusprechen sein. Durch die Neigung, seine Gedanken zu popularisieren, haben wir einen so großen Einblick in diesen Geist. Immer pflegte er sein Archiv, wie er es immer aufgefasst hatte, als Sammlung f¨ur Gedanken die ihm und anderen durch den Kopf gingen oder ihm auf dem Wege begegneten. Hier sollten sie niedergelegt, „archiviert“, werden, damit alle sich damit auseinandersetzen konnten, damit Doppelarbeit vermieden w¨urde. So soll am Ende der Darstellung der naturwissenschaftlich epochalen Erfahrungen und Tatbest¨ande noch des politischen Virchow kurz gedacht werden, weil uns bewusst bleiben soll, dass es sich auch bei tagespolitischen Fragen um die ¨ Außerungen einer einheitlichen, vielseitigen Pers¨onlichkeit handelt, um einen Kopf, um ein untereinander abh¨angiges Gedankenb¨undel. Die „Gedanken um Virchow“ sind unvollst¨andig, wenn nicht auch seine politische T¨atigkeit in das Bild r¨uckt. Die politische Arbeit kann nicht vollst¨andig geschildert werden. Aber sie zeigt die Verbundenheit des Naturforschers mit den Verh¨altnissen des t¨aglichen Lebens. Virchows T¨atigkeit als Politiker ist transparent nicht nur durch seine ganz entscheidenden Reiseeindr¨ucke w¨ahrend der Oberschlesienreise. Sie ergibt sich in der – fast sollte man sagen – Sucht, t¨atig zu werden, nicht parteipolitisch wohl erzieherisch, in der Neigung, politische Ideen dem Volke nahe zu bringen, von dem er hoffte, dass es einmal politisch abzustimmen h¨atte. Die Seiten, die der junge Virchow in der „Medizinischen Reform“ mit Herzblut und heiligem Zorn geschrieben hat, zeigen wie notwendig er auch und u¨ berall in der Medizin – neben dem politischen Alltag – eine grundlegende Umorganisation erachtete. Die Politik als soziale Empfindung war von Jugend an ein Teil seines Denkens. In ihm war die naturwissenschaftliche und die sozialpolitische Denkart so verbun-
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den, wie wir es kaum nachempfinden k¨onnen. Das kommt zu einem guten Teil daher, dass „Politik“ heute sich in einer solchen Weise ausgewachsen hat, dass sie mit der hausbackenen laienhaften Politik von damals nicht zu vergleichen ist. So wie ein philosophischer Kopf alles, was ihn – beruflich oder „privat“ – besch¨aftigt, auch philosophisch sieht, so betreibt ein politischer Kopf keine Sache, ohne auch der Polis (nicht nur des Wahlergebnisses) zu gedenken. So ist auch die Verbindung des Naturwissenschaftlers und Arzt, Rudolf Virchow, zur Politik zu verstehen: Ein medizinischer Kopf sieht – auch in der Politik – das naturwissenschaftliche Problem, ein Arzt sieht auch in der allt¨aglichen Politik die Notwendigkeit der „Therapie“. Es muss u¨ berlegt werden, wie der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff mit den politischen Vorstellungen zusammenh¨angt. Die Folge im Denken hat sich u¨ bertragen auf die Gedanken der aktiven Politik. So ist es richtig (aber in der von C. Goschler wertenden Tendenz auch falsch), dass Virchow „politische Fragen nicht unbedingt als mehrheitsf¨ahige Wertentscheidungen ansah, sondern als wissenschaftliche Sachkenntnisentscheidungen fordert.“ Zu leicht und zu einfach ist der Vergleich des Individuums mit der Zelle, des Organsystems mit den politischer Parteien und der staatspolitischen Organisation. Der unmittelbare Vergleich ist primitiv – aber der Zusammenhang im gedanklichen Spiel ist un¨ubersehbar. Ein Mensch, der die Zelle – millionenfach – als Individuum im Organismus, der die Bedeutung des Zellverbandes und die Abh¨angigkeit der Einzelzelle von dem Gewebe, der die Erkennungsm¨oglichkeit des „Zellenstaat“ enth¨ullte, der das Zellennetzwerk durchdacht hat – und zugleich offenen Auges die politische Situation des Alltags beobachtet – dass dieser Kopf die zusammengeschlossenen Verb¨ande verarbeitet, verarbeiten muss, ist zu verstehen. „Mit der Theorie seines Zellenstaates will er begreiflich machen, dass im o¨ ffentlichen Haushalt die gleichen labilen Gleichgewichtsverh¨altnisse vorhanden sind wie in dem Haushalt des eigenen Leibes im Zellengef¨uge“ (Schipperges, 1994). So gesehen ist die Besch¨aftigung des Naturwissenschaftlers mit der Politik kein „Ausbruch“ (man k¨onnte manchem Politiker eine naturwissenschaftliche Denkart empfehlen). Wir k¨onnen Virchow nur verstehen im Rahmen der zeitlichen Verh¨altnisse und seiner eigenen Biographie. 1. Die vorbestehenden chaotischen Krankheitsvorstellungen machten es n¨otig, dass Virchow durch den naturwissenschaftlichen Begriff Ordnung brachte. 2. Die Vielgestaltigkeit der anthropologischen Untergruppen veranlasste ihn, wenigstens durch organisatorische Maßnahmen eine Ordnung zu schaffen. 3. Seine angeborene Neigung zum politischen Wirken l¨asst das Bed¨urfnis nach der Notwendigkeit eines durchgehenden staatlichen Ordnungsprinzips erkennen.
17.1 Einheit der Pers¨onlichkeit
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In der Politik f¨uhlte er die Notwendigkeit, dass getan werden muss, was Ordnung in die Vielheit bringt, wenn eine fortschrittliche Weiterarbeit erm¨oglicht werden soll. Und das mit einer absolut demokratischen und antimonarchischen Grundhaltung. ¨ Uberall verbinden sich Wissenschaft und Praxis, eine „gelernte“ wissenschaftliche Erfahrung und ein Bed¨urfnis nach praktischer T¨atigkeit. Der Versuch, die heutige Politik-Praxis und den Status der heutigen Politiker mit den politischen Auffassungen und Anforderungen der Virchow-Zeit zu vergleichen, ist schon wegen der Entwicklung der Staatspolitik abwegig. Wir m¨ussen uns – wie auch bei der „Anthropologie“ – mit dem Begriff „Politik“ der Zeit befassen. Wie lagen die Verh¨altnisse bei Virchows Besch¨aftigung mit der Politik? „Politik“ war Besch¨aftigung mit den o¨ ffentlichen Aufgaben und den o¨ rtlichen Maßnahmen und im Großen mit den Staatsgesch¨aften. Diese umfassen alles, was sp¨ater die politische Staatslehre aufnimmt. Dies alles ist in nuce enthalten – aber noch lange nicht entwickelt. Die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Krankheitsvorstellung war gebunden an die Zellenlehre, die sich durch die Entwicklung des Mikroskops zu der Zellularpathologie vervollst¨andigt hatte. Das Entscheidende f¨ur die Entdeckung vieler Einzelbefunde war das Mikroskop mit der M¨oglichkeit viele Einzelheiten in dem Organismus zu erkennen und in Beziehung zusetzen. Hat die naturwissenschaftliche Krankheitsauffassung u¨ berhaupt etwas mit der weiteren Entwicklung des Forschers auf dem politischen Gebiete zu tun? Seine T¨atigkeit in der Politik – wie er sie verstand – ist durch seine Lebensauffassung zu erkennen. Das Interesse f¨ur politische Fragen l¨asst sich schon bei dem jungen Virchow feststellen. 1 Seine sozialpolitischeAktivit¨at zieht sich schon in fr¨uhen Lebensphasen wie eine gerade Linie durch sein Leben, wenn man von der erzwungenen Zur¨uckhaltung in der W¨urzburger Zeit absieht (Kohl, 1976). Sicher spielt neben der endogenen revolution¨aren Neigung in diesem Zeitalter der Revolutionen die Gemengelage des Gedankennetzes Virchows eine Rolle. In der geistigen und tats¨achlichen Entwicklung Rudolf Virchows ist ein durchaus logischer Lebensgang erkennbar. Rudolf Virchow hat sich seit seiner Jugend mit lokalpolitischen Fragen besch¨aftigt, wobei die Ber¨uhrung mit der polnischen und slawischen Bev¨olkerung seiner Heimat ihm manche v¨olkische und kulturelle Frage unmittelbar vor Augen f¨uhrte. Sp¨ater in Berlin, in der Zeit seines studentischen Examens und in den ersten Charit´e-Jahren, wurde der vorbereitete, leicht entz¨undbare Geist Virchows in der 1 Ackerknecht macht darauf aufmerksam, dass Virchow bei der Promotion von den nichtmedizi-
nischen Thesen ein politisches und ein historisch-anthropologisches Thema verteidigen musste („Nur der liberale Geist kann Einsicht in die Natur der Medizin gewinnen“ und „Pomeriana petrifacta glacie primordiale disjecta“ – Die Steine Pommerns wurden w¨ahrend der Eiszeit verbreitet).
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17 Virchow und die Politik
Berliner politisch aufgeladenen Lage auf die Denkart des Demokraten gelenkt. Er war beeinflusst durch den demokratischen Kreis im Hause des Frauenarztes Carl Mayer (1795–1868). Dieser Kreis, der sich prim¨ar mit geburtshilflichgyn¨akologischen Fragen befasste, war f¨ur Virchow sehr fruchtbar. Er brachte ihn in F¨uhlung mit der behandelnden Medizin, der Geburtshilfe und Frauenheilkunde. Er hielt immer wieder Vortr¨age und gab pathologisch-anatomische Demonstrationen u¨ ber gyn¨akologische Fragen (H. H. Simmer, 1992, 1993). Hier liegt die Keimzelle der von Carl Mayer gegr¨undeten „Berliner Gesellschaft f¨ur Geburtshilfe“. Die Tochter von Mayer wurde sp¨ater (1850) Virchows Frau. In diesem Kreis wurden auch politische Fragen besprochen. Man vertrat eine demokratisch-republikanische Richtung, man wollte eine Republik mit einem K¨onig (konstitutionelle Monarchie). Dort lernte Virchow den sp¨ater als F¨uhrer der extremen Linken in der Paulskirche bekannten und verfolgten Demokraten Arnold Ruge kennen. In dem Bestreben etwas zu tun, warVirchow in der Zeit vor 1848 t¨atig in kleinen Vereinigungen, Handwerkerb¨unden etc. als Redner, als „Agitator“. Er war nicht parteipolitisch gebunden, er f¨uhrte demokratische Grunds¨atze vor. Alles war noch unbestimmt.
17.2 Oberschlesienreise Und dann kam (1848) die Oberschlesienreise. Mit ihr kam die Neigung der Sozialpolitik zur Eruption. Da war etwas festzustellen (zu „diagnostizieren“) und zugleich den politischen Weg zur Verbesserung aufzuzeigen. Sie hatte Einfluss auf die soziale Denkart in der Politik in seinem ganzen Leben. Die Verbindung, ja Vermengung von Naturwissenschaft und Politik wird bei Virchow nie deutlicher als in dem Eindruck der Oberschlesienreise. Das Erlebnis dieser Reise entschied die sozial-politische Arbeit seines ganzen Lebens. Er unternahm diese Reise im Regierungsauftrag zusammen mit dem Geheimen Obermedizinalrat Dr. Stephan Barez (1790–1886). Die Regierung wollte unterrichtet sein u¨ ber das Ausmaß der dortigen Typhusepidemie. Warum wohl hat Virchow einen solchen Auftrag erhalten? Doch wohl, weil ¨ bei dem jungen Mediziner ein Interesse f¨ur die Offentliche Gesundheitsregelung bemerkt wurde. Sein Oberschlesienbericht handelt nicht (nur) von einem medizinpolitischen Erlebnis. Er stellt vielmehr die Gesamtlage Schlesiens, insbesondere Oberschlesiens dar. Er sieht vor allem die viel umfassendere Aufgabe des medizinisch-sanit¨aren Abgesandten der Regierung. Virchow beschreibt Geographie, Geologie, beurteilt die Art der Bev¨olkerung, die u¨ berall als Polen unter dem Einfluss der katholischen Kirche st¨unden. Er prangert die zu geringen und ganz unverst¨andigen Maßnahmen der Regierung an. Er gibt einen politischen Bericht, der sich auf profunde Kenntnisse der Geschichte des Landes st¨utzt. Er beschreibt die soziale Struktur der vorwiegend armen Bev¨olkerung von Tagel¨ohnern, Roboten, „H¨auslern“ – neben wenigen Grundbesitzern, die aber meist in den St¨adten wohnen und die
17.2 Oberschlesienreise
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Bev¨olkerung eigentlich nicht kennen. Es werden die primitiven Wohnungen geschildert, die Ern¨ahrung des Volkes durch Kartoffel, Milch und Sauerkraut. Und das alles in einem von der Regierung angeforderten Medizinischen Bericht und in einem medizinischen Archiv publiziert (Archiv II, 143–322, 1849). Da zeigt sich die Verquickung von Naturwissenschaft und Politik in einem Kopf! Virchow empfindet keine Trennung der beiden Berichtsteile. Er verstand ¨ seine T¨atigkeit f¨ur die Offentlichkeit durchaus als gradlinige Fortsetzung seines bisherigen Tuns. (Vaterbrief 1. Mai 1848). Dann Anregungen, welche Aufgaben die Politik und Verwaltung haben, wie die peripheren Dienststellen es besser machen k¨onnten. Der Bericht ist entgegen der obrigkeitlichen Planung zuv¨orderst ein politisches Manifest, erst in zweiter Linie ein medizinisches Statement. Die Praxis, die aus den Erfahrungen der Oberschlesienreise gezogen werden sollten, hat Virchow auch in der „Medizinischen Reform“ immer wieder eingefordert und pr¨azisiert. ¨ Er folgert: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft!“ (S. 162) und „Arzte sind die nat¨urlichen Anw¨alte der Armen, und die soziale Frage f¨allt zu einem erheblichen Teil in ihre Jurisdiktion“ (Medizinische Reform 1848, Heft I, S. 2). ¨ Mit diesem Diktum proklamiert er seine Uberzeugung, dass die Medizin zust¨andig ist f¨ur die soziale politische Lage. Virchows Satz folgt eine Bemerkung, die in unserem Zusammenhang die Verbindung von naturwissenschaftlicher Medizin mit der Politik deutlich macht, ein Gedanke, der Virchow nie in seinem Leben wieder losgelassen (und der ihn vielleicht in die Politik getrieben) hat. „Der Staatsmann, der praktische Anthropolog, muss die Mittel zur L¨osung finden!“. Erst danach kommt er zu seinem eigentlichen medizinisch-sanit¨aren Bericht: Er schildert Typhus, – er sagt „Typhen“ – Wechselfieber, Ruhr in der Unterschiedlichkeit ihrer Symptomatik und auch in der Abh¨angigkeit von der Jahreszeit. Tuberkulose sei selten, Masern h¨aufig. Er gibt eine Reihe von Fallberichten seiner eigenen Beobachtungen (vier eigene Obduktionen) und ein umfassendes Bild der Erkrankten. Virchow ist nicht u¨ berzeugt, dass die eigentliche Epidemie nur Ab¨ dominaltyphus sei. Zur Erl¨auterung gibt er einen historischen Uberblick u¨ ber den Typhus seit Hippokrates. Es ist klar, dass die Krankheitsauffassung noch ohne den sp¨ateren, eigenen naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt erfolgt. Die Frage nach der Contagiosit¨at spielt eine große Rolle. Es fehlt auch die Suche nach dem u¨ bertragenden Ereignis („Contagium“), wenn auch in mehr gedanklicher Richtung. Die Konsequenz ist vielseitig. Die Vorbeugung besteht im Wesentlichen in einer Verbesserung der sozialen Grundbedingungen, die Hunger und Armut bek¨ampfen. Und dann folgen weitere politische Empfehlungen zur Reorganisation Oberschlesiens, die ins Einzelne gehen, die in einem medizinischen Bericht eigentlich nicht geh¨oren – aber f¨ur Virchow ist die Politik Mittel der Medizin oder Medizin Mittel der Politik einheit-
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lich. Er erhebt zur Forderung: Vor allem „Volle und unumschr¨ankte Demokratie (S. 303). Bildung mit ihren T¨ochtern Freiheit und Wohlstand!“ Er macht klar, dass die Verbesserung der Lebensumst¨ande Vorbeugung und Therapie der Epidemien bedeuten. Zuk¨unftige Epidemien werden bei besseren Verh¨altnissen der Ern¨ahrung und der Wohnart nicht mehr auftreten. Hier werden Medizin, Hygiene und Politik nicht nur vermengt, sondern als gleichwertige, gleichgewichtige, voneinander abh¨angige Faktoren einer Besserung, einer Therapie angegeben! Der Oberschlesienbericht zeigt die Doppelnatur: Der Arzt und der Politiker – zwei Facetten in der gleichen Person. Die sp¨atere politische T¨atigkeit ist niemals so pers¨onlichkeitseigen als zur Zeit der Oberschlesienreise. Virchow ist sich des Einschnitts der Oberschlesienreise f¨ur sein eigenes Leben voll bewusst. Sicher leidet die Wirkung des Berichtes unter den u¨ berw¨altigenden allgemeinen politischen Ereignissen. Virchow k¨urzt seine Reise ab, weil in Berlin politische Ereignisse ablaufen, die er nicht vers¨aumen will. Er kam in Berlin mitten hinein in die 1848er Revolution. Er erlebte die Ereignisse beim Barrikadenbau und anderen Aktivit¨aten hautnah. Er blieb nicht auf den Barrikaden, weil er „nur ein Pistol“ erhalten konnte, w¨ahrend die Soldaten von weitem Kanonen auf die Sperren richteten. Virchow schilderte die Revolution mit aller Leidenschaft seinem Vater. Er schreibt am 1. Mai 1848, wie er selbst diese Stufe in seiner Entwicklung empfindet. „Dann habe ich den Vorteil gehabt, dass ich jetzt kein halber Mensch bin, sondern ein ganzer, und dass mein medicinisches Glaubensbekenntnis in mein politisches und sociales aufgeht. Als Naturforscher kann ich nur Republikaner sein, denn die Verwirklichungen der Forderungen, welche die Naturgesetze bedingen, welche aus der Natur des Menschen hervorgehen, ist nur in einer republikanischen Staatsform wirklich ausf¨uhrbar . . . “ Jetzt, so scheint es, vertritt sein politisches Denken die Seiten seines ganzen Herzens. Vielseitige T¨atigkeiten in den verschiedenen Gremien bezeugen eine Umtriebigkeit, die den Willen zur T¨atigkeit, die Vielseitigkeit des Bed¨urfnisses, etwas zu tun, etwas zu bewirken, ja „dabei zu sein“, bezeichnet. Diese T¨atigkeit war ihm wichtig und erschien ihm unbedingt jetzt notwendig. Er ist – neben seinen „Coursen“, die er von 7–9 Uhr abh¨alt – ganzt¨agig politisch t¨atig. An seinen Vater schreibt er (am 18. Mai 1848): „Bis zum Mittwoch haben mich Wahlangelegenheiten so besch¨aftigt, dass ich von Morgens 9 Uhr bis abends 12–2 Uhr auf den Beinen sein muss. Am Donnerstag habe ich meinen Cours wieder angefangen . . . Dann kamen medizinische Reformversammlungen, zu denen ich als Comit´eMitglied von der Gesellschaft f¨ur Geburtshilfe delegiert bin; Versammlungen der außerordentlichen Professoren und Privatdozenten an der Universit¨at, wo ich mich gleichfalls im Comit´e befinde; Bezirksversammlungen der Urw¨ahler der Friedrich-Wilhelmstadt, deren Comit´e ich wiederum beigesellt bin, Ver-
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sammlungen zur Gr¨undung eines neuen Clubs, endlich die Volksversammlung gegen die Zur¨uckberufung des Prinzen von Preußen . . . “. In den medizinisch-organisatorischen Kreisen war er auch revolution¨ar.
17.3 Medizinische Reform (1848) Dazu gab er (1848/49) zusammen mit Leubuscher die „Medizinische Reform“ – eine Wochenzeitung! – heraus, die die Notwendigkeit einer medizinischen Revolution immer wieder neu – jede Woche – begr¨undete. Er propagiert zum mindesten ¨ in seinem Medizinerkreis die Notwendigkeit einer Anderung der wissenschaftlichen Auffassung der Krankheit. Auch in der Medizin fordert er radikale Reformen und eine Umgestaltung der o¨ ffentlichen Gesundheitspflege. Er fordert eine Neuordnung des a¨ rztlichen Standes. Dabei sieht man die enge Verkn¨upfung des wissenschaftlichen und des politischen Denkens. Hier zeigen sich manche sozialpolitische Gedanken, die in Virchows politischer T¨atigkeit sp¨ater immer wieder aufkommen und manche der Verwirklichung zugef¨uhrt werden. Die Entwicklung der Themen und Gedanken aus der Medizinischen Reform in die sp¨atere politische Arbeit hinein – und in die Reden – hat Chr. Andree (2002) in einzelnen Z¨ugen dargestellt. In der letzten Nummer der „Medizinischen Reform“ (1849) wird eine politische (revolution¨are) Vision gegeben. F¨ur Virchow galt es, naturwissenschaftliche Gesetze, ja die Naturgesetze, f¨ur das friedliche Zusammenleben eines Volkes, eines Staates anzuwenden! Virchow war stets der Auffassung, dass Politik Medizin im Großen sei. Immerhin kennt der Erforscher der Zellenlehre das Zusammenwirken gewisser Zellkomplexe, das gemeinsame Funktionieren großer Gruppen von Einzelindividuen, das Zusammenf¨ugen von Organen durch bestimmt charakterisierte Zellen mit speziellen Aufgaben, die dem ganzen Organismus zu Gute kommen. So kann man das Bild des Zellenstaates durch organisierte Organe, d. h. Parteien, erg¨anzen. Er spricht sowohl von dem „demokratischen Zellenstaat“ mit dem „dritten Stand“ und auch vom „Zellenbund“, gelegentlich von der „Personifikation der Zelle“ (1885). Virchow ist seiner ganzen Entwicklung und seiner Denkweise nach nicht nur ein praktisch-politischer Mensch, sondern entsprechend seinen Anlagen ein Realpolitiker mit großem pers¨onlichen Einsatz.
17.4 Fortschrittspartei Wieder in Berlin – 1856 –, als gesetzter Universit¨atsprofessor, kam man auf ihn zu, ob er nicht bei der Gr¨undung der Fortschrittspartei mitmache. Es war f¨ur den alten Demokraten unm¨oglich, „nein“ zu sagen – und zugleich undenkbar, nicht eine f¨uhrende Rolle durch seine Gesinnung, seine Vorbildung, seinen Intellekt und seine Rednergabe zu spielen. Der Sprecher der Fortschrittspartei war ein Naturwissenschaftler, der auch auf der politischen Ebene nicht anders konnte als
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sein politisches Problem mit naturwissenschaftlichen Augen anzusehen und mit seiner Methode anzugehen. Das war im Großen so, aber es ging bis ins genaue, fast kleinliche Nachrechnen des Budget. Charakteristisch ist die Transparenz der Gedanken. Da ist der Zellenstaat in der Politik nur ein Zeugnis. Bei seinen Reden in der Naturforscherversammlung kann man fast immer die Gedanken erkennen, die ihn gerade in dem politischen Alltag besch¨aftigen, so wie in den politischen Reden die Naturwissenschaft durchscheint. Selbst in der ber¨uhmten Rede von 1877 „Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat“, die so reichen Anlass zur Kritik gegeben hat, kommt bei ihm die T¨atigkeit als Abgeordneter zum Durchbruch, der sich gerade mit dem Schulwesen befasst. F¨ur ihn als Naturforscher und Stadtverordneter in Berlin haben sich vielerlei geeignete Aufgaben ergeben: Kanalisation von Berlin, Trichinenschau, Krankenhausbau, Markthallen und Schlachth¨auser – alles Dinge der „Hygieine“, f¨ur die er als Fachmann galt oder durch die Ausarbeitung vieler Gutachten wurde. Es gab noch keinen amtlichen Hygieniker oder Amtsarzt. Die Verordnung der Trichinenschau – die in ganz Deutschland nach und nach eingef¨uhrt wurde – setzte Virchow auf Grund eigener Tierexperimente durch, vor allem nachdem durch F. A. Zenker, Dresden und Erlangen, 1860 die Trichinose als menschliche Krankheit erkannt worden war. Damit verbunden war eine grunds¨atzliche Neuordnung der o¨ ffentlichen Schlachth¨ofe. Das Krankenhauswesen wurde von den Kommunen durch den Gemeinderat geregelt. Aus Spit¨alern wurden Krankenh¨auser. Es gab erstmals St¨adtische Kliniken, nicht nur solche in kirchlicher Tr¨agerschaft. In Universit¨atsst¨adten wurden aus den Krankenh¨ausern akademisch gen¨utzte Universit¨atskliniken. Ein ganz a¨ hnliches Ereignis ergab sich in Kiel: Der dortige Pathologe Arnold Heller (1840–1913) war auch Stadtverordneter und sorgte sich um die Ausbreitung von Seuchen in jedem Fr¨uhjahr. Er ließ eine Menge Dissertationen anfertigen u¨ ber die Krankheitsverh¨altnisse in einem Stadtteil. Dann trat er in der Stadtverordnetenversammlung auf und forderte die Trockenlegung gewisser Sumpfgebiete. Das geschah. Wo heute der Hohenzollernpark in Kiel ist, war fr¨uher ein Sumpfgebiet mit allen Nachteilen. Freilich, w¨ahrend dieser Zeit hatte der Pathologe Heller, der gleichzeitig auch noch das neue große pathologische Institut baute, f¨ur eine intensive wissenschaftliche Arbeit keine Zeit. Virchow soll gesagt haben: „Ob mein Freund Heller noch lebt, weiß ich gar nicht. Er hat lange nichts von sich h¨oren lassen“. Die St¨adte wurden sich ihrer Verantwortung bei der Beseitigung der Abw¨asser bewusst. Hier war Virchow f¨ur Berlin als Stadtverordneter ein Vork¨ampfer. Dazu schrieb Virchow nicht nur eine Unzahl von Gutachten, sondern auch eine ¨ Brosch¨ure f¨ur die Offentlichkeit: „Canalisation oder Abfuhr?“ (1869). Virchows ausf¨uhrliche Gutachten von 1872 zu Canalisation oder Abfuhr enth¨alt eine Menge von Daten u¨ ber die Abf¨alle einer Großstadt in Abh¨angigkeit von Bodenverh¨altnissen, Wasserhaushalt (Niederschlagmenge), Grundwasserverh¨altnisse,
17.4 Fortschrittspartei
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Brunnendichte, Kanalverh¨altnisse in den einzelnen Stadtteilen, Beseitigung von Toiletten – alles dies in großer Ausf¨uhrlichkeit und unterlegt mit Statistiken aus den verschiedenen „Einzugsgebieten“. Es sind genaue Kostenberechnungen angef¨ugt, dadurch ist ein rundes Bild entstanden. Viele Gutachten besch¨aftigen sich mit dem Hospitalwesen, mit Schulen, nat¨urlich mit allgemeinen Gesundheitsfragen, auch mit der Reform der Ausbil¨ dung der Arzte. „Politik“ bedeutete f¨ur Virchow o¨ ffentliche T¨atigkeit zum Wohle aller durch Erkenntnis des Besseren. Wesentlich war die Beratung mit (gew¨ahlten) (Sach-) Verst¨andigen, zwar nicht immer Gleichgesinnten, aber mit der gleichen oder a¨ hnlichen Zielsetzung. Diese Politik-Auffassung l¨asst sich in die N¨ahe der a¨ rztlich-medizinischen Vorstellungen bringen. War das Politik oder war das Wissenschaft, – angewandte Wissenschaft? Aus der Kenntnis der Krankheiten durch Bakterien und der darauf folgenden ¨ k¨orperlichen Reaktion erwuchs das zun¨achst lokalpolitische Offentliche Gesundheitswesen. Auch dar¨uber hat sich Virchow bereits 1848 in der Medizinischen Reform (Heft 5) ge¨außert. ¨ Mit dem Offentlichen Gesundheitswesen war der Einstieg der medizinischen Wissenschaften in die politische Aktivit¨at erfolgt. Die naturwissenschaftliche Me¨ dizin war eine soziale Wissenschaft geworden. Teil des Offentlichen Gesundheitswesens war die Amtliche Institution der Hygiene. Sp¨ater erwuchs daraus die Stellung des Amtsarztes. Bei Betrachtung all dieser Dinge, die teilweise gleichzeitig abliefen, bemerkt man die enge Verflechtung der neuen Krankheitslehre mit der o¨ ffentlichen Gesundheitspolitik und Hygiene, und damit mit der Lokalpolitik in den Gemeinder¨aten, vor allem Kanalisation, Kranken- und Armenpflege, Krankenhausneubau, Ausbildung von Pflegepersonal, Schulhygiene etc. und Virchows sehr eigenes Interesse an Statistik. Simon und Krietsch (1985) haben Virchows Wirken in Berlin in Bezug auf seine T¨atigkeit in der Stadtverordnetenversammlung zusammengestellt. Das Dictum Virchows, die Politik sei Medizin im Großen, wurde durch ihn praktiziert. „Die Politik bedarf der Anleitung der Medizin, sodass es unvermeidlich ist, die praktische Medizin mit der politischen Gesetzgebung in unmittelbare Ber¨uhrung zu setzen“ (Chr. Andree, 2002, S. 275). Mit der erweiterten Parteiarbeit kamen andere Aufgaben in dem Preußischen Abgeordnetenhaus und dann im Reichstag auf den Parteisprecher zu, die ihm von Hause eigentlich nicht ohne weiteres lagen. Virchow war als Angeh¨origer der Fortschrittspartei im Verbund und wusste, dass er tun w¨urde, was n¨otig war, wenn es seinen demokratischen Zielen entsprach. Im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag blieben die medizinischen Themen marginal; seine Hauptt¨atigkeit bestand dort in politischenAufgaben der Partei, deren Sprecher er war.
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17 Virchow und die Politik
17.5 Fortschrittspartei und Bismarck War Virchow mit dem Eintritt mit der Fortschrittspartei in die aktive Politik „hineingeschlittert“? Dass er gelegentlich – zeitlich – u¨ berfordert war, ist deutlich. ¨ Aber man kann erkennen, dass er alle Amter nicht nur pflichtgem¨aß sondern durchaus gerne versah. Bei allen Erfolgen in der Stadtverordnetenversammlung f¨ur die Stadt Berlin konnten die M¨oglichkeiten und Ergebnisse im preußischen Abgeordnetenhaus oder gar im Reichstag keineswegs so erheblich sein – auch war die Rolle eines Politikers mittlerweile anders geworden. Erst unter und durch Bismarck mit den verschiedenen Staatsministerien wurde die Politiker-Kultur in Preußen nicht gerade eingeleitet, aber hervorragend entwickelt. Dadurch hatte sich zum mindesten die politische Praxis ver¨andert, weiter ausgeweitet, aufgefasert – und war nicht mehr mit der anf¨anglichen Politik Virchows vergleichbar. W¨ahrend in der Berliner Stadtverordnetenversammlung die politischen Erfolge Virchows aufz¨ahlbar und mit H¨anden zu greifen sind, ist im preußischen Abgeordnetenhaus und dann im Reichstag mehr die politische Haltung erkennbar. Die oppositionelle Fortschrittspartei war 1861–1862 besonders stark. Sie lehnte das Budget f¨ur die Heeresreform ab. Bismarck wurde Ministerpr¨asident (1862). Es war die Zeit des D¨anischen Feldzuges um Schleswig-Holstein (1864) und des herankommenden preußisch-¨osterreichischen Krieges (1866). Es ist nicht so, dass die oppositionelle Fortschrittspartei ganz ohne politische Bedeutung gewesen sei – aber Bismarck tat, was er tun musste bis zum Erfolg der Reichsgr¨undung. Bismarck ergriff die staatspolitisch notwendigen Maßnahmen in der Weltpolitik mit Staatskunst und Fortune, w¨ahrend die Opposition vergleichsweise eine geringe Rolle spielte – vorwiegend handelte es sich bei ihr um Budgetfragen. Bismarck betrieb die Politik als Staatskunst – und a¨ rgerte sich, wenn laienhaft wirkende M¨anner ihm da hineinredeten. Der sich durch sein ganzes Leben als vollwertiger Politiker f¨uhlende Virchow ist in seiner Auffassung gekennzeichnet durch seine soziale, liberale, fortschrittliche naturwissenschaftliche Haltung. Die grunds¨atzlichen Schwankungen zwischen dem demokratischen und sozialen Grundgedanken sind bei C. Goschler (2002) auseinandergesetzt. Virchows o¨ ffentliche Politik war gepr¨agt durch die Diskussionen mit dem m¨achtigen Bismarck im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag. Dass dabei Insuffizienzen deutlich wurden, kann nicht wundernehmen. In der Politik hatte Virchow eben Bismarck als Gegner. Bei ihm konnte er ¨ nicht den Erfolg verbuchen, den er bei Rokitansky durch Uberzeugung seiner Sache, zu der naturwissenschaftlichen Denkweise, erreicht hatte. Was Wunder, wenn die Intentionen und sp¨arlichen Erfolge mehr im Atmosph¨arischen gelegen waren. Bismarck erkannte – expressis verbis – die wissenschaftliche Bedeutung Virchows an, w¨ahrend er f¨ur seine politischen Bem¨uhungen nur Spott hatte.
17.5 Fortschrittspartei und Bismarck
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¨ Die Geschichte hat die weltpolitische Bedeutung und die Uberlegenheit Bismarcks erwiesen. Das a¨ ndert nichts an der Tatsache, dass Virchow entsprechend ¨ seiner Uberzeugung seinen Mann stand. Beide, Bismarck und Virchow, waren sich der Klugheit und Besonderheit des anderen bewusst – und das gibt den besonderen Reiz der jeweiligen parlamentarischen Diskussionen. Deshalb sollen einige Passagen aus den Diskussionen geschildert werden – aus Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ und aus dem „Stenographischen Bericht u¨ ber die Verhandlungen der durch die Allerh¨ochste Verordnung vom 29. December 1864 einberufenen beider H¨auser des Landtages (8. Legislaturperiode, 2. Secession 1865)“. O. v. Bismarck (Gedanken und Erinnerungen, S. 368): „DasAbgeordnetenhaus schloss sich am 15. December (1863) demAntrage der Kommission an und trat am 18. December 1863 in die Beratung der Adresse ein, die den K¨onig u¨ ber die Stimmungen und W¨unsche seines Volkes, d. h. der liberalen Mehrheit des Abgeordnetenhauses aufkl¨aren sollte. Der Abg. Dr. Virchow . . . leitete die Debatte ein. Er warf der preußischen Regierung vor, dass sie die schleswig-holsteinische Frage aus einer deutschen zu einer europ¨aischen Sache gemacht habe, Russlands Interesse f¨ordere . . . . . . Alle nationalen Regungen blieben dem K¨onige unbekannt, und darum sei es die Pflicht des Abgeordnetenhauses, ihm in einer Adresse die Gefahren darzulegen . . . “ Bismarck erwiderte: „Ich habe mir schon erlaubt, in der Kommission zu bemerken, dass ich eine Adresse wesentlich als ein Internum des Hauses betrachte . . . Ich will daher dem Herrn Vorredner auch nicht in allen Details auf das historisch-politische Gebiet folgen. Ich erlaube mir nur, demselben die Frage zu stellen, ob er es nicht f¨ur m¨oglich h¨alt, dass auf dem Gebiet seiner eigenen Fachwissenschaft jemand, der die Anatomie als Nebenbesch¨aftigung betreibt, vor einem Auditorium, welches dem Redner sympathisch und pers¨onlich wohlgesinnt, aber nicht in dieselben Tiefen der Wissenschaft wie der Herr Referent eingedrungen w¨are, – dass vor diesem Auditorium ein solcher Redner anatomische S¨atze mit weniger Beredsamkeit selbst, als der Herr Redner entwickelt hat, u¨ berzeugend dartun konnte, von deren Unrichtigkeit der Herr Referent als Sachkundiger vollst¨andig u¨ berzeugt w¨are, deren Widerlegung ihm aber nur vor einem mit allen Details des Gegenstandes ebenso wie er selbst vertrauten Auditorium m¨oglich w¨are (Unruhe) . . . “ S. 372: „Der Abgeordnete Virchow f¨uhlte sich durch den Vorwurf absoluter Verst¨andnislosigkeit f¨ur die Fragen der Politik um so mehr gekr¨ankt, als er bisher von dem Gegenteil fest u¨ berzeugt gewesen war. In gereizter Antwort sprach er den Wunsch aus, es m¨ochte Herrn v. Bismarck gelingen, dereinst unter den Diplomaten Europas eine a¨ hnlich anerkannte Stellung zu gewinnen, wie er sie unter seinen Spezialkollegen gefunden habe. Wenn der Ministerpr¨asident behauptet habe, dass die ihm und
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17 Virchow und die Politik
seiner Politik gemachten Vorw¨urfe gegenseitig aufh¨oben, so vergesse er, dass die Mannigfaltigkeit der Vorw¨urfe sich ebenso aus der „großen Masse von wechselnden Standpunkten“ erkl¨are, die er in der verh¨altnism¨aßig kurzen Zeit seines Ministerpr¨asidiums eingenommen habe. Seine Politik sei undefinierbar, ja man k¨onne sagen, dass er eigentlich gar keine Politik habe, ohne Kompass in das Meer der a¨ ußeren Verwicklungen hinausst¨urme und vor allen Dingen keine Ahnung von nationaler Politik habe. Denn es fehle ihm an jedem Verst¨andnis f¨ur nationales Wesen.“ Bismarck erwiderte: „ . . . Der Herr Vorredner hat gesagt, er w¨unsche, dass ich dereinst in meinem Fache mich derselben Anerkennung erfreuen m¨oge, wie er in dem seinigen. Ich unterschreibe diesen Wunsch mit voller Aufrichtigkeit. Ich erkenne die hohe Bedeutung des Herrn Vorredners in seinem Fache vollkommen an und gebe zu, dass er in dieser Beziehung einen Vorsprung vor mir hat. Wenn aber der Herr Vorredner sich aus seinem Gebiet entfernt und auf mein Feld unz¨unftig u¨ bergeht, so muss ich sagen, dass u¨ ber Politik sein Urteil ziemlich leicht f¨ur ¨ mich wiegt. Ich glaube wirklich, meine Herren, ohne Uberhebung, die Dinge verstehe ich besser (Grosse Heiterkeit) . . . Ich finde bei dem Herren Vorredner Verst¨andnis f¨ur Politik u¨ berhaupt nicht . . . “ Aus diesem Gepl¨ankel wurde im Juni 1865 bitterer Ernst. Anl¨asslich der Debatte um den Kommissionsbericht zum Flottenbudget machteVirchow eine Bemerkung, die Bismarck anscheinend tief traf – zumal er mit der Aufforderung schloss, die Gesetzesvorlage abzulehnen. Virchow f¨uhrte (nach dem Stenographiebericht) aus: „Meine Herren, der Herr Ministerpr¨asident meint, statt alles dessen stehe gar nichts davon im Kommissionsbericht, gar kein Wort der Anerkennung, der Sympathie. Meine Herren, gegen¨uber der Behauptung bin ich gen¨otigt, Ihnen einige Stellen des Berichtes unmittelbar vorzuf¨uhren, von denen ich in der Tat nur annehmen kann, dass der Herr Ministerpr¨asident sich nicht die M¨uhe genommen hat, den Bericht ganz zu lesen, indem ich vielleicht voraussetzen darf, dass es ihm gen¨ugt hat, den Schluss seiner Pr¨ufung zu unterziehen. Aber, wenn er ihn gelesen hat und sagen kann, es seien keine solchen Erkl¨arungen darin, so weiß ich nicht, was ich von seiner Wahrhaftigkeit denken soll!“ Bismarck erwiderte am folgenden Tage. Nach kurzen Bemerkungen zur Sache sagte er Folgendes: „Ich habe das Wort aber nicht deshalb ergriffen, sondern um einen Ausfall gegen meine Person von ganz spezifischem Charakter zu beantworten. Der Herr Referent bemerkt, wenn ich den Bericht wirklich gelesen h¨atte, so wisse er nicht, was er von meiner Wahrheitsliebe halten solle. Der Herr Referent hat lange genug in der Welt gelebt, um zu wissen, dass er sich damit der technischen und spezialen Wendung gegen mich bedient hat, verm¨oge deren man einen
17.7 Krieg 1870/71
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Streit auf das rein pers¨onliche Gebiet zu wenden pflegt, um denjenigen, gegen den man den Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit gerichtet hat, zu zwingen, das er sich pers¨onlich Genugthuung fordert . . . Es ist dies, weil wir Sie nicht verklagen k¨onnen, der einzige Weg, auf dem wir uns Genugthuung verschaffen k¨onnen, ich w¨unschte aber nicht, dass Sie uns in die Notwendigkeit versetzen, ihn zu betreten!“ Damit war die Duellforderung heraus, die einigen Staub aufwirbelte.
17.6 Das Duell H. Machetanz (1977) hat den Briefwechsel und die Pressereaktionen dieser Ereignisse zusammengetragen, die zeigen, wie lebhaft die Abgeordneten und auch die Bev¨olkerung erregt waren. Der Kriegsminister Roon war zeitweilig der Sekundant Bismarcks, Virchow wurde von v. Henning, Freund und Landtagsabgeordneter, vertreten. Virchow dachte sicher niemals daran, das Duell anzunehmen. Der Pr¨asident des Abgeordnetenhauses, von Grabow, verbot unter dem Hinweis auf die Gesch¨aftsordnung, eine parteipolitische Frage mit dem Mittel des Duells zu l¨osen. So kam es nicht zum Duell zwischen Virchow und Bismarck – aber die Tatsache der Forderung allein zeigt die Beziehung zwischen den beiden. Das Faktum der Duellforderung offenbart die aufgeladene Atmosph¨are im damaligen Abgeordnetenhaus und wie ernst Bismarck den „Außenseiter-Politiker“ nahm, macht aber auch die politische T¨atigkeit Virchows „geschichtstr¨achtig“. Es versteht sich, dass die landespolitischen Erfolge Virchows – trotz großer M¨uhe – wie auch der oppositionellen Fortschrittspartei nicht bedeutend gewesen sind. Das liegt vor allem daran, dass der politische Gegner Bismarck gewesen ist. 2 Vielleicht w¨urde man die politische T¨atigkeit Virchows v¨ollig vergessen, wenn nicht der große Gegner, Ministerpr¨asident Otto von Bismarck, durch die Forderung zum Duell von der Rednerb¨uhne des Parlaments die Bedeutung seines Opponenten, seines Kontrahenten, hervorgehoben h¨atte.
17.7 Krieg 1870/71 Wenn man die Denkart Virchows erfasst, kann man sich vorstellen, welch ein Zwiespalt in ihm entstand, als der deutsch-franz¨osische Krieg 1870 ausbrach. Im Abgeordnetenhaus hatte er immer wieder alles daran gesetzt, den Krieg zu vermeiden. Nach Kriegsausbruch stellte sein T¨atigkeitsdrang sich sofort auf die neue Lage ein. Er bildete in Berlin Hilfsaktionen f¨ur die Truppe vor allem f¨ur die Verwundeten zusammen. Auf dem Tempelhofer Feld organisierte er ein Barackenlazarett. Frau Rose Virchow leistete Pflegedienst. Er stellte einen Lazarettzug 2 Ackerknecht (1957, S. 147), zitiert: „W¨ahrend Bismarck Virchow beschuldigte, mit mehr Un-
versch¨amtheit als Tatsachentreue Ger¨uchte zu verbreiten, erwiderte der letztere, dass die Reden des Premierministers aus dem Niveau eines h¨oheren Sch¨ulers st¨anden.“
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17 Virchow und die Politik
zusammen und fuhr selbst – mit zwei seiner S¨ohne – an die Front, um Verwundete und Kranke zur¨uckzuholen. Dabei erkrankten seine S¨ohne an der Ruhr – der Alte (bezeichnenderweise) nicht. Auch sein Archiv war aktuell und aktuell interessiert. In seinem Artikel „Wissenschaft und Krieg“ (Archiv 51, 1870) wird er geradezu nationalistisch. F¨ur ihn war der Krieg ein Ereignis, das auch in die Wissenschaft eingriff – und zudem der Wissenschaftler Stellung beziehen sollte. Im gleichen Band folgen Maßregeln, die er allen Soldaten zu geben sich gen¨otigt sieht (Archiv 51, 1870). Dass diese Anweisungen zu einem gesunden Leben im Kriege nicht nur Widerspruch fand, sondern mit Hohn in Briefen an den Autor, dem sie Weltfremdheit vorwarfen, beantwortet wurden, verschwieg der Autor nicht und ver¨offentlichte auch diese Stimmen in seinem Archiv, in dem er alles „ablegte“.
17.8 „Kulturkampf“ Eine weitere politische Ber¨uhrung zwischen Bismarck und Virchow bildete der sog. Kulturkampf. Freilich hatte die Fortschrittspartei mittlerweile stark an Bedeutung verloren. Sie bekannte sich 1872 (erstmals!) zu der Politik der Regierung. Virchow n¨aherte sich im „Kulturkampf“ Bismarck, den er fr¨uher so sehr bek¨ampft hat. Die Ann¨aherung war nicht bedeutend und vor allem keineswegs herzlich. Bismarck war nach wie vor zur¨uckhaltend bis ablehnend gegen¨uber der Fortschrittspartei und besonders gegen¨uber Virchow. Die Ann¨aherung hatte mindestens zwei Gr¨unde: Einmal hatte Bismarck durch die Reichsgr¨undung viele seiner Gegner – auch die Fortschrittspartei – zum Schweigen gebracht. Virchow – der Pommer – begr¨ußte die norddeutsche, kleindeutsche L¨osung. Zum andern war Virchow seit fr¨uhen Jahren gegen jeden Ultramontanismus, gegen den u¨ berstarken Katholizismus, wie es u. a. in seinem Oberschlesienbericht (1849) bereits zum Ausdruck kam. Die kleindeutsche L¨osung der Reichsgr¨undung, die Bismarck erreichte, verminderte in den Augen Virchows den katholischen Einfluss. Dies h¨angt auch mit dem ungebundenen Denken des Wissenschaftlers zusammen, sicher auch mit Virchows pommersch-preußischer Grundhaltung. So ist seine Stellungnahme im Kulturkampf begr¨undet. Die j¨ahrlichen Reden Virchows auf der Naturforscherversammlung zur Lage, zur Freiheit etc. sind mehrfach Zeugnisse des Politikers, der sich bei den Naturforschern (als „Funktion¨ar“) vor allem u¨ bergeordneten Problemen der Zeit und der Wissenschaftspolitik widmet, die f¨ur Mediziner und Naturforscher aktuell wurden.
18 Naturwissenschaft und Politik
Was hat die ordnende Macht der Medizin durch den naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff bei Virchow mit der Politik zu tun? Sicher waren Motivationen 1. die lange bestehende politische Neigung, der T¨atigkeitsdrang, der gezielte Weg zur Demokratie, die Tendenz, die absolute Monarchie zu bek¨ampfen. 2. Virchows politische T¨atigkeit im Berliner Stadtverordnetenhaus bezog sich zun¨achst vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, auf a¨ rztliche Dinge und hygienische Maßnahmen. Sie war zu einem großen Teil praktische Medizin entsprechend dem Grundsatz, dass der Arzt der nat¨urliche Anwalt der Armen sei. Arzt und Politiker schließen sich in Virchows Vorstellung nicht aus. So wie das „Omnis cellula e cellula“ die Ausgangsformel f¨ur seine naturwissenschaftliche Medizin geworden war, aus der sich die Zellularpathologie und seine gesamte a¨ rztlich- medizinische Auffassung ableitet, so war die Formel f¨ur seine politische T¨atigkeit, f¨ur seine a¨ rztlich-politische Arbeit, wenn man so sagen will, die Dicta: „Die Medicin ist eine soziale Wissenschaft und der Arzt ist der nat¨urliche Anwalt der Armen“ (Wittern 2002). „Die Medizin ist Politik im Großen – Politik ist Medizin mit anderen Mitteln.“ Dar¨uberhinaus hatte Virchows naturwissenschaftliche T¨atigkeit einen mittelbaren Einfluss auf die Alltagspolitik. Immerhin st¨utzte sich die Sozialgesetzgebung Bismarcks bei der Krankenversicherung auf den Krankheitsbegriff, den Virchow eingef¨uhrt und in unz¨ahligen Gutachten und mit st¨andigen Mahnungen zur Krankheitsbezeichnung (1875) verfestigt hatte. Aus dem Reichstag schied Virchow 1892 aus. Danach wurde er Rektor an der Berliner Universit¨at, ohne dass noch nennenswerte politische Aktivit¨aten aufgeschienen w¨aren. Das liegt zum Teil an der st¨arkeren „Verselbstst¨andigung“ der Politik, dass eine nebenamtliche T¨atigkeit noch kaum effektvoll h¨atte sein k¨onnen. Virchow sah in seiner Stellung in der Medizin – „Medizinpapst“ – die Fortsetzung seiner politischen Arbeit.
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18 Naturwissenschaft und Politik
Die entscheidende Frage bleibt: Was hat der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff, das naturwissenschaftliche Denken mit der Politik zu tun? Virchow fordert die Notwendigkeit, dass Naturwissenschaftler Berater der Regierenden sein m¨ussen. Die Regierenden m¨ussen selbst auf eine solche Beratung Wert legen. „Welche Wissenschaft k¨onnte mehr berufen sein, in die Gesetzgebung einzutreten, um jene Gesetze, welche in der Natur des Menschen schon gegeben sind, als die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung geltend zu machen (Chr. Andree 2002). Man muss fragen: Kann die sich entwickelnde Naturwissenschaft schlechthin eine Aufgabe in der Politik einnehmen, sie beeinflussen – kann man dies erkennen? Kann der naturwissenschaftliche Gedanke in der Politik fruchtbar werden mit dem Grundsatz ¨ des Messbaren, des Nachpr¨ufens, des logischen Uberdenkens. Damit ist die gesamte Entwicklung der beginnenden Industrialisierung, die auf der naturwissenschaftlichen Technik, beruht, angesprochen. Manche Zeitgenossen – mehr noch die Nachgeborenen – fragen sich, ob die Leistungsf¨ahigkeit und auch zeitliche Besetzung durch die Politik Virchows medizinische Sendung gehemmt habe. Seinen Freunden mit diesen Bedenken gibt er schon im Vorwort des Geschwulstwerkes 1863 einen freundlichen Hinweis: „Zur Beruhigung meiner Freunde kann ich hinzusetzen, dass die stille und so oft unbemerkte Arbeit des Gelehrten einen gr¨oßeren Aufwand an Kraft und Anstrengung erfordert, als die ihrer Natur nach ger¨auschvollere und daher meist dankbarere T¨atigkeit des Politikers, welche mir wenigstens h¨aufig wie eine Erholung erschien.“ Ebenso wie er ein ausgef¨ullter Wissenschaftler war, so war er ein vielbesch¨aftigter Politiker – was ihm nichts besonders erschien, weil er gleichsam von Jugend auf stets „den ganzen Mann“ einsetzte. ¨ Virchow hatte den unb¨andigen Drang, der Offentlichkeit alles mitzuteilen, was ihn bewegte und was er dachte. Er legte alles in seinem Archiv ab, auch wenn es f¨ur den Autor peinlich war (wie die Soldatenbriefe aus dem Kriege 70/71). Dass wir „Gedanken um, mit, u¨ ber, zu Virchow“ haben k¨onnen, verdanken wir diesem Umstande.
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