KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
GÜNTHER HEIPP
Der Arzt von Lambar...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
GÜNTHER HEIPP
Der Arzt von Lambarene AUS DEM LEBEN ALBERT SCHWEITZERS
V E R L A G S E B A S T I A N LUX MURNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • ÖLTEN
Das Lepra-Sanatorium „Valbonne" Meine erste — wenngleich nicht persönliche — Begegnung mit dem Arzt, dem Urwalddoktor von Lambarene hatte ich vor einigen Jahren im Sommer . . . Irgendwo in Südfrankreich, in einem der Seitentäler der Rhone, haben wir unser Zeltlager aufgeschlagen. Den unruhigen Strom wird man hier nur gewahr, wenn man die höchste Bergkuppe der Umgegend erstiegen hat; ahnen kann man in der Ferne Avignon, die einstige Stadt der Päpste. Zu unseren Füßen breitet sich eine mit hohen Wachttürmen und Zinnen bewehrte Klosteranlage aus, ein Karthäuserkloster aus dem 17. Jahrhundert, im Renaissancestil erbaut und heute Valbonne genannt. Freilich, die Mönche in den weißen Kutten sind längst fortgezogen, doch Glaube, Frömmigkeit und Liebe walten auch heute noch in diesen Mauern. An einem der Nachmittage, da wir an diesem herrlichen Fleckchen lagern, sprechen wir über den Negerdoktor Albert Schweitzer und sein Spital im Urwald. Wie wir darauf gekommen sind? Nun, einer von uns hat wenige Tage zuvor von dem berühmten Arzt und Menschenfreund einen Gruß erhalten. Dem Brief lag Schweitzers ansprechendes Büchlein über das Leben eines Pelikans im Spitaldorf am Ogowe bei — eine willkommene und stimmungsvolle Lektüre für uns in diesem verschwiegenen Waldtal. Aber schon bald entdecken wir, daß auch das Tal selber und das alte Kloster darin in mancherlei Beziehung zum Werke Albert Schweitzers stehen. Ich habe vergessen, zu erzählen, wer heute die Zellen der Mönche bewohnt: Menschen aus aller Herren Ländern sind es, von weißer und brauner Hautfarbe, Kolonialbeamte und Soldaten, Kaufleute und gebildete Eingeborene; sie alle sind in dem morderischen Klima der Tropenländer leprakrank geworden und suchen nun, betreut von französischen Protestanten, in dieser ruhigen und gesunden Oase der Menschlichkeit Genesung von ihrem Leiden oder Linderung ihrer Krankheit. Was es mit dieser bösesten Geißel der Tropen, die man früher Aussatz nannte, auf sich hat, erfahren wir von den Krankenpflegern des Sanatoriums. Ober acht Millionen Menschen, so hören wir, leiden heute noch an der Lepra. Die Ansteckungsgefahr sei lange Zeit übertrieben worden, sie sei in Wirklichkeit geringer als zum Beispiel bei der Tuberkulose. Am empfänglichsten erwiesen sich 2
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Dicht unter de-m Äquator liegt nicht weit von der Küste das Spitaldorf Lambarene, die Wirkungsstätte Albert Schweitzers. Die Landschaft Gabun mit ihrer Bantuneger- und Pygmäenbevölkerung gehört zu FranzösischÄquatorial-Afrika
Kinder, und das Erschreckende an dieser Krankheit sei, daß das Leiden bereits in frühester Kindheit seinen Anfang nehmen könne. Im Laufe der Jahre komme es zu schweren Verstümmelungen der befallenen Gliedmaßen und — was besonders gefährlich sei — zur Ünempfindlichkeit gegen Schmerzen. Die Kranken verlören damit für bestimmte Körperpartien das wichtigste Warnsignal beim Auf3
treten von Verletzungen, Geschwürbildungen und Infektionen. Aber man sagt uns, daß sich heute durch Isolierung und Beobachtung der Erkrankten in umgrenzten Leprakolonien und Krankenanstalten, durch Hebung des Lebensgefühls, durch Beschaffung nutzbringender Arbeit viel für die Leprakranken tun lasse. Chirurgische Behandlung und neuzeitliche Medikamente ermöglichten es häufig, dem Fortschreiten des Verfalls rechtzeitig Einhalt zu tun und die Genesenen wieder in ihre Familien zurückkehren zu lassen. Wir können uns mit einigen der kranken Neger unterhalten; sie dürfen sich auf dem Klostergelände frei bewegen, denn bei ihnen hat die frühzeitige Behandlung zur „Stabilisierung", d. hl zur Eindämmung oder Fast-Heilung geführt. Da sie des Französischen mächtig sind, erfahren wir von ihnen, daß ihre Heimat Französisch-Äquatorialafrika ist und daß ihr Stamm in der Nähe von Lambarene! — Schweitzers Hospitalort — lebt. Von Albert Schweitzer, dem großen ,Oganga, ^dem „Weißen Medizinmann", haben sie durch die Erzählungen von Leidensgenossen viel gehört. Im Klostergarten zeigt man uns unter hohen Pinien den schmucklosen Grabstein von Philippe Delord, dem Gründer dieser segensreichen Zufluchtsstätte für die Ausgestoßenen der menschlichen Gesellschaft; dieser Freund der Ärmsten und Elendesten hat lange Jahre in den Tropen Dienst als Missionar getan, und nun leiten seine Söhne sein Lepra-Sanatorium, eines der wenigen, die in Europa bestehen. Philippe Delord war ein guter Freund Albert Schweitzers und einer der frühesten Mitarbeiter am Lambarenewerk. Freilich ist er niemals dort gewesen, aber er hat Albert Schweitzer in den zwanziger Jahren ständig hier aus dem Tal Chaulmoogra-Öl in die Leprastation von Lambarene gesandt, da dieses öl damals das einzige Mittel gegen den Aussatz war. Der Urwalddoktor hat ihm deshalb in seinen Lebenserinnerungen ein ehrenvolles Denkmal gesetzt. Die Erinnerung an Philippe Delord führt so vom Lepra-Sanatorium Valbonne — Gutes Tal — unmittelbar hinüber in das äquatornahe Afrika, in die französische Kolonie Gabun (3. Karte S. 5), in die Jahre zwischen 1924 und 1927 . . .
Ehrfurcht vor dem Leben Nahe beim Ogowefluß ist der Doktor Schweitzer dabei, ein Stück des Urwaldes zu roden, um Platz für sein neues und größeres Spital zu schaffen. Dort, wo die Urwaldriesen bereits gefallen sind und das Gelände eingeebnet worden ist, werden die ersten Pfähle
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Medikamente sind angekommen. Im Einbaum der Eingeborenen überquert Albert Schweitzer den Ogowe
gesetzt, die später eine geräumige Krankenbaracke tragen sollen. Der Doktor überwacht das Ausheben der Löcher, in die dann die Rundhölzer «ingesenkt werden. Ehe die Pfähle in die Erde komVmen, überzeugt er sich davon, ob nicht Unken oder anderes Getier in die Grablöcher geraten sind. "Was sich dahin verirrt hat, holt er mit eigener Hand heraus: Kein unschuldiges Geschöpf darf aus Unachtsamkeit oder Gedankenlosigkeit zugrunde gehen. Was hier der Tierfreund Schweitzer im afrikanischen Urwald den Geschöpfen an Liebe und Mitleid zukommen läßt, ist nur die folgerichtige Anwendung des philosophischen Satzes, den dieser „Ethiker der Ehrfurcht vor dem Leben" in seiner Kulturphilosophie niedergeschrieben hat: „Mit der gesamten Kreatur unter dem Gesetz der Selbstentzweiung des Willens zum Leben stehend, kommt der Mensch fort und fort in die Lage, sein eigenes Leben überhaupt nur auf Kosten von anderem Leben erhalten zu könw nen. Ist er von der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben berührt, so schädigt und vernichtet er Leben nur aus Notwendigkeit, der er nicht entrinnen kann, niemals aus Gedankenlosigkeit." In einem großen Filmtheater wird der französische Film „Es ist Mitternacht, Doktor Schweitzer!" gezeigt, der von den allerersten Anfängen in Lambarene vor mehr als vier Jahrzehnten berichtet. Viele sind gekommen, weil sie sich von dem großen und berühmten Menschenfreund etwas sagen lassen möchten, nach dem sie sich vielleicht richten können. Aber nun sehen sie dort einen schlichten, demütigen, bescheidenen jungen Arzt, und sie merken, daß seine Botschaft doch nicht ganz so einfach in das alltägliche Leben umzusetzen ist. Viele, die erwartet haben, einen „Helden" auf der Leinwand kennenzulernen, können soviel Einfachheit und Einfalt nicht verstehen — und einmal scheint das alles sogar sehr übertrieben: Als der Doktor Schweitzer gleich nach seiner Ankunft auf der Missionsstation ein wenig auf seinem Zimmer ausrruhen will und eine ihn störende Riesenspinne tötet und zu, sich sagt: „Schrecklich, daß ich als erstes in diesem Land ein Leben vernichten m u ß ! " Über die Arbeit des Pfählesetzens erzählt uns der Urwalddoktor in seinen Afrikaerinnerungen noch einiges mehr: Wenn er so das Getier, das in die Löcher hineingeraten ist, vor dem Tode bewahrt, so erklärt er seinen schwarzen Helfern dieses Tun; einige lächeln verlegen, andere lassen den so oft gehörten Spruch gleichgültig über sich e r g e h e n . . . Doch plötzlich ergibt es sich, daß ein solches Beispiel und solche Worte vor diesen „ W i l d e n " doch nicht so sinnlos sind, wie es scheint. Wenige Tage nach dem Aufrichten 6
der Pfähle wird ein sehr primitiver Eingeborener, der beim Hausbau mitgewirkt hatte, in die Pflanzungen des Spitals zum Roden abkommandiert. Als aus einem Gebüsch, das beseitigt werden muß, eine Kröte auftaucht, will ein Nachbar sie mit dem Buschmesser erschlagen; er aber fällt ihm in den Arm und erzählt vor ihm und der aufhorchenden Mannschaft, daß auch die Tiere vom lieben Gott geschaffen seien und daß Gott dem Menschen, der sie gedankenlos quält oder tötet, ein großes Palaver machen werde (ein Palaver ist in diesem Falle eine Gerichtsverhandlung). — Bewegt bekennt der Doktor: „Dieser Wilde war der letzte, von dem ich angenommen hätte, daß mein Tun und Reden beim Setzen der Pfähle ihm Eindruck machen werde." — Das sind kleine bezeichnende Geschehnisse aus den zwanziger Jahren — und der Leser wird ihren Sinn verstehen. Damals und auch in der folgenden Zeit hat sich Dr. Schweitzer lange Zeit als Holzfäller, Pfahlbauer und Zimmermann betätigen müssen, da das unermeßliche Krankheitselend der Gabunbevölkerung — besonders die Schlafkrankheit — eine stetige Erweiterung des Spitalgeländes erforderlich machte. Heute ist im eigentlichen Spitaldorf Raum für etwa 500 Patienten mit ihren Angehörigen vorhanden: für diese Kranken und für die rund fünfzehn weißen Helfer des Doktors stehen etwa 50 Barackenbauten zur Verfügung. Doch das eigentliche Spital ist zu klein geworden für all die vielen, die Heilung finden möchten. Seitdem vor kurzem der Bau eines Dorfes für zunächst 180, dann für 300 Leprakranke abseits vom Spital in Angriff genommen wurde, ist der über Achtzigjährige fast den ganzen Tag auf dem Bauplatz anzutreffen, wo er den Fortgang der Arbeiten bis ins kleinste überwacht. Die beim Häuserbau angestellten Eingeborenen sind zum Teil Angehörige der im Spital liegenden Patienten, zum andern Teil die arbeitsfähigen Lepra.kranken. Der Doktor betrachtet es nämlich als eine der Hauptaufgaben für diejenigen, die in den Kolonien mit primitiven und halbprimitiven Völkerschaften zu tun haben, daß diese Menschen zur rechten Einschätzung der Arbeit erzogen werden. Da bietet solch ein Spitalneubau die beste Möglichkeit. Zudem erhofft sich Doktor Schweitzer von dieser Maßnahme, daß die Eingeborenen durch die Erziehung zur Arbeit auch geistig vorankommen. *
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Wie bescheiden, ja armselig hat es hier am Ufer des Ogowe vor vierzig Jahren ausgesehen, als Albert Schweitzer und seine Gattin Helene das W e r k von Lambarene ins Leben riefen. Sie hat-
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ten ihre Praxis in einem ausgedienten Hühnerstall der Missions-' Station eingerichtet. Das war der Anfang gewesen . . . Ein Anfang — und doch für Albert Schweitzer zugleich auch ein Abschluß: Abschluß eines Lebensabschnittes, der auf wissenschaftlichem Gebiet, im geistlichen Amt und in der Kunst mit großen Erfolgen angefüllt gewesen war. Denn Albert Schweitzer war, als er als Siebenunddreißigjähriger im Frühjahr 1913 hinauszog, längst kein Unbekannter mehr.
Heimat im Elsaß Kurz vor Kolmar im Elsaß, der Stadt des Isenheimer Altars, biegt die Straße in ein Seitental ein; auf kurvenreicher Strecke, zwischen fruchtbaren Rebenhängen hindurch^ gelangt man ins mittelalterliche Städtchen Kaysersberg, dessen stolze Burgruine und viele schmucken Fachwerkgiebel berühmt sind. Eines der alten zweistöckigen Häuser am Ausgang des Städtchens wird seltsamerweise von einem Glockentürmchen geziert. Eine frische in Sandjstein gehauene Inschrift zur rechten Seite des großen Portals verrät den Grund: Hier ist das Gemeindehaus. Aber noch etwas anderes liest man da: „Maison natale du Dr. Albert Schweitzer, 14 janvier 1875" — hier wurde Albert Schweitzer am 14. Januar 1875 geboren als Sohn des Pfarrverwesers Ludwig Schweitzer, der damals die evangelische Gemeinde Kaysersberg betreute. Ein kleiner Anbau im Hofe dient seit mehr als hundert Jahren der Ge*meinde als Notkirche . . . i Von hier nahm also Albert Schweitzers Lebensweg seinen Ausgang. Doch die eigentliche Jugendheimat des Doktors liegt noch etwas weiter südlich, im stillen Münstertal. Dorthin, in die Gemeinde Günsbach, wird der Vater 1876 als Pfarrer berufen, und dort wächst der Junge mit vier Geschwistern auf. über dem Schreibtisch im Günsbacher Arbeitszimmer Dr. Schweitzers haben die Bildnisse von Vater und Mutter Platz gefunden, über seine Eltern sagt er in seinen Kindheitserinnerungen: „Sie erzogen uns zur Freiheit", vom Vater bekennt er: „Er war mir der liebste Freund", und von der Mutter wiederum: „Es war uns nicht gegeben, die Liebe, die wir füreinander hatten, in Worten auszudrücken. Ich kann die Stunden zählen, in denen wir uns wirklich miteinander ausgesprochen haben. Aber wir verstanden uns, ohne zu sprechen." 8
Einer seiner ersten unbewußten Erzieher ist ein jüdischer Viehhändler mit Namen Mausche geworden, der bei seinen Besuchen im Dorfe jedesmal dem Gespött der Jugend ausgesetzt war. Als der kleine Albert Schweitzer sich eines Tages dem Treiben der Gefährten anschloß, mußte er es erleben, daß das wehrlose Opfer die ganze Zeit ruhig und gelassen blieb und nur ein einziges Mal, sich umdrehend, verlegen und gütig den wilden Rangen zulächelte. Von diesem Beispiel, in Verfolgung zu schweigen, wurde der Junge überwältigt; dem alten Mausche konnte er von da an nur noch mit Ehrerbietung begegnen. i Albert Schweitzers Jugendzeit scheint in ihrem äußeren Ablauf glücklich und sorgenfrei gewesen zu sein; die Beschwernisse trafen ihn von innen: „. . . Solange ich zurückblicken kann, habe ich unter dem vielen Elend, das ich in der Welt sah, gelitten. Unbefangene Lebensfreude habe ich eigentlich nie gekannt und glaube, daß es vielen Kindern ebenso ergeht, wenn sie auch äußerlich ganz froh und sorglos erscheinen. Insbesondere litt ich darunter, daß die armen Tiere so viel Schmerz und Not auszustehen hatten. Ganz unfaßbar schien mir, daß ich in meinem Abendgebet nur für Menschen beten sollte. Darum, wenn meine Mutter mit mir gebetet und mir den Gutenachtkuß gegeben hatte, betete ich heimlich noch ein von mir selbst verfaßtes Zusatzgebet für alle Wesen: „Lieber Gott, schütze und segne alles, was Odem hat, bewahre es vor allem Übel und laß es ruhig schlafen!" An einem herrlichen Sonntagmorgen in der Passionszeit folgt der junge Schweitzer widerstrebend dem für ihn schrecklichen Vorschlag eines Gefährten, mit Schleudern auf Vögel zu schießen. Er geht mit; als sie jedoch auf die ersten ahnungslosen Tierlein zielen, beginnen die.Glocken der Dorfkirche in den Gesang der Vögel hineinzuläuten . . . Immer wieder muß der Junge später daran denken, wie ihm die Glocken das Gebot „Du sollst nicht töten 1" ins Herz geläutet haben. Solche und ähnliche Erlebnisse wecken in ihm die Überzeugung, daß wir Menschen Tod und Leid nur dann über ein anderes Wesen bringen dürften, wenn eine unentrinnbare Notwendigkeit dafür vorliegt: „Immer miehr wurde mir bewußt, daß wir im Grunde alle so denken, und daß wir es nur nicht zu bekennen und zu betätigen wagen, wieil wir fürchten, von den anderen als sentimental' belächelt zu werden, und auch, weil wir uns abstumpfen lassen!" Hier wird schon der Grund zu jener „Ehrfurcht vor dem Leben" gelegt, die wir als Grundhaltung seines Charakters bereits kennengelernt haben.
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Einen tiefen Eindruck auf den Knaben machen die Predigten des Vaters, „weil vieles, was er auf der Kanzel sagte, mit seinem Erleben zusammenhing", und weil der Knabe ahnt, welchen Kampf es für den Vater bedeutet, sein Herz vor so vielen Menschen preiszugeben. Das Günsbacher Dorf kirchlein hat eine Besonderheit: Es ist Gotteshaus der evangelischen und katholischen Gemeinde zugleich. In vielen elsässischen Gemeinden wird diese aus der Zeit Ludwigs XIV. stammende Ordnung auch heute noch beibehalten. Für Albert Schweitzer bedeuten solche Simultankirchen mehr als nur eine merkwürdige geschichtliche Erscheinung. Sie sind ihm ein Zeichen besonderer christlicher Liebesgesinnung und religiöser Toleranz, sie bedeuten ihm ein Symbol der Kirche der Zukunft — „eine Prophezeiung und eine Mahnung auf eine Zukunft der religiösen Eintracht, auf die wir den Sinn gerichtet halten müssen, wenn wir wahrhafte Christen sind! . . ." Nach dem Besuch der Günsbacher Dorfschule absolviert der Zehnjährige die erste Klasse der Realschule im benachbarten Münster, um sodann in die Quinta des Gymnasiums zu Mühlhausen 1 (Elsaß) einzutreten. Während seiner Gymnasialzeit kann er bei einem Großonkel wohnen. Vor allem ist er an der Geschichte und an den Naturwissenschaften interessiert, keineswegs aber bestrebt, ein Musterschüler zu sein. Im Jahre 1893 besteht er in Mühlhausen sein Abitur. ', Solange die Eltern noch leben, ist dem Studenten und späteren Gelehrten das väterliche Pfarrhaus die Stätte der Einkehr zu besinnlicher Rast. Aber auch nachher bleibt Günsbach Heimat und Herberge für den „Samariter des schwarzen Bruders", vor allem, seit er sich 1928 mit dem Gelde des Frankfurter Goethe-Preises am Dorfrand das eigene Haus hat erbauen können. In Straßburg obliegt Albert Schweitzer dem theologischen Studium, nach dessen Abschluß er selber zum Lehrer für viele wird. Manche Stätte in Straßburg ist aufs engste mit seinem Leben verbunden. Da grüßt die wuchtige Front der Universität mit den Fenstern des Hörsaals gleich zur Rechten des Portals, in dem der junge Privatdozent für Neues Testament seine ersten Vorlesungen zu halten hatte; da fahren wir vorüber an den Kirchen St. Wilhelm und St. Nicolai, beide am Ufer der JU gelegen, langjährige Stätten des Dienstes des Pfarrers und des Orgelkünstlers Schweitzer; da betreten wir ehrfurchtsvoll das gotische Langhaus der Thomaskirche, der Kirche Straßburgs mit der ältesten und wechselvollsten Ge10
schichte, die mit dem Wirken des Musikers Schweitzer gleichfalls aufs engste verbunden ist; gleich dahinter erhebt sich auch das evangelische Studienstift St. Thomas, das seinerzeit den Theologen Schweitzer als Studiosus und in der Folgezeit als seinen Direktor in seinen Mauern sah. Und dann gibt es ganz in der Nähe die Speichergasse, heute „Rue des greniers" genannt. Eine unscheinbare Mietskaserne in dieser schmalen Gasse ist seit Jahrzehnten der Ort, von dem aus Ströme der Barmherzigkeit und Liebe hinausgegangen sind ins dunkle Afrika — und nicht nur nach dort. Hier befindet sich des Doktors „Europäisches Hauptquartier", hier werden die Medikamente-Sendungen für Lambarene zusammengestellt, hier bereiten sich Ärzte und Pflegerinnen auf die Ausfahrt ins Spital vor, hier treffen ungezählte Gelehrte und Künstler mit dem Manne zusammen, den nach den Worten des Dichters Stefan Zweig „die Besten der Welt als ihr Vorbild ehren". Auch kann man in diesem Hause ein regelrechtes Tropenmuseum bewundern. Doch wir haben in Schweitzers Leben vorgegriffen . . . Der Achtzehnjährige hat im Straßburger Studienstift St. Thomas, dessen Direktor er später einmal sein wird, Wohnung genommen. Mit großem Eifer widmet er sich seinem Studium; er besucht auch dann pünktlich und regelmäßig die Vorlesungen, als er seinen Militärdienst in der Straßburger Garnison ableisten muß. Nach dem ersten theologischen Examen sehen wir ihn in Paris, wo er an der berühmten Sorbonne seine Studien weiterbetreibt. In Paris verfaßt er auch seine philosophische Doktorarbeit über die Religionsphilosophie des großen Königsberger Denkers Immanuel Kant. Mit dieser Arbeit promoviert er im Jahre 1899 an der Straßburger Universität. Nach kurzer Zeit erwirbt er hier auch den Grad eines Lizentiaten der Theologie. Am 1. Dezember 1899 erhält Doktor Schweitzer als Lehrvikar ein Predigtamt an der St. Nicolai-Kirche zu Straßburg. Nachdem er im folgenden Jahre das zweite theologische Examen abgelegt hat, tritt er den beiden betagten Pfarrern der Gemeinde als Vikar zur Seite. Er hat in der Hauptsache die Gottesdienste am Sonntagnachmittag, die Kindergottesdienste und den Konfirmandenunterricht zu halten. Besonders die Jugend hängt sehr an ihrem Vikar Schweitzer, so daß er Jahrzehnte später sagen kann: „Ich habe von Männern Dank dafür empfangen, daß ich ihnen in meinem Unterricht die Grundwahrheit der Religion Jesu als etwas mit dem Denken zu Vereinendes nahebrachte und sie damit gegen die spätere Gefahr der Preisgabe der Religion stark machte." 11
Im Jahre 1902 habilitiert sich Doktor Schweitzer als Privatdozent an der theologischen Fakultät in Straßburg. Die von ihn» dazu gelieferte wissenschaftliche Arbeit trägt den Titel „Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu." Im Sommersemester schon beginnt er seine Vorlesungen über das Neue Testament, zu denen später Vorlesungen über die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung hinzutreten. In den nun folgenden Jahren seiner Wirksamkeit als Professor der Theologie befaßt er sich in erster Linie mit zwei Hauptproblemen theologischer Wissenschaft: einmal mit der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, zum andern mit der Geschichte der paulinischen Forschung, d. h .mit der Erforschung des Wesensgehaltes der Theologie des Apostels Paulus, wie sie uns in seinen Briefen im Neuen Testament vor Augen tritt. Seine wissenschaftlichen Arbeiten erregen nicht wenig Aufsehen.
Er „errettet Neger und alte Orgeln" Der Name Albert Schweitzer läßt aber schon bald auch diejenigen aufhorchen, die in der Welt der Musik zu Hause sind. Wenn der bekannte Kirchenchor von St. Wilhelm, unter der Leitung von Ernst Münch, zu Beginn des Jahrhunderts alljährlich seine großen Bach-Gedenktage veranstaltet, wird die Orgel jedesmal von dem Privatdozenten Pfarrer Doktor Schweitzer gespielt; im Jahre 1905 wird in Paris die französische Bach-Gesellschaft gegründet, einer der Gründer ist Professor Schweitzer; und endlich erscheint im selben Jahre in Paris aus Albert Schweitzers Feder ein Buch mit dem Titel „Johann Sebastian Bach, der Dichter-Musiker". Dies alles war eigentlich vorauszusehen, denn Albert Schweitzer war von Kindesbeinen an mit der Welt der Orgel und der Kirchen n musik überhaupt vertraut. Als Neunjähriger vertritt er den Organisten der Günsbacher Dorfkirche, in Mühlhausen erhält er regelmäßigen Orgelunterricht bei Eugen Münch und übernimmt dort als sechzehnjähriger Gymnasiast die Begleitung des „Deutschen Requiems" von Johannes Brahms. In Straßburg und Paris besucht er musiktheoretische Kurse und erfährt eine gediegene Ausbildung bei bedeutenden Künstlern und Orgelmeistern. 1896 erlebt er die Bayreuther Festspiele, 1899 ist er in Berlin Schüler von Karl Stumpf und vertritt den Organisten der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Straßburg ist die Hauptpflegestätte des in Frankreich aufkommenden „Bach-Kul12
tes", und dort hat er Gelegenheit, sich praktisch mit den Fragen der Wiedergabe Bachscher Kompositionen zu befassen. Durch einen glücklichen Zufall gelangt er 1903 in den Besitz einer Gesamtausgabe der Bachschen Werke. Von da an ist seine ganze freie Zeit der Beschäftigung mit dem großen Thomaskantor geweiht, immer tiefer dringt er in den Geist der Bachschen Musik ein. Die «rste Frucht dieser Arbeit ist das französische Bach-Buch. Albert Schweitzer sollte die wahrhaft einmalige Aufgabe zukommen, den französischen Musikern und Musikfreunden den großen Johann Sebastian Bach in der ganzen Weite und Tiefe seines gottbegnadeten Künstlertums nahezubringen. Angeregt durch die begeisterte Aufnahme dieses Buches auch in Deutschland, versucht Albert Schweitzer eine Übersetzung ins Deutsche. Er sieht sich jedoch bald außerstande, sich selbst zu übersetzen, und so entsteht eine völlige Neufassung, die fast den doppelten Umfang der französischen Ausgabe erreicht. Aus den Angaben über den Choral und die Gottesdienstmusik zu Bachs Zeit ist ein Abriß der Geschichte der protestantischen Kirchenmusik bis zu J. S. Bach hin entstanden. Was bedeutet ihm die Bachsche Musik? Hören wir einen Satz aus seinem Bach-Buch: „. . . Das Größte an dieser urlebendigen, wunderbar plastischen, einzigartig formvollendeten Kunst ist der Geist, der von ihr ausgeht. Eine Seele, die sich aus der Unruhe der Welt nach Frieden sehnt und Frieden schon gekostet hat, läßt darin andere an ihrem Erlebnis teilhaben." Und was hat Bach unserer Zeit zu sagen? — „Bach-Feste und alles, was man sonst noch zum Ruhme Bachs veranstalten kann, ist nicht das, was zuletzt am meisten not tut, sondern idie stille, bescheidene Arbeit vieler unbekannter Menschen, die bei Bach nichts anderes suchen als innerliche Befriedigung und Mitteilung dieses Reichtums an ihren Nächsten. Nur einem solchen Geschlechte wird er sich wahrhaft offenbaren!" ' Als Orgelspieler zieht es Albert Schweitzer auch immer mehr zu den Orgelbauten hin. Die Beschäftigung mit dem Orgelbau liegt ihm im Blut; schon als Knabe war er darauf aus, das Innere von Orgeln kennenzulernen. Die modernen Orgeln erscheinen ihm in klanglicher Hinsicht als ein Rückschritt. In einer Schrift „Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst" fordert er im Jahre 1906 zu einer Neubesinnung im Orgelbau auf. In selbstloser Weise setzt er sich für die Erhaltung wertvoller, alter Orgeln ein. Als erstes Werk kann er die schöne Silbermann-Orgel der Straßburger Thomaskirche vor der „Demontage" retten, und noch viele 13
andere Werke bleiben dank seiner Fürsprache erhalten. Seine Freunde sagen später von ihm: „In Afrika errettet er alte Neger, in Europa alte Orgeln."
Der Professor wird wieder Student Doch inzwischen ist durch einen bedeutsamen Entschluß die entscheidende Wende in seinem Leben eingetreten . . . Doktor Schweitzer ist Direktor des theologischen Stiftes St. Thomas in Straßburg geworden und ist nun der seelsorgerliche und wissenschaftliche Betreuer der dort wohnenden Theologiestudenten. Eine glänzende Laufbahn, eine gesicherte Existenz liegen vor ihm. Aber wird ihn all das innerlich erfüllen, hat er mit dieser Laufbahn seinen wirklichen Beruf als Berufung gefunden? Niemand konnte im Jahre 1904 ahnen, was Albert Schweitzer bereits mehr als zehn Jahre zuvor beschlossen hatte; kaum hatte er mit dem Studium begonnen, da stand für ihn fest, daß er etwa bis zum dreißigsten Lebensjahre der Kunst und der Wissenschaft leben werde; dann aber werde er sich einem „unmittelbaren W i r k e n " zuwenden. Er sagt darüber: „Welcher Art das für später geplante Wirken sein würde, war mir damals noch nicht klar. Ich überließ es den Umständen, mich zu führen. Fest stand nur, daß es ein unmittelbar menschliches, wenn auch noch so unscheinbares Dienen sein müsse." Der Student Albert Schweitzer lernt dieses praktische Dienen bereits kennen, indem er sich um verwaiste und verwahrloste Jugend bemüht. Es gibt in Straßburg wohl Waisenhäuser und Fürsorgeheime, aber auf die gewiß notwendige Mitarbeit von Freiwilligen, wie sie Albert Schweitzer und seine Freunde oftmals anbieten, sind diese Institute nicht eingestellt. So unterstützen die Studenten mit den Mitteln wohlhabender Bürger die Armen Straßburgs, und es sind sehr viele Bittgänge und Besuche zu machen. Auch kümmern die jungen Leute sich um die von der Gesellschaft Verfemten. . . „ ü b e r der Beschäftigung mit Vagabunden und entlassenen Gefangenen war mir klar geworden, daß ihnen in wirksamer Weise nur durch viele sich ihnen widmende Einzelpersönlichkeiten geholfen werden könne. Zugleich hatte ich aber auch eingesehen, daß diese Persönlichkeiten nur in Zusammenarbeit mit Organisationen etwas Ersprießliches leisten könnten. Mein Sinn aber ging.auf ein absolut persönliches und unabhängiges Handeln. Obwohl ich entschlossen war, mich, wenn es sein müsse, einer Or-
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ganisation zur Verfügung zu stellen, gab ich die Hoffnung nicht auf, zuletzt doch noch eine Tätigkeit zu finden, der ich mich als Einzelner und als Freier widmen dürfte. Daß sich diese Sehnsucht erfüllte, habe ich immer als eine große, stets aufs neue erlebte Gnade hingenommen. Wie erfüllte sich jene Sehnsucht? Wir blicken in das Jahr 1904 zurück. An einem Herbstabend dieses Jahres sitzt Direktor Schweitzer an seinem Schreibtisch im Thomas-Stift über der Erledigung der eingegangenen Post. Vor ihm liegt ein Berichtsheft der Pariser evangelischen Missionsgesellschaft: ein Artikel mit der Überschrift „Was der Kongomission not t u t " fällt ihm ins Auge. Es heißt darin, daß der Mission Leute fehlen, die den Dienst als Missionare, als Lehrer und vor allem als Missionsärzte in der Äquatorkolonie Gabun tun können. Der Aufruf schließt mit den Worten: ,,Wir hoffen, daß dieser Appell solche Menschen, auf denen bereits der Blick des Meisters ruht, zum Entschluß bringt, sich für diese dringende Arbeit anzubieten. Menschen, die auf den Wink des Meisters einfach mit ,Herr, ich! mache mich auf den Weg' antworten: Ihrer bedarf die Kirche." Albert Schweitzer sagte von dieser Entscheidungsstunde: „Als ich mit dem Lesen fertig war, nahm ich ruhig meine Arbeit vor. Das Suchen hatte ein Ende." Er beschließt in dieser Stunde, den Plan des rein menschlichen Dienens in Äquatorialafrika zu verwirklichen. Er sieht das Ziel vor Augen. Aber er prüft zuvor seine Eignung zu dem selbstgewählten Werk. Diese Überlegungen nehmen einige Zeit in Anspruch. Erst ein Jahr später hören Verwandte und Freunde mit Erstaunen und Bestürzung, daß er, der Professor an der Straßburger Universität, das Studium der Medizin beginnen wolle, um später als Arzt nach Zentralafrika zu gehen. Anr gehörige und Freunde halten ihm die „Sinnlosigkeit" seines Beginnens vor; man schilt ihn einen General, der sich mit der Flinte in den Schützengraben legen wolle. Doch Schweitzers Entschluß ist unumstößlich. • Nun gilt es zunächst, sich durch das Medizinstudium hindurchzukämpfen. Es wird ein Kampf im wahrsten Sinne des Wortes. Nur eine besondere Erlaubnis der Regierung ermöglicht es Albert Schweitzer, der ja Mitglied des Lehrkörpers der Universität ist, zugleich auch wie ein Student Vorlesungen hören zu dürfen. Er kündigt seine Stellung als Stiftsdirektor, die theologische Lehrtätigkeit und das Predigtamt übt er weiter aus. Das Gnadengeschenk einer unerhört robusten Gesundheit ermöglicht ihm solch anstrengende Arbeit viele Jahre hindurch. 15
Das Frühjahr 1912 verbringt er in Paris im Studium der Tro-' penmedizin. Dort werden auch die ersten Einkäufe für die Fahrt nach Afrika getätigt. Bei diesen letzten mühevollen Vorbereitungen ist der junge Doktor nicht mehr allein. Er weiß eine treue Gefährtin um sich, die bereit ist, alle seine Arbeit und seine Sorgen zu verstehen und mitzutragen: Im Juni des Jahres 1912 vermählt er sich mit der Tochter eines bekannten Straßburger Gelehrten, die eine Ausbildung als Krankenschwester hinter sich hat. Albert Schweitzer sagt von ihr: ,,.. . Zuletzt verließ ich auch die Wohnung am Thomasstift (in Straßburg), um mit meiner Frau — ich hatte mich am 18. Juni 1912 mit Helene Bresslau, der Tochter des Straßburger Historikers, verheiratet — die letzten Monate, soweit ich nicht auf Reisen sein mußte, im väterlichen Pfarrhaus zu Günsbach zu verleben. Meine Frau, die mir schon vor unserer Verheiratung eine wertvolle Mitarbeiterin bei der Fertigstellung der Manuskripte und der Erledigung der Druckkorrekturen gewesen war, war mir eine große Hilfe bei allen noch vor der Abreise nach Afrika [zu, erledigenden literarischen Arbeiten." Der Tropenmediziner Schweitzer macht der Pariser Missions-t gesellschaft das Angebot, auf eigene Kosten bei der Missionsstation Lambarene am Äquator eine ärztliche Hilfsstation einrichten zu wollen. Und schon beginnt er, die für eine solche Station erforderlichen Mittel zu „erbetteln". Der Erlös mehrerer Orgelkonzerte bildet den Grundstock zu einem kleinen Kapital. Zahlreiche Freunde tragen ihr Scherflein bei. Größere Spenden erhält der Doktor vom Kollegium der Universität Straßburg, von seiner Gemeinde St. Nicolai, von anderen elsässischen Kirchengemeinden, von der Gesellschaft der Bach-Freunde in Paris. Die finanzielle Frage ist damit vorläufig gelöst. Doktor Schweitzer besitzt die Mittel zu den notwendigsten Anschaffungen an Medikamenten, für die Reise und für den Betrieb eines kleinen Spitals auf etwa ein Jahr hinaus. Verschiedene Freunde stellen ihm weitere Hilfe in Aussicht. Die Witwe eines Straßburger Mediziners bietet ihre Mitarbeit an und nimmt alle in Europa zu leistende Arbeit auf sich. Noch gilt es eine Schwierigkeit zu überwindein. Dr. Schweitzer ist seiner Nationalität nach Deutscher, das Missionsgebiet jedoch liegt in einer französischen Kolonie. Trotzdem fühlt er sich gierade dorthin berufen, da ihm die Pariser Missionsgesellschaft den Weg zum unmittelbaren Dienen an den Ärmsten der Armen gewiesen hat. Schließlich sind auch die letzten Paßschwierigkeiten behoben, und der Weg zum Wirken in Afrika ist frei. 16
Det
Urwalddoktor bei der Medizin-Ausgabe
Zwischen Wasser und Urwald In den ersten Apriltagen des Vorkriegsjahres 1913 schiffen sich Schweitzer und seine Gattin in Bordeaux nach Äquatorialafrika ein; bald sind sie mit dem flachgebauten Kongodampfer „ E u r o p e " auf hoher See. Siebzig Kisten mit Medikamenten und Ausrüstungsgegenständen führen sie mit sich. Alle Gepäckstücke sind durch die drei großen Buchstaben A S B (Albert Schweitzer-Bresslau) kenntlich gemacht. Nach fast dreiwöchiger abwechslungsreicher Fahrt durch den Atlantischen Ozean erreicht man Port Gentil an der Mündung des Ogowestroms . .. Das Endziel der Ausreise, der Ort Lambarene, liegt etwa 40 km südlich des Äquators am Ogowe, 280 km von dessen Mündung in den Atlantik entfernt. Er ist einer der Hauptplätze für den Handel mit Edelhölzern in der Kolonie Gabun, die einen Teil von Französisch-Äquatorialafrika bildet. Hauptstadt des gesamten Gebietes ist das nordwestlich am Meer gelegene Libreville. Labarene selbst hat nur etwa 400 Einwohner. Es gibt eine evangelische und eine katholische Missionsstation. Die evangelische Station Andende liegt etwa vier Kilometer vom Ort entfernt an einem Seitenarm des Ogowe, der hier oft bis zu zwei Kilometer Breite erreicht. Der amerikanische Arzt und Missionar Dr. Nassau hat die Station 1876 gegründet. Das umliegende Gebiet wurde erst später französischer Besitz; 1892 trat die Pariser Missionsgesellschaft die Nachfolge der amerikanischen an. Die Missionare von Andende sind von der Ankunft des Arztehepaares unterrichtet. Die Pariser Gesellschaft hat Doktor Schweitzer eines der Wohngebäude der Station überlassen. Die gesamte Ogoweniederung besteht aus Urwald und einem unübersehbaren System von Flußläufen. Albert Schweitzer beschreibt -- diese Landschaft mit unübertroffener Lebendigkeit in seinem Afrikabuch „Zwischen Wasser und Urwald": „Wasser und Urwald! Wer vermöchte diese Eindrücke wiederzugeben. Es ist uns, als ob wir träumten. Vorsintflutliche Landschaften, die wir als Phantasiezeichnungen irgendwo gesehen, werden lebendig. .. Immer n u r derselbe Wald, dasselbe gelbe Wasser. Die Monotonie steigert die Gewalt dieser Natur ins Ungemessene. Man schließt die Augen eine Stunde, und wenn man sie öffnet, erblickt man wieder genau, was vorher schon da w a r . . . " Nach einer Fahrt mit dem Flußdampfer ist die Station Andende bei Lambarene erreicht. Zwei Missionare sind mit einigen Knaben 18
der Missionsschule dem Arztehepaar mit ihren Einbäumen — ausgehöhlten Baumstämmen — entgegengefahren und nehmen die neuen Helfer mit großer Freude in Empfang. Zunächst gilt es, viele weiße und schwarze Hände zu schütteln, die sich den Ankömmlingen entgegenstrecken. Die Missionarsleute und die anwesenden schwarzen Schüler geleiten Albert Schweitzer und seine Gattin hinauf auf den Hügel, wo das für sie bestimmte Häuschen mit Blumen und Palmblättern geschmückt ist. Es ist aus Holz gebaut und ruht auf starken Pfählen. Rings um die vier Zimmerchen läuft eine Veranda: die Aussicht von da ist eindrucksvoll: Weithin dehnt sich geheimnisumwoben der Urwald, unten der fast zu einem See ausgedehnte Flußarm des Ogowe, vom Hauptstrom erscheint nur ganz fern ein schmales Band, dahinter schimmern im Endlosen blaue B e r g r ü c k e n . . . Die ärztliche Tätigkeit soll zunächst in einer kleinen Wellblechbaracke ausgeübt werden, die jedoch erst aufgestellt werden müßte. Es sind aber keine schwarzen Arbeiter aufzutreiben. Was tun? Schon wagen sich die ersten Kranken heran, denn die Ankunft des so lange entbehrten „weißen Medizinmannes" ist von den Tam-tam-Trommeln der Neger bis tief in den Urwald hinein gemeldet worden. Albert Schweitzer und seine Gattin haben bald alle Hände voll zu tun. So wird denn ein alter Hühnerstall gesäubert und zum Behandlungsraum bestimmt. Bald soll der Doktor mit den furchtbaren Tropenkrankheiten Bekanntschaft machen, gegen die in dieser Gegend bisher noch nichts unternommen worden ist: der heimtückischen Fiberkrankheit Malaria, der Lepra — dem fressenden Aussatz —, der Schlafkrankheit und den bösartigen Geschwülsten. Albert Schweitzer schildert seine ersten Erfahrungen als Tropenarzt: „Nach einigen Monaten hatte das ,Spital' täglich etwa vierzig Kranke zu beherbergen. Aber nicht nur für diese, sondern auch für die Begleiter, die sie von fern her im Kanu gebracht hatten und die bei ihnen blieben, um sie wieder nach Hause zu rudern, mußte ich Unterkunft haben. An der Arbeit, so groß sie auch war, trug ich nicht so schwer als an der Sorge und der Verantwortung, die sie mit sich brachte. Ich gehöre leider zu den Ärzten, die das zu dem Berufe erforderliche robuste Temperament nicht besitzen und sich in ständiger Sorge (um das Ergehen ihrer Schwerkranken und Operierten verzehren. Vergebens habe ich mich zu dem Gleichmut zu erziehen versucht, Ider dem Arzt, bei aller Teilnahme mit den Leiden seiner Kranken, das erforderliche Haushalten mit seinen seelischen Kräften ermöglicht." 19
Seine Frau ist ihm die unentbehrliche und einzige Gehilfin, ohne deren Liebe und opfermütigen Einsatz der Urwalddoktor sein Werk der Barmherzigkeit am schwarzen Lazarus wohl niemals hätte durchführen können. Hören wir, was er selbst darüber schreibt: „Wacker half meine Frau, die als Krankenpflegerin ausgebildet war, im Spital mit. Sie sah nach den Schwerkranken, verwaltete die Wäsche und die Verbandstoffe, betätigte sich in der Apotheke, hielt die Instrumente in Ordnung und bereitete alles für die Operationen vor, bei denen sie die Narkosen übernahm, während J o seph als Assistent fungierte. Daß sie es fertig brachte, den komplizierten afrikanischen Haushalt zu führen und daneben täglich noch einige Stunden für das Spital zu erübrigen, war wirklich eine Leistung." Joseph, ein Eingeborener, der früher einmal Koch gewesen ist, ist von Dr. Schweitzer naeh einiger Zeit als Dolmetscher und Heilgehilfe angestellt worden. Im Herbst 1913 kann endlich die erste Wellblechbaracke aufge-< stellt werden mit Sprechzimmer, Operationszimmer und Apotheke. Nach und nach entstehen um diesen Bau herum einige größere Bambushütten zur Unterbringung der eingeborenen Kranken. Die sich zahlreich einfindenden weißen Patienten können bei den Missionaren und im Doktorhäuschen unterkommen. In Albert Schweitzers Afrikaerinnerungen hören wir von den unsagbaren Leiden, denen die primitiven Eingeborenen Zentralafrikas bisher ohne jede Hilfe von außen ausgesetzt waren: .. „ D a ß die Krankheiten ihre natürliche Ursache haben, setzen meine Patienten nicht voraus. Sie führen sie auf böse Geister, auf Zauberei der Menschen und auf den ,Wurm' zurück. Der ,Wurm' ist für sie die Verkörperung des Schmerzes. Wenn sie aufgefordert werden, über ihren Zustand zu berichten, so erzählen sie die Geschichte des Wurmes, wie er zuerst in den Beinen war, dann in den Kopf kam, von hier nach dem Herzen wanderte, aus diesem in die Lunge ging und sich zuletzt im Bauch festsetzte. Alle Medikamente sollen gegen ihn gerichtet sein. Habe ich mit Opiumtinktur das Grimmen gestillt, so kommt der Patient andern Tages freudestrahlend und verkündet, der W u r m wäre aus dem Leibe vertrieben, aber er säße jetzt im Kopf und fräße am Hirn und ich solle jetzt noch das Mittel gegen den Wurm im Kopfe geben. Sehr viel Zeit verliere ich, ihnen begreiflich zu machen, wie säe das Medikament nehmen sollen. Immer und immer wieder wiederholt es der Dolmetscher ihnen; sie müssen es auch sagen; es wird auf die Flasche oder Schachtel geschrieben, damit es ihnen 20
ein des Lesens Kundiger in ihrem Dorfe wiederholen kann. Aber zuletzt bin ich doch nicht sicher, ob sie nicht die ganze Flasche auf einmal austrinken oder nicht die Salbe essen und das Pulver in die Haut einreiben."
* Eine Operation ist vorüber. Der Doktor überwacht das Aufwachen des Patienten aus der Narkose. „Kaum ist er bai Besin-t nung, so schaut er erstaunt umher und wiederholt fort und fort: ,Ich habe ja nicht mehr weh! Ich habe ja nicht mehr weh!' Seine Hand sucht die meine und will sie nicht mehr loslassen. Dann fange ich an, ihm und denen, die dabeisitzen, zu erzählen, daß es der Herr Jesus ist, der dem Doktor und seiner Frau geboten hat, hier an den Ogowe zu kommen, und daß weiße Menschen in Europa uns die Mittel geben, um hier für die Kranken zu leben. Nun muß ich auf die Fragen, wer jene Menschen sind, wo sie wohnen, woher sie wissen, daß die Eingeborenen so viel unter den Krankheiten leiden, Antwort geben. Durch die Kaffeesträucher hindurch scheint die afrikanische Sonne in die dunkle Hütte. Wir aber, Schwarz und Weiß, sitzen untereinander und erleben es: ,Ihr aber seid alle Brüder!' Ach, könnten die gebenden Freunde in Europa in einer solchen Stunde dabei sein I . . ." Albert Schweitzer hat das Wesen der primitiven Schwarzen bald verstehen gelernt. Er nimmt sie als große Kinder, in deren Umgang man Geduld, unendlich viel Geduld braucht. Sein unverwüstlicher Humor hilft ihm über viel Schweres hinweg, und oft auch sind es die Schwarzen selber, die ihn zur Geduld ermahnen. Als einmal sein Heilgehilfe Joseph ihm mitteilt, in der Nacht habe ein Eingeborener unter Mitnahme seines noch kranken Kindes das Spital heimlieh verlassen, um in seinem Dorf ein „Palaver" (eine Rechtsstreitigkeit) zu regeln, da wird der Doktor wütend und ruft aus: „Was bin ich doch für ein Dummkopf, daß ich überhaupt hierher zu euch Wilden gekommen b i n ! " Da sieht Joseph ihn ruhig an und entgegnet: „ J a , Doktor, du bist ein Dummkopf, aber nur vor den Menschen, nicht vor Gott!" Albert Schweitzer hatte auch sein Orgelspiel dem Dienst an den Kranken opfern wollen. Doch kaum hat er sich recht mit diesem Gedanken des Verzichts abgefunden, da erreicht ihn als Geschenk der Pariser Bach-Gesellschaft ein eigens für die Tropen gebautes Klavier mit Orgelpedal. Wie unsagbar reich fühlt er sich nunmehr 1 Er beschließt, seine Orgelkunst während des Afrikaaufenthaltes zu vervollkommnen, um sich später durch Konzertreisen die erforderlichen Geldmittel zum Ausbau des Spitals selbst ver21
dienen zu können. In der Folgezeit klingen die Orgelkompositionen von Bach, Mendelssohn, Widor, Cesar Franck und Max Reger duirch den nächtlichen Urwald; Schweitzer übt sie solange, bis er sie auswendig beherrscht. So kommt das Jahr 1914 heran . . . Drohende Wolken steigen in Europa auf: Der erste Weltkrieg beginnt. Albert und Helene Schweitzer und ein elsässisches Missionsehepaar werden als deutsche Staatsangehörige unter die Bewachung von eingeborenen Soldaten gestellt. Doktor Schweitzer erwirkt die Erlaubnis, weiterhin Kranke behandeln zu dürfen, wenn auch unter ständiger Aufsicht seiner schwarzen Wache. So kann er sich seiner Friedens- und Liebesarbeit widmen, während in Europa Krieg und Zerstörung am Werke sind. Von 1914 bis 1916 ist der Doktor neben seiner Tätigkeit als Arzt der Eingeborenen sehr viel mit literarischen Arbeiten beschäftigt. Die letzten Monate des ersten Afrikaaufenthaltes dürfen die Schweitzers dann in einem Häuschen in der Nähe des Meeres bei Kap Lopez verbringen. Dort erreicht sie die Nachricht, daß sie alsbald als Gefangene nach Europa verbracht werden. Sie werden in einem Lager in den Pyrenäen interniert, von wo man sie anschließend nach St. Remy de Provence verschickt. Erst im Jahre 1918 gelangen Albert Schweitzer und seine Gattin wieder in ihr geliebtes Elsaß. Beide sind am Ende ihrer Kräfte ; Doktor Schweitzer muß sich einer schweren Operation unterziehen. Nach seiner Wiederherstellung wird er Assistenzarzt im Straßburger Bürgerspital. Er übernimmt auch wieder sein Amt in der Nicolai-Gemeinde und ist in der Zeit des politischen Übergangs im Elsaß der einzige Seelsorger dieser Gemeinde. Fünf Jahre vergehen so mit seelsorglicher Berufsarbeit, mit der Abfassung von Büchern und mit Vortrags- und Konzertreisen durch ganz Europa.
Rückkehr in den Urwald Kaum wagt Albert Schweitzer daran zu denken, daß er sein Werk in Lambarene noch einmal aufnehmen könne. Er wird wahrscheinlich in seinen akademischen Lehrberuf {zurückkehren, mehr kann er über die Zukunft noch nicht sagen. Aber in Schweden gewinnt er 1920 die Überzeugung, daß er eines Tages nach Lambarene zurückgehen wird. Der lutherische Erabischof Nathan Söderblom hat ihn eingeladen, an der Universität Upsala Vorlesungen zu halten. In Schweden genest Albert Schweitzer endgültig von 22
seiner Krankheit und verdient sich durch Vorträge und Orgelkonzerte Mittel für einen erneuten Anfang in Afrika. Es folgen Reisen durch Dänemark, England, die Tschechoslowakei, die Schweiz und nach Spanien. In jenen Jahren ist Albert Schweitzer, der „Urwalddoktor von Lambarene", eine bekannte Erscheinung in den Hörsälen mancher berühmten europäischen Universität. Im Jahre 1920 veröffentlicht Doktor Schweitzer in Straßburg den Aufruf zur Bildung der „Brüderschaft der vom Schmerz Gezeichneten", in dem es u. a. heißt: , , . . . Wer durch ärztliche Hilfe aus schwerer Krankheit gerettet wurde, muß mithelfen, daß die, die sonst keinen Arzt hätten, einen Helfer bekommen, wie er einen h a t t e . . . Dies ist die Brüderschaft der vom Schmerz Gezeichneten, der das ärztliche Humanitätswerk in den Kolonien obliegt. Aus ihren Dankbarkeitsgaben soll es entstehen. Als ihre Beauftragten sollen die Ärzte hinausgehen, um unter den Elenden in der Ferne zu vollbringen, was im Namen der Menschlichkeitskultur vollbracht werden muß . . . Ich will glauben, daß ich genug Menschen finden werde, die, weil sie selber aus leiblicher Not gerettet worden sind, sich zu Opfern der Dankbarkeit für die, die in gleicher Not sind, erbitten lassen werden." Dieser Aufruf wird auch gehört. Im Herbst des Jahres 1923 rüstet Albert Schweitzer zur erneuten Ausfahrt nach Afrika. Er will sein Spital wieder aufbauen. Seine Frau kann ihn diesmal nicht begleiten. Ihre Gesundheit ist zu sehr angegriffen, auch muß sie sich der kleinen Tochter Rhena widmen, die ihnen am 14. Jan. 1919 geboren worden ist. Bei der Ausfahrt begleitet den Urwalddoktor nur ein englischer Student, der ihm viele Monate lang eine treue Hilfe gewesen ist. Als Albert Schweitzer seine alte Wirkungsstätte im Urwald erreicht, findet er das Spital bei der Missionsstation fast völlig verfallen. Dem Doktor steht eine schwere Zeit bevor: Morgens behandelt er die kranken Neger, die ihm wieder in Scharen zuströmen; nachmittags muß er sich als Baumeister und Zimmermann betätigen, wobei ihm einige der geheilten Patienten zur Hand gehen. Im Herbst 1925 ist das alte Spital wieder in Teilen aufgebaut. Inzwischen haben sich aus Europa ärztliche Mitarbeiter und erste Helferinnen eingestellt. Bald hat Schweitzer in seinem kleinen Lazarett etwa 150 Kranke mit ihren Begleitern um sich. Deshalb muß er sich schon 1925 entschließen, auf einem größeren Gelände ein neues Spital zu errichten, und zwar drei Kilometer stromauf auf einem Platz, wo die Anlage sich später nach Belieben ausdehnen kann. Zwei Jahre 23
lang ist es nun Schweitzers Hauptbeschäftigung, als Holzfäller mit zehn oder fünfzehn Schwarzen den Urwald am Ufer des Ogowe für das Spitalgelände zu roden. Nach dieser unmenschlichen Anstrengung wirkt er als Zimmermann und Baumeister. Um das Spital gegen Überschwemmungen zu schützen, wird es als Pfahlbaudorf aufgeführt. Rings um die entstehenden Wellblechbaracken wird das Land urbar gemacht, damit dort mit der Zeit ein ausgedehnter Fruchtgarten mit ölpalmem, Mangobäumen, Maniok- und Bananenstauden- angelegt werden kann. Am 21. Januar 1927 ist der Umzug vom alten ins neue Spital beendet und Schweitzer schreibt in sein Tagebuch: „Zum ersten Mal, seitdem ich in Afrika wirke, sind meine Kranken menschenwürdig u n t e r g e b r a c h t . . . Voll Dank schaue ich zu Gott empor, der mich solche Freude erleben ließ. Tiefbewegt gedenke ich der Freunde des Spitals in Europa. Im Vertrauen auf ihre Hilfe durfte ich die Verlegung des Spitals wagen und die Bambushütten durch Wellblechbaracken ersetzen." Nun gilt es, dem Werk die erforderlichen Hilfsquellen zu erschließen. Vom Sommer 1927 an ist Doktor Schweitzer fast ohne Unterbrechung zwei Jahre lang auf Reisen, um Freunde für Lambarene zu gewinnen und um Bericht zu erstatten bei denen, die ihm die Mittel zur Verfügung stellen oder gestellt haben. Zuerst fährt er nach Schweden und Dänemark, dann wieder nach England und Holland. 1928 wird ihm vom Rat der Stadt Frankfurt am Main der Goethepreis verliehen ,,in Anerkennung seines Dienstes an der Humanität". Mehrere Konzertreisen führen ihn 1928 und 1929 "nach größeren Städten Deutschlands und der Schweiz. Es fällt ihm nicht leicht, die durch Krieg und Nachkriegselend verarmten Länder Deutschland, Frankreich und Belgien zu besuchen, denn er kommt ja stets als „Bettler". Das in Deutschland eingenommene Geld verwendet er nicht für Lambarene, sondern stiftet es deutschen Wohlfahrtseinrichtungen zur Linderung der großen Not Im Dezember 1929 sieht man ihn wieder auf einem Kongodampfer südwärts ziehen; mit ihm fahren diesmal seine Frau, eine Ärztin und eine Laboratoriumsschwester. Es sind gleich wieder neue Bauarbeiten in Angriff zu nehmen. Als sie beendet sind, kann der Doktor erstmalig sagen: „So ist es jetzt ein schönes Arbeiten in Lambarene, besonders auch, da wir nun genügend Ärzte und Krankenpflegerinnen sind, um, ohne uns aufzureiben, das Nötige zu tun. Wie können wir es den Freunden des Spitals genug danken, daß sie uns ein solches Wirken möglich machen I" 24
Der Tierfreund Albert Schweitzer mit einer seiner Antilopen, die seine Hausgefährten sind
Das alte Spital lag dicht bei der Missionsstation. Die Kranken und ihre Begleiter hatten also Gelegenheit, den dort stattfindenden Cottesdienst zu besuchen, der oftmals auch von Doktor Schweitzer gehalten wurde. Vom neuen Spital aus ist es schwierig, am Sonntagsmorgen zur Station zu gelangen. Deshalb muß den Patienten im Spital selbst ein Gottesdienst gehalten werden. Ein Heilgehilfe ruft mit einer Schelle die Leute aus den einzelnen Baracken „zum Gebet" zusammen; auch läßt eine freischwebende kleine Glocke ihre Stimme ertönen. Die Eingeborenen versammeln sich auf einem freien Platz mitten im Spital im Schatten der weit vorspringenden Barackendächer. Zum Beginn spielt der Doktor meist eine Melodie auf dem kleinen Harmonium. Singen kann diese Gemeinde nicht, denn sie besteht zumeist aus Heiden, die zudem etwa 15 verschiedene Dialekte sprechen. Es gibt vier Hauptsprachen, in die die Worte des predigenden Arztes übersetzt werden.
Erneute Bedrohung des Urwaldspitals Aufbau — Zusammenbruch — Wiederaufbau — hoffnungsvollste Neuentwicklung — das ist bisher das Schicksal der Urwaldkliniken des Doktor Schweitzer gewesen. Doch die Jahre des Neubeginns zwischen den beiden Weltkriegen enden in erneuten großen Schwierigkeiten für das Liebeswerk von Lambarene. Als der zweite Weltkrieg ausbricht, ist die Familie Schweitzer getrennt. Albert Schweitzer ist angesichts des drohenden Verhängnisses aus Europa, wo er im Februar 1939 eingetroffen war, nach Lambarene zurückgeeilt, um in der Stunde der Gefahr seinem Werk nahe zu sein. Frau Schweitzer ist in Europa zurückgeblieben, um ihrem Gatten bald nachzufolgen. Aber erst zwei Jahre später, im August 1941, kann Albert Schweitzer dankbar mitteilen: „Wie durch ein Wunder traf meine Frau aus Europa ein!" — Sie hatte sich durch die kämpfenden Parteien in Europa und Afrika bis nach Lambarene über eine 5000 km lange Strecke durchgeschlagen. Allen Schwierigkeiten zum Trotz hatte sie die abenteuerliche Reise unternommen, denn sie wußte, daß jetzt — mehr als je — ihr Platz an der Seite des Lebensgefährten in Lambarene war. In einem Brief aus jenen Kriegstagen an den englischen Schweitzer-Biographen George Seaver schreibt Frau Schweitzer: „Es sind nun dreiundvierzig Jahre, seit wir Freunde wurden und gemeinsam zu arbeiten begannen. Wir begegneten einander in dem Gefühl der Verantwortlichkeit für all das Gute, das wir in unserem Leben empfangen 26
hatten, und in dem Bewußtsein, daß wir dafür zu bezahlen hätten durch Hilfeleistung gegenüber anderen. Es ist die Freude und der Stolz meines Lebens gewesen, ihm bei all seiner Tätigkeit zu folgen und ihm zur Seite zu stehen; und ich bedauere nur, daß Mangel an Kraft mich hinderte, mit ihm Schritt zu halten. Aber sogar er, wenn er auch noch stark und ziemlich rüstig ist, trotz seiner schweren, ununterbrochenen Arbeit, bedarf einer gründlichen Erholung, die er, nun schon seit neun Jahren hier drauH ßen, nicht mehr gehabt hat. Möge das Ende dieses unheilvollen Krieges nahe sein und damit die Möglichkeit würdigerer Lebensbedingungen für die ganze Menschheit!" 1940 toben um den Ort Lambarene Kämpfe zwischen den Truppen der französischen Vichy-Regierung und den Anhängern General de Gaulle«. Alarmierende Nachrichten gelangen zu den Freunden in aller Welt. Doch wird von beiden Parteien auf das Spital Rücksicht genommen. Nach langen, entbehrungsreichen Monaten bei völligem Abgeschnittensein von der Außenwelt gelingt es Albert Schweitzer, die Verbindung mit Freunden in England, Schweden und Nordamerika wiederzufinden. Von dort kommen dem Spital wieder wertvolle Medikamente und Lebensmittelsendungen zu, die es ihm ermöglichen, weiterhin den Betrieb mit etwa 300 Kranken aufrechtzuerhalten. Im Juli 1943 kann eine Helferin aus der Schweiz zu Hilfe kommen, dafür fallen andere Kräfte infolge Erschöpfung aus. Das Ende des Krieges rückt näher. Albert Schweitzer bangt sehr um seine geliebte Heimat, in die sich nun die Kampfhandlungen verlagern; doch Günsbach im Münstertal bleibt von großen Zerstörungen verschont. Am 7. Mai 1945 dringt die Nachricht von der Einstellung der Feindseligkeiten auch bis in das Arbeitszimmer des Urwalddoktors. Aber die Arbeit an diesem Tage ist so drängend, daß er zunächst kaum zum Nachdenken über diese welterregende Botschaft kommt. Später hat er niedergeschrieben, wie die Kunde vom Kriegsende in seinem Herzen widergeklungen h a t : ,,. .. Ich kann aber noch nicht vom Tisch aufstehn, denn die Briefe müssen dringend fertiggemacht werden. Dann muß ich ins Spital hinunter, wo die Herzkranken und andere Patienten auf zwei Uhr bestellt sind. Im Lauf des Nachmittags wird die Glocke geläutet und den Spitalbewohnern das Kriegsende verkündet. Etwas später muß ich mich trotz starker Erschöpfung noch zur Pflanzung begeben, um zu sehen, ob die Arbeit dort vorankommt. Erst am Abend finde ich etwas Ruhe, um mir zu vergegenwärti-
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gen, was das Ende der Kriegshandlungen in Europa bedeutet und was Millionen Wesen empfinden müssen, die seit Jahren die erste Nacht ohne Angst vor Bombenangriffen zubringen. Während draußen in der Dunkelheit die Palmen rauschen, nehme ich das Buch vom Regal, das die Sprüche Laotses, des großen chinesischen Denkers aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., enthält, und lese seine ergreifenden Worte über Krieg und Sieg: ,Die Waffen sind verwerflich und kein Gegenstand für den edlen Geist. Er braucht sie nur, wenn es keinen andern Auswegi gibt, Ruhe und Frieden sind für ihn die höchsten Güter. Ist er der Sieger, so freut er sich nicht darüber; das hieße ja, sich über die Hinmetzelung menschlicher Wesen freuen. Wenn der Sieg gefeiert wird, soll der Anführer seinem Platz unter den Riten d$v Bestattungszeremonien einnehmen. Sind Menschen in großer Zahl getötet worden, so soll man um sie Klagen anstimmen und Trär nen des Mitleids vergießen. Denn wer im Kampfe siegt, hat Ursache, die Feier des Sieges als Totenfeier zu begehn.'" Es ist nun wieder möglich, Verbindung mit Europa aufzunehmen. Ausgeruhte Kräfte kommen nach Lambarene. 1946 kann Frau Schweitzer völlig erschöpft nach Europa zurückkehren. Der über siebzigjährige Doktor Schweitzer selbst wird erst im Spätherbst 1948 seinen Erholungsurlaub in Europa antreten. Zuviel ist in dieser Zeit nachzuholen. Ende Oktober trifft er in Günsbach ein. „Das Glück all derer, die seit so vielen Jahren auf ihn warteten, war nicht zu beschreiben", so berichtet Schweitzers Freund, der Franzose Jacques Fesohotte, über diesen Tag. „Sie erschienen in Günsbach und fanden ihn mit seinen dreiundsiebzig Jahren noch ebenso aufrecht und tatkräftig wie früher. Der Ausdruck seiner Augen war im Gegensatz zu seinem weißgewordenen Haar und dem abgemagerten Gesicht womöglich noch zwingender geworden, überall im Elsaß wollte man ihn feiern. Seine Geburtsstadt Kaysersberg, Kolmar, Straßburg und die Universität, Organisationen und Vereinigungen aller Art überboten sich in ergreifenden Kundgebungen für diesen berühmten Sohn ihrer Heimat. Er aber fuhr fort, inmitten all der Ehrungen, in den Pausen zwischen ein paar notwendigen Reisen, auf seine schlichte, methodisch-beharrliche Weise zu arbeiten. Sein Tageslauf mochte noch so angestrengt sein: Jeden Abend sahen ihn die Vorübergehenden durch das erleuchtete Fenster seines Arbeitszimmers unter dem Schein der Lampe sitzen." Im Goethe-Jahr 1949 folgt Albert Schweitzer erstmalig einer Einladung seiner Freunde nach den USA. Die Gebefreudigkeit der Amerikaner verschafft ihm den Grundstock zur Anlage der Lepra28
krankensiedlung, deren Bau er schon lange in Angriff nehmen will. Auch besucht er zahlreiche deutsche Städte zu Konzerten und Vorträgen. Im Oktober des gleichen Jahres geht er wieder zurück nach Lambarene. Es folgen weitere kurze Europaaufenthalte in den folgenden Jahren. Es hat sich inzwischen ein neues System der Finanzierung der Krankenanstalten von Lambarene entwickelt. Anfangs wurde die Arbeit im Urwald in der Hauptsache von dem Ertrag der Orgelkonzerte und Vorträge Schweitzers finanziert. In der Folgezeit haben sich in zahlreichen Ländern Europas und in USA Freundeskreise und Hilfsvereine für Lambarene gebildet, die durch ihre Beiträge und Spenden das Werk tragen helfen. Die das Spital betreffende Arbeit in Europa wird von wenigen Männern und Frauen ehrenamtlich geleistet, die sich zur „Vereinigung des Albert Schweitzer-Spitals" in Straßburg zusammengeschlossen haben. So ist das Lambarene-Spital bis heute ein privater Samariterdienst von einzelnen geblieben. „Mein Unternehmen ist vollständig unabhängig und selbständig", schreibt Albert Schweitzerl946. „Es empfägt weder von einer Missionsgesellschaft noch von einer Regierung Unterstützung. Es ist gedacht als eine Liebestat von Menschen in Europa, denen die Not ferner Kranker, die ohne ärztliche Hilfe sind, zu Herzen geht, und es hofft auf Dankbarkeitsopfergaben von Kranken, die in Europa durch ärztliche Kunst gerettet wurden" . . .
Der Friedensfreund Im Jahre 1952 spricht das Nobelpreiskomitee Professor Albert Schweitzer, dem Urwalddoktor von Lambarene, den Friedensnobelpreis zu. Der hohe Geldbetrag, der mit der Ehrung verbunden ist, setzt Albert Schweitzer in die Lage, seine Lambarene-Station für Leprakranke großzügig auszubauen und die Notbaracken und Bambushütten durch festere Bauten zu ersetzen. Sie werden auf Fundamente au« Zementblöcken gesetzt, haben kräftiges Balkenwerk und schützende und widerstandsfähige Wellblechdächer. Die Wände sind ein Gefüge aus Bambusstäben und Raphiablätern, die in dieser heißen Zone völlig den Ansprüchen genügen. Emsig sind die arbeitsfähigen Leprakranken dabei, als es gilt, schönere Unterkünfte zu schaffen. In seiner Rede bei der Entgegennahme des Nobelpreises spricht Albert Schweitzer vom Frieden als dem großen Anliegen der Menschheit: 29
Ich bekenne mich zu der Überzeugung, daß wir das Problem des Friedens nur dann lösen können, wenn wir den Krieg verwerfen aus dem ethischen Grunde, weil er uns der Unmenschlichkeit schuldig werden l ä ß t . . . Aus der Gewißheit, daß der Geist in unserer Zeit ethische Gesinnung zu schaffen vermag, verkünde ich diese Wahrheit, in der Hoffnung, dazu beizutragen, daß sie nicht als eine Wahrheit, die sich in Worten gut ausnimmt, aber für die Wirklichkeit nicht in Betracht kommt, beiseite gelegt wird. So manche Wahrheit ist lange oder ganz unwirksam geblieben, allein deshalb, weil die Möglichkeit, daß sie Tatsache werden könnte, nicht in Betracht gezogen wurde. Nur in dem Maße, als durch- den Geist eine Gesinnung des Friedens in den Völkern aufkommt, können die für die Erhaltung des Friedens geschaffenen Institutionen leisten, was von ihnen verlangt und erhofft wird. Mögen die, welche die Geschicke der Völker in den Händen haben, darauf bedacht sein, alles zu vermeiden, was die Lage, in der wir uns befinden, noch schwieriger gestalten und uns noch weiter gefährden könnte, mögen sie das wunderbare Wort des Apostels Paulus beherzigen: ,So viel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden!'" Als die Verleihung des Nobelpreises an den Arzt von Lambarene bekannt wird, der weder aktiver Staatsmann, noch Völkerrechtler, noch Organisator internationaler Konferenzen gewesen ist, scheint es den meisten Zeitgenossen so, als sei Albert Schweitzer in erster Linie für den Aufbau und die vierzigjährige Leitung des weltbekannten Dorfes der Bamherzigkeit in Zentralafrika die äußere Anerkennung ausgesprochen worden. Aber man weiß, daß zugleich auch der politische Mensch Albert Schweitzer durch die Auszeichnung geehrt werden sollte. Es war im besonderen an seine vermittelnde Stellung zwischen deutscher und französischer Kultur gedacht, denen sich der Weise vom Ogowe in gleicher Weise verpflichtet weiß — sind seine zahlreichen Bücher doch fast ausnahmslos original sowohl in deutscher wie in französischer Sprache geschrieben worden. Es wurde sicherlich auch gedacht an seine Vortrags -und Konzerttätigkeit, die den Philosophen und Orgelvirtuosen um die Welt führte und ihm internationale Anerkennung verschaffte, i Die Ehrung bezog sich nicht zuletzt auch auf sein Wirken zum Wohle der primitiven Völker überhaupt. Seine Ansichten darüber hatte er bereits im Jahre 1921 in seinem Afrikabuch „Zwischen Wasser und Urwald" niedergelegt, das sein meistgelesenes und 30
populärstes Werk werden sollte. Er berichtet darin über sein Wirken als helfender Freund der Schwarzen, beschreibt die geographischen, botanischen und zoologischen Verhältnisse Äquatorialafrikas sowie die Zustände bei den Eingeborenen. Vor allem aber äußert er sich zu den schweren Problemen der Kolonisation unter den primitiven Völkern: ,,. . . Es kommt darauf an, daß dem Aussterben der primitiven Völker Halt geboten wird. Bedroht ist ihre Existenz durch den Alkohol, den der Handel ihnen zuführt (vor allem in Äquatorialafrika), durch Krankheiten, die wir ihnen gebracht haben, und Krankheiten, die unter ihnen bereits bestanden oder, wie die Schläfkrankheit, erst durch den Verkehr, den die Kolonisation mit sich brachte, jene Verbreitung fanden, die sie heute zu einer Gefahr für Millionen macht. Den Kampf gegen die Krankheiten hat man in fast allen Kolonien zu spät unternommen. Daß er heute mit einiger Aussicht auf Erfolg geführt werden kann, verdanken wir den Waffen, die uns die neueste medizinische Wissenschaft in die Hand g i b t . . . . . . Vielfach wird die Notwendigkeit, den Eingeborenen ärztliche Hilfe zu bringen, damit begründet, daß es gilt, das Menschenmaterial zu erhalten, ohne welches die Kolonien wertlos würden. In Wirklichkeit handelt es sich um viel mehr als um eine wirtschaftliche Frage. Es ist undenkbar, daß wir Kulturvölker den uns durch die Wissenschaft zuteil gewordenen Reichtum an Mitteln gegen Krankheit, Schmerz und Tod für uns behalten. Wenn irgendwelches ethisches Denken unter uns ist, so können wir nicht anders, als ihn auch denen zugute kommen zu lassen, die in der Ferne noch größerer körperlicher Not unterworfen sind als wir. Neben den von den Regierungen entsandten Ärzten, die immer nur hinreichen werden, einen Teil der zu tuenden Arbeit zu bewältigen, müssen noch andere hinausgehen, die von der menschlichen Gesellschaft als solcher beauftragt sind. Der .Bruderschaft der vom Schmerz Gezeichneten' liegt das ärztliche Humanitätswerk in den Kolonien ob. Als ihre Beauftragte sollen Ärzte unter den Wilden in der Ferne vollbringen, was im Namen der wahren Kultur vollbracht werden muß. .. . Zuletzt ist alles, was wir den Völkern der Kolonien Gutes erweisen, nicht Wohltat, sondern Sühne für das viele Leid, das wir Weiße von dem Tage an, da unsere Schiffe den Weg zu ihren Gestaden fanden, über sie gebracht haben. Politisch sind die kolonialen Probleme, wie sie sich herausgebildet haben, nicht zu lösen. 31
Das Neue, das kommen m u ß , ist, daß Weiß und Farbig sich in ethischem Geiste begegnen. Dann erst wird Verständigung möglich sein. An der Schaffung dieses Geistes arbeiten, heißt zukunftsreiche Weltpolitik treiben." Diese Sätze — im Jahre 1921 geschrieben — haben bis heute nichts von ihrem Wahrheitsgehalt verloren, ja, sie klingen heute vor allem aktuell, da sich ein neues Verhältnis zwischen den sogenannten „Kolonialvölkern" und den weißen „Kulturvölkern" abzuzeichnen beginnt. Schweitzers fast prophetisch klingende Worte sind nach dem ersten Weltkrieg nur von wenigen gehört worden. Doktor Schweitzer indes hat an seinem Platz dafür gesorgt, daß diesen Worten die Tat wenigstens eines Einzelnen gefolgt ist. Deshalb wird sein Name einmal für den ganzen dunklen Erdteil als Inbegriff jenes weißen Mannes gelten, der die Verständigung zwischen Weiß und Farbig gesucht und sie weitherzig vorgelebt hat.
Umschlaggestaltung und Karte Seite 3: Karlheinz Dobsky Fotos: Bilderdienst Ullstein und Süddeutscher Verlag
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IM FALLE EINES FALLES...