KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR -UND
KULTUR KUNDLICHE
HEFTE
DANA THOMAS
DER ARZT VON...
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KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR -UND
KULTUR KUNDLICHE
HEFTE
DANA THOMAS
DER ARZT VON LABRADOR DOKTOR
GREENFELL
UNTER ESKIMOS UND INDIANERN
VERLAG
SEBASTIAN
MURNAU-MÜNCHEN.
LUX
INNSBRUCK-BASEL
Auf einer Scholle im offenen Meer w ährend der Nacht war Nebel eingefallen, und der Wind brachte die Feuchtigkeit leichter Regenspritzer. Die See roiite stark und drohte die Eiskruste zu sprengen. Dr. Wilfred Greenfell hatte in dem Dorf genächtigt und war zeitig aufgewacht. Er fühlte die feuchte Luft in der Nase, blickte über den Hafen hinaus, sah, daß die Flut das Eis bereits in Schollen zerriß und daß etwa eine halbe Meile vom Ufer entfernt schon offenes Wasser war. Er schüttelte den Kopf. Sollte der Wind plötzlich umschlagen und Regen kommen, so war nicht vorauszusehen, welche Schwierigkeiten ihm bevorstanden. Seine Reise war dringend, ein Patient brauchte ihn. Er trank seinen Kakao, zog die Seehundstiefel an, schnürte die Ho:e bis zu den Achseln zu und befestigte die Haube, die sich warm um Kinn, Ohren und Stirn legte. Mit einigem Glück würde er abends das Dorf des Kranken erreichen. Vor zwei Wochen hatte er den Mann in seinem Spital in St. Anthony operiert und dann heimgeschickt, in der Meinung, er sei auf dem Wege der Genesung. Doch hatte sich im Bein Eiter angesammelt, und gestern hatte ihn die Nachricht erreicht, es gehe dem Patienten schlecht. Eine Amputation schien notwendig. 2
Dr. Greenfell schüttelte seinem Gastgeber die Hand, sprang in seinen Schlitten und rief den Hunden „Oo-ist" zu. Ein nervöses Zittern in den Leinen, und die Hunde sausten los. Nach und nach, als sie das Gewicht des Schlittens zu fühlen begannen, fielen sie in Trab. Es war ein Tag nach Ostern im Jahre 1908. Hier in Labrador würde es erst in etlichen Wochen Frühling werden. Greenfeld hatte kaum ein halbes Dutzend Meilen zurückgelegt, als der erste Vorfrühlingsregen einsetzte. Tausende Tropfen bissen in den gefrorenen Grund wie die stählerne Schneide eines Rasiermessers und schliffen das Eis zu gefährlicher Dünne. Der Arzt hielt die Hand über die Augen. Wenn er geradeaus über die Bucht fuhr, anstatt dem Ufer zu folgen, konnte er seine Fahrt um etliche Meilen verkürzen. Er zog die Zügel an, die Hunde drehten auf das Eis zu. Als sie nur noch eine knappe Viertelmeile vom gegenüberliegenden Ufer entfernt waren, schlug der Wind, der bisher von Osten geblasen und damit das Eis zusammengehalten hatte, plötzlich um. Zu seinem Schrecken bemerkte der Doktor, wie sich die Fläche unter ihm in einzelne Stücke auflöste. Wohin er auch sah — das Eis fiel auseinander. Er trieb seine Hunde an und hoffte, das nahe Ufer noch zu erreichen. Aber die Hunde scheuten. Dr. Greenfell erinnerte sich, daß erst kürzlich ein Mann im aufbrechenden Eis ertrunken war, weil er sich in die Leinen verstrickt hatte. Er ließ daher das Gespann los und behielt nur die Riemen des Leithundes fest um das Handgelenk gewunden. Im nächsten Augenblick wirbelte er im offenen Wasser. Er sah sich nach irgend etwas Schwimmendem um und gewahrte, daß der Leithund mit ein paar anderen Hunden nicht weit von ihm auf einen Haufen gefrorenen Schnees gekrochen war. An den Leinen, die ihn mit dem Tier verbanden, zog er sich nach und nach näher heran, und als der Hund aus dem Geschirr schlüpfte, erwischte er die Zügel eines anderen und zog sich auf den Schneehaufen hinauf. Die Eisscholle trieb rasch seewärts. Es stand eins zu tausend, daß irgend jemand nach ihm Ausschau halten würde, und selbst wenn ihn jemand entdeckte, war nur geringe Aussicht, daß sich ein Boct heil durch die gefährlich schnell treibenden Eisschollen durchkämpfen konnte, um ihn zu retten. Wollte er die Nacht durchhalten, 3
ohne zu erfrieren, so brauchte er Felle. Mit einem Messer, das ihm verblieben war, tötete er drei seiner Hunde. Es war ein schmerzliches, doch notwendiges Opfer. Von den Fellen bedeckt und warm an den größten der überlebenden Hunde gedrückt, schlief er ein. Er erwachte bei Sonnenaufgang. Worte einer alten Hymne gingen ihm durch den Kopf. Er legte seine Zündhölzer zum Trocknen aus. Plötzlich glaubte er fern auf dem Wasser das Aufblitzen eines Ruderschlages zu sehen. Aber er hatte seine Brille verloren, und da er fast schneeblind war, mißtraute er seinem Sehvermögen. In wenigen Minuten kam ein Boot in Sicht. Er sah winkende Hände. Dann ein Ruf: „Keine Aufregung, bleiben Sie, wo Sie sind!" Bald sprang ein Fischer auf die Scholle und ein paar andere folgten. Es wurde kein Wort gesprochen, aber der Ausdruck ihrer Gesichter verriet deutlich die überstandenen Strapazen. Spät am vergangenen Nachmittag waren vier Fischer auf der Landzunge damit beschäftigt gewesen, Seehunde aufzutreiben, und einer von ihnen hatte bemerkt, daß etwas auf dem Eisfeld nicht in Ordnung war. Er holte einen Freund, den Besitzer eines starken Fernrohrs, auf die Landzunge. Durch das Glas konnte man deutlich einen Mann beobachten, der auf einer Scholle trieb. Da sich Meilen von aufbrechendem Eis zwischen dem meerwärts treibenden Mann und dem Ufer befanden, war es jedem von ihnen klar, daß ein Rettungsversuch den eigenen Tod bedeuten konnte. Trotzdem blieb keiner zurück. Die ganze Nacht hindurch mühten sie sich, ein Boot klar zu kriegen, aber es gelang erst gegen Morgengrauen. Noch tagelang sprachen die Leute darüber und wunderten sich, daß der Schneehaufen so lange gehalten hatte. Greenfell brachte in der Halle seines Heimes in St. Anthony eine Plakette zur Erinnerung an seine Rettung an: „Dem Andenken dreier treuer Hunde: Moody, Watch, S.py, die auf dem Eis ihr Leben für das meine gaben, am 21. April 1908." Dieses Erlebnis, das beinahe zur Tragödie wurde, war nur eine kleine Episode in einer Existenz voller Abenteuer.
Jäger und Gejagter Wilfred Greenfell hatte seine Knabenzeit inmitten von Kampftrophäen verbracht. In seinem Geburtshaus auf den Sandbänken 4
Die Indianer- und Eskimoküste Labradors, zwischen St. Anthony und Cap Chidley. Das schraffierte Gelände zeigt den inneren Teil der Halbinsel, wo heute gewaltige Erzlager erschlossen werden; auch die neuerbaute Bahn zum Knob-See ist eingezeichnet. von Dee bei Bristol, wo er im Jahre 1864 zur Welt gekommen war, sahen Tiger- und Leopardenköpfe von den Wänden herab. Von seinem Fenster aus konnte er die Meerschwalben, Brachvögel und Strandläufer dem weitgestreckten salzigen Sumpfland zufliegen sehen, und auch die schwarz-weißen Austernfischer, die über den Muschelbänken schwebten. 5
üchon als Knabe war er ein guter Segler und verbrachte seine freien Tage von früh bis abends mit Fischfang und der Vogeljagd. Bei seinem Eintritt in die „Marlborough Public School" in Wiltshire, wo er sich für das College vorbereiten sollte, war er allzu rasch im Gebrauch seiner Fäuste, so sehr, daß seine Klassenkameraden ihm mit der charakteristischen Freimütigkeit der Jugend den Spitznamen „Killer" gaben. Der junge Greenfell aß mit dreihundert anderen Jungen in einem feudalen Speisesaal und schwemmte seinen Lieblingspudding „Bollies" mit einem tüchtigen Zug Dünnbier aus einem blauen Porzellanbecher hinunter. Alle, auch die Jüngsten durften reichlich davon trinken. Er schleppte Würste aus der Kantine heran, trug eine samtene Fußballkappe mit Quasten (was beim Sport einen Rang bezeichnete), rieb Seife in seine Augenlieder, um wegen „überanstrengter Augen" von den Schulstunden befreit zu werden, kam zum Unterricht immer nur knapp zurecht, und schlüpfte noch rasch in seinen Rock, während er sich in der Bank niederließ. Eines Tages tauchte ein Knabe in Marlborough auf, der anders geartet war als Greenfell und seine Kameraden. Er war zart, empfindsam, verweichlicht. Er haßte alle Leibesübungen und war noch nie von zu Hause weggewesen. Stets von seiner Mutter und fünf Schwestern beherrscht, wußte er mit Buben nichts anzufangen. Die Knaben nannten ihn den „närrischen G" (G war der Anfangsbuchstabe seines Zunamens). Sie johlten ihm nach, trieben Schabernack mit ihm und machten ihm das Dasein zur Qual. Obwohl Greenfell einer von den „Normalen" war, war er doch von dem neuen Kameraden fasziniert, dessen großes Wissen in jenen Fächern, die ihn selbst interessierten, ihn anzog. Dem Hohn seiner Freunde trotzend, lud er ihn allabendlich in sein Zimmer ein und hörte dem kleinen Kerl zu, der eifrig über die Blaupausen sprach, die er für ein selbststeuerndes Torpedo oder eine Maschine zeichnete, die „absolut garantiert" fliegen würde. Überall in der Welt befaßte sich die Jugend in jener Zeit mit ähnlichen technischen Ideen. In solchen Augenblicken strahlte eine ungemein starke Kraft aus dem blassen und farblosen Gesicht des Knaben. Als der Schüler G eines Tages aus dem Schulzimmer trat, traf ihn ein von seinen Peinigern geschleudertes Stück Kohle am Scheitel. 6
Greenfell, der in der Nähe stand, brachte ihn schleunigst in die Krankenabteilung. Der Arzt untersuchte die Wunde. „Wie ist denn das passiert?" „Ich bin auf Schotter gefallen, Sir." Der Arzt ließ sich durch diese Erklärung nicht täuschen, begriff aber, daß es Ehrensache war zu schweigen, und verzichtete auf weitere Fragen. Der junge Greenfell erhielt die Erlaubnis, das Pult des Verletzten in seine Ecke des Schulzimmers zu stellen, und nahm ihn unter seinen Schutz. Da keiner der Knaben darauf erpicht war, sich mit den Fäusten Greenfells auseinanderzusetzen, ließen sie G fortan in Ruhe. Dieses Erlebnis machte einen nachhaltigen Eindruck auf Greenfell. Ohne jegliche Vorbereitung war er in eine tiefgreifende menschliche Tragödie verstrickt worden — in die Tragödie des Außenseiters. Der Knabe, der auf den Sandbänken von Dee mit dem Gewehr in der Hand als Jäger gelebt hatte, identifizierte sich nun leidenschaftlich mit dem Gejagten —, ja mit allen Geschundenen und Verfolgten. Als Greenfell siebzehn Jahre alt war, kam sein Vater ans „London Hospital". Der junge Greenfell bezog die Universität, der dieses Krankenhaus angeschlossen war, um Medizin zu studieren. Und wieder begegneten ihm viel menschliches Leid und Elend.
„Wo, um Himmels willen, liegt Labrador?" Das Spital war das größte in England und diente den ärmsten Bezirken der Hauptstadt. In seinen neunhundert Betten lagen Alkoholiker, Streunerinnen, Rauschgiftsüchtige und Diebe. Es war eine Welt der Spannung, der Enttäuschung, des Elends. Am Ende seines zweiten Jahres machte Greenfell in den Krankensälen Dienst, das Hörrohr in der Hand, und assistierte berühmten Ärzten und Chirurgen bei ihren Bemühungen um diese menschlichen Wracks. Nur wenige der Patienten hatten den Willen zu genesen; viele würden gesund gepflegt, nur um dann vor dem Riditer zu stehen. Es gab auch so manche, die sich ihre Verletzungen selbst beigebracht hatten. Hier ist ein typischer Fall, den Greenfell in seinen Krankenberichten festgehalten hat: „Patient, 45 Jahre alt, schoß sich wegen
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häuslichen Unfriedens mit einem Revolver in den Mund. Da weiter nichts erfolgte, schoß er das zweitemal in sein rechtes Ohr. Noch immer kein bemerkenswertes Symptom. Patient warf die Pistole weg. Er wurde in die Beobachtungsstation gebracht. Beide Kugeln waren in dem dicken Teil seines Schädels steckengeblieben, ohne Schaden anzurichten." Einige Tage später machte Greenfell eine weitere Eintragung: „Der Patient versuchte heute, sich den Hals mit einem Tischmesser durchzuschneiden, das er in seinem Bett versteckt hatte. Der Patient kam mit dem Leben davon." Von Kindheit an hatte Wilfred Greenfell Gott instinktiv, ohne zu fragen, als etwas Selbstverständliches hingenommen, so wie man das Vorhandensein von Eltern, Brüdern und Schwestern als gegeben annimmt. Erst als er das Elend der Londoner Slums kennenlernte, begriff er sein eigenes, tiefes Verlangen nach Gott und noch mehr, seinen Trieb, ihn auch anderen Menschen nahezubringen. Er' kam zur Überzeugung, daß die Welt weniger den religiösen Theoretiker braucht, als den Erneuerer, den Aufbauenden, den M an . n )"der seine Ärmel aufrollt und in den Nöten des täglichen Lebens hilft. „Man braucht uns, um die Welt besser zu machen", schrieb er. „Wir sind nicht Roboter in ziellosem Tun — wir sind Kämpfer auf einem Feld der Ehre. Seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist ebenso ein Gesetz des Lebens, wie es die frische Luft für den Körper ist." Er berief sich besonders gern auf das Beispiel des Nehemia des alten Testamentes, der Statthalter von Judäa war und der sich weigerte, in der Ebene von Ono durch unnützes Geschwätz Zeit zu verlieren, während er die Mauer um „Gottes Stadt" zu bauen hatte. „Jedes allerkleinste Teilchen", erklärte Greenfell, „ist ebenso ein Stück von der Mauer, die du und ich heute bauen müssen, so wie es zur Zeit des famosen alten Nehemia war. Wenn viele Teile ungebaut bleiben und Lücken in der Linie sind, wird die Nation ohne den Schutz, den der Wall gewährt, ebenso sicher in Gefangenschaft geraten wie einst Israel." Darin lag der Sinn seiner künftigen Arbeit: „Es wird nicht gebaut, wenn ich nicht baue." Fünf Jahre später fand der junge Arzt seine große Gelegenheit zu „bauen". Im Jahre 1891 kehrte Lord Southborough, Vorsitzender des „Missionsbüros für Tiefseeforscher der Nordsee und der irischen Küste", 8
Als Greenfell n.ach Labrador kam, lebten die Indianer noch in Zelten, heute besitzen sie meist feste Holzhäuser. Auf ihre Jagdzüge nehmen sie das Zelt mit, von den Eskimos haben sie den Hundeschlitten übernommen, für Wanderungen im Schnee benutzen sie den breiten, geflochtenen Schneeschuh.
von einer Reise nach Nordamerika zurück. Greenfell wurde von einem Freund zu einer Komiteesitzung eingeladen. „Greenfell, Sie haben Ihr ganzes Leben lang Segeln als Sport betrieben. Außerdem haben Sie ärztliche Erfahrung in der Behandlung der Bedürftigsten. Lord Southborough teilt uns mit, daß für die Fischer in Labrador dringend ein Arzt benötigt wird. Würden Sie sich die Sache ansehen?" „Wo, um Himmels willen, liegt Labrador?" Greenfells Frage war nicht unverständlich. 1891 konnte man zwar auf jedem Atlas zwischen Neufundland und Kanada ein Gebiet fin9
den, das als „Labrador" bezeichnet war, aber noch kein Geograph hatte sich die Mühe genommen, irgendwelche Details über dieses Land auf den Karten einzutragen. Kein Engländer unter tausend, nicht einmal das Postamt, wußte irgend etwas darüber (vgl. das Nachwort Seite 30).
„Das Land, das Gott dem Kain überlassen hat" Labrador ist einer der Kühlschränke der Natur. Neun Monate lang sind seine Täler, Flüsse, Berge und sogar das Meer rundherum vollkommen vereist. Auch während des Sommers bleibt der Boden sechs Meter tief gefroren. Was man als „Erde" bezeichnet, ist an vielen Stellen in fünfzig Zentimeter Tiefe nur mehr fester Felsengrund. Jeden Sommer führen zwanzigtausend Fischer aus südlich gelegenen Punkten ihre Familien nach Labrador, bringen sie nahe den Fischgewässern in Hütten unter und werfen ihre Netze aus nach Kabeljau, Lachs und Hering, die in großen Scharen an die Ufer kommen. Aber sobald sich an Deck die ersten Eiszapfen bilden, ziehen die großen Fischereiflotten ab und lassen die viertausend Einheimischen den Winter über allein. Diese „Liveyeres", wie man sie nennt, sind melancholische Leute, und Selbstmorde kommen oft vor. Jeder Vierte stirbt an Tuberkulose. Sie stecken ständig in Schulden und sind stets am Verhungern. „Labrador", meinte einer der früheren Forscher, „ist das Land, das Gott dem Kain überlassen hat." „Nun, Greenfell, weshalb fahren Sie nicht hin und schauen sich selbst die Lebensbedingungen der Liveyeres an? Vielleicht wäre das eine.Tätigkeit für Sie?" Die Idee gefiel Greenfell. Seit er als Junge sein erstes Boot an den Sandbänken von Dee von Stapel gelassen hatte, verbrachte er seine glücklichsten Stunden am Steuer. Während der letzten fünf Jahre nach seiner Promotion hatte er einen großen Teil seiner Freizeit dazu benützt, mit den Fischerflotten in der Nordsee zu kreuzen und wo immer es nötig war ärztliche Hilfe zu leisten. Er hatte diese starken, einfachen Menschen ins Herz geschlossen. Und nun, in Labrador, wartete eine ganze Kolonie, die von jeder Zivilisation abgeschnitten war. Digital unterschrieben
Manni Hesse
von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2006.12.28 11:54:38 +01'00'
im Frühjahr 1892 rüstete Greenfell ein Boot aus mit einer Verkleidung aus Grünholz zum Schutz gegen das Eis und takelte es als Ketsch* mit einem großen „Spinnaker** für lange Strecken vor dem Wind auf hoher See. Obwohl Greenfell dank seiner jahrelangen Erfahrung zur See ein Kapitänspatent besaß, heuerte er doch einen Kapitän an, der schon über den Atlantik gesegelt war. Die beiden und ein Koch fuhren in der zweiten Junihälfte von Yarmouth aus. Sie überquerten die siebzehnhundert Meilen nach St. John auf Neufundland, trotz Nebelbänken und böigen Gegenwinden, in siebzehn Tagen. Ausgeruht und mit frischen Vorräten versehen, segelten sie nordwärts nach Labrador. Sie erreichten St. Anthony am 4. August. Kaum war es bekanntgeworden, daß ein Arzt angekommen sei, strömten auch schon Engländer, Iren, Russen, Skandinavier, Eskimos und Algonquinindianer — Eskimos und Indianer waren die eigentlichen Eingeborenen des Landes — mit ihren Familien nach St. Anthony. An der Küste von Labrador geboren und aufgewachsen, hatten viele noch nie einen Arzt oder Zahnarzt gesehen. Greenfell erkannte, daß Lord Southboroughs Darstellung von ihren Lebensbedingungen nicht übertrieben war. Vom medizinischen Standpunkt aus war die Situation einfach unfaßbar. Viele waren durch Star erblindet, der bei rechtzeitiger Behandlung hätte geheilt werden können, Rachitis, Beri-Beri und fast alle Folgeerscheinungen der Unterernährung herrschten in den ärgsten Formen. Ein Mann konnte jahrelang kaum gehen; die Ursache war ein eingewachsener Zehennagel, der in wenigen Minuten hätte entfernt werden können. Ein junger Mann litt an einem Gewebszerfall, einer Nekrose des Unterkiefers, einer Folge vernachlässigter Zahnfäule. Der furchtbare Anblick dieses verzerrten Gesichts verfolgte Greenfell noch vierzig Jahre später. Er mußte den Zahn aus dem Knochen graben und brachte damit dem jungen Mann sofortige Linderung. Da sie die allereinfachsten Regeln der Ernährung nicht kannten, war der Prozentsatz der Darmkrankheiten und der Skorbutkranken sehr hoch. Ein besorgter Ehemann kam zu ihm und sagte: „Bitte untersuchen Sie doch meine Frau. Es geht ihr sehr schlecht. Sie wird ganz schwarz." *) Ketsch: anderthalbmastige Segeljacht. **) Spinnacker: leichtes, großes, dreieckiges Beisegel. 11
Als Greenfell die Hütte betrat, spuckte die Frau Blut. Fahle Flecken bedeckten ihren Körper. Es war Skorbut, die furchtbare Vitaminmangelkrankheit. Wenige Schritte von ihrem Hause wuchsen auf einer Wiese große Mengen von wilder Petersilie und Löwenzahn, die mit ihrem reichen Vitamingehalt ihr Leiden hätten verhindern können, wenn sie nur verstanden hätte, sie in ihrer Kost zu verwerten. Noch ehe der Sommer zu Ende war, hatte sich der achtundzwanzigjährige Arzt entschlossen, sein Leben in diesem „Rieseneiskasten", der in den Nordatlantik hineinragt, zu verbringen. „Ich war überzeugt, daß diese Fischer brauchten, was ich ihnen geben konnte, und es war sonnenklar, daß sie es nicht bekommen würden, wenn ich dem Ruf nicht Folge leistete . . . Das größte Leben, das je gelebt wurde, das Leben des Heilands, war deshalb nicht geringer, weil es sich unter Fischern abspielte."
Das schwimmende Hospital Nachdem Wilfred Greenfell sich entschlossen hatte, in Labrador zu bleiben, anstatt in irgendeiner englischen Großstadt eine Privatpraxis zu eröffnen, kehrte er nach England zurück, um seine medizinische Ausrüstung zu besorgen und einen tüchtigen kleinen Dampfer zu finden, den er als schwimmendes Spital einrichten konnte. Die Bevölkerung von Labrador lebte in zerstreuten Dörfern entlang einer über tausend Kilometer langen Küste und war im Sommer nur vom Wasser aus zu erreichen. Er erwarb einen kleinen Dampftender, den er „Princess May" nannte. Das Schiff war so leicht, daß der Kran eines Überseedampfers es wie einen jungen Hund aus dem Wasser fischte und im Frachtraum absetzte. Um die Schmach noch zu vergrößern, ging der Schornstein des Dampferchens unter dem vielen Gepäck verloren. Erfahrene Kapitäne in Labrador schüttelten skeptisch den Kopf, als sie hörten, daß Greenfell die Absicht habe, seine Praxis mit Hilfe dieses kleinen Babydampfers auszuüben. Sogar heute noch, da die Gewässer von Labrador mühevoll und genau vermessen worden sind und eine Anzahl Leuchttürme vor Untiefen warnt, getrauen sich nur Kapitäne, die diese Küsten12
gewässer ein Leben lang kennen, ein Schiri durch deren Winde und Strömungen zu steuern. Aber im Jahre 1893, als der junge Arzt beschloß, mit der „Princess May" von Belle Isle gegenüber Neufundland bis hinauf nach Cap Chidley, der nördlichsten Spitze von Labrador, am Eingang der Hudson-Straße, zu fahren, gab es überhaupt noch keine gründlichen Seekarten von diesen Gegenden. Entlang der zerklüfteten Küste war das Meer von Hunderten steiniger Inseln übersät, die keine Karte verzeichnete. Auf einige davon stieß man so plötzlich, daß sie einem Schiff leicht zum Verhängnis werden konnten. Die Küste verschwand oft hinter dichtem Nebel, der manchmal bis zu zehn Tagen anhielt, während derer die Sicht nicht weiter als hundertfünfzig Meter reichte, also kaum weit genug, um erfolgreich manövrieren zu können. Außerdem trieben in diesen subarktischen Gewässern oft mächtige Eisberge. Während auf der „Princess May" die Vorbereitungen für die Ausfahrt aus dem Hafen von St. Anthony vor sich gingen, hörte Greenfell überall Bemerkungen erfahrener Seebären, wie: „Er kann's nicht schaffen. Das Eis wird den Kübel wie eine Nuß zerknacken." Bei der Ausfahrt wurden die Voraussagen beinahe zur Wahrheit. Arzt, Koch und Maschinist waren erst wenige Meilen vom Hafen entfernt, als der Maschinist ausrief: „Um Gottes willen, wir ziehen Wasser!" Greenfell untersuchte den Schiffsrumpf und fand das Leck. „Zum Glück sind wir nicht weit draußen. Wir sollten lieber umkehren", riet der Maschinist. „Nein", sagte der Doktor, „glauben Sie, ich will mich von jedem Kapitän an dieser Küste auslachen lassen? Wir werden abdichten und weiterfahren." Er schnitzte einen Pfropfen und trieb ihn in das Leck. In wenigen Minuten war das Schiff dicht und trocken. Die „Princess May" schlich vorsichtig die Küste entlang. Greenfell am Steuer war bemüht, sich jeden Fjord und jede kleinste Einfahrt einzuprägen. Am zweiten Tag, als sie ihren Weg durch eine dichte Nebelbank suchten, kam plötzlich knapp vor dem Boot ein schwarzes Felsenriff in Sicht. „Volldampf zurück!" rief Greenfell dem Maschinisten zu und riß das Ruder herum. Das Boot wendete scharf. Nur wenige Meter 13
weiter wäre die „Princess May" wie eine Zündholzschachtel zersplittert worden. Bei der späteren Untersuchung entdeckten sie, daß sie vom Kurs abgekommen waren, weil man den Kompaß mit eisernen Schrauben befestigt hatte.
„Ich liebe den Ruf der See . . ." Spätere Reisen verliefen nach dem gefährlichen Muster dieser ersten. Wann immer Greenfell von St. Anthony wegfuhr, wußte er nie, welchen Schwierigkeiten er gegenüberstehen und was ihm im Augenblick der Not zu seiner Rettung einfallen würde. Die „Princess May" wurde mit Holz geheizt, und da an Bord nur wenig Raum für Klafterholz war, war es unmöglich, Heizmaterial für längere Fahrten mitzuführen. Zum Glück gab es entlang der Küste alle paar Meilen einen Hafen. Einmal jedoch ging das Brennmaterial aus und Greenfell mußte das Kabinendach verheizen, um den nächsten Hafen erreichen zu können. Ein andermal war die „Princess May" während ganzer elf Tage im Eis eingefroren. Zweimal mußte er das Eis mit Dynamit sprengen, um sie frei zu bekommen. Dem jungen Arzt machten diese Reisen Freude. „Ich liebe den Ruf der See. Sie ist in meinem Blut. Der Geschmack der L u f t . . . , die phantastischen Tänze der Mitternachtssonne im November. .., lassen einen die Plackereien des täglichen Lebens vergessen." Sobald er es sich leisten konnte, erwarb Greenfell einen größeren, leistungsfähigeren Dampfer, die „Strathcona", rüstete sie mit Kojen für die Patienten aus und stellte einen Röntgenapparat auf. Er operierte direkt unter der Luke, oft während das Schiff in schwerer See schlingerte. Zu seiner Arbeit hatte er nur das Licht einer schwingenden Petroleumlampe. Oft wurde es auch noch durch die Köpfe anderer Patienten verdunkelt, die ihn umdrängten, um der Operation zuzusehen. Einmal, als eine Eskimofrau sich nicht narkotisieren ließj mußten etliche ihrer Freunde sich auf sie setzen, um sie niederzuhalten. Ein andermal wurde ein Eingeborener, der die Lampe hielt, beim Anblick des Blutes ohnmächtig, und sie standen im Dunkeln. 14
Manchmal fand Greenfell Männer, die sich halb irrsinnig vor Scnnee« blindheit auf dem Boden wälzten. Kokain betreite sie von den furchtbaren Schmerzen. Patienten kamen mit achmerzenden, verschwollenen Unterarmen, vergiftet durch kleinste Abfallteilchen, die sich unter der Haut angesammelt hatten, während sie Fische reinigten, Greenfell schnitt die Haut auf und entfernte den Eiter Auch operierte er einen jungen Mann, dessen Augenapfel durch eine Gewehrexplosion verletzt worden war, und rettete das zweite Auge. In einem Hafen brachte man ihm einen Mann mit einer Schußverletzung an der Hand an Bord. Er hatte, um die Blutung zu stillen, die Hand in einen Mehlsack gesteckt und den Sack dann zugebunden. Der Arm war bis zum Ellbogen infiziert. Greenfell amputierte augenblicklich und pflanzte dann einen Knochen ein, der etwa die Form einer Seehundflosse hatte, so daß der Mann mit Hilfe des Zeigefingers der gesunden Hand beim Fischen die Schnur einklemmen konnte. Für die notwendige Hautüberpflanzung verwendete der Arzt ein Stück seiner eigenen Haut. Oft mußten Operationen unter noch schwierigeren Umständen durchgeführt werden als auf der „Strathcona", zum Beispiel fast ohne Ausrüstung in einer Hütte im Landesinnern. Mehrmals amputierte er Gliedmaßen mit einem Taschenmesser, während die Eingeborenen die Hütte mit Desinfektionsmitteln überschwemmten. Er mußte manchen Aberglauben bekämpfen. So gab es Mütter, die ihren Kindern Zucker in die Augen bliesen, um Entzündungen zu „heilen". Die Unwissenheit, der er begegnete, war unwahrscheinlich. Eine Frau, der er eine Einreibung für ihr Knie gegeben hatte, schluckte sie gegen Magenweh, in der Meinung, wenn die Medizin bei dem einen Schmerz wirksam sei, müsse sie auch den anderen heilen. Als man einem Ehemann mitteilte, seine Frau müsse sich einer Amputation unterziehen, bemerkte er gleichgültig: „Ihr Arm wird ihr nicht weiter fehlen. Sie ist ja eine alte Frau." Sie war erst fünfunddreißig Jahre alt. Nicht alle Besucher kamen um ärztlichen Rat zum Doktor. Da war ein junger Holzfäller, der Greenfell privat sprechen wollte. „Ich will heiraten." „Dabei ko.nn ich dir nicht helfen. Wollen dich die Mädchen hier nicht haben?" 15
„Das ist es nicht, Doktor. Ich habe ein Mädel gern, oben im Norden, aber ich bin hier für die Saison angeheuert und kann nicht weg. Da Sie ohnehin nach Norden fahren, möchten Sie da nicht so gut sein und für mich um das Mädel anhalten und sie mitbringen, wenn Sie wieder hierherkommen?"
Greenfell baut Spitäler und Kaufläden In Neufundland hörte man bald von Greenfells Arbeit. Schon im ersten Jahr nach seiner Ankunft berief der Gouverneur von Neufundland eine Versammlung reicher, sozial gesinnter Kaufleute ein und forderte sie auf, die Mittel für den Bau von zwei Spitälern zu beschaffen. Greenfell wählte als geeignetste Plätze für die Spitäler Battle Harbor im Süden und Indian Harbor, 200 Meilen weiter nördlich. Er selbst führte eine Anzahl Fischer als freiwillige Holz-
Die Wikinger nannten die unwirtliche Küste „Helluland" — ,Steinland'. 16
fälier in die Wälder. Bei Errichtung der Grundmauern für die Küche mußte durch zwei Meter tiefen Schnee gegraben werden. Das Spital von Battle Harbor hatte acht Betten für Männer und acht für Frauen. Mit der Zeit stellte der Doktor die neuesten therapeutischen und Röntgenapparate auf, die von einem Ölmotor benieben wurden. Das zweite Spital wurde bald nach dem ersten fertig. Je ein Arzt und eine Schwester meldeten sich freiwillig für die Spitäler als Greenfells Assistenten, nach und nach folgten ihnen Medizinstudenten und noch etliche Schwestern. Greenfell aber hatte eine viel weiter reichende Vorstellung von den Aufgaben der Medizin. Es ging darum, den Krankheiten durch bessere soziale Lebensbedingungen vorzubeugen. Die Liveveres waren tatsächlich bettelarm. Die Hauptschuld daran hatte das im Handel herrschende Tauschsystem. Sie tauschten ihre ganze Ausbeute von Fischen und Pelzen bei den Kaufleuten und Händlern von Kanada und Neufundland gegen Lebensmittel und Kleider. Mit den Jahren waren die meisten Fischer stark in Schulden geraten und mußten mit Lebensmitteln unterstützt werden. Einige, deren Kredit erschöpft war, konnten nicht einmal das dringendst Notwendige kaufen. Greenfell sah ein, daß hier nur durch die Errichtung von Kaufläden auf genossenschaftlicher Grundlage Abhilfe geschaffen werden konnte. Das Anfangskapital mußte durch Beiträge der Beteiligten beschafft werden, so daß jeder Kunde gleichzeitig Teilhaber wurde, Waren aber nicht mehr auf Kredit, sondern nur noch gegen Barzahlung erhielt. Als sich aber die Leute von Red River Bay, wo Greenfell einen solchen Konsumverein für notwendig hielt, versammelten, zeigte sich, daß das Barvermögen aller siebzehn ansässigen Familien nur fünfundachtzig Dollar betrug. So mußte er in die eigene Tasche greifen, um das Grundkapital zu beschaffen. Er steckte auch tausend Dollar in den Laden in Flower's Cove. Aber leider machten die Liveyeres zu Beginn tragische Dummheiten. Ein Betrieb in St. John's hatte bald fünfundzwanzigtausend Dollar Schulden. Der Verwalter von St. Anthony gab jedem, der es wünschte, Kredit, und auch er hatte bald einen Verlust von zwölf17
tausend Dollar. Da keine der Genossenschaften als solche eingetragen war, machte man den Doktor persönlich für die Schulden haftbar. Er machte zu Geld, was erreichbar war, verkaufte sein persönliches Eigentum, liquidierte Kapitalsanlagen, und so und mit Hilfe eines Freundes gelang es ihm, die Schulden zu verringern. Allmählich rechtfertigte sich jedoch sein Vertrauen zu den Fischern. Die Genossenschaften überstanden ihre ersten finanziellen Nöte und erwiesen sich dann als ein Segen für die Leute.
Fruchtbare Gärten in der Arktis Oft fand der Doktor auf seinen Rundfahrten verwaiste Kinder, deren Eltern an Tuberkulose und anderen in der Gegend herrschenden Krankheiten gestorben waren. Er nahm sie nach St. Anthony mit und richtete dort ein Heim für sie ein, dessen Eingangstor die Aufschrift trug: „Lasset die Kinder zu mir kommen!" Um die an der Küste vorkommenden Mangelkrankheiten wie Skorbut, Rachitis und Beri-Beri besser bekämpfen zu können, befaßte sich Greenfell mit der Möglichkeit des Anbaues von Gemüsen. Da in Labrador der Grund bis Juli gefroren ist und man den Samen nicht früher säen kann, ging er nicht rechtzeit auf und konnte nicht zu brauchbarem Gemüse ausreifen. Greenfell nahm den Kampf auf seine Weise auf: „Wir werden die Zeit für das Wachstum verlängern." Er ließ aus den Vereinigten Staaten kleine Gewächshäuser kommen und hatte im Sommer bereits drei Monate alte Pflänzchen, die ausgesetzt werden konnten. Im Herbst erntete er zwölf Pfund schwere Kohl- und Krautköpfe und verteilte sie unter den Liveyeres. Versuche ergaben, daß Torf, Knochen, Abfälle von Fischen, Seegras und Tang, miteinander vermischt, einen wertvollen Dünger lieferten und daß der Boden dort, wo der Torf entfernt wurde, zu gutem Weideland wurde. Greenfell baute Luzerne, Artischocken und sogar Kürbisse an. Ein Professor von der landwirtschaftlichen Hochschule in Massachusetts hörte von seiner Arbeit, kam nach Labrador und führte Insektenbekämpfungsmittel ein. Binnen kurzem steigerten auf diese Weise bearbeitete Gärten ihren Ertrag um dreißig Prozent. 18
Von überall her kommen Helfer ' Clarende Birdseye, ein junger Biologe, kam nach Labrador, um mit Greenfell zu arbeiten. Als Birdseye einmal bei weit unter Null durch das Eis nach Kabeljau angelte, fiel ihm auf, daß der Fisch, der in der Luft augenblicklich gefror, wieder herumsprang, sobald er in der Küche auftaute. Die Lebensvorgänge wurden also durch tiefe Temperaturen gehemmt. Man mußte untersuchen, ob auch Bakterien durch Tiefkühlung in ihrem Wachstum und in ihrer Wirksamkeit gehemmt werden; dann könnte keine Fäulnis mehr eintreten und es möglich sein, Lebensmittel, besonders Fleisch, durch Gefrieren lange aufzubewahren. Diese Entdeckung führte Birdseye zu einer einwandfreien Konservierungsmethode durch Tiefkühlung für Fleisch, Fisch und Gemüse mit unbegrenzter Haltbarkeit. Birdseye begründete so in Zusammenarbeit mit Greenfell die Lebensmittel-Gefrierindustrie, die in unserer Zeit eine alltägliche Angelegenheit geworden ist. Bestimmte Tiefkühlgeräte tragen noch heute Birdseyes Namen. Die Regierung von Neufundland, die damals die Gerichtsbarkeit im östlichen Teil von Labrador ausübte, ernannte Greenfell auch noch zum „ehrenamtlichen Friedensrichter". Er nahm auch diese Last gutmütig auf sich und amtierte auf seinem Dampfer „Strathcona", oder wo immer er sich sonst gerade aufhielt. Meist handelte es sich um geringfügige Vergehen. Die Strafen waren auch entsprechend mild. Der kleine Dieb arbeitete seine Strafe ab, indem er das Gefängnis reinigte und mit Holz und Wasser versorgte, während des Tages Arbeiten für das allgemeine Wohl erledigte und sich dann pünktlich für die Nacht einschließen ließ. Oft unterhielten sich Richter, Gerichtsdiener und Arrestant freundschaftlich miteinander bei gemeinsamer Arbeit. Als sich die „Strathcona" wieder einmal auf ihrer jährlichen ärztlichen Rundfahrt befand, kam ein sechzehnjähriger Zimmermann an Bord. Greenfell untersuchte ihn. Er schien ganz gesund zu sein. „Was willst du eigentlich?" „Mehr lernen, Doktor." Schon seit längerer Zeit beabsichtigte Greenfell, diesen rückständigen Gebieten zu Handwerks- und Gewerbebetrieben zu verhelfen 19
und zu diesem Zweck Stipendiaten an auswärtige Lehranstalten zu schicken, um sie handwerklich und technisch ausbilden zu lassen. Der lernbegierige junge Mann kam als erster an das Pratt Institut in New York. Andere eigens ausgesuchte junge Männer und Frauen wurden nach und nach auf amerikanische, kanadische und englische Universitäten geschickt und kehrten nach Vollendung ihrer Studien nach Labrador zurück, um als Lehrer, Pflegerinnen, Ingenieure, Elektriker, Diätassistenten, Möbeltischler, Schneiderinnen und Stenographen zu arbeiten. Als später das feuersichere Eisenbeton-Spital in St. Anthony gebaut wurde, mit Zentralheizung, modernen Installationen und elektrischem Licht, hatte Greenfell es nicht mehr nötig, auswärtige Spezialisten kommen zu lassen. Bauleiter war jener einstige Zimmermann, der zu Greenfell gekommen war, „um zu lernen". Bis 1909 war Greenfell ein unerschütterlicher Junggeselle geblieben, aber nun kam er zum Erstaunen seiner Freunde mit einer jungen Gattin nach Labrador zurück. Nach einem kurzen Aufenthalt in Europa war er auf der „Mauretania" nach Nordamerika zurückgefahren, hatte an Bord eine reizende dunkelhaarige Frau kennengelernt, und da das Ende der Reise bevorstand, also keine Zeit zu verlieren war, bat er die Fremde ohne Umschweife, ihn zu heiraten. Sie war fassungslos. „Aber Sie wissen ja nicht einmal, wie ich heiße!" „Das macht nichts. Ich weiß, wie Sie heißen werden!" Als das Schiff den Hafen erreichte, war Elizabeth McClanahan Greenfells Verlobte. Er begleitete sie in ihr Heim in Lake Forest, Michigan. Im Herbst heirateten sie. Die aristokratische Schönheit vertauschte ihr bequemes Leben, ihre gesellschaftliche Stellung, ihr unbeschwertes Dasein gegen die Strapazen des Nordlandes und war ihr ganzes weiteres Leben lang die Gehilfin ihres Mannes.
Die Welt erfährt von Labrador Als die Pläne des Doktors immer hochfliegender wurden, entschloß er sich, in den Vereinigten Staaten und Kanada Vorträge zu halten, um die so dringend benötigten Mittel für die Greenfell20
Station aufzubringen. Eine internationale Organisation, die von Menschen, die sich für seine Pläne interessierten, in und unter seinem Namen gegründet worden war, sollte den finanziellen Rückhalt für die Entwicklung von Labrador schaffen. Die „Romanze von Labrador", über die er in seinen Vorträgen sprach, war packend, sensationell. Sie brachte volle Häuser. Greenfell, der weit lieber schaffte als redete, ertrug mit Grazie die Strapazen des Gefeiertwerdens, die vielen Aufmerksamkeiten jedes neuen Gastgebers in jeder neuen Stadt und Tausende von Händedrücken. Dabei war er unverbesserlich zerstreut. Einmal erkannte ihn ein Passagier im Zug, begrüßte ihn und sagte: „Wie gefällt Ihnen Toledo?" „Das weiß ich nicht", erwiderte der Doktor höflich, „ich war nie dort." „Aber Sie verbrachten doch zwei Nächte als Gast in meinem Haus!"
Die Eskimos Labradors sind Pelztier Jäger und Fischer. 21
Ein andermal beeilte er sich, einen Zug zu erreichen. Auf dem Weg zur Sperre dachte er an einen Vortrag, den er halten sollte. Eine Hand streckte sich ihm entgegen. In der Meinung, sie gehöre einem seiner unzähligen Verehrer, schüttelte er sie mechanisch, murmelte einen Dank und eilte weiter. Schallendes Gelächter d e r Umstehenden brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Sein „Bewunderer" war der Fahrkartenschaffner gewesen. Einmal erwähnte er, daß die Eskimos in Labrador noch nie ein Lamm oder ein Schaf gesehen hätten und daß er, um ihnen den Begriff „Lamm Gottes" verständlich zu machen, sich damit behelfen mußte, das Lamm durch einen weißen Seehund zu ersetzen. Daraufhin sandte ihm eine ältere Frau unter seinen Zuhörern sofort ein wollenes Spielzeuglamm; an einem Bein war ein kleiner Zettel befestigt: „Damit die Heiden es besser verstehen lernen." Greenfells Wirken in Labrador beschäftigte damals überall die Gemüter, wie in der Generation vor ihm die Menschen sich mit Livingstone* befaßten und wie wir uns heute mit dem Wirken Albert Schweitzers beschäftigen. Ein furchtbar zurückgebliebenes Land wurde hier durch die Bemühungen eines Arztes, der ganz einfach und wörtlich die Lehren Christi befolgte, aus einer halben Wildnis in eine zivilisierte, moderne Gemeinschaft verwandelt.
Das Haus auf dem Hügel Dank Greenfells unermüdlicher Hilfeleistung wurde der Hauptort St. Anthony — nach dem Schutzheiligen der Fischer benannt — ein gut geordnetes und gewerbereiches Gemeinwesen. Von einem Dock im Hafen liefen Geleise aus, auf denen man die Waren mit Handwagen nach allen Teilen der Niederlassung bringen konnte. Eine Strecke führte zum Spital, wo sich Lungenkranke auf der Veranda sonnten. Eine andere führte zum Waisenhaus, eine dritte zum Seemannsinstitut und eine vierte zu einem aufblühenden Viertel mit einer modernen Wäscherei, einer Maschinen- und Handtischlerei und einer Gewerbeschule, in der die Frauen ihre natürlichen Fähigkeiten für Deckenweberei und Korbflechterei, die Männer ihre Geschicklichkeit für Elfenbeinarbeiten entwickeln konnten. Die Erzeugnisse *)Vergleiche Lux-Leseboger. 266, „Livingstone, der Menschenfreund". 22
ihrer emsigen und kunstfertigen Hände fanden guten Absatz auf den Märkten der ganzen Welt. Greenfells Haus stand auf einem Hügel. In seinem Wohnzimmer war ein riesiges, wie durch ein Fenster gesehenes Landschaftsbild. Fast wäre man versucht gewesen, durch eine „Tür" ins Freie zu treten. An den Wänden hingen Rentiergeweihe, Angelleinen, ein Gewehr und Schneereifen. Auf dem Tisch stand eine Schale mit blauen Lobelien, die, aus Südafrika importiert, jetzt auch in der Arktis blühten. Im Sommer leuchtete der Hügel von rosa Feuerkraut, violettem Eisenhut und blauen Lupinen. In diesem für seine Persönlichkeit so kennzeichnendem Heim verbrachte der Doktor die wenigen kostbaren Stunden der Entspannung, seine Rosenholzpfeife rauchend, bei seinen Lieblingsautoren — Kipling, Twain, Kingsley. In Gesellschaft dieses so gar nicht anmaßenden Hausherrn, der aus freundlichen grauen Augen blickte und dessen Mund stets zu einem Lächeln bereit schien, fühlte sich jeder Besucher wohl. Greenfell war von erstaunlich guter Gesundheit. Sogar in den Siebzigern hatte er noch die Gestalt und den jugendlich-elastischen Gang eines Sportlers.
Und immer wieder unterwegs In manchem Winter aber verbrachte Greenfell kaum mehr als drei Tage zu Hause. Die übrige Zeit war er mit seinem Hundeschlitten unterwegs auf Krankenbesuch. Seine Assistenten betreuten die Spitäler. Auf solchen Fahrten mußte er oft die Hunde ausschirren, um den Schlitten über eine Erhöhung zu heben. Oft stolperte er über verschneite Baumstümpfe, und der Schweiß seines Körpers gefror zu Eis. So manches Mal kam er an Erfrorenen vorbei, die aufrecht in Schneewehen standen. Einmal fand er ein Tagebuch, das ein Trapper mit seinem eigenen Blut geschrieben hatte. Ein andermal, bei einem Krankenbesuch, reichte ihm der Hausherr eine Pfeife. Sie fiel zu Boden, ehe er sie zu den Lippen führte. Der Doktor war erschöpft auf seinem Stuhl eingeschlafen. Oft war er so müde, daß er sich in einer Schneewehe schlafen legte. Geschützt durch einen Schlafsack, durch den leicht treibenden Schnee, der eine Decke bildete, und durch die Wärme eines Feuers aus Kiefernholz, ruhte er behaglich und wachte erfrischt auf. 23
Wenn das Eis geborsten war und die Dörfer wieder auf dem Seeweg erreichbar wurden, schrappte er gemeinsam mit seiner Mannschaft den Rost vom Rumpf der „Strathcona", befestigte oder ersetzte die Bolzen, überholte die Maschine und lief dann von St. Anthony aus, um auf seiner jährlichen Runde für neunhundert Patienten zu sorgen. Am Hauptmast flatterte ein blauer Wimpel, auf dem die Worte standen: „Gott ist die Liebe", und das Steuer trug die Inschrift: „Und Christus sagte: Folget mir, und ich will euch zu Menschenfischern machen!" Stundenlang stand er am Steuer, und seine Augen strahlten vor Lebensfreude. Neben ihm, die Vorderpfoten auf der Reling, schnüffelte sein schwarz-weißer Hund Fritz in den Sprühregen. Das Schiff glitt an zahllosen Gipfeln vorbei, an zerklüfteten Felsen, an phantastischen, tiefeingeschnittenen Fjorden. Zu Häupten schimmerten die nördlichen Sterne, von denen die Eskimos glauben, sie seien die tanzenden Geister der Toten. Nachts ankerte er in einer Bucht, wachte aber mehrmals auf, um nach dem Wetter zu sehen. Ein kurzes Morgenbad in der See, und wieder stand er noch vor Sonnenaufgang am Steuer. Die meisten seiner Bücher* und Artikel über seine Tätigkeit in Labrador schrieb er mit der Hand, an Bord auf einem Stapel Brennholz sitzend. Langsam zog er den scharfen Duft des im Feuerraum lodernden Fichtenholzes ein und horchte auf das Getrappel der Mäuse, das heftigen Wind ankündigte. Nach jedem Sturm suchte er Inseln und felsige Riffe nach gestrandeten Schiffen ab und schleppte sie in den Hafen; die Schiffbrüchigen brachte er nach Süden zum Postboot. Greenfell entdeckte neue Kabeljau-Reviere für die Schleppnetzboote. Er landete mit seinem Schiff an entlegensten Küsten, wo noch kein Priester je gewesen war. Er traute, taufte und begrub, kraft seiner Eigenschaft als Seelenhirte. Mit Hilfe von Fachleuten vermaß er die Küste und das umgebende Gebiet, den Fischern zur Sicherheit und als Behelf für die kommenden Geographen. Er und sein Freund •) Weithin bekannt wurden Greenfells Werke „Land und Volk Labradors" (1922) und „Die Romanze von Labrador" (1934); beide sind in englischer Sprache erschienen. 24
Noel Odell — ein berühmtes Mitglied einer Mount-Everest-Expedition — erkletterten mit ihren Meßinstrumenten tausend Meter hohe Gipfel. Er flog mit einem Kameramann, der Luftaufnahmen von Holzgebieten, Fjorden und Lachsflüssen machte, zu denen sich - die Menschen zu Fuß nicht hinwagten.
Das Grab in St. Anthony Die ganze Welt hat ihm während seiner zweiundvierzig Jahre in Labrador Ehren erwiesen. Er wurde geadelt und empfing das einzige medizinische Doktordiplom, das Oxford jemals verliehen hat. Eduard VII. schlug ihn zum Ritter des Ordens von St. Michael und St. Georg, und die älteste Universität von Schottland, St. Andrews, ernannte ihn zum Rektor. Die Königlich-Schottische Geographische Gesellschaft verlieh ihm die goldene Livingstone-Medaille als geistigem Nachfolger des berühmten Missionars und Forschers. Aber trotz all dieser Anerkennung bezog Greenfell auf seinen eigenen Wunsch von seiner Mission nur ein jährliches Gehalt von 1500 Dollar. Mit siebenundzwanzig Jahren hatte er Labrador zum erstenmal besucht, um „sich's anzusehen". Er blieb, bis er neunundsechzig Jahre alt war. Dann gab dieser alte Wiking endlich zu, daß er
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müde sei. „Ich werde zu alt, um ein Hundegespann zu lenken, und ich glaube, daß ich von nun an gelassener leben muß, bis es dann Zeit wird, meine Schecks einzulösen." Ein ernstes Herzleiden hatte sich entwickelt, und die Ärzte drängten ihn, das Land zu verlassen, das er so ganz zu seinem eigenen gemacht hatte. 1934 zog er sich mit seiner Frau nach Charlotte, Vermont, zurück. Am 9. Dezember 1938 starb Lady Greenfell. Neunundzwanzig Jahre hatte diese „Erste Dame" von Labrador geduldig und unverdrossen für die Liveyeres gearbeitet. Sie war es, die die Kinderfürsorge, handwerkliche und andere Lehrkurse sowie eine Reihe aktiver sozialer Einrichtungen ins Leben rief und dafür sorgte, daß alles aufs beste durchgeführt wurde. So hat ihr Wirken die Arbeit ihres Mannes erfolgreich ergänzt. Er hat über ihr gemeinsames Leben geschrieben: „Nun, da das Endziel nicht mehr so weit entfernt ist, halten wir einander noch fester bei den Händen als je, im Vertrauen, daß uns die letzte Erfahrung auf diese Weise leichter fallen wird .. . Wenn unsere Körper, diese abgelaufenen Maschinen, von uns abgefallen sind, werden wir auf der anderen Seite wieder auf neuen Gebieten zusammenarbeiten". Da es Lady Greenfells Wunsch gewesen war, in Labrador zu ruhen, begleitete der Vierundsiebzigjährige ihre sterblichen Überreste nach St. Anthony. Am 10. Oktober 1940 starb er selbst und wurde neben ihr bestattet.
Das Wunder von Labrador Das Wunder von Labrador aber blieb bestehen. Wohl hatte die Mission jetzt einen neuen medizinischen Leiter, Dr. S. E. Curtis, aber der unbezwingüche Doktor blieb immer noch ihr Herz und ihre Seele. Durch seine Taten brüderlicher Liebe hatte er über die ganze Welt hin eine Kettenreaktion ausgelöst. Während Greenfells letzter Dienstjahre und auch nach seinem Tode verließen Männer und Frauen ihre Ämter, Universitäten, Farmen, Geschäfte, Laboratorien und Spitäler und zogen nach Labrador. Professoren und Zimmerleute, Ingenieure und Offiziere, Bibliothekare, junge Mädchen, Chirurgen und Architekten — im ganzen über vier26
zehnhundert Menschen — ließen ihre persönlichen Angelegenheiten im Stich und gingen den Sommer über nach Norden, um ohne Bezahlung Straßen anzulegen, Dämme zu errichten, Werften zu bauen, Kranke zu pflegen und die Jugend zu unterrichten. Im dichten "Gestrüpp führten sie den Kampf gegen die Moskitos. Ein Professor der höheren Mathematik aus Princetown und ein bek »mter Verleger aus New York, ein Mitglied der französischen Ehrenlegion neben einem berühmten Athleten, Söhne von Millionären und Taglöhnern schippten gemeinsam Kohlen, strichen Häuser an, errichteten Schulen und bauten Vorratsbehälter für Wasser. Einige dieser Freiwilligen blieben auch den Winter über im hohen Norden. Eine Krankenpflegerin, die mehrere Jahre ohne Entgelt im Hospital gewirkt hatte, sagte eines Tages, sie gehe in die Staaten zurück, um das nötige Geld für weitere freiwillige Arbeit zu verdienen. Eine Lehrerin aus den Staaten betrieb in ihrer freien Zeit eine Teestube; der Gewinn ermöglichte es ihr, acht Jahre in Labrador zu verbringen und bei der Erziehung der Kinder zu helfen. Ein junger Medizinstudent zog die Welpen seines Spaniels auf, verkaufte sie und fuhr mit dem Erlös nach Norden. Ein Zimmermann reiste die ganze Strecke von Kentucky auf eigene Kosten, um die Frauen in der Anfertigung von Webstühlen und Webausrüstungen zu unterrichten. Allen Bewerbern wurde klar gemacht, daß die Arbeit schwer und das Leben mühsam sein werde; auch sei das Essen nicht allzu gut und die Fahrt nach Norden manchmal äußerst strapazenreich und ermüdend. Trotzdem boten sich so viele Helfer an, daß mancher abgewiesen werden mußte. Es gab auch Märtyrer bei diesem Experiment menschlicher Kameradschaft. Ein Freiwilliger, Varick Frissel, kam hinauf, um die Schwierigkeiten des Lebens in Labrador im Film festzuhalten. Als er eben an Bord eines Robbenfängers die letzten Aufnahmen machen wollte, explodierte der Schiffskessel. Ein Suchtrupp hörte Varick Frisseis großen Neufundländer heulen. Das Geheul übertönte das Flammengetöse. Doch weder Hund noch Herr wurden gefunden. Eine Geschichte, die dem Doktor als die mutigste Tat der Hilfsbereitschaft immer in Erinnerung blieb, ereignete sich einige Jahre vor seinem Abschied. 27
Im ersten Frühjahr brach an der Küste eine Influenza-Epidemie aus. Der kleine Ort Hebron starb völlig aus. Von den zweihundertsiebenundsechzig Einwohnern von Okkak blieb nur ein Viertel am Leben. Die Zahl der Eskimos entlang der Küste schrumpfte auf die Hälfte zusammen. Die Epidemie war nicht einzudämmen. Greenfell und seine Assistenten arbeiteten Tag und Nacht, um die immer neuen Patienten zu betreuen, die in das Spital von St. Anthony eingeliefert wurden. In diesem Augenblick traf die Nachricht ein, daß ein kleines Dorf im Süden besonders schwer betroffen sei und ärztliche Hilfe sofort benötigt werde. Weder Greenfell noch seine Kollegen konnten abkommen, da zu viele Schwerkranke ihrer bedurften. Eine junge Schwester trat vor. „Ich werde gehen." „Es ist eine lange, gefährliche Fahrt für eine Frau", warnte Greenfell. „Ich weiß es." Der Himmel wurde grau, und der Wind wirbelte Wolken von Schnee auf, während der Schlitten wie eine riesige Raupe sich dem unebenen Terrain anpaßte. Man mußte gute Nerven haben, um als Frau Tag und Nacht allein zu reisen, mit Hunden, bei deren naturhafter Wildheit es gelegentlich vorkommen konnte, daß sie sich plötzlich auf den Fahrer stürzten und ihn in Stücke rissen. Aber die Schwester lehnte es ab, über solche Möglichkeiten nachzudenken. Sie führte eine Axt mit, zerstückelte damit Eis, um Wasser zu gewinnen; manchmal kochte sie Schnee. Es war so kalt, daß sie in der Mitte eines Stück Schweinefleisches Eisbrocken fand, obwohl es auf dem Feuer gekocht worden war. Manchmal rollte die Flut über den gefrorenen Grund, und sie befand sich bis zum Gürtel in eisigem Wasser. Auf dem Fell der Hunde bildeten sich Eiszapfen, und sie mußten sich den Eisstaub von den Augen reiben, um den Weg sehen zu können. Im Dorf angekommen, gestattete sie sich eine Nacht festen Schlafes und machte sich am Morgen an ihre Krankenrunde. Bald hatte sie die Epidemie unter Kontrolle. Sie dachte schon an Rückkehr. Eines Abends aber, gerade vor Mitternacht, stolperte ein Mann in ihre Wohnung. Seine Augen waren starr vor Entsetzen — als 28
könne er nicht glauben, was ihm widerfahren war. Sein Bauch war bis zur Brust hinauf aufgeschlitzt, die Eingeweide quollen in seine Hände — weiß, fettig, blutig. Dieser Mann war im Fieberwahn aus dem Bett gesprungen, hatte das Fischmesser gepackt und sich selbst derart furchtbar verletzt. Die Schwester brachte den Patienten zu Bett. Er war am Verbluten. Eine Operation war notwendig. Aber die Schwester hatte sich noch nie chirurgisch betätigt. Greenfell war viele Meilen weit weg. Seit ihrer Ankunft war das Eis aufgebrochen und eine Schlittenreise nicht mehr möglich. Ein Dampfer würde Tage brauchen, um sich einen Weg durch die Eisschollen zu suchen. Die Schwester telegraphierte an Greenfell nach St. Anthony. Die Antwort lautete: „Es gibt nur eines: Operieren Sie selbst! Möge Gott Ihnen beistehen!" Dann folgten kurze Instruktionen. Die Schwester eilte zu einem Geistlichen, der gerade im Ort anwesend war. „Sie müssen mir bei der Operation helfen." „Aber ich habe noch nie einen Operationssaal gesehen, geschweige denn . . . " „Ja, da werden wir es eben gemeinsam lernen müssen." Die Schwester zog eine Flasche Chloroform aus ihrer Instrumententasche. Der Geistliche narkotisierte ihren Anleitungen gemäß. Die Schwester wusch die schrecklichen Wunden aus und legte die Eingeweide zurecht, so gut sie konnte. Dann nähte sie die Wundränder mit steriler Nadel und Faden zu. Sechs Wochen später schob sich eines Nachmittags ein kleines Trappboot durch die Eisschollen in den Hafen von St. Anthony. Es war in ein schwimmendes Rekonvaleszentenheim verwandelt worden. Ein Zelt war an Deck errichtet, und daraus lugte ein kleiner selbstverfertigter Schornstein. Die Schwester kam heraus, von ihrem Patienten gefolgt, der sich bereits auf dem Wege der Heilung befand. „Im Herbst werde ich wieder für meine Familie fischen können", berichtete er Greenfell. Die tapfere Schwester hatte ganz im Sinne des Arztes von Labrador gehandelt, der immer wieder betonte: „Taten der Liebe verwelken nie." 29
Nachwort Von Labrador wird manches Interessante erzählt in den LUXLESEBOGEN Nr. 29: „Mit den Drachenbooten nach Vinland" (Entdeckung Labradors durch die Normannen um das Jahr 1000); Nr. 228: „Hudson's Bay Company" (erste wirtschaftliche Erschließung des Landes); Nr. HO: „Kanada" und Nr. 191: „Der große Strom St. Lorenz" (Entdeckung bedeutender Bodenschätze, vor allem Eisenerz und Bau einer Erzbahn). Die Normannen nannten diesen am weitesten nach Osten vorspringenden Teil Nordamerikas „Helluland", ,Steinland\ wegen der herben und unwirtlichen Küstenzone, an der sie entlangsegelten. Kurz nach der Wiederentdeckung Amerikas durch Christoph Columbus erreichte der in englischen Diensten stehende italienische Seefahrer Giovanni Caboto Labrador, als er den Westweg nach Asien suchte (1497). Im Jahre 1501 gaben portugiesische Seeleute dem Land den Namen „terra dos lavradores", ,Land, das sich nur für Sklaven eignet'; daraus bildete sich die geographische Bezeichnung „Labrador" für diese größte Halbinsel Nordamerikas. Nachdem der britische Seefahrer Henry Hudson und nach ihm die Expedition Des Grosseilliers die Nord- und Westküste befahren hatten, erhielt die britische „Hudson's Bay Company" den Handelsfreibrief für Labrador (1670), und es entstanden erste europäische Ansiedlungen und Faktoreien, in denen vor allem Pelze und Felle gehandelt wurden. Die von Juni bis November eisfreien Küstengewässer erwiesen sich neben den neufundländischen als ergiebigste Fischgründe, bei denen sich bald westeuropäische Fischerflotten einfanden. Die Fanggebiete wurden Objekt langjähriger Konflikte zwischen Franzosen und Engländern. Bis zum Jahre 1759 hatte Portugal das Besitzrecht über Labrador; im gleichen Jahre besetzten die Engländer die Halbinsel. Kurze Zeit später errichteten Herrnhuter Missionare erste Missionsstationen an der fjordreichen Ostküste. In ihrer Nachfolge arbeitete auch Wilfred Greenfell. Auf Grund eines Volksentscheids ging Labrador 1949 an Kanada über; verwaltungsmäßig gehört es heute als nördlichster Bezirk zur 30
kanadischen Provinz Neufundland, ein südlicher Teil zur Provinz Quebeck. Labrador, soweit es neufundländischer Bezirk ist, entsendet einen Vertreter in das Abgeordnetenhaus von Neufundland. Die Bevölkerungszahl wurde, bevor man seit 1937 die riesigen Eisenerzlager im Quellgebiet des 900 km langen Hamilton-Flusses am Knob Lake entdeckte, auf 20 000 geschätzt, von denen etwa 8000 an der Ostküste wohnen. Eine Erztransportbahn führt heute vom St. LorenzGolf ins Innere, wo sich auch das größte noch unberührte Waldgebiet auf dem amerikanischen Festland ausbreitet. Die Küstensiedlungen sind noch immer schwer erreichbar. In der eisfreien Zeit verkehrt alle drei Wochen ein Regierungsdampfer, durch den auch die Missionsstationen versorgt werden. Neuerdings werden auch Flugzeuge eingesetzt, um die Verkehrsverbindungen zu verbessern. Ein Flughafen befindet sich am Südende der Ostküste, gegenüber der Insel Belle Isle.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Fotos: Ullstein-Bilderdienst L u x - L e s e b o g e n 3 3 6 (Geschichte) H e f t p r e i s 30 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vlerteljährl 6 Hefte DM 1.30) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig. - Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux,
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