Fred McMason
Das Tor zum Hades April 1598 - London. Der Sturm heulte in schaurigen Tönen. Er orgelte mit Urgewalten he...
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Fred McMason
Das Tor zum Hades April 1598 - London. Der Sturm heulte in schaurigen Tönen. Er orgelte mit Urgewalten heran und trieb das fast schwärzliche Themsewasser zu mächtigen Wellen auf. Die Schiffe, die an den Piers vertäut lagen, knarrten und ächzten unter dem Ansturm der wilden Gesellen, als hauchten sie jeden Augenblick ihre Seelen aus. Ein Orkan braute sich zusammen. Der Himmel war an diesem Nachmittag fast schwarz, mit tiefhängenden, drohenden Wolken. Dreck und Staub fegten durch die Straßen und Gassen und verscheuchten die letzten Müßiggänger, die eilig in ihre Häuser zurückhasteten. Mit jeder Minute nahm der Sturm an Stärke zu, bis die Luft von wildem Heulen, Tosen und Brausen erfüllt war. Die Themse schien zu kochen, als schwele tief unter ihr ein gewaltiges Höllenfeuer. Ein paar Augenblicke später deckte der Sturm die ersten Dächer ab...
Die Hauptpersonen des Romans: Old O'Flynn - sein Holzbein geht wieder einmal zu Bruch - und das wird die Rettung für ihn und drei Arwenacks sein. Ferris Tucker - der Schiffszimmermann hat eine prächtige Idee und setzt sie sofort in die Tat um. Big Old Shane - der Ex-Schmied von Arwenack Castle hilft ihm bei der Ausführung der Idee in bewährter Weise. Edwin Carberry - hat auch eine Idee, nämlich die Kneipe „Das Tor zum Hades" mit einem Besuch zu beehren - was sich als schlechte Idee entpuppt. Doc Freemont - der alte Freund besucht seine Arwenacks und löst ein Geheimnis. Blair - der Kapitän eines Seelenverkäufers ahnt nicht, daß er einen Fehlgriff getan hat.
1. Die Schebecke der Seewölfe war gut vertäut, dennoch tanzte sie wild von einer Seite zur anderen, knallte hart an die Holzpier und zitterte in allen Verbänden. Immer wieder rumpelte es kurz und hart. „Wir bringen noch zwei Festmacher aus", sagte der Seewolf. „Eine Vor- und eine Achterspring. Dieses entsetzliche Gerumpel ist ja nicht zum Aushalten." Der Kutscher pflichtete Hasard bei. „Ganz recht, Sir. Die harten knallenden Stöße sind wie eine Ramming und hauen mir jedesmal die Töpfe auf dem Herd durcheinander. Mac ist schon von oben bis unten mit Suppe bekleckert." Mac Pellew, der ebenfalls an Deck erschienen war, bewies das nicht nur durch sein grämliches Gesicht. Er wirkte so niedergeschlagen, als sei gerade seine eigene Beerdigung fällig. „Eine Sauerei ist das", beklagte er sich. Er zeigte auf seine besudelten Plünnen. Erbsensuppe war ihm in den Kragen gelaufen, dann weiter übers Hemd, die Hose und bis zu den
Stiefeln. „Wie sehe ich denn jetzt aus?" „Wie ein gelabsalbter Schlickrutscher", stellte der Profos nach einem kritischen Blick fest. „Oder wie Schwester Eulalia nach einem mißglückten Essen." In der Tat waren in der Kombüse zwei Kessel hart zusammengeknallt, so daß ihnen eine Fontäne entstiegen war. Mac, der Pechvogel, hatte natürlich gerade in diesem Augenblick in den einen Kessel gelinst. „Blöde Antwort", knurrte Mac noch grämlicher. „Da schindet man sich in der Kombüse ab, und dann reißt dieses Monster auch noch faule Witze über unsereinen." „Unsereiner muß auch seinen Kürbis nicht immer in die Kessel stekken", meinte der Kutscher. „Das war ja vorauszusehen." „Unsereiner" wirkte jetzt völlig verbiestert. Die Haare flatterten ihm wild im Wind. Der Sturm fetzte an seiner besudelten Kleidung. Er hatte mittlerweile eine Stärke erreicht, daß man nur noch in gebückter Haltung an Deck stehen konnte. „Jetzt regt euch nicht wegen der
5 Suppe und der paar Plünnen auf", windschiefen Haus war das Dach exsagte Hasard entschieden. „Bringt plosionsartig davongeflogen. Jetzt die Festmacher aus, und du, Mac, standen nur noch Mauerwerk und die wechselst die Klamotten. Es sind ja Holzsparren auf einem mageren Gerüst, und in die hieb der Wind jetzt nicht deine einzigen." „Wollte damit nur andeuten, wütend seine scharfen Zähne. Die welche Opfer man zum Wohl aller Angriffsfläche hatte sich vergrößert. „Heiliger Tower", sagte Smoky. bringen muß, obwohl das ja nie anerkannt wird. Da steht man still und be- „Nun seht euch das mal an!" scheiden im Hintergrund und rührt in Das Haus war offenbar eine Bäckeder Suppe, und dann knallt einem rei, denn aus dem Innern rannten aufdieser Scheißorkan Erbsensuppe auf geregt brüllend drei hellgekleidete die Klüsen." Männer heraus und auf die Straße. Smoky, Ed, Blacky und Bill hörten Eine weiße Wolke stob zum Himmel schon nicht mehr hin, wie Mac Pellew - feines Mehl und Schrot, das sich in anklagendes Selbstmitleid verfiel. nach allen Seiten verteilte. Der harte Er brabbelte noch herum, als ein Sturm nahm es mit, und er nahm mächtiger Stoß die Schebecke von gleich noch mehr mit. Eine der Auvorn bis achtern erzittern ließ. Sogar ßenmauern stürzte krachend zusamdie Masten wackelten bedrohlich. men. Mac war auf diesen neuerlichen Der Bäcker brüllte wie am Spieß, harten Stoß nicht vorbereitet, und so sein Altgeselle schrie Zeter und Morlandete er plötzlich auf dem Hosenbo- dio und bekreuzigte sich fortwähden. Seine Stimmung wurde noch üb- rend, wobei der Wind ihm fast die ler, und er fluchte wie ein Rohrspatz. Haare vom Schädel riß. Der Gehilfe, Carberry grinste anzüglich und ein kleiner Ladenschwengel von etwa fuhr sich mit dem Zeigefinger be- zehn Jahren, tanzte von einem Bein zeichnenderweise an die Stirn, aber auf das andere und fand das alles das sah Mac nicht. Er rappelte sich sehr aufregend. Dafür kriegte er vom auf und fluchte weiter. erbosten Altgesellen eine gescheuert. Sie mußten sich jetzt schon gegen Das Bürschchen brüllte jetzt den Sturm stemmen, so sehr tobte er ebenfalls laut los und begann in wilüber London hinweg. der Flucht davonzurennen. Als die Arwenacks die Leinen ausInzwischen zerlegte der Sturm die brachten, gab es einen scharfen, peit- Bäckerei und fetzte sie restlos auseinschenden Knall. ander. Eine blattlose große Linde gab Hoch über ihren Köpfen orgelten der Bäckerei endgültig den Rest. Ihre Schindeln und kleine Holzstücke Wurzeln brachen aus dem Boden. durch die Luft. Eine Wolke aus Dreck Dann blieb sie schräg wie ein angeund Staub folgte. Der Wind riß sie in schossener Mast stehen und fiel einem gewaltigen Sog mit sich und schließlich mit ungeheurem Getöse trug sie hoch hinauf. Dort verteilte auf die Reste des Hauses. sich der Dreck nach allen Richtungen Unter ihrem donnernden Aufprall und wurde mit unvorstellbarer Ge- ging auch die letzte Mauer zu Bruch. walt weitergetrieben. Was sich in der Backstube befunden Bei einem alten, ohnehin schon hatte, wurde mit gewaltiger Kraft da-
6 vongefegt. Die Backtröge samt Inhalt ner Wucht, als sei er aus einer Kaüberschlugen sich auf der Straße und none abgefeuert worden. Er landete rasten, wie von Geisterhänden ge- in den Überresten der Bäckerei und zerrt, davon, bis sie krachend an eine donnerte in einen aufgeplatzten Hauswand schlugen. Mehlsack. Im nächsten Augenblick Die beiden Bäcker rannten davon, ähnelte er einem weißlichen zappelnden Gespenst. als sei der Satan hinter ihnen her. Die Kutsche flog mit einem lauten Aber es passierte noch mehr, und die Sache mit der Kutsche entbehrte Poltern um und legte sich auf die trotz der dramatischen Situation Seite. Holz barst. Die verschreckten Gäule zogen wieder an, und aus dem nicht einer gewissen Komik. Sie bog gerade mit ziemlicher Fahrt zersplitterten Fenster schob sich quäin die Straße ein. Zwei aufgeregt kend und heulend der Dicke hervor. schnaubende braune Pferde, von dem Seine Fettleibigkeit ließ jedoch nicht Sturm, dem Heulen und Brüllen ver- zu, daß er zu dem Fenster hinausgeängstigt, drohten durchzugehen. Der langte. Außerdem zerrten die Pferde dicke Kutscher auf dem Bock hatte den Trümmerhaufen immer noch alle Hände voll zu tun, um sie zu hal- weiter und über die gefällte Linde ten. Seine Peitsche hatte er verloren, hinweg. und er bückte sich ängstlich zur Seite, Erst dort zerbrach die Kutsche, und wo ein sehr beleibter Mann mit dik- der Dicke war frei. Er kullerte in eikem und rotem Gesicht seinen Kopf ner grotesken Bewegung über die aus dem Fenster streckte und auf den Straße. Kutscher einbrüllte. Dort rappelte er sich auf, verDer Sturm fetzte ihm die Worte von dreckt, staubig und schauerlich fluden Lippen, und der Dicke brüllte chend. Dann humpelte er zu der und schrie auf eine komische, laut- Hausruine, wo der andere sich aus lose Art wie ein Pantomime. In sei- dem Mehl befreite, und begann lautnem feisten Gesicht zuckte es wild. Er stark mit ihm zu schimpfen. Mit eihatte ein Tüchlein aus seiner Weste nem kleinen Spazierstock schlug er gezerrt und betupfte sich damit die dabei auf den unschuldigen Kutscher nasse Stirn. ein. Offenbar war der Kutscher nicht Auf der Schebecke war wiederum in der Lage, die verstörten Gäule an- kein Wort zu verstehen, nur die wilde zuhalten. Gestik, mit der sich die Kontrahenten Mit scharfer Fahrt jagte die bedachten, sprach deutlich von schlimmem Ärger. Kutsche weiter. Smoky schloß krampfhaft die AuDie Arwenacks sahen zu, wie der gen, denn jetzt mußte die Kutsche Dicke den Kutscher verprügelte und mit fürchterlicher Wucht auf das Hin- dann schnaufend und rot vor Wut, dadernis prallen - die gefällte Linde, vonhinkte. Auch der Kutscher rapdie die ganze Straße versperrte. pelte sich auf und folgte dem Dicken Kurz davor scheuten die Gäule und in respektvoller Entfernung. stiegen wild schnaubend und wieDie Gäule rannten weiter. Sie hathernd hoch. ten nur noch ein paar armselige Der Kutscher flog vom Bock, mit ei- Trümmer zu schleppen.
7 Nach wenigen Augenblicken verschwand der Spuk um die nächste Ecke. „Wahnsinn", murmelte Smoky verblüfft. Sie hatten die Springs jetzt ausgebracht. Das Gerumpel und Geknalle ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Verhältnismäßig ruhig lag die Schebecke an der Pier. An Deck aber wurde es immer ungemütlicher, denn der Sturm nahm auch weiterhin an Heftigkeit zu. In der Luft war ein Klagen und Heulen, Jaulen und Jammern, das alle anderen Geräusche übertönte. Dazwischen jagten Dreckwolken zum Himmel. In großer Höhe bildeten sich wirbelnde Trichter, die den Dreck und Staub wie mit einem Schlauch ansaugten. Hasard sah sich besorgt um. „Da braut sich ein ausgewachsener Orkan zusammen", sagte er. „Es wird ein Sturm, wie London ihn lange nicht erlebt hat." „Und es werden noch eine Menge Dächer abgedeckt werden", prophezeite Ben Brighton. „Das ist erst der Anfang. Ich denke, wir gehen besser unter Deck. Hier oben können wir nichts weiter tun. Der Sturm fegt uns sonst noch über Bord." „Und dabei wollte ich Doc Freemont suchen", sagte der Kutscher betrübt. „Aber das ist bei diesem Unwetter wohl aussichtslos." „Warte ab, bis es sich gelegt hat", riet Hasard. Als er sich umdrehte, um ebenfalls unter Deck zu gehen, sah er das Boot.
Es war ein größeres Fischerboot, das auf der Themse in den Sturm geraten war und jetzt zu kentern
drohte. Drei Mann kämpften verzweifelt um ihr Leben. Das Boot war zur Hälfte mit Wasser gefüllt, hing stark gekrängt zwischen den Wellen und schluckte den nächsten Brecher. Der brüllende Sturm trieb es auf das westliche Ufer zu. In diesem Augenblick ging einer der Männer über Bord. Die beiden anderen waren nicht in der Lage, ihm zu helfen. Sie hatten alle Hände voll zu tun, um sich selbst festzuhalten. „Auch das noch", sagte Al Conroy. „Entweder sind die Kerle tollkühn oder ganz einfach verrückt." „Oder sie sind vom Sturm überrascht worden und hatten gehofft, noch rechtzeitig nach Hause zu gelangen." Jeff Bowie sagte das und starrte mit offenem Mund auf das wie irrsinnig tanzende Boot. Hasard überlegte fieberhaft, wie er den Männern helfen konnte. Die Jolle konnten sie nicht benutzen. Sie wäre ebenfalls umgeschlagen und hätte die eigene Besatzung in höchste Gefahr gebracht. „Nehmt Taue und lange Leinen mit", sagte er kurz entschlossen. Er mußte brüllen, weil der Sturm ihm die Worte von den Lippen riß. „Versucht es unten vom Ufer aus. Aber beeilt euch." Die Arwenacks handelten. Hasard ärgerte sich, weil sich auf einem anderen Schiff ganz in der Nähe, keine einzige Hand rührte, um Hilfe zu bringen. Ein paar Kerle standen auf dem Quarterdeck einer Galeone und sahen untätig zu, wie die Männer um ihr Leben kämpften. Sie stierten nur, aber sie unternahmen nichts. In aller Eile schnappten sich die Arwenacks ein paar Leinen und rannten los.
8 Sie hörten die Fischer brüllen. Der eine, der über Bord gegangen war, verschwand gerade unter einem Brecher und streckte hilfesuchend die Arme aus. Der Brecher drückte ihn unter Wasser, und dann war er verschwunden. Das Boot kenterte bei der nächsten Welle und begrub die beiden anderen Fischer unter sich. Dan O'Flynn und Hasard langten als erste am Ufer an. Es hatte ganz den Anschein, als könnten die Kerle nicht schwimmen. Zwei tauchten wieder auf und versuchten, das kieloben treibende Boot zu erreichen. Von dem dritten Mann war jetzt die Hand zu sehen, die sich verzweifelt aus dem Wasser reckte. Hasard schlang sich hastig eine Leine um die Hüften. Das andere Ende reichte er Big Old Shane. „Du willst doch dort nicht hinein!" brüllte Shane entsetzt. „Das ist der reinste Höllenschlund." „Halt den Tampen fest!" schrie Hasard. „Wir haben keine Zeit zu verlieren." Noch bevor jemand etwas sagen konnte, stürzte sich der Seewolf mit einem wilden Sprung in die brodelnde und reißende Themse. Big Old Shane fierte die Leine nach und sah schluckend, wie Hasard unterging und gleich wieder auftauchte. Er war oberhalb des Bootes ins Wasser gesprungen, um nicht zu weit abzutreiben. Die beiden Fischer hatten jetzt das Boot erreicht. Sie schrien und brüllten und klammerten sich mit letzter Kraft fest. Carberrys Versuch, eine Leine hinüberzuschleudern, schlug fehl. Der Wind peitschte sie wie eine Schlange
durch die Luft. Der Profos fluchte lauthals. Von Hasard war kaum etwas zu sehen. Nur hin und wieder tauchten seine schwarzen Haare sekundenlang auf. Dann überrollte ihn der nächste Brecher. Das Wasser war um diese Jahreszeit eisigkalt. Dazu kamen der orgelnde Sturm, der Schaum, der übers Wasser peitschte sowie das Heulen und Toben der Elemente. Um ihn her war ein Getöse, als brüllten tausend Höllenhunde in den höchsten Tönen. Er kämpfte sich vorwärts und sah für einen kurzen Moment das Boot mit den beiden völlig verängstigten Fischern. Nacktes Grauen stand in ihren Gesichtern - Todesangst, die sie erstarren ließ. Eine Welle warf ihn an das Boot und drehte ihn um seine Achse. Der Anprall war bretthart und schüttelte ihn von oben bis unten durch. „Haltet euch fest", schrie er, „ihr treibt auf das Ufer zu! Sie werden euch Seile zuwerfen, aber klammert euch fest!" Er wußte nicht, ob sie ihn verstanden hatten. Er sah sie nur in einer Wolke aus Schaum und Brechern verschwimmen. Verzweifelt hielt er nach dem dritten Mann Ausschau. Da sah er wieder die Hand. Sie ragte wie die eines Toten aus dem Wasser. Mit eisenhartem Griff packte er zu und hielt die Hand fest. Der Mann zappelte in wilder Todesangst und versuchte sich zu wehren. Er wußte nicht, was er tat, er war fast wahnsinnig vor Angst. Der Seewolf spürte den kräftigen Ruck an der Leine. Er hatte jetzt den Ellenbogen des Fischers umklammert und faßte weiter zur Schulter
9 nach, damit der Mann den Kopf aus dem Wasser kriegte. Big Old Shane zog die beiden Hand über Hand näher ans Ufer. Inzwischen war es auch dem Profos und Dan gelungen, den beiden anderen Fischern Leinen zuzuwerfen. Alle beide klammerten sich verzweifelt daran fest. „Na, dann haben wir die Kerlchen ja endlich", brummte Carberry. „Hoffentlich lassen sie jetzt nicht los." „Die Kerle halten sich außerdem noch am Boot fest", sagte Dan. „Zieh nicht so kräftig, Ed, sonst liegen sie wieder im Bach." Die Fischer, kräftig gebaute Kerle, hatten immer noch Angst. Einer hielt mit einer Hand die Leine fest, mit der anderen klammerte er sich ans Boot. Der andere hatte sich die Leine über die Schulter gelegt und hielt sich mit beiden Händen an den Planken fest. Für die Arwenacks war es schwierig, Boot und Fischer zugleich an Land zu ziehen. Hasard befand sich inzwischen am Ufer. Er stand da und pumpte Luft in seine Lungen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Kerle von der Galeone untätig, aber interessiert zu ihnen blickten. Der Fischer lag auf dem Boden und keuchte. Seine Augen waren weit aufgerissen und blickten voller Entsetzen auf den brodelnden und reißenden Fluß, dem er gerade noch entkommen war. Er war unfähig, etwas zu sagen. Völlig erschöpft lag er da. Der Kutscher und Mac Pellew kümmerten sich um den Mann, bis er Wasser erbrach und fast erstickte. „Bringt ihn an Bord", sagte der Seewolf heiser. „Der Kerl ist fast ersoffen." „Du solltest auch schnell an Bord
gehen, Sir", riet der Kutscher. „Das Wasser ist verdammt kalt. Da kann man sich leicht etwas holen." „Das kurieren wir nachher mit schottischem Whisky." Der Sturm heulte und jaulte immer noch in den wildesten Tönen. Die Wogen der Themse rannten schäumend und donnernd gegen das Ufer an. Als die nächste Welle das Boot erwischte, war der Stoß so hart, daß die beiden Fischer losließen. Sie fanden keinen Halt mehr. „Na endlich", knurrte Dan, „jetzt geht es leichter." Hand über Hand holten sie die beiden ebenfalls an Land, bis sie schnaufend und keuchend am Ufer waren. Das Boot trieb weiter. Eine große Welle warf es etwas später umgedreht ans Ufer, wo es liegenblieb. Sie brachten die Fischer an Bord, tauschten ihre nassen Plünnen gegen trockene und ließen sie ausruhen. Alle drei waren erschöpft, kraftlos und matt vom Kampf mit Sturm und Wellen. Hasard hatte inzwischen ebenfalls seine Kleidung gewechselt. Der Profos reichte ihm grinsend den „Schottischen". Er gluckerte einen Streifen weg, spürte wie die Wärme in ihm hochstieg und reichte die Buddel weiter. Es dauerte nicht lange, dann war der Schottische gelenzt und eine zweite Buddel ging reihum. Die Fischer bedankten sich. „Ohne eure Hilfe wären wir jämmerlich ersoffen", sagte der eine. „Wir können alle drei nicht schwimmen, haben es nie gelernt." „Vielleicht könnt ihr es ja noch nachholen", entgegnete Hasard. „Es
10 gibt immer wieder Situationen, in denen das Leben davon abhängt und niemand in der Nähe ist." Oben heulte und pfiff der Sturm sein wüstes Lied. In der Takelage knarrte und ächzte es. Wellen schlugen klatschend und donnernd an den Rumpf der Schebecke. Unter Deck aber war es gemütlich. Die Fischer erzählten, daß der Sturm sie überrascht habe. Sie hätten noch versucht, ein Stück die Themse hinaufzugelangen, doch dann sei es plötzlich passiert. „Eure Ausrüstung ist natürlich auch zum Teufel gegangen", sagte der Seewolf. „Im Boot war jedenfalls nichts mehr." Die drei nickten bedrückt. „Ja, alles fort. Wir haben nicht viele Fische gehabt, aber unsere Netze sind weg, und das ist bitter." Ben Brighton, der in jungen Jahren selbst einmal das harte Brot der Fischer verdient hatte, griff schweigend in die Tasche. Er brachte drei Goldmünzen zum Vorschein und drückte sie dem älteren Fischer in die Hand. „Das - das können wir nicht annehmen, Herr", stammelte der. „Ihr habt uns das Leben gerettet. Das ist mehr als man verlangen kann." „Ohne Netze kein Brot", sagte Ben. „Mein Vater war selbst Fischer, ich weiß, wie mühsam das ist. Euer Boot hat sicherlich auch etwas abgekriegt. Ihr werdet es reparieren müssen." Edwin Carberry, der Kerl aus Eisen, bewies wieder einmal, daß er ein weiches Herz hatte. Als er in die Hosentasche griff, holte er eine mattschimmernde Perle hervor, die er dem Fischer vorsichtig in die Hand drückte. „Eigentlich wollte ich die versau-
fen", sagte er grinsend. „Aber bei dem Sturm ist ja nichts los in London. Nehmt sie noch dazu und kauft euch ein richtiges Boot. Mit eurer alten Schwarte ist ja doch nichts mehr los." „Ihr beschämt uns", sagte der Ältere sehr verlegen. „Jaja", sagte der Profos trocken, „nun nuckelt mal noch einen kleinen Schottischen weg. Wer säuft, braucht sich nicht dauernd zu bedanken. Sonst kriegt er zuwenig in den Hals, was, wie?" Eine Stunde später zogen die drei Kerle hochbeglückt ab. Sie konnten noch gar nicht fassen, was ihnen da widerfahren war. Die Arwenacks sahen ihnen von Bord aus nach. Die Fischer winkten, bis sie um die nächste Ecke verschwunden waren. „Mann, das wird ja schlimmer mit dem Sturm", sagte Carberry. „Da drüben zerbläst er schon wieder ein Haus in Einzelteile." Neben ihm stand Old O'Flynn. Seine Haare flatterten wie eine Fahne im Wind. Er konnte kaum gerade stehen. Schindeln und Holzlatten flogen durch die Luft. Die Bretter krachten in andere Häuser. Fensterläden knallten gegen Hauswände, und der Sturm drückte ein paar Scheiben ein. Selbst die Masten auf der Schebecke bogen sich unter dem Ansturm des wilden Gesellen. Auf der Galeone weiter achteraus kreischten die Rahen. Es hörte sich an, als gehe die Welt unter. „Gehen wir wieder nach unten", sagte Old O'Flynn. „Dort können wir ein bißchen klönen und den Rest des Tages gemütlich verbringen." Daraus wurde jedoch nichts mehr. Old O'Flynn zog das Schott auf. Er
11 hatte den Knauf noch in der Hand, als eine wilde Bö über die Decks der Schebecke tobte. Das Schott wurde mit Urgewalt aufgerissen. Es gab einen dumpfen Schlag, dem ein erstickter Schrei folgte. Carberry wollte noch zugreifen. Es gelang nicht mehr. Das Schott knallte mit fürchterlicher Gewalt auf den Alten zu. Er hob noch geistesgegenwärtig die Hand und schob das Holzbein ein wenig vor. Da krachte und splitterte es auch schon. Der „Admiral", wie ihn seine Enkel immer nannten, flog wie eine Puppe über Deck und landete am Schanzkleid. Carberry war mit einem Satz bei ihm und half ihm auf die Beine. „Auch das noch", murmelte er erschüttert. „Da wird sich Ferris aber wieder mal freuen." „Was ist denn los?" fragte Donegal. „Mir ist das verdammte Schott an den Schädel geknallt." „Das war nicht dein Schädel, sondern dein Holzbein. Oder ist dein Schädel vielleicht aus Holz?" „Ihr behauptet das jedenfalls." Als der Alte einen Schritt gehen wollte, rutschte er wieder aus. Aber Carberry hatte schon vorsorglich seinen Arm um seine Schulter gelegt. Old O'Flynn sah an sich hinunter. Sein Holzbein war durch den Anprall in Längsrichtung bis zum Knie aufgesplittert. Als er auftrat, brach der vordere Teil weg und lag jetzt wie ein langer Span an Deck. Der Sturm blies es weg und trug es spielerisch über Bord. O'Flynn blickte dem Überrest verdattert nach. „Verdammt noch mal!" brüllte er durch den Sturm. „Jetzt hat es der
Teufel geholt! Und dabei war es beste englische Eiche. Jetzt kann ich wieder auf Krücken humpeln." „Wird wohl nicht zu ändern sein, wenigstens vorerst nicht. Aber du mußt ja immer für Beschäftigung sorgen, old Man." „Kann ich etwas dafür?" ereiferte sich Old O'Flynn. „Das Mistding hätte genausogut an dein Amboßkinn fliegen können, und dann müßte Ferris dir eine Kinnprothese basteln." „Kinnprothese, so'n Quatsch", sagte der Profos. „Das gibt's auf der ganzen Welt nicht. Stütz dich jetzt auf meine Schulter, sonst landest du wieder irgendwo an einem Schott." Knurrig und verärgert, daß ihm wieder mal das Malheur mit dem Holzbein passiert war, stützte sich Old O'Flynn beim Profos auf. Carberry befand sich gerade auf der ersten Stufe und zog das Genick ein, als hinter ihm das Schott zudonnerte. Er verzog das Gesicht, als sei ihm ein Siebzehnpfünder ins Kreuz gefahren. Den Alten halb im Arm, flog der Profos die restlichen vier Stufen hinunter, und beide landeten fluchend auf den Dielen. Die Arwenacks, die sich unten in dem Raum aufhielten, nahmen das zum Anlaß eines wilden Gelächters. Nur Carberry und Old Donegal fanden das überhaupt nicht lustig. „Sein Holzbein ist wieder mal den Weg alles Irdischen gegangen", sagte der Profos. „Wir sollten den alten Zausel am besten gleich ganz aus Holz schnitzen wie 'ne Galionsfigur, dann brauchen wir nicht dauernd Holzbeine anzufertigen." Wieder wurde leise gelacht.
12 2. „Was jetzt?" blaffte Old O'Flynn und sah dabei den rothaarigen Schiffszimmermann Ferris Tucker an. „Soll ich mir vielleicht ein Holzbein aus dem Ärmel schütteln?" blaffte Ferris zurück. „Du stehst einfach da und fragst: ,Was jetzt?' Kannst du das nicht ein bißchen freundlicher formulieren?" „Kann ich nicht. Der Sturm ist auch nicht freundlich mit mir umgesprungen. Knallt mir das Schott vor die Spake, und rrrummms, liege ich auch schon flach. Jetzt stehe ich da wie ein - äh . . . " „Wie ein Bilgenlausdompteur", sagte der Profos fachmännisch. „Oder wie ein aufgedrillter Wattvogel. Die stehen nämlich auch immer so herum." „Jedenfalls bin ich so kein vollwertiges Besatzungmitglied", knurrte der Admiral nach einem schiefen Blick auf den Profos. „Und wenn du schon keine Lust hast, ein neues Holzbein anzufertigen, Mister Tucker, gib mir wenigstens Hobel und Säge. Ich nehme dann eine der Rahruten und stelle mir selbst eins her." „Du kriegst ja ein neues, Mister O'Flynn, aber stell dich nicht immer so an. Wir haben den ganzen Tag Zeit. Shane und ich gehen gleich nach dem Essen an die Arbeit. Zufrieden?" „Zufrieden bin ich erst, wenn ich wieder laufen kann", brummte der Alte mißmutig. Er lehnte an der Wand und starrte übelgelaunt auf die zersplitterten Überreste seines Holzbeines. Das ähnelte jetzt einem langen gefährlichen Piekser. Als Old O'Flynn das Ding etwas anhob und die Spitze auf Ferris Tucker
deutete, lächelte der Schiffszimmermann verhalten. Es sah aus, als sei ein zersplitterter Gewehrlauf auf ihn gerichtet. Ganz plötzlich hatte Ferris eine Idee und grinste noch stärker. Old O'Flynn legte das wieder mal auf seine Art aus. „Weiß nicht, was es da so dämlich zu grinsen gibt", murrte er. „Du wirst später vielleicht selbst grinsen", deutete Ferris an. „Jedenfalls bist du bis heute abend wieder ein vollwertiges Besatzungsmitglied." „Ist das dein Ernst?" „Selbstverständlich. Bis heute abend ist das Ding fertig." „Wenn das stimmt, gebe ich einen aus", verkündete der Alte. „Wir gehen dann einen auf meine Kosten zwitschern." „Ist das auch dein Ernst?" „Mein voller. Du kannst dann trinken, was du willst - und Shane natürlich auch." „Wird ein verdammt teures Holzbein", meinte Smoky. „Du weißt ja, was in die beiden Kerle hineingeht. Da kannst du nicht mit einer lausigen Buddel aufwarten, da wird immer Lage laufend gesoffen. Und das kann teuer für dich werden." Old O'Flynn wußte das natürlich. Er hatte die beiden schon einmal zu einer gemütlichen Runde eingeladen - und danach war er blank gewesen, denn die Kerle hatten kräftig zugelangt, als seien sie am Verhungern und Verdursten gewesen. Aber ein neues Holzbein wog das alles auf. Er brauchte dann keine Krükken mehr, die ihm ohnehin lästig genug waren, und konnte sich wieder wie ein Junger bewegen. Nach dem Essen verschwanden
13 Ferris und Big Old Shane in dem achteren Stauraum der Schebecke, wo sich Ferris und Shane eine kleine Werkstatt eingerichtet hatten. „Du hast vorhin fast niederträchtig gegrinst", sagte Shane. „Heckst du mit dem Holzbein was aus?" „Ich habe da eine vorzügliche Idee", erwiderte Ferris und erzählte, was er vorhatte. Da begann auch Big Old Shane zu lachen, erst verhalten und dann immer lauter. „Fein", sagte er schließlich. „Das ist für zwei Kerle wie uns eigentlich kein Problem. Gehen wir an die Arbeit." „Ja, Donegal wird staunen." Old O'Flynn war natürlich nicht der Mann, der sich jetzt hinsetzte und bitter beklagte. Er hatte sein zersplittertes Holzbein abgeschnallt und trug die Überreste zur Kombüse. Dort drückte er sie Mac Pellew in die Hand, der sie mürrisch betrachtete. „Was soll jch damit? Ich brauch' kein Holzbein und wenn, dann kein zersplittertes." „Als Feuerholz", knurrte Old Donegal. „Ha'm wir genug", sagte Mac Pellew. „Dann schnitz dir Zahnstocher daraus", riet Old O'Flynn, „oder bau dir einen Galgen und häng dich dran auf." Er drehte sich und humpelte auf den Krücken, die er gar nicht mochte, davon. Von nun an begann er Ferris und Shane zu nerven und kreuzte mindestens ein dutzendmal in dem werkstattähnlichen Raum auf, wo die beiden emsig an der Arbeit waren. Natürlich hatte der Admiral auch wieder was zu nölen, als er das grobe Holzstück sah.
„Wird aber ein mächtiges Ding", sagte er abschätzend. „Vielleicht ein bißchen zu dick." „Hm", murmelte Ferris, und Shane sagte auch: „Hm, kann sein." „Ich meine", begann Old O'Flynn, „es wird vielleicht ein bißchen zu klobig - äh -, wie ich meine." „Hm, hm, sieht fast so aus", äußerte sich Ferris. „Du kannst es aber auch gern selbst herstellen", sagte Shane, „wenn du es doch besser weißt. Vielleicht wird es dann nicht so klobig." „Davon verstehe ich nicht viel." „Hört sich aber so an." Ferris packte den Holzkloben in eine Zwinge und nahm die Säge. Dann sägte er einen Längsschnitt, schob in den Schnitt ein paar kleine Keile und schnappte sich den Hammer. Old O'Flynn standen die Haare zu Berge, als der Schiffszimmermann kräftig ausholte. „He, ihr schlagt mir das Ding ja kaputt, noch bevor es fertig ist!" Er zuckte entsetzt zusammen, als Ferris zuschlug. Das noch nicht fertige Holzbein flog in zwei Teile auseinander. Old O'Flynn humpelte bedrückt zur Seite und saß mißtrauisch zu. „Und jetzt?" fragte er. „Jetzt kleben wir es wieder zusammen", erklärte Ferris. „Warum habt ihr es dann erst auseinandergeschlagen?" „Damit wir es wieder zusammenleimen können, sonst geht das doch gar nicht", erklärte Ferris freundlich. „Ich kann ja nicht etwas zusammenleimen, was nicht kaputt ist." Der Admiral schluckte. Hier gingen wieder mal Dinge vor sich, die er überhaupt nicht kapierte.
14 „Ah, ich verstehe", sagte er mit säuerlicher Miene. „Ich kriege so blöde Antworten, weil ihr nicht wollt, daß ich euch bei der Arbeit zuschaue." „Genauso ist es", sagte Ferris trokken. „Es dauert nur immer sehr lange, bis du das kapierst. Wir leisten einwandfreie Arbeit, daher können wir es auf den Tod nicht ausstehen, wenn einer dabeisteht und alles besser weiß." „Bis jetzt waren doch deine Holzbeine immer einwandfrei, oder?" erkundigte sich Shane. Das mußte Old Donegal zugeben, und so nickte er. „Wollte mich ja nur mal nach dem Stand der Dinge erkundigen", sagte er kläglich. „Das hast du doch jetzt." Nach einer knappen Stunde war der Alte wieder da, um sich nach dem „Stand der Dinge" zu erkundigen. Der Holzprügel hatte sich mächtig verändert. Er war mit Eisenbändern an einigen Stellen umwickelt und wirkte längst nicht mehr so klobig wie zuvor. Aber ein bißchen stärker als üblich war das Holzbein doch, das konnte ihm keiner ausreden. Als Ferris es drehte und wendete, sah Old O'Flynn zu seinem grenzenlosen Erstaunen, daß sich im Innern des Holzes Metall befand. Wie ein Rohr sah es aus. Er blinzelte ungläubig und trat näher heran. „Da ist ja Metall drin", sagte er verwirrt. „Damit es nicht zu schnell zersplittert. Das hält sozusagen fast ewig." Shane nickte dem Alten freundlich zu. „Eine gute Idee", lobte der Admiral. „Das hätte uns schon viel früher einfallen können. Hätte auch eine
Menge Arbeit erspart. Und das Eisen ist natürlich hohl, damit es nicht so schwer ist." „Du hast es genau erfaßt", sagte Ferris. „So ist es. Und weil du schon auf diese Aussparung hier oben schielst - dort kommt wieder ein kleines Messerfach hinein, für eine feine scharfe Klinge." „Bißchen sehr tief ausgespart, wie?" fragte Old Donegal unruhig. „Ich will damit aber nichts gesagt haben. Da ist übrigens noch eine Aussparung. Zu was soll die denn sein?" „Da kannst du ein paar Münzen drin verstecken, wenn du wieder mal beklaut wirst — wie in Istanbul. So hast du immer eine kleine Reserve bei dir." Old O'Flynn ahnte nicht im Traum, daß sein Holzbein diesmal eine ganz spezielle Sonderanfertigung werden sollte. Die beiden grinsten sich auch ständig an, als hätten sie etwas zu verbergen. Oder wollten die Kerle sich nur einen Jux mit ihm leisten? Als er nach einer weiteren Stunde ruhelos wie der alte Ahasver wiederum aufkreuzte, befand sich etwas unterhalb am Knieteil des Holzbeines ein wie ein kleines Zöpfchen gedrehter Tampen. Dieser „Tampen" hatte auch ein Auge, in das bequem ein Finger paßte. Old Donegal betrachtete das Zöpfchen mit äußerstem Unbehagen und sehr mißtrauisch, indem er von einer Seite zur anderen humpelte und es immer wieder kritisch in Augenschein nahm. „Was soll das denn?" fragte er nervös. „Sieht ja wie ein kleines Zöpfchen aus." „Das ist auch eins, richtig geflochten und sehr stabil. Es ist aus ein paar Lagen Kabelgarn."
15 „Muß das sein?" fragte Old Donegal noch nervöser. „Ich meine, Zöpfchen an Holzbeinen sind doch überflüssig." „Das trägt man jetzt als Mann von Welt", erklärte Ferris todernst. „Wer etwas auf sich hält, der hat so ein Ding an seinem Holzbein." „Na ja, ich muß ja so'n neumodischen Kram nicht unbedingt mitmachen", sagte Old O'Flynn, der immer verwirrter wirkte. „Doch, das mußt du. Schließlich bist du ein Gentleman." „Und ein Gentleman geht nie ohne Zöpfchen am Holzbein", pflichtete Big Old Shane bei. „Wenn du in einer Stunde wieder hier bist, dann ist das Ding endgültig fertig. Und morgen nehmen wir dich beim Wort." „Weiß der Teufel", sagte Old O'Flynn oben an Deck, „was die mit meiner Prothese alles anstellen. So ein merkwürdiges Holzbein habe ich noch nie gesehen. Aber es scheint stabil zu sein." „Das ist doch die Hauptsache", meinte Matt Davies. „Wichtig ist vor allem, daß du mit dem Ding wieder einwandfrei laufen kannst." „Das schon, aber da ist ein Zöpfchen dran." „Ein Zöpfchen?" fragte Matt verblüfft. „Ja. Ferris meinte, so was trägt man als Mann von Welt heutzutage." Matt Davies verbiß sich nur mühsam das Grinsen und überlegte insgeheim, was die beiden wohl wieder ausgeheckt haben mochten. „Wird schon alles seine Richtigkeit haben, Donegal." „Hoffentlich. Ein bißchen unbehaglich ist mir schon zumute." Draußen heulte und tobte der Sturm. Er jagte noch höhere Wellen
über die Themse. In den unteren Räumen klang es so, als quäle sich die Schebecke durch wildbewegte See und segele dabei unter vollem Preß. Der Admiral konnte es kaum erwarten, bis die Stunde abgelaufen war. Diesmal staunte er nur noch. Aber da war er nicht der einzige der staunte. Carberry, Smoky, der Kutscher und Batuti rissen ebenfalls die Augen auf. Die neue Prothese war fertig. Sie sah wesentlich anders als die alte aus. Und sie hatte einen Abzugshahn, der über das „Zöpfchen" lief. „Ich werd' verrückt", sagte Old O'Flynn, als er das Ding betrachtete. „So was habe ich noch nie gesehen. Was soll denn der Abzug?" Ferris Tucker erklärte es ihm genüßlich. „Dein neues Holzbein ist so eine Art kleine Muskete. Halb langläufige Pistole, halb Muskete, nur wesentlich leichter. Wenn du an dem Zöpfchen ziehst - du kannst es natürlich durch einen stabilen Faden noch verlängern, beginnt ein Rädchen zu schnurren, das Pulver entzündet sich durch die Reibung und den Funken, und schon kannst du damit feuern." „Natürlich mußt du das Bein dann hochheben", ergänzte Shane grinsend, „sonst geht der Schuß nach unten los. Du kannst die Prothese fast waagerecht halten und dann an der Leine ziehen. Ich glaube kaum, daß jemand eine Waffe in dem Holzbein vermutet." Old O'Flynn war wie vom Donner gerührt. Er stand da und starrte fassunglos auf das Prachtexemplar. Die Arwenacks, die sich ebenfalls noch in dem Raum aufhielten, waren total perplex. Die Prothese wurde jetzt von allen begutachtet.
16 „Wirklich genial", sagte Smoky anerkennend. „Da habt ihr eine Meisterleistung vollbracht." „War nur eine Idee", sagte Tucker abschwächend. „Ein paar Überlegungen, weiter nichts." „Die muß man aber erst mal haben", sagte Smoky. Carberry klopfte Donegal auf die Schulter. „Du bist wahrhaftig fast zu beneiden. So ein Ding ist unbezahlbar." „Du kannst in den Lauf auch Schrot hineinpacken", erklärte Ferris. „Oder mit einer normalen, etwas kleineren Kugel schießen. Die Aussparung im oberen Teil ist ein kleines Reservemagazin. Dort ist Platz für zwei Kugeln und etwas Pulver. An der Seite befindet sich das Versteck für ein kleines scharfes Messer. Wenn du das Hosenbein darüberziehst, vermutet kein Mensch eine Waffe." Old O'Flynn war begeistert und lobte die Kunst der beiden Männer über alle Maßen. „Kann ich es gleich anprobieren?" fragte er eifrig. „Klar, das werden wir gleich ausprobieren. Du kannst ja oben an Deck einen Probeschuß abgeben", erwiderte Old Shane. Old O'Flynn nahm auf einer kleinen Bank Platz. Ferris paßte ihm die Prothese an und begutachtete anschließend sein Werk. „Nun steh mal auf und gehe ein paar Schritte." Old Donegal tat es mit sichtlichem Stolz. Er ging hin und her, nickte anerkennend und sah strahlend in die Runde. „Mann, ist das ein Ding!" rief er begeistert. „Und es sitzt wie angegossen, noch besser als das andere Holzbein." .
„Es ist schon geladen", warnte Shane. „Also paß gut auf! Du kannst das kleine Zöpfchen an einem winzigen Haken befestigen, dann kann unbeabsichtigt nichts passieren." Alle Arwenacks waren schließlich versammelt, als Old O'Flynn an Deck ging und einen längeren Gehversuch unternahm. Selbst der Seewolf war von Old Donegals neuester Errungenschaft begeistert. Die Dämmerung sank langsam herab. Über London wütete der Sturm auch weiterhin mit elementarer Gewalt. Es war ein Jahrhundertsturm, der für beträchtliche Schäden und Verwüstungen an der Themse sorgte. In dem Brüllen und Fauchen nahm Old O'Flynn Aufstellung. Ferris hatte eine Diele gegen das Schanzkleid gelehnt. Auf die sollte Old Donegal zielen. Schoß er vorbei, ging der Schuß bestenfalls ins Wasser oder schlimmstenfalls in die Verschanzung. Donegal hatte das Hosenbein über die Prothese gezogen. Nur der untere Teil war jetzt zu sehen. Es sah ganz normal aus, und niemand wäre auf die Idee verfallen, in dem Holzbein eine Waffe zu vermuten. Jetzt sollte sich zeigen, ob das Ding auch funktionierte. „Später kannst du dir ein kleines Loch in die Hosentasche bohren", schlug Ferris vor. „Daran befestigst zu den Faden zu dem Zöpfchen, und dann kannst du ganz unauffällig die Waffe einsetzen, indem du nur die rechte Hand in die Hosentasche steckst." „Alles klar", sagte Old O'Flynn voller Eifer. Er konnte es kaum erwarten, den Probeschuß abzugeben. Die Arwenacks standen in einem weiten Halbkreis neugierig herum und sahen gespannt zu.
17 Old O'Flynn stellte sich ans Steuer- waren ebenfalls stolz auf ihren Großbordschanzkleid. Dann trat er noch vater und beglückwünschten ihn. einen kleinen Schritt vor. „Es wäre vielleicht besser, du würEr hob das rechte Bein an und dest dich beim Schießen irgendwo anstreckte es fast waagerecht vor. Dann lehnen, Granddad", schlug Jung Hazog er an dem Zöpfchen, wobei er das sard vor. „Dann gibt es keine unangeHosenbein zwischen Daumen und nehme Überraschungen." „Werde ich tun. Wir versuchen es Zeigefinger nahm. gleich noch mal." Aus dem Holzbein schlug eine Erneut wurde das Holzbein „gelaweißgelbe Flamme. Den Knall den". Ferris stopfte eine Kugel hinein schluckte der Sturm. und rammte sie fest. Old O'Flynn Der Effekt war direkt verblüffend. setzte sich auf die Planken, weil das Old O'Flynn raste los - nach achtern einfacher war und er darin ja auch - und setzte sich vehement auf den schon Übung hatte, wie der Profos Hosenboden. Dort hockte er und augenzwinkernd sagte. blickte sich verdattert um. „Fertig", sagte der Schiffszimmer„Das hätten wir ihm sagen sollen", mann. murmelte Shane. „An den Rückstoß Das Holzbein hob sich und zeigte hat er natürlich nicht gedacht. Die wie der Lauf eines Gewehres auf das Wucht hat ihn glatt zwei Schritte zu- Brett. Das Rädchen begann zu rückgetrieben." schnurren, und dann löste sich der Sie halfen Old O'Flynn auf. Erst nächste Schuß. Eine kurze Flamme wollte der Alte loszetern, aber dann wurde sichtbar, und als Old Donegal grinste er nur und kratzte sich den sich wieder auf das Holzbein stützte, Schädel. qualmte es leicht aus seinem rechten „Ei, verdammt", stöhnte er. „Das Hosenbein. Diesmal hatte er sich halb hat ja phantastisch funktioniert. Ich angelehnt und den Rückstoß der habe nur an den Rückstoß nicht ge- Waffe rechtzeitig abgefangen. dacht. So schnell saß ich noch nie auf Die Kugel hatte ein paar Holzsplitden Planken." ter aus dem Brett gefetzt. Total deformiert hatte sie sich tief in das Holz Die anderen grinsten verhalten. „Shane und ich wollten dir das gebohrt. „Alle Achtung", sagte Hasard benoch sagen", murmelte Ferris. „Aber dann haben wir es vergessen. Hast du eindruckt. „Das habt ihr wirklich fein hingekriegt. Für Donegal ist das ein dir weh getan?" „Nicht die Spur", versicherte Old unschätzbarer Vorteil einem Gegner Donegal. „Ich war nur ein wenig gegenüber." überrascht, weil es so verdammt „Und kleinzukriegen ist es so schnell ging. Habe ich denn wenig- schnell auch nicht mehr", sagte Ferstens das Brett getroffen?" ris. „Es ist sehr stabil durch das Eisen Smoky rannte zur anderen Seite und die metallenen Bänder. Donegal hinüber und sah sich das Brett an. wird eine ganze Weile seine Freude „Haargenau!" rief er. „Du hast ge- daran haben." nau die Mitte getroffen!" Old O'Flynn stolzierte wie ein Pfau Die Zwillinge, Hasard und Philip, über Deck, die Brust vorgereckt, das
18 Kinn trotzig in den Wind geschoben. Er fühlte sich pudelwohl. Diesmal lud er die Prothese selbst nach, und etwas später gaben sie den dritten Schuß damit ab. Es war wirklich eine grandiose Idee des Meistertüftlers Ferris Tucker. Dann zwang der Sturm sie wieder unter Deck, der Staub und Dreck durch die Luft wirbelte und das Atmen zur Qual werden ließ. An diesem Abend gab Old O'Flynn noch einen für die gesamte Crew aus. Als er kurz nach Mitternacht seine Kammer aufsuchte, riet der Profos: „Paß nur auf, daß du im Schlaf nicht das Ding versehentlich abfeuerst, Donegal, sonst steht plötzlich deine Koje in Flammen." „Ich habe mich schon daran gewöhnt", versicherte der Alte. Der Sturm raste weiter über London und sang sein schauriges Lied. 3. In der Frühe des anderen Morgen gingen der Kutscher und Mac Pellew auf den Markt, um sich ein bißchen umzusehen. Der Orkan war abgeflaut, aber ein kräftiger Wind trieb immer noch Unrat durch die Gassen und Straßen. Zwei Stunden später kehrten die beiden zurück. Der Kutscher war ganz aufgeregt und aus dem Häuschen. „Wir erhalten heute Besuch", sagte er strahlend. „Ich habe mich überall gründlich umgehört und ihn endlich gefunden." „Wen hast du gefunden?" fragte der Seewolf. „Doc Freemont", sagte der Kutscher. „Sir Anthony Abraham Free-
mont, bei dem ich früher als Kutscher fuhr. Ich habe ihn schon in Plymouth gesucht, aber dort hieß es, er sei in London. Gegen Mittag wird er uns einen Besuch abstatten." „Doc Freemont", sagte Hasard nachdenklich. „Wir haben ihm viel zu verdanken. Er hat mich damals wochenlang gepflegt und wieder auf die Beine gebracht, als ich die schwere Kopfverletzung hatte. Auf den Besuch freue ich mich wirklich. Wo ist er denn?" „Er wurde zu einer erkrankten Lordschaft gerufen, weil er als Spezialist gilt. Aber jetzt habe ich keine Zeit mehr, ich habe eine Menge Zeug auf dem Markt geordert. Es wird gleich eintreffen, mit einem Pferdefuhrwerk." „Wie darf ich das verstehen?" „Es gibt heute ein Festessen, sozusagen ein kleines Bankett", verkündete der Kutscher strahlend. „Das sind wir dem guten Doc schuldig, Sir, und da habe ich mich nicht lumpen lassen. Das geht natürlich alles auf meine Kosten." „Irrtum", sagte der Seewolf lächelnd. „Das übernimmt selbstverständlich die Gemeinschaftskasse, die Bordkasse also. Ich hoffe, du hast an nichts gespart." „Ganz bestimmt nicht, Sir. Wir haben das Feinste vom Feinsten ausgesucht." „Was gibt es denn?" „Ich dachte an eine kleine Pastete mit Worchestersoße als Vorspeise", zählte der Kutscher auf. „Als Hauptgang rost Norfolk turkey with chestnut stuffing, also Truthahn mit Kastanienfüllung und Apfelmus dazu. Als Nachspeise eine heiße Siruptorte mit Sahne, Mandeln und Rosinen.
19 Zum Abschluß dann schottischer Whisky, Gin und Bier." „Das hört sich verdammt gut an", meinte Hasard. „Und das willst du alles bis zum Mittag schaffen?" „Das schaffe ich, Sir", sagte der Kutscher überzeugt. „Es bleiben ja noch drei, vier Stunden. Bis dahin wird alles auf der Back sein." Paddy Rogers hörte mit offenem Mund zu. „Truthahn mit Kastanien, heiße Siruptorte mit Mandeln und Rosinen", zählte er ächzend auf. „Und das gibt's alles heute?" „Und Pastete", sagte der Kutscher. „Ja, das gibt es alles heute." „Jetzt gleich?" fragte Paddy gierig, dem schon das Wasser im Mund zusammenlief. „Gleich nachher, Paddy. Solange mußt du noch warten." „Das werden die längsten Stunden meines Lebens", versicherte der etwas verfressene Paddy. Es dauerte auch nicht lange, da rollte das Fuhrwerk an, und die Arwenacks luden in aller Eile ab. Was da alles in der Kombüse landete, waren ausgesuchte Köstlichkeiten. Als Whisky, Gin und Bier abgeladen wurden, räusperte sich Edwin Carberry ausgiebig. Als der Kutscher auf das Räuspern keinerlei Reaktion erkennen ließ, folgte ein erneutes, diesmal recht nachhaltiges Räuspern des Profosen. Mac Pellew reichte die Buddeln nach unten. Sein Gesicht sah dabei wie saure Milch aus. „Ähem", äußerte sich der Profos. „Ähem. Äh - sag mal, Kutscher, du willst dem Doc doch nicht das Zeug anbieten?" „Welches Zeug?" „Na, Bier, Whisky und Gin."
„Genau das habe ich vor. Auch den Sherry." „Und wenn sie dir nun schäbigen Fusel verkauft haben?" „Haben sie ganz gewiß nicht." „Haben sie doch", behauptete Carberry. „Die behumsen einen auf dem Markt nämlich immer. Ich schlage daher vor, daß ich den sogenannten Vorkoster spiele, damit Sir Anthony kein Fusel vorgesetzt wird. Ich probiere mal von jedem ein Gläschen, und dann wissen wir genau, wie wir dran sind." „Das wissen wir auch so." Der Kutscher winkte ab. „Bei mir zieht diese Abstaubtour nicht mehr, Mister Carberry. Und es ist auch völlig sinnlos, daß du hier noch weiter vor dem Schott herumlungerst. Von den Buddeln wird keine geöffnet - und wenn, dann nur über meine Leiche." „Na ja, deshalb will ich dich nicht gleich abmurksen. Ich unterbreite dir aber großzügig einen Vorschlag. Du läßt mich von dem Zeug probieren, und ich frage Sir Anthony dafür auch nicht nach deinem Namen." Natürlich hatte der Kutscher einen Namen, aber den hatte er bisher immer wie ein Geheimnis gehütet, was den, Profos mitunter mächtig ärgerte. Er hätte es zu gern herausgefunden, war dabei aber immer auf taube Ohren gestoßen. Der Kutscher war der Kutscher, und damit basta! „Ach, du willst mich also hinterhältig erpressen: Aber daraus wird nichts, mein Lieber. Du kannst Sir Anthony also ruhig fragen. Allerdings besteht dann die Möglichkeit, daß du beim anschließenden Umtrunk ausgeschlossen wirst, und das willst du doch ganz sicher nicht wegen eines kleinen Probeschlucks riskieren, oder?"
20 Der Kutscher saß wieder einmal am längeren Hebel, und so zog der Profos mit einem schiefen Grinsen belemmert ab. „War doch nur ein Spaß", sagte er lahm. „Aber du bist heute wohl nicht zu Spaßen aufgelegt, was, wie?" „Doch, aber nur zu richtigen." Der Kutscher knallte das Schott zu, als alles nach unten gebracht worden war. Hasard und Philip junior marschierten an, und dann erschien auch noch der alte Segelmacher Will Thorne zum Helfen, denn es gab eine unglaubliche Menge zu tun. Die Truthähne mußten ausgenommen, die Kastanien vorgekocht, die Pastete bereitet werden. Schon bald zog den Arwenacks ein lieblicher Duft um die Nasen, den leider immer wieder der scharfe Wind zerblies. Paddy Rogers nahm so an Deck Aufstellung, daß ihm auch ja kein noch so zartes Düftchen entging. Er schnüffelte wie ein Jagdhund und sah sich im Geist bereits vor einer riesigen gedeckten Tafel sitzen und mampfen. Die Messe wurde ebenfalls in aller Eile aufgeklart und sauber hergerichtet. Sie wußten, was sie dem Doktor aus Plymouth schuldig waren, denn ihm hatte der Seewolf sein Leben zu verdanken. Die Gerüche aus der Kombüse wurden immer vielfältiger und durchzogen bald das ganze Schiff.
Um halb eins rollte eine Kutsche über die Katzenköpfe. In Höhe der Pier wurden die Pferde angehalten. Doc Freemont stieg aus, sprach ein paar Worte mit dem Mann auf dem
Kutschbock und nickte dann. Die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung und hielt auf eine Schenke am Ende der Straße zu. Es war eine Fuhrmannskneipe, in die sich der Kutscher jetzt begab. Sir Anthony wirkte ernst und würdig, und seine Züge flößten jedem Vertrauen ein. Er hatte eine sanfte und beruhigende Art und war ein sehr geachteter und geschätzter Arzt, der oft von hohen Persönlichkeiten konsultiert wurde. Er schien kaum gealtert zu sein. Sein Haar war silbergrau, und er war in einen talarartigen dunklen Überwurf gekleidet. Die Begrüßung verlief recht stürmisch und dauerte eine ganze Weile, denn Sir Anthony ließ es sich nicht nehmen, jedem einzelnen aus der Mannschaft die Hand zu schütteln. „Ich freue mich, euch alle wieder einmal zu sehen", sagte er herzlich. „Unser letztes Wiedersehen liegt leider schon eine kleine Ewigkeit zurück. Ich glaube, wir haben uns eine Menge zu erzählen." Carberry, der sich auch mächtig freute, spitzte immer dann die Ohren, wenn Sir Anthony das Wort an den Kutscher richtete. Aber der Profos wurde bitter enttäuscht, denn Doc Freemont nannte den Kutscher immer nur „mein lieber Freund", und einmal sprach er auch von seinem „lieben Kollegen". Sie waren natürlich keine „Kollegen", denn Sir Anthony war Arzt, und der Kutscher hatte ihn zu den Krankenbesuchen gefahren. Aber heute sah er das offenbar anders. „Hoffentlich haben Sie viel Zeit mitgebracht, Sir Anthony", sagte der Seewolf. ,,Der Kutscher hat sich ganz
21 besonders bemüht, um ein kleines Es- befindet sich alles, was zur Zahnbesen herzurichten." handlung gebraucht wird, und das „Ich bin gerührt, sehr gerührt, und dritte enthält Arzneien, von Opium natürlich habe ich viel Zeit mitge- über Laudanum bis zu allerlei Salbracht. So ein Wiedersehen findet ja ben. Ich hoffe, Ihnen damit eine leider nur alle paar Jahre einmal kleine Freude bereitet zu haben, mein lieber Freund." statt." „Eine kleine Freude?" stammelte Der Kutscher ließ einen kleinen Drink reichen. Sie hatten sich mittler- der Kutscher überwältigt. „Das - das weile in der Messe niedergelassen, ist ja unbezahlbar, Sir Anthony. An und Fröhlichkeit breitete sich nach derartige Dinge gelangt ein gewöhnlicher Sterblicher nicht heran. Ich weiß allen Seiten aus. „Ach, fast hätte ich es vergessen, nicht, wie ich Ihnen auch im Namen mein lieber Freund", sagte er zum der ganzen Mannschaft, jemals danKutscher. „Ich habe mir erlaubt, Ih- ken soll." nen etwas mitzubringen, das dem „Schon gut, mein lieber Freund. Ich Nutzen aller dienen soll. Hier ist es. weiß, daß Sie Freude daran haben Es wird Ihnen eine große Hilfe sein, werden und es nutzbringend anzudavon bin ich überzeugt." wenden verstehen." Wieder hatte er „mein lieber Das Geschenk ging reihum und Freund" gesagt, überlegte der Profos. wurde von jedem bestaunt. Der KutDa war wohl doch nichts herauszu- scher blickte schon eifersüchtig auf kriegen, was, wie? Er sah gebannt zu, die Instrumente, damit sie auch ja wie Doc Freemont dem Kutscher eine keiner in die Hände nahm. Sehr vorgrößere lederbezogene Kiste gab. Sie sichtig, als sei alles aus zerbrechlisah teuer und elegant aus und ähnelte chem Porzellan, stellte der Kutscher mehr einem Koffer, denn es befanden es nach der Besichtigung dann auf eisich auch zwei Schlösser daran. nen Hocker. Als der Kutscher die Lederkiste Doc Freemont gab ihm noch einige öffnete, fiel er beinahe in Ohnmacht. Erläuterungen zu einzelnen InstruVöllig überrascht starrte er auf den menten und erklärte die Wirkung eiInhalt. Dann stellte er die Kiste vor- niger Arzneien. sichtig auf den Tisch, damit auch die Dann wurde die Pastete aufgetraanderen einen Blick hineinwerfen gen, und ein vergnügtes Tafeln bekonnten. gann. Sie aßen in aller Ruhe und unWas da vor ihren staunenden Au- terhielten sich dabei ausgiebig. gen lag, war ein blitzendes und blinHasard erzählte von dem, was sie in kendes Instrumentarium, ein ärztli- letzter Zeit erlebt hatten, und da gab ches Besteck, wie es dem allerneue- es eine ganze Menge zu berichten. sten Stand der Wissenschaft entDoc Freemont lauschte den Ausfühsprach. Von der blitzenden Schere bis rungen mit schräggeneigtem Kopf hin zum Skalpell war alles säuberlich und stellte auch hin und wieder Fraaufgereiht. gen, die ihn interessierten. „Es hat drei Fächer", sagte Doc Dann waren die mit weichgedämpfFreemont lächelnd. „Das erste ent- ten und glasierten Kastanien gefüllhält das ärztliche Besteck. Im zweiten ten Truthähne an der Reihe.
22 Ein unauffällig mahnender Blick des Kutschers belehrte Paddy Rogers, daß dieses Essen keinesfalls als Freßorgie gedacht war, denn der Mann mit der Knubbelnase und dem freundlichen Gesicht langte nach einer großen Keule und hieb rein, als sei er am Verhungern. Der Blick bewirkte immerhin, daß Paddy etwas gemäßigter und nicht so gierig aß. „Ganz phantastisch", lobte Doc Freemont nach den ersten Bissen. „Das geht ja bei euch so vornehm wie am Hofe zu." „Das ist nur ein Ausnahmetag - Ihnen zu Ehren, Sir Anthony", sagte der Kutscher. „Wir haben uns alle sehr auf diesen Besuch gefreut und lebhaft bedauert, daß wir Sie in Plymouth nicht erreichen konnten." „Übermorgen bin ich wieder in Plymouth", sagte der silberhaarige Doc Freemont. „Aber da werdet ihr vermutlich ebenfalls nach Norden segeln." Hasard wurde sofort hellhörig. „Nach Norden, Sir Anthony? Wie darf ich das verstehen? Wir haben nicht die Absicht, höher nach Norden zu segeln. Nachdem wir in England Ihrer Majestät, der Königin, eine Silbergaleone abgeliefert haben, wollen wir zurück in die Karibik segeln." Diesmal war der Doc erstaunt. „In die Karibik", murmelte er halblaut. „Das war immer mein Wunschtraum." Er seufzte ein bißchen. „Aber England läßt mich leider nicht los. So ist das nun mal." „Sie sagten gerade, wir wollten ebenfalls nach Norden segeln", nahm Hasard den Faden wieder auf, denn Doc Freemont hatte dieses Thema offenbar bereits abgehakt oder fand es nicht mehr so wichtig. „Darf ich fragen, warum Sie ,ebenfalls' sagten?"
„Ich dachte an dieses schwarze Schiff, Sir Hasard. Diesen schwarzen Segler mit dem eigenartigen Namen." „Sie meinen ,Eiliger Drache über den Wassern', den schwarzen Viermaster?" fragte Hasard gespannt. „Sehr richtig. Wir haben einmal, vor langen Jahren, Bekanntschaft mit diesem wilden Mann geschlossen, der sich der Wikinger nennt und wie ein Relikt aus grauer Vorzeit anmutet. Irgend jemand aus Ihrer Mannschaft bezeichnete ihn als - mit Verlaub - behelmten Nordpolaffen oder so ähnlich." Doc Freemont schien sich insgeheim köstlich zu amüsieren. Er lachte ebenfalls, als Hasard auflachte und die Arwenacks zu grinsen begannen. „Stimmt. Der Mann ist Thorfin Njal, ein etwas eigenartiger Mensch mit eigenen, mitunter recht merkwürdigen Ansichten", gab Hasard zu. „Sie lernten ihn damals in Plymouth kennen." „Ein - nun sagen wir - etwas schrulliger Mensch", entgegnete er Doc amüsiert. „Wenn er nachdenkt, pflegt er sich mit dem rechten Zeigefinger die Schläfe zu kratzen, doch dabei bedenkt er nicht, daß er einen Kupferhelm trägt. Ich fand das sehr widersinnig, aber ich habe oft an diese eigenartige Geste gedacht. Nun, ich dachte, Sie wollten mit ihm zusammen nach Norden segeln, zumal er sich ein paarmal nach den Seewölfen erkundigte." „Das heißt also", sagte Hasard völlig überrascht. „Er war vor kurzer Zeit hier. Oder irre ich mich?" „Er war hier", bestätigte Doc Freemont. „Es mag vielleicht eine Woche her sein, länger bestimmt nicht. Es gab wohl bei den Docks eine kleine Meinungsverschiedenheit mit ein
23 paar üblen Raufbolden. Ich behandelte einen seiner Männer. Er hatte einen Messerstich dicht unterhalb des Herzens erhalten. Es war ein großer, stämmiger und dunkelblonder Mann. Um den Hals trug er eine grobe Kette, an der ein handtellergroßer Totenkopf aus massivem Gold hing." „Bill the Deadhead", sagte Hasard ganz automatisch. „Der Kerl ist unverwechselbar, und er prügelt sich auch liebend gern herum. Dann stimmt es also doch, daß wir im Nebel dem Wikinger begegnet sind." Die Arwenacks waren dennoch überrascht. Sie hatten es vermutet, daß der nordische Riesenschrat irgendwo im Norden war. Aber jetzt waren sie verblüfft, daß ausgerechnet Doc Freemont ihnen das erzählte. „Da hat der Wikinger wieder mal eine Kneipe ausgeräumt", sagte der Profos genüßlich. „Hat es diesen Bill denn schlimm erwischt?" „Für einige Tage schon. Ich habe ihn versorgt und ihm ein paar Ratschläge gegeben. Wenn er die befolgt hat, ist er wieder über den Berg." Die heiße Siruptorte wurde aufgetragen. Doc Freemont war erneut des Lobes voll. „Haben Sie erfahren, wohin der Wikinger segeln wollte?" fragte Hasard gespannt. „Ja, ich erfuhr einiges. An Bord befindet sich auch jene hübsche Frau mit den schwarzen mandelförmigen Augen, die man die Rote Korsarin nennt. Der Wikinger beabsichtigt, in Norwegen eine Ladung Eisenerz zu kaufen, in Bergen, glaube ich. Außerdem wollte er auch nach Island segeln." „Dann ist mir alles klar", sagte der Seewolf. „Er will nach dem Thorgeyr-
schen Hof sehen, dem Erbe Gotlindes. Hm, es scheint sich im karibischen Stützpunkt einiges geändert zu haben, wenn er Eisenerz dorthin transportiert. Vermutlich wird es auf der Werft gebraucht. Ich möchte wissen, was es an Neuigkeiten in der Karibik gibt." „Dem ist ganz einfach abzuhelfen", meinte Ben Brighton, der bisher geschwiegen hatte. „Segeln wir ihm doch einfach nach, wir kennen seinen Kurs ja ungefähr. Wenn wir mit ihm zusammentreffen, werden wir alles erfahren, was wir wissen wollen." Hasard dachte ein paar Augenblicke nach. „Der Vorschlag ist nicht schlecht, Ben. Aber ich kann nicht so einfach lossegeln. Ich habe gewisse Verpflichtungen bei Hofe und möchte erst die Königin unterrichten. So war es jedenfalls vereinbart." Den anderen kribbelte es bereits in den Fingern. Was sie da hörten, waren wirklich umwerfende Neuigkeiten. Sie alle fieberten danach, etwas über den Stützpunkt zu erfahren, denn bis sie selbst in der Karibik waren, würde noch eine Weile vergehen. „Wir könnten einen Boten zur Königin schicken", schlug Dan O'Flynn vor. „Der Törn wird ja auch nicht sehr lange dauern." Smoky dachte an Gunnhild und sein Söhnchen David. Old O'Flynn dachte an seine Snugglemouse, die rothaarige Mary, und ebenfalls an sein Söhnchen, das sie auf die Namen Edwin Shane getauft hatten. Und Don Juan, der hochgewachsene Spanier, dachte mit leiser Wehmut an seine Frau Taina, die sich ebenfalls im Stützpunkt befand. Es wäre sehr interessant, Näheres
24 „Das entzieht sich meiner Kenntnis, darüber zu erfahren. Aber auch die Sir Hasard. Mich erstaunte, daß der anderen waren alle sehr neugierig. „Gut", sagte Hasard entschlossen. Mann überhaupt soviel redete, aber „Ein oder zwei Wochen Zeit spielen er hat eine Bärennatur. Mit weiteren keine große Rolle. Ich bin auch dafür, Auskünften kann ich zu meinem grodaß wir dem Wikinger nachsegeln. ßen Bedauern nicht dienlich sein." Haben Sie noch mehr erfahren, Sir „Warum ist das so wichtig?" fragte Anthony?" Dan. „Ich nehme an, Thorfin wird das „Nichts, was noch interessant für Erz laden, dann nach Island segeln Sie sein könnte. Der Mann hat mir und nach seinem Besuch auf Südsüddas nur erzählt, weil er wußte, daß westkurs gehen, um unverzüglich die wir uns gut kennen." Karibik zu erreichen." „Dann hat er ungefähr eine Woche „Ich nehme etwas anderes an. WarVorsprung?" fragte Hasard. um soll er sich oben im Nordmeer mit einer Ladung Eisenerz plagen? Er „In etwa, ja." „Thorfin ist ein alter Bummler", käme bei den herrschenden Winden sagte Smoky, „wenn der in den Nor- dort nur langsam voran. Meiner Anden törnt, dann läßt er sich Zeit und sicht nach wird er erst einmal in Berläuft jeden Hafen an, wo etwas los gen vorfühlen, wie das abläuft, was sein könnte. Damit dürfte sein Vor- das kostet und was der Dinge mehr sprung ganz beträchtlich zusam- sind. Dann törnt er nach Island und menschrumpfen. Vielleicht rupft er holt sich das Zeug auf dem Rückweg. unterwegs auch noch ein Hühnchen, Dann kann er zurück entweder wiedas zufällig seinen Kurs kreuzt. Er ist der durch den Kanal segeln, oder er ja nicht gerade zimperlich." nimmt den Weg über Nordengland in „Ganz gewiß nicht", sagte Hasard die Karibik." lachend. „Er ist eben ein Rauhbein, „Ist ja letztendlich auch egal", aber trotzdem herzlich und ein Ge- meinte Dan. „Wenn wir ihn suchen, mütsmensch. Er nimmt sich das dann werden wir ihn auch finden. gleiche Recht wie wir, nur ohne Ka- Sein Schiff und seine Mannschaft perbrief, und dann rupft er eben ein sind unverkennbar und hinterlassen bißchen." überall Spuren: Wir brauchen desDoc Freemont, immer ernst, distin- halb nichts zu überstürzen." guiert und würdevoll, hatte Humor. Es wurde weiter geklönt, ErinneEr sah den Wikinger und seine Ra- rungen an damalige Zeiten wurden bauken auch von einer anderen ausgetauscht, und dann konnte auch Warte und legte keine harten oder un- Carberry zuschlagen, als endlich Gin gerechten Maßstäbe an. und Schottischer serviert wurden. „Es sind schon sehr eigenartige Sie redeten über Gott und die Welt, Leutchen auf diesem noch eigenarti- und der Profos animierte immer wiegeren Schiff", sagte er lächelnd. der zum Trinken. Doch Doc Freemont „Hat dieser Mann mit dem golde- hielt sich zurück. Er nippte nur sehr nen Totenkopf an der Halskette even- spärlich an seinem Getränk. tuell etwas gesagt, wann die Ladung Erst am späten Nachmittag brach Eisenerz an Bord genommen wird? er auf und wurde herzlich von den ArAuf der Hin- oder Rückreise?" wenacks verabschiedet.
25 Auf der Schebecke wurde noch ein wenig gefeiert und der Kneipenbesuch auf den morgigen Tag verschoben. Dann wollte Hasard sich auch noch einmal bei Hofe melden. Der Kutscher benahm sich an diesem Tag noch recht seltsam, und auch Mac Pellew stand ihm in nichts nach. Ständig erkundigte er sieh bei allen Arwenacks, ob sie auch ganz gesund seien und ihnen nichts fehle. Aber keinem fehlte etwas. „Ich möchte zu gern das neue Besteck ausprobieren", raunte der Kutscher Mac Pellew zu. „Aber die Kerle sind natürlich alle kerngesund, und keiner hat ein paar Beschwerden." „Bin auch neugierig auf die blitzenden Instrumente", sagte Mac. „Ich lauer schon die ganze Zeit darauf, daß einem Was fehlt. Soll ich dem Profos mal ein Bein stellen, damit er auf die Nase fällt? Dann können wir ihn sofort und perfekt behandeln." „Untersteh dich, Mac. Das würde auffallen." Der Kutscher suchte weiter nach einem Opfer und glaubte ihn endlich in dem Takelmeister Roger Brighton gefunden zu haben. Roger hatte einen feinen Knochensplitter zwischen den Zähnen, den er gerade mit Daumen Und Zeigefinger herauszog. „Oh, das sieht aber schlimm aus", sagte der Kutscher. „So ein Splitterchen zwischen den Zähnen kann zu bösartigen Vereiterungen führen." „War nur ein kleiner Splitter, nicht der Rede wert", wehrte Roger ab. „Außerdem ist er schon draußen." Der Kutscher lächelte gequält und auch besorgt. „Das sagst du so leichtsinnig. Aber etliche Optimisten sind an derartigen bösen Vereiterungen schon gestorben und bevölkern die Friedhöfe. Da werde ich wohl mal
nachsehen müssen, damit dir nicht das gleiche Schicksal widerfährt." „Mir fehlt wirklich nichts, rein gar. nichts." „Er will mit aller Gewalt sterben", sagte Mac mit dumpfer Stimme. „Sein Gesicht ist schon bis zum Gehtnichtmehr angeschwollen, und er verweigerte eine ärztliche Behandlung." Er griff nach Rogers Hand und fühlte den Puls. Dabei zog er ein bedenkliches Gesicht. „Alles vereitert, und Fieber hat er auch. Wenn wir nicht ganz schnell etwas tun, stirbt er uns unter den Händen." „Verflucht noch mal!" brüllte Roger. „Ich weiß genau, daß mir nichts fehlt. Sonst seid ihr doch auch nicht so besorgt, wenn man mal einen Splitter zwischen den Zähnen hat. Das ist doch kein Beinbruch." „Das Bein hat er sich auch noch gebrochen", sagte Mac trübselig. „Ich glaube, mit dem ist es aus, wenn wir ihn nicht schleunigst auf die Krankenstation schaffen. Soll ich schon mal das Besteck zurechtlegen?" Roger Brighton sprang entsetzt auf und hob abwehrend die Hände. „Ihr seid ja verrückt!" keuchte er, als Mac nach ihm griff. „Hilfe, schafft mir diese Kerle vom Leib!" „Typisches Krankheitsbild", murmelte Mac. „Alles vereitert, hohes Fieber, ein Beinbruch und dann noch tobsüchtig, Dem gebe ich ohne unsere sofortige Hilfe keine halbe Stunde mehr, dann ist er über den Jordan." Ein paar Kerle blickten amüsiert zu Roger, der das wahrhaftig für bare Münze nahm. Er war erschrocken und brachte sich mit ein paar Schritten mit dem Rücken zur Wand in Sicherheit, damit er beide genau im Auge behalten könnte.
26 Sie redeten ihm gut zu, doch er schüttelte nur immer wieder stumm den Kopf und lehnte sich weiterhin an die Wand. „Nun tu bloß nicht so", murrte Mac. „Wir wollen dir doch nur helfen. Wenn wir dein gebrochenes Bein amputieren, kriegst du auch so eine Schießprügelprothese wie Donegal. Und wir haben so viel Laudanum, daß du überhaupt nichts merkst, wenn wir dein Bein absägen." „Ich habe kein gebrochenes Bein!" schrie Roger verzweifelt. „Und ich will auch keine Prothese! Haut jetzt ab und laßt mich in Ruhe!" Da war nichts zu tun, obwohl Mac und der Kutscher gar zu gern mal ein bißchen mit den neuen Instrumenten herumgestochert hätten. Aber die Kerle blieben stur wie die Steinböcke. Der Profos gab auch nichts her, obwohl er hinterhältig versicherte, ein ganz klitzekleinwenig plage ihn der Zahnschmerz, aber das bekämpfe er in einem heroischen Alleingang lieber selbst mit Gin oder Schottischem oder beidem, was viel gesünder sei als das stinkige Laudanum. Bei Paddy Rogers versuchten sie es ebenfalls, denn der sah so aus, als litte er unter Völlerei. Als Mac dann ernsthaft verkündete, er müsse ihm unbedingt den Magen auspumpen, nahm der sonst so friedliche Paddy eine drohende Haltung ein. „Ich bin froh, daß das viele Zeug endlich drin ist!" schrie er mit rotem Schädel. „Und jetzt soll das wieder gelenzt werden? Aber ohne mich. Wer mir den Magen auspumpt, dem haue ich die Klüsen dicht, bis er nichts mehr sieht." „Ein undankbares Volk", maulte Mac grämlich. „Keiner stellt sich frei-
willig zur Verfügung. Wir können doch nicht auf den Friedhof gehen und Leichen klauen." „Es wird schon wieder eine Gelegenheit geben", tröstete ihn der Kutscher. „Aber dann ist derjenige reif, das sage ich dir." Der Abend verlief trotzdem sehr harmonisch. 4. Am nächsten Morgen hatte der Sturm noch weiter nachgelassen. Aber in vielen Gassen und Straßen Londons sah es aus wie auf riesigen Trümmerfeldern. Überall lagen Dachschindeln und zerfetzte Dachsparren herum, die der Sturm abgedeckt und weggerissen hatte. Hasard hatte in seiner Kammer ein Schreiben verfaßt, das Dan O'Flynn an den Hof bringen sollte. Er teilte mit, daß er beabsichtige, morgen in aller Frühe London zu verlassen. Der Zeitpunkt der Rückkehr sei noch ungewiß. Er versiegelte das Schreiben und gab es Dan O'Flynn. „Ich weiß nicht, ob du gleich eine Antwort erhältst. Vielleicht schicken sie auch einen Kurier an Bord, wie sie das meistens tun. Versuche es jedenfalls mal." Zehn Minuten später war Dan O'Flynn in Begleitung von Gary Andrews unterwegs. Luke Morgan wollte auch mit. Er flankte aufs Schanzkleid und von dort auf die Rüste, um den Weg über die Stelling abzukürzen. In seinem Eifer stolperte er jedoch, rutschte ab und fiel der Länge nach auf die Nase. Der kleine dunkelblonde Mann fluchte entsetzlich, als er sich wieder erhob und sein Riech-
27 „Nicht mal eine Wunde?" Mac Pelorgan betastete. An seiner Hand lew lachte höhnisch. „Dir hängt ja klebte Blut. Er fluchte noch lauter. In den Augen des Kutschers glomm schon das halbe Gehirn aus dem es auf. Mit ein paar schnellen Schrit- Schädel, Nichts da! Wir werden dich ten war er bei Luke und hielt ihn fest. jetzt stützen, und dann wirst du verDann brüllte er: „Mac - wo bist du? sorgt. Oder sollen wir uns vielleicht Wir haben einen Schwerverletzten! nachsagen lassen, daß wir hier am laufenden Band Tote fabrizieren?" Beeil dich!" Sie schnappten Luke, nahmen ihn „Ich bin nicht schwerverletzt!" bollerte Luke Morgan. „Ich hab' mir nur in die Mitte und brachten ihn über die Stelling zurück an Bord. Gleich dardie Nase ein bißchen poliert." Neben ihnen tauchte Mac Pellew auf fand er sich in der kleinen Kranwie ein Geist auf. Er strahlte übers kenstation wieder. ganze sauertöpfische Gesicht. „Auf die Koje legen!" befahl Mac, „Oh, das sieht aber schlimm aus", während der Kutscher übereilig das sagte er. „Den müssen wir gleich be- neue Besteck sortierte. Die Kerle waren so besorgt, als handeln, sonst ist es aus mit ihm. Der schwimmt ja buchstäblich in seinem würde er jeden Augenblick das Zeitliche segnen. Luke Morgan wurde es eigenen Blut." Der gute Mac übertrieb wieder mal mulmig zumute, und er sah nicht eingewaltig. Lukes Nase blutete nur ein mal die anderen Kerle, die grinsend wenig, und auf der Stirn hatte er eine in seiner Nähe herumstanden. Er sah rötliche Schramme, die nicht der nur die blitzenden Instrumente, die Rede wert war. Aber die beiden hat- Töpfe mit Salben, die Binden und ten endlich ein „Opfer", und das lie- kleine Fläschchen. Und den Geruch ßen sie sich nicht mehr entgehen. Da nach Spital nahm er wahr, der von dem ganzen Kram ausging. half Luke Morgan gar nichts. „Da ist eine komplizierte Operation „Ich stecke meinen Rüssel in kaltes Wasser", sagte Luke, „und dann hört fällig", meinte Mac. „Wir müssen ihm was abschnippeln, vielleicht die das Nasenbluten von allein auf." „Du steckst deinen Rüssel in gar Nase. Dann wissen wir auch gleich, nichts", sagte der Kutscher grob. wie das neue Skalpell funktioniert." „Sieh dir mal das Themsewasser an. „Da wird nichts abgeschnippelt!" Da ist mehr Dreck als Wasser drin, schrie Luke Morgan wild. „Ich bringe und du wirst dir eine schwere Infek- euch Kerle um, wenn ihr mit dem Kätion holen." semesser schnippelt." „Vielleicht sogar die Pest", sagte Luke war ein jähzorniger Mann, Mac düster, „wenn nicht noch viel der unheimlich schnell explodieren Schlimmeres. Möglicherweise sogar konnte. So reagierte er auch jetzt. Mit den Tod." einem wilden Satz wollte er von der Luke Morgan sah schluckend von Koje springen. einem zum anderen. Da sah er zu seinem Entsetzen, daß „Es tut aber nicht weh", versicherte Mac bereits vorgesorgt und seine er und schaute wieder auf seine blut- Handgelenke in Ledermanschetten verschmierte Hand. „Das ist nicht gebunden hatte. Und dieser Mac Pelmal eine Wunde." lew grinste dabei wie ein Satan.
28 „Oh, ihr verdammten Höllenknechte", ächzte er. „Ich . . . " „Maul halten", sagte Mac grob. „Sonst stirbst du uns noch unter dem Messer, und das können wir nicht verantworten." „Ich will nicht unters Messer!" brüllte Luke wild, schlug mit den Beinen um sich und rollte mit den Augen, doch Mac steckte auch noch seine Beine in Ledermanschetten. Der Kutscher zwinkerte ihm beruhigend zu und säuberte sein Gesicht mit einem Zeug, das er aus einem der Töpfe nahm. Es roch so entsetzlich, daß Luke erneut die Augen wild verdrehte. Mac Pellew war unterdessen sehr eifrig bei der Sache. Er säuberte den Kratzer auf der Stirn und legte Luke einen Kopfverband an, obwohl der heftig protestierte und Mac mit den übelsten Flüchen belegte. Die beiden nahmen sich mehr als eine halbe Stunde Zeit. Dann sah Luke Morgan aus wie eine Mumie, denn um die Nase hatten sie ihm ebenfalls einen Verband gewickelt. Jetzt sah man von Luke nur noch die Augen und den Mund. Er schäumte vor Wut, als sie ihn losbanden, und stürmte gleich auf Mac Pellew los. Aber der hielt in der rechten Hand ein kleines, sehr gefährlich aussehendes und äußerst scharfes Messer. „Rühr' deinen Samariter nicht an!" kreischte er. „Sonst schnippel ich dir wirklich was ab." Erst dem Kutscher gelang es nach gutem Zureden, den wildgewordenen Luke zu beruhigen. Aber der kündete immer noch den Weltuntergang an, als er mit seinem Verband um den Schädel an Deck tobte und nach einem Spiegel schrie.
„Ich seh' ja aus wie die eingemachten Könige vom Nil", beschwerte er sich lautstark. „So kann ich mich doch nirgendwo blicken lassen, ohne ausgelacht zu werden." Erst nach einer Weile beruhigte er sich wieder, als der Kutscher versprach, morgen den Verband abzunehmen, weil doch alles nur zu seinem Besten wäre. Später, nach dem Mittagessen, stieß Old O'Flynn Shane und Ferris Tucker an. „He, ihr beiden. Ich habe euch doch eingeladen. Morgen früh segeln wir dem Wikinger nach, und dann ist es zu spät. Habt ihr keine Lust auf einen kleinen Bummel? Geht alles auf meine Kosten. Außerdem muß ich das neue Holzbein einlaufen." „Klar, wir sind dabei", versicherte Shane. „Ich will dich aber nur vorwarnen, daß mein Durst ganz enorm ist." „Meiner auch", sagte Ferris. „Kann sein, daß das Holzbein verdammt teuer wird." „Das ist es mir wert. Wir müssen uns nur noch beim Sir abmelden." Eine Hand legte sich schwer auf Old O'Flynns Arm. „Aber Donegalchen", sagte der Profos. „Du wirst mich doch nicht in Trauer zurücklassen wollen." „Du hast mit meinem Holzbein nichts zu tun. Du hast keine Hand dafür gerührt." „Das stimmt. Aber ich habe dich damals auf Tortuga auch mitgenommen, und wenn ich das nicht getan hätte, dann wärest du heute nicht verheiratet und hättest keine Snugglemouse." Der Profos log, daß die Eichenbalken durchhingen. Er hatte Old Donegal damals keinesfalls extra mitge-
29 nommen, aber er hoffte darauf, daß der alte Zausel das nicht mehr so genau wußte. Damit lag er richtig. Old O'Flynn konnte sich nicht mehr genau erinnern, es war auch schon lange her und ziemlich unwichtig. „Ist das wahr?" fragte er unschlüssig. „Aber sicher doch. Sozusagen war ich euer Ehestifter. Ich habe dir noch gut zugeredet." Auch das war erstunken und erlogen. Er hatte ihm inständig abgeraten, nachdem die Mary Snugglemouse Old Donegal einen Bierhumpen über den Schädel geschlagen hatte. „Ja, ich glaube, so war es", sagte Old Donegal. „In Ordnung, dann gehen wir zusammen. Du bist auch eingeladen, vorausgesetzt, du säufst nicht gleich ein Faß allein aus." „Bestimmt nicht, ich trinke selten allein." Old O'Flynn meldete sich bei Hasard ab. „Einverstanden", sagte der Seewolf. „Seht aber zu, daß ihr nicht bis morgen früh durchhängt, denn wir segeln bei Tagesanbruch los. Dann können wir mit dem ablaufenden Ebbstrom raus und brauchen uns nicht zu plagen." „Wir, sind ungefähr um Mitternacht zurück, Sir. Länger sitzen wir bestimmt nicht herum." „Und wo wollt ihr hin?" „Weiter nach Southwark", sagte Carberry eifrig. „Das ist so ziemlich die übelste Ecke in London. Aber das ist eure Sache. Paßt auf, daß ihr nicht ausgenommen werdet." „Die Kerle müssen erst noch auf Stapel gelegt werden, die uns ausnehmen", sagte der Profos großspurig.
„Es kann auch anderweitig Ärger geben", meinte Don Juan. „Vorsicht ist in der Ecke immer geboten. Ihr habt ja gesehen, wie schnell ich im Tower gelandet bin." „Das stimmt", sagte Carberry und dachte an die Themse-Geier, die Don Juan das Leben zur Hölle gemacht hatten. Aber in den Hafenspelunken saßen solche Kerle nicht herum, da gab es andere Schnapphähne von besonderer Art. „Wir geben schon acht, Sir", versprach Ferris. Die vier Arwenacks gingen grinsend von Bord.
Als sie gerade außer Sichtweite der Schebecke waren, blieb der Profos einmal kurz stehen und rieb sich die Hände. „Ich habe eine grandiose Idee", sagte er. „Wir sehen uns mal in den übelsten Spelunken um. Ich habe da eine Kneipe gesehen, die ich unbedingt von innen kennenlernen muß. ,Tor zum Hades' hieß die Pinte, und da muß mächtig was los gewesen sein." „,Tor zum Hades'?" fragte Old O'Flynn. „Was heißt das denn?" „ ,Tor zur Unterwelt'. Hades heißt Unterwelt. Ich habe den Kutscher danach gefragt. Ist doch ein vielversprechender Name, was, wie? Die Kneipe dürfen wir nicht auslassen." „Verrückter Name", meinte Old O'Flynn. „Das hört sich direkt gruselig an. Aber ,Bloody Mary' klingt auch nicht besser." „Gut, sehen wir uns die Kneipe mal an", sagte Ferris. „Weißt du denn, wo sie ist?" „Bin mal daran vorbeigelaufen,
30 aber leider nicht reingegangen. Da krachte gerade die Tür auf, und zwei Besoffene flogen auf die Straße, weil sie krakeelt hatten. Geschrei, Gekicher und Gelächter waren zu hören. Ich hatte mir die ganze Zeit vorgenommen, der Pinte einen Besuch abzustatten." Sie gingen am Themseufer entlang. Der Wind blies immer noch heftig, und überall lag Dreck herum. Die Kähne, die an den Piers lagen, schaukelten kräftig hin und her. Vom Hafen zweigte eine schmale Gasse ab. Ein paar Krämerläden tauchten auf, dazwischen zwei Pinten. „Wenn wir schon mal hier sind", sagte Carberry, „dann sollten wir diese Kneipen auch gleich mitnehmen. Ab morgen ist es für eine Weile mit Pintenbesuchen vorbei. Was meinst du, Donegal?" Donegal war einverstanden und nickte. „Klar, wir unternehmen einen ausgedehnten Bummel. Es ist ja noch ziemlich früh." Die Kneipe hieß „Crazy man", wie ein Eichenschild verkündete. Als sie eintraten, schlug der Wind die Tür hinter ihnen mit einem donnernden Knall zu. Es klang wie ein Schuß. Der Wirt, der hinter dem Tresen stand, war offenbar höchstpersönlich der „Crazy man", von dem die Kneipe den Namen hatte. Stupide grinsend starrte er sie an. Seine Augen waren wäßrig, und irgendwie erinnerte er den Profos an einen kranken Fisch. „Darf's was sein, Gents?" murmelte er. „Deshalb sind wir eigentlich hier", sagte Old Donegal belustigt. Er sah sich in der Kneipe um, aber da war
nicht viel los. Die Wände waren aus Lehm mit Häcksel, das überall wie spitze Nadeln herausstach. Es gab einen runden Eichentisch, der völlig verschrammt war, ein paar längliche Tische und rohe Bänke. Zwei Laternen blakten in dem dämmerigen Raum und färbten die schwarze Decke noch schwärzer. An einem Tisch hockte eine dicke grellgeschminkte Hafenhure mit strähnigen Haaren. Sie hatte offenbar ihren Moralischen, denn sie schluchzte leise vor sich hin. Die Tränen hatten ihre ordinäre Schminke verwischt, und so ähnelte sie eher einem fetten melancholischen Clown. Drei weitere Kerle hockten noch dicht an der Wand und tuschelten leise miteinander. Dann waren noch ein Seemann da, der sich mit einem angetrunkenen Kutscher stritt, und ein junges, verschlagen wirkendes Bürschchen mit einer gemeinen Visage, der sich an dem Streitgespräch als Klugscheißer beteiligte. Der Seemann erweckte den Eindruck, als wolle er dem Bürschchen gleich an den Hals gehen. Die vier Arwenacks nahmen an einem Tisch Platz, der zur Hälfte in eine Nische hineinragte. Donegal hatte inzwischen Bier und Brandy zum Vorwärmen bestellt. Das Bürschchen am Nebentisch mischte sich immer wieder in das Streitgespräch ein und schien alles besser zu wissen. Das Kerlchen mit dem liederlichen Gesicht hatte Ohren, die wie ausgebaumte Lateinersegel aussahen, so weit standen sie ihm vom Kopf ab. Als die vier Arwenacks von dem dümmlich grinsenden Wirt ihre Getränke erhielten, linste das Bürschchen mit dem Fuchsgesicht aufmerk-
31 sam zu ihnen und grinste hinterhältig. „Der will offenbar was von uns", sagte Old Donegal, nachdem sie getrunken hatten. Das fuchsgesichtige Bürschchen wollte tatsächlich etwas von ihnen, schien aber noch unschlüssig zu sein und konnte die vier Männer offenbar nicht richtig einschätzen. Ein paarmal erhob der Kerl sich halb, sank aber wieder auf seinen Platz zurück. Nachdem die Arwenacks das zweite Glas geleert hatten, stand der Kerl auf und kam herüber. Vor dem Tisch blieb er stehen und stützte die Hände auf die Platte. Dabei sah er ihnen frech in die Gesichter. „He, ihr seid neu hier", stellte er fest. „Ich habe euch hier noch nie gesehen. Habt ihr so viel Geld, daß ihr gleich flaschenweise Brandy bestellen könnt?" „Wir könnten sogar ein paar Fässer bestellen", sagte Ferris. „Wir backen uns unser Geld nämlich selbst in einem Spezialverfahren. Aber das geht dich weiter nichts an." „Und ob mich das etwas angeht", behauptete der Kerl frech. „Ich bin nämlich hier Stammgast und Rausschmeißer. Und da ist es üblich, daß man mir einen ausgibt. Was ist nun - gebt ihr einen aus?" „Natürlich", sagte Old O'Flynn. „Aber nur an solche Kerle, die uns nicht dumm anreden. Und nun verschwinde wieder an deinen Platz." „Oh, so dürft ihr mir aber nicht kommen", sagte der Kerl drohend. „Beleidigen lasse ich mich schon gar nicht, schon überhaupt nicht, niemals, von gar keinem. Etwas mehr Respekt, ja, Opa? Sonst lernst du mal meine schnellen Fäuste kennen." Old O'Flynn griff in einer blitzarti-
gen Bewegung zu. Mit Daumen und Zeigefinger kriegte er die beachtlichen Segelohren des Bürschchens zu fassen und zog sie waagerecht vom Kopf weg, bis die Visage einem Pfannkuchen glich. Das Bürschchen keilte aus und wollte die Fäuste in Aktion treten lassen, doch der Zug an seinen Ohren war so stark, daß ihm das Wasser sturzbachartig in die Augen schoß. Was Old O'Flynn zwischen Daumen und Zeigefinger einmal hielt, das ließ er auch so schnell nicht wieder los. Ferris stand seelenruhig auf und öffnete das nur spaltbreit angelehnte Fenster. „Mal sehen, wie der Kerl unter vollem Preß segelt", sagte er trocken, schnappte sich den Fuchsgesichtigen am Hemdkragen und Hosenboden und hievte ihn hoch, als Old Donegal die Finger von seinen Ohren nahm. Drei Sekunden später segelte das rotzige und aufdringliche Kerlchen ab - mitten durch das geöffnete Fenster. Ein wilder Schrei begleitete seinen Abgang, dann schepperte es irgendwo draußen im Hof. Der Wirt stand am Tresen und grinste dümmlich. Er sagte nichts. Aber dem angetrunkenen Fuhrknecht schien das nicht zu passen. Er stand torkelnd auf und näherte sich mit zusammengekniffenen Augen dem Tisch. Seine Faust krachte auf die Tischplatte, daß die Humpen zitterten. „Ihr seid wohl verrückt geworden?" brüllte er laut. „Ihr habt es wohl noch nie mit richtigen Kerlen zu tun gehabt?" Schwankend stand er da und krempelte sich die Ärmel auf. „Noch einer mit einem starken Hemd", sagte Shane. „Mitunter wird
32 das langweilig." Er stand auf und fos und schüttelte sich, als die dicke überragte den Fuhrknecht oder Kut- Hafenhure ihm einen schmachtenden Blick aus verquollenen Augen zuwarf scher dabei um Haupteslänge. „Nun hör mal auf zu krempeln", und Anstalten traf, sich ebenfalls zu sagte er gemütlich. „Sieh lieber nach, erheben. „Bloß das nicht", sagte Ferris ob das Kerlchen da draußen nicht in eine Mülltonne gefallen ist." schaudernd. „Wenn sich dieses KataEr zog den Kopf zur Seite, als der strophengebiet an unseren Tisch setzt, dann verschwinde ich." Fuhrmann eine Rechte abschoß. „Wird wohl auch das beste sein", „Jaja", sagte Shane. „Schon gut, murmelte der Profos unbehaglich. aber du mußt auch treffen." Ein Ruck an der Schulter drehte „Die Puffotter will wirklich was von den Fuhrknecht wie einen Kreisel um uns. Da soll doch gleich die Hölle eindie eigene Achse. Für Augenblicke frieren." verlor er völlig die Orientierung. Die betrunkene Lady, die gar keine Shane stemmte ihn hoch, hielt ihn war, hatte sich jetzt doch zum Sturmmit zusammengedrehtem Hemd im angriff entschlossen. Wankend Kreuz fest und rannte die drei rückte sie auf den Tisch zu, blieb daSchritte zum Fenster. Der Fuhr- vor schwankend stehen und sah die knecht folgte dem Bürschchen noch Männer aus rötlich verquollenen Auschneller und krachte in einen Berg gen an. Ihre Wimperntusche war veraus stinkenden Abfällen und Holz- schmiert und zerlaufen, und die Trätrümmern. Ein paar Kübel mit mat- nen waren zu schwärzlichen Tropfen schigem Inhalt kippten dabei um. erstarrt. Da mußte sogar Old O'Flynn Shane sah sich mit funkelnden Au- hart schlucken. gen um, und auch der Profos plierte „Wer - wer gibt denn noch einen den Seemann an, denn für ihn war aus?" fragte sie lallend. Sie sah den noch nichts abgefallen, was er lebhaft Profos an und griff nach seinem noch bedauerte. Aber vielleicht wollte der halbvollen Humpen. Dann schlürfte Seemann ja auch noch was. sie in einem entschlossenen Zug das Sein drohender Blick ging jeden- Gebräu weg. falls ins Leere. Der Seemann benahm Als sie am Tisch Platz nahm, und sich sehr friedfertig und tat so, als ihre mehr als zwei Zentner Gewicht ginge ihn das alles nichts an. auf der Bank verteilte, gab Old „Die haben aber noch nicht be- O'Flynn das Zeichen zum Aufbruch. zahlt", sagte der Wirt vom Tresen Die Lady legte den Kopf auf die her. Arme und begann haltlos vor sich hin „Dann ritz ihnen ein paar Striche zu schluchzen. Dabei erzählte sie greiins Kerbholz", schlug Carberry vor. nend eine der üblichen dramatischen „Oder sollen wir das etwa berappen, Storys, die sowieso kein Mensch höcrazy Man?" ren wollte. Der crazy Man enthielt sich der Sie verdrückten sich leise. Der SeeStimme und verlegte sich weiter auf mann starrte weiterhin in seinen sein ausgesprochen dämliches Grin- Humpen, der Wirt grinste albern, und sen. Er gab keine Antwort. die Hafenhure beklagte sich lautstark „Ein Scheißladen", raunte der Pro- über die Schlechtigkeit der Welt.
Den folgenden Brief erhielten wir von P K , Straße , 8440 Straubing: Sehr geehrte Damen und Herren! Ich will nicht gegen oder für irgendwas in den Seewölfe-Romanen sprechen, zumal ich bei der Nr. 525 aufhörte, die Hefte zu lesen - unfreiwillig allerdings, was ich ab 1.1.1988 zu ändern gedenke. Was mich derzeit am ärgsten plagt, ist die Frage, ob es nicht Unterlagen zum Modellbau der ,,Isabella" gibt. Auch der Schwarze Segler des Wikingers würde ein interessantes Modell ergeben. Natürlich wäre auch die Armierung von Interesse, da die Neuerung im Geschützbau erst 1780 mit der Ernennung des Majors Blomefield stattgefunden hat — mit Kammerbüchsen werden die Arwenacks kaum geknallt haben. Im übrigen zum Namen Killigrew: Die Killigrews um 1580 waren Diplomaten und Minister, Generäle und Hofbeamte der Queen Elizabeth. Das Stammschloß hieß Arwenack und lag über der Bucht von Falmouth an Cornwalls Küste. Das Oberhaupt des Clans war Vizeadmiral Sir John. Der ehrenwerte Daddy des Vizeadmirals aber war ganz offensichtlich ein Pirat, wie er im Buche steht, und Onkel Peter nicht minder. Eine absolute Spitzenleistung aber vollbrachte eine etwas reifere Lady, die ebenfalls in besagtem Schloß als Hausherrin galt - Lady Killigrew. Sie enterte mit dem Beil in der Faust einen Frachtsegler - ihren Piraten fix voraus, was ihr das Todesurteil einbrachte. Allerdings wurde sie im letzten Moment begnadigt, während die zwei anderen, namentlich bekannten Piraten schon den letzten Schnaufer am Strick getan hatten ... Mit freundlichem Gruß - P K . Herzlichen Dank für Ihren Brief, lieber Herr K . Ihre Frage nach „Unterlagen zum Modellbau" der „Isabella" müssen wir leider mit einem Nein beantworten. Es sei denn, Sie orientieren sich nach den Zeichnungen von der „Isabella IX.", die wir in den SW-Heften Nr. 314-317 und 324 unse-
ren Lesern vorstellten. Die Herausgabe von Modellbauplänen ist nun einmal nicht Sache des Pabel Verlags, wie wir an dieser Stelle bei entsprechenden anderen Anfragen bereits mehrmals ausführten. Literatur zum Schiffsmodellbau ist ein Spezialgebiet, für das die Produktion unseres Verlages nicht vorgesehen ist. Wir können nur im beschränkten Raum unserer SEEMANNSKISTE das eine oder andere aus der Seefahrt unseren Lesern vorstellen. Über den Schiffsmodellbau insgesamt, aber auch mit Einschluß bestimmter Schiffstypen, bringt der Verlag Delius, Klasing & Co., Bielefeld, Bücher heraus, die wir allen interessierten Schiffsmodellbauern nur empfehlen können. Sie werden darüber mehr in jeder Buchhandlung erfahren. Zum weiteren Verständnis Ihrer Anfrage, lieber Herr K : Über den Daumen gepeilt, erhielten wir ähnliche Anfragen wie Ihre von bisher etwa fünf bis acht SW-Lesern im Verlauf der letzten Jahre. Kaufmännisch gesehen würde eine Herausgabe von Bauplänen der „Isabella" bei acht Interessenten noch nicht einmal die Eigenkosten der Produktion einbringen, was ein verlegerischer Unsinn wäre. Wir sagen, wie es ist, und wir bitten Sie, dafür Verständnis zu haben, Dabei würden die Zeitschriftenhändler und Bahnhofsbuchhandlungen, über welche die Produkte unseres Verlages vertrieben werden, doch recht erstaunt dreinschauen (bei der Fülle ihrer Verkaufspalette!), wenn sie plötzlich Schiffsbaupläne verkaufen sollten. Soviel dazu. Ein Major Blomefield ist uns unbekannt, auch, zu was er ernannt wurde. Und Philip Hasard Killigrew ist der „Pflege"-Sohn von Lady Anne Killigrew, den wir der Lady als „Findling" unterschoben, und zwar bei diesem von Ihnen genannten Überfall auf eine hansische Kogge. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern den Segelschiffstyp einer sogenannten Bark vor, auf der linken Seite 34 den Segelriß und auf der rechten Seite 35 den Takelriß. Die Bark ist ein Dreimast-Segler mit Fockmast, Großmast und Besanmast. Nach der Zahl der Masten spricht man von VierMastbark oder Fünf-Mastbark (wie es die „Potosi" war!). Bei einer Drei-Mastbark sind Fockmast und Großmast rahgetakelt, während der Besanmast schonergetakelt ist - ebenso verhält es sich bei Vier- und Fünfmastbarken: alle Masten sind rahgetakelt bis auf den achteren schonergetakelten Besanmast. Die Nummern bedeuten: 1 Außen-Klüverbaum, 2 Klüverbaum, 3 Bugspriet, 4 Stampfstock, 5 Fockmast, 6 Vor-Marsstenge, 7 Vor-Bramstenge, 8 VorRoyalstenge, 9 Fockrah, 10 Vor-Untermarsrah, 11 Vor-Obermarsrah, 12 VorBramrah, 13 Vor-Royalrah, 14 Großmast, 15 Groß-Marsstenge, 16 GroßBramstenge, 17 Groß-Royalstenge, 18 Großrah, 19 Groß-Untermarsrah, 20 Groß-Obermarsrah, 21 Groß-Bramrah, 22 Groß-Royalrah, 23 Besanmast, 24 Besanstenge, 25 Besanbramstenge, 26 Besanbaum, 27 Besangaffel, 28 Außenklüver, 29 Klüver, 30 Vor-Stengestagsegel, 31 Fock, 32 Vor-Untermarssegel, 33 Vor-Obermarssegel, 34 Vor-Bramsegel, 35 Vor-Royalsegel, 36 Groß-Stengestagsegel, 37 Groß-Mittelstagsegel, 38 Groß-Bramstagsegel, 39 GroßRoyalstagsegel, 40 Großsegel, 41 Groß-Untermarssegel, 42 Groß-Obermarssegel, 43 Groß-Bramsegel, 44 Groß-Royalsegel, 45 Besan-Stagsegel, 46 BesanMittelstagsegel, 47 Besan-Stengestagsegel, 48 Besan, 49 Gaffeltoppsegel, 50 Vor-Royalstag, 51 Außen-Klüverstag, 52 Vor-Bramstag, 53 Klüverstag, 54 Vor-Stengestag, 55 Fockstag, 56 Fockwant, 57 Vor-Stengepardunen, 58 VorBram- und Royalpardunen, 59 Großstag, 60 Groß-Stengestag, 61 Groß-Bramstag, 62 Groß-Royalstag, 63 Großwant, 64 Groß-Stengepardunen, 65 GroßBram- und Royalpardunén, 66 Besanstag, 67 Besan-Mittelstagsegelleiter, 68 Besan-Stengestag, 69 Besan-Bramstag, 70 Besanwant, 71 Besan-Stenge- und Brampardunen, 72 Fockbrassen, 73 und 74 Vor-, Unter- und Ober-Marsbrassen, 75 Vor-Brambrassen, 76 Vor-Royalbrassen, 77 Großbrassen, 78 GroßUnter- und Ober-Marsbrassen, 79 Groß-Brambrassen, 80 Groß-Royalbrassen, 81 Besan-Gaffelgei, 82 Besan-Piekfall, 83 Fock-Bauchgordinge, 84 FockNockgordinge, 85 Groß-Bauchgordinge, 86 Groß-Nockgording (die Bauchgordinge holen beim Aufgeien das Unterliek des Rahsegels nach oben und die Nockgordinge das Seitenliek nach innen). Die Buchstaben bedeuten: A Außen-Klüverstampfstag, B Klüver-Stampfstag, C Stampfstockgeien oder Stampfstock-Achterholer und D Wasserstagen.
37 Old O'Flynn bezahlte an der Theke und dann waren sie draußen. Der Profos stieß erleichtert die Luft aus. „Jetzt gehen wir dahin, wo was los ist", sagte er. „Die Kneipe war der reinste Dreckladen." „Also zum ,Tor des Hades', oder wie die Pinte heißt." „Genau. Möchte wetten, daß es uns dort besser gefällt." Eine Viertelstunde später standen sie vor der Kneipe. 5. Das Eichenschild war aus einem angeschwemmten Stück Treibholz, in dem die Schiffsbohrwürmer ihre Spuren hinterlassen hatten. Ein unbekannter Künstler hatte eine Galeone auf das Schild gepinselt, und darunter standen eingebrannt die Worte: TOR ZUM HADES. Das Schild hing an einer Messingkette und schaukelte heftig im Wind hin und her. Die Galeone darüber war schon reichlich von Wind und Wetter lädiert. „Ein sehr eigenartiger Name", meinte Ferris kopfschüttelnd. „Hier geht's also zur Unterwelt." Der Profos stieß die Tür auf und wäre in seinem Eifer fast kopfüber in der Spelunke gelandet. Die acht Stufen, die hinunterführten, sah er buchstäblich im allerletzten Augenblick. „Daher der Name Unterwelt", knurrte er. Das erste, was sie in der dämmerigen Pinte erblickten, war ein Monstrum von einem Kerl, ein Riesenschrat mit einem gewaltigen Bauchumfang. Ein breiter Lederriemen hielt seinen Wanst zusammen. In die
Hose hätten mühelos der Profos und noch drei Mac Pellews gepaßt. Der Kerl hatte eine Glatze, von deren Mitte ein zerfranster Zopf baumelte. Er fiel bis in den gewaltigen Specknacken des Mannes. Er hatte riesige Pranken auf die Theke gestützt. Vor seiner unglaublich breiten Brust kräuselte sich ein dichter schwarzer Urwald. Das Monstrum überragte den Profos, Ferris und Shane um eine halbe Kopflänge. Es war ein Riesenschrat, dessen bloßer Anblick jeden Gedanken an Streit vergessen ließ. Wenn der Kerl zuschlug, wackelten die Wände. Er musterte die Arwenacks finster, aber doch sehr interessiert, denn sein Blick wanderte von oben nach unten, als taxiere er sie genau ab. Dann erschien die Andeutung eines Grinsens in dem wüsten Gesicht, das von Narben und Messerstichen entstellt war. „Ah, neue Gäste!" sagte er mit dröhnender Stimme. „Willkommen, die Gents. Werde mich gleich um euch kümmern. Sucht euch inzwischen ein Plätzchen." Die vier Mannen grüßten zurück und sahen sich um. Das „Tor zum Hades" war ein Gewölbe, das verblüffend der „Schildkröte" des fetten Diego auf Tortuga glich. Schwere Eichenbalken durchzogen das Gewölbe. Die Nischen waren groß, breit und tief, und in jeder hing eine blakende Ölfunzel, deren Licht die Schatten ins Dämonische verzerrte und vergrößerte. Es waren noch nicht viele Besucher da. Aber das mochte an der noch recht frühen Zeit liegen. Dem Profos fielen sofort drei Männer auf, die wesentlich besser gekleidet waren als der gemeine Pöbel. Die
38 drei waren hartgesichtig und wirkten drahtig. Sie würfelten an einem Tisch, von dem aus sie die gesamte Kneipe überblicken konnten. Bei ihrem Eintritt knallte einer von ihnen gerade den Würfelbecher auf den Tisch und verharrte dann in dieser Stellung. Drei Gesichter wandten sich den Arwenacks zu und muster--n sie. Einer der Kerle verzog dabei leicht die Mundwinkel und murmelte etwas zu den anderen. Die nickten daraufhin kurz und setzten ihr Würfelspiel fort. „Hafenhaie", sagte Old Shane leise. „Man sieht es ihnen an. Die verdienen ihr Geld nicht mit ehrlicher Arbeit." Sie nahmen ebenfalls so Platz, daß sie die gesamte Pinte im Blickfeld hatten und alles übersehen konnten. Als sie die klobigen Stühle zurechtrückten, war ein leises heiseres Knurren zu hören. Am Ende der geschwungenen Theke war ein Köter mit einer eisernen Kette angebunden. Der Köter war größer als die Wolfshündin Plymmie, hatte rot unterlaufene, fast blutige Augen und fletschte die Zähne. Aus einen Lefzen tropfte Geifer. Als er noch einmal knurrte, gab ihm der riesige Wirt einen Tritt in die Kehrseite. Daraufhin kuschte das Hundchen und ließ sich auf den Brettern nieder. Das Hundchen hatte immerhin die beachtliche Größe eines Kalbes aufzuweisen und sorgte vermutlich dann für Ruhe und Ordnung in der Kneipe, wenn es mal ernsthaft zur Sache ging. Ein paar Seeleute hockten noch an anderen Tischen. Zwischen ihnen saßen drei liederliche Frauenzimmer, denen das Gewerbe von den verlebten Gesichtern abzulesen war.
Ganz hinten unter einem Eichenbalken saßen zwei rattengesichtige Kerle, die sich flüsternd unterhielten. Sie hatten offenbar einen Coup gelandet, denn sie grinsten sich dauernd an und prosteten sich zu. Insgesamt war das „Tor zum Hades" von einem guten Dutzend mehr oder minder angetrunkener Zecher bevölkert. Das Monstrum von Wirt trat an ihren Tisch. Er stieß mit seinem kahlen Schädel fast an den Eichenbalken. Seine bratpfannenähnlichen Flossen mit den dreckigen Fingernägeln lagen hart auf der Platte. Die Arme sahen so behaart wie die eines Gorillas aus. Wieder musterte er einen nach dem anderen. „Der erste geht immer auf Kosten des Hauses", sagte er freundlich. „Für den Rest müßt ihr selber sorgen. Das ist bei mir so üblich." Der „auf Kosten des Hauses" war ein scharfgebrannter Schnaps, zu dem auch ein Bier gehörte. Er selbst hatte sich auch gleich einen gewaltigen Humpen mitgebracht und ließ sich unaufgefordert bei den Arwenacks an Tisch nieder. In dem Riesenhumpen befand sich eine halbe Gallone Bier. Der Riesenschrat kippte seinen Schnaps in das Bier und prostete ihnen zu. „Ist noch nicht viel los", erklärte er. „Aber das wird noch. Später kommen ein paar nette Mädchen zur Unterhaltung, und dann wird es immer ganz gemütlich. Seeleute?" fragte er dann übergangslos. „Ja", erwiderte Old Shane, „wir sind Seeleute." „Bei mir wart ihr noch nicht", sagte der Wirt. „Ich merke mir jedes Gesicht und vergesse es nie." Der Schrat trank wieder einen ge-
39 waltigen Zug und merkte nicht, daß wieder kehrte sein Blick zu dem ihm der schwarze Zopf im Humpen Tisch zurück, an dem die drei würhing. Erst als er den Humpen absetzte felnden Kerle saßen, die so taten, als fiel es ihm auf. Er nahm den Pinsel ginge sie alles nichts an. Und denund quetschte ihn ein bißchen, bis noch riskierten sie immer mal einen schnellen Blick zu dem Tisch der vier ihm das Bier über die Schulter lief. „Sucht ihr eine Heuer?" fragte er Arwenacks. mit einem Lauern in den Augen. „Ich „Irgend etwas gefällt dir hier habe da gute Verbindungen. Könnte nicht", sagte Ferris Tucker, „obwohl euch sofort was besorgen." du gerade von dieser Pinte so ge„Sehr liebenswürdig", sagte Old schwärmt hast." Shane, „aber wir haben ein Schiff „Ich weiß nicht, was es ist", gab der und gehen morgen früh in See. Wir Profos ehrlich zu. „So ein merkwürdiwollen zum Abschied nur noch einen ges Gefühl, das ich einfach nicht losKleinen gluckern." werde. Ich kann es aber nicht näher „Das ist sehr vernünftig, Gents. erklären." Dann laßt euch nicht stören." „Ist doch ganz nett hier", murmelte Der Schrat trank den Rest aus, Old Donegal. „Ich weiß gar nicht, was wischte sich über das Gesicht und ihr wollt." kehrte zur Theke zurück, wo er wieDie Tür der Spelunke flog krader Bier zapfte und aus einem Faß chend auf, und wieder wurde menschRotwein ausschenkte. liches Strandgut hereingeschwemmt. „Vielleicht verhökert er Seeleute", Zuerst torkelten zwei betrunkene meinte Old O'Flynn nachdenklich. Kerle in die Pinte. Sie hielten sich an„So wie damals der liebe Plymmie." einander fest, um nicht umzufallen. Der Wirt kümmerte sich jedoch Dann schlug die Tür hart hinter ihnicht weiter um sie. Einmal erschien nen zu, wurde aber sofort wieder aufer am Tisch der würfelnden Kerle gerissen. Zwei weitere Männer stieund tuschelte mit ihnen. Ferris ent- gen die Stufen hinunter und blieben ging nicht, daß einer der Würfelspie- vor dem Tresen stehen. Sehr sorgfäller einmal schnell herüberblickte. tig sahen sie sich in der Pinte um, woDann erschienen neue Gäste, und bei sie jeden einzelnen Gast einer geauch zwei weitere Ladys tauchten nauen Musterung unterzogen. auf. So langsam bevölkerte sich die Old Shane stellte fest, daß ihr Blick Kneipe mit dem sinnigen Namen. auffallend lange und intensiv ausgeEs waren recht üble Kerle darun- rechnet an ihnen hängenblieb. Die ter, Schnapphähne, verluderte beiden drehten sich um und sagten etStrolche, Beutelschneider, Hasar- was zu dem Monstrum von Wirt, der deure und Glücksritter, ausgespien bedächtig nickte. Er grinste auch ein aus allen Weltmeeren, menschliches bißchen niederträchtig, wie Old Strandgut, das immer wieder irgend- Shane glaubte. Ohne die anderen Zewo angeschwemmt wurde. cher zu beachten, schwenkten die beiDer Profos räusperte sich und sah den dann auf den Tisch der Würfelsich um. Er studierte die Kerle, die spieler zu und tuschelten mit den sich hier mit den verruchten Ladys Kerlen. ein Stelldichein gaben, aber immer „Ob die uns ans Leder wollen?"
40 fragte Old Shane leise. „Ich kann mir das zwar nicht vorstellen, aber sie mustern uns ständig so unauffällig, daß es schon wieder auffällt." „Wenn die Rübenschweine was wollen, brauchen sie es nur zu sagen", meinte der Profos. „Sie werden dann sofort bedient." Die Kerle wollten offenbar jedoch nichts, denn sie verschwanden gleich darauf wieder, ohne etwas bestellt oder getrunken zu haben. Vielleicht waren es nur ein paar Beutelschneider, die sich untereinander Tips gaben, wo was zu holen war. Wenig später wurde getanzt, und die Stimmung heizte sich immer mehr auf, als auch noch zwei wandernde Musikanten erschienen und nervtötenden Krach veranstalteten. Die Arwenacks langten kräftig zu. Inzwischen hatten sich auch zwei Ladys an ihren Tisch gesellt, und so wurde palavert und erzählt. Als eine Turmuhr die elfte Stunde schlug, gab es in der Spelunke plötzlich Streit. Zwei Hitzköpfe gerieten aneinander. Der eine hielt ein Messer in der Faust, der andere schlug kurz und trocken zu. Der Messerheld krachte hart an den Tresen. Damit war der Köter jedoch nicht einverstanden. Er war zwar angekettet, aber seine Reichweite langte gerade noch. Mit einem Satz war er bei dem Kerl und biß ihn in die Wade. Ein mörderischer Schrei folgte. Der Kerl brüllte noch einmal wild auf und griff an die Bißstelle. Der Wirt schlichtete den Streit auf seine Art. Er war nicht gerade zimperlich. Mit seiner riesigen Pranke langte er nach dem Gebissenen, zog ihn quer vor die Theke und donnerte seinen Schädel gegen den des anderen Kerls.
Die beiden Kerle gingen bewußtlos zu Boden. Das Abräumen ging genauso schnell über die Bühne. Der Wirt klemmte sich den einen unter den Arm, ging die Treppe hinauf und feuerte ihn vor die Tür. Dem anderen widerfuhr das gleiche Schicksal, ohne daß auch nur ein Wort gewechselt wurde. Gleichmütig kehrte der Schrat an die Theke zurück und zapfte weiter, als sei nichts geschehen. „In einer Stunde verduften wir", verkündete Old Donegal. „Wir haben schon ganz schön einen gekümmelt. Außerdem haben wir versprochen, bis etwa Mitternacht wieder an Bord zu sein, denn morgen in aller Frühe geht es raus." Carberry nickte widerwillig. Er schäkerte mit einer der Ladys und hatte ständig das Gefühl, als verzerre sich ihr Gesicht ins Riesenhafte. In seinem Kopf war ein Nebel, und sein Oberkörper schwankte im Sitzen leicht hin und her. Auch die anderen Gestalten um sich herum sah er schwanken. Old O'Flynn, Ferris und Big Old Shane zeigten die gleichen Symptome. „Ihr wollt doch nicht etwa gehen", sagte eine der Ladys fast entrüstet. „Jetzt wird es doch erst richtig gemütlich." Ihre Worte drangen wie aus weiter nebelhafter Ferne an Carberrys Ohren. Er verstand den Sinn kaum. Die Kneipe stand mal kopf, dann verzog sie sich zu wirbelnden Mustern oder kippte auf die Seite. „Mann, hab' ich einen geladen", lallte er. Old O'Flynn wackelte auch mit dem Kopf. Shane strich unendlich langsam und bedächtig durch seinen Bart.
41 Ferris saß da, als sei er angenagelt worden, stocksteif und kerzengerade. Die Ladys kicherten - boshaft wie es schien. Die drei Kerle am anderen Tisch linsten sehr aufmerksam zu ihnen. Einer von ihnen sagte leise: „Bei allen Teufeln, die Burschen scheinen aus Eisen zu sein. Die müßten doch längst flachliegen." „Aber schon lange", sagte der andere. „Die sind aus einem besonderen Stoff. Unverwüstlich offenbar." Von alldem hörten die Arwenacks nichts. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, daß ein Preßkommando sie einzusacken gedachte. Es geschah auch ziemlich unauffällig. „Noch eine Flasche Brandy?" fragte eine der Ladys. „Ihr seht so aus, als könntet ihr noch einen vertragen." Carberry schloß die Augen und spürte, daß er dabei fast von der Bank kippte. Der Nebel in seinem Schädel rotierte immer wilder. Er hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Abrund zu fallen. „Die letzte", hörte er sich mühsam lallen. „Ich - hicks - ich vertrage heute nicht viel. Hab' meinen schlechten Tag." Er plierte zu Shane hinüber, aber der hatte die Augen geschlossen und sah so aus, als hielte er ein Nickerchen. Ferris wirkte wie eine Marionette, und Donegal hatte sich weit zurückgelehnt. Er konnte nicht einmal erkennen, was mit ihm los war. Alles war so unendlich weit weg. Am Nebentisch grinsten die Kerle jetzt ganz offen und stießen sich gegenseitig erheitert an. Eine offene Flasche Brandy wurde auf den Tisch geknallt. Eine der Ladys hatte sie geholt und goß die Glä-
ser voll. Carberry wurde eins in die Hand gedrückt, und als er von irgendwoher ein „Prost" hörte, stieß er an und trank. Der Profos war ein harter Mann, alles was recht ist, aber er war nicht mehr in der Lage, gegen die unsägliche Müdigkeit anzukämpfen. Seine Augenlider waren bleischwer, in ihm war nur noch Dumpfheit. Aber er nahm noch undeutlich wahr, daß Old O'Flynn unendlich langsam in sich zusammensackte, bis sein Kopf auf die Brust fiel. Shane schnarchte leise, und Ferris schlief offenbar, denn er ließ keinerlei Regung erkennen. Der Profos versuchte vergeblich, gegen diese bleierne Müdigkeit anzukämpfen. Aus halbgeschlossenen Lidern sah er sich um. Er wollte aufstehen, sich erheben, irgend etwas tun. Er schaffte es nicht mehr. Beobachtet von etlichen Augenpaaren, lehnte er sich auf die Tischplatte, um Halt zu suchen. Dann war er übergangslos weg, als sein Kopf auf den Tisch sank.
In der Kneipe mit dem sinnigen Namen „Tor zum Hades" wurde es für einige Augenblicke still. Eine fast gespenstische Ruhe trat ein. Die drei hartgesichtigen Kerle grinsten sich an. Der Wirt verschränkte seine mächtigen Arme über der Brust und ging zu dem Tisch, wo die vier Arwenacks reglos saßen. Vor dem Tisch blieb der Wirt stehen und grinste ebenfalls. „Die sind weggetreten", sagte er. „Ihr könnt sie einsacken." Die anderen Gäste wußten längst Bescheid. Es gab sie immer noch, die Preßkommandos, die nur darauf
42 lauerten, günstig an „brauchbares Material" zu gelangen. Im „Tor zum Hades" waren schon Hunderte in die Hände der Preßgangs gefallen, die zu ihrem Schrecken später irgendwo an Deck eines Seelenverkäufers erwachten. Der Wirt half immer ein bißchen nach, denn jeder Kerl, der brauchbar schien, brachte ihm zwischen einem und drei Pfund ein. Diese vier Kerle sahen sehr nützlich aus, selbst der Alte mit dem Holzbein, der ein tüchtiger und rauher Bursche zu sein schien. Die Stammgäste im „Tor des Hades" waren tabu für die Preßkommandos, aber die meisten Fremden, die hier landeten, wurden gegen ihren Willen wie Ware verhökert. „Prächtige Kerle", sagte der eine lachend. „Wahre Riesen. Seht euch dagegen mal die anderen Mickermänner an." Die anderen „Mickermänner" waren die beiden fuchsgesichtigen Burschen, die abseits an einem Tisch hockten und ebenfalls tief und fest schlummerten. Dann lag da noch einer herum, den Oberkörper halb über die Tischplatte gelehnt, den Mund weit offen. Auch er war weggetreten aus diesem Jammertal und befand sich in seligen Gefilden, die ihm eine bessere Welt vorgaukelten. Inzwischen waren auch die beiden Männer erschienen, die die Arwenacks so intensiv gemustert hatten. Sie standen um den Tisch herum und betrachteten die Schläfer. „Sehr brauchbar, sagte einer. Er stieß Carberry an, doch der rührte sich nicht. Old O'Flynn lehnte sich nur ein wenig zur Seite, als der andere ihn anstieß. Shane und Tucker schliefen tief und fest.
„Sie werden wohl noch ein paar Stunden brauchen, was?" „Vor morgen früh steht keiner von denen auf den Beinen", versicherte der Wirt. „Wer den Brandy säuft, der geht ein durch das ,Tor zum Hades' und hat für den nächsten Tag genug. Wie steht es mit meinem Anteil?" „Zehn Pfund." „Für insgesamt sieben Kerle?" fragte der Wirt drohend. „Das ist nicht drin für den Preis. Das Risiko trage ich." Es sah so aus, als ob es Streit geben würde. Der Wirt zog finster die Augen zusammen. „Drei Pfund für jeden von den vier Burschen. Dafür kriegt ihr die anderen für ein Pfund pro Nase. Nach meiner Rechnung macht das genau fünfzehn Pfund. Ihr wollt doch weiter beliefert werden, oder?" „Nun gut", sagte ein wüst aussehender Kerl widerwillig. Er warf dem Wirt einen Beutel mit Münzen zu. „Zähl nach, aber hilf uns, die Kerle an Bord zu bringen." „Einverstanden." Die Geldkatze verschwand im Gürtel des Riesen. Dann winkte er einem anderen Mann und befahl ihm, nachzusehen, ob die Luft draußen sauber sei. Die anderen Zecher, mehr oder weniger betrunken, sahen gespannt zu und grinsten sich eins. Weiter vorn am Hafen, lag eine gammelige Galeone, ein Seelenverkäufer übelster Art, und dort wurden dringend Seeleute gebraucht, denn freiwillig ging niemand an Bord des alten Schlorren. Die meisten erschauerten schon, wenn sie den Kahn nur sahen, und waren heilfroh, zu den „nicht veräußerbaren" Stammgästen zu gehören. „Die vier hier nehmen wir zuerst", sagte der wüst aussehende Kerl. „Bei
43 denen ist zu befürchten, daß sie zu- Nacht. Der Wirt kehrte zu seiner Speerst aufwachen. Fang mal mit dem al- lunke zurück. Für heute hatte er eiten Rauhbein hier an." nen feinen Batzen Geld verdient. Und Einer der Kerle lockerte seine Pi- alles war so einfach gewesen. stole und nahm sie in die Hand. Dann stellte er sich draußen an die Tür und sicherte nach allen Seiten. Niemand 6. war zu sehen. Mit dem Lauf der Pistole gab er ein kurzes herrisches ZeiDer Profos erwachte völlig verkachen. tert. In seinem Kopf brummte und Old O'Flynn wurde an Armen und summte es. Neben ihm stöhnte jeBeinen gepackt und nach draußen ge- mand und zerbiß einen Fluch. Die tragen. Er schnarchte leise vor sich Stimme schien Ferris Tucker zu gehöhin. Zwei Kerle schleppten ihn zu der ren. Galeone, die nur als Schattenriß zu „Au, mein Schädel! Oh, verdammt! sehen war. Das alte Schiff ächzte und Was ist denn bloß los?" knarrte leise an der Pier. Am Himmel „Weiß ich nicht", brummte Carstand die Sichel eines Mondes, die im- berry. „Wir haben zuviel gesoffen." mer wieder hinter schnell dahinjaEr sah nichts. Um ihn herum war genden Wolken verschwand. nur Dunkelheit. Ganz in seiner Nähe Das Hafenwasser war so schwarz schnarchte laut ein Kerl. wie die Nacht. Auch die Gestalten an „Verdammt, wir sind ja schon unBord der Galeone waren pech- terwegs", sagte Carberry schwerfälschwarz und gesichtslos. lig. „Da wird der Sir ja nicht gerade „Wie viele Kerle habt ihr insge- erfreut sein." samt?" Vertraute Geräusche waren zu hören. Quietschen und Knarren von Ra„Sieben Burschen." „Das langt gerade", tönte die hen und Blöcken, dann das Gluckern Stimme aus der Dunkelheit. „Zehn von Wasser an den Bordwänden, alhätten wir brauchen können, aber es les sehr vertraut - und doch irgendgeht auch so. Vielleicht könnt ihr wie anders. noch ein oder zwei erwischen. Wir seBig Old Shane erwachte ebenfalls geln vor Sonnenaufgang los." mit dumpfem Kopf. In einer anderen Ecke begann Old O'Flynn sich zu rüh„Mal sehen." Old O'Flynn wurde wie ein Sack ren. Seine Laune schien ebenfalls unter Deck verstaut. Inzwischen nicht die beste zu sein. „Seid ihr wach?" fragte er träge. schleppten der Wirt und ein anderer vom Preßkommando schon Carberry „Heiliger Bimbam, was haben wir heran. Kurz darauf folgten Shane nur für scheußliches Zeug gesoffen! und Ferris Tucker, und nach einer Mein Schädel dröhnt wie eine Rieknappen halben Stunde waren alle senglocke." „Ich glaube, der Sir hat uns einen sieben Mann verfrachtet. Münzen wechselten die Besitzer. kleinen Denkzettel verpaßt", sagte Heiseres Lachen erklang, schaden- Old Shane schwerfällig. „Er hat uns froh und hämisch. Die Gestalten ver- zur Ausnüchterung in die Piek geschwanden wie ein Spuk in der sperrt, oder?"
44 „Das tut er nie", brummte Carberry. Er hatte sich aufgesetzt und betastete mit der rechten Hand seinen Kopf. Dabei wunderte er sich, daß er nicht an die Unterseite der Doppelkoje stieß. Er streckte den Arm noch weiter aus und tastete ins Leere. Neben sich hörte er einen dumpfen Laut, dem ein gotteslästerlicher Fluch von Ferris Tucker folgte. „Warum, zum Teufel, ist es denn hier so dunkel? Wo ist die verdammte Laterne?" In der Finsternis war eine weitere Stimme zu hören. Sie klang dünn und piepsig wie von einer verschreckten Maus. „Wo bin ich?" fragte das Stimmchen zitternd. „He!" sagte Carberry erstaunt und langgezogen. „Hier stimmt doch etwas nicht. Wer bist'n du?" „Ich bin Nat, und mir ist kotzübel", antwortete das Stimmchen verzagt. „Er ist Nat, und ihm ist kotzübel", wiederholte der Profos fassungslos. „Sind wir denn hier alle Verrückt, was, wie? Was tust du hier an Bord?" „Ich weiß nicht, wo ich bin." „Da soll doch der Satan dreinfahren!" rief Old Shane. „Was Wird denn hier überhaupt gespielt?" „Raus an Deck", brummte Old Donegal. „Vielleicht sind wir in der Hölle gelandet. Die Geräuäche klingen ganz anders als sonst. Ich will hier raus, Verdammt! Sucht mal das Schott!" Das war allerdings nicht einfach, denn ihnen fehlte jegliche Orientierung in dem muffigen Raum. Sie stießen sich die Köpfe und fluchten erbittert. Es schien kein Schott zu geben. Also befänden sie sich offenbar doch im Laderaum.
Dieser Nat, wer immer das auch sein mochte, begann zu greinen. „Ich will nach Hause", jammerte er. „Ich will nicht auf ein Schiff, ich bin noch nie auf einem Schiff gewesen." Das wurde ja immer schöner! „Halt mal dein Maul", sagte der Profos grob und lauschte den Geräuschen über sich. Da liefen Kerle herum, da wurde gebrüllt, und einmal hörte er einen Mann wie einen Hund aufjaulen. „Wir legen gerade ab", sagte Old Donegal dumpf. „Man hört es jetzt ganz deutlich. Wir haben Segel gesetzt, und der Anker ist auch schon auf und nieder. Trotzdem stimmt das alles nicht. Ich werde noch verrückt mit diesen lausigen Kopfschmerzen. He, Nat, wie bist du hier an Bord gelangt?" fragte er in die Dunkelheit hinein. „Frag lieber, wie wir hierhergelangt sind", sagte Ferris. „Sind wir in unserem Suff vielleicht auf einen falschen Kahn gestiegen? Ich kann mich an den Rückweg nicht mehr erinnern." „Ich auch nicht", sagte Shane. „Ich weiß nur noch, daß wir in dieser Kneipe saßen. Von da an fehlt mir aber auch restlos alles." Auch der Profos dachte angestrengt nach. Daß sie in der Kneipe gesessen hatte, das wußte er auch noch. Aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie durch die Tür gegangen Waren. Bei dem fluchenden Old Donegal war es nicht anders, als er in seiner Erinnerung zu kramen begann. Da war überhaupt nichts mehr, gar nichts, „Wir saßen in der Kneipe", sagte er verdrossen, „Und dann fiel mir plötzlich der Himmel auf den Kopf."
46 „Laßt uns das mal ganz sachlich rekapitulieren", sagte Ferris. „Uns fehlt es ein bißchen im Gehirn, klar? Wir haben in unserem Suff die Kähne verwechselt und sind auf einen anderen gestiegen, der jetzt im Begriff ist, abzulegen und loszusegeln. Das ist aber nicht in unserem Sinne. Also werden wir uns so schnell wie möglich bemerkbar machen und den Irrtum aufklären. Der Kapitän weiß vermutlich gar nichts von seinen heimlichen Mitfahrern. Sind wir aber erst unterwegs, kann es eine Menge Ärger geben." „Wir sind schon unterwegs", sagte Carberry trocken. „Aber nicht mit unserem Schiff, sondern mit einem anderen, wie du ganz richtig sagtest. Dann werden wir mal ein bißchen klopfen." Sie begannen mit den Fäusten an die Wand zu hämmern, die ihnen am nächsten war. Sie brauchten nicht lange zu hämmern. Ganz dicht über ihren Köpfen erklangen harte Schritte. Sie verhielten abrupt. Zwei fremde Stimmen waren undeutlich zu hören. Dann fiel übergangslos Licht in den Raum. Ein Stück Himmel war zu sehen, grau, verhangen - wie kalter Haferbrei. Eine dunkelgraue Wolke jagte schnell vorüber. Das Licht reichte gerade aus, um eine Gestalt zu erkennen. Es war eine untersetzte Gestalt, breitschultrig, mit stränigem Haar und böse glitzernden Augen, die Visage eines Galgenvogels, der grimmig nach unten blickte. Das Dämmerlicht fiel an einer Stelle ein, wo niemand es erwartet hatte. Carberry starrte ungläubig zu dem Kerl hoch. Neben ihm war noch ein weiterer aufgetaucht, der die schma-
len Lippen zu einem freudlosen Grinsen verkniff. Sie befanden sich im Laderaum eines fremden Schiffes, und in diesem Laderaum waren Fässer, Kisten und Ballen gestapelt. Nur zwei schmale Gänge waren frei, und da lagen außer Nat noch zwei weitere Burschen, die tief und fest schliefen und von ihrer neuen Umgebung noch nichts mitgekriegt hatten. „Hallo", sagte der Profos lahm und versuchte ein Grinsen, das allerdings kläglich ausfiel. Er wußte nicht, was er sonst noch sagen sollte, denn jetzt grinsten beide Kerle auf eine wölfische, lauernde und hinterhältige Art. Ferris jedoch erkannte auf den ersten Blick, daß sie nicht versehentlich auf diesem Eimer gelandet waren. Sie hätten es ganz sicher nicht fertiggebracht, die Luken hinter sich zu verschließen, die sich hoch über ihren Köpfen befanden. Er lächelte ganz dünn, mit schmalen verkniffenen Lippen, als ihn die Erkenntnis überfiel. Man hatte sie gepreßt wie blutige Anfänger, und diese Überlegung ging ihm runter, wie ranziges Öl. Den anderen war offenbar immer noch kein Licht aufgegangen, denn sie stierten verständnislos und mit schweren Köpfen zu den beiden Kerlen hoch, die sie belauerten. Der Profos wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, kratzte sich das narbige Kinn und hob die mächtigen Schultern. „Tut uns leid", sagte er lahm, „aber wir sind wohl aus Versehen hier gelandet. Hatten ein bißchen zuviel getrunken und da . . . " „Immer noch kein Licht in deiner Dröhnglocke aufgegangen?" fragte
47 Ferris sanft. „Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen, was, wie, mein lieber Ed?" Ein dritter Kerl erschien oben. Alle drei lauschten grinsend den Worten und nickten beifällig. „Na, dann entert mal fröhlich auf", sagte der Untersetzte hämisch. „Habt euch hier eingeschlichen, was? Der Kapitän wird das bei einer Muck Bier und einem Stückchen Kuchen schon regeln." Eine Leiter wurde heruntergelassen. „Also doch ein Irrtum", meinte Carberry sorglos. „Wird sich gleich alles aufklären." Alle vier enterten auf. Ganz zum Schluß folgte das Kerlchen mit dem Fuchsgesicht, das sich Nat nannte. Die beiden anderen pennten weiter, als seien sie tot. „Bring die beiden anderen auch nach oben, Jonny", befahl der Untersetzte. „Da haben sich ja eine Menge Figuren auf unserem feinen Schiff eingeschlichen." Die beiden anderen wurden unsanft nach oben gebracht und auf die Planken geworfen. Dort schliefen sie ungerührt weiter. Der Profos sah sich unbehaglich um, die anderen auch. Sie befanden sich mitten auf der Themse mit der ablaufenden Ebbe. Um ungefähr dieselbe Zeit sollte auch die Schebecke hinausgehen, doch war es leider nicht die Schebecke, sondern ein vergammelter, alter und ziemlich dreckiger Kasten, an dem der Zahn der Zeit genagt hatte und der eher einem noch gut erhaltenen Wrack glich. Es war ein Dreimaster, eine kleine Galeone mit dunkelbraunen, zigmal geflickten Segeln und einem Tau-
werk, bei dessen Anblick Roger Brighton übel geworden wäre. Bis auf das Lateinersegel am Besan war alles dreckige Tuch gesetzt. Ihr Blick fiel auf die Gestalten an Deck, Da schluckte selbst der abgebrühte Profos erst einmal hart. Der Kapitän trug als einziger Uniform. Seine Offiziere, oder was immer das für Kerle sein mochten, unterschieden sich von den anderen nur dadurch, daß sie hellere Kleidung trugen und nicht barfuß liefen wie die meisten anderen. Einer von ihnen hatte eine Neunschwänzige zusammengerollt unter dem Arm. Er sah so aus, als gebrauche er sie mehrmals täglich. Kurzum: Die Mannschaft bestand aus Hafendieben, Galgenstricken, versoffenen und verluderten Strolchen, die in allen möglichen Häfen gepreßt worden waren. Der Untersetzte, der von den anderen respektvoll mit Mister Horn angeredet wurde, nahm dem anderen Kerl die Neunschwänzige ab und klemmte sie sich unter den linken Arm. Nat sah sich gehetzt nach allen Seiten um. Die vier Arwenacks behielten vorerst noch die Ruhe und gaben sich äußerlich gelassen, obwohl die neue Situation sie mächtig aufwühlte. „Ich will nicht auf ein Schiff!" schrie er in panischer Angst. Dann lief er drei Schritte auf das Schanzkleid zu, offenbar in der Absicht, sich darüber zu schwingen und zum Ufer zu schwimmen. Horn holte blitzschnell mit der Neunschwänzigen aus und zog sie Nat über das Kreuz. Der Kleine wimmerte und schrie und legte sich voller Angst auf die Planken. Dem Profos stieg die Galle hoch, aber er sah auch ein, daß er hier
48 nichts ausrichten konnte, denn sie hatten alle Kerle gegen sich. Ein paar von ihnen bildeten bereits einen Halbkreis um sie herum. Und noch etwas anderes fiel ihnen auf. Sie hatten keine Messer mehr. Sie waren ihnen abgenommen worden. „Falls jemand die Idee hat", sagte Horn gefährlich leise, „ebenfalls über Bord zu springen oder heimlich abzukanten, dann kann er es ruhig versuchen. Entweder erwische ich ihn mit dem Kätzchen, oder ihn trifft eine Kugel. Dort oben steht einer, der genau aufpaßt. Habt ihr das verstanden, ihr Strolche?" Die Arwenacks gaben keine Antwort. Ihre Gesichter waren jedoch kantig und hart, und sie hatten ganz schmale Augen. Carberry sah zum Großmast hinauf. Dort oben stand ein schmieriger Kerl im Ausguck, der grinsend eine Muskete hochhielt. „Was geht hier vor?" fragte der Profos mit rauher Stimme. „Wir sind gepreßt worden, wie es aussieht. Wir möchten den Kapitän sprechen." „Ah, ihr wollt den Kapitän sprechen! Soso. Und gepreßt hat man euch? Das ist aber gemein." Gelächter erklang, das jedoch rasch verebbte, als Horn auf die beiden Männer deutete, die immer noch schlafend an Deck lagen. „Wasser für die Bastarde!" rief er. „Bringt sie auf die Beine." Dann wandte er sich höhnisch grinsend den Arwenacks zu. „Der Kapitän wird geruhen, sich nachher mit euch zu unterhalten." Old O'Flynn überlegte im ersten Impuls, ob er nicht einfach sein Holzbein heben und einen dieser Kerle erschießen sollte. Aber da war der Mann im Ausguck, der sofort gefeu-
ert hätte, und da waren die Offiziere, die alle Pistolen trugen. Und sicher gab es noch mehr bewaffnete Kerle, die er auf Anhieb nicht sah. Es hatte keinen Zweck, er mußte warten und vor allem die Kameraden darüber informieren. Es durfte nichts überstürzt werden, sonst riskierten sie nur unüberlegt ihr Leben. Ein paar der Strolche, die an Deck herumlungerten, hatten Pützen hochgehievt und leerten sie über den Schnarchern aus. Die Schnarchtöne verstummten. Die Kerle prusteten und jaulten dann auf, als die Neunschwänzige sie traf. Im nächsten Augenblick waren sie auch schon auf den Beinen, wobei kräftige Fäuste nachhalfen. Es waren die Burschen, die sich gestern abend auch schon in der Pinte „Tor zum Hades" aufgehalten hatten. Man hatte sie ebenfalls kurz und schmerzlos eingesackt und verfrachtet. Jetzt gehörten sie zur Besatzung, genau wie die vier Arwenacks. Die beiden schwiegen allerdings verängstigt, denn Horn hatte ihnen gleich den Schneid abgekauft mit seiner Neunschwänzigen, die er ihnen noch einmal nachdrücklich vor die erschreckten Gesichter hielt. „Nun zu euch", sagte er höhnisch. „Ihr wollt den Kapitän sprechen. Nur zu! Am Niedergang zum Quarterdeck bleibt ihr stehen. Wenn ihr auf die Stufen geht, dann ziehe ich euch eins über." Er drehte sich um und rief laut nach achtern: „Mister Blair, vier Strolche, die glauben, etwas Besseres als die anderen zu sein, möchten Sie sprechen. Ist es gestattet, Sir?" „Schicken Sie das Gesindel nach achtern, Mister Horn." Die Stimme des Kapitäns klang herablassend und beleidigend.
49 Hier ist nur von Strolchen, Gesindel und Bastarden die Rede, dachte Carberry. Sie waren nicht mehr als der letzte Dreck und wurden auch dementsprechend behandelt. Er nahm sich vor, das so schnell wie möglich zu ändern, aber die Gelegenheit war noch nicht da. Sie mußten tatsächlich erst einmal abwarten. Unter den hämischen Blicken der anderen Kerle gingen sie langsam nach achtern. Horn folgte ihnen mit der Neurischwänzigen. 7. Aus der Nähe wirkte der Kapitän mehr als übel. Jetzt sahen sie, daß er ein zahnloser Kerl war. Er schien nicht einen einzigen Zahn im Mund zu haben. Wahrscheinlich hatte ihm der Scharbock einmal ordentlich zugesetzt, jene unangenehme Mangelkrankheit, die das Ausfallen der Zähne bewirkte, wenn man nichts dagegen tat oder tun konnte. Nase und Kinn des Kapitäns stießen wie bei einer scharfen Zange fast zusammen. Einen ähnlichen Kerl hatten sie gestern in der Spelunke gesehen. Dieser hier aber hatte Falten und Runzeln auf der Oberlippe, und er erinnerte an einen uralten zahnlosen Greis. Er war aber keinesfalls alt, das verrieten seine Augen und seine Bewegungen. Er starrte die vier an, sagte aber kein Wort. Nur Mund und Kinn schienen sich jetzt bei ihm zu berühren. Er sieht wie ein Aasgeier aus, dachte der Profos. Wie einer, der jeden Augenblick darauf lauert, um über sein Dorf hinterrücks herfallen zu können. „Ich werde reden", sagte Ferris
Tucker und trat die restlichen zwei Schritte bis zum Niedergang vor. „Wir möchten eins klarstellen", sagte Ferris entschieden. „Wir sind Seeleute auf einem Schiff unter Kapitän Sir Philip Hasard Killigrew und liegen etwas weiter oberhalb an der Themse. Wir erhielten gestern Ausgang und haben versprochen, bis gegen Mitternacht wieder zurück an Bord zu sein. Wir wollten ebenfalls heute morgen in See gehen." „Seid ihr doch auch", sagte Horn hinter ihnen grinsend. „Zu was dann die ganze Aufregung? Ihr seid doch unterwegs." Ferris beachtete den Kerl nicht, was Horn mit einem unwilligen Grunzen zur Kenntnis nahm. „Wir wollen versuchen, das gütlich zu klären, Captain Blair", sagte Ferris ruhig. „Man hat uns in der Kneipe heimlich einen jener berüchtigten Schlummertrunks verabreicht, die auch die stärksten Kerle umhauen. Das ist aber gegen unseren Willen geschehen, und wir sind damit keinesfalls einverstanden." „Weiter!" zischte Blair. Es war das einzige Wort, das er bisher gesprochen hatte. Dabei krümmte sich seine Nase noch mehr, und er sah aus, als beiße er hinein. „Wir sind widerrechtlich an Bord gebracht worden. Unser Kapitän kann nicht in See gehen." „Dann soll er es bleibenlassen", sagte Horn verächtlich. „Wer ist denn schon dieser dämliche Sir?" „Das ist kein dämlicher Sir, du Affenarsch!" brüllte der Profos. „Das ist Sir Hasard, von der Königin zum Ritter geschlagen und in England und weit darüber hinaus als der Seewolf bekannt." Auf der vergammelten Galeone
50 trat eine Stille ein, als hätte sich das Schiff in Luft aufgelöst. Niemand sprach ein Wort. Der Kapitän verzog das Gesicht, hob langsam die Hand und wischte sich über die Lippen. Er starrte die Themse hinunter, als sähe er dort Gespenster. Auch Horn, der einen Schritt zur Seite getreten war, sah die vier Männer verblüfft an. Den „Affenarsch" hatte er offenbar überhört. „Ihr seid ja alle so still geworden", sagte Shane. Seine Worte klangen in der Stille wie Hammerschläge. „Glaubt ihr nicht, daß ihr euch die falschen Leute an Bord geholt habt?" Der Blick des Kapitäns wurde tükkisch, seine Augen noch schmaler. „Was erwarten die ehrenwerten Gents denn jetzt?" „Unsere Freilassung", sagte Ferris. „Das wäre für beide Seiten gut. Ihr legt hier an, und wir gehen in aller Freundschaft von Bord. Der Vorfall ist dann vergessen. Wir sind freie Seeleute, und das wollen wir auch in Zukunft bleiben." „Ein guter Vorsatz", sagte Blair. „Aber frei ist nur der Vogel in der Luft, und selbst der muß sich vorsehen, daß er nicht in einen Käfig gesperrt wird." „Überlegen Sie es sich, Mister Blair", sagte Ferris. „Noch kann alles gütlich geregelt werden. Wir sind vernünftige Menschen, die mit sich reden lassen, und wir wollen auch keine eingesperrten Vögel sein, die gefangen in einem Käfig sitzen. Wenn Sie uns gegen unseren Willen an Bord behalten, handeln Sie sich eine Menge Ärger ein." Blair kicherte leise. Der Name des Seewolfs hatte ihn beeindruckt, denn wer kannte ihn in England nicht! „Ich kann euch auch in Eisen schlie-
ßen lassen, vorn in der Vorpiek, die ganze Reise lang." „Was völlig widersinnig wäre", sagte Shane verächtlich. „Zu was lassen Sie Leute pressen, wenn Sie die einsperren? Sie müßten diese Leute verpflegen und hätten nicht mal ihre Arbeitskraft zur Verfügung." „Ich muß gar nichts, ich kann euch auch verhungern lassen und dennoch zur Arbeit zwingen." „Dann entscheiden Sie sich", sagte Carberry grollend. „So oder so." „Und möglichst rasch", fügte Old O'Flynn hinzu, „sonst ist der Rückweg für uns zu lang." Blairs verhaltenes Grinsen wurde niederträchtig. „Mister Horn", sagte er schneidend. „Bringen Sie diesem Gesindel die Furcht Gottes bei, und seien Sie nicht zu sanft. Jeder erhält ein Dutzend Hiebe für Unbotmäßigkeit und Frechheit. Und dafür, daß diese Hurensöhne mir gedroht haben, werden sie solange in Eisen geschlossen, bis wir im Kanal sind. Danach dürfen sich die Strolche an Deck austoben." Horn wollte mit der Neunschwänzigen sogleich in Aktion treten. Aber genau in diesem Augenblick sah er sich vier Wölfen gegenüber, die sich von einem Augenblick zum anderen völlig verändert hatten. Eben waren sie noch friedlich gewesen, doch jetzt stießen sie das Tor zur Hölle auf. Der Profos wirbelte herum, als Horn die Neunschwänzige hob. Er schoß seine mörderische Rechte ab, die Horn auf die Nase traf. Der Untersetzte raste davon, wie aus einem Rohr getroffen. Am Großmast prallte er hart auf, dann sackte er zusammen und blieb mit blutverschmiertem Gesicht liegen.
51 Ferris Tucker erwischte einen anDer Profos war der einzige, der sich deren Kerl und schickte ihn mit ei- noch rasend zur Wehr setzte. Er war nem eisenharten Hieb auf die Plan- von einem knappen Dutzend Männer ken. eingekeilt und ließ die Fäuste nach alOld O'Flynn schnappte sich einen len Seiten fliegen. der Kerle, die heller gekleidet waren Edwin Carberry hatte keine als die anderen. Er drosch ihm beide Chance mehr. Er mußte zwangsläufig Fäuste auf die Ohren und riß das mit fliegenden Fahnen untergehen, linke Knie hoch, als der Mann zusam- denn die Kerle drangen jetzt von almensackte. Das Knie funktionierte len Seiten mit Fäusten, Handspaken dabei wie eine Faust und krachte dem und Belegnägeln auf ihn ein. Kerl unter das Kinn. Zwei oder drei der Galgenvögel erAn Bord der Galeone, deren Namen wischte der Profos noch mit seinem sie nicht kannten, war die Hölle los, berüchtigten Hammer. Den Kerlen als die Fetzen flogen. wurde fast das Kreuz ausgehängt, als Shane rammte einem anderen die die Schläge trafen. Sie verrenkten Rechte in den Magen. Der Schlag sich Kiefer und Hälse und kippten trieb den Mann die Stufen des Nie- auf die Planken. derganges hoch. Er raste auf das Ach„Soll ich erst deine anderen Kerle terkastell und krachte mit dem Kreuz erschießen lassen?" brüllte der Kapians Geländer. Die anderen griffen in den Kampf tän. Da erst gab der Profos auf, als ein. Es waren zu viele. Sie drangen nichts mehr zu retten war. Das Leben auf die vier Arwenacks ein und überseiner Kameraden wollte er denn rollten sie buchstäblich. Der Kapitän richtete eine doppel- doch nicht riskieren. Als er die Fäuste hängen ließ, läufige Pistole auf Old O'Flynn. schlich einer der Kerle heran und „Bleib so stehen", sagte er scharf, „sonst reißt dir diese Kugel den Kopf drosch ihm einen Koffeynagel von hinten über den Schädel. ab!" In dem Tumult, Gebrüll und GeCarberrys Augen wurden glasig, dränge hatte Old Donegal wieder und er knickte mit einem leisen Stöhkeine Gelegenheit, seine Geheim- nen in den Knien ein. waffe einzusetzen. Er blieb stehen, Damit war der Kampf fürs erste beals er sah, daß es keinen Ausweg gab, endet. denn jetzt griff auch der MusketenKeuchend standen ramponiert wirschütze aus dem Ausguck ein. kende Kerle herum. Auch der SchinEs knallte laut. Dicht vor Carberrys der Horn, der hier als Zuchtmeister Stiefeln fetzten kleine Holzsplitter oder Offizier fungierte, erhob sich aus den Planken. Der Kerl hatte halb benommen. Mit seiner Pranke schon die zweite Muskete in der Hand fuhr er durch das Gesicht und verund legte erneut an. wischte das Blut, das ihm aus der Zwei der höheren Chargen zielten Nase lief, noch mehr. jetzt mit ihren Waffen auf Ferris und Er hob seine Neunschwänzige auf, Shane. Die dritte Pistole war auf Old sah Carberry auf den Planken knien Donegal gerichtet. und wurde zur reißenden Bestie. Wie
52 ein Wahnsinniger hieb er auf ihn ein, bis sein Arm lahm wurde. Von den anderen wurde das stillschweigend geduldet. Der Kapitän schien sogar noch seinen Spaß daran zu haben. „Immer drauf auf die Bastarde!" schrie er. „Bringt ihnen die Furcht Gottes bei!" Das war wohl einer seiner Lieblingssprüche, denn er gebrauchte ihn bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Horn drosch mit der Neunschwänzigen weiter um sich. Er sah gar nicht mehr, wen er traf. Er schlug wahllos auf Männer ein, die in seiner unmittelbaren Nähe standen. Einer der Gepreßten nahm seine Chance zur Flucht wahr. Jedenfalls glaubte er, eine Chance zu haben. Er zog sich aus dem Getümmel zurück und sprang mit einem schnellen Satz über Bord. Dabei schrie er laut und gellend. „Schießt den Bastard ab!" schrie Blair. Der Kerl im Ausguck hatte offenbar seinen Spaß daran, aus sicherer Deckung heraus auf Wehrlose zu schießen. Er schob die Muskete über den Rand und lauerte, bis der Flüchtling wieder auftauchte. Der Mann tauchte prustend auf, sah sich gehetzt um und versuchte, sich zum Land hin zu orientieren. Es war nicht weit weg, nicht mal eine halbe Kabellänge. Dann begann er, um sein Leben zu schwimmen. „Auf was wartest du noch?" tobte Blair. Er sah wie ein böser Gnom aus mit seiner zangenförmigen Nase. Er hielt eine Pistole in der Faust und zielte ins Wasser. Aus dem Ausguck löste sich donnernd ein Schuß. Der Mann im Was-
ser schrie laut auf und griff sich an den Hals. In seiner Nähe färbte sich das Wasser rötlich. Sein Kopf sackte zur Seite. Dann verschwand er in einer kleinen Welle und tauchte nicht mehr auf. „Ihr Schweine!" brüllte Old O'Flynn, außer sich vor hilfloser Wut. „Ihr verdammten Schweine!" Horn zog ihm eins über. Es geschah so schnell, daß Old Donegal den Halt verlor und auf die Planken fiel. Vom Ufer aus verfolgten ein paar Fischer das Drama, das sich auf der alten Galeone abspielte, mit Entsetzen. Der Kapitän richtete seine Pistole jetzt auf Shane, der von vier Kerlen festgehalten wurde. Einer hatte ihm ein Messer an den Hals gesetzt und grinste hart. Ferris Tucker blutete am Kopf. Er war ebenfalls hilflos und konnte nichts unternehmen. Zorn, Wut und Haß auf diesen Mörder erfüllten ihn. Er hätte Blair in diesem Augenblick umbringen können. Ein zweiter Mann setzte über Bord. Auch er gehörte zu den Gepreßten, die sie im „Tor zum Hades" vereinnahmt hatten. „Spring nicht, die knallen dich ab!" rief Ferris noch, doch es war schon zu spät. Dicht am Backbordschanzkleid tauchte der Mann ins Wasser und kam erst im Kielwasser der rasch themseabwärts segelnden Galeone wieder hoch. Er riß schon triumphierend die Arme hoch, als es auch ihn erwischte. Der Kerl im Mastkorb schoß mit tödlicher Genauigkeit. Der Mann verschwand in einer brodelnden Wasserwolke. Auch er tauchte nicht mehr auf.
54 Blair nickte dem Mordbuben im Ausguck zu. „Sehr gut!" rief er hinauf. „Dafür kriegst du eine Extraration vom Besten. Halte weiterhin die Augen auf." Oben lud der Kerl in aller Ruhe die Musketen nach. Er war sichtlich stolz auf sich selbst. „Fesseln, die Bastarde", befahl Blair. „Bindet sie ins Want. Und dann, Mister Horn, werden Sie dem Gesindel einen Vortrag halten, wie ich es immer vor Antritt einer Reise zu tun pflege. Diesen Vortrag werden Sie entsprechend würzen. Mit dem Kätzchen, versteht sich," „Aye, Mister Blair, mit Vergnügen." Die vier Arwenacks wurden ans Want gebunden, gedemütigt, geschunden und ihrer Freiheit beraubt.
Noch zwei andere Männer, die sich renitent gezeigt hatten, wurden ebenfalls gefesselt. Einen davon hatten sie bereits flüchtig in der Kneipe gesehen. An Deck war die Ordnung oder das, was die Kerle darunter verstanden, wiederhergestellt. Blair wirkte zufrieden und ging auf dem Achterdeck langsam auf und ab. Horn nahm seine an den Enden blutige Peitsche und ging ebenfalls langsam hin und her. Dabei holte er immer wieder aus und ließ die Neunschwänzige erbarmungslos auf die Rücken der gefesselten Männer klatschen. Die Arwenacks bissen die Zähne zusammen und gaben keinen Ton von sich. „So, ihr Lumpenpack", sagte Horn tückisch. „Ihr habt gesehen, wie es jenen erging, die flüchten wollten. Sie
wurden erschossen, und wer es ebenfalls versuchen will, wird auch erschossen. So einfach ist das. Ihr seid gemustert und bleibt bis zum Ende der Reise an Bord, egal, wie lange diese Reise dauert. Wer aufmuckt, empfängt die Peitsche, wer frech wird, kann sich unter dem Kiel umsehen, und wer Befehle verweigert, der kriegt einen langen Hals an der Rah. Für jeden, der hier krepiert, arbeitet der andere doppelt. Ihr fahrt für Kost und Logis und habt weiter keine Ansprüche zu stellen. Ist das klar?" Er sah Shane durchdringend an. „Ob das klar ist, du Bastard, will ich wissen? Das heißt: Aye, aye, Mister Horn." „Leck mich am Arsch, Mister Horn", sagte Shane wutentbrannt. „Scher dich zur Hölle, du Mistkerl. Wir werden noch Gelegenheit haben, miteinander abzurechnen." Horn prügelte in einem Anfall von Jähzorn auf den Ex-Schmied von Arwenack ein. Shanes Hemd zerfetzte an den Schultern. Aber er zuckte mit keiner Wimper und spie dem Kerl verächtlich vor die Füße. Damit handelte er sich weitere Hiebe ein. Er sagte nichts mehr, aber in seinen Augen lag ein gefährliches Funkeln. Auch aus Carberry, Tucker und Old Donegal brachte er keinen Ton heraus. Sie warfen ihm nur wilde Blicke zu. „Ihr empfangt jeden Tag Prügel, verlaßt euch darauf", sagte er. „Solange, bis ihr gebrochen seid, und das geht verdammt schnell. Soll ich die Halunken jetzt in Eisen schließen lassen, Mister Blair?" fragte er den Kapitän. Blairs Augen waren nur noch ein
55 schmaler Strich. Sein Kinn stieß fast O'Flynn. Er hatte große Mühe, sein wieder an die Nase. Dann schüttelte tückisches Grinsen zu verbergen. er den Kopf. Horn war über diesen plötzlichen „Damit ist mir nicht gedient. Zwei Sinneswandel nicht sonderlich Bastarde sind weg, und wenn jetzt erstaunt. Schon viele störrische Kerle noch mal vier verschwinden, dann waren mit der Peitsche bekehrt worfehlen mir zu viele Leute. Nein, bin- den und hatten es sich anders überdet die Kerle los, aber bleibt ständig legt. Sie alle hatten Angst, hündische bewaffnet in ihrer Nähe und behaltet Angst, geschlagen zu werden. Das sie im Auge. Den alten Knacker war seine Erfahrung, und bisher war schickt ihr mir aufs Achterdeck. Der es auch nie anders gewesen. Man bleibt vorläufig in meiner Nähe. mußte diesem Gesindel nur zeigen, Wenn einer von den Halunken auf- wo es lang ging, dann begriffen sie muckt, wird der Alte erschossen." sehr schnell und wurden gefügig. Horn ließ die Männer losbinden. Er ließ sie aber trotzdem nicht aus „Ihr geht an die Pumpen", sagte er den Augen, denn er war ein mißtrauimit verkniffenem Gesicht. „Und scher Kerl, hinterhältig und grausam, schön willig, sonst wird eurem Kum- und was er sich selbst zutraute, das pan das Licht ausgeblasen. Versucht nahm er auch von anderen an. nicht noch einmal, aufsässig zu werOld O'Flynn stakste auf seinem den." Holzbein nach achtern und mußte so Shane, Ferris und der Profos wech- an der Schmuckbalustrade Aufstelselten einen schnellen Blick. Jeder lung nehmen, daß Blair ihn immer im von ihnen nickte unmerklich, ohne Auge behalten konnte. Damit er nicht daß Horn es merkte. Es war eine ge- untätig herumstand, drückten sie heime Absprache zwischen ihnen, die ihm eine grobe Bürste und eine Pütz nicht mehr besagte, daß sie zumin- mit Seifenlauge in die Hand. Damit dest so tun würden, als kuschten sie. mußte er den Handlauf schrubben. Zuerst einmal mußten die Kerle in Si„Schön sauber, Alter", höhnte cherheit gewiegt werden, alles andere Blair. „Ich werde das persönlich brachte nichts ein. Sie saßen am kür- überwachen. Wenn ich mit deiner Arzeren Hebel. beit nicht zufrieden bin, laß ich dich „In Ordnung", sagte der Profos ein bißchen über Bord hängen und gleichmütig. „Wir wollen nicht stän- nachschleifen. Hast du schon mal dig geprügelt werden. Es hat gelangt. Kielwasser gesoffen?" Wir werden gehorchen." „Ein paarmal schon, aber das war „Mister Horn heißt das am Ende. kein Themsewasser, es war SalzwasWiederhole den letzten Satz noch ein- ser. Deshalb ist meine Stimme auch mal, du narbiger Bastard." so rauh und heiser." Carberry hatte einen Seeigel im „Dann streng dich nur an, damit du Hals, aber er nickte. „Wir werden ge- deine Stimme nicht ganz verlierst. horchen, Mister Horn." Wäre doch schade darum, oder?" „Das hört sich schon besser an. Und Als Old O'Flynn nicht gleich antdu bewegst dich jetzt nach achtern, wortete, holte Blair aus und trat ihm Alter", sagte er zu Old Donegal. mit dem Stiefel kraftvoll ans Holz„Aye, aye, Mister Horn", sagte Old bein. Old Donegal verlor den Halt
56 und landete erneut auf den Planken. Blair fand das offenbar sehr lustig, denn er stieß ein meckerndes Gelächter aus. Das alte Rauhbein ließ sich nichts anmerken. Nur sein Gesicht war kantig geworden, und in seinen Augen schimmerte ein Licht, das Blair nicht zu deuten wußte. Er kannte Donegal Daniel O'Flynn eben noch nicht, sonst hätte ihn das Zeichen alarmieren müssen. Währenddessen arbeiteten die drei anderen Arwenacks an den Pumpen und mußten mächtig ranklotzen, denn der alte Kahn suppte an allen möglichen und unmöglichen Stellen und zog immer wieder Wasser. 8. Hasard ging wie ein Tiger auf dem Deck der Schebecke hin und her. Wie ein Tiger, den man in einen zu engen Käfig gesperrt hatte und der seine Bewegungsfreiheit suchte. Schon lange vor Sonnenaufgang war er wach gewesen. Es war eine innere Unruhe, die ihn aus der Koje getrieben hatte und nicht mehr schlagen ließ. Da hatte bereits festgestanden, daß der Profos, Ferris, Shane und Old Donegal fehlten. „Um Mitternacht wollten sie zurück sein", brummte er. „Jetzt ist es fast sechs Uhr, und die Kerle sind immer noch nicht da. Um diese Zeit wollten wir lossegeln und mit dem Ebbstrom rausgehen, aber die Gents müssen natürlich kräftig über die Stränge schlagen. Ich glaube, da ist mal wieder ein ganz verdammtes Donnerwetter fällig." „Ich verstehe deinen Ärger", sagte Don Juan, „aber ich kann mir nicht
vorstellen, daß gleich alle vier versackt sind. Sie wissen selbst, daß wir auslaufen wollen, und ich bin sicher, daß sie einigermaßen pünktlich zurückgekehrt wären. Da muß etwas passiert sein, das solltest du für alle Fälle mal in Betracht ziehen." Hasard tigerte weiter auf und ab. Über seiner Nasenwurzel stand eine steile Falte, und die Narbe in seinem Gesicht hatte sich etwas ins Rötliche verfärbt. Abrupt blieb er stehen und sah den Spanier an. Neben ihm stand Dan O'Flynn, der zu Don Juans Worten zustimmend nickte. „Vielleicht hast du recht", sagte er knapp. „Aber der liebe gute Ed ist dabei, und der haut gern m a l . . . " „Aber nicht, wenn er genau weiß, daß wir auslaufen wollen", sagte Dan ruhig. „Das hat er noch nie getan. Pflichtbewußtsein geht ihm immer über alles, Sir. Zumindest wäre er besoffen an Bord gewankt, aber er wäre auf Biegen oder Brechen erschienen - und die anderen natürlich auch. Darauf verwette ich meinen Hals." Hasard sah die Männer der Reihe nach an und beruhigte sich langsam. „Wahrscheinlich ist es ungerecht von mir", sagte er dann. „Aber ihr müßt mich auch verstehen. Wir wollen ein paar Neuigkeiten über unseren Stützpunkt erfahren und den Wikinger suchen, und jetzt passiert ausgerechnet das. Vier Mann, die auf eine Sauftour gehen, kehren nicht an Bord zurück. Was soll ich davon halten, zumal ich weiß, daß zumindest einer von ihnen gern rumstänkert und es nicht lassen kann, eine Kneipe auseinanderzunehmen, nur weil es ihm Spaß bereitet?" „Dadurch kann es ja zum Ärger gekommen sein", sagte Don Juan. „Es
57 hat möglicherweise Streit gegeben, nicht weiter. Warten wir ab, was die und man hat sie festgenommen. Dem anderen herausgefunden haben. Sie Profos ist ja in Plymouth auch etwas werden wesentlich länger brauchen. Unerwartetes widerfahren, womit Ich hoffe nur, daß unsere Männer nicht in ein anderes Stadtviertel geniemand gerechnet hat." Hasard wurde noch nachdenkli- gangen sind." Die anderen brauchten wesentlich cher. „Das stimmt", gab er zu. Dann länger. Was bei Dan, Smoky und nickte er unmerklich. „Schön, dann Blacky keine zwei Stunden gedauert sollten wir auch nicht länger untätig hatte, dauerte bei ihnen bis kurz vor warten. Möglicherweise ist doch et- zehn Uhr. Dann erschienen sie wieder was passiert. Die Kerle sind nach an Bord - mit recht bedrückten GeSouthwark ins übelste Viertel ge- sichtern, wie Hasard feststellte. törnt. Ein paar Mann werden sich „Überhaupt keine Spur gefunden?" dort umhören und versuchen, eine fragte der Seewolf gespannt. Spur zu finden. Schmeißt die ein„Doch", sagte der Waffen- und schlägigen Kneipenwirte aus den Fe- Stückmeister Al Conroy. „Wir haben dern und fragt sie aus. Smoky, Dan uns zwar recht unbeliebt gemacht, als und Blacky werden sich bei der wir die Wirte zu so früher Stunde Stadtgarde und der Polizei umhören. rausholten, aber das hat uns nicht Es genügt, wenn eine Handvoll Leute weiter gestört. Sie waren in einer an Bord bleiben, aber wir müssen et- Kneipe, die sich ,Crazy Man' nennt, was in Erfahrung bringen." eine verlotterte Pinte mit einem ausLuke Morgan, Al Conroy, Pete Bal- gesprochen dämlichen Wirt. Dort hatlie, Bob Grey, Stenmark und Bill zo- ten sie eine Keilerei." gen gleich darauf los, um sich in „Dachte ich es mir doch", sagte HaSouthwark umzuhören. sard und schlug klatschend die rechte Smoky, Dan und Blacky begannen, Faust in die linke Handfläche. „Gejene Bereiche abzuklappern, wo vor- nau das hatte ich erwartet - eine Keinehmlich die Stadtgarde Kontrollen lerei. Und weiter?" vornahm. Sie waren schon nach „Sie waren ganz friedlich und haknapp eineinhalb Stunden wieder zu- ben die Schlägerei auch nicht angerück und hatten sogar dem Tower ei- fangen oder provoziert", berichtete nen Besuch abgestattet. Al sachlich. „Sie wurden angestän„Ein paar Festnahmen sind er- kert und haben sich gewehrt. Danach folgt", berichtete Dan. „Aber von un- sind sie weitergezogen." seren Leuten war keiner dabei. Es „Wohin?" sind alles fremde Namen. Unsere Al Conroy zuckte resigniert mit den Mannen sind offenbar nirgendwo un- Schultern. angenehm aufgefallen." „Es ist wie verhext, Sir. Ihre Spur Inzwischen lief der Ebbstrom ab. verliert sich, sie waren scheinbar in Hasard trat ans Schanzkleid und keiner einzigen Kneipe mehr. Wir hablickte in das dunkle Wasser. ben alles abgeklappert, aber niemand „Dann gibt es wenigstens mit der hat sie gesehen. Es gibt da recht Polizei keinen Ärger", sagte er. „Das merkwürdige Kneipen mit ebenso ist zwar beruhigend, aber es hilft uns idiotischen Namen wie ,Tor zum Ha-
58 des' oder ,Black Moon', aber dort waren sie nicht. Wir haben mit den Wirten gesprochen, gedroht und gebrüllt - Fehlanzeige. Von da an waren sie wie vom Erdboden verschwunden." „Das gibt es doch nicht", sagte Hasard verärgert. „Sie können nicht aus einer Kneipe herausspazieren und sich in Luft auflösen. Gibt es da noch mehr Spelunken?" „Keine mehr, Sir. Wir haben alle abgeklappert. Zwei hatten sogar schon geöffnet. Niemand hat unsere Leute gesehen, obwohl ich ganz genaue Beschreibungen gab. Schließlich fallen sie überall auf." Hasard nahm seine Wanderung wieder auf. „Zumindest sind sie unübersehbar", sagte er. „Dann sollten wir mit Plymmie die Suche fortsetzen", schlug Jung Hasard vor. „Sie kann von der Kneipe ,Crazy Man' ganz sicher noch die Spur aufnehmen." „Ob das was bringt?" fragte Ben zweifelnd. „Heute nacht hat es geregnet, und der Sturm tobte noch durch Straßen und Gassen. Da sind längst alle Spuren verwischt." „Wir versuchen es trotzdem", entschied Hasard. Sie kehrten genauso ratlos zurück, wie sie gegangen waren. Sie fanden nicht den geringsten Hinweis.
Blair gefiel es, seine Laune an Old O'Flynn auszulassen. Es bereitete ihm Spaß, den Alten zu quälen und zu piesacken. Er ahnte jedoch nicht, daß der „harmlose Alte" alles andere als harmlos war, wenn bei ihm gewisse Grenzen überschritten wurden. Dann nämlich wurde Old Donegal zu einem
wahren Satan und konnte wie ein Faß Schießpulver hochgehen. An Bord wurde weiterhin die Peitsche geschwungen. Auch Ferris, Carberry und Shane, die angeblich nicht schnell genug an den Pumpen arbeiteten, kriegten das neunschwänzige Monstrum mehrmals zu spüren. O'Flynn schrubbte weiter den Handlauf und lauerte auf eine günstige Gelegenheit. Sie war schneller da, als er dachte. Der gnomenhafte Kapitän stellte ihm wieder ein Bein und lachte sich halb tot, als Old Donegal ausglitt. Er krümmte sich und zeigte hohnlachend auf den hilflos an Deck liegenden Mann. „Aber Alter!" rief er. „Du fällst ja dauernd um. Sind dir noch keine Seebeine gewachsen?" Dann sah er den Blick Old Donegals und wurde blaß. Er hatte noch nie solche Augen gesehen. „Ich warne dich, zu zahnloser Affe!" zischte O'Flynn. Blair sprang einen Schritt zurück und zog seine Pistole. Er zitterte vor Wut am ganzen Körper. Er hatte sie noch nicht richtig in der Faust, als er auch schon feuerte. Old O'Flynn sah die Waffe und rollte sich zur Seite. Dicht neben seiner Schulter schlug die Kugel ins Deck, haute eine Delle in das Holz und pfiff plattgedrückt gegen die Verschanzung. Was dann folgte, ließ die Kerle auf der alten Galeone augenblicklich zu Stein erstarren. Old O'Flynn, immer noch auf den Planken liegend, sah, daß Blair noch einmal feuern wollte. Er hob das Holzbein etwas an und riß gleichzeitig an dem „Zöpfchen". Die Wirkung war erstaunlich. Aus
59 seiner Beinprothese fauchte ein langer rötlicher Blitz. Es krachte laut, als sei das ganze Achterdeck geborsten. Jede Bewegung auf dem Schiff war erstarrt, denn was da auf dem Achterdeck geschah, mußte Hexenwerk sein. Die Offiziere und Mannschaften stierten mit weit geöffneten Augen nach achtern. Das Blei war dem Kapitän in die linke Schulter gefahren. Die Auftreffwucht trieb ihn bis ans Schanzkleid zurück. Dort glitt er langsam auf die Planken und blieb auf den Knien liegen. Old O'Flynns Holzbein rauchte, als sei es in Brand geraten. Er war so schnell auf den Beinen wie selten in seinem Leben. Zwei schnelle Schritte, und er war am Schanzkleid. Blitzschnell hob er die Pistole mit dem trichterförmigen Lauf auf und hielt sie Blair an den Kopf. „Wenn sich einer von euch rührt, knalle ich den Bastard ab!" rief er wild. „Ich puste ihm Blei in den Kürbis, so wahr ich ein O'Flynn bin. Versucht es nur, ihr Hundesöhne!" Blair hatte eine Hand auf seine Schulter gepreßt. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor, das er entsetzt anstarrte. Der Rudergänger trat von der Pinne zurück und hob verstört die Arme. „Nicht schießen!" kreischte er angstvoll. Die Galeone überließ er in diesem Moment sich selbst, und sie lief auch prompt aus dem Ruder. Auf diesen Augenblick hatten auch die drei anderen Arwenacks gewartet und ihn sehnsüchtig herbeigesehnt. Jetzt war die Gelegenheit endlich da, es den Bastarden zu zeigen.
Sie handelten blitzschnell, denn sie waren von dem „Hexenwerk" keinesfalls überrascht. Ferris ließ den Pumpenschwengel sausen und stürzte sich auf den peitschenschwingenden Horn. Er schlug ihm die Faust an den Schädel und entriß ihm mit einem schnellen Griff die Waffe. Dann blickte er nach oben in den Ausguck, wo der Musketenschütze stand. „Laß es bleiben", warnte er. „Wirf deinen Schießprügel über Bord und enter ab, aber ganz schnell, sonst gibt es ein Loch in diesem Hohlkopf." Er hielt Horn die Pistole an die Schläfe. Carberry und Shane waren ebenfalls nicht untätig geblieben. Auch sie hatten auf eine Gelegenheit gelauert, und jetzt ging alles schnell. Einer der Bewacher erhielt einen Tritt, der ihn der Länge nach über das Deck beförderte. Auch ihm wurde die Pistole entrissen. Ein weiterer Mann wurde vom Profos mit zwei wuchtigen Hieben außenbords gedroschen und verschwand brüllend in der Themse. Der Kerl im Ausguck war noch unschlüssig, ob er den Befehl befolgen solle. „Befehl es ihm", sagte Old O'Flynn genüßlich zu Blair. „Wenn er auch nur einen Schuß abgibt, du zahnloser Mummelgreis, dann saust das Stück Blei aus dem Pusterohr durch dein Ohr, und dann ist der kleine Mann, der darin sitzt, auf der Stelle tot. Du wohl auch", fügte er hinterhältig grinsend dazu. „Nicht schießen", keuchte Blair. „Lauter, sonst hört er es nicht." „Nicht schießen!" schrie Blair verzweifelt. „Er tötet mich sonst. Wirf die Muskete über Bord!" Der Ausguck sah gehetzt von einem
60 zum anderen. Er sah, daß der Kapitän in der Gewalt des Alten war, daß Horn eine Pistole am Schädel hatte und ein weiterer Offizier im Würgegriff des Riesen mit dem grauen Bart hing. Außerdem hatte er noch ein Messer an der Kehle. Er sah auch, daß die anderen Kerle vor Angst schlotterten und sich nicht bewegten. Der Profos ging inzwischen von einem zum anderen und zog ihnen die Messer und Waffen aus den Gürteln. Zwei Pistolen steckte er selbst ein, die anderen warf er über Bord. Mit der dritten Pistole legte er auf den unrasierten Kerl im Ausguck an und grinste hart. Da flog die Muskete über Bord und landete aufklatschend im Wasser. „Und nun runter mit dir, du Rübenschwein", befahl der Profos. „Aber dalli, wenn ich bitten darf, sonst hole ich dich." Old O'Flynn hatte den Kapitän inzwischen auf die Planken gezwungen, hockte sich auf seinen Brustkasten und hielt ihm die Pistole dicht unter die Nase. „Du gehst wieder ans Ruder", fauchte er den verstörten Rudergänger an. „Und du segelst weiterhin Flußmitte, kapiert?" Der Kerl nickte nur und übernahm wieder das Ruder. Der Profos empfing den abenternden Musketenschützen unten an Deck. „Hat Spaß gemacht, die beiden Kerle abzuschießen, was, wie?" fragte er sanft. „Ist doch eine feine Sache, Männer zu erschießen, die unbewaffnet sind, im Wasser schwimmen und sich nicht wehren können. Kannst du schwimmen, du dreckige Wanze?" „Nur ein paar Züge", sagte der Kerl
winselnd. „Ich habe es nie gelernt. Ich will nicht ins Wasser." Der Profos griff nach einem Tampen, drehte den Kerl herum, stieß ihn hart an den Mast und fesselte ihm die Hände auf dem Rücken. Dann gab er ihm eine Ohrfeige, die ihm fast der Schädel abriß. „Über Bord mit dir", sagte er hart. „Ich kann nicht schwimmen." „Du kannst mit den Beinen schwimmen. Aber du kannst es auch anders haben, und zwar hier an Ort und Stelle." Er griff nach einem weiteren Tampen. Blitzschnell legte er ihm dem winselnden Kerl um den Hals. „Ihr zieht ihn jetzt an der Rah hoch", sagte er zu den anderen Kerlen. „Und ihr haltet ihn solange fest, bis sein Hals doppelt so lang ist. Er kann sich aber auch fürs Schwimmen entscheiden." „Nicht an die Rah!" schrie der Kerl. „Nicht hängen!" „Dann also über Bord mit dir!" Carberry packte ihn am Genick, stieß ihn vorwärts, griff einmal kurz zu und hievte ihn über Bord. Er drehte sich nach dem Kerl kein einziges Mal mehr um. Wenn der Hundesohn ersoff, hatte er es nicht besser verdient. Schließlich hatte er unschuldige Menschen auf dem Gewissen. „Jetzt zu euch anderen Bastarden!" rief er. „Ihr versammelt euch alle mittschiffs und bleibt da regungslos stehen. Ihr seht, daß sich das Blättchen gedreht hat, und ihr könnt die Hoffnung aufgeben, daß es sich noch einmal ändern wird. Hier wird sich nichts mehr ändern. Ihr habt uns unsere Freiheit genommen und uns mißhandelt, und dafür werdet ihr jetzt bezahlen - alle, ohne Ausnahme. Mit
61 Hundesöhnen eurer Art habe ich kein Mitleid." „Was - was haben Sie vor?" fragte Horn heiser. „Ah, plötzlich bist du höflich, was, wie?" Vorhin hast du uns beleidigt, getreten und geschlagen, du feige Ratte. Ihr habt euch den Teufel an Bord geholt, als ihr uns in der Kneipe den Schlummertrunk einflößen ließet." Der Profos nahm die Neunschwänzige und sah sie sich an. „Weißt du,. wie die neun Enden schmecken?" fragte er. „Das - das können Sie nicht tun, Sir. Um Gottes willen, ich bin noch nie geschlagen worden." „Dann wird es höchste Zeit", sagte Old Shane. „Der Mann ist nämlich Profos und wird dir jetzt zum Tänzchen aufspielen. Nun ertrage es wenigstens wie ein Mann, du winselnder Mistbock." Sie hatten das Schiff unter Kontrolle. Keiner von den Kerlen wagte eine Bewegung. Vor diesen höllischen Burschen hatten sie eine hündische Angst. Carberry nickte Shane und Ferris zu. Die beiden zogen dem Schinder die Arme auseinander, bis sein Kreuz noch breiter und wuchtiger wurde. Emotionslos schlug der Profos zu. Er empfand keine Freude am Prügeln und hielt die Bestrafung mit der Peitsche für eine Schande, die eines Menschen unwürdig war. Aber dieser Bastard bildete eine Ausnahme. Er sollte am eigenen Leib spüren, wie es war, ausgepeitscht zu werden. Er riß ihm auch nicht das Hemd herunter. Ein wilder Schrei gellte über die Themse, als der erste Schlag traf. Beim dritten fetzte das Hemd ausein-
ander, und auf dem Kreuz des Schinders blühten rote Muster auf. Nach dem achten Schlag brach er schreiend und kreischend auf den Planken zusammen, und dann war er bewußtlos. Carberry zerbrach den Stiel der Neunschwänzigen und warf den Rest angewidert über Bord. „Bring den sogenannten Kapitän zur Kuhl, Donegal!" rief er. „Und du segelst den Mistkahn gefälligst weiter, sonst ziehe ich dir die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch!" blaffte er den Rudergänger an, der erschreckt zusammenzuckte. Blair war an Leib und Seele gebrochen, als ihn Old Donegal mit der Pistole zur Kuhl trieb. Vor Carberry blieben sie stehen. Der Profos musterte Blair verächtlich. „Wir haben dir vorhin einen Vorschlag unterbreitet", sagte er kalt. „Und wir haben weiter erklärt, daß wir freiheitsliebende Männer seien, die es hassen, eingesperrt zu werden. Weiter haben wir dir verklart, daß du dir im anderen Fall Ärger einhandeln wirst, denn wir sind Männer des Seewolfs und keine Hosenscheißer wie dein anderes Gesindel. Den Ärger hast du jetzt. Du wolltest uns die Furcht Gottes lehren, du scheinheiliger Hund. Ist das dein verdammter Kahn?" fragte er dann überraschend sanft. „Ich hätte euch ja freigelassen", jammerte Blair. „Es war nur ein - ein äh - Scherz. Wollte sehen, was ihr sagt." „Das hast du ja gesehen. Über den Scherz lachen wir später. Ist das jetzt deine verdammte Galeone oder nicht?"
62 „Sie gehört mir. Ich habe sie gekauft." Der Kerl zitterte heftig. „Was hast du geladen und wohin?" „Keramik, Glas und Porzellan nach Frankreich." „Glas hört sich gut an", sagte der Profos nachdenklich. „Das zerspringt doch sicher, wenn es ordentlich bumst, wie?" Ferris Tucker grinste breit. „Was hast du vor, Ed?" „Ach, nur ein kleiner Scherz. Dieser Bastard liebt doch Scherze. Wir doch auch, was, wie?" Die Arwenacks grinsten bis zu den Ohren. „Na also", sagte der Profos hart. „Ich habe ganz einfach was dagegen, wenn wieder Leute gegen ihren Willen auf deinen lausigen Torfkahn gepreßt werden. Dann hat auch der Wirt vom ,Tor zum Hades' keine Gelegenheit mehr, menschliche Ware an dich zu verhökern, weil es freiwillig ja keiner bei dir aushält." „Ich - ich verstehe nicht", jammerte Blair. „Ganz einfach. Wir setzen deinen Torfkahn vierkant auf die Felsen, die sich ungefähr eine halbe Meile weiter an der Biegung befinden. Unter vollem Preß, versteht sich, damit es auch schön scheppert." „Das können Sie mir nicht antun!" schrie Blair. „Dieses Schiff ist alles, was ich habe. Ich werde nie mehr im Leben das Geld für ein solches Schiff zusammenkriegen. Nein, nein, das lasse ich nicht zu." „Du kannst dich ja später als Spucknapfentleerer verdingen", schlug der Profos vor. „Oder du läßt dich in der Kneipe zur Abwechslung mal selber pressen. Vielleicht triffst du dann auch auf einen so netten und
freundlichen Kapitän, wie du einer bist." Blair hielt immer noch die Hand auf die Wunde gepreßt. Seine Augen drohten ihm aus dem Kopf zu fallen. Aber der Profos klopfte ihm nur gönnerhaft auf die Schulter und grinste auf seine ganz bestimmte Art, die allen anderen Grauen einflößte. „Paßt gut auf ihn auf", riet er. „Und ihr anderen Kerle setzt jetzt jeden Fetzen Tuch, der an den Rahen Platz hat. Aber dalli, sonst stecke ich euch in den Laderaum, und dann sauft ihr ab." Die Kerle taten, was er verlangte, und setzten die drei restlichen Segel, während Carberry nach achtern ging. „Dein Dienst ist zu Ende", sagte er zu dem Rudergänger. „War dein letzter Tag hier an Bord. Hau ab, du Rübenschwein!" Der Rudergänger flitzte los. Carberry übernahm selbst die Pinne und sah in die entsetzten Gesichter der Kerle. Horn kam wieder zu sich und stöhnte entsetzlich. Mit blutunterlaufenen Augen starrte er zu dem narbigen Kerl am Ruder. „So ist das", sagte Old Shane. „Das alles hättet ihr euch ersparen können, aber ihr wolltet es ja anders." Weiter vorn, wo die Themse einen kurzen Bogen beschrieb, tauchten winzige Wasserwirbel auf. Dort befanden sich kleine Felsen dicht unter der Wasseroberfläche. Fast jeder kannte diese tückischen Wirbel und Steinbarrieren, und jeder schlug einen weiten Bogen um sie. Nicht so Edwin Carberry. Der sah nach den Segeln und fand, daß sie gut standen. Der Ebbstrom hatte auch noch mächtige Schubkraft. Der Profos hielt genau auf die
63 tückischen Bänke zu, unter vollem Preß. Wenn Blair gehofft hatte, alles sei nur ein Bluff, und der Narbenmann würde im letzten Augenblick noch abdrehen, so sah er sich getäuscht. Der Narbenmann drehte nicht ab. Die Wirbel wurden größer, deutlicher. Jetzt, bei Ebbe, ragten etliche scharfe Zacken aus dem Wasser. Blair sank auf die Knie und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Er sah wie eine uralte Mumie aus. Carberry ließ die Pinne sausen, grinste höllisch und hielt sich am Schanzkleid fest. Die beladene Galeone brummte auf. Sie raste mit aller Kraft in die Felsen und wurde dabei jählings wie von einer Riesenfaust gestoppt. Es splitterte und krachte. Rahen polterten an Deck. Die Fock neigte sich und schlug schwer auf den Großmast, der teilweise zersplitterte und zu Bruch ging. Der alte Kahn hatte tatsächlich Glas geladen, Porzellan und Keramik. Daran herrschte gar kein Zweifel, denn die berstenden, splitternden, klirrenden und scheppernden Geräusche waren unverkennbar. Dort unten ging alles zu Bruch, was die Galeone geladen hatte. Nach dem Anprall platzte der morsche Bug auseinander, Planken zerfetzten und zersplitterten. Der traurige Rest legte sich auf die Seite. Das Schiff war nur noch ein Wrack. Es würde nie wieder eine Reise antreten. Wie ein zerplatztes Ungeheuer hing es zwischen den Klippen, zerfetzt, geborsten, zerbrochen und entmastet. In der Themse trieben Trümmer, Holzstücke, ein paar Fässer und eini-
ge Kerle, die hilferufend an Land schwammen und völlig entnervt waren. „Ihr braucht nicht mal zu schwirrtmen", sagte Carberry nach dem totalen Desaster zu den verstörten Kerlen. „Ihr könnt einfach über die Steine spazieren und nach Hause gehen. So halten wir es auch." Und dann waren sie weg, auf dem
Weg zurück an Bord, wo niemand gepreßt und geschlagen wurde. Später gab es ein großes Hallo, als die vier Arwenacks den verblüfften Mannen ihre Geschichte erzählten. „Es begann also alles in der Kneipe ,Tor zum Hades'?" fragte Hasard. „So war es, Sir." „Nun, dann besuchen wir die Kneipe heute doch einmal und segeln erst morgen früh los", schlug der Seewolf vor. „Oder hat einer etwas dagegen einzuwenden?" Ein freudiges Gebrüll antwortete ihm.
64
Am späten Abend gab es in London das zweite Desaster, und der hinterhältige Riesenschrat stierte später betrübt auf die Trümmer in seinem
„Hades". Er konnte allerdings nicht mehr viel sehen, denn der Profos hatte seine segnenden Hände erhoben und ihm die Klüsen dichtgehauen ...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 614
Holländer-Gold von Burt Frederick Die Schebecke der Seewölfe lief auf die beiden ankernden Fleuten zu, die offenbar damit beschäftigt waren, aus einer anderen, halb gesunkenen Fleute Ladegüter abzubergen. Hasard wollte den Holländern Hilfe anbieten, aber die Mijnheers schienen darauf keinen Wert zu legen. Im Gegenteil, die eine Fleute setzte Segel, ging ankerauf und steuerte der Schebecke entgegen, während auf der anderen die Stückpforten geöffnet wurden. Hasard zögerte noch, Befehl zum Abdrehen zu geben. Vermutlich mußte er den Mijnheers zuerst einmal erklären, daß er die Absicht habe, ihnen zu helfen. Er irrte sich. Sie wollten sich gar nicht helfen lassen, sondern den Schnüffler vertreiben. Und das taten sie, indem sie der Schebecke einen Schuß vor den Bug setzten...