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Das Studium der klassischen Homöopathie Von Elisabeth Wright-Hubbard M. D, Nach dem englischsprachigen Original ‚A Brief Study Course in Homoeopathy’ ins Deutsche übertragen von Dr. med. Klaus-Henning Gypser
Karl F. Haug Verlag - Heidelberg CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Wright-Hubbard, Elizabeth: Das Studium der klassischen Homöopathie / von Elizabeth Wright-Hubbard. Nach d. engl. -sprachigen Orig. ... ins Dt. übertr. von Klaus-Henning Gypser. - Heidelberg: Hang, 1990. Einheitssacht.: A brief study course in homoeopathy
ISBN 3-7760-0683-8 © 1982 Karl F. Hang Verlag GmbH & Co., Heidelberg 1. Auflage 1990 Titel-Nr. 1683 - ISBN 3-7760-0683-8
E. Wright-Hubbard: Das Studium der klassischen Homöopathie
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INHALT Vorwort Die Bedeutung der Homöopathie Die Grundlagen der Homöopathie Das Studium des Patienten Das Studium der Arzneien Der Wert der Symptome Die Repertorisation Kents Repertorium Bönninghausens Repertorium Boerickes Repertorium Die Verschreibung Potenzwahl Repetition Verschlimmerung Die zweite Verschreibung Die Arzneimittelverwandtschaften Das Verschreiben nach pathologisch-anatomischen Gesichtspunkten Das Problem der Unterdrückung Die Führung des homöopathisch behandelten Patienten Die Anfangsschwierigkeiten in der homöopathischen Praxis Ungewöhnliche, seltene und eigentümliche Symptome Die Regeln für die Verschreibungen Die Stellung der Diät in der Homöopathie Die Gefahren bei der homöopathischen Verschreibung
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3 4 10 18 26 32 37 37 42 43 46 46 50 54 57 59 64 66 70 75 83 86 88 92
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Vorwort
Die vorliegende Übersetzung entstand auf Anregung von Herrn Dr. med. J. Künzli von Fimmelsberg, dem ich an dieser Stelle dafür herzlich danken möchte. Er war persönlich mit Dr. med. E. WrightHubbard bekannt und schätzte sie als ausgezeichnete Vertreterin der klassischen Homöopathie. Dr. med. E. Wright-Hubbard wurde von Dr. med. Pierre Schmidt in Homöopathie ausgebildet. Sie ließ sich in New York City nieder und praktizierte dort bis zu ihrem Tod im Jahre 1967. Ihr umfangreiches Wissen hinsichtlich der genuinen Homöopathie Hahnemanns schlug sich in vielen Arbeiten, die hauptsächlich in amerikanischen Zeitschriften veröffentlicht wurden, nieder. Sie war Präsidentin des "American Institute of Homoeopathy" und auch Herausgeberin der Zeitschrift dieser Gesellschaft. Einst als Serie in einem amerikanischen homöopathischen Journal publiziert, vermittelt die Abhandlung einen Einblick in die Grundlagen und Praxis der Homöopathie. Der Text wendet sich nicht nur an Anfänger, sondern auch der Fortgeschrittene wird nützliche Hinweise aus der großen Praxiserfahrung der Autorin erhalten. Meiner Frau danke ich für die Hilfe beim Erstellen der Übersetzung, dem Verlag für die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Glees, im März 1990 Dr. med. Klaus-Henning Gypser
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Die Bedeutung der Homöopathie
Was ist Homöopathie? Der Ordnungsliebende vertritt die Ansicht, man sollte mit einer Definition beginnen und zuerst verschiedene Nachschlagewerke konsultieren. In diesem Fall ist das Ergebnis unbefriedigend, wie Definitionen immer sind, da sie in den meisten Fällen nur Teile und sogar positive Feststellungen oft ungenau wiedergeben, wie im Beispiel des "Medical Dictionary" von Dorland. Soweit man die Abstammung des Wortes im Griechischen zurückverfolgen kann, bedeutet es "Ähnliches Leiden". Die vier Eckpfeiler der Homöopathie, wie sie Hahnemann in seinem Organon aufstellte, können kurz folgendermaßen wiedergegeben werden: 1. Die Prüfung der zur Heilung dienenden Mittel am Gesunden. 2. Die Auswahl und Verschreibung der so geprüften Mittel nach dem Ähnlichkeitsgesetz. 3. Das Einzelmittel. 4. Die minimale Dosis.. Angenommen, das sind die vier Grundsätze der Homöopathie, wie sie von ihrem offiziellen Begründer und Förderer Hahnemann dargelegt wurden, so erhebt sich nun die Frage nach dem Status der Homöopathie. Bildet sie ein medizinisches System? Handelt es sich um einen reinen, sektiererischen Terminus oder ein therapeutisches Spezialgebiet? Um die Frage des Status beantworten zu können, müssen wir zu den einfachen Fakten herabsteigen und schauen, was die Homöopathie von der Schulmedizin trennt und was beide gemeinsam haben. Man fängt gerne mit einer gemeinsamen Basis an. Worin besteht die Aufgabe aller gewissenhaften Ärzte? Wir würden kategorisch antworten: Die Kranken zu heilen, andere vor Krankheiten zu schützen und den Gesundheitsstandard der Menschheit zu heben. In welcher Weise versucht die moderne Medizin, diesem gerecht zu werden? Zuerst dadurch, daß sie sich unter Zuhilfenahme der Anatomie, Physiologie, physiologischen Chemie etc. bemüht herauszufinden, was normal ist. Zweitens untersucht sie, welche Variationen von Krankheiten es gibt. Die moderne Medizin betont, daß viele Gesundheitsstörungen psychischen oder sozialen Ursprungs sind. Daneben forscht sie nach anatomischen oder physiologischen
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Veränderungen beim Kranken und teilt diese, wenn aufgefunden, in eine Krankheitsnomenklatur ein. Diese Zuordnung nennt man Diagnosestellung, und es ist eine allgemein verbreitete Ansicht, daß die Heilungschancen in großem Maße von der Richtigkeit der Diagnose abhängen. Die organischen, strukturellen Veränderungen, die mit der Krankheit in Zusammenhang stehen und vor oder nach dem Tod gefunden werden, teilt man der Pathologie zu. Man weiß, daß viele Krankheiten von irgendeiner Art Bakterien begleitet werden, die nun als eine der Ursachen betrachtet werden. Kurz gesagt, glaubt die moderne Medizin, daß sie alle Fakten, die in ihr Krankheitskonzept passen, ausfindig machen muß. Alles das erkennt der homöopathische Arzt an, doch ist ihm klar, daß darin nur der Anfang besteht, was er von seinem Patienten wissen muß. Die spontanen, charakteristischen Dinge, die jeder Patient erzählen möchte, mögen sie allgemein oder höchst speziell sein, sind von besonderem Wert für den Homöopathen, da er bei seinen Fällen individuelleren, indem er die einzelnen Reaktionen seines Patienten auf die Krankheit, an der er leidet, herausbringt. Der vielbeschäftigte, moderne Arzt glaubt, diese Sachen nicht wissen zu müssen; sie sind für ihn keine Signale sondern Wirrwarr. An diesem Punkt angelangt, ist die moderne Medizin bereit, die diagnostizierte Krankheit zu heilen. Welchen Heilungsgesetzen folgt sie? Zuerst dem Prinzip des gesunden Menschenverstandes, mechanische Fehler zu korrigieren und geeignete Diät und Hygiene einzuleiten etc. Was nun die Verabreichung von Medikamenten angeht, wird jedes Jahr weniger - mit Ausnahme der neuen, patentrechtlich geschützten Substanzen - an den medizinischen Hochschulen gelehrt, und es sind auch immer weniger in der Pharmacopoe zu finden und im Gebrauch. Diejenigen, die nun verabreicht werden, verordnet man nicht einheitlich nach einer Gesetzmäßigkeit. Die Bemühungen gehen dahin, sie nach physiologischen Gesichtspunkten einzusetzen, was soviel heißt, daß mit ihnen in starker Dosierung in den Laboratorien, hauptsächlich an Tieren, experimentiert wurde. Nun wird mehr oder weniger erwartet, daß das, was das Herz eines Frosches, Kaninchens oder Hundes verlangsamt, es ebenso beim Menschen vollbringt. Höchst selten sind in jüngster Zeit pharmakologische Experimente mit relativ gesunden Menschen durchgeführt wor-
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den. Im Tierversuch ermittelt man Labordaten, außerdem werden viele Arzneien an Kranken getestet und gehen dann je nach Wirksamkeit in allgemeinen Gebrauch über. Einige wenige moderne Therapieformen zielen darauf hin, das Individuum als Typ zu behandeln, so z. B. die Hormontherapie; doch die Mehrzahl der modernen Drogen bewirkt bestimmte physiologische Effekte an einem Organ oder einer Körperfunktion (ohne Rücksicht auf das Individuum, dessen Organ oder Funktion gestört sind), wie z. B. Cholagoga, Digitalis, Diuretica etc. Ein Großteil der Medikamente führt nicht einmal physiologische Veränderungen herbei (die Mittel werden nach der Regel contraria contrariis verordnet) noch wird chemisch antidotiert (z. B. alkalische Substanzen bei übersäuertem Magen), sondern sie wirken offensichtlich nur palliativ (wie die verschiedenen schmerzstillenden Mittel für Kopfweh, Neuralgien etc.). Kurz gesagt, setzt sich der überwiegende Teil der modernen Therapie das Ziel, lästige individuelle Symptome zu beseitigen und unternimmt keinen Versuch, auf die konstitutionelle Ursache der Erkrankung einzugehen. Der Erfolg dieser Therapieform ist dementsprechend. Mehr und mehr wird der modernen Medizin bewußt, daß ihr Vorgehen viel unterdrückt. Zum Beispiel versichern einige Asthma-Spezialisten, daß die Behandlung von Ekzemen mit Salben Asthma hervorruft; Syphilis-Spezialisten behaupten, daß die Syphilistherapie mit Salvarsan und Quecksilber im Frühstadium zu einer beträchtlichen Zunahme neuro-syphilltischer Fälle führt. Einige Ärzte vertreten die Ansicht, daß starke Salicylgaben den Rheumatismus zum Herzen treiben und Chinin nicht Malaria heilt, da sie oftmals jährlich wiederkehrt oder auch häufig von Neuralglen abgelöst wird. Interessant für weitere systematische Studien ist der Umstand, daß viele tatsächlich geheilte Fälle, für die rein nach physiologischen Gesichtspunkten oder symptomatisch verschrieben worden war, ohne Wissen des Behandlers ein Simile im homöopathlschen Sinn erhalten hatten. Homöopathische Ärzte benötigen, genau wie andere Ärzte auch, eine anerkannte wissenschaftliche Ausbildung; sie müssen Diagnosen stellen können und mit Labordaten umzugehen wissen. Ihre spezielle Schulung setzt in dem Moment ein, wenn man zur Therapie kommt, wobei sie natürlich eine umfassende Krankheitstheorie und Wissen um die Individualität eines jeden Patienten mitbringen. Worin diese
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besteht, wird im folgenden besprochen. Wie wir zu den entsprechenden Kenntnissen über den Patienten als Individuum gelangen, ist Inhalt eines späteren Kapitels. Die Homöopathie beruht auf der Hypothese, die so alt wie Hippocrates ist, daß "Ähnliches Ähnliches heilt" (similia similibus curentur). Daß dieses Prinzip auf einem Naturgesetz beruht, sieht man bald, wenn man korrekt Homöopathie praktiziert. Der Beweis müßte auch im Labor erbracht werden können, doch wurde daran bisher noch nicht systematisch gearbeitet, hauptsächlich deshalb, weil die Homöopathen durch die praktische Anwendung ihrer Lehre so zufriedengestellt werden, daß sie den Laborversuchen keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Wir haben Methode und Stellung der modernen Medizin skizziert und gezeigt, in welchen Punkten sie mit der Homöopathie übereinstimmt. Es kann nicht schaden, kurz die Hauptunterschiede zwischen beiden Lehren, die im Verlauf der Abhandlung weiter ausgeführt werden, aufzuzählen: 1 . Es besteht ein Naturgesetz, "Ähnliches heilt Ähnliches". 2. Die Basis der Therapie ist mehr eine vitale als eine physiologische, d. h.' die Lebenskraft muß angeregt werden, den Patienten zu heilen. Darin besteht die einzige Möglichkeit, ihn wirklich zu hellen; jede andere Arzneitherapie ist palliativ oder unterdrückt. 3. Das Einzelmittel ist alles, was benötigt wird, wie sich aus Punkt 1 ergibt, da nicht zwei Dinge gleichzeitig einem anderen sehr ähnlich sein können. (Das Einzelmittel hat einen weiteren Vorteil: Man kann seine Wirkung abschätzen. Werden hingegen vier gegeben, ist es unmöglich zu beurteilen, welches half und in welchem Maß.) 4. Die Minimaldosis ist wesentlich. Das basiert auf der Arndt-Schulze-Regel, die besagt, daß geringe Dosen anregen, mittlere hemmen und große zerstören. Mit anderen Worten: Die Wirkung einer geringen und einer starken Dosis desselben Mittels auf das Lebewesen ist entgegengesetzt. Unter diesem Aspekt kommt die Potenzfrage ins Gespräch, von der wir noch mehr in einer späteren Lektion hören werden. Sie wird häufig als der größte Haken der Homöopathie angesehen. jedoch bildet sie zusammen mit dem Ähnlichkeitsgesetz den Schlüssel zur gesamten Lehre.
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5. Die Materia Medica muß wegen des Ähnlichkeitsgesetzes aus den Ergebnissen der Arzneimittelexperimente mit kleinen Dosen an relativ Gesunden zusammengesetzt sein (die sogenannte Arzneimittelprüfung). 6. Die Krankheit ist nicht ein reales Wesen sondern nur ein Versuch, die Manifestationen der Abweichungen des Individuums vom Normalen zu klassifizieren. 7. Individualisieren ist wesentlich, d. h., nicht zwei Leute sind in Krankheit und Gesundheit gleich. Obwohl sogar Homöopathen klassifizieren müssen, treffen sie weitaus feinere Unterscheidungen. Zum Beispiel existiert in der gewöhnlichen Medizin nur eine Krankheit mit Namen Pneumonie mit verschiedenen Untergruppierungen wie Broncho- und Lobär-Pneumonie, I, II, III, IV. Für den Homöopathen kommen so viele Typen vor, wie es Arzneimittelbilder gibt (jedes Mittel der homöopathischen Materia Medica kann bei einer Pneumonie indiziert sein, obwohl selten eines außerhalb der 30 oder 40 gebräuchlichsten benötigt wird). Theoretisch sollte es so viele verschiedene Pneumoniearten geben wie Patienten, die daran erkranken, doch im Vergleich zu der geringen Zahl geprüfter Mittel gegenüber der, die geprüft werden könnte, existieren bis heute eben nur so viele Pneumonietypen wie Mittel dafür. Mit anderen Worten: Homöopathen nehmen eine Einteilung in Aconit-, Bryonia-, Gelsemium-, Phosphorus-, Antimonium tart.- Pneumonien etc. vor. 8. Unterdrückung ist eine der größten Gefahren der Medizin. Dieses Thema erörtern wir in einem späteren Kapitel. 9. Die chronische Krankheit ist eine konstitutionelle Angelegenheit, mit deren theoretischem Hintergrund, der höchst bedeutsam ist, man beim Verschreiben vertraut sein muß. Niemand kann reine Homöopathie betreiben, ohne einen Begriff von den chronischen Krankheiten zu haben.
Nachdem die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Homöopathie und Schulmedizin aufgezählt worden sind, können wir nun zu unserer vorangegangenen Frage des Status der Homöopathie zurückkehren. Es handelt sich nicht um einen sektiererischen Terminus, obwohl selbst ein oberflächliches Studium ihrer Geschichte zeigt, wie notwendig es war, eine derartige Ansicht zu
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vertreten, was sowohl Gegner wie Befürworter taten. Die Homöopathie ist ein therapeutisches Spezialgebiet und wird als solches leichter von den modernen Studenten akzeptiert, nur ist sie eben mehr als nur das. "Medizinisches System" ist ein Begriff, der mir wenig vermittelt; er klingt wie irgendein Lehrbuch oder eine Abhandlung über eine der kleineren "Pathien". Die Homöopathie ist keine "Pathie", denn die Betonung liegt vielmehr auf dem ersten Teil des Wortes, auf dem "Homöo", der Ähnlichkeit, was wir uns merken sollten. Sie ist eine Heilmethode, die auf einem Gesetz beruht und wie alle großen Dinge auf einer umfassenden Theorie. Diese bildet den Mittelpunkt der Medizin, ob anerkannt oder nicht, und kann sich durchaus mit der modernsten Wissenschaft messen!
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Die Grundlagen der Homöopathie Die Theorie der Homöopathie kann man in drei Abschnitte gliedern: 1. In den theoretischen, der davon handelt, wie und warum die Mittel wirken; er ist jedoch so schwer verständlich, daß sich am besten nur die Fortgeschrittenen damit befassen. 2. In den didaktischen, der die Gesetze und Regeln betrifft. 3. In den praktischen, der die Anwendung derselben beim Verschreiben, außerdem die Interpretation der Reaktionen und die folgenden Verordnungen bis zur Heilung behandelt.
Wir wollen zuerst einen Blick auf den didaktischen Teil werfen. Gesundheit ist für einen Homöopathen ein harmonischer Zustand zwischen den einzelnen Organen und auch der Person im ganzen und dem Kosmos. Bei vollkommener Gesundheit wirkt bei Jedem Menschen die bislang unerklärte Lebenskraft unumschränkt. Gewöhnlich betrachtet man sie als heilenden Faktor im Krankheitsfall. Man verabreicht das Simile mit der Vorstellung, die Lebenskraft anzuregen. Hygiene und mechanische Eingriffe dienen dazu, ihr den Weg zu bahnen. Keine Arznei kann auch nur irgendeine Krankheit hellen, sie kann lediglich die Lebenskraft stimulieren, wieder in geeigneten Bahnen zu verlaufen. Für den homöopathischen Arzt ist Krankheit ein Zustand der Disharmonie, der mindestens drei verschiedene Faktoren einschließt: einen krankmachenden Einfluß, die Empfänglichkeit der betreffenden Person und die Individualität des Patienten, die die Krankheit entsprechend modifiziert. Es liegt nicht in der Absicht der Homöopathen, krankmachende Einflüsse anzugehen, sondern sie wollen vielmehr den Patienten hellen. Um diesen Prozeß in Gang zu bringen, muß das Simillimum appliziert werden. Symptome sind für den Homöopathen die Sprache des Körpers, der die Disharmonie äußert und nach dem ähnlichen Mittel ruft. Bei der Verschreibung ist die Gesamtheit der Symptome zu berücksichtigen, einschließlich der Gemütssymptome. Die Allgemeinsymptome, die etwas über den Patienten als Ganzes aussagen, beinhalten seine
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Reaktion auf meteorologische Einflüsse, Zeit, Körperfunktionen, Nahrung etc. Die Lokalsymptome betreffen nur einen Teil des Patienten. Deren Modalitäten (Verschlechterung und Besserung) sind zu beachten, wie auch besonders die Lokalsymptome, die selten, unge,wohnlich und eigentümlich sind. Außerdem mißt man den Ursachen, wie Beschwerden von Kummer, Durchnässen, Fahren im kalten 'Wind, Unterdrückung der Menses etc. und den pathologischen Symptomen, die die Beziehung der Mittel zu den bestimmten Geweben oder Organen anzeigen, Bedeutung bei. Die Homöopathie sieht akute Erkrankungen als Ausscheidungskrisen an, die, falls sie in der geeigneten Weise homöopathisch behandelt werden, den Körper in einem besseren Gesundheitszustand zurücklassen. Das bedeutet jedoch keinesfalls, daß man der akuten Erkrankung gestatten sollte, ihren Lauf zu nehmen; denn verabreicht man beim Aufkommen der Symptome das Simillimum, wird die Krankheit abgekürzt und der Organismus trotzdem gereinigt. Bei keiner akuten Erkrankung, die von Anfang an unter homöopathischer Behandlung stand, sollte es Todesfälle geben, und es sollten auch keine bleibenden Nachkrankheiten entstehen. Akute epidemische Krankheiten erfordern oft ein oder zwei Epidemiemittel, die je nach geographischer Lage verschieden sind. Das Epidemiemittel ist ein wunderbares Prophylaktikum, obwohl das chronische Konstitutionsmittel immer das beste Vorbeugungsmittel abgibt. Beschwerden, die auf eine akute Erkrankung folgen, sind genaugenommen kein Teil der akuten Krankheit, sondern ein Aufflackern der chronischen, wa3 der akute Zustand ermöglicht hat. Chronische Krankheiten schreiten immer weiter fort und zeigen keine Tendenz, unbehandelt auszuheilen Sie geben einen einzigartigen Wirkungskreis für die Homöopathie ab. Praktisch hat jeder einige Symptome einer latenten chronischen Krankheit. Für den Homöopathen bildet sie die Empfänglichkeitsbasis. Nach Betrachtung der Gesamtheit der Symptome von Geburt an kann ein tiefwirkendes, chronisches Konstitutionsmittel gewählt werden, das darauf hinzielt, künftige akute Erkrankungen zu verhindern und viele ererbte und erworbene Belastungen der Lebenskraft zu beseitigen. Hahnemann teilte die chronischen Krankheiten in drei Hauptgruppen oder Miasmen ein, in Psora, Syphilis und Sycosis. Diese können entweder einzeln oder miteinander kombiniert oder auch als Arzneikrank-
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heiten infolge unsachgemäßer Behandlung auftreten. Die Miasmen gehören wohl zur schwierigsten und strittigsten Frage der Homöopathie, doch ist die Bedeutung, die chronischen Krankheiten zukommt, nicht zu unterschätzen. Nachdem man für eine chronische Krankheit verschrieben hat, vorausgesetzt, man hat tatsächlich das Simillimum getroffen, verschwinden die Symptome nach Herings drei Heilungsgesetzen: von innen nach außen, von oben nach unten und in umgekehrter Reihenfolge ihres Auftretens. Das geschieht nur bei chronischen Erkrankungen, die homöopathisch behandelt werden. Daher kann man, macht man derartige Beobachtungen, sicher sein, daß man das heilende und somit das korrekte Mittel gefunden hat. Herings Gesetze sind so wichtig, daß wir ein Beispiel bringen möchten: Bei einem rheumatischen Fieber geben wir, nachdem die Gelenksymptome verschwunden sind, und das Herz angegriffen ist, das Simillimum. Daraufhin bessern sich die Herzsymptome, die Schmerzen in Schultern und Ellenbogen kehren zurück, verschwinden dann wieder, und nun werden Knie und Knöchel befallen; schließlich bessern sich auch diese, und der Patient ist vollkommen geheilt. Die Symptome gingen von innen nach außen (vom Herz zu den Gelenken), von oben nach unten (von den Schultern zu den Knien) und in umgekehrter Reihenfolge ihres Auftretens (vom Herz zu den Gelenken anstatt von den Gelenken zum Herz). Vergehen die Symptome nicht in dieser Reihenfolge, ist das Mittel falsch. Wenn ein Patient unter einem chronischen Mittel ein neues Symptom entwickelt, suchen Sie in Ihren Aufzeichnungen nach, oder fragen Sie den Patienten, um festzustellen, ob es sich dabei um die Wiederkehr eines alten handelt. (Das wäre ein gutes Zeichen und schließt jegliche Mittelgabe aus.) Handelt es sich nicht um ein altes Symptom, studieren Sie die Pathogenese der verabreichten Arznei. Taucht das Symptom im Prüfungsbild auf, gibt man nichts, andernfalls muß die Heilmittelwahl noch einmal überprüft werden. Diese Heilungsgesetze finden bei akuten Erkrankungen mitunter Anwendung, gewöhnlich jedoch nicht. Erscheint in der chronischen Symptomatologie eine Unterdrückung, wirkt, besonders wenn sie von einer starken medikamentösen Behandlung herrührt, das chronische Mittel nach dem dritten Heilungsgesetz und bringt manchmal die ursprüngliche Absonderung oder den Ausschlag zurück. Der Pro-
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zentsatz der Fälle, bei denen die Rückkehr am ursprünglichen Ort stattfindet, ist relativ gering. Unter guter Verschreibung jedoch setzt ein Herauswerfen der Krankheit ein, was sich z. B. in einem Durch fall oder Schnupfen äußert. Wird man nach der chronischen Verschreibung mit einer Absonderung konfrontiert, die mehr oder weniger akute Symptome aufweist, sollte man die Theorie oder Homöopathie genau kennen. Nun gilt es zu entscheiden, ob es sich erstens um die Rückkehr alter Beschwerden in ihrer ursprünglichen Form zweitens um eine Art Ventil, drittens um eine neue akute Störung oder viertens um eine Verschlimmerung handelt. Im ersten Fall muß man abwarten und Placebo geben und den Vorgang erklären, um den Patienten nicht zu verstören; im zweiten ist ebenso zu verfahren. Trifft andererseits die dritte Möglichkeit zu, oder der Patient wird durch die zweite zu sehr belästigt, oder mag es sogar gefährlich werden, verschreibt man ein akutes Mittel in niedriger Potenz (C 30 oder C 12, jedenfalls nicht höher als C 200). Dadurch wird die Wirkung des chronischen Mittels nicht zwangsläufig gestört. Oft ist die erforderliche akute Arznei unter den akuten Komplementärmitteln des chronischen Mittels zu finden. Handelt es sich nach Fall vier bei der Störung bloß um ein Anwachsen einer der Beschwerden des Patienten oder trifft man sie in der Pathogenese des verabreichten chronischen Mittels an, bezeichnet man das als eine Verschlimmerung. Hier sollte nichts gegeben werden, höchstens Placebo, es sei denn, es wird gefährlich (s. o.). Kommt es infolge der zu hohen Potenz des chromschen Mittels zu lebensbedrohlichen Situationen, ist ein Antidot angezeigt; dessen Wahl wird in einem späteren Kapitel besprochen. Besonders wichtig ist es, den Fall nicht durch unnötige Mittelgaben zu verwirren und zu verderben. Zu den akuten und chronischen Krankheiten gesellen sich natürlich noch die Arzneikrankheiten, ferner solche, die von mangelhafter Hygiene herrühren und solche, die in speziellen pathologischen Resultaten enden und chirurgischer Maßnahmen bedürfen, was auch Fremdkörperentfernung, Knochenbrüche, Extrauternigraviditäten etc. einschließt. Ein Wort möchte ich noch über pathologische Veränderungen und Chirurgie verlieren. Vom homöopathischen Standpunkt aus dienen viele dieser Resultate dem Schutz des Körpers, wie Abszesse, Geschwüre, Tumoren; sie stellen eine Bemühung der Lebenskraft
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dar, die Krankheit zu lokalisieren und hinauszuwerfen. Solche pathologischen Endresultate sollten chirurgisch nicht entfernt werden, bevor der erkrankte Organismus, der diese Zustände produziert hat, geheilt ist. Oft werden sie im Verlauf der Heilung kleiner oder absorbiert. Ist das nicht der Fall, bleiben sie als Fremdkörper bestehen und können nach völliger Genesung operiert werden. Ihr Entfernen vor der vollständigen Heilung bewirkt einfach das Schließen eines Ventils, wodurch man die Lebenskraft nötigt, ein anderes zu bilden, was entweder in derselben Weise oder durch tiefer sitzende Beschwerden geschieht. Was Operationen anbelangt, bestehen orthodoxe Homöopathen darauf, daß jede Form der Chirurgie, die nicht bloß der mechanischen Unterstützung dient (z. B. ventrales Fixieren des Uterus), ein entscheidendes Heilungshindernis bildet. Dahinter steht die Idee, daß man beim Entwirren der Krankheit nur bis zu dem Hindernis kommt, das die Chirurgen gesetzt haben und nicht weiter. Größte Beurteilungsfähigkeit ist nötig, entscheiden zu können, wann ein Fall zu weit fortgeschritten ist, um einer Arzneitherapie zugänglich zu sein. Somit hat die Notfallchlrurgie durchaus ihre Berechtigung. Nach einer Operation fährt man mit dem homöopathischen Mittel weiter. In jedem dieser Fälle, die falsch behandelt wurden, müssen die Symptome des Patienten, die vor der unpassenden Behandlung vorhanden waren, d. h. die ursprünglichen, in die Gesamtheit miteinbezogen werden. Nachdem wir einen flüchtigen Einblick in den didaktischen Teil genommen haben, gehen wir nun zum praktischen der Theorie über. Das Grundgesetz der Homöopathie lautet "similia similibus curentur" Wie man zu dieser Aussage, ferner zum Studium der Arzneien und der Patienten gelangt, ist Thema späterer Lektionen. Die Führung der Patienten, nachdem man das erste Mittel gewählt hat, gehört zu den schwierigen Kapiteln der Homöopathie. Zunächst muß das Einzelmittel verabreicht werden. Damit sind der Gebrauch zusammengesetzter Präparate, unhomöopathischer Hilfsmittel (Medikamente zum Abführen und Schmerzstillen) und Alternieren der Mittel ausgeschlossen. In einem Fall, der verschiedene miteinander komplizierte Miasmen aufweist, ist es unmöglich, die Gesamtheit der Symptome mit nur einem Mittel abzudecken. In diesem Fall muß man nach dem dominanten Miasma Ausschau halten und für die Gesamtheit der Symptome dieses Miasmas verschreiben. Wenn des-
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sen Symptome verschwunden sind, tritt vielleicht ein anderes Miasma hervor, für das nun wieder ein Einzelmittel gesucht wird. Manchmal ist ein Mittel indiziert, das sich bei allen Miasmen bewährt hat, wie z. B. Nitri acidum. Einzelmittel bedeutet nicht, daß ein Fall nur mit einem Mittel behandelt werden soll, obwohl man sich danach sehnt, sondern einfach nur ein Mittel zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß man weder ein Mittel leichtfertig verschreibt noch leichtfertig wechselt. Auch bei akuten Erkrankungen reicht man nur das Einzelmittel, obwohl mit Fortschreiten des Falls eventuell ein Wechsel in Betracht kommt, wobei gegen Ende der akuten Phase mitunter wieder das erste Mittel angezeigt ist, wie unsere Meister lehren. Weiteres über das Einzelmittel wird in der Lektion über die Verschreibung wieder aufgegriffen. Der wichtigste Punkt nach der Wahl des Einzelmittels ist die Frage der Dosierung. Die klassische Regel lautet: die minimale Dosis. Wir ziehen den Ausruck die günstigste Potenz vor, was soviel heißt wie die Potenz, die der Empfänglichkeitsebene des Patienten im jetzigen Zustand am meisten entspricht. Hahnemann verfolgt mit der ursprünglichen Wahl des Wortes Minimum zwei Absichten: Erstens, um die starken Dosierungen seiner Zeit zu verurteilen und zweitens, um hervorzuheben, daß sich die Wirkung hoher Potenzen von denen der rohen Substanz unterscheidet. Die gesamte Potenzfrage wird in einem späteren Kapitel vollständig erörtert. Die Frage der Gabenwiederholung ist als nächste von Bedeutung. Als simple Regel für Anfänger gilt, hohe Potenzen in Einzeldosis mit Placebo zu geben, niedrige Potenzen (C 30 und tiefer) eventuell häufiger. Nach Applikation der Einzeldosis muß man beobachten und abwarten. Die Wirkungsdauer der Mittel und die einflußnehmenden Faktoren werden später besprochen. Ein Anhaltspunkt ist, nichts weiter als Placebo zu geben, solange die Besserung anhält, d. h. mit anderen Worten, solange der Patient sich beständig besser fühlt ohne der Verschlimmerung einzelner Symptome zu starke Bedeutung beizumessen. Der Anfänger muß lernen, daß eine gute Sache nicht durch die Repetition besser wird; damit kann man alles verderben. je nach Fall, Potenz und Mittel kann eine Repetition bei akuten Situationen nach wenigen Stunden (oder nach einigen Minuten in aussichtslosen Fällen) oder nach Wochen, Monaten, einem Jahr oder noch längerer Zeit in chronischen Fällen nötig sein. Hier abzuwarten
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ist wohl das größte Problem für den eifrigen Anfänger. Er muß dabei die Situation richtig einschätzen, oder wertvolle Zelt wird vergeudet. Wie weiß er nun, ob er am korrekten Mittel ist, oder ob es noch wirkt? Bei akuten Erkrankungen sollte sich die Besserung innerhalb weniger Augenblicke bis hin zu zwei oder drei Tagen bemerkbar machen; bei chronischen dauert es manchmal von wenigen Stunden bis hin zu mehreren Wochen, mitunter geht es auch erst nach der zweiten Gabe vorwärts. Dann zeigen Herings Gesetze, wie schon vorher erwähnt, ob man auf der richtigen Spur ist. Während man die Wirkung des Mittels beobachtet, muß man die Arten der homöopatischen Verschlimmerungen im Kopf haben. Um eine Besserung zu erzielen, ist nicht unbedingt eine vorhergehende Verschlimmerung erforderlich, doch tritt sie auch oft bei hervorragenden Verschreibern auf. Bekommt man scharfe Verschlimmerungen, hat man sich meistens in der Potenz geirrt, oder es liegen ausgeprägte pathologische Veränderungen vor. Es gibt zwei Arten von Verschlimmerungen, Krankheits- und Arzneimittelverschlimmerung. Die erste betrifft lediglich den natürlichen Krankheitsprozeß und geht uns hier nichts an. Die zweite ist mehr ein Reinigungsprozeß, erlaubt Aussagen über die Prognose und tritt in zwölf verschiedenen Formen, die später besprochen werden, auf. Bevor man eine Repetition der Gabe in Betracht zieht, muß man erst eine Verschlechterung abwarten. Häufig fühlt sich der Patient sogar während der Verschlimmerungsphase allgemein wohler. Die zweite Verschreibung, die zu den wichtigsten theoretischen Punkten der Homöopathie zählt, wird später im Kapitel über die Verschreibung besser verstanden. Ein weiterer, sehr wesentlicher Aspekt der Theorie ist die Unterdrückung, die von zahlreichen Faktoren abhängt. Die unbehandelten Unterdrückungsresultate sind so schrecklich und häufig nicht erkannt und die Ergebnisse bei entsprechender Therapie so brillant, daß diesem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet wird. Einem Neuling die Theorie der Homöopathie klar und logisch zu erläutern, ist beinahe unmöglich. Dem Studenten wird daher dringend empfohlen, die folgenden Bücher gründlich zu lesen:
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Kent, J. T.: Zur Theorie der Homöopathie Close, Stuart: The Genius of Homoeopathy Gibson Miller, R.: A Synopsis of Homoeopathic Philosophy Hahnemann, S.: Organon der Heilkunst Dunham, C: Homoeopathy The Science of Therapeutics Hughes, R.: Manual of Pharmacodynamics
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Das Studium des Patienten "Ein gut aufgenommener Fall ist halb geheilt", sagte einer unserer Meister. Um eine gute homöopathische Verschreibung zu treffen, sind viele Informationen notwendig, die in der offiziellen Medizin keine Rolle spielen. Der homöopathische Arzt muß seinen Patienten spirituell, emotionell, geistig, physisch und soziologisch kennen. Er muß genügend Zeit haben, um alle diese Dinge herauszubringen. Solange er nicht alles zusammengetragen hat, darf er in einem chronischen Fall nichts weiter als Placebo verschreiben. Bei akuten Fällen muß er über dieselben Punkte soweit Bescheid wissen, wie sie den jetzigen Zustand betreffen. Stellen wir uns vor, daß ein neuer Patient zu einem homöopathischen Arzt zur Konsultation kommt. Wie geht man vor? I. Der Arzt muß so aufnahmefähig wie ein Fotoapparat sein, um das Erscheinungsbild des Patienten zu erfassen. Sein Verstand sollte frei von Vorurteilen und übereilten Meinungen sein. Gelassenheit und Aufrichtigkeit gehören zu seinen Eigenschaften, und nach der Begrüßung fragt er: "Was führt Sie zu mir?" Oder nachdem er gesagt hat, "erzählen Sie mir, worin Ihre Beschwerden bestehen", schweigt er. II. Der Arzt gibt dem Patienten die Möglichkeit, seine Geschichte auf seine Art zu erzählen. Fragen oder Unterbrechungen jeglicher Art bringen den Patienten in dieser Phase vom Thema ab und können daran Schuld tragen, daß der Arzt wesentliche Informationen nicht erhält. III. Der Arzt beginnt seine Beobachtung in dem Augenblick, wenn der Patient eintritt. Das Sprechzimmer sollte so eingerichtet sein, daß das Licht auf das Gesicht des Patienten fällt. Die Hauptpunkte, die beachtet werden müssen, sind folgende: 1. Die Persönlichkeit des Patienten 2. Sein erkennbarer Gemütszustand, sowohl auf sich als auch auf den Arzt bezogen (ob deprimiert, schüchtern, mißtrauisch, verschwiegen, furchtsam, verschämt etc.)
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3. Sein sichtbarer physischer Zustand (Krankheitszeichen in der Haltung, Erscheinung, Atmungsschwierigkeiten etc.) 4. Charakterzüge, die sich in Kleidung, Sauberkeit, Geschicklichkeit, Stolz etc. zeigen IV. Der Arzt notiert jede Einzelheit, die ihm bedeutsam erscheint, in der Sprache des Patienten. Sowohl das, was der Patient sagt, als auch das, was er selbst beobachtet, steht auf dem Papier in der linken Spalte, wobei zwischen den einzelnen Notizen mindestens 2,5 cm Platz verbleiben, damit später dort noch Text beigefügt werden kann, wenn der Patient wieder darauf zu sprechen kommt, oder wenn man danach fragt. Manche ziehen es vor, die alten Symptome auf einem Extrablatt niederzuschreiben oder in einer Spalte, die aktuellen physischen Symptome in einer anderen, die Gemütssymptome in einer dritten. Dieses Vorgehen erfordert jedoch Erfahrung und Geschicklichkeit. Für Anfänger ist es besser, alle Symptome nach der Reihe aufzuzeichnen und sie später beim Ausarbeiten des Falls zu sortieren. V. Wenn der Patient eine Pause einlegt, kann der Arzt sagen: "Was gibt es sonst noch?" Wenn er dann wartet, kommen oftmals weitere, wichtige Dinge zum Vorschein. Ist der Patient zurückhaltend oder macht er nur kurze und objektive Angaben, und ist der Arzt nicht in der Lage ihm zu verdeutlichen, noch weitere Ausführungen zu machen, muß diese passive Befragung verlassen und zu einer aktiven übergegangen werden. Das verschafft dein Patienten Kenntnisse über sich selbst. Ist er geschwätzig, erfordert es die begrenzte Zeit, Abschweifungen zu unterbinden und ihn wieder zum Thema zurückzubringen. Es bedarf höchsten Taktgefühls, ihn beim Wesentlichen zu halten und dennoch keine wichtigen Kleinigkeiten auszulassen. Vl. Wenn der Patient seine Erzählung beendet hat, kann der Arzt einige Bemerkungen über die Möglichkeiten unserer Mittel, über das Kennenlernen des gesamten Patienten und über die vielen Einzelheiten die gewöhnlich übersehen werden, machen. Das gefällt dem Patienten und sichert uns die Zusammenarbeit in den recht intimen Fragen, die noch folgen werden. VII. Die Daten, die bei einer gewöhnlichen Anamnese benötigt werden, sind bisher kaum angesprochen worden und sollen auch jetzt
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noch unbeachtet bleiben. Wenn nun die Konsultation vorüber ist und der Patient weder an akuten Schmerzen oder Beschwerden leidet, noch von weit hergekommen ist, kann für den nächsten Tag - falls möglich - ein weiterer Termin vereinbart werden. Dem Patienten sollte man ausdrücklich klar machen, daß man nun eine umfangreiche physische Untersuchung und die notwendigen routinemäßigen Labortests vornehmen muß. Eine 24-Stunden-Sammel-Urinprobe sollte mitgebracht werden. Das veranschaulicht dem Patienten, daß der Arzt sich nicht nur für alle Einzelheiten des Falls interessiert, sondern auch höchst wissenschaftlich vorgeht. VIII. Nun geht der Arzt jede aufgeschriebene Einzelheit wieder durch und fordert den Patienten auf, mehr darüber zu berichten. Hat der Patient ausführlich über jede Kleinigkeit Auskunft gegeben, muß der Arzt die Modalitäten herausbringen. Bestehen z. B. Magenschmerzen und der Patient berichtet aus freien Stücken, sie seien brennender Natur, hätten keine Beziehung zu den Mahlzeiten und keine Ausstrahlung, muß der Arzt nun herausfinden, was verschlechtert und bessert, zu welcher Zeit sie auftreten, ihre Begleitsymptome, ihre Beziehung zu Gemütszuständen, falls vorhanden, etc. Wenn jedes Symptom so modifiziert und ergänzt wurde, sieht man die Liste noch einmal durch und schaut, welche der möglichen vorhandenen Gemüts-, Allgemein- und Lokalsymptome noch nicht erwähnt worden sind und fragt den Patienten nun danach. IX. Alle Fragen des Arztes müssen so formuliert werden, daß der Patient nicht einfach mit ja" oder "Nein" antworten kann, sondern zuvor überlegen muß. Man sollte sich hüten, durch die Art der Fragestellung dem Patienten die Antwort in den Mund zu legen, und ferner darauf achten, ihn nicht nach Symptomen eines Mittels, das einem gerade eingefallen ist, zu befragen. Hat man in der Krankengeschichte ein ziemlich klares Arzneimittelbild entdeckt und möchte es fixieren, muß man sich hüten, den Patienten nicht auf die Antwort zu bringen, die man gerne hören möchte. Man kann sogar das Gegenteil unterstellen und die Reaktion abwarten. X. Wenn man die Punkte, die oben im Detail angegeben wurden, nach einem System skizziert hat, was der Neuling schon vor der Konsultation tun sollte, und was der Meister auswendig weiß (wir
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fügen ein Schema bei; siehe nächste Seite), muß man sicher sein, den Patienten nach jedem Organsystem und jeder Körperfunktion gefragt zu haben. Anderenfalls werden wichtige Einzelheiten ausgelassen, die vielleicht ein Leitsymptom, das zum Studium von einem oder mehreren Mitteln geführt hätte, abgegeben hätten. XI. Die Gemütssymptome und die charakteristischen Symptome des Patienten (die, wie in einer folgenden Lektion ausgeführt wird, zu den wichtigsten gehören, wenn sie stark hervortreten) sollen gewöhnlich zuletzt erforscht werden, wenn der Patient mehr Vertrauen gewonnen hat. Besonderes Taktgefühl und Einsicht sind auf Seiten des Arztes notwendig, um die emotionellen Anlässe der Erkrankung herauszufinden. Zum Beispiel wissen nur wenige Patienten daß Beschwerden durch Demütigung zu den wichtigsten Symptomen in ihren Fällen zählen, oder daß die Unterdrückung des Sexualtriebs oder Arger als führende Ursache ihrer Frkrankung dient. XII. Am Ende der Konsultation muß der Patient das Gefühl haben, daß der Arzt an seinem Fall höchst interessiert ist, daß er Stunden benötigt, den Fall gewissenhaft zu studieren (zu repertorisieren), und daß die homöopathische Therapie nicht nur Erleichterung, sondern grundsätzliche Besserung der gesamten Konstitution herbeiführen kann, vor künftigen Erkrankungen schützt und die Körperkräfte und das Wohlbefinden hebt. Gewissenhafte physische und routinemäßige Laboruntersuchungen oder irgendwelche Extratests, die durch die Krankengeschichte begründet sind, müssen bei jedem neuen und bei alten Patienten wenigstens einmal im Jahr vorgenommen werden. Ferner sollte man die Patienten anweisen, sich während der homöopathischen Behandlung keiner anderen Mittel zu bedienen. Auch muß gesagt werden, worin die Gefahren der Unterdrükkung liegen, wann sie sich wieder melden sollen und was sie als sofortige Wirkung der Behandlung er-warten können. Ein anderer Punkt kann noch von Wert sein, nämlich die Version der Familie oder enger Freunde. Das ist manchmal gefährlich, weil empfindliche Patienten es hassen, daß über sie gesprochen wird, doch kann der weise Arzt viele widersprüchliche Aussagen erhalten und dadurch zu einer genaueren und passenderen Beurteilung des Falls gelangen.
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Nun sollte man ein bemerkenswertes genaues Bild seines Patienten in allen seinen Phasen, subjektiv, objektiv und pathologisch, haben. Aus dieser Gesamtheit der Symptome kann sich durch korrektes Abschätzen der Symptome, wie in einer folgenden Lektion gezeigt wird, ein wahres Bild des Patienten und des Mittels herausschälen. Schema zur Fallaufnahme I. Die Erzählung des Patienten II. Modalitäten zu jedem der oben angeführten Symptome in folgender Reihe: a) Ursachen b) Vorstadium, Auftreten, Verlauf, Folgen, Dauer c) Charakter, Ort, Seitenbeziehung, Ausdehnung oder Ausstrahlung der Schmerzen oder Empfindungen d) Begleitende und alternierende Symptome e) Verschlechterung oder Besserung 1. Zeit (Stunde, Tag, Nacht, vor oder nach Mitternacht), Periodizität, Jahreszeit, Mondphasen 2. Temperatur und Witterung: gewöhnlich frostig oder warmblütig bei der gegenwärtigen Erkrankung-) nasses, trockenes, kaltes oder heißes Wetter; Wetterwechsel, Sturm oder Gewitter (vorher, während, hinterher); Sonnenhitze, Wind, Nebel, Schnee, frische Luft, warmes Zimmer, Ubergang von einem ins andere; stickige oder überfüllte Räume; Zugluft; Bettwärme, Wärme der Heizung; Aufdecken 3. Bad (kalt, heiß oder See); örtliche Anwendungen (heiß, kalt, naß oder trocken) 4. Ruhe und Bewegung (langsam oder schnell, Auf- oder Absteigen, Drehen im Bett, Anstrengung, Spazierengehen, bei der ersten Bewegung, nach einiger Bewegung, während der ersten Bewegung, nach der ersten Bewegung); Autofahren und Seekrankheit
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5. Haltung: Stehen, Sitzen (Knie gekreuzt, beim Erheben), Bücken (Aufrichten), Liegen (auf der schmerzhaften Seite, Rücken, rechts oder links, Bauch, Kopf hoch oder tief, Aufrichten vom Liegen); beim Zurück-, Vorwärts- oder zur Seite-beugen des Kopfes; beim Augenschließen oder -öffnen; irgendeine ungewöhnliche Haltung wie Knie auf der Brust 6. Äußerliche Stimulantien: starke oder leichte Berührung, Druck, Reiben, Einschnürung (Kleidung etc.); Erschütterung; Fahren; Auftreten; Licht; Lärm; Musik, Unterhaltung; Gerüche 7. Essen: allgemein (vorher, während, hinterher; heiße oder kalte Speisen oder Getränke), Schlucken (feste Nahrung, Flüssigkeiten, Leerschlucken), saure, fette, salzige Speisen, Salz, Stärke, Zucker oder Süßigkeiten, grünes Gemüse, Milch, Eier, Fleisch, Fisch, Austern, Zwiebeln, Bier, Likör, Wein, Kaffee, Tee, Tabak, Drogen etc. 8. Durst: Menge, Häufigkeit, heiß, kalt oder gefroren, sauer, bitter etc. 9. Schlaf: allgemein (vorher, während, beim Einschlafen, im ersten Schlaf, hinterher, beim Erwachen) 10. Menstruation: vorher, während, hinterher oder unterdrückt 11. Schweiße: heiß oder kalt, Fußschweiße, Schweiße an bestimmten Orten, unterdrückte Schweiße 12. Andere Absonderungen: Blutungen, Schnupfen, Durchfall, Erbrechen, Urin, Samenergüsse, Fluor etc.; Unterdrückung der aufgeführten Absonderungen 13. Beischlaf, Enthaltsamkeit, Masturbation etc. 14. Gemütserregung: Ärger, Kummer, Demütigung, Furcht, Schreck, Trost, Gegenwart von Menschenmengen, Erwartung, Unterdrückung derselben f) ungewöhnliche, seltene und eigentümliche Symptome
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III. Die Allgemeinsymptome: geistige Allgemeinsymtome (werden besser zum Schluß studiert) und physische Allgemeinsymptome Physische Allgemeinsymptome a) Der Konstitutionstyp des Patienten endokrinologisch-homöopa thische Beziehungen, Mangel oder Überfluß an Lebenswärme Reaktionsmangel, Empfindlichkeit etc.) b) Beschwerden von Gemütsbewegung (siehe auch geistige Allge meinsymptome); Unterdrückungen (von Gemütsbewegungen; der Absonderungen wie Menses, Schweiß, Fluor, Katarrh, DurchfallKrankheiten wie Malaria, rheumatische Fieber, etc.; Ausschläge, Exantheme, Syphilis, Gonorrhö etc.i von pathologischen Resultaten wie Hämorrhoiden, Fisteln, Geschwüren, Mandeln, Tumoren; andere chirurgische Zustände etc.) vom Aussetzen gegenüber Kälte, Feuchtigkeit, Sonnenhitze etc.; von mechanischen Zuständen wie Überessen, Verletzungen etc. c) Menses: Datum der ersten Regel, Regelmäßigkeit (zu früh oder zu spät), Dauer, Farbe, Konsistenz, Geruch, Menge, Klumpen, Membranen, Schmerzen (und ihre Modalitäten) Begleitsymptome, Verschlechterung oder Besserung vorher, während oder nachher (sowohl physisch als auch psychisch), Menopause (Symptome) d) Andere Absonderungen (siehe 11/e/12), Ursache, Farbe, Konsistenz, Geruch, scharf oder mild, Symptome von Unterdrückung der Absonderungen, Symptome, die damit abwechseln, warm oder kalt, auf Teile beschränkte Absonderungen wie Schweiße, Seitenbeziehung, Besserungen oder Verschlimmerungen durch die Absonderungen (vorher, während, hinterher) e) Schlaf: Besserung oder Verschlechterung dadurch, Stellung, Verschlimmerung nach dem Schlafen, Schwierigkeiten beim Einschlafen, häufiges oder frühes Erwachen, zu welcher Stunde, Schlafwandeln, Reden im Schlaf, Träume (siehe Gemütssymptome), Ruhelosigkeit f) Ruhelosigkeit, Erschöpfung, Schwäche, Zittern, Frost, Fieber etc.
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g) Verschlimmerung und Besserung, die den Patienten als Ganzes betreffen wie auch unter II/e/ 1 - 14 h) Objektive Symptome, wie Rötung der Körperöffnungen, unnatürlicher Haarwuchs, was auch den ganzen Patienten betrifft i) Pathologie, die den Patienten insgesamt angeht, wie die Neigung zur Tumorbildung, zu Balggeschwülsten, Zysten, Polypen, Warzen, Muttermalen; Tendenzen zu bestimmten Krankheiten, Schwächen, spezifischen Organen oder Geweben, die in der Familie liegen (bezieht sich auch auf vorher Gesagtes und auf die physische Untersuchung); Erkältungsneigung Allgemeine Gemütssymptome a) Wille: Liebe, Haß und Emotionen (Selbstmord, Abscheu vor dem Leben, Lüsternheit, Veränderungen in sexueller Hinsicht, sexuelle - Habgier; Essen; Geld; Erregbarkeit; Rau Perversionen; Furcht, - Verlangen nach oder chen, Trinken, Drogen; Träume; Mordlust, Abneigung gegen Gesellschaft, Familie, Freunde, Neid, Mißtrauen, Engstirnigkeit, Widerspenstigkeit, Depression, Geschwätzigkeit, Weinen, Lachen, Ungeduld, Gewissenhaftigkeit) b) Begriffsvermögen: Wahnideen, Delirium, Halluzinationen, geistige Verwirrung, Verlust des Zeitsinns c) Intellekt: Erinnerungsvermögen, Konzentration, Fehler in Sprache und Schrift IV. Kurze Durchsicht des Zustandes jedes Systems oder Organs nach dem Kopf-Fuß-Schema in Kents Repertorium V. Durchgehen der Anamnese des Patienten in siebenjährigen Perioden Vl. Famillenbelastungen VII. Physische Untersuchung und Labortests
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Das Studium der Arzneien Theoretisch kann jede Substanz oder Kraft zu einem homöopathischen Arzneimittel werden. In einer großen Zahl von Fällen sind verschiedene Potenzierungsgrade notwendig, um die Arzneikräfte der im Rohzustand sogenannten physiologisch untätigen Substanzen hervorzubringen. Zur Zeit existiert keine vollständige Liste aller homöopathischen Arzneien. Grob geschätzt sind etwa zwei- bis dreitausend Mittel im Gebrauch und neue werden ständig entdeckt. Nur eine relativ geringe Anzahl ist ernsthaft gemäß den Hahnemannschen Bedingungen geprüft worden und nur wenige nach einem modernen wissenschaftlichen homöopathischen Standard. Die gebräuchlichen Mittel werden der Einfachheit halber in folgende Gruppen unterteilt: 1. Mineralien, einschließlich Elementen, Metallen, Verbindungen, Salzen etc. 2. Pflanzliche Mittel. 3. Tiermittel. 4. Nosoden, die man aus krankhaften Geweben oder Sekretionen herstellt. 5. Sarcoden, die aus gesunden Tiergeweben oder Sekretionen bereitet werden, wie Uric acidum und Thyroiodinum; ferner endokrine Mittel. 6. Imponderabilien, wie der positive und negative Magnetpol, Elektrizität und Sonnenenergie etc. Die Informationen über die Mittel erhält man aus folgenden Quellen: aus Prüfungen, was die Prüfung am relativ Gesunden bedeutet,» aus der Toxikologie, die die extremen Symptome und teilweise auch die Pathologie beisteuert; aus Laborexperlmenten an Tieren, Organen und Geweben; aus den klinischen Bestätigungen der Symptome; aus dem Erscheinen von Arzneimittelsymptomen während der Applikation; aus den geheilten pathologischen Zuständen beim Menschen. Die klassische Hauptquelle für die Kenntnis der Mittelwirkungen bildet natürlich die Prüfung. Korrekte Prüfungen durchzuführen und zu standardisieren ist sehr wichtig, doch gehört das nicht zu diesem Grundkurs. Nun kommen wir zu Methoden, wie man das allgemeine und spezielle Bild der Mittel erfaßt. Es ist keine leichte Aufgabe, beim Lesen der Prüfung eines Polychrests, wie z. B. Calcarea, das Mittel zu verstehen. Kein Gehirn kann solche Symptomenmassen, die oftmals unverwandt und widersprüchlich erscheinen, behalten. Man muß lernen, wie sie sich am besten einprägen.
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Das Wichtigste im Mittelstudium besteht darin, ein Gefühl dafür zu entwickeln. Etwas Wesentliches in der Homöopathie ist die Individualisierung, und jedes gut geprüfte Mittel hat seine festgelegte Persönlichkeit. Der Student sollte mit den verschiedenen Medikamenten der Materla Medica so vertraut werden, als wären sie Freunde. Er muß in der Lage sein, sie aus Teilaspekten zu erkennen, wenn sie nicht ihr ganzes Bild zeigen, ebenso, wie er eine gut bekannte Person in einer Gruppe im Saal erkennen würde. Experten im Verschreiben tragen die Mittel so sicher in sich, daß sie sie oftmals intuitiv wählen. Obwohl das für den Anfänger gefährlich ist, sollte es dennoch das Ziel bilden. Wir empfehlen folgende Vorgangsweise beim Arzneimittelstudium: Bei denen, die zu Menschen nicht in dieser Weisc Kontakt haben und anfangs überhaupt bei allen, muß das Mittelstudium mit den Gemütssymptomen beginnen. Das Innerste des Menschen ist das Wichtigste; die psychischen Charakteristika jedes Arznei-Individuums müssen zunächst gründlich beherrscht werden. Es ist nicht denkbar, einer Frau, in deren Badezimmer die Handtücher und Vorhänge niedlich mit rosafarbenen Bändern zusammengehalten werden, als chronisches Mittel Sulfur zu geben. Man würde bei einem außergewöhnlich Gemäßigten nicht an Phosphorus, noch an Arsenicum bei einem Liederlichen denken. Unglücklicherweise sind viele unserer Medikamente hinsichtlich ihrer Gemütssymptome nicht voll ausgeprüft. Wenn sie jedoch existieren, haben sie vorrangige Bedeutung. Viel mehr Mittel haben klar gekennzeichnete Modalitäten, mit anderen Worten, Verschlechterung oder Besserung durch meteorologische Einflüsse und Bewegung, Hitze, Erschütterung, Berührung, Position, Nahrungsmittel oder spezielle Substanzen, etc. Die markanten Verlangen und Abneigungen, Verschlechterungen und Bcsserungen sollten ins Gedächtnis der Studenten eingraviert werden; solche, die die Person in ihrer Gesamtheit betreffen und solche, die die affizierten Teile modifizieren und mit der Gesamtheit übereinstimmen, doch manchmal auch widersprüchlich sind. Von besonderer Wichtigkeit für die Kenntnis der Materia Medica und oftmals schwierig in der Literatur zu finden sind die Krankheitsursachen, die für die verschiedenen Mittel typisch sind. Das kann sich auf das Gemüt oder auf den Körper allgemein beziehen. Der Student sollte den Symptomen der Beschwerden von Gemütsbewegung
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besondere Aufmerksamkeit widmen (wie Demütigung bei Staphisagria; Ärger bei Chamomilla, Colocynthis, Nux vomica; Kummer bei Ignatia; Schreck bei Aconitum etc.) und auch denen von Verletzungen (Arnica, Natrum sulf.). Beschwerden, die nach Unterdrückung von Absonderungen auftreten, sind von höchster Wichtigkeit, egal ob sie von den Schleimhäuten kamen, wie bei Ausfluß, Durchfall etc. oder auf der Haut als Schweiße oder Ausschläge auftraten, oder wenn durch Operationen natürliche Ventile, wie bei Fisteln oder Hämorrhoiden, geschlossen wurden. Die viertwichtigste Ursachenabart ist das Erkälten in verschiedenen Variationen, nicht-mechanische Ernährungsfehler etc., was häufiger bei akuten Fällen auftritt. Wenn der Student die verschiedenen Punkte der Mittel beherrscht, sollte er die Orte, die das Mittel besonders angreift, durchgehen und eine Tabelle mit entsprechender Eintragung der wunden Punkte des Mittels erstellen. In diesem Zusammenhang wäre es gut, ein Zungendiagramm anzufertigen, da ihr Zustand oft charakteristisch ist und wertvolle Hinweise bei der Verschreibung liefert. Er kann auch Zeichnungen der verschiedenen Körperregionen, wie z. B. der Augen anfertigen, die die verschiedenen Zustände in diesen Organen, die von dem betreffenden Mittel geheilt werden, widerspiegeln. Diese Schemata dienen der Unterstützung des Gedächtnisses durch bildliche Veranschaulichung. Man sollte nicht nur die Organe, die durch das Mittel beeinflußt werden, studieren, sondern auch die Gewebe, wie z. B. Bryonia auf Entzündungen der serösen Membranen paßt, was bei Belladonna selten der Fall ist. Dann pickt der Student aus dem Wirrwarr der Einzelsymptome diejenigen heraus, die ungewöhnlich, seiten und eigentümlich sind, die sogenannten Keynotes des Mittels. Diese muß er ständig parat haben, um den Weg zu weiteren Studien zu erschließen. In diesem Zusammenhang sollte er Ähnliches aus der Literatur (wie die Analogie zwischen dem altklugen Lycopodium-Kind und Paul Dombey) und veranschaulichende Attribute heraussuchen, wie das menschliche Barometer - Rhus tox.; trüber August Natrum carb.; der zerlumpte Philosoph - Sulfur etc. Er sollte den Bildern akuter Erkrankungen bei chronischen Mitteln besondere Aufmerksamkeit schenken und auch den verschiedenen chronischen Persönlichkeiten jedes Mittels. Die wichtigen Einzelheiten in bezug auf die Körperfunktionen wie Menstruation, Schwangerschaft,
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Verdauung, muß er genau im Kopf haben; ferner auch Ausscheidungen über Haut, Darm und Harnwege. Man kann sich eine Arzneimitteluhr anfertigen, d. h. ein Diagramm, das die Zeiten allgemeiner und lokaler Verschlimmerungen des betreffenden Mittels anzeigt. Die alternierenden Zustände und Begleitsymptome sollte man sich genau einprägen, was sehr nützlich ist, doch leider selten gemacht wird. (Die zweite Ausgabe des Kentschen Repertoriums hat eine Extrarubrik für Wechselzustände, die in der dritten Ausgabe über das ganze Buch verteilt ist.) Ferner kann es für den Anfänger von Nutzen sein, die widersprüchlichsten Symptome eines jeden Mittels aufzuschreiben und darüber nachzudenken. Zu diesem Zeitpunkt ist der Student in der Lage, die verschiedenen "Krankheiten", bei denen das augenblicklich bearbeitete Mittel besonders angezeigt ist, niederzuschreiben, nun ohne Gefahr zu laufen, von pathologischem Denken unpassend beeinflußt zu werden. Nachdem er die Polychreste gemeistert hat, sollte er sich rückbesinnen und ihre Wirkungen in jeder Krankheit vergleichen. Überall steht nur sehr wenig über Vergleiche zwischen der physiologischen Wirkung der Mittel und ihrer homöopathischen geschrieben, doch beim Studium jedes Mittels sollte seine pharmakologische Wirkung und sein Gebrauch in der offiziellen Medizin mitberücksichtigt werden. Dabei kommen oftmals wertvolle Hinweise und Analogien zum Vorschein. Der Student kann das homöopathische Arzneimittelbild zu der Endokrinologie, metabolischen Tests und Morphologie in Beziehung setzen. Am besten studiert man jede Woche ein Polychrest, wobei man mit den relativ einfachen wie Aconiturn, Belladonna, Bryonia anfängt und dann, wenn die Methodik des Mittelstudiums in Fleisch und Blut übergegangen ist, die wichtigeren Mittel wie Sulfur, CaIcarea , Silicea und Phosphorus etc. Jedes Mittel erarbeitet man in wenigstens zehn verschiedenen Arzneimittellehren, um zu sehen, wie es die verschiedenen Autoren präsentieren. Kein Mensch sieht alle Aspekte eines anderen Individuums oder eines Mittels. Zur Vollständigkeit benötigt man ein zusammengesetztes Bild. Wir empfehlen die folgenden Werke zum Studium in angegebener Reihenfolge:
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Kents Materia Medica, die trotz ihres ungezwungenen Stils ein unwiderstehliches und eindringliches Bild vermittelt. Nashs Leitsymptome: Ein Buch voller Tücken, wenn man es ausschließlich benutzt, jedoch inspirierend und verständlich. Für Allens Keynotes gilt das gleiche wie für das vorangegangene Buch. Clarkes Dictionary of Materia Medica: Nicht nur die Prüfungen verschaffen interessante, vielfältige Einblicke, sondern auch die "Characteristics" und die verstreuten hervorstechenden Merkmale. Herings Guiding Symptoms: Hier wird den Symptomen durch entsprechende Markierung besondere Bedeutung verliehen) es ist wohl die solideste und brauchbarste Arzneimittellehre, obwohl sie kein personifiziertes Bild der Arzneien wie Kents vermittelt. Dunhams Lectures on Materia Medica: gut verständlich. Hahnemanns Materia Medica: Primärquelle der Arzneimittel, die wir erst jetzt wegen ihrer vielen Symptome aufführen. Testes Materia Medica: enthält Mittelgruppen, ein einmaliges Buch. Allens Encyclopaedia of Pure Materia Medica: schwierig wegen der Symptomenfülle zu lesen, doch unschätzbar. Jahrs Manual enthält viele Symptome, die nirgendwo an anderer Stelle zu finden sind. Studiert man die Nosoden, kann H. C. Allens Materia Medica of the Nosodes herangezogen werden und für seltene Mittel Kents Lesser Writings, Hales New Remedies und Anshutzs New, Old and Forgotten Remedies. Eine klassische Materla Medica in deutscher Sprache ist Stauffers homöopathische Arzneimittellehre.
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Der Student sollte auch Farringtons Clinical Materia Medica lesen, auch wenn sie etwas verwirrt, und Hughes Manual oder besser seine Cyclopaedia of Drug Pathogenesis, Cowperthwaites Materia Medica, Pierces Plain Talks on Materia Medica for Nurses, Rabes Therapeutics und Bogers Synoptic Key. Der Student täte gut daran, vor Beendigung des Arzneimittelstudiums die Anwendung jedes Mittels in Notfällen herauszuarbeiten und sich einzuprägen. Zur Überprüfung nimmt man Kents Repertorium zur Hand und geht die Rubriken durch, in denen das betreffende Mittel im dritten (höchsten) Grad erscheint. Folgt man diesen Anleitungen und macht man es sich zur Gewohnheit, die Arzneimitteltypen im Bus, auf Versammlungen, egal wo, zu beobachten, erlangt man solide und umfassende Kenntnisse und hat auch Zeit gespart.
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Der Wert der Symptome In der Lektion über die Fallaufnahme besprachen wir schon das Hierarchisieren der Symptome und empfehlen nun dem Leser, diese im Zusammenhang mit der jetzigen Lektion zu wiederholen. Die Bewertung der Symptome ist vielleicht der wichtigste Teil der Vorgehensweise in der Homöopathie und sicher für den Anfänger einer der schwierigsten. Diesbezüglich sind einige Voraussetzungen unerläßlich. Infolge der Terminologie der modernen Medizin und der Erziehung, die die Patienten von nicht homöopathischen Ärzten erhalten haben, führt die Bedeutung, die der Patient den Symptomen beimißt, oftmals in die Irre. Man muß Diagnose und alltägliche Symptome voneinander trennen (solche, die bei einem Patienten, der an einer bestimmten Erkrankung leidet, üblicherweise auftreten, wie Erbrechen bei Magen-Darm-Beschwerden). Diese gewöhnlichen Symptome sind vom Standpunkt der homöopathischen Verschreibung aus wertlos, es sei denn, sie werden durch Modalitäten präzisiert. Der Arzt muß zwischen den relativ wertlosen, alltäglichen Symptomen, die oftmals die Hauptbeschwerden des Patienten ausmachen, und den kleineren, kostbaren, subjektiven Symptomen, die der Patient versehentlich schildert, unterscheiden. Der Patient mag laut und lange von irgendwelchen Schmerzen oder Unannehmlichkeiten, die relativ belanglos sind, berichten und nichts von den schwerwiegenden und hilfreichen Symptomen, die offenkundig sind, wissen. Andererseits sollte man nicht, weil man nun gerade gelernt hat, daß die Gemütssymptome die wichtigsten sind, nach einem winzigen Gemütssymptom wie nach einer Nadel in einem Heuhaufen suchen, um damit den Fall aufzuschlüsseln. Die Symptome sollten dieselbe Bedeutung und Schwere im Falle des Patienten besitzen, wie ihnen in der Symptomenhierarchie zugeschrieben wird. Zum Beispiel klagt eine Frau über Verdauungsstörungen und gesteht, daß sie von Ängsten überkommen wird. Die Ängste, als Gemütssymptom, übertreffen die anderen Symptome; doch hätte die Frau heftige Magenschmerzen und eine bedeutungslose Angst, sind die Schmerzen in diesem Fall weitaus markanter und übertreffen somit die Angst.
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Das dritte Axiom lautet, daß alle angewandten Rubriken oder Symptome, die mit Rubriken verglichen werden, wirklich beim Patienten vorhanden und zuverlässig sind. Ein anderer Grundsatz ist, daß drei oder mehr ähnliche Lokalsymptome ein Allgemeinsymptom bilden. Hat z. B. der Patient Brennen im Kopf, Magen, an Füßen und Haut, so kommt die Allgemeinrubrik Brennen in Betracht; wohingegen das Brennen nur auf den Magen beschränkt ist, gilt es als Lokalsymptom. Kann man ein wertvolles Allgemeinsymptom, wie vom Patienten geschildert, nicht im Repertorium finden, trifft man es mitunter in der entgegengesetzten Rubrik an; z. B. "kaltes Wasser bessert" findet man im Repertorium unter "warme Luft verschlechtert". "Besser im Sommer" steht unter "Winter verschlechtert". Das läßt wieder die hübsche Frage nach der Interpretation der Rubrikenbezeichnungen zu. Nur die Kenntnis der genauen Bedeutung der Begriffe und genügend Einfühlungsvermögen ermöglichen zu entscheiden, was der Patient tatsächlich meint. Optimale Vertrautheit mit jeder Rubrik des Repertoriums befähigt den Arzt, Symptome zuzuordnen. Ist man mit Sorgfalt und Überlegung vorgegangen, ist man nicht nur berechtigt, sondern manchmal genötigt, Rubriken zu kombinieren, um die genaue Bedeutung zu erhalten. Es gibt zwei Möglichkeiten des Kombinierens, indem man alle Mittel aus zwei oder mehr Rubriken, besonders wenn diese klein sind, addiert, oder indem man nur die Mittel nimmt, die alle Rubriken gemeinsam enthalten, was den Gradwert der Mittel erhöht. Ein Beispiel für letztere Methode: Menses scharf, zu früh, hellrot und klumpig. Die Meinungen gehen hinsichtlich der geeigneten Plazierung der Pathologie und auch der objektiven Symptome (wie z. B. Rötung der Körperöffnungen) auseinander. Bei der Kentschen Methode werden diese relativ niedrig eingeordnet, wohingegen Boger sie in seiner kleinen General Analysis als pathologische Allgemeinsymptome in Gegenüberstellung zur diagnostischen Pathologie betont. Stearns begünstigt die objektiven Symptome, da er annimmt, daß diese nicht fehlleiten können.
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Es existieren verschiedene Arten von Pathologie. Krankheitsdiagnosen erscheinen hier und dort im Repertorium wie Scharlach, Sepsis, Chorea, Apoplexie etc. Ferner finden sich andere Zustände, die pathologisch und dennoch mehr Symptome als Krankheiten sind, wie Konvulsionen, Wassersucht, Zyanose, Hämorrhagien etc. Es besteht noch eine dritte Art von Pathologie, die Tendenz des Körpers, Veränderungen wie Warzen, Polypen, Fibrome zu produzieren. Das sind die wichtigsten pathologischen Rubriken, da sie Tendenzen der gesamten Konstitution anzeigen. Eine Rubrik wie Empyem, zu finden unter Brust, ist ein pathologisches Lokalsymptom und weniger wichtig, obwohl es in solchem Fall interessant ist, welche Medikamente die Kraft besitzen, diesen Zustand hervorzurufen und zu heilen. Kent hierarchisiert die Symptome folgendermaßen: Gemütssymptome - Wille, Begriffsvermögen, Intellekt. Physische Allgemeinsymptome - Zeit, Temperatur, Wetter, Position, Bewegung, äußerliche Stimulantien, Essen, Trinken, Schlaf, Kleidung und Baden. Lokalsymptome - ungewöhnliche, seltene und eigentümliche und deren Modalitäten. Nach der Kentschen Methode wählt der Arzt nach vollständiger Fallaufnahme hervorstechende Gemütssymptome aus und ordnet sie in der oben gegebenen Reihenfolge. Er fügt natürlich solche Gemütssymptome hinzu, die er selbst am Patienten wahrgenommen hat oder die eine Ursache der Beschwerden bilden. Es können von einem oder gar keinem bis hin zu sechs oder sieben markanten Gemütssymptomen auftreten. Dann greift man die hervorragenden Allgemeinsymptome heraus und klassifiziert sie in der oben gegebenen Reihenfolge. Die Gemüts- und Allgemeinsymptome verschaffen ihm die Arbeitsgrundlage in der Wahl der chronischen Arznei. Hat man dann die Symptome bis auf ungefähr fünf Mittel repertorisiert, vergleicht man die Lokalsymptome und schaut, wie die Mittel sie decken. Dann muß man diese fünf Mittel in der Materia Medica aufsuchen, um das ähnlichste Mittel auszuwählen. Es ist unverkennbar, daß bei dieser Methode von den Allgemeinsymptomen zu den Lokalsymptomen gegangen wird und man der Pathologie keine besondere Bedeutung beimißt.
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Bei Bogers Methode benötigt man weniger Symptome, hier wird besonderer Wert auf die pathologischen Allgemeinsymptome gelegt: Hat ein Fall beispielsweise an verschiedenen Orten scharfe Absonderungen, würde man in Bogers General Analysis die Rubrik "Acridity" nehmen. Klagt der Patient über ausgeprägte Trockenheit von Mund, Rektum, Haut etc. käme die Allgemeinrubrik "Dryness" in Betracht. Bei dieser Methode, wie auch bei der Kentschen, werden die Gemütssymptome als wertvollste angesehen und rangieren an erster Stelle. Stearns nimmt nicht mehr als vier oder fünf Symptome, ein Gemütssymptom, ein pathologisches, ein objektives und zwei physische Allgemeinsymptome. Boericke teilt die Symptome in eine fundamentale und eine determinierende Gruppe ein; erstere enthält gewöhnliche, diagnostische und pathologische Symptome, die zweite subjektive, Modalitäten und Allgemeinsymptome. Boericke und Margaret Tyler befürworten den Gebrauch einiger großer Allgemeinrubriken, wie Mangel an Lebenswärme, zum Eliminieren, was einige Kentianer als gefährlich ansehen. Ich hoffe, der Student wird nicht durch die unterschiedlichen Methoden der Meister irritiert, und ich empfehle daher in höchstem Maße jedem Anfänger, die Kentsche Technik zuerst zu erlernen. Die anderen sind nur geringe Abwandlungen, um verschiedenen Gemütern gerecht zu werden. Sobald der Fall aufgenommen worden ist und der Arzt sich an die Ausarbeitung begibt, ist es recht hilfreich, die Symptome beim nochmaligen Durchgehen folgendermaßen zu kennzeichnen: Gemütssymptome mit G, Allgemeinsymptome mit A, die pathologischen mit PATH, Lokalsymptome mit L und objektive mit O. Das kann man am linken Rand mit einem Farbstift vornehmen. Der Anschaulichkeit halber unterstreicht man jedes eigentümliche Symptom rot. Die Symptome, die tatsächlich zur Repertorisation herangezogen werden, schreibt man in Reihenfolge ihrer Wichtigkeit auf ein Extrablatt. Geht man nach der Kentschen Methode vor, können die Symptome in spezielle Repertorisationsbögen, die von der American Foundation of Homoeopathy zu beziehen sind, eingetragen werden, was die Repertorisation weitgehend vereinfacht.
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Nachdem der Anfänger die Symptome hierarchisiert hat, sollte er noch einmal nachdenken, die Liste der Gemütssymptome mit seinen Eindrücken vom Patienten vergleichen und schauen, ob irgendein Teil des Falles zu hoch oder zu niedrig bewertet wurde. Auf der korrekten Einschätzung der Symptome beruht das Auffinden des ähnlichsten Mittels, das die Heilung bewerkstelligen wird.
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Die Repertorisation Da niemand alle Symptome von jedem Mittel im Gedächtnis behalten kann, wird ein Verzeichnis benötigt. Man nennt dieses Symptomenverzeichnis Repertorium. Es gibt gut 50 Stück davon, allgemeine oder spezielle, die auf unterschiedlichen Arten des Fallstudiums beruhen. Die beiden wichtigsten, die man kennen muß, bilden auch die Grundlage der beiden Hauptmethoden; es sind die Repertorien von Kent und Bönninghausen. Kents Repertorium Aufbau Das Kentsche Repertorium bildet eine Zusammenfassung der Materia Medica, enthält bestimmte frühere Repertorien, z. B. das von Lippe, und klinisch bestätigte Symptome. Um die Symptome des Falls, die in Übereinstimmung mit unserer letzten Lektion ausgewählt wurden, in Kents Repertorium erfolgreich aufspüren zu können, muß man mit dem Aufbau des Buches, seiner Ordnung und auch Widersprüchlichkeit bestens vertraut sein. Sein Aufbau steht im Einklang mit der Repertorisationsmethode, d. h. von den Allgemein- zu den Lokalsymptomen. In den meisten Fällen beginnt man mit einer allgemeinen Rubrik. Die Ordnung folgt anatomischen Einteilungen (siehe Inhaltsverzeichnis), mit einigen Ausnahmen wie z. B. das Kapitel GEMUT, die letzte Rubrik ALLGEMEINSYMPTOME; Absonderungen wie STUHL, SCHWEISS, URIN und AUSWURF erscheinen als separate Teile neben den anatomischen Sektionen, die sie produzieren; bestimmte Allgemeinzustände wie SCHWINDEL, HUSTEN, SCHLAF, FROST und FIEBER sind ebenfalls getrennt. Unter jeder anatomischen Sektion laufen die Rubriken in alphabetischer Reihenfolge durch, egal, ob es sich um pathologische Symptome, Empfindungen, Modalitäten oder objektive Symptome (z. B. "bohrt den Kopf ins Kissen", S. 108) handelt. Jedem fettgedruckten Begriff folgen Modifikationen (wenn vorhanden), in der Reihenfolge: Zeit, Umstände (in alphabetischer Ordnung), Ausdehnungen (man findet das unter der Rubrik, von wo sich das Symptom erstreckt, nicht wohin es verläuft), Orte mit ihren Zeiten, Umständen und
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Ausdehnungen und schließlich Empfindungen mit ihren Modifizierungen. Zum Beispiel die Hauptrubrik KOPF ist eine anatomische, doch darunter befindet sich keine anatomische Rubrik für Occiput; man muß dazu unter der betreffenden Empfindung im Occiput nachschauen, wie z. B. Kältegefühl oder Schmerzen. Außerdem muß erwähnt werden, daß bestimmte anatomische Regionen keine korrespondierenden Sektionen in diesem Repertorium haben, z. B. finden man NACKEN unter HALS (ÄUSSERER HALS) und RÜCKEN. ÄUSSERER HALS enthält die Rubriken, die sich auf den vorderen Teil des Halses beziehen, wie Kropf Drüsen, Torticollis etc.; und Rücken enthält das Genick und die hintere Halsregion. Lungen, Herz, Aorta, Axillardrüsen, Mamma und Milch erscheinen unter BRUST; die Dorsalregion steht unter RUCKEN, Puls unter ALLGEMEINSYMPTOME; die Nebenhöhlen werden unter NASE und GESICHT aufgeteilt; die Speicheldrüsen stehen unter GESICHT anstatt unter HALS; die Lippen befinden sich unter GESICHT anstatt unter HALS und MUND; die Speiseröhre steht unter MAGEN und die Leber unter ABDOMEN. Es gibt keine Rubrik für den Kreislauf, das Drüsen- oder Nervensystem, da dieses Buch nicht auf Systemen beruht (wie Boerickes teilweise), sondern die Teile dieser Systeme befinden sich unter verwandten anatomischen Rubriken im gesamten Buch verstreut. Viele Symptome, die man unter dem Nervensystem erwarten könnte, erscheinen unter ALLGEMEINSYMPTOME, da sie eine Tendenz des gesamten Organismus wie Analgesie, Chorea, Konvulsionen, Lähmungen, Zittern etc. ausdrücken; Zucken der Teile erscheint unter den anatomischen Rubriken wie GESICHT und EXTREMITATEN. Nervensymptome, die mit der Wirbelsäule zusammenhängen, sind unter RÜCKEN eingetragen, wie Opisthotonos. Die Meningitis ist an zwei verschiedenen Stellen aufgeführt, unter KOPF, Entzündung, Hirnhäute und RÜCKEN, Entzündung, Rückenmark, Membranen. Ähnliche oder verwandte Rubriken stehen oft an zwei oder mehr Stellen, wie z. B.: Dysmenorrhö unter GENITALIEN, WEIBLICHE, Menses, schmerzhaft; unter ABDOMEN, Schmerzen, Krämpfe, Herabziehen, Schneiden, während der Menses; unter ABDOMEN, Schmerzen Hypogastrium, während der Menses und unter ABDOMEN, Schmerzen, Menses, während.
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Viele Rubriken, die als Lokalsymptome unter den zutreffenden anatomischen Sektionen oder fettgedruckten Begriffen zu finden sind, erscheinen auch in der letzten Sektion ALLGEMEINSYMPTOME in ihrer Beziehung zum Organismus als Ganzes. Zum Beispiel betrifft unter ALLGEMEINSYMPTOME, Menses, die Verschlechterung oder Besserung die ganze Person vor, während oder nach der Menses, während unter GENITALIEN, WEIBLICHE, die Art und Umstände der Regel, die Lokalsymptome sozusagen, stehen. Ähnliches gilt für Schweiße, ALLGEMEINSYMPTOME, die eine Besserung oder Verschlechterung des Befindens bewirken, hingegen werden unter der Abteilung SCHWEISS die Qualität, das Vorkommen und die Modalitäten der Absonderung angegeben. Schweiße spezieller Orte finden sich unter der dazugehörigen anatomischen Sektion, der der Teil angehört, wie Schweiße am ABDOMEN. Schweiße der Kopfhaut stehen nicht unter KOPF, Kopfhaut, Schweiße, sondern unter KOPF, Schweiße, Kopfhaut. Allgemeine Besserung oder Verschlechterung durch das Essen stehen unter ALLGEMEINSYMPTOME, Essen, und unter ALLGEMEINSYMPTOME, Nahrung, sind die verschiedenen Nahrungsmittel verzeichnet, die eine Verschlechterung oder Besserung des Befindens herbeiführen, doch stehen unter MAGEN die Speisen, für die besondere Abneigung oder Verlangen besteht. Pathologische Diagnosen sind häufig unter ALLGEMEINSYMPTOME eingeordnet und gelegentlich auch als Fettdruck unter den anderen Sektionen, doch häufiger als zweite Überschrift unter dem damit verbundenen Zustand. So findet sich die Pleuritis unter BRUST, Entzündung, Pleura, und die Appendizitis unter ABDOMEN, Entzündung, Appendizitis. Andererseits findet man Empyem direkt unter BRUST, Empyern und Kropf unter ÄUSSERER HALS, Kropf. Bestimmte pathologische Zustände, die eher Symptome als Krankheiten sind, wie Chorea, Konvulsionen, Zyanose, Wassersucht etc. erscheinen unter ALLGEMEINSYMPTOME. Objektive Symptome sind über das gesamte Buch verstreut und bilden oftmals kleine, nicht geordnete Rubriken, z. B. brüchige Fingernägel; Grimassen unter GEMÜT, Beißen unter GEMÜT und rote Lippen unter GESICHT, Verfärbung, rote Lippen.
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Repertorisation Dieses Repertorium ist so aufgebaut, daß man von den Allgemeinsymptomen auf die Lokalsymptome übergeht. Wir haben in einer vorangegangenen Lektion schon über den Wert der Symptome bei Kents Hierarchisierung gesprochen. GEMÜTSSYMPTOME sind die wichtigsten, dann folgen die ALLGEMEINSYMPTOME. Die meisten chronischen und viele akute Fälle können im Repertorium durch die GEMÜTS- und ALLGEMEINSYMPTOME allein bis auf drei bis fünf Mittel abgeklärt werden. Der Anfänger sollte wenigstens acht dieser Symptome nehmen, obwohl die Experten oft nur drei bis fünf zur Lösung des Falls benötigen. Der Anfänger muß immer Gewißheit besitzen, daß diese GEMÜTS- und ALLGEMEINSYMPTOME bei dem Patienten wirklich vorhanden sind, und daß er beim Übersetzen der Umgangssprache des Patienten in die Ausdrucksweise der Rubrik den Sinn nicht verändert hat. Überdies muß das Symptom im Fall des Patienten dieselbe Bedeutung besitzen, wie es ihm in der Symptomenhierarchie zugeschrieben wird. Kann man ein wichtiges Symptom im Repertorium nicht finden, steht es oft unter sinnverwandten Rubriken. Die Fettdrucke unter ALLGEMEINSYMPTOME, die nicht pathologisch und nicht durch Zusätze wie "Verschlimmerung durch" gekennzeichnet sind (z. B. Essen, vor), bedeuten eine Verschlechterung vor dem Essen, oder Koitus, hinterher, eine Verschlechterung nach dem Koltus etc. Viele Besserungen sind ausgelassen; um sie zu finden, muß man unter den gegenteiligen Verschlechterungen nachsehen. So gibt es beispielsweise keine Besserung im Sommer, dafür setzt man Verschlimmerung im Winter. Manchmal kombiniert man zwei oder drei Rubriken, um die entsprechende Bedeutung des vorhandenen Symptoms zu erhalten. Sind diese Rubriken sehr klein, ist es sinnvoll, alle Mittel zu addieren. Ist wenigstens eine dieser Rubriken groß und sind die anderen recht umfangreich, beachtet man nur die Mittel, die in allen Rubriken auftauchen. Bestimmte Symptome werden von einer so großen Anzahl von Mitteln vertreten, daß sie außer zum Eliminieren wertlos sind. Das gilt z. B. für "Mangel an Lebenswärme", verzeichnet unter ALLGEMEINSYMPTOME, Wärme, Mangel an Lebens-, und dient nur dazu, einige markante warmblütige Mittel, die im vorliegenden Fall andernfalls durch ihre Allgemeinsymptome in hohem Grad herausgekommen wären, auszuschließen.
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Der Student kann sich aus unserer vorangegangenen Lektion in Erinnerung rufen, daß die gewöhnlichen Symptome oder die unqualifizierten, großen Hauptrubriken wie Schwermut, Erbrechen etc. bei der Repertorisation von geringem oder gar keinem Wert sind, und daß unter den ALLGEMEINund LOKALSYMPTOMEN ungewöhnliche, seltene und eigentümliche Symptome hohen Wert besitzen. Folgende Symptome sind ungewöhnlich, selten und eigentümlich: "Verlangt im Froststadium nach Kälte oder im Hitzestadium nach Wärme" (Camphora) ; oder "Durst auf Eiswasser im Froststadium" (Eupatorium perfoliatum). Wir haben gesagt, daß der Anfänger in seinem Repertorium die acht oder mehr wesentlichen Allgemeinsymptome ausfindig macht und jedes unter diesen Rubriken erscheinende Mittel in einen vorgedruckten Bogen einträgt, wobei für die fettgedruckten Mittel 3, für die kursivgedruckten 2 und für die anderen 1 gesetzt wird. So wird bei allen ausgewählten Symptomen verfahren. Die Mittel, die in mehr als der Hälfte aller Rubriken auftauchen, werden mit ihren Brüchen aufgeschrieben, wobei der Zähler des Bruchs sich aus der Addition der Mittelgrade ergibt und der Nenner die Zahl der Symptome, bei denen das Mittel auftaucht, bezeichnet. Nun werden die LOKALSYMPTOME miteinbezogen, wobei man mit den eigentümlichsten beginnt und aufpassen muß, nicht zu kleine Rubriken zu verwenden. Tatsächlich ist es sicherer, eine allgemeinere, mittelgroße Rubrik zu nehmen, als die genau passende. Betrachtet man nun das Auftreten der Lokalsymptome bei den Mitteln, die die Allgemeinsymptome am stärksten repräsentieren, sieht -man, welche Mittel den ALLGEMEINSYMPTOMEN des Falls ähneln und welche davon den LOKALSYMPTOMEN am nächsten kommen. Nun addiert man die Lokalsymptome zu dem Bruch aus den Allgemeinsymptomen hinzu und reduziert damit die Mittel auf drei bis fünf, die nun am deutlichsten hervortreten. Ergeben sich bei einem Mittel 16/7, beim anderen 15/8, wird ersteres vorgezogen. Hat man die Symptome streng nach dem Kentschen Schema hierarchisiert, sollten die hoch herauskommenden Mittel die ersten zwei oder drei Symptome beinhalten. Wo das nicht der Fall ist, ist Skepsis angebracht. Ich möchte in Erinnerung rufen, daß bestimmte Mittel wie Sulf., Calc., Nux-v., Puls. etc. fast immer zahlenmäßig hoch vertreten sind, was auf ihre sorgfältigen Prüfungen zurückzuführen ist. Wenn der Anfänger diese nicht mit Vorsicht genießt, und er seine Mittelwahl nicht auf der Materia Medica, besonders auf den Gemütssymptomen und auf dem Typ des Patienten, aufbaut, läuft er Gefahr, diese gut geprüften
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Polychreste zu oft zu verschreiben. Umgekehrt darf nicht vergessen werden, daß bei einigen Mitteln - wie Tub. - nur ein Bruchstück ihrer Prüfung im Repertorium verzeichnet ist, und überhaupt nur wenig mehr als 500 Mittel im Repertorium erwähnt werden, und außerdem nur wenige Nosoden und Doppelsalze angemessen betont werden. Wenn die Anzahl der Mittel auf drei bis fünf reduziert wurde, schlägt man diese in der Materia Medica nach, besonders ihre Gemütssymptome, und der Fall muß nun erneut durchgesehen und mit jedem der Mittel verglichen werden. Die miasmatische Beziehung zwischen Patient und den Mitteln, die hochwertig herauskommen, muß man berücksichtigen. Um für spätere Konsultationen gewappnet zu sein, was sowohl für akute wie für chronische Verschreibungen gilt, sollte eine Liste der Konstitutionsmittel, die hoch herauskommen, erstellt werden, ferner der Nosoden, die am nächsten kommen und der akuten Mittel, die am nächsten stehen. Diese oder deren Komplementärmittel werden oftmals jeder künftigen Erkrankung des Patienten gerecht, es sei denn, ein epidemisches Mittel wird benötigt. Im Idealfall soll auf dem Repertorisationsbogen jedes Symptom in der Sprache des Patienten in der Symptomenspalte aufgeführt sein und daneben in der Rubrikenspalte im Wortlaut des Repertoriums mit der dazugehörigen Seitenzahl. Es gibt Repertorisationsbögen, wo die Hauptmittel aufgedruckt, numerierte Spalten für die Symptomeneintragung vorgesehen sind etc., die viele Vorteile besitzen und Zeit sparen.
Bönninghausens Repertorium Aufbau Bönninghausens Therapeutisches Taschenbuch, eines der ersten Repertorien, basiert größtenteils auf Hahnemanns Materia Medica Pura. Seine Zusammenstellung wurde von Hahnemann gebilligt. Das Buch ist in sieben getrennte Teile gegliedert. Obwohl jeder für sich vollständig ist, gibt jeder nur einen Teil eines Symptoms wieder, daß nur mit Hilfe eines oder mehrerer anderer Teile vervollständigt werden kann. Zum Beispiel findet man die Schmerzorte in der zweiten Abteilung, die Schmerzart in der dritten, die Besserung oder Verschlechterung bezüglich Zeit oder anderer Umstände in der sechsten und die notwendigen Begleitsymptome in verschiedenen Abteilungen. Die sieben Kapitel setzen sich
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folgendermaßen zusammen: 1. Gemüt und Disposition, 2. Körperregionen und Organe, 3. Empfindungen und Beschwerden in alphabetischer Reihenfolge, erst allgemein und dann speziell, der Drüsen, der Knochen, der Haut und der äußeren Teile, 4. Schlaf und Träume, 5. Fieber und Frost, 6. Verschlechterung und Besserung unter Berücksichtigung der Zeit und anderer Umstände, 7. Verwandtschaften der Mittel. In dieser letzten Abteilung sind unter jedem Mittel die Überschriften der vorhergehenden Kapitel 1 - 6 verzeichnet und dahinter die Mittel, die in dem betreffenden Kapitel mit unserem Mittel verwandt sind. Am Ende eines jeden Mittels folgt eine Liste anderer verwandter Mittel und der Antidote.
Repertorisation Dieses Repertorium basiert weitaus mehr auf Allgemeinsymptomen als das von Kent. Die Rubriken in den verschiedenen Kapiteln, die von den unterschiedlichen Aspekten eines Symptoms handeln, werden benötigt, alle Mittel auszuschließen bis auf das, welches durch alle hindurchläuft. Mit dieser Methode kommt man rascher und einfacher als mit der Kentschen vorwärts, doch ist sie zu allgemein, und viele Symptome findet man überhaupt nicht. Ferner sind unter Gemüt nur wenige Rubriken aufgeführt; nur 7 von 482 Seiten entfallen auf dieses Kapitel. Bogers General Analysis basiert auf diesem Repertorium; seine einzigartige Methode, damit Fälle zu lösen, verdient auch ein Studium.
Boerickes Repertorium In seiner gegenwärtigen Form ist das Kentsche Repertorium zu unhandlich, um vom Arzt mit ans Krankenbett genommen zu werden. Weder Bönninghausens noch Kents Repertorium besitzen eine Materia Medica. Zwei Bücher, die Materia Medica und Repertorium miteinander verbinden, eignen sich auch zur Mitnahme in der Jacken- oder Ärztetasche. Eines davon ist Bogers Synoptic Key seine General Analysis ist eine Abwandlung davon - und das andere Boerickes Materia Medica und Repertorium. Boerickes Repertorium ähnelt eher Kents als Bönninghausens Repertorium, doch hat Boericke einige anatomische Sektionen anders geordnet. Zum Beispiel
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erscheint Schwindel unter KOPF; die Nebenhöhlen unter NASE; Lippen unter MUND anstatt unter GESICHT, Zunge und auch Zahnfleisch bilden ein Kapitel für sich, Oesophagus steht unter HALS anstatt unter MAGEN; Nahrung, die nicht bekommt, findet man unter MAGEN zusammen mit den Abneigungen und Gelüsten; Rektum und Stuhl stehen unter ABDOMEN; das gesamte HARNSYSTEM ist unter einer Überschrift zusammengefaßt; die Mammae sind unter den WEIBLICHEN SEXUALORGANEN korrekt untergebracht. Dann gibt es eine bewundernswerte Rubrik über SCHWANGERSCHAFT, NIEDERKUNFT und STILLPERIODE; nach den GENITALIEN kommt das KREISLAUFSYSTEM einschließlich Puls; dann der BEWEGUNGSAPPARAT einschließlich Extremitäten, Haltung, Nacken, entzündlichem Rheumatismus und Arthritis, Rücken und Achseln. Dann folgt das ATMUNGSSYSTEM einschließlich Lungen, Husten, Auswurf, Kehlkopf, Stimme und Atmung; danach kommt HAUT; die FIEBER-Sektion schließt Frost und Schweiße ein, Exantheme und verschiedene Fieber wie Influenza, Typhus, Malaria etc.; das NERVENSYSTEM folgt und umfaßt Epilepsie, Lähmungen, Schlaf, Träume, Schwäche, Krämpfe, Kropf, Seekrankheit, Neuralgien, Ischias, Wirbelsäule, Hirnhautentzündung etc.; die ALLGEMEINSYMPTOME sind sehr reduziert und enthalten hauptsächlich Krankheiten, Gewebe, Vergiftungen, Unterdrückungen (unter unterdrückten Absonderungen), Drüsenaffektionen einschließlich Mumps und Kropf, eine interessante Abteilung über Beschwerden durch Wind, feuchte Plätze, über plötzliches und allmähliches Auftreten, Verletzungen, Prophylaxe und Tumoren. Diese Sektion ist von vielen Fehlplazierungen gereinigt worden und enthält viele interessante und wertvolle Hinzuführungen. Das letzte Kapitel umfaßt die MODALITÄTEN, zuerst Verschlechterung und dann Besserung, henfolge unter Morgen, Nacht, Periodizität etc., anstatt zum Beginn des Kapitels wie bei Kent. Unter den umfassenden Überschriften wie KOPFWEH sind die Unterrubriken folgendermaßen aufgeführt: Ursache, Typ, Lokalisation, Art des Schmerzes, Begleitsymptome, Modalitäten, d. h. Verschlechterung und Besserung. Das Buch ist mehr ein klinischer als ein symptomatischer Index und hat viele Fachausdrücke als Hauptüberschriften. Eine ungeheuere Zahl von Medikamenten wird im Materia-Medica-Teil angeführt, gut
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wiedergegeben, mit vielen Gemütssymptomen. Aufgrund seines geringen Umfanges sind viele Symptome nicht im Repertorium erschienen. Es genügt keinen großen Ansprüchen, doch innerhalb seines Rahmens ist es recht wertvoll. Hiermit hat der Anfänger eine kurze Übersicht über die drei gebräuchlichsten allgemeinen Repertorien erhalten. Es wird jedem Studenten dringend empfohlen, Kents Methode zu beherrschen, da sie mehr eingeht als jede andere. Für den fortgeschrittenen Studenten sei hinzugefügt, daß in diesen drei Repertorien viele eigentümliche Symptome nicht auftauchen und daher in Gentrys Concordance Repertory, Knerrs Repertory, Lippes, Jahrs und anderen speziellen Repertorien aufgesucht werden müssen. Bisher habe ich noch keine Karten-Repertorien erwähnt. Da gibt es eines von Field, das hauptsächlich auf dem Kent beruht, doch leider nicht ganz exakt ist. Es hilft bei dringenden, akuten Fällen. Ein neues Karten-Repertorium, das genau dem Kent folgt, wird nun von den Doktoren Pulford in Toledo/Ohio zusammengestellt. Bogers KartenRepertorium folgt genau seinem Synoptic Key. Diese verschiedenen Repertorisationsmethoden sprechen unterschiedliche Gemüter an und eignen sich auch für verschiedene Falltypen; Bogers Methode wird den Fällen mit viel Pathologie und wenigen anderen Symptomen gerecht..Die Kentsche Methode eignet sich für Fälle mit markanten Gemütssymptomen und verworrener Anamnese. Bönninghausens paßt für Zustände mit akuten Schmerzen und klar umrissenen Modalitäten, auf Fälle ohne Feinheiten. Zum Schluß dieser Lektion, die die Repertorisationsmethoden analysiert hat, möchte ich wiederholen: Studieren sie Kent's Methode zuerst, zuletzt und immer.
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Die Verschreibung Potenzwahl Nach gründlichem Verdauen der ersten sechs Lektionen dieses Kurzlehrgangs und dem Studium verwandter Schriften sollte man nun in der Lage sein, das ähnlichste Mittel auszuwählen. Jedoch wird dieses nicht zum Simillimum, bevor nicht die Potenz der Empfänglichkeit des Individuums in seiner Krankheit zum Zeitpunkt der Verschreibung angepaßt worden ist. Unsere Theorie lehrt uns, daß Pathologie und sogar Bakterien Resultate der Krankheit sind und die eigentliche Ursache weitaus tiefer liegt und weniger materiell ist. Um die Ursache der sogenannten Krankheit wirklich auszulöschen, muß das Heilmittel auf der Ebene der Ursache wirken. Daraus folgt, daß für Gemütskrankheiten und für Krankheiten mit deutlichem psychischen Ursprung die hohen Potenzen (XM und höher) eingesetzt werden sollten. Höchst materiellen Zuständen, wie ausgeprägten organischen und pathologischen Veränderungen, sollten die mittleren und niedrigeren Potenzen vorbehalten bleiben. Im allgemeinen reagieren funktionelle Störungen, die subjektive oder physiologische Symptome präsentieren, mit ungeminderter Lebenskraft gut auf hohe Potenzen, ebenso wie die organischen auf niedrige. Es macht einen Unterschied, ob der Zustand akut oder chronisch ist. Zum Beispiel haben Diphtherie und Pneumonie eine ausgeprägte Pathologie, jedoch ist die Pathologie bei der Diphtherie frisch und schreitet schnell voran, so daß die hohen Potenzen geeignet sind. Allgemein reagieren akute Krankheiten gut auf hohe Potenzen, besonders von akuten Mitteln (hohe Potenzen von tiefwirkenden, chronischen Heilmitteln sind, wenn sie im akuten Zustand angezeigt sind, möglicherweise gefährlich). Bestimmte akute Krisen, die auf chronischen Beschwerden beruhen, wie z. B. Herzasthma, sollten mit mittleren oder niedrigen Potenzen behandelt werden, weil die hohen Potenzen mehr aufrühren können, als die Lebenskraft angesichts der fortgeschrittenen chronischen pathologischen Zustände verkraften kann. Bei einem chronischen Fall gilt als Regel, mit einer 200. Centesimalen zu beginnen, vorausgesetzt, daß keine Gefahr aufgrund der Natur des Heilmittels, des Grades der Pathologie oder der Tiefe des Miasmas besteht. Im Beginnen mit der 200. Potenz bei einem chronischen Fall liegt der große Vorteil, eine aufsteigende Serie von Potenzen bei fortschreitender
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Behandlung zur Verfügung zu haben. Das Kentsche Ideal liegt in der Erschöpfung der Wirkung einer Potenz (siehe Abschnitt über die Repetition), um dann zur nächsten aufzusteigen, diese auszuschöpfen und so weiter bis zur höchsten Potenz dieses Mittels, falls nicht ein Mittelwechsel angezeigt ist. (Hahnemann gibt als oberste Potenz, die am Ende einer Serie in irgendeinem Fall paßt, diejenige an, die in der Lage ist, noch eine leichte Verschlimmerung der Symptome hervorzurufen. Nach unserer Erfahrung kann man gewöhnlich die höchste bekannte Potenz des Similiimum einsetzen und noch eine Wirkung erhalten, obwohl sie mitunter mit der CM aufhört.) Wenn die Spitze der Serie erreicht worden und dasselbe Mittel noch angezeigt ist, beginnt man wieder mit der 200. Potenz und wiederholt die aufsteigende Serie. Serien homöopathischer Potenzen sind von berühmten Leuten hergestellt worden, sowohl mit der Hand wie im Fall der Jenichen Potenzen, als auch mit verschiedenen Maschinen. Als allgemeiner Hinweis gilt, am besten bei den Potenzen zu bleiben, die von demselben Hersteller angefertigt worden sind, um die Serien durchgehen zu können, z. B. Kents 200, M, XM, CM etc. Wenn andererseits ein Anstoß nötig ist, obwohl dasselbe Mittel erforderlich ist, kann ein Wechsel, z. B. von den Skinner- zu den Fincke-Potenzen den Fall beschleunigen. Für diejenigen, die Rhythmen und Zyklen verstehen, kann es sinnvoll sein, nachdem der Patient durch eine Potenzskala aus einer Quelle gegangen ist, zu einer der unregelmäßigen Serien einer anderen Quelle überzuwechseln; z. B. haben wir Besserungen von Skinners Lyc. 2M gesehen anstatt Kents M oder Finckes 43M anstatt einer 50M. Dieser Wechsel beginnt anscheinend einen neuen Rhythmus oder Zyklus. Es scheint, als würde die Lebenskraft durch das Dezimalsystem eingegrenzt und antwortet mit erneuter Anstrengung auf den Wechsel der Potenz. Das ist eine moderne Theorie. Bei Schwerkranken mit aktiver Lebenskraft und in akuten Krankheiten sind die hohen Potenzen angezeigt; ebenso, wenn die unheilbare Erkrankung das Gipfelstadium des chronischen Prozesses bildet, dann führen sie Euthanasie herbei. Bei chronischen, unheilbaren Fällen, es sei denn, die Vitalität ist ausgezeichnet und die Pathologie noch nicht sehr ausgeprägt, erweisen sich niedrige oder mittlere Potenzen als passend. Gewöhnlich muß das tiefwirkende Simillimum hier gemieden und ein palliatives Mittel verabreicht werden. Falls das Palliativmittel nicht zu den
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Tiefwirkensten zählt (Sang., Rumex, Puls. etc.), kann es sogar in unheilbaren Fällen in mäßig hoher Potenz angewandt werden. Ein Problem bildet noch die Potenzwahl bei akuten Krankheiten während einer chronischen Behandlung. Patienten, die lange unter einer korrekten chronischen Verschreibung standen, weisen immer weniger akute Erkrankungen auf. Jedoch treten manchmal vereinzelte Ausbrüche der latenten Psora auf, wenn die Lebenskraft durch das passende chronische Mittel angewachsen ist, gewissermaßen als Ventil oder Reinigungsprozeß. Die erste Aufgabe für den Behandler besteht nun darin zu entscheiden, ob die akuten Symptome, die während der chronischen Behandlung vorkommen, eine Verschlimmerung als Folge der Mittelgabe bilden, und wenn ja, ob sie eine zur Reaktionskraft des Körpers passende Verschlimmerung darstellen, oder eine Arzneimittelverschlimmerung aufgrund einer Überempfindlichkeit oder falschen Potenz sind. Falls eine von diesen Möglichkeiten zutrifft und die Verschlimmerung nicht zu stark ist, sollte kein Mittel gegeben werden, lediglich Placebo. Falls die Verschlimmerung lebensbedrohlich oder unerträglich schmerzhaft (das sollte vielleicht antidotiert werden) oder aus einem anderen Grund momentan unerwünscht ist, kann ein akutes Mittel in den mittleren niedrigen Potenzen, vorzugsweise der 30. oder 200., gegeben werden, wobei dieses wahrscheinlich die Wirkung des chronischen Mittels nicht unterbrechen wird. Bei akuten Verschlimmerungen oder Ausbrüchen der aktiven chronischen Krankheit kann man das akute Komplement oder Verwandte des chronischen Mittels reichen. Auch in diesem Fall kann mitunter das chronische Mittel ungestört in seiner Wirkung fortfahren. Treten sehr schlimme akute Erkrankungen während der chronischen Behandlung auf, ist es manchmal sinnvoller, das akute Mittel hoch zu geben und, nachdem der akute Zustand vorüber ist, den Fall noch einmal aufzunehmen, der dann oftmals ein neues Bild zeigt. Die neue Verschreibung zieht die ursprünglichen chronischen Symptome in Betracht, mißt jedoch den jüngsten Entwicklungen mehr Bedeutung bei. In vielen Zuständen mit deutlichen Gewebsveränderungen, wie bei Verwachsungen und chronischer Herzinsuffizienz, sind niedrige Potenzen, sogar Tinkturen hilfreich. Niedrige Potenzen wie die C12, oder C6, sind gelegentlich auch unschätzbar in Einzeldosis bei schweren Zuständen wie Tuberkulose, wo sogar die 30. oder 200. Potenz eines Mittels wie Phos. oder Sil. zum Zusammenbruch führt.
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Aus dieser Ausführung über die Möglichkeiten der Potenzwahl ist zu ersehen, daß wir den Gebrauch hoher Potenzen größtenteils befürworten. Die Potenzfrage ist wohl der umstrittenste Punkt der ganzen Homöopathie, und sogar in unseren Reihen heutzutage sind viele strenge Homöopathen sogenannte Tiefpotenzler. Diese folgen Hughes und verschreiben mehr auf pathologische Veränderungen hin. Die strengen Kentianer sind beinahe ohne Ausnahme Hochpotenzler. Der Emfpindlichkeitsgrad unseres Patienten beeinflußt auch die Potenzwahl. Bestimmte Personen sind überempfindlich (oft infolge ungeeigneter homöopathischer Behandlung) und prüfen jede eingegebene Arznei; sie erfordern daher mittlere niedrige Potenzen. Andere Patienten reagieren träge (oft nach übermäßiger Einnahme allopathischer Arzneien). Diese benötigen oftmals eine sehr hohe Potenz, um überhaupt irgendeine Reaktion zu erhalten, oder wiederholte Gaben niedriger Potenzen (im Abstand einiger Stunden), bis eine gunstige Reaktion einsetzt. Der dritte Patiententyp ist der Schwache, dessen Lebenskraft leicht überwältigt werden kann. Wiederholung des Mittels beschwört hierbei größte Gefahr herauf. Akut kranke, robuste Patienten ertragen die Wiederholung hoher Potenzen, bis eine günstige Reaktion beginnt, obwohl das Ideal in der Einzeldosis liegt. Kinder vertragen hohe Potenzen vereinzelt gut. Sehr alte Patienten erhalten mittlere Potenzen (außer zur Euthanasie). Manche Individuen sind sogar auf homöopathische Potenzen bestimmter Substanzen überempfindlich. Ein gewisser Grad von Überempfindlichkeit (Idiosynkrasie) auf ein Heilmittel muß jedoch vorhanden sein, sonst kann der Patient nicht genesen. Wenn diese extrem ausgeprägt ist, sollte man den niedrigen oder mittleren Potenzen den Vorzug geben. Wenn Patienten mit einer reinen Substanz vergiftet worden sind, gilt als Regel, nicht diese Substanz in hoher Potenz, sondern besser ein Antidot in hoher Potenz zu geben. Zum Beispiel erfahren Patienten, die lange Zeit mit Calomel behandelt worden sind, keine Erleichterung durch Mercurius in Hochpotenz, jedoch möglicherweise durch Hepar. Andererseits gibt es auch Ausnahmen, wie bei chronischer Überempfindlichkeit auf Rhus-Vergiftung. Rhus-tox CM kann diese Veranlagung ausradieren. Geschieht das nicht, ist ein tiefer wirkendes Antipsorikum nach der Gesamtheit der Symptome angezeigt. Verschiedene Mittel sind für ihre Kraft bekannt, die Ordnung nach chronischer Vergiftung mit rohen Drogen, wie Nat-m. nach Mißbrauch von Chinin oder Silbernitrat, wiederherzustellen. Die sehr niedrigen Potenzen, wie die C3 oder C6, sind
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in der Hand sorgfältiger Verschreiber äußerst gefährlich. Das gilt hauptsächlich für ständige Gabenwiederholung. Große Vorsicht in der Potenzwahl ist bei bestimmten sehr tief wirkenden Mitteln in ernsten chronischen Fällen geboten. Zum Beispiel Kali-c. bei Gicht, Sulf., Sil., Tub., Phos. bei Tuberkulose; Psor. bei Asthma; Ars. und Lach. bei vielen Zuständen. Diese Mittel sollten in diesen Fällen in der 30. Potenz angewandt werden, auch von denen die sich fast ausschließlich höherer Potenz bedienen.
Repetition Das Einzelmittel bildet das dritte Glied in der homöopathischen Trilogie. Der Grund dafür ist unverkennbar: Nur ein Mittel kann das ähnlichste zu irgendeiner Zeit für den Zustand irgendeines Patienten sein. Falls der Arzt sich nicht zwischen zwei Mitteln entscheiden kann, hat er nicht die Gesamtheit der Symptome zusammengetragen, oder die gewählten Mittel sind mit Teilen oder Aspekten des Falls bloß oberflächlich verwandt. Außerdem ist das Simillimum eine Persönlichkeit, die einen Rhythmus hat, man kann beinahe von einer Aura sprechen. Im Augenblick seiner Verabreichung ergreift es vollständig Besitz vom Patienten, baut die Lebenskraft auf, so daß sie den Heilungsprozeß fortsetzen kann. Die Anwendung zweier oder mehrerer Mittel würde zu zwei verschiedenen Rhythmen und Disharmonien führen. Ferner kann der Arzt beim Gebrauch mehr als einer Arznei nicht wissen, welche die heilende war, somit bleibt ihm die Einsicht zur korrekten Weiterbehandlung verschlossen. Da schließlich immer nur ein Mittel gleichzeitig geprüft werden kann, kann also auch im gegebenen Augenblick nur eines heilen. Einige Bastard-Homöopathen verordnen, wenn sie zweifeln, Mittelmischungen. Sie verschreiben lediglich symptomatisch, d. h. ein Mittel für ein Symptom oder Organ, ein anderes für ein weiteres. Jedes von diesen, falls homöopathisch gewählt, mag ein Bruchstück der Krankheit, auf das es ausgerichtet war, vertilgen. Jedoch das Gesamte, Grundsätzliche, Ursächliche, wovon die verschiedenen Symptome nur Manifestationen sind, wird unberührt bleiben und kommt einfach an einem anderen Ort als späteres Symptom zum Vorschein. Andere Halbhomöopathen, auch diese mit umfangreichen Kenntnissen der Materia Medica, jedoch mit verhältnismäßig schwachen Grundlagen in theoretischer Hinsicht,
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wechseln die Mittel ab. Dieses Vorgehen kann nicht heftig genug verurteilt werden, weil es mit dem Patienten zeitweise auf und ab geht ohne wirklichen Fortschritt. Viele moderne französische Homöopathen geben ein tiefwirkendes Hauptmittel und ein oder zwei sogenannte Drainagemittel dazu, das chronische Mittel in hoher, das Drainagemittel in niedriger Potenz mit der Grundidee, daß Drainagemittel Kanäle für die Ausleitung öffnen. Diese Drainagemittel sind darauf ausgerichtet, die Produktion einer Absonderung oder die sekretorischen Organe anzuregen etc. Das ist eine neue Abart und kommt nicht bei Hahnemann, unserem alten Meister, oder Kent vor, und auch die selbsternannten Reinen heutiger Tage billigen das nicht. Das Problem des interkurrierenden Mittels soll hier auch abgehandelt werden. Viele reine Kentianer halten daran fest, daß es das nicht gibt oder geben sollte. Selbst dann, wenn nach einer Serie von Potenzen desselben Mittels ein neues Mittel erforderlich ist, um den Fall aufzurühren oder weiterzuentwickeln, ist es nicht ein interkurrierendes, sondern in diesem Augenblick das Simillimum. Es besteht auch ein Zwiespalt, ob man das Einzelmittel besser in einer oder mehreren Dosen verabreicht. Die Hochpotenzler befürworten die Einzeldosis, obwohl zwei, drei oder mehr Dosen einer hohen Potenz in kurzen Intervallen - alle vier, acht oder zwölf Stunden - gegeben werden dürfen, besonders bei hoch akuten Krankheiten mit Fieber, da der gesteigerte Stoffwechsel gewissermaßen das Mittel schnell verbraucht. In langwierigen Krankheiten wie Typhus dürfen hohe Potenzen auch dicht aufeinander folgen, jedoch gilt in jedem Fall die Regel: sobald Besserung eintritt, ist eine Repetition untersagt. Solange beim Patienten eine Besserung sichtbar ist, sollte eben das Mittel nicht wiederholt werden. Es besteht nicht nur kein Bedarf (noch mehr des Guten), sondern die Wiederholung des erfolgreich wirkenden Mittels macht die Wirkung zunichte und behindert tatsächlich die Heilung. Wir haben jedoch gelegentlich beobachtet, daß, wenn eine bestimmte Potenz etwas bewirkt, eine höhere Potenz desselben Mittels die Heilung beschleunigt. In diesem Zusammenhang ist die unlängst von Gordon, Edinburgh, bekanntgegebene Theorie der doppelten Dosis erwähnenswert. Gordon gibt sein Mittel in zwei Dosen im Abstand von acht Stunden, die erste Dosis in niedrigerer, die zweite in höherer Potenz desselben Mittels, z. B Phos. 200 beim Zubettgehen, Phos. M beim Aufstehen. Das ist jedoch noch nicht genügend
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überprüft worden, um uneingeschränkt akzeptiert zu werden. Einige der Meister bedienen sich einer niedrigeren Potenz nach einer höheren und bekommen gute Resultate. Das scheint mit dem Heilungsverlauf in Einklang zu stehen, von innen und oben nach außen und unten. Das wurde jedoch weniger praktiziert als die andere Methode, und wir verfügen bisher über keine Statistiken die aussagen, ob der Fall so oder beim Beginn mit der niedrigeren Potenz besser verlaufen wäre. Eine weitere Abwandlung der Mehrfachdosis, die darauf hinausläuft, die Einzeldosis zu teilen, ist die Plusmethode. Man löst dabei die Gabe in einem Glas, das zu einem Drittel mit Wasser gefüllt ist, auf, nimmt zwei Teelöffel ein, gießt fast den gesamten Rest weg, füllt mit Wasser wieder bis zur ursprünglichen Menge auf, rührt um, nimmt dann wieder zwei Teelöffel als zweite Dosis und so weiter. Das hebt die Potenz zwischen jeder Dosis leicht an, gibt einen weiteren Spielraum und ist zuweilen bei sturen und hartnäckigen Fällen angezeigt. Wenn sehr niedrige Potenzen in alltäglichen akuten Erkrankungen angewandt werden, sind in den meisten Fällen wiederholte Dosen notig, um eine Besserung zu erzielen. Zum Beispiel ein Fall von Herzinsuffizienz, der Crataegus erfordert, kann zwei Trop fen in Wasser morgens und abends für eine Woche benötigen. Wo mehr Pathologie als Vitalität vorhanden ist, erschließt man so den Fall besser als mit einer Einzeldosis Crataegus in hoher Potenz, obwohl diese später gut folgen kann. Bryonia C3 sollte von den Tiefpotenzlern als Kügelchen oder in Wasser in Abständen von einer bis vier Stunden, gemäß dem Verlauf des Falls in akuten Situationen, die Bryonia erfordern, gegeben werden. Wir treten unter denselben Bedingungen von ganzem Herzen für eine Dosis Bryonia in hoher Potenz ein. Soviel sei über die Anwendung der ersten Dosis oder Dosen, bis eine günstige Reaktion einsetzt, gesagt. Als nächstes kommen wir zur Frage, wann man wieder verschreibt Hier gilt die Regel, niemals das Mittel zu wiederholen oder zu wechseln, solange eine Besserung anhält. Wenn die Besserung bei akuten Erkrankungen sichtbar nachgelassen hat, darf man dasselbe Mittel in derselben oder einer höheren Potenz wiederholen oder, falls das Mittel nicht das Simillimum war, benötigt man ein anderes Mittel, um die Kur zu vollenden. Man muß sicher gehen, daß ein Stillstand in der Besserung nicht von emotionellen, mechanischen oder hygienischen Dingen abhängt, oder lediglich eine Verschlimmerung oder ein Zutagetreten einzelner
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Symptome ist. Im chronischen Fall sollte man einige Zeit abwarten, von drei bis vier Tagen bis zu zwei bis drei Wochen oder länger, da die Heilung in Rhythmen verläuft und somit nicht unterbrochen werden darf, bis sicher ist, daß die Reaktionskraft erschöpft ist. Kent betont das bewundernswert in seinen Worten watch and wait (beobachte und warte ab). Der Zeitraum zwischen der Wiederholung der Verschreibung kann wenige Minuten bis ein oder mehrere Jahre betragen und hängt gänzlich von der allgemeinen Besserung des Patienten ab. Wenn man wirklich eine Besserung erzielt hat und man teilweise bei einem chronischen Fall das Heringsche Heilungsgesetz beobachten konnte, halte man still. Weitaus mehr Fälle werden durch zu häufige Repetition als durch irgendetwas anderes verdorben. In diesem Zusammenhang ist es natürlich notwendig zu wissen, welches die langwirkenden Mittel sind - obwohl wir die günstige Wirkung einer Dosis Bryonia 30 gesehen haben, die in einem chronischen Fall zwei Jahre lang angehalten hat. jeder sollte die kleine Schrift von R. Gibson Miller über die Verwandtschaft der Mittel besitzen, worin eine annähernde Wirkungsdauer angegeben ist, jedoch orientiert man sich grundsätzlich bezüglich der Wirkungszeit eines Heilmittels bei irgendeinem Patienten am Stillstand der Besserung. Allgemein sei gesagt, daß bei einem guten Verschreiber eine Dosis, einzeln oder aufgeteilt wie oben angeführt, kurze akute Krankheiten bewältigt, wobei nach Beendigung der Krankheit ein chronisches Mittel zur Ordnungswiederherstellung folgen sollte. Falls ein Mittelwechsel bei einer akuten Erkrankung angezeigt ist, wird es oftmals gegen Ende der Krankheit wieder eine Umkehrung zum früheren Mittel geben. Das nächste Kapitel wird von der zweiten Verschreibung und von Verschlimmerungen handeln. Hier möchte ich nur noch ein Wort über den Wert von Placebo verlieren. Ein berühmter Arzt sagte: "Milchzucker ist die zweitbeste Arznei." Patienten, die die Homöopathie von Grund auf verstehen, sind oft mit einer Einzeldosis über lange Zeiträume ohne Placebo zufrieden. Aber es ist trotzdem gut, auch diesen bei jeder Konsultation eine Gabe Placebo zu reichen. Es ist sinnvoll, sie dahin zu bringen, Pulver oder Globull als Placebo zu nehmen, die in ihrem Aussehen den tatsächlichen Medikamenten ähneln und nicht die verlockenden braunen, rosa oder grünen Tabletten.
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So kompliziert sich diese Grundregeln anhören, bilden sie doch den Anfang der Weisheit in der Homöopathie. jeder Student sollte wenigstens einmal jährlich Kents Vorlesungen über die Theorie der Homöopathie lesen und mit den Schriften von Stuart Close, Gibson Miller, John Weir sowie mit den Lectures of Therapeutics von Dunham und Joslin und natürlich mit dem Grundstein unserer Kunst, Hahnemanns Organon, vertraut sein.
Verschlimmerung Nachdem sie gelernt haben, wie man Mittel und Potenz wählt, und wieviel Dosen zu geben sind, folgt als nächstes die Beobachtung des Falles. Der Arzt muß in der Lage sein zu entscheiden, ob das verabreichte Mittel überhaupt wirkt und wenn, ob günstig und weiche Prognose gestellt werden kann. Er sollte die Wirkungsdauer seines Mittels im individuellen Fall beurteilen können. Kurz gesagt, nachdem die Kur begonnen wurde, muß man sicher sein, ob man richtig liegt und muß ferner wissen, wann und unter welchen Umständen ein Mittelwechsel in Betracht kommt. Bei dieser Entscheidung hilft die genaue Beobachtung des Patienten während der Konsultation, zumal das, was der Patient aussagt, oftmals in die Irre leitet. Ein Merkmal, an das man sich halten kann, ist die Verschlimmerung. Eine Abhandlung darüber liegt in den Kapiteln 34 und 35 der Kent'schen Vorlesungen zur Theorie der Homöopathie in ausgezeichneter Form vor, woraus wir etliches, was nun folgt, entnommen haben. Folgende Arten der Verschlimmerung können beobachtet werden: 1. Eine lange Verschlimmerung mit nachfolgendem Zusammenbruch des Patienten. Das bedeutet entweder, daß der Patient unheilbar ist oder durch die Aufruhr infolge einer zu hohen Potenz erschüttert wurde. Das tritt gewöhnlich bei Fällen mit ausgeprägten pathologischen Zuständen auf, deren Vitalität immer noch fähig ist, Symptome hervorzubringen. Im Kapitel "Zweite Verschreibung" werden wir darauf eingehen, was in diesen schwierigen Situationen zu unternehmen ist; jedoch muß der Arzt Gewißheit haben, bevor er eine zweite Verschreibung trifft, daß wirklich eine Verschlimmerung erster und nicht zweiter Art vorliegt.
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2. Diese zweite Art besteht in einer langen Verschlimmerung gefolgt von langsamer Besserung. Hier liegt ein ernster Fall an der Grenze zur Unheilbarkeit vor, der gerade noch rechtzeitig zur Behandlung kam. 3. Die dritte Art der Verschlimmerung ist rasch, kurz und heftig, wonach eine schnelle Besserung des Patienten eintritt. Nach dieser Art sehnt man sich, und sie läßt nun langanhaltende Besserung erwarten. Es liegen keine strukturellen Veränderungen in den lebenswichtigen Organen vor. Abszesse und Drüseneiterungen treten zuweilen in diesen Fällen als Teil der Verschlimmerung auf. Das ist ein gutes Zeichen und sollte nicht unterbrochen werden. 4. Die vierte Möglichkeit liegt in einer praktisch nicht sichtbaren Verschlimmerung, trotzdem erholt der Patient sich beständig. Hierin beruht eigentlich das Ideal und zeigt, daß keine große organische Veränderung vorliegt, die gewählte Potenz exakt dem Fall angepaßt ist, besonders wenn die Symptome während der Genesung nach dem Heringschen Gesetz verlaufen, worauf wir später noch zurückkommen. 5. Bei der fünften Art tritt zunächst eine kurze Besserung ein, gefolgt von einer Verschlimmerung. Das deutet entweder auf eine nur palliative Mittelwirkung ohne Berühung des eigentlichen konstitutionellen Zustands des Patienten hin, oder der Patient ist unheilbar, oder ein tieferes miasmatisches Mittel wird als Reaktionsmittel benötigt, um das angezeigte Heilmittel zur Wirkung zu befähigen (oder um Symptome zu entwickeln, die auf das Simile hinweisen). Würde sich z. B. ein Silica-Fall für eine Woche oder zehn Tage wirklich bessern, dann abgleiten, wobei ein Potenzwechsel nicht länger hilft, dann greift jedoch Tuberculinum diesen Zustand auf, und nachher wirken andere Mittel. 6. Bei einer anderen Art der Verschlimmerung entwickeln sich die Symptome wie bei einer Prüfung. Das kann auf eine Überempfindlichkeit des Patienten auf dieses einzelne Mittel zurückzuführen sein, oder der Patient ist überhaupt überempfindlich und prüft jedes Mittel. Diese Patienten benötigen die mittleren Potenzstufen und sind oft unheilbar. 7. Eine andere Erscheinungsform der Verschlimmerung beruht auf dem Hervorkommen neuer Symptome. Das weist auf eine falsche Verordnung hin und wird unter dem Kapitel "Zweite Verschreibung" abgehandelt.
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8. Hier treten die individuellen Symptome stärker hervor, wobei der Patient sich besser fühlt. Dabei erscheinen oft alte Symptome in umgekehrter Reihenfolge ihres Auftretens wieder, (siehe Herings Heilungsgesetze). Das ist höchst günstig. Der Arzt muß dabei die Richtung der Symptome beachten. Schlagen sie eine falsche ein, von außen nach innen, wird es gefährlich; gehen sie von innen nach außen, ist alles in Ordnung. Eine andere Variante ohne tatsächliche Verschlimmerung ist die zu kurze Besserung der Symptome ohne besondere Verschlimmerung. Diese ähnelt sehr der fünften und nötigt den Arzt, nach einem miasmatischen Mittel Ausschau zu halten. Manchmal tritt Besserung der Symptome, die sich über die volle Wirkungszeit des Mittels erstreckt, ein, ohne daß damit eine besondere Erleichterung für den Patienten verbunden ist. Solche Fälle sind dann nur noch für die Palliation offen, die Lebenskraft schafft es hier nicht mehr, eine Heilung zu vollziehen. Eine unnötig starke Verschlimmerung wird durch eine zu hohe oder zu niedrige Potenz verursacht. Eine gut gewählte Potenz wird, wie oben erwähnt, entweder keine oder eine schnelle kurze Verschlimmerung erzeugen. Eine zu starke, lang anhaltende Verschlimmerung kann durch zu niedrige Potenzen oder durch wiederholte Gaben auftreten. Bei Verschlimmerungen nach hohen Potenzen wie der CM in heilbaren Fällen fühlt der Patient sich sogar während der Verschlimmerung entschieden besser, weil die charakteristischen Symptome und nicht Krankheit oder Patient selbst dabei verschlimmert sind. Eine sehr schwache Vitalität mag nicht in der Lage sein, eine Verschlimmerung zu produzieren. Solche Patienten erhalten eine einzelne Dosis einer sehr hohen Potenz, und dann müssen die kleinsten Zeichen beobachtet werden. Andererseits können bei starker Vitalität ausgeprägte Gewebsveränderungen vorhanden sein, die eine heftige Verschlimmerung produzieren. So muß der Arzt beide Faktoren gut im Auge behalten, die Vitalität und die pathologischen Veränderungen, und muß seine Potenzwahl sorgfältig ausbalancieren. Erfolgt bei starker Vitalität keine Verschlimmerung, ist wahrscheinlich das Heilmittel nur teilweise ähnlich gewesen. (Die Idealfälle ohne
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wahrnehmbare Verschlimmerung besitzen gewöhnlich nicht besonders ausgeprägte Vitalität.) In akuten Fällen bedeutet Besserung ohne leichte anfängliche Verschlimmerung oft, daß das Mittel nicht tief genug wirkt und eine weitere Dosis davon wahrscheinlich notwendig wird.
Die zweite Verschreibung Kent definiert die zweite Verschreibung als diejenige, die der, die etwas bewirkt hat, nachfolgt. Das bedeutet, daß ein stümperhafter Verschreiber vier oder fünf Medikamente verabreichen kann, und daß das sechste, falls es wirklich Veränderungen hervorgerufen hat, als erste Verschreibung klassifiziert wird. Wenn das Mittel gut gewählt war, was man aus den oben genannten Reaktionen ersehen kann, wartet man ab. Bevor man die zweite Verschreibung trifft, sollte man den Fall wieder studieren. In Anlehnung an Kent gibt es drei Möglichkeiten bei der zweiten Verschreibung: Repetition, Antidot oder Komplementärmittel Das wichtigste Anzeichen, bei der zweiten Verschreibung das Mittel zu wiederholen, besteht in der Rückkehr der ursprünglichen Symptome. Dem Patienten ging es besser, mit oder ohne Verschlimmerung; er erzählt nun, was man auch beobachtet, daß die ursprünglichen Symptome wieder aufgetreten sind, entweder ebenso stark, weniger stark oder schlimmer als früher. Hier ist eine Wiederholung in derselben Potenz erforderlich, nachdem man sich vergewissert hat, daß die zurückgekommenen Symptome auch bestehen bleiben. Ich möchte noch bemerken, daß, wenn der Patient erzählt, sein allgemeines Wohlbefinden sei zum Stillstand gekommen und seine ursprünglichen Symptome seien bis jetzt jedoch noch nicht wieder erschienen, man warten sollte, da die Genesung oftmals in Zyklen verläuft und die Besserung von selbst wieder beginnen wird. Falls er erzählt, er fühle sich schlechter, erwartet und beobachtet man die Rückkehr der ursprünglichen Symptome, bevor das Mittel wiederholt wird. Falls sich die Symptome ändern, der Patient sich jedoch noch besser fühlt, was man ihm auch ansieht, wechselt man nicht das Mittel, denn das würde den Fall verderben. Nimmt das Wohlbefinden zu, warten sie; wenn es zum Stillstand kommt, warten sie. Wenn der Allgemeinzustand schlechter ist und die Symptome gewechselt haben, ziehen sie eine neue zweite Verschreibung wie folgt in Betracht:
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Die Hauptindikation für einen Mittelwechsel bei der zweiten Verschreibung ist das Auftauchen neuer Symptome nach der ersten Verschreibung, die bestehen bleiben, ohne daß ein allgemeines Wohlbefinden des Patienten einhergeht. Das bedeutet, die erste Verschreibung war ungünstig und muß antidotiert werden. Die Wahl des Antidots bei der zweiten Verschreibung basiert auf den ursprünglichen und neuen Symptomen, wobei die Betonung mehr auf den neuen liegt. Die zweite Verschreibung sollte dann die neuen auslöschen und die alten modifizieren. Als wichtigsten Hinweis für einen Wechsel zu einem Komplementärmittel gilt eine mangelnde Tiefenwirkung der ersten Verschreibung, besonders bei akuten Erkrankungen oder einem oberflächlich wirkenden Mittel zu beobachten. Hier wird ein Komplementärmittel tieferen Einfluß nehmen. Ist z. B. bei einer akuten Halserkrankung Belladonna das Simillimum, wird jedoch, nachdem die akute Attacke vorüber ist, ein Folgemittel nötig sein, um Rezidive zu verhüten und Tendenzen auszulöschen. Falls die Symptome übereinstimmen, könnte bei der zweiten Verschreibung Calcarea das chronische Kornplement von Belladonna sein. Es gibt noch eine weitere Indikation für einen Wechsel des Mittels bei der zweiten Verschreibung, die jedoch tief in die Theorie eindringt. Dabei handelt es sich um ein Mittel für ein anderes Miasma. Die erste Verschreibung betraf das anfangs dominante Miasma, die zweite orientiert sich an den Symptomen des neuen Miasmas. Das Thema der zweiten Verschreibung war für mich das schwierigste der ganzen Homöopathie. jeder Anfänger sollte immer wieder Kents Theorie lesen, seine Fälle erneut studieren und vor allem beobachten und abwarten.
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Die Arzneimittelverwandtschaften Dieses Thema gehört zu den faszinierendsten der gesamten Homöopathie; zahlreiche Aspekte sind diesbezüglich in der Literatur noch nicht ausgeführt worden. Lange vor Hahnemann schrieb Paracelsus viel über die Lehre der Signaturen. Die alten Kräuterkenner richteten die Anwendung ihrer Mittel teilweise nach solchen Gesichtspunkten. Ein großer Beitrag zur Verwandtschaft der Mittel untereinander, mehr als der Symptome, wurde von Bönninghausen, Hering, Clarke, Gibson Miller, den Allens, Kent, Guernsey und Lippe geleistet. Die meisten dieser Arbeiten zeichnen sich durch eine Gemeinsamkeit aus, die die Wirkung gegebener Mittel, die der Komplementärmittel, weiterführen oder erfolgreich vervollständigen. Es bestehen Abweichungen in den Angaben der verschiedenen Autoren; am besten studiert man die Originalwerke. Eine der besten Quellen ist das kleine Büchlein von Gibson Miller, gedruckt in London, jedoch auch erhältlich bei Boericke & Tafel in Philadelphia (jeder Homöopath sollte es besitzen; wenn Sie den Fall repertorisiert haben, drei oder vier Mittel herauskommen und kein Simillimum den gesamten Zustand deckt, ist es in diesem Augenblick unmöglich zu entscheiden, womit man nun beginnt; dabei hilft Millers Tafel, die die beste Mittelfolge angibt.). Der vierte Band Clarkes Dictionaries, das Clinical Repertory, enthält eine ähnliche Liste, schließt aber eine größere Anzahl von Medikamenten ein, obwohl wir glauben, daß Gibson Miller sie sinnvoll gekürzt hat. Sehr zu empfehlen ist die Zusammenstellung der Mittel in der Materia Medica von Teste (unglücklicherweise erklärt er nicht, wie er zu dieser Gruppierung gelangte). Es gibt verschiedene Klassen von Komplementärverwandtschaften. Ein Wort der Erklärung über die praktische Anwendung einer Jeden - ein einfaches Komplementärmittel, wie diese, ist wohl angebracht, die unten als erste genannt werden, ist durch seine Symptomatologie verwandt; mitunter, wie in einem Fall von Ars. und Phos. durch das Auftreten in der Natur; manchmal ist ein Mittel Bestandteil des anderen, wie bei Badiaga-Jodum. Im Idealfall soll ein Mittel in einer Gabe hellen, jedoch sind viele Fälle so verworren, so durcheinandergebracht durch die Miasmen, Drogen etc., daß man gegen den Wind segeln und mehr als ein
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Mittel anwenden muß. Einige der Hauptkomplementärverwandtschaften dieser Art folgen nun: Ant.-t. Apis Arg-n. Ars. Bar-c. -
Ipec. Nat-m. Nat-m. Phos. Dulc.
Berb. Bry. Calc. Cham. China Con. Cupr. -
Lyc. Rhus. Rhus. Mag-c. Ferr. Bar-m. Calc.
Jod Lach. -
Lyc. Lyc., Nit-ac. Sulf. Merc. Thuj
Med. Mez. Nat-s. Op. - Plb. Petr. Sep. Phos. Carbv., Ars. Puls. Kali-s. Sab. Thuj. Stan. Puls.
Eine etwas spezialisierte Klasse von Komplementärmitteln bilden die akuten Komplemente, zu chronischen Mitteln oder chronische Komplemente zu akuten Mitteln, je nach Umständen, ob man den Patienten zuerst in einem akuten oder chronischen Fall betreut hat. Zum Beispiel kann eine akute Belladonna-Halsentzündung zur Vermeidung von Rezidiven und zum Beenden des Falls, das chronische Komplement, Calcarea, benötigen; oder ein chronischer Nat-m.-Fall mag eine akute Erkältung entwickeln, die das akute Komplement Bryonia erfordert. Einer der verwirrenden Punkte besteht darin, daß ein chronisches Mittel mehr als ein akutes Komplement hat, z. B. Nat-m. hat Bry., Ign., Apis; Lyc. hat Rhus-t., Chel. und Puls. und manchmal Jod. Einige der bekanntesten Beispiele, wobei das akute Mittel zuerst angeführt ist, sind: Acon. Ars. Bac. Bell. Bry. -
Sulf. Thuj. Calc-p. Calc. Alum., Nat-m.
Coloc. Hep. Nux-v. Puls. -
Staph. Sil. Sep. Sil.
Bei der dritten Art von Komplementärmitteln ist die geringste Arbeit geleistet worden; viele Angaben finden wir In Kents Materia Medica
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verstreut. Es handelt sich um die Serien, z. B. Calc., Lyc., Sulf. (alle drei Mittel sind chronisch; sie müssen in dieser Reihenfolge und nicht in der umgekehrten angewandt werden); Ign., Nat-m., Sep.; Puls., Sil., Fl-ac.; Ars., Thuj., Tarent.; All-c., Phos., Sulf.; Acon., Spong., Hep.; und viele andere. Natürlich sind nur einige wenige Beispiele aus den empfohlenen Büchern angeführt. Der Studierende wird bemerken, daß die Nosoden größtenteils ausgelassen wurden, ebenso die Gewebesalze, außerdem bestimmte bekannte Mittel, wie Kali-c., wofür viele Komplemente vorgeschlagen worden sind, jedoch keines gänzlich befriedigend erscheint. In den Quellen sind bestimmte Mittel als unverträglich erwähnt. Sie dürfen aufeinander nicht ohne Zwischenmittel oder beträchtliche Zeitdifferenz folgen. Einige Beispiele: Acon. Am-c. Apis Aur-m-n.Bell. Calc. Caust. Cham. Cocc. Ferr. Ign. Lach. Led. Lyc.Merc. Phos. Psor. Rhus. Sep. -
Acet-ac. Lach. Rhus. Coff. Dulc. nach Kali-bi. oder Nit-ac. Phos. Nux, Zinc. Coff. nach Dig. Coff., Nux, Tab. Dulc., Psor. Chin. nach Sulph. Sil. und vor Bar-c. oder Sulph. Caust. Sep. Apis Lach.
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Das Gebiet der Arzneimittelanalogien im Tier-, Pflanzen- und Mineralreich ist nur wenig studiert worden und eröffnet weite Möglichkeiten. (Manche behaupten, daß theoretisch ein Mittel aus jedem der drei Reiche für jede Krankheit geeignet sein sollte.) Zum Beispiel ist Ign. die pflanzliche Analogie zu Nat-m., Phyt. zu Merc. Die Verwandtschaft der Mittel nach ihrer chemischen Beschaffenheit ist hochinteressant und noch zu wenig entwickelt. Manche Beziehungen werden klarer, z. B. Puls. enthält Kali-s., Beil. enthält viel Mag.-p.; Sulf. ist in All-c. und Lyc. Quantitative chemische Analysen sollten mit allen unseren pflanzlichen Heilmitteln vorgenommen werden. Unter den Tiermitteln kommt Jod in Badiaga und Spongia vor. Die botanische Mittelverwandtschaft ist äußerst vielsagend. Man findet sie in Clarkes Clinical Repertory. Der Student täte gut daran, sich mit den bekannteren Mitteln der folgenden Gruppe vertraut zu machen: Loganiaceae: Brucea, Curare, Gels., Hoang nan, Ign., Nux, Spig., Upas Ranunculaceae: Adonis, Clem., Hepatica, Hydr., Puls., Ran-b., Ran-s., Aconit-Arten Cimic., Actea spic., Aquil-vulg., Caltha pal., Helleborus-Arten, Staph., Paenoia Rubiaceae: Cahinca, Coff., Mitchella, China, lpec., Galium, Rubia tinc. Solanaceae: Bell., Caps., Duboisin, Datura-Arten, Dulc., Hyos., Lycopersicum (Tomate), Mandragora, Pichi, Solarium (Kartoffel), Stram., Tab. Berberidaceae: Berb., Caul., Podo. Melanthaceae: Colch., Helonias, Sabad., Verat., Yucca
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Einige therapeutische Haken, die im Zusammenhang mit der Verwandtschaft der Mittel stehen, werden in einem späteren Kapitel über die Gefahren der homöopathischen Verschreibung aufgegriffen.
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Das Verschreiben nach pathologisch-anatomischen Gesichtspunkten Nur wenige Dinge sind reizvoller, als unsere eigene Voreingenommenheit zu bekämpfen. Eines der Grundprinzipien, das Jedem guten Kentschen Hömöopathen eingebleut wird, besteht darin, nicht auf pathologische Resultate hin zu verschreiben. Für den von der Allopathie Bekehrten ist dieses eines der schwierigsten Hindernisse beim Erlernen der Homöopathie. Mittels viel Übung prägt er es sich endlich ein. Wir müssen klar erkennen, daß für den Patienten und seine individuelle Reaktion auf die sogenannte Krankheit zu verschreiben ist. Wir verstehen Pathologie als Endresultat, als eine Veräußerlichung, ein schützendes Herauswerfen, einen Auswuchs oder eine Absonderung eines Teils des Körpers. Wir neigen dazu, die Pathologie über Bord zu werfen und lassen sowohl deren Symptome als auch organische Läsionen außer acht. Gehen wir nicht mit großer Vorsicht zu Werke, werden wir bemerken, daß wir nicht so erfolgreich sind, wie wir sein sollten. Man gibt Heilmittel nur auf funktionelle Symptome hin, in deren Macht es nicht liegt, die vorliegende Pathologie zu produzieren bzw. zu heilen. Wir können die Blutung eines Gebärmuttermyoms mit einem Mittel unter Kontrolle bringen, das nicht die Fähigkeit besitzt, Myome zu produzieren. Das wäre dann eine Unterdrückung. Wir können Schmerzen und Fieber bei einem Pleuraexsudat mit einem oberflächlichen Mittel lindern, jedoch wird dadurch nicht die Resorption des Exsudats bewirkt. So wird uns nach und nach unsere eigene Erfahrung, ebenso wie es bei unseren Meistern der Fall war, nahelegen, die Pathologie in der Verschreibung nicht als Basis, sondern als wichtigen Faktor in der Gesamtheit der Symptome anzusehen. Man gelangt zu der Erkenntnis, daß die Pathologie auch den Patienten enthüllt. Eine Neigung zur Polypenbildung ist ein wertvolles Symptom. Wir müssen pathologische Kenntnisse zur Diagnosenstellung besitzen, auch wo im Überfluß nicht-pathologische Symptome vorhanden sind, ferner um den Patienten zufriedenzustellen, unsere Prognose zu stellen und besonders, um uns die Potenzwahl unseres Mittels zu ermöglichen. Wo erkennbare pathologische Veränderungen vorliegen, ist es günstiger, niedrigere Potenzen zu geben, obwohl oft bei kräftigen Personen durch eine hohe Potenz, vorausgesetzt es handelt sich um das Simillimum, eine größere Erleichterung erreicht und die Krankheit schneller durch die
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Pathologie getrieben wird. Das mag den Patienten ängstigen oder belästigen, jedoch wird es der reine Homöopath verstehen und dem Patienten und seiner Familie erklären. Außerdem wird unsere Mittelwahl dahingehend beeinflußt, uns eines Mittels zu bedienen, das zur Bewältigung der Situation stark genug ist. Wir werden lernen, wann der Fall unheilbar ist und wir uns vor einer zu hohen Potenz in acht nehmen müssen, um eine Verschlimmerung zu vermeiden, die der Körperhaushalt nicht mehr bewältigen kann. In unheilbaren und bedenklichen chronischen Fällen, sogar in solchen wie früher Tuberkulose, werden wir sehen, wann das wahre Simillimum zu meiden ist, und palliative oder weniger tief wirkende Mittel als Vorbereitung auf das echte Simillimum gegeben werden müssen. In Fällen, die jedoch nicht sehr häufig sind, bei denen der aufmerksame Homöopath keine subjektiven Symptome oder Modalitäten ausmachen kann, muß er von der pathologischen Verschreibung Gebrauch machen. Oft zählt auch der pathologische Zustand zu den Allgemeinsymptomen; Kent hat uns gelehrt, daß ein Zustand, der an drei oder vier Orten lokalisiert ist, als Allgemeinsymptom aufzufassen ist. Solche Symptome, wie übermäßige Absonderungen, die Boger in seiner General Analysis unter "moistness" klassifiziert hat, können uns auch zur wahren inneren Natur des Patienten leiten. Es gibt noch eine weitere Art von Pathologie, die G. B. Stearns zu den objektiven Symptomen rechnet - mit anderen Worten, Pathologie, die für das Auge sichtbar ist. Damit sind nicht unabänderliche organische Gewebsveränderungen gemeint, sondern solche wertvollen Einzelheiten wie Rötung der Körperöffnungen, Fissuren, Herpes, Ausschläge, Hautverfärbungen, Warzen, Muttermale, Eigentümlichkeiten der Haare, Nägel etc. Bei Kindern leiten uns diese objektiven Symptome oft am besten. Daher sollten selbst die striktesten Hahnemannier unter uns den pathologischen Symptomen ihren Rang zuerkennen!
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Das Problem der Unterdrückung Kürzlich sagte ein Patient zu mir: "Wo in der Literatur kann ich Angaben über die Gefahren der Unterdrückung finden? Meine Tochter will auf das Kopfekzem ihres Babies Salbe tun und mir nicht glauben, wenn ich ihr erkläre, wie gefährlich das ist." Das veranlaßte mich, die Literatur durchzusehen, wo ich jedoch nur sehr wenig entdeckte. Daher unternehme ich nun den Versuch, dieses recht bedeutsame Problem etwas auszuführen. Zuerst wollen wir den Begriff definieren: Unterdrückung bedeutet, daß die Krankheitsmanifestationen verschwinden, bevor die Krankheit selbst geheilt ist. Das Thema Unterdrückung scheint vom homöopathischen Standpunkt aus eines der wichtigsten zu sein, jedoch weniger für den normalen medizinischen. In der offiziellen Medizin treffen wir ständig auf Beispiele solcher Unterdrückungen, tatsächlich ist von unserem Standpunkt aus alles, was nicht unbewußte Homöopathie bewirkt, in der gewöhnlichen Medizin Unterdrückung. Es gibt verschiedene Arten von Unterdrückungen. 1. Unterdrückung, die zufällig oder natürlich und nicht in Abhängigkeit von irgendeiner Medikation auftritt, z. B. die Unterdrükkung starker Emotionen, die sich aus der unnatürlichen Situation unseres Kollektivlebens ableitet. Das sind mehr oder weniger unbewußte Unterdrückungen, wobei die Schwere ihrer Auswirkungen gewöhnlich unbekannt ist; das Individuum ist noch stolz darauf und vertraut auf das Niederhalten dieser Emotionen. Es gibt noch eine weitere Art zufälliger Unterdrückung, die von einer großen Gemütserschütterung herrührt, wie Demütigung oder Kummer. Außerdem spricht man von natürlicher Unterdrückung, den physischen Bereich betreffend, z. B. wenn die Menses durch unüberlegtes Baden gestoppt wird, oder die Lochlen nach einer Entbindung durch Erkälten, die Milchsekretion oder Schweiße durch plötzliches Abkühlen aufhören.
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Dann gibt es noch die Unterdrückung einer Krankheit durch eine andere, wovon im Organon so häufig gesprochen wird. Das kann sich so auswirken, daß eine akute Krankheit solange von einer anderen überdeckt wird, bis letztere geheilt ist; oder eine chronische Krankheit schweigt während einer akuten, bis die akute vorüber ist. Die Umkehrung davon, wenn die chronische Krankheit die akute fernhält, gewährt einen teilweisen oder vollkommenen Schutz gegen die akute Erkrankung, was auch als Unterdrückung eingeordnet werden könnte, obwohl man dabei gewöhnlich mehr an Immunität denkt. 2. Eine Art der Unterdrückung, die der offiziellen Medizin heutzutage häufig unterläuft, geschieht durch örtliche Anwendungen. Das betrifft viele Gebiete, z. B. Schnupfen und Nebenhöhlenbeschwerden werden durch örtliche Anwendung von Argyrol, Jod und anderen Substanzen unterdrückt, Fluor und gonorrhoische Ausflüsse durch Injektionen von Quecksilber-Chromsalzen, Portargol und Permanganaten, Ausschläge bei akuten Krankheiten wie Scabies oder Impetigo, ebenso auch bei chronischen wie Psoriasis und Ekzem durch Zink- oder Schwefelpräparate, Quecksilber-Ammoniumverbindungen und viele andere. Die Exantheme, die unter gewissen Umständen auch zu den natürlichen Unterdrückungen gerechnet werden können, treibt man durch unklugen Gebrauch kalter Packungen nach innen. Das gilt auch für Fußschweiß, der oft durch Puder vertrieben wird; Bindehautvereiterungen durch Silbersalz, Geschwüre durch verschiedene Lokalmaßnahmen, Warzen durch Trichloressigsäure oder auf elektrischem Wege. Weiterhin gibt es die örtliche Unterdrückung vieler Zustände durch Rotlichtlampen etc. Blutungen werden durch adstringterende Mittel (Gerbsäure) oder durch gerinnungsfördernde (Tromboplastin, Röntgenstrahlen) gestoppt (auch durch Calcium-Verbindungen oder Gelatine, innerlich angewandt). Dabei erhebt sich die Frage, ob die homöopathische Droge Ceanothus americanus unter die unterdrückenden oder heilenden Mittel eingegliedert werden sollte. 3. Nun kommen wir auf Zustände, die durch die verbreitete innere Arzneitherapie unterdrückt werden: Malaria, falls nicht der China-Typ vorliegt, einfach durch massive routinemäßige Chiningaben, worauf sich oftmals rezidivierende Neuralgien einstellen, akute rheumatische Fieber mit Salicyl-Präparaten, was zu einem Verlagern der Gelenksymptome auf
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das Herz führt. Epilepsie und Chorea werden oft durch Sättigung mit SedatiVa verdeckt, und Herzkrankheiten mit Digitalis maskiert. 4. Häufige Krankheitsunterdrückung durch Operationen: die Entfernung einer Neubildung, gut- oder bösartig, ferner von Polypen, Mandeln, Appendix, Varizen, Hämorrhoiden, Fisteln und Knochenhyperthrophien. Das Problem besteht darin, daß die moderne Medizin danach trachtet, pathologische Veränderungen zu entfernen, anstatt die dahinterstehenden Ursachen zu heilen, wobei sie sich nicht klar macht, daß die Endresultate der Krankheit wohltätige Versuche sind, die Krankheit zum Schutz der lebenswichtigen Organe hinauszuwerfen. 5. Am heimtückischsten sind die Unterdrückungen durch Impfungen, die heute so verbreitet sind, daß ein Kind sieben oder acht verschiedene in einem Jahr erhält. Mir ist eine Familie mit sieben Kindern eines berühmten Allopathen bekannt, die in einem Jahr Impfungen gegen Diphtherie, Scharlach, Keuchhusten, Typhus, Paratyphus und Pocken und zwei Kindern auch noch gegen Heuschnupfen erhielten. 6. Dann besteht noch das Problem der alten Syphilis-Unterdrückung durch Arsen- und Quecksilberbehandlungen, die viele Ärzte, sogar der offiziellen Schule, für sich später entwickelnde Lues III und Arzneikrankheiten verantwortlich machen. 7. Dann gibt es noch eine weitere Unterdrückungsart, die der individuellen Symptome, die genauso mit homöopathischen wie mit allopathischen Mitteln erfolgen kann. Man darf niemals vergessen, daß Palliation in einem heilbaren Fall Unterdrückung bedeutet. Das zieht einen ständigen Wechsel der Mittel nach sich. Man maskiert das echte ursprüngliche Bild der Erkrankung und kompliziert es soweit, bis ein unheilbarer Zustand eintritt. Das Ausmaß, in dem das von der breiten Masse der homöopathischen Ärzte und der unzähligen Laienbehandler vollzogen wird, kann man sich nicht vorstellen und ist höchst erschreckend. Ich muß nicht auf die furchtbaren Resultate verschiedener Unterdrückungen eingehen, jeder hat sie selbst gesehen. Sie schließen Asthma, Krämpfe, Lähmungen, Wahnsinn, Tuberkulose und tiefsitzende Erkrankungen der lebenswichtigen Organe ein. Im letzten Jahr publizierte Stearns eine Abhandlung über Prodromal-Symptome und ihre Bedeutung
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bei der Verschreibung. Würde sie aus meiner Feder stammen, hätte sie den Titel "Prodromal- oder frühere Unterdrückungen, ihre Bedeutung bei der Verschreibung". In jedem Fall müssen wir "cherchez", nicht "la femme" sondern "la suppresion". Werden wir für Symptome, die vor der Unterdrückung vorhanden waren, verschreiben? Benutzen wir die Form der Unterdrückung als ein Symptom in unserem Gesamtbild? Verschreiben wir hauptsächlich für das vorhandene post-suppressive Syndrom? Wir müssen uns darauf besinnen, daß Unterdrückung in irgendeiner Form die Krankheit nach innen treibt, Symptome maskiert, vielgestaltige Veränderungen in der Art der Erkrankung vornimmt und die natürlichen Ableitungswege der Krankheit blockiert. Verlassen Sie immer die goldene Brücke Ihrer pathologischen Endresultate, weil nur auf diesem Weg die Krankheit zur Heilung gebracht werden kann. Krankheit ist der Minotaurus in seinem Labyrinth; Theseus, das Symptom, muß den Weg zurück aus dem Labyrinth finden. Zerschneiden Sie nicht seinen Faden!
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Die Führung des homöopathisch behandelten Patienten Woher kommen unsere Patienten? Entweder werden wir von Patienten, denen wir geholfen haben, empfohlen oder von anderen homöopathischen Ärzten oder einer homöopathischen Apotheke (falls wir in der glücklichen Lage sind, eine in der Nähe zu haben) oder von Bekannten, die durch die Schulmedizin enttäuscht wurden. Wir haben ihnen gegenüber als Homöopath zahlreiche Pflichten: Erstens müssen wir das richtige Heilungshindernisse wegräumen.
Mittel
auswählen
und
die
Wir unterbinden schädliche Angewohnheiten und reichen Placebo wenn es nötig ist, sie von anderen Arzneien fernzuhalten. Wir sollten ihnen genügend Verständnis für die Lehre der Homöopathie beibringen, um während der Behandlung ihrer Zusammenarbeit sicher zu sein. Wir lenken Ernährungsweise, Hygiene, Geisteshaltung in geeignete Bahnen.
Krankheitsschutz
und
Zweitens muß man durch seine Persönlichkeit das Vertrauen des Patienten gewinnen - durch Menschlichkeit und durch die Fähigkeit, den gesamten Menschen zu sehen. Ferner durch höchste Genauigkeit in Befragung und Untersuchung; außerdem durch unsere Einstellung zur Wissenschaft, durch das Ausführen von Untersuchungen, wenn diese harmlos und diagnostisch sinnvoll sind. Viele reine Homöopathen wenden dagegen ein, daß sie weder Laborbefunde noch Diagnose zur Heilung benötigen. Oftmals gilt das für das Wegbringen von Symptomen; bei funktionellen Krankheiten auch für die Heilung selbst. Nach meiner Erfahrung sind moderne Patienten jedoch zu sehr medizinbewußt, zum Beispiel durch Journale und klassifizieren Sie dann als unwissenschaftlich und verlieren den Respekt, wenn Sie das alles nicht beachten. Außerdem wird die Verschreibung verbessert, wenn man die pathologischen Tendenzen und Zustände kennt.
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Der zweite Akt des homöopathischen Dramas ist für mich weitaus schwieriger: die Entscheidung, wann ein anderes Mittel benötigt wird. Viele der zufriedenstellend homöopathisch erzogenen Patienten kann man unter einem hilfreichen Mittel laufen lassen, bis sie erzählen, daß sie einen erneuten Anstoß benötigen. Andererseits werden sich viele vernachlässigt fühlen und müssen täglich gesehen werden, sogar wenn man weiß, daß man das Mittel nicht wechselt. Hat man eine kompetente Krankenschwester zur Verfügung, die die Symptome gut notiert, kann diese oft angeben, ob man wirklich benötigt wird, und außerdem helfen, die Familie zu überzeugen, wenn es einem selbst nicht gelingt. Hingegen benötigt eine nervöse oder ungeeignete Krankenschwester als Bestätigung häufig Ihre Gegenwart. (Manchmal würde ich gern eine Parodie auf SetonThompsons Buch schreiben und es titulieren: Wild Nurses I Have Known!) Es bedarf äußerster Selbstkontrolle, Takt und Geduld, Familien zu behandeln. Man muß die Balance zwischen Hoffnung und Angst - in kritischen Fällen - so halten, daß ihre Kräfte nicht erschöpft werden, sie jedoch einigermaßen auf einen möglicherweise schlechten Ausgang vorbereitet sind. Eine der üblichen Fragen, die Patientenführung betreffend lautet: "Soll der Arzt seinen Patienten die Wahrheit sagen, wenn sie eine ernste oder fatale Krankheit haben?" Ein Weiser sagte einmal: "Wenn für die Patienten die Zeit gekommen ist, es zu wissen, dann werden sie es wissen und es dem Arzt erzählen. Dann kann man mit ihnen darüber sprechen." Aber zum eigenen Schutz muß, wenn man seiner Diagnose sicher ist, ein naher Verwandter unterrichtet werden. jedoch wird von den Ärzten ungeheurer Schaden angerichtet, wenn sie brutale Behauptungen in Diagnose und Prognose aufstellen. Kürzlich wurde ich zu einem Notfall gerufen: eine 65jährige Frau mit tonischen Krämpfen; blaue Haut; Augenrollen; stertoröse - sie hatte noch nie Atmung und kalte Schweiße, keine Inkontinenz, einen derartigen Anfall. Die Familie glaubte, sie würde sterben. Die Pupillen reagierten auf Licht und waren gIeich groß; kein Babinski Reflex. Die Angehörigen jammerten, als ware sie nicht bei Bewußt sein, jedoch bemerkte ich an ihrem Augenausdruck, daß sie alles verstand. Die Daumen waren nach innen geschlagen. Cupr. gefolgt von Op. M brachten sie in einer Stunde in Ordnung, so daß sie am Nachmittag aufstehen und waschen wollte! Viele
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beeinflußbare Patienten sind überzeugt, daß sie Krankheiten haben oder bekommen werden, was bestimmt nicht der Fall ist. Da hilft keine Beteuerung, jedoch die einfache Aussage, "Sie haben nicht die entsprechenden Symptome", mit einem kleinen Lächeln wirkt oftmals Wunder. (Verraten Sie jedoch niemals, worin diese Symptome bestehen!) Ich möchte für einen Augenblick noch einen anderen Grund nennen, weshalb die Homöopathen eine Diagnose benötigen: Ich verlor eine nette Familie als Patienten, weil ich die Diagnose für mich behalten hatte. Ihr kecker 1 1jähriger junge kehrte vom Internat, wo der Mumps grassierte, heim, seine Mutter rief mich an, er wäre auch erkrankt, und ich sollte vorbeikommen, um ihn mir anzusehen. Als ich da war, sagte ich zu ihm: "Deine Ohrspeicheldrüse ist gar nicht geschwollen oder entzündet." "Sie war es", antwortete er. Er war ein ausgeprägter Phosphor-Typ und litt nun an einer Halsdrüsenentzündung. Ich machte mir Sorgen wegen Tuberkulose und baute ihn mit Medikamenten auf. Tatsächlich hatte ich ihm Tub-bov. M gegeben, jedoch der Mutter, die sehr besorgt war, nichts gesagt, um sie nicht zu erschrecken, da ich wußte, diesem Zustand gewachsen zu sein. Sie dachte, er würde sich nicht schnell genug vom Mumps erholen, rief einen anderen Arzt, der tuberkulöse Drüsen feststellte, und ich verlor die Familie. Seitdem schreibe ich einen Brief, der die Diagnose enthält, an mich selbst und deponiere ihn bei mir, um ihn in solchen Fällen ungeöffnet bereit zu haben! Die meisten Schwierigkeiten bereiten die neuen Patienten, die noch nicht wissen, was sie nicht dürfen: weder Ausschlag noch Absonderungen, die der Homöopath bemüht war hervorzubringen, erneut unterdrücken. Warnen Sie immer Patienten, die eine Unterdrückung in ihrer Krankengeschichte aufweisen, falls ein Ausschlag oder eine Absonderung wieder auftaucht, etwas zu unternehmen, bevor sie Rücksprache gehalten haben. Verschlimmerungen sind nicht so schwierig zu handhaben, wenn Sie Ihre Patienten darauf vorbereiten. Erzählen Sie, daß diese auftreten können, und dann ein gutes Zeichen sind. Problematisch sind die Patienten, die man schon jahrelang betreut und die selbst homöopathische Mittel haben. Geben Sie Patienten, die Kinder haben und außerhalb wohnen, auf jeden Fall Mittel, jedoch numeriert,
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nicht mit Namen, und besprechen Sie am Telefon, welches gegeben werden soll. Gehen Sie sicher, daß mehrere Fläschchen Placebo unter verschiedenen Bezeichnungen vorrätig sind. jedoch auch dann werden Sie geplagt: in einem Fall gab ich Nr. 18, was bei mir Sepia ist. Meine Patientin befand es als so wirksam für ihren Gemütszustand, daß sie es auf eigene Veranlassung hin nahm! Vielleicht sollten wir in solchen Fällen die Hausapotheken nochmals durchsehen und die Zeichen ändern. Große Schwierigkeiten bereiten Patienten, die an unheilbaren Krankheiten - die beschriebene Therapie verlängert hier wenigstens das Leben - oder an seltenen leiden; außerdem wird es kompliziert, wenn für eine entsprechende Erkrankung noch keine klinische Bestätigung durch andere Ärzte vorliegt. Zum Beispiel habe ich einen 42jährigen Mann mit myeloischer Leukämie. Röntgenbestrahlung der Milz scheint nach modernen Gesichtspunkten unerläßlich. Er und seine Freunde würden es nicht in Erwägung ziehen, diese aufzugeben. Auch würde ich nicht darauf drängen, sie zu unterlassen, ebenso wie den Gebrauch von Chinin bei Malaria und Schwefelpräparaten bei Lungenentzündung. Ich glaube, daß die Homöopathie in diesen Fällen helfen kann, denn der Mann kommt klar auf ein Mittel heraus (Phosphor). Sein Fall beinhaltet genügend Unterdrückungen (Psoriasis, Sinusitiden, Hämorrhoiden etc.), die ein derart schreckliches Endresultat rechtfertigen. Bin ich jedoch befugt, für Phosphor allein zu kämpfen? Die Entscheidung liegt schließlich beim Patienten. Er wurde dadurch gebessert, obwohl seine Blutwerte periodisch anschwellen. Er ist kräftiger geworden und arbeitet mehr als er sollte. Sein Rachenkatarrh ist zurückgekehrt, ebenso ein Ausschlag. Dann holte er sich außerhalb von New York eine Halsentzündung, und ein befreundeter Arzt gab ihm Sulfodiazin. Als er zurückkehrte, sah er entsetzlich aus. Man hat sicher gelegentlich einen Fall, dessen Diagnose einem wie ein Stein im Magen liegt. Andere Gefahren für den homöopathischen Arzt bestehen darin, sich wie eine Sphinx oder zu euphorisch zu gebärden. Ausgewogenheit, Charakter, Entschlossenheit, Vertrauen und unermüdlicher Fleiß gehören dazu, ein anständiger homöopathischer Arzt zu sein. Jede Aufzeichnung - wenn auch noch so kurz - eines homöopathischen Falls sollte Angaben enthalten, was man dem Patienten während der Kur gestattet hat: Calendula-Salbe, Echinacea-Verreibung, Lavendel, Pinus
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pumilio-Salbe, Hydrotherapie, Wollkraut-Öl, Plantago-Öl, Arnica-Salbe, Ohrspülung, Salzlösungen als Abführmittel und bei beginnender Migräne. Die Quintessenz der Mittelhandhabung bringt Kent in seiner "Zweiten Verschreibung" und den Verschlimmerungsarten. Theorie kann aus Büchern erlernt werden, jedoch habe ich noch kein Buch gesehen und keine Vorlesung an einer medizinischen Fakultät gehört, wo über die tausend Dinge berichtet wird, die dem Arzt in der privaten Praxis bei seinen Patienten zum großen Erfolg verhelfen. Schließlich hängt wie bei allen Dingen die Führung des Patienten davon ab, wie man sich selbst leitet, denn wir lehren oder lernen nicht Gesagtes, sondern was wir fühlen und empfinden, wissen und sind.
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Die Anfangsschwierigkeiten in der homöopathischen Praxis Bevor wir die Probleme der homöopathischen Praxis erörtern, lassen Sie mich einige aus der gewöhnlichen medizinischen aufzeigen, die bei mir zu einem Interesse an der Homöopathie führten. Als ich im Krieg an der Columbia Medical School, P & S nannten wir sie, studierte, war ich sehr über den Mangel an therapeutischen Informationen enttäuscht. Pathologie und Bakteriologie gab es in Hülle und Fülle, ebenso faszinierende Diagnoseübungen, da ich jedoch eine Frau bin und daher eine praktische Seele besitze (ich sehe, wie manche von Ihnen beim Gedanken an Frauen, die Sie kennengelernt haben, lachen), sehnte ich mich nach Heilungsmaßnahmen. In puncto Therapie hörten wir viel über Hygiene, Krankenpflege, Diät, Hydrotherapie etc. Eine beträchtliche Zahl meiner Kommilitonen, die beabsichtigt hatten, in die Allgemeinmedizin zu gehen, wurden Chirurgen oder Spezialisten, weil es auf diesen Gebieten etwas Eindeutiges für den Patienten zu tun gab. Nach dem Verlassen der Universität wurde ich für zwei Jahre Assistenzärztin am Bellevue Hospital, wo ich wieder auf den vorherrschenden therapeutischen Nihilismus stieß. Unser Chefarzt war ein ausgezeichneter Diagnostiker, jedoch stieg in mir das Gefühl auf, daß ihm eine Sektion ebenso willkommen wie eine Heilung war, wobei die Sektion auch häufiger vorkam. Eine Patientengruppe machte mich besonders unglücklich, nämlich die, die reichlich subjektive Symptome hatten, denen jedoch durch den Labor- und Diagnosebefund Gesundheit bescheinigt wurde. Ich erinnere mich an einen, der sagte: "In Ordnung Doktor, ich mag vielleicht vollkommen gesund sein, jedoch weiß ich, daß ich krank bin." Dann gab es die Chronischen, nicht mit ausgesprochenen pathologischen Resultaten, die jedoch ihr Leben lang von Verdauungsbeschwerden oder Migräne geplagt einen Arzt nach dem anderen konsultiert hatten, wobei nichts weiter als zeitweise Erleichterung herausgekommen war. Zwei weitere Probleme gaben mir in diesen Tagen außer den klar funktionellen und den chronischen Fällen besonders zu denken: Einer von diesen war ein Patient mit einer klassisch diagnostizierten Krankheit, der nicht auf die gewöhnliche "spezifische" Behandlung reagierte. Es handelte sich um einen jungen Seemann mit einer heftigen Malaria, den keine noch so große Dosis Chinin zur Bestürzung aller konsultierenden Ärzte beeinflußte. Er benötigte Eup-per., nicht Chin. Die andere Angelegenheit, die mich
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nachdenklich stimmte, war die große symptomatische Unterschiedlichkeit bei Patienten, die an der gleichen Krankheit litten. Ich wunderte mich, weshalb die Pneumonie im 2. Bett, ein kräftiger Bursche, am Tag der Einweisung gegen Mitternacht so plötzlich heruntergekommen war und in schrecklichem Todeskampf am nächsten Mittag lag (er starb zur Überraschung aller); und warum der berauscht aussehende Patient im nächsten Bett auf der schmerzhaften Seite mit den Händen unter der Brust lag, bewegungslos, wobei er in langen Intervallen zwei oder drei Gläser Wasser gierig hinunterstürzte, über das Licht klagte und einen anfuhr, wenn man ihn ansprach; und warum sich der gegenüber Liegende unablässig hinund herwarf, besonders abends, und kalte Milch verlangte. Nun weiß ich, daß, obwohl alle drei die gleiche Krankheit und die gleiche Behandlung hatten, auf drei verschiedene Mittel geantwortet hätten, Aconit, Bryonia und Rhus tox. (damit habe ich natürlich etwas vorgegriffen). Während meiner Ausbildung waren mir die offensichtlich funktionell und die chronisch Erkrankten, außerdem die Patienten, die auf die klassische Behandlung einer klar bezeichneten Krankheit nicht reagierten, und die verschiedenen Typen, die einer Diagnose gemäß eingeteilt und behandelt wurden, ein Rätsel. Underhill hat einmal recht anschaulich und humorreich erzählt, wie er zur Homöopathie gelangt ist. Ich will meine Anfänge übergehen ohne zu vergessen, daß ich nach meiner Tätigkeit im Allgemeinen Krankenhaus in Wien für neun Monate bei einem homöopathischen Arzt in Genf in die Lehre ging und dabei täglich 12 - 16 Stunden in der Literatur studierte. Bevor er gewillt war, mich als Schülerin aufzunehmen, prüfte er mich in den üblichen Fächern, einschließlich Anatomie, Frakturen, chirurgischer Diagnose, Pathologie, Bakteriologie, Chemie und gab mir histologische Präparate zu Diagnosezwecken etc. Dann stellte er bestimmte Fragen, nach dem Sinn des Lebens, weshalb ich Arzt geworden bin, worin die Hauptpflichten des Arztes bestehen etc. Diese Fragen verblüfften mich, weil ich damals ihre Beziehung zur Theorie der Homöopathie nicht verstand. Dann fragte er mich, um zu sehen, ob ich schon irgendwelche Kenntnisse in Homöopathie besaß: "Was geben die Homöopathen bei Rheumatismus?" Da ich schon homöopathische Literatur gelesen hatte, antwortete ich, daß Homöopathen nicht ein Mittel für Rheumatismus oder irgendeinen anderen Krankheitsnamen oder Diagnose geben (obwohl natürlich bestimmte Mittel häufiger bei rheumatischen Zuständen angezeigt sind). Sie verordnen das Mittel nach den Symptomen des
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Patienten, der die Krankheit hat, mit anderen Worten, nach den Reaktionen des Individuums auf irgendeinen krankmachen den Einfluß. Damit ist einer der fundamentalen Unterschiede zwischen Homöopathie und Schulmedizin definiert. Ehe der Verstand des Arztes nicht die Unterschiede zwischen der üblichen medizinischen Ausbildung und der Homöopathie erfaßt hat, kann er nicht beginnen, homöopathisch zu verschreiben. Lassen Sie mich aufzählen, der Klarheit halber, worin diese Unterschiede bestehen. Zuerst, wie oben erwähnt, muß man das Prinzip der Individualisation begreifen. Die moderne Medizin bildet durch ihr Interesse an der Endokrinologie und Psychiatrie eine gute Basis dafür, jedoch außer bei augenfälligen Drüsenstörungen bietet sie keine Therapie, die den Feinheiten des Differenzierens entspricht. Was bedeutet Individualisation für den Homöopathen und wie gelangt man dahin? Man benötigt eine neue Hilfsmethode in der Fallaufnahme. Nachdem man die klassische Anamnese erhoben hat, größtenteils durch Fragen hervorgelockt, kann man oftmals eine Diagnose stellen, jedoch selten eine homöopathische Verschreibung vornehmen. Dazu muß man den Gemütszustand des Patienten kennen, und ferner seine Allgemeinsymptome, was sich auf Umstände, die den gesamten Patienten betreffen, bezieht. Seine Reaktionen auf Wärme und Kälte, feuchtes und trockenes Wetter, Sturm, Bewegung, Lage, Speisen etc. Man muß wissen, wie diese Faktoren die spezifischen Beschwerden des Patienten beeinflussen, mit anderen Worten, die Modalitäten seiner einzelnen Symptome - ob seine Kopfschmerzen durch warme oder kalte Anwendungen, durch Bewegung oder Ruhe, durch Liegen oder Gehen, durch Druck oder Essen gebessert werden, und zu welcher Zeit sie sich verschlimmern oder bessern. (Modalität bedeutet die Verschlimmerung oder Besserung eines bestimmten Symptoms, ebenso wie Allgemeinsymptom die Verschlimmerung oder Besserung des Patienten im ganzen bezeichnet.) Es gibt noch einen vierten Punkt, den Sie herausbringen müssen, wenn Sie homöopathisch verschreiben wollen: seine seltenen, eigentümlichen oder charakteristischen, sonderbaren Symptome. Diese erscheinen dem Patienten oftmals unbedeutend; es sind Sachen, die er schon immer hatte, für die sich kein Arzt, dem er davon erzählte, jemals interessiert hat. Diese dienen oftmals als Leitsymptome und führen direkt zum Mittel. Was nützen jedoch alle zusätzlichen Informationen? Wie hilft Ihnen das Bild seiner Persönlichkeit? Sie haben individualisiert, jedoch von welchem Nutzen ist eine derartige
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Differenzierung, wenn Sie doch nur eine Standard-Behandlung für den diagnostizierten Zustand parat haben? Das führt uns zu dem zweiten großen Unterschied zwischen Homöopathie und Allopathie. Das Gesetz, auf dem die Homöopathie beruht (oder, falls Sie das vorziehen, die Hypothese), similia similibus curentur, wird schon bei Hippocrates gefunden; Hahnemann hat es wieder ins Bewußtsein gerufen und weiter ausgebaut. Stearns hat erläutert, wie Hahnemann zur Anwendung des Gesetzes kam, und wie er die erste sogenannte Prüfung von China durchgeführt hat. Eine Prüfung im homöopathischen Sinn ist das Experimentieren mit einer Droge in kleinsten Dosen an einem relativ gesunden Menschen. Die Symptome, die auf diese Weise bei einer großen Zahl von Prüfern verschiedenen Alters und beiderlei Geschlechts produziert wurden, bilden die Grundlage unserer homöopathischen Materia Medica. Der Sinn der Arzneimittelprüfung besteht im Skizzieren der Mittelpersönlichkeit. jedes Mittel ist für uns ein lebendes Individuum; sie sind wie Freunde, die jeder, wann auch immer man sie trifft, nicht nur an ihren großen Charakteristika, sondern auch an ihren kleineren Eigenheiten erkennt. Wir haben auf der einen Seite die Mittelpersönlichkeiten und auf der anderen den Patienten in seinem gegenwärtigen Zustand. Daraus folgt, wenn Ähnliches Ähnliches heilt, daß wir die Bilder anpassen und die Persönlichkeit eines Heilmittels in bezug auf unseren Patienten treffen müssen, es anwenden und die Resultate beobachten. Hat man das begriffen und gelernt, es in die Praxis umzusetzen, bleibt nur noch, die Wirkung zu beobachten. Ich bin ein skeptisches Wesen und brauchte lange, um das zu glauben, was ich sah. Konnten die erstaunlichen Besserungen und Kuren auf Zufall, Suggestion oder fehlerhaften Diagnosen beruhen? Es gibt bestimmte Kontrollmöglichkeiten, die man anwenden kann. Weisen Sie den Patienten in eine geeignete Lebensordnung, einschließlich Diät etc. und sehen Sie, was das allein für seinen Zustand tut. Dann geben Sie ihm Placebo. Nach meiner Erfahrung berichtet der Patient in neun von zehn Fällen keinen Fortschritt. Wenn die Patienten von dieser ersten erfolglosen Verschreibung entmutigt wurden, geben Sie das Mittel, das Sie gewählt haben, das Simillimum. Sind Sie sich ziemlich sicher, daß das Arzneimittelbild auf Ihren Patienten paßt, und Sie das Simillimum haben, werden Sie ein rasches und schönes Resultat erhalten. jedoch sind das nicht die einzigen Kontrollmöglichkeiten. Es gibt Heilungsgesetze, die im Gegensatz zu dem stehen, was man in einem unbehandelten Fall erwartet. Wenn Sie diese beobachten, wissen Sie, daß Ihr Mittel wirkt. Sie wurden
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von Constantin Hering, einem der Pioniere der Homöopathie in Amerika, formuliert und lauten: Das heilende Mittel wirkt von innen nach außen von oben nach unten und in umgekehrter Reihenfolge des Auftretens der Symptome. Nehmen Sie als Beispiel ein rheumatisches Fieber: Nach der üblichen Salicyl-Therapie scheinen die Gelenke geheilt; nun entwickelt sich jedoch eine Herzerkrankung. Geben Sie solchem Patienten das Simillimum, wird er über eine Verschlechterung der Gelenke klagen, allgemein fühlt er sich jedoch besser; Sie erkennen, daß sein Herz in Ordnung kommt. Nun erklären Sie ihm, daß das Mittel von innen nach außen wirkt; die lebenswichtigen Organe, das Herz, genesen zuerst, und die peripheren Organe, die Gelenke, werden erneut befallen. Reichen Sie nun nichts außer Placebo. In Kürze wird er erzählen, daß sich seine Schultern und Handgelenke bessern, seine Schmerzen nun jedoch in die Knie und Knöchel gewandert sind. Wieder sehen Sie das Hellungsgesetz wirken, von oben nach unten, und Sie warten ab. Sie beobachten, daß seine Symtome in der umgekehrten Reihenfolge ihres Auftretens wiederkehren, die Herzbeschwerden, die zuletzt kamen, verschwanden zuerst. Wenn Sie unter diesen Umständen auf Ihr Mittel vertrauen, wird Ihr Patient wirklich geheilt, ohne beunruhigende Rezidive. (Falls Sie im Gegenteil herausfinden, daß die Gelenke der unteren Extremitäten sich bessern, und die der oberen befallen werden, wissen Sie, daß Sie auf der falschen Fährte sind und nicht das Simillimum gefunden haben.) Eines der verzwicktesten Probleme für den Anfänger ist die unterschiedliche Auffassung der Pathologie und Bakteriologie. Homöopathen akzeptieren die Fakten dieser medizinischen Zweige. Der Unterschied liegt in der Interpretation. Die Pathologie ist das Ergebnis eines krankhaften Prozesses. Der Homöopath ist bei weitem nicht so sehr an den erkrankten Tonsillen, den Hämorrhoiden, der Ovarialzyste, dem Krebs, dem Bandwurm und der Schuppenflechte interessiert wie an der dahinterstehenden konstituitionellen Schwäche. Er ist nicht erpicht, die Produkte der Erkrankung sofort zu entfernen, jedoch den dahinter stehenden Prozeß zu heilen. Im Laufe dieser Heilung werden die pathologischen Endresultate oftmals verschwinden, wie es der Fall bei erkrankten Halsdrüsen oder Fibromen ist. Falls nicht, können sie entfernt werden, wenn sie nur noch einen Fremdkörper bilden und sich die Konstitution so gewandelt hat, daß es nicht zu einer weiteren pathologischen Veränderung in einem tiefer sitzenden Organ kommt. Ganz ähnlich wird einem beigebracht, die Bakterien als Ursache anzusehen. Die
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Homöopathen sind mehr an der individuellen Empfänglichkeit interessiert als an den Bakterien. Anstatt die Malaria-Erreger mit Chinin zu vergiften oder die Spirochäten der Syphilis mit Salvarsan, zieht der Homöopath es vor, den Körper dahinzubringen, keinen Wirt für diese Organismen mehr zu bilden; man erreicht das mit dem Simillimum. Um ein anderes Beispiel zu geben, anstatt die Kopfläuse mit Delphinium umzubringen, und den Patienten für weitere Invasionen empfänglich zu lassen, verabreicht der Homöopath ein chronisches Konstitutionsmittel, das die Empfänglichkeit beseitigt, und die Läuse werden bessere Weiden aufsuchen müssen. Ein weiterer Stein des Anstoßes bildet für den medizinisch Denkenden die Frage der Unterdrückung. Absonderungen und Ausschläge sieht die gewöhnliche Pathologie als etwas an, was durch lokale Anwendungen zu beseitigen ist. Uns wurde beigebracht, Argyrol bei Schnupfen anzuwenden, bei Ausfluß den Zervix mit Quecksilber-Chrom-Verbindungen zu bestreichen, einen gonorrhoischen Ausfluß mit Protargol oder Penizillin zu stoppen, einen Durchfall mit Opium oder Bismuth, Hautausschläge mit Quecksilber-AmmoniumVerbindungen, Schwefelsalbe oder anderen Anwendungen zu behandeln. Die Homöopathen halten daran fest, daß das Unterdrückung und keine Heilung ist, und diese äußeren Manifestationen nicht Lokalleiden, sondern Ausdruck einer tiefen Erkrankung sind, wobei der Körper sich bemüht, die Krankheit nach außen zu verlegen. Sie haben das Eintreten weitaus tiefsitzender Leiden nach solchen Unterdrückungen beobachtet. Wird das chronische konstitutionelle homöopathische Mittel in einem solchen Fall gegeben, kommen oftmals die ursprünglichen Ausschläge oder Absonderungen zurück, mit einhergehender Erleichterung der jüngsten schwerwiegenden Symptome, und schließlich wird sich der Zustand von innen zu der ursprünglichen Absonderung oder dem Ausschlag hin klären. Lassen Sie mich das an einem Fall, den ich kürzlich in meiner Praxis hatte, erläutern. Eine 45jährige Frau konsultierte mich wegen Selbstmordgedanken, für die sie keinen Grund finden konnte. Sie gab mit Bestimmtheit an, ihre Gemütssymptome von dem Augenblick an zu haben, nachdem sie vor einigen Monaten von einem ekelhaften, klumpigen, grünen Ausfluß durch örtliche Anwendungen "geheilt" worden war. Ich verabreichte ihr eine Dosis Sepla (ein Mittel aus der Tinte des Tintenfischs) wegen ihrer Gemütssymptome. Eine Woche später kehrte sie überschwenglich zurück und berichtete, daß alle Depressionen, an denen sie herumgedoktert hatte, vergangen sind, außerdem sagte sie: "Ich habe diesen schrecklichen Ausfluß jetzt wieder genau wie damals." Ich war sehr
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erfreut, warnte sie, ihn ein zweites Mal zu unterdrücken und gab Placebo. Seitdem ist die Absonderung geringer geworden, und ihr Gemüt besserte sich dauerhaft, und sie war, wie ihr Ehemann sagte, eine völlig veränderte Frau. Soviel zu den grundsätzlichen Unterschieden. Ein anderes Problem, mit dem ich konfrontiert wurde, war, ob ein homöopathisches Mittel einen deutlichen chronischen pathologischen Zustand beeinflussen kann. Ein 19jähriges Fräulein suchte mich wegen starker Zwischenblutungen auf. Bei der Untersuchung fand ich ein Myom, größer als meine Faust. Sie erzählte mir später, daß ein bekannter New Yorker Spezialist die Geschwulst diagnostiziert hatte und nur zu allgemeinen Gesundheitsmaßnahmen geraten hatte, weil er ein so junges Mädchen nicht mit Röntgenstrahlen behandeln wollte. Ihr chronischer Fall lief nach Gemüts- und Allgemeinsymptomen auf Phosphorus hinaus, das zu den besten Mitteln bei Myom zu zählen scheint. Drei Monate, nachdem ich es ihr gegeben hatte, schickte ich sie zur Untersuchung zu demselben Spezialisten. Er war über die Größenabnahme des Myoms erstaunt und fragte sie, was sie denn unternommen hatte. Sechs Monate später erklärte er sie für gesund und genehmigte ihre Heirat. Ich hatte Schwierigkeiten, der Behauptung Glauben zu schenken, homöopathische Mittel könnten keinen Schaden anrichten: Sie können! Ein anderes Problem, auf das man häufig In der Allgemeinpraxls stößt, ist das der Prophylaxe. Strenge Homöopathen glauben, daß Impfungen und Injektionen schädlich sind. Ich benötige beträchtliche Erfahrung, um davon überzeugt zu werden, daß das chronische Konstitutionsmittel die beste Prophylaxe ist. Die ganze Thematik des chronischen Konstitutionsmittels ist höchst faszinierend, überschreitet jedoch den Rahmen dieser Abhandlung. Als letztes Problem kommt ein praktisches zur Sprache, das ein Hindernis für Studenten bildet, nämlich ob man seinen Lebensunterhalt in der homöopathischen Praxis verdienen kann. Sicherlich glauben mehr als die Hälfte meiner Patienten nicht an die Homöopathie, viele von ihnen sind stark voreingenommen, jedoch habe ich herausgefunden, daß sie durch Up-To-Date-Untersuchungen und Labortests, durch fundierte Mittelkenntnis und durch geschicktes Verkaufen der Prinzipien der
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Homöopathie gefesselt werden, ihre Freunde schicken unerschütterlichen Bewunderern dieser Methode heranwachsen.
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Für alle oben behandelten Probleme kann eine befriedigende Lösung gefunden werden, wenn man gewillt ist, hart zu lernen, um Resultate zu erhalten. Ich habe mich komplett der Homöopathie verschrieben. Wenn ich einen Fehlschlag erlebe, weiß ich, daß der Fehler bei mir und nicht bei der Homöopathie liegt, und wenn ich ein Simile für den Fall entdecke, habe ich, sogar bevor ich es gebe, größte Gewißheit, daß gute Resultate folgen werden.
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Ungewöhnliche, seltene und eigentümliche Symptome Ein tüchtiger Student der Homöopathie hat mir kürzlich erzählt, daß er mit den ungewöhnlichen, seltenen und eigentümlichen Symptomen Schwierigkeiten hat. Er wollte einige Beispiele hören, ob es sich sowohl um ein allgemeines wie lokales Symptom handeln kann wie es die Mittelwahl beeinflußt, und ob es einem Leitsymptom gleichbedeutend ist etc. Ein ungewöhnliches, seltenes und eigentümliches Symptom kann man zwei Klassen zuordnen. Zum einen kann es seltsam, phantastisch, beispiellos, selten vorkommend sein, wie z. B. Jas Gefühl bei einer nicht-schwangeren Frau von etwas Lebendigem im Bauch, das umherspringt", oder "das Gefühl, als würde der ganze Körper brüchig sein"; zum anderen aus Symptomen bestehen, die, obwohl nicht phantastisch, doch ungewöhnlich, unerwartet sind, und sogar im Gegensatz zu dem stehen, was im vorliegenden Zustand normalerweise der Fall ist. Zum Beispiel Jacht und singt bei Schmerzen", "Durst auf kalte Getränke nur im Froststadium, ohne Durst beim Fieber". Diese letzte Art ist, wie sie aus den beiden Beispielen erkennen, wegen ihrer Nebeneinanderstellung eigentümlich, es ist das Begleitsymptom, das merkwürdig ist, "Gelächter bei Schmerz", "Durst während Frost"? Diese Symptome können als Gemüts-, Allgemein- oder Lokalsymptome auftreten. Es liegt in der Natur der Sache, daß es sich nicht um ein gewöhnliches Symptom handeln kann. Ein Beispiel für derartige Gemütssymptome: "Gefühl als wäre sie doppelt im Bett" und "wäscht sich ständig die Hände"; ein typisches Allgemeinsymptom: das gut bekannte Camphora-Symptom "verlangt Wärme im Hitzestadium, Kälte im Frost" oder "durstig mit Abneigung gegen Wasser"; ein seltenes Lokalsymptom: "Leeregefühl innen im Kopf" oder "blaue Nägel während Frost" oder "zeitweise Blindheit, die vorübergeht, wenn die Kopfschmerzen beginnen" oder "Nasenbluten, verursacht durch Gesichtwaschen mit kaltem Wasser". Ein gewöhnliches, seltenes, eigentümliches Allgemeinsymptom, so wie "frostig, jedoch verschlechtert durch Hitze", übertrifft andere gewöhnliche Allgemeinsymptome derselben Klasse, vorausgesetzt, daß es kein Allgemeinsymptom gibt, das durch so viele Lokalsymptome läuft, daß es
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charakteristisch für diesen Fall wird. Zum Beispiel hat ein Patient "Selbstmordgedanken beim Erwachen", "Mordimpulse beim Erwachen-. "Frieren nur beim Erwachen", "Unruhe nur beim Erwachen". Hier bildet die Verschlimmerung morgens beim Erwachen das hervorstechendste Symptom, und es übertrifft bei der Repertorisation sogar die Gemütssymptome, Selbstmord und Mordimpulse, weil diese mehr Modifikationen des Patienten beim Erwachen sind und nicht ständig auftreten. Bei den Lokalsymptomen gibt man auch den ungewöhnlichen, seltenen und eigentümlichen den Vorrang; Angina pectoris mit Schmerzen, die sich zum Hinterhaupt erstrecken, würden den Herzschmerzen, die den Arm hinunterlaufen, vorgezogen, weil die ersteren sonderbarer und ungewöhnlicher sind. Die eigentümlichen Gemütssymptome sind oft weniger wertvoll als die merkwürdigen Allgemein- oder Lokalsymptome. Das gilt besonders für Neurasthenie-Fälle, die oft Symptome erfinden und ausschmücken. Besonders im Bereich der Gemütssymptome müssen wir sicher gehen, daß das Symptom zutrifft, wie schon in einem früheren Kapitel erwähnt. Einige weise Homöopathen betonen, bei Geisteskranken besser nach sonderbaren und hervorstechenden Allgemeinund Lokalsymptomen zu repertorisieren und die unzähligen Gemütssymptome nur als Teil des Allgemeinbildes zu betrachten, wenn man danach in der Materia Medica aus den wenigen Mitteln, die beim Repertorisieren am höchsten herauskamen, das Mittel wählt. Ungewöhnliche, seltene und eigentümliche Symptome sind oftmals Leitsymptome, obwohl nicht alle Leitsymptome sonderbar sind; zum Beispiel "Hunger um 11 Uhr" ist ein Leitsymptom für Sulfur, jedoch ist es kein sonderbares, seltenes und eigentümliches Symptom, dasselbe gilt für die 16-20 Uhr Verschlimmerung von Lycopodium; aber ein Leitsymptom, das gleichzeitig auch ein eigentümliches Symptom ist, ist die wohlbekannte Verschlimmerung von Abwärtsbewegung bei Borax, oder "je mehr man aufstößt, desto mehr muß man aufstoßen" von Ignatia, oder das eigentümliche Symptom, das auch ein Leitsymptom für Calc., Alum. und Nit-ac. bildet, "verlangt unverdauliche Dinge wie Kalk, Erde, Bleistifte". Die Individualisation - wesentlicher Bestandteil der Homöopathie - wird sehr gefördert, wenn man die ungewöhnlichen, seltenen und eigentümlichen Symptome, die Hahnemann besonders betonte, versteht und anzuwenden weiß. Es ist unsinnig, mit einigen merkwürdigen Symptomen, die nur ein paar Mittel haben, zu eliminieren; das leitet
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oftmals fehl. Zum Beispiel hatten wir einen Patienten, der uns erzählte, daß seine Zuckungen während des Essens und beim Hinsetzen zum Essen verschlimmert waren. Unter diesem Symptom finden wir im Kentschen Repertorium nur Plumbum, das überhaupt nicht den gesamten Fall abdeckte. Diese sonderbaren Symptome sind oft schwer herauszubekommen, weil die Patienten sich schämen, derart Absurdes zu berichten; jedoch hört man sie besonders bei einfachen Leuten. Hauptsächlich dann, wenn sie Allgemeinsymptome bilden, haben sie großen Wert als Teile in der Gesamtheit der Symptome.
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Die Regeln für die Verschreibungen jedem guten Mechaniker ist die Wichtigkeit der Motoreinstellung bewußt. Laufen die Zylinder nicht synchron, tritt ein Leistungsverlust ein. In der Diplomatie hat die Einstellung oft lebenswichtige Bedeutung. Bei Philosphen wie Atlethen ist der Rhythmus, der wirklich einer Einstellung bedarf, ausschlaggebend. Ein Anfänger in der Homöopathie mag seinen Fall großartig aufnehmen, jedoch keinen Sinn für die Chronologie, für die Folge von Ursache und Wirkung haben. Tragen Sie immer Daten für Operationen, Erkrankungen und Katastrophen in der Krankengeschichte ein. Nach einiger Zeit bekommen Sie einen sechsten Sinn, wie eine Sache der anderen folgt; Sie sehen das Leben des Patienten und sogar seiner Vorfahren und Nachkommen als ein Ganzes. Versuchen Sie, seine angeborenen Dispositionen mit Jahreszeiten, Periodizität, Tageszeit und meteorologischen Phasen in Beziehung zu setzen. Versuchen Sie zu spüren, wie jeder kleine Mensch im wunderbaren Rhythmus des Universums auf und ab schwingt. Dasselbe intuitive Erfassen der Regelung läßt sich auf die physische Untersuchung anwenden. Es reicht nicht aus, daß das Herz eines Menschen keine groben organischen Veränderungen im EKG aufweist. Man muß mit mehr Spürsinn, als man sich selbst zutraut, in den Rhythmus seines Pulses, seiner Atmung eintreten. Wir müssen die veränderlichen Rhythmen des Essens, der Verdauung und der Ausscheidung verstehen und solche Mittel anwenden, die uns helfen festzustellen, wann Verzögerung oder Beschleunigung der physiologischen Funktionen vorliegt. Wir müssen mit Instrumenten, unseren Augen, Ohren, Nasen und Fingern geringste Funktionsabweichungen feststellen. Wir sollten erkennen, wie ein kleiner Wechsel in Phase, Funktionsablauf oder magnetischem Feld eine sichtbar übertriebene Gegenreaktion der Gesundheit und Harmonie bewirkt. Haben wir den Patienten irgendwie erfaßt und die Notwendigkeit von Ordnung und Rhythmus gespürt, sind wir bereit, unser Heilwerkzeug, das Simile, zu verabreichen. Einer meiner alten Professoren sagte gewöhnlich, daß es sich mit der Heilung wie mit dem Zwiebelschälen verhält, man muß mit dem Obenliegenden beginnen. Es ist ein vernünftiges Prinzip der Homöopathie, in einem unbehandelten Fall, der eine akute Verschreibung
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benötigt, sich von den jüngsten Symptomen zum Heilmittel leiten zu lassen. Hat man einen chronischen Fall mit der Geburt beginnend aufgenommen, sollte man in der Lage sein zu erkennen, welches Mittel der Mensch als Kind, in der Pubertät, als Heranwachsender, in der Reife und im Alter benötigt. Zuweilen ist es, um einen Patienten vollständig zu heilen, notwendig, das Basismittel herauszuarbeiten, das schon vor vielen Jahren angezeigt war. Reicht man es zu früh, kommt die Ordnung durcheinander. Nur die Nosoden können hier mit Erfolg gegeben werden, entweder zuerst oder dazwischen, gewissermaßen als Regulatoren. Um sich an eine botanische Analogie anzulehnen, die Nosoden sind die Gattungen, die Mittel die Arten. Den gefährlichsten Augenblick in der homöopathischen Behandlung bildet die zweite Verschreibung. Wenn man aus Eifer oder Panik, bevor die erste Dosis ihren Lauf vollendet hat, dazwischenpfuscht, bringt man den Fall tüchtig durcheinander. Wartet man andererseits zu lange, verliert man wertvolle Zeit und verstört seinen Patienten. Die ausgezeichneten Homöopathen sollten in der Lage sein zu riechen, wann eine Wiederholung, ein Wechsel der Potenz oder ein anderes Mittel angezeigt ist und so charakterfest sein, daß sie sich weder von der Krankheit, dem Patienten, der Familie, dem Beratenden, der Krankenschwester oder den Familienangehörigen überwältigen oder verleiten lassen! Erinnern Sie sich an das Hauptprinzip: Niemals ein Mittel wiederholen, wenn der Patient noch in der Besserung begriffen ist, niemals das Mittel wechseln, wenn die Symptome Herings Gesetzen folgen, wobei sie in umgekehrter Reihenfolge wieder auftreten; niemals das Mittel wechseln, wenn Ausschlag oder Absonderung einsetzen. Jedoch gibt es noch mehr als nur die Repetition oder den Wechsel des Mittels zu regeln. Man kann fast immer die Potenzwahl zu diesem Kapitel rechnen. Die Vitalität des Patienten unterliegt einem Rhythmus, seine Pathologie oder Unterdrückung sind Hindernisse. Eine homöopathische Kur erinnert an ein Hindernisrennen; beginnen Sie einfach mit den potenzierten Mitteln und versuchen Sie den besten Regulationsgewinn zu erzielen.
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Die Stellung der Diät in der Homöopathie Die Homöopathie ist so reich an Arzneien, daß der Praktiker dazu neigt, sich nur auf sie allein zu verlassen und Hygiene und andere für die Heilung hilfreichen Dinge kaum beachtet. Besonders detaillierte Diätanweisungen für die Patienten kommen zu kurz. Es ist aus einer ganzen Reihe von Gründen wichtig, sich darum zu bemühen: erstens wegen des psychologischen Effekts. Patienten möchten spüren, daß jede wissenschaftliche Maßnahme angedeiht und der Arzt um sie besorgt ist; man muß sie an der Heilung mitarbeiten lassen, da unsere Mittelanwendung so erfreulich einfach ist. Zweitens kann die Diät in vielen Fällen, ohne ein Mittel irgendeiner Art, Wunder bewirken, wie es die moderne Medizin so gut demonstriert. Betrachten wir beispielsweise den Wert einer strengen Diät ohne irgendein Mittel bei Diabetes, Nephritis, Hypertonie, Nierensteinen, Harnsäurediathese, Arthritis, Gallensteinen und Gelbsucht, Magenund Zwölffingerdarmgeschwüren, Colitis Viszeroptose, Obstipation, Fettsucht und zuletzt, jedoch bei weitem nicht an letzter Stelle, Tuberkulose und Krebs. Jeder homöopathische Arzt muß gute Kenntnisse in der klassischen Diätbehandlung besitzen; er muß wissen, wann man einem Diabetiker die Newburgsche fettreiche Diät verordnet; er muß den Diätunterschied bei Nephritis und Nephrose kennen, muß eine purinfreie Diät bei Nierensteinleiden durchsetzen, muß mit der Lippe-Diät für Geschwüre vertraut sein und der Laheylordan-Diät bei Colitis (mit ihrem Creme aus Weizen und Sellerie, dessen grobe Bestandteile mit dem begleitenden Rest, der verordnet wird, Wunder in hartnäckigen Fällen bewirkt). Der Arzt sollte wissen, wie man Azidität, Urin, Asthma und Ekzeme mit Diätmaßnahmen beeinflußt. Es ist eine gute Übung für uns, ferner eine gute experimentelle Kontrolle unserer Mittelwirkung bei chronischen Patienten, die eine der oben angeführten Krankheitsdiagnosen haben, mit Diätanweisungen und Ratschlägen für die Lebensordnung plus Placebo ohne irgendein Mittel zu beginnen, um zu sehen, wieweit auf diese Weise ihr Zustand gebessert werden kann. So lernen wir, was der wissenschaftliche gesunde Menschenverstand für sie leistet und was nicht.
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Inzwischen nähern wir uns dem Simillimum und geben es auf vorbereiteten Boden, mit aufsehenerregender und erfreulicher Wirkung. Eine geeignete Diät kann oftmals den Gebrauch von Medikamenten ersetzen - was der Homöopath gerne sieht. Stellen Sie sich einen Patienten vor, der seit einigen Jahren Natriumbicarbonat nimmt. Erklären Sie ihm, daß es, chemisch basisch, physiologischerweise Säure im Magen produziert, und bringen Sie ihn dazu, Zitronensaft und Zitrusfrüchte als Ersatz zu nehmen. Sie werden erstaunt sein, daß mit derart einfachen Mitteln soviel Gutes erreicht wird. Inzwischen vergehen die Sodavergiftungssymptome und der Fall wird langsam klarer. Der Arzt sollte auch am Anfang Nahrungsgewohnheiten, die die Heilung behindern und die Spur auf dem Weg zur Gesamtheit und damit für den nachfolgenden, heilsamen Prozeß verdecken, entfernen. Bei diesem Unterfangen lernt er die Überempfindlichkeiten seiner Patienten für bestimmte Nahrungsmittel kennen. Diese sind, wie jeder Homöopath weiß, sehr hilfreich und bedeutsam. In diesem Zusammenhang gibt es eine kluge Regel: Chronische Fälle sollten nicht das im Übermaß essen, wonach sie besonders verlangen; hingegen akute Patienten dürfen und sollten viel von dem essen, was sie möchten, falls das Verlangen mit der Krankheit auftritt. Diese außergewöhnliche Abweichung von der Schulweisheit zeigt bewundernswerte Ergebnisse, wenn man ihr folgt. jedoch seien Sie sich sicher, daß es sich um ein tatsächliches, ungewöhnliches Verlangen handelt, was die individuelle Reaktion des Patienten auf die sogenannte akute Erkrankung zeigt. Verlangen und Abneigung für Nahrungsmittel bilden in chronischen Fällen natürlich tadellose Allgemeinsymptome zum Hierarchisieren. Wenn das Mittel bei einem chronischen Fall verabreicht wird, befähigt es den Patienten, nach und nach die Nahrung, nach der er verlangt, zu assimilieren, und gleichzeitig mäßigt sich das Verlangen. Zum Beispiel habe ich einen Argentum-nitricum-Patienten, der nach Zucker verlangte, jedoch davon Beschwerden bekam; unter Arg-n. ging das Verlangen zurück, und nun kann er ihn auch vertragen. Ganz ähnlich habe ich ein Calcarea-Kind, dessen Verlangen nach Kreide und unverdaulichen Dingen unter Calcarea aufhörte und das jetzt Kalk aus der Nahrung assimilieren kann. Im Zusammenhang mit den Nahrungsmittelunverträglichkeiten gibt es einige interessante Aspekte: Versuchen Sie zuerst herauszubekommen, ob die Kombination der
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Nahrung nicht bekommt, oder nur ein Bestandteil. Ein weiser Professor sagte mir einmal, daß beinahe jeder alles essen könnte, wenn er es mit Appetit genießen würde. Bei Unverträglichkeit bestimmter Säuren reichen Sie Sahne oder Quark dazu, zum Beispiel werden Erdbeeren oft mit Quark vertragen; ähnlich verhält es sich mit Tomaten und auch mit Schalentleren bei einigen Patienten. Nehmen Sie sich vor der Kombination von Säure und Zucker, Stärke und Fleisch bei Leuten mit heikler Verdauung in acht. Buttermilch verändert oftmals die Darmflora soweit, daß die Fäulnis reguliert und vieles verdaut wird, das bisher nicht bekam. Ein berühmter deutscher Homöopath, Dr. Schlegel sen., erzählte mir, daß, wenn jeder Buttermilch trinken würde, die Rasse enorm profitieren könnte, und zusammen mit Honig (Ameisensäure) und Rettich (Anti-Harnsäure) größere Beschwerden verhindert würden. Vergessen Sie nicht, daß Zwiebeln helfen, den Blutdruck niedrig zu halten (die leicht gereizten Italiener haben durch ihren Zwiebel- und Knoblauchverbrauch selten Bluthochdruck). Bei Überempfindlichkeiten, mehr als bei tatsächlichen Verschlimmerungen, kann etwas Nachdenken viel Ärger ersparen. Ihr Patient, der keine Milch mag, wird sie eher mit Vichy- oder Selters-Wasser verdünnt mögen, oder man mischt Milch und Rahm halb und halb mit Ingwerbier oder Sarsapariila; Übergehen von warmer zu kalter Milch oder umgekehrt kann Veränderungen bewirken. Diejenigen, die Eisen benötigen und daher nach Kohl verlangen, der sie aufbläht, können ihn oft roh mit saurer Sahne vertragen. Pürierter Spinat mit gehacktem Ei wird die gemüseabweisenden Kinder verlocken. Apfelmost und rohe Äpfel sind für den arthritischen Patienten großartig. Brauner Zucker, Melasse, Ahornsirup und Honig schaden nicht soviel wie andere Süßigkeiten. Diese Winke mögen trivial erscheinen, jedoch versichere ich Ihnen, daß sie helfen. Ich hoffe, zu etwas mehr Studium in dieser Richtung angeregt zu haben. Es gibt noch einen anderen Bereich, in dem die Diät materiell auf die Reinigung des Systems einwirkt. Wir haben Buttermilch und Zitronensaft erwähnt. Eiweiß mit Zitronen- oder Orangensaft entgiftet die Leber und fördert den Gallenfluß. Das Eiweiß des Hühnereis geht mit den Giften, die sich in der Leber angelagert haben, Verbindungen ein. Tee von roten
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Kleeblüten hilft täglich getrunken (ca. 21/2 1) den Krebspatienten und gilt gewissermaßen als Hausreinigung (ein altes deutsches Rezept). Bis jetzt haben wir noch nicht die wichtigen Beziehungen zwischen bestimmten Nahrungsmitteln und der optimalen Wirkungsweise unserer Arzneien erörtert. Sicherlich sind Ihnen allen diese Symbiosen und Antagonismen bekannt. Zum Beispiel vertragen sich Aconit und Säuren nicht, Kaffee antidotiert die Wirkung von Nux vomica. Die Beziehungen sind recht zahlreich und können in Clarks Dictionary of Materia Medica und in vielen anderen klassischen Werken unter den einzelnen Mitteln nachgeschlagen werden. Bestimmte theoretische, höchst interessante Probleme fallen unter dieses Thema. Zum Beispiel benutzen wir Nahrungsmittel als Arzneien. Welche Reaktionen - wenn überhaupt - rufen diese sogar in der rohen eßbaren Form bei Patienten, die darauf empfindlich sind, hervor? Und umgekehrt, können wir mit dem passenden Mittel helfen, wenn wir sein rohes Gegenstück gleichzeitig als Nahrungsmittel zulassen? Sollten wir ferner nicht die ganze Liste von Gemüse, Obst und Nahrungsmitteln prüfen, so daß, wenn wir einen Patienten mit einer Überempfindlichkeit auf irgendeins haben, wir seinen Fall mit der Prüfung des störenden Nahrungsmittels vergleichen können, um zu sehen, ob es nicht paßt und hilft? Diese Nahrungsmittel sollten von denen geprüft werden, die entsprechend sensibel sind. Zum Beispiel sollte ich dann Auberginen prüfen, unser Freund Roberts hat Tomaten geprüft und ein Patient von mir, der schon von der geringsten Menge roten Pfeffers in der Suppe ernsthaft krank wird obwohl er sehr viel davon in seinem Wesen hat - würde einen wunderbaren Prüfer von Capsicum abgeben. Diese abschließenden Überlegungen habe ich Ihnen als Abhandlungen über Diät dargeboten. Denken Sie darüber nach, und verdauen Sie sie.
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Die Gefahren bei der homöopathischen Verschreibung Die größte Gefahr für einen homöopathischen Arzt beruht darin, ein nicht getreuer Hahnemannier zu sein. Halbheiten schaden nicht nur Arzt und Patienten, sondern auch der Homöopathie. Für ein Scheitern kommen hauptsächlich in Betracht: 1. Der Arzt hat nicht die Theorie der Homöopathie gelernt. 2. Er nimmt einen Fall unvollständig auf und kann daher nicht auf das richtige Mittel schließen. Er läßt die Gemütssymptome oder die höchst wichtigen Allgemeinsymptome aus oder vergißt die Modalitäten zu erforschen. 3. Es mangelt ihm an Geduld. Nachdem er ein Mittel gegeben hat, vergißt er, daß er ABWARTEN und BEOBACHTEN muß. Er wiederholt das Mittel übereifrig, ehe ein deutliches Absinken nach der Besserung, die auf das Mittel erfolgt ist, eingetreten ist. Mehr vom Guten bedeutet in der Homöopathie nicht unbedingt das Bessere. 4. Er achtet nicht auf die Wirkung gemäß Herings Gesetzen: Daß das Mittel von innen nach außen von oben nach unten und in umgekehrter Reihenfolge des Auftretens der Symptome wirkt (das geschieht niemals außer unter der Wirkung des korrekten homöopathischen Mittels). 5. Er unterläßt den Gebrauch des zweitbesten Mittels, Saccharum lactis. Dabei verliert er mitunter das Vertrauen des Patienten, besonders wenn derjenige daran gewöhnt ist, Medikamente zu nehmen. 6. Er vergewissert sich nicht, ob der Patient tatsächlich das Mittel genommen hat. (Wenn möglich, verabreichen Sie die Gabe selbst.) Oder er klärt nicht ab, welche anderen Mittel der Patient noch einnimmt oder welche Störfaktoren in puncto Diät bestehen. Der Arzt muß darüber unterrichtet sein, welche Substanzen die Wirkung unserer einzelnen Mittel unterbrechen, wie Kaffee bei Nux vomica und Säuren bei Aconit.
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7. Er bringt die psychologischen und soziologischen Heilungshindernisse nicht in Erfahrung und zeigt dem Patienten nicht, wie er sie umgeht oder überwindet. 8. Manchmal erkennt er nicht früh genug, daß das Mittel keine Wirkung zeigt, und ist dann oft zu sehr beschäftigt, den Fall erneut durchzusehen und das Simillimum zu bestimmen. 9. Er nimmt sich die Freiheit, kleinere Mittel für geringfügige oder zeitweise auftretende Beschwerden, die mit der Behandlung der chronischen Krankheit zusammenhängen, zu geben, obwohl Saccharum lactis und Hydrotherapie ausgereicht hätten. 10. Er wechselt das Mittel, sobald andere Symptome auftauchen, ohne dabei zwischen einer Verschlimmerung der Symptome, Symptome, die auf einer Idiosynkrasie beruhen, Symptome, die unter dem chronischen Mittel wiederkehren (wobei der Patient sich an diese vielleicht nicht erinnern mag), tatsächlich neuen Symptomen, die auftreten, weil das Mittel nur teilweise ähnlich war, und schließlich Symptome einer Absonderung wie Schnupfen, Fluor oder Schweiß, die einen heilsamen Ausscheidungsprozeß darstellen und zur Wirkung des Mittels gehören, zu unterscheiden. 11. Er gibt die falsche Potenz des richtigen Mittels. (Sind Sie sich des Mittels sicher, versuchen Sie eine andere Potenz, oder verabreichen Sie zwei oder drei Dosen der ursprünglichen Potenz in zwei- oder vierstündigen Intervallen. Zum Beispiel: Schärfen Sie Ihren Patienten ein, mit der Mitteleinnahme aufzuhören, sobald merkliche Besserung einsetzt, und wechseln Sie zum zweiten Mittel, Saccharum lactis, über.) 12. Er gibt in einem unheilbaren Fall (oder in einem mit deutlichen organischen Veränderungen), eine zu hohe Potenz, womit eine Verschlimmerung verursacht wird, die die Lebenskraft nicht mehr bewältigen kann. (Wenn das geschehen ist, und es mit dem Patienten abwärts geht, muß antidotiert werden.) 13. Er gibt einem Patienten, der zu krank ist, noch heilsame Reaktionen zu produzieren, ein tiefgreifendes Konstitutionsmittel, wo er lediglich ein passendes Palliativmittel hätte geben sollen. So ist es gefährlich, bei aktiver Tuberkulose Sulf., Sil. oder Phos. zu geben, wenigstens in hoher
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Potenz. Eine Einzelgabe der 30. ist das höchste, was man riskieren sollte. Wenn derTuberkulose-Fall weit fortgeschritten ist, dürfen diese Mittel überhaupt nicht gegeben werden, jedoch Palliativa für die beschwerlichsten Symptome, wie Rumex., Sang., Puls. oder Seneg. 14. Er darf nicht vergessen, daß die Anwendung bestimmter Mittel unter gewissen Umständen gefährlich Ist: Kali-c. besonders bei fortgeschrittener Arthritis; oder Silicea, wo ein Abszeß sich, wenn die Eiterung in Gang gebracht wird, an einer gefährlichen Stelle entleeren kann, zum Beispiel in die Lungen; oder einige der Nosoden, wie Psor., die bei tiefsitzenden psorischen Fällen, zum Beispiel bei Asthma, schreckliche Verschlimmerung herbeiführen; oder Lach., welches häufig repetiert unangenehme Geistes- und Gemütssymptome einprägen kann. Ars. ist ein weiteres gefährliches Mittel. Wenn es in den letzten Stadien einer akuten Erkrankung, sagen wir einer Pneumonie, scheinbar angezeigt ist, kann es das Ableben sogar fördern; obwohl es Erleichterung verschafft, bringt es den Patienten nicht in Schwung, wie man erwartet. In Endstadien chronischer Krankheiten, wo eine Heilung unmöglich ist, wird es den Patienten lange genug am Leben halten, um seinen letzten Willen zu äußern oder seine Familie zu sehen; danach erfolgt schließlich die Euthanasiewirkung. 15. Er wird oftmals überrascht sein, zu sehen, daß bestimmte Symptome oder Symptomengruppen durch das Mittel erleichtert wurden, der Patient sich jedoch schlechter fühlt oder tiefersitzende Beschwerden entwickelt. In diesem Fall war die Verschreibung oberflächlich und unterdrückte nur. Unterdrückung ist vielleicht die größte Gefahr der offiziellen Medizin vom homöopathischen - der echte Homöopath muß ständig darauf achten, Standpunkt, mit seinen Mitteln keine Unterdrückung zu vollziehen. Wenn er ein akutes Mittel für scheinbar oberflächliche Beschwerden gegeben hat, die dadurch erleichtert wurden, der Patient sich jedoch schlechter fühlt, sollte er den chronischen Fall sofort bearbeiten, das tiefwirkende Mittel wird dann alles in Ordnung bringen. 16. Er gibt die Mittel in falscher Reihenfolge oder feindliche Mittel nacheinander, womit er den Zustand des Patienten verschlechtert und den Fall durcheinanderbringt.
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Während seiner gesamten Praxiszeit muß der Arzt die Idee der Homöopathie mit knappen, jedoch hilfreichen Erklärungen den Patienten nahebringen, um sich die Zusammenarbeit zu sichern. Er muß selbst den Charakter besitzen, Ruhe zu bewahren, wenn er weiß, was er tut, und nicht den Fall durch unnötige und schädliche Verschreibungen verderben. Vor allem muß er jeden Patienten als Gelegenheit zum Dienen betrachten, nicht nur dem Individuum und der Gesellschaft, sondern auch der Homöopathie und der Rasse wegen.
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