Roman Schleifer und Wolfgang Oberleithner
SunQuest Band 3
Das sterbende Land
Fabylon
Version: 1.0
Auf einem Raums...
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Roman Schleifer und Wolfgang Oberleithner
SunQuest Band 3
Das sterbende Land
Fabylon
Version: 1.0
Auf einem Raumschifffriedhof findet Shanija Ran weite re Informationen und vielleicht die Chance, Less zu ver lassen – doch die Glaubensführer zweier Sekten, Anhän ger als auch Feinde des Ewigen, schicken jeweils ihre besten Assassinen, um der Trägerin der Sonnenkraft habhaft zu werden – oder sie zu töten, und der Weg führt immer tiefer in ein dunkles, sterbendes Land. Der dritte Band des sechsbändigen Zyklus um die DreiSonnen-Welt im Sternbild Schwan. Eine Welt, in der es keine elektronische Technik gibt, aber Psimagie – und tausende Völker der Milchstraße, denn wer hier einmal gestrandet ist, kommt nie mehr weg.
Die Beteiligten Roman Schleifer Der gebürtige Wiener schreibt als Ausgleich zu seinem Beruf, vor wiegend im Bereich der Science Fiction. Über sich selbst sagt er: »Da ich mich im Alltag mit Menschen beschäftige, ist es eine Wohltat, mich beim Erschaffen von Geschichten in allen Bereichen des Le bens zu bewegen.« Seine erste Geschichte hämmerte er mit 14 Jahren in die Tastaturen einer Schreibmaschine und nahm seither mit Er folg an Literaturpreisausschreiben teil. Wolfgang Oberleithner Der 1973 geborene Autor lebt in einer kleinen Gemeinde in Nie derösterreich, deren ländliche Idylle er gegen nichts auf der Welt eintauschen möchte. Schon während der Schulzeit begann er zu schreiben und beleuch tete mit Vorliebe die letzten Minuten im Leben eines bedauernswer ten Wesens. Inzwischen schickt er wesentlich weniger seiner Cha raktere in den Tod, sondern wandelt lieber in phantastischen Wel ten. Andreas Adamus Der 1968 in München geborene und heute noch dort lebende Künstler ist Autodidakt. Er erstellt für verschiedene Magazine und Heftromanserien Cover und Illustrationen, sowie Design-Arbeiten (z.B. für iPod).
Fünfter Teil
Roman Schleifer
Ein Funke Hoffnung
1. Lay beside me, tell me what they've done Speak the words I wanna hear, to make my demons run The door is locked now, but it's open if you're true If you can understand the me, than I can understand the you METALLICA, The Unforgiven II »Hirnwichserei«, murmelte Shanija Ran an jenem Abend vor sich hin, kurz nach dem überstandenen Abenteuer, während ihre Finger mit dem Schnapsglas vor ihr auf dem Holztisch spielten. Die gelbe Flüssigkeit darin schwappte über und spritzte auf die Tischoberflä che. »Was du hier treibst, ist reine Hirnwichserei.« Während ihre Gefährten entweder bereits schlummerten oder sich wie As'mala im Hauptraum des Gasthauses Paradieshof – Ruhen wie die Götter mit einem Einheimischen amüsierten, brütete sie allein im Hinterzimmer vor sich hin. Verärgert presste sie die Lippen aufein ander. Sie durfte sich nicht länger den Kopf darüber zermartern, warum sie Darren geküsst hatte. Der Kuss war … Ausdruck ihrer Erleichterung und Dankbarkeit gewesen, dass der Abenteurer sie mit seinen telekinetischen Fähigkeiten vor dem tödlichen Sturz be wahrt hatte. Der Kuss geschah im Eifer des Gefechts und bedeutete nichts. Absolut nichts! Dann geh schlafen!, hielt sie sich selbst entgegen. Oder genieße wie As'mala. Wie zur Bestätigung hörte sie das raue Lachen der blondhaarigen Diebin mit der aufwendigen Zopffrisur aus dem Schankraum. Shanija seufzte und griff abwesend nach dem Anhänger, einem aus Titan gefertigten Widderkopf, der das Abzeichen ihrer Spezial
einheit WILD RAMS bildete. Doch ihre Finger glitten ins Leere. Vor ih rem Einsatz hatte sie den Anhänger, den sie seit der Verleihung des Titels »Colonel« trug, in ihrer Wohnung in einer Schatulle verwahrt. Die Erinnerung daran brachte ihre Ruhe und Beherrschtheit zu rück. Sie gestand sich ein, dass die Notlandung auf Less und die sich seither überstürzenden Ereignisse ihr sonst so starkes Nerven kostüm erheblich angekratzt hatten. Andernfalls hätte sie kaum den Wunsch verspürt, etwas Hochprozentiges zu trinken. Sie lehnte sich zurück und musterte das Wandgemälde zwischen den zwei Mu schelleuchten, in dem Menschen mit Fremdwesen unterschiedlichen Körperbaus kopulierten. Kritisch schüttelte Shanija den Kopf. Für diese Art Kunst hatte sie nicht viel übrig, und Ästhetik konnte sie darin auch nicht erkennen. Wieder glitten ihre Gedanken zurück in die Situation, in die sie sich mit dem Kuss manövriert hatte. An der eindeutig und unzweifel haft Darren Schuld trug. Und nur er! Prompt drängte sich sein kantiges Gesicht in ihr Bewusstsein. Die dunkelblonden, widerspenstigen Haare verliehen ihm zusammen mit den grauen Augen jenes verwegene Flair, das sie bereits bei der ersten Begegnung vor den Toren der Großen Flüstertüte vor ihm ge warnt hatte. Zu allem Überfluss unterstrich sein durchtrainierter, knapp zwei Meter großer Körper diese Ausstrahlung. Am liebsten wäre sie in seinen Armen … »Na, Schönheit, so ganz allein?« Zigarettenrauch, gemischt mit Al koholdunst, flutete ihre Nase. Shanija blickte nicht einmal auf. »Verpiss dich!« »Oh, eine Wildkatze! Ich liebe …« Langsam hob sie den Kopf. Die acht orangefarbenen Vierecke, die am linken Brustbereich der schwarzen Lederjacke prangten, wiesen den Mann als fahrenden Händler für Rohstoffe aller Art aus. Sein schmieriges Lächeln kam ihr gerade recht.
»Verstehst du diese Sprache besser?«, fragte sie in einer Tonlage, die der Kälte des antarktischen Eises entsprach. Mit einer schnellen Armbewegung zückte sie Tyr und ließ es so groß werden, dass es bis an sein Kinn reichte. Er schluckte, sein Adamsapfel schrammte dabei knapp am blanken Stahl vorbei. »Noch Fragen?« Wortlos stolperte der Händler zwei Schritte rückwärts, schüttelte den Kopf und machte sich davon. Sein Angstschweiß leistete ihr noch für einen Augenblick Gesellschaft, bevor er ebenfalls flüchtete. Shanija verstaute das wieder zum Messer reduzierte Tyr im Innen teil ihrer dunkelblauen Lederjacke und hob das Schnapsglas an die Lippen. Der Geschmack der Flüssigkeit erinnerte sie an Zitronensaft, gemischt mit Zimt. Das Brennen im Rachen und in der Speiseröhre übertraf überraschenderweise den isländischen Kümmelschnaps, den sie vor Jahren notgedrungen nach einer militärischen Übung ge trunken hatte. Ohne ihn hätte sie den Verzehr der Inselspezialität Hákarl – verrotteten Grönlandhaifisch – niemals überlebt. Sie leerte das Glas und fällte die Entscheidung, sich von Darren Hag ab sofort fernzuhalten. Einer ähnlichen Mischung aus Verwe genheit und Schüchternheit war sie bereits einmal erlegen. Ein zwei tes Mal würde ihr dieser Fehler nicht mehr unterlaufen. Nein, kein Fehler, korrigierte sie sich. Das Schicksal hatte sie in nie zuvor ge kannte Gefühlsregionen entführt, um sie anschließend umso erbar mungsloser fallen zu lassen. Und durch diesen Kuss war sie nahe daran, sich auf etwas Ähnliches einzulassen. Sie straffte sich. Trübsalblasen löste nichts. Es galt, die Tatsachen zu akzeptieren: Pong transportierte in seinem kleinen Drachenkör per den Speicherkristall, der das Überleben der Menschheit sicherte. Dieser musste schnellstens dem Flottenkommando auf der Erde aus gehändigt werden. Dafür musste sie aus diesem verfluchten System entkommen, in dem Menschen und Aliens samt Tier- und Pflanzen welt sich gegenseitig mit den verrücktesten Fähigkeiten nervten. Te lekinese, Telepathie oder multiple Orgasmen waren nur einige der Kräfte, die überall auf dem Mond möglich waren.
Zu allem Überfluss war sie selbst mit der – angeblich – mächtigs ten Kraft beglückt worden: der Sonnenkraft. Diese Psimagie sollte zwar den Legenden nach möglich, aber noch nie in Erscheinung ge treten sein. Bis jetzt. Und damit verbunden war natürlich eine düste re Prophezeiung, nach der die Sonnenkraftträgerin zum Zeitpunkt der besonderen Konstellation der Passage die Verbindung zwischen zwei Universen schaffen sollte. Oder so ähnlich; Shanija musste Mun diesbezüglich noch einmal genauer ausfragen. Keine sehr an genehme Aussicht, wenn diese phantastische Vision zutraf. »Ich finde einen Weg aus dem System, so wahr ich eine der WILD RAMS bin!«, sprach sie sich Mut zu. Ready To Win prangte nicht grundlos auf dem Wappen ihrer Spezialeinheit. Sie stapfte durch den mit Zigarettenschwaden geschwängerten Hauptraum, in dem an die zwanzig Personen dem Müßiggang frön ten, nickte As'mala zum Abschied zu, stieß die Tür zum Vorraum auf und prallte gegen den Mann, dem ihr Zwiespalt in den letzten Stunden gegolten hatte. »Hoppla!«, rief Darren, während er sie länger als nötig umarmte, um den Aufprall abzufedern. Natürlich tauchte er versehentlich in ihre brünettrote Haarmähne ein und hauchte ihr über den Hals. Ein wohliger Schauer wallte von ihrem Nacken abwärts. »Du kannst wohl auch nicht schlafen.« Er ließ sie los und unterstrich seine Wor te mit einem verlegenen Lächeln. Mich täuschst du nicht! Ich weiß, was du im Schilde führst, dachte Sha nija und schenkte ihm einen kühlen Blick aus grünen Augen, wäh rend es in ihrem Bauch kribbelte. »Lust auf einen Spaziergang?« Seine Stimme besaß fast schon einen hypnotischen Zwang. Der keinen Einfluss auf sie haben durf te. »Nein«, wollte sie sagen, ertappte sich jedoch bei einem etwas mürrischen »Okay«. »Sehr gut.« Während sich Shanija im Stillen verfluchte, marschierte er lä chelnd durch den schwach beleuchteten Gang Richtung Ausgang.
Er drückte die blaue Holztür auf und wartete galant, bis Shanija an ihm vorbei ins Freie getreten war. Augenblicklich hüllte sie die war me Nachduft der Wüstenstadt ein. Entgegen den Wüstengebieten auf der Erde pendelte die Temperatur hier tagsüber um behagliche siebenundzwanzig Grad Celsius und kühlte nachts nicht unange nehm ab. Der Steg schwankte unter ihr, und sie balancierte sich aus. Zwanzig Meter freier Fall lagen zwischen Steg und festgetretenem Sandboden. Sie griff mit dem rechten Arm nach dem Geländer und stabilisierte die Schaukelbewegung. »Die Bewohner streben in den Himmel, um ihren Göttern näher zu sein«, hatte Mun, der asketisch lebende Adept, am Nachmittag do ziert. »Die Stadt ist nichts für Menschen mit Höhenangst«, witzelte Dar ren, der neben sie getreten war und den Steg dadurch erneut in Schwingung versetzte. »Und nichts für Lichtempfindliche«, ergänzte Shanija. Sie deutete auf den roten Gasriesen Fathom, der nahezu immer über dem Mond thronte und sowohl Tages- als auch Nachthimmel rot färbte. »Auf der Erde ist es des Nächtens dunkel. Hier hingegen wird es höchs tens dämmrig.« Sie lehnte sich gegen die oberste Metallverstrebung. »Und sobald Flavor aufgeht, verdünnt sie das Rot zu einem Zartro sa.« »Ja«, stimmte er ihr zu. »Romantisch, nicht wahr?« Sie verbiss sich, dass sie die Farbe hasste. Mit fünf Jahren hatte sie sich in den stinkenden Häuserschluchten von Washington-YorkState verlaufen und war in blinder Panik immer tiefer in eines der vielen Gettos hinein gestolpert, die neben Menschen auch von Rat ten bevölkert wurde. Eingekesselt von diesen Tieren – durch chemi sche und radioaktive Abfälle zu Hundegröße mutiert – hatte sie sich schluchzend in einem pinkfarben gestrichenen Kellerraum zusam mengekauert und auf ein Wunder gehofft, das … »Alles in Ordnung, Shanija?« Shanija straffte sich. »Wohin gehen wir?« Sie klopfte den Takt ei
nes uralten Liedes mit den Fingern gegen das Geländer. Vielleicht war es doch eine gute Idee, sich abzulenken. Darren legte seine linke Hand an ihre Hüfte und zog sie sanft zu sich. Sie vergaß ihre Vorsätze, als sich der Blick der grauen Augen in ihr Inneres bohrte und die frisch errichteten Mauern des Vergessens zu sprengen drohte. Weiter ging es über einen Steg, dann kletterten sie eine Strickleiter hinauf, um mit einem Korbaufzug der Straße entgegen zu sausen. Zwei Meter über dem Boden bremste er abrupt, und sie öffneten das Gitter. Vor ihnen erstreckte sich die Häuserzeile der Ebene Eins. Alle Gebäude grenzten entweder aneinander oder waren durch Verstre bungen miteinander verbunden. Hier war noch viel los, genau wie in den Megalopolen der Erde rund um die Uhr Betrieb herrschte. Sie mussten warten, bis vier plumpe Käferartige an ihnen vorbei getor kelt waren. Unter ihnen watschelten acht bananenähnliche Wesen und schimpften lautstark über die neue Bürgermeisterin. Shanija blinzelte, als von der Ebene über ihr Sand herab rieselte, als sich ein großer Wurm über die Bretter wälzte. Sie marschierten über einen schmalen Holzbalken südwärts und wichen gasbetriebenen Lampen aus, die von Verstrebungen tief her abhingen. Die grünen Flammen darin tänzelten im leichten Wind, der sich aus der Wüste durch die Große Flüstertüte schlängelte und Sand mit sich brachte. »Aufwärts«, bestimmte Darren und griff nach einer wenig stabil wirkenden Holzleiter. Drei Ebenen weiter bog er links ab. Shanija wäre fast über das kleine Huftier gestolpert, das quer auf den Plan ken kauerte. Noch ein fünf Meter langer Steg, dann über eine Hän gebrücke, mit einem Tau über eine Lücke zwischen zwei Holzhäu sern und schließlich auf einer gewundenen Treppe wieder nach oben bis vor ein Eisengitter. Shanija hatte keine Gelegenheit bekom men, Darren zu fragen, wie er sich hier zurecht fand, und vor allem, wo er hinwollte, doch nun schien sich das Geheimnis endlich zu lüf ten.
Darren wies durch das Gitter. Shanija lugte durch die Streben. Vor ihr breitete sich wie eine Insel ein Moosteppich aus, in dessen Mitte ein kleiner Springbrunnen vor sich hinsprudelte. Herzblüten-Ran ken bildeten am gegenüberliegenden Ende eine domartige Höhle. Sie dufteten entfernt nach Veilchen. Eine Lampe, die an den Ranken befestigt war, verströmte kegelförmiges Licht. Darren blickte sie vergnügt an. »Die Anstrengung hat sich gelohnt, oder?« »Sehr idyllisch«, lobte Shanija. Sie rüttelte am Gitterknauf. »Aber der Zugang ist versperrt.« »Kein Problem.« Darren kletterte flink über das fünf Meter hohe Gitter und landete leichtfüßig im Moos. Er lehnte sich gegen die Ei senstäbe und war ihr dadurch so nah, dass sein Atem über ihre Wangen strich und sein männlicher Geruch ihren Verstand verne belte. »Sag bloß, du hast Angst vor der Höhe«, neckte er sie. Aus dem Stand heraus sprang sie und fasste das obere Drittel des Gitters. Schwungvoll wuchtete sie sich darüber und kam so nah bei Darren auf, dass er reflexartig zurückwich. »Wer von uns beiden ist jetzt der Angsthase?«, fragte sie ironisch. »Große Heldin«, rief Darren lachend. »Lass dich von deinem treu ergebenen Diener in die Mitte dieses Gartens geleiten.« Er nahm ihre Hand und führte sie zur Herzblütenhöhle. Kleine Schalenteiche wa ren wie ein Mosaikfeld in den Moosteppich eingelassen. Sie tauchte die Hand in die halbkugelförmige Wasserkaskade des Springbrun nens. Das Wasser war so angenehm wie die Lufttemperatur. Welch ein Überfluss mitten in der Wüste. Shanija sah Darren an. Sein Lächeln weckte Gefühle, die sie tief in ihrem Inneren vergraben hatte, und die herauswollten. Sofort! »Dar ren, ich …« Er schüttelte den Kopf. Zärtlich tippte er mit dem Zeigefinger an ihre Lippen, nahm ihr Kinn in seine Hände und küsste sie. Zuerst sanft und zurückhaltend, doch bald intensiver. Shanija schlang die Arme um ihn, während er ihren Nacken mit der linken Hand lieb
koste und so ihre Lust langsam steigerte. Ihre Hände glitten unter sein Shirt und streichelten seinen muskulösen Oberkörper. »Du …« Sie stöhnte, als seine Finger über ihre linke Brustwarze rieben. »Du schmeckst so gut«, keuchte sie. Er hob sie hoch und trug sie küssend in die Herzblütenhöhle. In schnellen, ungezielten Bewegungen zerrten sie sich gegenseitig die Kleidung vom Leib. Plötzlich verharrte Darren. »Shanija«, hauchte er. »Ich …« Sie wollte das Ende des Satzes nicht hören, wie es auch lauten mochte. Sie zerrte ihn zu sich herab und brachte ihn mit ihren Lip pen zum Verstummen. Seine Küsse entflammten ein Feuer, das sich rasch in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Jede Zelle, die davon er fasst wurde, potenzierte ihre Begierde nach ihm. Ihre Hände glitten zu seinem Gesäß und drückten es nach unten. * Ein Lied vor sich hinträllernd, trat As'mala in den Gang. Der Duft nach frisch gerösteten Schwarzbohnen wehte herauf und belebte ihre müden Glieder, die sie dem schnuckligen Schwarzhaarigen mit den harten Bauchmuskeln verdankte. Sie pfiff weiter, während sie an Shanijas Tür klopfte, und wartete. Dann pochte sie kräftig ans Holz und rief Shanijas Namen. Wieder keine Reaktion. As'mala hob die rechte Augenbraue. Die Tür war verriegelt, doch für das Schloss musste sie nicht einmal ihre Gabe einsetzen. Schwungvoll warf sie die Tür auf. »Aufwachen, Colonel! Seit wann verschläfst …« Die Abenteurerin stockte mitten im Satz. Die Fensterscheibe war zerschlagen. Splitter steckten verstreut in den Holzplanken. Während das linke Bett unbenutzt aussah, lag die Matratze des rechten Betts aufgeschlitzt am Boden. Das Nachtkäst chen war umgestürzt und die Öllampe durchs Zimmer gerollt. Kei
ne Spur von Shanija. »Bei allen Meeresteufeln!« Sie rannte zum aufgebrochenen Fenster und lugte hinaus. Schleifspuren auf dem sandigen Steg. Und sie hat te nichts davon mitbekommen! Als es klopfte, riss sie die Tür auf und starrte verstört in das Ge sicht des Gastwirts. »Ich wollte doch nur … aber das Bett ist leer … und dann … das Fenster …«, stotterte sie, dann fasste sie sich. »Sha nija ist entführt worden!«, rief sie, rannte über den Gang und stürm te in das Zimmer, das Mun und Darren sich teilten. Dort erstarrte sie erneut. * Shanija seufzte und schmiegte sich enger an Darren. Zärtlich glitt sie mit der Wange über seine Brust und ließ sich von den feinen Här chen darauf liebkosen. Sie spürte seine warme, schützende Hand auf ihrem Rücken und seine Finger in ihrer linken Hand. Genüsslich streckte sie sich und presste sich an ihn. Es fühlte sich gut an, mit ihm aufzuwachen, seinen Duft aufzuneh men und an die Zärtlichkeiten zurückzudenken, die sie in der Nacht ausgetauscht hatten. Sie lächelte, als sie sich an sein schweißbedeck tes Gesicht im Schein der Lampe erinnerte. Wenn sie nur diese Nacht wiederholen könnte, anstatt wieder über das versperrte Gat ter … Sie stutzte, schlug die Augen auf und fluchte. Es war bereits hell lichter Tag, und sie lagen nackt auf dem Präsentierteller! »Ich wünsche dir einen guten Morgen, wie darf ich es dir besor gen?« Die Stimme klang, als wäre die Person im Stimmbruch. Shanija wirbelte herum. In drei Meter Abstand hockten zwei … sie runzelte die Stirn … Stinktiere mit braunem und rotem Fell und kramten in ihrer und Darrens Kleidung. »Weg da!«, befahl sie.
Die beiden ignorierten sie gänzlich. Als der Braune an ihrem Büs tenhalter schnüffelte und der Rote nach Tyr griff, sprang sie auf ihn. Doch die Stinktiere waren längst weg, als sie landete, und beobach teten sie kichernd aus sicherer Distanz. »Oh!«, keckerte der Rote. »Bleib entspannt und locker, sonst sto ßen wir dich vom Hocker.« Er versuchte sich in gefährlicher Akro batik mit dem Schwert. »Schon gut, schon gut! Sei vorsichtig, das Ding ist scharf«, lenkte sie hastig ein. »Es ist dir wichtig, ich bin sicher, da liege ich richtig«, reimte das Stinktier weiter und zeichnete ein Dreieck mit dem Schweif in die Luft. »Nun, es gehört mir. Gib es mir zurück.« »Warum sollte ich das machen? Viel lieber kümmere ich mich um andere Sachen.« »Gute Idee. Leg es einfach hin, ich hole es mir schon selbst.« »Pft.« Wie viele Absurditäten konnte eine einzige Welt noch hervorbrin gen? Daran würde sie sich nie gewöhnen. Sie wühlte in dem Klei dungsberg nach ihrem Slip. »Das ist keine gute Idee, bleib lieber, wie du bist, du heiße Fee.« Gequält stöhnte Shanija auf. Am besten, sie beachtete die beiden nicht mehr. Sie wühlte weiter. Aber sie gaben keine Ruhe. »Husch-husch, zurück um ein paar Meter, vielleicht verschwinden wir dadurch ein wenig später.« Ein herzhaftes, männliches Lachen drang an Shanijas Ohren. »Was«, japste Darren, »treibst du da?« Sie drehte sich zu ihm. Zuerst wollte sie auffahren, doch dann musste sie selbst lachen. Es war zu grotesk. Diese Welt war ein Tum melplatz der Absurdität, der nicht nur jeden Tag, sondern jede Stun de mit einer Überraschung aufwartete. Es widerstrebte ihr zuzuge ben, dass sie allmählich Gefallen daran fand. Es war so ganz anders
als die streng disziplinierte und nüchterne Welt, in der sie sich bis her bewegt hatte. Colonel, falls es dir je gelingt, so richtig zu lachen, lass es mich wissen, hörte sie Chucks Stimme in Gedanken. Ich rahme die sen Tag dann rot im Kalender ein! »Was machen wir mit denen?« Darren nahm die Sache in die Hand. »Ich wünsche euch einen gu ten Morgen, sagt, wie darf ich es euch besorgen?« Dieselbe Frage, die auch die verrückten Skunks gestellt hatten. Der Rote wedelte mit dem Schweif und verbeugte sich vor Darren. »Du wenigstens stammst von dieser Welt, nicht so wie diese Frau, die glaubt, sie sei ein Held.« »Mein Name ist Darren Hag, und wie ihr seht, lieg ich noch lange nicht im Sarg«, reimte er halsbrecherisch. »Worüber wollen wir uns unterhalten, um danach demütig die Hände zu falten?« Der Braune sagte daraufhin. »Werter Hag, das ist ein glorreicher Tag.« Die Stinktiere wuselten zu ihm, hüpften auf seine Oberschen kel und kauerten sich hin. »Mathematik oder Philosophie?«, fragte Darren die beiden. »Philosophie«, entschied der Braunfellige. »Wir lauschen deinen Worten, vielleicht können wir so die Lösung bereits orten«, antwortete der Rote. »Sprechen wir über die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen.« »Eine spannende Frage. Fahr fort, edler Hag.« Der braune Skunk wischte sich mit der rechten Vorderpfote mehrmals über das Ge sicht, während sein Schweif trapezartige Bewegungen in der Luft vollführte. »Wie frei seid ihr in eurer Entscheidung?«, fragte Darren. »Vollkommen!« »Ich besitze einen freien Willen, sonst würde ich mich killen.« »Riskante Worte«, kommentierte Darren mit Blick auf den Rotfelli gen. »Angenommen, vor euch liegen zwei vollkommen identische Essenshaufen, welchen …«
»Unrealistische Annahme«, unterbrach ihn der Skunk mit dem braunen Fell. »Seht es als Gedankenexperiment, einverstanden?« Die Skunks nickten simultan. »Ihr steht vor zwei gleichwertigen Portionen – welche wählt ihr?« »Ich wandere vorbei, weil ich keinen Hunger habe«, antwortete der Braune und malte mit dem Schweif ein Viereck. »Gut, ernsthaft. Hm …« Er kratzte sich am Hals. »Unterstelle ich völlige Wahlfrei heit aufgrund eines freien Willens, dann … dann … äh …« Er ließ den Schweif sinken. »Das ist ein blödes Beispiel, weil ich mich auf dieser Grundlage für keinen der Haufen entscheiden könnte«, maul te er. »Also führt freier Wille zu keiner Entscheidung«, analysierte Dar ren. »Was unmöglich ist! Verspüre ich Hunger, stürze ich mich auf eine der Portionen.« »Auf welche?«, hakte Darren nach. Mit beiden Armen stützte er sich im Moos ab und lehnte sich mit dem Oberkörper ein wenig nach hinten. »Wen kümmert's, solange ich danach satt bin?« »Du weichst mir aus. Für welchen entscheidest du dich?« »Den Linken!« Der Schrei eines Tieres mischte sich in die Unterhaltung. Ein pink farbener Vogel, der durch den langen, gebogenen Schnabel einem ir dischen Nashornvogel ähnelte, landete im Springbrunnen und schwamm zur Wasserkaskade, um daraus zu trinken. »Warum gerade für den linken Haufen?«, bohrte Darren nach. »Weil …« Der Blick des Skunk wanderte zu seinem Kumpan, der nicht einmal seinen Schweif bewegte. »Ich habe mich dazu entschie den.« »Auf welcher Grundlage?«
»Meines freien Willens.« Der Braune antwortete so leise, dass es Shanija fast nicht wahrnahm. »Der aber bei Gleichwertigkeit zu keiner Entscheidung führt. Und ist das der Fall, ist jede Entscheidung, die wir tagtäglich treffen, nicht von unserem freien Willen getragen, weil uns der nicht ent scheiden lässt.« »Hmpf.« Mehr brachte der Rote nicht hervor. »Und wie erklärst du, dass wir uns letztendlich zu einer Entschei dung aufraffen?«, wollte der Braunfellige von Darren wissen. »Meiner Meinung nach ist Willensfreiheit Entscheidungszwang. Und das Schlimmste daran ist, dass wir uns entscheiden müssen, obwohl wir zu wenig wissen. Wäre ich allwissend, wüsste ich über meine Motive, über Alternativen und Konsequenzen meiner Ent scheidungen bereits im Vorfeld Bescheid.« »Wodurch freie Wahl eliminiert wäre«, schaltete sich Shanija ein. »Wir handeln, obwohl unsere Entscheidungsgrundlagen mangelhaft sind.« »Wir handeln, weil uns die Umstände zwingen«, bestätigte Dar ren. »Und das Risiko, eine Entscheidung zu treffen, die uns auf dem harten Boden der Realität aufprallen lässt, weil wir in der Rückblen de doch das Falsche getan haben – dieses Risiko definiere ich als freien Willen.« Die Skunks schwiegen. Ihre Schweife hingen so tief, dass sie das Moos berührten. »Eins zu Null für dich, werter Hag«, sagte der Braunfellige, seinen Schweif langsam hebend. »Jetzt zu eurer Aufga be.« Der Rote rieb sich die Vorderpfoten. »Du und dein Weibchen, ihr erhaltet je eine Münze, die auf der Vorderseite eine Zahl und auf der Rückseite einen Kopf aufweist.« Shanija widerstand dem Impuls, dem Skunk eine Kopfnuss zu ver passen, um sich für das Wort »Weibchen« zu revanchieren. »Ihr werdet getrennt, und ich fordere eure Münzen einzeln zu rück. Dabei habt ihr unabhängig voneinander zwei Wahlmöglich
keiten: Ihr könnt kooperieren und gebt die Münze mit der Zahl oben auf zurück. Oder ihr könnt nicht kooperieren und mir Kopf in die Pfoten drücken.« »Du meinst, wir können uns nicht absprechen?«, fragte Darren. »Exakt.« Das Stinktier kicherte. »Abhängig von eurer Wahl der Münzseite erhaltet ihr von mir Punkte. Händigt mir jeder Zahl aus, kooperiert ihr also, schreibe ich jedem drei Punkte gut. Reicht mir ei ner Zahl und der andere Kopf, geht der mit der Zahl leer aus und der mit Kopf erhält ganze fünf Punkte. Zweimal Kopf sorgt für je einen Punkt.« Er richtete sich auf und piekste Darren mit einer Kral le in die Brust. »Was müsst ihr tun, damit bei Spielabbruch jeder an nähernd denselben und doch höchstmöglichen Punktestand hat?«, fragte er. »Aufgabenstellung klar?« Darren nickte. »Dir auch?« Der Rotfellige drehte sich zu Shanija. »Selbstverständlich«, gab sie mit fester Stimme zurück, während sie sich das Gehirn zermarterte, weil sie glaubte, eine ähnliche Fra gestellung bereits zu kennen. »Kopf verschafft mir mit fünf Punkten den höchsten Gewinn, sofern Darren Zahl wählt.« »Entscheiden wir uns beide immer für Kopf«, ergänzte Darren, »ist der Gesamtertrag der Niedrigste aller denkbaren Gesamterträge. Die logischste Variante wäre, dass wir ausnahmslos die Zahl oben auf zurückgeben.« »Nur sind wir getrennt und wissen vor Münzabgabe nicht, ob der jeweils andere eine Strategie der Kooperation verfolgt oder auf den höchsten Gesamtertrag abzielt, in dem er stets die Kopfseite abgibt, in der Hoffnung, dass der andere mit der Zahl rechnet.« Die Skunks keckerten und schwenkten wild ihre Schweife. »Egal wie die Wahl des jeweils anderen ausfällt, gewinnt ihr immer mehr, wenn ihr nicht kooperiert. Sinn der Aufgabe ist jedoch herauszufin den, wie ihr beide zu hohen Punkteständen kommt, ohne dass ihr euch absprechen könnt. Und der Clou: Keiner von euch kann durch Änderung seiner Strategie seinen Ertrag erhöhen.« Sie rümpften die
Nasen. »Deshalb nennt man es Dilemma. Löst es!« Darren setzte sich auf und blickte verunsichert zu Shanija. Sie er widerte seinen Blick und zuckte mit den Achseln. »Wir … wir könn ten …«, stammelte Darren. »Die Anfangszustände der Münzen gemeinsam betrachten!«, rief sie, weil sie sich jetzt erinnerte, woher sie diese Aufgabenstellung kannte. »Können wir?« »Und ob.« Shanija hob triumphierend den rechten Arm. Die Skunks wollten von ihnen die Lösung für das auf der Erde in die Spieltheorie eingegangene Gefangenen-Dilemma wissen. »Ich stelle meine Strategie auf deine ab. Dein Erstergebnis beeinflusst mein nächstes und umgekehrt.« Seine Miene hellte sich auf. »Du meinst, wenn du bei der ersten Abfrage eine Zahl zurückgibst und erfährst, dass ich Kopf gewählt habe, wirst du dich in der nächsten Spielrunde auch für Kopf ent scheiden.« »So informiere ich dich, dass ich kooperieren will und jedes nicht darauf Eingehen augenblicklich mit Nichtkooperation vergelte.« »Da ich das durchschaue, pendeln wir uns ein, in dem wir fort dauernd die Münze mit der Zahl nach oben zurückgeben und …« »… erreichen damit gemeinsam eine höhere Punktzahl, als wenn wir nicht kooperieren«, vollendete Shanija Darrens Gedankengang. »Mich dünkt, wir haben verloren. Die Hochachtung dringt mir aus allen Poren«, rief der Rotfellige und sprang von Darrens Oberschen kel. Er hopste zu den Kleidungsstücken und bugsierte das Schwert auf den Stoß. »Obwohl ich euch nicht mag, wünsch ich euch einen schönen und angenehmen Tag«, sagte der Braunfellige und wuselte seinem Kum pan nach. »Was. Bitte. War. Das?«, fragte Shanija, jedes Wort einzeln beto nend.
Darren beugte sich zu ihr und küsste sie auf den Mund. »Das waren Mephitiden«, antwortete er. Er erhob sich und wühlte aus dem Berg an Kleidern seine heraus. »Jede mathematische oder philosophische Diskussion ist besser, als ihr Sekret abzukriegen. Be schäftige dich mit ihnen zehn Minuten oder stinke vier Monate lang gegen den Wind.« Er streifte sich den Mantel über, während Shanija ihre Bluse zuknöpfte. Überrascht hielt sie inne, als er sie noch einmal in den Arm nahm und leidenschaftlich küsste. »Du hast dich toll ge schlagen. Wir sind ein gutes Team, finde ich.« Ja, das war nicht zu leugnen. Für einen Moment vergaß sie alles um sich herum, als sie den Kuss mit derselben Intensität zurückgab. Doch Darren holte sie schnell auf den Boden der Tatsachen zu rück. »Aber jetzt sollten wir schleunigst zurück zum Gasthof. Der Zug wird bald fahren.« * As'mala traute ihren Augen nicht. Mitten im Zimmer stand Mun mit einem Rasiermesser in der Hand und schabte mit einer langsamen und bedächtigen Bewegung über den Genitalbereich seines drahti gen Körpers. Wie in Trance streifte er die entfernten Haare samt Schaum in einem Topf voller Wasser und setzte das Messer erneut an. As'mala vertrieb ihre Irritation über seine Größe und platzte her aus: »Shanija ist entf…« »Schließ die Tür«, befahl Mun mit seiner dunklen, meditativ ruhi gen Stimme. Sein tiefer Tonfall hüllte sie ein und schenkte ihr Si cherheit und Vertrauen. Sie machte folgsam die Tür zu und begann von neuem: »Shanija ist …« »Setz dich, Asanfirigylwyddinmala«, sagte er, während er erneut den Schaum vom Messer schlug.
Erneut gehorchte As'mala und fragte sich, warum. Shanija war höchstwahrscheinlich verschleppt worden, die Zeit verbrannte be reits ihre Zopfenden und sie hatte nichts Besseres zu tun, als Mario nette zu spielen. Warum riss sie ihm das Messer nicht aus den Fin gern und zwang ihn dazu, ihr zu zuhören? Mun schlüpfte in seine dunkelblaue Kutte mit dem Symbol des schwarz-weißen Möbiusbandes auf der Brust, das ihn als Adepten auswies. So, als verfüge er über alle Zeit der Welt, ließ er sich auf den knarrenden Holzdielen im Meditationssitz nieder und faltete die Hände im Schoß. »Je brenzliger eine Lage ist, umso wichtiger ist ihre kühle Betrachtung. Erzähl der Reihe nach.« »So etwas kann auch nur eine gefühllose Maschine wie du sagen!«, fuhr sie ihn an und schnellte wieder hoch. »Shanija ist entführt wor den!« »Woraus folgerst du das?« Abermals drohte sie seine monotone Stimme einzulullen, doch sie presste sich als Abwehr die Fingernägel in die Handballen. »In Sha nijas Zimmer ist eingebrochen worden. Das Bett ist zerwühlt, und sie ist verschwunden! Überall sind Kampfspuren und …« »Wo hast du nach ihr gesucht?« »In ihrem Zimmer, aber …« »Darauf fußt deine Entführungstheorie?« Seine Worte klangen la konisch und brachten das Fass zum Überlaufen. »Verdammt, Mun!« As'mala griff nach dem Halsstück seiner Kut te. »Hör auf, Schlaftabletten zu schlucken oder ritz dir mit dem Mes ser die Haut auf!« Ihre Stimme bebte. »Wir müssen etwas unterneh men!« Mun erhob sich. »Sicher müssen wir das. Doch zuerst müssen wir alle Fakten zusammen haben, bevor wir Schlüsse ziehen können.« As'mala keuchte und drohte ihm mit der Faust: »Wenn du nicht sofort …« »Darren ist uns ebenfalls abhanden gekommen.«
Jetzt erst bemerkte sie, dass Darrens Bett leer war. »Wir sind gestern gemeinsam aus dem Schrankraum hoch gegan gen. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, war sein Bett verwaist.« »Der kann schon auf sich selbst aufpassen! Suchen wir Shanija!« Sie eilte zur Tür. Mun fragte: »Wo ist Seiya?« As'mala wollte sich verdutzt umdrehen, als jemand von außen mit Schwung die Tür öffnete. * Shanija stockte, als sie ihre Tür geöffnet vorfand und die Verwüs tung darin sah. »Was ist hier passiert?« Rasch eilte sie zu Seiyas und As'malas Schlafgemach. Leer. »Mun«, sagte Darren. Shanija nickte, und sie liefen zum dritten Zimmer. Ohne anzuklop fen versuchte die Erdfrau die Tür zu öffnen und stolperte nach in nen, als sie überraschend leicht nachgab. Sie bremste gerade noch, bevor sie mit As'mala zusammenstieß. Die Diebin fasste sich schnell. »Bei Zyrkans Eiern, wo wart ihr?« »Was ist in meinem Zimmer passiert?«, fragte Shanija zurück. Mun kam näher. »Ist Seiya nicht bei euch?« »Nein«, antwortete Shanija. »Ich habe sie seit dem Abendessen nicht mehr gesehen.« »Da …«, sagte As'mala langsam, »… sind Schleifspuren vor dem Fenster. Deswegen nahm ich an, dass du … entführt wurdest.« Betroffen sahen sich alle an. »Vielleicht ist sie ja Frühstücken«, meinte Darren. »Es können auch einfach nur Diebe gewesen sein.« Mun nickte. »Ich werde nachsehen.« In seiner ruhigen und be dächtigen Art ging er die Treppe hinunter.
Darren wandte sich an As'mala. »Hat sie denn nicht bei dir ge schlafen?« »Äh … nein, weil mein Zimmer … besetzt war …«, gestand die Abenteurerin und blickte Shanija forschend an. »Sie wollte zu dir, weil du auch ein zweites Bett hast. Wo warst du?« Shanija war diese Frage mehr als unangenehm. »Darren und ich waren … spazieren.« »Soso. Die ganze Nacht?« As'mala hob eine Braue. »Ja«, sagte Darren kurz angebunden. »Sehen wir uns in Shanijas Zimmer um.« Shanija ging voraus und prallte zurück, als sie in ihrem verwüste ten Zimmer ein sackähnliches Gebilde herumhoppeln sah. »Rühr dich nicht vom Fleck!«, befahl Darren, und für einen Mo ment wusste Shanija nicht, ob er sie oder das Ding meinte. Der Sack fiel in sich zusammen und formte einen Würfel. »Das ist ein Ezuone«, erklärte Darren. »Der gehört zur Putzbriga de.« Er trat in den Raum. »Spuck alles aus, was du aufgesaugt hast, und verzieh dich.« Zuerst drang ein Quieken aus dem Würfel, dann vergrößerte er sich und schließlich plumpsten Teile der Glasscheibe, das Bettlaken und die Öllampe auf den Bretterboden. Sekunden später verwandel te er seinen Körper in eine Schlange und glitt in den Gang hinaus. Mun, der gerade zurückkam, wich dem Ezuonen gerade noch aus. »Und?«, fragte Shanija angespannt. »Ich befürchte, sie ist verschwunden«, berichtete der Adept. »Nie mand hat Seiya heute Morgen gesehen.« In seiner sonst so ruhigen Stimme schwang ein Missklang mit. Sorge, erkannte Shanija er staunt. »Wie es aussieht, wurde Seiya tatsächlich verschleppt.« Darren durchstöberte bereits den Raum. »Ein Schattenspieler wie Gorelus wäre jetzt nützlich«, bemerkte As'mala. »Ich glaube nicht, dass wir etwas Verwertbares finden.«
»Ein Schattenspieler zeigt nur eine von mehreren potenziellen Wirklichkeiten«, erwiderte Mun. »Wir benötigen eher einen Vergan genheitsspürer.« Shanija hob die Bettdecke auf und schaute unters Bett. »Ich verste he das nicht. Welches Motiv könnten die Entführer haben?« »Vielleicht ging es nicht um Seiya«, sagte Mun langsam. »Das denke ich auch«, stimmte Darren zu. As'mala sah Shanija an. »Sie war in deinem Zimmer.« Shanija hatte bereits ähnliche Schlüsse gezogen, doch sie gefielen ihr nicht. Denn das vergrößerte ihre Schuld nur noch. Allerdings lag es nahe; schließlich hatte sie gerade erst den Anschlag eines fanati schen Sektierers überstanden. Weil sie angeblich die Trägerin der Sonnenkraft war, was für die einen ein Fluch, für die anderen ein Se gen schien. Es erschwerte ihre Mission umso mehr; nicht nur, dass sie noch immer nicht wusste, ob es die Urmutter und damit Hoff nung auf einen Start von Less gab, sie musste sich auch noch mit Verfolgern herumschlagen. »Ja. Sie … haben sie verwechselt«, sagte sie schwer. »Mit mir.« »Bisher wissen nur wenige, wie die Trägerin der Sonnenkraft ge nau aussieht«, meinte Darren. »Und bisher hatten wir es nicht mit menschlichen Attentätern zu tun. Für uns sehen alle Uriani und Kuntar gleich aus, das ist auch umgekehrt so. Ja, eine Verwechslung liegt nahe.« Er bückte sich, stocherte mit seinem Dolch in einer vio letten, zähflüssigen Pfütze und gab ein »Hm« von sich. »Hast du was gefunden?« »Vielleicht«, murmelte er, um sich mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen. »Ich bin ein Idiot.« »Seit wann bist du so einsichtig?«, konnte As'mala sich nicht ent halten. Darren erhob sich und ging zum Waschbecken. Dort klopfte er auf das froschähnliche Steinwesen, das durch diese Berührung zum Le ben erwachte. Eine breite, gelbe Zunge schoss aus dem Mund und
verharrte vor Darrens Gesicht. »Keine Zahnpflege. Was hat sich heute Nacht zugetragen?« Shanija hob überrascht die linke Augenbraue. Sie hatte sich schon über den Sinn der braunen Steinfigur gewundert. »Ein ballonschartiges Weschen«, gab der Frosch langsam mit rö chelnder Stimme Auskunft, »geschtern nascht in Raum geschwuhn gen. Esch gab Kampfh. Mensch bethäubth und insch schich einver leibscht.« »Fielen Namen?« »Schonenkraftthrägerin.« Die Zunge des Zahnreinigers, die während der Sätze einen wilden Tanz vollführt hatte, verschwand im Maul. Das Wesen versteinerte wieder. As'malas Miene verdüsterte sich. »Woher konnten die Entführer wissen, in welchem Zimmer du schläfst?« »Der Wirt«, gaben alle spontan gleichzeitig Antwort. »Den kauf ich mir«, rief As'mala und knackte mit den Fingern. »Tu das. Ich suche nach weiteren Hinweisen«, sagte Darren und beugte sich aus dem Fenster. Shanija begleitete As'mala nach unten. Sie fanden die Rezeption al lerdings verlassen vor. »Im Frühstücksraum«, vermutete As'mala, ging voraus und drück te die Tür so kräftig auf, dass sie gegen die Mauer prallte. Die anwesenden Gäste, Shanija zählte rasch vier Männer und neun Frauen, fuhren überrascht hoch. Ein Mann mit blondem Vollbart verschluckte sich und hustete gequält. Der Wirt, wie immer im Rüschenfrack, schichtete blaues, dünn ge schnittenes Fleisch auf den Tisch des Buffets. Er blickte hoch und be griff sofort. »Meine Damen, gehen wir in mein Büro …« »So schaust du aus«, schmetterte As'mala ab und ging auf ihn zu. »Reputation.«
»Wie bitte?«, fragte Shanija. »Ich habe die Bürger-Aufsicht noch nicht informiert, weil so ein Skandal meinem seriösen Haus sehr abträglich ist, und nun hat es sich ja im Guten aufgeklärt …« Er seufzte. »Um mich geht es nicht«, unterbrach Shanija. Erleichtert blies der Gastwirt die Luft aus. »Das beruhigt mich.« As'mala sah zu Shanija, die nickte. Bevor der Mann zurückwei chen konnte, hatte sie ihn gepackt und ihm den Arm auf den Rücken verdreht. Der Gastwirt winselte überrascht auf, und die Gäste machten, dass sie aus dem Raum kamen. »Arschloch«, zischte die Diebin. »Dafür ist unsere junge Freundin entführt worden!« Shanija stellte sich vor ihn. »Wer hat dich nach mir gefragt?« Er schüttelte den Kopf. Zu schnell und zu heftig. »Warum sollte das jemand tun?« »Wie weit seid ihr mit ihm?« Darren und Mun betraten den Raum. »Edler Hag, bei allem Respekt, aber das geht allmählich zu weit, Ihre Begleitung …« Der Gastwirt knickte aufjaulend in der Hüfte ein, als As'mala ihm den Arm noch mehr verdrehte. »Feiger Lügner!«, rief sie zornerfüllt. »Was soll ich ihm zuerst ab schneiden, Freunde?« »Nicht die Zunge«, sagte Mun sachlich. »Die brauchen wir noch.« Der Mann wurde leichenblass, als er sich derart in die Ecke ge drängt sah. Flehend sah er Shanija an. »Ich … ich wusste nicht, was er vorhatte!«, rief er. »Doch ich hatte auch so keine Wahl! Ihm schlägt man keinen Wunsch ab. Ihm nicht.« Er schluckte und schlug mit der freien Hand ein Symbol in die Luft, wie ein religiöses Zei chen. »Sie haben ja keine Ahnung, was die mit einem machen, der nicht kooperiert …« »Du hast keine Ahnung, was wir mit dir machen können.« Shanija kam ihm ganz nahe, sie überragte ihn um ein gutes Stück. Langsam nahm sie seine Hand, strich den Ärmel zurück und berührte einen Nervenknoten. Nur ein kurzer Druck. Der Wirt schrie auf, die Au
gen quollen ihm aus den Höhlen. Auf seiner Hose zeichnete sich ein feuchter Fleck ab. »Wer«, knurrte die Kommandantin nur ein Wort. Der Wirt brach zusammen und fing an zu weinen. »Der … der Ma gnite.« »Wer ist das?«, fragte As'mala ratlos. Darren kratzte sich am Kinn. »Er ist hier?«, fragte er leise. Shanija sah ihn überrascht an. Der Wirt plapperte weiter: »Er sagte, er sei von einem Freund der drei Damen aus Khatasta beauftragt worden, der sie mit einem Be such überraschen wolle. Wenn ich geahnt hätte, dass …« »Hätte es nichts geändert«, murmelte Darren mehr zu sich. »Hat er über diesen Freund Genaueres gesagt?«, wollte Mun wis sen. »Nein.« Als As'mala zu ihrem Messer griff, schrie er panisch: »Bit te, das müssen Sie mir glauben, mehr weiß ich nicht! Ich hätte nie gewagt zu fragen!« »Mach dein Messer nicht mit dem da schmutzig«, sagte Shanija hart. »Der feige Schlammkriecher weiß nichts.« As'mala ließ den Mann los, der zusammengekrümmt die Flucht ergriff. »Aber was nun?«, fragte sie niedergeschlagen. »Wie sollen wir Seiya finden?« »Möglicherweise kenne ich jemanden, der uns helfen kann«, ant wortete Darren, was Shanija diesmal kaum noch überraschte. »Ho len wir unsere Sachen, wir haben nicht mehr viel Zeit bis zur Ab fahrt des Zuges.« »Aber wir wissen nicht, ob Seiya noch hier ist«, wandte Shanija ein, »und wenn nicht, in welche Richtung wir …« »Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, müssen wir den Zug nehmen«, unterbrach Darren sie und ging rasch aus dem Raum. *
»Wie weit noch?«, fragte Shanija, als sie in einen der vielen Bastkör be stiegen, die als Aufzüge dienten. »Zwei Querstraßen«, erklärte der Abenteurer einsilbig, während sie achtzig Meter abwärts sausten. Den ganzen Weg über wirkte er ungewöhnlich nachdenklich und in sich gekehrt. »Probleme?«, fragte Shanija ihn unterwegs leise. Sie kannten sich erst kaum einen Tag und eine, wenngleich intensive Nacht. »Ich habe auch welche, aufgrund deiner seltsamen Andeutungen.« »Vertrau mir«, gab er ausweichend zurück und sah sie eindring lich an. »Bitte.« Sei fair, dachte Shanija. Er weiß trotz der letzten Nacht so gut wie nichts über dich. Keiner von uns ist das, was er vorgibt zu sein. Gib ihm Zeit, so wie du sie für dich verlangst. »Das tue ich«, sagte sie ruhig. Sie verließen den Lift, eilten über einen Balken und bogen in eine Sackgasse. Hier gab es keine Stelzbauten, nur ein einziges Haus, zu dem sich vermutlich kaum jemand verirrte. Entgegen der allerorts in der Stadt üblichen farbenfrohen Wände hatte dieses Gebäude einen pechschwarzen Anstrich. Jemand wollte, dass das Haus Düsternis ausstrahlte, und das war ihm Shanijas Meinung nach hervorragend gelungen. Trotz der Wüstenhitze in der Stadt wirkte das Haus kalt. Darren ließ sich weder von der Kälte noch vom Äußeren des ein stöckigen und knapp zehn Meter langen Baus abschrecken. Schnur stracks hielt er auf die Mauer zu. Es gab keinen Eingang. »Äh … wie willst du …«, fragte sie, da verschwand Darren. »Was soll das jetzt wieder?«, rief As'mala. »Mun, hast du dafür eine Erklärung?« Der Adept schüttelte den Kopf. Shanija musterte ihn prüfend. Adepten der Wissensträger durften keinerlei Emotionen besitzen, und Mun, der erste menschliche An gehörige der Gilde, war stets sehr beherrscht. Doch seit Seiyas Ent führung war etwas in ihm vorgegangen, das ihn veränderte. Sie sah
es in seinen schwarzen Augen. »Weißt du etwas über den Magniten?« »Es gibt da ein Gerücht …« As'mala stürmte derweil zur Wand – und prallte gegen Darren, der gerade ein Stück weit herauskam, aber irgendwie noch in der Hälfte der Mauer steckte. »Folgt mir«, sagte er. Also traten sie durch die Wand. Shanija wähnte sich in einen sur realistischen Alptraum versetzt. Sie befand sich in einem Raum, und auch wieder nicht. Licht erhellte Chaos und doch nicht. Von allen Seiten schallte Kreischen und Ächzen in ihre Ohren, dass sie um ihr Gehör bangte. Doch vielleicht war es auch nur Einbildung. Sie kniff die Lider zusammen, um die verworrenen Eindrücke zu vertreiben. Erfolglos. »Wo sind wir?« »Willkommen in Saris Reich.« Eine scheppernde Stimme, die künstlich erzeugt klang, erfüllte die Umgebung. »Stell mir deine Freunde vor, Darren.« »Ich sagte bereits, dass ich das nicht tue. Keine Namen, keine Hin tergründe, keine Geschichten. Nichts«, antwortete der blonde Hüne derart ablehnend, dass Shanija aufhorchte. Gingen so Freunde mit einander um? »Unsere Zeit ist knapp, also kommen wir zur Sache«, fuhr Darren fort. »Gib uns die gewünschten Informationen.« Aus dem Nichts schälte sich eine Wolke, die sich langsam zu einer hellroten Spirale verdichtete. Ein Flüstern kam aus ihr, das Shanija an das Orakel erinnerte. »Soll ich eine euch genehmere Form wäh len?« »Halte uns nicht auf, Sari!« Shanija hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Ein nicht greifbarer Druck lastete seit dem Erscheinen des Wesens auf ihr. Die Wolke kicherte. »Nur, weil ich dir einen Gefallen schulde …« »Drei, mein Bester. Es sind drei.« »Zwei ab heute, werter Sohn von Earl Hag.«
»Erst, wenn wir endlich Antwort erhalten. In wessen Auftrag warst du im Paradieshof?« »Erinnerst du dich an die wispernden Lagerfeuer des Landes Talli ca?« Darren nickte. »Und erinnerst du dich an alle Legenden, die wir dort vernommen haben?« »Teufel nochmal, was hat das damit zu tun?« »Sollen deine Freunde wissen, was wir dort gemacht …?« »Sari!« Jeder, dachte Shanija bei sich, hat auf seine Weise eine dunkle Vergan genheit. Wahrscheinlich fühlte sie sich Darren deswegen nach der kurzen Zeit bereits so verbunden. Und vermutlich deswegen faszi nierte er sie auch derart. »Es geht um ELIUM.« Darren stockte. »Es gibt sie also wirklich?« Shanija spürte seine Unsicherheit und … Angst? »Wie du weißt, täusche ich mich nie.« »Bis auf einmal!« »Ohne dieses für mich höchst unangenehme Ereignis stündest du heute nicht vor mir.« Ein Lachen erklang. »Andererseits wäre ich um die Präsenz deiner …« »Ich sagte, Schluss damit!«, warnte Darren scharf Shanija blickte Mun an, doch der reagierte nicht. As'mala zuckte mit den Achseln. »Du bist zu spät. Viel zu spät, Darren Hag. Er ist bereits abgereist.« »Womit? Wohin?« »Er erhob sich in die Sphären, in einem großen luftgefüllten Sack.« »Ein Heißluftballon?« »Wie immer du es nennen willst. Er flog Richtung Osten, und er hat die Trägerin bei sich.« Die Spirale pulsierte und färbte sich blau.
»Wenden wir uns nun deinen überaus interessanten Gefährten zu.« »Sari, es reicht!« Darren drehte sich um. »Wie ich es vermutet ha be. Wir müssen zum Zug!« »Wähle deine letzten beiden Wünsche mit Bedacht, Darren Hag«, dröhnte es ihnen nach. »Denk immer an die Konsequenzen.« Dann traten sie zurück ins pralle Sonnenlicht, und der Druck wich von Shanija. »Kann man ihm trauen?« »Mehr können wir aus ihm nicht herausbekommen. ELIUM liegt weiter östlich, so heißt es in den Legenden«, antwortete er. »Also ha ben wir zumindest die Richtung. Wir müssen versuchen, unterwegs die Spur aufzunehmen.« »Was ist ELIUM?«, fragte As'mala. »Nur eine Legende, wie Darren sagte«, antwortete Mun düster. »Hoffen wir, dass Seiya nicht ins dunkle Land gebracht wurde.« »Genau dahin sind wir doch schon unterwegs«, knurrte Darren.
2. Our brains are on fire with the feeling to kill And it won't go away Till our dreams are fulfilled There is only one thing on our minds Don't try running away Cause you're the one we will find. METALLICA, Seek And Destroy Der Schock hielt Afil Silden immer noch gefangen. Die oberste Nelta der Warner der Flüstertüte konnte es nicht glauben, dass der Mega paraponera versagt hatte – obwohl die Nachbetrachtung eine Ver kettung unglücklicher Umstände nahelegte. Und sofern sich ihre Quellen nicht täuschten, wurde Shanija Ran nun neben dieser Prin zessin der Mandiranei und der Diebin auch von Earl Hags Sohn und einem menschlichen Adepten begleitet. Afil Silden schüttelte den Kopf. Entweder war dieser Mun einer der dreistesten Lügner überhaupt, oder die Bibliothekare waren über ihren Schatten gesprungen und hatten tatsächlich zum ersten Mal in der Geschichte des Zentralarchivs und der Gilde einem Men schen die Adeptenweihe angedeihen lassen. Doch das war jetzt nicht von Bedeutung. Ihre ganze Konzentration musste den Überlegungen gelten, wie die Sonnenkraftträgerin besei tigt werden konnte. Sollte Afil Silden das Linpha einsetzen? Zweifel meldeten sich in ihr, als sie die Konsequenzen berücksich tigte. Entfaltete das Linpha im Paradieshof seine verheerende Wir
kung, bestand die Gefahr, dass abgesehen vom Hotel binnen eines Dianoctums die ganze Stadt dem Erdboden gleichgemacht wurde, einschließlich der Einwohner. Nicht einmal die stärksten Psimagier konnten bei einer größerflächigen Anwendung zu hundert Prozent vorhersagen, ob das Linpha sich so verhalten würde, wie von ihnen gewünscht. Also blieb nur die Option, es in lokal begrenzter Form im Zug zu verwenden. Je länger Afil diese Idee durchspielte, desto besser gefiel sie ihr. Vor allem, weil Ran und ihre Gefährten nur eine einzige Alternative besaßen, dem Linpha zu entkommen – den Sprung in die Todes wüste. Und dort überlebte niemand. Vermutlich würden dabei auch alle anderen Zuginsassen sterben, genauso wie der Zug, doch diese paar notwendigen Opfer wogen die Rettung aller Lebewesen auf Less auf. Und es wären weitaus we niger als in der Stadt hier. Nur Earl Hag würde nach dem plötzlichen Ableben seines Sohnes zu einem Problem werden, um das sich der Nelta von Thel-Ryon an nehmen würde. Aber das war im Vergleich zu den Konsequenzen, wenn sie Shanija Ran am Leben ließen, zu vernachlässigen. Das Rauschen der mysteriösen Wasserquelle unterhalb der Wüs tenstadt drängte sich in Afils Bewusstsein. Wann immer sie Ruhe und Ordnung in ihre Gedanken bringen musste, suchte sie die ge heime Grotte auf. So auch heute. Nur hier konnte sie die richtige Entscheidung fällen. Die Lage der Grotte kannte nur der Stadtrat, dem sie angehörte – das einzige beständige Gremium innerhalb der Flüstertüte. Es stellte den Gegenpol zu den fast schon täglich wechselnden Bürgermeis tern dar und sorgte für eine bestehende Infrastruktur innerhalb der Wüstenstadt. Nichts gegen Anarchie, Chaos und das Selbstbestim mungsrecht des Einzelnen – aber das Zusammenleben so vieler We sen funktionierte nur innerhalb bestehender Strukturen. Die Passage aber würde all das hinwegfegen, wenn Dur der Ewige
sie erneut zu nutzen versuchte. Einmal schon, vor zehntausend Quartennien, so berichteten zumindest die Legenden, hatte dieses Wesen aus einem anderen Universum in das Drei-Sonnen-System einzudringen versucht – doch es war gescheitert. Nun stand die Passage, die die Verbindung zwischen beiden Uni versen herstellte, erneut bevor, und die Sonnenkraftträgerin war auf Less eingetroffen. Nachdem die Warner seit ihrer Abspaltung von der Sekte der Erlöser im ständigen Streit mit den ehemaligen Brü dern und Schwestern lagen, hatte sich durch diese Frau die Lage nunmehr zugespitzt. Corundur hatte augenblicklich die Gefahr erkannt, die von der Sonnenkraftträgerin ausging, und deshalb ihre Beseitigung befoh len. Afil Silden schob die Frage beiseite, ob sich der maskentragende Anführer der Warner durch diesen Mordauftrag nicht auf dieselbe Stufe wie die Erlöser stellte. Immerhin hatten sich die Warner sei nerzeit von ihnen losgelöst, weil die Erlöser Dur als, umschreibend gesagt, Dämon erkannt hatten. Und zu Schlimmerem als zu Mord konnte auch ein böser Gott nicht aufrufen. Andererseits war die Überlegung höchst simpel. Ohne Sonnenkraft keine stabile Passage. Ohne stabile Passage kein Dur, der sie benutzen konnte. Und auf dem Spiel stand nicht nur das friedliche Zusammenleben der Wesen auf Less, sondern die Existenz aller Lebewesen über haupt. Dur würde Less in die Hölle verwandeln. Das hatte Corun dur erkannt und deshalb die Sekte der Warner gegründet. Daher musste Afil Silden dafür sorgen, dass Shanija Rans Leben hier endete. Sie öffnete die Augen und blickte in das Wunder der Quelle. Das Wasser schoss von unten aus dem Boden, drehte sich, obwohl es kein Mühlrad gab, einmal in der Luft und raste nach oben weiter. An den Lippen nagend erhob sich die Nelta. Ihre Schritte führten sie in der Grotte nach rechts zu einer steinernen Treppe. Zügig stieg sie aufwärts und stoppte vor einer Felswand. Mit dem rechten Arm griff sie in ein Loch. Ihre Finger berührten eine Art Zacke, an der sie
drehte. Kaum hatte sie den Arm aus dem Fels gezogen, glitt die Wand zur Seite und gab den Zugang in einen Kellerraum frei. Eine Wendeltreppe führte ins Freie. Afil Silden ging ohne Umweg in ihre Villa. Im Vorraum angekommen, unterdrückte sie die Schemen der Ver gangenheit, die sich in ihr Bewusstsein schieben wollten. Die Ver gangenheit ist nicht zu ändern, hielt sie sich einem Mantra gleich vor Augen, mit dem sie bereits den Tod ihres Gatten verarbeitet hatte. Einzig und allein die Zukunft zählt. Sie hätte sich schon längst etwas einfallen lassen müssen, damit der Geist ihres verstorbenen … ihres ermordeten Gemahls nicht mehr im Haus schwebte. Genug damit. Sie musste jetzt jeden weiteren Gedanken an ihr be vorstehendes persönliches Schicksal verdrängen. Als Nelta musste sie stark sein. Für Corundur, für die Warner und für Less. Im Besprechungszimmer nickte ihr der Assistent zu und Afil holte tief Luft, bevor sie die Tür aufstieß. Da warteten sie, junge Frauen und Männer. Zwölf Kämpfer gegen die Abgesandte der Dunkelheit. Aus ihren Gesichtszügen sprach die Entschlossenheit, ihr Leben für die gerechte Sache und zum Schutz für Less zu opfern. Ihr Glaube an eine bessere Zukunft ohne eine stabile Passage und damit ohne Dur erfüllte ihr Leben. Dafür waren sie bereit zu sterben. Langsam schritt Afil die Reihe ab. Mit einem hart ausgesproche nen »Karem Dur« klopfte sie jedem Kämpfer mit der Faust gegen die Brust. Beim Vorletzten in der Reihe blieb sie stehen und musterte den fingerbreiten Narbenstrang, der sich vom linken Lid bis zum Ohr spannte. Früher, als sie sich um seinen Haarschnitt gekümmert hat te, war die Narbe immer verdeckt gewesen. Nun trug er sie sichtbar und mit Stolz. »Mutter …«
Obwohl es sie schmerzte, brachte sie ihn mit einem Blick zum schweigen. »Ich weiß, was du sagen willst. Wir haben das bereits be sprochen! Deine Schwester trägt das Linpha!« Ihre Faust klopfte ge gen seinen Brustbereich und sie sprach die rituellen Worte erneut. Afil wandte sich nun an die letzte Frau in der Reihe. »Piena«, sagte sie, »entscheide weise über den Zeitpunkt, an dem du das Linpha entfaltest.« »Das werde ich, Mutter.« Aus der zweiundzwanzigjährigen Frau sprach der Hass. So sehr sich Afil auch bemüht hatte, Piena und Giacobe nach dem Mord an ihrem Vater hassfrei zu erziehen, so sehr hatten sich die beiden Kin der in ihre Wut hineingesteigert. Ihr ganzes Leben hatten sie der Ra che an den Erlösern gewidmet. Beide hatten trainiert, um das Un recht zu vergelten. Und nun bot ihnen das Schicksal eine, wenn nicht sogar die Gelegenheit, die Mörder ihres Vaters an ihrer emp findlichsten Stelle zu treffen. Der Preis, den sie dafür zahlen wür den, kümmerte sie nicht. Afil fühlte Tränen in sich aufsteigen und klopfte ihrer Tochter rasch gegen die Brust. »Karem Dur!« Die Kämpfer marschierten danach aus dem Raum und ließen die oberste Nelta der Warner der Flüstertüte allein. »Nur die Zukunft zählt«, murmelte sie und wusste gleichzeitig, dass sie sich selbst belog. * Heute betrat sie den Korridor unterhalb der Flüstertüte ohne An greifer. Nachdem sich der Sturm gelegt hatte und die Schäden besei tigt worden waren, herrschte hier wieder lebhafter Betrieb, und die verschiedensten Geräusche schwirrten durch die Luft. In Zischlaute mischte sich Blöken, in Knarren lauter Singsang und menschliche Stimmen verquirlten sich mit geplätscherten Worten. Und das alles
war eingewebt in eine Duftmischung aus Hagebutte, Kirsch und Pfefferminz. Ein einziges unübersichtliches Chaos. Darren achtete allerdings darauf, nicht ins Sichtfeld der Bürgeraufsicht zu geraten, denn er nahm an, dass inzwischen ein Haftbefehl auf ihn ausgestellt worden war – wegen Zerstörung öffentlichen Eigentums und un rechtmäßig erlangter Honorare. Kurz vor der Abzweigung, an der sie gestern von tausenden Ameisen in die Enge getrieben worden war, beschlich Shanija un willkürlich ein mulmiges Gefühl. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit intensiver auf die Umgebung, betrachtete das schreiend bunte Pla kat für das alljährliche Quenquan-Fest an der Wand und entspannte sich erst, als sie die Treppe zum Bahnsteig erreichten. Von hier aus ging es etwa zweihundert Meter abwärts. Der Zug wirkte imposant durch die vielen Waggons, die sich hin ter der Lokomotive auffädelten. Grob geschätzt warteten einhundert Wagen auf Fahrgäste. »Wodurch wird die Halle derart gut beleuchtet?«, fragte Shanija ihre Gefährten. »Sonolumineszenz durch Kavitation«, antwortete Darren. »Bei der Kehrseite Anamas – wo hast du diesen Zungenbrecher aufgeschnappt?« As'mala grinste. »Du willst Shanija wohl beeindru cken, statt einfach Pulet zu sagen?« »Ich bin wissenschaftlich korrekt«, gab Darren trocken zurück. »Dieser Begriff sagt ihr sicher mehr als unser Alltagsdialekt.« »Eigentlich nicht«, gestand Shanija. As'mala warf ihm einen Blick zu, der so viel bedeuten sollte wie »Sie kommt ja auch von außerhalb.« Shanija schmunzelte. Natürlich kannte sie die von Darren verwendeten Termini. Seit mehr als fünf hundert Jahren benutzte die Menschheit Sono-Waffen, die auf der Grundlage des Schalls funktionierten. Und Lumineszenz bedeutete … »Die Schallwellen, die von der Flüstertüte abgestrahlt werden,
treffen auf das Wasser an der Decke.« Er deutete empor. Shanija folgte seinem ausgestreckten Arm und erspähte die ungefähr ein Meter durchmessende, durchsichtige Wanne, die in der Mitte der Decke montiert war und längs der gesamten Halle verlief. »Durch ihre Intensität erzeugen sie ohne Unterbrechung Hohlräume in der Flüssigkeit, die rasch kollabieren und Lichtblitze abgeben.« »Interessant«, antwortete Shanija. »Und sehr effizient. Für ein der art starkes Licht benötigen wir einiges an Strom und Leuchtröhren.« »Leuchtröhren?«, fragte Darren. »Statt in Wasser fangen wir das Licht in mit Gas gefüllten Behäl tern ein.« »Auch eine Möglichkeit.« Beim Anblick der Lokomotive fühlte Shanija sich in einen der His torienfilme der Erde versetzt, die über den Wilden Westen berichte ten. Ein Filmausstatter hätte ob dieser Requisite mehrere Luftsprün ge vollführt. Das Aussehen der Eisenbahn legte nahe, dass der Er bauer menschlichen Ursprungs gewesen sein musste. Sie bezweifel te, dass eine Kröte aus dem Volk der Uriani oder eine der kuntari schen Echsen in selben Bahnen wie die Menschen des 18. Jahrhun derts dachten. Andererseits konnte sie nicht ausschließen, dass ähn liche Aufgabenstellungen überall im Kosmos zu ähnlichen Lösun gen führten; überhaupt angesichts der Vielfalt an Lebewesen, die sich auf Less tummelten, und die hier in einer reichen Auswahl an zutreffen waren. Für Shanija immer wieder von neuem faszinierend, wie reichhaltig das Leben war. Bisher waren die Menschen erst ei nem anderen Raumfahrervolk begegnet, den Quinternen, über die sie nichts wussten, und mit denen sie trotzdem Krieg führten. Auf Less aber hatte sich, bedingt durch die extremen Bedingungen, eine größtenteils friedlich miteinander lebende multikulturelle Gesell schaft gebildet. »Less an Shanija!«, rief As'mala, die mit Darren und Mun bereits mehrere Stufen nach unten gestiegen war. »Kommst du?« Shanija schob die Gedanken beiseite und folgte ihnen hinunter auf
den Bahnsteig. »Wo ist unser Waggon?« Shanija fischte ihre Karte aus einer der Seitentaschen ihrer dunkelblauen Jacke. »Fünfundsieb zig«, las sie und suchte nach einer Nummer auf den Wagen zu ihrer Linken. »Weiter vorn«, erklärte Darren und deutete auf den Boden. In vio letter Leuchtfarbe prangten Ziffern auf dem Bahnsteig. Sie waren an Position Einhundertvier. Shanija schritt los. Ein Quietschlaut und ein Widerstand unter ih rem rechten Fuß ließ sie innehalten. »Pass doch auf, du Trampel!«, piepste etwas. Eine Art Ratte drohte ihr mit der linken Vorderpfote. Eine unsichtbare Kraft drückte Sha nijas herabgesenkten Fuß so lange nach oben, bis sie rückwärts strauchelte. »Wäre ich nicht in Eile, würde ich dich annagen!« Die Ratte rannte weiter. »Okay, weiter.« Shanija vergewisserte sich, dass sie freien Boden unter den Füßen hatte, bevor sie den Weg fortsetzte. Einige Minuten später erreichten sie ihren Waggon. Shanija wollte hinaufsteigen, da stieß ihr Kopf gegen etwas Hartes. Augenblicklich schlug sie mit den Fäusten zu, traf jedoch nur Luft. »Fahrkarte!«, kreischte eine hohe Stimme, während eine Hand sie an der Schulter zurückzog. Sie wirbelte herum und stoppte im letzten Moment den Handkan tenschlag. »Das ist kein Angriff«, sagte Darren gutmütig. »Aber das muss ich sagen, deine Reaktionszeit ist beachtlich.« »Gelernt ist gelernt«, brummte sie. »Entschuldige, aber ich kenne nur noch Kampf und Krieg.« Aus der Zugwand ragte ein mit schwarzem Fell bedeckter Kopf, der Ähnlichkeit mit einem Schaf besaß. »Na, wird's bald?«, schnauz te sie der Schafskopf ungeduldig an. »Fahrkarte!« Shanija zückte ihre Karte und hielt sie ihm vor die Augen. Der Schafskopf reagierte nicht. »Du musst sie ihm in den Mund stecken«, half ihr Darren aus.
»Oh, ach so, natürlich, wie konnte ich das nur vergessen …« Kopfschüttelnd streckte sie den Arm aus. Der Kopf schnellte vor und saugte die Karte geradezu ein, kaute dreimal und spuckte sie wieder aus. Das Ticket lag in einem Schleimbatzen zu Shanijas Füßen. Unter keinen Umständen würde sie diese Fahrkarte jemals wieder anfas sen. »Gültig, einsteigen!«, sagte das Schaf. »Der Nächste!« Der Vorraum des Waggons war nahezu quadratisch. An der ge genüberliegenden Seite befand sich eine Tür, deren oberes Drittel aus einem durchsichtigen Material gearbeitet war. Links gelangte man zum nächsten Wagen, und rechts trennte eine milchige Glas schiebetür das Abteil vom Gang. Sie wagte einen Blick hindurch. Links und rechts des Mittelgangs standen acht Bankreihen, die wie derum je acht Sitze beinhalteten. Drei waren belegt. Neben einem Humanoiden mit Nilpferdkopf saß eine Art Becher, der sich an eine Kiste schmiegte, aus der sich gelbe Tentakel stülpten. Links davon hatte sich eine Pflanze niedergelassen. Von einem dünnen, grünen Stiel aus fächerten sich mehrere Äste mit weißen Blüten daran auf. Rötlichbraune Stempel saßen in der Mitte jeder Blüte und pulsierten. Neben ihm – oder ihr – wedelte ein kleiner Kaktus mit den Ästen. Shanija schob den Öffnungsriegel nach links und betrat das Abteil. Ein widerlicher Aasgeruch schwappte ihr entgegen. Sie hustete, ihre Augen tränten. »Das ist gleich vorüber.« Darren klopfte ihr freundschaftlich auf den Rücken. »Was …«, sie hustete erneut, doch dann beruhigten sich ihre über reizten Sinnesorgane, »… was ist das?« »Der exquisite Geruch einer Brachystelma.« Shanija atmete ein paarmal tief ein. »Eine was?« »Das ist eine Aaspflanze.« »Wer schleppt dieses Mistding auf eine Zugreise mit?«
»Äh …« Darren schien verunsichert. »Die Pflanze ist der Reisen de.« »Ich … verstehe.« Darren deutete nach vorn. »Letzte Reihe.« Zwei Kakteen waren die Geruchserzeuger. »So schön und doch so stinkig«, kommentierte Shanija. »Übrigens finde ich interessant, wie du dir ein Abteil vorstellst.« »Wie bitte?« »Das hier«, er vollführte eine umfassende Armbewegung, »ent stammt deinem Bewusstsein. Der Zug setzt die Vorstellungen des je weiligen Wesens mit der stärksten Psikraft in die Realität um.« »Du meinst, er liest meine Gedanken?« »Ich weiß nicht, wie er es macht.« »Dann könnte die Umgebung jederzeit wechseln?« Er nickte. »Sofern ein stärkerer Psiträger als du den Raum betritt.« »Und wenn es mir nicht gefällt?« »Wechselst du das Abteil.« »Und wofür besitzen wir Zugtickets mit Abteilungsnummern?« »Also, ich setze mich jetzt«, entschied As'mala. Shanija verstand die Spitze. Sie ließ dem Adepten und der Diebin den Vortritt. Nachdem beide die Fensterplätze eingenommen hat ten, ließ sie sich sie auf die blaue Sitzfläche des Randsitzes nieder. Im Zurücklehnen warf sie einen Blick auf die Kakteen. Diese Welt war ziemlich verrückt. Aber wenigstens befanden sie sich im Zugabteil in Sicherheit. Hier konnte ihnen nichts pass… Wie von einer Hornisse gestochen schnellte Shanija aus dem Sitz. »Etwas hat mir ans Gesäß gefasst!« Die anderen waren nicht beeindruckt. Mun döste weiter mit offe nen Augen, As'mala verdrehte die Augen und Darren lächelte rück sichtsvoll.
»Das ist ein Lothos.« Shanija stemmte die Arme in die Hüfte. »Und?« Er räusperte sich und beugte sich nach vorn, um die Hand auf die Sitzfläche ihres Platzes zu legen. Winzige fingerartige Tentakel kro chen aus dem Material und schmiegten sich an die Kanten seiner Hand. »Sie massieren alles, was sie berühren.« »Ein Massagesitz?« Sie hob die linke Augenbraue. »Exakt. Sie dringen durch jedes Gewebe und kümmern sich direkt um deine Haut.« »Daran habe ich mit Sicherheit bei der Gestaltung des Abteils nicht gedacht!« Er lachte. »Das ist im Fahrkartenpreis inbegriffen.« »Ich geb's auf«, murmelte sie und setzte sich vorsichtig. Sofort spürte sie die tastenden Fühler auf ihrem Gesäß, auf den Oberschen keln und am Rücken. »Tut mir den Gefallen und warnt mich nächs tes Mal vor solchen Kleinigkeiten!«, bat sie. As'mala grinste breit. Mun hingegen … wirkte noch schweigsamer als sonst, geradezu düster. Seit Seiyas Entführung war er so, und Shanija konnte sich denken, worum seine Gedanken kreisten. Kaum zu glauben, wo er doch so sehr betonte, dass die Angehörigen der Gilde der Wissensträger rein objektiv waren, biologische Computer ohne jegliche soziale Bindung oder Emotion. Aber schließlich war er auch der erste menschliche Adept, und Menschen waren … eben an ders. »Wir werden sie finden«, sagte sie beruhigend zu ihm. »Zuerst müssen wir von hier weg, und unterwegs werden wir dann die Spur aufnehmen. Niemand verschwindet spurlos, Mun. Bis dahin sollten wir unsere Kräfte sammeln, wer weiß, wann es die nächste Erho lung gibt.« Er bedachte sie mit einem langen Blick aus seinen schwarzen Au gen. »Du sprichst wie ein Adept.« »Auch beim Militär sind Gefühle verboten, es zählt nur der kühle
Verstand«, entgegnete sie. »Ab einer gewissen Ebene finden sich im mer Übereinstimmungen, auch wenn deine Gilde und das Militär sonst keine Gemeinsamkeiten haben.« Langsam nickte er. Anerkennend. Shanija lehnte sich zurück und entspannte sich. Nach all der Auf regung und körperlichen Anstrengung war eine Massage keine schlechte Idee. Sie rutschte im Sitz umher und fand die optimale Po sition, während sie die kleinen Tentakel unablässig kneteten. Ein wohliges Gefühl überflutete ihren Körper. Die Geräusche der ande ren Fahrgäste wurden leiser und verhallten irgendwann völlig. Alle Last fiel von ihr ab. Es gab nur ihren Körper und die einfühlsamen Finger, die sie massierten. Sie tauchte ein in einen Kosmos der Ent spannung und des Friedens – der in einer Explosion eines Schreis zerbarst. »Shanija!« Sofort war sie hellwach und nahm mit allen Sinnen blitzartig die Umgebung in sich auf. Die Kakteen, der Becher samt Kiste und der Nilpferdköpfige stürmten an ihr vorbei. Ihr gegenüber am anderen Ende des Abteils standen vier Männer und vier Frauen mit gezückten Messern und Schwertern. Sie trugen lederartige, feste Kleidung. Bitte, nicht schon wieder, dachte Shanija. Reicht es nicht, dass Seiya meinetwegen entführt wurde und wir nicht wissen, wo sie ist? »Lasst uns reden!«, versuchte sie es mit Vernunft. Diese Menschen waren fehl geleitet, keine wirklichen Feinde. »Karem Dur!«, brüllten die Menschen simultan als Antwort. »Das sind Warner!«, rief Mun. Also gut. Shanija trat in die Gangmitte und machte sich kampfbe reit. In einer solchen Situation steigerte sich ihre Auffassungsgabe und ermöglichte ihr, in kürzester Zeit mehr Informationen als ein durchschnittlicher Kämpfer aufzunehmen. Und sie könnte bereits jetzt, nicht einmal eine halbe Minute, nachdem sie aufgeschreckt
worden war, zwei von ihnen getötet haben. Während sich zwei Gegner über den Gang näherten, stiegen die restlichen sechs über die Bänke. Die Geschmeidigkeit, mit der sie ihre Füße auf den Boden setzten, zeugte von Körperbeherrschung. Allesamt wirkten sie wie Raubtiere. Diese Leute waren kampferprobt und verstanden ihr Handwerk. Ihre zweischneidigen Kampfmesser hielten sie, als wären sie eine Verlängerung ihrer Arme. Trotzdem wunderte sich Shanija über die Wahl der Waffen. Damit drückten die Attentäter zwar ihr hohes Vertrauen in ihre Fähigkeiten als Kämpfer aus, verschenkten aber das Überraschungsmoment. Shanija dankte ihnen für diese Überheblichkeit. Sie hörte, wie As'mala ihr Schwert zog. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Mun einen kleinen Stab aus seinem Lederbeutel fischte, der sich nach dem Aufklappen versteifte. Anfangs eignete sich diese Waffe sicher, um Gegner in der Distanz auszuschalten, für den Nah kampf jedoch war sie zu groß und unhandlich. Mun schien diese Überlegung selbst anzustellen, da er die Länge des Stocks wieder re duzierte. Darren zückte zwei seiner Kampfmesser. Shanija selbst wartete mit hängenden Armen auf die Angreiferin, die direkt auf sie zuhielt, und überschlug ihre Verteidigungs- und Angriffsmöglich keiten. Obwohl sie ihre erste unmittelbare Gegnerin an sich heran kommen ließ, würde letztendlich sie die Kampfdistanz diktieren. Ein langer Nahkampf kam für sie nicht in Frage. In dieser Distanz spiel te jeder Messerstecher die Überlegenheit seiner Waffe aus. Ein letztes Mal überprüfte sie die Messerhaltung der Angreiferin. Sie wollte einen Stichangriff zwischen zwei von Shanijas Rippen durchführen. Im Idealfall erwischte sie ihr Herz, im schlechtesten Fall ihre Bauchaorta oder ihre Lunge. In jedem Fall wäre der Angriff tödlich – wenn die Kommandantin es zulassen würde. Shanija ging in die Offensive und sprang die Frau an. Mit dem Ell bogen blockte sie deren Messerhand, während ihr eigenes Kampf messer wie von selbst mit dem Griff voran aus dem umgeschnallten
Unterarmetui in ihre rechte Hand glitt. Zweimal hintereinander stach sie der Angreiferin in den Hals. Schnell ging sie auf Distanz, während eine Blutfontäne aus der Halsschlagader der Angreiferin spritzte. Sterbend stürzte sie zu Boden. In spätestens zwölf Sekun den würde sie ihrem Schöpfer gegenübertreten. Der Kampf selbst hatte nur einen Bruchteil davon in Anspruch genommen. Shanijas Angriff war das endgültige Zeichen zum Kampf. Der hin ter der Toten herankommende Mann zückte eine Art Samu raischwert. Kurzerhand trieb Shanija ihr Messer in die Sessellehne und sprang seitwärts aus dem Bereich der abwärts sausenden Klin ge. Während sich das Schwert in den Fußboden bohrte, landete sie auf der Bankreihe daneben. Bevor der Angreifer die Waffe wieder in die Höhe brachte, segelte die Kommandantin mit ausgestrecktem Fuß auf ihn zu. Er warf sich schnell nach links, und sie prallte gegen den Fensterrahmen. Gleich zeitig nahm sie den nächsten Hieb des Warners vorweg. Er hatte sich mit der rechten Schulter an der Wand abgefangen und nutzte den Schwung, um das Schwert in Hüfthöhe einzusetzen – genau auf Shanijas Rücken zielend. Sie verhinderte den Fall, in dem sie sich an die Verstrebungen der Gepäckablage klammerte und stützte sich mit den Füßen an der Wand ab. Das Schwert sauste unter ihr vorbei und schlug ins Fenster. Mit ei nem knallenden Geräusch splitterte die Scheibe. In den Scherbenre gen hinein rotierte Shanija um ihre Achse und traf den Mann mit dem rechten Fuß am Unterkiefer. Dadurch erhielt sein Gehirn einen Schubs und schlug gegen die Schädelknochen, da sich der Kopf für den Augenblick schneller drehte als seine flüssigkeitsgelagerte Hirnmasse. Das setzte ihn mit einer Gehirnerschütterung außer Gefecht und ließ ihn bewusstlos zu Boden sacken. Shanija kam auf die Füße; bevor sie sich nach ihren Gefährten um sehen konnte, rammte ihr einer der Angreifer die Schulter in den Magen und griff an ihre Kniekehlen. Reflexartig schlug sie ihm bei
de Ellbogen in den Nierenbereich. Sie stürzten beide durch den Schwung des Aufpralls. Das Knirschen der Glasscherben unter Sha nija hörte sich bedrohlich an. Sie hoffte, dass ihre Lederjacke die Splitter davon abhielt, sie zu verletzen. Blitzschnell setzte sich der Gegner auf und boxte in Richtung ihres Kinns. Sie war schneller und schlug ihm in die Genitalien, fixierte seinen linken Arm, schob die Hüfte nach oben und wuchtete den Angreifer über die linke Schul ter in die Rückenlage. Ein Fausthieb gegen seinen Adamsapfel been dete mit einem hässlichen Knacken sein Leben. Shanija stieß den Toten von sich und er rutschte unter die Bank. Sie sprang auf und orientierte sich. Links von ihr kämpfte As'mala mit ihrem Schwert gegen eine Sek tiererin und drängte sie ans andere Ende des Abteils. Eine weitere hatte sie bereits erledigt. Mit der dieser würde sie ebenfalls fertig, er kannte Shanija. In As'malas Rücken schwang Mun seinen Stab und hielt zwei An greifer auf Distanz. Für Darren hingegen sah die Lage alles andere als rosig aus. Der Warner – einen Kopf größer als Darren – hatte ihn zwischen eine der Bankreihen des Abteils und damit in die Defensive getrieben. Dar ren reagierte, statt zu agieren. Das war der Anfang vom Ende jedes Kampfes. Zwei Sekunden später war Shanija bei ihm. Der Mann ahnte ihren Angriff und schwang Hüfte und Waffenarm in ihre Richtung. Sie grätschte in die Hocke und trat ihm dabei mit voller Wucht gegen die Kniescheibe. Ein Fußfeger folgte, der Mann schrie vor Überra schung auf. Als er gegen die Sitzbank prallte, zog sie das Kampf messer aus der Seitenlehne und rammte es ihm gegen die Nase. Der Knochen drang in sein Hirn und tötete ihn binnen einer Sekunde. »Danke«, keuchte Darren. Sie lächelte ihm zu und sah, wie sich seine Augen weiteten. Darren warf sich auf sie und etwas explodierte oberhalb ihrer Ohren, wäh rend sie zusammen zu Boden fielen.
Shanija richtete sich auf und starrte in den schwarzen, rauchenden Lauf eines Revolvers. Eine hervorragende Fernwaffe auf einer Welt ohne Elektronik. Darren schnalzte mit der Zunge und lenkte für den Bruchteil einer Sekunde die Aufmerksamkeit des Warners auf sich. Shanija ergriff diese Chance. Ihre Hände schnellten vorwärts, krachten mit den Knöcheln voran mit voller Wucht gegen seine Handgelenke und zertrümmerten sie. Unfähig, noch die Waffe zu halten, geschweige denn abzudrücken, öffneten sich die Finger des Mannes, und der Revolver polterte zu Boden. Zum Aufatmen kam Shanija nicht. Sie hörte, wie die Tür des Ab teils hinter ihr aufgerissen wurde, und wirbelte herum. Die Frau, die nun das Abteil betrat, hatte jenen verklärten, religiös-fanatischen Ausdruck im Gesicht, der Shanija seit ihrer Kindheit abschreckte. In ihrer rechten Handfläche lag eine Kugel, eine Kristallspindel in der Linken. Mit den Worten »Karem Dur« und »Für Vater« presste sie die Spindel an die Kugel. Als es zischte, dachte Shanija augenblicklich an eine Bombe. Die Kommandantin trat der Warnerin mit dem rechten Fuß die Kugel aus den Fingern. Gleichzeitig warf sich Darren auf die Fanati kerin und schlug sie zu Boden. Shanija folgte mit den Augen der Flugbahn der Kugel, sprang auf die Rücksitzlehne und kickte die Kugel nach links Richtung Fenster, in der Hoffnung, dass die Bombe erst im Freien explodierte. Ihre Hoffnung starb in Blitz und Donner. Die Explosionswucht riss Shanija von den Beinen und schleuderte sie durch den Waggon. Sie prallte gegen die Seitenwand. Statt ihren Flug zu stoppen, löste diese sich jedoch auf, und Shanija stürzte aus dem Zug. *
Darren hechtete hinter eine Bank in Deckung, kauerte sich zusam men und presste die Hände an die Ohren. So hörte er den Donner nur gedämpft, aber die Druckwelle erfasste ihn erbarmungslos. Sie schob ihn einige Meter nach hinten unter die nächste Bankreihe. Als sie verklungen war, sprang er auf und sah sich einer Feuerwand ge genüber. Hitze wallte ihm entgegen, Feuerzungen griffen nach ihm. »Shanija! Shanija!«, rief er. »Sie wurde aus dem Abteil geschleudert!«, antwortete As'mala hinter ihm. Darren drehte sich um und sah, wie Mun sich erhob. Die Diebin lehnte an einer der Bankreihen und schob ihr Schwert gerade in die Scheide zurück. Sämtliche Angreifer lagen tot am Boden oder über die Rücklehnen der Bankreihen verteilt. Darren wich vor dem Flammenmeer zurück und stürzte zum erst besten Fenster. Er lehnte sich hinaus und glaubte weit hinten eine menschliche Gestalt zu erkennen, an der soeben das Zugende vor beiraste. Rund um sie türmte sich violetter Nebel auf. »Bei den Wasserfällen Asturiens«, stieß er hervor. »Wir sind schon in der Todeswüste!« Er schluckte. Niemand hatte je die Todeswüste überlebt. Niemand. * Shanija rollte über den Sand. Als ihr Körper am Bodengrund endlich zum Stillstand kam, schüttelte sie hastig Benommenheit und Schmerzen ab. Sie schnellte hoch und stockte. Violetter Nebel kessel te sie ein. Unablässig gebar er Fratzen, deren Zungen sich nach ihr reckten. Sie ließ sich davon nicht beeindrucken und marschierte hin durch – nur um nach einem halben Meter gegen ein unsichtbares Kraftfeld zu stoßen, das sich gegen sie stemmte, je mehr Druck sie ausübte. Shanija lauschte in sich hinein und spürte ein leichtes Krib
beln – möglicherweise ein Anzeichen, dass sich die Sonnenkraft ak tivierte. Es war anders, wenn Pong erwachte, dies hier … kam aus ihrem Inneren. Verwundert blickte Shanija auf ihre Fingerspitzen, auf denen kleine orangefarbene Feuerflammen züngelten. Kurz ent schlossen griff sie in die Nebelwand und zuckte zusammen. Ein grauenvoller Laut, vergleichbar mit einem über eine Tafel kratzen den Fingernagel, überlagerte alle Geräusche. Die Fratzen zerrannen, und im Nebel bildete sich eine Gasse. Shanija sprintete los. Sie sprang über einen im Weg stehenden Strauch, raste die Kuppe zu den Gleisen hinauf, erblickte den aus der Kurve fahrenden Zug, griff nach dem Gitter, das die Plattform des letzten Waggons abschloss – und verfehlte es. Obwohl sie alles aus ihren Beinen herausholte, wurde die Lücke zwischen ihr und dem Zug größer, als er am Ende der Kurve beschleunigte. Keuchend blieb sie stehen, während der Zug bald vom Nebel ver schluckt wurde. Shanija fluchte. Und keuchte. Und fluchte. * Darren wandte sich der Feuerwand zu. Was auch immer die Warner zusätzlich in den Sprengstoff gemischt hatten, war unkontrollierba res Teufelszeug. Die Flammen fraßen sich rasend schnell durch das Innere des Waggons und hatten bereits zwei Drittel des Raums er obert. »Verschwinden wir von hier!«, rief ihm As'mala zu. Darren flüchtete mit ihr und Mun in den nächsten Wagen. Dort er wartete sie eine orangefarbene Eisgrotte. Die Insassen, röhrenförmi ge Gat'kyner, schreckten hoch, als sie hineinstürmten. »Raus!«, herrschte die Diebin die sieben Wesen an. Sie sprangen auf und rutschten wortlos hinaus. Aufgrund ihrer durchsichtigen Haut und ihres blauen Blutes sah ihre Flucht wie mehrere Wasser ströme auf Eis aus.
»Denkt an eine Wiese!«, verlangte Darren, nachdem sie allein wa ren. Prompt zerrann und verpuffte das Eis, und es wurde wärmer. »Wie stoppen wir den Zug?«, fragte Darren. Das Rattern der Räder unterspülte das ratlose Schweigen. »Mit deiner Telekinese hättest du Shanija vorhin mit Leichtigkeit zurückholen können!«, machte As'mala ihm zum Vorwurf. »Ich konnte es nicht«, versetzte er gereizt. »Ist dir nicht aufgefal len, dass ich die Telekinese auch nicht im Kampf eingesetzt habe? In der Todeswüste halbiert sich die Stärke der Psimagie. Im Eifer des Gefechts fiel es mir nicht auf, dass wir sie bereits erreicht haben.« »Verdammt«, stieß As'mala hervor. »Wie retten wir jetzt Shanija? Seiya ist irgendwo vor uns, Shanija hinter uns, und wir bewegen uns tatenlos durch die Gegend!« »Wir … könnten …« Mun redete langsamer als üblich. Er schien sich nicht ganz sicher zu sein. »Na, was? Sprich weiter!«, fuhr ihn As'mala ungeduldig an. »Wir könnten es mit einem Mentalverbund versuchen.« Darren runzelte die Stirn. Obwohl er viele Regionen von Less be reist hatte, hörte er diesen Begriff zum ersten Mal. »Was ist das?« »Alte Quellen berichten, dass eine Bündelung der Psimagie von mehreren Personen zu einer Potenzierung der Fähigkeiten des Ein zelnen führt.« Nach einer Kunstpause fügte er hinzu: »Angeblich.« »Wir können nur das zurückgewinnen, was wir bereits verloren haben«, meinte Darren. »Wie funktioniert dieser Mentalverbund?« Mun fuhr sich über den kahlgeschorenen Schädel. »Ich vermute, wir müssen Körperkontakt herstellen und versuchen, unsere Psima gie auf dich zu übertragen.« »Und ich konzentriere mich auf Shanija?« Mun nickte und forderte As'mala mit einem Wink auf, zu Darren zu treten. »Am besten stellst du dich in die Richtung, wo wir sie ver loren haben. Sobald du sie sehen kannst, wird es leichter gehen.«
Die Gefährten legten die Hände auf Darrens Schultern. Er schloss die Augen, atmete tief ein und ließ die Luft langsam heraus. Bald spürte er Energiefelder unter den Handflächen auf seinen Schultern, die sich rasch verdichteten. Er richtete den Blick nach innen. Ihm war, als würde sein Körper in reine Energie zerfließen. Er breitete die Sinne aus und spürte Muns und As'malas Psimagie. Je ein heller, fast durchsichtiger Strahl floss durch ihre Arme in ihn. Es klappte. Vitalität in niemals zuvor wahrgenommenem Ausmaß schwappte über ihm zusammen. Das Bild eines tosenden, alles zer malmenden Wasserfalls drängte sich in sein Bewusstsein und damit die Angst, diesen Energieschwall nicht zu bändigen. Er stellte sich der Furcht, wischte sie beiseite und wandte seine neue Macht an. Darrens Geist dehnte sich aus. Für einige Herzschläge tauchte er in Mun und As'mala ein. Während er bei dem Adepten grenzenlose Wissbegierde gepaart mit Einsamkeit entdeckte, war die Frau mit unbändiger Lebensfreude erfüllt. Er kapselte sich wieder ab. Als sei ne Geistesströme die Wände des Waggons durchbrachen, trat er für Augenblicke mit dem Zug in Kontakt. Bevor es zu einem Gedanken austausch kam, schwebte Darren bereits über der Todeswüste. Der rote Sand blubberte bedrohlich. Die Blasen, die sich bildeten, zer platzten lautstark und spritzten schleimigen Matsch in die Luft. In stinktiv wich er aus, obwohl es ihn nicht erreichen konnte. Oder … doch? Die Todeswüste war reine Psimagie, so wie er in diesem Mo ment. Die vom Boden aufsteigenden, violetten Nebelschwaden wis perten ihm zu und lockten ihn zu sich. Fast war er geneigt, dem nachzugeben, um die unglaubliche Erfahrung einer so fremden Psi magie zu machen. Das Geheimnis der Todeswüste zu lösen. Denk an Shanija! Muns Befehl befreite ihn aus dem Einfluss der Einflüsterungen. Darrens mentale Impulse weiteten sich aus und folgten den Gleisen. Ohne Erfolg stocherten seine Mentalfinger im glucksenden Violett. Ungeduldig eilte er weiter und sauste dabei an einem weiß-orange
farbenen Energiefeld vorbei. Sofort bremste er, kehrte zurück und jubilierte. Shanija stand zwischen den Schienen, er erkannte ihr Muster genau. Neben ihrer Verzweiflung spürte er ihren starken Willen, auch diese ausweglos scheinende Situation zu meistern. Darren schlang seine geistigen Arme um ihren stofflichen Körper. Als seine Energie die ihre berührte, erfüllte ihn ein Kribbeln. Deut lich spürte er die geballte Sonnenkraft, die unruhig in ihr schlum merte. Er hoffte, dass sie nicht plötzlich erwachte und sich gegen ihn richtete. Shanija spürte ihn, misstrauisch tastete sie ihn ab. Dann erkannte sie ihn, denn er merkte, wie sie sich entspannte. Er sandte ihr beruhigende Impulse, hob sie behutsam an und schwebte mit ihr hinter dem Zug her. Für den Anfang wählte er eine langsame Geschwindigkeit, damit sie sich an den Flug gewöhnte. Sie war überrascht, aber nachdem sie keine Angst zeigte, wurde er schneller. Rasch gelangte der letzte Waggon wieder in Sichtweite. Shanija legte sich in die Waagrechte und streckte beide Arme nach vorn. Nur noch wenige Zentimeter trennten sie von der Querstrebe des Sicherheitsgitters. »Gleich haben wir es geschafft«, murmelte Darren im Zug und lä chelte zufrieden. Das Splittern der Glasschiebetür zerschmetterte seine Konzentrati on. Drei Sektierer stürmten mit gezückten Schwertern und dem obli gatorischen »Karem Dur!«-Ruf in den Raum. Muns und As'malas Hände lösten sich von seiner Schulter. Verzweifelt suchte Darren nach Shanija und fand sie nicht mehr. * Als Shanija von unsichtbaren Kräften hochgehoben wurde, glaubte sie zuerst nicht, dass Darrens Vorhaben tatsächlich gelingen sollte. Doch bald kündigte das Rattern der Räder die Nähe des Zuges an,
obwohl sie ihn durch den Nebel nicht sehen konnte. Einige Herz schläge später schälte sich der hinterste Waggon aus dem violetten Schleier. Shanija streckte die Hände nach dem Gitter aus, ihre Finger berührten bereits das kalte Eisen, als sich die Kraft verflüchtigte, die sie hierher getragen hatte. Augenblicklich wollte die Schwerkraft sie nach unten ziehen. »Nein!«, brüllte sie, riss die Arme noch weiter vor und klammerte sich im letzten Moment an eine senkrechte Verstrebung im Gitter. Ihre Füße prallten auf den Boden. Sofort stieß sie sich ab, winkelte ihre Beine bis zur Brust an, wartete, bis sie wieder nach unten kippte und hakte dann ihre ausgestreckten Beine in die Kupplung. Erleichtert schnaufte sie kurz durch. Sie befand sich wieder im Spiel! Flink kletterte sie über das Gitter und zerrte die Tür auf. Shanija trat in den Gang und blickte durch die Glasschiebetür. Knapp dreißig volle bis überfüllte Abteile befanden sich zwischen ihr und den Freunden. Sie biss sich auf die Unterlippe und ging zurück ins Freie. Auf der Plattform am Ende des Waggons griff sie nach der Stange, die das Vordach stützte, wuchtete sich auf die oberste Gittersprosse und hievte sich hoch. Sie hangelte sich aufs Dach und blieb kurz liegen, um sich an den Fahrtwind und die unruhigen Bewegungen zu ge wöhnen. Langsam richtete sie sich auf und stemmte sich gegen den Wind. Sie konnte sich an die Geschwindigkeit anpassen; es war nicht das erste Mal. Dann lief sie los. Der Spalt zwischen den Waggons betrug eineinhalb Meter. Auch das hatte sie schon überstanden. Shanija maß die Distanz, prüfte alle weiteren Bedingungen, ging drei Schritte rückwärts und nahm An lauf. Für einen kurzen Moment schwebte sie wieder zwischen Him mel und Erdboden, doch Zeit für Furcht gab es keine, dann war sie schon drüben und musste mit dem Gleichgewicht kämpfen. Und weiter ging es, Wagen um Wagen, viel schneller, als wenn sie sich durch die Abteile mit den unterschiedlichsten Umweltbedingungen
gewagt hätte. Sie dachte nicht darüber nach, wie Darren es gelungen sein sollte, den Kraftaufwand für eine solche Rettung aufzubringen. Er würde es ihr später erklären. Aber dass er der Retter gewesen war, daran hegte sie keinen Zweifel. Sie hatte ihn gespürt. So … wie letzte Nacht, als er unter anderem … Der größte Anfängerfehler von allen – sie hatte sich ablenken las sen, und das rächte sich sofort. Beim nächsten Sprung … … fiel sie. Der Zug gab unter ihr nach, öffnete sie und verschluckte sie. In ei ner schwarzen Brühe kam Shanija auf. Der Geruch von verfaulen dem Fleisch stieg ihr in die Nase. Sie unterdrückte den sofortigen Brechreiz und blickte sich um. Ihre Beine steckten in einer Art Bot tich, aus dem mehrere Schläuche führten. Das Innere des Abteils be stand aus einer Unzahl Kokons, die entweder von der Decke hingen oder in einer Art Gestell lagen. In manchen stülpten sich einzelne Stellen des Kokons immer wieder nach außen, so als wolle etwas daraus entkommen. Stetiges Ächzen und Stöhnen erfüllte den Raum und verstärkte den perfiden, düsteren Eindruck. Sofern der Zug wirklich den Umgebungswunsch des Wesens mit der stärksten Psimagie umsetzte, verspürte Shanija kein Bedürfnis, dieses kennenzulernen. Für sie war das Ambiente einfach nur absto ßend. Sie stemmte sich gegen die zähe Flüssigkeit und watete zum Rand des Bottichs. Als sie den rechten Fuß über den Rand hievte, floss et was Graues von oben herab. Rasch zog sie den anderen Fuß nach, während vor ihr eine dickflüssige, Blasen werfende Brühe zu Boden strömte. Shanija wich einen Schritt nach hinten. Die dunkle Flüssig keit füllte bald den Bereich zwischen Fußboden und Decke aus. Sie wallte und floss ineinander. Zu Shanijas Überraschung bildete sich eine entfernt humanoide Kontur. Die Blasen verflüchtigten sich und aus der Substanz formten sich ein Rumpf und Arme. Der Unterkör per blieb unmodelliert, während sich der Oberkörper einschnürte.
Offenbar sollte dort eine Art Gesicht entstehen. Es blubberte, und dann ragten drei Augen auf Stielen aus dem Material. Sie pendelten in alle Richtungen, während sich darüber ein zehn Zentimeter brei ter Riss bildete. »Deine Kraft ist stark.« Die helle, fast kindliche Stimme des We sens irritierte Shanija, da sie nicht zu dem Äußeren passte. »Fast so stark wie Linpha.« »Danke.« Sie nickte ironisch. »Freut mich, dich kennengelernt zu haben. Ich muss weiter. Meine Freunde vermissen mich sicher be reits.« Mehrere Tentakel schossen auf sie zu. Blitzschnell wich Shanija der Bedrohung aus. Sie sprang über die Wanne, stieß sich am nächstbesten Gestell ab und landete im Rücken des merkwürdigen Wesens. Das graue Etwas stülpte sich einfach um. »Mit deiner Kraft kann der Zug lange fahren!« »Wie bitte?«, fragte sie und wich erneut den Tentakeln aus. Dies mal rückwärts. Gleichzeitig erinnerte sie sich an Darrens Kommentar über den Zug: »Es gibt die absonderlichsten Gerüchte über verschwundenes Gepäck, wunderliche Erscheinungen; manche behaupten sogar, dieser Zug würde sich von seinen Insassen ernähren.« Sie wusste nun, dass es der Wahrheit entsprach. Das half ihr im Moment wenig bis gar nichts. Das Bild des Müllhaufens vor Castata, der sie sich einverleiben wollte, drängte sich in ihr Bewusstsein. »Der Zug fährt auch ohne mich!«, rief sie und hastete zur Holztür. Sie kam nicht weit. Ein Netz mit pulsierenden grauen Fäden spannte sich übergangslos vor ihr. Die Enden kamen auf sie zu und wollten sie einschließen. »Nahrung!«, wisperte es von allen Selten. »Gute, starke Nahrung!« Sie zückte Tyr. Auf ihren Wunsch hin vergrößerte sich die magi sche Waffe zu einem Schwert. Der erste Hieb verfing sich in den Fä
den, die Tyr begierig umschlossen. Sie rissen Shanija das Schwert aus der Hand, kapselten es ein und brachten es über die Decke zu einem der Gestelle. Damit war die Bahn für Shanija frei – für zwei Schritte. Erneut ver sperrten ihr spinnwebenartige Fäden den Fluchtweg. Abwehrend streckte Shanija die Arme aus, während sie verzwei felt nach einem Ausweg suchte. Als sie wieder dasselbe orangefar bene Leuchten sah, das genau wie im Nebel an ihren Fingerspitzen züngelte, wusste sie, was sie zu tun hatte. Ihren Ekel überwindend griff sie in das Netz. Die Fäden lösten sich mit einem Kreischen auf. Shanija huschte durch das Loch, rannte zum Ausgang und warf sich durch die Tür. Sie schwang sich wieder aufs Dach und gab Fersengeld. Wenn sie schnell genug war, konnte der Zug sie vielleicht nicht wieder einfan gen. Vier Waggons weiter brannte es. Die Flammen, die der Fahrtwind anfachte, schlugen so hoch aus dem Abteil, dass sie an der Kante die Hitze spüren konnte. Hier ging es nicht mehr weiter. Das von der Wucht der Explosion eingestürzte Dach machte ein Vorbeikommen so gut wie unmöglich. Es gab auf beiden Seiten nur noch eine schmale Kante. Shanija sah nach unten, ob sie seitlich an der Außenwand vorbei käme. Doch es gab nichts, um sich einzuhalten. Also doch auf die harte Tour. Sie hoffte, dass ihr Gleichgewichtssinn sie nicht im Stich ließ. Sie verschloss die Kleidung gut, stülpte die Kapuze über und ba lancierte dann über den schmalen Steg, an den heraufzüngelnden Flammen vorbei. Ein paarmal knackte und knirschte es verdächtig unter ihren Füßen, aber sie gelangte ein wenig wacklig und schweißgebadet, aber wohlbehalten ans Ende des Waggons. Ab hier musste sie Ausschau nach den Gefährten halten. Shanija schwang sich ins Innere des nächsten Abteils und stolperte über ein seltsames, etwa ein Meter kleines Wesen, das sich sofort
aufplusterte. »Belästige mich nicht!«, piepste es und drohte ihr mit der Faust. Gleichzeitig klopfte es mit seinem breiten Schweif auf den Boden. »Schon gut, war keine Absicht«, versuchte Shanija das aufgebrach te Wesen zu beruhigen. Obwohl sie es vermied, an ein Tier zu den ken, drängte sich aufgrund des Äußeren der Vergleich zu einem haarlosen Rattenbiber auf. »Sind hier zufällig ein Blonder, ein Kahl köpfiger und eine blonde Frau durchgekommen?« »Nur drei bewaffnete Männer.« »Dann verzeih die Störung.« Sie bewegte sich vorsichtig durch die Abteile und stieg in den nächsten Waggon. Durch die Scheibe erspähte sie ihre Gefährten in einer Blumenwiese. In einer Ecke lagen drei säuberlich aufgeschich tete Männer; wahrscheinlich die, die der Rattenbiber gemeint hatte. »Shanija!« As'malas Aufschrei begrüßte sie, als sie ins Abteil trat. Das sich von einer Wiese augenblicklich in ein altertümliches Zug abteil verwandelte. Die Abenteurerin lief zu ihr und umarmte sie la chend und zutiefst erleichtert. Mun blieb wie immer im Hintergrund, aber er nickte ihr mit der Andeutung eines Lächelns zu. Darren schob As'mala beiseite. »Lass mir auch noch was übrig!« Er schloss Shanija in die Arme und küsste sie. Sie ließ es sich gern ge fallen. »Ich war außer mir, als ich dich plötzlich verlor, aber wir wurden wieder angegriffen. Allerdings kannst du gut auf dich selbst aufpassen.« Sie schmunzelte. »Ohne deine Hilfe hätte ich es allerdings nicht geschafft, wenngleich es unerwartet ein wenig holprig wurde. Wie hast du das vollbracht?« »Auf Muns Vorschlag haben wir uns zu einem Mentalverbund zu sammengeschlossen und meine Kräfte potenziert.« »Das war mein Glück.« Sie löste sich von Darren und ließ sich auf eine Bank fallen; allmählich machten sich die Strapazen bemerkbar.
»Wollt ihr wieder die Wiese?« Da strömte aus der Seitenwand eine graue Flüssigkeit, und sie fuhr auf. »Vorsicht, das ist der Zug!«, warnte sie. »Die Gerüchte stimmen, er verschleppt Reisende, bewahrt sie in Kokons auf und saugt ihnen die Energie ab!« Die Flüssigkeit verdichtete sich zu einem Trapez. Wie in dem an deren Waggon formten sich drei Stielaugen und darüber eine Art Mund. »Ich benötige eure Hilfe«, erklärte die kindliche Stimme. »Vergiss es!« Shanija streckte ihm abwehrend die Arme entgegen. »Uns kriegst du nicht als Antrieb!« Das Wesen verharrte und deutete mit einem seiner Tentakel in Richtung des brennenden Waggons. »Das Feuer … es schmerzt mich«, erklärte es. »Es schmerzt und schwächt mich.« »Du hast es nicht besser verdient«, antwortete Shanija und dachte dabei an all die unschuldigen Reisenden. »Es ist böse und wird uns alle verzehren. Es enthält Linpha.« »Darum diese Explosionswucht und Aggressivität des Feuers!«, rief Darren und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Shanija blickte ihn fragend an. »Bald wird es sich bis zur Lokomotive durchfressen«, erklärte der Zug, bevor Darren antworten konnte. Darren fuhr fort: »Linpha ist eine Mischung aus Quarz und Psima terie. Wenige Auserwählte verfügen über die Gabe, mit Hilfe ihrer Psimagie kristalline Materie auf eine höhere Ebene zu transportie ren. Dieser so veränderte Quarz schwingt sozusagen oberhalb jegli cher Materie. Die Wissenschaftler in Vhial bezeichnen es als psima gisches-pseudomaterielles Konzentrat.« »Gibt es auch eine Erklärung für technische Laien?«, fragte Shani ja. Diesmal übernahm Mun die Antwort: »Vereinfacht gesagt, mani festiert sich Psimagie und wird in einen Quarz eingeschleust. Und
der Psimagier entscheidet über die Fähigkeiten dieser Manifestati on.« »Und was bedeutet das für uns?« Darren lugte durch die Glastür, die zum brennenden Waggon führte. »Sieht so aus, als sei es der Wille des Psimagiers gewesen, dass das Linpha den kompletten Zug verbrennen soll. Um ganz si cher zu gehen, dass du auch wirklich beseitigt bist – und wir gleich mit. Abgesehen von allen anderen Passagieren.« »Wie verhindern wir das?«, fragte Shanija. »Koppelt den Waggon ab!«, forderte das graue Wesen. »Womit wird der Zug angetrieben, wenn wir hier abkoppeln? Im merhin befindet sich dein Depot dahinter.« »Es existieren mehrere …« »Erspare uns die Details.« Shanija schüttelte sich. »Wir koppeln den Zug ab!«, entschied sie. Als sie die Tür öffneten, schlug ihnen die Hitze des Feuers entge gen. Eine Flammenzunge löste sich und sprang auf das Vordach. »Das wirkt in der Tat lebendig«, kommentierte As'mala. »Pseudolebendig, aber um nichts weniger gefährlich.« »Wie lösen wir die Anhängevorrichtung?«, fragte Shanija. Das Rütteln des Zuges drang durch die Fußsohlen und pflanzte sich im Körper fort. »Darren, kannst du …?« »Telekinetisch? Nein«, bedauerte der Abenteurer. »Ich habe es schon versucht, die Kupplung widersetzt sich mir.« »Dann ist das wohl meine Aufgabe«, sagte As'mala und ging in die Hocke. Ihr Gesicht nahm einen kritischen und konzentrierten Ausdruck an. »Darren, kannst du mir mehr darüber erzählen?«, fragte As'mala nach einigen Minuten. »Leider nicht.« Er wandte sich an den Adepten. »Mun?« Mit unbewegter Miene leierte der Kahlköpfige herunter: »Die
Nanney-Kupplung gehört zur Kategorie der automatischen Kupp lungen, die seit dreihundertneunundvierzig Jahren flächendeckend auf Less verwendet wird, weil sie zur belastbarsten zählt und auch den Einsatz von kilometerlangen Zügen ermöglicht. Die Kupplung besteht aus Schnitthebel und -stift und lässt sich öffnen, sobald bei de angehoben werden. Der Schnitthebel ist auf beiden Seiten durch die Kupplung begrenzt. In der Mitte selbst liegt der Sicherungsstift. In der gesenkten Position verriegeln sie sich.« »Das reicht, das reicht«, stoppte ihn As'mala und schloss die Au gen, während sie die Kupplung mit den Händen abtastete. Ein paar Minuten geschah nichts. Nur der Fahrtwind und das Rattern der Rä der erzeugten eine Geräuschkulisse – bis plötzlich ein Fauchen da zwischenfuhr. Aus den Flammen bildete sich Protuberanzen und schossen auf As'mala zu. Darren streckte ihnen den rechten Arm entgegen und stoppte den Angriff gerade noch eine Handbreit vor As'malas Kopf. Die Diebin stieß den angehaltenen Atem aus. »Wenigstens das Linpha kannst du aufhalten.« Weitere Flammenzungen bildeten sich. Einige davon schlugen im Vordach und den Seitenwänden ein. Die anderen trommelten uner müdlich gegen Darrens Abwehrfeld. Als der Schweiß anfing, von seiner Stirn zu perlen, trat Mun zu ihm und berührte ihn an der Schulter. Darrens Gesichtszüge entspannten sich daraufhin. »Ihr habt es gleich«, sagte die kindliche Stimme des Zugs. Tatsäch lich löste sich jetzt die Kupplung mit einem Gemisch aus Fauchen und Klicken. As'mala erhob sich und wich hinter Darren zurück. Das Feuer blähte sich auf. Rasch legte As'mala ebenfalls die Hände auf Darrens Schulter. Kei ne Sekunde zu früh. Eine Feuerlanze fuhr aus der Feuerwand und raste einem Geschoss gleich auf sie zu. Trotz des verstärkten Men talverbundes war die Erschütterung so stark, dass die Gefährten wankten. In einer gewaltigen Anstrengung schob Darren die Feuer zunge zurück. Der Abstand zum brennenden Waggon vergrößerte
sich rasch, und schließlich verschluckte ihn der violette Nebel. Sha nija dachte an die Lebewesen in den dahinterliegenden Waggons, die jetzt zum Tode verurteilt waren. Aber vielleicht konnten auch sie mit einem Mentalverbund die Todeswüste durchqueren. Ansonsten … hatte sie einen weiteren hohen Preis bezahlt. All dies war nur durch ihre Schuld geschehen. Sie brachte andere immer wieder in Gefahr, anstatt sie zu schützen. Als sie zurückkehrten, kam einer der Warner, den sie für tot gehal ten hatten, zu sich. Er schüttelte sich, erkannte Shanija und ging mit erhobenem Messer auf sie zu. »Stirb, Sonnenträgerin!« Er konnte höchstens zwanzig Jahre alt sein. Eine Narbe neben dem linken Auge verunstaltete sein Gesicht. Shanija bedeutete den anderen, sich zurückzuhalten. »Warum willst du mich töten?«, fragte sie. »Ich habe dir nichts getan.« Wortlos griff er sie an. Sie blockte ab und hebelte ihn aus. Mit ei nem Wutschrei fiel er zu Boden, das Messer rutschte über den Bo den davon. Mun stellte es mit seinem Fuß sicher. »Rede mit mir!«, beschwor sie ihn. »Dieses sinnlose Kämpfen und Morden muss ein Ende haben!« Keuchend kam er auf die Beine. »Ich töte dich!« Mit erhobenen Fäusten drang er auf sie ein. Sie wich seinen Schlägen mühelos aus. »Sag mir endlich, warum!« »Du bist die Sonnen?7 …« Sie hatte genug. Ein Faustschlag gegen die Schläfe schickte ihn er neut zu Boden. Shanija wollte Tyr ziehen, als ihr einfiel, dass sie das Schwert an den gefräßigen Zug verloren hatte. Sie gab As'mala einen Wink. »Könntest du …« »Mit Vergnügen.« Die blonde Frau zog ihr Schwert und hielt es dem jungen Warner an die Kehle. »Ich will Antworten«, erklärte Shanija. Wut und Hass loderten in seinen Augen. »Du bist die Gehilfin Durs!«
»Ich bin niemandes Gehilfin.« Der Fanatiker schlug sich rasch dreimal gegen die Herzgegend. »Ist die Passage offen und durch die Sonnenkraft stabilisiert, wird Er her abfahren in unser System, den man den Ewigen Widersacher nennt. Tod und Verdammnis wird er säen und sich in unserem Leid suhlen.« »Und wieso glaubst du, dass ich die Passage …« »Die Prophezeiungen!«, rief der junge Sektierer. Seine Atmung wurde schneller. »Sie lügen nicht!« »Ich bestimme, was ich tue, und nicht irgendwelche obskure Über lieferungen.« Sie ging in die Knie, um ihm zu signalisieren, dass sie mit ihm auf gleicher Ebene kommunizieren wollte. »Ich will nur fort von hier. Und zwar schnellstmöglich.« »Dann verschwinde und erspare uns die ewige Höllenfahrt!« »Sag mir wie, und ich bin eine Wolke.« Shanija seufzte. »Vielleicht kann mir euer Anführer helfen, Corundur der Gesichtslose wird er wohl genannt. Kannst du mich mit ihm zusammenbringen?« »Ich weiß, was du bezweckst!« Er ballte die Fäuste. »Aber ich neh me so wie mein Vater das Geheimnis mit ins Grab!« »Du weißt, wer sich hinter Corundur verbirgt?«, mischte sich Mun in die Befragung ein. Der Warner bemerkte das Möbiusband auf seiner Kutte. »Ein Adept«, murmelte er. »Verräter! Lügner! Heuchler! Ein echter Adept würde sich niemals auf die Seite Aliandurs schlagen!« »Ich bin auf niemandes Seite. Ich sammle nur Wissen«, erklärte Mun unbewegt. Der Warner spannte die Muskeln an, rief »Karem Dur!«, und stürzte sich in As'malas Schwert. Mit hasserfüllten Augen stierte er Shanija an und presste ein letztes »Ka … rem Duuur!« über die Lip pen. Dann starb er. »Scheiße!« As'mala zog ihr Schwert aus ihm. »Tut mir leid, ich dachte nicht, dass er so verrückt ist.« Sie wirkte bedrückt. »Es war seine Entscheidung«, kommentierte Shanija und erhob
sich. Ein weiteres sinnloses Opfer in einem sinnlosen Kampf. Sie seufzte und widmete sich ihren Fragen. »Was heißt dieses ›Karem Dur‹?« »Tötet Dur«, übersetzte Darren. Shanija schüttelte den Kopf. »Ich weiß, du hast es mir erklärt, Mun. Aber es will mir immer noch nicht in den Kopf. Alle 257.000 Jahre findet ein kosmisches Phänomen, diese sogenannte Passage, statt. Ist das nun Legende oder nicht?« »Auf Less finden sich genügend Hinweise und Artefakte, die aus unserer Sicht nahelegen, dass die Passage zumindest einmal stattge funden haben muss«, antwortete der Adept. »Aber die Öffnung konnte nicht stabilisiert werden, dass noch mehr von der anderen Seite hindurchkonnte – was auch immer das gewesen sein mochte.« »Und alle Sektenanhänger, einschließlich der Warner, vermuten, dass diesmal die Dauer der Öffnung mit Hilfe meiner Sonnenkraft verlängert werden kann. Verstehe ich das richtig?« »Ja. Deshalb wollen dich die Warner beseitigen. Sie glauben, dass Dur der Widersacher ist, der unser ganzes Universum in die Hölle verwandelt, sollte ihm der Übertritt gelingen. Einst waren die War ner Teil der Sekte der Erlöser, die glauben, dass Dur der Ewige ist, der beide Universen miteinander verbinden will.« »Am Verrücktesten sind die Wiedergänger«, erklang Darrens Stimme aus dem Hintergrund, der auf einer Bank lümmelte. »Die Philosophie Rabans spießt sich an allen Ecken und Enden. Gott ist der Schöpfer unseres Universums, dann wendet er sich davon ab, um die Entwicklung sich selbst zu überlassen. Und nun will er zu rückkehren, um den Fortschritt zu bewerten und die Schöpfung zu vollenden.« Er lachte. »Hört sich für mich an, als wäre er unfähig, wenn er es beim ersten Anlauf nicht einmal hierher schafft.« Shanija seufzte. »Gibt es noch mehr solcher Sekten?« »Tausende«, antwortete Mun. »Aber diese drei sind die größten und erleben wachsenden Zulauf, je näher die Passage rückt.«
»Und ich stehe mittendrin«, sinnierte Shanija. »Die einen wollen mich umbringen, und die anderen für ihre Zwecke benutzen. Mir gefällt weder das eine, noch das andere, und ich muss zusehen, dass ich mich von diesen Spinnern so fern wie möglich halte und weiter mein Ziel verfolge.« Sie rieb müde über ihr Gesicht. »Und wir konn ten nicht einmal nach Seiya forschen«, sagte sie unglücklich. »Wie mag es ihr gehen? Ich mache mir Vorwürfe, dass sie an meiner Stelle …« Darren kam zu ihr und legte die Arme um sie. »Mach dich nicht verrückt«, sagte er sanft. »Seiya ist stark, und sie kann sich durchaus zur Wehr setzen mit ihrer Psimagie. Du kannst nichts dafür, dass sie entführt wurde, und du kannst nicht für alles verantwortlich sein, was ihr geschieht.« »Gewissermaßen schon, denn schließlich habe ich sie dazu ge bracht, Mandiranei zu verlassen.« »Das waren wir beide, erinnerst du dich?«, bemerkte As'mala. »Und ich glaube, Seiya wird nichts passieren, zumindest solange nicht, bis sie herausfinden, dass die Entführer sie mit dir verwech selt haben. Nachdem die Warner dich hier im Zug angegriffen ha ben, wissen wir jetzt, dass sie nicht dahinterstecken, Shanija. Sollten es Erlöser oder Wiedergänger gewesen sein, wollen sie Seiya nicht töten.« »Und wenn sie herausfinden, dass Seiya nicht die Gesuchte ist, werden sie dich mit ihr erpressen und den Austausch verlangen«, führte Mun den Faden fort. »Im Augenblick ist unsere Prinzessin wohl noch sicher, und früher oder später müssen die Entführer sich bei uns melden, wenn wir sie nicht zuvor finden.« »Das bedeutet, wir können uns jetzt erst mal erholen«, meinte Dar ren aufmunternd. »Der Zug fährt weiter, und vorerst haben wir kein neues Attentat zu befürchten.« »Genau«, sagte As'mala. »Erholung klingt gut – aber in dieser spie ßigen Umgebung?« Sie schüttelte sich, dass ihre vielen blonden Zöp fe flogen.
Shanija machte einmal den Mund auf und zu. Dann sagte sie: »Nenn mir deinen Wunsch.« »Ein Whirlpool und zehn nackte Männer«, gestand As'mala prompt. »Drinks und Fächeljungs dazu?«, fragte Shanija lachend und kon zentrierte sich. Eine Bankreihe verschwand und wich einem gemauerten Pool, in dem das Wasser blubberte. »Wo bleiben die Nackten?« As'mala wirkte enttäuscht. »Geht offenbar nicht«, sagte Shanija und hob entschuldigend die Arme. »Wäre ja noch schöner!«, bemerkte Darren in gespieltem Ärger. As'mala tauchte einen Finger ins Wasser und meinte: »Zu kalt.« »Wärmer wird es nicht.« »Dann will ich doch lieber ein bequemes Bett.« Shanija erfüllte die Forderung mit einem Gedanken, diesmal zur vollen Zufriedenheit der Freundin. Die Diebin warf sich auf die La ken und räkelte sich. Mun zog sich still in eine Ecke zurück. Shanija wandte sich Darren zu. »Wir haben Vermutungen über Seiya angestellt, aber du bist noch einige Antworten schuldig.« Darren lehnte sich an eine Zwischenwand und kratzte sich am Oberschenkel. »Was willst du wissen?« »Gehen wir chronologisch vor. Dieser erste Hinweis im Zimmer … die dicke, violette Flüssigkeit! Als du ein Stück Schleim mit dem Messer hochgehoben hast, ist er zurück zur Pfütze gesprungen.« »Diese Eigenschaft von Flüssigkeiten auf Less ist einzigartig, zu mindest der Legende nach, die ich im Land Tallica vernommen ha be. Angeblich sind das Ausscheidungen eines Wesens, das aus dem ELIUM stammt.« »Damit sind wir beim Nächsten.« Auffordernd sah sie ihn an. Widerstrebend gab er nach. »ELIUM, das Böse des Himmels und des
Raumes, versank im Staube Less', wo Gottes irdene Krallen es nicht mehr preisgeben mögen. ELIUM spie Verderben aus, doch der Brodem versiegte, das Verderben entschwand und verdorrte. Meidet das Tal der lebenden Steine.« »Und das ist alles?« »Das ist die Kurzform der Geschichte, die ich an den wispernden Lagerfeuern von Tallica gehört habe. Ergänzt um die stählernen Vö gel. Sie entstanden nach dem Versiegen ELIUMS.« Shanija runzelte unzufrieden die Stirn. »Wer war die Wolke in dem schwarzen Haus?« Darren seufzte. »Ich kenne Sari aus dem Land Tallica. Wir waren dort gemeinsam …«, er zögerte kurz, ehe er fortfuhr: »… angeheu ert. Diese Arbeit war eine der schwersten Fehler meines Lebens. Mehr will ich dazu nicht sagen.« Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Shanija lenkte ein. »Zumindest steht Sari seit damals offenbar in deiner Schuld.« »Sari … wie soll ich sagen … macht alles. Sofern der Preis stimmt. Und damit meine ich nicht Pekuniäres. Sari wird mit Persönlichem bezahlt.« »Man verkauft ihm seine Seele?« »Etwas in der Art.« »In Ordnung, das erklärt sein Verhalten – und deines.« Shanija überlegte. »Du … glaubst also gar nicht, dass eine der Sekten hinter der Entführung steckt?« »Ich will es nicht ausschließen«, antwortete Darren. »Aber der vio lette Schleim weist zumindest darauf hin, dass möglicherweise je mand ganz anderer dahintersteckt, der sich die Sonnenkraft zunutze machen will.« Er rieb sich das Kinn, auf dem sich ein leichter Bart schatten abzeichnete. »Die Legende von ELIUM berichtet von einer Zeit des Mordens und des Todes, ausgelöst durch den Absturz eines Raumschiffs. Eine Horde Krieger überflutete das Land und plünder
te. Genauso plötzlich wie die Plage begonnen hatte, verschwand sie wieder. Und nun verrottet ELIUM irgendwo im dunklen Land Ga deth und wartet auf Erlösung.« »Das wäre wenigstens ein Ansatzpunkt …«, murmelte Shanija. »Sollte eine Sekte dahinterstecken, wird sie sich mit mir in Verbin dung setzen wollen, wie Mun gesagt hat. In dieser Richtung brau chen wir also nichts zu unternehmen. Daher werden wir von unse rer Seite aus nach ELIUM suchen und feststellen, ob Seiya dort ist.« Sie drehte sich erst zu As'mala, dann zu Mun. »Oder wie seht ihr das? Tut nicht so, ich weiß, ihr habt zugehört!« »Einverstanden«, erklang As'malas Stimme vom Bett. Shanija sah zu Mun. »Du … musst nicht mitmachen«, sagte sie. »Du hast keinerlei Verpflichtung uns gegenüber, und ich weiß, du willst so schnell wie möglich zum Zentralarchiv …« »Wie du auch, Shanija«, sagte der Adept ruhig. »Ja, mein Kopf ist voll, ich habe bereits Schmerzen. Doch ich werde … euch begleiten. Ich habe dir zugesichert, dich zum Archiv zu bringen, das muss ich einhalten.« »Aber sicher«, sagte Shanija sanft. »Wir haben einen Vertrag.« Darren blickte sie verdutzt an. Dann verstand er. »Darren, wie finden wir nach ELIUM?« »Ich werde in Noinu, der nächsten Station des Zuges, ein paar Quellen anzapfen. In etwa drei Tagen kommen wir dahin.« »Dann kann ich ein paar Stunden schlafen.« As'mala wies einladend neben sich aufs Bett, aber Shanija wollte für einen Moment allein sein, suchte sich eine Bank fern von den an deren und streckte sich darauf aus. Mit einem Seufzer schloss sie die Augen. Die Bank war hart. Gut. Sie musste sich daran erinnern, wer sie war. Unwillkürlich rieb sie sich den linken Unterarm. So viele Opfer, nun auch schon auf Less. Wo sie auch hinging. »Hat eigentlich einer von euch ans Essen gedacht?«, erklang As' malas Stimme in ihre schläfrigen Gedanken. »Ich dachte mir ja
schon, dass es wieder mal knapp wird. Darum habe ich vor dem Aufbruch aus dem Gasthaus das halbe Frühstücksbuffet mitgehen lassen. Wer will was?« »Heb mir was auf«, murmelte Shanija, dann war sie eingeschlafen.
3. Whatever happens I'll leave it all to chance Another heartache, another failed romance On and on, does anybody know what we are living for I guess I'm learning, I must be warmer now I'll soon be turning round the corner now Outside the dawn is breaking But inside in the dark I'm aching to be free QUEEN, The Show Must Go On Shanija schlug die Augen auf. Für Sekundenbruchteile flimmerten die Traumbilder – Darren, einsame Meeresbucht, Palmenrauschen, zwitschernde Delphine – über ihre Netzhaut, dann fand sie sich in der Realität zurück. »Warum steht der Zug?«, fragte sie und rollte sich von der Bank. »Sind wir bereits am Ziel?« »Nein«, antwortete Darren. Sie ging zum Fenster, öffnete es und spähte hinaus. Sie musste lan ge geschlafen haben, denn der Himmel zeigte die zartrosa Abend dämmerung. Sie sog die Luft ein. Trocken. Genauso wie die Landschaft. Der rote, wallende und blubbernde Sand mit den violetten Nebelschwaden war kargem Terrain gewi chen. Wadenhohes Gestrüpp trotzte dem karstigen Boden und kämpfte gegen die Austrocknung. Der Vergleich mit der NullarborEbene in Südaustralien drängte sich Shanija auf, in der die WILD RAMS vor vier Jahren gegen neun andere Spezialeinheiten die ge
fürchtete Höllenwoche gewonnen hatten. Nur handelte es sich auf Less um eine Hochebene. Links des Zuges blickte Shanija hunderte Meter abwärts. »Die Lok verweigert die Weiterfahrt«, erklärte Darren, als sie sich ihm zuwandte. As'mala richtete sich ebenfalls auf und rieb sich gäh nend die Augen. Von Mun, der es sich auf einer der Bankreihen hin ter Darrens Rücken bequem gemacht hatte, sah sie nur die ausge streckten Beine, die in den Gang hineinragten. »Die Lok verweigert …?« Shanija machte sich hungrig über die Reste des Essens her, und trank gierig eine ganze Wasserflasche in einem Zug. As'mala hatte glücklicherweise ausreichend vorgesorgt. Darren nickte. »Sie sagt, in der Schlucht vor uns wohnen Dämonen und des Nächtens kämen sie aus ihren Gräbern.« »Das ist ja wohl das Lächerlichste, was ich …« »Beruhige dich. Wenn auch umschrieben, es ist so.« Sie blickte ihm in die Augen. »Was unternehmen wir dagegen?« Darren starrte sie verständnislos an. »Wie zwingen wir die Lok, weiterzufahren?«, präzisierte sie. »Gar nicht.« »Gar nicht gibt es nicht.« »Das bekam ich von meinem Vater auch stets zu hören«, antworte te Darren mit abfälliger Stimme. »Trotzdem: Während des Noctum fährt der Zug hier nicht durch.« »Wo finde ich das Zugwesen?« Shanija stemmte die Arme in die Hüften. »Das ist uns einen Gefallen schuldig.« Darren deutete zur Tür. »Du kannst gern dein Glück versuchen.« Sie drückte sich an Muns Beinen vorbei und verhielt abrupt, als es unerwartet in ihrem Dekollete kribbelte. Ein leichtes Brennen zeugte davon, dass sich Pong aus ihrem Körper löste. Wenige Herzschläge später schwebte der kleine Drache aufgeregt vor ihr auf und ab. Sei ne Flügel flatterten wild, während eine Farborgie über seinen Kör
per raste. Mit seinem langen Schwanz balancierte er die Flugbewe gungen aus. »Was ist das?«, rief Darren verblüfft und deutete auf Pong. Selbst Mun gab einen überraschten Laut von sich. »Das ist … Pong«, sah Shanija sich genötigt zu erklären. »Er gehört zu mir.« »Dein Tattoo ist ein Wesen?« Darren stand der Mund offen. Zum ersten Mal fielen ihm keine passenden Worte ein. »So was in der Art.« Shanija winkte ab. »Ich muss …« Pong umrundete Shanija einmal, um vor ihrem Ge sicht in der Luft zu verharren. »Was musst du?«, fragte Shanija. »Verwandte!«, rief er und deutete wild rudernd durchs Fenster. »Ich muss sie finden!« »Was für Verwandte, beim Henker von Schastar?« »Seelenverwandte. Freunde!« »Pong, du bist hier allein! Es gibt keine anderen Computer außer dir. Hast du mir selbst nach dem Absturz erklärt!« »Nein.« Sein Schwanz peitschte durch die Luft. »Ich muss … muss sie erwecken. Damit sie so leben wie ich!« »Bist du vollkommen verblödet?«, schrie sie ihn an. Sie griff nach ihm, doch er war flinker. Er zischte durchs Fenster hinaus. »Nicht noch einmal!«, schimpfte Shanija, rannte zur Plattform und sprang in die Karstlandschaft. »Komm auf der Stelle zurück!«, schrie sie Pong hinterher. »Das ist ein Befehl!« Er ignorierte sie und flatterte weiter von ihr fort. Sie begann zu laufen – und gab rasch auf. Trotz seiner geringen Größe war er mit den Flügeln schneller. Wutschnaubend musste sie mit ansehen, wie er das steile Gelände hinauf flog und aus ihrer Sicht entschwand. *
»Verwandte, ich komme!«, keuchte Pong. Er ignorierte Shanijas Rufe, flog über die Kuppe und drehte einen Looping. Unten im Tal lagen sie. Obwohl er sie nicht sehen konnte, spürte er sie mit jeder Faser seines kleinen Körpers. Euphorie überspülte ihn. Das Wispern seiner Verwandten zog ihn an und lotste ihn hinab, auf den richtigen Weg. Mit Höchstge schwindigkeit schoss er über das Tor mit den feuerspeienden Lam pen hinweg und orientierte sich. Aus jeder Himmelsrichtung riefen ihn Stimmen und flehten ihn an, ihnen zu helfen. Manche eindring licher, manche nur ein Flüstern, knapp vor dem Ersterben. Doch in all die Rufe mischte sich unterschwellig etwas anderes. Es schien ihm, als würde sich etwas Mächtiges hinter all den Stimmen verbergen. Er konzentrierte sich, tauchte hinab in die mentale Geräuschkulis se – und wurde fündig. Die Verwandten waren nur Tarnung für den wahren Schatz dieses Tals. Er jauchzte und raste nach Nordosten. * Shanija fluchte lautstark. Pong war einfach zu unberechenbar; was normalerweise kein Problem wäre, wenn er nicht den Speicherkris tall hüten würde! »Wenn er zurückkommt, werde ich ihm sagen, dass ich die drei Kristalle weggeworfen habe!« Ihre Hand griff in die Brusttasche und zog die drei glitzernden Splitter hervor, die Pong im Labyrinth von Mandiranei gesammelt hatte. Er war völlig ver rückt nach diesen Dingern. Sie waren ihm wichtiger als der Daten speicher. Also ein Druckmittel. »Wer oder was ist ›Pong‹?« Mun stand vor ihr und blickte sie in teressiert an. »Das will ich auch wissen«, rief Darren und sprang aus dem Zug, As'mala im Schlepptau.
»Der nervtötende kleine Kerl war vor meinem Absturz mein Ge fechtscomputer. Nach der Havarie ist er zum Leben erweckt worden und irgendwie mit mir verbunden.« »Was ist ein Gefechtscomputer?« »Na, so ein künstliches Gehirn, das dich bei der Entscheidungsfin dung während der Schlacht unterstützt.« »Welche Fähigkeiten besitzt er?« »Sein Wissen über Gefechtstaktik ist recht hilfreich.« »Du vergisst, dass er sich zum Feuer anzünden ganz hervorragend eignet«, sagte As'mala. »Und er hat noch ganz andere Sachen drauf.« »Ja, und ich muss ihn zurückholen … wieder einmal.« Darren zuckte mit den Achseln. »Warum nicht? Der Zug steht oh nehin die ganze Nacht, und wir haben nichts Besseres zu tun. Weit kann der Kleine ja wohl nicht kommen.« Er ging zurück zum Zug. »Holen wir unsere Sachen.« »Ich komme natürlich auch mit«, sagte As'mala. »Was ist mit dir, Mun?« »Ich habe gelernt, mir von den Umständen keine Handlung auf zwingen zu lassen«, sagte Mun mit bedächtiger Stimme. »Für mich sind sie Kreuzungen, an denen mein Charakter über den Weg ent scheidet.« Shanija versuchte die Bedeutung der Aussage zu erhaschen. As'mala stieß sie leicht in die Seite. »Er ist dabei. Wir sollten uns ohnehin nicht trennen.« »Hoffentlich habt ihr euch das auch gut überlegt«, meinte Shanija lakonisch und deutete nach oben. Ein Steilhang von knapp zwei hundert Höhenmetern lag vor ihnen. Da das Terrain nahezu senk recht anstieg, verdreifachte sich die Strecke. »Gutes Training«, grinste As'mala. »Hält alte Männerhintern knackig.« Sie zwinkerte Mun und Darren zu und marschierte los.
Schweigend liefen sie im Zickzack an Sträuchern vorbei. Zwi schendurch ragten schroffe Felsen aus dem Boden, die sie entweder erklommen oder ihnen auswichen. Fünfzig Meter unterhalb des Gipfels stockte Darren mitten auf ei nem der Gesteinsbrocken. »Hört ihr das?« Shanija, die das Hindernis gerade umrundete, lauschte. In der Tat glaubte sie Geräusche zu vernehmen, die keinen natürlichen Ur sprung vermuten ließen. »Es klingt, als ob jemand hämmert«, sagte sie zögernd. »Gepaart mit Reiben von Metall auf Metall«, bestätigte Darren. Sie beschleunigten ihre Schritte und gelangten bald darauf zum Gipfel. »Das … das …« Shanija schluckte. * Nachdem sich Pong von den Aufwinden bis zu der Stelle des wah ren Schatzes hatte tragen lassen, ging er in den Sturzflug. Der Wind presste seine Bartelhaare an die vor Aufregung in rot-grünen Tönen schimmernden Schuppen. Er flog in einen Schacht, in dem ein selt sam anmutendes Gebäude auf Streben erbaut worden war. Aber das Aussehen war nebensächlich. Es zählte nur der Schatz, der sich im Inneren verbarg. Vor einem der vielen Fenster kam Pong zum Still stand. Die Präsenz des Schatzes raubte ihm fast den Verstand. Im mer wieder leckte er sich über die Lippen. Alles in ihm schrie, ein fach hineinzufliegen. Der letzte Rest seines Verstandes mahnte ihn jedoch zur Vorsicht. Also glitt er langsam, fast in Zeitlupe, in das Gebäude hinein. Die Einrichtung keines Blickes würdigend, flatterte er in einen Vorraum. »Wer bist denn du?« Aus dem Nichts heraus lehnte ein glatzköpfiger Mann an der Wand. Seine blauen Augen blickten Pong freundlich an.
»Bist du der Hüter des Schatzes?«, fragte Pong und gestand sich, dass ihm der Mann auf Anhieb sympathisch war. Außerdem strahl te er eine Kraft aus, die jener von Shanija nur unwesentlich nach stand. Der Glatzkopf lachte. »Beantwortest du eine Frage immer mit ei ner Gegenfrage?« Pong richtete sich in der Luft auf und grinste. Dabei stieß er eine Rauchwolke aus, die sich zu seinem Namen formte. Der Mann stieß sich von der Wand ab. »Ich bin Samuno.« Spontan flog Pong zu seiner Schulter und ließ sich darauf nieder. »Bist du nun der Hüter des Schatzes?« »Könnte man so sagen.« Samuno drehte sich um und steuerte auf eine Tür zu. »Ich führe dich zum Wächter, und du erzählst mir, wo du herkommst.« »Gebongt!« * Shanija traute ihren Augen nicht. Vor ihnen erstreckte sich ein u-för miges Tal, das im Norden von einem imposanten Gebirgszug be grenzt wurde. Ein grünliches Wolkenband schmiegte sich unterhalb des Berggrats an schneebedeckte Wände. Während die westlichen Hänge des Tals außer braunem Fels nichts zu bieten hatten, wartete auf der gegenüberliegenden Seite ein faszinierender Anblick auf Shanija. Ein knapp fünfzig Meter breiter Gletscher bahnte sich sei nen Weg in die Niederungen. Seine Ausläufer mündeten in einem Wasserfall, der zweigeteilt war. Der obere Teil fiel über eine Fels wand ab, in dessen Mitte ein riesiger Felsblock den Fall aufsplitterte. Teil zwei wurde durch einen kleinen See gespeist und fächerte sich über das anschließende Steilstück auf. Trotz dieser Einzigartigkeit der Landschaft hatte Shanija nur Au gen für das ovale Raumschiffswrack, das in dem Gletscher steckte.
Es musste vor Urzeiten dort havariert sein, denn es war zur Gänze vom Eis umschlossen. Ganz im Gegensatz zu den anderen Raumern, die das Tal in einen überdimensionalen Materialhangar umwandel ten. Raumschiff reihte sich an Raumschiff. Zweihundert Meter hohe Keile ragten neben einhundert Metern durchmessenden Kugeln in die Höhe. Pyramiden lagen auf der Sei te, während überdimensionierte Birnen von Holzbalken in der Senk rechten gehalten wurden. Dazwischen hatten die Bewohner des Friedhofs Bretter, Stege, Strickkonstruktionen und aus verschiede nen anderen Materialien bestehende Verbindungswege und Behau sungen gequetscht. Alles in allem drängte sich Shanija der Vergleich mit der Flüstertüte auf. Die Geräusche, die sich mit dem Rauschen des Wasserfalls vermischten, unterschieden sich jedoch von jenen der Wüstenstadt. Dort unten wurde in einer Intensität gehämmert, geschraubt, Blech durchschnitten und gearbeitet, dass jeder Werft meister vor Neid erblasst wäre. Außerdem erhellten unzählige Feu erstellen das Areal und verdunkelten mit ihren Rauchsäulen gleich zeitig den Himmel. »Ein Raumschifffriedhof!« Shanijas Herz vollführte einen Sprung. »Vielleicht finden wir ein Schiff, das funktioniert oder zumindest flottzukriegen ist!«, rief sie. »Äschere deine Hoffnungen ein!«, sagte Darren. »Auf Less arbeitet keine Technik oberhalb der Dampfmaschine, wie du weißt.« Sie kehrte auf den Boden der Tatsachen zurück. »Danke für die aufmunternden Worte«, sagte sie und wechselte demonstrativ das Thema. »Pong wurde entweder von Maschinen oder von Speicher kristallen angezogen.« Im Geiste flehte sie den Kleinen um Abbitte an. Unwissentlich hatte er ihr eine Möglichkeit gezeigt, von diesem Mond zu entfliehen. Ohne sich nach ihren Gefährten und vor allem Darren umzublicken, stapfte sie abwärts auf die Mauer aus Stahl und Eisen zu, die den Raumschifffriedhof umrahmte. In der Mitte lud ein beleuchteter Torbogen zum Eintritt ein. Er war unbewacht.
»Darren Hag«, murmelte sie. »Manchmal bist du ein richtiger Arsch!« »Hast du etwas gesagt, Shanija?«, fragte er ein Stück hinter ihr. Stumm schüttelte sie den Kopf und versuchte den Schmerz in ih ren Herzen zu töten. »Es tut mir leid.« Darren klang zerknirscht. »Ich wollte dir deinen Optimismus nicht rauben.« Er meinte es ehrlich. Das fühlte sie. Des sen ungeachtet sollte er noch ein wenig schmoren. Immerhin war der Abstieg lange genug. »Shanija!« Er zupfte sie am Ärmel. Sie antwortete mit einem unde finierbaren Laut. »Es tut mir wirklich leid.« Sie blieb stehen. Eine blonde Haarlocke hing ihm ins Gesicht, das einen verzweifelten Ausdruck angenommen hatte. Seine Arroganz, die er sonst ausstrahlte, war wie weggeblasen. »Schon okay«, seufz te sie und streichelte seinen Arm. Er hauchte ein »Danke« und lächelte. In Shanija stieg eine Rüh rung auf, für die jetzt kein Platz war. Abrupt wandte sie sich ab und eilte dem Adepten und der Diebin nach, die inzwischen voraus wa ren. »Wusstet ihr von der Existenz des Friedhofs?« Alle drei verneinten. »Hätte ich davon gehört, hätte ich ihn unter Garantie bereits be sucht«, sagte Darren und spielte damit auf seine Technikbegeiste rung an. »Ich frage mich, welche Besonderheit dieses Tal aufweist«, über legte Mun. »Abgesehen von den Wracks?« Shanija blickte den Adepten iro nisch an. »Wieso hat sich diese Unzahl an Havarien nicht in den Berichten der Völker niedergeschlagen? Und warum sind all diese Schiffe ge rade hier abgestürzt?«, präzisierte er. »Verstärkter Magnetismus?« Darren rieb sich das Ohrläppchen.
»Was ich ausschließe, ist, dass jemand all die Schiffe hierher ge schleppt hat. Erstens wäre das logistisch selbst über Jahrhunderte ein Wahnsinn und zweitens – bei der Menge an Raumern wäre das garantiert aufgefallen.« »Mir ist das vollkommen Nüsse – und neunundneunzig Prozent auf Less ebenso. Die Leute haben andere Sorgen, als sich um jeden Absturz und Neuankömmling zu kümmern«, beendete As'mala die Diskussion. Je geringer die Distanz zum Friedhof wurde, desto mehr ver schwamm der Gesamteindruck und die Details kamen zum Vor schein. Die Mauer offenbarte sich als aneinandergereihte Metallplat ten und -klötze. Die Einwohner hatten sie nicht verbunden, sondern sie Kante an Kante in den Boden gerammt. Der Torbogen, der Shani ja bereits auf der Kuppe aufgefallen war, bestand aus zwei Stahlträ gern, die in der Mitte zusammengeschweißt worden waren. »Gasfackeln«, kommentierte Darren die zwei feuerspeienden Schläuche, die seitlich der Krümmung baumelten. »Bin gespannt, wie der Druck erzeugt wird.« Links und rechts vom Eingang thronten zwei Türme. Shanija glaubte Schießscharten zu erkennen, die augenscheinlich unbesetzt waren. Eine Hängebrücke verband beide Gebilde. »Wartet«, rief As'mala. »Wieso gibt es hier keine Wachen?« »Weil es nichts zu bewachen gibt«, antwortete Darren lakonisch. »Befürchtest du eine Falle?«, fragte Shanija. As'mala nickte. »Jede Stadt schützt sich. Das ist ein Grundprinzip auf Less. Außerdem … warum ist es hier so ruhig? Normalerweise wimmelt es überall vor Leben!« Darren kratzte sich an der Stirn. »Vielleicht sind sie vor uns ge flüchtet.« Er zuckte mit den Achseln. »Was soll's?«, sagte er und schritt durch das Tor. Mit neugierigem Gesicht blickte er sich um. Shanija sah ihm an, dass er am liebsten überall hinaufgeklettert und hineingekrochen wäre, um die Wracks genauer zu erforschen. Aber
dafür reichte die Zeit nicht. Bis zum Morgengrauen mussten sie Pong aufstöbern und zur Lokomotive zurückgehen, um die Suche nach Seiya fortzusetzen. Sie betraten einen dunklen Korridor. Wie die Stadtmauer bestand er aus einzelnen Stahlplatten. Fremdartige Schriftzüge und lesbare Worte zierten sie. An manchen Stellen hatte der Zahn der Zeit ge siegt und Löcher in die Wand genagt. Shanijas Blick wanderte den Gang vorwärts. Nach ungefähr ein hundert Metern öffneten sich die Wände zu einem Platz. »Wir sollten die Märkte abklappern«, schlug As'mala vor. »Pong sucht bestimmt nach Kristallen.« »Wo gibt es hier einen?«, fragte Shanija. »Und vor allem: Haben die Händler während des Noctums geöffnet?« »Auf Less wird rund um die Uhr geschachert.« Sie betraten den offenen, verlassenen Platz. Fünf weitere Gassen zweigten ab. Drei überdachte führten in das Geländeinnere, zwei bogen links und rechts ab. Shanija vermutete, dass sie den Friedhof umrundeten. »Welchen nehmen wir?«, fragte sie. »Ein Weg ist so gut wie jeder andere.« Shanija kratzte sich am rechten Nasenflügel. »Schlagen wir die Richtung des Keilraumers ein«, entschied sie und deutete nach oben. Das gewaltige Wrack überragte alle anderen in der näheren Umge bung. »Zur Orientierung: Das Schiff steht im Nordosten«, sagte Darren. Als sie in die überdachte Gasse eintraten, fiel Shanija ein nach in nen zeigender, gemalter Pfeil auf. In blutroten Lettern prangten Zei chen und ein echsenartiges Schädelskelett darüber. »Senter«, las Mun vor. »Tod.« »In welcher Sprache?«, fragte Darren. »Mir ist die Schrift unbe kannt.«
»Das Volk der Slaier hat diese Sprache entwickelt.« »Slaier?« »Käferartige Wesen aus den Wäldern von Guhnir – im Nordwes ten. Man findet sie selten anderswo als in Guhnir«, erklärte der Adept. »Sie sind gefährlich. Sehr gefährlich.« Sofort spürte Shanija die Anspannung, die ihre Gefährten und sie erfasste. Mit allem rechnend marschierten sie weiter. Nachdem sie an die zweihundert Meter zurückgelegt hatten, hörten sie kichernde und heulende Geräusche. Metall schabte an Metall. Die Wände ächzten. Die Gummischläuche, die von der Decke herabhingen, schwangen unrhythmisch. »Pst!« Die vier Freunde blieben stehen. »Hier oben!« Ein Glatzkopf schob sich aus einer Öffnung an der Decke. Um den Hals trug er eine zehn Zentimeter lange kristallene Spindel, die über dem Kinn baumelte. Shanija blickte dem Mann in die blauen Augen und entschied augenblicklich, dass er vertrauenswürdig war. Er strahlte eine Ruhe aus, die sich löblich von der Hektik und dem Chaos der Barbarei abgrenzte, die auf Less vorherrschten. War er vielleicht wie Mun ein Adept? »Zwei Arten von Wesen wagen sich in diesen Sektor: Mutige oder Verrückte.« Er grinste. »Zu welcher Sorte gehört ihr?« »Zur Dritten«, antwortete Shanija trocken. Lautstark lachte der Mann auf. »Nachdem der Aufenthalt in die sem Bereich der Gesundheit abträglich ist, komme ich gleich zur Sa che! Ich weiß, wer ihr seid, ich weiß, wen ihr sucht und ich weiß, wo ihr hinwollt.« Während As'mala das Schwert zückte und Darren in Abwehrhal tung ging, harrten Mun und Shanija der Dinge. Erneut hörte sie in sich hinein und fühlte, dass sie dem Glatzkopf vertrauen konnte. »Ganz ruhig, ganz ruhig«, sagte er in Richtung As'mala. »Ein klei
ner Drache hat mich über euch informiert.« »Du weißt, wo Pong ist? Bring uns zu ihm!« »Deswegen bin ich ja hier.« Seine offene Art ließ Shanijas sich aufbäumende innere Warnglo cken sofort wieder verstummen. Was war an diesem Mann, das ihr so vertraut vorkam? Warum waren die anderen so misstrauisch? »Warum sollten wir dir vertrauen?«, fragte As'mala und schwenk te demonstrativ ihr Schwert. Der Mann lächelte. »Ihr werdet mir vertrauen müssen. Und es muss euch genügen, dass Pong mich schickt.« »Sagst du! Wieso ist der Kleine nicht bei dir?« »Etwas anderes war ihm wichtiger.« »Führ uns zu Pong«, beendete Shanija das Wortgeplänkel, obwohl As'mala sie mit Blicken warnte. »Wie weit ist es?« »Ihr seid bis zur Abfahrt des Zuges zurück!« Sein Kopf ver schwand in der Öffnung, und eine Strickleiter nahm seinen Platz ein. Flink kletterte Shanija hinauf. Die Zwischendecke ähnelte dem Korridor unter ihr. »Mein Name ist Samuno Pentti«, stellte er sich vor, nachdem sich alle Gefährten in dem Gang befanden. »In Neluv – so nennt sich die ser Ort – existieren vom Boden bis zu den Raumschiffspitzen paral lel mehrere Schächte, durch die fast alle Raumer über mehrere Ebe nen verbunden sind«, erklärte er mit einer allumfassenden Armbe wegung. »In den meisten musst du um dein Leben zittern und selbst so manche mautpflichtige Schächte sind nicht sicher«, erklärte er un terwegs. »Mautpflichtige?« »Banden beherrschen Neluv.« Shanija verstand. Analog zu den Slums auf ihrer Heimat teilten sich verschiedene Gruppen die Macht in dem Tal. Territorienkämpfe beherrschten wahrscheinlich die Tagesordnung. Ein Menschenleben zählte weniger als eine Kugel. Warum sollte das hier auch anders
sein. Sie gelangten zu einem Seitengang und bogen nach rechts ab. Er war so eng angelegt, dass er einem Klaustrophobiker die Schweiß perlen auf die Stirn getrieben hätte. Streben hingen und ragten in den Gang hinein. Immer wieder mussten sie sich ducken oder über ausgeschlachtete Maschinenblöcke klettern. »All die Schiffe hier«, begann Shanija dann wieder. »Ist es je gelun gen, eines davon bis zur Flugtauglichkeit zu reparieren?« »Auf diesem Mond endet jede Technik auf dem Niveau der Dampfmaschine.« Darrens Worte wiederholten sich in anderer Form. Frust breitete sich in ihr aus. »Freiwillig würde keiner von uns auf dem Mond sein Dasein fris ten.« Er wirkte nachdenklich. »Andererseits trotzen wir Less so viel wie möglich ab.« »Was machst du in Neluv?« »Ich bin Wissenschaftler!« »Hier? Wonach kann man in dem Schrotthaufen forschen?« »Du wärst überrascht!« »Bist du hier geboren?« Er nickte. »Dummerweise kenne ich genügend Berichte von der Erde. Meine Vorvorvor… und so weiter -fahren stammen aus der eurasischen Megalopolis Berlin. Sie verließen die Erde mit der Sun quest und hinterließen ein handgefertigtes Tagebuch. Ich weiß also um die Annehmlichkeiten, die der Ursprungsplanet der Menschen bietet. Ich nehme an, der Standard ist nach tausend Jahren gestie gen.« Kurz schwieg er. »Dadurch empfinde ich gewisse Zustände auf Less als unerträglich.« Seine Traurigkeit erschloss sich Shanija. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie es sein musste, auf Less ihren Lebensabend zu fristen – in der Gewissheit, dass sie durch ihre Unfähigkeit nicht aus dem System heraus gekommen war und den Untergang der Menschheit
verantwortete. Sie bekam eine Gänsehaut und fiel ein paar Meter zurück. Darren nutzte die Lücke und schloss zu Samuno auf. Die beiden Männer be gannen über technische Details fachzusimpeln, während sie tiefer und tiefer in die künstliche Landschaft vordrangen. Sie hangelten sich über Strickleitern, kletterten über Holzbalken und Verstrebun gen und hievten einander über Metallbrocken. Zwischendurch ver steckten sie sich vor herumstreunenden Schlägertrupps der jeweili gen Distriktsbanden. Während sie weiter in den Friedhof eindran gen, fragte Darren den Wissenschaftler nebenbei nach den stähler nen Vögeln. »Oh, die verirren sich gelegentlich zu uns. Kennst du die Legende von ELIUM?« Darren nickte. »Angeblich liegt das irgendwo östlich von hier. Niemand war bis lang mutig genug, die Legenden auf ihren Wahrheitsgehalt überprü fen.« Mehr wusste Samuno leider nicht darüber zu berichten. Aber zu mindest schien er überzeugt, dass es ELIUM tatsächlich gab und er reichbar war. Er hatte schon die stählernen Vögel gesehen. Irgendwann inmitten des Gewirrs an Kabelsträngen, dem sie in eine Höhe von ungefähr hundert Metern über dem Boden folgten, stoppte Samuno abrupt. Sie standen am Ende eines überdachten Korridors, aus dem ein zwei Meter breiter Stahlträger ins Freie führ te. Shanija trat zu Darren und Samuno. »Willkommen über der Casa Pentti«, sagte der Wissenschaftler und deutete in den fünfzig Meter tiefen und vierzig Meter breiten Schacht, in dessen Mitte ein Gebäude »schwebte«. Gehalten wurde sein Fundament durch mehrere Quer- und Längsträger aus Stahl. Das Haus selbst überraschte durch ein Sammelsurium an Aufbau ten. Es schien, als habe der Erbauer einen Raum geschaffen und dar auf einen neuen gesetzt, um an der Seite einen weiteren anzubauen. Dabei hatte er sich nicht nur auf den Boden konzentriert, sondern
die Zimmer auch in luftiger Höhe vom Nebenraum abstehen lassen. Im Laufe der Jahre hatte er so einen regelrechten Hausklumpen ge schaffen. Shanija zählte siebzehn, nein, neunzehn Räume. »Wie kommen wir hinunter?«, fragte Darren. Samuno deutete auf eine Stange, die am Ende des Stahlträgers vor ihnen in die Tiefe führte. Wortlos umschlang er sie mit Armen und Beinen und rutschte an ihr ins Haus hinab. Die vier Gefährten schlossen sich ihm an. Sie landeten auf einer schmalen Plattform vor der Haustür. Mehrere Spiegel am oberen Schachtende bündelten das Licht von Fathom und den Sonnen und projizierten es nach unten. »Hereinspaziert«, lud Samuno ein und schloss auf. Gebückt traten die Gefährten in ein geräumiges Vorzimmer. Als Erstes vernahm Shanija helles Kinderlachen, das von rechts hinter der angelehnten Tür kam. »Katha, mein Ein und Alles«, sagte Samuno. Es hörte sich ent schuldigend und hinweisend an. »Ihr solltet sie gleich kennenler nen.« Er drängte sich an Mun und As'mala vorbei, als sich in Kathas Lachen eine wohlbekannte Stimme mischte. »Pong!«, rief Shanija. Samuno öffnete die Tür. Shanijas Instinkt warnte sie vor einer Fal le. Vielleicht ist er ein Suggestor!, mahnte ihre Intuition und spielte auf die Riesenameise an, die sie in der Flüstertüte angegriffen hatte. Das sind zu viele Zufälle! Shanija schob die Gedanken beiseite und trat in den trapezförmig angelegten Kellerraum. Pong hüpfte auf einem Berg aus Speicher kristallen herum. »Shanija«, rief er übermütig. »Sieh, was ich gefunden habe!« Er zwängte sich an zwei Kristallen vorbei, tauchte unter, um sich gleich darauf an einem anderen hochzuhangeln und einen Salto in der Luft zu schlagen. Die Farbe seiner Schuppen wechselte unablässig. »Er ist so putzig.« Vor dem Kristallberg saß ein dunkelhaariges Mädchen ohne Unterschenkel und mit zwei künstlichen Armen in
einem Rollstuhl und lächelte Shanija an. Um ihren Hals hing eben falls eine kristallene Spindel. Sie hatte die gleichen blauen Augen wie Samuno. Wahrscheinlich war er ihr Vater. Sofort spürte Shanija dieselbe Zuneigung wie bei Samuno und fühlte sich zu der Kleinen hingezogen. »Gehört er dir?«, fragte Katha und wies auf Pong. Shanija nickte. »Irgendwie schon.« »Gibt es dort mehr, wo ihr herkommt?«, bohrte Katha weiter. »Nein.« »Schade«, sagte das Mädchen und lenkte ihren Rollstuhl unbehol fen zu Pong. Der stieg in die Luft, flatterte zu ihr und landete auf ih rem linken Knie. Sanft streichelte sie den Drachen mit den Fingern der Armprothese über den Hinterkopf. Pong schnurrte und zeigte ihr, dass es ihm gefiel. Er strahlte in allen Farben. »Du bist viel besser als meine Puppe«, meinte Katha. Der Drachen legte sich auf ihre Oberschenkel und reckte auffordernd das Kinn empor. Katha stieg darauf ein und kraulte ihn am Hals. »Vielleicht finde ich ja wieder eine sprechende Puppe.« Shanija ging zu dem Mädchen und kniete sich neben sie. »Hast du deine Puppe verloren?« »Mein Bruder ist schuld, dass sie zerbrochen ist.« »Dein Bruder ist schuld, dass …?« Shanija stockte. Bilder aus ihrer Vergangenheit zwangen sie zum Schweigen. Sie hockte in ihrem kleinen Kinderzimmer, das sie mit ihrem Bruder Aaron teilte. Da mals mit acht Jahren hatte sie noch nicht den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen und hieß mit Nachnamen Tovan – wie ihr Va ter. Barn Tovan, der Säufer, der Tyrann, der religiöse Fanatiker. Be griffe, mit denen die kleine Shanija nichts verknüpfte. Sie wusste nur, dass ihr Vater im Nebenzimmer schlief und schlecht gelaunt und nach Alkohol stinkend nach Hause gekommen war. Also plau derte sie leise mit ihrer Puppe. »Lyne, was willst du einmal werden, wenn du groß bist?«, fragte
sie ihre Puppe. »Mutter«, antwortete Lyne gemäß ihrem Programm. »Das kann nicht alles sein«, regte sich in Shanija Widerstand. »Natürlich groß und schön.« Shanija fuhr sich durch ihre Locken. »Ich bin bereits schön«, ant wortete sie und lachte. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ihr um zwei Jahre älterer Bruder trat ein. »Verzieh dich, ich brauche das Zimmer!« »Aber ich unterhalte mich mit Lyne«, begehrte sie auf. »Sei nicht albern. Lyne ist eine Puppe, die vorprogrammierte Sätze vor sich hinplappert«, erklärte der blonde Junge altklug. »Na und?« »Sprich mit ihr im Wohnzimmer«, beharrte er. »Ich will hier mit ihr sprechen.« Aaron entwand ihr blitzschnell die Puppe aus der Armbeuge. »Hey, gib Lyne zurück!«, schrie sie und fuhr hoch. Aaron streckte die Zunge heraus und schoss aus dem Raum. Sha nija hinter ihm nach. »Hol sie dir! Hol sie dir!«, forderte er sie auf. Im Wohnzimmer verschanzte er sich hinter dem Esstisch. Ein paarmal rannten sie um ihn, sich gegenseitig anschreiend – bis Aaron in die Arme des Vaters lief. »Was ist das hier für ein Scheiß-Geschrei?«, brüllte er und riss Aaron die Puppe aus der Hand. »Shanija hat angefangen!« »Gar nicht wahr!« »Ist mir scheißegal!« Vater schüttelte drohend die Faust, in der er Shanijas Spielzeug hielt. »So etwas sagt man nicht«, maßregelte ihn Lyne.
»Halt's Maul«, schrie Barn Tovan und schmetterte die Puppe ge gen die Wand. »Lyne!« Shanija stürmte zu ihr. Der Kopf der Puppe hatte sich vom Körper getrennt und war in drei Teile zersprungen. »Lyne!«, schluchzte sie. »Es tut mir leid! Es tut mir so leid!« »Du sollst dein Scheiß-Maul halten!« Barn schritt zu Shanija und schlug ihr mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf. Die Wucht des Aufpralls warf Shanija fast um. Barn setzte nach und zog die Hand zwei weitere Male durch. Shanija schluckte ihre Schmerzen und ihre Wut hinunter. Sie konzentrierte sich darauf, Lyne, ihre ge liebte Lyne festzuhalten. Ganz fest. Barn ließ von ihr ab und durchquerte den Raum. »Wenigstens du bist ruhig«, sagte er zu Aaron und tätschelte ihm die Schulter, bevor er den Raum verließ. Shanija kauerte sich zusam men. Es wäre nicht das erste Mal, dass er zurückkehrte und sie er neut schlug. Diesmal vielleicht mit dem Gürtel. Eines Tages würde sie stark genug sein, sich zu wehren. Und dann würde Vater dafür büßen, was er Lyne angetan hatte. »Lyne, es tut mir leid«, flüsterte sie gebetsmühlenartig und schwor sich, ihrem Vater nie wieder den Triumph ihrer Tränen zu gönnen. »Wer ist Lyne?« Shanija saß wieder vor Katha, die Pong auf dem Schoß liebkoste. Irritiert blinzelte sie und spürte den salzigen Geschmack von Tränen auf ihren Lippen. »Habe ich laut gesprochen?«, fragte sie das Mädchen, während sie sich das Gesicht rasch mit dem Ärmel abwischte und gleichzeitig zu den Gefährten lugte. Sie unterhielten sich mit Samuno. »Nur gemurmelt«, antwortete Katha. »Wer ist Lyne?« Shanija erhob sich und streichelte die Wange des Mädchens. »Ein Teil meiner Vergangenheit«, sagte sie. »Wo ist dein Bruder?« »Verschwunden«, antwortete Katha. Shanija nickte und drehte sich um. »Pong, komm her! Wir gehen!«
Zu Samuno gewandt sagte sie: »Danke für deine Mühe.« »Nicht so schnell, nicht so schnell.« Samuno eilte zu einer Tür ne ben dem Kristallberg und öffnete sie. Hinter ihr verbarg sich ein kleiner Raum, dessen Wände mit Schaumstoff beklebt waren. Er deutete hinein. Kurz überlegte Shanija und entschied sich erneut, ihm zu vertrauen. »Abhörsicher«, erklärte Samuno, nachdem alle bis auf Katha und Pong der Kommandantin gefolgt waren. »Shanija, ich entschuldige mich bei dir, weil ich die Wahrheit zurechtgebogen habe.« »Wie …?« »Auf dem Weg zu meinem Haus. Du hast mich gefragt, ob funkti onstüchtige Raumschiffe existieren und ich habe verneint.« »Ich erinnere mich.« »Anhand von Konstruktionszeichnungen ist es mir in mühevoller Kleinarbeit gelungen, einen der unzähligen Kugelraumer flott zu machen. Er birgt neben meinem geballten Wissen die qualitativ wertvollsten Kristalle, derer ich habhaft geworden bin. Die im Keller sind Ausschussware.« »Wo ist das Raumschiff?« Shanija stand plötzlich wie auf Nadeln. »Führ mich zu ihm. Sofort!« »Es gibt ein Problem«, sagte Samuno. Shanijas Wünsche zerstoben, um kurz darauf aufzuerstehen. »Egal, was es ist, ich löse es!« »Die Energie!« Seine Stimme zitterte. »Die besonderen Umstände in diesem System verhindern jede Art von Technik …« »Oberhalb der Dampfmaschine. Ich weiß!«, fiel sie ihm frustriert ins Wort. Sie konnte es nicht mehr hören. »Ich bin seit Jahren der Überzeugung, dass Psimagie der Schlüssel zur Lösung ist – und damit von der Fähigkeit der jeweiligen Person abhängt.« Samuno seufzte. »All die Jahre habe ich niemanden ge funden, dessen Kraft stark genug war.« Er blickte sie erwartungsvoll an. »Dank Pong habe ich von deiner Sonnenkraft erfahren. Meine
Berechnungen zeigen, dass sie die Kristalle und somit alle Energie aggregate aktivieren kann.« Er leckte sich über die Lippen. »Muss! Und auch wird!«, verbesserte er sich. Im ersten Reflex fluchte sie über den Drachen. Warum konnte er sein Plappermaul nicht halten? Sie musste ihm einbläuen, dass er nichts über sie oder ihre Gefährten verraten durfte. Der zweite Gedanke galt ihr selbst. Sofern Samuno die Wahrheit sprach, hatte sie endlich eine Möglichkeit gefunden, von hier zu ver schwinden. Und diese würde sie sich nicht entgehen lassen, wenn … ja, wenn da nicht die von Samuno angesprochene Sonnenkraft ge wesen wäre. Vom ersten unfreiwilligen Einsatz der Sonnenkraft in der Baronie Castata hatte sie sich nur mühsam regeneriert. Sie fürch tete, dass sie eine neuerliche Anwendung der Kraft nicht überleben würde. Andererseits lag das Schicksal der Menschheit in ihren Hän den. Der Speicherkristall musste dem Flottenkommando ausgehän digt werden. Also blieb ihr keine andere Wahl, als das Schiff zu star ten. Und wenn sie dabei starb, musste eben Samuno den Kristall zur Erde fliegen. »Genau genommen setzt du dich in einen Sessel und mein PMA … nein, der heißt jetzt SKA, vollendet den Rest.« »Dein was?« »Sonnenkraftaktivator.« Er lächelte. »Wir Wissenschaftler lieben Abkürzungen«, entschuldigte er sich. »Bis heute hieß er Psimagieak tivator, doch ich habe ihn soeben umbenannt. Ich habe eine Art … hm … Helm konstruiert, der auf die Psimagie zugreift, sie verstärkt und auf die Aggregate verteilt. Um es mit Feuersteinen zu verglei chen: Es genügt ein Funke, um einen Waldbrand zu entfachen.« »Was wird aus Seiya?«, fragte As'mala, bevor Shanija antworten konnte. Sie drehte den Kopf zur Diebin. »Ihr findet und befreit sie ohne mich«, bestimmte sie. So war es das Beste. So schnell wie möglich zu verschwinden, niemanden mehr in Gefahr zu bringen und den Auf trag zu erfüllen.
»Du riskierst es?«, wollte Samuno wissen. »Natürlich!«, sagte Shanija. So oder so, sie hatte keine Wahl. Ihr Leben zählte nichts im Vergleich zu den Milliarden auf Terra. »Wann geht es los?« »Der Raumer liegt im Gebiet der Slaier. Wir können erst bei Tages licht dorthin.« »Gut.« Shanija vermied es, die anderen anzusehen. Sie konnte sich denken, was in ihren Augen lag, wie sie gerade über sie dachten. Aber das würde bald keine Rolle mehr spielen. So war es immer ge wesen! Und warum schmerzt es dann so? Weißt du, was du deinen Freunden antust? Warum sagen sie wohl kein Wort? Könntest du sie noch tiefer verletzen? Langsam wandte sie sich ihren Freunden zu. »Wollt ihr gleich los?« »Es ist mitten in der Nacht, wir können jetzt nicht zum Zug«, sagte Mun langsam. Selbst er schien am Rande seiner Beherrschung. »Ihr könnt euch auf dem Dachboden ausbreiten«, bot Samuno an und zeigte gegen die Decke. Während Mun und As'mala, die Shani ja keines Blickes würdigte, die Treppe hinaufgingen, blieb Darren stehen. »Ich gehe an die frische Luft.« Seine Stimme klang hart und distan ziert. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Aber sie wollte reden. »Nimmst du mich mit?« »Shanija, du bist erwachsen und triffst deine eigenen Entscheidun gen.« Er wandte sich ab und verschwand über die Treppe. Unschlüssig blieb Shanija zurück. »Du solltest ihm folgen«, riet ihr eine kindliche Stimme. Ein erns ter Zug lag um Kathas Mundwinkel, der sie viel älter wirken ließ. »Du hast recht.« Shanija sprintete über die Stufen. Sie lief durch das Wohnzimmer und öffnete die Haustür. »Darren?« Stille.
Shanija blickte sich um. Eine schmale Plattform führte vom Haus in beide Richtungen und endete in einem Gewirr von Verstrebun gen. Vorn ging es vierzig Meter in die Tiefe. »Hör zu schmollen auf und gib Laut«, bat sie. »Darren, bitte!« Dumpf brach sich der Schall in den Metallfragmenten. »Hier oben«, kam schließlich die Antwort. Sie legte den Kopf in den Nacken. Seine Beine baumelten drei Me ter über ihrem Gesicht. Shanija fasste einen Kabelstrang und zog sich auf die Verstrebung, auf der Darren vor sich hinbrütend hockte. »Hör mir zu«, begann sie, doch er unterbrach sie mit einem Blick, der ihre Seele streichelte. Und das in dieser Stunde. »Ich zuerst«, bestimmte er und schlug das Bein rittlings über die Strebe. Er nahm ihre Hände in seine. »Wir hatten noch gar keine Zeit zu reden. Über die vergangene Nacht, und alles Weitere dar aus.« Sie nickte. »Ich …« Er stoppte, schien nachzudenken. »Was hast du gedacht, als du mich das erste Mal gesehen hast?« »Ehrlich?« »Darum geht es.« »Du bist mir vor den Toren der Flüstertüte aufgefallen – als arro ganter, herablassender Mistkerl. Einerseits, weil du dich vorgedrän gelt hast, andererseits …«, sie blähte die Wangen, »wegen deiner Ausstrahlung.« »Ja, ich wirke wie ein Lebemann, der keine Gelegenheit auslässt, sich zu amüsieren.« Er hörte sich deprimiert an. »Paradoxerweise verstärkt meine Unnahbarkeit die Abenteurerausstrahlung, die sie aufheben sollte.« Er seufzte. »Seit ich wegen meines Vaters aus der Stadt Thel-Ryon weggezogen bin, wollte ich nur vergessen. Meine Reisen, all das Wissen, das ich mir einverleibt habe, hatten den Zweck mich zu betäuben, um mich von meinem inneren Kampf ab zulenken. Und es ist mir hervorragend gelungen – bis ich dir begeg
net bin.« Er zog ihre Hände an seine Lippen und küsste sie. »Seit meiner Flucht …«, er legte den Kopf schief, »ja, seit meiner Flucht aus meiner Heimatstadt habe ich mich emotional abgeschottet. Kei ne Frau war in der Lage, meinen Panzer zu durchbrechen, obwohl ich mich insgeheim danach gesehnt habe. Andererseits habe ich durch mein Verhalten genau das vereitelt. Daher waren Frauen für mich ein zeitweiliges Vergnügen, gerade gut genug, ein Noctum bei mir zu verweilen.« Sein Blick schweifte in die Ferne. »Schuld daran ist mein Vater Earl, aber das ist eine andere Geschichte und hat nichts mit uns zu tun.« Er küsste ein zweites Mal ihren Handrücken. »Ich habe euch Frau en zwanzig Jahre lang studiert«, wechselte er das Thema. »Ihr seid in so vielem anders als wir Männer. Ihr seht die Welt mit anderen Augen. Dinge, die wir nicht einmal wahrnehmen, sind euch wichtig. Während ihr brennende Duftkerzen in einem Raum platziert, um ihn emotional zu erwärmen, denken wir an die mögliche Brandge fahr und an den Feuerlöscher. Eure Lust hängt meist von einer stim mungsvollen Umgebung ab, während wir Männer allzeit bereit sind.« »Wir müssen uns wohlfühlen, um Sex zu haben, während ihr Sex habt, um euch wohlzufühlen.« »Das trifft es auf den Punkt.« Er lächelte. »Ich kenne all diese Un terschiede und weiß, was ich tun muss, um Frauen zu beeindrucken. Und doch kamen all meine Taten nie aus dem Herzen, sondern aus meiner Ratio.« »Und die Frauen haben dich nie entlarvt?« Darren verneinte. »Oh, ich bin nicht nur ein hervorragender Tech niker, sondern auch ein guter Schauspieler.« »Offenbar«, sagte Shanija nachdenklich. Wollte er ihr auf diese plumpe Art schonend beibringen, dass er nichts für sie empfand? »Unser erstes Wortgefecht vor den Toren der Flüstertüte lief routi nemäßig ab«, fuhr er fort. »Routinemäßig?« Wenn jetzt wirklich folgte, dass er nur mit ihr
gespielt hatte, dann … würde sie ihn die Tiefe stoßen. »Es folgte dem üblichen Schema. Ich begegne einer wunderschö nen und intelligenten Frau und ohne dass ich ein Wort sage, pflaumt sie mich an, weil sie von meiner Ausstrahlung auf mein Wesen schließt.« »Ich dachte, du drängelst dich vor«, rechtfertigte sie ihren Wutaus bruch vor den Toren der Flüstertüte. Außerdem war sie unter einem Bann gestanden, der einen anderen Menschen aus ihr gemacht hatte. »Würdest du auch, wenn du von Stadtrat und Bürgermeistern an gefordert wurdest und das Recht dazu hast.« Shanija senkte schuldbewusst den Blick. »Du hast verbal zurück geschossen.« »Das ist Teil des Spiels.« Er grinste. »Und außerdem: Wenn ich an gegriffen werde, wehre ich mich.« Er nagte an der Unterlippe. »Un ser zweites Treffen stand ebenfalls unter keinem guten Stern.« »Du hast uns das Zimmer absichtlich vor der Nase wegge schnappt! Dabei hättest du diese zwei großen Räume allein ohnehin nicht benutzen können.« »Stimmt. Aber du hast mich eben gereizt.« Spontan quetschte sie seine Finger zusammen und knurrte ihn mit gespieltem Ärger an. »Als du wutentbrannt davongestapft bist, habe ich dir lange nach gesehen. Sehr lange«, offenbarte Darren. »Hast du?« »Naja … du hast einen geilen Arsch.« Ihre Hände schossen in Richtung seines Gesichts. Er kippte mit dem Oberkörper nach hinten, um ihr zu entgehen. »Das war ein Kompliment!«, rief er lachend. »War es?« Er nickte heftig. »Na schön, weiter.«
Darren richtete sich auf und nahm erneut ihre Hände in seine. »Ich habe dir lange nachgestarrt, weil sich etwas in meinem Inneren ge regt hat. Du glaubst nicht, wie irritiert ich war – und bin.« »Tröste dich, ich erlebte es ähnlich. In Gedanken habe ich dich mit wenig schmeichelhaften Namen versehen und mich gefragt, warum ich mich über dich aufrege.« »Und in jeder unseren darauf folgenden Begegnungen sind wir emotionaler aneinander geraten. Und irgendwann habe ich begrif fen, dass du dabei warst, meinen Panzer zu knacken. Nach Jahr zehnten durchfluteten mich Gefühle für einen Menschen. Für dich, Shanija. Und als wir in der Moosinsel …« Augenblicklich küsste sie ihn. »Diese Nacht war wunderschön und unvergesslich.« »Lass sie uns Tag und Nacht wieder erleben – unser ganzes Leben lang.« Sie wiederholte ihren Kuss und wollte ihm gestehen, wie schön es wäre, mit ihm einzuschlafen und aufzuwachen, doch sie kramte et was anderes aus ihrem Gedächtnis. »Auch ich muss dir etwas erzählen. Mein Leben verlief in ähnli chen Bahnen wie deines. Durch meinen gewalttätigen Vater habe ich früh gelernt, meine Emotionen zu kontrollieren und im Zaum zu halten.« Er hob die rechte Augenbraue. »Hat er dich …?« »Nein, das nicht. Nur verprügelt.« »Es tut mir leid«, sagte er und streichelte ihre Wange. Sie schloss die Augen und genoss seine Fingerspitzen auf ihrer Haut. Es fühlte sich richtig an. »Der Umgang mit meinem Vater hat mich hart gemacht. Meine Jugend war ein Kampf gegen ihn und sei ne Launen, den letztendlich ich gewonnen habe, weil ich entgegen seinem Wunsch dem Militär beigetreten bin.« Sie straffte sich. »Dort habe ich alle Verehrer auf Distanz gehalten. Ich lebte nach der Devi se, keinen Mann an mich heranzulassen. Doch dann … wurde Con
Gifford in meine Einheit versetzt, und er war der Erste, der meinen Panzer aufweichte. Er reizte mich, auf die eine wie die andere Wei se. Eine schwierige Beziehung, aus der vielleicht sogar mehr gewor den wäre, wenn wir nicht gemeinsam in diesen Einsatz gegangen wären.« Sie kauerte in der Erinnerung wieder hinter dem Geräte block, der ihr Deckung vor den zischenden Thermostrahlen der An greifer bot. Von allen Seiten hörte sie die Schreie ihrer sterbenden Kameraden. Ihr Brut, das aus einer Unterschenkelwunde lief, färbte den Boden rot. Sie lugte hinter dem Geräteblock hervor, nur um zu sehen, dass Con im Kreuzfeuer der Quinternen lag. Sein Schutz schirm flackerte bedrohlich und würde jeden Augenblick zusam menbrechen, wenn ihn niemand rettete. »Shanija, komm zu dir!« Verwirrt blickte sie Darren an. »Entschuldige. Manchmal wird die Vergangenheit zu lebendig.« »Ich weiß, wie das ist«, flüsterte er. »Die Quinternen nahmen mich und Con gefangen. Was da gesch ah …« Sie schüttelte den Kopf. »Unwichtig. Auf die harte Tour er fuhr ich, dass Con und ich ein Kind gezeugt hatten. Ich wusste nicht, dass ich schwanger war, als ich in den Einsatz ging. Die Quin ternen nahmen mir das Kind.« »Du hast es verloren?« »Nicht so, wie du denkst. Sie entnahmen mir den Embryo.« Sie ballte die Fäuste und hätte am liebsten gegen die Verstrebung gedroschen, um sich abzureagieren. All die Gespräche mit den Psy chologen vom Flottenkommando hatten ihr kein bisschen geholfen. Wie konnten sie auch. Wut und Hass würden sie ihr restliches Le ben begleiten. Und die Trauer um ihre Tochter, die sie nie kennen lernen würde. Nicht auszudenken, was die Quinternen mit ihr an stellten … »Wir konnten fliehen. Con wurde auf der Flucht erschos sen, ich kam durch. Der erste und einzige Mensch, der jemals den Klauen der Quinternen entronnen ist.« Er drückte sie an sich. Es tat gut, ihn zu fühlen. »Verlass mich
nicht«, flüsterte er. »Bleib an meiner Seite. Du kannst ein neues Le ben beginnen und die Schrecken der Vergangenheit ruhen lassen.« Ihre Sehnsucht nach Liebe drängte sie zu der einzig richtigen Ant wort, doch ihr Verstand war schneller. »Ich trage Verantwortung, Darren«, sagte sie schweren Herzens. »Bleibe ich hier, besudle ich meine Hände mit dem Blut von Milliarden Menschen.« »Weshalb?« Ja, darüber hatte sie mit ihm und Mun bisher nicht gesprochen. Es wurde Zeit. »Bevor es mich in das System verschlagen hat, habe ich Unterlagen erbeutet, die das Überleben der Menschheit garantieren. Der Inhalt des Speicherkristalls müsste schon längst im Flottenkom mando der Erde analysiert werden.« »Und wenn du Samuno den Kristall aushändigst und er ihn zur Erde fliegt?« »Er kann ohne mich doch gar nicht starten. Und ich kann nicht mehr zurück, wenn wir erst einmal außerhalb der Sphäre sind.« »Ich verstehe …« Traurigkeit schwang in seinem Tonfall mit. »Komm doch mit mir! Du wirst die Erde und ihre Technik mö gen.« »Meine Heimat ist Less«, sagte er ablehnend. »Das sagt ein ruheloser Abenteurer, dem es schnell an einem Ort langweilig wird«, sagte sie fast belustigt. »Shanija, trotzdem ziehe ich meine Wurzeln nicht von einem Tag zum anderen aus dem Boden. Lass mich darüber schlafen«, wich er einer Antwort aus. Sie lächelte und vergrub sich in seinen Armen. Einige Zeit saßen sie eng umschlungen auf der Metallverstrebung, bis sie sich zu Mun und As'mala auf den Dachboden gesellten, die bereits in tiefem Schlummer lagen. Still liebten sie sich und schliefen aneinander ge kuschelt ein. *
»Los, Pack, aufwachen!« Eine leicht krächzende, männliche Stimme riss Shanija aus dem Schlaf. Sofort griff sie sich an die Brust, aber Pong war nicht da. Dar ren war ebenfalls erwacht, sie spürte es an der Anspannung seiner Muskeln. »Na los, macht schon!« Jemand trat an ihren Fuß, doch sie regte sich nicht. Sie konzen trierte sich auf die Bodengeräusche. Dem Knarren der Holzdielen nach zu urteilen waren es mehrere, und sie verteilten sich. »Au!« Katha! »Lass meine Haare los, Lir! Du tust mir weh!« Shanija schlug die Augen auf, sprang hoch und starrte in eine Pha lanx gezückter Schwerter und Äxte. An die zwanzig Frauen und Männer hatten sie und die Gefährten auf dem Dachboden umzin gelt. Sie trugen Lederharnische und sahen verwildert aus, passend zum Raumschifffriedhof. An der Seite kniete Samuno, dem eine Frau das Schwert in den Rücken drückte. Er blickte sie entschuldi gend an. Der Anführer, dessen Name vermutlich Lir lautete, stand hinter Kathas Rollstuhl. Er trug eine grüne Augenklappe, auf der ein schwarzer menschlicher Totenkopf prangte. Das von der Stirnmitte bis zum Hals verlaufende Tattoo unterstrich die gefährliche Aus strahlung des Mannes. Es erweckte den Eindruck, als sei die Haut über der Stirn aufgeplatzt und die Knochenplatte zersplittert. Stili siertes schwarzrotes Blut rann in gezackter Form über die rechte Ge sichtshälfte bis zum Hals und verschwand unter seinem Tarnfarben hemd. Shanija blickte ihm ins rechte Auge und fand dort keinerlei Wär me. »Keine Heldentaten!« Der Mann drückte dem behinderten Mäd
chen das Messer an den Hals. Die Armprothesen hatte er Katha weggenommen, sodass sie ihm völlig ausgeliefert war. Shanija blieb ruhig und versuchte ihn einzuschätzen. Sie befreite sich von der Wirkung seiner militanten Kleidung und seinem Aus sehen und konzentrierte sich auf sein Auftreten. Menschen mit mar tialischen Verhalten waren in zwei Kategorien einzuordnen. Die einen schlotterten innerlich vor Angst und versuchten bereits durch ihre aggressive Körperhaltung und Wortwahl zu bluffen, um in Ruhe gelassen zu werden. Die andere Sorte fackelte nicht lange und setzte ihre Worte um. Ihnen begegnete der kluge Kämpfer mit Ge duld und Zeit. Denn die Zeit brachte bei diesen Menschen die Schwächen zu tage. »Falls hier jemand Telekinese beherrscht und glaubt, er müsse sie anwenden, wird eine böse Überraschung erleben.« Lir deutete auf eine unscheinbare, brünette Frau, die ein Stück entfernt an der Wand lehnte. »Sie blockiert diese Kraft.« Er zielte jetzt auf die Kom mandantin. »Der Rest ist einfach. Du bist Shanija. Du kommst mit uns, die anderen bleiben hier.« »Ich gehe nirgendwo hin, solange du meine Freunde und vor al lem das Kind nicht freilässt«, widersprach sie ruhig. Ihre Gefährten kauerten am Boden. Vermutlich überlegten sie, wie sie sich der Übermacht entgegenstemmen konnten. Der Anführer lachte. »Du willst also das Blut der Kleinen fließen sehen.« Kurz kniff er sein Auge zusammen. »Soll mit recht sein!« Die Klinge ritzte in die Haut, bis die ersten Blutstropfen flossen. Ka tha wimmerte. »Dreckskerl!« Wie aus dem Nichts stieß Pong auf den Mann hinab, doch der scheuchte ihn weg wie ein lästiges Insekt. »Pong, warte!«, rief Shanija und hob die Hände. »Worum geht es dir?« Lir hielt inne. »Was ich will?« Er schob den Rollstuhl weg und kam auf sie zu. Seine Leute machten ihm respektvoll Platz. Sein Atem stank wie eine Mördergrube. »Ich bin der unumschränkte
Herrscher hier. Niemand heckt etwas hinter meinem Rücken aus. Und niemand konspiriert mit Samuno.« Er schielte kurz zu dem Wis senschaftler. »Ich rieche Verrat bis weit über dieses Tal hinaus.« »Und?« Er konzentrierte sich jetzt auf sie. Gut. »Ganz einfach«, erklärte Lir. »Obwohl alle an Samuno einen Nar ren gefressen haben, ich traue ihm seit dem mysteriösen Tod eines gemeinsamen Freundes nicht mehr. Und daher lasse ich ihn rund um die Uhr beschatten.« Er bewegte das Messer vor ihrer Brust, aber außer Reichweite. »Rate mal, was mir gestern von meinen Spionen zugetragen wurde.« Shanija schwieg. »Samuno, du großer Wissenschaftler, fasse du zusammen!«, befahl Lir, ohne sich zu dem Glatzkopf umzudrehen. Samuno stotterte: »Sha-Shanijas Sonnenkraft wird einen Raumer zum Leben erwecken und wir können dem Mond aus luftiger Höhe Lebewohl zurufen.« »Also?« Lir machte ein triumphierendes Gesicht. »Du bist mein Ticket in die Zivilisation, von der mir Samuno seit Jahren vor schwärmt.« »Du bist falsch informiert«, sagte sie kühl. »Ich habe nicht vor, das System zu verlassen.« »Du lügst, aber das ist ohne Belang für mich – du bist dabei.« »Ich sagte es bereits: Solange das Kind und meine Freunde nicht frei sind, werde ich nichts tun.« »Na gut«, lenkte Lir überraschend ein, »schließen wir einen Han del. Wir lassen deine Freunde hier, an denen bin ich sowieso nicht interessiert. Nachdem wir abgeflogen sind, werden sie einen Weg finden, sich zu befreien. Aber das Mädchen muss mit, damit sein Vater kooperiert.« »Einverstanden. Aber wenn du Katha auch nur ein Haar krümmst, bist du tot.« »Shanija …«, wisperte As'mala.
»So ist es das Beste, As'mala«, sagte Shanija. Sie warf der Abenteu rerin einen kurzen, bedauernden Blick zu. »Tut mir leid wegen ges tern Abend, aber einen anderen Weg gibt es nicht. Ihr sucht nach Seiya und befreit sie.« Sie klang so entschieden, dass As'mala schwieg. »Vernünftiges Mädchen. Und ich werde meine Vereinbarung ein halten, denn deine Freunde sind mir völlig egal.« Seinen Helfern be fahl Lir: »Fesselt sie! Und der Sonnenkraftträgerin legt das Halsband um.« Darren, Mun und As'mala wurden sorgfältig verschnürt und gek nebelt. Shanijas Hände wurden vorn gefesselt, sowie eine Art Hals band eng angelegt, dessen meterlange Leine sie an den Gürtel eines bulligen Mannes kettete. Eine Frau zerrte Katha aus dem Rollstuhl, hievte sie in eine Art Holzsitz und schnallte ihn sich auf den Rücken. Samuno wurde ebenso gefesselt und angekettet wie Shani ja. Abermals kletterten sie über Strickleitern, Kabelstränge, Verstre bungen und Plattformen durch die Wracklandschaft. Shanijas Bewe gungsfähigkeit war stark eingeschränkt, aber das war sie ja ge wohnt. Samuno tat sich da schon sehr viel schwerer und musste teil weise getragen und geschoben werden, begleitet von Flüchen. Pong folgte ihnen. Fluchend, schimpfend und mit zornschwarz bis giftig violett pulsierenden Schuppen flatterte er über ihren Köpfen, obwohl ihm Shanija mehr als einmal signalisierte, dass er die Ge fährten befreien sollte. Stattdessen nutzte er einen Moment der Ab lenkung, als niemand hersah, und ließ sich auf seinem Platz nieder. Die barbarische Truppe schien zuerst verdutzt, dass der Drache plötzlich weg war, dann folgte Erleichterung. Nach knapp einer Stunde erreichten sie einen fünfzig Meter hohen Würfelraumer und damit offenbar ihr Ziel. Das Raumschiff fügte sich perfekt in das Chaos der Wracks der Umgebung ein. Seine Rückseite bewahrte einen Walzenraumer vor dem Umfallen und an seine linke Seite war ein keilförmiges Raumschiff gekippt. Shanija
musterte das Raumfahrzeug und bedachte Samuno dann mit einem entsetzten Blick. Sie und die Bande waren einem Schwindler auf den Leim gegangen! Die rostige Außenhülle wies mehrere Einschusslö cher auf. Die rechte obere Kante war deformiert. In den Triebwerks mulden wuchsen Ranken, und stellenweise waren die Seitenwände eingebrochen. Dieses Raumschiff würde sich niemals in die Luft er heben. Dann erinnerte sie sich, dass Samuno von einem Kugel- und nicht von einem Würfelraumer erzählt hatte. Was hatte das zu be deuten? »Das ist es?«, fragte Lir skeptisch. Samuno nickte. Lir versetzte dem Wissenschaftler einen Faust schlag. »Willst du mich verarschen?«, brüllte er. »Das ist nur Tarnung!« Samuno spuckte Blut und einen Zahn aus. »Dort!«, sagte er und zeigte in das Gewirr an Verstrebungen. Samu no ging zu dem Wrack, streckte die gefesselten Hände aus, griff nach einem Hebel und drückte ihn von sich weg. Es knarrte und rumpelte. Seilzüge und eine Schiene im Boden wurden sichtbar. Langsam glitt die Vorderwand des Würfelraumers nach links und gab einen etwa zwanzig Meter durchmessenden Ku gelraumer frei, auf dessen oberem Drittel mit schwarzen Lettern Bessere Zukunft gepinselt worden war. Die blankpolierte Hülle wirk te, als käme sie direkt aus einer Werft. Zweigliedrige Teleskopstüt zen hielten das Schiff, auf dessen oberer Polkappe eine Kuppel an gedockt war. Ins Innere gelangte man über die ausgeklappte Gangway. Falls Sa muno dort genauso perfekt gearbeitet hatte wie an der Außenhülle, würde Shanija in der Tat bald diesen Mond verlassen. Und damit auch Darren. Und … die anderen. Nicht darüber nachdenken. Nur die Mission zählt. »Hast du was gesagt?« Der vollbärtige Mann, der sie an der Leine führte, stieß ihr den Stiefel in den Rücken. Sie stolperte vorwärts und röchelte, weil er gleichzeitig an der Leine gezogen hatte.
»Du bist tot«, murmelte sie, und ein gefährliches Licht entzündete sich in ihren Augen. »Rein mit euch!«, herrschte Lir sie an. Als sich alle im Beiboothangar befanden, deutete Samuno auf mehrere Stricke. Während Lirs Untergebene mit vereinten Kräften die Rampe emporzerrten, entzündete Samuno einige Grubenlam pen. Shanija machte sich keine Gedanken, wie es weitergehen sollte, wenn der Start erst geglückt war. Sie wusste, sie würde einen Weg finden, einen nach dem anderen zu erledigen. Zuerst aber musste sie weg. Ganz tief in ihr wollte sie etwas warnen, aber Samunos sympathi sche Nähe unterdrückte die nörgelnde Stimme. Sie hatte nicht ein mal mehr Furcht, dass der Einsatz ihrer Sonnenkraft sie umbringen könnte. Samuno hatte alles im Griff; er wusste, was er tat. Bald war Less nur noch Geschichte. Und alles andere Erinnerung. Ein Preis mehr, den sie zahlen musste. Nicht zu ändern. * »Wie geht es weiter?«, Samuno zuckte zusammen, als ihn Lir an schnauzte. »Über die Strickleiter im Zentralschacht«, antwortete der Wissen schaftler. »Los, Hundchen«, sagte die Frau, die ihn seit dem Verlassen seines Hauses an der Leine führte. Meter um Meter stiegen sie aufwärts. Samuno wartete, bis sich Lirs Leute in der kuppelartigen Zentrale an der Poloberseite eingefunden hatten. »Beeindruckend, oder?«, fragte er Shanija, die jedes Aggregat ge nauestens musterte. Unterhalb des Panoramabildschirms wartete ein hellgraues Kontrollpult auf den Piloten. Der Kontursessel mit der breiten Rückenlehne sorgte dafür, dass kein Mangel an Bequem
lichkeit zu beklagen war. Links und rechts davon waren nahtlos Na vigationstisch und Feuerleitstand angebracht. »Eine beachtliche Leistung, Samuno«, lobte Shanija. »Hört zu schwafeln auf!«, befahl Lir und trieb Samuno in die Mitte der Zentrale. »Zuerst muss ich die Trägerin der Sonnenkraft einweisen.« Der Wissenschaftler winkte Shanija zu sich und führte sie zu dem Ge stell, das links vom Zentralschacht im Boden eingelassen war. In der Mitte eines Laufrades »schwebte« ein Sessel, aus dessen Seitenleh nen je ein Eisenstab im neunzig Grad Winkel herausragte, der wie derum auf senkrecht im Boden montierten Stahlträgern geschweißt war. Auf der Sitzoberfläche lag ein Helm, und aus den Armlehnen ragten vier Antennen, zwei davon endeten in Plättchen. Shanija nahm wortlos Platz und setzte den Helm auf. »Bitte nehmt ihr Fesseln und Halsband ab.« »Hältst du uns für bescheuert?« »Sie braucht Bewegungsfreiheit. Und das Halsband ist aus Metall, das mit dem Sonnenkraftaktivator interferieren könnte. Ich habe bei der Konstruktion nicht damit …« »Schnauze!« Lirs Krächzen erfüllte die Zentrale. »Tut, was er sagt … und du, Sonnenschein, denkst daran, dass die Kleine bei der kleinsten Dummheit stirbt.« Shanija kommentierte seine Worte nicht. »Was muss ich tun?«, fragte sie stattdessen Samuno. »Leg deine Hände auf die Lehne.« Nachdem sie seine Anweisung ausgeführt hatte, klebte er ihr die Enden zweier Antennen auf den Handrücken und platzierte die bei den Antennen mit den Plättchen zehn Zentimeter vor ihren Augen. »Interessiert mich die Funktionsweise?« Er richtete sich auf. »Nun, die Quantengravitationsmechanik be sagt …«
Die Faust von Lir traf ihn unterhalb der Schulter. »Geh an die Ar beit und bring uns von hier fort!« Samuno stöhnte. »Sobald ich dir ein Zeichen gebe, fokussiere die Sonnenkraft und den Rest übernimmt der Aktivator.« Er tätschelte ihren rechten Unterarm. Und marschierte zum Pilotensitz. »Sucht euch einen sicheren Platz und …« Er hielt inne und zwin kerte Katha zu, »reserviert einen Sessel für meine Tochter.« Lir lachte. »Für Krüppel genügt der Boden.« Katha wurde auf den glatten Stahl gesetzt, wohingegen ihre Bewa cherin sich in einen bequemen Sessel setzte. Die Frau drückte ihr die Messerspitze an die Halsschlagader. Dem Ausdruck ihrer Augen nach würde sie keine Skrupel haben, zuzustechen. »Fang endlich an!«, forderte Lir. * Samuno nahm im Pilotensitz Platz. Alle Aggregate waren einsatzbe reit. »Shanija!«, sagte er und hob den rechten Arm. »Drei-Zwei-Eins!« Ein Knistern schwebte in der Luft, das in einem Zischen verpuffte. Schwarze Sensoren färbten sich grün. Die anlaufenden Umformer im Triebwerksdeck meldeten sich mit einem dezenten Grollen. »Es funktioniert!«, frohlockte Samuno. »Es funktioniert!« Nach einem Fingertipp auf den Triebwerkssensor steigerte sich die Geräuschkulisse zu einem Brausen. Er legte die rechte Hand um den Schalthebel, der vom Vibrieren der Schiffszelle zitterte. Langsam zog er den Hebel zu sich. Er schrie ein weiteres Mal voller Genugtuung auf. Der Raumer ge horchte ihm und löste sich unter gewaltigem Dröhnen, vibrierend und stampfend vom Boden. Die angelehnten Wracks konnten ihn nicht zurückhalten und stürzten in die entstandene Lücke.
»Wir fliegen! Wir fliegen!«, rief Samuno begeistert. »Danke, Shani ja. Danke!« * Shanija kam langsam zu sich, als ob etwas von ihr abgefallen wäre, das ihren Verstand in Watte gepackt hatte. Schlagartig erkannte sie, dass sie auf irgendeine Weise von Samuno beeinflusst worden war, ihm rückhaltlos zu vertrauen und ihm zu helfen, seinen größten Wunsch zu erfüllen – der auch der ihre war. Doch nun war der Ein fluss nicht mehr vorhanden, weil er offensichtlich übergeschnappt war und seine Gabe nicht mehr bewusst einsetzen konnte. Entgeis tert starrte Shanija auf Samuno, der seinen linken Arm triumphie rend in die Luft reckte. Der Sonnenkraftaktivator hatte keinerlei An zeichen einer Energieaufnahme gezeigt. Und der Kugelraumer be wegte sich um keinen Millimeter. Lir begriff. Er sprang zu Samuno und riss ihn hoch. »Bist du völlig irre?«, brüllte er außer sich. Samuno kicherte, er hing völlig schlaff in Lirs Griff. »Wir fliegen! Wir fliegen!«, sabberte er. Ein Ruf warnte Lir, und er wirbelte herum. Shanija bremste und starrte in den Lauf des Revolvers, den der Mann blitzschnell gezo gen hatte. »Zurück«, zischte er und spannte den Hahn der Waffe. »Dafür werdet ihr alle büßen!« Er zielte auf Shanijas Kopf. »Und mit dir fange ich an.« »Nein!« Kathas Stimme schrillte dazwischen. »Rühr Shanija nicht an, oder du stirbst!« Entsetzt sah Shanija, dass die Frau, die Katha in Schach gehalten hatte, in sich zusammengesunken war; das Messer lag auf dem Bo den. Kathas Augen leuchteten rot, und ihr verzerrtes Gesicht wirkte kaum mehr kindlich. »Na schön, dann eben dein Vater«, schnappte Lir und lenkte den
Arm ohne Verzögerung auf ein neues Ziel. Der Schuss krachte durch die Zentrale, dem ein unerklärliches Fauchen und Knistern folgte. Shanija ließ sich fallen, rollte sich über die Schulter seitlich ab und sprang kampfbereit auf. Zwischen ihr und Katha loderten meterhohe Flammen, aus denen Lirs heisere, schmerzverzerrte Hilferufe drangen. Er wälzte sich um her und ruderte dabei heftig mit Armen und Beinen, wobei er weite re unkontrollierte Schüsse abgab, bevor er den Revolver fallen ließ. Seine Leute sprangen auf, zuerst unschlüssig, was sie tun sollten. Als der Erste Richtung Schacht floh, folgten die anderen rasch nach. Die Loyalität zu ihrem Anführer endete dort, wo seine Schwäche be gann. Die Sache war verloren, also wozu die eigene Haut riskieren? »Samuno!«, rief Shanija. Aus dem Feuer schälte sich die hagere Gestalt. Mit flammenden Fäusten prügelte Samuno auf Lir ein. Seine brennende Gestalt blähte sich auf, wurde größer und explodierte schließlich. Lirs Schreie versiegten, und er krümmte sich zusammen. Seine Leute waren bereits fort. Shanija rannte zu Katha, die zusammengesunken auf dem Boden saß. »Katha! Großer Gott, was ist –« Auf Kathas Hemd prangte in Herzgegend ein roter, sich schnell vergrößernder Fleck. Shanija kniete bei ihr nieder und riss ihr Hemd auf. Knapp oberhalb des Herzens war eine der Kugeln eingedrungen. Und das war noch nicht das Schlimmste. Die gezackten Wundränder wiesen daraufhin, dass Lir die Spitze seiner Patronen abgefeilt hatte, um die verhee rendere Wirkung zu erhöhen. Das Mädchen war dem Tode geweiht, Shanija konnte nichts mehr für die Kleine tun. Vorsichtig umarmte Shanija Katha, die den Kopf an ihre Schulter lehnte. Shanija fischte ein Tuch aus der Tasche und presste es gegen die Wunde. »Ganz ruhig atmen, alles wird gut«, flüsterte sie wider besseres Wissen.
»Meine Puppe …«, begann das Mädchen mühevoll, mit fast schon versiegender Stimme, und hustete. »Samuno hat den Bösen getötet.« Das Tuch war bereits durchtränkt, und das Blut tropfte über Shani jas Finger zu Boden. »Dein Vater war sehr tapfer, Katha. Und du bist es auch, wenn du nur ein wenig …« »Ich habe dich besser beschützt, als du Lyne«, flüsterte Katha. »Ja, Katha, das hast du.« Tränen schossen Shanija in die Augen. Verzweiflung und Trauer erfüllte sie. »Eines … musst du noch begreifen«, hauchte das Kind. »Samuno … war nicht mein Vater. Aber ich … wäre gern deine Tochter gewe sen. Du vermisst sie so sehr …« »Katha …« Shanija verlor die Beherrschung und drückte das ster bende Kind schluchzend an sich. »Ist Pong da?«, murmelte Katha, schon nicht mehr ganz in dieser Welt. »Hier bin ich.« Pong schälte sich aus Shanijas Dekolleté und schmiegte sich an ihre Wange. »Du verstehst es, ja?«, wisperte Katha. Kurz bäumte sie sich auf, um abermals gegen Shanija zu sinken. »Ich …«, Katha spuckte Blut, »will nicht sterben …« »Wir müssen sie sofort punktieren!« Shanija zuckte zusammen und traute ihren Augen nicht. Links von ihr kniete plötzlich ein Mann mit einem weißen Kittel, der ihr be kannt vorkam. Sie wühlte in ihren Erinnerungen und erkannte in ihm einen der Ärzte, der sie nach der Flucht vor den Quinternen als Erster in Empfang genommen hatte. »Ich brauche einen …«, rief er und löste sich wieder auf. »Es hat keinen Sinn mehr«, flüsterte Katha. »Selbst er weiß, dass keine Hoffnung mehr besteht.« »Wie … hat sie das gemacht?«, fragte Shanija brüchig Pong, wäh rend sie dem Mädchen die Haare aus dem Gesicht strich. Die Stirn
war kalt und schweißnass. Kathas Atem ging immer flacher. »Sie ist … eine Psimagierin«, erklärte Pong. »Kraft ihres Bewusst seins schafft sie mit Hilfe von Linpha Semi-Manifestationen, die sie manipulieren kann, wie immer es ihr beliebt. Samuno war ihre Pup pe, so wie Lyne die deine.« Er deutete auf den Kristall, der unter dem Hals von Katha baumelte. »Und sie liest Gedanken. Nicht nur das, sie beeinflusst sie auch. Dich. Mich. Sie wollte uns als ihre neue Familie. Sie hat alles getan, um uns unsere Wünsche zu erfüllen, und dabei eine Blockade über uns gelegt. Mithilfe der Schwingun gen des Kristalls funktionierte es auch bei mir.« »Schon wieder ein Einfluss«, stieß Shanija bitter hervor. »Ich kann mir selbst nicht mehr vertrauen, und das … war das Einzige, worauf ich mich bisher hundertprozentig verlassen konnte. Ich habe immer perfekt funktioniert. Aber in der Flüstertüte erlag ich dem Megapa raponera, und hier …« »Verzeih mir …« Kathas Stimme war nur noch ein Hauch. »Es gibt nichts zu verzeihen, Katha«, sagte Shanija leise und küsste ihre Stirn. »Du hast das getan, was ein einsames Mädchen deines Al ters macht, das über eine solche Macht verfügt, und in seinem nutz losen Körper gefangen ist.« »Hättest du mich gemocht?« »Natürlich. Du wärst mir wie eine Tochter geworden. Vielleicht hätten wir eines Tages gemeinsam nach meiner Tochter … deiner Stiefschwester gesucht.« Katha seufzte ergeben und lächelte ein letztes Mal. »Stimmt es, dass ich in der Engelssphäre weiterlebe, wenn jemand nach meinem Tod an mich denkt?« »Ja, Katha, das stimmt.« Shanijas Tränen rannen ununterbrochen. »Und daher werde ich an dich denken, und Pong auch.« »Danke, Shanija. Dan … ke.« Kathas Stimme verstummte. Ihr Atem strich noch einmal über Shanijas Hals, dann verwehte er. Ka thas Körper sackte kraftlos zusammen.
Shanija wiegte Katha immer noch in den Armen, als die Gefährten eintrafen.
Epilog Shanija stützte sich mit den Armen auf die Fensteröffnung des durch den Wind angetriebenen Surfbuggys, den Darren aus ein paar Wrackteilen innerhalb eines Tages zusammengeschustert hatte. Den Zug hätten sie nicht mehr erreichen können. Shanija hatte für Katha einen würdigen Ruheplatz gefunden. As'mala und Mun trieben ir gendwo Waffen, Essbares und Wasser auf, während Darren schraubte und hämmerte. Lirs ehemalige Kumpane ließen sich nicht mehr blicken, vermutlich hatten sie sich in alle Winde verstreut. Pong hielt von der Luft aus Wache, aber alles blieb ruhig. Der Fahrtwind blähte das Segel auf und ließ den Buggy über die trostlose Ebene rasen, seit drei Tagen nahezu ununterbrochen ost wärts. Nur nachts ruhten sie ein paar Stunden und teilten sich die dahinschwindenden Rationen. Der Wind schlug Shanija ins Gesicht und zerrte an ihren Haaren. Erst heute Morgen hatten sie einen stäh lernen Vogel gesichtet und den Kurs nach ihm ausgerichtet, in der Hoffnung, dass er nach Hause flog. Das Land wurde immer dunk ler, je tiefer sie kamen. »Es ist nicht deine Schuld.« Behutsam legte As'mala die Hand auf ihre Schulter. Nach Kathas Tod hatten sie alle lange miteinander ge sprochen und Shanija Trost und Freundschaft gespendet. Doch so leicht konnte sie nicht vergessen. Shanija antwortete nicht, sondern starrte weiter auf das Land. Karge Sträucher flitzten an ihr vorbei, die kaum lebendig wirkten. »Das Leben geht weiter«, hatte Darren zu ihr gesagt, während er sie in seinen Armen aufzurichten versucht hatte. Natürlich ging das Leben weiter. Und natürlich würde sie all ihre Kraft aufwenden, zuerst Seiya und dann die Urmutter zu finden. Aber der Preis, den sie für ihren Kampf bezahlte, wurde immer hö
her. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Shanija Ran, dass sie der Schwelle, an der dieser Preis vielleicht zu hoch wurde, näher rückte.
Sechster Teil
Wolfgang Oberleithner
In der Tiefe
1. Dworn prüfte den Wind. Er wollte nicht vorschnell von den Ein dringlingen entdeckt werden. Keiner durfte dem Schlachtfest ent kommen. Die schuppige Haut des Jambani Kuntar war vom hellbraunen Staub der Steppe kaum zu unterscheiden. Die Krallen an seinen Bei nen drangen leicht in den ausgetrockneten Boden, und das dürre Gras schabte rau an der Haut, die sich zwischen seinen Zehen spannte. Dworn bellte heiser. Neben ihm bogen sich Sträucher zur Seite. Vier sandbraune Echsen, ebenfalls Jambani, schlossen zu ihm auf. Der Rest der Truppe folgte in zwanzig Metern Abstand. Stolz erfüllte ihn, als er feststellte, wie gut sich die zwölf Kriggets im Gelände bewegten, wie perfekt sie sich verbargen. Der flüchtige Blick eines Unwissenden würde sie nicht zu entdecken vermögen. Bis auf Krigget Nummer zwölf. Die hagere Gestalt, die das Schluss licht bildete, war ähnlich gebaut wie ein Jambani Kuntar, aber sie er regte Dworns Unmut. Dreckige Menschenbrut! Der Jambani beobachtete Narbengesicht, wie er diese Made nann te, argwöhnisch. Was sollte er mit einem Menschen? In seiner Grup pe duldete er dieses Gezücht normalerweise nicht. Zumindest nicht lange. Narbengesicht sprach zu den Gefährten. Immerzu von Ehre, und wie wenig ehrenhaft sich Dworn als ihr Gruppenführer verhielt. Da bei war Ehre nichts anderes als die lähmende Kälte des Morgens: Ballast für einen Krigget. Narbengesicht redete zu viel. Menschen hörten sich zu gerne re den, und sie vermehrten sich wie die Reuben. Sollten sie auch ster
ben wie die Reuben. Was das zu bedeuten hatte, würde Narbenge sicht noch heute erfahren. Der Wind trug den Geruch von Säugern mit sich, einer großen Reubenherde, die sich auf dem tiefer liegenden Plateau vor ihnen aufhielt. Die Sonnen standen im Rücken des Trupps und würden helfen, die dreizehn Kriggets bei der Annäherung zu verbergen. Dworn schloss die Augen und witterte nach den Reuben. Nur einen Steinwurf entfernt drängten sie ihre zitternden Leiber in der versiegenden Hitze des anbrechenden Noctums zusammen. Ein aus gewachsener Reube war halb so groß wie ein Jambani Kuntar. Sie waren Vierbeiner mit kräftigen Hinterbeinen, die den fellbedeckten Leib vorwärts schnellten. Die große Version der kleinen Nagetiere mit den langen Schwänzen. Neben sich hörte Dworn das Surren der Handkurbel von Tjelos Waffe. Sein Stellvertreter baute den Druck im Tank der Flächenwaf fe auf. Ja, es war Zeit. Der Kuntar richtete sich auf und zog die beiden vollautomatischen Projektilwaffen. Gierig sog er den öligen Geruch ein, der beißende Spuren von Schwarzpulver mit sich trug. Ein Sturm aus Begierde machte ihn schwindeln, zog ihn aus der heißen Wüstenluft in bro delnde Ekstase. Dworn streckte die Waffe hoch und öffnete seine Augen. Er drehte sich aus dem Schutz des Felsens und brachte die Waffen in Anschlag. Sein kehliges Knurren wandelte sich in ein schrilles Kreischen. Dann drückte er ab.
Mehr als ein Dutzend Waffenläufe spien Tod und Verderben auf die Reuben. Dicht kauerten die ausgemergelten Vierbeiner aneinander, als die ersten Projektilsalven die Körper der äußeren Reihen zerfetz ten und eine tiefe Schneise in die Herde schlugen. Vom Lärm aufge schreckt stoben die Tiere auseinander, sprangen in die sengende Flammenbahn, die Tjelos Flächenwaffe ihnen entgegen schickte. Kreischend und quietschend wogten die Tiere zurück in den Kessel,
der nur einen Ausgang bot. Sie hatten sich ihr eigenes Grab selbst ausgesucht. Dworn zielte tiefer, um nicht den Körper zu zerfetzen. Mit zer schossenen Beinen konnten sie auch nicht fliehen. Mit kurzen, aber gezielten Feuerstößen zwang er ein halbes Dutzend Reuben zu Bo den. Kurz darauf breitete sich ein Flammenteppich über sie. Es waren mehrere hundert Reuben gewesen, und in kürzester Zeit hatten Dworns Kriggets alle geschlachtet. Trotzdem enttäuschend. Kein Reube war ausgebrochen oder hatte auch nur versucht, sich zur Wehr zu setzen. Nichts, was ein wenig Spannung versprach. Dworn schüttelte zornig den Kopf. Dann hielt er inne. Es gab nur einen Grund, warum die Reuben sich solchermaßen verhalten haben konnten. Sie fühlten sich von weitaus Schlimmerem bedroht. Ihr natürlicher Feind musste in der Nähe sein. Eine Mo schusbestie. Dworns Gedanken überschlugen sich. »Narbengesicht«, fauchte er. »Suchst du noch immer Ehre?« Trotzig reckte der Mensch seinen Kopf und sah Dworn schräg an. Eine Herausforderung sondergleichen, und es fiel Dworn nicht leicht, sich zu beherrschen. Kriggets durften keine Kriggets töten. Aber Dworn konnte Narbengesicht auch anders loswerden. »Ich habe Ehre für dich.« Mit einer fließenden Bewegung durch trennte Dworn den Tragegurt der Projektilwaffe und stieß den vor witzigen Menschen den Steilhang hinunter auf das Plateau. Narben gesicht stolperte, fiel, überschlug sich, rutschte, überschlug sich ein weiteres Mal und blieb dann reglos liegen. Wenige Meter von ihm entfernt kroch ein schwarz glänzender Leib hinter den Felsen hervor. Halbdurchsichtige Stachel bedeckten den Rücken einer großen Echse, die es nicht allzu eilig hatte, ihr Op fer zu erreichen. Das hatte sie nicht nötig, wie sich gleich zeigte. Der Wind drehte und raubte umgehend den Kriggets den Atem. Selbst auf diese Entfernung hatte Dworn zu kämpfen, damit er sich nicht übergab.
Narbengesicht schrie kurz auf und verstummte gurgelnd. Er krümmte sich und erbrach sich, während die Bestie näher kam. Dworn nahm das Zoomgewehr von der Schulter und legte an. Er hatte sich nicht getäuscht. Durch die klare Linse der Waffe sah er, dass Narbengesicht inzwischen Blut spuckte. Es war unglaublich, wie schnell der ätzende Gestank der Moschusbestie die Haut durch setzte. Dworn hörte ein Klicken, als sich der Hahn einer anderen Zoom waffe spannte. Schnell drückte er mit seiner Pranke den Waffenlauf des Kriggets neben sich zu Boden. »Nicht schießen«, flüsterte er. »Es wäre nicht ehrenvoll.« Das Schauspiel war schnell vorbei. Die Bestie biss Narbengesicht den Kopf ab, schluckte ihn hinunter und zupfte dann an den ande ren Körperteilen. Dworn atmete tief durch. »Gut. Unser Kamerad hat sein Bestes ge geben. Tjelo?« »Ja, Kommandant?« »Nachricht an den Arbeitstrupp: alles klar zur Verladung.« * Grüne Dunkelheit. Seiya öffnete die Augen. Noch immer diese Dun kelheit. Widerwärtiger Gestank stieg in ihre Nase und brannte scharf auf den Schleimhäuten. Mit einem Ruck fuhr die Prinzessin hoch und nieste mehrmals, um den bitteren Gestank loszuwerden. Schwindel erfasste sie, und sie sank wieder zurück. Wo war sie? Der Boden unter ihr war seltsam hart und elastisch zugleich, wie zentimeterdickes Leder. Seiya blinzelte; allmählich konnte sie Einzelheiten an der hohen Decke erkennen. Ein mächti ges Gewölbe, das an die Rippenbögen eines Riesentiers erinnerte. Weder Stein noch Metall verband die Bögen, es schien vielmehr Ge webe oder speckiges Leder dazwischengespannt zu sein, denn es
schien sanft hin- und her zu schwingen. Eine Geschichte aus Seiyas Kindheit berichtete von einer gewalti gen Seeschlange, die aus dem See gekrochen kam und mehr als hun dert Menschen verschlang, während sie sich durch die Straßen der Stadt wälzte und mit ihrem Leib Mauerwerk eindrückte. So könnten ihre Überreste aussehen … Seiya versuchte sich zu erinnern, was mit ihr geschehen war. Da waren … wabernde Schatten gewesen, und ein violettes Glühen, das die Schlafkammer im Wirtshaus ausgeleuchtet hatte. Sie fröstelte. Hinter Seiya erklang plötzlich ein Schaben, und sie zuckte zusam men. Die Dunkelheit verbarg die Ursache für das Geräusch. Ein grü ner Punkt glomm auf, ein weiterer. Wie ein Steppenbrand breitete sich bald das grüne Leuchten aus, und begleitet von kratzenden und scharrenden Lauten ließ es die Weite des Raumes erahnen. Bewe gung erfasste die Lichtpunkte, und wie Blütensamen in einem Wir belsturm ballten sie sich zusammen und kreisten um Seiya. Das Sur ren wurde lauter, bedrohlicher. Einen Steinwurf von ihr entfernt bildete sich eine leuchtende Öff nung. Kurz entschlossen kroch sie darauf zu, als ein fremdartiger Umriss darin erschien. Der Sturm aus Lichtpunkten kam zur Ruhe und sie verteilten sich an den Wänden. In dem helleren Licht erkannte Seiya, dass die Ar chitektur tatsächlich eher an das Innere eines Tieres erinnerte, als an von Menschen erdachte und geschaffene Bauwerke. Die Öffnung schloss sich wieder. Zurück blieb die fremde Gestalt, umgeben vom Leuchten tausender Insekten. Mit eigentümlichen Bewegungen, so als verfüge das Wesen über zwei Gelenke je Extremität mehr als ein Mensch, kam es auf Seiya zu. Schaudernd erkannte sie Gliedmaßen mit gezackten Scheren, die sich ihr entgegenreckten; bizarr und seltsam geformt wie aus einem Alptraum. Das Wesen trug eine lange Robe, die vermutlich einen monströsen Leib verbarg. Aus einem dünnen Spalt an der Vorder seite der Robe und aus den ausladenden Ärmeln strömte ein stetiger
Fluss grün schimmernder Leiber. Die lidlosen, seitlich am dreieckig geformten Kopf liegenden Au gen schienen jede Bewegung zu registrieren. Mandibeln bewegten sich in dem kleinen Maul, als es langsam näher kam. Seiya schluckte. Rr'b'trr. Sie schüttelte den Kopf. Ich bin Rr'b'trr, die Sicherheit des Aderschlags. Der Insektoide breitete seine Scherenklauen weit zu den Seiten aus. Willkommen in der Tiefe. Es war keine Stimme, die Seiya hörte, sondern Gedanken waren plötzlich in ihr, als kämen sie aus ihr. Was erlaubte sich dieses We sen? Sie würde einen Beweis ihrer Macht liefern, ihm deutlich ma chen, dass man sich mit Prinzessin Seiya besser nicht anlegen sollte. Seiya war längst nicht mehr das überbehütete adlige Mädchen aus der Mandiranei, sie wusste sich inzwischen zu wehren. Sie bemühte sich, die Kopfschmerzen und das unaufhörliche Surren zu vertrei ben, griff tief in sich und erreichte, was sie wollte: ihre psimagische Kraft. Seiya öffnete alle Schleusen und war fest entschlossen, ihrem Wi dersacher den Garaus zu machen. Doch es kam nichts. Kein kalter Hauch, der sich rings um sie ausbreitete und die Insektenbrut in klirrendes Eis tauchte. Noch einmal konzentrierte sie sich, setzte ihre Psimagie ein, wiederum vergeblich. Ein höllisches Geräusch brandete durch das Gewölbe. Es klang wie eine Mischung aus explodierendem Glas und Metall. Seiya sah, wie Rr'b'trr sich schüttelte. Sie brauchte keinen Dolmet scher, um zu erkennen, dass er sich auf ihre Kosten amüsierte und das fürchterliche Geräusch sein Gelächter war. Doch so leicht gab sie nicht auf; stolz straffte sie sich. »Jetzt hör mal zu, du Insekt. Ich bin Seiya, Herrscherin der Mandiranei! Gib mich frei, und ich verspreche, dein Leben zu schonen.« Demonstra tiv verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Nach einer kleinen Ewigkeit, die genauso gut eine Stunde wie eine Minute gewesen sein konnte, stand Seiya in der gleichen Pose da, ohne dass etwas passiert war. Gerade wollte sie zu einer Drohung ansetzen, als die Welt vor ihren Augen barst. Auf ihrer Netzhaut ex plodierte schmerzhaftes Rot, und Seiya fühlte sich fallen. In ihrem Oberschenkel brannte ein stechender Schmerz, den sie nur hilflos re gistrieren konnte. Das trockene Chitin der Scheren drückte gegen ihre Wangen, presste sie zusammen, bis sich Seiyas Kiefer unter dem Druck öffneten. Durch die Schlieren vor den Augen sah sie Rr'b'trrs Gesicht abstoßend nahe. Schleim tropfte aus seinem Insek tenmaul auf ihr Kinn und rann den Hals hinunter. »Willkommen in der Tiefe«, sagte der Insektoid akustisch und tele pathisch. »Trägerin der Sonnenkraft.« Rr'b'trr riss die Klaue aus ihrem Oberschenkel, ließ sie achtlos zu rückkippen und kehrte ihr schwungvoll den Rücken. Während Sei ya kraftlos zu Boden sank, entfernte sich ihr Peiniger mit klackenden Geräuschen. Über ihr geriet der Insektenschwarm in Aufruhr, kreis te in wilder Wut. In seinem Zentrum flüsterte Seiya ein einziges Wort: »Shanija.« Als der Druck in ihrem Kopf anstieg, begann sie zu schreien. Ihre Gedanken zerfaserten, stoben auseinander, als wären sie eine Herde Schafe, in der sich der Herr der Fäulnis manifestiert hatte. Die junge Frau hieß die Dunkelheit mit einem letzen spitzen Schrei willkommen. * Dunkelheit. Jadegrün und matschbraun. Ein führerloses Heer aus Insekten wirbelte darin herum, quälte Seiya mit wütendem Surren und zerbrach jeden Gedanken, der in ihrem Kopf Gestalt annahm. Erst viel später klang das Brausen lang sam ab.
Seiya lag auf der Seite und krächzte heiser. Ihr Mund formte un hörbare Worte. Am liebsten hätte sie hinausgeschrien, dass Rr'b'trr die Falsche hatte! Shanija war doch die Trägerin der Sonnenkraft! Unbeholfen richtete sie ihren Oberkörper auf. Das Schwindelge fühl und die Schmerzen in ihrem Kopf peitschten hoch und senkten sich wieder. Mit kurzen Atemstößen verharrte sie und dachte an ihre Freunde. Wo waren sie jetzt? Würden sie nach ihr suchen, und – würden sie Her nach ihr suchen? Wo immer hier auch sein mochte. Noch nie hatte Seiya von einem Ort wie diesem gehört, noch nie ein Wesen wie Rr'b'trr gesehen. Die Wunde im Oberschenkel machte sich bemerkbar. »Das darf nicht wahr sein«, flüsterte sie rau. »Ich bring ihn um.« Ohne Vorwarnung brauste der Schwarm wieder hoch und ließ ihre Gedanken zerbersten. Verzweifelt presste Seiya die Handflä chen gegen die Ohren. »So helft mir doch«, schluchzte sie und kippte zur Seite. Wellen aus Schmerz und Verzweiflung durchliefen ihren zuckenden Leib. »Helft mir!« Feine Chitinbeine huschten über ihre Füße, und als sie die harten Gliedmaßen der Insekten an Ohren, Nase und in den Haaren spürte, kreischte sie.
2. Vor Shanijas Augen verschwamm die Landschaft in der flirrenden Hitze. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete die Felsbrocken, die aus dem festgebackenem Sand ragten. Eine Ge steinsformation durchstieß die Oberfläche und wand sich wie eine gigantische Schlange mehrere hundert Meter weit, um abrupt wie der im Sand zu versinken. Ein Omen? Oder ein wirkliches Wesen? Es hätte Shanija kaum überrascht, wäre dieses Gebilde plötzlich mit einem kräftigen Schwanzschlag unter den Sand abgetaucht. Nicht nach alldem, was sie in der letzten Zeit erlebt hatte. »Wüsten. Steppen. Sand. Hitze. Ich brauche nichts davon, aber hier auf Less scheint es alles im Überfluss zu geben. Besteht denn dieser Mond nur aus Wüsten?«, murmelte sie. Als hätte ein göttliches Wesen Shanija erhört, wurden die kargen Sandhügel plötzlich weniger, stattdessen hoben sich Plateaus in un terschiedlicher Größe und Höhe aus dem Boden. An den Kanten fie len sie steil ab, manche grenzten an den Steilhang eines noch höhe ren Plateaus. Shanija wählte einen Kurs, der das Weiterkommen er leichterte und weiterhin in die Richtung führte, in der sie ELIUM vermuteten. Vereinzelt ragten verdorrte Pflanzenstiele und welkes Gestrüpp aus dem Boden. Es war Shanija schleierhaft, wovon sich diese Pflanzen ernährten. Ihnen jedenfalls ging langsam aber sicher der Proviant aus. Stunden verstrichen, in denen sich die Gefährten wortlos durch die karge Landschaft schleppten. Flavor, Arausio und Rubin hatten den Zenit ihrer Bahn bereits überschritten und ließen die Schatten wieder länger werden. Mun trat neben Shanija und zupfte Blätter von einem dürren Strauch. Sollte er glauben, davon satt werden zu können? Sie schüt
telte den Kopf und ging weiter. »Wir hätten den Surfbuggy mitnehmen sollen«, maulte As'mala, die ein Stück hinter Shanija ging und missmutig einen Stein weg kickte. »Dann müssten wir nicht laufen.« »Du vergisst, dass der Mast gebrochen ist«, erinnerte Darren. »Ir reparabel. Außerdem wären wir hier ohnehin nicht mehr mit ihm vorangekommen.« Die Abenteurerin mit der aufwändigen Zopffrisur, die in dieser Hitze noch mehr Haut zeigte als sonst, murrte unzufrieden. Die Ver schnürung ihres Oberteils saß sehr locker. »Sind wir hier überhaupt richtig?« As'mala sprach aus, was schon länger an Shanija nagte. Was, wenn sie tatsächlich in die falsche Richtung gingen? Nicht auszudenken, was es für Seiya bedeuten würde, und erst recht für Shanijas Rück kehr zur Erde. Die Zeit brannte ihr auf den Nägeln, aber einen Zivi listen für diese Ziele opfern, das konnte Shanija nicht. Zu viele wa ren im Verlauf dieser Mission bereits gestorben. Sei selbst war die letzte Überlebende der Eliteeinheit WILD RAMS. Chuck, Foster, Mi chaels … alle tot. Soldaten, die ständig mit dem Tod rechnen muss ten. Aber trotzdem … sie waren nicht einfach Maschinen, sondern Menschen gewesen. Shanija wollte nicht auch noch Seiya verlieren, die ihre Freundin war und in der Gemeinschaft eine neue Familie gefunden hatte. Hoffentlich lebte sie noch! Im Schatten eines Steilhangs legte Shanija ihr Gepäck ab. Langsam kamen die Freunde zu ihr in den schmalen Streifen Dunkelheit, der zwar nicht vor der Hitze schützte, aber zumindest vor den Strahlen der drei Sonnen. »Ich mach's kurz. Wir sind zu Fuß unterwegs, un sere Vorräte sind aufgebraucht, das Wasser reicht höchstens noch zwei Tage, und wir haben keine konkreten Spuren von Seiya. – Was wir haben, sind vage Vermutungen. Was wir brauchen, ist Nahrung und der Standort von ELIUM.« Darren, der auf dem Boden saß und mit geschlossenen Augen am
Steilhang lehnte, schüttelte den Kopf. »Wir haben eine Spur. Die Metallvögel.« Er öffnete die Augen und blickte suchend in den lila farbenen Himmel von Less. »… von denen wir aber nicht sicher wissen, ob sie mit ELIUM zu tun haben.« »Richtig. Die Vögel kamen wohl erst nach dem Absturz von ELI UM, aber sie kamen aus Gadeth. Im Volksmund werden sie ›Boten aus Gadeth‹ genannt.« Shanija warf einen Blick auf Mun, der in der Zwischenzeit ein klei nes Feuer aus den gesammelten Pflanzenresten entfacht hatte. Mit seiner Linken streute Mun zerkrümelte Blätter in einen Blechbecher, der über dem Feuer stand. In der Rechten hielt er ein Stöckchen und rührte im Becher. »Mun?«, fragte Shanija. »So ist es«, nickte Mun zustimmend. »Heute war noch kein Einzi ger von ihnen am Himmel zu sehen.« Das half Shanija nicht weiter. »Darren. Was berichtet die Legende vom Absturzort?« »Also noch einmal«, begann er. »ELIUM, das Böse des Himmels und des Raumes, versank im Staube Less', wo Gottes irdene Krallen es nicht mehr preisgeben mögen. Es spie Verderben aus, doch der Brodem versiegte, das Verderben verdorrte und entschwand. Meidet das Tal der lebenden Steine.« »Das Böse des Himmels und des Raumes … das Verderben ver siegte …«, griff As'mala auf. »Ja, ein Raumschiff, das sich Less als Landeplatz ausgesucht hat, das wissen wir doch. Aber: das Verder ben versiegte. Es existiert also nicht mehr. Die Bedrohung, was sie auch gewesen sein mag, ist weg. Gestorben, abgestürzt, zerbrochen oder gefressen. Weg.« »Was ist mit den Metallvögeln?« As'malas Schlussfolgerung war für Shanija zu vorschnell. »Die gibt es noch immer.« As'mala zuckte mit den Achseln. »Vielleicht Plünderer, die sich
eingenistet haben und das Schiff nun systematisch ausschlachten.« »Im besten Fall«, sagte Shanija. »Gibt es in deinen Kreisen Hinwei se in dieser Richtung?« »Was heißt hier in meinen Kreisen?«, fuhr As'mala auf. »Willst du mich mit verlausten Plünderern auf eine Stufe stellen? Ich bin eine ausgebildete Diebin und Angehörige der Gilde!« »Ist schon gut, ich hab das nicht so gemeint«, entschuldigte sich Shanija. »Ich glaube nicht, dass Plünderer oder Diebe im Spiel sind«, sagte Darren und teilte damit Shanijas Meinung. »Das hätte sich herumge sprochen. Außerdem wäre es zu einfach.« Darren zwinkerte ihr abenteuerlustig zu und richtete sich auf. Er klopfte sich den Staub von Hemd und Hose. »Die Zeit läuft. Wir sollten aufbrechen.« »Nein«, kam Mun Shanija zuvor. Er zog das Stöckchen aus dem Becher und klopfte es am Rand ab. »Kommt her, Buntas muss man heiß trinken.« »Buntas?« Shanija sah den Adepten fragend an. Darren lachte und trat an Mun heran, während As'mala einen ab fälligen Laut von sich gab und das Gesicht verzog. »Buntas«, wiederholte Mun. »Dem Originalrezept zufolge muss man zerstampfte Buntasblätter in einen weichen Beutel füllen, draufpinkeln und zumindest zwei Wochen unter sein Kopfkissen le gen. Dann kommen Würze und Aroma richtig zur Geltung. Ich musste improvisieren, habe mich also nicht exakt an die empfohlene Zubereitung gehalten.« Darren schlug dem Adepten aufmunternd auf die Schulter. »Mun, du bist wahrhaft eine Bereicherung!« Er setzte den Becher an und nahm ein paar vorsichtige Schlucke von dem dampfenden Gebräu. Dabei stöhnte er wohlig und reichte schließlich den Becher an Shani ja weiter. *
Tatsächlich waren die letzten Stunden leichter gefallen. Der Buntas hatte Shanija frische Kraft gegeben und den Hunger weggewischt. Die Gedanken wogen leichter und eine positivere Stimmung schlich sich in ihren Kopf. Es erinnerte Shanija an ihre Zeit in den Slums. Sie hatten einen alten Mann überfallen und ihm einige Joints abgenom men, die sie in der verfallenen Fabrikhalle an der Ecke 86ste und Franklin rauchten. Geschah dem Alten recht, er hatte ihnen das Geld vorenthalten, das ihnen fürs Abfallsammeln zugestanden hatte. Shanija bemerkte die fröhlichen Gesichter ringsum, ihnen erging es also nicht anders. »Mun?«, sagte Shanija und wandte sich an den Adepten des Zen tralarchivs. »Bevor es wieder Buntas gibt, sagst du mir Bescheid.« Sie musste sich Mühe geben, dass ihre Stimme einen ernsten Ton be hielt. Mun nickte. Er hatte verstanden. Shanija vertraute ihm, dass er ihnen nur etwas Leichtes gegeben hatte. Es schien Muns Beitrag zur Beruhigung der erhitzen Gemüter zu sein und er hatte damit Erfolg gehabt. Eine seltsame Art, aber wenigstens schien er begriffen zu haben, dass Shanija derartige Überraschungen wenig schätzte. Da stieß Darren einen warnenden Ruf aus. Hinter sich hörte Shani ja heftiges Rauschen. Sie hechtete zur Seite und rollte sich ab. Ein ge waltiger Schatten glitt über den Boden, gefolgt von einem kräftigen Windstoß, der Staub aufwirbelte. Als sie hochblickte, erkannte sie eine Vogelgestalt. Die Spannweite der metallisch aufblitzenden Flü gel musste mindestens dreißig Meter betragen, der Körper wirkte seltsam deformiert und erinnerte weniger an einen Vogel, als viel mehr an einen Flugsaurier. Aber sie konnte sich auch täuschen, denn mittlerweile war der Vogel schon wieder weit entfernt. Er glitt in geringer Höhe über ein aufragendes Plateau und verschwand aus dem Sichtbereich. Darren schützte mit einer Hand seine Augen vor dem Licht der
tiefstehenden Sonnen und blickte in die Richtung, in der der Vogel verschwunden war. »Sieht so aus, als wären wir auf dem richtigen Weg, was meinst du? Ich glaube, es waren drei bewaffnete Kuntar.« Fragend wandte er sich an Shanija. Sie schüttelte kurz den Kopf. »Ich habe leider nichts erkennen kön nen.« Aber trotzdem, wenn Darren richtig gesehen hatte, hatten sie endlich wieder eine Spur! Sie waren immer noch in die richtige Richtung unterwegs. Vorausgesetzt, der Vogel flog nach Gadeth oder ELIUM. Aber es war nicht unwahrscheinlich. »Nicht mehr lan ge, und wir werden Seiya rausholen!« Selbst der stoische Mun schien eine Gemütsregung nicht unter drücken zu können und ein erlöstes Lächeln huschte über seine Ge sichtszüge. Er war also doch nicht die Maschine, die er vorgab zu sein. Das hatte auch schon der Buntas bewiesen. »So einen Vogel möchte ich auch«, sagte As'mala und ihre Finger vollführten geschmeidige Bewegungen, wie sie es immer taten, wenn sie einen kleinen Diebstahl im Sinn hatte. »Wie sich diese Me tallvögel wohl fliegen lassen?« »Kryphonen sind es nicht.« »Was du nicht sagst.« As'mala sah Shanija verärgert an. »Meinst du, dass ich sie nicht fliegen könnte? Ich bin schon mit ganz anderen Flugapparaten unterwegs gewesen.« »Geh nicht gleich wieder auf, was ist denn los mit dir? Trägst du mir die Sache in Neluv immer noch nach?« »Ach nein, es ist nur … ich mache mir Sorgen um Seiya. Jede Stun de, die wir mit nutzloser Suche verbringen, kann ihr Schlimmes pas sieren.« »Hör zu.« Shanija legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du hast zu mir gesagt, dass ich keine Schuld an Kathas Tod trage. Dann sage ich dir jetzt, dass du für Seiyas Entführung nichts kannst.« Sie hob die Hand, bevor As'mala etwas einwenden konnte. »Und jetzt Schluss damit! Hören wir beide auf. Nach vorn blicken, nicht nach hinten.« Mit ihrer Schuld musste sie sich ganz allein auseinanderset
zen, tief im Inneren. In einem besonderen Archiv, wo sich einige sol cher Altlasten türmten. Eines Tages, wenn ihre Mission erfüllt war. »Du hast ja recht. Ich … habe mich nur noch nie für jemanden so verantwortlich gefühlt wie für Seiya. Oder … dich.« As'mala schnaufte einmal tief durch. »Und jetzt schnappen wir uns so einen Metallvogel und fliegen!« Shanija setzte gerade zur Antwort an, als es an ihrem Brustbein kribbelte. »Fliegen?«, erklang gähnend eine dünne Stimme. Der kleine Schmuckdrache löste sich von Shanija und kletterte träge auf ihre Schulter. »Für Fliegen ist es doch viel zu heiß«, maulte er und be gann wie eine Katze die kleinen Ärmchen zu strecken und im Zuge einer Katzenwäsche abzulecken. Shanija mochte Pong nicht missen, aber jetzt brauchte sie ihn gera de nicht. »Sieh dich um«, sagte sie zu ihrem kleinen Begleiter. »Fällt dir was auf?« Pong hielt inne. »Diarium? Es ist ja noch das Diarium.« Er blinzel te heftig und hielt sich einen Flügel vors Gesicht, um ähnlich wie Darren die Augen zu schützen. »Wie geht es meinen Kristallen?« »Denen geht's gut.« Pong musste tatsächlich müde sein, denn er gab sich mit dieser Antwort zufrieden. »Weckt mich, wenn es Zeit für meine Noctum schicht ist. Hier stinkt es.« Mit diesen Worten rutschte er von Shani jas Schulter und verschmolz wieder mit ihr. Pong hatte recht, hier roch es. Wie auf einem Schlachtfeld.
Die Senke war von mehreren schmalen Plateaus mit geringem Hö henunterschied und mäßigem Strauchbewuchs umgeben. Der Wind trug Shanija den Gestank von Verbranntem entgegen. Sie rutschte den Steilhang mehrere Meter hinunter und gelangte zu der verkohl ten Stelle.
»Was gibt es in dieser Einöde, das es wert ist, verbrannt zu wer den?«, murmelte Shanija. Es gab keinen Zweifel, dass hier mit einer ölhaltigen Substanz gearbeitet worden war. Zu gleichmäßig war die verkohlte Fläche. Oder sollte sie besser Fragen, wer hier etwas zu verbrennen hatte, denn das war ein absichtlich gelegter Brand. In diesem Landstrich, mit seinen seltsamen Plateaus, hatten sie bislang nicht eine Spur Leben entdeckt. »Kuntar«, bemerkte Mun, der sich etwas abseits der Gefährten dem unverbrannten Boden widmete. »Ihre Klauen haben Kratzspu ren in der harten Sandschicht hinterlassen.« Darren richtete sich auf. »Die Echsen müssen die Angreifer gewe sen sein, denn hier riecht es nach verbrannten Haaren oder Fellen.« »Damit wissen wir wenigstens, dass wir hier nicht allein sind. Aber die Gesellschaft, in der wir uns befinden, gefällt mir nicht«, be merkte Shanija trocken. »Die Kuntar, wenn sie tatsächlich die An greifer waren, scheinen äußerst gefährlich zu sein. Haben sie etwas mit ELIUM zu tun? Sind das die Vorboten?« Obwohl keiner besonders erpicht darauf war, länger als unbedingt nötig an diesem Ort des Blutvergießens zu bleiben, bestanden Dar ren und Shanija auf einer genaueren Untersuchung. So fanden sich im gegenüberliegenden Steilhang Einschusslöcher, die von nachrie selndem Sand halb verdeckt worden waren. Die Projektile erinner ten Shanija an die irdischen Pendants, wie sie vor langer Zeit herge stellt worden waren. Die Anzahl der Einschüsse deutete auf einen sehr intensiven Schlag hin, der aber nur von einer Seite geführt wor den war. »Entweder hat man sich hier tagelang ein Gefecht geliefert, oder man hat mit automatischen Projektilwaffen draufgepfeffert, als wür de es kein Morgen geben«, mutmaßte Darren. »Es waren automatische Waffen.« »Warum das?«, fragte Darren. »Nur eine Seite hat geschossen, und eine lange Belagerung kann mangels ausreichender Deckung nicht stattgefunden haben. So oder
so haben wir ein Problem. Gegen automatische Waffen können wir nur mit dem hier antreten.« Shanija zückte ihr Kurzschwert und wirbelte es durch die Luft. »Ein bisschen was haben wir«, erwiderte Darren und zog zu Sha nijas Erstaunen eine abgesägte Schrotflinte aus seinem Marschge päck. »Hab ich bei der Suche nach geeigneten Teilen für den Surf buggy entdeckt. Leider nur eine Handvoll Patronen, und ob die noch funktionieren, das wird sich weisen.« »Hast du deswegen nichts darüber erzählt?«, sagte Shanija verär gert. »Ewiger Geheimniskrämer!« »Es ist meine Art, immer etwas in der Hinterhand zu haben, von dem nicht jeder weiß«, versetzte er gelassen. Natürlich, so wie er nichts von der Telekinese erzählt hatte, die er beherrschte, bis er Shanija damit das Leben rettete. Darren Hag spielte anscheinend nur nach seinen eigenen Regeln. Schwer für sie, das zu akzeptieren. Eine gleichmäßige Spur führte sie von Plateau zu Plateau. Sie war unscheinbar, entging jedoch nicht den geschärften Blicken Muns. Es handelte sich vermutlich um eine Transportvorrichtung, die den Krallenabdrücken nach von Kuntar begleitet worden war. Sie waren die Angreifer und Sieger des Gemetzels gewesen und hatten alle Leichen mitgenommen. * Nach zwei Stunden zügigem Fußmarsch standen sie vor einem Steil hang und bemühten sich, die Spur wiederzufinden. Shanija kletterte den mehrere Meter hohen Hang zur nächsten Terrassenstufe hoch. Vor ihr lag eine trostlose weite Ebene. Seltsame Furchen und Rillen, die sich bis zu einem Meter tief in den aus Marmorgestein bestehen den Boden gegraben hatten, führten symmetrisch über die Ebene, soweit das Auge reichte. Beherrscht wurde sie jedoch von einer ge
waltigen Kluft, die sich schnurgerade über mehrere Kilometer da hinzog. Die Gefährten fanden sich bei Shanija ein und verharrten stau nend. Shanija schätzte, dass die Kluft gut und gern zweihundert Meter in der Breite maß. Unzählige kleine, miteinander verbundene und ver zahnte Stege, die aus demselben marmornen Gestein bestanden, führten über den Abgrund. Die Kluft wirkte falsch. Nicht wie etwas, das in den Boden erodiert war, oder durch ein Beben auseinander gerissener Boden. Sondern sie erweckte den Eindruck, dass sie zusammenwachsen wollte. Wie in einer Höhle, wo Stalagmiten und Stalaktiten zu Stalagnaten zusam menwuchsen, aber hier nicht in vertikaler Richtung, sondern hori zontal. »Wie zwei Bürsten, die ineinander stecken«, bemühte As'mala einen schleppenden Vergleich, um gleich viel treffender zu formu lieren: »Oder wie die nadelspitzen Zähne im Maul Zyrkans.« Shanija betrachtete die Rillen, die über die gesamte Breite der Ebe ne zum Spalt führten. Das mussten ebenfalls solche Gesteinszungen gewesen sein, die im Lauf der Zeit zusammengewachsen waren und nun die Ebene bildeten, auf der die Gruppe stand. Darren stand am Rand des Spaltes und murmelte: »Für mich sieht es aus wie Krallen, Gottes irdene Krallen, die das Böse des Himmels und des Raumes nicht mehr freigeben sollten …« Damit spielte er auf das Zitat der Legende um ELIUM an, das er schon mehrmals gebracht hatte. Shanija kam nicht umhin, sich eine Übereinstimmung einzugestehen. Der Stein unter ihren Füßen war anders als alles, was sie bisher gesehen hatte. ELIUM schien in Reichweite, und damit hoffentlich auch Seiya. Sie musste hier sein, irgendwo dort unten, wo wahrscheinlich das Raumschiff lag. As'mala streckte ihren Körper. »Da unten wird es sicher alles an dere als langweilig.« Mit ernster Miene schnürte sie ihr Lederober teil wieder enger. »Ist nur so ein Gefühl.«
Ein Knirschen ließ Shanija herumfahren. Ein Loch klaffte in der glatten Fläche der Steinbrücken. Heftiges Fluchen kam aus der glei chen Richtung; Muns Stimme. Der Adept hatte inzwischen wohl völlig vergessen, dass Angehörige der Gilde der Wissensträger nie mals Gefühlsregungen zeigten. »Passt auf! Der Boden ist hier äußerst trügerisch. Manche der Steinbrücken sind hohl und brechen unter Belastung weg.« »Mist«, bemerkte Shanija. »Wie sieht es bei dir aus, Mun?« »Ich baumle wie ein Leech-Affe an einer stabileren Steinbrücke. Wenn die nicht wegbricht, dann halt ich hier noch länger aus.« »Brauchst du nicht, Süßer«, sagte As'mala und machte sich auf den Weg zum Loch. »Ich bin schon fast da.« »Warte!«, schrie Shanija. »Du wirst einbrechen, und ihr stürzt bei de ab.« »Shanija, was bist du so unentspannt? Das ist nicht meine erste Klettertour.« Und mit einem Zwinkern fügte sie hinzu: »Gefahr macht Spaß.« As'mala tastete sich zum Loch vor und kletterte hinein. »Ihr bleibt, wo ihr seid, sonst muss ich euch auch noch rausziehen.« Kurz dar auf kam sie mit Mun wieder zum Vorschein. »Ich gehe nochmal runter. Ich glaube, ich habe was entdeckt.« Und weg war sie, brach jedoch an anderer Stelle wieder durch die Oberfläche und lachte tri umphierend. »War ein guter Ansatz, Mun! Kommt her, hier führt ein Gang nach unten.« Einer nach dem anderen stiegen sie zu As'mala hinunter. Sie betra ten einen Stollen, der sich durch den marmornen Fels schlängelte. Shanija konnte keinen Weg an die Oberfläche ausmachen. »Psimagisch versiegelt«, vermutete As'mala achselzuckend, die den fragenden Blick Shanijas bemerkt hatte. Der Stollen wurde rasch breiter, in den Boden waren flache Stufen gehauen. Was sich an der Oberfläche in weit gewaltigerem Ausmaß abspielte, fand hier im Kleinen statt. Steinzungen wuchsen aus den
Wänden des Gangs, der spiralförmig in die Tiefe führte. Der Gang durchstieß schließlich die Gesteinsdecke, doch statt mas siver Wänden links und rechts befand sich nun ein Geländer an den Seiten. Die Gefährten schritten immer tiefer in eine Kaverne, deren Ausmaße Shanija nicht abschätzen konnte. Noch hatten sich ihre Augen nicht an das Halbdunkel gewöhnt. Schließlich erreichten sie den Grund. * Vor ihnen lag sumpfiges Gelände, das von dichtem Bodennebel überlagert wurde. Wendeltreppen an die Oberfläche schien es meh rere zu geben, denn in regelmäßigen Abständen konnte Shanija ge waltige marmorne Säulen entdecken in die Stufen geschlagen wa ren. Das einzige Licht in der Kaverne fiel durch die Kluft herein. Die Steinbrücken waren semitransparent, sie zerteilten und filterten das Sonnenlicht und schufen dadurch ein unheimliches Streulicht, das den Nebel zu illuminieren schien. Wie weit mochte sich die Kaverne erstrecken? Shanija konnte sich diese Frage nicht beantworten, auch die Gefährten schienen sprach los. In weiter Ferne ließ das Halbdunkel eine vage Kontur erahnen. Et was, das die Silhouette eines abgestürzten Kolosses sein konnte. Es gab keine harten Linien, keine sterile Regelmäßigkeit der irdischen Raumschiffe, selbst die Quinternenraumer waren klar als solche er kennbar. Aber das Ding hier unten wirkte wie der gestrandete Ka daver eines Wals. Gottes irdene Klauen, erinnerte sich Shanija, das Tal der lebenden Stei ne. Noch einmal betrachtete sie die Gesteinsformation hoch über sich, die Steinbrücken, die sich wider jede Logik einander entgegen streckten. Sie wirkten, als wollten sie die Kluft jeden Moment schlie
ßen, um den ruhenden Koloss zu schützen. ELIUM war auf Less abgestürzt, aber selbst die Umrisse des Wracks waren immer noch zu mächtig, als dass sie durch einen der art lächerlichen Spalt gepasst hätten. War die Kaverne ein Teil der Einflugschneise gewesen, als ELIUM hier abstürzte? Es passte nichts zusammen. Irgendwie erweckte alles den Anschein, dass es sich erst nachträglich geformt hatte, um ELIUM aufzunehmen und zu ver bergen. Hieß es nicht, dass jedes lebende Wesen, das hier auf Less strande te, eine Gabe erhielt? Selbst Pong hatte sich von einer Gefechtsein heit mit organischen Anteilen in einen Schmuckdrachen verwandelt. Ob das Schiff, das vielleicht teilorganisch gewesen war, die Gabe be saß, Steine zu formen? »Wir sollten vorsichtig sein«, murmelte sie. Wie intelligent war das Schiff, wie schnell konnte es die Gesteins massen formen? Erkannte ELIUM die kleine Gruppe als Gefahr? Shanija gefiel die Sache immer weniger. Instinktiv legte sie die Hand auf Pong, der an ihrer Brust schlummerte. In Pong ruhten die Daten der letzten Gefechtsmanöver der WILD RAMS. Die gefallenen Freunde und Kameraden waren ihr ganz nah, ihre stillen Begleiter, bis sie ih ren Abschlussbericht schreiben würde und die Nachrufe verfasste. Es würde ein verdammt langer Bericht werden. Shanija fühlte ein Kitzeln unter den Fingerkuppen; Pong war aus seiner Starre erwacht und flatterte unstet vor Shanija in der Luft. »Na, wow, cool. Was haben wir denn da? Einen riesigen Biome chanoiden? Schönes Exemplar.« Er sauste blitzartig zehn Meter wei ter voraus. »Da wollen wir doch sicher hin, oder?« Langsam lösten sich die Gefährten aus ihrer Starre. Darren räusperte sich. »ELIUM«, sagte er überflüssigerweise. As'mala stampfte ein paarmal auf den Boden, was schmatzende Geräusche erzeugte. »Hmm. Normale Erde ist das hier nicht, norma ler Sumpf genauso wenig.« Sie blickte nach oben zur Kluft. »An
scheinend ist hier immer wieder Sand reingeweht worden, und mit der Zeit hat sich dieser trügerische Sumpf gebildet. Ich frag mal lie ber nicht, wo das Wasser herkommt.« Sie blickte skeptisch in Rich tung des Gigantraumers. »Und das hier gefällt mir genauso wenig.« As'mala zeigte auf eine Stelle, die einige Meter vor ihr lag. Ein oberschenkeldicker Schlauch wölbte sich langsam aus dem Sumpf und tauchte wieder in die Nebelschwaden hinab. Mun bedeutete den Gefährten, still zu sein und zu lauschen. Überall in der Grotte hörten sie leises Platschen, zartes Schmatzen, wenn der Sand von gerillten Strängen zur Seite geschoben wurde. »Kommt ihr?«, forderte Pong und flatterte weiter auf und ab. »Du hast leicht reden, du kannst fliegen«, antwortete Shanija. »Aber du hast recht. Wir müssen zu ELIUM, und der einzige Weg führt hier durch.« Darren griff in seinen Rucksack und brachte ein würfelförmiges Metallstück zum Vorschein. »Damit wir eine Ahnung haben, worauf wir uns einlassen«, erklärte er und holte aus. In hohem Bogen flog der Würfel in die geplante Marschrichtung, durchstieß die Nebel schicht und traf mit einem lauten Platschen auf das brackige Wasser. Die Gefährten warteten, doch die Reaktion schien lediglich ein müdes Gluckern zu sein. Die Tentakel oder deren Besitzer schienen nicht aggressiv zu sein. Zumindest nicht wie im See, der den Mono lithen der Mandiranei umschloss. Dort hätten glitschige Leiber die Oberfläche zerpflügt und sich mit scharfen Zähnen um das ver meintliche Opfer gebalgt. »Also, los!« Shanija trat in die Nebelschwaden.
3. Der Gestank war furchtbar, aber das war er immer bei den Toten gas-Einsätzen. Dworn war es gewohnt, seit seinem zehnten Lebens jahr machte er diese Einsätze mit. Anfangs war es ihm nicht anders ergangen als seiner Gruppe, die kurz davor stand, ihre Innereien von sich zu geben. Der Zerhäcksler lief an, und neben ihm kippten zwei Männer die Reuben-Kadaver in einen Trichter. Wenige Meter weiter unten tra fen die Leichen auf die Klingenspindel, wurden knirschend zerhackt und rutschten dann weiter ab in die Finsternis. Tief unter der Erde landeten sie schließlich im Gärbecken und sorgten mit ihrer Zerset zung dafür, dass hier oben weiterhin Lichter brannten und Motoren liefen. Die Methangaslampen waren auf niedrigste Stufe eingestellt und erleuchteten nur die häufig beschrittenen Treppen, Wege und Be dienstationen. Abseits davon herrschten Zwielicht und Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die einem Kuntar schreckliche Angst einjagte. Der Lärm der Klingenspindel, während sie Knochen und Fleisch zer trümmerte, legte den Gehörsinn der Echsen lahm, und der Gestank, wenn man sich endlich daran gewöhnt hatte, blockierte den Geruch sinn. Hier fühlte Dworn sich hilflos und ausgeliefert wie nirgendwo sonst. Er betrachtete die Gruppe der Kriggets, die abseits stand. Sie trennten sich nicht von ihren Kameraden, keiner wollte in dieser un freundlichen Umgebung allein sein. Wie eine Herde ängstlicher Reuben wirkten sie. Dworn hatte Verständnis für ihr Verhalten, schließlich waren sie erst vor wenigen Tagen zu den Kriggets beru fen worden. Er hatte nicht gefragt, warum man entschieden hatte, derart alte Kuntar zu Kriggets zu machen. Rr'b'trr würde schon wis
sen, was er tat, und Dworn vertraute ihm; verband die beiden doch der Hass auf die Menschen. Diese Plage, die Less heimgesucht hatte und selbst vor den Reihen der Kriggets nicht halt machte. Dworn lächelte, als er an Narbengesicht zurückdachte. Der Mensch hatte seinen Beitrag geleistet, um die Reihen der Kriggets sauber zu halten. Mögest du uns viel Licht schenken. Grinsend drehte er am Regler der Methangaslampe neben sich und ging beschwingt zu seinen Kriegern. »Der Geruch des Todes«, sagte Dworn, und die Kriggets blickten ihn an. »Gewöhnt euch daran. Gewöhnt euch überhaupt an alles hier! Erst wenige Tage gehört ihr zu den Kriggets, und ihr seid gut in dem, was ihr tut. Ihr seid anderen überlegen. Aber ihr werdet sterben. Ohne Ausnahme.« Dworn betrachtete einen nach dem an deren. »Schließt die Augen. Hört das Knacken der Knochen, das Schmatzen des toten Fleisches. Riecht den Tod. Und seid ein Krig get. Ohne Furcht, ohne Skrupel und ohne Ehre. Ich sage, was ihr zu tun habt, und ihr tut es.« Die Kuntar blickten ihrem Anführer gerade in die Augen. Sie mochten noch keine Krieger sein, doch sie waren bereit dazu. »Auch ich werde sterben«, fuhr Dworn fort. »Aber mit einem Un terschied: Mir ist es egal, denn ich bin ein Krigget! Ein Krieger im Auftrag ELIUMS!« Dworn heulte grimmig, und seine Kriggets stimmten ein. * Leises Schluchzen drang aus ihrem Mund, und ihr junger Körper zitterte. Alles schmerzte. Wie viele Stunden waren seit dem letzen Besuch Rr'b'trrs vergangen? Sie wusste es nicht. Wie oft war Rr'b'trr bei ihr gewesen? Zweimal? Dreimal? Seiya konnte sich nur erinnern, dass jedem Besuch Schmerzen folgten, wenn tausende Chitinkörper gegen ihren Leib prallten und
sich mit Mandibeln an ihr festbissen. Ihr Körper musste übersät sein von roten Flecken und Wundmalen. Seiya verdrängte den Gedan ken und wagte nicht, ihren geschundenen Körper abzutasten. Sie hielt inne und hob den Kopf. Nur vereinzelt brummten grüne Leuchtpunkte durch den Raum und der Druck in ihrem Kopf lastete nicht mehr so schwer. Die Diener Rr'b'trrs mussten wie er telepa thisch veranlagt sein, denn ihre Attacken orientierten sich zumeist an ihrem wachsenden oder versiegenden Widerstand. Seiya kroch ein Stück weiter, über die knackenden Chitinpanzer der Käfer, die sie in den vergangenen Stunden erdrückt hatte, hin weg auf eine schillernde Pfütze zu. Schon Stunden zuvor hatte sie die Pfütze bemerkt, nur war sie zu der Zeit nicht durstig gewesen. Nicht so wie jetzt. Unsicher streckte sie die Hand aus und tastete in die Pfütze. Es schien tatsächlich Wasser zu sein. Sie zog sich ein kleines Stück wei ter und setzte mit den Lippen auf die Oberfläche. Bewusst vermied sie es, an der sandig und herb schmeckenden Flüssigkeit zu riechen. Sie löschte den Durst, dann rollte Seiya sich auf den Rücken. Sie vermisste Mandiranei, und auch ihre Familie. Lebten ihre El tern noch, oder hatte ihr Bruder sie tatsächlich töten lassen? Früher hatte sie oft auf ihrem in Seegrün gehaltenen Himmelbett gelegen und von ihrem Prinzen geträumt, während sie den geschmeidigen Seidenstoff unter den Fingerkuppen ertastete. Sie musste lächeln. Wie kindlich und naiv sie doch gewesen war. Ein hübscher Bursche sollte es sein, etwas rau und draufgängerisch ebenfalls, er musste zärtlich sein und für sie die Drachen vom Himmel holen. Er war groß und ruhig. Ein Fels in der Brandung. So vertieft in Gedanken war sie gewesen, während ihre Hände ih ren Körper umschmeichelten, um ihr Trost zu spenden, dass sie das böse Brummen über sich erst jetzt bemerkte. Wütend pulsierte gifti ges Grün durch den Insektenwirbel, der sie umschloss. Trotz der wunden und kratzenden Stimmbänder schrie sie auf. »Helft mir! Shanija, As'mala …«
Als wäre dies ein Signal gewesen, zog sich der Wirbel enger, und die ersten Käfer verfingen sich in ihrem Haar. Seiya konzentrierte sich instinktiv und reflexartig, um die Insekten zu vereisen, doch nichts passierte, wie jedes Mal. Aber der Angriff legte nochmals an Heftigkeit zu. Tausende harte Chitinbeine scheuerten über ihre Haut, und Beißwerkzeuge: gruben sich in ihr Fleisch. Seiya presste verzweifelt die Hände vor den Mund.
Ihr letzter Schrei war noch nicht verhallt, als sich der Schwarm plötzlich zurückzog. Seiya blickte hoch und erkannte Rr'b'trrs Um risse in der Türöffnung. Es schien ihm schwer zu fallen, sich wie ein Humanoid auf dem Boden fortzubewegen. Mit ungelenken Schrit ten stakste er zu Seiya. Neben ihm befand sich ein Wesen, das sie er schauern ließ. Die Erinnerung an den Tag der Entführung lebte schlagartig auf, als sie das Gebilde aus violettem Schleim wiedersah. Ein unförmiger Tropfen aus wabernden Schlieren. Tentakel formten sich, trieben von der Unterseite nach oben, um wieder mit dem Körper zu ver schmelzen. An der Spitze entstand eine Kerbe, und als wäre es die Schale einer Frucht, kippte die Schicht nach außen, bildete sich zu Gliedmaßen und hob den Körper an, der im Mittelteil zu einem Ten takelhaufen zerfaserte und an der Oberseite einen menschlichen Schädel ausformte. Die deformierte Fratze ließ die Kinnlade weit nach unten klappen und weitete das Maul. Noch immer war die Oberfläche unruhig, Auswüchse formten sich, wanderten über den Körper des Formwandlers und verschwanden. Seiya war von diesem Formwandler entführt, verschluckt worden. Sie konnte sich erinnern, wie ihre Bewegungen damals in diesem Schleim kraftlos wurden, wie die Kraft aus ihren Gliedern strömte, und wie es dunkel wurde. »Nein«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf. »Nein!« Ihre Stimme wurde lauter und schien ihr widersinnigerweise Kraft zu geben.
Rücklings kroch sie von diesem Wesen fort. Unter ihren Händen knirschten Chitinpanzer, die Innereien der Käfer blieben an ihren Händen kleben. Aus dem violett schimmernden Wesen schossen drei oberschen keldicke Stränge auf sie zu, die sich vom Wirtskörper lösten, Seiya umschlangen und festhielten. Langsam zerrten sie die Prinzessin unsanft zu Rr'b'trr und dem Wirtskörper. Seiya wurde über den gro brippigen Boden ihres Gefängnisses geschleift, schlug mit Oberkör per und Kopf gegen Unebenheiten und renkte ihr linkes Bein nahe zu aus. Der Formwandler hatte sich bereits abgesenkt und wannenförmig ausgebauscht, als die Tentakel ihn erreichten. Er floss unter Seiya durch und hob sie ein Stück an, während die Fesseln wieder mit ihm verschmolzen. »Was willst du von mir?«, schrie Seiya. »Sag es endlich! Willst du Informationen? Verlangst du Lösegeld? Du bekommst es! Alles, was du verlangst!« Nur – sie hatte nichts. Aber wenn es dafür aufhörte … Rr'b'trr trat klackend näher und beugte seinen Oberkörper unna türlich weit vor. Er neigte seinen eckigen Kopf zu Seiya, sodass sie in seinen Augen die Reflexion der umherschwirrenden grünblinken den Brut sehen konnte. »Es glaubt, mit mir verhandeln zu können.« Rr'b'trr stieß einen schrillen Laut aus, den der Schwarm aufnahm und hallend durch das Gewölbe trug. »Trägerin, alles was du mir bieten könntest, besit ze ich bereits.« In dem Moment, als Rr'b'trr sich aufrichtete, schwappte der Schleim über ihr zusammen. Ihr Schrei wurde im klebrigen Gallert erstickt. Kräftig umschloss die Masse ihren Oberkörper, umfloss ihre Augen, Hals, Brüste und Bauch. Die Substanz umfing ihre Ober schenkel und zog sich immer enger zusammen. Wie eine Ertrinken de versuchte Seiya, sich aus dem schleimigen Gefängnis zu befreien. Sie strampelte, ruderte … doch ihre Bewegungen erlahmten und die
Kraft verließ sie. Die blitzenden Lichter, die außerhalb des violetten Gallerts um sie wirbelten, waren das Letzte, was sie sah, als sie den Mund aufriss, um nach Luft zu schnappen. * Narbengesicht war tot, und es hatte keine Fragen dazu gegeben. Keine richtigen Fragen. Dworn hatte der Form halber die Unfallmel dung gemacht, und alle hatten abgenickt. Ein Gruppenführer war ebenfalls ein Mensch, doch der hatte es vorgezogen, nicht weiter Aufhebens davon zu machen. Ihm war wohl klar, wem die Sympa thien des Sicherheitschefs Rr'b'trr galten. Dworn trat zu seiner Gruppe und begrüßte den Ersatz, den er für Narbengesicht erhalten hatte, mit dem üblichen Fauststoß. Es war ein Jambani Kuntar. Alle in seiner Gruppe waren nun Jambani. Ohne weiteres Zeremoniell betrat Dworn mit seinen Leuten dann die Trainingshalle. Die Scharen der Kriggets waren vor einigen Ta gen verzehnfacht worden. Jeder Krigget, der bis zu diesem Zeit punkt Missionserfahrung vorzuweisen hatte, bekam die Führung über eine Zwölfergruppe von Neulingen. Der Befehl lautete, umge hend eine funktionierende militärische Einheit zu schaffen. Gleich zeitig wurde die Bereitschaftsstufe um zwei Grade verschärft. Somit konnte es jederzeit zu einem Einsatz kommen. Wie auch immer die ser beschaffen sein mochte. »Gruppenführer«, meldete sich Tjelo zu Wort. Diesen Frischling hatte Dworn zu seinem Stellvertreter gemacht. Der Kuntar hatte sich sehr geschickt im Umgang mit Waffen gezeigt und er hatte die Anweisungen Dworns nicht ein einziges Mal hinter fragt, sondern einfach nur befolgt. Bis jetzt. »Ja, Tjielo?« »Bereitschaftsstufe Räda, was genau besagt die?«
»Sie bedeutet Räda. Jederzeit kann unser Einsatzbefehl kommen, ob wir gerade Wärme tanken, uns fortpflanzen oder Menschen ver prügeln. Jederzeit.« »Sind dies Einsätze wie die gestrige Totengas-Mission?« Tjelo war auf dem besten Weg, sich die Sympathie Dworns zu ver scherzen. Das Löchern mit Fragen war neu und Dworn mochte es nicht. Ein Krigget hatte zu gehorchen und genau das zu tun, was sein Anführer forderte. »Hörst du dich gerne reden, Tjelo? Du scheinst von den Menschen was abbekommen zu haben«, knurrte Dworn. Der Stellvertreter verstummte und nahm eine straffe Haltung an. »Ein Krigget hat mit allem zu rechnen, er stellt nicht in Frage, son dern gehorcht. Er tut, was man von ihm verlangt. Ihr tut, was ich von euch verlange. Das ist eure Aufgabe, und sie ist immer gültig.« Dworn schlug mit seinen Klauen auf die umgegürteten Automatik waffen. Er sehnte sich nach der guten alten Zeit, als er keinem Haufen Neulinge beibringen musste, wie sie ihr Fläschchen Kurlazmolke halten mussten, um sich nicht daran zu verschlucken. Der Jambani sehnte sich nach seiner alten Gruppe zurück, seinem alten Gruppen führer, der nun das Kommando über den ganzen Zug hatte. In der alten Zusammenstellung hatte alles funktioniert. Jeder kannte die Stärken und Schwächen seines Kameraden. Sie waren aufeinander eingespielt. Jetzt musste er sich mit dieser wahllos zu sammengestellten Gruppe abrackern, und zu allem Überfluss war Dworn für die Führung der zwölf Echsen verantwortlich. Es konnte durchaus zu Kampfhandlungen kommen, das fühlte Dworn, und er würde sein Bestes geben, damit die Gruppe nicht wie Motten in die offene Flamme flogen. »Heute kommt das erweiterte Waffentraining«, sagte der Grup penführer zu seinen Leuten. »Und prägt euch alles genau ein. Be herrscht ihr diese Waffen, werdet ihr zu Vernichtungsmaschinen, zu wahren Kriggets. Beherrscht ihr die Waffen nicht, seid ihr und eure
Kameraden tot. Nach dem Training steht der Dianoctum-Patrouil lengang durch ELIUM am Programm.« Nicht, dass eine Patrouille nötig gewesen wäre, aber wie hunderte anderer Gruppen würden sie in den nächsten Tagen ELIUM durch streifen. Nur damit sich die Kämpfer aneinander gewöhnten. Sie sollten wissen, wie die anderen rochen, wie sie atmeten, und wie sie verdauten. Sie mussten eins werden. Dworns Gruppe betrat die Trainingshalle und gesellte sich zu tau senden von Kriggets.
4. Die hohe Luftfeuchtigkeit hatte alles aufgeweicht, was Shanija bei und an sich trug. Ihre ärmellose Bluse klebte an der Haut, und Pong hätte alle Mühe gehabt zu seinem Plätzchen zu gelangen. Shanija wischte sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht und blinzelte zur Kavernendecke, wo durch die Kluft zu sehen war, wie sich der Him mel dunkel färbte. Sie mussten sich beeilen, wollten sie nicht in die sem Sumpfstreifen übernachten. Obwohl … ELIUM wirkte genauso wenig einladend. Ihr erster Eindruck hatte sich gefestigt: Wie der Kadaver eines ver wundeten oder toten Tieres lag die Legende ELIUM vor ihnen. Über fünfzig steile Meter stieg die dunkel glitzernde Außenhülle vor ih nen in die Höhe. Alle dreißig Meter drückte sich ein narbiger Strang durch die Außenwand, der nach oben führte. Die Wand dazwischen sah wie ausgeleiertes Leder aus, das früher einmal fest gespannt sein mochte, nun aber in der Mitte durchhing und dadurch ausge härtete Falten und Taschen bildete. Shanija trat näher und streckte die Hand aus. Die Hülle war hart und glitschig. Unwillkürlich fragte sie sich, ob dieses Gebilde jemals im freien Raum gewesen war und eine Atmosphäre hatte halten können. Ihr war klar, wie ein Raumschiff funktionierte, und nach ähnlichen Prinzipien würden auch andere raumfahrende Völker ihre Schiffe bauen. Die Menschen hatten bislang nur Kontakt zu den Quinternen, aber auch auf dem Raumschifffriedhof von Neluv hat ten sich nur geringe Abweichungen zum allgemein üblichen Aufbau gezeigt. Vor der Legende ELIUM musste Shanija jedoch kapitulie ren. Was sie hier zu sehen bekam, war mit nichts zu vergleichen. Sie wusste nicht einmal, welchen Teil des Schiffes sie vor sich sah, ge schweige denn, wie viel.
»As'mala?«, wandte sich Shanija an die Gefährtin. »Wo würdest du hier den Eingang suchen?« As'mala machte ein nachdenkliches Gesicht, schüttelte dann aber den Kopf. »So etwas habe ich noch nie gesehen, es wirkt alles so or ganisch. Bei Zyrkans Eiern, ich hab keine Ahnung.« »Eine Öffnung muss es geben«, warf Darren ein, »schließlich müs sen die Metallvögel landen und starten.« »Aber oben, nicht hier unten«, bemerkte Shanija. »Außerdem kön nen die auch woanders untergebracht sein. Kommt drauf an, ob es sich um logistische Einheiten handelt oder um Kampfverbände.« Sie schritten entlang der Außenhülle des Kolosses und gelangten an Wasser. Nebelschwaden wirbelten träge über die ruhige Oberflä che. In der Kluft über ihren Köpfen waren Fathom und Flavor in zwischen verschwunden, und es wurde zunehmend dunkler. »Moment«, sagte As'mala und lief, von schmatzenden Geräuschen begleitet, zum Ufer des Sees. Geschmeidig hechtete sie über einen dicken Schlauch, der sich gerade in die Höhe wölbte, verschwand mit einem lauten Platschen im dunklen Wasser und tauchte unter. »Fuck!«, fluchte Shanija und rannte zum Ufer. Nur die heftig krei selnden Nebelfetzen zeigten die Stelle an, wo As'mala verschwun den war. »Immer dieses blinde Vorstürmen!«, schimpfte sie. Kurz entschlossen hechtete sie in den See. Brackiges und lauwar mes Wasser umfing ihren Körper. Es war widerwärtig. Shanija zwang sich, die Augen zu öffnen, aber mehr als undeutliche Schat ten konnte sie nicht wahrnehmen. Sie tauchte wieder an die Oberflä che. »Keine Chance.« Sie spuckte aus. »Ich kann zu wenig sehen.« »Das kann ich ändern«, sagte Darren und zog einen Stab aus sei nem Rucksack. Er knickte ihn in der Mitte und warf ihn Shanija zu. »Der Letzte unseres Vorrats.« Shanija fing den Stab auf, der grün zu leuchten begann. Erst sanft, dann immer stärker. »Kommt am besten gleich mit runter.« Sie holte tief Luft und tauchte.
ELIUM sah unter Wasser nicht anders aus als darüber, höchstens noch eine Spur unheimlicher. Die gleiche Struktur, die gleiche leder artige Beschaffenheit. Am Grund des Sees sah Shanija unzählige Schläuche, die ringsum vom Ufer in die Tiefe führten. Sie wogten sanft hin und her, als wären es Seeanemonen, die ihre Nesselfäden in der Strömung treiben lassen. Nur wirkte es hier und jetzt beängs tigend. Das Röhrchen erleuchtete die Umgebung verhältnismäßig kon trastreich, doch von As'mala war keine Spur zu sehen. Shanija tauchte tiefer. Weit unten schien es eine Öffnung zu geben. Als Sha nija sie untersuchte, spürte sie plötzlich ein Brennen an ihrem rech ten Fußgelenk. Etwas Glitschiges umfasste sie und zog mit einem kräftigen Ruck daran. Der Leuchtstab entglitt ihr, und krampfhaft versuchte sie das Kurzschwert zu ziehen. Vergebens.
Aus dem Nichts schoss Darren heran. Er hatte sein Messer bereits gezogen und durchtrennte damit, was auch immer den Knöchel um klammerte. Die Luft wurde allmählich knapp. Shanija tauchte nach dem Leuchtstab, da erschien As'mala in der Öffnung, grinste und hob den Daumen. Sie griff nach dem Stab und tauchte voraus ins In nere des Kolosses. Der Großteil der Schläuche mündete in diesen Unterwassertunnel, so blieb nur wenig Platz zum Schwimmen. Im letzten Moment durchstieß Shanija nach Luft ringend die Oberfläche. »Jetzt habe ich den Eingang gefunden«, begrüßte As'mala die Freunde. »Aber fragt mich nicht, wie es weitergeht.« Shanija sprang auf. »Sag mal, was denkst du dir eigentlich?« »Was soll ich mir denken? Du hast den Eingang gesucht und ich hab ihn für dich gefunden.« »As'mala, du bist nicht allein unterwegs! Du bringst mit solchen nicht abgesprochenen Alleingängen die gesamte Einheit in Gefahr!«
As'mala öffnete den Mund zu einer Entgegnung, da trat Mun da zwischen. »Shanija hat recht«, sagte er ruhig. »Auch wenn wir alle es gewohnt sind, nur für uns verantwortlich zu sein, und es uns schwer fällt, uns einzufügen: Wir sind jetzt eine Gemeinschaft, As' mala. Du solltest sagen, was du vorhast, bevor du einfach ver schwindest. Wir müssen absprechen, was getan wird, damit wir not falls zu Hilfe kommen können. Das hier ist kein Spaß mehr.« Die blonde Frau schwieg, doch sie war deutlich verunsichert und auch ein wenig beschämt. »Wo sind wir hier bloß gelandet?«, sprach Darren dazwischen und jagte damit die unangenehme Stille zum Teufel. Shanija sah sich um. Auch im Inneren ELIUMS wirkten die Wände und Versteifungsrippen organisch. Es waren keine scharfen Winkel zu sehen, kein blitzendes oder auch stumpfes Metall, keine glatte Fläche. Alles schien uneben und nicht erbaut, sondern gewachsen zu sein. Die Gefährten waren etwa auf halber Höhe in den Tunnel getre ten. Direkt vor ihnen führten die Schläuche, die sie durch das Was ser hierher geleitet hatten, schräg in die Tiefe auf den Grund des Tunnels. Unter der Decke entlang liefen Leitungen, durch die eine gelbgrün leuchtende Flüssigkeit pulste. Wie ein gigantisches Netz werk aus Adern, das sich unter die gesamte Tunneldecke spannte. Eigentümlich unstetes Licht warf die Schatten der organischen Strukturen gegen Unebenheiten im Boden und die Seitenwände. Shanija konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Schatten in ständiger Bewegung waren. Zahlreiche Tunnel aller Größen zweigten von diesem hier ab, und in jeden führten dicke Adersträn ge, die für ein Grundmaß an Beleuchtung sorgten. »Ein Zugtunnel für fünf Garnituren?«, meinte As'mala und spielte damit auf die Breite an. »Nein.« Shanija schüttelte den Kopf. »Es muss einen anderen Zweck erfüllen, oder vielleicht erfüllt haben. Wir dürfen nicht ver gessen, dass es sich um ein Raumschiff handelt, das vor langer Zeit
hier abgestürzt ist. Außerdem ist der Boden viel zu uneben. Vermut lich ist es ein Belüftungssystem oder ein Versorgungstunnel. Ange sichts der Größe dieses Dings scheint das durchaus angemessen.« »Aber einen Zug muss es geben«, beharrte As'mala weiter auf ihrer Behauptung und rutschte die Schläuche entlang zum Boden des Tunnels. »Hier ist schon mal ein Gleis.«
Die Feuchtigkeit in ELIUM war wesentlich geringer als draußen im Sumpf, und die Luft schmeckte abgestanden und muffig. Die Schie ne, die As'mala entdeckt hatte, war nicht die einzige. In einem Ab stand von einer Mannslänge verlief parallel eine weitere. Sie be schlossen, vorerst die Schienen entlang zu wandern, vielleicht stie ßen sie auf eine Station oder ähnliches. Darren und Shanija gingen voraus, As'mala und Mun folgten. »Du brütest vor dich hin?«, murmelte Darren und strich durch Shanijas Haar. »Ist es wegen As'mala?« »Nein. Ich habe diese Auseinandersetzung schon früher erwartet, mit jedem von euch. Wir sind alle Einzelkämpfer. Es wird nicht die einzige Krise sein, die wir bewältigen werden müssen, je länger wir gemeinsam unterwegs sind. Aber wir schaffen das, vor allem As' mala und ich, denn unsere Basis ist Vertrauen. In meiner Einheit gab es auch immer wieder Reibereien, weil alle Spezialisten waren.« »Was ist es dann?« Was lag hinter diesen steingrauen Augen? Wer war Darren Hag, dass er nach wenigen Diarien bereits in ihr lesen konnte wie in ei nem Buch? »Seiya. Was will man von ihr? Wie geht es ihr? Mir wäre es lieber, wenn sie mich erwischt hätten«, murmelte Shanija. »Ich bin ausgebildet, in solchen Situationen zu bestehen. Verhör, Folter … das kann ich aushalten. Das ›Kreative Töten‹ beherrsche ich ebenfalls, und Fluchtpläne sind kein Problem.«
»Kreatives Töten?« Darren horchte auf. »Das Unterrichtsfach auf der Militärakademie hieß natürlich an ders, aber wir Kadetten nannten es so. Es geht darum, wie du mit minimalen Ressourcen maximalen Schaden anrichtest. Zum Beispiel einen Menschen mit einem Strohhalm zu töten.« »Das kannst du?« Er wich ein wenig zurück. »Mhm.« Ihre Miene blieb ausdruckslos. »Das sind meine Möglich keiten. Seiya ist eine Prinzessin. Was hat sie den Entführern entge genzuhalten? Wirft sie ihnen Silberbesteck nach und ruft nach James dem Butler?« »Jetzt übertreibst du. Sie kann sich wehren, so hat es mir zumin dest As'mala erzählt. Steht dieser Borschkoj nicht zu Eis erstarrt in der Kristallhöhle? Oder auf dem Platz vor der Flüstertüte: Hat sie nicht den Säurestrahl der Ameise eingefroren? Und soweit ich Seiya bisher erlebt habe, ist sie lebensfroh, selbstbewusst und mutig. Ihr zerbrechliches Äußeres täuscht über ihre innere Stärke hinweg.« Shanija nickte. »Du hast recht, vielleicht mache ich mir zu viele Sorgen. Vor allem haben wir jetzt Wichtigeres vor uns, denn wir müssen herausfinden, ob Seiya hier ist. Dazu brauchen wir Aufklä rungsdaten: Auf welchem Terrain bewegen wir uns? Welche Gegner erwarten uns? Reichen unsere Brotmesser aus, um gegen die Entfüh rer zu bestehen?« »Der Gegner kann Metallvögel bauen«, erwiderte Darren zackig. »Gesteuert von mit Projektilwaffen ausgestatteten Kuntar. Sonst kei ne Ahnung, außer dass wir einen violetten Schleimkerl suchen, Kommandant.« Shanija lachte kurz. »Fehlt nur noch, dass du vor und hinter jedem Satz ein Sir anfügst.« Wieder einmal hatte Darren es fertig gebracht, sie zu entspannen und zu erheitern. Sein dunkelblondes Haar, das sonst immer verwegen den Kopf einrahmte, klebte nass an ihm. Sie hatte das Verlangen, ihn zu küssen. Einfach so, hier und jetzt. Plötzlich drang ein undeutliches Murmeln an ihre Ohren, gefolgt von schnell lauter werdendem Quietschen, das Reiben von Metall
auf Metall. An der Schiene entlang schoss ein undeutlicher Schemen funkensprühend auf die Gefährten zu. Sie sprangen gerade noch rechtzeitig vom Gleis. Das Quietschen brach ab, verwandelte sich in ein Klirren, Poltern und tierähnliches Gebrüll. Dann wurde es still. Mehrere Meter weiter lag ein undefinierbares Gewusel aus schlanken und spitzen Greifarmen. Das Ding streckte ruckartig ein Bein von sich und tastete nach dem Boden, rollte zur Seite und löste ein weiteres Bein aus dem Knäuel. Der Körper drehte und wand sich und letztendlich kam ein pelziges Spinnengesicht zum Vorschein. Aus acht Augen starrte das Wesen die fremden Ein dringlinge an, hob die Vorderbeine, an denen seltsamerweise ein Rad befestigt war, und begann, fürchterlich zu schimpfen und zu spucken. »Was soll das? Wollt ihr mich umbringen? Komplett verblödet, den Strang zu blockieren! Dabei habe ich eine dringende Lieferung für den Aderschlag!« Feines Fell überzog den Körper des Wesens. Mit dem Rad an den vorderen Gliedmaßen erinnerte das Wesen eher an eine Figur aus ei nem der billigen Holoschocker, die Shanija in ihrer Jugend zur Ge nüge gesehen hatte. Fehlte nur noch der verrückte Wissenschaftler. Ach so, den hatte sie ja schon in Neluv hinter sich gelassen … Die hinteren Beine waren übermäßig lang und erinnerten an die kräftigen Schenkel eines Kängurus. Stellenweise war das Fell abge schürft, und dunkelrote Tröpfchen sickerten heraus, doch ein stäh lerner Knochen schimmerte durch das Fleisch. Ein Biomechanoid? »Hey, du«, fauchte das Wesen in Richtung As'mala. »Gib das so fort wieder her!« As'mala drehte einen daumengroßen Kristallzylinder in ihrer Hand und blickte auf. Sofort verschwand der Zylinder, ohne dass Shanija feststellen konnte, wohin. Hier zeigte sich die Fingerfertigkeit As'malas deutlich. »Was tust du?«, kreischte das Wesen. »Gib sofort meine Lieferung her!« Der Biomechanoid stürmte auf As'mala zu. Sie tauchte ge
schickt unter dem Vorderrad weg und versetzte ihm aus der Dre hung einen Fußtritt gegen den Körper. Das Wesen verlor die Balan ce und gab As'mala ausreichend Zeit, Abstand zu gewinnen. Shanija und Darren sprangen gleichzeitig hinzu; doch bevor Sha nija eingreifen konnte, hatte Darren dem Ding einen Faustschlag di rekt zwischen die Augen verpasst. Es sank lautlos zusammen. »Mun, hast du noch ein wenig Buntas übrig?«, erkundigte sich Darren. Der Adept warf ihm einen Flachmann zu. Darren schnup perte kurz daran und beugte sich über das Wesen. »Das ist ein Orga mechanoid, fast das Gleiche wie ein Biomechanoid«, erklärte Darren und träufelte Buntas in die Augen des Wesens. »Steuersysteme von Orgamechanoiden bestehen aus systemfremden und systemeigenen Komponenten. Nennen wir es einfacherweise Gehirn. Die system fremden Komponenten sind meist psimagischen Ursprungs und beinhalten Einschränkungen, Regelwerk oder Aufgabenprogram mierung. Zumindest unterdrücken sie gewisse Impulse des syste meigenen Anteils.« »Die man auch freien Willen nennen könnte?«, bemerkte Mun und blickte Darren aufmerksam an. »Richtig. Ich habe interessante Dinge über derartige Steuerungen gehört. Zum Beispiel, dass die Programmierung der psimagischen Komponente mittels Chemikalien auf den Weg gebracht wird, nach dem das Fremdgewebe beim Wirt eingesetzt wurde.« As'mala hustete. »Mach so weiter, und ich vergesse endlich mei nen Hunger.« »Ich mach es kurz«, grinste Darren. »Die Verbindung zwischen den beiden Komponenten ist sehr sensibel und sollte auf keinen Fall halluzinogenen Stoffen ausgesetzt werden.« Darren hob den Flach mann. »Auch wenn sie so schwach wie unser Buntas sind.« »Du bringst dieses Wesen um?« Shanija war erstaunt. »Das kannst du einfacher haben.«
»Ich habe nicht vor, es zu töten. Der Buntas soll die Verbindung zwischen psimagischem und natürlichem Gewebe lösen.« »Und dann?« Mun antwortete anstelle von Darren. »Dann besitzt dieser Orga mechanoid einen eigenen Willen.« Er trat näher an das Wesen heran und betrachtete es. »Es wird interessant sein zu erfahren, was dieses Ding will. Falls es überhaupt funktioniert.« »Und wir wissen nicht, ob uns der freie Willen dieser Kreatur ge fallen wird«, bestätigte Darren. »Wir können es nur hoffen. Aber wenn es funktioniert, haben wir vielleicht jemanden, der uns freiwil lig den Weg zeigt.« »Wenn nicht, haben wir eine Laus im Pelz«, bemerkte As'mala. Shanija überlegte. »Ich hatte den Eindruck, dass es sehr an diesem Zylinder interessiert ist, den As'mala hat. Das Wesen sagte doch et was von Lieferung und Aderschlag. Hört sich wichtig genug an, um als Druckmittel zu dienen. Wie lange dauert die … Behandlung?« »Keine Ahnung«, gestand Darren. »Vielleicht sofort, vielleicht in zwei Diarien. Kommt auf den Organismus an. Aber sieh es von der positiven Seite: mit ein bisschen Glück haben wir jemanden, der uns zu Seiya führen kann.« Vorsichtshalber fesselten sie das Wesen.
»Seid ihr verrückt? Fesselt einen Kurier, der im Auftrag des Ader schlags unterwegs ist! Das wird euch den Kopf kosten!« »Schweig!«, brüllte Darren. Es zuckte zusammen und schien sich tatsächlich von ihm verunsichern zu lassen. »Identifiziere dich!« »Bio6, Boten- und Kurierklasse. Seriennummer 23b42.« Shanija betrachtete Bio6 genauer. Aus seinem Hinterkopf ragten feine Stränge, ähnlich dünnen Leitungen, die neben dem Hals in den
Körper führten. Sie spürte ein vertrautes Kribbeln und war ge spannt. »Was ist das?«, kreischte Pong und flatterte vor dem Orgamecha noiden auf und ab. »Was ist das?«, kreischte auch Bio6. »Ich hab zuerst gefragt!«, schnaubte Pong. »Wer seid ihr? Treibt euch hier im Randbereich herum, als wärt ihr … von außen!« Die Blicke des Biomechanoiden wanderten durch die Runde und blieben an As'mala haften. »Du …« Sie trat vor den gefesselten Bio6 und fragte ihn unschuldig: »Kann ich etwas für dich tun?« Der Angesprochene zögerte kurz. »Gib mir den Zylinder, und ich verrat euch nicht. Ist ein gutes Angebot. Nimm es an.« »Diesen hier?« As'mala hielt ihm den Kristallzylinder vors Gesicht. Die acht Augen des Wesens glitzerten, als es begierig auf den Kris tall starrte. Doch plötzlich warf ihn As'mala hoch in die Luft. Bio6 kreischte wie unter körperlichen Schmerzen auf. »Das wollte ich wissen«, sagte As'mala und trat wieder in den Hintergrund. Sie hat te damit bewiesen, dass es ein sehr wertvoller Zylinder war. Zumin dest für den Kurier Bio6. Shanija übernahm die nächste Runde. »Wo ist die Menschenfrau? Sie sieht in etwa so aus wie ich, nur ein bisschen kleiner und dünner. Vor kurzem erst wurde sie hierher gebracht.« Bio6 reagierte nicht. Shanija baute sich vor ihm auf und knurrte: »Hör zu, Kleiner. Wir können das Spiel auf verschiedene Arten spielen. Du hilfst uns und bekommst den Zylinder zurück, oder du hilfst uns nicht und stirbst.« Bio6 legte den Kopf schief und sah Shanija böse an. »Du hast dich schon verraten.« Shanija wusste, wie man in einem Gesicht lesen konnte, selbst wenn es so fremdartig war wie das von Bio6. »Es ist gut, dass du von ihr weißt. Wir wollen zu ihr. Führst du uns?«
Als Bio6 sich nicht rührte, gab sie As'mala ein Zeichen. »Mach mit dem Ding, was du willst.« »Nein! Ich meine, ja. Ich helfe euch!«, fauchte Bio6. »Nur nehmt meine Lieferung dieser Irren weg. Das ist mein Zylinder!« »As'mala wird darauf acht geben, bis wir Seiya haben. So heißt die Frau, die wir suchen. Sie ist unsere Freundin und bedeutend wert voller als dein dummer Zylinder.« Sie richtete ihren Blick auf Pong. »Du passt auf Bio6 auf. Wenn er Dummheiten anstellt – abfackeln.« »Abfackeln?«, flüsterte Bio6. »Darin bin ich ziemlich gut«, versicherte Pong. »Soll ich mal antes ten?« »Nein!« Bio6 wand sich. »Ich habe doch gesagt, ich führe euch! Und Orgas wie ich halten ihr Wort!« »Wo geht es hin?«, erkundigte sich Shanija. Sie ließ sich ihre Er leichterung nicht anmerken, wie froh sie war, der richtigen Spur ge folgt zu sein. Seiya war hier, und wie es aussah, noch am Leben! Die anderen hatten sich nicht so sehr in der Gewalt, erst recht nicht Mun. Im verhärmten Gesicht des Adepten zuckte ganz leicht ein Wangenmuskel. »In die Tiefe. Sie haben die Menschenfrau in den Brutkessel ge bracht.« »Wie weit ist es?«, wollte As'mala wissen. »Wie weit? Verstehe ich nicht. – Die genaue Entfernung ist von hier bis zur Brutstätte in der Tiefe. Denn da wollt ihr ja hin.« »Nein, eine Maßeinheit für die Distanz.« »Ach so«, sagte Bio6. »Die Entfernung ist etwa eine halbe Stunde, wenn der Strang frei ist.« »Wenn wir dabei sind, wie groß ist dann die Entfernung zu Fuß?«, fragte Mun und ließ sich auf das zweifelhafte Bezugssystem des We sens ein. Bio6 überlegte, wie sie es von ihm kennengelernt hatten, indem er seinen Kopf von einer Seite zur anderen legte. »Im Laufschritt etwa
ein Dianoctum.« Abgeschieden vom natürlichen Lauf der Gestirne verlor man schnell das Zeitgefühl, aber Shanija vermutete, dass sie bereits zwei Stunden durch die Tunnel und Gänge ELIUMS wanderten. Bio6 hat te keinen Fluchtversuch unternommen oder Anstalten gemacht, die Reise der Gefährten in irgendeiner Form zu boykottieren. Pong schi en sich mit dem neuen Begleiter gut zu verstehen. Sollte Darrens Buntas-Behandlung schon Wirkung zeigen? Shanija versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wie Bio6 sich nor malerweise fortbewegte. Das Rad hielt Kontakt mit dem Strang, die Hinterbeine wirkten wie die eines Hasen, also waren sie vermutlich für die Beschleunigung zuständig. Das Abbremsmanöver war ihr entgangen, es hatte aber den Anschein, dass Bio6 dafür seine Hinter läufe nach vorn streckte. Die Umgebung änderte sich merklich. Immer häufiger erkannte Shanija Decken und Elemente, die eindeutig künstlichen Ursprungs waren. Verstrebungen, Zwischenböden, Wände und Gitterkonstruk te hoben sich deutlich von den organischen Strukturen ab. Sie ging etwas schneller, um zu Bio6 an der Spitze aufzuschließen. »Du bist halb organisch, halb mechanisch?«, fragte Pong soeben. »Ja.« »Gefällt mir.« Freudig vollführte der kleine Drache einen Looping. »Jetzt sag mir noch eins, Freund. Wo sind eure Kristalle genau?« Wie es schien, war sie gerade zur rechten Zeit gekommen. »Wir sind nicht wegen irgendwelcher Kristalle hier«, wies sie Pong zu recht. »Bio6, wo befinden wir uns?« »Wir sind im äußeren Gürtel, im Trainingsbereich der Kriggets. Noch ein Stück weit, und wir gelangen in die Fertigung.« »Was sind Kriggets nochmal?« Bio6 blinzelte sie verblüfft an. Sie traten durch eine unscheinbare Tür auf einen schmalen Steg, der zu beiden Seiten durch ein niedri ges Geländer gesichert war. »Das sind Kriggets.« Bio6 deutete in die
Tiefe. Unter dem Steg breitete sich eine weite Halle aus. Es mussten tau sende Wesen sein, die unten standen und, wie es schien, ihr Basis training im Nahkampf absolvierten. Soweit Shanija erkennen konn te, waren es großteils Kuntar in unterschiedlichsten Ausprägungen: mit langen Schwänzen, oder ganz ohne, mit gelblichen bis tief schwarzen, ölig schimmernden Hautschuppen. Einige Menschen und andere Spezies waren auch darunter. Ihre abgehackten Schreie dröhnten durch die Halle, säuerliche Ausdünstungen hingen in der Luft. »Wofür trainieren die Kriggets?«, fragte Shanija. »Es heißt, dass man bald wieder auf Eroberung geht. Die gute, alte Zeit soll zurückkehren. Aber ohne echte Graxflame ist die Er folgschance gering.« Bio6 senkte seine Stimme. »Früher, so sagt man, hätten die Kriggets aus reinrassigen Graxflamen bestanden. Die gibt es aber nicht mehr. Will man den Geschichten glauben, dann waren es einstmals die furchterregendsten Krieger in der Wei te des Alls. Eine Handvoll Graxflame soll genügt haben, um einen ganzen Kontinent zu unterwerfen. Sie sollen jeder Klinge widerstan den und ihre Kampfschreie noch die Kinder ihrer Opfer zum Zittern gebracht haben, auch wenn schon Jahrhunderte vergangen waren.« Shanija blickte in die Tiefe. Na schön, keine Graxflame – aber hun derte Kriggets beim Training, dazu eine unüberschaubare Zahl, die fertig ausgebildet herumstreifte, und sie waren erst am Anfang des Weges in die Tiefe ELIUMS. * »Flavor ist aufgegangen!« Pongs schrille Stimme weckte Shanija. Sie rieb sich die Augen und rollte sich aus Darrens Armen. Vor ihr flatterte im grün flackernden Licht der kleine Schmuckdra che.
»Tag, Pong.« Shanija gähnte. Ihrem Gefühl nach hatten sie nur zwei oder drei Stunden geschlafen. Davor hatten sie den kümmerli chen Rest ihrer Vorräte aufgebraucht. Nahrungsbeschaffung stand somit als erster Punkt auf der Tagesordnung. Bio6 lag gefesselt und geknebelt in der Nähe. »Schlecht geschlafen?«, murmelte Darren und strich ihr zärtlich über den Rücken. »Ich fühle mich jedenfalls wie gerädert.« Shanija schmiegte sich wieder an ihn. »Jetzt ist es besser.« »Werden wir einmal richtig Zeit für uns haben?«, sinnierte Darren, den Blick auf ein unbestimmtes Ziel in der Ferne gerichtet. »Wenn wir mal nicht auf der Jagd oder einer Rettungsmission sind: wo würdest du leben wollen?« Sicher nicht in Washington-York-State, dachte Shanija. Eher Europa. Aber im Grunde hatte sie keine Pläne, sesshaft zu werden. Ihre Hei mat war das All, ihre Familie das Militär. »Auf Less gibt es viele schöne Plätzchen«, fuhr er fort. »In der Klippenstadt Tapal, über den Tausend Seen von Samban … es ist wunderschön dort.« »Oder im All«, meinte Shanija und sah in seine steingrauen Au gen. »Spürt ihr es auch?«, unterbrach Mun. »Dieser Ort hier … ist nicht gut. Ich glaube es jetzt, dass er in der Vergangenheit das Böse beher bergt hat, und er tut es noch immer. Spürt ihr die Schläge?« Sie blickten Mun fragend an. »Der Boden ist weich und elastisch, deshalb dämpft er ziemlich. Aber wenn man darauf achtet … Als würde ein gewaltiges Herz schlagen, mit einer Pulsfrequenz von zwei Schlägen in der Stunde. Ich vermute, dass ELIUM am Leben war und ist. Was immer es auch ist – es ist mehr als ein Raumschiff. Mehr, als wir uns jemals vorstel len können.« Als sie den Knebel von Bio6 gelöst hatten, polterte er sofort laut stark los und beschwerte sich über die Behandlung. As'mala hob
den Knebel drohend hoch, daraufhin wurde er zahm. »Ich brauche Nahrung«, klagte der Orgamechanoide. »Mein Stoff wechsel braucht laufend was zu tun. Wenn ich nicht bald was zu es sen bekomme, klappe ich zusammen.« Bio6 hatte zwar bisher keine aggressiven Tendenzen gezeigt, den noch traute Shanija dem Frieden nicht. Vielleicht verstellte er sich, um sie in einem unachtsamen Moment zu überrumpeln. Allerdings brauchten auch sie Nahrung. »Wo finden wir was zu essen und zu trinken?« »In einer Pilzfarm, leicht, energie- und nährstoffreich, vor allem smazelig. Gleich hier.« Bio6 wurde eifrig und steuerte, nachdem sie ihm die Fesseln gelöst hatten, auf eine schmale Tür zu. »Verschlos sen«, bemerkte er dann verblüfft. »Lass mal sehen.« As'mala schob den Orga beiseite und machte sich am Schloss zu schaffen. Kurz darauf sprang es auf, und die Tür glitt durch irgendeinen Steuermechanismus in die Wandverklei dung. Nicht einmal ELIUM war vor der Diebin sicher. Süß-säuerliche, feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Der Raum war etwa vier Meter hoch und maß zehn Meter im Quadrat. Drei Wände waren mit einer dicken Schicht weißer, hellgrüner und dunkelblauer Schläuche oder Wurzeln bedeckt. Als wären sie schwerelos, streck ten die Geflechte sich von den Wänden in die Mitte des Raums, fä cherten ihre Härchen und Kleinwurzeln aus, um möglichst viel Platz zu besetzen. Aus einigen Schläuchen rann Wasser herab. Nur die vierte Wand war vollständig frei von Bewuchs. Bio6 hatte es jetzt eilig, in den Raum zu kommen. Mit seinem Rad quetschte er einige Wurzeln ab und stopfte sie in den Mund. »Die beste Pilzfarm in diesem Sektor«, erklärte er schmatzend. »Die blau en Fadenpilze schmecken übrigens nach Manatee.« Shanija beäugte den Raum misstrauisch, doch Hunger und Durst siegten. Die Menschen schlängelten sich durch die Strukturen hin ein, ließen gierig Wasser in den Mund rinnen und brachen Wurzeln und Fäden ab.
»Salzig«, kommentierte As'mala mit vollem Mund. »Schmeckt wie Grätschhuhn«, bemerkte Darren, ebenfalls laut schmatzend. Shanija kostete eine dunkelblaue Wurzel und musste grinsen. Schmeckt tatsächlich wie Huhn. »Beeilen wir uns besser«, schlug sie vor; aber das brauchte sie den Gefährten nicht dreimal zu sagen. So schnell wie möglich schlangen sie in sich hinein, was sie zu fassen bekamen. Plötzlich hörte Shanija von draußen metallisches Rasseln. Mit ei nem Mal sank die Feuchtigkeit im Inneren der Pilzfarm ab, der Was serstrom versiegte. Shanija sah sich um. Bio6 war verschwunden. »Raus hier!«, kommandierte sie. Gerade rechtzeitig, denn die Tür, durch die sie hereingekommen waren, begann sich zu schließen. Shanija sprang hindurch, gleich hinter ihr Darren, dann As'mala, die sich gerade noch durch den schmalen Spalt quetschte. Mun schaffte es nicht mehr. »Scheiße!« As'mala versuchte, noch einmal zurückzuhechten, aber die Tür schloss sich in diesem Moment. Das metallische Rasseln wurde lauter, und eine Sirene heulte auf. Aus dem Inneren der Pilzfarm erklang ein dumpfes Poltern, das selbst hier draußen den Boden erzittern ließ. Ein Gemisch aus unter schiedlichen Geräuschen brandete auf, das die Wände zum Vibrie ren brachte. Stampfen, Scharren, Quietschen, Schleifen, Geschrei, das humanoiden Kehlen entsprungen sein mochte, und unmenschli ches Gebrüll. Nach einer Weile wurde es leiser, bis das Gebrüll ganz verstumm te. Dafür polterte es wieder laut, und Boden und Wände erzitterten unter heftigen Schlägen. Dann erklang erneut Knurren, Klirren und Stampfen. Von Bio6, der sie offensichtlich in eine Falle gelockt hatte, war kei ne Spur zu sehen. »Dieses verdammte Aas!«, fluchte As'mala. »Er hat Mun umgebracht!«
»Wenn er tot ist, dann ist er tot. Wenn nicht, dann lebt er«, hörte Shanija Bio6 hinter sich knurren. Augenblicklich sprang sie zur Sei te, und der Orgamechanoid schoss knapp an ihr vorbei, auf As'mala zu. Sein Vorderrad zischte singend durch die Luft und streifte die Abenteurerin, die sich zu Boden warf, am Brustkorb. Bio6 heulte tri umphierend. Shanija sprang und kickte dem Orga kraftvoll gegen die Schultern. Er kippte zur Seite, ruderte ums Gleichgewicht und stürzte. Das ver schaffte As'mala Zeit, auf die Beine zu kommen. Ihre bauchfreie Le derkorsage war eingerissen, und blutige Schrammen zogen sich quer über den Bauch. »Willst du das?«, schrie sie zornentbrannt und hielt Bio6 den Kristallzylinder vors Gesicht. »Vergiss es!« Mit diesen Worten trat sie ihm mehrmals in die Seite. Bio6 begann leise zu wimmern. »Fesseln wir ihn wieder«, bestimmte Shanija. »Nein«, widersprach As'mala. »Bei Hosindas Gestank, diese kleine Pestbeule wird sterben, und zwar jetzt gleich.« Sie zog das Messer und hielt es mit zornfunkelnden Augen dem Wesen an die Kehle. »Grüß deinen Schöpfer, Missgeburt.« Shanija packte As'mala am Handgelenk und hielt sie auf. »Wir fes seln ihn«, wiederholte sie scharf. Ihr Tonfall ließ keinen Wider spruch zu. As'mala ließ von Bio6 ab und murrte: »Na schön. Aber noch eine einzige falsche Bewegung, Freundchen, dann ist es aus.« Darren verschnürte den Orga. »Wieso hast du dich aus dem Staub gemacht?« »Es ist Pause. Alle Arbeiter und Kriggets stürzen sich dann in die Farmen. Aber vielleicht überlebt euer haarloser Freund das ja.« »Du dachtest also, uns auf diese feine Weise loszuwerden«, setzte Shanija an. »Warte«, unterbrach Darren. »Hört ihr das?« Shanija lauschte. Tatsächlich, das metallische Rasseln erklang wie
der, und die Sirene heulte los. Blitzartig war das Gestampfe, Geklap per, Scharren und Schleifen wieder da. »Wahrscheinlich ist es gleich vorbei«, meinte Darren. As'mala machte sich bereit, erneut die Tür zu öffnen. Doch als der Lärm verklungen war, öffnete sich die Tür von selbst – und der völ lig unversehrte Adept trat heraus. »Bei Anamas segenspendenden Brüsten!«, rief As'mala erleichtert und umarmte den Kahlköpfigen, der es überrascht zuließ. Darren und Shanija nickten ihm lächelnd zu. »Höchst interessant«, kommentierte Mun seinen Aufenthalt in der Pilzfarm. »In den Wänden selbst befinden sich die Hauptstöcke der Pilze. Ein engmaschiges Gitter hält die Stöcke in ihrer Position. Der natürliche Überlebenstrieb zwingt die Pilze, ihre Ausleger in nähr stoffreiches Gebiet wachsen zu lassen. Dies ist der Raum selbst, durch dessen Decke die angereicherte Feuchtigkeit einströmt. Meine Beobachtung hat ergeben, dass wir es hier mit einer sehr schnell wachsenden Sorte zu tun haben. Etwa einen halben Meter in der Stunde. Sobald die Sirene losgeht, passieren mehrere Dinge gleich zeitig: an den drei bewachsenen Wänden fährt eine scharfe Klinge das engmaschige Gitter entlang und durchtrennt dabei alle Wurzeln und Pilzfäden. Die nicht bewachsene Wand schwingt auf, und eine Vielzahl an Wesen strömt herein.« Shanija schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Selbst im Augenblick größter Gefahr nimmst du seelenruhig Informationen auf.« »Das ist, was ich bin, Shanija – ich sammle alle Informationen und speichere sie, obwohl ich für diese hier schon fast keinen Platz mehr habe und es nicht sehr angenehm war«, erläuterte Mun. »Was aber die lebensbedrohlichen Umstände betrifft: Ich habe bewegungslos in der Mitte verharrt, und mir wurde kein Leid zugefügt. Die Wesen stürmten herein, verschlangen eine bestimmte Portion, ohne nach Links oder Rechts zu schauen, und verschwanden wieder, während der nächste Schub hereinströmte.« »Wenn es dich so interessiert, habe ich in der Richtung noch etwas
zu erkunden: eine Fleischfarm«, bot Bio6 an. »Schmatzig, batzig, deftig und kräftig. Für das Arbeitstier von morgen.« »Wahrscheinlich hoffst du darauf, dass wir verspeist werden«, fuhr As'mala ihn an. »Was ich mich allerdings gefragt habe: Warum ist es so hektisch?«, wollte Mun wissen. »Die Arbeitszeiten sind heilig«, antwortete Bio6. »Wer zu früh oder zu spät kommt, verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Es ist exakt bemessen, da darf kein Fehler passieren. Die Zykluswahrer sind in dieser Hinsicht sehr streng, sie tragen ja auch die Verantwor tung für den ungestörten Produktionsprozess.« Shanija horchte auf. »Zykluswahrer? Können die uns gefährlich werden?« »Und ob. Die schleichen hier überall herum, auf der Suche nach Regelbrechern wie … uns.« Bio6 schluckte und zwinkerte nervös mit seinen acht Augen. »Aber man kann sie ganz leicht erkennen, denn sie sehen aus wie … wie …« »… wie der Typ da hinten, der uns so durchdringend anstarrt, nehme ich an«, vollendete Darren den Satz.
5. Seiya schrie schon lange nicht mehr. Still saß sie im grünen Zwie licht an der großen Wasserpfütze und wusch sich abwesend violette Schleimreste vom Körper. Die schillernden Schlieren trieben an der Oberfläche und wichen der wasserschöpfenden Hand Seiyas aus. Sie bemerkte es nicht. Rund um sie kreiste der Schwarm, wütend surrend, doch mittlerweile ein vertrauter Bestandteil ihres Daseins. Ein weiterer Anfall überfiel ihren zarten Körper, sie schüttelte sich, warf ihren Oberkörper nach vorn und würgte farbigen Schleim aus. Keuchend stützte sie sich auf den harten Boden. Die Übelkeit kam und ging, aber die Kopfschmerzen blieben. Seiya atmete flach und setzte sich wieder aufrecht hin. Ihre Gedan ken waren leer, nur von Zeit zu Zeit trieben Fetzen ihrer Erinnerung heran. Gesichter, die sie zu kennen glaubte, Orte, die vermutlich einst eine Bedeutung besessen hatten. Doch diese scheinbare Wirk lichkeit war nur ein Trugbild, das verwirrte und ablenkte. Es stand im Ungleichgewicht mit ihrem Leben. Suchend wanderte ihr Blick durch den Dom, der ihr Zuhause war, solange sie sich erinnern konnte. Es war nichts Ungewöhnliches dar an. Ein grün glimmender Punkt sauste heran und landete auf ihrem Oberarm, zwei weitere Punkte folgten. Die Käfer schienen sich um eine bestimmte Verkrustung zu balgen, stachen und schnitten mit ihren Kieferzangen immer wieder in Seiyas Haut. Sie ließ die Insek ten gewähren. Was sollte sie auch anderes tun? Schlug sie die Käfer weg, würden doppelt so viele landen, bis sich letzten Endes der ge samte Schwarm beteiligen würde. Ihr Kampf mit den Dienern des Herrn Rr'b'trr war ebenso zum Bestandteil ihres Lebens geworden wie die Kopfschmerzen. Einmal hatte sie im Zorn versucht, eine in sich schlummernde
Kraft zu rufen, aber die Brut hatte es verhindert. Seiya hatte eingese hen, dass es ein Fehler gewesen war, und die gerechte Wut des Schwarms über sich ergehen lassen. Nur der violette Schleim war ihr unbekannt. Sie rieb eine ausge härtete Schicht der Substanz von ihrer Schulter und beschloss Herrn Rr'b'trr bei seinem nächsten Besuch danach zu fragen. Sie hoffte, dass er bald erscheinen würde. Denn immer, wenn der hohe Herr kam, ließ ihr der Schwarm mehr Freiheiten als gewöhn lich, und Ruhe kehrte in ihrem Kopf ein. Ja, Seiya freute sich schon auf das nächste Mal. * Der drei Meter hohe Zykluswahrer sprang vor und streckte seine Arme aus, als wolle er die Menschengruppe umarmen. Die Krallen an den beiden Armpaaren machten deutlich, dass es eine tödliche Umarmung werden würde. Vier kräftige Beine katapultierten das echsenartige Untier auf die Gefährten zu. Shanija zog ihr Schwert und tauchte unter der Bestie durch. Ihre Gefährten hatten ebenfalls schnell reagiert und waren kampfbereit. Der Riese, immer noch im Schwung, fauchte wütend – und rea gierte ebenfalls mit unheimlicher Geschwindigkeit und Präzision. Er griff mit den beiden linken Armen an einige senkrecht stehende Rohre und ließ sich zum abrupten Richtungswechsel herumtragen. Die Rohre quietschten jämmerlich und brachen durch, der Zyklus wahrer verlor daraufhin endgültig den Halt und glitt mit kratzen den Krallen über den Metallboden. As'mala ließ das Kurzschwert in ihrer Hand kreisen, Mun wirbelte seinen Kampfstab durch die Luft, schlug mit einem Ende kurz auf den Boden und nahm Aufstellung. Darren zielte mit der abgesägten Schrotflinte in einer Hand auf die Echse, in der anderen hielt er das Messer. Pong beobachtete aus der Luft, um die Gefährten zu war
nen; Kaskaden von Rottönen zuckten über seinen sonst silbrigen Leib. »Ihr widersetzt euch?«, grollte es aus der Kehle des Zykluswah rers. »Ihr seid Narren – tote Narren.« »Leeres Geschwätz«, spottete Shanija. »Flieh, ergib dich oder greif an. Aber, bei den manifestierten Göttern von Less, vergeude nicht unsere kostbare Zeit!« Erneut stürmte die Echse heran. Mun machte einen Satz vorwärts, tauchte unter einem Arm weg und schlug mit dem Stab auf das Ge lenk eines weiteren Arms, dass es knirschte. As'mala widmete sich den Armen der anderen Seite, während Pong im Sturzflug auf die Augen des Riesen losging. Shanija und Darren wandten sich der Vorderseite zu. Aus Darrens Flinte krachte ein Schuss, hinterließ aber an der knöchernen Schnau ze des Gegners lediglich eine oberflächliche Wunde. Das Biest schnappte nach Shanija. Sie hechtete zur Seite, kam blitzschnell wie der auf die Beine und visierte die Kehle der Echse an. Doch der Schuppenpanzer war zu hart, die Klinge glitt wirkungslos ab. Shani ja musste einen anderen Angriffswinkel wählen, vielleicht hatte sie dann mehr Erfolg. Doch zuerst musste sie sich in Sicherheit bringen. Drei Arme griffen nach ihr und verfehlten sie um Haaresbreite. Die Flinte krachte erneut, und mehrere der nadelspitzen Zähne brachen weg. Die Bestie schrie auf und spuckte Blut, ihre ganze Wut richtete sich jetzt gegen Darren. Aber noch bevor der Schädel auf ihn nieder fahren konnte, raste Pong, der nun freie Bahn hatte, ungebremst in ein schwarz-glänzendes Auge, schlug mit den Krallen zu und spuckte Feuer. Das Geschrei steigerte sich zu ohrenbetäubendem Gebrüll. Der mittlerweile an mehreren Stellen blutende Körper der Echse wand sich, drehte sich und streckte sich mit immenser Kraft und Wucht. Die Seitenwände des Gangs bogen und verbeulten sich unter dieser Gewalt. Shanija setzte jetzt alles auf eine Karte. Sie sprang auf die Wand
zu, stieß sich davon ab und katapultierte sich zum herabgesenkten Kopf des Zykluswahrers. Während ein weiterer Schuss ertönte, rammte Shanija ihre Klinge seitlich zwischen die Schuppenreihen und stieß sie tief hinein, bis in die Gurgel. Dann zog sie das Schwert mit einem scharfen Ruck wieder heraus und stieß sich von dem Zy kluswahrer ab, landete auf dem Boden und rollte sich herum, sofort wieder kampfbereit. Der Zykluswahrer verharrte. Blut strömte aus dem zerfetzten Auge und sprudelte aus der Halswunde, sein Atem ging stoßweise. Dann fiel er, und die Gefährten sahen schleunigst zu, dass sie außer Reichweite kamen. Dröhnend schlug das riesige Wesen auf. »Autsch«, bemerkte Shanija trocken und rieb sich mit der rechten Hand den Oberarm. »Mistvieh. Was ist mit euch? Alles überstan den?« As'mala stand ächzend auf, Darren überprüfte seine Flinte, und Mun vergewisserte sich, dass der Zykluswahrer wirklich tot war. Bis auf leichte Verletzungen waren sie alle gut davongekommen. »Was habt ihr getan?«, brachte sich Bio6 mit schriller Stimme wie der in Erinnerung. Noch immer lag er gefesselt in der Ecke. »Warum habt ihr ihn getötet?«, beklagte er sich. »Man wird glauben, dass ich geholfen habe! Nie wieder wird man mir Arbeit geben, oder Schlim meres …« Darren, Pong und As'mala sicherten den Gang und signalisierten Freizeichen. Anscheinend mischte man sich nicht so schnell ein, wenn ein Zykluswahrer irgendwo zugange war. Also blieb ihnen noch ein wenig Zeit, bevor jemand nachsehen kam, wie der Kampf ausgegangen war. »Hör zu, Bio6.« Shanija stellte sich vor ihn. »Es gibt zwei Möglich keiten. Arbeite mit uns zusammen, dann lassen wir dich frei, und du bekommst deine Lieferung zurück. Weigere dich, und wir lassen dich ohne Zylinder bei der Leiche des Wahrers. Die Kriggets werden sich bestimmt darüber freuen.« As'mala trat mit ernster Miene an Shanija heran. »Wie kannst du
ihn leben lassen, nachdem er uns in diese Falle gelockt hat? Er wird es wieder tun.« »Natürlich versucht er es wieder, aber wir werden darauf vorbe reitet sein.« »Dich soll einer verstehen«, stöhnte As'mala und stützte ihre Hän de an die Hüften. Die Wunden auf ihrem flachen Bauch hatten schon lange zu bluten aufgehört und bildeten Krusten. »Wenn du eine Idee hast, wie wir Seiya ohne ihn schneller finden, lass uns daran teilhaben«, versetzte Shanija. As'mala winkte ab, inzwischen konnte sie sogar schon wieder grinsen. Mun mahnte: »Wir müssen verschwinden.« »Wie viele Stunden sind es noch bis zur Brutkammer der Tiefe?«, fragte Shanija den Orgamechanoiden. »Brutkessel«, korrigierte Bio6. »Es heißt Brutkessel, und er ist etwa elf Stunden entfernt.« Bio6 neigte seinen Kopf. »Aber ihr wisst, dass es dort noch viel gefährlicher ist als hier?« »Wir haben keinen romantischen Abendspaziergang erwartet«, antwortete Shanija kühl. Der Orga schien ratlos. »Warum macht ihr das? Warum wollt ihr die Menschenfrau zu einem möglicherweise hohen Preis stehlen?« As'mala funkelte Bio6 aus stahlblauen Augen an. »Seiya gehört zu uns. Sie ist ein Teil von uns. Und wir stehlen sie nicht, sondern wir retten sie. Sie ist schließlich gegen ihren Willen hierher verschleppt worden.« »Aber«, machte Bio6 nachdenklich, »es ist doch nicht logisch, dass ihr vier Leben riskiert, um ein Leben zu retten?« »Das ist so in einer Gemeinschaft«, zischte As'mala. »Man ist für einander da und lässt niemanden im Stich. Und schon gar nicht ver übt man hinterhältigen, feigen Verrat, nachdem man versprochen hat, zu helfen.« »Wo müssen wir entlang?« Shanija hatte kein Interesse, sich das
länger anzuhören. »Dort.« Bio6 deutete mit seinem Rad auf ein hohes Doppelflügel tor. »Der kürzeste Weg führt durch die Fertigungsstraßen.« Damit war seine Entscheidung gefallen, welche der beiden ange botenen Möglichkeiten er ausschöpfen wollte.
Das Tor schwang auf und offenbarte eine genauso unglaubliche wie unwahrscheinliche Welt. Ein stabiles Metallgerüst führte hunderte Meter nach oben und hielt dort gewaltige Pfannen unter der Hallendecke. Ein komplexes Röhrensystem führte an die Pfannenunterseiten. Aus mehreren Öff nungen fauchten blaue Flammenbahnen und prallten gegen die Wandungen. »Die Metallschmelze«, erklärte Bio6. »In diesen Pfannen werden die unterschiedlichen Roherze oder Schrott aus den Destruktoren hallen gesammelt und eingeschmolzen. Und, ja, hmm … ich denke, dass die Metalle durch die dicken Rohre fließen und verschiedene …« Er wusste nicht mehr weiter. »Aber das ist ja nicht so inter essant. Viel schöner ist das hier. Kommt.« »Warte«, stoppte Shanija den Vormarsch. »Wie viele Zykluswah rer gibt es hier?« »Einen.« Bio6 wies zurück zum Tor. »Der bereitet uns keine Pro bleme mehr.« Sie setzten den Weg fort. As'mala war gereizt über das begeisterte Geplapper des Orgamechanoiden, aber Darren und Mun hörten auf merksam zu. Shanija hingegen hoffte, dass Bio6 nicht wieder auf dumme Ideen kam, solange sie ihn »bei Laune« hielten, und achtete auf das Tempo. Bio6 deutete auf einen großen Kessel, in dem rotglühend Flüssig metall wogte. Ein humanoider Arbeiter mit verrußtem Gesicht und neongrünem Kopfschutz griff in eine Tonne neben sich und holte
einen schwabblig wirkenden Ball heraus. Dann stellte er sich wie ein Werfer auf, beugte den Oberkörper vor und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. Mehrmals schüttelte er den Kopf, bis er end lich nickte, ausholte und etwas mit gewaltigem Schwung gegen ein aufgemaltes rotes Kreuz schleuderte. Das Ding schlug genau in der Mitte ein, prallte ab und landete im Kessel mit dem flüssigen Metall. Ein anschwellendes Quietschen erklang, das von einem Puff beendet wurde. Eine graue Wolke stieg dort auf, wo der Ball in die Schmelze getaucht war. Der Arbeiter hastete an ein Kontrollpult und betätigte einige He bel. Plötzlich schien aus der Mitte des Kessels eine Fontäne flüssigen Metalls aufsteigen zu wollen, fiel aber auf halbem Wege nach oben in sich zusammen. Der Arbeiter eilte zurück zu seiner Tonne und griff wieder hinein. »Das ist Bug Grasnik, der Star der Untergrund-Stockball Mann schaft. Der beste Werfer!«, erklärte Bio6 stolz. »Was macht er da?«, fragte Mun. »Er mischt die Schmelzen korrekt ab, dosiert das Umbranium, Grittadon, dann Ferrum und Zinnco. Die kleinen Filzbällchen sind sozusagen Verwandte von mir. Wir kommen aus dem gleichen La bor.« »Das sind Lebewesen?«, hakte Mun ungläubig nach. »Ja. Seht hin.« Der Orga deutete auf den Kessel. »Der Filzball ist zu einer gelben Wolke verdampft. Ich weiß zwar nicht, ob Gelb gut ist, aber Bug Grasnik kann daraus ableiten, ob die Schmelze schon die richtige Zusammensetzung hat.« »Ich glaub das nicht …« »Doch, es ist wahr. Das sind psimagische Züchtungen, das ist der Sinn ihres Lebens. Ohne die Metallschmelzerei würde es sie gar nicht geben. Und, unter uns gesagt, ich hab versucht, mich mit ei nem zu unterhalten – die sind dumm. Aber andererseits, wozu brau chen die ein Gehirn? Es ist alles genau so, wie es sein muss.«
Shanija musterte Bio6 von oben bis unten. »Du nimmst den Intelli genzgrad als Entscheidungskriterium, ob ein Leben lebenswert ist?« »Ja. Wieso nicht?« Shanija ärgerte sich. Schon wieder hatte sie sich hinreißen lassen. Der kleine Orgamechanoid bewirkte durch seine naive Weltan schauung, dass Shanijas Wachsamkeit nachließ. »Weiter, und schneller!« Sie betraten einen düsteren Wartungstunnel, den sie nach wenigen hundert Metern durch eine Luke verließen und fanden sich in einem langen, schmalen Raum wieder, mit einer dicken Scheibe an einer Längsseite. Hier war es wohltuend still und leer. »Hinter der Scheibe wird Kreischerstahl erzeugt«, berichtete Bio6. Shanija sah, wie ihr Gefährte zusammenzuckte und plötzlich sehr genau zuzuhören schien. »Darren?« »Ich habe schon von Kreischerstahl gehört, an den wispernden Feuern von Tallica. Angeblich übertrifft eine aus diesem Material geschmiedete Klinge alles andere. Sie dringt durch Rüstungen und Panzerungen, ja sie soll sich förmlich in den Leib des Opfers fres sen.« »Kreischerstahl kann nicht alles, aber er ist das Topprodukt unse rer Fertigung. Unsere besten Waffen. Alles, was eine Schneide be sitzt, ist aus Kreischerstahl.« Shanija berührte die Scheibe und spürte feine Vibrationen. »Das sind die Kreischer. Hier werden die Klingen scharf gemacht. Viel weiß ich nicht, aber ich habe Forschungsinformationen trans portiert und dabei mitbekommen, dass der Todesschrei der Krei scher den Stahl auf subatomarer Ebene zum Schwingen anregt, und diese Schwingung nie mehr aus dem Metall weicht.« »Da drinnen sterben Kreischer?«, fragte Shanija. »Ja, vollautomatisch. Deshalb das dicke Glas hier.« Mit einem Mal war Shanija klar, dass sie sehr weit von der Erde
entfernt war. Less war anders, ELIUM jedoch erweiterte die Skala der Fremdartigkeit noch um ein großes Stück. Sie erreichten einen neuen Abschnitt. Vor ihnen spannte sich, ähn lich einem Spinnennetz, ein Gewirr unzähliger Hängebrücken und Stege über einen tiefen Abgrund. Der Orgamechanoid ruckte herum. Von seinem Gesicht konnte Shanija eine Mischung aus Verwirrung und Bestürzung ablesen. »Schnell … wir müssen hier weg! Da kommen Kriggets!« Bio6 saus te zurück und winkte sie in die Deckung einer Nische, in der gewal tige Rohre aus dem Boden führten und irgendwo im Dunkel der Höhe verschwanden. Sie quetschten sich hinein, und keine Sekunde zu früh. Regelmäßiges Klopfen war zu hören. Es schwoll an und wurde zum Gleichschritt einer mindestens zehn Mann starken Einheit. Shanija zog das Kampfmesser und drückte sich tiefer in den Halb schatten. Das Stampfen wurde lauter. Die ersten Kriggets erschienen an der Gangkreuzung. Es waren Kuntar, genau so groß wie Menschen, und schwerbewaffnet. Im Waffengurt trugen die Kuntar automatische Projektilwaffen, mehrere Reservemagazine und Messer. Aber was von ihrer Schulter baumelte, gab Shanija zu denken. Jeder Krigget führte eindeutig zwei Energiewaffen mit sich. Ein Gewehr und einen Handstrahler. Insgesamt dreizehn Kriggets marschierten an ihnen vorbei, ohne sie zu bemerken. »Die Kriggets tragen Strahler«, murmelte Shanija. Gab es also doch eine Möglichkeit, auf Less höherwertige Energie zu erzeugen und zu speichern? In ELIUM schien alles möglich.
6. Dworn führte die Gruppe Kuntar an. Gehorsam patrouillierten sie mit ihm schon seit knapp zehn Stunden. Der Anführer hörte kein Murren hinter sich. Sie hielten zusammen. Aber was hatte er ande res erwartet? Schließlich waren es Jambani Kuntar. »Halt!« Dworn streckte eine Pranke hoch, und die Gruppe hielt an. Diese ausgedehnte Runde war anstrengend gewesen, dessen war er sich bewusst, und dementsprechend war es auch den erschöpften Mienen der Kuntar anzusehen. Insgeheim gab er ihnen noch eine halbe Stunde. »Unsere nächste Aufgabe lautet: aufsuchen des zuständigen Zy kluswahrers, Befragung und Raumprüfung.« Zykluswahrer waren die jeweils höchste Instanz eines Abschnitts. Nur der Aderschlag stand über ihnen. Wie erwartet blieb eine Reaktion der Jambani Kuntar aus; die Neulinge wussten schließlich nicht, dass Kriggets Sonderrechte besaßen. »Mit anderen Worten: wir suchen uns hier Quartier.« Dworn grinste, als er den Kameraden die Erleichterung ansah.
Der Zykluswahrer aber war unauffindbar. Dworn wusste, dass Zy kluswahrer nur allzu gern ausgedehnte Kontrollgänge durch ihren Zuständigkeitsbereich machten, um plötzlich und unvermutet ir gendwo aufzutauchen. Als würden sie ständig hinter der nächsten Ecke lauern. Dieser hier tauchte nicht auf. Dworn hatte den Stellvertreter aufge trieben, doch selbst der wusste nichts über den Verbleib seines Vor gesetzten zu berichten.
Dworn nötigte den Stellvertreter, Quartiere abzustellen, damit er sein Versprechen der Gruppe gegenüber einhielt. * Der hohe Herr kam endlich. Seiya vergaß allen Anstand und winkte ihm heftig zu. Obwohl sie aufrecht vor ihm stand, überragte er sie um mindestens halbe Körpergröße. Der Schwarm kreiste um die beiden, schneller und heftiger, bildete eine Wand aus flirrenden und grünglitzernden Leibern. Seiya war aufgeregt. Der Druck aus ihrem Kopf war gewichen, und eine seltsame Hochstimmung erfasste sie. Sie lächelte. Der Herr Rr'b'trr aber brüllte, er schien zornig, und Seiya wusste nicht, warum. Der Schwarm zog sich enger um sie und klang un heilvoll. In ihrem Hinterkopf spürte sie erneut das Nagen an ihren Gedanken, das Brodeln und Kochen, mit dem sie vom Schwarm stets heimgesucht wurde. Seiya wusste, dass sie wieder einen Fehler begangen hatte. Hektisch überlegte sie, was es denn gewesen sein könnte, doch der Schwarm bemerkte es. Er kam ihr bedrohlich nahe, und Seiya ließ von allen Gedanken ab. Augenblicklich wich der Schwarm wieder zurück. Seiya senkte den Kopf und erwartete de mütig die Bestrafung. »Hass und Freude sind pestilent!«, zischte Rr'b'trr. »Sie hindern an der Erfüllung der Aufgabe.« Hass und Freude sind pestilent. Der dreieckige Kopf des Insektoiden pendelte hin und her. In sei nen Augen lag ein grausames Glitzern. Da erinnerte sich Seiya an ihre Frage. »Mit Verlaub, ich wundere mich über violetten Schleim. Wisst Ihr, was es damit auf sich hat?« Rr'b'trr erstarrte. Dann warf er seine Klauen hoch, und eine Woge giftgrün schimmernder Käfer strömte aus den weiten Ärmeln seiner Kutte. »Es gibt keine Fragen!«, toste seine Stimme durch den Raum
und setzte sich in Seiyas Kopf fest. Die Worte des hohen Herrn schafften Klarheit und wuschen die zerbröckelten Fragmente ihrer Frage beiseite. Als wäre ein Damm gebrochen, konnte sie nun fest stellen, dass nicht länger Schmerzen ihren Geist behinderten und ihr den Blick trübten. So hell und klar wie nie etwas zuvor in ihrem Le ben war ihr Geist nunmehr, und unberührt, ja, makellos sah sie die Wahrheit der Worte des hohen Herrn. In der Ferne hörte Seiya das Rauschen des Schwarms, doch es war unwichtig. So unwichtig wie der Gestank, der an ihre Nase drang, auch er konnte die sauberen Hallen ihres Geistes nicht beschmutzen. »Trägerin der Sonnenkraft, du hast eine Aufgabe«, sagte Rr'b'trr. Ich habe eine Aufgabe. Die Wahrheit der Worte war anbetungswür dig. Sie war rein und klar. »Nicht mehr lange, und ich werde dich deiner Bestimmung zufüh ren. Du wirst deinen Platz einnehmen und deine Pflicht erfüllen.« »Das werde ich«, nickte Seiya. Rr'b'trr trat zum Ausgang und verschwand. Seiya blieb bewe gungslos stehen. Sie betrachtete die Klarheit ihres Geistes und ver harrte darin. Das Treiben der Käfer rund um sie schien weit weg, als würde sie selbst in einem strahlend weißen Raum stehen und erst in weiter Ferne, am Ende eines langen Tunnels, lag das Zwielicht, in dem der Schwarm wütete. Ich habe eine Aufgabe. * »Ich glaube, es funktioniert allmählich«, flüsterte Darren und spielte damit auf die Buntas-Behandlung von Bio6 an. »Er hat uns in eine Falle geführt, aber er hat uns davor gewarnt.« »Und beim nächsten Mal?«, fragte Shanija. Sie würde diesem We sen keine Chance mehr geben, auch nur einen ihrer Gefährten zu verletzen.
»Du hast es vorhin selbst zu As'mala gesagt: Was sind unsere Al ternativen? Er kennt sich hier aus und scheint dabei eines der am wenigsten aggressiven Wesen zu sein.« Shanija seufzte. »Also gut, dann folgen wir ihm in die ominösen Hallen der Destruktoren. Stimmt auch nur die Hälfte von dem, was er sagt, finden wir alles, was wir brauchen.« Shanija hatte die Dimensi on ELIUMS klar unterschätzt. In den dunklen Gängen dieses Mo lochs hatten sie schon viel zu viel Zeit verloren. Doch der Orga be harrte nach wie vor darauf, dass sie auf dem kürzesten Weg waren. »Bio6, zu den Waffen«, forderte Shanija den Orgamechanoiden auf. Bio6 führte sie durch einen düsteren Gang zu einer unscheinbaren Tür. Dahinter lag schon die Halle der Destruktoren.
Wabenstrukturen zogen sich wie Wände vom Boden der Halle bis zur Decke in mehr als dreißig Metern Höhe. Die Waben hatten einen Meter Durchmesser und waren von einer Membran überzogen. Sie bewegten sich, kontrahierten ihre Form und expandierten wieder. Ein lebendes Hochwabenlager. »Eigentlich wäre es verrückt gewesen, etwas anderes zu erwarten«, flüsterte Shanija sich selbst zu. Der Klang ihrer Stimme hatte wenigstens etwas Reales. Sie traten über Gleise, die in komplexen Mustern den Boden be deckten, und allesamt auf einen Mittelgang zustrebten. Vermutlich waren hier organische Gabelstapler am Werk, oder orgamechani sche Entnahmeeinheiten, um Waben zu leeren und zu füllen. Der Mittelgang war breit, zu breit für ein optimiertes Hochleis tungslager. »Wo sind die Waffen?«, fragte Shanija. »Hier«, antwortete Bio6 und beschrieb mit seinem Rad den größ ten Kreis, den er zustande brachte. »Hier überall.«
Mun griff durch die Membran und brachte einen Rohrfitting zum Vorschein, aus einer anderen Wabe zog er etwas wie einen Spazier stock. »Praktiziert man hier eine chaotische Lagerhaltung?«, fragte er Bio6, und betrachtete die Objekte in seinen Händen. »Damit meine ich, ob die Einlagerung in eine beliebige freie Wabe erfolgt und die Information ›Reihe, Wabe und Inhalt‹ wird zentral gespeichert?« Bio6 schüttelte den Kopf. »Ach wo. Das hört sich doch sehr un praktisch an. Die Produkte werden entsprechend ihrer Hauptbe standteile gruppiert und eingelagert. Also alles, was aus Uranit be steht, kommt zusammen, alles aus Grittadon, Ferrum und so wei ter.« »Eine ungewöhnliche Logik«, gestand Mun. »Dann suchen wir am besten so lange, bis wir auf Kreischerstahl stoßen«, sagte Darren. »Dieses Material ist dazu bestimmt, zu einer Waffe verarbeitet zu werden.« »Man könnte auch sagen, es sei dazu verdammt«, bemerkte Mun. Sie gingen weiter, jeweils zwei von ihnen prüften eine Waben wand zu einer Seite des Hauptgangs. Shanija entdeckte würfelförmi ge Zeitanzeiger, vielleicht auch Zeitzünder, etwas, das wie ein Tür stopper aussah, Bügel, Ketten, mit Glyphen versehene Scheiben. »Hey!«, rief As'mala und warf Shanija etwas zu. Sie fing es auf und hielt einen Energiestrahler in Händen, wie ihn auch die Kriggets getragen hatten. »Jawohl, so sieht das schon bes ser aus.« Sie wog die Waffe in Händen, wirbelte sie herum und legte an. Der Auslöser war am üblichen Platz, und die Waffe war so aus gewogen, als wäre sie eine natürliche Verlängerung der Hand. Chancengleichheit. Und ein Weg nach Hause.
Shanija fand den Regler, stellte ihn auf mittleren Wert und schoss auf eine Wand an der anderen Hallenseite. Nichts passierte. Sie jus
tierte die Einstellung und drückte erneut ab. Nichts. »Wo ist die Mu nition?« »Es gibt doch keine«, antwortete Bio6 verblüfft. »Was meinst du? Wird sie separat gelagert?« »Nein. Es gibt keine Munition, weil sie hier nicht funktioniert. Aber das solltest du als Bewohner von Less wissen.« Shanija machte ein betroffenes Gesicht, und zwar in zweifacher Hinsicht. Es war das erste Mal, dass sie als Bewohnerin von Less be zeichnet wurde; das klang so beunruhigend endgültig. Und war falsch noch dazu, völlig falsch. Und das zweite: diese Waffen wur den sinnlos produziert. Ein Relikt aus der Zeit vor dem Absturz, das immer noch beibehalten wurde. ELIUM war ein sterbender Riese, vermutlich schon seit Jahrtausenden, der von einem Lebenszweck träumte, den es nicht mehr gab. Diese Tragödie sollte aber nicht zu Shanijas Schicksal werden, auch wenn sie Parallelen entdeckte. »Such es dir aus«, fuhr Bio6 fort, »Dampf, psimagische Aggregate, Methanmotoren, Schwarzpulver und noch ein paar Spezialitäten. Alles andere versagt auf Less.« »Achtung!«, rief As'mala und deutete in den Hauptgang. Auf dem Schienenstrang näherte sich ein eigenwilliges Gefährt. Die Grundform erinnerte an ein Kanu, in der Mitte jedoch wölbte sich der Körper bauchig aus und gab den Blick auf ein offenliegen des Getriebe frei. Direkt angeschlossen war ein längliches Aggregat, das die Kraftquelle des Vehikels sein musste. Weiter hinten ragte eine ganze Batterie Druckflaschen aus dem Gefährt. Rund um den Antrieb war eine Vielzahl von Seilwinden, Verstrebungen und Roh ren angebracht. Dominierend war aber etwas ganz anderes. Links und rechts vom Mittelteil ragte je eine gewaltige Schale in die Höhe. Wie ein hochge klapptes Flügelpaar. Das Gefährt kam kreischend zum Stillstand, und ein kleines Männlein in silbernem Schutzanzug krabbelte aus dem Mittelteil.
»Das«, flüsterte Bio6, »ist ein Destruktor.« Soweit Shanija es feststellen konnte, trug der Destruktor einen Zy linder bei sich. Er trat an eine der hochgeklappten Schalen heran und stieß den Zylinder dagegen. Ein kurzes, aber intensives Pfft drang zu den Gefährten herüber. Der Destruktor wiederholte die Prozedur an der gegenüberliegenden Seite. Pfft. Er stieg wieder in das Gefährt und plötzlich begannen sich beiden Schalen nach links und rechts auszubreiten. Tatsächlich wie ein In sekt, das die zur Ruhestellung hochgeklappten Flügel wieder aus breitete. Aus den Flügelkanten wurde weißer Nebel gestoßen, während sie sich langsam absenkten, knapp an den Waben vorbei. Jede Wabe, die bereits von der Nebel dampfenden Flügelkante passiert worden war, begann zu zucken und sich zu verkrampfen. Die Schalen hatten den Boden noch nicht erreicht, als eine Wabe sich knirschend zu sammenzog und mit einem Plop ihren Inhalt in die Schale spuckte. Dies löste eine Kettenreaktion aus, und eine Zeitlang war nur Knir schen und Ploppen zu hören. In den Schalen sammelten sich die un terschiedlichsten Apparaturen und Formteile. Etwas, das Shanija für ein wabenförmig gebogenes Gartengerät hielt, ragte aus dem Hau fen heraus. Rohre, Fittings, kleine Generatoren … alles Vorstellbare und viel Unbekanntes. Der Destruktor krabbelte hinauf und zog einige verbogene Stan gen aus dem Haufen, die wie Stachel herausragten, warf sie wieder zurück und glättete die Oberfläche. Dann hakte er ein Seil in die Spitze der Flügel. Wieder an seinem Steuerplatz, betätigte er einige Schalter, und der Antrieb lief blechern schlagend an. Die Seile, die er zuvor eingehakt hatte, spannten sich und zogen einen Schutzpanzer über die Halbschalen. Dann wurde das Surren und Rasseln lauter und heftiger, und die beiden Flügel hoben sich. *
»Lass mich zusammenfassen«, sagte Shanija und rieb sich die Au gen. Es war nicht einfach, verwertbare und zusammenhängende In formationen von Bio6 zu erhalten. »ELIUM war eine autarke Waffe. Sie reiste von Planet zu Planet, beutete seine Rohstoffe aus, verarbei tete sie zu Kriegsmaterial und setzte dies gegen die Planetarier ein. In Form von mordenden und plündernden Kriggets.« Bio6 nickte. »Gibt es noch mehr von der Sorte dort draußen im Weltraum?« »Ich habe schon Zykluswahrer darüber reden hören, aber es ist eben alles sehr lange her.« Darren fragte: »Was hat es mit den Hallen der Destruktoren auf sich? Warum wird das Endprodukt wieder zerstört?« »Ich weiß es nicht. Aber der Schrott wird der Produktion zuge führt. Ihr erinnert euch an Bug Grasnik? Den Stockball-Star, der in der Metallschmelze arbeitet?« »Ja«, antwortete Shanija knapp. »Konzentrieren wir uns.« Sie at mete tief durch, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. »Wir brauchen Waffen. Wenn es keine Energiewaffen sind, dann eben das Nächstbeste.« Kurz darauf stießen sie tatsächlich auf die ersten Waben, die Krei scherstahl beinhalteten. Shanija wog ein Kurzschwert in der Hand. Es war dem ihren nicht unähnlich, doch sie vermeinte die Vibration des Todesschreis der Kreischer zu fühlen, der auf immer und ewig in dieser Waffe nach hallte. Ein leichter Schauer durchlief sie. Trotzdem, falls die Gerüch te und Geschichten über dieses Material stimmten, durfte sie auf diesen Vorteil unmöglich verzichten. Shanija entschied sich für diese Klinge, als Darren mit einem freu digen Aufschrei verkündete, dass er auf Projektilwaffen gestoßen sei. Darren versorgte alle mit halbautomatischen Faustfeuerwaffen, bis auf Mun, der dankend ablehnte. Mun wollte auf seinen ausklappbaren Kampfstab nicht verzichten,
und mochte sich weder mit Projektil-, noch mit Klingenwaffen an freunden. Schließlich entdeckte er einen Stock, ähnlich einer Gerte, und begnügte sich damit.
Auf der Suche nach etwas Außergewöhnlichem kletterte As'mala die Waben hoch. Sie fand jedoch nichts, also stieg sie wieder ab und deckte sich mit unterschiedlichen Wurfmessern und einer Kampf klinge ein. Darren ergänzte seine Ausrüstung um ein paar Dolche und ein Kurzschwert, wie es auch Shanija trug. Nun schienen sie für eine Auseinandersetzung mit den Kriggets gewappnet. Nur Bio6 war schon wieder verschwunden. »Shanija«, rief As'mala. »Wir haben ein Problem. Der Kristallzylin der ist auch weg.«
7. Seiya stand reglos mitten im Raum und beobachtete den Schwarm, der nicht um sie wirbelte, sondern ruhig an Wänden und Decke des Rippengewölbes verharrte. Milde pulsierte der grüne Schimmer über ihre Leiber. Ich habe eine Aufgabe. Es war weder neu, noch alt, es hatte keinen Unterton und keine Färbung. Es war Fakt. Seiya wartete. Ohne Ungeduld, ohne einen Muskel zu regen. Es gab nichts anderes, das getan werden musste. Ihre Aufgabe wartete auf sie, und Seiya würde ihre Aufgabe erwarten. In weiter Ferne entdeckte sie den Herrn Rr'b'trr, wie er das Gewöl be betrat. Neben ihm eine unstete Gestalt, die violett schimmerte. »Trägerin«, schrillte Rr'b'trr's Stimme. »Ja«, nickte Seiya. »Wie fühlst du dich?« Ohne zu Zögern antwortete sie: »Ich habe eine Aufgabe, Herr Rr'b'trr.« Zufrieden ruckte der Kopf Rr'b'trr's. »Mein Begleiter J'luc, wie du hat er einen Auftrag. Der seine ist es, dich zu beschützen oder zu tö ten. Er wird dich jetzt töten.« Auf telepathisches Kommando blähte sich das violette Schleimwe sen auf mehrfache Körpergröße und stülpte sich über die junge Frau. Seiya beobachtete aus ihrem weißen Zimmer, wie die Welt drau ßen einen violetten Schimmer bekam. Etwas sagte ihr, dass ihr Kör per gedrückt und gepresst wurde.
Das Atmen hatte Seiya eingestellt. Nach mehreren Minuten des Verharrens löste sich J'luc von Seiya. Noch immer stand sie unverändert mitten im Gewölbe und wartete. »Trägerin! Schlage mit der Faust auf diesen Knochenwulst ein.« Seiya holte aus und schlug hart gegen den Wulst. Noch einmal ließ sie ihre Faust dagegenkrachen. Ihre Hand schien ungeeignet, um Schaden anzurichten, aber sie schlug erneut zu. Seiya sah, wie ihre Haut an mehreren Stellen aufgerissen war und Blut hervortrat. Wie der drosch sie zu. Sie bemerkte ein Knacken, und dass ihr kleiner Finger jetzt in ungewöhnlichem Winkel abstand. »Halt«, befahl Rr'b'trr. Plötzlich erkannte Seiya, dass sie nicht allein war. Der Herr befand sich neben ihr, in ihrem nüchtern weißen Raum, und betrachtete ge meinsam mit ihr die Wahrheiten. Er nickte ihr zu, und sie war wie der allein. Rr'b'trr bedeutete ihr, ihm zu folgen. Zum ersten Mal trat sie durch die Tür des Rippengewölbes hinaus in das helle Licht. Seiya emp fand nichts dabei. Unweit des Doms lag ein Raum, der weder Fenster noch Sitzgele genheiten bot. Der Boden war mit einem Relief versehen, das sich in Form einer Spirale zwei Handbreit nach unten absenkte. »Reinige dich, Menschenweib«, sagte Rr'b'trr. Seiya stand in der Mitte des Raums und spürte eiskaltes Wasser ihren Körper entlangströmen. Ohne jede Hast strich sie mit den Fingern über ihren Körper. Ohne jede Sanftheit rieb sie sich den Schmutz von den Armen, den Brüs ten und den Beinen. Sie sah, dass sie dabei vom hohen Herrn und J'luc beobachtet wurde. Das Wasser hörte auf zu strömen, und Rr'b'trr warf ihr eine grob gewebte Kutte zu. »Du bist am tiefsten Punkt angelangt«, sagte er. »Es ist ein guter Ort.«
* Rr'b'trr demonstrierte seine Überlegenheit. Schließlich war er ihnen allen überlegen. Er befahl seiner Brut, die ein Teil von ihm war und auf jeden seiner Gedanken reagierte, ihn mit ihrem Gesang zu um geben. Die Brut schwirrte aus den Ärmeln der Kutte, breitete sich aus und umkreiste ihn in geringem Abstand, als wären sie ein Schutzschild. Manche zog es wieder zu ihm hin, andere flogen aus, es war ständi ges ein Kommen und Gehen. Aber das Schönste: es war Provokati on. Rr'b'trr war vor den Versammlungsraum des Aderschlags getreten. Dabei bemerkte er, dass sich wie immer die menschlichen Arbeiter und Diener des Aderschlags vor ihm verkrochen, weil sie ihn fürchte ten. Menschengezücht, das auf diesem Mond offensichtlich ausge zeichnete Lebensbedingungen vorfand, und sich ausbreitete wie die Pest. ELIUM war vor mehr als 2300 Quartennien gestrandet, dann kam lange nichts, und dann der Mensch. Wütend klackten seine Mandibel gegeneinander. Ein Schädlingsbefall, der selbst vor dem Aderschlag nicht halt gemacht hatte. Rr'b'trr stieß die Tür zum Versammlungsraum auf und schritt zu seinem Platz. Sie zu schließen, überließ er anderen. Er blickte in die Runde und bemerkte zu seinem Ärgernis, dass Worgor noch nicht anwesend war. Yixru saß andächtig auf seinem Stuhl, der Vorsitzende Brascali musterte alles und jeden in einer anmaßenden Art und Weise, die es Rr'b'trr schwer machte, ihn nicht sofort im eigenen Menschenblut zu ertränken. Chraaz war nicht mehr als ein Zykluswahrer, der gewiss nur vorübergehend dem Aderschlag angehörte; dafür würde Rr'b'trr sorgen. Die Tür hinter ihm fiel laut ins Schloss, und eine lockere Stimme verkündete: »Verzeihung für meine Verspätung, Vorsitzender Bras
cali.« Es war Worgor, dieser verhasste Mensch. »Nun denn«, tönte der tiefe Bass Brascalis, »so ist der Aderschlag vollzählig zusammengetreten.« Alle Anwesenden standen um den runden Tisch im Zentrum des Raums. »Vergangenheit«, kratzte die müde Stimme Yixrus, und er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Gegenwart«, sagte Chraaz und drosch auf die Platte. »Zukunft.« Auch Worgor klopfte darauf. »Sicherheit«, sagte nun Rr'b'trr und hackte mit seiner Klaue zu. »Und Einheit des Aderschlags«, schloss Brascali, und alle Anwesen den schlugen gemeinsam ein letztes Mal auf die Tischplatte, bevor sie ihre Plätze einnahmen. »In einem Lunarium wird der Eigentü mer ELIUMS ankommen. Lassen Sie uns ihm beweisen, dass wir sei ner würdig sind. Auf dass ELIUM wieder in den Himmel steigt und Terror und Schrecken im All verbreitet.« Jeweils im Abstand von einem Quartennium kam der Eigentümer und verlangte Rechenschaft von ihnen. Eine seltsame Bezeichnung – Eigentümer. Wer oder was er war, wusste niemand, denn er selbst trat nie in Erscheinung. Der Eigentümer bediente sich ELIUMS, um zu ihnen zu sprechen. Und immer wenn er sprach, konnte Rr'b'trr im Widerhall der Aura eine Verbundenheit zu ELIUM erkennen, eine Ähnlichkeit. Einmal hatte Rr'b'trr den wahren Namen des Eig ners vernommen: Gratum. Rr'b'trr hatte sich vorgenommen, mehr darüber herauszufinden. Die Bedeutung des Namens, und wer da hintersteckte. Der alte Yixru erhielt als Nächster das Wort. Sein Bericht war an Monotonie nicht zu überbieten, doch es war das Recht eines jeden Mitglieds des Aderschlags, alles vorzubringen, was es für wichtig er achtete. »Die letzte Vorwärtsbewegung ELIUMS konnte vor 18 Quartenni en beobachtet werden. Seit ELIUM im komatösen Zustand vor sich hindämmert, schließt sich der Felsspalt über uns nicht weiter, dafür
aber sinken wir pro Quartennium um elf Zentimeter tiefer ins Ge stein. Die Gabe ELIUMS ist noch immer aktiv.« »Wie sieht die Rohstoffsituation aus?«, fragte Brascali. »Unverändert. In näherer Umgebung sind 98 Prozent der Boden schätze ausgebeutet, die Quote des verwertbaren Rückflusses aus den Hallen der Destruktoren sinkt …« Es war ein Teufelskreis. Wissen bedeutete Macht, und das Wissen um die Produktionsprozesse wollte man nicht verlieren. Also hieß es weiter produzieren. Ging das Rohmaterial zur Neige, blieben nicht mehr viele Möglichkeiten. Inzwischen hatte Yixru seinen eintönig vorgebrachten Bericht ab geschlossen, und der Vorsitzende dankte ihm. Seit Chraaz dem Aderschlag angehörte, hatte dieser noch nie einen anderen Bericht als »Alles läuft so, wie es sein soll« abgegeben und auch heute brach er nicht mit dieser Tradition. Nun wurde Worgor das Wort erteilt, der sogenannten Zukunft. »Ich bin dagegen, dass man die Sicherheit mit ihrem Projekt fortfah ren lässt. Die Gefahr, dass die Sonnenkraftträgerin dabei irreparabel beschädigt wird, ist viel zu hoch.« Nichts anderes hatte Rr'b'trr erwartet. »Worgor! Sie scheinen zu vergessen, dass der Eigner höchstpersönlich meinem Plan zugestimmt hat. Hier gibt es nichts zu diskutieren.« »Korrekt«, stimmte Vorsitzender Brascali zu. »Es wurde bereits darüber abgestimmt.« »Ich möchte in diesem Kreis nochmals zu bedenken geben, dass der Eigentümer deutlich einen Erfolg verlangt hat. Egal, ob er die sem Projekt selbst zugestimmt hat oder nicht, wenn es schief geht, rollen Köpfe.« Worgor machte eine Pause, damit seine Zuhörer das Bild eines rollenden Kopfes vor ihrem geistigen Auge heraufbe schwören konnten. »Der Kopf vom Projektverantwortlichen, und der desjenigen, der den Eigentümer darauf hinweist, dass er selbst das Projekt genehmigt hat.«
»Polemik«, warf Rr'b'trr ein. »Nein, werter Rr'b'trr«, sagte Worgor höflich. »Das ist Realität. Ich selbst«, mit diesen Worten stand er auf, »habe viele erfolgreiche Pro jekte abgeschlossen: die Agro-Serie in der Grobformung, unsere zu verlässige Boten- und Kurierklasse der Bio-Serie, die Nachzüchtung der Kreischer, die Züchtung der Schmelzprüfer, das Herzgeflecht und …« »Wir wissen um Ihren Erfolg, Worgor«, unterbrach der Vorsitzen de. »Wir werden uns jetzt den aktuellen Stand von Rr'b'trr anhören.« Er blickte auffordernd zu Rr'b'trr. Arrogantes Geschwür. Wortlos erhob er sich und öffnete die Tür. Herein kam eine in derbes Leinen gekleidete Frauengestalt, die zart und zerbrechlich wirkte. Auf keinen Fall so, wie man sich eine Trä gerin der Sonnenkraft vorstellen mochte. »Ihr Wille ist gebrochen«, verkündete Rr'b'trr. »Die Trägerin ist einsatzbereit.« Stille. Plötzlich lachte Worgor auf: »Das soll die Trägerin sein?« Dann fuhr er mit eindringlicher Stimme fort. »Vorsitzender Brascali, las sen Sie mich meinen Eingriff durchführen. Ich öffne ihren Schädel, entnehme etwas vom psimagischen Gewebe ihres Gehirns und be ginne noch heute in meinen Labors mit der Nachzüchtung. Ich bin mir sicher, die Sonnenkraft synthetisieren zu können. Sehen Sie sich die Trägerin doch genauer an. Ein schwaches Mädchen, das bei der ersten Belastungsspitze verbrennen wird. Was machen wir dann?« Der Vorsitzende schien mit sich zu ringen. »Vorsitzender! Vertrauen Sie meinem Werkzeug nicht, dann ver trauen Sie meiner Arbeit nicht.« Rr'b'trr merkte, wie er immer mehr Boden verlor, und entschloss sich zur Notbremse. »Lassen Sie mich um die zwanzigste Stunde einen Versuch durchführen. Scheitert der Versuch, so können Sie dem Eigentümer vorlegen, dass das Projekt misslungen ist.«
»Und wenn die Trägerin beschädigt wird?«, warf Worgor ein. »Es soll ein kleiner Test sein, nur um dem Wunsch des Eigentü mers Rechnung zu tragen.« Brascali erhob sich. »Um die zwanzigste Stunde wird die Erpro bung stattfinden. Im Falle eines Fehlschlags wird Worgor die Chan ce erhalten, die Trägerin in seinen Labors zu verwerten.« Bei den letzten Worten zeigte der Vorsitzende auf das Mädchen mit dem langen schwarzen Haar. Brascali schlug auf die Tischplatte und sagte: »Im Namen des Aderschlags.« Die anderen Mitglieder taten es ihm gleich. »In seinem Namen.«
Beim Verlassen des Raums stieß Worgor wie zufällig gegen Rr'b'trr. »Ich weiß bis heute nicht, warum du Insekt die Projektleitung erhal ten hast. Deine martialische Herangehensweise ist überholt, Käfer mann.« »Du bist die Pest«, schoss Rr'b'trr zurück. »Ihr Menschen befallt Less wie ein Schwarm gefräßiger Sackwürmer und reißt alles an euch. Ich werde euch aus ELIUM vertreiben, einen nach dem ande ren werde ich mir vornehmen.« Drohend ließ er seine Zangen zu schnappen. Grinsend antwortete Worgor: »Entschuldigung, Herr Rr'b'trr, ich bin Ihnen doch nicht etwa auf die Zehen getreten?« Er klopfte den Umhang des Insektoiden ab, als würde er ihn von Staub befreien, und schob sich dann an ihm vorbei zum Ausgang. Rr'b'trr stand allein mit Seiya im Versammlungsraum des Ader schlags. »Weib, du hast eine Aufgabe«, sagte er. »Die habe ich«, antwortete Seiya. »Du wirst damit beginnen, deine psimagischen Kräfte zu sam meln. Du wirst sie heute brauchen.« Rr'b'trr wusste, was er tun musste. Ein kleiner Versuch ließ sich immer als Fehlschlag interpre
tieren und würde Worgor in die Hände spielen, also bereitete er den tatsächlichen Einsatz vor. Die Trägerin würde das Herz ELIUMS wieder aus dem Tiefschlaf reißen, sie würde alle Zellen mit Energie vollpumpen. Und wenn ELIUM sich in den Himmel erhob, würde er das Kommando vom Eigner erhalten. Gratum. Rr'b'trr war jedoch unschlüssig, ob es ein tragisches Unglück erfor derte, in dem mehrere menschliche Mitglieder des Aderschlags um kommen würden. Für Worgor aber würde er sich gewiss noch etwas einfallen lassen. * »Unerhört!«, brüllte Dworn und hieb kräftig mit dem Kolben des Energiegewehrs in die Seite des Menschen. Warum man seit der personellen Aufstockung der Kriggets auch auf Energiewaffen bestanden hatte, war Dworn nicht klar. Es gab die alte Energie, wie sie einst ELIUM selbst das Leben eingehaucht hatte, doch gar nicht mehr. Nicht auf Less. Der Krigget rammte den Kolben erneut in den Leib des Menschen und verlieh der Existenz der Waffe damit zumindest ein klein wenig Sinn. Dworns Gruppe hatte einen Kreis gebildet, und mitten darin wand sich ein menschlicher Arbeiter unter starken Schmerzen. Er wim merte leise. »Warum habt ihr den Zykluswahrer ermordet?«, fragte Dworn. »Ihr Menschen verpestet ganz Less mit eurer Brut.« Der Kuntar spie auf den Menschen. Hatte hier nicht auch Narbengesicht gearbeitet, bevor er zu den Kriggets berufen wurde? Vielleicht hatten seine Kumpane vom Unfall gehört und übten nun Rache. Es sollte ihnen schlecht bekommen. Dworn war fest entschlossen, mit äußerster Härte ein Geständnis herauszulocken. »Ich weiß, dass ihr Menschen ihn getötet habt. Ich konnte euch an
seinem Kadaver riechen! Und glaub ja nicht, dass du durch Schwei gen aus der Sache raus kommst. Ich werde euch abschlachten. Einer nach dem anderen wird die Klingenspindel auf dem Weg in die Gärbecken passieren, solange, bis ich den Schuldigen habe.« Noch immer wälzte sich der Arbeiter in höchster Pein. »Hör gefälligst zu, wenn ich mit dir rede!«, stieß Dworn hervor und trat mit seinem krallenbewehrten Fuß gegen den Menschen, der aufschrie. »So klingt Musik, und ich werde nicht müde, sie zu hö ren.« Dworn wandte sich an seine Gruppe. »Bildet Vierertrupps und verhört die Menschen an den vorderen Arbeitsmaschinen.« Der Stellvertreter des Zykluswahrers wollte Einspruch erheben, doch Dworn erstickte den Versuch im Keim. »Damit der Zyklus ge wahrt bleibt, würde ich mich an deiner Stelle schnell nach geeigne tem Ersatzpersonal umsehen.« »Ich war es.« Dworns Kopf ruckte herum. »Ich war es«, hustete der Mensch und spuckte Blut. »Soso«, grinste Dworn. »Du gestehst.« »Ja. Ruf deine Bluthunde zurück, ihr habt mich erwischt.« Dworn legte den Kopf schief. »Und das sagst du nicht nur so? Es ist dein voller Ernst?« »Zur Hölle, ja!« Der Arbeiter wurde von einem heftigen Hustenan fall durchgeschüttelt. »Hörst du verschissene Eidechse schlecht?« Dworn ließ den Menschen liegen, wo er war. Der würde ihm nicht davonlaufen. Er schloss zu den einzelnen Kriggets auf, die mit ihrer Befragung soeben angefangen hatten. »Der Mensch hat versucht, seine Komplizen zu decken. Ich gehe davon aus, dass es insgesamt Vier waren. Weitermachen. Ich werde die Zentrale informieren, dass mit Unruhen durch die Menschen zu rechnen ist.«
8. »Hat er dir den Kristallzylinder geklaut?«, fragte Shanija, die all mählich an ihrem Verstand zu zweifeln begann. »Nein«, protestierte As'mala. »Es gibt keinen Dieb, der mich unbe merkt bestehlen kann. Ich kriege das mit!« »Wo ist dann der Zylinder hingekommen?« »Ich … ich muss ihn wohl verloren haben.« »Was verloren?«, fragte Bio6 und lugte hinter einer Wabenwand hervor. Shanijas Gedanken rasten. Am besten wäre es, den Orgamechanoi den abzuservieren, aber dann müssten sie den Weg alleine finden oder einen neuen Helfer suchen. Die Zeit hatten sich nicht. Warum war Bio6 zurückgekehrt? Wäre der Kristallzylinder in seinem Besitz, hätte er sie nur bei den Kriggets melden müssen und sie würden jetzt verzweifelt gegen eine Übermacht ankämpfen. »Wo warst du?«, fuhr sie Bio6 an. »As'mala, zerstör den Zylinder. Ich bin es leid, leere Drohungen auszusprechen.« As'mala begriff schnell und kramte in ihrer Hosentasche, als wür de sie etwas suchen. »Moment, hab ihn gleicht.« »Wartet!«, schrie Bio6. »Tut das nicht! Ich war nur am anderen Ende der Halle und hab mich dort umgesehen. Ich will euch ja hel fen! Die Waffen hab ich euch gezeigt und euch vor einer Falle geret tet. Nicht zerstören. Bitte! Ich bin doch euer Freund.« Er wirkte panisch, und Shanija beschloss, ihm wider bessere Ver nunft zu vertrauen. Das ungute Gefühl in ihrer Magengegend wich jedoch nicht. Aber warum sollte er sonst zu ihnen zurückkehren, noch dazu, nachdem sie sich mit neuen Waffen ausgerüstet hatten? »Also gut, gehen wir weiter, und schnell. Ich habe das Gefühl, dass
Seiya sich in großer Gefahr befindet.« Bio6 schien nun wirklich stabiler und zuverlässiger zu sein. Er führte sie um Patrouillen herum und machte keinerlei Anstalten, sie in Bedrängnis zu bringen. Shanija blieb trotzdem wachsam und misstrauisch. Sie gelangten nun in einen Bereich, der bereits sehr weit unten sein musste. Den Utensilien und der Ausstattung nach zu schließen, han delte es sich um den Labortrakt. Durch die langen Glasfronten, an denen die Gefährten entlangschritten, erhielten sie Einblick in die Räume. Schlecht, wenn man schnell Deckung brauchte. Aber Bio6 bestand auf dieser Route. Schließlich erreichten sie eine belebte Abteilung, in der Weißkittel herumliefen, an Apparaturen schraubten und Fleischklumpen mit Chemikalien behandelten. Niemand nahm Notiz von ihnen. Schließlich blieb Bio6 stehen und deutete mit seinem Rad auf die vor ihnen liegende Doppelflügeltür. »Hier wurde ich geboren.« Sehr ausführlich und mit unzähligen Ausschmückungen überla den schilderte Bio6 wie es dazu kam, dass die Bio-Reihe Serie 6 in Produktion ging. Zuerst hatte es die Agro-Typen gegeben. Vor den Agros gab es die sogenannte Komponentenfertigung. Einzelne Organ- und Muskel gruppen wurden auf vorbereiteten Metallteilen angezüchtet und fanden bei automatischen Systemen Verwendung. Zum Beispiel selbstöffnende Türen, Alarmsirenen oder Notfallsysteme, die unab hängig von zentralen Druckleitungen funktionieren sollten. Und hinter alldem stand ein Name: Worgor. Es musste sich um einen Wahnsinnigen par excellence handeln. Um ein skrupelloses Genie ohne Moral. Es war Bio6 deutlich anzumerken, dass er stolz war, aus der sechs ten Generation der Bio-Typen zu stammen. »Ihr wisst jetzt alles über mich«, sagte Bio6. »Bin ich damit einer von euch?«
»Du willst einer von uns sein?« Shanija konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. »Ja. Ich vertraue euch und ich will einer von euch sein. Es ist schön, wenn andere ihr Leben riskieren, um meines zu retten.« Shanija war perplex. Hatte dieses zum Teil künstliche Wesen eine derart abstruse Vorstellung von sozialen Verbindungen? »Wir ha ben einen Deal, das ist alles. Du führst uns zu Seiya und bekommst dafür deinen Zylinder zurück.« Die Lüge war angesichts der Notla ge gerechtfertigt. Noch dazu, da Bio6 sie nur in dieses Labor geführt hatte, um seine Herkunft zu erläutern, was sie wieder Zeit gekostet hatte. »Und jetzt führst du uns auf direktem und sicherem Weg zu Seiya, oder wir vergessen alles.« »Hier entlang«, sagte Bio6 kleinlaut. Shanija folgte ihm, bog um eine Ecke – und erstarrte mitten im Schritt. Vor ihr erhob sich ein zwei Meter durchmessender Glaszylinder, der bis an die Decke reichte. Darin schwamm in einer hellblau schil lernden Aufbewahrungslösung ein Wesen, das ihr das Blut in den Adern gerinnen ließ. Das Wesen war mehr als zwei Meter groß, zwei ungleiche Augenpaare glänzten schwarz und bösartig aus ei nem spitzen Schädel, aus dem mehrere lange Fühler ragten. An der Vorderseite besaß es zwei große Klauen und mehrere Chitinbeine. Sein Rücken war mit gepanzerten Ringfragmenten überzogen, die in einen breiten Schwanzteil mündeten. Ein Quinterne! Mit einem Schlag fühlte sich Shanija zurückversetzt. Sie hörte wie der die sägenden Geräusche, die ihr in unzähligen Verhören das Ge hirn zermartert hatten. Die Chitinstachel, die sich wie glühende Na deln in ihren Rücken gebohrt hatten. Die Quinternen hatten sie ab geschottet von allen Umwelteinflüssen. Kein Wind, kein Regen, kein freier Raum. Das alles drückte Shanija zusammen, machte sie ganz klein. Und wäre Con Gifford nicht bei ihr gewesen, sie wäre in den stinkenden Kerkern der Quinternen gestorben. Zumindest ihre Seele
hätte nicht überlebt. Shanija taumelte vom Zylinder zurück. »Was, um alles in der Welt …« »Ihh«, machte As'mala erschauernd und wurde ein wenig blass. »Hoffentlich kommt der da nie raus …« Bio6 betrachtete die seltsamen Zeichen »Graxflam«, las er. »Graxflam superior.«
am
Glaszylinder.
Darren trat zu ihr und berührte leicht ihren Arm. »Was hast du?«, fragte er sanft. »Du zitterst.« »Das ist … nein … nur ein Trugbild, das mich … erinnerte«, keuchte Shanija unzusammenhängend. Der Schweiß rann von ihrer Stirn. »Ein Quinterne, als sie mich … mich … der Schmerz …« Für einen Moment drohte sie, die Fassung zu verlieren, alles schien hochgespült zu werden, aus ihr zu drängen … Darren legte den Arm um sie und hielt sie fest. Mun und As'mala kamen hinzu. Schweigend nahm As'mala ihre Hand, und Mun legte seine Hand auf ihren Arm. »Das ist vorbei«, sagte Darren. Zuneigung sickerte in Shanijas Bewusstsein. Sie spürte Trost und Wärme ihrer Freunde, die mit ihr fühlten. Die in diesem Moment das Leid mit ihr teilten. Und ihr Trost zusprachen. Es würde nicht noch einmal passieren. Sie war nicht mehr allein. Shanija kam zu sich, schüttelte die Lähmung ab, die ihren Ver stand in einen trüben Sumpf verwandeln wollte. Sie straffte ihre Haltung und wischte den Schweiß von der Stirn. »Ja, es ist vorbei«, hörte sie sich sagen. Sie sah ihre Freunde der Reihe nach an. »Wo wäre ich ohne euch …«, flüsterte sie. Mun lächelte. »Befreien wir endlich Seiya.« As'mala hob grimmig die Faust. »Oder wir zerlegen ganz ELIUM!« »Vorwärts, du biomechanischer Abfall!« Darren stieß Bio6 nach vorn. »Auf dem schnellsten Weg.« Unterwegs fragte Darren Shanija: »War das wirklich ein Quinter
ne?« »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht«, gestand sie. »Das Wesen da drin sah sehr ähnlich aus, aber ich habe nur noch verschwomme ne Erinnerungen. Niemand von uns weiß, wie ein Quinterne aus sieht … dieses Geschöpf sah jedenfalls etwas sehr ähnlich, das mich in meiner Gefangenschaft quälte. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Tut mir leid, dass ich mich so gehen ließ.« »Du bist ein Mensch, Shanija«, versetzte Darren. »Endlich lässt du es zu, dass du mehr bist als eine perfekt funktionierende biologische Komponente.«
Nun wurde der organische Anteil der Gänge stärker, auch die künstliche Methanbeleuchtung verschwand wieder zugunsten des gelbgrün pulsierenden Adernetzes. Pong flatterte entspannt und tauschte mit Bio6 tiefgründige Weis heiten aus. Als universelle Regeln des Lebens hatte der Schmuckdra che Folgendes dem Orgamechanoiden angepriesen: »Was du heute kannst besorgen, solltest du dir morgen borgen«, »Pferde sind vorn größer als klein«, »Wenn in Washington-York-State in einer dunklen Seitenstraße jemand nach Mitternacht nach Wechselgeld fragt, hätte man im Bett bleiben sollen«, und dergleichen mehr, Shanija wälzte andere Gedanken. Sie dachte an den Graxflam. Dieses Wesen im La bor sah ihren Peinigern zum verwechseln ähnlich. Aber Shanija wusste auch, dass die Quinternen eine Art telepathische Gabe besa ßen. Hatten sie das Horrorbild einer alten Legende genommen und ihr dieses Aussehen vorgegaukelt? Was war damals Realität gewe sen und was nicht? Con Gifford jedenfalls war real gewesen. Und wenn … die Quinternen tatsächlich die Graxflame für sich ar beiten ließen? Wenn … es auch heutzutage noch räuberische Gigan ten wie ELIUM gab? Darren legte seinen Arm um ihre Schultern. Er schien zu spüren, dass sie den Anblick des Graxflam immer noch verdauen musste,
und er war sensibel genug, sie nicht darauf anzusprechen. Mun schloss ebenfalls zu Shanija auf und stieß sie sacht an. »Ich habe mich orientiert, und mein Eindruck ist, dass wir uns wieder vom Zentrum entfernen.« Shanija nickte dankbar. Es war gut, solche Gefährten zu haben. Gerade wollte sie dem lärmenden Pong und Bio6 Einhalt gebieten, als ein Zykluswahrer den Weg vertrat.
Die Überraschung auf beiden Seiten währte kurz. Die Echse war et was kleiner als der erste Zykluswahrer. Sie wirkte nicht so massig, aber dafür zeichneten sich die Muskelstränge deutlicher unter der Schuppenhaut ab. Ohne ein Wort zu wechseln, verteilten sich die Gefährten über die Breite des Gangs und zogen ihre Waffen. Die Echse stürmte los. Un ter ihren schweren Tritten bebte der Boden. As'mala schickte ein Wurfmesser aus Kreischerstahl auf die Reise. Ein helles, kaum zu hörendes Singen erklang, und dann steckte das Messer bis zum Anschlag im Kniegelenk des rechten Vorderbeins, das einknickte. Der Zykluswahrer jaulte auf und stolperte. Schwer donnerte die Echse gegen die Wand, fing sich aber wieder und übersprang die letzten Meter zu den Gefährten. Shanija schwang ihr Kurzschwert und fügte dem vorschnellenden Arm des Zykluswahrers eine Schnittwunde zu. Ihr zweiter Angriff galt der Kehle des Gegners, doch er wich aus, drehte sich trotz des angeschlagenen Beins blitzschnell um die eigene Achse und ließ den Schwanz in Hüfthöhe durch die Reihe der Gefährten peitschen. Shanija tauchte weg, spürte aber einen schmerzhaften Schlag ge gen die Schulter. Sie hörte Darren und As'mala fluchen, die offen sichtlich mit knapper Not dem Schlag entgangen waren. Shanija ignorierte den Schmerz und federte hoch, machte einen Ausfall nach
vor und versenkte ihr Schwert im Bauchbereich der Echse. Ohne Wi derstand drang der Kreischerstahl in den Leib. Diese Klinge ver langte tatsächlich nach Blut. As'mala hatte der Bestie eine Sekunde später einen Arm abge schlagen. Der Kampf hatte noch nicht einmal eine Minute gedauert und war fast vorbei. Es war unglaublich, was Waffen aus Kreischerstahl für einen Unterschied machten. Shanija holte zum Todesstoß aus, als schauerliches Gebrüll sie da von abhielt. »Wunderbar«, murmelte sie, als sie sah, wie Pong und Bio6 auf die Gefährten zustürmten – mit zwei weiteren Zykluswahrern im Schlepptau. Die vier Menschen zogen sich zurück. Zehn Meter hinter ihnen be fand sich eine Gangkreuzung. As'mala und Mun nahmen die linke Abzweigung, Shanija und Darren die rechte. Sie brauchten Platz für den Kampf. Gegen zwei Echsen dieser Größe gleichzeitig anzutre ten, hatte mehr mit Glückspiel als mit Kampferfahrung zu tun. Die Menschen würden sich gegenseitig blockieren und den Echsen mit ihren doppelpaarigen Extremitäten eine gute Chance einräumen. Der erste kurze Einsatz von Kreischerstahl hatte deutlich gezeigt, dass sie zu zweit gegen eine Echse antreten und den Sieg davontra gen konnten. Die Echsen taten den Gefährten den Gefallen und trennten sich. Der Kampf war kurz. Darren fixierte das Untier telekinetisch am Boden, hieb ihm ein Bein ab und verhinderte eine Attacke mit dem Peitschenschwanz. Shanija kappte dem Gegner einen Arm. Und gleichzeitig versenkten sie ihre Klingen in der Kehle des Riesen, der daraufhin tot zusammensackte. »Kreischerstahl haut mächtig rein«, stellte Darren fest, während er hingerissen die Klinge in seiner Hand betrachtete. Shanija trat auf den Hauptgang zurück, wo bereits Mun und As'
mala warteten. »Verdammt, wo ist der dritte? Hatten wir den nicht erledigt?« Suchend sah sie sich um. »Noch nicht ganz, die anderen haben uns gestört«, bemerkte As' mala. »Hier, hier!« Pong flatterte hektisch an einer Kreuzung auf und ab. »Hier ist er! Er versucht zu fliehen!« As'mala war die Schnellste, und Shanija sah mit Schrecken, dass sie ihre Projektilwaffe zog. »Nicht!« Doch es war zu spät. As'mala hatte bereits gefeuert. Shanija bemerkte erstaunt, dass kein Knall zu hören gewesen war. »Schalldämpfer«, grinste As'mala spitzbübisch. Ein paar Meter weiter lehnte der dritte Zykluswahrer an der Wand. Er kippte langsam nach hinten und riss einen Bolzen aus, in den sich seine Klauen gekrallt hatten. »Hat er etwa den Bolzen gezogen?«, fragte Bio6, der es wieder ein mal geschafft hatte, dem Kampfgeschehen auszuweichen, und gera de am Schauplatz eintraf. »Ja, warum?« »Oh«, stöhnte der Orgamechanoid. »Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut!« * Die Plattform fuhr in gleichmäßigem Tempo an einer pockennarbi gen Steilwand entlang nach oben. Über die unebene Fläche der Schräge wanden sich Beleuchtungsstränge, die sich mit anderen kreuzten und an diesen Knoten wie aufgeplatzte Pusteln aussahen. Immer wieder durchschnitt eine Art Wartungssteg in horizontaler Richtung die Steilwand, so als hätte jemand mit einem gewaltigen Messer in rohes Fleisch geschnitten. Die Plattform selbst war künstlichen Ursprungs und von einem simplen Geländer eingefasst. Sie sollte die Mitglieder des Ader
schlags aus der Tiefe zum Herzen ELIUMS bringen. Rr'b'trr stand etwas abseits von den anderen Mitgliedern des Ader schlags. Offenbar gab es keinen in der Gruppe, der dem Insektoiden zu nahe sein wollte. Vermutlich hatte es auch damit zu tun, dass wieder einmal seine Brut wütend um ihn brauste. »Verehrter Rr'b'trr«, setzte Worgor mit spöttischem Unterton an. »Wären Sie so gut, Ihre Käfer wegzupacken? Es ist nicht allzu viel Platz auf der Plattform, und wir wollen doch nicht, dass jemand zu Schaden kommt.« Ein Käfer wagte sich zu nah an Worgor heran. Dieser holte ihn mit einer blitzschnellen Bewegung aus der Luft, schleuderte ihn zu Bo den und zertrat ihn mit seinem eleganten Schuhwerk. Rr'b'trr tat, als hätte er nichts davon bemerkt. Stattdessen sagte er: »Ich hoffe, Sie haben die Apparaturen nicht zugunsten Ihres eigenen Projektes vernachlässigt, Worgor. Ein Versagen der Psi-Kupplungen sollte leicht nachvollziehbar sein. Wir möchten doch nicht, dass der Eigentümer einen falschen Eindruck erhält, nicht wahr?« Worgor trat dicht an Rr'b'trr heran, achtete nicht auf die Käfer, die gegen ihn prallten. »Beweise zuerst mal, ob du überhaupt die Kraft der Kleinen aktivieren kannst.« Er wies auf die Menschenfrau, die reglos hinter dem Insektoiden stand. »Töte den Käfer, Trägerin!«, verlangte Rr'b'trr und deutete auf ein Insekt, das soeben seine Kreisbahn um Rr'b'trr verließ und auf die Menschenfrau zusteuerte. Sie reagierte sofort. Ein Plopp erklang, und ein glühendes Häuflein klatschte auf den Boden der Plattform. Sie lächelte leer. »Sei versichert«, zischte Rr'b'trr seinen Kontrahenten an. »Ich be herrsche sie.« Aus dem Dunkel der Tiefe erscholl ein klagender Laut zu ihnen hinauf. »Worgor, Rr'b'trr«, mischte sich der Vorsitzende Brascali ein. »Ver such abbrechen! Der Alarm wurde ausgelöst, und ich will die Träge
rin der Sonnenkraft nicht aufs Spiel setzen. Im Namen des Ader…« »Nein!«, begehrte Rr'b'trr auf. »Der Versuch muss stattfinden, und zwar jetzt! Ich habe das Recht dazu, und der Aderschlag hat einstim mig den Beschluss gefasst.« »Vorsitzender! Lassen Sie sich nicht von ihm manipulieren!«, stemmte sich Worgor gestikulierend dagegen. Rr'b'trr fegte seinen Einwand mit sirrendem Scherenschlag beisei te. »Um den Alarm werde ich mich umgehend kümmern. Ist ver mutlich nur eine Fehlfunktion einer Sirene, ein Muskelkrampf oder ähnliches, das kennen wir doch. Vorsitzender, geben Sie mir eine Stunde. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, brechen Sie das Expe riment ab. Aber ich brauche diese Stunde!« Brascali nickte dem Insektoiden zu. »In Ordnung.« Ein Teil des Schwarms löste sich von Rr'b'trr und hüllte Seiya ein, die in ihrer braunen Kutte weiterhin reglos auf der Plattform stand. Die Insekten wirbelten ihr langes schwarzes Haar auf, als würde ein Sommerwind damit spielen. Dann schlug Rr'b'trr seine Kutte zu rück, breitete silbern schimmernde Flügel aus und schwang sich über das Geländer hinunter in die Tiefe.
Seiya befand sich in ihrem weißen Zimmer. Etwas Fremdes, Golde nes hatte sich eingeschlichen. Wo war es hergekommen? Sie musste den goldenen Schimmer nochmals rufen, war er doch so ganz an ders als das leere Weiß. Anders, und voller Glanz. Er schien so viel mehr zu umfassen als die Wahrheiten der letzten Tage. Sie streckte ihren Arm aus. *
»Was ist nicht gut?«, fragte Shanija alarmiert. Knapp unterhalb der Decke befanden sich transparente Leitungen, durch die nun eine fluoreszierende Flüssigkeit gepumpt wurde. Die Substanz füllte kleine kugelförmige Puffergefäße, die in regelmäßi gen Abständen angebracht waren, und die wiederum ein unüber schaubares Adernetz speisten, das hinter der Wandverkleidung ver schwand. Ein helles leichtes Klicken, oder doch mehr ein kristallenes Knir schen hing in der Luft. Es pflanzte sich durch die Gänge fort. Die mattschwarzen Platten an den Wänden erzitterten, wankten und begannen sich zu lösen. Eine nach der anderen. Dann brach der Sturm los und steigerte sich rasch zum Orkan. Die Tafeln klappten auf, noch bevor sie auf dem Boden aufschlugen. Diese schwarze Deckschicht war in Wirklichkeit das äußere Flügel paar von Flugwesen, die entfernt irdischen Fledermäusen glichen. »Das ist die Alarmgruppe!«, brüllte Bio6 gegen den Lärm an. Innerhalb weniger Sekunden quoll der Gang von diesen Wesen über. Sie flatterten unstet auf und ab. Mit lederartigen Schwingen hielten sie sich in der Luft, das Deckpaar aus Chitin hatten sie dabei nach unten geklappt und schlugen es geräuschvoll aneinander. Darren hatte zuerst seine Automatik gezogen, doch es hatte nicht viel Sinn, in dieses wirbelnde Durcheinander zu schießen. Er hieb mit dem Kurzschwert wild um sich und erwischte mehrere der We sen, die schwer getroffen zu Boden stürzten. Knapp neben Shanija knallte ein Chitinpaar zusammen. Auf gut Glück stach sie mit ihrer Klinge zu, und ohrenbetäubendes Krei schen bestätigte ihren Treffer. Doch schon füllten drei neue Flieger die Lücke auf. Schmerz zuckte durch ihre Schulter, als sie von einem Chitinpaar getroffen wurde. Sofort klammerten sich weitere der We sen an ihr fest und falteten ihre lederartigen Schwingen um Shanijas Kopf. Schlagartig konnte sie nichts mehr sehen, und der Hals wurde ihr zugeschnürt. Sie ließ sich zu Boden fallen, wälzte sich herum und bekam endlich den Kopf eines der Angreifer zu fassen, der ih
ren Hals umschnürte. Mit einem kräftigen Ruck drehte sie ihn her um und brach dem Tier das Genick, erwischte den zweiten und töte te ihn ebenfalls blitzschnell. Endlich lösten sich die Schwingen, und Shanija kam taumelnd auf die Beine. In ihrer Nähe war Mun voll im Einsatz; sie hätte dem stets stoi schen, annähernd Vierzigjährigen diesen Schwung und die Eleganz der Bewegungen gar nicht zugetraut. Mit nur einem Schlag seines Stabes holte er meist drei bis vier der Geflügelten aus der Luft. As' mala hatte mehr Schwierigkeiten, sich zu verteidigen, sie schien an der Hand verletzt. Doch irgendwann kamen keine neuen Wesen mehr hinzu, die vier Menschen rückten näher zusammen und gingen nun methodisch gegen sie vor. Bald war der Boden mit zuckenden Leibern bedeckt, und die restlichen Flugtiere ergriffen die Flucht.
Die Freunde sammelten sich und begutachteten ihre Wunden; doch sie hatten kaum Zeit, sich zu fassen. Eine Gewehrsalve schlug dicht neben Shanijas Kopf in der Wand ein. So riesig und unübersichtlich ELIUM auch war; nun war man dem Alarm gefolgt und hatte sie entdeckt. Darren riss die Automatik aus dem Gürtelholster und gab Ant wort in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. »Weg hier, schnell!«, rief er. »In Deckung!« Während er weiter feuerte, rannten sie in einen Nebengang, bogen willkürlich an Kreuzungen ab und schüttelten die Verfolger schließlich ab. Sie erreichten eine Art Zent raldepot, aus dem sternförmig ein halbes Dutzend Gänge führte. In der Mitte stapelten sich Kisten und verschiedene Halbteile aus mas sivem Stahl. Die Gefährten gingen dahinter in Deckung, um eine neue Strategie zu beratschlagen. Shanijas Blick streifte Bio6, der diesmal bei ihnen geblieben war, wenngleich er sich auch nicht in den Kampf eingemischt hatte. »Sie nähern sich«, flüsterte Mun. »Wir können hier vorerst nicht
weg.« Shanija gab As'mala einen Wink, den Orgamechanoiden zu fes seln. Grinsend machte sich die Diebin ans Werk. Noch bevor Bio6 protestieren konnte, hatte As'mala ihn verschnürt. Die ersten Kriggets tauchten aus der Dunkelheit eines Gangs auf. Shanija schätzte, dass es mindestens zwanzig waren, wenn nicht mehr. »Sie wollen uns mit der Überzahl stürmen«, wisperte sie. »Dann bleibt nur eines«, sagte Darren und prüfte sein Magazin. »Draufheizen, wie auf dem Schießstand eines Dragmarer Lunari umsmarktes.« * Dworn hatte in ein Daschkiken-Nest gestochen: zuerst ein toter Zy kluswahrer, und nun Aktivierung der Alarmgruppe. Sie spurteten wenige Quergänge am Labortrakt vorbei und folgten dem Kreischen und den Knallgeräuschen der Hautflügler. Dworn hörte die ersten Schüsse peitschen und war beinahe ent täuscht. Sie würden also nicht die ersten Kriggets am Ort des Ge schehens sein. Ihn beunruhigte aber, dass Projektilwaffen eingesetzt wurden. Das wies auf ernste Probleme hin. Und das innerhalb ELI UMS? Das war noch nie vorgekommen! Deshalb also die neuen Be fehle, die erhöhte Wachsamkeit … Kurz darauf erreichten sie den Gang, der von Kadavern der Alarmgruppenwesen übersät war. Und dazwischen ein toter Zy kluswahrer. Ohne den Lauf zu unterbrechen, brüllte er über seine Schulter: »Tjelo! Du läufst zurück in die Labors und löst Großalarm für die gesamte Ebene aus. Stellt sich dir jemand in den Weg, oder glaubt sich aufspielen zu müssen, töte ihn!« Dworn lief den Zubringer zu Depot 3 entlang und sah Kuntar ei ner anderen Kriggetgruppe, die gerade in das Depot eindrangen. Di
rekt in den Kugelhagel hinein. Dworn befahl augenblicklich anzuhalten. Er selbst stahl sich an die Einmündung des Gangs und sondierte die Lage. Eine Gruppe von Menschen verschanzte sich zwischen schwerem Lagergerät. Sie wurden bereits von zwei Gruppen attackiert, die glücklicherweise ihr selbstmörderisches Verhalten aufgegeben hatten und aus der De ckung feuerten. Dworn schlich zurück. »Wir suchen einen anderen Weg«, verkün dete er. Durch einen Wartungstunnel führte er seine Kriggets in die ande ren Zubringer zum Depot. Sie mussten dafür sorgen, dass den Men schen kein Fluchtweg blieb. Er teilte die Gruppe in jeweils Zwei auf, um alle Gänge zu besetzen. Dworn selbst hatte etwas Besonderes vor. Kurz darauf entdeckte er, wonach er gesucht hatte: den Einstieg ins Abflusssystem. Jedes Depot war so ausgelegt, dass es zur Mitte seiner kreisrunden Form hin leicht abfiel. Das hatte den Effekt, dass eventuell austre tende Flüssigkeit in der Mitte zusammenlief und durch einen Me tallrost ablaufen konnte. Der Abfluss war eng, schleimig und glitschig, aber die Strecke war kurz. Dworn sah bald durch das Gitter zu den Menschen hoch. Von hier aus zu schießen hatte keinen Sinn, er würde niemanden treffen. Er musste hinauf. Glücklicherweise waren sie viel zu beschäftigt mit der Verteidigung, als dass sie auf die Vorgänge mitten unter ihnen achten konnten. Dworn legte sich auf den Rücken, zog die Beine an und stemmte sie gegen das Gitter. In beiden Händen hielt er jeweils eine Kreischerstahlklinge. Menschen! Vermaledeite Brut! Sie hatten alle den Tod verdient. Dworn stieß mit seinen Beinen das Gitter auf, drehte sich blitz schnell, stieß sich ab und sprang brüllend auf das rothaarige Men schenweib zu, das sich ihm in diesem Moment zuwandte. Beide Klingen sausten auf den Hals der Frau zu.
* »Scheiße!«, fluchte Shanija. Hinter ihnen waren weitere Kriggets aufgetaucht, und nun wurden sie von allen Seiten angegriffen. Viele der Angreifer schienen sehr unerfahren, aber mit den Projektilwaf fen waren auch sie eine ernstzunehmende Gefahr. Dicht pfiffen die Kugeln über die Köpfe der Gefährten oder prall ten jaulend an den schweren Gussplatten ab. Shanija hatte keine Munition mehr und wollte bei Darren nachfas sen, als plötzlich vor ihr das Bodengitter aus der Verankerung flog und ein kräftiger Kuntar mit gezückten Klingen auf sie zusprang. Shanija wich den wirbelnden Klingen aus, tauchte unter der De ckung durch und schlug krachend die Automatik in ihrer rechten Hand gegen die Schnauze der Echse, dass sie hochruckte. Mit der anderen Hand rammte sie ihm das Messer in die ungeschützte Keh le. Es trieb ihr die Luft aus den Lungen, als der Kuntar die Fäuste in ihren Rücken drosch; seine langen, gebogenen Klingen waren für den unmittelbaren Nahkampf nicht geeignet, und das war ihr Glück. Trotzdem sah sie Sterne vor Augen, stieß das Messer noch tiefer hinein und merkte, dass endlich seine Arme kraftlos herabfie len, bevor er erneut zuschlagen konnte. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte mit der Echse, kam aber augenblicklich wieder auf die Beine. »Es wird Zeit, dass wir hier abhauen.« Shanija keuchte, ihr Rücken schmerzte fürchterlich, aber sie hatte keine Zeit, auf Schwäche zu achten. Sie schnappte sich ein Ersatzmagazin von Darren, lud durch und setzte zwei Schüsse in die Brust eines herannahenden Kuntar, der die kurze Pause des Nachladens wohl als Aufforderung zum Stürmen gesehen hatte. Die Reihen der Angreifer lichteten sich zusehends. Shanija stellte auf Einzelschuss und gab drei gezielte Schüsse ab. Hinter einer Rohrkonstruktion kippte eine Echse zur Seite.
»Das war der Letzte«, meinte As'mala und erhob sich. Ein Schuss peitschte durch das Depot und streifte knapp ihre Lederkorsage. As'mala ruckte herum und jagte dem verletzten Schützen, der ohne Deckung auf dem Boden lag, eine Garbe todbringender Geschosse hinein. »Aber jetzt!« Zeit zum Durchatmen blieb nicht, denn ein durchdringendes Heu len erklang. Shanija entfernte den Knebel von dem Orga. »Großalarm!«, schnatterte Bio6. »Wir müssen sofort hier weg!« »Und wohin?«, sagte Shanija scharf. »Mun hat festgestellt, dass wir uns wieder vom Zentrum entfernen! Ist das eine erneute Falle?« Der Orgamechanoid zuckte zusammen. »Nein!«, verteidigte er sich. »Im Gegenteil, ich will euch beschützen! Ich will nicht, dass ihr sterbt. Ihr seid meine Freunde!« »Freunde?« Bio6 nickte eifrig. »Freunde riskieren ihr Leben, um das Leben ih rer Freunde zu retten. Und genau das mache ich. Glaubt mir!« Fle hend sah er Pong an, der inzwischen aus der Deckung gekommen war. »Sag es ihnen!« »Ich glaube ihm«, bestätigte der kleine Drache. »Er will uns nicht mehr schaden.« »Also schön.« Shanija löste die Fesseln. »Aber wir müssen trotz dem in die Tiefe, Bio6 – zu Seiya. Egal, in welche Gefahren wir noch geraten. Nur deswegen sind wir hier. Verstehst du das jetzt endlich?« Bio6 neigte seinen Kopf. »Ja. Ja, ich glaube schon. Also müssen wir weiter, richtig?« »Bis wir am Ziel sind, wie es vereinbart war, von Anfang an.« »Dann beeilen wir uns, denn der Großalarm … verheißt nichts Gu tes.«
9. Aus ihrem makellosen Raum betrachtete Seiya, wie die Blicke der Mitglieder des Aderschlags ihrer Hand folgten. Ein Käfer berührte ih ren Finger. Mit dem Kitzeln kam der goldene Schimmer zurück. Der Aderschlag sah, dass das Insekt wie eine überreife Frucht platz te und brennend abstürzte. Die Wesen wirkten verwirrt, wussten nicht, was sie davon halten sollten. Er war schön, der goldene Schimmer. Viel schöner als das trostlose Weiß, das plötzlich stumpf erschien und in den Ecken und Kanten bereits schwarze Schmutzränder ansammelte. Keuchend senkte Sei ya den Arm. Komm zurück, befahl sie und betrachtete den Schwarm, der um sie wirbelte. Mit einem Flopp begann es, dann ein weiteres, noch eines. Wie ein Streichholz im Moment des Anzündens zischend aufflammte, dann Atem zu holen schien, bevor es in eine Wolke gasförmigen Petrole ums eintauchte. Genauso stand plötzlich mit einem lauten Knall der gesamte Schwarm in Flammen und pflasterte mit klebrigen Kohle stückchen den Boden. Seiya badete in Gold. Es war reiner und heller als ihre Aufgabe. Doch Seiya spürte, dass das Gold immer noch nicht vollständig war, irgendetwas fehlte, ließ einen schalen Geschmack zurück. Sie wand te sich an J'luc, das violett schimmernde Wesen, und legte den Kopf schief. Einer des Aderschlags schien als erster die Lage zu erfassen. Mit dem Ruf »Der Käfermann hat Mist gebaut!«, hechtete er über das Geländer und suchte sein Glück in der Steilwand. Seiya beachtete ihn nicht. »Hilf mir«, flüsterte Seiya dem Schleimwesen zu. »Bei der Suche
nach der fehlenden Seite des Schimmers.« Und sie spürte es in sich aufsteigen. Der violette Schleim erstarrte zu klirrendem Eis. Es knirschte und knarzte, als sich die Kristalle gegeneinander rieben und die Span nung erhöhten. Ekstase! Silbriger Glanz breitete sich um Seiya aus, wie von selbst mischte sich ein Goldton darunter. In höchstem Entzücken lachte sie gellend auf. J'luc explodierte in Millionen kleiner violetter Eissplitter, und da mit nicht genug, Seiya schickte eine Flammenwolke hinterher, und er schmolz und löste sich endgültig auf. Mit einem sanften Ruck hielt die Plattform in diesem Moment an. Sie hatte das Ziel erreicht. Seiya beobachtete, wie der Rest des Aderschlags in Panik floh. Einer von ihnen, der gebrechlich wirkte, stolperte und fiel der Länge nach hin. Seiya trat an ihn heran und betrachtete den Mann interessiert. »Bitte nicht«, keuchte der Alte gehetzt. »Ich bin ungefährlich. Ich tue doch niemandem etwas!« Sie streckte ihre Hand aus und beobachtete aus ihrem silbernen Raum, wie der Boden von einer eisigen Schicht bedeckt und die schreckgeweiteten Augen des Yixru tiefgefroren wurden. »Ich glau be dir.« Ein anderer rannte in einen Seitentunnel und machte sich an einer Wand zu schaffen. Er zog einen langen Bolzen heraus und stolperte weiter. Seiya folgte ihm lächelnd. Um ihre Finger züngelten blaugoldene Flämmchen, und vor ihr breitete sich eine Eisschicht über den Boden aus. Barfuß schritt sie über das Eis, das hinter ihr in Flammen auf ging. Ein kühler Windstoß brachte helles Klicken und kristallenes Knir schen mit sich. Und als Seiya sah, wie Bewegung in die Wände kam, brach sie in schallendes Gelächter aus.
Es war wundervoll. * Rr'b'trr stand inmitten der Leichen von mindestens dreißig Kuntar. Alles Kriggets, seine Untergebenen. Zornerfüllt kreischte er auf, und die Brut um ihn fuhr ungestüm auseinander. Warum gerade jetzt? So kurz vor dem Ziel! Als habe sich alles ge gen ihn verschworen. Reichte nicht schon Worgor, der wie eine nim mersatte Moschusbestie den Gestank der Lügen und Intrigen ver breitete? »Wer war das?«, fuhr er den Krigget an, der neben ihm stand. »Es tut mir leid Herr, ich weiß es nicht. Dworn gab mir den Auf trag, den Großalarm auszulösen, und als ich hierher kam, war schon alles vorbei.« Rr'b'trr war nicht an Ausreden interessiert. Seine Klauen schnapp ten nach dem Kuntar und bohrten sich durch dessen Schädel. Wäh rend die Echse kreischte und sich geifernd in seinem tödlichen Griff wand, sondierte Rr'b'trr den Geist des Kriggets. Eine einfache Auf gabe, denn der Kuntar sprühte vor Lebenskraft, und gut erkennbar schlingerten die Gedanken auf der schmerzgepeitschten See seines Bewusstseins. Er hatte die Wahrheit gesprochen. Aber das war keine Entschuldigung für sein Versagen. Der Insektoid drückte zu, es knackte, und der Körper des Kuntar erschlaffte. Rr'b'trr suchte anschließend unter den gefallenen Kriegern nach ei nem Körper, der noch etwas Leben in sich barg. Seine Brut durchflu tete das Depot, um den kleinsten Rest Atem für ihn aufzuspüren. Und sie wurden fündig. Rr'b'trr schritt in die Mitte des Raums und beugte sich über den reglosen Körper. Die Klaue des Krigget hielt einen Kreischerstahl dolch umklammert, der in seine Kehle getrieben worden war. Der Insektoid bohrte seine Klauen seitlich in den Schädel der Ech
se. Ganz schwach spürte er die Gedanken des Krigget. Er rief die Brut zu sich und gebot ihnen, in den Leib der Echse zu dringen, um über sie dem Sterbenden näher zu sein. Es war Dworn, der Gruppenführer der Jambani Kuntar, und er hasste die Menschen genauso wie Rr'b'trr es tat. Es war ein treuer Diener ELIUMS. Rr'b'trr bohrte tiefer und der Körper des Echse wand sich unter Krämpfen, bäumte sich ein letztes Mal auf. Der Insektoid sah, dass er es mit vier Menschen zu tun hatte, die von außen gekommen wa ren. Das ließ nur einen Schluss zu: Sie waren auf der Suche nach sei nem Geschöpf. Der Trägerin der Sonnenkraft. Wütend zerquetschte er den Schädel der Echse und verließ das Depot. * Der Gang vor ihnen führte steil nach oben. Er mochte zwar eine Breite von gut fünf Metern aufweisen, aber der Großteil davon wur de von einem transparenten Schlauch mit mindestens drei Metern Durchmesser eingenommen. Es mussten Unmengen der fluoreszie renden Flüssigkeit durch ihn strömen. Der Gang selbst hatte Stufen und ermöglichte dadurch das Voran kommen. Aufgrund seiner ungewöhnlich ausgeführten Gliedmaßen hatte Bio6 allerdings die größten Schwierigkeiten, mitzuhalten. »Warum jetzt in das Herz ELIUMS?«, erkundigte sich Shanija nach dem erneuten Richtungswechsel, der wiederum von der Tiefe weg führte. »Sagtest du vorher nicht etwas vom Brutkessel?« »Das war mal. Ich habe nämlich etwas aufgeschnappt. Der Ader schlag selbst wollte einem Versuch beiwohnen, der genau jetzt statt findet. Deswegen sind wir auch vorhin schon vom Zentrum weg, Richtung Herz gegangen. Das habe ich für euch herausgefunden!« Shanija hätte den Orga am liebsten geschüttelt. Warum rückte die
ses merkwürdige Wesen erst jetzt damit heraus? Eine Wirkung des Buntas, der den Orga in einen ständigen Konflikt zwischen Freund schaftsdienst und programmiertem Gehorsam trieb? Hoffentlich hielt der augenscheinlich verwirrte Verstand von Bio6 noch solange durch, bis sie Seiya gefunden hatten. »Versuch?«, fragte As'mala beunruhigt. »Also, das war so«, setzte der Orgamechanoid zu einer Erklärung an. »Während ihr in der Halle der Destruktoren Waffen ausgewählt habt, war ich in der Wartungsstelle der Bio-6 Serie. Wenn man für den Strang ausgerüstet ist«, er hielt sein Vorderrad kurz hoch, »dann sind Entfernungen keine Affäre. Die Wartungsstelle ist der beste Ort, um Neuigkeiten zu erfahren, und er ist exklusiv für die Serie 6. Und da erfuhr ich, dass sie die Menschenfrau für ein Experi ment einsetzen wollen, und zwar im Herz. Aber mehr dazu kann ich euch leider nicht sagen.« »Bei Anamas Hintern, bitte erlaube mir endlich, den Wahnsinni gen in seine Bestandteile zu zerlegen, Shanija!«, schnaubte As'mala. »Es wäre gut, Bio6, wenn du uns auf dem schnellsten Weg führst, und ohne Verzögerung«, sagte Mun langsam. »Denn ein Experiment an einem Menschen bedeutet höchste Lebensgefahr für unsere Freundin.« »Oh, das wusste ich nicht. Aber wir sind auf dem schnellsten Weg, glaubt mir!«, beteuerte der Orga. Pong übernahm es, die Gänge zu sichern; der Großalarm schrillte noch immer, und sie konnten hektische Geräusche vernehmen. Aber Bio6 kannte tatsächlich einen Weg, der kaum frequentiert wurde, und sie kamen fast ohne Verzögerung voran. »Wie viel Munition haben wir noch?«, fragte Shanija Darren unter wegs. »Noch so ein Gefecht packen wir nicht«, antwortete er. »Wir haben nur noch das, was unsere Magazine hergeben. Also höchstens zwanzig Schuss pro Automatik.«
»Es muss reichen.«
Auf den letzten Metern verlor die Treppe an Steigung und endete schließlich in einem ebenen Gang. Vor ihnen verschwand der Schlauch in der Wand. Direkt über ihnen befand sich eine kleine Wartungsluke. Shanija warf einen Blick darauf und machte Platz für As'mala. »Kein Problem«, sagte die leidenschaftliche Schlossknackerin. Nach ein paar Fummeleien und verhaltenen Flüchen entriegelte der Verschluss mit einem leisen Klack. Die Gefährten fanden sich auf einer freien Fläche wieder, einer Mi schung aus Stadion und Halle. Sie waren am äußeren Ring heraus gekommen, zehn Meter vor ihnen fiel ein kreisförmiger Graben ab. Er war mit einer ölig-schwarzen, fluoreszierenden Substanz gefüllt. Mehrere schmale Stege überbrückten den Graben und führten auf der anderen Seite auf festen Boden. Im Zentrum ragte eine monströ se, organische Säule bis zur Decke. »Das Herz ELIUMS«, flüsterte Bio6. Die Gefährten machten sich kampfbereit und sahen sich nach Sei ya um, während sie einen Steg überquerten. Aus der zähen Flüssig keit unter ihnen stiegen ab und zu Blasen, und sie bewegte sich leicht, wie die Wogen eines Meeres. Es mochte das Blut des Gigan traumers sein. Jahrtausendealtes Blut. Als sie festen Boden erreichten, öffneten sich ringsum Türen. Wortlos verfolgte Shanija, wie eine Hundertschaft Kriggets oder mehr, hereinströmten und sich entlang des Außenrings verteilten. Die Kriggets waren mit automatischen Waffen ausgerüstet. Aus den Echsengesichtern ließ sich keine Gemütsregung ablesen, während sie anlegten. Eine Flucht war ausgeschlossen. Bio6 warf sich auf der Stelle hin und stellte sich tot. »Warum schießen sie nicht?«, flüsterte As'mala.
»Um das Herz nicht zu gefährden«, vermutete Mun. Shanija machte ein grimmiges Gesicht. »Und ich schätze, dass sie uns lebend und in einem Stück haben wollen.« Ein Brausen erfüllte die Luft und eine dichte Wolke aus Insekten hüllte die Gefährten ein. »In einem Stück«, bestätigte eine nicht menschliche Stimme.
Rasender Schmerz explodierte in Shanijas Kopf. Sie taumelte und stürzte hilflos zu Boden. Mit trübem Blick sah sie, wie ihre Freunde sich neben ihr wanden. Die Insekten umschwirrten sie in einem wütend brausenden Sturm. Waren sie die Ursache dieser Schmerzen? Shanija fühlte, wie Chitinpanzer gegen sie prallten. Eine Woge aus Schmerz und läh mendem Druck presste sie nieder. Vage registrierte sie, wie sich die Käferwolke etwas lichtete, und ein großes, hageres Wesen in groteskem Gang auf sie zustakste. Eine Kutte verbarg den größten Teil des Leibes, doch Kopf und Arme waren die eines Insektoiden. »Ja«, erklang die Stimme des Wesens, als hätte es Shanijas Gedan ken gehört. »Ich bin Rr'b'trr, und du scheinst mir ein interessantes Exemplar Mensch zu sein.« Seine Klaue packte Shanija am Handgelenk und zerrte sie daran hoch. Sie war zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen. Ihre Mus keln reagierten nicht auf die Kommandos ihres Gehirns. »Du bist sogar sehr interessant. Ich sollte dir ausgiebig Zeit wid men.« Doch da geschah etwas Unerwartetes. Shanija war plötzlich von einer Glutwolke umgeben, als die um sie kreisenden Käfer in Flammen explodierten und brennend zu Boden regneten. Der Insektoide ließ sie fallen und fuhr herum. Shanija richtete sich mühsam auf und verharrte blinzelnd. »Seiya
…«, flüsterte sie und wurde blass.
Mitten in einer flirrenden Wolke, die teils aus Eis, teils aus Feuer zu bestehen schien, stand eine zierliche Mädchengestalt, deren langes schwarzes Haar im Sturm der Elemente wallte. Sich gegenseitig stützend, halfen sich die Gefährten auf die Beine; Schock und Fassungslosigkeit machte sie sprachlos, als sie die Prin zessin erkannten. Der Insektoid wandte sich Seiya zu. Er verfiel in einen seltsamen Singsang, und der Teil seiner Brut, der nicht den Flammen zum Op fer gefallen war, kreiste um ihn. Langsam näherte er sich dem Mäd chen. Shanija fühlte, wie der Druck in ihren Kopf zurückkehrte. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Mit jedem Schritt, den sich Rr'b'trr Seiya näherte, wurde das Feld um sie schwächer. Es begann zu flackern und zu erlöschen. Seiya schwankte. Der Gesang des Insektoiden wurde lauter, und der Schwarm brauste. Von irgendwoher sauste Pong heran. »Da ist ja Seiya! Endlich!« Er landete auf Shanijas Schulter. »Hey, Shan! Was ist los? Sag was!« Shanija bemühte sich, eine Antwort zu formulieren, doch sie schaffte es nicht. Lethargisch sah sie den kleinen Schmuckdrachen vor sich auf und ab flattern, während das Feld aus Feuer und Eis um Seiya endgültig zusammenfiel. Pong flog nervös hin und her. »Mann, bist du weggetreten. Was soll ich tun?« Er drehte den Kopf zu Seiya. »Ich kann da nicht länger zusehen. Pass auf die Kristalle auf!« Pong stieg ein paar Meter auf, hörte auf mit den Flügeln zu schla gen und ließ sich gestreckt fallen, wie ein silberner Pfeil. Dann be schleunigte er weiter und schoss in einer engen Kurve auf Rr'b'trr zu. In Brusthöhe durchstieß er durch eine Lücke in der Kutte den
Panzer Rr'b'trrs. Der Insektoide taumelte. Abrupt wich der Druck von Shanija, und sie konnte ihren Körper wieder fühlen. Allerdings konnte sie sich nicht aufrecht halten, hilflos mit den Armen rudernd stürzte sie zu Boden und riss Darren, an dem sie sich festhalten wollte, mit sich. Auch As'mala und Mun stürzten ächzend. Das Feld um Seiya loderte erneut auf. Ihre Hände beschrieben einen Halbkreis und schickten zwei Feuerbälle zu dem Insektoiden. Bevor sie einschlugen, sauste Pong unversehrt zurück zu Shanija. Die Kutte ging in einer Flammenwolke auf, der Chitinkörper des Insektoiden knackte und fing Feuer. Rr'b'trr bäumte sich auf und stolperte Richtung Graben. Mit einem schrillen Schrei verlor er das Gleichgewicht und stürzte brennend in das ölig wogende Herz. Für einen Augenblick herrschte schockierte Stille. Dann eröffneten die Kriggets das Feuer, gezielt auf Seiya. Keine einzige Kugel erreichte die Prinzessin. Seiya machte eine weit ausholende Bewegung und klatschte kräftig in die Hände. Aus dem Nichts entstand ein Flammenring, der sich blitzschnell aus dehnte, die Kugeln abfing und zerschmolz, und wie eine Feuerwal ze weiter auf die Kriggets zuhielt. Shanija presste sich flach auf den Boden und spürte trotzdem noch die Hitze, die über sie hinwegstrich.
Als es vorüber war, richtete Shanija sich vorsichtig auf. Die rauchen den Gebeine der Kriggets lagen ringsum verstreut. Seiya stand noch immer am selben Platz, umgeben von einem Schutzring aus Feuer. Die Flammen züngelten rhythmisch. Doch bei jedem Pulsschlag schien Seiya schwächer zu werden. Sie hob die Hände und ließ sie kraftlos wieder sinken. Ein dumpfes Grollen erklang, wie das Seufzen eines gigantischen Wesens. Der Boden begann zu vibrieren. Die organischen Wände
zitterten und warfen Falten. Je lauter das Grollen wurde, desto schwächer wurde Seiya. Es sah aus, als würde etwas an ihrem Feld zerren und ihr die Kraft absaugen. As'mala richtete sich auf und wankte auf die Prinzessin zu. Sie breitete die Arme aus und rief nach ihr. »Seiya!« Seiya richtete die Augen auf die blonde Frau. Die Flammen glüh ten grell. »Hilfst du mir, den goldenen Schimmer wieder zu finden?«, fragte sie und legte den Kopf schief. »Pfeif auf den Schimmer«, antwortete As'mala. »Lass dich in die Arme nehmen, Kleines, dann sehen wir weiter.« »Ich … kenne dich?« Die Flammen flackerten und erloschen schließlich. As'mala hastete die letzten Meter auf Seiya zu und umarmte sie. »Komm«, sagte sie. »Jetzt verlassen wir dieses ungastliche Mons trum.« Sie ging mit Seiya im Arm voran. Als nächster folgte Mun; Shanija und Darren übernahmen die Nachhut, aufmerksam nach al len Seiten sichernd. Pong hatte sich völlig erschöpft auf seinen Ru heplatz zurückgezogen. »Wow«, sagte Bio6, der sich als Letzter aufrappelte und sich beeil te, hinterher zu kommen. »Das ist unsere Freundin?« Die Beben wurden stärker, und sie beeilten sich, einen Ausgang zu erreichen. Hinter ihnen schoss die zähe, schillernde Substanz im Graben steil in die Höhe. Die Hölle schien entfesselt, und Shanija wollte dem Teufel noch nicht gegenübertreten.
10. Das Beben setzte sich fort. Überall herrschte totales Chaos. Arbeiter, Wissenschaftler und Kriggets rannten ziellos durch die Gänge, Be fehlen folgend, die alle durcheinander gingen. Die Ordnung war völlig gestört, und alles konzentrierte sich nur noch auf ELIUM. Seiya beseitigte im Handumdrehen alles, was sich den Gefährten in den Weg stellte, mit Eis und Feuer, und so kamen sie schnell vor an. Das letzte Stück legten sie auf einer Plattform zurück. Der An trieb befand sich an der Unterseite, durch den Mittelpunkt ging ein mächtiger Stahlträger, der an zwei Seiten ein Zahnprofil aufwies. Sie hatten kein Gefühl, wie hoch sie aufstiegen. Schließlich tauchte über ihren Köpfen ein Rechteck auf. Die Plattform legte die letzten Meter zurück und fügte sich passgenau in die Aussparung. Und dann standen sie auf der gewölbten und vernarbten Außen hülle ELIUMS, mitten in einem Anlegeplatz der Metallvögel. Durch die Kluft über ihren Köpfen sahen sie zum ersten Mal wieder ein Stück Himmel. Hier draußen herrschte Noctum. Der Platz wurde von Methangaslampen ausgeleuchtet. Das Lam penfeld bildete ein gleichschenkliges Dreieck, dessen Basis sich di rekt am Plateau befand. Die Spitze lag mehr als einhundert Meter weiter weg. Offenbar eine Anflughilfe. Die semiorganischen, hauptsächlich aus Metall und Muskeln be stehenden Flugtiere sahen wie eine Mischung aus adlerköpfigem Vogel und Flugsaurier aus. Mit ruckartigen Bewegungen drehte der am nächsten angebundene Orgavogel den Kopf und musterte die Menschen. Unterhalb des Schnabels führten Schlauchstränge in den Metallkäfig des Brustbereichs. Durch die dort angebrachte Öse führ te die Kette, die in einen starken Bodenring eingehakt war. Die zweiteiligen Flügel waren an den Leib gepresst; eine Leichtme
tallkonstruktion mit fellbedecktem Gewebe, das an die Gelenke an gezüchtet worden war, über dünne Schläuche mit dem Hauptkörper verbunden. Auf dem Rücken befand sich eine lang gezogene Aus buchtung, mit Steuerelementen, Pilotensitz und zwei Sitzmulden für Passagiere in einer Reihe dahinter. »Freunde«, sagte Bio6 feierlich. »Der Auftrag ist ausgeführt und die Rettung erfolgreich beendet. Nehmt euch einen Orgavogel und fliegt ab.« »Wo ist der Antrieb?«, fragte Darren. »Die Methanturbine liegt hinter den Sitzmulden, an der Untersei te. Wo man die Druckflaschen auswechselt, weiß ich jetzt nicht so genau …«, musste Bio6 eingestehen. »Das finden wir schon«, sagte As'mala, zog das Messer und richte te es auf Bio6. »Du hattest Glück, Kleiner, dass Shanija so nachsich tig ist.« »Ich weiß«, antwortete der Orga und brachte den Kristallzylinder zum Vorschein. Er hielt ihn As'mala hin. »Hier. Als Entschuldigung und Andenken.« Verdutzt hielt As'mala inne. »Du … kannst auf einmal frei denken?« »Ja, schon eine Weile. Interessante Erfahrung. Ich werde mich eini ge Zeit damit beschäftigen.« Aus den Augenwinkeln sah Shanija, wie Seiya an einen Orgavogel herantrat. Als sie ihre Hand ausstreckte, zuckte der Vogel zurück und breitete seine Flügel heftig schlagend aus. Seiya wurde zurück geschleudert. Als sie aufstand, brannten ihre Hände. Sie hob ihre Hand, und gleich darauf stand der jämmerlich kreischende Vogel in Flammen. Donnernd zerbarst die Methanflasche in seinem Inneren. Der Vogel daneben schrak aus seinem Halbschlaf und wich dem Feuer aus. Auch ihm schickte Seiya einen Feuerball entgegen. Dabei lachte sie kalt. Im Handumdrehen brannte die Hälfte der Orgavögel, die Artge
nossen auf der anderen Seite zerrten kreischend an den Ketten und schlugen mit den Flügeln. Darren stürzte von hinten auf Seiya zu. Mit einem gezielten Schlag setzte er sie außer Gefecht und fing die zusammensackende Prinzes sin auf. »Schnell!« Shanija packte zwei Methanflaschen und rannte unter dem Gewicht keuchend auf einen Vogel zu; Darren kam mit der be wusstlosen Prinzessin auf den Armen hinterher. As'mala und Mun kletterten als Erste auf den Rücken. Gemeinsam nahmen sie Seiya in Empfang und legten sie in die hintere Sitzmulde. Mun setzte sich neben sie und hielt ihren Kopf. Shanija befestigte derweil die beiden Flaschen an einer dafür vorgesehenen seitlichen Haltevorrichtung. Für As'mala und Shanija blieb die mittlere Mulde; Darren über nahm vorn die Steuerung. Bio6 löste die Kette des Orgavogels und winkte mit seinem Vor derrad zum Abschied. Darren hantierte an den Hebeln, der Orgavögel stieß sich mit den Beinen ab, und mit einem heftigen Ruck ging es mehrere Meter nach oben. Flügelschlagend hielt er sich in der Luft. »Haltet euch gut fest«, rief Darren nach hinten und zündete die Methanturbine. Der Orgavögel spreizte die Schwingen zum Segelflug und stieg zur Kluft auf. Kurz vor der Kavernendecke sah Shanija die schräge Schneise durch die steinernen Brücken, die die linke und rechte Sei te der Kluft miteinander verbanden. Dann wurde sie auch schon von der lauen Noctumluft der Steppe empfangen. * Kurz nach Mitternacht rief Darren As'mala zu sich. Er erklärte ihr, wie die Flugsteuerung zu bedienen war. Die Abenteurerin jubelte begeistert. In den vergangenen Stunden hatte sie zuerst geschmollt, weil sie nicht fliegen durfte, dann geschlafen und war inzwischen
gut erholt. Darren hingegen sah müde und geschlaucht aus. »Ruh dich aus, ich krieg das locker hin«, betonte As'mala fröhlich. In der hinteren Sitzmulde lagen Mun und Seiya in tiefem Schlum mer, eng aneinandergekuschelt. Darren kroch zu Shanija, die erwachte, als er sie in die Arme nahm. Er küsste sie, ihre Lippen waren weich und nachgiebig. Ihre Augen funkelten wie Kristalle im dunkelvioletten Schein des Nacht himmels. Als er seine Hand unter ihre Kleidung schob, spannte sie sich an. »As'mala ist vollauf mit dem Flug beschäftigt«, wisperte er heißatmig in ihr Ohr. »Seiya und Mun würden wahrscheinlich den Weltuntergang nicht mitbekommen. Ich möchte dich spüren, wann haben wir schon Gelegenheit dazu … und nach diesem Abenteuer haben wir uns ein wenig Entspannung verdient, finde ich.« Da gab sie nach, und sie liebten sich langsam und zärtlich, bis sie eng umschlungen einschliefen.
Der Himmel hellte sich auf, als die erste Sonne des Dreiergespanns über den Horizont blinzelte. Friedliche Grashügel warfen lange Schatten über die Landschaft. Ein kleiner Vogelschwarm kreuzte un ter ihnen. Die Jäger des Morgens holten sich Insekten für die Nach kommen. Während der kühle Flugwind über ihr Gesicht strich, spürte Sha nija an ihrem Rücken die Wärme von Darren. Wohlig drückte sie sich an ihn und gab sich noch ein wenig der Ruhe hin, bevor sie sich zu Pflicht und Verantwortung ermahnte. Wie mochte es um Seiya stehen? Shanija setzte sich auf und drehte sich zu der Sitzmulde hinter ihr. Mun war wach und hielt die Prin zessin immer noch im Arm. Die Gleichmütigkeit, die der Adept sonst immer gekonnt zur Schau stellte, war einer besorgten Miene gewichen. »Ist es so schlimm?«, rief Shanija ihm leise zu.
»In ihrem Kopf wurde die Hölle entfesselt«, antwortete Mun und strich der blassen jungen Frau sanft eine Strähne aus der Stirn. »Sie ist nicht nur bewusstlos. Ihr Geist hat sich zurückgezogen.« Mun konnte seine menschliche Seite nicht leugnen. Die ganze Zeit über, während sie durch ELIUM gewandert waren, hatte er sich be herrscht, aber nun, da Seiya ohne Bewusstsein in seinen Armen lag, schienen ihn die Gefühle zu überwältigen. Adepten waren soziale Bindungen verboten, und Shanija hoffte, dass Mun dadurch eines Tages nicht in Konflikt geriet, weil er das oberste Gebot gebrochen hatte. Ihrer Ansicht nach hatte er jedes Recht der Welt, seine Zunei gung zu Seiya zuzulassen, doch sein Status als Adept stand auf tö nernem Boden. Er war schließlich der erste und bisher einzige Mensch, den die Bibliothekare in die Gilde aufgenommen hatten. »Seiya hat sich verändert«, bemerkte sie. »Sie ist nicht mehr sie selbst. Der Insektoid muss ihren Willen gebrochen und neu geformt haben.« Shanija betrachtete Seiya traurig. »Du bist ein Adept des Zentralarchivs. Kennst du keinen Weg, wie wir ihr helfen können?« Mun zögerte. »Es gibt eine Chance für Seiya. Und die bin ich.« Er hob den Blick und sah ihr gelassen in die Augen. »Du weißt, dass wir Adepten das erhaltene Wissen sehr detailliert aufnehmen kön nen, um es im Zentralarchiv wieder freizugeben. Was verschwiegen wird: es gibt einen besonderen Weg für uns, um Wissen aufzuneh men.« Mun machte eine kurze Pause und blinzelte in das Licht der höher steigenden Sonnen. »Wir nennen ihn die Verschmelzung des Geistes. Dabei kann ich das Wissen eines anderen in mich aufneh men. Ja, ich kann sogar neues Wissen vermitteln.« Shanija hörte gespannt zu. »Was kannst du tun?« »Was unterscheidet Wissen von Erinnerung?« »Du … hast vor, ihr eine neue Erinnerung zu geben.« Mun nickte knapp. »Es ist das erste Mal für mich. Ich kann nicht versprechen, dass es klappt. Und ich hoffe, dass es ihr bei der Erin nerung an die Vergangenheit hilft. Sie soll wieder zu Seiya werden.« Er machte erneut eine Pause. »Würde diese Fähigkeit der Adepten
bekannt, dann wären wir gefürchtet und nirgends mehr willkom men. Wir setzen sie auch nur höchst selten ein.« »Von mir wird niemand etwas erfahren, Mun«, versprach Shanija. »Hilf ihr, das ist alles, was zählt.« Er schloss die Augen, atmete tief ein und legte seine Hände an Seiyas Schläfen. »Bei allen Meeresteufeln, was für ein Höllentrip!« As'mala hatte sich in ihrer Pilotenmulde nach hinten zu Shanija gedreht und grins te sie an. »Da sag noch einer, Less hat nichts zu bieten. Hast du ge wusst, dass Seiya einem Feuer unterm Hintern machen kann?« »Nein.« »Unsere Prinzessin ist wahrlich ein tiefes Wasser. Wie geht's ihr?« »Mun tut, was er kann. Ich glaube, er holt sie zu uns zurück.« »Natürlich tut er das, wäre ja gelacht.« As'mala verlor nie ihren Optimismus. Es gab auch allen Grund dazu. ELIUM lag weit hinter ihnen, Seiya war befreit, und nun waren sie endlich auf direktem Kurs zum Zen tralarchiv. Shanija durfte wieder vorsichtig Hoffnung schöpfen, ihre Mission erfüllen zu können. Als sie eine Bewegung spürte, drehte sie sich zu Darren. »Du bist wach? Und hast die ganze Zeit gelauscht, ohne dich zu rühren?« Er richtete sich auf und grinste sie verschmitzt an. »Ich liebe deine Augen, habe ich dir das schon gesagt? Immer, wenn du erregt bist, blitzen sie Jadegrün.« Er streichelte Shanijas Nacken und gab ihr einen Kuss. Shanija hätte gern selbst einmal das Steuer übernommen, schließ lich war sie Pilotin. Aber sie ließ es zu, dass ihre Freunde das Ruder übernahmen, und gönnte sich noch eine Pause. Sie legte sich zurück und sah zum Himmel hoch. Früher hatte Shanija das immer machen wollen: die Wolken beob achten und versuchen, die Form eines Tieres darin zu entdecken. Aber in WY-State sah man keine Wolken, nur einen schmutzigen
Dunstschleier. Als sie mit Sechzehn zum Militär kam, war es zu spät dafür. Shanijas Blick glitt zu Darren, der mit geschlossenen Augen döste. Traurigkeit überfiel sie, als sie versuchte, eine gemeinsame Zukunft zu sehen. Sie musste von hier weg, ihre Mission zu Ende bringen. Was war aber mit Darren? Er war Teil dieser Welt, hatte nie etwas anderes gesehen und erlebt. Würde er all das für sie aufgeben wol len? Eine Wolke zog vorbei; ihre Form erinnerte an Bio6. Unwillkürlich musste sie lächeln. »Was ist denn hier passiert?«, erklang eine entsetzte Stimme aus der Sitzmulde hinter ihr und fuhr wie ein Wasserfall fort: »Warum ist mein Finger geschient? Autsch! Wie ist das passiert? Und was ist mit meinem Kleid? Warum stecke ich in dieser abscheulichen Kutte? Da ist ja ein Gemüsesack ansprechender!« »Seiya!« Shanijas Ruf ließ Darren hochfahren, und As'mala drehte sich um. »Hallo, Schätzchen!«, rief die Abenteurerin. Ihr war die Freude und Erleichterung überdeutlich anzumerken. »Wird auch Zeit, dass du wieder bei uns bist!« »Seit wann fliegen wir?«, fragte Seiya erstaunt. Der Wind zerrte an ihrem langen Haar. »Wo sind wir, und warum muss ich die ganze Zeit über an Sonnenblumen denken?« »Du wurdest verschleppt, warst während deiner Gefangenschaft betäubt und dann haben wir dich befreit.« Mun schickte Shanija und As'mala einen warnenden Blick. »Na, toll!«, schimpfte Seiya. »Da erlebt man endlich was und ver schläft es!« »Du wolltest wissen, wo du bist«, sagte Mun und zeigte nach vorn. »Dort liegt die Stadt Burundun.« Shanijas Puls sprang in die Höhe. Sie reckte sich, um nach unten schauen zu können. Im Zentrum eines riesigen Kraters, um einen See, lag eine Ringstadt. Schroffe Felsen und zackige Klippen bilde
ten den äußeren Ring des Kraters. Shanija konnte tief unter sich die winzigen Punkte einer Karawane ausmachen, die sich gerade an den Abstieg machte. In der Mitte schillerte der See im Licht der drei Son nen wie ein Juwel. »… nach dem Kraterring beginnt Burundun, die äußere Stadt. Die Häuser des Außenrings gehören den reichen Bürgern«, erklärte Mun. Er hatte seine Linke um Seiyas Hüfte geschlungen und deutete mit der rechten Hand auf die Stadt. »Fast alles, was auf festem Bo den erbaut wurde, ist teuer und den Reichen vorbehalten. Der See ist viel größer, als du von hier aus erkennen kannst. Lakara, die Schwimmende Stadt, schließt an Burundun an, ist aber gänzlich auf dem Wasser erbaut.« Mun seufzte und schien selbst den Anblick zu genießen, während As'mala den Orgavogel auf den Mittelpunkt des Kraters zusteuerte. »Mitten im See liegt eine Insel. Sie wird jetzt noch vom Morgen dunst eingehüllt, aber den Turm wirst du gleich erkennen. An seiner Basis misst er hundert Meter, aber er ragt fünfmal so hoch in den Himmel hinauf.« Und tatsächlich, da schälte er sich auch schon aus den Nebeln, und nicht nur Shanija hielt bei dem atemberaubenden Anblick den Atem an. As'mala ging auf Sinkflug und ließ den Orgavogel die Insel um runden, ein verschwommener Flecken inmitten des Wassers und des Dunstes. Shanija konnte den Blick nicht vom Turm abwenden. Majestätisch erhob er sich weit in den Himmel. Er strahlte Reinheit aus. Endlich war das erste Ziel zum Greifen nahe! Bald würde Shanija wissen, ob ihre Suche überhaupt einen Sinn hatte. Muns Stimme klang bewegt, als er schloss: »Das Zentralarchiv.« ENDE
Anhang Shanija Ran Colonel der Special Marines-Einheit WILD RAMS, ist dreißig Jahre alt, einsachtzig groß und sehr gut trainiert, trotzdem feminin. Sie trägt ihr gelocktes, brünettrotes Haar halblang, ihre leicht mandel förmigen grünen Augen sowie die samtene Hautfarbe besitzen einen leicht indischen Einschlag. Ihre Eltern sind Barn und Raja To van, der Bruder Aaron Tovan. Sie wird 3188 n.Chr. in einer staatli chen Armenklinik der Megalopolis Washington-York-State geboren. Ihre Eltern konvertieren zwei Jahre später zur LICA-Sekte, die jegli chen Einsatz medizinischer Hilfe verbietet. Als Shanija sich mit sie ben Jahren den Unterarm bricht, muss der Bruch von selbst heilen, was eine Narbe und bleibende Schmerzen hinterlässt, aber auch den Willen des Mädchens stärkt und festigt. Mit vierzehn Jahren tritt Shanija mit gefälschten Unterlagen zur Aufnahmeprüfung der Mili tärakadamie an, fliegt auf und erhält trotzdem nicht nachträglich die Genehmigung der Eltern. Zwei Jahre später darf sie offiziell antreten und besteht; sie legt den Familiennamen ab und nennt sich nach dem Mädchennamen der Mutter fortan Shanija Ran. Als ihre Mutter 3207 an einem Herzinfarkt stirbt, geht sie zur Beerdigung, es kommt aber nicht zur Versöhnung mit dem gewalttätigen, alkoholkranken Vater und ihrem Bruder. Bereits 3210 wird Shanija nach Abschluss der Offiziersausbildung als Beste ihres Jahrgangs zur Eliteeinheit WILD RAMS versetzt, über die sie drei Jahre später das Kommando er hält. 3214 deckt sie die Verschwörung eines Ministers auf. Im Ver lauf des Krieges gegen die Quinternen unternehmen die WILD RAMS waghalsige Einsätze, die sie bald legendär machen und Shanija noch im selben Jahr den Rang des Colonels einbringen. Ihre Einheit steht absolut loyal zu ihr; allgemein ist sie sehr geachtet, aber wegen ihrer herben, stets korrekten und äußerlich emotionslosen Art nicht allzu
beliebt und wird hinter ihrem Rücken als »Cold Angel« bezeichnet. As'mala Eigentlich Asanfirigylwyddinmala, ist fünfundzwanzig Jahre alt, einsvierundsiebzig groß, hat blaue Augen und trägt ihre blondes Haar in aufwendigen Zopffrisuren. Sie ist die Tochter des in der Gil de eingetragenen Diebes Haridingansin'dis'Anu (Dis'Anu), der ver schwand, als sie noch klein war, und der Wander-Schauspielerin Ti titajanaheraninyidirakar (Akar). Das aufgeweckte, lebensfrohe und intelligente Kind schnappte schnell alles auf, was sich ihm bot. Von der Mutter, den vielen Halbgeschwistern und den anderen Schau stellern verhätschelt, wächst As'mala zu einer selbstbewussten jun gen Frau heran, die es versteht, das Leben zu nehmen. Sie absolviert erfolgreich die Ausbildung zur Diebin, arbeitet als Leibwächterin und Söldnerin. Schon früh treibt es sie in die Welt hinaus, die ihrer Ansicht nach viel zu bieten hat, vor allem Abenteuer. As'mala ver liert selten ihre gute Laune und ihren Optimismus, geht manchmal leichtsinnige Risiken ein, lässt aber niemals jemanden im Stich. Sie hat nicht so schnell vor, ihr ruheloses Wanderdasein aufzugeben. Seiya Neunzehn Jahre alt, einseinundsiebzig groß, zierlich/ätherisch, hat lange glatte, schwarze Haare und braune Augen. Prinzessin der Mandiranei, als Thronfolgerin kurz vor der Machtübernahme von ihrem älteren, geisteskranken Bruder Tainon entmachtet und zum Exil gezwungen. Seiya ist in dem isolierten Monolithen sehr behütet, wenngleich emotional eher vernachlässigt aufgewachsen und kennt die Welt bisher nur aus Erzählungen von Händlern und Reisenden und aus Büchern und Schriftrollen. Bedingt durch die lieblose Welt um sich hat sie sich gern in romantische Träumereien geflüchtet und glaubt fest an das Gute. Sie ist eine gebildete und selbstbewusste junge Frau, die durchaus weiß, ihre körperlichen Vorzüge und ihren Charme einzusetzen; heiter und verspielt, allerdings manchmal auch mangels Erfahrung naiv. Das »wirkliche« Leben lernt sie erst nach und nach kennen und muss ihren Platz finden.
Darren Hag Ist ein Multitalent und Abenteurer, der sein Äußeres durchaus ma nipulativ einsetzt. Siebenunddreißig Jahre alt, einsneunzig groß, mit dunkelblonden, nackenlangen Haaren und zwingenden grauen Au gen. Als Sohn von Janitha und dem überaus reichen wie einflussrei chen Händler Earl Hag von Thel-Ryon findet er überall schnell offe ne Türen sowie Zugang zu Geldmitteln. Durch das gespannte Ver hältnis zu seinem Vater geht Darren früh auf Reisen und macht sich bald einen Ruf außerhalb des familiären Schattens. Darren ist einzel gängerisch, eigenbrötlerisch, hart zu sich und anderen, verfolgt sei ne eigenen Wege und Ziele, an denen er andere nicht teilhaben lässt, ist intelligent und vielseitig. Was an den Geschichten, die man sich über ihn erzählt, Wahrheit ist und was Fiktion, weiß vermutlich nur er selbst. Was andere über ihn reden, kümmert ihn nicht. Gelingt es jedoch jemandem, seine Schale zu knacken, zeigt er sich erstaunlich schüchtern und auch verletzlich. Mun Der erste menschliche Adept der Gilde der Wissensträger, neun unddreißig Jahre alt, eins fünfundachtzig groß, schwarze Augen. Sein besonderes Kennzeichen ist das Fehlen jeglicher Behaarung, die er sich jeden Morgen in einem Ritual mit einem Messer abschabt. Er wird als Mun Lanaka im kleinen Bergdorf Surik geboren, seine El tern sind Kelt und Jaria Lanaka. Schon früh lernt Mun die Härte des Lebens kennen, was ihn verschlossen und einsam werden lässt. Er konzentriert sich auf ein einziges Ziel – der erste menschliche Adept des Zentralarchivs zu werden. Dafür ist er bereit, alles Menschliche aufzugeben, soziale Bindungen, Emotionen, den Wunsch nach Ge meinschaft und Familie. Nach einem sehr langen, harten Kampf und strengster Ausbildung erreicht Mun gegen alle Widerstände sein Ziel, was ihm Ausgeglichenheit verschafft, und wandert fortan auf der Suche nach Wissen durch Less.
Vorschau Hort des Wissens Von Rüdiger Schäfer und Michael H. Buchholz
Shanija Ran hat endlich das Zentralarchiv erreicht, das Zentrum des kulturellen Lebens von Less, in einem großen Krater gelegen. Hier wird das gesamte Wissen der Drei-Sonnen-Welt archiviert und kata logisiert. Niemand weiß, wer die Bibliothekare sind, die sich nie in der Öffentlichkeit zeigen. Der Turm des Zentralarchivs ist ein ver schlossenes Gebäude ohne Fenster und Türen. Nur die Angehörigen der Gilde der Wissensträger können hineingelangen. Während der Adept Mun auf die baldige Entbürdung hofft, macht Shanija sich auf die Suche nach Informationen über die legendäre Urmutter, der letzten Überlebenden des Absturzes der Sunquest vor tausend Jahren. Mit Hintergrund-Informationen über die drei Hauptsekten und die sich unaufhaltsam nähernde Passage.