Kurban Said
Das Mädchen vom Goldenen Horn Roman
Mit einer biographischen Notiz des Autors und mit einem Nachwort von ...
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Kurban Said
Das Mädchen vom Goldenen Horn Roman
Mit einer biographischen Notiz des Autors und mit einem Nachwort von Radhia Shukrullah
MATTHES & SEITZ
Essad Beys Aufsatz Die Geschichte meines Lebens erschien zuerst in: Die Literarische Welt, Berlin 1931.
© 2001 Matthes & Seitz Verlag GmbH, Hübnerstraße 11, 80637 München. Alle Rechte vorbehalten. Herstellung und Umschlaggestaltung: Bettina Best, München. Satz: Wirth, München. Druck und Bindung: Wiener Verlag, Himberg. ISBN 3-88221-289-6
Nach „Ali und Nino“ eine weitere westeuropäischorientalische Liebesromanze des in den 30er Jahren unter Pseudonym publizierenden jüdisch-georgisch-deutschen Autors. Nach einem eher mißglückten Romanbeginn, der mit linguistischem und medizinischem Fachvokabular überfrachtet ist, schildert uns der Autor erzähltechnisch routiniert und in farbiger Sprache die Entwicklung einer jungen Türkin, die es in den 20er Jahren mit ihrem Vater nach Berlin verschlagen hat. Sie heiratet einen Wiener Arzt, findet aber zur bürgerlich-westlichen Lebenssphäre auf Dauer keinen Zugang und kehrt am Ende zu ihren orientalischen Wurzeln zurück. Ein durchaus aktuelles Thema also und ein unterhaltsamer, turbulenter und zeitweise auch spannender Liebesroman, der sich – obwohl schon Mitte der 30er Jahre veröffentlicht – eine erstaunliche Frische bewahrt hat, der allerdings leider auch immer wieder ins Triviale und Kitschige abrutscht.
1
»Und dieses ›i‹, Frl. Anbari?« Asiadeh hob den Kopf. Ihre grauen Augen blickten nachdenklich und ernst. »Dieses ›i‹?« wiederholte sie mit leiser und weicher Stimme. Sie schwieg eine Weile und sagte dann entschlossen und verzweifelt: »Dieses ›i‹ ist das jakutische Gerundium, ähnlich der kirgisischen Form ›barisi‹.« Bang rieb sich seine lange gebogene Nase. Seine Augen hinter der runden Stahlbrille glichen den weisen Blicken einer Eule. Er schnaufte leise und mißbilligend. »Ich halte«, sagte er und schlug mit dem knochigen Finger an den Tisch, »ich halte dieses ›i‹ im jakutischen ›bari‹ für ein Possessivsuffix. Bari bedeutet ›die Gesamtheit‹ und die iForm, die wir statt der vertrauten jakutischen a-Form finden, muß einer jüngern Palatalisierung entstammen. Wie lautete denn das ursprüngliche Nomen?« »Bar – das Vorhandene«, sagte Asiadeh. »Ja«, sagte Bang nachdenklich und wehmütig. »Das Vorhandene, und es kann, wie jedes andere Nomen, dekliniert werden. Im Kumikischen lautet der Stamm gleichfalls ›bari‹. Balkarisch und Karatschaewisch dagegen ›barasin‹. Ich kann mir dennoch das Fehlen des ›a‹ in der jakutischen Form nicht restlos erklären.« Im kleinen Zimmer roch es nach altem vergilbtem Papier. Der viereckige Tisch stand am hohen Fenster. Bang blätterte traurig im Lexikon, und um den Tisch saßen der Tatare Rachmetullah, der Ungar Dr. Szurmai und der Sinologe Goetz. Asiadeh blickte auf ihre kleinen Nägel, und der Sinologe Goetz
schlug vor, die rätselhafte Form aus einem erstarrten mongolischen Instrumental zu erklären. »Als ich jung war«, sagte Bang streng, »wollte ich auch alles aus einem erstarrten mongolischen Instrumental erklären. Mut ist ein Privileg der Jugend.« Bang war sechzig Jahre alt. Der Sinologe fünfundvierzig. Asiadeh fühlte plötzlich ein heftiges Kratzen im Halse. Die süßliche Luft der vergilbten Lexika, die gewundenen Schnörkel der mandschurischen und mongolischen Schriften, die barbarischen Formen der erstarrten Sprachen waren unwirklich, feindlich, beinahe lähmend. Sie seufzte tief, und es klingelte. Bang zündete sich eine Pfeife an, zum Zeichen, daß das Seminar für vergleichende türkische Sprachforschung beendet sei. Sein knochiger Finger streichelte zärtlich die gelblichen Bogen der uigurischen Grammatik, und er sagte trocken: »Das nächstemal werden wir an Hand der manichäischen Hymnen die Struktur des negativen Verbums besprechen.« In seinen Worten klang Versprechung und Drohung zugleich. Die Philologie war für ihn sinnlos geworden, seit der große Thomsen in Kopenhagen tot war. Die Jugend verstand nichts und erklärte alles aus einem erstarrten Instrumental. Die vier Hörer verbeugten sich stumm. Asiadeh betrat die breite Treppe des Seminars für orientalische Sprachen. Aus den Sälen kamen bärtige Ägyptologen und schwärmerische Jünglinge, die ihr Leben der Erforschung der assyrischen Keilinschriften zu widmen beabsichtigten. Hinter der verschlossenen Tür des arabischen Hörsaales erstarben noch die schluchzenden Kehllaute einer Gasele von Lebid, und die Stimme des Dozenten sagte abschließend: »Ein klassisches Beispiel des Modus Apokopatus.« Asiadeh ging die Treppe hinab. Sie drückte ihren runden Ellenbogen gegen die schwere Außentür, und ihre Hand umklammerte fest die lederne
Aktentasche. Die Tür öffnete sich. Draußen in der engen Dorotheenstraße lag herbstliches Laub. Mit kurzen hastigen Schritten überquerte Asiadeh die Straße und betrat den Hof der Universität. Die schmalen Bäume des Hofes schienen von der Last des gelehrten Wissens gebeugt. Asiadeh hob den Kopf. Sie sah den trüben herbstlichen Himmel Berlins, die dunklen Fenster der Hörsäle und die goldene Aufschrift an der Front der Universität… Studenten in grauen dünnen Mänteln, mit großen Aktenmappen unter dem Arm eilten an ihr vorbei – Menschen aus einer anderen, fremden und unklaren Welt: Mediziner, Juristen, Volkswirtschaftler. Asiadeh betrat den dunklen Vorraum der Universität. Die große Uhr zeigte acht Minuten nach zehn. Der Vorraum war von eiligen Menschen erfüllt. Asiadeh blieb vor dem Schwarzen Brett der Fakultät stehen und las gedankenverloren und gelangweilt die simplen Mitteilungen des Rektorats an die Studenten: »Das Kolleg des Prof. Dr. Hastings über Frühgeschichte der Gotik fällt in diesem Semester aus.« »Lehrbuch der Chemie gefunden, abholen beim Pedell.« »Prof. Dr. Sachs hat sich bereit erklärt, die Kommilitonen und Kommilitoninnen unentgeltlich zu behandeln. Täglich von 3 bis 5. Klinik für innere Krankheiten.« Die Bekanntmachungen hingen seit Beginn des Semesters unverändert an ihren Stellen. Die Papierränder waren verblichen wie die alten Drucke von Kairo und Lahore. Asiadeh holte aus der Ledertasche ein kleines Notizbuch. Sie legte die Ledermappe flach auf den Arm und notierte mit winziger nach unten verlaufender Schrift: »Laryngologische Klinik. Luisenstraße 2 von 9 bis 1.« Sie steckte das Notizbuch ein und ging zum Vorhof, der zu den Linden führte. Sie sah das majestätische Standbild des großen Friedrich und die klassischen Linien des Kronprinzenpalais. Weit in der Ferne
erhoben sich im trüben Zwielicht des Herbstmorgens die Karyatiden des Brandenburger Tors. Asiadeh bog nach rechts ein. Sie ging über die LouisFerdinand-Straße und betrat den Hof der Staatsbibliothek. Sie lief die Marmortreppe empor und stand im ungeheuren Vorraum der Bibliothek. Vor ihr lag der Eingang zum großen runden Lesesaal. Links zogen sich die langen Korridore der Kataloge. Die kleine Tür rechts führte zum länglichen »Orientalischen Lesesaal«, dem Schlupfwinkel der seltsamsten Gelehrten und Sonderlinge Berlins. Asiadeh trat ein, ging zur Bücherwand, nahm das »Radloffsche vergleichende Wörterbuch« und setzte sich an einen der langen, breiten Tische. Im Lesesaal roch es nach Bücherstaub, Folianten und Weisheit… Asiadeh öffnete das Buch. Sie beugte den Kopf und runzelte die leicht gewölbte Stirn. Der Hauch der wilden Worte streifte ihr Ohr, und ihre verschleierten Blicke sahen hinter der schwarzen uigurischen Hieroglyphe turanische Steppenreiter, nächtliche Nomadenlager und das blasse Grau der anatolischen Hügel. Ihre Hand schrieb indessen: »Etymologie des Wortes ›Utsch‹ – Ende. ›Utsch‹ wird lautgesetzlich im Abakan-Dialekt zu ›us‹. Im Karagaischen sind zwei Formen vertreten, ›utu‹ und ›udu‹. Im Sojanischen gleichfalls ›udu‹…« Sie stockte. Sie konnte sich nichts unter Sojanisch vorstellen. Sie wußte nicht, wann und wo diese Sprache, deren Formen sie jetzt entzifferte, gesprochen wurde. Sie glaubte in diesem Worte das Rauschen eines großen Flusses zu vernehmen und stellte sich wilde, schlitzäugige Menschen vor, die, mit Harpunen bewaffnet, lange fette Störe an die moosbewachsenen Ufer schleppten. Die Männer hatten breite Backenknochen, dunkle Hautfarbe und waren in Felle gekleidet. An den Ufern des Flusses
erschlugen sie die langen Störe und riefen dabei »udu« – die sojanische Form des urtürkischen Wortes »Utsch«, »Ende«. Asiadeh öffnete die Mappe und entnahm ihr einen kleinen viereckigen Spiegel. Sie legte den Spiegel zwischen die zwei dicken Bücherrücken des Lexikons und blickte verstohlen und schüchtern in die kleine Glasfläche: Sie sah schmale, rötliche Lippen, ein ovales helles Gesicht und graue Augen mit langen buschigen Wimpern. Ihr Zeigefinger berührte die länglichen Augenbrauen und strich über die weiche, helle, etwas gerötete Haut. Nichts erinnerte in diesem Gesicht an die schlitzäugigen, breitbackigen Nomaden vom Ufer eines namenlosen Flusses. Asiadeh seufzte. Tausend Jahre trennten sie von den robusten Ahnen, die einst aus den Wüsten Turans kamen und die grauen Ebenen Anatoliens überfluteten. In diesen tausend Jahren verschwanden die geschützten Augen, die dunkle Haut und die harten, breiten Backenknochen. In diesen tausend Jahren entstanden Kaiserreiche, Städte und Vokalverschiebungen. Der eine Ahne eroberte die Kaiserstadt Istanbul und ein anderer Ahne verlor die Kalifenstadt Bagdad. Übrig blieben ein ovales, kleines Gesicht, helle sehnsüchtige Augen und eine schmerzliche Erinnerung an das verlorene Reich, an die süßen Gewässer von Istanbul und an das Haus am Bosporus mit Marmorhöfen, schlanken Säulen und weißen Aufschriften am Eingang. Asiadeh errötete mädchenhaft. Sie schob den Spiegel weg und blickte sich ängstlich um. Sie sah gebückte Rücken, Glatzen und kurzsichtige Blicke zahlreicher bebrillter Augen. Hin und wieder erklang in der feierlichen Stille des Lesesaales ein schüchternes Flüstern. »Können Sie mir die Elementa persica reichen?« »Ein Druckfehler im amharischen Lexikon! Was sagen Sie dazu?«
»Glauben Sie, daß dieser Zusatz ein Negativum enthält?« Leise raschelten die vergilbten Blätter. Es roch nach altem Druck. Die Bücherregale glichen den Zahnreihen eines bösen, siegesbewußten Ungeheuers. Am Nebentisch saß eine ausgetrocknete Philologin mit fahler Haut und eingefallenen Wangen und übersetzte angestrengt den Tarik von Hak-Hamid. Sie sah den Spiegel zwischen den Bücherrücken des Lexikons, blinzelte mißbilligend und schrieb auf einen kleinen Zettel: »Horribile dictul cosmetica speculumque in colloquium!« Sie schob den Zettel Asiadeh zu, und Asiadeh schrieb auf die Rückseite versöhnend: »Non cosmeticae sed influenca. Bin krank. Kommen Sie heraus, ich übersetze Ihnen den Tarik.« Sie erhob sich, klappte die Lexika zu und ging in die große Vorhalle. Die Philologin mit den eingefallenen Wangen folgte ihr. Dann saßen sie beide auf der kalten Marmorbank der Halle, und das Buch »Tarik« lag auf Asiadehs Knien. Aus den rollenden Versen erhob sich der graue spanische Felsen, und der Feldherr Tarik überquerte nachts beim flatternden Schein der Fackeln die Meeresenge von Gibraltar, setzte seinen Fuß auf den grauen Felsen und schwor, das spanische Land für den Kalifen zu bezwingen. Die Philologin seufzte verzückt. Es erschien ihr als eine Ungerechtigkeit, daß jedes türkische Kind Türkisch konnte, während eine fleißige Philologin es mühselig erlernen mußte. »Ich bin krank«, sagte Asiadeh und legte den »Tarik« weg. Sie blickte nachdenklich auf den schwarzen Adler, der in die Fliesen des Marmorbodens eingelassen war, und erhob sich. »Ich muß gehen, Kollegin.« Sie verabschiedete sich und lief, grundlos guter Laune, zum Ausgang. Sie ging, die Aktenmappe fest unter den Arm gepreßt, durch die lärmende Friedrichstraße. Leichter, herbstlicher Regen fiel über Berlin. Am Bahnhof Friedrichstraße standen die Zeitungshändler wie Soldaten auf Wache. Asiadeh schlug den
Kragen des dünnen Regenmantels hoch. Ihr kleiner Fuß stolperte im dunklen Regengrau am Admiralspalast. Ein Auto fuhr vorbei und wirbelte feuchten Schmutz auf. Graue Flecken bespritzten Asiadehs Strümpfe. Sie ging weiter. Die bleierne Spree war von einem trüben Blau bedeckt. Asiadeh blieb an der Brücke stehen, und ihre Augen überblickten das eiserne Gerüst des Bahnhofs. Oben donnerte die Stadtbahn. Die weite Friedrichstraße lag vor ihr, glänzend vom herbstlichen Regen. Diese Stadt war fremd und schön in der klassischen Geradheit ihrer durchnäßten und nackten Straßen. Asiadeh atmete tief die fremde Luft ein und blickte in die grauen Gesichter der Passanten. Ihr romantischer Sinn witterte in den rasierten länglichen Gesichtern ehemalige U-Boot-Kapitäne, die verwegene Fahrten zur Küste Afrikas unternahmen, und sie erblickte in den harten und blauen Augen wehmütige Erinnerungen an die Schlachtfelder von Flandern, an die Schneewüsten Rußlands und den glühenden Sand Arabiens. Sie erreichte die lange Luisenstraße. Die Häuser wurden rötlich, und ein Mann mit dicken Wollhandschuhen verkaufte an der Ecke Maronen. Seine Augen waren tief und blau, und Asiadeh dachte, daß diese Augen voll jenseitiger karger Härte von zwei Menschen geschaffen wurden – vom König Friedrich und vom Dichter Kleist. Dann spuckte der Maronihändler aus, und Asiadeh wandte sich erschrocken ab. Sie schluckte und empfand heftige Schmerzen im Hals. Die Männer waren unberechenbar und der Dichter Kleist schon längst tot. Ihre Füße trabten fleißig über den nassen Asphalt der Straße. Ein Regentropfen fiel auf ihren Nacken und sickerte langsam über den Rücken. Sie preßte die Aktenmappe noch fester unter den Arm und sah vorne, auf der linken Straßenseite, das Denkmal Virchows. Die Gegend bekam langsam ein medizinisches Gepräge. In den Auslagen der Geschäfte lagen chirurgische Sägen, zahnärztliche Instrumente und Lehrbücher
der allgemeinen Pathologie. Asiadeh blieb vor einer Auslage stehen und hob ängstlich die spitzen Schultern. Ein Skelett mit mageren Knochen lächelte ihr hinter der Spiegelscheibe entgegen. Sie war zwischen dem toten Virchow und dem Skelett eingeklemmt und sah im Spiegel des Geschäftes ihr eigenes schmales Gesicht mit geröteten Wangen und erschrockenen Augen. Links erhob sich die rote Mauer der Charite. Sie sah die Zweige der einsamen Bäume und Kranke in blauweiß gestreiften Gewändern. Sie ging weiter, den Kopf vorgebeugt und die kleinen Schultern hochgezogen. Es war gar nicht mehr kalt, und der durchnäßte Regenmantel roch nach Gummi. »Der Zug hält nicht an der Jannowitzbrücke«, dachte sie traurig, denn es war der erste Satz, den sie deutsch gelernt hatte, und sie entsann sich seiner stets, wenn sie sich einsam und verloren fühlte in der majestätischen Stein-Pracht Berlins. Sie hob den Kopf und sah die drei Stufen, die zum Eingang der Klinik führten. Sie ging hinauf. Eine robuste Schwester fragte nach ihrem Namen und reichte ihr eine Karte. Asiadeh trat vor den Spiegel, nahm den runden kleinen Hut ab und sah die blonden, weichen Haare, die an den Enden durchnäßt, frei über ihren Nacken fielen. Sie kämmte sich, blickte prüfend auf die Fingernägel, steckte die Karte in die Tasche und betrat den großen halbverdunkelten Ordinationsraum. »Concha bulosa«, sagte Dr. Hassa und warf die Instrumente in die Schale. Der Patient blickte schüchtern auf die Anweisung und verschwand im Röntgenraum. »Kann auch Empyen sein«, murmelte Hassa und trug die Vermutung in die Krankengeschichte ein. Dann ging er sich die Hände waschen. Unterwegs dachte er über das Leben nach, und während die hellen Tropfen über seine Finger rannen und im Wasserbecken verschwanden, schüttelte er den Kopf und hatte tiefes Mitleid mit sich selbst. »Ich bin ein geplagter Mensch«, dachte er und
legte die Stirn in horizontale Falten. Drei Adenoidotomien an einem Vormittag waren entschieden zuviel. Dazu eine in Narkose. Und die zwei Parazentesen – die zweite war völlig überflüssig. Das Trommelfell wäre von selbst aufgegangen. Aber der Patient wurde nervös. Dr. Hassa trocknete die Hände und dachte an das Rhinosklerom. Das Rhinosklerom war sein Sorgenkind. Der Alte wollte das Rhinosklerom den Studenten vorführen. Und das Rhinosklerom wollte sich nicht vorführen lassen. Es gehörte einem alten närrischen Weib, das störrisch war und behauptete, sie sei kein Versuchskaninchen. Es war bitter, daß zu jeder Krankheit auch ein Kranker gehörte. Im Grunde aber war er böse wegen des Famulus. Der Famulus sollte lieber Psychoanalytiker werden und nach Wien gehen. Dort könnte er den Polypotom mit den Schlingenenden nach Herzenslust auf den Glastisch legen. Mitten im Rundgang des Alten! Der Alte sagte nichts, wurde aber rot vor Zorn. Und er, Hassa, ist für seine Famuli verantwortlich, auch für ihre Vorstellungen über moderne Hygiene. »Einfach mit der Schlinge auf den Tisch, kurz vor dem Gebrauch«, brummte Hassa. »Und körperliche Mißhandlung der Famuli ist verboten.« Er nahm ein Taschentuch und umwickelte den Hartgummi des Reflektors. Dabei blinzelte er verärgert und wußte genau, daß weder das Rhinosklerom noch der Famulus für seine schlechte Laune verantwortlich sind. Schuld war das Wetter, das es unmöglich machte, zum Stölpchensee hinauszufahren. Und gerade gestern war dort eine Blondine, die sicherlich auch heute… aber genug davon. Schuld war das Wetter und der Stölpchensee, aber keineswegs die Nachricht, daß Marion den ganzen Sommer in der Gesellschaft des Fritz im Salzkammergut verbracht habe. Was ging ihn Marion überhaupt an? Und das Rhinosklerom
wird einfach vorgeführt, ob es nun will oder nicht, dazu sind wir ja eine Universitätsklinik. Dr. Hassa machte ein ernstes Gesicht und betrat den großen Ordinationsraum. An den Wänden standen in anscheinend endlosen Reihen die Untersuchungsstühle. Neben jedem eine elektrische Birne, ein Instrumententisch und einige Schalen. Kranke saßen auf den Stühlen und hatten abwesende und gleichsam angestrengte Gesichter. In der Ecke links klapperte Dr. Mossitzki mit einem Satz Halsspiegel und am dritten Stuhl rechts schrie Dr. Mann: »Schwester, einen Ohrtrichter!« Auf dem Untersuchungsstuhl Dr. Hassas saß ein blondes Mädchen mit schwärmerischen grauen Augen von seltsam gewundenem Schnitt. Dr. Hassa setzte sich auf den niedrigen Hocker vor das Mädchen und sah sie aufmerksam an. Das Mädchen lächelte und aus den traurigen, seltsam geschnittenen Augen schlug plötzlich eine Fontäne der Heiterkeit. Sie deutete mit dem Finger auf Hassas nach aufwärts gerichteten Reflektor und sagte mit einer fremdländisch klingenden Stimme: »Es sieht aus wie ein Heiligenschein.« Hassa lachte. Das Leben war doch ganz interessant, und Marion ging ihn in der Tat nichts an. Er blickte in die grauen unergründlichen Augen und dachte kurz: hoffentlich Rhinitis vasomotoria, erfordert längere Behandlung. Er ertappte sich bei diesem Gedanken, verwarf ihn als standesunwürdig und sagte etwas schuldbewußt: »Wie heißen Sie?« »Asiadeh Anbari.« »Beruf?« »Studentin.« »Ach so, Kollegin«, sagte Hassa, »auch Medizinerin?« »Nein, Philologin«, sagte das Mädchen. Hassa richtete den Reflektor zurecht. »Und was führt Sie zu mir? So, Halsschmerzen.« Seine linke Hand suchte automatisch den Stalpel. »Germanistin?«
»Nein«, sagte das Mädchen streng, »Turkologin.« »Was bitte?« »Vergleichende türkische Sprachforschung.« »Mein Gott, was versprechen Sie sich davon?« »Nichts«, sagte das Mädchen böse und sperrte den Mund auf. Hassa tat seine Pflicht langsam, sanft und umständlich. Dabei spalteten sich seine Gedanken in berufliche und private. Beruflich stellte er fest: Rhinoskopischer Befund – anterior et posterior, nichts Auffallendes. Leichte Rötung des linken Trommelfelles, aber auf Druck unempfindlich. Keine ansetzende Otitis media. Rein lokale Infektion. Bei weiterer Behandlung Anamnese berücksichtigen. Privat dachte er: Vergleichende türkische Sprachwissenschaft! Und so etwas gibt es wirklich, trotz der grauen Augen! Anbari heißt sie. Den Namen habe ich schon mal gehört. Sie wird noch keine zwanzig sein, und so weiche Haare. Dann legte er den Reflektor ab, schob den Hocker zurück und sagte sachlich: »Tonsillitis. Beginnende Angina folicularis.« »Auf deutsch Halsentzündung«, lachte das Mädchen, und Dr. Hassa beschloß, auf Latein zu verzichten. »Ja«, sagte er, »natürlich ins Bett. Hier ein Rezept zum Gurgeln. Keine Umschläge, im Auto nach Hause fahren. Leichte Kost, aber warum wirklich Turkologie? Das führt doch zu gar nichts?« »Das interessiert mich«, sagte das Mädchen bescheiden, und die Heiterkeit der Augen ergoß sich über ihr Gesicht. »Wissen Sie, es gibt so viele seltsame Worte und jedes Wort klingt wie ein Trommelschlag.« »Sie haben Fieber«, sagte Hassa, »daher der Trommelschlag. Ich habe Ihren Namen gehört. Es gab einen Anbari, der war einst Gouverneur von Bosnien.« »Ja«, sagte das Mädchen. »Es war mein Großvater.« Sie erhob sich, und ihre Finger versanken für einen Augenblick in
Dr. Hassas breiter Hand. »Kommen Sie wieder, wenn Sie gesund sind… Ich meine zur Nachbehandlung.« Asiadeh warf den Blick hoch. Der Doktor hatte braune Haut, schwarze zurückgekämmte Haare und sehr breite Schultern. Er war ganz anders als die geheimnisvollen U-Boot-Kapitäne oder wilden Fischer vom Ufer der namenlosen Flüsse. Sie nickte eilig und ging zum Ausgang. Am Bahnhof Friedrichstraße blieb sie stehen und dachte nach. Der Arzt sprach vom Auto. Sie spitzte die Lippen und beschloß, verschwenderisch zu sein. Hocherhobenen Hauptes ging sie am Bahnhof vorbei in Richtung der Linden. Dort bestieg sie einen Autobus, lehnte sich in die weichen Lederpolster und dachte befriedigt, daß ein Auto nur ein bescheidenes Diminutivum des weich dahinrollenden Autobusses sei. »Zur Uhlandstraße«, sagte sie dem Schaffner und reichte ihm die Münze.
2
Das Zimmer war dunkel. Es lag im Parterre, und die beiden Fenster führten zum Hofe hinaus. In der Mitte des Zimmers stand ein linoleumbedeckter Tisch und drei Stühle. Von der Decke herab hing an langer Schnur eine ungedeckte Birne. An den Wänden, an die zerfetzten Tapeten gerückt, standen dicht nebeneinander ein Bett und ein Diwan. An der einzig freien Wand stand ein Schrank, dessen Tür mit Hilfe einer zusammengefalteten Zeitung zugehalten wurde. Daneben hingen einige vergilbte Photos. Achmed-Pascha Anbari saß am Tisch und verfolgte mit angestrengtem Blick die wohlvertrauten Muster der vergilbten Tapete. »Ich bin krank«, sagte Asiadeh und setzte sich auf den Stuhl. Achmed-Pascha hob den Kopf. Seine kleinen, dunklen Augen blickten erschrocken. Asiadeh gähnte und reckte ihre schmalen Arme. Achmed-Pascha stand auf, richtete das Bett und Asiadeh rutschte aus dem Kleid. Sie saß am Rande des Bettes und erzählte fröstelnd und etwas verworren von der jakutischen Endung auf »a« und von dem fremden Mann, der ihr in den Hals schaute. Achmed-Paschas Augen füllten sich mit Entsetzen. »Du bist allein beim Arzt gewesen?« »Ja, Vater.« »Mußtest du dich ausziehen?« »Nein, Vater, wirklich nicht.« Es klang sehr gleichgültig. Asiadeh schloß die Augen, ihre Glieder empfand sie wie Blei. Sie hörte Achmed-Paschas torkelnde Schritte und das Klappern von Silbermünzen. »Zitronen und Tee«, flüsterte Achmed-Pascha irgendwo hinter der Tür.
Asiadehs Wimpern zitterten. Unter halbgeschlossenen Lidern sah sie die vergilbten Photos an der Wand. Achmed-Pascha trug darauf einen goldbestickten Galarock, einen Schleppsäbel, einen ehrwürdigen Fes und Glacehandschuhe. Asiadeh atmete tief auf und spürte plötzlich den Staub der Galatabrücke und den Geruch von Datteln, die einst in der Ecknische ihres Zimmers am Bosporus trockneten. In der Ferne erklang ein leises Murmeln. Achmed-Pascha kniete auf dem staubbedeckten Teppich des Berliner Zimmers und seine Stirn berührte den Boden. Er betete leise und in sich versunken. Asiadeh sah die große runde Kugel der Sonne und die alte Mauer Konstantins an den Toren von Istanbul. Der Janitschar Hassan kletterte über die Mauer und hißte die Fahne des Hauses Osman auf der alten Zitadelle. Asiadeh biß sich auf die Lippe. An der Romanus-Pforte kämpfte Michael Paleologus, und Fati Mohammed ritt über die Leichen in die Hagia Sophia ein und preßte seine blutbefleckte Handfläche an die byzantinische Säule. Asiadeh hob ihre eigene Hand und preßte sie an den Mund. Ihr Atem war heiß und feucht, und sie sagte laut und energisch: »Boksa!« »Was hast du, Asiadeh?« Achmed-Pascha stand über ihr Bett gebeugt. »Karagassischer Dativ für das dschagataische Bogus, Hals«, antwortete das Mädchen. Achmed-Pascha blickte besorgt drein und warf seinen Pelzmantel über ihre Decke. Dann betete er weiter, und Asiadeh sah im wirren Wachtraum die schmalen Schultern des Sultans Wachdeddin, der durch das Spalier der Soldaten zum Freitagsgebet hinausfuhr. Kleine Boote kreisten am Tatly-Su, und die Zeitungen berichteten von den Eroberungen im Kaukasus, von den Siegen der Deutschen und von der großen Zukunft, die das Reich der Osmanen erwarte.
Jemand zupfte an ihren Haaren. Sie öffnete die Augen und sah Achmed-Pascha mit einem Glas in der Hand. Sie gurgelte eine übelschmeckende Flüssigkeit und sagte sehr ernst: »Gurgeln ist onomatopoetisch, das Ganze muß lautgeschichtlich erfaßt werden.« Dann sank sie in die Kissen zurück. Sie lag auf dem Rücken, mit geröteten Wangen und geschlossenen Augen. Sie sah Steppen, Wüsten, wilde Reiter und den Halbmond über dem Palais am Bosporus. Dann wandte sie sich zur Wand und weinte lange und bitter. Ihre kleinen Schultern zitterten, und sie wischte mit dem Handrücken die Tränen ab, die über ihr Gesicht flossen. Alles ging zugrunde an dem Tage, an dem ein fremder General Istanbul besetzte und die ganze heilige Sippe Osman des Landes verwies. Damals warf Achmed-Pascha mit herrlicher Geste den Degen in die Ecke und weinte in dem kleinen östlichen Pavillon seines Konaks. Alle im Hause wußten, daß er weine, und alle standen an der Schwelle des Pavillons und schwiegen. Dann rief der Vater nach Asiadeh, und sie trat ein. Der Pascha saß auf dem Boden, und sein Gewand war zerfetzt. »Der Sultan ist vertrieben«, sagte er und blickte zur Seite. »Du weißt – er war mein Freund und mein Gebieter. Diese Stadt ist mir fremd geworden. Wir ziehen weg. Weit weg von hier.« Dann traten beide an das Fenster des Pavillons und blickten lange auf die trägen Wellen des Bosporus, auf die Kuppeln der großen Moscheen und auf die fernen grauen Hügel, hinter denen einst die ersten Scharen der Osmanen sich gegen Europa erhoben. »Wir fahren nach Berlin«, sagte Achmed-Pascha. »Die Deutschen sind unsere Freunde.« Asiadeh trocknete die Tränen. Im Zimmer war es dunkel geworden. Vom Diwan kam das stille Atmen AchmedPaschas. Sie erhob sich im Bett und blickte mit weit
aufgerissenen Augen in die Ferne. Sie sehnte sich nach Istanbul, nach dem alten Haus, nach der weichen und milden Luft der Heimat. Zum Greifen nahe sah sie die Gebetstürme der Kalifenstadt, und eine stille Angst erfaßte sie. Alles war weg, alles verschwunden. Es blieben nur die weichen Klänge der heimatlichen Sprache zurück und die Liebe zu den wilden Sippen, die einst das Haus Osman hochtrugen. »Großvater war Gouverneur von Bosnien«, dachte sie und entsann sich plötzlich, wie die Knie des Arztes ihre Schenkel berührt hatten. Sie schloß die Augen und sah seine schwarzen, etwas schräggestellten Augen. »Sagen Sie ›a‹«, sagte der Arzt, und um seinen Kopf schimmerte ein Heiligenschein: »›a‹ ist die jakutische Form. Ich bin aber Osmanin. Wir sagen im Genetiv ›i‹«, antwortete Asiadeh stolz und schlief ein. Ihre Hand glitt dabei unter die Decke, und sie streichelte liebevoll ihre harten Schenkel. Sie schlief, und Achmed-Pascha lag im Bett mit geschlossenen Augen, aber schlaflos. Er dachte an seine beiden Söhne, die hinauszogen, um das Reich zu verteidigen, und nicht mehr heimkehrten. Er dachte an die blonde Tochter, die einen Prinzen heiraten sollte und jetzt im Ozean der barbarischen Hieroglyphen erstickte. Er dachte an seine Brieftasche, die einhundert Mark enthielt, das gesamte Vermögen des Hauses Anbari, und gleichzeitig mit alldem dachte er an den Sultan, der in der Fremde saß und gleich ihm sich nach der weichen Luft Istanbuls sehnte. Dann graute der Morgen. Achmed-Pascha kochte Tee, und Asiadeh wachte auf, setzte sich aufrecht im Bett und sagte stolz und selbstbewußt: »Jetzt bin ich ganz gesund, Exzellenz.« Die Luft im Café »Watan« in der Knesebeckstraße bestand aus Tabakqualm und Hammelfettduft. Der Besitzer war ein bebrillter indischer Professor, der im Rufe ungeheurer
Weisheit stand und deswegen seine Heimat verlassen mußte. Sein Oberkellner hieß Smaragd, hatte eine lange Nase und den Rang eines bucharaischen Ministers. An den kleinen Tischen saßen ägyptische Studenten, syrische Politiker und die Prinzen der kaiserlichen Sippe der Kadscharen. Sie aßen Hammelfett und tranken aus winzigen Tassen duftenden Kaffee. Der Kaffeeschenk war ein Räuber aus den Bergen Kurdistans mit breiten Schultern und dichten zusammengewachsenen Augenbrauen. Er kannte achtzehn Arten der Kaffeezubereitung, aber entfaltete seine Kunst grundsätzlich nur vor kaiserlichen Prinzen, Gouverneuren und Stammeshäuptlingen. Achmed-Pascha Anbari saß am Ecktisch und blickte in den dunklen Kreis der dampfenden Kaffeefläche. Am Nebentisch würfelte der Tscherkesse Orchan-Bei mit einem plattnasigen Priester der geheimnisvollen Sekte Achmedia. »Wissen Sie, Exzellenz«, sagte der Caféwirt und verbeugte sich vor dem Pascha, »wissen Sie schon, daß Rensi-Pascha aus Jemen eingetroffen ist? Er sucht Generäle und Staatsleute für den Dienst des dortigen Imams.« »Ich fahr’ nicht nach Jemen«, sagte Achmed-Pascha. »Wie richtig«, meinte der Wirt gleichgültig, »die Jemeniten sind Ketzer.« Er verschwand hinter der Theke und klapperte mit den Tassen. Der Tscherkesse gewann das Würfelspiel, zündete sich eine Zigarette an und blickte auf den dicken Syrer am Nebentisch. »Schande«, sagte der Syrer, »ein Mensch, der an Gott glaubt, würfelt nicht.« Der Tscherkesse lutschte verächtlich an der Zigarette und wandte sich ab. Ein Mann mit kahlem Schädel und trockenen knochigen Händen trat ein, blieb am Tisch Anbaris stehen und berührte mit der Hand Brust, Lippe und Stirn. »Friede über Euch, Exzellenz. Wir haben uns lange nicht gesehen.«
Der Pascha nickte. »Sie kommen aus Istanbul, Reuf-Bei?« »Ja, Exzellenz. Ich wurde bei Sacharia verwundet und bin jetzt bei der Zollverwaltung. Wir sahen uns zuletzt, als ich Abgeordneter war und Sie Chef des Privatkabinetts. Sie wollten mich damals verhaften.« »Es tut mir leid, daß Sie fliehen konnten, Reuf. Was macht die Heimat?« »Sie gedeiht, und am Goldenen Horn leuchtet die Sonne. Die Ernte war gut, und bei Ankara lag im Winter tiefer Schnee. Sie sollten zurückkehren, Exzellenz. Reichen Sie ein Gnadengesuch an die Regierung ein.« »Danke. Ich bin im Begriff, mich an einer Teppichhandlung zu beteiligen. Ich brauche niemandes Gnade.« Der Fremde ging, und die Augen Anbaris wurden traurig. Er dachte an seine unbezahlte Miete, an den Wohnungswirt, der ihn für einen levantinischen Schieber hielt, an den Vetter Kjasim, der nach Afghanistan floh und Geld zu schicken versprach, an den anderen Vetter Mustafa, der zum Feinde überging und die Briefe unbeantwortet ließ, und an die blonde Asiadeh, die im dünnen Regenmantel durch das herbstliche Berlin lief und krank wurde. Dann rauchte er, und Smaragd kassierte das Geld ein und setzte sich an seinen Tisch. »Sehr schlecht, Exzellenz, kalt und arm«, sagte er in seinem kaum verständlichen Dialekt. »In Buchara Krieg. Ich wieder Minister.« Er lachte, aber seine Augen blieben traurig. In der Ecke legte ein Perser die Hand an das linke Ohr und sang leise und gedehnt eine alte Bajat. Der Inder saß hinter der Theke und sprach mit dem Priester der Achmedia über das wahre Wesen Gottes. Sie stritten heftig. Achmed-Pascha senkte den Kopf und dachte, daß er wirklich in ein Teppichgeschäft eintreten könnte als Fachmann und Ratgeber der unwissenden europäischen Sammler. Er seufzte und fühlte
einen leichten Schmerz in der linken Seite. Er liebte diesen Schmerz als die letzte Erinnerung an die Wunde, die er vor Jahrzehnten aus dem arabischen Feldzug mitbrachte. Der Tscherkesse am Nachbartisch surrte eine Melodie und lächelte abwesend. »Ich möchte Klavierspieler im Restaurant Orient werden, Exzellenz«, sagte er halb fragend, denn die herrlichen Berufe seiner Ahnen, Raub und Krieg, waren ihm jetzt verschlossen. Seine Ahnen kamen einst in kriegerischen Scharen zum Hofe der Osmanen, und er war zum Herrschen und Befehlen geboren. Doch war die Vergangenheit dunkel und verschwommen wie hinter einer Mauer von wirbelndem Wüstensand. Die Gegenwart lag auf dem Pflaster Berlins, und der Tscherkesse konnte nur zweierlei – befehlen und musizieren. Das Befehlen war sichtlich aus der Mode geraten. Am Tisch, an dem die vertriebenen kadscharischen Prinzen saßen, ertönte stilles Flüstern. »Bitter ist das Brot der Verbannung«, sagte einer. »Nein«, antwortete ein anderer. »Gar nicht bitter. Das Land der Verbannung backt überhaupt kein Brot für den Verbannten.« Achmed-Pascha erhob sich. Er verließ das Lokal und ging langsam und gesenkten Hauptes durch die Straßen der fremden Stadt. Die Häuser glichen fremden unbezwingbaren Festungen. Die Menschen eilten vorbei, als wären sie graue Gespenster. Schweigsam ging der Pascha durch die lärmende Stadt und hörte nichts von ihren Geräuschen. »Ich werde Kartoffeln kaufen«, dachte er. »Und Tomaten dazu. Ich werde sie zusammenmischen. Das ergibt einen guten Brei.« Am Wittenbergplatz blieb er stehen. Die Fassade des großen Kaufhauses war von schrägen Sonnenstrahlen übergossen. Der Pascha sah fremde Frauen mit schimmernden Seidenstrümpfen. Asiadeh hatte keine Seidenstrümpfe. Die Frauen gingen vorbei mit abwesenden und leeren Augen.
Plötzlich beschleunigte der Pascha seinen Schritt und bog in eine Seitenstraße ein. Über die Tauentzienstraße ging ein dicker braungebrannter Mann mit einem fetten Nacken. Achmed-Pascha blickte weg mit verzweifelten und müden Augen. Es war bitter, daß ein kaiserlicher Minister in die Seitengasse biegen mußte, weil er einem reichen Landsmann fünfzig Mark schuldig war. Ihn erfaßte ein schmerzlicher Wunsch zu raufen, um sich zu hauen und zu kämpfen. Er sehnte sich nach einer dunklen Straße und nach einem fremden Mann, der ihn plötzlich stoßen würde, um darauf eine Ohrfeige zu erhalten. Aber die Straßen waren hell, die Menschen traten höflich und teilnahmslos zur Seite, und er kaufte Kartoffeln, Tomaten und Rettich. Dann ging er nach Hause zu dem vierstöckigen Haus mit der ehrbaren grünlich-saubern Fassade und der Marmortür mit der Aufschrift »Eingang nur für Herrschaften«. Er mied den vornehmen Eingang und benutzte die kleine Tür, die schlundartig neben der Marmorpracht des Haupteinganges gähnte. Er durchschritt den viereckigen Hof mit den schwindsüchtigen Bäumen und blieb an der abgebrochenen Türklinke seiner Wohnung stehen. Er öffnete sie und betrat den Korridor, der zum Wohnzimmer führte. Asiadeh saß auf dem Diwan, hielt einen Zwirn zwischen den Zähnen und stopfte hingebungsvoll einen Strumpf. Auf dem Stuhl vor ihr lag ein ausgebreitetes Buch, und sie surrte unverständliche barbarische Sätze. Achmed-Pascha schüttete Tomaten und Kartoffeln auf den Tisch aus, Asiadeh sah die roten, runden Kugeln, die sich mit den braunen nach Erde riechenden Klumpen vermischten, und klatschte in die Hände vor Vergnügen, Übermut und unerklärlichem Glücksgefühl.
3
Die Mensa glich dem Wartesaal eines Provinzbahnhofs. An langen ungedeckten Tischen saßen in dichten Reihen die Studenten und aßen eilig und unwählerisch die Speisen, die ein hünenhafter Mann mit akrobatischer Kunstfertigkeit zu servieren verstand. Links, etwas oberhalb des Büfetts, hing ein schwarzes Brett, auf dem mit Kreide die Speisekarte eingetragen war. Die Karte wirkte verwirrend durch die niedrigen Preise und den feierlichen Klang der Speisenamen. Asiadeh verfolgte angestrengt die Reihenfolge der Speisen und zögerte lange in der Wahl zwischen einem Königsberger Klops und einem Pfirsich-Melba. Endlich siegte der Hunger über die Naschsucht, Asiadeh schob dem Ober 25 Pfennige zu und erhielt einen Teller mit einem mächtigen säuerlich duftenden Fleischkloß. Vorsichtig balancierte sie den Teller zum Tisch, setzte sich hin und atmete zufrieden den säuerlichen Duft ein. »Schon gesund, Fräulein Anbari?« Sie hob den Kopf. Dr. Hassa stand vor ihr und blickte auf ihren Teller. »Seit wann besuchen Ärzte die Mensa?« fragte Asiadeh und war sehr zufrieden, endlich einen Menschen zu sprechen, der weder Türke noch Turkologe war. »Ärzte ohne Praxis gelten immer als Studenten«, sagte Hassa und setzte sich an den Tisch. »Sie sind Türkin, nicht wahr? Ich wußte nicht, daß es blonde Türkinnen gibt.« Asiadeh sah ihn erstaunt an. Es gab also Menschen, die nicht wußten, daß die hellen Augen der Istanbuler Prinzessinnen von Tibet bis zum Balkan berühmt waren.
»Es kommt vor«, sagte sie bescheiden und bohrte mit der Gabel in der dampfenden Fleischspeise. »Sie sind kein Deutscher, nicht wahr?« »Woher wissen Sie das?« Asiadeh lachte zufrieden. »Ich bin zwar nur eine Turkologin, kenne mich aber in Dialekten aus. Außerdem ist Hassa kein deutscher Name.« Der Arzt nippte an einem Glas Bier und sah Asiadeh mit seinen schräggestellten schwarzen Augen an. Sein Blick streifte die kindlichen Linien ihres Körpers und die weichen Falten der Lippen. Er sah die leicht verschleierten grauen Augen, und in seinen Gedanken stiegen dunkle Vorstellungen auf von geheimnisvollen, verschleierten Frauen, von Harems mit marmornen Springbrunnen und bösartigen Eunuchen, die infolge eines geglückten chirurgischen Eingriffs bei den Völkern Asiens eine bedeutende, doch nicht ganz klare Rolle spielten. Er verspürte plötzlich den Wunsch, dieses Kind aus Tausendundeiner Nacht an sich zu reißen und seine Knie berührten unter dem Tisch vorsichtig ihre schmalen Schenkel. Das asiatische Kind sah ihn bösartig an und sagte: »Wenn Sie zudringlich werden, sperre ich den Mund auf und sage ›a‹. Dann bin ich Ihre Patientin, und Sie sind an weiteren Gefühlsausbrüchen durch Ihre Ärzteethik gehindert.« Das Kind war offensichtlich gar kein Kind mehr oder ein sehr kluges Kind. Hassa leerte hastig sein Glas. »Ich bin Österreicher«, teilte er gnädig mit. »Kennen Sie Wien?« Die Nennung der Kaiserstadt übte auf Asiadeh keinerlei nennenswerte Wirkung aus. Sie führte das letzte Stück Fleisch zum Munde, blickte etwas traurig auf den geleerten Teller, und ihre Mundwinkel zogen sich verächtlich herab. »Kennen Sie Kara-Mustafa? Den, der Wien unter Suleiman dem Glänzenden belagert hat? Na, also er war mein Ahne.
Hätte er gesiegt, würde ich Sie vielleicht zu meinem Leibarzt ernennen.« Das stimmte zwar nicht ganz. Der grimmige Kara-Mustafa war kaum mit dem Hause Anbari verwandt. Auf den Wiener aber übte die Mitteilung die gebührende Wirkung aus. »Verbindlichen Dank, Prinzessin«, sagte er galant. »Darf ich Sie Prinzessin nennen?« »Nein«, sagte das Mädchen. »Nennen Sie mich nicht Prinzessin.« Sie wurde traurig und dachte an den Prinzen Abdul-Kerim, den sie nie gesehen hatte und der ihr Mann werden sollte. Abdul-Kerim war nach Amerika ausgewandert. Niemand hatte seitdem etwas von ihm gehört. Wahrscheinlich war er Kellner geworden. Dr. Hassa bemerkte die Trauer im Gesicht des Mädchens. Er stürzte zum Büfett und holte einen schokoladenübergossenen mit Schlagsahne gefüllten Mohrenkopf. Asiadeh sah ihn nachsichtig an und aß den Mohrenkopf. Die weiße, klebrige Masse bedeckte ihre Lippen, und sie leckte sie mit spitzer Zunge ab. »Ich bin Wiener«, wiederholte Hassa mit Nachdruck, denn er war verletzt, daß diese Mitteilung auf das fremde Mädchen keinerlei Eindruck machte. »Ich habe meinen Doktor in Wien gemacht und habe je ein Semester in Paris und London verbracht zur weiteren Ausbildung. In Berlin bin ich bis Ende des Semesters, dann lasse ich mich in Wien endgültig nieder.« Auch das war nicht die reine Wahrheit, aber die reine Wahrheit war so tief in Hassas Seele verborgen, daß es keinen Sinn hatte, sie plötzlich ans Licht zu zerren. Denn natürlich war es sinnlos, daß ein approbierter Wiener Arzt durch die Welt gondelte und Gastvorstellungen an verschiedenen Kliniken gab. Wenn aber Asiadeh danach fragen würde, hätte sie von dem gelehrten Eifer und den wissenschaftlichen Interessen des Dr. Hassa erfahren. Vielleicht hätte er ihr sogar
mitgeteilt, daß er hauptsächlich deshalb nach Berlin gekommen war, um die neuen Errungenschaften der Oto- und Rhinoplastik zu verfolgen. Bestimmt hätte er aber von dem Skandal mit Marion geschwiegen und von Fritz, mit dem sie den ganzen Sommer im Salzkammergut… aber genug davon. Es ging ja schließlich niemanden was an und war längst vorbei. Er beugte den Kopf und sah lächelnd zu Asiadeh herab. »Ja«, sagte Asiadeh, ohne die Reden Hassas zu beachten. »Ich bin schon vier Jahre in Berlin. Wir verließen Istanbul nach dem Umsturz. Es ist alles etwas seltsam. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und bereits verschleiert. Ich konnte mich zuerst gar nicht daran gewöhnen, allein und ohne Schleier durch die Straßen zu gehen. Jetzt gefällt es mir ganz gut. Aber eine Schande ist es doch. Ich habe zu Hause Musik und Sprachen gelernt. Und jetzt lerne ich die Sprachen meiner wilden Ahnen. Wissen Sie, das bindet mich an die Heimat. Sie verstehen das doch?« »Ja«, sagte Hassa. »In einem Semester lasse ich mich in Wien nieder. Am Opernring. Ich werde die Sänger behandeln.« So sprachen sie eine Weile aneinander vorbei, und jeder verschwieg etwas. Hassa verschwieg die Existenz einer Wienerin namens Marion, und Asiadeh verschwieg, daß heute früh ein fremder Mann in der Uniform eines Briefträgers an der Tür des Zimmers klopfte und »Post« sagte. Der fremde Mann übergab Achmed-Pascha einen grauen, versiegelten Brief, und als Achmed-Pascha den Umschlag öffnete, lagen darin in bunter Pracht tausend afghanische Rupien und Grüße vom Vetter Kjasim. Ein freundlicher Bankbeamter sah sich eine Stunde später kopfschüttelnd die Noten an, telephonierte mit der Zentrale und zahlte Achmed-Pascha 740 Mark aus, worauf Asiadeh die Kolleggelder bezahlte und Königsberger Klops aß. Aber das war ein Detail, das Dr. Hassa gar nichts anging.
»Was haben Sie nachmittags vor?« sagte Hassa plötzlich. »Osmanische Realienkunde. Urkundenforschung. Anatolische Sekten.« »Ist es etwas Wichtiges? Ich meine…Vielleicht ist heute der letzte warme Herbsttag, und Sie brauchen frische Luft. Fahren Sie mit mir zum Stölpchensee. Ich sage es Ihnen als Arzt.« Asiadeh sah seine rechteckige Stirn und die schmalen lächelnden Lippen. Sie dachte an die Sekte der Kisilbaschen und an den heiligen Sary-Saltykdede, die ihrer harrten. Wärme schlug ihr ins Gesicht. »Fahren wir zum Stölpchensee«, sagte sie ruhig, und Hassa wußte nicht, daß Asiadeh zum erstenmal im Leben die Einladung eines fremden Mannes annahm. Sie erhoben sich und gingen hinaus. Mit sicherem Schritt begab sich Asiadeh zur Haltestelle des Autobusses. »Wohin«, rief Hassa und faßte sie am Arm. Er führte sie in eine Nebengasse und öffnete vor ihr die Tür eines Wagens, der hinten am Schild neben der Nummer ein großes weißes »A« führte. »Austria«, sagte Hassa stolz, und Asiadehs Mund öffnete sich in lautlosem Staunen. Sie hätte nie geglaubt, daß ein Mann von einem so niederen Beruf es zu einem Auto bringen kann. Europa war in der Tat ein Land der Wunder.
4
Sie lagen im Sande, am Abhange des Strandhügels. Asiadehs Körper zitterte unmerklich. Sie blickte auf den grünen Badeanzug, den Hassa unterwegs für sie erworben hatte, und die Gegenwart erschien ihr wirr und phantastisch. Ihre rosigen Finger krabbelten im Sande, und sie schämte sich des Gewandes einer Bajadere, das sie jetzt trug. In den vier Jahren, die sie in Berlin verbracht hatte, lernte sie Universität, Straßen und Kaffeehäuser kennen. Ein Strandbad hatte sie noch nie gesehen und hatte nur eine ganz dunkle Vorstellung von den Orten, wo europäische Männer und Frauen halb nackt und eng umschlungen ihre Gesichter den milden Strahlen der nördlichen Sonne preisgaben. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als die Bademeisterin sie in die enge, kleine Kabine führte, ihr den Schlüssel und den Badeanzug aushändigte und die Tür schloß. In dem engen, dunklen Raum roch es nach Wasser und Holz. Asiadeh fühlte sich unglücklich und gottverlassen, wie vor einer schweren Prüfung. Sie setzte sich auf die schmale Holzbank und starrte fassungslos auf das winzige Stück Wolle, das nunmehr ihre Glieder verdecken sollte. Ihre Lippen spitzten sich, und sie sehnte sich nach der vertrauten Welt der uigurischen Suffixe und kleinasiatischen Sekten. Dann zog sie Schuhe und Strümpfe aus und bewegte sie zähe. Das beruhigte sie ein wenig. Sie schloß die Augen, warf das Kleid ab und rutschte in den Badeanzug. Dann blickte sie in den kleinen, fliegenbefleckten Wandspiegel und erstarrte. Sie sah ihren kleinen Busen nackt und ahnungslos aus dem breiten Ausschnitt des Trikots herausragen. Sie setzte sich verzweifelt
auf die Bank und weinte hilflos. Nein, so konnte sie wirklich nicht hinaus, auch wenn alle Frauen Berlins so herumliefen. Sie hörte draußen das Strampeln nackter, kräftiger Beine und hob ängstlich die Schulter. Im Halbdunkel der Kabine glich sie einem erschrockenen, in die Enge getriebenen Vogel. Endlich steckte sie ihren Kopf durch die spaltbreit geöffnete Tür und winkte der Bademeisterin zu. Sie ließ sie in die Kabine hinein, sah sie mit schamvoll lächelnden Augen an und fragte furchtsam: »Glauben Sie, daß ich so heraus kann? Ich meine – ich kann im Spiegel so schlecht sehen.« »Nein«, sagte die Bademeisterin mit tiefer Stimme. »So können Sie unmöglich heraus. Sie haben den Badeanzug verkehrt angezogen.« Sie half Asiadeh den Anzug umzuziehen und ging kopfschüttelnd weg. Asiadeh betrat den Badestrand wie ein Sünder die Pforte der Hölle. Ihre Hände waren verkrampft und über den Leib gefaltet, und sie schloß die Augen. Es schwindelte sie. Sie sah nackte Frauenrücken und Männer mit bärtigen Brüsten. »Bismillah«, »Im Namen Gottes«, flüsterte sie und öffnete mit Todesverachtung die Augen. Ein wildfremder Mann stand vor ihr und lächelte sie an. Sie sah zwei gerade sonnengebräunte Beine und gespreizte Zehen. Sie hob langsam die gesenkten Augen, und die Beine gingen in trikotbedeckte Schenkel über. Sie gab sich einen Ruck und zwang die Augen, sich noch weiter zu öffnen. Sie sah einen gutgeformten, trikotübergossenen Bauch, eine breite braune Brust mit schwarzen Kraushaaren und unbehaarte Arme mit Muskeln, die sich unter der Haut bewegten. Zum erstenmal sah sie einen fremden, beinahe nackten Mann, und es war sehr aufregend. »Ich bin eine verkommene Frau«, dachte sie gramvoll und zwang sich, Dr. Hassa ins Gesicht zu blicken. Hassa lächelte verständnislos, aber entzückt. Dann führte er sie zu ihrem
Platz, und Asiadeh warf sich in den Sand und wußte nicht, welchen Teil ihres Körpers sie zuerst im Sande vergraben sollte. »Wollen Sie schwimmen?« fragte Hassa. »Nein, viel zu kalt«, sagte Asiadeh und verschwieg, daß sie weder schwimmen konnte noch je einen schwimmenden Menschen gesehen hatte. Dr. Hassa ging langsam zum Sprungbrett und Asiadeh blickte verwundert, wie ein erwachsener Mensch ohne sichtbaren Grund sich geräuschvoll ins Wasser stürzte. Schüchtern sah sie sich im Bade um. Die nackten Körper blendeten sie. Sie sah, wie Männer und Frauen unter großer und unbegründeter Kraftanwendung im Wasser herumtobten oder, müden Schnecken gleichend, faul und regungslos in der Sonne herumlagen. Papierfetzen und Speisereste bedeckten den Strand, und eine dicke Frau schmierte sich die Nase mit einer gelblichen Masse ein. Asiadeh setzte sich aufrecht, umschlang mit den Armen ihre hochgezogenen Knie und fühlte ihre Scham schwinden. Eine leichte Übelkeit stieg langsam in ihr auf. Die Menschen glichen Tieren aus einer exotischen Menagerie. Überdies waren alle behaart, affenartig behaart, an den Füßen, an der Brust, an den Armen. Sogar Frauen hatten dichte Härchen unter den Achselhöhlen. Asiadeh dachte an ihren eigenen Körper, von dem sie mit peinlicher Sorge jedes Härchen entfernte, und an die glänzende unbehaarte Haut ihres Vaters und ihrer Brüder. Eine stille Verachtung erfüllte sie. Sie wandte ihre Blicke von den halbbekleideten Leibern ab und sah zum Himmel. Die weichen und weiten Wolken hatten seltsame Umrisse und glichen manchmal der Nase des Prof. Bang und manchmal der geographischen Karte des Römischen Reiches in den Zeiten seiner größten Ausdehnung. Sie zuckte zusammen, als ein Regen kalter Wassertropfen auf ihren Rücken fiel. Dr. Hassa stand neben ihr, wassertriefend und
wild wie ein nasser Pudel. Er ließ sich neben ihr nieder und blickte mit stillem Entzücken auf das seltsame Mädchen mit der etwas kurzen Oberlippe, die ihr einen unbeholfenen und kindlichen Ausdruck gab. »Wie gefällt es Ihnen hier?« sagte Hassa. »Danke gut. Ich bin zum erstenmal am Stölpchensee.« »Wo schwimmen Sie denn gewöhnlich?« »Im Rupenhorn«, log Asiadeh und blickte harmlos vor sich hin. Etwas später lagen sie beide auf dem Bauch, Stirn an Stirn und krabbelten mit den Fingern im Sande. »Sind Sie im Harem aufgewachsen, Asiadeh?« fragte Hassa, immer noch fassungslos, daß er eine richtige Haremsschönheit zum Stölpchensee ausführen durfte. Asiadeh nickte. Sie erzählte, daß der Harem etwas sehr Angenehmes sei, ein Ort, wo die Männer nicht hineindürfen und wo die Frauen unter sich bleiben. Dr. Hassa verstand es nicht ganz. Er glaubte genau zu wissen, was ein Harem sei. »Haben Sie viele Eunuchen gehabt?« »Acht. Es waren sehr treue Menschen. Einer davon war mein Lehrer.« Hassa war fassungslos und zündete sich eine Zigarette an. »Pfui«, sagte er. »Es ist ja wirklich eine Barbarei. Und der Vater hat dreihundert Frauen gehabt, nicht wahr?« »Nur eine«, sagte Asiadeh stolz und beleidigt. Die Männer, die sie bis dahin kannte, wagten es nicht, mit ihr über den Harem zu sprechen. Aber Hassa war ein Arzt, da war es wohl anders. Sie runzelte die Stirn, und ihre kindliche Oberlippe zog sich nach vorn. »Für Sie ist der Harem barbarisch«, sagte sie böse. »Für mich ist es bereits Ihr Name.«
Die Wirkung dieses Satzes war viel gewaltiger, als es Asiadeh erwartet hätte. Dr. Hassa richtete sich auf und sah sie entgeistert an. »Wieso mein Name?« stotterte er mit offensichtlicher Verlegenheit. »Weil es gar kein Name ist«, sagte Asiadeh gereizt. »Es gibt ein Land Hessen und einen Namen Haß. Hassa ist barbarisch und nicht deutsch. Diese Endung auf ›a‹ ist einfach sinnlos.« Hassa legte sich wieder auf den Bauch, sah sie mit lächelnden Augen an und kicherte erleichtert. Gott sei Dank, das Mädchen hatte keine Wiener Bekannten und wußte nichts über den Skandal mit Marion und der Schande, die über Hassas Namen kam. Philologen waren harmlose Geschöpfe. »Hassa ist eine gesetzlich genehmigte Abkürzung«, sagte er. »Früher hießen wir Hassanovic. Wir stammen nämlich aus Sarajewo in Bosnien, sind aber noch vor der Annexion nach Wien übersiedelt. Ich selbst bin in Wien geboren.« Jetzt richtete sich Asiadeh auf. Entgeistert blickte sie den Arzt an. »Aus Sarajewo?« sagte sie. »Hassanovic? Verzeihen Sie – die Endung ›vic‹ heißt doch soviel wie ›Sohn‹, der Stamm muß Hassan lauten.« »Ganz richtig«, meinte Hassa harmlos. »Der Stammvater wird irgendein Hassan gewesen sein.« »Aber Hassan ist doch…«, begann Asiadeh und verstummte, über die eigene Spitzfindigkeit erstaunt. »Was ist denn?« staunte Hassa. »Ich meine…«, stotterte Asiadeh. »Ich meine, daß doch Bosnien bis neunzehnhundertelf offiziell zur Türkei gehört hat, und Hassan ist ein muslimischer Name. Ein Enkel des Propheten hieß Hassan.« Endlich begriff Hassa, wo das seltsame Mädchen hinauswollte. »Ja«, sagte er. »Natürlich. Eigentlich sind wir Bosniaken, d. h. Serben, die nach der türkischen Eroberung zum Islam
übergegangen sind. Ich glaube, daß ich noch einige wilde Vettern habe, die in Sarajewo hausen. Ich entsinne mich sogar, daß wir in der Türkenzeit irgendwelche Güter in Bosnien besaßen, aber das ist schon lange her.« Asiadeh nahm eine Handvoll Sand und ließ ihn langsam durch die Finger rinnen. Ihre kurze Oberlippe zitterte. »Dann müssen Sie doch auch Muslim sein, nicht wahr?« Da lachte Hassa. Er legte sich auf den Bauch, und sein Körper bebte. Seine Augen wurden ganz klein, und er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Sand. »Kleine türkische Lady«, lachte er. »Wenn Kara-Mustafa Wien erobert hätte, oder wenn der Friede von San Stefano anders ausgefallen wäre, würde ich Ibrahim-Bei Hassanovic heißen und einen Turban tragen. Kara-Mustafa hat aber Wien nicht erobert, und so bin ich ein guter Österreicher geworden und heiße Dr. Alexander Hassa. Kennen Sie Wien? Wenn die Sonne hinter den Weinbergen untergeht und in den Gärten Lieder ertönen… es gibt nichts Schöneres als Wien.« Er schwieg und blickte Asiadeh etwas überheblich an. Asiadeh hob den Kopf und fühlte, wie sich ihre Wangen, ihre Ohren, ihre Augen, ihre Lippen und ihre Stirn mit Blut füllten. Sie wollte aufspringen und dem Menschen, der da nackt im Sande lag und über ihre Welt spottete, ins Gesicht schlagen, sie wollte davonlaufen und nie wieder von der Stadt hören, an deren Toren die Macht des alten Reiches zerbrochen war. Dann sah sie die kindlich-ahnungslosen Augen des Fremden, sein zufriedenes Lächeln und die dunklen, lockenden Augen, die sie harmlos anschauten. Eine große Trauer überkam sie. Sie schloß die Augen und dachte an das zertrümmerte Reich, dessen Sturz an den Toren Wiens begonnen hatte. »Ist Ihnen heiß, Asiadeh?« sagte Hassa besorgt.
»Nein, eher kalt. Vielleicht bin ich noch nicht ganz gesund. Es ist ja Herbst.« Sie blickte verlegen vor sich hin, und ihre Augen wurden ganz dunkel. Hassa war plötzlich sehr geschäftstüchtig. Er warf einen Bademantel um ihre Schulter und holte heißen Kaffee. Er rieb ihre Hände, die kalt und regungslos in den seinen lagen und zählte die Namen der unzähligen Bazillen auf, die den Menschen im Herbst beim Baden zu überfallen pflegen. Bei den Streptokokken angelangt, sah er Asiadehs schreckverzerrtes Gesicht und begann in der gleichen Reihenfolge die diversen Antitoxine aufzuzählen. Er fühlte sich dabei selbst sichtlich beruhigt, streichelte Asiadehs Wange, wobei es nicht ersichtlich wurde, ob es prophylaktisch oder erotisch gemeint war, und schlug endlich vor, nach Hause zu fahren. Asiadeh erhob sich. Ihre Wangen glühten. Dr. Hassa war der erste Mann, der sie streicheln durfte, aber auch das war nur ein Detail, das niemanden etwas anging. Sie lief zur Kabine, warf ihr Trikot haßerfüllt in die Ecke und zog sich rasch an. Sie trat hinaus und stand stolz und unnahbar am Wagen, während Hassa am Motor herumhantierte. Sie fuhren über die staubige Asphaltstraße. Autos hupten, fuhren an ihnen vorbei, und Hassa schlängelte sich zwischen den Autobussen, Radfahrern und Taxichauffeuren hindurch. Er erzählte dabei von der Arbeit in der Klinik und von einer temporalen Septumresektion, die er heute früh vorgenommen hatte und die nur acht Minuten gedauert hatte. Der große Hajek in Wien hätte es auch nicht schneller machen können. Dabei mußte er selbst tupfen, was seinem Tone nach offensichtlich ein erschwerender Umstand war. Asiadeh lehnte sich an die Rücklehne des Autos. Ihr Gesicht war aufmerksam und teilnahmsvoll, aber sie hörte den Worten des Arztes nicht zu. Sie blickte auf den Straßenrand und verfolgte angestrengt die
Schilder, die sie aufforderten, in jeder Lebenslage Bullrichs Kochsalz zu sich zu nehmen, oder einen dicken Mann darstellten, der mit verzweifelt erhobenen Händen der Welt sein Leid klagte: »Das Ullsteinbuch blieb im Coupé – was tu’ ich bloß am Stölpchensee.« »Ich gehe zugrunde«, dachte sie kopflos und zuckte mit der Oberlippe. »Ich gehe bestimmt zugrunde.« Sie stellte sich eine große Rutschbahn vor, auf der sie langsam einem siedenden See entgegenrutschte. Auf der andern Seite des Sees stand ihr Vater und rief ihr unverständliche, aber drohende Sätze zu mit philologisch sehr interessanten Endungen. Dann schielte sie zu Dr. Hassa hinüber und ärgerte sich, daß ihr dieser fremde gottlose Mann immer mehr gefiel. Endlich entdeckten ihre Augen den schräggestellten Spiegel des Wagens. In der geschliffenen Glasfläche sah sie eine schmale und strenge Lippe, eine längliche Nase und zwei schräggestellte, aufmerksam in die Ferne blickende Augen. Sie starrte so lange in diesen Spiegel, bis die Züge des Mannes einen deutlich mongolischen Einschlag bekamen. Das beruhigte sie ungemein. Indessen bog der Wagen in den Kurfürstendamm ein, und Hassa beendete den Bericht über die temporale Septumresektion und dachte an die weiche Oberlippe Asiadehs. Die Oberlippe bewegte sich und eine fremdländische Stimme sagte: »Zur Uhlandstraße.« Hassa sah für einen Augenblick zwei erschrockene und verträumte Augen, die unter einer leicht gewölbten, jetzt finster gerunzelten Stirn hervorblickten. Er hupte lange und aufgeregt, obwohl es gar nicht notwendig war und bog in die Uhlandstraße ein. Er hielt an dem vierstöckigen Haus mit der ehrbaren grünlichgrauen Fassade und blickte sich um. Asiadeh sah ihn an und ihre blonden windzerzausten Haare fielen in ihre Stirn. Da beugte er sich zu ihr hinüber, ergriff ihren Kopf und seine Lippen
umfaßten ihren kleinen zitternden Mund. Er hörte ein leises unterdrücktes Stöhnen und fühlte, wie sich Asiadehs Knie zusammenzogen. Ihre weichen Lippen öffneten sich, ihr Kopf war nach rückwärts gelehnt und es war gar nicht mehr notwendig, ihn zu halten. Dann schob sich Asiadeh in die Ecke des Wagens, beugte den Kopf nach unten und blickte schwer atmend und mit verschleierten Augen zu Hassa empor. Langsam öffnete sie die Tür des Wagens, stieg hinaus und stand am Bürgersteig, lächelnd und die linke Hand auf die Autotür gestützt. Sie führte die rechte Hand zum Munde, streifte mit den Zähnen den Handschuh ab und ohrfeigte Hassa knallend und kurz. Ihre Augen blitzten halb erbost, halb verwundert, sie lächelte sanft und traurig und verschwand hinter der Tür mit der Aufschrift »Zum Gartenhaus«. An den Wänden hingen Halbmonde und Koransätze in schwarzen Rahmen. Der Löwe von Iran prangte mit seiner Löwenmähne neben dem grauen Wolf des türkischen Wappens. Die drei Sternchen des ägyptischen Halbmondes hingen friedlich neben der grünen Fahne des Königreiches Hedschas. Teppiche waren im großen Saal ausgebreitet in die Richtung Mekkas. Auf den Teppichen und auf den Stühlen, die an den Wänden entlang standen, saßen feierlich gekleidete Männer mit Fes, Turban und mit nackten Füßen. Zwischendurch blitzte die vergilbte Uniform einer kaiserlichen Hofcharge oder eines hohen Offiziers. Persische Grüße ertönten neben arabischen Segensformeln und türkischen Glückwünschen. Der Orientklub zu Berlin feierte den Tag der Geburt des Propheten Mohammed. Der Imam, jener indische Professor, der nebenbei das Kaffeehaus »Watan« besaß, hatte das Gebet zelebriert. Perser, Türken, Araber, Generäle und Kellner, Studenten und Minister standen barfuß dicht nebeneinander und sprachen die Sätze des Korans. Dann warfen sie sich in den Staub vor dem
Allmächtigen, und der indische Professor sang mit hoher und trauriger Stimme das Gebet. Nachher umarmten sich alle, küßten einander auf die Schulter und setzten sich auf die Stühle, Sofas und Teppiche des großen Saales. Diener brachten Kaffee, türkischen Honig, arabisches Gebäck und persischen Scherbett. Der Präsident des Klubs, ein kleiner trockener Marokkaner, hielt eine kurze Ansprache, dankte dem Allmächtigen für seine Güte, dem Deutschen Reich für seine Gastfreundschaft und den Anwesenden für ihr Erscheinen. Dann tauchte er arabisches Gebäck in türkischen Kaffee und sprach einen persischen Segenswunsch, denn er war ein gelehrter Mann, der genau wußte, was sich gehört. Asiadeh saß auf dem kleinen Diwan und atmete gierig den Duft der Wüsten, der einsamen Lager und Kamelritte, die sie in den Gewändern der Gäste witterte. Menschen näherten sich ihr und blickten sie schüchtern und gleichsam erschrocken an, denn sie war eine Frau, und die Menschen hier waren des Umgangs mit Frauen nicht gewohnt. Sie drückten Asiadehs Hand, und Achmed-Pascha nannte gewichtig die langen Namen, die zu den Händen gehörten. Asiadeh blickte in die dunklen, braunen und ganz schwarzen Gesichter der Nachbarn. Da waren sie – Völker aller Länder, nur vereint durch die Worte des Korans. Keiner dieser jungen und alten, braunen und schwarzen Menschen würde es wagen – wie jener Langbeinige aus der Klinik –, sie am Kopfe zu fassen und an ihren Lippen zu zerren. Sie blickte auf ihre kleinen Handflächen und lächelte still und versonnen. Ein junger Neger mit strahlendem Gebiß und vergrämten Augen stand vor ihr. »Anta min misri?« »Sie sind aus Ägypten«, fragte sie auf arabisch. »Aus Timbuktu«, sagte der Neger.
»Timbuktu?« wiederholte Asiadeh, und der Name klang wie ein Zauberspruch. »Das liegt doch im Sudan. Einst regierte dort der König Dialliaman und das Haus Asku. Ihr hattet einen Weisen, und der hieß Achmed-Baba. Mehr weiß ich von euch nicht.« Der Neger strahlte glückselig. »Bei uns sagt man: Vom Norden das Salz, vom Süden das Gold, vom Westen das Silber, aber göttliche Weisheit und göttliche Lieder nur aus Timbuktu.« Er grinste dankbar und stolz. »Was tun Sie hier?« fragte Asiadeh. »Ich bin Pförtner im Hause des ägyptischen Gesandten«, sagte der Neger mit Würde. »Sie haben recht, unser Weiser hieß Achmed-Baba. Er schrieb das Buch el-Ihtihadschi, aber er ist schon tot. Marokkaner zerstörten Timbuktu, seitdem ist es Wüste, und niemand singt mehr.« Er verstummte und blickte mißbilligend auf den kleinen Marokkaner, der Präsident des Klubs war. Ein junger Mann mit olivenfarbenem Gesicht verbeugte sich vor Asiadeh. »Warum kommen Sie so selten zu uns, Hanum?« Er sprach ein gebrochenes Deutsch, und Asiadeh antwortete auf persisch: »zeman ne darem« – »habe keine Zeit«, denn der junge Mann war ein persischer Prinz. Achmed-Paschas Wangen röteten sich von sichtbarem Stolz. Ja, er hatte seine Tochter gut erzogen. Sie sprach türkisch – die Sprache der Ahnen, sie sprach arabisch – die Sprache Gottes, und sie sprach persisch, die Sprache der Liebe. Gott hat es nicht gewollt, daß sie in den Harem des Prinzen kam. Gott war groß. Er allein wußte, warum das geschah und warum das Reich zerfiel. Die Versammelten bildeten einen großen Kreis. Ein hagerer Ägypter setzte sich auf den Boden und sang mit schwermütiger und hoher Stimme. Zwei syrische Jünglinge mit großen
schwarzen Augen und geschmeidigen Gliedern erschienen, in weiße Beduinengewänder gehüllt. Sie trugen krumme lange Schwerter und alte runde Schilde mit weisen und kämpferischen Sprüchen. Ihre Füße, in weiches Saffianleder gekleidet, bewegten sich im Takt des wilden Liedes. Ihre schwarzen Augen blickten verwundert unter dem weißen Tuch des Beduinengewandes. »Jah sahib«, riefen sie, und die krummen Säbel blitzten. Ihre Bewegungen wurden kurz und hastig. Die Stahlklingen berührten sich mit melodischem Klang. Die Schilde schlugen hart aneinander. Die Augen der Jünglinge wurden wild. Sie waren gesittete Kaufmannssöhne aus Beirut, aber das Blut der wilden Ahnen, die aus der Wüste kamen und Beirut bezwangen, schlug in ihren Adern. »Jah-i-ii«, riefen sie gedehnt und heiser, und die Stahlklingen funkelten. Sie knieten auf dem Parkettboden, vom Schilde verdeckt, und lauerten aufeinander, wie ein Beduine hinter einem Wüstenhügel. Dann sprangen sie auf, schlank und jung, und stürzten sich aufeinander, von der Hitze des plötzlichen Gefechtes ergriffen. Ihre Burnusse wehten in der Tabakluft des Saales. Immer wieder ertönte der melodische Aufschlag des Damaszeners und die harten Schläge des Schildes. Immer höher, immer schneller wurde das Lied des Ägypters, und plötzlich drehten sich die beiden, wie vom Wüstenwind ergriffen, wirbelartig umeinander. Die Blicke wurden starr, die Bewegungen krampfhaft. Der Kampf der Beduinen ging in wilde Zuckungen tanzender Derwische über. Plötzlich verstummte der Ägypter, und die wilden Derwische verwandelten sich in gesittete Kaufmannssöhne aus Beirut. Sie verbeugten sich, und die Stahlklingen berührten sich zum Gruße und friedlich. Asiadeh klatschte, von der spukhaften Phantastik des wilden Tanzes hingerissen. Im Saal wurde es qualmig und dumpf. Im blauen Tabakqualm tauchten Gesichter auf und verschwanden
plötzlich, als wären sie Larven. In der Tabakwolke schwamm ein Bart und blieb dicht vor Asiadeh in der Luft hängen. Der Bart gewann Formen, und Asiadeh sah buschige Augenbrauen und lange Zähne hinter roten schnurrbartverhängten Lippen. »Friede«, sagte der Bart, und Asiadeh beugte den Kopf ermüdet und beklommen. Der Alte setzte sich neben sie und hatte kleine bewegliche Augen einer tausendjährigen Eidechse. »Ich bin Reza«, sagte der Alte. »Aus der Bruderschaft der Bektaschi.« »Bektaschi«, wiederholte Asiadeh und dachte an die heilige Gemeinschaft der Krieger, Asketen und Mönche. Die kleinen Augen des Alten waren unruhig und stachlig. »Wir sind alle weg«, sagte er. »Istanbul hat uns ausgespien. In Bosnien wohnt jetzt der Meister. Ali-Kuli ist sein Name. Dort kasteien wir den Leib.« Seine Unterlippe hing herab, und der Mund blieb halb offen. »Sie sind ein weiser Mann«, flüsterte Asiadeh gepreßt. »Wir hüten den Glauben«, sagte der Alte mit Inbrunst. »Alles zerfällt in der Welt des Unglaubens. Licht und Schatten vereinen sich, und Gott straft die Irrenden. Die Sünde belauert die Schwankenden und hat viele Gesichter.« »Ich sündige wenig«, sagte Asiadeh, und der Alte lachte nachsichtig und mit Schwermut. »Sie gehen unverschleiert, Hanum. Das ist keine Sünde, aber das fordert die Sünde bei andern heraus.« Er erhob sich und verdeckte für einen Augenblick mit der rechten Hand die Augen. Dann ging er gebückt und einsam, und die Menschen blickten ihn scheu an. Achmed-Pascha kam herbei. Seine Augen lachten. »Der ganze Saal will dich heiraten, Hanum«, sagte er leise. Asiadeh blickte sich spöttisch um.
»Es sind alles gute Menschen, Vater. Wem gibst du mich, dem Neger aus Timbuktu oder dem Prinzen aus dem Hause der Kadscharen?« »Niemandem«, sagte der Pascha. »Ich werde nach Afghanistan ziehen und mein Schwert in das Blut der Feinde tauchen. Ich erbaue mir eine Burg, und du heiratest den König.« Asiadeh blickte zum Vater empor. Hinter dem Kopfe des Vaters hing die schwarze Fahne Afghanistans und das Bild eines Mannes mit Adlernase und langer weißer Feder auf der Mütze. »Der König«, sagte sie leise, und ihre Hand streichelte den Arm des Vaters. »Was würdest du tun, Vater, wenn ein fremder Mann mich küssen würde?« Achmed-Pascha sah seine Tochter verblüfft an. »Ein fremder Mann dich küssen? Das würde doch keiner wagen!« »Und wenn?« »Mein Gott, Hanum, wie kannst du nur so was denken? Ich würde mein Messer nehmen, ich würde die Lippen abschneiden, die dich geküßt haben, und die Augen ausstechen, die dich gesehen haben. Er würde es sehr bereuen, daß er dich geküßt hat.« Asiadeh drückte dankbar die Hand des Vaters. Sie fühlte sich als die Retterin der Augen und Lippen des Dr. Hassa. »Soll ich also einen König heiraten?« »Nein«, lachte der Pascha. »Ich hab’ es mir überlegt. Du heiratest den Präsidenten der Vereinigten Staaten und bekehrst Amerika zum Islam. Der Präsident schickt seine ganze Flotte nach Istanbul, und wir können in die Heimat zurück. Das wird sein Brautpreis sein.«
»Gut, mein Vater«, sagte Asiadeh feierlich. »Ich gehe jetzt heim und überlege deine Worte, es wird hier viel geraucht, und der Tag des Propheten ist vorbei.« Sie erhob sich und ging durch den Saal. Schüchterne Blicke verfolgten sie, doch sie erwiderte sie nicht. Im qualmigen Rauch tauchten geschlitzte Augen auf und schmale zusammengepreßte Lippen. Die Augen glichen denen Dr. Hassas, und Asiadeh wandte sich ab. Sie ging zur Tür. Der Diener reichte ihr den Mantel, und der Neger aus Timbuktu lächelte ihr zu. Sie verließ den Klub und fühlte sich bereits auf der Treppe einer fremden feindlichen Welt ausgeliefert. Hinter ihr war die Heimat, waren dienstbeflissene Neger, Prinzen und Blutsverwandte, die ihre Ehre schützen würden, und fromme Derwische, die sie an die Sünden gemahnten. Es war die Welt, die sie kannte, in der sie sich ruhig und geborgen fühlte. Vor ihr war die staubige Treppe eines spärlich beleuchteten Hauses und fernes Licht der Straßenlaternen. Sie ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Wind wehte durch die breite menschenleere Straße. Abendliche Dunkelheit umhüllte die Häuser. Trübes Licht fiel aus den Fenstern auf den feuchten Asphalt, und von den Scheiben der Straßenlaternen fielen die Tropfen eines eben abgeklungenen Regens. Asiadeh trat auf die Straße. Gierig atmete sie die kühle abendliche Luft ein. Der Asphalt der Straße war in mathematisch-genaue Vierecke geteilt. Asiadeh blickte auf das Pflaster, runzelte die Stirn und fühlte ein leichtes Zittern in den Knien. Sie hatte plötzlich den Wunsch, zurückzulaufen und mit dem Neger aus Timbuktu das Gespräch über den weisen Achmed-Baba fortzusetzen, der das berühmte Buch el-Ihtihadschi geschrieben hatte und schon lange tot war.
Sie tat es nicht. Sie hob den Kopf und sah ernst und finster in die Augen Dr. Hassas. Hassa zog den Hut und verbeugte sich. »Guten Abend, Fräulein Anbari«, sagte er sanft.
5
Dr. Hassa dachte an die Ohrfeige und punktierte eine eiterverdächtige Nebenhöhle. Der Eiterverdacht erwies sich als unbegründet, aber die Gedanken an die Ohrfeige verschwanden nicht. Alsdann katheterisierte er das Eustachische Rohr eines dicken Delikatessenhändlers, der sich kindisch anstellte und sinnlose Fragen stellte. Später ging er in den Operationssaal und leitete die Ausräumung eines Labyrinthes. Dabei dachte er, daß das Ohrfeigen eine Unverschämtheit sei und leicht zu einer Störung des Labyrinthes führen könnte. Später sah er zu, wie der Alte eine Tracheotomie vornahm und bewunderte wieder einmal die überraschende Geschicklichkeit seiner Hände. Nachher ging er in den zweiten Stock und dachte ganz allgemein an die Sinnlosigkeit des Lebens und an die Belagerung Wiens durch Kara-Mustafa. Er machte einen Rundgang durch den Krankensaal und sprach begütigend zu dem keifenden Weib mit dem herrlichen Sklerom. Die Kranken lagen pflichtbewußt in den Betten, die schwarzen Tafeln über den Betten verkündeten vorschriftsgemäß die Namen ihrer Erkrankungen, und die diensttuende Krankenschwester meldete, daß die Otitis maedia vom achten Bett rechts eine Morphiuminjektion erhalten habe. Dr. Hassa nickte, ging in das Kellergeschoß und brüllte den Famulus an, der ein und dieselbe Augenbinde bei Luftlichtbädern an drei verschiedenen Kranken verwandt hatte. »Hygiene!« sagte er dabei und hob den Finger. Dann kehrte er auf seinen Sitz zurück in der trüben Überzeugung, daß höchstens eine Phlegmone mit dem
Ursprung in der hinteren Nebenhöhle ihn aus der allgemeinen Gleichgültigkeit herausreißen könnte. Statt dessen erschien eine hagere Frau mit einer Rhinorrhöe, die Dr. Hassa erbittert und enttäuscht mit Chlor behandelte, und zuletzt ein Student, dem gar nichts fehlte und der lediglich aus Neugierde und auch, weil es nichts kostete, sich von Ärzten aller Spezialfächer untersuchen ließ. Dann kam eine Weile überhaupt niemand, Hassa starrte gedankenverloren auf die Wand und dachte an die Vertreibung der Türken aus Europa. Seine rechte Hand glitt zum Instrumententisch, und er klapperte kriegerisch und drohend mit Kathetern, Spekuli, Trichtern und Konchotomen, so lange, bis der Nachbar von links zu ihm hinüberschielte und »äh-h, Kollega!« sagte. Durch diese Ansprache ernüchtert, blätterte Dr. Hassa eine Weile in verschiedenen Krankengeschichten nach und stellte seltsam befriedigt fest, daß der Fall Anbari zwischen einer Retromaxialgeschwulst und einem Sängerknötchen lag. Daraufhin erhob er sich, wusch sich die Hände, streifte den weißen Kittel ab und fühlte sich als Privatmensch. In unerlaubtem Tempo fuhr er über die Linden und hatte an der Charlottenburger Chaussee eine Meinungsverschiedenheit mit einem Taxichauffeur, dem er diverse Ohrfeigen in Aussicht stellte und von dem er erfuhr, daß er ein schlapper Österreicher sei und keine Ahnung vom Chauffieren habe. Am Knie angelangt, hielt er den Wagen an, ging in seine Wohnung und blätterte äußerst konzentriert im Archiv für OtoRhino-Laryngologie. Er erfuhr daraus, daß im New Yorker Baptistischen Krankenhaus neuerdings mit Erfolg Radiumbestrahlungen gegen hartnäckige und rezidivierende Muschelhypertrophien angewandt wurden und daß Neger fast nie pathologische Scheidewandanomalien aufweisen. Unerklärlicherweise war er darüber erbost und klappte das Archiv zu. Sein Blick fiel dabei auf Marions Bild im
Silberrahmen. Er runzelte die Stirn und hatte plötzlich die Überzeugung, daß eine Ohrfeige noch nicht das Schlimmste auf Erden sei. Es komme immerhin auch darauf an, von wessen Hand man geohrfeigt werde. Er streckte sich auf dem Diwan aus und schloß die Augen. Wie gewöhnlich erschien daraufhin Marion am Diwanrand, und er machte ihr heftige Vorwürfe wegen Fritz, wegen ihres Benehmens und wegen der Schande, die sie über den Namen Hassa gebracht hatte. Die imaginäre Marion neigte den Kopf zur Seite und meinte, wie stets, daß sie nichts dafür könne, was psycho-analytisch betrachtet vielleicht nicht unrichtig war, aber dennoch Dr. Hassa maßlos erzürnte. Plötzlich sprang er auf, ging zum Schreibtisch und schob Marions Bild in die Lade. »So«, sagte er dabei und schnaufte befriedigt. Er ging im Zimmer auf und ab und versuchte an die Neger zu denken, die fast nie pathologische Scheidewandanomalien aufwiesen. Es gelang ihm nicht, und seine Gedanken nahmen den gewohnten Lauf. Es war nunmehr erwiesenerweise grundfalsch, daß er Marion überhaupt geheiratet hatte. Noch unverständlicher war es allerdings, daß er sich einen psychoanalytischen Kollegen zum besten Freund auserwählt hatte. Übrigens war Fritz ein miserabler Psychoanalytiker. Eine Patientin, die wegen schlechten Schlafs klagte, behandelte er auf akute Melancholie, dabei hatte die Kleine nur ein Adenomyom. Ja, ein ganz gewöhnliches Adenomyom! Und erst er, Hassa, hatte das richtig festgestellt. Aber Marion hatte eine Schwäche für Psychoanalyse und verstand nichts von exakter Wissenschaft. Und dann erst der Skandal. Einfach durchgehen! Dabei hatte sie bis zuletzt ganz unschuldige Augen, als wäre sie nicht schon seit Monaten mit dem Fritz… Na ja. Und nachher sagte Fritz im Kaffeehaus, daß Laryngologen verhinderte Dentisten seien ohne Verständnis für die Seele der Frau. Er sollte Fritz
deswegen vor die Ärztekammer bringen. Beim Versöhnungstermin hatte Marion einen gelben Hut auf und neigte den Kopf zur Seite, als hätte sie einen Gehirntumor. An dieser Stelle angelangt, pflegte Dr. Hassa stets einen Kognak zu trinken und sich in eine ungemein unverständliche Arbeit über den Nervus sympaticus zu vertiefen. Dieses Mal fühlte er überraschenderweise weder ein Verlangen nach Kognak noch nach schwerwiegender Lektüre. Er blieb erstaunt im Zimmer stehen und wußte genau, daß die grauäugige Türkin, die so ahnungslos in die Klinik hineintorkelte, die geheime Ursache davon war. »Ein wildes Kind, vielmehr eine Angorakatze«, dachte Hassa und fühlte plötzlich den unstillbaren Wunsch, die Angorakatze zu streicheln. Er setzte sich hin und schüttelte traurig den Kopf. Alles ging schief, seit Marion ihn verlassen hatte. Seltsamerweise schien es seitdem ununterbrochen zu regnen. »Ich würde sie Asi nennen«, dachte er ganz nebenbei. »In der Ärztegesellschaft wird man jeden Donnerstag sagen, daß ich eine Angorakatze geheiratet habe. Intimere Freunde werden mich einen Sodomiten nennen und vor Neid vergehen. Ob Türkinnen zur Psychoanalyse neigen?« Er nahm Hut und Mantel, ging zum Wagen und fuhr sehr langsam und auch dadurch Anstoß erregend zur Uhlandstraße. Er ging den Vorderaufgang bis zum vierten Stock hinauf, ohne eine Familie Anbari zu finden. Etwas außer Atem kam er wieder nach unten und erfuhr beim Portier, daß die »Wilden« im Hofe rechts wohnten. Er klingelte lange an der defekten Tür und erfuhr vom verschlafenen Zimmervermieter, daß die »Wilden« heute türkische Weihnachten oder etwas Ähnliches feiern. Er erfuhr sogar, wo die Feier stattfinde und fuhr eiligst hin. Unterwegs wurde er aber von Zweifeln befallen und traute sich nicht in den Klub hinein, denn eine öffentliche Ohrfeige in Anwesenheit aller Wilden wäre ein zu großes Risiko.
Immerhin bestand die Möglichkeit, daß das wilde Mädchen allein den Klub verlassen würde. Dr. Hassa ging die Straße auf und ab, überstand den Regen unter einem Hausvorsprung und wunderte sich sehr, daß die Türken auch Weihnachten feiern. Endlich erblickte er die zierliche Gestalt, die unschlüssig auf den Himmel und auf den Asphalt blickte und zog rasch den Hut. »Uhu«, sagte das Mädchen und schüttelte sich vor offensichtlichem Ekel. Immerhin würdigte sie Hassa eines Blickes und blieb stehen, das Kinn leicht nach vorne geschoben. »Ich bin zerknirscht, mein Kind«, sagte Hassa. Asiadeh schob die Lippen vor. »Ich bin nicht Ihr Kind, ich bin Asiadeh«, sagte sie finster. Sie trat von einem Fuß auf den andern und fügte bedächtig hinzu: »Es regnet. Wenn wir hier lange stehenbleiben, kommt mein Vater und schneidet Ihnen die Lippen ab. Was tun Sie dann?« »Ich werde nie wieder küssen können«, sagte Hassa betrübt und versuchte Asiadehs Arm zu streicheln. »No! No!« rief sie streng. »Mein Vater ist sehr stark.« Dann schwieg sie nachdenklich und meinte mit plötzlichem Entschluß: »Also gehen wir schon, sonst kommt der Vater wirklich.« Sie trabte dahin, und Hassa folgte ihr, verzweifelt auf das bereitstehende Auto weisend. Asiadeh schüttelte energisch den Kopf. »Nein«, sagte sie entschlossen. »Gehen Sie ruhig hinter mir her.« Sie ging, und Hassa folgte ihr. Am Wittenbergplatz fing es zu regnen an, und Asiadeh blieb unschlüssig unter einem Dachvorsprung stehen. »Gnade«, sagte Hassa demütig. »Darf ich Ihnen in ein helles, menschenerfülltes und geheiztes Kaffeehaus folgen?« Asiadeh sah zu ihm hinauf.
»Gräßliches Klima«, sagte sie. »Ich verstehe, warum wir dieses Land nie erobert haben.« Dann blickte sie zum Himmel empor und fügte gnadenvoll hinzu: »Sie dürfen mich in ein Kaffeehaus begleiten.« Es klang keineswegs wie eine Niederlage. Sie ging über die Straße, und Hassa öffnete die Glastür eines Kaffeehauses. Sie traten ein, und Asiadeh beugte sich in schweigsamem Ernst über eine Tasse Mokka. Sie atmete befriedigt den Mokkaduft ein und empfand leichtes und angenehmes Herzklopfen. »Zürnen Sie mir nicht, Asiadeh«, bat Hassa verlegen. »Ich werde es bestimmt nie wieder tun.« Asiadeh stellte die Tasse weg und sah Hassa entgeistert an. »Wirklich?« sagte sie beinahe erschrocken und biß sich auf die Lippen. Erleichtert streckte ihr Hassa die Hand entgegen. Asiadeh nahm sie gnädig, und Hassa küßte den Handrücken sanft und ehrerbietig. Der Friede war geschlossen. Sie saßen dicht nebeneinander im menschenerfüllten Kaffeehaus, und Asiadeh sprach von dem Neger aus Timbuktu, von dem Eunuchen, der ihr zu Hause die arabischen Gebete beigebracht hatte, von der Grande Rue de Pera, die viel schöner war als alle Straßen Berlins, und von dem Prinzen Abdul-Kerim, den sie heiraten sollte. »Sie werden es aber nicht tun?« fragte Hassa besorgt. »Ich habe ihn nie gesehen. Ich weiß nur, daß er dreißig Jahre alt ist. Er verschwand nach der Revolution. Wenn man es genau nimmt, hat er mich verlassen. Aber es ging wohl nicht anders.« Hassa blickte sie verständnisvoll an und hatte das Gefühl, daß eine Revolution hin und wieder auch positive Seiten aufweise. »Was werden Sie tun, wenn Sie zu Ende studiert haben?« Asiadeh blickte verträumt auf die Kuchenplatte und nahm einen Mohrenkopf.
»Ich werde den Präsidenten der Vereinigten Staaten heiraten oder den König von Afghanistan.« Zuckerstaub bedeckte ihre Lippen. Sie spreizte vergnügt die Finger und nahm aus Hassas Etui eine Zigarette. »Haben Sie denn schon je geliebt?« fragte Hassa. Asiadeh legte die Zigarette weg und errötete heftig. Ihre grauen Augen blitzten auf und wurden ganz dunkel. »Kein Mensch in Europa versteht sich zu benehmen«, sagte sie zornig. »Mit fremden Damen spricht man nicht über die Liebe. Man starrt sie auch nicht so mit Stieraugen an. Wir sind in der Liebe genau so erfahren, aber schweigsamer und stiller. Deswegen nennt man uns auch die ›Wilden‹.« Sie war herrlich in ihrem Zorn. Ihre Pupillen weiteten sich, sie zog den Zigarettenrauch ein, blies ihn zur Decke empor und wußte genau, daß sie sich in Hassa hoffnungslos verliebt hatte. Hassa sah sie betrübt an. »Ich wollte Sie nicht verletzen, Asiadeh«, sagte er betrübt. »Ich frage nicht aus Neugierde, sondern – na ja – sondern… Sie verstehen schon? Wie soll ich mich ausdrücken? Äh.« Er verstummte, verlegen um sich blickend. Vielleicht sollte er doch eine Einführung in die Psychoanalyse lesen. Asiadeh sah ihn belustigt an. Diese Menschen in Europa waren ahnungslos in allen Sachen des Gefühls. Es fehlte eben der Istanbuler Schliff. Sie legte die Zigarette weg und sah ihn mitleidsvoll an. »Erzählen Sie«, sagte sie schlicht. »Mir ist in meinem Leben etwas Seltsames geschehen. Deswegen frage ich andere Menschen nach Liebe aus. Ich war einmal verheiratet und bin geschieden.« Asiadeh sah ihn still und unschuldig an. Ihr Mund war leicht geöffnet, und die Oberlippe schob sich nach oben. Plötzlich beugte sie ihr Gesicht nach vorn und hustete heftig. Die Europäer waren seltsame Menschen.
»Ich verstehe«, sagte sie mitleidsvoll. »Die Frau bekam keine Kinder und Sie haben sie verstoßen.« »Kinder?« Hassa blickte erstaunt auf. »Wieso Kinder? Marion wollte ja gar keine Kinder haben.« Jetzt staunte Asiadeh. »Sie wollte keine Kinder? Aber dazu war sie doch da.« »Ach Gott«, stöhnte Hassa. »Das Problem lag ganz woanders. Ich hatte einen guten Freund. Er kam immer zu uns. Eines Tages ging dann Marion mit ihm durch.« Er zuckte mit den Achseln, und Asiadehs Augen wurden rund vor Staunen. Endlich schien sie zu begreifen. »Aha«, sagte sie. »Sie verfolgten die beiden und töteten sie. Seitdem verbergen Sie sich im Auslande vor Gerichten und Bluträchern. Ich kann Sie verstehen. Ich kenne viele Fälle wie den Ihrigen.« Hassa war beinahe beleidigt bei dem Gedanken, daß Asiadeh ihn für eines Mordes fähig hielt. »Ich brauche mich vor niemandem zu verbergen, und die Gerichte sind auf meiner Seite«, sagte er stolz. Asiadeh schüttelte den Kopf. »Bei uns«, sagte sie, »würde man die Frau mit einer wilden Katze zusammenbinden, sie in einen Sack stecken und in den Bosporus werfen. Den Mann würde man erdolchen. Jedermann würde es für gerecht halten. Verbergen sich denn Ihre Feinde so gut?« »Nein«, sagte Hassa traurig. »Diesen Sommer waren sie im Salzkammergut. Übrigens… wieso Feinde?« Asiadeh schwieg. Es hatte keinen Sinn, diesem Menschen das Wesen der Liebe zu erklären. Hassa saß da unbeholfen und gebückt, wie hinter einer Glaswand. Asiadeh blickte in die geleerte Mokkatasse und empfand eine leise Genugtuung. Es war ganz angenehm, daß Hassa so allein war. »Was halten Sie von Psychoanalyse?« fragte er plötzlich.
»Was bitte?« Asiadeh war außerordentlich erstaunt. Diese Menschen dachten so anders als die Paschas am Bosporus. »Psychoanalyse«, wiederholte Hassa. »Was ist das?« »Psychoanalytiker sind Menschen, die den anderen in die Seele schauen wie ich in den Hals.« »Schrecklich.« Asiadeh zuckte zusammen. »Wie kann man seine Seele einem Fremden zeigen. Das ist doch schlimmer als Vergewaltigung. Das darf nur ein Prophet oder ein Kaiser. Ich würde den Menschen umbringen, der es wagen würde, mir in die Seele zu schauen. Dann kann man auch nackt über die Straße gehen.« Sie schwieg und strich sich mit der Hand über die Stirn. Plötzlich sah sie Hassa mit großen und strahlenden Augen an und lächelte demütig und freudig zugleich. »Mir sind Menschen, die in den Hals schauen, um vieles lieber.« Es kostete Hassa einige Mühe, sich nicht über das grauäugige Mädchen zu stürzen. »Fahren wir«, rief er von plötzlicher Lebensfreude ergriffen, und Asiadeh nickte willenlos. Sie gingen zum Auto, und ihre Hände waren fest umschlungen. Es war Nacht geworden. Die geraden Reihen der Straßenlaternen vereinten sich in der Ferne. Asiadeh starrte in das Licht und dachte weder an das Haus am Bosporus noch an den Pascha, der zu Hause saß und auf sie wartete. Hassa war groß und unverständlich wie ein exotisches Tier, und sein Auto glich im nächtlichen Schein einem großen waffenstrotzenden Elefanten. Sie bestiegen den Wagen. Der Asphalt schwand unter den Rädern wie der Nebel beim nahenden Wind. Sie fuhren den Kurfürstendamm entlang und bogen zur Avus ein. Die viereckigen Häuser mit flachen Dächern waren vom Lichte der Scheinwerfer erhellt. Das Gerüst des Funkturms ragte zum Himmel empor und glich einer Stahllanze. Sie fuhren über die breite Avus eng aneinandergerückt und schweigsam. Hassa drückte auf den Gashebel, und der Geschwindigkeitszeiger
stieg. Feuchter Wind schlug in Asiadehs Gesicht. Hassa sah ihre wehenden Haare und graue erstarrte Augen. Er steigerte die Geschwindigkeit und fühlte, wie bei der Biegung Asiadehs Hand seine Schulter umfaßte. Das Auto raste durch die Nacht, wie von einer übersinnlichen Kraft getrieben. Die Formen der äußeren Welt schwanden in eintönigem, großartigem Grau. Das Blut klopfte in Hassas Schläfen. In der Raserei der Geschwindigkeit offenbarten sich ihm die Zuckungen eines nie erlebten Liebestaumels. Der Asphalt unter Hassas Scheinwerfern glich einem rollenden endlosen Band. Die Frau neben ihm war plötzlich nahe und erreichbar, wie für ewig im Wirbel der Geschwindigkeit ihm ausgeliefert. Asiadeh saß regungslos, mit halbgeschlossenen Augen von dem unerwarteten Gefühl der Hingabe ergriffen. Sie umfaßte den Fenstergriff, und alles Gegenwärtige schien im Rausche der vorbeisausenden Kilometer zu verschwinden. Der Wagen verwandelte sich in einen schwebenden Teppich, und der nächtliche Wind drückte sie immer näher und näher zu dem fremden Mann, der, rätselhaft mit ihr vereint, vom gleichen Wirbel erfaßt einem unsichtbaren Ziel entgegengetragen wurde. Sie blickte auf das Armaturenbrett. Der Zeiger zeigte irgendeine Zahl an, und sie wußte nicht mehr, ob es viel oder wenig sei. Sie saß da, aufgelöst im Wind, in der Geschwindigkeit, im spukhaften Scheinwerferlicht des fernen Funkturms. »Genug«, flüsterte sie erschöpft, und eine trunkene Müdigkeit stieg in ihr auf. Hassa fuhr langsam und bestürzt in die Stadt. Er schwieg, und seine schönen Augen waren traurig und erleichtert. Er schien blaß und müde. An der Uhlandstraße hielt er. Asiadehs Hand legte sich um seinen Hals, und er beugte sein Gesicht zu ihr. »Danke«, sagte Asiadeh mit leiser, wie von weit her kommender Stimme. Hassa fühlte die Wärme ihres Gesichtes und den heftigen Atem der kindlich-weichen
Lippen. Seine Hand berührte ihre Wange, und er schloß die Augen. Asiadehs Lippen waren ganz nahe. Er beugte sich vor und öffnete die Augen. Ihr Gesicht war regungslos und sie blickte ängstlich und sehnsüchtig in die Ferne. »Danke«, sagte sie nochmals und stieg aus dem Wagen. Sie verschwand wortlos im Haus, und Hassa starrte ihr bestürzt und erschöpft nach.
6
»…Und es sprach das Volk der Chinesen: ›Rotten wir die Türken aus. Es soll kein Türkenvolk mehr geben.‹ Da sprachen aber der Himmel der Türken und die heilige Erde und das heilige Wasser der Türken: ›Nicht vergehen soll das Volk der Türken. Möge es uns erhalten bleiben.‹ Dieses sprechend, ergriff der Himmel meinen Vater Ilteres-Khan an den Haaren und hob ihn hoch über das ganze Volk. Und mein Vater, der Khan, sprach…« Asiadehs Finger verfolgten angestrengt die runenartigen Zeichen der Inschrift. »Eigentlich ›verkündete‹ und nicht ›sprach‹«, dachte sie müde, und die geheimnisvollen eckigen Striche der uralten Schrift schwammen vor ihren Augen. Vor Jahrtausenden errichtete ein wildes Volk in den Steppen der fernen Mongolei barbarische Denkmäler seiner Größe. Das Volk wanderte ab, aber die rauhe Schrift blieb. Verwittert und rätselhaft blickte sie in die Öde der mongolischen Steppen, in die dunklen Spiegel der kalten namenlosen Flüsse. Steine zerfielen. Nomaden zogen an ihnen vorbei und blickten scheu und angstvoll auf die verschütteten Denkmäler vergangenen Ruhms. Wanderer aus fernen Ländern verirrten sich hie und da in die wilde Öde der mongolischen Steppen. Sie brachten die Kunde von der rätselhaften Schrift nach dem Westen. Reisen wurden ausgerüstet, geübte Hände schrieben die geheimen Runen ab. Dann lagen sie auf säuberlichem Papier gedruckt in den stillen Stuben der Gelehrten. Trockene geäderte Hände streichelten liebevoll die geheimnisvollen Zeichen. Gerunzelte Stirnen beugten sich über die Blätter. Langsam wich das Geheimnis der Schrift, und von den eckigen verwitterten
Hieroglyphen ertönte das Geheul der Steppenwölfe, erstand das ferne Nomadenvolk, erstand ein wilder Führer auf kleinem langmähnigem Pferd, erklang die dunkle Kunde von uralten Abenteuern, Kriegen und Heldentaten. Gerührt blickte Asiadeh auf die Runenschrift. Es war ihr, als lese sie in den schwarzen eckigen Linien die Geschichte ihrer Träume, Wünsche und Hoffnungen. Etwas Lockendes und Gewaltiges entstand hinter dem Chaos der primitiven Formen und Wortbildungen. Sie witterte das Geheimnis des Anfangs, das in den ältesten Klängen ihrer Rasse verborgen war. Sie sah die ersten Menschen eines werdenden Volkes, wie sie einst über die vereisten Schneesteppen wanderten und aus dem Urrätsel ihrer Seelen die ersten Klänge und Töne einer Sprache schufen. Ihre kleinen Finger verfolgten die Linien der Schrift. Langsam las sie: »Sechzehn Jahre alt war mein Bruder KülTegin und sehet, was er tat! Er zog ins Feld gegen das Volk der Zöpfe und schlug es. Er stürzte sich in die Schlacht, und seine kriegerische Hand erreichte den Feind Ong Tutuk, der fünfzig Tausend befehligte.« Es läutete schrill. Asiadeh hob den Kopf und rieb die ermüdeten Augen. Sie saß im kleinen Lesesaal des Seminars, und um sie herum ertönte das gutturale Flüstern der Sinologen, die unterdrückten Kehllaute der Arabisten und die stillen Lippenbewegungen der konsonantenschluckenden Ägyptologen, die alle Rätsel des Niltales erforscht haben bis auf das Rätsel der richtigen Aussprache des Wortes Osiris. Asiadeh erhob sich und blickte in den Stundenplan. »Die ersten Osmanen«, las sie. »Hörsaal 8: Dozent Dr. Meyer.« Sie ging zum Hörsaal hinauf, und der Ungar Dr. Szurmai traf sie im Gang und erzählte liebenswürdig und verzückt von einem neuentdeckten Turanismus in den ugro-finnischen Agglutinationen. Asiadeh hörte ihm zerstreut zu. Sie hatte nur ein einziges Mal einen lebenden Ugro-Finnen gesehen. Es war
ein dicker blonder Steward aus Helsingfors, der nach Rum roch und sinnlos fluchte. Es war verwirrend zu denken, daß auch die Wiege seines Geschlechtes in den selben fernen Steppen stand, aus denen einst die ersten Osmanen erstanden und sich gegen Westen ergossen. »Es ist ein Aorist«, sagte der Ungar. »Verstehen Sie, ein Aorist.« Asiadeh verstand es. Sie trat in den Hörsaal. Der Sinologe Goetz beugte seine Glatze über ein Papier und erklärte dem Tataren Rachmetullah die Hieroglyphe »Tü-Ke«. Er zeichnete schön geschwungene Linien und sprach mit dumpfer Stimme: »Sie verstehen, Kollege. Der Sinn ist in diesem Falle ohne Bedeutung. Es kommt auf den Laut an. Die Chinesen kennen aber kein ›r‹. Tü-Ke ist also die Hieroglyphe für Türke.« Rachmetullah saß da mit offenem Munde und gerunzelter Stirn. Seine kleinen Augen blickten erbost auf die Hieroglyphe, deren Sinn ohne Bedeutung war. Meyer kam und hatte ein jugendliches Gesicht, graue Haare und eine Fähigkeit, alle Sprachen des Orients mit schwäbischem Akzent auszusprechen. Er sprach von dem Goldenen Gebirge des Altais, aus dem das Volk entstand, er sprach von dem großen Helden Oghus-Khan, dem Sohne KaraKhans, der dem Volke das Heer gab, und vom Ertogrul, dem Stammvater der Osmanen, der sich mit 444 Reitern gegen die Griechen warf und das heilige Reich Osman begründete. »Ertogrul hatte drei Söhne«, sagte Meyer auf schwäbisch, »Osman, Gedusalp und Surajaty Sawedschi, deren ersterer der eigentliche Begründer jener Bewegung ist, die zu untersuchen wir uns zur Aufgabe gestellt haben.« Damit schloß er, denn es klingelte, und er war ein geplagter Mann und noch lange kein Ordinarius. Asiadeh lief die Treppe hinab. Sie verkroch sich in der Bibliothek wie eine Schnecke in ihr Haus. Sie ergriff vom
Regal das erste beste dicke Buch und las verwundert am Deckel »Kudatku-Bilik«. – »Das beglückende Wissen.« »Uigurische Ethik aus dem zweiten Jahrhundert.« Sie schlug das Buch auf. »Seite fünfzehn, Vers fünfzehn«, befahl sie sich selbst und begann zitternd vor Aberglauben die geheimnisvollen uigurischen Sätze zu entziffern. Die Schrift war verworren und die Formen waren fremd. Es hatte schon längst geklingelt, aber sie achtete nicht darauf, ganz versunken in das Geheimnis der Vergangenheit. Endlich entzifferte sie: »Was man dir bietet, kommt und geht, nur das beglückende Wissen bleibt. Alles, was die Welt enthält, endet und schwindet. Nur das Geschriebene steht fest, alles andere fließt dahin.« Es klang sehr erhaben, hatte aber nicht die geringste Beziehung zu Asiadehs Gedanken. Sie beugte den Kopf, blickte bestürzt grüblerisch auf die Übersetzung und hatte das Gefühl, mit größter Anstrengung eine leere Flasche entkorkt zu haben. Sie steckte den Zettel ein und blickte sich um. Befriedigt stellte sie fest, daß sie allein im Zimmer war und kratzte sich verstohlen am Kopf. Sie hatte dabei die felsenfeste Überzeugung, daß es so nicht weiterginge. Alltäglich erwartete sie Hassa am Hause mit dem Auto. Er brachte sie in die Universität, fuhr mit ihr in den Grunewald spazieren, schenkte ihr Blumen und ließ rätselhafte Worte über die Freuden des Familienlebens fallen. Hin und wieder streichelte er ihre Hände, und seine Lippen huschten über ihre Stirn. Asiadeh blickte verbissen auf die lange Reihe der Bücherregale. Alles wäre anders gekommen, wenn sie, auch weiterhin dem Gebote der Sittsamkeit folgend, ihr Gesicht mit dem Schleier verhüllen würde. Dr. Hassa hätte sie nie erblickt, das Leben wäre unkompliziert geblieben, und sie selbst müßte nicht über das Geheimnis der Liebe grübeln, anstatt turanische Präfixe zu untersuchen.
Nachdenklich kratzte sie mit dem Finger das dunkle Holz des Tisches. Es war wohl überhaupt ein Fehler, die Heimat zu verlassen. Aber der Vater hatte es so gewollt – und nun brach das Unglück über sie herein – die Liebe zu einem fremden Mann, der anders fühlte, anders dachte, anders handelte als alle Menschen, an die sie gewohnt war. Asiadeh seufzte und verachtete sich tief. Sie fühlte sich machtlos und beschämt. Hassa verfolgte sie, und es gab kein Entrinnen aus dem lockenden Kreis seiner Worte, Blicke und Gebärden. Asiadeh erhob sich und ging an den Bücherregalen entlang. Der glatzköpfige Bibliotheksverwalter, der an der Tür saß und in den Katalogen blätterte, warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie tat so, als suchte sie ein vertrautes Buch, und ihre besorgten Blicke glitten über die Suaheli-Grammatik und die Einführung in das Mittelpersische. »Heiraten«, dachte sie verwirrt und kehrte zu ihrem Sitz zurück. Sie nahm einen Bogen und zeichnete mit dem Bleistift Dämonenköpfe, geometrische Figuren und unbekannte Endungen nie gehörter Worte. Dann legte sie den Bleistift weg und wunderte sich, daß auf dem Papier in schöner arabischer Schrift »Prinz Abdul-Kerim« geschrieben stand. Sie schüttelte den Kopf und schrieb denselben Namen in lateinischen Lettern. Dann strich sie ihn durch, schrieb den vollen Titel auf türkisch »Schah-Sade Abdul-Kerim-Effendi hasretlari« und wußte plötzlich genau, daß sie die ganze Zeit an nichts anderes als an den verschollenen Prinzen gedacht hatte. Sie hatte ihn nie gesehen, aber sie ahnte ihn, wenn sie in einem Boot auf dem Bosporus an seinem Palast vorbeifuhr und einsame Diener auf den Terrassen sah. Er mußte helle Haut haben und die lange gebogene Nase der Osmanen. Seine Augen waren traurig und sein Mund fest zusammengepreßt. Vielleicht neigte er, wie der Sultan Abdul-Asis, zu Trübsal und
Melancholie. Vielleicht war er listig, schwach und brutal wie Abdul-Hamid. Vielleicht lebte er in träger Langeweile und hatte verhängte Augen, hinter denen sich eine verborgene jenseitige Welt ahnen ließ, ganz wie bei dem verträumten und stillen Memed-Raschi. Sie wußte es nicht, sie wußte nur, daß dieser Prinz, der im Palaste am Bosporus gewohnt hatte, ihr zugedacht war, daß sie keinen anderen lieben durfte und sich dennoch in einen Barbaren mit langen Beinen und lächelnden Augen verliebt hatte. Der Prinz war fort, auch er hatte sie nie gesehen, vielleicht kaum von ihr gehört. Vielleicht hatte er weiche, gepflegte Hände und die müde Liebe zum Tod, zur Stille und zum Vergessen wie der verstorbene Jussuf-Izzeddin. Es war nicht viel dran an dem müden Geschlecht der letzten Osmanen. Hassa war kräftiger, gesünder, näher. Asiadeh zuckte fassungslos die Achseln. Sie trauerte einem Prinzen nach, der gar kein Prinz mehr war und der sie nie gesehen hatte. Sie nahm einen Bleistift und zeichnete um den Namen des Prinzen ein schön geschwungenes Ornament. »Asiadeh ist eine Gans«, schrieb sie darunter und hatte plötzlich das Gefühl, als sei sie ihr ganzes Leben in einen wirren Wachtraum versunken gewesen. Sie hob die Hand und strich mit langsamer Bewegung die Haare aus der Stirn. Dann suchte sie in ihrer Ledermappe, fand ein Blatt, ergriff eine Füllfeder und schrieb langsam und bedächtig »An Seine Kaiserliche Hoheit den Prinzen Abdul-Kerim-Effendi.« Sie blickte lange auf die Überschrift und war überzeugt, nicht minder wahnsinnig zu sein als die letzten Osmanen. Dann schrieb sie: »Kaiserliche Hoheit! Sie haben mich nie gesehen und werden sich vielleicht kaum noch meines Namens erinnern. Seine Majestät unser erhabener Kaiser und der Beschützer aller Gläubigen hatte einst bestimmt, daß ich, so Gott uns gnädig
sein wird, in das Palais Ew. Hoheit einziehen sollte, um Eure gehorsamste Sklavin und treuste Gattin zu werden. Ich bin sehr arm, Hoheit, denn Gott hat es nicht gewollt. Ich wohne jetzt in Berlin und besuche das Haus des Wissens, in dem ich die Geschichte der erlauchten Ahnen Ew. Hoheit studiere. Trauer erfüllt mich, denn ich bin ganz einsam. Ich trage keinen Schleier mehr, und sehr viel fremde Männer können mich sehen. Strafen Sie mich, o Gewaltiger! Aber es ist für eine entschleierte Frau schwer, der Sünde nicht zu verfallen. Ich sinke zu Ihren erhabenen Füßen und flehe Sie an: nehmen Sie mich zu sich, wo immer Sie sind, damit ich Ihnen dienen kann und dieselbe Luft wie Sie atmen kann. Wenn Sie geruhen, Kellner zu werden, werde ich abends nach der Arbeit Ihre Füße massieren, wenn Sie ein Taxi durch die engen Straßen einer fremden Stadt fahren, werde ich Ihnen Flaschen mit heißem Kaffee auf den Weg geben und zu den Haltestellen gehen, um Ihnen zuzuwinken. Sollte aber die Gnade Ew. Hoheit mir für immer versagt bleiben, so flehe ich Sie an, mich zu verstoßen, auf daß ich mich frei fühle und zum Abgrund eile, den man Liebe nennt und der das Schicksal der Entschleierten ist. Denn ich bin jung, Hoheit, und meine Erziehung im väterlichen Hause war noch nicht beendet, als uns dieses Haus genommen wurde. Deshalb bin ich schwach und habe noch nicht die Geduld und Beherrschung, die Gott den Frauen als Pflicht auferlegt hatte. Ich denke oft an Sie, an Ihr Palais am Bosporus und an die Bäume, die in Ihrem Garten wuchsen und an denen ich vorbeifuhr, als ich noch glaubte, einst in ihrem Schatten ruhen zu dürfen. Zürnen Sie mir nicht, Hoheit, denn ich bin Ihre Sklavin, angekettet an die Pflicht, Ihnen zu gehorchen, die unser Kaiser und Herr mir anbefohlen hat.« Asiadeh unterschrieb und steckte den Brief in den Umschlag. Dann nahm sie ihn wieder heraus und schrieb errötend die
Nachschrift: »Und sollte mir Ew. Allerhöchste Antwort versagt bleiben, so fürchte ich mich, das als Zeichen Eurer Ungnade zu deuten, einer endgültigen Ungnade, die mich in die Arme einer fremden Liebe treiben wird.« Sie verklebte den Brief und blickte unschlüssig auf den Umschlag. Kein Mensch wußte, wo sich der Prinz aufhielt. Ihre Zungenspitze glitt aus dem Mund und verschob sich langsam aus dem rechten Mundwinkel in den linken. Sie schrieb: »An die Regierung der türkischen Republik – zu Händen des landesverwiesenen Prinzen Abdul-Kerim. Sehr wichtig! Bitte nachsenden!« Es bestand keinerlei Hoffnung, daß der Brief je ankommen werde. Sie erhob sich und verließ die Bibliothek. Der glatzköpfige Bibliothekar blickte ihr nach, voll Anerkennung und Achtung. »Welch fleißige Studentin«, dachte er. »Ob sie habilitieren wird? Sie sollte der Wissenschaft erhalten bleiben.« Indessen ging Asiadeh durch die Dorotheenstraße. Hassa winkte ihr zu. Sie stieg in den Wagen, und Hassa sagte, daß es schön wäre, eine Hochzeitsreise im Wagen durch Italien zu machen. »Halt«, sagte Asiadeh. Hassa hielt. Sie stieg aus, ging zum Briefkasten und warf den Brief ein. Zurückgekehrt, lehnte sie sich in die Kissen und sagte etwas nachlässig: »Nach Italien? Meinen Sie? Das kann sehr schön sein.« Sie verstummte und blickte zum Fenster hinaus. Sie hatte Hassa sehr lieb.
7
Achmed-Pascha saß im Café »Watan« und wußte, daß sein Leben in Unordnung geriet. Der Inder hinter der Theke spielte mit einem Rosenkranz. Smaragd, der bucharaische Kellner, servierte Kaffee, und der Tscherkesse Orchan-Bei meinte, daß die Wege Allahs unergründlich seien. »Die Religion verbietet es nicht«, sagte Smaragd, denn im Café »Watan« gab es keine Geheimnisse. »Nein«, sagte der Pascha traurig. »Die Religion verbietet es nicht.« Der Priester der Achmedia-Sekte trat auf ihn zu und streichelte seinen Bart: »Alle sind in einem und einer ist in allem«, sagte er rätselhaft. »Durch Vereinigung des Fleisches zur Vereinigung des Blutes.« Er trank einen Scherbett und gab dem Pascha eine Zigarette. Der indische Professor legte den Rosenkranz weg und sagte finster: »Gott hat durch den Mund des Propheten gesprochen: Lieber ein gläubiger Sklave als ein ungläubiger Hund.« »Das bezieht sich nur auf Heiden«, unterbrach ihn Smaragd. »Der Imam von Buchara hat darüber einen Kommentar geschrieben.« Alle schwiegen darauf, und der Tscherkesse verschwand im Nebenzimmer. »Eigentlich ist er gar kein Ungläubiger«, sagte der Pascha. »Er ist ein Freigeist.« Er nickte betrübt, und der Inder sagte teilnahmsvoll: »Wie richtig Sie urteilen, Exzellenz, und reich ist er auch.«
Der dicke Syrer trat ins Kaffeehaus und nahm sofort die Haltung eines Propheten ein. »Was ist Geld?« sagte er. »Staub vor dem Throne des Allmächtigen. Wo sind die Millionen Abdul-Hamids? Retteten sie seinen Thron? Ein heiliger Mann aus der Wüste Nedschd hat gesagt…« Er beendete den Satz nicht, denn Smaragd stellte den Kaffee vor ihn hin, und der Professor sagte melancholisch und teilnahmslos: »Wie richtig Sie urteilen!« Minuten vergingen, und der Pascha hob den trockenen, braunen Finger und bestellte noch einen Kaffee. Seine Augen blickten dabei sorgenvoll in die Leere, und er dachte, daß, wenn der Vetter aus Kabul nicht bald wieder Geld schickte, er doch noch als Sachverständiger in ein Teppichgeschäft eintreten werde. Ein leises Geflüster unterbrach die Stille des Kaffeehauses. Ein Marokkaner sprach auf Smaragd ein: »… und da ergriff er den Säbel und metzelte eintausend Ungläubige nieder. Das ganze Rif ist auf seiner Seite. Alle Kabylen. Er marschiert auf Fes. Er wird Kalif werden, und die Stunde der Ungläubigen hat dann geschlagen…« »Wie richtig Sie urteilen«, sagte Smaragd begeistert und schenkte Kaffee ein. Im Nebenzimmer ertönte die Stimme des Tscherkessen. »Kommen Sie nur, mein Bruder, der Pascha wird sich freuen.« Er trat ein und führte an der Hand einen rundlichen, bärtigen Mann mit finstern und gleichsam kindlichen Augen. »Exzellenz«, sagte der Tscherkesse, »darf ich Ihnen Herrn Ali Sokolowic, Kaufmann aus Sarajewo, vorstellen?« Der Bosniake verbeugte sich und war sichtlich erfreut, mit einem leibhaftigen Pascha zu sprechen. »Aus Sarajewo«, sagte der Pascha, und seine Augenbrauen bewegten sich, »es ist eine berühmte Stadt.«
»Ja, Exzellenz«, die Stimme des Kaufmanns klang erfreut. »Ich hoffe, daß Ihr Volk fromm ist und die Gebote des Glaubens befolgt.« »Fürwahr, es tut es, Exzellenz. Was wäre denn ein Volk ohne Gott.« Er sprach von den Schulen und Moscheen Sarajewos, über die Zeit der Türkenherrschaft und über den Vater des Paschas, der in Bosnien residiert und Armeen geführt hatte. »Die Welt kennt uns wenig«, sagte er, »aber wir sind ein stilles und frommes Volk. Wir haben Gelehrte, Imame und Moscheen und Menschen, die bis Mekka gepilgert sind. Wollen der Pascha nach Sarajewo reisen?« »Vielleicht.« Achmed-Pascha zupfte am Schnurrbart und blickte etwas geistesverloren in die Ferne. »Kennen Sie in Sarajewo eine Familie Hassanovic?« »Es gibt mehrere, Herr.« »Ich meine die, die in zwei Teile gespalten ist. Der eine wohnte in Wien.« Der Kaufmann nickte erfreut und gleichzeitig verlegen. »Wir können nichts dafür, Exzellenz. Es gibt keine Herde ohne ein schwarzes Schaf. Es gab einen Mann, der hieß Memed-Bei Hassanovic. Er fuhr von Sarajewo nach Mostar. Es war in den Zeiten, als Ihr Vater unsere Lande mit Weisheit beglückte. Ein Mann namens Husseinovic überfiel ihn in den Bergen oder er den Husseinovic – Gott allein weiß die Wahrheit. Aber einer blieb tot liegen, und es war Husseinovic. Wir waren damals ein einfaches Volk, und viel Blut floß in den Bergen. Drei Jahre übten die Hinterbliebenen Blutrache. Dann nahm Hassanovic sein Hab und Gut, sein Weib und seinen Sohn und ergriff den Wanderstab. Er wanderte nach Wien aus und verfiel dort dem Unglauben. Sein Sohn wurde reich, und sein Enkel ist ein Weiser. Aber Gott straft die Abtrünnigen. Sie alle haben böse Frauen, die ihnen Schande machen.«
Der Kaufmann verstummte. Er saß ruhig am Tisch, und sein Schnurrbart bewegte sich drohend und gleichmäßig. Dann ging er, breit und rund, wie ein Klotz Erde. Der Pascha blieb sitzen. Er schwieg und rauchte versonnen. »Das kommt davon«, sagte er plötzlich zum Professor, »das kommt davon, daß der Vater in Bosnien kein ordentliches Polizeiwesen hatte. Gäbe es Ordnung, so hätte der Husseinovic den Hassanovic nicht überfallen können, und alles wäre in Ordnung. So rächen sich die Sünden der Ahnen an den Enkelkindern. Und trotzdem will ich nein sagen.« Der Professor beugte sich vor: »Wenn ich Sie wäre, Exzellenz, hätte ich auch nein sagen wollen, aber ich hätte es nicht über mich gebracht.« »Warum?« »Man sagt nicht nein, wenn man nichts Besseres weiß. Sie wissen nichts Besseres, Pascha.« »Es kann alles anders werden.« »Es ist gut, Pascha, wenn zwei Menschen sich lieb haben.« »Zu unseren Zeiten, Professor, liebte man nicht vor der Ehe.« »Zu unseren Zeiten, Pascha, gingen die Frauen verschleiert.« »Sie haben recht, Professor, ich will sehen, ob er ein guter Mensch ist.« Er erhob sich und verließ das Kaffeehaus. Der indische Professor blickte ihm nach, und Smaragd notierte melancholisch: »Fünf neue Kaffee und achtzehn alte macht fünfundzwanzig.« »Dreiundzwanzig, Smaragd«, sagte der Professor, denn er war ein gelehrter Mann. »Dreiundzwanzig«, schrieb Smaragd und sagte sehnsüchtig: »Eine sehr schöne Hanum. Kann sie glücklich sein mit einem Ungläubigen?«
»Darüber spricht man nicht, Smaragd. Eine Hanum aus Istanbul kann alles, sogar glücklich sein.« Er schwieg und klapperte mit den Kaffeetassen. Er war froh, daß er keine Tochter hatte, die ohne Schleier ging und sich in fremde Männer verliebte…
Empire State Building an der fünften Avenue in New York. Hundertzwei Stockwerke und eine gedeckte Dachterrasse mit kreisendem Parkettboden, einer Jazz-, einer Girltruppe und Glaswänden, hinter denen sich die längliche Manhattan-Insel erstreckt. John Rolland sitzt am Fenstertisch. Der Parkettboden kreist. Die Girls schwingen die Beine im wilden Takt. »Einen Martini«, sagt John Rolland und blickt auf die Girlbeine, »extra dry«, sagt er und trinkt in einem Zug die bittere eisgekühlte Flüssigkeit. Er steht auf und geht über das kreisende Parkett. Unter seinen Füßen leben, lieben, arbeiten und schlafen hundertzwei Stockwerke – eine ganze in die Höhe gezogene Stadt. Er tritt zur Glasveranda. Viereckige Türme ragen aus der Dunkelheit, und unzählige Fensteröffnungen leuchten in die Nacht. Erhellte Stockwerke hängen in der Luft, wie von einer übersinnlichen Kraft getragen. Die Schluchten der Avenuen gleichen ausgetrockneten Flußbetten, und in der Ferne – ein dunkler und duftender Fleck der lichtübergossenen Stadt – der CentralPark. John Rolland beugt sich vor. Vom Riverside Drive, vom breiten und trüben Hudson, kommt schneidender Wind. John Rolland blickt in die Schlucht der Straßen. Einen Augenblick schwindelt es ihn. »Nein«, denkt er. »Nein«, und tritt zurück. »Einen Martini«, sagt er zum Kellner und blickt auf das Handgelenk mit der blauen pulsierenden Ader. »Nein«, denkt er wieder. »Irgendwann, aber noch nicht.« Er rückt die weiße
Frackkrawatte zurecht und blickt in den Spiegel. Der Jazz heult einen wilden sehnsüchtigen Rhythmus. John Rollands Hand gleitet liebevoll über die Brusttasche. Dort, in die weiche Seide des Frackfutters gehüllt, ruht sein Bollwerk vor der Welt. Das Bollwerk besteht aus zwei dünnen Büchern – dem Paß eines Bürgers der Vereinigten Staaten, rechtmäßig ausgestellt und auf den Namen John Rolland lautend, und einem Scheckbuch der Chase National Bank of New York auf den gleichen Namen. John Rolland fühlt sich im Schutze der beiden Hefte sehr geborgen. Er trinkt einen Whisky und denkt, daß er morgen Kopfschmerzen haben werde, wie seit Jahren schon, aber er wird dennoch nicht in die Schlucht der Avenuen springen. Es ist sein Ehrgeiz, anders zu enden als sein Bruder, sein Vater, sein Großvater. »Noch einen Whisky-pure«, ruft er, und seine Gedanken hellen sich auf. Er weiß nunmehr ganz genau, daß es falsch ist, den jungen Gelehrten erst nach tausend Metern auftreten zu lassen. Der junge Mann muß schon in den ersten zweihundert Metern in Erscheinung treten. Und zwar in einer Großaufnahme. Etwa: »Der junge Forscher in seinem Urwaldlaboratorium. Er bekämpft die tropische Malaria.« »Sehr gut«, denkt John Rolland und hofft, daß er es bis morgen nicht vergessen haben wird. Er erhebt sich und wirft auf den Tisch einige Dollarnoten. Er geht zum Fahrstuhl und sieht im Spiegel seine hagere Gestalt im schwarzen Frack. Seine Ohren sausen im rasenden Mahagonikasten des Fahrstuhls. Auf der Straße öffnet er langsam den Schlag seines Wagens. Er drückt auf den Gashebel und fährt über die dunkle menschenleere Fifth zum Central-Park. Vor dem Park biegt er ab und steigt am Barbison-Plaza-Hotel aus. Der Portier reicht ihm die Schlüssel und ein Briefpaket. John Rolland blickt den Portier an und hat plötzlich müde und traurige Augen. In
seinem Zimmer zieht er den Schlafrock an, geht zum Schrank, gießt sich nach einigem Zögern noch einen Whisky ein und setzt sich an den Schreibtisch. Er öffnet den länglichen Briefumschlag und denkt an den Absender, an den Filmagenten Sam Dooth, der eigentlich Perikles Heptomanides heißt, doch ist das letztere schon sehr lange her. »Lieber John«, schreibt der Agent. »Anbei einige Briefe, die für Dich einliefen. Der vom Producer scheint von Wichtigkeit zu sein. Ich glaube, daß er für seine zehntausend Dollar tatsächlich verlangen kann, daß die Entführungsszene auf Hawaii verlegt wird.« John Rolland seufzt und liest den Brief des Producers. Er denkt dabei, daß er eigentlich lyrische Gedichte schreiben sollte, und nicht Drehbücher, in denen die Entführungsszene nach Hawaii verlegt werden muß. Dann denkt er an den Producer, der viele tausend Meter noch unverwendeter Hawaiiaufnahmen hat, und beschließt, das Manuskript umzuarbeiten, denn 10000 Dollar sind viel Geld. Das Päckchen Briefe liegt vor ihm. Es enthält Rechnungen, Angebote und Anfragen. Die Briefe haben alle eine längliche Form und tragen den Firmenaufdruck auf der Vorderseite. Ein Brief ist viereckig und ohne Aufdruck. John Rolland nimmt ihn aus den Päckchen und weiß noch nicht, daß er ein Wunder in der Hand hält. Plötzlich wird er rot, und eine blaue Ader schwillt auf seiner Stirn. Sein Herz schlägt heftig, und er liest: »An Seine Kaiserliche Hoheit, den landesverwiesenen Prinzen Abdul-Kerim. Sehr wichtig! Bitte nachsenden!« Er wirft den Brief in die Ecke und springt auf. »Idiot«, denkt er und meint den Agenten. Er geht zum Telephon, dreht die Scheibe und wartet, bis im Hörer die Stimme des Agenten ertönt. »Perikles Heptomanides«, ruft er erbost. »Wie oft habe ich gesagt – Briefe dieser Art gehören in den Papierkorb.« Der
Agent ist betrunken. Er lispelt in einer landesfremden, aber allzu verständlichen Sprache etwas, das wie »Kaiserliche Hoheit« klingt. »Idiot«, ruft John Rolland und legt auf. Dann geht er im Zimmer auf und ab und schielt auf den Brief. Plötzlich hebt er ihn auf, reißt den Umschlag auf und liest die schön geschwungenen türkischen Zeilen. Dabei schüttelt er verständnislos den Kopf. »Anbari«, sagt er, »das war doch so ein Minister. Eine Tochter hat er. Naja. Ich glaube, es war davon die Rede.« Er schließt die Augen und hat für kurze Augenblicke das Gefühl, in eine andere, unwirkliche Welt versunken zu sein. Dann schüttelt er nochmals den Kopf und geht zum Schreibtisch. Er schreibt türkisch von rechts nach links und gleicht dabei seltsamerweise einem kranken Affen. Sein Gesicht sieht verfallen aus, und die Nase ragt raubvogelartig vor. Er schreibt: »Liebe Asiadeh! Ich bin nicht mehr ich und wünsche Ihnen, daß Sie nicht immer Sie bleiben. Unser Herr und Kaiser hat uns beide geträumt, aber es war in einer anderen Inkarnation. Ihr Gewissen kann rein sein, denn mich gibt es gar nicht. Infolgedessen sind Sie vollkommen frei. Es ist nicht alles Sünde, was als solche bezeichnet wird. Aber vielleicht irre ich mich, weil ich nicht mehr ich bin. Sie studieren das Leben meiner Ahnen und sehnen sich dennoch nach mir. Das wundert mich. Betrachten Sie mich bitte als nicht existierend. Sollte es mich wieder einmal geben, so werde ich Sie rufen, aber es ist besser, wenn Sie nicht darauf warten. Seien Sie glücklich. Ich unterschreibe nicht, denn es gibt mich ja gar nicht.« John Rolland klebt den Brief zu und wirft ihn in die tiefe Schlucht des Etagenbriefkastens. »Sehr bequem«, sagt er dabei und weiß nicht, ob es sich auf den Briefkasten oder auf das fremde Mädchen bezieht, die das Leben seiner Ahnen studiert und Asiadeh heißt.
Er entkleidet sich und legt sich ins Bett. Dabei fühlt er einen schleichenden Schmerz in sich aufsteigen und trinkt rasch noch einen Whisky. »Hawaii«, denkt er dabei, »zweitausend Meter. Ja.«
»Ja«, sagt auch Achmed-Pascha und umarmt Dr. Hassa. »Sie scheinen ein guter Mensch zu sein. Ich gebe Ihnen meine Tochter, obwohl sie für einen anderen bestimmt war. Gott helfe ihr, Ihnen zu dienen. Ich glaube, es ist nicht leicht. Geben Sie ihr viele Kinder, das wird sie freuen. Ich habe sie gut erzogen, und sie weiß, was sich gehört. Verstoßen Sie sie, falls es nicht der Fall ist.« Er umarmt Hassa und schluchzt kurz. Hassa sieht ihn verlegen und beglückt an.
8
Asiadeh liegt auf dem Rücken, und Hassa gleicht einem großen und unbeholfenen Kind. Er beugt sich über sie, und sie spürt den Geruch seiner Haut und den Atem der geöffneten Lippen. Ihre Hände sind in die Kissen vergraben, und in den grauen Augen nistet Sehnsucht und Furcht. Hassas Lippen kommen immer näher. Sie werden größer und größer. Sie umfassen Asiadehs Mund, sie bedecken ihr Gesicht, sie wachsen, und Asiadehs ganzer Körper scheint in dem schmalen Spalt der geöffneten Lippen zu verschwinden. Hassas Hand berührt ihren Hals. Sie fühlt seine Finger über ihre Hand gleiten, und ihr Körper streckt sich dieser harten und fremden Haut entgegen. Sie wendet ihr Gesicht ab, und Hassas Hand preßt sich gegen ihren Busen. »Asiadeh«, sagt Hassa, und sie umklammert seinen Kopf und legt ihre glühende Wange an Hassas Stirn. Hassas Körper ist jetzt ganz nahe. Unter halbgeschlossenen Lidern sieht Asiadeh seinen dunklen Rock und den dreieckigen Ausschnitt des Hemdes. Seine Lippen umfassen ihren Mund, sie hört seinen Atem und glaubt plötzlich in einer anderen, fremden Traumwelt zu sein, in der die Gefühle ausgeprägter, gespannter, schärfer sind als in der Welt des sichtbaren Daseins. Hassa gleicht einem gewaltigen Magier, der eine geheimnisvolle Macht besitzt, der über ihre Sinne herrscht und dem sie nicht entrinnen kann. Sie fühlt seine Hände an ihrer Haut, und ihr ganzer Körper scheint in diesen harten fremden Handflächen eingelullt zu sein. Sie erhebt sich, und ihr Kopf preßt sich gegen seine Brust. »Genug«, sagt sie sehr ernst und seufzt erleichtert und verwirrt.
Hassa erhebt sich. Er blickt verlegen auf Asiadeh, denn er weiß nicht, wieso er plötzlich auf den Diwan kam, so ungebührlich nahe zu den grauen Augen, die ihn lachend und mißbilligend anschauen. Asiadeh scheint es genau zu wissen. Sie legt den Kopf auf ihre Knie und surrt ein fremdes und eintöniges Lied. Sie blickt zu Hassa empor und freut sich, daß sie an den süßen Wassern von Istanbul zur Welt kam, denn sie kennt die Rätsel der Liebe, ihre Formen, ihren Ausdruck und ihre Geheimnisse. In Hassas Zimmer wird es ganz dunkel. Hassa zündet eine kleine Tischlampe an. In ihrem Schein sieht sie sein Gesicht und hört, wie er von der Hochzeitsreise erzählt, die er nach Italien machen will. »Ich fahre gar nicht nach Italien«, sagt sie und hebt den Kopf. »Nach der Hochzeit fahren wir nach Sarajewo.« »Nach Sarajewo? Aber wozu denn?« Hassa ist aufrichtig erstaunt. »So«, sagt Asiadeh, und es bleibt dabei, denn sie hat graue Augen, und Hassa ist nur ein Mann. Dann reibt Asiadeh ihr Kinn an ihrem Knie und blickt sehnsüchtig in die Dunkelheit. »Meine Amme«, sagt sie und hat plötzlich ganz große Pupillen, »meine Amme erzählte mir: Als der lahme Timur Siwas bezwungen hatte, versammelte er die tapfersten Krieger und die kränksten Aussätzigen und verurteilte sie alle zum Tode, damit die einen nicht durch ihre Schwäche, die andern nicht durch ihre Tapferkeit andere anstecken. Er befahl, sie alle lebendig zu begraben. Der Kopf wurde ihnen zwischen die Schenkel gebunden, sie wurden zu zehn zusammengekugelt und in eine Grube geworfen, in der sie erstickten. Die Amme erzählte es mir, damit ich mich hüte, zu tapfer oder zu wehrlos zu sein. Aber ich fürchte, es hat nichts genützt.« »Wirst du mir treu sein?« fragt Hassa, weil er nicht weiß, was er fragen soll, und weil er eine Vergangenheit hat.
Asiadeh hebt den Kopf und ist sehr stolz. »Nimm die hundert schönsten Männer der Welt und setze sie mit mir auf eine einsame Insel. Komm in zehn Jahren. Keiner wird mich besessen haben. Mann und Frau sind wie eine Doppelnuß unter einer Schale, das hat noch der weise Saadi gesagt.« Sie setzt sich mit gekreuzten Beinen auf den Diwan und ist sichtlich empört. »Ehebruch kommt nur in Romanen vor, aber nicht unter Menschen. Ich werde dir bestimmt treu bleiben.« »Liebst du mich so?« Hassa ist ehrlich bestürzt. Asiadeh beugt den Kopf, und ihre Augen lächeln: »Von der Liebe spricht man nicht, von der Liebe sprechen die Hände, die Augen, der Schleier, der in der Hochzeitsnacht herabgleitet. Ein Kuß ist keine Grabinschrift, aber das hat schon der große Hafis gesagt.« Hassa brummt. »Das eine sagte Saadi, das andere Hafis. Was sagt Asiadeh?« Asiadeh steht auf und hopst im Zimmer herum. »Nichts sagt Asiadeh. Asiadeh spricht nicht von der Liebe. Sie zeigt sie.« Sie geht in die Zimmerecke, hebt die Hände und stellt sich auf den Kopf. Ihre Füße stehen kerzengerade in der Luft, und sie wandert auf den Händen durch das ganze Zimmer. Dann stellt sie sich wieder auf die Beine und ist ganz außer Atem. »So lieb ich dich«, sagt sie und ist sehr zufrieden. »Das mußt du in Wien auf dem Ring machen, wenn dich meine Freunde fragen, ob du mich lieb hast.« Asiadehs Augenwimpern zucken. »Meinst du, daß deine Freunde mich fragen werden, ob ich dich liebhabe?« »Sicher.« »Ich werde jedem die Nase abbeißen, der mich danach fragt. Es geht die andern nichts an.«
Sie steht vor Hassa, ihre Hand berührt seinen Arm, und sie spricht halb flehend, halb scherzhaft: »Ach, Hassa, laß mich einen Schleier tragen. Es wird besser sein.« Hassa lacht, und Asiadeh rüttelt ihn an den Schultern. »Lach nicht so einfältig«, ruft sie erbost. »Du bekommst eine sehr gute Frau.« Sie läuft in das Vorzimmer und zieht ihren Mantel an. Hassa begleitet sie zum Kaffeehause, wo Achmed-Pascha auf sie wartet, und sie umklammert fest ihre Handtasche. In der Handtasche liegt der Brief des nicht existierenden und landesverwiesenen Prinzen, der nicht unterschreiben will. Sie betritt das Kaffeehaus und setzt sich an den kleinen Marmortisch. Achmed-Paschas Hände sind über der Marmorplatte gefaltet. Seine kleinen schwarzen Augen blicken zu Asiadeh hinüber. Er spricht, und Asiadeh denkt an den landesverwiesenen Prinzen, an Hassa und an die Kaiserstadt Wien, an deren Toren die Macht der Osmanen brach. »Ja«, sagt sie. »Ich liebe ihn.« Sie blickt gerade vor sich hin und preßt die Lippen zusammen. »Niemand weiß, was im Buche steht«, sagt der Pascha, »wenn er morgen ein Bein verliert oder seinen Verstand oder sein Geld oder seine Liebesglut, was tust du dann?« »Ich werde ihn noch immer lieben und eine gute Frau sein.« »Es kommt vor, daß Männer launisch sind oder vergrämt. Die Frauen haben es nicht leicht, wenn Gott ihre Männer prüft.« Asiadeh überlegt kurz. Dann meint sie entschlossen: »Wenn er widerwärtig wird, so sperre ich ihn für eine Weile ein und spiele mit seinen Kindern. Er wird viele Kinder haben, und es wird nie langweilig sein.« Der Pascha sieht seine Tochter anerkennend an. »Sie ist eine kluge Frau«, denkt er, »sie weiß, worauf es ankommt.« »Männer sind leichtfertig«, sagt er. »Und dem heutigen Menschen fehlt oft der sittliche Halt. Unausdenkbarer Greuel
kommt heute in den Ehen vor. Es gibt Männer, die ihren Samen an andere Frauen vergeuden als an die, die ihnen Gott gegeben hat.« »Ich weiß«, nickt Asiadeh und schiebt die Unterlippe vor, »das nennt man Ehebruch. Aber das kommt doch unter Menschen nicht vor. Das machen Tiere, und Hassa ist doch ein Mann mit Bildung.« Sie zuckt unbeholfen mit den Schultern und blickt fassungslos auf den Marmortisch. Achmed-Pascha räuspert sich. Er hat eine gute Tochter, aber es gibt so viel Tiere unter den Menschen, und eine junge Frau ist wehrlos und unerfahren. Asiadeh scheint seine Gedanken zu erraten. »Ich war fünfzehn Jahre alt, als wir Istanbul verließen«, sagt sie und errötet. »Ich sollte doch einen Prinzen heiraten und wurde darauf vorbereitet. Diener ohne Geschlecht haben mir beigebracht, was ein Geschlecht an das andere bindet. Ich kann mich mit den Frauen der Ungläubigen messen.« Sie blickt stolz vor sich hin, und ihr Gesicht wird blaß. Der Pascha wird verlegen. Bei Gott – er hat seine Tochter unterschätzt. Hassa wird sie nicht betrügen. Dann runzelt er die Stirn, und sein Gesicht bekommt einen autoritären Ausdruck. »Wir sind ein Kriegsvolk«, sagt er, »wir waren vierhundertvierundvierzig Mann, als Ertogrul uns nach Anatolien führte. Aber wir waren tapfer und waghalsig, deshalb gab uns Gott die Herrschaft über die halbe Welt. Unsere Frauen müssen schön, tapfer und klug sein und dürfen nie weinen. Vergiß es nicht. Die Frau hat nur eine Pflicht – dem Mann zu dienen und Kinder zu erziehen. Der Mann aber hat auch andere Pflichten – er muß kämpfen und das Haus verteidigen – heute ebenso wie einst. Deshalb kann er nie ganz der Frau gehören. Es ist wichtig, das zu wissen, um glücklich zu sein. Aber eine kluge Frau dient und wird bedient, und wer
zum Herrschen geboren ist, herrscht auch hinter dem Schleier.« Der Pascha schweigt eine Weile, er scheint in Gedanken und Erinnerungen versunken zu sein. Dann sagt er mit harter Stimme: »Der beste Schatz des Menschen ist eine tugendhafte Frau, das hat noch unser Prophet gesagt. Du wirst mir keine Schande machen. Wenn aber ein Schatten auf dich fällt, so komm zu mir – dann töte ich dich selbst. Ich will nicht, daß das ein Ungläubiger tut. Kannst du dich an deine Mutter erinnern?« »Ja, Vater. Die Mutter stand am Springbrunnen und trug ein weites rotes Gewand, sie hatte eine helle Haut und einen Ring am Zeigefinger. Ich war damals drei Jahre alt. Mehr weiß ich nicht.« Der Pascha nickt. »Deine Mutter war eine gute Frau. Ich habe drei Frauen verstoßen, bis ich sie gefunden habe. Ich gab für sie acht große Diamanten und den Ertrag von vier Dörfern. Denn gute Frauen sind viel seltener als gute Diamanten. Sie starb in Ehren, noch bevor die Sünde ins Land kam. Sei wie sie, sonst wird dich dein Mann verstoßen.« Asiadeh beugt den Kopf. Sie denkt an Hassas schräge Augen und unbeholfene Gestalt im Zwielicht der abendlichen Dämmerung. »Mein Mann wird mich nicht verstoßen«, sagt sie überzeugt, »es sei denn, daß ich es selbst will.« Sie lacht, und der Pascha versteht nicht, was sie meint, denn auch er ist nur ein Mann und hat acht große Diamanten für seine Frau gegeben, die ihm dann Gott genommen hat. Er blickt auf Asiadeh und denkt, daß sie in einer Woche weg sein wird, anders als seine Frau, aber auch weg. Er blinzelt mit seinen kleinen schwarzen Augen und fühlt sich alt und verfallen. Einst gab es ein Haus mit Marmorhof und Fontäne. Einst gab es Regimenter in bunter Tracht und Fahnen mit
großem Halbmond. Es gab stille Frauen, Paläste und würdige Männer, mit denen man zu Rate saß. Es gab die Herrschaft über drei Erdteile und über Millionen Menschen. Alles war weg, und was übrigblieb, verfiel oder ging weg, wie die blonde Asiadeh, die einen Barbaren heiratet, wie seine Söhne, die hinauszogen, um das Haus Osman zu verteidigen und nicht mehr heimkehrten wie er selbst, mit dem Körper, mit gebücktem Gang und der Erinnerung an die strahlende Sonne Istanbuls und die rotbekleideten Negerbataillone am Freitag, am Platze Ak-Maidan, vor den großen Moscheen. »In einer Woche wirst du eine Frau sein«, sagt er leise und erhebt sich. Asiadeh sieht ihn an, sieht sein verstörtes runzliges Gesicht und fühlt sich plötzlich wie eine Fahnenflüchtige vom Felde der Verbannung. »Sei eine gute Frau«, sagt der Pascha müde, und sie nickt und antwortet tapfer: »Zu Befehl, Exzellenz.«
9
Das Hotel hieß Srbski Kralj, das Kaffeehaus hieß Rußki Zar, und die Stadt hieß Belgrad. Hassa schlenderte durch die FürstMichael-Straße, und Asiadeh blieb vor den Geschäften am Terapia-Platz stehen und führte tiefsinnige Gespräche mit den Geschäftsleuten. Abends wanderten sie durch den stillen Park zwischen dem Hotel und dem Save-Fluß oder aßen auf der glasverdeckten Veranda ungeheure serbische Austern, seltsame Gewürze und Speisen, die Asiadeh bestellte und deren Namen Hassa nicht aussprechen konnte. Nach dem Essen versenkte Asiadeh Augen und Nase in die winzigen dampfenden Kaffeetassen, leerte sie in kleinen Zügen und sah Hassa dankbar und hingebungsvoll an. Dann gingen sie durch die große Halle am schmunzelnden Portier vorbei, Hassa schloß die Zimmertür hinter ihnen zu, und Asiadehs Körper wurde klein und gebrechlich. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, und im schwachen Lichte der verhängten Tischlampe sah Hassa ihre hingebungsvollen Augen und kindlich geöffneten Lippen. Er löschte das Licht aus, und sie war schamvoll und still in ihrer schüchternen, tastenden Neugierde. Nachts wachte sie auf und sprach schlaftrunken lange und zwitschernde türkische Sätze, die Hassa nicht verstand und in deren weichem Klang er geheime Zärtlichkeiten vermutete. Frühmorgens sprang sie über Hassas Körper und verschwand im Badezimmer. Hassa folgte ihr, erkämpfte sich den Zugang zum Baderaum und ergriff die Dusche. Asiadehs Gesicht verzog sich schreckerfüllt, und sie stellte sich stockenden Atems unter den kalten Wasserstrahl. Dann rieb sie sich ab und blickte
kopfschüttelnd auf Hassa, der zähnefletschend im Wasser herumplätscherte. »Barbar«, sagte sie hoheitsvoll und beglückt. Sie ging ins Nebenzimmer, zog sich an und glich am Frühstückstisch mit ihren hellen Haaren und langsamen Bewegungen einer vollendeten Prinzessin. »Welcher Gedanke!« sagte Hassa. »Kein Mensch macht eine Hochzeitsreise nach Belgrad oder Sarajewo«, es klang keineswegs unzufrieden, und Asiadeh beachtete seine Worte kaum. Sie blickte in die grünen Alleen des Parks, hinter denen im hellen Morgenlicht die breite Donau glänzte, und dachte an Suleiman-Pascha, der einst mit zweihundert Mann diese Stadt gegen die Scharen des schwarzen Georg verteidigte und bis auf den letzten Mann vor den Mauern der Festung fiel. Doch war das schon sehr lange her, lange bevor Asiadeh zur Welt kam, und Hassa würde das Ganze bestimmt nicht verstehen. »Es ist die Pforte des Orients«, sagte sie und deutete auf einen fesbedeckten Mann mit Brille und Spazierstock, der über die Straße ging. »Ich besuche einfach die Provinzen, die meine Ahnen einst erobert und dann verwirtschaftet haben.« »Der Orient«, sagte Hassa verächtlich, »unhygienische Wohnungen und rückständige Sitten. Er wird immer mehr zurückgedrängt. In hundert Jahren wird der Orient nur noch ein geographischer Begriff sein.« »Uhu«, sagte Asiadeh und spielte mit dem Messer. »Ich liebe ihn aber doch«, fügte sie hinzu, und Hassa dachte, daß es dem Orient galt. Nachher gingen sie durch die Straßen, und Hassa war stolz, wenn sich die Augen seiner Frau mit Freude und Lachen füllten. Sie schleppte ihn in die dunkelsten Nebengassen, betrat die niedrigsten Kellerlokale und sprach überall türkisch in der seltsamen Annahme, daß das Volk die Amtssprache aus den Zeiten Suleiman-Paschas noch nicht vergessen habe. Einmal,
es war in einer breiten Gasse dicht hinter der Nationalbank, blieb sie plötzlich stehen und blickte fassungslos erstaunt auf ein niedriges viereckiges Gebäude mit runder Kuppel und kleinem Turm. »Eine Moschee«, sagte sie entzückt, und ihr Mund blieb offen. Sie betrat den Moscheehof. Ein alter Mann saß an einem kleinen Brunnen und wusch sich nachdenklich die Füße. Asiadeh sprach ihn türkisch an, und der Mann antwortete gebrochen, aber mit Verachtung. Asiadeh verstummte und blickte weg. »Was sagte er?« fragte Hassa. »Er sagt, daß die Türken Gott vergessen haben und die Frauen ohne Schleier herumlaufen. Komm.« Sie wandte sich ab und trabte rasch zum Ausgang. Hassa folgte ihr. Sie gingen zum Café Rußki Zar, und Asiadeh hatte eine gerunzelte Stirn und finster nachdenkliche Augen. Sie trank Kaffee, und Hassa bewunderte ihr weiches mädchenhaftes Profil. »Genug geschaut«, sagte sie streng. »Morgen fahren wir nach Sarajewo.« Hassa nahm ihre Hände und spielte mit den kleinen rosigen Fingern. Er blickte in die lachenden und gleichsam verhängten Augen, sah die etwas kurze, leicht aufgeworfene Oberlippe, und es war ihm gleich, ob er dieses hier oder in Sarajewo tat. Asiadeh war ein Märchen, das nach den Gesetzen der exakten Logik nicht zu erfassen war. Er gab es auf, sich im Labyrinth ihrer Gedankengänge zurechtzufinden und den Ursprung des plötzlichen Lachens oder des plötzlichen Leides zu erforschen. »Gut«, sagte er, »fahren wir nach Sarajewo!« Sie gingen heim, und Asiadeh packte mit der Geschicklichkeit einer Nomadenfrau, die sich zu einer neuen Lagerstätte begibt.
»Paß auf«, sprach sie, »wir fahren jetzt in eine fromme muselmanische Stadt, wo man mich ehren und dich verachten wird, denn ich führe ein gottgefälliges Dasein, du aber bist ein Abtrünniger, der schlimmer ist als ein Ungläubiger. Aber fürchte dich nicht. Ich werde dich schützen, denn du bist mein Mann, und ich bin für dein Wohlergehen verantwortlich.« »Gut«, sagte Hassa und hatte eine leise Furcht vor den robusten Vettern aus Sarajewo, die Hassanovic hießen und ihn sicherlich verachten würden. Im Schlafwagen, in dem kleinen rötlichen Raum, stand er lange am Fenster und blickte auf die serbische Ebene, auf die Felder und die kleinen weißgetünchten Stationsgebäude und die hageren Bauern, die aus dem Zug sprangen und hastig Wasser tranken. Asiadeh berührte seine Schulter. Er wandte sich um, und sie umschlang seinen Hals. Er sah ihren nach rückwärts gebeugten Kopf und die seltsam geschnittenen Augen. Sie zog ihre Füße hoch und blieb an seinem Hals hängen, klein, zierlich und unfaßbar. Behutsam ergriff er sie und trug sie zum Bett. Sie ließ sich willig zudecken und schien sofort einzuschlafen. Hassa kletterte die kleine Stiege hinauf, die zum oberen Schlafwagenplatz führte. Der Wagen zitterte gleichmäßig und elastisch. Hassa blickte zum Fenster. Er sah Bäume, die plötzlich und rätselhaft aus der Finsternis auftauchten und für Augenblicke den schmalen Mond verdeckten. Unten ertönte ein Knabbern. »Hassa«, rief Asiadeh, »soll ich morgen den Schleier anlegen? Wir fahren in eine sehr fromme Stadt.« Hassa kicherte beim Gedanken, mit einer vermummten Frau verheiratet zu sein. »Nicht nötig«, sagte er sanft. »Sarajewo ist eine zivilisierte Stadt.« Asiadeh schwieg. Die kleine blaue Birne an der Tür erhellte kaum das Innere des Schlafwagens. Asiadeh blickte auf die
ledergepolsterte Wand und krabbelte mit dem Nagel am Ledermuster. »Hör zu, Hassa«, rief sie. »Kannst du mir sagen, wie das kommt, daß ich dich so liebhabe?« Hassa war gerührt. »Ich weiß es nicht«, sagte er bescheiden, »es wird mit meinen Eigenschaften zusammenhängen.« Asiadeh erhob sich im Bett. »Ich liebte dich, als ich deine Eigenschaften noch gar nicht kannte«, rief sie verletzt. »Schläfst du, Hassa?« »Nein«, sagte Hassa und streckte die Hand nach unten aus. Asiadeh ergriff seinen Finger und hielt ihn, als wäre er ein Talisman. Sie näherte ihren Mund seiner Handfläche und sprach wie in ein Telephon. Hassa verstand ihre Worte nicht, aber ihre Lippen berührten seine Handfläche und waren weich und warm. »Asiadeh«, rief Hassa. »Es ist schön, verheiratet zu sein!« »Ja«, antwortete Asiadeh nachdenklich, »aber ich bin ja noch eine Anfängerin. Was wird in Wien sein?« »In Wien wird es schön sein. Wir wohnen am Opernring. Ich habe eine herrliche Wohnung, und von der Oper kommen Sänger und Sängerinnen und lassen sich behandeln.« »Sängerinnen?« brummte Asiadeh. »Kann ich dir bei der Ordination behilflich sein?« »Um Gottes willen! Du bist viel zu jung, und das Ganze wird dich anwidern. Nein, du wirst repräsentieren.« »Was ist das?« Hassa wußte es selbst nicht genau. »Naja«, sagte er, »Auto fahren, Gäste empfangen und so… es wird sehr schön sein.« Asiadeh schwieg. Das Fenster war ganz schwarz geworden. Der Wagen schwankte in den Biegungen des Geleises. Sie schloß die Augen und dachte an Wien und an die Kinder, die Hassas Augen haben werden.
»Bei uns«, sagte sie, »wird ein Mensch entweder Offizier oder Beamter. Wie kommt es, daß du einen so ausgefallenen Beruf ergriffen hast?« »Heutzutage ist es viel ausgefallener, Beamter zu sein. Arzt ist ein guter Beruf. Ich helfe den Menschen!« Hassa sagte es sehr pathetisch und dachte wie stets in solchen Fällen daran, daß das durchschnittliche Menschenalter im Laufe der letzten Zeit von 50 auf 55 Jahre gestiegen sei. Hassa fühlte sich an diesem Erfolg mitbeteiligt. Asiadeh wußte nichts von dem durchschnittlichen Lebensalter des Menschen. Hassa war unverständlich und dennoch vertraut wie eine Maschine, die man besitzt, aber von der man nicht weiß, wie sie gebaut ist. Er lag über ihr, und sie hörte sein leises Atmen. »Schlaf nicht«, rief sie. »Deine Frau ist ganz allein. Sind wir schon in Bosnien?« »Sicherlich«, antwortete Hassa schlaftrunken. Asiadeh sprang auf und war plötzlich sehr aufgeregt. Sie ergriff die Leiter, und Hassa sah ihre Finger, die angestrengt den Rand seines Bettgestells umklammerten. Dann zeigte sich ihr Kopf mit zerzausten Haaren und zuletzt den blauen Pyjama, der in der Dunkelheit schwarz aussah. Hassa stützte sie, zog sie zu sich herauf, und ihre nackten Füße verkrochen sich unter seiner Decke. Sie preßte sich an ihn und sagte begeistert und feierlich: »Hier hat Großvater regiert.« Dann legte sie den Kopf auf sein Kissen und erklärte gebieterisch: »Ich bleibe bei dir. Unten ist es finster.« Sie schlief sofort ein, und Hassa umklammerte ihren Körper, damit sie bei der Biegung des Geleises nicht herabstürze. So lag er eine Stunde oder zwei, er wußte es nicht mehr genau. Plötzlich wachte Asiadeh auf und sagte verschlafen und vorwurfsvoll: »Geh hinunter, Hassa. Welche Art, nachts in fremde Betten zu steigen!«
Beschämt stieg Hassa hinab, legte sich in das leere untere Bett, das noch Asiadehs Körperduft in seinen Falten barg, und schlief ein. Als er morgens aufwachte, stand Asiadeh am offenen Fenster, weit in die kühle morgendliche Luft hinausgelehnt. »Komm her«, rief sie. »Komm her!« Er trat ans Fenster. Die Sonne ging auf. Zackige Felsen waren von rötlichem Schein übergossen. Der Zug fuhr über einen Bergrücken. Die Felsen fielen steil in die Tiefe hinab. Unten im Tal glichen weiße viereckige Häuser den zerstreuten Würfeln eines Spielkastens. Auf kleinen Anhöhen erhoben sich die gewölbten Kuppeln der Moscheen. Gebetstürme ragten zum Himmel empor und schienen in den Strahlen der Morgensonne aus rötlichem Alabaster gebaut. Bunte Gestalten standen auf den kleinen Balkons der Gebettürme und führten die Hände trichterartig zum Mund. Asiadeh glaubte die Stimme des Gebetsausrufers zu vernehmen, die das Getöse der Bahn zu übertönen schien. »Steh auf zum Gebet«, erklang es vom Turm. »Das Gebet ist besser als der Schlaf.« Vermummte Frauen mit herabfallenden Pantoffeln blieben am Wegrande stehen und sahen dem Zuge nach. Barfüßige Kinder legten sich in das Gras und beteten ernst und gleichsam verspielt. Asiadehs Hand legte sich um Hassas Schulter. »Schau!« rief sie. »Schau!« Sie zeigte auf die Moscheen, auf die wallenden Gewänder der Priester, auf die rötlich aufgehende Sonne, und ihre Stimme war wie von einem Siegestaumel ergriffen. »Verstehst du nun?« fragte sie und winkte dem Tale zu. »Was?« sagte Hassa, denn er sah zerlumpte Kinder, kleine ärmliche Häuser und magere Ziegen am Berghang. »Wie schön das ist«, sagte Asiadeh. »Es gibt nichts Schöneres auf der Welt. Das alles hat das Volk des Propheten erbaut.«
Sie wandte sich ab und biß sich in die Lippen. Aber Hassa hatte nichts von den Tränen gemerkt. Er knipste mit seinem Photoapparat das märchenhafte Tal und wußte nicht, ob die Belichtung richtig war. »Hassa.« Asiadehs Stimme war ganz tief. Ihre Wangen berührten sein Gesicht und rieben sich an der unrasierten Oberlippe. »Hassa«, wiederholte sie. »Fünf Jahre habe ich mich nach einer Landschaft gesehnt, die der Heimat ähnlich ist.« Hassa steckte den Photoapparat ein. »Ja«, sagte er. »Es ist schön, die Welt aus den Fenstern des Schlafwagens zu betrachten. Sie ist dann so anders als in Wirklichkeit. Aber du bist eine Romantikerin, und es ist gut so. Denn du bist herausgesprungen aus Tausendundeiner Nacht.« Asiadeh packte den Handkoffer. Der Zug verlangsamte die Fahrt. »Ich bin nur ein Mädchen aus Istanbul. Nichts mehr«, sagte sie sanft und warf einen leichten Schleier über ihr Gesicht. Der Zug hielt am Bahnhof von Sarajewo.
10
Während der Zug asthmatisch röchelnd im Sarajewoer Bahnhof hielt, bremste die Straßenbahn mit dem großen Bären im Wappenschild in der Kantstraße vor dem Teppichgeschäft Bagdadian & Cie. Achmed-Pascha stieg aus und ging etwas gebückt in den Laden. Der Geruch der alten Teppiche umgab ihn und wirkte beruhigend. Es war entschieden richtig, daß er eine bezahlte und keineswegs standesgemäße Stellung angenommen hatte. Die sanften Farben der Teppiche wirkten wie die Erinnerung an eine alte entschwundene Welt. In den weichen Linien der uralten Muster offenbarten sich Gärten, Jagdszenen, Kämpfe uralter Recken und sehnsüchtige Gesten schlanker Jungfrauen mit länglichen Augen und schmalen Gesichtern. Achmed-Pascha setzte sich im hinteren Zimmer des Geschäftes vor einen Stoß alter Teppiche. Seine Hände streichelten den bunten Stoff mit uralten Linien. »Ein Kerman«, flüsterte er und notierte den Preis. Tekiner, Smyrnaer, Kaschmirer, Koschaner Teppiche, bunte Fetzen, die die Farbenpracht des Orients widerspiegelten, glitten durch seine Finger. Mit ernst gerunzeltem Gesicht notierte er die Preise und schrieb kurze Erklärungen, die den barbarischen, aber reichen Käufern hinter der verwirrenden Pracht der Farben eine klassische Kriegsszene aus dem Epos von Firdusi offenbaren sollten. Um zwölf Uhr zog er seine Schuhe aus, nahm einen länglichen Tekiner Gebetteppich und betete lange und inbrünstig in der Richtung der Prophetenstadt Mekka. Dann saß er hinter einem kleinen Regal, mit einer Lupe
bewaffnet, vor einem Stoß persischer Miniaturen und belehrte den hageren Händler: »Diese Zeichnung, mein Herr, gleicht der Schule AchmedFabrisis aus dem sechzehnten Jahrhundert. Sie dürfen aber den Käufer nicht irreführen. Es ist nicht der große Bahsade. Bahsade liebte die Architektur, die in die Tiefe des Bildes geht, er zeichnete Gärten und dahinter Seen und noch weiter nach hinten ein Reh. Das hier ist von einem minderen Zeichner der gleichen Schule.« »Aha«, sagte Bagdadian und schrieb in den Katalog: »Zeichnung von Bahsade. Sehr selten.« Achmed-Pascha sah es und preßte die Lippen besorgt zusammen. Das war offensichtlich der Weg, auf dem so viele Völker reich und mächtig wurden, während das Reich Osmans zerfiel. Bis zur Dämmerung arbeitete er in dem teppichbelegten Zimmer. Dann fuhr er nach Hause, und auf dem Tisch lag ein Brief mit dem Poststempel Sarajewo. Achmed-Pascha öffnete ihn. Er las, und seine Hände zitterten leicht. Er erfuhr aus dem Brief, daß Sarajewo eine Stadt mit Gottesfurcht sei und die Zarska-Dschamij der blauen Moschee Istanbuls gleiche. Er erfuhr, daß Hassa der beste Ehemann der Welt sei und seine Verwandten gute Menschen, die genau wissen, was eine Istanbuler Prinzessin ist. Ferner erfuhr er, daß es keinen besseren Menschenzustand gibt, als den der Ehe und keine bessere Hochzeitsreise als nach Sarajewo. Der Brief war kurz, und die Zeilen liefen in schräger Linie nach oben. »Sehr gut«, sagte der Pascha und faltete den Brief.
»Sehr gut«, sagte auch John Rolland, als er um Mitternacht in der engen Gasse von Greenwich Village am Rinnstein saß und die Frackkrawatte seines Agenten Sam Dooth um seinen
schwarzen Spazierstock band. »Sehr gut«, sagte er und versuchte den Stock auf den Bürgersteig hinzustellen. Der Stock zitterte leicht und fiel um. Sam Dooth lachte schallend und schlug John Rolland auf die Schulter. Dann blickten die beiden betrübt auf den Stock und schwiegen. Hinter den Türen der kleinen Lokale des New Yorker Künstlerviertels ertönte grelles Geschrei. Trübe Laternen hingen über den Eingängen der Lokale, und ein Polizist ging über die Straße und blickte nachsichtig auf die beiden Herren, die im Rinnstein saßen und mit dem Stock spielten. Die Herren schoben die Zylinder in die Nacken, und der eine führte die linke Handfläche ans Ohr. Er öffnete den Mund, und ein wildes Geheul durchschnitt die nächtliche Stille von Greenwich Village. »Amanamana-a-a-ah«, sang der Herr voll Inbrunst und Hingabe. Der andere blinzelte vergnügt und fing die Melodie auf. »Gjaschiskjamana-a-a-ah«, sang er und hob das Gesicht zum Mond empor. Daraufhin umarmten sich die beiden und brüllten gedehnt den Sternen entgegen: »Ai-diribe-e-ee-h, Wai-diribe-e-e-eh.« Die Tür zu einem Nachtlokal öffnete sich, und ein golduniformierter Portier blickte erschrocken heraus. Der Polizist näherte sich den beiden und berührte ihre Schulter mit dem Gummiknüppel. »Warum schreit ihr?« »Herr, wir singen, wir sind musikalisch.« Der Polizist blickte in den trüben Schein der Straßenlaterne. Er hatte rote und wässerige helle Augen, die an die Farbe des Ozeans an der Küste der grünen irischen Insel erinnerten. »Das ist Geschrei«, entschied er gebieterisch. »Geht lieber nach Hause.«
»Mein Freund«, sagte der eine Herr. »Das ist die indochinesische Tonleiter. Sie ist, wie Sie richtig bemerkt haben, wesentlich anders als in Irland. Immerhin kommen Sie nicht darüber hinweg, daß Millionen von Menschen beim Klange dieser Tonleiter die ganze Skala der menschlichen Emotionen empfinden: vom Erotischen bis zum Göttlichen.« »So«, sagte der Polizist drohend und zog seinen Notizblock. »Zehn Dollar«, fügte er sachlich hinzu und reichte die Quittung. Die Herren zahlten. Der eine erhob sich und zog den andern hoch. Rhythmisch taumelnd verschwanden sie in der Richtung des Washington Square. Unterwegs umarmten sie sich, und der eine flüsterte dem andern ins Ohr. »Dieses hier ist ein wildes Land. Die Menschen sind roh und unmusikalisch.« Am Washington Square blieben sie stehen. Der Platz war menschenleer. Der schäbige Triumphbogen in der Mitte glich dem toten Auge eines Zyklopen. Hinter ihnen lag Greenwich Village. Von dort kamen die Töne des billigen Jazz. Jünglinge mit künstlerischen Locken tauchten im flatternden Lichte der Nachtlaternen auf. Sie hatten schwärmerische Augen und hastige torkelnde Schritte. Manchmal fuhr über die engen holprigen Straßen eine dunkle Limousine. Aus den Fenstern der Limousine blickten Augen voll Verachtung und Neugierde. Von weit her erklang das Geklirr eines zerbrechenden Glases, und eine hohe weibliche Stimme rief: »Joe, einen Drink.« »Galata«, sagte John Rolland. »Einfach Galata. Oder Tatawla. Ich durfte ja nie hin, aber es kann kaum anders gewesen sein. Du mußt es wissen, Perikles.« Sam Dooth kniff die Mundwinkel verächtlich zusammen. »Habe nie die Kloaken eurer Haupt- und Residenzstadt besucht.« Seine Stimme klang ungemein würdevoll. »Ich bin
nämlich am Phanar geboren, am Sitze des Patriarchen. Noch unter Michael Porfirogenetos war ein Heptomanides Patrizier.« »Du lügst«, sagte John Rolland vorwurfsvoll. »Du stammst aus dem Verbrecherviertel Tatawla. Sonst wärest du unfähig, mir zehn Prozent meiner Einkünfte wegzunehmen.« »Was ist Geld«, hüstelte Dooth und spreizte die Finger. »Wichtig ist nur der seelische Friede. Übrigens nehme ich von andern fünfzehn Prozent.« Er zog aus der rückwärtigen Hosentasche eine flache Metallflasche und reichte sie versöhnend dem Nachbarn. John trank, und sein nach rückwärts gebeugter Kopf verfolgte erstaunt die endlosen Reihen der Stockwerke der Wolkenkratzer. Stumme gigantische Steinmassen umringten den Platz. Der schäbige Triumphbogen in ihrer Mitte sah armselig und verloren aus. Er stammte aus den Zeiten, als fromme Puritaner an der Wall Street einen Friedhof besaßen und die Straßen der Stadt Namen statt Nummern trugen. »Die Holländer sind ein leichtfertiges und verschwenderisches Volk«, sagte John Rolland und reichte dem Freund die Flasche zurück. »Sie haben den Indianern fünfundzwanzig Dollar für Manhattan bezahlt. Das war viel zuviel.« Sam Dooth blickte in die majestätische Schlucht der Häuserreihen. »Man sollte das Geld zurückverlangen«, meinte er. »Oder die Indianer wegen Verführung zu einem wissentlich ungünstigen Geschäft gerichtlich verfolgen.« Er verstummte und legte den Kopf auf die Schulter des Freundes. »Es ist ja alles verjährt«, seufzte er und wußte selbst nicht mehr, ob er in dem Verbrecherviertel Tatawla oder am Aristokratenhügel Phanar zur Welt gekommen war. Es graute. Die dunklen Giganten am Platz schimmerten in rosigem Silber.
»Hiun-Hu«, sagte plötzlich Rolland und hatte verglaste Augen. »Hiun-Hu«, wiederholte er. »In Europa nannte man sie Hunnen. Sie waren ein Volk und eine ihrer Sippen nannten die Chinesen Tü-Ke – Türken.« Er schwieg, und über den Platz fuhr der erste grüne und unförmige Autobus. »Tü-Ke«, sprach er weiter, »sie waren eine robuste Sippe und kämpften gegen China. Dort herrschte damals Schi-Huan-Di. Das war ein weiser Kaiser. Um sein Volk gegen die äußeren Barbaren zu schützen, erbaute er die große Chinesische Mauer. Aber es half nicht viel. Die Barbaren stellten eine Leiter an die Mauer, kletterten nach China hinein und erlernten dort die indochinesische Tonleiter.« John Rolland rückte die Krawatte zurecht und fühlte sich von neuem für das Leben gewappnet. Über den Washington Square fielen die ersten Strahlen der fahlen Sonne. »Diese wilden Töne«, sprach er weiter, »brachte das wilde Volk an die Ufer des Mittelmeeres. Erst viel später entstand das heilige Haus Osman und das Gestirn-Palais am Bosporus.« Sam Dooth blickte seinen Freund mit dem Stolze des Besitzers und Erfinders an. »Du bist ein Lyriker, John«, sagte er bewundernd. »Man sollte einmal die indochinesische Leiter im Film verwenden. Ein fernöstliches Sujet. Vielleicht unter dem Titel: ›Beim Bau der Großen Mauer‹. Großartiger Kostümfilm. Überdenk es.« »Ich werde es überdenken«, sagte Rolland folgsam, »die Sonne wird über den sandigen Hügeln aufgehen, und das Volk wird die Große Mauer bauen. Ich aber werde Kopfschmerzen haben. Ich werde Pillen schlucken und in Unterhosen an der Schreibmaschine sitzen. Abends werde ich dann Whisky trinken, damit das Leben wieder schön ist.«
Er erhob sich. Sam Dooth stützte ihn. Er blickte auf das schmale und blasse Gesicht Rollands. So waren sie alle – die letzten Osmanen. Menschenscheu und gebieterisch. Einsam, sanft und brutal zugleich, mit zarten Gliedern und seltsamen Phantasien, die man mit Hilfe eines tüchtigen Agenten in Dollars umwandeln konnte. Sam Dooth verstand plötzlich sehr gut, warum das Reich zerfiel und die Filme Rollands so leicht verkäuflich waren. Phantasten und Schwärmer saßen auf dem Throne Osmans und herrschten über drei Kontinente. »Gehen wir«, sagte Rolland und stützte sich auf den Freund. »Weißt du – ich war ein Gefangener im Palais am Bosporus und jetzt bin ich eingesperrt in die Steingrüfte dieser Stadt.« »Was willst du«, seufzte Sam. »Du hast doch Geld. Du solltest vielleicht eine Reise machen. Dir die Welt anschauen. Du kennst doch nur den Bosporus und das Barbison-PlazaHotel. Ich fahre mit. Ich werde mit den Portiers sprechen und telephonieren. Du kannst es ja doch nicht.« Sie gingen über den Platz. Auf der Terrasse des Cafés der Fifth Avenue standen die morgendlich verschlafenen Kellner. Die Terrasse war menschenleer, und die grünen Tische glichen einem taubedeckten Rasen. Sie betraten die Terrasse und setzten sich schwer und müde an den Tisch. »Zwei Kaffee. Sehr stark«, sagte Rolland und war plötzlich ganz nüchtern. Dann beugte er sich zu seinem Freund hinüber und begann: »Der Film spielt in China. Die Gegenwart wird visuell durch die Vergangenheit eingefangen. Die Mauer ist das Symbol des selbstgefälligen, beschränkten und überheblichen Friedens…« Der Agent sah in dankbar an.
11
»Hosrew-Pascha war ein mächtiger und reicher Mann.« Asiadeh stand im Hofe der großen Moschee. Ein leichter Schleier verdeckte ihr Gesicht. Sie hatte ihren Kopf zurückgeworfen und verfolgte entzückt die schlanke Linie des Minaretts. »Sogar ein sehr mächtiger Mann«, wiederholte sie, »als er hierher kam, fand er drei Dörfer, die er schleifen ließ. An ihrer Stelle erbaute er einen Saraj – einen Palast –, seitdem heißt diese Stadt Sarajewo.« Sie setzte sich auf die Marmorstufe des Moschee-Einganges und starrte auf die Fontäne mit der arabischen Aufschrift. Kinder spielten an der Fontäne, und ein Geistlicher mit weißem Turban ging über den Hof. Hassa stand im Schatten des Säulenganges. Er blickte auf Asiadehs Beine und auf die Tauben, die über die Marmorfliesen trippelten und an Venedig erinnerten. Es war alles ganz anders als damals, als er mit Marion über den Markusplatz ging und Marion die Tauben fütterte und ewige Treue schwor. Asiadeh futterte keine Tauben. Sie saß still und versonnen da, und die Sonnenstrahlen fielen auf ihr Kinn. »Schön ist es hier«, sagte sie, und Hassa schwieg und blickte immer noch auf Asiadehs Beine. Der seidene Strumpf war von blassem Rosa, und das Leben war in der Tat sehr schön. Hassa lehnte sich an die Säule und dachte, daß es richtig war, verheiratet zu sein, und daß sein ganzes Leben bis jetzt nur ein Zwischenspiel war zwischen Schule und Ordination. Er war dreißig Jahre alt und kannte die Wiener Universität, die Spitäler Europas und Marion. Jetzt kannte er Asiadeh. Er wollte sich zu ihr beugen und ihr sagen, daß es Phlegmone
gibt, die durch eine Erkrankung der hinteren Nebenhöhlen bedingt sind und daß er darüber in der Medizinischen Gesellschaft berichten möchte. Er schwieg aber, denn Asiadeh würde ihn nicht verstehen und nach der Etymologie des Wortes Phlegmone fragen. Ein alter Mann, gebückt und verwittert, betrat die Moschee. Er legte die Schuhe ab, und Hassa sah, wie er mit ernstem und nachdenklichem Gesicht sein Gebet verrichtete. Es war eine fremde Welt, zu der Hassa keinen Zugang hatte. Er dachte an die wilden Vettern, die in sein Hotel kamen, Tee mit ihm tranken und ihn wie ein exotisches Tier anglotzten. Vor Asiadeh vergingen die Vettern in Respekt. Man bedenke nur – die Tochter eines echten Paschas! Die Vettern schnalzten mit den Zungen, und Asiadeh genoß die Ehrung mit ruhiger Würde. Sie besuchte die Weiber der wilden Vettern und sprach mit ihnen lange und tiefsinnig über die Seele des Orients. Die wilden Weiber gossen ihr Kaffee ein und sahen sie starr an. Denn sie war die Tochter eines Paschas und sprach weise und unverständlich. »Alle Muslime sind Brüder«, sagte sie überheblich. »Unsere Heimat beginnt auf dem Balkan und endet in Indien. Wir alle haben gleiche Sitten und gleichen Geschmack, deswegen fühle ich mich wohl bei euch.« Die Weiber schwiegen dankbar und verängstigt und gossen der Paschatochter Kaffee ein. »Komm«, sagte Asiadeh zu Hassa und erhob sich. Sie gingen durch die engen Gassen Sarajewos und sahen die blauen Türen der Basarläden und kleine Esel, die versonnen über die Plätze torkelten und mit den Ohren wackelten. »Es gefällt mir hier«, sagte Asiadeh und blickte auf die Esel. »Die Menschen hier scheinen glücklich zu sein.« Sie betraten ein kleines Kaffeehaus. Auf der Theke standen Teller mit Oliven und winzigen Käsescheiben, in denen Zahnstocher steckten. Hassa erfuhr mit Bewunderung, daß die Zahnstocher als Gabel benutzt werden, was ihm vernünftig und
hygienisch vorkam. Dann bestellte er auf Asiadehs Rat einen Raki, der in kleinen Karaffen serviert wurde und den man aus der Karaffe trinken mußte. Er trank, und es schmeckte wie Zahnwasser mit Absinth gemischt. Asiadeh spießte die Oliven auf die Zahnstocher und kaute glückselig. Es war sehr schön, sorgenlos mit Hassa durch die Welt zu reisen, Moscheen zu besichtigen und Oliven zu essen. Die Stadt war ihr plötzlich vertraut und lieb, und Hassa war ohne Zweifel, wenn auch kein Offizier und kein Beamter, so doch der beste Ehemann der Welt. »Du hast so nette Verwandte«, sagte sie und spuckte einen Olivenkern aus. Hassa sah sie verwundert an. Die wilde Sippe der Hassanovic erschien ihm sehr fremd. »Es sind beinahe Türken«, antwortete er. »Die Türken haben ja das Land unterjocht und ihm einen asiatischen Stempel aufgeprägt.« Asiadehs Augen rundeten sich vor Staunen. Sie lachte vergnügt, und ihre weißen Zähne blitzten. »Armer Hassa«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Die Türken sind besser als ihr Ruf. Wir haben dieses Land nie unterjocht. Das Land hat uns gerufen. Sogar dreimal. Unter Mohammed dem Ersten, Murad dem Zweiten und Mohammed dem Zweiten. Das Land wurde von Bürgerkriegen zerrissen, und König Twrtko flehte den Sultan an, hier Ordnung zu schaffen. Später wurde es die frömmste und treueste Provinz des Reiches. Wir taten übrigens alles, um das Land zu zivilisieren, aber das Land wollte sich nicht zivilisieren lassen.« Jetzt lachte Hassa. »Jedermann weiß«, sagte er, »daß die Türken gegen jeglichen Fortschritt waren. Das habe ich noch in der Schule gelernt.« Asiadeh biß sich in die Lippen.
»Paß auf«, sagte sie. »Am elften Silkadeh zwölfhunderteinundvierzig – du würdest sagen am sechzehnten Juni achtzehnhundertsechsundzwanzig – beschloß der Sultan Murad der Zweite, sein Land zu reformieren. Zu diesem Zwecke erließ er eine freiheitliche und liberale Verfassung, den Tansimati Hairieh. Die Verfassung war freiheitlicher und liberaler als alle Verfassungen der damaligen Zeit. Das Volk von Bosnien wollte aber weder freiheitlich noch liberal sein. Hussein-Aga Berberli entfesselte einen Aufstand gegen den ungläubigen Padischah. Er eroberte Trawnik, wo der Gouverneur von Bosnien saß, der Marschall Ali-Pascha. Der Marschall wurde gefangengenommen. Er trug bei der Gefangennahme eine Marschallsuniform nach modernstem europäischem Schnitt. Die frommen Aufständischen rissen ihm die sündhafte Uniform vom Leibe und badeten den Pascha drei Tage und drei Nächte, damit er nicht mehr nach Europa rieche. Dann gab man ihm alttürkische Gewänder, und er mußte Tag und Nacht Psalmen singen und seine Sünden bereuen. Sag selbst, Hassa, wer war dabei rückständig?« Hassa leerte seine Karaffe. Er hatte eine gelehrte Frau, und es war nicht gut, sich mit ihr zu streiten. »Gehen wir heim«, sagte er bescheiden. »Wir sind halt Barbaren und kennen uns nur in der Medizin aus.« Asiadeh erhob sich langsam. Sie gingen ins Hotel, und Hassa hoffte im stillen, daß sie ihn wenigstens einmal fragen würde, wie man die Mandeln entfernt. Asiadeh fragte aber nicht nach den Mandeln, und Hassa wurde betrübt. Offenbar war ihr alles Medizinische eben so fremd wie ihm die barbarischen Endungen der exotischen Worte. Asiadeh ging neben ihm wie eine ernste und folgsame Schülerin. Ihr Gesicht war grüblerisch, und die kurze Oberlippe stand ab. Im Hotel, in der grell beleuchteten Halle, saßen bärtige Menschen mit gebogenen Nasen und glühenden schwarzen
Augen. Die Familie Hassanovic begrüßte den exotischen Vetter. Hassa bestellte den Kaffee, und Asiadeh übersetzte die simplen Fragen der Verwandten. »Ja«, sagte Hassa, »es gefällt mir sehr gut hier« – und »nein, in Wien gibt es keine Moschee«. Die Vettern zwitscherten Unverständliches, und Asiadeh übersetzte lächelnd, daß die Vettern fragen, ob Hassa ein guter Arzt sei. »Ich hoffe«, sagte Hassa verlegen und war darauf gefaßt, einem Vetter ein Abführmittel verschreiben zu müssen. Die Vettern schwiegen aber, schlürften den Kaffee und blickten gedankenverloren auf die Straße. Dann schluchzte der Älteste auf, und zwei Tränen flossen über seine behaarten Wangen. Er wischte sie ab und sprach sehr lange und traurig. Asiadeh hörte ihm angestrengt zu. »Es lebt in dieser Stadt«, übersetzte sie dann, »ein weiser und heiliger Mann, und sein Name ist Ali-Kuli. Er ist sehr alt. Er ist ein berühmter Derwisch aus der Bruderschaft der Bektaschi. Das Volk verehrt ihn, denn er ist ein Heiliger und führt ein gottgefälliges Leben.« Asiadeh verstummte, und der Gast sprach weiter, traurig und weitschweifig. »Jetzt traf Gottes Zorn den heiligen Mann«, übersetzte sie weiter. »Er ist krank, und die Kunst der Derwische ist machtlos. Auch Ärzte waren bei ihm, aber es waren ungläubige Ärzte, und sie halfen ihm nicht.« »Was fehlt denn dem heiligen Mann?« fragte Hassa mit plötzlichem Interesse. Der Gast sprach, und Asiadeh sah ihn entsetzt an. »Er wird blind«, sagte sie leise und hoffnungslos. »Er hat keine Kraft mehr. Er verbringt seine Tage in trübem Halbschlaf. Sein Gesicht hat die Farbe eines Toten. Hassa, ich
glaube, du wirst dem Armen nicht helfen können. Gott ruft ihn zu sich.« Hassa blickte zu Asiadeh, sah ihre traurigen Augen und die kurze rosige Oberlippe. »Ich will mir den heiligen Mann anschauen«, sagte er entschlossen. Sie fuhren im Auto durch die holprigen Straßen zum Rande der Stadt. Asiadeh hielt Hassas Hand. »Ich fürchte mich«, sagte sie. »Wie kann man einem Gottgezeichneten helfen.« Hassa zuckte mit den Achseln. Seine Frau hielt ihn für einen Barbaren. »Ich kann etwas, was kein Philologe kann«, sagte er kurz. Asiadeh sah ihn zweifelnd an. Sie war vom tiefen Mißtrauen des Orients gegen die Welt des technischen Wissens erfüllt. Der Beruf ihres Mannes erschien ihr als eine ebensolche Spielerei wie ihr eigener. Im Ernstfall gab es ja doch nur drei Berufe: Krieger, Priester, Staatsmann. Sie hielten vor einem niedrigen weißgetünchten Hause. Im Hof unter einem breiten Baum saß ein alter Mann und spielte mit einem Rosenkranz. Sein fahles Gesicht mit spärlichen Haaren und alabasterweißer Haut war dem Himmel zugewandt. Auf dem Kopf trug er einen kesselartigen Hut mit einer arabischen Aufschrift. Asiadeh las ergriffen den uralten Spruch der Bektaschi: »Alles, was besteht, wird zugrunde gehen, außer seinem Sein. Ihm gehört die Allmacht, und von ihm hängt alles ab.« Die Männer küßten die Hand des Greises. Er blickte sie mit leeren und erstaunten Augen an. Asiadeh beugte sich zum Derwisch. Sie sagte leise: »Vater! Vertraue dich der Welt des westlichen Wissens an. Gottes Allmacht kann auch durch die Hand eines Arztes sprechen.«
Hassa stand abseits. Er blickte auf das alabasterweiße Gesicht des Derwischs und hörte die fremden zwitschernden Laute. Er dachte an Asiadeh, die ihn liebte und deren Achtung er erringen wollte. Endlich nickte der Derwisch und hob die Hand. »Komm, untersuche ihn«, sagte Asiadeh zögernd. Hassa näherte sich dem Greis. Er stellte Fragen, die Asiadeh verwirrten, und erfuhr, daß der Alte vergeblich und langwierig wegen Nieren, Zucker und Augen behandelt wurde. Er runzelte die Stirn und erfuhr, daß der heilige Mann achtzehn Stunden am Tage schlafe. Der Derwisch zog sich aus. Hassa kniff die Augen zusammen und blickte auf den hageren Körper. »Er soll die Arme heben«, sagte er und sah, daß die Haare in den Achselhöhlen fast bis auf die Wurzeln herausgefallen waren. »Ich sehe fast gar nichts«, sagte der Derwisch. Hassa untersuchte die Augen. »Bitemporale Hemianopsie«, sagte er, und der Derwisch sah ihn an, als spreche er eine Zauberformel. Dann schwieg Hassa und blickte auf die grüne Rasenfläche des Hofes. Die Menschen standen um ihn und sahen ihn erwartungsvoll an. Der Derwisch zog sich an und saß auf dem Teppich, gleichgültig und verschlafen. »Ich werde morgen sagen können, ob ich ihm helfen kann«, sagte Hassa. »Ich muß es überschlafen.« Asiadeh richtete sich auf. Es war klar, daß das westliche Wissen dort ohnmächtig war, wo Gott gesprochen hatte. Der Heilige würde sterben, trotz aller Überlegungen Hassas, denn Gott hatte so beschlossen. »Gehen wir«, sagte Hassa und nahm Asiadeh am Arm. Unterwegs schwieg er, verbissen und gedankenvoll. Zu Hause angelangt, seufzte Asiadeh. »Traurig«, sagte sie, »sehr traurig. Aber die Hand Gottes ist über allen Händen.« »Ja«, antwortete Hassa. »Natürlich. Telephoniere mit der hiesigen Klinik. Ich muß einiges fragen.«
Asiadeh ging zum Telephon und übersetzte mechanisch: »Hier bei Dr. Hassa. Kann ich den Direktor sprechen? Hallo, Herr Direktor! Mein Mann läßt fragen, ob sich hier jemand traut… Einen Moment, Herr Direktor… Einen Moment! Wie war es, Hassa?… Ja, also einen… Verzeihung, es ist so schwer auszusprechen… einen Hypophysentumor zu operieren? Kaum, Herr Direktor? Ja, hier bei Dr. Hassa. Er wird Sie besuchen.« Hassa stürzte zum Ausgang. Asiadeh folgte ihm ganz außer Atem. Der Direktor des Spitals trug einen weißen Kittel, und Asiadeh übersetzte, ohne zu verstehen, was sich hinter den langen lateinischen Namen verbarg. Endlich nickte der Direktor, und Hassa drückte ihm dankbar die Hand. Etwas später saßen sie wieder zu Hause. Hassa und Asiadeh. Hassa trank Kaffee und war aufgeregt und wortreich. »Verstehst du«, sagte er. »Es ist der Türkensattel, die Sella turcica. Dort sitzt die Drüse. Sie heißt die Hypophyse. Es muß ein Tumor sein. Wir werden es noch röntgen. Aber der Befund scheint einwandfrei zu sein. Ich werde es endonasal operieren. Nach der Methode von Hirsch. Nach bisherigen Erfahrungen nur zwölf Komma vier von Hundert letal. Aber dennoch eine der schwierigsten Operationen, die es überhaupt gibt. Verstehst du mich?« Er nahm ein Blatt Papier und zeichnete einen vertikalen Schädelschnitt. »Hier«, sagte er. »Das ist die Sattelgrube und hier sitzt die Hypophyse.« Asiadeh blickte angestrengt drein und verstand nichts. »Türkensattel«, meinte sie verängstigt und hob die Augenbrauen. Daraufhin ergriff Hassa ihren Körper und hob sie in die Luft. Er hielt sie ausgebreitet auf den Händen und drehte sich wirbelartig im Zimmer herum. »Türkensattel«, rief er dabei, und seine Hände waren stark und hart. Endlich setzte er
Asiadeh ab. Das Zimmer drehte sich vor ihren Augen. Sie setzte sich auf den Teppich und starrte Hassa an. »Mein Gott«, sagte sie. »So tanzen die heulenden Derwische aus der Bruderschaft der Mewlewi. Und das nennst du Hypophyse?« »Nein, das ist der Türkensattel.« Hassa stand vor ihr und sprach herrisch und im Kommandoton. »Mit achtundachtzig Komma sechs Prozent Wahrscheinlichkeit werde ich deinem Derwisch helfen können. Er hat die ausgefallenste Krankheit der Welt. Aber auch du mußt mithelfen, zur Strafe für dein Mißtrauen. Sonst kann ich mich bei der Operation mit niemandem verständigen. Du bekommst einen weißen Kittel und wirst dabeistehen. Kannst du das? Oder wirst du einen onomatopoetischen Schrei ausstoßen und ohnmächtig zu Boden sinken?« Asiadeh, immer noch auf dem Teppich sitzend, hob den Kopf. »Wir sind alle Krieger gewesen. Ich werde es schon ertragen.« Sie erhob sich und berührte Hassas Gesicht. Hassa stand in der Mitte des Zimmers und war jetzt vertraut und nahe. Sie blickte auf seine Hände, die etwas vermochten, was kein Mensch in Sarajewo konnte, und wurde schüchtern und befangen. »Du meinst also wirklich, daß du diesen Türkensattel bezwingen wirst?« »Ich hoffe. Falls die Diagnose stimmt…« »Allah barif, Gott allein weiß es«, sagte Asiadeh. Sie blickte erschrocken vor sich hin und sah im hellen Wachtraum eine Schar buntbekleideter Reiter im weichen breiten Türkensattel durch die Steppe jagen. Hassa trug eine Lanze, und sein Sattel war mit goldenen Lettern bestickt. Er hob die Hand, und seine Lanze bohrte sich in das Gesicht des Feindes. Über den Sattel
beugte sich ein alabasterweißes Gesicht, und eine fremde Stimme rief: »Alles, was besteht, geht zugrunde, außer seinem Sein.« »Allah barif«, sagte sie und rieb sich die Augen. Die Vision verschwand. Hassa stand am Waschtisch und wusch sich die Hände. Große, helle Wassertropfen rannen über seine Finger.
12
Das Gesicht des Derwischs verschwand hinter einer sterilen Leinenmaske. Der Kranke saß teilnahmslos im Sessel und schwieg. Die Operationsschwester beugte sich über die Instrumente. Asiadeh sah den Schlitz für die Nasenspitze des Derwischs und hörte wie von weit her Hassas Befehle: »Schwester, Kokainlösung mit Epirenan und dann Schleichsche Lösung zum Infiltrieren.« Sie übersetzte, und das Zimmer roch nach Gas und Jodoform. Sie blickte auf die blassen Hände des Derwischs, die hilflos auf dem Sesselrand ruhten, und der trockene Handrücken verwandelte sich in das sommerlich-grüne Feld bei Amasia. Über das Feld ritt Sultan Orchan, von Falkenjägern, Sklaven und Wesiren begleitet. In Hassas linker Hand blitzte ein röhrenförmiges Instrument. Die Schwester beugte sich über den Kranken. »Septumresektion nach Kilian«, sagte Hassa. Asiadeh sah einen metallenen Gegenstand. Hassa führte den Schnitt, und ein Blutstreifen bedeckte das Leintuch. Asiadeh sah das Blut, und ihre Lippen wurden trocken und heiß. Auf dem weißen Leintuch erhob sich das Dorf Sulidsche, und Sultan Orchan betrat das Haus des heiligen Hadschi-Bektasch, des Gründers der Bruderschaft der Bektaschi. Der heilige Hadschi-Bektasch trug wallende Gewänder, und Sultan Orchan bat um seinen Segen für das Heer, das er gründete. Ein Krieger mit breiter behaarter Brust näherte sich dem Heiligen, und der Scheich legte die Ärmel seines Filzmantels segnend auf den Kopf des Kriegers.
Indessen verlangte Hassa ein Spekulum zum Festhalten der Schleimhaut. Asiadeh übersetzte und die Schwester reichte Hassa etwas Längliches und Glitzerndes. Hassa schwieg, und seine Hände waren wie selbständige, eilige und sehr genaue Geschöpfe. Eine Schwester hielt die Schale dicht vor das Gesicht des Derwischs. Asiadehs Unterlippe hing herab. Der Derwisch stöhnte leise und gleichgültig. Asiadeh wollte die Augen schließen, aber Hassa verlangte einen schmalen Meißel. Sie übersetzte und riß die Augen weit auf. Die Schwester hielt einen kleinen Hammer in der Hand. »Hämmern«, sagte Hassa. Der kleine Hammer schlug hart auf den Meißel. Ein hakenförmiges Instrument wurde in die Wunde eingeführt. Breite Blutstreifen bedeckten die weiße Maske, und in der blutbefleckten Schale lagen Knochensplitter. »Genug«, sagte Asiadeh und berührte Hassas Schulter. »Genug. Laß den Heiligen in Ruhe sterben.« Ihr Gesicht war gerötet, und eine blaue Ader schwoll an der Stirn. Hassa schob seinen Hocker zurück, und die Schwester nahm das Leintuch vom Gesicht des Derwischs. Das Gesicht war blaß und eingefallen. Die Augen blickten schmerzverzerrt ins Weite. »Genug«, wiederholte Asiadeh und blickte auf die blutbedeckten Instrumente. Hassa sah sich für einen Augenblick um. Seine Augen waren zerstreut und abwesend. »Ja, ja«, sagte er brummig. »Die Voroperation ist beendet, jetzt beginnt der eigentliche Eingriff. Sie sollen rascher die Gesichtsmaske wechseln. Ich mache eine Probepunktion der Dura.« Asiadeh hatte plötzlich das Gefühl, ein kleines und unbeholfenes Mädchen zu sein. Der Derwisch saß im Sessel, und das Zimmer glich einer mittelalterlichen Folterkammer. Hassa war ein großer Zauberer und Foltermeister. Er meißelte
die Knochen auf und schnitt am lebendigen Fleisch, als wäre es zulässig, Heilige zu martern. Wieder verschwand das Gesicht des Derwischs hinter der Maske. Asiadeh fühlte plötzlich einen salzigen Geschmack um die Lippen und mußte heftig blinzeln. Im unwirklichen und flatternden Gesichtsfeld ihrer tränenverhangenen Augen sah sie den Krieger, der vor dem heiligen Hadschi-Bektasch kniete. Der Heilige segnete den Krieger und sprach leise: »Ihr Name sei die Janitscharen. Ihr Angesicht weiß, ihr Arm siegreich, ihr Säbel schneidend, ihr Speer durchstoßend. Immer sollen sie zurückkehren mit Sieg und Wohlsein.« Das Zimmer schwamm vor Asiadehs Augen. Ein schmales Messer in Hassas Händen bekam plötzlich bogenförmige Linien und zitterte. »Es ist eine Zyste«, sagte Hassa. Seine Stimme klang gespannt, und er hielt das Messer in der Hand, als wäre es aus Daunen. »Möge sein Säbel schneidend sein, seine Lanze durchstoßend«, dachte Asiadeh. Ihre kleinen Hände ballten sich zu Fäusten, und das Derwischheer der Janitscharen ergoß sich über Europa. Die Krieger trugen die Mütze des heiligen Hadschi-Bektasch und einen Holzlöffel statt der Kokarde. Nachts saßen sie am Fleischkessel im Hofe der Janitscharenkaserne. Der Scheich der Bektaschi trug eine kesselförmige Mütze mit weißer Aufschrift und führte neunundneunzig Heldenregimenter in den Kampf. Asiadeh trocknete die Augen. Sie hatte das Gefühl, daß sie schon seit Stunden vor diesem verblutenden Körper stehe, an dem Hassa herumschnitt, und noch Tage und Wochen dastehen werde, bis Hassa sein blutiges Handwerk beendet habe. Jetzt hielt Hassa einen Gummischlauch in der Hand und schien mit einem Gummiballon zu spielen. »Absaugen«, sagte er und drückte auf den Ballon. Der Heilige bewegte die Finger
und stöhnte laut. »Watte«, befahl Hassa, »für die Dränageöffnung.« Er hielt eine Glasröhre. Plötzlich hob er den Kopf und sagte zu Asiadeh: »Die Zyste kann mit dem Boden des dritten Ventrikels verlötet sein. Aber es waren gut schneidende Instrumente.« Asiadeh nickte und übersetzte nicht. Der Satz, so unverständlich er auch war, schien nur für sie bestimmt zu sein und war der Ausdruck Hassas seelischer Verwirrung. Die Schwester wickelte die Tampons auf. Asiadeh hörte das heftige Atmen des Derwischs. Acht Brüder seines Ordens saßen einst Tage und Nächte in den Kasernen der Janitscharen. Sie erflehten Gottes Segen auf die neunundneunzig Regimenter, die am Fleischkessel saßen und die Mütze des heiligen Hadschi-Bektasch trugen. Und Gottes Segen ruhte auf den Waffen, bis Sultan Mahmuds Zorn sich über die Helden und Derwische ergoß. Vierzigtausend Mann versammelte der Sultan am Hippodrom zu Istanbul. Alle vierzigtausend wurden hingerichtet. Kein einziger entging dem Zorn des Herrschers. Seitdem war das heilige Reich schwach und schutzlos. Die letzten Bektaschi flohen in die fernen Bergklöster, und als die Gnade des Sultans ihnen zurückerstattet wurde, waren sie wie alte Wölfe mit herausgebrochenen Zähnen. »Die Wattebäusche können nach zwei Tagen entfernt werden«, sagte Hassa und erhob sich. »In den ersten Tagen kann noch eine subfebrile Temperatur auftreten. Es wird keine Meningitis werden.« Der Derwisch wurde weggetragen. Asiadeh ging neben ihm und blickte in sein alabasterweißes Gesicht. Später kam sie zurück, und ihr gerötetes Gesicht mit verweinten Augen war fragend zu Hassa gewandt. Hassa wusch sich die Hände und dachte, daß es ebensogut ein intrakranieller Tumor anstatt einer Zyste sein könnte und daß
er strenggenommen Glück gehabt habe, denn der Knochen der Sattelgrube war gar nicht resistent.
Sie gingen ins Hotel. Sie sprachen von der Wohnung in Wien und von den Abenden in Grinzing, wenn die Sonne unterging und die Menschen in die Weingärten eilten. Sie tranken Kaffee in der Hotelhalle, und Asiadeh blickte auf Hassas Hände, die Säbel und Speere zu führen verstanden, die so ganz anders waren als die klirrenden Waffen der Janitscharen. »Wird er gesund, Hassa?« fragte sie leichthin, als ginge sie der Derwisch nichts an. »Wenn keine Meningitis auftritt, natürlich. Sonst stirbt er.« Hassas Stimme klang herrisch und überheblich. Asiadeh hob die Schultern und beugte den Kopf. Sie sprach von ihrem Vater, von der Universität, von der Weisheit, die um so vieles mehr vermag als die brutale Kraft. Das Gesicht des verblutenden Derwischs kreiste vor ihr, und eine gewaltige Angst überfiel sie. Sie zweifelte plötzlich daran, daß Hassas Messer die Augen des Heiligen sehend und seine Muskeln stark machen könnte. Es war ein Frevel, das Schicksal so herauszufordern, Hassas dunkle und blutige Magie mußte kraftlos bleiben dort, wo Gott seinen Willen klar verkündete. Sie wollte weg von hier, noch bevor das Unvermeidliche geschah und sie den Glauben an die Kraft ihres Mannes ganz verlor. »Die Ärzte hier«, sagte sie bittend, »werden wohl die Nachbehandlung selbst durchführen können. Fahren wir morgen nach Dubrovnik. Es ist so heiß hier, und ich sehne mich nach dem Meer.« Hassa war einverstanden. Er wußte nicht, warum seine Frau so plötzlich weg wollte, aber sie hatte bittende Augen und zitternde Lippen, und es mußte gut sein, mit ihr am Strande
von Dubrovnik zu liegen und in die blaue Ferne der Adria zu blicken. Sie fuhren weg, und es war wie eine Flucht nach einer vollbrachten Untat. Zwei Wochen lang plätscherte Hassa in den Wellen des Mittelmeeres. Sie lagen im heißen Sand, und Asiadeh schwieg und blickte in die Ferne des Meeres, das auch ihre Heimat umspülte. »Ich müßte anfragen, wie es deinem Derwisch geht«, sagte Hassa schuldbewußt, und Asiadeh wurde sehr gesprächig und schlug einen Ausflug vor in die Berge von Montenegro, nach Cetinje. Sie fuhren über den Lovcen. Die blaue Bucht von Catarro lag tief unter ihnen, der Wagen hing am steilen Abhang, und Asiadeh fürchtete sich vor der Rückfahrt und vor Sarajewo, wo es bestimmt die Nachricht erwarten würde, daß der heilige Mann gestorben sei und Hassas Kunst vergebens war. »Wir fahren durch«, sagte sie zu Hassa, als sie den Zug zur Heimfahrt bestiegen. »Wir brauchen nicht in Sarajewo zu halten.« Als sich aber in der Ferne die Gebetstürme der Zarska Dschamia zeigten, packte sie plötzlich die Koffer, ergriff Hassas Hand und sprang auf den Bahnsteig. »Was hast du, Asiadeh?« fragte Hassa, aber Asiadeh schwieg, und sie fuhren in die Stadt und frühstückten im Hotel. Nachher gingen sie durch die Gassen des Basarviertels. In dem türkischen Gartencafé gegenüber der Zarska Dschamia saß der Derwisch Ali-Kuli und rauchte eine lange Wasserpfeife. Ihn umringten bärtige Männer mit frommen und listigen Blicken. An einem Tisch saß die Sippe Hassanovic und schlürfte Kaffee aus winzigen Tassen. Der Derwisch erhob sich und schritt auf Hassa zu. Er verbeugte sich tief.
»Weib«, sagte er zu Asiadeh. »Du, die du das Glück hast, die Frau eines Weisen zu sein, übersetze!« Er sprach sehr feierlich, und Asiadeh stockte der Atem. »Weiser«, sagte er, »du gabst meinen Augen das Sehen, meiner Haut die Farbe, meinem Körper die Stärke, meinen Haaren das Wachstum. Ich werde beten, daß dein Leben hell sei, dein Bett weich, dein Weg ruhmvoll und dein Weib deiner würdig.« Hassa verbeugte sich gerührt. Bärtige Männer umgaben ihn. Ernste und feierliche Gesichter blickten ihn an, und die Sippe Hassanovic stand neben ihm und labte sich in den Strahlen seines Ruhmes. Asiadeh war an die Mauer des Gartens zurückgedrängt. Niemand entsann sich mehr, daß sie die Tochter eines Paschas war, dessen Vater einst über Bosnien geherrscht hatte. Sie war nur ein Weib, unfähig, die geheimnisvollen Wunder zu vollbringen, die Hassas Hände vermocht hatten, unfähig, die Augen sehend, den Körper stark, die Haare wachsend zu machen, nur ein Weib, geboren, um einem würdigen Manne demütige Sklavin zu sein. Mühselig befreite sich Hassa aus dem Ring der asiatischen Dankbarkeit. Er ergriff Asiadehs Hand und verließ schüchtern lächelnd das Lokal. Sie gingen nach Hause, und Asiadeh schwieg, in eigene Gedanken und Gefühle vertieft. Zu Hause erklärte sie plötzlich und zu Hassas Überraschung, daß sie baden möchte. Sie sperrte sich im Badezimmer ein, und Hassa hörte das geräuschvolle Fließen des Wassers. Asiadeh badete aber nicht. Sie saß hinter der Tür angezogen am Rande der Wanne, und Tränen tropften über ihre Wangen. Sie sah, wie sich die Wanne mit Wasser füllte und schloß die Hähne. Dann saß sie auf dem Boden und weinte still und lange, ohne genau zu wissen, warum. Hassa hatte gesiegt, und es war schmerzlich und
freudvoll, nicht mehr die Tochter eines Paschas, sondern die Frau eines Mannes zu sein, der den Tod besiegen konnte. Sie wischte mit der Handfläche die Tränen ab. Das Wasser in der Badewanne war klar und dampfend. Sie legte ihr Gesicht auf die warme Wasserfläche und hielt für Augenblicke den Atem an. Ja, der alte Orient war tot. Einen Heiligen aus der Bruderschaft der Bektaschi rettete der ungläubige Hassa, der also mehr war als nur ein Mann, den eine Paschatochter liebgewonnen hatte. Sie erhob sich und trocknete das Gesicht. Sie öffnete die Tür und betrat auf Zehenspitzen das Zimmer. Hassa lag ausgestreckt auf dem Diwan und blickte auf das Muster der Zimmerdecke. Nichts verriet an ihm den Sieger und Helden. Asiadeh setzte sich zu ihm und umfaßte seinen Kopf. Sein braunes Gesicht war zufrieden und etwas verschlafen. Sie berührte mit den Wimpern seine Haut und fühlte den leisen Duft seiner Wangen. »Hassa«, sagte sie. »Du bist ein Held. Ich werde dich sehr lieben.« »Ja«, sagte Hassa verschlafen. »Es war nicht leicht, der asiatischen Menge zu entfliehen. Sie sprachen wie ein Wasserfall.« Er streckte die Hände aus und fühlte seltsam erregt den mageren und schmiegsamen Körper, der widerstandslos, schwach und durstend neben ihm lag. Er zog ihn an sich. Asiadehs Augen waren geschlossen, und der Mund lächelte.
13
Es war eine große Wohnung im ersten Stock eines vornehmen Hauses am Ring. Zwei Tanten, runzlige Gesichter mit verklärten und schweigsamen Augen, behüteten sie in Hassas Abwesenheit. Asiadeh gewann ihre Zuneigung durch einen tiefen Knicks, den sie in Istanbul gelernt hatte, als sie während des Krieges einer Erzherzogin vorgestellt werden sollte. Durch die Fenster der Wohnung sah man die breite Straße und die grünen Bäume des Burggartens. Asiadeh beugte sich aus dem Fenster und atmete die milde Luft Wiens ein, den Duft der Blumen, der fernen Wälder und grünen Hügel Österreichs. Sie ging durch die Wohnung, und die Tanten übergaben ihr freudig lächelnd die Schlüssel zu den Schränken, Kammern und Kellern. Hassa lief durch die Zimmer und hatte die Augen eines Kindes, das ein längst vergessenes Spielzeug wiedergefunden hatte. Er faßte Asiadeh am Arm und schleppte sie durch das lange Speisezimmer, mit den dunklen lederbeschlagenen, kühl wirkenden Stühlen. Er führte sie in den Salon – ein Erkerzimmer, das beinahe nur aus Fenstern bestand und mit weichen hellen Sesseln ausgestattet war. Asiadeh sah den Ordinationsraum mit den weißgetünchten Wänden und unzähligen Metallgegenständen in den Glasschränken. Im Wartezimmer lagen vorsintflutliche Zeitschriften, und an den Wänden hingen Photographien von Menschen, denen Hassa nach eigenen Angaben das Leben gerettet haben sollte. Die Geretteten hatten stolze und erstarrte Gesichter und blickten streng auf Asiadeh herab.
Im Badezimmer angelangt, blieb Asiadeh erschöpft stehen und sah im Spiegel ihr aufgeregtes und gerötetes Gesicht. »Wasser«, bat sie. »Bitte, Wasser. Zuviel Möbel für einmal.« Hassa öffnete den Hahn und reichte ihr ein Glas. Sie trank langsam und genießerisch. Ihr Gesicht wurde dabei ganz ernst. »Welches Wasser«, sagte sie erstaunt. »Das beste nach Istanbul.« Sie sah Hassas verständnisloses Gesicht und erklärte: »Du weißt, wir Türken, wir trinken keinen Wein. Dafür kennen wir uns in Wasser aus. Mein Vater unterscheidet jedes Wasser der Welt. Als Großvater nach Bosnien kam, ließ er sich Trinkwasser in großen Tonkrügen aus Istanbul nachschicken. Dieses hier ist das beste Wasser Europas.« Sie trank weiter in kleinen Schlucken, und Hassa dachte, daß so ihre wilden Ahnen getrunken haben müssen nach langen Wanderungen am Ufer der heimatlichen Quelle. »Bei uns«, sagte Asiadeh und setzte das Glas ab, »hat die Wohnung nur Teppiche und Diwans, die den Wänden entlang laufen. Auf dem Diwan liegen Kissen, und hin und wieder steht im Zimmer ein kleiner niedriger Tisch. Wir schlafen auf Matratzen, die auf den Boden gelegt werden. Am Tage werden die Matratzen in den Wandschränken versteckt. Im Winter stellt man in dem Zimmer ein Becken mit glühender Kohle auf, und es wird warm. Ich bin an so viel Möbel nicht gewohnt, Hassa, ich werde mich an den Tischen und Schränken stoßen, aber es macht nichts. Zeige weiter.« Sie gingen durch den langen dunklen Korridor, und Hassa öffnete die Tür zum Schlafzimmer. »Hier«, sagte er stolz. Asiadeh trat ein. Sie sah zwei breite aneinandergeschobene Betten, einen Wandschirm, Diwan und Tische. »Hier, also«, sagte sie bescheiden und dachte an die entschwundene Marion, die in diesem Bette schlief und von anderen Männern träumte. Hassa schloß stolz die Tür. Er stand
inmitten des Zimmers und blickte auf das Bett, auf Asiadeh, auf den kleinen runden Tisch, und sein Gesicht wurde traurig. Asiadeh berührte sein Kinn, und er sah sie mit schrägen, bittenden Augen an. Er umfaßte sie, als wolle er sich vor etwas Fremdem und Dumpfem verbergen, das sich unsichtbar aus dem Zimmer erhob. Asiadeh beugte den Kopf. Sie sah Hassas breiten Nacken und fühlte die starken Muskeln seiner Arme. Ein plötzliches Mitleid erfüllte sie. Der breite, starke Hassa, der so unbeholfen im Zimmer stand, war hilflos und arm in der Welt der ungesagten Worte und halbgedachten Gefühle. Sie streichelte seine Wange und dachte, daß sie alles tun würde, damit Hassa immer ein Wundertäter bleibe, stark und klug in der Welt der sichtbaren Formen. »Fürchte dich nicht«, wollte sie sagen. »Ich werde eine treue Frau sein.« Sie sagte es nicht. Sie hielt seinen Hals umarmt, und Hassa sah in ihren Augen die demütige Treue der asiatischen Frau. »Komm«, sagte sie leise, »wir wollen packen.« Nachts lagen sie in den breiten Betten eng aneinandergeschmiegt, und Hassa spielte mit ihrem Haar und sprach von seinen Freunden, von seinem Kaffeehaus, von dem Burgtheater mit der goldbeladenen Marmortreppe und von dem Leben, das beginnen wird, sobald die Sachen ausgepackt sind und die Wohnung gelüftet. Asiadeh schwieg. Sie sah die Decke mit einem verzierten Gipsmuster und dachte an Marion, die dasselbe Muster sah und dennoch an andere Männer dachte. Sie wollte Hassa nach Marion fragen und traute sich nicht. Das Bett war weich und warm. Hassa trug einen dunklen Pyjama, und seine Wange lag auf Asiadehs Knien. »Bleib bei mir, Hassa«, sagte sie, obwohl Hassa nirgendwo hin weg wollte. Sie richtete sich auf und sah ihn glückstrahlend an. Er lag da, lächelnd, etwas fremd, voll rätselhafter Kräfte,
die sie beherrschten. Er zog sie an sich, und sie fühlte sich wie ein kleines Kind in den Armen eines großen Zauberers. Sie schloß die Augen und spürte seine Hände, seinen Körper, seinen Atem, der plötzlich nahe und warm war. Freudige Angst ergriff sie. Langsam und schamhaft öffnete sie die Augen. Sie sah weit, weit weg ein verziertes Gipsmuster und Hassas Gesicht, das plötzlich länglich und ernst war, mit schmalen Augen, die etwas Rätselhaftes und Grausames zu sehen schienen… Später schlief Hassa, mit hochgezogenen Beinen wie ein Kind, und seine Wange lag immer noch auf ihren Knien. Asiadeh schlief nicht. Sie starrte in die Dunkelheit. Die Wohnung glich einer Insel, und sie selbst war eine Schiffbrüchige, die sich hierher vor dem wilden Ozean gerettet hatte, den man Leben nannte. Draußen waren rätselhafte Kaffeehäuser. Männer und Frauen, die so dachten wie Hassa, aber keine Zauberer waren, ohne Gewalt über ihre Sinne und ihre Gefühle. Irgendwo draußen war Marion, deren Platz sie einnahm und von der sie nur wußte, daß sie mit einem Mann durch die Welt reiste und alle Strafen verdiente, die Gott unzüchtigen Frauen vorbereitet hatte. »Hassa«, sagte sie und zupfte an seinen Haaren, »Hassa«, er drehte sich um und räusperte sich erstaunt und verschlafen. »Es ist so viel Luft zwischen uns«, sagte Asiadeh leise. »Sei ganz nahe, Hassa.« »Gut«, sagte Hassa und schlief weiter. Asiadeh schloß die Augen. Sie wollte, daß diese Nacht ewig dauere, ihr ganzes Leben, daß Hassa immer so neben ihr liege, wie ein schlafendes Kind und nicht weg müsse in die geheimnisvolle Welt der fremden Menschen, Taten und Worte. Dann schlief sie ein, zusammengekauert und still. Hassas Hand lag auf ihrer Brust, und sie hielt sie fest, als wäre sie ein Kleinod, ein magisches Schutzmittel gegen die Wogen des Ozeans, die die Insel umspülten.
14
Im Ringcafé raschelten die Zeitungen. Der runzlige Ober erkannte Hassa zuerst. Er grüßte und rief dem Kellner zu: »Einen Fiaker und die ›Medizinische Wochenschrift‹ für den Herrn Doktor, wie immer!« Dann blieb er in gebückter Haltung vor dem Marmortisch stehen. »Schon wieder daheim?« sagte er, obwohl dieses offensichtlich war. »Ja«, antwortete Hassa, »und verheiratet.« »Herzliche Glückwünsche, Herr Doktor. Die gnädige Frau soll eine Ausländerin sein?« »Ja, eine Türkin.« Der Ober nickte, als ob es ganz selbstverständlich wäre, eine Türkin zu heiraten. Er erzählte weitschweifig, daß sein Bruder im Kriege unten in der Türkei gewesen war und daß die Türken auch Menschen seien. Dann brachte er einen Stoß Zeitungen. Hassa blätterte zerstreut. Draußen auf dem Ring leuchtete die Sonne. Damen mit kleinen Hunden gingen über die Straße und blickten siegessicher um sich. Die Baumäste hingen über den Ring, und das dunkle Gebäude der Oper glich einer Festung. Die Türen des Kaffeehauses öffneten sich. Menschen kamen herein, schauten sich um und traten mit freudig ausgestreckten Händen an Hassas Tisch. »Servus«, sagten die Menschen und setzten sich. Hassa drückte die ausgestreckten Hände, und die Freude der Rückkehr überkam ihn. Da saßen sie – die Menschen, die man einen Kreis nannte und die durch eine geheimnisvolle Fügung des Schicksals dazu bestimmt waren, um Hassa zu sitzen, sich
mit ihm zu unterhalten, ihn einzuladen, ihn nett oder unausstehlich zu finden und sein Leben mit der tatenlosen Neugierde der Zuschauer zu verfolgen. Dr. Halm war da, der Gynäkologe, der weißhaarige Matuschek, der Erfinder einer berühmten, aber wirkungslosen Diät, der Orthopäde Sachs, der nur im Winter, in der Skisaison, Praxis hatte, der Chirurg Matthes, mit langen Beinen und einer Vorliebe für chinesische Malerei, und der Nervenarzt Kurz, der ein Sanatorium leitete und die Liebe für eine Gefäßerkrankung hielt. Die Freunde saßen am Tisch und stellten Fragen, die sich durch nichts von den Fragen des Kellners unterschieden. Dann schüttelten sie halb zustimmend, halb besorgt die Köpfe, und jemand sagte entgeistert und neiderfüllt: »Eine Angorakatze hast du also geheiratet, du Sodomit, du.« Hassa nickte und hatte das Gefühl, in einen reigenhaften Traum versunken zu sein, denn die Worte klangen, als hätte er sie schon einmal in einer anderen unwirklichen Welt gehört und beantwortet. Der Marmortisch bedeckte sich mit Kaffeetassen. Aus einem halb verschütteten Wasserglas floß über die Marmorplatte ein schmaler Wasserstreifen. Er bildete Buchten und Seen, dehnte sich aus und verlief sich unter der Tasse des Dr. Kurz. Hassa erzählte von dem Schwiegervater, der ein Pascha war und jetzt ein großes Teppichgeschäft leitete, und von dem Palais am Bosporus, das er, für sich selber unerwartet, plötzlich genau zu kennen glaubte. Er zählte die seltsamen Disziplinen auf, die seine Frau studiert hatte, und erzählte etwas zaghaft von der wundersamen Rettung des weltberühmten Derwischs Ali-Kuli aus Sarajewo. Der Tisch hörte entgeistert und neiderfüllt zu. Erst als das Wort »Hypophysentumor« fiel, klärten sich die Gesichter auf, und die Gedanken bekamen eine sachliche und berufliche Richtung.
»Ich hatte neulich einen Fall«, sagte Dr. Kurz, als ob ein Hypophysentumor nichts wäre. »Der Kommerzienrat Danski erkrankte am nervösen Schnackerl. Er schnackerlte drei Tage ununterbrochen. Was tut man da?« Er verstummte und blickte überheblich um sich. »Den Kopf eine halbe Stunde unter Wasser halten und den Atem anhalten. Hilft bestimmt«, sagte der Chirurg mit der Roheit seines Standes. »Eis schlucken«, meinte der Orthopäde und dachte an die Eisgletscher in der Skisaison. »Ich versuchte Hypnose«, setzte Dr. Kurz fort. »Und stellt euch vor, der Mann erwachte aus der Hypnose und schnackerlte weiter.« »Du solltest Professor Saäm rufen«, sprach Hassa teilnahmsvoll. »Ich habe gehört, daß er ein sicheres Mittel gegen das Schnackerl kennt.« Die Ärzte rückten aneinander. Kurz sprach etwas vom psychischen Schock. »Eine vasomotorische Störung des Zwerchfells«, sagte Matuschek leidenschaftlich und laut. An den Nebentischen sah man sich um. Der alte Ober stand an einer Marmorsäule und blickte zufrieden auf den Ärztetisch. »Ein wissenschaftliches Gespräch«, dachte er. »Wir sind ein besseres Kaffeehaus.« »Ihr solltet Nachhilfekurse für medizinische Ignoranten besuchen«, sagte der Gynäkologe Halm. »Ihr habt verlernt, theoretisch zu denken. Es ist einfach eine Reizung der Diafragma. Und was regiert die Diafragma? Der Nervus sympathicus. Ha! Ha! Habt ihr schon was vom Lucus cisylbachi gehört? Na also. Da habt ihr es. Da gibt es nur eins…« Er beendete den Satz nicht. Am Tisch stand ein blondes Mädchen und blickte mit erschrockenen Augen auf die
streitenden Wissenschaftler und auf die Buchten und Seen, die sich unter der Tasse des Dr. Kurz verliefen. »Ich bin Asiadeh«, sagte das Mädchen, und der schnackerlnde Kommerzienrat verschwand in den Abgründen des medizinischen Wissens. Die Ärzte sprangen auf. Asiadeh drückte die fremden Hände. Sie blickte verstohlen zu Hassa, der kurz und unmerklich mit den Wimpern nickte. Ja, das waren also die Männer, deren Hände sie drücken und deren Fragen sie beantworten mußte, die jene geheimnisvolle Welt darstellten, in der Hassa lebte. »Ja«, sagte sie zerstreut und setzte sich hin. »Wien ist eine sehr schöne Stadt.« Die Ärzte sahen sie neugierig an, sie stellten Fragen, und Asiadeh beantwortete sie folgsam und geduldig. Die fremden Männer lächelten, und ihre Gesichter verzogen sich dabei in seltsame Grimassen. Sie blickten auf Asiadeh, sahen ihre grauen Augen, die kurze Oberlippe und den unbeholfenen Gesichtsausdruck, und die Welt erschien ihnen lebenswert und schön, voll lockender Geheimnisse und Rätsel, die so ganz anders waren als das rätselhafte Schnackerl des Kommerzienrats Danski. »Wir fahren abends zum Heurigen«, sagte Dr. Kurz, denn er war ein sensibler Mann voll Verständnis für Frauenseelen. »Sie waren noch nie beim Heurigen, gnädige Frau?« »Nein, aber ich weiß, was das ist. Es liegt in Grinzing. Wenn die Sonne sinkt, gehen die Menschen in die Weingärten und singen Lieder.« »Beinahe richtig«, lobte Kurz, und die Männer nickten. Ja, sie wollten heute alle zum Heurigen, zu den grünen Weingärten der Vorstadt, zu den engen Gassen und uralten kleinen Häusern, die die niedrigen Hügel bedeckten und vom milden Mond beschattet waren. Sie erhoben sich. Rasch nach Hause! Ein Blick in die Ordination, ein Krankenanruf, ein kurzes Gespräch mit Frau oder Freundin und dann ins Auto,
die holprige Straße hinauf zu der nächtlichen Stille der alten Weinberge. »Gut«, sagte Asiadeh. »Zum Heurigen.« Sie stand neben Hassa, schlank, fremd und still. Hassa reichte ihr den Arm. Sie gingen zur Tür, und die Gäste des Kaffeehauses blickten ihnen nach. »Es juckt«, sagte Asiadeh auf der Straße und bewegte die Schulter. »Was juckt?« »Die Blicke. Die Männer sehen mich an, als möchten sie mich küssen.« »Vielleicht wollen sie es in der Tat.« Asiadeh stampfte mit dem Fuß. »Schweig!« sagte sie zornig. »So spricht man nicht mit seiner Frau. Komm. Komm zum Heurigen.« Glasverhüllte Kerzen erhellten lange grüne Tische. Die Äste der Bäume hingen über den Tischen und glichen erstarrten Gespenstern. Durch den Garten gingen Mädchen in bunten Röcken und trugen Weinkrüge auf breiten Brettern. Die Gesichter der Menschen, vom flackernden Lichte der Kerzen erhellt, waren rötlich. Leichter, warmer Wind kam vom Weinberge. Menschen saßen an den langen grünen Tischen, wie aufgelöst im wilden Schein des zunehmenden Mondes. Etwas Abgeklärtes und gleichsam Heidnisches lag über dem Garten, als vollzöge sich hier ein uraltes Ritual, ein Gebet des Menschen an die Gnade der Rebe. Die Krüge leerten sich. Tische und Bäume kreisten vor den Augen der Menschen. Glückseliges Lachen ertönte. Linien und Formen verschoben sich, und auf dem weichen Grase des Gartens zeichneten sich die flatternden Schatten des ewigen Dionysos. Die Menschen schienen von attischer Lust ergriffen zu sein. Der stille Garten glich plötzlich einem antiken Tempel, in dem glasverhüllte Kerzen zu Ehren der
unsichtbaren Gottheit angezündet waren. In der Ferne ertönte ein Lied. Eine Frauenstimme sang leise und wehmütig. Die einzelnen Worte versanken im Fluß der zitternden Töne. Die Menschen stützten die Köpfe mit den Händen und schienen im traurigen Klang der Töne einen geheimnisvollen Widerhall ihrer eigenen Träume, Gedanken und Sehnsüchte zu vernehmen. Ein dicker Mann saß allein an einem alten Baum. Sein Gesicht schien der Welt des irdischen Leides zugewandt. Er schluchzte und glich plötzlich selbst einem Baumast, der sich geheimnisvoll vom Stamm losgelöst hatte, um für eine Nacht im Mysterium der nächtlichen Feier aufzugehen. Frauen und Mädchen saßen umarmt und leutselig. Sie sangen, und die Mädchen brachten Krüge mit hellem und duftendem Wein… Asiadeh saß auf dem harten Brett zwischen Hassa und Dr. Kurz. Ärzte und Frauen umgaben sie, und sie konnte sich in den verwirrenden Klängen ihrer Namen nicht zurechtfinden. Aber ohne Namen, ohne Fragen wußte sie sofort und genau, welche Frau zu welchem Mann gehörte, wer einander mit dem Blicke eines Besitzers oder der galanten Neugierde eines Fremden anblickte… Gespannt musterte sie die geröteten Gesichter der Frauen, die blonden, schwarzen und rötlichen Köpfe, die sich über den Tisch beugten und die duftenden Krüge zum Munde führten. »Trinken Sie doch«, rief ihr jemand zu, und sie schüttelte lächelnd den Kopf. Es waren alles nette Menschen, aber trinken konnte sie nicht. Sie nippte an einem Glas Wasser und sagte freundlich: »Ich trinke keinen Wein. Wissen Sie, die Religion verbietet es mir. Aber Sie haben doch so gutes Wasser. Das beste von Europa.« Sie trank, und das Mädchen im bunten Rock stellte dicke Scheiben von Wurst, Schinken und Brot auf den Tisch.
Asiadeh sah das weiße Fett, das blasse und rötliche Fleisch und fühlte ein leichtes Sausen in ihren Ohren. »Ist es Schwein?« sagte sie vorsichtig, und die Menschen nickten und aßen. Sie öffnete den Mund und schnappte erschrocken nach Luft. Das war der Augenblick, den sie erwartet hatte und vor dem sie sich immer fürchtete. In Europa aß man Schweine. Sie hatte noch nie im Leben ein lebendes Schwein gesehen und wußte nicht, wie das Fleisch schmeckte. Aber in ihrem Blut, in ihren Adern, in ihren Nerven lebte eine dunkle und uralte Angst, ein Haß und ein Ekel vor dem Fleisch, das Gott dem Muslim verboten hatte. Sie knabberte vorsichtig an einem Stück Brot, und eine blonde Frau, die zu Dr. Matthes gehörte, sah sie mitleidsvoll an: »Ist es nicht langweilig, hier zu sitzen, ohne zu essen und ohne zu trinken?« »Nein, danke, es ist ein so schöner Garten.« Die fremde Frau lächelte. Sie hatte blonde Haare und rote schmale Lippen. »Haben Sie viele Kinder?« fragte Asiadeh, denn sie wollte nett zu der fremden Frau sein. Die Blonde sah sie verständnislos an. »Kinder? Überhaupt keine!« »Oh«, lachte Asiadeh und war auf einmal sehr vergnügt. »Sie sind auch ganz jung verheiratet?« Die Frau lachte und schien sehr froh zu sein. »Alles in allem zehn Jahre, aber mit drei verschiedenen Männern. Ich bin schon zweimal geschieden.« Asiadeh neigte den Kopf zur Seite und wurde ganz rot. »Aha«, stammelte sie. »Ich verstehe, ja, natürlich.« Sie leerte das Wasserglas und sah die Frau mitleidsvoll an. Die Arme bekam keine Kinder.
Das zarte rötliche Mädchen, das neben Dr. Sachs saß, sah sie lächelnd an. »Essen Sie Käse«, sagte sie und reichte Asiadeh eine Scheibe. Es schien eine nette und stille Frau zu sein, aber man sollte die Europäerinnen nicht nach Kindern fragen. »Haben Sie viel mit dem Haushalt zu tun?« fragte Asiadeh, denn es war eine harmlose Frage, die nicht verletzen konnte. »Nein«, sagte das Mädchen. »Den Haushalt führt die Mutter.« »Aha, Ihre Mutter lebt bei Ihnen.« Asiadeh sah Dr. Sachs anerkennend an. Nur ein sehr guter Mann nahm die Schwiegermutter mit ins Haus. »Nein, die Mutter wohnt nicht bei mir. Ich wohne bei der Mutter.« Asiadeh verstand nicht ganz. Vielleicht waren diese Menschen betrunken. Wein konnte Wunder vollbringen. »Und Ihr Mann erlaubt es?« Da lachten alle und sprachen durcheinander und heiter. Asiadeh verstand nicht alles, aber so viel verstand sie, daß von den vier Frauen, die geschminkt und lächelnd am Tisch saßen, nur zwei verheiratet waren, dafür aber schon mehrmals. Die Rothaarige sah Asiadehs verstörtes und verzweifeltes Gesicht und beugte sich zu ihr. »Man kann sich doch gern haben, ohne verheiratet zu sein. Nicht wahr?« Asiadeh nickte. Solches kam in der Tat vor, aber es war unmöglich, sich gern zu haben, ohne die Absicht zu haben, Kinder zu bekommen. Das war ganz unmöglich. Das mußten erwachsene Menschen doch wissen. Die erwachsenen Menschen tranken. Hassa lachte und seine Hand glitt über Asiadehs Knie. Entsetzt prallte Asiadeh zurück. Der Garten war kein Ehebett, aber vielleicht war Hassa betrunken, das kam bei Europäern vor, und sie konnten dann nichts dafür.
Die vier fremden Frauen, die viele Männer, aber keine Kinder hatten, lachten schrill, und Asiadeh verstand plötzlich, daß es ganz gleichgültig sei, ob sie verheiratet waren oder nicht. »Ich komme gleich«, flüsterte sie Hassa zu. Sie lief durch den Garten an den langen Tischen vorbei. Sie stieß sich an einem Baumast und fühlte sich einsam und gottverlassen in dem Labyrinth der trunkenen Gäste. Sie trat auf die stille Straße. Die Menschen im Garten waren wie Larven aus einem bösen Traum. Frauen wie diese gab es in dem Verbrecherviertel Tatawla oder in den trunkenen Gassen Galatas, aber es gab dort keine Männer, die Herren über den Tod waren und dennoch keine anderen Frauen finden konnten. Ein dumpfer Schmerz erfüllte Asiadeh. Sie ging durch die lange Reihe der parkenden Autos und fand Hassas Zweisitzer. Sie stieg ein und verkroch sich im weichen Leder. Die Straße war dunkel und geheimnisvoll, gleich dem Leben dieser Menschen, die freundlich und fremd waren, wie Schatten aus einer fremden unerreichbaren Welt. Asiadeh blickte in die Ferne, in die dunklen Umrisse der Weinberge. Von weit her kam Gesang. Sie vernahm die Anfangsworte des Liedes: »Ich komm aus Grinzing und bring einen winzigen Affen nach Haus.« Die Worte waren geheimnisvoll und unverständlich, wie alles in dieser fremden Stadt. Irgendwo mußte das wahre Gesicht dieser Welt verborgen sein. Irgendwo sprangen über die Äste Grinzinger Affen, die zahm und zart waren und die man nach Hause bringen konnte. Sie sah sich um. Es war kein Affe zu sehen. Tiefe Trauer überkam sie. Der Geruch des Weines und des fetten Fleisches verfolgte sie. Sie war plötzlich von einer seltsamen Schwäche ergriffen und legte den Kopf auf das Polster. So fand sie eine halbe Stunde später der erschrockene
Hassa. Verschlafen streckte sie ihm die Hände entgegen und flüsterte: »Hassa, ich habe mich verlaufen und fürchtete mich vor den Affen. Nimm mich in Schutz, Hassa.«
15
»Iß Kaviar, John.« Die Birnen leuchten grell. Die Speisen auf dem Büfett in der Mitte des Saales schimmern in allen Farben des Regenbogens. Graue Kaviarkörner sind weich und zart, voll jungfräulicher Hingabe. Die roten Hummern gleichen nachdenklichen, abgeklärten Weisen. Festungsartig erheben sich die Pasteten. Austern schwimmen in Eis und tragen in ihren blassen Schalen alle Düfte des Ozeans. John Rolland nimmt folgsam den Kaviar und quetscht über ihn eine Zitrone aus. Er ißt, und das Sausen in seinen Ohren nimmt zu. »Windstärke neun«, sagt Heptomanides und kaut genießerisch an einer Pastete. »Es ist seltsam, daß große Schiffe genau so schaukeln wie kleine.« Daraufhin erhebt sich Rolland, legt den Teller weg und eilt zum Ausgang. »Hund«, sagt er in einer fremden, aber dem Griechen allzu verständlichen Sprache. Heptomanides lächelt und greift zum Kaviar. Indessen eilt Rolland zum Promenadendeck. Der Ozean ist grau, und der Horizont kreist in tobender Geschwindigkeit vor den Augen. Windgepeitschte Wellen zerschlagen sich am Bord und gleichen ins Meer gefallenen Wolken. John Rolland läßt sich im Liegestuhl nieder. Ein Steward kommt und umwickelt seine Beine mit einem Plaid. »Kaffee? Whisky? Kognak?« »Hund«, sagt Rolland, und der Steward nickt teilnahmsvoll, denn es ist Windstärke neun.
John Rolland hat einen säuerlich-faden Geschmack im Mund und glaubt in einen unendlichen Abgrund zu stürzen. Mühselig zündet er sich eine Zigarette an und wirft sie gleich weg. Noch ein Zug, und etwas Schreckliches, nicht wieder Gutzumachendes wäre geschehen. John Rolland blickt böse auf das Paket Zigaretten und denkt bissig, daß an allem die braune Verpackung schuld sei, mit dem blöd dreinblickenden Kamel und der Wüste im Hintergrund. Er könnte jetzt ruhig in der Bar seines Hotels sitzen, wie er es vor sechs Tagen tat, und der Boden unter seinen Füßen wäre fest und eben. Sechs Tage sind es her, daß er das Paket Zigaretten aufriß, wie er es täglich tat, und seine Augen verfolgten zum ungezählten Male das blöd lächelnde Gesicht des Zigarettenkamels. Und plötzlich wuchs die Schimärenfratze des Kamels, Sand wirbelte unter seinen Füßen, Trommelschläge ertönten, trockener Wüstenwind schlug in Rollands Gesicht, er sah die weichen und zitternden Fersen des Wüstentieres, fühlte das harte, staubige Fell und streichelte mit plötzlicher Ergriffenheit das harte Papier des Zigarettenpakets. »Perikles«, sagte er damals. »Suche eine Wüste aus mit Kamelen und Moscheen. Ich gehe auf Reisen, und du begleitest mich.« Später schlief er ein, und am nächsten Tag stand Sam Dooth vor ihm mit zwei Fahrkarten nach Casablanca, und seine weisen, griechischen Augen lächelten. John Rolland bewegt seine plaidumwickelten Füße und sieht den Agenten zigarrenrauchend und zufrieden auf das Deck treten. »Wie kannst du dich nur des Lebens freuen«, sagt John bitter. »Wo doch bekanntlich Tausende von Menschen täglich allen Jammer des irdischen Tränentals auskosten müssen. Du verstehst nichts vom Weltschmerz.«
Sam Dooth nickt, nimmt neben Rolland Platz und bestellt sich einen Mokka. »Die ›Chinesische Mauer‹ läuft schon die vierte Woche am Broadway«, sagt er. »Ich habe allen Grund, zufrieden zu sein.« »Ich habe sie geschrieben«, haucht Rolland. »Und ich vergehe vor Schmerz, wenn ich an das Schicksal der werdenden Mütter in Indien denke.« »Daran denkt man immer bei Windstärke neun«, sagt Sam Dooth und nippt am Mokka. »Ich bin nämlich schon neunmal über den Ozean gefahren.« Rolland fühlt sich tief gekränkt. Er will sich aufrichten und dem Agenten sagen, daß alle Griechen Amphibien seien, schon Odysseus war ein Pirat, von den Argonauten ganz zu schweigen. Er will ihm sagen, daß seine, Johns, Ahnen immer erdgebundene Menschen waren, die drei Kontinente bezwangen, aber für die Freiheit der Meere eintraten, daß es unmenschlich sei, in einer Nußschale von nur 40 000 Tonnen über den Ozean zu fahren und er ihn nie wieder Sam Dooth, sondern nur noch Perikles Heptomanides nennen werde. Statt dessen erhebt er sich im Sessel, blickt mit brechenden Augen zum Agenten hinüber und sagt lächelnd: »Sam, mein Lieber. Ich will mich hinlegen. Mein Testament ist beim Portier des Barbison-Plaza-Hotels hinterlegt.« Er geht etwas taumelnd über das Deck, hält sich am Treppengeländer fest und öffnet die Tür seiner Kabine. Dann liegt er entkleidet, mit geschlossenen Augen in seinem Bett, sein Körper sinkt in den Abgrund und wird von einer unsichtbaren Hand wieder hochgeworfen, er faltet seine Hände über der Decke und denkt, wie er sechs Jahre alt war und auf dem Schoße des Sultans Abdul-Hamid schaukelte. AbdulHamid war ein blutbefleckter Mann, er hatte eingefallene Lippen, kleine listige Augen, eine mächtige herabhängende
Nase, und alle Welt fürchtete sich vor ihm. Aber John Rolland saß auf seinem Schoß, der blutige Sultan tätschelte seine Wangen, und er mußte ein persisches Gedicht aufsagen, von dem er nur noch eine Zeile kannte: »Taze bitaze, un binu.« – »Immer frischer und frischer, immer neuer und neuer.« »Ich bin weder frisch noch neu«, denkt Rolland und schließt die Augen. Es vergehen Minuten, doch während dieser Minuten wird der blutige Sultan gestürzt, ein neuer Sultan umgürtet sich mit dem Schwerte Osmans, und John Rolland wohnt in einem Palais von Eunuchen und Frauen umgeben. Hin und wieder trägt er eine rotblaue Uniform und drückt Würdenträgern die Hand. Dann sitzt er auf einem breiten Teppich, liest Bücher, schreibt Gedichte, und eine schlanke Sklavin bedient ihn und führt ihn in die Geheimnisse der Liebe ein. Dann versinkt sein Körper in einen Abgrund, und Sam Dooth reicht ihm Orangensaft und hat ein gemeines Lächeln um den Mund. Wieder vergehen Minuten, doch während dieser Minuten geht die Sonne im Osten auf und versinkt im trüben Rot des Westens. Die Windstärke steigt auf zehn. Sam Dooth sitzt in Rollands Kabine und summt ein griechisches Liedchen von dem Hafenarbeiter Dschordschaki, der eine reiche Witwe verführte und mit dem Gelde nach Saloniki floh. Für kurze Augenblicke richtet sich John Rolland auf und bedauert das Schicksal der Witwen Indiens und der werdenden Mütter Amerikas. Dann will er, sofort und auf der Stelle, einen Kulturfilm über Kamele schreiben und eine bekannte Zigarettenfirma auf körperliche Mißhandlung verklagen. Aber nun ist die Windstärke auf elf gestiegen. Sam Dooth grinst verlegen und verschwindet mit gelblichgrünem Gesicht in seiner Kabine, und John Rolland denkt an sein verlassenes Zimmer in New York und füllt sich mit Weltschmerz. Er hört
das Toben des Ozeans und versucht an die stillen Gewässer des Bosporus zu denken, doch es gelingt ihm nicht. Und wieder fällt fahles Sonnenlicht in die Kabine. John schließt die Augen, öffnet sie und wundert sich, daß es doch der Mond ist, und er dachte, es sei die Sonne. Er schläft ein, und es fällt ihm ein, daß er einen Film schreiben könnte mit dem Titel »Fester Boden«. Plötzlich wacht er auf. Das Schiff steht still, wie ein Soldat auf Wache. John geht ans Fenster und sieht einen grünlichgrauen Streifen Landes, eine Stadt mit weißen, viereckigen Häusern, Gebetstürmen, Moscheekuppeln und ein dunkles Gesicht am Ufer, mit Augen, die sehnsüchtig auf seine Kabine gerichtet sind. »Afrika«, sagt Sam Dooth und tritt in die Kabine. »Wir steigen in Rabat im Splendid-Palace ab. Ich habe Zimmer bestellt. Später können wir in die Oase fahren, ich habe vergessen, wie sie heißt, aber das Hotel dort heißt Mediterranee. Mit fließendem Wasser natürlich.« John Rolland rasiert sich und sieht im Fenster das schimärenhafte Gesicht eines vorbeiziehenden Kamels. Er nimmt eine Handtasche und eilt an Deck. Der Wind schlägt in sein Gesicht, und er sieht die Zweige der großen Palmen. »Komm nach Afrika«, sagt er und hält die Hand des Agenten. Er geht die Falltreppe hinunter und betritt tief aufatmend den Boden Casablancas. Dreihundert enge, steile Stufen, ein schmaler Gang, und ein verwitterter Mann mit zerzaustem Bart berührt mit zaghafter Zärtlichkeit die Steine des Hassan-Turms. Unten liegt Rabat. John Rolland sieht auf die viereckigen weißen Häuser herab, und der verwitterte Führer sagt: »Diese Stadt ist wie ein weißes Mädchen an der Brust eines schwarzen Sklaven.« John Rolland schweigt. Er sieht die weiße Stadt, den Ozean und die graue Linie des Sandes am Horizont.
»Diesen Turm«, erzählt der Araber und blickt wehmütig in die Ferne, »errichtete Hassan, derselbe, der die Giralda in Sevilla errichtet hatte.« Er verstummt. In den Falten seines Gewandes liegt Staub. John Rolland sieht den Sand, das alte verwitterte Gesicht und die kahlen Steine des Turms. »An dieser Stelle«, sagt der Araber, »sollte Hassan im Auftrage des Kalifen eine zweite Alhambra erbauen. Doch nur der Turm konnte vollendet werderi. Tage und Nächte verbrachte der Meister hier auf dem flachen Dach. Als aber der Kalif eines Nachts das weise Meditieren des Meisters unterbrechen wollte und die dreihundert Stufen zum Turm emporstieg, fand er den weisen Hassan in den Umarmungen seiner Frau. So blieben Moschee und Palast unvollendet.« Der Araber schweigt. Er tritt an den Rand des Turms und zeigt in die Tiefe. »Dort an jenem Stein zerschmetterten Hassans Glieder.« John Rolland blickt in die Tiefe. Eine dicke Ader schwillt an seiner Stirn. Plötzlich spuckt er in den Abgrund und ruft leidenschaftlich und in Arabisch: »Sohn einer Hündin! Die Frau des Kalifen zu verführen!!!« Der Führer hört den arabischen Fluch und erstarrt. Sam Dooth reicht ihm einen Geldschein und deutet unauffällig auf seinen Kopf. »Vorsicht! Der junge Herr ist nicht ganz recht bei Sinnen.« Er führt Rolland herunter, sie fahren zur Stadt und wandern durch die engen Basargassen. Kamele gehen vorbei, und ihre Köpfe bewegen sich wie Ähren im Wind. Sie betreten das Kaffeehaus. »Kaffee«, befiehlt Rolland und zieht an einer langen Wasserpfeife. Er schweigt verbissen, seine Zähne bohren sich in das Bernsteinmundstück, und Sam Dooth wird es bange. »Komm ins Hotel«, sagt er, und John nickt.
Abends sitzt er in der Hotelbar, er trägt einen Smoking, er trinkt einen Hennessy und erklärt seinem Nachbarn, einem französischen Kaufmann, er sei Amerikaner, reise aus Langeweile und spreche nur Englisch. »Dieses hier scheint ein wildes Land zu sein«, sagt er überheblich. »Die Eingeborenen sehen so ungewaschen aus. Ich vermute, daß sie nur sehr selten von ihren Badewannen Gebrauch machen.« »Sehr richtig«, sagt der Franzose. »Sie haben gar keine Badewannen. Sie sind in der Tat schmutzig.« »Sprechen diese Farbigen Französisch oder haben sie eine Sprache für sich?« fragt Rolland harmlos. »Sie haben eine Sprache für sich, aber das ist eine wilde Sprache, die kein Mensch erlernen kann.« Die Unwissenheit des Fremden rührt den Franzosen. Er fühlt sich verpflichtet, den Amerikaner zu belehren. »Wissen Sie«, er lächelt. »Bevor wir ins Land kamen, waren es beinahe Menschenfresser. Richtige Barbaren. Noch vor zweihundert Jahren regierte hier ein Monstrum – er hieß Kalif Mulai Ismail. Stellen Sie sich nur vor: – er hinterließ zwölfhundert Söhne und achthundert Töchter. Ein ganzes selbstgemachtes Volk.« Der Franzose lacht schallend, und John Rolland lacht mit. »Es muß schwer sein, sich unter so viel Kindern zurechtzufinden«, meint er nachdenklich. »Allein die Geburtstage…« »Aber diese Leute feiern doch keine Geburtstage. Es sind doch Wilde. Seinen ältesten und schönsten Sohn hat jener Kalif zwischen zwei Bretter legen lassen, und Neger aus Timbuktu haben ihn langsam zersägt.« »Schrecklich! Wie ein Sandwich«, meint Rolland. »Wie gut, daß es keine Kalifen mehr gibt.«
»Es gibt noch welche, aber sie spielen keine Rolle mehr. Nur zum Schein. Übrigens – morgen ist Freitag. Da gibt es bei den Wilden eine Art Parade. Kommen Sie um elf Uhr zum Palasthof Sie werden sich amüsieren.« »Ich komme«, sagt Rolland sehr ernst und blickt zu Sam Dooth, der Salzmandeln kaut und besorgt dreinschaut.
Es war halb elf Uhr, als John Rolland den ungeheuren Hof des weißen Palastes betrat. Sam ging hinter ihm her, trug einen Photoapparat und hatte ein vergrämtes Gesicht. Es wäre besser gewesen, wenn John keine Paläste und keine Kalifen besuchen würde. Aber John war eigensinnig und bohrte in den Wunden herum, die längst geschlossen sein sollten. Der sonnenübergossene Platz war von berittenen Gardisten besetzt. Dicke Neger mit glänzenden Gesichtern, blauen Lippen, roten Hosen und schneeweißen Turbans saßen wie versteinert auf edlen arabischen Rossen. »Neger aus Timbuktu«, flüsterte John und dachte an den Prinzen, der einst am Rande der Stadt von den Ahnen dieser Neger zersägt wurde. Ein Trompetensignal durchschnitt die Luft. Stahl blitzte in den Händen der Negergarde. Degen und Fahnen senkten sich. Langsam öffnete sich die Innentür des Palastes. Die Reihe der Würdenträger sank in die Knie. Rote Fes berührten das Gras des Hofes. Zwei Offiziere der kaiserlich scherifischen Garde ritten aus dem Palais. Hinter ihnen mit ruhigem, vornehmem Schritt zwei Neger. An ihrem Zaumzeug ein schneeweißer Hengst. Ein goldgeschmückter Sattel bedeckt seinen Rücken. Der Reiter fehlt. Das Pferd schreitet langsam und gravitätisch. Hinter dem Pferd gebückte Schultern, lange Bärte, wallende, schneeweiße Gewänder – die Minister des scherifischen Kaiserreiches. Und dann – eine große Karosse, reich vergoldet
mit verschlossenen Spiegelscheiben. Hinter dem Fensterglas ein schmales, dunkles Gesicht, zwei schwarze Augen und zarte Hände, die mit einem Perlenkranz spielen – Seine Majestät der Kalif und Scherif. Ein wilder Ruf der schwarzen Offiziere. Die Reihen der Reiter schließen sich. Über der Moschee entfaltet sich langsam die grüne Fahne des Propheten. Von der Menge der Zuschauer löst sich plötzlich ein Mann. Er rast über den grünen Hof, und seine Hände fuchteln wild in der Luft. Ein rundlicher Herr mit einem Photoapparat über der Schulter folgt ihm. Er bleibt an der Pforte stehen. Er brüllt in einer fremden unverständlichen Sprache, und seine grauen Augen werden ganz weiß. »Hoheit«, ruft der Dicke. »Hoheit, beruhigen Sie sich.« Da ergreifen ihn zwei lange, plötzlich kraftvolle Hände am Kragen, die Hände rütteln ihn wild, die schiefen Lippen sind schaumbedeckt, graue, rasende Augen nähern sich dem Gesichte des Dicken, und eine ganz fremde heisere Stimme ruft: »Weg von hier! Weg! Gleich! Auf der Stelle! Es gibt keine Kalifen mehr. Narrentanz! Moscheen! Kamele! Zigaretten! Rasch weg!« Er springt in ein Taxi, der Dicke folgt ihm. »Wohin?« fragt er ganz gebrochen. »Zum Flugplatz.« Plötzlich legt der Rasende seinen Kopf auf die Schulter des Freundes, sein Körper zittert, der Freund hört krampfhaftes Schluchzen. »Es gibt dies ja nicht«, jammert Rolland und weint über das entschwundene Reich, über die Kalifen am Bosporus, über die lange Reihe der kaiserlichen Prinzen, die vor ihm lebten, Gedichte schrieben, in verbotenen Palästen wohnten und ihn in diese fremde, böse, kalte Welt setzten, damit er noch einmal in den bunten Röcken der Negergarde, in dem langsamen Schnitt der Minister, in der Karosse des fremden Kalifen der
entschwundenen Pracht des kaiserlichen Selamlik am Bosporus gedenke. Er richtet sich auf, und seine Lippen werden ganz schmal. »Wir fliegen nach Paris. Da gibt es keine Moscheen und keine Monarchen.« »Darf ich alleruntertänigst berichten – ich meine im Hinblick auf deine Gesundheit. Es gibt in Paris eine große und schöne Marmormoschee. Außerdem wohnt dort der Schahinschah, der abgedankte Kaiser von Persien. Auch einige Verwandte des landesverwiesenen und verschollenen Prinzen Abdul-Kerim dürften sich in Paris aufhalten.« »Dann nicht.« John Rolland richtet sich die Krawatte zurecht und hat nichts mehr mit dem landesverwiesenen Prinzen gemein. »Dann woanders. In ein normales, gesundes Land, ohne Gespenster und ohne Neger. Ich will mich in Europa amüsieren. Verstehst du, amüsieren.« »Vielleicht Berlin«, schlägt Sam Dooth vor, und John nickt gleichgültig und ermüdet. »Gut«, sagt er. »Nach Berlin.« Das Taxi hält am Flugplatz.
16
Abends schlendert John Rolland über den Kurfürstendamm. Er sieht die leuchtenden Lichter Berlins und bestellt bei Kempinski eine kalte Ente. »Ich will ein solideres, gesünderes Leben beginnen«, sagt er zu Sam Dooth, und Sani nickt, denn er hat diesen Spruch schon oft gehört. Sie gehen zur Hardenbergstraße und beginnen ein neues Leben. Um ein Uhr nachts verlassen sie die Barberina-Bar. John Rolland taumelt und versucht einem Taxichauffeur die Vorzüge des abstinenten Lebens klarzumachen. Der Taxichauffeur hört melancholisch zu, sieht das dunkle Gesicht Sam Dooths, sieht Rollands orientalisches Profil und fährt die Gäste die Kaiserallee hinunter zum Restaurant Orient. Dort setzt er sie ab, und die beiden verschwinden hinter dem rotverhängten Eingang. Es ist halb zwei Uhr. Der rötliche, teppichbelegte Saal des Lokals ist voll Menschen. Am Klavier sitzt ein junger Mann und spielt Foxtrott, Onestep, Tango, einmal sogar einen Walzer. Köpfe bewegen sich im Takt der Melodie und gleichen Radieschen, die lange im Wasser gelegen waren. Hinter dem Tabakqualm blitzen manchmal im gähnenden Munde Goldzähne auf. Der ganze Saal gleicht in seinem Dunkelrot einem Rachen, ausgefüllt mit falschen, vergoldeten Zähnen, Kellner schleichen durch den Saal wie Marionetten in einem türkischen Schattenspiel. Rechnungen breiten sich über die Teller und gleichen den Gnadengesuchen des Wirtes an die Gäste. Langsam leert sich der Saal. Die halbtrunkenen Gäste sitzen schweigend in morgendliche Dämmerung versunken.
Ihre Gesichter sind fahl und bleich wie die Köpfe in einem Wachsfigurenkabinett. Niemand beachtet mehr die Musik, die der Mann am Klavier produziert. Niemand merkt, wie der lärmende Foxtrott immer leiser wird und dann langsam in eine seltsame, aufreizende und fremde Melodie übergeht. In dem nächtlich verqualmten Saal erklingt etwas, was einer Hymne gleicht, und John Rolland erkennt in den Tönen der Hymne den Gang einer Bajadere und das matte Blau einer persischen Miniaturzeichnung. Er verspürt Durst, trinkt rasch einen Cocktail und blickt zu Sam Dooth hinüber. »Indochinesische Tonleiter«, sagt er und zwinkert. Sam Dooth ruft den Ober. Fünf Minuten später sitzt der Musiker vor John Rolland. Weingläser bedecken den Tisch, und John Rolland spricht englisch und überheblich. »Ihre Musik«, sagt er, »verläuft in ab- und aufsteigenden Skalen. Seltsam, diese klagenden Molltöne. Man sollte sie auf Flöten spielen.« »Ja«, sagt der Musiker und läßt den Wein unberührt. »Es ist eine ganz andere Polyphonie. Das Tonsystem baut sich auf dem Dreiklang Prim-Quarte-Quinte auf. Die übermäßigen Sekunden lassen die Herkunft der ganzen Harmonik erkennen.« John Rolland hört diese Worte und wird traurig. »Ich bin ein verkommener und versoffener Mensch«, denkt er. »Ich bin in Europa und gehe durch die Nachtlokale, anstatt mich mit den Fragen der Kultur zu befassen.« Der fremde Musiker summt ein Lied. Seine Finger trommeln auf dem Tisch den Takt. John Rolland hört scharf zu und sagt: »Das Lied muß bei jeder Reprise eine Sekunde höher einsetzen. Die Schlußakkorde ergeben dann die natürliche Transposition.« Er singt, und der Musiker hört erstaunt zu.
»Trinken Sie«, sagt Rolland und schiebt dem Musiker das Glas zu. »Danke, ich trinke nicht«, sagt der Musiker höflich. »Ich bin nämlich ein Muslim. Ein Tscherkesse, aus Istanbul. Ich war früher bei der kaiserlichen Garde.« Daraufhin muß Sam Dooth rasch zahlen, und John verläßt fluchtartig das Lokal. Das Taxi bringt die beiden zum EdenHotel. Auf der Schwelle seines Zimmers schwört Rolland, morgen ein neues Leben zu beginnen, und Sam Dooth blickt gedankenvoll vor sich hin und nickt. John Rolland erhebt sich um zwölf Uhr. Er hat einen schweren Kopf und eine dunkle Erinnerung an aufregende Musik. »Hier ist Europa«, denkt er, »Berlin ist die Stadt der Arbeit und der Kultur. Ich muß mich ihrer würdig zeigen.« Er zieht sich an und sagt nachlässig zu Sam: »Heptomanides, ich gehe in ein Museum. Du bleibst hier. Museen sind nichts für dich. Ich aber brauche Inspiration und kulturelle Durchdringung.« Er verläßt das Hotel und steht unschlüssig auf der Straße. Er weiß nicht, wo sich das Museum befindet und fürchtet sich vor dem kühlen Dunkel der großen Säle. Er biegt nach links ein, sieht eine große Kirche, betritt sie und hat das Gefühl, eine Kulturtat zu begehen. Er beschaut fachmännisch die romanischen Pfeiler und ist sehr zufrieden. »Vierzehntes Jahrhundert, nicht wahr?« fragt er den Kirchendiener. »Nein«, sagt der Diener. »Es ist die Kaiser-WilhelmGedächtniskirche. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.« John Rolland verläßt eiligst die Kirche. Er geht durch die breite Straße und stellt befriedigt fest, daß sie nach dem Namen des großen Philosophen Kant benannt ist. Er fühlt sich
dadurch gehoben und in eine Atmosphäre höherer Kultur versetzt. »Eine schöne Stadt«, denkt er und bleibt vor der Auslage eines Geschäftes stehen. Er sieht bunte Teppiche mit weichen, gerundeten Mustern. Zwischen den Teppichen liegen vergilbte persische Handschriften mit blassen Miniaturzeichnungen. Prinzen mit mandelförmigen Augen trinken aus goldenen Bechern, und in der Ferne steht ein Reh, erschrocken und mit einem elegant erhobenen Bein. John Rolland betrachtet aufmerksam die Auslage. »Sehr gut«, denkt er und weiß, daß er sich in der Welt der Handschriften und Miniaturen nicht verirren wird. Er denkt an den Barbaren, der im Geschäft sitzt und wahrscheinlich ebensowenig von persischen Miniaturen versteht wie er, Rolland, vom romanischen Baustil. Ein unklares Rachegefühl steigt in ihm auf, und er will den Barbaren, der Miniaturen verkauft, ebenso beschämen, wie der Kirchendiener ihn beschämt hat. Er tritt ins Geschäft. Ein alter Mann mit kleinen und müden Augen erhebt sich. »Zeigen Sie mir persische Miniaturzeichnungen«, sagt Rolland auf englisch. Der Alte nickt. Vor Johns Augen entfalten sich Landschaften, Jagdszenen und Gelage. »Dieses da«, sagt der Alte und zeigt auf eine Schar von Engeln im leichtbewölkten Himmel, »dieses da ist eine Kopie des großen Buchari, aus der Schule des Achmed Fabrisi.« »Nichts für mich«, sagt John Rolland und beißt sich in die Lippen. »Ich möchte eine Landschaft haben mit leicht chinesischem Einschlag, aber doch voll persischen Gefühls. Etwa so, wie sie Dschani zeichnete für den Scheich Ibrahim elGülschani.« Der alte Mann sieht ihn durchdringend an. »Leider«, sagt er in gebrochenem Englisch. »Wir haben es nicht. Das fünfzehnte Jahrhundert ist bei uns schwach
vertreten. Aber hier etwas aus den Zeiten Abbas des Großen. Sehen Sie – die gelblichen Herbstbäume mit den Lichteffekten der Sonnenuntergänge, alles von leichtem Nebel verdeckt. Es könnte von Mani sein, so zart sind die Farben.« John Rolland sieht das Blatt. Seine Hände streicheln liebevoll den Propheten Jonas im Gewand eines persischen Prinzen. »Ich nehme es«, sagt er. »Aber es ist eine dekadente Kunst, diese indische Schule. Ich möchte etwas Gesünderes, etwas Lebensbejahenderes haben, so wie es Schudscha ed-Dauleh malte. Sie wissen, was ich meine?« »Ich weiß es sehr wohl, Kaiserliche Hoheit«, sagt der Alte auf türkisch. »Ich weiß genau, was Sie brauchen, aber ich habe es nicht mehr.« John Rolland hebt den Kopf. Der Alte steht in tiefer Verbeugung, und die Tür des Geschäftes ist geschlossen. John Rolland macht eine hastige Bewegung, als wollte er fliehen. Er sieht Teppiche und Miniaturen, er riecht den süßlich-dumpfen Geruch des Ladens, und Wirklichkeit und Traum, Vergangenheit und Gegenwart verschieben sich plötzlich wie in einer jähen Vision. »Hoheit«, sagt die Stimme des Alten, »es ist meine Schuld. Straft mich. Ich hätte wissen müssen: – eines Tages wird Hoheit kommen und danach verlangen, was ihm gebührt und was ich leichtfertig weggab. Frauen haben weder Verstand noch Geduld. Ich aber bin ein alter Mann und müßte sie halten.« John Rolland flattert es vor den Augen. Wovon spricht der Alte? Was will er? Die Hände des Greises zittern, er preßt sie zusammen, und seine Augen blicken fassungslos. »Meine Schuld, Prinz«, wiederholt er. »Meine Schuld, Asiadeh hat geheiratet, und ich habe es zugelassen. Richtet mich!«
Rolland steht in der Mitte des Ladens. Seine Stimme klingt plötzlich herrisch. Er vergißt das dünne Paßheft in der Tasche, das auf den Namen Rolland ausgestellt ist. Er fühlt sich erkannt und entlarvt. »Wer sind Sie?« fragt er im weichen Palasttürkisch seiner Ahnen. »Achmed-Pascha Anbari. Asiadeh ist meine Tochter.« »Aha«, sagt Rolland und entsinnt sich eines wirren Briefes an einen landesverwiesenen und verschollenen Prinzen. »Was ist aus der Frau geworden, die der Kaiser mir zugedacht hat?« Achmed-Pascha steht gebückt. Er ist ganz Demut und Wonne, denn er spricht mit einem Prinzen aus dem heiligen Geschlechte Osman. Er erzählt von Asiadeh, von dem fremden Mann, seine Sätze sind lang und ehrfürchtig, der Prinz steht da mit gerunzelter Stirn, und die Teppiche an den Wänden sind wie in den Palästen am Bosporus. »Schande«, sagt der Prinz. »Schande!« und hat das Gefühl, daß ihm etwas genommen sei, was ihm von Rechts wegen zustehe. »Schande!« wiederholte er inbrünstig und schlägt mit der Hand auf einen Teppich. »Dazu saßest du in der Hohen Pforte auf dem Teppich unserer Gunst, dazu haben wir dich aus dem Staube erhoben und mit Gunst überschüttet! In die Wüste mit dir, in die Verbannung!!« Er entsinnt sich plötzlich, daß er Rolland heißt und Filmautor in New York ist. Das Ganze kommt ihm ungemein lächerlich vor. »Schon gut«, sagt er versöhnlich, denn der Pascha ist im Begriff niederzuknien. »Schon gut.« Er reicht ihm die Hand, und der Alte küßt sie ehrerbietig. »Gehen wir essen«, sagt Rolland unvermittelt, denn er hat genug von der dumpfen Luft des Ladens, von dem Zwielicht der rötlichen Teppiche und den milden Farben der Miniaturen. »Gehen wir.«
Der Pascha sieht ihn bestürzt an. »Welche Ehre«, sagt er und denkt an das Gift, das der Prinz ihm in die Speisen einmengen wird, und an den Tod, den er verdient hat. Aber der Prinz denkt nicht an Gift, er geht zu Kempinski und bestellt ein Essen, streng nach den kulinarischen Regeln des alten Reiches, ohne Alkohol und ohne Schweinefleisch, denn er weiß plötzlich, was sich gehört. »Ich bin jetzt kein Prinz mehr«, sagt John Rolland beim Essen. »Ich bin ein Autor, das heißt Künstler.« »Ein königlicher Beruf«, meint der Pascha. »Viele Ihrer erlauchten Ahnen waren große Künstler.« »Ich bin kein großer Künstler«, sagt Rolland ernst. »Jeder Mensch ist der sterbliche Sohn, der den ewigen Vater in sich trägt. Der Zweck der Kunst ist, den unsichtbaren Atem des Vaters durch ein Fühlbares und Sichtbares auszudrücken. Wenn dem Menschen nichts anderes gelingt, als den Sohn zu erfassen und darzustellen – und nur das gelingt mir –, so ist seine Kunst nur ein oberflächliches und unbedeutendes Werk. Wenn er bestrebt ist, durch abstrakte Ideen einzig und allein den Vater darzustellen, schafft er kein Kunstwerk, sondern Metaphysik. Das Unsterbliche, das in uns lebt, das durch das Wort zu fassen – das ist Magie. Das Wort muß die Materie erkennen – so wie Adam Eva erkannte. Aber mein Wort vermag es nicht.« »Weil es ein fremdes Wort ist, in einer fremden Sprache gesprochen«, sagt der Pascha und faltet traurig die Stirn. »Ich glaube, daß die Sprachen Europas allmählich die Kraft verlieren, die im Worte wohnt. Sie werden zu einer Sache der Technik, eine reine Verstandesübung, ein neutrales, entmanntes Mittel der Verständigung. Wir im Orient sind animalischer, wir fühlen noch die Kraft des Wortes, und das ist der Unterschied zwischen Ost und West.«
»Nein«, sagt Rolland und schüttelt den Kopf. Er spricht langsam und eindringlich und hat plötzlich das Gefühl, in einem orientalischen Palastsaal zu sitzen, inmitten einer Gesellschaft von Weisen. »Im westlichen Bewußtsein«, sagt er, »herrscht das Individuelle vor, das Persönliche. In unserem die Empfindung, daß wir unlöslich mit dem Ganzen verbunden sind. Der Westen ist losgelöst von dem großen All, das Band zwischen ihm und dem Universum ist durchschnitten. Durch Dünkel droht der Westen eine individualistische Monade zu werden, die Gräben um sich zieht, um sich zu isolieren. Der Osten ist zwiegeschlechtlich, er lebt und handelt in Verbundenheit mit dem All. Das ist der Grund dafür, daß die orientalische Kunst etwas Unvollkommenes und gleichsam Unbegrenztes hat, während die Kunst des Westens persönlich und fest umrissen ist. Wenn ich kein verkommener Mensch wäre und gestalten dürfte, müßte ich erst meine Seele aus dem kosmischen Ozean auftauchen lassen, der in mir brandet. Bei dem westlichen Künstler ist es gerade umgekehrt. Aber auch das ist im Grunde gleich, denn wir alle sind nur durchsichtige Masken des Unsichtbaren.« »Hoheit sind nicht verkommen«, sagt der Pascha ernst. »Hoheit haben kein Vertrauen zum Vater. Hoheit müssen bedenken: im Orientalischen herrscht der Vater vor, im Okzidentalen der Sohn. Das Streben des Künstlers muß darauf gerichtet sein, in jedem Geschehen den Vater zu finden.« »Ich kann es nicht«, sagt Rolland. »Ich bin nämlich feige. Ich fürchte mich vor der Welt der sichtbaren Form. Wollte ich reine Kunst schaffen, so wäre es eine ins Ästhetische übertragene Wollust. Aber die wahre Kunst ist etwas Erhabenes. Sie ist eine wahre Magie, in der das Wort den unsichtbaren Hauch anzieht und festhält, um ihn zu zwingen, Leib zu werden und sich den Menschen zu zeigen. Darum
kann ein wahrer Künstler wie ein Gott schaffen. Am Anfang war das Wort.« Rolland verstummt und blickt verträumt um sich. Er sieht den großen Raum von Kempinski, sieht kauende Zähne, vorgebeugte Gesichter. Ein Ekel ergreift ihn, er will wieder allein sein, fern der satten kauenden Welt. Er denkt, daß dieser Wunsch all dem widerspricht, was er eben gesagt hat, und verspürt einen heftigen Durst. Er will trinken, damit sich die inneren Formen der sichtbaren Welt verwischen und er wieder allein sein kann, allein und wunschlos in der großen feindlichen Wüste. Er unterdrückt das heftige Verlangen, denn er ist ein Prinz des heiligen Geschlechtes, und am Tisch sitzt ein frommer Pascha mit müden und bittenden Augen. So spricht er also weiter, beinahe mechanisch, und der Pascha schaut ihn an und denkt an das Unglück des Hauses Osman, und an seine Tochter, die dem Prinzen helfen könnte und die nun fort ist. Scham und Trauer überkommen ihn. Des Prinzen Gesicht ist die durchsichtige Maske des Unsichtbaren, und der Pascha sieht in dieser Maske mehr, als der Prinz selbst von sich weiß oder von sich ahnt. »Eine Frau fehlt ihm, eine gute Frau«, denkt der Pascha, aber er traut sich nicht, das zu sagen, denn Rollands Gesicht ist wieder kalt und überheblich, er trommelt mit dem Finger auf die Tischplatte und sagt: »Verraten und verlassen habt ihr mich. Das Haus, das Reich, die Herrschaft. Und die ältesten Diener des Thrones geben Frauen, die mir gehören, anderen Männern hin.« Der Pascha schweigt, er denkt an die blonde Asiadeh, er denkt daran, daß er, wenn er ein Prinz wäre, mit bewaffneter Hand sich das Weib zurückholen würde, das ihm bestimmt war. Aber er ist kein Prinz, sondern nur ein alter Mann, der im Laden in der Kantstraße sitzt und Teppiche verkauft, und es gibt keine Frau mehr, die für ihn bestimmt wäre.
»Gehen wir«, sagt Rolland. Er betritt die Straße, und der alte Mann torkelt neben ihm wie ein Gespenst der Trauer. Er erzählt wieder von Asiadeh, von ihrem Mann, von der Stadt Wien, in der es herrliches Wasser gebe, und Rolland hört ihm lässig zu, denn Frauen sind für ihn störende und lärmende Spielzeuge, wertloser und nutzloser als eine Flasche guter Whisky. An der Kantstraße trennt er sich vom Pascha und geht langsam nach Hause. Die Straße ist breit und sauber. Rolland sieht die Gesichter der Menschen, und sie kommen ihm zufrieden und satt vor. Er fühlt eine große und dumpfe Leere in sich aufsteigen, er will die Menschen erdrücken und erwürgen, die zu leben wagen und die zufrieden sind, während das alte Reich zerfallen ist. Er denkt an den Pascha, an seine traurigen Augen, seinen gebückten Gang, und ein Gefühl schmerzlicher Einsamkeit überkommt ihn. Er will zurück, um über persische Miniaturen zu sprechen und über den Unsichtbaren, der sich durch die durchsichtige Maske des Irdischen offenbart. Aber er geht nicht zurück, denn das alte Reich ist zerfallen und Tote soll man ruhen lassen. Statt dessen betritt er das Hotel, sieht, wie Sam Dooth die Zeitung liest, klopft ihm auf die Schulter und sagt, für sich selbst völlig überraschend: »Auf, Perikles, wir fahren nach Wien!«
17
Der Wagen fuhr über die kurvenreiche Chaussee. Links im Tal erhoben sich die weißgetünchten Türme der Dorfkirchen. Die grünen Wiesen glänzten im Schein der sommerlichen Sonne. Satte Kühe standen am Wegrand und blickten mit runden, feuchten Augen auf das Auto. Kinder mit verstaubten Füßen saßen unter den Bäumen und spielten mit trockenem Geäst. Rechts erhoben sich weiche grüne Hügel. Die hellen Farben des späten Sommers bedeckten die Erde, und die Sonne war nahe, mild und vertraut wie ein alter Freund. Asiadeh saß am Volant. Das Auto fuhr langsam zum Semmering hinauf, Asiadehs Fuß drückte den Gashebel, als wäre es ein gebrechliches Spielzeug. Ein Druck – und das Auto schoß vorwärts wie ein rasendes losgelassenes Pferd. Eine leichte Bewegung des Fußes, und das Auto verlangsamte die Fahrt wie ein folgsames zahmes Haustier. Asiadehs Augen streiften über die Landschaft. Sie sah die grünen Wiesen, die Kirchtürme im Tal und die Kruzifixe am Rande der Kurven. Es war ein seltsames Gefühl durch eine Handbewegung, durch einen kaum merkbaren Druck des Fußes einen wirren Haufen von Stahl, Rädern, Lampen, Röhren und Pneus zu beherrschen. Sie steuerte, den Rücken gegen die weiche Lehne gestützt. Die Augen, die Hände, die Füße waren mit der Maschine verbunden. Manchmal lächelte Asiadeh und glättete die gerunzelte Stirn. Vorsichtig bog sie um die Kurve, der Fuß drückte auf den Gashebel, die Maschine schoß vor, und die Gedanken blieben zurück, wanderten schneller als jedes Auto die kilometerlange Strecke nach Wien zurück, zur Wohnung
am Ring, zu Hassa, der in der Wohnung saß, schweißtriefend und abgehetzt in der Glut der sommerlichen Sonne. Die Fenster der Wohnung am Ring waren stets verhängt. Asiadeh besuchte die Strandbäder und die Kaffeehäuser. Sie kam nach Hause und stieß auf fremde Menschen, die im Wartezimmer saßen und in Zeitschriften blätterten. Im kleinen Salon mit den Erkerfenstern roch es ein wenig nach Medizin. Im Nebenzimmer klapperte Hassa mit Instrumenten. Manchmal ertönte seine laute Stimme: »Zweiundzwanzig!« schrie er. »Hören Sie gut? Zweiundzwanzig!« »Vierzehn«, antwortete ein Patient, und wieder klapperten die Instrumente. Dann kam Hassa heraus, im weißen Kittel und schweißtriefend. Er küßte flüchtig Asiadeh, und seine Augen blickten so abwesend, daß sie fürchtete, er werde gleich »zweiundzwanzig« sagen und eine Diagnose stellen. Er stellte aber keine Diagnose. Er ließ sich für wenige Augenblicke in den Sessel nieder, hielt Asiadehs Hand in der seinen und verschwand dann wieder im Ordinationszimmer. »Sagen Sie ›i‹«, schrie er, und eine hohe Stimme sagte klagend und furchtsam »i-i-i-i-i…« Asiadeh ging in den großen Salon. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Bücher. Die philologischen Zeitschriften hatten farblose Umschläge und glichen beleidigten alten Jungfrauen. Schuldbewußt öffnete Asiadeh ein Heft. Sie erfuhr, daß das Diapason der Polystadialität der georgischen Sprache sich von der amorphen Stufe bis zur flektivischen erstreckt. Es klang unverständlich, aber Asiadeh verstand es dennoch und war erstaunt, warum dieser unerhörte Diapason sie so kühl ließ. Gelangweilt überflog sie ein paar Seiten. Am Ende des Heftes stand die Mitteilung, daß Prof. Schanidse am Wan-See Palimpseste mit hanmetischen Texten entdeckt habe. Erbost klappte sie das Heft zu. Seit sie verheiratet war,
verloren die rätselhaften Formen der fremden Worte ihren magischen Reiz. Grob und ungeschliffen klangen sie in ihren Ohren und weckten keinerlei Vorstellungen an schlitzäugige Nomaden und ferne Steppen. In Hassas Zimmer klingelte das Telephon. »Ja«, hörte sie, »Sie können heute noch kommen. Sagen wir um halb sieben Uhr.« Sie wußte Bescheid. Die Ordination würde bis acht Uhr dauern. Sie trabte zum Kaffeehaus und las Zeitschriften, bis Dr. Sachs kam oder Dr. Kurz. Um halb neun Uhr kam Hassa, und sie fuhren in den Prater oder zum Kobenzl. Am Kobenzl raschelten die Bäume. Das Riesenrad war in der Dämmerung noch deutlich sichtbar. Asiadeh trank saure Milch und hörte zu, wie Hassa über die Kranken sprach, oder über das Theater, oder über die Politik. Bis in die Nacht saßen sie da, Asiadeh blickte zu den Lichtern der Stadt hinab und dachte, daß das wirkliche Leben sehr schön sei, aber auch sehr ernst und ganz anders, als man es sich vorstellte. »Wenn wir Kinder haben«, sagte sie, »werden wir sie zum Kobenzl mitnehmen. Sie werden zwischen uns sitzen und Kuchen essen. Ich will fünf Kinder haben.« »Ja«, sagte Hassa zerstreut. »Wir werden bestimmt irgendwann Kinder haben.« Er schwieg. Er fürchtete sich vor den Kindern, die zwischen ihm und Asiadeh sitzen würden. »Ja«, wiederholte er und nahm ihre Hand. Er liebte sie sehr… Sie fuhren zurück in den brütenden Hexenkessel der Stadt. »Wollen wir das Wochenende auf dem Semmering verbringen?« fragte Hassa. Asiadeh nickte. Sie war noch nie auf dem Semmering gewesen. Der Samstag kam, und um sechs Uhr läutete der Bariton der Oper an und bildete sich ein, ein Fibrom zu haben. Es war kein Fibrom, aber der Bariton klammerte sich keuchend an Hassas Ärmel, seine Glotzaugen rollten, sein Bauch bebte, und Hassa
mußte mit ins Theater, um in den Pausen Kokain in die Stimmbänder des Baritons zu gießen. »Wir fahren morgen in aller Frühe«, sagte er zu Asiadeh, »und bleiben bis Montag abend.« Er sah schuldbewußt und verschämt aus wie ein kleiner Junge. Dann kam die Nacht, und um fünf Uhr morgens mußte Hassa aus dem Bett, denn irgendwo lag ein krankes Kind und erstickte an Diphtherie. »Luftröhrenschnitt«, sagte er, Asiadeh war gar nicht verwundert, als er um sieben Uhr anrief und sagte: »Fahre allein. Ich komme mit dem Zug nach. Rufe Kurz an. Er soll dich begleiten, damit du dich nicht langweilst.« Asiadeh rief Kurz an. Ja, er hatte Zeit. Die Hysteriker könnten warten und die Manisch-Depressiven auch. Um acht Uhr fuhr das Auto zur Semmeringer Chaussee hinaus. Nun erreichten sie Maria-Schutz. Asiadeh blickte auf die Madonnenbildnisse am Wegrand und dachte an Hassa, an das fremde kranke Kind und an das Leben, das schön und ernst war. Hinten im Rücksitz saß Dr. Kurz. Auch er dachte, denn er war ein Mensch, er hatte ein hochorganisiertes Gehirn, das zum Denken da war. Er dachte an die Kühe, denn die Kühe standen am Straßenrand, er dachte an die Kirchen, denn die Kirchen lagen am Weg, er dachte an die Irren, denn er lebte von ihnen. Er sah Asiadehs Nacken, und er dachte an den Nacken. Ein schöner Nacken – dachte er – und weiche blonde Haare! Hassa hat Glück bei Frauen. Aber nur zu Beginn, denn er kann sie nicht halten. Seltsam, daß sie ihren Mann immer nur Hassa nennt. Im Unterbewußtsein empfindet sie ihn also doch als etwas Fremdes. Einen schönen Busen hat sie. Vielleicht kommt Hassa gar nicht nach. Toll, was dieser Mensch für eine Praxis hat. Und dabei nur technische Geschicklichkeit. Ich werde abends Sekt bestellen und lange über Hassa sprechen.
Natürlich lobend. Das wirkt immer. Sie wird Vertrauen zu mir haben. Das ist die Hauptsache. Außerdem hat sie Heimweh. Wohl ein verborgener Vaterkomplex. Da wird man auch anpacken müssen. Nein, dieser Nacken. Hassa ist ihr gewiß nicht gewachsen. Wenn sie Temperament hat, kann ich schon heute manches erreichen… So dachte Dr. Kurz, denn er war ein Mensch, er hatte ein hochorganisiertes Gehirn, das zum Denken da war. Der Wagen hielt vor dem Südbahn-Hotel. Aus den Fenstern der großen Halle sah man die kantigen Berge und die breite Schlucht des Tales. »Schön«, sagte Asiadeh. Sie ging zur Terrasse und wurde plötzlich von wilder Lebenslust ergriffen. Die Berge waren blau, und die Luft klar und kühl. Der Horizont war eingeengt von dem Massiv der Berge. Die Unendlichkeit war im engen Kreise des Tales eingefangen. Es mußte schön sein, hier zu bleiben, durch die steile Bergwand von den Sorgen des Lebens getrennt. Unten in der Stadt saß Hassa am Bett des röchelnden Kindes, unten in der Stadt lief durch das Vorzimmer der Ringwohnung der keuchende Bariton und wartete auf Hassa, denn er war jetzt überzeugt, daß er Krebs habe, unten in der Stadt läutete das Telephon, das Mädchen hob den Hörer ab, ein Hotel fragte nach Frau Dr. Hassa, und das Mädchen antwortete, daß die gnädige Frau auf dem Semmering sei. Unten in der Stadt fragte ein eleganter Ausländer den Hotelportier, wo sich der Semmering befinde. Doch all das wußte Asiadeh nicht, und wenn sie es gewußt hätte, würde sie es nicht beachtet haben. »Gehen wir spazieren«, sagte sie. Kurz folgte ihr. Sie gingen die enge Straße zum Hotel Panhans hinauf. Der Wald rechts war dunkel und drohend, voll urzeitlicher Finsternis. »Wissen Sie«, sagte Asiadeh, »ich habe nie Berge gesehen. Ich kenne nur den Bosporus und Berlin. Ich denke immer, daß das Mauern sind oder Burgruinen.« Kurz sah sie aufmerksam
an. Dann sprach er mit leiser, eindringlicher Stimme. Er sprach und war über die Tiefgründigkeit seiner Sätze gerührt. »Die Frau beschwingt mich«, dachte er. Er wußte nicht, daß Asiadeh gar nicht zuhörte. Sie gingen ins Tal hinab. Auf einer kleinen Anhöhe erhob sich eine alte Kirche. Sie traten näher. Asiadeh las die verwitterten Lettern am Eingange: »Maria-Schutz steht allen Feinden zum Trutz.« Sie betrachtete lange die Aufschrift und war plötzlich gerührt. Eine Welt stand hinter der kleinen Kirche mit der alten Aufschrift. Vielleicht sah diese Kirche noch den Siegeszug der Türken. Vielleicht streiften durch diese Berge auf langmähnigen Pferden die Bogenschützen des Hauses Osman. Dörfer gingen damals in Flammen auf. Vor dem Kirchenportal, auf dem kleinen Platz mag ein Scheiterhaufen gebrannt haben. Soldaten wärmten sich am nächtlichen Feuer und dachten an die Beute, die sie hinter den Mauern Wiens erwartete. Die Kirchentür war verschlossen, aber stumm und abgeklärt blickte die Inschrift, die über das fremde Heer, über den grimmigen Feldherrn, über das ganze Haus Osman gesiegt hatte. Asiadeh blickte sich um. Tiefer Friede lag über der Landschaft. Sie seufzte. »Ihr seid ein glückliches Volk«, sagte sie, »und ihr habt ein schönes Land.« Trauer und leiser Neid klangen in ihrer Stimme. Aber Kurz merkte es nicht. Er sah ihre aufgeworfenen Lippen und die seltsam geschnittenen Augen. Er sprach, und Asiadeh wurde immer stiller, denn es fiel ihr ein, daß sie jetzt selbst diesem schönen und grünen Lande angehöre und sich freuen müßte, daß an der kleinen Kirche die Macht des Hauses Osman zerbrach. Nachdenklich ging sie zum Hotel zurück. Kurz ging neben ihr. »Nachmittags«, sagte er, »findet in der Hotelhalle ein FünfUhr-Tee statt. Es sind immer viele Ausländer da. Würden Sie mir die Ehre geben?«
Asiadeh nickte. Sie dachte an die Kirche mit der Aufschrift, und es kam ihr zum erstenmal zum Bewußtsein, daß sie keine Türkin mehr war und daß ihre Kinder und Kindeskinder es nie sein würden. Um fünf Uhr saß sie mit Kurz an einem niedrigen Tisch in der Halle. Die Kapelle spielte eine fremde sehnsüchtige Melodie. Tanzpaare schwebten über das Parkett, und Asiadeh fing abgerissene Sätze auf, die in allen Sprachen der Welt dieselben Koseworte wiederholten. Kurz verbeugte sich. Er tanzte mit ihr, und der Rhythmus der fremden Melodie befiel sie. Es war schön, in der lichten Halle zu tanzen, die blauen Berge im Hintergrund. Kurz’ Hände berührten kaum ihre Taille. Er war offensichtlich ein anständiger Mensch, der genau wußte, was sich bei der Frau eines Freundes gehörte. Männer und Frauen kreisten eng umschlungen an ihnen vorbei. Asiadeh fing begehrliche Blicke auf. Sie hörte das Atmen der fremden Körper. Es war ein schönes Land und ein schönes Hotel, und auch das Leben war schön und gar nicht so ernst. »Genug«, sagte sie plötzlich und ließ Kurz stehen, als wäre er ein Mannequin. Ganz außer Atem ging sie zu ihrem Tisch und setzte sich hin. Kurz’ Gesicht beugte sich vor. Hastig leerte Asiadeh eine Kaffeeschale. Jetzt müßte Hassa da sein, sie wollte mit ihm durch den Saal wirbeln, seine starken Hände spüren, seine schräggestellten Augen sehen, die sie lächelnd und bittend ansahen… Eine hohe schlanke Dame erhob sich am anderen Ende des Saales. Sie ging durch die Halle. Asiadeh sah ein zartes längliches Gesicht mit hochmütigen Augen und schmaler Nase. Die Linien des Mundes hatten einen vornehmen Schwung, und der gleiche Schwung wiederholte sich in den schmalen Augenbrauen, die über die hohe glatte Stirn liefen. Die Frau sah stolz, fremd und schön aus.
Langsam kam die Fremde auf Asiadehs Tisch zu. Asiadeh blickte zu Kurz empor. Sein Gesicht war plötzlich rot geworden. Die Augen blinzelten verwundert und verlegen. Der Mund stand halb offen, als könne er sich nicht entschließen, zu lächeln oder zu niesen. Die fremde Frau stand am Tisch. Ihre Lippen öffneten sich. Asiadeh sah zwei Reihen kleiner glänzender Zähne. »Guten Tag, Dr. Kurz. Ich freue mich, Sie zu sehen.« Die Stimme klang melodisch und weich. Kurz erhob sich. Schweißtropfen traten auf seine Stirn. Asiadeh musterte neugierig die fremde Dame. Sie stand immer noch da und lächelte hochmütig und überlegen. Kurz räusperte sich. »Sie erlauben… darf ich bekannt machen.« Seine Stimme klang heiser. Asiadeh sah ihn erstaunt an. Er glich einem Menschen, der sich mit einem plötzlichen Entschluß in eine kalte Flut stürzen will. »Darf ich vorstellen… Frau Dr. Marion Hassa – Frau Dr. Asiadeh Hassa.« Er verstummte, und es war ihm gar nicht mehr anzusehen, daß er Arzt für Nervenkranke war. Asiadeh schloß die Augen. Nur für einen Augenblick. Irgendwo in der Brust entstand ein plötzlicher reißender Schmerz. Der Mund wurde trocken. Sie hatte das Gefühl, in einen wirbelnden Abgrund hinabzustürzen. Ganz unten in der Tiefe spielte die Kapelle. Wilde Klänge drangen an ihr Ohr. Sie öffnete die Augen. Marion saß an ihrem Tisch und lächelte hoheitsvoll. »Ich freue mich sehr. Welcher Zufall!« Die Stimme klang weich, aber nicht mehr melodisch. »Ist Alex auch hier? Oder blieb er in Wien?« »Wer bitte?« »Alex, unser Mann.« Marion lachte. »Ja so… nein. Hassa ist in Wien. Ich nenne ihn immer Hassa, wissen Sie…«
Sie stand auf. Rasch durchquerte sie den Saal und fühlte stechende Nadeln im Rücken. Das war es also, »unser Mann«. Frau Marion Hassa – Frau Asiadeh Hassa. Sie lag in einem fremden Bett. Sie führte einen fremden Namen. Sie saß in dem Salon mit dem Erkerfenster, in dem auch die schlanke Marion gesessen war, und Hassa küßte die stolzen hochmütigen Augen. Es gab wirklich eine Frau, die Marion hieß und deren Stelle sie einnahm. Asiadeh lief über den Hof. Ihre Stirn war gerunzelt. Die grauen Augen starr. »Den Wagen, bitte.« Der Diener öffnete die Garage. Der Wagen sprang an. Asiadehs Hände umklammerten das Steuerrad, als wäre es Marions Hals. Sie fuhr, wild hupend, und blickte haßerfüllt auf zwei Kinder, die erschrocken zur Seite sprangen. Man müßte dieses Hotel in die Luft sprengen – dachte sie und gab Vollgas. Der graue Asphalt kreiste vor ihren Augen. Sie schluchzte kurz und wischte die Tränen ab. Rechts erhob sich die Kirche Maria-Schutz. Die Türken waren ein müdes und schwaches Volk. Kein Stein sollte in diesem Lande stehenbleiben, keine Wiese, keine Kuh. Wüst sollte es werden, grau und öd, wie die Steppen Turkestans. Die Achsen des Autos quietschten. Mitten in der Kurve bremste Asiadeh den Wagen. Die Räder bohrten sich in den Staub des Wegrandes. Sie schaltete um. Weiter! Auch wenn das Wasser im Kühler schon zu kochen beginnt. Unten an der nächsten Biegung zeigte sich ein Viersitzer. Asiadeh beachtete ihn nicht. Sie umklammerte das Steuerrad und löste die Bremse. So! – jetzt auf Touren!… Sie kam nicht auf Touren. Sie blickte auf das Armaturenbrett und fühlte, wie ihr plötzlich jemand einen Schlag an die Brust versetzte. Glas klirrte. Sie hob den Kopf und sah den fremden
Wagen mit verbogener Stoßstange und zerschlagenen Lampen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in ihn hineingefahren war. Zwei Menschen saßen im fremden Wagen und sahen sie erstaunt und erschrocken an. Asiadeh sprang aus dem Wagen. Sie eilte zu den Fremden hinüber, und ihre grauen Augen funkelten vor Zorn. Sie sah zwei Gesichter, ein dickes und ein schmales, und die aufgespeicherte Wut zerriß ihre Brust. »Bagage«, schrie sie und wußte nicht, daß es Marion galt. »Könnt ihr nicht fahren!? Seht ihr nicht, was ihr tut?! Jedes Pack hat heute einen Führerschein! Besoffen seid ihr! Anzeigen müßte man euch, Bande!!!« Sie stand im Staub der Straße und schimpfte mit Marion. Die beiden Männer krochen bedächtig aus dem Wagen. Sie verbeugten sich und lächelten verlegen. »Grinst nicht so«, rief Asiadeh und stampfte mit dem Fuß. Die Herren verbeugten sich nochmals: »Entschuldigen Sie, Madame«, sagte der eine im näselnden Englisch. »Wir sind untröstlich, daß Sie in uns hineingefahren sind. Wir sind bereit, alles wieder gutzumachen.« Eine gepflegte Hand streckte Asiadeh einen Geldschein entgegen. »Ausländer seid ihr auch noch?!« rief Asiadeh, außer sich vor Wut. »Kommt einfach in unser Land und fahrt Damen an! Ausweisen müßte man euch. Bleibt doch zu Hause, Zigeunerbande! Was reist ihr herum?!« Die Fremden verstanden offensichtlich kein Wort. Verlegen standen sie da und traten von einem Fuß auf den anderen. Endlich sagte der Dickere zu dem Schlanken in einer landesfremden, aber auch Asiadeh verständlichen Sprache: »Schau, John, welch schönen Busen das Mädchen hat! Und was für Hüften! Gib ihr einen Kuß, vielleicht wird sie dann sanfter.« Wilde Raserei ergriff Asiadeh beim Klange der heimatlichen Worte. Sie nahm dem Schlanken den grünen Dollarschein aus
den Fingern. Sie zerriß ihn in kleine Fetzen, spuckte sie an und schmiß die Fetzen mit einer majestätischen Geste dem Fremden ins Gesicht. Dann sprang sie in den Wagen und fuhr wortlos davon. Die beiden blickten ihr stumm nach. »Eine temperamentvolle Frau«, sagte John endlich, »ihr Mann wird einen schweren Stand haben.« »Schöner Busen«, wiederholte Sam. »Sie ist noch ganz jung. Was wollte sie eigentlich? Sie ist verrückt. Nur Verrückte zerreißen Geldscheine.« Betrübt nahm er im Wagen Platz. John folgte ihm. Vorsichtig fuhren sie weiter. Eine halbe Stunde später betraten sie das Hotel. Der Fünf-Uhr-Tee war vorbei. Gähnend leer war die große Halle. »Wohnt hier eine Frau Dr. Hassa?« fragte John. Der Portier verbeugte sich. »Jawohl. Zimmer achtundzwanzig.« »Gehen wir vorher in die Bar«, meinte Sam. »Du solltest dir ein wenig Mut antrinken.« John nickte. Sie gingen zur Bar hinüber. Beim dritten Whisky sagte Sam: »Sprich mit ihr zuerst englisch, damit sie nicht erschrickt. Sei höflich und zuvorkommend. Das haben die Frauen gern.« Beim sechsten Whisky blickte er verschämt vor sich hin und brummte: »Wenn sie dir gefällt, kannst du sie gleich mitnehmen. Sollten die Verhandlungen ins Stocken geraten, so rufe mich. Ich bin ja dein Agent. Geh jetzt. Ich warte hier.« John erhob sich. Er ging die Treppe hinauf und hatte ein ernstes und stolzes Gesicht. Er klopfte an der Tür. »Herein«, rief eine melodische Frauenstimme. John Rolland trat ein. Eine Frau mit hochmütigen braunen Augen und vornehm geschwungenen Lippen erhob sich. »Frau Dr. Hassa?« fragte John und verbeugte sich. Die Dame nickte. John sah sie durchdringend an und lächelte gnädig.
Dann nahm er in einem Sessel Platz und zündete sich eine Zigarette an. »Ziehen Sie eine englische oder eine türkische Unterhaltung vor?« fragte er nachlässig. Die Dame sah ihn erstaunt an. »Eine englische natürlich«, sagte sie schüchtern. John lächelte und schlug ein Bein über das andere. Die Dame war sehr schön, aber offensichtlich ahnungslos. »Ich bin Prinz Abdul-Kerim. Ich hole Sie jetzt ab, denn Sie gefallen mir.« Sechs Whisky an einem Nachmittag waren entschieden zuviel. »Wie bitte?« sagte die Dame und wurde sehr blaß. John lachte. »Sie haben mich nicht erwartet. Mein Palast ist weg, aber ich bin da. Ich langweile mich in der fremden Welt und bin dem Produzenten durchgegangen. Wir können schon heute wegfahren.« »Mein Gott«, sagte die Dame und biß sich auf die Lippe. »Was wollen Sie eigentlich?« John runzelte die Stirn. »Machen Sie mir nichts vor«, sagte er streng, »muß ich wirklich befehlen?« »Ach komme schon«, sagte Marion, und ihre Zähne klapperten. »Ich muß nur einmal telephonieren, mit der Zofe.« Mit zitternder Hand ergriff sie den Hörer. »Kurz, kommen Sie um Himmels willen herüber, aber schnell.« Sie hängte ab. »Ich gehe die Koffer packen«, sagte sie liebenswürdig. »In einer halben Stunde bin ich fertig.« Sie stürzte aus dem Zimmer. John löschte die Zigarette aus und wartete. Ins Zimmer trat ein düster aussehender Herr und verbeugte sich. »Dr. Kurz«, sagte er. Dann setzte er sich hin, blickte fachmännisch zu Rolland hinüber und fragte sehr sanft: »Um was kreisten Ihre ersten Kindheitsgedanken?« »Um die Krone«, antwortete John offenherzig und leicht trunken.
»Oh«, sagte Kurz und runzelte die Stirn. »Einen Whisky«, hauchte um die gleiche Zeit Marion und stürzte in die Bar. »Stellen Sie sich nur vor«, sie sprach zum Kellner und war ganz verwirrt, »es kommt ein Fremder zu mir ins Zimmer, spricht englisch, sagt, er sei ein Prinz und daß er mich gleich mitnimmt. Mein geschiedener Mann war ein Arzt. Ich begriff sofort: Größenwahn.« »Schrecklich«, sagte der Kellner. Der dicke Mann, der friedlich in der Ecke saß und schlummerte, räusperte sich plötzlich und rief: »Zahlen!« Er eilte durch die Halle und sprach einige Worte mit dem Portier. Hierauf wurde er sehr munter und lief eiligst die Treppe hinauf. Als er die Tür zum Zimmer achtundzwanzig aufmachte, sah er Dr. Kurz begütigend auf Johns Knie klopfen. »Träumen Sie oft von Eisenbahnen oder Flugzeugen?« fragte der Arzt, und John antwortete: »Nein, ich träume überhaupt nie.« »Oh!« sagte der Arzt besorgt und kniff die Augen zusammen. »Komm«, rief Sam auf türkisch. »Rasch, sonst wird es zu spät.« John sprang auf. Auch der Arzt erhob sich. »Aha«, sagte er und nahm Sam unter den Arm. Er führte ihn zur Seite und flüsterte: »Sie sind wohl der Wärter? Typischer Cäsarenwahn. Neigung zu manisch-depressiven Zuständen. An wen darf ich die Honorarnote schicken?« »Welche Note?« fragte Sam gereizt. Dr. Kurz wurde sehr würdevoll: »Fünfzig Schilling, wenn ich bitten darf, für ärztliche Behandlung.« »Zwanzig genügen«, zischte Sam und schob dem Arzt den Schein zu. Dann ergriff er John an der Hand und zog ihn aus dem Zimmer. »Ich begriff es sofort«, sagte John im Hotelgang und kniff ein Auge listig zusammen. »Dieser Arzt ist der Mann meiner
Braut. Sie wollte Zeit gewinnen, bis sie gepackt hat. Jetzt ist sie wohl fertig?« »Schweig schon«, flüsterte Sam und führte John zum Wagen. Erst als der Wagen aus dem Hotelhof hinausfuhr, sagte er überlegen: »Merk dir, John – wenn ein Autor ohne Agenten zu verhandeln beginnt, so endet er in der Irrenanstalt. Der Arzt hat recht, du hast Cäsarenwahn. Du bildest dir ein, ohne mich eine Verhandlung führen zu können. Ich werde morgen zu der richtigen Asiadeh gehen und ohne dich die Frage regeln. Auch zum Ehevertrag braucht man einen Agenten.« Er sprach lange und überlegen, und John sank merklich in sich zusammen. »Sam«, sagte er sehr kleinlaut, »glaube mir. Die Frau war mir sofort unsympathisch.« Er schüttelte betrübt den Kopf und spuckte aus. Das Auto fuhr nach Wien. Um die gleiche Zeit hielt ein Wagen mit zerschlagener Scheibe am Ringhaus. Asiadeh lief die Treppe hinauf und fand Hassa mit dem Hut in der Hand reisebereit im Zimmer stehen. »Hassa«, rief sie und schluchzte. »Ich habe deinen Freund Kurz beleidigt, ich habe das Auto kaputtgefahren, ich habe hundert Dollar zerrissen und fremde Leute angespuckt, und an allem ist Marion schuld.« Sie schluchzte, und ihr Kopf vergrub sich in Hassas Schulter. Hassa sah sie an, sah die zitternden Schultern und verweinte graue Augen. Dieses wilde Mädchen liebte ihn, hieran konnte er nicht zweifeln, auch wenn diese Liebe fremd und unverständlich war, voll seltsamer Regungen, Einfälle und Impulse. Er streichelte Asiadehs Haare und sprach leise und begütigend: »Marion gibt es gar nicht, es hat nie eine Marion gegeben. Es gibt nur Asiadeh.« Asiadeh sah ihn dankbar an. »Ja«, sagte sie, »es gibt nur Asiadeh, und die hat vergessen, sich die Nummer des Wagens zu merken, den sie angefahren hat. Sei nicht böse, Hassa, ich will nie wieder chauffieren.«
18
Zigarrenkauend und bedächtig ging Sam Dooth über die Ringstraße. Vor den Kinos blieb er minutenlang stehen und schüttelte mißbilligend den Kopf. Wien war eine rückständige Stadt. Es lief kein Film von John. »Sommersaison«, brummte er verärgert und ging weiter. Die Straßen waren sündhaft breit und die Häuser beschämend niedrig. Es war eine Kateridee, nach Europa zu fahren. Man hätte den Urlaub in Mexiko verbringen können oder auf Kuba. John sollte die Frauen in Ruhe lassen. Frauen haben dem Hause Osman stets nur Ärger gebracht. Sam blieb stehen und schüttelte die Asche ab. Es waren nun sechs Jahre her, daß er den zerlumpten und verhungernden John in einer Spelunke in der Bowery entdeckt hatte. Sein kluges griechisches Herz hatte sofort eine Chance gewittert. Er gab dem Armen zu essen und taufte ihn John Rolland. Aber hinter dem gestärkten Frackhemd, hinter dem rötlichen Paßheft lebte eine labile osmanische Seele. Er ist ein Säufer – dachte Sam – und er wird es so lange bleiben, bis er Ruhe gefunden hat. Er runzelte die Stirn und freute sich, daß Menschenliebe und Geschäft bei ihm so eng ineinander gingen. Wenn er noch drei Jahre säuft, wird er leberkrank. In fünf Jahren sieht er weiße Mäuse. Die Osmanen sind von zarter Gesundheit, und dann ist es aus mit den Filmen. Sam dachte an John mit der gleichen zärtlichen Besorgtheit wie eine Bäuerin an die beste Milchkuh. Vielleicht hilft ihm eine gute Frau – dachte er weiter –, eine Frau, die demütig und still ist und seine Abende ausfüllt. Er soll mit ihr
hin und wieder an die Heimat denken können. Das inspiriert ihn. Er ist ja ein Wahnsinniger. Sam Dooth zuckte mit den Achseln. Er selbst dachte nie an die Heimat. Er blieb stehen. Das Messingschild mit der Aufschrift »Dr. Alexander Hassa« blinzelte ihn an. Er ging die breite Treppe hinauf, klingelte und verlangte Asiadeh. Er wurde in den kleinen Salon mit dem Erkerfenster geführt. Sam Dooth war ein erfahrener Agent und tüchtiger Geschäftsmann. Sein Herz war ausgeglichen, und sein Kopf war klar. Jetzt aber blieb er wie angewachsen im Salon stehen und blinzelte fassungslos. Die temperamentvolle blonde Dame, die einen Hundertdollarschein zerriß, sah ihn lächelnd an. »Ah…«, sagte Sam Dooth und sah sich ängstlich im Salon um. Es waren aber keine schweren Gegenstände in der Nähe. »Madame«, sagte er, und die vorbereitete Rede blieb ihm in der Kehle stecken, »Madame, verzeihen Sie, daß ich eindringe. Es gelang uns, an Hand Ihrer Autonummer Ihre Adresse zu finden. Mein Freund und ich sind trostlos, Ihre Mißgunst hervorgerufen zu haben.« »Sie können mit mir türkisch reden«, sagte die blonde Dame und sah ihm böse ins Gesicht. »Sie haben bereits in dieser Sprache meinen Busen und meine Hüften lobend erwähnt.« Sam blickte betrübt drein. Gleich würde sie eine Messingplatte nehmen und sie ihm an den Kopf schmeißen… Oder ihm die Augen auskratzen. Frauen, die Dollarnoten zerreißen, sind zu allem fähig. »Hanum«, sagte er in dem weichsten Stambultürkisch, »wenn auch meine Sünden zahlreicher sind als die Sandkörner in der Wüste, Ihre Güte vermag sie in ein Nichts zu verwandeln. Entsinnt Euch, Hanum, als der Sultan den großen Saadi bei einer Sünde ertappte, rief Saadi: ›O Sultan, schau dir die Sünde an, und du wirst mir verzeihen.‹«
Sam Dooth war ein kluger Mann. Wahrscheinlich war er doch am Aristokratenhügel Phanar zur Welt gekommen. Asiadeh klatschte vergnügt in die Hände. »Hassa«, rief sie, »komm her!« Die Tür öffnete sich. Der weißbekleidete Hassa trat ein. »Dieser da«, sprach Asiadeh, »ist einer von den zwei Ausländern, die ich gestern angefahren und bespuckt habe. Er ist wohlerzogen, denn er ist aus Istanbul, und er bittet sehr, ich möge ihm verzeihen. Soll ich ihm verzeihen, Hassa?« »Verzeih ihm«, sagte Hassa. Er sah einen dicken, schwarzhaarigen Mann, der schüchtern im Salon stand, und er wußte nicht, daß dieser Mann ihm die Frau nehmen, sein Haus und seinen Frieden zerstören wollte, alles eines Mannes wegen, der John Rolland hieß und vom Delirium bedroht war. »Herr Doktor, verehrte Hanum«, Sam Dooth war ganz Demut, »mein Freund und ich wären glücklich, Sie heute unsere Gäste nennen zu dürfen. Wir treffen so selten Landsleute in Europa.« Asiadeh sah fragend zu Hassa empor. »Geh allein«, sagte Hassa, »heute ist Donnerstag, ich bin in der Ärztegesellschaft.« Sam Dooth blickte ihn erstaunt an. Die Männer in Europa waren sehr dumm. Gott straft die Dummen und hilft den Klugen. Eine blonde Frau, eine schöne Frau, und er läßt sie allein mit zwei fremden Männern ausgehen. Er ist dumm. Man braucht keine Gewissensbisse zu haben. Er verbeugte sich und verließ das Haus. Kuppelei war ein uralter ehrwürdiger Beruf. Die assyrischen Keilinschriften berichten bereits von Kupplern. Im heiligen Palast von Byzanz stritten die Kuppler der ganzen Welt um die Ehre, dem Kaiser die Basilisa ins Bett zu legen. Ganze Provinzen wurden als Kuppelpelz verschenkt. In alle Windrichtungen sandte der Großosmane von Istanbul die Kuppler hinaus. Fürsten und
Paschas sandten ihm Frauen. Kuppler sein war ein alter, ein ehrwürdiger Beruf. Sam Dooth war sehr stolz.
Abends lachte Asiadeh. Heiterkeit erfüllte ihre Augen. Sie stand vor dem Spiegel des Ankleidezimmers, und der Lippenstift in ihrer Hand glich einem Zepter. Die Türken waren doch ein edles Volk. Sie wußten, was sich bei einer Dame gehört, auch wenn diese Dame sie beschimpft und angefahren hat. Sie spitzte die Lippen und fuhr vorsichtig mit dem Stift darüber. Sie wird heute den ganzen Abend türkisch sprechen. Es war ihr gleich, wer die Fremden waren. Es waren Landsleute. Klumpen Erde vom heimatlichen Boden. Sie öffnete den Parfumflakon und berührte mit dem Glasstäbchen ihre Schläfen. Sie wollte heute abend von anatolischen Dörfern sprechen und von den kleinen Booten, die an den Inseln des Marmarameeres kreisen und von rüstigen Arnauten geführt werden. Sie wollte den Staub der asiatischen Hügel spüren und die engen sonnengeschützten Gassen der fernen Städte. Sie nahm eine schmale Bürste und fuhr über ihre weichen Wimpern. Sie wird im Ozean der heimatlichen Klänge baden, und die Fremden werden von Kamelen erzählen, die aus der Wüste kommen und gelbe Augen haben. »So«, sagte sie und blickte auf ihre rosigen Nägel. Sie wollte nett zu den Fremden sein, die sie beschimpft hatte und die den Staub der Heimat an ihren Fersen trugen. Sie verließ das Haus. In der Hotelhalle erhob sich Sam Dooth. Neben ihm, die leeren, hellen Augen in die Ferne gerichtet, die Lippen zusammengepreßt, John Rolland. Er sah Asiadeh, seine Hand drückte ihre rosigen Finger. Die gebogene Osmanennase witterte den Geruch ihres Körpers, und er sagte gelassen: »Hanum, ich bin Euer Sklave.«
Sie saßen im Hotelrestaurant. Schweigsame Kellner servierten. Rollands Hände glitten über die Speisen. Gläser klirrten. Asiadeh sprach von ihrem Vater, der in Berlin lebte, von ihren Brüdern, die im Felde fielen, und von ihrem Hause, das am Bosporus stand. »Sind Sie schon lange aus Istanbul weg?« fragte sie. John sah sie an. Seine müden Augen glänzten matt unter den halb geschlossenen Lidern. Eine Frau! – dachte er – welche Frau! Zerreißt Geld und kann sich wehren. Eine richtige Osmanin, bester Istanbuler Schliff. Man soll eine Frau nie verstoßen, bevor man sie angeschaut hat. Ich war ein Narr. Aber jetzt bin ich klug. Das Gebet ist besser als der Schlaf. Und eine Frau ist besser als Wein. Sie wird meine Frau sein. »Ja«, sagte er. »Wir sind schon lange aus Istanbul weg. Aber wir wissen: dem Volk geht es gut, die Heimat gedeiht, die Armee ist stark. Es gibt kein Leid mehr in Istanbul.« »Und es gibt keine Osmanen mehr«, warf Asiadeh ein. »Ja.« Johns Stimme klang sehr gleichgültig. Auch er war bester Istanbuler Schliff. »Es gibt keine Osmanen mehr. Es gibt nur noch Türken. Und es ist gut so. Die Osmanen waren wie alte Wölfe mit herausgefallenen Zähnen.« »Sie hatten immerhin ihre Verdienste«, sagte Perikles, denn es war ihm bange vor Johns gleichgültiger Stimme. »Ein Verdienst gibt keinen Anspruch auf ewige Dankbarkeit«, sagte John. »Alles war bemessen und alles abgewogen. Das Maß war voll!« »Ich war mit einem Mitglied des Hauses Osman verlobt«, sagte Asiadeh. »Ein Diener soll nicht schlecht über seinen gestürzten Herrn sprechen.« »Ich war nie Diener des Hauses Osman.« Rollands Wimpern hoben sich. »Aber Sie selbst, Hanum, zogen es vor, einen Wiener statt eines Osmanen zu heiraten. Das zeigt, daß das Maß voll war.«
»Er hat mich verlassen.« Asiadehs Stimme klang sehr kühl, und Sam Dooth entsann sich plötzlich, daß er noch telephonieren müsse und dann vielleicht noch ein Telegramm aufgeben wolle. Er ging und befahl dem Portier, eine Flasche Whisky auf Johns Nachttisch zu stellen. Er war ein kluger und vorsorglicher Mensch. »Ich habe Ihren Vater in Berlin getroffen. Er hat mir aufgetragen, Sie zu grüßen.« John sprach leise, und seine Hände hingen schlaff herab. »Sie haben meinen Vater gesehen? Sie kennen ihn?« »Natürlich kenne ich ihn, sogar seit langer Zeit. Ich sah ihn zuerst am Babi-Saadet, an der Pforte der Glückseligkeit. Es war, als Memed-Raschid zum erstenmal den Mantel des Propheten küßte. Es ist schon eine Weile her. Wir traten durch das Tor des Kaisers ein. Es war am fünfzehnten Tag des Ramasan. Der Kaiser trug die Marschalluniform, und hinter ihm schritt der Großwesir. Wir gingen zum Saal des Heiligen Mantels. Er war ganz mit schwarzem Tuch ausgeschlagen. In riesigen Goldlettern waren Koranverse in das Tuch gestickt. In der Mitte stand die edelsteinbeschlagene Truhe, die den Mantel des Propheten barg. Aber ich langweile Sie mit diesen Erinnerungen. Es ist schon so lange her, und Sie sind eine moderne Frau.« »Sprechen Sie weiter.« Asiadeh legte das Besteck weg. Ihre Wangen röteten sich. Es gab eine Zeit, in der ihr Vater neben dem Kaiser schritt, durch die Pforte der Glückseligkeit, zum Saale des Heiligen Mantels. »Der Mantel des Propheten war in vierzig goldgestickte Gewänder gehüllt. Der Saal war mit Kerzen beleuchtet. Es war sehr heiß, und es dauerte sehr lange, bis die vierzig Gewänder abgestreift wurden. Der Kaiser war ein kranker Mann. Er stand da, auf das Schwert gestützt, seine Augen waren fast geschlossen. Er betete. Dann küßte er als erster den Mantel des
Propheten. Nach ihm alle andern, der Reihe nach. Ihr Vater stand an achtunddreißigster Stelle. Er war damals noch ein junger General. Rechts vom Mantel stand der kaiserliche Hofmarschall. Er hielt ein Samtkissen auf ausgestreckten Händen. Auf dem Kissen lagen seidene Tücher. Nach jedem Kuß wischte er den Mantel mit einem seidenen Tuch ab. Jeder Würdenträger bekam ein Tuch. Dann kamen die Palastdiener. Sie trugen einen silbernen Wasserbehälter. Der Saum des Mantels wurde gespült. Das Wasser des Behälters wurde in kleine Flaschen gegossen. Jeder bekam eine Flasche, mit dem kaiserlichen Siegel versiegelt. Es war ein schöner Tag, als ich Ihren Vater zum erstenmal gesehen habe.« Asiadeh starrte vor sich hin. Sie saß im großen hellerleuchteten Raum. Ein Ober im Frack verbeugte sich am Nebentisch. Auf einem Rollwagen wurden zahlreiche Hors d’œuvres vorbeigefahren. Der Mantel des Propheten war ein Gespenst, das unwirklich im Raume spukte, seltsam beschworen von den Worten des Fremden. Ein dunkles Zimmer, mit schwarzen Tapeten und ein kranker Kaiser, auf das Schwert gestützt. Die Bilder gingen ineinander über, sie durchkreuzten sich. Der Kranke saß am Tisch, und im silbernen Wasserbehälter schwammen die Forellen. »War das das einzige Mal, daß Sie meinen Vater gesehen haben?« »Nein, zehn Jahre später sah ich ihn wieder. In der Moschee des Fahnenträgers Ejub. Es war an dem Tage, als Wachdeddin sich mit dem Schwerte Osmans umgürtete. Neben dem neuen Sultan stand der dicke Talaat-Pascha. Enver trug volle Gala und hatte einen stachligen Schnurrbart. Ihr Vater war damals bereits Leiter des Privatkabinetts des Sultans. Wachdeddin hatte eingefallene Wangen und lange Hände. Er war der letzte, der sich mit dem Schwerte Osmans umgürtete.«
Er saß sehr ruhig da und trank Mokka. Jetzt runzelte er kaum merklich die Stirn. Er sah wie ein Automat aus, der mechanisch die Bewegungen vollführt, die ihm ein fremder Wille eingeprägt hatte. »Wenn mein Vater der Achtunddreißigste im Gefolge Memed-Raschids war, an welcher Stelle standen dann Sie?« Asiadehs Stimme klang ganz harmlos. »Ich? Ich war der Siebzehnte.« Beide schwiegen. Am Nebentische gab ein Gast weitschweifig eine Bestellung auf. »Sie sind ein Hochstapler«, sagte Asiadeh sanft. »Aber es macht nichts. Ich unterhalte mich gern über die alten Zeiten.« »Ich bin kein Hochstapler.« Johns Stimme klang traurig. »Warum denken Sie, daß ich einer bin?« »Weil… na ja. Es ist ja ganz einfach. Sie sind bestimmt nicht über vierzig. In der Zeit, als mein Vater der Achtunddreißigste im Gefolge des Kaisers war, konnten Sie noch keine zwanzig Jahre alt sein. Und Sie wollen an der siebzehnten Stelle gestanden haben?« »Deshalb brauche ich noch lange kein Hochstapler zu sein.« Seine Stimme klang gar nicht beleidigt. Er schwieg eine Weile und sagte dann hart und die Worte abhackend: »Kaiserliche Prinzen rangierten vor den Hofchargen und vor dem Militär.« »Wie meinen Sie das?« Wilde Furcht zeigte sich in Asiadehs Augen. Der große Saal glich plötzlich einer Gefängniszelle. »Wie meinen Sie das?« wiederholte sie und verstummte. Sie brauchte keine Antwort mehr. Sie sah das schmale Gesicht, die hellen leeren Augen, die gebogene Nase. Sie sah die trockenen bösen Lippen und die kantige viereckige Stirn. Das Gesicht war regungslos, maskenartig, sogar die Augen standen still. Stachlig und starr blickten sie Asiadeh an. »Nein«, sagte Asiadeh. »Nein, bitte nein.«
Sie fuhr mit dem Handrücken über ihre Lippen. Das Gesicht Rollands blieb starr. Er sprach kein Wort. Er sah sie an und glich einer versteinerten Statue, die sich aus einer urzeitlichen Welt in den lichtübergossenen Saal verirrt hatte. »Ihr Vater nannte mir Ihre Adresse«, sagte er endlich. »Der Kaiser hat Sie mir zugesprochen. Ich dachte nicht an Sie. Weder in Istanbul, noch in Amerika. Jetzt sehe ich Sie. Jetzt denke ich an Sie. Sie sollen Mutter von Prinzen werden.« Asiadeh schwieg. Sie blickte Rolland fest an. Sie lächelte nicht. Da war er also. Der Landesverwiesene, der Verschollene. In seinem Palast wuchsen Pinien. Sie kannte die Äste und Kronen, die hinter der breiten Mauer sichtbar waren. Auf der Terrasse saß oft ein dicker Eunuch, wahrscheinlich sein Hofmeister. Er war der Siebzehnte, der nach MemedRaschid den Mantel des Propheten küssen durfte, und der schmalschultrige Wachdeddin hatte sie ihm zugesprochen. Sie gehörte ihm, jede Faser ihres Körpers war ihm zugedacht, für ihn lernte sie einst Persische Gedichte und arabische Gebete, für ihn lauschte sie den wilden Klängen der barbarischen Worte. »Hoheit«, sagte sie, und ihre Stimme stockte. Die Gegenwart war wirr und phantastisch wie ein wilder Traum. Irgendwo in der Ferne erscholl Marions hochmütiges Lachen, erscholl und verstummte. Das Haus am Bosporus, die Heimat, die blutroten Sonnenuntergänge am Goldenen Horn, all das war wieder da, verkörpert in dem fremden Mann, der schmale böse Lippen hatte und sie starr anschaute. Sie wollte plötzlich aufstehen, die schmale, schlaff herabhängende Hand ergreifen, ihre Lippen an die eckigen Schultern pressen. »Hoheit«, wiederholte sie und beugte den Kopf. »Ich bin Eure Sklavin, Hoheit. Ich folge Ihnen, wohin Sie befehlen.«
Sie hob die Augen. Für einen Augenblick war sie von einem wilden, rasenden, beinahe schmerzlichen Glücksgefühl ergriffen. Johns Lippen lächelten. »Ich danke Ihnen«, sagte er, »Ihr Vater hat Sie gut erzogen. Kommen Sie morgen um fünf Uhr ins Hotel, wir werden alles vorbereiten.« Er hob sich. Er begleitete sie bis zur Tür. Sie ging über den Ring, und der Asphalt glich einem weichen Teppich. Das Glück – das Einmalige, Unfaßbare –, da war es plötzlich. Es hatte helle Augen und schmale Lippen, es sprach den weichen Dialekt Istanbuls. Es war plötzlich in ihr – unzertrennlich, wie ein Körperteil – das Glück. Erst vor ihrem Hause fiel es ihr ein, daß sie verheiratet war und Frau Dr. Hassa hieß. Sie blieb stehen. Ängstlich blickte sie sich um. Die Straße war leer. Wie angewurzelt stand sie da und schüttelte fassungslos den Kopf. Es gab wirklich einen Menschen, der Hassa hieß und der mit ihr verheiratet war. Plötzlich wandte sie sich um und ging schnellen Schrittes in der Richtung des Stadtparks.
19
Sie ging durch die Alleen des Parks. Sand und Kieselsteine raschelten unter ihren Füßen. Die Schatten der Bäume fielen auf den Rasen und flatterten. Liebespärchen saßen eng umschlungen auf den einsamen Bänken. Leises Geflüster verstummte, wenn Asiadeh eiligen Schritts vorbeiging. Sie ging, den Kopf leicht vorgeneigt. Sie sah die dunklen Äste, die sich über die Alleen wölbten, und die Kieselsteine, die unter ihren Füßen lagen und im Mondschein schimmerten. Dann stand sie an der Brücke, an das Geländer gelehnt. Unten gähnte die trockene Leere des Flußbettes. Sie blickte hinunter. Die geplatzte Erde war vom Mondlicht übergossen. Asiadeh ging weiter, immer im Kreise, durch die Alleen des Parkes. Hassa – dachte sie –, einst saß er im Auto, küßte sie und dünkte sich ihr überlegen. Dann stand er demütig im Regen der Berliner Straße und bat um ihre Gnade. Wann war das? Gestern? Vor Jahrhunderten? Er rettete einen heiligen Mann aus der Bruderschaft der Bektaschi, und er machte sie zur Frau in einer heißen Sommernacht im breiten Daunenbett eines serbischen Hotels. Asiadeh blieb stehen. Der Mond schimmerte durch die Äste hindurch und war mild und weich wie die Seele Hassas. Es war im Schlafzimmer vor dem breiten Doppelbett, in dem einst Marion schlief und an fremde Männer dachte. Er stand neben ihr und hatte erschrockene und bittende Augen. Ja, damals versprach sie, eine gute Frau zu sein. Damals lag sie neben ihm und dachte an Marion, die ihn verlassen hatte und der das Tor der Hölle offenstand.
Asiadeh merkte nicht, wie sie weiterging, immer im Kreis durch die vom Liebesgeflüster erfüllten Alleen. Ein Ungläubiger war Hassa, ein Abtrünniger, ohnmächtig in der Welt der Gefühle. Er hatte starke Hände und geschickte Finger, und er war zufrieden in der engen Welt seiner Liebe. Sie sah ihn im weißen Kittel, nach Medizin riechend, oder im Kaffeehaus, seinen Freunden simple Geschichten über die Kranken, über Theater oder die Politik erzählend. Ein warmes Gefühl erfüllte sie. Es war ganz undenkbar, daß es keinen Hassa mehr in ihrem Leben geben sollte. Asiadeh zündete sich eine Zigarette an. Die kleine Flamme erhellte ihr Gesicht, sie rauchte im Gehen, und alles in ihr fürchtete sich vor dem Prinzen, der plötzlich aufgetaucht war und nach ihr rief. Ihre Ahnen kamen einst aus der Wüste und waren Sklaven der Ahnen des Prinzen. Jeden Atemzug, jede Bewegung ihrer Glieder verdankte sie der Gunst, den die Ahnen des Prinzen ihren Ahnen erwiesen hatten. Eine Bäuerin wäre sie geblieben, ein wildes Steppenweib, wenn es die Ahnen des Prinzen gewollt hätten. Die Zigarette glimmte. Sie sah die Asche länger werden und dachte an die sengende Glut der großen Wüste, aus der die Ahnen kamen und die Welt bezwangen. Der große Orchan, der jähzornige Murad, der grausame Selim, der nach Ägypten zog und den Mantel des Propheten um seine breiten Schultern warf. Die ganze Größe des Reiches war jetzt in dem Mann verkörpert, der schlaffe Hände hatte und nach ihr rief. Sie mußte zu ihm ziehen, sie mußte Dienerin im leeren Hause Osman werden, demütig und ergeben, wie es Gott den Frauen als Pflicht auferlegt hat. Sie warf die Zigarette weg. In ohnmächtiger Angst zertrat sie den Stummel. Vielleicht sollte sich Hassa eine andere Frau suchen, eine Frau, die nicht im Banne eines zerfallenen
Reiches steht, die besser zu ihm paßt, die in Kaffeehäusern warten kann, während er Baritone behandelt, und die nicht wegläuft, wenn Marion an den Tisch kommt. Sie blickte sich um. Sie fürchtete sich plötzlich vor dieser fremden Stadt, vor der fremden Welt, in die sie hineingezwängt wurde, die sie nicht verstand und die sie langweilte. Ja, sie wußte es genau, sie langweilte sich in dem Salon mit den Erkerfenstern, im Kaffeehaus mit den Ärzten, zu Besuch unter Menschen, die anders dachten, anders fühlten als sie, als ihr Vater, als dieser Prinz, den sie nie vorher gesehen hatte und der ihr näher und vertrauter war als Hassa mit seinen Kranken, seinen Freunden und seinen Gesprächen. Hassa sollte nach Kairo übersiedeln oder nach Sarajewo, er sollte, wie seine Ahnen, einen frommen Fes tragen, so leben, wie Asiadeh gewohnt war, Derwische behandeln und Moscheen besuchen, dann würde sie bei ihm bleiben. Mit einem Ruck blieb Asiadeh stehen. Ihre Gedanken verirrten sich. Eine leere, grüngestrichene Bank stand im Schatten eines großen Baumes. Asiadeh setzte sich hin. »Mein Gott«, sagte sie leise, und ihre Hände wurden kalt. Hassa war ihr Mann, sie liebte ihn, ohne Zwang war sie die Ehe mit ihm eingegangen, ohne Zwang gab sie sich ihm hin. Und jetzt war sie wie Marion, saß auf der Bank im Park und dachte an einen fremden Mann, während der eigene im Bette lag und sich nach ihr sehnte. Sie wollte zum Prinzen ziehen, wie es ihr die Pflicht gebot, aber Hassas Schatten würde mitziehen, würde sie verfolgen in den Nächten, die sie mit dem Prinzen verbringen würde, in den Gesprächen, die sie am Tage mit ihm führen würde. Überall würde sein Schatten auftauchen, sie würde seine Augen sehen, sie würde den stummen Vorwurf in seinen Zügen lesen, den Fluch hören, den er ihr mit auf den Weg geben wird.
Asiadeh ballte die Hände. Es gab keinen Ausweg aus der Sackgasse des plötzlichen Jammers. Sie wußte genau: sie wird sich nicht auf die Straße trauen, sie wird ihr Gesicht nicht sehen können, wenn sie Hassa verlassen wird. Fassungslos starrte sie vor sich hin. Pflicht und Schande, Ehre und Lust waren plötzlich in einem wirren Bündel verflochten, und sie wußte nicht mehr, ob die Pflicht sie zum Prinzen zog oder die Liebe bei Hassa zurückhielt. Eins wußte sie aber: Es müßte einen Unterschied geben zwischen der hochmütigen Marion, die ihren Mann verlassen hatte, und Asiadeh, die grüblerisch auf der Bank im Park saß und vor sich hin starrte. Aber auch für Marion war der Mann, mit dem sie wegging, wahrscheinlich dasselbe, was für Asiadeh der wiedergefundene Prinz. Asiadeh seufzte. Es gab keinen Unterschied zwischen ihr und der ehebrecherischen Marion. Hassa würde keine dritte Frau nehmen. Einsam und traurig würden seine Tage dahinziehen. Er würde allein und menschenscheu durch die Straßen gehen und die Frauen verfluchen, die ihm ewige Treue geschworen hatten und dann mit anderen Männern weggingen. Asiadeh erhob sich von der Bank. Ihr Gesicht glühte. Sie schämte sich. Langsam ging sie zum Ausgang des Parkes. Ja, es gab einen Unterschied zwischen einer Prinzessin aus Istanbul und Marion, die ihren Mann verriet. Nachdenklich ging sie zum Ring. Die Zukunft lag vor ihr, im Staube der breiten Straße. Jahrzehntelang wird sie in Kaffeehäusern sitzen, abends zum Kobenzl fahren und Hassa küssen. Sie wird ihre Heimat verlieren, sie wird in der Welt Europas aufgehen, aber sie wird ihren Mann nicht verlassen, sie wird eine gute Frau bleiben, die allen Menschen in die Augen blicken darf, bis auf die trüben und einsamen Augen Rollands, der nach ihr gerufen hat und dem sie nicht gefolgt war.
Sie näherte sich dem Hause. Langsam ging sie die Treppe hinauf, langsam öffnete sie die Tür. Im Schlafzimmer brannte das Licht. Sie trat ein. Hassa lag im Bett und blätterte schlaftrunken und gleichgültig in den philosophischen Zeitschriften, die er von Asiadehs Tisch geholt hatte. Er blickte auf und lächelte: »Es ist spät geworden. Hast du dich gut unterhalten? Ich las inzwischen deine Zeitschriften, aber ich habe nichts verstanden. Was ist eine Polystadialität?« »Ein Hypophysentumor, ins Philologische übertragen. Macht nichts, daß du es nicht verstehst. Danke, ich habe mich gut unterhalten.« Sie stockte. Es erschien ihr plötzlich sehr seltsam, daß sie sich mit ihrem Mann deutsch unterhielt, während sie selbst in einer anderen Sprache dachte und träumte. Sie unterdrückte ein leises Gefühl des Unbehagens und trat an Hassas Bett. Er lag auf dem“ Rücken und sah sie an: »Schön bist du heute, Asiadeh, sehr schön.« Sie setzte sich an den Bettrand. Sie beugte sich vor und küßte Hassas Stirn. Hassas Hände streckten sich ihr entgegen. Er streichelte sie, und sie fühlte den Duft seiner Haut, die Stärke seiner Muskeln, die vertrauten Wahrzeichen seiner Liebe. Sie entkleidete sich und saß im Pyjama auf seinem Bett, die Füße hochgezogen und den Kopf auf die Knie gestützt: »Es war sehr nett«, sagte sie. »Wir sprachen von alten Zeiten und von der Heimat. Aber die wahre Heimat der Frau ist das Bett ihres Mannes.« Hassa zog sie zu sich. Sie umfaßte seinen Kopf. Ihr Körper schmiegte sich an den seinen. Ihre Lippen glitten über seine Haut, sie umfaßte seinen Körper, als suchte sie Schutz und Rettung in seinen kräftigen Armen. Hassa wurde ganz wach. Asiadehs verborgene Leidenschaft übertrug sich auf ihn. Ihre Augen blickten ihn demütig und
verzückt an, ihr Körper war plötzlich durstend und lockend. Er sah ihre helle Haut, die blonden weichen Haare fielen über ihr Gesicht. Sie kniete im Bett und ihr Kopf preßte sich gegen Hassas Brust. Sie wiegte sich langsam und stöhnend, und es klang wie das nächtliche Murmeln eines einsamen Tieres. »Ich liebe nur dich, Hassa, dich allein«, sagte sie, und Hassa ergriff ihren Körper, warf ihn auf die weißen Laken, sah, als wäre es zum erstenmal, ihre ernst emporgerichteten Augen, ihre weichen zusammengepreßten Lippen. Hassa vergaß seine Kranken, seine Ärztegesellschaft, seine Müdigkeit. Er fühlte nur noch die feuchte Wärme ihres Mundes, die Hingegebenheit ihres zarten Körpers. Später saß sie im Bett, die Hände um seinen Nacken geschlungen, schweigsam vor sich hin starrend. Ihre Mundwinkel lächelten. Sie sah ihn bittend und zärtlich an: »Hassa«, sagte sie, »erfülle mir eine Bitte!« »Ja, Asiadeh.« »Im Speisezimmer, Hassa, da steht im Büfett eine Flasche Kognak. Ich hole sie dir. Trinke etwas Kognak, Hassa, sonst schläfst du jetzt ein und ich will nicht, daß du einschläfst, ich will deine offenen Augen sehen.« Sie lief barfuß durch die Wohnung und kehrte zurück, eine Flasche unter dem Arm und ein Glas in der Hand. Ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren gerötet. Im Pyjama, mit zerzaustem blondem Haar, glich sie einem Knaben, einem kleinen Pagen, der aufgeregt seinen ersten Dienst tut. »Trink mit«, sagte Hassa und reichte ihr das Glas. »Nein, ich brauche keinen Kognak, um berauscht zu sein.« Sie füllte das Glas, und er trank mit langsamen Schlucken. Sie füllte es nochmals. »Du verführst mich zur Sünde«, lachte er. »Der Koran verbietet das Saufen.«
»Es gibt einen Kommentar«, sagte sie sehr ernst. »Er stammt von dem großen Gelehrten Scheich Ismail aus Ardedil. Manchmal ist das Trinken erlaubt.« Hassa trank. Asiadeh saß mit angewinkelten Beinen auf dem Bett und blickte auf die Kognakflasche. »Ich bin schon ganz wach, Asiadeh, aber wenn du befiehlst, trinke ich weiter.« »Ja«, sagte sie und faltete die Hände über ihren Schoß. »Du sollst nie meinetwegen unglücklich sein, Hassa.« Ihre Stimme klang beinahe bittend. »Ich will alles tun, damit du immer glücklich bist.« Hassa sah sie verwundert an. »Danke«, sagte er gerührt, »du sollst auch glücklich sein. Hast du es gut bei mir?« »Ich habe es gut bei dir. Aber was ist das Glück einer Frau? Eine Frau ist glücklich, wenn sie das Lächeln in den Augen ihres Mannes sieht und wenn sie die Ursache davon ist. Ich werde alles tun, damit du nie Kummer durch mich hast. Ich bin nicht Marion.« Jetzt füllte Hassa selbst sein Glas. Er stieg aus dem Bett und saß neben ihr, lächelnd und sehr gut gelaunt. »Marion«, sagte er, »Marion ist eine dumme Gans. Ich habe sie sehr geliebt, aber jetzt liebe ich sie nicht mehr. Ich liebe dich. Marion verkommt. Sie müßte mir leid tun, aber sie tut mir nicht leid. Fritz hat sie stehengelassen. Es war nichts anderes von ihm zu erwarten. Jetzt ist sie allein, trotz all ihrer Schönheit, und ich habe Asiadeh und bin glücklich.« »So straft Gott die Unzucht.« Asiadeh lächelte, ihre kleine Zunge fuhr über die Lippen, aber sie merkte sich sehr gut, daß Marion jetzt allein war. »Hast du genug getrunken, Hassa?« »Ja.« »Dann paß auf«, sie beugte den Kopf zur Seite und blickte fromm und unschuldig vor sich hin. »Wir sind schon lange
genug verheiratet, Hassa. Es ist höchste Zeit, daß ich ein Kind bekomme.« »Uff«, sagte Hassa und schielte bestürzt zur Kognakflasche hinüber. Aber Asiadeh schob die Kognakflasche weg und saß düster und schweigend da. »Ein Kind?« sagte Hassa und kroch unter die Decke. »Ja, zuerst eins, dann noch eins und dann weitere, so Gott hilft.« »Du hast recht«, sagte Hassa, »aber weißt du, welche Schmerzen eine Frau beim Kinderkriegen hat?« Asiadeh nickte. »Meine Mutter hat dieselben Schmerzen gehabt, und meine Großmutter auch. Sogar meine Urgroßmutter. Es wird nicht so schlimm sein.« »Ja, natürlich.« Hassa wußte selbst nicht, warum er eine so rasende Angst vor der Vaterschaft hatte. Er fürchtete sich vor den Kindern, wie er sich einst vor der Schule gefürchtet hatte. Er wünschte sie sich, aber in einer fernen, nicht näher definierbaren Zeit. »Es ist so«, sagte er verlegen, »wenn ich Kinder habe, so will ich genau wissen, daß es ihnen immer gut gehen wird. Aber ich will, daß es dir auch dann gut gehen soll, wenn wir Kinder haben. Von drei Patienten zahlt einer, und von zehn Operationen sind acht von der Krankenkasse. Beim ersten Kind müßten wir das Auto abstellen, beim zweiten ein Dienstmädchen entlassen, beim dritten statt einer größeren eine kleinere Wohnung nehmen. Du sollst es gut haben und die Kinder auch, deshalb warten wir, bis die Zeiten besser werden, und dann verspreche ich dir Fünflinge.« Hassa war ganz erschöpft von der langen Rede. Asiadeh sah ihn aufmerksam an. »Ich habe ohne Dienstmädchen und ohne Auto gelebt und war auch ganz zufrieden. Du wünschst dir keine Kinder, weil
du selbst noch ein Kind bist – das ist alles. Bedenke, Hassa, ich bin immer für dich bereit… freudig bereit. Aber ich bin nicht nur deine Geliebte… vor allem bin ich deine Frau.« Hassa versuchte die letzten Worte zu überhören. »Als du kein Auto und kein Dienstmädchen hattest, warst du noch nicht meine Frau. Jetzt muß ich doch dafür sorgen, daß du es gut hast.« »Immerhin«, sie saß noch immer mit gekreuzten Beinen und ihre Hände waren gefaltet, »immerhin, ich war schon damals die Tochter eines Ministers und die Braut eines Prinzen.« »Dein Prinz«, lachte Hassa, »er wird Statist in Hollywood geworden sein und in orientalischen Filmen die Rolle eines Eunuchen darstellen.« »Du bist ein ganz dummes Kind«, rief Asiadeh. Sie faßte ihn an den Ohren und rüttelte seinen Kopf. »Du willst mein Mann und mein Kind zugleich sein – das ist es. Wenn du mich ärgerst, schütte ich dir den ganzen Kognak in den Mund. Dann hast du morgen Kopfweh und kannst keine Sänger behandeln.« »Und wenn du mich ärgerst«, sagte Hassa, und seine Hände umfaßten ihre Wangen, »wenn du mich ärgerst, so schleppe ich dich in das Ordinationszimmer und schneide dir die Mandeln heraus. Dann kannst du acht Tage nicht sprechen und mußt im Bett liegen. Das hast du dann davon.« »Du bist ein brutaler Mensch«, lachte Asiadeh und ließ Hassa los. Er warf sich zufrieden in die Kissen. Sie löschte das Licht aus. »Schlaf«, sagte sie, und Hassa schlief, schlief ruhig und ahnungslos. Asiadeh schlief nicht. Sie dachte nach, und das Leben erschien ihr wie ein unlösbares Rätsel. In den Dörfern Anatoliens, in den Steppen Turkestans, an den Lagerstätten der fernen Nomaden ging die Frau einmal im Jahr ins Gebüsch oder in das schwarze Filzzelt. Die Männer saßen am Feuer und beteten, und die Frau lag auf der Erde und gebar ein Kind.
Dann kamen die Männer, durchschnitten die Nabelschnur und das Kind war da, schrie, strampelte mit den Füßen und streckte die kleinen Lippen der Mutterbrust entgegen. Es gab keine Dienstmädchen in den Filzzelten der Nomaden, und das Auto hatte vier Beine, eine lange Schnauze und hieß Kamel. Sie seufzte. Es war ganz unverständlich, daß ein Kamel wichtiger war als ein Kind, das mit den Beinen strampelte und nach der Mutterbrust rief. Sie schloß die Augen. Für einen Augenblick sah sie Marions geschwungene Brauen und die hellen stachligen Augen des Mannes, dem sie zugesprochen war. Dann schlief sie ein.
20
»Es ist gut, daß Sie so pünktlich sind, Hanum.« John Rolland stand am Tisch der Hotelterrasse. »Setzen Sie sich, Hanum«, er rückte den Stuhl zur Seite und war ungemein höflich und gesprächig. »Sie müssen wissen, Hanum, mit meinem Freunde Sam kann ich nur über die Dinge der äußeren Welt sprechen. Er ist stumm und taub in der Welt der Gefühle. Ich werde Sie sehr liebhaben, Hanum, ich habe einen unverschwendeten Vorrat an Liebe, denn ich glaube, daß ich bis jetzt niemanden geliebt habe.« Asiadeh schwieg. Seltsam, daß dieser Mann sie Hanum nannte und einen unverbrauchten Vorrat an Liebe hatte. »Wir müssen bald verreisen«, sprach Rolland, und in seinen trüben Augen zeigte sich so etwas wie Zärtlichkeit. »Ich habe heute eine Nachricht bekommen. Meine Firma bestellt bei mir einen Film ›Herrin der Wüste‹ oder etwas Ähnliches. Sie wünscht, daß ich die nötigen Eindrücke an Ort und Stelle sammle, und schickt mich zu diesem Zwecke nach Gamades in der Libyschen Wüste. Ich würde ungern allein dahinfahren. Fahren Sie mit. Wir werden zwei Monate in den Zelten schlafen, Kamelmilch trinken und das Leben der Nomaden führen. Das wird unsere Hochzeitsreise sein. Dann fahren wir nach New York. Dort bringen Sie den ersten Prinzen zur Welt. Dann übersiedeln wir nach Kalifornien in einen Bungalow. Wissen Sie, als das Reich zerbrach und die Welt ihre Formen verlor, glaubte ich, daß das Leben zu Ende sei. Ich weiß selbst nicht, wie ich nach Amerika kam. Dort hungerte ich. Wissen Sie – hungern ist sehr unangenehm. Aber ich merkte es kaum. Ich dachte, daß für mich gar kein Platz mehr in der Welt sei.
Später hat Sam mich aufgelesen. Ich hörte auf zu hungern, aber mein Leben wurde nicht sinnreicher. Jetzt soll es anders werden.« John sprach, von den eigenen Worten berauscht. Ja, Frauen waren lärmende Spielzeuge, viel wertloser als eine Flasche guten Whiskys. Ein Mann ohne Heimat hatte zu träumen, zu arbeiten, Kopfweh zu haben und an den Tod zu denken. Aber diese da – das war gar keine Frau, das war kein lärmendes Spielzeug – das war ein Geschenk der entschwundenen Heimat an den Prinzen Abdul-Kerim, ein plötzlicher Stützpunkt im Ozean des fremden Lebens. Die ersten Osmanen waren Nomaden, die ganz Asien durchwandert hatten, bevor sie sich entschlossen, seßhaft zu werden. Das war ihr Fehler. Ein Nomade hat keine Heimat. Das Zelt ist die Heimat des Nomaden. Wo er es aufschlägt – dort ist er zu Hause. Asiadeh sollte sein Zelt sein. »Wir wollen in den nächsten Tagen abreisen, Hanum, geradenwegs nach Libyen.« Asiadeh blickte weg. Libyen – dachte sie – schwarze Nomadenzelte. Und der erste Prinz soll in New York zur Welt kommen. Ich werde aber keinen Prinzen in New York zur Welt bringen. Sie zwang sich, Rolland ins Gesicht zu sehen. Sein hageres Antlitz erschien ihr wunderbar schön. »Prinz«, sagte sie, »ich habe Ihnen aus Berlin geschrieben und Ihnen meine demütige Liebe angetragen. Sie haben mir geantwortet und mich für ewige Zeiten freigegeben. Ich habe einen anderen Mann gefunden, der mich braucht. Es ist unfair von Ihnen, fremde Häuser zu zerstören, nachdem Sie auf ein eigenes verzichtet haben. Ich kann Ihnen nicht folgen.« Sie sprach leise und blickte ihm fest in die Augen. John errötete heftig. Seine Augen weiteten sich und glänzten. »Ich schrieb Ihnen, aber ich kannte Sie nicht. Es ist nicht unfair, fremde Häuser zu zerstören. Alles Gegenwärtige ist aus
den Trümmern des Vergangenen errichtet. Fatih Mohammed zerstörte Byzanz und errichtete Istanbul. Ohne die Trümmer von Byzanz gäbe es kein osmanisches Reich. Wer ist Ihr Mann? Ein Ungläubiger, der seinen Besitz nicht schätzen kann. Bestimmt nicht. Sie werden ihm immer fremd bleiben. Und ich, ich liebe Sie.« So sprach Rolland und wußte nichts von der Nacht in den Alleen des Wiener Parks und später am Rande des Bettes neben Hassa, der Kognak trank und von Marion sprach. Asiadeh lächelte schwach. Das Leben war wirklich beinahe zu schwer für eine Frau aus Istanbul. »Ich bin nicht Ihre Untertanin«, sagte sie hart. »Sie haben mich in aller Form entlassen. Ich bin jetzt eine Österreicherin. Frau eines Österreichers und, so Gott hilft, Mutter von Österreichern. Es ist zu spät, Rolland. Krieger zerstören fremde Häuser, aber sie verlangen nicht die Beihilfe einer Frau. Auch ist mein Mann kein Ungläubiger. Er ist Meister über Leben und Tod und stammt aus einem frommen Geschlecht aus Sarajewo.« Sie verstummte. Rollands Gesicht wurde plötzlich grau und verfallen. Seine Schläfen bedeckten sich mit Runzeln. Seine Augen wurden trüb, stolz und fremd. Asiadeh blickte ihn an, und das ganze Leben Rollands zog plötzlich an ihren Augen vorüber. Ein Vertriebener war er, ein Armseliger. Ohne Halt trieb er in der Welt herum. Als Gefangener saß er einst im Palast am Bosporus, ohne Wissen um die Welt, die außerhalb des Palastes begann. Ein Nackter war er in der Fremde, ein Nackter, der vor ihr saß und um Kleidung bat. Die ganze Schwäche des alten Geschlechtes war in ihm. Sie sah ihn an, von plötzlichem Mitleid und Liebe ergriffen. Sie beugte sich vor und ergriff seine Hand:
»Abdul-Kerim, ich kann nicht, ich darf nicht. Begreifst du denn nicht? Vielleicht lieb ich dich, Abdul-Kerim, aber jetzt kann ich nicht.« Er sah sie fragend und stumm an. »Warte doch«, sie wußte nicht mehr, was sie sprach. Sie hielt seine Hand fest umklammert und fühlte sich von einer geheimnisvollen fremden Macht getrieben, »warte doch«, und wie von einer plötzlichen Vision gepackt, rief sie verzweifelt und leidenschaftlich: »Vielleicht wirft mich mein Mann hinaus. Dann komme ich zu dir, Abdul-Kerim. Ich kann keine Häuser zerstören.« Jetzt lachte Rolland. Er zog seine Hand zurück und saß kerzengerade in seinem Sessel. »Es ist herrlich, Hanum. Das heilige Haus Osman soll warten, bis ein ungläubiger Hund auf den Gedanken kommt, seine Frau hinauszuschmeißen. Sie lieben mich doch, Sie wollen doch zu mir. In Ihren Augen, an Ihren Händen, an Ihren Lippen lese ich die Zeichen der Liebe. Sie liebten mich, als Sie in Ihrem Boot an meinem Haus am Bosporus vorbeifuhren. Sie liebten mich, als Sie mir aus Berlin schrieben, und Sie lieben mich jetzt, während Sie vor mir sitzen. Liebe zu mir ist Ihre Pflicht. Aber Sie sind feige, Hanum, einfach feige, wie es keine Osmanin sein sollte.« Asiadeh schwieg. Es gehörte viel Mut dazu, jetzt zu schweigen. John erhob sich. »Ich bin Euer Sklave, Hanum«, sagte er nach dem höflichen Rhythmus der Istanbuler Paläste. »Gehen Sie mit einem Lächeln, Prinz«, mechanisch formten Asiadehs Lippen den vorgeschriebenen Satz. Sie blieb sitzen, die Schulter hochgezogen, die Augen in die Ferne gerichtet. Abdul-Kerim ging durch die Halle die Hoteltreppe hinauf. Schon auf der Treppe verwandelte er sich wieder in John
Rolland, einen versoffenen Filmautor, der in Libyen Eindrücke für seinen nächsten Film sammeln muß. Er betrat sein Zimmer. Sam Dooth saß im Sessel, neugierig zu Rolland emporblickend. Auf dem Nachttisch stand eine unberührte Whiskyflasche. John hatte gestern keinen Durst gehabt. Jetzt ging er zum Tisch. Er nahm ein Wasserglas, füllte es mit Whisky und leerte es auf einen Zug. »Aha«, sagte Sam und wußte Bescheid. »Ich bin ein Hund.« John füllte das Glas zum zweitenmal. »Meine Ahnen haben zwei Kontinente bezwungen, und ich kann nicht einmal eine Frau bezwingen.« Er setzte sich auf den Bettrand. Das Glas zitterte in seiner Hand. »Ich brauche keine Frau«, sagte er plötzlich. »Ich brauche keine Heimat. Ich brauche Whisky.« Er trank, und Sam sagte wieder »Aha«. Dann trank auch er, in kleinen Schlucken und nicht aus einem Wasserglas. Jetzt mußte John ganz wahnsinnig werden, dachte er. »Was liegt dir an der Frau«, sagte Sam. »Es gibt so viele. Ich werde dir in Afrika eine Sklavin besorgen. Fahren wir nach Libyen. Europa ist kein gesunder Boden für dich.« John starrte in das Glas. »Fahren wir nach Libyen«, sagte er trüb. »Was ein Säufer ist, braucht keine Frau und keine zwei Kontinente und keinen Palast am Bosporus.« Er begann sich plötzlich auszukleiden. »Ich gehe schlafen, Sam. Verschwinde! Drahte dem Pascha in Berlin, daß er seine Tochter schlecht erzogen hat.« Sam erhob sich und schüttelte mißbilligend den Kopf. Es war nicht zu fassen, wie es den Ahnen von John hatte gelingen können, Byzanz zu erobern. »Geh schlafen«, sagte er, »ich bin zwar für die Angelegenheiten des prinzlichen Harems nicht zuständig, aber
ich werde die Sache in die Hand nehmen, denn ich bin ein guter Mensch, und ich verzeihe dir die Zerstörung von Byzanz. Das Ganze ist lächerlich. In drei Tagen bringe ich alles in Ordnung.« Er ging, und John warf sich aufs Bett. Sam Dooth verließ das Hotel. Er ging in das Kaffeehaus in der Nähe der Oper. Dort saß er längere Zeit und schlürfte türkischen Kaffee. Niemand, der ihn da ruhig sitzen gesehen hätte, konnte ahnen, daß er eine fieberhafte Tätigkeit entfaltete. Sam Dooth war ein kluger Mann. Es war sein Ehrgeiz, John zu zeigen, daß sich ein Grieche dort bewährt, wo ein Osmane versagt. Nachlässig hielt er einen Zehnschillingschein in der Hand und blickte gelangweilt zu dem Ober empor, der sich vor ihm verbeugte. Er erfuhr das Alter, die Vergangenheit, die Gewohnheiten und den Freundeskreis Hassas. Daraufhin steckte er die Zehnschillingnote in die Tasche und entließ den Ober mit einem dankbaren Kopfnicken. Dann ging er zu dem Nebentisch, an dem der Chirurg Matthes mit dem Orthopäden Sachs über die Gegensätze zwischen der chirurgischen und orthopädischen Behandlung der Spreizfüße stritt, und stellte sich vor: »Sam Dooth, Filmagent aus New York.« Die Arzte waren sichtlich geschmeichelt. Sam nahm an dem Tisch Platz. Überlegen lächelnd erzählte er von einer Gesellschaft, die medizinische Filme für Unterrichtszwecke herstellen wolle. »Ich bin nach Wien gekommen, weil wir den wissenschaftlichen Teil der Filme unter Aufsicht von Wiener Ärzten drehen wollen.« Die Ärzte hörten interessiert zu und fühlten sich vom Wirbel der großen Welt ergriffen. Es war nicht festzustellen, wie das Gespräch von der Wissenschaft zu den Ärzten im allgemeinen überging, von da auf die Laryngologen kam und endlich beim Privatleben des Dr. Hassa endete.
Nach einer Stunde erhob sich Sam Dooth und dankte geflissentlich. »Wir werden uns wegen der Filme noch sprechen«, warf er hin. Am nächsten Morgen ging er zur Telephonzelle und ließ sich mit Hassas Wohnung verbinden. »Hier Maharadscha von Travenkor«, keuchte er in den Hörer, »ich habe schreckliches Ohrensausen. Wann kann ich den Doktor sprechen?« »Der Herr Doktor ist im Spital und kommt erst in drei Stunden.« Daraufhin hängte Sam den Hörer auf und ging in Hassas Wohnung. Er fand Asiadeh allein, zusammengekauert, in der Ecke des Salons. Er verbeugte sich. Asiadeh hatte leicht geschwollene Lippen und blasse Wangen. »Gott schütze dieses Haus«, sagte er zeremoniell. »Ihr tut aber alles, um es zu zerstören!« »Ich diene meinem Herrn«, sagte Sam ernst und mit Nachdruck. Seine Augen wurden groß und finster. »Viele Osmanen fanden ihr Ende durch die Hand eines Mörders, aber nur selten war der Mörder eine Frau.« »Ich bin keine Mörderin«, Asiadeh sprang auf und lief im Zimmer auf und ab. Ihre Lippen zitterten. »Ich habe Sie nicht gerufen! Auch ich tue meine Pflicht. Ich bin die Frau meines Mannes.« Sam blickte sie ruhig an und erklärte, daß Pflicht aus zwei Komponenten bestehe: Verantwortungsscheu und Phantasielosigkeit. Wenn die Türken treue Söldner der Araber geblieben wären, wie es ihnen ihre Pflicht gebot, hätten sie sich nie einen großen und gefürchteten Namen gemacht. Asiadeh blieb mit offenem Munde im Zimmer stehen. »Aber ich will mir gar keinen gefürchteten Namen machen. Lassen Sie mich doch in Ruhe!«
Sam lächelte wehmütig. »Der Bruder, der Vater und der Großvater Abdul-Kerims endeten unter sehr traurigen Umständen. Er sucht eine Stütze, und Sie stürzen ihn in den Abgrund. Sie sind nicht besser als jene, die seine Ahnen in den Tod trieben.« Asiadeh kauerte auf den hohen Kissen in der Mitte des Zimmers. Sie weinte lautlos und mit offenem Mund. »Ich kann nicht«, sagte sie gequält. »Sehen Sie denn nicht, daß ich nicht kann.« Sie wischte die Tränen ab und sagte mit plötzlicher Härte: »Effendi, wenn eine Frau, die sich selbst einen Mann gewählt hat und ihm Treue geschworen hat, wenn also diese Frau grundlos ihren Mann verläßt und mit einem reichen Fremden durchgeht – wie nennt man dann diese Frau? Es gibt sehr schlechte Worte zur Bezeichnung solcher Frauen, Effendi. Das Gesetz sagt: im Diesseits sei solche Frau gesteinigt. Im Jenseits dem ewigen Verderben preisgegeben. Ein Mensch aus dem Geschlechte des Kalifen sollte Mitleid mit einer Frau haben und sie nicht ins Verderben stürzen.« Sam sprang auf. Diese Türkin war verstockt. »Hanum«, rief er, »Sie sind eine Heilige. Ich verbeuge mich vor Ihrer Gesinnung, und ich achte sie. Kein Wort mehr darüber. Aber auch ich habe eine Pflicht, und ich werde sie tun.« Er ballte die Fäuste. Sein Gesicht wurde rot. »Bleiben Sie hier, aber Sie müssen wissen, mit wem. Dr. Alexander Hassa, ein Mann, der sich seiner Ahnen schämt und sie verleugnet. Ein Mann, dessen Wissenschaft damit endet, daß er Sängern Kokain in den Hals gießt. Jeder Arzt in Wien lacht über ihn. Als Student hatte er eine Geliebte. Als sie ein Kind von ihm erwartete, ließ er sie stehen. Seine erste Frau verließ ihn, angewidert durch seine Einfalt und Verstocktheit. Für Jahre mußte er weg aus dieser Stadt, weil die Kinder mit
dem Finger auf ihn zeigten. Wissen Sie überhaupt, wer sein Vater war? Ein balkanesischer Schieber, der sich am Blute seiner Brüder bereicherte. Und diesem Mann opfern Sie John Rolland. Wahrlich, Frauen sind keine Menschen. Sie haben nur die äußeren Umrisse eines menschlichen Wesens.« Die Tränen schwanden aus Asiadehs Augen. Sie stand im Zimmer und lachte. Ihr Körper schüttelte sich und ihre Augen glänzten. Sie beugte den Kopf zur Seite und sagte mit gebrochener Stimme: »Ja, und außerdem war er wegen Bankeinbruch eingekerkert. Er pflegt gewerbsmäßig Wechsel zu fälschen und wurde nur aus Mangel an Beweisen von einem dringenden Mordverdacht freigesprochen. So ist es, und nun nehmen Sie Ihren Hut und gehen Sie!« Sie wandte sich um und verließ das Zimmer. Wutentbrannt wackelte Sam über den Ring. Der Feldzug war noch lange nicht beendet. Er lief zum Telegraphenamt. Mit gerunzelter Stirn schrieb er ein langes Telegramm, in dem Koranzitate und Ermahnungen mit Bitten und Ratschlägen vermengt waren. Unterdessen ging Asiadeh in die Stadt. Sie ging durch die Straßen, an den Geschäften und Kaffeehäusern vorbei. Die Männer auf den Kaffeehausterrassen hatten Rollands Augen, und die Modepuppen in den Auslagen der Herrengeschäfte hatten prinzliche Gestalten und osmanische Nasen. Das Ringhotel glich einem bösen, auf der Lauer liegenden Tier, und sie machte einen großen Bogen darum. Zu Hause wartete das Essen. Hassa löffelte die Suppe und sprach von Backhendeln und von einem Strudel, den nur seine Mutter zu bereiten verstand. Asiadeh hörte andächtig zu und berichtete von Baklava, einer türkischen Honigspeise, die zum Kaffee gereicht wird.
Nachmittags, als Hassa ordinierte, brachte ihr das Mädchen ein Telegramm: »Über alles unterrichtet. Dienst am Herrscher oberstes Gebot. Achmed-Pascha.« Asiadeh faltete das Telegramm. Auch das noch! Sie fühlte sich wie eine Festung, die dem Feuer der Schwerartillerie preisgegeben ist. »Ich gehe spazieren«, sagte sie zu Hassa, und Hassa nickte. »Paß auf«, sie blieb in der Tür stehen, »was würdest du tun, wenn ich nie wieder zurückkäme?« »Ich würde nie wieder lachen können.« Hassa blickte sie scheu an. »Aber ich komme ganz sicher zurück. Bei uns in Istanbul mußte immer jemand eine Frau begleiten, damit sie auch richtig zurückkomme. Aber mich braucht man nicht zu bewachen, ich komme auch so zurück.« Sie ging zum Telegraphenamt und sandte zwei gleichlautende Telegramme, an John Rolland und an Achmed-Pascha Anbari: »Kann nicht, Asiadeh.« Dann schlenderte sie durch die Stadt. Auf der Terrasse des Kaffeehauses am Stephansplatz erblickte sie Marion. Sie wollte sich abwenden, aber es fiel ihr ein, daß sie selber nur um eine Haarbreite dasselbe getan hätte, weshalb sie Marion verachtete. Sie hatte plötzlich Mitleid und Mitgefühl mit Marion. Sie nickte ihr lächelnd zu, und Marion erwiderte den Gruß erstaunt und etwas hoheitsvoll. Sie ging nach Hause. Am Hotel vorbei. Sie blickte auf die graue Fassade. Oben packte Sam die Koffer. »Wir fahren nach Rom, John. Die Weiber brachten deiner Familie stets nur Unheil. Von Rom fliegen wir hinüber nach Tripolis und dann zur Arbeit nach Gadames. Du mußt einen guten Film schreiben, sonst zahlt man uns kein Honorar.«
John nickte. »Laß die Schreibmaschine draußen, Sam. Ich werde im Zuge mit der Arbeit beginnen. Was trinkt man in Italien? Ich war noch nie dort.« Sam schloß die Koffer. »Italien ist beinahe so schön wie Griechenland«, erklärte er gewichtig. »Man trinkt dort Wein. In Tripolis dagegen gibt es Dattelschnäpse. Sie sind sehr gut. Auf zur Arbeit, John.« Sie verließen das Hotel.
21
Das Wasserflugzeug lag im Hafen von Ostia wie ein Autobus vor der Haltestelle. Oben erprobte der Pilot mit angestrengtem Gesicht Maschine und Propeller. Der Propeller surrte. Die mächtige Maschine erzitterte in gleichmäßigem Takt. John Rolland stieg ein. Er nahm auf dem Fenstersitz Platz und preßte den langen Ventilatorenschlauch in die Hand. Hinten raschelte Sam mit den Zeitungen. Die Mitreisenden saßen in ihren Sitzen wie im Vorzimmer eines Zahnarztes. Die Tür schloß sich. Weiße Wellen zeigten sich an den Fenstern des Abteils. Sie schlugen an das dicke Glas, schäumend und weich, als nähmen sie Abschied. Plötzlich wurden sie kleiner, stiller, unscheinbarer, wie gebändigt vom mächtigen Rauschen des Propellers. Sie sanken in die Tiefe, und vor Rollands Augen breitete sich der Strand von Ostia aus, die Badekabinen, das Strandhotel und die mächtigen Hallen der Littoria. Stoßartig stieg das Flugzeug in die Höhe. »Bismillahi, Rahmani, Rahim« – »Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen«, flüsterte Rolland und wunderte sich selbst über den plötzlichen Anfall von Gottesfurcht. Er öffnete den Ventilatorenschlauch. Luft schlug ihm ins Gesicht, seine schwarzen Haare wehten. Stunden um Stunden sollte er jetzt in diesem Fenstersitz verbringen, hineingepreßt in eine Kabine, die in der Luft schwebte zwischen Europa und Afrika. Schweigend saß er da, das Gesicht an das Fensterglas gepreßt. Das Surren des Propellers übertönte jedes Wort. Es war gut, sich still und allein ans Fenster zu lehnen, kraftlos den Gedanken ausgeliefert, die ihn
von New York in die Wüste trieben, dann wieder in die steinerne Strenge der Städte führten und nun übers Meer jagten zu der fernen Küste der Barbaren. John blickte aus dem Fenster. Unten zerriß der Wind die weichen Falten der Wolken. Weiße Fetzen trieben über die blaue Fläche. Glatt, regungslos und erstarrt war das glutübergossene Meer. Der Schatten des Flugzeuges glitt über die Fläche und glich einem großen Vogel. Angestrengt blickte John auf das Meer. Links, hinter der breiten Linie des Horizonts, verbarg sich Istanbul. Vorne bedeckten Wolken die unsichtbare Küste Afrikas. Ausgebreitet lag das Mittelmeer vor Johns Augen, gleich einem geheimnisvollen Ring, der Vergangenheit und Gegenwart umfaßt. John hatte das Gefühl, als zeichneten sich in der erstarrten blauen Fläche die Jahrhunderte, die dieses Meer umspülte, und diese Jahrhunderte waren plötzlich in ihm, unzertrennlich mit ihm verbunden und über ihn herrschend. Ein Rastloser war er, ein Vertriebener, der einem geheimnisvollen Ziel nachjagte. Die Heimat? Er wußte nicht mehr, wo Heimat für ihn war. Das Wasser vom Bosporus? Dasselbe Wasser breitete sich jetzt vor seinen Augen aus. Der Palast? Es gab bessere und schönere Häuser in der Welt, und sie standen ihm offen. Die Ruhe war es, die Geborgenheit, die geheimnisvolle Zweckmäßigkeit des Daseins, die er eingebüßt hatte, als er über das große Wasser ging, zur steinernen Pracht Manhattans. Eine große Leere war in ihm – seelenlos waren die Zimmer, die er bewohnte, die Straßen, durch die er ging, die Häuser, die er sah. Das Leben war eine trostlose Reihenfolge von Nahrungseinnahme und Arbeitsstunden, denn ausgestoßen war er aus dem geheimnisvollen Ring des Schicksals, dem er angehörte und für den er geboren war.
Manchmal überfiel es ihn – mitten in der Arbeit, im Lokal, im Gespräch. Eine Silhouette, ein Profil, ein Wort ganz ohne Zusammenhang, und die Leere stieg in ihm auf, überfiel und würgte ihn wie ein böser unersättlicher Alp. Unstillbar war dann der Schmerz, und er entfloh ihm in die äußere Zweckmäßigkeit des Daseins, in den neuen Namen, in den neuen Paß und ahnte dumpf, daß es nur wertlose Hüllen waren, leichter abzustreifen als ein neues Hemd, als ein neuer Anzug. Dann haßte er das neue Dasein, die schnurgeraden Avenuen von New York, die majestätischen Linien der Wolkenkratzer. Dann flatterten vor seinen Augen die fernen Linien der entschwundenen Welt, dann atmete er die salzige Luft des Bosporus und die trockene Trunkenheit des Staubes, der aus der Wüste kam und unter seinen Füßen knirschte. John preßte seine Stirn an das Fenster. Unten entschwanden die blauen Umrisse des Vesuv. Der Golf von Neapel glich einer kindlich ausgestreckten Handfläche, die sich in das müde Grün der Küste hineindrängte. Ich jage von einem Schmerz zum anderen – dachte John – und entsann sich der weißen Häuser von Marokko, des breiten Hofes des Kalifenpalastes und des rasenden Schmerzes, der ihn beim Anblick des weißvermummten Herrschers mit dunklen verträumten Augen ergriffen hatte. Jene Welt der unstillbaren Sehnsucht auch sie war von Larven und Dämonen erfüllt. Jede Berührung mit der Welt des Westens trieb ihn zurück zur entschwundenen Pracht der Vergangenheit. Jede Berührung mit einem Splitter der Alten Welt, jede Erinnerung an die Vergangenheit erzeugte neuen Schmerz, neue Qual der Ohnmacht und Schicksalsschwere. John seufzte. Es war schön, in dem großen Flugzeug zu sitzen, mitten zwischen den beiden Welten, die Schmerz und Qual verursachten. Er blickte sich um. Die Gesichter der Mitreisenden glichen aufgedunsenen schlafenden Schnecken.
Die beiden Piloten im Führersitz blickten gelangweilt in die Ferne. Der eine blätterte in einer Zeitung. Der Flug über das Mittelmeer war prosaischer und alltäglicher als eine Fahrt auf den Semmering. Sam Dooth schlief, das Gesicht mit der Zeitung verdeckt. An der Wand der Kabine hing ein Plakat, das ein Hotel darstellte und eine Autostraße, die durch die grünen Wiesen lief. Die Wiesen glichen dem grünen Weg zum Semmering. John sah das Auto und das Mädchen, das ihn angefahren und mit den Füßen aufgestampft hatte. Eine seltsame Wärme überkam ihn. Er öffnete den Schlauch des Ventilators und atmete gierig die kalte Luft ein. Es war plötzlich gut, daß es Asiadeh auf der Welt gab – ein Wesen, das gleich ihm zwischen den beiden Welten getrieben wurde und dennoch heiter und fest blieb in der losen Hülle des irdischen Glückes. Ich müßte sie zurückholen – dachte John müde und fühlte die gewohnte kraftlose Leere in sich aufsteigen. Seine Glieder wurden schwer. Es war ganz gleichgültig, ob er über dem Mittelmeer war oder in New York oder in der Wüste. John streckte die Füße aus. Er war aufrichtig verwundert, daß die aufgedunsene grauhaarige Frau, die ihm gegenüber schlummerte, nicht Asiadeh war. Draußen, am Horizont, zeigten sich die gelben Streifen der Barbarenküste. John preßte die Hände an die Schläfen. Hinter dem grauen Streifen lag die große Wüste. Dort erhoben sich die Gebetstürme der Moscheen und glichen Lanzen, die sich in seine Seele bohrten. Fremd war er in New York, fremd wird er hier sein, in der Welt des Sandes. Das Flugzeug ging im Gleitflug nieder. Unten zeigten sich die uralte Burg und die weißen viereckigen Häuser von Tripolis. Das Flugzeug wasserte. Wellenspritzer erglänzten in der afrikanischen Sonne. Johns Gesicht wurde steif: »Wo wohnen wir?«
Sam Dooth erhob sich und zog dicke Wattebausche aus seinen Ohren. »Im Grand Hotel«, sagte er krächzend. Das Flugzeug hielt an der Mole. John stieg aus. Er ging über den Landesteg zum bereitstehenden Wagen. Vor ihm erhob sich der Turm der Karamanli-Moschee. Verächtlich wandte er sich ab. Es gab keine Heimat für den Wanderer zwischen zwei Welten… In der großen Halle des Hotels trugen schwarze Diener blendend weiße Hosen. Auf der sonnengeschützten Terrasse speisten Kolonialoffiziere. Die palmenbedeckte Promenade zog sich zum uralten Kastell, und über die Promenade wanderten Kamele, Esel, Araber und vermummte Frauen. Sam Dooth verschwand eilig in der Richtung des Regierungspalais. John blieb allein in dem kühlen Halbdunkel der Hotelhalle. Die maurischen Bogen und Säulen wirkten tempelartig. Er erhob sich und ging zur Rezeption. Der Portier war ein dunkelhäutiger Mann mit großen, traurigen Augen. »Es ist ein schönes Land«, sagte John. »Ein sehr schönes«, meinte der Portier. »Reisen Sie weiter ins Innere des Landes?« »Ja.« »Sie werden vieles sehen. Fahren Sie in die Oase Zliten. Dort ist das Grab des heiligen Sidi Abdessalam. Oder in die Berge des Dschebels. Dort wohnen Menschen in unterirdischen Höhlen, die dem Gesetz des heiligen Ibad folgen. In den Oasen der Sahara werden Sie neue Brunnen und neue Häuser sehen. Wasser ergießt sich über die Wüste, und sie beginnt zu blühen. Sogar in Dscharabub wurde ein neuer Brunnen gebohrt.« »Dscharabub?« sagte John. »Von dort bekam ich einst Datteln.« Der Portier sah ihn verwundert an. Datteln aus Dscharabub waren einst der Tribut der Oase an das Haus Osman. John
errötete. »Ich fahre aber nicht nach Dscharabub, ich fahre nach Gadames.« »Dort wohnt der Stamm der Tarki, und Frauen herrschen dort über die Männer. Früher fuhr man drei Wochen nach Gadames, jetzt drei Tage.« »Wann früher?« »Naja, früher, unter den Osmanen.« »Soso.« John kniff die Augen zusammen und verlangte ein Telegrammformular. Dann schrieb er: »Asiadeh Hassa, Wien. Reise nach Gadames zu den Frauen, die über die Männer herrschen. Wenn du herrschen willst, komm nach.« Er gab das Telegramm auf. In die Halle trat schweißtriefend und strahlend Sam Dooth. »Morgen geht der Wüstenautobus nach Gadames. Alles vorbildlich organisiert. Hotels unterwegs. Herrliche Autostraße.« Er sah Johns fahl werdendes Gesicht und kicherte. Sie speisten auf der Terrasse, sie gingen durch die Stadt und sahen die engen Gassen des Basars und Eingeborene, die an der Türschwelle saßen und Tee tranken. Abends gingen sie über die Promenade. Das Meer war still. Der Gibli – der heiße Wüstenwind kam aus der Sahara, und Sandkörnchen knirschten unter Johns Füßen. Berittene Neger zogen vorbei und hatten robuste Gesichter und aufgeworfene Lippen. Ihre Degen glänzten in der untergehenden Sonne. Der Autobus, der am nächsten Morgen vor dem Hotel hielt, war zweistöckig, hatte einen Speiseraum, eine Bar und ein Radio. John setzte sich an die Bar. Im Radio ertönte ein Walzer. John sah die Palmen am Wegrand und den grauen Sand der Sahara. Kamele rannten über die Straße, und ein weißvermummter Mann mit dunkler Brille winkte ihm zu. Kleine viereckige Marabus erhoben sich auf den grauen Hügeln und waren mit bunten Fahnen geschmückt. Sand
knirschte unter den Rädern des Autobusses. Das Land war flach und einfach. Über den gelben Sand wölbte sich drohend der gelbe Himmel. Die gelbe Sonne hing über der Erde wie eine glühende Fackel. Hin und wieder spukten am Horizont Oasen, Palmen und Brunnen. Unwirklich leuchtete in der durchglühten Luft die Fata Morgana. In der Ferne erhoben sich zackige fahle Felsen des Dschebels. Sengende Glut ergoß sich über die Wüste. Die Formen der Umwelt verschwanden in der Flut des heißen Sandes. Hügel, kraterartig und fremd, erhoben sich am Wegrand. Manchmal eine Wasserpfütze rätselhafte Wasserinsel im Sandmeer. Mehari – schlanke Reitkamele – zogen vorbei, und der Schrecken der großen Wüste nistete in ihren Augen. Männer mit verschleierten Gesichtern standen am Rande der Oasen, und das Radio spielte einen Walzer. Dann kam die Nacht. Plötzlich und ohne Dämmerung verschwand die Sonne. Traubenartige Sterne hingen über der Wüste. Der Autobus hielt vor einem kleinen Hotel. Kraftlos sank John ins Bett und sah am Fenster die länglichen Schatten der Palmen und ein verschleiertes Kind, das ängstlich zum Fremden emporblickte. Und wieder kam der Tag, wieder hing über der Wüste die gelbe Sonne. Langsam fuhr der Autobus durch das Land. Auf den Hügeln standen die Wüstengendarmen und blickten mit gleichgültigen Augen auf den Autobus. Hoch im Himmel hing regungslos und gelb ein Regierungsflugzeug. John blickte auf das Flugzeug und dachte an das Mittelmeer, das die Welten trennt und verbindet. Oben im Flugzeug saß der Pilot, blickte auf den Autobus und dachte an den Wind, der um die Mittagszeit von unten kommt, und an die Regierung von Libyen, die ihn in die ferne Oase geschickt hatte, weil ein Scheich erkrankt war und Medizin brauchte.
Im Castello, im uralten Gebäude am Meer, saß die Regierung von Libyen und dachte an den kranken Scheich, an den Piloten und an den Autobus, der nach Gadames fuhr. An vieles dachte die Regierung von Libyen. Irgendwo in der tunesischen Sahara wütete der Typhus. An den verschlossenen Grenzen pochten die Karawanen von Pilgern. Die Männer aus dem Stamme Tarki trugen lange Zöpfe, in denen die Typhuslaus nistete. An alles mußte die Regierung denken: wie man den Männern aus dem Stamme Tarki beibringt, die Zöpfe abzuschneiden, wie man die Kinderehen in den Oasen abschafft, wie man dem trockenen Sande der Sahara Wasser abgewinnt. Im Castello, im uralten Turm, saß die Regierung von Libyen. Papiere stauten sich auf dem Tisch der Regierung, und die Regierung wußte alles: – sie wußte, daß in der Oase Mitsurata ein eingeborenes Weib ein uneheliches Kind gebar und es für ehelich erklären wollte, sie wußte, daß Neger aus dem innersten Afrika sich am Brunnen an der ägyptischen Grenze ansiedeln wollten, sie wußte, daß in den fernen Oasen das Trachom, das Leiden Afrikas, wütete. Am Schreibtisch im Castello saß die Regierung Libyens und wußte, daß die Höhlenmenschen eine Schule brauchten und einen Lehrer für Ackerbau, sie wußte, daß in Leptis Magna ein verschüttetes Haus gefunden worden war und ausgegraben werden sollte. Sie wußte, daß das Wasser in der Oase Murzuk salzhaltig war und daß in der Oase Bu-Sabat Ölspuren gefunden wurden. Sie wußte von den unterirdischen Strömen, die durch die Sahara ziehen, von Ruinen alter Burgen und von Frauen aus dem Volke Tarki, die über die Männer herrschten. Sie wußte von den weißen und gelben, braunen und schwarzen Völkern der Wüste, sie wußte von der Filmgesellschaft, die einen Film über die Wüste machen wollte, und sie wußte von John Rolland, der im Autobus durch die Sahara fuhr und in Wirklichkeit Abdul-Kerim hieß. Alles wußte die Regierung.
Und der Telegraphist in Gadames, die Offiziere der Garnison, der Portier des Hotels wußten, daß Abdul-Kerim, Prinz aus dem Hause Osman, nach Gadames fährt, daß die Regierung um sein Prinzentum weiß und sein Schweigen achtet. Alles wußte die Regierung, alles, was in den Wüsten und Oasen Libyens geschah. Was aber in Wien geschah, wußte die Regierung nicht. Es war ihr ganz gleichgültig, was in Wien geschah, ganz unwichtig war ihr, daß eine blonde Frau im großen Geschäft am Graben einen Atlas der Libyschen Wüste kaufte und ein dickes Buch mit dem Titel: »Die Wunder der Sahara«. Zu Hause, im Salon mit den Erkerfenstern saß dann diese Frau über den Atlas gebückt, ihre Finger verfolgten den Weg von Tripolis zu den Felsen des Dschebel, über die Oase Nablus und über die Burg Tguta. Tief gebückt saß die Frau über dem Atlas, als der Finger Gadames fand, die Perle der Sahara. Später blätterte die Frau im dicken Buch, und das Telegramm lag verknüllt und zerfetzt im Papierkorb. Das alles wußte die Regierung Libyens nicht, und es ging sie auch nichts an. Auch John Rolland wußte es nicht. Er saß am Radio, in der Bar des zweistöckigen Autobusses. Trockener Wind schlug an das Fensterglas. Toter Sand wirbelte in der Wüstenluft, sengend hing die Sonne im gelben Himmel. Einst kämpften hier, in der Wildnis der großen Wüste, die Regimenter des Hauses Osman, aber es war besser, nicht daran zu denken, denn tot und regungslos war das Gestein, und in der Ferne zeigten sich die Palmen von Gadames – sie glichen grünem Moos und streckten ihre Zweige dem gelben Himmel entgegen. Der Autobus fuhr um eine alte Mauer und blieb mit einem Ruck stehen. Aus einem Loch in der Mauer trat ein Mann mit verschleiertem Gesicht und lachenden Augen. Er ergriff die Koffer. John folgte ihm, und Sam Dooth ging hinterher. Ein palmen-umgürteter Platz zeigte sich. Ein einstöckiges, längliches rötliches Haus mit schön
geschwungenen weichen Linien stand in der Mitte. »Hotel Ain-ul-Fras.« John trat ein. Der Diener trug die Koffer in die Zimmer. An der Portierloge blieb John stehen. »Herr John Rolland?« fragte der Portier. John nickte erstaunt. »Ein Telegramm für Sie.« Er steckte den Umschlag in die Tasche und ging in den kleinen Garten. Dort las er: »Bin nur eine Frau, will nicht über die Männer herrschen. Asiadeh.« John faltete das Telegramm und verließ den Garten. In der sengenden Glut des Mittags roch die Erde nach Brand. Das Zimmer war gelblich wie der Sand der Wüste. Irgendwo lag Wien, irgendwo war Asiadeh, aber alles war unwirklich, fern und flatternd, wie der Sand vom Wüstenwind verweht.
22
Dr. Kurz machte einen Rundgang durch sein Sanatorium. In den Spielzimmern saßen üppige Rumäninnen und spielten Bridge. Im Lesezimmer blätterte ein nervöser Literat in den Zeitungen und klagte über Kopfschmerzen. Eine Schar älterer Patientinnen saß auf dem Balkon und unterhielt sich leidenschaftlich über Schizophrenie und Diabetes. Kurz ging in den Garten. Auf den Bänken der langen Alleen saßen Melancholiker und stritten über Selbstmord. Kurz lächelte liebenswürdig und verständnisvoll. Er verschrieb den Melancholikern Essigabreibungen und den Nervösen eine moderne Diät. Den Frauen mit Depressionszuständen verschrieb er Unterhaltung und Umgang mit Männern. Er tat es seit Jahren und hatte damit gute Erfahrungen gemacht. Frauen waren wie unmündige Kinder, nur um vieles leichter zu behandeln. Ein erfahrener Nervenarzt hatte da seine Erfahrungen. Jede Frau konnte man erobern, aber nicht bei jeder verlohnte es sich. Dr. Kurz beendete den Rundgang und ging in sein Arbeitszimmer. Ja, jede Frau konnte man haben, es war wie eine mathematische Aufgabe, wie eine Gleichung mit wenigen Unbekannten. Kurz setzte sich an den Schreibtisch und sagte ins Telephon: »Schwester, ich bin jetzt mit wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt und für niemanden zu sprechen.« Dann legte er ein Bein über das andere und zündete sich eine Zigarette an. Die wissenschaftliche Arbeit hieß Asiadeh.
Eine schöne Frau – dachte Kurz –, eine begehrenswerte Frau. Er verspürte ein angenehmes Kitzeln in seinen Fingerspitzen. Der Instinkt eines erfahrenen Nervenarztes sagte ihm, daß Hassas Ehe kriselte. Hassa selbst war natürlich ahnungslos, wie immer. Kurz witterte aber die Ehekrisen in den unmerklichsten Erscheinungen des Lebens. In Asiadehs Kopfnicken, im leisen unterdrückten Lächeln, im Beben der Wimpern, in allem merkte Kurz die geheimen Zeichen des seelischen Konfliktes. Ein anderer Mann? Kurz schüttelte den Kopf. Es gab keinen anderen Mann in Asiadehs Nähe. »Die Frau langweilt sich einfach«, stellte Kurz befriedigt fest, das Leben mit Hassa ist reichlich eintönig. Sie sehnt sich nach einem Abenteuer, aber weiß es noch nicht. Kurz hob den Hörer des Telephons ab. Achtmal drehte er die Wählscheibe, achtmal lächelte er dem Unsichtbaren zu, der sich im Hörer meldete, und achtmal wiederholte er: »Verehrter Freund, ich gebe am Samstag eine kleine Gesellschaft. Nichts Besonderes. Hassas werden da sein, und Sachs und Matuschek. Auch die gnädige Frau natürlich. Ja, im Smoking. Ich würde mich sehr freuen.« Nach dem achten Gespräch waren die Vorarbeiten für die wissenschaftliche Arbeit beendet. Dr. Kurz war außerordentlich zufrieden. Sonnabend um halb neun Uhr betrat Asiadeh die hell erleuchtete Zimmerflur im Rathausviertel – die Wohnung von Kurz. Hassa schritt neben ihr. Der steife Kragen drückte seinen Hals, und das gestärkte Hemd wölbte sich. Asiadeh sah glattpolierte Möbel und einen geöffneten Schrank mit einer Batterie von Flaschen. Das große Zimmer war grell erleuchtet. Worte füllten den Raum wie kleine graue Vögel. Blauer Zigarettendampf verschleierte die Gesichter der Gäste und machte sie rätselhaft.
»Einen Cocktail«, rief Kurz, und Hassa nahm das Glas. In den breiten Sesseln saßen geschminkte Frauen mit nackten Schultern und glänzenden Augen. Asiadeh blickte in den Spiegel. Auch sie war geschminkt, und ihre Schultern waren den Blicken der Menschen preisgegeben. Äußerlich unterschied sie nichts mehr von diesen Frauen, die zahlreiche Männer hatten und Cocktail schlürften. Die Männer standen in dem Raum wie Statuen mit Gläsern in der Hand. Die Worte klangen unwirklich, geisterhaft und fremd. Eine Frau mit strengem Profil und schmerzverzogenen Augenbrauen saß in der Ecke. Sie sprach vom Theater, und ihre Stimme klang wie ein Geheimnis. »Das war zuviel«, sagte sie, »haben Sie die Aufführung gesehen?« – »Nein«, sagte ein junger Mann und machte eine breite Handbewegung, »aber ein Buch ist erschienen. Haben Sie es gelesen?« – »Nein.« Asiadeh wußte nicht, ob sich die beiden miteinander unterhielten. Die Gäste glichen Anhängern einer unbekannten Sekte. Die Bewegungen hatten ein magisches Gepräge. Lautlos wurden die Gläser geleert, und es war wie ein uraltes Ritual. Die Menschen schwammen im Tabaksqualm wie die Silhouetten eines Schattenspieles. Manchmal verstummten alle und sahen sich an wie Verschwörer bei einer nächtlichen Versammlung. »Die Börse«, sagte ein Magier mit großer Glatze und hob bedeutungsvoll den Finger, »der Pulsschlag der Wirtschaft, das Barometer des öffentlichen Lebens. So was muß man erlebt haben. In Paris oder in London.« Er verstummte mit erhobenem Finger. Niemand hörte ihm zu. »Ja«, sagte Asiadeh schüchtern und ging in die Ecke. Weißbeschürzte Dienstmädchen reichten Sandwichplatten. Die Sandwiches waren bunt und eckig wie ein altes Mosaik. Asiadeh knabberte an einem Sandwich. Ein Arzt neben ihr
erzählte von einer Fahrt nach Genf. »Konsilium«, sagte er und blickte siegreich um sich. »Die Schweiz ist nur im Winter schön«, hauchte jemand. »Kennen Sie Sankt Moritz oder Arosa? Voriges Jahr wohnte ich im Tschuggen-Hotel.« »Nein«, sagte Asiadeh und schämte sich, daß sie nie im Tschuggen-Hotel gewohnt hatte, »ich fürchte mich vor dem Schnee. Kälte ist der Vorbote des Todes.« Zwei Augen zeigten sich im Tabaksqualm und sahen sie mitleidig an. Eine ungeheure Kristallschale, mit Bowle gefüllt, wurde hereingebracht. Sie glich einem großen duftenden Bassin. Die Gäste standen um das Bassin wie Schwimmer vor dem Start. In der Hand des Dr. Kurz glitzerte ein Silberlöffel. Die Gesichter der Gäste röteten sich. Die Stimmen wurden lauter. »Das Problem des Mittelmeeres ist noch lange nicht gelöst«, sagte jemand sehr überheblich. Ein kleiner Mann putzte sich die Brille und rief herrisch: »Die Frau von heute ist morgen eine Frau von gestern.« Erschrockenes Lachen ertönte. Nach dem achten Sandwich erhob sich Asiadeh. Sie ging durch die Zimmerflucht. In den verdunkelten Ecken saßen Männer und Frauen, eng aneinandergeschmiegt. Ein Herr mit zerknülltem Smokinghemd saß auf dem Diwan, und sein Kopf glich einem Spielball. Hassa stand am Ofen eingezwängt zwischen zwei Frauen. Er hielt ein Bowleglas in der Hand und trank Asiadeh zu. Sie nickte vergnügt. Neben ihr stand Dr. Kurz. »Wie geht es Ihnen, gnädige Frau?« Er tat so, als ob ihn Asiadeh nie auf dem Semmering sitzengelassen hätte. »Danke, gut.« Asiadeh dachte an den Semmering und hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Sie ging neben Kurz her und stand plötzlich in einem leeren Zimmer vor einem verwirrenden Gemälde.
»Ein echter van Gogh«, sagte Kurz, »merken Sie den trockenen Rausch der Linien?« Asiadeh merkte nichts. Sie sah eine Leinwand mit bunten Flecken und nickte ehrfurchtsvoll. »So werden Sie besser sehen.« Er löschte die Lampen aus. Nur eine kleine Indirekta erleuchtete den Raum. Asiadeh nahm in einem weichen Sessel Platz. Sie hob den Kopf hoch und starrte auf die Leinwand. Das Bild langweilte sie. Das Zimmer war leer, und es roch nach Parfüm. Im Nebenzimmer ertönte das Lachen der Gäste. »Was machen Sie den ganzen Tag, Asiadeh?« Kurz’ Stimme klang vertraulich. »Ich lese über Afrika.« »Über Afrika?« Kurz war sichtlich interessiert. Frauen, die über Afrika lesen, konnten unmöglich eine glückliche Ehe führen. »Ja«, Asiadeh wurde plötzlich sehr lebhaft, »über die Sahara. Es ist ein seltsames Land. Es muß dort sehr schön sein. Haben Sie schon etwas über Gadames gehört?« »Nein.« Kurz war aufrichtig erstaunt. »Es ist eine Oase im Herzen der Sahara, an der heiligen Quelle Ain-ul-Fras. Nur siebentausend Einwohner. Aber sie zerfallen in viele Kasten. In den adligen Ahrar, in die berberischen Hamran, die schwarzen Atara und die Habid, die ehemaligen Sklaven.« »So«, sagte Kurz, »eine ferne Oase in der Wüste. Davon lesen Sie also. Ob es dort auch Frauen gibt?« »Ja, es gibt dort Frauen. Sie wohnen auf den Dächern. Alle Dächer sind miteinander verbunden. Kein Mann darf auf das Dach. Keine Frau darf auf die Straße. Zwischen den Dächern und den Straßen liegen Wohnungen. Dort treffen sich die Männer mit den Frauen. Eine seltsame Welt. Manchmal hab’ ich das Gefühl, daß ich dort war.«
»Eine seltsame Welt«, wiederholte Kurz. Er stand vor ihr im Halbdunkel des parfümierten Zimmers. Plötzlich beugte er sich vor. »Asiadeh«, sagte er und ergriff ihre Hand, »nicht nur in Gadames, auch hier sind Menschen durch Dächer und Straßen voneinander getrennt. Viel strenger als in Gadames. Es gibt keinen Gang von Seele zur Seele. Einsamkeit ist des Menschen Los. Dort in der Sahara oder hier in dem versteinerten Wald der Großstadt.« Er beugte sich ganz nahe zu Asiadeh. Er flüsterte: »Einsam bleibt die Frau im Ehebett und einsam der Wanderer durch die Welt des Alltags. Nur selten, nur sehr selten, wie das Blitzlicht eines Wunders…« Er sprach nicht weiter. Er ergriff Asiadehs Kopf. Er preßte seine Lippen an die ihrigen. Sie zuckte heftig zusammen. Er zog sie zu sich empor und seine Hände umfaßten ihren Leib. Er drückte ihren Kopf an seine Brust und sein heißer Atem berührte ihren Nacken. Plötzlich riß Asiadeh den Kopf hoch. Kurz sah zwei rasende wildfunkelnde Augen. Asiadehs Hände ergriffen seinen Hals. Mit einem wilden Ruck sprang sie hoch. Ihre Knie bohrten sich in seinen Leib. Er sah das Zittern ihrer kleinen, plötzlich erblaßten Lippen. Die Lippen kamen immer näher. Die rasenden Augen wurden ganz schmal. Plötzlich pfiff Asiadeh, kurz und scharf, wie ein Raubvogel. Ihre Zähne erfaßten etwas Fremdes und Weiches. Entsetzt rückte Kurz zurück. Er zerrte an dem kleinen wilden Körper, der ihn krallenartig umfaßte. Er riß, von lähmender Furcht ergriffen, an ihren Schultern. Wortlos kämpften sie im Halbdunkel des parfümierten Zimmers. Alles Menschliche war von Asiadeh gewichen. In tierischem Haß biß sie sich in das Fremde hinein. Sie fühlte einen salzigen Geschmack in ihrem Mund. Kurz taumelte. Plötzlich ließ sie ihn los. Sie stand in der Mitte des Zimmers, den Kopf nach vorne gebeugt, und wischte mit dem
Taschentuch die Lippen ab. Über Kurz’ Gesicht rann ein breiter Blutstreifen. Sein Gesicht war grünlich. Ganz erschöpft sank er in den Sessel. Wortlos verließ Asiadeh den Raum. Sie trat in das hell erleuchtete Zimmer, ihre Augen waren noch immer ganz schmal. Auf dem runden Tisch stand ein großes Glas Bowle. Sie ergriff es und leerte es in einem Zug. Zum erstenmal in ihrem Leben verspürte sie den Geschmack des Alkohols. Sie hatte das Gefühl, als bohrten sich feurige Spieße in ihre Eingeweide. So was gab es also wirklich! Ein Freund ihres Mannes sah sie mit den Augen der Liebe an. Sie trat an den Spiegel. Alles an ihr erschien ihr besudelt, beschmutzt und befleckt. Die Gesichter der Gäste kreisten vor ihren Augen. Jemand lachte, und es klang wie das nächtliche Geheul einer Hyäne. Sie ging weiter, das blutbefleckte Taschentuch in den Händen zerknüllt. Im zweiten Zimmer auf dem Diwan saß Hassa. »Es kann auch in Allgemeinnarkose gemacht werden«, sagte er, »aber natürlich beim hängenden Kopf.« Sie winkte ihm zu. Er erhob sich sogleich und folgte ihr. Sie schwieg. Sie glaubte die Folgen der Worte zu ahnen, die an ihren Lippen hingen. Hassa stand da, breit und kräftig in seiner herrlichen Schutzbereitschaft. Sie vergaß den Prinzen und die ferne Oase in der sandigen Sahara. Hassa war da, er war ihr Mann. Etwas Schreckliches mußte jetzt geschehen, und sie konnte es nicht mehr zurückhalten. »Hassa«, sagte sie, »Herr und Gebieter. Dein Freund, der uns in dieses Haus rief, brach das Gesetz der Gastfreundschaft. Er lockte mich in ein leeres Zimmer. Er überfiel mich und wollte mich vergewaltigen. Ich glaube, ich habe ihm das Ohr abgebissen. Geh hin, Hassa, und töte ihn.« Sie sprach hastig, mit heiserer Stimme. Hassa blickte sie erschrocken und verwundert an.
»Was hast du, Asiadeh?« Er sah das blutbefleckte Taschentuch in ihrer Hand. »Woher das Blut?« »Ich glaube, ich habe ihm das Ohr abgebissen. Jetzt mußt du ihn töten, Hassa. Gehe und töte!« Etwas Gieriges, Dumpfes klang in ihrer Stimme. Sie stand da, zart und einsam, mit herabhängenden Händen und wiederholte, wie von einer finsteren Ekstase ergriffen: »Töte ihn, Hassa, töte ihn.« »Das Ohr hast du ihm abgebissen? Mein Gott, du wildes Mädchen.« Hassa war fassungslos. Er grinste verwundert. »Ich hätte ihm die Kehle durchbeißen sollen, aber ich bin nur eine Frau. Töte ihn, Hassa, er hat mich beleidigt.« Hassas Grinsen wurde immer breiter. Er hatte viel getrunken an diesem Abend. Der Gedanke, daß seine Frau dem Kollegen Kurz das Ohr abgebissen hatte, erschien ihm ungemein grotesk. »Ich werde gleich hingehen. Schau nicht so finster drein, ich fürchte mich direkt vor dir.« Er ging durch die Wohnung. Das parfümierte Zimmer mit dem van Gogh an der Wand war leer. Er ging weiter. Kurz stand im weiß getäfelten Ordinationszimmer mit hochgezogenen Hemdsärmeln und war gerade im Begriff, mit einem Pflaster das Ohr zu verkleben. »Deine Angorakatze hat mich leicht gekratzt«, sagte er verlegen. Hassa schüttelte den Kopf. »Nervenärzte verstehen nichts von Verbänden«, sagte er verächtlich. »Komm, ich mach es dir.« Er wusch die Wunde aus und verklebte sie kunstgerecht. »Du hast eine wilde Frau«, jammerte Kurz, sichtlich beruhigt, »sie hat mich ganz zerschunden. Wie soll ich mich jetzt meinen Patienten zeigen?«
»Geschieht dir recht«, lachte Hassa und spielte mit der Verbandschere. »Was fällt dir ein, fremde Frauen zu belästigen.« »Wieso belästigen?« Tiefe Empörung klang in Kurz’ Stimme. »Was hat sie denn dir erzählt? Wir standen in dem van-Gogh-Zimmer, und ich erklärte ihr das Bild. Vielleicht war ich in etwas ausgelassener Stimmung. Mitten im Gespräch legte ich meine Hand um ihre Schulter oder berührte ihr Gesicht, ich weiß nicht mehr genau. Plötzlich sprang sie auf mich los – ich sag’ dir, wie eine wilde Katze, wie eine kleine Furie. Was denkst du denn, Hassa, ich werde doch keine Frau verführen, während zwanzig Menschen im Nebenzimmer sind. Das wäre ja gelacht. Und überhaupt: – ich und fremde Frauen! Lächerlich. Mir genügen die hysterischen Patientinnen. Übrigens – morgen schick’ ich dir einen Fall – eine reiche Polin mit nervösen Beschwerden. Vermutlich eine Reflexneurose.« Hassa lachte. Kurz war ein harmloser Mann, und Asiadeh hatte Haremsvorstellungen über gesellschaftlichen Umgang. Eine Orientalin war eben anders geartet. Kurz tat ihm beinahe leid. Während Hassa die Wunde verklebte und über die Reflexneurose der reichen Polin sprach, saß Asiadeh im breiten Diwan des Empfangssaales, und ein Mann mit verschwommenem Gesicht erklärte ihr das Wesen der modernen englischen Dichtung: »Die ganze Tragik und die ganze Sinnlosigkeit des irdischen Daseins ist in Galsworthy enthalten«, sagte er. »Ja«, antwortete Asiadeh und blickte zur verschlossenen Tür. Dort, hinter der Wand, mußte etwas Fürchterliches vor sich gehen. Warum hörte sie keine Schreie? Vielleicht hat ihn Hassa erwürgt oder er schlug mit einem harten Hammer auf seinen Schädel, und der Feind sank lautlos zu Boden. Gleich
müßte ein fürchterlicher Schrei ertönen. Oder? Asiadehs Herz stand still – oder bleibt der andere Sieger, und Hassa liegt jetzt in einer Blutlache im parfümierten Salon? Aber das war unmöglich, Hassa war stärker als Kurz und bestimmt mutiger. Außerdem mußte Gott auf Hassas Seite sein – ganz bestimmt! Die Tür öffnete sich. Asiadeh hielt den Atem an. »Seit Oscar Wilde ist die englische Literatur erdhafter und greifbarer geworden. Man fühlt das Streben nach Realität, daher die Vorliebe für Biographien und Tatsachenberichte.« »Oh!« sagte Asiadeh. In der Tür standen Hassa und Kurz. Kurz’ linke Wange war verklebt. »Ein kleiner Unfall«, lachte er verlegen. »Ich glitt aus, mit einem Sektglas in der Hand. Das Glas ging in Scherben und zerschnitt mir das Ohr. Nicht der Rede wert. Kollege Hassa leistete mir Erste Hilfe.« Asiadeh stand auf. Sie ging durch das Zimmer. Kurz war plötzlich unwichtig und klein. Hassa stand vor ihr, und seine Hand ergriff ihren Arm. Er führte sie zum Fenster. Sie sah ihn an und fühlte, wie ihre Lippen zuckten. »Du hast ihn nicht getötet, Hassa? Du läßt deine Frau beleidigen? Du bist doch mein Mann, Hassa. Muß ich mich selbst rächen?« »Du hast es schon reichlich getan, mein Kind.« Hassa sprach belustigt und ein wenig verlegen. »Du bist eine brave Frau, auf die ich mich verlassen kann. Aber wir sind ja nicht in Asien. Wenn ich jeden Mann ermorden würde, der beim Wein den Wunsch verspürt, nett zu dir zu sein, müßte ich ein Massenmörder werden. Wir sind ja schließlich zivilisierte Europäer.« Kurz näherte sich den beiden. Seine Stimme klang demütig: »Gnädige Frau«, sagte er, »es tut mir schrecklich leid. Ich glaube, ich war etwas ausgelassen, während Sie etwas nervös waren. Ich bitte Sie, mir zu verzeihen, ich habe ganz
vergessen, daß Sie eine Dame aus dem Harem sind. Hier in Europa nimmt man die gute Laune nicht so ernst.« Asiadeh schwieg. Sie blickte in den großen Wandspiegel. Sie sah ihre Beine, ihre Arme, ihre nackten Schultern. Sie sah ihr Gesicht mit weichen Lippen und grauen Augen. Das alles gehörte dem ungläubigen Hassa, der sie nicht zu schützen vermochte. Scham und Trauer überkamen sie. Was konnte eine Frau erwarten, wenn sie alles an sich den fremden Blicken preisgab und einen zivilisierten Mann hatte. »Ich werde das nächste Mal verschleiert und vermummt in Gesellschaft gehen«, sagte sie, »vielleicht wird es dann sicherer sein. Komm, Hassa.« Sie gingen. Kurz begleitete sie bis zur Schwelle. Ich bin Nervenarzt für Europäerinnen, dachte er, meine Kenntnisse enden an den Toren Istanbuls. Die beiden bestiegen den Wagen. Sie schwiegen. »Du bist etwas temperamentvoll«, sagte Hassa, »entsinnst du dich noch, wie du mich geohrfeigt hast?« »Sollte ich mich deinem Freund hingeben?« »Aber Kind, ein moderner Mensch beißt doch nicht.« Asiadeh schwieg. Hassa war plötzlich schrecklich fremd und weit. Die breite Ringstraße war von drohenden Häusern umrahmt. Gespensterartig blickten aus der Finsternis die Gitter des Parkzaunes. Männer und Frauen bewohnten die Häuser und waren wild und gefühllos in ihrer wirren Denkart. Asiadeh dachte an den Vater. Er hätte dem Fremden die Augen ausgestochen, die sie gesehen haben, und die Lippen abgeschnitten, die sie geküßt haben. »Bist du böse, Asiadeh?« Hassas Hand berührte ihren Arm. »Wenn du willst, gehen wir nie wieder zu Kurz.«
»Nein«, sagte Asiadeh. Sie schämte sich ihres Mannes, sie schämte sich der Welt, in der sie lebte und deren wahre Züge sie nicht zu erkennen vermochte. Das Auto hielt. Sie gingen in die Wohnung. Hassa war nicht feige, das wußte Asiadeh, er hatte eine feste Hand und einen sicheren Blick. Was hinderte ihn, den Feind zu erwürgen oder wenigstens zu strafen? Er liebte sie doch. Er würde nie wieder lachen können, wenn sie ihn betrügen würde. Und dennoch rächte er sie nicht. Er hatte einfach nicht den Wunsch, hatte nicht den Drang, den Feind zu Boden zu schleudern, Blut aus den Augen treten zu sehen, die seine eheliche Frau begehrt hatten. Asiadeh blickte unter halb geschlossenen Lidern zu Hassa hinüber. Er lag im Bett und sah sie schuldbewußt, aber verständnislos an. »Sei wieder gut, Asiadeh. Wir werden Kurz nicht mehr einladen, und der Fall ist erledigt. Ist ja wirklich unerhört, fremde Frauen zu umarmen. Eigentlich bin ich ganz froh, daß du dich so gewehrt hast. Wird ihm eine Lehre sein. Du bist ein tapferes, wildes Kind.« Er lachte selbstzufrieden und schloß die Augen. Asiadeh saß im Bett, die Knie hochgezogen. Die Augen starr auf die Nachttischlampe gerichtet. Sie dachte nicht mehr an Kurz. Es gab wahrscheinlich viele Männer wie Kurz. Brennender Schmerz zerriß ihre Brust. Sie legte das Kinn auf die Knie und dachte nach, angestrengt, mit gefurchter Stirn. Sie dachte an die Männer, die unzivilisiert sind, aber genau wissen, was Ehre ist. Sie dachte an Marion, die plötzlich gar nicht fremd war. Sie dachte an ihren Vater, an die Oase Gadames und an die fremde Welt, in der sie leben mußte und die sie nicht verstand. Der Schmerz wurde ganz unerträglich. Schweiß trat auf ihre Stirn. Ein Gedanke erfüllte sie und vertrieb alle anderen. Sie
dachte weder an den Vater noch an den Prinzen, weder an Marion noch an die fremde Welt um sie. Sie saß im Bett, den Mund leicht geöffnet, die erschrockenen Augen auf die Glühlampe gerichtet. Sie stöhnte leise und kindlich, und der Gedanke surrte in ihrem Gehirn, ließ nicht los, marterte und stach sie. So saß sie, stöhnend und einsam. Hassa schlief neben ihr. Die Glühlampe brannte, und sie dachte unaufhörlich einen einzigen quälenden Gedanken. Bis zum Morgengrauen dachte sie darüber nach, ob es richtig sei, von Hassa Kinder zu bekommen. Dann schlief sie ein. Die Rätsel waren nicht gelöst, aber sie lächelte, und durch das verhängte Fenster fielen auf den Teppich die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.
23
Geheimnisvoll ist das Schicksal der Menschen miteinander verflochten. Über Kontinente und Meere zieht sich der magische Ring des Geschehens, der die Sterblichen verbindet. Ein alter Pascha entziffert in Berlin mit müden Augen die Zeichnungen auf alten Teppichen, spricht einige Worte, und das Leben des Mannes, der in New York wohnt und John Rolland heißt, wird aus der Bahn geschlagen. Ein Wiener Arzt sieht den Nacken einer schönen Frau, und die Frau verliert den Glauben an die Welt des Westens. In rätselhafter Zweckmäßigkeit verlaufen die Geschehnisse. Tote und Lebende, Vergangenheit und Gegenwart sind zu einem schwirrenden Reigen verbunden, unmerklich gehen sie ineinander über und bestimmen schicksalhaft die Taten und Gedanken der Kreatur. Nichts vergeht in der Welt des irdischen Kreislaufs, Gedanken, vor Jahrhunderten gedacht, leben weiter, führen ein unwirkliches Dasein im Staube der Bibliotheken, in den gelblichen Bogen alter Manuskripte. Plötzlich verwandeln sie sich in lebendige Taten, in erdhafte Geschehnisse, und weiter geht der schattenhafte Reigen, der den Erdball umfaßt wie ein Ehering den Finger. Vor Jahrhunderten ritt durch die Wüsten Syriens, durch die Felder Ägyptens und die Dörfer Palästinas der tapfere Recke Usama ibn Munkyz. Jahrzehntelang vergoß er Blut für die grüne Fahne des Propheten im Kampfe gegen die Ungläubigen, die aus den Ländern jenseits des Meeres kamen und das Volk des Propheten bedrohten. Vor den Toren der heiligen Stadt Jerusalem kämpfte er gegen die Ritter aus dem
Volke der Franken. Vor Edessa, vor Akka, überall, wo im Heiligen Land Halbmond und Kreuz aneinanderstießen, erschien sein gepanzertes Roß und erscholl über das breite Feld sein kriegerischer Ruf »Im Namen Gottes. Hie Usama ibn Munkyz! Kommt heraus, ihr Ritter der Franken.« Als aber der große Saladin Friede mit dem Volke der Franken schloß, reiste der Ritter Usama im Auftrage des Herrschers durch die Burgen und Städte der Franken. Er wohnte in den Burgen des fremden Volkes, sah die fremden Sitten, hörte die fremde Sprache, und großes Erstaunen war in ihm. Jahre vergingen. Alt und müde wurde der Ritter Usama. Da zog er in die Stadt Damaskus zum Hofe des Herrschers. Er vergrub sein Schwert und ergriff mit greisenhafter zitternder Hand die Feder. Für seinen Herrscher und für seine Kinder schrieb er sein großes »Buch der Belehrung«, in dem er Erinnerungen an die Feldzüge und Kämpfe seiner Jugend sammelte, sowie alles, was er über das seltsame Volk der Franken wußte, das von jenseits des Meeres kam und das Volk des Propheten bekriegte. Jahrzehntelang wurde das Buch von arabischen Rittern gelesen, die in den Kampf zogen wider das Volk der Franken. Dann vergaß die Menschheit »Das Buch der Belehrung«. Jahrhunderte vergingen. Unbeachtet lag die weise Schrift in verstaubten Bibliotheken. Niemand gedachte mehr des tapferen Recken Usama Ibn Munkyz. Bis der Tag kam, an dem Gelehrte aus dem Westen in vergilbten Stößen der alten Manuskripte »Das Buch der Belehrung« auffanden. Mühselig entzifferten gelehrte Augen die alte Schrift. Mit ihren Anmerkungen versehen gaben es sie heraus, und aus dem Schutt der Vergangenheit entstand von neuem der Krieger Usama und sein Leben im Volke der Franken. Nachlässig blätterte Asiadeh in der arabischen Schrift. Ganz zufällig fand sie sie in dem Bücherozean der großen
Bibliothek. Lächelnd händigte ihr der Bibliothekar das Buch aus. Eine schöne junge Frau begehrt die Belehrung des verschollenen arabischen Recken. Zu Hause, zusammengekauert auf dem Diwan, blätterte Asiadeh in dem Buch. Die altertümliche arabische Sprache klang seltsam und fremd. Sie las über Jagden, über ritterliche Zweikämpfe und seltsame Ereignisse, die den alten Ritter fesselten. Plötzlich hielt sie inne. In großen arabischen Lettern lief quer über die Seite die Überschrift des Kapitels: »Über die Sitten der Franken«. Asiadeh las kopfschüttelnd und lächelnd: »Gelobt sei der Herr und Schöpfer! Jeder, der tieferen Einblick in das Leben der Franken gewonnen hat, wird Allah preisen und rühmen, daß er ihn zum Muslim werden ließ. Denn er wird in den Franken nur Tiere erblicken, die wie alle Tiere eine einzige Tugend besitzen: ungeheuren Mut auf dem Schlachtfelde. Die Franken kennen weder Selbstachtung noch Eifersucht. Es kommt vor, daß ein Franke mit seiner Frau über die Straße geht. Ein anderer Franke begegnet ihnen, nimmt die fremde Frau bei der Hand, führt sie abseits und beginnt mit ihr ein Gespräch. Der Ehemann aber bleibt stehen und wartet, bis das Gespräch beendet ist. Wenn es ihm aber zu lange dauert, so läßt er die Frau mit dem fremden Mann stehen und geht weiter.« Sehr interessant, denkt Asiadeh, schon damals also… Gespannt liest sie weiter: »Ich war Zeuge der folgenden Begebenheit: Wenn ich Nablus bei Jerusalem besuchte, pflegte ich im Hause meines Freundes Muis abzusteigen, bei dem alle Muslime wohnten. In diesem Hause gab es Fenster, die auf die Straße hinausgingen. Gegenüber lag das Haus eines Franken, der den Weinhandel betrieb und viel unterwegs war. Einmal kehrte der
Weinhändler in sein Haus zurück und fand in seinem Bett einen fremden Mann, der neben seiner Frau lag. ›Was suchst du neben meiner Frau?‹ fragte der Weinhändler. ›Ich war unterwegs‹, antwortete der Fremde, ›und trat ein, um auszuruhen.‹ ›Und wie kommst du in mein Bett?‹ ›Ich sah, daß das Bett bereit ist und legte mich hin.‹ ›Aber meine Frau liegt bei dir!‹ rief der Weinhändler. ›Das Bett gehört doch auch ihr‹, sagte der andere, ›ich kann sie doch nicht aus ihrem eigenen Bette vertreiben!‹ ›Bei der Wahrheit meines Glaubens‹, rief der Händler, ›wenn es noch einmal geschieht, werden wir uns ernstlich verzanken.‹ Dieses war der höchste Ausdruck seines Zornes und seiner Eifersucht!« Asiadeh legte den Kopf auf den Diwanrücken zurück und lachte. Ein verrücktes Volk, diese Franken. Mutig auf dem Schlachtfeld und ohne Männlichkeit in den Angelegenheiten der Eifersucht. Jahrhunderte waren vergangen, seit der weise Ritter die Sitten der Franken erforschte. Vieles hat sich bei dem fremden Volke geändert. Unveränderlich blieben die Seelen der Männer, unverändert die Ursachen, aus denen sie die Frauen unverschleiert durch die Straßen gehen ließen. Hassa war ein Franke. Noch einmal, und er wird sich ernstlich mit dem Kollegen Kurz verzanken, weil er seine Frau küßte. Sie las weiter. Das dicke Buch war plötzlich gar nicht mehr veraltet. Sie las: »Noch ein Beispiel: Einmal besuchte ich in Tyros das Bad und nahm eine geschlossene Kabine. Kaum war ich mit dem Bad fertig, da stürzte mein Diener herein und rief: ›Herr, was sagst du dazu. In diesem Bad befindet sich eine Frau.‹ Ich eilte sofort in den allgemeinen Saal. Tatsächlich: da war eine junge Frau, die neben ihrem Vater stand, einem
fränkischen Ritter. Ich traute meinen Augen nicht und sagte zu einem Freund: ›Um Allahs willen! Ist es wirklich eine Frau?! Ich will, daß du dich davon überzeugst.‹ Mein Freund trat an die junge Frau heran und überzeugte sich vor meinen Augen, daß es wirklich eine Frau war. Daraufhin wandte sich der fränkische Ritter mir zu und sagte: ›Es ist meine Tochter. Ihre Mutter ist gestorben und sie hat niemanden, der sie waschen könnte. Da habe ich sie hierher ins Bad gebracht und habe sie selbst gewaschen.‹ ›Da hast du recht gehandelt‹, sagte ich, ›möge der Himmel dich belohnen.‹ Bei mir aber dachte ich: ›Sehet nun, ihr Gläubigen, welch große Gegensätze: die Franken haben offensichtlich weder Ehrgefühl noch Eifersucht, und sie glänzen dennoch durch ungeheuren Mut, obwohl doch Mut der Furcht entspringt, die Ehre zu verlieren. Möge Gott sie verdammen.‹« Asiadeh schloß das Buch. Es war noch nicht lange her, da war sie selbst zitternd und unbeholfen in ein Bad getreten, und fremde Männer hatten ihren halbbekleideten Körper gesehen. Nein, Hassa war nicht entartet. Er war nur ein Franke, wie jene alten Ritter, über die der Recke Usama spottete. Nichts erinnerte in ihm an die Ahnen, die in Sarajewo hausten und ihre Frauen behüteten. Er war aufgegangen in dieser Welt, in der er geboren war und zu der er gehören wollte. Es war nicht seine Schuld, wenn Asiadeh den Ritter Usama verstand und über die Franken lachte, die allein des Weges gehen, wenn ein fremder Mann ihre Frau anspricht. Asiadeh runzelte die Stirn. Ein Abgrund trennte sie von der Welt Hassas, und es gab keine Brücke, die hinüberführte. Es war nicht Hassas Schuld, wenn er so war wie alle Menschen um ihn, und es wäre ungerecht, ihn dafür zu strafen.
Asiadeh seufzte. Nein, Hassa war nicht der Mann, der der Vater ihrer Kinder sein könnte. Sie blickte auf das »Buch der Belehrung«. Wie in traumhaftem Reigen sah sie sich plötzlich vereint dahinschreiten mit dem Krieger Usama ibn Munkyz, mit dem Vater und mit dem Prinzen aus dem Hause Osman, der in einer Oase war und sich John Rolland nannte. Wie in einem unwirklichen Gleichnis erschien ihr die Vision des ewigen traumhaften Reigens, der durch Jahrhunderte ging und die Welt umspannte wie ein Ehering den Finger.
Seltsam verflochten sind die Gedanken der Menschen. Unergründlich verbinden sich ihre Träume und Vorstellungen. Im Café Watan in Berlin sitzt der alte Pascha, der Kaffee vor ihm wird kalt, mit müden alten Augen blickt er auf den indischen Professor an der Theke und denkt an den Prinzen, der zu schwach war, um sich seine Tochter zu holen, und an seine Tochter, die mit einem Ungläubigen lebte und noch nicht schwanger war. In seinem Ordinationszimmer sitzt auf dem niedrigen runden Stuhl Dr. Alexander Hassa. Die reiche Polin sitzt vor ihm und klagt über Reflexneurosen. Er behandelt die kilianischen Punkte und denkt an Asiadeh, die im Nebenzimmer sitzt, ein unverständliches arabisches Buch liest und laut lacht. Er denkt an sie mit viel Liebe und leichter Sorge, denn sie ist einundzwanzig Jahre alt und eine Wilde, die geleitet werden muß in der Welt der europäischen Sitten. Auf der Terrasse des Ring-Cafés sitzt Marion. Das schöne Gesicht ist sonnengebräunt. Die Augen hochmütig und stolz. Sie blickt auf das Laub, das bereits von den Bäumen fällt. Sie denkt, daß der Sommer vorbei ist, sie denkt an Fritz, der sie verlassen hat. An ihr verpfuschtes Leben denkt sie und an
Hassa, der eine junge schöne Frau hat, die sie am Semmering traf, an dem Tag, als ein Verrückter in ihr Zimmer einbrach, sich Prinz nannte und sie mitnehmen wollte. Sie lächelt traurig und schüttelt den Kopf. Sie denkt, daß ein Verrückter, der sich einbildet, Prinz zu sein, glücklicher ist, als sie mit ihrer Schönheit, mit ihrer Jugend, mit ihrem verpfuschten Leben. Einige Straßen weiter, am Graben, in der Bridgestube eines Kaffeehauses, sitzt Dr. Kurz. Das Zimmer ist verraucht und verqualmt. Die Menschen haben fahle Gesichter, und die Frauen sind aufgeputzt. Dr. Kurz legt die Karten auf und beugt sich zur Seite. Neben ihm sitzt Dr. Sachs. »Ich weiß nicht«, sagt Dr. Kurz, »Kollege Hassa hat doch eine schöne Frau.« »Eine sehr schöne«, bestätigt Dr. Sachs. »Aber so fremd in ihrem Wesen«, sagt Dr. Kurz. »Ich kann Hassa nicht verstehen. Mit dieser Frau kann man doch über nichts sprechen. Eine Wand! Eine andere Welt! Sagen Sie, was Sie wollen, Kollege, die Asiaten sind doch andere Menschen als wir. Da hilft keine Erziehung, nichts. Habe ich nicht recht? Wenn diese Frau so dasitzt und vor sich hin starrt, habe ich direkt Angst um Hassa. Man kann nie wissen, was aus den Tiefen dieser fremden Mentalität emporbricht. Ebenso könnte man ein Eskimomädchen oder eine Negerin heiraten. Die Frau gehört in den Harem, zu einem Pascha oder zu einem Prinzen. Übrigens, ich habe neulich einen Fall gehabt. Am Semmering. Ein Größenwahnsinniger behauptete, er sei türkischer Prinz. Das wäre was für Frau Dr. Hassa. Hahahaha!« Dr. Kurz lachte, und vor den Toren von Gadames, draußen, in einem breiten steinigen Feld saß John Rolland und wußte nichts von den Gedanken, die geheimnisvoll um ihn kreisten, von den Menschen, die in fernen Ländern saßen, unsichtbar und rätselhaft mit ihm verbunden.
Er saß auf einem niedrigen Stein. Trostlos und öde zog sich vor ihm das steinige Feld der Sahara. Heißer Wind wehte über das tote Gestein und war wie der glühende Atem eines unsichtbaren Riesen. Vorne erhoben sich die steinernen Götzen von el’Esnam, die geheimnisvolle Pforte der Sahara. Uralt, verwittert, rätselhaft, wie von der Hand eines Zyklopen hingestellt. Rechts und links zogen sich die armseligen Zelte des Stammes Tarki. Vermummte Männer, rüstig und hager, saßen an den Eingängen der Zelte und blickten mit gleichgültiger Verachtung auf den Fremden. Die durchglühte Erde roch nach Brand. Weit in der Ferne zog zur tunesischen Grenze eine Karawane. Von weitem glichen die Kamele im Winde wehendem Sand. Sie brachten Goldstaub aus Timbuktu, Wohlgerüche von Ghat und Elfenbein und Straußenfedern aus dem fernen Süden. Ein schlankes Weib, unverschleiert und mit offenem Busen, zeigte sich am Eingang des Zeltes. Sie kam auf Rolland zu. Ihre großen dunklen Augen blickten in die Ferne, in die flache Öde von glühendem Sand und Gestein, sie zog die heiße Luft ein und sagte: »Schön ist es hier, Fremder. Nirgends auf der Welt ist es so schön.« »Ja«, sagte Rolland und blickte auf die Frau mit dem braunen Gesicht und dem nackten Busen, »du bist eine Frau aus dem Stamme der Tarki, in dem Frauen über Männer herrschen?« Die Frau nickte. »Vor vielen Jahrhunderten«, sagte sie, »gab es in unserem Volke einen Streit zwischen Männern und Frauen. Die Frauen verließen ihre Männer und zogen bewaffnet und mit ihren Kamelen davon. Die Männer verfolgten sie. Es gab eine fürchterliche Schlacht, und in dieser Schlacht haben wir, die Frauen, den Sieg davongetragen. Seitdem gehört uns die
Herrschaft über das Volk, und wir haben den Männern zum Zeichen ihrer Knechtschaft den Schleier über das Gesicht geworfen.« Die Frau schwieg, lächelnd und überlegen. Plötzlich fuhr sie fort. »So erzählen wir es den Fremden, aber es ist nicht wahr. Es gab keine Schlacht vor vielen hundert Jahren. Es ist gut für den Mann, wenn er im Schutze der Frau steht. Arm und nackt ist der Mann ohne Frau. Haltlos treibt er sich in der Wüste herum. Mordet und stiehlt, und niemand will sein Gesicht sehen. Halt und Heim findet er im Zelte der Frau, deshalb gebührt uns die Ehre.« »Ja«, sagte John, »arm und nackt ist ein Mann ohne Halt.« Er erhob sich. Er ging über das steinige Feld, und heißer Wind peitschte seinen Rücken. Er betrat die Oase. Wie Gruften zogen sich die engen Straßen. In wirren Dreiecken erhoben sich die Dächer. Negerfrauen mit drei blauen Streifen an den Schläfen schlüpften vorbei, noch immer gebückt unter dem Zeichen der ehemaligen Sklaverei. An der viereckigen Quelle Ain-ul-Fras raschelten die Palmen. Ein alter Mann mit greisenhaft tränenden Augen saß an der Wasseruhr. »Ain-ul-Fras«, sagte er, »heilige Quelle, nach der Stute des Propheten genannt. Seit viertausend Jahren steht die Wasseruhr da, und kein einziges Mal verirrte sich die Zeit.« John erschauderte. Hier, am Rande der Welt, maß man die Zeit nach Jahrtausenden. Er ging nach Hause, in sein Zimmer. Sam Dooth schlief bereits. Die Schreibmaschine starrte John an wie ein bissiges Ungetüm mit vier Zahnreihen. John entkleidete sich. Es wurde dunkel. Unirdische Stille herrschte in der Oase. John lag im Bett. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit. Ein Wanderer war er zwischen den Welten, ewig getrieben von der Last seiner Unruhe, wie ein
Mann aus dem Volke Tarki, der plündernd und mordend durch die Wüste treibt. Plötzlich horchte John auf. Zuerst leise, dann immer lauter ertönte von der Wüste her ein unheimliches Tönen. Ein Rauschen und Weinen drang in das Zimmer. Es war, als pochten alle Dämonen der Sahara an die Pforte des Hauses. John richtete sich auf. Das ferne Weinen ging in ein wildes Geheul über. »Der Rul«, dachte John, der nächtliche Spuk der Wüste, das schreckliche Rascheln der Milliarden von Sandkörnchen, die sich plötzlich abkühlten im nächtlichen kalten Wind. Es wurde ihm unheimlich. Als Kind hatte er von den schrecklichen Dämonen der Wüste gehört. Die Amme hatte es ihm erzählt oder die Mutter – er wußte es nicht mehr. In alten Zeiten, bevor der Prophet in die Welt kam, herrschten in der Sahara die Götter der Wüste. Als Mohammeds Scharen die Welt bezwangen, vertrieben sie die Götter der Wüste, und die Götter wurden zu Dämonen. Bis Mitternacht herrscht in der Welt des Sandes das Wort des Propheten. Dann aber erheben sich aus den Sanddünen der Wüste die Dämonen der Urzeit. Heulend und weinend schleichen sie durch das Land, überfallen den Fremden, verführen den Wanderer bis zur Stunde des Frühgebetes, das sie in ihre Höhlen zurücktreibt. John erzitterte. Hastig sprang er aus dem Bett. Er zog sich an. Etwas Unsichtbares, etwas Gewaltiges und Uraltes ergriff ihn, trieb ihn hinaus zu den rätselhaften Stimmen der Nacht. Die Leere des Zimmers war plötzlich drückend. Er verließ das Haus. Er keuchte. Der Mond erhellte die Palmzweige, und die Schatten waren wie erstarrte Riesen. John lief durch die menschenleere Oase, vorbei an der heiligen Quelle, vorbei an dem Sklavenmarkt mit den vergitterten Zellen.
Plötzlich stand er vor der Wasseruhr. Der Platz vor der Uhr war mondübergossen. Rechts erhob sich die Dschama elKabira, die große Moschee. John blieb stehen. Die Stimmen der Dämonen verstummten in der Ferne. Er fuhr mit der Hand über die Stirn. Die Pforte der Moschee stand offen und glich dem Eingang zur Ewigkeit. Er trat ein, von einem unergründlichen dumpfen Drang getrieben. Das Innere der Moschee war von kleinen Öllampen erhellt. Die Säulengänge glichen erstarrten Sklaven. John erschauderte. Seit jenem Tag, als er der Heimat den Rücken kehrte, hatte er kein Gotteshaus betreten. Er zog die Schuhe aus. Ein alter Mann saß auf einem barbarisch gemusterten Teppich und las den Koran. Im flackernden Lichte der Öllampen glich er einer tänzelnden Mumie. Die Mumie stand auf und verbeugte sich. »Ich will beten«, sagte John. Der alte Mann bewegte die eingefallenen Lippen. »Hier«, sagte er und zeigte auf die Kanzel, »das ist die Kibla – die Richtung des Gebetes. Wenn du betest, bete auch ich. Ich bin der Imam dieses Gotteshauses.« John hörte nicht zu. Er kniete nieder. Alles um ihn war verschwunden, wie versunken im Abgrunde des Vergessens. Seine Stirn berührte den Boden. Die Lippen flüsterten die halb vergessenen Worte. Er betete eine Stunde oder mehr. Die Zeit maß man nach Jahrtausenden. Dann saß er, mit gekreuzten Füßen, auf dem Teppich, die Augen auf das flackernde Licht gerichtet, gedankenlos und seltsam beruhigt, wie aufgelöst in der Stille der alten Moschee. Der Alte blickte ihn neugierig an. Auch er betete nicht mehr. Das heilige Buch lag auf seinen Knien, aber er las nicht darin. »Friede sei mit dir, Prinz.« John zuckte zusammen. War es Traum? War es Wirklichkeit? Er erhob sich:
»Du weißt, wer ich bin?« »Wir sind eine kleine Stadt, Prinz. Wir wissen alles über die Fremden, die auf dem Fahrzeug des Leibhaftigen durch die Wüste kommen. Morgen wäre ich zu dir gekommen, um dich zu begrüßen und zu mahnen. Denn du bist schon lange hier und lebst wie ein Hund ganz ohne Gebet. Aber Allah erbarmte sich meines Greisentums und schickte dich hierher. Gelobt sei er.« John blickte auf die greisenhaften Falten im Gesichte des Imams. »Einst«, sagte er leise, »gehörte diese Oase und alles Land um sie meinen Ahnen. Und jetzt lieg’ ich hier, einsam, im Staube vor Gott. Die Welt hat mich verstoßen, und ich bin wie der Holzsplitter eines zerfallenen Hauses.« Der Imam schwieg. Seine Augen waren gesenkt. Die rotgefärbten Nägel glänzten im Licht der Öllampen. Angst erfaßte John. »Ein Vertriebener bin ich, der keinen Frieden findet. Fremd bin ich in den fremden Welten.« »Abdul-Kerim«, sagte der Alte und hob seinen struppigen Bart, »deine Ahnen saßen am Bosporus und herrschten über uns. Sie schickten Krieger und zerstörten unsere Häuser. Jetzt liegst du im Staube vor Gott. Gott allein ist gerecht. Ich bin ein einfacher Mensch aus dieser Wüste und du ein Prinz aus einem zerfallenen Haus.« Er schluchzte, kurz und böse. Seine Hand glitt über den struppigen Bart. »Die Welt des Unglaubens«, sagte er verächtlich, »was ist sie? Nichts mehr als Staub in der Wüste. Wer fürchtete sich vor ihr? Unsere Karawanen ziehen nach Timbuktu, zu der Küste des Goldes, nach Ghat und zu den schwarzen Herrschern des Sudans. Wir sind einfache Menschen und hatten nie einen Palast am Bosporus. Aber ein Jahr oder zwei zieht die
Karawane durch den großen Sand. Nachts weinen die Frauen auf den Dächern von Gadames. Trauriger Gesang ertönt in der Wüste. Aber die Männer sind in Timbuktu, an der Küste des Goldes oder im Urwalde bei den Heiden. Aber die Heimat? Hier trägt sie jeder in der Brust oder im Gehirn. Sie ist immer da. Einen Fuß, einen Arm, ein Auge, alles kann ein Mensch verlieren, aber nicht die Heimat. Du wohnst in den Steinhäusern der fremden Städte, aber nichts ist fremd in der Welt Gottes.« »Der Friede«, sagte John böse, »wo nehm’ ich ihn her, alter Mann?« Der Imam sah ihn verwundert an: »Im Hause, das du dir bauen wirst.« »Ein anderer bewohnt mein Haus.« Der Alte schwieg mit listig zusammengefalteten Lippen. »Ich bin ein armer Imam aus der Oase Gadames«, sagte er endlich. »Aber die Welt ist voller Wunder. Morgen wollte ich zu dir gehen, aber schon nachts schickt Allah dich zu mir. Und heute erst war ein Mann in Uniform bei mir und brachte mir ein Schreiben, das dich betrifft. Ich las es der Gemeinde vor, und alle staunten über die Wunder Allahs. Groß ist die Macht des Herrn. Nur eine Stunde ging das Schreiben aus dem Lande des Unglaubens zu den Zelten des Friedens. Hier, lies es. Ich kann den Inhalt nicht erfassen, denn ich bin ein einfacher Mann.« Ein zerknülltes Papier lag in Johns Händen. Er entfaltete es. Er las: »Radio-Austria, Vienna. Gadames via Tripolis. An den weisen Imam der großen Moschee. Im Namen Gottes. Prinz Abdul-Kerim aus dem Geschlechte Osmans weilt unter euch. Besucht ihn. Schützt ihn. Betreut ihn. Sagt ihm: Friede sei über dir. Sein Haus wird gebaut. Ich wache darüber. Er wird das Haus beziehen, so Gott es will. Asiadeh, Tochter Achmeds aus dem Geschlechte Anbari.«
John faltete das Telegramm. »Im Namen Gottes«, sagte er. »Ich bin wie ein Mann aus dem Stamme Tarki. Arm und nackt ist ein Mann. Heim bietet ihm die Frau. Daher gebührt ihr die Ehre.« Er verbeugte sich und verließ die Moschee. Der Imam sah ihm nachdenklich nach. Dann betete er lange und inbrünstig: »Für den Prinzen und für das Haus, das für ihn gebaut wird, für die Karawanen, die durch die Wüste ziehen, für die Männer, die im Kriege stehen, für die Oase Gadames und für alle Frommen in Ost und West.«
24
»…Und so gibt mir das Bewußtsein, daß Sie, verehrte Hanum, nicht in meiner Nähe sind und also weder mit schweren Gegenständen nach mir werfen noch Geldnoten zerreißen, noch mich bespucken können, den Mut, Ihnen zu schreiben. Seit vier Monaten treiben wir uns mit Rolland in den Wüsten und Oasen herum und führen ein bedauernswertes Dasein unzivilisierter und obdachloser Nomaden. Denn John hat seine Arbeit rasch beendet, und der Producer beschloß, die Außenaufnahmen an Ort und Stelle zu machen. So pilgern wir also von Ort zu Ort in Gesellschaft von Schauspielern und Regisseuren wie eine wandernde Truppe. Dieses Leben bedrückt mich um so mehr, als meine Ahnen, im Gegensatz zu den Ihrigen, keine vagabundierenden Krieger, sondern ehrbare griechische Patrizier und angesehene ruhige Menschen waren. Ich habe zehn Kilo abgenommen und kann mich an Dattelschnäpse nicht gewöhnen, doch wird das Sie, verehrteste Hanum, vermutlich wenig interessieren. Wir sind jetzt am Lande der menschlichen Zivilisation, und die Außenaufnahmen sind in vollem Gange. Die Doubles stürzen geschickt von den Kamelen, und die Hauptdarstellerin wurde schon achtmal von den Wilden entführt, aber leider stets überbelichtet. Das Leben eines Menschen, Hanum, ist immer in Gottes Hand, aber hierorts ist diese Hand Gottes allzu deutlich zu spüren. Gestern fand ich einen Skorpion in meinem Bett, was meine Gedanken auf Jenseitiges brachte. Wenn es so weiter geht, werde ich mich aus dem aktiven Leben zurückziehen und auf dem heiligen Berge Athos als weltabgeschiedener Eremit
und Asket mein Dasein in frommen Grübeleien beschließen. Die Sorge um das weitere Schicksal unseres Freundes John Rolland werde ich dann Ihnen – o Verehrenswerteste – überlassen. ›We emr bil urf‹, ›Handelt nach euren Sitten‹, sagt das heilige Buch Ihrer Religion. Doch sind die Sitten Johns kaum noch als Sitten zu bezeichnen, und ich würde ihn seinem Schicksal überlassen, wenn ich ihn nicht wie einen Sohn lieb hätte. Denn im bigotten Eifer besucht John jede Moschee dieses Landes und liegt ungebührlich lange im Staube vor Allahs Antlitz, was bei den ehrbaren Mitgliedern unserer Expedition begreiflichen Anstoß hervorruft. Gestern jedoch ereignete sich ein Vorfall, der mich ernstlich an seinem Verstand zweifeln läßt, und mir wäre lieber, er wäre betrunken, obwohl ich keineswegs für den übermäßigen Alkoholgenuß bin. Gestern also, nachdem er den Dialog zwischen der entführten Lady und dem wilden Räuber fertiggestellt hatte, gingen wir mit vielen anderen Mitgliedern unserer Gesellschaft durch die Oase spazieren, in der hoffnungslosen Suche nach brauchbarer Komparserie. Denn Sie müssen wissen, o Hanum, daß die Menschen in diesem Lande sehr dumm sind und keine Ahnung haben, wie sich ein Komparse bewegen muß, wenn er einen Araber darstellt. Da trafen wir einen zerlumpten Eingeborenen, der mit einem schmutzigen grünen Tuch umgürtet war. John sprach den bedauernswerten Farbigen an, wie wir annahmen, wegen Komparsenarbeit. Soweit ich aus den Brocken des Gespräches feststellen konnte, behauptete der Vagabund, aus dem Geschlechte des Propheten zu stammen und von einer Pilgerfahrt zur heiligen Stadt Mekka zurückzukehren. Darauf – Schamröte steigt mir ins Gesicht, Hanum – darauf umarmte John den ungewaschenen Wilden, setzte sich mit ihm im Schatten einer Palme nieder und begann ein Gespräch über die
Wunder der heiligen Stadt Mekka. Dieses alles vor Augen der Mitglieder unserer Expedition. Bedenkt, Hanum! Ein Bürger der Vereinigten Staaten umarmt einen armseligen Eingeborenen. Wir alle kehrten sofort um, denn die Szene war schrecklich anzusehen. Der Hilfsregisseur Moony behauptete sofort, daß John wahnsinnig geworden sei. Die anderen Herren beschlossen aber, John nicht mehr die Hand zu reichen, denn er sei offensichtlich kein Gentleman mehr. Nur mit Mühe gelang es mir, die Herren zu überzeugen, daß John gänzlich betrunken war und also für seine Taten nicht verantwortlich sei. So konnte ich gerade noch seinen Ruf retten. Aber ganz unter uns, Hanum, er war keineswegs betrunken, sondern sehr nüchtern. Da Sie, verehrte Hanum, durch Ihre Ehe und Neigung Europäerin geworden sind, wende ich mich an Sie mit einer großen Bitte: Richtet einen Mahnruf an John, damit er sich nicht mehr andauernd im Staube vor Allah herumwälzt und die würdelosen Umarmungen der einheimischen Heiligen unterläßt. Denn ich vermute, daß Sie einen bestimmten Einfluß auf meinen Freund und Sozius haben. Er behauptete nämlich nach dem achten Dattelschnaps, daß er der Vater Ihrer Kinder sein wird, und nach dem zwölften Schnaps spricht er von einem Haus, das Sie für ihn bauen und von dem ich nicht weiß, was es bedeuten soll. Übrigens muß ich hinzufügen, daß John sich höchst überflüssigerweise an das Kamelreiten gewöhnt hat und manchmal sogar einheimische Gewänder trägt, was für ein Mitglied des New Yorker Filmautoren-Klubs höchst schandhaft ist. Auch da sollten Sie ihm als Beispiel entgegentreten, denn als ich Sie zuletzt sah, haben Sie – wie ich jetzt einsehe, mit vollem Recht – vorgezogen, bei Ihrem ehrenwerten europäischen Mann zu bleiben (grüßen Sie ihn, Hanum, und Gott schicke ihm viele Patienten), anstatt dem nur
ganz oberflächlich durch die europäische Kultur berührten Asiaten zu folgen, als der John sich jetzt erwiesen hat. Unsere Arbeiten hier, Hanum, sind bald beendet und wisset, daß mein armer Freund sich in den Kopf gesetzt hat, vor der Rückreise nach Amerika den Rest der Wintersaison in Wien zu verbringen. Doch werde ich natürlich alles daransetzen, um Sie vor seinen asiatischen Belästigungen zu schützen, so Sie meine Bitte erfüllen und ein energisches Mahnwort an ihn richten. Denn offen gesagt, ist das Trinken, um das ich ihn manchmal tadele, harmloser und in den Augen eines jeden Bürgers der Vereinigten Staaten ehrenwerter als der würdelose Umgang mit Koranlesern, einheimischen Sängern oder zerlumpten Nachkommen des Propheten. Ich schließe meinen Brief, Asiadeh-Hanum, und bin überzeugt, daß wir uns verstehen werden, denn wir sind beide Menschen westlicher Kultur – Sie eine Österreicherin, ich ein Bürger der Vereinigten Staaten. Ich grüße Sie in Eile, denn ich höre, wie John im Nebenzimmer mit einem hiesigen Schriftgelehrten eine Pilgerfahrt zum Grabe des heiligen Sidi Abdessalam erwägt. Ich muß gleich energisch eingreifen, obwohl wir hier 40 Grad im Schatten haben. Ihr Sam Dooth.« Asiadeh faltete den Brief zusammen. Genießerisch schnupperte sie an dem knisternden Papier. Sie glaubte, den Brandgeruch der durchglühten Erde zu spüren. Die bunte Briefmarke der libyschen Post stellte die Wüste dar, die Sonne und ein bedächtig dahinschreitendes Kamel. Vierzig Grad im Schatten, dachte sie verwundert und blickte aus dem Fenster. Draußen schneite es. Weiße Flocken fielen auf den Asphalt. Die Äste der Bäume grüßten die Häuser, unter der Last des Schnees geneigt.
Es war ganz unvorstellbar, daß es einen Ort gab, in dem die Sonne wie eine gelbe Fackel vom Himmel herabhing und Sandsturm wirbelartig über die Wüste fegte. Asiadeh streichelte den Brief. Nein, sie würde kein Mahnwort an John Rolland richten, weder brieflich noch auch, wenn er nach Wien käme. Mochte er sich hundertmal vor dem Antlitz des Herrn in den Staub werfen und mit zweifelhaften Prophetenerben weise Gespräche führen. Vier Monate waren vergangen, seit John Rolland vor ihr gesessen hatte mit stolzem Gesicht und schlaff herabhängenden Armen. In diesen vier Monaten waren die Blätter von den Ästen der Wiener Bäume verschwunden, herbstliches Laub raschelte unter den Füßen und erinnerte an Wüstenstaub, weiße Flocken fielen vom Himmel, und die Erde wurde weiß. In diesen vier Monaten besuchte Achmed-Pascha Anbari für eine Woche seine Tochter in Wien und sah sie mißbilligend an, denn sie hatte den Prinzen verstoßen und war immer noch nicht schwanger. In diesen vier Monaten packte Hassa einmal die Koffer und fuhr mit Asiadeh nach Tirol. In der Hand hielt er lange dunkle Holzbretter und Stöcke, von deren Verwendung Asiadeh nur eine sehr dunkle Vorstellung hatte. In Tirol wickelte sich Asiadeh in Pelze, und ihre Zähne klapperten beim Anblick der Schneefelder. Sie saß im Hotelzimmer am glühenden Ofen und blickte ängstlich aus dem Fenster. Draußen auf dem weißen Feld stellte Hassa seine Bretter auf den Schnee, bestieg sie, nahm zwei Stöcke in die Hände und raste in sinnloser Geschwindigkeit und Todesverachtung über Täler und Berge. Er trug einen Schal und eine runde weiche Mütze und war ungemein schön und männlich in der festen Zielsicherheit seiner Bewegungen. Asiadeh sah ihn an und war stolz, daß er, solange sie wollte, ihr Mann sein würde. Aber sie saß dennoch am glühenden
Ofen, klapperte mit den Zähnen und dachte an das Haus, das sie für den Prinzen errichten mußte und von dem noch immer kein Stein fertig war. Denn Hassa war ein guter und ein schöner Mann, aber er war bestimmt kein Haus. Rasch und eintönig waren die vier Monate vergangen, und nur eine einzige Woche lang herrschte im Hause Hassas eine dumpfe Krisenstimmung. Asiadeh entsann sich genau: es war Mitte Dezember. Hassa kam aus dem Krankenhaus mit lächelnden Augen und erfrorener Nase: »Bald ist Weihnachten«, sagte er, und sein Gesicht strahlte wie bei einem kleinen Kinde, »ich werde dieser Tage einen Weihnachtsbaum besorgen und den Schmuck dazu.« »Nein«, sagte Asiadeh, »ich will das nicht.« Hassa bekam ganz verblüffte Augen. »Weihnachten«, sagte er, »weißt du, was das ist? Ein Tannenbaum mit bunten Kerzen und mit Schmuck, und unter dem Tannenbaum liegen die Geschenke. Als ich noch klein war, kam auch immer ein Weihnachtsmann mit langem weißem Bart, und ich dachte, daß er echt sei. Weißt du denn nicht, was Weihnachten ist?« »Ich weiß sehr genau, was Weihnachten ist. Es ist das größte Fest der Christen, aber du weißt nicht, daß deine Frau eine Muslimin ist, und du doch eigentlich auch. Wir können kein Weihnachten feiern.« »Aber, mein Kind«, Hassa war ganz verdattert, »Weihnachten ist doch Weihnachten. Kannst du es denn nicht verstehen? Das wurde immer gefeiert, solange ich lebe.« »Gut«, sagte Asiadeh, »kaufe dir einen Weihnachtsbaum. Ich fahre dann auf eine Woche zu meinem Vater nach Berlin. In Berlin gibt es eine Moschee, und ich habe schon lange keine besucht.« Hassa wurde sehr böse. Er ging im Zimmer auf und ab. Er erzählte von seiner Kindheit. Er beschimpfte die wilde Welt
Asiens und sagte sogar, daß Marion, obzwar sie eine sehr schlimme Frau war, doch nie etwas gegen Weihnachten gehabt habe. »Sie war auch keine Muslimin«, meinte Asiadeh, »warum sollte sie etwas gegen Weihnachten haben?« Aber Hassa hörte nicht zu und sprach so lange vom Tannenbaum, bis die ersten Patienten kamen und er in die Ordination mußte. Nach der Ordination ging er wütend ins Kaffeehaus und klagte Dr. Matuschek sein Leid: »Verstehst du das«, sagte er fassungslos, »sie will keinen Weihnachtsbaum haben. Dabei würde sie unter dem Baum einen herrlichen Pelzmantel vorfinden. Kannst du das verstehen?« »Eine Wilde«, lachte Matuschek. Am nächsten Tag wußte das ganze Kaffeehaus, daß Hassas Frau ihrem Mann verboten habe, einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Kurz trat daraufhin mit ausgestreckten Händen an Hassas Tisch und fragte teilnahmsvoll: »Ja, was wirst du denn am Heiligen Abend machen, du Armer?« Und der Ober erzählte dienstbeflissen, daß irgendwo in der inneren Stadt für arme Teufel, die keine Bleibe haben, auch am Heiligen Abend ein kleines Kaffeehaus offenstehe. Hassa war außer sich. Aber Asiadeh blieb hart. Hassa ging am Heiligen Abend zu Dr. Sachs, und Asiadeh verbrachte den Abend allein auf dem Diwan, in warme Schals eingehüllt. Eine Woche lang ging Hassa schmollend in der Wohnung herum. Zu Silvester verzieh er aber seiner Frau feierlich und schenkte ihr zum Zeichen der Versöhnung den Pelzmantel. »Aber wenn wir Kinder haben«, sagte er streng, »müssen wir Weihnachten feiern. Die Kinder können doch nicht wie Wilde heranwachsen.« »Natürlich«, sagte Asiadeh, denn sie war eine friedliebende Frau, »natürlich, wenn wir Kinder haben…«
Dann kam der Fasching. Der Wirbel der großen Bälle erfaßte Hassa. Er beschaffte sich einen Ballkalender und brütete mit gerunzelter Stirn: »Der Opern-Ball«, flüsterte er, »der Ball der Stadt Wien«, »das Sankt Gilgener Fest.« Vor Asiadehs erstaunten Augen entfaltete sich die ganze Pracht der alten Stadt. Sie sah den großen Saal der Oper ohne die gewohnten Stuhlreihen des Parketts und mit Logen, aus denen die Edelsteine auf den Händen der Frauen herausleuchteten. Sie sah die gotische Strenge des Rathauses im festlichen Schmuck der nächtlichen Beleuchtung, sie sah Säle, in denen Kommerzienräte Bauerngewänder trugen und Rechtsanwaltsgattinnen ihre gepflegten Körper in bunte Dirndlkleider eingezwängt hatten. Sie war sehr erstaunt, denn irgendwo herrschten vierzig Grad Hitze, und John Rolland wälzte sich im Staube vor dem Throne Allahs und sprach mit Schriftgelehrten über den heiligen Abdessalam.
Draußen knirschte die Tür. Hassa war aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Er trat ins Zimmer, lächelnd und sichtlich gut gelaunt. Er streichelte Asiadehs Haar. Sie hob den Kopf und blickte in seine Augen. »Übermorgen ist Gschnas«, sagte Hassa, »wir gehen natürlich hin.« Asiadeh lachte. Das Wort Gschnas klang wie ein Scherz. »So was gibt es nicht, Hassa, Gschnas ist kein Wort. Das kann man gar nicht aussprechen.« »Doch, und jeder Mann in Wien spricht es mit Liebe aus.« »Aber um Gottes willen, was kann das sein?« Hassa schüttelte lächelnd den Kopf. Seine Frau war eine kleine Wilde. Sie wußte nicht, was Gschnas ist.
»Gschnas ist ein Maskenfest. Halb Wien verkleidet sich an diesem Tage und tobt durch die Säle des Künstlerhauses. Es ist sehr lustig auf dem Gschnas, und die Eheleute dürfen nicht aufeinander eifersüchtig sein. Sonst gibt es immer Krach. Du wirst als Bajadere hingehen und ich als Neandertaler.« Asiadeh blickte in sein strahlendes Gesicht und lachte. »Eigentlich brauche ich mich nicht zu verkleiden, Hassa. Ich bin sowieso von früh bis spät verkleidet. Ich trage ein Kleid statt der weiten türkischen Hosen und einen Hut statt des Schleiers. Nein, ich werde bestimmt nicht eifersüchtig sein.« Hassa saß neben ihr. Er streichelte ihr Gesicht. Seine Hand war warm und weich: »Wir kommen gut miteinander aus, Asiadeh«, sagte er plötzlich bewegt, »es war ein guter Gedanke, zu heiraten. Fehlt dir nichts bei mir?« »Nichts, Herr und Gebieter. Du bist ein guter Mann. Es gibt kaum einen besseren.« Asiadeh verstummte; Hassa war immer noch wie eine treue Maschine, deren Mechanismus unklar ist. »Hast du nie Sehnsucht nach Sarajewo, Hassa?« »Nach Sarajewo? Nein«, Hassa lachte, »dort wohnen Wilde. Ich weiß: wenn du so dasitzt und vor dich hin starrst, denkst du an Moscheen, Springbrunnen und maurische Säulengänge. Aber in den Moscheen muß man auf dem Boden sitzen, das Wasser in den Springbrunnen ist ungenießbar, und in den Arabesken der maurischen Säulen nisten die Skorpione. Ich wäre im Orient auf die Dauer wahnsinnig geworden. Krank und verfallen ist die Welt des Ostens. Ich habe oft an sie gedacht, und ich weiß von ihr mehr, als du glaubst. Es ist dort wie in der Unterwelt. Enge feuchte Gassen, Häuser, in denen kein Mensch wohnen kann, Teppiche mit unzähligen Bazillen. Trachome und Syphilis in den Dörfern. Messerstechereien als Zeitvertreib und das stumpfe tierische Dahindösen im Schatten eines greulichen Kaffeehauses. Alles, was das Leben im Orient
erleichtert, stammt aus Europa: die Eisenbahnen, die Krankenhäuser, die Autos. Der Mensch wird seit Urbeginn der Zeiten von der Natur bedroht und kämpft gegen ihre Gewalten. In der Bändigung der Naturkräfte gewinnt er seine Freiheit und seine Sicherheit. In Europa ist die Natur beinahe gebändigt. Auch die Pockenbazillen sind eine Naturkraft, und der Mensch in Europa besiegte sie. Wir siegten über die Kälte, und unsere Wohnungen sind warm, wir siegten über Meere und Flüsse, über Raum und Zeit. Im Orient ist der Mensch den Elementen ausgeliefert. Ein Windhauch – und ganze Dörfer sterben an Pest. Eine Heuschreckenschar, ein Sandsturm – und ganze Provinzen sind dem Hunger preisgegeben. Ich weiß: In Istanbul erheben sich am Bosporus die Paläste der Paschas. Aber ganze Stadtteile wurden jährlich durch Brand vernichtet. Denn der Mensch im Orient hat es noch nicht gelernt, über die Natur zu herrschen. Deshalb betet er auch einen Gott an, der nur straft und richtet, aber nicht liebt. Nein, der Orient ist wie ein Inferno. Eine jenseitige Welt, voll Trübsal, Ohnmacht und Schmerz. Ich bin froh, daß ich in einer Welt wohne, die die Natur gebändigt hat…« Er wollte weitersprechen. Aber da öffnete sich die Tür, der dicke Bariton trat ein und streckte Hassa die Hände entgegen: »Herr Doktor«, rief er, »ich warte schon seit einer Stunde. Ich habe eine schreckliche Sinusitis. Ich kann das ›m‹ nicht mehr aussprechen, und Sie kuscheln hier mit Ihrer Frau, Sie böser Mensch.« »Wir werden gleich die Sinusitis bändigen«, rief Hassa. Er sprang auf und lief ins Ordinationszimmer. Asiadeh blieb allein. Wie dumpfe Hammerschläge klangen Hassas Worte in ihren Ohren. Alles, was er sprach, stimmte. Eine armselige Kreatur war der Mensch im Orient, arm und nackt den Elementen preisgegeben. Und dennoch: alles in
Asiadeh sehnte sich nach der stillen Würde des heimatlichen Lebens, nach den armseligen Häusern, nach der Welt der weisen Derwische und der stillen Andacht, nach der Welt, in der es niemand wagen würde, in einen Raum einzudringen, in dem Mann und Frau ins Gespräch vertieft waren. In Istanbul gingen Verbrecher, die von der Polizei verfolgt wurden, zu ihren Frauen, und die Polizei stand draußen auf der Straße und wagte es nicht, das Gespräch des Mannes mit seiner Frau zu unterbrechen. Hier drang ein fremder Mann in ihr Zimmer ein, und der Mann wies ihn nicht hinaus, sondern ging mit ihm und bändigte die Natur. Es war keine schlechte Welt, die sich hier ausbreitete, es gab vielleicht überhaupt keine guten und keine schlechten Welten. Jede Welt konnte ihre Menschen glücklich machen. Aber alle Welten waren anders, von Urbeginn der Zeiten voneinander getrennt, fest und unverrückbar in ihrer Eigenart verwurzelt. Vor vielen hundert Jahren ehelichte der Kalif Moawija eine einfache Frau aus der Wüste. Er brachte sie in seine Kalifenstadt Damaskus, und sie gebar ihm einen Thronfolger, den Kalifen Jesid. Als aber der Thronfolger zum erstenmal das Schlachtroß bestieg, kam die Frau zum Kalifen, verbeugte sich vor ihm und bat ihn, sie zu ihrem Stamm in die Wüste zurückzuschicken, denn ihre Pflicht hier in der Stadt sei nunmehr beendet. »Wir lieben uns«, sagte der Kalif. »Und wir sind glücklich. Du hast einen Sohn, der Thronfolger ist, du hast einen Kalifen zum Mann, du hast Paläste und Diener. Was fehlt dir, warum willst du mich verlassen?« Da kniete die Frau vor ihrem Mann und sprach ein Gedicht: »Ein Zelt, durch das der Wind weht, ist mir lieber als der schönste Palast. Ein Stück Brot in der Ecke meines Zeltes schmeckt mir besser als die erlesensten Leckerbissen. Ich
sehne mich nach meiner Heimat, und kein Königreich kann sie mir ersetzen.« Da staunte der Kalif und entließ seine Frau in Ehren. Jahrhunderte trennten Asiadeh von der Frau und Mutter der alten Kalifen. Aber durch Jahrhunderte zog sich der Reigen, der Tote und Lebende miteinander verbindet. Ja, Hassa hatte recht. Die Welt des Westens war eine sichere, gute Welt. Hassa könnte in keiner anderen glücklich sein. Asiadeh aber lebte in einer anderen Welt, voll anderer Gefühle und Vorstellungen. Und zwischen den beiden Welten, auf einer schmalen Brücke, die nie errichtet werden könnte, standen John Rolland, der auf sie wartete, und Hassa, den sie nicht verlassen konnte, auch wenn er von der stolzen Welt der gebändigten Natur umschlossen war. Im Nebenzimmer entließ Hassa den beglückten Sänger. Draußen warteten die Kranken. Sie kamen, saßen im Untersuchungsstuhl und klagten ihr Leid. Hassa schrieb Rezepte und erteilte Ratschläge. Plötzlich merkte er, daß er mitten in einer Gehörprüfung ein leises und vergnügtes Lied surrte. Der schwerhörige Patient hörte nichts, aber die Ordinationsschwester sah ihn erstaunt an, und Hassa wurde rot und verlegen. Das Leben war schön, er war ein tüchtiger Arzt und hatte eine wunderschöne Frau, die er sehr lieb hatte. Er war ein aufmerksamer Mann, der seine Frau nicht vernachlässigte. Die Frau war noch jung und unausgeglichen. Doch hatte er eben erst ein ernstes Gespräch mit ihr geführt. Er hatte sie überzeugt, daß Europa ein schöner Kontinent sei, und sie hatte ihm andächtig zugehört. Das Leben war gut und einfach. Einer klugen Frau konnte man alles erklären, insbesondere die einfache Tatsache, daß eine Welt ohne Pocken besser sei als eine Welt mit Pocken. So sollte eine Ehe geführt werden, dann gäbe es auch keine Überraschungen.
So dachte Hassa, und ein paar Häuser weiter, im massiven Gebäude am Karlsplatz, schleppten gebückte Arbeiter schwere Holzbretter. Der Boden wurde gescheuert und gewaschen. Kellner, mit Gesichtern, die noch einen privaten Ausdruck hatten, stellten die Tische auf. Die Mechaniker prüften die elektrischen Drähte. Ein dicker Mann hantierte an einer dicken Kaffeemaschine, das große Künstlerhaus, die Säle, Gänge, Nischen bedeckten sich mit Plakaten, Aufschriften und Zeichnungen. Hagere Jünglinge mit langen Haaren fuhren mit Kohlestiften über mächtige Papierbogen. Schanktische wurden aufgestellt und Batterien von Weinflaschen hineingetragen. Im Büro läutete ununterbrochen das Telephon. Herren mit zerknüllten Gesichtern sprachen mit heiseren Stimmen auf den Direktor ein und verlangten Pressekarten. Die Polizei durchschritt die Säle und prüfte die Plakate, Tische und Buden auf Feuergefahr. Das große Haus führte ein eigenartiges und wirres Dasein: Die Vorbereitungen zum Gschnas waren im vollen Gange…
25
Über die hell erleuchtete Treppe strömten Harlekine, Zigeuner, Bajaderen und Ritter. Die bemalten Gesichter waren von einer maskenartigen Fröhlichkeit, und die gewölbten Frackhemden glichen Pinguinbrüsten. Aus dem Halbdunkel der Nischen kamen lärmendes Lachen und unterdrücktes Kichern. Ein Mann mit einem Dreimaster auf dem breiten Schädel stand in der Mitte des Saales mit gekreuzten Armen und siegreich erstarrtem Gesicht. Frauen in weiten Hosen und bunten Röcken tanzten mit mittelalterlichen Alchimisten und russischen Bojaren. Eigenbrötlerische Einzelgänger mit angeklebten Nasen wanderten durch die Säle mit steifer Verachtung in den Augen. Auf langen Bänken saßen buntbekleidete Menschen und wischten den Schweiß von den erhitzten Stirnen. Ein Photograph stand an der Tür seiner hell erleuchteten Nische und fing mit seiner Linse die Harlekine, Ritter und Bojaren ein. In buntem Wirrwarr ergoß sich die Menge durch das Haus. Der große Saal glich dem Schauplatz eines bacchantischen Spiels. Es war, als ob die Menschen, vom plötzlichen Trieb ergriffen, zusammen mit ihren alten Gewändern auch ihre Gebärden, Gewohnheiten und Gedanken abgestreift hätten. Unterdrückte Träume, schamhaft verborgene Vorstellungen offenbarten sich in der sorgsamen Wahl der Gewänder. Die Menschen gingen für eine Nacht in ihre Träume über, und diese leibhaft gewordenen Träume wanderten durch die Säle als Napoleon, Bojar oder Feuerwehrmann. Ein geheimnisvolles magisches Spiel war im Gange. Wie vom Zauberstabe der Zauberin Circe berührt, verwandelten
sich die Menschen in geisterhafte Phantasien, die zu verwirklichen ihnen der Lauf ihres Alltags verwehrt hatte. In dieser einen Nacht konnte, einer gnadenhaften Eingebung folgend, sich ein Anwalt in einen Zigeuner verwandeln und ein Apotheker in einen Raubritter. Die lässig abgestreifte Seele hing gemeinsam mit dem alltäglichen Mantel in der Garderobe, und der Saal war von erhitzten Menschen erfüllt, die für kurze Stunden Urlaub vom Schicksal genommen hatten und sich in wilder Gier in den Ozean des fleischgewordenen Traumes stürzten. Asiadeh saß am engen Tisch zwischen einem schweigsam dahinbrütenden Harlekin und einem französischen Marquis mit gepuderter Perücke und langer schnuppernder Nase. Sie trug ein Zigeunerkleid, und goldene Münzen klapperten an ihrer Stirn. Hassa war verschwunden. Nur hin und wieder erblickte sie in der Menge seine hohe spitze Alchimistenmütze. Einmal tauchte sein lächelndes Gesicht in ihrer Nähe auf Zwei Frauen hingen an seinen Armen, er blickte Asiadeh an, und sie hatte das bestimmte Gefühl, daß er sie gar nicht erkannte. Hinter ihm lief im Gewande eines chinesischen Mandarins der Chirurg Matthes und trug eine Sektflasche unter dem Arm. Er winkte Asiadeh zu und rief lallend, daß er Li Tai-pe heiße und sich amüsieren wolle. Asiadeh lachte, und der Harlekin legte seine Hand um ihre Schulter. Sie schob ihn sanft weg und gelangte in die Umarmungen des Marquis, der ihr einen Sliwowitz anbot und an ihrem Rücken schnupperte. Sie klapperte ablehnend mit den Münzen und streckte ihm die Zunge heraus. Die Gebote der Sittsamkeit waren für diese Nacht ausdrücklich aufgehoben. Sie stand auf und ging wiegenden Schrittes durch die Räume. Menschen, die aus sich selbst herausgeschlüpft waren, strahlten im Taumel ihrer erfüllten Wünsche. Sie sah einen
hageren Mann im wallenden Gewand eines alten Paschas. Sie blinzelte ihm zu, und er ergriff ihre Hände und schleppte sie zum Tanz. Sie tanzte mit ihm und rückte seinen verrutschten Turban zurecht: »So trägt man das«, erklärte sie streng, und der Pascha sagte, daß er sie in seinen Harem aufnehmen wolle und zum Sekt einlade. »Ich bin bereits in einem Harem«, lachte Asiadeh und knabberte an etwas Süßem. »Ich werde Sie Ihrem Besitzer abkaufen. Wir Paschas sind gewohnt, Frauen zu kaufen.« »Ich bin ausverkauft«, sagte Asiadeh und ließ den Pascha stehen. Sie ging zum Schanktisch und bestellte einen Mokka. Die bunten Farben des Saales verwirrten sie. Sie sprach mit fremden Menschen, und ein lyrisch aussehender Jüngling streichelte ihre Hand. Männer standen um sie herum mit werbenden, befehlenden und bittenden Augen. Sie sah in den festlich erleuchteten Raum, und wie im plötzlichen Wachtraum schien sie den verborgenen magischen Sinn der Geschehnisse zu erfassen. Traum und Wirklichkeit gingen hier geheimnisvoll ineinander über. Die Grenzen des äußeren Lebens waren plötzlich verschoben, wie in einem heidnischen Mysterium. Die innere Wahrheit der nie zu bändigenden Natur grinste sie siegreich an im jubelnden Triumph über die armseligen Jahrtausende, die ihrer Bändigung gewidmet waren. Aus den Schlupfwinkeln des Alltags erhob sich die gebändigte Seele und überrannte in jähem Ansturm alle Barrieren und Schranken der äußeren Welt… Ein Pierrot mit weißgepudertem Gesicht ergriff Asiadeh. Er führte sie in eine Nische und hatte die bittenden und erschrockenen Augen eines Menschen, der aus einem bösen Traum erwacht ist und die Wirklichkeit noch nicht erfaßt hat: »Ich habe eine Frau, die ich nicht mehr liebe«, sagte er und nahm Asiadeh an der Hand. Dann lachte er, und Asiadeh
streichelte sein gepudertes Gesicht und erzählte ihm von Hassa, von ihrem Vater und von der Wohnung am Ring. Plötzlich war der Pierrot verschwunden, vielleicht war er auch nie dagewesen, und Asiadeh sah Hassa in Alchimistentracht, breit grinsend und von Frauen umgeben. Er trat auf sie zu, umarmte sie und führte sie zum Tanz. »Bist du böse? Langweilst du dich?« Er sprach wie aus dem Traum. »Nein, es ist sehr schön hier. Es soll immer so sein.« Sie tanzten, und der französische Marquis schnupperte an ihnen vorbei. Später saß Hassa auf einer Bank und las einer schlanken Frau aus der Hand. Asiadeh ging die Treppe hinunter. Eine Schar junger Frauen umgab den Polizisten an der Eingangstür. Der Polizist hatte ein würdiges Amtsgesicht. Seine blauen Augen betrachteten das heidnische Mysterium mit der ruhigen Gelassenheit eines Machtvollkommenen. Asiadeh berührte den Arm des Polizisten. Der Polizist war ganz echt und gar nicht verkleidet. Er glich einem Spalt in der Welt, die jenseits des Hauses begann und Wirklichkeit hieß. Eine Bewegung seiner Hand, eine kurze Geste, und der nächtliche Spuk der befreiten Seele verwandelte sich in die gebändigte Ruhe des Alltags… Asiadeh erschauderte bei diesem Gedanken. Sie ging weiter. Im Halbdunkel des unteren Geschosses schmiegten sich dürftig bekleidete Frauen an befrackte Männer, und die Luft war heiß, drückend, von Parfüm und Weingeruch erfüllt. Asiadeh nahm am Rande einer leeren Bank Platz. Sie war plötzlich sehr müde. Männer lächelten sie im Vorbeigehen an, aber sie erwiderte das Lächeln nicht. Sie saß da im bunten Zigeunergewand, und die goldenen Münzen lagen kranzartig um ihre Stirn. Am anderen Ende der leeren Bank saß eine Bajadere. Der Rücken der Bajadere war Asiadeh zugewandt. Der Rücken war
braun, jung und schlank. Asiadeh sah schmale Arme, seidene Pumphosen und goldgestickte Pantoffeln. Ein seidener Turban lief um den Kopf der Frau. Sie saß allein, schweigsam und grüblerisch, sichtlich ermüdet vom Trubel des Festes. Plötzlich wandte sie sich um. Asiadeh sah eine längliche Perle, die vom Turban auf die Stirn der Frau herabhing, sie sah vornehm geschwungene Augenbrauen, zwei hochmütige braune Augen und eine schmale Nase mit zitternden Nüstern. »Guten Abend, Marion«, sagte Asiadeh. Ihre Müdigkeit war plötzlich verschwunden. Sie rückte an die Bajadere heran. »Guten Abend, Asiadeh.« Marion musterte sie neugierig. Ihre Augen weiteten sich. Sie hatte ein schönes Gesicht und schmale lange Hände. »Sie sehen aus wie eine richtige Türkin. Der Turban steht Ihnen sehr gut.« Asiadeh blickte sie mit Bewunderung und Anerkennung an. Marion lachte: »Eigentlich müßten Sie einen Turban und türkische Hosen tragen.« »Das wäre zu echt, Marion. Ich bin doch eine Wilde und müßte einen Schleier tragen.« »Eine Wilde? Wann hat zuletzt eine Frau aus Ihrer Familie einen Schleier getragen?« »Wann zuletzt? Ich selbst habe noch einen Schleier getragen. Noch vor sechs Jahren. Nein, ich bin schon eine echte Wilde.« Asiadeh nahm Marions Hand. Die Hand duftete. Marion hob verwundert die Augenbrauen. Sie lachte: »Warum laufen Sie nicht weg, Asiadeh, wie damals am Semmering?« Ihre Stimme klang traurig: »Ich war eine dumme Gans, Marion. Deswegen bin ich damals davongelaufen. Seien Sie mir nicht böse.« Asiadehs Augen waren ganz ernst. Sie betrachtete Marion mit tastender Neugierde. Marion schüttelte den Kopf:
»Macht Ihnen Alex keine Sorgen? Ist er brav?« Sie konnte sich Asiadehs plötzliche Zuneigung nicht erklären. »Unserem Mann geht es gut, Marion. Er ist jetzt ein Alchimist und liest einem blonden Mädchen aus der Hand. Neben ihm sitzt Matthes und ist in Wirklichkeit Li Tai-pe. Auch Kurz dürfte oben sein und viele andere Ärzte verschiedener Fächer. Nein, Hassa ist ein braver Mann und macht mir keine Sorgen.« Sie schwieg. Peter der Große ging durch den Saal und hielt seine Hand um die Schulter der Königin Nofretete. Ein Jüngling mit angeklebter Nase saß in der Ecke und unterhielt sich mit einem verwegen aussehenden, aber bebrillten Indianer. Sie sprachen ernst, wenn auch ziemlich zusammenhanglos, über ästhetische Probleme. Marion war in Gedanken versunken. Ihr Gesicht schien immer noch etwas hochmütig. »Trinken wir einen Mokka, Asiadeh«, schlug sie plötzlich vor, »ich weiß aus Erfahrung, daß unser Mann bis zum Morgengrauen auf dem Gschnas bleibt.« Asiadeh nickte. Sie erhoben sich und gingen zur Mokkastube. Sie saßen in der Mokkastube. Eine Bajadere und eine Zigeunerin. Graue Augen blickten in braune Augen, und im Saal wurde es langsam ruhiger. Der Rausch des nächtlichen Festes verrann. Beide Frauen wurden plötzlich verlegen. »Wie geht es Ihnen, Marion?« »Mir? Ach, gut. Danke. Ich war Skilaufen in Tirol. Jetzt bin ich wieder in der Stadt.« »Es ist so seltsam, Marion. Ich spreche Sie jetzt zum erstenmal, und dabei weiß ich schon so viel über Sie.« Marion errötete kaum merklich: »Ja, Alex muß immer jemandem sein Herz ausschütten. Erzählt er immer noch von seinen Patienten, und schwärmt er immer noch für den mütterlichen Apfelstrudel?«
»Ja, immer noch. Und das Wartezimmer ist immer noch voll von Kranken, und auf den Tischen liegen immer noch dieselben Zeitschriften. Nach der Ordination geht er immer in dasselbe Kaffeehaus.« »Und nachher fährt er auf den Kobenzl oder in den Prater. Nicht wahr? Ich fühle mich direkt verjüngt, wenn ich Sie so sprechen höre.« Sie verstummte. Die Musikkapelle spielte ein Zigeunerlied. In den Ecken des Saales saßen Liebespärchen. Niemand tanzte mehr. Am Nebentisch sprachen zwei Männer über die Börsenlage. Die Wirklichkeit begann durch geheimnisvolle Schlupfwinkel in den Saal zurückzukehren. »Es kommt selten vor«, sagte Marion, »daß zwei Frauen eines Mannes friedlich an einem Tisch sitzen.« »O warum? Mein Großvater hatte vier Frauen gleichzeitig und alle vier verstanden einander glänzend. Sogar viel besser als mit ihrem Mann.« Marion öffnete die Tasche. Sie nahm einen kleinen Spiegel und fuhr mit einer Puderquaste sanft über ihr Gesicht. »Ich freue mich, daß es Alex wieder gut geht. Er hat sich die Sache damals viel zu sehr zu Herzen genommen. Mein Gott, so was kommt doch vor, daß sich zwei Menschen trennen. Es ging nicht anders, ich mußte fort. Eigentlich hat Alex Glück im Leben. Ihr versteht euch doch glänzend?« Marions Stimme klang kühl. Asiadeh versteckte die Nase und Augen in der Mokkatasse. Dann lächelte sie verschmitzt: »O ja, wir verstehen uns herrlich. Hassa hat viel Geduld mit mir. Ich bin doch eine Wilde und ganz anders als er. Aber er ist immer so aufmerksam. Er erfüllt alle meine Wünsche. Ich glaube nicht einmal, daß er es nur meinetwegen tut. Er ist einfach ein idealer Ehemann. Viel beschäftigt, zart und zuvorkommend. Er wäre zu jeder Frau gleich nett. Er eignet sich einfach gut für die Ehe. Es ist nicht schwer, mit Hassa glücklich zu sein. Und so sind wir eben sehr glücklich.«
Marion lachte. Sie dachte an die Wohnung, an das Bett, an Hassa im weißen Kittel und an die Zeitschriften im Wartezimmer. »Sitzen Sie auch immer im Salon, am Erkerfenster, und Hassa schreit in der Ordination: ›Sagen Sie zweiundzwanzig!!‹?« Asiadeh nickte begeistert. »Ja, und der Kranke antwortet: ›Vierzehn‹ oder ›Wie bitte?‹ und dann klappern die Instrumente. Am Anfang wollte ich Hassa in der Ordination behilflich sein, aber er erlaubte es nicht.« »Mir hat er es erlaubt.« In Marions Stimme klang ein leiser Triumph. »Ich durfte ihm die Instrumente reichen, die Rechnungen ausschreiben und den Kindern Schokolade geben. Es hat mich zuerst sehr gefreut. Aber es ist nicht gut, wenn Mann und Frau immer zusammen sind. Da ich alle seine Patienten kannte, sprach er auch in der freien Zeit nur noch über Kranke mit mir. Und das ging auf die Dauer nicht.« Marions starres Gesicht wurde weich. Ihre Hände zerknüllten ein Taschentuch. Es war seltsam, daran zu denken, daß es eine Zeit gab, als sie Hassa die Instrumente reichte und auf schöne Patientinnen eifersüchtig war. Die Zeit lag sehr fern. Zwischen damals und jetzt gab es Fritz, dem alle Frauen nachliefen. Es gab auch andere, aber es war besser, daran nicht zu denken. Asiadeh seufzte. »Manchmal beneide ich Sie, Marion. Sie kennen Hassa so viel besser als ich. Ich kenne mich in den europäischen Männern nur wenig aus. Außer Hassa kannte ich in Berlin höchstens ein paar Studienkollegen, und die hatten Glatzen und entzifferten Hieroglyphen. Wir müssen öfters zusammenkommen und über unseren Mann sprechen.« Dummer Fratz – dachte Marion – oder es ist in der Ehe etwas nicht in Ordnung. Diese plötzliche Gunst!
Sie sah neugierig zu Asiadeh hinüber. Die grauen, seltsam geschnittenen Augen blickten mit naiver Unbekümmertheit drein. Die weichen Lippen waren gefaltet. Die Arme lagen unbeholfen auf dem Tisch. Ein kleines dummes Mädchen saß vor Marion, ein Balg, das wahrscheinlich eifersüchtig darüber war, daß ihr Mann oben mit anderen Frauen tanzte. Sie lachte huldvoll. »Gut, Asiadeh. Ich komme mit Ihnen gerne zusammen. Ich kenne Alex ganz gut, oder ich bilde es mir wenigstens ein.« Der große Saal war jetzt fast leer. Nur der Napoleon saß noch einsam und siegessicher in der Mitte. Bunte Luftschlangen bedeckten den Boden. Die Lampions warfen ein unwirklich flackerndes Licht in den Saal. Kellner standen in den Ecken, und ihre offiziellen Gesichter legten sich langsam wieder in private Falten. Draußen, auf der Treppe, die zum zweiten Stockwerk führte, ertönte lautes Gelächter. Einige gutgelaunte Herren betraten die Mokkastube. Voran, im seidenen Gewand eines chinesischen Mandarins, mit kunstvoll geschlitzten Augen der Chirurg Matthes. Dicht neben ihm Hassa. Seine Alchimistenkappe war leicht verrutscht. »Da bist du, Asiadeh«, rief er heiter, »und wir suchen dich überall.« Er trat an den Tisch. »Und während du mich gesucht hast«, lachte Asiadeh, »haben sich deine beiden Frauen zusammengefunden und tranken Mokka.« Hassas Gesicht erstarrte. Jetzt erst erkannte er Marion. »Guten Abend, Alex«, Marions Stimme klang heiter, »nimm Platz, oder soll ich lieber gehen?« Sie lächelte, und ihre Nasenflügel zitterten. »Aber ich bitte dich, Marion. Ich freue mich sehr. Wir… wir können ja ein Glas Wein trinken. Du bist also auch hier…?« Grenzenlose Verlegenheit klang in seiner Stimme.
»Der Pascha inmitten seines Harems«, rief Matthes, »das muß gefeiert werden. Ober, Wein!« Er schob lärmend den Stuhl zur Seite. Dr. Sachs schenkte den Wein ein, und der Gynäkologe Halm hob das Glas. »In vino veritas«, rief er, »auf freudiges Wiedersehen.« Die Gläser klirrten. Niemand bemerkte, daß auch Asiadeh in raschem Zug ihr Glas leerte. Ihr Herz klopfte heftig. Der große Gelehrte Scheich Ismael aus Ardebil behauptete mit Recht, daß es Augenblicke gebe, in denen Wein erlaubt sei. Marion lächelte traumverloren. »Wenn man bedenkt«, sagte Dr. Sachs und machte ein grüblerisches Gesicht, »wenn man bedenkt, daß ich Zeuge in eurem Scheidungsprozeß war! Und jetzt sitzen wir alle friedlich am Tisch. So ist das Leben.« Er schüttelte den Kopf und füllte sein Glas. Hassa nahm neben Asiadeh Platz. Er umarmte sie siegreich und ein wenig hilfesuchend. Seine schrägen Augen starrten auf Marion, und seine Hand vergrub sich in Asiadehs Haar. Der Gynäkologe Halm lachte. Er selbst war schon zweimal geschieden. »Meine erste Frau – sie ist schon längst wieder verheiratet – wählt mir auch heute noch meine Krawatten aus. Am Tage der Scheidung bedrohte sie mich aber mit einem Bajonett.« Marion hob den Kopf und blickte lächelnd zu Hassa hinüber. »Alex«, sagte sie, »und was ist aus der Schreckpistole geworden, mit der du mich erschießen wolltest?« Marions Frage klang wie ein Siegesjubel. Seit Jahren hoffte sie, ihm einmal diese Frage vorlegen zu können. Hassa errötete. Es gab wirklich eine Zeit, in der er Marion mit der Pistole bedroht hatte. Alle an dem Tisch wußten es, bis auf Asiadeh. Aber es war unangenehm, daran erinnert zu werden.
»Ich habe die Pistole dann weit unter ihrem Preis verkauft. Ich habe an dem Geschäft fünf Schilling verloren.« Er blinzelte verlegen, und Marion lachte. »Ich werde dir die fünf Schilling gelegentlich ersetzen, Alex.« Im Saal wurde es still. Die Musikkapelle packte die Instrumente zusammen. Peter der Große torkelte gähnend zum Ausgang. Ein bebrillter Mann ging vorbei und lächelte Marion zu, aber Marion wandte sich ab. »Wie gefällt dir meine wilde Frau?« fragte Hassa. Seine Hand war immer noch in Asiadehs Haar vergraben. »Du hast Glück, Alex. Du hast eine entzückende Frau, und sie hat mir eben gebeichtet, wie glücklich ihr miteinander seid. Ich bin wirklich froh deinetwegen.« Sie reichte ihm die Hand, und ihre Augen wurden wieder sehr demütig. Hassa drückte ihre Hand. »Gehen wir«, rief Dr. Sachs, »die Szene wird zu rührend.« Alle erhoben sich. Asiadeh lief durch den Saal, und die goldenen Münzen klapperten an ihrer Stirn. Sie ergriff den dicken Dr. Halm und wirbelte mit ihm durch den Saal, bis ihm schwindlig wurde. Dann lief sie zur Garderobe. Von der Straße her kam grauer Morgennebel. Die Menschen schlüpften in ihre abgelegten Seelen zurück. Die gestörte Weltordnung gewann ihre natürlichen Formen zurück. »Wir sehen uns einmal, Marion«, sagte Asiadeh, und Marion nickte. Hassa hantierte am Wagen. Feuchter Nebel kroch durch die Straße. Die dünnen Luftschlangen am Mantelarm glichen einer schamvollen Erinnerung an einen unwirklichen Traum. Die Menschen tauchten in ihre Wirklichkeit ein, und der Nebel verhüllte sie, gnadenvoll und schützend. »Eine tolle Nacht«, sagte Hassa und ließ den Motor an.
»Eine sehr nette Nacht«, meinte Asiadeh, »eine herrliche Nacht. Gschnas ist etwas sehr Schönes. Ich habe mich sehr gut unterhalten. Wirklich, Hassa.« Sie legte den Kopf auf seine Schulter und schlief sofort ein.
26
In den Nachmittagsstunden pflegte Frau Dr. Asiadeh Hassa das Kaffeehaus am Stephansplatz aufzusuchen. Dort traf sie Marion. Sie saß neben ihr mit kindlich gefalteten Händen und erzählte von ihrer glücklichen Ehe, von Hassas Praxis und von der Wohnung am Ring. »Wissen Sie«, sagte sie, »ich könnte mir das Leben ohne Hassa gar nicht mehr vorstellen. Er ist ein so guter Mann.« Ihre kindlichen Augen leuchteten von naivem Stolz. »Es ist seltsam«, sprach sie weiter, »dadurch, daß Sie auch mit Hassa verheiratet waren und das schöne Leben kennen, das ich jetzt führe, sind Sie mir näher als alle anderen Menschen in Wien.« Marion hörte ihr geduldig zu. Asiadeh war ein kindliches Gemüt, das das Bedürfnis hatte, über sein Glück zu plappern und unerklärlicherweise zu ihr Vertrauen gefaßt hatte. Bis in den späten Nachmittag schwatzte Asiadeh über ihre Ehe. Dann ging sie, und Marion rauchte ihre Zigarette zu Ende und zahlte. Dann ging auch sie über den verschneiten Stephansplatz. Sie sah sich die Auslagen der Geschäfte am Graben an. Ihre stolzen Augen streiften gelangweilt und gleichgültig die Pestsäule, und sie bog in den Kohlmarkt ein. Die Straße war von häßlichem Schmutz bedeckt. Hupende Autos glichen dressierten Elefanten mit emporgehobenen Rüsseln, und die halbkreisförmige Fassade der Hofburg starrte Marion mit abgeklärter Weisheit an. Einst fuhren durch die mächtigen Torbogen der Burg Kaiser und Könige ein. Durch die Fenster der Burg blickten auf den runden Platz Franz Joseph und Napoleon. In den großen Fensterscheiben spiegelten sich die goldbestickten Uniformen. Die Burgfassade
hatte so viel gesehen, so viel miterlebt. Marions Schicksal schien ihr gleichgültig zu sein. Ablehnend und stolz starrte die Burg auf die Frau… Marion ging durch die Herrengasse. Die Gasse glich einem langen gekrümmten Wurm. Links erhoben sich Regierungsgebäude und Museen, aber Marion wußte weder, wie sie hießen noch, was sie beherbergten. Rechts strahlten in abendlicher Beleuchtung die unendlichen Spiegelscheiben der Geschäfte. Der kalte Beton des Hochhauses hing über der Herrengasse wie über einem steilen Abgrund. Marion durchschritt die Marmorhalle des Hauses. Der Portier begrüßte sie mit vertraulicher Höflichkeit. Weich und lautlos bewegte sich der Fahrstuhl. Marion betrat ihre Wohnung. Sie sah die kühle Sachlichkeit des modernen Raumes. Das Zimmer mit dem Blick auf den betonierten Hof ließ an luxuriöse Zellen eines Gefängnisses für Millionäre denken. Marions Gesicht war gar nicht mehr hochmütig. Mit böser hastiger Bewegung schob sie den Fenstervorhang zu. Der graue Gefängnishof verschwand. Sie machte das Licht an und starrte in den Spiegel. Sie war immer noch sehr schön mit ihrem schmalen länglichen Gesicht, ihren braunen Augen und der hohen glatten Stirn. Diesem Gesicht sah man weder die Scheidung von Hassa an, noch die Sache mit Fritz, noch alles andere, was nachher kam und woran sie lieber nicht dachte. Marion ließ sich auf das Sofa nieder. Ihre kleinen weißen Zähne bohrten sich in die Unterlippe. Das Gesicht bekam einen leidenden Ausdruck. Das Zimmer mit den trostlos kühlen Möbeln glich einer Gruft. Marion wußte kaum noch, wie sie es bezogen und eingerichtet hatte. Ja, es war an einem jener Tage gewesen, an die sie lieber nicht dachte und an die sie immer wieder denken mußte… Sie schüttelte den Kopf. Nein, ihr Leben war in Unordnung geraten, und es war offensichtlich nicht ihre Schuld. Hassa war
ein anständiger und öder Mann mit kindlichem Charakter und primitiven Einfällen. Er liebte seine Frau, seine Wohnung und seine Kranken. Es war nicht auszuhalten… Marion erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich legte sie sich auf die Couch und starrte auf die heruntergelassenen Fensterläden. Sie liebte Fritz so, daß sie manchmal der jähe Wunsch ansprang, ihn zu erschießen. Alles an Fritz war bunt und lockend, voll rätselhafter Geheimnisse und Versprechen. Er hatte mehr Frauen als Hassa Patienten, und wenn er sprach, saß Marion mit geschlossenen Augen da, hörte nur den Tonfall, und Hassa verschwand für immer im Abgrund des Vergessens. Marion zündete sich eine Zigarette an. Der englische Tabak schmeckte fad und süßlich. Ja, und dann stellte sich heraus, daß Fritz in der Provinz eine Frau hatte, mit der er regelrecht verheiratet war und vor der er sich fürchtete. Es war ein herrlicher Sommer im Salzkammergut gewesen. In diesem einen Sommer gab ihr Fritz mehr als Hassa in den drei Ehejahren. Und dann… ja, dann kam ein kräftiges Weib mit krächzender Stimme und böser Papageiennase. Fritz duckte sich plötzlich. Alles Lockende und Rätselhafte war von ihm wie abgestreift. Ein dummer furchtsamer Ehebrecher stand vor Marion und hatte verlogene und verschämte Augen. Marion sprang auf und warf die Zigarette weg. Wieder ging sie im Zimmer auf und ab und wußte nicht, daß auch Hassa einst in Berlin ebenso durch sein Zimmer gegangen war, bevor er ihre Photos in den Schreibtisch steckte. Vor dem Spiegel blieb Marion stehen. Sie war ganz allein, und es hatte keinen Sinn, stolz und überheblich zu sein. Ihr Gesicht mißfiel ihr plötzlich. Eine Weile betrachtete sie es ganz genau. Dann führte sie ihren Zeigefinger an die Nasenspitze und stülpte die Nase in die Höhe. Das Gesicht
bekam einen stolzen und gleichzeitig außerordentlich blöden Ausdruck. »Das hast du nun davon«, sagte Marion und freute sich, daß sie keine Stupsnase hatte. Es war eine bescheidene und ganz harmlose Freude. Dann ging sie wieder zum Sofa und setzte sich hin. Es war gut, daß sie ganz allein in der Wohnung saß und niemand sehen konnte, daß sie nur ein erschrockenes Mädchen war, das vom Leben beleidigt wurde. Wieder fiel ihr Vergangenes ein: Fritz verschwand samt der Frau mit der bösen Papageiennase. Er hinterließ ein Paar Socken und die Erinnerung an einen schönen Sommer. »Ich werde dich nie vergessen«, sagte er zum Abschied, und Marion stand am Fenster mit kühlem und stolzem Gesicht und bedauerte, daß sie keine Wilde war und Fritz nicht erwürgen konnte. So ging Fritz, aber der Sommer war noch nicht zu Ende. Heiter verregnet lag zu Füßen der Festung die Stadt Salzburg. Marion saß im Café Basar mit stolzem erstarrtem Gesicht und dachte an die Brücke, von der sie sich nie trauen würde, herunterzuspringen, obwohl sie es so gern getan hätte. Engländer in Kniehosen, erstaunlich gekleidete Amerikaner gingen vorbei. Der Ober des Kaffeehauses hatte die verhängten Augen eines Weisen, der alle Geheimnisse des Lebens meistern kann, und Marion dachte, daß es jetzt schön wäre, wenigstens Kokain zu schnupfen, um vergessen zu können. Aber Kokain verursacht Schnupfen, die Nase schwillt an und wird häßlich. Marion war nicht umsonst die Frau eines Laryngologen gewesen. Sie ließ die Finger vom Kokain. Sie wußte kaum noch, wie die Männer hießen, die sie zum Mirabell-Garten begleiteten und später in Wien besuchten. Es war auch ganz gleichgültig. Die Männer hinterließen widerwärtige Erinnerungen, die vergessen werden mußten. Marion zündete sich eine neue Zigarette an und warf sie sofort weg. Sie ging in die Küche und bereitete Kaffee. Sie
trank ihn mit kleinen Schlucken in der Küche am Herd, stehend und mit einem sehr erschrockenen Gesicht. Sie fürchtete sich vor den Männern, die noch kommen könnten und widerwärtige Erinnerungen hinterlassen würden. Draußen auf dem Korridor läutete das Telephon. Marion ging hinaus und hob den Hörer. »Hallo!?« »Hallo, Marion, hier Asiadeh. Wir wollen mit Hassa Sonntag zum Tulbinger Kogel fahren. Dr. Sachs fährt mit. Es ist noch ein Platz im Wagen frei. Ich dachte, wenn Sie zufällig nichts Besseres vorhaben…« Marion lächelte sehr überlegen. »Vielen Dank. Ich habe allerdings eine halbe Verabredung, aber ich werde sie vielleicht verschieben können. Ja, sehr gut. Am Sonntag um acht Uhr. Ihr holt mich ab.« Sie hängte den Hörer auf, ging zurück in die Küche, goß den Rest des Kaffees in eine kleine Mokkatasse und trug sie in das Wohnzimmer. Die kleine Türkin war ein ganz dummer Fratz. Es war gar nicht angenehm, immer wieder an die Jahre erinnert zu werden, die sie mit Alex verbracht hatte und die eigentlich ganz nette, wenn auch etwas langweilige Jahre waren. Dieses strahlende türkische Glück wäre beinahe eine Herausforderung, eine Verhöhnung, wenn das dumme Kind keine so harmlosen, traumverlorenen Augen hätte. Marion zuckte die Achseln. Hassa ging sie nichts an. Er stammte aus der Zeit, bevor ihre Seele auf dem Scheiterhaufen, der Fritz hieß, verbrannt war. Auch Hassa wollte von Marion nichts hören. Unzufrieden stand er im Salon und brummte: »Ich verstehe dich nicht, Asiadeh. Diese Freundschaft mit Marion! Marion interessiert mich nicht. Diese hochmütige Gans mit ihrem verpfuschten Leben. Es schickt sich nicht, daß ich mit meiner geschiedenen Frau zum Tulbinger Kogel fahre.«
»Aber ich werde doch dabei sein. Und Dr. Sachs auch.« Asiadehs Stimme klang aufrichtig verwundert. Sie rieb ihr Gesicht an Hassas Kragen, und ihre Augen blickten mit kindlicher Hingabe zu ihrem Mann empor. Sie hatte nicht umsonst besten Istanbuler Schliff. Jahrhundertealte Haremserfahrungen sprachen aus ihren Worten. »Schau, Hassa. Marion ist so nett zu mir. Sie freut sich aufrichtig, daß wir so glücklich sind. Und dann, weißt du, ich habe ein so schlechtes Gewissen Marion gegenüber. Ich habe sie damals auf dem Semmering so schlecht behandelt. Und außerdem: ich habe dich, und sie hat gar nichts. Ich will ein bißchen nett zu ihr sein. Ich denke, vielleicht heiratet sie Dr. Sachs. Du weißt doch, wir Frauen sind geborene Kupplerinnen. Ich will Marion verheiraten. Dann sind wir sie ganz los.« »Kein vernünftiger Mensch wird Marion heiraten«, sagte Hassa finster. Dann sah er Asiadehs große lächelnde Augen, spürte den leisen Duft ihrer blonden Haare, und sein Zorn legte sich. Es war eigentlich ganz gleichgültig, wer sich im vierten Sitz neben Dr. Sachs befinden würde. Es könnte auch Marion sein. Neben ihm würde auf alle Fälle Asiadeh sitzen. »Gut«, sagte er gnädig, »meinetwegen soll Marion mitfahren. Verkupple sie mit Sachs, aber ich glaube nicht, daß es dir gelingen wird. Sachs ist doch kein Narr.« Asiadeh schwieg. Es war ganz unwichtig, was Hassa dachte und wer ein Narr war. Einer Prinzessin aus Istanbul mußte alles gelingen, sogar ein Haus für einen verkommenen Prinzen zu errichten, der sich im Staube vor Allah wälzte und Rolland hieß. Am Sonntag um acht Uhr stand Hassas Wagen vor Marions Tür. Marion erschien mit einiger Verspätung. Sie lächelte hochmütig, schloß den Kragen fest um ihren Hals und nahm neben Dr. Sachs Platz.
Am Tage darauf saß Dr. Sachs im Kaffeehaus am Ring. Die Stammtischrunde war vollzählig vertreten. Schimärenhaft wogten die Köpfe der Ärzte. Der Kaffee wurde kalt. Das Wasser wurde warm. Der Ober stand an eine Säule gelehnt und hörte zu. Dr. Sachs erstattete den Bericht: »Es war zum Totlachen«, sagte er, »Hassa mit seinen beiden Frauen. Wir fuhren zum Tulbinger Kogel. Die kleine Türkin plapperte ununterbrochen. Es entspricht wohl der Tradition des Harems, daß ein Mann gleich mit mehreren Frauen ausfährt. Hassa war wahnsinnig verlegen und traute sich gar nicht, Marion anzuschauen. Ist ja verständlich nach all dem, was zwischen den beiden seinerzeit geschah. Wir speisten im Hotel, und Asiadeh blickte ihren Hassa mit verliebten Katzenaugen an. Einmal fragte sie Marion sogar, ob Hassa zu ihr auch so nett gewesen sei. Der armen Marion blieb das Essen in der Kehle stecken. Sagt, was ihr wollt, aber Marion ist eine Dame. Sie benahm sich herrlich unnahbar und dennoch zuvorkommend. Es wird ihr nicht leichtgefallen sein.« Dr. Kurz leerte genießerisch seine Kaffeetasse. »Diese Türkin ist natürlich eine Wilde«, sagte er, »den Asiaten erscheint es ja selbstverständlich, daß ein Mann mehrere Frauen hat. Asiadeh wird in ihrer asiatischen Denkart in Marion eine Art Berufskollegin erblicken, die mit ihr die Last des Mannes zu tragen hat. Ich halte Asiadeh für ziemlich kalt. Das ist alles.« Er lächelte weise. »Unsinn«, lachte Halm, »die kleine Türkin ist einfach in ihren Hassa über beide Ohren verliebt und muß ihr Glück spazierenfahren. Am liebsten vor Marion. Damit die vor Neid vergeht! Eine etwas primitive Rache und Protzsucht. Sie weiß nicht, daß sie mit dem Feuer spielt. Marion ist hübsch, und eine Dummheit im Leben dürfte ihr genügt haben. Hassa hat sie ja sehr geliebt. Ich vermute sogar, daß er Asiadeh geheiratet hat, um unter anderem Marion zu zeigen, daß er auch ohne sie
auskommen kann. Eine Art Kompensation des Inferioritätskomplexes.« Die wiegenden Ärzteköpfe kamen einander ganz nahe. Das Gespräch bekam eine wissenschaftliche Note. Die Bezeichnungen der verschiedensten Komplexe schwirrten durch die Luft. Asiadeh, Hassa, Marion – drei nackte Seelen lagen zwischen den Kaffeetassen wie auf einem Seziertisch. Die Gesichter der Ärzte röteten sich. Es stand einwandfrei fest, daß Asiadeh an verspäteten Pubertätserscheinungen litt, während Hassa zum Mutterkomplex neigte. Endlich hob der Chirurg Matthes den Finger und sagte mit der geradlinigen Primitivität seines Standes: »Es ist einfach die Erbmasse! Hassa stammt doch von bosniakischen Mohammedanern ab. Das darf man nie vergessen. Asiadeh weckt in ihm die verdrängten asiatischen Instinkte. Es wird mit einem Dreieck enden. Hassa wird sich wohl fühlen wie ein Pascha in seinem Harem. Asiadeh wird den asiatischen und Marion den europäischen Sektor seiner Denkart ausfüllen.« »Unmöglich«, sagte Kurz, »Hassa hat gar keinen asiatischen Seelensektor. Ebenso wie Asiadeh keinen europäischen hat. Es wird so enden, daß diese Türkin Hassa aus dem Medikamentenkasten irgendeine ätzende Säure stehlen wird und sie Marion ins Gesicht schüttet. Man müßte Marion warnen.« Kurz glaubte, Asiadeh sehr gut zu kennen. Die Ärzte verstummten. Die Tür des Kaffeehauses öffnete sich, und Hassa trat ein. Müde nahm er am Tisch Platz. »Was hast du, Hassa?« Kurz’ Stimme war von aufrichtiger Teilnahme erfüllt. »Ich habe nur zwei Hände«, stöhnte Hassa, »ich kann nicht gleichzeitig das Skalpell, den Spiegel und die Sonde halten.«
Die Kollegen sahen ihn erstaunt an. Hassa leerte seine Tasse und sagte verzweifelt: »Die Friedl hat mich verlassen.« »Wer?« Abgrundtiefe Lasterhaftigkeit erstand vor den Augen der Kollegen. »Die Friedl«, wiederholte Hassa düster, »kennt ihr die Friedl nicht? Meine Ordinationsschwester?« »Aha«, sagten die Ärzte, innerlich ziemlich befriedigt. Kurz klopfte auf Hassas Knie: »War Asiadeh eifersüchtig? So was kommt vor.« »Unsinn, die Friedl ist lahm und über vierzig. Aber tüchtig. Ein Wink, und sie reicht mir das richtige Instrument. Ja, sogar ohne Wink. Sie weiß immer im voraus, was ich brauche. Eine Perle!« Die Ärzte lachten. »Warum hast du sie denn hinausgeekelt?« »Ich habe sie gar nicht hinausgeekelt. Sie hat in Graz ein Haus geerbt, und jetzt ist sie weg. Asiadeh hat ihr kindlicherweise selbst gesagt, daß sie doch jetzt nicht mehr zu arbeiten brauche. Von selbst wäre sie gar nicht auf den Gedanken gekommen, zu privatisieren. Und ich bin wirklich wie ohne Hände. Ich bin ja schließlich kein Nervenarzt. Ich brauche eine Schwester, die auf mich eingestellt ist.« Der Gynäkologe Halm nickte verständnisvoll. »Eine gute Ordinationsschwester ist unersetzlich. Besonders bei leichten Rauschnarkosen. Eine neue Schwester ist wie eine neue Ehefrau. Die muß man sich genau anschauen.« »Ich werde keine neue finden«, sagte Hassa trüb, »ich kenne mich. Ich bin ein Gewohnheitstier. Eine Schwester muß man sich erziehen, und dann geht sie einem durch wie Marion, oder erbt ein Haus wie Friedl.« Er verstummte, traurig vor sich hin brütend.
»Am besten, man heiratet gleich die Schwester oder man macht seine Frau zur Schwester«, lachte Kurz, »dann ist man sicher.« Hassa sah ihn böse an: »Nervenärzte brauchen keine Schwester, sondern höchstens ein paar Zwangsjacken. Bei unsereinem ist das anders. Heute war mir Asiadeh behilflich, aber auf die Dauer geht es ja nicht.« »Warum nicht?« Die Ärzte hielten den Atem an. »Aber ich bitte!« Hassas Stimme war ganz verärgert: »Wie stellt ihr euch das vor? Asiadeh ist doch eine zarte Frau. Sie kann doch keine Nebenhöhle aufmeißeln. Sie hat sich heute redlich bemüht, aber ich habe alle Operationen verschoben. Stellt euch vor, wenn die Schwester mitten in der Operation ohnmächtig wird. Sie hat sich ganz gut gehalten. Aber gegen Ende der Ordination kam ein Greis mit einer Rhinophyma. Ich gebe zu, daß das keine appetitliche Krankheit ist. Der armen Asiadeh wurde aber ganz übel, regelrecht übel.« Er verstummte. Asiadeh tat ihm aufrichtig leid.
Um die gleiche Stunde stürzte Asiadeh ins Kaffeehaus am Stephansplatz. »Marion«, sagte sie, und tiefer Ekel spiegelte sich in ihren grauen Augen, »gehört auch das zu den Pflichten einer Ehefrau?« Marion blickte erstaunt auf. Asiadeh saß neben ihr und hatte ein ganz verzweifeltes Gesicht. »Schon den Geruch halte ich nicht aus«, sagte sie, »und dann diese Kranken. Ich wurde fast ohnmächtig. Und morgen muß Hassa eine Rachenwucherung operieren. Was mach ich bloß, Marion? Es gibt doch genug Schwestern in Wien?«
Hastig sprudelte sie die Worte hervor. Sie erzählte von Friedl, die in Graz ein Haus geerbt hatte und ohne die Hassa nicht auskommen konnte. Sie erzählte von dem Greis mit der widerlichen Rhinophyma, und wie ihr übel wurde und wie Hassa sie verständnislos anstarrte. »Und morgen will er operieren, Marion. Das ist zuviel für mich.« Sie saß gebrochen im Stuhl und fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen. Marion lachte: »Sie sind ein Luxusweibchen, Asiadeh. Eine Haremsblüte. Als ich heiratete, habe ich einen Kurs mitgemacht und wurde Hassas Ordinationsschwester. Ich glaube, ich war als Schwester besser denn als Frau. Nach der Scheidung hat Hassa geklagt, daß er keine Schwester finden wird. Tja… das mit der Rachenwucherung ist ganz einfach. Man muß nach jedem Strich dem Kranken den Kopf nach vorne beugen. Vorher müssen Sie den Beckmannischen Ringmesser mit dem Gottsteinischen Knick bereitstellen. Nachher reichen Sie Hassa den Politzer zum Ausblasen. Es ist ganz einfach. Verstehen Sie?« »Nein«, sagte Asiadeh, »ich verstehe nichts.« Sie saß da, unbeholfen und verstimmt. »Ich bewundere Sie, Marion, was Sie alles können. Ich würde es mir nie merken können. Ich bin in der Tat ein Luxusweibchen.« Marion sah sie etwas überlegen an und lächelte. Asiadeh ging heim. Hassa saß im Wartezimmer und blätterte in alten Zeitschriften. »Hassa, mach dir für morgen keine Sorgen«, Asiadeh sprach kleinlaut, »ich habe mich genau unterrichtet. Zuerst reiche ich dir einen Politzer und nachher einen Gottsteinischen Messer mit einem Beckmannischen Knick.« »Ganz und gar falsch«, lachte Hassa, »genau umgekehrt. Aber ich habe bereits Vorsorge getroffen. Kurz schickt mir
eine erfahrene Schwester. Er ist wirklich ein treuer Freund. Gehen wir abends ins Kino, Asiadeh? Du kannst ja nichts dafür, daß dir diese Arbeit nicht bekommt. Obwohl du dich damals, bei dem Derwisch, ganz gut gehalten hast.« Hassa sprach verschämt und blickte zur Seite. Es tat ihm schrecklich leid, daß Asiadeh keine Rhinophyma sehen konnte und die Instrumente verwechselte. »Ja, der Derwisch.« Einen Augenblick lang blitzten Asiadehs Augen auf. Hassa war wieder ein großer Zauberer, Herr über Leben und Tod, der den heiligen Mann gerettet hatte. »Ja, der Derwisch«, wiederholte sie, und ihre Stimme wurde kalt, »bei dem Derwisch war es etwas anderes, Hassa. Der Derwisch war ein heiliger Mann, dem ich helfen mußte. Und hier sind es Greise mit ekelerregenden Geschwüren. Ich muß mich jetzt umziehen, Hassa.« Hassa nickte traurig. Asiadeh ging ins Ankleidezimmer. Sie setzte sich auf einen niedrigen Hocker, und ihr Gesicht wurde starr. Müde fuhr sie mit der Hand über die Stirn. Es war schwer, ein Luxusweibchen zu sein, das unfähig ist, ihrem Manne zu helfen. Es war sehr schwer, Übelkeit aufsteigen zu lassen, anstatt dem Mann die richtigen Instrumente zu reichen und das Lächeln in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Sie seufzte. Marion mußte sie für eine Wahnsinnige halten. Aber es war gleichgültig. Das Ziel war vorgeschrieben. Asiadeh warf den Kopf zurück und lächelte. Nein, Hassa durfte ihretwegen nicht traurig sein. Sie würde für alles sorgen. Sie schloß die Augen und faltete die Hände. Ihre Lippen bewegten sich. Wenn Hassa jetzt ins Zimmer gekommen wäre, hätte er gesehen, daß sie betete.
Der nächste Tag kam. Traumverloren ging Asiadeh durch die Wohnung. Um halb zehn Uhr erschien die neue Schwester.
Eine dicke Frau in weißer Haube. Hassa führte sie in das Ordinationsraum. Asiadeh schlich hinterher und hörte gespannt zu. »Es ist eine Kleinigkeit«, sagte Hassa, »eine adenoide Vegetation bei einer jungen Dame. Ganz einfache Rauschnarkose. Später eine leichte Septumresektion, linksseitig, bei einer Schauspielerin. Mit Injektion. Sie kennen sich doch aus, Schwester?« »Natürlich kenne ich mich aus, Herr Doktor«, sagte die Schwester mit tiefer Stimme. Es wurde zehn Uhr. Die Patientin kam. Asiadeh blickte verstohlen ins Wartezimmer. Es war eine schlanke Blondine. Eine ältere Frau, wahrscheinlich ihre Mutter, begleitete sie. »Es wird gar nicht weh tun«, hörte Asiadeh Hassas Stimme, »Sie werden schlafen.« Die Kranke antwortete etwas. Ihre Stimme klang leise. Asiadeh schlich sich in den Salon. Sie hörte Schritte im Ordinationsraum. »Setzen Sie sich… so… Die Maske, Schwester! Zählen Sie: eins… zwei… drei… vier…« Hassas Stimme wurde ganz leise. Jetzt klapperten die Instrumente. »Sie schläft«, sagte die Schwester. Asiadeh horchte. Sekunden verstrichen. Plötzlich ertönte ein würgender Schrei. Dann lautes Schluchzen. Asiadeh zuckte zusammen. Hassa rückte den Stuhl weg. Das Schluchzen hörte nicht auf. Plötzlich kam Hassa in den Salon. Seine Augen waren ganz schräg. »Schicke nach etwas Eis, Asiadeh. Die Kleine soll Eis schlukken. Sie wachte zu früh auf. Die Schwester gab zu wenig Narkose. Es ist ja kein Unglück, aber es gehört sich nicht.« Asiadeh nickte. Sie lief selbst nach Eis und tröstete die schluchzende Kranke. Das Mädchen schluckte Eis. Sie war
höchstens achtzehn Jahre alt und auf Schmerz nicht vorbereitet. Erschrocken blickte sie auf Asiadeh und ahnte nichts von dem traumhaften Reigen des Schicksals, mit dem auch sie geheimnisvoll verkettet war. Die robuste Schwester brachte das Zimmer in Ordnung. In der Metallwanne kochten die Instrumente. »Sie verstehen, Schwester, eine Septumresektion. Linksseitig. Sie müssen hämmern. Sie kennen sich doch aus?« »Natürlich kenne ich mich aus, Herr Doktor.« Es läutete. Asiadeh öffnete selbst. Die Schauspielerin war dunkelhaarig und trug einen Nerzmantel. Asiadeh führte sie ins Wartezimmer. Aus dem Ordinationsraum erklang unterdrücktes Flüstern. Offensichtlich war noch nicht alles bereitgestellt. »Sie sind Frau Dr. Hassa?« hauchte die Schauspielerin. Ihre Hände zerfetzten eine alte Zeitschrift auf dem Tisch. »Ihr Mann soll mich in der Nase operieren. Nein, leider keine Polypen. Das wäre ja eine Kleinigkeit. Einer Freundin von mir hat Ihr Mann Polypen entfernt. Sie war sehr zufrieden. Sie hat nichts gespürt. Bei mir ist etwas mit dem Knochen nicht in Ordnung. Es stört beim Sprechen.« Sie verstummte. Es war ein Viertel eins. Im Ordinationszimmer klang noch immer unterdrücktes Flüstern. »Ich bin überzeugt, daß mein Mann es sehr gut machen wird«, sagte Asiadeh. Die Schauspielerin tat ihr leid. »Hoffentlich«, sie blickte ängstlich vor sich hin, »warum dauert es so lange? Ihr Mann sagte Punkt zwölf. Ich habe gar keine Begleitperson mitgebracht. Ihr Mann sagte, es sei nicht nötig. Ich kann gleich nach Hause gehen.« »Ja, natürlich«, nickte Asiadeh. Die Tür ins Ordinationszimmer öffnete sich. Hassa erschien. Hinter ihm die Schwester. Asiadeh verspürte plötzlich heftige Gewissensbisse, als wenn sie für das Schicksal der
Schauspielerin verantwortlich wäre. Sie zupfte leise an Hassas Arm. »Hassa«, sagte sie, »die Schwester scheint nicht viel zu taugen. Darf ich dabei sein, Hassa? Vielleicht kann ich helfen. Ich werde bestimmt nicht ohnmächtig.« Hassa nickte. Asiadeh streifte den weißen Kittel über. Die Schauspielerin saß im Operationssessel, den Kopf leicht nach hinten gebeugt. Ihre schmalen Nasenflügel zitterten. Hassa saß vor ihr. Das Licht des Reflektors fiel auf ihr Gesicht. »Es wird doch nicht schlimm sein?« fragte sie. »Nein, gar nicht«, sagte Hassa. Er legte seine Hand auf ihre Stirn. Mit dem Daumen hob er ihre Nasenspitze in die Höhe. Die Schauspielerin hatte ein erschrockenes Gesicht. Asiadeh stand daneben. Sie sah, wie die Schwester die Injektionsnadel reichte und dachte an den Derwisch, der einst ebenso vor ihr saß und von Hassa gerettet wurde. Hassa arbeitete schweigsam und still. Die Schauspielerin saß regungslos, mit bebenden Lippen. »So«, sagte Hassa, »den Meißel, bitte.« Die Schwester reichte den Meißel. Asiadehs Mund stand offen. In der Hand der Schwester blitzte ein kleiner Hammer auf. »Jetzt«, sagte Hassa. Die Schwester schlug mit dem Hammer auf den Meißel. »Au!« sagte die Kranke und rückte den Kopf zur Seite. In ihren Augen zeigte sich Schmerz. Hassa hob den Kopf. Sein Gesicht wurde rot vor Ärger. »Aber Schwester, was tun Sie denn, Sie haben gar nicht getroffen!« Der Hammer schlug von neuem an.
»Au-au! Au!« Der Kopf der Schauspielerin war ganz nach hinten gerückt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie ergriff Hassas Hand. »Genug, Doktor«, flüsterte sie, »ich kann nicht mehr.« Hassa biß die Zähne zusammen. Schweiß rann von seiner Stirn. »Schwester, Sie haben immer noch nicht getroffen.« Er zischte. Asiadeh ergriff den Kopf der Kranken. Sie beugte sich zu ihr nieder. »Es ist gleich vorbei«, flüsterte sie, »haben Sie nur etwas Geduld. Sitzen Sie ruhig.« Sie küßte rasch die Stirn der Frau. Dann stand sie hinter dem Stuhl. Ihre Hände umklammerten den fremden Kopf. Endlich – beim drittenmal – fiel der Hammer auf den Meißel. Tränen flossen über das Gesicht der Kranken. »Fertig, Gaze, Schwester.« Hassa stand auf. Sein Gesicht war ganz rot. »Wie bei einem Dorfarzt«, dachte er verbittert. Die Schauspielerin weinte. Asiadeh saß neben ihr und trocknete die Tränen. »Sie müssen eine Weile hierbleiben und sich erholen. Vielleicht im Salon.« Seine Stimme klang verlegen. Er reichte der Frau eine Pille. Asiadeh führte sie zum Diwan. »Es war schauderhaft, Doktor«, flüsterte die Frau, »ist es wenigstens in Ordnung?« »Ganz in Ordnung«, sagte Hassa und war erbost, daß jemand denken könnte, es wäre nicht in Ordnung. Dann ging er in das Ordinationszimmer. »Sie sollten Schwester bei einem Roßarzt werden«, sagte er, »aber dann würde der Tierschutzverein protestieren.« Die dicke Frau packte beleidigt ihre Sachen. »Sie haben zu vornehme Kundschaft, Herr Doktor. Das bißchen Schmerz wird man noch ertragen können.« Sie ging, stolzerhobenen Hauptes.
Draußen im Salon schlief die Schauspielerin. Ihre geschlossenen Augen waren geschwollen. Asiadeh schleppte Hassa ins Schlafzimmer. »Herr und Gebieter«, sagte sie, »so geht es nicht weiter.« Ihr Gesicht war feierlich und sehr ernst. »Du wirst alle Kranken verlieren, wenn du keine ordentliche Schwester findest.« »Ich werde schon eine finden«, brummte Hassa, »Wien ist groß. Es ist nur eine Frage der Zeit. Die guten Gehilfinnen sind alle beschäftigt. Ich werde vorläufig immer in der Klinik operieren.« »Hassa«, sagte Asiadeh, und ihr Gesicht bekam einen ekstatischen Ausdruck, »du darfst nicht warten, und ich will nicht für die Leiden der Kranken verantwortlich sein. Nein, Hassa. Ich liebe dich zu sehr, und ich bringe dir jedes Opfer. Du mußt an die Kranken denken, die von dir Hilfe erwarten. Unsere persönlichen Gefühle dürfen dabei keine Rolle spielen.« Sie stand vor ihm mit hochgehobenem Kopf und leidenschaftlichem Gesicht. »Was meinst du denn, Kind?« Hassa sah sie verständnislos an. »Hassa«, sagte Asiadeh, »ich rufe gleich Marion an. Du bist an die Arbeit mit ihr gewöhnt. Die arme Marion wird sich freuen, uns zu helfen. Es ist meine Pflicht, es zu tun. Unsere Ehe steht auf so festem Boden, daß wir uns vor Marion nicht zu fürchten brauchen.« Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern lief zum Telephon, hob den Hörer und wählte Marions Nummer. Minuten später kam sie zurück. Ihr Gesicht war gerötet. Es war ihr etwas schwindelig. »Sie kommt um vier Uhr, zur Nachmittagsordination. Sie sagt, daß sie gern wieder einen Teil ihrer ehemaligen Pflichten übernimmt.«
Sie verstummte, den Kopf leicht zur Seite geneigt und blickte demütig zu Hassa empor. Uraltes Asien sprach aus ihren Augen. Hassa merkte es nicht. Er schritt zu ihr hin. Seine Hände umklammerten ihren Kopf. Er blickte in ihr zurückgeworfenes, gerötetes Gesicht und sagte fassungslos: »Asiadeh, du bist beinahe eine Heilige.« Asiadeh schwieg. Sie schämte sich sehr. Marion kam um vier. Sie streifte den weißen Kittel über. Ihr schönes Gesicht war verwirrt. »Alex«, sagte sie, »ich freue mich, dir behilflich zu sein. Für kurze Zeit natürlich. Bis du die Richtige gefunden hast. Du wirst sehen, ich habe noch nichts vergessen.« Sie ging durch die Wohnung und blieb in der Tür des Ordinationszimmers stehen, sie wunderte sich sehr, daß sie Herzklopfen hatte. Es dämmerte, als Asiadeh tänzelnden Schrittes und ganz allein im Kaffeehaus erschien. Ihre Lippen war gespitzt, und sie surrte ein türkisches Lied. Dr. Kurz kam ihr entgegen. »Ich hoffe, daß Ihr Mann mit meiner Empfehlung zufrieden war.« »Er hat die Person bereits hinausgeschmissen. Ich habe für ihn etwas Besseres gefunden.« Sie schwieg eine Weile und blickte Kurz mit spöttischem Lächeln an: »Marion hilft ihm aus, bis er das Richtige gefunden hat.« Lächelnd ging sie weiter und nahm allein an einem Fenstersitz Platz. Kurz kehrte zum Ärztetisch zurück. Sie sah, wie die Köpfe der Ärzte, gleich wogenden Ähren, sich zueinanderbeugten. Sie erriet erstauntes Geflüster. Die Köpfe wackelten wie bei chinesischen Götzen. Der Chirurg Matthes erhob sich vom Tisch. Er kam zu Asiadehs Fenstersitz und verbeugte sich. Er hatte graue Haare und ein feingeschnittenes Gesicht. Er setzte sich und blickte Asiadeh aufmerksam an.
»Verzeihen Sie«, sagte er, »es ist ja nicht meine Sache. Aber ich muß Sie warnen. Sie spielen mit dem Feuer, Asiadeh. Sie sind mir ein Rätsel. Man soll den Menschen die Sünde nicht allzu leicht machen, und hier wäre sie überhaupt zu vermeiden. Sie haben zuviel Vertrauen zu Marion oder zuviel Zuversicht. Man darf nicht derart mit eigenem Glück spielen. Sie nähren eine Schlange an Ihrer Brust.« Asiadeh lehnte sich an die Wand, hob ihren Kopf empor und schloß ihre Augen halb. Ihr Gesicht war weich und entspannt. Sie lachte kaum hörbar. Nur ihre Kehle zitterte. »Sie sind ein guter Mensch, Dr. Matthes. Das kommt daher, daß Sie chinesische Bücher sammeln und als Li Tai-pe zum Gschnas gehen. Ich danke Ihnen sehr. Marion ist eine arme Frau, der ich helfen will. Sie ist meine Freundin. Freundschaft ist doch etwas Heiliges, nicht wahr, Dr. Matthes? Nein, mein Mann wird mich nicht betrügen. Mich nicht. Ich bin sehr ruhig, Dr. Matthes.« Sie verstummte. Ihr Gesicht wurde plötzlich ernst. Sie blickte in die Spiegelscheibe des Kaffeehauses. Weiße Schneeflocken fielen vom Himmel. Die Baumäste grüßten die Fenster, unter der Last des Schnees gebückt. Sie rieb mit dem Handschuh das Glas. Die weiße Straße wurde immer breiter. Unmerklich ging der Schnee in Sand über. Grau und eintönig lag die Wüste vor ihren Augen. Brandgeruch stieg von der Erde auf, und Kamele kamen aus der Ferne und hatten wiegende Köpfe, wie Ähren im Wind. Sie blickte auf die Uhr. Hassas Ordination dauerte diesmal sehr lange.
27
Am frühen Morgen läutete das Telephon. »Merhabar, Hanum-Efendi«, »Guten Tag, gnädige Frau.« Asiadeh wurde sofort ganz wach. »Merhabar Hasretinis«, »Guten Tag, Hoheit.« Sie setzte sich im Bett auf Hassa wandte sich ihr zu und hörte verwundert die zwitschernden Laute. »Ist mein Haus schon errichtet, Hanum?« »Beinahe. Es fehlen nur noch einige Steine. Waren Sie am Grabe des heiligen Abdessalam?« »Natürlich, ich habe für Sie einen geweihten Rosenkranz mitgebracht. Ich nahm Abschied von der Wüste. Es war ein freudiger Abschied. Wann sehe ich Sie, Hanum?« Asiadeh verdeckte mit der Hand die Muschel. »Hassa«, sagte sie, »es sind die beiden Landsleute, die ich im Sommer angefahren habe. Einen davon kennst du. Sie sind wieder da und wollen mich sehen.« »Lade sie zum Nachtmahl ein«, sagte Hassa gleichgültig, »oder triff sie heute abend, beim Ball in der Burg.« Asiadeh nickte und hob die Hand von der Muschel. »Hoheit«, zwitscherte sie, »im Palast der Monarchen dieses Landes findet heute abend eine Versammlung der Weisen statt. Kommen Sie hin. Ich will Sie in den Palastsälen begrüßen.« Sie hängte auf. Hassa sprang aus dem Bett und zog sich rasch an. »Ich will noch schlafen, Hassa«, sagte Asiadeh, »ich… ich bin so müde.« Sie schloß die Augen. Hassas Schritte verklangen in der Ferne. Sie lag regungslos im Bett, und ihre Hände waren über
der Decke gefaltet. Der schwache Strahl der winterlichen Sonne fiel auf ihr Gesicht. Ihre Wimpern zitterten. Es war also so weit. John war aus der Wüste zurückgekommen, und sie wußte selbst nicht, ob das Haus schon fertig war. Sie öffnete die Augen. Das Zimmer war leer. Ein seltsames, dehnendes Gefühl erfüllte sie. Es war ihr, als wenn die Gegenstände im Zimmer langsam in ihr aufgingen und verschwänden. Sie blickte vor sich hin. Der Sonnenstrahl brach sich im Spiegel. Die Luft war plötzlich sichtbar geworden, beinahe greifbar und bunt. Asiadeh erhob sich und schlüpfte in die Morgenschuhe. So saß sie am Rande des Bettes und fühlte ein Zittern in ihren Armen. Sie hatte plötzlich Angst, den Kopf zu heben und sich umzuschauen. Das Zimmer, die Schränke, die Tische, die Stühle drückten auf ihre Schultern. Das lackierte Holz blinzelte sie an, mißtrauisch und fremd. Sie ging zum Schrank. Die polierte Holzplatte erfüllte sie mit unverständlichem Schrecken. Sie öffnete hastig die Schranktür. Eine dunkle, kühle Höhle starrte ihr entgegen. Kleider hingen in Reih und Glied und glichen Soldaten auf einer Parade. Asiadehs Hände berührten die bunten Fetzen. Jedes Kleid hatte einmal ihren Körper umhüllt, und an jedem Kleid war ein Stück ihres Daseins haftengeblieben. Als stumme Wache standen die Kleider am Weg ihres Lebens. Hier, an diesem bunten Stück Seide schlug ihr Herz, als sie mit Hassa zum Stölpchensee fuhr und er ihr einen Badeanzug kaufte. Das sommerliche Nachmittagskleid daneben barg die Erinnerung an einen Fünf-Uhr-Tee auf dem Semmering, an einen Autozusammenstoß und an einen fremden Mann, dem sie eine zerrissene Dollarnote ins Gesicht geworfen hatte. In der wirren Buntheit der Kleider las Asiadeh die Geschichte ihres Lebens. Das blaue Kostüm, das sie in
Sarajewo trug, hatte noch den Geruch des Orients in seinen Falten bewahrt. Daneben zerknüllt und bunt – das Zigeunergewand vom Gschnas. Und ganz vorn – unberührt und jungfräulich – das weißseidene Abendkleid ohne Rücken und ohne Ärmel. Ein Ballkleid – schillernd und nie getragen, für die Prunksäle der Hofburg bestimmt. Asiadeh schob das Kleid zur Seite. Es war die Uniform für eine Schlacht, aber zum Angriff war noch nicht geblasen. Ihr Blick fiel auf ein einfaches dunkles Kostüm. Es hing ganz hinten. Liebevoll berührte sie den einfachen Stoff. Sie hatte es in den langen Bibliotheksstunden getragen, als sie die Geheimnisse der fremden Laute erschloß und Hassa an der Ecke im Auto saß und auf sie wartete. Asiadeh schob ihre Hand in die Brusttasche des Kostüms. Ein zerknüllter Papierfetzen kam zum Vorschein. Asiadeh betrachtete ihn verwundert. Sie hatte keine Ahnung mehr, wann sie dieses Papier in die Tasche geschoben hatte. Sie entfaltete es und las bestürzt: »Was man dir bietet, kommt und geht. Nur das beglückende Wissen bleibt. Alles, was die Welt enthält, endet und schwindet. Nur das Geschriebene steht fest, alles andere fließt dahin.« Sie errötete heftig. Sie entsann sich genau der stillen Bibliothek und des aufgeregten Mädchens, das das Buch vom »Beglückenden Wissen« aufgeschlagen und in den verschnörkelten Linien der alten Schrift das Geheimnis ihres Lebens zu enträtseln versucht hatte. Sie legte das Papier behutsam zurück. Es war kaum noch zu glauben, daß sie selbst das aufgeregte Mädchen war. Sie schloß den Schrank. Ein alter persischer Spruch fiel ihr ein. Sie ging in das Badezimmer, aber der Spruch ging mit. Sie stieg mit ihm in das weiche duftende Wasser, und er begleitete sie zum Ankleidezimmer,
zum Toilettentisch und zum Frühstück. Traurig und gedankenverloren wiederholte sie: »Nur die Schlangen streifen ihre Haut ab, damit die Seele erblüht und altert. Wir Menschen ähneln nicht den Schlangen. Wir streifen die Seele ab und behalten die Haut.« Stunden vergingen wie Perlen an einem Rosenkranz. Um halb zwei Uhr kam Hassa. Er brachte Orchideen mit, die bunten kriechenden Schlangen glichen. »Für heute abend«, sagte er und überreichte die Orchideen Asiadeh. Sie aßen zu Mittag. Hassa löffelte die Suppe und sprach von Rehrücken in Rahmsauce und von Italien, wohin er im Frühjahr mit Asiadeh reisen wollte. »Es wird sehr schön sein«, sagte er und Asiadeh nickte. »Ja, es wird sehr schön sein.« Plötzlich legte Hassa den Löffel weg. »Freust du dich auf deine Landsleute auf dem Ball?« Asiadeh schlug die Augen auf. Hassas Gesicht war verdächtig harmlos. »Natürlich, Hassa, sehr!« »Ich weiß schon«, lachte Hassa, »du wirst den ganzen Abend türkisch sprechen, und ich werde kein Wort verstehen und einsam sein.« Hassa sprach, und seine Augen blickten fromm zur Decke empor. »Ich meine nur… so ein Fest ist immer so steif. Wenn du mit deinen Türken zusammen sein willst, was soll dann ich tun? Kurz wird übrigens auch da sein. Hättest du was dagegen, wenn er, hmhm, ich meine, wenn er Marion mitbrächte? Natürlich nur, wenn es dir angenehm ist.« Hassa sprach hastig und blickte immer noch zur Decke empor. Er wußte selbst nicht, daß er rot wurde. »Aber natürlich, Hassa. Die arme Marion! Sie hat so wenig vom Leben. Sie soll mit Kurz kommen.«
Asiadeh blickte zum Fenster. In ihren Ohren erklang der Laut der Trompete, die zur Attacke blies. Der Abend kam. Die große Burgfassade erglänzte im Licht der Scheinwerfer. Die Muskeln der steinernen Titanen an der Fassade badeten im grellen Licht. Festlich und stolz blickte die Burg auf den lichtübergossenen Platz. Sie war alt und abgeklärt. In ihren Sälen entschieden sich einst die Schicksale von Staaten, Völkern und Geschlechtern. Alte Schatten vergangener Tage fielen über ihre Stiegen. Einst sah sie Feste, würdige Empfänge und geheime Kabinettssitzungen, einst spiegelten sich in ihren Wandspiegeln die Umrisse von Prinzen und Höflingen. Die Gegenwart war ihr fremd, und gleichgültig blickte sie auf die lackierten Kästen, die zum mächtigen Portal hineinfuhren, auf die Menschen, die unten auf dem Platz standen und die Gesichter zu ihr emporhoben. Sie wunderte sich über nichts, sie dachte an nichts. Sie träumte. Und aus ihren Träumen stiegen verborgene Geheimnisse auf, Schicksale und Taten blitzten auf. Wogenartig rollten die Geschehnisse ab, wie in einem gleichnishaften magischen Reigen. Traumverloren und gelangweilt strahlte die Burg über den Platz. Gleichgültig blickte sie auf Marion, die, in Pelz gehüllt, neben Kurz dahinschritt, gleichgültig blickte sie auf Asiadeh, auf Hassa, auf die beiden Fremden im Frack, auf die flache und fremde Welt, die sich unter ihren Füßen ausbreitete und zu ihr emporstrebte. Über die breite Freitreppe strömten die Gäste. Lakaien in alter Hoftracht standen auf den Stufen mit versteinerten und traurigen Gesichtern. Durch das marmorne Foyer schritten befrackte Lebemänner und Würdenträger mit vollem Ordensschmuck. Im großen Tanzsaal kreisten die Paare. Schrill und fremd klangen die Rhythmen der Musik. Die Klänge stiegen zur Decke empor, prallten an den
Marmorwänden ab und füllten den Raum mit den neuesten Schlagern. In der Ecke, an eine Marmorsäule gelehnt, stand ein ordenbehängter Greis, auf einen schwarzen Stock gestützt. Sein Gesicht war leidend und gefurcht. Die kleinen grauen Augen starrten in die Ferne. Vielleicht entsannen sie sich der Nächte, als dieser Saal im gelben Wachslicht der unzähligen Kerzen erstrahlte. Die Spiegel warfen damals das Kerzenlicht in den Saal und die Strahlen brachen sich an den Edelsteinen der Damen. Über das Parkett glitten Höflinge in goldgestickter Tracht, und durch den Saal schritten die Erzherzöge, geschmückt mit den Insignien des Goldenen Vlieses. Still und einsam starrten die grauen Augen in die Ferne. Vielleicht erinnerten sie sich auch an gar nichts. Sie waren alt und müde, abgeklärt wie die Fassade der Burg. Lautlos glitten die Paare über das Parkett. Manchmal erklang das silberne Klirren der Sporen. Die bunten Uniformen bewegten sich im wogenden Rhythmus des Walzers. Ein Mann mit weißem Schnurrbart stand am Eingang, und an seiner Brust blitzte der Maria-Theresien-Orden. Der Mann hatte lächelnde Augen, und seine Fußspitze schlug auf das Parkett im Takte des Walzers. Ehre und Ruf hatte dieser Mann einst in die Waagschale des Glücks geworfen. Am Isonzo oder in den Karpaten oder auf den blutbefleckten Feldern Flanderns. Jetzt stand er da, der Maria-Theresien-Orden blitzte auf seiner Brust, und seine Augen lachten. Mit würdig rhythmischem Schritt gingen die Gäste durch die Räume der Burg. Im kleinen Saal spielte die englische Kapelle. In den Gängen standen kleine Tische, und die Hoflakaien servierten mit gelassen feierlichen Gesichtern. Links am Ende des roten Saales saß Hassa. Asiadeh saß neben ihm, und ihre Augen waren klein und geschlitzt. Gierig
atmete sie die Luft des alten Palastes ein. Schattenartig wölbte sich über dem Raum die jahrhundertelange Vergangenheit. »Der römische Kaiser«, sagte sie leise und dachte an die Welt, die einst in zwei Teile zerfiel. Die Welt des Wiener Cäsars und die Welt des Istanbuler Kalifen. »Wir sind zu früh gekommen«, sagte Hassa, »deine Türken sind noch nicht da und Kurz auch nicht. Vielleicht suchen sie uns und können uns nicht finden.« Er blickte schüchtern in Asiadehs Augen, und seine Hand umklammerte das Sektglas. »Man wird uns finden«, sagte Asiadeh ruhig. Sie hörte immer noch den Ruf der Trompete, die zur Attacke blies… Sie hob den Kopf. In der Tür standen John Rolland und Sam Dooth. Sie winkte ihnen zu. Langsam schritten die beiden durch den roten Marmorsaal. Sie traten an den Tisch heran und verbeugten sich. John drückte Hassas Hand, seine Bewegungen hatten etwas Katzenartiges und Lauerndes. Die beiden nahmen Platz. Hassa füllte die Gläser. John saß regungslos im Stuhl und blickte auf Hassas Stirn. Seine Augen waren ausdruckslos und kalt. »Meine Frau hat mir von Ihnen erzählt«, sagte Hassa, »ich freue mich, Sie zu sehen. Ihr Beruf und Ihr Name zeigen, daß auch Sie die verstaubten Gewänder Asiens abgestreift haben, um in der Welt der westlichen Kultur aufzugehen. Meine Frau dagegen würde auch heute noch am liebsten auf dem Boden sitzen und vom Boden essen.« Er lachte. John sah ihn lange an. Plötzlich nickte er: »Ich weiß, was Sie meinen. Sie meinen, daß es ein Zeichen tiefer Unkultur ist, auf dem Boden zu sitzen und vom Boden zu essen. Aber der Boden – er ist die diesseitige Heimat des Menschen, von der er sich nicht trennen sollte. Der Mensch kommt von der Erde und braucht sie nicht zu verleugnen. Im Gegenteil: er soll den Klumpen, von dem er stammt, in sein
geistiges Streben einbeziehen. Ein Mensch in Asien fühlt seine Erdgebundenheit und demütigt sich freudig vor dem Boden, der ihn geschaffen hat. Es ist wie ein ewiger, geheimnisvoller Strom, der von der Erde kommt und den Menschen befruchtet. Deshalb beten wir auch auf dem Boden sitzend und berühren mit dem Gesicht die Erde, zu der wir einst werden sollen.« John schwieg. In der Ferne spielte die englische Kapelle. Sam blickte durch das Sektglas zu Asiadeh. Sie saß still da, und ihre Augen streiften von John zu Hassa. Die Attacke war in vollem Gange. »Ja«, sagte Hassa, »ich kenne die Gebete unter den gewölbten Kuppeln der Moscheen. Aber der Mensch, der von der Erde stammt, strebt zum Himmel. Diesem Streben verdankt er, daß er aufgehört hat, Tier zu sein. In der Sprache der äußeren Formen heißt dieses Streben – der gotische Dom. Er ist edler als alle erdgebundenen Moscheen mit plumpen breiten Kuppeln.« John nickte. Seine Blicke waren auf Asiadeh gerichtet. Er sah ihre kurze, leicht abstehende Oberlippe und ihre Augen, die jetzt wie graue Asche waren. »Die Moschee«, sagte er, »ist der in Stein geformte Geist Asiens. Unzählige fremde Augen sahen die Moscheen, aber kein Ungläubiger vermochte die Symbolik des Hauses zu erfassen. Niemand begriff die Idee der Kuppel, des kubischen Grundbaues, des vielkantigen Zwischenstückes und des Flammensymbols des Minaretts. Überall im Orient sind die Gotteshäuser in diese vier Teile gegliedert und überall stellen sie dasselbe dar: den jenseitigen Geistesmenschen, der seine irdische Erscheinungsform, durch Vermittlung der beiden sich gegenseitig durchdringenden Welten zur Grundlage des göttlichen Erlösungswillens macht. Sie haben recht – der Moschee fehlt das einmalig Lineale und die heftige Bewegung der Gotik. Ihr Schwergewicht ruht auf dem breiten klaren
Boden, der in gleichem Maße vom Kunstwillen überformt ist wie das Gewölbe, das sich über dem Boden schließt und eint.« Hassa schüttelte heftig den Kopf. »Der Moschee fehlt jeder erschütternde Aufriß zur Höhe«, sagte er, »ebenso wie es eurer Malerei an jeder lebendigen Darstellung fehlt. Eine traurige Welt – eine Welt ohne Bilder.« John nickte höflich und nippte am Sekt. »Sie haben recht. Asien ist jenseitsbetont. Europa ist diesseitsbetont. Deshalb braucht Europa lebendige Darstellung, lebendigere Geschöpfe. Asien sucht den Ausdruck der letzten Dinge ohne Verwendung des Figuralen. Das direkte Formsymbol, das die platonische Idee der Dinge ohne Umweg über menschliche oder tierische Körperformen gestalten soll, verzichtet auf die Darstellung des Lebendigen und also Vergänglichen.« Hassa sah John erstaunt an. »Ich bin anderer Meinung«, sagte er, »deswegen wohne ich in Wien. Wäre ich Ihrer Meinung, so würde ich in Sarajewo wohnen. Das äußere Sein muß mit dem inneren Bewußtsein im Einklang stehen. Ich stehe im Bannkreise Europas und bin den östlichen Dingen abgewandt. Aber Sie – Sie sind Filmautor in New York und tragen die Seele Asiens in sich. Wie überbrücken Sie diesen Zwiespalt?« Hassa sprach langsam und etwas spöttisch. Es war sehr einfach, für den Staub Asiens zu schwärmen, wenn man in Amerika wohnte. Sam rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er wußte sehr wohl, auf welche Art John den Zwiespalt zwischen dem Sein und dem Bewußtsein überbrückte. Aber John lächelte und blickte harmlos zu Hassa hinüber. »Die Heimat!« sagte er. »Solange man sie hat, gibt es keinen Gegensatz zwischen äußerem Sein und innerem Bewußtsein. Früher dachte ich anders. Aber ich war ein Verirrter in der Welt der äußeren
Formen. Die Heimat ist nicht das Badezimmer, in dem man zu baden gewohnt ist, auch nicht das Kaffeehaus, das man immer besucht. Die Heimat – das ist die seelische Struktur, die vom heimatlichen Boden einmalig geschaffen wurde. Die Heimat ist immer da, sie ist immer im Menschen. Der Mensch steht im Banne der Heimat, solange er lebt, und ganz gleich, wo er lebt. Ein Engländer fährt in den afrikanischen Busch, und das Zelt, in dem er schläft, ist England. Ein Türke fährt nach New York, und das Zimmer, das er bewohnt, ist seine Türkei. Die Heimat und die Seele verliert nur derjenige, der beides nie besessen hat.« Hassa konnte den Hieb nicht parieren. Marion und Kurz traten an den Tisch. »Da seid ihr! Und wir suchen euch seit einer Stunde.« Marions Stimme war, wie immer, weich und melodisch. Plötzlich brach sie ab. Sie erblickte John Rolland, und ihr schöngeschwungener Mund blieb offen. Angst zeigte sich in ihren Augen. »Ahh«, sagte sie gedehnt und schüchtern, »ich glaube…« Sie sprach nicht weiter. Sie war überzeugt davon, daß John gleich aufspringen und ihr mit strenger Stimme befehlen werde, auf der Stelle einen Bauchtanz zu tanzen. Aber John sagte nichts. Er erhob sich und verbeugte sich steif. Er hatte die Szene am Semmering noch sehr klar im Gedächtnis. Kurz und Marion nahmen Platz. Mit entgeisterten Gesichtern blickten sie auf Rolland. »Asiadehs Landsleute«, sagte Hassa, »Herr Rolland ist ein bekannter Filmautor.« Dr. Kurz nickte fassungslos. Ja, so was kam vor. Typische Bewußtseinsspaltung. Gehört in die Anstalt. Einmal bildet er sich ein, Prinz zu sein, das andere Mal Filmautor. Casus gravissimus. Prognose ungünstig.
Kurz schielte verstohlen zu Hassa hinüber. Es gehörte die ganze Ignoranz eines Laryngologen dazu, nicht sofort zu begreifen, daß dieser Mann ein Irrer war. Typische Schädelformationen, dachte Kurz und machte geheimnisvolle Gesten in der Richtung Sams, den er für den Irrenwärter hielt. Aber der Irrenwärter schien ihn nicht zu verstehen. Plötzlich erhob sich John. Marion zuckte entsetzt zusammen. Aber es geschah nichts. John verbeugte sich förmlich vor Asiadeh und forderte sie zum Tanz auf. Asiadeh folgte ihm. Sie war offensichtlich instinktlos genug, um mit dem entsprungenen Insassen einer Irrenanstalt zu tanzen. Als die beiden in die bunte Menge der tanzenden Paare tauchten, räusperte sich Kurz und beugte sich zu Sam: »Geht es dem Herrn schon besser?« Sam blickte ihn ärgerlich an: »Viel besser, und bald wird es ihm ganz ausgezeichnet gehen.« Es klang orakelhaft. Marion blickte schutzsuchend auf die beiden Ärzte. »Ein Tobsüchtiger«, flüsterte sie Hassa zu, »ich kenne ihn. Er hat mich einmal attackiert. Wie kannst du Asiadeh mit ihm tanzen lassen?« Hassa blickte bestürzt auf: »Ein Tobsüchtiger?!« »Nein, nein«, Sam Dooth wurde sehr lebendig, »man darf ihn nur nicht reizen. Dann ist alles gut. Er ist etwas nervös.« Hassa erhob sich. »Ich komme gleich«, sagte er besorgt. Er ging durch den Saal. Auf dem breiten Parkettboden kreiste leicht vorgebeugt, mit starrem und strengem Gesicht John Rolland. Seine Hand umfaßte fest Asiadehs Taille. Ihre Augen waren halb geschlossen. »Ist mein Haus fertig, Hanum?«
»Fast fertig. Es fehlt nur noch ein Stein.« »Wer wird es bewohnen?« »Wir beide.« »Und die Heimat?« »Sie wird immer mit uns sein.« Sie sah ihn an. Er lächelte zum erstenmal, seit sie ihn kannte. Am Tisch im roten Saal ertönte ein hastiges Geflüster: »Wie konnten Sie es wagen, mit einem Irrsinnigen zum Ball zu gehen?« zischte Kurz. »Ich kann Ihnen nicht antworten«, zischte Sam zurück, »Sie verlangen für jedes Wort Honorar.« Er blickte böse drein. John war ein Narr. Jetzt würden sie ihn einsperren, oder er mußte sagen, daß er eine fremde Frau entführen wolle. Sam leerte sein Sektglas und machte ein unnahbar überhebliches Gesicht. Kurz und Marion flüsterten aufgeregt miteinander. Plötzlich verstummten sie. John Rolland stand beim Tisch. »Herr Dr. Hassa tanzt mit seiner Frau. Darf ich Sie bitten?« Er verbeugte sich vor Marion. Marion erblaßte: »Ich… danke, ich tanze nicht.« John setzte sich hin und lachte, wie ihn Sam noch nie lachen gesehen hatte. »Ihr haltet mich für einen Wahnsinnigen«, sagte er, »ich muß mich wirklich entschuldigen. Damals am Semmering habe ich mich seltsam benommen. Aber ich bin wirklich nicht wahnsinnig.« »Typisch«, flüsterte Kurz Marion zu, »aber im Grunde harmlos.« Marion nickte, und John bestellte Sekt. Hassa kam. Asiadeh hing an seinem Arm, und ihre Augen waren immer noch halb geschlossen. Vielleicht war es der letzte Tanz, den sie mit Hassa in diesem Leben getanzt hatte. Sie sah die Orchideen an ihrer Brust. Sie waren plötzlich schwer und drückend wie
große Steine. Langsam nahm sie eine Orchidee von ihrem Kleide und übergab sie Marion. »Für Sie«, sagte sie mit jäh aufsteigender Wärme. Sie beugte sich vor und befestigte die Orchidee an Marions Brust. Marion dankte und flüsterte ihr zu: »Asiadeh, nehmen Sie sich in acht vor diesem Türken. Er ist nicht ganz recht im Kopf. Ein Irrer. Er überfällt Frauen.« Asiadeh blickte Marion an. Ihre Augen streiften zu Hassa hinüber, der sie einst im Auto geküßt hatte, und zu Kurz, der kein Irrer war und also auch keine Frauen überfallen durfte. Sie lachte: »Ich weiß – er ist ein Irrer, aber nicht weil er Frauen überfällt. Ich glaube, er kann Frauen ganz gut verteidigen.« Marion zuckte mit den Achseln. Kurz erhob sich. Er hatte am Tage genug mit Irren zu tun. Abends konnte er sie entbehren. »Es ist spät geworden«, sagte er, »wollen wir gehen?« Hassa nickte. Sie gingen durch die Säle, die Freitreppe hinab. Unten, in einer dunklen Seitengasse, parkten die Autos. Der kleine Wagen Hassas und Johns gemietete Limousine. »Wir bringen dich heim, Kurz«, sagte Hassa, »und Marion natürlich auch.« Er blieb stehen. John zog den Zylinder. Er verabschiedete sich höflich und steif. Er stand im Schnee und drückte Hassas Hand. Plötzlich rief Asiadeh in einer fremden, aber dem Prinzen allzu verständlichen Sprache: »Kaiserliche Hoheit! Dieser Mann da – sie deutete auf Kurz – hat mich in sein Haus gelockt und wollte mir Gewalt antun, während mein Mann im Nebenzimmer war.« Der Zylinder fiel aus Johns Händen. Seine Augen blitzten wild und tierisch auf. Die Lippen zuckten. Er ballte die Faust und schlug mit einem jähen Hieb in Kurz’ Gesicht. Kurz taumelte. Der Schlag wiederholte sich. Johns Körper war gespannt. Das Gesicht rasend. Er schlug mit kurzen, heftigen Schlägen. Seine Haare
fielen in die Stirn. Im kalten mondübergossenen Schnee glich er einem wilden Steppenwolf auf nächtlicher Jagd. »Hilfe«, stöhnte Kurz. Hassa stürzte sich auf John. Sam fuchtelte mit den Händen. Vom Platze her eilten zwei Schutzleute herbei. John riß sich los. Mit einem wilden Sprung erreichte er den Wagen. Sam sprang hinterher. Der Wagen raste davon, noch bevor die Polizisten ankamen. Kurz lag im Schnee mit wut- und schmerzverzerrtem Gesicht: »Ein Tobsüchtiger«, keuchte er, »ein Irrer. Ich hab’ es gleich gesagt. In die Zwangsjacke mit ihm.« Asiadeh stand daneben. Ihre Füße versanken im Schnee. Sie schwieg. Sie lächelte still und versonnen. Der letzte Stein zu ihrem Hause war gelegt.
28
»Im Namen Gottes! Hochverehrte Exzellenz, treuer Vater Achmed-Pascha! Die Welt ist groß, und viel Land trennt mich von Dir. Aber Raum und Zeit – was sind sie vor dem Throne Allahs?! Ein Papier, ein Briefumschlag, eine Briefmarke, und Raum und Zeit sind überbrückt und Du liest die Gedanken Deiner Tochter, die Dir in tiefer Verehrung zugetan ist. Wisse – o Vater! – Großes hat sich in der Stadt Wien ereignet und groß sind die Wunder des Herrn. Siehe – bevor mein Herr und Gebieter das Auge seiner Gunst auf mich warf, teilte mit ihm seine Nächte eine schöne Sklavin namens Marion. In sündhafter Lust verließ sie aber ihren Herrn und zog durch das Land in die Stadt Salzburg, wo sie ein unkeusches Leben führte in den Armen eines fremden Mannes. Da erbarmte sich der Allmächtige meines Mannes – des Herrn Dr. Alexander Hassa – Friede sei mit ihm – und sandte ihm mich als Sklavin und Trösterin im Tale des irdischen Jammers. Ich lebte mit ihm und diente ihm, o Vater, wie es meine Pflicht war und wie Du es mich gelehrt hast. Und meine Pflicht war Lust und Freude zugleich, denn die Augen meines Mannes lachten, wenn er mich sah oder meine Augen oder meine Lippen oder meinen Busen. Unerforschlich sind aber die Wege Allahs! Er straft und richtet, und die Menschen sind nur Werkzeuge in der Hand der Vorsehung. Einen Berg gibt es in der Nähe der Stadt Wien – Semmering geheißen. Auf diesem hohen Berg haben menschliche Hände – mit Gottes gütigem Beistand – ein Haus der Erholung errichtet.
Einst war ich dort. Aber es gab kein Erholen für mich in diesem Haus, denn dort traf ich Marion, die unkeusche Sklavin meines Herrn. Große Wut erfüllte mich damals. Ich verließ das Haus, denn es ist der Tochter eines Paschas unwürdig, mit einer Buhlerin und Ehebrecherin unter einem Dach zu verweilen. Da strafte mich Gott für meinen Stolz und sandte mir große Prüfungen auf den Weg. Denn siehe – Vater –, es war eine Prüfung, dem Mann zu begegnen, dem ich zugesprochen war und für den ich einst arabische Gebete und persische Gedichte lernte. Doppelt schwer war aber die Prüfung, weil John Rolland meine Liebe erweckte und sündhafte Gedanken in mir aufstiegen, obwohl mein Mann zu Hause im Bett lag und auf mich wartete. Gott schützte mich aber vor der Sünde, und ich betrat nicht den Weg der Unkeuschheit und der Schande. Gott ist gerecht, und sein Zorn entlud sich über Marion, der die Pforte der Hölle offenstand. Ich erfuhr, daß der Mann, mit dem sie sich in sündhafter Liebe verband, sie verlassen hatte und daß sie einsam und allein dastand, obwohl sie eine sehr schöne Sklavin ist, in den Künsten der Liebe und des Lebens bewandert. So blieb ich bei meinem Herrn und Gebieter, aber meine Augen wurden wach und meine Sinne gespannt. Das Leben, o Vater, das die Ungläubigen führen, ist schön und gut für die Ungläubigen. Für eine Frau aus Istanbul ist aber dieses Leben weder schön noch gut. Es gibt zuviel Männer in diesem Leben und zuwenig Kinder. Während es bei uns immer umgekehrt war, zuwenig Männer und zuviel Kinder. Doch sind die Männer hier wie Kinder, wie aber die Kinder sind, das weiß ich nicht, denn ich habe keine gesehen. Staune, Vater, ein fremder Mann wagte mich zu küssen, und mein eigener Mann lachte dazu, obwohl er ein guter Mann ist
und kein Verschnittener. So seltsam sind hier die Sitten der Menschen!! Unerforschlich sind aber die Wege Allahs. In seinem Zorn strafte er die Buhlerin Marion, und in seiner Gnade errettete er sie wieder. Zum Werkzeuge ihrer Rettung wurde aber ich bestimmt, doch großes Erstaunen erfüllt mich – denn andererseits war auch Marion nur ein Werkzeug, um mich aus der Welt des Unglaubens zu den Zeiten des Friedens zu bringen. Wir beide waren nur Werkzeuge in der Hand des Allmächtigen. Doch während ich mit offenen Augen ans Werk ging, war Marion mit Blindheit geschlagen und weiß auch heute noch nichts von den Gedanken, die mich erfüllten. Und das ist gut so – o Pascha –, denn es muß einen Unterschied geben zwischen einer Prinzessin aus Istanbul, die ihrem Mann die Treue hält, und einer Sünderin, die ihrem Mann durchgeht. Es vergingen Tage, und ich saß an einem Tisch mit Marion und blickte in ihre Augen und prüfte ihr Herz. Es vergingen Nächte, und ich lag neben meinem Mann und blickte in seine Augen und prüfte sein Herz. Doch während dieser Tage und dieser Nächte war John Rolland in der Wüste und wälzte sich im Staube vor Allah, und ich versuchte nicht, an ihn zu denken, obwohl ich immer wieder an ihn dachte. Nein, o Pascha und Vater! Nie wäre ich John gefolgt, wenn ich das Schicksal meines Herrn und Gebieters Dr. Alexander Hassa – Friede sei mit ihm – nicht in sicheren Händen wüßte. Doch Marions Hände sind jetzt sehr sicher, und sie wird ihm eine gute Frau sein, ergeben und dankbar für die Gnade, die ihr mein Herr erweist. Doch verirre ich mich im Labyrinth der Worte, Vater, und Du weißt immer noch nicht, was sich in Wien ereignet hat und wie seltsam das Leben mit den Menschen umgeht. Es war im Palast der alten Monarchen. Die Säle waren festlich beleuchtet, und die Menschen tanzten. Es gab viele
Uniformen, die Wände waren aus Marmor, es gab viele Spiegel und viele Bilder, und ich erkannte, daß die Monarchen dieses Landes ganz anders lebten als unsere Herren – die Sultane – in den Palästen von Ildis Kiosk oder Eski Serai. Wir alle waren da an einem Tisch versammelt. Aber nur ich wußte um die Geheimnisse, die in uns waren, und es war mir, als hörte ich den klagenden Ruf der Trompete, die zur Attacke bläst. Dann standen wir im Schnee auf der Straße, und ich sah, daß John wirklich der richtige Mann ist, um die Liebe einer Prinzessin aus Istanbul für immer zu gewinnen. Denn er schlug ins Gesicht des Dr. Kurz, den Du nicht kennst, o Vater, aber der ein Schurke ist, glaub es mir!! Er schlug also in das fremde Gesicht und war wie ein grauer Wolf auf nächtlicher Jagd. Dann war er plötzlich verschwunden, wir brachten Kurz heim, und alle waren böse mit mir, mit meinen Sitten und mit meinen Freunden. Wir gingen nach Hause, und mein Herr und Gebieter sprach sehr bittere Worte. Er nannte mich eine Wilde und sagte, daß ich ihm Schande mache und ihm große Sorgen bereite. Ich lag im Bett und schwieg, denn er hatte mir große Sorgen bereitet, auch wenn er es nicht wußte, und er wäre jetzt sehr einsam und sehr unglücklich, wenn ich keine Wilde wäre. So lag ich denn also und schwieg, denn ein Weiser braucht keine Anerkennung. Dann kam ein sehr aufregender Tag, Pascha. Denn zuerst kam Marion und zog den weißen Kittel an, um meinem Mann zu helfen, Krankheiten aus fremden Körpern zu vertreiben. Es kamen Kranke, und Hassa vertrieb ihre Krankheiten. Ich aber saß im Nebenzimmer und hörte immer noch den klagenden Ruf der Trompete, die zur Attacke bläst. Dann waren die Kranken gegangen, aber Marion war immer noch drin – im Zimmer des Schmerzes – und mein Mann auch.
Es war ganz still, und plötzlich hörte ich, wie mein Herr und Gebieter über mich klagte, weil ich eine Wilde bin und die Welt des Westens nicht begreifen kann. Auch Marion sprach, aber sie sprach leise, und ich verstand sie nicht, o Vater! Nun wurde es ganz still und unheimlich. Mein Herz schlug sehr heftig, Pascha, denn ich bin erst einundzwanzig Jahre alt und an die Tücken des Lebens nicht gewöhnt. Aber ich erbte von Dir einen klaren Kopf, Vater und Exzellenz, und ich werde Dir dafür immer dankbar sein. Ich schlich an die Tür heran und horchte. Ich hörte nicht viel, aber das, was ich hörte, genügte mir. Ich öffnete die Tür. Marion saß im Sessel, in dem sonst die Kranken sitzen, und ihr Kopf war an das weiche Lederpolster gelehnt. Das Licht fiel auf ihr Gesicht. Ich sah sie ganz deutlich. Sie war sehr schön und hatte glänzende Augen. Hassa stand neben ihr. Er umfaßte ihren Kopf und er küßte ihre Lippen, ihre Augen, ihre Wangen und ihre Nase. So, Vater, das sah ich also, und mein Herz klopfte heftig, obwohl ich ganz ruhig sein wollte. Aber der Mensch kann einen klaren Kopf haben und ein dummes Herz. Dann trat ich in das Zimmer ein und schloß die Tür. Die beiden waren sehr erschrocken. Mein armer Herr und Gebieter blickte weg, und Marion sprang auf und richtete sich die Haare. Ich stand im Zimmer und blickte sie an, denn ich wußte nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Dann weinte ich ein wenig, denn ich bin eine Frau, die an das Leben noch nicht gewöhnt ist. Als aber Hassa zu mir trat und mich trösten wollte, wischte ich die Tränen ab und hob den Kopf. Ich sprach irgendwelche Worte, aber ich weiß nicht mehr genau, welche es waren. Die beiden sahen mich erstaunt an. Dann lachte ich, und Marion lachte auch. Nur Hassa lachte nicht, denn er ist ein Mann und
hat ein Gewissen. Aber ich streichelte ihm die Haare und sprach mit ihm, und sein Gewissen wurde klein und kleiner. Das, o Vater, sind die Ereignisse, die Gott in seiner Weisheit über uns kommen ließ, und ich weiß nicht, wer von uns Gottes Werkzeug war. Ich glaube, wir alle waren es. Nun aber, da ich um Hassas Schicksal beruhigt war, zog ich zu John Rolland. Er sitzt jetzt neben mir, sein Gesicht lächelt, und er sagt mir das wahre Wort unseres Propheten: ›Der beste Schatz des Mannes ist eine tugendhafte Frau.‹ Glaube mir, Vater, ich war tugendhaft, ich bin tugendhaft, und ich werde es immer bleiben. Nur dumme Frauen betreten den Weg der Sünde, eine kluge denkt nach und versteht die Sünde zu meiden, um kein Unheil auf andere Menschen und auf sich selbst herabzubeschwören. Denn vieles liegt in der Hand der Frau. Glück und Unglück, Leben und Tod. Klug muß eine Frau sein, um den schmalen Weg der Tugend zu meistern und um allen Menschen ruhig in die Augen blicken zu können. Und jetzt, o Vater, reise ich mit John in das ferne Land jenseits des Ozeans. Aber die Heimat reist mit uns, denn wir tragen sie in uns, in unseren Armen, in unseren Augen, in unseren Gedanken, in unseren Kindern, die – so Gott hilft – in New York zur Welt kommen werden. Ein dicker Mann namens Perikles reist auch mit. Seine Familie stammt aus dem Phanar. Er ist sehr bewandert in den Dingen des äußeren Lebens. So sind wir alle unterwegs, Vater. Hassa ist mit Marion unterwegs, ich mit John, und auch Perikles ist unterwegs, und mein erstes Kind ist gleichfalls unterwegs, aber es klopft noch nicht mit den Beinen an meinen Leib, denn es ist noch zu früh dazu. Auch Du, Vater, sollst Dich jetzt auf den Weg begeben in die Stadt Bremen, wo wir uns treffen werden, um alle gemeinsam ans Ende der Welt zu fahren. Denn John meint, daß das Haus eines osmanischen Prinzen nicht voll ist, wenn kein Pascha
darin wohnt. Und er hat recht. Du mußt bei uns wohnen, um unseren Kindern die Gebote des Glaubens und der Sittsamkeit beizubringen, damit sie nie vergessen, daß ihre Ahnen einst von den gelben Hügeln Turans kamen und drei Kontinente bezwangen. Ich schließ jetzt, Achmed-Pascha. Ich habe von Hassa und Marion Abschied genommen und das Glück in ihren Augen gesehen. Jetzt muß ich noch einmal in ein Kaffeehaus gehen, das am Ring gelegen ist. Ich werde einen Kaffee trinken und die erstaunten Gesichter vieler Ärzte sehen, die über Tod und Leben entscheiden, aber kindlich und unbeholfen sind in der Welt der Gefühle. Ich weiß, daß es nicht gut ist, über andere Menschen zu spotten. Aber die Menschen im großen Kaffeehaus haben oft über mich gespottet, und ich bin erst einundzwanzig Jahre alt und will mir vor der Abfahrt noch eine kleine Freude gönnen. Deshalb gehe ich in das Kaffeehaus und drücke jedem die Hand und blicke in ihre erstaunten und enttäuschten Augen. Denn sie hofften alle, meine Tränen zu sehen und müssen statt dessen mein Lächeln erleben. Groß sind die Wunder des Herrn, Pascha, und unerforschlich sind die Wege Allahs. Wir erwarten Dich in der Stadt Bremen, um gemeinsam und lächelnd weiterzuschreiten auf dem kurzen Weg von der Geburt zum Tod, auf dem Weg, den Gott den Menschen zur Pflicht auferlegt hat und den ein Dummer mit Furcht, ein Starker mit Stolz und ein Weiser mit einem Lächeln zurücklegt. Deine Tochter Asiadeh Rolland.«
Essad Bey Die Geschichte meines Lebens
Vorerst: ich hasse offene Bekenntnisse, verkündete Ideale und die Jugend, zu der ich, dem Alter nach, selbst gehöre. Das Erste: weil offene Bekenntnisse meistens nur geschmacklose Versuche sind, sich selbst zu verherrlichen. Das Zweite: weil Ideale dazu da sind, um verschwiegen zu werden. Das Dritte: weil die moderne Jugend dem Alten, von dem sie physisch und geistig lebt, verächtlich den Rücken kehrt und dabei naturgemäß der Barbarei verfallen muß. Ich liebe: alte Leute, gleichviel welcher Konfession, Nation oder Parteizugehörigkeit, den Anblick der flachen, grauen, angeblich so trostlosen Wüsten, die durch keinen Baum verunstaltet sind – und die Wappen sämtlicher Kaiserreiche der Welt. Das Erste: weil die alten Leute meistens ruhiger, klüger und bescheidener sind als die jungen. Das Zweite: weil sich beim Anblick der Sandwüste mein Auge erholt. Das Dritte: weil ich im Wappen eines Kaiserreiches die Verheißung einer besseren Zukunft der Menschheit erblicke. Dieses als Vorbemerkung. Geboren…? Aber schon da beginnt das Problematische meines Daseins. Die meisten Leute können ein Haus oder zumindest einen Ort angeben, in dem sie geboren sind. Zu diesem Ort beziehungsweise zu diesem Hause pilgert man dann in den alten Tagen, um sich biederen Reminiszenzen hinzugeben. Um mich den besagten Reminiszenzen hinzugeben, müßte ich zum Wagen eines D-Zuges pilgern. Ich bin während des ersten russischen Eisenbahnstreiks mitten in
der russischen Steppe zwischen Europa und Asien geboren, als meine Mutter von Zürich, dem Sitze der russischen Revolutionäre, nach Baku, dem Wohnsitze meiner Familie, reiste. Am Tage meiner Geburt erließ der Zar sein Manifest, in dem er den Russen die Verfassung gewährte. Am Tage meiner Ankunft in Baku stand die Stadt in Flammen der Revolution und der Metzeleien des Pöbels. Ich selbst mußte zu meinem Vater in einem Trog gebracht werden, worauf mein Vater mich samt meiner Amme hinausschmeißen wollte. So begann mein Dasein. Vater: Ölindustrieller; Mutter: radikale Revolutionärin; ich selbst also von Geburt aus dazu bestimmt, beides in mich aufnehmend, liberaler Kapitalist zu werden. Dazu ist es aber nie gekommen. Die ersten Kindheitseindrücke: die Bohrtürme mitten in der flachen, öden Sandwüste, der Gesang des Muezzins in der Moschee und der verfallene maurische Palast der alten Herrscher. Diesem Palast galt meine Liebe. Er erhob sich mitten im alten asiatischen Stadtteil und wurde von der gesamten ölgierigen Menschheit von Baku verachtet. Mein Vater, der vierzig Jahre in Baku verbracht hatte, wußte kaum etwas von seiner Existenz. Ich entdeckte ihn für mich selbst und verbrachte dann endlose Stunden im Gerichtshof der alten Fürsten von Baku, am mächtigen, arabeskenverzierten Tor den Thronsaales, zwischen den zerfallenen Säulenkolonnen und unverständlichen Inschriften. Die Liebe zum alten, ungepflegten Schloß wuchs allmählich zur Liebe für die Menschen, die in das Schloß gehören. Um den Palast der alten Khane, um die Stadt zog sich die Wüste. Mit acht Jahren saß ich unbeweglich und faul auf dem Dach unseres Hauses und machte Verse über beides, die Wüste und den Palast. Beides wurde für mich zum Inbegriff einer stillen, alten, schweigsamen Größe, von der die Menschen um mich herum keine Ahnung hatten.
Jeden Sommer, von meinem zweiten Lebensjahre an, reiste ich nach Deutschland. Dort gab es weder Wüsten noch ungepflegte Ruinen. Die Menschen trugen einen Scheitel, waren immer gewaschen und hatten blaue Augen. Die stillen Korridore der deutschen Hotels, die lautlosen Diener und die Butterbrote in den Händen der Gepäckträger flößten mir grauenhafte Angst ein. Es war die Angst vor dem unbekannten, unverständlichen, modernen Leben. Dann kam der Krieg und die Deutschlandreisen hörten auf. Kriegsjahre? Ich habe von ihnen wenig verspürt; meine Erzieherin war eine Deutsche. Ich sprach mit ihr deutsch und hoffte mit ihr zusammen, daß die Deutschen siegen und in Baku einziehen werden. Ich versprach mir davon einen einzigartigen Skandal, Straßenkämpfe, Schüsse, Unordnung und etliche angenehme und erfreuliche Dinge. Diese angenehmen und erfreulichen Dinge kamen von einer anderen gänzlich unerwarteten Seite. Die Revolution brach aus, als ich 13 Jahre alt war, und mit ihr begannen die heißersehnten Straßenkämpfe, Skandale und Unordnung. Vom Tage der Abdankung des Zaren an wurde ich zuerst nur gefühlsmäßig aus Mitleid für die gefallene Größe, dann immer bewußter, ein entschiedener Monarchist, was aber keineswegs mit der bolschewistischen Enteignung der Ölquellen zusammenhing. Es folgten die zügellosen Jahre der Revolution und des Bürgerkrieges. Straßenkämpfe. Blutige Leichen bedeckten die die Straßen Bakus; vielleicht mehr als die Straßen irgendeiner anderen Stadt des alten Zarenreiches. Dann kommt die Flucht, zuerst nach Turkestan und Persien, wo ich beim Anblick der Wüsten beinahe die ganze Revolution vergaß, dann eine kurze Wiederkehr in die Heimat und zuletzt wieder die bolschewistische Invasion. Ich fliehe. Mein Vater folgt mir. Einige Stunden verbringe ich in der Tscheka, werde dann mit Hilfe einer kleinen Lüge freigelassen und setze die Flucht fort.
Aber hinter der damaligen Grenze des Bolschewistenreiches, in Georgien, werde ich als Agent der Dritten Internationale wieder für einige Stunden verhaftet. Dann folgt eine kurze Erholung von den roten Plakaten, von zwangsweisem kollektivistischen Glück und dem Terror. Die Erholung dauert nur wenige Monate. Die bolschewistischen Truppen rücken heran. Wir fliehen wieder, diesmal nach Konstantinopel, wo ich zum ersten Mal seit dem Ausbruch der Revolution zu denken und zu fühlen beginne. In Konstantinopel regt sich das Alte wieder. Ich pilgere zu den Moscheen, zum Palast des Sultans, zu dem allwöchentlichen Selamlik. Der Sultan, der damals mehr Titel als unter seiner Herrschaft stehende Kilometer hatte, flößt mir dieselben Gefühle des Mitleids und der Ergebenheit ein wie einst der Zar. Am Bosporus vergesse ich allmählich das brennende Gefühl des Hasses, das in mir in den Tagen der Revolution jeder Arbeiter, jeder radikale Politiker schon allein durch seine Existenz erweckt hatte. In mir entsteht das erste Bedürfnis, die monarchistische Überzeugung vernunftmäßig zu rechtfertigen. Diese erste Rechtfertigung ist denkbar einfach: Es kommt nicht auf die Regierungsform, sondern auf die Regierungsart an. Je weniger eine Regierung versucht, mich glücklich zu machen, desto wohler fühle ich mich. Die Erfahrungen der bolschewistischen Revolution und der zwangsweisen Glücklichmachung haben mir diese Weisheit gegeben. Von diesem Standpunkt aus ist die Frage, ob Monarchie oder Republik, gänzlich gleichgültig. Doch ist die Monarchie immerhin vorzuziehen, weil sie trotz allem weniger Schattenseiten besitzt als sämtliche nichtmonarchistischen Regierungsformen, die ich kennengelernt habe. Die späteren europäischen Erfahrungen haben diese Weisheit in keiner Weise erschüttert. Konstantinopel macht aber gleichzeitig in mir von neuem das Gefühl des Islams lebendig. Der Weltglaube, der
Panislamismus, der Wunsch, den islamischen Frieden der Menschheit zu erschließen, bestimmt jahrelang mein Dasein. Der theokratische Imperialismus des Islams, der innere Friede, den er der Menschheit gibt, fesselt mich unwiderstehlich. Das monarchistische Gefühl findet auf diese Weise seine theologische und zugleich internationalistische Rechtfertigung. Die unbekannte Größe Europas zieht mich aber an. Es folgt Italien und die vornehme katholische Klosterschule in Rom, dann Paris, und zuletzt, seit mehr als einem Jahrzehnt, Deutschland. In Deutschland beginnt zuerst die praktische Politik. In einer dunklen, verrauchten Kneipe im Norden Berlins versammeln sich die wenigen Panislamisten. Unsere Zahl wächst, im verrauchten Zimmer werden alle Sprachen des Orients gesprochen, hin und wieder auch deutsch. Wohl die Hälfte der Anwesenden sind englische oder russische Spione. Der Anführer ist ein indischer Eunuch, der gleichfalls später in englische Dienste tritt. Wir alle zusammen treiben Politik, der Krieg hat uns alle irgendwie aus der Bahn gebracht, Verschwörungen werden organisiert, Attentate vorbereitet und nicht ausgeführt, Aufrufe verfaßt. Ich halte Vorträge über das Kalifat und schreibe Gedichte. Zugleich immatrikuliere ich mich bei der Universität. Die Semester rollen ab, ohne eine wesentliche Spur zu hinterlassen. Die praktische Politik beginnt mich zu ekeln. Der praktische Panislamismus artet in Klatsch, gegenseitige Verleumdungen und Mißtrauen aus. Der praktischen Politik folgt die praktische Literatur, das Stadium, in dem ich mich auch gegenwärtig befinde, ohne es bis jetzt bedauert zu haben. Ich bin deutscher Schriftsteller. Die vielen Völker, die ich besucht, die vielen Ereignisse, die ich gesehen habe, haben mich zum vollendeten Kosmopoliten erzogen. Doch liebe ich Deutschland, weil es (lache da, wer lachen will!), das bestorganisierte und bequemste Land der Welt ist,
was ich im Gegensatz zu den meisten jungen Zeitgenossen keineswegs als ein Manko empfinde. Im Gegenteil; ich erdreiste mich, gerade darin die eigentliche Aufgabe eines jeden Staates und die primitivste Vorbedingung jeglicher Kultur zu erblicken. Weshalb ich heute, trotz des jahrelangen Aufenthaltes in einer Republik, Monarchist geblieben bin und mit jedem Tage immer monarchistischer werde? Diese Frage ist nicht schwer zu beantworten. Die heutige Welt steht vor zwei großen Gefahren: des Bolschewismus und des alles überwuchernden Nationalismus. Gegen diese beiden Gefahren kenne ich nur ein Mittel – die Monarchie, allerdings die wahre Monarchie und nicht ihre verfassungsmäßige, national begrenzte, wilhelminische Abart. Was ist die wahre Monarchie? Für mich ist sie das einzige überparteiische, überstaatliche und übernationale Prinzip, mit dem die Menschheit erfolgreich regiert werden kann. Ich weiß: die Menschheit zerfällt in Völker, die Völker in Klassen. Doch ist die Klasse keineswegs die letzte Teilung der Menschheit. Außer dem Klassenkampf gibt es einen Kampf der Parteien innerhalb einer Klasse und den Kampf der Führer innerhalb einer Partei. Die Monarchie, ein legitimes föderatives Imperium mit dem Monarchen als einem gänzlich klassenlosen, beinahe übermenschlichen Gipfel der Menschheitspyramide, ist der gegebene Ausweg für die Menschheit, die an Parlamentarismus, Nationalismus, Bolschewismus und ähnlichen Relativitäten leidet. Zur Rechtfertigung dieses Standpunktes könnten Traktate geschrieben und Vorträge gehalten werden. Meine Absicht ist das nicht, denn ich versuche prinzipiell nie einen politisch Andersgläubigen zu überzeugen. Nur das eine muß hervorgehoben werden: in der heutigen Zeit wird der Begriff der Monarchie oft mit dem Begriff der Diktatur verwechselt. Nichts ist fehlerhafter! Diktatur und Monarchie sind absolute
Gegensätze, schon deshalb, weil die Diktatur sämtliche Schattenseiten einer Monarchie besitzt, ohne auch nur einen einzigen ihrer Vorteile aufzuweisen. Phantasien? Vor einigen Jahrzehnten lebte in der Stadt Zürich ein armer Mann mit einer großen Glatze. Er lebte in den bescheidensten Verhältnissen und phantasierte. Selbst der Polizei erschien er als ein harmloser Phantast. Dieser Mann hieß Lenin. Seitdem ich dieses weiß, glaube ich an keine unerfüllbaren Phantasien mehr.
Radhia Shukrullah Über den Autor: Kurban Said alias Leo Noussimbaum alias Muhammed Essad Bey
Als ich den hier vorliegenden Text zum ersten Mal zu lesen begann, war mir der Name Kurban Said gänzlich unbekannt. Ich ging von der Annahme aus, es handle sich um einen ExilOsmanen, der sich mit einer nostalgischen Romanze einige Pein von der Seele geschrieben hatte. Doch schon auf der ersten Seite wurde ich stutzig, im Ton und im Rhythmus der Sätze schwang etwas mit, das mich aufhorchen und sofortige Nachforschungen anstellen ließ. Die Stimme, das Timbre waren mit Sicherheit nicht die eines orientalischen Literaten, es klang eine andere, mir viel vertrautere Sensibilität durch, die mitunter leicht expressionistische Nachklänge hatte. Meine Suche wurde auch nicht enttäuscht; was ich in der Folge über den Schriftsteller Kurban Said erfuhr, war für mich fast noch ergreifender als die Bücher, die ich von ihm las. Ganz sicher weiß man es nicht, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit kam Kurban Said am 20. 10. 1905 in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan, zur Welt und verstarb am 27. 8. 1942 in Positano, in Süditalien. Er starb somit kurz vor Vollendung seines siebenunddreißigsten Lebensjahres. Der Bericht seines kurzen Lebens liest sich wie eine einzige unausgesetzte Reiseunternehmung, dennoch verfaßte er innerhalb eines Jahrzehnts (1929-1938) sechzehn Bücher in deutscher Sprache, davon vierzehn Sachbücher und zwei
Romane sind. Daneben schrieb er Aufsätze, Artikel und Rezensionen für Zeitschriften, unternahm Vortragsreisen und hielt Lesungen. Es muß auch lyrische Arbeiten in anderen Sprachen geben, in Russisch und Türkisch, sowie einen letzten, bisher unveröffentlichten Roman, der die eigentliche Autobiographie sein dürfte. ›Kurban Said‹ wurde allerdings nicht als Kurban Said geboren, sondern als Leo Noussimbaum oder Lev Abramovic Nüssenbaoum, der Sohn des Abraham Noussimbaum, eines zu Ölreichtum gelangten Unternehmers aus Tiflis (Tblisi), Georgien. Über die Mutter ist nicht viel bekannt, sie starb entweder kurz nach der Geburt ihres Sohnes oder in seinen ersten Lebensjahren. Wie seiner (vorläufigen) Autobiographie zu entnehmen ist, war sie eine russische Intellektuelle, die wegen revolutionärer Umtriebe im zaristischen Gefängnis gelandet war, aus dem sie der ältere Noussimbaum freikaufte. Der Knabe wurde von einer baltischen Amme, Alice Schulte, aufgezogen und sprach seit frühester Kindheit Deutsch. Als mutterloser Sohn war er der verzärtelte Mittelpunkt der Familie und wuchs in einem gut gepolsterten Milieu von Wohlhabenheit und kulturellem Kosmopolitismus heran. Schon als Kind sei er jedes Jahr in den Sommerferien nach Europa gereist, schrieb später Essad Bey. Die Region Transkaukasien, das Land Aserbaidschan bilden eine Wegscheide zwischen Europa und Asien, es mischen sich dort die Kulturen des Ostens und des Westens, und es kreuzte sich dort Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein verwirrendes Flechtwerk politischer Interessen. Schon seit Jahren ein Unruheherd, wurde es nach der Ermordung der Zarenfamilie und dem Toben der roten und weißen Armeen in Rußland auch im transkaukasischen Nachbarland ungemütlich für die ›kapitalistische‹ Unternehmerklasse, der die Noussimbaums angehörten, so daß 1917 Vater Noussimbaum mit seinem etwa
zwölfjährigen Sohn Lev übers Kaspische Meer floh. Ihr Fluchtweg führte sie durch Turkmenien und Usbekistan bis nach Buchara und Samarkand und zurück durch Tadschikistan und Persien. Nach einem Jahr fiel die bolschewistische Herrschaft in Baku, und alliierte Truppen (türkische und deutsche, und anschließend britische) sorgten für eine vorübergehende Wiederherstellung der alten Ordnung. Noussimbaum, Vater und Sohn, waren in ihre Pfründe zurückgekehrt, erlebten noch ein Rachemassaker (der Aserbaidschaner an den Armeniern) und mußten zwei Jahre später, im Frühjahr 1920, schon wieder die Flucht vor den Bolschewiken ergreifen, diesmal nach dem Westen. Der erste Zufluchtsort war Georgien, doch angesichts der unaufhaltsam nahenden Sowjetmacht entflohen sie per Schiff entlang der Schwarzmeerküste nach Istanbul. Dort scheint sich der nun fünfzehnjährige Leo entschlossen zu haben, Muslim zu werden, und so beginnt seine Verwandlung in ›Essad Bey‹ (Essad = Asad = Lev = Leo = Löwe). Die Familie flieht weiter über Rom und Paris und gelangt schließlich um 1921 nach Berlin. Das Berlin der zwanziger Jahre stand im Zentrum der großen Bewegungen, die durch die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die der Erste Weltkrieg nach sich zog, ausgelöst wurden. Hierher ergoß sich ein Strom von Flüchtenden und heimatlos Gewordenen aus vielen Ländern, vornehmlich von Osten kommend. Durch die Zusammenbrüche der großen kaiserlichen Dynastien Europas und des Nahen Ostens entmachtet, trieben entwurzelte, abgedankte Hoheiten und Würdenträger untergegangener Reiche in den bitteren Gewässern des Exils, Verfolgungsopfer des Krieges und der Revolution liefen hier an Land. Berlin wurde zum Anlaufpunkt und Durchgangslager für viele, denen keine Rückkehr möglich war. Das eben neu errichtete
(Weimarer) Staatsgebilde hatte mit der Abschaffung der Zensur ein entsprechend aufgelockertes Klima geschaffen, ein gewissermaßen rauschhaftes Potential war entfesselt worden. In diesem versammelte sich eine künstlerische Avantgarde, die etwa für ein Jahrzehnt ihre Schaffenslust und Experimentierfreude (u. a. mit neuen Medien) austoben konnte. Die Stadt wurde zum Fluchtpunkt für viele Künstler wie auch für andere Randfiguren der bürgerlichen Gesellschaft. Als Hauptstadt der Republik war Berlin die einzige echte moderne Großstadt Deutschlands mit all der Abgründigkeit und den Verlockungen, die einem solchen Gebilde eigen sind. Krasse soziale Gegensätze, moralische Abgründe, steiler Aufstieg, jäher Absturz: ein Berlin der großen Boheme, ebenso voll von Flittergold wie von echten Kronjuwelen, das wahre Pendant zu Paris. Ein ausgelassener Tummelplatz, ein erotisches Babel, zog die Stadt damals magnetisch viele Menschen an, deren Namen zu den großen des Jahrhunderts zählen. Ein kurzes, heftiges Aufblühen, das bereits den Keim des Welkens in sich barg. In diesem Berlin ließ sich der junge Leo = Essad Bey nieder, besuchte zunächst die russische Oberschule, dann das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen. Im August 1923 wird er zum Studium an der Friedrich-Wilhelm Universität zugelassen und belegt das Fach islamische Geschichte. Bis 1925 dauert sein Studium. 1926 erscheint sein erster Artikel in der Wochenschrift ›Die Literarische Welt‹, und somit beginnt seine Karriere als freier Schriftsteller. Die nächsten drei Jahre schreibt er vorwiegend Artikel und Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften über Sowjetrußland und den islamischen Orient, und bahnt sich seinen Weg in den deutschen Literaturbetrieb hinein. 1929 erscheint sein erstes Buch, »Blut und Öl im Orient«, eine blumig fabulierende QuasiAutobiographie, die, wenn sie auch nicht immer unbedingte
Faktentreue aufweist, doch im Kern wahrhaftig bleibt. Das Buch rief seinerzeit heftige und widersprüchliche Reaktionen hervor. Schon 1922 war Essad Bey als Gründungsmitglied der »Islamischen Gemeinde zu Berlin« beigetreten und wurde später Mitglied des »Islam Instituts«. In diesen Vereinigungen trafen sich Muslime aller Schattierungen aus aller Herren Länder, und für Essad Bey wurde diese Gemeinschaft auch zu einer Art Studienplatz. Er selbst stilisierte sich zunehmend als Orientale: mal trat er im kaukasischen Kriegergewand auf, mal mit juwelenbestücktem Turbanschmuck. Er machte sich nicht unbedingt beliebt mit seinem spielerischen Rollenwechsel und seinen Verwandlungskunststücken und wurde sowohl von der deutschen Kritik als auch von den ›echten‹ Orientalen als Betrüger und Scharlatan bezeichnet. Die Kritik an seinem Buch »Blut und Öl« bekam in Deutschland bereits stark antisemitische Färbung, und die assimilationsbedürftigen muslimischen Mitbrüder, die sich durch das Buch wohl teils in ihrem Nationalstolz beleidigt fühlten, teils es als Diskreditierung vor einem westlichen Publikum empfanden, warfen ihm vor, kein echter Muslime zu sein. Die Fachwelt verwarf ihn als ›Dilettante‹. Essad Bey scheint aber diese Attacken eher als wirksame Reklame für sich und sein Buch gewertet zu haben, er ließ sich zumindest dadurch nicht von der Arbeit an weiteren Büchern abhalten. Bis 1938 hatte er noch fünfzehn weitere Werke verfaßt, u. a. eine Biographie von Stalin, eine des letzten Zaren, des Schahs von Persien, und des Propheten Muhammed. Er schrieb über Rußland und den sowjetischen Geheimdienst, eine Geschichte der Weltölindustrie, vom »Niedergang und Aufstieg der islamischen Welt«, und außerdem seine beiden Romane. Seine Bücher wurden sehr rasch in verschiedene Sprachen
übertragen und fanden im Ausland schnell Anerkennung und Wertschätzung. 1932 heiratete Essad Bey eine deutsch-jüdische Lyrikerin, Erika Renon, die ihn auf zwei Vortragsreisen durch Amerika begleitete. Sie verließ ihn aber schon 1935 und folgte ihren nach USA ausgewanderten Eltern. Die Ehe wurde 1937 geschieden, was anscheinend in der amerikanischen Boulevardpresse Schlagzeilen verursachte. Essad Bey unternahm auf Einladung noch eine dritte Reise nach Amerika, und danach soll er eine ausgedehnte Orientreise angetreten sein, die ihn über Nordafrika, Ägypten, die Arabische Halbinsel und den Iran bis an die Tore Indiens führte. Mit dem Machtantritt der Nazis fegte ein eisiger Wind durch die Reihen der Berliner Boheme, viele helle Köpfe spürten den Gifthauch früh genug und suchten schon in den Anfangsjahren das Weite. Die ›Szene‹ verödete allmählich. So übersiedelte Essad Bey 1933 nach Österreich, wo es noch für ein paar Jahre gemütlichen zuging. Die Wiener Kaffeehauskultur und Literaten-Cliquenwirtschaft entsprach seinem Naturell recht gut, er wurde gut aufgenommen und schnell bekannt, und die zynisch-melancholische Atmosphäre der einstigen Kaiserstadt wird ihm sehr entgegengekommen sein. Er blieb hier bis zum österreichischen Anschluß ans Reich im Jahre 1938. Hier traf er mit vielen heute noch bekannten Exil-Literaten zusammen, u. a. mit Max Brod, Joseph Roth, Franz Werfel, Robert Neumann, Elias Canetti und Wolfgang von Weisl (mit dem gemeinsam er sein letztes Sachbuch »Allah ist groß« verfaßte). Vor allem aber traf er hier den Freund seiner Seele, Umar Rolf von Ehrenfels und wurde vertraut mit dessen Familie. Die Familie derer von Ehrenfels bewohnte seit Jahrhunderten ein Schloß Lichtenau im Waldviertel, unweit von Wien und doch entlegen wie im Märchenwald. Baron Rolf Umar von Ehrenfels war Völkerkundler und in den zwanziger Jahren zum
Islam übergetreten, ein weitgereister und in der islamischen Welt bewanderter Mann. Er hatte in Wien den ›Orient-Bund‹ für afro-asiatische Studenten gegründet, den Essad Bey anscheinend frequentierte. Mit ihm und dessen Frau Elfriede verband Essad Bey eine tiefe und bleibende Freundschaft. Elfriede aus dem Nachbarschloß Bodmershof hatte ihrerseits auch literarische Ambitionen und bereits einige kleinere Arbeiten unter Pseudonym veröffentlicht. Als Essad Bey im April 1935 aufgrund seiner nun bürokratisch verbuchten jüdischen Herkunft aus dem ›Reichsverband Deutscher Schriftsteller‹ und der ›Reichsschrifttumskammer‹ ausgeschlossen wurde, war es ihm nicht mehr möglich, in Deutschland zu publizieren. Seit Hitlers Machtergreifung, 1933, mußten auch in den anderen deutschsprachigen Ländern, d. h. die Schweiz und Österreich, verlegte Bücher an der deutschen Zensur vorbeigeschmuggelt werden, was an Relevanz gewinnt, wenn man bedenkt, dass die Mehrzahl der österreichischen Verleger (wie auch ihre Autoren) Juden waren. Die betroffenen Verlage bedienten sich umwegiger Lösungen, indem unverdächtige Drittländer mit in den Herstellungsprozeß einbezogen wurden (wie etwa Holland oder Schweden). Es gab für jüdische Autoren auch die Möglichkeit, Pseudonyme zu verwenden, von welch letzterem Mittel Essad Bey Gebrauch gemacht zu haben scheint, denn seine beiden letzten Bücher, die Romane »Ali und Nino« und das vorliegende »Das Mädchen vom Goldenen Horn« gaben den Namen des Autors mit ›Kurban Said‹ an. Der Anschluß Österreichs ans Reich im Jahre 1938 und die Einführung des Reichskulturkammergesetzes in Österreich zwangen Leo Noussimbaum, wie so viele andere des Wiener Kreises, zum fluchtartigen Verlassen des Landes. Die meisten verließen Wien schon in den ersten Wochen nach dem Anschluß. Seit einigen Jahren hatte sich Essad Bey auf
verschiedenen Italienreisen um den Auftrag einer offiziellen Mussolini-Biographie beworben, und er war wohl auch im Knüpfen von Beziehungen schon weit vorgedrungen, möglicherweise hatte er sogar persönlich beim Duce vorgesprochen. Dann aber wurde er von einem Spitzel als Jude denunziert, das Projekt platzte, und als er im Frühjahr 1938 vor dem Einmarsch der Nazi-Truppen in Wien floh und nach Italien ausreisen wollte, verweigerte man ihm ein Einreisevisum. Essad Bey umging dieses Hindernis, indem er zunächst in die italienische Kolonie Lybien reiste, wo er eine Weile als Übersetzer für den faschistischen Gouverneur arbeitete, um im Sommer aufs italienische Festland überzusetzen. Es gelang ihm, sich in Italien als amerikanischer Staatsbürger auszugeben, indem er sein amerikanisches Visum und verschiedene Schiffsbillette vorlegte, aber aufgrund der damals geltenden Rassengesetze und der ›Arisierung‹ des Wiener Verlags war er von jeglichem Einkommen aus seinen Tantiemen abgeschnitten und bald vollkommen mittellos. In dieser Not scheinen ihm die Freunde aus dem Waldviertel mittelbar geholfen zu haben, indem Elfriede verschiedene an ›Frau Kurban Said‹ adressierte Tantiemenauszahlungen abholte und weiterleitete und Essad Bey diese Überweisungen zukommen ließ. Schon bald aber verließ auch Umar Ehrenfels das Land seiner Väter und reiste nach Indien, um erst fünfzehn Jahre später, 1954, nach Europa zurückzukehren, wo er allerdings nur noch das Grab seines einstigen Freundes vorfand. Bei Kurban Said zeigten sich nun auch die ersten Anzeichen seiner tödlichen Krankheit: er litt an einer Gefäßkrankheit, welche ein allmähliches Absterben der Extremitäten zur Folge hatte. Einsetzender Wundbrand machte fortlaufende Amputationen erforderlich. In einem Krankenhaus in Neapel wurden Essad Bey 1939 zunächst einige Zehen amputiert,
doch bescheinigte der behandelnde Chirurg, daß die Krankheit zum gegenwärtigen Stand medizinischer Wissenschaft für unheilbar gelte. Essad Bey ließ sich in Positano an der Sorrentiner Südküste nieder, einem Ort, der schon lange als eine Art ausländischer Künstlerkolonie bekannt war. Herausgerissen aus der freundlich verrauchten Atmosphäre seines Kaffeehaus-Wiens und des sich gegenseitig befruchtenden literarischen Kreises, empfand er dieses letzte, pittoreske Urlauberdorf allerdings als ein Gefängnis, es wurde sein letztes, wahres Exil. Anfänglich nahm er zwar noch am gesellschaftlichen Leben des Ortes teil, es wurden sogar noch Feste gefeiert, aber zusehends zwang ihn auch seine Krankheit zur Vereinzelung, denn viel Besuch scheint er dort nicht empfangen zu haben. Allerdings traf er 1941 noch mit Ezra Pound in Rom zusammen, und der aus Deutschland geflohene deutsche Schriftsteller Arnim T. Wegner besuchte ihn bis zum Schluß, obgleich er sich in seinen aufschlußreichen Tagebuchaufzeichnungen nicht besonders liebevoll über Essad Bey, den Schreiber und den Kranken äußert. Seine alte baltische Amme aus Baku scheint Essad Bey ebenfalls nach Positano begleitet zu haben, nicht aber der Vater Noussimbaum, der zwar mit nach Wien übersiedelt war, dort aber in der Wohnung in der Herrengasse zurückblieb. Essad Bey schrieb noch verzweifelte Briefe an Elfriede von Ehrenfels-Bodmershof, sie möge sich doch bitte um den alten Herrn kümmern und ihn vor der Gestapo schützen. Offenbar hat sie dies auch getan und ihn mehrfach aufgesucht. Ebenfalls besuchte ihn die neue Sachwalterin des ›arisierten‹ Verlags, in dem Kurban Saids Bücher erschienen waren. Auf Bitten des alten Noussimbaum besuchte diese Frau den Sohn Leo in Positano, was in diesen Kriegsjahren durchaus kein einfaches Unterfangen war. Sie verbrachte zwei Wochen mit ihm in Positano und erlebte den schrecklichen,
kaum noch mit Opium zu bewältigenden Schmerzenszustand mit, den Essad erdulden mußte. Bei ihrem nächsten Besuch in der Herrengasse in Wien war der alte Mann verschwunden. Bis zum Schluß, hieß es, habe er sich noch teure Anzüge schneidern lassen und Diener beschäftigt, die ihm die Schuhe putzten, bis ihm eines Tages alle Mittel ausgegangen waren. Im März 1941 wurde er von der Gestapo abgeholt und nach Polen verschleppt. Kurz vor seinem Tod erhielt Essad Bey die Nachricht, daß sein Vater in ein KZ gekommen sei. Am 27. 8. 1942 starb Essad sechsunddreißigjährig an einer Lungenentzündung, einer Folge seiner Krankheit. Er liegt außerhalb der Friedhofsmauern von Positano begraben, in einem schlichten muslimischen Grab. Die Amme, Alice Schulte, wurde später in einem Armengrab in Meran beigesetzt. In diesen letzten Jahren (Monaten?) hat Kurban Said noch einen Roman geschrieben, der keiner ist, sondern seine ›echte‹ Lebensgeschichte. Dieser Bericht (»Der Mann, der nichts von der Liebe verstand«) harrt noch immer der Veröffentlichung und mag über viele Punkte, die derzeit noch unklar sind, Aufschlußgeben. Bis dahin bleiben alle Versuche einer Lebensbeschreibung vage und spekulativ. Die vielen ineinander verschachtelten Personen, die Essad Bey in sich beherbergte, sprechen aus den Büchern, die er schrieb: den Vater macht er zum muslimischen Ölscheich, sich selbst stilisiert er aufwendig zum säbelrasselnden ExilKaukasier, zum energischen Mitmischer in der Berliner Bohème, zum Wiener Kaffeehausliteraten, zuletzt gelingt es ihm fast noch, sich eine amerikanische Identität zuzulegen. Mit Sicherheit sprach er ein gutes halbes Dutzend Sprachen, er war, wie er einmal selbst von sich behauptete, ein »vollendeter Kosmopolit«. In keiner seiner mir bekannten Schriften erwähnt er je seine jüdische Herkunft, bis zuletzt verschleiert er diesen
im Nachhinein unübersehbaren Umstand. Gründe dafür zu finden dürfte nicht allzu schwer sein. »Das Mädchen vom Goldenen Horn« reflektiert bei aller ikonenhaften Skizzierung der Figuren doch allerhand von Kurban Saids eigener Lebensproblematik. Der mutterlose Sohn mit dem Kopf eines jüdischen Intellektuellen und dem Herzen eines orientalischen Gemütsmenschen schwimmt zwischen aller kulturellen Zugehörigkeit hindurch, »still beobachtend«; während ein Hauch von Spöttelei die Lippe kräuselt, bleibt der Blick doch ernst. Aus den erhaltenen Photos schaut einem ein ernstes, sensibles, eher introvertiertes Gesicht entgegen, dem man früh erlebtes Leid durchaus anmuten kann. »Kurban« heißt im übrigen »Opfer« (sacrificium), »Said« bedeutet dagegen »glücklich, erfolgreich«. Warum gebrauchte er diesen etwas ausgefallenen Name als Pseudonym? Er hätte sich schließlich auch »Ahmed« oder »Mehmet« nennen können. War es bloße Lautmalerei, oder sollte ein tieferer Bezug angedeutet werden? Und wenn, welcher? Viele »offizielle Orientalen« des Exils werteten dies als ärgerliche Maskerade, eine Art ethnischer Travestie, die sie ihm sehr übel nahmen. Doch Essad Bey schwelgte nicht in politischer Romantik noch erging er sich in nostalgischer Sehnsucht nach einer Authentizität, die er nie besessen hatte, noch bestand sein reichliches Wissen aus nur anstudierter Buchgelehrsamkeit. Heute, rund sechzig Jahre nach seinem Tod lesen sich Kurban Saids Bücher nicht etwa wie verjährte journalistische Zeugnisse, die man mit süffisantem Lächeln in ihre Zeit verweisen könnte, »wir, die Nachgeborenen, wissen es besser«, nein. Stoff und Thematik seiner Bücher sind nach wie vor hoch aktuell, zumal die geographische Gegend seiner Heimat gegenwärtig im Brennpunkt des Weltinteresses steht. Die allerletzten Zeugen dieses Lebens werden bald nicht mehr zu vernehmen sein.
Das Rätsel, das Kurban Said umgibt, mag vielleicht nie ganz gelüftet werden, wir sind letztlich auf seine eigenen Aussagen angewiesen.