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Seewölfe 237 1
Burt Frederick 1.
Mit hellem Eisenklang hallten Hammerschläge zwischen hohen Palisadenzäunen und übertönten die nie endenden Geräusche aus dem nahen Tropenwald. Nur wenn der Schmied und sein Gehilfe eine Pause einlegten, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, waren sie da, jene Stimmen des Dschungels: schrilles Kreischen und dumpfes Röhren, bösartiges Fauchen und meckerndes Lachen. Es klang wie der blanke Hohn für die Männer, die in Reihe angetreten waren, um sich der demütigenden Behandlung zu unterziehen. Auf dem Appellplatz der Festung Macuro lastete erbarmungslos die Glut der Sonne. Sehnsüchtig blickten die Gefangenen zu den Holzbaracken, die sich an die Innenseiten der Palisaden duckten. Dort befanden sich die Quartiere der spanischen Soldaten, und dort gab es ein wenig Schatten, vielleicht sogar die modrig-kühle Feuchtigkeit eines Erdkellers. Jeder von ihnen hätte ein Königreich dafür gegeben, wenn man ihm erlaubt hätte, sich jetzt und auf der Stelle in ein solches Erdloch fallen lassen zu dürfen. Aber derartige Hoffnung war weiter entfernt als das heimische Land im kalten Europa. Vielleicht sahen sie es nie wieder. Die Ketten, die ihnen angelegt wurden, zerstörten jeglichen Gedanken an die Zukunft. Der Festungskommandant hatte es sich bequem eingerichtet. Ein großes Sonnendach aus Segeltuch schützte ihn und seine Offiziere und den Schmied und dessen Gehilfen. Für den Moment, in dem sie an den Amboß traten, genossen auch die Gefangenen den Vorzug des Schattens. Dann stolperten sie wieder hinaus in die Gluthitze, klirrende Ketten hinter sich herschleifend, getrieben von derben Fußtritten und Musketenkolben. Die Soldaten, die zur Überwachung des Vorgangs aufmarschiert waren, bildeten eine undurchdringliche Mauer aus schimmernden Helmen, Brustpanzern,
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Säbeln und Musketen und blankgeputzten Lederstiefeln. Die Ausweglosigkeit der Gefangenen unterstrich dagegen auch ihr Äußeres. Nur die Beinkleider hatte man ihnen gelassen, abgeschnitten jedoch bis zu den Knien; denn ihre Fußgelenke wurden gebraucht für roh geschmiedetes Eisen, ebenso wie die Handgelenke. Schutzlos waren ihre nackten Oberkörper den sengenden Sonnenstrahlen ausgesetzt. Gerhard von Echten war der letzte in der Reihe der zwanzig Männer, die vor den Amboß hinzutreten hatten. Das Haupt hoch erhoben, streckte er dem Schmied seine Handgelenke entgegen. Der Gehilfe, der eine dunkle Lederschürze trug wie sein Meister, stieß dem Deutschen zwei noch offene Eisenreifen über die Hände bis zu den Gelenken. Von Echten verzog keine Miene, als der schartige Stahl blutige Furchen in seine Haut riß. An jede Handschelle war eine schwere Kette geschmiedet. „Venga, venga!“ knurrte der Schmied, ein graugesichtiger alter Mann mit gebeugtem Rücken. „Komm, komm!“ Mit einer. ungeduldigen Geste bedeutete er dem Gefangenen, die eiserne Manschette auf die Kante des Ambosses zu legen. Der Gehilfe steckte die Nietbolzen durch die Löcher in den Enden .der Eisenreifen, und der Schmied ließ den schweren Hammer niedersausen. Auf den Punkt genau traf er die Bolzen, deren Enden unter der Wucht der Schläge platt gedrückt wurden und die Handschellen wie für alle Ewigkeit verschlossen. Als die gleiche Prozedur mit den Fußgelenken wiederholt wurde, erhielt von Echten die gnädige Erlaubnis, sich auf einen in den Boden gerammten Pfahl zu stützen. Der hochgewachsene Deutsche wollte dem nun fälligen Fußtritt des Schmiedegehilfen ausweichen und sich freiwillig zu seinen Leidensgenossen begeben. Eine barsche Stimme stoppte ihn. „Einen Moment noch, Senor! Wenn Sie die Güte haben wollen, mir Ihr Gehör zu schenken ...“ Hohn klang aus den Worten.
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Langsam drehte sich Gerhard von Echten um. Er war ein großer blonder Mann mit breiten Schultern. Ein heller Vollbart umrahmte sein gebräuntes Gesicht, die Muskeln seines Oberkörpers zeichneten sich auch in entspanntem Zustand wie stahlharte Stränge ab. „Treten Sie ein wenig näher, Senor“, sagte der Kommandant der provisorischen Festungsanlage von Macuro mit falschem Lächeln. Von Echtens Ketten schleiften klirrend über die Erde, während er der Aufforderung Folge leistete. Indiosklaven hatten mörderische Fronarbeit verrichtet, als der trockene Sandboden für die Festung herangeschafft worden war. Gerhard von Echten war nicht zum ersten Male in Venezuela. Er kannte die Bedingungen, unter denen die Spanier hier ihren Willen durchsetzten. Hatten sie es sich in den Kopf gesetzt, an der unwegsamen und sumpfigen Mangrovenküste ein Fort zu errichten, dann geschah es — und wenn sich die Eingeborenen dabei zu Tode schufteten. Capitan Ramon Marcelo Gutierrez musterte den Gefangenen mit scheinbar freundlichem Interesse, wobei er die Augenbrauen hochzog. „Ich hoffe, ihr werdet eurem Ruf alle Ehre machen“, sagte er nach einer Weile. „Ich verstehe nicht“, erwiderte von Echten. „Nun, euch Deutschen sagt man nach, daß ihr besonders schlau und geschickt seid. Alles, was ihr anpackt, wird perfekt, heißt es.“ Gutierrez grinste und zupfte an den Enden seines schwarzen Spitzbarts. Der Festungskommandant war untersetzt, der breite Ledergurt unter seinem silberbeschlagenen Wams umspannte einen unübersehbaren Bauchansatz. Er hatte sich auf einem Schemel niedergelassen. Die drei Offiziere, die hinter ihm standen, waren von schlanker Statur. Gutierrez schien der einzige in Macuro zu sein, der sich ungehemmter Freßlust hingeben durfte. Gerhard von Echten erwiderte nichts auf die Bemerkung des Spaniers. Er wußte,
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daß hinterhältige Gedanken im Spiel waren. „Es wird sich zeigen“, fuhr der Capitan gedehnt fort, „ob ihr euch auch in meinen Diensten bewähren werdet. Gute Ruderer sind hierzulande leider Gottes eine Seltenheit. Das verdammte Indiopack braucht Ewigkeiten, bis es etwas kapiert. Da helfen nur kräftige Schläge, um die Hirntätigkeit etwas zu beschleunigen.“ Gutierrez lachte glucksend, wobei sein Bauch in hüpfende Bewegung geriet. Die drei Offiziere lachten pflichtschuldig mit. Es folgte eine herrische Handbewegung ihres Vorgesetzten, und Ruhe kehrte ein. Der Capitan beugte sich vor, streckte den Arm aus und zeigte mit dem Finger auf den Deutschen. „Sie sind der Anführer Ihrer Truppe von Eindringlingen, Senor. Folglich werden Sie dafür verantwortlich sein, wenn es einen Fall von Ungehorsam oder gar Rebellion geben sollte. Erledigen Sie Ihren Dienst zur Zufriedenheit, und wir werden gut miteinander auskommen. Ich bin großherzig und werde sogar vergessen, daß einer von euch entwischt ist. Das will ich euch nicht anlasten. Also seid gefälligst dankbar und reizt mich nicht!“ „Mi Capitan“, sagte von Echten beherrscht, „ich weise darauf hin, daß meine Männer und ich aufgrund eines geltenden Vertrages an der Küste von Venezuela gelandet sind. Dieser Vertrag berechtigt meine Auftraggeber, in diesem Land nach Edelmetall forschen zu lassen. Wir sind also keineswegs Eindringlinge, wie Sie es darstellen.“ Von Echtens Spanischkenntnisse stammten aus der Zeit, in der er für hansische Kaufleute zur See gefahren war, bevor er in die Dienste des Augsburger Bankhauses getreten war. Gutierrez hatte geduldig zugehört, mehrmals verständnisvoll genickt und sah den Deutschen nun mit bedauernder Miene an. „Ich weiß, Senor, daß Sie in gutem Glauben gehandelt haben, und es tut mir aufrichtig leid, daß Sie Ihre Reise in die Neue Welt unter völlig falschen Voraussetzungen angetreten haben. Dieser
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Vertrag, von dem Sie reden — wissen Sie, wann der abgeschlossen wurde?“ Von Echten preßte die Lippen aufeinander. Natürlich wußte er es. Im Jahr 1528 hatte Kaiser Karl V. dem Augsburger Bankhaus Welser das Land Venezuela zur Ausbeutung von Edelmetallvorkommen überlassen. Karl V. hatte damit einen Teil eines Darlehens beglichen, das er von den Bankiers erhalten hatte. Mehr als sechs Jahrzehnte waren seitdem vergangen. Die Spanier, die ihren Einfluß in Venezuela durch immer neue Ansiedlungen ausdehnten, zogen es jetzt vor, jenen Vertrag für Geschichte zu halten. Für sie war es nicht länger ein gültiges Fundament, an das sie sich bei ihren Begegnungen mit deutschen Expeditionen zu halten hatten. Noch bei seiner letzten Venezuela-Reise vor fünf Jahren hatte Gerhard von Echten keine Zusammenstöße mit spanischen Truppen erlebt. Wie entschlossen die Dons jetzt aber versuchten, das Land unter ihre Kontrolle zu bringen, war von Echten und seinen Gefährten klar geworden, als sie nach zwei Tagesmärschen auf venezolanischem Boden den Schergen des Capitan Gutierrez in die Hände gefallen waren. Gutierrez preßte die Fingerspitzen gegeneinander und blickte den hochgewachsenen Deutschen mitleidig an. „Die Zeiten haben sich geändert, Senor von Echten. Und ein Vertrag ist nur so lange gut, wie die Voraussetzungen dafür gelten. Aber in diesem Land vollzieht sich mittlerweile ein gewaltiger Umbruch. Wir, die wir im Dienst der spanischen Krone stehen, sorgen hier für einen Aufschwung, wie es ihn nie zuvor gegeben hat. Sollen wir bei dieser aufopfernden Tätigkeit etwa Verständnis dafür aufbringen, daß andere auftauchen, die nichts weiter im Sinn haben, als die Bodenschätze Venezuelas zu plündern und für die Menschen, die hier leben, eine Wüste zurückzulassen? Nein, mein Lieber, da spielen wir nicht länger mit. Denn wir tragen letzten Endes die Verantwortung.“ Gutierrez räusperte sich. „Falls Sie noch irgendwelche Fragen
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haben, bin ich gern bereit, sie jetzt zu beantworten. Später wird es keine Gespräche mehr zwischen uns geben.“ Von Echten schüttelte stumm den Kopf. Jeder Wortwechsel mit diesem aufgeschwemmten Schinder war sinnlos. Die Art und Weise, wie er das Sinnen und Trachten der spanischen Krone darzustellen versuchte, war sowieso eine Unverschämtheit. Capitan Ramon Marcelo Gutierrez nickte, schnaufte und gab seinen Soldaten einen Wink. Zwei Männer sprangen vor. Einer packte den Deutschen, und der andere versetzte ihm einen Stoß mit dem Musketenkolben. Von Echten stolperte. Wegen der hinderlichen Ketten hatte er Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren. Aber er tat den Spaniern nicht den Gefallen, vor ihnen den Dreck zu küssen. Auch die übrigen Gefangenen wurden jetzt vorangetrieben. Barsche Befehle klangen wie Peitschenhiebe in der heißen Luft, und zu jedem Schritt klirrten die Ketten im Takt. Gerhard von Echten biß die Zähne zusammen. Welche Torturen ihm und seinen Männern bevorstanden, konnte er sich leicht ausmalen. Den Hafen der Festung hatten sie bereits gesehen, als sie hierher verschleppt worden waren. Es gab dort eine kleine, aber prunkvolle Flotte von Galeeren, die unter dem Kommando des Capitan Ramon Marcelo Gutierrez standen. * Die Luftfeuchtigkeit lag wie mit Zentnerlasten auf seiner Brust und ließ jeden Atemzug zur Mühsal werden. Aus dem Dickicht stieg der Geruch faulender Pflanzenreste auf. Die schrillen Stimmen zeternder Urwaldvögel begleiteten den einsamen Mann. Das Haumesser war sein kostbarster Besitz, denn es allein ermöglichte ihm die Flucht durch den Dschungel. Die rasiermesserscharf geschliffene Klinge, fast so lang wie ein Männerarm, stammte aus der Werkstatt eines Augsburger Waffenschmieds. Schlingpflanzen, die wie
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undurchdringliche Vorhänge waren, zertrennte diese Klinge, als handele es sich um Bindfäden. Das Dickicht lichtete sich. Keuchend hielt der Mann inne, unvermittelt schien das Haumesser dreifaches Gewicht anzunehmen. Erst die unverhoffte Pause ließ ihn spüren, welche Knochenarbeit er bis jetzt geleistet hatte. Jähe Müdigkeit ergriff Besitz von ihm. Zwei umgestürzte Baumriesen hatten die Lichtung entstehen lassen. Die mittlerweile moosbewachsenen Stämme lagen kreuzweise übereinander. Der obere ragte schräg empor und schien zum Himmel deuten zu wollen, der durch das tief grüne Blätterdach des tropischen Regenwaldes doch nicht zu erkennen war. Unterhalb der abgestorbenen Baumstämme kroch die üppige Vegetation bereits wieder herauf. Vielleicht schon in einem Jahr würde auch diese Lichtung verschwunden sein. Johannes Lederer wankte vorwärts und ließ sich bäuchlings auf den unteren Baumstamm sinken. Seine Knochen waren wie mit Blei ausgegossen. Er schalt sich einen Narren, daß er seinen Weg nicht augenblicklich fortgesetzt hatte. Wenn er in Bewegung blieb, spürte er die Erschöpfung weniger. Jetzt aber konnte es leicht geschehen, daß ihn die Müdigkeit übermannte. Er legte den Kopf auf die Seite, damit der Modergeruch des Mooses weniger intensiv in seine Nase drang. Er war überzeugt davon, daß er genug Willenskraft hatte, um nicht einzuschlafen. Nur ein wenig Ruhe brauchte er, mehr nicht. Das Geschrei der Tropenvögel stach zunehmend schriller in sein Gehör und klang wie in einem Schacht, der sich enger um ihn schloß. Seine Gedanken begannen zu versiegen. Der Schlaf überschattete sein Bewußtsein. Die Strapazen, die hinter ihm lagen, forderten ihren Tribut. Johannes Lederer war ein mittelgroßer und schlanker Mann, nicht älter als fünfundzwanzig Jahre. Das dunkelblonde Haar bedeckte seinen Kopf in zerzausten Strähnen. Auf dem Leib trug er nur noch die Hose mit dem breiten Ledergurt, das
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zerrissene Hemd und die Stulpenstiefel. Über seine rechte Schulter zog sich eine blutverkrustete Furche — eine Erinnerung an die Begegnung mit den Spaniern, die sich ihm und seinen Gefährten plötzlich in den Weg gestellt hatten. Lederer hatte als einziger fliehen können. Der Streifschuß, den er sich dabei eingehandelt hatte, war für ihn nicht der Rede wert. Seine Sinne schlugen jäh Alarm. Er schrak hoch, riß die Augen auf und unterdrückte einen Fluch, weil er sich selbst nicht unter Kontrolle gehalten hatte. Aber er hatte noch immer dieses besondere Gespür für drohende Gefahr, das ihn auch im Schlaf nicht verließ. Ein Instinkt, der in den zurückliegenden Jahren ein Teil seiner Natur geworden war. Atemzüge lang lauschte er aufmerksam. Längst waren ihm die Geräusche des Dschungels vertraut geworden. Auf Anhieb erkannte er jene, die fremd waren und nicht zur gewohnten Kulisse gehörten. Die Verfolger hatten aufgeholt! Lederer wirbelte herum. Behende schwang er sich über den unteren Baumstamm und fand auf der anderen Seite Deckung. Regungslos verharrte er. Deutlich hörte er jetzt das leise Rascheln und Scharren heraus, wie es Männer verursachten, die sich möglichst unbemerkt vorwärts zu bewegen versuchten. Über die Richtung, aus der sie vordrangen, bestand kein Zweifel. Sie hatten es einfach gehabt, ihm auf den Fersen zu bleiben, denn den Pfad hatte er vorgezeichnet. Sie brauchten sich nicht einmal mit ihren Haumessern abzumühen. Wenn sie ihn bislang noch nicht erwischt hatten, so vielleicht nur deshalb, weil sie mit ihren schweren Brustpanzern, den Stiefeln und der Ausrüstung weniger beweglich waren als er selbst. Die Geräusche näherten sich rasch. Deutlich vernahm Johannes Lederer bereits die Schritte. Er runzelte die Stirn. Täuschte er sich, oder handelte es sich tatsächlich nur um zwei Verfolger? Ursprünglich waren es ein Dutzend Soldaten gewesen, die sich an seine Fersen geheftet hatten. Jetzt aber vermochte er aus den
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Geräuschen zumindest herauszuhören, daß ihre Zahl beträchtlich geschrumpft war. Möglich aber auch, daß sie eine Vorhut geschickt hatten. Einen Moment dachte er an die doppelläufige Radschloßpistole, die er noch am Gürtel trug. Zwei Kugeln befanden sich in den Läufen, vielleicht genug. Aber er verwarf den Gedanken wieder. Das Risiko war zu groß. Zum einen war das Pulver höchstwahrscheinlich feucht geworden, zum anderen würde er durch Schüsse eine etwaige zweite Verfolgergruppe alarmieren. Während er über den Moosbewuchs des Baumstamms spähte, packte er das Haumesser fester. Es war in seiner Wirkung einem Schiffshauer absolut vergleichbar. Die Müdigkeit des einsamen Mannes war wie weggeblasen. Der Wille zu überleben hatte seine Kraft von einem Herzschlag zum anderen wieder geweckt. Sie tauchten so plötzlich auf, daß er erschrak. Ihre Helme und Brustpanzer waren grelle Fremdkörper in der grünen Hölle. Sie bewegten sich langsam in der Schneise, die er geschlagen hatte, nach allen Seiten sichernd. Zwei Soldaten waren es. Junge Männer noch. Ihre Gesichter wirkten bleich und schmal unter den großen Helmen. Der Tropensonne setzten sich diese Nachfahren der Conquistadores nur selten aus. Lederer kannte das Leben in den spanischen Garnisonen der Neuen Welt. Wo immer es der Dienst erlaubte, zog man sich in die Schatten der Unterkünfte zurück und träumte von der Heimat, vom goldenen Spanien, das noch immer der Nabel der Welt war. Er dachte daran, ob sie wirklich bereit waren, für ihre Heimat zu sterben. So jung und ahnungslos, wie sie aussahen. war der Tod in ihrem Bewußtsein sicherlich nicht allgegenwärtig. Vielleicht stellten sie ihn sich als heldenhaftes Geschick auf dem Schlachtfeld oder im Gefecht zur See vor. Der Dampfkessel des venezolanischen
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Dschungels bot solche Ehre nicht. Hier war der Tod lautlos. Johannes Lederer ließ sie bis auf zwei Schritte heran. Sie zögerten angesichts der umgestürzten Baumriesen und schienen von einer Ahnung befallen zu sein. Die Musketen, die sie der Dienstvorschrift entsprechend in den Händen hielten, waren wenig nütze für einen Kampf im Dickicht. Jäh schnellte Lederer hoch. Das Haumesser wirbelte aus seiner Rechten mit flirrendem Reflex. Noch vor dem dumpfen Aufprall flankte der Deutsche mit einem federnden Satz über den Baumstamm. Der vorderste der beiden Soldaten sank in sich zusammen. Vergeblich versuchte der andere, die Muskete in Anschlag zu bringen. Angesichts der geringen Entfernung war es ein lächerlich wirkender Versuch. Lederer war bei ihm, bevor er die Waffe auch nur hochreißen konnte. Er schlug ihn mit dem Knauf der Radschloßpistole nieder. Einen Moment verharrte er regungslos. Dann war er sicher, daß weitere Verfolger noch nicht in unmittelbarer Nähe waren. Eilends nahm er das Haumesser wieder auf. Für den Soldaten, den es getroffen hatte, gab es keine Rettung mehr. Den anderen, der nur bewußtlos war, konnte er nicht umbringen. Er war kein Mann, der um des Tötens willen tötete. Stets hatte er sorgfältig abgewogen, welches Gegengewicht er für sein eigenes Leben in die Waagschale werfen durfte, ohne sein Gewissen belasten zu müssen. Johannes Lederer ließ die Lichtung hinter sich zurück und setzte seinen beschwerlichen Weg durch das Gewirr der Schlingpflanzen fort. Er wußte, daß ihm die Verfolger sehr bald dichter auf den Fersen sein würden. Der kurze Schlaf hatte ihn wertvolle Zeit gekostet. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie die beiden Männer fanden, die er überwältigt hatte. Keuchend arbeitete er sich voran. Jetzt war es wieder das vielstimmige Geschrei der Tropenvögel, das ihn begleitete. Hoch oben unter dem Laubdach der Baumriesen
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bewegten sie sich majestätisch gelassen mit buntgefiederten Schwingen. Der Mensch, der dazu verdammt war, sich beschwerlich wie ein Kriechtier auf dem Erdboden zu bewegen, mußte in ihren Augen klein und erbarmenswürdig erscheinen. Lederer war nicht mehr sicher, ob es ihm noch gelang, seine ursprüngliche südwestliche Fluchtrichtung beizubehalten. Er wußte, wie leicht man die Orientierung verlor und sich im Kreis bewegte. Aber er verfügte auch über eine gewisse Erfahrung, was den tropischen Regenwald betraf, denn es war seine dritte Reise nach Venezuela. Er kannte dieses Land, dessen ungebändigte Natur für den Menschen lebensfeindlich sein konnte. Wenn seine Rechnung aufging, mußte er irgendwann auf die Küste im Norden des Golfes von Paria stoßen. Schaffte er das, so bedeutete es keineswegs schon große Hoffnung. Sein weiteres Schicksal war immer noch in höchstem Maße ungewiß. Sicher konnte er sich eine Weile bei jenen Indios aufhalten, die den Weißen gegenüber keine Feindseligkeiten hegten. Aber ebenso gut konnte er auch einem der blutrünstigen Kannibalenstämme in die Hände fallen, die in der Gegend der Orinoco-Mündung beheimatet sein sollten. Hilfe, vor allem für seine Gefährten, konnte er nur dann erwarten, wenn er eine der deutschen Niederlassungen im Landesinneren erreichte. Gewissensbisse wegen seiner Flucht hatte Johannes Lederer nicht. Auch kannte er Gerhard von Echten und die anderen gut genug, um zu wissen, wie sie die Dinge betrachteten. Nur dadurch, daß er den Spaniern entronnen war, konnten die anderen auf Befreiung hoffen. Sie wußten, wie sie ihn einzuschätzen hatten. Er war nicht der Mann, der nur um seiner selbst willen das Weite suchte. In welcher Form er seinen Gefährten Hilfe bringen konnte, war allerdings noch sehr zweifelhaft. Zwar gab es Niederlassungen seiner Landsleute in Venezuela, doch waren diese Stützpunkte mehr für Handels-
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und Forschungszwecke eingerichtet. Über eine nennenswerte bewaffnete Truppe verfügte man hier nicht - nichts jedenfalls, was man einer spanischen Festung entgegensetzen konnte. Die Befreiung der Gefangenen konnte folglich nur durch einen raffiniert geplanten Handstreich gelingen. Ein Sinnesimpuls ließ Johannes Lederer in seinem schweißtreibenden Vordringen innehalten. Er blinzelte, schloß die Augen und öffnete sie wieder. Aber es gab keinen Zweifel. Helligkeit drang durch das sich lichtende Grün. Wieder hob er das Haumesser und zertrennte die Stränge der Schlingpflanzen mit heftigeren, wild entschlossenen Schlägen. Die Helligkeit nahm zu, und plötzlich stach Sonnenlicht in seine Augen. Im Schutz einer Mangrovenwurzel verharrte er, ungläubig staunend. So weit sein Blick reichte, dehnte sich die Wasserfläche. im schwachen Wellengang funkelten Millionen von Lichtreflexen der Sonne. Geblendet schloß Johannes Lederer abermals die Augen. Er hätte einen Triumphschrei ausstoßen mögen. Es mußte der Golf von Paria sein, den er erreicht hatte, nichts anderes, keine Sinnestäuschung. Deutlich spürte er jetzt auch den klareren Luftzug, der die stickige Feuchtigkeit des Dschungels überlagerte. Als er wieder hinsah, hatten sich seine Pupillen genügend an die gleißende Helligkeit gewöhnt, um Einzelheiten zu erkennen. Bis zum seichten Uferwasser erstreckte sich blaßgelber Strand auf etwa hundert Yards. Und ... Unwillkürlich zog er den Kopf tiefer zwischen die Schultern. Da waren die Umrisse eines Schiffes. Jetzt sah er es deutlich, woran ihn die Blendwirkung der Sonne zuvor noch gehindert hatte. Fassungslosigkeit packte ihn, Noch wußte er nicht, ob er in Freudengeheul ausbrechen oder sich in Niedergeschlagenheit ergeben sollte. Aber der Silhouette nach war dieses kein spanisches Schiff. Es war schlanker und
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flacher gebaut als die plumpen Galeonen der Dons, die so sehr an behäbige Seekühe erinnerten, wenn sie sich den Bauch mit Gold und Silber vollgeschlagen hatten. Nein, dieser Dreimaster war mit Gewißheit kein Spanier. Er zeigte keine Flagge, und es war unter den gegebenen Umständen wohl auch besser, daß er seine Nationalität nicht prahlerisch demonstrierte. Immerhin hatten die Dons absolute Vorherrschaft im gesamten Gebiet des Golfes von Paria. Der Kapitän dieses Schiffes mußte entweder ein eiskalter Draufgänger oder ein ahnungsloser Engel sein, wenn er sich bis hierher vorgewagt hatte. Der Bauweise nach war das Schiff eine Galeone. Lederer schätzte ihre Kapazität auf dreihundert Tonnen. Die Masten hatten Überhöhe, wodurch eine wesentlich größere Segelfläche als bei den traditionellen spanischen Galeonen erreicht wurde. Durch die flache Bauweise hatte auch das Achterdeck nur eine geringe Neigung. An den jetzt geschlossenen Stückpforten ließ sich abzählen, daß der Dreimaster über je acht Kanonen auf Backbord und Steuerbord verfügte. Das schlanke Schiff lag vor Anker und schwojte sacht um die Trosse. Bei angestrengtem Hinsehen erkannte Johannes Lederer die Umrisse der Männer an Deck wie scharfgezeichnete Schatten. Sie fierten ein Beiboot ab. Was veranlaßte sie, an diesem menschenleeren Küstenstreifen an Land zu gehen? Sofern es darum ging, Vorräte zu ergänzen, hatten sie einen beschwerlichen Weg vor sich, bis sie landeinwärts auf eine Wasserstelle stoßen würden. Freunde der Spanier hatten solche Mühe nicht nötig. Sie konnten vor jeder beliebigen Ansiedlung ankern und ihre Laderäume auffüllen. Der einsame Mann spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, als die Rudergasten im Beiboot zu pullen begannen. Als ahnten sie von seiner Anwesenheit, steuerten sie ziemlich genau in seine Richtung. Konnte er aber so vermessen sein, von ihnen Hilfe zu erwarten?
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Er erschrak, als er plötzlich wieder Geräusche aus dem Dickicht hörte. Seine Rechte tastete zum Knauf der Pistole. Vielleicht war es sinnvoll, die Waffe jetzt zu benutzen. Die Fremden wurden dann schneller auf ihn aufmerksam. 2. Philip Hasard Killigrew, der auf der Achterducht saß, zog die Ruderpinne zu sich heran. Seine Männer pullten kraftvoll im Takt, das Boot schwenkte von der Bordwand der „Isabella VIII.“ weg und gewann rasch an Fahrt. Edwin Carberry, der bullige Profos, deutete mit einer Kopfbewegung zum Schanzkleid der Galeone, wobei er sein mächtiges Rammkinn vorreckte. „Nun sieh sich einer die beiden kleinen Stinte an! Die würden glatt hinterher springen, wenn sie sicher wären, daß es hier keine Haie gibt.“ „Ein bißchen Respekt haben sie eben doch noch“, bemerkte Ferris Tucker grinsend. Er, der riesenhafte Schiffszimmermann mit den leuchtend roten Haaren, wußte ebenso wie die anderen, daß der Seewolf solche Bemerkungen nicht krumm nahm. „Das besagt gar nichts“, widersprach Ed Carberry. „Vor Haien hat sogar der hirnloseste Affenarsch Respekt. Das ist nichts weiter als Selbsterhaltungstrieb oder so was.“ Hasard drehte sich lächelnd um, während das Boot nun mit Direktkurs dem Ufer entgegenrauschte. Seine Söhne platzten fast vor Wut. Das las er trotz der Entfernung noch in den Gesichtern der Zwillinge. Mit zornfunkelnden Blicken starrten sie über das Schanzkleid. Daß sie nicht mit an Land durften, würden sie ihm mal wieder nicht verzeihen. Mit ihren zehn Jahren hatten sie eine verteufelte Portion Temperament und bisweilen ebensolchen Starrsinn. Welche Scherereien sie der Crew der „Isabella VIII.“ schon bereitet hatten, nun, daran mochten sie nicht gern erinnert werden. Aber der Seewolf blieb in solchen Fällen hart. Zu oft hatten seine Herren Söhne schon Kopf und Kragen
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riskiert, indem sie an Land auf eigene Faust die unsinnigsten Erkundungsgänge unternahmen. Jedesmal hatten die Männer der Crew sie dann wieder herauspauken müssen. Äußerlich ähnelten sich die beiden wie ein Ei dem anderen. Schlank und schwarzhaarig, hatten sie den unverwechselbar gleichen Gesichtsschnitt wie der Seewolf. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen, und schon jetzt, mit ihren zehn Lebensjahren, standen sie ihren Mann bei den kleinen Arbeiten, die sie an Bord zu verrichten hatten. „Sie werden sich schnell beruhigen“, sagte Hasard und wandte sich nach vorn, „und wenn es gar nicht anders geht, muß ich ihnen eben mal wieder den Hosenboden strammziehen.“ „Das ist ein Wort“, knurrte Ed Carberry, „die Sprache, die sie am besten verstehen.“ Er pullte als Schlagmann, und trotz des Gesprächs trieb er die übrigen fünf Rudergasten zügig zu höherer Schlagzahl an. „Unser Profos redet so, als ob er eine Menge von Kindererziehung versteht“, bemerkte Dan O'Flynn feixend. Der schlanke junge Mann zog den Kopf ein wenig tiefer, denn Carberry saß auf der Ducht vor ihm und brauchte nur kurz hinzulangen, wenn er wollte. Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, bedachte seinen Freund Dan mit einem Seitenblick und entblößte die makellosen Reihen seiner perlweißen Zähne. „Woher willst du wissen?“ fragte Batuti. „ ,Isabella` hat schon viele Häfen angelaufen, und wo viele Häfen sind ...“ „... sind auch eine Menge hirnrissige Bilgenratten“, fiel ihm der Profos schnaubend ins Wort, „solche, die den lieben langen Tag nichts Besseres zu tun haben, als dummes Zeug zu quatschen. Das färbt dann auf die ehrenwerten Sealords ab, und zurück auf ihrem Kahn, plappern sie das ganze dumme Zeug nach. Als ob sie die Weisheit mit Löffeln gefressen hätten!“
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„Oho, unser Profos hat es wieder erfaßt!“ rief Sam Roskill, der ehemalige KaribikPirat. „Reines Ablenkungsmanöver“, sagte Bob Grey grinsend, „wer weiß, wie viele kleine Carberrys es gibt, denen er rund um die Erde öfter mal den Hintern versohlen muß.“ Der Profos lief rot an. Jetzt hatte er Mühe, mit seiner Schlagzahl nicht aus dem Takt zu geraten. Hasard mußte sich anstrengen, um ein Lächeln zu unterdrücken. „Wenn ihr nicht gleich die Luke haltet“, brüllte Ed Carberry los, „dann ziehe ich euch ...“ „…die Haut in Streifen von euren Affenärschen“, fielen die anderen im Chor ein und mußten an sich halten, um nicht in Gelächter auszubrechen. Jeden einzelnen der Carberry-Sprüche kannten sie auswendig, und es gab Situationen, in denen sie es riskieren konnten, ihn ein bißchen auf den Arm zu nehmen. Ed Carberry schluckte trocken hinunter. Seine Schläfenadern schwollen an, und sein Groll führte zunächst dazu, daß er die Schlagzahl noch mehr steigerte. Die anderen mußten sich anstrengen, um mitzuhalten. Das Boot jagte mit rauschender Fahrt dem Ufer entgegen, als gelte es, dem Leibhaftigen persönlich zu entrinnen. Jeder andere Kapitän hätte nun eingreifen müssen, um die Autorität seines Profos' nicht untergraben zu lassen. Der Seewolf wußte indessen, daß er diesem Wortgeplänkel keine Bedeutung beizumessen brauchte. Wenn, dann nur so viel, daß seine gesamte Crew in der Tat wie Pech und Schwefel zusammenhielt. Und zwischen dem Profos und dem Rest der Mannschaft gab es ein besonderes Vertrauensverhältnis, das durch die kleinen Freundlichkeiten eher noch gefestigt wurde. Wellengang und hohe Fahrt ließen die beiden leeren Fässer auf den Bodenplanken der Jolle rumpeln. Wegen eines Sturmes südlich von Trinidad und Tobago hatte Hasard seinen ursprünglichen Plan
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aufgegeben, die beiden Inseln östlich zu umrunden und direkten Kurs auf die Kleinen Antillen zu nehmen. Durch den Serpents Mouth hatten sie daher Zuflucht im Golf von Paria gesucht. Günstigere Wetterbedingungen hatten es ihnen hier ermöglicht, ohne wesentlichen Zeitverlust weiter nach Norden zu segeln. Durch den Drachensund konnten sie voraussichtlich in drei Tagen das Karibische Meer erreichen. Da sie nicht wußten, wie weit sie landeinwärts vordringen mußten, um geeignetes Frischwasser zu finden, hatte der Seewolf vorsorglich ausreichende Bewaffnung angeordnet. Jeder der Männer trug neben dem Entermesser eine Pistole, sechs geladene Musketen lagen quer über den mittleren Duchten des Beiboots. Sehr rasch näherten sie sich dem schmutziggelben Strand, der von der dunkelgrünen Wand des tropischen Regenwalds begrenzt wurde. Hasard gab dem Profos ein Handzeichen, und die Männer zogen die Riemen in dem Moment ein, als der Bootskiel auf den weichen Sand knirschte. Während der Seewolf seinen Blick prüfend über das undurchdringlich scheinende Dickicht gleiten ließ, sprangen Dan O'Flynn und Batuti als erste ins seichte Uferwasser, um das Boot höher an Land zu ziehen. Die Gestalt wankte plötzlich auf den Strand und hob den Arm, um die Augen vor dem jähen grellen Sonnenlicht zu schützen. In seiner Verblüffung vermochte Hasard nicht festzustellen, wo sich der Mann verborgen gehalten hatte. Bevor der Seewolf einen Befehl geben konnte, geschah es. Schüsse krachten in rascher Folge. Während Wolken von Pulverdampf aus dem Unterholz quollen, hetzte der Mann auf dem Strand los und schlug wilde Haken. Die Männer aus dem Beiboot der „Isabella“ überwanden ihre Überraschung von einem Atemzug zum anderen. Worte waren überflüssig. Sie waren aufeinander
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eingespielt wie das Räderwerk in einem dieser neumodischen Uhrwerke. Der Mann, der den Kugeln seiner Verfolger zu entkommen versuchte, zerrte eine Pistole unter seinem Gurt hervor. Batuti und Dan O'Flynn stürmten bereits auf den Dschungel zu, etwa fünfzig Yards seitlich von der Stelle, an der die Schießer im Dickicht hockten. Ihr Feuer geriet jetzt ins Stocken. Sie schienen zu begreifen, daß ihre Lage schwierig wurde. Ed Carberry und Ferris Tucker hatten sich blitzschnell Musketen gegriffen und lagen flach, die Stiefel noch im seichten Wasser. Hasard schwang sich mit einem Satz nach außenbords und landete im kniehohen Wasser, mit Deckung hinter dem Spiegel des Bootes. Bob Grey und Sam Roskill lagen auf den Bodenplanken der Jolle und brachten ihre Musketen in Anschlag. Hasard zog seinen Radschloßdrehling. Die schwere Waffe war mit einem Bündel von sechs Läufen ausgestattet, auf einer Achse drehbar gelagert. Der Fliehende warf sich jetzt herum und brachte seine Pistole in Anschlag. „Feuerschutz!“ rief der Seewolf. Noch während er die letzte Silbe hervorstieß, schnellte er los. Die Musketen seiner Männer krachten ohrenbetäubend. Batuti und Dan O'Flynn hatten das schützende Dickicht erreicht. Der Mann auf dem Strand drückte ab, doch seine Pistole gab nicht mehr als ein Klicken von sich. Das Feuer der Verfolger war verstummt. Wieder krachten zwei Schüsse vom Beiboot her. Die Musketen waren jetzt abgefeuert. Blieben noch die Pistolen von Ed Carberry, Ferris Tucker, Bob Grey und Sam Roskill. Hasard stürmte an dem Mann vorbei, der in fliegender Hast den zweiten Hahn seiner doppelläufigen Kurzwaffe spannte. „In Deckung!“ brüllte der Seewolf. „Hinter das Boot!“ Aus den Augenwinkeln heraus sah er noch, wie ihn der Mann entgeistert anstarrte. Dann krachten die Pistolen. Hasard konnte sich nicht mehr um den Verfolgten
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kümmern. Ihm blieben nur noch Sekunden, um das Dickicht zu erreichen. So lange, wie seine Männer den Feuerschutz aufrechterhalten konnten. Mit den kurzläufigen Waffen brachten sie auf die Entfernung zwar keine gezielten Schüsse zustande, aber es genügte immerhin, um die Gegner in Deckung zu halten. Nur noch fünf oder sechs Schritte trennten den Seewolf vom Unterholz, rechter Hand von der Stelle, an der die Pulverwolken hervorgequollen waren. Das Feuer seiner Männer verstummte. Im Dickicht entstand Bewegung. Die Kerle, die dort lauerten, wußten sehr gut, wieviel Zeit man zum Nachladen einer einschüssigen Vorderladerwaffe brauchte. Ed Carberry, Ferris Tucker und die beiden anderen nahmen sich diese Zeit nicht. Mit Gebrüll stürmten sie los, den Strand herauf. Mit einem letzten Satz erreichte Hasard eine mehr als mannshohe Mangrovenwurzel. Zehn Schritte entfernt, zur Linken, blinkte heller Stahl im Sonnenlicht. Hasard wirbelte herum und riß den Drehling zum Beidhandanschlag hoch. Aus der Bewegung heraus spannte er den Hahn, zog durch, und der Flint sprühte Funken auf dem Reibrad. Er war um die Zeitspanne schneller, die die Funken brauchten, um das Zündkraut zu erreichen. Während die Pulverfahne mit hellem Zischen emporstieg, sah Hasard den Helm und den Brustpanzer. Das Laufbündel lag in der Visierlinie, und einen Sekundenbruchteil nach dem Fauchen des Zündkrauts wummerte der Schuß. Der Spanier hatte es noch geschafft, seine Pistole in Anschlag zu bringen. Aber die Kugel, die sich löste, zirpte in den azurblauen Himmel. Der Mann kippte zur Seite weg und rollte auf den Strand hinaus, wo er reglos liegen blieb. Schüsse krachten jetzt aus dem Inneren des Dschungels. Batuti und Dan O'Flynn! Ein grimmiges Lächeln spielte um die Lippen des Seewolfs. Er verließ seine Deckung.
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Edwin Carberry und die anderen waren fast heran. Der Fremde hatte sich ihnen angeschlossen und hielt ein furchterregend großes Haumesser in der Rechten. Im Unterholz wurde es lebendig. Batuti und der junge O'Flynn scheuchten die Dons erbarmungslos aus ihrem Hinterhalt. Welche Motive die Spanier auch immer bewegten, für Philip Hasard Killigrew lag die Schlußfolgerung auf der Hand. Wer eine halbe Armee losschickte, um einen einzelnen Mann zu verfolgen, der hatte keine lauteren Absichten. Sie hatten noch ihre Pistolen. Drei Mann lösten sich gleichzeitig aus dem Dickicht. „Achtung!“ brüllte der Seewolf und hatte den Drehling schon im Anschlag. Augenblicklich lagen Carberry und die anderen flach. Das Wummern des Drehlings vermischte sich mit den helleren Pistolenschüssen der Spanier. Ihre Kugeln fauchten bedrohlich nahe über die am Boden Liegenden weg und rissen kurz vor dem Uferwasser Sandfontänen hoch. Doch die Schüsse des Seewolfs trafen mit erbarmungsloser Präzision. Die drei Spanier schafften es nicht mehr, ihre Säbel herauszureißen und den Kampf fortzusetzen. Aus dem Dickicht ertönten jetzt wildes Gebrüll, Kampfeslärm, Kommandos auf spanisch und das helle Klirren von Stahl, der auf Stahl prallte. Hasard brauchte seinen Männern keine Zeichen zu geben. Sie waren bereits auf den Beinen. Gemeinsam mit ihm drangen sie in das Unterholz vor. Der Seewolf schob seinen Drehling unter den Gurt und zog den Cut-lass. Hier, wo es kein übersichtliches Schußfeld gab, waren Pulver und Blei nicht viel wert. Im Handumdrehen erfaßten sie die Lage. Fünf Spanier waren es noch, die auf einer winzigen Lichtung auf Batuti und Dan O'Flynn eindrangen. Angesichts der drohend blitzenden Säbelklingen war deutlich, daß die beiden sich ihrer Haut nicht mehr lange erwehren konnten. Hasard war als erster auf der Lichtung, sprang über zwei Spanier weg, die reglos
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am Boden lagen, und stieß den Cutlass hoch. „Ar - we - nack!“ brüllte er mit Donnerstimme, und die anderen fielen mit ein. „Ar - we - nack!“ Der alte Kampfruf derer von der Feste Arwenack in Cornwall hallte grollend durch den Dschungel und übertönte die kreischenden und zeternden Tierstimmen. Die Spanier wirbelten herum, und ihre rasch aufgebaute Kampfformation, auf nur zwei Gegner abgestimmt, geriet in Unordnung. Einer von ihnen, ein Riese von Kerl, der die Rangabzeichen eines Teniente trug, stürmte mit heiserem Angriffsschrei auf den Seewolf los. Hasard ließ ihn heran, parierte mit eiskalter Ruhe, und dann prallten die Klingen hell klirrend aufeinander. Aus den Augenwinkeln heraus sah Hasard, wie der Fremde sein Haumesser schleuderte. Einer der Spanier, der sich zu weit von den anderen weggewagt hatte, sank mit gurgelndem Laut zu Boden. Nur noch Minuten währte der verbissene Kampf. Ein unsicherer Schritt seines Gegners gab dem Seewolf die Gelegenheit, blitzschnell zu reagieren. Er unterlief den neuerlichen Angriff, und die Klinge seines Cutlass flirrte schräg von oben nieder. Jähe Stille kehrte ein, und für den Moment war auch die Lärmkulisse des Dschungels verstummt. Hasard schob seinen Säbel zurück in die Scheide. Die Bewegung, mit der er es tat, hatte etwas Endgültiges. Es gab hier nichts mehr zu tun. Der Kampf war hart und grausam gewesen, doch sie hatten keine andere Wahl gehabt. Sie wußten, was ihnen geblüht hätte, wenn nur einer von ihnen den Spaniern in die Hände gefallen wäre. Die Seewölfe wandten sich ab und nahmen den Mann in ihre Mitte, der ihnen sein Leben verdankte. 3. Der Hafen der Festung Macuro bestand aus Pfählen. Hunderte von ihnen, vielleicht
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mehr als tausend, waren in den weichen Grund gerammt worden, damit sie die Bretter trugen, aus denen Stege, Anleger und Plattformen zusammengezimmert worden waren. Bereitwillig hatten die Spanier das Verfahren der Eingeborenen übernommen, die ihre Hütten vor der Mangrovenküste bauten. Eine solche Pfahlbausiedlung grenzte unmittelbar westlich an den Hafen von Macuro. Zwischen dem Gewirr der algenbewachsenen Pfähle lagen flache Einbäume, und aus den Eingängen der Hütten starrten braunhäutige Menschen herüber, die das Geschehen in stumpfer Apathie verfolgten. Jene Pfahlbausiedlungen hatten dem Land seinen Namen gegeben. Genau zweiundneunzig Jahre waren vergangen, seit die Entdecker Alonso de Ojeda und Amerigo Vespucci 1499 an der Küste entlang bis zum Maracaibosee gesegelt waren. Auf dieser Reise hatten sie zum ersten Mal die Pfahlbauten der Indios gesehen, und dabei waren Erinnerungen an Venedig wach geworden. Vespucci und de Ojeda hatten diese Land „Venezuela“ getauft, was nichts anderes als „KleinVenedig“ bedeutete. Ein hartes Lächeln kerbte sich in die Mundwinkel Gerhard von Echtens, während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen. Knapp drei Jahrzehnte nach jener ersten Erforschung Venezuelas war der Vertrag mit dem Augsburger Bankhaus geschlossen worden, der sich nun für die zwanzig Männer unter von Echtens Kommando als äußerst verhängnisvoll erwiesen hatte. Ob und wann die Auftraggeber in Deutschland jemals von diesem Zwischenfall erfahren würden, stand in den Sternen. Vorerst gab es für die Männer, die schwer an ihren Ketten zu schleppen hatten, jedenfalls nicht die geringste Hoffnung. In Reihe wurden sie durch das Tor der Palisadenbefestigung getrieben. Jetzt erstreckte sich der gerodete Küstenabschnitt in voller Breite in ihrem Blickfeld. Barsche Befehle der spanischen
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Soldaten trieben sie voran und hinderten sie, sich Einzelheiten genauer einzuprägen. Gerhard von Echten wandte kaum merklich den Kopf. Die Festungsanlage war mit hölzernen Ecktürmen ausgestattet. Auch das große Tor wurde beiderseits von solchen Türmen begrenzt. Ihre quadratischen Plattformen waren mit Dächern geschützt, und es bestand kein Zweifel, daß dort oben schwere Geschütze in stationären Lafetten ruhten. Eine wirksame Sicherung für den Hafen, die sicherlich auch landeinwärts auf ähnliche Weise bestand. Die Gefangenen wurden auf einen der beiden breiten Stege getrieben, die vom Strand zu den einfachen hölzernen Piers hinausführten. Es wehte eine schwache Brise, die die Gluthitze nicht zu mildern vermochte. Gerhard von Echten erreichte den Steg als letzter. Die schweren Fußketten, die er und seine Männer hinter sich herzogen, hatten ein Rillenmuster im Sand zurückgelassen. Zwei Soldaten, die ihn flankierten, bildeten die Nachhut des Bewachungskommandos. Von Echten ließ seinen Blick über die Piers gleiten. Er zählte sieben Galeeren, die dort vertäut lagen. Zur Rechten befand sich eine Werftanlage, auf deren Helling eine weitere Galeere lag. Hammerschläge und das Kreischen von Sägeblättern klangen herüber. Unter einem provisorischen Dach aus Segeltuch waren die Arbeiter vor der sengenden Sonne geschützt. Sigmund Haberding, der vor von Echten ging, verfing sich plötzlich in den Fußketten seines Vordermannes, stolperte und konnte sein Gleichgewicht nicht halten. Als er sich mit den Händen abstützte, war einer der Soldaten blitzschnell zur Stelle und hieb ihm die Stiefelspitze in die Seite. Haberding unterdrückte einen Schmerzenslaut und schlug endgültig hin. „Aufstehen, du Hund!“ brüllte der Soldat und trat abermals zu. „Willst du wohl parieren, du Dreckskerl!“ Sigmund Haberding krümmte sich. Keuchend begann er sich aufzurappeln.
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Gerhard von Echten konnte seine Wut nicht unterdrücken. Doch er versuchte vergeblich, sich auf den Spanier zu werfen. Noch im Ansatz seiner Bewegung wurde er an den Oberarmen gepackt, und ein Knie stieß schmerzhaft in seinen Rücken. Der Atem des anderen Soldaten umwehte ihn von hinten. „Schön ruhig bleiben, Amigo! Oder willst du einen Vorgeschmack auf die Hölle, die dich da draußen erwartet?“ Gerhard von Echten ließ seine Muskeln erschlaffen. Er schwor sich, daß dies seine erste und letzte unüberlegte Handlung gewesen war. Durch so etwas konnte er die Lage für seine Männer nur verschlechtern. Für eine sorgsam geplante Aktion gegen die Spanier war die Zeit noch nicht reif. Dazu mußten sie erst mit den Verhältnissen vertraut sein, mit dem Tagesablauf und mit allen Einzelheiten. Nach einem dritten Fußtritt des Soldaten gelangte Sigmund Haberding wieder auf die Beine. Der andere lockerte seinen Griff und ließ von Echten schließlich los. Einen Moment war der träge Marschtritt der Gefangenen. ins Stocken geraten. Sofort setzte wütendes Gebrüll der Bewacher ein, und unter Hieben und Stößen bewegten sich die gepeinigten Männer weiter voran. Gerhard von Echten spürte, daß die Spanier jetzt geradezu auf einen weiteren Zwischenfall lauerten. Sie hatten Blut geleckt und würden beim nächstenmal nur noch härter und gemeiner zuschlagen. Bevor Haberding sich wieder nach vorn wandte, wechselte von Echten einen raschen Blick mit ihm. Sie verstanden sich ohne Worte. Sei vorsichtig, bedeutete der Blick, gib ihnen keinen Anlaß mehr, ihr Mütchen an dir zu kühlen! Der Steg führte etwa fünfzig Yards weit hinaus und knickte dann rechtwinklig nach links ab. Der andere Steg, mehr als hundert Yards entfernt, war ebenfalls rechtwinklig gebaut, jedoch in entgegengesetzter Richtung. In dem Becken, das dadurch gebildet wurde, lagen vier einmastige Schaluppen, die offenbar nur einen äußerst geringen Tiefgang hatten. Zum Meer hin ließen die Kopfseiten der Stege einen
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Durchlaß von zehn Yards Breite. Den Flanken der Stege vorgelagert waren jene kurzen Piers, an denen die Galeeren mit dem Heck vertäut lagen. Die Galionssporne zeigten auf die offene Wasserfläche hinaus. Über das, was sie auf einem solchen Schiff erwartete, gab sich keiner der zwanzig Deutschen irgendwelchen Illusionen hin. In allen Häfen dieser Welt kursierten Geschichten darüber, welche Erniedrigungen und Torturen Galeerensklaven erdulden mußten. Diese Schauergeschichten hatten vergessen lassen, daß Galeeren und Galeassen früher eigentlich nur von berufsmäßigen Ruderern bemannt gewesen waren - wie etwa in den ruhmreichen Zeiten Venedigs. Aber seit es üblich geworden war, Menschen auf den Ruderbänken anzuketten, stand allein das Wort „Galeere“ für den Inbegriff der Hölle. Während sie weitergetrieben wurden, hatte Gerhard von Echten nur flüchtig Gelegenheit, die flachen Schiffe zu betrachten. Zweifellos waren sie für den Einsatz in den flachen Küstengewässern des Golfes von Paria besser geeignet als zwei- oder dreimastige Segelschiffe, die ausschließlich die Windkraft nutzten. Sechs der an den Piers vertäuten Galeeren waren von einheitlicher und schmuckloser Bauart, etwa dreißig bis fünfunddreißig Yards lang, mit nur einem Mast, an dem ein Lateinersegel geführt wurde. Eine Galeere hob sich jedoch durch ihr Äußeres von den anderen ab, und es verwunderte Gerhard von Echten nicht, daß sie geradewegs auf dieses Prunkschiff zugeführt wurden. Es war gut fünfzig Yards lang und hatte ein reich verziertes Heck. Wappenschilde und Medaillons waren mit kunstvoll geschwungenen Linien verbunden. Die Einlegearbeiten leuchteten in verschiedenen Farben, der Schriftzug „Virgen de Murcia“ war mit Blattgold unterlegt. über dem ausladenden Heckaufbau dehnte sich ein Sonnendach aus schwerem, rot gefärbtem Segeltuch, das an den Kanten mit Fransen besetzt war.
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Wie bei allen Galeeren üblich, gab es an den beiden Außenseiten der Plattform je eine herabhängende Treppe, über die man an Bord gelangte. Das massive Stufenholz war fest eingebaut, wurde also während der Fahrt nicht eingeholt. Ein untersetzter Sargento, der die Gruppe der Soldaten befehligte, baute sich neben der Steuerbord-Hecktreppe auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. Auf seinen barschen Befehl hasteten vier Soldaten an Bord. Die übrigen stellten sich in Reihe auf, um die Gefangenen auf der Pier zu flankieren. Gerhard von Echten sah, wie der Unterführer höhnisch grinsend eine Verbeugung und eine einladende Handbewegung andeutete. „Vorwärts, Amigos, für euch haben wir die besten Plätze reserviert!“ Die Vordersten in der Formation der Gefangenen setzten sich in Bewegung und erklommen die Stufen, die zur Heckplattform hinaufführten. Nach und nach folgten ihnen die anderen. Das Klirren ihrer Ketten vereinte sich zu einem alles bestimmenden Geräusch. Nur für wenige Schritte genossen sie den wohltuenden Schatten unter dem Sonnendach, dann wurden sie von der Gluthitze empfangen, die mittschiffs über den Plankengängen und den Ruderbänken lastete. Die Brise war nicht stark genug, um den Geruch von Menschenschweiß und Kalfaterpech zu verwehen. Atemlose Stille herrschte an Bord, nur unterbrochen vom Klang der Ketten. Einhundertdreißig Augenpaare waren groß und starr auf die Neuankömmlinge gerichtet. Ausnahmslos Indios hockten auf den Ruderbänken. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, nur ihre Augen schienen einen Rest von Leben bewahrt zu haben, der das Ungeheuerliche des Geschehens zu erfassen vermochte. Gerhard von Echten sah mit einem Blick, daß genau zwanzig Plätze frei waren, gleich achtern, vor der schattigen Heckplattform, die der Schiffsführung vorbehalten blieb. Es gab insgesamt fünfzig Ruderbänke, auf jeder Seite
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fünfundzwanzig. Jeweils drei Ruderer saßen auf einer Bank, und jeder hatte einen Riemen von gut zwölf Yards Länge zu bewegen. Jetzt ertönten wieder die barschen Befehle der Soldaten, als sie die Gefangenen auf die freien Ruderbänke scheuchten. Von der sehr flach gebauten Back löste sich eine Gestalt, bei deren Anblick die Indios sofort die Köpfe tiefer zogen. Ein Schauer lief Gerhard von Echten über den Rücken, als er den Kerl sah. Ein Riese von Statur, sowohl in seiner Körpergröße als auch in seiner Breite. Mindestens zwei Zentner Lebendgewicht schleppte der Bursche mit sich herum. Außer einer Leinenhose mit breitem Gurt über dem mächtigen Bauch war er unbekleidet. Kleine tückische Augen funkelten in seinem feisten Gesicht. Sein Kahlkopf leuchtete in der Sonne. Da er eine schwere Lederpeitsche in der Rechten trug, bestand kein Zweifel über die Aufgabe, die dieser Koloß an Bord der „Virgen de Murcia“ zu erfüllen hatte. Er watschelte mit beträchtlicher Geschwindigkeit über den Plankengang heran, der sich von der Back bis zum Achterdeck in erhöhter Position zwischen den Ruderbänken entlangzog. Einige der Gefangenen verhedderten sich in ihren Ketten, als sie von den Soldaten auf die Bänke gestoßen wurden. Gerhard von Echten hielt den Atem an. Er wußte, was jetzt folgte. Der kahlköpfige Stockmeister stieß einen heiseren Wutschrei aus. Mit einem letzten Satz, der seine Körpermassen erbeben ließ, war er zur Stelle. Die geflochtene Lederschnur der Peitsche zischte nieder. Ein scharfer, klatschender Laut folgte. Der Getroffene, der zwischen den Bänken gestrauchelt war, schrie schmerzerfüllt auf. Er stürzte gegen die Indios auf der Bank davor, doch die braunhäutigen Männer rührten sich nicht und wagten nicht, ihm aufzuhelfen. Noch zweimal schlug der Stockmeister zu. Abermals gellten Schreie, als zwei weitere Männer getroffen wurden, die nicht sofort
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den rechten Platz auf ihrer Bank gefunden hatten. Gerhard von Echten empfand ohnmächtige Wut, die wie eine brennende Woge in ihm aufstieg. Der Anblick des kahlköpfigen Fettwanstes, der breitbeinig auf dem Plankengang lauerte, brachte seinen Zorn fast zum überkochen. Von Echten mußte alle Willenskraft aufwenden, um sich zu beherrschen. Er folgte Sigmund Haberding und den anderen, die sich wieder in Bewegung setzten. Der Zufall wollte es, daß Haberding und von Echten ihren Platz nebeneinander auf der letzten Bank an Steuerbord zugewiesen erhielten. Sie mußten den Kopf weit in den Nacken legen, wenn sie zu der Schmuckbalustrade aufblicken wollten, die die Plattform unter dem Sonnendach begrenzte. Gerhard von Echten war Vormann auf seiner Bank, saß also direkt am Plankengang und würde später den Takt vorzugeben haben, wenn die Schinderei begann. Die Spanier ahnten offenbar nicht, daß Sigmund Haberding sein Stellvertreter war. Äußerlich war Haberding nicht das, was man einen auffälligen Menschen nennen konnte. Dunkelblond, mittelgroß und von schmaler Statur, schien er alles andere als ein harter Kämpfer zu sein. Doch dieser Eindruck trog. Gerhard von Echten hatte in seinem Leben nur wenige Leute kennen gelernt, die Intelligenz und körperliche Kraft und Gewandtheit gleichermaßen hatten. Sigmund Haberding, Baumeister und Landvermesser von Beruf, gehörte zu dieser seltenen Spezies. Bei der Planung der Venezuela-Expedition hatte er keine Eventualitäten außer acht gelassen. Die Gruppe unter Gerhard von Echten war dank der Leistung seines Stellvertreters exzellent ausgerüstet gewesen und hätte monatelang ohne fremde Hilfe im unwegsamsten Dschungel aushalten können. Nur eins hatte niemand einplanen können: jene unliebsame Konfrontation mit den Spaniern, die sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen hatte.
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Der Sargento und sein Bewachungskommando blieben unter dem Sonnendach des Achterdecks. Eine andere Gruppe von Soldaten, die offenbar zur Schiffsbesatzung gehörten, eilte von der Back her auf die neuen Ruderknechte zu. Sie schleppten Ringe und Eisenstangen heran, mittels derer die Fußketten der Gefangenen an den Stützleisten vor den Bänken befestigt wurden. Die Handketten wurden unlösbar mit den Griffstücken der schweren Riemen verbunden. Unlösbar jedenfalls für die Gefangenen, weil die Augbolzen mit dem Hammer festgeschlagen wurden und später nur mit einer Zange herausgezogen werden konnten. Der Stockmeister wartete geduldig, bis die Soldaten ihre Arbeit verrichtet hatten und sich wieder auf die Back begaben. Sie verfügten dort ebenfalls über ein Sonnendach aus Segeltuch, das auf einer Firststange ruhte. Letztere lag in einer Halterung am Fockmast und auf einer Traverse vor dem Galionssporn. Im Gegensatz zu den kleineren Galeeren hatte die „Virgen de Murcia“ zwei Masten, an denen Rahsegel gefahren wurden. Dieses war unüblich, denn die Galeeren, die Gerhard von Echten aus dem Mittelmeerraum kannte, verwendeten ausnahmslos Lateinersegel. Möglicherweise hatten sich die Baumeister dieser Prunkgaleere aber für die Rahbesegelung entschieden, weil sie für die bisweilen auftretenden tückischen Stürme im Golf von Paria besser geeignet waren. Überhaupt mußten die hier stationierten Galeeren in Venezuela gebaut worden sein, denn eine Überquerung des Atlantiks war mit Schiffen dieser Art ein allzu waghalsiges Unterfangen. Das Armierungssystem der Galeere war so überholt wie der Schiffstyp selbst. Auf einer Plattform am Bug ruhte ein überschwerer Mörser. Außerdem gab es vier Drehbassen, je zwei vorn und achtern an Backbord und Steuerbord. Den Rest an Feuerkraft hatte die Schiffsbesatzung mit
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Musketen und Armbrüsten zu bewerkstelligen. Nach Meinung der Spanier waren Galeeren aber wegen ihrer Wendigkeit und ihres geringen Tiefgangs für Einsätze in Küstennähe noch immer am besten geeignet. Gegner dieser Ansicht behaupteten indessen, daß Galeeren heutzutage bestenfalls noch gut dafür waren, größere Segelschiffe bei ungünstigem Wind in den Hafen zu schleppen. Dieselben Gegner wiesen auch darauf hin, daß eine Galeere gegen ein Kriegsschiff unter Segeln nur dann eine Chance hatte, wenn es ihr gelang, vier Strich von achtern heranzurudern. Nur dadurch gelangte sie in den toten Winkel der feindlichen Bordgeschütze, und das wiederum war meist nur bei einer Flaute möglich. Das heisere Organ des Stockmeisters störte Gerhard von Echten in seinen Gedanken. „Herhören, ihr verdammten Hunde! Ihr habt ab sofort die Ehre, eins der prächtigsten Schiffe im Golf von Paria rudern zu dürfen. Wer sich dieser Ehre unwürdig erweisen sollte, kriegt die Peitsche zu schmecken. Ist das klar?“ Der feiste Kahlkopf blickte mit seinen schmalen kleinen Augen in die Runde. Er nickte zufrieden, als niemand es wagte, einen Laut von sich zu geben. Dann fuhr er fort: „Ich werde euch jetzt zeigen, was ihr zu tun habt. Und gnade euch Gott, wenn das nachher nicht klappt! Wir haben nämlich Order für eine Inspektionsfahrt nach Punta Penas. He, du!“ Er wandte sich zur Seite und stieß einem der Indios mit dem Peitschenstiel gegen die Schulter. „Hoch mit dir! Zeig den Neuen, wie man pullt!“ Der Eingeborene sprang von seiner Ruderbank auf und packte den Riemen, der wie alle anderen in Ruhestellung arretiert war. Seine beiden Nebenmänner mußten dem Beispiel folgen, denn die drei Riemen einer Bank ließen sich nur gleichzeitig bewegen. „Aufpassen jetzt!“ brüllte der Stockmeister. „Seht genau her, ihr Mistkerle! Wir fangen an mit dem ersten
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Takt. Der Vormann steht als erster auf, und die beiden anderen folgen ihm jeweils einen. Moment später. Den richtigen Zeitabstand kriegt ihr von selbst raus, wenn ihr erst mal angefangen habt. So! Und jetzt ...“ Er deutete auf den Indio, der nach seinen Worten die entsprechenden Bewegungen vollführte. „... einen Schritt vor, rechten Fuß auf die Fußraste und – fallen lassen!“ Der Indio sackte zurück auf seine Bank. „Damit ihr's kapiert“, blaffte der Kahlkopf, „durch diesen Bewegungsablauf taucht das Riemenblatt mit einer kurvenförmigen Linie ins Wasser. Weshalb das wichtig ist, braucht ihr nicht zu wissen.“ „Bestmögliche Ausnutzung der Hebelwirkung“, flüsterte Sigmund Haberding. Gerhard von Echten nickte kaum merklich. „Sei still!“ zischte er, ohne den Stockmeister aus den Augen zu lassen. Dieser hatte zum Glück nichts bemerkt. Es war sinnlos, wenn sie sich von Peitschenhieben traktieren und dadurch ihre Kraftreserven schmälern ließen. Denn ihre Energie würde rasch dahingeschmolzen sein. Wenn es aber irgendwann eine Chance für sie geben sollte, dann brauchten sie wenigstens ein Mindestmaß an Stehvermögen. „Jetzt haben wir nur noch den dritten Takt“, fuhr der Kahlkopf mit dröhnender Stimme fort. „Und dieser dritte Takt leitet zugleich wieder den ersten Takt ein. Folgendermaßen: Riemen aus dem Wasser und — aufstehen!“ Der Indio-Vormann und seine Banknachbarn demonstrierten auch diese Bewegung. „Seht ihr, so einfach ist das. Eigentlich ein Kinderspiel. Ihr könnt froh sein, daß ihr rudern dürft, statt in einem Kerker ohne Licht und Sonne hocken zu müssen.“ Er lachte scheppernd, und dabei sah es aus, als wollten sich die Fettwülste an seinem Oberkörper selbständig machen. „Gut. Die Neuen werden das jetzt mal bankweise und dann alle zusammen üben.“ Er watschelte zwei Schritte in Richtung Achterdeck und zeigte mit der Peitsche auf Gerhard von
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Echten. „Du bist Vormann, Amigo, und deine Nebenmänner richten sich nach dir! Also los!“ Von Echten gehorchte. Er stellte sich unbeholfener an, als er war, bemühte sich aber, keine schwerwiegenden Fehler zu begehen. Jeder unnötige Peitschenhieb, den er kassierte, konnte sich später als Nachteil erweisen. Nach den ersten vier, fünf Versuchen klappte es zur Zufriedenheit des Stockmeisters. Die nächsten Bankmannschaften folgten, und sie alle hatten inzwischen begriffen, daß sie sich nach Gerhard von Echtens Beispiel richten und die Peitsche vermeiden mußten. Nach dem abschließenden gemeinsamen Üben stieß der kahlköpfige Koloß einen besänftigten Knurrlaut aus. „Na fein! Seht zu, daß es genauso gut funktioniert, wenn der Capitan nachher an Bord ist. Immerhin“, er setzte ein hinterhältiges Grinsen auf, „müßt ihr euch die Essensrationen erst verdienen. Vergeßt das nicht.“ Er wandte sich abrupt ab und begab sich mit kurzen, schnellen Schritten zurück zur Back, wo er über einen schattigen Stammplatz zum Ausruhen verfügte. Die Soldaten, die unter dem Kommando des Sargento standen, postierten sich auf dem Plankengang. Offenbar mißtrauten sie den neuen Ruderknechten noch. Erst wenn sie genügend geschunden waren, brauchte man mit etwaiger Aufmüpfigkeit von ihnen nicht mehr zu rechnen. Die nächste halbe Stunde verrann, ohne daß etwas geschah. Weder die Indios noch die neuen Galeerensträflinge wagten es, ein Wort zu wechseln. Unter der sengenden Sonne rann ihnen allen trotz der Tatenlosigkeit der Schweiß in Strömen über die Haut. Auch den Soldaten war keineswegs behaglich zumute. Sie schwitzten unter ihren Panzern und Helmen und bedachten die Gefangenen, denen sie diesen Einsatz zu verdanken hatten, mit mißbilligenden und teilweise sogar haßerfüllten Blicken. Unvermittelt wurde die lähmende Stille an Bord durchbrochen.
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Schläge einer einzelnen Trommel ertönten im Marschtritt, näherten sich rasch, und es bestand kein Zweifel, daß die „Virgen de Murcia“ das Ziel war. Schon strafften die Soldaten auf dem Plankengang und unter dem Sonnendach ihre Haltung. Der Sargento verharrte zwei Schritte abseits von seinen Männern in Habtachtstellung. Die Trommelschläge dröhnten jetzt. Schritte polterten auf Holzplanken, und die Männer auf den Ruderbänken spürten, wie das Schiff durch die zusätzliche menschliche Last in kaum merkliche Bewegung geriet. „Atención!“ brüllte der Sargento. „Achtung!“ Die Soldaten standen schlagartig stocksteif, als hätte man ihnen anstelle des Rückgrats einen Besenstiel in den Rücken geschlagen. Der Unterführer schnarrte seine Meldung herunter. „Gracias, Sargento“, sagte Capitan Gutierrez, „danke, danke. Begeben Sie sich mit Ihren Leuten auf die Back. Wir werden ein wenig Verstärkung nötig haben.“ Gerhard von Echten las die Enttäuschung in den Gesichtern der Soldaten. Sie hatten geglaubt, ihre Order wäre mit dem Anketten der Gefangenen beendet gewesen. Aber Gutierrez dachte nicht daran, sie jetzt schon in das süße Nichtstun der Garnison zu entlassen. Nachdem die Soldaten der Anordnung gefolgt waren, trat der Capitan mit seinen drei Begleitoffizieren an die Schmuckbalustrade. Gutierrez hatte seine vermutlich beste Uniform angelegt. Das Wams war mit verschnörkelten goldenen Stickereien besetzt, der schwarze Hut trug Verzierungen im gleichen Muster. Am Gurt aus weichem Schweinsleder hingen Gutierrez' Prunkwaffen – links ein Offiziersdolch und rechts eine einschüssige Pistole. Die Griffstücke beider Waffen waren mit Einlegearbeiten und Gravuren in feinstem Silber versehen. Die rote Kniehose des Kommandanten von Macuro endete in mattschimmernden Stulpenstiefeln.
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Wohlgefällig ließ Ramon Marcelo Gutierrez seinen Blick über die neuen Ruderknechte gleiten. „Wie ich sehe“, stellte er mit falschem Lächeln fest, „habt ihr euch schon recht gut eingelebt. meine lieben deutschen Freunde. Richtet euch nur immer nach allen Vorschriften, und ihr werdet ein feines Leben an Bord meines Schiffes führen. Viel besser, als ihr es eigentlich verdient hättet.“ Er räusperte sich und verschränkte die Arme vor dem fülligen Oberkörper. „Wir unternehmen jetzt eine Inspektionsfahrt nach Punta Penas, etwa sieben Seemeilen nordöstlich von hier. Achtet mir darauf, daß ihr eure Arbeit ordentlich tut. Ich habe es nicht gern, wenn ich in meiner Ruhe gestört werde, weil das Schiff zu schlingern anfängt.“ Gutierrez gab ein Handzeichen zum Vorschiff und wandte sich ab. Auf welche Tücken sich die Warnung des Capitan gründete, sollten Gerhard von Echten und seine Männer erst später begreifen. Denn die Schwierigkeiten, mit denen ein Ruderknecht auf einer Galeere bisweilen zu kämpfen hatte, kannten sie alle nicht. Mittschiffs und auf der Back entstand Wuhling. Die Decksmannschaft, die sich bislang im Logis aufgehalten hatte. löste die Leinen und holte den Buganker ein. Segel wurden nicht gesetzt. Die Gefangenen wagten nicht, sich umzudrehen, denn der Stockmeister war mittlerweile wieder zur Stelle und schritt gemächlich auf dem Plankengang auf und ab, die Hände mit der Peitsche auf den Rücken gelegt. Während Capitan Gutierrez und seine Offiziere aus dem Blickfeld der Ruderknechte verschwanden, trat der Trommler an die Schmuckbalustrade und verharrte abwartend. „Klar zum Ablegen!“ ertönte eine Stimme vom Vorschiff. Der Stockmeister hob die Peitsche zur Bestätigung und begab sich zum vorderen Ende des Plankengangs, in die Nähe des Trommlers. „Klar bei Riemen!“ schrie der Kahlköpfige.
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Es war wie ein jäher Ruck, der durch die Masse der einhundertfünfzig menschlichen Leiber lief. Der einheitliche Bewegungsablauf funktionierte so präzise, daß der Stockmeister einen mißtrauischen Blick zu den Deutschen warf, als hielte er ihr frühzeitiges Können für Hexerei. Der erste Trommelschlag erfolgte mit dem zweiten Rudertakt und dann in gleich bleibendem Rhythmus zu jedem weiteren Takt. Rasch nahm die Galeere Fahrt auf. Das Knarren der Riemen auf den Dollen vereinte sich zu einem einförmigen Klang. Etwa vier Kabellängen von den Piers entfernt ging die „Virgen de Murcia“ auf nordöstlichen Kurs. Auch die Riementechnik, die bei einem solchen Kurswechsel den Mann an der Ruderpinne unterstützte, meisterten die neuen Galeerensträflinge auf Anhieb. An Backbord wurde zweimal drei Takte lang ausgesetzt, während sie an Steuerbord unablässig weiterpullten. Die Kommandos gab der Stockmeister, auf sein Zeichen hin fielen die Backbordruderer wieder in den ursprünglichen Takt ein. Jemand brüllte einen Befehl vom Achterdeck. Augenblicke später war das Klatschen nackter Fußsohlen auf den Planken zu hören. Die Decksmannschaft enterte in den Wanten auf. Großsegel und Focksegel wurden gesetzt, denn der Wind stand günstig aus Südsüdwest. Das Tuch blähte sich unter der handigen Brise. Die Männer unter Gerhard von Echten wagten nur für einen Moment, sich umzudrehen. Sie sahen, daß die Segel riesige Dämonenfratzen in schillernden Farben trugen. Der Grund für eine solchermaßen grausliche Bemalung mochte darin liegen, daß man auf diese Weise bei den abergläubischen Eingeborenen einen Vorschuß an Respekt erlangte. Deutlich spürten die Männer auf den Ruderbänken, wie durch die plötzliche Windkraft ein Beben durch den Schiffsrumpf ging und die Fahrt sich abermals steigerte. Dennoch gab es für die Ruderknechte keine Pause. Offenbar, so folgerte Gerhard von Echten, liebte es
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Capitan Gutierrez, die Schnelligkeit seines Prunkschiffes bis zur Neige auszukosten. Noch bewältigten von Echten und seine Gefährten die Arbeit an den Riemen, ohne daß ihnen die Zunge aus dem Hals hing. Lediglich der Schweiß lief ihnen aus allen Poren. Aber sie wußten auch, daß dies nur der Anfang war. Keiner von ihnen mochte daran denken, wie es aussehen würde, wenn das Pullen zu mörderischer Schinderei ausgeartet war. Überdies war die Schlagzahl, die der Trommler vorgab, zur Zeit noch mäßig. Das würde sich schon dann ändern, wenn sie ohne Segel gegen Wind und Seegang zu rudern hatten. Doch die Schwierigkeiten sollten ihnen schon bald aus einer völlig anderen Richtung drohen. Nachdem sie geraume Zeit ihre Riemenarbeit in unverändertem Gleichklang geleistet hatten, setzten unvermittelt Böen ein. Anfangs vereinzelt, doch dann zunehmend häufiger begann das Segeltuch zu schlagen. Noch trübte kein Wolkenfetzen den Himmel, aber der Golf von Paria kündigte seine Tücken an. Die Decksleute wurden an die Brassen gescheucht. Es half jedoch wenig. Zu oft änderte der Wind jetzt seine Richtung. Die See wurde kabbelig. Schatten schienen mit den Böen über die Wasseroberfläche zu huschen. Noch lag die mächtige Galeere ruhig im Wellengang, doch häufig schnitten die Riemenblätter jetzt durch die Luft, statt ins Wasser zu tauchen. Gerhard von Echten und seine Männer hatten Mühe, nicht aus dem Takt zu geraten. Es zeigte sich, daß die Indios über mehr Erfahrung verfügten. Sie verstanden es, sofort auf den etwa fehlenden Gegendruck zu reagieren und ihre Muskelkraft entsprechend zu bremsen. Das Unvermeidliche geschah auf einer der Backbordbänke. Der Vormann und sein Nachbar verloren das Gleichgewicht, als ihre Riemen durch leeren Raum wischten. Vergeblich versuchten sie, sich rechtzeitig abzustützen. Eine Kettenreaktion war die Folge. Mit schmetternden Geräuschen verhedderten sich die Riemen der achteren
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Bänke an Backbord zu einem hölzernen Salat. Die Decksleute stießen wütende Schreie aus. Unter dem Sonnendach der Heckplattform wurden barsche Befehle laut. Der Stockmeister war eilends zur Stelle und ließ seine Peitsche auf die unglückseligen Ruderknechte niedersausen. Doch es half alles nichts. Die „Virgen de Murcia“ lief aus dem Ruder und begann zu stampfen. „Verfluchte Hundesöhne!“ schrie der Stockmeister mit sich überschlagender Stimme. „Hoch die Riemen!“ Das Kommando war wie eine Erlösung. Außenbords flogen die Riemen empor, von den Ruderknechten in Ruhestellung gekantet. Von weitem sah die Galeere jetzt aus wie ein großes Insekt mit feingliedrigen, rechteckigen Flügeln. Die Decksleute arbeiteten fieberhaft an den Brassen, und im nächsten Moment standen die Segel wieder prall vor dem Wind. Capitan Gutierrez schob sich mit zornrotem Gesicht an die Schmuckbalustrade. Er stützte sich mit den Händen auf, um sein Gleichgewicht zu halten. „Stockmeister!“ brüllte er. Der Kahlköpfige verneigte sich eilfertig. „Si, mi capitan?“ „Wer waren die Bastarde?“ Wortlos deutete der Stockmeister auf die Bänke der Deutschen an Backbord. „Ich habe den Verdacht“, sagte Gutierrez gefährlich leise, „daß sie es absichtlich getan haben, um mich zu ärgern. Jeder von ihnen soll fünf Peitschenhiebe erhalten, damit sie sich solche Dreistigkeiten in Zukunft nicht mehr erlauben!“ „Si, mi capitan!“ schnarrte der kahlköpfige Koloß, und mit fettem Grinsen wandte er sich zur Seite. Gerhard von Echten schloß die Augen, als die Peitschenschnur zischend herabsauste und auf die ungeschützten Rücken der Männer klatschte. Bei den ersten Hieben bissen sie noch die Zähne zusammen, doch dann konnten sie ihre Schreie nicht mehr unterdrücken.
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Gerhard von Echten mochte die Demütigung seiner Männer nicht mit ansehen. Dabei hatte er die vage Ahnung, daß dies nur ein Anfang der Qualen war, die ihnen noch bevorstanden. 4. „Profos!“ „Sir?“ Edwin Carberry ließ die Männer allein, die damit beschäftigt waren, die gefüllten Wasserfässer in den Laderaum abzufieren. Nach dem Zwischenfall am Strand hatten sie nicht lange suchen müssen, um eine geeignete Wasserstelle zu finden. „Nimm zehn Mann mit, Ed, und begrabt die Toten. Vergeßt die Musketen nicht.“ „Denkst du etwa, da laufen noch mehr von diesen verfluchten spanischen Affenärschen herum?“ Carberry reckte sein Rammkinn vor. Der Seewolf zog die Schultern hoch. „Unser deutscher Freund ist überzeugt, daß es keine weiteren Verfolger gibt. Aber man soll seiner Sache nie zu sicher sein.“ „Aye, aye, Sir. Wenn noch so eine Horde von lausigen Philipps aufkreuzt, werden wir ihnen ein Feuerchen unter dem Hintern entfachen. Und zwar gewaltig! Ho, die werden denken, sie seien mitten im Kombüsenfeuer des Gehörnten gelandet!“ Der Profos bekräftigte seine Prophezeiung mit einem grimmigen Nicken und stapfte zu den Männern zurück. Hasard drehte sich um. Vor dem Niedergang zum Achterdeck hatte der Kutscher einen provisorischen Behandlungstisch aufgebaut. Seine Instrumente lagen auf einem weißen Tuch. Die Zwillinge hatten heißes Wasser in einer Pütz herangeschleppt, die auf einem Schemel stand. Voller Eifer besorgten die Söhne des Seewolfs alle kleinen Handreichungen für den schmalbrüstigen, dunkelblonden Mann. Dabei fühlten sie sich allem Anschein nach wie die Gehilfen eines großen Doktors. Johannes Lederer hockte mit schmerzverzerrtem Gesicht inmitten dieser Hilfsbereitschaft. Er hatte die
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Streifschußwunde an der rechten Schulter mit einer Handbewegung abtun wollen. Aber damit hatte er bei dem Kutscher auf Granit gebissen. Ben Brighton, Hasards breitschultriger Stellvertreter, lehnte an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und blickte schmunzelnd auf die Prozedur hinunter. „Einen Moment müssen Sie noch aushalten, Sir“, sagte der Kutscher, dessen richtigen Namen niemand kannte. Bei Sir Anthony Freemont, einem Arzt in Plymouth, war er Kutscher gewesen, und fortan hatte er sich so nennen lassen. An Bord der „Isabella“ versah er die Aufgaben des Kochs und des Feldschers. „Lieber noch zwei Streifschüsse als eine solche Behandlung!“ stöhnte Lederer, der leidliches Englisch sprach. Letztere Kenntnisse rührten aus jener kurzen Zeit her, die er während der VenezuelaExpeditionen an Bord von Segelschiffen verbracht hatte. Decksleute aus angelsächsischen Breiten fuhren auf allen Schiffen dieser Welt. „Bitte, Sir, Sie müssen schon stillhalten“, forderte der Kutscher eindringlich. Mit leichter Hand bewegte er die Holzstäbchen mit den Wolltupfern, die zuvor im kochenden Wasser gereinigt worden waren. Lederer verzog das Gesicht zu einer gequälten Grimasse, als der Feldscher der „Isabella“ die letzten festgetrockneten Stoffasern des zerrissenen Hemds aus der offenen Wunde entfernte. „Wenn es nach unserem Kutscher ginge“, meinte Ben Brighton grinsend, „müßten wir jeden Tag mindestens ein halbes Dutzend Verletzte an Bord haben. Er ist mal wieder ganz in seinem Element.“ „Ich hoffe, Sie fühlen sich nicht als eine Art Versuchskaninchen, Mister Lederer“, wandte sich der Seewolf an den Deutschen. Der Kutscher hob empört den Kopf. „Ich muß doch sehr bitten, Sir. Ich habe niemals behauptet, daß mein medizinisches Wissen allumfassend ist. Aber für eine einfache Wundbehandlung reicht es wahrhaftig aus. Was Mister Brightons
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Bemerkung betrifft, so möchte ich dem entgegenhalten, daß ich meine Arbeit nicht aus Leidenschaft, sondern allein aus der Notwendigkeit heraus verrichte. Ich denke, es ist nicht angebracht, mich mit einem Quacksalber auf eine Stufe zu stellen.“ Ben Brighton hob die Hände und ließ sie wieder fallen. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Mister Feldscher. Auf die Füße treten wollte ich dir nun wirklich nicht.“ Der Kutscher brummte Unverständliches und fuhr mit seiner Behandlung fort. Hasard warf einen Blick zu seinem Ersten Offizier und nickte beschwichtigend. Ben war ein Mann, der meist nicht viele Worte verlor. Ließ er sich doch einmal zu einer lässigen Bemerkung hinreißen, wie jetzt, dann trat er auch noch ins Fettnäpfchen. Der Seewolf klopfte dem Kutscher auf die Schulter. „Niemand will deine Arbeit in den Dreck ziehen. Ist dir eine Laus über die Leber gekrochen, oder kannst du keinen Spaß mehr verstehen?“ „Es handelt sich nur darum, Sir, daß man die Autorität eines Erwachsenen in Gegenwart von Kindern nicht untergraben sollte.“ Hasard zog die Augenbrauen hoch. Die distinguierte Redeweise des Kutschers war allen geläufig. In diesem Fall hatte er sich wohl besonders gewählt ausgedrückt, damit die Zwillinge es nicht begriffen. „Ich verstehe“, sagte der Seewolf ernst und nickte. „Diesen Aspekt hat Mister Brighton offenkundig nicht in seine Überlegungen einbezogen.“ „Genau das wollte ich zum Ausdruck bringen. Sir.“ Die beiden Jungen starrten abwechselnd ihren Vater und den Kutscher an. Ihre Mienen waren so entgeistert, als redeten die beiden Männer in einer Fremdsprache. Auch Johannes Lederer hatte Mühe, dem Gespräch zu folgen, denn seine Englischkenntnisse reichten nur für eine Unterhaltung auf durchschnittlichem Niveau. „Haben wir irgendwie Mist gebaut, Dad?“ fragte Philip junior.
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„Oder sollen wir irgendwas nicht wissen?“ fügte Hasard junior hinzu. „Weder — noch“, versicherte der Seewolf. „Es ist alles in Ordnung. Manchmal braucht ihr eben nicht hinzuhören, wenn Erwachsene sich unterhalten.“ Die Zwillinge wechselten einen vielsagenden Blick. Aber sie verkniffen sich die Bemerkung, daß eben jene Erwachsenen es sich manchmal zu einfach machten. Sollten sie etwas Bestimmtes nicht mitkriegen, dann wurden sie wie Kinder behandelt. Sollten sie jedoch Handreichungen erledigen, dann erwartete man von ihnen, daß sie es genauso zuverlässig taten wie ein Erwachsener. Weil sie aber den Kutscher besonders in ihr Herz geschlossen hatten, verzichteten sie darauf, die Sache breitzutreten. „Nur eine Frage“, sagte der Seewolf gedehnt, „wie lange wird es noch dauern? Es dreht sich darum, daß ich mit unserem Gast ein paar Worte wechseln möchte.“ Der Kutscher lächelte zum ersten Mal wieder. „Ich bin gleich fertig. Sir. Die Behandlung war unbedingt notwendig. Unser Freund hätte sich sonst den schönsten Wundbrand zugezogen.“ „Ich weiß das durchaus zu schätzen“, sagte Johannes Lederer, „denken Sie bloß nicht, ich wäre ein undankbarer Hund, auch wenn es sich so angehört hat.“ Der Kutscher lächelte abermals, sagte aber nichts. „Wir sehen uns auf dem Achterdeck“, entschied Hasard und stieg den Niedergang hinauf. Auf der Kuhl waren Edwin Carberry und die Männer damit beschäftigt, das Beiboot abzufieren. Außer den Schaufeln lagen Waffen auf den Bodenplanken der Jolle. „Hopp, hopp, bewegt die müden Knochen, ihr Stinte!“ brüllte der Profos. „Wollt ihr im Stehen einschlafen? Reißt euch gefälligst zusammen, oder ich wickle euch ums Ankerspill, daß ihr später nicht mehr wißt, ob ihr Männer oder Kabelgarn seid!“ Für die Männer war es so etwas wie Begleitmusik. Jeder Handgriff, der an Bord der „Isabella“ zu erledigen war, klappte
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schnell und reibungslos. Selten hatte es auf den sieben Weltmeeren eine Crew gegeben, die so gut aufeinander eingespielt war wie die Männer des Seewolfs. Trotzdem waren Edwin Carberry und seine Sprüche etwas, das keiner von ihnen missen mochte. Ohne den Hintergrund seiner Stimmgewalt fehlte ihnen etwas bei der harten Arbeit an Bord. Und jeder wußte natürlich auch, daß unter der rauhen Schale des Profos' ein sehr menschlicher Kern steckte. „Wollt ihr wohl pullen, ihr Bilgenratten!“ grollte Carberry, als das Boot zu Wasser gelassen war. „Himmel, Arsch und Hafergrütze, soll das eine Tagesreise werden bis zum Strand?“ Immerhin lief das Beiboot schon mit rauschender Fahrt dem Küstenstreifen entgegen. Es hinderte den Profos aber nicht, sein Gebrüll fortzusetzen. Hasard wandte sich mit versonnenem Lächeln seinem Stellvertreter zu. Auf der Kuhl flitzten die Söhne des Seewolfs in Richtung Kombüse, um irgendwelche Gerätschaften oder Instrumente zu holen, die der Kutscher brauchte. Sonst herrschte ausnahmsweise eine geradezu idyllische Ruhe an Bord der Galeone. Arwenack, der Schimpanse, hockte auf einer Taurolle auf der Back und hatte beide Arme über den Kopf gelegt. Ob er schlief oder sich nur vor der Sonne schützte, war nicht festzustellen. Sir John, der karmesinrote Papagei, saß wohlgefällig und aufgeplustert auf Moses Bills Schulter im Großmars. Will Thorne, der grauhaarige Segelmacher, hatte den Rest der Crew in der Nähe der Kuhlgräting um sich geschart. Sie hatten all das Tuch aus der Segellast geholt, das noch ausgebessert werden mußte. Die Ruhe, die sie nach dem Zwischenfall mit den Spaniern hatten, mußte genutzt werden. War es nur eine Ruhe vor dem Sturm? „Ich werde das Gefühl nicht los“, sagte Ben Brighton gedehnt, „daß wir mit den Dons noch eine Menge Ärger kriegen werden.“ „Gefühle müssen sich nicht immer bestätigen.“ Hasard nahm das Spektiv und
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spähte zum Strand. Ed Carberry und seine Männer hatten mit der Arbeit begonnen. Bob Grey Und Al Conroy standen mit schußbereiten Musketen abseits. Das Dickicht war wie eine feindselige Wand, die jeden Moment neues Unheil ausspucken konnte. „Du weißt genau, wovon ich rede, Sir.“ Der Seewolf ließ den Kieker sinken. „Ich weiß. Aber das Risiko wäre das gleiche gewesen, wenn wir Trinidad und Tobago nordöstlich umsegelt hätten. Mit den Spaniern müssen wir überall rechnen.“ „Sicher. Hier im Golf von Paria lassen sie uns vielleicht noch in Ruhe. Aber vor uns liegt der Drachensund. Da können sie uns höllisch in die Zwickmühle nehmen, wenn sie es darauf anlegen.“ „Ich kenne deine Theorie, Ben. Gerade das ist es, worüber ich mir von dem Deutschen Aufschluß erhoffe.“ „Ich glaube, es ist mehr als eine Theorie. Es ist verdammt lange her, seit wir zuletzt in der Karibik waren. Die Spanier haben in der Zwischenzeit nicht geschlafen. Wenn sie in der Neuen Welt nicht an Boden verlieren wollen, dann müssen sie ganz einfach etwas tun.“ „Gut. Das leuchtet ein. Aber ebensoviel deutet darauf hin, daß König Philipp sich verzetteln könnte. Die neuen Seewege nach Ostindien gewinnen immer mehr an Bedeutung. Wenn er da den Anschluß verliert, kann es sein, daß andere den Rahm abschöpfen.“ „Trotzdem sollte man die Spanier nicht unterschätzen. Besonders Venezuela dürfte ihnen am Herzen liegen. Silber und andere Edelmetalle soll es hier in unvorstellbaren Mengen geben.“ Hasard nickte. Er wußte, daß Ben Brightons mahnende Worte keineswegs unbegründet waren. Überhaupt hatte der Erste Offizier der „Isabella“ eine gute Nase dafür, wo und wann sich etwaige Schwierigkeiten abzeichnen konnten. Hasard hatte Ben stets ernst genommen. Andererseits war es nicht die Art des Seewolfs, in allen Dingen übervorsichtig zu sein. In diesem Wechselspiel hatten Ben und er sich immer prächtig ergänzt.
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Schon als sie vor dem Sturm in den Golf von Paria ausgewichen waren, hatte Ben Brighton seine Bedenken angemeldet. Ben vermutete, daß die Spanier neuerdings Verstärkte Aktivitäten an der venezolanischen Küste entfalteten. Nicht unbegründet, denn wenn sie systematisch das Landesinnere zu erforschen gedachten, brauchten sie Ansiedlungen, die ihnen als Stützpunkte dienen konnten. Bekannt war dem Seewolf auch, welche Rolle Männer wie Johannes Lederer in diesem Zusammenhang spielten. Die Deutschen, die hierzulande ihre vertragsmäßigen Rechte ausschöpfen wollten, wurden den Spaniern einfach zu schlau. Und es war eine verdammt einfache Sache, einen Vertrag für null und nichtig zu erklären. Passende Argumente konnte man sich dafür leicht zurechtlegen. Johannes Lederer erklomm den Niedergang mit einem weiß leuchtenden Schulterverband. Er verzog verlegen das Gesicht. „Es sieht aus, als hätte ich eine lebensgefährliche Wunde. Glauben Sie mir, Gentlemen, ich nehme so etwas nicht so ernst.“ „Aber der Kutscher nimmt sein Handwerk ernst“, sagte Ben Brighton lächelnd. „Und dabei läßt er sich von keinem dreinreden.“ „Das habe ich gemerkt.“ Lederer nickte. „Ich möchte Ihnen noch einmal für alles danken, Sir Hasard.“ Der Seewolf zog die Augenbrauen hoch. „Woher .. . „Überflüssig zu fragen“, fiel ihm Ben Brighton ins Wort. „Das waren deine Herren Söhne. Stimmt's, Mister Lederer?“ „Nun ja“, antwortete der Deutsche. „Die beiden Jungen haben mir voller Stolz erzählt, daß ihr Vater von Königin Elisabeth zum Ritter geschlagen wurde. Darauf können sie in der Tat stolz sein.“ Hasard winkte ab. „Hier an Bord sind wir nicht so förmlich. Reden Sie mich an, wie alle anderen es auch tun. Ich heiße Hasard.“ Lederer reichte ihm die Hand. „Bescheidenheit ist eine Zier, sagt man bei uns.“
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„Ein wahres Wort“, meinte Ben Brighton. „Wir sind gespannt auf Ihren Bericht, Johannes.“ Der Deutsche lehnte sich an die Schmuckbalustrade. Einen Moment blickte er gedankenverloren zum Strand hinüber, wo der Profos und die anderen ihre traurige Arbeit verrichteten. Dann wandte er sich wieder den beiden Männern zu. „Ich kann es noch immer nicht ganz begreifen, daß ich es überlebt habe. Dabei habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir vorstelle, wie es meinen Freunden ergeht.“ Der Seewolf schüttelte energisch den Kopf. „Die Sache sieht etwas anders aus. Ihre Freunde müssen froh sein, daß Sie fliehen konnten. Andernfalls könnten sie im Kerker verrecken, und kein Mensch würde es jemals erfahren.“ „Sicher, das sage ich mir auch. Von der Vernunft her ist das unbedingt richtig. Aber manchmal sind die Gefühle stärker, und dann denke ich, ich würde mich wohler fühlen, wenn ich alle Schwierigkeiten gemeinsam mit meinen Kameraden durchstehen würde.“ Hasard nickte bedächtig. Schon in der Miene dieses aufrechten Mannes las er, daß dieser jedes Wort so meinte, wie er es sagte. Es gab nicht einen Hauch von Unehrlichkeit an Johannes Lederer. Hasard dachte an seinen eigenen Vater, der gleichfalls Deutscher gewesen war. Nach allem, was er gehört hatte, mußte sein Vater ein Mann von ebenso ehrenhaftem Schlag gewesen sein wie der Gast an Bord der „Isabella“. Vielleicht waren derartige Wesenszüge eine Tugend, die die Deutschen ganz allgemein auszeichnete. „Wie war das?“ fragte der Seewolf. „Befanden Sie sich mit Ihren Gefährten bereits auf dem Weg ins Landesinnere, als Sie von den Spaniern überrascht wurden?“ „So war es. Wir hatten unseren Stützpunkt nordwestlich von Punta Penas verlassen, und nach einem knappen Tagesmarsch wurden wir von einem Trupp spanischer Soldaten gestellt. Wir haben natürlich keinen Widerstand geleistet, denn wir
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glaubten, daß es sich um einen Irrtum handele, der sich rasch aufklären würde, zumal unser Stützpunkt noch nie offen angegriffen wurde. Dabei wäre es den Spaniern ein leichtes, ihn dem Erdboden gleichzumachen. Sie haben aber offiziell nicht erklärt, daß sie den Vertrag von fünfzehnhundertachtundzwanzig für ungültig halten.“ „Das kann ich mir gut vorstellen“, sagte Hasard lächelnd, „denn damit würden sie ernsthafte Probleme heraufbeschwören. Heimlich still und leise geht es besser. Es dürften Jahre vergehen, bis Berichte von Überfällen auf deutsche Expeditionen bis nach Europa gelangen.“ „Allerdings“, sagte Johannes Lederer grimmig. „Nur in diesem Fall werde ich ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Sie haben sich unsere gesamte Ausrüstung unter den Nagel gerissen, ganz zu schweigen davon, daß sie uns an der Ausübung unseres vertragsmäßigen Rechts hinderten. Unser Protest hat nämlich nicht das geringste genutzt. Sie haben meine Freunde in die Festung Macuro verschleppt. Das ist eine neue Ansiedlung direkt am Drachensund.“ Ben Brighton wechselte einen Blick mit dem Seewolf, und Hasard wußte genau, was sein Erster dachte. „Keine Sorge, Ben“, sagte er deshalb, „wir werden nichts riskieren, was wir nicht im voraus kalkulieren können.“ „Wie meinen Sie das?“ fragte Lederer. „Wollen Sie damit etwa andeuten...“ „Genau das“, knurrte Ben Brighton, „Philip Hasard Killigrew wäre nicht der Seewolf, wenn er die Gelegenheit nicht nutzen würde, um den Dons ein wenig Feuer unter dem Hintern zu machen.“ „Nur, wenn es gute Gründe gibt“, sagte Hasard gedehnt, „und danach sieht es fast aus.“ Johannes Lederers Augen begannen zu leuchten. „Vielleicht kann ich Ihnen noch einen zusätzlichen Grund liefern. Nach unserer Ankunft in Venezuela haben wir gehört, daß in letzter Zeit etliche Silbertransporte in Macuro eingetroffen sein sollen. Wir
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haben unsere Informanten unter den Eingeborenen, müssen Sie wissen. Es ist damit zu rechnen, daß die Silbervorräte von Macuro in Kürze nach Spanien verschifft werden sollen.“ „Ich kann deine Gedanken regelrecht lesen“, sagte Ben Brighton, wobei er den Seewolf forschend musterte. Hasard gab sich einen Ruck. „Wir haben mehrere Gründe für einen Angriff auf Macuro. Erstens könnten wir den Drachensund vermutlich sowieso nicht passieren, ohne mit den Dons aneinander zugeraten. Zweitens handelt es sich um die Deutschen, die dort unrechtmäßig festgehalten werden. Und drittens wäre es in unser aller Interesse, ihnen die Silbervorräte abzuknöpfen — falls vorhanden.“ „Phantastisch!“ rief Johannes Lederer begeistert. „Nicht im Traum hätte ich damit gerechnet, daß sich die Dinge so wenden würden!“ Der Seewolf blickte ihn ernst an. „Es wird alles andere als ein Vergnügen, Johannes. Was ich von Ihnen brauche, sind alle Informationen, die Sie über die Festung Macuro haben.“ 5. Mit langen Schatten begleitete die tiefstehende Sonne den mühevollen Weg der Galeerensklaven von Macuro. Gebeugt von mörderischer Arbeit, schlurften sie über die Holzplanken der Anleger, und die Ketten erschienen ihnen wie eine kaum noch zu bewältigende Last. Die uniformierten Bewacher gaben sich nicht mehr die Mühe, sie noch mit Hieben und Stößen voranzutreiben. Jeder der Soldaten wußte, daß es keinen Sinn gehabt hätte. Ein nur mäßiger Schlag hätte schon genügt, um diese geschundenen Männer von den Beinen zu fegen. Auch Gerhard von Echten spürte jeden einzelnen Knochen im Leib. Äußerlich unterschied er sich durch nichts von den anderen. Krumm und schleppend bewegte er sich vorwärts, diesmal an der Spitze der
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Gefangenenformation, da sie das Schiff in umgekehrter Reihenfolge verlassen hatten. Sie erreichten den schmutziggelben Strand, und jeder einzelne Schritt wurde ihnen nun eine noch größere Last. Lediglich Gerhard von Echten verfügte noch über eine letzte Reserve. Vielleicht lag es an seiner Zähigkeit, daß es ihm gelungen war, seine Kräfte einzuteilen. Möglicherweise war es auch seine unbändige Willenskraft gewesen, die ihm dabei geholfen hatte. Die stundenlange Riemenarbeit an Bord der „Virgen de Murcia“ hatte er überstanden, ohne vollends zu zerbrechen. Seine Gefährten waren dagegen ebenso ausgelaugt wie die Indios. Auch Sigmund Haberdings Atem ging rasselnd und schwer, und es schmerzte von Echten, den Freund so ausgepumpt zu sehen. Die Palisaden mit den Batterietürmen erhoben sich drohend vor ihnen und warfen schwarze Schatten auf den Sand. In der Werft abseits des Hafens war Stille eingekehrt, auch von der Pfahlbausiedlung der Eingeborenen drangen keine Geräusche mehr herüber. Capitan Gutierrez und seine Begleiter befanden sich jetzt vermutlich schon in einem ihrer gemütlichen Salons oder daheim bei ihren Familien. Bei der Ankunft in Macuro hatte Gerhard von Echten gesehen, daß es eine Reihe von einzelnen Wohnhäusern für die Offiziere und ihre Angehörigen gab. Soldaten öffneten das Tor, zwischen den beiden vorderen Batterietürmen. Es bewegte sich knarrend in seinen großen Angeln. Das weite Areal der Festungsanlage dehnte sich im Blickfeld der Ruderknechte. Von Echten erschien der Appellplatz größer, als er ihn in Erinnerung hatte. Die Baracken, in denen die einfachen Soldaten hausten, erstreckten sich unüberschaubar weit, bis in die Schlagschatten am jenseitigen Ende der Festung. Irgendwo dort befanden sich die Nebengebäude — Waffenkammer, Vorratsräume, Küche, Speisesaal, Zahlmeisterei, Kommandantur. Bis zum Dunkelwerden konnte es höchstens noch eine halbe Stunde dauern.
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Anfangs hatte sich Gerhard von Echten gefragt, warum sie nicht ständig an Bord der Galeere angekettet blieben. So war es in den Mittelmeerhäfen üblich. Nur ein Behelfsdach aus Segeltuch wurde für die Nachtruhe über das Galeerendeck gespannt, und es gab Rudersklaven, die für den Rest ihres Lebens keinen anderen Platz mehr sahen als die Bank, an der ihre Ketten festgeschmiedet waren. Daß Capitan Gutierrez eine andere Methode gewählt hatte, war keineswegs aus Menschlichkeit geschehen. Nach kurzer Überlegung hatte Gerhard von Echten sich die Gründe zusammengereimt. Vermutlich war die Zahl der Soldaten, über die der Capitan in Macuro verfügte, zu gering, um einen Bewachungsdienst an Bord der Galeeren im Hafen aufrechtzuerhalten. Da erforderte es wesentlich weniger Männer, um die Gefangenen nach verrichtetem Dienst zusammenzutreiben und beaufsichtigen zu lassen. Die träge Marschformation der Ruderknechte schwenkte über den staubigen Appellplatz nach links, von knappen Kommandos der Soldaten dirigiert. Wenig später erblickten Gerhard von Echten und seine Gefährten zum ersten Mal den Ort, an dem sie von nun an ihre meiste Zeit verbringen sollten. Nach ihrer Festnahme waren sie vorübergehend in einer leerstehenden Baracke untergebracht worden. Das Gelände war eingezäunt. Erstaunlicherweise ragten die Zaunpfähle nicht mehr als mannshoch auf. In der Länge erstreckte sich die Einzäunung auf mehr als dreihundert Yards. Die Breite, bis an die nördlichen Palisaden der Festung, vermochte Gerhard von Echten nicht abzuschätzen. Zwei Soldaten sprangen vor und öffneten ein Gatter. Wie Vieh wurden die Männer hineingetrieben. Und dann überfiel die Neuen unter ihnen ein Erschauern, gegen das sie sich nicht wehren konnten. Den Gefangenen stockte das Blut in den Adern. Unwillkürlich
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verharrten sie, und die Soldaten hinderten sie nicht daran. „Seht es euch nur gut an!“ rief einer der Spanier höhnisch. „Dann wißt ihr gleich, was euch blüht, wenn ihr auf dumme Gedanken verfallt!“ Unmittelbar an der Innenseite der Einzäunung zog sich ein tiefer Graben um das gesamte Lager herum. Fauliger, ekelerregender Geruch stieg zu der Bohlenbrücke herauf, die vom Gatter aus über den Graben führte. Die Breite betrug an der Oberkante gut fünf Yards, die etwas schmalere Sohle mochte zehn Fuß tiefer liegen. Stillstehendes, trübes Wasser bedeckte die Grabensohle. Auf den ersten Blick schien es, als lägen Baumstämme wahllos verstreut in der schlammigen Brühe. Doch man brauchte nicht sehr genau hinzusehen, um zu erkennen, um was es sich wirklich handelte. Die Männer unter Gerhard von Echten hatten genügend Tropenerfahrung. Krokodile! Alligatoren und Kaimane waren es. Eine unüberschaubare Zahl der Riesenechsen fristete auf dem Boden des Grabens ihr träges Dasein. Knochen und Skelettreste von Tieren lagen am Rand der steil abfallenden Böschung. Die Kadaverreste strömten jenen Verwesungsgeruch aus, der in den Männern Übelkeit hervorrief. Gerhard von Echten preßte die Zähne aufeinander, daß es schmerzte. Es mochte eine Sinnestäuschung sein, ein Eindruck, der sich aufdrängte, aber ihm war, als befänden sich unter den Skelettresten auch menschliche Knochen. Von Echten schüttelte sich vor Grauen. „Weiter jetzt!“ brüllte einer der Soldaten. „Ihr könnt die niedlichen Tierchen noch oft genug begaffen.“ Die übrigen Spanier stimmten grölendes Gelächter an. Für den Moment hatten die Männer ihre Müdigkeit und ihre Erschöpfung vergessen, als sie sich wieder in Bewegung setzten. Abscheu und Entsetzen waren stärker als alle anderen Empfindungen. Dies konnte nicht einmal durch das Menschenunwürdige des Lagers überdeckt werden. Da gab es weder Baracken noch
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Schutzdächer aus Segeltuch. Nur eine freie Fläche von etwa dreitausend Quadratmeter innerhalb des Grabens, in dem die blutrünstigen Raubtiere hausten. Dicht gedrängt kauerten die Menschen auf diesem Areal. Außer schmutzigen Decken hatten sie nichts, womit sie sich vor den Witterungseinflüssen schützen konnten. Es mochten an die tausend Gefangene sein, die hier zusammengepfercht waren — einschließlich jener von der „Virgen de Murcia“. Am Rand der Innenseite des Grabens gab es außerdem einen Wachgang, der auf acht Fuß hohen Pfählen ruhte und mit einem Geländer aus einfachen Planken abgesichert war. Von diesem erhöhten Bohlenweg aus konnten die Bewacher jeden Punkt des Lagers überblicken. Ein offenbar perfektes System. Die Ruderknechte von der Prunkgaleere des Capitan Gutierrez erhielten einen Platz in der Nähe der Brücke zum Gatter zugewiesen. Stumm und regungslos sahen sie zu, wie die Brücke an Ketten hochgezogen wurde, nachdem die Soldaten auf die andere Seite zurückgekehrt waren. „Tiere in einem Stall haben ein besseres Leben“, flüsterte Sigmund Haberding nach minutenlangem Schweigen. Gerhard von Echten legte ihm die kettenbewehrte Hand auf die Schulter. „Wir müssen hier raus, Sigmund. Koste es, was es wolle.“ Haberding blickte den Freund erschrocken an. „Bist du wahnsinnig? Eine Flucht ist unmöglich. Ich habe nichts gegen einen ehrlichen und offenen Kampf. Aber hier ...“ Er schüttelte resignierend den Kopf. „Warte ab“, raunte von Echten, „wir brauchen ein bißchen Zeit. Es muß einen Weg geben. Davon bin ich überzeugt.“ Sie waren gezwungen, ihr leise geführtes Gespräch abzubrechen, denn auf dem erhöhten Bohlenweg näherten sich Schritte. Vier Soldaten waren es, die sich breitbeinig vor den Rudersklaven von der „Virgen de Murcia“ aufbauten und geringschätzig zu ihnen hinunterblickten.
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Gerhard von Echten drehte sich nur kurz um und sah, daß es noch zwei weitere Soldaten gab, die an der jenseitigen anderen Seite des Lagers postiert waren. Also sechs Mann insgesamt, und für sie war der Wachdienst kaum bequemer als die bevorstehende Nachtruhe für die Gefangenen. „Ein paar Worte an die Neuen“, sagte einer der vier Spanier, ein untersetzter Mann mit dichtem schwarzen Vollbart. An seinem Helm brachen sich funkelnd die Strahlen der untergehenden Sonne. „Ich bin der Wachhabende. Meine Verantwortung ist es, daß hier absolute Ruhe herrscht. Damit ihr gleich Bescheid wißt: Wenn ihr anfangt, Krach zu schlagen, oder irgendeinen idiotischen Versuch zur Rebellion unternehmen solltet, wird sofort geschossen. Für uns spielt es dabei keine Rolle, wen wir treffen. Aber wir sorgen für Ruhe, darauf könnt ihr euch verlassen. Also denkt daran, daß es immer einen Unschuldigen treffen könnte!“ Er stieß einen grimmigen Knurrlaut aus, wie um seine Worte zu bekräftigen. „Was die Verpflegung betrifft, folgendes: Die nächste Mahlzeit kriegt ihr morgen früh nach Sonnenaufgang. Nicht daß ihr auf die Idee verfallt, es gäbe heute abend noch was. Der Verpflegungsplan sieht so aus: einmal morgens im Lager, dann mittags und nachmittags auf der Galeere. Das wär's, Amigos. Nun schnappt euch eure Decken, und legt euch auch lang. Ihr braucht den Schlaf für morgen, darauf könnt ihr Gift nehmen.“ Wortlos begannen die Indios, die Decken von dem bereitliegenden Stapel zu verteilen. Es gab kein Gedränge und keine Auseinandersetzungen darum. Jeder wußte, daß es sinnlos war, Kräfte zu vergeuden. Unter den Augen der Soldaten auf dem Wachgang betteten sie sich zur Ruhe. Noch eine Weile klirrten die Ketten, bis sie diese so geordnet hatten, daß sie halbwegs entspannt liegen konnten. Der weiche Sandboden war noch warm von der Sonne, die tagsüber heruntergebrannt hatte. Doch mit einem kühlen Hauch kündigte sich
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schon jetzt die bevorstehende Kälte der Nacht an. Die Wachtposten nahmen ihren Rundgang auf dem erhöhten Bohlenweg auf. Übergangslos brach die Dunkelheit herein. Im Lager der Galeerensklaven herrschte Stille. Wenn Worte gewechselt wurden, so nur unhörbar für die Posten. Deren Schritte klangen hart und rhythmisch auf den Holzbohlen. Auch aus dem Graben der Alligatoren und Kaimane drang kein Laut herauf. Eine trügerische Ruhe jedoch, das wußten die Männer in Ketten. In der Festung hatte indessen das abendliche Leben begonnen. Vereinzelt ertönten laute Stimmen, grölendes Gelächter überwiegend. Dann waren auch die Klänge einer Laute zu hören. Jemand sang ein melancholisches Lied, und heisere Männerstimmen fielen in den Refrain mit ein. Gerhard von Echten wandte den Kopf zu Sigmund Haberding, der neben ihm lag. „Wir müssen es versuchen“, flüsterte er, „noch in dieser Nacht, Sigmund.“ „Ich sage dir noch einmal, es ist Wahnsinn“, gab Haberding ebenso leise zurück, doch ein Hauch von Hoffnung schwang in seiner Stimme mit. „Hast du einen Plan?“ „Ja. Ich werde den Wachhabenden in meine Gewalt bringen. Dann benutzen wir ihn als Druckmittel gegen die anderen. Alles muß blitzschnell gehen. Wir werden aus der Festung verschwinden und im Dschungel untertauchen, ehe sie zum Großalarm blasen können.“ „Wie du es sagst, hört sich das sehr einfach an. Aber wir könnten uns ebenso gut selbst aufknüpfen. Erstens schaffen wir es nicht, das Lager zu verlassen, und zweitens müßten wir dann noch die Posten am Palisadentor überrumpeln. Nein, es ist unmöglich. Ganz zu schweigen davon, daß wir mit den verdammten Ketten sowieso nicht viel ausrichten können.“ „Warte ab“, zischte von Echten, „wir haben Zeit. Die ganze Nacht.“ Sigmund Haberding sagte nichts mehr. Sie kannten sich nun schon seit vielen Jahren. Wenn Gerhard von Echten sich etwas in
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den Kopf gesetzt hatte, dann führte er es auch aus. Das Verrückte daran war, daß ihm selbst die verwegensten Pläne bislang immer geglückt waren. Diesmal, dachte Sigmund Haberding, ist er ein wenig zu waghalsig. Oder ich bin einfach zu müde, um noch genügend Mut aufzubringen. Gerhard von Echten tat unterdessen kein Auge zu. Lange lag er regungslos und beobachtete die Wachtposten, die sich vor dem tiefen Blau des Nachthimmels als deutliche Schattenrisse abzeichneten. Der abnehmende Mond war eine schmale Sichel, die Sterne funkelten wie Edelsteine auf einem samtenen Tuch. Die Posten zogen mit gemächlichen Schritten ihre Runde und blieben manchmal stehen, wenn sie einander begegneten. Ihre Gespräche waren gedämpft und unten im Lager nicht zu verstehen. Die Statur des Wachhabenden hatte Gerhard von Echten sich genau eingeprägt. Er war imstande, ihn zweifelsfrei von den anderen zu unterscheiden. Zwei Stunden mochten nach dem Hereinbrechen der Dunkelheit vergangen sein, als von Echten beschloß, nicht länger auszuharren. In seiner Umgebung waren bereits seit geraumer Zeit tiefe und regelmäßige Atemzüge zu hören. Vorsichtig schälte er sich aus seiner Decke. Ohne sich aufzurichten, begann er mit einer langwierigen Arbeit. Auf der Seite liegend und zusammengekrümmt, gelang es ihm ohne sonderliche Mühe, die unteren Ketten um die Fußgelenke zu wickeln und das Ende so in die Windungen zu schieben, daß sie unverrückbar festsaßen. Ebenso verfuhr er mit den Ketten an den Handgelenken. Der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht, als er es geschafft hatte. Schwer atmend streckte er sich auf dem Boden aus und spähte zum Wachgang hinauf. Die Posten hatten nichts bemerkt. Er war vorsichtig genug zu Werke gegangen. Die nervliche Anstrengung war größer gewesen als die körperliche.
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Abermals berührte er seinen Freund an der Schulter. Haberding erwachte sofort. Von Echten sah das Weiße in seinen Augen. „Halte dich bereit“, flüsterte er. „Ich versuche herauszufinden, wann Wachwechsel ist. Dann werde ich den richtigen Moment abpassen. Weck die anderen rechtzeitig. Ihr müßt eure Ketten um die Gelenke wickeln und sichern. Sobald ich den Wachhabenden überrumpelt habe, nehmt ihr euch die anderen Posten vor. Und dann brauchen wir nur noch zu warten, bis die Ablösung die Brücke hinuntergelassen hat.“ Sigmund Haberding atmete tief durch. „Also gut“, sagte er kaum hörbar. „Ich weiß, daß du es schaffen kannst. Aber ich meine, sie sollten erst die Brücke hinunterlassen, und dann schlagen wir los. Sonst könnte es uns passieren, daß sie uns vom Gatter her zusammenschießen, ohne daß wir eine Chance haben, über den Graben zu gelangen.“ „Einverstanden. Paß gut auf, daß die anderen so leise wie möglich sind. Ein falsches Geräusch kann alles verderben.“ Gerhard von Echten kroch los. Flach auf dem Boden bewegte er sich so langsam, unendlich langsam, daß ihm die wenigen Minuten wie eine Ewigkeit erschienen. Neben einem der Indios verharrte er. Erst nachdem er nochmals zum Wachgang hinaufgespäht und sich vergewissert hatte, daß keine Gefahr drohte, stieß er dem Mann behutsam mit den Fingerspitzen gegen die Schulter. Obwohl er tief geschlafen hatte, blieb der Indio ruhig, erschrak nicht und wußte offenbar sofort, daß er nur von seinesgleichen geweckt worden sein konnte. „Hablas espanol?“ fragte Gerhard von Echten kaum hörbar. „Sprichst du Spanisch?“ „Si, Senor“, flüsterte der Mann, „ein bißchen.“ „Hör mir zu“, fuhr von Echten auf spanisch fort, „meine Männer und ich wollen einen Befreiungsversuch wagen. Kann ich auf eure Hilfe rechnen?“
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„Natürlich, Senor. Aber es ist unmöglich. Sie werden es niemals schaffen.“ „Warte nur ab. Sag mir, wann sie die Wachen wechseln.“ Der Indio drehte den Kopf und blickte zum Himmel. „Sehr bald, wenn der Mond um die Breite eines Daumens gewandert ist.“ „Ich danke dir, Amigo. Seid bereit, wenn es geschieht. Wenn es gelingt, werden wir alle gemeinsam aus der Festung stürmen.“ „Ebenso gut können wir alle sterben“, erwiderte der Indio tonlos. „Aber es ist kein Unterschied, Senor. Der Tod ist nicht schlimmer als die Gefangenschaft.“ Gerhard von Echten ließ ihn allein und kroch geräuschlos weiter, auf den Graben zu. Wie ein schwarzes Skelett ragten die Pfähle des Wachganges empor. Die Schritte der Posten klangen hohl auf den Bohlen. Von Echten wußte, daß er einen unschätzbaren Vorteil auf seiner Seite hatte: Die Dunkelheit, die dicht über dem Erdboden lastete, ließ ihn mit der Masse der Gefangenen verschmelzen. Und er kroch so langsam, daß seine Bewegungen den Bewachern nicht auffallen konnten. Während seines langwierigen Weges war es vor allem Ungewißheit, die an seinen Nerven zerrte. Was, wenn er den Bohlenweg nicht rechtzeitig erreichte, wenn die Wachablösung das Gatter öffnete, bevor er eingreifen konnte? Trotz dieser inneren Anspannung blieb seine Willenskraft ungebrochen. Beinahe erstaunt hielt er inne, als er einen der Pfähle erreichte, auf denen die Bohlen des Wachganges ruhten. Nichts war geschehen, niemand hatte ihn bemerkt. Sollte es tatsächlich leichter sein, als er es sich vorgestellt hatte? Nein, er durfte sich nicht dazu verleiten lassen, solche Gedanken zu hegen. Das führte zu Unvorsichtigkeit. Die Schritte der Posten klangen langsam und träge wie eh und je. Gerhard von Echten drehte sich auf die Seite, um die Lage erfassen zu können. Seine Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Das Gatter mit der hochgezogenen Brücke befand sich etwa
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zehn Schritte rechts von ihm. Er spähte zum Bohlenweg hinauf und suchte die Schattenrisse der Soldaten. Da! Der Wachhabende näherte sich von links. Seine Statur war unverwechselbar. Von Echten schätzte die Entfernung auf höchstens zwanzig Schritte. Er hielt den Atem an und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ein anderer Posten schlurfte von rechts heran, weiter entfernt noch. Gerhard von Echten spannte die Muskeln. Die Ketten wogen schwer an seinen Handund Fußgelenken. Aber er hatte genügend Kraftreserven, um diesen Nachteil auszugleichen. Daran hatte die Schinderei auf der Galeere nur wenig geändert. Er sah jetzt, daß er seine Position nicht zu ändern brauchte. Der Wachhabende würde diese Stelle eher erreicht haben als der Posten, der von der anderen Seite herannahte. „Hola, Sargento!“ ertönte eine gedämpfte Stimme. „Ich denke, die Burschen sind langsam überfällig.“ Das mußte der Mann sein, der sich von rechts näherte, folgerte Gerhard von Echten. „Halt den Mund, Kerl“, antwortete der Wachhabende knurrend. „Im Zweifelsfall wirst du dann abgelöst, wenn es dem Capitan paßt. Und wenn es ihm gefällt, kann das noch ein paar Stunden dauern.“ Ein unterdrückter Fluch war die Reaktion. Von Echten spähte schräg nach oben. Der Schatten des Wachhabenden schob sich breit und wuchtig heran. Zehn Schritte trennten ihn noch von der Stelle, an der der Deutsche lauerte. Behutsam richtete sich Gerhard von Echten auf. Die nervliche AnSpannung fiel von ihm ab. Jetzt, da der entscheidende Moment bevorstand, kehrte jene eiskalte Ruhe ein, die ihm in Augenblicken größter Gefahr stets geholfen hatte. Plötzlich ein Scharren. Stimmengemurmel folgte, dann das Knarren eines Riegels, der herausgezogen wurde.
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Die Wachablösung. Es gab keinen Zweifel. Sie öffneten das Gatter. Jeden Moment mußten sie die Brücke hinunterlassen. Gerhard von Echten wartete regungslos. Der Schatten des Wachhabenden wurde riesengroß über ihm. „Na endlich!“ brummte der Posten, der ebenfalls nicht mehr weit entfernt war. Das Gatter schwang jetzt weit auf, und die Silhouetten des ablösenden Kommandos wurden erkennbar. Von Echten konzentrierte sich auf den Untersetzten. Noch zwei Schritte, einen Schritt. Jäh ließ der hochgewachsene Deutsche seine Muskeln explodieren. Er schnellte an dem Pfahl hoch und packte mit beiden Händen zu. Unter Aufbietung aller Kraft überwand er die letzte Distanz von zwei Fuß, die ihn von dem Wachgang trennte. Seine linke Faust zuckte hoch, fand den Halt, den sie suchte. Der Wachhabende stieß einen erschrockenen Laut aus. Für einen Augenblick hatte er sich von den Männern ablenken lassen, die am Gatter hantierten. Gerhard von Echten lockerte seinen stahlharten Griff nicht für den Bruchteil einer Sekunde. Er zog mit einem Ruck, ließ sich fallen und setzte sein ganzes Körpergewicht ein. Der untersetzte Sargento versuchte vergeblich, sein Gleichgewicht zu halten. Die Füße wurden ihm buchstäblich unter dem Leib weggerissen. Bevor er am Geländer Halt finden konnte, schlug er hart auf, rutschte über die Bohlen und segelte abwärts. Blitzschnell war der Deutsche über ihm und ließ die Rechte mit der zusammengerollten Kette niedersausen. Der Schlag ließ dem Sargento keine Chance. Er sank in sich zusammen, ohne noch einen Schmerzenslaut von sich zu geben. Eilige Schritte dröhnten auf dem Bohlenweg. „He, was ist da los?“ brüllte jemand. Beim Gatter senkte sich die hochgezogene Brücke quietschend nach unten.
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„Bleibt, wo ihr seid!“ rief Gerhard von Echten mit schneidender Stimme den Posten zu. „Ich habe euren Wachhabenden! Eine falsche Bewegung von euch kostet ihn das Leben!“ Im Lager der Gefangenen schnellten Schatten hoch. Für einen Moment waren die Schritte der Posten wie abgeschnitten. Die Brücke fiel rumpelnd auf ihr Widerlager. Harte Stiefel polterten über die Planken. Im Lager der Galeerensklaven entstand zunehmend mehr Bewegung. „Soldaten!“ brüllte Gerhard von Echten abermals. „Zurück! Oder der Sargento stirbt!“ Er hatte mittlerweile den Säbel des Bewußtlosen aus der Scheide gerissen, und die blanke Klinge funkelte im fahlen Licht des Mondes und der Sterne. Auf der Brücke brachen endlich die Schritte ab. Schatten huschten dem Bohlenweg entgegen. „Werft eure Waffen weg, Spanier!“ Sigmund Haberdings Stimme. Plötzlich geschah etwas, was Gerhard von Echten niemals in seinen Plan einbezogen hatte. Denn es beruhte auf grausamer Unmenschlichkeit, zu der er selbst nicht fähig war. „Schießt sie zusammen, die Hunde!“ gellte eine Stimme von der Brücke her. Die letzte Silbe war noch nicht verklungen, als ein Musketenschuß donnerte. Ein vielstimmiger Entsetzensschrei ertönte aus den Reihen der Indios. Die Schatten, die den Bohlenweg noch nicht erreicht hatten, schienen gegen unsichtbare Mauern zu prallen. Zwei weitere Schüsse krachten. Auch diesmal sirrten die Kugeln über die Gefangenen weg. Bedrohlich nahe jedoch. „Treibt sie zurück!“ gellte wieder die Stimme von der Brücke. „Wenn euer Wachhabender krepiert, ist es seine eigene Schuld. Auf was wartet ihr noch!“ Gerhard von Echten erstarrte vor Entsetzen. Er konnte es nicht glauben. Sie waren bereit, ein Menschenleben ohne viel Federlesens zu opfern!
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Bevor er sich von seiner Fassungslosigkeit erholen konnte, schwang sich eine Silhouette unmittelbar vor ihm herab. Mit dumpfem Aufprall landete der Soldat auf dem Erdboden. Auch die anderen folgten ihm und gingen mit blankgezogenen Säbeln auf die Gefangenen los. Ihre Musketen hatten sie wohlweislich zurückgelassen. Die Langwaffen taugten nicht für den möglichen Nahkampf im Gedränge. Der Soldat, der Gerhard von Echten am nächsten war, stürmte mit erhobenem Säbel auf ihn zu. Der hochgewachsene Deutsche wich einen Schritt beiseite und parierte reaktionsschnell. Er wußte, daß es keine Hoffnung mehr gab. Doch eher wollte er im offenen Kampf sterben, als daß er sich wie ein Tier niedermetzeln ließ. Hell prallten die Klingen aufeinander. Der Spanier drängte mit der ganzen Wucht seines Körpergewichts nach. Gerhard von Echten stemmte sich wild entschlossen dagegen. Der keuchende Atem des Soldaten schlug ihm ins Gesicht. Jäh wich von Echten zur Seite. Der Spanier stolperte und wurde vom eigenen Schwung mitgerissen. Doch er fing sich, wirbelte herum, jetzt in der Dunkelheit unter dem Bohlenweg. Von Echten sah den matten Reflex, als sein Gegner den Säbel wieder hochriß. Er ging zum Gegenangriff über, bevor der Spanier den ersten Schritt geschafft hatte. Die Klingen klirrten in rasender Folge. Gerhard von Echten hatte keine Zeit, sich um das zu kümmern, was um ihn herum geschah. Mit Vehemenz fuhr er dem Spanier in die Parade, durchbrach dessen Kontern mit zwei, drei unbarmherzigen Hieben und gewann an Boden. Der Spanier wich zurück. Verzweifelt versuchte er, das Blatt zu wenden. Doch dem wirbelnden Säbel des Deutschen vermochte er nichts mehr entgegenzusetzen. Gerhard von Echten stieß plötzlich ins Leere. Ruckartig hielt er inne. Die Dunkelheit hatte den Spanier verschluckt.
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Unvermittelt gab es einen klatschenden Aufprall. Von Echten erstarrte. Ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken herauf. Der Graben! Die Geräusche, die folgten, gingen ihm durch Mark und Bein. Mächtige Kieferknochen schlugen schmetternd aufeinander. Die Schwänze der Riesenechsen peitschten das schlammige Wasser. Der gellende Todesschrei des Spaniers brach nach wenigen Augenblicken ab. Und immer noch brodelte die Hölle der Alligatoren und Kaimane in der schwarzen Tiefe des Grabens. Harte Fäuste packten Gerhard von Echten an den Oberarmen und rissen ihn zurück. Der Säbel entfiel seiner Rechten. Widerstand war sinnlos geworden. „Werft das Schwein hinterher!“ schrie einer der Spanier. Was dann folgte, hörte Gerhard von Echten nicht mehr. Ein Hieb, der seinen Schädel traf, löschte sein Bewußtsein aus. Als er wieder erwachte; loderten ein Dutzend Fackeln auf der freien Fläche vor der Brücke. Die Helligkeit blendete ihn. Er schloß die Augen und spürte erst jetzt, daß sie ihn gefesselt hatten. Er stand aufrecht an einem Pfahl, den sie in den Boden gerammt hatten. Abermals öffnete er die Augen. Sein Blick fiel auf Capitan Gutierrez. Der Festungskommandant stand drei Schritte von ihm entfernt, flankiert von einer waffenstarrenden Front von Soldaten. Sie hatten die Lage unter Kontrolle, und es gab niemanden im Lager der Galeerensklaven, der sich dieser Übermacht noch entgegenzustellen gewagt hätte. Gutierrez war nur unvollständig angekleidet. Er trug kein Wams, das offen stehende Hemd ließ den dichten Haarfilz seiner Brust hervorquellen. Er fixierte den hochgewachsenen Deutschen aus schmalen, haßerfüllten Augen. „Hiermit verurteile ich dich zum Tode, Alemán!“ sagte Gutierrez zornbebend. „Die Exekution wird bei Sonnenaufgang stattfinden. Die Nacht wirst du in dieser etwas unbequemen Stellung verbringen.
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Ich werde mir inzwischen überlegen, ob ich dich den Krokodilen zum Fraß vorwerfe oder ob ich dir eigenhändig den Kopf abschlage.“ Gerhard von Echten dachte nicht daran, die Augen zu schließen. Er hielt dem Blick des Capitan stand, bis dieser sich mit einem Ruck abwandte und davonstapfte. Die Fackeln brannten weiter, und auch das verstärkte Wachkommando blieb. 6. Der Dschungel erwachte zu schrillem Leben, während die Morgendämmerung herauf kroch. In dichten Schwaden hing der Nebel scheinbar unauflöslich im Dickicht. Überall hatten sich Tropfen auf Blättern und Schlingpflanzen gebildet. Das Wasser rann herab wie Regen. Noch herrschte trübgraues Halbdunkel unter den mächtigen Baumkronen des Tropenwaldes. Die Luftfeuchtigkeit erschwerte den Männern jeden Atemzug. Ihre Kleidung klebte ihnen wie zähes Leder auf dem Leib. Johannes Lederer hatte sie mit untrüglicher Zielstrebigkeit durch das Dickicht geführt. Neidlos mußte der Seewolf anerkennen, daß dieser Mann über eine bemerkenswerte Dschungelerfahrung verfügte. Lederer ging an der Spitze der kleinen Formation. Ihm folgten der Seewolf und Edwin Carberry, dann Ferris Tucker, der riesenhafte Schiffszimmermann mit dem leuchtend roten Haar, Dan O'Flynn, der schlanke junge Mann mit den schärfsten Augen an Bord der „Isabella“, Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, und Smoky, der bullige Decksälteste. Alle waren mit Musketen, Pistolen und Entermessern bewaffnet. Batuti trug außerdem seinen Bogen über dem Rücken und einen Lederköcher mit Pfeilen an der Hüfte. Dan O'Flynn und Smoky schleppten gemeinsam eine längliche Kiste, deren Inhalt wohlweislich mit wasserdichtem Ölpapier ausgeschlagen war. Johannes Lederer hob die Hand, ging langsamer und blieb dann stehen. Sofort stoppten auch die anderen ihre Schritte.
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Hasard trat neben den Deutschen, als dieser ihn zu sich heranwinkte. „Sehen Sie das?“ fragte Lederer halblaut. Er deutete mit ausgestrecktem Arm nach vorn. „Der verdammte Nebel läßt die Dinge verschwimmen, aber wenn mich nicht alles täuscht, sind wir am Ziel.“ „Ohne den Nebel“, entgegnete der Seewolf lächelnd, „könnte unser Plan von vornherein nicht gelingen.“ Er kniff die Augen zusammen und spähte angestrengt in die milchig-grauen Schwaden. „Ich weiß“, murmelte Johannes Lederer, „ich hoffe nur, daß es nicht zum Nachteil für uns umschlägt.“ Er gab sich einen Ruck. „Es sieht so aus, als ob wir den Außenbezirk der Festung erreicht haben.“ Hasard nickte. Schemenhaft waren kantige Umrisse zu erkennen. Gebäude, deren klare Linien sich bei längerem Hinsehen deutlich von der wild wuchernden Vegetation des Dickichts abhoben. Geräusche waren indessen nicht zu hören. Die Nachtruhe war in Macuro noch nicht beendet. Auch das gehörte zum Plan der Männer von der „Isabella“. „In Ordnung“, sagte der Seewolf, „wir werden uns das aus der Nähe anschauen.“ Er wandte sich zu seinen Männern um und klärte sie mit knappen Worten über die Lage auf. „Endlich“, entgegnete Edwin Carberry. Er versuchte zu flüstern, was bei seinem Reibeisenorgan allerdings nur ein Versuch blieb. Es klang noch immer wie ein Grollen, tief aus seinem mächtigen Brustkorb. „Es muß doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir den Dons nicht noch vor dem Frühstück in die Suppe spucken.“ Er rieb sich die Hände, die das Format von Ankerklüsen hatten. „Dazu müssen sie uns erst mal spucken lassen“, bemerkte Smoky mit breitem Grinsen. „Man soll das Maul nicht zu voll nehmen, bevor der Tag angefangen hat.“ Der Profos wirbelte herum. „Ho, du Molch, woher willst du denn wissen ...“ „Schluß damit!“ fuhr der Seewolf energisch dazwischen. „Eure Sprüche könnt ihr an Bord weiterklopfen.“
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Ed Carberry klappte den Unterkiefer hoch und schob beleidigt sein Rammkinn vor. Gegen Philip Hasard Killigrew hatte er noch nie ein Widerwort gefunden. Der Seewolf gab das Zeichen. Langsam und nach allen Seiten sichernd, setzte sich die kleine Kolonne wieder in Bewegung. Das Geschrei der Tropenvögel, das in voller Lautstärke eingesetzt hatte, schützte sie. Denn wegen der umfangreichen Ausrüstung, die sie mitschleppten, konnten sie nicht völlig geräuschlos vordringen. Allmählich zeichneten sich die Gebäude deutlicher ab. Johannes Lederer verharrte abermals. „Das muß die Werft sein“, flüsterte er dem Seewolf zu. „Rechts von uns befindet sich dann irgendwo die Pfahlbausiedlung. Wir müssen aufpassen, daß die Indios nichts von uns hören.“ Hasard nickte nur. Sie pirschten sich weiter voran, verschmolzen zur Schemenhaftigkeit mit dem Nebel – auch dann noch, als das Dickicht zurückwich und den Weg auf das Werftgelände freigab. Mit einer knappen Handbewegung ließ Hasard seine Männer ausschwärmen. Es mußte im Schneckentempo geschehen, denn jeder unbedachte Schritt konnte ein Geräusch verursachen und eine Katastrophe auslösen. Überall konnte es herumliegende Gerätschaften geben. Groß und dunkel erhob sich das Schutzdach der Helling vor ihnen aus dem Nebel. Im nächsten Moment sahen sie die schlanke Silhouette der Galeere, die hier zur Reparatur lag. Hasard zog sein Entermesser, und die anderen taten es ihm nach. Möglicherweise gab es auch hier draußen einen Posten. Wenn es so war, dann konnten sie ihn nur lautlos überwältigen. Doch ihre Befürchtung bewahrheitete sich nicht. Unbehelligt erreichten sie die Bordwand des flachen Schiffes, dessen Außenbeplankung an mehreren Stellen Lücken aufwies. Der Bohrwurm verrichtete auch hierzulande sein zerstörerisches Werk, gegen das noch immer kein Kraut gewachsen war.
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Immerhin schien es aber in Macuro genügend Arbeitskräfte zu geben, die solche Schäden rechtzeitig behoben. Gemeinsam mit Johannes Lederer schlich Hasard bis zum Bug der Galeere. Von dort aus konnten sie verschwommen den Palisadenzaun der Festungsanlage erkennen. Auch einer der Batterietürme lag weiter rechts in ihrem Blickfeld. Die Entfernung betrug kaum mehr als fünfzig Yards. Dementsprechend war die Sichtweite, die draußen auf See herrschte. Für Ben Brighton ein höllisch schwieriges Unterfangen! Johannes Lederer deutete mit einer Kopfbewegung zu den Palisaden. „Wenn wir Glück haben, liegt das Gefangenenlager auf dieser Seite.“ Der Seewolf antwortete nicht. Lederer hatte die Festung nur aus einiger Entfernung gesehen, als es ihm gelungen war, die Flucht zu ergreifen. Deshalb hatte er keine absolut präzise Beschreibung von Macuro liefern können. Aber sie würden sich auch ohnedem schnell zurechtfinden, wenn sie den Palisadenzaun erst einmal überwunden hatten. Ed Carberry und Ferris Tucker trugen aufgerollte Tampen über der Schulter. An den Enden der Taue waren Enterhaken befestigt. Für alle Voraussetzungen, in die Festung einzudringen, hatten sie gesorgt. Sie brauchten nur noch auf das Zeichen zu warten. * Sigmund Haberding hob vorsichtig den Kopf, nur um Handbreite. Er hatte kein Auge mehr zugetan, seit das Unvorstellbare geschehen war. Zweifellos war es auch den übrigen Männern nicht anders ergangen. Hilflos ausharren und dem Unabwendbaren entgegensehen zu müssen, das war schlimmer als körperliche Qualen. Da entstand eine Bewegung, die Haberding anfangs nur im Unterbewußtsein wahrgenommen hatte. Jetzt sah er es deutlich.
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Einer der Indios richtete sich langsam auf. Dabei spähte er fortwährend zu den Posten. Sie waren im Laufe der Nacht zweimal abgelöst worden. Als sie jetzt nicht reagierten, erhob sich der Indio vollends. Er war ein älterer Mann und hatte einen sehnigen Körper mit Muskelsträngen, die von langer Fronarbeit verhärtet waren. Gerhard von Echten hing kraftlos in den Fesseln, die ihn am Pfahl hielten. Irgendwann hatte er nicht mehr standhalten können. Auch für ihn gab es eine Grenze der Belastbarkeit, wie für jeden Mann. Sigmund Haberding schmerzte der Anblick des Freundes, noch mehr jedoch die Gewißheit über das furchtbare Schicksal, das ihm drohte. Der Indio hob etwas vom Erdboden auf. Er tat es behutsam. Ein Gefühl der Rührung ergriff Sigmund Haberding, als er erkannte, was es war. In einer Lederkappe, die er vermutlich tagsüber auf dem Kopf trug, hatte der dunkelhäutige Mann die Feuchtigkeit während der Nachtstunden aufgefangen. Vielleicht waren es nur ein oder zwei Schlucke Wasser, die sich gesammelt hatten. Trotzdem eine köstliche Erfrischung für einen Mann, der unmenschliche Qualen erdulden mußte. Der Indio hielt die Lederkappe wie ein Kleinod in beiden Händen und schritt vorsichtig durch die Reihen der am Boden Liegenden. Auf dem Bohlengang, der sich in den Nebelschwaden nur grau und undeutlich abzeichnete, patrouillierten ebenfalls Soldaten. Die Männer, die den am Pfahl Gefesselten bewachten, waren von Gutierrez zusätzlich abgestellt worden. Natürlich waren sie längst auf den Indio aufmerksam geworden. Haberding sah es an ihren Blicken, mit denen sie ihn verfolgten. Er glaubte, ein hämisches Grinsen bei einigen der Soldaten zu bemerken. Weshalb, in aller Welt, scheuchten sie ihn nicht auf seinen Platz zurück? Der hagere Venezolaner erreichte jetzt den Pfahl, an dem Gerhard von Echten in seinen Fesseln hing. Von der Seite näherte
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er sich dein hochgewachsenen Deutschen, der nichts von alledem mitkriegte. Die Soldaten begannen zu tuscheln und stießen sich mit den Ellenbogen an. Einer von ihnen nickte, dann waren sie wieder still und beobachteten den Indio mit scheinbar wohlwollendem Interesse. Dieser trat bis dicht vor den Gefesselten und hob die Lederkappe an dessen Lippen. „Bitte, Senor“, sagte der Indio halblaut, „bitte, trinken Sie, es wird Ihnen gut tun.“ Bevor Gerhard von Echten vollends erwachte, schnellte jener Soldat los, der so entschlossen genickt hatte. Es geschah so blitzartig, daß Sigmund Haberding das Gefühl hatte, sein Herzschlag setze aus. Der Spanier packte den Indio an der Schulter und riß ihn herum. In hohem Bögen flog die Lederkappe durch die Luft. Die wenigen Wassertropfen blitzten auf und schienen versiegt zu sein, noch bevor sie den Boden erreichten. Der Indio stieß einen erschrockenen Laut aus, stolperte, blieb aber auf den Beinen. Abwehrend hob er die Hände und wich einen unsicheren Schritt zurück. „Hijo de puta!“ brüllte der Spanier. „Hurensohn, verdammter! Wer hat dir das erlaubt?“ „Niemand, Senor. Ich wollte doch nur ...“ „Nichts hast du zu wollen!“ überschrie ihn der Soldat. Jäh riß er den Säbel hoch. Die Klinge verursachte einen flirrenden Reflex. Der Indio stieß einen gellenden Schrei aus, doch nur einen Atemzug lang. Ein Gurgeln war das letzte, was er hervorbrachte. Etwas zerriß in Sigmund Haberding. Etwas, das stärker war als Besonnenheit und Vernunft. Mit einem Satz war er auf den Beinen. Die Ketten, noch um Handund Fußgelenke gewickelt, behinderten ihn nicht. Ein Laut des Entsetzens ging durch das Lager. Fast alle waren inzwischen wach geworden. Unendlich langsam sank der Indio in sich zusammen. Sein Leben erlosch, bevor er den Boden erreichte. Das Gesicht des Spaniers war verzerrt. Er stieß die blutige Klinge in den Sand und bewegte sie hin und her, um sie zu reinigen.
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Den Deutschen, der in blindem. Zorn auf ihn losschnellte, bemerkte er einen Atemzug zu spät. Auch der Warnruf der übrigen Soldaten half nichts mehr. „Sigmund!“ schrie Gerhard von Echten. „Bist du verrückt ge ...“ Zu spät. Mit einem wilden Satz überbrückte Haberding die letzten zwei Yards. Vergeblich versuchte der Spanier, den Säbel hochzureißen. Die Ketten an den Handgelenken des Deutschen trafen seinen Kopf und seine Schulter. Wie vom Blitz gefällt, stürzte er zu Boden. Haberding stolperte, vom eigenen Schwung getrieben. Bevor er sich wieder aufrichten konnte, waren die Soldaten zur Stelle, packten ihn, rissen ihn hoch, hieben mit den Fäusten .auf ihn ein und traten ihn. Sein Widerstandswille wurde buchstäblich zerschlagen. Den Kopf schützend unter den Armen geborgen, krümmte er sich zusammen und rührte sich nicht mehr. Einer der Spanier hob seinen Säbel. „Laß ihn“, knurrte ein anderer und riß ihn zurück. „Den Alemán wird der Capitan für sich selbst aufheben wollen. Das ist was anderes als mit den lausigen Indios.“ Gerhard von Echten schloß die Augen. Ohnmächtige Wut und Hilflosigkeit loderten wie eine alles verzehrende Flamme in ihm. Das grausame Geschehen war wie ein körperlich spürbarer Schmerz in sein gerade erwachtes Bewußtsein gefahren. Es brachte ihn fast um den Verstand, daß nun auch sein Freund von dem gleichen Schicksal ereilt werden sollte wie er selbst. Denn daran gab es für Gerhard von Echten kaum noch einen Zweifel. Als er die Augen wieder öffnete, hatten sie Sigmund Haberding gefesselt und am Boden liegenlassen. Auch um den toten Indio kümmerten sie sich nicht. Stattdessen hielten sie ihre Musketen schußbereit, denn offenbar rechneten sie mit einem weiteren Aufruhr im Lager. Auch die Posten auf dem erhöhten Bohlengang waren stehen geblieben und hatten ihre Waffen auf dem Geländer in Anschlag gebracht.
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Doch weder die deutschen noch die indianischen Galeerensklaven wagten auch nur eine verstohlene Bewegung. Es gab nichts, was sie der brutalen Gewalt der Bezwinger hätten entgegensetzen können. Die Stille hielt nicht lange an. Wenige Minuten nach dem blutigen Zwischenfall wurde das Gatter der Lagereinzäunung geöffnet. Capitan Gutierrez eilte mit kurzen, energischen Schritten über die Bohlenbrücke. Ihm folgten die drei ranghöchsten Offiziere seines Stabes und eine Gruppe von sechs Soldaten, die lediglich mit Pistolen und Säbeln bewaffnet waren. Gutierrez stoppte seine Schritte jäh, als er die am Boden liegenden reglosen Körper sah. Der füllige Leib des Capitan erbebte. „Zum Teufel!“ rief er schnaubend. „Was ist hier los?“ Der Dienstälteste des Bewachungskommandos eilte herbei und salutierte vor ihm. „Ein kleiner Zwischenfall, Capitan“, meldete er schnarrend. „Der Indio und dieser Deutsche haben versucht, einen Aufruhr anzustiften. Dabei haben sie einen unserer Kameraden fast erschlagen.“ Er deutete auf den, der von Sigmund Haberdings Ketten getroffen worden war und jetzt benommen am Boden hockte und sich den Kopf hielt. „Das ist eine Lüge!“ brüllte Gerhard von Echten. „Der Indio wollte...“ Was er noch hinausschreien wollte, blieb ihm im Hals stecken. Zwei Soldaten sprangen auf ihn zu. Drohend richteten sie die Säbelklingen auf seinen Brustkorb. Capitan Gutierrez scheuchte den Dienstältesten mit einer Handbewegung zur Seite und stapfte auf von Echten zu. Haberding, der neben dem Pfahl lag, streifte er nur mit einem Blick. Den toten Indio beachtete er nicht. „Soso“, sagte Gutierrez mit hohntriefender Stimme. „Du Schweinehund meinst also, hier ginge es nicht gerecht zu?“ „Das ist eine verdammte Untertreibung“, entgegnete von Echten gepreßt. Sein Gegenüber stieß ein glucksendes Lachen aus. Es dauerte eine Weile, bis er
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sich wieder beruhigte. „Glaubst du im Ernst, daß mich deine Meinung interessiert, Alemán? Von mir aus kannst du den Krokodilen vorjammern, wie schlecht du hier behandelt wurdest. Vielleicht hören sie dir sogar eine Weile zu, ehe ihr Appetit stärker wird als ihr Interesse an deinem Lamento!“ Gutierrez lachte abermals, und pflichtgemäß stimmten auch seine Offiziere mit ein. „Perdón, Capitan“, meldete sich der Dienstälteste des Bewachungskommandos noch einmal zu Wort. „Was fangen wir mit diesem Mistkerl an?“ Er stieß mit der Stiefelspitze in Sigmund Haberdings Seite. Ramon Marcelo Gutierrez zog die Augenbrauen hoch. „Oh, daß ich daran nicht sofort gedacht habe! Aber natürlich — sicher wird es unseren beiden deutschen Amigos leichter fallen, wenn sie gemeinsam den Krokodilen ins Maul schauen dürfen. Es ist zwar ein unverdienter Vorzug für die Alemánes, aber wir wollen gnädig mit ihnen sein.“ Er drehte sich zu den Männern um, deren Brustpanzer und Helme in der frühen Morgenstunde noch blank geputzt und ohne ein Staubkorn waren. „Packt sie jetzt! Ich will nicht zuviel Zeit mit ihnen verschwenden, bevor ich mich an den Frühstückstisch setze. Es wäre wahrhaft unverzeihlich, sich deswegen einen knurrenden Magen einzuhandeln.“ Die Soldaten beeilten sich, den Befehl ihres Capitan auszuführen. Vier Mann lösten die Fesseln, mit denen Gerhard von Echten an dem Pfahl festgebunden war. Dann schleiften sie ihn hinüber auf die Bohlenbrücke, wo inzwischen die restlichen Soldaten sowie die Offiziere und Capitan Gutierrez Aufstellung genommen hatten. Nur zwei Mann waren nötig, um den noch halb bewußtlosen Sigmund Haberding herbeizuschleifen. Sie lehnten die beiden Deutschen mit den Rücken gegen das Brückengeländer. so daß von Echten und Haberding den Capitan ansehen mußten. Die stoßbereiten Säbel der Soldaten zerstörten jede Hoffnung auf eine Rettung in letzter Minute.
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Gutierrez trat zwei Schritte vor, blieb breitbeinig stehen und legte die Hände auf den Rücken. Aus kalten kleinen Augen fixierte er die beiden Todgeweihten. „Sehr schön“, sagte er zischend, „wir wollen kein langes Theater veranstalten. Aufgrund des hier geltenden Kriegsrechts verurteile ich euch beide zum Tode. Das Urteil wird sofort vollstreckt. Und zwar von mir. Ihr könnt beten, wenn ihr wollt.“ „Fahr zur Hölle, Spanier“, sagte Gerhard von Echten kalt. Ein Grinsen kerbte sich in die Mundwinkel des Festungskommandanten. „Das ist alles?“ Er zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst. Und du?“ Er blickte Haberding an. Dieser spie dem Capitan vor die Füße. „Das war ebenfalls alles, du Kröte!“ Gutierrez Augen wurden schmal. Deutlich war zu erkennen, wie sich seine Muskeln anspannten. „Zur Seite!“ herrschte er die Soldaten an, die die Delinquenten in Schach hielten. Gutierrez setzte sich ruckartig in Bewegung, hob die Arme und ballte die Hände zu Fäusten. Nur ein kurzer Stoß war erforderlich, um die beiden Wehrlosen in die Tiefe zu den Alligatoren und Kaimans zu befördern. Der Capitan schaffte nur einen halben Schritt. Brüllender Donner zerriß die morgendliche Stille. Der rollende Nachhall schien nicht enden zu wollen. Ramon Marcelo Gutierrez erstarrte mitten in der Bewegung. Einen Atemzug lang stand er wie gelähmt. 7. Der Wind wehte mäßig aus Westnordwest, doch er reichte der „Isabella“ für die geringe Fahrt, die dem dichten Nebel angemessen war. Sie waren an der Pfahlbausiedlung vorbeigeschlichen und hätten den Indios buchstäblich in die Kochtöpfe Spucken können. Als sich die erste Galeere aus den milchiggrauen Schwaden herausschälte, ließ Ben Brighton beidrehen. Das
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Steuerruder wirbelte unter Pete Ballies mächtigen Fäusten, und das Heck der schlanken Galeone schwenkte durch den Wind. Ben Brightons Feuerbefehl folgte zwei Sekunden später. Alle Mann waren an den Culverinen an Backbord eingesetzt. Al Conroy, der schwarzhaarige Stückmeister, führte das Kommando. Ruhig wartete er den richtigen Augenblick ab, bis die momentane Krängung der Galeone nachließ. Auch die zweite der an den Piers liegenden Galeeren wurde nun erkennbar. Keine Menschenseele befand sich an Bord der schlanken, flach gebauten Schiffe. „Feuer!“ gellte der Befehl des Stückmeisters. Acht Lunten senkten sich gleichzeitig auf die Zündlöcher der schweren Geschütze. Das zischend entflammende Zündkraut ließ dünne Säulen von Pulverrauch emporsteigen. Die Männer sprangen zurück. Wie mit einem einzigen urgewaltigen Donnerschlag entluden sich die acht Siebzehnpfünder. Grellrot zuckte das Mündungsfeuer aus den geöffneten Stückpforten. Der Rückstoß warf die Culverinen rumpelnd in die Brooktaue. Durch die mächtige Wolke aufwallenden Pulverrauches war das Krachen und Bersten von Holz zu hören. Teile von Masten und Planken wirbelten in hohem Bogen durch die Luft. Die Männer unter Ben Brightons und Al Conroys Kommandos stießen frenetisches Jubelgeschrei aus. Doch sofort gingen sie wieder an die Arbeit. Der Stückmeister konnte sich den Befehl zum Nachladen schenken. Big Old Shane, der Schmied von Arwenack, hatte auf der Back Stellung bezogen. Seelenruhig griff der riesenhafte Mann mit dem wilden grauen Bart nach dem ersten Brandpfeil und legte ihn auf die Sehne seines Bogens. Der Pfeil zog seine glühende Bahn und traf die vorderste Galeere mittschiffs. Sie bestand nur noch aus einem Chaos hellfaseriger Splitter. Die Breitseite der „Isabella“ hatte das Schanzkleid
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zerschmettert und das Deck einschließlich Ruderbänken und Masten kahlrasiert. Während die Geschützbedienungen die Pulverschaufeln in die überlangen Rohre der Culverinen kippten, schoß Big Old Shane Pfeil um Pfeil ab. Die ersten Flammen züngelten auf dem Wrack und auch auf der zweiten Galeere. In der Festung, die noch unter den Nebelschwaden verborgen lag, wurde es jetzt erst lebendig. Langgezogene Alarmschreie und heisere Befehle waren zu hören. Ein grimmiges Lächeln spielte um die Mundwinkel Ben Brightons. „Zwei Strich Backbord, Pete“, sagte er knapp. „Aye, aye, Sir, zwei Strich Backbord“, wiederholte Pete Ballie und legte Ruder. Abermals schwang das Heck der schlanken Galeone durch den Wind. Nur Großsegel und Focksegel waren gesetzt, zum Anbrassen blieb den Männern keine Zeit. Sekundenlang schlug das Tuch, doch dann stand es wieder steif unter dem eben ausreichenden Westnordwest. Auf Ostkurs, wie ursprünglich, segelte die „Isabella“ in nur fünfzig Yards Entfernung vor den Galionsspornen der vertäut liegenden Galeeren entlang. Fast lautlos glitt das schlanke Schiff der Seewölfe durch den wallenden Nebel, durch den es sich unbemerkt der Festung hatte nähern können. An Land verdichtete sich das Stimmengewirr. Al Conroy meldete die Backbordgeschütze feuerbereit. Aus den Galeeren schlugen jetzt höhere Flammen. Keiner von Big Old. Shanes Brandpfeilen war fehl- gegangen. Ben Brighton gab das Kommando für die zweite Breitseite. Abermals brüllten die mächtigen Geschütze der „Isabella“. Die Rohre spien Feuer und Eisen durch die Stückpforten, und diesmal legten die Siebzehnpfünderkugeln drei Galeeren in Trümmer. Wieder wirbelten Splitter und zerfetzte Planken hoch durch die Luft und erreichten in dichtem Regen auch die „Isabella“. Die Männer zogen die Köpfe
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ein, suchten Deckung, und dann stimmten sie von neuem heiseres Gebrüll an. „Ar – we – nack! Ar – we – nack! Ihr Schlachtruf hallte über den Hafen zur Festung hin. Im nächsten Moment schnitt ein urwelthafter Schlag ihre Stimmen ab. Aus der ersten Galeere stieß eine Stichflamme hoch in den Himmel. Unter der Wucht der Explosion wurden die Nebelschwaden zerrissen und gaben einer schwarzgrauen Wolke von Pulverrauch Platz. Die Druckwelle erreichte auch die Galeone der Seewölfe. Hätten sie nicht ohnehin noch in Deckung gelegen, wären sie umgefegt worden. Die Explosion der Pulverkammer hatte die Galeere in zwei Teile gerissen. Bug und Heck ragten schräg aus dem flachen Hafenwasser. Im zerborstenen Holz fanden die Flammen rasche Nahrung. „Nachladen, Sir?“ rief Al Conroy. von der Kuhl. Ben Brighton traf eine schnelle Entscheidung. „Nein“, entgegnete er energisch. „Alle Segel setzen!“ „Aye, aye, Sir!“ Auf dem Hauptdeck flitzten die Männer los und enterten behende in den Wanten auf. „Pete!“ „Sir?“ „Geh auf Kurs Südost.“ „Aye, aye, Sir, Kurs Südost.“ Kurz darauf lief die Galeone unter Vollzeug vor dem Wind, und das Tuch blähte sich steif und prall. Rasch gewann die „Isabella“ an Fahrt. Keine Sekunde zu spät, wie sich im nächsten Moment zeigte. Ben Brighton hatte den richtigen Riecher gehabt. Feuerblitze zuckten an Land auf – aus den Nebelschwaden heraus. Einen Sekundenbruchteil danach rollte der Geschützdonner der Festungsbatterien über die See. Doch die Kugeln orgelten weit hinaus und klatschten unsichtbar im Nebel in die Fluten. Unsichtbar war längst auch die „Isabella“ für die Geschützmannschaften auf den
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Palisadentürmen von Macuro. Für diesen Teil des Planes hatte der Nebel den Zweck erfüllt, den der Seewolf ihm zugedacht hatte. * Noch bevor der Donner der ersten Breitseite von der „Isabella“ verklang, stürmten der Seewolf und seine Männer los. In Minutenschnelle erreichten sie die Palisadenwand an der zum Dschungel gelegenen Seite der Festung. Zwanzig Yards rechts von ihnen befand sich einer der Batterietürme. Auf der anderen Seite, nach links, verschwammen die Palisaden im Nebel. Noch aus dem Ansturm heraus schleuderten Ferris Tucker und Edwin Carberry die Enterhaken, die hinter den Spitzen der Palisaden sofort faßten. Dan O'Flynn, Smoky und Batuti brachten ihre Musketen in Anschlag und richteten die Mündungen auf den Batterieturm, wo die Silhouetten von Soldaten zu erkennen waren. Hektisches Geschrei gellte mittlerweile in der Festung. Befehlsstimmen überbrüllten sich gegenseitig. Das Chaos schien perfekt. Hasard und Johannes Lederer enterten als erste an den Tampen auf. Noch hatten die Soldaten auf dem Turm nichts bemerkt, viel zu sehr hielt sie der Geschützdonner von See her in Atem. Mit kraftvollen Klimmzügen hangelten der Seewolf und der Deutsche hoch und stützten sich dabei mit den Stiefeln am glitschigen Holz der Palisaden ab. Ihre Musketen hatten sie geschultert. Noch bevor die beiden Männer die Spitze des Zaunes erreichten, hatten Ed Carberry und Ferris Tucker die Trickkiste aus Al Conroys Pulverkammer geschnappt und liefen damit zurück. Zwanzig Yards abseits der Palisaden öffneten sie die Kiste im Schutz eines der Werftschuppen. Eilends trafen Carberry und Tucker ihre Vorbereitungen. Inzwischen schwangen sich der Seewolf und sein deutscher Begleiter mit einem
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entschlossenen Ruck über die Spitze der Palisaden. Von außerhalb des Zaunes bellte ein Musketenschuß. Zwei weitere Schüsse folgten. Federnd landete Hasard auf dem Boden. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie auf dem Batterieturm einer der Soldaten die Arme hochwarf, vornüberkippte und lautlos hinunterstürzte. Ein zweiter Soldat sank hinter der Brüstung des Turms in sich zusammen. Sofort riß Hasard die eigene Muskete vom Rücken. Johannes Lederer, der neben ihm glücklich gelandet war, tat es ihm nach. Ihnen blieb vorerst keine Zeit, sich um das Geschehen in der Festung zu kümmern. Nur so viel konnten sie feststellen, daß alles wild durcheinander hastete. Und weiter rollte der Kanonendonner von See her. Die Geschützmannschaft auf dem Batterieturm hatte spätestens jetzt begriffen, was sich am Palisadenzaun abspielte. Silhouetten tauchten über der Brüstung auf. Zwei, nein drei Männer. Hasard und Johannes Lederer gingen in die Knie, visierten an. Oben schimmerte Waffenstahl im trüben Licht des beginnenden Tages. Die beiden Männer feuerten fast gleichzeitig. Schreie gellten. Die Silhouetten waren hinter der Brüstung verschwunden. Hasard und Johannes Lederer warteten keine Sekunde, warfen sich herum, orientierten sich blitzschnell und stürmten los. Hinter ihnen schwangen sich Batuti und Dan O'Flynn über den Zaun und landeten mit federnden Sätzen auf dem weichen Erdboden. Hinter einer Reihe von Maultierkarren fanden der Seewolf und der Deutsche Deckung. Batuti und Dan O'Flynn folgten ihnen. Im selben Moment, als sich auch Smoky über die Palisaden schwang, begann der Feuerzauber. Für die Spanier mußte es den Anschein haben, als breche die Hölle los. Zischend stachen rotglühende Linien aus der milchigen Unergründlichkeit des Nebels heraus, und grelle Kugeln
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schwebten in weitem Bogen auf die Festungsanlagen innerhalb der Palisaden nieder. Die Soldaten, die unter den barschen Befehlen ihrer Offiziere und Unteroffiziere wie aufgescheuchtes Wild über den Appellplatz hasteten, begriffen nicht sofort. Im nächsten Moment erfolgten die Detonationen dicht über ihren Köpfen. Es krachte wie von Kanonenschüssen in rascher Folge. Funkenregen ergoß sich über die Männer, die vor Schreck ins Stolpern gerieten, sich zu Boden warfen und verzweifelt Deckung suchten, wo es keine gab. Auch das Gebrüll ihrer Vorgesetzten verstummte schlagartig, denn ihnen war der Schreck nicht minder heftig in die Knochen gefahren. Unablässig fauchten die Lichtspuren, die wie glühende Ketten aussahen, aus den Nebelschwaden von außerhalb der Palisaden. Die niederschwebenden, grell leuchtenden Kugeln, die mit wummernden Schlägen explodierten, verfehlten nicht ihre demoralisierende Wirkung. Es sollte noch geraume Zeit dauern, bis die Spanier begriffen, daß dieser Feuerzauber zwar einen Höllenlärm bescherte, sonst aber keinen Schaden anrichtete. Keiner von diesen Männern hatte jemals das Reich der Mitte gesehen, und so konnten sie nicht ahnen, daß es nichts weiter als ein harmloses „chinesisches Feuer“ war, das über ihren Köpfen mit Donnergetöse krepierte. Die Seewölfe hatten es auf einer ihrer Reisen in den Fernen Osten kennen gelernt, und Al Conroy war ein gelehriger Schüler jener Chinamänner gewesen, die auf so unglaublich kunstvolle Weise mit dem Schwarzpulver umgehen konnten. Der Nebel hatte sich kaum merklich gelichtet. Immer noch undeutlich waren jetzt schon die Umrisse der Batterietürme und der einzelnen Gebäude innerhalb der Palisaden zu erkennen. Eins der Geschütze beim Haupttor begann zu feuern, nachdem eine ohrenbetäubende Explosion jeglichen anderen Lärm übertönt hatte. Hasard und seine Männer meinten auch, das Triumphgebrüll von Bord der
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„Isabella“ gehört zu haben. Die Pulverkammer einer der Galeeren mußte in die Luft geflogen sein. Alles hing jetzt davon ab, ob es den Spaniern gelang, die Galeeren zu bemannen. Zwar hieß es allgemein, eine gut armierte Galeone könne sich mühelos gegen ein ganzes Rudel von Galeeren durchsetzen, aber die „Isabella“ segelte mit verringerter Crew und war folglich in ihrer Beweglichkeit geschwächt. Denn sie konnten nicht gleichzeitig die Geschütze bedienen und Segelmanöver ausführen. Nicht mehr als zwei oder drei Minuten waren vergangen, seit Hasard und seine Gefährten in die Festung eingedrungen waren. Noch immer herrschte Verwirrung bei den Spaniern. In unverminderter Folge ließen Edwin Carberry und Ferris Tucker das chinesische Feuer niederregnen. Zwar versuchten die Offiziere mit erneutem Gebrüll, für Ordnung zu sorgen, aber nach wie vor schienen die meisten der Soldaten das Gefühl zu haben, ihnen säße der Gehörnte persönlich im Nacken. Hasard hatte sich einen raschen überblick verschafft. Die Muskete lehnte er an einen der Karren, er brauchte sie nicht mehr. Stattdessen zog er seinen Radschloßdrehling und überprüfte mit einem raschen Blick die Ladung der sechs Läufe. „Da drüben!“ rief er gegen den Höllenlärm an. „Das muß das Gefangenenlager sein.“ Johannes Lederer und die anderen spähten nach links in die angegebene Richtung. Aus dem offenen Gatter eines eingezäunten Areals stürmte eine Gruppe von Offizieren, denen Mannschaften in wirrer Formation folgten. An der Spitze der Offiziere hastete ein fülliger Mensch, der an seinem Körpergewicht erheblich zu tragen hatte. Der Uniform nach musste es sich um einen Capitan handeln, wie Hasard feststellte. Im offenen Gatter tauchte eine weitere Gruppe von Soldaten auf. Sie waren im Begriff, das Gatter zu schließen. „Los jetzt!“ rief der Seewolf und schnellte als erster hoch.
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Johannes Lederer und die übrigen Männer der „Isabella“ folgten ihm. Im selben Augenblick erschienen auch Ed Carberry und Ferris Tucker auf der Bildfläche. Sie hatten ihren Höllenspektakel eingestellt und schwangen sich unbehelligt über die Palisaden. Die Geschützmannschaften auf den Batterietürmen waren vollauf damit beschäftigt, sinnlose Kugeln einem unsichtbaren Gegner nachzujagen. Die Soldaten beim Gatter vergaßen ihre Aufgabe. Erschrocken wirbelten sie herum, als sie die Angreifer heranstürmen sahen. Zwei oder drei der Spanier versuchten noch, die Musketen in Anschlag zu bringen. Die anderen sahen ein, daß es dafür zu spät war. Hasard und seine Männer drangen aus dem Schatten einer Wagenremise vor, die sich den aufgereihten Maultierkarren anschloß. Der Seewolf feuerte im Laufen. Wummernd entlud sich der Drehling in seiner Faust. Die großkalibrige Kugel fegte einen der Musketenschützen von den Füßen. Auch die beiden anderen schafften es nicht mehr, ihre Langwaffen abzufeuern. Fassungslos starrten die anderen, die mit ihren Säbeln in Abwehrposition gegangen waren, auf den schwarzhaarigen Riesen, der da wie ein Ungewitter gegen sie vordrang und eine Waffe hatte, mit der er mehrmals hintereinander feuern konnte, ohne nachladen zu müssen. „Ar - we - nack!“ brüllte Edwin Carberry, der gemeinsam mit Ferris Tucker aufschloß, und die anderen stimmten mit ein. „Ar - we - nack!“ schmetterte es dem kleinen Haufen der Spanier beim Gatter donnernd entgegen, und ehe die anderen bei den Baracken und auf dem Appellplatz auch nur erfassen konnten, was sich abspielte, war es bereits zu spät. Mit der entfesselten Gewalt eines Wirbelsturms brachen die Seewölfe über die Spanier herein. Letztere hatten es weder geschafft, die Brücke hochzuziehen noch das Gatter zu schließen. Verzweifelt setzten sie sich zur Wehr.
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Hasard drang als erster auf sie ein. Unbarmherzig zerschlug er die Gegenwehr eines der Männer, der sich ihm in den Weg zu stellen versuchte. Ein zweiter sank unter seinem herabsausenden Säbel zusammen, während er in der Linken den Drehling am Laufbündel gepackt hielt und Hiebe mit dem schweren Knauf der Waffe austeilte, um sich die Seite freizuhalten. Der Seewolf erreichte die Bohlenbrücke. Hinter ihm klirrten die Säbelklingen. Doch nur noch für einen Moment. Jäh stoppte Hasard seine Schritte, als er die beiden gefesselten Gestalten am jenseitigen Ende der Brücke erblickte. Ein Blick zur Seite ließ seinen Atem stocken. Tief unten, in schlammiger Brühe, wälzten sich die häßlichen Körper von Alligatoren und Kaimanen, und ihre schuppigen Schwänze peitschten das Wasser. Die unüberschaubare Menge der Galeerensklaven verharrte in stummer Furcht - hilflos dem Geschehen ausgeliefert. Doch dabei sollte es nicht mehr lange bleiben, das schwor sich der Seewolf in diesem Moment voller Ingrimm. Johannes Lederer stürmte plötzlich an ihm vorbei. „Gerhard!“ rief er. „Sigmund! Um Himmels willen!“ Hasard drehte sich zu den anderen um. „Bewacht das Gatter!“ Er deutete auf die reglosen Körper der Spanier. „Nehmt ihnen die Waffen ab! Wir brauchen jeden Säbel, jede Muskete und jede Pulverflasche?“ „Aye, aye, Sir!“ brüllte Edwin Carberry begeistert. „Wir ziehen den lausigen Dons die Haut in Streifen von ihren Affenärschen! Die kriegen jetzt Zunder unter dem Hintern, daß ihnen heißer wird als den Kakerlaken im Kombüsenfeuer?“ Eilends führten die Männer den Befehl des Seewolfs aus, während Ferris Tucker und Smoky seitlich am Gatter mit ihren Musketen in Stellung gingen, um für Feuerschutz zu sorgen. Johannes Lederer kniete vor den beiden Gefesselten nieder und befreite sie mit seinem Dolch von den Stricken. Nur die
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Ketten konnte er ihnen nicht abnehmen, ebenso wenig wie den anderen, die sich in fassungsloser Freude vor ihm gruppiert hatten. „Meine Kameraden!“ rief Lederer dem Seewolf zu. „Gerhard von Echten und Sigmund Haberding! Und all die anderen!“ Der Geschützdonner war mittlerweile versiegt. Doch die Ruhe sollte sich als trügerisch erweisen. Von Echten und Haberding rappelten sich auf. „Das ist der Mann, dem wir alle unsere Rettung verdanken“, sagte Johannes Lederer mit einer Handbewegung. „Sir Hasard, den sie den Seewolf nennen. Philip Hasard Killigrew.“ Gerhard von Echten, der hochgewachsene Deutsche, trat auf Hasard zu und reichte ihm die Hand. „Sie waren in letzter Minute zur Stelle“, sagte er in fließendem Englisch. „Ohne Ihr Eingreifen wären mein Freund und ich nicht mehr am Leben. Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Sir Hasard.“ Mit knappen Worten schilderte von Echten, wie Capitan Gutierrez nach dem plötzlichen Geschützdonner in einem Anflug von Panik auf die Hinrichtung verzichtet hatte. „Später mehr darüber“, entgegnete der Seewolf knapp. „Ich denke, uns bleibt nicht viel Zeit. Wie weit sind Ihre Männer einsatzfähig, trotz der Ketten?“ Gerhard von Echten hob mit einem entschlossenen Lachen die Handgelenke, um die noch die Ketten gewickelt waren. „Sehen Sie sich das an! Das ist sogar eine recht wirksame Waffe!“ Johannes Lederer war zu den übrigen Deutschen gelaufen, begrüßte sie freudestrahlend, schüttelte Hände, klopfte auf Schultern. Für die Wiedersehensstimmung blieben jedoch nur wenige Minuten. Hasard mahnte zur Eile, ließ die Waffen verteilen, die sie den getöteten Spaniern abgenommen hatten. Eine Gruppe von Indios lief auf den Seewolf zu, und einer von ihnen, stämmig gebaut, war der Wortführer. Auch er hatte sich die Ketten um die Gelenke gewickelt.
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„Gracias, Senor“, sagte er in kehligem Spanisch, „wir danken Ihnen für unser Leben. Und wir werden, ohne Angst um unser Leben an Ihrer Seite kämpfen.“ Hasard nickte und lächelte kaum merklich. „Noch habt ihr nur eure Fäuste und eure Ketten!“ rief er. „Aber das soll sich schnell ändern. Als erstes werden wir die Waffenkammer stürmen.“ Für einen weiteren Wortwechsel blieb keine Zeit. Hasards Vermutung, daß sie sehr bald in Bedrängnis geraten würden, bestätigte sich. Vom Gatter her ertönten die Warnrufe der Männer von der „Isabella“. Inzwischen waren dort auch jene Deutschen in Stellung gegangen, die die Waffen der toten Spanier übernommen hatten. Mit einem energischen Handzeichen beorderte der Seewolf die Indios zurück, die sich ebenfalls zur Verteidigung an die Brücke begeben wollten. Es wäre Selbstmord gewesen. Widerstrebend gehorchten sie. Hasard folgte Johannes Lederer und den anderen, die über die Bohlenbrücke hasteten. Die Seewölfe hatten das Gatter geschlossen und Musketen und Pistolen in Anschlag gebracht. Im Schutz der Einzäunung waren die Deutschen noch damit beschäftigt, die Beutewaffen zu laden. Hasard schob sich zwischen seine Männer und lud die leergeschossenen Läufe seines Drehlings mit geschickten Handgriffen nach. „Seht sie euch an, die Kanalratten!“ grollte Edwin Carberry. „Glauben diese Stinte etwa, sie könnten hier ein Scheibenschießen veranstalten, was, wie?“ „Zieh bloß den Kopf ein“, sagte Ferris Tucker grinsend, „mit deiner großen Klappe bist du sonst die beste Zielscheibe.“ Der Profos ruckte herum. „Was soll denn das schon wieder heißen? Mister Tucker, ich warne dich. Wenn du mich verscheißern willst, werde ich dir eigenhändig ...“ „… die Haut in Streifen von deinem Affenarsch ziehen!“ fielen die anderen im Chor ein.
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Gerhard von Echten und seine Männer wechselten erstaunte Blicke. Doch sie verstanden sehr wohl, mit welch einer hartgesottenen Sorte von Rauhbeinen sie es hier zu tun hatten. Und ebenso erklärte dies, weshalb es den Seewölfen überhaupt gelungen war, in die Festung einzudringen. Das waren Kerle, die Tod und Teufel nicht fürchteten und garantiert schon manches Mal mitten in die Hölle gesegelt waren, um den Leibhaftigen am Schwanz zu ziehen. Auf dem Appellplatz, außer Schußweite noch, hatten sich inzwischen etwa fünfzig Spanier formiert. Ein Teniente stand wenige Schritte abseits und schrie seine Ordnung in die Dreierreihe. Weiter entfernt war ein Trupp von noch einmal fünfzig Soldaten auf dem Marsch in Richtung Festungstor. „Vorwärts, marsch !“ ertönte der schneidende Befehl des Teniente. Regungslos, die Waffen schußbereit, verfolgten die Seewölfe und ihre deutschen Kampfgefährten das Schauspiel. Im Gleichschritt setzte sich die Dreierreihe der Spanier in Bewegung, auf die Einzäunung des Gefangenenlagers zu. Rasch schmolz die Entfernung zusammen. Sechzig Yards, dann nur noch fünfzig Yards... „Ferris, auf was wartest du noch!“ zischte der Seewolf. Der rothaarige Schiffszimmermann sah Hasard zweifelnd an. „Soll ich wirklich? Ich meine, sie haben doch keine Chance, wenn ich ...“ „Und wir haben keine andere Wahl“, fiel ihm Hasard ins Wort. „Wenn wir uns nicht augenblicklich die Waffenkammer unter den Nagel reißen, können wir einpacken.“ Ferris Tucker nickte, sagte nichts mehr. Er lehnte seine Muskete an das Gatter und griff in einen großen Segeltuchbeutel, den er am Gürtel trug. Zum Vorschein brachte er eine Flasche, die mit Pulver, Nägeln und gehacktem Blei gefüllt war. Aus dem Korken, der die Flasche hermetisch verschloß, ragte eine Lunte. In vierzig Yards Entfernung stoppte ein schneidender Befehl das Teniente die Reihenformation der Spanier.
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Ferris Tucker biß die Lunte der Höllenflasche ab, so daß sie nur noch um Fingernagelbreite über den Korken hinausragte. Mit zwei Flinten schlug er geschickt Funken und schaffte es im Handumdrehen, die Lunte zu entfachen. Die vorderste Reihe der Spanier kniete nieder. Mit einer gut geübten Synchronbewegung brachten sie die Musketen in Anschlag. „Erste Reihe, Feuer!“ schrie der Teniente. „Deckung!“ brüllte der Seewolf. Augenblicklich lagen er und seine Männer flach. Auf einen Schlag zuckten die Mündungsblitze aus den Musketenläufen der Spanier. Die Schüsse vereinten sich zu einem einzigen weithallenden Krachen. Gefährlich nahe orgelten Kugeln über die Verteidiger hinter dem Gatter weg. Berstend und splitternd hackte Blei auch in die Einzäunung links und rechts vom Gatter. Besorgt drehte Hasard sich um. Aber zum Glück hatten die Indios reagiert und sich ebenfalls zu Boden geworfen. Blitzartig sprang Ferris Tucker auf. Mit aller Kraft schleuderte er die Höllenflasche. „Zweite Reihe ...“ schrie der Teniente. Weiter gelangte er nicht. Der Seewolf feuerte als erster, und sofort bellten auch die Musketen seiner Gefährten. Für die Distanz von vierzig Yards reichte die überdosierte Pulverladung seines Drehlings mühelos. Schreie gellten bei den Spaniern, und ihre Reihen lichteten sich. „Zweite Reihe, Feuer!“ schrie der Teniente mit sich überschlagender Stimme, während er sich verzweifelt zu Boden warf. Keiner von ihnen achtete auf die Flasche, die ihnen mit glimmender Lunte und dünner kleiner Rauchfahne entgegenrollte. Immer noch feuerten die Seewölfe und die Deutschen. Nur vereinzelt schafften es die Spanier, mit Musketenschüssen zu antworten. Der Feuerblitz der Detonation löschte alles aus. Schreie gellten markerschütternd, menschliche Körper wirbelten
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durcheinander. Diejenigen, die es überstanden hat- ten, warfen sich herum und ergriffen panikartig die Flucht. Kugeln folgten ihnen vom Gatter her, streckten drei, vier von ihnen nieder. Der Teniente brüllte nicht mehr. Reglos lag er dort, wo er sich zu Boden geworfen hatte. Hasard schnellte hoch, stieß die Rechte mit dem Drehling in die Luft. Halb wandte er sich dabei auch zu den Indios um. „Vorwärts!“ Die Männer stießen das Gatter auf und stürmten in weit auseinander gezogener Front los. Auch die Indios setzten sich in Bewegung. Alle hatten sich die Ketten um die Gelenke gewickelt, und zu Hunderten quollen sie über die Brücke. Ihr Freudengeschrei tönte weit über die Festung hinaus. Der Seewolf und seine Gefährten orientierten sich rasch. In einem der Stabsgebäude am Ende des großen Platzes mußten sich die Waffenkammer und auch die Pulverkammer befinden. Da war niemand mehr, der sich ihnen jetzt noch in den Weg stellte. Es gab nur eine denkbare Erklärung dafür. Die restlichen Soldaten waren abgezogen worden, um die Galeeren zu bemannen - oder zumindest eine. Offenbar rechnete der Festungskommandant mit der größeren Gefahr von See her. Es gab einen weiteren Grund, den weder Hasard noch die anderen einkalkuliert hatten. Capitan Gutierrez hatte alle sonstigen noch verfügbaren Kräfte auf die Batterietürme gescheucht. Das wurde den Seewölfen und den befreiten Ruderknechten jäh deutlich, als von der Landseite der Festung Geschützdonner herüberhallte. Das Orgeln der Kugel war zu hören, und der darauf folgende Einschlag ließ das Freudengeschrei der Indios in blankes Entsetzensgeheul übergehen. Die Kugel war in den Graben vor dem Gefangenenlager gerast. Dreck und Schlamm spritzten hoch, vermischt mit den zerfetzten Leibern von Alligatoren und Kaimanen.
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Hasard wich zur Seite und verlangsamte seine Schritte. Die ersten seiner Männer hatten bereits den Schutz der Gebäude erreicht. „Schneller!“ brüllte er den Indios zu. „Dort hinüber!“ Er deutete auf die Baracken, hinter deren Bohlenwänden sie wenigstens fürs erste einigermaßen sicher sein würden. Die Indios flohen panikartig, als die nächste Kanonenkugel heranheulte. Die Brücke erwies sich als Nadelöhr. Diesmal lag der Einschlag im Gefangenenlager. Hasard schloß die Augen, als er die markerschütternden Schreie hörte. Er wußte nicht, wie viele der Indios sich noch dort hinter der Einzäunung befanden. Aber die übrigen schafften es, sich rechtzeitig vor dem nächsten Schuß in Sicherheit zu bringen. Hasard winkte Gerhard von Echten und die Männer von der „Isabella“ zu sich heran. „Übernehmen Sie die Waffenkammer“, forderte er den Deutschen auf. „Verteilen Sie alles, was Sie finden, an die Männer.“ Von Echten nickte nur, wirbelte herum und war in der nächsten Sekunde in der Riesenschar der Gefangenen untergetaucht. Abermals orgelte eine Kanonenkugel über die Köpfe der Männer weg. Reaktionsschnell warfen sie sich zu Boden. Der Einschlag riß einen Krater in die Mitte des Appellplatzes. „Batuti!“ rief der Seewolf. „Schieß das Signal!“ Während sie sich wieder aufrappelten, zog der schwarze Herkules einen besonders präparierten Pfeil aus dem Lederköcher. Eine Lunte hing von der verdickten Spitze herab. Mit seinen Flinten setzte Ferris Tucker sie in Brand, und dann legte Batuti den Pfeil auf die Bogensehne und schoß ihn steil in die Luft, zum Meer hin. Hasard war sich indessen darüber im klaren, daß sie keine Zeit mehr zu verlieren hatten. Die Batterietürme, deren Geschütze auf das Innere der Festung gerichtet worden waren, bildeten jetzt die größte Gefahr für sie. „Ferris!“ rief er. „Wie viele Höllenflaschen hast du noch?“ „Fünf, Sir.“
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„Dann los!“ Geduckt hasteten sie auf die Unterkunftsbaracken zu und drangen in deren Schutz vor. 8. Gleich nachdem sie im Nebel verschwunden waren, hatte Ben Brighton den Kurs ändern und die „Isabella“ in langen Schlägen gegen den Wind kreuzen lassen. Dann waren sie erneut auf Ostkurs gegangen und näherten sich nun abermals dem Hafen von Macuro aus der ursprünglichen Richtung. „Deck!“ schrie Bill, der Moses, aus dem Großmars. „Leuchtkugel an Backbord!“ Die Köpfe der Männer ruckten herum. Deutlich sahen sie den hellroten Feuerball, der hoch am Himmel zerplatzte und einen Funkenregen nieder schweben ließ. Es war das vereinbarte Zeichen. Längst war die Galeone klar zum Gefecht. Murrend zwar, doch letztlich folgsam, hatten sich die Zwillinge ins Mannschaftslogis verzogen, nachdem sie Sand ausgestreut sowie Kohlenbecken und Pützen mit Wasser aufgestellt hatten. Und wieder standen die Geschützmannschaften unter Al Conroys Kommando an Backbord bereit. Unvermittelt tauchten die zerschossenen Galeeren aus dem Dunst auf. Nach dem ersten Angriff war die Sicht merklich besser geworden. In der Pfahlbausiedlung regte sich keine Menschenseele. Die Indios mußten die Flucht in den Dschungel ergriffen haben. Unter dem leicht zunehmenden Wind begann der Nebel sich mehr und mehr zu verflüchtigen. Auch die Festungspalisaden von Macuro wurden jetzt sichtbar. „Drei Strich Steuerbord!“ befahl Ben Brighton reaktionsschnell. „Backbordgeschütze klar zum Feuern!“ Pete Ballie ließ das Steuerruder wirbeln, und der Bug der „Isabella“ schwenkte nach Südosten. Bevor die Festungsbatterien auch nur eine Chance hatten, das Ziel zu erfassen und sich darauf einzurichten, gab der Erste
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Offizier der „Isabella“ den Feuerbefehl. Jetzt zeigte sich der unschätzbare Vorteil, den die überlangen Rohre der Culverinen an Bord der Galeone boten. Gegen die Reichweite dieser Geschütze war kein Kraut gewachsen. Yardlange Feuerblitze zuckten aus den Stückpforten, hart krängte die „Isabella“ unter dem Rückstoß nach Steuerbord. Der Donner der Culverinen rollte gegen die Festung an, mit verheerender Gewalt raste die volle Backbord-Breitseite auf die Palisaden zu. Schreie gellten, noch bevor die Siebzehnpfünderkugeln das Palisadenholz in Trümmer legten. Berstend und krachend flogen die Palisaden unter den Einschlägen auseinander. Die Batterietürme sanken mit ihrer schweren Geschützlast in sich zusammen wie unter wegknickenden Getreidehalmen. Planken und Bohlen wirbelten durch die Luft und begruben die Soldaten unter sich. Innerhalb von Sekunden bestand die vordere Festungsmauer nur noch aus zerfetzten Fragmenten. Während der Pulverrauch sich lichtete, stimmten die Männer auf der „Isabella“ ihr Triumphgebrüll an. „Ar - we - nack!“ hallte abermals der Schlachtruf, dessen rollender Takt an den Marschtritt eines herannahenden Heeres erinnerte. „Deck!“ gellte von neuem Bills Stimme aus dem Großmars. „Galeere Backbord voraus!“ Noch während er die letzte Silbe hervorstieß, erfolgte ein dumpfer Schlag, dann das unverkennbare Orgeln eines herannahenden Geschosses. Klatschend fuhr es durch das Vormarssegel der Galeone und riß an Steuerbord eine hohe Fontäne aus den Fluten. Al Conroy reagierte blitzschnell. Mit wenigen Sätzen war er auf der Back. Die Drehbasse an Backbord war bereits geladen, wie alle anderen der Hinterladergeschütze in den schwenkbaren Gabellafetten. Wie Ben Brighton, der auf dem Achterkastell nach Backbord geeilt war,
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erfaßte auch der Stückmeister die Situation blitzschnell. Die Prunkgaleere des Festungskommandanten war mit Soldaten als Ruderern bemannt worden und löste sich von der Pier. Auf der Plattform am Bug war die Geschützmannschaft im Begriff, den schweren Mörser für den zweiten Schuß zu laden. Da nicht einmal die Hälfte der Ruderbänke besetzt war, lief die Galeere nur langsame Fahrt. Al Conroy schätzte die Entfernung auf neunzig bis hundert Yards. Ruhig visierte er an, nachdem er die Lunte ins Zündloch der Drehbasse geschoben hatte. Im selben Moment ging Ben Brighton aufs Ganze. „Geh auf Ostkurs, Pete!“ „Aye, aye, Sir.” Der Rudergänger begriff sofort. Trotz des zerrissenen Vormarssegels hatte sich die Fahrt der schlanken Galeone noch nicht verringert. Al Conroy glich den beginnenden Kurswechsel aus. Brüllend entlud sich die Drehbasse und spie ihren tödlichen Hagel aus gehacktem Blei aus. Als der Pulverrauch verflog, war die Plattform am Bug der Galeere wie leergefegt. Nur der Mörser stand einsam und verlassen da. Schreie gellten im nächsten Moment, doch das Entsetzen, das aus ihnen klang, galt nicht dem Meisterschuß Al Conroys. Groß und drohend rauschte der Bug der „Isabella“ auf das Vorschiff der Prunkgaleere zu. Viel zu spät erhielt die zahlenschwache Rudermannschaft den Befehl zum Streichen. Panikartig sprangen die ersten Ruderer auf, als der Schatten der heranrauschenden Galeone auf sie fiel. Befehle, die unter dem Sonnendach hervorgellten, wurden nicht mehr befolgt. Rasend schnell verringerte sich die Distanz. Mit ohrenbetäubendem Krachen bohrte sich der Bug der „Isabella“ in das prachtvoll verzierte Vorschiff der Galeere. Für einen Moment hob sich der Bug der Galeone. In einem Meer von Trümmern versank auch der schwere Mörser.
Das Schiff vom Drachensund
Die Soldaten, einschließlich der Offiziere, sprangen in wilder Flucht über Bord und retteten sich schwimmend an Land. Ben Brighton ließ beidrehen. Zurück blieb das Wrack der „Virgen de Murcia“, deren reich geschmücktes Heck jetzt schräg emporragte. Aus der Festung wehten noch immer Schüsse und Detonationen herüber. Besorgnis überschattete die Gesichtszüge Ben Brightons. Er durfte den Männern an Land nicht zu Hilfe eilen, denn noch war die Lage zu unklar, um die „Isabella“ schutzlos vor Anker zu legen. * Insgesamt drei Batterietürme gab es an der landeinwärts gelegenen Palisadenwand der Festung. Bevor die Mannschaften die Geschütze zum nächsten Schuß klarieren konnten, waren Hasard und seine Männer heran. Smoky und Ferris Tucker gaben Feuerschutz mit ihren Musketen. Mit Höllenflaschen, deren Lunten bereits glimmten, jagten der Seewolf, Ed Carberry und Dan O'Flynn auf die Türme zu. Batuti stand seelenruhig an der Ecke einer Baracke und feuerte seine Pfeile auf die Türme ab. Die Mannschaften waren gezwungen, in Deckung zu gehen. Alles Weitere spielte sich in Minutenschnelle ab. Hasard und die beiden anderen schleuderten ihre Höllenflaschen aus geringer Entfernung nach oben. Dann warfen sie sich herum und hasteten zurück. Beinahe gleichzeitig erfolgten die Detonationen. Trümmer wirbelten durch die Luft, und die mächtigen Kanonen schlugen hart auf dem Boden auf. Stille kehrte ein. Der Seewolf und seine Männer vergewisserten sich rasch, daß die Festungstürme an den Längsseiten der Palisaden nicht besetzt waren. Dann eilten sie zurück über den Appellplatz, wo die meisten Indios schon bewaffnet waren und unter dem Kommando der Deutschen auszuschwärmen begannen. Gerhard von Echten und seine Freunde waren noch in den Gebäuden beschäftigt.
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Durch die zerfetzte Palisadenfront der Festung eilten die Männer von der „Isabella“ zum Hafen hinunter. Grenzenlose Erleichterung befiel sie, als sie die Szenerie vor sich sahen. Hier gab es keine Probleme mehr. Ben Brighton und die anderen hatten ganze Arbeit geleistet. Erst beim zweiten Hinsehen erblickten Hasard und seine Männer die Gestalten, die aus dem seichten Uferwasser an Land krochen. Und die Seewölfe waren rechtzeitig genug zur Stelle, um die Spanier in Empfang zu nehmen. Die triefend-nassen Männer unter Capitan Ramon Marcelo Gutierrez leisteten keinen Widerstand mehr. Es gab keinen Gedanken daran angesichts der drohenden Waffen, die sich ihnen entgegenrichteten. Überdies saß ihnen der Schock der gerade erlittenen Niederlage noch in den Knochen. Den beleibten Festungskommandanten übernahm der Seewolf persönlich. Gutierrez war ein schlotterndes Abbild seiner selbst. Er konnte den hünenhaften Engländer nur anstieren und brachte kein Wort des Protestes hervor, als Hasard ihn mit einem Schwenker seines Drehlings aufforderte, loszutraben. Frenetischer Jubel der Indios empfing ihn und die anderen, als sie die Spanier über die heruntergelassene Bohlenbrücke in das ehemalige Gefangenenlager trieben. Von allen Seiten erschienen jetzt Gruppen bewaffneter Indios, die versprengte Spanier aufgegriffen hatten und dem Beispiel der Seewölfe folgten. Im Handumdrehen befand sich die überlebende Schar der Soldaten unter Capitan Gutierrez in jenem Lager, in dem sie zuvor die Rudersklaven wie Tiere hatten vegetieren lassen. „Ihr werdet eine Weile hier ausharren müssen“, erklärte Hasard, „und denkt daran, daß in eurem schönen Graben noch genügend Alligatoren am Leben geblieben sind.“ Er wandte sich ab. Sie zogen die Brücke hoch und schlossen das Gatter. Irgendwann würden die spanischen Galeonen erscheinen, die den Silbervorrat abzutransportieren hatten. Bis dahin
Das Schiff vom Drachensund
mußten sich Gutierrez und seine Leute gedulden. Schon jetzt stand fest, daß es härter für sie werden würde als eine gnädige Kugel. Als Hasard und seine Männer auf den Appellplatz zurückkehrten, waren die Deutschen unter Gerhard von Echtens Kommando damit beschäftigt, metallbeschlagene Kisten aus einer der Baracken ins Freie zu transportieren. Von Echten erblickte den Seewolf und trat auf ihn zu. Mit einer ausladenden Handbewegung deutete der hochgewachsene Deutsche auf die inzwischen gestapelten Kisten. „Ich hoffe, Sie haben einen ausreichend großen Laderaum, Sir Hasard.“ Er warf einen Blick über die zerborstene Festungsfront. Vor dem Hafen ankerte die „Isabella“. „Wir sollten keine Zeit verlieren und das Silber gleich an Bord mannen lassen. Es steht Ihnen zu.“ Hasard schüttelte energisch den Kopf. „Abgelehnt. Das Silber gehört Ihnen, denn Sie wurden von den Spaniern um die Ausübung Ihres Rechts betrogen. Ich werde die Kisten zwar an Bord nehmen, aber nur bis zu Ihrem Stützpunkt, wo ich Sie und Ihre Männer absetzen werde.“ „Ich sehe schon“, Gerhard von Echten seufzte, „das wird eine schwierige Verhandlung. Versuchen wir es so: Ich nehme Ihren Vorschlag teilweise an. Allerdings nur unter einer Bedingung. Wir schließen einen Vertrag, den ich als Bevollmächtigter des Augsburger Bankhauses unterzeichne. Darin wird der britischen Krone die Hälfte des erbeuteten Silbers überschrieben. Die Auslieferung erfolgt in London, und zwar bei der Rückreise unseres nächsten Schiffes nach Europa.“ Hasard willigte ein, denn er begriff, daß von Echten niemals die gesamte Beute für sich allein akzeptieren würde. Mit Hilfe der Indios brauchten sie nur wenig mehr als eine Stunde, um die insgesamt achtzig Kisten an Bord zu mannen. Während dieser Arbeit waren Ferris Tucker und mehrere Helfer unablässig damit beschäftigt, alle
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ehemaligen Galeerensklaven mit kräftigen Hammerschlägen von ihren Ketten zu befreien. Und die Freiheit war das Geschenk für die Indios, die zu Hunderten am Strand
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ausharrten und mit leuchtenden Augen die Galeone verfolgten, bis ihre Segel über der östlichen Kimm verschwunden waren...
ENDE