Viola Larsen
Das Kind aus der Geisterwelt Irrlicht Band 356
Die kleine Gestalt rührte sich nicht. Ärgerlich streckte...
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Viola Larsen
Das Kind aus der Geisterwelt Irrlicht Band 356
Die kleine Gestalt rührte sich nicht. Ärgerlich streckte Lady Stettenham die Hände aus, um nach der Kleinen zu greifen. Ihr Herzschlag stockte vor Entsetzen: Sie griff ins Leere. Da war nichts! Aber sie sah doch die Kindergestalt ganz deutlich vor sich!
Ein grauenvoller Schrei weckte Maura Parkins mitten in der Nacht. Sie fuhr erschrocken aus den Kissen und horchte. Alles war still. Hatte sie den Schrei nur geträumt? Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf, und sie zitterte am ganzen Körper. Doch da hörte sie den Schrei wieder: Ein langgezogener, gellender, gräßlicher Schrei, bei dem ihr das Blut in den Adern erstarrte. Kein Zweifel: Der Schrei kam aus Lady Stettenhams Zimmer! Maura bebte wie Espenlaub. Sie knipste das Nachttischlämpchen an, schlüpfte in ihre Pantöffelchen und warf sich den Morgenmantel über. Im selben Augenblick, als sie aus ihrem Zimmer in den Korridor hinauslief, heulte der Sturm wieder auf und warf die Tür krachend hinter Maura ins Schloß. Ein Fenster klirrte. Es war, als lache der Sturm Maura aus, weil er sich in den verborgenen Luken, Ritzen und Fugen alter Häuser wie dem viktorianischen Stettenham-Palace besser auskannte als sie und genau wußte, wie er in das Haus hineinkam, auch wenn alle Fenster und Türen geschlossen waren. Panik packte Maura. Sie hastete über den langen Korridor. Durch die Fenster fiel fahl das von Nebel gedämpfte Licht der Straßenlaterne herein. Maura riß die Tür zu Lady Stettenhams Zimmer auf und knipste den Lichtschalter an. Im Zimmer war alles in Ordnung. Doch die alte Dame saß bleich und zitternd in ihrem Bett. Ihre wimpernlosen schwarzen Augen blinzelten verstört in das helle Licht.
»Lady Edith!« rief Maura erregt. »Was ist denn? Ist etwas passiert?« Das runzlige Gesicht der alten Dame, das wie ein Vogelkopf auf dem mageren Hals saß, war von Grauen verzerrt. »Sie war wieder da!« flüsterte sie. »Sie ist wieder da gewesen!« Maura war sicher, daß Lady Edith bestimmt schlecht geträumt hatte. Das beruhigte sie etwas. Doch der Schreck preßte ihr immer noch das Herz zusammen. Das Bett der Lady war von einem blaßgelben Brokathimmel gekrönt und stand etwas erhöht in einem Alkoven. Maura stolperte in der Aufregung, als sie die zwei Stufen zu dem Alkoven hinaufhastete. »Dort stand sie«, flüsterte Lady Stettenham, und ihre welken Hände bebten, als sie an das Fußende des Bettes deutete. »Ich konnte wieder nicht schlafen. Ich habe sie kommen sehen! Sie ist durch die Mauer zwischen den Schränken gekommen!« Ein eiskalter Schauder überlief Maura. Energisch nahm sie sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, der verschreckten alten Dame zu widersprechen, das merkte sie. Sicher war es besser, auf deren wirre Phantasien einzugehen. »Wer, Lady Edith?« fragte sie mühsam beherrscht. »Wer ist durch die Mauer gekommen?« »Doodad«, krächzte Lady Stettenham. »Wer?« Maura riß die Augen auf. »Doodad!« wiederholte die alte Dame gereizt, weil Maura sie nicht verstand. »Und wer ist Doodad?« fragte Maura. »Ein kleines Mädchen«, stieß Lady Stettenham von Grauen geschüttelt hervor. »Sie ist vielleicht acht oder zehn Jahre alt. Sie hat lange blonde Locken, die mit blauen Samtschleifen zusammengebunden sind. Sie trägt ein blaues Samtkleid, das mit kleinen Perlmuttknöpfen im Rücken geschlossen ist, und sie heißt ›kleines Dingsda‹ – Doodad!« betonte Lady
Stettenham mit einem gewissen Eigensinn. »Sie hat es mir selbst gesagt!« »Sie hat Ihnen das vorhin gesagt, als sie an ihrem Bett stand, Lady Edith?« Maura ging geduldig weiter auf das Thema ein. »Nein.« Die alte Lady schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nicht vorhin. Gestern. Gestern abend schon. In der Wohnhalle.« Ob sie plötzlich den Verstand verloren hat? überlegte Maura bestürzt. Sie versuchte, ganz unbefangen zu wirken und weiter auf Lady Ediths Traumerscheinung einzugehen. »Doodad hat sich also mit Ihnen unterhalten?« fragte sie lächelnd. »Ja. Sie spricht mit einer hellen Stimme, und sie lacht fröhlich.« Lady Stettenhams Atem ging plötzlich keuchend, als schnüre eine heftige Beklemmung ihr die Kehle zu. »Sie hat mir erst eine Weile den Rücken zugewandt. Da sah ich die vielen Perlmuttknöpfe an ihrem Kleid. Doch dann hat sie sich umgedreht und mich angesehen!« Lady Stettenham streckte abwehrend die Arme aus. »Dieses Gesicht – Doodads Gesicht…« Sie bäumte sich auf und schrie. Es war wieder ein so grauenvoller Schrei wie der, der Maura aus dem Schlaf geschreckt hatte. Lady Stettenham schluckte krampfhaft. Ihre Hände glitten unruhig über die Bettdecke. Es wird ihr Herz sein, dachte Maura. Es ist ein Alptraum, der sie quält. Es fiel ihr ein, daß die alte Lady sich am vergangenen Abend, als sie, Maura, von der Probe des Kirchenchors heimgekommen war, etwas eigenartig verhalten hatte. Doch das tat Lady Stettenham seit dem schrecklichen Unglück oft, das sie vor drei Monaten getroffen hatte, und deshalb hatte Maura ihrem merkwürdigen Benehmen keine besondere Bedeutung beigemessen.
Die Spiegeltüren der schweren Kleiderschränke vervielfachten Mauras Bild. Sie war ein schlankes, hochgewachsenes Mädchen. Ihr braunes Haar fiel in weichen, natürlichen Wellen bis über ihre schmalen Schultern. Sie hatte rehbraune Augen und den feinen, durchsichtigen Teint der Engländerin. Ihre Haltung war anmutig und vornehm. Ihre ganze Erscheinung hatte eine besondere Ausstrahlung. Doch Lady Stettenhams schwarze Augen funkelten Maura bösartig an, als diese aus dem Medizinfläschchen, das auf dem Nachttisch stand, zwanzig Tropfen in ein bereitstehendes Glas Wasser zählte. Lady Stettenham litt seit dem schrecklichen Unfalltod ihres einzigen Enkels an nervösen Herzbeschwerden. Maura wollte ihr die Medizin geben, aber Lady Stettenham stieß ihre Hand zurück. »Gift!« ächzte sie. »Es ist Gift! Glauben Sie, ich weiß nicht, daß Sie nur auf den Augenblick warten, wo ich sterbe?« Derlei Vorwürfe war Maura gewohnt. »Das ist Ihre Medizin, Lady Edith«, sagte sie energisch. »Es sind die Herztropfen, die Dr. Wilkins Ihnen verordnet hat!« »Dr. Wilkins steckt mit Ihnen unter einer Decke«, fauchte Lady Stettenham. »Er kann es auch nicht abwarten, bis ich tot bin! Seit Percy fortgegangen ist…«, sie umschrieb auf diese Weise immer den Tod ihres Enkels, »kommt der Doktor fast jeden Tag. Früher ist er nur einmal im Monat gekommen, und ich bin schon damals eine kranke, gelähmte Frau gewesen.« Maura seufzte. Es war zwecklos, Lady Edith zu widersprechen. Sie wußte das aus Erfahrung. Die alte Dame hatte sich nun einmal in die Idee verbohrt, daß alle nur auf ihren Tod warteten. Außerdem stimmte es, daß Dr. Wilkins vor Lord Percys plötzlichem Ableben nur einmal im Monat gekommen war, um
seinen Pflichtbesuch zu machen. Bis zu jenem Zeitpunkt war die alte Lady nämlich trotz ihrer siebenundsiebzig Jahre und der Lähmung, die sie in den Rollstuhl zwang, gesundheitlich recht robust gewesen. Doch seit Lady Percys Tod verfiel sie zusehends. Mit einem sanften, aber festen Griff hielt Maura den Kopf der alten Dame fest und flößte ihr die Medizin geschickt ein. »Doodad hat gesagt, ich muß meine Medizin nehmen«, murmelte Lady Stettenham und sank erschöpft in die vielen Kissen zurück. Sie schlief halb sitzend, weil sie seit dem Todesfall nachts manchmal quälende Atembeschwerden hatte. »Doodad ist fort!« versicherte Maura freundlich und bestimmt. »Aber sie kommt wieder!« »Sie schläft!« beschwichtigte Maura. »Doodad ist ein kleines Mädchen, das um diese Zeit längst schlafen muß!« Dieses Argument schien zu wirken. Lady Stettenham atmete erleichtert auf. Die Medizin wirkte auch rasch. Die alte Dame schloß die Augen, aber sie hielt krampfhaft Mauras Hand fest. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie eingeschlafen war. Maura wartete noch eine Weile. Dann löste sie ihre Hand aus den welken Fingern Lady Stettenhams. Sie ließ das Nachtlämpchen brennen, als sie leise hinausging. Auf einmal fühlte sie sich sehr schwach und elend. In ihrem Zustand war das kein Wunder; zumal, wenn man diesen Zustand sorgfältig geheimhalten mußte. Wie lange würde das noch möglich sein? Und was war dann? Der Sturm heulte wieder. Es klingt wie unheimliche Stimmen, dachte Maura schaudernd. In ihrem Zimmer öffnete sie trotzdem das Fenster, um frische Luft zu schöpfen, weil sie sich so elend fühlte.
Sie wurde auch die Angst nicht los. Natürlich hat Lady Edith nur schwer geträumt, sagte sie sich, denn es gibt keine kleinen Gespenster, die Doodad heißen und durch Wände gehen. Die Ampeln der Straßenlaternen sahen in dem dichten grauen Nebel wie Schneebälle aus. Gab es wirklich keine kleinen Gespenster, die durch Mauern gehen konnten? Maura hatte schließlich keine Ahnung davon, was am vergangenen Spätnachmittag in der Wohnhalle des Stettenham-Palace geschehen war.
*
Es war gegen sechs Uhr abends gewesen, und der Herbstnebel, der seit einer Woche über London lag, hatte das letzte Licht des trüben Novembertages in sich aufgesogen. Lady Stettenham machte in ihrem Rollstuhl, den Maura fürsorglich an das Kaminfeuer gerückt hatte, ein Nickerchen. Die alte Dame träumte von ihrem Enkel Percy, als ein unheimliches Geräusch sie auffahren ließ. Sie horchte, drehte aufgeregt den Kopf hin und her. Ihr kleines gelbes Vogelgesicht wirkte erschrocken. Was war das? Woher kam das Geräusch? Vom Kamin? Ja, so mußte es sein. Im Kamin waren immer seltsame Geräusche, zumal an so stürmischen Herbstabenden. Doch die Rammen brannten ruhig. Also konnte das nicht sein. Die alte Dame fröstelte. Maura hat wieder vergessen, das Fenster zu schließen, dachte sie ärgerlich. Sie vergißt immer
alles! Sie kniff die dünnen Lippen zusammen, und ihre wimpernlosen Augen funkelten bösartig. Oh, wie sie Maura haßte! Sie wollte es ihr heimzahlen, alles, was sie ihr angetan hatte, seit sie vor drei Jahren als ihre Gesellschafterin und Pflegerin ins Stettenham-Palace gekommen war. Die Lady hatte bereits einen Plan. Sie brauchte nur noch etwas Zeit. Der Wind fuhr zum Fenster herein und blähte die Gardinen. Es dämmerte draußen. In den Bäumen hingen die Nebelschwaden. Von der Themse her dröhnten die Schiffssirenen so dumpf und hohl, als habe man sie in Watte eingepackt. Da war es wieder! Ein Rasseln, als würden schwere Ketten bewegt. Ein Knarren, Stöhnen, Ächzen und schließlich ein dünner Pfeifton. Die Bilderuhr, die über einer Vitrine an der Wand hing, fing an zu schlagen. Sie klimperte zuvor eine alte Melodie: »The winds have gone over the ocean…« Das Bild zeigte einen Dreimaster auf stürmischer See. Diese Uhr war ein unschätzbares Kunstwerk, das der König dem verstorbenen Lord Stettenham für ehrenvolle Verdienste um die Krone persönlich zum Geschenk gemacht hatte. Es war die Uhr, dachte Lady Edith. Sie seufzte erleichtert. Auch Uhren werden alt! Die Uhr schlug die sechste Abendstunde und klimperte: »The winds have gone over the sea…« Danach verstummte sie. Es war still. Bedrückend still. In letzter Zeit nickte Lady Edith manchmal von einem Atemzug zum anderen ein, und sie begann jedesmal sofort zu träumen. Ihre Träume waren wie Spiegel, die ihr in der tristen Gegenwart heitere Begebenheiten aus der Vergangenheit
zeigten, aus einer Zeit, in der Lady Stettenham jung, schön und glücklich gewesen war. So ging es ihr auch jetzt. Sie träumte. Im Haus duftete es nach Lammkoteletts, jungen Bohnen und Apfelbrei. Mary deckte in der Eßnische neben dem Kamin den Tisch. Der Türklopfer hämmerte wie verrückt. Percy kam aus der Schule heim! Er machte sich nämlich immer einen Spaß daraus, »den Löwen zu bändigen«, wie er das nannte, wenn er den Messingring, den der Löwenknopf im Maul hielt, kräftig gegen die Tür schlug. Gleich darauf erfüllte seine helle Jungenstimme das Treppenhaus. »Granny, Granny, wo bist du?« Er stürmte die Treppe herauf und lief in ihre ausgebreiteten Arme. Lady Stettenham träumte immer ganz alltägliche Begebenheiten; vielleicht weil es gerade die kleinen Geschehnisse waren, an denen man in der Erinnerung das Herz erwärmen konnte… Da waren die unheimlichen Geräusche wieder zu hören. Sie rissen Lady Edith abermals aus ihrem leichten Schlummer! Sie blinzelte nervös. Es war inzwischen fast dunkel im Zimmer. Nur von draußen fiel durch den Nebel gedämpftes Licht der Straßenlaternen herein. Schatten lauerten in den Ecken des Zimmers, dessen Erker und Nischen schon bei hellem Tageslicht etwas düster wirkten. Doch daran war auch die Einrichtung schuld. Die Sitzgarnituren waren überladen mit Samt, Plüsch und Pleureusen. Außerdem war das Zimmer mit Raritäten mannigfacher Art vollgestopft. Auf den Vertikos und in den Vitrinen standen und lagen eine Menge Krimskrams herum, unersetzliche Kostbarkeiten neben scheußlichem Kitsch. Lord Stettenham hatte einige Jahre als Offizier in der indischen Kronkolonie Dienst getan, und er hatte von Elefantenzähnen über Muscheldosen bis zum Fell eines
selbsterlegten Tigers so ziemlich alles heimgeschleppt, was Indien an Souvenirs zu bieten hatte. Lady Stettenham saß wie erstarrt in ihrem Rollstuhl und lauschte. Jetzt war es wieder still. Aber diese Stille war fast genauso unerträglich wie die Geräusche! Was geht hier nur vor? Ist jemand im Zimmer? Aber das kann ja nicht sein. Es ist, als ob die Schatten Geräusche von sich geben würden. Was lauerte in den Nischen und Erkern? Sie starrte in die Dunkelheit. War da etwas? Da Lady Stettenham kurzsichtig war, verschwamm alles vor ihren Augen. Sie fühlte sich hilflos und wurde zornig. Schon wieder diese gräßlichen Geräusche! Doch plötzlich glaubte sie zu wissen, woher sie kamen: Vom Aufzug! Der alte Speiseaufzug, der von der Küche im Souterrain in die Wohnhalle führte, war es, der die beklemmenden Töne verursachte! Wie lange war er nicht mehr benutzt worden? Lady Edith konnte sich nicht daran erinnern, wann es das letzte Mal gewesen war. Wer macht sich denn an dem Aufzug zu schaffen, überlegte Lady Stettenham nervös. Es ist doch niemand zu Hause! Maura war zur Probe des Kirchenchors gegangen. Das gefiel der Lady überhaupt nicht. Aber der Pfarrer hatte gesagt, daß er auf Mauras schöne Altstimme nicht verzichten könne. Und das junge Hausmädchen Betty ging gleich nach dem Abendessen nach Hause. Mary, die alte Köchin, war krank. Mary hatte jeden Herbst ihre Novembergrippe. Man hatte sie nach Hause schicken müssen. Lady Edith hatte eine panische Angst vor Erkältungen. Sie litt manchmal an einer verstopften Nase und fürchtete zu ersticken. Das war natürlich Unsinn. Die Wahrheit war: Sie hatte Angst vor dem Sterben!
Und trotzdem war sie entschlossen, ihren sorgfältig ausgeklügelten Plan durchzuführen – um Maura zeitlebens ins Unglück zu stürzen. Manchmal malte sie sich aus, wie es Maura erging, wenn es erst passiert war, und sie bedauerte, daß sie sich an Mauras Unglück und Verzweiflung nicht mehr weiden könnte! Es war eigentlich alles fast perfekt vorbereitet. Nur ein paar Fädchen fehlten noch an dem Intrigennetz, das Lady Edith Stettenham mit teuflischer Geschicklichkeit gesponnen hatte. Schon wieder gab dieser alte Aufzug Geräusche von sich! Energisch drehte Lady Stettenham ihren Rollstuhl herum und schob sich in Richtung des Speiseaufzugs, der am anderen Ende des Zimmers lag. Die Räder des Rollstuhls verfingen sich jedoch mit ihrer Gummibereifung in den langen Fransen des Teppichs, der zwischen dem Kamin und einem Mahagonitisch lag. Wie oft habe ich Maura schon gesagt, sie soll diesen Teppich entfernen, giftete Lady Edith. Sie tut es aus reiner Bosheit nicht. Sie weiß, daß ich jedesmal Schwierigkeiten mit den Rädern habe! Die unheimlichen Geräusche wurden immer aufdringlicher. Lady Edith hing in ihrem Rollstuhl fest und konnte nichts tun. Sie zögerte eine Sekunde. Dann schlug sie resolut die weiche Kaschmirdecke zurück, die über ihren dünnen Beinen lag, zog sich an den Armstützen des Rollstuhls hoch und ging mit etwas unsicheren und steifen Schritten zu dem Aufzug hinüber. Sie stutzte. Das rote Lämpchen neben der Schiebetür flackerte. Es sah aus wie ein entzündetes Auge, das ihr zuzwinkerte. Dieses Lämpchen war früher einmal das Zeichen dafür gewesen, daß der Aufzug im Obergeschoß angekommen war. Lady Edith fiel es in letzter Zeit oft schwer, Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzuhalten. Deshalb überlegte sie
jetzt verstört, ob sie es vielleicht nur geträumt hatte, daß sie gelähmt im Rollstuhl saß, während das, was sie für einen Traum gehalten hatte, die Wirklichkeit war. Sie starrte nachdenklich das flackernde rote Lämpchen an. Sie glaubte, geträumt zu haben, daß Percy aus der Schule heimgekommen war und daß es Lammkoteletts mit jungen Bohnen zum Mittag gab. Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich! Ganz bestimmt war das die Wirklichkeit! Percy kam heim! Und Mary schickte jetzt das Essen mit dem Speiseaufzug hinauf. Lady Stettenham wurde ganz aufgeregt. Sie rüttelte an der Schiebetür des Aufzugs, die klemmte und erst nach einer Weile nachgab. Mit zitternden Händen schob Lady Edith die Tür hoch – und fuhr entsetzt zurück. Ein eiskalter Hauch streifte sie, und das kam nicht vom Wind. Es war eine andere Art von Kälte, eisig, wie der Hauch des Todes.
*
Lady Stettenham begriff auch nicht, woher die seltsame Helligkeit in dem Aufzug kam. Die Innenbeleuchtung war schon lange kaputt. Das wußte sie nun wirklich ganz genau. Die alte Dame blinzelte nervös. Sie griff sich an den Hals, als würge sie etwas. Was war das? Auf der geräumigen Tragefläche des Speiseaufzugs standen weder Lammkoteletts noch junge Bohnen und schon gar kein Apfelbrei! Ein kleines Mädchen kauerte auf der Tragefläche, das ihr den Rücken zuwandte. Ein zartes, schmales Ding war es, wie Lady
Edith erkennen konnte, mit blonden, langen Locken, die von einem breiten blauen Samtband zusammengehalten wurden. »Wie bist du denn da hineingekommen?« stammelte Lady Edith beklommen. »Ich komme überall hinein!« antwortete die Kleine mit einer hellen, frischen Stimme, ohne sich jedoch umzuwenden. Sie hatte ein hellblaues Samtkleidchen an, das auf dem Rücken mit vielen kleinen Perlmuttknöpfen geschlossen war. Lady Edith überlegte fieberhaft. Kam die Kleine aus der Nachbarschaft? Seit dem Tod ihres Mannes vor fünfzehn Jahren pflegte sie keinerlei nachbarschaftliche Kontakte mehr. Es war ja auch nicht mehr so wie in früheren Zeiten. Die meisten der feudalen Herrschaftshäuser wurden nicht mehr von ihren ursprünglichen Besitzern bewohnt. Sie waren längst verstorben. Die Häuser wurden für die Erben von Maklern verwaltet, und die Mieter wechselten oft. Es war also durchaus möglich, daß die Kleine in die nächste Nachbarschaft gehörte. Hatte das Kind sich vielleicht verbotenerweise in das Stettenham-Palace geschlichen, sich irgendwo versteckt und, als alle fort waren, mit dem Aufzug Unfug getrieben? »Das ist gefährlich!« sagte Lady Edith tadelnd. »Dieser Aufzug ist alt. Er kann abstürzen und dich mit sich reißen.« Die Kleine lachte fröhlich und erklärte: »Das macht nichts!« »Das macht wohl etwas!« regt sich Lady Edith auf. »Komm da heraus! Sofort!« befahl sie der Kleinen. Die kleine Gestalt rührte sich nicht. Und dann schüttelte das Kind den Kopf. Ärgerlich streckte Lady Stettenham die Hände aus, um nach der Kleinen zu greifen. Ihr Herzschlag stockte vor Entsetzen: Sie griff ins Leere. Da war nichts! Aber sie sah doch die Kindergestalt ganz deutlich vor sich!
Ihr Herz hämmerte wild. Sie spürte schaudernd wieder diesen eisigen Hauch, der sie streifte. Was hatte das zu bedeuten? Energisch riß sie sich zusammen. In jungen Jahren war Lady Edith einmal eine recht resolute Person und von ihrem Personal wie auch von Lord Stettenham gleichermaßen gefürchtet gewesen. Sie war sogar einmal mit einem Tiger fertig geworden! Sie würde auch mit diesem seltsamen Kind fertig werden! »Warum bist du überhaupt gekommen?« fragte sie streng. »Weil ich mit dir reden will!« antwortete das helle Stimmchen. »Ich will aber nicht mit dir reden, wenn du nicht sofort da herauskommst!« fuhr die Lady auf. »Also schön, wenn es sein muß!« Die Kleine seufzte ergeben. »Es muß sein!« beharrte Lady Edith eisern. Dieses kleine Rededuell erinnerte sie wieder schmerzlich an ihren Enkel, an jene Zeit, als Percy noch ein kleiner Junge gewesen war. Jedesmal, wenn sie darauf bestanden hatte, daß er Klavier übte, hatte Percy geseufzt: »Wenn es sein muß!« Sie hatte immer geantwortet: »Es muß sein!« Die Kleine kletterte rücklings aus dem Aufzug. So blieb sie auch vor Lady Edith stehen und legte die Hände auf den Rücken. Lady Edith wunderte sich wieder darüber, woher auf einmal diese Helligkeit kam. Um das Kind war ein seltsames Leuchten, das das ganze große Zimmer erhellte, so daß sich die Schatten in ihre Winkel verkrochen. Das kleine Mädchen stand reglos da. »Jetzt sage mir erst einmal, wie du heißt!« befahl Lady Edith streng. Sie stützte sich auf eine Sessellehne, weil ihre Beine so schwach waren. »Doodad!« antwortete das Kind. »Wie?« »Doodad!« wiederholte die Kleine laut.
»Ich bin nicht schwerhörig!« sagte Lady Edith ärgerlich. »Ich habe schon verstanden! Aber das ist doch kein Name! Doodad! Das heißt ›kleines Dingsda‹!« »Und so heiße ich. Meine Eltern haben mich so genannt!« »Deine Eltern sollten besser auf dich aufpassen, statt dir einen so verrückten Namen zu geben! Sonst wirst du dir, wenn du in fremden Häusern herumspionierst, noch einmal das Genick brechen!« »Bestimmt nicht.« Die Kleine kicherte. »Ich bin doch gar nicht lebendig!« »Was bist du…?« ächzte Lady Edith. »Es gibt mich nicht unter den lebenden Menschen«, erklärte Doodad ernsthaft. »Man sieht mich nur manchmal. So wie du mich jetzt siehst.« »Bin ich verrückt?« Lady Edith preßte die Fingerspitzen an die Schläfen. »Nein. Für dich bin ich so wirklich, wie du mich siehst. Nur wenn du mich anfassen willst, wirst du nichts fühlen, weil nichts da ist.« Das hatte Lady Edith schon gemerkt. Ihre Beklommenheit wuchs. Lähmende Angst kroch in ihr hoch. »Du hast Angst vor mir«, stellte Doodad fest. »Ich habe nicht einmal Angst vor einem Tiger gehabt«, widersprach Lady Edith. Doch es klang etwas kläglich. Sie merkte es und setzte deshalb hinzu: »Das war in Indien. Ich habe Lord Stettenham auf einer Tigerjagd begleitet. Weißt du, daß man Tiger genau zwischen die Augen treffen muß? Sonst nützt die schönste Kugel nichts. Lord Stettenham war ein hervorragender Scharfschütze…« »Er schoß daneben!« unterbrach Doodad sie. »Er hat dem Tiger nur das Ohr zerfetzt. Man sieht es noch an dem Fell dort drüben, obwohl es ziemlich gut geflickt worden ist. Der Tiger ist wild geworden, und die Eingeborenen sind vor Schreck auf
die Bäume geklettert. Lord Stettenham wäre verloren gewesen. Da haben Sie abgedrückt und den Tiger genau zwischen die Augen getroffen.« »Woher… weißt du… das?« stammelte Lady Edith, und ihr war so elend zumute, daß sie beide Hände auf ihr wehes Herz preßte. »Genauso ist es gewesen!« bestätigte sie verstört. Dann riß sie sich gewaltsam zusammen. »Doch es blieb ein streng gehütetes Geheimnis zwischen Lord Stettenham und mir. Die Eingeborenen wagten nicht, etwas zu verraten, weil sie den Lord im Stich gelassen hatten. Und in England haben alle fest daran geglaubt, daß Mylord den Tiger geschossen hat. Woher weißt du das also?« »Ich weiß alles«, antwortete Doodad leise. »Ich weiß auch, was du denkst und fühlst – und planst. Ich weiß, daß du gar nicht gelähmt bist. Du kannst sehr gut auf deinen Beinen gehen. Und du planst etwas sehr Schlimmes, um Maura für ihr ganzes Leben unglücklich zu machen. Tue es nicht!« Jetzt klang ihre Stimme flehentlich. »Es wäre nicht nur schlimm für Maura. Es wäre auch schlimm für dich!« Lady Edith lachte schrill. »Ich weiß allein am besten, was ich zu tun habe! Ich brauche keinen Rat von einem närrischen kleinen Ding, das Doodad heißt und gar nicht existiert!« höhnte sie. Die Bilderuhr begann zu klimpern. Wenn sie die halbe Stunde anzeigte, spielte sie immer das ganze Lied. Doodad sang das Lied mit. Ihre Stimme klang hell und süß: »Mein Pony ist über dem Ozean, mein Pony ist über der See. Oh, bring doch, oh, bring doch mein Pony zurück zu mir. Der Wind zieht über den Ozean, der Wind zieht über die See, oh, bring doch, oh, bring doch mein Pony zurück zu mir…«
Der Lady grauste es. Angst und Erregung schnürten ihr das Herz zusammen, so daß es unerträglich schmerzte. Sie zitterte, und sie fror, als sei in ihr alles zu Eis erstarrt. »Meine Eltern wollten mir ein Pony schenken«, sagte Doodad traurig. »Geh fort!« stieß Lady Edith von Grauen geschüttelt hervor. »Geh wieder fort! Dorthin, woher du gekommen bist!« Aber Doodad rührte sich nicht. »Wenn du nicht auf der Stelle verschwindest!« schrie Lady Edith gellend, »werfe ich dich eigenhändig hinaus!« »Das kannst du nicht tun, weil doch alle glauben, daß du gelähmt bist!« Doodad kicherte. »Du bist nicht gelähmt! Du tust nur so. Du sitzt im Rollstuhl und spielst die Gelähmte. Und ich weiß auch, warum du das tust!« »Du unverschämtes kleines Ding!« schrie Lady Edith. »Was fällt dir ein!« Ihre Stimme überschlug sich. »Du weißt nicht einmal, was sich gehört! Man sieht die Leute an, wenn man mit ihnen redet!« »Du erschrickst, wenn du mein Gesicht siehst!« warnte das Kind. Lady Edith lachte hysterisch. »Ich bin nicht einmal vor dem Tiger erschrocken!« rief sie. »Ein Tiger ist ja auch etwas anderes«, sagte Doodad. Dann drehte sie sich langsam um. »Du wirst mich noch oft sehen, und du kannst mich nie hinauswerfen, weil es mich nicht gibt. Ich werde so lange wiederkommen, bis du mir versprichst, daß du es nicht tun wirst!« Sie wandte Lady Edith ihr kleines Gesicht zu. »Nein!« keuchte die alte Lady, und sie war so entsetzt, so von Grausen gepackt, daß ihr jäh die Sinne schwanden. Sie konnte sich nicht mehr auf ihren Beinen halten. Sie knickte in den Knien ein, fiel vornüber. Eine Ohnmacht löschte ihr Denken aus…
*
Es dauerte nur ein paar Herzschläge lang, bis die Lady wieder zu sich kam. In ihren Schläfen hämmerte es. Ein rasender Schmerz durchbohrte ihre Brust. Sie hatte wahnsinnige Angst. Da war dieses seltsame Kind gewesen. Wo war es jetzt? Doodad war fort! Das sah sie, als sie sich umblickte. Das Zimmer war dunkel. Die Fenster waren verschwommene Vierecke. Das Kaminfeuer flackerte nur noch schwach, denn die Holzscheite waren heruntergebrannt. Im Souterrain wurde die Haustür aufgeschlossen. Eilige Schritte waren zu hören. Lady Stettenham zuckte erschreckt zusammen. »Maura kommt zurück«, ächzte sie. Panik erfaßte sie. Maura kam, und sie lag lang ausgestreckt vor dem Speiseaufzug! Der Rollstuhl stand so weit ab, daß sie unmöglich herausgefallen sein konnte. Und selbst wenn sie herausgefallen und auf allen vieren gekrochen wäre – was hätte sie an dem offenen Speiseaufzug gewollt? Lady Edith zwang ihre wirren Gedanken in eine logische Reihenfolge, und mit großer Willensanstrengung schaffte sie das auch. Maura durfte nichts merken! Sonst war ihr Plan gescheitert! Sie mußte in den Rollstuhl zurück, bevor Maura die Treppe heraufkam, das Zimmer betrat und sie fand. Ihre Hände griffen wild um sich, suchten einen Halt und krallten sich in dem Mauervorsprung fest, in dessen Vertiefung der Speiseaufzug angebracht war.
Mit übermenschlicher Anstrengung zog Lady Edith sich hoch. Sie stand wieder fest auf ihren Füßen. Ihre Knie zitterten von der schweren Anstrengung. Das Kaminfeuer warf nur noch ein wenig Helligkeit ins dunkle Zimmer. Aber es genügte Lady Edith, um sich zurechtzufinden. Sie lief wieselflink zu dem Rollstuhl hinüber. Mauras Schritte kamen schön die Treppe herauf. Lady Edith setzte sich in den Rollstuhl und zog die Kaschmirdecke wieder über ihre mageren Beine. Maura war jetzt im Flur. Der Teppich dämpfte ihre Schritte. Lady Edith lehnte den Kopf zurück, schloß die Augen zu und tat so, als ob sie schliefe. Maura öffnete die Tür und knipste den Lichtschalter an. Durch das Öffnen der Tür entstand ein heftiger Gegenzug, und die Fensterflügel schlugen gegeneinander. Dieses laute Geräusch kam Lady Edith sehr zu Hilfe. Sie tat so, als ob sie aus tiefem Schlaf aufschreckte, und sagte ärgerlich: »Warum haben Sie das Fenster wieder nicht zugemacht, Maura?« »Weil Sie mich ausdrücklich darum gebeten haben, Lady Edith«, antwortete Maura. »Sie sagten, es sei zum Ersticken heiß in diesem Zimmer, wenn das Fenster nicht einen Spalt geöffnet bleibt. Ich habe deshalb die Spannkette zwischen den offenen Fensterflügeln so weit angezogen, daß Luft hereinkam… wie Sie es befohlen haben.« Maura ging rasch zu dem Fenster hinüber und schloß es. Sie war bestürzt über den Tadel. Die Probe hatte etwas länger als sonst gedauert. Jetzt war die Lady ungehalten. »Tut mir leid, daß es etwas später geworden ist, Lady Edith«, entschuldigte sie sich. »Der Chorleiter hat noch ein neues Stück mit uns einstudiert und wieder einmal kein Ende gefunden.«
Sie sah sich um und erschrak. Warum war Lady Edith mit dem Rollstuhl durch das Zimmer gefahren? »Ich habe meine Brille gesucht«, nörgelte Lady Edith. »Sie haben mir wieder einmal meine Brille weggenommen, Maura!« Sie hatte in dem prüfenden Blick des Mädchens die unausgesprochene Frage gelesen. Deshalb brachte sie rasch wieder eine Beschuldigung vor. »Ich habe die Brille nicht weggenommen, Lady Edith«, stellte Maura richtig. »Sie haben mich, bevor ich ging, darum gebeten, die Brille auf den Tisch zu legen.« Lady Edith überhörte diese Worte. »Und warum liegt der Teppich immer noch hier?« fragte sie böse. »Sie wissen ganz genau, daß die Gummibereifung der Räder sich immer in den Fransen verheddert. Aber Sie warten ja nur darauf, daß ich mich zu Tode stürze!« Maura seufzte. »Lady Edith, ich wollte den Teppich schon einige Male entfernen. Doch Sie haben darauf bestanden, daß er liegen bleibt, weil er ein Geschenk Lord Stettenhams zu Ihrer silbernen Hochzeit war.« »Das Feuer ist auch beinahe ausgegangen«, zeterte Lady Edith weiter. »Es ist mörderisch kalt. Ich soll mir wohl eine Lungenentzündung holen? Die führt bei alten Leuten meist zu einem schnellen Ende.« Maura legte Holzscheite nach. Dabei ging ihr Blick unwillkürlich zum Speiseaufzug hinüber. »Was ist denn da passiert?« fragte sie erschrocken. »Der Aufzug steht ja offen!« Lady Edith blinzelte. »So? Tut er das? Es wird der Wind gewesen sein. Oder eines der alten, rostigen Scharniere ist nicht in Ordnung. Alles in diesem Haus ist morsch und brüchig. Ich werde wohl auch nicht mehr lange haben. Doch darauf warten Sie ja nur!«
Maura ging zum Aufzug hinüber. Die Tragefläche stand leer vor der Öffnung. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf. Sie begriff das nicht. Jede Woche, wenn Betty die Küche gründlich putzte, wischte sie auch die Tragefläche des Speiseaufzugs ab. Maura erinnerte sich genau daran, daß dies vor drei Tagen geschehen war und daß sich der Aufzug im Souterrain befunden hatte. Wie kam er nun nur plötzlich herauf? Vielleicht hat sich wirklich eines der alten Scharniere gelöst und der Aufzug hat sich automatisch in Bewegung gesetzt? dachte sie müde. »Ich werde jetzt das Essen richten, Lady Edith«, schlug sie vor. »Ich habe aber keinen Hunger!« keifte Lady Edith. »Ich brauche nichts zu essen. Ich werde sowieso bald sterben!« »Vorher können Sie ruhig noch eine Tasse Hühnerbouillon trinken!« entgegnete Maura energisch. Manchmal verlor sie beinahe die Geduld. Warum blieb sie nur? Warum flüchtete sie nicht aus diesem Haus, dessen Atmosphäre sie immer stärker als unheimliche Bedrohung empfand? Sie tat es nur, weil sie Percy versprachen hatte, seine Großmutter nie allein zu lassen. Als sie hinausging, hörte sie noch, daß die Bilderuhr zu klimpern anfing: »My bonnie ist over the ocean…« Lady Edith reckte den faltigen Hals und horchte. Sie hat es falsch gesungen! Es heißt »Bonnie« und nicht »Pony!« Ihre Gedanken und ihr Gedächtnis funktionierten noch ganz ausgezeichnet. Das mußte auch sein, wenn sie ihren Plan durchführen wollte, und sie mußte sich jetzt beeilen, bevor dieses grauenvolle Kind ihr noch einen Strich durch alles machte.
Panik überkam die alte Dame. Sie hatte Angst, daß sie es nicht mehr schaffen könnte – und Furcht vor Doodad. Wie hypnotisiert starrte sie zu dem Aufzug hinüber, dessen Schiebetür jetzt geschlossen war und der aussah wie immer. Ihre Gedanken arbeiteten heftig. Der Aufzug! Sie keuchte vor Aufregung. Hatte sie nicht immer noch nach einer Lösung für das letzte Kettenglied gesucht? Ihre Augen funkelten: Sie hatte die Lösung jetzt gefunden! Als Maura kurz darauf das Abendessen brachte, stellte sie fest, daß Lady Edith merkwürdig verändert schien. Sie nörgelte nicht herum, sie zankte und stichelte nicht. Sie aß sogar ohne Widerspruch alles, was sie ihr hinstellte. Mit ihren Gedanken schien sie vollkommen abwesend zu sein. »Sie haben schon lange keinen freien Tag mehr gehabt, Maura«, sagte sie. »Sie sollten morgen wieder einmal an die frische Luft gehen. Vielleicht haben Sie auch was zu erledigen?« Maura war viel zu dankbar über dieses unerwartete Angebot, um mißtrauisch zu werden. Deshalb beachtete sie auch den lauernden Ausdruck in Lady Ediths runden Augen nicht. »Ich könnte wieder einmal zum Friseur gehen.« Sie seufzte erleichtert. »Und ich habe auch einige dringende kleine Besorgungen zu machen. Ich bin froh, wenn ich für ein paar Stunden fort kann.« »Sie können gleich nach dem Frühstück gehen und den ganzen Vormittag über fortbleiben«, erlaubte Lady Edith großzügig. »Solange Betty da ist, kann ich mich einmal ohne Sie behelfen. Und jetzt bringen Sie mich zu Bett. Ich bin müde.« In der folgenden Nacht war das seltsame Mädchen mit den Namen Doodad dann gekommen. Sie war durch die Mauer zwischen den schweren Schränken gegangen, wie ein
Gespenst, hatte sich an das Fußende des Bettes gestellt und die Lady unverwandt angestarrt. Nachdem Maura, die von Lady Ediths Schreien aufgeweckt worden war, zu ihr gekommen und bei der alten Dame geblieben war, bis diese wieder einschlief, schlummerte Lady Edith bis in den Vormittag hinein.
*
Als Lady Stettenham aufwachte und läutete, kam Betty. »Wo ist Miss Maura?« fragte Lady Edith listig, denn sie wußte ganz genau, daß sie Maura für den Vormittag beurlaubt hatte. Betty war ein rundliches, etwas schwerfälliges Mädchen. Sie brachte die alte Köchin Mary manchmal zur Verzweiflung. Andererseits war Betty ehrlich, fleißig und erledigte auch die schlimmste Schmutzarbeit, die man ihr auftrug, ohne Widerrede. Als Betty an diesem Morgen gekommen war, hatte Maura ihr gesagt: »Lady Edith hat mich für den Vormittag beurlaubt. Ich komme erst nach Tisch zurück.« Sie hatte Betty genaue Instruktionen gegeben und noch einen Zettel auf den Küchentisch gelegt, auf dem alles vermerkt stand, was das Mädchen zu tun hatte. Bevor sie gegangen war, hatte Maura Betty noch eingeschärft: »Und werden Sie bitte nicht gleich wütend, wenn die alte Dame etwas wunderlich ist. Sie dürfen das nicht ernst nehmen.« Daran erinnerte sich Betty, als sie höflich antwortete: »Miss Maura hat mir gesagt, daß Sie ihr heute vormittag freigegeben
haben, Mylady. Miss Maura ist in die Stadt gefahren und kommt erst nach dem Lunch zurück.« »Das muß ich vergessen haben«, murmelte Lady Edith. »Bringen Sie mir mein Frühstück.« Betty fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Sie war nicht gern mit der alten Lady allein. Sie begriff sowieso nicht, wie Miss Maura diese Launen aushielt! Es war eine Schande, wie die Lady mit der armen Miss Maura umsprang. Dabei war Miss Maura immer nett zu ihr. Sie hatte eine unbegreifliche Geduld, und Betty war sicher, daß Miss Maura an jedem Finger zehn andere gut bezahlte Stellungen finden würde, wenn sie das nur wollte. Betty rechnete schon damit, daß nichts recht sein würde, als sie der Lady das Frühstück servierte. Doch auf den Krach, den Lady Edith dann heraufbeschwor, war sie nicht gefaßt. An allem hatte die Lady etwas auszusetzen, und sie zeterte nicht nur herum. Sie sagte Betty ins Gesicht, daß diese eine träge und dumme Person sei. »Träge und dumm!« schrie sie Betty an. »Ich wette, Sie können nicht mal richtig lesen und schreiben!« Das war zuviel! »Ich bin nicht Miss Maura, Mylady!« fuhr Betty auf. Sie bebte vor Zorn. »Ich brauche mir das nicht gefallen zu lassen! Wenn Sie Miss Maura so gemein behandeln können und sie sich das gefallen läßt, ist das ihre Sache. Mit mir nicht, Mylady, nicht mit mir!« »Dann scheren Sie sich zum Teufel!« kreischte Lady Edith. »Und schnell! Verlassen Sie sofort das Haus! Ich befehle es Ihnen! Kommen Sie morgen wieder, wenn Miss Maura da ist! Sie soll sich mit Ihnen herumärgern. Ich ertrage Sie dumme Person nicht. Verschwinden Sie, bevor ich die Teekanne nach Ihnen werfe!« Das ließ sich Betty nicht zweimal sagen. Sie lief hinaus und warf die Tür hinter sich zu.
Angespannt saß Lady Edith in ihrem Bett und horchte. Heulend und schimpfend rannte Betty die Treppe hinunter. Sie zeterte noch, als sie im Souterrain ihren Regenmantel und die Schuhe überzog. Dann schlug die Haustür zu. Lady Edith wartete, bis die rostige Gartenpforte quietschte. Dann warf sie behende die Bettdecke zurück und lief zum Fenster. Vorsichtig spähte sie hinaus, darauf bedacht, daß die Gardine sich nicht bewegte. Sie nickte zufrieden: Betty lief wütend in Richtung Bushaltestelle davon. Es war ein trüber, trostloser Tag. Der Nebel klebte wie schmutzige Watte zwischen den Dächern und Bäumen, und es regnete. Betty mußte immer wieder Pfützen ausweichen. Lady Edith blieb am Fenster stehen, bis das Mädchen um die nächste Ecke verschwunden war. Danach entwickelte sie eine heftige Betriebsamkeit. Sie mußte sich beeilen! Sie mußte fertig sein, bevor Doodad wiederkam. Sie hatte grauenvolle Angst vor diesem Kind. Dabei hatte ihr Doodad, die sie doch an ihrem Vorhaben hindern wollte, die letzte zündende Idee zugespielt, die ihren Plan perfekt machte! Die Indizienkette war damit lückenlos geschlossen, und Maura konnte ihrem Verhängnis nicht mehr entrinnen! Lady Edith geisterte in dem langen weißen Nachtgewand wie ein Gespenst durch die Räume. Sie zog auch noch die weißen Atlashandschuhe über, die als Souvenir vergangener glanzvoller Tage in ihrem Nachttisch lagen. Danach kramte sie in Lord Stettenhams seit dessen Tod verschlossenem Schrank. Sie schloß den Safe auf und nahm einiges heraus. Dann machte sie sich ziemlich lange in Mauras Zimmer zu schaffen. Schließlich schrieb sie einen Brief, schob diesen in ihre Dokumentenmappe und verschloß das Safe wieder.
Sie zerwühlte ihr Bett, so daß es aussah, als hätte hier ein heftiger und erbitterter Kampf stattgefunden. Sie hastete in die Wohnhalle zurück. Ihre Beine, an solche Belastungen nicht gewohnt, knickten ihr ein paarmal weg, aber Lady Edith riß sich bei jedem Schwächeanfall mit eiserner Energie zusammen. In der Wohnhalle nahm sie den Vogelkäfig herunter, hob den Papagei heraus und hantierte daran herum, setzte ihn wieder auf die Stange und hängte den Käfig zurück. Zuletzt erledigte sie noch die Sache mit dem Speiseaufzug. Danach war alles getan und jetzt hatte sie keine Wahl mehr. So hektisch sie sich bisher aufgeführt hatte, nun ging sie langsam und zittrig in ihr Schlafzimmer zurück. Sie machte die Tür hinter sich zu. Ihr Gesicht war sehr blaß und verzerrt. Die Anspannung war vorbei und ließ sie wie ausgehöhlt und vollkommen kraftlos zurück. Sie hatte große Angst vor dem Sterben, aber ihr Haß auf Maura war stärker als ihre Angst. Sie legte sich in das zerwühlte Bett. Beinahe wären ihr vor Erschöpfung die Augen zugefallen, und sie wäre friedlich eingeschlafen. Erschrocken raffte sie sich auf. Sie mußte es tun, bevor dieses schreckliche Kind wiederkam! Dieses Kind, bei dessen Anblick ihr das Blut in den Adern erstarrte! Der Regen schlug gegen die Fensterscheiben, und der Nebel hing wie ein dichtes Tuch um das Haus. Im Zimmer herrschte ein fahlgraues Dämmerlicht. Ich habe es geschafft, dachte Lady Edith triumphierend. Ich habe es geschafft! Durch ihre furchtbare Angst zuckte ein boshaftes Frohlocken. Es tut nicht weh, hatte Lord Stettenham einmal zu ihr gesagt, und es geht ganz schnell. Sie war bereit.
Und genau in diesem Augenblick kam Doodad durch die Wand zwischen den beiden schweren Schränken und wandte Lady Edith ihr Gesicht zu. Nein, wollte Lady Edith schreien. Doch sie schaffte es nicht mehr. Ein grausamer Schmerz zuckte durch ihr Herz. Sie keuchte, rang um Atem, röchelte und verstummte schließlich. Und die ganze Zeit über stand das Mädchen Doodad da und sah Lady Edith an.
*
»Mord im Stettenham-Palace!« verkündeten dicke Balkenlettern in den Abendzeitungen. Die Nachricht von dem spektakulären Ende der gelähmten Lady Edith Stettenham erschütterte ganz London. Morton Ashwood erfuhr es in seinem Club. Er hatte sich, wie jedes Jahr einmal, am Tag ihres einst gemeinsam bestandenen Oxford-Examens, mit seinem Schulfreund Lord Paul Templeton zum Dinner verabredet. Schon in der Schule hatte Morton den etwas einfältigen und manchmal geschwätzigen Lord Paul nicht sonderlich leiden mögen. Dieser hingegen hatte Morton immer glühend bewundert und bewahrte über Jahre hinweg eine rührende Anhänglichkeit. Morton fand Lord Paul unerträglich. Er war ein farbloser Typ. Er war untersetzt, hatte ausgebleichtes Blondhaar und wasserblaue Augen, und er kleidete sich ohne jede Eleganz. »Ich bin eben ein Landjunge«, pflegte er seine grundsolide Aufmachung zu entschuldigen. Morton Ashwood hingegen war eine glänzende Erscheinung. Er war hochgewachsen und breitschultrig. Sein brauner Teint
kontrastierte interessant zu dem dunklen Haar und dem gepflegten Wangenbart. Er hatte feurige dunkle Augen und besaß die tadellose Haltung des perfekten Gentleman. Er ließ bei einem der ersten Schneider Londons arbeiten. Seine Hemden bezog er aus Paris, seine Schuhe aus Italien. Er war ein Mann, der ohne etwas dazuzutun die Blicke der Frauen auf sich zog. Doch für Liebe hatte Morton Ashwood keine Zeit. Er hatte gelegentlich Affären. Von einer festen Bindung wollte er nichts wissen. Einmal scheute er die Verantwortung, und zum anderen hatte er sich höhere Ziele gesteckt. Er war ein karrierebesessener Jurist, und er hatte eine glänzende Zukunft vor sich. Außerdem war er noch der einzige Erbe Lord Adam Ashwoods, dem einzigen Bruder seines früh verstorbenen Vaters. Lord Adam war ein ehemals berühmter Strafrichter, den nach Ende des ersten Weltkrieges der spektakuläre Mordprozeß Dolloway in eine Steilkarriere katapultiert hatte. »Dein Onkel Adam ist wohlauf«, berichtete Lord Paul gleich zu Beginn des Dinners. Er lebte in unmittelbarer Nachbarschaft des alten Lord Ashwood und besuchte diesen gelegentlich aus Anhänglichkeit für Morton. »Das freut mich«, meinte Morton, und diese Äußerung entsprach durchaus der Wahrheit. Er pflegte zwar keinerlei engere Kontakte zu seinem Erbonkel und beschränkte seinen jährlichen Pflichtbesuch auf die Weihnachtstage. Doch er wünschte dem alten Herrn, daß dieser noch ein paar Jährchen zu leben hatte. Auf die Erbschaft war Morton nicht angewiesen. Allenfalls reizte ihn der Titel, der nach dem Tod seines Onkels an ihn fiel. Paul, der sich jedes Jahr auf den Londoner Tag freute, berichtete, während er die vorzügliche Vorsuppe löffelte,
wichtig und etwas bekümmert: »Mit Bunch scheint allerdings etwas nicht zu stimmen!« »Mit Bunch?« Morton runzelte die Stirn. Bunch war der langjährige Butler seines Onkels, und Morton hatte ihn von seinem letzten Weihnachtsbesuch her als gesunden, wenn auch etwas knöchernen und mißmutigen Mann in Erinnerung. »Bei meinem letzten Weihnachtsbesuch war er noch wohlauf!« sagte er. »Das ist ja auch beinahe schon wieder ein Jahr her«, erwiderte Lord Paul etwas vorwurfsvoll. »Du könntest ruhig mal ein wenig öfter nach den beiden sehen.« »Ist Bunch denn krank?« »Krank kann man es wohl nicht nennen«, meinte Lord Paul. Er tippte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Da oben scheint es nicht mehr recht zu stimmen.« »Du meinst – er wird vergeßlich oder so?« »Ich meine, er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank«, erklärte Lord Paul offen. Er setzte zu einer längeren Rede an, und davor grauste es Morton. Er beschäftigte sich mit seinem Essen. »Vorige Woche, als ich wieder mal deinen Onkel besucht habe – ich war nämlich zur Jagd, weißt du, hatte einen besonders schönen Fasan geschossen. Ich dachte mir, es freut den alten Herrn, wenn ich ihm den bringe. Als ich mich in Ashwood-Hall verabschiedete, nimmt Bunch mich zur Seite.« Lord Paul holte tief Atem. Morton trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf seine Serviette. »Jedenfalls«, fuhr Lord Paul ungerührt fort, »fragte mich Bunch recht ängstlich, ob mir an Lord Ashwood nichts aufgefallen sei. Mir war nichts aufgefallen an dem alten Herrn. Ehrlich! Er war wie immer gewesen. Bunch äußerte jedoch, er habe schlimme Befürchtungen, was den Geisteszustand Lord
Adams betreffe. Außerdem sei es nicht mehr geheuer in Ashwood-Hall. Lord Adam sehe ein Gespenst und unterhalte sich auch mit ihm…« »Moment«, unterbrach Morton den Freund jetzt doch etwas beunruhigt, »demnach müßte ja Onkel Adam nicht ganz richtig im Kopf sein, nicht Bunch?« »Das glaube ich eben nicht«, widersprach Paul bestimmt. »Ich denke, es ist Bunch, der spinnt. Und weißt du, warum ich das vermute?« »Warum?« »Weil er einen Teddybär im Arm herumtrug.« »Einen – was?« fragte Morton verblüfft. »Einen Teddybär!« wiederholte Lord Paul. »Ein komisches Ding war das. Sah ziemlich abgegriffen und mitgenommen aus, ein Knopfauge hing heraus, und ein Ohr war eingerissen. Bunch erklärte mir doch allen Ernstes, er müsse auf Geheiß des Lords das Tier reparieren! Du glaubst mir nicht?« »Doch, ich glaube dir«, versicherte Morton. Paul war, das wußte er genau, viel zu phantasielos, um eine solch haarsträubende Geschichte zu erfinden. Lord Paul dämpfte seine Stimme: »Du, Bunch hat behauptet, das Gespenst wolle mit dem Teddybär spielen!« »Dann sieht Bunch vielleicht ein Gespenst!« meinte Morton und lächelte grimmig. »Gibt es denn ein Gespenst auf Ashwood-Hall?« erkundigte Lord Paul sich naiv. Als er Mortons ironischen Blick spürte, schwächte er ab: »Nun ja, ich meine nur – alle diese alten Schlösser haben doch ein Hausgespenst. Man hört immer wieder, daß irgendwo eine weiße Frau oder ein bellender Hund oder so was Ähnliches umgeht und die Leute erschreckt. Ich weiß nicht, ob das wirklich nur Hirngespinste sind. Sogar seriöse Zeitungen schrieben darüber. Erst kürzlich habe ich
wieder was gelesen. Jedenfalls auf Templeton gibt es keine Geister…« »Mir ist auch nichts von der Existenz eines Hausgespenstes auf Ashwood-Hall bekannt« schloß Morton das Thema ab. Es ärgerte ihn, daß er sich plötzlich unbehaglich fühlte. Das war doch lächerlich! Es gab keine Gespenster, und auf Ashwood-Hall gab es bestimmt keines. Allerdings nahm er sich insgeheim vor, doch vor dem üblichen jährlichen Weihnachtsbesuch noch einmal in Ashwood-Hall vorbeizusehen – falls seine Zeit es zuließ, und die war immer sehr knapp bemessen…
*
Morton Ashwood hatte eine glänzende Stellung in einem der renommiertesten Londoner Anwaltsbüros. Allerdings befriedigte ihn diese Tätigkeit nicht recht. Er strebte danach, Ankläger der Krone zu werden. Der Sprung war ihm bisher noch nicht geglückt. Was ihm fehlte, war ein spektakulärer Fall, mit dem er brillieren und sämtliche Register ziehen konnte. Die Steaks wurden serviert. Lord Paul hatte das unangenehme Gefühl, sich mit der Gespenstergeschichte blamiert zu haben. Er bewunderte Morton grenzenlos. Deshalb war er eilig bemüht, die Scharte wieder auszuwetzen, indem er ein ansprechenderes Thema auf den Tisch brachte. »Vorhin, als ich auf dich wartete, habe ich in den Abendzeitungen herumgestöbert. Da steht ja immer eine Menge drin. Sachen, bei denen man das Grausen kriegt, aber
heute las ich doch eine echte Sensation, die dem Faß die Krone aufsetzt. Was sagst du dazu?« »Wozu?« »Na, zu dem Mord an der gelähmten Lady Stettenham!« Morton horchte auf. Er hatte noch nichts von der Sache gehört. Doch der Name sagte ihm durchaus etwas. Einmal waren die Stettenhams eine alte, mächtige und einflußreiche Familie; zum anderen war der junge Lord Percy Stettenham mit dem Anwalt Croff befreundet gewesen. Den jungen Croff hatte der grausame Tod seines Freundes tief getroffen. Morton erinnerte sich noch gut daran. Es war schließlich auch erst drei Monate her. Lord Paul, von Morton ermuntert, begann eifrig zu berichten, was er in den Zeitungen gelesen hatte. »Da liegt die arme alte Lady gelähmt in ihrem Bett, ganz allein, wehrlos, hilflos. Die Köchin ist krank und das Hausmädchen hat sie fortgeschickt. Diese Gelegenheit benutzt ihre Pflegerin oder Gesellschafterin Maura Parkins und schüttet der alten Lady Arsen ins Sodawasser. Danach hat sie noch die Stirn, den Arzt zu rufen. Der alarmiert die Polizei. Und was findet die Polizei? Den Schmuck der Lady im Handkoffer der Parkins. Sie findet im Sekretär dieser Person sämtliche Fluglinien nach Australien notiert, außerdem in der Dokumentenmappe Lady Stettenhams einen Brief, in dem diese mitteilt, sie befürchte, die Parkins trachte ihr nach dem Leben! Doch das ist noch lange nicht alles!« ereiferte sich Lord Paul. »Diese Parkins war so dumm und hat das Glas stehenlassen!« »Welches Glas?« fragte Morton. »Na, das, in welches sie das Arsen geschüttet hat. Sie hat es im offenen Speiseaufzug stehenlassen. Dort fand es die Polizei!«
»Und woher weißt du das alles so genau?« wunderte sich Morton. »Sagte ich doch schon: Aus den Abendzeitungen!« Morton vermutete, daß Lord Paul nur die Boulevardblätter gelesen hatte, die sich eine solche Sensation natürlich nie entgehen ließen. Er griff zur Times. Auch die konservative Times widmete dem spektakulären Mordfall im Stettenham-Palace eine ganze Seite, und in dem Artikel stand genau das, was Lord Paul soeben erzählt hatte. »Arme alte Lady!« murmelte Lord Paul mitfühlend, denn er hatte ein weiches Herz. »Wenn man sich vorstellt, was sie alles mitgemacht hat! Erst der Sohn, dann der Mann, schließlich der Enkel – und jetzt dieses grauenvolle Ende! Umgebracht von einer habgierigen Person. Das hat die alte Dame ganz bestimmt nicht verdient.« »Hast du sie gekannt?« fragte Morton erstaunt. »Nein. Ich finde, ein solches Ende verdient niemand«, antwortete Lord Paul treuherzig. »Du bist und bleibst ein Goldjunge!« Morton seufzte, und er lächelte flüchtig. Lord Paul reagierte etwas verletzt ] auf diese Bemerkung und das tat Morton nun wieder leid. Kränken wollte er den Guten bestimmt nicht. Deshalb lenkte er rasch ein, indem er Interesse bekundete. »Der alte Lord Stettenham hat von irgendwoher eine Malaria mitgebracht und das Trinken angefangen. Zum Schluß muß er ein unheilbarer Alkoholiker gewesen sein.« Er zuckte bedauernd die Schultern. »So was gibt es in den besten Familien. Natürlich ist es schlimm, daß dann Lady Stettenhams Enkel vor drei Monaten tödlich verunglückt ist, weil ein Lastwagen frontal in seinen Wagen gefahren ist. Doch von dem Sohn weiß ich nichts.«
»Mit der Geschichte kann ich dienen«, freute sich Lord Paul. »Ich weiß es genau. Der junge Stettenham war knapp dreißig Jahre, als ihm die Frau davonlief. Darüber ist der arme Kerl nicht hinweggekommen. Er ist beim Polo so unglücklich vom Pferd gestürzt, daß er sich das Genick gebrochen hat. Sein einziger Sohn Percy wuchs daraufhin bei den Großeltern auf. Die alten Stettenhams haben den Jungen erzogen. Wie einen zweiten Sohn!« Der vornehme Butler des feudalen Clubs näherte sich diskret und flüsterte Morton Ashwood etwas ins Ohr. »Entschuldige mich, Paul«, bat Morton. »Ein Anruf vom Büro. Ich denke, es wird gleich erledigt sein!« Lord Paul speiste, während sein Freund zum Telefon eilte, und es schmeckte ihm. Er genoß die Atmosphäre dieses exklusiven Clubs. Er beneidete Morton glühend darum, daß dieser einem solchen Club angehörte. Doch er beneidete ihn auf seine gutherzige Art. Morton telefonierte ziemlich lange. Lord Paul zündete eine Zigarette an. Er fühlte sich wohl, und in solchen Augenblicken hatte er Genieblitze. »Morton«, überfiel er den Freund, als dieser mit umwölkter Stirn zurückkam, »mir ist eben etwas aufgefallen. Dieser Mord im Stettenham-Palace – fällt dir nichts daran auf?« Er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr lebhaft fort: »Das ist doch genau der gleiche Fall wie der Mordprozeß Dolloway, der deinen Onkel Adam, der damals Strafrichter gewesen ist, so berühmt gemacht hat!« Morton stutzte. »Du hast recht, Paul«, stimmte er zu. »Man könnte sagen, es ist der gleiche Fall. Doch das gibt es nicht. Kein Fall ist wie der andere.« Er setzte sich und schob das Dessert beiseite.
»Es schmeckt ausgezeichnet«, versicherte ihm Lord Paul. »Ich habe schon lange kein so vorzügliches Zitronensorbet mehr gegessen!« »Mir ist der Appetit vergangen«, murmelte Morton. Lord Paul war bestimmt nicht der Mensch, dem er sein Herz ausschütten mochte. Andererseits mußte er es einfach loswerden. »Der Anruf war von Croff, einem der Junior-Chefs meines Büros. Er war mit Lord Percy befreundet. Der Tod der alten Lady hat ihn tief erschüttert. Jetzt hat sich diese Maura Parkins ausgerechnet an unser Büro gewandt!« Lord Paul riß die wasserblauen Augen auf. »Und was bedeutet das für dich?« Morton seufzte tief. »Ich soll ihre Verteidigung übernehmen!« »Das nenne ich eine Fügung!« rief Lord Paul. »Dein Onkel Adam ist durch den Mordfall Dolloway berühmt geworden. Nun, und dich wird der Mordprozeß Parkins zu dem Verteidiger des Landes machen!« »Mit Ruhm kann ich mich bei dieser Sache nicht bekleckern«, ärgerte sich Morton. Tatsache war, daß Croff gar nicht wünschte, daß er die Schuldlosigkeit seiner Mandantin bewies. Ganz im Gegenteil! Croff war furchtbar erregt gewesen. »Sie müssen diese Person ins Zuchthaus bringen! Sie sind genau der brillante Kopf, Morton, um in Ihrer Eigenschaft als Verteidiger diese Person zu überführen!« »Morton, wie war das damals genau bei dieser Mordaffäre Dolloway? Dein Onkel hat mir oft davon erzählt. Ich kenne die Geschichte auswendig. Nur um den Schluß drückt der alte Herr sich immer herum!« Morton nickte. »Vielleicht erinnert er sich nicht gern daran?« »Was ist denn mit dieser Dolloway passiert?«
Morton zögerte. Dann antwortete er kurz: »Sie wurde hingerichtet.« Lord Paul rutschte unbehaglich auf seinem Sessel hin und her. »Hingerichtet? Mit einem Henker und so?« fragte er schaudernd. »Genau«, bestätigte Morton. Der Kragen wurde ihm etwas eng. Wenn er sich an Croffs Weisung hielt und diese Maura Parkins des Mordes an Lady Stettenham überführte, statt ihre Schuldlosigkeit zu beweisen, wartete lebenslängliche Haft auf die Frau. Da war sein Onkel Adam seinerzeit in einer Position als Strafrichter entschieden besser dran gewesen. Es war nie erfreulich, einen Menschen zum Tode verurteilen zu müssen. Doch viel schrecklicher war es noch, die eigene Mandantin ins Zuchthaus zu bringen. Er räusperte sich. »Tut mir leid, Paul, alter Junge! Ich bin nicht mehr in Laune. Mein Partner Croff erwartet mich im Büro. Ich muß mich leider verabschieden.« Das enttäuschte Lord Paul sehr. Üblicherweise krönten sie ihr Examens-Dinner mit einem Barbesuch. »Dann werde ich nach Hause fahren«, entschied er. »Ich habe keine Lust, mich allein in das Nachtleben zu stürzen.« Er schüttelte dem Freund beide Hände. »Ich wünsche dir für deinen Mordfall alles Gute!« Morton nickte. Gute Wünsche konnte er dringend brauchen.
*
Mortons Unterredung mit Croff war unerfreulich und zog sich bis gegen Mitternacht hin.
Morton wurde immer gereizter. Er kam sonst gut mit Croff aus. Doch diese Mordaffäre Stettenham brachte sie gegeneinander auf. »Sie können doch nicht im Ernst von mir erwarten, Croff, daß ich die Verteidigung dieser Person mit dem festen Vorsatz übernehme, sie nicht zu verteidigen, sondern der Schuld zu überführen? Das geht einfach gegen mein Gewissen!« »Aber es geht nicht gegen Ihr Gewissen, daß diese Person die hilflose gelähmte alte Lady umgebracht hat?« regte Croff sich auf. Er war sonst ein charmanter Mann. Er war verbindlich in seinem Wesen, sah gut aus und hatte beruflich viel Erfolg. Doch der Mord an Lady Stettenham hatte ihn durcheinandergebracht. »Sie wissen, wie gern ich Percy hatte, Morton!« betonte er. »Und deshalb trifft mich auch der Tod der alten Lady schwer. Percy hing an seiner Großmutter. Er sagte zwar »Granny« zu ihr, aber in Wirklichkeit war sie für ihn soviel wie eine Mutter.« Morton hatte zwar Verständnis für die Empfindungen, die Croff bewegten. Doch er war nicht gewillt, sich beeinflussen zu lassen, nur weil Croff versessen darauf war, Maura Parkins ins Zuchthaus zu bringen. Croff ereiferte sich weiter: »Nur um seine Großmutter nicht zu verletzen, sie nicht alleinzulassen, hat Percy auf zwei Mädchen verzichtet, die er sehr gern hatte. Das weiß ich genau.« »Eine Heirat?« fragte Morton stirnrunzelnd und verwundert. »Jeder Sohn wird einmal ein Mann, heiratet und gründet eine eigene Familie, das ist nun einmal der Lauf der Welt. Damit muß sich jede Mutter abfinden, auch eine Großmutter!«
»Nicht jede Mutter oder Großmutter hat so viel mitgemacht wie Lady Edith!« behauptete Croff. »Percy war das einzige, was sie noch hatte.« »Sie hätte ihn durch eine Heirat ja nicht verlieren müssen!« meinte Morton vernünftig. »Seine Frau hätte für sie wie eine Tochter sein können!« »Allerhöchstens eine Schwiegertochter«, korrigierte ihn Croff. »Tatsache ist, daß sie die beiden Mädchen, die Percy liebte, nicht leiden mochte.« »Und deshalb hat er die Mädchen aufgegeben?« »Beim zweiten Mal ist es ihm ziemlich schwergefallen«, meinte Croff. »Ich denke manchmal, die Verlobung wäre vielleicht doch nicht geplatzt, wenn Lady Edith nicht dieses Nervenfieber und danach die Lähmung bekommen hätte. Sie war völlig hilflos und plötzlich an den Rollstuhl gefesselt! Da hat Percy es einfach nicht fertiggebracht, ihr auch noch diese Heirat anzutun und eine Frau ins Haus zu bringen, die ihr nicht angenehm war.« »Wahrscheinlich wäre dieser Frau kein Mädchen der Welt angenehm gewesen«, brummte Morton. »Mag sein«, räumte Croff ein. »Doch das ändert nichts an der Tatsache, daß sie jetzt auf grausame Weise sterben mußte. Im Gedenken an meinen Freund Percy dulde ich nicht, daß diese gemeine Tat ungesühnt bleibt!« Morton zuckte die Schultern. »Dann überlassen Sie die Sühne doch dem Richter und den Geschworenen, und lassen Sie mich aus der Sache heraus.« »Damit irgendein ruhmsüchtiger Kollege den Fall übernimmt und am Ende noch gewinnt? Nein, mein Lieber! Das kommt nicht in Frage.« Morton sah ein, daß es keinen Zweck mehr hatte, Croff zu widersprechen. Wahrscheinlich war diese Person tatsächlich
schuldig, und dann war es nur ein Akt der Gerechtigkeit, wenn er sie ihrer Bestrafung zuführte. »Jetzt würde mich noch eines interessieren«, sagte er. »Warum ist Miss Parkins ausgerechnet auf das Anwaltbüro Baily, Anderson und Croff verfallen? Es gibt schließlich genug andere renommierte Anwälte in London!« »Das ist doch sonnenklar«, regte Croff sich auf. »Es ist ein genialer Schachzug! Ganz London weiß, daß ich ein Freund von Percy gewesen bin. Wenn unser Büro die Verteidigung übernimmt, dann glaubt sie, ihre Schuldlosigkeit schon so gut wie bewiesen zu haben. Diese Überlegung spricht für die Raffiniertheit dieser Person!« Morton zog die Brauen hoch. »So raffiniert ist sie aber nicht vorgegangen! Sie hätte doch sicher genügend Zeit gehabt, um ihre Spuren sorgfältiger zu verwischen!« Croff zuckte gereizt mit den Schultern. »Wahrscheinlich war sie ihrer Sache zu sicher, mein Lieber! Und überdies – irgendeinen Fehler machen sie doch alle.« Morton äußerte sich nicht weiter dazu. Wenn Croff sich derart in eine Sache verrannt hatte, war es zwecklos, mit ihm zu diskutieren. »Noch etwas, Morton!« Croff dämpfte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Wenn Sie diesen Fall in meinem Sinne regeln, bin ich gern bereit, Ihnen auch einen Gefallen zu tun!« Mehr sagte er nicht. Doch Morton wußte nun Bescheid. Croff hatte glänzende Beziehungen und Verbindungen. »Also gut«, sagte Morton und fühlte sich gar nicht wohl dabei. Ein merkwürdiges Unbehagen quälte ihn. Als er von dem Anwaltsbüro in der City in seine elegante Junggesellenwohnung im Westend fuhr, dachte er beinahe neidvoll an Paul, der nun auf dem Weg in sein friedliches
Landleben war, in dem ihm derlei Komplikationen erspart blieben. Eigentlich, dachte er noch, ist es schade, daß unser Barbesuch ins Wasser gefallen ist. Vielleicht werde ich Weihnachten einmal auf Templeton vorbeisehen, denn sonst werde ich vor unserem nächsten Examenstag kaum etwas von Paul hören. Er ahnte nicht, wie schnell er wieder von dem Freund hören sollte!
*
Wie ein erstickendes Tuch legten sich die dichten Nebelschwaden über Dächer und Türme von Ashwood-Hall. Die grauen Mauern des alten Herrensitzes waren schwarz vor Nässe. Lord Adam Ashwood saß in seinem Lehnstuhl am flackernden Kamin. Grübelnd starrte der alte Mann in die zuckenden Flammen. Es brannte keine Lampe in der großen Bibliothek von Ashwood-Hall. Nur der Widerschein des Feuers sorgte für eine rötliche Lichtinsel in dem hohen Raum. Vor wenigen Minuten hatte sich Bunch, der alte Butler des Schloßherrn, zurückgezogen. Der Herr wollte allein sein. Dabei machte sich Bunch große Sorgen um ihn. Er wirkte in den letzten Tagen so seltsam verändert. Immer schien er mit seinen Gedanken weit fort zu sein. Bunch wäre gern in der Nähe seines Herrn geblieben. Doch dieser hatte ihn fortgeschickt. »Ich gehe bald zu Bett. Das verspreche ich dir, Bunch«, hatte Lord Adam gesagt. Der alte Schloßherr spürte plötzlich, wie ein kalter Lufthauch ihn anwehte. Mühsam drehte er seinen steifen Hals.
Das Kind, dachte er, es kommt wieder. Ich weiß es. Es besucht mich fast jede Nacht. Die kleine Doodad. Verschwommen erkannte er die kleine Gestalt, die von einer seltsamen Lichtaura umgeben war. Aber wieder kehrte ihm das Geisterkind den Rücken zu. Er hörte das kleine Gespenst leise singen. Doch er verstand die Worte nicht. Die Kleine ging mit schwebenden Schritten zum Tisch, auf dem einige Spielsachen aufgebaut waren. Noch immer kehrte sie dem Mann am Kamin den Rücken zu. »Da bin ich wieder«, sagte Doodad. »Wie geht es dir heute?« »Nicht gut, Kind«, antwortete der alte Mann. »Mein Herz tut mir weh. Ich glaube, mein Ende ist nicht mehr weit.« »Es ist gut, nach einem langen Leben die ewige Ruhe zu finden«, sprach das Kind ernst und weise wie eine Erwachsene. Lord Adam sah, wie die kleine Gestalt sich langsam zu dem schönen alten Puppenhaus hinbewegte. Er wußte, mit diesem Spielzeug beschäftigte sie sich am liebsten. Und er saß dann immer reglos da und schaute der Kleinen zu. Sie plapperte unaufhörlich vor sich hin. Sie imitierte die Stimmen der Puppen, mit denen sie hantierte. Er fühlte sich an frühere Zeiten erinnert. Und er begann dann immer in diesen so heiteren Erinnerungen zu schwelgen. Doch heute wollte er das nicht. Für heute hatte er sich etwas vorgenommen. »Doodad!« rief er leise. »Ja, was ist? Soll ich eine Decke für deine Knie holen?« fragte das Kind. »Nein, nein. Ich will, daß du dicht zu mir kommst. Ich möchte dein Gesicht sehen. Ich möchte…« »Aber du hast vergessen, daß ich dich gewarnt habe. Mein Gesicht, es ist häßlich, und ich…«
»Das macht mir nichts aus. Du bist ein so liebes Ding, Doodad. Bitte, sieh mich an.« Er sprach mühsam, weil er plötzlich das Gefühl hatte, eine eisige Hand presse sein Herz zusammen. Er starrte wie gebannt auf das Kind. Und jetzt drehte sich Doodad um. Ein Keuchen kam von Lord Adams Lippen. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet, denn er sah in ein Gesicht, das keines war. Das reizende Kind mit dem Namen Doodad hatte das Gesicht eines Skeletts mit leeren Augenhöhlen. Lord Adam griff sich an die Brust und rang nach Luft. Röchelnd schloß er die Augen, und als er sie mühsam wieder öffnete, war das Geisterkind fort. »Doodad«, flüsterte er. »Nimm mich mit dir…« Das waren die letzten Worte des Schloßherrn von AshwoodHall. Mit einem letzten Röcheln sank er in seinen Stuhl zurück. Und sein Gesicht war eine Maske des Grauens…
*
Morton stürzte sich am nächsten Morgen in die Routinearbeit, die zur Übernahme eines solchen Falles nun einmal gehörte. Er überprüfte die Recherchen der Polizei, telefonierte mit dem zuständigen Kommissar des Morddezernats, ließ seine Berufung zum Anwalt beurkunden und las sämtliche bisher erschienenen Pressenotizen über den Mordfall Lady Stettenham. Gegen elf Uhr suchte er seine Mandantin im Untersuchungsgefängnis auf. Er hatte nach den vorliegenden Fakten von der Frau eine ganz bestimmte Vorstellung.
Aber als er Maura Parkins gegenüberstand, war alles ganz anders. Sie war nicht die habgierige, raffinierte Person, die er sich vorgestellt hatte. Maura Parkins war eine unglückliche junge Frau, die sehr sympathisch wirkte und die alle ihre Hoffnungen auf ihn zu setzen schien. Er hatte mit einem hysterischen Ausbruch und mit Tränen gerechnet. Nichts dergleichen erfolgte. Maura Parkins wirkte ruhig und gefaßt. »Ich habe es nicht getan«, sagte sie. »Deshalb habe ich keine Angst. Die Wahrheit muß zu beweisen sein!« »Wieso sind Sie auf das Anwaltsbüro Baily, Anderson und Croff gekommen, Miss Parkins?« Ihre braunen Augen leuchteten auf. »Weil ich nur Gutes über dieses Anwaltsbüro gehört habe. Lord Percy hat Lady Edith oft von Mr. Croff erzählt, der sein Freund war.« »Verständlich«, meinte Morton. Ein quälendes Unbehagen überkam ihn. Er kämpfte vergebens dagegen an. Er sah sich in der kleinen kahlen Zelle um. »Haben Sie über irgend etwas zu klagen, Miss Parkins?« »Nein«, antwortete Maura rasch und bestimmt. »Ich habe alles, was ich brauche.« Sie lächelte. Es war ein rührendes Lächeln. »Ich werde ja auch nicht lange hier sein, weil die Wahrheit sich bald herausstellen muß, nicht wahr?« Morton räusperte sich. »Um keine falschen Hoffnungen in Ihnen zu wecken, Miss Parkins, im Augenblick sprechen alle Indizien gegen Sie.« »Ich weiß.« Maura nickte tapfer. Ihre Augen waren offen und klar, auch wenn man merkte, daß sie geweint hatte. »Dann sagen Sie mir jetzt bitte genau, wie alles gewesen ist«, sagte Morton. »Lady Edith hatte mich am Vormittag des Unglückstages beurlaubt. Ich war sehr froh darüber, weil ich einige dringende
persönliche Dinge zu erledigen hatte und schon wochenlang nicht aus dem Haus gekommen war. Ich habe Betty für die Zeit meiner Abwesenheit genaue Anweisungen gegeben. Betty ist das Hausmädchen. Sie ist ein braves, aber etwas störrisches Ding, und ich habe sie deshalb noch ermahnt, nicht gleich ungeduldig zu werden, wenn Lady Edith launisch sein sollte. Betty war nicht mehr da, als ich heimkam.« Morton nickte. Das wußte er schon aus den Recherchen der Polizei, und Betty hatte ein handfestes Alibi: sie war zur Tatzeit nicht im Stettenham-Palace gewesen. Morton wußte auch, daß die Köchin krank war, mit hohem Fieber im Bett lag und als Täterin mit Sicherheit ausschied. »Lady Edith hatte mich bis nach dem Lunch beurlaubt«, fuhr Maura fort. »Aber ich habe keine Ruhe gehabt. Ich habe in einem Cafe nur eine Tasse Tee getrunken und bin, nachdem ich meine Besorgungen erledigt hatte, gleich zum StettenhamPalace zurückgefahren. Im Haus ist mir zunächst nichts Absonderliches aufgefallen. Es war nur sehr still. Betty rumort nämlich immer recht geräuschvoll herum. Ich rief nach ihr. Sie gab keine Antwort. Dann merkte ich, daß ihr Regenmantel gar nicht in der Halle hing. Ich habe mir gleich gedacht, daß es wahrscheinlich Streit zwischen Betty und Lady Edith gegeben hat, und ich bin sehr erschrocken. Ich habe die alte Dame selten alleingelassen. Und wenn, dann immer nur für kurze Zeit und mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis. Ich lief sofort, als ich merkte, daß Betty nicht mehr im Haus war, die Treppe hinauf in Lady Ediths Zimmer. Und da fand ich sie…« Maura stockte. Tränen standen in ihren Augen. Sie nahm sich zusammen. »Es war ein grauenvoller Anblick«, flüsterte sie. »Ich telefonierte sofort nach Dr. Wilkins. Das ist Lady Ediths Hausarzt, und er war in wenigen Minuten da. Er war furchtbar
bestürzt. ›Miss Maura‹, sagte er zu mir, ›hier ist ein Verbrechen geschehen.‹ Dann rief er die Polizei.« Sie hätte also Zeit gehabt, ihre Tatspuren zu verwischen, überlegte Morton. War sie ihrer Sache wirklich zu sicher gewesen? Oder war sie, nachdem sie es getan hatte, in Panik geraten und völlig kopflos gewesen? Maura fiel es sichtlich schwer weiterzusprechen. »Aus gewissen Anzeichen schloß Dr. Wilkins, daß Lady Edith vergiftet worden war. Der Polizeiarzt teilte seine Ansicht. Es war dann alles so schrecklich. Die Mordkommission hat das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Und da fand man das alles. Lady Ediths Schmuck in meinem Handkoffer. Notizen über die Fluglinien nach Australien. Man fand den Brief, den Lady Edith geschrieben und in ihre Dokumentenmappe gelegt hatte.« Sie verstummte wieder und grübelte vor sich hin. »Erst vor ein paar Tagen hat Lady Edith mich gebeten, ihr die Dokumentenmappe zu geben, sie wollte einige Unterlagen hineintun. Da hat sie mir auch die Einstellung des Safes gesagt, weil sie allein nicht hinaufreichen konnte. Wie ich mich erinnere, hat sie aber keinen Brief, sondern einige Bankunterlagen hineingelegt.« »In dem Safe befand sich auch der Schmuck?« fragte Morton. »Ja. Lady Edith bewahrte ihren ganzen Schmuck darin auf.« »Und in dem Brief, der in der Dokumentenmappe gefunden wurde, schrieb sie, daß sie den Verdacht habe, Sie trachteten ihr nach dem Leben?« Maura nickte. »Ich begreife nicht, wie Lady Edith auf eine so unsinnige Idee gekommen sein kann!« Sie war wieder den Tränen nahe, beherrschte sich jedoch und sprach gefaßt, wenn auch mit gepreßter Stimme weiter.
»Und dann fand die Polizei das Glas mit dem vergifteten Sodawasser in dem offenen Speiseaufzug. Ich war fassungslos. Ich wußte keine Erklärung dafür. Ich weiß immer noch keine, auch wenn ich unablässig darüber nachdenke. Mit dem Aufzug war schon am Vorabend etwas nicht in Ordnung gewesen.« Sie sprach jetzt rasch und gehetzt. »Als ich von der Probe des Kirchenchors heimkam, stand der Aufzug offen. Das war ganz und gar außergewöhnlich, denn der Aufzug wird schon seit vielen Jahren nicht mehr benutzt. Mindestens solange ich im Stettenham-Palace bin, und das nun über drei Jahre. Lady Edith meinte, es müsse der Wind gewesen sein oder eines der alten rostigen Scharniere. Ich glaube das nicht.« Sie sah Morton groß an. »Da ist noch – etwas gewesen…«, stammelte sie. »Und davor habe ich Angst.« Morton horchte auf. »Reden Sie«, ermunterte er sie. »Wovor hatten Sie Angst?« »Vor Doodad«, flüsterte Maura, und sie sah auf einmal ganz blaß und verstört aus. »Doodad? Was ist denn das?« »Bitte, halten Sie mich jetzt nicht für verrückt«, flehte Maura. »In der Nacht, bevor das schreckliche Verbrechen geschehen ist, weckte mich ein lauter gräßlicher Schrei auf. Es war Lady Edith, die schrie, und ich lief sofort in ihre Zimmer hinüber. Sie saß zitternd in ihrem Bett und behauptete, ein kleines Mädchen sei dagewesen, das Doodad hieß. Es sei durch die Wand gekommen, hat sie behauptet. Durch die Mauer zwischen den beiden schweren Schränken und habe am Fußende ihres Bettes gestanden. Sie hat das kleine Mädchen genau beschrieben: Vielleicht acht oder zehn Jahre alt, lange blonde Locken, die mit einer blauen Samtschleife zusammengebunden sind, ein blaues Samtkleid, das mit kleinen Perlmuttknöpfen am Rücken geschlossen ist. Ich habe natürlich angenommen, Lady Edith habe geträumt, und bin,
um sie nicht noch mehr aufzuregen, auf diese Geschichte eingegangen. Da hat sie mir gesagt, Doodad sei schon am Abend zuvor bei ihr gewesen und habe sich mit ihr unterhalten. Doodad habe eine helle Stimme und lachte fröhlich. Aber irgend etwas muß mit dem Gesicht des kleinen Mädchens sein, denn als Lady Edith davon sprach, stieß sie wieder einen gräßlichen Schrei aus. Je länger ich darüber nachdenke, desto unheimlicher wird mir diese Geschichte. Ich bin schon soweit, daß ich den Speiseaufzug damit in Zusammenhang bringe!« Morton wußte nicht, warum er plötzlich an Bunch denken mußte, den Teddybär, den dieser spazieren trug, und an alles andere, was Paul von Ashwood-Hall berichtet hatte. Es beschlich ihn ein sonderbares, quälendes Unbehagen. Es fröstelte ihn auf einmal. Eine unerklärliche Beklommenheit schnürte ihm die Kehle zu. »Sie glauben mir nicht?« fragte Maura tonlos. »Sie halten mich doch für verrückt?« »Nein«, antwortete Morton, und er versuchte, die Beklemmung von sich abzuschütteln. »Ich halte Sie nicht für verrückt, Miss Parkins. Nur werden wir mit dieser Geschichte nicht durchkommen. So gespensterfreundlich die Engländer sind, mit einem mordenden Gespenst wird sich kein englischer Richter abspeisen lassen, und ich glaube kaum, daß die Geschworenen damit zu überzeugen sind.« »Ja, das fürchte ich auch«, murmelte Maura gequält. Morton fühlte sich derart unbehaglich, daß er die Unterredung abbrach. »Ich werde wiederkommen«, versprach er, »sobald ich die Recherchen abgeschlossen habe.« Dann verabschiedete er sich rasch. Als er das Untersuchungsgefängnis verließ, empfingen ihn auf der Straße dicke graugelbe Nebelschwaden. Es nieselte.
Die Straßenlaternen brannten, doch das gedämpfte Licht machte alles eher noch schlimmer. Morton schauderte es, als er in seinen Wagen stieg. Der Verkehr in der City war nahe am Zusammenbrechen, weil man nicht einmal die Ampelsignale deutlich erkennen konnte. Morton flüchtete in seinen Club. Hier umgab ihn die vertraute, kultivierte und freundliche Atmosphäre, die er jetzt brauchte, um sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden, das irgendwie aus den Fugen geraten war. Allmählich entspannte er sich etwas. Es gelang ihm sogar, die sonderbare Beklommenheit abzuschütteln, die ihm in allen Knochen saß und seine Kehle zusammenzog. Ein ordentliches Essen, so hoffte Morton, würde ihn wieder auf die Beine bringen. Doch er hatte kaum seine Bestellung aufgegeben, als er zum Telefon gerufen wurde. Das wird Croff sein, dachte er ärgerlich. Es geht ihm wohl nicht schnell genug, die Mandantin ins Zuchthaus zu bringen. Es war aber nicht Croff, der anrief. Es war Lord Paul. »In deinem Büro hat man mir gesagt, daß ich dich um diese Zeit wahrscheinlich im Club erreiche, Morton«, sagte Lord Paul erregt. »Das Telegramm ist schon unterwegs. Bunch hat es gleich aufgegeben, nachdem es passiert war. Ich meine, nachdem wir wußten, daß es passiert. Dein Onkel Adam ist tot.« »Onkel Adam – tot, sagst du?« stotterte Morton, und er verlor seine Gelassenheit. »Ja, es ist sehr tragisch, und ich spreche dir mein herzlichstes Beileid aus!« sagte Lord Paul durch den Apparat. »Nett von dir, daß du mich anrufst«, murmelte Morton.
Die traurige Nachricht traf ihn sehr. Andererseits, so sagte er sich, hat Onkel Adam ein langes, gesundes und gutes Leben gehabt. »Onkel Adam ist zweiundneunzig Jahre alt geworden, und er war in seinem Leben nie ernstlich krank! Wie kam das so plötzlich?« »Ein Herzversagen, meinte der Doktor. Heute morgen, habe ich gedacht, sieh mal bei dem alten Lord Ashwood vorbei, nachdem ich doch gestern mit dir zusammen gewesen bin. Sicher freut sich der alte Herr, wieder einmal etwas von dir zu hören. Deshalb bin ich nach Ashwood-Hall hinübergefahren. Ich kam in ein ziemliches Durcheinander. Bunch war total verstört. Du mußt gleich kommen, Morton! Mit dem Tod deines Onkels stimmt etwas nicht!« »Ich denke, es war ein Herzversagen?« rief Morton erregt. »Das ist es immer!« behauptete Lord Paul, und damit hatte er recht. »Trotzdem, da ist einiges nicht geheuer, verstehst du?« Morton verstand kein Wort. Diese Nachricht traf ihn wie ein Schlag. »Du erinnerst dich doch daran, was ich dir gestern abend erzählt habe, Morton?« fragte Lord Paul eindringlich. »Ich meine, ich habe ja gemerkt, daß du es nicht geglaubt hast, und ich habe mich geärgert, daß ich überhaupt davon angefangen habe, weil es nun einmal Leute gibt, die an so was einfach nicht glauben. Jedenfalls ist an dieser Gespenstergeschichte etwas dran. Bunch schwört Stein und Bein, das Gespenst habe Lord Adam zu Tode erschreckt. Und du wirst es nicht fassen, der Doktor, der bestimmt ein nüchterner Typ ist und an Gespensterspuk gewiß nicht glaubt, schließt die Möglichkeit nicht aus, daß ein ungeheurer Schrecken oder ein Schock das Herzversagen ausgelöst hat. Hallo? Hörst du mir überhaupt noch zu, Morton?«
In der Telefonzelle des Clubs war es warm, hell und gemütlich. Warum fror Morton auf einmal so entsetzlich? Warum beschlich ihn wieder diese Beklommenheit, die ihn schaudern ließ? »Ja, natürlich höre ich noch, Paul«, brachte er gepreßt hervor. »Ich komme sofort nach Ashwood-Hall.« »Fahre besser mit der Bahn«, schlug Lord Paul besorgt vor. »Bei diesem Nebel kommst du so schneller vorwärts als mit deinem Wagen.« Das sah Morton ein. »Ich werde versuchen, den VierzehnUhr-Zug noch zu erreichen!« rief er. Lord Paul erbot sich sofort: »Ich hole dich an der Bahnstation in Ashwood ab.«
*
An Essen war nicht mehr zu denken. Morton war entgegen seiner sonstigen Art ganz durcheinander. Er telefonierte mit seinem Büro und konnte mit Baily reden, dem Seniorchef, dem er alles Notwendige erklärte, der ihn für die nächsten Tage beurlaubte, bis alle Formalitäten erledigt waren. Morton ließ seinen Wagen in der Clubgarage und rief auch kein Taxi, weil das bestimmt unterwegs steckengeblieben wäre. Er machte sich zu Fuß auf den Weg zum nächsten Bahnhof und erreichte den Zug nach Ashwood schließlich noch, weil dieser zwanzig Minuten Verspätung hatte. Die Fahrt durch den Nebel wurde zu einem Alptraum. Das Gedränge im Abteil machte Morton nervös. Er hatte nichts im Magen und fühlte sich miserabel. Immer wieder mußte er an
Maura Parkins denken, und das zerrte zusätzlich an seinen Nerven. Der Tod seines Onkels ging ihm doch recht nahe, obwohl ihn wenig mit dem alten Herrn verbunden hatte. Er wußte, daß er der einzige Erbe war. Und der Gedanke, Ashwood-Hall zu erben, verursachte ihm Beklommenheit. Er hatte nichts gegen das alte Gemäuer, das sehr romantisch und recht gut erhalten war. Doch empfand er auch keinerlei Freude bei dem Gedanken, daß es künftig ihm gehörte. Die einzige Überlegung, die ihn ein wenig tröstete, war das Erbe des Titels. Lord Morton, sagte er im stillen zu sich selbst. Normalerweise dauerte die Fahrt von London nach Ashwood zwei Stunden. Der Zug rollte langsam durch den Nebel, und da er zwischendurch mehrfach stehen bleiben mußte, dauerte sie diesmal länger. Morton atmete auf, als endlich die Lichter von Ashwood durch den Nebel schimmerten. Er hatte kein Gepäck bei sich. Er hoffte, daß Paul ihm mit dem Notwendigen aushelfen konnte, und bevor das Begräbnis stattfand, mußte er in jedem Falle noch einmal nach London zurück. Die kleine Bahnstation sah in der Dunkelheit und bei diesem scheußlichen Nebel noch trister aus als sonst. Außer Morton stieg niemand aus. Fröstelnd stand er in dem Nieselregen und war froh, als er Paul sah, der rasch auf ihn zusteuerte. »Nochmals mein herzliches Beileid.« »Danke. Nett von dir, daß du mich abholst!« »Ist doch selbstverständlich!« versicherte Lord Paul. Er führte Morton zu seinem Wagen. »In der Eile bin ich nicht mehr dazu gekommen, meine Reisetasche aus der Wohnung zu holen«, sagte Morton. »Ich bin gleich vom Club aus losgefahren.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, meinte Lord Paul, »und ich habe dir deshalb alles Notwendige in einer Reisetasche mitgebracht.« Er war wirklich ein feiner Kerl! Morton war Paul dankbar, und er sagte ihm das. Lord Paul errötete vor Freude über diese Anerkennung. Er fuhr sehr vorsichtig, obwohl er die Strecke gut kannte. »Bei diesem Nebel kann man nie wissen«, meinte er. Morton war es ganz lieb, daß er etwas Zeit zum Nachdenken hatte. Das sonderbare Unbehagen quälte ihn wieder. Er räusperte sich. »Du hast da am Telefon eine Bemerkung gemacht, daß mit Onkel Adams Tod etwas nicht stimme?« Paul schnaufte aufgeregt. »Wenn du mich fragst – es war dieses kleine Gespenst, das ihn ins Jenseits befördert hat«, platzte er heraus. »Wieso – klein?« stotterte Morton, der sofort an Maura Parkins’ Worte denken mußte, und er bemerkte ärgerlich, daß er eine Gänsehaut bekam. Der Wagen bog in eine der engen Kurven, mit denen die Landstraße nach Ashwood-Hall reich bestückt war, und Lord Paul mußte seine Aufmerksamkeit auf die Strecke konzentrieren, deshalb dauerte es etwas länger, bis er mit der Antwort herausrückte. »Bunch hat mir, kopflos wie er war, eine Andeutung gemacht. Er hat in zehn Minuten mehr geredet als in all den Jahren, die ich nun schon nach Ashwood-Hall komme. Ich finde, es ist begreiflich, daß der Alte die Nerven verloren hat. Man muß sich das mal vorstellen, allein der Schrecken, als er heute morgen in das Zimmer Lord Adams kam, um ihn zu wecken. Er fand das Bett leer und unberührt, und Bunch entdeckte ihn dann an seinem Schreibtisch in der Bibliothek, mit weit aufgerissenen Augen, schreckverzerrtem Gesicht und eben überhaupt in einer schlimmen Verfassung. Jedenfalls«,
schloß er dramatisch, »hat er mir gesagt, daß es ein kleines Mädchen sei, das dem Lord erschienen ist.« Doodad, durchzuckte es Morton. Er hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und kurbelte das Seitenfenster herunter. »Ist was?« fragte Lord Paul besorgt. »Nur ein bißchen warm hier drinnen.« »Findest du?« wunderte sich Lord Paul, den es fröstelte. »Ich habe die ganze Zeit befürchtet, daß die Heizung nicht funktioniert.« »Was hat Bunch noch über dieses – dieses Gespenst gesagt?« fragte Morton möglichst unbefangen. »Nur, daß er sich davor fürchtet, obwohl er es nie gesehen hat. Bunch ist es nie begegnet. Doch Lord Adam hat es oft heimgesucht, und Bunch hatte dadurch eine Menge zusätzlicher Arbeit, weil er den ganzen alten Spielkram vom Dachboden herunterholen mußte.« »Spielkram?« ächzte Morton. »Was für Spielkram?« »Na, was da eben so auf dem Dachboden liegt«, erklärte Lord Paul. »Die Ashwoods waren früher doch mal eine richtige Familie. Der ganze Clan hat immer auf Ashwood-Hall gewohnt, und alle hatten viele Kinder. Das mußt du doch wissen?« »Ja, natürlich«, murmelte Morton. »Aber das muß vor sehr langer Zeit gewesen sein.« Lord Paul lachte. »Das kommt dir nur so vor, weil du ein Nachkömmling bist.« »Stimmt. Aber mein Vater war garantiert Onkel Adams einziger Bruder. Der kinderreiche Clan muß also um mindestens zwei Generationen zurückliegen«, stellte Morton klar. »Außerdem war Onkel Adam ein eingefleischter Junggeselle und nicht kinderlieb. Ich erinnere mich nur mit Schaudern an die Pflichtbesuche auf Ashwood-Hall. Mutter hat
manchmal hier die Ferien mit mir verbracht. Ich durfte mich nicht rühren, weil ich Onkel Adam sonst auf die Nerven ging. Und Spielzeug gab es schon gar nicht.« »Da hättest du mal auf den Dachboden gehen müssen«, meinte Lord Paul gutmütig. »Da war eine Menge. In so alten Schlössern wird doch alles aufgehoben, über Generationen hinweg.« Morton sagte nichts darauf. Er schien mit seinen Gedanken weit fort zu sein. Das stellte Lord Paul mit einem kurzen Seitenblick fest. Ein Gespenst, überlegte Morton und sah plötzlich wieder Maura Parkins’ bleiches Gesicht vor sich. Sie hatte auch von einem Geisterkind gesprochen. Doodad hatte es geheißen. Ich werde noch verrückt! dachte er verzweifelt und starrte in die dichten Nebelschwaden, die vor den Scheinwerfern des Wagens standen. Glaube ich allen Ernstes, daß es Spuk und Gespenster gibt? Ich, ein nüchterner Anwalt? Ich muß ja an meinem Verstand zweifeln. Er schüttelte den Kopf, als wollte er seine bedrückenden Gedanken vertreiben. Aber die Erinnerung an die Frau im Untersuchungsgefängnis ließ ihn nicht los. Er ballte die Hände und preßte die Zähne zusammen. Er hatte immer seine Gefühle beherrschen können. Warum gelang es ihm jetzt nicht? Morton atmete erleichtert auf, als Lord Paul in die breite Auffahrt von Ashwood-Hall einbog…
*
Die Auffahrt von Ashwood-Hall war hell erleuchtet.
Aus dem Nebel tauchten die spätgotischen Konturen des schloßähnlichen Hauses mit seinen Spitzbögen und den schmalen hohen Fenstern auf. Bunch öffnete das Portal. Wie klein und wie alt er geworden ist, dachte Morton erschüttert. Der alte Butler weinte, als er den jungen Lord Ashwood begrüßte. Tränen rollten über sein faltiges Gesicht, das von einem weißen Haarkranz eingerahmt war, und tropften auf die tadellose moosgrüne Livree mit den breiten Silbertressen. Wehmut schnürte Morton die Kehle zusammen. Für ihn, der ein so ausschließlich vom Intellekt beherrschter Mensch war, bedeutete diese Empfindung unbeschreiblich viel. Paul und Bunch begleiteten ihn zu Lord Adam, den man in der Hauskapelle aufgebahrt hatte. Vor diesem Augenblick hatte sich Morton, ohne es sich einzugestehen, gefürchtet, seit er die Nachricht vom Tod seines Onkels erhalten hatte. Die Kapelle war kalt und düster. Viele Kerzen brannten. Der Sarg war mit Tannenzweigen und Christrosen geschmückt. Morton zuckte zurück und starrte auf den Toten. Er trug seine Richter-Robe, und man hatte ihm die lange weiße Lockenperücke aufgesetzt. Über seinem Gesicht lag ein weißes Seidentuch. »Warum diese Aufmachung?« flüsterte Morton. »Es war sein letzter Wunsch«, flüsterte Lord Paul zurück. »Er wollte in seinem Richterornat begraben werden.« Das war ja noch verständlich. »Doch warum dieses Tuch über seinem Gesicht?« Bunch räusperte sich. »Weil – das Gesicht ist sehr entstellt. Es ist besser so, Mylord«, antwortete er mit zitternder Stimme. Zum ersten Mal wurde Morton mit seinem neuen Titel angeredet, und er schämte sich, weil ihn die Anrede in diesem
makabren Augenblick mit einem gewissen freudigen Stolz erfüllte. Sie blieben nicht lange in der Kapelle. Bunch, durch Lord Paul von der Ankunft Mortons unterrichtet, hatte im kleinen Speisezimmer decken und ein vorzügliches Dinner vorbereiten lassen. Morton wunderte sich darüber, daß er weiterhin fror, denn die Heizung auf Ashwood-Hall funktionierte gut, nachdem Lord Adam sie mit großem Kostenaufwand auf Öl hatte umstellen lassen. »Man braucht auf das vertraute offene Kaminfeuer trotzdem nicht zu verzichten«, hatte er einmal zu seinem Neffen gesagt. Auch nach einem aufwärmenden Drink wurde es nicht besser. Morton schlotterte. »Frierst du denn immer noch?« erkundigte sich Lord Paul besorgt. »Hoffentlich steckt keine Grippe in dir! Alle Welt hat zur Zeit die Grippe!« Auch die Köchin Mary hat die Grippe, dachte Morton. Er fragte sich nervös, warum er jetzt daran denken mußte. Wurde er den Stettenham-Fall denn überhaupt nicht mehr los? Er hatte im Moment doch wahrlich andere Sorgen. »Es ist nichts«, wehrte er ab. »Wenn ich erst etwas im Magen habe, ist es bestimmt vorbei. Ich nehme an, daß es ein Testament gibt. Ich weiß nur nicht, wo Onkel Adam es aufbewahrt hat.« Bunch wußte es. »Die Kopie von Lord Adams Testament liegt im Safe, Mylord.« »Und wie bekommen wir das auf?« Morton gab sich betont forsch, um seine miserable Verfassung zu überspielen. »Das Original-Testament und die Safe-Einstellung sind beim Notar hinterlegt«, gab Bunch Auskunft. »Sie brauchen nur den Notar anzurufen, Mylord. Er wurde von mir schon vom Ableben Lord Adams unterrichtet.«
Der Notar rief eine Viertelstunde später von sich aus an, um Lord Adams Erben sein Beileid auszusprechen und die Safeeinstellung durchzugeben. Das gute Essen hatte Morton etwas aufgemuntert. »Geht es dir jetzt wieder gut?« fragte Paul ängstlich. »Gewiß«, versicherte Morton, obwohl er sich wahrlich schon besser gefühlt hatte. Vor allem bedrückte es ihn, daß er eine unerklärliche Scheu davor hatte, die Nacht in Ashwood-Hall zu verbringen. Bunch hatte seine Zimmer im linken Seitenbau, dem ehemaligen Dienerschaftstrakt. Das altgediente Personal war allmählich »ausgestorben« im wörtlichsten Sinne, wie Lord Adam es formuliert hatte. Und seitdem hatte der Herr von Ashwood, der sich an keine neuen Gesichter gewöhnen mochte, Zugehbedienstete beschäftigt, die von Bunch dirigiert wurden. Er, Morton, würde sich also allein im Schloß befinden. »Würde es dir etwas ausmachen, die Nacht hierzubleiben?« fragte er den Freund. »Ich rufe sofort in Templeton an und sage Bescheid«, war die spontane Reaktion.
*
Kurz vor Mitternacht suchten Lord Morton und Lord Paul ihre Gästezimmer auf. Dieser Tag war voller Aufregungen gewesen, und so schliefen sie beide tief und fest… Erst am nächsten Morgen nach einem kräftigen Frühstück betrat Morton, begleitet von Lord Paul und Bunch, die Bibliothek, die zugleich das Arbeits- und Studierzimmer des Herrn von Ashwood gewesen war.
Morton sah sich erschrocken um. »Was ist denn hier los?« »Du liebe Güte!« rief Lord Paul. Bunch murmelte betreten: »Es ist alles auf ausdrückliche Anordnung Lord Adams geschehen.« Morton hatte die Bibliothek von Ashwood-Hall mit ihren deckenhohen Bücherwänden und schweren Bücherschränken als einen recht anheimelnden Raum in Erinnerung. »Es ist eine eigenartige Sache mit Büchern«, hatte seine Mutter einmal zu ihm gesagt, als sie während seiner Schulferien einen Regennachmittag in der Bibliothek von Ashwood-Hall verbracht hatten. »Sie sind auf ihre Weise lebendig, und deshalb prägt ihr Inhalt die Atmosphäre ihrer Umgebung.« Morton hatte diese Bemerkung damals nicht recht verstanden. Jetzt gab er seiner Mutter recht. »Jedenfalls ist das sehr merkwürdig«, hörte er Lord Paul murmeln. »Ja, das kann man sagen«, stimmte Morton zu. Dann sah er sich mit gerunzelter Stirn in der Bibliothek um. Auf dem Clubtisch lagen zerfledderte Malhefte, Buntstifte und Ausschneidepuppen herum. In dem Lederfauteuil der Clubecke saß eine französische Puppe mit gelocktem Echthaar und lächelte ihr Porzellanlächeln in die Flammen des Kaminfeuers. Die Spitzenrüschen ihres Samtkleides sahen wie verdorrt aus. In der steifen Lederhand hielt sie einen Pompadour. Auf dem Kaminsims kauerte ein abgegriffener einäugiger Teddybär. In dem geräumigen Erker stand ein Puppenhaus. »Sieht aus wie eine von diesen modernen Theaterdekorationen«, meinte Lord Paul. »Wenn sie ein Stück in mehreren Folgen spielen lassen und eine ganze Menge zur gleichen Zeit passiert.« Morton nickte stumm.
»Die Vorderfassade steht dort drüben an der Wand«, sagte Bunch. »Man kann sie abnehmen, und dann sind die Räume offen.« Diese Fassade war eine getreue Nachbildung von AshwoodHall! »Stilreines Tudor«, staunte Lord Paul. Im Souterrain des Puppenhauses befanden sich eine Küche, eine Vorratskammer und ein Aufenthaltsraum für die Dienstboten. In der ersten Etage gab es einen Empfangssalon, ein Musikzimmer mit anschließendem Wintergarten und einen Speiseraum. Die Küche und das Eßzimmer waren durch einen Speiseaufzug miteinander verbunden. In der zweiten Etage lagen Schlaf- und Kinderzimmer und das Boudoir der Dame des Hauses. Das Giebelstübchen schien eine Dienstbotenunterkunft zu sein. Die Einrichtung des Hauses war geschmackvoll und kostbar. Sogar echte Bilder hingen an den Wänden. Winzige Perserteppiche bedeckten das Parkett, und im Wintergarten stand neben anderem Grünzeug in einem Kupferkübel ein Oleanderbäumchen. Das ganze Haus wirkte auf seltsame Weise bewohnt. In der Küche stand Geschirr im Abwaschbecken, im Empfangssalon war der Teetisch gedeckt, und im Musikzimmer war der Flügel einladend offen. Im Wintergarten saß in einem Messingkäfig sogar ein ausgestopfter farbenprächtiger Papagei. Überall waren auch die Bewohner des Hauses gegenwärtig. In der Küche stand die Köchin am Herd. Im Wintergarten saß der Hausherr und rauchte seine Pfeife. Die Kinder spielten in ihrem Zimmer. Die Dame des Hauses saß in ihrem Boudoir vor dem Spiegel und kämmte ihr langes blondes Haar. »Was sind das nur für merkwürdige Puppen?« fragte Lord Paul.
»Es sind Marionetten, Mylord«, antwortete Bunch. »Wenn man an den Fäden zieht, bewegen sie sich wie lebendige Wesen.« Lord Paul zuckte es in den Fingern, dies auszuprobieren. Doch er beherrschte sich. »Was ist denn das?« Er deutete auf ein merkwürdiges Instrument, das neben dem Flügel auf einer Orientbrücke stand. »Vielleicht eine Spieldose?« vermutete Morton. Da konnte Lord Paul nicht länger widerstehen! Er drückte auf das rote Knöpfchen, und brav schnurrte die alte Spieluhr ihr Liedchen ab: »My Bonnie ist over the ocean, my Bonnie ist over the sea, oh bring back, bring back, my Bonnie to me…« Zittrig klimperte die Melodie in die lähmende Stille, die plötzlich entstanden war. Keiner sagte ein Wort. Morton, Lord Paul und Bunch sahen sich bestürzt an. Schauder rannen ihnen eiskalt die Rücken hinunter. Morton brach den unheimlichen Bann, der über ihnen lag, als die Spieldose verstummt war. Er wandte sich zum Schreibtisch, der sauber aufgeräumt war. Neben der OnyxFederschale, in der angespitzte Bleistifte pedantisch nebeneinander lagen, standen ein schwerer Kristallascher und ein Pfeifenhalter, der sieben Pfeifenköpfe enthielt. Auf der Schreibtischplatte lag eine schwarze Mappe mit Goldprägung. »Diese Mappe hielt – Lord Adam in Händen, als – als ich ihn – fand« stammelte Bunch stockend, und er schluckte hart. Morton merkte, wie nahe dem alten Butler das alles ging, und er lenkte deshalb rasch ab: »Wo ist das Safe?« Bunch nahm ein Bild mit einem breiten Goldrahmen ab, hinter dem das Safe verborgen war. Morton öffnete es, nahm das Testament heraus und verschloß es wieder.
»Gehen wir«, schlug er vor, »hier ist es nicht sonderlich gemütlich.« »Wie wahr du sprichst!« bestätigte Lord Paul, als sie durch den langen düsteren Korridor von der Bibliothek in die Wohnhalle gingen. Er dämpfte seine Stimme. »Ist dir auch so komisch geworden, als die Spieldose zu spielen anfing?« »Es war etwas eigenartig, weil wir alle nicht damit gerechnet hatten, daß dieses alte Ding noch funktioniert«, wich Morton aus. »Wenn es dir recht ist, trinken wir ein Glas Portwein zusammen und sehen uns das Testament einmal an.« Lord Paul war damit einverstanden. Er fühlte sich geschmeichelt, weil Morton ihn ins Vertrauen zog. Das Testament barg keine Überraschung. Morton war Lord Adams Universalerbe. Das einzige, was ihn überraschte, war die Tatsache, daß ein stattliches Barvermögen vorhanden war. »Und ich habe immer befürchtet, der alte Herr habe gerade so sein Auskommen«, sagte er zu Lord Paul. »So kann man sich täuschen!« meinte dieser. »Ich hatte auch immer den Eindruck, daß es mit den Finanzen auf AshwoodHall nicht gerade zum besten stand.« Morton dachte an seinen Vater, der nicht sparsam gewesen war. Lord Adams einziger Bruder hatte das Geld mit vollen Händen ausgegeben. Die Handelsgesellschaft, die“ er gegründet hatte, war bald hoch verschuldet gewesen. Morton war damals ein kleiner Junge gewesen. Doch er glaubte, sich daran zu erinnern, daß Onkel Adam dem Vater aus der Misere geholfen hatte, bevor es zu einem Skandal gekommen war, und daß die Brüder sich wegen dieser Sache überworfen hatten. Sein Vater war bald darauf einem Herzschlag erlegen und ließ seine noch junge Frau und seinen einzigen Sohn mittellos zurück. Es war ein Glück gewesen, das Mortons Mutter über
ein beträchtliches eigenes Vermögen verfügt hatte, das sie klug verwaltete. Sie ist mit Onkel Adam prächtig ausgekommen, überlegte er. Die beiden haben sich, soweit ich mich erinnern kann, wirklich gut verstanden. »Jedenfalls kommt Lord Adams Sparsamkeit jetzt dir zugute, Morton, und das freut mich!« erklärte Lord Paul…
*
Wenig später rief Croff an, der sich kaum die Zeit nahm, sein Beileid auszusprechen, sondern sofort wissen wollte, was Morton inzwischen in der Sache Stettenham unternommen hatte. Danach bat der Notar telefonisch um einen Termin für die offizielle Testamentseröffnung, und zugleich sprach der Chef des Bestattungsunternehmens vor, den Bunch verständigt hatte. Eine Verpflichtung jagte die andere. Morton hatte keine Zeit mehr, um zu grübeln. Schon trafen die ersten Kondolenzbesuche, Beileidstelegramme und Blumengebinde ein. Immer wieder war irgendeine Entscheidung zu treffen. Sollte der Sarg mit roten Rosen oder rosafarbenen Nelken geschmückt werden? Sollte ein Geigensolo in der Kapelle gespielt werden oder nicht? Konnte man in Anbetracht der Tatsache, daß es keine Herrin auf Ashwood-Hall gab, auf ein feierliches Trauer-Dinner verzichten, oder war dies wirklich so unumgänglich, wie Bunch meinte? Morton entschied sich für weiße Chrysanthemen auf dem Sarg, weil er sich daran erinnerte, daß Lord Adam einmal zu
seiner Mutter gesagt hatte, für ihn sei die Chrysantheme die Blume der Poesie. Die Auswahl der Choräle überließ er dem Pastor, und da er noch gut im Gedächtnis hatte, wie sein Onkel Adam dagegen gewesen war, wenn Morton in seinen Ferien auf der Geige üben mußte, beschloß er, ihm das Geigensolo zu ersparen. Und er entschied sich dafür, kein Trauer-Dinner zu geben. »Ich kenne die Leute doch gar nicht«, sagte er zu Lord Paul. »Das wird eine furchtbare Qual. Da sitzen alle herum, und keiner weiß, was er reden soll.« Lord Paul rang ihm schließlich für die Trauergäste, die von auswärts kamen, Tee, Sandwiches und Drinks ab. »Das ist aber das Äußerste«, verwahrte sich Morton. Doch ermahnte sein Freund ihn immer wieder, daß Lord Adam ein hochgeachteter Mann gewesen war und man um gewisse Formalitäten nun einmal nicht herumkam. Morton fügte sich. Er war ja froh, daß Paul da war und ihm einen Teil der leidigen Pflichten abnahm…
*
Die drei Tage bis zu dem feierlichen Begräbnis Lord Adams in der Familiengruft von Ashwood gingen wie im Flug herum. Während dieser Zeit ließ sich das Gespenst nicht ein einziges Mal blicken. Vielleicht hält es in der Kapelle bei Onkel Adam die Totenwache, dachte Morton einmal mit einem Anflug von grimmigem Galgenhumor. Lord Paul meinte: »Wahrscheinlich ist der Spuk mit Lord Adams Tod vorbei. Denn wenn du mich fragst, Morton, ich glaube, ich habe jetzt eine Erklärung für dieses Gespenst
gefunden, und ich habe wirklich reiflich darüber nachgedacht. Ich bin überzeugt, das Gespenst hat nur in der Phantasie von Lord Adam existiert! Er war zweiundneunzig Jahre. Da kann in einem Kopf schon einmal etwas durcheinandergehen. Es soll Menschen geben, die schon in viel jüngeren Jahren Halluzinationen haben. Meistens landen solche armen, wahngeplagten Menschen im Irrenhaus. Ich halte es für besser, wenn niemand etwas von dieser komischen Gespenstergeschichte erfährt. Außer Bunch, dir und mir weiß es ja auch niemand. Und ich halte dicht, mein Wort darauf.« »Danke, Paul«, sagte Morton leise. »Ich teile deine Ansicht, und ich werde Bunch in diesem Sinne unterrichten und ihn bitten zu schweigen. Es ist am besten, wenn Gras über diese Spukgeschichte wächst.« Insgeheim hoffte er inbrünstig, daß dieses Gras schnell wachsen würde. Der Begräbnistag brachte noch eine Menge Unruhe ins Haus. Morton überstand die Zeremonie mit Anstand und Würde, wie es sich geziemte und wie er es seinem Onkel schuldig war. Dann war endlich alles vorbei! Die Trauergäste verabschiedeten sich. Im ganzen Haus roch es süßlich nach dem reichen Blumenschmuck, der nun in der düsteren Familiengruft der Ashwoods sein kurzes Blütenleben aushauchte. Nach einem letzten Drink verabschiedete sich auch Lord Paul. »Wenn du mich brauchst, Morton, rufe mich in Templeton an, und ich bin in zehn Minuten da!« sagte er. »Danke für alles, Paul. Ich werde dir das nie vergessen.« »War doch selbstverständlich.« Lord Paul winkte noch einmal. Dann fuhr er in hohem Tempo die Auffahrt von Ashwood-Hall hinunter. Es war gegen sechs Uhr abends, und es war schon stockdunkel. Es regnete immer noch.
Der Nebel wurde wieder dichter. Es sieht aus, als wolle er das Haus mit seinen grauen Schwaden erdrücken. Er ging langsam ins Haus.
*
Alle Lichter in der Halle brannten. Morton zog sich sofort in das kleine Speisezimmer zurück, in dem er sich am wohlsten fühlte. Alle anderen Räume waren ihm zu groß und prächtig. Bunch fragte, ob er das Dinner auftragen könne. »Ich habe keinen Appetit«, antwortete Morton. »Es tut mir leid, Bunch. Ich kann jetzt nicht essen.« Bunch nickte, als verstehe er das sehr wohl. »Es war ein trauriger Tag, Mylord.« »Ja, Bunch.« »Eine Ära ist zu Ende gegangen«, sagte Bunch mit zittriger Stimme. Morton nickte. Bunch wischte sich verstohlen über die Augen. »Darf ich mir eine Frage erlauben, Mylord?« »Natürlich, Bunch. Fragen Sie nur!« »Was wird jetzt mit Ashwood-Hall geschehen, Mylord?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Morton ehrlich. »Ich weiß es wirklich noch nicht, Bunch. Mein Job hält mich in London fest. Ich kann nicht jeden Tag hin und her fahren. Das wäre zu zeitraubend und anstrengend. Gewiß werde ich an manchen Wochenenden herauskommen. Und was auch immer geschehen mag, Sie bleiben hier, Bunch, wenn Sie es wünschen.« »Danke, Mylord, ich wünsche es sehr.«
Morton lächelte ihm zu. »Ich habe Ihnen für Ihre Bereitschaft zu danken, daß Sie auf Ashwood-Hall bleiben wollen, Bunch. Das wird mir immer das Gefühl geben, daß ich erwartet werde und daß das Haus nicht leer steht, wenn ich komme.« Er schenkte sich von Onkel Adams edlem Portwein ein. »Trinken wir ein Glas zusammen, Bunch. Ich glaube, Onkel Adam wäre das recht so.« Bunch setzte sich nicht, obwohl Morton ihm eines der Lederfauteuils anbot. Er blieb stehen. Morton verstand das und drängte ihn nicht weiter. »Da ist noch etwas, Mylord«, begann Bunch zögernd. »Ja? Was denn?« »Ich meine, etwas, das Lord Adam betrifft.« Bunch überlegte sich jedes Wort sehr genau, bevor er langsam fortfuhr: »Seine Lordschaft war kein unglücklicher Mensch. Das dürfen Sie nicht glauben, Mylord. Lord Adam hat die Einsamkeit geliebt. Er wollte kein anderes Leben. Manchmal hatte ich freilich den Eindruck, daß ihn irgend etwas quälte, etwas, das er wie eine Last mit sich herumtrug, die er nie abwerfen konnte. Ich habe mich oft gefragt, was dies für eine Last sein mag. Seine Lordschaft hat auch oft davon gesprochen, daß jede Schuld, die man irgendwann einmal begangen hat, gesühnt werden müsse. Nun, er war schließlich einmal Richter. Da waren solche Überlegungen begreiflich. Aber einmal hat er mich gefragt, ob ich glaube, daß man auch im Jenseits für begangene Sünden sühnen müsse.« Morton hörte aufmerksam zu. Er unterbrach Bunch mit keinem Wort. Er erinnerte sich plötzlich daran, daß sein Onkel auch ihm diese Frage einmal gestellt hatte, etwas vorsichtiger formuliert. Und er hatte damals geantwortet: »Da mußt du den Pastor fragen, Onkel Adam. In diesem Punkt fühle ich mich überfordert und nicht zuständig.«
»Was haben Sie ihm geantwortet, Bunch?« fragte er. »Mylord, ich glaube daran, daß Gott gnädig ist und uns unsere Sünden vergibt, und das habe ich auch Seiner Lordschaft gesagt.« Bunch wischte sich wieder verstohlen über die Augen. »Irgendwie hatte ich damals das Gefühl, daß meine Antwort ihn erleichtert hat. Er hat diese Frage übrigens im Zusammenhang mit dem – dem Gespenst gestellt.« Mortons Herz klopfte schneller. »Danach wollte ich Sie ohnehin noch fragen, Bunch. Mein Freund Paul hat mir einiges angedeutet. Wie verhält es sich nun wirklich damit?« »Ich habe es nie gesehen, Mylord«, antwortete Bunch. »Doch für Lord Adam war dieses Gespenst ganz wirklich. Es war eigenartig, aber ich habe den Eindruck gehabt, seine letzten Monate waren dadurch irgendwie erhellt. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll.« Bunch suchte nach Worten. »Einmal hat Seine Lordschaft zu mir gesagt, daß es töricht von ihm gewesen sei, die Verantwortung für eine Familie zu scheuen und ein alter Hagestolz geworden zu sein. ›Wenn ich es noch einmal zu tun hätte, Bunch‹, hat er zu mir gesagt, ›dann wollte ich viele Kinder haben, die das alte Haus mit Fröhlichkeit und neuem Leben erfüllen.‹« »Er hat das Gespenst also nicht gefürchtet?« fragte Morton etwas erleichtert. Bunch schüttelte den Kopf. »Gewiß nicht, Mylord. Im Gegenteil, möchte ich fast sagen. Er hat es gern gehabt! Warum hätte er wohl sonst gewollt, daß ich die vielen Spielsachen vom Dachboden herunterhole und wieder in Ordnung bringe? Er hat sich jeden Tag etwas Neues ausgedacht. ›Wir wollen der armen Kleinen doch eine Freude machen, Bunch‹, hat er wiederholt zu mir gesagt. Ich habe so
getan, als existiere diese Erscheinung, die Lord Adam sah, wirklich. Er hat es nicht gemerkt, daß ich ihm nur etwas vorgemacht habe. Sobald er sich abends mit seinem Portwein und seinen Pfeifen in die Bibliothek zurückzog, hat er mich zu Bett geschickt. ›Ich erwarte jetzt meine kleine Freundin, Bunch‹, hat er zu mir gesagt, ›und dabei kann ich Sie nicht brauchen!‹« »Hat er je einen Namen genannt?« fragte Morton rasch. »Nein, nie, Mylord.« Der alte Butler zuckte die Schultern. »Und Sie haben auch nie gelauscht und nichts von den Gesprächen mitbekommen, die mein Onkel vielleicht mit dem Gespenst geführt hat?« »Einige Male hatte ich es vor, heimlich zu bleiben und zu horchen«, gab Bunch zögernd zu. »Doch ich hatte zu große Angst, Mylord. Ich habe das Gespenst gefürchtet, und ich fürchte es immer noch, weil es immer die ganze Atmosphäre verändert hat. Wenn ich drüben im Seitentrakt war, wußte ich immer ganz genau, wann es kam. Es war dann so, als gingen die Uhren plötzlich leiser, als hielte der Wind den Atem an. Es war, als würden die Mauern durchsichtig, als stehe die Erde still. So habe ich es jedesmal empfunden. Ich habe oft in meinem Bett gelegen und gezittert, bis es wieder vorbei war.« »Und wie lange hat das gedauert?« »Das war unterschiedlich. Manchmal kürzer, manchmal sehr lange.« »Jede Nacht?« »Fast jede Nacht, Mylord. Und wenn das Gespenst einmal nicht dagewesen ist, dann war Seine Lordschaft am nächsten Morgen niedergeschlagen und enttäuscht.« Morton grübelte. »Bunch, Sie glauben also nicht daran, daß mein Onkel sich diese Spukerscheinung nur eingebildet hat?« »Nein, Mylord. Ich bin sicher, daß es sie gibt«, antwortete Bunch fest.
»Und sie tauchte nur in der Bibliothek auf?« Bunch nickte. »Nur in der Bibliothek, Mylord.« »Onkel Adam hat die Erscheinung also nicht gefürchtet, wie Sie sagen. Wie erklären Sie sich dann, daß irgendein Schrecken oder ein Schock ihn umgebracht haben könnte?« Bunch runzelte die Stirn. »Da war eine Sache, Mylord. Die Erscheinung hat Lord Adam immer den Rücken zugewandt. Sie hat ihn nie angesehen. Er hat einmal zu mir gesagt: ›Sie redet und lacht mit mir. Aber sie zeigt mir nie ihr Gesicht!‹ Er war neugierig darauf, ihr Gesicht einmal zu sehen. Er hat zu mir gesagt: ›Sie hat mich gewarnt. Ich werde nur erschrecken, wenn sie mich ansieht.‹ Ich habe ihn beschworen, es lieber nicht zu riskieren. Doch er hat mich nur ausgelacht. Einmal werde er es schon schaffen, hat er gemeint. Einmal werde er sie überlisten, und dann wisse er endlich, was ihn so brennend interessiere.« »Und Sie vermuten, daß dies in der bewußten Nacht geschehen ist, als Onkel Adam starb?« »Vielleicht, Mylord.« Bunchs Hände zitterten. Er mußte das Glas abstellen. »Ich möchte lieber nicht weiter darüber reden, Mylord. Ich habe Angst, daß sie wiederkommt. Nachdem Lord Adam nicht mehr da ist, könnte sie doch jemand anderen heimsuchen? Manchmal denke ich, daß es wohl besser wäre, von hier fortzugehen. Aber ich hänge so sehr an AshwoodHall. Es ist meine Heimat geworden. Ich könnte nirgendwo anders leben.« Der alte Mann sah auf einmal sehr müde aus. Morton beendete das Gespräch. Er versprach, gründlich über die Sache nachzudenken, um vielleicht irgendeinen Ausweg oder eine Lösung zu finden. Als Bunch gegangen war, löschte Morton die Lichter und zog sich in sein Gästezimmer zurück.
Ich bin jetzt zu müde, sagte er sich. Er war zu abgespannt, um noch eine Begegnung mit der Spukerscheinung in der Bibliothek zu wagen! Aber er wußte, daß er sich nur etwas vormachte: Er hatte schlicht und einfach Angst. Es regnete die ganze Nacht. Morton lag lange wach, und es überraschte ihn, daß er unablässig an Maura Parkins denken mußte. Es war seltsam. Ausgerechnet diese Frau hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und er fühlte sich stark zu ihr hingezogen. Er wünschte sich, sie bald wiederzusehen. Er ertappte sich dabei, daß er sich vorzustellen versuchte, wie sie aussah, wenn sie lächelte. Wenn sie glücklich war. Schließlich schlief er ein und schlummerte traumlos bis in den hellen Morgen.
*
Nach ein paar Tagen sah alles wieder anders aus. Der Nebel hatte sich aufgelöst. Die Sonne kam sogar ein wenig hervor. In Ashwood-Hall blieb es vollkommen ruhig. Die Spukerscheinung zeigte sich nicht mehr, und allmählich rückten die Dinge wieder an den rechten Platz. Morton sagte sich, daß er nervlich überreizt gewesen war und daß er nur etwas Abstand brauchte, um endgültig mit diesem düsteren Geheimnis fertig zu werden. Er hatte auch eine Menge zu tun. Die Erbschaft brachte viele Schreibereien, Notarbesuche und Wege mit sich. Morton erledigte alles gewissenhaft, obwohl er nicht auf Erbrecht spezialisiert war. Es gab ja auch keinerlei
Schwierigkeiten, denn Lord Adam hatte alles, was seinen Nachlaß anbetraf, vorbildlich geregelt. Das Testament, das Morton in Lord Pauls Gegenwart nur flüchtig gelesen hatte, enthielt noch einige, wie Morton fand, recht seltsame Klauseln und Bedingungen. Die Klausel, daß Bunch ein stattliches monatliches Legat und das lebenslange Wohnrecht auf Ashwood-Hall erhielt, war normal, und damit hatte er auch gerechnet. Schon etwas befremdlicher kam es Morton vor, daß sein Onkel eine große Summe für eine neue Kirchenglocke stiftete. Er hatte gar nicht gewußt, daß Lord Adam ein tief religiöser Mensch gewesen war! Oder hing die Stiftung möglicherweise mit jener seltsamen Frage zusammen, die Lord Adam sowohl an Bunch als auch an Morton gerichtet hatte, nämlich, ob man Erbsünden wohl auch im Jenseits sühnen müsse? Eine weitere Summe ging an ein bestimmtes Waisenhaus in London, das die elternlos gewordenen Kinder Strafgefangener betreute, und zwar mit der Maßgabe, daß die Summe nur für die Anschaffung von Spielzeug und Sportgeräten Verwendung finden dürfe. Sonderbar, dachte Morton, sehr sonderbar. Was Ashwood-Hall anbetraf, das in Mortons Besitz überging, so war daran nur eine einzige Bedingung geknüpft, nämlich, daß Kinder aus jenem Londoner Waisenhaus jedes Jahr einige Ferienwochen in Ashwood-Hall verbringen durften. Morton tat diese Bedingung mit einem Kopfschütteln ab. Was hatte Onkel Adam nur auf einmal mit Kinder im Sinn gehabt? Der Einfluß der Spukerscheinung war mit Sicherheit auszuschließen, denn sie hatte sich ja erst wenige Monate vor seinem Tod zum ersten Mal gezeigt, und das Testament hatte Lord Adam in der vorliegenden Form schon vor Jahre abgefaßt.
Eher glaubte Morton, daß sich aus den seltsamen Testamentsbedingungen Rückschlüsse auf das Gespenst ziehen ließen. Hatte Onkel Adam irgendein Trauma mit sich herumgeschleppt, das schließlich in Form des Spuks für ihn sichtbar geworden war? Diese Bedingung gab ihm die größten Rätsel auf. Eigentlich war es keine Bedingung, sondern ein Wunsch, den Lord Adam an seinen Neffen richtete. Er schrieb wörtlich: Übernimm dies bitte für mich, Deiner Mutter jedes Jahr zu ihrem Geburtstag so viele weiße Chrysanthemen auf ihre letzte Ruhestätte zu bringen, wie die Zahl ihrer Lebensjahre betragen würde. Natürlich hatte Morton bemerkt, daß jedes Jahr, wenn er das Grab seiner Mutter an dem Geburtstag besuchte, ein Gebinde weißer Chrysanthemen von seinem Onkel Adam dagewesen war. Er hatte angenommen, dies sei ein Zeichen verwandtschaftlicher Verbundenheit. Die Tatsache jedoch, daß dem Onkel die Sache so wichtig war, daß er nunmehr seinen Neffen darum bat, die Chrysanthemen jedes Jahr in seinem Namen und auf seine Kosten zum Grab zu bringen, warf ein ganz neues Licht auf alles. Hat Onkel Adam und Mama vielleicht mehr verbunden, als nur das recht lose Band der Verschwägerung? überlegte er fassungslos. So etwas wäre ihm nie in den Sinn gekommen! Er hatte seine schöne Mutter geliebt und angebetet. Er war auch stolz auf die Verehrer gewesen, die sie immer gehabt und in gebührendem Abstand gehalten hatte. Doch niemals wäre er auf die Idee gekommen, daß Onkel Adam zu diesen Verehrern gezählt haben könnte.
Kleinigkeiten fielen ihm ein, denen er früher keine Bedeutung beigemessen hatte. Je länger er über die Sache nachdachte, desto mehr neigte er zu der Überzeugung, daß es vermutlich irgendwann einmal eine schwärmerische Romanze zwischen den beiden gegeben hatte. Schließlich hatte seine Mutter und er nach seines Vaters Tod jedes Jahr in den Schulferien einige Wochen auf Ashwood-Hall zugebracht. »Damit du dein zukünftiges Erbe kennenlernst und damit vertraut wirst«, hatte seine Mutter zu ihm gesagt. Aber vielleicht hatte es noch einen anderen Grund gegeben? Sein Onkel Adam war ja auch manchmal nach London zu Besuch gekommen, und er hatte Mortons schöne, immer noch jugendliche Mama ins Theater, in die Oper oder in ein Konzert ausgeführt. Die Frage, die Morton in dieser Sache am meisten beschäftigte, war, warum Onkel Adam, wenn er seine Schwägerin geliebt hatte, sie dann nicht geheiratet hatte, nachdem sie verwitwet war? Es war müßig, darüber nachzugrübeln. Fünfundsiebzig Chrysanthemen werden es in diesem Jahr sein, dachte Morton. Plötzlich fiel ihm etwas auf. Ein Gedanke war es, der ihn danach nie mehr losließ: Maura Parkins sah seiner Mutter ähnlich! Es war keine direkte Ähnlichkeit. Sie lag nicht im Gesichtsschnitt oder in der Farbe des Haares. Maura Parkins hatte braunes Haar, seine Mutter war blond gewesen, und ihre Gesichter waren sich nicht ähnlich. Sie haben beide die gleiche warmherzige sympathische Ausstrahlung, dachte Morton. Es ist der gleiche gütige Ausdruck ihrer Augen. Er war sicher, daß Maura Parkins eigentlich ein heiterer Mensch war.
Er war nahe daran, mit Paul über die Chrysanthemen-Story zu reden, unterließ es dann aber doch. Zwar hatte sich seine Einstellung zu dem jungen Lord of Templeton gewaltig geändert, doch er fand, daß diese Romanze – falls es eine gewesen war – nur seine Mutter und seinen Onkel etwas anging und niemanden sonst.
*
Das Wetter wurde immer besser. Einen so seltsamen November habe es lange nicht mehr gegeben, meinte Bunch. Morton nutzte das freundliche Wetter zu langen Spaziergängen, soweit er freie Zeit erübrigen konnte. Er besuchte auch Lord Paul in Templeton, und sie verbrachten einen angenehmen Nachmittag zusammen. Morton gewöhnte sich überraschend schnell auf AshwoodHall ein, und er begann, sich heimisch zu fühlen. Allmählich erwachte sogar ein gewisser Besitzerstolz in ihm, und er empfand es nicht länger mehr nur als lästig. Der ruhige Rhythmus des einfachen Landlebens tat ihm wohl, denn dieser stand im Gegensatz zu der Hektik, dem ständigen Streß seines Londoner Lebens. London war allerdings nicht aus der Welt, und Croff brachte sich durch tägliche Anrufe immer wieder in Erinnerung. Nach Ablauf einer Woche sah Morton ein, daß es Zeit für ihn wurde, seine Zelte in Ashwood-Hall abzubrechen und wieder nach London zurückzukehren. Mit Staunen registrierte er bei dieser Überlegung, daß er sich insgeheim auf das Wiedersehen mit Maura Parkins freute! Er fand das zwar absurd, kam jedoch nicht dagegen an.
Auch wies er die Tatsache von sich, daß man von ihm erwartete, er werde Maura Parkins in seiner Eigenschaft als ihr Verteidiger indirekt der Schuld überführen und ihrer gerechten Strafe ausliefern. Das Unbehagen, das ihn bei diesem Gedanken beschlich, war quälend. Deshalb schob er ihn weit von sich. Er mochte nicht daran denken! Das hatte Zeit, bis er wieder in London war. Am Sonntagabend kam jedoch ein alarmierender Anruf von Croff. Morton hatte nach einem ausgedehnten Spaziergang gerade seinen Tee getrunken und rauchte seine Pfeife. Bunch stellte das Gespräch auf den Apparat im kleinen Speisezimmer um. Croffs Anruf riß Morton aus seiner behaglichen Beschaulichkeit. Wann er denn nun endlich zurückkomme, wollte Croff wissen. »In der Gerüchteküche brodeln salzige Süppchen«, regte er sich auf. »Die Presse jubelt den Stettenham-Fall schandbar hoch. Allmählich wissen die Spürhunde von Reportern mehr als die Polizei. Und die Regenbogenpresse muß im Stettenham-Palace gar unter Lady Ediths Bett gelegen haben, als es passierte.« »Und wie laufen die polizeilichen Ermittlungen?« fragte Morton etwas ärgerlich, denn Croffs Anruf verdarb ihm den Sonntagsfrieden. »Lahm«, stöhnte Croff. »Lahm laufen die polizeilichen Ermittlungen! Ehrlich, ich verstehe das nicht. Die Sache ist doch sonnenklar. Diese Leute haben ihr Handwerk schließlich gelernt. Sie müßten endlich etwas Brauchbares auf den Tisch legen! Statt dessen kriechen sie im Stettenham-Palace herum, und dort finden sie nicht mal Staub!«
Morton wurde, wie jedesmal, wenn ein Croff-Anruf aus London kam, äußerst nervös. Er räusperte sich. »Was ist mit den Fingerabdrücken?« »Solche sind da«, bestätigte Croff bitter. »Freilich gibt es im ganzen Stettenham-Palace nur welche von Lady Edith, von der Köchin, vom Hausmädchen und von Maura Parkins.« Er legte eine kurze, inhaltsschwere Pause ein. »Was speziell den Mordfall betrifft, finden sich an den fraglichen Gegenständen nur Fingerabdrücke von Maura Parkins.« »Und der Obduktionsbefund?« fragte Morton weiter. »Was ist mit dem? Was hat der gebracht?« »Nichts«, schnaubte Croff verächtlich. »Wieso nichts?« »Weil noch daran herumgebastelt wird. Es ist nicht zu fassen, aber der Befund liegt immer noch nicht vor, weil man einen amerikanischen Experten hinzuziehen will, der erst aus Vancouver eingeflogen werden muß.« »Aus Vancouver?« wiederholte Morton kopfschüttelnd und einigermaßen fassungslos. »Wieso denn ausgerechnet aus Vancouver?« »Keine Ahnung!« Croff stöhnte. »Es ist eine furchtbare Geheimnistuerei, und nichts geht vorwärts. Derweil schreit das Volk nach Rache und wird diese Person noch lynchen, falls nicht endlich etwas passiert.« »Croff, kümmern Sie sich wenigstens um Maura Parkins?« »Ich?« Croffs sonst sympathische Stimme triefte vor Hohn. »Ist sie meine Mandantin? Das ist, verdammt noch mal, Ihre Sache, Ashwood! Wir haben diese Person vom Büro aus nur formell verständigt, daß Sie durch einen familiären Trauerfall für einige Tage abwesend sind. Himmel, wie lange dauert es denn noch? Wann kommen Sie zurück?« »Morgen«, entschied Morton spontan, und es war wie ein Sturz ins kalte Wasser. Er sah ein, daß es keinen Zweck mehr
hatte, die Sache länger hinauszuschieben. »Ich bin morgen früh zurück!« versprach er. Damit gab Croff sich schließlich zufrieden. »Dann also bis morgen früh«, verabschiedete er sich kurz. Mit einem tiefen Seufzer legte Morton den Hörer auf.
*
Er sagte Bunch Bescheid, daß er am nächsten Morgen nach London zurückkehren werde. Betrübt nahm der alte Butler diese Mitteilung zur Kenntnis. Morton packte seine Koffer. Bunch wollte ihm behilflich sein, doch Morton meinte, er könne das allein erledigen. Bunch war jedoch so rührend bestrebt, aufmerksam zu sein und sich gefällig zu zeigen, daß Morton ihn nicht hinausschicken wollte. Er plauderte noch ein wenig mit ihm und meinte dann: »Was die Spukerscheinung anbetrifft, können wir nun wohl beruhigt sein, was, Bunch?« »Hoffentlich, Mylord!« Bunch seufzte erleichtert. »Vielleicht kommt sie wirklich nicht mehr wieder, jetzt, wo Lord Adam nicht mehr da ist.« Er zögerte. »Das wollte ich die übrigens noch fragen, Mylord: Was soll denn jetzt mit den Sachen geschehen? Mit dem Spielzeugkram, meine ich, der in der Bibliothek herumsteht?« Morton überlegte und entschied: »Ich denke, das zu regeln hat Zeit, bis ich wiederkomme. Ich werde bald wieder hier sein, Bunch! So traurig der Anlaß war, der mich hergeführt hat, ich habe mich auf Ashwood-Hall sehr wohl gefühlt, und das war zum großen Teil Ihr Verdienst, wofür ich Ihnen noch danken möchte.«
»Oh, ich habe doch nur meine Pflicht, und ich habe es gern getan, Mylord«, versicherte Bunch. »Dann kann ich also alles dort lassen, bis Sie wiederkommen?« »Würde ich meinen.« Morton nickte. Er war in Gedanken schon in London. Er konnte sich gut vorstellen, wie sein Schreibtisch bei Baily, Anderson und Croff aussah, denn ganz abgesehen von dem Stettenham-Fall, den er ja erst kurz vor seiner Abreise übernommen hatte, gab es da noch einiges andere, das nun liegengeblieben war. »Am besten, wir schließen die Bibliothek einfach ab. Niemand hat da etwas verloren. Ich möchte zunächst einmal alles so belassen, wie es zu Lebzeiten Onkel Adams war.« Bunch war sehr einverstanden. Er schien heilfroh, daß er nicht in die Bibliothek gehen mußte. Auch Morton hatte bisher stillschweigend gemieden, die Bibliothek aufzusuchen. Er hatte alle schriftlichen Arbeiten an dem runden Tisch erledigt, obwohl es in der Bibliothek wahrhaft bequemer gewesen wäre. Nach dem Abendessen verabschiedete Morton sich noch telefonisch von Lord Paul und versprach, bald wiederzukommen. Er sagte Bunch, daß er nichts mehr brauche, und fügte hinzu: »Gehen Sie nur schlafen, Bunch. Morgen müssen wir beide zeitig heraus.« »Frühstück um sechs, Mylord?« »Um halb sieben«, antwortete Morton. »Es genügt, wenn ich gegen neun in der Kanzlei bin. Schlafen Sie gut.« Er stand noch eine Weile am Fenster und sah in den Sternenhimmel hinauf, der unwahrscheinlich klar und funkelnd war. Der Mond schien hell. Die alten Bäume des Ashwood-Parks hatten silberne Äste und sahen wie verzaubert aus.
Eine tiefe Ruhe erfüllte Morton. Es war ein Gefühl, für das er keinen anderen Namen wußte als Friede! Und er dachte, daß ein friedvolles Herz vielleicht das Erstrebenswerteste im Leben eines Menschen war. Er trödelte noch eine Weile herum und beschloß dann, noch in die Bibliothek zu gehen. Ich werde Bunch diese Sache abnehmen, dachte er. Ich werde in der Bibliothek alles so ordnen, daß er nichts mehr damit zu tun hat. Den Armen nimmt das einfach zu sehr mit. Festen Schrittes ging er über den langen düsteren Korridor und öffnete die Tür zur Bibliothek.
*
Ein leichter Modergeruch schlug ihm entgegen, und er dachte, daß dies nur normal sei, denn die alten Sachen, die überall herumstanden, verströmten gewiß keine Rosendüfte. Alles stand in der Bibliothek noch genauso wie an dem Tag, als Morton mit Lord Paul und Bunch hiergewesen war, um das Testament aus dem Safe zu nehmen. Mörderisch kalt war es in der Bibliothek. Doch auch dies empfand Morton als ganz normal, denn Bunch, von seinem verstorbenen Herrn strikt zur Sparsamkeit erzogen, hatte die Heizung in dem unbenutzten Zimmer ausgeschaltet. Die Fenster waren geschlossen. Doch die Gardinen waren nicht zugezogen. Hell fiel das Mondlicht herein, und über den Baumwipfeln sah man die Sterne funkeln. Er knipste den Lichtschalter an. Der Kronleuchter flammte auf, und im Lichtschein seiner siebzehn elektrischen Kerzen funkelten die Kristalltropfen wie Tauperlen im Morgensonnenschein.
Eingesperrte Luft riecht auch nicht gerade nach Veilchen, dachte Morton. Ich werde eines der Fenster aufmachen. Er wollte es tun, doch der Mechanismus funktionierte nicht. Morton war nicht damit vertraut, und bevor er an der Klappvorrichtung irgend etwas verbog, ließ er es lieber sein. Er hatte ja auch nicht die Absicht, länger in der Bibliothek zu bleiben. Er rieb seine Hände gegeneinander, die sich klamm anfühlten, und setzte sich an den Schreibtisch. Er tat das ganz bewußt, weil er sich insgeheim wie ein Feigling vorkam, da er es bisher vermieden hatte, sich in diesen Sessel an den Schreibtisch in der Bibliothek zu setzen. Es war ein etwas eigenartiges Gefühl, stellte er fest. Sein Onkel war in diesem Sessel gestorben, und kein Mensch wußte, wie es nun eigentlich wirklich passiert war. Morton räusperte sich, schob die Onyxschale etwas zur Seite, beschloß, die schwarze Mappe mit der Goldprägung fortzulegen. Er sah aber erst einmal nach, was sie eigentlich enthielt. Er schlug sie auf und stutzte. Das oberste Blatt war aus altem Pergamentpapier, und darauf standen nur zwei Worte: Das Urteil! Auf der zweiten Seite stand in Lord Adams korrekter, charakteristischer Handschrift: Mordprozeß Dolloway! Etwas Seltsames geschah in diesem Augenblick, als Morton wie hypnotisiert auf die zwei Worte starrte. »Mordprozeß Dolloway.« Sein Blick verfing sich in den Schnörkeln um die beiden Großbuchstaben. Das M sah aus, als hätte Lord Adam dem Buchstaben eine Tudorblume aufgesetzt, die dieser wie eine stolze Krone trug, während das verschlungene steile D Morton unwillkürlich an eines jener Gartenlabyrinthe erinnerte, das er mit seiner Mutter einmal besucht hatte und aus dessen von
Hecken umschlossenen Pfaden sie nur mühsam wieder herausgefunden hatten. Morton, damals noch ein kleiner Junge, hatte Angst gehabt. »Und wenn wir nun nie wieder herauskommen, Mama?« hatte er gefragt. In der Erinnerung glaubte er, daß ihr Lachen, mit dem sie ihn getröstet hatte, nicht ganz echt gewesen war. Doch mit fester Stimme hatte sie erwidert: »Irgendwie kommt man immer wieder heraus!« Das gleiche Gefühl wie damals beschlich Morton. Eine prickelnde Mischung aus Neugier, Gänsehaut und Panik, als er anfing, das Urteil zu lesen. Es war mit Maschine sauber getippt. Der Hergang des Prozesses war ihm ohnehin bekannt: Cate Dolloway, die Tochter eines pensionierten Offiziers, war nach dem Tod ihres Vaters als Gesellschaftsdame bei der alleinstehenden gelähmten Lady Henny Douglas tätig gewesen. Eines Tages starb die alte Lady an einer Arsenvergiftung. Die einzige Tatverdächtige, die in Frage kam, war Cate Dolloway. Das Motiv war Habgier. Man fand den Schmuck der Lady in Cate Dolloways Reisetasche, ein Flugticket nach Australien, den mit Arsen vergifteten Tee. Und außer Cate Dolloways Fingerabdrücken fand man keine. Die Douglas’ waren zu ihrer Zeit eine mächtige und einflußreiche Familie gewesen. Der spektakuläre Mordprozeß hatte weit über die Grenzen des Landes hinaus Schlagzeilen gemacht. Lord Adam Ashwood hatte als Strafrichter in dieser Sache eine hervorragende Rolle gespielt und eine fabelhafte Figur abgegeben. Der Mordprozeß Dolloway war es gewesen, der Lord Adams steile Karriere eingeläutet hatte.
Morton war auf den Schriftsatz konzentriert, daß er auf seine gefühlsmäßigen Reaktionen nicht achtete: Er war bestürzt und erschrocken, und er fand sich auf eine nicht zu erklärende Weise persönlich herausgefordert und angesprochen. Als Folge dieses Erregungszustandes, der ihm gar nicht bewußt wurde, atmete er schneller, sein Herz schlug rascher, sein Mund wurde trocken, und feine kalte Schweißperlen traten auf seine Stirn. Trotzdem stimmte irgend etwas nicht! Morton las die Begründung zweimal und noch ein drittes Mal, ohne das zu finden, was ihn daran störte. Die Beweisführung war lückenlos und stichhaltig. Ein Mosaiksteinchen fügte sich folgerichtig zum anderen. Da gab es keine noch so kleine Lücke, keine verschwommene oder mehrdeutige Formulierung, keinen einzigen Anhaltspunkt, der auch nur den geringsten Zweifel an der Beweiskraft des Urteils gerechtfertigt hätte. Cate Dolloway war zum Tod verurteilt und hingerichtet worden. Und wenn sie nun doch schuldlos gewesen war? Er vergaß die Kälte, den Modergeruch, die Zeit, und daß er im Sessel des Onkels in der Bibliothek von Ashwood-Hall saß. Plötzlich flackerte das Licht. Morton sah irritiert zu dem Kronleuchter hinauf. Er blinzelte verblüfft. Eine nach der anderen ging aus. Die Lichter verlöschten flackernd, als würden sie ausgeblasen. Im Raum wurde es stockfinster. Morton saß wie erstarrt. War eine Sicherung durchgebrannt? Nach ein paar Minuten reagierten seine Augen auf die plötzliche Dunkelheit, und er nahm das Mondlicht war, das durch das Erkerfenster hereinfiel und sich in den Fenstern des Puppenhauses spiegelte.
»Heut nacht, als ich in meinem Bett lag, da weint’ ich die Augen mir rot, heut’ nacht, als ich in meinem Bett lag, da träumt’ ich, mein Pony sei tot…« Morton horchte. Was war das? Wo kam diese Stimme her? Hatte sich der Mechanismus der Spieldose von selbst ausgelöst? Aber sie hatte doch nur die Melodie gespielt. Wer sang das Lied?
*
»Oh, bring back, bring back, bring back my pony to me…« Es heißt »Bonnie« und nicht »Pony«, korrigierte Mortons Verstand die seltsame Stimme automatisch. Wieso Pony? Eine sonore Männerstimme antwortete lachend: »Wir schenken unserer Doodad das schönste Pony der Welt!« »Und ich werde ihr ein Kleidchen aus blauem Samt nähen und ihre blonden Lockenhaare mit einem blauen Samtband zusammenbinden!« sagte die Frau glücklich. »Und woher weißt du so genau, daß es ein Mädchen sein wird? Und daß es blonde Haare haben wird?« »Ich weiß es, weil ich es mir so sehr wünsche!« war die Antwort. Sie lachten beide, glücklich und zärtlich wie Verliebte. Aber dann fragte die Frauenstimme bang: »Und wann werde ich deine Frau? Ich habe Angst, schreckliche Angst. Wenn deine Mutter sich nun unserer Verbindung widersetzt?« »Dann wirst du trotzdem meine Frau, denn ich liebe dich. Ich liebe dich, ich liebe dich…« »Wirst du mich heiraten, bevor das Kind geboren wird?«
»Ich muß jetzt wieder an die Front. Für einen Offizier gibt es da keinen Pardon. Ich kann meine Leute draußen nicht länger alleinlassen. Wir heiraten, sobald der Krieg zu Ende ist, und der Krieg wird nicht mehr lange dauern.« Plötzlich war es still. Wie ein eisiger Ring legte sich das Grauen um Mortons Brust. Ein Ring, der sich eng, immer enger zusammenzog, so daß er kaum mehr Luft bekam. Morton sah wie gebannt hinüber. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Durch die Mauer trat ein kleines Mädchen. Es hatte lange blonde Locken, die von einem blauen Samtband zusammengehalten wurden. Die Kleine war zierlich von Gestalt. Sie wandte Morton jedoch den Rücken zu. Sie trug ein blaues Samtkleidchen, das auf dem Rücken mit schimmernden Perlmuttknöpfen geschlossen war. Anmutig lief sie zu dem Erker hinüber, kniete sich auf einen Schemel vor das Puppenhaus und begann zu spielen. »Krieg…«, sagte sie. »Es ist Krieg!« Sie rührte in der kleinen Pfanne, die auf dem Herd in der Puppenküche stand. »Die Männer fallen im Krieg! Sie kommen nie mehr nach Hause!« Sie stellte Tassen und Teller auf den Tisch. Ihre Stimme änderte sich, wurde tiefer, älter. Sie ahmte die klagende Stimme einer alternden Frau nach. »Mein Mann ist gefallen. Ich habe nur noch meinen Sohn. Aber Cate soll ihn nicht haben! Nie, niemals soll sie ihn haben. Er gehört mir, mir ganz allein!« Das hämische Lachen, das die Kleine imitierte, ließ Morton das Blut wie zu Eis in den Adern gerinnen. »Der Doktor ist dumm!« rief die Kleine, und sie ließ eine der Puppen an den Fäden tanzen, so daß die Marionette durch das
ganze Haus sprang. »Ich bin nicht gelähmt! Alle glauben es nur. Mein Sohn glaubt es! Und deshalb wird er nie von mir fortgehen, nie Cate heiraten, niemals!« Plötzlich fiel die Puppe zusammen, als hätte die Kleine die Fäden durchgeschnitten. Sie schrie und weinte. »Mein Sohn ist gefallen! Mein Sohn ist tot!« Langsam kam wieder Leben in die Marionette. An den Fäden geisterte sie weiter durch das Puppenhaus. »Cate erwartet ein Kind von meinem Sohn«, flüsterte sie rauh. »Sie soll es nicht haben! Nie, niemals!« Ein rasselndes Geräusch. Die Kleine drehte an der Handkurbel, die den Mechanismus des Speiseaufzugs im Puppenhaus in Bewegung setzte. Die Marionette nahm ein Glas vom Tisch und stellte es mit ruckartigen Bewegungen in den Aufzug. »Gift! Gift! Ich nehme das Gift! Und alle werden glauben, Cate Dolloway hat mich umgebracht. Cate Dolloway wird hängen!« Es klang so viel Haß in der Stimme der Kleinen, die die Sprache einer alten Frau nachahmte, daß es Morton eiskalt den Rücken – hinunterrann. Er meinte zu träumen, und doch wußte er, daß alles in Wirklichkeit geschah. Er sah den Spuk mit eigenen Augen…
*
Der eiserne Ring um Mortons Brust zog sich qualvoll immer enger zusammen und schnürte ihm den Atem ab.
Er hatte das grauenvolle Gefühl, daß ihm die Augen aus den Höhlen traten. Wie ein Dolchstoß fuhr ein brennender, stechender Schmerz durch sein Herz. Seine Gedanken arbeiteten aber immer noch logisch: Ist es so Onkel Adam ergangen, fragte er sich? Hat ihm das den Tod gebracht? Wie gebannt starrte er zu dem Puppenhaus hinüber. Die Marionette tanzte, hüpfte und sprang wie triumphierend durch das gelbe Mondlicht – bis sie plötzlich leblos zusammenbrach. »Es ist schlimm, daß alles immer wieder geschieht«, seufzte die Kleine. »Und noch schlimmer ist es, daß du es wieder geschehen läßt!« Morton merkte bestürzt, daß sie ihn meinte, daß sie ihn anredete. Doch sie kniete immer noch vor dem Puppenhaus und wandte ihm den Rücken zu. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht. Die Kleine sagte ernsthaft: »Du bist kein guter Mensch, Morton Ashwood! Du willst Maura Perkins ins Zuchthaus bringen, obwohl sie es nicht getan hat. Nur, weil du Ankläger der Krone werden willst. Deshalb tust du es. Du solltest dich schämen!« Morton stöhnte. Sein Zustand war verheerend. Er hatte plötzlich Todesangst. Seine Zähne schlugen wie im Schüttelfrost aufeinander. »Dein Onkel Adam hat es auch getan«, fuhr die Kleine fort. »Er hat Cate Dolloway zum Tode verurteilt, obwohl er genau wußte, daß sie schuldlos war. Alle Indizien haben gegen sie gesprochen, trotzdem war sie schuldlos. Und Lord Adam hatte als Einziger das böse Spiel der alten Lady durchschaut. Warum hat er Cate Dolloway trotzdem verurteilt? Weil die Lady einer mächtigen und einflußreichen Familie angehörte, auf deren
Name kein Makel fallen durfte, nicht einmal der Makel eines Selbstmordes. Deshalb mußte ein Opfer gefunden werden. Lord Adam ist dadurch ein berühmter Mann geworden. Er hat die Wahrheit gewußt und hat geschehen lassen, daß Cate Dolloway hingerichtet wurde und daß ihr kleines Mädchen nicht auf diese Welt kommen durfte.« Morton beherrschte sich mit großer Anstrengung. Er beugte sich in seinem Sessel vor. »Soll ich dir etwas verraten?« fragte die Kleine, und sie kicherte leise. »Im Stettenham-Palace hat es überhaupt niemand getan. Nicht einmal die alte Lady, obwohl sie es tun wollte. Sie kam nicht mehr dazu, weil ich sie im letzten Moment daran gehindert habe.« Morton fragte mühsam: »Du – du bist Doodad?« »Ja.« Noch immer wandte das Geisterkind Morton den Rücken zu. »Du hast Onkel Adam umgebracht?« fragte er gepreßt. »Nein!« Die Kleine schüttelte beinahe mitleidig den Kopf. »Wie hätte ich das tun können? Ich kann niemanden umbringen! Er war ja auch ein einsamer, armer alter Mann. Ich habe ihn ein bißchen aufgemuntert, weil er mir so leid getan hat. Er hatte seine Schuld gesühnt. Er hat sie ein Leben lang mit sich herumgeschleppt, und deshalb konnte er nie mehr von Herzen froh werden. Nachts konnte er nicht schlafen. Immer sah er Cate Dolloway vor sich. Er hat sein ganzes langes Leben wie in einem Kerker zugebracht. In dem Kerker seiner Schuld.« Sie seufzte. »Lord Adam hat sich selbst grausam bestraft, indem er sich nicht erlaubte, noch einmal glücklich zu werden. Es gab eine Frau, die er geliebt hat!« erklärte sie wichtig. »Doch er hat auf sie verzichtet.« »Diese Frau war – meine Mutter?« stammelte Morton.
Doodad nickte. »Deine Mutter ist deshalb nicht unglücklich gewesen. Lord Adams Verehrung und Zuneigung haben ihr wohlgetan. Doch ihr Herz gehörte deinem Vater, den sie sehr geliebt hat. Und sie hatte dich.« Morton griff sich an den Hals, weil ihn etwas würgte. Die Kleine räumte das Puppenhaus auf und summte wieder: »The winds have gone over the ocean…« »Warum singst du immer dieses Lied?« fragte Morton mit gepreßter Stimme. »Weil meine Eltern mir doch ein Pony schenken wollten«, antwortete Doodad ernsthaft. »Das schönste Pony der Welt. Mein Vater hatte es versprochen. Doch dann fiel er im Krieg. Er kam nie mehr nach Hause. Meine Mutter war allein mit seiner Mutter, die sie haßte, weil sie glaubte, daß meine Mutter ihr die Liebe ihres Sohnes gestohlen hat. Dabei ist so etwas doch gar nicht möglich! Niemand kann einer Mutter die Liebe ihres Kindes stehlen. Manchmal bilden die Mütter sich das nur ein! Auch Lady Stettenham hat sich das eingebildet«, erklärte Doodad ernst. »Dabei war sie nicht einmal Lord Percys Mutter! Sie war seine Großmutter!« »Ja, ich weiß«, murmelte Morton. Seine Hände krampften sich um die Sessellehnen. »Du weißt nicht, daß Maura ein Kind von Lord Percy erwartet!« sagte Doodad. »Du weißt auch nicht, daß er ihr die Ehe versprochen hat, kurz bevor er mit seinem Wagen tödlich verunglückt ist. Ach, es gibt so viele traurige Geschichten auf dieser Welt. Das tröstet mich manchmal.« »Du behauptest allen Ernstes, daß Maura Perkins schuldlos am Tod Lady Stettenhams ist?« »Natürlich ist sie schuldlos!« versicherte Doodad. »Begreifst du denn immer noch nicht? Die alte Lady wollte einen Mord vortäuschen, damit Maura ihr Leben lang im Gefängnis sitzt. Sie hat alles so schlau ausgetüftelt. Richtig listig ist sie
gewesen. Ein paar Fehler hat sie aber trotzdem gemacht, weil sie so furchtbare Angst vor mir hatte und dadurch ganz durcheinander war. Und zum Schluß habe ich ihr einen Strich durch ihre Rechnung gezogen! Ihr Herz war alt, müde und schwach – und sie konnte mein Gesicht nicht ertragen.« Mortons Lippen waren trocken wie Sandpapier. Er brachte kaum ein Wort hervor. »Hat – ich meine, hat es Onkel Adam auch umgebracht, als er dein Gesicht gesehen hat?« »Vielleicht – war es der Schreck«, gab Doodad zögernd zu. »Doch das ist unwichtig. Lord Adams Lebensuhr war abgelaufen. Armer alter und einsamer Onkel Adam.« Mortons Herz hämmerte. Die Angst packte ihn wieder. Was hatte dieses Kind mit ihm vor? »Ich werde dich jetzt ansehen«, sagte Doodad. »Und es wird dir gar nichts nützen, wenn du die Augen zumachst. Du wirst mich trotzdem sehen! Du wirst mein Gesicht sehen!« »Nein!« ächzte Morton. »Ich will es nicht! Dreh dich nicht um. Tu es nicht.« Er war machtlos dagegen. Die Kleine stand auf und bewegte sich langsam auf den Schreibtisch zu. Es sah aus, als schwebe sie durch das Zimmer. Eine schimmernde Helligkeit war um ihre kleine Gestalt, und diese Helligkeit leuchtete den ganzen Raum bis in den hintersten Winkel aus. Mortons Herz raste vor Angst. Doodad drehte sich langsam um. Er wollte schreien. Doch das Entsetzen lähmte ihn. Dieses zauberhafte, anmutige kleine Geschöpf mit der süßen Kinderstimme – es hatte kein Gesicht. Da war nur ein zartes Oval unter den blonden Locken. Leere Augenhöhlen starrten ihn an. Ein schauriges Gesicht. Eigentlich war es gar kein Gesicht.
Sie war Cate Dolloways kleine Doodad. Und sie hatte kein Gesicht, denn sie hatte nie gelebt! Rührung und Mitleid packten Morton. Gefühlsregungen, die ihm bisher fremd waren. Tränen schossen ihm in die Augen. Der Kronleuchter flammte auf. Doodad war verschwunden. Morton weinte. Er schluchzte, wie er als kleiner Junge manchmal geschluchzt hatte, wenn er furchtbar traurig gewesen war.
*
In dieser Nacht träumte Maura Perkins einen seltsamen Traum. Sie hatte lange nicht einschlafen können. Die Tage waren so lang und eintönig, und allmählich kam ihr ihre Lage so schrecklich aussichtslos vor. Sie hoffte jede Stunde, daß Morton Ashwood kam, zu dem sie ein tiefes Vertrauen gefaßt hatte. Doch er kam nicht, und je länger er fernblieb, desto unruhiger und verzweifelter wurde Maura. Hatte es überhaupt noch einen Sinn zu warten, zu hoffen, zu kämpfen – zu leben? Das Kind, das sie unter dem Herzen trug, würde ohne Vater aufwachsen. Und vielleicht auch ohne Mutter – wenn es Morton Ashwood nicht gelang, ihre Schuldlosigkeit unter Beweis zu stellen. Wenn die Geschworenen ihr »Schuldig« sprachen, war alles aus. Nicht nur für sie. Auch für das Kind. Es wurde allein und mit dem Makel seiner Geburt in eine fremde, kalte, feindliche Welt gestellt.
Dieser Gedanke war das Schlimmste für Maura. Sich vorzustellen, daß ihr Kind allein und schutzlos im Leben stehen würde, preisgegeben der Bosheit, der Willkür und Verachtung. Nein, lieber wollte sie sterben – und das Kind mit ihr. Sie mußte dem kleinen Wesen ein solches Leben ersparen. Die Stunden dieses Tages dehnten sich wieder endlos. Maura litt, bangte, hoffte und wartete auf eine Nachricht von Morton Ashwood. Und sie dachte, daß sie dies alles nicht mehr lange ertragen könnte. Es gab immer einen Weg, sich fortzustehlen. Es gab viele Möglichkeiten, wenn man bereit und entschlossen war, es zu tun. Maura weinte sich in den Schlaf. Und in ihrem Traum war auf einmal Doodad bei ihr. Sie erkannte das kleine Mädchen nach der Beschreibung, die Lady Edith ihr gegeben hatte, sofort. »Du bist Doodad, nicht wahr?« fragte sie. »Ja, und ich will nicht, daß du solche Gedanken denkst.« »Was für Gedanken?« fragte Maura. »Aus dem Leben zu gehen!« Doodad seufzte. »Das ist unrecht und schlimm. Du mußt Geduld haben und warten. Denke an dein Kindchen, das leben will. Oder soll es ihm ergehen, wie es mir ergangen ist? Weil meine Mutter mich mit sich in den Tod genommen hat… um mich vor Unglück zu bewahren. Deshalb hat sie es getan. Auch wenn ich vielleicht unglücklich geworden wäre, ich hätte trotzdem gern gelebt.« »Du hast kein Gesicht, arme, kleine Doodad«, flüsterte Maura in ihrem Traum, und sie ängstigte sich nicht. Sie begriff nicht, warum Lady Edith solche Angst vor diesem armen Kind gehabt hatte. Sie sagte das zu Doodad. »Lady Edith hat furchtbare Angst vor dir gehabt. Warum?«
Doodad lachte leise. »Mit Lady Edith war das etwas anderes. Sie hatte etwas Böses vor, und deshalb hat sie sich vor mir gefürchtet. Du fürchtest mich nicht, weil dein Herz gut ist und weil du Mitleid empfinden kannst. Wer zu Mitleid fähig ist, der fürchtet sich nicht vor mir.« »Hilf mir, Doodad!« flehte Maura. »Oh, ich habe dir schon geholfen«, versicherte Doodad wichtig. »Und ich muß dir sagen, ich bin froh, wenn das alles jetzt vorbei ist. Dann will ich wieder dorthin zurück, woher ich gekommen bin. Es hat mich alles ziemlich müde gemacht.« Sie saß auf dem Bettrand und baumelte mit den Beinen. »Bleibe bei mir«, bat Maura. »Das kann ich nicht«, antwortete Doodad traurig. »Ich muß immer wieder fort. Aber ich singe dir mein Liedchen. Dann wirst du schlafen. Tief und traumlos schlafen, bis der Morgen kommt.« Sie fing mit ihrer süßen, klaren Stimme an zu singen: »Der Wind zog über den Ozean, der Wind zog über das Meer, und er brachte, brachte, er brachte mein Pony wieder zu mir her…«
*
Um halb sechs Uhr schrillte der Wecker in Ashwood-Hall. Morton war sofort hellwach. Er wunderte sich darüber, daß er tief geschlafen hatte. Es klopfte. »Sechs Uhr, Mylord«, meldete Bunch. »Wünschen Sie Spiegeleier mit Speck zum Frühstück?« »Ja, bitte, Bunch. Und starken schwarzen Tee.« Morton duschte und rasierte sich. Er kleidete sich an. In seinen Gedanken beschäftigte er sich unablässig mit dem
Erlebnis, das er in der vergangenen Nacht in der Bibliothek gehabt hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto fester glaubte er daran, daß die Erscheinung so real gewesen war, wie eine Erscheinung nur sein konnte. Dieses Kind war ihm erschienen, um ein neuerliches Unheil zu verhindern. Er dachte auch an die Tränen, die er geweint hatte und die so echt gewesen waren wie früher einmal seine Kindertränen. Und er dachte an Maura Perkins. Wenn diese junge Frau schuldlos war, dann wollte er alles tun, um ihre Unschuld zu beweisen, und es war ihm ganz gleichgültig, was daraus für ihn für Schwierigkeiten erwachsen mochten. Es konnte sein, daß der einflußreiche Croff es fertigbrachte, daß man ihm in der Kanzlei den Stuhl vor die Tür setzte und daß er nie ein Ankläger der Krone wurde. Falls Croff rachsüchtig war, und in diesem speziellen Fall war er es möglicherweise, konnte er Mortons Karriere als Jurist mit seinen hervorragenden Beziehungen und Verbindungen völlig vernichten. Morton preßte die Lippen zusammen, als er daran dachte. Er war mit Leib und Seele Jurist. Aber auch wenn es so geschehen wird, sagte er sich, dann muß ich es tragen. Ich habe Ashwood-Hall, und ich werde zurechtkommen. Es gibt immer irgendeinen Weg, auch wenn alles noch so verworren scheint. Wie hatte seine Mutter in dem Irrgarten damals gesagt? »Irgendwie kommt man immer wieder heraus!« Als er sein Zimmer verließ, duftete es im Korridor schon nach knusprigen Speckscheiben und aromatischem Tee. Der Frühstückstisch war im kleinen Speisezimmer gedeckt. Bunch schenkte den Tee ein, als Morton kam. Er rückte den
Stuhl für Morton zurecht und legte ihm die gerösteten Toastscheiben griffbereit in das Brotkörbchen. Morton war fest entschlossen, den alten Mann nicht zu beunruhigen, indem er ihm etwas von seinem nächtlichen Erlebnis in der Bibliothek erzählte. Er war sicher, daß Bunch von Doodad keine Gefahr drohte. Niemand drohte von Doodad Gefahr, der reinen Herzens war. Bunchs Furcht hatte einen anderen Grund. Das erkannte Morton klar. Der alte Butler war ein schlichter und etwas nüchterner Mensch. Er fürchtete nicht Doodad, sondern das Außergewöhnliche der Situation, für das er keine wirklichkeitsbezogene Erklärung fand. Er glaubte nicht an Spuk. »Dürfte ich mir eine Frage erlauben, Mylord?« »Sprechen Sie, Bunch!« ermunterte Morton ihn. »Heute nacht…« Bunch dämpfte seine Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern, »ich hätte schwören können, sie ist heute nacht wieder da gewesen, Mylord!« »Die Erscheinung? Das Spukwesen?« »Ja, Mylord.« Bunch sah Morton ängstlich an. »Ich hatte nämlich wieder dieses merkwürdige Gefühl, als gingen die Uhren leiser, als hielte der Wind den Atem an, als stehe die Erde still.« Morton erwiderte ruhig: »Sie brauchen sich überhaupt nicht zu fürchten, Bunch. Außerdem glaube ich nicht, daß die Erscheinung noch einmal wiederkommen wird. – Ich hätte da übrigens eine Frage an Sie.« »Ja, Mylord?« Der alte Butler schien zu erstarren, als erwarte er etwas Schreckliches. »Was ist mit dem Kronleuchter in der Bibliothek los?« »Ach, das meinen Sie?« meinte Bunch erleichtert. »Oh, das hat nichts mit der Erscheinung zu tun, Mylord! Der
Kronleuchter hat einen Wackelkontakt, und manchmal, wenn nachts die Stromspannung nachläßt, geht er plötzlich von selbst aus und nach einer Weile von selbst wieder an. Soll ich dafür sorgen, daß die Sache endlich repariert wird?« »Nicht nötig«, wehrte Morton freundlich ab. »Das hat Zeit. Und was die Bibliothek anbetrifft, ich habe darin alles in Ordnung gebracht. Sie brauchen sich nicht mehr darum zu kümmern, Bunch. Lassen Sie alles, wie es ist, und wenn ich wiederkomme, sehen wir weiter.« »Danke, Mylord!« Bunch atmete auf. »Ich freue mich heute schon auf den Tag, an dem Sie wiederkommen, Mylord!« »Es wird nicht lange dauern, Bunch«, versprach Morton. Er frühstückte und machte sich dann sofort auf den Weg nach London.
*
Während der Fahrt nach London hatte Morton genügend Zeit, sich einen genauen Plan auszudenken. Er kam zügig voran. Der erste Berufsverkehr war schon vorbei. Er fuhr nicht in die Kanzlei, sondern zuerst zum StettenhamPalace. Einen Moment betrachtete er das alte Gebäude. Genauso hatte er es sich vorgestellt. Er ging durch den Vorgarten und setzte den altmodischen Türklopfer in Bewegung. Einen Ring, den ein langmähniger Löwe im Maul trug. Es dauerte ziemlich lange, bis sich die Tür einen Spalt weit öffnete. »Sind Sie von der Zeitung?« fragte eine resolute Stimme. »Nein. Ich bin Morton Ashwood, Maura Perkins’ Verteidiger, und ich habe einige Fragen an Sie.«
Daraufhin ging die Tür sofort auf. Morton sah sich einer etwas grobknochigen, vierschrötigen Frau mit einem gutmütigen Gesicht gegenüber. »Das ist etwas anderes«, meinte sie. »Dann kommen Sie herein. Und fragen Sie nur. Ich werde Ihnen gern alles sagen, was ich weiß, wenn Sie dadurch der armen Miss Maura helfen können.« »Sie sind Miss Mary, nicht wahr?« »Die Köchin, ja. Ich diene schon seit vierzig Jahren in diesem Haus.« »Miss Mary, ich weiß, daß Sie krank gewesen sind, als es passiert ist. Als Sie hierher zurückgekommen sind, ist Ihnen da irgend etwas aufgefallen?« »Zuerst mal, daß alles ein Chaos war.« Mary seufzte. »So hat es im Stettenham-Palace noch nie ausgesehen. Lady Edith hat streng auf Ordnung gehalten.« »Das meine ich nicht. War irgend etwas verändert, anders als sonst?« »Außer dem Chaos habe ich erst nichts bemerkt. Nur die komische Geschichte mit dem Aufzug, die hat mich stutzig gemacht. Das Ding hat schon seit Jahren nicht mehr funktioniert. Oder glauben Sie, ich hätte sonst die schweren Tabletts immer die Treppe hinauf in die Wohnhalle geschleppt. Das ist ein ganz schöner Weg vom Souterrain aus.« Morton überlegte. »Hat die Polizei die Sache mit dem Aufzug nicht nachgeprüft?« »Natürlich hat sie das getan. Ein Sachverständiger ist dagewesen. Aber der konnte sich auch keinen Reim darauf machen. Jetzt funktioniert das Ding nämlich wieder nicht mehr.« »Miss Mary – ist Ihnen jemals der Verdacht gekommen, daß Lady Ediths Lähmung vielleicht nicht ganz so schlimm war, wie alle geglaubt haben?«
»Wenn Sie mich so direkt fragen…« Mary zögerte. »Ich möchte nichts Falsches sagen. Die alte Lady ist tot. Weiß der Himmel, sie hat uns das Leben manchmal zur Hölle gemacht. Eine besonders liebenswerte Herrin ist sie auch nicht gewesen. Andererseits muß man ihr zugute halten, daß sie es nicht leicht gehabt hat in ihrem Leben. Als der selige Lord Stettenham noch lebte, trug sie ein rechtes Kreuz, und sie trug es wie eine Lady. Trotzdem…« Mary biß sich auf die Lippen und zögerte wieder. »Miss Mary, Sie müssen es mir sagen! Wenn Sie Maura Perkins helfen wollen, dürfen Sie nichts verschweigen.« »Also schön. Einmal, als die Lady geglaubt hat, ich sei schon gegangen, und Miss Maura in der Probe des Kirchenchors war, das ist jetzt schon eine ganze Weile her – da habe ich im Oberstock plötzlich Schritte gehört. Ich habe zuerst gedacht, da treibt sich wer herum, der da nichts verloren hat. Ich bin hinauf, um nachzusehen, was los ist. Und da war nichts, nur der Rollstuhl stand irgendwo anders als zuvor, und weil die Gummibereifung der Räder sich immer in den Fransen der Teppiche verheddert, da habe ich gedacht – die Lady müßte ihn geschoben haben…« »Sie meinen also, daß Lady Edith durchaus in der Lage war, sich gelegentlich auf ihren Beinen zu halten?« »Ich denke schon, Mylord.« Mary überlegte gewissenhaft, bevor sie weitersprach. »Nicht sehr lange vielleicht, oder doch nur mit großer Anstrengung. Aber daß sie absolut gelähmt war, so daß sie ohne fremde Hilfe keinen Schritt tun konnte, wie es immer den Anschein hatte, also ehrlich, daran habe ich nie so recht geglaubt. Weil…« Sie stockte wieder. »Weil – was?« drängte Morton. »Ich denke, Sie wollen mir helfen, Miss Mauras Unschuld zu beweisen.« Mary seufzte tief. »Es war so, daß Lord Percy sich verloben wollte.«
»Mit Miss Perkins?« Mary schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Mit einer anderen jungen Dame. Es war seine zweite Verlobung. Diesmal macht er Ernst, haben wir alle gedacht. Es war nämlich wirklich ein nettes Mädchen, seine Braut. Nur ist die Verlobung dann sehr schnell auch wieder geplatzt, weil – nun ja, weil Lady Edith ein Nervenfieber und danach die Lähmung bekam.« Mary nickte bedeutungsvoll. »Sie meinen – Lady Edith hat sich die Lähmung nur ausgedacht, um so einen noch größeren Einfluß auf ihren Enkel zu haben?« »Ganz vernarrt ist sie in ihn gewesen. Was ich schon verstehen kann, nach all dem, was sie mitgemacht hatte, mit ihrem Sohn und ihrem Mann. Ausgedacht hat sie sich die Sache bestimmt nicht. Unser Herr Doktor Wilkins, das ist ein sehr netter Arzt, der wäre ihr schon auf die Schliche gekommen. Nein, ich nehme eher an, sie hatte wirklich eine Lähmung, die sich allmählich gebessert hat. Aber von der Besserung hat sie niemandem ein Wörtlein verraten.« »Um weiterhin Einfluß auf ihren Enkel zu haben?« »Ja. Nur hat sie Pech gehabt. Lord Percy hat seine Verlobung zwar gelöst, doch dann kam als Pflegerin und Gesellschafterin von Lady Edith Miss Maura ins Haus.« Mary seufzte. »Natürlich hat Miss Maura sich in Lord Percy verliebt. Das war ganz normal. Er war ein so charmanter und gutaussehender Mann!« »Und Lord Percy?« »Hals über Kopf hat er sein Herz verloren. Er war ja ziemlich angeschlagen nach der geplatzten Verlobung. Und Miss Maura ist ja auch ein liebenswertes Mädchen. Kurzum, bei den beiden war es Liebe auf den ersten Blick. Lady Edith hat das natürlich gleich gemerkt. Sie hat sich aber nichts anmerken lassen.« Mary starrte auf ihre Hände nieder.
»Weiter!« drängte Morton, als die Köchin nachdenklich verstummte. »Haben die beiden ihre Romanze vor Lady Edith denn geheimgehalten?« »Und wie geheim sie das gehalten haben!« versicherte Mary. »Diesmal war Lord Percy so klug, sich nicht gleich zu verloben. Und Miss Maura war klug genug, Geduld zu haben. Ich glaube, die beiden sind davon überzeugt gewesen, daß es ihnen eines Tages gelingen wird, Lady Ediths Segen in Güte zu erhalten.« Mary schüttelte energisch den Kopf. »Also, wenn Sie mich fragen, ich glaube nicht, daß das jemals gutgegangen wäre. Auch nicht mit Miss Maura und Lord Percy. Er war kein Mann zum Heiraten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er war schnell entflammt. Ich habe das wiederholt erlebt. Es war meistens nur ein Strohfeuer und ging schnell wieder vorbei. Außerdem hing er viel zu sehr an seiner Großmutter! Er war ein rechtes Muttersöhnchen. Er mag es mir verzeihen, daß ich das von ihm sage. Doch es ist die Wahrheit.« Wieder brach sie ab. Dann fuhr sie hastig fort: »Lady Edith hat ihn in ihrer übergroßen Liebe furchtbar verzogen. Er hing eigentlich immer an ihrem Rockzipfel, und daran hätte auch seine Liebe zu Miss Maura nichts geändert. Selbst wenn er sich durchgesetzt und Miss Maura geheiratet hätte – auf die Dauer wäre das niemals gutgegangen. So tragisch das mit Lord Percys Unfall war – im stillen habe ich schon manchmal gedacht, daß Miss Maura vielleicht Glück gehabt hat. Sie hätte nicht verdient, unglücklich zu werden. Ich wünsche ihr so sehr, daß sie einen guten Mann findet, bei dem sie geborgen ist, ihr Leben lang.« Morton, der aufmerksam zugehört hatte, fragte die Köchin noch einmal, ob ihr nicht irgend etwas Außergewöhnliches aufgefallen sei, als sie wieder ins Stettenham-Palace zurückgekommen war.
»Mir nicht, aber Betty«, antwortete Mary. »Kommen Sie mit. Ich zeige es Ihnen!« Sie ging voraus, die Treppe hinauf, und führte Morton in die Wohnhalle in der ersten Etage. Morton sah sich um. Die Atmosphäre der viktorianischen Pracht mit ihren vollgestopften Vitrinen und Vertikos legte sich ihm beklemmend auf die Brust. Mary deutete auf den Vogelkäfig. »Hier, sehen Sie sich einmal diesen Papagei an, Mylord. Das Biest ist ausgestopft. Ich habe es noch nie leiden können, weil es ein furchtbarer Staubfänger ist. Ja, und nun sehen Sie sich das Tier einmal genau an, ob Ihnen etwas daran auffällt?« »Ein Auge fehlt«, stellte Morton fest. Mary nickte. »Das behauptet Betty auch. Ich habe als Köchin mit den Zimmern ja nie etwas zu tun gehabt. Deshalb weiß ich nicht genau darüber Bescheid, ob dieser Papagei schon immer einäugig war oder nicht.« »Betty behauptet, das Auge fehle seit Lady Ediths Tod?« fragte Morton und sah auf den ausgestopften Vogel. »So ist es, Mylord.« Mary zögerte. »Und dann ist da noch die Sache mit den Atlashandschuhen.« »Was für Atlashandschuhe?« fragte Morton erregt. »Nun ja, Lady Edith hatte immer ein paar alte Abendhandschuhe in ihrem Nachtkästchen liegen. Das war eine Marotte von ihr. Vielleicht, weil sie das an ihre früheren, glanzvollen Zeiten erinnert hat, als sie mit Lord Stettenham zusammen in der Londoner Gesellschaft noch eine Rolle spielte?« Sie seufzte. »Lange ist es her und schon gar nicht mehr wahr.« »Und was ist nun mit diesen Atlashandschuhen?« drängte Morton. »Die lagen auf ihrem Kopfkissen. Ist doch komisch, nicht?« »Darf ich das Zimmer einmal sehen?«
»Natürlich. Wenn Sie glauben, daß Ihnen das weiterhilft, Mylord?« Sie gingen in das Schlafzimmer hinüber. Morton stand lange am Bett von Lady Stettenham. Mary verhielt sich mucksmäuschenstill. Sie beobachtete den Anwalt, der noch dazu ein leibhaftiger Lord war, und sie dachte erleichtert, daß er bestimmt der richtige Mann war, um Miss Maura herauszuhelfen. Mary war sich vollkommen darüber im klaren, daß Miss Maura ziemlich tief in der Patsche saß. Sie hätte viel darum gegeben, wenn es ihr möglich gewesen wäre, der jungen Frau zu helfen. »Sie hat das einfach nicht verdient«, murmelte sie nach einer Weile. »Miss Maura, meinen Sie?« fragte Morton. »Ja. Sie ist ein so anständiges Mädchen, und sie hat es doch auch nicht leicht in ihrem Leben gehabt. Sie kommt aus einem guten Stall, wie man so sagt. Ihr Vater war Offizier und ziemlich hoch dekoriert. Aber wie das so geht! Reichtümer konnte er keine scheffeln, und privates Vermögen war keines da. Im Ruhestand fand sich Miss Mauras Vater nicht zurecht. Er bekam eine Lungenentzündung und starb ganz leise, wie sie mir einmal gesagt hat. Ihre Mutter hatte sie schon früh verloren. Da stand sie nun allein auf der Welt. Ohne Berufsausbildung und mit keinem Penny.« Morton dachte an Cate Dolloway, der es wohl ganz ähnlich ergangen war. Lord Paul hätte jetzt sicher wieder gesagt, daß dies eine Duplizität der Ereignisse sei. Mary fuhr fort: »Sie hat ein paar Kurse absolviert, um eine Stelle als Pflegerin annehmen zu können. Hier im StettenhamPalace, das war ihre erste Stelle. Ich muß sagen, sie hat mit Lady Edith eine Engelsgeduld gehabt.«
»War es denn so schwierig, mit Lady Stettenham auszukommen?« wollte Morton wissen. »Noch schwieriger als schwierig«, beteuerte Mary. »Nicht, daß Lady Edith jemals laut oder direkt ungerecht gewesen wäre. So war das nicht. Sie konnte nur ziemlich arrogant sein, und manchmal wurde sie verletzend. Wehe, wenn nicht alles so klappte, wie sie es angeordnet hatte! Ich hatte ja nur im Souterrain, in der Küche, mit ihr zu tun, wenn wir den Speisezettel festgelegt oder die Wirtschaftsabrechnungen gemacht haben. Aber das hat mir schon gereicht! Den ganzen Tag, von morgens früh bis abends spät und manchmal noch die halbe Nacht hindurch in ihrer Nähe wie Miss Maura, nein, so hätte ich nicht mit Lady Edith zusammen sein mögen. Da wäre mir bestimmt mehr als einmal der Kragen geplatzt! Miss Maura hat es ausgehalten. Erst Lord Percy zuliebe, denke ich, und nach Lord Percys Tod in seinem Angedenken.« »Das finde ich großartig«, sagte Morton. »Es gibt Menschen, die sind einfach so gut«, meinte Mary. »Und Miss Maura ist ein solcher Mensch. Deshalb tut es mir leid, daß Lady Edith der armen Miss Maura noch nach ihrem Tod so übel mitspielt. Sie hat sie doch bei Lebzeiten schon gründlich praktiziert.« Morton sah auf die Wand zwischen den beiden schweren Schränken. Wahrscheinlich ist Doodad durch diese Wand gekommen, dachte er. Irgendwie spürte er, daß das Gespenst nun weit fort war und daß er die kleine zarte Gestalt mit dem langen, blonden Lockenhaar nie mehr wiedersehen würde. Aber auf einmal wußte er auch, wie alles gewesen war. Es war wie eine Erleuchtung, die über ihn kam, und er begriff nicht, daß er nicht gleich darauf gekommen war. »Könnte ich einmal mit Betty reden?« »Warum nicht?« Betty ist in der Küche und schält Kartoffeln. »Wir machen unsere Arbeit weiter wie bisher, und essen muß
man ja schließlich auch. Bis alles geklärt ist, habe ich zu Betty gesagt, machen wir weiter. Wir haben unseren Lohn immer ein Vierteljahr im voraus bekommen. Da können wir nicht einfach davonlaufen. Irgend jemand muß im Haus ja Ordnung halten.« Sie gingen in die Küche im Souterrain hinunter. Betty saß an dem großen altmodischen Küchentisch und schälte Kartoffeln. »Aber doch nicht für ein Regiment Soldaten!« regte Mary sich auf. »Du kannst aufhören! Wer soll denn das alles essen?« »Sie haben gesagt, ich soll schälen, bis Sie wiederkommen«, murrte Betty. Sie sah Morton mißtrauisch an. »Sie sind sicher von der Polizei oder einer von der Zeitung.« »Lord Ashwood ist Miss Mauras Anwalt«, fuhr Mary ihr über den Mund. »Er will dich etwas fragen, und du wirst ihm gefälligst Antwort geben.« »Es ist schnell erledigt«, versicherte Morton. »Was mich interessiert, ist nur die Sache mit dem Papagei. Ich möchte wissen, Betty, ob Sie ganz sicher sind, ob er immer zwei Augen hatte und nach Lady Ediths Tod ein Auge verloren hat.« »Klar bin ich sicher«, antwortete Betty aufmüpfig. »Ich weiß gar nicht, warum Mary das immer anzweifelt. Ich habe in den Zimmern saubergemacht. Nur der Papagei, den durfte ich nie anrühren! Ich mußte den Vogelkäfig herunternehmen und zu Lady Edith an ihren Rollstuhl bringen. Sie hat den Papagei, dann selbst herausgenommen und mit irgendeinem Spezialmittel saubergemacht. Den Papagei durfte keiner anrühren außer Lady Edith, auch Miss Maura nicht!« »Hing die Lady so sehr an dem Papagei?« wollte Morton wissen. Betty zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Manchmal hatte ich eher den Eindruck, daß sie ihn nicht ausstehen konnte. Sie war jedenfalls jedesmal unausstehlich,
wenn der Papagei wieder mal an der Reihe war. Und sie hat ihn so komisch angesehen, als hätte sie irgendwie Angst vor ihm oder als sei es ihr nicht recht geheuer.« Sie zuckte wieder mit den Schultern. »Wahrscheinlich saß er nur aus Pietät oder wie man das nennt, weil Lord Stettenham ihn einmal von Südamerika mitgebracht hat.« »Danke«, sagte Morton. »Das wäre es schon.« Mary brachte ihn zur Tür. Als Morton sich verabschiedete, hatte sie Tränen in den Augen. »Sie werden Miss Maura helfen, nicht wahr, Mylord?« »Ja«, versprach Morton fest. »Ja, das werde ich tun.« Vom Stettenham-Palace fuhr Morton in das Anwaltsbüro Baily, Anderson und Croff. Er ging nicht in sein eigenes Zimmer, sondern sofort zu Croff. »Na, endlich! Da sind Sie ja wieder!« begrüßte ihn Croff. »Ich habe einen Sack voll Neuigkeiten!« »Ich auch!« erwiderte Morton ruhig. »Ich habe Ihnen neulich eine Zusage gemacht, zu der ich nicht mehr stehen kann – ich meine, was den Stettenham-Fall anbetrifft. Ich habe die Verteidigung von Maura Perkins übernommen. Dabei bleibt es. Nur werde ich alles tun, um ihre Unschuld unter Beweis zu stellen! Ich bin inzwischen davon überzeugt, daß sie tatsächlich schuldlos ist!« Croff wollte etwas sagen. Doch Morton sprach schon weiter. »Es würde mir leid tun, wenn unser gutes Einvernehmen dadurch getrübt werden sollte, Croff, weil ich Ihr Angebot ablehne. Ich habe gründlich über alles nachgedacht, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich passen muß, so verlockend Ihr Angebot auch für mich war. Auch wenn dadurch meine Karriere verpfuscht ist, ich kann den Fall nicht in Ihrem Sinn führen. Ich habe immer davon geträumt, einmal Ankläger der Krone zu werden.« Er zuckte mit den Schultern.
»Notfalls muß man lernen, mit seinen unerfüllten Träumen zu leben. Maura Perkins ist nicht schuldig. Ich bin überzeugt.« »Was Sie nicht sagen!« höhnte Croff, und er wollte wieder zu einer längeren Rede ansetzen. Doch Morton schnitt ihm abermals das Wort ab. »Ich will Ihnen sagen, wie die Sache gelaufen ist!« »Da bin ich aber gespannt.« »Erst einmal – Lady Edith Stettenham war gar nicht gelähmt.« Croff ächzte. »Woher kam Ihnen denn diese Erleuchtung?« »Ich habe nur logisch nachgedacht und einige Recherchen angestellt. Mag sein, daß Lady Stettenham einmal vorübergehend, unter der Einwirkung eines Nervenfiebers, tatsächlich gelähmt gewesen ist. Aber sie konnte nach einiger Zeit wieder recht gut auf ihren Beinen stehen. Sie hat das aber vor allen geheimgehalten – einmal, um dadurch ihren Enkel noch fester an sich zu binden und ihn durch ihre Hinfälligkeit zu verpflichten. Und nach Lord Percys Tod hat sie es getan, um Maura Perkins zu vernichten, weil sie genau gewußt hat, daß Percy und Maura ineinander verliebt waren und daß Lord Percy die feste Absicht hatte, Maura zu heiraten.« »Phantastisch!« spöttelte Croff. »Nur weiter, Sie Hellseher! Jetzt bin ich neugierig, was Sie in Ihrer Wundertüte haben!« »Die Lady hat Ihren Plan sorgfältig ausgetüftelt. Sie hatte ja auch genügend Zeit dazu. Die Fluglinien nach Australien hat sie aus einer Zeitung herausgeschnitten, als sie einmal allein und ungestört war. Und alles andere war ein Kinderspiel für sie, weil sie ja davon ausgehen konnte, daß alle an ihre Lähmung glaubten. Rekapitulieren wir den bewußten Tag: Die Köchin war krank, Maura Perkins war den Vormittag über beurlaubt, mit dem Mädchen Betty hat sie einen Krach heraufbeschworen und das Mädchen fortgeschickt. Danach hatte sie freie Bahn.«
Croff lauschte fasziniert. Was Morton bei allem Eifer wunderte, war die Tatsache, daß Croff nicht so mißvergnügt über seine Eröffnungen zu sein schien. Er wirkte gespannt, neugierig und sogar ein bißchen amüsiert. Das war eine Reaktion, die Morton nicht erwartet hatte, nachdem Croff zuerst so versessen darauf gewesen war, Maura Perkins verurteilt zu sehen! Er fuhr nervös fort: »Lady Edith höchstpersönlich war es, die das Safe geöffnet und den Schmuck herausgenommen hat. Sie war es, die das Wasserglas mit Gift in den offenen Speiseaufzug stellte. Bei diesen Tätigkeiten hat sie weiße Atlashandschuhe angehabt, damit nirgendwo ihre Fingerabdrücke zu finden waren. Sie hat ihr Bett zerwühlt, sich hineingelegt und wollte gerade das Gift einnehmen, als ein Herzschlag sie ereilte.« Croff schüttelte fassungslos den Kopf und blinzelte ungläubig. »Ich glaube allerdings nicht, daß es Arsen gewesen ist«, erklärte Morton. »Es muß sich um ein indianisches, in jedem Falle südamerikanisches Gift handeln, das in einer winzigen Ampulle enthalten war, die, Sie werden es nicht für möglich halten, einem ausgestopften Papagei, der in einem Käfig scheinbar harmlos auf der Stange saß, als Auge eingesetzt war.« Er mußte erst mal Luft holen. »Deshalb wohl der Spezialist aus Vancouver. Er wird auf südamerikanische Pflanzen- oder sonstige Gifte spezialisiert sein!« Croff klappte den Mund auf, doch er gab keinen Ton von sich. Er ließ Morton zu Ende reden. Dieser schloß, als halte er sein Plädoyer vor einem Schwurgericht: »Alle Indizien mußten auf diese Weise gegen Maura Perkins sprechen. Und genau das hat Lady Stettenham bezweckt, weil sie sich in ihrer krankhaften, manischen
Eifersucht dafür rächen wollte, daß Maura Perkins das Herz ihres Enkels gewonnen hatte, wie sie sich einredete. Lady Stettenham war eine kranke alte Frau. Sie hatte vom Leben nichts mehr zu erwarten. Sie wollte durch ihren Tod eine letzte Rache nehmen. Maura Perkins ist schuldlos! So, und jetzt sind Sie dran!« »Endlich«, brummte Croff. »Ashwood-Hall muß Sie ja ungeheuer inspiriert haben!« Morton seufzte. Ashwood-Hall allein war es nicht gewesen, das ihn auf den richtigen Weg gebracht hatte. Ein kleines Gespenst war es gewesen. Er dachte an Doodad, und eine heimliche Rührung, ein tiefes Mitleid überkam ihn wieder. Um seine inneren Empfindungen zu überspielen, spottete er: »Vielleicht bin ich ein Genie?« Croff grinste. »Bescheidenheit ist eine Zier«, meinte er. »Es wundert mich, daß Sie so heiter sind, nachdem nun Ihre Rachepläne platzen?« »Wer kein Genie ist, muß sich damit begnügen, wenigstens ein guter Verlierer zu sein.« Croff wurde wieder ernst. »Das mit meinem Angebot – vergessen Sie es.« »Schon vergessen.« Morton winkte ab. »War nicht fair von mir, was?« »Wer ist schon immer fair?« »Ja, auf die Dauer ist es strapaziös, immer fair zu sein. Trotzdem, ich hätte das nicht tun dürfen. Ich war nur so aufgebracht, und ich war überzeugt davon, daß diese – diese Maura Perkins tatsächlich schuldig ist!« Er sagte nicht mehr »diese Person«, wie Morton mit stiller Genugtuung registrierte. »Sie sind auch nicht mehr von ihrer Schuld überzeugt, Croff?« wunderte sich Morton.
»Wir haben inzwischen schließlich nicht geschlafen!« konterte Croff. »Da ist einiges passiert. Heute morgen bekam ich die Ergebnisse herein.« »Und?« »Dieser Brief, den Lady Stettenham geschrieben hatte und der in der Dokumentenmappe lag – er enthält gar keine Fingerabdrücke. Sie hat die weißen Atlashandschuhe nicht ausgezogen, als sie den Brief schrieb. Und was das südamerikanische Gift betrifft – die Ampulle wurde gefunden. Sie sah wirklich wie ein Vogelauge aus. Die alte Lady hat eine Menge Fehler gemacht.« »Was ist mit dem Obduktionsbefund?« fragte Morton gespannt. »Er liegt inzwischen auch vor: Herzschlag.« »Sagte ich doch.« Morton nickte zufrieden. »Sie müssen wirklich ein Hellseher sein«, staunte Croff. »Denn das war durch logische Überlegungen wahrlich nicht herauszufinden.« »Man hat manchmal seltsame Eingebungen«, murmelte Morton. Er dachte an jene Nacht. Er meinte die kleine Kindergestalt, die von so gespenstischem Licht umflossen gewesen war, wieder vor sich zu sehen. Und das grauenhafte Gesicht der Spukgestalt! Unwillkürlich rieb er sich über die Arme, als fröstelte er. »Ich glaube«, sagte Croff, »Sie sind genau der richtige Mann, um Ankläger der Krone zu werden. Ich kann Ihnen nichts versprechen, Ashwood. Ich kann nur ein paar Weichen stellen und meine Verbindungen spielen lassen. Was dann daraus wird, liegt nicht mehr in meiner Macht. Doch was ich kann, werde ich tun, auch wenn ich dafür von dem alten Baily einiges zu hören bekomme. Der alte Herr hat schließlich die Hoffnung immer
noch nicht aufgegeben, daß unser Büro eines Tages ›Baily, Anderson, Croff und Ashwood‹ heißt.« »Wäre nett, wenn Sie das für mich tun wollten«, meinte Morton. Im Moment war ihm diese Sache aber gar nicht wichtig. Er fragte atemlos: »Dann – dann ist Maura Perkins also frei?« Croff lachte. »Die Freude, sie aus der U-Haft abzuholen, wollten wir Ihnen überlassen, Ashwood. Oder muß ich jetzt Mylord zu Ihnen sagen?« »Nur sonntags«, ging Morton auf Croffs scherzhaften Ton ein. »Und dann nur zwischen zehn und zwölf. Übrigens – was für Gift war in dem Glas, das im Speiseaufzug stand?« »Arsen.« Croff zuckte die Schultern. »Die gute Lady war mit Gift reich bestückt. Das Arsen fand man im Schrank Lord Stettenhams. Inzwischen haben wir auch herausgebracht, daß es ein Tick von ihm war.« »Was?« »Gift. Er hat Gifte gesammelt wie andere Leute Briefmarken oder Münzen. Und da er in diversen Geheim-Missionen viel im Ausland war, hatte er genügend Gelegenheit, an seltene, zum Teil exotische Exemplare heranzukommen. Der Vorrat, der in seinem Schrank sichergestellt wurde, hätte ausgereicht, um ein ganzes Regiment ins Jenseits zu befördern.« »Gräßlich«, murmelte Morton. »Aber warum war Arsen im Wasserglas?« »Daran habe ich auch schon herumgerätselt«, meinte Croff. »Ich vermute, die Lady wußte mit Arsen nicht so genau Bescheid. In dem Schrank fand man übrigens auch den Hinweis auf das Vogelauge und eine genaue ›Gebrauchsanweisung‹, die einen raschen, schmerzlosen Erfolg garantierte. Die Lady wollte auf Nummer Sicher gehen, indem Sie die Ampulle für sich reservierte und das Arsen als Indiz in das Wasserglas schüttete.«
»Das wäre eine Erklärung«, stimmte Morton zu. »Aber sie hat das Gift doch gar nicht genommen.« »Vor der Obduktion wußte man das nicht. Deshalb wurde der Spezialist aus Vancouver geholt. Später hat sich herausgestellt, daß die Ampulle noch unversehrt war.« »Saubere Arbeit«, lobte Morton. »Sind eben doch clevere Jungs, die Leute von der Polizei.« »Ja, aber das ist gar nichts gegen Ihre hellseherischen Fähigkeiten«, meinte Croff. Er schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht dahinter, warum die Lady, die doch alles so sorgfältig vorbereitet hat, am Schluß durchdrehte. Sie hat Fehler gemacht. Eine Menge Fehler. Eigentlich war ihr Plan genial und hätte nahtlos funktionieren müssen. Ich möchte wissen, warum sie zuletzt den Kopf verloren hat.« Morton wußte es. Doch er sagte kein Wort von dem kleinen Gespenst. Er sagte: »Dann fahre ich jetzt zu Maura Perkins.« Maura fühlte sich an diesem Morgen besser. Es war ihr, als habe der Traum in der vergangenen Nacht sie auf eine wundersame Weise gestärkt. Natürlich war alles noch so trist und grau und hoffnungslos wie am Vortag. Die Zelle war kahl, und die Beamtin, die Maura das Frühstück brachte, war mürrisch und unfreundlich. Dabei wäre Maura so dankbar für ein freundliches Wort oder ein Lächeln gewesen. Sie kämpfte tapfer gegen die tiefe Niedergeschlagenheit an, die sie wieder überkommen wollte. Sie dachte an Doodad. Und an das Kind, das sie unter dem Herzen trug und von dem niemand etwas wußte. Ihre Augen leuchteten auf, als Morton Ashwood in die Zelle kam. Sie hatte so großes Vertrauen zu ihm, und schon seine Gegenwart tat ihr wohl.
Maura atmete auf. Endlich passierte wenigstens etwas. Und wenn er ihr keine gute Nachrichten brachte, so hatte sie doch das Gefühl, daß irgend etwas geschah. »Ich habe von dem schmerzlichen Verlust gehört, den Sie erlitten haben, Mylord. Ich möchte Ihnen meine herzliche Anteilnahme aussprechen«, sagte sie. Morton dachte an die Worte der Köchin Mary: »Es gibt Menschen, die ganz einfach gut sind, und Miss Maura ist ein solcher Mensch.« Auch in der eigenen, trostlosen Lage, in der sie sich befand, dachte sie an das Leid anderer. Morton dankte ihr. Er sagte mit mühsam gewahrter Fassung, hinter der er seine freudige Erregung verbarg: »Sämtliche Formalitäten habe ich schon erledigt. Ich schlage vor, wir verlassen diese ungastliche Stätte so schnell wie möglich. Sie sind frei, Miss Perkins.« »Frei?« Maura begriff es erst nicht. Das war zu ungeheuerlich. Darauf hätte sie niemals zu hoffen gewagt. »Ich werde Ihnen später alles erklären«, versprach Morton. »Jetzt erst einmal fort von hier!« Maura war wie betäubt. Sie kam erst wieder zu sich, als sie in Mortons Wagen saß, und auch dann begriff sie es noch nicht recht. »Ich bringe Sie jetzt erst einmal aus London hinaus«, schlug Morton vor. »Wohin?« fragte Maura. »Ich – ich habe kein Zuhause mehr. Mein Zuhause war zuletzt der Stettenham-Palace.« »Ich nehme kaum an, daß es Sie dorthin zurückzieht?« »O nein! Nein, wirklich nicht!« rief Maura. »Ich glaube, ich würde es nicht ertragen. Es war alles so schrecklich, und die Erinnerungen sind zu frisch. Ich würde nicht damit fertig werden.«
»Wenn Sie damit einverstanden sind, bringe ich Sie nach Ashwood-Hall«, sagte Morton. »Das ist ein zauberhafter alter Landsitz. Bunch, unser alter Butler, wird gut für Sie sorgen. Dort können Sie erst einmal ausruhen und wieder Kraft schöpfen, und dann wird man weitersehen.« Maura liefen Tränen über das blasse Gesicht. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mylord. Doch ich kann Ihre Güte nicht annehmen…«, flüsterte sie. »Und warum nicht?« unterbrach er sie. »Ich denke, das geht nicht. Ich bin eine Fremde für Sie.« »Ich denke, das geht doch!« versicherte Morton. »Und eine Fremde sind Sie für mich nicht mehr.« Er steuerte den Wagen sicher durch den starken Mittagsverkehr der City. Die Sonne, schien. Der Himmel war blaßblau und wolkenlos. Es war ein milder, freundlicher Herbsttag. Maura trocknete ihre Tränen. »Es ist dumm von mir zu weinen«, entschuldigte sie sich. »Es ist nur, weil ich so dankbar und so froh bin. Ich habe mir immer wieder gesagt, daß ich nicht verzweifeln darf, weil die Wahrheit ans Licht kommen muß. Als aber ein Tag nach dem anderen verging, wurde ich verzagt und verlor die Hoffnung.« »Das ist verständlich. Und so einfach war das alles auch nicht. Sie haben viel mitgemacht. Und es hätte schlimmer kommen können. Das verhehle ich ihnen nicht. Wir haben das Glück gehabt, daß Lady Stettenham einige entscheidende Fehler beging, das hat die Aufklärung erleichtert.« »Doodad…«, flüsterte Maura. »Doodad hat uns geholfen, nicht wahr?« Morton sagte nichts darauf. Er dachte, daß es richtiger sei, wenn er Maura während der Fahrt erst einmal die Fakten auseinandersetzte, damit sie wußte, wie alles gekommen war.
Das war wichtig für sie. Irgendwie mußte sie wieder Boden unter den Füßen bekommen. Er konnte sich gut vorstellen, wie ihr zumute war. Nachdem sie London hinter sich gelassen hatten, wurde der Verkehr weniger, und Morton konnte sprechen. »Lady Edith war eine alte kranke Frau, die im Leben schon viel durchgemacht hatte. Sie war krankhaft eifersüchtig wegen ihrem Enkel«, versuchte Morton ihr zu erklären. »Percy und ich, wir hofften so sehr, daß Lady Edith eines Tages ein Einsehen haben und uns ihren Segen geben würde.« Morton seufzte. »Ich fürchte, darauf hätten Sie lange warten müssen.« »Percy war so zuversichtlich. Er war ein Optimist. Er hat immer nur die Sonnenseiten des Lebens gesehen. Ich habe ihn sehr geliebt.« »Dann sollten Sie jetzt an Ihr Kind denken«, sagte Morton leise. »Zuviel Tränen könnten es traurig machen. Es soll doch einmal ein Sonnenkind werden, wie sein Vater.« »Woher – wissen Sie?« stammelte Maura bestürzt. »Niemand weiß es. Nicht einmal Percy hat es gewußt. Er starb, ehe ich es ihm sagen konnte, daß – daß wir ein Kind haben werden.« Morton sah Maura an, und er lächelte. Er legte den Finger auf die Lippen. »Es gibt Dinge, über die man nicht zuviel reden sollte«, meinte er geheimnisvoll. »Nehmen Sie an, jemand, den wir beide kennen, hat es mir gesagt.« »Doodad«, flüsterte Maura. »Die arme, kleine Doodad…« »Ich weiß nicht, ob wir sie bedauern sollen«, meinte Morton nachdenklich. »Ich denke, daß sie auf ihre Weise friedvoll und glücklich ist. Ja, das glaube ich«, bestätigte er nach kurzem Grübeln noch einmal. »Ich hoffe und wünsche es so sehr«, sagte Maura leise.
Es war gegen drei Uhr nachmittags, als sie Ashwood-Hall erreichten. Bei seiner Abreise am frühen Morgen hätte Morton es sich nicht träumen lassen, daß er so bald schon wieder herkommen würde. Eine tiefe Freude erfüllte ihn, als sie in die breite Auffahrt bogen. Wenn die Sonne schien, war diese Nachmittagszeit die »Goldstunde« des alten Hauses, wie Lord Adam immer behauptet hatte. Das Haus lag im Nachmittagssonnenschein, umgeben von den alten Bäumen, und strömte einen unbeschreiblichen Zauber aus. »Wie schön«, flüsterte Maura beinahe andächtig. »Es ist ein Haus zum Liebhaben.« Sie sah froh und heiter aus. »Hier kann man Böses vergessen.« »Ich hoffe, das werden Sie tun«, erwiderte Morton ernst. »Ich will es versuchen«, versprach sie. Einige Augenblicke standen sie still nebeneinander, die Blicke der Sonne zugewandt. Sie dachten beide an Doodad. »The winds have gone over the ocean«, sagte Morton leise, »the winds have gone oVer the sea…« »And brought back my pony to me«, vollendete Maura. Im Frühling, dachte sie, wenn die Bäume grünen, muß es hier wie im Paradies sein. Im Frühling, dachte Morton, wird dieses Haus Mauras und meine Heimat sein. Er wußte jetzt, daß es mehr als nur Sympathie war, was er für Maura empfand: Es war Liebe. Bunch hatte den Wagen vorfahren hören. Er machte die Tür auf und entbot der zukünftigen jungen Herrin von AshwoodHall seinen Willkommensgruß.