Nr. 369
Das kalte Feuer Auf dem Weg nach Gynsaal von Horst Hoffmann
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf...
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Nr. 369
Das kalte Feuer Auf dem Weg nach Gynsaal von Horst Hoffmann
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf Loors, dem Planeten der Brangeln, lange genug aufgehalten, um es Atlan zu ermöglichen, Spercos, des Tyrannen der Galaxis Wolcion, Gewaltherrschaft ein jähes Ende zu setzen und den unterdrückten Völkern die verlorene Freiheit wiederzugeben. Inzwischen ist Pthor zu neuem Flug durch den Kosmos gestartet. Eingeleitet wurde der Start durch den »Ruf des Wächters«, der fast alle Lebewesen auf Pthor in tiefen Schlaf versinken ließ, und durch das Erscheinen des »Schwarzen Kontrolleurs«. Um zu verhindern, daß Pthor wieder der Kontrolle der mysteriösen Beherrscher der Schwarzen Galaxis anheimfällt, macht sich Atlan, der dank dem Goldenen Vlies nicht in Tiefschlaf verfallen ist, auf den Weg zur »Seele« von Pthor. Doch es gelingt Atlan nicht, auf die Steuerung Einfluß zu nehmen. Statt dessen wird der Arkonide auf die »Dimensionsschleppe«, den Ableger Pthors, verschlagen, der eine kleine Welt für sich bildet. Dort hat der Arkonide inmitten von Eis und Schnee und unter den Clanocs, den Ausgestoßenen von Pthor, bereits eine Reihe von gefährlichen Abenteuern bestanden. Gegenwärtig ist Atlan zusammen mit Dorstellarain, seinem neuen Gefährten, auf dem Weg nach Gynsaal, denn nur von dort aus kann er hoffen, nach Pthor zurückzukehren. Auf seinem Weg trifft der Arkonide Pama, die Para-Pyromanin. Sie beherrscht DAS KALTE FEUER …
Das kalte Feuer
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Dorstellarain - Der Arkonide und der Clanoc auf dem Weg nach Gynsaal. Grizzard - Ein Fremder in Kennons Körper. Pama - Eine junge Para-Pyromanin. Welk und Pforeilt - Diener der Herren von Gynsaal. Wommser - Der Symbiont geht eine neue Verbindung ein.
1. WOMMSER: BEGEGNUNG AUF PTHOR Stark vereinfacht ausgedrückt, bestand Wommser je zur Hälfte aus Normal- und Antimaterie. Zumindest waren dies die beiden Komponenten, aus denen er hervorgegangen war. Wommser existierte als energetisches Gebilde irgendwo zwischen den Existenzebenen, geschützt durch eine ihn umgebende Sphäre, sein Dimensionsnest. Diese Sphäre sorgte dafür, daß er nicht aus dem komplizierten Gleichgewicht gebracht werden konnte, in dem sich die beiden gegensätzlichen Komponenten seines Organismus befanden und schützte ihn gleichzeitig vor Energieverlusten. Im Dimensionsnest konnte Wommser sich wieder »aufladen« und seinen Energiehaushalt in ein neues stabiles Gleichgewicht bringen, wenn er von einem seiner Ausflüge zu seinem Elter Kolphyr zurückkehrte. Inzwischen wußte Wommser, daß er einen mehr oder weniger regelmäßigen Kontakt mit Kolphyr brauchte, um leben zu können. Niemand konnte sagen, welchem Umstand Wommsers Existenz zu verdanken war. Streng betrachtet, durfte es ein Wesen wie ihn überhaupt nicht geben. Möglicherweise war Kolphyrs Velst-Schleier der Grund dafür, daß es nach der Samenablage des parasitären Vogelwesens auf dem Fluß Xamyhr unter Kolphyrs neutralisierender »Haut« zur Zellwucherung gekommen war. Wommser wußte es nicht, und er kam nicht dazu, über seine Existenz nachzudenken. Die Schattenballungen in den Dimensi-
onskorridoren, in die Wommser hineingetrieben war, zehrten an seinem Nest. Bald würden sie alle Energien der Sphäre in sich aufgenommen haben. Dann war Kolphyrs Symbiont ihnen ebenso schutzlos ausgeliefert wie alles, das in ihre Netze geriet. Sie lauerten an vielen Stellen. Es war nicht auszuschließen, daß auch Pthor auf seiner Reise in sie hineingeraten würde. Dies war ein Grund dafür, daß Wommser den Elter aufsuchen mußte. Der zweite und weitaus wichtigere war der, daß Wommser einen erneuten Kontakt brauchte, um weiter existieren zu können. Auf eine unbegreifliche Art und Weise war er an Kolphyr gebunden und auf ihn angewiesen. Wommser hatte dies selbst erst vor kurzem erkannt, nachdem eine weitere »Hilfeleistung« für den Elter und seine Freunde nicht mehr unbedingt nötig gewesen war und Wommser sich zurückgezogen hatte, um verlorene Kräfte zurückzugewinnen. Doch auch das war nun nicht mehr möglich. Der Zeitpunkt, an dem die Sphäre sich unter dem Würgegriff der Schattenballungen auflösen würde, stand unmittelbar bevor. Es gab nur eine Rettung für den Dimensionssymbionten: Kolphyr. Er war aber nicht mehr in der Lage, Kolphyrs psionische Impulse, die ihm bisher als Bezugspunkt gedient hatten, zu empfangen. Dies lag entweder an Wommser selbst oder an Kolphyr, dem Elter und Bezugspartner. Die Schattenballungen griffen ungestümer denn je an. Wommser mußte versuchen, Kolphyr trotz allem zu finden. Er sog die verbliebene Energie aus der Sphäre und staute sie in sich auf. Dann gab er sie schlagartig frei. Die Schattenballungen schlugen hinter ihm zusammen, als er sich
4 auflöste, um im gleichen Augenblick über Pthor zu rematerialisieren. Die Erleichterung darüber, daß er die Welt seiner Geburt erreicht hatte, wich dem Entsetzen, als er auch hier keine Impulse des Bezugspartners auffangen konnte. Und nicht nur das. Ganz Pthor schien tot zu sein. Da der von Kolphyr ausgehende Leitimpuls nicht mehr existierte, war das Wesen an jenem Ort materialisiert, wo das letzte Zusammentreffen mit dem Elter stattgefunden hatte, in der Senke der verlorenen Seelen. Wommser war von einem Feld umgeben, das ihn von der Umgebung vollkommen abschloß, so daß es nicht zum todbringenden Energieaustausch kommen konnte. Einem Beobachter wäre er als halbtransparente, vogelähnliche Gestalt von etwa einem Meter Größe erschienen, die knapp über dem Boden schwebte. Doch es gab niemanden, der ihn hätte sehen können. Wommser begann zu ahnen, daß das Ausmaß dessen, was sich auf Pthor ereignet hatte, seine schlimmsten Befürchtungen bei weitem übertraf. Wenige hundert Meter entfernt stand ein riesiges Zelt, vor dessen Eingang mehrere große, schlanke Gestalten wie tot auf der Erde lagen. Vorsichtig schwebte das Wesen auf den Eingang zu, wissend, daß jede Bewegung wertvolle Energie kostete. Energie, die ihm vielleicht fehlen würde, um zu Kolphyr zu gelangen, wo er sich wieder »aufladen« konnte. Nur dann war er in der Lage, ein neues Dimensionsnest zu schaffen, in dem er sicher vor dem Zugriff der Schattenballungen war. Wommser schwebte ins Zelt. Was er sah, ließ den letzten Rest Hoffnung schwinden. Tausende von verschiedenartigen Lebewesen in einem todesähnlichen Zustand. Sie lebten, aber ihre Lebensfunktionen waren auf ein Minimum reduziert worden. Wommser ahnte nicht, daß er es nur dem Neutralisationsfeld zu verdanken hatte, daß
Horst Hoffmann er nicht ebenfalls sofort nach der Materialisation von der Lähmung befallen wurde. Kein Zeichen von Leben – kein Signal, das ihn zum Bezugspartner führen konnte. Einen Augenblick dachte Wommser, Pthor könnte ebenfalls in die Netze der Schattenballungen getrieben worden sein. Doch dann hätte er diese spüren müssen. Die Möglichkeit schied aus. Was war dann geschehen? Unheimliche Stille lastete über dem Land. Wommser bezweifelte nicht, daß es überall auf Pthor ähnlich aussah. Und doch war es schwer vorstellbar, daß es in diesem gigantischen Schmelztiegel unterschiedlichster Lebensformen niemanden geben sollte, der immun gegen die Lähmung war. Wommser schwebte aus dem Zelt. Wieder lauschte er, und wieder wurde er enttäuscht. Ohne die Leitimpulse würde er Kolphyr nicht finden können. Und ohne Kolphyr war er zu schnellem Tod verurteilt. Schon jetzt ließen seine Kräfte schnell nach. Die Konzentrationsfähigkeit schwand. Lange würde er das Neutralisationsfeld nicht mehr aufrechterhalten können. Die Folgen könnten nicht nur für ihn, sondern für ganz Pthor verheerend sein. Unbändige Trauer erfüllte das sensible Wesen. Es war viel zu schwach, um sich noch einmal kontrolliert in den Raum zwischen den Existenzebenen zu katapultieren. Verzweifelt suchte der Dimensionssymbiont nach einem Ausweg. Er schwebte über einem der Gelähmten und gab vorsichtig und genau dosiert energetische Ströme ab, versuchte ihn auf die gleiche Weise zu beeinflussen, wie es ihm schon vorher bei den Wesen auf der Welt Loors gelungen war, die sich »Brangeln« nannten. Doch selbst der direkte Eingriff ins Willenszentrum vermochte die Gelähmten nicht aus ihrer Starre zu reißen. Wommser empfand schreckliche Angst. Er fühlte, wie seine Gedanken außer Kontrolle zu geraten drohten. Jeden Augenblick konnte das Feld, nicht mehr als ein dünnes
Das kalte Feuer neutralisierendes Häutchen, das die gegensätzlichen Energien umschloß, sich auflösen. Wommser schrie nach Kolphyr. Sein psionischer Ruf überzog Atlantis und verhallte ungehört jenseits des Wölbmantels. Kolphyr antwortete nicht. Der Elter war von der gleichen Starre befallen wie alle anderen Wesen auf Pthor – irgendwo in den Weiten dieses rätselhaften Kontinents. Hilflos und einer Macht ausgesetzt, die anscheinend alles Leben auf Pthor unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Unter normalen Umständen hätte Wommser von seinem Dimensionsnest aus die Vorgänge, die zur Katastrophe geführt hatten, beobachten und möglicherweise rettend eingreifen können. Doch der Kampf gegen die Schattenballungen hatte all seine Aufmerksamkeit gefordert. Auch hierbei hatte er sich verausgabt. Wommser war in der Lage, einen künstlichen Energiestau herbeizuführen und Normal- wie Antimaterie schlagartig und gebündelt auf ein Ziel hin abzustoßen, wo sie aufeinandertrafen und reagierten. Doch auch das hatte die Dunkelelemente nicht aufhalten können. Wommser sah nur noch eine Möglichkeit, eine Katastrophe unabsehbaren Ausmaßes von Pthor und seinen Bewohnern abzuwenden. Er schwebte vom Zelt fort und stellte jede Energieabgabe nach außen ein. Zum letzten Mal sammelte er die ihm verbliebenen Kräfte und staute die Energien, die sich aus dem gegenseitigen Wirken der beiden materiellen Zustandsformen entwickelten, um sich ins Unbekannte zu katapultieren. Er würde entmaterialisieren und wahrscheinlich irgendwo am Rand der Dimensionskorridore als sich verflüchtigende Energiewolke erscheinen. Hiervon würde er nichts mehr bewußt wahrnehmen. Seltsamerweise dachte Wommser gerade in diesen Augenblicken vor dem Tod daran, daß er eigentlich niemals eine richtige Heimat gehabt hatte, kein Wesen, das ihm glich. Er liebte Kolphyr wie ein Kind seine Mutter oder den Vater, doch beide trennten Welten.
5 Noch einmal spürte der Dimensionssymbiont tiefe Trauer. Es gab niemanden, zu dem er wirklich gehörte. Was also hielt ihn, jetzt wo auch Kolphyr schwieg, noch am Leben? Die erforderlichen Energien hatten sich aufgebaut. Wommser ließ seine für einen Menschen unbegreiflichen Sinne noch einmal über die Senke schweifen, dann konzentrierte er sich auf die Entmaterialisierung. Genau das war der Augenblick, in dem er den Impuls empfing. Seine jäh aufbrausende Hoffnung wurde zerstört, als er erkennen mußte, daß er nicht von Kolphyr ausging. Aber es gab noch ein anderes Wesen, das lebte und nicht von der Lähmung befallen zu sein schien. Auf Wommser wirkte der Impuls, der sich allmählich in seiner Intensität steigerte, wie ein Licht im endlosen Dunkel des Todes. Und es war artverwandtes Leben, das ihn aussandte! Wommser wurde von seinen plötzlich aufbrausenden Gefühlen übermannt. Die Euphorie war stärker als alles rationale Denken. Er spürte, daß das artverwandte Wesen in der Lage war, ihm das zu geben, was er am dringendsten benötigte: Energie, um das Neutralisationsfeld aufrechterhalten zu können. Er entmaterialisierte, ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein. Alle aufgestaute Energie wurde mit einem Mal frei. Wommser befand sich in einem Rauschzustand. Es kam ihm gar nicht zu Bewußtsein, daß die auf die Impulsquelle gerichteten Energien diese mit größter Wahrscheinlichkeit umbringen würden. Die flimmernde, vogelähnliche Erscheinung neben dem von Dellos errichteten Zelt löste sich auf. Im gleichen Augenblick bäumte sich eine junge, unbekleidete Frau am Rand einer Mulde, nicht weit von der Senke der verlorenen Seelen entfernt, wie unter furchtbaren Qualen auf. Violettes Licht umspielte für Sekunden ihren schlanken, kupferfarbenen Körper. Die langen, bis zu den Ellbogen rei-
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Horst Hoffmann
chenden Haare schienen aufzuglühen. Ihr Mund öffnete sich, doch kein Laut kam daraus hervor. Die weit aufgerissenen Augen versprühten Blitze. Lichtspeere schossen in alle Richtungen. Was von ihnen erfaßt wurde, explodierte in phantastischen Leuchterscheinungen. Dann verschwand das Licht. Die Frau starrte einen Augenblick ins Leere, dann gaben ihre Beine nach. Sie schrie in Panik, weil sie nicht wußte, was in diesen Augenblicken mit ihr geschah. Vielleicht mußte sie sterben. Dies wäre unter anderen Umständen nichts gewesen, was sie fürchtete. Doch sie wartete vergeblich auf den Ruf der Höheren Welten. Mit dem Ruf zu sterben, wäre der Beginn eines neuen Lebens für sie gewesen. Schweigen. Dunkel. Und dann trieb ihr Bewußtsein ins Nichts.
2. ATLAN: DIE ZARMACK-BLASEN Atlan sah seinen Begleiter fragend an. Dorstellarain nickte. Er fühlte sich kräftig genug, um den Weg fortzusetzen. Der eisige Wind blies den beiden Männern ins Gesicht. Atlan war durch den Anzug der Vernichtung vor der Kälte geschützt, Dorstellarain durch die dicke Pelzbekleidung. Schweigend schritten sie in die Eislandschaft hinein. Irgendwo vor ihnen mußte sich das mysteriöse Gynsaal befinden. Die Schaltzentrale der Dimensionsschleppe war Atlans einzige Hoffnung auf eine Rückkehr nach Pthor und eine Beeinflussung der Verhältnisse auf dem Dimensionsfahrstuhl. Während Dorstellarain in einer Schneehöhle ein paar Stunden geschlafen hatte, hatte der Arkonide Zeit gefunden, um über ihre Lage nachzudenken. Vieles, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, erinnerte ihn an die ersten Abenteuer auf Pthor, als er mit Razamon das urplötzlich aufgetauchte Neue Atlantis durchstreifte und zunächst vergeblich versuchte, einen
Sinn in das Durcheinander zusammengewürfelt erscheinender Rassen und Kulturen zu bringen, die niemals von selbst in derart kleinen Gebieten und in unmittelbarer Nachbarschaft anderer, oft völlig anders gearteter Völker entstanden sein konnten. Natürlich bildeten hier die Clanocs eine Ausnahme. Sie waren von Pthor aus hierher verschleppt worden, weil sie für die ehemaligen Herrscher zu einer Gefahr geworden waren. Doch das merkwürdige Insektenvolk der Xacoren – bildete es einen Sonderfall, oder gab es in der Dimensionsschleppe weitere Rassen, die man irgendwann einmal hier angesiedelt hatte? Nicht einmal Dorstellarain kannte die Ausdehnung der Dimensionsschleppe, die Pthor in einen n-dimensionalen Kontinuum auf seiner Reise begleitete und einen Korrekturfaktor bildete, falls auf Pthor unvorhergesehene Ereignisse eintraten, die den Dimensionsfahrstuhl daran hinderten, den Zweck zu erfüllen, zu dem er vor länger Zeit auf die Reise geschickt wurde. Solche Ereignisse waren eingetreten. Die Herren der FESTUNG lebten nicht mehr. Von der Dimensionsschleppe aus wurde nun versucht, Pthor auf direktem Weg in die Schwarze Galaxis zu steuern, wo die neuen Herrscher jener Macht hilflos ausgeliefert sein würden, die Atlantis als ihr Werkzeug benutzte. Dies galt es unter allen Umständen zu verhindern. Deshalb waren Atlan und Dorstellarain auf dem Weg nach Gynsaal, wo alle Fäden zusammenliefen. Außerdem konnten vermutlich von Gynsaal aus die VONTHARA-Anlagen abgeschaltet werden, und Atlan mußte das von den Robotern geraubte Steuerelement finden, ohne das La'Mghor Atlantis nicht wieder auf einen stabilen Kurs bringen konnte. Der Scout Wezzley hatte den beiden Männern den Weg gewiesen, von dem er annahm, daß er nach diesem mysteriösen Ort Gynsaal führte. Atlan hoffte, daß Wezzley sein Volk wohlbehalten erreicht hatte und dafür sorgen konnte, daß es die neugewon-
Das kalte Feuer nene Freiheit nutzbringend anwendete und diese so lange wie möglich behalten konnte. Denn der Arkonide zweifelte nicht daran, daß man in Gynsaal auf die Vorgänge in Poro-Gheloos aufmerksam geworden war. Die synthetische Königin diente mit ziemlicher Sicherheit einem ganz bestimmten Zweck, der über eine Begrenzung des Nachwuchses hinausging. Möglicherweise war durch ihre Ausschaltung bereits ein Ungleichgewicht im Gefüge der Dimensionsschleppe entstanden. Immer wieder blickte Atlan in das ewige Grau des Himmels, das nur manchmal aufbrach und diffuses Licht durchließ. Der Nebel war so dicht, daß man kaum hundert Meter weit sehen konnte. Mußten er und Dorstellarain nicht damit rechnen, daß man jeden ihrer Schritte beobachtete? Es lag nahe, anzunehmen, daß es auch hier Überwachungsanlagen ähnlich dem Wachen Auge auf Pthor gab. »Du denkst zuviel nach«, brummte Dorstellarain. »Versuche lieber nicht, dir Gynsaal vorzustellen. Du wirst auf jeden Fall etwas anderes sehen und durch deine Vorstellungen behindert sein, wenn es gilt, sich auf die Realitäten einzustellen. Verdammt, ich muß verrückt gewesen sein, dir zu folgen. Ich hätte mich in der Nähe unseres Schlosses verstecken sollen, dann wäre es mir bald gelungen, die Verräter zu überwältigen und wieder Anführer der Clanocs zu werden.« »Niemand hält dich«, sagte Atlan kühl. Die Stiefel der Männer versanken knirschend im harschen Schnee. Der Fußmarsch kostete Kraft. Atlan hatte seinen Zellaktivator, der ihm laufend neue Energien lieferte, doch Dorstellarain würde schon bald wieder eine Ruhepause benötigen. Dorstellarain war ein Hüne, weit über zwei Meter groß und breit gebaut. Dennoch machten sich die Strapazen zunehmend bemerkbar. Atlan mußte unwillkürlich lächeln, als er sich vorstellte, daß Feigling, der sich inzwischen als der wahre Odin entpuppt hatte, nun neben ihm gehen würde. »Und ich weiß nicht, was es da zu grinsen
7 gibt«, knurrte der Clanoc. »Du Schlitzohr weißt genau, daß ich nicht mehr umkehren kann. Ich habe Hunger.« Dorstellarain war stehengeblieben und begann, mit den Stiefelspitzen im Schnee herumzustochern. »Glaubst du, auf diese Weise irgendwelches Getier aufstöbern zu können?« fragte der Arkonide sarkastisch. »Haha«, machte Dorstellarain. »Ich suche nach Schneepilzen.« Atlan blickte sich um. Nichts als Schnee, Eisblöcke und der Nebel. Waren sie überhaupt noch auf dem richtigen Weg? Wie weit mochte Gynsaal, das angeblich von einem undurchdringbaren Energieschirm umgeben war, entfernt sein? Einen Tagesmarsch? Zehn? Plötzlich stieß der Hüne einen triumphierenden Laut aus. Als Atlan sich umdrehte, hielt er, ein faustgroßes, knollenförmiges Gewächs in der Hand. »Schneepilze!« sagte er grinsend. »Ich wußte, daß es sie hier gibt. Komm und hilf mir beim Suchen. Sie schmecken nicht gerade sehr gut, dafür sind sie um so nahrhafter.« »Und womöglich giftig«, argwöhnte der Arkonide. »Mach dich nicht lächerlich. Wer Angst vor ein paar harmlosen Pilzen hat, sollte gar nicht erst daran denken, Gynsaal zu stürmen. Es gibt Schneepilze, nach deren Genuß man kleine Tierchen oder zähnefletschende Ungeheuer sieht. Von diesen scheinst du gegessen zu haben, sonst kämst du nicht auf den verrückten Gedanken, nach Pthor zurückkehren zu wollen. Ich habe dir oft genug gesagt, daß dies unmöglich ist.« »Wie ich schon sagte«, versetzte Atlan ärgerlich. »Niemand hält dich.« »Pah! Ich will mitansehen, wie du dir die Hörner abstößt. Glaube mir. Es wird nicht lange dauern, bis wir beide im Schnee liegen und du mich anflehst, dich ins Schloß zu bringen. Doch dazu ist es zu spät.« »So wird es wohl sein«, meinte Atlan. Er kniete nun auch im Schnee und wühlte mit
8 den Händen darin. Dorstellarain hatte bereits vier Knollen gefunden, als der Arkonide den ersten Pilz fand. Das Gewächs verbreitete einen unangenehmen Geruch. »Sollen wir sie etwa roh essen?« fragte er den Clanoc. »Jott-Mutesial würde uns ein köstliches Gericht aus ihnen zaubern.« »Danke«, sagte Atlan. Nach einer halben Stunde hatten die beiden Männer fast dreißig Pilze gesammelt. Dorstellarain zog die dicke, dunkelblaue Schale ab und verschlang das erste Gewächs. Er verzog das Gesicht. Atlan konnte sehen, wie er schluckte. Es kostete den Arkoniden einige Überwindung, Dorstellarains Beispiel zu folgen. Die Pilze waren hart und bitter, doch sie sättigten. Der Marsch ging weiter, immer noch in die Richtung, die Wezzley angegeben hatte. Zumindest hoffte Atlan, daß sie sich nicht im Kreis bewegten. Nachdem der Weg bisher durch ebenes Gelände geführt hatte, tauchten nun wieder Hügel auf. Schweigend suchten sich die beiden Männer Pfade, um die Erhebungen zu umgehen. Es war fast unmöglich, dabei die Orientierung nicht völlig zu verlieren. Nach etwa drei Stunden blieb Dorstellarain stehen. Er schien auf etwas zu lauschen. »Was ist los?« fragte Atlan ungehalten. »Still! Da ist etwas. Verdammt, das sind Motoren.« Und nun hörte der Arkonide es auch. Motorengeräusch – und es kam näher. »Dort hinauf!« rief er dem Gefährten zu und zeigte auf einen Hügel zur rechten. Dorstellarain überlegte nicht lange. Sie rannten durch den Schnee, rutschten aus und krochen auf allen vieren die Erhebung hinauf, bis sie hinter einem Eisblock Deckung fanden – keinen Augenblick zu früh. Schwer atmend lagen sie auf dem Bauch und beobachteten, wie sich eine kleine Kolonne von Raupenfahrzeugen aus dem Nebel schälte. Atlan zählte fünf Maschinen. Sie fuhren in die Richtung, in die er und Dorstellarain marschierten.
Horst Hoffmann Zunächst hatte er den Verdacht, daß es sich um einen Suchtrupp handelte. Doch als die Fahrzeuge nahe genug heran waren, sah er, daß sie schwere Gegenstände transportierten. Hinter den dunklen Scheiben der Fahrerkabinen konnte er nicht erkennen, welche Wesen sie steuerten. Möglicherweise handelte es sich um Robottransporter. Die Kolonne fuhr zwischen dem Versteck und einem benachbarten Hügel vorbei und verschwand wieder im Nebel. »Hast du solche Maschinen schon einmal gesehen?« erkundigte Atlan sich bei seinem Begleiter. Dorstellarain zuckte die mächtigen Schultern. »Noch nie, Atlan. Folgen wir ihnen?« Der Arkonide zeigte nach oben. »Wir gehen über den Hügel. Vielleicht können wir sie einholen.« Schweigend folgte ihm der Clanoc. Nach einer Viertelstunde hatten sie die Kuppe erreicht. Dorstellarain stieß einen Fluch aus, als er sich neben Atlan in den Schnee warf. Hier war der Nebel nicht so dicht, so daß sie die Kugeln im Tal einigermaßen gut erkennen konnten. Die Fahrzeugkolonne hielt mitten zwischen ihnen. »Es gibt sie also wirklich«, preßte der Clanoc hervor. »Was, Dorstellarain?« »Die Zarmack-Blasen«, sagte der Hüne so leise, als ob hinter jeder Verwehung ein verborgener Beobachter stecken könnte. »Wenn ich recht habe, sind wir näher an Gynsaal, als ich es für möglich hielt.«
* »Zarmack-Blasen?« fragte Atlan. »Laß dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Was sind das für Kugeln?« »Es ist nur ein Gerücht. Wenn es aber stimmt, was da berichtet wurde, können die Bewohner von Gynsaal über sie die Vorgänge auf Pthor beobachten.« Atlan begriff sofort, welche ungeheure
Das kalte Feuer Möglichkeit sich ihm hier bieten konnte. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte Dorstellarain, »aber vergiß es. Die ZarmackBlasen sind so gut bewacht, daß kein Eishüpfer in sie eindringen könnte. Sie sind quasi ein Teil von Gynsaal.« Der Arkonide hörte gar nicht hin. Wieder tauchten die Bilder Pthors vor seinem geistigen Auge auf, gelähmte Wesen, unheimliches Schweigen, totes Land, so weit das Auge reichte. Die Odinssöhne, Razamon, Kolphyr sie alle waren unfähig, auch nur das geringste gegen das zu unternehmen, was ihnen und allen Bewohnern des Dimensionsfahrstuhls drohte. Sie ahnten nicht einmal, was mit Pthor vorging. »Du bist wahnsinnig, Atlan!« zischte Dorstellarain. »Du weißt nicht, worauf du dich einläßt. Zeige mir einen Gegner, den man mit den Händen packen kann. Ich reiße ihn vor deinen Augen auseinander. Aber dies hier …«, der Clanoc breitete die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit aus, »dies ist unheimlich!« »Jetzt steigen sie aus«, sagte Atlan, ohne auf das Gezeter des Hünen einzugehen. Er hatte erlebt, wie Dorstellarain kämpfen konnte, und er wußte, daß der Gefährte alles andere als ein Feigling war: Die Angst vor Gynsaal und allem, was damit zusammenhing, mußte aber viel tiefer in den Bewohnern der Dimensionsschleppe verwurzelt sein, als er bisher gedacht hatte. Große schlanke Männer zwängten sich aus den Fahrerkabinen ins Freie und gingen auf die Kugeln zu. Die Zarmack-Blasen hatten einen Durchmesser von etwa dreißig Metern und ruhten in schalenförmigen Gebilden. Atlan zählte acht von ihnen. Im Gegensatz zu den mattschwarzen Schalen schimmerten die Kugeln in einem satten Rot. Atlan erkannte zahlreiche antennenähnliche Ausbuchtungen. Die Schalen wiederum ruhten auf ringsum angeordneten Stützen. Immer mehr Männer verließen die Fahrzeuge. Und nun öffneten sich die Luken, zu
9 denen von den Schalen aus schmale Leitern hinaufführten. Gruppen von Humanoiden erschienen in den Öffnungen. Auch sie waren vom Hügel aus nur schlecht zuerkennen. Immerhin glaubte Atlan zu sehen, daß sie alle die gleichen eiförmigen Kopfhelme über dunklen Schutzanzügen trugen. Unterschiede waren nicht auszumachen. Der Arkonide wurde an Androiden erinnert. Dellos? Dorstellarain murmelte Flüche vor sich hin, nachdem er erkennen mußte, daß seine Worte keinen Eindruck auf Atlan machten. Die aus den Kugeln kommenden Männer stiegen nacheinander die Leitern hinunter und gingen auf die Neuankömmlinge zu. Der Eindruck, daß sich eine Wachablösung vollzog, wurde zur Gewißheit, als die Fremden sich vor den Fahrzeugen gegenüberstanden und miteinander zu sprechen schienen. Atlan schloß dies aus ihren Gesten, deren Sinn ihm weitgehend verborgen blieb. Dann kletterten die bisherigen Besatzungen der Zarmack-Blasen in die Maschinen. Aus jeder Kugel waren zwölf dieser schlanken Wesen gekommen – insgesamt fast hundert. Genauso viele stiegen nun die Leitern zu den Luken hinauf: Erst als diese alle geschlossen waren, heulten die Motoren der Raupenfahrzeuge auf. Die Kolonne setzte sich in Bewegung und verschwand hinter den Kugeln im Nebel. »Glaubst du, daß sie direkt nach Gynsaal fahren?« fragte Atlan den Clanoc, der neben ihm im Schnee lag und Unverständliches murmelte. »Wohin sonst? Und ich sage dir, wir sollten ihnen folgen und die Zarmack-Blasen umgehen. Ich weiß nicht, was uns bevorsteht, wenn wir Gynsaal tatsächlich erreichen sollten. Doch dies hier ist ein verwünschter Ort.« »Unsinn!« sagte Atlan. »Du sagtest selbst, es sei ein Teil von Gynsaal.« »Es soll einen Clanoc gegeben haben, der sich verirrt hatte und in die Nähe der Blasen gekommen war. Man hat ihn gefangenge-
10 nommen und in eine der Kugeln geschleppt, wenn die Geschichten wahr sind. Er verlor den Verstand und wurde von einem Jäger als hilfloser Idiot im Schnee gefunden.« Atlan war aufgestanden und machte Anstalten, den Hügel hinabzugehen. »Du bist verrückt!« schrie Dorstellarain. »Einen solch sturen Kerl wie dich habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Ich sollte dir den Schädel einschlagen, um dich zur Vernunft zu bringen. Man sollte es nicht für möglich halten, wie …« Dorstellarain fluchte und redete weiter. Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, tat so, als wollte er ausholen, um seine Drohungen wahrzumachen. Gleichzeitig begannen seine Beine eine Art Eigenleben zu entwickeln. Bevor der Clanoc außer Atem verstummte, war er schon neben Atlan den halben Hügel hinuntergestampft. Der Hüne ergab sich in sein Schicksal. Mit finsterer Miene folgte er dem Arkoniden. Er ballte vor Wut die Fäuste, als dieser sich kein einziges Mal nach ihm umdrehte und ihn dadurch zusätzlich provozierte. »Glaube nicht, daß ich deinen Trick nicht durchschaue«, grollte Dorstellarain. »Wir sprechen uns noch!« Atlan schmunzelte. In Gedanken jedoch war er ununterbrochen bei den Fremden in den Kugeln. Hatten sie ihn und Dorstellarain inzwischen bemerkt, oder waren sie so sehr in ihre Arbeit vertieft, daß sie für alles andere keine Augen hatten? Bei dem Respekt, den die Clanocs vor den Blasen hatten, war es denkbar, daß sie sich so sicher fühlten, um die zweifellos vorhandenen Überwachungsanlagen zu ignorieren. Auf welche Weise sollte es möglich sein, die Vorgänge auf Pthor von hier aus zu beobachten? Gab es außer dem Transmitter in Gynsaal noch weitere Verbindungen zwischen den beiden Welten? Noch deutete nichts auf eine Entdeckung hin. Die beiden Männer hatten das Tal erreicht. Vor den tief in den Schnee eingedrückten Spuren der Raupenfahrzeuge blieben sie stehen. Bald würde das allmählich
Horst Hoffmann wieder stärker einsetzende Schneegestöber sie verwischt haben. »Und nun?« zischte Dorstellarain. Er sah sich immer wieder nach allen Seiten um. Vor den hoch in den Himmel ragenden Kugeln kam er sich verloren vor. »Wir stehen hier wie zwei lebende Zielscheiben. Was nun, Wahnsinniger? Die Luken sind geschlossen.« »Dann müssen wir sie eben öffnen«, flüsterte Atlan, ohne den Blick von der nächsten Blase und der Leiter zu nehmen, die von der leicht zu erklimmenden Schale zu ihr hinaufführte. »Du meinst es wirklich ernst«, sagte der Clanoc ebenso leise. »Natürlich. Komm, du mußt mir helfen, auf den Rand der Schale zu klettern.« Er zeigte nach oben, wo am unteren Ende der Leiter eine weitere, kleinere befestigt war, über die die Fremden offensichtlich hinabgestiegen waren. Die Ablösung hatte sie dann wieder hochgezogen, wovon Atlan und Dorstellarain von ihrem Versteck aus nichts hatten sehen können. Mit mürrischem Gesicht stemmte sich der Clanoc gegen die ihnen am nächsten stehende Stütze. Er machte einen Buckel. Atlan kletterte vorsichtig an dem Hünen empor und griff nach der Stütze. Erst als er auf Dorstellarains Schultern stand, erreichte er den Rand der Schale mit den Fingerspitzen. »Richte dich ein Stück auf, Dorstellarain!« Atlan wurde etwa zehn Zentimeter in die Höhe geschoben. Seine insgeheim gehegte Hoffnung, daß die Schale aus relativ dünnem Material bestand, erfüllte sich. Er konnte die Finger um die Kante legen und fand Halt. Knapp eine Minute später stand er neben der Leiter. Er bedeutete dem Clanoc, zur Seite zu treten und ließ das kleinere Stufengestell zu ihm hinunter. Kurz darauf stand Dorstellarain neben ihm. »Ich gehe jetzt hinauf und versuche, das Luk zu öffnen. Du wartest am besten hier und paßt auf, daß uns niemand überrascht.«
Das kalte Feuer »Seit wann macht dir das etwas aus?« fragte der Hüne voller Sarkasmus. Atlan winkte ab und stieg auf die Leiter. Noch immer deutete nichts darauf hin, daß man die Eindringlinge entdeckt hatte. Der Arkonide erreichte eine etwa zwei mal zwei Meter große Plattform in etwa fünfzehn Metern Höhe. Er winkte Dorstellarain beruhigend zu. Das Luk hatte die Form eines Ovals und war groß genug, um auch den Clanoc durchzulassen. Atlan wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. Dann suchte er nach irgendwelchen Vorrichtungen, um von außen eine Öffnung zu schaffen. Möglicherweise waren nur die Fremden in der Lage, ohne einen Impuls von innen in die Kugel zu gelangen. Dann standen die beiden Männer auf verlorenem Posten. Erst jetzt kam auch dem Arkoniden so recht zu Bewußtsein, wie grotesk seine Situation war. Er kam sich vor wie ein Neandertaler, der mit einem Steinkeil versuchte, in ein modernes Raumschiff einzudringen, während dessen Besatzung sich vor Lachen kaum halten konnte. Nichts. Atlans Hände strichen vorsichtig über das Material des Luks und der Kugelhülle. Keine Erhebungen oder Vertiefungen, keine Symbole, die auf einen Öffnungsmechanismus hindeuteten. Dorstellarains Gestik verriet, was der Clanoc von den Bemühungen des Gefährten hielt. Atlan verbiß sich einen Fluch. Wieder strich er sich mit der Hand über die Augen, um den Schnee aus dem Gesicht zu wischen. Er hatte ein taubes Gefühl und schüttelte den Kopf und den Oberkörper, um den Kreislauf anzuregen, eine automatische Reaktion, die natürlich durch die Arbeit des Zellaktivators völlig überflüssig war. Doch da sah er die rote Stelle im Material der Plattform, wo seine Füße den seit der Wachablösung neugefallenen Schnee weggewischt hatten. An einer anderen freien Stelle schimmerte das Material mattblau. Innerhalb weniger Sekunden hatte er einen roten Kreis von etwa fünfzig Zentime-
11 tern Durchmesser freigelegt. Etwas unsicher trat er mit beiden Füßen in das derart markierte Feld. Und das, was er kaum zu hoffen gewagt hatte, geschah. Lautlos schob sich das Luk zur Seite. Atlan wich instinktiv bis an den Rand der kleinen Plattform zurück. Seltsam fluoreszierendes gelbgrünes Licht drang aus dem Kugelinnern hervor. Und noch immer war keiner der Fremden zu sehen. Entweder haben wir unverschämtes Glück, dachte der Arkonide, oder die Burschen sind sich ihrer Sache so sicher, daß sie in ihrer Sorglosigkeit schon krankhaft sind. Falsch! meldete sich der Extrasinn. Hast du die ungeheure Bedeutung vergessen, die dieser Anlage zukommt, falls Dorstellarains Informationen zutreffen? Die Unbekannten müssen sich vollkommen in ihrer Arbeit verausgaben. Dafür spricht auch die Ablösung durch neue Mannschaften. Sie haben euch nicht bemerkt! »Deinen Optimismus möchte ich haben«, murmelte der Arkonide fast unhörbar. Vorsichtig trat er vor die Öffnung. Wenn er erwartet hatte, in eine Art Korridor zu blicken, sah er sich getäuscht. Wenige Meter vor ihm befand sich der erste Fremde. Atlan konnte nur einen Teil von ihm erkennen. Der gesamte Oberkörper befand sich in einem röhrenartigen Auswuchs, der aus einem an der Decke befindlichen Wust von Schaltanlagen, Kontrollen und Instrumenten herausragte. Das Innere der Kugel bestand aus einem einzigen großen Raum mit gewölbter Decke. Möglicherweise befanden sich im unteren Teil der Zarmack-Blase Generatoren und Ähnliches. Weitere der seltsamen Röhren waren kreisförmig um einen gemeinsamen Mittelpunkt hin angeordnet, und in jeder steckte einer der Fremden, soweit Atlan dies von seinem Standort aus erkennen konnte. Er ging zurück zur Leiter und winkte Dorstellarain zu. Der Clanoc kletterte zu ihm
12 herauf. Er zuckte leicht zusammen, als er direkt ins Kugelinnere blickte. »Sie konnten uns gar nicht bemerken«, flüsterte der Arkonide. »Wahrscheinlich nehmen sie von der Umgebung überhaupt nichts wahr, zumindest nichts von ihrer realen Umgebung.« »Du meinst, daß sie in diesen Röhren beobachten können, was auf Pthor geschieht?« fragte der Hüne, nachdem er die erste Überraschung einigermaßen verdaut hatte. »Wieso nicht? Wenn sie deshalb hier sind, werden sie wohl kaum ihre Zeit mit Videospielen totschlagen.« »Videospiele?« fragte Dorstellarain. »Vergiß es. Komm, wir sehen uns drinnen um.« Zögernd folgte der Clanoc, als Atlan den großen Raum, der allem Anschein nach die Zentrale der Zarmack-Blase war, betrat. Ebenso lautlos, wie es aufgefahren war, schloß sich das Luk hinter ihnen. Die Situation hatte immer noch etwas Unwirkliches an sich. Atlan fühlte sich zwischen widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen. Er bewegte sich fast wie selbstverständlich zwischen den Fremden, in einer Anlage, die für Gynsaal und jene Macht, die die Dimensionsschleppe und somit, Pthor kontrollierte, ungeheuer wertvoll sein mußte. Einerseits fühlte er sich von einer unerklärlichen Faszination ergriffen, andererseits mußte er sich sagen, daß die Fremden bei allem Arbeitseifer nicht das Risiko eingingen, von Eindringlingen überrascht zu werden. War nicht längst irgendein Sicherheitssystem in Kraft getreten? Waren die Männer in den Röhren in Wirklichkeit nur Statisten, und die wirklichen Beobachtungsanlagen befanden sich tiefer in der Kugel? Atlan und Dorstellarain standen mitten zwischen den Röhren. Die kuppelförmig gewölbte Decke bestand nur aus unbekannten Instrumenten, Verstrebungen und kleinen Kugeln, die ständig ihre Position veränderten. Keiner der zwölf Fremden rührte sich.
Horst Hoffmann Und jetzt erkannte der Arkonide, daß es doch einige Röhren gab, die nicht von ihnen besetzt waren. Er stieß Dorstellarain in die Rippen und zeigte auf sie. Das Gesicht des Clanocs wirkte im Schein des gelbgrünen Lichtes, das direkt aus den Wänden zu brechen schien, gespenstisch. »Ich werde versuchen, meinen Oberkörper in eine der freien Röhren zu schieben. Du paßt inzwischen auf und holst mich raus, sobald sich einer unserer Freunde zu rühren beginnt.« Er preßte Dorstellarain eine Hand auf den Mund, als dieser etwas entgegnen wollte. »Ich weiß schon. Ich bin verrückt und nicht zu heilen, weil ich mir in den Kopf gesetzt habe, nach Pthor zurückzukehren. Halte jetzt den Mund und laß mich nur machen. Entweder schaffen wir beide es gemeinsam, oder keiner von uns.« Unwillkürlich mußte er grinsen. »Und wenn wir es schaffen, besorge ich dir persönlich ein neues Piratenschiff. Wenn dich das nicht reizt, kann ich dir auch nicht helfen.« Er nahm die Hand zurück. »Scher dich zum Teufel!« knurrte der Clanoc. Atlan war schon auf dem Weg zur nächstgelegenen freien Röhre, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß man immer noch nicht auf ihr Eindringen reagierte. Nur seiner jahrtausendelangen Erfahrung in ähnlichen Gefahrensituationen und der Abgebrühtheit, die er entwickelt hatte, war es zu verdanken, daß er in der unheimlichen Umgebung nicht in Panik verfiel. Das monotone Summen irgendwelcher verborgener Aggregate klang in seinen Ohren. Atlan war sicher, daß Dorstellarain furchtbare Angst hatte – trotz der Fassade, mit der er sich umgab. Er konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Vor der Röhre zögerte er einen Augenblick. Er holte tief Luft. Plötzlich fühlte er doch, wie es ihn eiskalt durchlief. Wer garantierte ihm, daß er nicht sofort sterben würde, wenn er seinen Oberkörper in die Röhre schob? Vielleicht handelte es sich bei
Das kalte Feuer den Fremden tatsächlich um speziell herangezüchtete Androiden. Vielleicht waren nur sie in der Lage, in den Röhren zu existieren. Du hast keine Wahl! signalisierte der Extrasinn. Der Weg nach Gynsaal führt durch diese Anlage. Von dem, was du hier sehen wirst, hängt es ab, was du gegen die Beherrscher der Dimensionsschleppe ausrichten kannst. Jede Information kann entscheidend sein! Atlan zögerte nicht länger. Er blickte sich nicht um. Seine Hände griffen nach dem unteren Rand der Röhre. Er bückte sich und blickte in waberndes Licht aus ineinanderfließenden Farben. Kurz entschlossen brachte er den Kopf unter die Öffnung. Dann schob er den Oberkörper in die Höhe. Er stand aufrecht. Augenblicke lang hatte er die Augen geschlossen, weil das grelle Licht schmerzte. Er spürte einen leichten Ruck, als ob sein Körper von einem Kraftfeld eingefangen worden wäre. Atlan schlug die Augen auf. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Er blickte nicht, wie er es sich insgeheim vorgestellt hatte, auf einen Bildschirm oder in eine Öffnung. Wabernde Farben und Formen flossen ineinander und nahmen Konturen an. Ein Bild entstand. Wieder dauerte es Sekunden, bis der Arkonide erkannte, was er vor sich sah. Es war fast, als erblickte er ein Stück Heimat. Seine Erleichterung war fast so groß, als hätte er Terrania City plastisch vor sich gesehen. Die Stadt der Händler – Orxeya. Atlan vergaß alles um sich herum. Er war in Orxeya. Doch die Stadt war wie ausgestorben. Nur hier und da lagen vereinzelt Gestalten am Boden – gelähmt wie alle Bewohner Pthors. In der Ferne stiegen dunkle Rauchschwaden in den Himmel. Irgendwo mußte es brennen. Und dann bemerkte der Arkonide die Bewegung. Fast im gleichen Augenblick sorgte eine optische Vorrichtung dafür, daß die Gestalt größer wurde und bald das ganze Blick-
13 feld ausfüllte. Atlan erkannte sie sofort.
3. GRIZZARD: DAS MÄDCHEN Grizzard betrachtete erschüttert die Frauen, die wie tot auf den Feldern links und rechts der Straße lagen. Neben ihnen standen noch die Körbe mit den geernteten Früchten. Hier und da entdeckte Grizzard Männer. Auch sie rührten sich nicht. Verzweifelt blickte der Suchende hinüber zu den mächtigen Mauern der Stadt. Dort lagen seine Hoffnungen. Doch er machte sich nun schon damit vertraut, auch dort das gleiche Bild vorzufinden. Leblose Gestalten überall an seinem Weg. Grizzard wußte nicht genau, wieviel Zeit nach seinem Aufbruch nun schon vergangen war. Es wurde nicht mehr Nacht. Der Himmel war in unheimliches Licht getaucht, und der Tag schien ewig zu währen. Grizzard versuchte längst nicht mehr, verstehen zu wollen, was mit dieser Welt geschehen war. Zwar ahnte er gewisse Zusammenhänge. Caidon-Rov hatte ihm ja davon erzählt, daß Pthor immer nur für kurze Zeit auf einem Planeten blieb, um dann erneut durch die Dimensionskorridore zu jagen. Aber Grizzard konnte sich nicht vorstellen, daß dies jedesmal von einem kleinen Weltuntergang, wie er ihn am zweiten Tag seiner Wanderung nach der Händlerstadt erlebt hatte, verbunden war. Bei einer Technik, wie sie den Herrschern des Dimensionsfahrstuhls zur Verfügung stand, mußte es doch möglich sein, diese Nebeneffekte zu neutralisieren. Grizzard fragte sich nicht mehr, wo sich Pthor befand und was mit ihm geschah. Nicht mehr, seitdem er die Leblosen gesehen hatte. Auf dem Weg zur Stadt hatte er sie nur selten zu Gesicht bekommen, die ersten viele Stunden nach dem unheimlichen Pfeifen, das Grizzard fast zur Panik getrieben hätte. Er sah keinen Zusammenhang zwischen
14 dem Pfeifen und den Bewußtlosen. Viel wahrscheinlicher erschien es ihm, daß sie den Beben und dem Chaos, das dem Pfeifen schließlich folgte, zum Opfer gefallen waren. Den Gedanken an eine verheerende Epidemie, der sich ihm aufgedrängt hatte, als er eine Gruppe von großen, kräftigen Gestalten leblos mitten auf der Straße fand, hatte er mittlerweile auch verworfen. Immerhin konnte er feststellen, daß die Fremden, vermutlich Händler auf dem Weg zur Stadt, nicht wirklich tot waren. Selbst ihre Reittiere lagen reglos am Boden. Doch wieso war er, Grizzard, dann nicht gelähmt? Er spürte nichts von einer Beeinflussung. Hieß dies aber nicht, daß es weitere Wesen geben mußte, die immun gegen die Ursachen der Lähmung waren? Seine Hoffnung, in der Händlerstadt auf solche Immune zu treffen, hatte einen erheblichen Dämpfer erhalten, als er die Leblosen auf den Feldern sah. Vielleicht hatten sich die Immunen hinter die schützenden Mauern gerettet? Orxeya – so hatte Bördo, jener seltsame Knabe, der seinen Vater Sigurd suchte, die Stadt genannt. Grizzard gab sich einen Ruck. Die Fußspitzen des Zwergenkörpers berührten die feinen Sensoren in der Körpermaske, die ihn in der 2,10 Meter großen und drei Zentner schweren Porquetor-Rüstung hielt. Sie umgab ihn wie eine zweite, kompakte Haut. Grizzard saß in ihr wie in einem Sattel. Seitdem er sie in der Feste Grool angelegt hatte, waren die Qualen vorbei, die er in dem mißgestalten Körper, der nicht sein eigener war, hatte erdulden müssen. Seine wirkliche Gestalt war neben dem Namen das einzige, woran Grizzard sich erinnern konnte. Immer wieder sah er sich so in Gedanken vor sich, wie er einmal gewesen sein mußte – irgendwo auf einer fernen Welt, die vor langer Zeit von Pthor heimgesucht worden war. Ein junger, kräftiger und schöner Körper.
Horst Hoffmann Dieses Bild trieb ihn vorwärts. Zwar hatte er gelernt, den Halbroboter perfekt zu steuern, fast war er mit dem metallenen Ungetüm verwachsen. Doch nach wie vor war Grizzards einziges Sinnen und Trachten, den verlorenen Originalkörper wiederzufinden. Aber Scheintote konnten ihm keine Auskunft geben. Der Druck gegen die Steuersensoren wurde in die stählernen Gliedmaßen des Halbroboters übertragen. Die mächtige Lanze aus der Stahlquelle in der Faust, setzte er sich in Bewegung. Nach einer halben Stunde stand Grizzard vor den geschlossenen Toren der Stadt. Die Mauern ragten in den Himmel hinauf. Grizzard sah mehrere kleine Türme. Er rief nach den Torwachen und bat um Einlaß. Seine Stimme wurde dabei so sehr verstärkt, daß sie bis weit in die Stadt hinein zu hören sein mußte. Keine Reaktion. Grizzard war der völligen Verzweiflung nahe. Reichte es nicht, daß im Blutdschungel und kurz nach dem Betreten der Straße jeder, der ihn erblickt hatte, in Panik vor ihm Reißaus nahm, weil er glaubte, den wirklichen Porquetor vor sich zu sehen? Jenen Porquetor, der den Bewohnern des Dschungels unendliches Leid zugefügt hatte? Bördo war die einzige Ausnahme gewesen. Sollte Grizzard denn wirklich dazu verurteilt sein, bis zu seinem Lebensende einsam und ohne Freunde zu sein? In einem plötzlichen Wutanfall begann er, mit den stählernen Armen auf das Stadttor aus massivem Holz einzudreschen. Späne flogen nach allen Seiten. Niemand kam, um ihm Einhalt zu gebieten. Grizzard steigerte sich in einen wahren Rausch hinein. Er riß einen Balken nach dem anderen aus dem Tor, trat mit den Stiefeln nach und schuf so innerhalb weniger Minuten eine Öffnung, die groß genug war, um ihn durchzulassen. Enttäuscht mußte er feststellen, daß er sich in einer mehrere Meter tiefen Torkammer befand. Das innere Tor schien nicht weniger stabil zu sein als das äußere. Wieder ruder-
Das kalte Feuer ten die Arme der Rüstung durch die Luft. Grizzard spürte keine Erschöpfung. Der verheerendste Schlag der Fäuste kostete ihn nichts weiter als einen leichten Druck mit den Fingerspitzen auf die Sensoren der Körpermaske. Und dann war er hindurch. Grizzard stieg über die am Boden liegenden Balken und heruntergerissene Metallverstrebungen. Vor ihm lag Orxeya. Er hatte versucht, sich auszumalen, wie es in der Händlerstadt aussehen würde. Doch das, was er durch die Linsen im Kopfteil der Rüstung sah, übertraf all seine Befürchtungen. Grizzard mußte sich zusammenreißen, um nicht sofort wieder aus der Stadt zu rennen. Er kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Dann zwang er sich, hinzusehen. Ein großer Platz, auf dem noch kleine Verkaufsstände und Marktbuden aufgebaut waren. Es roch nach verfaulten Früchten. Rings um den Marktplatz befanden sich Reihen pittoresker Ziegelhäuser, meist mit Strohdächern. Sie waren willkürlich aneinandergebaut worden. Dazwischen lagen kleine Gassen. Karren mit faulenden Früchten und Getreide standen vor den Häusern, deren Fenster und Türen weit aufgerissen waren. Ihre Bewohner waren von der Katastrophe überrascht worden, doch offensichtlich hatten die meisten noch genug Zeit gehabt, um sich ins Freie zu schleppen. Das zeigte ihre verkrampft wirkende Körperhaltung. Überall lagen sie. Vor den Häusern, auf dem Marktplatz, selbst direkt unter den Fenstern, durch die sie ins Freie gelangen wollten. Hunderte von Männern und Frauen, die denen ähnelten, die Grizzard unterwegs gesehen hatte. Die Männer waren groß, kräftig und meist untersetzt, trugen das lange, bis weit über die Schultern reichende Haar zu Zöpfen geflochten und waren durchweg bärtig. Die Frauen waren dick und für Grizzards Geschmack mehr als unappetitlich. Für Sekundenbruchteile erschien ein an-
15 deres Bild vor Grizzards geistigem Auge. Frauen, grazil, schlank und großgewachsen. Dunkle lange Haare, die ihre Gesichter umspielten. Als er sich darauf zu konzentrieren versuchte, verschwand die Vision. Das Herz in der Brust des Gnomenkörpers schlug heftig. Bilder aus seiner, Grizzards, Welt? Ein erstes Anzeichen dafür, daß die Erinnerung allmählich doch zurückkehrte. Grizzard konnte nicht recht daran glauben. Sicher spielte ihm seine Phantasie einen Streich. Grizzard besiegte seinen Widerwillen und marschierte über den großen Platz. Auch hier deutete alles darauf hin, daß die Händler noch versucht hatten, sich in Sicherheit zu bringen. Grizzard bezweifelte nun, daß es überhaupt noch einen Ort auf Pthor gab, wo man vor der Lähmung sicher war. Und doch konnte er nicht der einzige Immune sein! Welchem Umstand sollte er dies zu verdanken haben? Wieder rief Grizzard nach eventuell verschont Gebliebenen. Vielleicht hatten sie sich aus lauter Angst in ihre Häuser zurückgezogen, oder sie sahen in ihm Porquetor und versteckten sich. Keine Antwort. Auf einem der Türme kann ich mir am besten eine Aussicht über die ganze Stadt verschaffen, dachte der Einsame. Es wäre Unsinn, die unzähligen Gassen zu durchkämmen. Wenige Meter neben dem zertrümmerten Stadttor fand er eine aus Stein gemauerte Treppe, die an der Mauer entlang zu einer Plattform führte, von wo aus ein Turm mit einer Leiter zu erreichen war. Grizzard hatte Schwierigkeiten, die schwere Rüstung die schmale Treppe hinaufzusteuern, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Auf dem Vorsprung angekommen, bezweifelte er, daß die Leiter stark genug wäre, um sein Gewicht zu tragen. Er rüttelte an ihr und wagte einen Versuch. Nachdem die ersten Sprossen sich als stabil
16 erwiesen, stieg er weiter. Immerhin, so sagte er sich, waren die Orxeyaner auch keine Leichtgewichte. Er erreichte sein Ziel wohlbehalten. Von hier aus konnte er einen großen Teil der Straße jenseits der Stadtmauer überblicken. In der Ferne zeichneten sich die Ausläufer des Blutdschungels ab. Grizzard drehte sich um. Die Häuser der Orxeyaner waren offenbar willkürlich nebeneinandergesetzt worden, nicht nur jene, die er vom Marktplatz aus hatte beobachten können. Er konnte in einige Gassen blicken. Soweit die Lichtverhältnisse es zuließen, erkannte er auch dort leblos am Boden oder noch halb in den Türen ihrer Behausungen liegende Gestalten. Kinder waren mitten im Spiel von ihrer Lähmung überrascht worden. Verzweifelt fragte Grizzard sich, wohin er sich jetzt noch wenden konnte. Möglicherweise würden die Gelähmten niemals wieder zu sich kommen. Dann konnte er solange umherirren, bis er entweder starb oder den Verstand verlor, wobei letztere Möglichkeit wahrscheinlicher war. Das Versorgungssystem des Halbroboters würde noch auf Jahre hinaus arbeiten. Die Nahrungsmittelkonzentrate reichten aus, um Grizzard noch lange zu ernähren. Plötzlich stutzte er. Täuschte er sich, oder hatte er eine vage Bewegung weit hinten, am Rand eines weiteren Platzes, wahrgenommen? Grizzard konzentrierte sich auf die betreffende Stelle. Die Linsen des optischen Systems lieferten auch auf die Entfernung von mehreren hundert Metern ein gestochen scharfes Bild. Da war es wieder! Ein Kind! Grizzard hatte Mühe, seine Erregung unter Kontrolle zu bringen. Er hatte das Kind nur für Sekunden gesehen. Dann war es zwischen einigen kleinen Bauten verschwunden. Die weit ausladenden Strohdächer vereinigten sich über der Gasse und nahmen jede Sicht. Grizzard zögerte keinen Augenblick.
Horst Hoffmann Er verzichtete darauf, nach dem Kind zu rufen, weil er Angst hatte, daß es sich dann vor ihm verstecken würde. Er kletterte die Leiter so hastig hinunter, daß sie bedenklich zu schwanken begann. Auf der kleinen Plattform angekommen, machte er kurz halt und versuchte, aus der veränderten Perspektive eine Spur des Kindes zu finden. Plötzlich sah er Rauch aufsteigen – genau dort, wo sich das junge Geschöpf eben noch befunden hatte. Augenblicke später schlugen Flammen aus den Strohdächern der armseligen Häuser. Innerhalb weniger Sekunden brannte es lichterloh. Ohne sich dessen bewußt zu sein, stürmte Grizzard in der Rüstung die schmale Treppe hinunter. Er ruderte mit den Armen, als ob er in den stählernen Körper hineingeboren worden wäre. Unten angekommen, stürmte er über den Marktplatz hinweg in die Richtung, wo jetzt dunkle Rauchschwaden in den Himmel stiegen. Panische Angst erfüllte ihn – Angst davor, daß vielleicht der einzige Bewohner der Stadt, der von der Lähmung verschont geblieben war, in den Flammen den Tod fand, bevor er ihm zu Hilfe kommen konnte. Grizzard ahnte nicht, daß jeder seiner Schritte beobachtet wurde. Selbst dann hätte er jedoch nicht anders gehandelt. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Die Jäger waren bereits auf den Plan gerufen.
* Als Grizzard die Brandstelle erreichte, hatte das Feuer sich auf den ganzen Block ausgedehnt. Darüber hinaus bestand die Gefahr, daß es früher oder später auf die etwas größeren und stabiler gebauten Häuser in der Nachbarschaft übergriff, von denen die brennenden Hütten nur durch etwa fünf Meter breite Straßen getrennt waren. Die Gasse befand sich genau zwischen den Hütten und war nicht breiter als zwei, an einigen Stellen höchstens drei Meter. Hier war das Kind verschwunden. Ver-
Das kalte Feuer mutlich, so dachte Grizzard, um sich irgendwo vor dem Feuer zu verkriechen, wo es jetzt von den Flammen umschlossen war. Den Gedanken, daß es schon tot war, verdrängte Grizzard einfach aus seinem Bewußtsein. Jetzt rief er doch nach ihm. Es mußte furchtbare Angst haben. Grizzard sorgte dafür, daß die Kunststimme Porquetors, in die seine Worte verwandelt wurden, auf eine gewisse Lautstärke reduziert wurde. Niemand antwortete. Er hörte nicht einmal Weinen oder Angstschreie. Es darf nicht tot sein! Grizzard wollte schon in die Gasse eindringen, als er die Gestalt im offenen Eingang einer Hütte bemerkte. Natürlich war sie gelähmt und würde verbrennen, falls er sie nicht ins Freie schaffte. Einen Augenblick wußte Grizzard nicht, was er tun sollte. Sicher gab es in den Hütten noch mehr Gelähmte. Wenn er sie alle herausholen wollte, setzte er das Leben des Kindes aufs Spiel. Er kämpfte mit sich, bis ein brennender Dachbalken direkt neben der Gestalt herunterkrachte und ihre Kleider Feuer fingen. Grizzard sprang hinzu. Er packte den Balken und schleuderte ihn wie ein Streichholz zur Seite. Dann zerrte er die Gestalt aus dem schmutzigen Eingang. Das Dach der Baracke zur Rechten sank unter lautem Knistern und Krachen in sich zusammen. Grizzard konnte nicht darauf achten. Die vorerst Gerettete war eine Frau. Er legte sie in sicherem Abstand auf den Platz und bahnte sich einen Weg unter herabstürzenden Balken und Strohballen hinweg in die Baracke, wo er zwei weitere Frauen und einen Mann fand. Gerade noch rechtzeitig brachte er sie in Sicherheit. Das Dach stürzte ein. Aus den Fenstern schlugen meterhohe Flammen. Grizzard spürte die furchtbare Hitze trotz der Isolierung der Porquetor-Rüstung. Wenn das Kind sich noch in der Gasse oder in einem weiter hinten gelegenen Bauwerk befand, war es mit Sicherheit jetzt tot. Grizzard wollte nicht daran glauben. Er holte weitere Gelähmte aus benachbar-
17 ten Hütten und arbeitete sich so langsam in die Gasse vor. Immer wieder rief er. Und nie erhielt er Antwort. Nur einmal glaubte er, ein leises Kichern zu hören. Er fragte sich, wie das Feuer überhaupt entstehen konnte. Es ging kein Wind, sonst hätte es sich viel schneller auf die benachbarten Häuserblocks ausgebreitet. Es war zwar trocken, aber nicht so trocken, daß ein Feuer von selbst entstand. Grizzard durchsuchte jeden Quadratmeter der Gasse, blickte in Kellerfenster und, schleppte noch zwei Gelähmte ins Freie. Die Gasse endete vor einer drei Meter hohen Mauer. Es gab keine nennenswerten Vorsprünge. Das Kind konnte unmöglich hinübergeklettert sein. Brennendes Stroh stürzte in die Gasse. Wenn die beiden Gelähmten nicht sofort auf den Platz gebracht wurden, verbrannten sie. Fluchend bahnte sich Grizzard einen Weg zurück. Nur flüchtig dachte er dabei daran, daß er mit seinem Originalkörper keine Chance gehabt hätte, in den Flammen zu überleben. Mittlerweile lagen an die zwanzig Gerettete beieinander. Doch nun brannte es im nächsten Häuserblock, und zwar einige Dutzend Meter entfernt von der trennenden Straße. Die Flammen konnten niemals von selbst dorthin übergegriffen haben. Grizzard fiel es wie Schuppen von den Augen. Das Kichern! Er hörte es wieder. Und diesmal kam es genau von der Stelle, wo der zweite Brand ausgebrochen war. Brandstifter! durchfuhr es Grizzards Bewußtsein. Aber das würde ja bedeuten … Er sah die Bewegung und fuhr herum. Im gleichen Augenblick schoß etwas auf ihn zu. Bevor er ausweichen konnte, prallte es an der rechten Schulter der stählernen Rüstung ab. Doch die Wucht reichte aus, um die Rüstung zu Boden zu reißen. Der Halbroboter lag auf dem Rücken. Grizzard richtete sich auf die Ellbogen auf. Er sah in ein aufgedunsenes, schmutziges Gesicht, das ihn dumm angrinste. Das Mädchen stand breitbeinig vor ihm, eine Waffe
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im Anschlag, die er auf einigen Bildern gesehen hatte, die Caidon-Rov ihm gezeigt hatte – eine Skerzaal. Ihre Bolzen waren, trafen sie ihr Ziel, absolut tödlich. Selbst ihn konnten sie gefährden, falls sie etwa die Sehschlitze der Rüstung trafen. Das Mädchen trug ein paar zusammengenähte Lumpen am Leib, die über der Hüfte von einem Strick gehalten wurden. Rote Haare standen strähnig von seinem Kopf ab. Es war ziemlich füllig und wirkte schwerfällig. Der ganze Körper war mit Dreck beschmiert oder schwarz von Ruß. Wieder das Kichern. Grizzard wußte nun, daß er sich nicht getäuscht hatte. Die Kleine hatte die Brände gelegt. Die wasserblauen Augen des etwa 1,40 Meter großen Kindes rollten in ihren Höhlen, als es die Skerzaal auf die Rüstung anlegte. »Und jetzt schieße ich dich tot«, rief die Brandstifterin mit krächzender Stimme und solch naiver Begeisterung, als ob sie soeben ein neues, großartiges Spielzeug geschenkt bekommen hätte.
4. ATLAN: VERLORENES SPIEL Dorstellarain fluchte still in sich hinein. Hier stand er nun, war zur völligen Untätigkeit verurteilt und wartete verzweifelt darauf, daß Atlan endlich wieder aus der Röhre kam. Dorstellarain kam sich vor wie in einer Leichenhalle. Kein Laut außer dem monotonen Summen irgendwelcher technischer Anlagen. Ab und zu sah er unter der von Instrumenten und Kontrollen gespickten Decke seltsame Leuchterscheinungen. Das grüngelbe, unnatürliche Licht im Innern der Zarmack-Blase machte ihn fast verrückt. Die Fremden in ihren dunklen Schutzanzügen standen wie versteinert in den Röhren. Auch Atlan hatte sich nicht mehr gerührt, seitdem er den Oberkörper in das aus der Decke ragende Gebilde geschoben hatte. War er überhaupt noch bei Sinnen, oder
hatte sich ein fremder Bann auf ihn gelegt? Dorstellarain hatte ihn gewarnt, hierherzugehen, aber Atlan in seiner Besessenheit hatte ja nicht gehört. Der Clanoc hatte noch nie einen Kampf gescheut. Auch jetzt brannte es ihm förmlich in den Fingern, für »klare Verhältnisse« zu sorgen. Aber dies hier war ihm unheimlich. Hier gingen Dinge vor, die er nicht begreifen konnte und mit denen er deshalb so wenig wie möglich zu tun haben wollte. Mit einem Fluch packte er Atlan an den Hüften und versuchte, ihn unter der Röhre hervorzuzerren. Er reagierte nicht einmal. Verdammt! dachte der Hüne. Ich kann ihn doch nicht anschreien, nicht einmal zu ihm sprechen. Das wäre zu riskant. Jeden Augenblick können die Kerle in ihren Röhren auf uns aufmerksam werden. Es ist sowieso ein Wunder, daß sie uns nicht längst bemerkten! Noch einmal rüttelte er am Körper des Gefährten. Dann packte ihn die Wut. Dorstellarain holte aus und trat mit dem Stiefel gegen Atlans Scheinbein. Jeder hätte jetzt lauf aufgeschrien, doch Atlan zeigte wieder keine Reaktion. Jetzt wußte Dorstellarain mit Bestimmtheit, daß Atlans Geist nicht mehr auf dieser Welt war. Die Gerüchte über die ZarmackBlasen fielen ihm wieder ein. War es möglich, daß jemand, der unter einer der Röhren steckte, nicht nur sah, was unter Pthor vorging, sondern gleichsam auf eine völlig unvorstellbare Art und Weise auch dort war? Einige Augenblicke hatte der Clanoc nur einen Gedanken: Wie komme ich am schnellsten hier heraus? Er fühlte sich von Atlan im Stich gelassen. Noch als er nach einem Mechanismus suchte, der das Luk von innen öffnete, gewahrte er aus den Augenwinkeln heraus eine vage Bewegung. Dorstellarain fuhr herum. Er stieß einen wilden Schrei aus. Alle zwölf Besatzungsmitglieder der Kugel begannen sich zu bewegen. Einer nach
Das kalte Feuer dem anderen kam unter seiner Röhre zum Vorschein. Dorstellarain wich bis an die Wand der Zentrale zurück. Die zwölf schlanken Gestalten, jede an die zwei Meter groß, bewegten sich wie Schlafwandler auf ihn zu. Vergeblich versuchte der Clanoc, hinter den dunklen Sichtscheiben der Kopfhelme Gesichter zu erkennen. »Zurück mit euch!« schrie er. »Macht, daß ihr verschwindet!« Sie kamen näher, Meter für Meter. Jetzt bildeten sie einen Halbkreis um ihn. »Verschwindet!« brüllte Dorstellarain noch einmal. Mit einem schnellen Blick auf Atlan stellte er fest, daß dieser nach wie vor wie eine Statue unter der Röhre stand. Einer der Hochgewachsenen streckte seine Hand nach Dorstellarain aus. In diesem Augenblick sah der Clanoc rot. Alle aufgestauten Aggressionen verschafften sich Luft. Wie ein Berserker stürmte der Hüne vor und drosch auf die schlanken Gestalten ein. Zwei von ihnen gingen sofort zu Boden und rührten sich nicht mehr. Andere taumelten, von Dorstellarains Fäusten getroffen, zurück und blieben wie benommen stehen. »Atlan!« rief der Clanoc. »Verdammt, wie müssen hier raus!« Ein Schlag traf ihn in den Nacken. Ungläubig drehte er sich um. Er sah gerade noch eine Faust auf sich zukommen, dann knallte etwas gegen seine Stirn und ließ ihn rückwärts taumeln. Schwarze Schleier tanzten vor seinen Augen. Die Hochgewachsenen waren aus ihrer scheinbaren Teilnahmslosigkeit erwacht und griffen an. Dorstellarain teilte Fausthiebe aus, trat, rammte den Kopf in die Magengegend der Fremden und warf einige Angreifer zu Boden. Doch die Übermacht war zu groß. Er spürte, wie jemand nach seinen Beinen griff und eine Schlinge um sie legte. Dorstellarain stürzte. Sofort waren die Fremden über ihm. Weitere Schlingen flogen heran und legten sich wie klebrige Fäden um seinen Körper. Sie hafteten sofort und zogen sich wie von selbst zusammen. Dorstellarain
19 schrie vor Schmerzen auf, als sie sich in die Fellbekleidung schnitten. Er konnte die Hände nicht mehr bewegen, bäumte sich auf und schrie aus Leibeskräften, bis er die Sinnlosigkeit erkannte. Dorstellarain war gefangen. Untätig mußte er jetzt mitansehen, wie die Fremden auf Atlan zugingen, eine Schaltung an seiner Röhre vornahmen und ihm die gleichen Schlingen um die Beine legten. Dann zogen sie ihn heraus. Der Blick des Arkoniden schien verklärt, und als er erkannte, was mit ihm geschah, war es längst zu spät. Gefesselt wurde er zu Dorstellarain geführt und zu Boden gestoßen. Er landete unsanft neben dem Clanoc. »Hast du nun endlich die Nase voll?« zischte der Hüne. Atlan drehte sich so, daß er ihm ins Gesicht sehen konnte. »Weißt du, daß du mich an jemanden erinnerst?« »So!« machte Dorstellarain. »Und der Kerl hat dich auch nicht zur Vernunft bringen können?« »Ich habe viel von ihm gelernt«, sagte Atlan. »Er hieß Fartuloon.« »Vielleicht hätte dieser Fartuloon dir jetzt sagen können, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauskommen.« Atlan hob den Kopf, soweit er konnte, und sah über Dorstellarains Brust hinweg, wie die Unbekannten einige Geräte einschalteten. Bildschirme, die am Ende schlanker Teleskoparme von der Decke herabhingen, leuchteten auf, doch konnte Atlan nicht erkennen, was sie zeigten. »Hör zu«, flüsterte er. »Ich habe tatsächlich Pthor gesehen, und zwar Ausschnitte einer Stadt, die ich gut kenne. Alle sind gelähmt, wie zu erwarten war – mit zwei Ausnahmen. Ein alter Bekannter von mir und ein junges Mädchen, das nicht ganz richtig im Kopf zu sein scheint. Sie war drauf und dran, ihn umzubringen, als unsere Freunde mich aus der Röhre zerrten.« »Das gleiche habe ich auch schon versucht«, knurrte Dorstellarain. »Ohne Er-
20 folg.« »Möglicherweise wird derjenige, der in einer Röhre steckt, solange in ihr festgehalten, bis eine Programmierung ihn freigibt«, vermutete der Arkonide. »Das ist sehr gut möglich. Alle zwölf Beobachter kamen zur gleichen Zeit unter ihren Röhren hervor. Sie scheinen ein Alarmsignal erhalten zu haben. Außerdem hantierten sie an deiner Röhre herum, bevor sie dich herausholten. Und was nützt uns das alles? Wir wissen, daß du Pthor gesehen hast. Und?« »Warte ab. Kurz bevor der Kontakt abriß, sah ich einen Schwarm dieser schwarzen Roboter, die überall auf Pthor auftauchten und versuchten, das Steuerzentrum zu erobern – jene Roboter, die aus dem Transmitter kamen.« »Das wußtest du alles auch so«, murrte der Clanoc. »Aber jetzt wird mir klar, war ihre eigentliche Aufgabe ist, Dorstellarain. Wieso tauchen sie immer dort auf, wo jemand sich gegen die Lähmung immun zeigt? Die einzig logische Erklärung ist die, daß sie im Auftrag der Herrscher von Gynsaal alles gefangennehmen, was nicht durch die VONTHARA-Anlagen gelähmt wurde. Dann bringen sie die Betroffenen zum Transmitter. Dir ging es ebenso, als du deportiert wurdest. Nun kannst du die armen Kerle in Empfang nehmen.« »Dann dienen die Zarmack-Blasen also dazu, Pthor zu beobachten, Immune aufzustöbern und ihnen die Roboter auf die Fersen zu schicken?« »Ich bin fast sicher. Und Porquetor weiß nicht einmal, daß sie schon in der Nähe sind.« »Spare dir dein Mitleid für uns auf.« »Wenn es uns gelingen würde, die Kugeln unschädlich zu machen«, fuhr Atlan unbeirrt fort, »bräche das ganze Beobachtungssystem zusammen.« »Träumer!« Dorstellarain lachte rauh. Die Hochgewachsenen schienen eine Anweisung bekommen zu haben. Fünf von ihnen kamen auf die Gefangenen zu.
Horst Hoffmann »Was jetzt?« zischte Dorstellarain. »Sie stehen da wie bestellt und nicht abgeholt.« »Sie werden auf die Ablösung warten«, vermutete der Arkonide. »Die Ablösung? Bist du zum Hellseher geworden?« »Keinesfalls. Aber für sie sollte es nur zwei Möglichkeiten geben. Wir sind Spione, die ihr Geheimnis entdeckt haben. Sie könnten uns töten oder wegschaffen.« »Getötet haben sie uns nicht«, meinte der Clanoc. »Sie hatten ja die Gelegenheit dazu.« »Eben. Und sie werden uns an einen Ort bringen, wo wir kein Unheil anrichten können.« Dorstellarain kniff die Augen zusammen. »Kein Unheil, eh? Gynsaal!« Atlan grinste, als er den Verschwörerblick des Hünen bemerkte. Dorstellarain schien die Schlägerei mit den Fremden gutgetan zu haben. Jetzt war er wieder der Alte. Im nächsten Moment stieß der Arkonide einen Fluch aus. »Was ist los?« wollte Dorstellarain wissen. »Mein Knie. Ich habe plötzlich verdammte Schmerzen.« Dorstellarain wälzte sich herum und lachte dröhnend. Er lachte auch noch, als sich zwei der Fremden über ihn beugten und zwei andere Atlan packten. Der fünfte öffnete das Luk zur Leiter. Schnee wehte von draußen herein.
* Schon auf der Plattform hörten sie das nahende Motorengeräusch. Die vier Fremden trugen Atlan und Dorstellarain vorsichtig die Leiter hinunter, wo derjenige, der schon das Luk geöffnet hatte und offensichtlich der Befehlshaber der Gruppe war, auf sie wartete. Eines der bekannten Raupenfahrzeuge, fast zehn Meter lang und halb so breit, mit einer großen Fahrerkabine und freier Lastfläche, schälte sich aus dem Nebel und hielt
Das kalte Feuer an. Wie Atlan nicht anders erwartet hatte, sprangen zwölf Männer aus der Kabine. Die letzten Mitglieder der abzulösenden Besatzung kamen die Leiter herunter. Offensichtlich wurden die Blasen jeweils nur mit kompletten, eingearbeiteten Teams besetzt. Einer der Neuen unterhielt sich kurz mit dem Anführer. Dann winkte dieser seinen Leuten zu. Wieder packten sie die Gefangenen und schleppten sie in die Fahrerkabine, die groß genug war, um auch zwanzig Männer aufnehmen zu können. Die Ablösung kletterte inzwischen in die Kugel. Atlan hatte nicht verstehen können, ob die beiden Hochgewachsenen vorhin Pthora geredet hatten. Dazu war ihre Unterhaltung zu kurz und zu leise gewesen. Die Motoren heulten auf, nachdem der letzte der zwölf Fremden eingestiegen war und die Tür sich geschlossen hatte. Das Fahrzeug ruckte an und setzte sich in Bewegung. Atlan konnte keine Steuerungsinstrumente erkennen. Der Fahrer hatte sich eine halbkugelförmige Haube über den Kopf gestülpt und die Hände in zwei Vertiefungen einer länglichen Bank an der Frontseite der Kabine geschoben. Die Maschine fuhr den Weg zurück, den sie gekommen war. Atlan hoffte, daß man ihn und Dorstellarain nach Gynsaal bringen würde, wo sich vielleicht eine Möglichkeit finden ließ, sich zu befreien. Flüchtig dachte der Arkonide an Grizzard, wie Caidon-Rov den verkrüppelten Mann in der Porquetor-Rüstung genannt hatte, und das seltsame Mädchen. Er hatte die Bilder von Pthor geräuschlos empfangen, wie in einem uralten Stummfilm. Doch es war nicht schwergefallen, sich einen Reim auf die Vorgänge in Orxeya und der Umgebung der Stadt, wo die Roboter aufgetaucht waren, zu machen. Es war anzunehmen, daß die Porquetor-Rüstung auch einen Skerzaal-Schuß aus allernächster Nähe aushielt. Vermutlich hatte dieser Grizzard das Mädchen längst schon überwältigt. Doch gegen die Roboter war auch er
21 wehrlos. Wieso war er eigentlich nicht von der Lähmung befallen? Atlan konnte es sich nur so erklären, daß die Rüstung den Effekt neutralisierte. Atlan verscheuchte die Gedanken. Die Fesseln drückten sich in die Bein- und Armpartien des Goldenen Vlieses. Zwar konnten sie es nicht zerschneiden, doch sie schmerzten. Sollte sich dazu noch einmal eine Gelegenheit bieten, hatte Atlan ein Wörtchen mit dein Clanoc zu reden. Das rechte Schienbein brannte höllisch. Doch das war jetzt zweitrangig. Immer wieder die gleiche Frage: Wer waren jene, die Gynsaal beherrschten? Ein untergeordnetes Hilfsvolk, das nur dann in Erscheinung trat, sobald die Herren der FESTUNG in Bedrängnis gerieten und selbst nicht mehr mit ihren Problemen fertig wurden, oder eine Macht, die noch über den gestürzten Gewaltherrschern stand? Ein direktes Bindeglied zu den Mächtigen in der Schwarzen Galaxis? Welche Chancen hatten er und der ehemalige Flußpirat Dorstellarain dann gegen sie – trotz des Anzugs der Vernichtung und der Entschlossenheit zweier Männer, die nichts mehr zu verlieren hatten? Dorstellarain schwieg und hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Fahrt ging weiter ihrem unbekannten Ziel zu.
5. GRIZZARD: DER UNHEIMLICHE GEGNER Grizzard sah, daß das Mädchen genau auf den Kopfteil der Rüstung zielte. Es war ihm unverständlich, wie ein Kind die schwere, armbrustähnliche Waffe so leicht heben konnte. Doch darüber machte er sich jetzt keine Gedanken. Grizzard handelte instinktiv. Sein rechter Fuß traf die Beine der Brandstifterin und fegte sie vom Boden. Sie schrie auf und ließ die Skerzaal fallen. Grizzard zog die Beine
22 der Rüstung an und richtete sich mit einem Ruck auf. Zwei Sekunden später kniete er über dem Kind. Das Mädchen blickte einen Augenblick ungläubig in die Linsen der Sehschlitze. Dann stieß es ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus. Grizzard wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Die Kleine war nicht verletzt. Er konnte nicht einmal Hautabschürfungen feststellen. Sie lag einfach auf dem Rücken, Arme und Beine weit von sich gestreckt und von Grizzards Hand am Boden gehalten. Als sie Luft holen mußte, um das Geheul mit neuer Kraft fortzusetzen, sah Grizzard, wie sie ihn verstohlen musterte. Offenbar wußte auch sie nicht so recht, was sie mit dem stählernen Kerl anfangen sollte. Als er keine Reaktion zeigte, heulte sie weiter. Grizzard wartete noch bis zur nächsten Atempause, zum nächsten abschätzenden Blick der frechen kleinen Augen, zum nächsten Anlauf, ihn durch das Geschrei zu zermürben. Als er sicher war, daß er es mit einer kleinen Schauspielerin zu tun hatte, stand er auf. Vorsichtshalber nahm er die Skerzaal an sich. »Hör auf!« sagte er. »Das Theater macht auf mich keinen Eindruck.« Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, daß das zweite Feuer sich immer schneller ausbreitete. Er konnte sich nicht länger mit dem Mädchen abgeben, wenn er die Hausbewohner retten wollte. Sie würde ihm dabei helfen müssen. Wieder holte sie Luft. »Schluß jetzt!« dröhnte die Stimme des Stählernen über den Platz. Die Brandstifterin zuckte zusammen. Zuerst sah sie ihn erschrocken an, dann richtete sie sich auf und grinste Grizzard so frech entgegen, als ob sie eben zusammen die tollsten Dinge ausgeheckt hätten. »Ich habe Feuer gemacht«, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus. Ihre Stimme war schrill und klang unangenehm. »Feuer!« Sie kicherte. »Paß auf!« Ehe Grizzard begriff, drehte sie sich um
Horst Hoffmann und blickte konzentriert zu einem großen, mit Stroh beladenen Karren hinüber. Im nächsten Augenblick züngelten kleine Flammen am Holz empor. In Sekundenschnelle brannte das Stroh. Grizzard war dermaßen erschrocken, daß er zunächst kein Wort herausbrachte. Sie hatte den Karren nur angesehen! Doch ehe er sich weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, sprang sie auch schon wieder im Kreis herum, bis sie ein Haus gefunden hatte, das die anderen an Größe und Imposanz weit übertraf. »Zum fetten Raubschwein« las Grizzard über dem breiten Eingang. Sie drehte sich um und zeigte mit leuchtenden Augen auf das Dach. »Feuer!« rief sie voller kindlicher Begeisterung. »Pama macht Feuer für dich, großer Kerl!« Ihr Verhalten beseitigte auch die letzten Zweifel, daß Grizzard es mit einer geistig Zurückgebliebenen zu tun hatte, die vermutlich nicht einmal wußte, was sie anrichtete. »Kein Feuer!« rief er deshalb schnell. Vielleicht gelang es ihm, sie solange abzulenken, bis er sich im klaren war, was er, mit ihr anzufangen hatte. Die Gelähmten in den brennenden Häusern mußten ins Freie! Wenn sie die Gabe besaß, durch ihre Blicke ein Feuer zu entfachen, war es vielleicht auch möglich, daß sie auf ähnliche Weise Brände löschen konnte. Pama, wie sich das Mädchen genannt hatte, blickte enttäuscht. »Kein Feuer für dich?« »Feuer machen kann jeder«, rief Grizzard. »Das ist ein schlechtes Spiel.« »Du redest so komisch, großer Kerl. Zeig besseres Spiel!« »Feuer löschen.« Pama blickte verständnislos – ratlos. Grizzard erkannte, daß seine Hoffnung verfrüht gewesen war. Um so überraschter war er, als Pama in die Höhe sprang und in die Hände klatschte. »Hast recht, großer Kerl! Wir spielen: Ich hole Wasser, und du schlägst das Feuer tot.«
Das kalte Feuer
23
»So machen wir's«, sagte Grizzard schnell, bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte. Sie lief über den Platz, wahrscheinlich zu einem Brunnen. Grizzard stürmte auf das nächste brennende Haus zu und machte sich daran, die Räume, die noch nicht unter herabgestürzten Balken begraben waren, nach Gelähmten zu durchsuchen. Aus vielen Fenstern schlugen Flammen. Dort war niemandem mehr zu helfen. Als Pama mit zwei gefüllten Eimern zurückkehrte, lagen drei Frauen und zwei Männer nebeneinander auf dem Platz. Grizzard fragte sich, woher die Idiotin die Kraft nahm, die beiden schweren Behälter zu tragen. Er nahm ihr einen ab und mußte im gleichen Augenblick erkennen, wie aussichtslos alle Bemühungen waren. Hier war nichts mehr zu retten. Er konnte höchstens verhindern, daß das Feuer auf die Nachbarhäuser übergriff. Grizzard schüttete das Wasser über eine Stelle, wo schon einige Balken zu glimmen begonnen hatten. Pama folgte seinem Beispiel mit Begeisterung. »Mehr Wasser?« »Ja«, sagte er. »Lauf zum Brunnen.« »Feines Spiel«, jauchzte Pama und war schon unterwegs. Grizzard räumte auf die Straße gestürzte Balken beiseite, nahm neue Eimer in Empfang und suchte weiter nach Gelähmten. Nach einer halben Stunde hatte er alles in seiner Macht Stehende getan. Zusammen mit Pama sah er zu, wie die brennenden Häuser einstürzten. Der Brand hatte sich nicht ausdehnen können. Der Mann ohne Erinnerung atmete auf. Er dachte daran, Pama Fragen nach seinem ursprünglichen Körper zu stellen, als sie jubelnd aufschrie und ihn an der Hand packte. Sie zeigte in den Himmel, auf etwas, das in Grizzards Rücken lag. »Und jetzt spielen wir mit denen da.« Er fuhr herum und sah die Roboter.
*
Es waren sieben, und sie griffen an. Schwarze Scheiben aus einem unbekannten Metall, zwei Meter durchmessend und einen halben Meter dick. Grizzard sah verschiedene künstliche Extremitäten wie Tentakel, Arme mit Werkzeughänden und Rohre, deren Mündungen bedrohlich flimmerten. Jeder der Maschinen war unterschiedlich mit diesen Extremitäten besetzt. Keine war ein exaktes Ebenbild einer anderen. All das nahm Grizzard in Sekundenbruchteilen eher unterbewußt wahr. Die Art und Weise, wie die Scheiben sich auf ihn und Pama herabstürzten, ließen auch für Grizzard, der unter anderen Umständen an Hilfsroboter, etwa solche, die zum Löschen des Brandes gekommen waren, gedacht hätte, keinen Zweifel an ihren Absichten. Er stieß Pama an. »Los, lauf schnell weg. Die Dinger wollen nicht mit uns spielen.« Pama blickte trotzig. »Nicht spielen? Dann mache ich ihnen kaltes Feuer.« »Laß den Unsinn! Lauf und verstecke dich irgendwo. Ich versuche sie zurückzuhalten.« Beleidigt rannte das Mädchen davon, auf das große Haus mit der seltsamen Inschrift über der Tür zu. Erst später sollte Grizzard erfahren, welchen Fehler er gemacht hatte. Die Porquetor-Rüstung stand breitbeinig wie ein ehernes Mahnmal auf dem Freien Gelände und wartete auf die ersten Angriffe. Zwei der Roboter kamen im Tiefflug heran. Offensichtlich wollten sie den Giganten, der da vor ihnen stand und keine Anstalten zur Flucht traf, nicht töten, sondern lebend einfangen. Grizzard war aufgeregt. Er mußte sich dazu zwingen, nicht zu früh die Sensoren zu berühren. Dann, als die beiden Scheiben nahe genug heran waren und ihre Tentakel zu schwingen begannen, sausten die stählernen Arme in die Luft und fuhren mit furchtbarer Wucht auf die Maschinen herab. Dies ging so schnell, daß diese keine Möglichkeit zum Ausweichen hatten. Sie gerieten ins Torkeln
24 und gingen zwanzig Meter hinter dem Stählernen zu Boden. Grizzard nutzte das kurze Orientierungsmanöver der fünf anderen, um sich nach der Lanze zu bücken, die er abgelegt hatte, als er mit seinen Rettungsaktionen begann … Dies war sein zweiter Fehler. Nur eine Scheibe schwebte auf ihn zu, während die anderen vier Pama eingeholt hatten und umkreisten. Grizzard schrie vor Wut und stieß die Lanzenspitze mit aller Wucht gegen den schwarzen Leib des Roboters. Sie rutschte ab, und Grizzard fiel vornüber zu Boden. Er sah, wie das Mädchen von den Tentakeln berührt wurde. Gleichzeitig flimmerte die Luft um Pama herum. Sie brach ohnmächtig zusammen. Grizzard wollte aufspringen und ihr helfen. Doch nun waren auch die beiden beschädigten Scheiben wieder in der Luft. Sie drängten ihn vor sich her. Tentakel schwirrten durch die Luft und verfehlten nur knapp ihr Ziel. Grizzard arbeitete wie besessen in seiner Körpermaske. Im Augenblick ging es nur darum, die eigene Haut zu retten. Pama war paralysiert worden – gelähmt. War es das, was der Bevölkerung Pthors zugestoßen war? Er durfte auf keinen Fall selbst paralysiert werden. Grizzard drehte sich immer wieder so, daß er den beiden nebeneinander fliegenden Robotern gegenüberstand. Der dritte versuchte, sich von hinten zu nähern. Grizzards Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als er einen Augenblick lang stehenblieb und zusah, wie die beiden Maschinen heranschwebten. Er wußte, wozu ihr Manöver diente. Als er glaubte, lange genug gewartet zu haben, riß er den Porquetor-Roboter herum und schlug blind zu. Seine Faust prallte auf die dritte Scheibe und schmetterte sie zu Boden, wobei er fast selbst von der Wucht des Aufpralls umgerissen worden wäre. Er hörte Pama schreien. Es klang wie aus weiter Ferne. Als er sich umdrehte, waren die beiden nebeneinander schwebenden Roboter heran. Was jetzt kam, war reine Instinktreaktion. Die Lanzenspitze fuhr in eine
Horst Hoffmann Öffnung, aus der sich weitere Tentakelarme schieben wollten, und setzte die betreffende Maschine außer Gefecht. Jetzt hatte er es nur noch mit einem Angreifer zu tun. Grizzard hatte keine Zeit mehr, die Arme der Rüstung hochzureißen, dazu war die Scheibe schon zu nahe heran. Die ersten Tentakel schwirrten heran und legten sich um den Kopfteil. Verzweifelt, warf Grizzard den Halbroboter gegen das schwarze Objekt. Er wurde in der Körpermaske regelrecht durchgeschüttelt und verlor für einige Augenblicke die Kontrolle über Porquetor. Als er wieder völlig bei Sinnen war, sah er die drei Maschinen am Boden liegen. Er richtete die Rüstung auf und sah sich nach Pama um. Sie war verschwunden. Auch von den vier anderen Robotern war nichts zu sehen. Panik erfaßte ihn. Grizzard sah, wie die beschädigten Maschinen sich in ein grünflimmerndes Feld hüllten. Vermutlich diente es dazu, die Schäden selbsttätig zu beheben. Grizzard packte die Lanze mit beiden Händen und versuchte, sie zwischen zwei aus einer Öffnung hervorragenden Tentakel zu stoßen – ohne Erfolg. Sie prallte an dem flimmernden Feld ab. Grizzard war sich dessen bewußt, daß er unglaubliches Glück gehabt hatte. Noch einmal würde er den Robotern nicht entkommen. Er hatte keine große Lust, dabei zuzusehen, wie sie sich selbst reparierten. Grizzard begann zu laufen, auf das Stadttor zu, dann hinaus auf die Straße, auf der er nach Orxeya gekommen war. Er wußte nicht, wohin er fliehen könnte. Wenn er erst einmal außer Sichtweite der Roboter war, konnte er sich darüber Gedanken machen. Nachdem er gesehen hatte, wie schnell sich die beiden, die er vorübergehend außer Gefecht setzen konnte, »erholt« hatten, war er jetzt darauf bedacht, so schnell wie möglich ein Versteck zu finden. Auf offener Straße war er noch kilometerweit für sie sichtbar, und der Blutdschungel war weit. Nach etwa einer halben Stunde sah er eine kleine, halbverfallene Baracke am Rand ei-
Das kalte Feuer nes Obstfeldes. Er blickte sich um. Noch war nichts von den Verfolgern zu sehen. Grizzard verließ die Straße und lief auf den Schuppen zu. Wie nicht anders zu erwarten, lagen zwei gelähmte Frauen vor dem Eingang. Grizzard fragte sich, wieso ihre Lebensfunktionen nicht erloschen, wenn sie tage- oder wochenlang so herumlagen. Gott sei Dank schienen auch alle Tiere von der Paralyse betroffen zu sein, so daß keine Räuber in die Nähe kamen. Grizzard sah sich noch einmal um. Nichts. Keine dunklen Punkte, die über den Stadtmauern in die Luft stiegen. Er schlug ein schmutziges Tuch zur Seite und drang in die Hütte ein. Ein Mann lag über einem Tisch, einen Krug mit übelriechender Flüssigkeit in der Hand. Grizzard kümmerte sich nicht um ihn. Er blickte sich um. Einige Stühle standen in den Ecken, dazu Krüge und mit verfaulenden Früchten gefüllte Körbe. Die Hütte bestand nur aus einem Raum und mochte vier mal fünf Meter groß sein. Das Dach war so niedrig, daß die Rüstung ständig gebeugt werden mußte, um nicht an Balken zu stoßen. Durch kleine Fenster war ein Teil der Straße und der umliegenden Felder zuerkennen. Grizzard atmete auf. Hier war er sicher. Die Roboter würden ihn zuerst in der Stadt oder in den kleinen Hainen in der Umgebung suchen. Nur Minuten später erkannte er seinen Irrtum. Die drei Scheiben erschienen über der Stadtmauer und nahmen direkten Kurs auf die Hütte. Es gab keinen Zweifel daran, daß sie von Anfang an gewußt hatten, wo er steckte. Das ging nicht mit rechten Dingen zu! Wieder spürte Grizzard die Panik in sich aufsteigen. Er konnte nicht hinaus, ohne den Verfolgern direkt in die Arme zulaufen. Doch auch wenn er hier blieb, hatten sie ihn innerhalb weniger Minuten umzingelt. Über die Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung
25 standen, machte er sich keine Illusionen. Was wollten sie von ihm? Weshalb hatten sie Pama weggeschleppt? Was nützte ihnen oder jenen, die sie geschickt hatten, eine Idiotin? Aus Grizzards Sicht war die einzige Möglichkeit die, daß es sich um ein Wachkommando handelte, das ihn neben Pama für die Brandstiftung verantwortlich machte. War es dann nicht vernünftiger, sich zu stellen und darauf zu hoffen, daß sich alles aufklärte? Irgend etwas in ihm wehrte sich dagegen. Unbewußt hatte Grizzard damit begonnen, die Füße des Halbroboters den aus Lehm bestehenden Boden aufwühlen zu lassen. Plötzlich stießen sie gegen etwas Hartes. Grizzard blickte aus dem Fenster. Die Jäger waren noch einen halben Kilometer entfernt. Schnell legte er die betreffende Stelle ganz frei. Ein metallener Ring war in eine etwa zwei mal zwei Meter breite Holzplatte geschraubt. Draußen begann die Luft zu flimmern. Merkwürdige Leuchterscheinungen erfüllten das Innere des Schuppens. Ohne lange zu überlegen, griff Grizzard mit Porquetors riesigen Händen nach dem Ring und riß die Platte aus dem Boden. Er blickte in einen dunklen Schacht. Grizzard stieg über eine nach unten führende Leiter hinein und schob die Platte wieder an ihren Platz. Wenn die Maschinen die Hütte nur flüchtig untersuchten, bemerkten sie die Schleifspuren und den aufgewühlten Lehm vielleicht nicht. Doch darauf wollte er sich nicht verlassen. Grizzard stieg weiter nach unten. Vielleicht handelte es sich bei dem Schacht um einen stillgelegten Brunnen. Wahrscheinlicher war, daß er schon den Bewohnern der Hütte als Schutz gegen die Angriffe der Eingeborenen aus dem Blutdschungel gedient hätte. Caidon-Rov hatte davon berichtet, daß einige Stämme regen Handel mit den Orxeyanern trieben, aber jede Gelegenheit nutzten, um die Stadt anzugreifen. Endlich erreichte er die Sohle. Es war völ-
26 lig dunkel, aber offensichtlich, daß Grizzard sich auf einem Gang befand, groß genug, um ihn aufrecht gehen zu lassen. In Gedanken bei den Verfolgern, steuerte er den Halbroboter immer tiefer in den Stollen hinein. Es fiel schwer, hier Entfernungen abzuschätzen. Irgendwo mußte es einen zweiten Ausgang geben. Immer wieder blieb Grizzard stehen und sah sich um. Der erwartete Lichtschein blieb aus. Entweder hatten die Roboter den Gang tatsächlich nicht entdeckt, oder sie hatten von vornherein auf eine Verfolgung verzichtet. Selbst wenn sie sich querstellten, paßten die Scheiben nicht in den Stollen hinein. Was taten sie dann? Warten? Oder wußten sie schon jetzt, wo er wieder auftauchen würde? Endlose Minuten voller Ungewißheit. Und dann stieß die Rüstung gegen eine Wand. Grizzard fand eine Leiter und kletterte daran in die Höhe, bis der Helm gegen ein Hindernis stieß. Vorsichtig hob er die Platte hoch. Sie war schwerer als die in der Hütte und aus Metall. Durch den größer werdenden Schlitz sah Grizzard Felder und eine Gruppe von Bäumen. Er war nicht, wie er befürchtet hatte, in der unmittelbaren Nähe von Orxeya. Grizzard stemmte die Platte zur Seite und kletterte aus dem Stollen. Erleichtert stellte er fest, daß von den Verfolgern nichts zu sehen war. Ein kleines Wäldchen. Dichtbelaubte Bäume, die ihm Deckung gaben. Zumindest glaubte er das, bis er die drei Punkte am Himmel sah, die schnell an Größe gewannen. Grizzard resignierte. Es war unmöglich, daß sie von der Hütte aus beobachtet hatten, wie er hier aus dem Schacht stieg. Aber woher wußten sie dann, wo er zu finden war? Grizzard versuchte nicht mehr zu fliehen. Er sah, wie die Scheiben auf ihn zukamen und die Luft zu flimmern begann. Kleine blaue Flämmchen züngelten an seiner Rü-
Horst Hoffmann stung empor. Grizzard hatte das Gefühl, in einen unendlichen Abgrund zu stürzen. Obwohl die Optik des Halbroboters nach wie vor ausgezeichnet funktionierte, sah er plötzlich nichts mehr. Dunkelheit griff nach seinem Bewußtsein. Er nahm nicht mehr wahr, wie Kraftfelder nach ihm griffen und ihn mit der Rüstung in die Höhe hoben. Eine einzige Frage füllte sein Denken aus, bevor er endgültig die Besinnung verlor: Warum?
6. ATLAN: GEFANGEN Atlan hatte keine Ahnung, wie lange sie unterwegs gewesen waren, als das Motorengeräusch abebbte und kurz darauf das Raupenfahrzeug zum Stehen kam. Vielleicht drei Stunden, vielleicht fünf. Die Türen der Fahrerkabine öffneten sich. Die schlanken Fremden stiegen aus, ohne sich um die Gefangenen zu kümmern. Atlan und Dorstellarain lagen allein in der Kabine. »Was soll das?« grollte die Stimme des Hünen. »Wollen sie uns hier schmoren lassen?« »Eher erfrieren«, knurrte Atlan. »Ich glaube, daß die Burschen ihre Schuldigkeit getan haben und sich jetzt jemand anders um uns kümmern wird.« Dorstellarain kniff die Augen zusammen. »Du meinst, wir sind wirklich in Gynsaal?« »Möglich«, sagte der Arkonide. Die beiden lagen sich gegenüber. Auch wenn einer von ihnen den Kopf hob, war nicht viel mehr als Schneegestöber zu erkennen. Es war aber unwahrscheinlich, daß es in Gynsaal, das doch unter einem undurchdringbaren Energieschirm liegen sollte, schneite. Wohin hatte man sie dann gebracht? »Das Empfangskomitee«, brummte Dorstellarain. Er blickte auf etwas in Atlans Rücken. Fast im gleichen Augenblick spürte der Arkonide die Berührung. Ein langer
Das kalte Feuer Tentakelarm wand sich um seinen Oberkörper und hob ihn hoch. Ein zweiter legte sich um die Beine. Atlan wurde aus der Kabine gezogen, während weitere Tentakel auf Dorstellarain zuschossen. Atlan sah den Boden auf sich zukommen. Schnee. Jetzt war er sicher, daß man sie nicht nach Gynsaal gebracht hatte. Er wurde weich abgelegt. Die Tentakelarme zogen sich zurück. Atlan wälzte sich herum. Gefesselt auf dem Rücken liegend, erkannte er zwei der scheibenförmigen Roboter, wie sie ihm Scharenweise in der Unterwelt von Atlantis begegnet waren, wo sie vom Transmitter, durch den er hierhergelangt war, ausgespien worden waren. Die gleichen Roboter hatte er am Stadtrand von Orxeya gesehen. Dorstellarain ließ sich nicht so ohne weiteres aus dem Fahrzeug zerren. Er schrie und bäumte sich auf, versuchte die Fesseln zu sprengen und spuckte nach den Scheiben, mit dem Ergebnis, daß er erheblich unsanfter als Atlan im Schnee landete. »Verfluchte Automaten!« brüllte er. »Feiglinge! Mit einem Gefesselten kann man sich's ja erlauben!« »Beruhige dich«, sagte Atlan. »Sag mir lieber, ob du weißt, wohin sie uns gebracht haben.« Dorstellarain murmelte etwas Unfreundliches vor sich hin und hob den Kopf. Er lachte rauh: »Und ob ich das weiß. Siehst du die Hallen dort? Genauso sieht's da aus, wo ich dich abholte.« »Du meinst, daß wir wieder da sind, wo wir angefangen haben?« »Diese Hallen sind größer«, knurrte der Clanoc. »Es ist nicht die gleiche Nebenstation, aber sie könnte den gleichen Zweck erfüllen.« Atlan kam nicht dazu, eine weitere Frage zu stellen. Einige der schlanken Fremden kamen heran und packten die Gefesselten. Atlan konnte nicht erkennen, ob es sich um dieselben Männer handelte, die sie hierher-
27 gebracht hatten. Jetzt sah auch er die Hallen. Es waren mindestens zehn. Weitere konnten sich auf der anderen Seite des Komplexes befinden. Die Hochgewachsenen schleppten sie zu einem der flachen, rechteckigen Gebäude. Eine Tür öffnete sich. Die Halle war in mehrere Sektoren unterteilt, zwischen denen hellerleuchtete Korridore hindurchführten. Atlan und Dorstellarain wurden fast bis zum Ende eines dieser Gänge getragen. Dann öffnete einer der Fremden eine weitete Tür, aus der fahles Licht drang. Die Gefangenen wurden in den Raum getragen, der kaum größer war als sechs mal sechs Meter, und abgelegt. Ohne ein Wort oder eine Geste verschwanden die Männer. Die Tür wurde von außen geschlossen. Es dauerte eine Weile, bis sich die Augen der Gefesselten, die beide auf dem Rücken lagen, an das Halbdunkel gewöhnten. »Verdammt!« schrie Dorstellarain plötzlich so laut, daß selbst Atlan, der von ihm schon einiges gewöhnt war, zusammenschrak. »Hör auf zu fluchen! Dadurch kommen wir auch nicht wieder hier heraus.« »Ich will aber fluchen! Ich brenne am ganzen Körper. Spürst du die Hitze nicht?« Ein Kichern. Atlan fuhr herum, wobei er sich fast eine Verrenkung zuzog. Zunächst erkannte er nur eine kleine Gestalt, die in der gegenüberliegenden Ecke kauerte. Dann begriff er. »Du gefällst mir, dicker Kerl«, sagte das Mädchen, offenbar an Dorstellarain gewandt. »Du spielst Feuer mit mir, ja?«
* Hätte Atlan nur wenige Minuten länger in der Beobachtungsröhre gesteckt, so wäre Dorstellarain wahrscheinlich einiges erspart geblieben. So aber konnte der Arkonide nichts von den erstaunlichen Fähigkeiten des Kindes wissen. Dorstellarains Fellbekleidung begann zu
28 glimmen. Der Clanoc versuchte aufzuspringen, aber da seine Beine gefesselt waren, blieb es nur bei einigen Verrenkungen. Dorstellarain schrie vor Schmerzen. »Gutes Feuer!« jauchzte das Mädchen. »Sehr gutes Feuer! Gefällt dir doch, dicker Kerl, oder?« Atlan ahnte etwas. »Machst du das?« fragte er, während er versuchte, sich an das Mädchen heranzuschieben. »Na klar. Pama kann besser Feuer machen als alle. Willst du auch Feuer?« »Nein, nein«, wehrte der Arkonide schnell ab. »Hör auf damit. Es tut ihm weh.« Im gleichen Augenblick erlosch das Glimmen. »Ich habe es schon gemerkt«, sagte das Kind. »Er ist ein dummer dicker Kerl.« »Der dir eine runterhauen wird, sobald er die Fesseln los ist«, rief Dorstellarain. »Atlan, wer ist diese Verrückte?« »Das Mädchen, das ich sah, als ich in der Röhre steckte«, antwortete der Arkonide. »Pama«, korrigierte das Kind. »Ich heiße Pama – und du?« »Atlan.« »Das ist ein schöner Name. Und wie heißt der dumme dicke Kerl?« »Der dumme dicke Kerl heißt Dorstellarain!« schrie der Clanoc. »Ich werde dir das Fell über die Ohren ziehen!« »Mit dir spreche ich nicht«, tat Pama beleidigt kund. Dann kicherte sie erneut. Sie sah Atlan an und entblößte eine Reihe weit auseinanderstehender Zähne. »Willst du spielen?« »Später bestimmt«, beeilte sich der Arkonide zu versichern. »Im Augenblick bin ich zu müde, das verstehst du doch?« »Alle sind sie müde dumm oder dick«, klagte Pama mit einem verächtlichen Blick auf Dorstellarain. »Oder sie wollen Feuerlöschen spielen wie der Eisenmann.« »Der … der Eisenmann?« entfuhr es Atlan. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß Grizzard doch auch hier sein müßte. Es war nach allem, was er jetzt über die Funktion der
Horst Hoffmann Zarmack-Blasen und der Roboter wußte, fast sicher, daß er zusammen mit dem Mädchen gefangengenommen worden war. Gegen die schwarzen Scheiben hatte er auch in der Porquetor-Rüstung keine Chance. Wo befand er sich dann? Atlan stellte Pama eine entsprechende Frage. »Ein dummes Spiel«, sagte sie. »Keine Lust mehr. Ich finde es ulkig hier.« Dorstellarain warf Atlan einen vielsagenden Blick zu. Das Mädchen hatte das geistige Niveau einer Dreijährigen. Es schien ein Tick von Pama zu sein, alles als ein Spiel anzusehen. Atlan dachte indessen an die plötzlich in Orxeya aufgeflackerten Brände. Er bezweifelte kaum noch, daß Pama dafür verantwortlich war, wenn sie auch vielleicht nicht wußte, was sie tat. Das Mädchen war möglicherweise ein schlummernder Vulkan. Es konnte sie alle umbringen, falls es ihm einfallen sollte, in diesem Gefängnis ein Feuer zu entfachen. Aber ein Kind, das kraft eines Geistes Gegenstände oder Menschen zum Brennen bringen konnte, in Orxeya? Hatte Pama etwas mit den Magiern in der Großen Barriere von Oth zu tun? Wie kam sie dann in die Händlerstadt? Äußerlich unterschied sie sich, von ihrer Häßlichkeit abgesehen, nicht von den Kindern, die Atlan in Orxeya gesehen hatte. Pama war im Moment nicht ansprechbar. Sie rollte mit den Augen, starrte die Decke an und kicherte hin und wieder in sich hinein. Insgeheim war Atlan froh, daß auch sie gefesselt war. Wer wußte, was sie sonst alles anstellen würde. Wieso verbrannte sie die Fesseln eigentlich nicht? Atlan hütete sich, Pama darauf anzusprechen. Wenn sie erst einmal wieder angefangen hatte, den Feuerteufel zu spielen, war es gut möglich, daß sie außer Rand und Band geriet und nicht zu halten war. Dennoch spielte der Arkonide mit dem Gedanken, daß sich Pamas Fähigkeiten unter
Das kalte Feuer Umständen gegen die Fremden einsetzen ließen. Die Frage war nur, inwieweit das Mädchen seine Kräfte kontrollieren konnte. »Will man uns hier verhungern lassen?« fragte Dorstellarain mürrisch. »Wieso haben die Burschen uns in eine Auffangstation für in die Dimensionsschleppe deportierte Pthorer gebracht? Wenn sie uns ausschalten wollen, können sie's einfacher haben.« »Bist du jemals solchen Männern begegnet, als du die Neuankömmlinge abholen mußtest?« fragte Atlan. »Nie. Sie befanden sich alle so wie du in der Station, ohne Bewachung.« »Also haben wir es nicht mit einer einfachen Auffangstation zu tun«, sagte der Arkonide. »Die Anlage muß noch andere Zwecke erfüllen. Wahrscheinlich beobachtet man uns. Möglicherweise werden wir verhört werden. Dann bietet sich vielleicht doch noch eine Chance.« Atlan versuchte, durch sein Mienenspiel auszudrücken, was er damit meinte. Falls es versteckte Kameras und Mikrophone im Raum gab, durfte er nichts sagen, was auf seine Absicht schließen ließ. Und diese Absicht bestand darin, die Fremden auf irgendeine Weise dazu zu bringen, daß er und der Clanoc nach Gynsaal geschafft wurden. »Wenn sie uns endlich hören können, sollen sie wissen, daß ich Hunger habe und endlich die Fesseln los sein will!« rief Dorstellarain so laut, daß Pama zusammenfuhr. »Sieh mich nicht so komisch an«, knurrte der Clanoc, der schon befürchtete, Pama könnte ihm erneut einheizen. »Du hast doch sicher auch Hunger, oder?« »Byjurc frißt am liebsten alte Knollen«, sagte Pama leise. Dann fing sie an zu weinen. Tränen liefen ihre Wangen hinab. »Byjurc ist nicht dick und dumm. Er kann nicht mehr laufen.« Bevor Atlan oder Dorstellarain fragen konnten, wer dieser Byjurc eigentlich sei, begann die Decke des Gefängnisses zu brennen. Pama heulte zum Steinerweichen, und je mehr sie sich in ihre Erregung hineinstei-
29 gerte, desto größer wurden die Flammen, die jetzt regelrecht die Wände herunterwanderten, den Boden erreichten und sich den Gefesselten näherten. Es wurde innerhalb weniger Sekunden unerträglich heiß. Atlan schrie das Mädchen an, doch Pama war geistig völlig abwesend. Eine Stichflamme schoß aus dem Boden zwischen Atlan und Dorstellarain. Der Arkonide wußte nicht, aus welchem Material die Wände und die Decke bestanden. Das war jetzt auch egal. Sie brannten lichterloh. Er war gefesselt und mußte hilflos mitansehen, wie die Flammen sich näherten. Eine weitere Stichflamme blendete ihn. Er bekam kaum noch Luft. Schützte ihn das Goldene Vlies auch gegen das Feuer? Dorstellarains Felljacke begann zu brennen. Ätzender Geruch erfüllte den Raum. Atlan zerrte an den Fesseln, versuchte, sich aus ihnen herauszuwinden, schrie weiter nach Pama. Sie konnte ihn nicht mehr hören. Die Brandstifterin lag bewußtlos am Boden. Dorstellarains Gesicht hatte sich verfärbt. Der Clanoc biß die Zähne aufeinander und kniff die Augen zusammen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Es fiel Atlan schwer, noch etwas zu erkennen. Dunkle Flecken erschienen vor seinen Augen und wurden schnell größer. Doch er nahm noch wahr, wie der Hüne die Luft anhielt und sich mit fast übermenschlicher Kraft auf die Knie aufrichtete. Mit einem ohrenbetäubenden Schrei sprengte er die über den Oberkörper gelegten Fesseln. Atlan schöpfte neue Hoffnung. Er kämpfte gegen die Ohnmacht an. Der Zellaktivator und das Goldene Vlies verliehen ihm zusätzliche Kräfte, doch was war das gegen die ungeheure Energieleistung des Clanocs, dem diese Hilfsmittel nicht zur Verfügung standen? Dorstellarain schaffte es, auch die Fußfesseln zu lösen. Er schrie auf wie ein Besessener und kam taumelnd auf die Beine. Sekundenlang starrte er Atlan wie jemand
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Horst Hoffmann
an, der nicht begriff, was mit ihm geschah. Er schnappte nach Luft und versuchte, die kleinen Flämmchen an der Jacke und der Beinkleidung zu ersticken. Von einem Augenblick zum anderen stürzte er mit aufgerissenen Augen zu Boden. Keine Folge der Überanstrengung, meldete sich der Extrasinn des Arkoniden. Die Luft ist es. Von den brennenden Wänden gehen giftige Dämpfe aus! Es ist fraglich, ob der Aktivator sie neutralisieren kann. Atlan konnte kaum noch klar denken und die Konsequenzen der Botschaft erkennen. Er wollte nur eines: nicht mehr zusehen müssen, wie Pama und Dorstellarain verbrannten. Er spürte die Schmerzen nicht mehr. Pthor, La'Mghor, die Odinssöhne, Razamon, die Schwarze Galaxis – all das war plötzlich unvorstellbar weit weggerückt. Noch einmal lehnte er sich gegen das grausame Schicksal auf und zerrte an den Fesseln. Außer Atem fiel er auf den Rücken. Eine Gestalt schälte sich aus den Flammen. Ein Gesicht, das er kannte und ihn anlächelte. Perry Rhodan streckte eine Hand nach ihm aus. Atlan wollte sie ergreifen, aber er war unfähig, sich zu bewegen. Die Vision verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Der Arkonide hatte im Lauf seines langen Lebens und seiner Abenteuer auf der Erde viele Völker kennengelernt. Fast jedes hatte dem nahenden Tod bestimmte Symbole zugeordnet. Atlan erinnerte sich an ein Indianervolk Nordamerikas, dessen Angehörige wußten, daß sie sterben würden, wenn sie den flammenden Stern des Todes sahen. Apathisch, mit weit aufgerissenen Augen blickte Atlan in die Flammen. Ein heller Punkt schälte sich aus ihnen heraus. Ein Stern. Ein flammender Stern.
*
Welk stand in einem flimmernden Feld, kreisförmig und mit einem Durchmesser von etwa drei Metern. Die Höhe der Glocke betrug fünf Meter. Von Projektoren aus der Decke des quadratischen, mit Instrumenten übersäten Raumes, in dem sich neben Welk drei weitere Kodos befanden, flossen ständig neue Energien in das Feld. Welk stand in Kontakt mit den Herren von Gynsaal. Er sprach in eine direkt vor seinem Gesicht schwebende, faustgroße Kugel und berichtete, was sich in der ZarmackBlase zugetragen hatte, in die die Fremden eingedrungen waren. Dann wartete er, bis die Kugel blau zu leuchten begann. Er vernahm die Anweisungen aus Gynsaal und bestätigte sie. Das Leuchten erlosch im gleichen Augenblick, in dem das Feld sich auflöste. Die Kugel schwebte zur Decke empor und blieb zwischen den Projektoren haften. Welk trat zu den anderen dreien und teilte ihnen mit, wie die Entscheidung über das Schicksal der Gefangenen ausgefallen war. Danach beobachtete er über die Sichtschirme die Vorbereitungen für die Übernahme des Pthorers, der den Robotern so unerwarteten Widerstand entgegengesetzt hatte. Wenig später kam das Signal aus Gynsaal, daß er abholbereit war. Zwei der Kodos verließen wortlos den Kontrollraum. Bald würden sie mit dem Verbannten zurück sein. Es war nicht Welks Aufgabe, die Konsequenzen aus dem ungeheuerlichen Geschehen der letzten Stunden zu ziehen. Dennoch beschäftigte es ihn. Noch niemals war es vorgekommen, daß ein gezielter Anschlag auf die Zarmack-Blasen ausgeübt worden war. Welk hatte Befehle auszuführen, mehr nicht. Doch immer öfter ertappte er sich dabei, daß er Fragen stellte. Es war nicht das erstemal, daß man von der Dimensionsschleppe aus eingegriffen hatte, wenn Bewohner Pthors zu einer Gefahr für den Dimensionsfahrstuhl wurden. Doch jetzt hatten sich die Verhältnisse
Das kalte Feuer grundlegend geändert. Die Herren der FESTUNG waren tot. Gegner waren am Werk und drohten nun sogar zu einer Gefahr für die Dimensionsschleppe zu werden. Dennoch hatten sie keine Chance. Indirekt war Gynsaal ein Stück der Schwarzen Galaxis, aus der auch Welk stammte. Mit Verbitterung dachte der Kodo daran, daß auch letzteres nur indirekt der Fall war. Es war ein Frevel, an die Vergangenheit zu denken – an jene Zeit, als sein Volk, genauer gesagt das Volk, das ihn geschaffen hatte, eine eigene Welt bewohnt hatte. Zumindest behaupteten dies die Legenden. Und doch versuchte Welk immer wieder, sich an die Ursprünge zu erinnern, obwohl er wußte, daß ihm dies niemals gelingen würde. Der Kodo war so in seine Gedanken versunken, daß er das Alarmsignal viel zu spät bemerkte. Herl, der in der Beobachtungsnische saß, war völlig von der Außenwelt isoliert, so daß auch er es nicht hatte sehen können. Feuer in der Zelle der Gefangenen! Die Dringlichkeitsstufe des Signals verriet Welk, daß es schon seit Minuten toben mußte. Sofort schickte er einen Robotertrupp los, aber er machte sich keine Hoffnungen. Vermutlich waren die drei längst tot. Sie waren gefesselt und konnten sich nicht wehren. Welk verfolgte mit steigender Erregung, wie die Roboter durch die Korridore schwebten. Er sah sich in seinen Befürchtungen bestätigt. Die Dinge begannen außer Kontrolle zu geraten. Er war dafür verantwortlich, daß die Gefangenen nach Möglichkeit unversehrt nach Gynsaal gebracht wurden. Welk kannte die Gründe für die Entscheidung aus Gynsaal nicht, und so konnte er nicht einmal Vermutungen darüber anstellen, welche Folgen der Tod der Fremden haben könnte. Welk hielt es nicht mehr im Kontroll-
31 raum. Er holte Herl aus der Nische und wies ihn an, seine Arbeit vorläufig zu übernehmen. Dann stürmte er auf den Korridor hinaus.
7. WOMMSER: DAS NEUE LEBEN Sein Bewußtsein tauchte aus dem unendlichen Dunkel einer unbegreiflichen Welt. Es dauerte eine Weile bis Wommser zu sich selbst fand. Er lebte. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Die Flucht vor den Schattenballungen, die Todesstille über Pthor, die Angst, sterben zu müssen und eine Katastrophe auszulösen. All das war vorbei. Wommser wußte es ganz einfach. Was er nicht wußte, war, wo er sich befand und was er während der Zeitspanne vor dem Erwachen erlebt hatte. Er hatte sich auf einer anderen, phantastischen Welt befunden. Aber wo? Das artverwandte Leben! Wommser spürte seine Nähe und wie es langsam neue Energien aufbaute – so wie er zuvor. Er fühlte Angst, doch es war nicht nur seine Angst. Eine leise Stimme, die aus ihm selbst herauszukommen schien. Wer bist du? Die Erleichterung darüber, daß das artfremde Leben nicht durch Wommsers »Überfall« ausgelöscht worden war, wich der Neugier. Wommser wollte eine Antwort formulieren, aber er fand keine Begriffe. Als was sollte er sich beschreiben? Wer oder was war er? Wohin gehörte er? Zu Kolphyr? Dann bist du wie ich, hörte Wommser. Die Stimme entstand mitten in seinem Bewußtsein. Ich sah die Bilder, die du dachtest. Ich heiße Leenia. Dies ist der Name, den ich einmal erhielt, auf meiner Welt. Auf deiner Welt? dachte Wommser. Dann stammst du nicht von Pthor? Immer noch schwang in den Gefühlsbildern, die der Dimensionssymbiont wahr-
32 nahm, Angst mit. Doch auch Leenia, wie sich das artverwandte Leben nannte, war neugierig. Allmählich schieb sie Zutrauen zu jener Wesenheit zu fassen, die sich in ihr breitgemacht hatte. Leenia öffnete ihren Gedankenschirm, so daß alles, was sie selbst wußte, Leenias ganze »Seele«, ausgebreitet vor Wommser lag. Augenblicke später wußte Wommser alles über sie – soweit sie selbst sich kannte. Irgendwann hatte sie sich auf dieser Welt – Pthor – wiedergefunden, nachdem etwas geschehen sein mußte, das jenseits der Erinnerung lag. Sie wußte nur, daß sie einmal unter Wesen gelebt hatte, die so waren wie sie. Wommser »sah« Leenias Körper, eine junge Frau mit langen Haaren und kupferfarbener Haut, doch auch dieses Bild war vage. Leenia wußte nicht, ob sie immer so gewesen war. Sie wartete auf etwas, das sie sinngemäß den »Ruf der Höheren Welten« nannte. Auch hierüber war sie sich im unklaren. Irgendwann würde der Ruf sie ereilen, und sie würde ihm zu folgen haben. Wie das vonstatten gehen sollte, lag ebenfalls noch im ungewissen. Du bist mir ähnlich, dachte Leenia wieder. Sie kannte Wommsers Entwicklungsgeschichte ebenso wie er die ihre. Es gab zwischen den beiden Wesen keine Schranken. Es war, als ob sie zu einem Bewußtsein verschmolzen wären. Ähnlich, dachte Wommser und erschrak über die Bitterkeit, die er plötzlich spürte. Zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit begann er sich zu fragen, wer er eigentlich war. Eine energetische Sphäre, geboren aus dem Aufeinandertreffen von Normal- und Antimaterie. War er ein Neutrum? An die wenigen Tage, in denen er als Symbiont in Kolphyrs Oberarm herangewachsen war, hatte er kaum eine Erinnerung. Ein feines Gespinst hatte ihn von der »Außenwelt«, die auch Kolphyrs Körpergewebe für ihn darstellte, isoliert, bis dieser Schutz nicht mehr
Horst Hoffmann ausreichte und er »geboren« wurde und sich unbewußt in die Räume zwischen den Dimensionen katapultierte. War es möglich, daß es dort Welten gab, die es Wesen wie ihm gestatteten, ohne Schutz auf ihnen zu leben? War es das, wonach er suchte? Stammte Leenia von einer solchen Welt, auf der es keine gegensätzlichen Zustandsformen von Materie und Energie gab? Ein nie gekanntes Gefühl der Geborgenheit erfüllte Wommser. Der Wunsch, diese Geborgenheit niemals mehr aufgeben zu müssen. Er war in Leenia aufgegangen, als ob er in eine zweite Haut geschlüpft wäre. Doch war ein Zusammensein auf längere Sicht überhaupt möglich, ohne daß einer der beiden Partner Schaden nahm? Deine Befürchtungen sind unbegründet, wisperte es in ihm. Im Gegenteil gibst du mir neue Kraft. Vorhin hatte ich sogar den Eindruck, ins Nichts geschleudert zu werden und meine Heimat zu sehen. Natürlich ist dies unmöglich, bevor ich nicht den Ruf gehört habe. Ein phantastischer Gedanke kam Wommser, und Leenia kannte ihn im gleichen Augenblick. In ihr existierten die gleichen Kräfte wie in ihm, und auch sie war in ein unsichtbares Neutralisationsfeld gehüllt. Eine gemeinsame Zukunft für beide als ein Wesen? Ein neues Leben? Doch da war Kolphyr. Wommser hatte es bislang als Sinn seiner Existenz betrachtet, dem Elter zur Seite zu stehen, falls dieser in Gefahr geriet. – Kolphyr und seine Freunde. Er konnte Kolphyr nun nicht einfach im Stich lassen, obwohl sich ihm völlig neue Welten auftaten. Alles war noch viel zu neu und verwirrend für Wommser. Phantastische Aspekte, die möglicherweise nur die Spitze eines Eisberges darstellten. Das eine schließt das andere nicht aus, vernahm er. Wir können beide auf die Suche nach Kolphyr gehen. Solange ich den Ruf nicht höre, bin ich frei in meinen Entschei-
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dungen. Und auch ich werde vielleicht jemanden finden, den ich viel zu früh verlor. Ich traf ihn vor nur kurzer Zeit. Er hieß Lebo Axton. Die lautlose Stimme schwieg einen Augenblick, als lauschte Leenia tief in sich hinein, in einen Teil ihres Bewußtseins, das Wommser noch verborgen war. Und außerdem, teilte sie dann mit, ist eine Trennung nicht mehr möglich. Wir gehören nun zusammen. Niemand von uns hat die Kraft, sich vom anderen zu lösen. Wir sind eins geworden, Wommser. Leenia dachte dies so gelassen, als gäbe es für sie nichts Selbstverständlicheres auf der Welt.
* Leenia war durch die Hügel in der Nähe der Senke der verlorenen Seelen gestreift, solange sie sich erinnern konnte. Irgendwann vor nicht allzu langer Zeit war sie wie aus einem tiefen Schlaf gerissen worden. Wahrscheinlich hatte sie lange Zeit in einem Dämmerzustand auf Pthor zugebracht. Sie hatte nichts, das ihr gehörte – mit einer Ausnahme. In der kleinen Höhle an einem schroff abfallenden Hang, wo sie erwacht war, befand sich ein Anzug aus unbekanntem roten Material. Sie hatte ihn nicht angelegt, obwohl sie glaubte, daß er für sie dort deponiert worden war. Der Anzug fühlte sich kalt an, und so hatte sie ihn kaum beachtet und nackt die Wälder durchstreift. Dabei fühlte sie sich wohl. Sie lebte in den Tag hinein, ernährte sich von Früchten und trank das Wasser der klaren Bäche. Irgend etwas sagte ihr, daß sie diese Nahrung nur brauchte, um ihren Körper nicht zu verlieren. Doch auch das bereitete ihr keine Sorgen, solange sie auf den Ruf wartete. Nur einmal hatte sie Angst davor gehabt, irgendwann ihren jetzigen Körper wieder zu verlieren – als sie Lebo Axton begegnet war. Vielleicht war diese Angst unbegründet. Vielleicht war sie das Abbild der wirklichen
Leenia. Axtons Anblick war ihr seltsam vertraut gewesen. Sahen dort, wo sie zu Hause war, ihre Brüder und Schwestern so aus wie er und sie? Sie würde es früher oder später erfahren. Dann dient dein Aufenthalt auf Pthor einem bestimmten Zweck? erkundigte sich Wommser, während Leenia sich der Höhle näherte, in der der Anzug liegen mußte. Ja, dachte sie. Ich habe, einen Auftrag. Und du wirst erst erfahren, wie dieser Auftrag lautet, wenn du den Ruf der Höheren Welten hörst? So ist es, bestätigte das Mädchen. Wommser stellte keine weiteren Fragen. Leenia arbeitete sich mit graziösen Bewegungen durch das Dickicht, bis sie einen kleinen Pfad fand. Manchmal, etwa bei Unwettern oder wenn sie sehr müde war, kehrte sie in die Höhle zurück. Sie kletterte über ein paar Felsen und blieb an einem Baum stehen, zwischen dessen riesigen roten Blättern gelbe Früchte hingen. Leenia pflückte einige und aß sie. Eine halbe Stunde später hatte sie ihr Ziel erreicht. Der Anzug lag noch immer unberührt neben einem Lager aus Gräsern. Leenia zögerte einen Augenblick. Du hast Angst davor, ihn anzulegen, erkannte Wommser. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Doch wenn wir aufbrechen, muß ich ihn anlegen. Bisher hatte ich mich niemals weit von der Höhle entfernt. Wer sagt dir, daß du ihn tragen mußt? fragte Wommser. Es muß so sein, kam die Antwort. Wir werden vielleicht nie mehr zurückkommen. Leenia bückte sich und berührte den Anzug. Ein feines Flimmern umspielte einen Augenblick lang ihre Finger. Dann gab sie sich einen Ruck und hob ihn auf. Sie sah sich um, als nähme sie von etwas Abschied. Das Strohlager, die grauen Wände der Höhle, die grünen Hügel, die bisher ihre Welt gewesen waren. Leenia streifte den Anzug über. Er war
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völlig glatt, ohne Taschen oder Besätze und schloß sich über ihrem Oberkörper. Das Mädchen wußte, daß es ihn nun nicht mehr ausziehen konnte. Leenia lauschte in sich hinein, hörte das ständige Wispern, das sie erfüllte, seitdem Wommser sich in ihr manifestiert hatte, spürte seine Unsicherheit. Das war alles. Es schien so, als ob sich nichts verändert hätte. Laß uns gehen, dachte sie schließlich. Wir werden deinen Freund Kolphyr suchen. Kolphyr ist mein Elter, kam es von jenem Teil des Gesamtbewußtsein, der sich noch mit Wommser identifizierte. Nein, das ist nicht richtig. Wesen unserer Art werden nicht geboren, korrigierte Leenia. Sie entstehen und finden irgendwann zueinander. Einen Augenblick lang war es so, als risse der Schleier auf, der Leenias Vergangenheit verbarg. Einen viel zu kurzen Augenblick.
8. ATLAN: EIN KÖRPER NAMENS KENNON Jemand rüttelte an seinen Schultern. Atlan erwachte aus der Trance. Ungläubig sah er, wie Dorstellarains Gesicht sich aus dem hellen Licht schälte. »Willkommen unter den Lebenden!« Der Clanoc lachte humorlos. Hinter ihm erkannte Atlan jetzt Roboter, die gleichen Typen, die ihn und Dorstellarain aus dem Raupenfahrzeug geholt hatten. »Was … was ist …?« »Nur ruhig«, sagte der Hüne. »Das wäre fast ins Auge gegangen. Ausgerechnet den Robotern verdanken wir, daß wir noch nicht in der Hölle braten. Verdammt, das Feuer dieser Verrückten hat mir gereicht.« Pama saß in ihrer Ecke und wirkte verstört. Sie schien nicht zu wissen, was sie angerichtet hatte. Dorstellarains Galgenhumor täuschte. Der Clanoc sah ziemlich mitgenommen aus. An vielen Stellen war die Kleidung versengt, ebenso wie ein Teil der
unter der ehemals völlig weißen Pelzmütze herausragenden rostroten Haare. Seine Hände waren schwarz vor Ruß. Er versuchte zwar, seine Schmerzen zu verbergen, aber immer wieder preßte er die Lippen aufeinander. Auf der rechten Wange waren Spuren von Verbrennungen zu erkennen. »Die Roboter kamen gerade noch rechtzeitig, schätze ich«, erklärte er. »Ich weiß es nicht, weil ich erst zu mir kam, nachdem sie mit Löschen fertig waren. Sie haben mir irgend etwas injiziert, das mich wieder auf die Beine brachte. Das gleiche geschah mit unserem kleinen Feuerteufel.« Dorstellarain sah Atlan prüfend an. »Du hast ausgesehen, als ob du mit offenen Augen geträumt hättest.« Der Arkonide drehte sich so, daß er Pama sehen konnte. Einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, dann tat das Mädchen so, als gäbe es außer ihr niemanden im Raum und musterte interessiert die Decke. Wie die Wände war sie schwarz. An einigen Stellen hatte das Material Blasen geworfen. »Ich würde mich nicht wundern, wenn sie auch Eisen zum Brennen bringen könnte«, murmelte Atlan. Dann wandte er sich wieder dem Clanoc zu. »Ist wirklich alles in Ordnung?« »Deinen Humor möchte ich haben! Nichts ist in Ordnung. Wir sind gefangen und stecken mit einer Verrückten in einer Zelle. Die Roboter lassen uns nicht aus den Augen. Sie wollten mich wieder fesseln, ließen mich aber gewähren, als ich mich um dich kümmerte.« »Ich muß Feuer machen«, flüsterte Pama. Dorstellarain fuhr auf. Die beiden Roboter im Eingang zeigten noch keine Reaktion. »Untersteh dich!« rief der Clanoc. »Ich muß!« Pama begann zu weinen. »Ich will nicht mehr spielen, aber ich muß!« Kleine Flämmchen begannen auf dem Boden zu züngeln. Dorstellarain stieß einen Schrei aus. Blankes Entsetzen stand in seinen Augen geschrieben. Es verriet mehr über die Qualen und die Angst, die er ausge-
Das kalte Feuer standen haben mußte, als alle verharmlosenden Worte. Als die erste Stichflamme in die Höhe schoß, verlor der Hüne seine Beherrschung. Mit zwei Sätzen war er bei Pama und versetzte dem Mädchen eine schallende Ohrfeige. Im gleichen Augenblick schwebten die Roboter in den Raum und versprühten eine löschende Flüssigkeit. Binnen Sekunden waren die Flammen verschwunden. Die nassen Bodenstellen trockneten so schnell, daß Atlan es mit bloßem Auge verfolgen konnte. Pama starrte Dorstellarain fassungslos an. Sie bewegte die Lippen, brachte jedoch kein einziges Wort hervor. Atlan glaubte, Verzweiflung in ihrem naiv wirkenden Gesicht zu sehen. Trotz ihrer Häßlichkeit hatte sie ihn vom ersten Augenblick an fasziniert. Atlan hatte auch schon eine Bezeichnung für sie gefunden. In Gedanken nannte er sie eine ParaPyromanin. Sobald wieder Ruhe eingekehrt war, wollte er versuchen, sie zu befragen und ihr Rätsel zu ergründen. War sie eine Mutantin oder eine Magierin? Wo lag die Grenze? Waren nicht auch die Mitglieder des terranischen Mutantenkorps in gewissem Sinne Magier? Die Roboter zogen sich wieder zum Eingang zurück. Pama machte nicht den Eindruck, als wollte sie in den nächsten Minuten ein weiteres Feuer entfachen. »Dorstellarain«, rief Atlan halblaut. Der Clanoc baute sich vor ihm auf, nachdem er den Robotern ein paar mißtrauische Blicke zugeworfen hatte. »Versuche, mir die Fesseln abzunehmen. Wenn die Blechkerle darauf reagieren, haben wir Pech gehabt.« Dorstellarain murmelte etwas Unverständliches und machte sich an die Arbeit. Kaum hatte er die Stelle gefunden, an der die beiden Enden der Schlinge über der Brust des Arkoniden zusammengewunden waren, hörten die beiden Männer eine
35 schneidende helle Stimme. Dorstellarain fuhr in die Höhe. Langsam drehte er sich um, bis auch Atlan den großen schlanken Fremden sehen konnte, dem die Roboter Platz gemacht hatten. Es war einer jener Männer, die in den Zarmack-Blasen Dienst taten und sie als Gefangene hierhergebracht hatten. Mit einem Unterschied. Der Hochgewachsene trug keinen Schutzanzug, sondern lockere Kleidung aus einem fließenden, ständig knisternden Stoff. Das völlig weiße Gesicht war flach. Nase, Augen und Lippen hoben sich kaum daraus hervor. Atlan, der sich soweit herumgewälzt hatte, um den Fremden genau studieren zu können, wurde an eine Maske erinnert. Der Mann hob einen Arm. »Hören Sie auf damit«, sagte er in einstudiert wirkendem, reinem Pthora, wobei er auf die vom Feuer angegriffenen Stellen der Wände, des Bodens und der Decke zeigte. »Andernfalls kann ich nicht länger die Verantwortung übernehmen und muß Ihre Liquidierung befehlen.«
* Atlan fand als erster die Sprache wieder. Mit einem Blick gab er Dorstellarain zu verstehen, daß er zu Pama gehen und auf sie aufpassen sollte. »Verantwortung?« begann der Arkonide vorsichtig. »Das heißt, daß Sie der Kommandant dieser Station sind?« »Ich kontrolliere diese Anlage und die Zarmack-Blasen, wenn Sie so wollen«, entgegnete der Fremde. »Und ich trage die Verantwortung dafür, daß Sie nach Gynsaal gebracht werden, wo man über Ihr endgültiges Schicksal entscheiden wird. Sollte die Feuerlegerei nicht aufhören, werden Sie alle drei vorher sterben. Sie stellen einen Unsicherheitsfaktor dar.« Man könnte es auch anders ausdrücken, dachte Atlan. Die mysteriösen Beherrscher des angeblich unangreifbaren Gynsaal haben Angst vor jemandem, der anders rea-
36 giert, als sie es von den anderen Gefangenen her kennen. Laut sagte er: »Wann sollen wir nach Gynsaal gebracht werden?« »Das habe nicht ich zu entscheiden«, erklärte der Hochgewachsene abweisend. »Wer von Ihnen macht das Feuer?« Atlan versuchte es mit einem Bluff. »Wir waren alle gefesselt. Wie sollte einer von uns ein Feuer entzünden können?« »Letztlich spielt es keine Rolle, wer es ist«, sagte der Fremde. »Wir könnten es feststellen, indem wir einen nach dem anderen exekutieren. Jedenfalls sind Sie gewarnt. Noch ein Brand, und Sie sterben alle drei.« Da der Weißgesichtige einen überaus selbstsicheren Eindruck machte, versuchte der Arkonide, ihn auszufragen. »Wo befinden wir uns?« »Dies ist Bortolack«, erklärte der Hochgewachsene bereitwillig. »Ich nehme an, daß es sich um eine Auffangstation für Wesen handelt, die gegen die durch den VONTHARA-Alarm ausgelöste Lähmung immun sind«, bohrte Atlan weiter. »Eine Teil der Anlage dient dazu«, sagte sein Gegenüber. Er blickte Dorstellarain und Pama durchdringend an. Das Mädchen weinte leise. »Ich gehe jetzt«, verkündete er. »Bald wird man einen weiteren Immunen zu euch bringen. Denkt an meine Warnung.« Atlan fiel es schwer, den Triumph zu verbergen. Sie schienen ihr Ziel, nach Gynsaal gebracht zu werden, erreicht zu haben, ohne auch nur einen Finger dafür rühren zu müssen. Falls Pama ihnen keinen Strich durch die Rechnung machte. »Noch eine Frage«, rief Atlan dem Fremden hinterher, als dieser schon bei den immer noch zu beiden Seiten des Eingangs warteten Robotern war. Der Weißgesichtige drehte sich noch einmal um. »Ja?« »Wie heißen Sie?«
Horst Hoffmann »Was nützt es Ihnen, wenn ich es sage?« »Ich möchte es wissen«, erklärte Atlan. »Mein Name ist Welk«, sagte der Fremde. Dann verschwand er. Die Roboter folgten ihm. Die drei Gefangenen waren wieder unter sich. »Die Fesseln, Dorstellarain«, zischte der Arkonide. »Schnell, bevor sie sich's wieder anders überlegen.« Zwei Minuten später war Atlan frei. Er rieb sich die Stellen, an denen die Stränge gedrückt hatten. Dorstellarain war unterdessen dabei, Pama zu befreien. »Sie fühlen sich verdammt sicher«, knurrte der Clanoc. »Mir kann niemand erzählen, sie hätten vergessen, daß ich nicht mehr gefesselt war.« »Wozu auch?« Atlan lachte bitter. »Sie werden draußen stehen und aufpassen, daß wir keine Dummheiten machen.« Pama ließ sich die Fesseln abnehmen, ohne Dorstellarain aus den Augen zu lassen. Plötzlich strahlte sie wieder. Pama stand auf und machte ein paar Sprünge, wobei sie eine Melodie summte. Dorstellarain tippte sich bezeichnend gegen die Stirn. Das Mädchen hatte es bemerkt. Pama ahmte die Geste nach. Ihr Zeigefinger schlug immer wieder gegen die Schläfe. »Ein Spiel?« fragte sie hoffnungsvoll. »Warum antwortest du nicht, dummer dicker Kerl? Du willst mit Pama spielen?« »Äh …«, begann der Clanoc. Atlan packte ihn am Arm und flüsterte ihm zu: »Geh darauf ein, oder soll sie lieber wieder Feuermachen spielen wie vorhin?« »Mit euch spiele ich überhaupt nicht mehr!« schrie Pama schrill. »Ihr könnt mich nicht leiden. Ach, ihr seid beide dumm!« Atlan seufzte und setzte sich zu ihr. Pama musterte ihn mißtrauisch und abweisend. »Hör zu«, sagte der Arkonide lächelnd. »Du bist doch ein schlaues Kind. Dein Feuer hat uns großartig gefallen. Das war wirklich schön. Wir …«
Das kalte Feuer »Gefallen?« Pamas Augen leuchteten auf. »Soll ich …?« »Jetzt nicht«, sagte Atlan schnell. »Später kannst du uns zeigen, was du noch alles kannst. Aber wo hast du das gelernt, Pama? Woher kannst du Feuer machen?« Sogleich trat ein trauriger Ausdruck auf das Gesicht des Kindes. »Ich will manchmal gar nicht spielen«, klagte sie. »Aber dann muß ich, so wie eben. Wenn es in mir heiß wird, muß ich Feuer machen, verstehst du?« »Ich glaube schon«, sagte der Arkonide. Er legte väterlich den Arm um Pamas schmutzige Schultern und versuchte, den unangenehmen Geruch zu ignorieren, der von ihr ausging. Sie brauchte dringend einmal ein Bad. »Du merkst, wie es heiß wird, und gibst die Hitze nach außen ab.« »Du redest aber komisch. Wem soll ich etwas abgeben?« Dorstellarain grinste zum erstenmal wieder. Es war offensichtlich, daß er von den Robotern schmerzstillende und entzündungshemmende Injektionen bekommen hatte, als er noch bewußtlos war. »Aber es wird dir immer dann heiß, wenn du dich freust oder besondere Angst vor etwas hast. Stimmt's?« »Du bist schlau«, sagte Pama zögernd. Dann trat ein freches Grinsen auf ihr Gesicht. »Viel schlauer als der dumme dicke Kerl. Wieso spielst du mit ihm?« »Wir spielen nicht, dumme Ziege!« brüllte Dorstellarain. »Mit dir rede ich nicht, dummer Kerl«, rief Pama schrill. »Und ich habe auch nicht vergessen, was du getan hast. Warte, das bekommst du noch zurück!« »Haha!« machte der Clanoc. »Also«, fuhr Atlan fort, nachdem er Dorstellarain bedeutet hatte, sich zurückzuhalten. »Du mußt also Feuer machen, wenn dich etwas aufregt?« »Ja. So wie der dicke Kerl mich aufregt. Er ärgert mich.« »Wer sind deine Eltern?« Pama sah den Arkoniden verständnislos an. Atlan seufzte.
37 »Ich meine, hast du immer in der großen Stadt gelebt?« »Nicht immer«, murmelte Pama. Ihr Blick schweifte in die Ferne. »Deshalb sind sie auch alle so eklig zu mir. Niemand spielt mit mir. Alle lachen sie. Das geschieht ihnen recht.« »Was?« »Daß sie kaputt sind und sich nicht bewegen können.« Atlan wollte eine weitere Frage stellen, als die Tür aufgerissen wurde und ein weiterer Gefangener in den Raum gestoßen wurde. Pamas Augen leuchteten auf. »Der Eisenmann!« kreischte sie, wobei sie aufsprang und wilde Sprünge vollführte. »Porquetor!« entfuhr es dem Arkoniden. Er korrigierte sich, als die Tür des Gefängnisses geschlossen war. »Du bist also Grizzard.«
* »Sieh dir den da an, dicker Dummkopf!« schimpfte Pama. Sie war mit zwei Schritten bei Dorstellarain und trat ihn vors Schienbein. Der Clanoc schrie, doch Pama ließ sich nicht beeindrucken. Die Ärmchen in die Hüften gestemmt, blickte sie Dorstellarain provozierend an. Dieser wollte mit der Rechten ausholen, bemerkte aber gerade noch rechtzeitig, wie Pama zu der stählernen Gestalt hinüberschielte. Bevor Dorstellarain nicht genau wußte, mit wem er es da zu tun hatte, wollte er sich lieber auf nichts einlassen. »Er hat mich gehauen«, beklagte das Mädchen sich beim »Eisenmann«. »Er wird's nicht wieder tun«, sagte Atlan und versuchte, Pama zu beruhigen. »Er hatte Angst, das war alles.« »Wenn ich Angst habe, verhaue ich niemanden«, entgegnete sie. »Der Eisenmann paßt schon auf, daß er's nicht wieder tut.« Atlan nickte dem, der in der ehemaligen Porquetor-Rüstung steckte, freundlich zu. Natürlich war der Halbroboter
38 nicht gefesselt. Selbst die Schlingen und Stricke der Weißgesichtigen würden ihn nicht halten können. »Du sagtest Grizzard zu mir«, begann Atlans Gegenüber in gebrochenem Pthora. »Dann kennst du mich?« »Ich glaube, wir haben einen gemeinsamen Freund.« »Caidon-Rov?« Atlan nickte wieder. Es war ruhig im Raum. Dorstellarain und Pama schienen zu begreifen, daß die seltsame Unterhaltung zwischen Atlan und dem Unbekannten für sie alle wichtig sein konnte. Vielleicht konnte man sogar mit Hilfe dieses stählernen Riesen ausbrechen. Doch daran dachte der Arkonide im Augenblick nicht. Er setzte sich. Grizzard blieb vor ihm stehen, so daß Atlan den Kopf in den Nacken legen mußte, um in die Sehschlitze zu blicken. »Wie komme ich hierher?« wollte der Stählerne wissen. »Und wo sind wir? Was soll das alles?« »Darüber reden wir später«, sagte Atlan. Seitdem der Halbroboter den Raum betreten hatte, beherrschte ein Gedanke den Arkoniden. Er hielt es nicht lange auf dem Boden aus und stand wieder auf. Dann trat er dicht vor die Rüstung und berührte deren Brustpartie mit dem Zeigefinger der rechten Hand. »Kennon«, sagte er. »Sinclair Marout Kennon.« »Ich verstehe nicht«, dröhnte Porquetors Stimme mit gedrosselter Lautstärke. »Mein Name ist Grizzard.« »Das mag sein«, murmelte Atlan. »Dennoch möchte ich dich um einen Gefallen bitten.« »Atlan!« knurrte Dorstellarain. »Was soll der Unsinn? Wir haben wirklich andere Sorgen.« »Es dauert nicht lange«, versprach der Arkonide. Ein Blick auf Pama zeigte ihm, daß sie den Halbroboter so fasziniert anstarrte, daß sie in den nächsten Augenblicken kaum auf den Gedanken kommen würde, Feuer zu
Horst Hoffmann machen. »Welchen Gefallen?« fragte Grizzard. »Weißt du etwas über mich? Dann tue ich alles, was du verlangst.« »Ich bitte dich darum, die Rüstung zu öffnen und aus ihr herauszusteigen.« Die Reaktion seines Gegenübers bestärkte Atlan in seinem Verdacht. Schon in der Feste Grool, als Caidon-Rov seinen seltsamen Gast, der in der Porquetor-Rüstung geflohen war, genau beschrieb, war er hellhörig geworden. Doch die Vermutung, die sich ihm unwillkürlich aufgedrängt hatte, war ihm als zu phantastisch erschienen. Nun wollte er Gewißheit haben. »Grizzard« schien einen Augenblick die Kontrolle über die Rüstung zu verlieren. Die stählernen Arme zitterten und vollführten schlingernde Bewegungen. Vorsichtshalber sprang Atlan zwei Meter zurück. »Was ist?« fragte er. »Kannst du nicht allein aus ihr heraus? Soll ich dir helfen?« »Ich … ich kann nicht«, antwortete der Stählerne. Etwas am Klang der Kunststimme jagte Atlan einen Schauer über den Rücken. Dennoch blieb er hart. »Weil du Angst davor hast, wir könnten dich auslachen? Weil du ein Zwerg bist?« Die mächtigen Arme sanken herab. Porquetor stand wie versteinert da. War es eine Täuschung, oder glühten die Sehschlitze tatsächlich kurz auf? »Was weißt du über mich?« Die Stimme, deren Klang einmal genügt hatte, um die Bewohner des Blutdschungels in Angst und Schrecken zu versetzen, war kaum noch zu vernehmen. Atlan fühlte Mitleid. Und doch mußte er Gewißheit haben. Er kannte die Akte des USO-Spezialisten Sinclair Marout Kennon auswendig. Sein photographisches Gesicht vergaß nichts, was er einmal gesehen, gehört oder erlebt hatte. Mit Sicherheit litt Kennon unter seinem mißgestalten Körper. Doch die Reaktion, die er jetzt zeigte, wirkte doch sehr übertrieben. »Ich kann dir nur helfen, wenn ich weiß, wer du bist«, sagte er. »Das weiß ich selbst nicht«, erklärte sein
Das kalte Feuer Gegenüber. Konnte eine Robotstimme Gefühle ausdrücken? Unbändige Trauer, die Verzweiflung eines Wesens, das sein ganzes Leben lang nur enttäuscht und immer nur als Sonderling behandelt worden war? Atlans Sicherheit schwand. Er spürte den Hauch eines Geheimnisses. Kennon, wenn er es wirklich war, müßte wissen, wen er vor sich hatte. Wie konnte er überhaupt hierher gelangen? »Ich kann dich nur bitten«, sagte der Arkonide. »Wenn ich recht habe, weiß ich, woher du stammst.« Dies konnte auch eine Erklärung für »Grizzards« Verhalten sein. Wenn Kennon tatsächlich hierher verschlagen worden war, mußte dies auf solch phantastische Art und Weise geschehen sein, daß ein Gedächtnisverlust nicht ausgeschlossen war. Auf Terra konnte der Spezialist unmöglich nach Pthor gelangt sein. Ein Ruck ging durch die Porquetor-Rüstung. Noch einmal richteten sich die Sehschlitze auf Pama und Dorstellarain, als ob das Wesen, das den Halbroboter steuerte, Scheu davor empfand, sich vor ihnen zu entblößen. »Ich werde es tun«, verkündete dann die Kunststimme. Atlan ging um den Halbroboter herum, so daß er in seinem Rücken stand. Die Öffnung wurde von innen aufgestoßen. Atlan blickte auf eine Hülle aus elastischem, dünnen Material, das die Umrisse einer Gestalt zeigte. Atemlos verfolgte der Arkonide, wie sich scheinbar aus dem Nichts eine Öffnung in der Hülle bildete. »Du mußt mir helfen«, sagte die Robotstimme. »Halt mich fest.« Atlan packte zu. Ein Körper glitt aus der Öffnung. Der Arkonide erkannte eine Art Sattel, auf dem er gesessen hatte. Vorsichtig zog er den Lenker des Stählernen aus der Rüstung. Dieser krallte sich an seinen Armen fest, als ob er Angst hätte, auf den Rücken zu fallen.
39 Zuerst kam der viel zu groß geratene Kopf zum Vorschein, dann der Oberkörper, schließlich die Beine. Atlan setzte den Kennon-Körper behutsam ab. »Ich wußte es«, sagte er leise. »Sinclair Marout Kennon.« Atlan war seit Monaten nicht mehr so erregt gewesen wie in diesem Augenblick. Kennon hier! Doch das konnte nur bedeuten, daß ihn jemand geschickt hatte. Natürlich wußte Atlan längst, daß auf Pthor ein anderer Zeitablauf herrschte als auf der Erde. Doch galt dies auch noch nach all dem, was sich in jüngster Zeit ereignet hatte? Der Dimensionsfahrstuhl war in seinen Grundfesten erschüttert worden. War es möglich, daß man auf Terra Mittel und Wege gefunden hatte, um Atlantis einzupeilen und Hilfe zu schicken? Ein Gedanke, der Atlan in eine wahre Euphorie versetzte. Niemals für möglich gehaltene Perspektiven taten sich auf. Doch die Antwort des Mißgestalten setzte der überschäumenden Hoffnung einen Dämpfer auf. »Ich kenne keinen Sinclair Marout Kennon, Fremder. Ich weiß nur, daß ich Grizzard heiße und einmal auf einer Welt lebte, an die ich mich nicht erinnern kann. Dies hier ist nicht mein Körper. Ich hatte einen besseren. Mein einziges Ziel ist es, meinen richtigen Körper zu finden.«
9. PAMA: DAS KALTE FEUER Pama verstand nicht, was die Großen redeten. Aber für Atlan, den Hellhaarigen, schien es sehr wichtig zu sein, was ihm der Eisenmann erzählte. Der Eisenmann tat Pama leid. Er war sehr traurig. Sogar der dicke dumme Kerl neben ihr schien das zu merken. Er war ruhig. Pama verfolgte mit steigender Erregung, wie der Eisenmann sich öffnete und ein an-
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Horst Hoffmann
derer aus ihm herausstieg. Ein häßlicher Zwerg! Pama war enttäuscht. Warum stand der Eisenmann einfach nur da und tat nichts dagegen, daß der Zwerg aus ihm herauskam? Es mußte ihm doch weh tun! War er krank? Warum sagte er nichts mehr? Dafür sprach Atlan. Was hatte er bloß immer mit diesem langen Namen? Sah er denn nicht, daß es dem Eisenmann nicht gut ging? Pama hätte den Hellhaarigen einmal sehen mögen, wenn sie ihm einen Zwerg aus dem Körper geholt hätten! Pamas Erregung stieg weiter. In den Fingerspitzen wurde es schon heiß. Auch die Zehen taten weh. Sie nahm kaum noch wahr, was um sie herum vorging. Nur die Angst und der Schmerz, die aus den wenigen Worten des Zwerges sprachen, und dann die Erregung des Hellhaarigen. Atlans nervliche Anspannung übertrug sich auf Pama. Die Hände wurden heiß, dann die Arme, die Schultern … Pama wollte es nicht, aber sie mußte das Feuer aus sich heraus bringen, um nicht selbst zu verbrennen. Der hellhaarige Atlan und der dumme dicke Kerl würden schimpfen, wenn sie Feuer machte. Das war ihr egal, im Gegensatz zu dem, was der Eisenmann dazu sagen würde. Pama hatte ihn gern. Er war komisch. Aber auch er mochte das Feuer nicht. Pama hielt tapfer aus, bis sie zu verbrennen glaubte. Die Hitze war furchtbar. Pama blieb nur noch eine Möglichkeit. Sie mußte ein kaltes Feuer entfachen.
* Dorstellarain bemerkte die Veränderung, die mit dem Mädchen vorging, als erster. Atlan sprach noch mit dem Mißgestalteten. Der Clanoc begriff nicht, was den Gefährten so an dem häßlichen Zwerg faszinieren konnte. Noch weniger verstand er, was es
mit dem hohlen Roboter auf sich hatte und was der Zwerg darin zu suchen hatte. Auf jeden Fall schien es für Atlan von großer Wichtigkeit zu sein, Informationen von ihm zu bekommen. Dabei warteten draußen die Wächter darauf, sie nach Gynsaal zu bringen. Obwohl sich hier eine vielleicht einmalige Gelegenheit bot, den geheimnisumwitterten Ort zu erreichen, sträubte Dorstellarain sich gegen die Art und Weise, wie das geschehen sollte. Einmal in der Gewalt der Mächtigen, hatten sie kaum noch Chancen, auf eigene Faust etwas gegen Gynsaal zu unternehmen. Doch Dorstellarain hielt sich zurück – bis er bemerkte, wie Pama zu zittern begann. »Es wird euch nicht weh tun«, flüsterte sie. »Bestimmt nicht. Das Feuer wird kalt sein. Ich muß es machen.« Sie sprang plötzlich auf und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich muß!« schrie sie verzweifelt. »Du kannst sie nicht hindern!« rief Atlan, der sofort begriff, was mit ihr vorging, dem Clanoc zu, bevor dieser sich auf das Mädchen stürzen konnte. »Laß sie!« Atlan packte den Kennon-Körper und half Grizzard wieder in die Rüstung, wo er auf jeden Fall besser vor dem, was Pama unter einem »kalten Feuer« verstand, geschützt war. Er war jetzt überzeugt davon, daß er es wirklich mit einem fremden Wesen zu tun hatte, das auf eine noch unbegreifliche Art und Weise in den Zwergenkörper geschlüpft war. Aber wenn der Körper Kennons auf Pthor war – wo steckte dann sein Bewußtsein? Die Wände begannen plötzlich zu glühen. Atlan überzeugte sich davon, daß Grizzard wieder in seiner als Körpermaske fungierenden Hülle saß, und schloß die Rückenplatte des Halbroboters, während Dorstellarain von Pama, die mit geschlossenen Augen in der Mitte des Gefängnisses stand, zurückwich. »Du mußt versuchen, dagegen anzukämpfen«, redete der Arkonide auf Pama ein. Er kniete neben ihr und hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt. »Ich muß«, wimmerte sie immer wieder.
Das kalte Feuer »Versteht ihr denn nicht?« »Ich verstehe dich jetzt gut«, sagte Atlan leise. Alles hing davon ab, daß Pama ihre Erregung ablegen konnte, bevor sie vollends die Kontrolle über sich verlor. Das Glühen der Wände verstärkte sich. Jetzt begannen auch Decke und Boden aufzuleuchten. Und immer noch war keine Hitzeentwicklung zu registrieren. »Beruhige dich, Pama. Wenn du Feuer machst, kommen die Roboter und …« Er unterbrach sich. Die Aussicht, getötet zu werden, würde möglicherweise Pamas Erregung nur noch verstärken. Atlan sah Dorstellarain und Grizzard hilfesuchend an. Alle waren sie ratlos. Jeden Augenblick konnten die Roboter hereingestürmt kommen. »Wo ist der Zwerg?« fragte Pama kaum hörbar. Ihr Zittern hatte sich verstärkt. Sie kämpfte immer noch gegen den inneren Zwang an, dem sie unterlag. »Er ist wieder in den Eisenmann zurückgekehrt«, sagte Dorstellarain. Im nächsten Augenblick verfluchte er sich für diese Auskunft. »Er soll ihm nicht weh tun!« schrie Pama, riß die Hände von den Augen und taumelte rückwärts gegen eine Wand. Atlan hielt den Atem an, aber das Glühen schien ihr nichts auszumachen. Und dann brach das Chaos über die Gefangenen herein. Von einer Sekunde zur anderen fuhren Blitze durch den kleinen Raum. Wände, Decken und Boden strahlten in einem grellen weißen Licht. Die Tür wurde aufgerissen. Welk stürmte herein, gefolgt von Robotern. Ungläubig starrte der Weißgesichtige auf die Szenerie, die sich seinen Augen bot. Er sprang zurück zum Ausgang. Dann erst merkte er, daß von dem glühenden Material keine Hitze ausging. »Ich habe euch gewarnt«, stieß er hervor. Welk drehte sich halb zu den wartenden Maschinen um und gab ihnen den Befehl, die vier Gefangenen zu töten. Atlan, Dorstellarain und Grizzard wichen zurück. Grizzard war sich offensichtlich dar-
41 über im klaren, daß er keine Chance gegen die Roboter hatte. Diesmal hatten sie nicht den Auftrag, ihn lebend einzufangen. Aus einigen Öffnungen in der oberen Hälfte der Scheiben schoben sich flimmernde Projektionsmündungen. Sie zielten auf die vier. Noch während Atlan krampfhaft nach einem Ausweg suchte, verlor Dorstellarain die Beherrschung über sich. Mit ohrenbetäubendem Geschrei warf er sich auf die erste Scheibe. Atlan rief ihm eine Warnung zu. Jeden Augenblick mußte der todbringende Strahl aus den Projektoren schießen. Doch plötzlich begannen die Maschinen in der Luft zu schaukeln. Dorstellarain sprang zurück. Ungläubig verfolgte er, wie ein Roboter nach dem anderen aufglühte und ohne Hitzeeinwirkung in sich zusammensank. Welk stand mit offenem Mund im Eingang. Er war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Was sich hier abspielte, war zu hoch für ihn. Er stieß einen gurgelnden Laut aus, sah die Gefangenen wie Geister an und lief schreiend in den Korridor hinaus. »Frage mich niemand, ob ich noch bei klarem Verstand bin oder träume«, rief Atlan den anderen zu. »Aber falls das kein Traum ist, wird es höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Los! Mir nach!« In einer der Wände entstanden erste Risse, ebenso in der Decke. Das unbekannte Material begann zu knistern. Grizzard stürmte als erster aus dem Raum, dann folgte Dorstellarain. Atlan hatte schon die Tür erreicht, als er Pamas Wimmern hörte. Sie saß immer noch am Boden und starrte wie in Trance vor sich hin. »Komm her!« rief der Arkonide. Fluchend lief er zurück, als das Mädchen sich nicht regte. Er nahm Pama auf die Arme und verschwand keinen Augenblick zu früh mit ihr aus der Zelle. Die Decke kam herunter. Doch es blieb keine Zeit zur Orientierung. Auch der Korridor glühte. Überall bildeten sich Risse. Dutzende von Robotern schwebten aus Neben-
42 gängen, um nach wenigen Augenblicken zu verglühen. Bald war der Boden mit ihren Resten übersät. Und es war kein Ausgang zu erkennen. Bald würde auch hier die Decke der Halle, in deren Mitte das Gefängnis gelegen hatte, einstürzen. »Weg hier!« schrie Dorstellarain. Der Clanoc und Grizzard liefen los, mußten aber immer wieder auf Atlan warten, der durch Pama behindert wurde. Der Korridor schien kein Ende nehmen zu wollen. Alles war in unheimliches Licht getaucht. Unmittelbar neben Atlan bildete sich eine Blase in einer Wand und platzte lautlos auf. Ein riesiger Riß entstand. Im gleichen Augenblick stürzte die Decke vor Grizzard, der an der Spitze der kleinen Gruppe lief, ein. Die Trümmer lagen so hoch, daß es unmöglich schien, über sie hinwegzusteigen, ohne sich an den scharfen Kanten der noch existierenden Deckenpartien die Köpfe aufzureißen. »Kannst du sie beiseite räumen, Grizzard?« rief Atlan. »Ich versuche es«, dröhnte die Stimme des Stählernen durch den Gang. Sofort begannen die mächtigen Arme in der Luft zu rudern. Die Füße der Porquetor-Rüstung fuhren in die Trümmer. Der Halbroboter arbeitete sich wie ein Räumfahrzeug durch das weißglühende Material, bis eine Bresche entstanden war, breit genug, um die vier durchzulassen. Das Glühen ließ nicht nach. Pama mußte also immer noch ihre paranormalen Kräfte freisetzen. Sie hatte mit Sicherheit furchtbare Angst, was ihre Erregung nur noch potenzierte. Hinter Atlan stürzten die ersten Wände ein. Plötzlich blieb Dorstellarain stehen und zeigte nach vorne. Mehrere der Hochgewachsenen stürmten aus angrenzenden Räumen und flohen in einen Nebengang. Sie achteten gar nicht auf die Ausbrecher. »Sie wollen zum Ausgang!« schrie Dorstellarain. »Wir folgen ihnen!«
Horst Hoffmann Der Clanoc behielt recht. Immer mehr der schlanken Gestalten quollen förmlich aus allen Teilen der Anlage hervor. Die Gefangenen prallten an der Stelle, wo der Nebengang in den Hauptkorridor mündete, fast mit einer Gruppe von ihnen zusammen, ohne daß die Fremden sich um sie kümmerten. Sie alle rannten um ihr Leben. Dann endlich, verbreiterte sich der Gang. Grizzard blieb stehen und nahm Atlan das Mädchen ab. Er erntete einen dankbaren Blick des Arkoniden. Sie befanden sich in einer Art Vorhalle, die sie kannten. Von hier aus hatte man sie zu ihrem Gefängnis geschleppt. Dorstellarain zeigte auf den breiten Ausgang. Immer noch flohen die Weißgesichtigen. Einige trugen Schutzanzüge und Helme, andere hatten nicht einmal mehr die Zeit gefunden, diese anzulegen. Draußen war das Geräusch anlaufender Motoren zu hören. Die vier gelangten ins Freie. Auch hier lagen vernichtete Roboter herum. Erst als sie etwa hundert Meter zwischen sich und die Halle gebracht hatten, wagten die Flüchtlinge stehenzubleiben. Sie drehten sich um. Atlan stieß pfeifend die Luft aus. Nicht nur die Halle, aus der sie in letzter Minute entkommen waren, glühte. Die ganze Station war von Pamas »kaltem Feuer« erfaßt worden. Überall brachen Gebäude auseinander wie Spielzeughäuser, die von einer Faust zertrümmert werden. Gebannt verfolgten die vier das Schauspiel. Pama hatte die Augen jetzt weit aufgerissen und schien von ihrem Werk fasziniert zu sein. Sie hatte die Arme um den Hals des Halbroboters gelegt. Atlan löste sich gewaltsam aus dem Bann, der sich über die Flüchtlinge gelegt hatte. Er sah, wie eines der in der Nähe abgestellten Raupenfahrzeuge nach dem anderen gestartet wurde und davonfuhr. Die Hochgewachsenen flohen Hals über Kopf. Bortolack, wie sie ihre Station nannten, war vernichtet – zerstört von unheimlichen Kräften. »Kommt mit«, sagte der Arkonide zu sei-
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nen Begleitern. »Wir müssen versuchen, eines der Fahrzeuge zu erobern.«
* Allmählich wichen der furchtbare Druck im Kopf und die Hitze, die den ganzen Körper auszubrennen schien. Pama kam zur Ruhe. Immer noch betrachtete sie die zerstörten Hallen mit einer Mischung aus Stolz, Faszination und Schrecken. Sicher würden die Männer jetzt böse mit ihr sein, dachte Pama. Sie hatte Angst vor dem dicken Kerl, der immer so furchtbar laut schrie. Der Eisenmann war ihr am liebsten. Auch der andere hatte ihr geholfen, als sie sich nicht bewegen konnte. Pama hatte die ganze Zeit über nur immer an den Eisenmann gedacht und daran, daß ihm durch das kalte Feuer nichts zustoßen durfte. Das Ergebnis machte sie stolz. Auch der Eisenmann mochte sie, das spürte Pama. Nur dieser häßliche Zwerg in ihm störte sie. Pama konnte nicht verstehen, wie der Eisenmann es zulassen konnte, daß der Zwerg so einfach in ihn hineinkroch. Manchmal war es schon sehr schwer, die Großen zu verstehen, vor allem, wenn sie so komisch waren. Aber es machte viel Spaß, ihnen zuzusehen. Sie waren jedenfalls nicht so langweilig wie die Großen in Orxeya. Außerdem lachten sie sie nicht andauernd aus. Pama kicherte bei dem Gedanken, daß sie dem dummen dicken Kerl mit dem langen Namen jetzt so oft vors Schienbein treten konnte, wie sie wollte. Der Eisenmann würde schon aufpassen und sie beschützen. Pama fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr. Daß sie weit weg von ihrem Zuhause war, störte sie gar nicht. Dort schliefen sowieso alle. Das kalte Feuer hatte ihr gutgetan. Jetzt würde sie eine Weile Ruhe vor der Hitze haben, wie immer, wenn sie ein großes Feuer
gemacht hatte. Die kleinen Brände in der Stadt waren nur ein Anfang gewesen. Die Hitze kam nicht mit einemmal über sie, sondern kündigte sich lange vorher an. In Orxeya hatte ihre Mutter Pama immer aus der Stadt geschickt, damit sie keinen Schaden anrichten konnte, wie sie sagte. Dabei hatte sie doch nur Angst vor den anderen Großen. Nein, dachte Pama und kicherte wieder. Zu Hause war niemand so lustig wie die drei Männer – der Eisenmann, der dicke dumme Kerl und der hellhaarige Atlan in seinem goldenen Anzug. Na gut, sagte sie sich. Auch der häßliche Zwerg war vielleicht nicht so schlimm, wie sie zuerst geglaubt hatte. Wenn der Eisenmann mit ihm Herein- und Herauslassen spielte, mußte er ihn gut leiden können. Pama schlang ihre kleinen Arme fest um den Hals des Eisenmanns. Sie freute sich schon sehr auf das, was die Großen als nächstes anstellen würden. Atlan und der dicke dumme Kerl liefen, auf eines der großen Gebilde zu, die im Schnee standen und so merkwürdig summten. Einige von ihnen konnten sich sogar bewegen. Pama blickte noch einmal zu den großen flachen Häusern zurück. Sie glühten jetzt nicht mehr. Das kalte Feuer war erloschen. Aber sie waren fast alle kaputt. Pama war mächtig stolz auf sich.
10. ATLAN: DER WEG NACH GYNSAAL Sie erreichten das panzerähnliche Fahrzeug genau in dem Augenblick, in dem auch zwei der Hochgewachsenen, beide in Raumanzügen, heranstürmten. Als diese auf die Flüchtlinge aufmerksam wurden, war es schon zu spät für sie. Atlan und Dorstellarain packten gleichzeitig zu. Die Fremden zappelten und schlugen mit den Armen um sich, als sie versuchten, sich aus der Umklammerung zu lösen. Vergeblich.
44 »Einer reicht uns«, sagte Atlan zu Dorstellarain. Dann packte er den Fremden fester und fragte: »Wer von euch kann diese Maschine fahren?« »Beide«, beeilte sich derjenige, den Atlan festhielt, zu versichern. »Wir wissen, wer ihr seid. Wir nehmen euch mit, aber laßt uns nicht zurück.« »Sehr tapfere Burschen«, knurrte Dorstellarain. Er lachte und sagte sarkastisch: »Wenn Gynsaal auf solche Helfer baut, haben wir eine größere Chance, als ich bisher glaubte.« »Gynsaal!« entfuhr es dem Fremden. »Ihr wollt nach Gynsaal? Laßt uns hier! Wir wollen hier sterben, wo wir arbeiteten und lebten.« »Rede keinen Unsinn, Jammerlappen!« herrschte Dorstellarain den Mann an. Der Clanoc hob den Fremden ohne große Mühe in die Höhe und reichte ihn zu Grizzard hinauf, der mit Pama schon in die Fahrerkanzel geklettert war. Atlan war einen Augenblick unaufmerksam. Dieser kurze Moment genügte dem zweiten Fremden, sich loszureißen und wegzurennen. »Laß ihn«, sagte Dorstellarain. »Ein Fahrer genügt uns. Außerdem wird's hier bald ungemütlich.« Atlan drehte sich um und sah die heranstürmende Gruppe. Schnell kletterte er in die Kabine. Die Tür fuhr zu. »Los, Kerl!« brüllte der Clanoc den vor Angst bebenden Mann an. »In fünf Sekunden sind wir unterwegs, oder ich schneide dir die Kehle durch!« Er brachte das Messer zum Vorschein und richtete die Spitze auf den Hals des Fremden – dicht unterhalb des Schutzhelms. »Wir werden alle sterben müssen«, jammerte der Mann. »Ihr müßt wissen. Niemand kann nach Gynsaal, ohne …« »Jetzt reicht's mir!« knurrte Dorstellarain. »Ich zähle bis drei. Eins … zwei …« Resignierend ließ sich der Hochgewachsene im Fahrersitz nieder und schob die Hände in die dafür vorgesehenen Vertiefungen. Die Haube senkte sich automatisch
Horst Hoffmann über seinen Kopf. »Na, also«, sagte Dorstellarain zufrieden. »Man muß nur wissen, wie man mit den Burschen zu reden hat.« Atlan trat hinter den Fahrer. »Wie heißt du eigentlich?« »Pforeilt«, drang es unter der Haube hervor. »Was interessieren uns Namen?« fragte der Clanoc erstaunt. Atlan zuckte die Schultern. »Diese Kerle sehen einander so ähnlich, daß es auch Welk hätte sein können.« Die Motoren liefen an. Augenblicke später setzte sich das Raupenfahrzeug in Bewegung. Grizzard hielt sich völlig zurück. Pama stand nun neben ihm und klammerte sich an seine Beine. Aus weit aufgerissenen Augen beobachtete sie Pforeilt. »Daß du keine Dummheiten machst«, warnte Dorstellarain den Fahrer. Er bluffte. »Wir kennen den Weg nach Gynsaal genau. Keine Tricks, verstanden?« »Ihr könnt mir nicht mehr drohen«, war die Stimme Pforeilts zu hören. »Mir ist es egal, auf welche Weise ich sterben werde. Und sterben werde ich auf jeden Fall.« Atlan wurde hellhörig. Hatte er das Gezeter Pforeilts bisher für Ausflüchte gehalten, so jagte ihm nun die Bestimmtheit, mit der der Hochgewachsene von seinem Tod sprach, einen eisigen Schauer über den Rücken. Was gab es, das sie nicht wußten? Handelten sie wirklich richtig? Aber sie mußten nach Gynsaal, wenn sie nicht für alle Zeiten in der Dimensionsschleppe gefangen sein wollten, während Pthor entweder zwischen den Dimensionen strandete oder auf direktem Weg in die Schwarze Galaxis gesteuert wurde. Plötzlich hielt das Fahrzeug an. Atlan schätzte, daß sie nicht einmal eine halbe Stunde gefahren waren. »Was ist nun wieder los?« fragte Dorstellarain barsch. »Noch können wir umkehren«, sagte Pfo-
Das kalte Feuer reilt. »Wir sind an der Grenze angelangt. Wenn wir jetzt weiterfahren, sterben wir.« »Ich sehe keine Grenze«, sagte Atlan kühl. Er versuchte, seine Unsicherheit zu verscheuchen. Vielleicht bluffte Pforeilt doch nur? So weit das Auge reichte, gab es nichts als Schnee und Eis. Keine Barriere, nicht einmal das Flimmern eines Energieschirms, auf den die Schneeflocken zutrafen. »Fahr weiter, verdammt!« herrschte Dorstellarain den Fahrer an. Pforeilt zitterte. Dennoch setzte er das Fahrzeug erneut in Bewegung. Nach weniger als zwanzig Metern schrie Pforeilt schrill auf und riß die Hände aus den Vertiefungen. Er griff sich an die Kehle und rang nach Luft. Sein Körper kippte nach hinten, der Kopf kam zum Vorschein. Pforeilt riß sich den Helm herab. Seine Augen waren weit aufgerissen, ebenso der Mund. Starr vor Schreck verfolgten die Gefährten seinen Todeskampf. Als sie den ersten Schock überwunden hatten und ihm zu Hilfe kommen wollten, war es zu spät. Pforeilt war tot – erstickt. Das Motorengeräusch erstarb. Die Haube über dem Fahrersitz fuhr nach oben und wurde mit leisem Klicken unter der Decke arretiert. »Mein Gott«, flüsterte Atlan. Der Arkonide machte sich Vorwürfe. Was immer Pforeilt mit seinen Warnungen gemeint hatte – es hatte nur ihn umgebracht, nicht die Passagiere. Auch Dorstellarain war blaß geworden. Pama weinte. Grizzard gab keinen Laut von sich. Gynsaal! Erst jetzt gewannen die Männer eine Vorstellung davon, wie unheimlich dieser Ort wirklich sein mußte. Was bisher ein abstrakter Begriff gewesen war, nahm Konturen an. Welche Teufelei steckte hinter Pforeilts Tod? Auf welche Weise war er ermordet worden – und warum? Weshalb lebten sie noch? Pforeilt mußte davon ausgegangen sein, daß auch sie den Tod fanden, sobald eine gewisse Annäherungsschwelle an Gynsaal
45 erreicht oder überschritten war. Es war ausgerechnet der bisher schweigende Grizzard, der den Bann brach. »Es sieht so aus, als ob wir von nun an selbst zusehen müßten, wie wir an unser Ziel kommen«, dröhnte die Kunststimme in gebrochenem Pthora. »Da schau her«, sagte Dorstellarain überrascht. »Kennst du den Weg?« »Sei still!« zischte Pama. »Der Eisenmann hat recht, und du bist dumm und …« »Dick«, vollendete der Clanoc seufzend. »Und wieso hat er recht, dein Eisenmann?« »Weil er mein bester Freund ist, deshalb!« Dieser Logik war auch Dorstellarain nicht gewachsen.
* Das Raupenfahrzeug stand mitten im Schnee. Der Nebel war nicht mehr so dicht. Vom Himmel kam das gleiche diffuse Licht, das Atlan seit seinem Erwachen in der Auffangstation begleitet hatte, als er von Dorstellarain abgeholt worden war. Selbst ihm, der daran gewöhnt war, sich auf Welten mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen zurechtzufinden, machte dieses ewige Dämmerlicht zu schaffen. Da sich die Dimensionsschleppe in einem unbekannten n-dimensionalen Raum befand und sich nicht wie ein Planet um eine Sonne drehte, gab es keinen Wechsel zwischen Tag und Nacht. Dies war zwar auch auf Pthor der Fall, seitdem der Dimensionsfahrstuhl von Loors gestartet war, aber dort gab es wenigstens eine mittlerweile vertraute Umgebung, die einen gewissen Rückhalt verlieh. Noch sah Pama alles, was um sie vorging, als ein besonders aufregendes Spiel an, aber bald würde sie Angst bekommen und sich erneut in eine Erregung hineinsteigern. Grizzard hatte recht. Sie mußten jetzt so schnell wie möglich Gynsaal finden, koste es, was es wolle. Das aber hieß, daß einer der drei Männer das Fahrzeug steuern muß-
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Horst Hoffmann
te.
Atlan prägte sich vorsichtshalber einige markante Punkte der Umgebung ein. Links vom Fahrzeug befanden sich zwei kleine Hügel, direkt vor ihm ein Gebilde, das an einen Eiszapfen erinnerte, den man in den Schnee gerammt hatte – das war auch schon alles, aber es würde die Richtung weisen, falls das Fahrzeug vorübergehend außer Kontrolle geriet und die Insassen sich neu orientieren mußten. Atlan holte tief Luft. Dann suchten seine Finger zunächst einmal alle Sensortasten, die sie erreichen konnten. Bei der geringsten Berührung hörte das Vibrieren auf. Ein leises Summen ertönte. Die Kippschalter. Vermutlich handelte es sich bei ihnen, wie bei den Tasten, um ein Aktivierungssystem, und die Köpfe dienten der eigentlichen Steuerung. Einer nach dem anderen wurde umgelegt. Die Motoren heulten auf. Erleichtert stieß Atlan die Luft aus. Die Haube senkte sich auf seinen Kopf herab. Überrascht bemerkte der Arkonide verschiedene Leuchtanzeigen, die genau vor seinen Augen erschienen. Allerdings konnte er vorerst herzlich wenig mit ihnen anfangen. Die Knöpfe. Atlan spreizte die Finger, so daß jeder mit der Spitze auf einem von ihnen lag. Er fühlte sich an die Tastatur eines Musikinstruments erinnert. Vorsichtig drückte er den ersten Knopf, bis er einen Widerstand fühlte. Die Raupenketten setzten sich in Bewegung, allerdings nicht in der gewünschten Art und Weise. »Wir drehen uns!« rief Dorstellarain. Atlan merkte es an den sich überschlagenden Einblendungen. Eine Nadel erschien vor seinen Augen, dann ein winziger Kreis in der Mitte einer leuchtenden Ziffernskala. Die Nadel befand sich an einem Ende dieser Skala. Der Arkonide begriff. Mit der anderen Hand suchte er nach dem Knopf, der dem gedrückten in der anderen Vertiefung entsprechen mußte. Er fand und
Grizzard schied aus. Die Hände der Rüstung paßten nicht in die Vertiefungen. Dorstellarain mochte mit Brastern umgehen können. Von Technik hatte er kaum viel Ahnung. Also mußte Atlan selbst versuchen, die Funktionsweise der Steuerung herauszufinden. Einziger Anhaltspunkt für den Weg, den sie zu nehmen hatten, war die Richtung, in die Pforeilt vor seinem Tod gefahren war. Tod! dachte Atlan bitter. Man hatte ihn brutal ermordet, und der Arkonide fragte sich, was den Feinden Gynsaals blühte, wenn die Beherrscher der Dimensionsschleppe schon so mit ihren Helfern umsprangen. Die Art und Weise, wie sie sich bemerkbar machten, ließ darauf schließen daß sie den ehemaligen Herren der FESTUNG an Grausamkeit und Kompromißlosigkeit noch überlegen waren. Daran, was ihn und seine Verbündeten dann in der Schwarzen Galaxis erwarten mochte, wagte Atlan gar nicht erst zu denken. »Behaltet die Umgebung im Auge«, forderte er Dorstellarain und Grizzard auf. »Ich werde versuchen, das Ding zu manövrieren.« Dorstellarain half ihm, den toten Pforeilt aus dem Fahrersitz zu zerren. Dann nahm Atlan an dessen Stelle Platz. Er zögerte einen Augenblick, bevor er die Hände vorsichtig in die beiden Vertiefungen vor dem Sessel steckte. Die Kopfhaube bewegte sich nicht. Wahrscheinlich senkte sie sich erst auf ihn herab, nachdem er die entsprechenden Kontakte gefunden hatte. Seine Finger berührten kaltes Metall – Knöpfe, Kippschalter und leicht vibrierende Sensortasten. Er mußte jetzt blind alle möglichen Kombinationen ausprobieren, mit dem Risiko, daß das Fahrzeug ihm und seinen Begleitern bei dem geringsten Fehler um die Ohren flog.
Das kalte Feuer drückte ihn. Die Nadel wanderte zur Mitte der Skala hin und pendelte sich langsam ein, bis sie genau im Kreis stand. »Wir fahren jetzt geradeaus«, sagte Dorstellarain. »Leider in der falschen Richtung.« »Paß auf und sag mir Bescheid, sobald wir wieder auf Kurs sind«, rief Atlan. Er drückte einen weiteren Knopf, und das Fahrzeug vollführte eine Drehung in entgegengesetzter Richtung. Als er Dorstellarains »Jetzt!« hörte, ließ der Arkonide los. »Wir müßten nun wieder in der alten Richtung fahren«, informierte der Clanoc Atlan. »Behalte den Kurs bei.« Die Steuerung war nun ein Kinderspiel. Über kleinere Hügel und Schneeverwehungen hinweg arbeitete sich die Maschine durch die Eislandschaft. Irgendwo hinter den Nebelbänken verbarg sich Gynsaal. »Meine Mutter«, sagte Pama plötzlich. »Sie würde mir das nie erlauben.« »Was denn?« fragte Grizzard. »Dieses schöne Abenteuer. Sie sagt immer, ich dürfte nicht allein irgendwo hingehen. Immer soll jemand auf mich aufpassen. Dabei hätte sie selber besser aufpassen sollen.« »Wieso?« »Die Großen sagen es alle. Es muß etwas mit meinem Vater zu tun haben.« Atlan, der dem Gespräch bisher nur mit halbem Ohr gelauscht hatte, wurde hellhörig. »Dein Vater? Kennst du ihn?« »Nein. Aber alle lachen, wenn sie von ihm sprechen. Sie sagen, er war ein Magier. Ein dummes Wort. Weißt du, was ein Magier ist?« »Ich denke schon«, sagte Atlan, dem nun einiges klar wurde. Schnell fügte er hinzu: »Ein Magier zu sein, ist nichts Schlechtes, Pama. Sicher ist dein Vater zu den anderen Magiern zurückgekehrt.« »Dann gibt es noch mehr von ihnen?« »Viele. Vielleicht wird dein Vater dich ei-
47 nes Tages holen kommen und sie dir alle zeigen.« »Sind sie lustig?« »Und wie. Sie können Sachen anstellen, die nicht einmal du dir vorstellen kannst.« »Ich will spielen«, rief Pama übergangslos. »Halt an.« »Hier hält nur einer, und zwar du den Mund«, knurrte Dorstellarain. Im nächsten Augenblick schrie er vor Schmerz laut auf. »Du verdammtes Biest! Ich werde dir …« »Schluß jetzt, Dorstellarain!« rief Atlan. »Wir sind nicht im Kindergarten.« »Aber das freche Gör hat mich vors Schienbein getreten!« »Und wer hat mich vors Schienbein getreten, als wir in der Zarmack-Blase steckten?« »Komm doch, komm doch, dicker Dummkopf!« feixte Pama. »Eisenmann, paß gut auf. Wenn er mir was tun will, verprügelst du ihn.« Atlan war nahe daran, die Geduld zu verlieren, als Pama wieder schrie. Selbst unter der Haube schmerzte es in den Ohren. »Seht nur!« rief das Mädchen. »Seht die schönen weißen Bäume dort draußen!« »Was meint sie, Dorstellarain?« fragte Atlan, der es nicht riskieren wollte, den Kopf aus der Haube zu ziehen. Eine Weile sagte niemand etwas. Dann murmelte der Clanoc: »Wir fahren in eine Art Allee hinein, aber das sind keine Bäume an den Rändern, sondern eher Figuren. Sie sehen aus, als hätte sie jemand aus Eis geschnitzt. Der Boden ist völlig eben. Jemand muß ihn bearbeitet haben. Und jetzt …« »Was?« fragte Atlan, als Dorstellarain schwieg. »Was siehst du?« Die Stimme des Clanocs war kaum zu hören. »Eine dunkle Silhouette vor uns. Das muß ein riesiger Komplex sein. Halt lieber an, Atlan.« Gynsaal! schoß es dem Arkoniden durch den Kopf. Er fuhr weiter. »Halt an!« drängte Dorstellarain immer heftiger. »Denk an den Schutzschirm, der um Gynsaal liegen muß.
48 Eine unsichtbare und undurchdringbare Energiebarriere.« Es war offensichtlich, daß die Nähe des Zieles Panik in dem Clanoc hervorrief. Atlan hoffte, daß Grizzard rechtzeitig eingreifen würde, falls der Hüne die Kontrolle über sich verlor. Atlan fuhr weiter. Er konnte sich nur vorstellen, wie es jetzt draußen aussah. Es gab außer Leuchtanzeigen kein optisches System in der Kopfhaube. Jetzt bemerkte er eine neue Anzeige. Eine Zahlenreihe, deren Werte schnell abnahmen. Ohne Zweifel Entfernungsdaten. Atlan beschloß, erst kurz vor Erreichen der Nullmarke das Fahrzeug zum Stehen zu bringen. Dorstellarain fluchte und beschwor ihn, packte schließlich Atlans Schultern und rüttelte so heftig daran, daß er den Arkoniden fast unter der Helmhaube herausgezerrt hätte. Pama kreischte laut und drängte den »Eisenmann«, Atlan zu Hilfe zu kommen. Doch Grizzard sollte nicht mehr dazu kommen. »Weg!« schrie Atlan. Dorstellarain fuhr beim Klang seiner Stimme zurück. Zumindest hatte es einen Moment lang den Anschein. Doch ein Blick auf die Zahlenreihe zeigte Atlan, weshalb der Clanoc ihn losgelassen hatte. Sie mußten es sehen können, das Etwas, das sich jetzt unmittelbar vor dem Fahrzeug befinden mußte. Entweder wurde die Entfernung zum Schirm oder zu Gynsaal selbst gemessen. Die erste Möglichkeit erschien Atlan einleuchtender. Es war zu spät, um eine kontrollierte Bremsung auszuführen. Die Werte näherten sich rasend schnell der Null. Atlan riß die Hände aus den Vertiefungen und kam unter der Haube hervor. Ein Ruck ging durch die Maschine, aber sie kam nicht zum Stillstand. »Raus hier!« rief der Arkonide. Er war bereits an der Tür und machte sich an der Verankerung zu schaffen. Dorstellarain stand mit bleichem Gesicht hinter ihm. Grizzard hatte Pama wieder auf dem Arm. Nur einen Augenblick sah Atlan, wie die
Horst Hoffmann Luft in Fahrtrichtung zu glühen schien. Die Energiebarriere! Die Tür der Kabine fuhr auf. Im gleichen Moment prallte das Fahrzeug gegen den Schirm. Atlan wurde ins Freie geschleudert. Ein greller Blitz, begleitet von einem furchtbaren Tosen, zerriß für Sekundenbruchteile das diffuse Licht. Atlan spürte die Druckwelle der Explosion, die ihn noch im Fallen erreichte und einige Meter weiter in den Schnee schleuderte. Dorstellarain landete neben ihm. Überall regneten Trümmerstücke vom Himmel herab. Atlan war geblendet und hatte das Gefühl, als ob sein Körper auseinandergerissen würde. Sekundenlang lag er mit dem Kopf im Schnee und wartete auf weitere Explosionen oder energetische Entladungen. Als nichts geschah, richtete er sich auf. Dorstellarain bewegte sich ebenfalls. Das Raupenfahrzeug war nur noch ein Wrack. Eine mächtige Gestalt schälte sich aus den teilweise noch glühenden Trümmern. Grizzard. Er hielt die Arme schützend um Pama gelegt, die offenbar bewußtlos war. »Ein Wunder«, sagte Dorstellarain kaum hörbar. »Es ist ein Wunder. Wir müßten alle tot sein.« Seine Miene verhärtete sich. »Und das alles nur, weil du nicht auf mich hören wolltest!« Atlan winkte ab. Er fühlte sich wie gerädert und hatte keine Lust, sich auf eine Diskussion mit dem Clanoc einzulassen. Vermutlich hätte er das Fahrzeug rechtzeitig zum Stehen bringen können, wenn Dorstellarain ihn nicht angegriffen hätte. Der Clanoc stieß plötzlich einen heiseren Laut aus. Er blickte mit weit aufgerissenen Augen auf etwas in Atlans Rücken – dort, wo sich die Energiebarriere befand. Langsam drehte der Arkonide sich um. Was er sah, drohte ihm den Verstand zu rauben. Wie eine graue, leicht fluoreszierende Wand ragte der Energieschirm in den Himmel und leuchtete immer dann auf, wenn der Wind größere Schneemassen gegen ihn peitschte. Er war also nicht, wie Dorstella-
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rain behauptet hatte, unsichtbar. Doch das war es nicht, was Atlan den Hals zuzuschnüren drohte. An einer Stelle wurde die graue Wand immer wieder transparent und gab für Sekunden den Blick auf das frei, was sich hinter ihm befand. Atlan hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Das war Gynsaal.
11. LEENIA / WOMMSER: AUFBRUCH Leenia stand am Rand der Senke der verlorenen Seelen und blickte auf die in der Ferne blinkenden Glaspaläste. Dazwischen standen die riesigen Zelte, die den aus ihren Tiefschlafkammern geflohenen ehemaligen Schläfern als Notunterkunft dienten. Es war eine Ironie des Schicksals, daß diese Wesen nun nach relativ kurzer Zeit wieder in einer Art Tiefschlaf lagen. Immer noch waren die Bewohner Pthors gelähmt. Und nichts deutete darauf hin, daß sich hieran in nächster Zeit etwas ändern würde. Doch das war nicht Leenias Problem. Im Gegenteil schenkte sie dem Phänomen kaum Beachtung. Und sie fragte nicht danach, warum sie selbst nicht von der Lähmung befallen war. Ihr Blick war weit in die Ferne gerichtet, als sie Wommsers telepathische Stimme hörte. Leenia nickte. Langsam setzte sie sich in Bewegung und schritt den Pfad in die Senke hinunter. Das lange, blauschwarze Haar flatterte im leichten Wind. Sie strich es immer wieder aus den Augen. Die kupferfarbene Haut des schönen Gesichts bildete einen faszinierenden Kontrast zum leuchtenden Rot des Anzugs, der neben dem Kopf nur die Hände freiließ. Die Beine des Kleidungsstückes endeten in von schwarzen Fäden durchzogenen, kniehohen Stiefeln. Noch immer konnte Leenia keinerlei Ne-
beneffekte nach dem Anlegen des Anzugs feststellen. Allerdings räumte sie ein, daß es Veränderungen geben könnte, die sie nicht bemerken konnte oder sollte. Dies waren Befürchtungen jenes Teiles ihres Bewußtseins, der sich mit Wommser identifizierte. Nach zwei Stunden erreichte Leenia eine Straße. Das Ziel des jungen Doppelwesens war es, sich eines jener Fahrzeuge zu beschaffen, mit denen die Bewohner der Senke sich fortbewegten. Leenia fand schon bei der ersten Notunterkunft einen Torc, wie die Technos ihre schalenförmigen Fahrzeuge nannten. Es war jenes Zelt, vor dem Wommser nach der Flucht aus dem Dimensionsnest materialisiert war. Wommser gab wertvolle Hinweise, so daß Leenia den Torc nach wenigen Minuten starten konnte. Am Rand der Straße lagen gelähmte Technos. Einem versteckten Beobachter wäre die Szenerie unwirklich vorgekommen. Eine Frau, die sich wie selbstverständlich zwischen den wie tot Daliegenden bewegte. Und niemand hinderte sie daran, das Fahrzeug aus der Senke zu steuern. Leenia fuhr ohne anzuhalten, bis die Senke der verlorenen Seelen einige Kilometer hinter ihr lag. Dann erst brachte sie den Torc zum Stehen. Wohin jetzt? fragte Leenia, obwohl sie die Antwort schon kannte. Doch dies gehörte in diesem Stadium der Vereinigung der beiden Wesen noch zum vorsichtigen gegenseitigen Abtasten und drückte den Respekt vor der Individualsphäre der beiden Komponenten in Leenia aus. Wir haben nur einen Anhaltspunkt, kam es von Wommser. Kolphyr und sein Freund Razamon wollten Grizzard zur FESTUNG bringen, nachdem sie ihn aus seiner Tiefschlafkammer befreiten. Damit war der Kurs festgelegt. Wommser kannte die Geographie Pthors von seinen Ausflügen genau, zum Teil durch eigene Beobachtungen, zum Teil durch Informationen, die Kolphyr ihm unbewußt gegeben hatte.
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Horst Hoffmann
Leenia startete das Fahrzeug erneut. Es war ungewohnt für sie, die bisher ein regelrechtes Einsiedlerleben in den kleinen Wäldern zwischen der Senke der verlorenen Seelen und dem Blutdschungel geführt hatte, sich einer fremden Technik anzuvertrauen. Die Fahrt ging nach Westen, in Richtung Taamberg. Und es war in zweifacher Hinsicht eine Fahrt ins Ungewisse. Es war fraglich, was Leenia und Wommser in der FESTUNG vorfinden würden, falls es ihnen überhaupt gelang, bis dorthin vorzustoßen. Und tief im Innern des Doppelwesens regten sich die Zweifel über das, was sich einmal aus der Vereinigung ergeben würde. Denn daß sie noch einen langen Weg vor sich und die endgültige Zustandsform noch nicht erreicht hatten, wußten beide Komponenten. Und es war Wommser, der immer wieder
die bange Frage stellte, worin Leenias Auftrag auf Pthor bestand. War es denn ausgeschlossen, daß Leenia gerade von jener Macht abhing, die Pthor irgendwann vor langer Zeit auf die Reise geschickt hatte? Selbst wenn es so wäre – Wommser konnte sie nicht mehr verlassen. Die beiden Wesenheiten waren für immer untrennbar verbunden. Für Wommser war es die dritte Stufe seiner Evolution. Manchmal fragte er sich, wie Leenia wirklich aussah. Es störte ihn nicht mehr, daß sie jeden seiner Gedanken wie ihre eigenen mitdachte. Sie stellte sich die Frage selbst.
ENDE
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