Gespenster-
Krimi � Zur Spannung noch die Gänsehaut � Nr.377 � .377
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Gespenster-
Krimi � Zur Spannung noch die Gänsehaut � Nr.377 � .377
Mike Shadow �
Das magische � Feuer � 2 �
Sara Moon stieß einen gellenden Schrei aus und warf sich zur Seite. Die Krallen der Bestie verfehlten sie nur um wenige Zentimeter. Ein furchterregendes Gebiß schnappte ins Leere, haifischähnliche Zähne krachten aufeinander. Warren Clymer wußte, daß der Tod vor ihnen stand. Taumelnd kam er auf die Beine, noch erschöpft von den vorangegangenen Geschehnissen. Woher die Bestie gekommen war, wußte er nicht. Er wußte nur, daß er etwas tun mußte – irgend etwas. Auf seine Druidenkräfte konnte er sich nicht mehr verlassen. Auch Sara nicht! *** Fauchend schwang der Oberkörper des Ungeheuers herum. Böse glitzerten die kleinen, tückischen Augen in dem Reptilschädel. Die Klauenhände griffen nach Warren, Krallen spreizten sich. »Huuuaaaah!« brüllte er aus tiefster Lunge, so laut er konnte. Sekundenlang zuckte das Ungeheuer zurück, erschreckt durch das laute Gebrüll. Diese eine Sekunde genügte Warren. Er ließ sich wieder zu Boden fallen. Ein Blick zu Sara zeigte ihm, daß auf ihrer Stirn das Wunderwelten-Stigma glomm, doch er nahm es kaum wahr. Seine Hände krallten sich in den lockeren Sand des See-Ufers. Das Ungeheuer neigte sich zu ihm herab. Da riß Warren die Hände hoch, schleuderte dem geschuppten Monster den Sand in die kleinen Augen. Die Bestie fauchte und brüllte. Seltsame Laut erklangen, als benutze
das Wesen eine fremde Sprache. Blind tappte es hin und her, schlug mit den Pranken um sich, hütete sich jedoch, mit den schuppen- und krallenbewehrten Händen den Sand aus den Augen zu reiben. So weit reichte also die Intelligenz, um zu wissen, daß der Versuch nur noch größeren Schaden hervorrufen mußte! Warren robbte zur Seite. Sara Moon stand wie gelähmt da. Das Stigma auf ihrer Stirn, das Silbermond und Wunderwelten in stilisierter Form zeigte, pulsierte in rasenden Intervallen. Wollte sie trotz trüber Erfahrungen dem Ungeheuer mit ihrer Para-Kraft zu Leibe rücken? »Laß es!« keuchte er. »Ich…« Seine Hand glitt in die Hosentasche, umschloß das Klappmesser. Er zog es hervor und ließ die Klinge aufschnellen. »Bist du verrückt?« schrie Sara mit 3 �
aufgerissenen Augen. Warren kam hoch, kniete im Sand. Er wußte, daß er sich nicht auf einen langen Kampf mit dem Ungeheuer einlassen durfte. Dazu war er zu geschwächt. Der Schuppige mit dem Echsenmaul besaß etwa die Figur eines Orang-Utans. Wahrscheinlich lagen auch die Organe ähnlich. Warren konnte nur hoffen, daß der Stahl des Messers die Schuppenhaut durchdrang. Seine Lippen murmelten Worte, die tief in seinem Unterbewußtsein verborgen gewesen waren. DruidenSprache! Das Messer in seiner Hand schien zu eigenem Leben zu erwachen. Warren holte aus und schleuderte es. Er hatte all seine Kraft in den Wurf gelegt, als die Bestie sich halb herumdrehte. Augenflüssigkeit hatte den Sand fast schon wieder hinausgespült, von Sekunde zu Sekunde konnte der Schuppige besser sehen. Das Messer traf, und die Druidenmagie ließ es durch den Schuppenpanzer dringen. Wie vom Blitz gefällt brach das Ungeheuer zusammen. * Sara Moon näherte sich dem Ungeheuer langsam. Es war wie ein Relikt aus der Urzeit, ein Wesen mit der Gestalt eines Gorillas und dem Aus-
sehen eines gefährlichen Reptils. Als sie nach dem Messer greifen wollte, fiel ihr Warren in den Arm. »Nicht«, warnte er. »Es mag sein, daß die Bestie wieder zum Leben erwacht. So wie ein Vampir, dem du den Pfahl wieder aus dem Herzen herausziehst…« Die Druidin sah ihn prüfend an. »Du hast Magie benutzt?« fragte sie verwundert. »Einen einfachen Bannspruch, der fast aus sich heraus wirkt«, sagte er. »Ich spürte kaum etwas.« Er verstand ihr Erstaunen. Über dem Silbermond lag ein Schirmfeld aus schwarzer Magie, das jeden Versuch, Magie, Psi-Kraft oder etwas Derartiges einzusetzen, vereitelte. Der Benutzer litt unter entsetzlichen Schmerzanfällen, und seine Kraft blieb so gut wie unwirksam! Das Böse hatte vom Silbermond, der Stammheimat der Druiden, Besitz ergriffen. Das Schirmfeld hatte ihren Versuch, im zeitlosen Sprung zur Erde zurückzukehren, verhindert und ihnen die Kräfte geraubt. Sie waren beide ausgelaugt, selbst Sara, deren Druiden-Kräfte überragend waren und ans Wunderbare grenzten. Aber gerade daher hatte sie den Hauptteil der Anstrengung tragen müssen… Und als sie dann am Ufer des Sees lagen, um sich zu erholen, war das Ungeheuer aufgetaucht. Lautlos hatte es sich angepirscht, und erst 4 �
als der Schatten zwischen sie fiel, hatten sie die Gefahr bemerkt. Sara Moon sah zum Himmel hinauf. Düster hing die Scheibe einer der Wunderwelten über ihnen, um die der Silbermond kreiste. Halb verdeckt gloste dahinter die entartete Sonne, deren böse Energien alles auf dem Silbermond verändert hatten. Schlimmeres war mit den Wunderwelten geschehen, sie waren tot, verbrannt, verödet. Kalte Schlackenhaufen. Auch der Silbermond barg kaum noch Leben. Die letzten Druiden mußten tot sein, denn ihre mentalen Schwingungen waren nicht mehr festzustellen. Die Lebensbäume, mit denen die Druiden in einer Art magischer Symbiose gelebt hatten, waren verdorrt. Es hieß, daß ein Druide sterben mußte, wenn sein Baum starb. Die Ausnahme war Sara Moon, die jahrhundertelang in einem Kloster in Irland im Tiefschlaf geruht hatte, von einer bösen Macht dorthin verbannt wie weiland Dornröschen. Warren Clymer, Jessica Torrens und der Druide Gryf hatten sie befreit und die Gefahr, die von dem Kloster und Satans Schatten ausging, beseitigt – glaubten sie. Doch die Schatten waren nur geflohen, um wenig später zurückzukehren und das Verderben über die Menschen zu bringen… Sara und Warren konnten davon nichts wissen. Die Druidin war dem
Ruf gefolgt, der sie zum Silbermond zog, und hatte dabei Warren Clymer mitgenommen. Erst vor kurzer Zeit hatte der vierzigjährige ehemalige Farmer erfahren, daß er selbst Druidenblut in sich trug. Allmählich erwachten seine Kräfte, nur, um auf dem Silbermond durch das magische Blockadefeld wieder abgedämpft zu werden. Sara Moons Lebensbaum war vor ihren Augen verdorrt – und sie lebte dennoch weiter! Ungeklärt war dieses Rätsel bisher, das all ihrem Wissen um die Lebensbäume widersprach. Bedeutete es, daß dieses Wissen nicht stimmte und daß es doch noch lebende Druiden gab? Nur Sara wußte, daß sie alle tot waren. Sie hatte sie mit ihrem Zeitauge gesehen. Jene Druiden, die sie ursprünglich in den Regenerationskugeln der Organstadt vermutet hatte. Doch sie waren in die Tiefen des Toten Wassers gebracht worden, des Sees, an dessen Ufer sie sich jetzt befanden. In den Kugeln waren Ungeheuer herangezüchtet worden. Doch sie existierten nicht mehr, waren vernichtet worden. Unten im See aber lagen die Druiden… Warren betrachtete den See mit gemischten Gefühlen. Etwas hatte Sara hineinlocken wollen, es schien, als wolle sie dieses Etwas zum Selbstmord zwingen. Er hatte es nur knapp verhindern können. Und nur zu deutlich entsann er sich, daß 5 �
während ihres Versuches, mittels des zeitlosen Sprunges den Silbermond wieder zu verlassen und zur Erde zurückzukehren, die stille Oberfläche wie von einem Orkan gepeitscht worden war. In den Tiefen des dunklen Sees gab es ein finsteres Geheimnis. Saras Fuß berührte den toten Schuppigen. »Wesen wie dieses hat es früher hier niemals gegeben. Die Strahlung der entarteten Sonne verstärkt das Böse…« Warren nickte. Er entsann sich des Riesenkrebses, in dessen Falle er beinahe umgekommen war. Mochte der Silbermond früher einmal ein Paradies gewesen sein, jetzt war er eine kleine Hölle, in der man nie vor bösen Überraschungen sicher war. »Was tun wir jetzt?« fragte er leise. »Verlassen können wir diese Welt nicht mehr, das ist sicher.« Sara nickte. »Der Druidenfriedhof«, sagte sie. »Ich muß dorthin. Vielleicht ist noch etwas zu retten.« Unwillkürlich wurden Warrens Augen schmal. »Das Tote Wasser?« fragte er und sah zum See hinüber. »Du meinst, ich wollte wieder Selbstmord begehen«, lächelte sie. »Du irrst. Diesmal stehe ich nicht unter Zwang. Ich muß wissen, was dort unten außer den Druiden noch ist. Hast du nicht selbst eben in deinen Gedanken den Verdacht gehegt, daß dort etwas nicht mit rechen Din-
gen zugeht?« Warren nickte. »Aber ich komme mit, Sara«, sagte er. »Egal auf welche Weise du dort unten hin gelangen willst. Du weißt, warum.« Sie nickte. Ihr Volk war tot, es gab nichts mehr, das sie als ihre erstrebenswerte Heimat ansehen konnte. Warren dagegen besaß einen weitaus stärker ausgeprägten Überlebenswillen. Auf ihn wartete jemand auf der Erde. Jessica Torrens… »Und wie willst du in die Tiefe vorstoßen?« fragte er. »Tief Luft holen und tauchen?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Hand tastete nach seinem Arm. »Komm«, sagte sie. »Wir müssen noch einmal in die Organstadt!« * Es geschah in der gleichen Sekunde, vielleicht aber auch Jahrmilliarden vorher oder später; nur einen Zentimeter oder viele Billionen Lichtjahre entfernt. Die Schranken der Dimensionen trennten den einen Ort vom anderen. Es geschah im südwestlichen Wales in der unsichtbaren Burg Caermardhin. Es geschah im Saal des Wissens. Nur sehr wenige Privilegierte waren in der Lage, ihn zu betreten, ohne unverzüglich den ausgeklügelten 6 �
Sicherheitseinrichtungen zum Opfer zu fallen. Zwei grundsätzliche Merkmale waren es hauptsächlich, an denen Unbefugte scheiterten. Das eine war, daß der Eintretende von Merlin, dem legendären Zauberer, dem Caermardhin gehörte, autorisiert worden war. Ohne die Genehmigung des sagenumwobenen Druiden, der schon im frühen Mittelalter von sich reden gemacht hatte, aber wahrscheinlich auch lange vorher bereits auf der Erde aktiv war, konnte niemand den Saal des Wissens betreten. Das zweite Kriterium war tiefgreifender. Jemand, der den Saal betreten wollte, mußte über die Gunst der relativen Unsterblichkeit verfügen. Drei Personen hielten sich in Merlins Burg auf – Gryf aus Llandrysgryf, der über achttausendjährige Druide und Vampirkiller aus Passion, Teri Rhenen, eine junge Druidin, und Jessica Torrens, die für kurze Zeit eine Vampirin gewesen war. Doch aus Warren Clymers Blut war ein Serum gewonnen worden, das den Fluch von ihr nahm. Nur die Para-Fähigkeiten, die Vampir-Magie, war ihr geblieben. Nur Gryf war autorisiert, den Saal des Wissens zu betreten, nur er brachte die notwendigen Merkmale mit sich. Aber er wie auch Teri Rheken lagen im Tiefschlaf. Jener fremdartige Magie-Schirm, der sich über die Erde gelegt hatte und sich mehr
und mehr verdichtete, hatte beide in das Nichts der Bewußtlosigkeit gezwungen. Jessica war wahrscheinlich nur deshalb verschont geblieben, weil ihre Vampir-Magie vom Ursprung her den schwarzen Mächten angehörte, wenngleich sie selbst sie nur noch für das Gute einsetzte. Immerhin war es erschreckend, daß der Sperrschirm um Caermardhin, der nicht nur Fremdeinflüsse abhielt, sondern die Festung auch unsichtbar machte, dem Unheimlichen nicht standhielt. Das Unheimliche, das über die Erde kroch, um sie sich zu unterwerfen… Satans Schatten… Das, was jetzt im Saal des Wissens geschah, war geradezu ungeheuerlich. Jemand, der nicht unsterblich war und dem auch bislang von Merlin nicht ausdrücklich bestätigt worden war, den Saal betreten zu dürfen, hatte ihn betreten und lebte immer noch! Jessica Torrens! Die Tochter des amerikanischen Millionärs Arnos »Big« Torrens ahnte nichts von dem, was geschehen war. Sie ahnte nicht, daß Merlin, der die Erde fluchtartig verlassen hatte, vorgesorgt hatte. Irgendwie schien er vorausgesehen zu haben, was geschehen würde, und sein Befehl brannte vorrangig in den Überwachungszentren des Saales. 7 �
Nur dadurch war Jessica Torrens der sofortigen Vernichtung entgangen… Sie selbst aber nahm an, daß die Erzählungen und Warnungen nicht stimmten, die allen Nichtberechtigten das Betreten untersagten – in deren eigenem Interesse! Jetzt stand sie in dem gigantischen Saal, der die Ausmaße der Burg zu sprengen schien und dem Augenschein nach bis in die Ewigkeit zu reichen schien. Galaxien rotierten in unendlichen Weiten, Sterne flammten, und Jessica Torrens erschauerte förmlich vor dem Anblick der Ewigkeit. Alles in ihr konzentrierte sich nur noch auf einen Fixpunkt. Vor ihr war etwas aus dem Nichts materialisiert. Blitzschnell war es entstanden und schwebte jetzt vor ihr frei in der Luft, als gäbe es keine Schwerkraft. Faszinierend schillernd hing die Kugel vor ihr. Langsam und staunend trat Jessica darauf zu und versuchte sie zu berühren. Aber es war, als erhalte sie einen leichten elektrischen Schlag. Unwillkürlich zuckte sie zurück. Es war kein Schmerz gewesen, mehr nur ein Zucken, eine harmlose Methode, ihr mitzuteilen: Anfassen verboten! Aber was hatte das Auftauchen der Kugel zu bedeuten? Sie erfuhr es Augenblicke später, als das Innere sich erhellte…
* � Sie hatten die Organstadt erreicht. Jene Stadt, die schon beim ersten Anblick einen befremdenden Eindruck auf Warren Clymer gemacht hatte, und dieser Eindruck änderte sich auch beim zweiten Aufenthalt in den Straßen nicht, die mit winzigen, selbstleuchtenden Partikeln übersät waren, welche jetzt kaum wahrnehmbar waren, bei Nacht aber Orientierungshilfe boten. Häuser ringsum – aber keine grauen Hochbauten aus Beton, wie sie auf der Erde mehr und mehr üblich wurden, sondern kleine, in ihren Formen groteske Gebäude aus einem organisch gewachsenen, rötlichen Material mit großporiger Oberfläche. Die schmalen Farbwellen, die unablässig über die Häuser liefen, vermittelten den Eindruck pausenloser Bewegung, des Lebens. Und irgendwie lebten die Häuser tatsächlich… Warren wußte nicht, ob er sich jemals mit dem Gedanken anfreunden konnte, in einem lebenden Haus zu wohnen, aber in dieser Weise hatten die Druiden eine begrüßenswerte Alternative zu den Wohnmaschinen der Erde gefunden. Hier war alles Natur, war alles Leben und nicht zerstört von grauen, glatten Betonwänden, die alles erdrückten in ihrer Eintönigkeit. Nebeneinander schritten sie durch 8 �
die glimmenden Straßen, die sich zwischen den Häusern hindurchschlängelten. Es schien, als seien zuerst die Häuser gewachsen und die Straßen erst später angelegt worden. Eins paßte zum anderen. Eine Stadt, die verspielt und freundlich wirkte und eine völlig andere Lebensphilosophie verriet, als es unter Menschen der Erde üblich war. Und Sara – paßte in diese Stadt! Warren hatte Muße, sie zu betrachten. Das Stigma auf ihrer Stirn war wieder erloschen, nicht mehr zu sehen. Glatt fiel das silberblonde Haar bis auf ihre Schultern herab. Pechschwarz schimmerten die Augen unter fein geschwungenen Brauen, Augen, die ihre Farbe ändern und bei Erregung oder Einsatz ihrer paranormalen Kräfte ins Schockgrüne der Druiden wechselten. Ihr fein geschnittenes Gesicht besaß einen leicht asiatischen Einschlag. Eine zuweilen wie Seide schimmernde Toga umspielte ihren schlanken Körper mit den kleinen, festen Brüsten. Trotz ihrer 162 Zentimeter wirkte sie dennoch nicht klein, auch wenn Warren sie um einiges überragte. Etwas in ihr strahlte Größe aus. Eine betörend schöne Frau, deren Schönheit Warren ernsthaft gefährlich hätte werden können – wenn es nicht auf der Erde eine Jessica Torrens gäbe…
Der vierzigjährige Farmer, der durch die Mächte des Bösen vor einiger Zeit seine Frau verloren hatte (siehe Gespenster-Krimi 340), dachte wieder an die Erde. Was mochte dort geschehen sein? Wie konnte es sein, daß sich dort ein ebensolcher Magie-Schirm gebildet hatte wie hier um den Silbermond? Hatte er seine Gedanken laut ausgesprochen? »Ich kann es dir sagen, Warren«, sagte Sara Moon leise. »Denn während wir im Nichts um eine Flucht zur Erde kämpften, sah ich verschiedene Dinge, die dir entgehen mußten, weil deine Fähigkeiten bei weitem nicht so ausgeprägt sind wie die meinen.« Warren schluckte. Keine Arroganz sprach aus ihren Worten, nur das einfache Wissen um ihre absolute Überlegenheit. Sie trumpfte nicht damit auf, wies nur darauf hin, daß es so und nicht anders war. »Und was hast du gesehen?« fragte er. »Es ist ein andersdimensioniertes Feld«, sagte sie. »Ein Flugzeug mag es durchdringen, aber für paranormale Kräfte ist es unüberwindbar geworden. Selbst wenn wir hier auf dem Silbermond keine Schwierigkeiten gehabt hätten und mit unverminderter Kraft im schwarzmagischen Abschirmfeld um die Erde materialisiert wären – wir wären 9 �
nicht durchgekommen. Das Feld ist noch anders und noch stärker als dieses hier. Es hätte unsere ParaKräfte vollkommen abgesaugt und uns in einen todesähnlichen Zwangsschlaf versetzt. Das wäre dort in den nebelhaften Zonen jenes Zwischenraumes, der beim zeitlosen Sprung durchquert wird, unser sicherer Tod gewesen.« Sie machte eine kurze Pause, dann fügte sie hinzu: »Und ich weiß nicht, ob ich dir dafür danken soll, daß du uns zurückgerissen hast.« Warren schluckte. Seit Sara wußte, daß ihr Volk ausgelöscht war, war sie von einem nahezu tödlichen Fatalismus erfaßt. Sie hatte nahezu allen Lebensmut verloren, es war ihr egal, ob sie starb oder nicht. Alles, was sie unternimmt, tut sie nur, um etwas zu tun, dachte Warren. Reine Beschäftigungstherapie, um den Wahnsinn hinauszuzögern. Und vielleicht würde ich ebenso handeln und denken, wenn ich wüßte, daß die Menschheit von einem Moment zum anderen vernichtet worden wäre… »Vielleicht hast du recht«, sagte sie. Sie schien also tatsächlich seine Gedanken zu lesen. Und das, obgleich der bösartige schwarze Blockadeschirm auf ihrer beider Para-Kräfte niederschmetternd, kräfteverschlingend und schmerzhaft einwirkte. »Vielleicht muß ich deshalb in die
Tiefen des Toten Wassers hinab«, sagte sie. »Um Gewißheit zu bekommen. Das Zeitauge hat mir gezeigt, daß die Toten dort unten hingebracht wurden, aber vielleicht ist da noch etwas anderes…« Warren nickte mit zusammengepreßten Lippen, die jetzt wie ein schmaler Strich wirkten. Er dachte an den seltsamen Zwang, der von unten gekommen war und sie in den See gezogen hatte. Sie hatte in dem dunklen Gewässer ertrinken wollen. Fast zu spät hatte Warren erkannt, was vorging, und sie zurückgeholt. Plötzlich hielt sie an. »Hier ist es«, sagte sie. Sie ging auf eines der Häuser zu. Vor ihr öffnete sich die Wand von selbst, als habe sie die Annäherung und die Absicht, einzutreten, gespürt. Warren folgte der Silberhaarigen und fand sich unversehens im Innern des Hauses wieder. Schon einmal hatten sie ein Gebäude in der Organstadt betreten – jenes, in der sich die Regenerationskugeln befanden. Doch keine Druiden hatten sich darin befunden, wie Sara angenommen hatte, sondern Ungeheuer, von irgendwelchen bösen Mächten hineingepflanzt, um dort ausgebrütet zu werden. Nur knapp waren sie ihnen entgangen. Doch die Ungeheuer gab es nicht mehr, die MÄCHTIGEN hatten sie vernichtet, weil Saras magisches Eingreifen sie irgendwie verändert 10 �
hatte. Doch hier war kein Erlebnis dieser Art zu erwarten. Wenn es eine Vergleichsmöglichkeit mit einer irdischen Stadt hätte geben können, Warren hätte dieses Haus als eine Art Hobby-Boutique bezeichnet. Seine Blicke wanderten über Regale und Ständer mit verschiedenen Dingen, deren Verwendungszweck ihm größtenteils verborgen blieb. Freizeitgegenstände eines Volkes, dessen Auffassung von sinnvollem Leben sich erheblich von der materialistischen Einstellung der Menschen unterschied… Doch Sara schien sich auszukennen und zurechtzufinden. Schließlich war sie auf dem Silbermond geboren und hatte hier ihre Kindheit verbracht. Mit sicherem Griff langte sie in ein kleines Fach und holte zwei weiße Dinge heraus, die vielfach zusammengefaltet waren. Eines davon reichte sie Warren. »Komm, laß uns zum See zurückkehren«, forderte sie ihn auf. Nur zögernd riß sich Warren vom Anblick der tausendfältigen Gegenstände los. Er fragte sich, was es war, das Sara ihm gegeben hatte, aber er verzichtete darauf, die Frage laut zu formulieren. Sie würde es ihm rechtzeitig sagen. Im Gegensatz zu den ersten Stunden und Tagen auf dem Silbermond war sie wesentlich mitteilungsfreudiger geworden. Sie schien eingesehen zu haben, daß
er als Erdgeborener in der Tat nichts von dem wissen konnte, was auf dem Silbermond notwendig und alltäglich war. Aber Warren konnte nicht sagen, was ihm nun lieber war – eine energiesprühende, aktive Sara, der man jede Antwort aus der Nase ziehen mußte, oder eine bereitwillige Auskunft erteilende Sara, die ihren Lebensmut verloren hatte. Sie kehrten den Weg zurück, den sie hergekommen waren. Über ihnen drohte die rötlichschwarze Scheibe des Planeten, den der Silbermond umkreiste, und verdeckte einen Teil der entarteten Sonne. Der Lichtkranz warf eine seltsame, zwielichtige Helligkeit in die Straßen. Und weit hinten glühten die Berge wieder in unheilverkündendem Rot… * Das Machtzentrum des Bösen hatte erkannt, daß der Anschlag fehlgeschlagen war. Die beiden Druiden hatten trotz ihres geschwächten Zustandes die auf Mord programmierte Bestie überwunden. Und sie gaben keine Ruhe. Schon wieder hegten sie neue Pläne. Sie mußten ausgeschaltet werden. Erneut erteilte das Machtzentrum einen Befehl. Doch diesmal weckte er keines der unter den Strahlen der entarteten Sonne entstandenen 11 �
Monsterwesen, sondern etwas anderes. Etwas, das tot geglaubt wurde, erwachte wieder zu unheiligem Leben in einem langwierigen Prozeß. Aber das »Timing« stimmte, zur rechten Zeit würde das Tote sich erheben. * In der Kugel stabilisierte sich ein Bild. Aber eigentlich war es mehr als ein Bild. Es war dreidimensional, plastisch. Als Jessica einen Schritt zur Seite tat, sah sie das Bild aus der entsprechenden Perspektive! »Fantastisch!« murmelte sie unwillkürlich. Sie sah und begriff, was die Bildkugel ihr zeigte, die fast fünf Meter durchmaß. Schwärze! Schatten! Ein gigantisches Schirmfeld, das über der Erde lag und alle ParaKräfte hemmte und zum Ersterben brachte. Nur schwarze Magie war noch in der Lage, sich durchzusetzen! Und sie sah Irland! Slieve Bloom Mountains… Clonaslee… dort war der Ursprung des Bösen gewesen, den sie beseitigt zu haben glaubten. Doch sie waren einem Trugschluß unterlegen. Satans Schatten hatten sich nur zurückgezogen, um wiederzukom-
men. Eine Erinnerung flammte in ihr auf. Teri Rheken und sie, in jener irischen Kate… und die Schatten, die sie überfielen… (siehe »Druidensterben«). Und das Böse griff immer weiter um sich. Es überzog inzwischen ganz Irland, so wie es aussah, von nur extrem wenigen Stellen abgesehen. Und… Die Schatten kamen über das Wasser, hatten Wales erreicht! Die Bildkugel zeigte es ihr in ihrer logischen Grausamkeit. Nordwales wimmelte bereits von Schatten. Ein Stoßkeil zog sich in südlicher Richtung. Es war eindeutig zu erkennen, wohin die Schatten vordrangen. Nach Caermardhin…! * Sara Moon und Warren Clymer hatten das Seeufer wieder erreicht. Still und dunkel lag das Tote Wasser vor ihnen. Warren schluckte unwillkürlich. Der See übte eine unheimliche Wirkung auf ihn aus. War es Furcht, die in ihm aufsteigen wollte? Irgend etwas hat sich verändert, durchfuhr es ihn. Aber was? Plötzlich erinnerte er sich. Das Schuppenmonster! Es war fort! Eine eisige Hand schien nach sei12 �
nem Nacken zu fassen. Warren fror. Das mit dem Zauberspruch versehene Messer hatte die Bestie gefällt, er hatte sie vor sich tot liegen gesehen wie einen gepfählten Vampir. Und jetzt war das Ungeheuer verschwunden! Er machte Sara darauf aufmerksam. Ihr Teint wurde etwas blasser. Warren ging zu der Stelle, an der das Ungeheuer gelegen hatte. Dort lag jetzt nur noch das Messer. Aber es war unbrauchbar geworden. Es sah aus, als habe jemand es für ein paar Sekunden in einen Hochofen gehalten. Die Klinge war ausgeglüht und wellig und ließ sich nicht mehr bewegen, die Schneide war stumpf. Und in das Metall hatte irgend jemand ein Zeichen eingebrannt. Ein Siebeneck, das ähnlich wie ein Drudenfuß mit einem einzigen Strich als siebenzackiger Stern gezeichnet wird! Warum sieben? Warum ein Heptagramm? Warren schleuderte das Messer wieder in den Sand. Er betrachtete die Spuren. Es gab keinen Zweifel. Das totgeglaubte Ungeheuer hatte sich erhoben und in östlicher Richtung entfernt. Warren sah in die Richtung. Irgendwo dort hinten mußte sich einer der Haine befinden, die aus verdorrten Lebensbäumen bestanden. Das Gefühl der Kälte blieb. Die dumpfe Furcht wurde immer stär-
ker. Irgendwo trieb sich das Monster herum, und wenn es zu den Lebensbäumen gegangen war, dann… Was hatte Sara ihm vorgehalten, als er selbst zufällig einen der verdorrten Bäume berührt hatte, worauf der zu amorphem Staub zerpulverte: Warum hast du einem von uns die letzte Hoffnung genommen, jemals wieder ins Leben zurückkommen zu können? Hieß das nicht, daß es auch für die toten Druiden noch eine Hoffnung gab? Was konnte geschehen, wenn das Ungeheuer die Lebensbäume zerpulverte? Er fragte Sara. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Das Ungeheuer wird die Lebensbäume nicht zerstören, weil es dazu nicht in der Lage ist, denn sonst hätten die Mächte des Bösen das schon längst getan, um den Druiden auch die letzte Hoffnung zu rauben…« Er faßte nach ihrer Schulter. »Wieder ins Leben zurückkehren… was bedeutet das, Sara?« Aus ihren schwarzen Augen sah sie ihn an. »Warren… klingt es nicht ähnlich in eurer christlichen Religion und in vielen anderen Glaubensrichtungen? Glauben die Menschen nicht an ein Leben nach dem Tode? Ist es so schwer zu verstehen, was die Lebensbäume für einen Druiden 13 �
bedeuten?« Da platzte es ungewollt aus ihm heraus: »Was ich nicht verstehe, ist, daß dein Lebensbaum verdorrte und du noch lebst…« Kaum ausgesprochen, wünschte er sich, es nicht gesagt zu haben, und atemlos erwartete er Saras Reaktion. Doch sie fiel nicht so heftig aus, wie er vermutet hatte. »Ich verstehe es selbst nicht«, erwiderte sie nur. »Laß uns zusehen, daß wir auf den Grund des Toten Wassers kommen, oder willst du mich nicht mehr begleiten?« »Und ob!« stieß er hervor. Wortlos entrollte Sara den weißen Gegenstand, den sie aus der HobbyBoutique genommen hatte. * Langsam verlosch das Bild in der Kugel. Jessica Torrens atmete tief durch. Bestimmt waren ihr diese Szenen nicht ohne Grund gezeigt worden. Doch was sollte sie tun? In Caermardhin war sie die einzige, die noch aktiv war und die ihre Para-Kräfte zum Einsatz bringen konnte. Gryf und Teri waren in zwangsweisen Tiefschlaf verfallen. Und sie allein…? Sie konnte dem Heer der Schatten nicht widerstehen! Es war unmöglich. Zudem würde sie sich ihres einzigen Zufluchtsortes berauben, wenn sie
Caermardhin verließ und hinauszog, um die Schatten direkt zu bekämpfen. Sie würde nicht wieder zurückkehren können. Nur Gryf kannte den Weg, die Abschirmung zu durchdringen. Und Gryf war besinnungslos. Und selbst wenn sie es wagte – wie sollte sie Satans Schatten gegenübertreten? Schon einmal, zusammen mit Teri, hatte nur die Flucht geholfen. Aber Flucht war kein Mittel, gegen etwas anzukämpfen. Jessica Torrens fühlte sich plötzlich grenzenlos einsam. Sie war allein, und niemand konnte ihr eine Entscheidung abnehmen. Sie hatte sich nie vor Entscheidungen und Verantwortung gefürchtet, aber sie hatte sich auch nie in einer derartigen Situation befunden. Das Unheimliche überzog ein ganzes Land und dehnte sich immer weiter aus, und sie kannte keine Möglichkeit, es zu stoppen. Oder bot ihr der Saal des Wissens die Möglichkeit dazu? Vor ihr löste sich die Bildkugel einfach auf. Sie verschwand auf rätselhafte Weise im Nichts. Das bedeutete, daß es nichts Entscheidendes mehr zu sehen gab. Was sollte sie tun? Wenn wenigstens Teri ihr hätte helfen können… oder Warren! Warren, der mit dieser Sara Moon zum Silbermond verschwunden 14 �
war… was war mit ihm? Was erlebte er in diesen Augenblicken? Würde es für ihn eine Rückkehr geben? Fast wünschte sie, er würde auf dem Silbermond bleiben. Denn wenn nicht ein Wunder geschah, war die Erde verloren, würde sie dem Bösen anheimfallen. Was konnte Warren schon erwarten auf einer Welt, die von einem schwarzmagischen Schirm eingehüllt wurde, der immer stärker wurde? Sie konnte ja nicht ahnen, was auf dem Silbermond geschehen war! Aber sie ahnte plötzlich etwas anderes. Die Marschrichtung der Schatten zielte eindeutig auf Caermardhin. Was sie dabei übernahmen, geschah fast beiläufig. War Merlins Burg ihr Ziel? Und Merlin war von der Erde geflohen, hatte nur eine Botschaft hinterlassen! Er war einfach im Irgendwo verschwunden. Vor den Schatten geflohen? Hatte er ihren Angriff gespürt? Griffen sie – ihn an…? * Nur faustgroß war das vielfach gefaltete Ding gewesen, das Sara jetzt auseinanderrollte. Erstaunt beobachtete Warren, welche Größe es nunmehr erreichte. Es wirkte wie eine Art Overall mit Kapuze. Weiß schimmerte der Anzug im Licht der
entarteten Sonne. Auch Warren faltete jetzt seine Kugel auseinander. Ein leiser Windhauch bewegte das dünne Material, das überaus elastisch war. Es wirkte wie Gummi, war aber keins. Er betrachtete es näher und versuchte, Webfasern zu erkennen. Doch es schien, als sei der Overall in einem Stück gegossen worden – oder gewachsen… »Was ist das?« fragte er. »Unsere Tauch-Anzüge«, verriet Sara. »Sie werden uns unter Wasser schützen.« »Ein bißchen wenig, nicht wahr?« fragte er skeptisch und befühlte das hauchdünne Material. »Außerdem fehlt die Aqualunge…« »Was ist das?« fragte sie erstaunt. Er erklärte es ihr. »Eine Atemmaske, die mit einem Schlauch mit einer Sauerstofflasche verbunden ist, die der Taucher sich auf den Rücken gurtet. Dann braucht er nicht alle paar Sekunden wieder aufzutauchen und nach Luft zu schnappen…« Sie schüttelte den Kopf. »Menschentechnik…« murmelte sie abschätzig. »Schwer und unhandlich. Was ist, wenn jemand den Verbindungsschlauch zerstört? Nein, diese Lösung ist besser. Die Anzüge sorgen für alles, für Sauerstoff und… Kalorienzufuhr, wie Menschen es wahrscheinlich nennen würden.« »Und woher?« fragte Warren spöttisch. Doch Sara winkte ab. »Es ist 15 �
so«, sagte sie einfach, aber bestimmt. Mit ein paar raschen Bewegungen legte sie die schimmernde Toga ab. Zum zweitenmal sah Warren die Druidin nackt, aber faszinierender noch als ihr schöner Körper war das Auge, das sie im Bauchnabel trug. Etwas, das organisch zu sein schien und kristallin schimmerte. Das Zeitauge, mit welchem sie in die Vergangenheit oder andere Dimensionen zu schauen vermochte… Lange bot sie ihm den Anblick ihrer aufreizenden Nacktheit nicht, sondern streifte den weißen, hauchdünnen Anzug über. Einen Reißverschluß gab es nicht, aber als sie die Säume übereinanderlegte und mit den Fingern darüber strich, schlossen sie sich wie miteinander verwachsen. Lediglich die Kapuze ließ sie noch zusammengefaltet im Nacken. Warren zögerte noch einen Augenblick, dann kleidete er sich ebenfalls aus und stieg in den weißen Anzug. Er war überrascht. Das Material schmiegte sich elastisch und wärmend an seine Haut. Es gab keine Falten und keine Lufträume, das Weiße paßte wie eine zweite Haut und vollzog jede Bewegung elastisch mit. Warren schloß den Anzug und sah an sich herunter. Ein wenig seltsam kam er sich schon vor, aber da war diese anheimelnde Wärme, die von dem Material ausging… »Bist du bereit?« fragte Sara.
Warren nickte der Druidin zu. Wie bei ihm, zeichnete der Anzug auch bei ihr jede Kontur ihres Körpers nach und ließ sie in dem gespenstischen Zwielicht wie eine weiße Göttin mit silbernem Haar erscheinen. In einer gleitenden Bewegung griff sie jetzt nach hinten, zog sich die Kapuze über den Kopf und verstaute ihre silberne Haarpracht unter dieser Haube. Ihre Hand glitt leicht über ihr Gesicht. Warren folgte ihren Bewegungen und fühlte, wie sich die Kapuze um seinen Kopf schmiegte. Auch er führte die Handbewegung vor dem Gesicht durch, und wie durch Zauberei bildete sich vor dem Gesicht eine mit der Kapuze verbundene, transparente Schicht, die sich ebenfalls eng anlegte, ihn aber weder beim Atmen noch beim Sprechen behinderte. Er fühlte nach den Nasenlöchern. Die Gesichtsfolie war durchgehend geschlossen, und dennoch bekam er Luft. Woher kam sie? »Komm!« hörte er Saras Stimme, als steckten sie nicht beide unter den engen, weißen Kapuzen. Er folgte der schlanken Druidin. Das Wasser umspülte ihre Beine, aber sie fühlten weder Kälte noch Nässe. Das Wasser des Sees schien ihnen nicht einmal Widerstand zu bieten. Augenblicke später waren sie unter der Oberfläche des Toten Wassers verschwunden. Nichts mehr 16 �
deutete darauf hin, daß es sie jemals gegeben hatte. Nicht einmal die Oberfläche des Sees kräuselte sich noch… * Jessica Torrens grübelte nicht länger. Ob der Vormarsch der Schatten reiner Eroberungsdrang war oder nicht mehr war als ein Angriff auf den legendären Merlin – es war nahezu gleichgültig. Allein die Tatsache, daß ein solcher Angriff stattfand, war ausschlaggebend. Und sie wußte nicht, wie sie ihm begegnen sollte. Ja, wenn Merlin noch hier wäre… Aber selbst wenn Caermardhin Verteidigungsmöglichkeiten über verfügte, kannte sie sich nicht damit aus. Sie verließ den Saal des Wissens wieder. Die Reproduktion der Ewigkeit blieb zurück. Jessica wußte nicht, was der Saal des Wissens wirklich bedeutete. Nicht umsonst hatte Merlin ihn so genannt. Die Bildkugel war nur ein erschreckend geringer Teil der Möglichkeiten, die sich mit dem Saal dem Benutzer boten. Doch Jessica kannte sich darin nicht aus. Sie war ahnungslos, welche Möglichkeiten ihr offenstanden. Sie schritt durch die Korridore der Burg-Festung. Ihre Schritte hallten über den Steinfußboden, der Jahr-
tausende alt war. So alt die Burg war, so modern war ihre Einrichtung. Kerzenschein brauchte die Räumlichkeiten nicht zu erhellen. Strahlende Helligkeit, erzeugt durch Kaltlichtbirnen, erleuchtete alles nahezu schattenlos. Vom Energiesparen schien Merlin herzlich wenig zu halten. In allen Räumen herrschte durchgehend eine Temperatur von etwa neunzehn Grad. Die ehemalige Vampirin suchte Teris Zimmerflucht auf. Merlin hatte der Druidin mehrere Räume zur Verfügung gestellt, so lange sie bei ihm wohnte, wie er auch für Jessica und Warren Räume bereitgestellt hatte. Caermardhin war riesig; eine Hundertschaft konnte darin untergebracht werden, wenn es sein mußte, ohne daß einer dem anderen in die Quere kam. Ohne anzuklopfen trat Jessica ein. Das Bild hatte sich nicht verändert. Reglos lagen die beiden Druiden in den Sesseln – Teris in einem und Gryf im anderen. Sie lagen im Tiefschlaf, in das das magische Feld sie gezwungen hatte. Jessica war um eine winzige Hoffnung ärmer. Irgendwie hatte sie gehofft, wenigstens Gryf wäre wieder annähernd ansprechbar, aber der Druide war nach wie vor besinnungslos. In einer raschen Bewegung fuhr ihre Zunge über die trockenen Lippen und befeuchtete sie. Dann 17 �
bewegte Jessica sich. Sie beugte sich über Gryf. Sie wußte selbst nicht ganz genau, was sie zu ihrem Tun bewog. Wie eine geschickte Taschendiebin griff sie in Gryfs Jacke – und zog den Silberstab hervor. Nachdenklich betrachtete sie ihn. Konnte der Stab ihr helfen? * Irgendwo im Nirgendwo… Eine weißhaarige Gestalt, in eine wallende Kutte gekleidet. Darüber ein flammendroter Umhang mit einem goldenen Drudenstern auf der Außenseite. Irgendwo im Nirgendwo… Ein Mann, älter als die Sonnen des Universums, die es hier nicht gab. An diesem Ort, wohin er sich zurückgezogen hatte. Eine Klause in der Ewigkeit. Seine Zuflucht vor dem, das stärker war, als er selbst. Die MÄCHTIGEN… Irgendwo im Nirgendwo… Ein Uralter, der verzweifelt versuchte, gegen alle widrigen Umstände einen Planeten und seine Bewohner vor der Dämonenübernahme zu bewahren. Aus seinem Versteck heraus zog er alle Register seiner Möglichkeiten, die ihm noch verblieben waren. Irgendwo im Nirgendwo… Der König der Druiden. Merlin.
* � Über Warren Clymers Kopf schloß sich die starre Wasseroberfläche des Sees. Der Druide sah es, spürte aber nichts davon. Der Wasserdruck war nicht fühlbar. Alle Gesetzmäßigkeiten des Toten Wassers schienen von dem Anzug, den Clymer trug, außer Kraft gesetzt zu werden. Der Vierzigjährige stieg die steinernen Stufen einer Treppe abwärts, die sich im Unendlichen zu verlieren schien. Clymer konnte ungefähr fünfzig Meter weit sehen, doch ein Ende der Stufen ließ sich auch dort nicht erkennen. Ein paar Schritte vor ihm stieg Sara Moon die Treppe hinab. Das Weiß ihres Tauchanzuges schimmerte ihm fahl entgegen. Das Wasser, das den Raum zwischen ihren Körpern ausfüllte, wirkte irreal. Es war überaus klar und bot ihnen noch weniger Widerstand als Luft. Ihr Eindringen in den See verlief völlig anders, als es auf der Erde möglich gewesen wäre. Sie bewegten sich sicher auf beiden Beinen wie an Land. Eine physikalische Unmöglichkeit! Wie so vieles auf dem Silbermond… Clymer atmete tief durch, während er weiter dem Grund des Sees entgegenschritt. Von Magie erzeugter Sauerstoff füllte seine Lungen. 18 �
»Sara«, sagte er. Nicht sehr laut, aber trotzdem war er sicher, daß sie ihn verstand. »Wie weit geht es hinunter?« »Sehr weit«, kam die lapidare Antwort. »Der Friedhof liegt auf dem Grund des Toten Wassers, und der See ist tief…« Clymer grinste freudlos. Der See ist tief, dachte er sarkastisch. Wahrscheinlich führen die Stufen geradewegs in die Hölle! Nach einer halben Stunde registrierte Clymer die Veränderung der Umgebung. Er machte Sara Moon darauf aufmerksam. Vor ihnen schalte sich eine flimmernde Wand aus den Wassermassen, die in allen Farben des Spektrums leuchtete. Die Stufen endeten abrupt davor. Was dahinter lag, war nicht auszumachen. Die Mauer bestand aus einer Substanz, die keinerlei Transparenz aufwies. Sie war nicht organisch, wie die Bauwerke in der Stadt, sondern schien eher energetische Struktur zu besitzen. »Stabilisierte magische Energie«, erläuterte die Silbermond-Druidin, als sie vor der Mauer standen, die sich höher türmte, als ihre Augen zu sehen vermochten. »Nicht anfassen!« fügte sie scharf hinzu, um Clymer zu stoppen, der bereits spontan die Hand ausgestreckt hatte, um das Material zu befühlen. »Dahinter beginnt die wasserfreie Zone«, fuhr Sara Moon fort. »Der
Friedhof…« Clymer zog die Hand zurück. Sein Blick wechselte von der Energiewand zu seiner Begleiterin. »Warum soll ich sie nicht anfassen?« fragte er. »Ist es gefährlich?« Sie zuckte in menschlicher Gestik die Schultern. Clymer spürte ihre Unsicherheit und fragte sich, welche üble Überraschung ihm nun wieder bevorstand. »Normalerweise nicht«, sagte die Druidin langsam. »Normalerweise verhält sich die energetische Substanz Druiden gegenüber neutral, das heißt, sie ist durchlässig für uns. Nur das Wasser des Sees, das aus einer speziellen Zusammensetzung besteht, wird dadurch wirkungsvoll ferngehalten.« »Normalerweise?« hakte Clymer nach. Sara Moon antwortete nicht, aber der ehemalige Farmer wußte auch so, was sie damit meinte. Alles hatte sich verändert auf dem Silbermond, seit Sara ihn das letzte Mal betreten hatte. Alles! »Etwas«, preßte die Druidin hervor, »stimmt nicht mehr damit. Etwas ist manipuliert!« Clymer ahnte, was das hieß. Der Feind hatte auch hier seine Macht manifestiert. Jedes Fleckchen Erde auf dem Silbermond befand sich unter schwarzmagischer Kontrolle. Das Netz, das die Finsternis um das 19 �
einstige Zentrum der Weißen Magie gewoben hatte, wies keine sichtbare Lücke auf. Der Silbermond war abgeriegelt vom übrigen Universum, seine letzten Bewohner Gefangene… Aber wie sah es mit der Erde aus? Clymer schauderte, wenn er an den fehlgeschlagenen Versuch dachte, zur Menschenwelt zurückzuspringen. Sara Moons überragende Kräfte hatten dazu nicht ausgereicht. Zwar war es ihr gelungen, die Anti-Magiesphäre zu überwinden, die den Silbermond vom übrigen Universum abschirmte, doch hatte sie dieses Unternehmen fast alle verfügbare Energie gekostet. Und da war plötzlich das zweite Hindernis gewesen, die zweite Sphäre… um die Erde! Sie waren zurückgeschleudert worden, mit dem schockierenden Wissen, daß dieselbe Macht, die auf dem Silbermond die Fäden in Händen hielt, offenbar auch vor der Erde haltgemacht hatte. Der nicht dunklen Erde… Warren Clymer hätte zu gern gewußt, welche Verhältnisse momentan auf jener Welt in einem anderen Universum herrschten. Er dachte an Jessica Torrens, seine Lebensgefährtin. Er kannte ihr Schicksal so wenig wie sie das seine. Und wenn er die Zeit dazu gehabt hätte, hätte er darüber wohl Bitterkeit empfunden. Doch Zeit war etwas, worüber er plötzlich kaum
noch verfügte. Denn die Zeit – schlug zu! Gefahr! signalisierten Clymers Druidensinne, die solange verschüttet gewesen waren, nun aber jäh zu voller Aktivität erwachten. Die Wand vor ihm und Sara Moon – jenes flirrende Etwas, von dem die silberhaarige Druidin gerade gesagt hatte, daß es manipuliert sei – zeigte sich unvermittelt von ihrer mörderischen Seite! Instabil gewordene magische Energie schoß auf die beiden so verschiedenen Angehörigen des Alten Volkes zu! Und die Zeit spielte plötzlich verrückt, die Dimensionen brachen auf… Sara stieß einen kurzen, aber lautstarken Warnschrei aus, dessen es jedoch gar nicht mehr bedurft hätte, denn die Gefahr war auch für Warren offensichtlich. Das Böse war da! Aus der leuchtenden Energiemauer brach es hervor und übergoß die beiden völlig überraschten Druiden gleichsam mit negativer Kraft! Clymer spürte, wie etwas, gegen das es keine wirksame Abwehr zu geben schien, durch die künstliche Haut seines Tauchanzuges kroch und in seinen Körper eindrang, vornehmlich in sein Gehirn. Etwas, das fremd war und unheilig – das Bösean-sich… Clymer merkte, daß er schrie, laut schrie und um sich schlug. Planlos. 20 �
Unkontrolliert. Von den Reaktionen seines eigenen Körpers überrumpelt. Sein Blick trübte sich, alles um ihn verzerrte, war plötzlich in zunehmende Finsternis getränkt. Die schillernden Farben der Energiewand verblaßten und wurden durch düstere, unterweltliche Schattierungen ersetzt. Hinzu kam eine plötzliche Atemnot, die Angst zu ersticken. Es war, als würde die Welt um ihn völlig verlöschen. Warren! Der Schrei war in ihm. Zweifellos. Er zertrümmerte die völlige Taubheit, die sich von Clymer bemächtigt hatte. Sara Moon rief! Auf Para-Ebene! Clymer konnte sie nicht sehen. Er sah nichts. Aber ihr Schrei riß ihn aus der zunehmenden Agonie des nahen Todes. Sein alter Lebenswille erwachte aufs Neue und kämpfte gegen den Fremdzwang an. Sara! schrie sein Innerstes. Und wie ein Echo meinte er es von allen Seiten widerhallen zu hören. Sara… Sara… Sara… Ich werde wahnsinnig, dachte er. Aber die Erkenntnis der Gefahr war schon fast ein Sieg über sie. Er öffnete mühsam die Augen, merkte jetzt erst, daß er sie in instinktivem Schutzbedürfnis geschlossen hatte, als der Angriff erfolgte. Er sah Sara Moon, die geheimnisvolle Druidin. Sie stand da wie
angewurzelt, während Clymer sich am Boden liegend wiederfand. Und die Gefahr war noch lange nicht vorüber! Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag Clymer da und starrte die silbern strahlende Frauengestalt vor sich an wie eine Erscheinung, ein Gespenst. Sein Hals wurde noch trockener, als er ohnehin schon war, als er das Unglaubliche mitverfolgte. Um ihn her wütete das Chaos. Nichtgreifbar, aber dennoch in seiner Tödlichkeit kaum zu übertreffen. Schwärze ringsum, die wie dunkle Nebelschwaden aus der manipulierten Energiemauer herauskroch. Nur etwas strahlte greller als eine Sonne… Sara Moon! Sie, die Silbermond-Geborene, wurde zur Berserkerin. Die Druidin besann sich ihrer Weißen Macht. Clymer erkannte, wie sich ihre Lippen lautlos bewegten, als spräche sie. Von irgendwoher drang Gemurmel auf ihn ein. Fremdartige Worte. Formeln Weißer Magie. Und dann – kam es zur… * IMPLOSION! * Jessica Torrens zog die schwere Tür � 21 �
hinter sich ins Schloß. Teri Rheken und Gryf aus Llandrysgryf verschwanden aus ihrem Blickfeld. Sie trat aus der Türnische auf den weitgestreckten Korridor hinaus in die schattenlose Helle der Kaltlichtbirnen. Die Müdigkeit, die noch vor Stunden in ihr genistet hatte und ihr fast jegliche Initiative nahm, war aus ihr gewichen. Seit dem Erlebnis im Saal des Wissens hatte sich etwas in ihr verändert. Etwas war erwacht, ihr alter Kampfgeist, der ihr zusammen mit ihrem Freund Warren schon gegen Draculas Reinkarnation geholfen hatte. (Band 340, 341, 342) Unternimm endlich etwas! schien ihr eine Stimme aus ihrem Unterbewußtsein zuzurufen. »Das habe ich vor«, versprach Jessica grimmig. Ihre rechte Hand umschloß fest den Silberstab, den sie sich von Gryf »ausgeliehen« hatte. Merlins Geschenk strahlte eine metallische Kühle aus, die sie beruhigte. Und noch etwas anderes ging davon aus, griff auf Jessica über, aber dieses Andere ließ sich nicht in Worte kleiden. Es war nur gefühlsmäßig feststellbar. Merlin ist mit mir, dachte sie einen Augenblick, obwohl dies zweifelhaft war. Merlin, der Magier, der seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden durch die Geschichte der Menschheit geisterte, war von der Erde verschwunden. Der wahre Grund dafür war Jessica immer noch nicht
bekannt. War er wirklich vor den Schatten, die ein nicht unbedeutendes Machtpotential darstellten, geflohen, oder hatte er sich zurückgezogen, weil er sich aus dem Verborgenen heraus mehr Chancen in seinem Kampf gegen den Feind ausrechnete? Aber wie dem auch war, der Effekt blieb der gleiche: Merlin war fort! Und Caermardhin, seine einstmals unsichtbaren Burgreste, war bereits aus dem Schutz seiner Weißen Magie herausgerissen worden in die Welt des Sichtbaren. »Oh, Merlin«, seufzte Jessica, als sie vor dem Saal des Wissens anlangte. Kurz nur zögerte sie, ehe sie eintrat. Aber dieses Zögern war etwas, das sie nicht unterdrücken konnte. Noch immer empfand sie eine gewisse Scheu vor jenem Saal, der Merlins bestgehütetes Geheimnis auf Caermardhin war. Ein Raum hinter der Zeit… Jessica betrat ihn. Als sie ihren Fuß über die Schwelle setzte, hatte sie wieder den Eindruck, in ein endloses Loch zu stürzen, geradewegs in die kalte Einsamkeit des Weltraums. Ein Hauch Ewigkeit streifte sie und ließ sie frösteln. Sie hob die Hand mit dem Silberstab etwas an. Kein Boden war sichtbar. Um sie her war grenzenlose Weite, in der sich Milliarden Galaxien verloren. Trotzdem spürte Jessica unter ihren 22 �
Füßen festen Halt. Aber das Absurdeste war, daß hinter ihr die schlichte Holztür sichtbar blieb, durch die sie den Saal betreten hatte, während alles andere, Wände, Decke und Fußboden, von dieser Reproduktion der Ewigkeit übertüncht wurde, seine Realität einbüßte. Die Tür war der einzige Bezugspunkt, der ihr blieb, und sie war dankbar dafür. Diesmal blieb der grüne Tasterstrahl aus, der sie beim ersten Besuch auf ihre Legitimation hin überprüft hatte. Überhaupt geschah in den ersten Sekunden nichts Spektakuläres. Wenn man davon absah, daß die besondere Atmosphäre im Saal schon spektakulär genug war. Jessica wartete. Sie wußte nicht, auf was sie wartete, aber etwas in ihr sagte ihr, daß es richtig war zu warten. Der Silberstab schien diese Zuversicht noch zu schüren. Plötzlich spürte Jessica deutliche Impulse, die von Merlins Geschenk ausgingen und auf Mentalebene in ihr widerhallten. Gleichzeitig erwärmte sich der Stab. Die Spannung in Jessica wuchs. Die dunkelhaarige Frau sah an sich herab, sah ihren Körper im Widerschein des Sternenlichts. Ihr Atem beschleunigte sich etwas und feine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. »Gut, daß du da bist«, sagte eine vertraute Stimme hinter ihr.
Sie wirbelte erschreckt herum und sah ihn. Merlin. * Das ist der Tod! dachte Warren Clymer, als die Schwärze ringsum in einer infernalischen Lichtorgie verging und der Schmerz in ihm unerträglich wurde. IMPLOSION! Clymer hatte keine Ahnung, was wirklich geschah. Er wurde zum Spielball der Gewalten. Er verlor Sara Moon vollständig aus den Augen, als ihn der wahnwitzige Sog packte und auf die Energiemauer zu zerrte! Manipuliert! schrien Clymers Gedanken. Du wirst sterben! Im Moment der Berührung wirst du sterben! Dieser Moment kam. Die schwarzmagische Strahlung, die von der manipulierten Energiewand ausging, hämmerte in Sara Moons Gehirn. Sie schirmte sich dagegen ab und mobilisierte bis dahin brachliegende Sektoren ihres PSI-Zentrums. Ein weißmagisches Schutzfeld baute sich um sie herum auf. Ein uneingeweihter Beobachter mußte annehmen, sie verwandele sich in eine silbern strahlende Miniatursonne. Sara Moon setzte ein halbes Dutzend Para-Fähigkeiten zugleich ein, 23 �
um sich gegen den Fremdeinfluß behaupten zu können, der nach ihr und Warren Clymer griff. Clymer… Ihre Augen veränderten sich, glichen sich den apokalyptischen Verhältnissen an, die im Toten Wasser herrschten, und hielten Ausschau nach dem Begleiter. Sie entdeckte ihn nicht. Sara Moon blieb keine Zeit, weiter nach Clymer zu forschen. Die Befürchtung, daß er dem Angriff zum Opfer gefallen war, grub sich in ihr Bewußtsein, aber dann wurde sie wieder durch ihre eigene Gefährdung abgelenkt. Die von den MÄCHTIGEN manipulierte Energiemauer um den Druidenfriedhof pulsierte immer heftiger. Die Folge davon war, daß die Dimensionen an dieser Stelle einen Großteil ihrer Stabilität einbüßten und es zu wahnwitzigen Effekten kam. Sara Moon sah klaffende Risse im Normalkontinuum, die sich wie feurige Höllenschlünde ausdehnten und in einem geheimen Rhythmus wieder zusammenzogen. In diesen Öffnungen tauchten Gesichter auf, Körper, greuliche Fratzen häßlicher Dämonen, die der Druidin Blicke zuwarfen, die ihr Blut zum Kochen brachten. Mehrere unterschiedliche Universen schienen sich zu überlappen, und am Brennpunkt bildeten sich Fenster in andere Wirklichkei-
ten. Welten, die Menschen in den Wahnsinn treiben konnten. Aber Sara Moon war kein Mensch. Sie war eine Silbermond-Druidin, und keine gewöhnliche. Sie entstammte Merlins Geschlecht! Der Gedanke an Merlin schien ihr neue Kraft zu verleihen. Sie konzentrierte sich, drang mit ihren Druidensinnen in die Energiemauer ein und tastete sich darin entlang. Sie suchte den Faktor, der von den MÄCHTIGEN entfremdet worden war, und es währte nicht lange, bis sie die Fehlschaltung ausfindig gemacht hatte. Dann machte sie sich daran, den Fehler zu korrigieren… * Als er die Augen öffnete und sich umsah, wußte er in den ersten Sekunden nicht, ob er noch lebte oder bereits ins Nirwana eingezogen war. Clymer sah sich um und nahm widerwillig das Bild seiner veränderten Umgebung in sich auf. Er lag auf einem Steinboden in einer matt erhellten Kammer. Noch immer trug er den weißen Tauchanzug, den er von Sara Moon bekommen hatte, obwohl er an diesem Ort überflüssig gewesen wäre, denn hier gab es kein Wasser. Kein Wasser, dachte Clymer noch immer halb betäubt. Die wasserfreie 24 �
Zone? Sara Moon hatte davon gesprochen. »Aber dann…«, murmelte Clymer unwillkürlich. Der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn, und er verstummte. Befand er sich – auf der anderen Seite! Jenseits des Energieschirms? Lebend? Clymer atmete tief durch. Er versuchte sich zu erheben, was auch ohne Schwierigkeiten gelang. Seine Muskeln schmerzten ein wenig, als hätte er sie sich verzerrt, das war alles. Er öffnete die Kapuze, wie er es von Sara gelernt hatte. Das Material rollte sich hinter seinem Nacken zu einem winzigen Knäuel zusammen. Clymer atmete frische, saubere Luft. Keine Spur von Muff. Die Belüftungssysteme mußten hervorragende Arbeit leisten. In einer Wand der Kammer erkannte Clymer einen kleinen Durchlaß. Er wollte darauf zugehen, als ihm einfiel, daß Sara Moon nicht bei ihm war. Betroffen wurde ihm bewußt, daß es schon Stunden her sein konnte, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Er war auf bloße Vermutungen angewiesen, was die Dauer seiner Bewußtlosigkeit anging. Wo war die Druidin? Die Möglichkeit, daß Sara der manipulierten Energiemauer zum
Opfer gefallen sein sollte, während er fast ohne Kratzer überlebt hatte, erschien ihm als schlechter Witz, war völlig indiskutabel. Aber wo war sie? Immer noch in Gefahr, brauchte sie Hilfe? Clymer konnte das flaue Gefühl, das sich in seinem Magen ausbreitete, nicht länger unterdrücken. Die neuerliche Situation gefiel ihm fast noch weniger als die Todesgefahr, in der er sich kurz davor befunden hatte. Ohne Sara, die wenigstens etwas Ortskenntnis mitbrachte, fühlte er sich ziemlich hilflos. Was sollte er tun? Hier auf sie warten (falls sie überhaupt hierher finden würde) oder auf eigene Faust das Unternehmen fortsetzen? Er entschied sich schweren Herzens für letzteres. Er war kein Mann, der untätig herumsitzen und auf etwas warten konnte, was sich vielleicht nie ereignete. Er mußte etwas tun. Diesmal überlegte er es sich nicht mehr anders. Er passierte den schmalen Durchlaß, der gerade breit genug war, um einen Mann seiner Statur durchzulassen. Dahinter erwartete ihn ein phantastisches Bild. Der Friedhof der Druiden! * Sara Moon setzte die Para-Gaben, die ihr einst von Merlin persönlich übermittelt worden waren, konzen25 �
triert ein. Wie ein Virtuose handhabte sie die Instrumente ihres Geistes und impfte der Energiemauer die ursprüngliche Weißmagische Struktur ein. Parachirurgisch entfernte sie die schwarzmagische Fehlschaltung. Dadurch verlor die Wand ihren gefährlichen Charakter. Das Tote Wasser beruhigte sich wieder und entsprach damit wieder seinem Namen. Auch Sara Moon selbst normalisierte sich. Die Silbersphäre um sie erlosch. Die einszweiundsechzig große Druidin im weißen Tauchanzug schritt auf die wieder in allen Farben des Spektrums leuchtende Wand zu und durchdrang sie ungehindert. Sie kam in der gleichen Kammer heraus wie vor ihr Warren Clymer. Aber Clymer war fort. * Es geschah in einem anderen Universum. Es geschah auf Caermardhin, im Saal des Wissens. Merlin erschien! Jessica Torrens starrte ihn mit großen Augen an. Der Schreck war ihr in alle Glieder gefahren. Der Unglauben über das, was gerade passierte, stand ihr im Gesicht geschrieben. »Nein«, rann es fassungslos über ihre Lippen. »Merlin – das gibt es nicht!« Die uralte Gestalt vor ihr lächelte
sie aus ewigkeitsjungen Augen an. Ein Lächeln, das Jessica mittlerweile kannte, wenn es ihr auch diesmal verändert vorkam. Etwas klang darin mit, was sie nie zuvor in einer Geste Merlins entdeckt hatte: Unsicherheit! Ungeheuerlich! Plötzlich erschien ihr der weißhaarige alte Mann in seinem wallenden Umhang noch älter als sie ihn je gesehen hatte. Merlin wirkte ausgezehrt. Jessica nahm nicht wahr, wie lange sie einfach so dastand und den Magier nur betrachtete. Die Zeit schien mit einem Mal zu einem Stillstand gekommen zu sein, und selbst die unruhig blinkenden Sternenmeere ringsum wirkten wie erstarrt. Dann sprach Merlin. Seine Stimme war klar artikuliert wie immer. Ewigjung und energisch. »Jessica«, sagte er und trat ein paar Schritte näher an sie heran, »wer hätte gedacht, daß du einmal mein Fleisch und Blut retten würdest! Komm näher heran mit dem Silberstab, den du Gryf, dem alten Halunken, entliehen hast. Auf meinen Wunsch hin.« Auf seinen Wunsch hin, dachte Jessica, während sie seiner Bitte automatisch Folge leistete und zu ihm hintrat. Hieß das, daß Merlin sie parapsychisch dazu gebracht hatte, in Gryfs Tasche zu greifen und den Stab an sich zu bringen? Und wenn 26 �
es so war, was machte sie dann überhaupt noch aus freien Stücken? War sie letztendlich vielleicht schon eine willfährige Marionette des Zauberers »Nein«, sagte Merlin. »Du bist nicht meine Marionette. Aber ich hoffe, meine Verbündete.« Jessica nickte schwach. Sie ahnte, daß dem Zauberer in Avalon keiner ihrer Gedanken verborgen blieb. Ein eigenartiges Gefühl. Es machte ihr keine Angst, aber es hemmte sie. Zumal sie Merlins Andeutungen nicht ganz verstand. »Du wirst verstehen – wenn der Zeitpunkt gekommen ist«, orakelte der Weißhaarige. »Gib mir den Silberstab, bitte.« Auch das Bitte war neu an Merlin. Früher hatte er nicht gebeten, sondern auf seine sanfte Art befohlen, überlegte Jessica. Sie zögerte nicht, ihm den Stab, der ihr nicht gehörte, zu überreichen. »Was willst du damit?« fragte sie rauh. Merlin nahm den kleinen Silberstab (hatte ihn Gryf nicht Merlins Geschenk genannt?) in beide Hände und preßte ihn gegen die weiße Kutte an seine Brust. Im nächsten Moment glaubte Jessica bläuliche Entladungen wahrzunehmen, die den Stab wie Elmsfeuer umzuckten. Das ganze dauerte jedoch nur wenige Augenblicke, dann war wieder alles wie vorher, und Merlin
reichte ihr den Silberstab zurück. Als Jessica ihn entgegennahm, meinte sie im ersten Moment eine Gewichtsveränderung festzustellen, doch das konnte auch eine Täuschung sein. »Was hast du damit getan?« wiederholte sie ihre Frage. »Ich habe ihn dir angepaßt«, erwiderte Merlin gelassen. »Es war nötig für das, was du noch zu tun hast.« »Darf ich auch mal erfahren, was das ist?« erkundigte sich die ExVampirin leicht verärgert. »Überhaupt hätte ich gern ein paar Antworten auf Dinge, die ich nicht verstehe mit meinem begrenzten Grips.« »Nur zu«, sagte Merlin offengelaunt. Damit hatte Jessica nicht gerechnet. Sie schluckte. Merlin, der passionierte Geheimniskrämer, sollte plötzlich bereit sein, Geheimnisse zu lüften? »Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll, so viele Fragen habe ich…« »Das macht nichts, wir haben Zeit«, beruhigte sie der Zauberer. Zeit? Das durfte doch nicht wahr sein! »Da draußen«, schrie Jessica, »außerhalb dieses Saales, außerhalb dieses altehrwürdigen Gemäuers sterben in jeder Minute Dutzende Menschen! Sie werden von den Schatten übernommen! Und du redest von Zeit, die wir haben?« 27 �
Sie war außer sich. »Wir haben Zeit«, beharrte Merlin. »In diesem Saal, der den Gesetzmäßigkeiten keines Universums unterliegt, haben wir alle Zeit der Ewigkeit! Man könnte auch sagen, daß der Faktor Zeit hier keinen Einfluß auf die Dinge hat, daß er zum Stillstand gekommen ist. Das ist eines der Geheimnisse dieses Saales, und es ist das geringste.« »Wenn du so mächtig bist, wie du immer den Anschein erweckst, und auch noch über ein überragendes Instrumentarium verfügst, warum bist du dann, so frage ich, vor der aufkommenden Gefahr geflohen? Einfach geflohen, über Nacht. Mit ein paar verschlüsselten Botschaften, die uns nicht das geringste gegen die Schatten geholfen haben. Im Gegenteil: Gryf und Teri liegen im Todesschlaf, was an diesem verdammten Anti-Magie-Schirm liegt, der sich um die Erde aufgebaut hat. Ich frage dich: Werden sie jemals wieder daraus erwachen? Und was ist mit den Menschen der Erde? Sollen alle sterben?« »Du gehst ja ganz schön ran«, meinte Merlin. »Aber ich verstehe dich. Sicher denkst du insgeheim auch an das Schicksal deines Freundes Warren Clymer, über das dir nichts bekannt ist. Laß dir sagen, daß es einzig an dir liegt, ob du ihn lebend wiedersehen wirst oder nicht. Du hast es in der Hand.«
»Aber«, begehrte Jessica auf. Wie ein Schlag auf den Kopf waren Merlins Worte auf sie niedergeprasselt. »Wie soll ich das schon wieder verstehen? Wie soll ich irgend etwas für Warren tun, wo ich, wie du selbst sagst, nicht mal eine Ahnung habe, was mit ihm geschehen wird? Das ist doch reinster Wahnwitz!« »Deshalb bin ich gekommen. Um dir zu zeigen, was mit deinem Freund und Sara Moon passiert ist«, erwiderte Merlin ruhig. »Leider konnte ich nur eine Projektion von mir schicken, da die Macht des Gegners bereits derart stark auf der Erde etabliert ist, daß mir ein persönliches Erscheinen unmöglich wurde. Was du also hier vor dir siehst, ist nicht mehr als eine Gedankenprojektion, die ich von einem sicheren Ort aus in dein Gehirn pflanze…« »Was ist mit Warren?« fiel ihm Jessica Ungeduldig ins Gerede. Die Projektion schnippte kurz mit den Fingern – dann sah es Jessica… * Die Szenerie, die sich vor Clymers Augen öffnete, war grotesk und beängstigend zugleich. Er wußte nicht, was er eigentlich erwartet hatte, aber die Wirklichkeit übertraf selbst seine kühnsten Spekulationen. Bernsteinsärge… Ihm stockte der Atem. Welch ein Bild! 28 �
Vor Clymer breitete sich ein riesenhafter Kuppelraum aus, dessen Wände aus einem Material bestanden, das dem der Energiemauer ähnelte. Nur war es farblich schlichter, fast weiß. Der Grund für seine Aufregung befand sich allerdings auf dem Boden der Halle. Bernsteinsärge… Wieder zuckte der Begriff durch Clymers Bewußtsein. Da standen sie, fein säuberlich aufgebahrt und gestapelt, ein riesiges Areal überdeckend – Särge! Tausende Särge! Und in jedem lag ein Druide… Der Schock raste heiß durch Clymers Körper, und hinter ihm ertönte ein heiserer Aufschrei, der ihn herumwirbeln ließ. »Sara!« rief er erleichtert, als er die silberhaarige Druidin erkannte, die eben aus dem Durchlaß getreten war, den auch er benutzt hatte. Dann verschwand seine Erleichterung, als er Saras Gesicht sah. Sie nahm ihn nicht wahr, blickte an ihm vorbei zu den Abertausenden ihres Volkes, die wie Fossilien eingebettet in Bernsteinblöcken vor ihr lagen. Tot. Ganz unzweifelhaft tot. Das Ende einer Hoffnung, dachte Clymer niedergeschlagen. Er wußte, daß Sara in der ständigen Hoffnung gelebt hatte, ihr Volk, zumindest einen Teil davon, doch noch lebend
vorzufinden. Dabei hätte ihr das Zeitauge längst die volle Wahrheit sagen müssen. Aber wie ein Kind hatte sie sich an den berühmten Strohhalm des Wunschdenkens geklammert. Clymer ging zu ihr und faßte sie energisch an den Schultern. »Sara!« rief er. »Komm zu dir! Es ist nicht mehr zu ändern! Wir müssen damit leben!« Obwohl er jetzt genau vor ihr stand und ihr die Sicht nahm, blickte sie noch immer geradeaus, so als sähe sie durch ihn hindurch. Da erst merkte er, daß sie in Trance war. Seine Hände fielen kraftlos von ihren Schultern. Wieder überschwemmte ihn dieses entsetzliche Gefühl der Hilflosigkeit. »Tot«, murmelte er. »Alle sind tot…« »Du irrst dich«, erklärte Sara Moon in diesem Augenblick. »Sie sind weder tot noch lebend – sie sind untot…« * »Untot?« echote Clymer, von Saras Erklärung völlig überrascht. Sie hatte ihre Trance zurückgenommen und wirkte fast wieder normal. Hatte sie den Schock überwunden, den der Anblick der Toten hervorgerufen haben mußte? »Wo warst du vorhin plötzlich?« stellte Sara die Gegenfrage. »Ich 29 �
konnte dich nicht mehr ausfindig machen.« »Danke gleichfalls«, erwiderte Clymer. »Ich dich nämlich auch nicht. Da war nur ein ungeheurer Sog, gegen den ich nichts ausrichten konnte. Der hat mich offensichtlich durch die Energiewand gezogen, wobei ich das Bewußtsein verlor. Als ich wieder zu mir kam, bin ich hierher gegangen.« »Du bist durch die Mauer?« wollte Sara ungläubig wissen. »Noch ehe ich die Normalisierung abgeschlossen hatte… und du lebst?« »Kneif mich mal, dann weißt du’s«, sagte Clymer brummig. »Überrascht dich wohl selbst, daß ich das Spielchen, das du da entfesselt hast, überleben konnte.« »Ich habe es nicht entfesselt«, verteidigte sich die Druidin. »Die Mauer war schwarzmagisch aufgeladen. Sie hätte uns vernichtet, wenn ich nicht mit meiner Magie eingegriffen hätte!« »Wie konntest du das überhaupt, eingreifen?« fragte Clymer. »Ich dachte, das Blockadefeld um den Silbermond hemme auch deine Kräfte. Langsam wirst du mir unheimlich.« Sara lächelte nur ihr verlorenes Lächeln. Das schien ihr Antwort genug. Aber dann ließ sie sich doch zu einer Erwiderung hinreißen. »Ich bin eben meines Vaters Tochter.« Clymer machte ein Gesicht, als
hätte er in eine Zwiebel gebissen. »Ach wirklich? Ist ja phänomenal!« Später sollte er sich einmal darüber ärgern, daß er nicht nach ihrem Vater gefragt hatte. Doch daran dachte er in diesen Augenblicken nicht. »Wieso sind die Druiden untot?« stellte er seine Frage vom Anfang. »Ich spüre es.« »Hm, du und deine Gefühle.« »Du mußt mir nicht glauben…« »Verdammt, ich tu’s aber. Das ist ja das Schlimme!« Plötzlich mußten sie beide lachen. Fast ohne Motiv. Aber es tat ihnen gut. Wie sagten schon die ollen Chinesen: Der Tag, an dem man nicht wenigstens einmal gelacht hat, ist ein verlorener Tag. »Recht haben sie«, meinte Clymer. »Wer hat recht?« Er erklärte es ihr. Sie nickte beifällig. »Der Spruch könnte von meinem Vater sein«, lächelte sie. »Nun komm, laß Daddy mal aus dem Spiel, wir müssen was unternehmen. Oder geh ich da falsch in der Annahme?« »No, it’s correct!« »Frage: Was?« Clymer war völlig verblüfft, daß Sara auf den lockeren Tonfall eingegangen war. Das Fluidum des Tragischen, das sie die ganze Zeit über um sich her aufgebaut hatte, war fast gänzlich verschwunden. Und 30 �
das war gut so. »Ran an die Buletten!« sagte sie. Was sie mit Buletten meinte, merkte Clymer, als sie ihn am Arm faßte und mit sich zog. Zu den Bernsteinsärgen…
»Worauf?« »Auf den Silbermond und deinen Freund«, sagte Merlin. »Und auf meine Tochter.«
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Aus der Nähe betrachtet wirkten die Särge und die darin eingeschlossenen Druiden noch weitaus beklemmender als aus einiger Distanz. Es war ein schrecklicher Anblick, der tiefen Eindruck in Sara und Warren hinterließ. Sie versuchten weiterhin, ihre Bestürzung durch lockere Sprüche zu übertünchen. Doch das ging auch nicht immer. Dazu war die Lage doch zu ernst. Ein ganzes Volk, dachte Clymer, ein Volk dessen Blut auch in mir fließt, hier liegt es, niedergemacht von Wesen, die wir noch nie zu Gesicht bekommen haben… »Was wirst du tun?« fragte Clymer die schöne Druidin, die vor einem der Bernsteinsärge stand und ihre Finger versonnen darüberstreichen ließ. »Sie sind untot«, antwortete Sara, ohne ihn anzusehen, »ich sagte es bereits. Ihre Seelen befinden sich nicht mehr in ihren Körpern, sie sind auch nicht in die Lebensbäume eingegangen, wie es der natürliche Weg vorschreibt. Und da sie nicht vernichtet werden können – eine Seele ist, wie du wissen wirst, unsterblich – müssen sie sich noch irgendwo
Die Bildkugel, die wie beim ersten Mal vor Jessica aus dem Nichts aufgetaucht war verdunkelte sich. Damit war der kurze Sichtkontakt zum Silbermond aufgehoben. Jessica gab einen enttäuschten Laut von sich, obwohl sie wußte, daß es keinen Zweck hatte. Die Kugel würde ihr immer nur das preisgeben, womit Merlin einverstanden war. »Das waren Bilder«, erläuterte der Weißhaarige an ihrer Seite, »die für dich völlig aus dem Zusammenhang gerissen erscheinen müssen. Denn du kennst nicht die Vorgeschichte.« Jessica gab sich gar keine Mühe, ihre fiebrige Spannung zu verbergen. Warren, dachte sie. Sie hatte ihn gesehen, in einem fremdartigen Anzug und in Begleitung von Sara Moon. Er schien wohlauf zu sein. »Erzähl sie mir«, bat sie den Magier – oder die Projektion des Alten. Diesmal schüttelte Merlin den Kopf. »Nimm den Stab«, sagte er, »und konzentriere dich.«
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aufhalten. In dieses Irgendwo aber müssen auch Spuren von ihren untoten Körpern aus führen.« Clymer verstand kaum etwas von Saras Ausführungen. »Und ich werde versuchen, diesen Spuren zu folgen«, erklärte die Druidin abschließend. »Wie?« »Mit Hilfe meiner Magie.« »Ein gewagtes Unternehmen. Ist das nicht zu gefährlich?« »Es ist gefährlich«, gab Sara zu. »Aber gegenwärtig gibt es nichts auf dem Silbermond, was nicht gefährlich ist.« »Dieses Argument sticht«, gab sich Clymer geschlagen. »Muß ich solange warten?« Sie nickte. »Wenn alles planmäßig verläuft, dauert es nicht lange.« »Ja, wenn«, unkte Clymer. »Es muß«, konterte Sara. Sie entfernte sich etwas von Clymer, legte ihre Hände auf einen anderen Bernsteinsarg und begann ihre parapsychische Suche. Sie ahnte nicht, welches Grauen sie damit auslöste! * Der Zeitpunkt, auf den das Machtzentrum des Bösen gewartet hatte, war gekommen! Das Totgeglaubte erhob sich…
Die Spur war da. Sara brauchte nicht lange danach zu suchen. Aber es galt, ans Ende dieser Spur zu gelangen, wo das warten mußte, auf das Saras ganze Hoffnungen basierten. Die Druidenseelen. Sara schickte einen Geistfühler die Spur entlang. Ein Unterfangen, das sie gigantische Energien kostete. Energien, die ihr immer weniger zur Verfügung standen, denn das Blockadefeld um den Silbermond verschonte auch sie nicht, wenn es ihr auch größere Reserven als Clymer ließ. Plötzlich stieß der Geistfühler gegen ein Hindernis, das kein Durchkommen gestattete. Etwas riegelte die Spur ab! Und dann überschlugen sich die Ereignisse. Obwohl in Trance, fühlte sich Sara an den Schultern gepackt und geschüttelt. Gefahr! signalisierte ihr Instinkt. Sie öffnete die Augen. Warren Clymer stand vor ihr. Er gestikulierte erregt. »Schau hin!« rief er. »Etwas verändert sich!« Dabei vollführte er eine Handbewegung, die alle in der Halle befindlichen Särge in seine Worte einbezog. Und dann sah es auch Sara Moon. *
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Ungefähr ein Dutzend der Bernsteinsärge in ihrer nächsten Nähe – platzten auseinander! Zerbarsten! »Was bedeutet das?« keuchte Clymer. Fasziniert verfolgte er das unheimliche Schauspiel. Es sah aus, als hätte im Innern der Särge eine Explosion stattgefunden. Die Bruchstücke segelten durch die Luft, trafen aber weder Sara noch ihn. Dafür gaben sie etwas frei, was als weitaus gefährlicher einzustufen war! Ein Dutzend untoter Druiden erhob sich aus den Trümmern. Danach ging alles blitzschnell. »Achtung!« schrie Sara Moon. »Wir müssen verschwinden! Rückzug!« Was Sara mit Rückzug meinte, war Clymer schon klar. Fraglich war nur, wie er das anstellen sollte. Denn plötzlich hing einer dieser verdammten Zombies, der sich von hinten angeschlichen hatte, wie eine Klette an ihm. Und die Umarmung, die er Clymer angedeihen ließ, war alles andere als freundschaftlich… »Verschwinde!« keuchte Clymer und rammte seine Ellbogen nach hinten. Es klang dumpf, fast hohl, als er gegen den Untoten stieß, aber eine sichtbare Wirkung erzielte er damit nicht. Statt dessen legten sich zwei Hände wie stählerne Klammern um seinen Hals und quetschten ihm die Atemwege zusammen.
Einen Moment verlor Clymer jegliche Orientierung. Ihm wurde schwarz vor Augen. Sein angespannter Körper erschlaffte. Der Schmerz in seinem Kopf und in den Lungen steigerte sich ins Unendliche. Nur noch Para-Kraft konnte ihn retten. Aber gerade Para-Kraft konnte ihn unter den gegebenen Umständen auch völlig ins Verderben reißen… Er wagte es trotzdem! Die Todesangst war stärker. Ein kurzer telekinetischer Impuls, in den er alle Energien hineinlegte – und die Klammer um seinen Hals lockerte sich, löste sich vollständig, als er einen weiteren Impuls nachsandte… Der Schmerz, den die Anwendung von PSI in seinem Gehirn hervorrief, ging fast vollständig in seinem ohnehin gequälten Kopf unter. Augenblicke später konnte er schon wieder etwas sehen. Aber für eine Verschnaufpause war es noch zu früh. Da waren plötzlich wieder Arme, die nach ihm griffen. Und eine Stimme, die ihn davon abhielt, sich dagegen zu wehren. Saras Stimme. »Stillhalten!« Sie packte ihn. Richtete ihn, der er halb zu Boden gesunken war, wieder auf und zerrte ihn mit sich. Auf den Durchlaß zu, durch den sie den Druidenfriedhof betreten hatten. 33 �
Aber die Zombies waren schneller. Sie schnitten ihnen den Weg ab und postierten sich vor dem Ausgang. Clymer machte sich von Sara los, als er sich zutraute, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Mit einem Blick überflog er die Lage. Der von ihm kurzfristig außer Gefecht gesetzte Untote hatte sich wieder erholt. Nach wie vor standen ihnen zwölf Gegner gegenüber. Eine Übermacht, denen mit konventionellen Mitteln nichts entgegenzusetzen war! Clymer setzte auf Saras unkonventionelle Mittel. »Meinst du, daß du es schaffst?« schrie er ihr zu. Ihre Antwort bedurfte keiner erklärender Beiworte. Ihre Antwort war ihr Handeln. Zwölf Zombies flogen plötzlich durch die Luft! Der Weg war frei. Zwei Druiden stürmten darauf zu… * Warren! Hörst du mich? Warren! Es traf ihn wie ein Schlag. Sein Blick kreiselte herum zu Sara Moon, die ihm dichtauf folgte. Er mußte dabei wohl ein selten intelligentes Gesicht gemacht haben, denn sie fragte im Rennen: »Was ist? Was hast du?« Sie hatten sich gerade durch den
Durchlaß gezwängt, und waren jetzt in der vertrauten Kammer, von der aus sie nur noch eine Wand stabilisierter Magie vom Toten Wasser trennte. »Hast du eben versucht, telepathischen Kontakt mit mir aufzunehmen?« fragte er rauh. »Wie kommst du denn darauf?« »Jemand hat gerufen: Warren, hörst du mich? Warren!« »Halluzinationen«, sagte Sara. »Komm jetzt. Zieh die Kapuze deines Anzuges über. Draußen ist es feucht!« Er befolgte irritiert ihre Anweisung. Im Durchlaß erschien eine Gestalt, die sich als Zombie entpuppte. »Los jetzt!« Sie traten durch die Mauer… … und befanden sich in der nächsten Sekunde wieder außerhalb des Druidenfriedhofs. Clymer wollte gleich weiter die Treppe hinaufrennen. Saras Ruf stoppte ihn. »Einen Augenblick!« Er verhielt im Schritt, sah jedoch nicht, was sie tat. Sekunden später war sie neben ihm. »Ich habe die Struktur der Mauer abermals etwas verändert. Die Zombies werden ihre Schwierigkeiten haben, sie zu durchdringen. Das gibt uns einen kleinen Vorsprung, mehr nicht. Denn leider schläft auch unser mächtiger Feind nicht.« 34 �
Trotz der prekären Situation empfand Clymer Bewunderung für die Druidin. Für eine Frau, dachte er und verfiel dabei unbewußt in längst überholtes Rollendenken, macht sie das alles nicht schlecht. Sie liefen weiter die Steinstufen nach oben. Zehn Minuten später erreichten sie atemlos das Ufer und ließen sich in den Sand fallen, völlig erschöpft schälten sie sich aus den Tauchanzügen Und legten ihre normale Kleidung wieder an. Da erreichte Clymer erneut der Ruf. * »Jessica!« stieß Clymer betäubt hervor. Er zitterte plötzlich, er sah ihr Bild vor sich, lebensecht und nah, und er hörte ihre Stimme. In seinem Kopf! Ja, Warren, ich bin es. Ich rufe dich. Merlin ist bei mir. Ich bin im Saal des Wissens. Die Erde, Warren, es ist alles so furchtbar, ein AntiMagie-Schirm, gegen den selbst Merlin machtlos ist, hat Gryf und Teri in einen todesähnlichen Schlaf gezwungen. Die Menschen werden immer mehr von Satans Schatten übernommen. Caermardhin wird wohl als nächstes fallen… Clymer hörte sich die Schreckensnachrichten an. Er blickte zu Sara Moon, die den Kopf etwas seitlich neigte, als vernähme auch sie den
Ruf aus dem Unsichtbaren. Clymer spürte, wie er innerlich vereiste. Bisher war das Schicksal der Erde weitgehend unbekannt gewesen. Sie hatten zwar den AntiMagie-Schirm festgestellt, aber niemals damit gerechnet, daß der Planet bereits in diesem Maße von den MÄCHTIGEN unter Kontrolle gebracht worden war. Satans Schatten… Sie glaubten, sie vernichtet zu haben. Welch ein grauenvoller Irrtum! Clymer versuchte sich vorzustellen, was in diesem Moment auf der Erde passierte. Es ging nicht. Seine Phantasie reichte nicht aus. Das Schlimmste, dachte er, war eigentlich, daß durch die Verhältnisse auf der Erde auch jegliche Hoffnung für den Silbermond und seine Bewohner im Keim erstickt wurde. Was sollte man tun gegen eine Macht, die bereits zwei Welten kontrollierte…? Eine Macht – an der selbst Merlin gescheitert zu sein schien! Aber wie war es Jessica überhaupt möglich, Kontakt zu ihm herzustellen, wenn die Para-Blockade die Planeten abschirmte? Den Kontakt verdanke ich drei Faktoren, telepathierte Jessica, die seine Überlegungen verfolgt hatte. Einmal halte ich mich im Saal des Wissens auf, eines Ortes also, der ohnehin nicht ins Normaluniversum gebettet ist. Zum zweiten habe ich 35 �
Gryfs Silberstab als Verstärker zwischengeschaltet. Und zum dritten beherrsche ich als einzige von allen eine Magie, die mehr der Finsternis als dem Licht verwandt ist. Du weißt, was ich meine. Clymer nickte, obwohl es illusorisch war, anzunehmen, daß sie ihn sehen konnte. Oder? »Unsere Lage ist aussichtslos«, sagte er. »Wir können nichts mehr tun. Wir sind Gejagte!« Ihr habt eine Chance, widersprach Jessica. Ich habe es von Merlin erfahren. Ihr müßt den Kontrollpunkt ausfindig machen, von dem aus die MÄCHTIGEN beide Planeten beeinflussen. Merlin meint, er befände sich auf dem Silbermond. »Nichts einfacher als das«, bemerkte Clymer zynisch. »Wir gehen ein bißchen spazieren und stolpern dabei bestimmt früher oder später über diesen Punkt – falls wir nicht vorher über einen Zombie stolpern!« Du hast dich verändert, gab Jessica durch. Früher hättest du nicht so geredet. Früher hättest du gehandelt. Es traf ihn, daß ausgerechnet Jessica das zu ihm sagte. »Aber uns fehlt jeder Anhaltspunkt.« Das stimmt. Doch ihr habt einen entscheidenden Vorteil: du befindest dich in prominenter Gesellschaft, vergiß das nicht.
»Was soll das heißen?« Das soll heißen, daß Sara Moon Merlins Tochter ist, übermittelte Jessica. Warrens Unterkiefer klappte nach unten. Wie ein geölter Blitz wirbelte er herum und starrte Sara an. Verschwörerisch lächelnd blinzelte sie ihm mit dem linken Auge zu! * Das Zentrum der bösartigen Macht jagte seine aufputschenden, rasenden Impulse in die leeren Gehirne der Untoten. Durchbrecht die Sperren! Jagt die Lebenden! Vernichtet sie! Immer mehr Bernsteinsärge zerbarsten in der Tiefe des Sees. Und jene, die sich erhoben hatten, die seelenlos waren und deshalb mit Leichtigkeit von der bösen Macht gelenkt werden konnten, arbeiteten mit wilder Verbissenheit daran, die Sperre zu durchbrechen, die Sara verändert hatte. Dutzende von ihnen vergingen in den magischen Energien. Doch dann wurde die Sperre überladen und brach zusammen, vermochte die Masse der stürmenden Untoten nicht mehr zu absorbieren. Nichts hinderte die Seelenlosen, die eigentlich gar nicht mehr sich bewegen durften, daran, weiter vorzustürmen! Die MACHT spürte gleichzeitig, 36 �
daß da noch etwas entstanden war. Die Abschirmung um den Silbermond und um die Erde war an einer Stelle durchbrochen worden! Gedanken flossen von dort nach hier und umgekehrt. Gierig leckten die Energien der MACHT nach dieser Verbindung, tasteten nach ihr, um die beiden Pole auszubrennen… * »Ei der Daus«, murmelte Warren, als er die Sprache wiedergefunden hatte. »Dann hat der olle Merlin mal einmal was Vernünftiges zustandebekommen… hätte ich ihm gar nicht zugetraut!« »Spötter!« lachte Sara ihn an. Ihm ging ein ganzer Disco-Laser auf. Ihre geheimnisvoll klingende Bemerkung, sie sei die Tochter ihres Vaters… natürlich! Seine Fähigkeiten mußten sich auf sie vererbt haben! Da ist etwas! sendete Jessica dazwischen. Ihre Gedanken wirkten erschrocken. Etwas greift nach unserer Verbindung und… Auch Warren spürte es. Es war etwas Schwarzes, Gefährliches, das Schmerzen erzeugte. Die Abschirmung! dachte er. Sie wird wieder stärker! Aber noch etwas anderes war da, wie ein heller Schimmer in dem Eindruck des Entsetzens, und dieses Helle schob sich seinerseits dazwi-
schen. Such das Kontrollzentrum, sendete Jessica hastig. Und achte auf das Heptagramm… Schlagartig riß ihre Verbindung ab. Warren fühlte noch den Eindruck des sich wie ein Schild dazwischenschiebenden Hellen, während das Dunkle weichen mußte, dann war alles vorbei. Erde und Silbermond waren wieder voneinander isoliert. * Merlin zog sich sofort wieder zurück. Er fühlte die Wut, mit der das Böse gegen ihn anbrandete. Er hatte blitzschnell eingreifen und die Verbindung trennen müssen; Warren und Jessica hätten keine Chance gehabt. Die MACHT hatte direkt angegriffen. Merlin hatte es wagen müssen. Dabei hatte er erkannt, wie stark das Fremde wirklich war. Und es gierte jetzt, nach dem kurzen Kontakt, mehr denn je danach, den Magier zu vernichten. Merlin kapselte sich wieder ein. Er mußte sich zurückhalten, wenigstens noch zu diesem Zeitpunkt. Die anderen mußten es auch so schaffen, ohne seine direkte Hilfe. * Warren und Sara sahen sich an. Mer-
lins Tochter, dachte der Vierzigjährige kopfschüttelnd. Nicht zu fassen! »Ich hoffe, daß du über diesen Schock hinwegkommst«, sagte die Druidin. »Wir haben nebenbei nämlich auch noch einige Dinge zu tun. Das Kontrollzentrum zum Beispiel…« Sie strich sich durch ihr silberblondes Haar. »Das Heptagramm«, sagte sie. »Was hat es zu bedeuten?« »Du hast mitgehört?« fragte er. Sie nickte. »Hier oben im Freien war die Verbindung nicht zu überhören. Unten im See mußt die Macht des Bösen eine Art Abschirmung erzeugt haben.« Warren schlug mit der linken Faust in die rechte Handfläche. »Das Messer«, sagte er. Als er ihren fragenden Blick sah, fuhr er fort: »Das ausgeglühte Messer, das ich dann wieder fortgeworfen habe, trug ein Heptagramm.« »Dann hat das Siebeneck mit dem Bösen zu tun«, sagte sie. »Die Sieben ist ja schon immer eine magische Zahl gewesen, als solche aber im Normalfall neutral, während die Dreizehn das Unheil verkörpert…« Warren grinste trocken. »Hier ist doch nichts mehr neutral, ist alles zum Bösen verändert…« Er sah zur entarteten Sonne empor, von der kaum etwas zu sehen war, dann wieder zu den glühenden Bergen. Ihm war es, als hätten sie sich bewegt, als seien sie näher gerückt…
aber das konnte auch eine Täuschung sein. Vielleicht hatte sich das Glühen genähert, in seiner Gesamtheit ausgedehnt… »Wenn ich nur wüßte, wo wir nach diesem Machtzentrum suchen sollen«, brummte er. »Mir fehlt, offengestanden, jede Idee.« »Wir müssen irgendwo anfangen«, sagte sie. »Ich müßte versuchen, mit Magie danach zu tasten. Vielleicht komme ich durch die Abschirmungen.« Warren hatte sich einmal langsam im Kreis gedreht und sah jetzt wieder zum See. Die Oberfläche zeigte Unruhe. Die Wellen bewegten sich heftig. Warren preßte die Lippen zusammen. Da brach etwas aus dem Wasser hervor. Der Kopf eines Druiden. Nein! korrigierte Warren sich sofort erschrocken. Der Kopf eines Untoten! Sie griffen wieder an. * Jessica Torrens fühlte sich wieder einsam. Der telepathische Kontakt mit Warren hatte sie wieder etwas aufleben lassen, aber dann war er so überraschend zusammengebrochen. Und Merlin hatte sich ebenfalls zurückgezogen. Er meldete sich nicht mehr. Jessica wußte nicht, daß er es gewesen war, der den Kontakt
unterbrochen hatte. Daß er verhindert hatte, daß Jessicas Kräfte sich im Abwehrkampf gegen das Angreifende aufbrauchten, daß sie womöglich ausbrannte. Denn Merlin hatte noch etwas mit ihr vor… ihre Kräfte würden für das Finale gebraucht werden… Jetzt stand sie im Saal des Wissens. Ihre Schultern hingen kraftlos herab, ihre Finger umschlossen Gryfs Silberstab. Ich habe ihn dir angepaßt, hatte Merlin gesagt. Wahrscheinlich bedeutete es, daß Jessica ihn jetzt ebenso wirkungsvoll einsetzen konnte wie Gryf. Vielleicht war es auch nicht das Dümmste, ihn wirklich konzentriert einzusetzen. Aber wie? Draußen in der Welt lauerte das Böse. Es würde sich von einem magischen Stab nicht aufhalten lassen. Es gehörte schon mehr dazu. Wenn die gesamte Macht, die sich zweifelsohne in Caermardhin verbarg, eingesetzt wurde, mochte es vielleicht für einen Aufschub reichen. Einen Aufschub, der vielleicht Warren und Sara auf dem Silbermond genügend Zeit verschaffte, das Kontrollzentrum zu vernichten. Aber sie wußte nicht, wie sie diese Macht der unsichtbaren Burg steuern konnte. Merlin hatte es ihr nicht verraten. Merlin! rief sie konzentriert. Doch der Zauberer antwortete nicht. Er
war so unendlich weit fort. Die ehemalige Vampirin verließ den Saal des Wissens wieder. Mit hängenden Schultern ging sie durch die Korridore. Erst, als sie wieder vor der Tür zu den Zimmern Teri Rhekens stand, bemerkte sie, wo sie war. Sie trat ein. Wie zu erwarten, hatte sich immer noch nichts geändert. Aber vielleicht gab es eine Möglichkeit… Jessica hegte keinerlei Hoffnungen, daß es ihr gelingen würde. Aber sie wollte es zumindest versucht haben. Sie beugte sich über Gryf. Fest umklammerte ihre Hand den Silberstab. Sie berührte damit die Stirn des Achttausendjährigen. Etwas in dem Stab begann zu knistern. Das Silber verfärbte sich. Blaues Licht wanderte von ihrer Hand ausgehend auf die Spitze des Stabes zu. Zunächst langsam, dann immer schneller werdend, flossen die blauen Lichtringe, bis der Stab plötzlich einem zuckenden Etwas glich, obgleich er völlig ruhig gehalten wurde. Fasziniert verfolgte Jessica das eigenartige Schauspiel. Es ging geradezu ohne ihr Zutun, als handle der Stab aus sich heraus. Immer noch berührte er Gryfs Stirn. Und plötzlich erschien dort ein heller Lichtfleck auf der Haut…
* � »Weg hier!« schrie Sara. Sie griff nach Warrens Hand, um ihn mit sich zu ziehen, ließ aber sofort wieder los, als er sich ebenfalls bewegte. Ihre Toga erwies sich beim schnellen Lauf als Hindernis. »Wir hätten die Anzüge anbehalten sollen«, stieß Warren hervor. Sara nickte knapp. Sie überlegte, ob noch Zeit blieb, sich erneut umzukleiden. Es waren ja nur ein paar Handgriffe… »Ich versuche sie abzulenken«, stieß Warren hervor, der die Gedankengänge der Frau erfaßte. Er eilte mit raschen Sprüngen dorthin zurück, wo sie die beiden weißen Anzüge zusammengerollt liegengelassen hatten. Die Untoten kamen jetzt bereits aus dem Wasser heraus. Sie schienen sich zunächst orientieren zu müssen, offenbar machte ihnen der Wechsel vom Nassen ins Trockene irgendwie zu schaffen. Warren konnte es nur recht sein. Er warf Sara einen der Anzüge zu. Sie warf bereits die Toga ab und rollte den Anzug auf. Warren schob seinen, der zusammengerollt kaum Platz wegnahm, in die Tasche. Wer konnte wissen, ob man ihn nicht wirklich noch einmal gebrauchen konnte? Er begann zu laufen, so dicht an den Untoten vorbei, daß sie ihn trotz ihrer Umstellungsschwierigkeiten
sehen müßten. Und sie sahen ihn! Ihre Augen glommen wie die glühenden Berge, als sie ihm folgten. Er war kein Held, und die Angst peitschte ihn jetzt voran. Aber er mußte Sara einen Zeitgewinn verschaffen. Vielleicht hatte sie dadurch auch Gelegenheit, ihre ungleich stärkere Druidenkraft einzusetzen und etwas zu tun… Tu etwas, Sara! Hilf uns! Er lief. Begann Haken zu schlagen. Lebhaft konnte er sich vorstellen, was die Untoten mit ihm machen würden. Und immer mehr kamen aus dem Wasser. Innerhalb kürzester Zeit würden sie ausschwärmen, und dann war es auch mit dem Hakenschlagen vorbei. Er würde kämpfen müssen. Aber wie ließen sich Tote töten? Seine Para-Kräfte konnten ihm nicht helfen, das wußte er. Er war nicht stark genug, um dem dunklen Schirm zu trotzen. Nur Sara vermochte es vielleicht. Warren selbst war auf seine Fährte angewiesen. Aber damit konnte er sich auch nicht erfolgreich gegen ein paar Dutzend Feinde wehren. Seine Kräfte erlahmten. Er wurde bereits kurzatmig. Die untoten Druiden dagegen schienen ständig kräftiger und schneller zu werden. Er sah sich nach Sara um. Doch Merlins Tochter war verschwunden. Hatte sie die Flucht ergriffen, ohne auf Warren Rücksicht zu nehmen? 40 �
Er wollte es nicht glauben. Sie konnte ihn nicht verraten haben. Aber wo befand sie sich? Er wußte, daß er nicht mehr lange durchhalten konnte. Er hetzte auf die Organstadt zu. Vielleicht fand er dort eine Waffe, mit der er sich zur Wehr setzen konnte, mit der er vielleicht noch ein paar der Untoten ausschalten konnte, ehe sie ihn endgültig erwischten. Aber große Chancen für sich sah er nicht mehr. Sie waren nur noch zwei, drei Meter hinter ihm. Wenn er stolperte, war es aus. Dann hatten sie ihn. Die ersten Organhäuser tauchten auf. Plötzlich sah er Sara zwischen ihnen. Sie stand in einem Hauseingang und winkte ihm heftig zu. Durch sein ständiges Hakenschlagen hatte sie genug Vorsprung erhalten, um bereits wieder aus dem Haus herauszukommen. Der weiße Anzug schimmerte eigentümlich. Warren holte das Äußerste aus sich heraus. Hatte Sara Waffen gefunden? Sie verschwand wieder im Innern des skurril geformten Bauwerks. Wie ein Geschoß fegte Warren hinter ihr her, die Untoten im Nacken, die bereits ihre Hände nach ihm ausstreckten. Sara glitt durch eine andere Türöffnung wieder ins Freie. Warren folgte ihr. Die Druidin wirbelte herum und bewegte blitzartig die Finger in einem verwirrenden
Rhythmus. Eine grüne Flammenwand schoß aus ihren Fingerspitzen hervor und bildete in Sekundenbruchteilen eine Art Energiewand, die sich sofort mit der Wand des Hauses vereinte, sich verfärbte und massiv wurde. Sara schrie ein Wort, das Warren nicht verstand und in der Aufregung auch nicht behielt. Aber im gleichen Augenblick begann sich das Haus zu verformen! * Jessica Torrens verfolgte, wie die Lichtringe von dem Stab auf die Haut des Druiden überwechselten. Ringförmig dehnten sie sich jetzt konzentrisch aus und flossen über seinen gesamten Körper, verschwanden unter der Kleidung. Was hatte das zu bedeuten? Sie hatte versuchen wollen, Gryf mit dem Stab zu wecken, aber an dieses Vorhaben dachte sie jetzt nicht mehr, sondern beobachtete nur noch fasziniert das eigenartige Geschehen. Unheimlich schnell wanderten die Lichtschauer über den Körper des Druiden. Es war, als leuchte er selbst in dem seltsamen Blaulicht. Dann wurde die Geschwindigkeit geringer. Die Lichtringe kamen jetzt langsamer, und ihre Abstände wurden größer. Und dann glitt der letzte Ring über 41 �
den Stab, erreichte Gryfs Stirn und verschwand sich ausdehnend. Augenblicke später zuckten seine Lider. Erwachte er? War der Bann des Unheimlichen gebrochen? Jessica atmete tief durch, aber außer dem Lidzucken geschah nichts weiter. Unbeweglich blieb der Druide liegen. Sie rüttelte an seinen Schultern, doch er wachte nicht auf. Ihre anfänglich aufgekeimte Hoffnung erlosch wieder. Es war nicht gelungen. Die Macht des Bösen, die Gryf und Teri in den Schlaf gezwungen hatte, war stärker. »Aber wieso sollte es nicht gelungen sein? Und wie gut es gelungen ist«, sagte sie. »So wach wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt.« Der Silberstab entfiel ihrer Hand. Denn das, was ihr Mund gesprochen und ihr Ohr wahrgenommen hatte, waren nicht ihre Gedanken gewesen. Ein anderer hatte aus ihr gesprochen. * Entgeistert verfolgte Warren, wie das Haus einem Kuchenteig nicht unähnlich in sich zusammensank. Wände und Dach verformten sich, wurden stellenweise flüssig. Die teigige Masse schloß die im Haus befindlichen Untoten ein.
Sara stöhnte leise auf. Ihr schlanken Finger preßten gegen ihre Schläfen. Ein leichtes Zittern durchfuhr ihren, Körper. Die Abschirmung! durchfuhr es Warren. Sara hatte Magie eingesetzt und erhielt jetzt von der bösen Macht die Quittung. Er griff nach ihren Händen. Funken schienen zu knistern, als er ihr von seiner eigenen, schwachen ParaKraft abgab und ihr half, den stechenden Schmerz zu überwinden. Währenddessen ließ er kein Auge von dem zusammensinkenden Organhaus. Es zog sich jetzt zusammen, umschloß die Untoten und begann wieder zu verhärten. Ein unregelmäßiger Materieklumpen… »Manchmal«, sagte die Druidin leise, »ist es doch gut, biologische Häuser zu besitzen. Mit einem eurer irdischen Steinhäuser wäre es mir nicht gelungen. So aber brauchte ich der Masse nur den Befehl zu geben, wieder zurückzuwachsen.« Warren schüttelte den Kopf. »Nur«, murmelte er. Es hatte die Druidin Kraft gekostet, das sah er ihr deutlich an. Er löste seinen Griff von ihren Händen. »Immerhin haben wir sie jetzt vom Hals.« »Nicht ganz«, sagte Sara müde. »Es waren nicht alle im Haus, aber ich durfte nicht länger zögern. Da kommen sie.« Es waren fünf. Sie bewegten sich 42 �
um den Klumpen herum und streckten die Hände aus. Es war, als würde jemand die Szene beobachten und die Untoten lenken wie Marionetten. Sie schwärmten aus, um Warren und Sara einzukreisen. Warren drehte sich. Er stand mit dem Rücken zur Wand. Sara folgte seinem Beispiel. Er sah, daß sie tiefer und schneller durchatmete, als wolle sie sich einen Sauerstoffrausch zulegen. Und was war es auch. Sie wollte soviel Kraft wie möglich entfesseln. Warren hatte einmal gesehen, daß ein gar nicht so kräftiger Mann im Sauerstoffrausch einen Stuhl mit dem Draufsitzenden auf dem Zeigefinger balanciert hatte. Was hatte die Druidin vor? »Sara…« Sie reagierte nicht. Die fünf Untoten kamen näher. Ihre Augen glühten wie die Berge. Plötzlich schnellte sich Sara vor. Ihr schlanker Körper in dem weißleuchtenden Anzug verwischte förmlich in der Schnelligkeit ihrer Bewegungen. Warren sah, daß sie rasend schnelle Karateschläge austeilte, und überall, wo ihre Hände trafen, sprühten Funken auf. Die Druidin setzte gleichzeitig auch Magie ein! Die Untoten sanken zu Boden, einer nach dem anderen. Einen Moment lang stand Merlins Tochter stocksteif. Diesmal schien
sie nach dem Einsatz der Magie keine Schmerzen zu verspüren. Der Sauerstoffrausch verhinderte es, hatte sie förmlich betäubt. Dann sank sie zu Boden. Der Breakdown, die Folge der ÜberAnstrengung, warf sie nieder. Warren wollte einen Sprung nach vorn machen, um sie aufzufangen. Doch es gelang ihm nicht. Etwas umklammerte sein Fußgelenk wie eine Stahlklammer, er stolperte und fiel zu Boden. Mit einem Aufschrei riß er sich halb herum. Aus dem erhärteten Haus ragte eine Hand hervor, die seinen Fuß umklammerte und ihn jetzt langsam auf die Wand zuzog! * »Gryf!« schrie sie auf. »Du bist…« »In dir«, sagte der Druide mit ihrer Stimme. »Hundert Punkte. Es ist gelungen, die Schattenmacht auf diese Weise zu umgehen.« »Ich werde wahnsinnig«, stöhnte sie und ließ sich in den dritten freien Sessel fallen. »Nur keine leeren Versprechungen«, warnte Gryf. »Und sieh zu, daß du nicht ebenfalls einschläfst. Teris Sessel sind gefährlich… Deibelskram, ist das ein komischer Anblick, wenn man sich selbst so von außen sieht…« Jessica wandte den Blick von dem Körper des Druiden ab und sah zu 43 �
Teri Rheken hinüber. Das Mädchen mit dem hüftlangen goldenen Haar war mit dem extrem knapp geschnittenen und aus rötlich floureszierenden, winzigen Metallschuppen bestehenden Tangaslip nur äußerst sparsam bekleidet. »He«, knurrte Gryf, »bei so einem Anblick solltest du mehr Gefühl zeigen, Jessica! Du bringst mit deiner Gleichgültigkeit mein seelisches Gleichgewicht ins Schwanken!« »Was kann ich dazu, daß ich eine Frau bin?« fragte sie. »Wenn da ein nackter Mann wäre, könnte es mich schon eher reizen.« »Brrr!« Gryf schüttelte sich – das heißt, er benutzte dazu Jessicas Körper. »Ein nackter Mann… ne, da kann ich nichts Reizvolles dran finden…« Unwillkürlich lachte Jessica auf. Es war das erste Mal seit dem Beginn des Unheils, daß sie befreit lachen konnte. Sie ahnte nicht, daß es Gryfs Taktik war, durch sein lockeres Geplänkel die innere Spannung des Mädchens zu lösen. »Fang jetzt bloß nicht an«, sagte er, »meinen Körper ausziehen zu wollen, nur damit du einen nackten Mann siehst. Ich würde es nachhaltig verhindern.« »Beherrsche dich«, verlangte sie. »Vergiß nicht, daß du nur Gast in meinem Körper bist.« »Aber ein sehr liebenswürdiger und sympathischer Gast«, behauptete der Druide.
»Wenn uns jemand hören könnte«, überlegte Jessica, »müßte er glauben, ich sei schizophren.« »Sind wir das nicht auch?« fragte Gryf. »Ich stehe auf nackte Mädchen und du…« »Jetzt sei endlich mal ruhig!« übernahm Jessica die Stimmkontrolle. »Hast du denn nichts anderes im Kopf als Sex?« »Wessen Kopf ist das denn wohl?« fragte Gryf trocken zurück. »Meiner bestimmt nicht, denn der befindet sich nach wie vor auf dem Hals meines Körpers und ist dort sehr dauerhaft befestigt. – Aber du hast recht, es gibt noch andere Dinge im Leben. Beispielsweise Ordnung. Wie wäre es, wenn wir beide uns aus dem Sessel erheben und den Silberstab von Boden aufnehmen würden, wo er zur Zeit sehr unordentlich herumliegt?« »Okay.« Jessica erhob sich. Aber da sie mit dem rechten und Gryf mit dem linken Bein aufzustehen pflegte, kam es prompt zur Katastrophe. »Himmel«, murmelte sie, als es beim zweiten Versuch endlich klappte. »Vielleicht überläßt du mir die Kontrolle über unsere Bewegungen. Ich kenne meinen Körper nämlich ein wenig besser als du.« »Du hast Recht«, gab Gryf nach. Das wiederum versetzte Jessica in noch größeres Erstaunen. Ein Gryf, der nicht widersprach…? 44 �
Sie hob den Silberstab auf und betrachtete ihn nachdenklich. »Wie ist es möglich, daß er in meiner Hand wirken konnte und dir nicht half?« Gryf räusperte sich. »Ich war in den Schlaf gezwungen, und wo nichts ist, kann auch nichts wirksam werden. Du bist dank deiner Vampir-Legende nicht oder nur ganz am Rande betroffen, und jetzt, wo du es mir ermöglicht hast, über den Stab in deinen Körper zu ›rutschen‹, profitiere ich von deinem Vampir-Keim mit. So einfach ist das.« Jessica warf einen Blick auf die Druidin. »Nein!« schrie Gryf in ihr in komischer Verzweiflung. »Sie ist ein unheimlich süßes Mädchen, aber zwei Frauen neben mir in einem Körper, der mir nicht einmal gehört – das halte ich nicht aus!« Jessica erlaubte sich ein kurzes Lächeln. Es hatte ohnehin keinen Zweck. Drei Bewußtseine in einem Körper… sie traute es sich nicht zu, das zu verkraften. Schon allein mit Gryf würde es genug Probleme geben. »Wie sieht es in der Welt aus?« fragte der Druide jetzt. »Warte, ich sehe es in deiner Erinnerung! Gwyneed ist bereits überzogen, und die böse Macht dringt nach Dyfed vor und… bei den Blausteinen von Preselis, die Schatten sind ja nur noch
ein paar Meilen von Caermardhin entfernt!« Ein eisiger Schauer überlief Jessica Torrens. * Im ersten Moment weigerte sich sein Verstand, zu glauben, was er sah und was er fühlte. Dieser verdammte Arm, diese Hand, die seinen Fuß umklammert hielt, zog ihn auf die Wand des Klumpens zu, der einmal das Organhaus gewesen war! Jetzt glitt eine zweite Hand daraus hervor und suchte nach ihm. Unwillkürlich schrie er auf. Die Angst sprang ihn an wie ein wildes Tier und zeigte ihm ihre Krallen, welche ihn nicht wieder loslassen wollten! Das Organhaus war doch wieder verhärtet! Wie konnte einer der Untoten die Wand durchbrechen, in die er ein geschmolzen worden war? Sein Fuß berührte fast die Wand, als er es schaffte, fast wie eine Katze seinen Oberkörper herumzurollen. Mit aller Kraft, deren er fähig war, schlug er zu und hoffte, das Zerbrechen der Knochen zu hören. Aber sie schienen aus Gummi zu bestehen und gaben federnd unter seinem Schlag nach. Aber der Griff lockerte sich ein wenig. Warren Clymer reagierte sofort. Er bewegte das Bein ruckartig. Stoff riß, er schlug noch ein- zweimal zu. 45 �
Aber die verdammte Hand setzte sofort wieder nach. Er kam nicht los. Blitzschnell sah er sich nach einem spitzen Stein um. Er wußte, daß er sterben würde, wenn es der Hand gelang, ihn ins Innere des Hauses zu zerren. Irgendwie mußte er sie loswerden. Doch da war nichts, das er als Waffe gebrauchen konnte. Mit beiden Händen packte er jetzt zu und zerrte an den Fingern, um sie aufzubiegen, während seine Schuhsohle bereits wiederstandslos in die Wandung des Klumpens hineinglitt. Er war an dieser Stelle offensichtlich nicht völlig verhärtet. Vielleicht hatte Saras magische Kraft nicht mehr ganz ausgereicht. Vielleicht aber griff auch eine andere Macht ein… Endlich hatte er es geschafft. Die Hand mußte loslassen. Warren atmete erleichtert auf und riß das Bein zurück. Der Fuß war schon halb in der Masse verschwunden gewesen. Während er sich zu befreien versucht hatte, hatte er nicht mehr auf die zweite Hand geachtet, die ebenfalls nach ihm getastet hatte. Aber jetzt spürte er sie. Zwangsläufig hatte er sich beim Fingeraufbiegen vorbeugen müssen. Die zweite Hand packte blitzschnell zu. Und umspannte seine Kehle! Warren stieß einen röchelnden Laut des Entsetzens aus.
Der Tod wollte ihn nicht mehr freigeben… * »Was ist Gwynedd, und was ist Dyfed?« fragte Jessica. »Und woher willst du wissen, wie nah die Schatten schon sind?« Gryf, der Druide, zauberte ein eigenartiges Lächeln auf ihre Lippen. Es war ein eigenartiges seltsames Gefühl, miterleben zu müssen, daß ein anderer in der Lage war, ihren Körper zu bewegen und selbst ihr Minenspiel zu beeinflussen. »Sorry, Jessica. Ich bin zwar ein Silbermond-Druide, aber hier auf deinem Planeten geboren und benutze hin und wieder die Ausdrücke der walisischen Sprache, die ich lernte, ehe die Druidensprache zu mir vordrang. Gwynedd ist Nordwales – die Engländer nennen es übrigens Gwyneth –, und Dyfed ist das sich südlich fortsetzende Land. Und die Schatten… ich orte sie telepathisch. Das Böse naht und will Caermardhin angreifen.« Jessica schluckte. »Wie stark ist das Schutzfeld um die Burg?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Gryf. »Aber ich fürchte, daß es ihnen keinen Widerstand leisten kann. Da es uns nicht vor den Auswirkungen der bösartigen, lähmenden Strahlung schützen kann, nehme ich an, 46 �
daß es auch für Satans Schatten ein Leichtes sein wird, es zu durchdringen.« »Das bedeutet, daß es für uns mehr als nur gefährlich wird«, sagte sie. »Wenn wir Pech haben, müssen wir aus Caermardhin fliehen«, sagte Gryf. »Das bedeutet, daß wir nicht den zeitlosen Sprung durchführen können, weil es trotz deiner Vampirmagie zu gefährlich ist, sondern daß wir uns auf Schusters Rappen bewegen müssen, zudem müssen wir Teri mitnehmen. Aber die Schatten sind allemal schneller als der schnellste Fußgänger. Das zweite Problem ist, daß Caermardhin mit seinen gesamten Einrichtungen und seinem magischen Potential in die Hände des Bösen fällt.« »Wir stehen also auf verlorenem Posten, und eine Flucht kann uns nicht weiterhelfen«, sagte Jessica. »Exakt«, erwiderte der Druide in ihr ernst. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder schaffen wir es, uns die Schatten vom Leibe zu halten, oder wir stehen plötzlich auf der Seite der dunklen Konkurrenz.« »Du kennst dich in Caermardhin aus«, sagte Jessica. »Wie stehen unsere Chancen, wenn du das Verteidigungspotential der Burg voll ausnutzt?« Gryf schwieg sich aus. Offenbar überlegte er angestrengt. Jessica versuchte nicht, in seine Gedanken-
gänge einzudringen. »Sie stehen sehr schlecht«, sagte er plötzlich. »Merlin hat zwar mit einem Angriff auf seine Burg gerechnet, aber immer geglaubt, selbst mit der Bedrohung fertigzuwerden. Jetzt haben wir den Salat. Ich gebe uns eine Chance von eins zu fünfzig.« * Himmel, hilf! dachte Warren. Seine Hände griffen nach der Klaue, die ihn im Griff hielt, aber er war bereits zu geschwächt. In diesem Augenblick jagte er einen Gedankenschlag hinaus. Winzige Flämmchen rasten über die Hand des Untoten und verschwanden in der Wand. Übergangslos löste sich der Griff. Die beiden Hände zerfielen zu Staub. Und ein heftiger Schmerz tobte sich in Warrens Gehirnwindungen aus. Die Reaktion der schwarzen Hülle auf den Einsatz seiner Para-Kräfte! Es dauerte einige Minuten, bis Warren wieder bei Sinnen war. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Seine Fähigkeiten waren nur schwach und untrainiert und forderten eine Menge Energie für geringe Erfolge, und wenn darauf auch noch derartige magische Nackenschläge folgten… Aber er hatte es überlebt. Nichts schob sich mehr aus dem Klumpen 47 �
heraus. Taumelnd erhob sich der Farmer. Er machte ein paar Schritte vorwärts zu Sara Moon und kniete neben der Druidin nieder. Sie lag auf dem Rücken, und ihre Augen waren geschlossen. Warren versuchte, sie ins Bewußtsein zurückzurufen, aber ohne Erfolg. Erst nach Stunden erwachte sie wieder. Sie hatte zunächst Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Daß sie in der Organstadt waren, begriff sie erst beim zweiten Ansatz. »Was ist mit dir los?« fragte Warren. »Hat es dich so schlimm erwischt?« Sie schüttelte den Kopf. »Es geht schon wieder«, sagte sie. »Aber der Magie-Schock war dermaßen stark… und dazu der Sauerstoffrausch… ich dachte erst, daß ich es nicht überleben würde.« Warren verschwieg seinen Kampf mit den beiden Händen. Sara erhob sich. Sie bewegte sich geschmeidig wie eine Katze. Für Sekunden ließ Warren sich ablenken. Der wie eine zweite Haut anliegende Unterseeanzug zog die Blicke auf die schlanke Druidin. Warren mußte an Jessica denken. Was geschah jetzt auf der Erde? Wie weit hatten sich Satans Schatten ausgedehnt? »Wir brauchen Waffen«, sagte er. »Wenn noch so ein Untoten-Angriff
erfolgt oder ein weiteres Monster auftaucht…« »Waffen?« Sie sah ihn aus ihren schwarzen Augen überrascht an. »Wir Druiden haben nie Waffen benötigt. Auf den Wunderwelten und dem Silbermond herrschten Frieden und Harmonie. Warren, es gibt hier keine Waffen!« Unwillkürlich schloß er die Augen. Jetzt ein weittragendes Gewehr haben, und dazu passende geweihte Silberkugeln… »Wir müssen ohne Waffen auskommen«, sagte Sara. »Und eigentlich ist das auch ganz gut so. Ich hasse Waffen. Waffen sind nur der Versuch, das Versagen des Verstandes zu vertuschen.« Warren schluckte. »Aber gegen das, was uns hier bedroht, könnten wir sie gebrauchen«, sagte er. »Dann schieß doch auf den Schirm, der den Silbermond einschließt!« sagte sie hart. Warren schwieg ein paar Sekunden. »Laß uns noch einmal diese Hobby-Boutique aufsuchen, aus der die Anzüge stammen«, sagte er. »Vielleicht gibt es dort Dinge, die wir gebrauchen können, wenn wir nach dem Kontrollzentrum des Bösen suchen.« »Dinge, die man als Waffen zweckentfremden kann?« fragte Sara. »Ja«, entgegnete er knapp. 48 �
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn du mit ihnen glücklich wirst – meinetwegen.« Sie setzte sich in Bewegung. Warren folgte ihr durch die verlassene Stadt. Nach kurzer Zeit erreichten sie jenes Haus, in dem die Freizeitgestaltungs-Dinge gelagert waren. Diesmal ging Warren langsamer an den Regalen vorbei, schaute in diesen und jenen Raum. Doch es gab nichts, das man als Fortbewegungsmittel benutzen konnte, und wenige Dinge, die sich als Waffe eigneten. Schließlich nahm er einen Gegenstand aus einem Regal, der einer Axt verblüffend ähnlich sah. Der Stiel war aus einem eigenartig warmen Metall, und das Schneideblatt schimmerte silbern. Seine Finger fuhren an der Schneide entlang. Sie war scharf. »Willst du damit um dich schlagen?« fragte Sara. Warren erwiderte nichts. Er stellte fest, daß der Stiel nicht, wie bei irdischen Äxten, durch eine Öffnung des Metallblattes geschoben und verkeilt wurde, sondern mit zwei Schrauben und versenkten Muttern befestigt war. Das war an sich noch nichts Ungewöhnliches. Aber die beiden Muttern waren siebeneckig!
Hilfe muß vom Silbermond kommen. Darin liegt unsere einzige Chance.« Jessica schwieg. Was hätte sie sagen sollen? Dafür entwickelte Gryf plötzlich eine Idee. »Ich bin von deinem vampirmagischen Körper akzeptiert worden«, sagte er. »Ich möchte sogar annehmen, daß ein Teil deiner Immunität auf mich übergegangen ist. Die bösartige Hemmstrahlung wirkt vorwiegend auf den Geist ein, nicht auf den Körper. Und da ich als Geist in dir unbeeinflußt bleibe, ist es anzunehmen, daß sich der Kontakt positiv auf meinen Geist ausgewirkt hat.« »Du willst also in deinen Körper zurück«, sagte sie. »Du gehörst heute zu den Schnellmerkern«, gab er zurück. »Und wenn du dann wieder in deinem Körper bist, schlägt das Böse über dir zusammen, und fällst wieder in Schlaf.« »Das ist das geringste Risiko«, sagte er. »Du kannst mich ja einfach wieder zurückholen in deinen Körper. Die Methode kennst du ja.« »Und wie willst du in deinen Körper zurückkehren?« fragte sie. Gelindes Entsetzen überfiel sie, weil sie * diesen Gedanken bis jetzt noch nicht in Betracht gezogen hatte. Gab es »Wir können das Böse im Grunde � eine Möglichkeit zum Körpertausch? nur aufhalten«, sagte Gryf. »Die � Denn obwohl Gryf ihr nicht unsym49 �
pathisch war, hatte sie kein Interesse daran, sein Bewußtsein bis an ihr Lebensende in sich zu tragen. Aber wie sollte die Rückkehr erfolgen? »Vermittels des Silberstabes«, sagte Gryf. »Du drückst ihn meinem abgeschafften Heldenkörper in die Hand, der momentan nur so schlapp daliegt, weil ihm der beseelende Götterfunke fehlt. Denn das magiedurchtränkte Bewußtsein, schuldig am Schlaf, befindet sich nicht mehr in ihm, und normalerweise würde er entmagiesiert ganz einfach wieder erwachen können.« »Was ist das denn für ein Wort?« unterbrach Jessica ihn. Gryf grinste mit ihrem Gesicht. »Ich hoffe, es wird irgendwann vom Duden übernommen«, sagte er. »Bis jetzt ist es jedenfalls meine Wortschöpfung, und ich beanspruche das alleinige Copyright darauf. Nun, wenn der Stab richtig deponiert ist, berührst du seine Spitze mit der Stirn.« »In Ordnung«, erwiderte Jessica beklommen. Sie nahm den Stab und schloß Gryfs Finger um ihn. Dann richtete sie ihn aufrecht, kniete neben dem Sessel nieder und berührte die Spitze mit ihrer Stirn. Übergangslos erschienen wieder die Lichtringe, die zu wandern begannen. Das Phänomen begann sich in umgekehrter Reihenfolge zu wiederholen.
Plötzlich erfaßte sie eine kalte Angst. Was war, wenn es nicht gelang? Wenn der Stab nicht das Bewußtsein Gryfs, sondern ihr eigenes in den Körper des Druiden zog? * »Sieben«, flüsterte Warren. Sara sah ihn fragend an. »Ja, und?« fragte sie. Warren wog die Axt mit der silbernen Schneide in der Hand. »Zwei Dinge«, sagte er. »Zum einen gibt es auf der Erde ausschließlich Sechskantmuttern. Siebenkantige sind niemals entwickelt worden, sie gibt es nicht.« »Wir sind hier auch nicht auf der Erde«, erinnerte ihn Sara. »Sondern auf dem Silbermond. Wir Druiden haben eben eine andere Technik entwickelt als die Menschen der Erde, sofern wir überhaupt jemals Technik nötig hatten. Und warum hätten wir uns hier auf dem Silbermond nach Normen der Erde orientieren sollen?« Sie hatte Recht, erkannte Warren. Aber da war noch etwas, das ihm zu schaffen machte. »Die Sieben«, sagte er und glaubte wieder Jessicas Gedanken zu vernehmen: Achte auf das Heptagramm! War das Siebeneck nicht die vereinfachte Form des siebeneckigen 50 �
Sterns? Sara stutzte. Dann aber schüttelte sie den Kopf. »Du siehst Gespenster, Warren«, behauptete sie. »Diese Axt hat schon existiert, bevor unsere Sonne entartete und das Böse Einzug hielt. Und ich glaube kaum, daß die finstere Macht, die hinter allem steckt, soviel Liebe zum Detail hegt, daß sie nachträglich sämtliche Muttern so verformt, daß sie das Böse symbolisieren… sieh her!« Sie deutete auf ein anderes Gerät, das mit Schrauben und siebenkantigen Muttern förmlich übersät war. »Ich habe mich zwar früher nie darum gekümmert, ob die Muttern sieben-, fünfoder vierhun-derteinunddreißigkantig waren, aber soviel Kleinarbeit kann selbst der beste Magier nicht auf sich nehmen. Es geht einfach über seine Fähigkeiten, so stark er auch sein mag.« »Aber merkwürdig ist es schon«, sagte Warren. »Das will ich nicht abstreiten«, erwiderte Sara. »Aber wir sollten uns allmählich um unsere Aufgabe kümmern. So klein der Silbermond auch ist – für uns zwei ist er schon viel zu groß. Hast du alles, was du haben wolltest?« Warren nickte. Er hielt die Axt so, daß er jederzeit zuschlagen konnte. »Dann laß uns gehen«, verlangte Sara. »Wir müssen das Kontrollzentrum finden und vernichten, ehe es uns vernichtet.«
* � Jessica Torrens verkrampfte sich unwillkürlich. Angst vor einem solchen Seelentausch brannte sich in ihr fest. Als Gryfs Bewußtsein in ihren Körper wechselte, war es allein gewesen. Jetzt waren es zwei Gesichter. Vielleicht würden sie auch beide in Gryfs Körper gleiten… Sie sah die Lichtschauer auf sich zurasen und schloß die Augen. Erstaunt stellte sie fest, daß sie nichts von dem blauen Licht spürte, nicht einmal ein schwaches Kribbeln, wie sie angenommen hatte. »Bist du noch da?« fragte sie leise. »Und ob«, behauptete Gryf in ihr. »Hast du Angst vor einem Fehlschlag?« »Ja.« Sie öffnete die Augen wieder. Die wandernden Lichtringe waren zu einem rasenden Zucken geworden. Es mußte, wenn es geschah, in wenigen Sekunden stattfinden. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Gryf. »Ich weiß, daß es nicht schiefgehen kann. Meine Affinität zu deinem Körper ist erheblich geringer als…« Jessicas Mund schloß sich. »… zu meinem eigenen«, sagte Gryf aus seinem eigenen Körper. Unwillkürlich sprang Jessica zurück. Für ein paar Sekunden tobte 51 �
eine grenzenlose Leere in ihrem Kopf, so, als sei sie nur noch zur Hälfte vorhanden. Und dann war sie wieder voll da. »Brrr«, machte Gryf und erhob sich aus seinem Sessel. »Meine Güte, ich fühle mich wie gerädert. Davon, daß er erholsam sein soll, hat der Schlaf bestimmt noch nichts gehört.« Er schob den Stab wieder in seine Tasche zurück und reckte die Glieder. Jessica sah ihn an. »Es hat geklappt«, flüsterte sie. »Es hat tatsächlich geklappt! Du bist wieder du – und du bist wach…« Gryf grinste jungenhaft. »Ich hatte also wie immer recht. Der Kontakt mit deinem Vampirkeim, der immer noch, wenn auch ins Gute verwandelt, in dir steckt, hat mich gewissermaßen immunisiert.« »So ähnlich wie damals, als ich das Blutserum von Warren erhielt«, überlegte sie. »Es hat das VampirSein in mir zerstört.« »Aber damit hört die Ähnlichkeit auch schon auf, außerdem hinkt sie fatal«, erwiderte der Druide. Er trat zu Teri. »Meine Güte, jetzt kann ich das Mädchen wenigstens wieder ansehen, ohne daß mein seelisches Gleichgewicht ins Schwanken gerät!« »Lüstling!« knurrte die ehemalige Vampirin. Gryf strich sanft durch das goldene Haar der Schlafenden und wandte sich dann wieder von ihr ab.
»Ich werde den Saal des Wissens aufsuchen«, sagte er. »Vielleicht gibt es neue Informationen. Ich fühle, daß Satans Schatten schon in gefährlicher Nähe sind.« Jessica folgte ihm. Kopfschüttelnd ging er voran. »Es ist kaum zu glauben«, murmelte er vor sich hin. »Ausgerechnet ich, der gefürchtete Vampir-Jäger, muß mich im Körper einer Vampirin wiederfinden… na, an dem seelischen Schock werde ich wohl noch ein paar tausend Jahre zu knacken haben…« Da biß Jessica zu. * Der Kraftstrom aus dem Kontrollzentrum jagte in jene Sphären, in welchen die Kraft wartete. Die Kraft hielt aus sich heraus die dunklen Schirme aufrecht, die sich um Silbermond wie Erde gelegt hatten und alle Spielarten der Weißen Magie behinderten oder völlig lähmten. Die Kraft bestand aus vielen hunderttausend winzigen Einheiten. Die MÄCHTIGEN hatten sie über das Kontrollzentrum in ihrer Gewalt. Die Kraft besaß keine Möglichkeit, sich aus dieser Gewalt zu befreien und selbst aktiv zu werden. Denn die befehlenden Impulsströme, die das Kontrollzentrum verstrahlte, waren bedeutend stärker und zwingend. Jene Einheiten, aus denen sich die 52 �
Kraft bildete, konnten nur von außerhalb Hilfe erhalten. Sie selbst hatten keine Chance und waren gezwungen, den MÄCHTIGEN zu gehorchen. Etwas wie Nadelstiche durchzuckte sie dennoch. Das, was ihnen früher gehört hatte, ehe die Sonne entartete, starb endgültig ab, verging ein zweites Mal. Die letzten hauchfeinen Verbindungen rissen ab. Irgendwo begannen Lebensbäume zu zerfallen. Knisternd wurden sie zu einem eigenartigen Staub. Nur ein geringer Teil blieb noch in seinem gefährdeten Zustand. Und immer noch brandeten die machtvollen Befehlsströme des Kontrollzentrums heran. Die MÄCHTIGEN aus den Tiefen einer unbekannten Hölle waren erzürnt über einen Fehlschlag. Jemand war ihnen erneut entgangen. Die Kraft pulsierte. Vielleicht konnte man es Schadenfreude nennen, was sie von innen her durchdrang. Doch zu diesem Gefühl kamen dann wieder die tobenden Befehle, die die Kraft zum Gehorchen und Dienen zwangen. * Stärker als jemals zuvor schienen die Berge zu glühen. Wenn Warren genauer hinsah, glaubte er über den Gipfeln eine Feuerlohe zu sehen, die das Gestein wie ein Mantel überzog.
Er machte Sara darauf aufmerksam. »Ich kann es mir auch nicht erklären«, erwiderte sie. »Aber es dehnt sich aus, und es kann nur gefährlich sein.« »Hoffentlich müssen wir nicht in die unmittelbare Nähe«, brummte Warren. »Wer weiß«, orakelte sie. »Ich versuche telepathisch nach dem Zentrum zu tasten, aber ich komme nirgendwo an. Es ist, als würde es sich gegen einen solchen Versuch abschirmen.« Warren nagte an seiner Unterlippe. Der Morgen dämmerte, und es wurde rasch heller. Aber, dachte er fatalistisch, wird es wohl nie wieder hell genug werden. Der Silbermond ist verloren. Es sei denn, die entartete Sonne… Er schüttelte den Kopf. Wie sollten sie der Sonne beikommen, wenn sie schon auf der Oberfläche dieses Mondes genug zu tun hatten? Es war einfach utopisch. Achte auf das Heptagramm! Was hatte Jessica damit sagen wollen? »Versuche einmal, dich auf einen Siebenstern zu konzentrieren«, schlug er vor, »wenn du nach dem Zentrum tastet. Vielleicht kommst du damit durch.« Sie schwieg und schien nachzudenken. »Es wäre einen Versuch wert«, sagte sie schließlich. »Aber es gibt für uns noch ein weiteres Pro53 �
blem.« »Welches?« fragte er. Sie deutete auf ihren Magen. »Seit du mich aus dem Teufelskloster befreit hast, haben wir nichts essen können. Und ganz allmählich bekomme zumindest ich einen mordsmäßigen Hunger.« Er schluckte. Sara hatte Recht. Wie kam es, daß er bis jetzt nichts davon verspürt hatte? Direkt nach der Befreiung hatte Sara sich mit ihm auf den Silbermond versetzt. Und in der Tat hatten sie hier noch keinerlei Nahrung zu sich nehmen können. Und nichts zu trinken! »Sara…«, flüsterte er erschrocken. Ihm begann etwas zu dämmern. Etwa zwei Tage waren sie jetzt insgesamt hier, schätzte er! Und keine Durst- und keine Hungergefühle, außer jetzt in diesem Moment bei Sara! »Ja«, sagte sie, und ihre Augen begannen im Grün der Druiden zu schimmern. »Ein magischer Angriff auf uns«, sagte sie. »Seit wir hier sind, liegen wir unter pausenloser Beeinflussung und haben nichts davon gespürt! Warren, wir sollten uns zu Tode hungern oder vorher noch verdursten und hätten es nicht einmal bemerkt… teuflisch, so etwas! Welche satanische Fantasie denkt sich etwas derart Hinterhältiges nur aus?« Warren war blaß geworden. Er
fuhr unwillkürlich mit der Hand über sein Gesicht. Nein, die Zeit war nicht stehengeblieben und die Bartstoppeln hatten eine beängstigende Länge erreicht. Er mußte wie ein heruntergekommener Landstreicher aussehen. Aber warum verspürte er jetzt immer noch weder Durst noch Hunger, während sich Saras Magen meldete? »Mein verstärkter Para-Einsatz«, versuchte sie zu erklären. »Irgendwie muß sich der Bann bei mir etwas gelockert haben…« »Kannst du nicht versuchen, ihn ganz aufzubrechen?« fragte er. Die Vorstellung, ohne auch nur etwas zu bemerken, zu verdursten, flößte ihm Grauen ein. »Willst du dich in ein paar Sekunden auf dem Boden wälzen und vor Schmerzen nur noch hecheln?« fragte sie spröde zurück. »Ich werde den Teufel tun, den Block zu brechen, aber wir sollten zusehen, daß wir Essen und Trinken finden.« »Die nächste Organstadt«, schlug er vor. »Oder das nächste Tier, das uns über den Weg läuft«, erwiderte die Druidin. »Laßt uns so schnell wie möglich weitergehen.« Das Vorhaben, über einen Siebeneck-Gedanken nach dem Kontrollzentrum zu suchen, hatten beide vergessen. Nahrungsbeschaffung stand jetzt im Vordergrund. 54 �
* � Gryf hatte die Bildkugel aktiviert. Sein Erstaunen darüber, daß Jessica in der Lage war, den Saal des Wissens betreten zu können, hatte sich in Grenzen gehalten. Er traute Merlin alles zu! Die Bildkugel zeigte ihm Caermardhin und die Umgebung. Die normalerweise unsichtbare Burg erhob sich auf dem Gipfel eines bewaldeten Berges. Trelech im Westen, Conwil im Südosten und Cwm Duad im Osten grenzten als spitzes Dreieck die Burg ein. Gryf entsann sich, in Cwm Duad schon einmal zu tun gehabt zu haben, vor gar nicht langer Zeit… er hatte wohl einen Vampir gejagt… Cwm Duad lag auch am günstigsten zur Burg Merlins. Wenn Caermardhin sich zeigte, konnten die Menschen unten im Dorf sie sehen, aber das bedeutete zugleich, daß Unheil im Anzug war, daß eine große Gefahr drohte. Caermardhin war sichtbar! Die Bildkugel verriet es dem Druiden, aber auch, daß die Gefahr längst da war. In Cwm Duad tobten sich Satans Schatten aus. Direkt im Schatten der Burg! So weit konnte die sich aus Irland ausbreitende Front des Bösen noch nicht gekommen sein. Hier mußte
ein spitzer Keil sich gebildet haben, der direkt auf die Burg zielte. Mit der Kraft seiner Gedanken manipulierte Gryf die Bildkugel und stellte sie um. Per Zoom-Effekt holte er sich die Einzelheiten im Dorf nah heran und stellte erschüttert fest, daß es dort unten keine normalen Menschen mehr gab, aber Wesen, die zu Schatten geworden waren und die Horror-Armee des Bösen verstärkten. Sie würden die Burg angreifen, und es würde ihnen auch gelingen. »Was können wir tun?« fragte Jessica. Langsam wandte Gryf sich zu ihr um. Aller Humor war aus seinen Augen verschwunden. Eine tiefe Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet. »Beten, Jessica… und versuchen, die einzige Waffe der Burg einzusetzen.« Sie schluckte. »Und worin besteht diese Waffe?« fragte sie. Der Druide streckte den Arm aus, spreizte den Daumen von der geballten Faust und winkelte dann den Unterarm so weit ab, daß der Daumen auf seine Stirn zeigte. »Ich«, sagte er, »bin diese Waffe.« * »Ich träume«, sagte Jessica niedergeschlagen. »Das darf doch nicht wahr � 55 �
sein… du?« Der blonde Druide, der trotz seines unvorstellbaren Alters aussah wie ein großer Junge, der gern lachte, nickte ernst. »Ich«, wiederholte er. »Und Teri… und du… und Merlin… bloß ist der nicht mehr hier, und wenn wir versagen, wird er nie wieder hierher zurückkehren können. Teri fällt aus, also bleiben wir zwei.« »Ich bin verrückt«, murmelte Jessica. »Ich bin verrückt. Ich träume das alles nur. Wie können wir eine Waffe sein?« »Durch das, was wir in uns tragen«, erwiderte der Druide. »Es gibt eine Möglichkeit, etwas zu tun. Ich muß hinausgehen. Du wirst den Schirm für mich öffnen, wenn ich zurückkehre. Dann muß alles blitzschnell gehen. Ich zeige dir, wie du mit deinen Gedanken den Schirm steuern und notfalls auch als Defensivwaffe einsetzen kannst. Ich werde versuchen, so rasch wie möglich zurückzukommen. Ich verlasse mich auf dich.« Sie nickte mit zusammengepreßten Lippen. »Was habe ich zu tun?« fragte sie. »Warte«, gab er zurück. »Ich habe noch einige Vorbereitungen zu treffen, denn auch ich kann nicht hexen.« Er grinste. »Paradox, nicht? Ich werde es dir bald erklären.« Er eilte davon. Jessica blieb im Saal des Wissens zurück. Sie dachte an
Warren und… Sara. Wenn es den beiden nicht gelang, auf dem Silbermond aufzuräumen, dann würde es hier bald kein menschliches Leben im eigentlichen Sinne mehr geben. Die Schreckenvision einer dunklen Erde überfiel sie, auf der Satans Schatten regierten… Warren Clymer! Würde sie ihn jemals wiedersehen? Warren, tu etwas! Hilf uns allen! schrie alles in ihr. Hilf uns dort draußen irgendwo auf dem Silbermond! Mit ihren Gedanken rief sie nach ihm, aber er blieb unerreichbar. Die Barrieren waren zu stark. Nach einer Viertelstunde kehrte Gryf zurück. Er hatte sich umgekleidet. Sein Jeansanzug war fort, dafür trug er Riemensandalen und eine bis zum Boden reichende Kutte. Sie war strahlendweiß und wurde von einer goldenen Schnur gegürtet. In dieser Schnur steckte eine Sichel, das traditionelle Werkzeug der keltischen Druiden, und in der Hand hielt er seinen Silberstab. Die Druidentracht ließ ihn zehn bis zwanzig Jahre älter erscheinen. Gryf als Llandrysgryf wirkte reifer. »Ich werde hinausgehen«, sagte er. »Wenn ich zurückkehre, mußt du den Schirm öffnen. Dann kann ich mit dem Stab in Merlins Burg zurückkehren.« »Und was willst du tun?« fragte sie. 56 �
»Ich will den Schatten eine Überraschung bereiten«, sagte er. »Sie rechnen nicht mit einem Gegenschlag der Weißen Magie, weil der dunkle Schirm um die Erde liegt. Um so leichter habe ich es.« »Und wie?« »Hiermit«, sagte er und hob den Stab. Die Bildkugel verriet ihm, daß Satans Schatten das Dorf verließen. Cwm Duad war gefallen und damit für sie uninteressant geworden. Jessica erschauerte. Im Teufelskloster über Clonaslee hatten sie in ihren Schreinen schon furchterregend genug ausgesehen, jetzt aber bewegten sie sich… Gryf faßte nach ihrer Hand. Er zeigte ihr, was sie zu tun hatte, um den Schirm zu steuern. »Und auch die Bildkugel kannst du mit der Kraft deiner Gedanken manipulieren«, verriet er ihr. »Wenn ich gleich gehe, neutralisiere den Schirm kurz, damit ich hinauskann. Danach sofort wieder aktivieren.« Jessica nickte. Eine seltsame Spannung erfaßte sie und putschte sie auf. Sie hätte aufschreien mögen. Es war wie in einem Film, in dem der Held in die ausweglose Situation geriet. Nur war hier der Ausgang unsicher, das zwangsläufige FilmHappyend in Frage gestellt. Sie bangte um Gryf. Noch mehr aber um Warren, und von Minute zu Minute stieg ihre
Unruhe. Längst hatte er ihre Botschaft erhalten. Warum handelte er nicht? Wann kam endlich die Wende? Oder war er schon tot? Den MÄCHTIGEN zum Opfer gefallen? »He, wie wäre es, wenn du dich zur Abwechslung einmal auf das konzentrieren würdest, was du tun sollst?« durchschnitt Gryfs Stimme ihre Gedanken. »Sonst könnte es nämlich sein, daß es mir da draußen ein wenig schlecht ergeht.« Sie nickte. Gewaltsam schaltete sie ihre Gedanken um. Sie mußte bei der Sache bleiben. »All right«, sagte Gryf und schnipste mit den Fingern. »Abschalten.« Sie konzentrierte ihre Gedanken auf das Schirmfeld, das Caermardhin – Caer Mardhin – Burg Merlins – einhüllte. Sie sah ein grünlich schimmerndes, engmaschiges Gitter, das frei im Nichts schwebte, und mit ihren Gedanken ließ sie es in eine andere Ebene schwenken. Sekundenlang nur, dann schwang es wieder zurück. Diese Sekunde reichte Gryf. Der Druide machte den zeitlosen Sprung, tat einen Schritt vorwärts und war aus Caermardhin verschwunden. * 57 �
Ein dumpfer Druck breitete sich in ihm aus. Es war wie ein eiserner Ring, den man ihm um die Stirn legte und langsam tiefer pressen wollte. Gryf atmete tief durch. Der Schirm! dachte er. Offenbar war er doch nicht ganz so immunisiert worden, wie er gehofft hatte. Das Fehlen des Schutzfeldes um die Burg machte sich deutlich bemerkbar, das Dunkle, das die Erde einschloß, war stark und deutlich spürbar. Gryf fragte sich, was hinter dieser Macht steckte. Auf eine so perfide Idee, alle para-begabten Gegner auf diese Weise auszuschalten, wären nicht einmal die Meegh-Dämonen gekommen… Gryf umklammerte den Silberstab. Geschenk leuchtete Merlins schwach. Es ist erstaunlich, überlegte der Druide, wie abhängig wir alle von dem alten Zauberer sind. Der Stab, das Amulett jenes französischen Parapsychologen, der zu Gryfs Freunden gehörte und ebenfalls an vorderster Front gegen die Mächte des Bösen kämpfte, Sara Moon… überall zeigten sich die Fäden, die zu Merlin führten. Wer war der alte Mann wirklich? Gryf fragte es sich nicht zum ersten Mal. Mit seiner weißen Druidenkutte hob er sich deutlich vom Braun und Grün des Waldes ab, der den Berg-
hang bedeckte. Nur zu Fuß kam man hinauf oder mit einem Landrover; andere Verkehrsmittel, selbst Geländewagen, versagten. Allenfalls ein Esel mochte seinen Reiter noch mehr unwillig als frischvergnügt hinaufschleppen. Gryf bewegte sich zwischen den Bäumen. Satans Schatten mochten den Fuß des Berghanges bereits erreicht haben und sich anschicken, nach oben zu kommen. Von seiner Position aus konnte er sie nicht erkennen, dafür aber die Burg weit über ihm, die von einer leuchtenden Aura umgeben wurde. Der Schirm war wieder stabil und schützte Caermardhin teilweise vor den Einwirkungen des Dunkelfeldes. Leicht beugte der Druide sich vor und berührte einen Punkt des Waldbodens mit seinem Stab. Dort leuchtete es sekundenlang auf. Weiter bewegte sich Gryf. Zehnmal berührte er den Boden und kreuzte dabei mehrmals seinen Weg in kurzen Abständen, um zum Schluß im Kreis um das durchkreuzte Areal zu gehen und dabei die fünf Punkte des äußeren Ringes wieder zu erreichen. Dann blieb er dort stehen, wo er seine beschwerliche und komplizierte Wanderschaft begonnen hatte. Wieder berührte der Stab den Boden. 58 �
Gryf preßte die Lippen zusammen. Sein Gesicht verzerrte sich. Das Schwerste stand ihm erst jetzt bevor. Noch nie hatte er gewagt, was er jetzt wagte, und noch nie war er in einer Situation gewesen, in der seine Druidenkraft von äußeren Einflüssen gehemmt wurde. Aber es mußte sein. Es war die einzige Möglichkeit, und auch sie konnte die dunkle Macht nur aufhalten, nicht aber besiegen. Es würde lediglich einen Zeitgewinn bedeuten. Er murmelte die Worte der Macht. Etwas begann an ihm zu zerren und zu saugen. Die Magie forderte Energie von ihm. Sie saugte ihm Kraft ab. Und dann geschah es. Blitzartig flammte es überall auf. Leuchtende Bahnen zogen sich durch den Waldboden, überschnitten sich und bildeten einen Kreis. Grell wie die Sonne strahlten die Linien, und Gryf wurde zurückgeschleudert. Er prallte gegen einen Baustamm, sank halb an ihm herunter. Er glaubte einen Zitteraal berührt zu haben. Langsam verblaßte das helle Strahlen der Linien, die Verbindungen, die sich zwischen den berührten Punkten gebildet hatten. Ein riesiges, über zweihundert Meter durchmessendes Pentagramm im Umkreis, ein Drudenfuß! Gryf raffte sich wieder auf. Er
lächelte trotz der Kopfschmerzen, die sich in ihm breitmachten und ihn zu lähmen drohten. Es war gelungen. Der Bann war geschaffen. Er mußte Satans Schatten wenigstens für eine gewisse Zeit aufhalten. Zeit, in der entweder auf dem Silbermond entscheidende Dinge geschahen oder in der Gryf und Jessica Gelegenheit zu weiteren Abwehrmaßnahmen erhielten. Der Druide wandte dem Bannzeichen den Rücken zu und bewegte sich nach oben. Er wußte, daß Jessica ihn über die Bildkugel beobachtete. Spätestens nach zehn Metern mußte sie erkannt haben, daß er umkehrte und daß es an der Zeit war, den Schirm zu öffnen. Warum geschah nichts? Daß seine Schritte langsamer wurden, bemerkte er nicht einmal. Er war plötzlich müde, unsagbar müde, und wollte nur noch schlafen. Die Kopfschmerzen wurden stärker, und er wußte, daß sie vergehen würden, wenn er schlief. Noch einmal riß er sich heftig zusammen. Angst krallte sich in ihm fest. Etwas Unheimliches griff nach seinem Geist und wollte ihn in seinen Bann zwingen. Er schrie auf, als könne er durch den Schrei das Böse, das Unheimliche verjagen. Dann kam der Waldboden rasend schnell auf ihn zu, aber da waren seine Augen bereits geschlossen. 59 �
* � Über die Bildkugel verfolgte Jessica Torrens das Tun des Druiden. Aus der Burg und der Vogelperspektive hatte sie den Überblick und erkannte sehr rasch, daß er die Fixpunkte eines fünfeckigen Sterns festlegte. Als er den Kreis zog, war sie ihrer Sache endgültig sicher. Gryf brannte ein Bannzeichen in den Wald! Sie verfolgte sein Tun. Plötzlich flammte der Drudenfuß hell auf, Gryf wurde zur Seite geschleudert. Dann verblaßte das Leuchten, das Zeichen wurde unsichtbar. Aber Jessica ahnte, daß es im entscheidenden Augenblick wieder aufleuchten und aktiv werden würde. Gryf bewegte sich wieder in Richtung Burg. Sie zögerte. Wollte er ein weiteres Zeichen brennen, oder kehrte er bereits um? Sie wollte noch einige Sekunden warten. Als sie bemerkte, daß Gryf langsamer wurde und taumelte, war es bereits zu spät. Wie gelähmt sah sie ihn zusammenbrechen. Was war geschehen? Angst griff wieder nach ihr. Was hatte Gryf ausgeschaltet? Für ein paar Sekunden rotierten ihre Gedanken wie eine Windhose. Dann kristallisierte sich allmählich die Idee heraus, daß sie ihn nicht dort
draußen liegenlassen durfte. Egal, was ihn angegriffen hatte – er mußte zurück in die Burg. Nur dort war er sicher. Aber… Nein, es durfte kein Aber geben. Wer konnte wissen, ob der Drudenfuß die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte? Wenn nicht, war Gryf hundertprozentig verloren. Sie mußte ihn holen! Aber dazu mußte sie das Caer verlassen. Mußte selbst hinaus in den Wald. Und der Weg war ziemlich weit. Gryf war mit seiner Druidenkraft tief gesprungen, um die Schatten möglichst früh abzufangen. Und wie sollte sie dann zurück in die Sicherheit der Burg gelangen? Der Stab! durchfuhr es sie. Mit dem Stab war eine Rückkehr in Merlins Burg möglich, hatte Gryf gesagt, und Jessica war in der Lage, ihn zu benutzen. Das war also das geringste Problem. Aber der lange Weg… als dunkle Vampirin hatte sie zu fliegen vermocht. Doch damit war es vorbei. Als der Keim des Bösen abgetötet worden war, konnte sie sich nur noch wie jeder andere Mensch fortbewegen. Es muß sein, entschied sie sich. Mit einem Gedankenbefehl öffnete sie den Schirm. Das nur in der Vorstellung sichtbare Gitter kippte wieder um, verharrte jetzt zuckend in der neuen 60 �
Stellung. Es würde solange so bleiben, bis sie es zurückholte. Der Schirm um die Burg war erloschen. Ungeschützt war sie jetzt jedem Gegner ausgeliefert. Jessica zwang sich zur Ruhe. Langsam ging sie durch die Korridore und stieg die Treppen hinunter. Sie durfte ihre Kräfte nicht sinnlos verpulvern. Blinder Eifer schadet nur! Sie brauchte ihre Kraft, um Gryf zurück in die Burg zu bringen. Und die Angst fraß an ihr. Die Angst und die Erinnerung an jenes Grauen, das sie zusammen mit Ten in jener Bauernkate in Irland erlebt hatte. Wo die Schatten auf sie gelauert hatten und sie ihre Macht spüren ließen… Sie hatte panische Angst davor, von den Schatten überrascht zu werden. Aber in diesen Stunden wuchs sie über sich hinaus. Das schwere Eingangsportal in der Burgmauer glitt geräuschlos hinter ihr zu. Sie war draußen, und jetzt mußte sie Gryf erreichen, denn ohne den Stab war eine Rückkehr unmöglich. Zu gut war Caermardhin in dieser Hinsicht abgesichert. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, die kleine Treppe hinunter, und erreichte weichen Erdboden. Sie tauchte in den Wald ein. Irgendwo vor ihr, weit unten am Hang und in der Nähe des entsetzlichen Feindes, der keine Gnade kannte, lag Gryf.
Würde sie es noch schaffen? * Irgendwann erreichten sie eine Organstadt. Auch hier die skurril geformten Häuser, die sich in die Landschaft fügten wie gewachsen. Wenn Warren sie mit den Betongroßstädten der Erde verglich, konnte er sich nicht vorstellen, sich jemals wieder mit Hochhäusern oder Nullachtfünfzehn-Wohnsiedlungen abfinden zu können. Hier war alles so unglaublich harmonisch… vor der Entartung mußten die Silbermond-Druiden ein glückliches Volk gewesen sein. Aber das Paradies war zerstört und würde für immer die Hölle bleiben. Bis zum Ende… Warren spürte immer noch weder Durst noch Hunger, aber das Wissen, daß diese Gefühle vorhanden waren und er sie lediglich durch schwarzmagische Manipulationen nicht zu spüren vermochte, waren schlimm genug. Und Sara mußte es noch schlimmer ergehen, denn sie spürte immerhin Hunger. Doch sie verlor kein Wort mehr darüber. Warren wunderte sich, daß sie auf ihrem Weg auf kein einziges Tier gestoßen waren. Entweder hatte es auf dem Silbermond keine Fauna gegeben, oder die Tiere waren alle der Entartung zum Opfer gefallen… Das Ungeheuer fiel ihm wieder 61 �
ein. Es mußte doch Tiere gegeben haben. Wahrscheinlich hatten sie sich so entsetzlich verändert, vielleicht gegenseitig ausgerottet bis auf eben jenes Exemplar. Sara brach ihr Schweigen, als sie sich zwischen den ersten Häusern befanden. »In irgendeinem Haus muß es zu essen und zu trinken geben«, sagte sie. »Ein Restaurant«, sagte er. »Was ist das?« fragte sie überrascht. Er erklärte es ihr, nicht weniger verwundert. Doch sie schüttelte den Kopf. »So etwas gibt es bei uns nicht. Aber es muß irgendwo eine Deponie geben, eine Abholstelle für Speisen und Getränke. Ich glaube, ihr würdet es einen Drugstore nennen.« »Ein Eßwarengeschäft«, korrigierte er. Sie gingen weiter. Irgendwie hatte Warren das Gefühl, daß er beobachtet wurde. Aber von wem? Außer ihnen gab es keine lebende Seele in der Nähe. Und die Untoten aus dem Toten Wasser – jene die es noch geben mochte, weil sie nicht an die Oberfläche gekommen waren –, sie waren fern. – Nach ein paar hundert Metern blieb Sara stehen. »Hier ist es«, sagte sie. Warren fragte sich, wie sie dieses Haus als eine Art Eßwarengeschäft erkannt hatte – oder eine »Abholstelle«, wie sie es genannt hatte.
Denn jedes Haus sah anders aus als das andere, aber es gab nichts, das darauf hinwies, daß ausgerechnet dieses Gebäude etwas anderes war. Sara trat ein. Warren folgte ihr, ohne zu zögern. Der Gedanke, daß es darin Eßwaren gab, schaltete alle anderen Gedanken aus. Das winzige Zeichen, das über der Tür glomm, übersah er, wie auch Sara es übersehen hatte. Es war auch kaum wahrnehmbar. Es war ein Siebenstern… * Jessica Torrens erreichte Gryf. Sie kniete neben ihm nieder und rollte ihn auf den Rücken. Er sah nicht gut aus. Ein roter Riß zog sich über seine Stirn; er war auf einen rauhborkigen Ast geschlagen. Seine Augen waren geschlossen. Es schien, als sei er wieder in den magsichen Schlaf gezwungen worden. Hatte seine Immunisierung nicht ausgereicht? Dann wurde es auch für Jessica gefährlich. Dann mochte es sein, daß auch ihre Vampir-Magie betroffen wurde. Sie wand ihm den Silberstab aus den Fingern, den Schlüssel zur Burg. Dann zerrte sie den Druiden bis zu einem Baum und lehnte ihn daran, zerrte ihn halbhoch. Immer wieder drohte er umzukippen, und sie mußte erneut zufassen, um ihn zu 62 �
stabilisieren. Es wurde und wurde einfach nichts. Sie wußte, daß ihre Kräfte nicht ausreichten, den schweren großen Mann sich so auf die Schultern zu hieven, daß sie ihn den ganzen Weg über tragen konnte. Er mußte ihr förmlich auf die Schultern fallen. Das ging aber nur aus der erhöhten Position. Aber der schlaffe bewußtlose Körper besaß kein Standvermögen. Schließlich entdeckten ihre suchenden Augen einen längeren, starken Ast, der von irgendeinem Baum abgebrochen war. Sie stemmte ihn unter Gryfs linke Achsel, stützte ihn gewissermaßen ab, während sie ihn an dem Baum hochwuchtete und den Ast nachzog. Der Schweiß trat auf ihre Stirn, die Anstrengung ließ sie keuchen. Alles mußte unglaublich schnell gehen. Denn das Böse war bereits in der Nähe, sie fühlte es. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, hatte sie ihn so, wie sie ihn haben wollte. Sie ging vor ihm in die Hocke. Wenn er jetzt nicht richtig fiel… Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dann riß sie den Ast weg. Der erschlaffte Druide begann zu kippen und krachte förmlich über ihre Schultern, und langsam kam sie aus der hockenden Stellung hoch. Es hatte geklappt! Den schweren Mann über der Schulter, stolperte sie bergauf. Nur
nicht stürzen! War ihr einziger Gedanke. So rasch wie möglich setzte sie einen Fuß vor den anderen. Und irgendwo unterhalb des Pentagramms leckten die Zungen der dunklen Macht nach oben, glitten die Schatten bereits durch den Wald… Das Böse kam! * Sie schaffte es. Sie erreichte erschöpft den Eingang der Burg. Immer noch umkrallte ihre Hand den Silberstab, und sie benutzte ihn, um den Eingang zu öffnen. Keine andere Macht als jene, die von Merlin autorisiert war, hätte vermocht, das Tor zu öffnen, nicht einmal eine Kanonenkugel hätte sie zersprengt. Dennoch würden die Burgmauern den Schatten kein Hindernis bieten. Das Unheimliche kannte andere Wege, dorthin zu gelangen, wohin es wollte… Vor ihr schwang das Portal auf. Fast am Ende ihrer Kräfte taumelte sie hindurch und sah, wie es sich wieder schloß. Dann ließ sie Gryf einfach von ihrem Rücken rutschen. Sie war erschöpft, fühlte sich nicht in der Lage, ihn nur noch einen Meter weit zu tragen. Hier waren sie in relativer Sicherheit… Wenn der Schirm wieder stand! 63 �
Sie mußte den Schirm um Caermardhin wieder einschalten! Nur der Gedanke daran riß sie jetzt noch vorwärts. Sie stürzte fast die Treppen hinauf, taumelte durch die Korridore dem Saal des Wissens entgegen. Nach einer Ewigkeit erreichte sie ihn und formte die befehlenden Gedanken. Schlagartig baute der Schirm sich wieder auf und umgab die Burg mit seinem Schutzfeld, das immerhin einen Teil der Dunkelstrahlung abhielt. Dann verließen sie die Kräfte. Vor der Bildkugel sank sie zusammen. Angst und Anstrengung forderten ihren Preis. Sie sah nicht mehr, was die Bildkugel zeigte… * In der holografischen Projektion zeigte sich nach wie vor jener Teil des Berghanges, an welchem Gryf das Pentagramm geschaffen hatte. Und es zeigte auch noch etwas anderes. Satans Schatten kamen! Lautlos glitten jene, die einmal Menschen gewesen waren, zwischen den Bäumen hervor. Das Böse kam mit ihnen und schlich empor, der Burg entgegen. Und es erreichte das Pentagramm. Von einem Moment zum anderen
flammte es auf. Die Magie wurde aktiv. Flirrende Energie dehnte sich aus, durchdrang die Baumstämme und breitete sich in allen Richtungen aus. Jene Schatten, die davon erfaßt wurden, veränderten sich, wurden zu grellweiß flammenden Fanalen. Und immer weiter drang die Energie des Pentagramms vor, schuf eine vorläufig undurchdringliche Barriere. Der Vormarsch des Bösen geriet ins Stocken. Immer mehr Schatten wurden erfaßt und verändert. Aber die Veränderung hielt nicht lange an. Plötzlich verging das grelle Leuchten, löste sich auf. Menschliche Körper blieben zurück, die besinnungslos zu Boden sanken. Vielleicht nur, um bald darauf erneut dem Schwarzen zum Opfer zu fallen… Und das Böse reagierte! Es schlug zurück! Irgendeine Kontrollmacht mußte die Aktivität des Pentagramms erkannt haben und schuf eine Gegenkraft. Über dem strahlenden Fünfstern entstand ein düster glosendes anderes Gebilde. Ein Siebenstern! Entladungen flammten auf, Blitze zuckten zwischen beiden Fingern hin und her. Langsam senkte sich der frei in der Luft schwebende Siebenstern hinab. Wo er Bäume und Buschwerk erfaßte, flammte dieses auf und verkohlte in Sekunden64 �
bruchteilen. Das Pentagramm wehrte sich mit verstärktem Energieausstoß, doch je heftiger es sich wehrte, um so schneller verbrauchten sich seine Energien. Das Heptagramm löschte seinen Gegner aus. Und verging dann ebenfalls. Eine furchtbare, verkohlte Öde blieb an jener Stelle zurück. Und überall dort, wo sich die weißmagischen Energie des Drudenfußes ausgebreitet hatte, entstand eine eigenartig tote Zone. Nicht einmal die Schatten wagten sich hinein. Sie mußten weite Umwege einschlagen… Mußten sich um jene neutral gewordene Zone herumbewegen, ohne sie mit ihrer tödlichen Energie überziehen zu können… Eine Insel blieb. Eine breite Front, die das Böse eine Zeitlang aufhalten mochte. Aber nicht für dauernd… Schon wich der Angriffskeil aus, um die Barriere zu umgehen… * Ein eigenartiges Knistern ging durch das Organhaus. Irritiert hob Sara Moon den Kopf und lauschte. »Was ist?« fragte Warren. »Hörst du es nicht?« Sie hatten sich gesättigt. Jetzt hatte
Sara den Bann aufgebrochen. Ein zweites Mal würden sie nicht vergessen können, daß sie bestimmte menschliche Bedürfnisse besaßen… Wieder knisterte es. Warren sah die Zimmerdecke an. Plötzlich war ihm, als hätte sie sich um einige Zentimeter abgesenkt. Irritiert sah er zur Türöffnung. Sie war kleiner geworden! »Das Haus!« schrie er und sprang auf. »Es zieht sich zusammen!« Sara fuhr ebenfalls hoch. »Die gleiche Falle, die ich den Untoten stellte… das Böse schlägt mit den gleichen Waffen zurück!« stieß sie hervor. »Raus hier, schnell!« Sie sprang durch die sich langsam schließende Türöffnung in den schmalen Korridor, der sich ebenfalls zusammengezogen hatte. Sie mußten bereits gebückt laufen und sich hüten, irgendwo anzustoßen. Das Organhaus verformte sich immer schneller. Als sie den breiten Raum erreichten, der als Eingangshalle diente, wandte Warren sich um. Er stöhnte unterdrückt auf. Hinter ihnen schwebte ein glühendes Siebeneck! Und vor ihnen schloß sich die äußere Tür. Ein dünner Film wuchs aus dem Rahmen und bildete eine undurchsichtige Folie. Wie ein Geschoß jagte Sara mit einem Hechtsprung hinein und durchbrach sie. Warren folgte, ohne 65 �
zu zögern. Noch war die Wand nicht massiv genug gewesen, um sie aufzuhalten. Während Warren sich auf der anderen Seite abrollte, flammte durch die aufgebrochene Öffnung eine Feuerlohe über ihn hinweg. Das Heptagramm! durchfuhr es ihn. Plötzlich waren da noch andere Siebenecksterne. Warren raffte sich auf. Sara stand schon wieder auf den Beinen. Die Heptagramme glommen an den Wänden anderer Häuser auf und begannen düster zu strahlen. Das Böse, das den Silbermond beherrschte, ging zum Großangriff auf seine beiden Feinde über. Aus dem sich verformenden Haus drang das Heptagramm hervor. Es war, als würde es auf eine unheilige Weise leben… und wieder zuckte ein Feuerstrahl aus seinem Zentrum hervor. »Weg hier!« stöhnte Sara. »Schnell! Dagegen sind wir machtlos, es ist zu stark! Wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich vielleicht…« Sie begannen zu laufen. Hinter ihnen flammte das Organhaus, in dem sie sich gesättigt hatten, grell auf. Flammen wirbelten empor. Ein Feuer begann zu toben, das das Haus vernichtete. Warren war blaß geworden. Wenn es ihnen nicht gelungen wäre, noch rechtzeitig hinauszukommen… Sie rannten, rannten und keuchten,
bis die Stadt hinter ihnen lag. Erst dann wandten sie sich wieder um. Immer noch brannte jenes Haus wie ein Fanal. Und aus dem Feuer heraus leuchteten siebeneckige Sterne. Auf Warren machten sie den Eindruck von Augen, die ihn anstarrten und nicht wieder loslassen wollten… * Als Jessica wieder erwachte, fiel ein Schatten über sie. Im ersten Moment verkrampfte sie sich. Erinnerungen peitschten auf sie ein und mischten sich mit der Angst vor dem Furchtbaren, das die Erde verheerte. Dann erst erkannte sie Gryf. Der Druide grinste jungenhaft. »Du liegst hier ziemlich unordentlich herum«, behauptete er. »Darfst du das?« Er trug immer noch seine Druidenkutte, aber er schien sie gesäubert zu haben, denn die Spuren des Waldes, die sich auf dem Weiß der Kutte festgesetzt hatten, waren verschwunden. Auch die Stirnwunde mußte narbenlos verheilt sein, denn es war nichts mehr davon zu erkennen. Jessica streckte einen Arm aus, dem Druiden entgegen. Er griff zu und zog sie hoch. »Du bist ja ganz schön ausgepowert«, stellte er fest. »Warum hast du nicht den Stab benutzt?« 66 �
Sie war noch immer nicht völlig klar. Verständnislos sah sie ihn an. »Vielleicht solltest du mir mal erklären, was überhaupt läuft. Ich kann mich entsinnen, daß du wieder in Tiefschlaf verfallen bist.« Gryf nickte. »Gut beobachtet. Aber nachdem du mich dankenswerterweise in die Burg zurückgeholt hast, erwachte ich wieder. Offensichtlich schützt der Schirm uns doch besser, als ich dachte. Als er stand, gelang es mir, den Einfluß wieder zu überwinden. Bloß – warum bist du die ganze Strecke mit mir auf dem Buckel eigentlich zu Fuß gekeucht? Du hattest doch den Stab!« »Ob ich wohl kein Druide bin?« fauchte sie ihn an. »Ob ich wohl den zeitlosen Sprung nicht beherrsche, mit dem es sich deinesgleichen so leicht machen?« »Du hättest aber die Schwerkraft neutralisieren können«, sagte er. »So wie die Yogis das zuweilen tun und ein wenig vom Boden abheben. Nur Fliegen ist schöner – oder hast du Angst vorm Fliegen?« »Bestie«, murmelte sie. »Du hättest es mir ja auch vorher sagen können.« »Wußte nicht, daß ich da draußen umkippen würde wie bei einem Malaria-Anfall? Was zeigt uns denn die Bildkugel Schönes?« Er betrachtete die Projektion. Der Drudenfuß hatte eine ausgedehnte
Schutzzone geschaffen, durch die Satans Schatten auch jetzt nicht dringen konnten. Aber sie brandeten an den Seiten entlang und würden diese Zone irgendwann in kurzer Zeit umschließen, um den Marsch zur Burg fortzusetzen. »Wenn nichts mehr hilft, müssen wir durchbrechen in diese Zone«, murmelte der Druide. »Vielleicht fällt mir aber noch etwas ein, um diesen Vormarsch abermals aufzuhalten. Vielleicht kann ich auch den Abwehrschirm ein wenig verstärken… ja, das müßte gehen…« Jessica hatte sich an einen Podest gelehnt und setzte sich jetzt darauf. Sie war immer noch erschöpft. Sie wußte nicht, wie lange sie im Saal des Wissens gelegen hatte, aber es konnte nicht lange gewesen sein. Eine Stunde oder eine halbe vielleicht… sie sah zu, wie Gryf wieder aktiv wurde. * Die glühenden Berge waren ganz nah. Und jetzt sah Warren auch, daß sein erster Eindruck ihn nicht getäuscht hatte. Magisches Feuer waberte über die Hänge. Es hüllte die Berge ein. Warren zweifelte daran, daß es unter diesem Feuer noch Leben gab, wie auch immer es geartet sein mochte. Sie standen in einer großen Ebene am Fuß der glühenden Berge, und 67 �
über ihnen hing wie die personifizierte Bedrohung die verschlackte Wunderwelt, riesig und erdrückend. Sie hatten die Organstadt weit hinter sich gelassen. Aber Warren war den Eindruck der Gefahr nicht mehr losgeworden. Im Gegenteil; das Bedrückende wurde immer stärker, so als würden sie in eine weitere Gefahr hineinlaufen. Oder ins Zentrum der Macht… »Ich muß noch einmal versuchen, die Spur der Seelen zu finden«, murmelte Sara Moon. Sie ballte die Fäuste. »Sie müssen noch irgendwo existieren. Ich weiß es.« Warren Clymer zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Tu es, wenn du es für sinnvoll hältst«, sagte er. »Aber bedenke, daß wir das Kontrollzentrum finden und zerstören müssen. Wer weiß, was auf der Erde geschieht, und immerhin werden auch wir selbst bedroht.« »Ich weiß«, gab sie zurück. »Aber ich hoffe, daß mir die Seelen der toten Druiden Hinweise oder Hilfestellungen geben können!« »Du willst es jetzt versuchen?« fragte er. »Ich fühle mich im Augenblick stark genug«, sagte sie leise. Ihre Hand berührte die seine, leicht nur, aber in Warren zuckte etwas. Er mußte an Jessica denken. Was tat sie jetzt, in diesem Augenblick? Lebte sie noch? Oder war sie dem Bösen zum Opfer gefallen?
Sara ließ sich auf den Boden nieder und legte den Kopf leicht zurück. Ihre Hände berührten die Oberschenkel, und ihre Augen schlossen sich. Ihr Geist begann nach den toten Seelen zu rufen, die Spur wieder aufzunehmen. Diesmal gab es keine Bernsteinsärge, die platzen konnten unter den Impulsen. Sie waren allein in der Ebene. Innerhalb von Sekunden war die Druidin nicht mehr ansprechbar. Ihr Geist tastete hinaus in unbekannte Sphären und Dimensionen. Und dann kam der Kontakt! * Das Kontrollzentrum registrierte sofort, daß da etwas nach den Einheiten der Kraft suchte – und sie auch fand. Und das Suchende war identisch mit dem Gegner, den es zu vernichten galt! Sofort reagierte das Kontrollzentrum. Es blockte die Verbindung zwischen sich und der Kraft ab und verstärkte das eigene Potential. Und etwas Unsichtbares wurde sichtbar. * Warrens Kopf flog herum. Aus den Augenwinkeln hatte er eine Veränderung wahrgenommen und sofort reagiert. Veränderung konnte auf 68 �
dem Silbermond unter der entarteten Sonne nur Gefahr bedeuten! Seine Augen weiteten sich. Zwischen Sara und ihm und den glühenden Bergen geschah etwas in der Ebene. Die Luft flimmerte. Nebel wallten auf, und unter den Nebeln wurde etwas sichtbar, das sich jetzt erst zeigte, das ihnen bisher entgangen war. Zu gut war es eingetarnt. Es mußte riesig sein und einige Kilometer umfassen. Warren brauchte einige Minuten, bis er erkannte, um was es sich handelte. Dort in der Ebene, über der das Flimmern jetzt erlosch und die Nebel sich auflösten, befand sich ein überdimensionales Heptagramm. Ein siebeneckiger Stern im Umkreis! Achte auf das Heptagramm! brannten Jessicas Gedanken in ihm. Siebeneck-Sternen waren sie jetzt bereits mehrfach begegnet, zuletzt in der Organstadt mit dem brennenden Haus. Aber das hier… es übertraf alles. War das das Heptagramm, um das es ging? Ein seltsamer Laut ließ ihn abermals zusammenzucken. Sara hatte ihn von sich gegeben. »Wyrionyn-y-llew«, hauchte sie. Nur widerwillig riß er sich von der Betrachtung des gigantischen Heptagramms los. »Bei Ereshkigal, sie existieren
noch«, keuchte Sara. Sie öffnete die Lider, und Warren erkannte einen eigenartigen Glanz in ihren grünen Augen. Er sah sie fragend an. »Du hattest Kontakt, Sara?« »Ja«, stieß sie hervor und sprang auf. »Ja, Warren, ich hatte Kontakt, und ich weiß jetzt, daß sie Gefangene sind. Ich – bei Modron, was ist das?« Sie griff nach Warrens Arm und starrte auf die Ebene hinaus. »Ein Siebenstern«, hauchte sie. »Wann ist er entstanden, Warren? Jetzt?« Er sah die Furcht in ihren Augen. »Er muß schon vorher da gewesen sein«, sagte er. »Die Tarnung löste sich, und er wurde sichtbar. Er muß zwei bis drei Kilometer durchmessen…« Sie entspannte sich ein wenig. »Ich hatte Kontakt zu den Druidenseelen«, nahm sie ihren Bericht wieder auf. »Sie werden von der fremden Macht gewissermaßen zusammengeballt und ferngesteuert. Sie sind nicht in der Lage, sich aus diesem unbarmherzigen Griff der Finsternis zu befreien. Das Böse bedient sich ihrer Kräfte, um sie ins Negative zu verkehren und die Erde und den Silbermond zu bedrohen.« Warrens Augen weiteten sich. »Die Druidenseelen sind ein Werkzeug des Bösen geworden? Habe ich das richtig verstanden?« Sie nickte mit bitterem Gesichts69 �
ausdruck. »Sie wollen es nicht und sind verzweifelt, aber sie kommen nicht dagegen an. Das Kontrollzentrum hat sie in seiner unentrinnbaren Gewalt. Und selbst wiederum wird es gesteuert von der entarteten Sonne oder erhält zumindest von dort aus Kraft. Aber ich glaube, es ist mehr als nur Kraft, die von dieser Sonne kommt. Denn die Sonne verändert alles, verkehrt alles ins Böse. Sie ist es schlußendlich auch, die die Kraft der Druidenseelen umkehrt.« Warren schluckte. »Ein Grund mehr, dieses Kontrollzentrum zu zerstören«, preßte er hervor. »Aber wir müssen es erst finden«, sagte Sara. Da lachte Warren auf wie ein Wahnsinniger. Mit weit aufgerissenen Augen starrte die Druidin ihn an, vor Verblüffung unfähig, in seinen Gedanken zu lesen. »Warum lachst du?« »Sara«, stieß er hervor und wurde schlagartig wieder ernst. »Sara, wir brauchen es nicht länger zu suchen… es liegt vor uns!« Und sein ausgestreckter Arm wies auf das riesige Heptagramm in der Ebene! * Langsam näherten sie sich dem Zentrum des Unheils. Auch Sara glaubte jetzt, daß dieses Heptagramm das
Kontrollzentrum sein mußte. Es hatte seine Tarnung aufgegeben. Und sie selbst hatte es doch spüren müssen – in jenen Augenblicken, in denen sie mit den Seelen in Kontakt war. Hatte die fremde Kraft gespürt, die die Wyrionyn-y-llew, die Kinder des Lichts, unterjochte! Und diese Kraft hatte ihren Ausgangspunkt ganz in der Nähe gehabt. Sie hatte auch, während sie sich bereits zurückzog, bemerkt, daß die fremde Macht ihren Vorstoß bemerkt hatte. Hatte sich der siebeneckige Stern deshalb enttarnt? Langsam kamen sie dem Rand näher. Schritt für Schritt, und beide spürten das Stärkerwerden des eigentümlichen dumpfen Druckes, der sich über ihre Gedanken legte. Das Böse war aktiv. »Es ist furchtbar und kaum vorstellbar«, sagte Sara leise. »Die manipulierte und veränderte Druidenkraft, früher nur dazu da, Gutes zu schaffen, erzeugt jetzt jenes Dunkelfeld, das sich um Silbermond und Erde gelegt hat und alle weißmagischen Aktivitäten hemmt! Die Kinder des Lichts werden auf entsetzlichste Weise mißbraucht und können sich nicht dagegen wehren, solange dieses Kontrollzentrum existiert!« »Die Druiden?« stieß er hervor. »Ihre Kraft hemmt uns alle?« »Sie wollen es nicht«, flüsterte Sara. »Aber sie sind nicht mehr ihre 70 �
eigenen Herren.« Warren sah zu der entarteten Sonne empor, die halb von der Wunderwelt verdeckt am Himmel gloste. »Wir müßten die Sonne zerstören«, stieß er hervor. »Wir müssen zunächst etwas ganz anderes zerstören«, versetzte Sara. »Das hier.« Sie hatten den Rand des Heptagramms erreicht. Die Linien in der Ebene waren tiefe Schluchten, die eine fremde MACHT in die Ebene eingebrannt hatte. Dreißig, vierzig Meter breit waren sie und schienen bis in den Mittelpunkt des Silbermondes zu führen. Hier war das Zentrum der Macht. Hier hatte sich das Böse manifestiert. Von hier aus hatte es zwei Welten im Griff. Und Warren wunderte sich, warum sie beide noch lebten, warum es ihnen gelungen war, so nahe an das Böse heranzukommen. Hielt ein Mächtigerer schützend seine Hand über die beiden Druiden? Vielleicht… Gott? * In der Tiefe der Schlucht, vor der sie standen, glühte es unheilvoll. Das magische Feuer, das dort unten tobte, glich jenem, welches sich über die Berge gelegt hatte.
Sara sah in die Tiefe. Dies mußte wirklich das Kontrollzentrum sein. Sie verzichtete darauf, ihr Bewußtsein zu öffnen. Sie fürchtete, sofort übernommen zu werden. Doch eine andere Idee begann in ihr zu keimen. Es war eine gefährliche Idee, aber langsam kam sie zu der Erkenntnis, daß es keinen anderen Weg gab, dieses Zentrum des Bösen zu vernichten. Sie besaßen keine Waffe, das Pentagramm zu zerstören. Sie konnten versuchen, die Schluchten zuzuschaufeln, aber sie würden einige Jahrhunderte daran zu arbeiten haben. Und eine Nuklearbombe, über die sie nicht einmal verfügten, verbot sich von selbst. Aber es gab eine andere Art von Bombe, die eingesetzt werden konnte. Sara Moon dachte an Merlin. Wie hätte er sich entschieden? Sie schluckte. Es war gefährlich, konnte vielleicht ihr Leben kosten. Gab es wirklich keine andere Möglichkeit? Warren… nein, er konnte ihr in diesem Fall nicht helfen. Er durfte nicht einmal zu früh bemerken, was sie tat, denn er würde mit Sicherheit versuchen, sie von ihrem wahnwitzigen Vorhaben abzubringen. Aber wenn sie es nicht tat, würden zwei Welten untergehen. Und vielleicht würden die MÄCHTIGEN, die diese furchtbare Entwicklung einge71 �
leitet hatten, danach nach weiteren Welten greifen… Sie sah den Vierzigjährigen an. Auf ihn wartete auf der Erde eine junge Frau. Und auf aber Milliarden von Menschen der Erde wartete das Leben. Ihr Entschluß stand fest. Warren Clymer verriet sie nichts, als sie ihren Geist öffnete und auf das Heptagramm zuglitt, während ihr Körper zurückblieb. Starr und steif stand er neben dem ehemaligen Farmer, und der Geist erfaßte die abgeschirmte Verbindung zwischen dem Kontrollzentrum und den Seelen der Druiden, glitt diesmal in die andere Richtung. Und wurde eins mit dem Zentrum! * Sara Moon, die Silbermond-Druidin, verschmolz mit der schwarzen, bösartigen Energie des Kontrollzentrums. Der Vorgang des Einfädelns in den Energiestrom war einfach gewesen, und jetzt tauchte sie mit all ihrer Kraft ein. Sie war der positive Pol! Der weiße Fleck in einer schwarzen Unendlichkeit. Aber dieser winzige weiße Fleck reichte aus. Die MÄCHTIGEN hatten nicht damit gerechnet. Einen Selbstmordversuch hatten sie nicht in ihre unmenschlichen
Kalkulationen einbezogen, denn das war ihnen so fremd wie einem Fisch das Fliegen. Das Böse ist immer feige und trachtet danach, seine eigene Existenz um jeden Preis zu erhalten. Die Idee, sich für andere aufzuopfern, kennt es nicht. Sara Moon, die Para-Bombe, entlud sich. Wenn Materie und Anti-Materie zusammentreffen, kommt es zur Katastrophe. Beide sind so gegensätzlich, daß sie sich gegenseitig auslöschen. Die Massen zerstrahlen völlig zu reiner Energie. Ein Kilogramm Antimaterie reicht aus, den halben Planeten Erde allein durch die Zerstrahlungsenergie zu zerfetzen. Ähnlich war es hier. Ein winziger Teil der DruidenMagie reicht aus, das Inferno auszulösen. Der Vernichtungsprozeß setzte ein. Und ein einzelner Mensch wuchs über sich hinaus. * Zu spät, um es verhindern zu können, spürte Warren den Energiestoß, der sich aus Sara löste. Er fuhr herum. Ihr leerer Körper stand starr und steif neben ihm. Ihre Augen waren leer und stumpf. Sie hatte ihren Körper verlassen. Ungeachtet der Dunkelsperre setzte Warren seine eigenen telepathischen Druidenkräfte ein. Und er 72 �
sah, wie Sara Moon einem Blitz gleich in das Kontrollzentrum einschlug. »Nein!« schrie er auf. Magie traf auf Magie. Er zog sich blitzartig zurück, als die grelle Flut heranbrandete, die jedes Para-Bewußtsein auszulöschen drohte. Er preßte die Hände gegen die Schläfen und krümmte sich unter der Gewalt der Para-Explosion, die vor ihm stattfand. Dann war es vorbei, nicht aber der Vernichtungsprozeß, der jetzt um sich griff. Der Boden erzitterte. »Ein Erdbeben«, keuchte er entsetzt. Die Ränder der Schluchten begannen zu bröckeln. Unwillkürlich wich Warren zurück, als alles unter ihm sich in Bewegung setzte und in die Tiefe zu rutschen begann. Das riesige Heptagramm wurde zerstört! Sara mußte es geschafft haben, es zu vernichten! Aber wurde ihr eigener Geist nicht mit in den Untergang gerissen? In Warren wurden Kräfte wach, die er sich selbst niemals zugetraut hätte. Er griff blitzschnell zu, warf sich Saras erstarrten Körper über die Schulter und begann zu laufen, während unter ihm der Boden rutschte und in die Schlucht stürzte, um sie zu füllen. Magie tobte sich aus. Ein rätselhaftes Flirren lag über den
Schluchten, und etwas Entsetzliches raste im Todeskampf. Warren fühlte, wie etwas nach ihm zu greifen versuchte, aber wirkungslos abglitt. Er spürte hilflosen Zorn und Vernichtungswut, die abebbte. Das sterbende Kontrollzentrum! Was war mit Sara? Als der Boden aufhörte zu rutschen, ließ er sie von seiner Schulter sinken. Er wußte nicht einmal, was er tat, als er seine eigenen bisher schwach entwickelten Para-Kräfte einsetzte und nach Sara tastete. Und er spürte sie! Fühlte ihren Geist, der in einen Abgrund zu stürzen drohte, mitgerissen von der explosiven Vernichtung des Heptagramms. Er wurde zu ihrem Anker! Er umkrallte sie und riß sie mit seinem Geist aus dem Strudel der Vernichtung zurück in ihren eigenen Körper! Wie es ihm gelungen war, wußte er später nie mehr zu erklären, aber er schaffte es. Er fühlte, wie sich ihr Körper wieder belebte. Das Flimmern des Pentagramms erstarb. Nur ein gewaltiger Krater mit lockerem Sandrand blieb von dem Zentrum der bösen Macht zurück, mehr nicht. Und aus der Sonne flammte ein pulsierender Schwall entarteter Energie und erreichte drohend Warrens und Saras Bewußtsein. RACHE! gellte es schmerzhaft in 73 �
ihnen. � * Gryf! Der Druide fuhr überrascht zusammen, als die Stimme sich in seine Gedanken mischte. Ein telepathischer Ruf. Gryf, wo bist du? »Im Saal des Wissens«, stieß er überrascht hervor und sendete die Worte gleichzeitig. »Teri?« »Was ist?« fragte Jessica überrascht. Ich bin erwacht, empfing Gryf. Der Bann scheint zu schwinden. Jessica Torrens wiederholte ihre Frage. Gryf erklärte ihr das Unglaubliche in wenigen Worten. »Das kann nur bedeuten, daß Warren und Sara auf dem Silbermond Erfolg hatten«, sagte sie erregt. »Wenn das Dunkelfeld sich abschwächt…« »Keine voreiligen Hoffnungen«, wandte Gryf ein. Er deutete auf die Bildkugel. »Die Schatten dringen weiter vor. Und mir fällt nichts ein, womit ich sie ein zweites Mal aufhalten könnte…« »Aber Teri ist erwacht!« schrie Jessica. »Das muß doch bedeuten, daß die Macht des Bösen gebrochen ist, daß der Höhepunkt überschritten ist!« Gryf preßte die Lippen zusammen. Seine Worte waren kaum zu verstehen, als er erwiderte: »Vielleicht ist
es auch nur ein böses Spiel, das unser Feind betreibt… uns in Sicherheit zu wiegen, um dann um so erbarmungsloser zuzuschlagen…« Aber Jessica Torrens wollte es nicht glauben! Augenblicke später wurde sie in ihrer Ansicht bekräftigt – von jemandem, der es wissen mußte! * Sara Moon öffnete die Augen. Sie wunderte sich, daß der entsetzliche Schmerz ausblieb, der auf jede ParaAktivität folgte. Lediglich ein dumpfer Druck war da, der überraschend schnell abklang. Sie erkannte, woran es lag. Das Antimagie-Feld baute sich ab. Das Kontrollzentrum war zerstört. Die Seelen der Druiden waren frei von jedem Druck, und sie entsandten keine Energien mehr, die zweckentfremdet werden konnten. Mit höchster Wahrscheinlichkeit würde es auf der Erde ebenso sein. Das Böse starb ab. Aber noch war da die entartete Sonne, die zu pulsieren begonnen hatte. Stärker als je zuvor entsandte sie ihre Energien. Nur zu deutlich hatte Warren den furchtbaren Impuls im Gedächtnis, der ihn erreicht hatte. Rache! Das Böse war nicht willens, diese Niederlage so einfach hinzunehmen. 74 �
Auch wenn das direkte Kontrollzentrum auf dem Silbermond zerstört war, würden die MÄCHTIGEN, wer immer sich auch hinter diesem Begriff verbergen mochte, versuchen, ihre beiden Feinde auszulöschen. Sie hatten nur einen Teilsieg errungen. Und sie wußten es. »Die Druiden-Seelen«, stieß Sara hervor. »Ich muß Kontakt mit ihnen aufnehmen. Vielleicht wissen sie einen Rat.« »Vielleicht auch nicht«, unkte Warren. »Sie haben bis jetzt unter Kontrolle gestanden. Wahrscheinlich wissen sie mit ihrer neuen Freiheit noch gar nichts anzufangen…« Sara funkelte ihn aus ihren grünen Druidenaugen an. »Sie sind Druiden, Warren! Und Druiden waren schon immer frei, brauchen sich an diesen Zustand nicht erst zu gewöhnen!« »Schon gut«, wehrte er ab. Sie sahen auf den riesigen Krater, das einzige Überbleibsel des Heptagramms. Doch noch glühten die Berge im Hintergrund, und ihr Glühen wurde stärker und dehnte sich aus, während die entartete Sonne ihre verheerenden Energien aussandte. Deutliches Zeichen dafür, daß die finsteren Mächte längst nicht besiegt waren… »Hast du überhaupt genug Kraft, um einen erneuten Kontakt herbeizuführen?« fragte Warren. Sara sah
ihn prüfend an. »Wenn du mir hilfst, auf jeden Fall«, behauptete sie. Mit keinem Wort ging sie darauf ein, daß er sie aus dem Nichts zurückgerissen hatte, und er erwartete es auch nicht anders. Er fühlte es lediglich, was sie empfand. »Ich werde es tun«, sagte er. Und plötzlich wußte er, was er zu tun hatte, um die verstärkende Bewußtseinsverschmelzung hervorzurufen. Der, der bis vor ein paar Tagen nicht geahnt hatte, daß in ihm das Blut der Druiden floß… Und sie wurden eins. * Ihr müßt die entartete Sonne vernichten, sang die telepathische Stimme der Druiden. Sie muß zerstört werden, denn die Entartung läßt sich nicht rückgängig machen. Klar! Wir werfen einen Mollie hinein, es geht Wumm, und das Ding ist erledigt, telepathierte das Warren-Clymer-Bewußtsein. Narr! Es geht auch auf andere Weise. Ich ahne, was sie planen, konterte das Sara-Moon-Bewußtsein. Wie? Die Seelen der Druiden sangen wieder. Der Silbermond muß in die Sonne stürzen. Magisch aufgeladen, wird er seinen Zweck erfüllen und die Sonne zerstören. 75 �
Aber eure Körper! wandte das Warren-Clymer-Bewußtsein ein. Sie sind ohnehin zu einem großen Teil zerstört, sangen die Druidenseelen. Und sie sind Untote, wir können ohnehin nicht in sie zurück. Mögen sie mit dem Silbermond vergehen. »Und was wird aus euch?« fragte Sara. Wir gehen einen Schritt weiter auf der Leiter der Evolution, kam es aus den Druidenseelen zurück. Wir sind dabei, miteinander zu verschmelzen und ein gemeinsames Bewußtsein zu werden. Wir alle sind eins, und das eine ist wir alle. Warren erschauerte, aber nicht vor Furcht. Es war das Unglaubliche, das Fantastische, was ihn berührte. Aber ihr könnt nicht einfach der Natur vorgreifen, gab Sara zurück. Es ist unsere Bestimmung, sangen die Druiden. Was in unseren Körpern nur kurz möglich war, das Verschmelzen des Geistes, ist für uns Dauerzustand. Wir freuen uns. Ich freue mich. Ich kann es nicht fassen, gab Sara zurück. Es ist wichtig, die entartete Sonne zu zerstören, lenkte das Gemeinschaftsbewußtsein der Druiden auf das ursprüngliche Thema zurück. Ich werde den Silbermond mit magischer Energie aufladen. Und ihr, Sara und Warren, werdet ihn in die Sonne steuern. So, wie du, Sara, das Kontrollzentrum der MÄCHTI-
GEN mit deiner Kraft sprengtest. Wir werden verglühen, schrie es protestierend in Warren und Sara. Es ist eure eigene Entscheidung, kam es von dem Seelenkollektiv zurück. Wenn ihr es tut, ist dieser Teil des Kosmos gerettet. Wenn nicht, wird die entartete Sonne weiterbestehen und erneut nach der Macht greifen. Die MÄCHTIGEN sind gnadenlos. Und wir können nur aufladen, nicht lenken. Sara und Warren trafen ihre Entscheidung gleichzeitig, denn durch den telepathischen Rapport waren auch sie eins. Wir werden es tun! * »Es ist vollbracht«, sagte der alte Mann. Gryf fuhr zusammen. Jessica nicht, sie hatte fast erwartet, daß Merlin sich in diesem Moment wieder melden würde. Der rätselhafte Zauberer zeigte sich. Manche Schriften behaupteten, er sei ein Sohn einer Menschenfrau und des Teufels, aber das Dämonische in ihm fehlte völlig und verbannte diese Annahmen in den Bereich des Irrealen. Merlin, der König aller Druiden, manifestierte sich! Oder…? »Die Projektion!« stieß Jessica hervor. »Es ist wieder nur eine Projek76 �
tion!« »Du hast recht«, sagte Merlin. »Noch bin ich fern, denn nicht alles ist getan. Das Letzte muß noch geschehen.« »Gerade sagtest du, es sei vollbracht, alter Gauner«, grunzte Gryf, der seine Fassung wiedergefunden hatte. »Lange ist es her, daß mich jemand einen alten Gauner nannte«, sagte Merlin, und über sein Gesicht flog ein fröhliches Lachen. »Du hast mit dieser Bezeichnung Recht, ich bin ein alter Gauner, du aber nicht weniger, Vampirkiller! Das Kontrollzentrum des Bösen ist zerstört, doch die Gefahr besteht noch. Und ihr, Jessica und Gryf, habt die Aufgabe, Lebensversicherung zu spielen.« Gryf lachte trocken. »Ich pflege jeden dritten Versicherungsvertreter zu erschlagen«, behauptete er. Merlin ging nicht darauf ein. »Der dunkle Schirm zerfällt«, sagte er. »Schafft die Weltenbrücke und ermöglicht jenen, die euch halfen, die Rückkehr!« »Ich liebe Kreuzworträtsel, Alter«, knurrte Gryf. »Trottel!« schrie Merlin, »hast du schon einmal etwas vom Silbermond gehört?« »Aus der Bildzeitung«, gab Gryf zurück. »Jeden Tag eine Reportage über den neuesten Mord.« »Dich holt eines Tages der Teufel«,
sagte Merlin. »Errichtet die Sternenstraße zum Silbermond, sonst gibt es keine Rettung für Sara Moon und Warren Clymer!« Seine Gestalt verblaßte, löste sich auf wie ein verwehender Gedanke. »Warren!« stöhnte Jessica. »Merlins Tochter«, murmelte der Druide. »Nun gut, laßt uns die Sternenstraße schaffen.« »Und Teri?« fragte Jessica. Gryf lächelte. »Sie wird unseren Rapport stärken«, sagte er und verschmolz seinen Geist mit dem der ehemaligen Vampirin. * Eine Weltenkugel wurde aus ihrer Bahn gerissen. Der Silbermond ging auf neuen Kurs, verließ die zerstörte Wunderwelt, jene Planetenkugel, die er bis zu diesem Zeitpunkt umkreist hatte. Zwei Menschen – zwei Druiden – auf diesem Mond wußten, worum es ging. Sie hatten den Silbermond in die Sonne zu lenken! Wenn es nicht gelang, würde das Böse weiterhin seine Triumphe auskosten. Es würde sich weiter ausdehnen und Welten unterjochen. So weit durfte es nicht kommen! Zwei Druiden, die mit ihrem Leben abgeschlossen hatten, lenkten mit ihren Para-Kräften den Silber77 �
mond, der zu einem rasenden Geschoß geworden war. Sie steuerten die Heimat der Druiden in den Untergang. Ein Untergang, der ein neuer Anfang sein würde! Denn die Druiden brauchten diese Heimat nicht mehr. Sie waren zu einem Bewußtseinskollektiv verschmolzen, das es in dieser Form kein zweites Mal geben würde. Sara und Warren setzten nur den Schlußpunkt unter eine jahrmillionen währende Ära. Denn die Wunderwelten waren verkohlt, würden nie mehr das werden können, das sie einmal waren. Der Silbermond war die letzte Welt. Und auch sie würde vergehen. Und das Böse vernichten. Der Silbermond jagte der Sonne entgegen. Das Bewußtseinskollektiv der Druidenseelen hatte ihn mit weißmagischer Energie aufgeladen bis zum Bersten. Der Mond war zu einer Bombe geworden. Er sollte die entartete Sonne vernichten, wie Sara Moons Druidenkraft das Kontrollzentrum vernichtet hatte. Und er raste unaufhaltsam seinem Ziel entgegen. Und dann… … kam der Aufprall! *
… kam der zeitlose Sprung! Über die Straße zwischen den Dimensionen wurden sie zurückgeholt. Warren und Sara spürten die bestimmenden Kräfte Jessicas, die im Verbund mit den beiden anderen von Caermardhin aus die Brücke zum Silbermond schufen. Und über diese Brücke glitten sie zur Erde… Und irgendwie erreichten sie dabei noch schwingende Impulse einer Wesenheit, die ihnen Glück wünschte für ihr weiteres körperbehaftetes Leben. Die Druidenseelen, miteinander verschmolzen zu einem Gemeinschaftsbewußtsein, zu einer neuen Lebensform, die irgendwo im Kosmos einer anderen Dimension zurückblieb, um dort eine ihr angepaßte Umwelt zu finden. Auch dir alles Gute! sendete Sara zurück. Es war ein Abschied, vielleicht für immer. Dann befanden sie sich in Caermardhin. Und der Silbermond stürzte in die entartete Sonne, ließ weiße mit schwarzer Magie kollidieren. Die entartete Sonne blähte sich auf, wurde zur Supernova und verschlang die ausgeglühten Schlackekugeln, die einmal die Wunderwelten gewesen waren. Dann zerbrach sie und verging. Die MÄCHTIGEN rasten. Sie hatten ihren stärksten Stützpunkt verloren, bevor er wirklich stark werden 78 �
konnte. Das Böse war weit zurückgeworfen worden, für lange Zeit. Und noch etwas geschah… * »Seht!« sagte Merlin, und diesmal war er keine Projektion mehr. So wie er verschwunden war, war er zurückgekehrt. Die Bildkugel zeigte es ihnen allen. Die Bildkugel zeigte das Schwinden der dunklen Macht. Zeigte Schatten, die ihre Schattenhaftigkeit verloren und wieder zu Menschen wurden. Das Schwarze, das sie einhüllte und zu gnadenlosen Ungeheuern gemacht hatte, verblaßte und starb ab. Das Böse war besiegt. Der Kraftstrom aus dem System der Wunderwelten war versiegt. Das, was sich um die Erde gelegt hatte, verging. Es gab keinen dumpfen, schmerzenden Druck mehr, der die Entfaltung Weißer Magie behinderte und unmöglich machte. Es war vorbei. Jessica lehnte sich an Warren. »Ich bin froh, daß es vorbei ist«, sagte sie leise. Ihre Hand fuhr durch seinen Bart. »Länger ist der nicht geworden?« Warren schmunzelte. »Ein Bart«, dozierte er, »hat eine ziemlich langsame Wachsgeschwindigkeit. Und immerhin waren wir ja nur ein paar Tage da oben.« »Paar Tage?« stieß Jessica hervor.
»Über eine Woche, wolltest du sagen!« Warren schluckte. »Sag doch nicht so was Schweres am hellen Tage…« Sara Moon trug wieder ihre Toga. Sie lächelte. »Unser erster zeitloser Sprung«, sagte sie. »Ich hatte es dir bisher verschwiegen, Warren, weil ich dich nicht beunruhigen wollte.« »Wie fürsorglich«, knurrte der Farmer. »Was war nun mit dem Sprung?« »Unser Sprung von der Erde zum Silbermond«, sagte sie. »Das böse Hemmfeld war bereits vorhanden, störte ihn. Der Sprung erfolgte nicht ganz so zeitlos, wie er eigentlich hätte sein sollen. Es kam zu einer Zeitverschiebung.« Jessica schüttelte verwirrt den Kopf. Sara Moon kam auf sie zu und berührte leicht ihre Schulter. »Ein Gutes hat die Zeitverschiebung dir doch eingebracht, Jessica. Du kannst dich freuen, dein Warren ist jetzt um eine Woche jünger als früher, also auch eine Woche frischer und lebendiger…« Warren schluckte. »Und ich?« knurrte er. »Ich habe es mit einer Frau zu tun, die um eine Woche älter geworden ist. Älter und faltiger! Eine Unverschämtheit ist das! Immer auf uns arme Männer! Ich…« Jessica verschloß ihm den Mund 79 �
mit einem Kuß und zeigte ihm, daß die eine Woche Zeitverschiebung so unwichtig war wie das Platzen eines
Kaffeesacks in Südwestbrasilien. Lautlos verließen Merlin, Sara, Gryf und Teri den Raum.
ENDE
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