Thomas James Cobden-Sanderson Das Ideale Buch oder Schöne Buch
Gescannt aus: Typographie und Bibliophilie : Aufsätze u...
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Thomas James Cobden-Sanderson Das Ideale Buch oder Schöne Buch
Gescannt aus: Typographie und Bibliophilie : Aufsätze und Vorträge über die Kunst des Buchdrucks aus zwei Jahrhunderten / ausgewählt und erläutert von Richard von Sichowsky ... Hamburg : Maximilian-Gesellschaft, 1971. (Jahresgabe der Maximilian-Gesellschaft in Hamburg ; 1969)
Thomas James Cobden-Sanderson Das Ideale Buch oder Schöne Buch Eine abhandlung über Kalligraphie, Druck und Illustration und über das Schöne Buch als ein ganzes 1900
Das Ideale Buch oder Schöne Buch ist ein aus vielen teilen zusammengefügtes ganzes, das schön sein mag kraft der schönheit aller seiner teile — des textes, der werkstoffe, der schrift oder des druckes, der illumination oder illustration, des einbandes und schmuckes —, kraft eines jeden dieser teile im dienste des ganzen, das sie miteinander bilden. Oder schön sein mag kraft der hohen schönheit eines oder mehrerer dieser teile, einer schönheit, der alles andere sich beugt oder, ihr zugunsten, sich sogar selbst auslöscht. Jeder der zusammenwirkenden teile vermag sich so hervorzutun, und jeder in seiner eigenen eigentümlichen, unverwechselbaren weise. Es mag aber auch eine einzige der beteiligten künste die aufgaben der anderen und des ganzen sich ganz allein anmaßen, sich mit überwuchernder pracht vordrängen und damit das gemeinsame werk verderben. In dieser kurzen abhandlung will ich — werkstoff, papier oder pergament, einband, schmuck und wortlaut des Schönen Buches für heute außer acht lassend — über die künstlerische behandlung der mitteilungsträger sprechen: über Kalligraphie, Typographie, Illustration, und über das Schöne Buch als ein Ganzes. Kalligraphie Handschrift und mit der hand ausgeführter zierat der buchstaben und der seite sind die wurzeln des Schönen Buches, sind die wurzeln der typographie, des holzschnittes und des kupferstichschmu5
ckes. Jeder drucker, ja ein jeder, der mit der herstellung von büchern zu tun hat, sollte sich in der ausübung der schreibkunst oder Kalligraphie oder dem wissen darüber gründlich unterrichten und hand und geist eine zeitlang in der kunst der buchmalerei schwelgen lassen. Solche übungen würden die druckletter unter dem einfluß des unvergänglichen und doch sich wandelnden urbildes lebendig erhalten. Es entstünde ein wachsender vorrat von beispielen und anregungen, aus dem der typograph vorsichtig entlehnen und gute erfindungen der kalligraphie, die sich für seine zwecke eignen, in sein eigenes starres material überführen könnte. Die herstellung des Geschriebenen Buches selber, in dem verschiedene formen der mitteilung, schrift und bilder, vereint sind, wo sich buchstabe an buchstabe, wort an wort, bild zum text, text zum bild fügt und alles auf inhalt und seitengröße abgestimmt ist, kann zu hoher schönheit und vollendung führen. Die schrift ist flüssig; buchstaben und wörter, bilder, text und seite sind als einheit verstanden; alle sind entweder von einer hand ausgeführt oder von verschiedenen händen, die alle an einer und derselben seite arbeiten auf eine und dieselbe wirkung hin. Die bestandteile des Gedruckten Buches verschwistern sich nicht so leicht. Die druckletter ist starr und unerbittlich. Die arbeit wird verteilt und auseinandergerissen: die illustration entsteht oft für sich und in weiter entfernung vom übrigen, nimmt keine rücksicht auf die gedruckte seite und bildet dann einen fremdkörper 6
in dem anders gearteten schriftsatz. Aber jene verschmelzung ist bei der herstellung des gedruckten buches genauso wichtig wie bei der herstellung des geschriebenen buches und muß besonders im äuge behalten werden; die unauflösliche einheitlichkeit von kalligraphie und mit ihr zugleich entstandenem schmuck würden dazu ganz wunderbar erziehen. In diesem zusammenhang mögen einige bemerkungen zu dem geschichtlichen verlauf besonderes gewicht haben. Erstens: alle Kalligraphie in italien, spanien, frankreich, deutschland und england hat sich mit vielen abstufungen aus der altrömischen kalligraphie, diese sich aus der griechischen, entwickelt; die schöne bildung der buchstaben und danach ihre rechte anpassung an das rechteck der seite sind nur ein ausdruck der elementaren freude an ordnung und schönheit, eines gemeinsamen kennzeichens aller künste. Zweitens: wie bei allen künsten suchte auch in der kalligraphie der schmuck in seiner weitern entwicklung die bedingungen seiner geburt zu vergessen und, eigentlich ein diener, als herr aufzutreten. Die stufen dieser anmaßung sind im falle der kalligraphie sehr klar geschieden und leicht erkennbar. Anfänglich war kalligraphie nichts weiter als das ebenmäßige schreiben von folgen rechteckiger kapitalbuchstaben. Später erweiterte der kalligraph seinen spielraum an hervorzuhebenden stellen der buchseite, in den initialen und deren verzierung. Diese erweiterung, weiteres wachstum, 7
immer stärkere betonungen führten dazu, daß die initialen aufhörten, nur dienender schmuck zu sein, vielmehr selbständige malereien wurden, die, obzwar von der schrift und der übrigen ausschmückung umrahmt, beide überstrahlen wie die blume das blatt. Jede dieser entwicklungsstufen hat ihre eigene schönheit, und jede vermag in ihrer weise ein buch in gewissem sinne zu einem Schönen Buche zu machen. Aber der übergang von dem aus der vorstellung geborenen abstraktsymbolischen bild zur naturähnlichen darstellung bedeutete für das buch selber eine wandlung. Denn das buch wurde dabei aus einem vermittler der vorstellung zu einem selbständigen bildwerk, das sich nicht mehr an die imagination, an das innere auge, wendet, sondern unmittelbar an das äußere auge, den gesichtssinn: so wie die szenerie auf der bühne unter der wirkung des schauspielers einst der phantasie der zuschauer entsprungen ist und heute äußerlich sichtbar vom kulissenmaler und theaterschneider in vorgetäuschter wirklichkeit dargestellt wird. Ich meine, daß der handschriftenmaler bei dem übergang von der verzierung bedeutsamer oder anfangsbuchstaben zu der einfügung ganzer bilder in deren raum aus seiner kunst zuviel herauszuholen suchte. Er lief gefahr, wie sich erweisen sollte, seine kunst über den text zu stellen, die mitteilung selber der art der mitteilung zu opfern; denn am ende wurde der text der handschrift, als wäre er nichts, nur zum rahmen, nur zum vorwand für einen reigen schöner bilder, die freilich schön 8
sein mögen, schön aber auf kosten des textes, den doch zu erhöhen ihre aufgabe war. Und in diesem zusammenhang dürfen wir gewiß moralisierend sagen: Wenn mehrere künste sich verbinden oder einen bund schließen, um ein werk zu schaffen, wenn die arbeit vorangeht und die einzelnen künste sich zu entfalten beginnen, so wird eine jede versuchen, sich hervorzutun bis zur vernichtung des einzig nötigen, des werkes, zu dessen schöpfung sie sich vereinigt hatten, in gegenseitiger unterordnung. In unserem falle zerstört der illuminator durch überentfaltung seiner kunst den eigentlichen geschriebenen text. Die moral ist, daß jeder künstler, der an dem Schönen Buche mitwirkt, sich zwingen muß, kunst und ehrgeiz unweigerlich der gemeinsamen aufgabe unterzuordnen. Er muß sich bewußt bleiben, daß seine kunst hier nur dienend und nicht sie selber das ziel ist. Es verlohnt sich zu erwähnen, daß die Kirche den heidnischen sinn ihrer Schreiber bekämpfte und die allzugroße pracht bildlichen schmuckes der handschriften zu verhindern suchte; in ähnlicher weise bemühte sie sich, den heidnischen götzendienst des buchbinders zu bändigen. Die Kirche hat ihren anspruch auf einfluß in dieser richtung wohl für immer verloren. Aber künstler sollten in ihrem wirken auch keiner leitung von außen her bedürfen. Als künstler sollten sie erkennen, daß die weit der kunst allen gehört, daß die höchste kunst ergebnis des zusammenwirkens ist 9
und höher steht als die kunst des einzelnen, und daß die kunst des einzelnen nur ein beitrag ist, der dargebracht wird in gebührender unterordnung unter das ideal, das die schöpfung aller ist. Typographie Der schritt vom Geschriebenen zum Gedruckten Buch war plötzlich und endgültig. Es ist nicht erstaunlich, daß die ersten schöpfungen der druckerpresse die schönsten sind, und daß die geschichte der buchdruckerkunst nur die geschichte ihres verfalls ist. Der Drucker übertrug die kunst des Kalligraphen, und zwar des besten, auf den druck. Da diese kunst nach und nach abstarb, verlor sich auch die kunst des druckers. Es ist die aufgabe des kalligraphen, des druckers kunst zu neuem leben zu erwecken, zu ursprünglicher reinheit in absicht und vollendung. Der drucker muß zugleich kalligraph sein oder in fühlung mit einem solchen stehen, und mit der druckerei muß ein skriptorium verbunden sein, worin man sich um schöne schrift bemüht und die kunst des schriftentwerfens lebendig erhält. Es gibt ein weiteres zeugnis für die abhängigkeit der typographie von der schreibkunst: Die mächtige wiederbelebung der druckerkunst, die sich vor unsern augen vollzog, ist das werk eines druckers, der, bevor er drucker wurde, kalligraph und illuminator war: William Morris. Die allererste pflicht der Typographie, wie der Kalligraphie, ist es, den gedanken oder die 10
vorstellung ohne verlust so zu übermitteln, wie es der autor wollte. Vor allem darf die typographie die schönheit oder den reiz des gedanklichen inhalts, der durch die buchstaben übermittelt werden soll, nicht durch eigene schönheit oder eigenen reiz verdrängen wollen; vielmehr soll sie einmal durch klare und schöne schrift die überlieferung erleichtern, zum anderen jeden ruhepunkt und absatz des inhalts zum anlaß nehmen, eine ihr eigentümliche, in sich ruhende schönheit zu entwickeln. Darum wollen wir für klares und schönes aussehen des textes im allgemeinen sorgen und für die besondere schönheit der ersten oder einleitenden seite, des titels, der kapitelüberschriften, der hauptzeilen, der initialen undsoweiter. Auch dem illustrator dürfen jenachdem möglichkeiten eröffnet werden. Der versbau einer dichtung wendet sich, meine ich, ebenso ans auge wie ans ohr. Gedichte sollten daher auf der seite so angeordnet werden, daß ihr aufbau mit einem blicke erfaßt und deutlich erkannt werden kann. Und alles, was solch unmittelbarer erfassung und bewertung im wege steht, wäre es auch an sich noch so schön, ist im hinblick auf das buch als ganzes eine typographische ungebühr. Illustration Illustration, das andere ausdrucksmittel des Schönen Buches, entsteht, wenn teile des im buche behandelten gegenstandes ausgewählt und bildlich 11
dargestellt werden. Bilder wirken nicht nur auf die vorstellungskraft, indem sie das wort unterstützen, sondern, wie ihre typographische umgebung, auch unmittelbar auf die wahrnehmung. Und hier taucht eine frage auf, die mit jener nach inhaltlicher verwandtschaft dann und wann verwechselt worden ist: die frage, wie der bilderschmuck hergestellt und wie er auf das papier übertragen werden soll, ob in holzschnitt, stahlstich, kupferstich oder auf photomechanischem wege. Mir scheint diese frage, wiewohl wichtig, jedoch untergeordnet. Die eigentliche frage ist, welches aussehen die illustration erhalten soll, damit sie sich der gedruckten seite gut einfügt. Ich meine, ihre gestalt müsse strenggeformt sein und die struktur des schriftsatzes haben. Die illustration sollte deutlich gerahmt oder hell umrandet sein, damit sie sich merkbar vom text abhebt; der rahmen sollte, falls verziert, sich in form und charakter sowohl der buchseite wie auch der umschlossenen illustration anschmiegen; die illustration sollte maß halten und streng sein, sodaß sie, buchstäblich eine illustration, den eigentlichen inhalt nur beleuchtet und ihn, dessen übermittelung dem schriftsatze überlassen bleibt, nicht durch übertriebene pracht verdunkelt. Das Schöne Buch als ein Ganzes So mag das Schöne Buch schön sein kraft entweder seiner schrift, oder seines druckes, oder seiner illustration. Ein noch weit schöneres werk aber 12
wird erstehn, wenn sich alle einzelkräfte zur erschaffung eines zusammengesetzten ganzen, des vollendet Schönen Buches, zusammentun und, allein im dienste des textes, nur seinetwegen, nach eigener schönheit streben: die geschriebene oder gedruckte seite, die geschmückten oder schmückenden buchstaben, die dem text eingefügten bilder, und zuletzt der einband, der dem ganzen einen festen halt gibt und wiederum nur schön wird aus wahrer liebe und in der hingabe an die idee. Dies ist das vollendet Schöne Buch oder das Ideale Buch: ein traum, ein gleichnis des unendlich schönen, worin alle schönen dinge ruhn und worin alle schönen dinge zuletzt aufgehn. Also muß das Schöne Buch als ein ganzes begriffen werden, und das drängen irgendeiner kunst über die grenzen hinaus, die ihr von urbeginn an gezogen sind, sollte als verrat gelten. Die eigentliche pflicht jeder kunst ist, innerhalb dieser grenzen, zusammen mit den anderen am gleichen werk tätigen künsten, etwas zu erschaffen, das mehr ist als die summe seiner teile. Die einheit des Schönen Buches, seine symmetrie und harmonie, seine ungezwungene schönheit, gliche dann dem leben, das sich aus uns selbst und der weit zusammensetzt, diesem vielfältigen und wunderbaren ganzen, das inmitten des wettstreits der kräfte seine erhabenheit bewahrt, das die illuminierten seiten der tage und die volumina der jahrhunderte in der schrift des lebens schreibt, das sich rhythmisch fortbewegt durch die unendlichkeit von zeit 13
und raum, hin zur erfüllung seines erstaunlichen geschicks: dem wahrhaften urbild aller Schönen oder erhabenen Bücher. Deutsch von Jan Tschichold
Der übersetzer teilt mit: Für puristen sei bemerkt, daß wörter von besonderem rang, wie im englischen text, auch in der hier benutzten Grimmschen schreibweise groß geschrieben werden. Niemand deute dies als willkür. 14
Thomas James Cobden-Sanderson Cobden-Sanderson (1840–1922), der vom Advokaten zum Buchbinder und Pressendrucker wechselte, war Freund von William Morris und siedelte sich 1893 mit seiner Werkstatt in dessen unmittelbarer Nähe in Hammersmith an. Nach dem Tode von Morris schnitt Emery Walker (1851–1933) für die geplante Doves Press ihre einzige Schrift, die Doves Press Type, die, wie Morris’ Golden Type, auf Jensons Antiqua zurückgeht, aber einen weniger historisierenden Charakter zeigt. Die Doves Press nahm 1900 ihre Tätigkeit auf; ihre bedeutendsten Erzeugnisse sind eine Folio-Bibel in 5 Bänden (1902–1904), Goethes Faust (1906–1910) und — nachdem Emery Walker sich 1909 von der Presse getrennt hatte — Goethes Auserlesene Lieder (1916). Nach dem Druck eines Kataloges der Erzeugnisse der Doves Press versenkte CobdenSanderson ihren Schriftvorrat in der Themse. The Ideal Book or Book Beautiful ist der zweite Druck der Presse und enthält das Programm Cobden-Sandersons. Er hat darin die Grundlinien für einen neuen Stil des ›Schönen Buches‹ entwickelt, die bis in unsere Zeit die Vorstellung vom gut gestalteten Buch bestimmt haben. Das Buch ist ein Gesamtkunstwerk, in das die einzelnen beteiligten Künste sich dienend einzuordnen haben. Die Illustration ist eine unter ihnen; sie muß Maß halten und darf den Schriftsatz als das wesentliche Element nicht ›verdunkeln‹. 15
In seinen eigenen Drucken hat Cobden-Sanderson jeden Buchschmuck vermieden. Nur die Schrift und ihre Ordnung sollen sprechen, und zwar im Einklang mit dem Text, um den es letzten Endes geht. Damit hat er den Boden verlassen, auf dem Morris sein romantisierendes, stark bildund ornamentbestimmtes Buchkunstwerk errichtet hatte.
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