Buch Rhiannon hasst Prinzessin Olywynne mit jeder Faser ihres Körpers, und das aus gutem Grund. Doch dann werden die Pr...
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Buch Rhiannon hasst Prinzessin Olywynne mit jeder Faser ihres Körpers, und das aus gutem Grund. Doch dann werden die Prinzessin und ihr Zwillingsbruder Owein von einem grausamen Nekromanten entführt, der die beiden opfern und dadurch einen uralten, mächtigen Magier aus dem Totenreich zurückholen will - einen Mann, vor dem das Reich schon vor tausend Jahren erzitterte. Die Einzigen, die den Schwarzmagier jetzt noch aufhalten können, sind Rhiannon und ihr geflügeltes Pferd. Aber wenn Rhiannon sich dem Nekromanten in den Weg stellt, setzt sie unweigerlich alles aufs Spiel, was ihr wichtig und teuer ist ihre Freiheit, ihr Pferd, ihre Liebe und das Leben. Und das alles für eine Frau, die sie aus tiefstem Herzen verabscheut... Autorin Kate Forsyth wurde im australischen Sydney geboren, wo sie mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern lebt. Sie ist als Journalistin für mehrere Magazine tätig. Außerdem lieferbar: Der Turm der Raben (24450) Die strahlende Stadt (24451)
Kate Forsyth
Das Herz der Sterne Roman
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Book Three of Rhiannon's Ride. Heart of Stars« Für Greg Immer
»Life itself is but the shadow of death, and souls departed but the shadows of the living: all things fall under this name. The sun itself is but a dark simulacrum, and light but the shadow of God.« SIR THOMAS BROWNE The Garden of Cyrus, 1658 WAS BISHER GESCHAH . Einhorns Tochter ist nicht wie die anderen Satyricorns ihres Stammes. Da ihr Vater ein Mensch gewesen war, wuchsen ihr keine Hörner, die sonst ihren Platz innerhalb des Stammes gekennzeichnet hätten. Sie erkennt, dass die anderen Satyricorns sie bald töten werden. Ihre einzige Chance ist die Flucht. Aber wie könnte sie den schnellen Jägern ihres Stammes entkommen? Eines Tages reitet ein junger Mann, Connor der Gerechte, in das Gebiet der Satyricorns und wird gefangen genommen. Er bittet Einhorns Tochter, ihm zur Flucht zu verhelfen, denn er gehört zur Elitegarde des Righ und trägt äußerst wichtige Nachrichten für Lachlan den Geflügelten bei sich. Sie befreit ihn - aber nur weil sie eigene Fluchtpläne hegt. Einhorns Tochter träumt davon, eines der sagenhaften geflügelten Pferde Ravenshaws einzufangen und in die Freiheit zu fliegen. Um dies zu tun, braucht sie Connors Sattel und Zaumzeug. Außerdem kann sie seinen dringenden Wunsch nachempfinden, den brutalen Satyricorns zu entkommen. Als der Stamm jedoch Connor zur Strecke bringt und er das Leben ihrer Mutter bedroht, schießt Einhorns Tochter ihn in den Rücken, um ihren eigenen Verrat zu vertuschen und zugleich das Leben ihrer Mutter zu retten. Nach Art der Satyricorns schlägt sie Connor alle Zähne aus und schneidet ihm den kleinen Finger ab, um sie ihrer Knochenhalskette hinzuzufügen, und beansprucht seine Habe als ihr Eigentum. Mit deren Hilfe fängt sie ein geflügeltes Pferd ein und kann dem Stamm entkommen. Erschöpft und verletzt, werden sie und das Pferd von Lewen 3
MacNiall, dem Sohn der Baumtauscherin Lilanthe, entdeckt. Er kümmert sich um sie und das Pferd und gibt ihr einen Namen Rhiannon. Uralte Geschichten berichten von einer Frau namens Rhiannon, die so schnell ritt, dass niemand sie einfangen konnte. Lewen verbringt die Ferien bei seinen Eltern und muss danach wieder sein Studium an der Theurgia, der Schule für Hexen in Lucescere, aufnehmen. Es wird beschlossen, dass er Rhiannon und ihr geflügeltes Ross Schwarzdorn durch Ravenshaw nach Lucescere begleiten soll. Die Reisehexe Nina die Nachtigall mit Ehemann Iven und Sohn Roden sowie einer Gruppe junger Akoluthen, die in die Schule der Hexen aufgenommen werden wollen, reisen mit ihnen. Unterwegs wird der Leichnam Connors im Fluss entdeckt. Da Nina und Iven dem Righ diese Nachricht so schnell wie möglich überbringen wollen, beschließen sie, die Abkürzung durch das Tal von Fetterness zu nehmen, am zerstörten Turm der Raben vorbei, obwohl sie gewarnt werden, dass der alte Hexenturm heimgesucht und das Tal verflucht sei. Seit fünfundzwanzig Jahren verschwinden kleine Jungen, werden Gräber ausgeraubt und durchwandern Geister und Wiedergänger die Felder und Wälder. Ihren Kräften vertrauend, ignoriert Nina die Geschichten und drängt voran. Ein Sturm zwingt die kleine Gruppe, Zuflucht auf Burg Fettercairn zu suchen, das den zerstörten Turm bewacht. Die Herrin von Burg Fettercairn ist eine seltsame, alte Frau namens Lady Evaline, die noch immer um den Verlust ihres Ehemannes und ihres jungen Sohnes während der Regierungszeit Mayas der Verhexerin trauert. Der Geist des kleinen Jungen spukt auf der Burg. Nur Rhiannon kann ihn deutlich sehen, obwohl auch einige der anderen Akoluthen bange und durch die düstere Atmosphäre der Burg beunruhigt sind. Der Geist des kleinen Jungen - der im selben Alter ist wie Roden - weckt Rhiannon eines Nachts und zeigt ihr einen Raum mit den Geistern Hunderter ermordeter 4
Jungen, die sie bitten, ihnen zu helfen. Rhiannon flieht entsetzt und entdeckt zufällig einen Geheimgang zum Turm der Raben. Dort sieht sie Laird Malvern, den Herrn von Burg Fettercairn, der mit der Hilfe eines Kreises von Totenbeschwörern versucht, den Geist seines Bruders wiederzuerwecken. Stattdessen erwecken sie versehentlich den Geist einer heimtückischen Königin. Sie verspricht, Laird Malvern bei der Suche des richtigen Geheimzaubers zur Wiedererweckung zu helfen, damit er seinen toten Bruder und seinen Neffen ins Leben zurückholen kann. Zuerst muss Laird Malvern jedoch sie wiedererwecken. Der Geist spürt Rhiannons Gegenwart, und sie flieht zurück in die Burg, um Nina und die Übrigen zu warnen. Sie glauben ihr jedoch nicht, sondern denken, sie sei krank oder habe geträumt. Dann belauschen Nina und Lewen Laird Malvern und seine Schwester, wie sie Rhiannons Ermordung planen, damit nicht offenbar wird, was sie gesehen hat. Sie scheinen auch finstere Pläne für Roden zu hegen, der Lady Evalines totem Sohn Rory aufs Haar gleicht. Nina beschließt, dass sie der Burg so schnell wie möglich entfliehen müssen. Inzwischen ist Rhiannon auf Schwarzdorns Rücken entkommen, überzeugt davon, dass ihr Leben in Gefahr sei. Lewen folgt ihr und beschwört sie zurückzukehren, damit sie alle fliehen können, ohne Verdacht zu erwecken. Doch ein gewaltiger Sturm kommt auf, und Lewen und Rhiannon sind gezwungen, Zuflucht im Turm der Raben zu suchen. Hier trinken sie unwissentlich aus dem Bekenntnis-Becher, einem uralten Relikt, das Connor viele Jahre zuvor erhalten hatte. Durch den Becher verzaubert, erklären Lewen und Rhiannon einander ihre Liebe und geben ihrem Verlangen nach. Dann entdeckt Lewen die Halskette aus Knochen und Zähnen, und Rhiannon gibt zu, dass sie Connor getötet hat. Lewen ist schockiert und entsetzt und verlässt Rhiannon, die daraufhin flieht. Am Morgen trinkt Lewen erneut aus dem Becher und ist dann als er Nina durch den Kristallseh-Teich des Turms kontaktiert gezwungen, ihr zu erzählen, was er entdeckt hat, auch wenn er das Gefühl hat, Rhiannon zu verraten. Auf Ninas Rat hin
kontaktiert er den Righ und berichtet ihm alle Neuigkeiten. Der Righ ist höchst erschüttert und befiehlt Lewen, Connors Mörderin nach Lucescere zurückzubringen, damit sie sich der Gerechtigkeit stellt. Lewen begibt sich unglücklich auf die Suche nach Rhiannon, und es gelingt ihm, sie davor zu bewahren, von Laird Malverns Leuten erschossen zu werden. Sie wird gefesselt und in einem der Wohnwagen eingesperrt, und die kleine Gruppe begibt sich erneut auf ihre Reise nach Lucescere. In der nächsten Stadt erzählt man ihnen eine alte Geschichte, die Laird Malverns Verhalten weitgehend erhellt. Er war einst ein Lehrling im Turm der Raben, wurde aber daraus verbannt. Da er alle Hexen hasste, wurde er einer von Mayas Suchern, der sein Talent der außersinnlichen Wahrnehmung dazu benutzte, in ihrem Auftrag Hexen und Zauberwesen ausfindig zu machen. Eines Tages verhaftete er ein junges Mädchen und verurteilte es zum Tod durch Verbrennen. Sie wurde in den Verliesen von Burg Fettercairn festgehalten, deren Herr sein Bruder Falkner war. Lachlan der Geflügelte und seine Horde von Rebellen schlichen sich ins Schloss, um sie zu retten. Lachlan focht ein Duell mit Lord Falkner aus und tötete ihn, ohne zu wissen, dass der Lord seine junge Frau Evaline und ihren gemeinsamen Sohn Rory in einem Geheimraum versteckt hatte. Sie waren über eine Woche in dem Raum gefangen, und der kleine Junge starb schließlich an Kälte und Hunger. Laird Malvern und Lady Evaline wurden durch diese Tragödie beide halb wahnsinnig und verbrachten die nächsten fünfundzwanzig Jahre damit, einen Weg zu suchen, wie sie ihre geliebten Menschen aus dem Grab wiedererwecken und Rache an Lachlan nehmen könnten, der nun der Righ von Eileanan war. Nina und die Übrigen erkannten, welches Glück sie gehabt hatten, von Burg Fettercairn entkommen zu sein. 6 Früh am nächsten Morgen entführen Laird Malvern und seine Leute Roden und galoppieren mit ihm zur Burg zurück. Rhiannon wird freigelassen, damit sie und Schwarzdorn helfen können, ihn aufzuspüren. Eine verzweifelte Jagd zurück zur Burg beginnt, und Rhiannon gelingt es, Roden zu finden und ihn zu
retten, obwohl die arme Lady Evaline ihm aus dem Fenster hinterherspringt und umkommt. Der Laird von Fettercairn und seine Gefolgsleute werden gefangen genommen und nach Lucescere zurückgebracht, um sich wegen Mordes, Verrats und Totenbeschwörung vor Gericht zu verantworten. Auch Rhiannon muss sich dem Gericht stellen, und obwohl Lewen ihr versichert, dass alles gut würde, ist sie eine Satyricorn, und Satyricorns glauben nicht an ein glückliches Ende. Rhiannon behält Recht. Als sie in Lucescere eintrifft, wird sie im Kummertor-Turm, dem Stadtgefängnis, eingesperrt. Sie wurde zunächst ins Mörderverlies geworfen, das von der sadistischen Aufseherin Octavia der Fettleibigen bewacht wurde. Aber Lewen gelingt es, sie am nächsten Tag mit der Hilfe seiner Freunde Owein und Olwynne, der jüngeren Kinder Lachlans des Geflügelten, in eine Einzelzelle verlegen zu lassen. Der Laird von Fettercairn und seine Gefolgsleute sind ebenfalls eingesperrt, alle außer Dedrie, der es gelingt, die Unterstützung von Johanna, der führenden Heilerin des Hexensabbats, zu erringen, welche die Schwester Connors des Gerechten ist. Rhiannon wird vom Geist der toten Königin heimgesucht, den sie im Turm der Raben sah, und ist wegen ihrer Trennung von Lewen und ihrem geflügelten Pferd bekümmert. Ihre Angst wächst, je näher der Termin ihrer Verhandlung rückt. Dann, am Maitag, belegt Olwynne NicCuinn Lewen mit einem Liebeszauber und bringt ihn so dazu, sich von Rhiannon abzuwenden. Rhiannon, im Stich gelassen und im Gefängnis vergessen, ist verzweifelt. 7 In der Nacht vor der Verhandlung versucht Laird Malvern, Rhiannon während eines Gefängnisausbruchs zu entführen. Denn um die tote Königin aus ihrem Grab zu erwecken, müssen sie eine junge Frau mit starken magischen Kräften opfern, und Rhiannon - die zu viel über sie weiß - ist ihre erste Wahl. Rhiannon kann sich ihnen jedoch entziehen, und so entfliehen sie dem Gefängnis ohne sie.
Am nächsten Tag findet Rhiannons Verhandlung wegen Verrats und Mordes statt, und sie wird für schuldig befunden und zum Tod durch Erhängen verurteilt. Auch wenn Lewen glaubt, seine frühere Liebe zu Rhiannon sei falsch gewesen, ist er dennoch erschüttert und aufgebracht. Er springt mit Olwynne übers Mittsommerfeuer, eine öffentliche Erklärung der Heiratsabsichten. Nina bittet den Righ derweil, Rhiannon zu begnadigen, und er stimmt zu, obwohl er weiß, dass Connors Schwester Johanna sehr zornig darüber sein wird, dass die Mörderin ihres Bruders ungeschoren davonkommt. Später in jener Nacht kehrt Isabeau in ihren Raum zurück und entdeckt, dass sich Johanna hereingeschlichen hat, um heimlich das Buch der Schatten zu Rate zu ziehen. Isabeau bittet das magische Buch, ihr zu zeigen, was Johanna gelesen hatte. Es zeigt ihr einen Zauber der Wiedererweckung, aber Isabeau entdeckt zu ihrem Entsetzen, dass dies eine Falle ist, um einen anderen tödlichen Zauber zu verbergen, der tausend Jahre zuvor von dem bösen Zauberer Brann dem Raben geschrieben wurde. Es ist ein Zwangszauber, der den Leser dazu zwingt, in der Zeit bis zu dem Tag von Branns Tod zurückzureisen und ihn aus seinem Grab wiederzuerwecken. Als sie den Zauber liest, ist auch Isabeau durch Branns Zwang gefangen. Der nächste Tag ist der Mittsommertag, und Lachlans ältester Sohn Donncan heiratet seine Cousine Bronwen, die Tochter Mayas der Verhexerin. Die Hochzeit wird von der plötzlichen Krankheit von Bronwens bester Freundin, der celestinischen Prinzes 8 sin Donnerlilie, sowie durch die Spannungen zwischen Donncan und Bronwen überschattet. Dann zeigt sich Olwynne sehr aufgebracht über die Neuigkeit, dass Rhiannon begnadigt werden soll. Sie verlässt das Fest, damit niemand ihre Erschütterung bemerkt, und sieht zu ihrem Entsetzen, wie ihr Vater, Lachlan der Geflügelte, von einem vergifteten Pfeil getötet wird. Als sie vor Schreck ohnmächtig wird, kommt ihr eine Heilerin zu Hilfe - nur dass die Heilerin in Wahr-
heit Dedrie ist, die weise Frau des Laird von Fettercairn. Sie betäubt Olwynne und entführt sie, während im gleichen Moment Ninas kleiner Sohn Roden und Olwynnes Zwillingsbruder Owein verschleppt werden. Inzwischen fliegt Donncan zu Johanna, der führenden Heilerin, damit sie seinem Vater helfen soll, entdeckt aber zu seinem Entsetzen, dass sie in die Intrige zur Tötung des Righ verwickelt ist. Sie hat Donnerlilie eingesperrt und verschleppt auch ihn. Sie plant, Donnerlilie zu zwingen, sie auf den Geheimwegen der Celestine zum Tag von Branns Tod zurückzuführen, wo sie Donncan opfern wird, um den bösen Zauberer von den Toten zu erwecken. Gleichermaßen beabsichtigt Laird Malvern, Olwynne zu opfern, um die tote Königin wiederzuerwecken, von der Isabeau vermutet, dass es ihre alte Feindin Margrit von Arran ist. Dann wird er Owein und Roden zur Burg Fettercairn zurückbringen, um seinen Bruder und seinen kleinen Neffen wiederzuerwecken. So will er gleichzeitig Rache an Lachlan und seiner Familie nehmen. Rhiannon entkommt derweil dem Kummertor-Turm, ohne zu wissen, dass Lachlan sie begnadigen wollte. Als Lachlans Witwe Iseult die Nachricht hört, vermutet sie sofort, dass Rhiannon den Righ ermordet hätte. Sie ruft einen Drachen herbei und fliegt ihr nach, wobei ihr Kummer und ihr Zorn einen heftigen Schneesturm heraufbeschwören, der den Mittsommer in Winter verwandelt. Sie findet Rhiannon, schleppt sie zurück und befiehlt, 9 dass sie beim Läuten der Dämmerungsglocke gehängt werden soll. Isabeau und Nina protestieren, aber dann wird die Nachricht von Rodens Entführung überbracht, und Nina ist so bestürzt, dass sie Rhiannons Rettung in Isabeaus Hände legt. Aber Isabeau ist in Branns Netz gefangen und kann nicht helfen. Es bleibt Lewen überlassen, Rhiannon zu retten. Er kann die Glocke nur am Läuten hindern, indem er seinen eigenen Körper um den massiven Klöppel schlingt, womit er Rhiannons Freunden Zeit verschafft, Bronwen, die neue Banrigh, davon zu überzeugen, sie zu begnadigen. Denn Bronwen, die Tochter der
Verhexerin, muss anstelle ihres Mannes regieren, an einem Hof, der von Intrigen, Verrat und Misstrauen bestimmt wird. Wenn Donncan nicht gefunden und in seine eigene Zeit zurückgebracht wird, wird sie eine Witwe sein, bevor sie zur Ehefrau werden kann. Der einzige Mensch, der eine Chance hat, Johanna aufzuhalten, ist Isabeau, die Bewahrerin des Schlüssels, aber auch sie ist in dem Zwangszauber gefangen. Da der Clan der MacCuinn zerfallen und der Hof in äußerste Verwirrung gestürzt ist, könnte nur Rhiannon mit ihrer geflügelten Stute Schwarzdorn Laird Malvern aufhalten. Sie muss alles riskieren, um die Frau zu retten, die sie mehr hasst als jeden anderen Menschen - denn Banprionnsa Olwynne ist ihre Rivalin im Kampf um Lewens Liebe. Auf ihrem verzweifelten Flug zur Rettung Olwynnes und ihres Zwillingsbruders muss sich Rhiannon der Möglichkeit stellen, all das, was ihr etwas bedeutet, zu verlieren - Lewen, Schwarzdorn, ihre Freiheit und sogar ihr eigenes Leben... 10 KUMMERVOLLE NÄCHTE »Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.« JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1796 RETTUNG S FLUG Rhiannon flog durch die tosende Dunkelheit und streckte ihr Gesicht nach oben, damit sie den stechenden Regen auf ihrer Haut spüren und ihn mit ihrer Zunge schmecken konnte. Wild und ungestüm zog der Wind an ihren Haaren und Kleidern, so stark, dass es schien, als würden unsichtbare Arme an ihr zerren und sie in den schwindelerregenden Raum unter ihr schleudern wollen. Rhiannon lachte. Sie öffnete die Arme weit, umarmte den Sturm. Zwischen ihren Knien spürte sie die warme, lebendige Struktur des Körpers ihrer geflügelten Stute, die zarten Knochen, die angespannten Muskeln, das pochende Herz, die alle
zusammenwirkten, um die großen Schwingen schlagen zu lassen. Wenn Schwarzdorns Schwingen ihre Kraft verlören, befände sich zwischen Rhiannon und dem Tod nichts als ein langer Schrei. Aber Rhiannon hatte keine Angst. Sie lebte. Sie war frei. Sie wurde geliebt. Sie hätte ihre Freude in den Wind schreien können, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre, still zu sein. Es dämmerte schon fast in dieser kalten, sturmgepeitschten Mittsommernacht, zu einer Zeit, als alle bekannte Ordnung des Universums zerstört wurde. Der Righ war tot, in seinem eigenen Bankettsaal ermordet. Seine Erben waren verschwunden, von Feinden entführt, deren Absicht nur übler Natur sein konnte. Der Sommer war verbannt, und an seiner statt hatte dieser unnatürliche Winter eingesetzt. Korn und Hafer waren von Wind und Hagel vernichtet, das Obst von Frost befallen und die Lämmer IQ verendeten im Schnee. Es war ein aus dem Kummer der Banrigh geborener Sturm, und bis ihre Kinder gefunden und zurückgebracht würden und die Mörderin ihres Ehemannes gestellt würde, bestand anscheinend nur eine geringe Chance, dass der Sommer zurückkehren würde. Obwohl Rhiannon eine natürliche Ehrfurcht gegenüber der Macht empfand, welche die Jahreszeiten umkehren konnte, verspürte sie ansonsten nur wenig Mitgefühl für Iseult, die Banrigh-Witwe. Der Righ, der gestorben war, war nicht ihr Righ, und wenn es nach seiner Witwe gegangen wäre, hätte Rhiannon für seine Ermordung am Ende eines Seils gebaumelt. Sie war nur aufgrund der verzweifelten Bemühungen ihres Geliebten Lewen entkommen, der sich um den Klöppel der gewaltigen Glocke geschlungen hatte, welche die vollen Stunden schlug. Iseult hatte befohlen, dass Rhiannon beim Läuten der Dämmerungsglocke gehängt werden sollte, aber Lewens durchgeschüttelter und zerschlagener Körper hatte die Glocke stumm bleiben lassen und ihren Freunden Zeit verschafft, die neue Banrigh um Gnade zu bitten, und so war Rhiannon gerettet worden.
Rhiannon lächelte. Obwohl viele kalte, dunkle Stunden vergangen waren, seitdem sie sich getrennt hatten, durchwärmte sie Lewens Abschiedskuss noch immer. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bevor sie erneut in seinen Armen liegen könnte, sein nackter Körper an sie gepresst, seine Finger in ihrem Haar verschränkt, sein Stöhnen in ihrem Ohr. Sie musste ihre Knie fester in Schwarzdorns Seiten drücken und ihre Hände in die nasse, beschmutzte Mähne klammern, um ihre instinktive Verzückung bei diesem Gedanken zu kontrollieren. Je schneller du Roden, den Prionnsa und die Banprionnsa findest, desto schneller kannst du nach Hause eilen, sagte sie sich. Unter ihr erstreckte sich dunkel und dicht der Wald. Sie konnte nicht viel erkennen, trotz des scharfen Sehvermögens, das sie von ihrer Satyricorn-Mutter geerbt hatte. Der Regen geriet ihr 12 in die Augen, und weder Mond noch Sterne beleuchteten ihren Weg. Die dunklen, peitschenden Blätter unter ihr waren ebenso undurchdringlich wie die Wolken über ihr. Dennoch beugte sich Rhiannon über Schwarzdorns Schulter und suchte den Wald sorgfältig nach einem Lebenszeichen ab. Sie würden bei diesem heftigen, nassen Sturm kein Feuer entzünden, aber sie hatten vielleicht Laternen, mit denen sie ihren Weg durch den Wald beleuchteten, oder vielleicht würde sie den quadratischen Umriss einer Kutsche oder ein Glänzen von Stahl oder Glas erblicken. Sie könnte vielleicht das Wiehern eines Pferdes oder den Schrei eines kleinen, verängstigten Jungen hören. Rhiannon konnte nur beobachten und lauschen und den Wind riechen und hoffen, dass ihre Feinde sich sicher wähnten. Eine Stunde verging, und es war immer noch kein Zeichen von ihnen zu sehen. Schwarzdorns Kraft wich allmählich. Sie war nicht geeignet für solch weite Flüge im Wind. Rhiannon suchte nach einer Lücke in dem sturmgepeitschten Blätterdach, eine Stelle, wo sie sicher landen konnten. Sie spürte heftige Enttäuschung. Wenn erst das Tageslicht einsetzte, würde es schwieriger für sie und Schwarzdorn, am Himmel zu fliegen, ohne gesehen zu werden.
Sie sah den unregelmäßigen Umriss einer großen Lichtung und lenkte Schwarzdorn dorthin. Die Stute stolperte, als sie landete, und obwohl sie sich wieder fing, sanken ihr Kopf und ihre Schwingen erschöpft herab. Rhiannon führte sie in den kargen Schutz der Bäume und löste ihren Halfter und die Satteltaschen, damit die geflügelte Stute den Schnee beiseite scharren und grasen konnte. Sie waren beide nass bis auf die Haut, aber da noch immer Graupel fiel, konnten sie nicht viel mehr tun, als es zu ertragen. Bald begann der Himmel aufzuklaren, und Rhiannons kleiner Elfenblauvogel streckte den Kopf aus ihrer geräumigen Tasche und tirilierte. Rhiannon nahm den Vogel vorsichtig hervor, und 13 er kauerte sich auf ihren Finger und plusterte gegen die Kälte seine glänzenden Federn auf. »Warum beschwerst du dich, Blauchen?«, fragte Rhiannon. »Du hast die ganze Nacht gemütlich und warm in meiner Tasche gesteckt!« Der Elfenblauvogel tschilpte als Antwort, schüttelte seine Federn aus, erhob sich in die Luft und sauste wie ein blau gefiederter Pfeil in den Wald hinein. Rhiannon beobachtete seinen Flug mit jäher Freude, denn sie betrachtete den Vogel als ein lebendes Symbol für Lewens Liebe zu ihr. Er hatte ihn aus einem Stück Holz geschnitzt und irgendwie, wundersamer weise, zum Leben erweckt. Bald darauf wurde er von dem Liebeszauber der Banprionnsa Olwynne ereilt und hatte seine Gefühle für Rhiannon vergessen. Später, als Rhiannon beinahe gehängt worden wäre, war es der Elfenblauvogel, der Lewen gefunden und ihn, in gewissem Sinne, daran erinnert hatte, was er und Rhiannon einst geteilt hatten. Ohne Blauchen, dessen war sich Rhiannon sicher, wäre sie jetzt tot. Ein dünner Lichtstrahl fiel durch die Bäume herab. Rhiannon rieb ihre behandschuhten Hände fest aneinander, schob dann die durchnässte Kapuze ihres Umhangs zurück und sah sich um. Sie saß am Rande eines rauen Waldpfades. Auf einer Seite erhoben sich steil Eichen und Hemlocktannen, die über dornigen
Schlehensträuchern und Farn aufragten. Hier und da steckten große, graue Felsbrocken in der Erde. Wolkenfetzen hingen über den Bäumen, und auch der Himmel über ihr war wolkenverhangen. Es war sehr kalt. Rhiannon zitterte und wünschte sich inständig trockene Kleidung und ein warmes Feuer. Als sie sich erhob, um ihre Satteltaschen nach etwas Essbarem zu durchforsten, quatschten ihre Stiefel. Sie fand mit Glockenfruchtmarmelade bestrichene Haferkekse, die sie mit Blauchen teilte, und einen knackigen Apfel, den sie mit Schwarzdorn teilte, denn hier gab es nur wenig Futter für ihre Tierfreunde. Rhiannon spülte al 14 les mit Wasser hinunter und wünschte sich die Hexenkräfte ihrer Freundin Felice , um das Wasser ohne Feuer erhitzen und sich eine Tasse Kräutertee zubereiten zu können. Die tiefen Furchen im Weg waren mit Wasser gefüllt. Während Rhiannon aß, betrachtete sie sie nachdenklich. Sie konnte nicht umhin zu hoffen, dass es die Spuren ihres Feindes waren, aber man konnte unmöglich viel mehr sagen, als dass ein schweres Fahrzeug hier entlanggefahren war. Es war kein Rollwagen eines Holzarbeiters, denn die Hufe der Pferde waren zu klein, und es hatten vier, nicht sechs Pferde die Last gezogen. Es waren Vorreiter, wie sie erkennen konnte, und ein Stück weiter vorn war ein Pferd im Schlamm ausgeglitten und gestürzt. Wer auch immer hier entlanggekommen war, hatte es zu eilig gehabt, um vorsichtig zu sein. Rhiannon schnalzte Schwarzdorn mit der Zunge zu, und als die Stute anmutig durch den Schlamm zu ihr gelangt war, schlang sie ihr die Satteltaschen wieder über den Widerrist. Sie stieg jedoch nicht auf. Der Schlamm war tief und rutschig, und Schwarzdorn war müde. Also gingen sie nebeneinander langsam den Weg entlang, wobei Rhiannons Stiefel bei jedem Schritt tief in den Schlamm einsanken. Der Elfenblauvogel sang halbherzig, während er vorausflog, aber ansonsten war außer den unzähligen Wasserläufen, die seitlich der Rinne herabliefen, kein Laut zu hören. Sie gelangten auf den
Hügelkamm, stiegen in ein graues, nebliges Tal hinab und erklommen einen weiteren Hügel. Rhiannon musste ihre Ungeduld zügeln. Sie kletterten höher. Flecken schmutzig wirkenden Schnees lagen unter den Bäumen. Der Weg kreuzte einen rauschenden Bach, und Rhiannon kniete sich hin, um die Wagenspuren zu überprüfen, die sich tief in den Schlamm eingegraben hatten. Ihr Puls beschleunigte sich vor Aufregung. Es war eindeutig, dass die Kutsche erst vor ungefähr einem Tag hier entlanggekommen war. Die Pferde hatten Mühe, sie durch den 15 Schlamm zu ziehen, und kamen nur langsam voran. Rhiannon hatte zum ersten Mal das sichere Gefühl, dass sie sie einholen könnte. Sie kamen zu einer Lichtung, auf der Spuren von Pferden zu erkennen waren, die an einen tief in den Boden getriebenen Eisenpfosten gebunden gewesen waren. Ein Durcheinander von Fußabdrücken war erkennbar. Rhiannon fand einige, die nur von den hochhackigen Schuhen einer Lady verursacht worden sein konnten, und ihr Puls beschleunigte sich weiterhin. Wie viele feine Ladys würden bei diesem Wetter durch das Hochland Rionnagans reisen? Es musste die Banprionnsa Olwynne NicCuinn sein, die in derselben Nacht verschwunden war, in der ihr Vater, der Righ, ermordet wurde. Rhiannon musste dem Drang widerstehen, auf Schwarzdorns Rücken zu springen und den Verfolgungsflug aufzunehmen. Ihre Feinde waren keine Narren, und für sie stand viel auf dem Spiel. Sie würden auf jegliche Anzeichen einer Verfolgung achten. Langsam, sorgfältig, betrachtete sie die Fußspuren weiterhin. Olwynne - wenn sie es war - war nur wenige Schritte gegangen, zum Rand der Lichtung und dann wieder zur Kutsche zurück. Rhiannon vermutete, dass es ihr gestattet worden war, sich hinter einem Baum zu erleichtern. Rhiannon konnte erkennen, dass sie gestolpert war und ihre Füße nachgezogen hatte. War sie verletzt, fragte sie sich, oder nur von Kummer und Entsetzen überwältigt?
Es waren auch die Fußabdrücke einer anderen Frau erkennbar, einer Frau, die vernünftige Schuhe trug. Rhiannon verengte die Augen. Das wäre wohl Dedrie, die weise Frau des Laird von Fettercairn. Die weise Frau hatte ein Feuer entzündet und es mit einer Art an zwei Stöcken befestigtem Unterstand geschützt. Rhiannon konnte die Löcher sehen, die in den Lehm getrieben worden waren. Viele weitere Fußabdrücke waren zu sehen, alle von Männern mit Stiefeln. Sie hatten auf einem umgestürzten 16 Baumstamm gesessen, sie waren umhergelaufen, um die Pferde zu füttern und zu tränken, sie waren zum Bach hinabgegangen, um Wasser zu holen. Einer hatte für einen Mann sehr kleine Füße, war aber offensichtlich groß und schwer, denn seine Stiefelabdrücke hatten sich tief in den Schlamm eingeprägt. Dann fand Rhiannon eine große, runde Vertiefung, wo er gesessen hatte. Oder sie. Die Abdrücke könnten auch von einer sehr großen Frau verursacht worden sein. In welchem Falle Rhiannon zu wissen glaubte, wer es war. In all dem Gewirr von Fußabdrücken konnte Rhiannon keine ausmachen, die eindeutig Owein MacCuinn, Olwynnes Zwillingsbruder, oder dem kleinen Jungen Roden gehörten, dem Sohn von Rhiannons Freundin und Mentorin Nina die Nachtigall. Sie konnte nur hoffen, dass auch sie hier waren. Dann fand Rhiannon hinter einem umgestürzten Baumstamm einen Abdruck der ihr Herz höher schlagen ließ. Dort, im Schlamm recht deutlich, war der Umriss eines kleinen, bloßen Fußes zu erkennen. Er konnte nur Roden gehören. Rhiannon lächelte erleichtert und presste eine Hand auf ihre Brust. Sie hatte sehr um den kleinen Jungen gebangt. Tatsächlich hatte sie diese gefährliche Jagd durch die Berge seinetwegen begonnen. Sie war viele Meilen mit dem jungen Roden gereist und hatte mit ihm viele Abenteuer erlebt. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er allein war und Angst hatte. Rhiannon stieg auf und drängte Schwarzdorn zum Trab. Sie war sich jetzt sicher, dass sie ihrem Feind, dem teuflischen Laird Malvern, dicht auf den Fersen war. Seine Spur gefunden zu ha-
ben, stellte sie vor das Dilemma, was sie als Nächstes tun sollte. Sie verspürte keinerlei Wunsch, Laird Malvern oder seiner giftigen weisen Frau gegenüberzutreten, und auch nicht der Horde getreuer Mörder, die ihm dienten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie den Prionnsa und seine Schwester, oder den jungen Roden, retten sollte. Sie hegte die vage Vorstellung, aus dem Nachthimmel 17 herabzustoßen, jemanden zu ergreifen und in Sicherheit zu fliegen. Das würde wenigstens einem von ihnen nützen, vorzugsweise Roden, aber es war eine Finte, die sie nur einmal anwenden könnte, wenn überhaupt. Im Geiste zählte sie die Pfeile in dem Köcher, der auf ihrem Rücken hing. Wenn sie es tun müsste - könnte sie den Laird und seine Handlanger dann niederschießen? Rhiannon hatte schon einmal einen Mann getötet, und es war eine verstörende Erfahrung gewesen. Er suchte manchmal ihre Träume heim - dieser Moment, als sich der Pfeil von ihrem Bogen gelöst hatte und unaufhaltsam abwärtsgesunken war, die Luft mit sirrendem Zischen durchtrennt und seine Reise tief im schnell schlagenden Herzen eines Mannes beendet hatte. Sie hatte nicht gewusst, wie einen das verfolgen konnte, die Tötung eines Menschen. Könnte sie es wieder tun, mit dem Wissen, das sie jetzt besaß? Rhiannon hoffte es. Diese Männer, die sie verfolgte, hatten inzwischen Hunderte teilweise auf grausame Art getötet. Wenn sie sie nicht aufhielt, würden sie auch Olwynne, Owein und Roden töten. Während sie dahinritt, lauschte Rhiannon angespannt auf das Rascheln des Waldes, wobei ihr Blick ständig über die Landschaft schweifte. Sie hielt häufig inne, um die Spuren vor sich zu überprüfen, benutzte all die Waidmannskunst, die sie gelernt hatte, als sie mit der Satyricorn-Herde ihrer Mutter umherzog. Sie sah, dass eines der Pferde allmählich hinter den anderen zurückblieb. Vielleicht war es dasjenige, das vor einigen Meilen ausgeglitten und gestürzt war. Es belastete vor allem ein Bein
und begann dann schwer zu hinken. Rhiannon zwang sich, noch vorsichtiger voranzugehen. Erneut setzte Graupel ein. Blauchen kam zurück und kauerte sich auf den Sattelknauf, schüttelte seine feuchten Federn, hob dann die Klappe von Rhiannons Tasche an und hüpfte geschickt hinein. Rhiannon knirschte mit den Zähnen, spannte ihre tau 18 ben Hände an, ließ wieder los und wackelte in ihren feuchten Stiefeln mit den Zehen. Sie bemühte sich, nicht an lodernde Feuer, heißen Glühwein und gebratenes Wildbret zu denken, sondern nur an Roden, der nach seiner Mutter rief. Sie umrundete eine Biegung im Weg und sah ein totes Pferd vor sich, das noch immer mitten auf dem Weg lag. Rhiannon zügelte Schwarzdorn scharf, wobei ihr Herz hämmerte. Es schien niemand sonst in der Nähe zu sein. Rhiannon wartete einen langen Moment, lauschte, sah sich um und ritt dann langsam zu dem gestürzten Pferd. Seine Reiterin lag tot daneben. Rhiannon brauchte sie nicht umzudrehen, um ihr Gesicht zu sehen. Sie wusste, wer es war. Es konnte nur eine so derart verfettete Frau geben, dass ihre abgespreizten Arme wie Polster und ihr gewaltiges Gesäß wie ein umgedrehtes Sofa wirkten. Es war Octavia die Fettleibige, die Gefängniswärterin, die Laird Malvern zur Flucht verholfen hatte. Ein Pfeil ragte aus ihrer Schulter hervor. Ein weiterer steckte im Herzen des toten Pferdes. Als Rhiannon sich das Muster der Hufabdrücke im Schlamm ansah, konnte sie eindeutig erkennen, was geschehen war. Das tapfere Pferd, das gezwungen worden war, das enorme Gewicht der Gefängniswärterin zu tragen, hatte zu versagen und zu lahmen begonnen. Sie fielen zurück. Ein anderer Reiter hatte sein Pferd gewendet, war zurückgaloppiert und hatte das Pferd erschossen. Es war gestürzt und hatte Octavia unter sich begraben. Der Reiter war näher herangekommen und hatte dann auch die fettleibige Frau kaltblütig erschossen, als sie darum rang, sich aufzurichten. Dann hatte er sein Pferd gewendet und war den Weg wieder hinaufgeritten, Pferd und Frau im Schlamm hinter sich dem Sterben überlassend.
Rhiannon atmete einige Male durch, denn sie war wider Willen erschüttert. Sie hatte Octavia gehasst und gefürchtet, wie sie noch niemals zuvor jemanden gehasst und gefürchtet hatte. Sie hatte eine Nacht in Octavias Obhut verbracht und hatte die Ge 19 fängniswärterin eine liebenswerte junge Frau an eine Kette hängen sehen, damit die Ratten sie auseinanderreißen sollten. Sie wusste, dass Octavia unglaublich grausamer Handlungen fähig gewesen war. Rhiannon hatte sich davor gefürchtet, ihr wieder begegnen zu müssen, und hätte erfreut und erleichtert sein müssen, sie so vorzufinden, tot auf der Straße. Stattdessen musste sie ihre Hände um die Zügel verkrampfen, damit sie nicht zitterten. Es war solch eine skrupellose, kaltherzige Tat, Pferd und Reiter einfach niederzuschießen, weil die Gruppe durch sie zu langsam vorankam. Die Dämmerung sank herab. Sie ritten behutsam voran. Rhiannons Herz pochte. Schwarzdorn spürte ihr Unbehagen und scheute ein wenig mit angelegten Ohren. Rhiannon besänftigte sie und behauptete sich. Der Nieselregen, der sie den ganzen Nachmittag drangsaliert hatte, verwandelte sich nun in Schnee. Rhiannon wagte es nicht, die Kapuze ihres Umhangs hochzuziehen, um dadurch nicht ihr Hörvermögen zu dämpfen. Sie zog den Umhang enger um ihren Hals und ritt weiter. Der Elfenblauvogel bildete in ihrer Tasche eine weiche, runde Wölbung, und gelegentlich senkte Rhiannon ihre Hand, um ihn zu tätscheln. Ein metallisches Geräusch erklang vor ihr. Schwarzdorn erstarrte mitten im Schritt. Rhiannon führte ihre Stute tiefer in die Düsterkeit unter den Bäumen und glitt dann von ihrem Rücken. Sie presste sich an die Seite der heftig atmenden Stute, spähte durch den Schnee und lauschte angestrengt. Sie hörte ein weiteres metallisches Klingen und dann einen leisen Fluch. Zwei große Reisekutschen waren seitlich der Straße unter den Schutz einiger großer, alter Bäume gelenkt worden. Die acht erschöpften Pferde, die sie den ganzen Tag den steilen, schlammigen Weg heraufgezogen hatten, wurden von einem jungen
Mann in grober, selbst gesponnener Kleidung und Ledergamaschen ausgeschirrt. Es war noch hell genug, dass Rhiannon das 20 mürrische, unrasierte Gesicht Jems erkennen konnte, einer der Stallburschen von Burg Fettercairn. Er hielt hin und wieder inne, um aus einem großen, verbeulten Flachmann aus Silber zu trinken, das so matt war, dass es fast schwarz wirkte. Jem pflockte die Pferde unter den Bäumen an und rieb sie rasch ab, bevor er ein paar karge Handvoll Heu vor ihnen ausstreute. Rhiannon presste die Lippen zusammen. Es ärgerte sie, dass die Pferde so schlecht behandelt wurden. Inzwischen streckten die Vorreiter ihre Rücken und beklagten sich über die Kälte und den Schlamm und das knochige Rückgrat ihrer Pferde. Jem murrte, kam heran und übernahm ihre Pferde. »Gib uns einen kleinen Schluck«, sagte der Leibwächter Ballard. »Du hast doch immer einen Tropfen bei dir, um die Knochen zu wärmen.« »Nehmt euren eigenen«, fauchte Jem. »Komm schon! Sei ein guter Junge«, sagte der Kutscher. »Sonst werden wir dem Laird von deinem kleinen Flachmann erzählen, und dann werden wir alle Durst leiden.« Jem murrte, nahm den mattierten Flachmann aus seiner Tasche und warf ihn den anderen zu. Sie nahmen alle einen Schluck wischten sich zufrieden den Mund und sagten: »Das Zeug ist gut.« »Ihr braucht nicht alles auszutrinken«, sagte Jem und streckte eine Hand nach der Flasche aus. Sie nahmen alle einen weiteren durstigen Schluck und reichten sie ihm dann zurück. Er wischte den Rand der Flasche mit einer Handvoll Schnee sorgfältig ab, ehe er sie wieder in die Tasche steckte. Während Jem diese Pferde ebenso flüchtig pflegte und fütterte, wie er es mit den Kutschpferden getan hatte, zündeten die anderen rauchende Fackeln an und steckten sie rund um das Lager in den Boden. Der Wind wechselte die Richtung, und die erschöpften Pferde hoben die Köpfe und schauten in Richtung der Schatten, wo Rhiannon kauerte. Sie beschwor sie laut
21 los, still zu bleiben, und kurz darauf senkten sie ihre Köpfe wieder. Einer der Männer öffnete den Kutschenschlag, und eine rundliche Frau mittleren Alters kletterte heraus, ein Schultertuch um sich geschlungen. »Erbarmen!«, rief sie. »Es schneit schon wieder? Welchen üblen Zauber haben diese bösen Hexen gegen uns heraufbeschworen? Hätte ich es nur gewusst, hätte ich meinen Umhang eingepackt und ein Paar Handschuhe und einen hübschen, warmen Schal anstatt...« »Hier draußen ist es so kalt wie eine Hexentitte«, sagte Jem verdrossen. »Könnt Ihr nicht ein Feuer für uns anzünden und uns etwas Heißes kochen, anstatt wie eine alte Henne herumzugackern?« »Hast du schon Feuerholz für mich gesammelt?«, fragte sie. »Ich kann nicht nur mit einem Fingerschnippen ein Feuer anzünden, Jem, da ich selbst keine Hexe bin.« »Gut«, knurrte er, vergrub die Hände in seinen Achselhöhlen und brach auf der Suche nach herabgefallenen Ästen und Zweigen durchs Unterholz. »Kommt und helft mir, ihr faulen Bastarde!«, rief er den anderen Männern zu, die ihm, leise murrend, widerwillig folgten. Ein älterer Mann streckte seinen Kopf aus dem Fenster der Kutsche. »Irving!«, fauchte er. »Muss ich die Stufen selbst herablassen?« Rhiannon erstarrte und zog sich tiefer in die Dunkelheit unter den Bäumen zurück. Ihr Herz raste. Sie hatte Laird Malvern nicht mehr gesehen, seit er in der Dunkelheit mit einem glänzenden Messer in der Hand über ihr gestanden hatte, in der Nacht, in der er versucht hatte, sie aus dem Kummertor-Turm zu entführen, in der Nacht vor ihrer Verhandlung wegen Connors Ermordung. Hätte sie nicht so laut geschrien, dass die Wächter herbeigelaufen kamen, wäre sie jetzt diejenige, die gefesselt und gebunden 21
in der anderen Kutsche läge, nicht die Banprionnsa Olwynne. Oder aber sie wäre tot. Er war ein gefährlicher Mann, der Laird von Burg Fettercairn, und er besaß die unheimliche Fähigkeit der Hexen, es zu spüren, wenn er beobachtet wurde. Er war einst ein Hexenlehrling gewesen, wie man ihr erzählt hatte, bis er in Ungnade gefallen war und verbannt wurde. Dann hatte er der Ver-hexerin seine Kräfte zur Verfügung gestellt, um Hexen ausfindig zu machen und sie zu den Feuern zu bringen, damit sie lebendig verbrannt wurden. Rhiannon wünschte, sie wäre nicht so nahe herangekommen, und versuchte vorzugeben, sie sei Schnee und Nebel und raschelnde Blätter. Der Laird von Fettercairn fror jedoch und war steif und hungrig und viel zu sehr um seine eigene Bequemlichkeit besorgt, um seine Sinne auf der Suche nach irgendwelchen Verfolgern in die Dunkelheit auszustrecken. Seine Dienstboten anfauchend, kletterte er aus der Kutsche und setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl, während Dedrie ein Feuer anzündete und Herbert, sein Kammerdiener, einen Pelzumhang über seine Knie und einen zweiten um seine Schultern legte. »Verdammt sei dieser Schnee«, grollte er. »Er behindert uns. Ich weiß nicht, wie lange das Schiff auf uns warten wird. Wir hätten weiterziehen sollen.« »Die Pferde werden versagen«, sagte Irving, sein Seneschall. »Wir wollen hier nicht festsitzen, so viele Meilen von allem entfernt. Wir sollten die Pferde besser ausruhen lassen und erst am Morgen weiterziehen, wenn wir sehen können, was vor uns liegt.« »Was ist mit den Opfern? Musstet Ihr sie unbedingt erneut betäuben, Dedrie? Ich möchte nicht, dass sie sterben, bevor wir den Friedhof erreichen.« »Sie haben bereits einmal zu entkommen versucht«, sagte Dedrie, »und wir haben heute Morgen fast eine Stunde damit verschwendet, sie wieder einzufangen. Die Betäubung hat sie doch den ganzen Tag ruhig gehalten, oder?« 3i
»Gebt ihnen besser etwas von Eurer Suppe zu essen«, sagte der Laird herablassend. »Und lasst sie ein wenig auf und ab laufen, bevor wir sie für die Nacht einsperren.« »Ja, Mylaird«, sagte Dedrie und trat zu der zweiten Kutsche hinüber, welche die ganze Zeit still und düster dagestanden hatte. Sie rief zwei der Männer zu Hilfe, und sie zogen ihre Schwerter und hielten sie in Bereitschaft, während Dedrie vorsichtig den Kutschenschlag entriegelte und ihn öffnete. Rhiannon führte Schwarzdorn leise ein gutes Stück die Straße hinab und stieg wieder auf. Sie drängte die Stute von dem Lagerplatz fort zum Trab und dann in die Luft. Der frostige Wind brannte in ihren Augen, und sie beugte sich tief über den Hals der Stute, während sie kehrtmachte und über den Wald hinweg zurückflog. Sie hatte noch immer keinen richtigen Plan, aber sie erkannte, dass sie eine Gelegenheit ergreifen musste, wenn sie sich böte. Pferd und Reiterin schwebten über dem vom Feuer beleuchteten Lager, das Geräusch von Schwarzdorns Schwingen wurde durch das beständige Rascheln des Windes in den Bäumen übertönt. Unter ihnen beugte sich Dedrie gerade in die Kutsche, und Rhiannon hörte, wie sie einen Schreckensschrei ausstieß. Dann steckten die beiden Wächter ihre Schwerter in die Scheiden und kletterten in die Kutsche. Rhiannon beobachtete, wie sie einen kleinen, schlaffen Körper in einem Nachthemd heraustrugen. Beim Anblick von Rodens zu einer Seite herabhängendem Haar verkrampfte sich Rhiannons Magen entsetzt. Dunkle Wanderer, nein!, dachte sie. Während der Wächter den kleinen Jungen neben das Feuer legte, hob der andere Wächter einen weiteren Körper heraus. Es war ein großer Rotschopf in einem hinreißenden silberfarbenen Satingewand. Ein Arm hing herab, und ihr Kopf rollte zurück. Sie wurde ebenfalls ans Feuer gelegt, und Dedrie kniete sich jäh erschreckt neben sie, die Finger am Puls ihres Halses. 23 »Ihr solltet sie besser nicht getötet haben«, sagte der Laird drohend. »Wo werden wir rechtzeitig ein anderes Opfer finden?
Wenn sie tot ist, Dedrie, werde ich Euch stattdessen die Kehle durchschneiden!« »Sie ist nicht tot«, sagte Dedrie, wandte sich um und durchsuchte ihren Korb, während die Wächter einen weiteren Körper aus der Kutsche trugen. »Vielleicht habe ich ihr zu viel von dem Mohn- und Wolfsbeerensirup gegeben. Obwohl ich ihnen nur ein wenig verabreicht habe...« Unter dem Gewicht des Prionnsa Owein schwankend - ein großer, muskulöser junger Mann mit dem zusätzlichen Gewicht zweier befiederter Schwingen, die so lang waren, wie er groß war -, traten die Wächter ans Feuer. In diesem Moment rollte sich die Banprionnsa Olwynne herum und versetzte Dedrie einen kräftigen Tritt in die Kehrseite, der sie aufs Gesicht stürzen ließ. »Lauf, Roden!«, schrie Olwynne und ergriff aus dem Stapel Feuerholz einen Stock, mit dem sie dem Laird vor dem Gesicht herumfuchtelte, als er sich erheben wollte. Der kleine Junge war aufgesprungen und rannte sofort los. Die Wächter schrien, ließen den Prionnsa fallen und versuchten verzweifelt, Roden einzufangen, als er vorüberschoss. Die Schwingen und Arme des Prionnsa waren fest an seinen Körper gebunden, aber seine Beine waren frei. Es gelang ihm, einem der Wächter die Beine unter dem Körper fortzutreten, so dass er mit lautem Schlag auf den Boden fiel. Der andere erwischte den Saum von Rodens Nachthemd und riss ihn zurück, aber Olwynne schlug ihm mit dem Stock hart auf den Kopf, so dass er Roden mit einem Schmerzensschrei losließ, beide Hände ruckartig angehoben, um sich zu schützen. Irving schlug der Banprionnsa fest ins Gesicht, und sie sank mit einem Schrei auf die Knie. Genau in dem Moment kehrten die übrigen Männer aus dem Wald zurück und ließen ihre Bün 24 del Feuerholz fallen. Einer lief los, um den kleinen Jungen abzufangen, aber Roden wich ihm aus und lief weiter. Eine Minute lang vollzog sich ein lächerliches Versteckspiel, während er dem Kreis der Männer auswich und sich zwischen ihnen hindurchdrängte, aber dann schlossen sich die suchenden Hände
langsam um ihn. Gerade als sie Roden packen wollten, fegte die schwarze, geflügelte Stute aus dem Himmel heran, und Rhiannon beugte sich herab, ergriff Roden und zog ihn hoch und in ihre Arme. Schwarzdorn schlug mit ihren großen Schwingen und flog davon. »Schießt sie herunter!«, schrie der Laird, außer sich vor Zorn. »Narren! Idioten! Schießt sie herunter!« Die Männer eilten zu ihren Bogen und Pfeilen. Irving zog seinen Dolch und hätte ihn Schwarzdorn nachgeworfen, wenn Olwynne nicht mit ihrem hochhackigen silbernen Schuh ausgetreten und ihn ihm so fest ins Schienbein gebohrt hätte, dass er aufschrie und zurückzuckte und das Messer harmlos in den Schnee flog. Er wandte sich um, schlug ihr erneut ins Gesicht und stieß sie wieder zu Boden. Es schien sie nicht zu kümmern, denn sie lachte und weinte gleichzeitig, und Owein jubelte und rief Rhiannons Namen. Es war das Letzte, was sie hörte, als sie und Roden in den dunklen, sturmumtosten Himmel auf und davon flogen. DIE STERNTRÄUMERIN Bronwen die Schöne, die neue Banrigh von Eileanan, betrat leise das Schlafzimmer. »Wie geht es ihr?«, flüsterte sie der Heilerin zu. »Die Sternträumerin ist noch sehr schwach, Euer Majestät, aber ihr fehlt nichts, was Zeit und Ruhe nicht heilen könnten«, erwiderte die Frau leise. Sie hieß Mirabelle und war eine hagere, 25 pockennarbige Frau mittleren Alters; ihr ergrauendes Haar war an der Rückseite ihres Kopfes ordentlich hochgesteckt, und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. Wie ihre Patientin rang auch Mirabelle mit den Nachwirkungen des mit einem Betäubungsmittel versetzten Weins, den sie in der Mittsommernacht getrunken hatte. Der Wein war mit Mohnsirup, Wolfsbeere und pulverisierter Baldrianwurzel versetzt gewesen, eine toxische Mischung, die fast augenblicklich bewusstlos machte. »Darf ich jetzt mit ihr sprechen?«, fragte Bronwen. »Ja, Euer Majestät. Sie ist jetzt wach und bei klarem Bewusstsein und macht sich große Sorgen um ihre Tochter.«
Bronwen nickte und raffte mit einer Hand die dunklen Falten ihres schwarzen Satingewandes, während sie der Heilerin um einen Wandschirm herum zum Bett der Sternträumerin folgte. Sie fühlte sich in Mirabelles Gegenwart stets eher unbehaglich, denn sie erinnerte sich daran, wie sehr sie und ihre Freunde die Heilerin gEà rgert hatten, als sie eine ihrer Lehrerinnen an der Tneurgia gewesen war. Bronwen dachte an einen speziellen Tag, als sie dem Impuls nachgegeben hatte, Mirabelle wegen ihres pockennarbigen Gesichts zu verspotten, nur um die Klasse zum Lachen zu bringen. Mirabelle schien es nichts auszumachen, da sie die Spöttelei dazu nutzte, lächelnd auf die Bedeutung der Sorgfalt hinzuweisen, wenn man sich um hochinfektiöse Krankheiten kümmerte, aber Bronwen war aufgrund ihrer Grausamkeit eher beschämt und in der Folge stets nett und freundlich zu Mirabelle gewesen, wenn sie sich begegneten. Wolkenschatten lag an einen Berg von Kissen gelehnt, während ihr schneeweißes Haar sich über die grüne Satin-Bettwäsche ergoss. Sie wirkte zerbrechlicher und ätherischer denn je. Ihre Haut war so weiß, dass sie blutleer wirkte, und es lagen violette Schatten unter ihren seltsamen, farblosen Augen. Bronwen beugte sich tief herab. Ich grüße Euch, Ehrenwerte, summte sie tief in ihrer Kehle. 26 Ich grüße dich, erwiderte die Sternträumerin ihr Summen. Ihr wisst, dass ich Eure Tochter sehr mochte, dachte Bronwen. Ich fühle mich durch ihren Verlust ebenso erschüttert wie Ihr. Mein Ehemann wird auch vermisst, und unser Land wurde ins Chaos gestürzt. Könnt Ihr mir helfen, sie zu finden? Die Sternträumerin streckte ihre langen Finger mit den vier Gelenken aus und legte sie zwischen Bronwens Augenbrauen. Ich kann meine Tochter nicht sehen, sagte die Sternträumerin. Ihre Geiststimme klang sehr gequält. Ich kann sie nicht spüren. Ist sie... sind sie... tot? Ich weiß es nicht. Die Hand der Celestine sank herab. Bronwen war verwirrt. Die Geistfähigkeit der Celestine war legendär. Es hieß, sie könnten ins Herz jedes Mannes und jeder
Frau blicken und lesen, was darin geschrieben stand, und könnten ihre Sinne weit über das Land aussenden. Wir glauben, dass sie die Alten Wege bereist haben. Wir fanden Donncans Schärpe am Eingang zum Labyrinth sowie Beweise dafür, dass Johanna tausend Jahre zurückreisen will, bis zur Zeit des Ersten Hexensabbats. Die Celestine schloss die Augen. Zu Bronwens Bestürzung liefen Tränen unter ihren geschlossenen Lidern hervor. Sie hatte noch nie zuvor eine Celestine weinen sehen. Sie hatte nicht gedacht, dass sie weinen könnten, ganz zu schweigen davon, dass es gewöhnliche Tränen aus Wasser wie bei einem Menschen wären. Verzeiht mir, Ehrenwerte, aber ist das wirklich möglich? Kann man auf den Alten Wegen so weit in der Zeit zurückreisen ? So weit, und noch weiter, erklang als Antwort. Es ist eine gefährliche Reise und uns verboten. Selbst als unsere Art von den Soldaten deiner Mutter zur Strecke gebracht und lebendig verbrannt wurde, suchten wir nicht in anderen Zeiten Zuflucht, wie einige von uns es vorschlugen. Das zu tun, hätte einen Bruch eines der heiligsten Tabus unserer Art bedeutet. Die Zeit zu beugen, bedeutet, die Ge 27 schichte umzugestalten, und die Geschichte umzugestalten, bedeutet, die Welt umzugestalten. Ein langes Schweigen entstand. Kannte Donnerlilie das Geheimnis des Zurückreisens in der Zeit?, fragte Bronwen. Die Celestine hob eine Hand und wischte sich die Tränen fort. Donnerlilie hat die Baumsprache und die Sternensprache gelernt, wie jedes Kind der Sternträumer es muss, sagte sie sehr ruhig. Dies sind die heiligsten Geheimnisse unserer Art und dürfen niemals jemandem offenbart werden, der ihr nicht angehört. Selbst der Mann, den sie dem Sommerbaum opfern wird, darf nicht all die Lieder kennen. Also weiß sie, wie man es tut? Würde sie es tun?, fragte Bronwen.
Die Sternträumerin öffnete die Augen und sah unmittelbar in Bronwens. Es war, als würde Bronwen mit einer hellen Nadel gestochen. Sie konnte diesem Blick absolut nicht standhalten, trotz all ihrer Würde und Autorität als Banrigh ganz Eilanans und der Fernen Inseln. Sie senkte den Blick, während Röte ihre Wangen überzog. Ich hätte es nicht gedacht, erklang die Antwort. Aber wenn ein Messer an die Kehle des Geflügelten gehalten wurde ... Vielleicht würde sie sich lieber den Gefahren der Alten Wege stellen und tun, was von ihr verlangt würde, als die Vollkommenheit des Sternenherzens mit dem Blut eines ermordeten Königs zu besudeln. Ich weiß es nicht. Ich war zu lange fern von meiner Tochter. Ich weiß nicht mehr, was in ihrem Herzen vorgeht. Sie hat Geheimnisse in sich verborgen und mir ihr Auge verschlossen, so dass ich diese Geheimnisse nicht mehr lesen kann. Die Celestine klang unsagbar müde und traurig. Bronwen spürte, dass ihre eigenen Augen jäh vor Mitgefühl brannten, sowie von einem Schuldgefühl, das, wie sie sich sagte, vollkommen irrational war. Es ist nicht meine Schuld, dass wir Menschen Donnerlilie mit der Zeit so faszinierten, sagte sie sich. Es war Eure 28 Entscheidung, Eure Tochter zur Jheurgia zu schicken, um unsere Art zu studieren. Ihr könnt ihr nicht vorwerfen, dass sie ihre Freiheit genutzt und zu trinken und zu tanzen und zu tändeln gelernt hat. Ihr könnt es mir nicht vorwerfen. Von dem kristallklaren Blick der Celestine durchbohrt, merkte sie, dass sie diese Version der Geschichte nicht aufrechterhalten konnte. Sie regte sich, wobei die Seide ihrer schweren Röcke raschelte, und sagte stirnrunzelnd: Wir müssen ihnen folgen, wir müssen sie zurückholen. Werdet Ihr uns den Weg weisen? Ein langes Schweigen entstand, während die Sternträumerin keinen Muskel bewegte. Sie blinzelte nicht, sie senkte den Blick nicht, sie schien kaum zu atmen.
Ich weiß, es ist verboten, fügte Bronwen verzweifelt hinzu, aber wenn wir ihnen nicht folgen, wird Johanna Donncan töten und sein lebensblut dazu benutzen, einen grausamen und bösen Zauberer wiederzuerwecken. Habt Ihr nicht die Geschichten überBrann den Raben gehört? Wie er nach Medwenna gierte, der jungen Frau seines eigenen Sohnes, und sie für sich stahl? Wie er sie ertränkte, als sie zu entkommen versuchte, ihren Kopf abschnitt und ihn seinem Sohn auf einem Silbertablett schicken ließ? Ihr sagt, es sei verboten, in der Zeit zurückzureisen, weil es die Geschichte umgestalten könnte. Stellt Euch nur eine Welt vor, in der solch ein Mensch eine zweite Chance bekäme! Was würde mit uns allen geschehen? Würde die Welt, die wir kennen, nun überhaupt bestehen? Würden Ihr und ich überhaupt existieren? Was würde mit uns geschehen? Würden wir uns einfach in Staub verwandeln und davon geweht werden? Oder wären wir das, zu was unsere Geschichte uns gemacht hätte, eine düsterere, grausamere, blutigere Geschichte als diejenige, die wir hatten, weilBrann starb? Oder würde Brann das Leben und die Welt, die er kannte, verschmähen und Donnerlilie zwingen, ihn hierher zurückzubringen, in unsere Zeit, in eine Zeit, in der die Macht der Hexen noch immer verbesserungsbedürftig ist und es nur wenige Zauberergibt, die ihm standhalten könnten? 29 Was würde das für uns bedeuten ? Für mich ? Zur Witwe geworden, bevor ich überhaupt eine Ehefrau war, und Banrigh einer verrückt gewordenen Welt? Bronwen merkte, dass sie weinte. Sie hielt inne und tat einen tiefen, zitternden Atemzug, während sie die Handballen auf ihre Augen drückte. Die Celestine blieb noch immer still und reglos. Bitte, sagte Bronwen. Ihr seid die Einzige. Die einzige übrig gebliebene Sternträumerin sagte Wolkenschatten, sehr leise. Ja..., erwiderte Bronwen traurig. Nun, wo Donnerlilie verloren ist...
Was wäre das größere Unrecht - die Gesetze meiner Art einzuhalten, das Tabu, die Zeit zu beugen, zu respektieren und so zuzulassen, dass größeres Übel geschieht, oder die strengsten und geehrtesten Gesetze wissentlich zu brechen und zu versuchen, üble Taten abzuwenden? Daneben zu stehen und zuzulassen, dass Donncan ermordet wird, damit irgendein schrecklicher Mann wiederleben kann, wäre das weitaus größere Unrecht!, sagte Bronwen heftig. Wie könnt Ihr solch eine Frage überhaupt stellen? Und meine Tochter... Ja, Donnerlilie! Was würde Brann ihr antun? Ich muss darüber nachdenken... Nein! Es ist keine Zeit! Es sind bereits zwei Tage und zwei Nächte vergangen, seit mein Ehemann entführt wurde. Tantchen Beau sagt, die beste Zeit, um die Alten Wege zu bereisen, sei die Dämmerung oder der Sonnenuntergang. Es wird in wenigen Stunden dämmerig. Bitte. Wir könnten bereits zu spät kommen. Erneut traten Wolkenschatten unerwartet Tränen in die Augen. Donnerlilie, Donnerlilie, murmelte sie. Oh, meine wunderschöne Tochter, wo bist du? Werdet Ihr aufbrechen und sie zu finden versuchen?, flehte Bronwen. 30 Die Celestine nickte. Ja. Ich muss es tun. Ruf meine Leute zusammen. Wir müssen uns bereitmachen. Ich danke Euch, ich danke Euch, sprudelte es aus Bronwen hervor. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Euch zu helfen. Sagt mir, was getan werden muss. Ich habe alles da, was ich brauche, sagte die Sternträumerin und hob ihre Hand, um zuerst ihr Herz, dann den Puls an ihrer Kehle und dann ihr drittes Auge zu berühren, das sich unter ihrem Finger öffnete, so dunkel und unergründlich wie ein Brunnen. Der kleine Junge zitterte. Rhiannon zog ihn näher an sich und schlang ihren Umhang um ihn. »Wie geht es dir?«, flüsterte sie.
»Rhiannon, Rhiannon«, weinte er und umklammerte mit einer eiskalten kleinen Hand ihr Handgelenk »Du bist jetzt bei mir, du bist in Sicherheit«, flüsterte sie. Er erschauderte, und sie drückte ihn fester an sich, erschüttert darüber, wie kalt er war. »Was hast du dir dabei gedacht, nur mit einem Nachthemd bekleidet im Schnee davonzulaufen?«, ermahnte sie ihn. »Sie wollten uns töten«, flüsterte er. »Nun, du bist jetzt bei mir, du bist in Sicherheit, niemand wird dich töten.« »Was ist mit Owein ... Olwynne?« »Ich werde dich in Sicherheit bringen, und dann werde ich zurückkehren und sie holen«, versprach sie. Er seufzte und lehnte sich an sie zurück, und bald beruhigte sich sein Atem. Sie blickte zu ihm hinab und erkannte, dass er schlief. Rhiannon flog in der eisigen Dunkelheit weiter. Nichts außer ihrem inneren Kompass leitete sie. Die Banrigh hatte Soldaten ausgesandt, um den Laird von Fettercairn zu verfolgen, und Rhiannon vermutete, dass sie irgendwo auf der Straße hinter 31 ihr waren. Sie beugte sich über Schwarzdorns Hals und strengte ihre Augen an, um durch die Dunkelheit etwas zu sehen, folgte der schmalen Linie Weiß, von der sie hoffte, dass es die schneebedeckte Straße wäre. Nach ungefähr einer Stunde sah sie das rote Auge eines Lagerfeuers durch die Reihen dunkler Bäume leuchten. Rhiannon ging kein Risiko ein und ließ die Stute daher auf einem Felsvorsprung ein gutes Stück oberhalb landen. Es war zu schwierig, mit dem schlafenden Kind in den Armen abzusteigen, so dass sie einfach nur ruhig dort sitzen blieb und die Szenerie beobachtete, während Schwarzdorn den Kopf hängen ließ und ihre Flanken sich vor Erschöpfung heftig hoben und senkten. Das Lager unter ihr war ordentlich errichtet. Die Pferde trugen schwere Decken auf dem Rücken, und jedes hatte einen Futtersack mit warmer Maische umgebunden. Sie waren an ein einziges Seil gebunden, das schnell gelöst werden könnte, wenn es nötig wäre. Eine Feuergrube war gegraben und mit Steinen um-
geben worden, um das Feuer vor dem Schnee zu schützen. Darüber hing ein kleiner Topf. Ein Mann rührte mit einer langen Kelle darin. Weitere Männer saßen auf einem umgestürzten Baumstamm, der nahe an die Flammen gezogen worden war. Einige aßen aus kleinen Schalen, andere zogen gerade ihre Stiefel aus und stellten sie zum Trocknen in die Nähe des Feuers, wobei sie sie zuerst mit überzähligen Socken ausstopften, damit sie die Form bewahrten. Wächter waren aufgestellt worden. Rhiannon hätte sie nicht gesehen, wenn sie nicht gewartet und so lange beobachtet hätte, denn sie saßen sehr still, trotz der bitteren Kälte, und ihre Umhänge waren grau wie die Nacht. Rhiannon näherte sich dennoch nicht an. Sie wagte es nicht, ein Risiko einzugehen. Erst als einer der Männer, die um das Feuer saßen, eine Hand ausstreckte und einen Violakasten aus einem Bündel Decken zog, ihn öffnete und das Instrument darinnen so liebevoll über 32 prüfte, als wäre es ein Kind, war sich Rhiannon sicher, dass sie, wenn auch nicht wirklich Freunde, so doch wenigstens Verbündete gefunden hatte. Sie wusste, dass Jay der Fiedler seine Viola überallhin mitnahm. Rhiannon seufzte leicht und zog Roden näher an sich. Sie glitt vorsichtig vom Rücken der Stute und bahnte sich, Schwarzdorn in der Sicherheit der Dunkelheit zurücklassend, ihren Weg den Hang hinab aufs Lager zu. »Halt! Wer ist da!«, erklang der Ruf. »Ich bin es, Rhiannon von Dubhslain, im Auftrag der Banrigh«, antwortete Rhiannon. Zu ihrer Überraschung war ihre Stimme nicht mehr als ein Krächzen. Der Wächter kam mit gezogenem Schwert auf sie zu. »Vorsichtig«, sagte sie. »Ich habe den Jungen hier.« »Den Jungen?«, fragte der Wächter ungläubig, ergriff ihren Arm und zog sie grob aufs Feuer zu, damit er sie deutlicher sehen konnte. Sie schüttelte ihn ab. »Schsch! Er schläft. Weckt ihn nicht.« Er konnte die bleiche Gestalt des Jungen in ihren Armen erkennen. »Nicht der Viscount von Laverock!«, rief er.
»Doch«, sagte Rhiannon verärgert. Sie war sehr müde und fror, und ihre Beine schienen ihr nicht mehr richtig zu gehorchen. Sofort änderte sich die Haltung des Wächters. Er legte einen Arm um sie und führte sie zum Feuer, während er Hilfe herbeirief. Weitere Männer liefen heran. Rhiannon wurde in die Wärme der Flammen gezogen, und dann kniete sich eine große Frau mit einem langen, unordentlichen Zopf vor sie hin in den Schnee und nahm ihr Roden sanft ab. Rhiannon überließ ihn ihr. »Seht ihn euch an, den armen kleinen Jungen, er ist blau vor Kälte«, sagte die Frau und ergriff eine warme Decke, um ihn darin einzuwickeln. Eine weitere Decke wurde um Rhiannon geschlungen, und dann gab man ihr einen Becher heiße Suppe in die Hände. Sie trank sie wie betäubt schlückchenweise und beobachtete, wie die Frau Rodens bloße Hände und Füße rieb und 33 nach Wärmflaschen rief, die gebracht und um ihn gelegt werden sollten. Rhiannon war es eine Weile zufrieden, nur dazusitzen und ihre Suppe zu trinken, während sie zusah, wie man sich geschickt um das schlafende Kind kümmerte, aber sobald ihr Becher geleert war, dachte sie an Schwarzdorn. Sie wollte davonschlüpfen und sich allein um ihre Stute kümmern, aber in dem Moment, in dem sie ihre Decke beiseitelegte und sich erhob, wurden zischend drei Schwerter gezogen und auf sie gerichtet. »Ich bitte Euch zu bleiben«, sagte die Frau, »und uns zu erzählen, was Ihr wisst.« Ihre Stimme klang ruhig, und sie sprach beinahe im Plauderton, aber der Ausdruck in ihren haselnussbraun-grünen Augen wirkte ebenso scharf wie die Klingen an Rhiannons Brust. Auf ihrer Schulter kauerte eine kleine, schwarze Katze mit langen Pinselohren und türkisfarbenen Augen. Sie fauchte und zeigte dabei sehr scharfe, spitze Zähne. »Ich muss mich um meine Stute kümmern«, sagte Rhiannon. Jay der Fiedler und die Frau - die nur die Zauberin sein konnte, die Finn die Katze genannt wurde - wechselten einen raschen Blick. »Ihr seid das Mädchen, das die geflügelte Stute fliegt,
nicht wahr?«, fragte Finn. Als Rhiannon nickte, fuhr sie fort: »Diejenige, die Connor getötet hat?« Rhiannon nickte erschöpft erneut. »Meine Leute werden sich um die Stute kümmern. Ihr werdet hierbleiben.« »Meine Stute wird diese Soldaten nicht an sich heranlassen«, erklärte Rhiannon mit erhobenem Kinn. »Außerdem habt Ihr kein Recht, mir zu sagen, ob ich bleiben oder gehen soll. Ich fliege im Auftrag der Banrigh.« »Tatsächlich?«, fragte Jay ruhig, und erneut erfolgte ein rascher Blickwechsel zwischen ihm und der Zauberin. Sein Gesicht zeigte nur freundliche Bedachtheit, eine Art offene Acht 34 samkeit, als warte er auf ein Zeichen von ihr, auf irgendeine plötzliche Bewegung. Finns Miene war wachsamer. »Ja, das tue ich«, antwortete Rhiannon aufgebracht. »Sie hat mich ausgeschickt, um Roden zu retten, und das hab ich getan.« »Sie hat Euch geschickt? Obwohl sie wusste, dass ich ihm auf der Spur war?« Finn klang beleidigt. »Ja, das hat sie. Schwarzdorn und ich, wir sind schnell. Wir fliegen hoch über die Welt hinweg, während Ihr Euch unten auf der Erde voran mühen müsst. Sie wusste, dass ich ihn retten würde, und das hab ich getan.« Rhiannon war sich der Tatsache bewusst, dass es vielleicht klüger gewesen wäre, ihren Ton zu mäßigen, aber sie fror und war müde, und es gefiel ihr nicht, dass Schwerter gegen sie gerichtet wurden, wo sie doch gerade eine tapfere und kluge Handlung vollbracht hatte. Rhiannon erkannte, dass die Zauberin guten Grund hatte, sie nicht zu mögen. Der Mann, den sie getötet hatte, war für Jay und Finn immerhin ein lieber Freund aus der Kindheit gewesen. Sie hatten beide ihre Verhandlung wegen seiner Ermordung durchgestanden, die Hände um die goldenen Medaillen verkrampft, die sie trugen, das Symbol ihrer Mitgliedschaft in der Liga der Heilenden Hand, einer Horde Bettlerkinder, die sich zusammengeschlossen hatten, um Lachlan dem Geflügelten bei der Wiedererlangung seines Throns zu helfen. Nur vier Mitglieder der
ursprünglichen Horde waren übrig geblieben - Jay und Finn, nun verheiratet und im Dienste des Hexensabbats unterwegs, Hauptmann Dillon von der Leibwache des Righ und Johanna, welche die leitende Heilerin gewesen war, bis sie den Righ an den Tod verraten und seinen Sohn und Erben, Donncan, entführt hatte. Johanna hatte gewollt, dass Rhiannon für Connors Tod hängen sollte. Die Nachricht von Lachlans Plan, Rhiannon zu begnadigen, hatte sie dazu getrieben, seinen Mördern zu helfen. Finn und Jay mussten sie hassen. Sie wollten sie gewiss hängen sehen. Rhiannon wollte nicht in ihrer Nähe sein. Jeder Muskel 35 ihres Körpers war vor nervöser Anspannung starr. Hätte nicht die Notwendigkeit bestanden, Roden so bald wie möglich in Sicherheit zu bringen, hätte sie sich ihnen niemals genähert. Sie wünschte, sie hätte ihren Freund nicht töten müssen. Es tat ihr leid, dass Connors Tod so viel Kummer verursacht hatte. Aber so war das Leben. Menschen wurden geboren, Menschen starben. Manchmal starben sie vorzeitig. Er war ein Soldat im Dienste des Righ gewesen und musste die Risiken eines Rittes durch die Wildnis gekannt haben. Sie ging jetzt, auf der Jagd nach dem Laird von Fettercairn, dasselbe Risiko ein. Finn runzelte die Stirn, die Hände in die Hüften gestemmt. Rhiannon erwiderte ihren finsteren Blick. Die kleine, schwarze Katze auf Finns Schulter fauchte zornig. Rhiannon erwiderte das Fauchen. Finns Gesicht entspannte sich unerwarteterweise, und sie hob eine Hand, um die Elfenkatze zu beruhigen. »Also hat Ihre Majestät Euch gewaltsam angeworben, oder? Habt Ihr Papiere, die das beweisen?« »In meiner Satteltasche«, antwortete Rhiannon. »Bei meiner Stute.« »Praktisch.« »Wo sonst sollte ich sie aufbewahren?«, fragte Rhiannon. »Ich musste Roden tragen. Ich konnte in der Stockfinsternis nicht in
meinen Taschen nach einem Stück Papier suchen. Wenn Ihr wollt, werde ich es Euch zeigen, wenn Schwarzdorn hier ist.« »Woher soll ich wissen, dass Ihr nicht einfach wieder in die Nacht davonfliegen werdet?«, wollte Finn wissen. »Warum sollte ich das tun?«, erwiderte Rhiannon. »Ihr habt hier ein Feuer, Decken und heiße Suppe. Ich friere und habe Hunger und bin müde. Außerdem, was würde es Euch kümmern, wenn ich es täte? Ich bin nicht Eure Gefangene. Ihr habt kein Recht, mir zu sagen, ob ich gehen oder bleiben soll.« »Ich habe keinen Grund, Euch zu vertrauen«, sagte Finn kalt. 36 Rhiannon knirschte mit den Zähnen. »Ich bin diejenige, die Roden vor dem wahnsinnigen Laird gerettet hat, erinnert Ihr Euch?« »Also habt Ihr ihn Laird Malvern entrissen?« Die Stimme der Zauberin war voller Misstrauen. »Wie?« »Ich werde Euch alles erzählen, wenn ich nach meinem Pferd gesehen habe.« Rhiannon war unbeugsam. Einen Moment herrschte Schweigen, und Finn schaute zu ihrem Ehemann. Jay nickte. Die Soldaten senkten ihre Schwerter. »Es ist stockfinster dort draußen, und ein stürmischer Wind weht. Lasst mich mit Euch gehen, um sicherzustellen, dass Ihr Euch in dem Sturm nicht verirrt«, sagte Jay. »Nicht nötig«, sagte Rhiannon kurz angebunden. »Schwarzdorn wird zu mir kommen. Solange Eure Soldaten zurücktreten und ihre Waffen gesenkt halten. Sie mag keine Soldaten.« An ihrem Tonfall war eindeutig zu erkennen, dass sie die Empfindungen ihres Pferdes teilte. Jay nickte und vollführte eine rasche Geste in Richtung der Soldaten, die sich daraufhin alle zurückzogen. Rhiannon rief lautlos den Namen ihrer Stute, mit nur einer leichten Veränderung ihrer Miene, an der man erkannte, was sie tat. Innerhalb weniger Augenblicke schwebte das schwarze, geflügelte Pferd über ihnen in der Dunkelheit heran, wobei seine mächtigen Schwingen Schnee aufwirbelten. Schwarzdorn hatte die Ohren
angelegt, und ihre scharfen Hörner waren gesenkt. Sie stieg auf die Hinterhand und wieherte herausfordernd. Rhiannon beruhigte sie schweigend, und die Stute senkte die Vorderhufe, presste sich eng an Rhiannons Seite und warf mit verdrehten Augäpfeln und zurückgezogenen Lippen einen Seitenblick auf die Soldaten. Rhiannon streichelte ihren feuchten Hals. Schwarzdorns Rücken war an den Stellen kalt, wo der Schweiß gefroren war, und sie zitterte. Rhiannon wurde von Schuldgefühlen gepackt. Schwarzdorn war an diesem Tag weit geflogen. Sie hätte sie niemals in diesem scheußlichen Wind ste 37 hen lassen dürfen, so verschwitzt und müde, wie sie war. Rhiannon legte ihr mit klappernden Zähnen und tauben Gliedern eilig ihre eigene Decke über und begann, sie mit einer Bürste abzureiben, die sie aus ihrer Tasche nahm. Jay brachte ihr einige schwere Decken, die sie der Stute überwarf, und einer der Soldaten bereitete ein wenig warme Maische für sie. Erst als Schwarzdorn es so warm und bequem hatte, wie es mitten im Schnee neben der Straße möglich war, wandte Rhiannon ihre Aufmerksamkeit wieder den Übrigen im Lager zu. Sie sah, dass Roden in einem kleinen Zelt, das aus einer über einen Pfosten geschlungenen Tuchleinwand gemachten war, zu Bett gebracht worden war. Er war in Decken gehüllt, und ein Schlauch heißer Wein lag zu seinen Füßen sowie ein weiterer an seinem Rücken. Er schlief noch immer fest. Die Soldaten hatten entweder ihre Wachposten wieder eingenommen oder machten sich zum Schlafen bereit. Einer schürte das Feuer für die Nacht, und ein weiterer bereitete Glühwein für Finn, Jay und Rhiannon zu. Rhiannon nahm ihn dankbar an, wärmte ihre tauben Hände an dem Becher und genoss das Aroma der Gewürze. Dann wurde ihr noch eine Suppe gebracht sowie ein wenig hartes schwarzes Brot, das sie erst essen konnte, nachdem sie es in ihre Suppenschale getunkt hatte. Sie brach ein Stück ab, zerkrümelte es in der Hand und lockte damit ein verschlafenes Blauchen aus ihrer Tasche, damit es fressen konnte. Beim Anblick des Elfenblauvogels sprang die Elfenkatze
von Finns Schoß und schlich voran, dicht an den Boden gedrückt, eine Pfote erhoben. Rhiannon barg den Elfenblauvogel erschreckt wieder in ihrer Tasche und behielt die Elfenkatze genau im Auge, während diese auf sie zuschlich, ihre türkisfarbenen Augen verengt, der Schwanz peitschend. »Nein, Goblin«, sagte Finn. »Lass ihn in Ruhe.« Goblin fauchte als Antwort nur und setzte sich dann ans Feuer, den Blick auf Rhiannons Tasche fixiert. 38 Finn und Jay schwiegen, während Rhiannon ausgehungert aß und trank. Als sie schließlich fertig war und der Soldat ihre Schale genommen und in einem Tiegel mit geschmolzenem Schnee abgewaschen hatte, lehnte sich Rhiannon zurück und erwiderte die Blicke der beiden, die sie so neugierig betrachtet hatten, während sie aß. Rhiannon hatte bei der Verhandlung kaum auf sie geachtet. All ihre Aufmerksamkeit hatte den gegen sie aufgeführten Zeugen gegolten, und den Richtern, die sie verurteilt hatten. Nun betrachtete sie sie mit offener Neugier. Finn war groß und geschmeidig, mit wirrem braunem Haar, welches das Rot des Feuerscheins einfing. Die Elfenkatze war auf ihren Schoß stolziert und knetete nun mit ihren Krallen Finns Beine. Finn streichelte sie wie abwesend, den Kopf gebeugt und auf die andere Hand gestützt. Sie wirkte müde. Jay war nicht viel größer als Finn und schlank, mit dunklem Haar, dunklen Augen und olivfarbener Haut. Obwohl sein Haar, wie bei den meisten Hexern, lang war, hatte er es ordentlich zu einem Zopf zurückgebunden, und sein Bart war gestutzt. Sowohl Finn als auch Jay trugen die Kleidung eines Soldaten - einen gepolsterten Lederbrustharnisch und Gamaschen sowie einen dicken grauen Umhang. Rhiannon sah, dass diese Umhänge, wie auch ihr eigener, innen blau waren, und wunderte sich darüber, dass diese Hexen die Uniform eines Yeoman der Garde trugen, der persönlichen Leibwache des Herrschers. »Also erzählt mir, Rhiannon«, begann Jay. »Als ich Euren Namen das letzte Mal hörte, wart Ihr eine Gefangene im Kummertor-Turm. Was tut Ihr hier in den Weißlockenbergen?«
»Die Banrigh hat mich geschickt, Roden zurückzuholen, und den Prionnsa und die Banprionnsa«, sagte Rhiannon. »Iseult hat Euch geschickt?«, begann Jay, aber Rhiannon unterbrach ihn. »Nicht die alte Banrigh. Die Banrigh Bronwen. Ich hab ein Schriftstück von ihr bei mir.« 39 Als Jay sprach, konnte sie das Lächeln in seiner Stimme hören. »Arme Iseult! Sie ist nicht so alt. Erst ungefähr vierzig. Aber für ein junges Mädchen wie Euch ist das vermutlich ... also war es Bronwen, die Euch geschickt hat?« »Ja.« »Vermutlich hat die Banrigh erkannt, dass es sinnvoll ist, den Laird von Fettercairn von einer Thigearna verfolgen zu lassen. Wir haben ihre Spur gewiss verloren. Ihre Pläne waren sehr ausgefeilt.« »Ja«, wiederholte Rhiannon. Sie war noch immer auf der Hut vor dem Fiedler, aber seine sanfte Stimme und sein freundliches Verhalten trugen viel dazu bei, sie zu beruhigen. »Wir sind ihnen auf der Spur«, sagte Finn verteidigend. »Wir kommen ihnen ständig näher.« »Also sagt uns, wie kam es, dass Ihr ihnen Roden entringen konntet?«, fragte Jay. Rhiannon erklärte es ihm kurz. Als sie geendet hatte, konnte sie kaum ihr Gähnen unterdrücken, und sie erkannte, dass Finn ebenfalls so stark gähnte, dass ihr Kiefer knackte. »Das nächste Mal wird es nicht so einfach sein«, sagte Jay. »Nein«, stimmte Rhiannon ihm zu. »Sie werden den Himmel jetzt beobachten.« »Haben sie gesagt, wohin sie gehen?«, fragte Finn. »Sie erwähnten etwas von einem Schiff«, antwortete Rhiannon. »Mehr nicht.« »Das nützt nichts«, sagte Finn unruhig. »Wir vermuteten bereits, dass sie zur Küste wollen. Was ich wissen will, ist, wo an der Küste sie sich einschiffen wollen. Ich hasse es, ihnen so hin-
terherzulaufen und zu versuchen, ihren nächsten Zug nur zu erahnen.« »Nun, wir wissen, dass sie zu den Pirateninseln wollen, zum Grab Margrits von Arran«, sagte Jay. »Oder zumindest glauben wir zu wissen, dass sie dorthin gehen. Isabeau ist davon über 40 zeugt, dass sie Olwynne darum entführt haben, als Opfer, um Margrit von Arran von den Toten wiederzuerwecken.« Rhiannon nickte. »Sie wollten mich. Aber sie konnten mich nicht erwischen. Stattdessen nahmen sie die Banprionnsa. Vielleicht erkannten sie, dass sie diejenige ist, die in Wahrheit das mitleidlose Herz hat.« Sie sprach verbittert. Jay betrachtete sie mit leicht gerunzelter Stirn, verstand ihre letzten Worte nicht, spürte aber die wahre Verletztheit dahinter. »Wir werden sie einfach weiterhin verfolgen und unser Bestes tun, sie einzuholen«, sagte Finn. »Aber zuerst müssen wir Roden nach Hause in Sicherheit bringen. Vielleicht solltet Ihr ihn am besten nehmen, Rhiannon.« Rhiannon betrachtete sie misstrauisch. Einerseits wollte sie nichts mehr, als Roden zu seinen Eltern zurückzubringen und das Lächeln sich auf deren Gesichtern ausbreiten zu sehen. Andererseits fragte sie sich, ob Finn sie aus der eigentlichen Jagd herausdrängen wollte. Owein und Olwynne wurden noch immer gefangen gehalten. Sie wollte sie retten, es beenden. Sie rechnete sich rasch aus, wie lange es dauern würde, dorthin zurückzufliegen, wo Nina und Iven ihnen mit weiteren Soldaten folgten. Sie schüttelte widerwillig den Kopf. »Das dauert zu lange«, sagte sie. »Sie erreichen das Meer schon bald. Olwynne ist das erste Opfer. Ich versprach Lewen, sie zu retten.« Ein langes Schweigen entstand. Dann sagte Finn langsam, fast widerwillig: »Ihr wisst, dass Lewen und die Banprionnsa gemeinsam übers Feuer gesprungen sind? Sie sind einander versprochen, als Mann und Frau, ein Jahr und einen Tag lang.« »Ich weiß«, antwortete Rhiannon.
»Diese Schwüre dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden«, sagte Finn. »Olwynne ist eine Banprionnsa des königlichen Clans der MacCuinn.« 41 »Glaubt Ihr, das wäre mir nicht bewusst?«, erwiderte Rhiannon verärgert. Finn schien erneut mit sich zu ringen, bevor sie sprach. »Das Band zwischen Lewen und Olwynne ist stark, Rhiannon, und nicht leicht aufzuheben. Wisst Ihr, was Ihr tut?« »Meint Ihr, ob ich begreife, dass Olwynne meinen Mann verhext hat?«, fragte Rhiannon nach. »Ja, das weiß ich. Was glaubt Ihr, warum sonst ich versprochen habe, sie zu retten? Sie hat ihn mit einem Zauber belegt, den nur sie wieder brechen kann. Also finde ich sie, bringe sie zurück, und wenn sie meinen Mann nicht freilässt, nun, dann werde ich ihr den Hals brechen, ja, das werde ich.« Finn sah sie noch einen Moment länger an, dann entspannte sich ihr Gesicht, und sie brach unerwarteterweise in Lachen aus. »Nun denn, solange Ihr das wisst.« »Ja doch, ich weiß es«, erwiderte Rhiannon. »Und ich weiß noch etwas - wenn sie ihren Zauber nicht ganz schnell rückgängig macht, wird sie sich wünschen, ich hätte sie nie gerettet!« »Wie wollt Ihr sie also retten?«, fragte Finn, als sie sich wieder gefasst hatte. Rhiannon zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Noch nicht.« DAS GRABMAL Im Herzen des Gartens der Hexen befand sich ein Labyrinth aus uralten Eiben, die vor mehr als achthundert Jahren angepflanzt wurden. Das Labyrinth war so gestaltet, dass es den Unachtsamen in immer tiefere, verwirrendere Windungen führte. Es war aus konzentrischen Kreisen angelegt, die sich bis zum geweihten Teich der Zwei Monde immer weiter verkleinerten. 5i War man erst innerhalb des Labyrinths, wirkten seine engen, bedrückenden Gänge alle gleich, führten zu einer Sackgasse nach
der anderen. Der Boden war gepflastert, so dass man nicht mit dem Fuß eine Linie ziehen konnte, um den Weg zu markieren. In manchen Sackgassen lagen die Knochen derjenigen, die den Versuch gewagt hatten, das Labyrinth zu erkunden und gescheitert waren - so wurde es neuen Studenten an der Theurgia stets erzählt. Die Studenten wurden so gewiss davon abgeschreckt, das Labyrinth zu durchwandern, bis auf den einen Tag im Jahr, am Mittsommer, wenn das große Eisentor unverschlossen und das Labyrinth zum Vergnügen der Studenten geöffnet war. Diejenigen, denen es gelang, ihren Weg hindurchzufinden, wurden mit perlendem rosefarbenem Wein und Honigkuchen sowie dem Privileg belohnt, das Observatorium zu besichtigen und die geheime Stelle oberhalb des geweihten Teiches zu betrachten, wo der Leitstern so viele Jahre lang verborgen war. In der Dämmerung gingen die Hexen mit Fackeln durch das Labyrinth, suchten die vielen erhitzten, müden und frustrierten Studenten, die noch immer durch die Gänge irrten, und brachten sie zur Theurgia zurück, wo sie eine dünne Suppe und schwaches Ale bekamen. Es durch das Labyrinth zu schaffen, wurde für diejenigen als Initiationsritus betrachtet, die dem Hexensabbat beitreten wollten, und diejenigen, die das Labyrinth tatsächlich bewältigten, gaben sein Geheimnis niemals preis. Isabeau, die Bewahrerin des Schlüssels des Hexensabbats, hatte sein Geheimnis vor über zwanzig Jahren erfahren, und sie durchschritt seine gewundenen Gänge mindestens zwei Mal pro Woche, um durch das Fernglas die Sterne und die Monde zu betrachten und die Karten des Universums zu studieren, die im Observatorium aufbewahrt wurden. Selbst in der Dunkelheit und nach einer Woche mit sehr wenig Schlaf wie betäubt und stolpernd, zögerte sie nicht, wenn sie an einem Kreuzungspunkt 42 ihre Richtung wählen musste. Sie hielt einfach beim Gehen eine Hand an die Wand zu ihrer Linken. Eine große Kugel blauen Hexenlichts schwebte über ihrem Kopf und warf ein unheimliches Licht auf jene kurz geschnittenen Eibenwände, die hoch über
ihrem Kopf aufragten, und ließ diejenigen, die ihr folgten, unirdischer denn je wirken. Unmittelbar hinter Isabeau ging Wolkenschatten, die Sternträumerin der Celestine, die sich auf einen hohen, knorrigen Stock stützte. Ihr folgte wiederum ein junger Mann aus ihrer Gruppe namens Sturmreiter, der auf seinem Recht bestanden hatte, sich ihnen anzuschließen, da er, zumindest nominell, mit Donnerlilie verlobt war. Er war ein großer, geschmeidiger Mann mit für einen Celestine ungewöhnlich breiten Schultern und breitem Brustkorb sowie einem stolzen, reservierten Gesicht, das aufgrund des hohen Nasenrückens und der kantigen Wangenknochen bemerkenswert war. Isabeau dachte insgeheim, dass er eher ihrer Art glich, den Khahcohban vom Rückgrat der Welt, als wie eines der sanften Waldzauberwesen. Wie Wolkenschatten, hatte er sein übliches langes, helles Gewand abgelegt und trug wie die Übrigen vernünftige Reisekleidung - Reithose, Stiefel, ein warmes Wollwams über einem weichen Hemd und einen wasserdichten Umhang mit einer Kapuze und tiefen Taschen. Er wirkte dadurch weitaus zugänglicher. Auf seiner Schulter trug er einen großen Sack, der von etwas Großem und Rundem ausgebeult wurde. Hinter ihm kam Ghislaine Traumwandlerin, eine hellblonde Zauberin, die das Emblem des Sommerborns um den Hals trug. Sie war noch keine dreißig und galt trotz ihres allgemein zerbrechlichen Aussehens, das durch die Schatten unter ihren Augen noch verstärkt wurde, als große Schönheit. Ihr folgte Cailean von der Schattenwolke, dessen riesiger Schattenhund lautlos hinter ihm hertrottete. Er war ein dünner, ernst wirkender junger Zauberer mit gewitzter Miene und der 43 Angewohnheit, seine Kleidung zu ruinieren, indem er Bücher in seine Taschen stopfte. Alle Hunde liebten ihn, und er war oft mit einem ihm folgenden großen Rudel anzutreffen, das aus allem Möglichen bestand, von räudigen Straßenkötern bis zu hochgezüchteten Jagdhunden und kuscheligen Haustieren mit Knopf-
augen, die normalerweise im Ärmel einer edlen Lady umhergetragen wurden. Die Nachhut bildete Dide, zwei lange Dolche an seinem Gürtel und einen kleinen Dolch in seinen Stiefel gesteckt. Er trug zusätzlich zu dem leichten Bündel mit Werkzeugen und Vorräten, das auch alle anderen trugen, eine Gitarre um den Hals geschlungen, deren abgenutzter Kasten mit verschlungenen Blumenranken und Vögeln bemalt war, die mit der Zeit stark verblasst waren. Dide reiste niemals ohne seine Gitarre und eine Tasche voller Jonglierbälle. Alle drei Hexen hatten, wie üblich, ihren Hexenstab bei sich, und Isabeau trug das vertraute Gewicht des Schlüssels des Hexensabbats um ihren Hals. Ihre Vertraute, die kleine Elfeneule Buba, flog lautlos und weiß wie eine im Wind verwehte Schneeflocke voraus. Isabeau wurde von Ungeduld geplagt. Sie musste ständig anhalten und auf Wolkenschatten warten, die so langsam und müde lief wie eine alte Frau, denn ihr Körper war noch immer schwach von dem Gift, das sie getrunken hatte. Isabeau musste an sich halten, um nicht »Beeil dich! Beeil dich!« zu rufen. Es war ihr bewusst, dass sie durch den Zwangszauber, den Brann der Rabe vor eintausend Jahren in Schnörkeln mit seinem eigenen Blut im Buch der Schatten niedergeschrieben hatte, bis an die Grenzen der Duldsamkeit getrieben wurde. Dieser Zauber war hinter einem anderen Zauber verborgen gewesen, demjenigen, der das Geheimnis des Wiedererweckens der Toten offenbarte, so dass zuerst Johanna und dann Isabeau den Zauber unwissentlich gelesen hatten und nun seinem unerbittlichen 44 Willen unterlagen. Johanna hatte Donncan und Donnerlilie entfuhrt und sie gezwungen, in die Zeit von Branns Tod zurückzureisen, um ihn aus seinem Grab auferstehen zu lassen. Isabeau konnte sich nur immer wieder versichern, dass der Wunsch Johanna und ihre beiden königlichen Geiseln zu jagen, sie antrieb, und nicht Branns Verlangen danach, wieder zu leben.
Schließlich gelangten sie zu dem kreisrunden Garten inmitten des Labyrinths, verließen erleichtert den engen Gang und atmeten tief die frostige Luft ein. Nebel schwebte über den Boden und wand sich um die Zypressen, aber es wurde bereits so hell, dass sie das Kuppeldach des Observatoriums sehen konnten. Schweigend erklommen sie die Treppe, bis sie die gewaltigen Steinblöcke erreichten, die den Teich der Zwei Monde umgaben. Die Steine waren uralt, weitaus älter als der Garten oder das Labyrinth, und Isabeau wusste, dass in die Oberflächen geheimnisvolle Symbole eingemeißelt waren, die stilisierten Konturen von Sternen, Monden und Planeten sowie von Bäumen und Felsen. Diese Runen wurden von den Celestine »Baumsprache« genannt, und Isabeau verstand, trotz eines lebenslangen Studiums, noch immer nur einen Bruchteil davon. Die Symbole waren alle vor so langer Zeit hineingemeißelt worden, dass sie selbst im hellsten Sonnenlicht kaum sichtbar waren, und doch konnte man sie im Dunkeln deutlich erfühlen. Durch das Berühren dieser Runen, in einer gewissen formellen Abfolge, konnte man sein Ziel wählen, wenn man die Alten Wege bereiste. Isabeau kannte das Symbol für den Teich oberhalb des Heims ihrer Eltern bei den Verfluchten Türmen in Tirlethan. Es war wie ein gebogener Buchstabe »M« geformt, um die Zwillingsgipfel der Berge oberhalb des dortigen Sees zu repräsentieren. Ähnlich war das Zeichen für den Teich der Zwei Monde wie ein »V« geformt, das die beiden Flüsse repräsentierte, die sich zu den Schimmernden Wassern vereinten. Jedoch gab es in der Baumsprache der Celestine viele Tausende 45 von Runen, von denen sich einige sehr ähnlich waren. Dies war nur einer der vielen Gründe, warum es für jedermann, der nicht das ganze Baumalphabet kannte, so gefährlich war, die Alten Wege zu bereisen. Man konnte nur allzu leicht die falsche Rune der falschen Stelle zuordnen und an einem ganz anderen Ort oder in einer ganz anderen Zeit landen als beabsichtigt. Der Steinkreis war von den Celestine, Tausende von Jahren bevor die Menschen nach Eileanan kamen, um den geweihten
Teich errichtet worden. Dann war der Teich von den Hexen entdeckt worden, die sich in Rionnagan niedergelassen und Lucescere erbaut hatten, sofort die in dem Wasser und den Steinen verborgene Macht gespürt hatten und sie für sich nutzbar machen wollten. Das Labyrinth um den Teich war von Martha der Weisen, der Urenkelin von Cuinn Löwenherz - dem Zauberer, der die Hexen über Zeit und Raum hinweg in diese neue Welt geführt hatte - angelegt worden. Ihr Vater, Lachlan der Astronom, hatte zuerst entdeckt, dass das Licht in der Dämmerung der Sommersonnenwende wie ein goldener Pfeil durch eine Öffnung von der Größe einer Faust einen der großen Menhire traf und ein wie eine Sonne oder ein Gesicht geformtes Symbol auf dem gegenüberliegenden Stein beleuchtete. Später sollte er bemerken, dass gewisse hier und dort gezogene Linien das Aufkommen der Schlüsselkonstellationen bezeichneten und dass man, wenn man zur Zeit der Wintersonnenwende durch eine weitere große Öffnung in einem der Menhire blickte, den roten Mond aufsteigen und deren Abmessung genau ausfüllen sehen konnte. Lachlan der Astronom war es, der das Observatorium am Teich der Zwei Monde errichtete und sein Leben dem Enträtseln der Geheimnisse der großen Steine weihte. Nach einer gewissen Zeit wurde in der Nähe der Turm der Zwei Monde erbaut und somit ein Modell geschaffen, das im ganzen Land wiederholt wurde. Fast alle Hexentürme wurden auf oder um einen von Steinen umgebenen Teich der Celestine 46 erbaut, wodurch wissentlich oder unwissentlich die friedlichen Waldzauberwesen vertrieben und von ihren heiligsten Plätzen verbannt wurden. Viele der Steinkreise waren inzwischen baufällig oder zerstört. Der Teich der Zwei Monde war vollkommen von Steinen umgeben: Die großen, von Bögen gekrönten Menhire bildeten eine großartige Kolonnade, die jedoch viele der himmlischen Ereignisse verbarg, zu deren Beobachtung die Steinkreise erbaut worden waren. Was Lachlan der Astronom und seine Mithexen nicht begriffen hatten, war, dass die Steinkreise mehr als nur ein riesiger Ka-
lender waren, der die Zyklen der Sonnen und der Monde kennzeichnete. Sie waren Sternenherzen, Orte mit magnetischer Energie, die unsichtbare Linien der Macht aussandten, mit denen sie alle Menschen über den gesamten Planeten miteinander verbanden. Die Linien spiegelten die Laufbahnen der Monde, Sterne und Planeten über das Land wider und waren wie magische Straßen, die bereist werden konnten und die Celestine befähigten, sich unsichtbar und in hoher Geschwindigkeit im Land zu bewegen. Sie waren Nähte im Stoff des Universums, verbanden Raum und Zeit auf eine Art, die Isabeau noch immer nur vage begreifen konnte. Sie wusste nur, dass die Sternenherzen, die geweihten Teiche in ihren Steinkreisen, Macht konzentrierten, wie ein Vergrößerungsglas Licht konzentrierte, bis es ein Loch in Papier brennen konnte. Das Geheimnis der Alten Wege war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Celestine. Isabeau hatte ein wenig darüber erfahren, weil ihre Hüterin Meghan von den Tieren eine große Freundin und Verteidigerin der Waldzauberwesen gewesen war. Sie durfte jedoch nicht offenbaren, was sie erfahren hatte, und so wusste niemand, warum Wolkenschatten nun vor den Türen stand und mit ihren langen, viergliedrigen Fingern einen Umriss nach dem anderen nachzog. »Was tut sie?«, flüsterte Dide. 47 »Sie versucht, das Zeichen für das Grabmal der Raben zu finden«, antwortete Isabeau flüsternd. »Dorthin müssen wir zuerst reisen, in der Jetztzeit, bevor wir versuchen können, weiter in der Zeit zurückzureisen. Man kann nicht beides gleichzeitig tun.« Dide schlang seinen Rucksack über die andere Schulter. Irgendwo zwitscherte ein Vogel. »Es dämmert fast«, sagte er und seufzte. »Ja, es ist an der Zeit«, stimmte Isabeau ihm zu und war froh, dass er ebenso bestrebt schien wie sie aufzubrechen. Drei Tage waren vergangen, seit Donncan und Donnerlilie entführt worden waren. Es war überhaupt nicht tröstlich zu wissen, dass sie alle
zu genau demselben Punkt in der Zeit zurückreisen würden, so dass es keinen Unterschied machte, ob Tage oder sogar Wochen vergangen wären. Abgesehen von dem üblen Drang, den der Zwangszauber ihrem Geist eingebrannt hatte, wurde Isabeau von der Angst um den jungen Righ und von der Vorstellung davon getrieben, was genau Johanna mit ihm vorhaben mochte. Nehmt euch bei den Händen, sagte Wolkenschatten. Denkt daran - wankt nicht, schaut nicht zurück, verlasst den Pfad nicht. Richtet euren Blick auf diejenigen, die vor euch gehen, und lauscht nicht auf die Geister. Lauft schnell. Alle nickten. Dobhailen, der Schattenhund, knurrte tief in seiner Kehle, und Cailean legte eine Hand auf seinen Hals. Die Sonne stieg über den Horizont und traf auf die große Steinsäule. Die Sommersonnenwende war seit drei Tagen vorüber, und so konnten sie zwar die große Feuerkugel durch das in den Menhir gehauene Loch sehen, aber das Wunder des Goldpfeils erschien nicht. Wolkenschatten drückte sanft auf eines der Symbole an der nach Süden weisenden Säule und trat dann durch den Bogengang. Sie verschwand, und nur noch ihre Hand, die Sturmreiters Hand umfasste, war zu sehen. Er folgte ihr und zog Isabeau mit sich. Sie atmete tief ein und duckte sich instinktiv, als sie in den flimmernden, silbrigen Nebel trat, der 48 den Bogengang erfüllte. Sie wusste, dass der Schock, der nun jeden Nerv durchlief, zu erwarten gewesen war, aber dadurch war der Schmerz nicht leichter zu ertragen. Dide hinter sich herziehend, verfiel sie in einen unbeholfenen, stolpernden Lauf und hielt den Blick auf Sturmreiters fließendes, weißes Haar gerichtet. Es schien in dem seltsam grünlichen Licht zu schimmern und wirbelte in dem von Blitzen heimgesuchten Wind umher, der ihr Gesicht peitschte. Es war so, als liefe man durch kalte, raue Gischt. Ihre Füße wurden fast unter ihr fortgerissen, und sie konnte das unheimliche Wehklagen und Schluchzen vieler, vieler Geister hören und den eisigen Griff ihrer Finger spüren. Einige waren so kühn, sich um ihren Kopf zu winden, ihr ins Ohr zu schreien, auf ihre Brust
und Kehle einzuschlagen und zu versuchen, sich in ihre Nase und ihren Mund zu schleichen. Sie würgte, konnte nicht atmen und schüttelte heftig den Kopf, schleuderte sie beiseite. Gib uns Leben, flüsterte ein Geist ihr ins Ohr. Du kennst das Geheimnis. Gib uns wieder Leben! »Fort, übler Geist!«, rief sie. »Dein Leben ist schon lange verwirkt.« Hinter sich konnte sie auch Dide rufen und fluchen hören, und Ghislaine intonierte ein uraltes Gebet gegen Übles. Isabeau nahm die Worte auf und hörte, wie Cailean und dann auch Dide ebenfalls einfielen. »Im Namen Eà s, unserer Mutter, unseres Vaters, unseres Kindes, du, welche die Spinnerin und Weberin und Fadenschneiderin bist, du, welche die Saat sät, die Feldfrucht hegt und die Ernte einbringt. Bei der Kraft der vier Elemente, Wind, Stein, Flamme und Regen. Bei der Kraft der klaren Himmel und des Sturms, der Regenbogen und Hagelkörner, beschütze uns an diesem Tag vor allem Übel, o Eà , Mutter, Vater, Kind, Spinnerin, Weberin, Fadenschneiderin, Jungfrau, Mutter, altes Weib...« Vor ihr summten die Celestine tief in ihrer Kehle, und hinter 49 ihr grollte und knurrte Dobhailen, ein seltsam harmonischer Kontrapunkt. Die Worte und das Summen bildeten einen Rhythmus, nach dem sie marschieren konnten. Isabeau spürte, wie ihr Schritt länger und schneller und ihr Atem gleichmäßiger wurden. Die Geister schienen sich zu verflüchtigen, bis sie nur noch Nebel und Schatten und ein kalter, sich schlängelnder Wind um ihre Ohren waren. Rund um sie herum, über ihnen und unter ihnen, befanden sich Flächen silbrig grünen Feuers, die aufloderten und brüllten und zischten. Sie konnte dort hindurch vage Umrisse sehen, einen Wald aus Bäumen, einen weißen, rauschenden Fluss, dahinter Berge. Mit jedem Schritt verschwamm das Bild jedoch mehr und eilte vorüber, und sie bekam nie die Gelegenheit, irgendeinen
Orientierungspunkt wiederzuerkennen oder festzustellen, wo sie sich befanden. Dann plötzlich zischten grüne Funken, und Isabeau spürte, wie sie fiel. Sie schrie auf und versuchte, ihre Hand freizuwinden, sich zu befreien, aber weder Dide noch Sturmreiter wollten sie loslassen. Sie fiel schmerzhaft auf die Knie, während es in ihren Ohren hallte und sie vor Schwindel blind war. Als sich ihre Sicht wieder klärte, sah sie sich um und erkannte, dass sie in einer kühlen, grauen Dämmerung viele Meilen vom Teich der Zwei Monde entfernt auf den Boden gesunken war. Im Morgennebel kauernd, auf der Kuppe eines kleinen Hügels, befand sich ein großes, graues Mausoleum, das von grüblerischen Steinraben bewacht wurde. Eine lange, in der Dämmerung karg und düster wirkende Eibenallee führte dort hinauf. Auf dem Vorplatz vor dem Mausoleum war ein länglicher, von Urnen und Statuen umgebener Teich angelegt. Er spiegelte in seinen stillen, schwarzen Wassern die Kuppel des Grabmals wider. Wir sind da, sagte Wolkenschatten erschöpft. »Ich wusste nicht, dass dies ein Sternenherz war!«, rief Isabeau aus. »Wie ungewöhnlich! Als du sagtest, wir würden zum 50 Grabmal der Raben reisen, dachte ich, du wolltest, dass wir uns ihm auf dem Alten Weg so weit wie möglich annähern und dann quer durchs Land ziehen. Ist dies wirklich ein Sternenherz? Wo ist der Steinkreis, der Sommerborn?« Allesfort, antwortete die Celestine. »Aber... warum? Wann? War es Brann der Rabe, der den Kreis einebnen ließ? Wusste er es nicht?« Der Mann, der dieses Grab erbaute, war von übler Gesinnung und hegte üble Absichten. Er wusste, dass dies ein Ort der Macht war, und wollte dessen Magie für seine eigenen Zwecke benutzen, sagte Sturmreiter. Seine Geiststimme klang tief und ernst, und sein Gesicht zeigte denselben strengen Hochmut. »Das wusste ich nicht«, sagte Isabeau zögernd und sah sich besorgt um. Nun, wo sie es wusste, erblickte sie die drei Elemen-
te, welche die geweihten Orte der Celestine stets ausmachten den Hügel, den Teich und die errichteten Steine -, aber ihre Gestalt und Anordnung, ihre Essenz, stimmte nicht. Die natürliche Wasserquelle war eingefasst und in eine starre, formelle, steingebundene Form gezwungen worden, und die errichteten Säulen zelebrierten nicht das Leben und das Vergehen der Jahreszeiten, sondern den Tod und die Eitelkeit der Menschen. Buba ließ sich auf Isabeaus Schulter nieder, und sie hob eine Hand und streichelte sie und fühlte sich getröstet. Die Übrigen streckten sich alle, wanderten umher und sprachen gelegentlich leise miteinander. Dobhailen gefiel der Anblick der Krypta nicht, und er zog die Lefzen hoch und knurrte, wobei seine grünen Augen wie Sumpfkerzen leuchteten. Cailean liebkoste seine Ohren, und der Schattenhund schlich steifbeinig voran und schnupperte an den breiten Stufen. Plötzlich hob er die Schnauze und bellte laut, der Ruf eines Jagdhundes, der einen Geruch wahrgenommen hat. Es war ein tiefer, lauter, wilder Klang, der von den Wänden widerhallte und alle zusammenzucken und erschreckt aufschreien ließ. Dobhailen sprang die 51 Stufen hinauf und bellte an der Tür erneut. Cailean folgte ihm eilig, ebenso wie die anderen. Der Hund führte sie durch die massiven Türen in die schattenhafte Kälte der Krypta. Darinnen befand sich eine lange Halle, die auf beiden Seiten von durch schwere Eisengitter geschützten Grabgewölben gesäumt war. Darüber waren elegante Bögen gespannt, deren Säulen von gemeißelten Raben mit spitzen Schnäbeln inmitten einer Rosette aus Akanthus und Eichenlaub gekrönt waren. In jedem düsteren Grabgewölbe waren Sarkophage zu sehen, dick mit Staub und Spinnweben bedeckt, deren steinerne Vorderseiten in der Feuchtigkeit bröckelten. Die Luft roch abgestanden und moderig, und Ghislaine wölbte eine Hand über Mund und Nase. Sie war totenblass. Während sie langsam die Halle hinabschritten, hallten ihre Stiefel auf den großen Steinplatten wider. Sie scharten sich unbewusst alle zusammen, Caileans Hand am Nackenfell des Hundes,
um ihn zurückzuhalten. Isabeau hatte Licht heraufbeschworen, um ihren Weg auszuleuchten. Hexenlicht war für die Erkundung einer Krypta ein kaltes und unheimliches Licht, warf dichte Schatten hinter jede Säule und jedes Grab und trog das Auge, so dass es schien, als würden die Sarkophage atmen. Am anderen Ende der Halle befand sich ein großes, kunstvolles Grabmal, auf dem eine weitere Statue lag, die Arme über der gepanzerten Brust gekreuzt, einen Zaubererstab zwischen den großen, beringten Händen. Das Grabmal war mit schlafenden, fressenden, fliegenden und nistenden Rabenfiguren bedeckt, und einer ruhte zwischen den Füßen des Zauberers, den Schnabel unter einen Flügel gesteckt. »Ich war schon früher hier«, sagte Ghislaine und brach damit die widerhallende Stille. »Als ich mit Olwynne den Traumpfad beschritt. Wir wurden hierhergeführt, an diesen Ort, von einem Raben. Wir sahen den toten Zauberer, der sein Leichentuch hinter sich herzog. Er sagte uns ...« Ihre Stimme versagte. 52 »Was hat er Euch gesagt?«, fragte Isabeau angespannt. Obwohl Ghislaine über alle ihre Erinnerungen an die Traumstraße, die sie mit der vermissten Banprionnsa beschritten hatte, berichtet hatte, blieben Details von Träumen im Nachhinein stets vage, und sowohl Ghislaine als auch Olwynne hatten mit der Zauberinnenkrankheit daniedergelegen, wodurch ihr Bericht noch seltsamer und wirrer als üblich wurde. Isabeau wusste, dass alle Einzelheiten, an die man sich erinnern konnte, von äußerster Wichtigkeit sein konnten. »Er sagte ... er sagte, die Traumwelt nütze ihm nichts, nicht mehr als die Welt der Geister. Er sagte, er wolle wieder ans Tageslicht kommen, mit einer lebendigen Seele und einem Messer, und dann würden wir ihn wieder umherwandeln sehen.« Ghislaine blickte furchtsam zu der auf dem Grabmal liegenden Statue und unterdrückte ein Schaudern. Isabeau nickte. »Er ist in der Tat eine habgierige Seele, und noch dazu stark, wenn er meine Nichte in ihren Träumen berühren kann.«
Sie beugte den Kopf und zählte die Ringe an den Händen des Zauberers. Es waren zehn. Isabeau fühlte sich ein wenig schwindelig. Ein Zauberer der zehn Ringe! Sie selbst hatte nur acht. Sie spürte zum ersten Mal, wie ihre Zuversicht kläglich schrumpfte. Wie sollte sie einen Zauberer der zehn Ringe bekämpfen, einen Zauberer, der sich eintausend Jahre lang ans Leben geklammert hatte? Cailean und Ghislaine hatten ebenfalls gezählt, und sie sah ihre Gesichter erbleichen und hörte sie den Atem anhalten. Dobhailen hatte versucht, sich Caileans Griff zu entwinden, sprang nun vorwärts, als die Hand seines Herrn unfreiwillig losließ, und schnüffelte eifrig am Fuß des Grabmals, wo die Schatten am dichtesten waren. Er hob den Kopf und bellte wieder laut, und Cailean trat augenblicklich vor, kniete sich hin und versuchte zu ergründen, was das Interesse des Hundes erweckt hatte. Er schrie laut auf und hob etwas hoch. 53 »Seht nur! Es ist Seiner Hoheits ... Seiner Majestäts ...« Er hielt eine lange, goldene Feder in der Hand. »Er muss sie aus seiner Schwinge gerissen und dort verborgen haben«, sagte Isabeau, nahm sie Cailean ab und drehte sie in den Händen. »Damit wir wissen, dass wir auf der richtigen Spur sind.« »Aber vor wie vielen Tagen waren sie hier, und wohin sind sie dann gegangen?«, fragte Dide. Wolkenschatten betrachtete die Feder und Umschrift dann weiterhin langsam das Grabmal. Isabeau wusste, dass sie nach einem Zeichen dafür suchte, dass auch ihre Tochter lebte und es ihr gut ging. Plötzlich summte sie laut und drängend und sank auf die Knie. Isabeau trat rasch zu ihr. Auf dem Boden war eine kleine Ansammlung von Blättern, Zweigen und einem weißen Kieselstein ausgelegt. Isabeau brachte die Kugel Hexenlicht auf ihre Hand hinab, damit sie das Muster deutlich sehen konnten. Sie war hier, meine Tochter war hier, sagte Wolkenschatten. Sie trafen in der Morgendämmerung des Tages nach dem Mittsom-
mertag ein und brachen in der Abenddämmerung wieder auf. Sie gingen zurück. Zurück zum Anfang sagt sie. »Zurück zum Anfang?«, fragte Isabeau. »Meint sie, zurück zum Anfang dieses Gebäudes? Zu der Zeit, als das Grabmal der Raben erbaut wurde?« Die Celestine summte verneinend, ein Laut der Verwirrung und der Unschlüssigkeit. Isabeau versuchte, die mit Zweigen und dem Kieselstein geschriebene Botschaft zu entschlüsseln. »Was ist dies?«, fragte sie und deutete auf einen kleinen Stock der zerbrochen und in einer gezackten Linie wie bei einem Blitz ausgelegt worden war. Ein langes Schweigen entstand, und dann sah Isabeau einen Tropfen Wasser den hellen Stein dunkler färben. Sie schaute überrascht auf und sah, dass die Celestine weinte. Es bedeutet Abschied, sagte Sturmreiter. 54 EINE NACHT UNTERWEGS Niemand schlief in dieser Nacht gut. Es war zu kalt. Selbst mit dem in seinem Steinkreis lodernden Feuer und ihren dicken, um sie geschlungenen Umhängen und Plaids fühlte sich die vom Boden aufsteigende Kälte beißend an und marterte sie. Es war keine Nacht, in der man unterwegs sein sollte. Rhiannon kroch in der Dämmerung aus ihrem Zelt. Der Stock der als Mittelpfosten diente, war von Eis überzogen, und Schnee war überall aufgehäuft, weiß und makellos. Der Himmel erstrahlte fahl silbrig, was bedeutete, dass ein schöner Tag bevorstand. Rhiannon fragte sich, ob der Kummer der BanrighWitwe endlich nachließ. Sie hoffte es. Alles war ins Gegenteil verkehrt worden, und das beunruhigte Rhiannon. Wenn die Welt entzweibrach, entstanden Risse, durch die dunkle Wanderer kriechen konnten. Rhiannon hatte ihre SatyricornVergangenheit noch nicht so weit hinter sich gelassen, dass sie diese Vorstellung nicht in Angst versetzt hätte. Ein Rabe schrie unheimlich. Rhiannon fuhr auf dem Absatz herum, während ihr Herz heftig pochte. Ein großer, schwarzer Vogel kauerte auf einem nahe gelegenen Ast und beobachtete sie.
Er schrie erneut spöttisch. Rhiannon beugte sich herab, hob einen Brocken Schnee auf und warf damit. Sie hatte gut gezielt. Der Schnee prallte gegen den Vogel und warf ihn fast von seinem Ast. Er breitete seine Flügel aus und flog davon, wobei er ein drittes Mal seinen rauen, schwermütigen Schrei ausstieß. »Einen auf die Sorge«, sagte eine Stimme hinter ihr. Rhiannon wandte sich zu Jay um, ihre Hände in den Ärmeln ihrer Jacke verborgen. »Das ist eines unserer Sprichwörter. Einen auf die Sorge; zwei auf den Frohsinn; drei auf einen Tod; vier auf eine Geburt; fünf auf Silber; sechs auf Gold; sieben auf ein Geheimnis, das man 55 nicht preisgeben soll; acht auf den Himmel; neun auf die Hölle; und zehn auf des Teufels eigenes Selbst.« Der Fiedler sprach wunderschön. Seine Worte sandten einen Schauer über Rhiannons Haut und erinnerten sie an die Zauberin Nina die Nachtigall, deren Magie einzig in ihrer Stimme lag. Wenn die Geschichten stimmten, dann hatte dieser schlanke, sanfte Mann Magie in seinen Fingern, und sie war in dem Klang, den er den Saiten seiner Viola entlocken konnte. Es war auch Magie in seiner Stimme, dachte Rhiannon, wenn es auch vielleicht nur der in seinen Worten inbegriffene Schrecken war, der solch eine Saite in ihr berührte. »Jeder Rabe in zwanzig Meilen Umkreis von Laird Malvern bedeutet Ärger«, sagte sie missmutig, setzte sich auf den Baumstamm und wärmte ihre Hände an der Glut. »Ihr denkt, dies sei sein Rabe gewesen?«, fragte Jay, wandte sich um und sah dem Vogel nach. »Könnte sein«, erwiderte sie und steckte ihre tauben Füße in ihre Stiefel. Blauchen kauerte kalt und elend auf ihrer Zeltstange, und sie streckte eine Hand nach ihm aus. Er flog zu ihr herüber, und sie hob ihn auf ihre Schulter, genoss das Gefühl seines leichten Gewichts. Einer der Soldaten, mit geröteter Nase und missmutig, warf einige weitere Holzscheite aufs Feuer und begann unbeholfen, aus Hafer und Wasser etwas zuzubereiten, was diese Menschen
Frühstück nannten. Rhiannon wieherte Schwarzdorn eine spöttische Bemerkung zu, und Schwarzdorn antwortete ihr. Ich nehme es, wenn du es nicht willst, sagte die Stute. Rhiannons Augen erstrahlten, als ein weiterer der Soldaten mit einem Bündel Kaninchen kam, die er am Feuer zu häuten begann. Finn lag noch immer in ihrem Schlafsack, aber plötzlich rollte sie sich herum, kroch heraus und erbrach sich, geräuschvoll und öffentlich, unter einen Busch. Als sie fertig war, wirkte sie entschieden grün. Ohne ein Wort oder einen Blick für irgend 56 jemanden, kroch sie in ihr kleines Zelt zurück und zog sich den Umhang übers Gesicht. Ihre kleine Katze, die höchst indigniert davonstolziert war, kam zurück und stieß sie mit einer Pfote neugierig an. Finn schaute nicht auf. Jay brachte ihr einen Becher Tee. Beim Geruch gebratener Kaninchen wachte auch Roden schließlich auf, streckte sein zerzaustes Haar aus dem Zelt und rieb sich müde die Augen. Er war aus seinem Bett entführt worden, mitten im Sommer, und war daher, in ein lockeres, weißes Nachtgewand gekleidet, auf diesen üblen Winter kläglich vorbereitet. Es gelang ihnen, ein schweres wollenes Wams zu finden, das er über seinem Nachtgewand tragen konnte, sowie ein Paar Socken, die wie eine Wollhose wirkten. In eine Decke gewickelt, einen Schal bis zu den Augen gezogen, gab er eine drollige Gestalt ab und empfand es offensichtlich auch so. Er schürzte mürrisch die Lippen, seine Füße hatte er nach innen gedreht, und hin und wieder zupfte er an seiner Kleidung, als versuche er, sie in eine andere Form zu ziehen. Er wollte seine Mutter und seinen Vater sehen. »Brice wird dich nach Hause zurückbringen«, sagte Finn sanft, auf einen der Soldaten deutend, der sich herabbeugte, um Roden beruhigend zuzulächeln. »Ich fürchte, wir werden noch einen oder zwei Tage unterwegs sein müssen, aber ...« »Ich will jetzt nach Hause«, sagte Roden mit wider Willen zitternder Stimme. »Bitte, ich will meine Mam.«
»Ich weiß, Liebling, und wir werden dich so bald wie möglich hinbringen. Brice ist sehr schnell, er kann wie der Wind reiten, darum kam er mit uns. Er wird dich so schnell wie möglich zu deiner Mam und deinem Dai bringen.« »Ich will jetzt zu meiner Mam!«, schrie Roden und brach plötzlich in Tränen aus. »Bitte, bitte, ich will jetzt!« »Ich werde dich zurückbringen«, sagte Rhiannon und legte die Arme um den kleinen Jungen. »Du weißt, wie schnell Schwarz 57 dorn fliegen kann. Wenn du ganz schnell frühstückst, brechen wir auf, und du wirst vor Sonnenuntergang bei deiner Mam sein.« »Wirklich?«, fragte Roden sofort heiterer. »Wirklich.« Rhiannon spürte Finns neugierigen Blick auf sich und sagte recht trotzig: »Er will zu seiner Mam. Ich werde zurück sein, bevor Ihr es merkt. So ist es ohnehin besser. Sie werden nun am Himmel nach mir suchen, und ich habe keine Lust, von einem ihrer Pfeile herabgeschossen zu werden. Wenn ich Roden sicher zurückgebracht habe, fliege ich ihnen wieder hinterher und werde dann sehen, ob ich sie überholen und irgendwie einen Hinterhalt errichten kann.« Finn nickte. »Sehr gut. Lasst mich Nina durchs Kristallsehen kontaktieren und ihr die frohe Nachricht übermitteln, dass Roden in Sicherheit ist. Dabei kann ich für Euch herausfinden, wo sie ist. Tatsächlich wird sie froh sein, Roden so rasch wiederzubekommen.« Während Roden glücklich auf seinem Kaninchenbein kaute und die Soldaten mit endlosen Fragen über Schlachten bedrängte, die sie geschlagen hatten, beobachtete Rhiannon mit angespannter Neugier, wie Finn eine kleine Silberschale aus ihrem Rucksack zog und sie mit Wasser füllte. Sie stellte sie vor sich auf den Boden und beugte sich darüber, als betrachte sie ihr Spiegelbild. Ein langes Schweigen entstand. Rhiannon war verwirrt. Sie hatte natürlich schon vom Kristallsehen gehört und mehrere Male zugesehen, als die Hexenlehrlinge es versuchten. Sie hatte immer geglaubt, das Gesicht der Person, mit der man sprach, erschiene
in der Schale und spräche so deutlich, als stünde sie unmittelbar neben einem. Aber Finns Augen waren leer, und das Wasser in der Schale war unbewegt, reflektierte nur den fahlen Winterhimmel. Nach einiger Zeit verloren die Augen der Zauberin ihren leeren, ungerichteten Blick, und sie schüttelte sich und schaute zu Jay. 58 »Das war schwer, schwerer, als ich es gewohnt bin«, erklärte sie kläglich. »Du darfst nicht versuchen, zu viel zu tun«, sagte Jay ermahnend. »Oh, Fiedel! Es geht mir gut.« Finn streckte ihren Rücken und goss das Wasser dann in den Kessel über dem Feuer. Sie wandte sich Rhiannon und Roden zu, der die Elfenkatze mit einem Wollfaden neckte, den er aus seinen zerwühlten Socken gezogen hatte. »Deine Mam ist überglücklich, dass du in Sicherheit bist, Roden, wie du dir vorstellen kannst. Sie und dein Dai-dein sind in einem kleinen Dorf namens Alloway, am Rhyllster. Dort beginnt diese Straße, also solltet Ihr sie mühelos finden können, Rhiannon. Es ist der Ort, wo Laird Malvern sein Boot verlassen hat und in den Wald gezogen ist.« »Woher wisst Ihr das alles?«, fragte Rhiannon misstrauisch. »Habt Ihr es in der Schale gesehen?« »Ja. Hexen können durch Wasser oder Feuer oder einen Edelstein miteinander sprechen, wenn sie einander gut kennen und nicht durch einen breiten Wasserlauf oder hohe Berge voneinander getrennt sind. Es ist zusätzlich hilfreich, wenn man auf die Kontaktaufnahme wartet. Nina und ich hatten vereinbart, uns in jeder Morgendämmerung und bei jedem Sonnenuntergang durchs Kristallsehen zu verständigen.« »Aber Ihr habt nicht gesprochen«, sagte Rhiannon. »Ihr wart still und ruhig.« »Wir sprechen von Geist zu Geist, so wie Ihr Euer Pferd ruft«, erklärte Finn. »Ich kenne Nina schon, seit ich ein kleiner Wicht war. Mt einer Fremden könnte ich nicht so reden.« »Ein Wicht?«, fragte Rhiannon vollkommen verwirrt.
»Ja. Sehr, sehr klein«, antwortete Finn und lächelte schief. »Aber nicht so klein wie der junge Roden hier, der einer Ameise nur bis zum Knie reicht...« »Tue ich nicht!«, protestierte Roden, während Rhiannon gera 59 de erkannte, dass dies nur wieder eine weitere der bedeutungslosen Redensarten war, für die Menschen so anfällig waren. Sie lächelte mechanisch und speicherte es für künftige Verweise in ihrem Geist ab. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie erkannt hatte, dass man von den Menschen weitaus schneller als einer der ihren akzeptiert wurde, wenn man ebenso sprach wie sie. Als der östliche Rand des Tals heller wurde und die Vögel sangen, saß Rhiannon erneut rittlings auf Schwarzdorn und spürte die Muskeln der Stute sich in Erwartung des Fluges anspannen. Roden saß vor ihr, warm in eine Decke eingehüllt und mit einem dicken Schal um die Ohren. »Wir sehen Euch bald wieder«, sagte Finn. »Grüßt Nina und Iven herzlich.« »Pass auf dich auf, Roden«, sagte Jay und hob eine Hand, um das Knie des Jungen zu tätscheln. Roden nickte und wirkte dabei sehr ernst. Dann wendete Rhiannon Schwarzdorn jäh und drängte sie zu einem leichten Galopp, woraufhin diese wie ein schwarzer Pfeil die Straße hinabschoss, die Beine dann hoch unter ihren Bauch zog, ihre großartigen Schwingen ausbreitete und in den Himmel aufstieg. »Ju-huu!«, schrie Roden. Olwynne stöhnte. Ihr Kopf dröhnte entsetzlich, und alle ihre Glieder fühlten sich schwer an. Die wahnsinnigen Truggebilde ihrer Träume verweilten noch hinter ihren geschlossenen Augenlidern. Sie hatte geträumt, sie stünde als Angeklagte in einem riesigen Gerichtssaal, in dem die Richter sich alle herabbeugten und sie anschrien, mit ihren riesigen, knochigen Fingern drohten und sie mit ihren stechenden Augen anklagten. Ich habe es aus Liebe getan, hatte sie schwach erklärt, aber sie hatten miss-
billigend die Köpfe geschüttelt und ihre Umhänge demonstrativ nach außen gekehrt, auf Rot. Blut. Feuer. Zischende, rote Nat60 tern. Ketten aus ihrem eigenen Haar fesselten sie. Ein Blutrinnsal verlief wie ein karmesinrotes Band über ihre Kehle. Dann war sie erwacht, hatte sich aus den Tiefen ihres Betäubungsschlafes empor gekämpft, aber die Wachheit bot keine Zuflucht. Die Kutsche schaukelte, ratterte und hüpfte, schwankte, schlingerte und rutschte und schien manchmal fast umzukippen. Sie und Owein wurden hilflos von einer Seite zur anderen geworfen und vom Sitz auf den Boden geschleudert, bis sie voller blauer Flecke waren und ihnen alle Glieder wehtaten. Die Luft war so kalt, dass ihr Atem in kleinen Frostwolken vor ihren Gesichtern schwebte, und ihre Glieder zitterten unkontrolliert. Sie hätten sich gerne wärmesuchend zusammengekauert, aber nachdem sich Olwynne fast die halbe Zunge abgebissen hatte, als sie mit dem Kopf gegen Oweins Kinn gekracht war, und sie ein halbes Dutzend Mal aufeinander gelandet waren, konzentrierten sie sich darauf, möglichst auf ihren Plätzen zu bleiben und die Kälte irgendwie zu ertragen. Sie konnten die Rufe des Kutschers und das Knallen seiner Peitsche sowie das Quietschen und Rattern der Kutsche, das gelegentliche schrille Wiehern eines Pferdes und das Rufen der nebenher reitenden Männer hören. Owein stemmte seine Beine gegen die Seitenwand der Kutsche und tat sein Bestes, Olwynne mit seinem Arm und seiner Schwinge zu beschützen. Seine Locken waren trotz der Kälte schweißfeucht, und er atmete rau und keuchend. Beiden war bereits übel gewesen, bis nichts mehr in ihren Mägen war, aber die Übelkeit belastete sie noch immer. Sie waren die ganze Nacht durch den Wald gefahren, wobei die Männer die Straße mit Pechfackeln ausleuchteten. Von Mohn und Baldrian betäubt, hatten Olwynne und Owein die meiste Zeit geschlafen, wenn auch unruhig. Wie dem auch sei, sobald es hell genug war, um etwas sehen zu können, wurden die Pferde mit der Peitsche in diesem wahnsinnigen, überstürzten Tempo vorangetrieben, gerade als die Straße abwärtszuführen begann.
7-1 Sie konnten das Kreischen der eingelegten Bremse sowie jemanden rufen hören. Dann schlingerte die Kutsche, schwankte heftig von einer Seite zur anderen, rutschte seitwärts und stürzte dann auf eine Seite. Olwynne schrie, als sie kopfüber geschleudert wurde und ihr Kopf hart gegen die Decke stieß. Sie landete zusammengesunken, Owein auf ihr, seine Federn sie völlig bedeckend. Sie hob eine Hand an ihren Kopf und zuckte zusammen. Ihre Finger waren blutbeschmiert. Owein gelang es stöhnend, sich von ihr zu erheben. Er hielt sich mit einer Hand seinen Arm. »Wie geht es dir?«, flüsterte er. »Olwynne? Bist du verletzt?« Sie war vor Schreck und von dem mit Betäubungsmitteln versetzten Trank, den Dedrie ihr zwangsweise verabreicht hatte, so benommen, dass sie keine Antwort formulieren konnte. Er half ihr hoch, und sie stolperte, verlor das Gleichgewicht und stürzte erneut. Die Kutsche lag in merkwürdigem Winkel da, so dass die linke Tür in einer Böschung verborgen und die rechte Tür über ihren Köpfen war und einen Flecken Himmel einrahmte. Die Kutschentür wurde aufgerissen, und das mürrische, unrasierte Gesicht Jems des Stallburschen blickte finster auf sie herab. »Sie leben«, rief er jemandem zu. »Aber es ist überall Blut.« »Ich sagte meinem Laird, dass wir umstürzen würden, wenn wir in solchem Tempo weiterführen«, sagte jemand anderer. »Komm, hol sie heraus. Kannst du sie erreichen?« »Wirf mir ein Seil zu«, antwortete Jem. Es war sehr schwierig, sie aus der Kutsche zu bekommen, da sowohl Owein als auch Olwynne so bestürzt und benommen waren, dass sie nicht viel helfen konnten. Auf der Straße herrschte Chaos. Laird Malverns Kutsche war im Schlamm stecken geblieben, unten in einem Tal, wo ein kleiner Bach die Straße querte. Gleichgültig wie hart sie die Pferde peitschten - die armen, erschöpften Tiere konnten die Kutsche nicht herausziehen. Laird Malvern selbst stand knietief im Schlamm und fauchte seinen 61
Kutscher mit leiser, böser Stimme an, während sich zwei weiße Kerben von seiner Nase zu den Mundwinkeln tief in seine Haut eingruben. Oweins und Olwynnes Kutsche hatte noch anzuhalten versucht, bevor sie in die erste Kutsche krachte, und war dann umgestürzt. Die Hälfte der Pferde lagen im Schlamm, und mindestens zwei waren eindeutig schwer verletzt. Eines schrie vor Schmerzen, bis Jem mit seinem Messer ungeduldig dessen Kehle durchtrennte. Er tötete auch das andere Pferd, ohne sich die Zeit zu nehmen, sich die Verletzung anzusehen, schirrte dann die anderen Pferde aus und peitschte auf sie ein, bis sie sich hochmühten. Olwynne befand sich in einem seltsamen, benommenen Zustand, der fast einer Euphorie gleichkam. Sie konnte sich nicht auf den Füßen halten. Ihre Beine gaben einfach unter ihr nach, als wären sie aus alten Spinatstrünken gemacht, und sie merkte, dass sie wieder im Schlamm saß und ihr silberfarbenes Hochzeitskleid um sie herum knittrige Falten warf. Ein zorniger Austausch von Rufen und Beschuldigungen erfolgte, durch den Laird Malverns Stimme wie ein Schwert hindurchschnitt. »Wir haben dank eurer Dummheit bereits ein Opfer verloren«, sagte er eisig. »Und die Blaugardisten sind uns dicht auf den Fersen. Wir haben keine Zeit hierfür. Nehmt nur mit, was wir tragen können. Ballard, du bist der Kräftigste, du nimmst den Prionnsa. Fessele ihn gut. Piers, du nimmst die Banprionnsa. Dedrie, Ihr werdet mit Irving reiten müssen. Jem, reite voraus und versichere dich, dass kein Hinterhalt auf uns wartet. Und jetzt zu den Pferden, ihr alle!« Olwynne merkte, wie sie zu einem großen, dünnen Mann mit grauen Augen hinaufgereicht wurde, der eine Entschuldigung murmelte, als er sie auf den Sattel vor sich nahm. Olwynnes Handgelenke waren vor ihrem Körper fest zusammengebunden, und obwohl der Mann, der sie festhielt, sie ständig 62 um Verzeihung bat, hielt er sie mit eisenhartem Griff. Olwynne konnte nur dankbar sein, dass sie nicht vor Jem mit seinem hei-
ßen, lüsternen Blick gesetzt worden war, oder vor Irving, der so wirkte, als würde er junge Hunde zum Vergnügen aufhängen. Die Gruppe des Laird bestand aus zwölf Leuten, mit Dedrie als einziger Frau. Drei der Männer waren alt, gebeugt, ergraut und hinfällig, und es fiel ihnen sehr schwer, ihre Pferde in dem von Laird Malvern geforderten Tempo anzutreiben. Obwohl er ihre Pferde selbst mit seiner langen Reitgerte antrieb, und einmal frustriert auch den alten Bibliothekar Gerard, der nicht aufhören wollte zu jammern, stockte ihr Tempo dennoch. Also befahl Laird Malvern, sie auf ihren Pferden festzubinden und die Zügel von den jüngeren, kräftigeren Mitgliedern der Gruppe übernehmen zu lassen. Die armen alten Männer wurden ebenso schlimm durchgeschüttelt und umhergestoßen wie Owein und Olwynne, und ihr Wehklagen und ihre Schmerzensschreie bildeten einen beständigen Konterpunkt zu der ungleichmäßigen Melodie der Pferdehufe auf der steinigen Straße. Olwynne war eine gute Reiterin, und sie tat ihr Bestes, im Sattel zu bleiben. Aber mit gefesselten Händen, behindert von den wogenden Röcken und dem gegen ihren Beckenknochen prallenden Sattelknauf, wurde sie dennoch arg durchgeschüttelt. Sie wäre viele Male hinuntergefallen, wenn nicht die starken Arme des Mannes hinter ihr gewesen wären. Zuerst saß sie kerzengerade und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ihr Rücken seine Brust streifte, aber bald ließ sie ihr Gewicht nur allzu gerne gegen ihn sinken. In der Dämmerung strauchelten die Pferde, und Olwynne weinte vor Erschöpfung. Sie tat ihr Bestes, es vor den anderen zu verbergen, aber sie konnte es dem Mann, der sie festhielt, nicht verhehlen. Er spürte jedes Erbeben und jeden Schluchzer und flüsterte ihr beständig zu: »Es tut mir so leid, Euer Hoheit. Es dauert nicht mehr lange. Kopf hoch.« 63 Olwynne konnte sich nur mit dem Arm übers Gesicht wischen und versuchen durchzuatmen. Die Straße war schon den größten Teil des Tages abwärts verlaufen, und die Landschaft hatte sich allmählich von hoch auf-
ragenden, grauen Bergen, die aus dunklen Tannen- und Kiefernwäldern aufstiegen, zu steilen Felsschluchten verändert, die in wogende Hügel grünen Waldes hinabführten. Als das Tageslicht zu schwinden begann, hielt Dedrie nach einem Lagerplatz Ausschau. Die Pferde waren so erschöpft, dass sie trotz der Peitschenhiebe und der Sporenstiche nur noch mit hängenden Köpfen vorantrotten konnten. Olwynne hatte weiterhin das Gefühl zu fallen und erwachte jäh, schreiend und sich krampfhaft an die Arme um ihre Taille klammernd. »Ganz ruhig, Euer Hoheit«, flüsterte der Man. »Wir werden jetzt jeden Moment Halt machen, und dann könnt Ihr Euch ein wenig ausruhen.« »Wann?«, rief sie verdrossen. »Wann können wir Halt machen?« »Wenn mein Laird den Befehl gibt«, sagte er. Olwynne unterdrückte ein Schluchzen. Jem kam im Trab die Straße herab. Sein Pferd war ganz von Schaum bedeckt, und Blut lief an den Stellen seine Flanken hinab, wo Jem seine Sporen hinein gegraben hatte. »Vor uns befinden sich Köhler, Mylaird. Mit einem Rollwagen und sechs Pferden.« »Ausgezeichnet«, sagte Laird Malvern. »Nehmen wir sie ihnen ab.« Er befahl den Reitern, seitlich der Straße Stellung zu beziehen, und Olwynne durfte absteigen, wenn man das unbeholfen und eilig vom Pferd Gleiten und im Schlamm Zusammensacken als Absteigen bezeichnen konnte. Owein wurde auch auf den Boden geworfen, und Olwynne sah, dass es ihrem Zwilling weitaus schlechter ging als ihr. Er war bewusstlos, und seine Sommer 64 sprossen hoben sich orangefarben von der bleichen Haut ab. Getrocknetes Blut verbarg die Hälfte seines Gesichts, und seine Handgelenke waren rotes, rohes Fleisch. Sie kroch mit einem elenden Schrei zu ihm und nahm seinen Kopf auf den Schoß. Mehr konnte sie nicht tun.
Die alten Männer wurden von ihren Pferden gehoben und bekamen Wasser zu trinken. Sie wirkten fahler und hinfälliger denn je. Olwynne sah, wie der Mann, der mit ihr geritten war, einen der alten Männer in seine Arme hob und ihn, in einen Umhang gewickelt, auf das weiche Gras am Rande der Straße legte. Der alte Mann öffnete die Augen, lächelte schwach und flüsterte: »Danke, Piers.« »Schaffst du es noch, Dai-dein?«, fragte Piers sanft. »Ich wünschte, du wärst niemals mitgekommen ... Ich wünschte ...« »Viel zu spät für Wünsche«, flüsterte der alte Mann und schloss seufzend die Augen. Piers gab seinem Vater aus einer silbernen, mit Gravuren verzierten Flasche etwas zu trinken. Er schluckte dankbar, und ein Teil der blauen Verfärbungen um seinen Mund wichen. Dann brachte Piers die Flasche zu Olwynne, und sie wischte deren Hals mit dem am wenigsten beschmutzten Teil ihres Rockes sorgfältig ab und trank vorsichtig. Es war Whiskey, der sich wie Säure einen Weg ihre Speiseröhre hinab brannte. Als sie wieder aufhörte zu husten und zu würgen, fühlte sie sich von erstaunlicher Kraft und Wärme und von Elan durchströmt. Sie hob Oweins Kopf an und goß einige Tropfen auch in seinen Mund. Das munterte ihn ein wenig auf, und er nahm ihr die Flasche mit seinen gefesselten, blutigen Händen ab und nahm noch einen großen Schluck. »Eà sei Dank für das Wasser des Lebens«, keuchte er. »Släinte mhath!« »Släinthe mhath«, wiederholte sie ironisch. Während Olwynne mit Oweins Kopf auf ihrem Schoß dage 65 sessen hatte, waren Jem, Irving und Kennard der Kutscher sowie Ballard der Leibwächter mit grimmigen Gesichtern weiter die Straße hinabgeschritten. Niemand schien sich wegen der armen, ahnungslosen Köhler vor ihnen große Sorgen zu machen. Olwynne konnte nur hoffen, dass sie nicht um ihren Rollwagen und die Zugpferde kämpfen würden.
Laird Malvern saß auf einem Stein, seinen mit Pelz besetzten Umhang um die Schultern gelegt. Sein Kammerdiener kniete vor ihm und massierte seine bestrumpften Füße. Dedrie brachte ihm Whiskey, etwas Brot und kaltes Fleisch und entschuldigte sich für die karge Verpflegung. Sie ignorierte Owein und Olwynne. Olwynne hatte seit dem Mittag, als sie etwas trockenes Brot bekommen hatte, an dem sie unterwegs knabbern konnte, sowie einem Mundvoll Wasser nichts mehr zu sich genommen. Ihr Mund war so trocken, dass sich ihre Zunge wie eine Eidechse anfühlte. »Wir brauchen Wasser und etwas zu essen«, sagte sie laut. »Wollt Ihr, dass wir sterben, bevor Ihr uns opfern könnt?« Laird Malvern vollführte eine gelangweilte Geste, und Dedrie brachte ihnen den Wasserschlauch und warf ihnen etwas Brot zu. Es war so trocken und alt, dass Olwynne es nicht essen konnte, nicht einmal, nachdem sie Wasser darauf geträufelt hatte. Sie begnügte sich mit großen Schlucken Wasser und half Owein dabei, ebenfalls etwas zu trinken. Piers bot ihnen weiteren Whiskey an, mit unglücklich verzogenem Mund, und Olwynne nahm ihn an, obwohl sie Whiskey nie gemocht hatte. Er war besser als Brot, kräftiger und wärmender, und erfüllte sie mit einem Mut, der ihr vollkommen unangebracht erschien. Als Jem zurückkehrte, dämmerte es bereits. Olwynne und Owein wurden gezwungen, die Straße hinabzustolpern, da die Pferde zu erschöpft waren, um ihre doppelte Last noch zu tragen. Ihre Erniedrigung wurde vollkommen, als Laird Malvern 66 befahl, ihnen Seile um den Hals zu legen. Jedes Mal, wenn sie wankten oder stolperten, wurden sie wieder hochgezogen, wobei das Seil in ihre Hälse einschnitt. So würde es sich also anfühlen, gehängt zu werden, dachte Olwynne und wurde von tiefer, bitterer Reue erfüllt. In der Dunkelheit gelangten sie auf eine Lichtung. Olwynne konnte über das mangelnde Licht nur froh sein. Ihre Gefangenenwärter hatten die friedlichen Köhler, die sich hier abgeplagt hatten, niedergemetzelt und ihre Leichen auf eine Seite gewor-
fen. Olwynne konnte ihre schlaffen Körper, die wie ein Haufen abgelegte Kleidung wirkten, im flackernden Licht des großen Lagerfeuers sehen. Sie fühlte sich seltsam, kalt und Elend und konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Jem, Irving, Kennard und Ballard tranken mit großem Genuss aus Jems mattiertem Flachmann. Auf dem Spieß über dem Feuer drehte sich eine Ziege und erfüllte die Luft mit dem Duft gebratenen Fleisches. Olwynne musste würgen und weinte. Owein wirkte ernst. »Dies sind wirklich böse Menschen«, flüsterte er Olwynne zu. »Bleib in meiner Nähe. Ich kann nur hoffen, dass sie uns unbeschadet dorthin bringen wollen, wo auch immer wir hingehen. Versuche, keine Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.« »Was haben sie mit uns vor?«, flüsterte Olwynne gequält. »Warum nennen sie uns >die Opfer« »Ich weiß es nicht«, antwortete Owein kurz darauf. »Und ich fürchte mich davor, auch nur Vermutungen anzustellen.« Olwynne erschauderte. Piers bemerkte es und brachte ihnen einige grobe, alte Decken, die, dem Geruch von Schweiß und Holzrauch nach zu urteilen, einst den Köhlern gehört haben mussten. Olwynne schlang dankbar eine um sich. Sie war für eine Mittsommer-Hochzeit gekleidet, nicht für einen Marsch durch einen winterlichen Wald. »Glaubst du, sie wird zurückkommen, um uns zu holen?«, 67 flüsterte Owein etwas später, als die Männer mit ihrer Mahlzeit beschäftigt waren und sie nicht hören konnten. Er blickte in den Nachthimmel hinauf, der von eintausend Sternen übersät war. Der fast volle rote Mond stieg gerade auf und leuchtete wie eine schimmelige Apfelsine. Olwynne spürte Tränen in ihren Augen brennen. Ihr fiel kein Grund ein, warum Rhiannon ihr Leben oder das Leben ihres Pferdes riskieren sollte, um zu ihrer Rettung zu kommen, da Olwynne ihr doch den Mann gestohlen hatte, den sie liebte. Rhiannon würde jubeln, wenn sie von der Demütigung und dem Schmerz erfuhr, die Olwynne nun erlitt. Olwynne konnte es
jedoch nicht ertragen, die Hoffnung in der Stimme ihres Zwillingsbruders zu ersticken. »Sie wird bestimmt kommen«, log sie. DER HIMMELSGLOBUS Rhiannon saß viele Meilen entfernt in einem kleinen, recht einfachen Dorfgasthaus an einem wärmenden Feuer, einen Becher Ale in Händen und ein angenehm warmes Gefühl im Herzen, während sie beobachtete, wie sich Roden in die Arme seiner Mutter schmiegte. Sie hatten Alloway vollkommen mühelos gefunden, waren einfach der schmalen Linie der Straße durch den Wald zurück zum Flussufer gefolgt. Nina hatte auf sie gewartet, auf einem Zaun lehnend, eine Hand erhoben, um ihr Gesicht vor der Sonne abzuschirmen. Beim Anblick Schwarzdorns hatte sie zu winken und zu rufen begonnen, und Roden wäre fast zu Tode gestürzt, als er sich von Schwarzdorn herabbeugte und wie verrückt zurückwinkte. Rhiannon hatte seinen zappelnden, sich windenden kleinen Körper mit festem Griff umfangen, bis die geflügelte 68 Stute auf der Wiese landen und sie Roden auf den Boden hinablassen konnte. Er war rufend über den Schnee gelaufen und hatte sich in die Arme seiner Mutter gestürzt, während sein Vater Iven aus dem Gasthaus gelaufen kam und sich ihnen in einem glücklichen Tumult von Tränen und Umarmungen und Küssen angeschlossen hatte. Ihr Anblick hatte eine tiefe Wirkung auf Rhiannon gehabt. Sie hatte gemerkt, dass sich ihre Brust unter Schluchzern hob und senkte, die sie nicht erklären konnte und deren sie sich recht heftig schämte. Sie hatte sich Zeit gelassen, ihre Satteltaschen von Schwarzdorns Rücken zu nehmen, ihr Pferd gründlich abzureiben und es zum Trinken an den Trog zu führen. Als Nina daran dachte, sich umzuwenden und sie zu umarmen, war Rhiannons Gesicht wieder trocken, und ihre Stimme gehorchte ihr auch wieder. Sowohl Schwarzdorn als auch Rhiannon waren nach den letzten Tagen müde, und so waren sie leicht zu überreden gewesen, die
Nacht über zu bleiben. Geflügelte Pferde waren es nicht gewohnt, lange Strecken zu fliegen. Es entsprach eher ihrer Natur, in ihrem Gebiet zu bleiben und beim Grasen umherzuwandern. Ihre Schwingen wurden normalerweise nur benutzt, um Gefahren zu entkommen, oder bei der jährlichen Wanderung von den Sommerweiden hoch in den Bergen zu den Winterweiden weiter unten und wieder zurück. Rhiannon wollte Schwarzdorn nicht durch zu häufige Flüge überanstrengen, besonders wenn sie offenbar einen langen Flug über das Meer vor sich hatten. Also hatte sie die geflügelte Stute mit etwas warmer Maische und einem Ballen Heu sowie einem dicken Strohlager für die Nacht in den Stall gebracht und die Gelegenheit genutzt, sich am Glück ihrer Freunde zu erfreuen. Iven Gelbbart, ein großer, blonder Mann mit einem langen, geteilten Bart, plauderte gesellig mit den Dorfbewohnern, hörte sich alle ihre Geschichten über das schreckliche Wetter und ihre Betrübnis über die Ermordung des Righ an und tat sein Bestes, 69 um sie zu beruhigen. Der behaarte, kleine Arak Lulu saß zu Ninas Füßen. Lulu hatte ihre Arme um die Beine der Zauberin geschlungen und ihr runzeliges, altes Gesicht an Roden gepresst. Der kleine Junge schmiegte seinen Kopf an Ninas Schulter, die Augen geschlossen, seine Wangen von der Hitze des Feuers gerötet. Nina wiegte ihn sanft und tätschelte mit einer Hand seinen Rücken. »Armer kleiner Junge, er ist erschöpft«, flüsterte sie. »Welch ein Abenteuer! Oh Rhiannon, ich kann dir gar nicht genug dafür danken, dass du ihn gerettet hast. Diese letzten Tage waren ein entsetzlicher Albtraum. Ich bin so froh, dass ich ihn wiederhabe es tut so weh, als hätte man mir einen Schlag aufs Herz versetzt.« Sie legte eine Hand auf ihre Brust, während Tränen ihr Gesicht herabströmten. »Ich werde ihn niemals wieder aus den Augen lassen, keinen Moment.« Sie atmete tief und abgehackt ein und ergriff dann Rhiannons Hand. »Wenn ich jemals etwas für dich tun kann, Rhiannon, egal was ...« »Danke«, erwiderte Rhiannon schroff. »Aber da gibt es nichts.«
Nina zögerte und sagte dann sanft: »Rhiannon, wenn dies alles vorüber ist und du aus dem Dienst der Banrigh entlassen wirst... wenn du merkst, dass du ihr nicht mehr dienen willst... und nicht zum Studium an die Theurgia gehen willst, wie Isabeau es wünscht... kommst du dann zu mir? Wo auch immer wir sind, du wirst uns stets willkommen sein.« »Ich weiß, dass Iven für seine Darbietung sehr gerne zusätzlich ein fliegendes Pferd hätte«, erwiderte Rhiannon lachend. Nina und Iven waren Jongleure, die im Lande umherreisten, in den Dörfern und Städten sangen und spielten und insgeheim Informationen für den Hexensabbat beziehungsweise die Krone sammelten. Von dem Moment an, als Iven Rhiannon und ihre geflügelte Stute sah, hatte er sich die Menschenmengen vorgestellt, die sie anziehen würden, wenn sie sich ihrer kleinen Truppe anschlössen. Beide wussten, dass Rhiannon weder das Talent noch 70 die Neigung dazu hatte, eine Jongleurin zu sein, aber es war während der Wochen, die sie miteinander durch Ravenshaw gereist waren, für sie zu einer ständigen Flachserei geworden. Nina lachte. »Das hätte er in der Tat gerne, aber du weißt, dass ich dich nicht deshalb frage.« »Ja, ja, ich weiß«, erwiderte Rhiannon. »Danke, Nina. Ich werde es in Erinnerung behalten.« »Ich werde dies niemals wieder an dir gutmachen können«, sagte Nina. »Niemals.« »Ich bin einfach froh, dass ich ihn retten konnte«, sagte Rhiannon und erinnerte sich an den Anblick des kleinen Jungen im Nachtgewand, barfuß im Schnee, wie er den großen Männern mit ihren ausgestreckten Händen und grimmigen, brutalen Gesichtern, die vom roten Schein des Feuers von unten angestrahlt wurden, auswich. Sie erschauderte, und Blauchen rieb mit seinem gebogenen Schnabel über ihre Wange. »Ich auch«, sagte Nina und lächelte unter Tränen. »Nun, ich werde meinen Jungen jetzt in sein Bett legen, und dann werden wir zusammen zu Abend essen. Ich muss zugeben, dass ich heute
zum ersten Mal, seit dies alles geschah, wieder Hunger verspüre.« »Ich bin auch hungrig«, sagte Rhiannon. Nina lächelte über Rodens Lockenkopf hinweg, während sie ihn auf die Treppe zutrug, Lulu ihr auf den Fersen. »Bist du das nicht immer?«, neckte sie sie. Am Turm der Zwei Monde stützte sich Lewen auf die Steinbalustrade und blickte über den Hexenwald hinaus. Es war kalt. Seine Nase und seine Ohren brannten, und seine Füße in den schweren Stiefeln fühlten sich taub an. Es ergab keinen Sinn, hier zu stehen, wenn in der großen Halle der Theurgia ein Feuer im Kamin loderte und die Lakaien große Schalen herzhafter Gemüsesuppe austeilten. 71 Und doch stand er da und beobachtete, wie die Sonne hinter den dunklen Säulen der Eiben wie ein riesiger, roter Ball unterging, doch sein Verstand und sein Herz waren so verwirrt, dass er nicht hoffen konnte, sie zu klären. Wen liebte er? Das wilde Mädchen, Rhiannon, die so schnell küsste oder zuschlug und so scharfsichtig war, dass es ihn ängstigte? Oder die Banprionnsa Olwynne, seine liebe Freundin, die ihn verführt hatte und mit ihm übers Feuer gesprungen war und die er für immer zu lieben versprochen hatte? Lewen wusste es nicht. Er liebte sie beide, hatte sie beide betrogen, fürchtete um sie beide und wollte sie beide. Nun hatte er sie beide verloren. Irgendwo dort draußen in der kalten Dunkelheit waren seine zwei Geliebten schrecklichen Gefahren ausgesetzt, und er konnte nur zusehen und warten und das Unbehagen kalter Füße erleiden. »Lewen?« Er wandte beim Klang von Felices sanfter Stimme den Kopf und bemühte sich zu lächeln. Felice war ein hübsches, schlankes, dunkelhaariges Mädchen und gehörte zur Gruppe der Hexenlehrlinge, die mit Lewen durch Ravenshaw gereist waren, vor einem schrecklichen Sturm auf Burg Fettercairn Zuflucht gesucht hatten und so in ein
Abenteuer mit Entführungen und Totenbeschwörern, Geistern und verrückten alten Damen geraten waren, das mit Rhiannons Gerichtsverhandlung wegen Mordes geendet hatte. Felice war nicht sehr groß. Sie reichte Lewen kaum bis zur Schulter. Aber sie besaß so viel Liebreiz und war so lebendig, dass sie normalerweise der Mittelpunkt jedes Raumes war, besonders wenn er voll junger Männer war. »Wie geht es dir?«, fragte sie und umfasste mit ihren kleinen, behandschuhten Händen die Balustrade. Er schüttelte den Kopf. »Nicht gut.« »Mir auch nicht.« 72 Sie blickten zum verglimmenden Horizont hinaus. Ein heller Stern erschien über den Bergen. »Wird sie sie retten können?«, fragte Felice mit kleiner Stimme. »Ich weiß es nicht«, antwortete Lewen, zu verletzlich, um falschen Trost zu spenden. »Aber...?« »Ich halte es für wahrscheinlicher, dass sie bei dem Versuch umkommen wird, und Owein und Olwynne auch.« Felice stockte bei einem tapfer unterdrückten Schluchzen der Atem. »Die Welt wurde auf den Kopf gestellt«, sagte Lewen rau. »Nichts ist mehr am richtigen Platz. Ich weiß nicht, was richtig oder falsch, wahr oder unwahr ist.« Felice legte ihre Hand auf seine. »Doch, das weißt du«, sagte sie sanft. »Du weißt es ebenso gut wie ich.« Er schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen. »So empfindest du nur, weil dein Herz verwirrt ist«, sagte Felice . »Wenn sich die Verworrenheit, in der du dich befindest, erst einmal klärt, wird alles wieder gut, das verspreche ich dir.« »Ich weiß nicht, wen ich liebe!«, platzte er heraus. »Ich fühle mich entzweigerissen. In einem Moment bin ich mir sicher, dass es Rhiannon ist, dass sie meine wahre Liebe ist -, aber dann denk ich, dass sich Olwynne in Gefahr befindet, und das macht mich krank vor Angst. Und ich hab ihr versprochen, sie zu heiraten! Wir sind zusammen übers Feuer gesprungen!« Er hielt inne,
presste die Lippen zusammen und sagte dann mit offensichtlicher Mühe: »Ich hätte nie gedacht, dass Liebe so wäre. Ich dachte, man trifft denjenigen, der für einen bestimmt ist, verliebt sich und dann sei alles einfach.« »Es ist einfach«, sagte Felice mit der absoluten Sicherheit in Herzensangelegenheiten, die ihr ihre sechzehn Lebensjahre beschert hatten. »Es ist gleichgültig, wen du zuerst geliebt hast 73 oder wem du versprochen bist. Wichtig ist nur, wen du am meisten liebst.« Er seufzte schwer. Sie tätschelte beruhigend seine Hand. »Mach dir nicht so viele Gedanken. Letztendlich wird alles gut, versprochen.« »Aber wie kannst du so sicher sein?«, wollte Lewen wissen, seinen Blick auf den fernen Horizont gerichtet, wo die Dunkelheit die letzten Sonnenstrahlen rasch verschlang. Die Hexen und die Celestine standen in der Dämmerung erneut Hand in Hand an einem Teich dunkel schimmernden Wassers, ie Sonne ging im Westen unter, und im Osten erhob sich der ote Mond gerade aus seinem Käfig aus Baumzweigen. Isabeau schaute zum fernen Horizont, um den hellen Stern des Westens auszumachen, den Planeten, den sie den Feuerfresser nannten. Er erschien üblicherweise dann, wenn die Sonne unterging, besonders im Sommer. Es war dieser hellrote Funke, der sie auf ihrer wahnsinnigen, gefährlichen, eiligen Reise in der Zeit zurück führen sollte. Der Tag war langsam vergangen. Obwohl sie alle erschöpft waren, froren sie zu sehr, waren zu besorgt und fühlten sich zu unbehaglich, um schlafen zu können. Die Krypta eines bösen Zauberers war kein erholsamer Ort, um den Tag zu verbringen, besonders wenn man wusste, dass der Zauberer geschworen hatte, Gearradh, die Fadenschneiderin, zu überlisten und wieder zu leben, gleichgültig, wessen Lebensblut vergossen würde, um ihn wiederzuerwecken. »Heißes Blut wollte er«, murmelte Ghislaine zu einem Zeitpunkt. »Und er ist ein Zauberer der zehn Ringe.«
»Wie sollen wir es tun?«, fragte Dide, als die Schatten länger zu werden begannen und die Zeit ihres Wagnisses näher rückte. »Wie sollen wir zu der Zeit Branns des Raben zurückreisen?« Isabeau zögerte einen langen Moment. Dide hatte seinen Blick 74 aus dunklen Augen nachdenklich auf ihr Gesicht gerichtet, und sie sah, wie sich sowohl Ghislaine als auch Cailean vorbeugten, um angespannt zu lauschen. »Die Celestine folgen einem Mondkalender«, sagte sie mit leiser Stimme. »Sie navigieren, indem sie die Position und Gestalt der zwei Monde in Bezug zu denjenigen der Sterne berechnen.« Isabeau wusste, dass sie ein Tabu brach, indem sie die Geheimnisse der Celestine offenbarte, konnte aber nicht glauben, dass es von Belang war, wenn in wenigen Stunden alle tot sein konnten oder sich beim Wandern zwischen den Welten verirrten. Sie sah, wie Wolkenschatten ihr bleiches, vom Kummer gezeichnetes Gesicht anhob und sie ansah, aber die Sternträumerin erhob keinen Einspruch, und so fuhr Isabeau fort. »Abgesehen davon, dass es Tore zu den Alten Wegen gibt, helfen die Sternenherzen den Celestine, die Positionen der Sterne und Planeten und Kometen in kommenden Jahren vorauszusagen und auch zu berechnen, wo sie in vergangenen Zeiten standen.« Du hast gut zugehört, sagte Wolkenschatten. Dide und die Hexen beugten sich interessiert vor. »Aber wie können sie wissen, wo die Monde und die Sterne vor tausend Jahren standen?«, fragte Cailean. »Ich meine, es sind nicht einmal genau tausend Jahre. Wie viele sind es? Eintausendeinhundertundsechzehn Jahre seit Branns Tod, haben wir herausgefunden.« »Die Celestine beurteilen die Zeit nicht so, wie wir es tun«, sagte Isabeau und versuchte damit ihr Bestes, etwas zu erklären, was sie selbst nicht vollständig verstand. »Ihr Jahr ist ein Mondjahr. Sie markieren den Durchlauf von Neumond zu Neumond. Um einem solchen System zu folgen, muss man sich, in gewissem Sinne, von der Vorstellung der Jahreszeiten lösen - das Säen der Samen im Frühling, das Einbringen der Ernte im Herbst. Die
Celestine säen und ernten nicht. Sie feiern den Wechsel der Jahreszeiten nicht so wie wir.« 75 »Aber ... solch ein System ist doch gewiss fehlerhaft?«, sagte Cailean. »Die Monde und die Sonne bewegen sich nicht vollkommen zeitgleich. Sie sind aus dem Takt. Ein Jahr mit zwölf Mondmonaten ist kürzer als ein Jahr mit zwölf Sonnenmonaten. Der Mondmonat ist nur achtundzwanzig Tage lang, während der Sonnenmonat dreißig oder einunddreißig Tage hat. Sie verlieren jeden Monat wenige Tage. Mit der Zeit verlieren sie im Kreislauf der Jahreszeiten einen ganzen Monat. Wie schaffen sie es, dass ihre Kalender stimmen?« »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Isabeau. Sie schaute zu Wolkenschatten, die mit starrem Rücken dasaß und zu dem durch die geöffnete Tür des Grabmals hereinfallenden Licht blickte. Die Sternträumerin gab keinen Hinweis darauf, dass sie der leisen Unterhaltung hinter ihr zuhörte. »Ich weiß, dass sie jahreszeitlich bedingte Punkte am Horizont nutzen, um die Laufbahnen der Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge zu kennzeichnen. Wenn die Sonne, zum Beispiel, hinter einem bestimmten Felsen aufgeht, so ist es der kürzeste Tag des Jahres, und wenn sie den ganzen Weg bis zu diesem Felsspalt in den Bergen hinüberwandert, ist es der längste Tag. Ungefähr so.« Cailean lehrte an der Theurgia Alchemie, Astronomie und Mathematik, und dies quälte und verwirrte ihn. »Aber ...«, begann er, und Isabeau konnte an seiner Stimme erkennen, dass er die Fähigkeit der Celestine bezweifelte, durch die Zeit zu reisen. Die Bewahrerin des Schlüssels wollte keine Unsicherheiten. »Sie beobachten nicht nur den Mond, sondern auch die Sterne«, sagte sie. »Donnerlinie hat es mir gezeigt. Ein Stern steigt jede Nacht vier Minuten früher auf. Wenn er während des Tages aufsteigt, kann man ihn natürlich nicht sehen, aber wenn er seinen Rhythmus dem der Nacht angleicht, dann ist er zu sehen und kann beobachtet werden. Der erste Tag, an dem ein bestimmter Stern zu sehen ist, ist der wichtigste. Die Celestine
76 führen Buch darüber - Mondaufgang, Sternenaufgang, Orientierungspunkt. Es ist sehr präzise, über Tausende von Jahren hinweg.« Die anderen waren verwirrt und skeptisch. »Raum und Zeit sind für die Celestine miteinander verknüpft«, versuchte Isabeau zu erklären. »Ihr Kalender basiert auf Orientierungspunkten. Es ist ein Horizontkalender. Ich weiß, das klingt für uns seltsam, aber ihr müsst bedenken, dass die Celestine innig mit ihrer Landschaft verbunden sind. Sie kennen jeden Felsen, jeden Baum, jeden Teich.« »Felsen können zerfallen, Bäume können umstürzen, Wasserquellen können versiegen«, sagte Ghislaine bedeutungsvoll. »Ja, das stimmt«, räumte Isabeau ein. »Und wir haben gesehen, dass sogar die Steinkreise, die die Celestine errichtet haben, zerstört wurden.« Sie vollführte eine vage Geste in Richtung Eingang, zu dem angelegten Teich, der sich auf dem Vorplatz befand. »Und doch währt die Erinnerung der Celestine sehr lange. Sie lehren ihre Kinder das erinnerte, überlieferte Wissen. Wolkenschatten ... die Sternträumerin sagt, dass ihre Berechnungen sehr genau sind und wir ihr glauben müssen.« Ein kurzes Schweigen entstand. Cailean presste die Lippen zusammen, und neben ihm hob Dobhailen den Kopf von seinen Pfoten und knurrte leise. »Ich reise in meinen Träumen oft in meine Kindheit zurück«, sagte Ghislaine versonnen. »Manchmal ist es eine glückliche Reise. Manchmal erwache ich weinend. Wir haben damit experimentiert, auch noch weiter zurückzureisen, bis über den Moment der eigenen Geburt hinaus, zu den Leben zurück die davor kamen.« Isabeau nickte. Sie war sich jener Experimente sehr wohl bewusst. Viele Zauberinnen, einschließlich ihr selbst, hatten Visionen von früheren Leben, während sie tief in einer Trance waren. Es war stets schwierig, sich beim Aufwachen daran zu erinnern, 76
wie bei jedem Traum, aber Traumwandler waren darin geübt, sich zu erinnern und die Bilder festzuhalten, die ihr Geist unbewusst aufgeworfen hat, und dann zu versuchen, das, was sie geträumt haben, zu deuten. »Aber so weit zurückzugehen, in meinem eigenen Körper ... das scheint wirklich unmöglich«, sagte Ghislaine und hob einen Moment den Blick um Isabeau direkt anzusehen. »Ich habe unwillkürlich Angst.« »Ich hab jede Straße Eileanans bereist, bis auf diese«, sagte Dide heiter. »Es ist vielleicht das größte Abenteuer von allen.« Isabeau sah ihn lächelnd an. »Wir wären Narren, wenn wir nicht fürchteten, was vor uns liegt«, sagte sie. »Daran besteht kein Zweifel. Aber ich vertraue der Sternträumerin. Ich bin mir sicher, dass sie uns gut führen wird.« Die Furche zwischen Caileans Augenbrauen vertiefte sich, und er zog Dobhailen an den Ohren, um das leise Grollen zu beruhigen, das erneut aus der Kehle des Hundes aufstieg. Derjenige, der Hunde herbei pfeifen kann, ist besorgt, sagte Wolkenschatten, erhob sich und trat vor sie hin. Ihre Stimme im Geiste hörend, sah Cailean bestürzt auf. Er ist jemand, der in Ordnung und Wissen Schönheit erkennt. Er weiß gerne, dass er die Macht und Einsicht seines Geistes benutzen kann, um dem einen Sinn zu geben, was unverständlich scheint. Ich empfinde auf vielerlei Arten mit ihm, denn der Wunsch, Ordnung ins Chaos zu bringen, ist etwas, was meine Verwandten mit jenen deiner Art verbindet. Wie dem auch sei, eines der grundlegenden Gesetze der Natur lautet, dass sich Unordnung stets vermehren wird. Ein Apfel ist eine Gestalt und Form äußerster Perfektion, und doch wird er verfaulen und zerfallen und letztendlich wieder mit der Erde verschmelzen, damit daraus, vielleicht, beizeiten, ein weiterer Apfelbaum wächst, der im Laufe der Zeit ebenfalls zerfallen wird. Auch dies ist wahr. Der Stoff dieser Erde, dieses Universums, kann niemals zerstört werden. Er verändert sich nur von einer Form zu einer anderen. 77
Ein Apfel verfault und nährt die Erde. Ein Apfelsame wird zu einem Baum. Ein Baum stürzt um und wird Feuerholz, das verbrannt und zu Asche wird. Die Ordnung bricht zusammen und wird zum Chaos. Daran sollte man immer denken, Hundepfeifer. Sie hatten alle schweigend zugehört, von ihren Worten verzückt. Wir können diese Reise nicht unternehmen, wenn wir von Ängsten und Zweifeln bedrängt werden, führ sie fort. Die bösen Geister, welche die Alten Wege heimsuchen, werden von solchen Empfindungen angezogen. Sie nähren sich daran und werden stärker. Ich möchte Euch nicht bei mir haben, Hundepfeifer, wenn Ihr meine Fähigkeit anzweifelt, durch Zeit und Raum zu reisen. Cailean errötete. Er hätte widersprochen, aber sie hob eine Hand, und er schwieg, biss sich auf die Lippen. Wir von den Celestine, wie Ihr von Eurer Art uns gerne nennt, haben über die Jahrhunderte hinweg gelernt, Euch Menschen nicht leichtfertig zu vertrauen, oder, was das betrifft, überhaupt irgend-jemandem. Unsere Gesetze und unsere Lehre geheim zu halten, liegt in unserer Natur. Dies sind tiefe Mysterien. Sie sind heilig. Wie dem auch sei, heute Abend werde ich vollkommen willentlich eines unserer heiligsten Tabus brechen. Wenn man bedenkt, worauf wir uns gemeinsam einlassen, erscheint es mir eine belanglose Angelegenheit, Euch auch andere Geheimnisse zu enthüllen. Sturmreiter, magst du diesen Menschen zeigen, was du bei dir hast? Der junge Celestine hatte ruhig zugehört, die Arme über der Brust verschränkt. Die Furche seiner Haut, die sein drittes Auge verbarg, war fest verschlossen, als runzele er die Stirn. Er folgte Wolkenschattens Bitte zunächst nicht, lange genug, dass Wolkenschatten auch selbst die Stirn runzelte und sich ihm gebieterisch zuwandte. Sturmreiter, sagte sie leise. Wie Ihr wünscht, meine Sternträumerin, erwiderte er dann, löste die Arme und entspannte die Furche zwischen seinen Augen. 78
Sein drittes Auge öffnete sich und schweifte mit einem düsteren, unergründlichen Blick über sie alle hinweg. Dann beugte er sich herab und nahm den großen Sack neben der Tür hoch, den er auf seiner Schulter getragen hatte. Er löste ganz vorsichtig die Kordel und schlug die Stofffalten zurück, so dass eine Kugel aus miteinander verbundenen Metallkreisen sichtbar wurde. Er nahm sie mit beiden Händen hervor und löste einen kleinen Hebel, der abwärtsschwang und zu einem kunstvollen Ständer mit drei Füßen wurde. Sturmreiter setzte die Kugel auf ihren Ständer und drehte sie dann sanft. Die Hexen schrien vor Erstaunen und Verwunderung alle laut auf, als die Kugel mit leisem Sirren aufsprang. Es war eine Himmelskugel, welche die Positionen der Sonne und der Planeten, der Monde und der Sterne veranschaulichte. In geschlossenem Zustand war sie nicht größer gewesen als der Kopf eines Menschen, aber nun maß sie zwölf Fuß in alle Richtungen. In der Mitte befand sich die Sonne, eine Kugel aus brüniertem, rotem Metall, in das Wellenlinien eingraviert waren. Darum herum drehten sich, jeder auf seinem eigenen elliptischen Kreis, die Planeten. Ihr eigener Planet war nicht größer als ein Johannisapfel, und seine zwei Monde waren so klein wie Pfefferkörner. Rund um das Ganze befanden sich mehrere Metallkreise mit eingravierten Maßeinheiten und Symbolen. Isabeau erkannte sofort die große Ähnlichkeit mit dem gitterartigen Himmelsglobus, der im Observatorium am Teich der Zwei Monde aufbewahrt wurde. Dieser war jedoch weitaus größer und komplizierter und wurde von einer Art Federwerk-Vorrichtung betrieben, so dass sich all die kleinen Teile drehten und bewegten. »Es ist wie ein Astrolabium!«, rief Cailean aus. »Ein Himmelsastrolabium. Siehst du diese Scheiben, Beau? Sie müssen ... was messen? Den Auf- und Untergang der Sterne?« Sturmreiters Gesicht erwärmte sich bei dem eifrigen Interesse in Caileans Stimme. Er nickte und begann dem Zauberer die Vor 9i
richtung zu erklären, ihm zu zeigen, wie kleine Bronzemarkierungen auf den äußeren Skalenscheiben hierhin und dorthin bewegt werden konnten, um Zeit und Ort festzulegen, und wie sich all die kleinen Kugeln daraufhin drehten, die genaue Himmelsposition jeder kosmologischen Markierung anzeigten. »Ich wusste nicht, dass die Celestine solche Dinge besitzen«, sagte Dide leise zu Isabeau. »Ich dachte, sie lebten einfach im Wald und äßen Beeren und Früchte. Ich hätte nicht gedacht, dass sie wüssten, wie man Metall bearbeitet.« Nur weil wir keine Kriegswaffen herstellen, oder Werkzeuge, um die Erde zu schänden, oder sinnlose Torheiten, um unsere Glieder zu schmücken, bedeutet das noch lange nicht, dass uns die Fähigkeit vollkommen abgeht, mit Feuer Metall zu schmieden, sagte Wolkenschatten kalt. Sturmreiter entstammt der Sternschmied-Familie. Wie sie alle, hat auch er die Geheimnisse des Benutzens von Metall zum Messen und Aufzeichnen von Zeit und Raum gelernt. Anderen Familien werden die Geheimnisse der Steine oder des Wassers, der Seide oder der Bäume und Blumen gelehrt. Wir teilen alle die gemeinschaftlichen Lieder und Geschichten, nur nicht die tiefe Weisheit, welche die Bürde der neun Familien ist. Sowohl Isabeau als auch Dide waren sprachlos. Je mehr sie über die Celestine erfuhren, desto deutlicher erkannten sie, dass sie nichts wussten, und desto oberflächlicher schienen ihre Mutmaßungen. »Seht nur, dies ist wirklich erstaunlich!« Cailean wandte sich mit begeistertem Gesicht zu ihnen um. »Es funktioniert wirklich wie ein Astrolabium, aber weitaus präziser! Wir sind hier ...«Er ließ die kunstvollen Ringe mit einer leichten Berührung eines Fingers kreisen, bis sie deutlich sehen konnten, wo die Erde in Bezug zur Sonne und den übrigen Planeten stand und wo sich die Monde in Bezug zur Erde befanden. Dann erklärte er ihnen mit hervorsprudelnden Worten, wo all die Konstellationen auf-und am Nachthimmel wieder untergingen. 80
»Nun, wir wissen, wohin wir in der Zeit zurückgehen wollen, und so können wir, wenn wir den Zeiger einfach zu dieser kleinen Markierung rücken, genau sehen, wo vor eintausendeinhundertundsechzehn Jahren alles in Bezug zu allem stand. Das Problem ist natürlich, den Unterschied zwischen unseren Sonnenjahren und ihren Mondjahren zu berechnen, aber da sie alles in Form von Kreisen ausdrücken, ist es nicht so schwer, wie man es sich vorstellt. Seht Ihr, hier? Zweihundertfünfunddreißig ihrer Monate entsprechen genau neunzehn unserer Sonnenjahre, die jedes sechstausendneunhundertvierzigTage haben. Sie nennen es einen Großen Kreis. Wenn Ihr das vervierfacht, habt Ihr sechsundsiebzig Sonnenjahre oder neunhundertvierzig Mondmonate mit jeweils siebenundzwanzigtausendsiebenhundertundsechzig Tagen, was sie einen Heiligen Kreis nennen ...« »In Zeiten wie diesen bedauere ich, keine formelle Ausbildung genossen zu haben«, sagte Dide mit verzerrtem Unterton zu Isabeau. »Diesen äußeren Kreis nennen sie den Sternentanz. Er kennzeichnet die Zeiten von Sternenauf- und -Untergang, und diesen kleinen nennen sie die Häuser des Mondes. So kann man sehen, nur indem man diesen Zeiger verschiebt, welche Phasen der Monde zu dem Zeitpunkt herrschten, als ein bestimmter Stern auf- oder unterging, und indem man das tut, seht Ihr, könnt Ihr genau herausfinden, wie der Himmel in der Abenddämmerung zu dem von uns ausgewählten Zeitpunkt aussah. Die Sternträumerin merkt sich dies zusammen mit den Landschaftsmarkierungen, diesem Horizontkalender, den Ihr zuvor erklärt habt, und legt ihren Kurs dann danach fest. Es ist wirklich genau wie das Navigieren, wenn auch gleichzeitig durch Zeit und Raum.« »Wie erstaunlich«, sagte Ghislaine. »Ich frage mich, ob ich einen solchen Mechanismus als Hilfe beim Traumwandeln durch die Zeiten nutzen könnte? Wir neigen dazu, Erinnerungsmarkierungen zu benutzen. Ihr wisst schon, Gerüche, Formen, die 81
Beschaffenheit bestimmter Materialien, Musik oder andere Klangvorgaben. Aber sie sind sehr ungenau.« Cailean und Sturmreiter verbrachten den Rest des Tages damit, das Himmelsastrolabium zu studieren und ihr Bestes zu tun, seine Mysterien denjenigen zu erklären, die von Astronomie und Mathematik nicht so fasziniert waren. Ghislaine hörte nicht zu. Sie war in einem Traum verloren, stellte sich ihr eigenes Navigationswerkzeug als Hilfe beim Traumwandeln vor. Dide saß da, klimperte auf seiner Gitarre und begann, zu Lachlans Ehren, ein Klagelied zu komponieren. Isabeau schritt auf und ab, kaute an ihren Fingernägeln, bis die Nagelhäute bluteten, und gab sich große Mühe, nicht vor Zorn aufzuschreien, weil die Zeit so schleppend verging. Hier, in Branns Grabmal, schien seine Stimme lauter und zwingender denn je. Die Sonne war allmählich zum Horizont gesunken, und die kleine Gruppe begann, sich vorzubereiten. Dobhailen war auf die Jagd gegangen und kam mit blutiger Schnauze und einigen wenigen an seinem Maul klebenden Büscheln Kaninchenfell zurück. Die Celestine aßen eine bescheidene Mahlzeit aus Körnern, Nüssen, Trockenfrüchten und Wasser. Die Hexen genossen ein etwas gehaltvolleres Mahl aus Brot und Käse, Glockenfruchtmarmelade und getrockneten Aprikosen sowie einer Flasche Goldschlehenwein. Dieser Wein war normalerweise für Feste und Hochzeiten reserviert, da sehr viele Goldschlehen benötigt wurden, um ihn herzustellen. Er verlieh ihrem Picknick eine feierliche Note, als wäre es in der Tat ihr letztes Abendessen. Als alle ihren Anteil gegessen und getrunken und alles aufgeräumt hatten, stellten sie sich an den Teich und verschränkten ihre Hände zu einer Kette. Wolkenschatten hatte ihre Zeit damit verbracht, Runensymbole auf die flachen, dunklen Steine zu malen, die sie rund um das Mausoleum gesammelt hatte. Sie hatte diese im gleichen Muster wie einst die Menhire um den Teich arrangiert. Nun hielt sie einen der Steine, auf den vier Symbole 82
gemalt waren, in ihrer Hand - die Zeichen für die untergehende Sonne, einen aufgehenden Stern, einen Dreiviertelmond und einen Felsen. Sie trat durch zwei der runenbemalten Steine und verschwand, Isabeau mit sich ziehend. Isabeau stürzte in einen Strudel tosenden, roten Lichts. Er zog an ihren Armen und Beinen, wollte ihr den Kopf vom Körper zerren. Obwohl sie zu laufen versuchte, wie man es tun muss, wenn man die Alten Wege bereist, reagierte ihr Körper nur sehr, sehr langsam. Es war wie einer jener Albträume, in denen man schreien will, aber keine Stimme hat, oder laufen will, die Füße aber am Boden kleben, oder um sich schlagen will, die Luft aber zu Sirup geworden ist. Selbst das Atemholen war eine enorme Anstrengung, und die Luft schien ihre Lungen schrumpfen zu lassen. Normalerweise konnte man, wenn man die Alten Wege bereiste, auf der anderen Seite verschwommen die Landschaft sehen, die man durchquerte, als trüge einen jeder Schritt hundert Meilen weit. Was Isabeau durch das rote Inferno der Flammen sah, war jedoch etwas ganz anderes. Die Landschaft stand im Wesentlichen still. Jedoch änderte sich alles, und zwar so schnell, dass Isabeau keine Zeit hatte, irgendwelche Einzelheiten in sich aufzunehmen, bevor sie vorüber waren. Sterne wirbelten über ihr umher, erschienen und schwanden in Sekunden, um vom raschen Vorüberfliegen von Wolken, dem Heller- und Dunkler werden des Himmels, dem sich wiederholenden schnellen Durchlauf des Mondes von Neumond zu Vollmond und zurück, gefolgt zu werden. Ausgewachsene Bäume schrumpften auf Samen zusammen, gerodetes Land wurde wieder zu Wald, Stürme tobten und beruhigten sich, Jahreszeiten zuckten vorüber. Der Lauf der Ströme und Flüsse änderte sich, und die dicken, knorrigen Stämme uralter Eiben wurden zu jungen, schlanken Setzlingen, die frisch gepflanzt waren. All dies geschah in der Zeit, die sie brauchte, um vier schmerzhafte, keuchende Atemzüge zu tun und ihre ungeheuer schweren, unempfänglichen Glieder dazu 83
zu zwingen, vier stolpernde Schritte vorwärtszugehen. Ihre Gelenke ächzten vor Schmerz, und ihre Extremitäten waren taub und prickelten wie unter Nadelstichen, so dass sie nicht spüren konnte, dass Dide hinter ihr an ihrer Hand ging. Plötzlich wurde sie durch den Strudel hinab gesogen. Es geschah so schnell, so unerwartet, dass Isabeau nicht schreien konnte. Es fühlte sich-einen Moment so an, als würde sie von Pferden auseinandergerissen, der Druck auf ihren Gliedern war unerträglich. Dann wurde sie auf der anderen Seite ausgespien, fiel auf Knien auf die Steinplatten und schluchzte vor Schmerz und Entsetzen. Sie kniete in der Abenddämmerung neben dem Teich auf dem Vorplatz des Grabmals der Raben, an genau demselben Fleck, wo sie nur Sekunden zuvor gestanden hatte. Aber nichts war mehr wie zuvor. WICKELN UND WACHEN Die Glocken läuteten und erfüllten die Luft mit ihrem melancholischen Klang. Der Leichenwagen bewegte sich langsam die Straße entlang, von sechs schwarzen Pferden mit schweren, schwarzen Schabracken gezogen. Ihre Köpfe waren bedeckt, und hohe, schwarze Federn wippten auf ihren Stirnriemen. Neben ihnen schritten sechs schwarz gekleidete Lords mit Bannern, die im kalten Wind flatterten. Der königliche Dudelsackpfeifer marschierte der Prozession voran und spielte ein trauervolles Klagelied, während die Herolde hinter ihm weitere Banner trugen. Iseult, von Kopf bis Fuß in düsteres Schwarz gekleidet, kam hinter dem Leichenwagen. Unter ihrem schweren Kopfputz war keine Strähne ihres roten Haars zu sehen. Ihr Gewand war an der 84 Kehle mit einer Brosche aus Ebenholz und Glas festgesteckt, in der eine Locke ihres toten Ehemannes zu sehen war. Hinter ihr kam Bronwen, ebenso düster gekleidet, mit gesenktem Gesicht. Der Leitstern, den sie mit beiden Händen umklammert hielt, schimmerte wie ein fahler Stern, das einzig Prächtige
in der gesamten feierlichen Prozession. Die Reihe der Trauernden erstreckte sich zwei Meilen weit hinter dem Leichenwagen, dem sie würdevoll auf dem Weg zum Palastfriedhof folgte. Alle waren in gediegenes Schwarz gekleidet, und viele in der Menge weinten, während Lachlan der Geflügelte zur letzten Ruhe gebettet wurde. Er war im Bankettsaal drei Tage lang feierlich aufgebahrt worden, von Reihen von Kerzen umgeben und von seiner Witwe, seinen Freunden und Dienstboten bewacht. Dann waren die Hebammen gekommen, um ihn zu waschen und so sanft und gründlich in weißes Leinen zu hüllen, wie sie es bei einem neugeborenen Säugling getan hätten. Blumen und Kräuter - Rosmarin, süßer Waldmeister und Lavendel - wurden mit eingewickelt, um den Verwesungsgeruch zu bekämpfen. Normalerweise wäre auch der Sarg mit Blumen überhäuft worden, aber der nach Lachlans Ermordung einsetzende Frost hatte den Garten verwüstet. Es war den Hebammen schon schwer gefallen, überhaupt noch frische Kräuter zum Einbinden zu finden. Daher war Lachlans Sarg von einem Arrangement immergrüner Blätter gekrönt - Eibe, Efeu und Stechpalme -, und diejenigen, die hinter dem Leichenwagen gingen, trugen Zweige immergrünen Rosmarins in ihren schwarz behandschuhten Händen. Lachlan der Geflügelte wurde neben dem kleinen Grab seiner Tochter Lavinya, Donncans Zwillingsschwester, bestattet, die bei der Geburt gestorben war. Iseult weinte nicht. Ihr Gesicht war so ausdruckslos wie eine Gipsmaske. Das einzige Zeichen ihrer schmerzlichen Trauer war die Kälte, die über den Friedhof hereingebrochen war. Schnee wirbelte aus einem bleiernen 85 Himmel, und der Atem derjenigen, die zusahen, wehte als weiße Fahnen vor ihren Gesichtern. Alle waren froh, zum Palast zurückeilen, ihre Hände an Bechern mit Glühwein wärmen und so nahe wie möglich an die in den Kaminen entzündeten Feuer rücken zu können. »Bei Eäs Blut!«, grollte Douglas MacSeinn, der Prionnsa von Carraig, König Nila zu. »Es ist so kalt wie das Schloss der Ver-
lorenen im tiefsten Winter. Ich wünschte, ich hätte meine Seehundfelle mitgebracht.« »Selbst ich empfinde es als eher frisch«, gab König Nila zu. »Darf ich Euch etwas Meeresalgenwein anbieten, um Euer Blut zu wärmen?« Der MacSeinn schüttelte den Kopf. »Nicht wenn Ihr nicht wollt, dass ich mich blamiere, indem ich sturzbetrunken umkippe«, erwiderte er mit schiefem Lächeln. »Das ist nichts für mich. Ich werde jedoch etwas Whiskey trinken, um einen Toast auf unseren toten Righ auszubringen. Wenn man bedenkt, dass Lachlan in der Blüte seines Lebens niedergestreckt wurde ... Es ist wirklich ein trauriger Tag.« »Das ist es in der Tat«, sagte König Nila ernst. »Er war ein großartiger Mann.« »Und nun hat Eure Nichte den Thron inne«, sagte der MacSeinn. »Ich möchte niemanden Eures Blutes fälschlich beschuldigen, Euer Majestät, aber ich muss zugeben, dass es mir Unbehagen bereitet, solch ein junges Mädchen, das am ehesten fürs Tanzen und Feiern bekannt ist, eine solche Position bekleiden zu sehen.« »Ah, Ihr wisst, was gesagt wird«, schaltete sich ein ergrauter, alter Lord ein. »Mädchen, die pfeifen, und Hähne, die krähen...« »Ihre Majestät stammt von beiden Seiten von königlichem Blut ab«, sagte König Nila mit kalter Stimme. »Gewiss werdet Ihr feststellen, dass sie sich des Ernstes ihrer Position sehr wohl bewusst ist.« 86 Der ergraute Lord wirkte sehr skeptisch, aber niemand wollte den König der Fairgean, eine Rasse, die für ihren Stolz und ihr Temperament bekannt war, beleidigen, und so murmelten sowohl er als auch der MacSeinn etwas Angemessenes, während sie ihre Becher aufnahmen und tranken. Der große Saal war ein Meer aus Schwarz. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind von den Einfachsten bis zu den Höchsten war von Kopf bis Fuß in die Farbe der Trauer gekleidet. Viele von ihnen, die keine Zeit für etwas anderes hatten, waren gezwungen
gewesen, den gesamten Inhalt ihres Kleiderschranks in riesige Bottiche mit schwarzer Farbe aus Eicheln, Erlenholz, Mädesüß oder sogar zerdrückten Brombeeren zu werfen, alles, was die Stadtfärber finden konnten, um Stoffe, wenn auch nur für wenige Tage, schwarz zu färben. Schwarze Stoffgirlanden hingen über dem Kaminsims und die große Treppe hinab, und weil die Vorhänge vor den Fenstern zugezogen waren, wirkte die Halle dämmerig und düster. Bronwen stand am Fuß der Treppe, begrüßte diejenigen, die hereinkamen, und nahm ihre Beileidsbezeugungen entgegen. Neben ihr stand ihre Mutter, in ein tief ausgeschnittenes Gewand in Austerngrau gekleidet. Ihr schwarzes Haar war über den Augenbrauen zu einem geraden Pony und dann auf Ohrenhöhe geschnitten, so dass es in zwei glatten Flügeln über die Wangenknochen schwang, wodurch ihre exotisch kantigen Züge betont und ihre Kiemen nicht verborgen wurden, die kurz unterhalb ihrer Ohren flatterten. Ihre Augen waren eisblau, und eine ihrer schmalen Wangen war von einem feinen Netzwerk weißer Narben überzogen, die sich von einem Mittelpunkt aus sternförmig ausbreiteten, wie Glas, das von einer Kugel durchschlagen wurde. Mayas graues Gewand schimmerte inmitten all dem Schwarz perlmuttartig. Bronwen wäre es weitaus lieber gewesen, wenn sich ihre Mutter den Konventionen gebeugt und wie alle anderen tiefstes, dunkelstes Schwarz getragen hätte, aber wenn es nach 87 Maya gegangen wäre, hätte sie sogar ein Gewand in ihrem Lieblingskarmesinrot getragen. »Rot ist die Trauerfarbe der Fairgean«, hatte Maya früher an diesem Morgen lächelnd gesagt, als Bronwen bei ihrem Anblick in einem Gewand von der Farbe des Blutes entsetzt aufgeschrien hatte. »Aber es ist die Farbe, die du meistens als Banrigh getragen hast«, hatte Bronwen gesagt und die Hände gerungen. »Deine Soldaten trugen zu deinen Ehren rote Jacken und die Sucher der Liga gegen Hexen lange, rote Roben. Es ist die Farbe, die am
meisten mit der Verbrennung in Verbindung gebracht wird, und mit den Jahren des Terrors.« »War ich damals nicht in Trauer?«, sagte Maya mit zornfunkelnden Augen. »Von meinem Vater gezwungen, den König unseres erbittertsten Feindes zu heiraten und ihn in Übel und Wahnsinn zu locken? Gezwungen, Tausende über Tausende von Menschen zu ermorden, um den Rachegelüsten meines Vaters zu dienen?« »Ich dachte, du hättest sie getragen, weil sie dir so gut stand«, hatte Bronwen, um Leichtigkeit bemüht, gesagt. Maya lachte, hob ihre schweren, roten Röcke an und vollführte einen kleinen, ironischen Hofknicks. »Ja, und ist es nicht so?«, fragte sie. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich es trug, Bronwen - Rot ist die Farbe Ranis, der Göttin der Vulkane und Erdbeben, des Feuers und der Zerstörung. Ich wirkte im Namen Kanis und beschloss daher, ihre Farbe zu tragen.« »Aber jetzt wirkst du nicht mehr in Kanis Namen«, sagte Bronwen. »Nein, aber ich werde nicht heucheln und das Schwarz der menschlichen Trauer für einen Mann tragen, dessen Tod ich nicht bedaure.« »Bitte, Mama«, flehte Bronwen. »Bitte. Wenn Schwarz dir nichts bedeutet, sollte es egal sein, wenn du es trägst.« 88 »Ich habe als Strafe für meine Sünden zwanzig lange Jahre lang das Schwarz der Dienstboten getragen«, erwiderte Maya erbittert. »Ich werde es nie wieder tragen.« »Dann Grau. Dunkelgrau ist vollkommen ehrbar.« »Ich hege keinen Wunsch, ehrbar zu sein.« »Aber, Mama, Rot... es wird so viel Gerede bewirken, solch einen Skandal. Bitte...« »Und wer bist du, dass du dir Sorgen um einen Skandal machst?«, höhnte Maya. »Ich dachte, es machte dir Spaß, der vornehmen Gesellschaft eine lange Nase zu machen.« »Ja, aber das war vorher. Ich bin jetzt Banrigh. Ich muss sehr behutsam auftreten.«
»Dann trete behutsam auf, meine Liebe. Aber erwarte es nicht von mir.« »Ich muss es erwarten«, sagte Bronwen verzweifelt. »Verstehst du nicht, Mama? Ich habe bereits viel Missfallen bewirkt, indem ich zugelassen habe, dass du ungebunden bleibst, und indem ich dich hier in den Palast gebracht habe. Die Krone sitzt noch nicht sicher auf meinem Haupt! Ich bin vielleicht dem Blut nach und durch Heirat eine NicCuinn, aber das bedeutet nicht, dass alle meine Herrschaft gutheißen werden. Righrean wurden schon früher abgesetzt. Mein Onkel Dughall MacBrann hat durch seine Mutter MacCuinn-Blut. Er könnte mein Recht zu regieren anfechten, da er zumindest vollständig ein Mensch ist. Und dann gibt es jene, welche die Macht der MacCuinns hassen und eine Chance begrüßen würden, den Clan vollkommen zu stürzen. Bitte! Ich muss der Welt ein sanftes und bescheidenes Gesicht zeigen. Jetzt ist nicht die Zeit, deine neu gewonnene Freiheit demonstrativ vor jenen zu zeigen, die sich nur allzu gut an die Verbrennung erinnern.« Maya hatte sie einen Moment schweigend und überrascht angesehen, und dann hatte sie genickt, während ihre fahlen Augen schimmerten. »Du hast Recht, meine Liebe. Ich werde mich um 89 ziehen. Ich werde kein Schwarz tragen, sei vorgewarnt, aber ich werde etwas Passendes finden. Das verspreche ich dir.« Bronwen hätte sich ein dunkleres, bescheideneres Grau gewünscht, war aber so erleichtert, dass ihre Mutter sich überhaupt umgezogen hatte, dass sie schwieg und nur in wortlosem Dank ihren Arm drückte. Sie konnte erkennen, dass viele am Hof Anstoß an der Halbtrauer nahmen, und sie konnte nur hoffen, dass niemand eine Szene machen würde. Genau in dem Moment sah sie die alte Zauberin Tully die Weise auf sich zukommen. Die kleine Frau, mit einem Gesicht, das so runzelig war wie eine Dörrpflaume, war von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Bronwen wappnete sich. Tully konnte manchmal schockierend freimütig sein, da sie sich für alt genug hielt, sich das Recht erworben zu haben zu sagen, was sie meinte.
»Es ist empörend«, murrte Tully und deutete mit einem zitternden Finger auf Maya. »Die Verhexerin sollte im Gefängnis sein und sich nicht hier im Palast vor aller Augen zur Schau stellen.« Sie sah sich zu der interessierten Menge um und erhob ihre Stimme. »Wie kann sie es wagen, solch mangelnden Respekt für unseren armen toten Righ zu zeigen? Ich sage, es war Maya die Verhexerin, die den vergifteten Pfeil auf unseren Righ gespien hat!« Bronwen schaute eilig zu Neil, der ihr beruhigend zunickte, zu der alten Zauberin trat und sich zu ihr beugte. Er kannte Tully gut, da er den größten Teil seiner Kindheit mit Donncan und Bronwen an der Theurgia verbracht hatte. Er reichte ihr einen Becher Glühwein, mit einem doppelten Schuss Whiskey versetzt, und gab ihr, als sie ihn ausgetrunken hatte und sich vor Behagen die stoppeligen Lippen leckte, einen weiteren Becher. Kurz darauf sorgte er dafür, dass sie still zum Turm der Zwei Monde zurückgeleitet wurde. Bronwen konnte ihm nur dankbar zulächeln. 90 Es dauerte sehr lange, alle Gäste formell zu begrüßen, da der Palast noch immer von jenen bevölkert war, die gekommen waren, um an der Hochzeit teilzunehmen. Bronwens Füße schmerzten, und ihre Kehle war heiser, als der letzte Gast an ihr vorbei in den großen Saal gelangt war. »Hier, Bronny«, sagte Neil ruhig und reichte ihr einen Becher dampfenden Kräutertee. »Ich hätte lieber einen Glühwein«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Du hast schon zu viel Glühwein getrunken«, erwiderte Neil tadelnd. »Kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst. Die Heilerin Mirabelle hat dieses Gebräu speziell für dich gebraut. Sie sagt, es ist aus Engelwurz und Lindenblüten sowie Bienenpollen und Honig gemacht. Es soll dir helfen, ruhig und glücklich zu werden und dich konzentrieren zu können ...« Tränen brannten in ihren Augen. Wie kann ich glücklich sein, bevor Donncan nach Hause kommt?, dachte sie.
»Und ich weiß, dass du nicht wirklich Wein trinken willst, nicht heute«, schloss Neil. Es berührte sie, da er ebenso gut wie sie erkannte, dass sie es sich, wenn sie einen klaren Kopf behalten wollte, nicht leisten konnte, starken Glühwein zu trinken. Später, wenn alle Gäste fort wären, könnte sie sich entspannen und etwas Wein trinken. Nun war ihr besser damit gedient, sich an den Tee zu halten, so sehr ihr das auch missfiel. Bronwen seufzte, trank einen vorsichtigen Schluck und lächelte dann überrascht »Nun, er schmeckt gut!« Sie nahm einen weiteren Schluck und spürte, wie sich das Gebräu in ihr ausbreitete, sie wärmte und entspannte. Bronwen trank den Becher bis auf den letzten Tropfen leer und reichte ihn Neil mit dankbarem Lächeln zurück bevor sie vortrat, um mit dem siantanischen Botschafter zu sprechen. Iseult, die Banrigh-Witwe, hatte nicht an dem Leichenschmaus 91 teilgenommen. Vor Schmerz und Kummer blind, war sie direkt die Treppe hinauf zu ihren Räumen gegangen. Bronwen wünschte sie könnte es ihr gleichtun. Aber sie erkannte, wie wichtig es für sie war, im Raum umherzugehen und mit den Prionnsachan und Banprionnsachan zu sprechen, die am Morgen alle abreisen würden, um in ihre eigenen Länder zurückzukehren. Sie wusste, dass sie ihnen allen versichern musste, dass die Suche nach den vermissten Kindern des toten Righ so schnell wie möglich vorangetrieben würde. Es war noch keine Zeit gewesen, den Schock über Lachlans Ermordung und die Entführung seiner Erben zu überwinden. Die Prionnsachan waren alle aufgebracht und verängstigt, und Bronwen nutzte die Gelegenheit, um ihre Sorgen so weit wie möglich zu zerstreuen. Das war für sie ein Drahtseilakt. Die meisten der Prionnsachan betrachteten sie noch immer als die flatterhafte Tochter der Verhexerin. Sie musste sie alle mit ernstem Respekt und Wertschätzung behandeln, während sie ihnen zusätzlich einschärfen musste, dass sie das Recht hatte, sie zu regieren. Sie musste versuchen, den Verdacht, dass sie und ihre Mutter irgendetwas mit Lachlans
Ermordung zu tun hätten, zu zerstreuen. Die Abwesenheit der Bewahrerin des Schlüssels war wenig hilfreich. Dadurch fühlte sich jedermann unbehaglich und verletzlich, und Bronwen war zu jung, zu schön und zu umstritten, um ihre Ängste beschwichtigen zu können. In jeder anderen Gesellschaft hätte sie vielleicht ein wenig ihre Macht benutzt, um Herzlichkeit und Mitgefühl zu erwecken und um ihnen ihre Fähigkeiten zu demonstrieren. Die Prionnsachan besaßen jedoch alle ihre eigenen Kräfte und waren alle in Begleitung ihrer Hofzauberer. Jeglicher Versuch, mit Magie zu zwingen oder zu manipulieren, wäre sofort bemerkt - und niemals verziehen - worden. Also konnte Bronwen nur zerbrechlich und doch tapfer, wunderschön und doch traurig wirken und einem Prionnsa nach dem anderen und einer Banprionnsa nach der 92 anderen versichern, dass alles, was getan werden konnte, getan wurde. Die NicAislin von Aslinn war blass und ängstlich, von Albträumen geplagt. Die NicThanach von Blessem war scharfsichtig und scharfzüngig und um ihre Familie besorgt. Der MacFaghan von Tirlethan war durch den beständigen Schlaf seiner Frau, Isabeaus und Iseults Mutter Ishbel, müde und verdrossen und wollte dringend in sein Land des Schnees und der Felstürme zurückkehren. Seine jüngeren Kinder, Alasdair und Heloise, waren weiß und elend vor Angst um ihre vermissten Cousins und litten unter den Beschränkungen der Traditionen und Konventionen, die sie daran hinderten, zu ihrer Rettung zu eilen. Der Prionnsa von Arran, Iain MacFoghnan, hatte nicht gewartet, bis die Beerdigung vorüber war, bevor er in sein nebliges Sumpfland aufbrach. Bronwen wünschte sich nur, seine Frau, die bleichgesichtige, schwarzgekleidete, glanzäugige Elfrida, wäre mit ihm gegangen. So sehr Bronwen Neil von Arran mochte, so wenig konnte sie seine Mutter ertragen. Der MacSeinn von Carraig neigte zu Rührseligkeit und weinte bei dem vom Hofdudelsackspieler dargebrachten Trauerlied offen. Er erging sich mit jedermann laut in Erinnerungen, der
mit ihm über die legendäre Schlacht von Bonnyblair sprechen wollte, wo Lachlan schließlich die Macht des Leitsterns gebändigt und ihn gegen ihre Feinde erhoben hatte. Da das eine berühmte Schlacht gegen die Fairgean gewesen war, verhielten sich König Nila und Königin Fand verständlicherweise steif und förmlich und achteten genau auf jegliche Andeutungen, dass der Tod Lachlans des Geflügelten Teil eines Fairgean-Planes gewesen wäre, ihre Nichte Bronwen an die Regierung zu bringen. Und Bronwen, die sich danach sehnte, mehr über das ferne und geheimnisvolle Volk ihrer Mutter zu erfahren, betrübte es zu sehen, dass ihre Tante und ihr Onkel und deren Töchter eiligst aufbrechen wollten. 93 Der MacRuraich von Rurach war es zufrieden gewesen, seine Söhne und Töchter in seinem Namen an der Hochzeit teilnehmen zu lassen. Der alte Wolf war jetzt ergraut und von der Arthritis verkrüppelt, wie Bronwen gehört hatte, und es schien, als würden nicht mehr viele Winter vergehen, bis Aindrew MacRuraich den Thron erben würde. Der junge Erbe des RurachThrons hielt sich häufig in Bronwens Nähe auf und half ihr mit seiner ungezwungenen und gewinnenden Art, die Gefahren und Tücken im Raum zu umgehen. Bronwen konnte ihm nur dankbar sein, auch wenn sie sich Elfrida NicHildes missbilligend gerunzelter Stirn sowie der heimlichen Seitenblicke der Herzogin von Rammermuir nur allzu bewusst war. Sie war dankbar dafür, dass Aindrew und sein Bruder Barney am nächsten Tag wieder zurück nach Rurach reiten würden. Brangaine NicSian von Siantan war einen langen Weg gereist, um an der Hochzeit teilzunehmen, hatte ihren ältlichen, gichtkranken Ehemann zurückgelassen, aber ihren Sohn und zwei Töchter mitgebracht, damit sie zum ersten Mal den königlichen Hof erleben konnten. Sie waren noch Kinder und zu jung, um den traurigen Anlass erfassen zu können. Bronwen musste lächeln, als sie sah, wie sie sich unter dem Tisch versteckten und mit Bonbons und Honigkuchen vollstopften, wobei der Junge, Odell, hin und wieder heimlich nach oben griff,
um die letzten Tropfen aus einem Becher Glühwein zu stibitzen. Das war der einzige fröhliche Moment an diesem langen, sich dahinschleppenden Morgen der Eintönigkeiten. Er erweckte in Bronwen den Wunsch, wieder ein Kind zu sein und, von Neil und Donncan verfolgt, lärmend bei eleganten Bällen aufzutauchen, die Hände voller stibitzter Leckereien. Der MacAhern von Tireich sprach sie an dem langen Tisch mit dem Leichenschmaus an. Er war ein großer Mann, braunhaarig und braunäugig, und im alten Stil in Kilt und Plaid gekleidet, einen langen Streifen weicher Wolle um seine Taille gefältelt 94 und mit einem breiten Gürtel festgehalten. Das Plaid war an der Schulter mit einer goldenen Spange in Form eines steigenden Pferdes befestigt. Er verschwendete keine Zeit mit den üblichen Gemeinplätzen, sondern sprach sie mit sehr ernstem Stirnrunzeln und einer direkten Frage an: »Also, habt Ihr die Schurken schon erwischt? Wer würde es wagen, den MacCuinn in seinem eigenen Bankettsaal niederzustrecken?« »Wir glauben, dass es ein von einem alten Feind des Righ ersonnenes Komplott war«, antwortete Bronwen ruhig. »Vor langer Zeit, während der Rebellion gegen die Verbrennung, war mein Onkel der Grund für den Tod des Laird von Fettercairn und seines jungen Sohnes.« Es fiel ihr, wie üblich, schwer, über diesen Abschnitt der Geschichte zu sprechen, denn Lachlan hatte die Rebellion gegen ihre eigene Mutter geführt. Da sie ihre Mutter liebte, aber hasste, was sie getan hatte, fiel es Bronwen am leichtesten, über weitreichende Zeiträume zu sprechen, als wären ihr Maya die Verhexerin und die schrecklichen Taten, die in ihrem Namen von der Liga gegen Hexen begangen wurden, zeitlich und räumlich sehr fern - wie die Rote Königin der Märchen, die ihre eigene Cousine hingerichtet hatte, nachdem sie sie jahrzehntelang gefangen hielt, nur um sicherzugehen, dass sie nicht einmal im Traum daran dachte, ihr den Thron streitig zu machen.
»Der Bruder des Laird war ein Sucher der Liga gegen Hexen«, fuhr sie fort. »Er hat meinem Onkel die Schuld gegeben und seine Rache viele Jahre lang geplant. Meine Cousins hat er für seine eigenen schändlichen Zwecke entführt. Wir sind sicher, dass wir ihn bald einholen und hierher zurückbringen können, damit er vor Gericht gestellt wird.« »Ich habe gehört, Euer Majestät«, sagte der MacAhern knapp, »dass eine Thigearn in Euren Diensten fliegt? Ein SatyricornMädchen? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Die Satyricorns jagen die geflügelten Pferde als Nahrung, wie ich stets hörte.« 95 »Sie ist nur zur Hälfte Satyricorn, Mylaird, und tatsächlich eine wahre Thigearn. Ich habe sie ihr geflügeltes Pferd selbst rufen sehen, ohne Worte oder Pfeifen, und sie es auch reiten sehen. Sie sind wie eine Einheit, Mylaird, genauso wie es bei einem Thigearn, meiner Meinung nach, sein sollte.« Er brummte stirnrunzelnd. »War das Pferd aufgezäumt und gesattelt? Trug es ein Gebiss?« Bronwen war belustigt. »Nein, Sir. Kein Zaumzeug, kein Sattel, kein Gebiss. Sie hatte Satteltaschen, und eine Satteldecke, aber das war alles.« Sie war sich der Tatsache bewusst, dass die Tochter des MacAhern aufmerksam zuhörte, und lächelte ihr zu, während sie sich angestrengt an ihren Namen zu erinnern versuchte. Die junge Frau errötete und trat fort, gab Desinteresse vor, und Bronwen wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Prionnsa zu, der gerade verärgert sagte: »Ich habe viele wilde Geschichten über sie gehört, einschließlich der, dass sie ihr Pferd nur einen Tag und eine Nacht lang gezähmt habe. Natürlich habe ich das nicht geglaubt. Kein geflügeltes Pferd könnte so leicht gezähmt werden, und keine Frau hätte die Kraft, es zu brechen. Sie muss das Pferd vom Fohlenalter an aufgezogen haben.« »Ich glaube nicht«, erwiderte Bronwen. »Es tut mir leid, dass Ihr nicht die Gelegenheit habt, sie kennenzulernen. Lägen die Dinge anders... Wir hatten so wenig Zeit, und ich wollte ihre Fähigkeiten natürlich nutzen, um beim Aufspüren meiner Cousins
zu helfen. Man kann nicht oft einen Thigearn in Dienst nehmen.« Der MacAhern beugte den Kopf. »Nein. Ein Thigearn steht normalerweise nicht zur Verfügung«, antwortete er leise. »Und was das betrifft, auch keine Thigearna, obwohl ich niemals zuvor davon gehört habe, dass eine Frau ein fliegendes Pferd gezähmt hätte.« Er schaute zu seiner Tochter, die vorgab, nicht zuzuhören. »Ich habe Glück dass sie mir bereitwillig dient«, sagte Bron 96 wen. »Es ist ein großer Vorteil, ein geflügeltes Pferd zur Verfolgung der Schurken zur Verfügung zu haben. Sonst wären unsere Chancen, sie zu erwischen, wohl äußerst gering.« Sie hielt es nicht für nötig, dem Prionnsa zu erzählen, dass sie Rhiannon als eine Art Bezahlung dafür, sie vor dem Galgen gerettet zu haben, in den Dienst gezwungen hatte. Sollte der hochmütige alte Mann seine mangelnde Stärke spüren, dachte sie eher unfreundlich. Der MacAhern zögerte. Er war natürlich auf seinem eigenen fliegenden Pferd nach Lucescere gekommen, aber sowohl er als auch sein wunderschöner Hengst mit den regenbogenfarbenen Schwingen wurden allmählich älter. Er hätte seine Dienste keinesfalls freiwillig anbieten können, und er war der einzige in Tireich verbliebene Thigearn - er war es zumindest gewesen, bis dieses wilde Mädchen aus dem Nichts aufgetaucht war. Die fliegenden Pferde waren von Mayas Soldaten während der Verbrennung alle grausam gejagt worden und waren nun seltener denn je. Bronwen war sich sicher, dass der alte Prionnsa sich wünschte, einer seiner Söhne hätte sein eigenes fliegendes Pferd zähmen können, aber das war nicht geschehen, und er war zu stolz zuzugeben, das er fürchtete, die Zeit der Thigearns wäre vorüber. »Ich würde dieses Mädchen, das ein fliegendes Pferd zähmen kann, gerne kennenlernen«, sagte er jäh. »Wenn sie nicht in Eurem Dienst bleiben will, möchte sie uns vielleicht besuchen und uns ihre Geschichte erzählen? Ich muss zugeben, ich bin neugierig.«
»Vielleicht lernt Ihr sie beim Lammas-Kongress kennen«, erwiderte Bronwen. »Werdet Ihr dort sein, Mylaird?« »Wahrscheinlich«, antwortete er. »Es wird viel zu besprechen sein.« »Allerdings«, antwortete Bronwen. »So vieles ist während dieser letzten schrecklichen Tage geschehen, dass kaum Zeit war, alles zu begreifen. Aber wir müssen uns dem anpassen. An Lam-mas werden wir alle besser wissen, wie es weitergehen soll.« 97 Er nickte, und seine Miene war nun entspannter. »Es war hart für Euch«, sagte er mit wesentlich herzlicherer Stimme. »Euren Ehemann am Tag der Hochzeit zu verlieren und auch Euren Onkel, und dann eine solche Bürde tragen zu müssen.« »Es war sehr hart«, erwiderte Bronwen und schluckte gegen einen Kloß in ihrer Kehle an. »Aber ich bin eine NicCuinn. Tapfer und klug<, lautet unser Motto, und daher muss ich tapfer und klug sein. Wenn wir, was Eà verhüten möge, Donncan nicht retten können, muss ich für das Volk Eileanans mein Bestes tun.« Der MacAhern drückte mitfühlend ihre Hand und sagte ihr seine Unterstützung zu, bevor er sich wieder zu seiner Frau zurückzog, kopfschüttelnd und etwas über das arme mutige Mädchen vor sich hin murmelnd, das seine Kümmernisse so tapfer ertrug. Bronwen, die gerade einen weiteren Becher von Mirabelles Tee trank, verbarg ein Lächeln. DER MACBRANN »Komm, Bronny, du musst etwas essen«, sagte Neil leise und reichte ihr ein kleines Tablett mit Delikatessen. Bronwen sah ihn kurz tadelnd an, und er grinste. »Es tut mir leid, Euer Majestät! Nach vierundzwanzig Jahren, in denen ich Euch beim Namen nannte, ist es schwer, daran zu denken. Kommt, versucht die Fischpastete, sie ist Euer Lieblingsessen. Ich bat den Koch, sie extra zuzubereiten.« Bronwen lächelte, nahm eine Pastete und biss hinein. Als deren köstlicher, salziger Geschmack ihren Mund erfüllte, erkannte sie, dass sie sich nicht erinnern konnte, wann sie zuletzt eine richtige
Mahlzeit genossen hatte. Sie hatte anscheinend allein von Glühwein gelebt. 98 »Es ist eine schwierige Situation«, sagte Neil sanft, als sie den Bissen Nahrung hinunterschluckte und nach einer weiteren Pastete griff. »Du musst deine Kraft bewahren, Bronny.« Tränen brannten in ihren Augen. Sie schaute zu ihm hoch und nickte zustimmend. Er hatte Recht. Wenn sie vor Hunger schwach war und sich schwindelig und von zu viel Glühwein schwummerig fühlte, würde sie einen Fehler begehen, der sie ihre Krone kosten könnte. »Danke, Neil«, antwortete sie. »Für alles.« »Zu Euren Diensten«, erwiderte er mit rauer, bewegter Stimme. Sie wollte ihm erneut sagen, er dürfe seine Gefühle für sie nicht so deutlich zeigen, als sie merkte, dass sie beobachtet wurden. Sie verlagerte sofort ihren Blick und sah, dass ihr Cousin zweiten Grades, Dughall MacBrann, der Prionnsa von Ravenshaw, sie genau betrachtete. Sie merkte, wie sie sich versteifte. Dughall war der Cousin und beste Freund ihres Vaters gewesen und hatte seine Streitkräfte nach Jaspars Tod mit Lachlans vereint, um Maya zu stürzen und den Hexen die Macht zurückzugeben. Er hatte den Thron von Ravenshaw erst kürzlich geerbt, nach dem Tod seines Vaters Malcolm, der allgemein der Wahnsinnige genannt wurde. Da seine Mutter eine NicCuinn gewesen war, war er theoretisch ein Thronanwärter, und es bestand kein Zweifel, dass viele ihn wohlwollender betrachteten als Bronwen. Dughall war eine schlanke, gewandte Gestalt, ganz in schwarze Seide gekleidet, mit einem ordentlichen Spitzbart. Obwohl sein Haar und Schnurrbart tiefschwarz waren, war sein Gesicht runzelig, und er hatte tiefe Tränensäcke unter den Augen. Er stützte sich auf einen dünnen, silbergeprägten Spazierstock aus Ebenholz und trug einen Ohrring mit einem Diamanttropfen in einem Ohr. Seine Finger waren von Hexenringen überladen, denn der Prionnsa von Ravenshaw war ein versierter Zauberer, der mütterlicherseits von Cuinn dem Weisen und väterlicherseits von Brann dem Raben abstammte.
99 Bronwen atmete tief ein und trat zu ihm, entschlossen, selbst herauszufinden, ob der Cousin ihres Vaters für sie eine Gefahr bedeutete. »Dies ist wirklich ein trauriger Tag, Euer Majestät«, sagte Dughall mit anscheinend echtem Gefühl in der Stimme zu ihr. »Ich kannte Lachlan schon als Junge, und für einen so stolzen und edlen Mann empfinde ich dies als wirklich schmerzliches Ende.« »Ja, in der Tat, Euer Gnaden«, erwiderte Bronwen. »Über uns sind wirklich üble Zeiten hereingebrochen, wenn der Righ von Eileanan und der Fernen Inseln in seinem eigenen Bankettsaal vergiftet werden kann.« »Und bei einer solch glücklichen Gelegenheit. Ich fühle mit Euch, Euer Hoheit, dass Ihr unmittelbar am Abend Eurer Hochzeit Euren Ehemann verloren habt.« Sie suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen von Ironie und sagte, als sie keine fand, mit verhaltener Stimme: »Ja, das war wirklich grausam. Aber wir hoffen, ihn bald gefunden zu haben. Die Bewahrerin des Schlüssels hat sich selbst auf die Suche nach ihm begeben, mit der Hilfe der Celestine, und ich bin mir sicher, dass es nicht lange dauern wird, bis er wieder zu Hause ist.« »Hoffen wir es«, erwiderte Dughall. »Und Olwynne und Owein auch. Es war in der Tat ein niederträchtiger Plan, Lachlan niederzustrecken und alle seine drei Kinder zu entführen.« Bronwen nickte. »Er ist ein überaus niederträchtiger Mann, der Laird von Fettercairn, wenn all die Geschichten stimmen.« Ein Schatten überzog Dughalls Gesicht. Er runzelte die Stirn und zog an seinem Bart. Bronwen erinnerte sich, dass der Clan der MacFerris, die Besitzer von Burg Fettercairn, eine der ältesten und respektiertesten Familien Ravenshaws waren. Sie fragte sich, warum so lange zugesehen wurde, wie Menschen entführt und ermordet wurden, und erinnerte sich dann, wie abwesend und senil Dughalls Vater Malcolm in den Jahren vor seinem Tod wohl gewesen war. Ravenshaw war einst ein blühendes und 99
mächtiges Land gewesen, aber bei der Verbrennung der Verhexe-rin hatte es den größten Teil seines Reichtums eingebüßt. Dug-halls Mutter, Bronwens Großtante, war bei der Verbrennung gestorben, wie sie sich erinnerte, und sein Vater hatte sich niemals davon erholt. Es musste für Dughall schwer sein, ein Land zu erben, das über vierzig Jahre lang verkommen war. »Ich fühle mich ... ich fühle mich in gewisser Weise verantwortlich«, sagte Dughall leise und inbrünstig. »Wenn ich nur ... Oh, wenn ich nur so viele Dinge anders gemacht hätte! Wenn ich auf meinen Vater gehört hätte ...«Er brach ab. »Es tut mir leid«, sagte er. »Würdet Ihr mich wohl entschuldigen? Ich muss gehen und Iseult meinen Respekt zollen.« Bronwen neigte den Kopf und sah ihm nach, die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen. Zu all den Dingen, von denen sie vielleicht erwartet hätte, dass Dughall sie bedauern würde, gehörte nicht, dass er nicht auf seinen wahnsinnigen, tatterigen, alten Vater gehört hatte. Ein großer, dunkelhaariger Mann mit dem Plaid und der Spange des Clans der MacBrann hatte während der ganzen Unterhaltung schweigend neben Dughall gestanden. Nun verbeugte er sich höflich vor ihr, wandte sich dann um und wollte dem Prionnsa von Ravenshaw folgen. Sie hielt ihn mit einer raschen Handbewegung zurück. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Dughalls ... Adoptivsohn ... sein Erbe seid?« »Ja, Euer Majestät«, antwortete er ernst. »Ich bin Owen MacBrann. Seine Gnaden adoptierte mich, als ich noch ein Kind war.« »Nun, dann bedeutet das, dass wir miteinander verwandt sind«, erklärte Bronwen herzlich. »Ich fürchte nicht, Euer Majestät. Dughalls Mutter war eine NicCuinn und die Tante Eures Vaters. Meine Großmutter war 100
die Schwester von Dughalls Großmutter väterlicherseits. Es besteht keine Blutsverwandtschaft zwischen uns.« Bronwen war verwirrt. Sie hatte eine mögliche Verwandtschaft zwischen ihnen nur erwähnt, um eine Unterhaltung zu beginnen. Sie erwog, ihn dazu zu bringen, Dughalls eher geheimnisvolle letzte Bemerkung zu erklären. Seine nüchterne Exaktheit war für sie eher wie ein Schlag ins Gesicht. Sie erholte sich tapfer. »Ach, nun, alle großen Clans haben so viele Male untereinander geheiratet, dass es ein Wunder ist, dass wir nicht alle zwei Köpfe haben«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, dass wir irgendwie verwandt sind.« »Der Gedanke daran wäre mir eine Ehre«, erwiderte er mit einer höflichen Verbeugung. Sie runzelte die Stirn und wunderte sich, wie verschieden Dughall MacBrann, ein für seine höfische Gewandtheit und seinen Geist bekannter Mann, und dieser kalte, höfliche junge Mann waren. Sie sah zu ihm hoch, begegnete seinen unverwandten grauen Augen und dachte erneut über die vielen Gerüchte und Andeutungen nach, die Dughall folgten, wohin auch immer er ging. Der MacBrann hatte nie geheiratet noch überhaupt großes Interesse an Frauen gezeigt. Es hieß, der Hof von Ravenshaw sei ein träger Ort und sehr mit Wettspielen, Pferderennen, Hundezucht und den Launen der Mode beschäftigt. Dughall, so hieß es, hatte so viel Geld an Spieltischen verloren, dass er bei Lachlan ein Darlehen aufnehmen musste, das, wie Bronwen sicher vermutete, noch ausstand. Es hieß auch, er würde einen Dienstboten eher aufgrund seiner Wohlgestalt als aufgrund seiner Tüchtigkeit einstellen, und er hatte einst, vor vielen Jahren, mit seiner intensiven Freundschaft zu einem anderen jungen Mann, dem Sohn eines der Höflinge seines Vaters, einen schrecklichen Skandal ausgelöst. Gerüchte wie diese schwanden nie. Es war wie bei einer Harlekin-Hydra, der jedes Mal, wenn man ihr einen Kopf abschlug, 101 zwei weitere Köpfe wuchsen. Es musste für einen gut aussehenden jungen Mann wie Owen hart gewesen sein, von einem zü-
gellosen alten Lebemann wie Dughall adoptiert zu werden. Es hatte zweifellos viel Gerede gegeben. »Dughalls letzte Worte haben mich neugierig gemacht«, sagte sie, nachdem sie spontan entschieden hatte, dass Direktheit und Ehrlichkeit bei Owen besser wären als Hinterlist. »Warum sollte er sich für das verantwortlich fühlen, was geschehen ist? Meinte er, dass es ihm leid tut, dass ein solches Komplott in seinem Land geschmiedet wurde?« »Zweifellos«, antwortete Owen. »Niemand von uns kann stolz darauf sein, dass solche Leute in Ravenshaw gut und erfolgreich leben konnten. Allen Berichten zufolge haben sie ein Vierteljahrhundert lang Menschen entführt, gefoltert und ermordet, wie es ihnen gefiel, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Wir wussten natürlich, dass niemand gerne in die Nähe des Turms der Raben gelangte. Wir dachten alle, das käme daher, dass er heimgesucht sei. Mylaird mit Sicherheit... seine Mutter starb dort, wisst Ihr, und er empfand stets Abscheu vor diesem Ort.« »Es scheint unglaublich«, sagte Bronwen. »Mr wurde erzählt, ungefähr dreißig kleine Jungen seien entführt und ermordet und zahllose Gräber geschändet sowie weitere Menschen bei den Experimenten des Laird von Fettercairn zur Wiedererweckung der Toten gefoltert und ermordet worden. Gab es keinen Landvogt, keinen Schultheiß, der über die Toten und Vermissten hätte berichten müssen?« Owen wirkte unbehaglich. »Es ist für jemanden, der mit der eigentümlichen Topographie des Hochlands Ravenshaws nicht vertraut ist, gewiss besonders schwer zu glauben. Es ist zweigeteilt, wisst Ihr, durch den Findhorn-Fluss, und es gibt nur noch eine Brücke, da Branns Brücke am Tag der Abrechnung zerstört wurde. Der Fluss selbst ist wild und schnell und zu gefährlich, um ihn mühelos zu überqueren. Daher liegt das Tal von Fetter 102 ness sehr isoliert, und Laird Malvern herrschte dort wie ein Prionnsa, da Burg Fettercairn den Zugang ins Tiefland hinunter bewacht.«
»Ja, das verstehe ich«, sagte Bronwen zögerlich. »Aber dennoch ... wundert man sich darüber, dass der alte MacBrann keine Ahnung gehabt haben sollte, was vor sich ging.« »Er war krank«, sagte Owen steif. »Er war die letzten Jahre vollkommen bettlägerig.« »Man wundert sich auch darüber, dass Dughall nicht als Regent handelte, wenn sein Vater so amtsunfähig war«, sagte Bronwen. Owen errötete. »Mylaird hat stets den größten Respekt für und die größte Zuneigung zu seinem Vater gehegt.« Bronwen nickte. »Natürlich. Ich wollte nichts anderes andeuten. Es ist nur... es macht mir Sorgen, dass ein Komplott zur Ermordung des Righ von Eileanan und zur Entführung aller seiner Erben unbemerkt bleiben konnte.« »Ich versichere Euch, dass Mylaird nun, wo er der Prionnsa von Ravenshaw ist, Schritte unternehmen wird, um sicherzustellen, dass solch eine schreckliche Sache nie wieder geschehen kann«, erwiderte Owen steif. »Da bin ich erleichtert«, erwiderte Bronwen und neigte den Kopf, als er sich verbeugte, sich entschuldigte und rasch davonging, um den MacBrann einzuholen, der gerade die Treppe zum oberen Stockwerk hinaufging. Owen war ihrer eigentlichen Frage recht erfolgreich ausgewichen, überlegte sie. Bronwen wollte immer noch gerne wissen, warum Dughall MacBrann wünschte, er hätte auf seinen wahnsinnigen alten Vater gehört. Iseult saß in ihrem Ohrensessel am Kamin und starrte blicklos in die flackernden Flammen. Sie hatte ihren Kopfputz abgenommen, aber ihr rotes Haar war aus dem Gesicht zurückgestrichen 103 und am Hinterkopf so fest zusammengebunden, dass keine Locke entkommen konnte. Mit vom Weinen angeschwollenen und geröteten Augen und hagerem, blassem Gesicht wirkte sie weitaus älter als ihre zweiundvierzig Jahre. Sie wandte den Kopf, als Dughall hereinkam, dicht gefolgt von seinem Adoptivsohn Owen und seinem Knappen, einem hüb-
schen, jungen Mann mit dunklen Locken und einem versonnenen Ausdruck auf dem Gesicht. »Dughall«, sagte sie mit tonloser, uninteressierter Stimme. »Es tut mir leid. Ich habe dich während der letzten Tage kaum gesehen. Ich hoffe, man hat es dir bequem gemacht.« Dughall trat zu ihr, beugte sich über ihre Hand, setzte sich ihr gegenüber und bedeutete seinem Knappen, zu den übrigen Dienstboten zu gehen. »Ich reise morgen früh nach Ravenshaw zurück«, sagte Dughall mit der Vertrautheit, die aus einer langen Freundschaft entsteht. »Ich wollte dich sehen ... um dir zu sagen, wie überaus leid es mir tut.« »Ja. Ich danke dir.« »Es ist meine Schuld«, platzte Dughall heraus. »Mein Vater... ich denke, er hat es vorausgesehen. In den Wochen vor seinem Tod fantasierte er viel. Ich achtete nicht darauf. Er ergriff meine Hand und flehte mich an - flehte mich an, den Turm der Raben bis auf die Grundmauern niederzubrennen. Er sagte, er sei verflucht, wir wären verflucht. Er sagte, wir müssten die Raben töten, und dass der Righ an seinem eigenen Tisch sterben würde, wenn wir es nicht täten. Ich hielt das alles für Unsinn. Er sagte, Geister versammelten sich um sein Bett und dass meine Mutter dort sei, ihn warnte, ihn anflehte ...«Er verfiel in Schweigen, konnte nicht weitersprechen. Iseult war aus ihrer geistigen Abwesenheit erwacht. »Dein Vater hat dich gewarnt? Dass Lachlan in Gefahr sei?« Dughall nickte unglücklich. »Aber er sprach so unzusammen 104 hängend ... er sagte viele Dinge. Wir dachten, er hätte letztendlich den Verstand verloren. Wir beruhigten ihn und gaben ihm mehr Mohnsirup, damit er schlafen konnte. Dadurch fantasierte er nur noch mehr.« »Hat er es Connor erzählt?« »Das muss er wohl. Connor besuchte ihn ... und ritt noch am selben Abend fort. Er musste erkannt haben, dass es nicht nur das Gerede eines alten Mannes war.« Dughalls Stimme klang bitter.
»Connor hatte stets eine Gabe, die Wahrheit zu erkennen«, sagte Iseult sanft. Sie streckte ihre dünne, bleiche Hand aus und legte sie auf Dughalls Arm. »Quäle dich nicht zu sehr. Auch wir wurden vor dem gewarnt, was kommen würde. Olwynne ... Olwynne hat es auch geträumt. Ich dachte, wir könnten seine Sicherheit gewährleisten ... Ich kann noch immer nicht verstehen, wie es geschehen ist... Ich war da, genau neben ihm, und habe nichts gesehen! Ich, eine Narbige Kriegerin! Wenn jemand die Schuld trifft, dann mich.« »Nein, nein«, rief Dughall. »Wie solltest du das ahnen?« »Ich saß unmittelbar neben ihm«, sagte Iseult mit brechender Stimme. »Wir hatten gerade gemeinsam einen Toast ausgebracht. Er erhob sich, um seine Ansprache zu halten, um die Begnadigungen zu verkünden... und dann dieses... dieses Ding, das einfach aus den Schatten heranzischte und ihn niederstreckte.« »Es ist eine furchtbare Sache«, sagte Dughall und hielt ihre Hand mit seinen Händen fest. »Der Mörder war direkt hier, unmittelbar hier! Und ich habe nichts gemerkt. Und dann bin ich so zornig, mir dessen so sicher, was meiner Meinung nach geschehen ist, dass ich alles verderbe und es nur noch schlimmer mache! Ich dachte, diese Rhiannon hätte es getan, weil sie ein Blasrohr und vergiftete Pfeile besaß und weil sie genau diesen Zeitpunkt erwählt hatte, um dem Gefängnis zu entfliehen. Und so rufe ich den Namen des Drachen und fliege ihr hinterher, um sie zurückzubringen. Warum bin ich 105 nicht stattdessen Owein und Olwynne hinterhergeflogen? Ich hätte sie retten können!« »Vielleicht«, sagte Dughall. »Aber vielleicht hättest du sie auch nur in noch größere Gefahr gebracht. Der Drache hätte die Entführer nicht entflammen können, ohne auch Owein und Olwynne zu töten. Sie hätten auf Asrohc geschossen und sie vielleicht verletzt, oder dich. Und vielleicht, wenn sie erkannt hätten, dass ihnen ein Drache auf den Fersen war, hätten sie Owein und Olwynne einfach sofort getötet und wären geflohen ...«
»Vielleicht«, sagte Iseult unglücklich. »Ich wünschte nur, ich hätte klarer gedacht. Ich hätte Asrohc fragen können, wer der Mörder war! Drachen können in beide Richtungen am Faden der Zeit entlang sehen, weißt du. Warum habe ich sie nicht gefragt? Jetzt ist es zu spät, ich kann ihren Namen nicht wieder rufen. Man ruft einen Drachen nicht leichtfertig, und sie zieht ihre kleine Prinzessin auf und war ohnehin nicht erfreut, sie zurücklassen zu müssen.« »Wer könnte zu einem solchen Zeitpunkt klar denken?«, fragte Dughall. »Ich war auch dort. Ich habe auch nichts gemerkt. Ich war durch das Gerede meines Vaters vorgewarnt, ich hätte es wissen müssen ... wenn ich nur aufgepasst hätte! Wenn ich nur gesehen hätte, wer es getan hat.« »Wir dachten, wir wären in unserem eigenen Bankettsaal sicher«, sagte Iseult. »Ich hatte dafür gesorgt, dass Lachlans Essen und Trinken vorgekostet wurden. Ich hatte dafür gesorgt, dass der Palast bewacht wurde. Außer unseren Freunden und der Familie war niemand da. Wer könnte so etwas getan haben? Wer?« Dughall hatte keine Antwort für sie. »Und nun ist Lachlan tot, und meine Kinder sind entführt«, sagte Iseult tonlos. »Meine Kinder... Ich bin krank vor Sorge um sie, Dughall. Nur Eà weiß, was sie in den Händen dieses Wahnsinnigen erleiden müssen.« »Gibt es irgendwelche Nachrichten?« 106 Iseult schüttelte den Kopf. »Nein, nicht wirklich. Ich meine, ich weiß, dass sie noch leben, zumindest Owein und Olwynne. Bronwen hat das Mädchen beauftragt, diejenige, die das schwarze geflügelte Pferd gezähmt hat, diejenige, die ich hängen sehen wollte. Ihr Name ist Rhiannon. Sie ist ihnen hinterhergeflogen und konnte ihnen den jungen Roden, Ninas Jungen, entreißen. Sie sagte, sie hätte sowohl Owein als auch Olwynne gesehen, gesund und munter.« Sie hielt inne und fuhr sich mit einer Hand über die Augen. »Ich wünsche mir unwillkürlich ...«, flüsterte sie. »Obwohl ich natürlich froh bin, dass Nina Roden zurückhat. Ich wünschte nur...«
»Dieses Mädchen, die Thigearn, sie fliegt ihnen noch immer hinterher?« »Ja.« »Dann wird sie Owein und Olwynne gewiss auch retten können«, sagte Dughall tröstend. »Finn und Jay folgen ihnen ebenfalls, denk daran, und die Yeomen der Wache.« »Aber werden sie rechtzeitig kommen?«, flüsterte Iseult. »Er will sie töten, um ihr Lebensblut dazu zu benutzen, die Toten aus dem Grab wiederzuerwecken.« Sie erschauderte und biss sich auf die Unterlippe. »Wann? Wann wird er es tun? Können sie ihn rechtzeitig erreichen?« »Sie fliegt ein geflügeltes Pferd«, sagte Dughall. »Sie sind nach allem, was man hört, sehr schnell. Ich sah sie neulich fliegen, für die Banrigh. Sie ist eine wahre Thigearn.« Bei der Erwähnung Bronwens hob Iseult den Blick, und Farbe stieg in ihre Wangen. Sie presste die Lippen zusammen und antwortete nicht. »Und Donncan? Was wird über den Righ berichtet?« Tränen liefen über Iseults Gesicht. »Nichts.« »Isabeau wird ihn finden, dessen bin ich mir sicher. Sie ist eine wirklich mächtige Zauberin, die mächtigste, die wir seit vielen Generationen haben.« 107 Iseult konnte nicht sprechen. Sie hob ihr feuchtes, zerknittertes Taschentuch an ihre Augen und wischte ungeduldig darüber. »Iseult, sag mir, stimmt es... kann es wahr sein, dass ein Zauber, den Brann der Rabe heraufbeschworen hat, Donncans Entführung bewirkt hat?« Iseult sah ihn an. »Wo hast du das gehört?«, wollte sie wissen. »Stimmt es?« »Ich darf nicht darüber sprechen«, erwiderte Iseult und warf einen raschen Blick zu dem Knappen, der auf der anderen Seite des Raumes schüchtern mit ihrer Kammerzofe sprach, mit den Beinen baumelnd, während er an einer kandierten Pflaume knabberte. Owen saß in einiger Entfernung ruhig an einem Tisch
und sah den dortigen Stapel täglicher Nachrichten durch. Er blickte nicht auf, als sie ihn ansah. »Bitte, Iseult, bei Eäs grünem Blut, wenn es stimmt, dann sag es mir«, forderte Dughall scharf. »Brann ist mein Vorfahre. Ich bin mit den Geschichten über seine Machenschaften aufgewachsen. Ich weiß, dass er geschworen hat, Gearradh zu überlisten und wieder zu leben. Ich weiß, was für ein raffinierter und gerissener Zauberer er war. Ich muss wissen, ob diese Geschichten wahr sind.« »Sag mir zuerst, wo du davon gehört hast«, bat Iseult leise. »Denn das ist wirklich eine Geschichte, die nicht auf jedem Dorfplatz verbreitet werden sollte, Dughall. Es ist schlimm genug, dass Lachlan tot ist und seine Erben verschwunden sind, so dass nur ein naseweises, schmächtiges Mädchen übrig blieb, um den Leitstern zu erheben. Wenn allgemein bekannt würde, was mit Donncan geschehen ist... Wenn wir die Hoffnung nehmen, dass wir ihn bald finden werden ...« »Es gibt hier einen Burschen, der letztes Jahr in Ravenscraig Knappe war«, sagte Dughall. »Ein kluger junger Mann, wirklich recht nett. Er ist jetzt Student an der Theurgia und will Yeoman werden. Am Mittsommerabend gehörte er zu der Gruppe, die 108 Donncan suchte. Er weiß, dass er und die Prinzessin der Celestine von Johanna in das Labyrinth geführt wurden, und er weiß, dass Isabeau und die Sternträumerin ihnen auf dem Alten Weg gefolgt sind, um ihn und Donnerlilie zurückzuholen. Er weiß auch, dass Johanna viel Zeit in der Bibliothek verbracht hat, um das Leben und den Tod von Brann dem Raben zu recherchieren, und dass Gwilym der Hässliche das auch getan hatte. Den Laird von Fettercairn kennt er gut, da er zu der Gruppe gehörte, die mit Nina durch Fetterness reiste, und daher alles über die Totenbeschwörung und die Suche des Laird nach dem Geheimnis der Totenerweckung weiß. Er und seine Freunde sind nicht dumm, Iseult.« »Nur schwatzhaft«, konterte sie.
»Das glaub ich nicht. Er ist ein guter Junge. Es kursieren viele Gerüchte, und so weit ich es sagen kann, kommt keines davon der Wahrheit auch nur annähernd nahe. Tatsächlich lautet die verbreitetste Geschichte, Donncan sei mit Donnerlilie davongelaufen.« »Was!« »Ja. Die meisten erkennen nicht, dass Johanna mit dem Laird von Fettercairn unter einer Decke steckte. Das wurde weitgehend verschwiegen. Sie denken vermutlich, sie habe bei einer tragischen Liebesgeschichte geholfen.« Iseult sah ihn ausdruckslos an, und dann begann sie plötzlich zu lachen und konnte nicht mehr aufhören. Sie presste sich eine Hand auf den Mund und wiegte sich vor und zurück, gleichzeitig lachend und weinend, ein Zustand, den Dughalls altes Kindermädchen als »fröhlich-wird-traurig« bezeichnete. Er sah sie einigermaßen fassungslos an, und sie barg ihr Gesicht in den Händen und rang um Selbstbeherrschung. Als sie schließlich den Kopf hob, waren ihre Augen stark gerötet. »Ich wünschte ...«, schluchzte sie. »Oh, ich wünschte, es wäre nur das!« 109 »Also ist Camerons Vermutung richtig? Stimmt es, dass Brann durch irgendeinen üblen Zufall hiermit zu tun hat, so seltsam und unmöglich das auch zu sein scheint?« Iseult nickte und wischte sich mit dem Taschentuch nutzlos über die Augen. »Er schrieb einen Zauber der Wiedererweckung ins Buch der Schatten und verbarg darunter irgendwie einen Zwangszauber. Wer auch immer den Zauber liest, wird von dem unwiderstehlichen Drang befallen, Brann von den Toten zu erwecken.« »Aber wie ist das möglich? Brann ist schon über eintausend Jahre tot.« Iseult nickte. »Ach, ich weiß. Darum wurde auch Donnerlilie entfährt. Nur die Celestine kennen das Geheimnis der Benutzung der Alten Wege, um in der Zeit zurückzureisen. Johanna hat den Zauber gelesen und unterlag seinem Zwang, und das war der
Grund, warum sie Donncan und Donnerlilie entführt hat - um nach Branns Pfeife zu tanzen.« »Das darf nicht geschehen«, flüsterte Dughall, hastiger atmend und mit leerem Blick. »Iseult, du kannst es nicht wissen... Niemand außer einem MacBrann weiß wirklich, wie böse Brann war. Er darf nicht wieder leben. Er darf es nicht!« »Glaubst du, jemand von uns möchte das?«, fragte sie erschöpft. »Einmal abgesehen davon, dass Isabeau Donncan und Donnerlilie retten will, ist sie auch aufgebrochen, um das zu verhindern.« »Aber hat sie den Zauber nicht auch selbst gelesen?«, flüsterte Dughall. »Dann handelt sie auch unter Branns Zwang! Glaube mir, Iseult, niemand könnte einen solchen Zauber leicht abschütteln. Wenn Isabeau ihn gelesen hat, erfüllt sie jetzt Branns Willen, glaub mir. Sie wird seine Wiedererweckung nicht aufhalten - sie wird dabei helfen!« 110 DER DUNKLE HINTERGRUND >Was siehst du sonst im dunkeln Hintergrund und Schoß der Zeit?« SHAKESPEARE, Der Sturm, 1611 VERGANGENE ZEIT Wie soll man die Zeit messen? Mit jedem Herzschlag, mit jedem Pulsieren des Blutes durch eine Arterie, mit jedem Ein- und Ausatmen, zählt man das Vergehen der Zeit. Während die Sonne über den Himmel zieht, der Schatten des Zeigers sich über die Sonnenuhr bewegt und Blumen ihre Blüten ihrer Wärme zuwenden. Während Sand durch ein Stundenglas fällt. Während eine schmelzende Kerze die in ihr Wachs gekerbten Markierungen verschlingt. Während das Pendel schwingt, und all die kleinen Zahnräder der Uhr durch einen weiteren winzigen Abschnitt der Zeit ticken. Der Mond geht auf und unter, nimmt zu und ab, und die Gezeiten schreiben ihre Stunden in den Sand. Jahreszeiten wechseln und kehren wieder, und das
Kind wächst zu einem Mann heran und schreitet dann dem Tode zu. Alle diese Dinge kann man spüren, sehen, messen. Und doch gibt es nur Schattenbilder des wahren Wesens der Zeit. Die Zeit ist nicht das Maß des Vergehens der Sekunden Jahreszeiten, Jahrhunderte. Sie ist kein Fluss, der ruhig und unaufhaltsam voranfließt. Sie ist der Kettfaden des Gewebes des Universums und schwingt daher im Inneren allen Seins. Wie ein Faden durch das Nadelöhr gezogen, wie Seide bis zum Zerreißen gespannt - so hatte Isabeau die Kreuzschraffur von Raum und Zeit einen Moment in jeder Faser ihres Seins gespürt. Es geschah nur einen Moment, einen Pulsschlag lang, einen Wimpernschlag lang, und doch war es unerträglich. Dann, mit gewaltigem Rauschen, wurde sie auf der anderen Seite aus 111 gespien, in eine vollkommen andere Zeit, eine vollkommen andere Welt. Oder eine Hälfte von ihr wurde ausgespien. Die andere Hälfte folgte ihr noch nach, war noch irgendwo anders. Das Einzige, womit Isabeau das Gefühl vergleichen konnte, war die seltsame Verzerrung durch Fieber, wenn der Kopf und die Füße meilenweit entfernt schienen, die Oberfläche der Welt vor den Augen flimmerte und Schmerz in den Ohren rauschte wie das anbrandende und zurückfließende Meer in einer Höhle. Jeder Nerv im Körper schrillte, war taub und prickelte doch gleichzeitig heftig, und ihr Mund war trocken wie eine Wüste. Sie sank auf die Knie, eine Hand in Wolkenschattens Hand, die andere noch immer durch einen unendlichen Raum treibend, auf einem Hügel in einer Welt, die viel grüner, viel ursprünglicher, viel weiter und unendlich gefährlicher schien als ihre eigene. Plötzlich gehörte ihre Hand wieder ihr, und gleichzeitig kam Dide, keuchte vor Angst und Verblüffung. Er zog die Übrigen mit sich, einen nach dem anderen, alle hastig und in verschwommenem, rotem, tosendem Licht wie das wildeste aller Feuer eintreffend. Sie alle zitterten, fühlten sich elend und benommen und konnten sich einen Moment nicht bewegen, obwohl sie sich der Gefahr
verzweifelt bewusst waren. Dann bemerkte Isabeau den Teich unmittelbar neben ihnen, und sie drehte sich um und fiel halbwegs hinein, trank in tiefen Zügen und benetzte ihr Gesicht und ihre Brust und Arme. Das Wasser war kalt und köstlich und erweckte sie aus der seltsamen, tranceähnlichen Trägheit, die sie befallen hatte. Während auch die anderen tranken und sich benetzten, konnte Isabeau sich umsehen und sich darüber klar werden, wo, oder eher, in welcher Zeit, sie sich befanden. Es war die Zeit des Sonnenuntergangs an einem warmen Mittsommerabend. Der Feueresser war ein heller Fleck im Osten, von einer Felsspalte in den Hügeln eingerahmt. Vor ihnen befand sich das Grabmal der Raben, neu, weiß und sauber. Der Teich 112 dahinter war nun eine natürliche Quelle, grob oval geformt, mit einem kleinen Bach, der in mehreren Stufen den Hügel hinabplätscherte. In dem warmen, züngelnden Licht erstrahlte die Allee mit frisch gepflanzten Eibenschösslingen. So weit das Auge reichte, war Wald zu sehen, der sich auf einer Seite bis zu den von Schnee gekrönten Gipfeln und auf der anderen Seite bis zu einer schmalen Biegung eines Flusses hinzog, der durch das Tal hindurchfloss. Isabeau war verwundert und erstaunt. Zu ihrer Zeit war der Rhyllster ein mächtiger, breiter Fluss, der von fruchtbarem Ackerland und vielen kleinen Bauernhöfen, Dörfern und Städten gesäumt war, die seine Ufer sprenkelten. Er war die Lebensader des Landes, von Booten und Lastkähnen bevölkert, die Waren und Passagiere vom Hochland ins Tiefland und wieder zurück beförderten. Es war schockierend zu sehen, wie viel Wald hier einst stand und wie sich Gestalt und Größe des Flusses verändert hatten. Er war viel rauer; an vielen Stellen war das Wasser aufgewühlt, und Stromschnellen schäumten über Stapel umgestürzter Bäume und vom Sturm mitgerissener Zweige. Es gab viele Hinweise darauf, dass der Fluss häufig Hochwasser hatte. An manchen Stellen stapelten sich die umgestürzten Bäume und Zweige auf beiden Seiten höher als an anderen. Isabeau erinnerte sich, dass die
Schleusen und Kanäle, welche die Mündung des Rhyllster schützten, erst in mehreren hundert Jahren gebaut würden. Sie fühlte sich seltsam davon berührt, wie sehr sich die Landschaft von derjenigen unterschied, die sie kannte. Sie hatte jedoch keine Zeit, sich länger umzusehen, da sie Tabakrauch riechen und das leise Murmeln von Stimmen hören konnte. Auf einer Seite, auf einem Flecken Gras unter einer großen Tanne, war ein frisches Grab ausgehoben worden. Die Totengräber ruhten sich dort auf dem Erdhügel aus, rauchten ihre Pfeifen und nahmen gelegentlich einen Schluck aus einer Flasche, die sie untereinander kreisen ließen. Wenn sie ihre 113 Köpfe wandten, würden sie die sechs Fremden sehen, die sich so plötzlich aus dem Nichts materialisiert hatten. Rasch flüsternd, drängte Isabeau ihre Gefährten eilig von dem Teich fort und in den Schutz einiger großer, alter Bäume auf der Seite. Dort kauerten sie sich mit hämmerndem Herzen hin, während ihre schweißfeuchten Handflächen kribbelten. Es war sehr warm, und sie waren noch immer wintermäßig gekleidet. Sie wagten es jedoch nicht, ihre Umhänge abzunehmen, da sie mit einem mächtigen Tarnzauber gewoben worden waren. »Irgendein Zeichen von Donncan?«, flüsterte Isabeau und reckte den Hals, um etwas zu sehen. »Lass mich nachsehen, ob ich am Teich etwas finden kann«, flüsterte Dide. »Vielleicht noch eine Feder?« »Nein, das ist zu gefährlich. Buba wird losfliegen und sehen, was sie findet.« Die kleine Elfeneule hatte sich auf ihrer Schulter niedergelassen, alle ihre Federn bis zu den Pinselohren gesträubt, die Augen sehr rund. Bei Isabeaus Worten schrie sie leise und flog geräuschlos auf. »Ich frage mich, wo sie sind«, sagte Ghislaine. »Wenn wir dieselben Konstellationen benutzt haben wie sie, dann sollten wir ihnen doch gewiss auf den Fersen sein, trotz der wenigen Tage Zeitunterschied seit unserem Aufbruch?«, fragte Cailean stirnrunzelnd. Der große Schattenhund drängte sich dicht an das Bein des Zauberers, die Ohren zurückgelegt, seine
Schnauze mit leisem Knurren angehoben. Er hatte die Reise durch die Zeit zurück nicht genossen. Ich kann meine Tochter nicht spüren, sagte Wolkenschatten. Nicht hier, nicht jetzt. Und sie war auch nicht hier. »Nicht hier!«, rief Isabeau aus. »Du meinst, überhaupt nicht? Nicht in letzter Zeit?« Wolkenschatten schüttelte den Kopf. »Wo können sie dann sein?«, fragte Ghislaine verständnislos. »Sind wir in die falsche Zeit gelangt?« 114 Alle empfanden eine elende, düstere Beklommenheit. Sie sahen sich verzweifelt um. Obwohl die Sonne untergegangen war, war es noch hell, denn das Zwielicht hielt im Mittsommer sehr lange an. Die Totengräber saßen noch immer da und rauchten und tranken auf ihrem Hügel frisch aufgeworfener Erde. Buba huschte lautlos und unbemerkt von Baum zu Baum. Das Grabmal der Raben schimmerte weißlich. Isabeau konnte die Scharten in der Erde nahe des Teichs sehen, wo noch bis vor kurzem die geweihten Steine der Celestine gestanden hatten. Sie wandte sich um und schaute zum Meer hin, wider alle Hoffnung in der Erwartung, Donncan und Donnerlilie zu sehen, die sich vielleicht im Wald versteckten oder Nahrung suchten. Zu ihrer Überraschung sah sie ein kleines, graues, auf einer hohen Klippe über dem Meeresarm erbautes Schloss. Zu ihrer Zeit war der Palast von Rhyssmadill ein Schloss mit hoch aufragenden Spitztürmen, aus traumähnlichem blauem Stein erbaut. Dieses war ein wesentlich kleineres Gebäude, nicht der Schönheit halber gebaut, sondern um Respekt einzuflößen. Mehr als alles andere, was sie jemals gesehen hatte, ließ dieses grimmige, strenge Schloss Isabeau erkennen, dass sie tatsächlich in die Zeit Branns des Raben zurückgereist waren. Er hatte Rhyssmadill erbaut und viele Jahre dort gelebt, unangreifbar und stolz. Nach seinem Tod hatten seine Erben Rhyssmadill verlassen und ihren Hof nach Ravenscraig verlegt, das zuvor ihr Jagdschloss gewesen war.
Jaspar hatte auf der Ruinenstätte beizeiten einen Palast erbaut, für seine neue Frau Maya, die sich danach sehnte, in Sichtweite und mit dem Geruch des Meeres zu leben. Als Isabeau das Schloss betrachtete, bemerkte sie, dass die grünen Fahnen mit ihrem Emblem eines Raben alle auf Halbmast flatterten. Dann sah sie eine schwer bewaffnete Prozession die Zugbrücke über die Schlucht überqueren. Zwischen all den sich drängenden Soldaten befand sich ein Karren, und auf dem 115 Karren stand eine lange, hölzerne Kiste, die, wie sie mit rasch beschleunigtem Puls erkannte, ein Sarg war. Ghislaine runzelte neben ihr die Stirn. »Ich denke, wir müssen zur falschen Zeit gekommen sein«, sagte sie. »Denn auch wenn wir anlässlich eines Todes hier sind, kann es nicht Branns sein.« Cailean wandte sich um und schaute in die von ihr angegebene Richtung. »Das ist eine zu schlichte Trauerprozession für einen Prionnsa«, stimmte er ihr zu. »Besonders für solch einen stolzen und reichen Mann, wie es Brann der Rabe war. Wären nicht all die Soldaten, würde ich sagen, es sei ein Dienstbote irgendeiner Art, den sie dort mit den Füßen zuerst hinaustragen. Oder ein Pestopfer.« »Ja. Es scheint seltsam«, sagte Dide. »Sie hätten doch gewiss einen Dudelsackspieler? Eine richtige Prozession? Trauerkleidung? Es kann nicht Brann sein.« »Es ist Brann«, sagte Isabeau mit seltsam klingender Stimme. Dide wandte sich zu ihr um und sah, wie angespannt und gebeugt ihre Schultern waren und wie kränklich blass ihre Haut. »Geht es dir gut?«, fragte er. »Nein«, sagte sie. »Es ist Brann. Sein Geist ist stark Ich höre ihn in meinem Ohr.« Es ist an der Zeit. Erwecke mich. Buba ließ sich wieder auf Isabeaus Schulter nieder, und sie rieb, Trost suchend, zwanghaft die Pinselohren der Eule. Als Buba den Kopf unter ihre Flügel steckte, bemühte sich Isabeau, sie sanfter zu berühren. Hast-hu du-hu sie-hugefunden-hu?, schrie sie.
Nein-hu, antwortete Buba traurig. Cailean schickte Dobhailen aus, damit er umherschnüffelte und ergründete, ob seine scharfe Nase eine Spur aufnehmen konnte, die Bubas scharfen Augen entgangen war. Obwohl der Schattenhund fast so groß war wie ein kleines Pony, bewegte er 116 sich lautlos wie Rauch und schien von Schatten zu Schatten zu gleiten. Die Totengräber, die gerade ihre Pfeifen und ihren Tabak einsteckten, sahen ihn gewiss nicht, nicht einmal als einer aufstand und seinen Rücken streckte, bevor er seine Schaufel schulterte. Der Hund kam nach wenigen Minuten zu Cailean zurück, und an seinem herabhängenden Schwanz und den gesenkten Ohren war deutlich zu erkennen, dass auch er keine Spur des Righ gefunden hatte. Isabeau biss die Zähne zusammen und grub die Fingernägel in ihre Handflächen. »Was sollen wir tun?«, flüsterte Ghislaine. »Wo kann Donncan hingegangen sein?« »Wir müssen sie finden und ihnen folgen«, sagte Isabeau durch zusammengebissene Zähne. »Wir müssen jetzt aufbrechen!« Der Zwang, Brann zu finden und ihn wiederzuerwecken, war wie eine Behandlung mit Peitsche und Sporen und machte sie vor Schmerz wahnsinnig. Es war wie Gier oder Qual, eine Empfindung, die nicht beschwichtigt werden konnte. Sie konnte ihn näher und näher kommen spüren. Er war eine düstere Macht der Heimtücke und des Zorns, die an seinem Körper hafteten wie aus einem unerbittlichen Willen gemachte Haken. Er war noch nicht lange tot, nicht mehr als zwölf Stunden, kaum Zeit genug, dass das Fleisch am Körper zu verwesen beginnen konnte. Isabeau wusste, dass eine Seele drei Tage brauchte, um den Körper loszulassen. Das war einer der Gründe für das lange Ritual des Wachens über den Leichnam und des Betens für einen leichten Übergang der Seele in die nächste Dimension. Es war selbst in der Hitze des Mittsommers ungewöhnlich, wenn jemand so bald nach seinem Tod bestattet wurde. Die Totengräber mussten den ganzen Tag hart gearbeitet haben, um solch eine tiefe Grube auszuheben.
Alles musste eilig und im Geheimen geschehen sein. Es wäre keine Zeit gewesen, mehr zu tun, als ihn zu waschen und ein 117 zuhüllen, den Sarg in Auftrag zu geben und das Grab schaufeln zu lassen. Keine Glocken erklangen, und niemand trug schwarze Trauerkleidung. Wenn Isabeau nicht selbst in jedem elenden und zitternden Nerv und Muskel gespürt hätte, welch dunkle Seele dies war, die sich an die leere Hülle ihres Körpers klammerte, hätte sie Mitleid und Bedauern darüber empfunden, dass er auf diese Weise begraben wurde. Aber sie empfand nur überwältigendes Entsetzen. »Es wäre doch gewiss gefährlich, eine weitere Reise durch die Zeit zu versuchen, so kurz nach der ersten Reise?«, fragte Dide gerade. »Wir sind alle erschöpft. Ich fühle mich, als wäre ich von einem Oger durchgekaut und ausgespien worden. Wir haben nichts gegessen und hatten keine Gelegenheit, uns auszuruhen. Wir werden doch gewiss ...« »Nein«, sagte Isabeau. »Wir müssen jetzt aufbrechen.« »Aber Isabeau...«, protestierte Ghislaine. Sie wirkte elend und abgespannt. »Bitte!« »Ist es nicht zu spät?«, fragte Cailean. »Der Sonnenuntergang ist vorüber und damit auch der Wechsel der Gezeiten der Macht. Sollten wir nicht bis zur Dämmerung warten?« »Ich weiß nicht, wie es dir geht«, sagte Dide, »aber mir tut alles weh, und meine Beine sind wie Gummi.« »Mir geht es genauso«, erklärte Ghislaine. »Ich fühle mich, als wäre ich die ganze Nacht traumgewandelt. Ich hätte gerne ein Glas Wein in einer heißen Badewanne und ein großes Bett mit frisch gewaschenen Laken.« Cailean unterdrückte ein Lächeln und wandte den Blick ab. Er rieb sich wie abwesend die Schulter, als hätte er dort Schmerzen. Sturmreiter wirkte auch erschöpft, obwohl er so aufrecht wie immer saß, seine Hände schützend auf seinem Bündel. »Nein!«, schrie Isabeau. Als sie die erschreckten und verletzten Mienen der anderen sah, bemühte sie sich, ihre Stimme zu kontrollieren. »Dieser Zauber Branns ... er treibt mich in den Wahn
118 sinn. Er spricht mir die ganze Zeit ins Ohr, befiehlt mir, zwingt mich. Er ist fast hier. Er wird immer lauter. Bitte, bitte, wir müssen ... wir müssen von hier fort!« Sie versuchte, vernünftig zu denken, ein Argument zu finden, sie umzustimmen. »Ich fürchte ... um Donncan und Donnerlilie. Wenn ich ... wenn ich ihm nicht widerstehen kann ... wie wird Johanna ... sie wird davon halb verrückt sein ... Ich fürchte, was sie tun wird ...« Sie konnte nicht weitersprechen. Sie erhob sich, nahm ihr Bündel hoch und warf es sich über die Schulter. Sie konnte die Proteste und Fragen der anderen kaum hören. Ihre Ohren waren von der Stimme des Zaubers erfüllt. Ich bin Brann. Es ist an der Zeit. Ich will wieder leben! Ich bin Brann! Es ist an der Zeit! Erwecke mich! Erwecke mich von den Toten, denn ich muss wieder leben. Dornen rissen an ihrem Umhang, und sie befreite ihn, wobei es sie nicht kümmerte, als der Stoff riss. Buba schrie ihr von einem nahe gelegenen Ast besorgt zu, und sie hörte es nicht, ging zum Teich zurück, die Schultern eingesunken, die Fäuste so fest geballt, dass die Nägel in ihre Handflächen schnitten. Dide holte sie ein und ergriff ihren Arm. »Beau...«, sagte er. Sie entwand ihm ihren Arm und ging weiter. »Du musst mir helfen«, sagte sie rau. »Bitte.« »Du machst mir Angst, Beau. Ist dies klug? Sollten wir ein solches Risiko eingehen? Man wird uns bemerken!« Sie wandte sich zu ihm um. »Verstehst du nicht? Es kostet mich meine letzte Kraft, nicht meinen Hexendolch zu ergreifen und ihn dir über die Kehle zu ziehen, jetzt sofort! Er ist fast hier. Er fordert Blut! Jemand muss sterben, wenn er wieder leben soll. Ich will das nicht.« Dide trat mit entsetzter Miene unwillkürlich einen Schritt zurück. »Er ist nahe, Dide. Er ist sehr nahe. Der Zauber ist stark. Es ist... es ist wie ein Wahnsinn... ich kann kaum...« Sie hielt erneut 118
inne, biss sich auf die Lippen, presste die Hände zusammen. »Ich muss fort«, murmelte sie. »Sonst... sonst werde ich ...« »Wir werden aufbrechen«, sagte Dide. Sie nickte und schritt durch die Bäume auf das Grabmal der Raben zu, das in den allerletzten Sonnenstrahlen glomm. Sie kam zu spät. Der Karren mit seinem groben Holzsarg war in der Nähe des Friedhofs abgestellt worden, und die Soldaten hoben ihn gerade herab und auf ihre Schultern. Die Stimme in Isabeaus Ohr wurde schrill. Jetzt! Jetzt! Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen! Erwecke mich! Isabeau sank auf die Knie, schlug mit den Händen gegen ihren Kopf, die Augen fest geschlossen. »Hör auf, hör auf damit, hör auf damit«, murmelte sie leise. Cailean und Dide liefen zu ihr und wollten ihr aufhelfen. Sie entwand sich ihnen heftig und beugte sich vornüber, als müsse sie sich erbrechen, die Hände auf die Ohren gepresst. »Komm, verbergen wir uns, bevor man uns sieht«, flüsterte Dide. Er beugte sich herab und fasste sie unter die Achsel. »Nimm... fort... meinen ... Dolch«, keuchte sie. »Dide, bitte!« Er nickte, zog geschickt ihren Dolch aus seiner Scheide und warf ihn Ghislaine zu, die ihn mit bleicher Miene auffing, zurückwich und ihn so hielt, als sei er eine Giftschlange. Dann hoben Dide und Cailean Isabeau zusammen hoch und trugen sie halb in den Schutz der Bäume zurück. Obwohl sie schnell waren, wurden sie doch fast entdeckt, denn um den Karren standen Soldaten mit gezogener Waffe und umherzuckenden Blicken Wache. »Wir können den Alten Weg nicht zur Flucht benutzen, solange sie hier sind«, flüsterte Dide. »Wir müssen warten. Beau, kannst du das ertragen?« Er beugte sich hinab, um sie sanft auf dem Gras niederzulassen. Ihre Antwort bestand darin, dass sie eine Hand ausstreckte und den schmalen Dolch mit dem schwarzen Griff packte, den 119 er stets in seinem Stiefel trug. Dide sprang zurück, als sie ihn mit dem Dolch angriff. »Brann wird wieder leben«, zischte sie.
»Beau!«, rief Dide. »Was tust du?« Sein Gesicht zeigte tiefen Schock und Entsetzen. Isabeau blickte auf den Dolch in ihrer Hand hinab. Ihre Augen öffneten sich weit, und sie ließ ihn aus plötzlich kraftvollen Fingern fallen. Dide beugte sich sehr langsam hinab, hob ihn auf, stand dann da und sah sie an, während der Dolch aus seiner Hand herabhing. Sie hob den Blick und sah ihn an, während Tränen plötzlich in ihren Augen brannten. »Ich kann nicht... ich kann nicht anders«, sagte sie. »Es ist... so stark ... Er ist so stark... Dide, verzeih mir... hilf mir, bitte ...« Er konnte nicht sprechen. »Was sollen wir tun?«, flüsterte Ghislaine. Sie schaute hektisch zu Wolkenschatten und Sturmreiter, die im Schatten der Bäume standen und beobachteten, ihr drittes Auge weit geöffnet und schwarz wie die Nacht. »Könnt Ihr sie nicht heilen?«, verlangte sie zu wissen. Wolkenschatten schüttelte langsam den Kopf. Sie leidet an einer Verletzung der Seele, nicht an einer Verletzung des Körpers, sagte sie lautlos. Dies ist Magie eurer Art, nicht unserer. Ich kann dir jedoch sagen, dass sich der Makel, der ihr auferlegt wurde, rasch ausbreitet. Er ist schwarz wie die Brandmale von Feuer auf Holz. Sie ist voller Dunkelheit. »Was sollen wir tun, was sollen wir tun?«, stöhnte Ghislaine und presste die Hände zusammen. »Sie fesseln und knebeln«, antwortete Dide rau, »bis wir von hier entkommen können.« Er nahm ein Stück Seil aus seinem Bündel und ging auf Isabeau zu, die ihn mit stark geweiteten Augen anstarrte. »Es ist so am besten«, sagte er und zwang sich, ihr in die Augen zu sehen. »Nein«, sagte sie. »Tu das nicht. Es wird ... es wird mich in 120 den Wahnsinn treiben. Ich ... ich kann nicht still bleiben. Lass mich...« Er kam unaufhaltsam auf sie zu, und sie verwandelte sich mit einem raschen Fingerschnippen in die Gestalt einer Elfeneule. In einem Moment stand dort eine rothaarige Frau im Dämmerlicht,
und im nächsten Moment flogen zwei kleine, weiße Vögel auf lautlosen Schwingen in den Wald davon. Dide sah ihnen nach und ließ die Hände sinken. MITTERNACHT AUF DEM FRIEDHOF Sobald Isabeau die Gestalt einer Eule angenommen hatte, verspürte sie die Erlösung vom Zwangszauber Branns des Raben. Vor Erleichterung wie benommen, flog sie hoch in den Himmel hinauf und umkreiste die Bäume. Flieg-hu, schrie Buba freudig. Flieg-hu hoch-hu! Isabeau und Buba waren schon viele Male zusammen am Nachthimmel geflogen, hatten mitten in der Luft Insekten gefangen, das Zausen des Nachtwindes in ihren Federn genossen und mit ihren überragenden Eulenaugen die umherkrabbelnden kleinen Kreaturen im Unterholz beobachtet. Isabeau hatte die Freude jedoch niemals zuvor so stark empfunden. Sie fühlte sich, als wäre sie einem Käfig aus glühend heißem Eisen entkommen, der sie eingeengt und ihr Schmerzen eingebrannt hatte. Nach einer Weile schwebte sie wieder auf den Hang hinab, um ihren Freunden beruhigend zuzuschreien und die Arbeit der Totengräber zu beobachten, während sie Brann den Raben in einem nicht gekennzeichneten Grab am Hang begruben wie einen Almosenempfänger, ein Pestopfer oder einen Selbstmörder. Obwohl es inzwischen fast dunkel war, konnte Isabeau mühe 121 los sehen. Ihre Freunde hatten unter den herabhängenden Zweigen einer der großen Tannen Schutz gesucht, denn die Soldaten patrouillierten beständig auf dem Hang und hielten ihre Waffen bereit. Die Soldaten trugen lange, grüne Waffenröcke mit dem schwarzen Raben des Clans der MacBrann und dem Leitspruch des Clans, Sans Peur, in Weiß auf ein schwarzes Schriftband gestickt. Sie führten große Langschwerter oder gefährlich aussehende Lanzen mit sich und hatten Dolche an den Gürteln. Es waren auch Bogenschützen dabei, welche die Straße zum Schloss bewachten. Sie hatten Pfeile eingelegt, und ihre Blicke schweiften auf der Suche nach Bewegung beständig über die Landschaft.
Ein großer Mann mit einem sehr dunklen, finsteren Gesicht beobachtete, wie die Totengräber die Grube rasch auffüllten. Seine Kleidung wirkte schwer und altertümlich. Er trug eine lange, enge Hose unter einem breit gestreiften Wams, mit einer seltsamen kleinen Spitzen-Halskrause, die sein Kinn aufwärtszwang. Seine Schuhe wiesen lange, schmale Spitzen und üppig juwelenbesetzte Schnallen auf. Die Ärmel waren weit und aufwändig gearbeitet, grün-schwarz gestreift und mit einem Schlitz versehen, so dass man die weiße Seide darunter sah. An der Hand hatte er viele schwere Ringe, die zeigten, dass er ein begabter Zauberer war, und er trug keine Waffe, sondern einen silbergeprägten Stab aus Ebenholz, der in seiner Schärpe steckte. Als der letzte Erdklumpen ins Grab geschaufelt wurde, seufzte er und nickte. »Gut gemacht«, sagte er leise. »Habt ihr die Soden so geschnitten, wie ich es euch befohlen habe? Legt sie auf dem Grab aus und stampft sie gut fest. Wir wollen nicht, dass jemand weiß, wo er begraben ist.« »Ja, Euer Gnaden, wir werden unser Bestes tun«, antwortete einer der Totengräber. »Ich hab einen Eimer mitgebracht, so dass wir sie aus dem Teich wässern können, sonst würden sie bei dieser Hitze schnell braun.« 122 »Gut mitgedacht«, sagte der Lord. »Gibt es hier ein paar herabgefallene Äste, die wir obenauflegen können, um das Grab zu verbergen, bis das Gras wieder zu wachsen beginnt?« »Ja, Euer Gnaden.« Während Isabeau zusah und sich wunderte, entrollten die Totengräber Streifen grüner Soden, bedeckten die Grabstätte damit und wässerten sie sorgfältig. Bald war nur noch schwer erkennbar, wo Brann begraben worden war, obwohl die Veränderungen im Boden bei Tageslicht und im vollen Glanz der Sonne offensichtlicher wären, wie sie wusste. Als die Männer fertig waren, dankte der Lord ihnen und reichte ihnen schwere Beutel, die klimperten und die Totengräber zufrieden lächeln ließen. »Denkt daran, ihr dürft mit niemandem darüber sprechen, was ihr getan habt«, warnte der Lord. »Nicht mit euren Frauen oder
euren Geliebten, nicht mit euren Söhnen oder Töchtern. Wenn ihr es auch nur einer Menschenseele sagt, werde ich es erfahren, und ich werde Rache üben. Denkt daran, ich bin Branns Sohn! Ich werde es erfahren, und ich werde euch leiden lassen!« »Ja, Euer Gnaden, natürlich, Euer Gnaden«, antworteten sie eilfertig, steckten ihre Münzbeutel ein, schulterten ihre Schaufeln und eilten dann fast im Laufschritt den Hügel hinab. »Es wäre besser gewesen, wenn Ihr ihnen die Kehlen durchschnitten hättet, Mylaird«, bemerkte der Hauptmann der Wache leise. »Glaubt Ihr, sie werden nicht über die Geschehnisse dieser Nacht reden?« »Das ist das, was mein Vater getan hätte«, stimmte der MacBrann müde zu. »Aber ich weigere mich, so zu sein, wie mein Vater war! Natürlich werden sie sich verplappern, das ist nicht zu ändern. Aber ihr Verstand wird vom Whiskey vernebelt sein, und sie werden bald vergessen, wo genau er begraben wurde. Wenn das Gras erst wieder wächst, wird nichts mehr daraufhinweisen, wo sein Grab liegt, und ich beabsichtige, diesen Hügel 123 gut bewachen zu lassen, bis nichts mehr von ihm übrig ist, was wiedererweckt werden könnte.« »Aber das könnte Jahre dauern!« Der Hauptmann der Wache war bestürzt. »Ob sieben oder siebzig Jahre - ich werde tun, was ich tun muss, um sicherzustellen, dass er in seinem Grab bleibt, wo er hingehört!« »Aber das war doch gewiss alles nur leeres Gerede, all dieses Geschwätz, dass er das Geheimnis der Unsterblichkeit entdeckt hätte.« »Mein Vater war fast achtzig Jahre alt und sah keinen Tag älter aus als fünfzig«, sagte der MacBrann leise. »Ich habe sagen hören, er hätte gelernt, seinen Akoluthen, die krank und bleich wurden, während er immer kräftiger wurde, das Leben auszusaugen.« »Er hat ihr Blut ausgesaugt?«
»Ihr Blut, ihre Seele, ihre Lebensenergie, wer weiß?«, antwortete der MacBrann erschöpft. »Ich kenne das Geheimnis nicht. Ich weiß, dass er einen großen Teil seines Lebens der Erforschung der Geheimnisse von Leben und Tod gewidmet hat. Er verspottete mich, indem er versprach, Medwenna von den Toten zu erwecken. Ich müsste ihm nur eine liebliche Jungfrau als Opfer bringen und sie festhalten, während er ihr die Kehle durchschnitte. Ich sagte, lieber würde ich selbst sterben. Er lachte und erwiderte, dass außer ihm alle Menschen sterben müssten.« »Er war wahnsinnig!«, sagte der Hauptmann. »Das habe ich auch oft gedacht«, sagte MacBrann. »Wahnsinnig oder böse - oder beides. Ein schöner Vater. Aber wisst Ihr was? Ich war in Versuchung. Einen Moment lang zögerte ich. Medwenna wieder zurückzuhaben, und das noch in ihrem Leib gedeihende Kind! Ich hatte geglaubt, dass ich alles dafür geben würde, solche Magie wirken zu können. Und mein Vater erkannte, dass ich mich versucht fühlte. Er konnte in mein Herz sehen, 124 und er wusste, dass all mein Abscheu zum Teil Heuchelei war, denn ich erwog einen Moment, eine Sekunde lang, irgendein armes, junges Mädchen zu töten, nur damit meine Frau wieder zum Leben erweckt werden könnte. Bin ich also weniger böse als mein Vater?« »Ja, das seid Ihr«, antwortete der Hauptmann mit Nachdruck. »Ihr seid ein guter Mensch! Ein guter, freundlicher, gerechter Mann, der...« »Der heute seinen eigenen Vater getötet hat«, sagte der MacBrann. »Ja«, bestätigte der Hauptmann, »und wenn das keine gute Tat war, und eine gerechte Tat, dann weiß ich es nicht besser!« »Es ist eine Sünde und ein Verbrechen, das ich ewig mit mir herumtragen werde«, erwiderte der MacBrann. »Möge Eà mir vergeben!« »Er war eine böse, heimtückische Schlange, und Ihr habt uns allen einen Dienst erwiesen, indem Ihr die Welt von ihm befreit habt«, sagte sein Hauptmann loyal.
Der MacBrann antwortete nicht. »Habt Ihr noch Befehle für mich, Mylaird?«, fragte der Hauptmann kurz darauf. »Bisher ist alles ruhig.« »Sie werden kommen«, sagte der MacBrann ruhig. »Sie werden warten, bis sie denken, dass wir fort sind. Befehlt den Männern, sich zurückzuziehen. Die meisten von ihnen können zum Schloss zurückkehren, aber sagt ihnen, sie sollen das Tor gut bewachen, und wenn jemand herauskommt, ihm in einer gewissen Entfernung folgen. Bittet Darrell und Robin, an der Straße Posten zu beziehen, und zieht einen Ring von Männern gut verborgen um den Hang. Wenn jemand kommt, sollen sie drei Mal einen Eulenschrei ausstoßen.« »Ja, Mylaird. Und was soll ich tun? Soll ich mit Euch zum Schloss zurückreiten, oder wollt Ihr, dass ich hier warte und Wache halte?« 125 »Wir beide werden im Grabmal warten, Colin.« »Im Grabmal?« Der Hauptmann schluckte und sah sich nach der geisterhaft weißen Masse der Krypta um. »Ja. Sie werden denken, dass er dort begraben wurde. Dorthin werden sie kommen.« »So sicher seid Ihr, dass jemand kommen wird?« »Er schwor, Gearradh zu überlisten. Er schwor, er würde wieder leben. Mein Vater besaß die Macht der Prophezeiung. Wir müssen unser Möglichstes tun, um sicherzustellen, dass seine Worte nicht wahr werden.« »Eine hübsche Aufgabe für einen Mittsommerabend«, sagte der Hauptmann ironisch. Isabeau sah den MacBrann kurz lächeln. »Seid einfach froh, dass nicht tiefster Winter ist«, erwiderte er. Isabeau flog über die zum Schloss zurückmarschierenden Soldaten, die lodernde Fackeln trugen, um ihren Weg zu beleuchten, hinweg. Dann huschte sie lautlos zu dem Baum hinab, in dem sich Dide, Cailean, Ghislaine, Sturmreiter und Wolkenschatten verbargen. In ihre grauen Umhänge gehüllt, waren sie in der Dunkelheit unsichtbar. Da sie sich nicht in ihren
von dem Zauber gemarterten menschlichen Körper zurückverwandeln wollte, erzählte sie ihnen in der Eulensprache, was sie belauscht hatte. In Dämmerung-hu, fliehen wir-hu, sagte sie. Im Moment-hu, schlafen-hu. Eule-hu wacht-hu. Sei vorsichtig-hu, antwortete Dide. Du-hu auch-hu, erwiderte sie und rieb ihren Schnabel an seiner Wange, bevor sie wieder in die Dunkelheit davonflog. In der Gestalt einer Eule schwinden menschliche Bedürfnisse und Leidenschaften und werden zu den Bedürfnissen und Wünschen einer Eule. Isabeau erinnerte sich an ihre Liebe zu Dide und an ihr Entsetzen und ihr Schuldgefühl, weil sie ihn mit einem Dolch bedroht hatte, sowie an ihr Entsetzen angesichts der Macht des toten Zauberers, der ihren Willen so unterwer 126 fen konnte. Aber sie spürte diese Empfindungen nicht. Sie war ganz Eule. Als eine Motte vorüberschwirrte, schnappte sie danach und verschlang sie mit Vergnügen. Als Buba vor ihr herflog, streckte sie ihre Flügel und folgte ihr, von einer heiteren Freude über die kommende Nacht und die Mondkühle erfüllt, die Stunden, wenn Eulen herrschen. Sie konnte in der Dunkelheit deutlich sehen. Sie konnte die im Schatten der Bäume kauernden Männer sehen, welche die Straße zum Schloss beobachteten. Sie konnte den Umriss des unbezeichneten Grabes erkennen. Als sie und Buba lautlos durch die Türen ins Mausoleum huschten, konnte sie auch die beiden ruhig mit gezogenen Dolchen in der Dunkelheit sitzenden Männer sehen. Sie sprangen bei der plötzlichen, lebhaften hellen Bewegung über ihren Köpfen jäh auf, und Isabeau schrie leise, um sie zu beruhigen, bevor sie sich über ihren Köpfen niederließ. Sie sprachen nicht. Die Stunden krochen langsam vorüber. Es war kalt in dem Grabmal, und sie zogen die Plaids um ihre Schultern. Isabeau vertrieb sich die Zeit damit, in dem Grabmal umherzuhuschen, ein oder zwei Mäuse zu fangen und die Inschriften über den wenigen Gräbern zu lesen, die bereits in der Krypta existierten. Brann hatte zwei Frauen, vier Töchter, zwei
Söhne und zahlreiche Dienstboten begraben, und eine Tafel gedachte auch seines Vertrauten, ein Rabe namens Nigrum. Am interessantesten war das Mittelstück der Krypta, eine große Steinplatte auf einem erhöhten Podest mit einem aus Marmor gehauenen Sarkophag. Er stellte Brann den Raben selbst dar, mit über einem Stab verschränkten Händen daliegend, eine Krone auf dem Kopf. Auf einer Tafel zu seinen Füßen waren die Worte »Ich werde zurückkehren« eingraviert, was genügte, um Isabeau einen Schauder über den Rücken rieseln und sich aufplustern zu lassen. Welcher Mensch errichtete ein großes Grabmal für sich, noch bevor er gestorben war, und schrieb dann eine solche Grabinschrift für sich? Gewiss ein eitler und anmaßender Mensch, aber 127 auch ein Mensch, der Angst vor dem Tod, vor seiner Sterblichkeit hatte. Oder vielleicht war alles nur eine List. Isabeau wusste, was nur sehr wenige ahnten, nämlich dass das Grabmal einen Geheimgang verbarg, der in die Wasserhöhlen unter Rhyssmadill führte. Dughall MacBrann hatte Lachlan und Dide und die übrigen Leibwächter des Righ während der Glorreichen Kriege durch den Geheimgang hinab- und nach Rhyssmadill hineingeführt und somit eine lange und verzweifelte Belagerung beendet, bei der viele Lachlan treu ergebene Soldaten einen langsamen und schrecklichen Hungertod starben. Brann hatte den Geheimgang gebaut und dessen Eingang mit seinem vorgetäuschten Grabmal verdeckt, das er gewiss niemals einzunehmen erwartete. Es hieß, dass er all jene begraben hätte, die ihm geholfen hatten, den verborgenen Gang darin zu bauen, damit niemand außer ihm und seinen Verwandten das Geheimnis kennen würde. Die Stunden vergingen. Isabeau, die erschöpft und gelangweilt war, barg ihren Kopf in den Federn und döste eine Weile, darauf vertrauend, dass ihre Eulensinne sie warnen würden, wenn etwas geschähe. Wenige Minuten vor Mitternacht öffnete sich langsam die große Bronzetür zur Krypta. Beau und Buba hoben ihre Köpfe und
öffneten die Augen. In dem dunklen Grau ihrer Nachtsicht sahen sie zwei mit dunklen Umhängen verhüllte Gestalten vorsichtig eintreten. Sie hielten inne, sahen sich um und schlichen dann lautlos zu der Grabstätte Branns des Raben. Nach einem langen, atemlosen Moment des Lauschens erschien über der Grabstätte eine Kugel Hexenlicht. Isabeau blinzelte und wandte den Kopf ab. Als sich ihre Eulenaugen an das Licht gewöhnt hatten, wandte sie ihren Kopf neugierig zurück Eine große Frau stand auf den Steinplatten, die Hände vor sich gefaltet, während ein junger Mann an dem Grab kniete und sein Gewicht auf den Sims stützte. »Es rührt sich nicht«, flüsterte er. 128 »Versuch es stärker«, erwiderte sie. »Du bist jung und stark, Irvin, du solltest es nur allzu leicht bewegen können.« Er stemmte sich fester dagegen, stöhnte vor Anstrengung. Nach wenigen Augenblicken, als all seine hervortretenden Muskeln nichts bewirkt hatten, runzelte sie die Stirn und kniete sich neben ihn. Sie fuhr mit den Händen über den Spalt, der da erkennbar war, wo die große Steinplatte auf den Mauern des Grabmals ruhte, hob dann beide Hände hoch, schlug sie mit einer theatralischen, schwungvollen Geste zusammen und murmelte eine Wortfolge, die wie Kauderwelsch klang. Nichts geschah. »Du bist immer so sehr auf Wirkung aus, Aven«, sagte der MacBrann hinter ihr. »Dieses ganze theatralische Getue ist nicht nötig. Der Wille und das Wort, mehr brauchst du nicht.« Die Zauberin zuckte zusammen, schrie vor Überraschung laut auf und fuhr dann mit einer Hand an der Kehle herum. »Du!«, zischte sie. »Ich fürchte ja«, antwortete er. »Ich bin so froh, dass du mich nicht enttäuscht hast und zu Hause geblieben bist, wie du es solltest. Dachtest du wirklich, ich würde das Grabmal unbewacht lassen?« »Ich kam vollkommen mühelos an diesen blinden Narren vorüber, die du auf der Straße postiert hast«, sagte sie verächtlich. »Sie haben nichts gehört!«
»Sie sind nur Menschen, keine Zauberer«, sagte der MacBrann leise. »Ich wusste, dass du unmittelbar durch sie hindurchlaufen könntest, ohne dass sie etwas sähen. Obwohl du auf vielerlei Arten eine Närrin bist, bist du doch auch eine wahre Hexe mit einem wahren Talent. Meine Augen kannst du jedoch nicht täuschen, Aven. Ich kenne dich zu gut.« Sie nickte und wandte den Blick ab. »Ja, wir waren als Kinder zusammen, nicht wahr?«, sagte sie. »Praktisch wie Bruder und Schwester.« Ihre Finger zuckten plötzlich seitwärts, und ein Blitz schoss 129 mit der zischenden Geschwindigkeit und Wildheit einer Giftschlange über das Grab hinweg auf den MacBrann zu. Er traf auf eine unsichtbare Mauer vor ihm und erlosch, hinterließ nur einen dünnen Rauchfaden und den grellen Abdruck seines Umrisses auf der Retina. »Ja, wie Bruder und Schwester zusammen aufgewachsen«, sagte er mit seiner tiefen, trägen Stimme und wedelte mit einer Hand den Rauch fort, »was deine Beziehung zu meinem Vater gewiss einem Inzest ähneln lässt, oder?« Colin hatte neben ihm sein Schwert gezogen, sein Körper verharrte in der Haltung eines Kriegers, zum Angriff bereit. Der junge Mann Irvin kauerte hinter der Zauberin, sein Gesicht war bleich und verängstigt, während er ungläubig dem erbitterten Wortwechsel lauschte. »Dein Vater war vielleicht im selben Alter wie mein Vater, aber wo mein Vater gebeugt und gebrechlich, und letztendlich senil und geifernd wurde, bevor er starb, war dein Vater so stark und rüstig wie ein viel jüngerer Mann. Sogar noch rüstiger«, erwiderte sie fauchend, die Lippen höhnisch verzogen. »Und doch ist er jetzt tot und in seinem Grab, wo er hingehört«, antwortete der MacBrann ruhig. »Ja, in seinem eigenen Bett ermordet, durch die Hand seines eigenen Sohnes!«, sagte sie mit blitzenden Augen. »Du nennst ihn böse, aber was bist du anderes als ein Verräter und ein Mörder? Du hast dich als feiner Sohn erwiesen.«
»Ich habe drei Mal auf ihn eingestochen«, sagte der MacBrann. »Einmal für meine Mutter, einmal für meine Frau und einmal für den kleinen Säugling, der in ihrem Leib starb.« »Wie bist du hineingelangt?«, verlangte sie zu wissen. »Die Tore waren dir verschlossen, und alle Leute meines Laird wurden ermahnt, auf dich zu achten!« Ihre Brust hob und senkte sich heftig, und ihre Augen funkelten in dem fahlen Hexenlicht. 130 »Wie ich sehe, kennst du nicht alle Geheimnisse meines Vaters«, sagte er verächtlich. »Ich sollte dir vermutlich dankbar sein. Es war schwer, meinen Vater unvorbereitet zu erwischen. Er schien niemals zu schlafen. Ich hatte Glück, ihn im Moment der Verzückung vorzufinden, seine Sinne waren vor meiner Annäherung verschlossen. Ich glaube nicht, dass mein Dolch sonst sein Ziel gefunden hätte.« »Wie kannst du es wagen!«, zischte sie. »Du bist verachtenswert!« »Ich bin verachtenswert? Was bist du dann, Aven?« »Ich bin meinem Laird und Meister zumindest treu ergeben!«, rief sie, die Hände zu Fäusten geballt. »Du bist nur ein verräterischer, mordender Hund!« »Zumindest morde ich nicht kaltblütig, wie du es im Dienste deines Herrn getan hast«, sagte er mit zitternder Stimme. »Ich bade nicht im Blut meiner Opfer und trinke es nicht wie Wein. Ich habe das Recht und die Gerechtigkeit auf meiner Seite ...« Sie lachte laut auf. »Oh, wie nobel«, spottete sie. »Du spielst deine Rolle gut, Dugald. Der arme, unverstandene Sohn, auf Rache aus, sie in das Mäntelchen des Rechts und der Gerechtigkeit hüllend. Oh, die Barden werden Lieder über das Werk dieser Nacht schreiben!« »Ich bin froh, dass du in seinem Bett lagst und nicht irgendein unschuldiges Mädchen, das vom Anblick von so viel Blut vielleicht schockiert gewesen wäre«, erwiderte der MacBrann zornig. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich sehr überrascht war. Ich hatte nicht erwartet, dich dort vorzufinden.« Sie errötete zutiefst. »Und warum nicht?«, wollte sie wissen.
»Ich dachte, mein Vater wäre deiner schon lange überdrüssig gewesen«, sagte der MacBrann. »Du stehst immerhin nicht mehr in der Blüte deiner Jugend, Aven. Ich hatte gehört, du seist seine Kupplerin geworden, die ihm immer jüngere und ausgewähltere Leckerbissen für sein Bett brachte. Gibt es in Raven 131 shaw keine Jungfrauen mehr, dass er bereit war, seinen Samen in dir zu versenken?« Ihre Lippen bewegten sich, und die Röte vertiefte sich. »Soll ich raten? Du warst entschlossen, deinen Platz in seinem Bett zurückzuerobern, und er hat nachgegeben, da nichts Besseres zur Wahl stand und er seine getreueste Akoluthin nicht vor den Kopfstoßen wollte.« »Ich bin keine Akoluthin«, fauchte sie, zutiefst getroffen. »Ich bin die Zweite Zauberin in Branns Kreis, seine zuverlässigste und...« »Brann ist tot«, sagte sein Sohn grausam, »und sein Kreis nicht mehr existent.« Sie lächelte. »Weißt du es nicht? Brann schwor, er würde wieder leben. Wenn er sagt, dass etwas so sein soll, dann wird es so sein. Du könntest deinen Vater tausend Mal erstochen haben, für die tausend Übel, die er dir angetan hat, und es wäre vergebens. Er wird wieder leben!« Ihre Stimme klang schwelgerisch, und Isabeau spürte selbst in der Gestalt einer Eule die schreckliche Macht der Worte und duckte sich auf ihrem Dachsparren tiefer. Buba schrie zum Trost und zur Beruhigung leise. »Er ist tot, und tot wird er bleiben«, sagte der MacBrann sehr ruhig. Aven stieß einen entsetzlichen Schrei aus und versuchte erneut, ihn mit einer aus Macht gestalteten Peitsche zu treffen. Dieses Mal wankte er bei ihrer Abwehr, und sie schlug immer wieder auf ihn ein. Er konnte sie jedes Mal abwehren, aber die Anstrengung ließ ihn bleich werden und erzittern.
»So kannst du mich nicht besiegen«, sagte er rau. »Ich bin noch immer Branns Sohn, weißt du. Du kannst nichts dagegen tun, Aven.« Sie stieß einen weiteren unheimlichen Schrei des Zorns und der Enttäuschung aus. Blitze regneten um ihn herum, weiß 132 glühend und rauchend. Als er eine Hand hob, um sich zu schützen, griff sie ihn an, hielt plötzlich einen Dolch in der Hand. Er wurde tief auf seine ungeschützte Achselhöhle zugeführt, aber da sprang Colin vorwärts, wehrte den Dolch ab und schlug ihr mit einem einzigen Streich seines großen Schwertes den Kopf ab. Blut spritzte hervor, und ihr Kopf prallte auf dem Boden auf und rollte zu Füßen des MacBrann, die Augen weit und starr, der Mund noch zum Schrei geöffnet. Dugald MacBrann sah einen langen Moment darauf hinunter, keuchend und mit geweiteten Augen, und dann stieß er den abgetrennten Kopf leicht mit dem Fuß an, so dass er davon rollte und am Fuß der Treppe liegen blieb, die schrecklich starren Augen und der Mund dem Stein zugewandt. Dann trat der MacBrann vor und legte eine Hand auf Irvins Schulter. »Was tust du hier, Junge?«, fragte er freundlich. »Habe ich nicht befohlen, dass niemand das Schloss verlassen soll?« »Sie ... Mylady Aven sagte ... sie versprach mir eine große Belohnung.« »Weißt du nicht, dass sie dich opfern wollte, um meinen Vater wieder zum Leben zu erwecken?« »Opfern?« »Ja. Es ist die dunkle Kunst, Totenbeschwörung. Blut für Blut, ein Leben für ein Leben.« »Sie wollte mich töten?« »Ja, Junge. Komm, du zitterst. Colin, gebt dem Jungen einen kleinen Schluck bringt ihn zu Robin hinunter und dann kommt zu mir zurück. Ich werde Eure Hilfe brauchen, um... um das Blut zu beseitigen.« Er mied entschlossen den Blick auf den kopflosen Körper der Zauberin, der zusammengesunken in einer Blutlache mitten im Raum lag. Colin führte den zitternden jungen Mann davon, legte
ihm seinen eigenen Umhang um und kehrte wenige Minuten später mit grimmiger Miene zurück. Isabeau und Buba beob 133 achteten, wie der MacBrann und sein Hauptmann das Blut der Zauberin eilig mit deren langem, dunklem Umhang aufnahmen und dann sie und ihren Kopf darin einwickelten. »Wir werden Aven innerhalb des Grabmals bestatten«, sagte der MacBrann, stieg rasch die Stufen hinauf und legte seine Hand oben auf den Stab des steinernen Zauberers. »Ich möchte nicht, dass jemand etwas von den Ereignissen dieser Nacht erfährt.« Colin trug den Leichnam die Stufen hinauf, bemüht, seinen Abscheu nicht zu zeigen. Der MacBrann drehte den oberen Teil des Stabes. Ein leise knirschendes Geräusch erklang, und der Steinsims schwang seitwärts und offenbarte eine dunkle, gähnende Öffnung. Darin befand sich eine sehr schmale und steile Wendeltreppe, die sich in die Erde hinabwand. Colin gelang es mit großer Mühe, die Stufen hinabzusteigen, die tote Frau und ihren abgetrennten Kopf in den Armen. Wenige Minuten später stieg er wieder herauf, aber er wirkte sehr bleich, und sein Kinn war fest angespannt. Der MacBrann zog eine Augenbraue hoch und nickte. Gemeinsam schwangen sie die Steinplatte wieder über die geheime Treppe, und sie rückte mit einem Klicken an ihren Platz, während der steinerne Zauberer noch immer auf dem Rücken dalag, als wäre er niemals gestört worden. Das einzige Zeichen von Aven waren die auf dem Steinboden verbliebenen Blutflecke, die Colin nun mit dem Saum seines Umhangs wegwischte. »Können wir jetzt von hier fortgehen, Mylaird?«, fragte er. »Dieser Ort macht mich nervös.« Der MacBrann schüttelte den Kopf. »Andere werden kommen«, sagte er mit Gewissheit. »Vielleicht nicht heute Nacht. Aber sie werden kommen. Brann wird nicht in Frieden ruhen, das kann ich Euch versichern. »Bitte sagt mir, dass ich nicht den Rest meines Lebens damit verbringen muss, sein Grab zu bewachen«, flehte Colin. 133
Der MacBrann lächelte flüchtig. »Wenn nicht Ihr, dann jemand anderer«, antwortete er. »Sonst werde ich keine Ruhe finden.« »Nun, ich werde keine Ruhe finden, wenn ich auch nur noch eine Minute länger an diesem schrecklichen Ort bleiben muss. Ich schwöre, ich spüre Augen auf mir.« »Ich auch«, sagte der MacBrann. »Kommt, Colin, gewährt mir diese eine Nacht, und morgen werde ich einen Dienstplan für die Wache erstellen, damit die Last unter uns geteilt werden kann. Ich habe es wirklich ernst gemeint, als ich sagte, ich würde das Grab einhundert Jahre lang bewachen, wenn es sein müsste.« »Nun, es würde mir auch nicht gefallen, wenn der alte Mann wieder umherginge«, sagte Colin schweren Herzens. »Harren wir bis zur Dämmerung aus, nur für den Fall, dass noch weitere unangenehme Überraschungen auf uns warten.« »Danke, Colin. Ich weiß, dies ist weitaus mehr, als jemand von seinem Hauptmann verlangen sollte.« »Und das alles in einer Nacht«, erwiderte Colin mit dem kläglichen Versuch, humorvoll zu sein. ZURÜCK ZUM ANFANG In jener Nacht gab es keine weiteren Störungen. Dugald MacBrann konnte in seinen Umhang eingerollt schlafen, während sein getreuer Hauptmann in der Nähe saß, mit dem Schwert auf seinen Knien. Isabeau und Buba dösten, ihre Köpfe tief unter die Federn gesteckt. Sie erwachten vor der Dämmerung, flogen in das silbrige Grau hinaus und ließen sich lautlos auf einem Ast über Dides schlafendem Kopf nieder. Die drei Hexen und die beiden Celestine hatte unter einer uralten Tanne Schutz gesucht. Die schweren Äste bogen sich bis 134 auf den Boden und schufen ein dämmeriges, grünes Zelt, das sie vor den Blicken der Vorübergehenden verbarg. Ghislaine war die Frühwache zugeteilt worden, die leichteste von allen, und sie saß nun ruhig da, die Arme um ihre Knie geschlungen, tiefe Schatten unter den Augen. In ihrer Reisekleidung, das lange, helle Haar unter einer braunen Wollmütze eingeflochten, wirkte sie ganz
anders als die kühle, blasse Zauberin, die Isabeau so gut kannte. Alles gut-hu?, schrie Isabeau. Gut-hu, und bei-hu dir-hu auch-hu?, schrie Ghislaine in perfekter Eulensprache zurück. Isabeau saß noch eine Weile mit zerzausten Federn auf ihrem Ast. Sie fürchtete sich davor, wieder in ihre eigene Gestalt zurückkehren zu müssen, denn sie wusste, dass Branns Geist auf sie wartete. »Komm herab, Beau«, sagte Ghislaine sanft. »Du brauchst Zeit, um dich zu erholen, sonst wird dir speiübel werden. Es dämmert schon fast. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Isabeau schüttelte sich am ganzen Körper, trat von einer Klaue auf die andere, flog dann widerwillig auf das Gras hinab und verwandelte sich in die Gestalt einer Frau zurück. Sie hörte sofort das Hämmern von Branns Beharrlichkeit in ihrem Geist. Ich werde wieder leben, und du wirst diejenige sein, die mich wiedererweckt. Du brauchst, nur eine Seele, willig oder unwillig und ein sehr scharfes Messer... Isabeau presste die Hände auf ihre Ohren, aber es nützte nichts. Der Geist sprach nicht mit Mund und Zunge, sondern mit der lautlosen Geiststimme, die man nicht ausschließen konnte. Ghislaine hielt ihre Kleidung bereit, und Isabeau zog sie benommen und elend an. Es kostete sie ihre ganze Kraft, dem Zwang von Branns Zauber zu widerstehen, und so hatte sie nur wenig Energie übrig, um sich von dem Gestaltwandel zu erholen, der stets sehr an ihren Kräften zehrte. Ihre Beine zitterten so stark, dass sie sich hinsetzen und den Kopf in die Hände stützen 135 musste. Ghislaine sorgte sich wegen ihres Zitterns und drängte sie, sich auf einer Decke auszustrecken, eine weitere um sie festgesteckt. Isabeau gehorchte. Sie fühlte sich stets elend und zitterte, wenn sie ihre eigene Gestalt zu lange verlassen hatte, aber dies war anders. Es war, als hätte eine riesige Hand ihre Nervenstränge gepackt und zerre sie hierhin und dorthin, in dem Versuch, sie zum Aufstehen zu bewegen. Die Hand wollte sie zwingen, das Grab des toten Mannes zu finden, sich mit bloßen Hän-
den bis zu ihm hindurchzugraben, wenn keine Schaufel zu finden wäre, und seinen schlaffen, übel riechenden Leichnam in die frische Luft hinauszuzerren, damit er leeren Blickes in den Himmel starren konnte, während sie eine lebende Seele, willig oder unwillig, und einen sehr scharfen Dolch suchte ... Ich werde wieder leben, und du wirst mich wiedererwecken. Isabeau hielt sich mit den Fäusten die Ohren zu und summte laut, bemüht, die Stimme nicht mehr zu hören. Ghislaine bereitete ihr einen Tee, während sie sich vor Sorge auf die Lippen biss, erhitzte das Wasser mit ihrem Finger und wärmte einige einen Tag alte Pfannkuchen zwischen ihren Händen auf. Sie musste den Becher an Isabeaus klappernde Zähne halten, denn die Bewahrerin des Schlüssels wollte nicht aufhören, sich zu wiegen, zu summen und sich die Fäuste auf die Ohren zu drücken. Sie konnte nichts essen, aber es gelang ihr, einige Schlucke der heißen Flüssigkeit zu trinken, und das schien ein wenig zu helfen. Ghislaine zog ihren Kopf auf ihren Schoß, strich in Kreisen immer um Isabeaus Augenbrauen und sagte sanft: »Ruh dich aus, solange du es kannst. Wir müssen heute weit reisen.« »Zurück zum Anfang«, sagte Isabeau leise. »Du weißt, wo wir hingehen müssen, um sie zu finden?« Isabeau schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. Das sanfte Streicheln von Ghislaines Fingern wirkte als Gegengewicht gegen Branns Zauber, machte ihn leichter erträglich. Den 136 noch merkte sie, wie sich ihre Muskeln gegen den Angriff seines Willens, die endlose Forderung in ihren Ohren, allmählich anspannten. Eine Seele, willig oder unwillig und ein sehr scharfes Messer... »Wir können nicht einfach ziellos durch die Zeit reisen, in der Hoffnung, sie zu finden«, sagte Ghislaine. »Und doch müssen wir sie finden.« Ich werde wieder leben, und du wirst diejenige sein, die mich wiedererweckt.
Isabeaus Atem ging nun rascher. Ihre Glieder zuckten hin und wieder, wenn sich ihre Muskeln verkrampften. Es fiel ihr schwer, sich auf Ghislaines Worte zu konzentrieren. Komm in die Zeit meines Todes, komm und bring eine lebende Seele mit, willig oder unwillig... Isabeau erschauderte. »Was ist los?« Ghislaines Stimme klang sehr leise. »Ich habe Angst...«, antwortete Isabeau ebenso leise. »Werde ich jemals wieder von diesem Zauber, diesem Zwang befreit werden? Ich hatte keinen Moment mehr Frieden, seit ich die schrecklichen Worte gelesen habe. Nur als Eule, und ich kann nicht den Rest meines Lebens in einer anderen Gestalt verbringen.« »Wir werden einen Weg finden, den Zauber zu brechen«, sagte Ghislaine bestimmt. »Irgendwie.« »Wir müssen es.« Dides Stimme erklang leise aus der grünen Dämmerung. »Ich möchte nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, mich zu fragen, ob du mich wieder mit einem Messer angreifen wirst.« »Es ... es tut mir leid«, sagte Isabeau hilflos. »Es ist wie ein Wahnsinn. Es ist unaufhörlich in meinem Ohr, es ist... es ist sehr schwer, dem zu widerstehen.« »Dann lasst uns so weit von Brann fortgelangen wie möglich«, sagte Cailean, sich auf einen Ellenbogen aufstützend. »Du musst 137 es hier noch viel stärker spüren, weil wir dem Zeitpunkt seines Todes so nahe sind. Finden wir Righ Donncan und Prinzessin Donnerlilie und ziehen wieder nach Hause.« Zu Hause hat seine Stimme auch nicht nachgelassen, dachte Isabeau, aber sie nickte, setzte sich behutsam auf und verschränkte die Hände, damit sie sich nicht mehr verkrampften. »Wie werden wir sie finden?«, fragte Ghislaine. »Wolkenschatten, wisst Ihr, wo sie sind?« Die Celestine schüttelte den Kopf. Sie wirkte sehr müde und traurig. Zurück zum Anfang schrieb meine Tochter in der Baumsprache. Aber wo ist der Anfang? Es gibt keinen Anfang kein
Ende. Solche Worte dienen nur dazu, unsere Erfahrungen zu ordnen, um Sinn in das zu bringen, was unverständlich ist. Ihre Worte erfüllten sie alle mit einer verzweifelten Niedergeschlagenheit und Erschöpfung. Isabeau senkte den Kopf in ihre Hände, spürte, wie sich ihre Finger durch die Locken wanden, an ihren Haarwurzeln zogen. Der plötzliche, scharfe Schmerz ertränkte die in ihrem Schädel hämmernden Worte lange genug, dass sie nachdenken konnte. Sie zog immer wieder an ihrem Haar, bis Dide sie besorgt aufzuhalten versuchte. »Nein! Es ist in Ordnung. Wolkenschatten? Der Himmelsglobus, den Sturmreiter trägt? Er gehörte Donnerlilie, oder?«, fragte Isabeau. Die Sternträumerin nickte. Er ist einer der Schätze der Sternträumer-Familie. Donnerlilie nahm ihn mit zur Theurgia, damit sie in ihrer Freizeit die Sternenkunde studieren konnte, um sicherzustellen, dass die Traditionen unseres Volkes nicht verloren gehen. Wir haben auch vereinbart, dass sie jederzeit nach Hause kommen könnte, wenn sie es wünschte, und dazu würde sie die Sternenkarte brauchen, um den Weg zu finden, da sie selbst die Alten Wege niemals zuvor bereist hat. Isabeau erinnerte sich, wie sie das erste Mal die Alten Wege 138 bereist hatte, auf dem Rücken des Pferdes Lasair. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wohin sie gingen oder wie sie reisten. Es bereitete ihr nun großes Unbehagen, zu erkennen, wie gefährlich eine solche Reise gewesen war. Eine lebende Seele, willig oder unwillig und ein sehr scharfes Messer... »Er wird sich an ihre Berührung erinnern«, sagte sie kurz angebunden. »Wir sind hier zu sechst. Wir können einen Kreis der Macht bilden und die Sternenkarte dazu benutzen, uns zu zeigen, wo Donncan und Donnerlilie sind. Es ist schade, dass Finn nicht bei uns ist. Keines unserer Talente liegt im Suchen und Finden, so dass wir uns auf einen Zauber verlassen müssen.« Sie sah sich
um. »Wir werden uns beeilen müssen. Es dämmert schon fast, und ich kann nicht viel mehr ertragen.« All ihre Jahre der Ausbildung, der Tatsache, dass sie ihrem Körper Ruhe und Nahrung versagt hatte, des Kontrollierens ihrer Impulse und des Suchens der Ruhe in der Betrachtung - das waren die einzigen Dinge, die sie davon abhielten, aufzustehen und auf und ab zu schreiten oder heftig an ihren Fingernägeln zu kauen. Sie hatte sich bereits die Nagelhaut aus ihrem Daumen gerissen und auf ihre Unterlippe gebissen, bis sie angeschwollen und wund war. Sie wünschte, sie könnte sich wieder in eine Eule verwandeln. Unter der Tanne war es noch immer dunkel und düster, obwohl entlang dem östlichen Himmel erste Streifen Karmesinrot und Gold erschienen und die Vögel sangen. Isabeau beschwor ein kleines Hexenlicht herauf und drängte die anderen eilig zu einem groben Kreis, Männer und Frauen abwechselnd. Sie bat sie, alle ihre Waffen und Werkzeuge abzulegen und ihre Bündel neben dem Baumstamm zu stapeln. Dobhailen legte sich neben die Bündel, um sie zu bewachen, der wuchtige Kopf ruhte auf seinen Pfoten. Buba sah von oben zu, wie Sturmreiter den Himmelsglobus in die Mitte des Kreises stellte. Seine beständige, bedächtige 139 Sorgfalt machte Isabeau vor Ungeduld fast wahnsinnig, und sie wiegte sich auf einem Fuß und kaute an ihrem Daumennagel, bis der Globus schließlich bereit war. Dann zeichnete Isabeau mit ihrem Hexendolch den Kreis, wobei sie mehrere Male tief durchatmen musste, um das Ritual nicht zu beschleunigen. »Ich weihe und beschwöre dich, o Kreis der Magie, Ring der Macht, Symbol der Perfektion und beständigen Erneuerung, Hüter und Beschützer, ewiglich und unendlich«, intonierte sie und umschritt den Kreis drei Mal, wobei sie zunächst Salz verstreute und dann Wasser aus ihrem Wasserschlauch verspritzte. Die vertrauten Worte halfen ihr, sich zu beruhigen und zu zentrieren, und ihre Angst ließ ein wenig nach. Von dem Packen kleiner, weißer Kerzen in ihrem Bündel hatte sie sechs herausgenommen und weihte sie nun mit kostbaren
Ölen aus Engelwurz- und Weißdornblüten für gesteigerte Macht und Schutz vor Bösem. Nun platzierte sie die geweihten Kerzen an den sechs Spitzen des Sterns, den sie in den Kreis zog. Jeder der sechs Gefährten nahm seine Position vor der jeweiligen Kerze ein, kniete sich hin und streckte seine Arme aus, so dass sie einander an den Händen halten konnten. Isabeau schaute zu Wolkenschatten und Sturmreiter und fragte sich, ob sie Einspruch erheben oder sie alle in Gefahr bringen würden, indem sie den Kreis unterbrachen, aber sie wirkten beide ruhig und konzentriert. Isabeau erkannte mit leicht beschleunigtem Herzschlag, dass sie beide ihr drittes Auge weit geöffnet hatten. Sie tat einige Atemzüge, um sich zu beruhigen, denn sie fühlte sich gefährlich überreizt. Ihre Glieder zitterten, und ihr Herz pochte unregelmäßig. Sie wartete, bis sie ruhiger war, bevor sie versuchte, die Eine Macht heraufzubeschwören. Schließlich fühlte sie sich dazu in der Lage und begann. Cailean, Ghislaine und Dide formulierten die Worte mit ihr, ihre Stimmen klangen sicher und fest, und dann hörte sie ein leises, 140 sonores Summen aus den Kehlen der Celestine, während sie den Rhythmus der Worte aufgriffen und wiederholten. Isabeau spürte, wie sich die Haare an ihren Armen aufrichteten, spürte das Anschwellen der Einen Macht im Kreis. Sie hob ihre Arme, und alle um den Kreis verschränkten Hände wurden angehoben. »0 gesegnete Eà ich beschwöre dich an diesem Tag, uns diejenigen zu zeigen, die vermisst werden, uns den Weg zu zeigen, damit wir sie finden und retten und nach Hause bringen können, in Frieden und im gesegneten Glanz deines Schutzes, so lass es geschehen, so lass es geschehen, so lass es geschehen.« Die Übrigen sprachen den Refrain mit geschlossenen Augen leise mit. Die Metallringe des Himmelsglobus begannen sich langsam zu drehen, vom geisterhaften Schein des Hexenlichts über ihnen beleuchtet. Sie bewegten sich unter den faszinierten Blicken der
Hexen und der Celestine, immer schneller, bis sie schließlich in einer anderen Anordnung als zuvor innehielten. Dide und Sturmreiter wollten voranstürmen, um es sich anzusehen, aber Isabeau wollte sie den Kreis nicht unterbrechen lassen, bis sie ihn gesegnet und mit ihrem Dolch geöffnet hatte. Erst dann gab sie ihrem eigenen drängenden Verlangen nach zu sehen, was die Sternenkarte ihnen zeigen würde. Sie sagte, zurück zum Anfang murmelte Wolkenschatten, als sie die neue Anordnung der Sterne und Monde und Planeten betrachtet hatte. Sie meinte, bevor ihr Menschen nach Eileanan kamt. Sie ist zu der Zeit zurückgegangen, als die Celestine den Wald regierten und überall Frieden herrschte, bevor das Schiff aus dem Himmel heransegelte. »Sie hatte niemals vor, Johannas Befehlen zu folgen!«, rief Dide. »Zurück zum Anfang«, murmelte Isabeau und spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte. Sie würde doch gewiss von Branns Fluch 141 befreit, wenn sie weiter in der Zeit zurückginge, zu dem Zeitpunkt, bevor er und der Erste Hexensabbat überhaupt in Eileanan eingetroffen waren? »Kommt, brechen wir schnell auf. Wir müssen uns beeilen. Wenn Branns Sohn uns sieht, wird er versuchen, uns aufzuhalten. Es werden uns nur wenige Augenblicke bleiben. Wolkenschatten, bist du bereit, uns zu führen?« Wolkenschatten nickte. Sie hielt den Kopf über eine Handvoll kleine, weiße Steine gebeugt und malte mit einem kleinen Stück Holzkohle geschickt Runen darauf. »Wenn wir in unsere Zeit zurückgelangt sind, werde ich all die Steine wieder errichten lassen«, sagte Isabeau. »Sie hätten niemals niedergerissen werden dürfen.« Wolkenschatten schaute auf und lächelte schwach. Als erkenne er, dass sie ihm entkommen wollte, hämmerte die Stimme des Geistes erneut auf sie ein und wurde mit jeder vergehenden Sekunde lauter und beharrlicher. Isabeaus Schädel pochte, und ihr Herz hämmerte. Dide nahm ihre Hand.
»Gehen wir«, sagte er leise. »Lauf!« Hand in Hand liefen die sechs Gefährten aus dem Schutz des Baumes heraus zum Teich hinüber. Wolkenschatten umklammerte mit ihrer freien Hand einen der Steine. Cailean, am Ende der Kette, lief dahin, eine Hand auf dem Hals des großen, schwarzen Hundes, der hinter ihm war. Dobhailen war so groß, dass sich der Zauberer nicht hinunter beugen musste. Wolkenschatten summte in ihrer Kehle, und Sturmreiter wiederholte die Melodie in einer anderen Tonlage, so leise, dass es klang, als rumore die Erde. Das erste Sonnenlicht traf auf die Oberfläche des Teiches und ließ sie glitzern. Wolkenschatten stürzte darauf zu, und ein tiefrotes Schimmern begann vom Grund aufzusteigen, das die Öffnung des Eingangs kennzeichnete. 142 »Halt!«, rief eine Stimme. »Halt, sage ich, sonst schieße ich!« Isabeau sah sich um. Auf den Stufen der Krypta stand Hauptmann Colin, eine Armbrust in der Hand. Sie war gespannt, und ein gefährlich aussehender Pfeil war eingelegt. »Lasst uns in Ruhe!«, rief Isabeau zurück. »Wir wollen Euch nichts tun. Lasst uns gehen!« »Halt jetzt, sonst schieße ich!« »Springt!«, schrie Isabeau. Wolkenschatten sprang vorwärts, zog Isabeau mit sich. Sie spürte, wie das vertraute rote Brüllen des Eingangs sie einsaugte, spürte das seltsame Drehen und Strecken, als wäre sie auf eine riesige Folterbank gebunden. Eine lange, unerträgliche Sekunde kreiste sie zwischen den Zeiten, während Sterne um sie herum erblühten und erloschen, und dann war da ein Ansturm und ein Ruck, und Isabeau fiel erneut neben dem Teich der Celestine an dem grünen Hang auf die Knie, wo Brann der Rabe zweiundsechzig Jahre später sein Grabmal erbaut hatte. Dide stürzte neben ihr herab, dann Ghislaine, dann Sturmreiter, dann Cailean, seine Hand noch immer auf Dobhailens dichtem Nackenfell. Und ein Armbrustpfeil sirrte über ihre Köpfe hinweg, hinterließ einen Kratzer an Dides Wange und grub sich dann tief
in den großen Steinmenhir, der als einer von vielen im Kreis um den Teich stand. Das Erste, was Isabeau erkannte, war die Tatsache, dass sie den Zwangszauber mit sich gebracht hatte. Er war nicht so laut, nicht so beharrlich, aber er zischte ihr noch immer ins Innenohr und peinigte ihre Glieder mit unkontrollierbarem Zucken und Drängen. Blut, ich brauche Blut, flüsterte er. Ich werde wieder leben! Das Zweite, was sie erkannte, war die Tatsache, dass sie neben dem beschaulichen Teich nicht allein waren. Donncan und Donnerlilie lehnten sich schwer an den Steinmenhir. Der Armbrustpfeil war zwischen ihren Gesichtern eingedrungen, hatte sie nur 143 um einen Zoll verfehlt. Blut von einem Steinsplitter, der aufgestoben war, rann Donncans Wangenknochen hinab. Vor dem jungen Paar, sie mit einem Dolch bedrohend, stand Johanna. Sie war beim Sirren der Armbrust jäh herumgefahren. Ihre Augen weiteten sich beim Anblick Isabeaus und ihrer Gefährten, alle auf Knien, elend, mit trockenem Mund, gebeugt und sich erbrechend, sich bemühend, wieder zu Atem zu kommen. Johanna stieß einen Ausruf aus, sprang dann mit wildem Blick vorwärts, packte Wolkenschatten und hielt den Dolch an ihre Kehle. »Kümmert Euch das Leben Eures Freundes Donncan nicht genug, um mich zurückzuholen? Dann sagt mir, kümmert Euch das Leben Eurer Mutter genug?«, schrie sie Donnerlilie an. Die junge Celestine wollte vortreten, vor Bedrängnis heftig summend. Johanna hob gebieterisch ihre freie Hand. »Bleibt zurück! Ich werde sie töten, ich schwöre, dass ich es tun werde! Bleibt zurück!« Sie zog Wolkenschatten hoch und wandte sich jäh von der Gruppe ab, die noch immer auf Händen und Knien am Teich lag, und hielt die Celestine wie einen Schild vor sich. Von ihrem Sprung durch die Zeit noch immer benommen und zitternd,
brauchten die Übrigen einige Sekunden, um reagieren zu können. Dann sprang Isabeau auf und rief Johanna zu: »Jo, tu das nicht! Bitte, tu das nicht! Ich weiß von dem Zauber der Wiedererweckung, von Brann. Du darfst nicht...« Johannas Lippen verzogen sich höhnisch. »Brann wird wieder leben, und ich werde diejenige sein, die ihn wiedererweckt!« »Du musst gegen den Zwang ankämpfen«, sagte Isabeau. »Bitte, Jo! Du bist keine böse Frau, und doch ist dies eine böse Sache, die du tust. Bitte!« »Er muss Blut haben, er braucht Blut. Eine lebende Seele, willig oder unwillig, und ein sehr scharfes Messer.« 144 »Jo, nein!« »Eine Celestine, um seine Wunden zu heilen, und einen Righ, um sein Blut zu opfern. Er wird zufrieden sein, er wird mit mir sehr zufrieden sein«, plapperte Johanna. Sie war sehr bleich und wirkte seltsam, mit Schweißperlen auf der Stirn und so stark zitternden Händen, dass sie das Messer kaum ruhig halten konnte. Ihre Pupillen waren auf Nadelkopfgröße geschrumpft, was ihr ein seltsam blindes Aussehen verlieh. Ihre Lippe war geschwollen, wo sie sie durchgebissen hatte, und ihre brüchigen Nägel waren von roten Halbmonden aus Blut gesäumt, wo sie ihre Nagelhäute in Fetzen gerissen hatte. Sie konnte nicht aufhören zu reden, wiederholte immer wieder Teile von Branns Zauber, und ab und zu zuckte ihr Arm, als wäre ihr Messer ein lebendiges Tier, das zu entkommen versuchte. »Er wird wieder leben, er hat es geschworen, und ich werde diejenige sein. Blut, Blut, Blut, er muss Blut haben. Blut. Eine lebende Seele, willig oder unwillig, und ein sehr scharfes Messer. Ich habe das Messer, ich habe die Seele, er wird mit mir zufrieden sein. Ich muss nur... ich muss nur dorthin gelangen. Zurück Zurück. Zurück zu der Zeit seines Todes. Ich muss zurückgelangen. Er kümmert Euch nicht, nun, jetzt habe ich Eure Mutter. Kümmert sie Euch? Blut. Er braucht Blut. Ist es wichtig, wessen Blut es ist? Er wollte einen jungen Mann, stark und gut aussehend, und voller Macht. Wer wäre besser geeignet
als der Righ selbst? Welch ein Spaß! Welch ein Jubel! Dedrie wird mit mir zufrieden sein. Er wird mit mir zufrieden sein, alle ... alle ...« Isabeau beobachtete entsetzt, wie das Messer in ihrer Hand zuckte, in Wolkenschattens Kehle einschnitt und sie bluten ließ. »Jo, bitte«, sagte sie und verkrampfte ihre Hände ineinander, während sie versuchte, das unheimliche Echo ihrer Worte zu ignorieren, die in ihrem Geist flüsterten. Eine Seele, willig oder unwillig und ein sehr scharfes Messer... »Blut, Blut, Blut, er braucht Blut. Ihr Blut ist rot und heiß, wird 145 es genügen, wird es genügen? Wir müssen zurückgehen. Bringt mich zurück, oder ich werde sie töten, habt Ihr verstanden?« Nein! Nein!, summte Donnerlilie entsetzt und besorgt. Meine Mutter, was tust du hier? Ich hatte an Flucht gedacht, daran, sie in eine Zeit vor der Leidenschaft und Verwirrung der Menschheit zurückzubringen, dorthin, wo alles noch sicher und lieblich und friedlich war... »Ich werde sie töten, das sage ich Euch! Ihr alle, steht auf! Wir müssen zurückgehen. Zurück, zurück, zurück. Werdet Ihr mich führen, oder seht Ihr zu, wie Eure Mutter stirbt?« Ich werde Euch führen, sagte Donnerlilie und trat vor, die Hände in eine Geste des Friedens und der Beruhigung ausgestreckt. Bitte, lasst meine Mutter in Ruhe. Die Messerhand zuckte, und Blut lief herab und befleckte den Kragen der Sternträumerin. Wolkenschatten hob beide Hände und ergriff das Messer, hielt es fest und stetig an ihre Kehle. Glaubt Ihr, ich werte mein Leben höher als das meiner Tochter? Was wird mit ihr geschehen, wenn sie Euch in die Zeit des Rabenmannes zurückbringt? Sie wird sterben. Denkt Ihr, das weiß ich nicht? Sie wird sterben, und viele andere auch, denn der Rabenmann findet Vergnügen daran, zu verletzen und zu töten. Meint Ihr nicht, ich würde lieber selbst sterben und meine Tochter in Sicherheitwissen?
Dann, ihr drittes Auge weit geöffnet und auf das verzweifelte Gesicht ihrer Tochter gerichtet, zog Wolkenschatten den Dolch mit der scharfen Klinge über ihre eigene Kehle. Blut spritzte hervor. Die Sternträumerin würgte, stieß tief in ihrer Kehle einen merkwürdig gurgelnden Laut aus, stürzte und zog Johanna mit sich. Das Messer entfiel Johannas blutbeschmierter Hand, als sie rückwärtsfiel und sich den Kopf an dem hinter ihr befindlichen Menhir stieß. Dide sprang vorwärts und ergriff das Messer. Don 146 nerlilie trat weinend vor und nahm den leblosen Körper ihrer Mutter in die Arme. Und Johanna, die erkannte, dass sie etwas riskiert und verloren hatte, warf den Kopf zurück und schrie. DIE WAHNSINNIGE Der Schrei der Wahnsinnigen hallte rund um den Steinkreis wider und ließ alle darin zurückzucken. Johannas Hände waren blutgetränkt. Ihr braunes Haar hing nass von Blut herab, und das Blut war über eine Hälfte ihres Gesichts gespritzt, so dass es wie die gemalte Maske bei irgendeinem bizarren Ritual aussah. Noch immer schreiend, blickte sie auf ihre Hände hinab, dann atmete sie tief ein, hob die Hände, presste sie an ihren Mund und trank das Blut. Isabeau wandte sich ab. Blut Blut. Ich muss Blut haben. Donnerlilie hatte ihre Hände über die klaffende Wunde an der Kehle ihrer Mutter gelegt, während Tränen ihr Gesicht herabströmten. Dide wischte den Dolch an seiner Hose ab, damit er ihm nicht aus der Hand glitt, und hielt ihn drohend fest, jeder Muskel in seinem Körper bereit, auf eine schnelle Bewegung von Johanna zu reagieren. Sie leckte sich jedoch genüsslich die Finger, lachte und murmelte. »Blut, Blut. Er muss Blut haben.« Isabeau wandte sich um und erbrach sich hilflos. Ghislaine stützte sie mit einem Arm und strich ihr das wirre rote Haar zurück. Sturmreiter war neben Donnerlilie auf die Knie gesunken, einen Arm um ihren Rücken, mit der anderen Hand hielt er Wol-
kenschattens Hand fest. Die entsetzlichen gurgelnden Laute aus ihrer Kehle verklangen allmählich. Donncan stolperte vorwärts und sank neben Wolkenschattens Körper auf die Knie. 147 »Donnerlilie, es tut mir so leid, es tut mir so leid«, plapperte er. Sturmreiter hob sein kantiges Gesicht und sah ihn zornig an, während er eine Hand zu einer Geste erhoben hatte, die eindeutig besagte: »Halt! Geh weg!« Donncan setzte sich auf die Fersen zurück; seine schönen Züge waren vom Elend gezeichnet. Johanna leckte ihre Finger zu Ende ab, hob dann den Blick und sah sie alle an. »Warum starrt ihr mich so an? Wisst ihr nicht, dass er wieder leben wird? Nichts ist von ihm übrig geblieben außer Grabstaub und sein Wille und sein Wunsch. Aber mehr braucht man nicht. Wille und Wunsch. Und Blut. Blut, Blut, Blut.« Sie lachte, ein verrücktes Lachen, das Ghislaine erschaudern und Isabeau erneut vor Entsetzen zurückweichen ließ. »Ihr denkt, ihr habt ihn aufgehalten. Ihr denkt, ihr habt gewonnen. Aber Brann der Rabe verliert, niemals. Könnt ihr ihn nicht hören? Könnt ihr ihn nicht hören? Er ruft, er ruft, und jemand wird seinem Ruf irgendwo folgen.« Sie wandte ihre ausdruckslosen Augen Isabeau zu, die vor Furcht und unter der Macht des Zwangszaubers wimmerte und zitterte. »Du hörst ihn, Beau, nicht wahr?«, flüsterte sie. »Er ruft dich wie ein Geliebter. Er ruft dich wie ein Laird. Er ist jetzt dein Herr, wie er auch meiner ist.« »Nein, nein«, flüsterte Isabeau. »Doch. Er wird wieder leben, und wer wird derjenige sein, der ihn wiedererweckt? Nicht du! Nicht du! Ich hätte es sein sollen! Dich werde ich zuerst selbst töten. Er gehört mir, mir, mir, mein Laird und Meister, nicht dir, nicht dir.« Sie warf sich auf Isabeau, wurde aber von Dide abgefangen und rau auf die Steine zurückgeschleudert. Sie hob ihr Gesicht dem heller werdenden Himmel entgegen und heulte wie ein Hund. »Ich muss zurückgehen«, weinte sie. »Ich
muss zurückgehen. Bringt mich zurück, bitte, bringt mich zurück. Ich muss ihn wiedererwecken. Ich muss, ich muss. Oh, 148 Blut, Blut, Blut. Er muss Blut haben. Er muss wieder leben. Er hat es geschworen. Oh, bitte, bitte, bringt mich zurück.« »Dies ist unerträglich«, flüsterte Ghislaine und barg ihr Gesicht an Caileans Schulter. Er zog sie näher an sich und streichelte das lange, helle Haar, das sich unter der schottischen Wollmütze gelöst hatte. Der Hund Dobhailen stand mit erhobener Pfote und vor Anspannung zitternd neben ihm, da sein scharfer Geruchssinn das Blut wahrnahm. Er näherte seine spitze Schnauze der Wahnsinnigen, die sich neben dem großen Felsblock wiegte und weinte. »Nein, Dobhailen«, sagte Cailean leise, und der Hund knurrte enttäuscht. »Was sollen wir mit ihr tun?«, fragte Dide, dessen Kiefer vor Qual angespannt war. »Sie ist komplett verrückt.« »Das werde ich auch bald sein«, schluchzte Isabeau. »Ich habe den Zauber nur wenige Stunden nach ihr gelesen. Ich kann es bereits kommen spüren. Er gewinnt, Dide, er gewinnt! Welch ein Zauber! Er schrieb ihn mit seinem eigenen Blut, weißt du das?« Sie lachte wild. »Blutmagie, die schlimmste, die mächtigste von allen.« »Blut, Blut, Blut«, weinte Johanna. »Er muss Blut haben!« Plötzlich sprang sie auf und stürzte vorwärts, die Hände wie Klauen, direkt auf Donnerlilie zu, die noch immer über dem Körper ihrer Mutter kauerte und mit ihren Händen die Kehle der Sternträumerin bedeckte. »Ihr müsst mich zurückbringen!«, schrie Johanna. »Jetzt! Bringt mich zurück, sonst reiße ich euch selbst die Kehle auf.« Dide sprang vor, packte sie um die Taille und zog sie zurück. Johanna schrie und wand sich, rang darum, Donnerlilie zu erreichen. Die Nägel einer Hand kratzten über die Wange der jungen Celestine und hinterließen blutige Striemen. Dide schwang sie fort, und sie versuchte, den Dolch zu erreichen, den er noch immer in einer Hand hielt. Er hob ihn hoch über ihren Kopf und
149 versuchte, sie mit seiner anderen Hand fernzuhalten. Sie boxte und trat und schlug und biss und kratzte, und er trat zurück, traf sie voll in die Brust, so dass sie mit einem Schmerzensschrei hinfiel. Dide hob schwer atmend eine Hand an seine Wange, wo reichlich Blut aus einer Bisswunde floss. Sie hatte ihm ein Stück Fleisch herausgerissen. »Bei Eäs Augen!«, fluchte er. Johanna sprang sofort wieder auf und warf sich auf ihn. Dide hob instinktiv beide Hände, um sich zu schützen, und vergaß dabei den Dolch, den er noch festhielt. Johanna lief unmittelbar hinein. Er war gut geschärft. Er versank so glatt in ihrer Brust, als wäre sie aus Butter, nicht aus Fleisch und Knorpel und Knochen. Johannas Augen weiteten sich überrascht. Sie blickte an sich hinab und hob beide Hände, um das Messer zu umfassen, gerade als Dide entsetzt losließ und zurücktrat. Johanna wiegte das Messerheft und lachte. »Blut«, sagte sie und sank dann auf die Knie. Sie war noch einen Moment lebendig und bei Bewusstsein. Ihr Blick suchte Isabeaus, und diesen einen Augenblick lang schien sie wieder bei Verstand, und ihre Augen baten um Gnade, um Vergebung, um Verständnis. Dann sank sie zusammen und stürzte hin. Dide kniete sich neben sie. »Sie ist tot«, sagte er tonlos. »Eà rette mich, sie ist tot!« Isabeau hätte ihm gerne etwas Tröstliches und Beruhigendes gesagt und das Hinscheiden ihrer Freundin betrauert, aber Branns Geist packte sie plötzlich, schüttelte sie und schrie ihr ins Ohr: Ich muss wieder leben, und du bist diejenige, die mich wiedererwecken wird. »Nein, nein, nein!«, schrie Isabeau »Es tut mir leid, es tut mir leid!«, rief Dide. Sie streckte eine Hand zu ihm aus und taumelte in seine Arme. Den Kopf an seiner Brust geborgen, den Klang seines hämmern 149
den Herzens im Ohr, konnte sie Branns Stimme weitgehend übertönen. Dide umarmte sie fest und wiegte sie, wobei seine Worte wie Schluchzen klangen. Sie schlang ihre Arme um seinen Rücken, versuchte, sich so nahe an ihn zu drücken wie möglich. Zu viel Blut, zu viel Tod - sie fühlte sich, als würde sie vor Schmerz entzweigerissen. Isabeau hatte Johanna als eine ihrer besten Freundinnen angesehen. Ihr Tod, Lachlans Ermordung, der Schreck darüber, dass ihre Nichte und ihre Neffen entführt wurden, Iseults tiefer Kummer, den Isabeau teilte, als wäre es ihr eigener, die schreckliche Tortur des Reisens durch die Zeit und der Kampf mit dem Zwangszauber, das Entsetzen über Wolkenschattens Selbstopferung und Johannas Wahnsinn - das alles hatte Isabeaus innere Anspannung ins Unermessliche gesteigert. Es bedeutete äußerste Erleichterung, zusammenbrechen und in Dides Armen weinen zu können. Schließlich behauptete sich jedoch ihre natürliche Selbstbeherrschung wieder. Isabeau atmete tief ein, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und trat ein kleines Stück von Dide fort, der sich verlegen räusperte und sich auch verstohlen über die Augen wischte. Isabeau, die sich schwach und recht zitterig, aber irgendwie nun auch viel besser fühlte, sah sich mit rot geränderten Augen um. Cailean tröstete noch immer Ghislaine, Donncan kniete noch immer vor dem leblosen Körper Wolkenschattens, seine goldenen Schwingen an seinem Rücken fest eingefaltet, und Sturmreiter stützte noch immer Donnerlilie, die den Kopf über ihre Mutter beugte, so dass ihre lange Mähne silbrig weißen Haars über Wolkenschattens Gesicht fiel wie ein Vorhang. Eine dunkle, klebrige Pfütze breitete sich auf der Erde unter dem Körper der Sternträumerin aus. Donnerlilies Schultern bebten. Isabeau beobachtete sie voller Mitgefühl und Elend. Dann hob Donnerlilie den Kopf. Sie lachte. Isabeau fürchtete einen Moment, Donnerlilie hätte im Entsetzen des Augenblicks auch den Verstand verloren. Aber dann 150 sah sie, wie sich Wolkenschattens blutgetränkte Brust hob und senkte und erneut hob und senkte.
»Sie lebt!«, rief Donncan. »Donnerlilie, Ihr habt sie geheilt! Eà sei Dank!« Donnerlilie lachte und weinte gleichzeitig, und Sturmreiter beugte formell den Kopf, die Hände zusammengepresst, und summte leise in seiner Kehle. Es war eine Geste größter Ehrerbietung und größten Respekts. Isabeau kniete sich neben die Sternträumerin, während Tränen der Erleichterung ihr Gesicht herabströmten. Sie hatte natürlich gewusst, dass jene mit Sternträumerblut magische Heilkräfte besaßen. Es war die Gabe des Sommerbaumes an sie, eine Gabe, für die sie einen hohen Preis bezahlten. Es hatte jedoch unmöglich geschienen, dass solch eine schreckliche Wunde geheilt werden könnte. Und doch war von dem Schnitt über Wolkenschattens Kehle nur noch eine dünne, rötliche Linie zu sehen sowie die entsetzlichen Blutflecke auf ihrem Gewand und an Donnerliliens Händen. Der Vorgang der Heilung hatte Donnerlilie viel Kraft gekostet. Sie war so bleich wie Mondlicht und atmete flach und ungleichmäßig. Wäre Sturmreiter nicht gewesen, wäre sie zusammengebrochen. Er hielt sie sanft fest, und sie nahm seine Unterstützung an, vor Erschöpfung und Ergriffenheit einer Ohnmacht nahe. Isabeau nahm Wolkenschattens Hand. Die Sternträumerin wandte ihr kraftlos das Gesicht zu. »Ist es vorbei?«, flüsterte sie. »Ja, Eà sei Dank, es ist vorbei!«, sagte Ghislaine, löste sich aus Caileans Armen und sank neben Isabeau auf die Knie. »Wir müssen uns natürlich alle zuerst ausruhen und etwas essen, und Wolkenschatten und Donnerlilie Zeit lassen, um sich zu erholen, aber dann können wir nach Hause ziehen!« »Dank den Schicksalsgöttinnen!«, sagte Donncan. »Welch ein Albtraum dies war. Ich kann nicht glauben, dass das alles geschehen ist.« 151 »Ich wette, du bist erpicht darauf, deine Frau zu sehen«, sagte Dide in dem Versuch, auf seine übliche Art zu scherzen. »Es war
grausam von Johanna, dich zu entführen, bevor du eine Gelegenheit hattest, die Ehe zu vollziehen.« »Ja, in der Tat«, erwiderte Donncan. »Sie hätte wenigstens noch ein paar Stunden warten können.« »Stunden!«, sagte Dide. »Glückliche Bronwen.« Isabeau schwieg. Sie wusste, dass nicht alles vorüber war. Brann sprach noch immer zu ihr, und Isabeau erkannte, dass ihre Widerstandskraft schwand. Es würde nicht mehr lange dauern, und sie wäre genauso wahnsinnig wie Johanna. Sie errichteten ihr Lager unter der Tanne, die nun ein kräftiger, junger Baum war, dessen Äste sich noch nicht ganz bis zum Boden bogen. Von hier aus konnten sie den ganzen Weg zum Meer überblicken. Kein graues Schloss stand auf der Klippe über dem Meeresarm. Es gab keine Stadt, kein Dorf, keinen kleinen Bauernhof, keine Schäferhütten, keine Straßen oder Brücken, keinen Ziegenpfad, keinen Apfelbaum oder Gemüsegarten. Nichts als dichter, grüner, unberührter Wald zog sich auf einer Seite bis zu den Bergen hinauf und im Osten bis zum Strand hinunter. Die hellen Sanddünen erstreckten sich meilenweit die Küste entlang, unterbrochen von gelegentlichen seichten Lagunen, die wie Aquamarine schimmerten, sowie von dem schmalen Band des Rhyllster, der an der Mündung ein großes Delta bildete, wo tausend kleine Wasserläufe sich durch den Sand und in den verschlafenen Ozean wanden. Alle waren körperlich und geistig erschöpft. Obwohl Wolkenschatten lebte, belastete sie der grauenvolle Moment, in dem sie das Messer über ihre Kehle gezogen hatte, noch immer. Für Isabeau und Dide, die Johanna gekannt und sehr gemocht hatten, würde das Entsetzen über ihren Tod nicht leicht vergehen. Kummer wird durch Schuld und Schuldzuweisungen stets noch 152 bitterer, und beide wünschten sich, sie hätten anders gehandelt. »Wenn ich nur früher gemerkt hätte, dass etwas nicht stimmte. Wenn ich nur erkannt hätte, wie überaus verbittert und zornig sie darüber war, dass Lachlan Rhiannon begnadigen wollte, oder erkannt hätte, dass die weise Frau des Laird von Fettercairn sie
so lange Zeit, körperlich und geistig, vergiftet hatte. Vielleicht hätte sie dann nicht den Zauber der Wiedererweckung im Buch der Schatten nachgesehen«, sagte Isabeau zu Dide, der sein Bestes tat, seinen Kummer und seine Schuldzuweisungen sich selbst gegenüber zu verbergen. Nachdem er dabei geholfen hatte, aus Gras und Blättern weiche Betten für Wolkenschatten und Donnerlilie zu bereiten, hatte er große Stapel Feuerholz gesammelt und errichtete nun ein Feuer, damit sie alle etwas Heißes zu sich nehmen könnten. Er hielt inne und legte die Holzbündel, die er in Händen hielt, langsam hin. »Wenn ich ihr nur den Dolch entrissen hätte ... Wenn ich nur erkannt hätte, wie sehr sie durch diesen ... diesen Wahnsinn, den der Zauber mit sich bringt, außer sich war.« »Wenn nur jemand auf Rhiannon gehört hätte! Sie hat uns vor Laird Malvern und vor Dedrie und ihrem Zauber der Wiedererweckung gewarnt.« »Wenn nur...« Sie hielten inne und sahen einander an. Isabeaus Augen standen voller Tränen. »Ich kann nicht hierbleiben, nicht in diesem Körper«, sagte sie. »Es ist zu viel, um es zu ertragen. Ich werde eine andere Gestalt annehmen und von dem Zwang befreit sein, wenigstens ein paar Stunden lang. Wir müssen uns hier mindestens einen oder zwei Tage ausruhen. Donnerlilie und Wolkenschatten sind beide am Ende ihrer Kraft. So lange werde ich eine Gestalt nicht beibehalten können, nicht ohne die Zaubererkrankheit zu riskieren. Aber wenn ich zumindest einen Teil jeden Ta 153 ges in einer anderen Gestalt verweile, sollte ich dem Wahnsinn entkommen können.« Dide nickte. »Sei vorsichtig. Dies ist nicht die Welt, die wir kennen. Bleib in der Nähe, damit ich weiß, dass du in Sicherheit bist.« Isabeau streckte die Hände aus und küsste ihn auf den Mund. »Du auch, Leannan. Halte alle zusammen. Wir müssen jederzeit zur Flucht durch den Steinkreis bereit sein.«
»Ja.« »Ich werde Wache halten«, sagte sie und verwandelte sich dann im Handumdrehen, breitete große Schwingen aus und flog aufwärts. Sie hatte die Gestalt des goldenen Adlers erwählt, des mächtigsten aller Vögel. Dide beobachtete, wie sie immer höher in den Himmel hinaufflog, bis sie nur noch ein schwarzer Fleck im Blau war, und dann wandte er sich seufzend ab, schürte das Feuer und fragte sich, wie er ohne Spaten ein Grab schaufeln sollte. Donnerlilie lag, in eine Decke gewickelt, still auf ihrem Bett aus Farn und Blättern, sah sich um und nahm den Anblick des sich zu beiden Seiten erstreckenden, wilden, grünen Waldes in sich auf. Donncan zögerte, trat dann zu ihr und setzte sich neben sie. »Du hast mich gerettet«, sagte er sehr leise. »Wenn du mich in die Zeit von Branns Tod zurückgebracht hättest, wie sie es befohlen hatte, wäre ich jetzt tot.« Nein, antwortete sie, sehr schwach in ihrer Kehle summend. Meine Mutter und die Bewahrerin des Schlüssels wären dir unverzüglich gefolgt, dieselbe Anordnung der Sterne benutzend, um danach zu reisen. Sie hätten sie aufgehalten. Ich hatte einfach nicht erwartet, dass sie wussten, wohin wir gegangen waren. Ich verstehe immer noch nicht, wie sie uns gefunden haben. »Dennoch ...«, sagte Donncan und hielt dann inne, weil er nicht wusste, wie er ausdrücken sollte, was er empfand. Sie waren gemeinsam tausend Jahre zurückgereist, und sie hatten dem 154 gegenübergestanden, was sie für ihren Tod hielten. Er empfand tiefe Ehrfurcht für sie und fühlte sich ihr näher als jedem anderen Menschen, sogar näher als Bronwen, seiner eigenen Frau, die er in seiner eigenen Zeit zurückgelassen hatte. Es gab keine Worte, um solche Gefühle auszudrücken, und daher tat er, was Sturmreiter getan hatte - er presste beide Hände zusammen und beugte ehrerbietig den Kopf.
Donnerlilie lächelte und streckte einen Finger aus, um seine Stirn zu berühren. Schau, ist es nicht wunderschön?, fragte sie und deutete mit der anderen Hand über die Landschaft. Ich habe mich immer gefragt, wie es wäre. Donncan setzte sich neben sie und trotzte dem Missfallen Sturmreiters, der ihn aus einiger Entfernung finster anstarrte. Es ist wunderschön, dachte er als Antwort. So wild, so grün. Darum habe ich uns hierhergebracht. Ich kannte die Anordnung der Sterne. Ich hatte sie zuvor häufig berechnet und mich immer gefragt, wie unsere Welt war, bevor die Menschen kamen... Verabscheust du uns so sehr?, fragte Donncan verletzt und überrascht. Sie lächelte ihm zu. Du weißt, dass das nicht stimmt. Ich liebe euch. Alle Menschen. Ihr fasziniert mich. Ihr lebt so leichthin. Vielleicht kommt das, weil euer Leben so kurz ist. Vielleicht furchtet ihr nicht so viel wie wir. Ihr scheint kein Tabu zu kennen. Dies ist meine Tragödie, dass ich mich zu dieser Leichtigkeit und Fröhlichkeit und Unbekümmertheit hingezogen fühle wie eine Motte zu einer eurer Flammen. Ich bin kein Mensch. Ich kann nicht einfach so leicht lieben. Und doch liebe ich, habe aber nicht euren Mut. Darum drehe ich den Himmelsglobus und träume von einer Zeit, in der das Leben für diejenigen meiner Art einfach war, in der mein Leben in dem unwandelbaren Muster meiner Vorfahren vor mir ausgebreitet gewesen wäre und in der ich niemals den Verlust und den Kummer hätte fürchten müssen, die entstehen, wenn man zu sehr liebt. 155 Auch ich fürchte die Verletzung die dann entsteht, wenn man zu sehr liebt, dachte Donncan mühsam. Donnerlilie wandte sich um und betrachtete ihn mit ihrem dreiäugigen Blick. Meinst du, das weiß ich nicht? Glaubst du, sie erkennt es?
Donnerlilie wandte den Blick von ihm ab. Ein langes Schweigen entstand, und dann sagte sie mit sanftem Summen in ihrer Kehle: Manchmal fürchte ich es, manchmal wünsche ich es mir. Sie ist von allen Menschen, die ich kenne, diejenige, die am leichtesten, am fröhlichsten, am tapfersten lebt. Sie ist wie ein helles Licht, das meine Augen blendet, wie Musik, die meine Ohren erfüllt. Es ist unmöglich, sie nicht zu lieben. Weiß sie das? Ich denke, manchmal weiß sie es, und sie genießt ihre Macht und ihre Schönheit und kümmert sich nicht um das Leid, das ihre Schönheit anrichten kann... Also hat sie dich verletzt, sagte Donncan unglücklich. Ja. Aber wünsche ich mir, ich hätte sie niemals kennengelernt? Wünsche ich mir, sie hätte mich niemals angelacht und ihren Arm durch meinen geschoben und mich zum Tanzen aufgefordert? Natürlich nicht! Ich wurde verletzt, das stimmt. Ich werde nun niemals wieder mit jemandem meiner eigenen Art glücklich sein. Ich werde mich mein ganzes Leben lang der Heiterkeit und der Musik erinnern, und alles andere wird langweilig und schwer wirken. Aber ich gräme mich nicht. Zumindest nicht oft. Ich werde in den Wald zurückgehen, und ich werde mit dem Gefährten schlafen, den meine Mutter für mich erwählt hat, und ich werde ihm ein Kind gebären, damit meine Erblinie und mein Volk unversehrt weiterbestehen. Aber es stimmt - manchmal, in der Dämmerung wenn der erste Stern zu sehen ist und das Licht schwindet, werde ich an sie denken, und ich werde seufzen und lächeln und einen Moment fest die Augen schließen. Und dann werde ich mein Kind hochnehmen, und ich werde es auf meine Schulter legen und nicht mehr an sie denken. 156 Donnerlilie weinte, im Halbdunkel unter dem Baum, und Donncan streckte schweigend seinen Arm aus und ergriff die mit vier Gelenken versehenen Finger ihrer langen, knochigen Hand, und sie klammerte sich an seine Hand und lachte. Ich liebe sie auch, sagte er.
Ich weiß. Du wirst zurückgehen, und ihr werdet glücklich sein, ihr beide, und eines Tages werdet ihr ein Kind oder zwei oder drei oder vier haben, und einmal oder zweimal im Jahr werdet ihr einander ansehen und sagen: Ich frage mich, wie es Donnerlilie geht, weit fort in ihrem Garten? Ich werde häufig an dich denken. Ich wünschte... Nein, das tust du nicht. Glück für mich würde für dich bitteres Unglück bedeuten. Das ist so. Du kannst es nicht ändern, und das würde ich mir auch nicht wünschen. Du sagst, ich hätte dich gerettet. Vielleicht ist das in gewisser Weise wahr. Wenn dem so ist, bin ich froh, denn ich habe dich für sie gerettet. Du fürchtest, dass sie dich nicht liebt. Ihre Schönheit ist der Grund für deine Befürchtung. Und so würdest du sie verletzen, denn deine Angst ist auf ihre Art genauso grausam wie ihre Furchtlosigkeit. Wenn du glücklich werden willst, darfst du dich von deiner Angst nicht blenden lassen, sondern musst mutig und klaren Blickes voranschreiten... Donncan schwieg einen langen Moment. Ich werde es versuchen, sagte er schließlich. Dann werde ich auch glücklich sein, erwiderte sie, wandte sich um und sah Sturmreiter an, der sie mit einer Eindringlichkeit und Düsternis ansah, die für jemanden seiner Art höchst ungewöhnlich waren. Donnerlilie lächelte ihm zu, wobei ihre fahlen, sternenklaren Augen strahlten, und überrascht erwiderte er das Lächeln mit verklärtem Gesicht. Im nächsten Moment wandte er den Blick ab und verbarg seinen Gesichtsausdruck Donnerlilie lächelte weiterhin. Ich frage mich, ob auch er unter Menschen gelebt hat. Denn er empfindet so viel und zeigt es auch. Ihre Geiststimme klang so leise, dass Donncan sie kaum hörte. 157 AUF DEN SCHWINGEN EINES ADLERS Isabeau flog im Aufwind hoch hinauf und jubelte, als sie den weißglühenden Käfig von Branns Zauber erneut verließ. Sie hatte die Gestalt eines goldenen Adlers aus gutem Grund erwählt, auch wenn sie wusste, dass Buba enttäuscht darüber
wäre, zurückgelassen zu werden, da ihre breiten, kurzen Flügel nicht dafür gemacht waren, so weit und schnell wie ein Adler zu fliegen. Isabeau wollte jedoch so viel von dem Land sehen wie möglich, und die starken Schwingen und scharfen Augen des Adlers würden sie viel weiter bringen als die einer Elfeneule. Sie strich über den gesamten Talkessel des Flusstales hinweg, sah Stämme von Satyricorns in den Wäldern umherstreifen, Cluricauns durch die Bäume tollen, Nissen in den Stromschnellen tauchen und spritzen. Sie sah Sandlöwen sich auf den Dünen aalen und Seekühe am schaumigen Saum des Wassers ringen. Beide waren zu ihrer Zeit fast bis zur Ausrottung gejagt worden, die eine Art aufgrund der Gefahr, die sie für eine anwachsende Kolonie darstellte, die andere Art aufgrund ihres köstlichen, speckigen Fleisches. Sie flog weit über das Meer hinaus und sah die Fairgean bei ihrer Sommerwanderung nach Süden, die Krieger-Lords, welche die geschmeidigen Seeschlangen ritten, während ihre Wächter auf Pferdeaalen folgten. Die Frauen schwammen nebenher und schoben einige kleine, hoch mit ihrer Habe beladene Kanus. Isabeau flog den ganzen Tag über das Land und ließ ihre wilden, goldenen Augen über den Horizont schweifen. Nur ein Mal sank sie auf die Erde hinab, um mit ihren Krallen einen Donbeag zu ergreifen und ihn mit ihrem Schnabel auszuweiden. Sie war hungrig, und sie hatte während des Tages keine Kaninchen, Rat 158 ten oder Mäuse gesehen. Es war noch genug Menschliches in ihr geblieben, um die Ironie dessen zu registrieren. Als die Dämmerung herannahte, flog Isabeau zu einer Felsklippe am Strand hinüber, die wie ein knotiger Finger aus dem Sand aufragte. Im Winter war diese Felsspitze eine Insel, aber jetzt im Sommer, wenn die Gezeiten ihren Tiefststand erreicht hatten, war sie auf allen Seiten von wogendem, weißem Sand umgeben, der von mit Muscheln überzogenem Holz, Felsen, Knochen und getrocknetem Tang übersät war. Über eine der Sanddünen wand sich das lange Skelett einer Seeschlange, deren großes, mit
Fängen versehenes Maul weit geöffnet war, als wolle sie den Himmel beißen. Isabeau hatte einen Grund dafür, warum sie in der Dämmerung auf der Spitze der Felsenklippe kauern wollte. Sie wusste, dass dies der Tag war, an dem Cuinns Schiff ankam, die erste Landung von Menschen in Eileanan. Donnerlilie war bewusst in diese Zeit, zu genau diesem Moment gekommen, denn sie wollte das Land sehen, bevor die Menschen kamen und es so sehr veränderten, sie wollte das magische Wirken sehen, welches das gesamte Schicksal des Planeten für immer verwandelt hatte. Isabeau wollte es auch sehen. Sie war mit der Geschichte aufgewachsen. Ihre Behüterin Meghan hatte sie ihr oft erzählt, während sie den Stoff ihres grauen Gewandes zwischen die Finger beider Hände genommen und die Falten zusammengeführt hatte. »Es war ein großer Zauber«, hatte sie mit ihrer keuchend klingenden, alten Stimme gesagt. »In ihrem eigenen Land, das sie Alba nannten, wurden Hexen gejagt und gefoltert und auf schrecklichen Feuern verbrannt. Der Erste Hexensabbat war entschlossen, diesem Entsetzen zu entkommen und einen Ort zu finden, wo sie sicher und glücklich sein und ihren eigenen Göttern huldigen könnten. Und so schufen sie gemeinsam diesen großartigen, wundervollen Zauber. Sie 159 falteten den unmittelbaren Stoff des Universums, wie ich nun mein Gewand zwischen meinen Fingern falte, und überbrückten so im Handumdrehen eine unfassbare Distanz.« Wie wir tausend Jahre Zeit überbrückt haben, dachte Isabeau bei sich und fragte sich, ob es vielleicht im Raum ebenso Alte Wege gab wie auf der Erde. Viele gewebte Wandteppiche erzählten die Geschichte der Großen Überquerung. Sie zeigten alle ein durch einen flammenden Riss im Himmelsgewebe brechendes, auf den Sand herniederkrachendes Schiff. Dahinter befand sich dieser große Felsenfinger, der direkt zum ersten Abendstern hinaufzeigte. Die Passagiere an Bord dieses Schiffes hatten auf der hohen Klippe Zu-
flucht gesucht, und Cuinn der Weise, der Anführer des Hexensabbats, war dort in ebenjener Nacht gestorben. Es hieß, man könne die genaue Stelle seines Todes noch sehen, denn dort wuchs weißes Heidekraut, der einzige Ort auf Eileanan, wo eine solche Pflanze zu finden war. Er hatte sie in seinem Knopfloch aus der Heimat mitgebracht, hieß es, und sie war zu Boden gefallen, als man ihn hinlegte, und hatte Wurzeln geschlagen. Es gab viele weitere Geschichten. Geschichten darüber, wie Sians Schiff bei der Überquerung von Cuinns Schiff getrennt wurde und die Besatzung auf der entgegengesetzten Seite von Eileanan landete, ohne um das Schicksal ihrer Gefährten zu wissen. Die Nachkommen beider Schiffe hatten sich niedergelassen und die einheimischen Zauberwesen bekämpft, hatten Schlösser gebaut und Städte ummauert, um sich zu schützen, und waren beizeiten gediehen und hatten das Land erobert. Und erst als Cuinns Ururenkel, Hartley der Erforscher, eine Flotte von Schiffen aufgestellt und die Küstenlinie rund um Eileanan erkundet hatte, waren sie Nachkommen von Sian dem Sturmreiter, Rüraich dem Sucher, Seinneadair dem Sänger und Berthtilde der Glorreichen Kriegerin und ihren Gefolgsleuten begegnet, welche die Nordküste Eileanans besiedelt hatten, ohne zu vermuten, 160 dass sich auf der anderen Seite der unpassierbaren Berge eine weitere gedeihende menschliche Ansiedlung befand. Der Erste Hexensabbat hatte aus insgesamt dreizehn Hexen bestanden, die jeweils Freunde und Familie und Diener, Pferde und Hunde, Ziegen und Schafe, Schweine, Gänse und Hühner, Samensäcke und Kästen mit Setzlingen und Kisten über Kisten mit Büchern und Werkzeugen und Instrumenten und Waffen mitgebracht hatte. Mit ihnen kamen die unsichtbaren Plünderer, Ratten und Mäuse und Viren, die mehr dazu beigetragen hatten, die einheimischen Bewohner auszulöschen als ihre Schwerter, Pistolen und Pfeile. Isabeau kannte alle diese Geschichten ebenso gut, wie sie ihre ihre eigene kannte. Sie wusste, welch unermesslichen Schaden der Erste Hexensabbat der Welt angetan hatte, die sie auf einer
Sternenkarte markiert hatten, weil es die Welt war, die derjenigen, die sie zurückgelassen hatten, am ähnlichsten war. Und doch konnte Isabeau kein Bedauern empfinden. Sie kannte keine andere Welt als Eileanan, und sie liebte sie leidenschaftlich. Der Erste Hexensabbat hatte versucht, eine Welt zu gestalten, in der sie frei sein konnten. Sie hatten niemals beabsichtigt, andere zu versklaven oder zu zerstören, was vor ihnen dagewesen war. Das Motto des Hexensabbats hatte stets gelautet: »Tue, was du willst, solange du niemandem schadest.« Dies war eine große Zielsetzung, und eintausend Jahre in der Zukunft strebten die Menschen noch immer danach, diesem Geist gerecht zu werden, manchmal mit Erfolg und manchmal scheiternd, so wie es den Menschen vorherbestimmt zu sein schien. Die Dämmerung sank herab wie ein silberner Kerzenlöscher. Dann, ohne Vorwarnung, geschah es. Der Himmel über dem Sand riss mit einem Feuerstoß plötzlich auf, und aus diesem lodernden Tunnel segelte ein großes Schiff heran, mit gebauschten, weißen Segeln an seinen Masten und flatternden Fahnen, die in einem Sturm aus einer anderen Welt knatterten. Mt ihm 161 kam ein großer Schwall aufgewühlten grauen Wassers, ein Strudel aus Gischt, ein Heulen des Windes. Das Schiff ritt auf diesem Meeresstrudel hinab und immer weiter hinab und krachte auf die Sanddünen, wo es unter dem Gewicht seiner plötzlich schlaffen und nachschleppenden Segel kenterte. Isabeaus scharfes Gehör konnte die Schreie und das Geräusch krachenden und splitternden Holzes hören. Sie flüchtete, schwebte darüber hinweg und beobachtete, wie die über tausend Menschen, die sich an Bord drängten, heftig umhergeworfen wurden, unter herabstürzenden Spieren und Segeln gefangen und von umherrollenden Fässern und herabstürzenden Kisten zerquetscht wurden. Pferde schrien im Laderaum. Schafe und Ziegen blökten entsetzt, und eine zerbrochene Kiste entließ eine Schar Tauben in den Himmel. Die Reisenden aus einer anderen Welt arbeiteten hart daran, wieder Ordnung auf dem Schiff herzustellen, aber im Heck war
Feuer ausgebrochen, die Folge eines geborstenen Fasses Schießpulver. Ein junger Mann und eine große, dunkelhaarige Frau schrien einander an. An Deck lag ein ältlicher, in einen Umhang gehüllter Mann. Isabeau flog neugierig herab. Sie sah die kräftige Adlernase und die olivfarbene Haut ihrer Behüterin und wusste, dass der alte Mann Cuinn der Weise sein musste. Und der junge Mann musste sein Sohn Owein sein und diese große, anmaßende Frau Foghnan die Distel, die dieses angeschlagene Schiff verlassen und ihre Gefolgsleute in das Land führen würde, das sie Arran nennen würde. Oweins Sohn Balfour, das erste in Eileanan geborene menschliche Kind, würde sie beizeiten ermorden und im Gegenzug von Föghnans Tochter, Margrit, ermordet werden. So würde die Fehde beginnen, die mehr als eintausend Jahre andauern sollte, bis Lachlan MacCuinn und Ian MacFöghnan Freunde wurden und schworen, die jahrhundertealte Rivalität zu beenden. Wenn Isabeau gestaltwandelte, nahm sie nicht nur das Aus 162 sehen eines bestimmten Wesens an, sondern wurde dieses Wesen. Als Isabeau, die Bewahrerin des Schlüssels des Hexensabbats, verabscheute sie es, Fleisch zu essen. Als Eule packte sie eifrig eine vorüberhuschende Maus und dachte sich nichts dabei, später eine kleine Kugel aus Krallen und Fell herauszuwürgen. Als Schneelöwe benutzte sie ihren starken Kiefer, um ein kleines Wild auszuweiden, und leckte danach mit großer Zufriedenheit das Blut von ihren Schnurrhaaren. Als Adler konnte sie eine lange Reihe weinender, erschöpfter und verängstigter Menschen sich über den Sand mühen sehen, alles mit sich tragend, was sie aus ihrem brennenden Schiff retten konnten, mit kaum mehr als beiläufigem Interesse und einem wachen Blick für die über den Sand davonhuschenden Ratten und Mäuse. Sie genoss ein leckeres Festmahl und kreiste dann erneut über den Siedlern, während diese vor dem unheimlichen Einbruch der Nacht auf die Felsklippe flüchteten, die beizeiten Cuinns Insel genannt würde. Isabeau faszinierte die altertümliche Kleidung, ihre seltsame, unverständliche Sprache, und ihr unerwarteter Mangel an Ma-
gie. Sie war höchst überrascht zu sehen, dass sie Feuer mit Zunder und Flint anzündeten und nicht mit ihrem Geist und ihren Weg mit rauchenden Fackeln und einigen wenigen einfachen Glaslaternen beleuchteten, anstatt ein Hexenlicht heraufzubeschwören, so wie sie es getan hätte. Man hatte sie stets gelehrt, der Erste Hexensabbat habe aus Zauberern von unglaublicher Stärke und Macht bestanden, aber abgesehen von der offensichtlichen Fähigkeit Ahearn PferdeLairds, erschreckte Pferde mit einer Berührung und mit Flüstern zu beruhigen, konnte sie kein offenkundiges Zeichen ihrer magischen Fähigkeiten erkennen. Sie erkannte Brann den Raben an seinem dunklen Haar und den mesmerischen Augen und verspürte selbst in der Gestalt eines Adlers einen leichten Schauder, als sie das rote Haar und den Bart ihres Vorfahren, Faodhagan des Roten, erkannte. Er entlud Seite an Seite mit seiner Zwil 163 lingsschwester Sorcha Kisten mit Werkzeugen und Waffen, und Isabeau freute sich, als er sich umwandte und mit einer weiten Geste seiner Hand die hungrigen Flammen besänftigte. Sie hätte jedoch erwartet, dass er und Sorcha gemeinsam in der Lage gewesen wären, das Feuer vollständig zu bezwingen, und dachte bei sich, dass sich die magischen Talente der Menschen vielleicht erst im Laufe der Zeit geschärft und fokussiert hatten, eine interessante Theorie, die sie gerne irgendwann mit Gwilym und den übrigen Zauberern diskutieren würde. Schließlich war es sogar für ihre scharfen Augen zu dunkel, um noch etwas zu sehen, und sie merkte, dass sie sich bereits zu lange außerhalb ihrer eigenen Gestalt aufgehalten hatte. Sie machte kehrt und flog auf den grünen Hügel mit seiner Krone aufgerichteter Steine zurück, fand ihn in der Dunkelheit durch das Feuer, das Dide beim Teich angezündet hatte. Mühelos landete sie, ließ sich in ihre eigene Gestalt zurückfallen und spürte, wie die übliche, bis in die Knochen dringende Erschöpfung sie befiel. Mit der Erschöpfung kam auch Branns Zwang, grausamer und stärker denn je. Sie fragte sich, ob er jetzt so intensiv war, weil Brann nun hier in dieser Welt war, und blickte zu den anderen
kleinen, roten Punkten hinaus, die sie in der Ferne sehen konnte, die Lagerfeuer, an denen die Neuankömmlinge kauerten, verängstigt und heimwehkrank. Würde er dort draußen etwas spüren können, irgendeine Verbindung zwischen ihnen, irgendeine Ahnung, dass hier eine Frau war, deren Seele von der Sehnsucht danach zerrissen wurde, ihn von den Toten wiederzuerwecken? Es hieß, Brann habe die Macht der Prophezeiung gehabt und habe in einer Vision vorhergesehen, dass er wieder leben würde. Könnte es ihre Gegenwart hier sein, brennend vor Verlangen und Wahnsinn, die ihm diese Vorahnung vermittelte? Wäre sie nicht auf der Suche nach einem entführten Righ in diese Zeit gelangt, wäre ihm dann vielleicht niemals der Gedanke an ein zweites Leben in den Sinn gekommen? Wenn dem so war, hätte 164 er sein Leben vielleicht nicht mit dem Studium der Geheimnisse von Leben und Tod verbracht und nicht den Zauber in das Buch der Schatten geschrieben. Dann hätte sie ihn nicht gelesen, und Johanna auch nicht, und keiner der letzten schrecklichen Tage hätte stattgefunden. Sie wäre jetzt nicht hier, in der Dunkelheit nach Brann Ausschau haltend. Daran zu denken, verwirrte ihre Gedanken. Meghan hatte immer gesagt, Ereignisse würden ihre Schatten vorauswerfen. Wer hatte diesen Schatten geworfen, Brann oder sie selbst? Nackt und weinend schlich Isabeau in den Steinkreis und fand die lange Gestalt Dides, der in seine Decke eingehüllt schlief. Sie kauerte sich neben ihn und schüttelte ihn sanft, bis er schließlich mit einem überraschten Aufschrei erwachte. »Schsch«, flüsterte sie und nahm ihn bei der Hand. »Beau! Was ist los?«, fragte er schläfrig. »Ich brauche dich«, flüsterte sie. »Was? Was ist passiert?« »Komm mit mir«, sagte sie und führte ihn durch die Menhire aus dem Lager hinaus und den Hügel hinab. Dide wankte hinter ihr her, blind und verwirrt. Sie führte ihn in den Wald, wandte sich dann um und drängte sich ihm entgegen, schlang ihm die
Arme um den Hals. »Küss mich, Dide«, murmelte sie. »Liebe mich. Bitte.« Noch immer halb schlafend, folgte Dide ihrer Aufforderung dennoch, während eine Hand ihren bloßen Rücken hinabglitt und die andere ihren Nacken umfasste. Isabeau war fast außer sich vor Verlangen. Nur durch das Pochen ihres Herzens, durch das Rauschen des Höhepunkts in ihren Ohren, konnte sie Branns zischende Stimme in ihrem Geist übertönen. Danach, als sie einander in der Dunkelheit des Waldes eng umschlungen in den Armen lagen, fragte Dide leise an ihrem Ohr: »Ist alles in Ordnung, Leannan?« »Jetzt geht es mir besser«, antwortete sie. 165 »Ist es dieser Zauber?« Sie nickte. »Wir werden einen Weg finden, ihn zu brechen, keine Angst, meine Liebste«, sagte er und küsste ihr Ohr. Isabeau nickte erneut, obwohl ihr bewusst war, dass sie log. Blutmagie konnte nur durch den Tod gebrochen werden. Während der nächsten beiden Tage verbrachte Isabeau mehr Zeit in der Gestalt eines Vogels mit hohlen Knochen als in ihrer eigenen Gestalt. Es war gefährlich, das wusste sie. Zu viel Zeit in einer anderen Gestalt, und sie begann ihr Menschsein zu vergessen. Sie wurde mehr Adler als Frau. Es wurde immer schwerer, sich daran zu erinnern, zum Lagerfeuer zurückzukehren und sich wieder in ihren eigenen, von Qual gemarterten Körper zurückzuverwandeln. Mit jeder Rückkehr wurde sie schwächer, das Fieber der Zaubererkrankheit grub seine scharfen Klauen in ihren Körper. Es war eine schnelle Abwärtsspirale, an deren Ende nichts anderes als Wahnsinn und Tod warteten. Isabeau wusste das, sie alle wussten das, und doch war anscheinend nichts daran zu ändern. Sowohl Wolkenschatten als auch Donnerlilie waren nach ihrer Tortur schwach und erschöpft, und Isabeau würde eher ihren eigenen Körper gefährden, als das Leben der letzten Sternträumerinnen aufs Spiel zu setzen.
Am Abend des zweiten Tages lag sie zitternd und stöhnend unter einer Decke am Feuer, die Augen waren geschlossen, ihre Haut schweißüberströmt. Dide saß neben ihr und strich ihr das Haar zurück, während Cailean in dem über dem Feuer hängenden Kochtopf eine dünne Brühe umrührte. Ihre Vorräte waren schon lange aufgebraucht, aber Wolkenschatten wollte niemandem von ihnen erlauben, den Steinkreis auf der Spitze des geweihten Hügels zu verlassen, um auf Erkundungsgang oder Nahrungssuche zu gehen oder sich auch nur die 166 Beine zu vertreten. Jenseits des geweihten Kreises befand sich ein Garten der Celestine - Zauberwesen, die niemals zuvor einen Menschen gesehen hatten. Wolkenschatten wollte ihre Unschuld so lange wie möglich bewahren, wobei sie sehr genau wusste, dass das Verhängnis der Zauberwesen mit einem brennenden Schiff aus einer anderen Welt bereits eingetroffen war. Als Allererstes hatte die Sternträumerin außerhalb des Steinkreises eine Ansammlung von Zweigen und Steinen in einem formellen Muster zurückgelassen, welche in der Traumsprache erklärten, dass sie in der Zeit verloren gegangen waren und heilen und sich erholen wollten, bevor sie die Heimreise versuchten. Es war eines der geheiligtsten Tabus der Celestine, so erklärte sie erschöpft, dass jene, welche die Alten Wege in der Zeit zurück bereisten, nichts taten, um die Welt zu ändern, in der sie sich wiederfanden. Nicht berühren, nicht gestalten oder zerbrechen, nicht sprechen, sagte sie. Denn auch die geringste Veränderung kann ungeheure Folgen für die Zukunft haben, so gewaltig dass wir vielleicht feststellen würden, dass es keine Zukunft mehr gäbe, in die wir zurückkehren könnten. Am nächsten Morgen hatten sie auf großen Blättern in der Nähe eines der hohen, aufrecht stehenden Steine hinterlassene Nahrung gefunden. Da waren Beeren aller Art, Bündel Kräuter und bittere, grüne Blätter, Pilze und einige seltsam knubbelige Wurzeln von eher fauliger, gelber Farbe, die sich, in der Glut geröstet, als äußerst schmackhaft erwiesen. Es war für diejenigen, die an Festessen im Palast gewöhnt waren, kärgliche Nahrung,
aber alle waren so hungrig, dass sie sie dankbar annahmen und die Pausen mit großen Schlucken eiskalten Quellwassers füllten. Alle außer Isabeau, die überhaupt kein Interesse am Essen hatte. Also kochte Cailean ihr mit den letzten Kräutern und Pilzen ein wenig Suppe, in der Hoffnung, dass ihr Appetit angeregt oder ihr traurig abgemagerter Körper zumindest ein wenig ernährt würde. 167 Isabeaus Hände waren bandagiert, damit sie ihre Fingernägel nicht hinein graben konnte. Und Ghislaine hatte ihr Haar zurückgekämmt und fest geflochten, damit sie nicht mehr daran ziehen konnte. Es nützte nichts. Sie umklammerte zwanghaft ihren Kopf, wiegte sich vor und zurück murmelnd, bis sich ihr lockiges rotes Haar aus dem Zopf löste und sich wild um ihr bleiches Gesicht schlängelte. Es beunruhigte Dide, Worte in dem Gemurmel auszumachen. »Blut«, nuschelte sie. »Er muss Blut haben. Eine lebende Seele, willig oder unwillig, und ein sehr scharfes Messer. Muss zurückgehen ... Blut, Blut, Blut. Nein! Nein! Ich werde es nicht tun! Ich werde es nicht tun! Kein Blut. Kein Blut mehr. Nein. Nein.« Sie schluchzte laut auf, wandte ärgerlich den Kopf und packte Dide dann mit beiden Händen. »Mach, dass er aufhört, mach, dass er aufhört«, flehte sie. »Ich kann es nicht ertragen. Dide, bitte!« »Schsch, Liebling«, beruhigte er sie. »Schsch. Schlaf. Alles wird gut.« »Wie?«, fragte sie. »Sag mir wie.« »Versuche, dich auszuruhen, Leannan. Du musst deine Kraft bewahren.« »Bitte, töte mich einfach«, bat sie. »Ich kann es nicht mehr ertragen. Bitte, töte mich, und dann ist es gut!« »Das können wir nicht tun, Liebes. Komm, versuch zu schlafen. Wir werden einen Weg finden, den Zauber zu brechen, das verspreche ich.«
Tränen liefen ihre Wangen hinab. »Wie? Dies ist kein Geist, der sich verirrt hat und Hilfe braucht, um zur nächsten Welt zu gelangen. Dies ist ein Geist, der so entschlossen ist, wieder zu leben, dass er bereit ist, mich in den Wahnsinn zu treiben, um seinen Willen durchzusetzen. Du verstehst es nicht! Dies ist Blutmagie der höchsten, gefährlichsten Art. Blutmagie. Blut. Nur der 168 Tod wird mich retten. Bitte, oh bitte, Dide! Ich habe Angst vor dem, was ich tun werde. Bitte ...« Sie schluchzte hysterisch und beruhigte sich erst, als Ghislaine Traumwandlerin sie sanft zwischen den Augen berührte und die Schleier des Schlafes herab beschwor. »Es wird schlimmer«, sagte Dide zu Donncan. Der junge Rilgh war sehr besorgt um seine Tante und setzte sich dicht neben ihr Behelfsbett, wo er sie gelegentlich mit sanftem Tätscheln tröstete, wenn sie zu gereizt wurde. Er nickte zu Dides Worten, biss sich auf die Lippen und wirkte sehr angstvoll. »Was sollen wir tun?«, fragte er. »Beau sagt, der einzige Ausweg sei der Tod«, sagte Dide, während er ihr mit einem kühlen, feuchten Tuch die heiße Stirn abtupfte. Sie öffnete die Augen und sah zu ihm hoch, ihre Pupillen waren in dem hellen, ausdruckslosen Blau ihrer Iris winzige Punkte. »Ja, der Tod«, sagte sie mit leiser, heiserer Stimme. »Leben, Tod, Leben, Tod. Er schwor, er würde wieder leben. Er wird wieder leben. Er wird es! Er muss es!« »Schsch«, beruhigte Dide sie, und sie schloss vor sich hin murmelnd die Augen wieder. »Aber wir können sie nicht töten!«, rief Donncan. »Natürlich nicht«, erwiderte Dide. »Was dann?«, fragte Cailean, während er eine Prise Salz in die Suppe gab. »Denn wir müssen etwas tun!« »Mir fällt nur eines ein«, erwiderte Dide. Er hielt inne und atmete tief ein. »Wir müssen Brann von den Toten wiedererwecken.«
»Was!«, riefen Cailean, Ghislaine und Donncan gleichzeitig. Donnerlilie, die dagesessen und in das dämmerige Tal hinabgeblickt hatte, wandte den Kopf und sah sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. »Wenn wir Brann von den Toten wiedererwecken, dann wird 169 der Zwang erfüllt, und Isabeau wird wieder frei sein«, erklärte Dide. »Aber dann wird Brann leben«, sagte Donncan hitzig. »Das ist genau das, was zu verhindern wir so hart gekämpft haben.« »Wir werden ihn einfach wieder töten müssen«, erklärte Dide. »Die Bedingungen des Zaubers werden doch gewiss erfüllt sein, wenn er ein Mal wiedererweckt wurde? Dann, wenn wir ihn getötet und wieder in sein Grab gelegt haben, wird es vorbei sein. Alles wird vorbei sein.« »Wie sollen wir ihn töten?«, fragte Ghislaine. »Erinnert ihr euch an das, was Isabeau uns erzählt hat, über das, was sein Sohn sagte? Er konnte seinen Vater nur töten, indem er ihn im Moment der Verzückung angriff, als alle seine Sinne der Welt verschlossen waren. Er ist ein Zauberer der zehn Ringe, denkt daran.« »Er wird frisch von den Toten wiedererweckt werden«, sagte Dide. »Er wird schwach sein, desorientiert.« »Das hoffst du«, sagte Ghislaine. Dide verzog das Gesicht und nickte. »Ich muss zugeben, der Plan hat so seine Lücken. Wir werden einfach sicherstellen müssen, dass wir für ihn bereit sind. Vielleicht ein rascher Stoß ins Herz genau in dem Moment, in dem er wiedererweckt wird?« »Glaubst du, das würde wirklich funktionieren?«, fragte Donncan, dessen dunkle Augen voller Hoffnung waren. »Würde Tantchen Beau wirklich von dem Zauber befreit, wenn wir ihn wiedererwecken und dann wieder töten?« »Ich weiß es nicht«, sagte Dide. »Es ist jedoch zumindest ein Plan, der einzige, den wir haben.«
Cailean runzelte die Stirn, während er darüber nachdachte. »Vermutlich«, sagte er zögernd. »Ich sehe jedoch ein kleines Problem dabei.« »Welches?«, fragte Dide. »Jemand muss geopfert werden, um ihn wiederzuerwecken.« 170 »Ach, das weiß ich«, antwortete Dide. »Ich habe natürlich daran gedacht - das werde wohl ich sein.« »Du!«, rief Donncan. »Du willst, dass wir dich opfern?« Dide nickte und blickte wieder zu Isabeau hinab, die ihren wirren roten Kopf heftig von einer Seite zur anderen drehte und sehr schnell sagte: »Blut, Blut, er muss Blut haben, er muss wieder einherschreiten. Ja, ja, Blut für meinen Meister!« »Natürlich«, antwortete er. »Wer sonst?« LEUCHTENDE STERNE Es war eine lange und schwierige Nacht. Bei Isabeau wechselten sich lange Perioden des Fiebers, in denen sie niemanden erkannte, mit Aufgeregtheit ab, während der sie darum rang, in die Zeit von Branns Tod zurückzugelangen, sie verfluchend, sie bittend, sie anflehend, ihr zu helfen. Isabeau war überzeugt davon, dass Branns Geist dort im Steinkreis bei ihnen war, Isabeau beobachtete, ihr Befehle erteilte. »Er sagte, es sei an der Zeit!«, rief sie. »Ich muss zu ihm gehen, ich muss, ich muss! Lasst mich gehen!« Dann verschwand sie jäh. Sie suchten sie verzweifelt in der Dunkelheit, stolperten übereinander, voller Angst, dass sie sie für immer verloren hätten. Doch Dide fand schließlich eine kleine Maus zitternd zusammengekauert neben einem der großen, aufrechten Steine sitzen, die offensichtlich große Not hatte. Er beugte sich herab, hob sie sehr sanft hoch, setzte sich dann hin, sie ganz sacht in seinen großen, warmen Händen bergend, und summte ihr während der letzten Stunden der Nacht leise etwas vor, bis das kleine Wesen letztendlich aufhörte, zu zittern und zu keuchen, und ein wenig döste, eine winzige Pfote über seinen Daumen gelegt. Da konnte Dide nicht umhin zu weinen, still und 170
verschämt, einen Ärmel auf seine Augen pressend, damit niemand seine Tränen sähe. Als die Dämmerung den Himmel mit glanzvollen Streifen rötlich, golden und karmesinrot zu färben begann, bereitete Cailean mit einigen der Kräuter, die außerhalb des Steinkreises für sie zurückgelassen worden waren, einen Tee und sagte: »Also dann, wie wollen wir dies tun? Denn so können wir nicht weitermachen.« Dides Gesicht war abgehärmt, seine Augen waren rot gerändert. Er barg die schlafende Maus mit einer Hand an seiner Brust, hielt mit der anderen Hand einen Becher und trank dankbar daraus. »Wir gehen zu Branns Grab zurück. Es muss nicht wieder die Zeit seines Todes sein, denn sein Sohn wird damals Wachen aufgestellt haben, und ich hege keinerlei Wunsch, zuerst gegen seine Männer kämpfen zu müssen. Vielleicht fünfzig oder einhundert Jahre nach seinem Tod? Wir erwecken ihn, du tötest ihn, Donnerlilie heilt mich und bringt mich wieder ins Leben zurück, wir begraben ihn und ziehen nach Hause. So einfach.« Ein langes Schweigen entstand. Niemand wollte auch nur annähernd auf all die Dinge hinweisen, die bei einem solchen Plan misslingen konnten. »Irgendwelche anderen Vorschläge?«, fragte Dide in dem Versuch, Frohsinn zu verbreiten, was allerdings fehlschlug. Niemand sprach. Buba schrie von ihrem Platz über Isabeaus Kopf leise, und die Maus zuckte zusammen und zitterte. »Aber... aber... Dide ... wer soll dich töten?«, fragte Donncan schließlich. »Ich könnte es nicht tun, ich könnte es nicht. Allein der Gedanke daran erfüllt mich mit Entsetzen. Nun, Brann den Raben könnte ich wohl töten, wenn auch nicht leichten Herzens. Er war ein böser, böser Mann, und seine Wiedererweckung würde für uns alle nur Übles bedeuten. Wenn ich Hilfe hätte... wenn ich es rasch genug täte ... Ich denke, vielleicht könnte ich es tun. Aber nicht dich.« 171
»Beau würde es tun müssen«, sagte Dide, während er mit einem Daumen über das seidige Fell der Maus strich, die mit runden, glänzenden, schwarzen Augen und zitternden Barthaaren zu ihm hochblickte. »Tantchen Beau! Aber... aber sie kann keiner Fliege etwas zuleide tun!«, sagte Donncan. »Sie hat mich bereits einmal mit einem Dolch bedroht.« Dide bemühte sich vergebens, den Schmerz aus seiner Stimme herauszuhalten. »Sie wird unter Zwang handeln. Dies ist kein gewöhnlicher Überredungszauber, Donncan, das können wir alle erkennen. Isabeau ist die stärkste Hexe unserer Zeit, und sie konnte diesem Zauber nicht widerstehen. Brann hat ihn mit seinem eigenen Blut geschrieben, und mit all der Kraft seines schwarzen Herzens.« »Aber...«, wandte Donncan erneut ein und war so von Gefühlen überwältigt, dass seine Stimme völlig versagte. »Wie kannst du das ertragen?«, flüsterte er schließlich. »Dir von deiner Liebsten die Kehle durchschneiden zu lassen, zuzulassen, dass sie dich tötet...« »Donnerlilie wird mich heilen«, sagte Dide und versuchte zu lächeln. »Wir haben gesehen, wie sie Wolkenschatten geheilt hat.« Aber was ist, wenn ich deine Wunde nicht heilen kann?, fragte Donnerlilie. Sie saß aufrecht, wobei ihr ruiniertes silberfarbenes Gewand im grauen Licht der Dämmerung wie Wasser schimmerte. Ihr drittes Auge war geöffnet und sah Dide voller Qual an. Was ist, wenn ich zu spät komme? Oder nicht stark genug bin? Ich habe noch nicht von den Blüten des Sommerborns gegessen. Ich habe nicht viel Kraft. Aber ich, sagte Wolkenschatten. Ich habe meinen Liebsten getötet und von den Blüten des Sommerborns gegessen. Ich werde den Jongleur heilen, wenn ich kann. Aber du hast so viel Blut verloren, wandte Donnerlilie ein. Du 172 bist noch schwach. Es dauert Wochen, um sich von einem solchen Blutverlust zu erholen, besonders da du durch das Gift
in dem Wein, den Johanna uns allen gab, bereits sehr geschwächt warst. Es erfordert viel Kraft, eine tödliche Wunde zu heilen. Du könntest den Tod riskieren, wenn du es auch nur versuchtest. Der Jongleur wird tot sein, sagte Sturmreiter tief besorgt. Jede Sekunde, in der das Blut aus seinem Körper verebbt, jede Sekunde, in der sein Herz nicht schlägt und seine Lungen nicht atmen, ist eine Sekunde weiter weg vom Leben. Ich bin kein Sternträumer. Ich kenne eure Geheimnisse nicht. Aber dies weiß ich. Die Sternträumer besitzen nicht die Macht, die Toten ins Leben zurückzubringen. Wenn er erst tot ist, muss er tot bleiben. Ihr könnt nur heilen, solange noch Leben in ihm ist. »Ihr werdet einfach schnell sein müssen«, sagte Dide. »Hast du keine Angst?«, fragte Donncan und betrachtete den Jongleur stirnrunzelnd. »Vor dem Sterben, davor, nicht gerettet zu werden?« »Ich habe viele Straßen bereist, viele Abenteuer erlebt«, antwortete Dide mit seltsam leuchtenden Augen. »Was gibt es vom Leben noch zu erfahren außer dem Tod?« »Ich glaube dir nicht«, sagte Ghislaine jäh. Er wandte sich ihr zu, und dieses Mal erstrahlte sein Lächeln mit dem üblichen Elan. »Natürlich habe ich Angst«, sagte er. »Ich habe Angst vor dem Schmerz und dem Blut, ich habe Angst davor, dass ihr scheitern werdet und mich nicht zurückbringen könnt, ich habe Angst davor, dass nach dem Tod nichts mehr kommt außer schwarzer Leere. Aber ich lüge nicht. Der Tod ist das letzte große Abenteuer. Ich habe ein gutes Leben gehabt, ich habe stärker geliebt und bin mehr geliebt worden, als ich jemals verdient zu haben glaubte. Mein Meister, mein Freund ist tot...« Seine Stimme versagte. »... und meine liebe Ehefrau Isabeau ... glaubt ihr, ich würde mich nicht lieber dem Tod stellen, als sie so in den Wahnsinn getrieben zu sehen?« 173 Plötzlich waren seine Arme voller Isabeau, nackt und weinend, während ihre wirre Masse roten Haars der Sittsamkeit kaum Genüge tat. »Du hast mich deine Ehefrau genannt«, weinte sie.
»Oh Dide, nein! Was hast du vor? Nein, nein. Ich kann nicht... ich kann nicht zulassen, dass du ...« Er barg sie sanft, beugte das Gesicht, um ihre nasse Wange zu küssen. »Hast du alles gehört?«, murmelte er. »Es ist in der Tat möglich, Liebes. Wir erwecken Brann und begraben ihn dann wieder und mit ihm seinen schrecklichen Zwang. Du wirst frei sein...« »Aber du wirst tot sein«, weinte sie. »Vielleicht nicht«, antwortete er. »Nein, ganz sicher nicht! Donnerlilie und Wolkenschatten haben gemeinsam die Kraft, mich wiederzubeleben, Liebes.« »Aber was ist, wenn sie die Kraft nicht haben?«, rief sie. »Was ist, wenn sie zu spät kommen?« Er zuckte die Achseln. »Es ist das Risiko wert, meinst du nicht?« »Nein, das meine ich nicht!« »Beau, hör mir zu. Du bist die Bewahrerin des Schlüssels. Eileanan braucht dich. Dies sind böse Zeiten. Lachlan ist tot. Iseult ist vor Kummer außer sich. Nur Donncan kann regieren, ein junger Bursche, dem noch die Muttermilch an den Lippen klebt...« Er warf Donncan, der grinste, einen raschen Blick zu. »Was bin ich anderes als ein nichtsnutziger Jongleur, jemand, der hübsche Lieder singt, der hübsche Bälle jongliert?«, sagte Dide und streckte eine Hand aus, um seine Decke zu ergreifen und sie um ihre Schultern zu wickeln, während er sie noch enger an seine Brust drückte. »Das bist du nicht!« Isabeau weinte jetzt ernsthaft, und Dide wischte ihr mit einer Ecke seiner Decke übers Gesicht. »Wenn ich sterben sollte, würde ich vermisst, das stimmt. Niemand singt ein Liebeslied so wie ich. Aber wenn du sterben wür 174 dest ... wenn du durch diesen üblen Zauber wahnsinnig würdest ... was würde mit dem Hexensabbat geschehen? Mit Eileanan? Wer würde deinen Platz einnehmen?« Isabeau konnte nicht denken, konnte nicht sprechen. »Ich liebe dich«, sagte er sehr leise mit seinem Mund in der sinnlosen Hoffnung an ihrem Ohr, dass niemand sonst seine
Worte hören würde. »Ich vertraue dir. Ich weiß, dass du mich zurückbringen wirst.« »Ich kann nicht... ich muss ... ich kann nicht... ich muss ...« Sie kämpfte nun gegen den Zwang an, zitternd und weinend, und packte verzweifelt Dides Arm. »Ja, es ist an der Zeit«, sagte Dide und hob sie von seinem Schoß. »Es ist an der Zeit, Brann den Raben von den Toten wiederzuerwecken, und du musst es tun.« Als sie erste Schritte für die Rückkehr zu Branns Grab unternahmen, ließ die Stärke des Zwangs etwas nach, und Isabeau konnte leichter denken und atmen. Sie widersprach nicht mehr. Jeglicher Versuch, den Zwang zu meiden, bewirkte nur, dass er kraftvoller zurückkehrte. Die stillschweigende Zustimmung zu Dides Plan machte es ihr viel leichter. »Glaubst du, Branns Geist ist wirklich hier, beobachtet uns, zwingt uns seinen Willen auf?«, fragte Ghislaine Cailean nervös und sah sich mit einem unruhigen Blick aus ihren grünen Augen um. Cailean schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, es ist der Zauber. Solange sich derjenige, der dem Zauber unterliegt, in die Richtung bewegt, die der Zauber verlangt, entspannt er sich. Nur wenn Isabeau dagegen anzukämpfen oder ihn zu meiden versucht, wird der Zug wieder stärker. Bei Zwangszaubern geht es darum, jemand anderem seinen Willen aufzudrängen. Solange sie sich fügt, ist alles gut.« »Wenn wir nach Lucescere zurückkehren, werde ich das Buch 175 der Schatten nehmen und die Seite herausreißen und verbrennen«, erklärte Ghislaine. »Wie willst du den Zauber finden, ohne ihn zu lesen?«, fragte Cailean ruhig. »Wir können nicht sicher sein, dass der Zauber durch die Wiedererweckung Branns von den Toten alle Macht verliert, wenn er wieder im Grab endet. Es wird Isabeau von dem Zauber befreien, dessen bin ich mir sicher. Aber auch alle anderen, die ihn lesen?« »Aber wir können ihn nicht einfach darin belassen!«
»Wir werden später darüber reden müssen, was der beste Handlungskurs ist«, sagte Cailean. »Ich muss zugeben, dass ich den Gedanken hasse, dass er zwischen den Seiten des Buchs der Schatten lauert wie eine dunkle Spinne!« Während sie ihre Habe zusammenpackten und versuchten, alle Zeichen ihrer Anwesenheit in dem Steinkreis auszulöschen, besprachen sie jeden Aspekt des Planes. Die beiden in dem Plan inbegriffenen Morde waren für sie alle bei weitem der schwierigste Teil. Isabeau beharrte hartnäckig darauf, dass sie Dide niemals töten könnte, gleichgültig wie stark der Zwang wäre, und er beharrte ebenso hartnäckig darauf, dass sie es tun müsste. »Es ist die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass dem Zwang Folge geleistet wird«, argumentierte er. Ich habe meinen Liebsten getötet, sagte Wolkenschatten mit tiefer Traurigkeit in ihrer Geiststimme. Es ist der Preis, den wir Sternträumer für die Gaben des Sommerborns zahlen müssen. Und meine Tochter wird beizeiten dasselbe tun müssen. Donncans Blick zuckte zu Sturmreiter. Der große Celestine war, wie Donncan wusste, Donnerliliens erwählter Ehemann. Er war es, der unter ihrem Messer sterben müsste, wenn die Zeit käme. Was empfand er bei diesem Gedanken? An seinem Gesicht, das so kühl und gefasst wirkte wie immer, war es unmöglich abzulesen. Donnerlilie konnte ihre Züge nicht so gut kontrollieren. Er sah, wie sie den Blick senkte, ihre Lippe zit 176 terte und sie unter ihrer hellen Haut jäh errötete. Unter Menschen zu leben, hatte Donnerlilie sehr verändert, dachte Donncan. Sie konnte doch gewiss nicht daran denken, ihren eigenen Ehemann opfern zu müssen, ohne tiefen Abscheu zu empfinden? Und doch hatte Donnerlilie gesagt, sie würde nicht versuchen, ihre Zukunft zu verändern, sondern sich ihrer Pflicht beugen. Der Gedanke daran, mit einem Mann zu schlafen, den sie nicht liebte, ihm Kinder zu gebären und ihn dann für die Blüte ihres geheiligten Baumes zu töten, musste sie doch gewiss mit Furcht und Entsetzen erfüllen.
Sie wandte den Kopf und sah ihn an. Ihr drittes Auge war geöffnet und dunkel wie die Nacht. Du verstehst das nicht, sagte sie lautlos in Donncans Geist, nur für ihn bestimmt. Er ist ein guter Mann, tapfer und wahrhaftig. Seine Kinder werden in Ehren geboren werden. Ich liebe ihn vielleicht nicht mit der verzweifelten Leidenschaft, nach der ihr Menschen euch sehnt und für die ihr leidet, aber ich werde ihn lieben, wie Celestine lieben, mit tiefer Zuneigung Vertrauen und Zärtlichkeit. Er wird mir seinen Samen und sein Blut geben, damit unsere Art weiterbesteht, und er wird unter jenen sterben, die ihn lieben, geehrt und verehrt. Gibt es einen besseren Tod? Donncan erwiderte ihren Blick und empfand jäh Demut. Er dachte an Bronwen, nur dem Namen nach seine Ehefrau. Er hatte sich seit Jahren nach dieser Hochzeit gesehnt, sich danach gesehnt, ihre Haut an seiner zu spüren, ihren Mund und ihr seidiges Haar zu küssen, sich in dem zu verlieren, was Donnerlilie so richtig verzweifelte Leidenschaft nannte. Allein der Gedanke an Bronwens fremdartige Schönheit genügte, um sein Blut in Wallung zu bringen und seine Lenden prickeln zu lassen. Aber Donncan hatte nicht allzu weit über diese ersten Tage, Wochen und Monate ihrer Ehe hinausgedacht. Er hatte sich nicht vorgestellt, wie sie mit einer Brut lärmender Kinder behäbig würden, oder alt, grau und impotent. Es war immer das Jetzt gewesen, 177 das ihn angetrieben hatte. Er begann sich Bronwen zum ersten Mal als die Mutter seiner Kinder vorzustellen, als eine alte Frau, die aufschaute und trotz seines kahlen Schädels und der gebeugten Schultern liebevoll lächelte, wenn er den Raum betrat. Er stellte überrascht fest, dass er das verzweifelt wollte, es vielleicht noch mehr wollte als den leidenschaftlichen Vollzug des Jetzt. Er wollte ein reichhaltiges, glückliches Leben gestalten, erkannte er, und sich in dem Wissen, es gut gelebt zu haben, alt werden. Donncan wurde von Ghislaine, die ihn sanft am Arm berührte, aus seiner Träumerei gerissen. Sie waren aufbruchsbereit, wie er erkannte. Die Sonne stieg auf, und Wolkenschatten tastete
gerade mit den Händen über die großen Steinmenhire, um ihren Kurs festzulegen. Sturmreiter schulterte sein schweres Bündel. Isabeau drängte sich nahe an Dide, ihr Arm lag um seine Taille, ihr Gesicht war an seine Schulter gepresst. Die Elfeneule Buba wartete auf einem der Steine, und Cailean stand bereit, eine Hand auf Dobhailens großem schwarzem Kopf. Donncan nickte, bemühte sich zu lächeln und nahm Ghislaines Hand. Sie erwiderte traurig seinen Blick, ihre grünen Augen waren voller Angst. Dies war, wie er erkannte, kein reines Glücksspiel, was sie hier spielten. Wenn sie scheiterten, wäre Dide tot, Brann der Rabe lebendig und die Zukunft der ganzen Welt verändert. Sein zögerndes Lächeln schwand, und er atmete tief ein und straffte die Schultern. Es war seine Aufgabe und Caileans, sicherzustellen, dass dies nicht geschähe. *** Die Reise durch die Zeit war nicht leichter, nur weil es bereits ihre dritte war. Wenn überhaupt, fühlten sie sich nur noch erschöpfter und elender. Isabeau sank würgend und keuchend auf die Knie. Sie musste sich Wasser ins Gesicht spritzen und mit dem Kopf zwischen den Knien dasitzen, bevor die Ohnmacht 178 verging, und dann war sie sehr schwach und blass, ihre Hände zitterten sichtbar. Buba kauerte auf ihrer Schulter und schrie besorgt, und Isabeau rieb ihre Pinselohren, bemüht, nicht zu weinen. Isabeau sagte es nicht, aber sie konnten alle erkennen, dass es sie unter unerträglichen Druck setzte, Branns Grab so nahe zu sein. Es war früher Morgen am Grabmal der Raben, fünfundsiebzig Jahre nach Branns Tod. Da sie sich an den Sternen orientierten, war bei Vollmond, beim ersten Aufstieg des Eisvogels, des hellsten Sterns am Sommerhimmel, erneut Mittsommer. Das Grabmal der Raben dominierte riesig und grau den Horizont, seine Steine waren nun moosbewachsen. Es waren keine Wächter zu sehen. Branns Sohn Dugald wäre inzwischen tot, und irgendein anderer MacBrann würde regieren. Donncan hoffte, dass es Dugalds Sohn wäre, durch eine weitere Heirat. Er hatte
die Geschichte von Dugald und seiner ermordeten Frau Medwenna als sehr traurig empfunden und hoffte, dass Branns Sohn in seinem Leben ein gewisses Maß an Glück gefunden hätte. Donncan dachte, dass er in den Annalen lesen würde, wenn er wieder zu Hause wäre. Es gab so vieles, was er über die Geschichte Eileanans nicht wusste, über das Land, das er jetzt regierte. Oder besser gesagt das Land, das er regieren würde, wenn er lebend nach Hause zurückgelangte. Sie hatten einen Tag zur freien Verfügung, da der Wiedererweckungszauber um Mitternacht bei Vollmond vollzogen werden musste. Also verbrachten sie die Zeit schlafend unter der Tanne, wobei sie abwechselnd Wache hielten. Wolkenschatten war von der Reise durch die Zeit besonders erschöpft, und sie und Donnerlilie schliefen beide tief, von Sturmreiter beschützt, der sehr still saß, die Hände vor sich gefaltet. Isabeau und Dide suchten im Wald Ungestörtheit und verbrachten ihre Zeit ein wenig tatkräftiger, wenn ihre geröteten Wangen und trägen Glieder, als sie schließlich zurückkamen, die 179 Arme um die Taillen gelegt, ein Hinweis waren. Donncan merkte, dass er sich sehr nach Bronwen sehnte. Er stellt überrascht fest, dass er nicht der Einzige war, der betroffen war. Ghislaine hatte sie mit nachdenklichem Blick gehen und wieder zurückkehren sehen, erhob sich dann, streckte Cailean eine Hand hin und sagte recht abrupt: »Hast du Lust auf einen Spaziergang?« Heftiges Verlangen blitzte in Caileans Augen auf. Der junge Zauberer ließ sich von Ghislaine hochziehen und den Hügel hinab in den Wald führen, und sie kehrten erst nach über einer Stunde zurück. Als sie schließlich in der Dämmerung Hand in Hand zurückkamen, strahlte Cailean vor Wonne. Donncan erkannte jäh, dass Cailean Ghislaine schon immer geliebt und nie erwartet hatte, dass sie seine Gefühle jemals erwidern würde. Man konnte unmöglich sagen, was Ghislaine empfand. Sie lächelte und war entspannt, das schon, aber er sah nichts von der schmerzlichen Intensität der Gefühle Caileans in ihrem Gesicht.
Dobhailen war extrem verärgert und saß mit dem Rücken zu Cailean, die Ohren gesenkt und den Schwanz eingezogen. Als Ghislaine vorüberging, um an der Quelle ihren Wasserschlauch zu füllen, knurrte er sie an und zog die Lefzen zurück, um seine großen Fänge zu zeigen. Sie lächelte nur und ging ungeniert weiter. Dide verbrachte den Rest des Tages an einen Baum gelehnt, während Isabeau in Gestalt einer langhaarigen, roten Katze auf seinem Schoß schlief. Er saß still, zufrieden damit, den Sonnenschein in sich aufzusaugen und sanft Isabeaus weiches Fell zu streicheln, während Buba in einer Höhlung des Baumes über ihnen schlief und Dobhailen sie aus einer gewissen Entfernung hungrig betrachtete. Als Donnerlilie schließlich erwachte, von ihrem langen Nickerchen erfrischt, wanderten sie und Sturmreiter zusammen durch den Wald. Als sie zurückkamen, trug sie ein verwachsenes Ge 180 winde aus Klee und Tausendschönchen auf ihrem langen, hellen Haar, und auch sie lächelte. Donncan war überrascht, einen Stich Eifersucht zu verspüren, obwohl er nicht hätte erklären können warum. Vielleicht weil er schon so lange mit Donnerlilie befreundet war und ihr diese neue Nähe zu Sturmreiter übelnahm. Oder vielleicht lag es einfach daran, dass er so gerne Bronwen ein Gebinde aus Wiesenblumen gemacht und ihren lächelnden Mund geküsst hätte, während er sie im gesprenkelten Halbdunkel des Waldes krönte. Als die Sonne im Westen unterging, bereiteten Cailean und Ghislaine gemeinsam eine Mahlzeit aus mit Kräutern gefüllten Pilzen, gegrilltem Gemüse, in Honig gewendetem Grünzeug und frischen Früchten zu. Dide nahm seine Gitarre aus ihrem abgenutzten Kasten und spielte und sang für sie. Seine Stimme klang tief und lieblich und wahrhaftig, und Isabeau war nicht die Einzige, die weinte. »Lebe wohl, ich muss gehen, muss dich verlassen, kann nicht länger verweilen. Doch wohin mein Weg mich auch führt,
ich kehre wieder, und müsste ich laufen zehntausend Meilen, meine Liebste, und müsste ich laufen zehntausend Meilen. Das schwarze Gefieder des Raben, meine Liebste, wird sich wandeln zu weißer Pracht, und wenn ich mich deiner nicht würdig erweise, wird der Tag zu dunkler Nacht, meine Liebste, wird der Tag zu dunkler Nacht. Donncan merkte, wie er sich mehr als ein Mal mit dem Ärmel über die Augen wischte, und musste irgendwann aufstehen und sich von der Quelle etwas Wasser holen. Donnerlilie weinte 181 auch, und Sturmreiter rückte näher an sie heran und nahm nach einer Weile ihre Hand in seine. Wolkenschatten richtete sich auf einen Ellenbogen auf und schaute und lauschte mit vor Mitleid und Bedauern sanftem Gesicht. Ghislaine lehnte sich in Caileans Armen zurück; er beugte den Kopf, berührte ihre Stirn sanft mit den Lippen und strich mit einer Hand ihr flachsfarbenes Haar zurück, und sie sah erstaunt zu ihm auf, wobei ihre Augen von Sorge erfüllt waren. Dide war der Einzige, der wirklich heiter und friedlich gestimmt schien. Sein einziges Bedauern war, wie er sagte, der fehlende Whiskey, mit dem er auf seine Gesundheit anstoßen könnte. Der Tod war nahe, das wusste Donncan, und so bemühten sie sich alle um Lebendigkeit. Liebe, Lachen, Musik Kameradschaft, dies waren die heiteren Dinge, die gegen die hinter ihnen liegende dunkle Zeit und gegen die vor ihnen liegende, noch dunklere Nacht in die Waagschale geworfen wurden. Nur allzu bald war der verhüllende Schleier der Nacht herabgesunken, und es war an der Zeit, dass Dide seine Gitarre aus der Hand legte und dass die Männer mit der harten Arbeit begannen, Branns Knochen zu exhumieren. »Verdammt, ich wünschte, ich hätte eine Schaufel mitgebracht!«, sagte Dide, während er sehr liebevoll seinen aus abgenutztem Leder bestehenden Gitarrenkasten schloss. »Man sollte meinen, in der Nähe eines Grabmals würde genau für solche Gelegenheiten eine aufbewahrt.«
Isabeau brachte ein kleines Lächeln zustande. Sie wurde zunehmend gereizt und ruhelos, und nun konnte sie kaum noch stillhalten, drehte ihr Haar und zog daran, schritt auf und ab, rang die Hände und biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten. Mit ihrem wirren Haar, den zitternden Händen und dem nervösen Gehabe schien sie eine vollkommen andere Frau als die besonnene, ruhige Zauberin zu sein, die Donncan stets gekannt und verehrt hatte. 182 »Wir brauchen einen Spaten«, sagte Cailean. Er schaute zu Isabeau. »Warum verwandelst du dich nicht in eine Eule und suchst für uns ein Farmhaus oder einen kleinen Bauernhof?«, schlug er vor. »Wenn du etwas gefunden hast, dann komm zurück und sag es uns, und wir werden sehen, ob wir uns nicht ein paar Geräte ausleihen können. Sonst werden wir die ganze Nacht hier verbringen müssen.« Isabeau nickte und bemühte sich, ihre Erleichterung zu verbergen. Sie war sich bewusst, dass sie Buba für sich hätte auf die Suche schicken können, aber es war unerträglich, so nahe bei Branns Grab zu sein. Also verwandelte sie sich, mit einem raschen, entschuldigenden Blick zu Dide, in eine Eule und huschte, zusammen mit Buba, über den Wald davon. Es dauerte nicht lange, bis sie zurückkehrten und durch die Dunkelheit schrien. Donncan breitete seine Schwingen aus, erhob sich in die Luft und folgte ihnen über die schemenhaften Bäume. Er hatte tagelang nicht fliegen können, durch den Steinkreis beschränkt, und er empfand diesen schnellen, lautlosen Flug durch den vom Mond beleuchteten Himmel nun als Freude und Feier des Lebens; die Bäume ragten unter ihm auf, und der Wind in seinem Gesicht roch nach Sommer. Über ihm funkelten die Sterne am Rad des Himmels, und die beiden Monde standen tief, einer goldenrot und voll, der andere silbrig blau und abnehmend und beide so wunderschön, dass es ihn schmerzte. Sie schienen auf das ferne Meer, verwandelten es in mit Silberfäden durchwirkten Stoff und beleuchteten die verlassene Ruine Rhyssmadills, das auf seiner Klippe über dem Meeresarm verfiel.
Die Eulen führten ihn zu einem kleinen Bauernhof, aus dessen Fenstern warmes Licht auf den mit Kopfsteinen gepflasterten Scheunenhof drang. Ein Hund hob den Kopf und bellte warnend, aber Donncan sprach in seiner Sprache zu ihm und ließ ihn an Hand und Fuß und Beinen schnüffeln, während er wenige Zoll über dem Boden schwebte. Schließlich entschied der Hund, dass 183 er kein Feind sei, und kehrte zu seiner zerschlissenen Decke auf der Veranda zurück während Donncan in die Scheune schlich und so viele Geräte - Schaufeln, Forken und Hacken - zusammenklaubte, wie er tragen konnte, die ganze Zeit über vom leisen Schreien der Eulen dirigiert, die auf den Dachsparren über ihm kauerten. Es war keine sehr erfreuliche Reise zum Mausoleum zurück, da Donncan mit Armen voll schwerer Geräte und dem Wissen zu kämpfen hatte, was sie damit tun wollten. Aber er flog dennoch so schnell er konnte, da sie keine Zeit mehr verschwenden durften. Als er leichtfüßig landete und die Geräte auf dem Boden ablegte, landete auch Isabeau und verwandelte sich wieder in ihre eigene Gestalt. »Es ist an der Zeit«, sagte sie mit glänzenden Augen. »Ja«, sagte Donncan, der plötzlich große Angst hatte. Isabeau lachte laut auf, während gleichzeitig Tränen ihr Gesicht hinabrannen. »Eà gib mir Kraft«, betete sie. »Eà von dem dunklen Gesicht, lass mich tun, was getan werden muss. Lass mich jetzt nicht versagen.« Sie zitterte am ganzen Körper, obwohl man unmöglich sagen konnte, ob vor Entsetzen oder aus einem Hochgefühl heraus. Alle hatten sich gefragt, wie sie Branns Grab finden sollten, wenn es keinen Hinweis darauf gab, aber sie hätten nichts zu befürchten brauchen. Isabeau konnte nicht fernbleiben. Als wäre ein Seil in ihrem Herzen verankert, wurde sie genau zu der Stelle gezogen, begann dort, mit bloßen Händen zu graben und führ Ghislaine an, als sie sie fortziehen wollte.
Buba schrie klagend, aber Isabeau wollte sich nicht wieder in eine Eule verwandeln. Lachend und weinend gleichzeitig, grub sie Seite an Seite mit den Männern, ihre Kleidung und Hände waren schmutzig, ihr Haar so wirr wie die Krone eines Weidenbaums. 184 Es waren Stunden knochenharter Arbeit nötig, um sich durch den schweren Lehm des Hangs zu graben, bis sich auf einer Seite ein hoher Erdwall erhob und vor ihnen eine dunkle Öffnung gähnte. Dann traf Isabeaus verzweifelt geschwungener Spaten auf etwas Hölzernes. »Er ist hier, er ist hier!«, schrie sie. Dide stützte sich keuchend, zerzaust und verängstigt auf seine Schaufel. »Also ist es an der Zeit«, sagte er. Sie schaute zu ihm hoch und nickte. Man konnte in der Dunkelheit unmöglich ihre Miene erkennen. Ihre Augen waren schattige Höhlungen, ihr Haar wogte heftig im zunehmenden Wind. »Zeit, ihn wiederzuerwecken!«, rief sie. »Zeit für mich zu sterben?« Sie wandte sich von ihm ab und blickte auf den Sarg hinab. »Ja«, antwortete sie leise. »Denn er muss Blut haben, wenn er wieder leben soll.« ZU STAUB ZERFALLEN Branns Knochen lagen gebrechlich und weiß schimmernd im Mondlicht. Sie hatten ihn auf dem Gras ausgebreitet. Er war ein erbärmliches Etwas, nur feingliedrige Knochen und Staub, mit einem grinsenden Schädel, der nicht echt wirkte, sondern wie etwas, das geschaffen wurde, um kleine Kinder zu erschrecken. »Erinnerst du dich an den Zauber?«, fragte Dide Isabeau. »An jedes Wort«, antwortete sie und riss ihren Blick von den Knochen los, um Dide anzusehen. Sie zitterte am ganzen Körper. Dide zog seinen Dolch und reichte ihn ihr mit dem Heft voran. »Dide...«, sagte sie. »Bis bald«, sagte er und bemühte sich zu lächeln. 184
Sie keuchte, lachte und nahm den Dolch entgegen. Er ragte aus ihrer Hand hervor, scharf, grausam und glänzend. »Du musst dich hinlegen«, sagte sie. »Auf ihn. Hüfte an Hüfte, Brust an Brust, Auge an Auge.« Nun wirkte Dide zum ersten Mal wahrhaft beunruhigt. Er blickte auf die Knochen hinab. »Tatsächlich?« Isabeau nickte. »In Ordnung«, sagte er und ließ sich langsam nieder. »Nackt«, sagte Isabeau. Dide hielt drei Herzschläge lang inne und zog sich dann mit grimmiger Miene aus. Er war ein gut gebauter Mann, mit breiten Schultern, schmalen Hüften und glatter, brauner Haut, die mit einem von der Brust bis zum dichten Haar an seinen Lenden abwärtsführenden Pfeil dunklen Haars gekennzeichnet war. Sein langes Haar war mit einem Lederband zurückgebunden. Isabeau trat vor und strich mit einer Hand seinen Arm hinauf bis zur Schulter. Sie nahm seinen Pferdeschwanz in die Hand und schnitt ihn mit einem einzigen Streich ihres Messers ab. Dide zuckte unkontrolliert und biss dann die Zähne zusammen; er zwang sich, Ruhe zu bewahren. Ihre Blicke begegneten sich. Er stand nackt und verletzlich da. Sein Haar fiel im Bogen über sein Gesicht. Isabeau stand vor ihm, seinen Pferdeschwanz in der einen und das Messer in der anderen Hand. »Leg dich hin«, sagte sie. Er gehorchte. Er zitterte. Sie kniete sich neben ihn und benutzte sein Haar als Fessel, um seine Handgelenke an die beiden dünnen Knochen der Handgelenke des Skeletts zu binden. Er lag nun ausgestreckt auf den harten, weißen Knochen und bemühte sich, seinen Körper wie ein Liebender an ihn anzupassen, Auge an Auge, Brust an Brust, Hüfte an Hüfte. Er war zu groß, und seine langen, hellen Füße erstreckten sich über die des Skeletts hinaus, die Sohlen dem Sternenhim 185
mel zugewandt. Er sah zu Isabeau hoch. Das Mondlicht raubte seinem Gesicht alle Farbe. Seine Augen waren in Schatten versunken. »Ich vertraue dir«, sagte er, wobei seine Stimme sehr schwach klang und von Angst erfüllt war. »Wirklich. Ich vertraue dir, Beau.« Isabeau schluchzte atemlos. Sie beugte sich herab, wölbte sehr zärtlich eine Hand um Dides Kopf und schnitt ihm dann die Kehle durch. Er keuchte. Blut sprudelte in dem zweiten Mund auf, den Isabeau ihm geschnitten hatte, von Ohr zu Ohr, breit wie ein Clownslächeln. Mehrere lange, schreckliche Sekunden rang er darum zu atmen, zu entkommen, sich zu befreien. Isabeau hielt das Messer tief, damit das schwarze Blut in das verstörte Grinsen des Schädels tropfte, und intonierte, sehr zögernd und unter Schluchzen, die Worte des Zaubers der Wiedererweckung. Donncan, die Celestine und die Hexen standen wie gebannt um die beiden Liebenden und die Knochen des Zauberers herum und sahen höchst schockiert und fasziniert zu, wie Dides Körper rasch verweste und zu Staub und Asche zerfiel. Während er sich vor ihren Augen auflöste, begann Fleisch über die Knochen des Skeletts zu wachsen - rotes, rohes Fleisch sowie blaue, pochende Adern, weiße, feste Muskeln und ein zartes Maßwerk von Nerven und Kapillaren, alle schließlich in durchscheinende Hautschleier gehüllt. »Es ist nichts geblieben, was man heilen könnte«, flüsterte Ghislaine. »Wir können ihn nicht zurückbringen, weil überhaupt nichts von ihm übrig ist.« Es stimmte. Dides Fleisch war zu Staub zerfallen, und an seiner Stelle lag Brann der Rabe, mit einer Fessel aus schwarzem Haar an ein Gerippe aus blanken Knochen gebunden. Brann schüttelte die Knochen ungeduldig von sich ab, und sie 186 fielen kreuz und quer auf den Boden. Dides Schädel wankte und rollte beiseite, starrte leer in die Dunkelheit. Der Zauberer
streckte sich träge, streifte dann die Fessel aus Haar ab, drehte sich um und erhob sich. Er hatte, wie Dide, dunkle Augen und dunkles Haar, aber damit endete auch jegliche Ähnlichkeit. Brann der Rabe war weitaus älter und schwerer, mit grauen Strähnen an den Schläfen und tiefen Furchen der Zügellosigkeit, die seine Mundwinkel herabzogen. Isabeau stand noch immer ganz in der Nähe, während das Messer nun in ihrer schlaffen Hand herabhing. Ihre Augen waren schreckgeweitet, unfähig zu glauben, dass von Dide nur ein Gewirr von Knochen übrig geblieben war. Brann lächelte ihr zu. »Ihr seid eine Schönheit«, sagte er, »wenn auch ein wenig zu alt für meinen Geschmack. Egal. Gut gemacht.« Er streckte seine große, lebendige Hand aus, zog Isabeau zu sich heran und küsste sie auf den Mund. Isabeau stand einen Moment widerstandslos da, und dann blitzte plötzlich ihr Messer auf. Brann lachte und wich aus. »Wie ungezogen«, sagte er und nahm ihr das Messer ab. »Ihr braucht bessere Listen als diese, um mich zu töten.« Dann hob er das Messer an, um seine glänzende Klinge abzulecken. »Mmmm, schmackhaft.« Sie waren vor Schock und Entsetzen alle so benommen, dass sie sich nicht regen konnten. Brann betrachtete sie mit höhnischem Blick Er konnte im hellen Mondlicht fast so gut sehen wie am Tag, obwohl alles der Farbe beraubt war. »Celestine. Ausgezeichnet. Ihr seid in der Tat eine würdige Akoluthin, meine Liebe. Kommt, heilt mich, Uile-bheistean!« Brann trat drei Schritte auf Wolkenschatten und Donnerlilie zu, den Dolch drohend erhoben. Donncan gelang es, den Blick zu senken, und er sah drei Schnitte in Branns Haut, aus denen Blut hervorsickerte. Weiter konnte er sich nicht bewegen. Er erkannte jäh, dass seine Trägheit durch mehr bewirkt wurde als 187 nur durch den Schock, das Entsetzen und die Furcht. Er war am Platz erstarrt, und dem Ausdruck auf den Gesichtern seiner Gefährten nach zu urteilen, konnten auch sie keinen Finger rühren.
»Heilt mich, Uile-bheistean ich habe nur wenige Minuten Zeit, bevor die Blutmagie versiegt. Kommt, legt Eure übel riechenden Hände an mich und heilt diese Schnitte an meiner Seite, sonst werde ich dieser Kleinen die Augen ausstechen, alle drei.« Er hatte plötzlich einen Arm um Donnerlilie gelegt und seine Messerspitze auf ihr kristallines Auge gerichtet. Wolkenschatten schrie vor Qual und Entsetzen laut auf, das erste Mal, dass Donncan sie jemals einen Laut äußern hörte, der mehr als ein leises Summen in ihrer Kehle war. Donnerlilie wollte zurückweichen, aber auch sie konnte sich nicht bewegen, denn die scharfe Spitze des Dolches war nur um Haaresbreite davon entfernt, ihr das Auge auszustechen. »Ihr, Celestine, legt Eure Hände auf mich und heilt mich, sonst wird Eure Tochter, bei den dunklen Teufeln der Hölle, blind sein!« Wolkenschatten hob die zitternden Hände und legte sie auf Branns nackte Haut. Die blutenden Dolchschnitte in seiner Brust und seinem Bauch begannen, sich sofort zu schließen. Er war innerhalb von Sekunden geheilt. Brann lachte laut. »Also lebe ich wieder! Putzmunter! Und es war ein Mann im besten Alter, dessen Blut mich wiedererweckt hat, ein Mann der Macht. Ich fühle mich wieder jung, jung und kräftig.« Er blickte auf Donnerlilie hinab, die in seiner Umarmung erschauderte, da der Dolch noch immer über ihrem Auge schwebte. Brann lachte und gab vor, seinen Griff zu verändern, zum Schlag bereit. Donnerlilie schluchzte und zuckte zurück, Wolkenschatten schrie laut auf, und Sturmreiter stieß in seiner Kehle ein langes, gutturales Stöhnen aus. Brann betrachtete sie nachdenklich lächelnd. »Es wäre es viel 188 leicht wert, Fleisch von Uile-bheistean zu ertragen, um die Qual auf Euren Gesichtern zu sehen«, sann er. »Aber nein! Zartes menschliches Fleisch für mich heute Nacht. Ihr!« Er sah Ghislaine an. »Ihr seid eine Hübsche. Kommt, kniet Euch vor mich, Liebchen, und erfreut mich. Das würde mir gefallen.«
Ghislaine regte sich nicht, und er winkte mit einem Finger. Sie bewegte sich Schritt für Schritt unbeholfen zuckend vorwärts und sank vor ihm auf die Knie. Ihre Augen waren geweitet und voller Angst, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Innerlich wand sich Donncan und schrie. Dides Dolche hingen an seinem Gürtel. Er hätte vorwärtsspringen und sie in Branns schwarzes Herz versenken sollen, als es nur ein paar Mal geschlagen hatte. Er sehnte sich danach, abwärtszutasten, sie zu ergreifen und sie immer wieder in Branns Brust zu stoßen. Aber er konnte nicht einmal einen Finger rühren. Wie konnten sie so dumm sein?, dachte Donncan. Sie wussten, dass Brann ein mächtiger Zauberer war, der stets Vergnügen daran hatte, anderen seinen Willen aufzuzwingen. Er hatte Erfahrung in der Kunst des Zwanges, während die Hexen des heutigen Hexensabbats keine Verteidigungsmöglichkeiten gegen einen solchen Angriff hatten, da sie niemals zuvor gezwungen waren, sich einer solchen Situation zu stellen. Die Einzige, die genug Macht gehabt hätte, ihm standhalten zu können, war Isabeau, aber ihr Wille war von seinem Willen schon versklavt gewesen, bevor er überhaupt wiedererweckt wurde. Ghislaine kämpfte verzweifelt gegen Branns Willen an, wandte das Gesicht ab, grub ihre Finger in dem Versuch in die Erde, sie daran zu hindern, sich zu heben und um den angeschwollenen Penis des Mannes zu schließen, der nackt und lächelnd über ihr stand. Er lachte nur, und ihre Hände zuckten hoch, ihr Kopf fuhr herum, und ihr Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei. Brann zwängte sich gewaltsam in ihren Mund. Cailean atmete tief und keuchend ein und äußerte dann nur 189 ein einziges Wort, wobei seine Stimme vor Anstrengung heiser klang. »Dob!«, sagte er. Der Schattenhund schoss wie ein schwarzer Blitz vorwärts. Er sprang unmittelbar über Ghislaines gebeugten Kopf hinweg und schloss seine wuchtigen Kiefer um die Kehle des Zauberers. Brann fiel rückwärts, sein Schrei verstummte jäh. Ghislaine warf sich hustend und würgend herum, Cailean kroch zu ihr und zog
sie in seine Arme. Sie barg ihr Gesicht zitternd vor Schluchzen an seiner Schulter. Das einzige Geräusch war das aufreißenden Fleisches. »Genug, Dob«, sagte Cailean sanft. Dobhailen hob seine vor Blut triefenden Kiefer und wandte sich Cailean zu - er schien zu lächeln. Brann lag still unter ihm, seine Kehle war eine blutige Masse. Die Finger einer Hand zuckten. Als Donncan sich wieder bewegen konnte, atmete er keuchend ein, stöhnte laut und schlug die Hände vors Gesicht. Um ihn herum taten es ihm alle seine Gefährten gleich. Donnerlilie barg ihr Gesicht schluchzend an Sturmreiters Brust. Auch Wolkenschatten wurde von Sturmreiter fest in den Arm genommen. Cailean hob Ghislaines Gesicht an und küsste sie, und sie schlang die Arme um seinen Hals, erwiderte seinen Kuss und sagte dann schluchzend: »Ich danke dir, ich danke dir, ich danke dir.« Isabeau hob ihre blutbefleckten Hände und starrte stumm und zitternd darauf, unfähig zu atmen. »Dide«, flüsterte sie. »Dide.« »Wir müssen ihn zurückholen«, rief Donncan und rappelte sich hoch. »Wie? Wie?« »Der Zauber der Wiedererweckung. Rasch, rasch. Sammelt seine Knochen auf. Ist noch etwas von ihm übrig? Irgendwelches Blut? Irgendwelcher Staub? Sammelt alles zusammen. Wir müssen es schaffen.« 190 Isabeau sank im Mondlicht auf die Knie, nahm die kargen Überreste ihres Geliebten auf, streckte die Hand nach seinem Schädel aus und klemmte ihn sich unter den Arm. »Ist es zu spät? Ist es zu spät?«, weinte sie. Donncan fand das Messer, dessen Klinge mit Blut verschmiert war, das allmählich gerann. Dann fand er das Band aus schwarzem Haar, und sein Herz tat vor Aufregung einen Satz. Er legte Dides Skelett auf Branns Körper und band ihre Handgelenke zusammen. Branns Lebensblut war kräftig aus ihm herausgeströmt, aber jetzt sickerte es nur noch, während der Zauberer um einen letzten Atemzug rang. Donncan stieß das noch von Dides
Blut gerötete Messer in die pulsierende Wunde an Branns Kehle und schlitzte sie von einer Seite zur anderen auf, wobei er leise, rasch und wild die Worte des Zaubers der Wiedererweckung intonierte. Er erinnerte sich gut daran. Er glaubte, er würde sie niemals vergessen. Branns Körper begann zu verwesen, erhob sich dann und drehte sich wie ein kleiner Wirbelwind roten Staubs, der vom Wind aufgenommen wird. Der Wirbelwind fand Dides Knochen und legte sich darum, gestaltete erneut seinen Körper in zarten Schichten aus Fleisch, Sehnen und Haut. Auf wundersame Weise verschwand Brann, und Dide materialisierte sich auf dem Bett seiner Knochen. Er atmete tief und zitternd ein. Seine Augen öffneten sich. Er hob verzweifelt eine Hand, und sie sahen, dass seine Kehle noch immer weit aufgeschlitzt war. Donnerlilie und Wolkenschatten wankten vorwärts und heulten in ihren Kehlen. Sie sanken gemeinsam auf die Knie, zu beiden Seiten seines Kopfes, und legten die Hände um seine Kehle, die Finger fest um die schreckliche Wunde gelegt, summend und weinend. Die Luft pulsierte vor Magie. Die Haare auf Donncans Armen richteten sich auf, und ein Schauder lief sein Rückgrat hinab. Dann setzten sich die Celestine zurück, lächelten unter Trä 191 nen und hoben ihre blutbefleckten Hände an. Dide setzte sich auf und schob Branns Knochen heftig fort. Isabeau sank neben ihm auf die Knie, umarmte ihn leidenschaftlich und stieß weinend hervor: »Du lebst, du lebst. sei Dank, Eà sei Dank!« Dide schob sie zur Seite. Er runzelte die Stirn, seine Augen waren geweitet und sehr schwarz. Er hob eine Hand, um die Narbe an seiner Kehle zu betasten. Sie war dünn und weiß und verlief von einem Ohr zum anderen. »Dunkel«, sagte er. Seine Stimme klang heiser und schwach. »So dunkel. Wo...« »Alles ist gut«, sagte Isabeau. »Du bist wieder hier bei uns. Du lebst.«
»Ich lebe ... War ich tot?« »Ja. Erinnerst du dich nicht?« »Ich war hier, daran erinnere ich mich, und dann ...«Er sah Isabeau an. »Stimmt. Du hast mich getötet.« »Es tut mir leid, es tut mir leid«, weinte sie. »Aber jetzt ist alles gut. Du bist wieder da, du lebst.« »Woran erinnerst du dich?«, fragte Ghislaine sanft. »Es war dunkel... und die Knochen, ich war an die Knochen gebunden. Und dann ... Beau schnitt mich ... da war Blut...« Dide führte erneut eine Hand an seine Kehle. »Ich spürte ... ein Rauschen. Als ob ich flöge. Ich versuchte, zurückzuschauen, ich wollte sehen ... Aber hinter mir war alles dunkel. Ich konnte nur Licht sehen... vor mir... wie wirbelnde Sterne. Es war so hell...« »Was hast du gesehen?«, drängte Ghislaine ihn nach einigen langen Augenblicken. Er schüttelte den Kopf und betastete erneut seine Narbe. »Meine Augen schmerzten ... Ich konnte, glaube ich, Musik hören ... ein Lied, das meine Mam immer sang ... aber ich kann mich nicht an die Worte erinnern ... und dann sprachen sie zu mir. Sie sagten...« 192 »Sie?« »Wer?« »Was haben sie gesagt?« Alle beugten sich vor und lauschten gespannt. Dide schrak vor ihrem Ungestüm zurück »Ich weiß es nicht... Ich erinnere mich nicht...« »Was geschah dann?«, drängte Cailean. »Ich kam zurück Ich wurde zurückgerissen. Es tat weh. Dann war ich hier.« Während Dide sprach, wurde seine Stimme kräftiger. Er schaute von einem Gesicht zum anderen und merkte, dass sie im Mondlicht alle totenbleich wirkten. »Ich bin so froh«, sagte Isabeau, nahm seine Hand in ihre und hob sie an ihren Mund. »Wir hatten solche Angst, dass wir dich nicht zurückholen könnten.« »Zurück ...«, sagte er ganz leise. »Das war es also? Ich war tot?«
»Ja«, sagte Isabeau und fuhr sich mit der freien Hand übers Gesicht. »Du warst tot, aber jetzt lebst du wieder. Wir haben dich gerettet.« Sie legte ihren Kopf auf Dides Hand. Sie konnte nicht weitersprechen. »Können wir jetzt nach Hause gehen?«, fragte Ghislaine mit einem Zittern in der Stimme. »Wir werden in der Dämmerung aufbrechen«, antwortete Cailean. »Ich bezweifle nicht, dass es das Beste wäre, wenn wir alle erst einmal eine Woche im Bett verbrächten, aber ich bin bestimmt nicht der Einzige, der es kaum erwarten kann, den Staub dieses Friedhofs von seinen Füßen zu schütteln.« »Oh, ja!«, stimmte Donncan ihm zu. »Wir werden nach Rhyssmadill gehen. Es ist nur ein kurzer Weg vom Grabmal der Raben bis zum Schloss, und die dortige Dienerschaft kann uns etwas zu essen geben und sich um uns kümmern. Und ich werde sofort eine Nachricht nach Lucescere schicken können.« Zu Bronwen, dachte er. Zu meiner Frau ... »Wir müssen uns 193 die Zeit sehr sorgfältig einteilen«, sagte Cailean und blickte zu Sturmreiter, der ernst nickte. »Es wäre vielleicht am einfachsten, in der Nacht des Vollmondes zurückzukehren, der zwei Wochen nach unserem Aufbruch eintritt. So können wir sicher sein, dass wir nicht in uns selbst hineinlaufen.« Ghislaine erschauderte. »Das wäre entsetzlich«, sagte sie mit leiser, angespannter Stimme. Es ist eine Unmöglichkeit, sagte Sturmreiter. Das Universum könnte eine solche Verkehrung nicht dulden. »Was würde geschehen?«, fragte Cailean, während lebhaftes Interesse in seinen Augen aufblitzte. Sturmreiter schüttelte den Kopf und zuckte ausdrucksvoll die Achseln. Der Mittelpunkt würde nicht standhalten, sagte Wolkenschatten. Das Universum würde zersplittern. Wir würden uns in einer anderen Welt, in einem anderen Universum wiederfinden, wie unseres und doch nicht unseres. »Ein anderes Universum?«
Sie nickte. Das sagen unsere Lieder, und sie sind weise. »Würden wir es merken?«, dachte Cailean laut. »Oder würden wir in einem anderen Eileanan umherwandern, ohne zu erkennen, dass wir die Welt gespalten haben? Ich frage mich, wie oft das bereits geschehen ist? Sind wir die ursprüngliche Welt oder nur die Nachbildung? Und wenn dem so ist, in wie vielen Welten gibt es mich, und lebe ich ein anderes Leben? Ich frage mich, wie viele von mir es gibt? Und wie viele Ghislaines?« »Nicht!«, rief Ghislaine. »Nur eine«, sagte Cailean mit sanfterem Blick. »Es könnte immer nur eine Ghislaine geben.« Sie waren sehr hoch gewachsen, der junge Zauberer und die Zauberin. Ihre Blicke begegneten sich, und Ghislaines Wangen erröteten. In all den Jahren, seit Donncan sie kannte, hatte er die Traumwandlerin niemals zuvor erröten sehen. 194 »All dies Umherreisen in der Zeit hat uns erschöpft«, sagte er. »Sturmreiter hat Recht. Es ist eine Verkehrung. Ich bin froh, dass wir jetzt nach Hause ziehen können.« »Alles, was ich will, ist ein ausgiebiges Bad, ein Feuer und ein großes Bett mit sauberen Laken«, sagte Ghislaine. »Klingt gut«, sagte Cailean, und sie schaute zu ihm und lächelte auf eine Art, dass nun er errötete. »Wir müssen jegliche Hinweise darauf auslöschen, dass wir hier waren«, sagte Donncan seufzend und blickte auf das Gewirr von Knochen und Erde und Werkzeugen hinab. »Wir sollten besser gleich damit anfangen, dann werde ich die Werkzeuge zu dem Bauernhof zurückbringen, und wir werden unser Bestes tun, um das Grab wieder unkenntlich zu machen. Tantchen Beau, glaubst du, du bist kräftig genug, um das Gras und das Unkraut die Erde wieder überwuchern zu lassen?« »Ich denke schon«, sagte Isabeau mit zitterndem Lächeln. »Ausgezeichnet. Dann sollten wir anfangen.« Sie warfen Branns Knochen einfach wieder in das Loch und seinen Sarg obenauf, und dann machten sich alle eifrig daran, ihn wieder tief unter der Erde zu begraben. Dobhailen erwies
sich erneut als ungeheuer nützlich, da er die Erde freudig in das Loch zurückscharrte. Isabeau erhob sich mit erschöpftem Seufzen, aber Ghislaine hielt sie mit einer Hand auf ihrem Arm auf. »Du bist erschöpft«, sagte sie liebevoll. »Diese letzten Wochen waren die reine Hölle. Geh mit Dide, leg dich hin und ruh dich aus. Es sind genug Hände hier, die die Arbeit übernehmen können.« Isabeau sah sie dankbar an. »Ich danke dir«, sagte sie und nahm Dides Hand, und zusammen legten sie sich zum letzten Mal im Schutz der Tanne nieder, wo das Mondlicht durch die Blätter und Zweige schien und für sie einen Baldachin aus gesprenkeltem Silber schuf. 195 »Ich dachte, ich hätte dich verloren«, murmelte Isabeau. »Ich dachte, du wärst tot. Oh Dide! Es tut mir so leid, so leid!« Er schwieg und schaute durch das Muster der Blätter und Zweige aufwärts. »Wirst du mir jemals verzeihen können?«, fragte sie. »Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich. Dann herrschte Schweigen zwischen ihnen. »Ich weiß, ich bin nicht fair«, sagte er. »Ich weiß, dass es meine Idee war, mich für dich zu opfern. Aber ... aber ...« »Es tut mir so leid«, flüsterte sie. »Ich habe mein Bestes getan, Dide. Ich habe gekämpft und gekämpft, aber der Zauber ... er war zu stark Er hat mich fast gebrochen.« »Ich denke, er hat mich gebrochen«, sagte Dide leise. Sie nahm seine Hand und küsste sie glutvoll. »Nein«, flüsterte sie. »Du bist der Stärkste von uns allen. Das darfst du nicht sagen. Du darfst Brann keinen Sieg über uns gewähren. Wir haben zusammengehalten, und wir haben ihn besiegt, und er ist wieder tot und in seinem Grab, und du lebst. Du lebst, Dide!« »Ich lebe«, wiederholte er und schaute in die weite und unerbittliche Schönheit des Nachthimmels hinauf. »Ja, ich lebe«, sagte er, streckte Arme und Beine und lächelte plötzlich in den Himmel hinauf. »Welch ein Abenteuer!«, rief er. »Bei Eäs
Augen! Ich bin gestorben, und ich lebe wieder. Wie viele andere Menschen können das sagen?« »Niemand, den ich kenne«, erwiderte Isabeau und schmiegte ihren Körper an seinen, denn sie war plötzlich so unendlich müde, dass sie glaubte, ohnmächtig werden zu können. Als sie so dort lagen, seine Schulter unter ihrer Wange, sein Arm um ihre Taille, beide in die Ewigkeit blickend, glaubte Isabeau, die Drehung der Erde unter sich spüren zu können, und sie war plötzlich überglücklich. »Ich lebe«, flüsterte Dide. 196 KRIECHENDE UHRZEIGER »Und so wie Räder in der Uhr Gefüge Sich so bewegen, dass, wer aufmerkt, glaubt, Das erste stehe still, das letzte fliege...« DANTE ALIGHIERI, Göttliche Komödie, 1314-1320 JAGD AUF DEN LAIRD VON FETTERCAIRN Rhiannon flog gerade durch einen kalten, rauen, regnerischen Wind, wobei sie ihre tauben Hände in Schwarzdorns Mähne verkrampft hatte, als sie vor sich etwas sah, was sie verwundert und ein wenig verängstigt das Gesicht anheben ließ. Es war eine flammende Linie silberfarbenen Lichts, mit sicherer Hand über den Horizont gezogen. Sie wirkte an der Unterseite des dunklen Himmels wie ein Spalt, aus dem sich Quecksilber ergoss, oder wie ein Spalt unter einem schweren, grauen Vorhang, der einen Blick auf ein aus reinem Licht gestaltetes Reich erlaubte. Rhiannon hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Es ließ ihr Herz schneller und froher schlagen und ihre Augen sich weiten. Schwarzdorn, die ihren jäh beschleunigten Puls spürte, hob den Kopf und wieherte laut. Rhiannon beruhigte sie mit einer Hand auf dem Hals, während sie sich gleichzeitig vorbeugte und das Pferd schneller antrieb, um sie näher an diese wundersame Linie schimmernden Lichts heranzubringen. Sie waren an diesem Tag bereits weit geflogen. Während der vergangenen Woche waren sie ständig in Bewegung gewesen, als wären sie ewig geflogen, ohne jemals den Boden zu berühren. Die Wälder, über die sie hinwegzogen, sahen alle gleich aus, und
gleichgültig wie sehr Rhiannon sich und das Pferd antrieb, konnte sie den Laird von Fettercairn doch niemals einholen. Er schien es untrüglich zu wissen, wenn sie in der Nähe war, und Rhiannon war mehr als einmal von einem jähen Pfeilhagel aus dem dichten Wald unter ihr überrascht worden. Um sie so 197 unvorbereitet zu erwischen, mussten die Bogenschützen schon in den Baumwipfeln verborgen auf sie gewartet haben, und Rhiannon war gezwungen, vorsichtiger zu sein, aus Angst, dass ihre geliebte geflügelte Stute verletzt werden könnte. Finn und Jay war es ebenfalls schwergefallen, auch nur in die Nähe des Laird von Fettercairn zu gelangen. Ihr Vorankommen wurde vom beständig schlechten Wetter behindert. Regen, Nebel und Hagel setzten ihnen ohne Unterlass zu, weshalb sie alle davon überzeugt waren, dass Laird Malvern das Wetter manipulierte, um seine Verfolger abzuschütteln. »Er kann den Wind pfeifen, das ist sicher«, hatte Finn düster erklärt, »das haben wir am See von Lucescere gesehen. Warum also nicht auch Nebel und Regen?« Rhiannon hatte ihnen von den unnatürlichen Stürmen erzählt, die das Tal von Fetterness heimgesucht hatten, und dass Laird Malvern früher ein Hexenlehrling im Turm der Raben gewesen war, wo er wohl die Grundlagen zur Kontrolle der Einen Macht erlernt hatte. »Unsere einzige Chance besteht darin, vor ihn zu gelangen und ihn auf der Straße zu stellen«, hatte Jay gesagt. »Glaubt Ihr, Ihr könnt ihn im Flug überholen, Rhiannon?« »Natürlich«, hatte sie geantwortet. »Schwarzdorn ist so schnell wie der Wind!« Also waren Rhiannon und Schwarzdorn so rasch wie möglich durch den Sturm geflogen, hatten weit voraus besseres Wetter vorgefunden sowie Spuren von Laird Malvern. Mit dem Brief der Banrigh und genauen Instruktionen von Finn und Jay ausgerüstet, hatte Rhiannon die Männer eines kleinen Bergdorfes namens Sligsachen aufgescheucht. Sie hatten eine feste Sperre
auf der Straße errichtet, und mit Bogen und Pfeilen, Mistgabeln und schweren Stäben bewaffnete Männer bewachten die Stelle. Laird Malverns Leute hatten, trotz aller Befehle anzuhalten, einfach auf ihr Gespann aus sechs großen Zugpferden einge 198 peitscht und die Sperre durchbrochen, wobei sie einen der Ortsansässigen umgestoßen und schwer verletzt hatten. Gerard, der Bibliothekar des Laird, wurde erschossen und stürzte von dem Rollwagen, dessen eisengebundene Räder über ihn hinwegrollten und ihn in den Boden drückten. Die Bogenschützen schworen, dass mindestens drei weitere Pfeile ihr Ziel gefunden hatten, wenn auch offensichtlich nicht mit tödlichem Ausgang. Es machte keinen Unterschied. Der Laird galoppierte weiter, und Rhiannon fand den Rollwagen einige Meilen weiter verlassen vor sowie Anzeichen dafür, dass die Gruppe des Laird auf einem Ziegenpfad in die Berge gezogen war. Auch die sechs Zugpferde waren zurückgelassen worden, ohne Futter oder Wasser, und ihre breiten Schultern und Rücken waren von den wiederholten Peitschenhieben grausam zerfleischt. Rhiannon tat für sie, was sie konnte, fand einen Fluss, aus dem sie trinken konnten und in dem sie ihre Schnitte auswaschen und ein wenig des Allheilbalsams auftragen konnte, den sie in ihrem Bündel trug. Sie benutzte ihren letzten Hafer dazu, einen Porridge zuzubereiten, den sie sich alle teilten, und dann zeigte sie ihnen den Weg nach Sligsachen zurück Sie war sich sicher, dass es in dem Dorf jemanden gäbe, der Verwendung für sie hätte und sie füttern und für sie sorgen würde. Die Zugpferde liefen langsam und erschöpft voran, und sie seufzte, denn sie spürte dieselbe schwere Müdigkeit auf ihren Knochen lasten. Schwarzdorn wollte nicht mehr fliegen, und Rhiannon wollte keinerlei Spuren übersehen, um zu wissen, in welche Richtung der Laird von Fettercairn und seine Gruppe zogen. Also führte sie ihr erschöpftes Pferd in langsamer Gangart den steilen Pfad hinauf, und ihr Elfenblauvogel flog durch die sie überwölbenden Bäume voraus und fing mit dem Schnabel Käfer.
Als das Licht zu früher Dämmerung verblasste, fand Rhiannon seitlich des Ziegenpfades einen Toten und erkannte in ihm den Kammerdiener des Laird, Herbert. Sie hatten sich nicht einmal 199 die Zeit genommen, ihn ordentlich hinzulegen oder sein Gesicht zu bedecken. Er lag seitlich des Weges, wie er hingestürzt war, wobei ein Pfeil noch aus seinem Rücken ragte. Rhiannon mochte keine Toten. Sie ließ ihn so hegen und sagte sich, die flehende Stimme in ihren Ohren sei nur ihre Einbildung. Sie hatte entlang des Weges viele Hinweise auf Owein und Olwynne gefunden - einen abgelegten Silberschuh, einige lange, rote Federn aus den Schwingen des Prionnsa, die sich in den Büschen verfangen hatten, Fetzen ihrer edlen Satinkleidung, einen blutigen Fußabdruck auf einem Trittstein über einen Fluss. Sie war erleichtert, dass sie noch lebten, da sie befürchtet hatte, der Laird von Fettercairn würde ihrer beharrlichen Verfolgung überdrüssig werden und sie sofort töten. Zwei Tage später führte sie der Weg auf eine breitere Straße mit Meilensteinen, auf denen ein »R« eingemeißelt war. Hier fand sie erneute Beweise für die äußerste Rücksichtslosigkeit des Laird. Die Schurken waren offensichtlich auf einen Hausierer getroffen, denn Rhiannon fand seinen Leichnam seitlich des Weges mitten in ein Durcheinander von Töpfen, Pfannen, Spaten, Tuchballen und sich lösenden Bandrollen geworfen sowie den armen, erbärmlichen Leichnam eines kleinen schwarzweißen Hundes. Obwohl ihr Magen vor Abscheu rebellierte, richtete Rhiannon die Glieder des Hausierers aus, bedeckte ihn mit einem Stück edlen, roten Köpers und legte den kleinen Hund neben ihn. Mehr Zeit hatte sie nicht. Nun war sie noch entschlossener, ihren Feind einzuholen und einer Art Gerechtigkeit zuzuführen. Der Tod des kleinen Hundes hatte sie am meisten erzürnt. Er war so unnötig. Sie flog weiter und holte den Laird an diesem Nachmittag ein. Der gestohlene Wohnwagen des Hausierers wurde von einer dicken, gefleckten Ponystute gezogen, die niemals in ihrem Leben den Hieb einer Peitsche zu spüren bekommen hatte. Jetzt galop-
pierte sie um ihr Leben, während Kennard ihr die Peitsche um die Ohren hieb und der Wohnwagen hinter ihnen wie verrückt 200 hüpfte. Dedrie und Piers saßen neben Kennard auf dem Sitz und hielten sich so gut wie möglich fest, während sich Jem und Ballard an die Rückseite klammerten. Von den Übrigen war nichts zu sehen. Rhiannon konnte nur vermuten, dass sie sich alle in dem Wohnwagen befanden. Sorgfältig darauf achtend, nicht gesehen zu werden, wandte sich Rhiannon ab und drängte Schwarzdorn zu höherer Geschwindigkeit. So müde sie auch war, reagierte die Stute großartig, und Rhiannon gelangte an diesem Abend zu einer recht großen Stadt namens Mullrannoch, Laird Malvern ein oder zwei Stunden voraus. Sie schickte ihren Elfenblauvogel mit einer Nachricht zu Finn und Jay, um ihnen mitzuteilen, wo sie war, und begab sich dann auf die Suche nach dem Stadtvogt. Er stimmte zu, die Straße zu sperren, und fand auch Leute, welche die Sperre bereitwillig bewachten. Sie brauchten den größten Teil des Nachmittags, um die Sperre zu errichten, da Rhiannon beschlossen hatte, sie dieses Mal stabil genug für jeglichen Angriff zu bauen. Dann warteten sie alle in der regnerischen Dunkelheit und lauschten auf Hufgeräusche. Die Nacht schlich dahin, ohne dass der Wohnwagen irgendeines Hausierers oder auch nur irgendein anderer Reisender in Sichtweite kam. Die Männer waren verständlicherweise erbost darüber, dass sie die Nacht zitternd in einem unangenehmen, nassen Wind verbringen mussten, aber Rhiannon bat sie, weiterhin zu wachen. In der fahlen, grauen Dämmerung hörten sie schließlich Hufe schnell herankommen. Der Vogt hob seine Pistole an und rief entschlossen: »Halt! Halt, sage ich, im Namen der Banrigh!« Die Hufe kamen klappernd zum Stillstand, und dann hörte Rhiannon zu ihrer Bestürzung ihren Namen rufen. Sie hatten Finn und Jay und die Soldaten aufgehalten, ganz durchnässt und erschöpft und ebenso schlechter Laune wie der Vogt. Irgendwie war der Laird während der Nacht entkommen. Alle waren so enttäuscht und erschöpft, dass sie sich ins Dorf
201 gasthaus zurückzogen, um am Kamin mit Whiskey versetzten Porridge und Becher dampfenden Tees zu sich zu nehmen. Finn die Katze fühlte sich eindeutig unwohl, verbrachte ungefähr zehn Minuten mit lautem Erbrechen im Abort, saß dann griesgrämig da, den Becher in den Händen bergend, und fauchte ihren Ehemann an, wann immer er den Mund aufmachte. Die schwarze Elfenkatze saß durchnässt auf dem Kamin, die Pinselohren flach an den Kopf angelegt, leckte sich trocken und sah durch geschlitzte Augen jedermann an, der töricht genug war zu versuchen, sich an dem hastig geschürten Feuer zu wärmen. Rhiannon achtete sorgfältig darauf, dass ihr Elfenblauvogel auf ihrer Schulter blieb. Die übellaunige Elfenkatze hatte sich bereits an den kleinen Vogel herangepirscht, als er im Raum umherflatterte, und es war ihr gelungen, ein Maul voll blauer Schwanzfedern zu erwischen. Rhiannon hatte seit drei Tagen kaum geschlafen, und der Boden schwankte unter ihren Füßen. Jay mietete ruhig je ein Zimmer für sie und seine Frau, die ihn verfluchte, als er darauf bestand, sie hinauf zu Bett zu bringen, aber letztendlich doch nur allzu bereitwillig mitging. Rhiannon konnte es ihr nicht vorwerfen. Der Gedanke daran, sich in ein warmes Bett zu kuscheln und dem die Fenster hinabströmenden Regen zu lauschen, klang auch für sie nach Glückseligkeit. Schwarzdorn hatte es im Stall recht behaglich, da zwei junge Stallburschen von dem Privileg überwältigt waren, für sie sorgen zu dürfen, und Rhiannon war einfach zu müde und entmutigt, um auch nur zu erwägen, herausfinden zu wollen, wie Laird Malvern an ihnen vorübergelangt war. Der Vogt kam in der elenden Dämmerung dieses Abends, um es ihnen zu sagen. Rhiannon und Finn hatten beide den größten Teil des Tages verschlafen und frühstückten gerade vor der Wärme des Feuers im Gemeinschaftsraum. Draußen war es immer noch ungemütlich, da der Hagel auf das alte Gasthaus prasselte und die Wolken dicht über dem Dorf hingen. Der Vogt war vor 201
Selbstherrlichkeit errötet, stand tropfend am Kamin, die Beine gespreizt und eine Hand an seinem Schwert. Die Schurken hatten Pferd und Wohnwagen offensichtlich beim ersten Anblick der Lichter der Stadt zurückgelassen, sagte er unheilverkündend, und hatten das Dorf zu Fuß umgangen. Sie waren schon lange fort. Finn weinte bei dem Gedanken, wie erschöpft der arme Prionnsa und die Banprionnsa sein mussten, bis auf die Haut durchnässt, nach dem quälenden Tempo, das der Laird von Fettercairn während dieser letzten Tage angeschlagen hatte, durch den Schlamm der Felder ziehend. »Oh Eà , gewähre ihnen Kraft«, rief sie, »und vergib mir, dass ich bei ihrer Rettung versagt habe.« »Finn«, sagte Jay beschwichtigend. Finn kreuzte die Arme vor der Brust, während ihre Augen vor Zornestränen glänzten. »Immer der falsche Zeitpunkt!«, rief sie. »Sag das nicht, Liebes. Kein Zeitpunkt ist für uns schlecht, und das Baby kann nichts dafür, dass so übles Wetter herrscht und Laird Malverns Pläne so gut durchdacht waren.« Rhiannon schaute von einem zum anderen. Finn wirkte verärgert. »Dennoch entziehen sie sich uns immer noch! Ich hätte sie längst erwischen müssen. Es ist lächerlich! Über eine Woche auf der Jagd, und sie entwischen mir noch immer ständig. Es ist nicht gut genug.« »Wir werden sie einholen, keine Angst, mein Liebling«, sagte Jay. »Es ist gut, dass wir angehalten haben, um uns auszuruhen und über unseren nächsten Zug nachzudenken, anstatt ständig im Kreis im Land herumzulaufen. Du warst erschöpft und Rhiannon ebenso. Gönnen wir uns noch eine Nacht Ruhe, und morgen früh, wenn wir alle erfrischt sind, werden wir darüber nachdenken, was als Nächstes zu tun ist.« Finn lachte rau und ironisch auf. »Erfrischt? Morgen früh? Ich?« 202 Jay lächelte ihr zu. »Geh zu Bett, Finn. Nach einer guten Nachtruhe wirst du dich besser fühlen, das versprech ich dir. Sie können bei diesem schrecklichen Wetter nicht weit gekommen sein.
Morgen früh werden wir frische Pferde und Einheimische zur Verfügung haben, die uns auf dem Weg beraten können - und Rhiannon, die über uns hinwegfliegen und alles auskundschaften kann. Wir werden sie morgen einholen, das versprech ich dir.« Doch als sie am Morgen aufstanden, erfrischt und begierig aufzubrechen, stellten sie fest, dass jemand in der Nacht jedes Pferd im Dorf gestohlen oder niedergemetzelt hatte, einschließlich Finns und Jays eigenen erschöpften Tieren. Nur Schwarzdorn war dem Massaker entkommen, indem sie ihren mitternächtlichen Angreifer umgestoßen und im Flug entflohen war. Laird Malverns Kutscher, Kennard, wurde bewusstlos im Stroh gefunden und die beiden jungen Stallburschen nahebei mit durchschnittenen Kehlen in ihrem eigenen Blut. Rhiannon war bestürzt. Sie war so erschöpft gewesen, dass sie tief geschlafen hatte und spät am Morgen in derselben Haltung erwacht war, in der sie eingeschlafen war. Sie erinnerte sich aus der Nacht an nichts, an keinen Traum, an kein Geräusch, an kein Gefühl der Unruhe. Alle Soldaten hatten ebenso tief geschlafen, und Finn und Jay und der Gastwirt und seine Frau ebenfalls. Niemand konnte sich des Verdachts erwehren, dass ihr Essen oder ihre Getränke mit etwas versetzt gewesen sein mussten. Sie hatten alle von demselben Gemüseeintopf gegessen, aber wer hätte die Unverfrorenheit besessen, in die Küche des Gasthauses zu schlüpfen und den Eintopf mit einem Betäubungsmittel zu versetzen, wenn dort so viele Leute geschäftig umherliefen? »Dedrie«, sagte Rhiannon düster. »So dreist«, sagte Finn, halbwegs bewundernd. »Ein solches Risiko einzugehen! Was wäre gewesen, wenn Ihr sie gesehen hättet?« 203 »Sie hätte mir wahrscheinlich ebenso die Kehle durchgeschnitten wie jenen armen Burschen«, antwortete Rhiannon. »Ja, warum mussten sie sie töten?«, fragte Finn mit verzogenem Mund. »Ein rascher Schlag auf den Kopf...« »Sie töten anscheinend gerne«, sagte Rhiannon.
Jay war bleich vor Zorn. »Dieser Laird von Fettercairn wird viele Fragen beantworten müssen«, sagte er ruhig. »Wir müssen ihn aufhalten! Es hat vermutlich keinen Zweck, wenn wir jetzt versuchen, ihn einzuholen. Er hat Pferde und wir nicht, und wir nähern uns inzwischen dem Meer. Ein Schiff wird auf ihn warten, wahrscheinlich in einer der Hunderte von kleinen Buchten an der Küste Ravenshaws. Finn, du und ich werden zum Fluss zurückgehen, um nach Dün Gorm zu gelangen. Die Banrigh wird sichergestellt haben, dass Der Königliche Rothirsch bestückt, mit Proviant versorgt und aufbruchsbereit ist. Wir werden sehen, ob wir ihn nicht auf dem offenen Meer erwischen können.« »Wundervoll«, sagte Finn stöhnend. »Eine hübsche Dosis Seekrankheit ist genau das, was ich brauche.« »Du kannst in Dün Gorm bleiben«, erwiderte Jay, der besorgt wirkte. »Zurückbleiben? Nein danke! Ich werde es schon schaffen. Die Seeluft wird mir guttun.« »Nun, dann, wenn du sicher bist...« »Sicher bin ich sicher. Ich werde Nina sofort durch das Kristallsehen kontaktieren und ihr unsere Pläne mitteilen«, sagte Finn. »Sie wird für uns eine Nachricht zum Palast schicken.« »Was ist mit mir?«, fragte Rhiannon. »Sollte ich ihnen nicht hinterher fliegen und nachsehen, wohin sie fahren?« »Ja, das wäre das Beste«, antwortete Jay. »Bringt Euch jedoch nicht in Gefahr, Rhiannon. Das sind grausame, skrupellose Menschen, die nicht zögern würden, Euch vom Himmel zu schießen.« 204 »Sie könnten mich niemals erwischen«, sagte Rhiannon verächtlich und wurde mit einem raschen Nicken Finns belohnt. »So ist es recht, Mädchen«, sagte die Zauberin. »Ich wünschte jedoch, ich hätte die Zeit, Euch das Kristallsehen zu lehren. Es wäre gut, wenn Ihr uns eine Nachricht schicken könntet, wohin der schreckliche Laird eilt.« »Ich kann meinen kleinen Vogel wieder schicken«, sagte Rhiannon.
»Das letzte Mal hat Goblin ihn fast erwischt«, erwiderte Finn. »Er hält ihn für einen wirklich hübschen Happen.« »Es gibt in Rhyssmadill Brieftauben«, sagte Jay. »Schickt eine Nachricht an die dortige Garnison, und sie werden sicherstellen, dass Hauptmann Dillon jegliche Neuigkeiten erfährt. Und Ihr könnt im Gasthaus zum Schwarzen Schaf in Dün Gorm eine Nachricht für uns hinterlassen.« »Ah, das Gasthaus zum Schwarzen Schaf«, sagte Finn mit leuchtenden Augen. »Das beste Ale in Dün Gorm.« »Nicht dass du etwas davon trinken wirst«, erwiderte Jay. Finn seufzte. Rhiannon hatte gemerkt, dass es ihr eher widerstrebte, das Paar in Mullrannoch zurückzulassen und bei dem düsteren Wetter allein davonzufliegen. Sie hatte genug davon, ständig nass und müde zu sein und zu frieren, und die vielen Stunden auf dem Pferderücken hatten ihre Oberschenkel an der Innenseite arg wund gescheuert. Schwarzdorn verließ den warmen, behaglichen Stall auch nicht gerne. Sie hatte den größten Teil der Nacht damit verbracht, im Regen umherzufliegen und zu versuchen, den Pfeilen der Leute des Laird von Fettercairn auszuweichen, sowie ihr Bestes zu tun, um Rhiannon zu wecken, indem sie vor dem Gasthaus schrill wieherte. Sie war äußerst verdrossen darüber, in den Regen hinausgeführt zu werden und wieder das vertraute Gewicht von Rhiannons Satteltaschen auf ihrem Widerrist zu spüren. Rhiannon musste ernsthaft mit ihr re 205 den, bevor sie noch mehr tänzelte, den Kopf aufwarf und heftig schnaubend ihr Missfallen kundtat. Sie flogen und galoppierten, flogen und galoppierten den ganzen Tag und hielten nur hin und wieder inne, um sich auszuruhen und etwas zu essen, sowie um sicherzustellen, dass sie der Spur des Laird von Fettercairn noch immer folgten. Er trieb seine Gruppe hart voran, und es überraschte Rhiannon nicht, sechs Stunden hinter Mullrannoch einen weiteren alten Mann am Straßenrand liegen zu sehen. Es war der alte Harfner, Borden, und er lebte noch, obwohl er grau und krank wirkte. Er blickte
auf, als Schwarzdorn nahe seinem Kopf landete, und sagte keuchend: »Ah, die Thigearn. Ihr werdet schnell fliegen müssen, um sie einzuholen, Mädchen.« »Seid Ihr verletzt?«, fragte sie und kniete sich vorsichtig neben ihn. Er versuchte zu lachen. »Verletzt? Nein. Krank und alt und müde, ja. Ich bin zu alt für all diesen Unsinn.« »Für mich sind tote Männer und Jungen kein Unsinn«, sagte Rhiannon bei dem Gedanken an die beiden jungen, unbeschwerten Stallburschen, die so unnötig gestorben waren, sowie an den alten Hausierer mit seinem kleinen Hund. »Nein«, sagte er. »Nichts davon war Unsinn. Wenn ich nur gewusst hätte...« »Wenn Ihr was gewusst hättet?« Seine wässrigen Augen schwammen in Tränen. »Wenn ich nur gewusst hätte, wo uns die Experimente meines Laird mit dem Tod hinführten. Ich wollte niemals so enden, als Mörder und Entführer und als Verräter an meinem Righ. Ich wünschte ...« Er verfiel in Schweigen. »Warum habt Ihr es getan?«, fragte Rhiannon. »Ihr scheint kein böser Mensch zu sein.« »Er versprach mir, meine Frau wiederzuerwecken«, sagte der alte Mann bekümmert. »Ich wusste nicht, dass es mehr als ein 206 Vierteljahrhundert dauern würde, bis wir erführen wie. Inzwischen war es zu spät. Wir hatten so viele schreckliche Dinge getan, so viele Menschen getötet, so viele Gräber geschändet - alles in unserer Gier, die Toten zurückzubringen. Dann konnten wir nicht mehr aufhören. Wofür wäre das alles gut gewesen, wenn wir aufgehört hätten?« »Um sicherzustellen, dass niemand mehr stürbe?« »Aber inzwischen war auch mein Junge darin verwickelt. Wenn ich meinen Laird verraten hätte, wenn ich versucht hätte zu entkommen, hätte mein Junge darunter leiden müssen. Sie hängen Menschen für Totenbeschwörung, wisst Ihr das?«
»Ja, das weiß ich«, antwortete Rhiannon kalt. »Und hängen, strecken und vierteilen sie für Verrat.« »Ja, das wisst Ihr, nicht wahr? Wie seid Ihr entkommen? Mein Laird war sich sicher, dass sie Euch hängen würden.« Rhiannon dachte an Lewen, der seinen Körper um den Klöppel der Glocke geschlungen hatte, damit sie nicht läutete. Sie lächelte und schwieg. Der alte Mann ließ seinen Kopf wieder auf den eiskalten Boden sinken. »Gebt es auf«, sagte er erschöpft. »Mein Laird kann nicht aufgehalten werden. Was bedeuten Euch diese MacCuinns? Lasst meinen Laird seinen Bruder wiedererwecken und auch seinen kleinen Neffen, und dann wird alles vorbei sein.« »Die Toten sind tot, und das sollten sie auch bleiben«, sagte Rhiannon kurz angebunden. Sie beugte sich herab und hob den alten Mann hoch. So zerbrechlich er auch wirkte, war er dennoch schwer und ungelenk. »Was tut Ihr?«, fragte er überrascht. »Denkt Ihr, ich könnte Euch am Straßenrand sterben lassen?«, fragte sie verärgert. »Aber... aber warum?« »Ihr seid vielleicht ein sehr dummer alter Mann, aber ich kann dennoch nicht einfach weiterfliegen und Euch zurücklassen«, 207 antwortete sie. »Windet Euch nicht so, sonst werde ich Euch noch fallen lassen!« Es gelang ihr, ihn über Schwarzdorns Rücken zu hieven, und dann führte sie die Stute, ihre eigene Dummheit verfluchend, die gefurchte Straße entlang, bis sie die Hütte eines Kleinbauern erreichten. Es schmälerte die königliche Geldbörse noch mehr, dass sie den Kleinbauern und seine Frau bezahlte, damit sie den alten Mann nährten und ihm ein Dach über dem Kopf gewährten. Sie bat sie, eine Nachricht an den örtlichen Vogt zu schicken, damit er kommen und ihn in Gewahrsam nehmen sollte. Inzwischen war es wieder dunkel, und sie nahm von dem Kleinbauern dankbar eine Schale heiße Bohnen und Kartoffeleintopf sowie ein Bett im trockenen Stroh der Scheune an, wo sie
dann an Schwarzdorn geschmiegt schlief, eine Schwinge der Stute über sich gelegt. Sie erhob sich in der Dämmerung, teilte mit dem Kleinbauern und seiner Frau eine Schale Porridge, sah nach Borden dem Harfner und war froh, ihn wohler zu sehen, schlang dann erneut grimmig ihren Umhang um sich und ging in den kalten, feuchten, nebligen Morgen hinaus. »Wenn es nur aufhören würde zu regnen!«, sagte sie zu Schwarzdorn, die ihre Mähne schüttelte und zustimmend wieherte. Der Tag verging weitgehend so wie der vorige, nur dass der Wind frischer und stürmischer war und die Straße wieder durch den Wald führte. Es war nur allzu leicht, der von Laird Malvern und seiner Gruppe hinterlassenen Spur zu folgen, denn ihre Pferde waren nun erschöpft und mussten durch tiefen Schlamm trotten. Rhiannon konnte hoch über den Wald hinwegfliegen und dem Verlauf der schmalen Straße folgen. Schließlich sah sie den schimmernden Lichtstreifen am Horizont zum ersten Mal, viel heller als alles, was sie jemals zuvor gesehen hatte. Er blendete ihre Augen, so dass sie es kaum ertra 208 gen konnte hinzusehen, und doch konnte sie ihren Blick nicht abwenden. Als Rhiannon näher herankam, sah sie, dass es Wasser war, was so hell schimmerte, ein breiter Streifen Wasser, wie eine Robe aus grauem, üppig mit Silberfäden gesäumtem Satin, über dem irgendwo in der Ferne die Sturmwolken endeten und wo das Sonnenlicht am Rande des Himmels reflektiert wurde. Das Wasser erstreckte sich so weit, wie Rhiannon sehen konnte. Dies war, wie sie erkannte, das Meer. Rhiannon hatte nicht gewusst, dass es so weit wie der Himmel war. Es roch, als lebe es, wie ein Fisch oder eine Frau, und bewegte sich geschmeidig, wie die seidig schuppige Haut einer gewaltigen Schlange. Oder zumindest dachte sie das, bis sie noch näher gelangte und erkannte, dass es sich eilig und dampfend bewegte, anstieg, brodelte, seufzte und schäumte, platschte und spritzte und umher wirbelte. Es war grau, dunkler als der Himmel, und stürmischer. Es erweckte in
ihr das Verlangen zu laufen, zu tanzen oder laut aufzulachen, und doch ängstigte sie schon allein die Unermesslichkeit des Meeres, das Wogen und sein einnehmendes Wesen. Sie ließ Schwarzdorn an einer Biegung der Küste mit Felsen und Kieselsteinen unter einem dunklen Klippenüberhang landen, erstaunt über die hohen Wogen und das Donnern und Brüllen, das sie auf den Steinen verursachten. Das Meer, dachte sie. Zumindest habe ich das Meer gesehen. Sie wollte unbedingt Owein und Olwynne retten, bevor der Laird Segel setzte, denn der Gedanke daran, das feste Land hinter sich zu lassen und über diese tiefe Unermesslichkeit hinweg fliegen zu müssen, war erschreckend. Wenn sie erst aufs Meer hinausflogen, konnten sie nirgendwo ausruhen, nirgendwo schlafen, nirgendwo landen, wenn Körper oder Herz zu müde wurden. Also zog sich Rhiannon erneut auf Schwarzdorns Rücken, und die Stute seufzte und schnaubte und scharrte missmutig 209 auf dem Boden, aber schließlich breitete sie doch ihre Schwingen aus und erhob sich in die Luft. Sie flogen die Küste entlang, schauten in jede große und kleine Bucht, aber es war kein Zeichen vom Laird von Fettercairn zu sehen, und auch nicht von Olwynne und Owein. Es wurde allmählich dunkel. Die Wogen wurden grüner und düsterer, und Rhiannon flog noch immer die wilde, felsige Meeresküste entlang und schaute sich um, aber die Küste war so ursprünglich, als hätte dort niemals jemand gelebt. Dann glitt die untergehende Sonne hinter den schweren Wolken abwärts, und plötzlich wurde das Meer verwandelt. Es schimmerte und leuchtete rundherum, golden wie Münzen, und die Ausläufer der Wogen auf dem Strand waren hellgrün und durchscheinend wie Glas. Rhiannon landete auf einer Landspitze, setzte sich hin und beobachtete, bis alles Gold verschwunden war, das Meer sich violett wie die Dämmerung färbte und die Luft von den weißen Flügeln kreischender Meeresvögel erfüllt war. Sie saß da und sah zu, wie das Meer von der Dunkel-
heit verschluckt wurde und nur noch der Geruch und der Klang wahrnehmbar waren. Sie saß da und sah zu, wie der rote Mond aufstieg und eine Leiter in den Himmel bildete. Erst dann regte sie sich und seufzte und erkannte, dass sie in der Dunkelheit ein Lager errichten müsste. Es kümmerte sie nicht. Rhiannon hatte endlich das Meer gesehen. ISLAY-AUF-DER-KLIPPE Olwynne stöhnte im Schlaf. Sie lief in ihren Träumen einen überwucherten Pfad hinab. Dornen verfingen sich in ihrem Gewand und rissen daran. Nebel wirbelte um ihre Beine hoch. Es roch feucht und alt. Überall 210 um sie herum ragten knorrige Eiben aus der Düsterkeit auf. Sie gelangte auf einen Hang. Vor ihr gähnte ein offenes Grab. 01wynnes Schritte schwankten und wurden schleppend, aber sie zwang sich weiterzugehen. Furcht beschwerte ihre Glieder und ließ ihr Herz erstarren. In dem Grab befand sich ein Skelett. Es war in die zerrissenen Überreste eines Satin-Brautkleides gehüllt. Als Olwynne wie gelähmt darauf hinabschaute, wandte es seine hohlen Augen ihr zu und hob flehend eine knochige Hand. Olwynne schrie und erwachte durch ihr Schreien. Sie setzte sich ruckartig auf, die Hände fest auf die Brust gepresst, wo ihr Herz wie der Hammer eines Hufschmieds pochte. Sie war trotz der Kälte, schweißgebadet. »Olwynne?«, flüsterte Owein. »Was ist los? Bist du in Ordnung?« »Ich habe geträumt... ich habe geträumt...«, sagte Olwynne und konnte nicht weitersprechen. Zu häufig waren die schlimmsten ihrer Träume wahr geworden. Der Gedanke daran, dass sie von ihrem eigenen Tod geträumt hatte, war erschreckend. Nicht alle Träume prophezeien die Zukunft, sagte sie sich. Einige sind nur Phantome, die aus der Tiefe hervorgeholt werden, eine Vision unserer schrecklichsten Ängste. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte Owein sie und rückte näher an sie heran, damit er einen Arm und eine Schwinge um sie legen
konnte. »Sie werden dicht hinter uns sein. Wir werden sie jetzt jeden Moment herangaloppieren hören, ein ganzes Regiment Blaugardisten, die uns befreien werden.« »Es sind schon neun Tage«, sagte Olwynne verzweifelt. »Neun ganze Tage. Gewiss...« »Sie werden Finn die Katze auf unsere Spur angesetzt haben«, sagte Owein. »Du weißt, dass Finn immer findet, was sie sucht. Dieser schreckliche Laird ist ein gerissener Mistkerl, mehr nicht. Sie werden das Netz um ihn zuziehen, keine Angst.« 211 Olwynne unterdrückte ein Schluchzen und presste sich fester an ihren Zwilling. Sie lagen auf harten Planken in einem dunklen Laderaum, der unangenehm nach Bilge roch. Die Entführer hatten ihre Fesseln durchgeschnitten, was ihren sehr wunden Handgelenken eine gewisse Erleichterung verschafft hatte, aber es bestand keine Chance zu entkommen. Owein und Olwynne hatten bereits jeden Zentimeter des Laderaums abgesucht, in dem sich Säcke und Fässer und Seilrollen hoch stapelten, in dem es aber nichts gab, was sie als Waffe benutzen konnten. Nicht einmal eine alte Laterne oder eine Kiste mit Nägeln. Es war in der Dunkelheit schwer, den Überblick über die Zeit zu behalten, aber Olwynne glaubte nicht, dass sie lange geschlafen hatte. Es war spät gewesen, als sie hier hineingeworfen worden waren, und inzwischen musste die Nacht fast vorüber sein. Sie würden in der Dämmerung lossegeln, wie sie erkannte. Die letzte Woche war lang und grausam gewesen. Gefesselt und häufig geknebelt, waren sie von einem gestohlenen Beförderungsmittel zum anderen gedrängt worden oder hinaus gestoßen und gezwungen worden, meilenweit über raue Wege zu laufen, die ihren bloßen Füßen Quetschungen und Schnitte zufügten. Manchmal wurden sie über einen Pferderücken geworfen und durchgeschüttelt, bis sie sich übergeben mussten, wenn die Pferde mit den Peitschen zu grausamem Tempo angetrieben wurden. Bei anderen Gelegenheiten wurden sie gezwungen, sich in Dornbüschen zu verstecken, wenn Soldaten nach ihnen suchten, während man Messer an ihre Kehlen hielt und sie mit Knien in
ihren Rücken zu Boden drückte. Einmal hatte sie das schwarze, geflügelte Pferd hoch über den Wald hinweg fliegen sehen, und Olwynne hatte unwillkürlich einen leisen Laut ausgestoßen und eine Geste vollführt, ob aus Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit, konnte sie kaum sagen. Einer der Männer hatte es bemerkt, und sie hatten die Straße verlassen und sich versteckt, bis Rhiannon und ihr Pferd schon längst fort waren. 212 Dem Laird von Fettercairn war es irgendwie gelungen, seinen Verfolgern immer einen Schritt voraus zu bleiben. Olwynne erinnerte sich daran, dass er einst ein Hexenschnüffler gewesen war, ein Sucher, der für Maya Hexen und Zauberwesen zur Strecke gebracht hatte. Diese fein geschulte übersinnliche Wahrnehmung wurde nun eingesetzt, um ihrer Verhaftung zu entgehen, und Olwynne empfand äußerste Verzweiflung. Sie teilte Oweins Zuversicht nicht, dass sie rechtzeitig gerettet würden. Unter die Wärme von Oweins Schwinge geschmiegt, döste Olwynne gerade ein, als ein schwaches Pulsieren in den Planken unter ihr sie wieder weckte. Sie setzte sich auf, beide Hände flach auf den Boden gelegt, und spürte, wie das Schiff zum Leben erwachte. Owein setzte sich ebenfalls auf, und sie hörte, wie er scharf einatmete. Planken knarrten, Segel knatterten, Männer riefen einander zu, und dann, als der Wind die Segel füllte, begann das Schiff zu schwanken, zuerst leicht, dann stärker. Tränen wallten in Olwynnes verkrusteten Augen auf. Sie war auf dem großen Schiff ihres Vaters, dem Königlichen Rothirsch, häufig genug auf See gewesen, um zu erkennen, was die Geräusche bedeuteten. Sie hatten den Anker eingezogen und setzten Segel. Jetzt werden sie uns niemals mehr einholen, dachte sie, und die Tränen drangen unter ihren Lidern hervor und liefen ihr Gesicht hinab. *** Rhiannon hatte eine kalte, unbequeme Nacht am Strand hinter sich, da sie es nicht gewagt hatte, ein Feuer anzuzünden, falls es unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zöge. Sie hatte auf einem harten Stück altbackenem Brot gekaut und ihr letztes Wasser
getrunken, wobei sie sich dafür verfluchte, dass sie so viel Zeit damit vergeudet hatte, aufs Meer hinauszublicken, anstatt einen besseren Lagerplatz mit einer Quelle frischen Wassers zu suchen. 213 Mitten in der Nacht war sie vom Ansturm der Flut geweckt worden und wäre ertrunken, wenn Schwarzdorn nicht gewesen wäre. Kalt und nass und zutiefst zornig auf sich selbst, war es ihr gelungen, ihre Ausrüstung zu packen und auf Schwarzdorns Rücken zu springen, während das schwarze Wasser um ihre Knie wirbelte. Die geflügelte Stute war hoch in den Nachthimmel hinaufgeflogen, und sie hatten zum Glück oben auf der Klippe einen sicheren Lagerplatz gefunden. Rhiannon hatte den Rest der Nacht unter Schwarzdorns Schwinge geschmiegt verbracht. Zitternd lag sie in ihren feuchten Kleidern und wünschte sich ein warmes, kuscheliges Bett, tanzenden Feuerschein an den Wänden und Lewens Knie über ihren Beinen. Beim ersten Licht flogen sie weiter, und Rhiannon war entschlossen, Laird Malvern zu finden und ihn irgendwie aufzuhalten. Sie löste ihre Armbrust und hängte sie an den Sattelknauf ihres weichen Sattels, auch wenn sie sich bei dem Gedanken, einen Menschen zu erschießen, innerlich seltsam und zitterig fühlte. Rhiannon hatte schon ein Mal zuvor getötet, und es verfolgte sie noch immer, wie auch die Geister all der Menschen, die sie seitdem hatte sterben sehen - Bess Balfour mit ihrem schiefen Gesicht und den flehenden Augen, ein wahnsinniges Mädchen, das seinen kleinen Säugling getötet hatte und dafür gehängt wurde, Shannley, den Stallburschen, den sie mit einem Nachtgeschirr bewusstlos geschlagen und ihm so zum Galgen verholfen hatte, und die wuchtige Gestalt Octavias, die ihren grässlichen Schatten auf ihre Träume warf. Jene Geister waren nun schon seit einer Weile bei ihr, und neue wurden ihren Rängen hinzugefügt -ein alter, ganz in Schwarz gekleideter Kammerdiener, ein Hausierer und sein treuer, kleiner Hund sowie zwei willige Stallburschen. Es hatte keinen Zweck, sich zu sagen, dass es nicht ihre Schuld war. Sie hatte das Gefühl, es sei sehr wohl ihre Schuld, weil sie Laird Malvern nicht erschossen
hatte, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Sie hatte es versucht, während der wilden 214 Jagd, als Laird Malvern Roden zum ersten Mal entführt hatte, aber sein Seneschall Irving - der Vater des gegenwärtigen Seneschalls - hatte sich vor seinen Herrn geworfen und den Pfeil abbekommen, der für Laird Malvern gedacht war. Hätte sie nicht wenige Sekunden lang gezögert, wäre die ganze schreckliche Angelegenheit dort beendet worden, an den Toren von Burg Fettercairn. Das nächste Mal würde sie nicht zögern, wenn sich die Gelegenheit böte. Sie war jetzt eine Soldatin im Dienste der Banrigh, sagte sie sich, und Laird Malvern war ein Feind der Krone. Die Küste Ravenshaws war von zahllosen kleinen Buchten unterbrochen, jede von steilen Klippen verborgen. Vom Regen in den Augen behindert, flog Rhiannon am Rande der Klippen entlang, während der Elfenblauvogel ihr vorauseilte. Dann verspürte sie einen Windstoß im Rücken, ausreichend stark, um sie fast aus dem Sattel zu werfen. Seine Kälte und sein Prickeln ließen sie erkennen, dass es ein heraufbeschworener Wind war. Sie drängte Schwarzdorn voran, beugte sich tief über den Hals der Stute und presste ihre Knie fest an den Pferdeleib. Der Wind rauschte vorüber, blies ihr Haar nach vorn und schnitt durch ihre Kleider. Schwarzdorn rang darum, ihre Schwingen ruhig zu halten. Ein hoher Laut erklang, den Rhiannon noch nie zuvor gehört hatte, sowie das Knattern von Segeltuch und Tauen. Dann segelte aus einer tief verborgenen Bucht unmittelbar vor ihnen plötzlich ein Schiff aufs offene Meer hinaus. Es war ein großes, hochseetüchtiges Schiff mit drei hohen Masten und einem weiteren fast waagerechten an der Vorderseite des Bootes. Rhiannon hatte noch nie zuvor solch ein großes Schiff gesehen. Es trug viele Segel, sowohl quadratische als auch dreieckige, die sich bauschten, von dem Zauberwind erfüllt, der sicher und stark an Rhiannon vorbeiströmte.
Sie schrie vor Schreck laut auf, ergriff ihre Armbrust und schoss Pfeil auf Pfeil auf das Schiff ab. Einige wenige zerrissen die Segel und ließen sie wild flattern, und einer erwischte ei 215 nen Mann in der Takelage, der hinabstürzte und ins Meer fiel. Niemand versuchte, ihn zu retten, und Rhiannon war erleichtert zu sehen, dass er wieder auftauchte und kräftig aufs Ufer zuzuschwimmen begann. Rhiannon riss Schwarzdorn herum und jagte tief über das Schiff hinweg. Sie sah Dedrie nach oben blicken und auf sie deuten, und der große Leibwächter Ballard schoss einen Pfeil auf sie ab, dem Schwarzdorn geschickt auswich. Dann sah sie Laird Malvern hoch aufgerichtet auf dem hohen Poopdeck stehen, einen Umhang um sich geschlungen, während sein Rabe auf der Reling hinter ihm hockte. Er sah zu ihr hoch und rief dann einem Mitglied der Schiffsmannschaft einen Befehl zu. Rhiannon legte ihren letzten Pfeil ein, beugte sich vor und zielte sorgfältig. Plötzlich erfolgte ein gewaltiger Knall, und eine große, schwarze Rauchwolke stieg auf. Rhiannon zuckte zusammen, und Schwarzdorn schlug instinktiv mit den Schwingen und drehte ab. Es war reines Glück, dass sie nach links und nicht nach rechts abdrehte. Eine eiserne Kanonenkugel zischte von dem Schiff herauf und raste mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luft. Sie verfehlte Schwarzdorn nur um wenige Fuß und hüllte sie beide in übelriechenden Rauch ein. Rhiannon war entsetzt und erstaunt. Sie hatte noch nie zuvor Kanonen gesehen oder auch nur davon gehört und hatte keine Ahnung, was gerade geschehen war. Ein weiterer Knall erklang, und dann noch einer, und Rhiannon führte Schwarzdorn hoch in den Himmel hinauf. Unter ihnen drehte das Schiff bei und nahm an Geschwindigkeit zu. Rhiannon beobachtete, wie es entschwand, und presste in bitterer Selbstbeschuldigung die Kiefer zusammen. Sie verspürte den dringenden Wunsch, ihnen zu folgen, aber ihr Köcher war leer, ihr Wasserschlauch trocken, und ihre Vorräte waren fast aufgebraucht. Die Vernunft obsiegte, und Rhiannon
wandte Schwarzdorns schwarzen Kopf um und hielt wieder aufs Land zu. 216 Wenige Meilen die Küste hinab fand sie ein kleines Fischerdorf namens Islay-auf-der-Klippe. Es bestand aus einer Ansammlung von Hütten, halb die Klippen hinauf gebaut, mit einem schmalen Weg zur Bucht hinab, von einer Steinmauer und einem stabilen Tor geschützt. Es gab dort ein Gasthaus mit einem großen Schankraum, der sich auf die steile Pflasterstraße öffnete, sowie einen Laden, in dem man alles und jedes kaufen konnte. Rhiannon hielt Schwarzdorn wohlüberlegt versteckt, betrat den Laden und frischte ihre Vorräte auf. Der Ladenbesitzer war erstaunt, sie zu sehen. »Ich habe hier in der Gegend seit fast einem Jahr kein fremdes Gesicht mehr gesehen, und dann während der letzten Tage so viele! Was führt dich hierher, Mädchen?« »Ich reise im Dienste der Banrigh«, sagte Rhiannon, »und ich wäre höchst interessiert daran, alles zu hören, was Ihr mir über andere Fremde in der Gegend erzählen könnt.« »Im Dienste der Banrigh! Ihr meint das junge Mädchen, die Tochter der Verhexerin? Ach, das ist eine traurige Geschichte! Ihr Hochzeitstag so verdorben, ihr Schwiegervater ermordet und ihr Ehemann entführt. Gibt es Nachricht von dem jungen Righ? Stimmt es, dass die ganze Familie entführt wurde? Wir mochten unseren Ohren kaum trauen, als wir die Nachrichten hörten!« Der Ladenbesitzer war sehr neugierig, und Rhiannon tat es leid, dass sie gesagt hatte, wer sie war. Sie wollte die Neuigkeiten jedoch hören, und so tat sie ihr Bestes, um seine Fragen zu beantworten und ihm zu erklären, wie wichtig es war, ihr sofort alles zu erzählen. Wie sie erfuhr, war das Schiff woanders gechartert und bereits vor zwei Wochen zu diesem Abschnitt der Küste gebracht worden. Die Mannschaft hatte sich beim Warten gelangweilt und ein paar Mal das Gasthaus Islay aufgesucht. Sie hatten viel Geld zu verschleudern, waren aber ein rauer, übler Haufen gewesen, Seeleute, die rasch aufbrausten und für den Geschmack der Dorfbe
217 wohner einige Waffen zu viel trugen. Der Gastwirt hatte sorgfältig darauf geachtet, seine hübsche Tochter von ihnen fernzuhalten, und hatte zwischen zweien der Männer einmal einen Messerkampfwegen eines Würfelspiels beenden müssen. »Haben sie irgendeinen Hinweis darauf gegeben, wo sie hinwollten?«, fragte Rhiannon, während sie sich zwischen geräucherten Heringen und einem Schinken zu entscheiden versuchte. Alles, was sie mitnahm, musste getragen werden, und Rhiannon war so hungrig, dass alles gut aussah. Der Ladenbesitzer zuckte die Achseln. »Ihr müsstet Martin oben im Gasthaus fragen. Hier kamen sie überhaupt nicht herein, Eà verfluche sie. Ich hätte ein paar neue Kunden gebrauchen können, aber ihr Schiff war wohl gut ausgerüstet, so dass sie nichts benötigten.« Nachdem Rhiannons Satteltaschen sich wieder ausbeulten und ihr Köcher mit in ihren Augen sehr schlechten Pfeilen gefüllt war, wenn man an Lewens fein ausbalancierte und wunderschön gefiederte Gebilde gewöhnt war, stapfte sie die Straße hinauf zum Gasthaus. Martin vom Gasthaus war ein großer, kräftiger Mann mit rotem Gesicht und scharfsinnigem Blick. Er hatte seine ungebärdigen Gäste genau im Auge behalten, denn »mir gefiel ihre Nase nicht«, wie er sagte. Als Rhiannon ihn fragte, ob sie irgendeinen Hinweis daraufgegeben hätten, wohin sie segeln wollten, nickte er und sagte: »Ja. Sie haben großes Aufhebens darum gemacht, dass sie dieser kalten, gottverlassenen Küste bald Lebewohl sagen und in wärmere Gewässer segeln würden. Sie sagten, sie wollten zu den Lieblichen Inseln, und ich dachte, das sei in der Tat der richtige Ort für sie, da die Inseln noch immer von Piraten und Mördern heimgesucht werden.« »Die Lieblichen Inseln«, wiederholte Rhiannon, und er nickte und deutete mit dem Daumen auf eine Karte, die eher grob auf die Wand hinter ihm gemalt war. Sie zeigte alle Biegungen und 217
Krümmungen der Küste Ravenshaws sowie jeden Felsen, jedes Riff und jede Insel in der gesamten Gegend. »Von meinem Urgroß-Dai gemalt«, sagte Martin stolz, »und was würde jeder Fremde nicht dafür geben, eine Kopie davon zu besitzen.« Rhiannon betrachtete sie genau. Sie konnte die sechs Inseln sehen, welche die Lieblichen Inseln genannt wurden, weit entfernt im Süden, durch einen sehr breiten, hellblauen Streifen Meer mit einer riesigen Seeschlange von der Küste Eileanans getrennt. Ihr Mut sank. Sie glaubte nicht, dass Schwarzdorn so weit fliegen könnte, ohne an irgendeinem Punkt zu landen. »Wie lange segelt man bis dorthin?« Sie fragte sich, ob die Landkarte maßstabsgerecht war, vermutete aber, dass dem nicht so war, wenn man die Größe der Seeschlange bedachte. »Mit gutem Wind drei Tage«, sagte Martin achselzuckend. »Hier herrscht jedoch selten guter Wind.« Rhiannon versuchte im Kopf auszurechnen, wie lange Schwarzdorn brauchen würde, um dieselbe Entfernung im Flug zurückzulegen, aber sie konnte es unmöglich wissen. Sie hatte niemals gelernt, weiter zu zählen als bis zwanzig, die Anzahl ihrer Finger und Zehen, und die Bücher, die man ihr zum Lesen ins Kummertor-Gefängnis gebracht hatte, waren alle Bilderbücher und Geschichten gewesen, keine mathematischen Lehrbücher. Lewen hätte die Entfernung und Zeit im Handumdrehen abschätzen können, dachte sie unglücklich bei sich und wünschte sich erneut, er wäre bei ihr, um ihr mit seiner Kraft, seinem Verstand und seiner Vernunft zur Seite zu stehen. Sie sah ein weiteres Dorf auf der Karte markiert, ungefähr die Länge ihres ersten Fingerknöchels von Islay-auf-der-Klippe entfernt. Als sie danach fragte, erzählte Martin ihr, dass man ungefähr einen halben Tag laufen musste, um dorthin zu gelangen, eine Strecke, von der Rhiannon glaubte, sie im Flug wahrscheinlich in wenigen Stunden zurücklegen zu können. Also plante sie, 218 ihren Zeigefinger zum Messen benutzend, auf der Karte einen groben Kurs für sich, von Felsen zu Insel zu Riff springend. Mar-
tin war unbezahlbar. Er kannte jede Markierung auf der Karte und konnte ihr deren Namen und Besonderheiten nennen. »Ach ja«, sagte er, »diese nennen wir die Teufelszähne. Sie sind bei Ebbe unbedeckt, aber selbst dann sind sie wirklich gefährlich, da die Wogen fast ständig darüber hereinbrechen. Es ist zwar Hochsommer, und die Gezeiten stehen auf ihrem Tiefpunkt, aber man könnte kein Boot hineinführen.« »Was ist hiermit?«, fragte Rhiannon. »Ja, das ist ein hübscher Felsen. Wir gehen im Sommer dorthin, um Seetang zu sammeln und Meerotter zu jagen. Er ist ein gutes Stück von hier entfernt, mit unseren kleinen Booten ein oder zwei Tage. Wir übernachten dort. Es gibt eine Quelle mit frischem Wasser und viele rote Früchte und anderes Essbares.« »Was ist dies dort drüben?« »Das wird »Verderben der Seeleute< genannt«, antwortete Martin. »Wie viele Schiffe auf diesem alten Felsen schon auf Grund gelaufen sind! Er ist flach, seht Ihr, besonders im Herbst, wenn die Gezeiten hoch stehen, und wenn Ihr nicht danach Ausschau haltet, ist er leicht zu übersehen. Aber warum müsst Ihr das alles wissen, Mädchen... ich meine ... Madam? Wenn Ihr j enen Piraten nachjagen wollt, dann werdet Ihr doch gewiss die schnellste Route über das Meer nehmen und nicht diese alten Felsen erkunden?« »Ich weiß gerne, was vor mir liegt«, sagte Rhiannon. »Ja«, sagte er und nickte weise. »Nun denn, diese winzige Insel hier könnte Euch interessieren. Sie ist klein, aber hoch, und es gibt dort frisches Wasser, was selten genug ist. Wie nennen sie Großer Rogen, Eà weiß warum.« Rhiannon schätzte mit dem Blick die Entfernung ab, versuchte, sich die Position zu merken, und dankte Martin für seine Hilfe. Während ihrer Unterhaltung hatte sie der üppige Duft von 219 Fischeintopf gequält, der aus der Küche herüberwehte. Also bestellte sie eine Schale davon sowie einen Becher schwaches Ale und bat Martin um einen Stift und Papier. Sie schrieb sehr angestrengt: »Schiff zu Liblichen Inssln aufgebrochen. Magischer
Wind. Flieg hinterher. Rhiannon.« Es gefiel ihr stets, ihren Namen zu schreiben. Er sah wie ein Pferd in vollem Galopp aus, mit fliegender Mähne und Schweif. Es war das einzige Wort, das sie vollkommen sicher schreiben konnte, und sie versah es gerne am Ende mit einem kleinen Schnörkel. Sie faltete das Stück Papier zusammen, versiegelte es mit Wachs und dem Siegelring, den die Banrigh ihr gegeben hatte, und übergab es Martin mit einer Münze und der Bitte, dafür zu sorgen, dass es zu der Garnison in Rhyssmadill gelangte. Dann aß sie mit großem Genuss ihren Eintopf, trank ihr Ale, schulterte ihre Satteltaschen und ließ Islay-auf-der-Klippe hinter sich, da sie alles ihr Mögliche getan hatte, um ihre Aufgabe zu erleichtern. Schwarzdorn graste im Wald, während der Elfenblauvogel über sie hinwegsauste und die Insekten fing, die sie aus dem Gras aufscheuchte. Die geflügelte Stute hob beim Anblick Rhiannons den Kopf und wieherte zur Begrüßung. Rhiannon hatte einen kleinen Sack Hafer für sie gekauft und gab ihr nun die Hälfte davon, da sie auf ihrer Reise übers Meer kein zusätzliches Gewicht tragen wollte. Dann packte sie ihre Satteltaschen um, so dass das Gewicht gleichmäßig verteilt war, und führte Schwarzdorn zum Fluss, damit sie sich satt trinken konnte. Danach fiel ihr kein weiterer Grund mehr ein, noch zu verweilen, und so stieg sie auf und führte Schwarzdorn oben auf die Klippe. Es hatte aufgehört zu regnen, aber das Meer war rau und ungestüm. Der Wind zog an ihrem Haar und an Schwarzdorns Mähne. Der kleine Elfenblauvogel, für den er zu kräftig war, ließ sich auf Rhiannons Schulter nieder. Sie setzte ihn in ihre Tasche, mit einem Maiskolben, an dem er knabbern konnte, und schloss die Lasche sicher. Sie wollte Blauchen nicht verlieren. 220 Dann atmete Rhiannon tief durch. In weiter Ferne konnte sie die winzigen, weißen Segel des Schiffs des Laird von Fettercairn sehen. Ansonsten erstreckte sich das Meer, so weit sie sehen konnte, grenzenlos, unergründlich und wild.
»Lass uns losfliegen«, murmelte sie und drängte Schwarzdorn im Galopp unmittelbar auf den Rand der Klippe zu. Iseult lag in ihrem Bett; die Augen waren geschlossen, und Tränen drangen unter ihren roten, geschwollenen Lidern hervor. Obwohl bereits Morgen war, herrschte in ihrem Zimmer Düsterkeit, da die Vorhänge vor den Fenstern fest zugezogen waren. Die Luft roch nach verrottenden Blumen. Iseults Kummer war wie ein riesiger Felsblock, der auf ihrer Brust lag und sie niederdrückte. Sie brauchte alle ihre Energie nur zum Atmen. Sie wollte den Felsblock nicht abwerfen, weil sie, wenn sie das täte, alles verlöre, was ihr von Lachlan noch geblieben war. Stattdessen presste sie ihn an sich, ließ sich von ihm niederdrücken, ihre Rippen zerdrücken, ihre Lungen, ihr Herz und ihren Bauch. Es schmerzte sie schon, sich umzudrehen, einen trockenen Fleck auf ihrem Kissen zu finden, auf den sie ihre brennenden Augen pressen konnte. Also lag sie so still wie möglich und ließ die Stunden und Tage in einer Benommenheit verstreichen, die nicht ganz Schlaf, nicht ganz Ohnmacht, nicht ganz Leben war. Sie hörte jemanden an die Tür ihres Wohnzimmers klopfen und dann das leise Murmeln von Stimmen, als ihre Kammerfrau die Tür öffnete. Iseult hielt die Augen geschlossen. Sie hatte strikte Anweisungen gegeben, dass sie nicht gestört werden wollte, von niemandem. »Sie ruht?«, dröhnte eine vertraute Stimme. »Was meint Ihr damit, dass sie ruht? Weckt sie auf.« Iseult presste die Hände auf die Augen. Geh weg Vater, dachte sie. 221 Das leise Murmeln des Protests ihrer Kammerfrau erklang, und dann wurde die Tür aufgestoßen. Licht flutete ins Schlafzimmer. Iseult stöhnte und schlug die Hände über die Augen. Ihr Vater stand mit wenigen raschen Schritten neben ihrem Bett. Er war ein großer, kräftiger Mann mit rot grauem, mit einem Lederband zurückgebundenem Haar und zwei dicken, gewundenen Hörnern, die ihn als einen Khahcohban auswiesen,
eines der Kinder der Götter des Weiß. Sein dunkles, adlernasiges Gesicht wies auf beiden Wangen und auf der Stirn sieben weiße Linien auf, die zu den beiden dünnen Narben auf Iseults Wangen passten. »Iseult, steh auf!«, befahl er. »Lass mich in Ruhe«, stöhnte sie und wandte das Gesicht ab. »Das werde ich nicht tun! Iseult, du musst aufstehen.« »Warum?«, weinte sie. »Warum muss ich das?« Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hände in seine. »Iseult, willst du sechzehn Jahre lang schlafen, wie deine Mutter es getan hat? Schlafen und deine Kinder auf sich allein gestellt sein lassen, wie du und Beau es erlitten habt?« »Meine Kinder sind fort!«, spie sie hervor. »Hast du es nicht gehört. Geh!« »Warum bist du dann nicht draußen und suchst sie?«, verlangte er zu wissen. Sie wandte sich um und sah ihn an. »Wozu?«, flüsterte sie. »Lachlan ist tot, meine Babys wurden alle entführt, und sie wollen sie auch töten. Welchen Sinn hat irgendetwas?« »Du kannst sie vielleicht aufhalten«, sagte Khahgharad. Sie hob eine Hand und ließ sie wieder sinken. »Wie? Ich habe keine Macht, keine Autorität. Ich bin nicht mehr die Banrigh. Mayas Tochter hat den Titel zusammen mit dem Thron an sich gerissen. Ich bin keine Hexe oder Kriegerin - oder überhaupt noch irgendetwas.« »Du bist noch immer eine Narbige Kriegerin«, sagte er und 222 zog die Narben auf ihren Wangen nach. »Das kann dir niemand nehmen.« »Ich bin zweiundvierzigjahre alt«, sagte Iseult. »Wenn ich auf dem Rückgrat der Welt lebte, würde ich als alte Frau angesehen. Zu alt zum Jagen, zu alt zum Kämpfen.« Er nickte. »Ja, aber dies ist nicht das Rückgrat der Welt. Hier ehren sie ihre Alten. Sie halten sie für weise. Also ist es vielleicht an der Zeit, dass du weise wirst, Iseult. Und dich in deinem Zimmer zu vergraben, ist nicht weise.«
Sie wandte das Gesicht wieder ab. »Deine Mutter liegt in ihrem Bett und schläft auch«, sagte Khangharad mit deutlich erkennbarer Enttäuschung. »Ich kann sie nicht aufwecken. Wann auch immer etwas Schreckliches geschieht, wann auch immer sie mit dem, was gerade geschieht, nicht umgehen kann, verfällt Ishbel in Schlaf. Ich liebe deine Mutter, das weißt du, Iseult, aber ich könnte sie mit ihrem eigenen Haar erwürgen! Wie viel von ihrem Leben hat sie mit Schlafen verschwendet? Jahrzehnte! Den größten Teil deiner Kindheit. Werde nicht wie sie, Iseult, indem du dein Leben verschläfst!« »Das tue ich nicht!«, schrie Iseult. »Doch, das tust du«, erwiderte er. »Ich weiß, wie sehr du trauerst! Ich weiß, wie schrecklich diese letzten Wochen gewesen sind. Aber hier im Bett zu liegen, bei zugezogenen Vorhängen, das Essen verweigernd, hilft deinen Kindern nicht! Steh auf! Tu etwas! Versuche, sie zu retten.« »Wie?«, fragte sie erneut. »Ich habe alles falsch gemacht! Es ist meine Schuld, dass all dies geschehen ist.« »Nun, dann fang an, etwas richtig zu machen«, antwortete er. »Steh auf, wasch dir das Gesicht, zieh dich an und iss etwas, um der Weißen Götter willen. Und dann denk darüber nach, was man tun kann! Ich will nicht auch noch meine Enkelkinder verlieren, so wie meinen Schwiegersohn und meine Frau.« 223 Iseult seufzte schwer und setzte sich dann zitternd auf. »In Ordnung«, sagte sie und bemühte sich zu lächeln. »Braves Mädchen«, sagte er, beugte sich herab und küsste sie auf die Stirn. BANRIGH IN SCHWARZ Schwarz stand ihr nicht, beschloss Bronwen, als sie sich im Spiegel betrachtete. Es ließ sie blass und müde und alt aussehen. Es ließ sie sich blass und müde und altfühlen. Sie seufzte und wandte sich vom Spiegel ab, während sie mit beiden Händen ihr tristes Gewand glatt strich.
Es war Zeit für ihre morgendliche Beratung mit dem Geheimen Rat. Bronwen hätte ihren Tag sehr gerne erfreulicher begonnen sich zum Beispiel mit einem Becher Glühwein und den Nachrichten im Bett zusammengerollt. Sie wusste jedoch, wie wichtig diese Treffen waren. Ihr vermeintliches Versagen dabei, Lachlans Mörder zu fangen oder seine entführten Kinder zu retten, verursachte viel Gerede und Spekulationen. Viele trauten der Tochter der Verhexerin nicht und glaubten insgeheim, sie und ihre Mutter hätten sich verschworen, Lachlan und seine Familie zu stürzen, um die Macht für sich zurückzuerlangen. Niemand wagte es natürlich, Bronwen das offen ins Gesicht zu sagen, aber überall, wo sie hinging, hörte sie eilig unterdrücktes Flüstern. Tatsächlich zog Bronwen diese Art Klatsch den Gerüchten vor, dass Donncan überhaupt nicht entführt worden, sondern seiner kalten, arrangierten Ehe entflohen sein sollte, um mit seiner wahren Liebe, der Celestine-Prinzessin Donnerlilie zusammen zu sein. Wann auch immer Bronwen die leisesten Andeutungen solchen Geredes hörte, merkte sie, wie sie erstarrte und das Blut 224 aus ihrem Gesicht wich. »Das ist absoluter Unsinn«, hatte sie Neil angefaucht, als er ihr zum ersten Mal davon berichtete. »Ich habe noch nie solch eine lächerliche Geschichte gehört. Donncan würde niemals... und außerdem würde Donnerlilie nicht...« Zu ihrem Entsetzen hatten ihr die Worte gefehlt. Tränen brannten in ihrer Kehle. Sie wandte sich von Neil ab und atmete tief durch die Nase ein. Er trat neben sie und berührte sie scheu an der Schulter. »Ich weiß das, und du weißt das, aber diese Klatschmäuler werden alles sagen und glauben«, erklärte er sanft. »Es ist absoluter Unsinn!«, schrie sie. »Ich weiß«, erwiderte er, »aber ich dachte, du solltest wissen, was geredet wird.« Sie atmete erneut tief durch und sagte: »Ja. Ich danke dir.« »Ich werde tun, was ich kann, um das Gerücht aus der Welt zu schaffen«, sagte Neil. »Jedermann weiß, wie ehrverbunden die
Celestine sind. Donnerlilie weiß, dass sie eine von ihrer Familie vorgeschriebene Ehe eingehen muss.« »Ja«, sagte Bronwen tonlos und biss sich auf die Lippen. Die Gerüchte hatten sich jedoch gehalten, während über eine Woche vergangen war und noch immer keine Nachricht kam, noch irgendein Zeichen des vermissten Paares. Jedermann wusste, dass Isabeau und ihre Gefährten auf der Suche nach Donncan und Donnerlilie die Alten Wege bereisten. Jedermann wusste auch, dass nur die Celestine das Geheimnis der magischen Straßen kannten. Welcher Entführer könnte dieses Geheimnis möglicherweise kennen? Es schien offensichtlich, dass es Donnerlilie war, die diesen Fluchtweg gewählt hatte und Donncan und Johanna dort entlangführte, und niemand glaubte wirklich, dass die CelestinePrinzessin Anteil an einem Entführungsversuch hatte. Also musste es eine Liebesgeschichte sein, entschieden viele am Hofe und in der Stadt, und ihre Sympathien galten eindeutig dem 225 verfolgten Paar, nicht Bronwen, die keine Zeit damit vergeudet hatte, die Kontrolle zu erlangen. Johanna hatte den Prionnsa gekannt, seit er ein Säugling war, und Donnerlilie hatte, mit ihren Talenten in der Heilmagie, viel Zeit damit verbracht, bei der Leiterin der Gilde der Heiler zu lernen. Johanna war sich Donncans und Donnerliliens geheimer Liebe offensichtlich bewusst gewesen und hatte so weit mit ihnen sympathisiert, dass sie bereit gewesen war, bei ihrer Flucht zu helfen. Da Bronwen die Wahrheit kannte, ließen diese Geschichten sie mit den Zähnen knirschen, während sich ihre Hände zu Fäusten ballten. Sie durfte die Wahrheit jedoch nicht hinausposaunen. Erstens war es eine so unwahrscheinliche Geschichte, dass ihr gewiss niemand glauben würde. Und zweitens wollte Isabeau nicht, dass irgendjemand von dem Zauber der Wiedererweckung und der Möglichkeit, dass Brann wieder zum Leben erweckt werden könnte, erfuhr. Der Laird von Fettercairn war nicht der einzige Wahnsinnige auf der Welt, der davon träumte, einen geliebten Menschen ins Leben zurückzubringen. Und das
Wissen, dass Johanna Brann wiedererwecken wollte, konnte nur Angst und Entsetzen bewirken und möglicherweise sogar Panik. Es herrschte bereits genug Angst im Land, auch ohne die wahre Geschichte über Donncans und Donnerliliens Verschwinden. Bronwen blieb vor der Tür des Geheimen Rates stehen, atmete einige Male tief und langsam durch, strich ihr Kleid glatt und versicherte sich, dass das kleine Diadem, das sie trug, gerade saß. Dann nickte sie ihrem neuen Knappen, Joey, zu, der eine Art Geschenk von Neil gewesen war, weil er dachte, sie brauchte jemanden als Handlanger, der Nachrichten überbrachte und ihren Mantel und ihre Handschuhe trug. Der dunkelhaarige Junge mit eifrigem Gesicht war am Turm der Nebel in Arran aufgewachsen und zuvor Neils Knappe gewesen wie schon sein Bruder vor ihm. Sein Bruder Brant war Neils Schildknappe, und Bronwen kannte ihn recht gut, da er stets hinter Neil ritt und ihn bei den 226 Mahlzeiten bediente. Joey fieberte seiner Aufgabe, die neue Banrigh zu bedienen, entgegen und war sehr aufgeweckt und bereit zu dienen. Auf Bronwens Nicken hin, sprang er vorwärts und öffnete die Tür für sie, wobei er sich tief verbeugte, während sie vorüberging. Das zornige Streiten der Geheimräte traf Bronwen wie eine Wolke aus Lärm, der erst bei ihrem Erscheinen erstarb, als sich alle erhoben und verbeugten. Bronwen nickte und ließ sich von Joey den Stuhl hervorziehen. Während sie sich hinsetzte und die mattschwarzen Seidenröcke um sich breitete, sah sie sich im Raum um und registrierte sorgfältig jeden Gesichtsausdruck und jede Körperhaltung. Die Banrigh hatte ihre Geheimräte erst nach viel Nägelbeißen und Auf- und Ablaufen erwählt. Sie brauchte Berater um sich, denen sie vertrauen konnte, und doch wusste sie, wie wichtig es war, die mächtigeren Adligen zu beschwichtigen. Am wichtigsten war jedoch, wie Bronwen erkannte, dass sie weise und umsichtige Köpfe um sich brauchte. Es gab vieles, was sie an der Regierungsführung nicht verstand, trotz all ihres Unterrichts in Wirtschaftslehre, Politik, Geschichte und Recht. Sie schämte sich
bei dem Gedanken daran, wie sie ihre Zeit an der Theurgia vergeudet hatte, indem sie sich im Unterricht gelangweilt und frivole Nachrichten an ihre Freunde geschrieben hatte. Es war ihr wichtig gewesen, diejenigen zu belohnen, von denen sie glaubte, dass sie sie unterstützten, während sie diejenigen bestrafte, die hinter ihrem Rücken über sie und ihre Mutter murrten. Und doch war Bronwen scharfsichtig genug zu erkennen, dass viele der Höflinge, die sich um sie scharten und ihr schmeichelten, reine Speichellecker waren, während einige derjenigen, die sie am öffentlichsten in Frage stellten und herausforderten, tatsächlich die klügsten und weisesten Männer im Land waren. Letztendlich hatte sie viele der Berater ihres Onkels behalten 227 und nur diejenigen ersetzt, die sie wirklich nicht mochte oder denen sie misstraute. Neil war bereits zu ihrem neuen Oberstallmeister ernannt worden, eine Rolle, die ihn zum drittmächtigsten Mann in ihrem Haushalt machte. Auf Neils Rat hin ernannte sie selbst einen neuen Schreiber, einen jungen, aber aufmerksamen niederen Adligen namens Maddock MacNair, der mit ihr an der Tneurgia studiert und sich in all den Fächern, die sie am langweiligsten fand, hervorgetan hatte. Es störte sie nicht, dass Maddock nie etwas von ihr gehalten hatte. Es zeugte, wie sie dachte, von großer Vernunft, und sie konnte zumindest darauf vertrauen, dass er sich bei ihr nicht einschleimen würde, wofür so viele ihrer alten Schulfreunde anfällig waren. Sie hatte nicht vergessen, dass der Zweite Oberhofmeister gegen sie gesprochen hatte, am Abend vor Lachlans Ermordung, als sie die Kontrolle über den Geheimen Rat an sich gerissen hatte. Bronwen hatte ihn mit Vergnügen entlassen und stattdessen einen Mann gefördert, der sich ihr gegenüber stets freundlich und respektvoll verhalten hatte, einen Lord namens Hargreaves, den Neil gut kannte, da er seinem Vater jahrelang gedient hatte. Seine Ernennung bewirkte viele Diskussionen, aber er hatte in seiner ersten Woche im Amt gut und effizient gedient, worüber Bronwen erfreut war.
Sie hätte auch den Lordkanzler gern entlassen, denn er war ein bejahrter Mann und vollkommen von Bestürzung und Kummer überwältigt. Er hatte den größten Teil der Woche damit verbracht, die Hände zu ringen und immer wieder zu fragen: »Was sollen wir tun? Was sollen wir tun?« Der Lordkanzler hatte jedoch vor Lachlan ihrem Vater gedient, und so konnte sie sich nicht dazu überwinden, ihn zu demütigen. Also ernannte sie einen verkniffen wirkenden Lord mit scharfem Blick als seinen Schreiber und ersetzte den Lordsiegelbewahrer, der auch gegen sie gesprochen hatte, durch einen jüngeren, energischeren Mann, der ihr ebenfalls von Neil empfohlen wurde. 228 Keine dieser Entscheidungen war leicht gewesen, und Bronwen erhielt so viele widersprüchliche Ratschläge von denjenigen um sie herum, dass sie sich nicht in der Lage sah, es dem einen recht zu machen, ohne den anderen vor den Kopf zu stoßen. Viele warnten sie davor, den Fairgean zu viel Gunst zu erweisen, während Alta, der Botschafter der Fairgean, sofort damit begonnen hatte, sie wegen weiterer Handelsgenehmigungen zu bedrängen. Es gab Lords, die während der Rebellion all ihr Land verloren hatten und nun, wo Maya öffentlich begnadigt und von ihrer Unterjochung erlöst wurde, eine gewisse Entschädigung verlangten, während die Lords, die zu Reichtum und Macht gekommen waren, indem sie an Lachlans Seite gekämpft hatten, nicht die Absicht hatten, etwas von dem abzutreten, was sie errungen hatten. Es gab diejenigen, die eifersüchtig auf die Macht des Hexensabbats waren und glaubten, Bronwen sollte die Gelegenheit der Abwesenheit der Bewahrerin des Schlüssels ergreifen, um Gesetze zur Minderung von deren Einfluss zu erlassen. Andere fürchteten ihre Absichten und stießen versteckte Drohungen aus, dass jeglicher Versuch, die Macht der Hexen zu untergraben, mit einem bewaffneten Aufstand enden würde. Einige wollten, dass die Steuern gesenkt würden, andere wollten, dass alte Schulden sofort bezahlt würden. Der Prionnsa von Carraig wollte, dass die Kontrollen über die Produktion von Salpeter aufgehoben würden, und deutete an, Bronwen könnte in
der näheren Zukunft Bedarf an Schießpulver haben. Die Gilde der Alten Feuerwerksmagier stimmte zu, andere argumentierten vehement dagegen. Die Banprionnsa von Blessem verlangte, dass Bronwen ihre Freundschaft mit Neil dazu benutzen sollte, um den Bau weiterer Straßen durch das Marschland von Arran zu fördern, um den Handel mit dem Nordwesten zu erleichtern, während diejenigen, die Arran und Tirsoilleir misstrauten, über Neils raschen Aufstieg murrten. 229 Viel Gerede hatte auch Iain von Arrans Entscheidung bewirkt, nach Hause ins Marschland zurückzukehren, während seine Frau am königlichen Hof zurückblieb, mit dem Pastor, ihrem spirituellen Berater, als ständigem Begleiter. Wären sie nicht beide so ernst und tugendhaft gewesen, hätten die meisten Iain als Hahnrei und den blonden Pastor als Elfridas Geliebten angesehen. Aber das war unvorstellbar, und so nahmen sie an, dass die Banprionnsa von Tirsoilleir die Freundschaft ihres Sohnes mit der neuen Banrigh als ein Mittel betrachtete, die Sache ihres Landes und ihrer Religion voranzubringen. So viele Leute warnten Bronwen vor den beiden, dass sie eines Nachmittags die Beherrschung verlor und fauchte: »Ihr braucht keine Angst um mich zu haben, Mylairds! Ihre sauertöpfischen Mienen erwecken in mir das Verlangen, mir das Schwarz herunterzureißen und halbnackt durch den Saal zu tanzen!« Sie bedauerte ihre Bemerkung sofort, aber zu ihrer Überraschung bewirkte sie leichte Belustigung. Und sie spürte, dass ihr von einigen der Höflinge, die, wie sie erkannte, zu fürchten begonnen hatten, ihre neu gewonnene Ernsthaftigkeit und Besonnenheit seien ein Hinweis auf Sympathie für die strenge Religion Tirsoilleirs, eine neue Herzlichkeit entgegengebracht wurde. Aber nicht alle empfanden Belustigung. Die Adligen Eileanans fürchteten einen weiteren Krieg gegen die Glorreichen Soldaten ebenso, wie sie einen Krieg gegen die Fairgean fürchteten, wie sie wusste, und so war es für Bronwen ein Drahtseilakt, weder die eine Rasse oder Religion noch die andere zu verletzen.
Alle hofften anscheinend, in diesen ersten Tagen der Unsicherheit ihre Ziele zu erreichen, als erwarteten sie, dass Bronwen ihren Schmeicheleien und Drohungen erliegen würde, als wäre sie nur ein einfältiges Mädchen, das mehr Interesse am Schnitt seiner Ärmel als am Zustand der Nation hätte. Bronwen musste sich grimmig in Erinnerung rufen, dass sie das nur sich selbst vorwerfen konnte. 230 Bei all dieser Hektik und dem Chaos fand sie nur bei ihrem täglichen Ausritt mit Neil Frieden. Er hatte eine sehr anmutige weiße Stute für sie gefunden und bestand darauf, dass sie jeden Tag ritt, damit sich die Stute an sie gewöhnen könnte. Bronwen wusste, dass er erkannte, wie anstrengend sie all diese Regierungsgeschäfte fand, und war ihm dankbar. Sie ritten häufig allein voraus, während die übrigen Lords und Ladys zurückblieben, so dass sie mit ihm über Probleme reden und sich bei freimütigen und oft witzigen Schilderungen all der verschiedenen Bittsteller, die auf dem Teppich zu ihrem Zimmer einen Pfad austraten, entspannen konnte. Es war eine Erleichterung, bei ihm nicht auf ihre Worte achten zu müssen, und manchmal überraschte er sie mit seinem Wissen über die politischen Verwicklungen des Landes. Neil war, so erinnerte sie sich, der Erbe der zwei großen Länder und war mit dem vollen Wissen dessen aufgewachsen, welche Rolle ihm eines Tages zufiele. Sie empfand seinen Rat als unbezahlbar und wusste, dass sie ihm auf eine Art vertrauen konnte, wie sie niemand anderem bei Hofe vertrauen konnte. Mit der Zeit bat sie ihn, sie abends aufzusuchen, damit er die Tagesereignisse mit ihr durchsprechen konnte, ihr alles erklären konnte, was sie nicht verstand, und ihr seinen Rat gewähren konnte. Sie stellte sicher, dass stets seine Mutter anwesend war, ebenso wie eine Anzahl anderer vernünftiger Ladys und Gentlemen, damit diesen Treffen nicht einmal der Hauch eines Skandals anhaften würde. Alles war so trostlos und langweilig, dass Bronwen es kaum ertragen konnte, und sie sehnte sich danach, Musikanten und Jongleure und Sänger herbeizurufen
und sich ein paar Stunden lang dem Vergnügen anheimzugeben. Sie widerstand der Versuchung jedoch und wusste, dass diejenigen, die sie für zu albern und flatterhaft hielten, um das Land zu regieren, überrascht und einige sogar erfreut waren. Heute Morgen wartete Neil mit all den anderen Lords und 231 Beratern im Geheimen Rat auf sie, wobei sein Schildknappe, wie üblich, hinter seinem Stuhl stand. Er lächelte ihr zu und schlug ruhig vor, das Joey ihr einen Becher ihres Spezial-Engelwurztees eingießen sollte, was der Knappe errötend und sich entschuldigend sofort tat. Bronwen lächelte, dankte ihm und trank einen Mundvoll des erquickenden Gebräus, bevor sie ihre Papiere zu sich zog. »Was gibt es Neues, Mylairds?«, fragte sie. »Noch keine Neuigkeiten von der Bewahrerin des Schlüssels, tut mir leid, Euer Majestät«, sagte Gwilym. »Ich habe am Kristallseh-Teich Wache gehalten, nur für den Fall, dass ich sehen könnte, wo sie sind und was vor sich geht, aber ich habe nichts gesehen, überhaupt nichts.« Alle regten sich unbehaglich. Bronwen bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen, aber sie spürte den Leitstern warm unter ihren Händen und hörte seine summende Melodie lauter werden, als wolle er sie trösten. »Eà gewähre ihnen Erfolg bei ihrer Mission«, sagte sie sanft, und die Lords wiederholten leise ihre Worte. »Was ist mit meinen übrigen Cousins?«, fragte sie. »Wir müssen doch inzwischen gewiss einige neue Nachrichten haben?« Hauptmann Dillon von den Yeomen gab ihr einen kurzen Überblick über die Schwierigkeiten, denen Finn und Jay und die sie begleitenden Soldaten gegenübergestanden hatten. Bronwen runzelte die Stirn, als sie von der niedergerissenen Sperre, den verletzten Männern, den abgeschlachteten Pferden und Stallburschen, dem schlechten Wetter und dem fortgesetzten Ausweichen vor den Obrigkeiten durch Laird Malvern und seine Leute hörte.
»Wir haben jedoch einige gute Neuigkeiten, Euer Majestät«, sagte Hauptmann Dillon. »Zwei von Laird Malverns Leuten wurden zur Strecke gebracht und werden jetzt gerade nach Lucescere zurückgebracht. Zumindest bei einem von ihnen sollte der 232 Tod durch den Strang kein Problem sein. Er wurde mit einem blutigen Messer in Händen gefunden, direkt bei den Leichnamen der beiden Burschen, die er abgeschlachtet hat. Er ist mürrisch und widerspenstig und hat mehrmals zu entkommen versucht, aber wir haben ihn gut unter Kontrolle.« Bronwen seufzte erleichtert. »Das sind gute Neuigkeiten«, sagte sie herzlich. Sie wusste, dass eine Art öffentliche Gerichtsverhandlung und Bestrafung derjenigen stattfinden müsste, die es gewagt hatten, solch einen ernsten Angriff auf die Krone auszuführen. Solange es niemanden gab, den man für Lachlans Ermordung und die Entführung seiner Kinder bestrafen konnte, wäre Bronwen weiterhin verdächtig. »Und der andere?«, fragte sie. »Er ist ein ältlicher Mann, der schwach und krank ist«, sagte Hauptmann Dillon stirnrunzelnd. »Er weigert sich zu sprechen, wenn wir ihm nicht vollkommenen Straferlass für seinen Sohn versprechen, der noch immer zur Gruppe Laird Malverns gehört.« »Keine Straferlasse!«, rief Bronwen. »Sammelt genügend viele Beweise, um sie beide zu verurteilen, dann werden wir sein Geständnis nicht brauchen.« »Genau das denke ich auch«, erwiderte Hauptmann Dillon mit grimmigem Lächeln. »Es gehen noch zwei weitere Leichname auf das Konto der verräterischen Gefängniswärterin Octavia. Wir werden sie öffentlich zeigen können als weitere der Gerechtigkeit zugeführte Missetäter.« »Ihre Köpfe sollten auf dem Kummertor präsentiert werden«, sagte der Kommandant. »Wir müssen an ihnen ein Exempel statuieren.« Bronwen nickte, obwohl sie innerlich zurückschreckte. Sie war nie gerne auf der südlichen Straße aus der Stadt hinausgeritten,
wo diese schrecklichen verwesenden Köpfe am Sturz des Tores hingen. 233 Die Neuigkeit bewirkte große Diskussionen, und Bronwen war erfreut zu entdecken, dass es ihre eigene Thigearna, Rhiannon von der Garde der Banrigh, war, die bei der Gefangennahme der Verbrecher behilflich war. Sie war jedoch weniger erfreut zu hören, dass es Rhiannon nicht gelungen war, Owein und Olwynne zu befreien, bevor Laird Malverns Schiff davonsegelte. Sie hatten immer gewusst, dass diese Möglichkeit bestand, und daher hatte die königliche Kriegsflotte in Bereitschaft gestanden, voll ausgerüstet und bemannt und bereit, die Verfolgung aufzunehmen. Bronwen gab dem Admiral den Befehl zur Mobilisierung, und er schrieb eine rasche Nachricht und versiegelte sie mit seinem Siegelring, bevor er einen Knappen eilig damit zum Taubenhaus schickte. Danach gab es viel zu erledigen, die Details des Regierens, die Bronwen zu besten Zeiten als lästig empfand. Nun, mit Sorge und Kummer als ihre ständigen Begleiter, empfand sie es fast als unerträglich. Sie war jedoch entschlossen zu beweisen, dass sie ihre Aufgabe erfüllen konnte, und so saß sie da, lauschte mit höchst unnatürlicher Geduld, tat ihr Bestes, um die Argumente und Gegenargumente zu verstehen, unterzeichnete Dokument um Dokument und reichte sie zum Versiegeln an den Bewacher des Geheimsiegels weiter. Bronwen schämte sich für ihre Sehnsucht nach Donncan. Sie sagte sich immer wieder, dass sie ihn nicht brauchte, weder als Frau noch als Banrigh. »Es ist nicht so, als liebte ich ihn«, sagte sie sich. »Ich meine, es besteht kein Zweifel, dass er der am besten aussehende Mann bei Hofe war ... i s t a b e r solch ein Stockfisch! Er konnte manchmal so stolz und widerwärtig sein. Denk nur an das Theater, das er wegen meiner abgeschnittenen Haarlocke machte.« Bronwen dachte nicht gern an den furchtbaren Streit, den sie und Donncan beim Maitag-Fest hatten, als er entdeckte, dass sie sich am Hinterkopf eine Locke ihres Haars abgeschnitten hat
234 te. Donncan hatte daraus sofort geschlossen, dass sie die Locke einem ihrer vielen Bewunderer als Liebespfand geschenkt hätte. Sie hatte ihm nicht sagen können, dass sie sie dazu benutzt hatte, sie um den Hals ihrer Mutter zu binden, damit alle glauben sollten, Maya sei noch immer durch das magische Band aus Nyxhaar gebunden. Das von der ältesten Nyx aus ihrer eigenen wilden Haarmähne gewobene Band hatte Maya stumm gemacht, unfähig zu sprechen, zu singen oder sogar zu summen. Da alle Macht Mayas, zu bezaubern und zu behexen, durch ihre Stimme bewirkt wurde, war sie dadurch machtlos gewesen und hatte die letzten zwanzig Jahre als stumme Dienerin der Hexen verbracht. Der Tod der Nyx hatte das schwarze Band jedoch zu Staub zerfallen lassen, Maya von dem Zauber befreit und ihr ihre Stimme zurückgegeben. Bronwen hatte gewusst, dass Isabeau einfach befohlen hätte, ein anderes Nyxhaarband zu weben, und so hatte sie sich, aus einem Impuls heraus, eine Locke ihres eigenen Haars abgeschnitten und mit einigen einfachen Zaubern rasch ein Band geflochten, damit Isabeau keinen Verdacht schöpfen würde, dass ihre Mutter ihre Kräfte nun wiedererlangt hatte. Das konnte sie Donncan nicht gestehen, sonst wäre die List offenbar geworden, und so hatte er weiterhin geglaubt, sie sei ihm untreu gewesen, in Gedanken, wenn auch nicht tatsächlich, und eine Kälte war zwischen ihnen gewachsen, die sich nicht wieder rechtzeitig hatte erwärmen können. Wenn sie ihm nur die Wahrheit hätte sagen können, bevor er entführt wurde! Nun wusste es jedermann, denn Maya hatte nach Lachlans Ermordung gesprochen und versuchte nicht länger zu verbergen, dass sie ihre Stimme wiederhatte, zusammen mit all ihrer Macht. Bronwen wollte nicht einmal sich selbst gegenüber zugeben, dass ihr die Regierungsgeschäfte mit Donncan an ihrer Seite viel leichter gefallen wären. Er war stets der Ernste gewesen, der in der Schule hart gelernt und seine Prüfungen gut absolviert hatte. 234
Sie bezweifelte nicht, dass er die Auswirkungen der plötzlichen Abwertung des Geldes als Konsequenz von Lachlans Ermordung mühelos begreifen und folglich entscheiden könnte, welcher Handlungskurs der beste wäre, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Sie war die halbe Nacht wach gewesen, hatte die Berichte durchgelesen und versucht, mit ihrem müden Hirn einen Sinn in den unvertrauten Begriffen und Formulierungen zu finden. Nun musste sie sicherstellen, dass niemand im Geheimen Rat erkannte, wie wenig sie wusste, denn Zeichen von Schwäche oder Torheit könnten verhängnisvoll sein. Also bat Bronwen um Rat, hörte sich alle Antworten sehr sorgfältig an und bemühte sich, gebieterisch zu klingen, als sie ihre Befehle erteilte, froh darüber, Neils leichtes Nicken zu sehen, das zeigte, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es war bereits nach drei Uhr, als Bronwen den Geheimen Rat schließlich verlassen konnte. Sie lief müde durch den Gang zu ihrem Zimmer und läutete nach weiterem Engelwurztee. Dann setzte sie sich an ihren von Papieren überhäuften Schreibtisch, nahm eine Feder und das Tintenfass hervor und begann, sich die Dinge zu notieren, die sie tun müsste. Glücklicherweise hatte sie sich auf die Möglichkeit vorbereitet, dass Laird Malvern die Küste erreichen könnte. Nun musste sie nur sicherstellen, dass ihm so bald wie möglich eine Flotte Schiffe folgte, vorzugsweise mit einigen Wetterhexen an Bord, die versuchen könnten, dem Sturm entgegenzuwirken, den Laird Malvern heraufbeschworen hatte. Sie streute gerade Sand über eine Nachricht an den Stürmischen Briant und griff nach ihrer Glocke, um ihren Knappen herbeizurufen, der die Nachricht für sie überbringen sollte, als sich die Tür plötzlich krachend öffnete. Bronwen zuckte heftig zusammen und stieß dabei ihr Tintenfass um. Tinte floss überallhin, über all die Papiere, die sie unterzeichnen und dem Bewacher des Geheimsiegels am Nachmittag 235 zurückgeben wollte. Bronwen keuchte erschreckt, rappelte sich aber hoch und blickte zur Tür, denn sie hatte zu große Angst vor
einem möglichen Mörder, um sich im Moment um die verschüttete Tinte zu sorgen. Es war ihre Schwiegermutter, Iseult. Der Erleichterung folgte Verärgerung, aber Bronwen zwang sich, einige Male tief durchzuatmen, bevor sie sprach. »Ihr habt mich erschreckt, Mylady«, sagte sie. »Stimmt etwas nicht, dass Ihr hereinkommt, ohne anzuklopfen?« Die Banrigh-Witwe war stets schlank gewesen, aber nun war sie geradezu mager. Ihre blauen Augen schienen in ihrem blassen Gesicht riesig, und ihre Haut war vom tagelangen Weinen rot gefleckt. Sie war vollkommen in Schwarz gekleidet, ihr rotes Haar hatte sie unter einer schweren, schwarzen Haube verborgen. Sie hatte sich tagelang in ihren Räumen vergraben, keine Besucher vorgelassen und sich in ihrem Kummer eingeschlossen. Bronwen war zwei Mal hinaufgegangen, um sie zu besuchen, und wurde beide Male abgewiesen. Die Banrigh-Witwe ruhe, wurde ihr gesagt. Also war Bronwen nicht wiedergekommen, auch wenn ihr, um die Wahrheit zu sagen, Iseults Erfahrung und Wissen wahrscheinlich in vielen Dingen willkommen gewesen wären. »Ja, es stimmt etwas nicht«, fauchte Iseult. »Ich habe gerade gehört, dass es dir nicht gelungen ist, diesen Wahnsinnigen aufzuhalten, der meine Kinder entführt und sie aufs Meer gebracht hat! Ist es dir nicht in den Sinn gekommen, dass ich das vielleicht gerne erfahren hätte?« Bronwen sah sie einen Moment mit offenem Mund an und beschäftigte sich dann damit, die verschüttete Tinte aufzuwischen, während sie über die bestmögliche Antwort nachzudenken versuchte. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe die Nachricht selbst gerade erst gehört.« »Vor drei Stunden«, erwiderte Iseult. »Lange genug, um eine 236 Taube nach Rhyssmadill zu schicken und die Kriegsflotte zu mobilisieren.« »Nun ja«, gab Bronwen zu, »aber wir haben die Ratssitzung gerade erst unterbrochen...«
»Ich hätte es sofort erfahren müssen«, beharrte Iseult eisig. »Dies sind meine Kinder, deren Leben auf dem Spiel steht. Denkst du, ich wollte das nicht wissen?« »Doch, doch, natürlich«, sagte Bronwen. »Es tut mir wirklich leid, Mylady. Es war nur ... der Rat hat so lange getagt, es gab so viele Dinge zu diskutieren und zu entscheiden, und ich... ich...« Bronwen spürte zu ihrer Bestürzung, dass ihre Stimme zitterte. Sie hielt inne und atmete tief durch. Als sie wieder aufschaute, klang ihre Stimme kühl und ruhig. »Ihr müsst doch gewiss erkennen, um wie viele Angelegenheiten des Staates ich mich kümmern muss, Mylady. Es tut mir leid, wenn Ihr das Gefühl habt, wir hätten falsch daran getan, unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten, anstatt Euch zu einer Zeit eine Nachricht zu senden, als ich glaubte, Ihr würdet noch... ruhen.« Sie sah Röte in Iseults Wangen steigen. Die Banrigh-Witwe presste die Hände zusammen und biss sich auf die Lippen. »Ich werde nicht länger in meinen Räumen sitzen und warten und mich ängstigen«, sagte Iseult mit leiser, doch leidenschaftlicher Stimme. »Ich habe dir vollkommen freie Hand gelassen, Bronwen, und was hast du erreicht? Nichts! Nichts! Donncan wird noch immer vermisst, und Owein und Olwynne sind noch immer in den Händen dieses Wahnsinnigen. Ich werde selbst gehen und sie zurückbringen!« Sie fuhr mit lautem Rascheln ihrer schweren Röcke herum, und Bronwen starrte überrascht auf ihren Rücken. »Wartet!«, rief sie. Iseult wandte sich um. »Ihr wollt doch nicht allein hinter ihnen hersegeln, Mylady?«, fragte Bronwen. »Das ist zu gefährlich!« 237 »Ich bin eine Narbige Kriegerin!«, erwiderte Iseult kalt. »Denkst du, ich fürchte diese ... Totenbeschwörer! Sie sind alte Männer, fast selbst schon im Grab.« »Der Laird von Fettercairn kann Wind und Stürme heraufbeschwören«, sagte Bronwen. »Er hat Finn und Jay auf der Straße
aufgehalten, sie mit Regen und Hagel gepeitscht. Sein Schiff wird von einem Zauberwind vorwärtsgetrieben.« Iseult lächelte. »Du denkst, ich hätte keine eigenen Kräfte zur Verfügung?« Sie schnippte mit den Fingern, und das Wasser in Bronwens Glas wurde sofort zu Eis. Das Feuer erstarb, und ein bitterkalter Wind fegte durch den Raum, ließ die Vorhänge umherwirbeln und Bronwens Haar ihr ins Gesicht peitschen. Inmitten all dessen stand Iseult mit wirbelnden schwarzen Röcken. »Ich habe lange genug dagesessen und getrauert«, sagte sie. »Meine Kinder sind in Gefahr, in schrecklicher Gefahr, und ich habe es zugelassen, dass du und alle anderen ihre Rettung verpfuscht habt. Ich werde gehen, und ich werde sie zurückbringen.« Bronwen strich sich das wild um ihr Gesicht wehende Haar zurück und hielt es mit einer Hand fest. »Ja, Mylady«, antwortete sie und bemerkte einen neuen Respekt in ihrer Stimme. »Was werdet Ihr brauchen? Kann ich Euch irgendwie helfen?« Iseult betrachtete sie nachdenklich, und der Wind erstarb allmählich, bis der Raum wieder ruhig und friedlich war, wenn auch ohne das Feuer bitterkalt. »Eine Flotte Schiffe«, sagte die Banrigh-Witwe dann. »Und Dillon vom Freudigen Schwert.« »Ihr sollt beides bekommen«, antwortete Bronwen. Iseult betrachtete sie einen langen Moment, und dann nickte sie kurz, wandte sich um und war fort. Bronwen konnte sie nur beneiden. 238 KNAPPEN UND BLINDE PASSAGIERE Lewen verpflanzte den Setzling vorsichtig in eine kleine Wanne mit Erde und wässerte ihn sanft, bevor er das Gefäß auf das Regal zu seiner Linken stellte. Zu seiner Rechten befanden sich Tausende ähnlicher kleiner Pflanzen, alle magisch aus Saatgut gezogen, in dem Versuch, die vom Frost vernichteten Pflanzen zu ersetzen, die in dem schrecklichen, von Iseult in der Nacht der Ermordung ihres Ehemannes heraufbeschworenen Schneesturm eingegangen
waren. Die Ernte eines ganzen Jahres war verloren, und viele Menschen würden diesen Winter hungern, wenn der Hexensabbat nicht in der Lage wäre, zumindest einen Teil der vernichteten Ernte zu ersetzen. Lewen hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, Dinge wachsen zu lassen, und so benutzten er und die übrigen Erdhexen ihre Kräfte, um das Wachstum der vielen Hauptfeldfrüchte wie Hafer, Mais, Gerste, Bohnen und Kartoffeln zu beschleunigen. Das Gewächshaus war einer der wenigen Orte, an denen er die schreckliche Angst, die jeden Augenblick seines Daseins quälte, überhaupt etwas nachlassen spürte. Seine Finger in Erde vergraben, seine Aufmerksamkeit auf die sich entfaltenden Blätter und Blüten gerichtet, konnte Lewen einen Moment den schmerzhaften Verlust und die Angst zurückstellen, die er um seine beiden liebsten Freunde, Owein und Olwynne, und seine Liebste Rhiannon empfand, die sich nur um seinetwillen in Gefahr begeben hatte. Lewen konnte nicht glauben, dass er Rhiannon hatte gehen lassen. Er war sich bewusst, dass er nach den Schlägen, welche die Glocke ihm zugefügt hatte, benommen und schwach gewesen war, aber er hatte das Gefühl, dass das keine Entschuldigung 239 war. Keine Entschuldigung dafür, mit Rhiannon geschlafen zu haben, obwohl er an Olwynne gebunden war, keine Entschuldigung dafür, zugelassen zu haben, dass sie in die Nacht davonflog, eine junge Frau gegen eine Bande skrupelloser Schurken. Ihm war so elend vor Angst um sie alle, dass er weder essen noch schlafen noch sich auf eine Aufgabe konzentrieren konnte, abgesehen von monotonen, anspruchslosen Dingen, wie sich um einhundert Pferde zu kümmern, um eines nach dem anderen, oder eintausend Pfeile zu schnitzen und zu befiedern. Sobald seine Hände ruhten, begann sein Verstand erneut über das nachzugrübeln, was er getan hatte - oder eher, was er versäumt hatte -, und dann schritt er ruhelos umher, die Hände zu Fäusten geballt.
Er konnte kaum mehr tun. Im Turm der Zwei Monde war es totenstill, da er zu Ehren des toten Righ für den Rest des Semesters geschlossen worden war. Die meisten der Studenten waren abgereist. Nur diejenigen, die zu weit entfernt wohnten, um mühelos nach Hause reisen zu können, wie Lewen, waren geblieben. Den meisten waren Aufgaben im Gewächshaus übertragen worden, oder draußen im großen Küchengarten, wo sie die Obstbäume mit Sackleinwand umwickelten, um sie vor dem Frost zu schützen, und Stroh über die Reihen vernichteten Gemüses breiteten. Es gab keinen Unterricht, keine Hausaufgaben, und bei der Mahlzeit, die sie jeden Abend im großen Saal der Theurgia gemeinsam einnahmen, herrschte eine bedrückte und elende Stimmung. Im Palast war es ebenso still. Fast alle Hochzeitsgäste waren nach Hause gereist, ebenso wie viele der dauerhaften Mitglieder des Hofes, die über Bronwens Machtergreifung erzürnt waren oder erst erkennen wollten, woher der Wind wehte, bevor sie Stellung bezogen. Wie Lewen hatte auch Bronwen nichts anderes zu tun, als auf Nachrichten zuwarten. Lewen wusch sich an der Pumpe die Hände, trocknete sie an dem daneben hängenden Handtuch ab und zog dann Umhang, 240 Hut, Schal und Handschuhe wieder an, bevor er in den Schnee hinausging. Der Palast von Lucescere lag noch immer in kalter, weißer Umklammerung. Allen Berichten zufolge wurde das Wetter wärmer, je weiter man sich vom Palast entfernte. Nur hier, in Lucescere, wo die Witwe des ermordeten Righ allein in ihren Räumen grübelte, griff der bittere, schwarze Frost noch und schien nicht weichen zu wollen. Lewen ging mit gesenkten Schultern langsam zum Hexenturm zurück. Dann hörte er das Geräusch schneller Schritte und schaute auf. Eine junge Frau eilte auf ihn zu; ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, seidiges, braunes Haar wehte um ihr Gesicht. Sie trug einen sehr hübschen, himbeerroten Mantel mit
pelzgesäumter Kapuze und einen dazu passenden Muff sowie pelzgesäumte, braune Stiefel. »Lewen!«, rief sie. »He, Felice «, sagte er, unfähig, mehr als ein schwaches Lächeln hervorzubringen. Sie umfasste seinen Arm. »Lewen, es gibt Neuigkeiten!« Er richtete sich sofort auf und ergriff ihre Hand. »Was!« »Laird Malvern hat es bis zur Küste geschafft und ist in See gestochen«, legte sie los. »Die Banrigh hat die Kriegsflotte abberufen, um sie zu verfolgen. Finn und Jay sind jetzt auf dem Weg nach Dün Gorm, um sich mit dem Admiral zu treffen. Aber Lewen! Die Banrigh-Witwe hat beschlossen, auch zu gehen. Sie sagt, sie hat genug davon, herumzusitzen und auf Nachrichten zu warten.« »Was ist mit Rhiannon?«, fragte Lewen. Sie biss sich auf die Lippen. »Sie ist ihnen nachgeflogen.« »Über das Meer?« Lewen war bestürzt. »Ja. Sie hat die Nachricht von Ravenshaw geschickt und folgte ihnen dann. Sie sagt, sie wollen zu den Pirateninseln.« »Ist sie verrückt? Schwarzdorn kann nicht so weit fliegen, 241 ohne zu landen! Erkennt sie das nicht? Sie wird sie beide umbringen.« »Ist es so weit?«, fragte Felice leise. »Mit dem Segelschiff sind es mindestens drei oder vier Tage«, sagte Lewen. »Vielleicht weniger, wenn ein heraufbeschworener Wind ihre Segel bläht. Aber es sind sechshundert Meilen oder mehr. Sie kann nicht erwarten, dass Schwarzdorn so lange in der Luft bleibt.« »Und es gibt keine anderen Inseln, wo sie landen und sich ausruhen kann?«, fragte Felice . »Doch, vermutlich schon, aber nicht viele, und wie soll sie wissen, wo sie sind? Sie hat das Meer noch nie zuvor gesehen. Sie hat keine Ahnung, wie groß es ist, wie gefährlich! Oh Rhiannon!« Er presste beide Hände auf sein Gesicht, dem Zusammenbruch nahe.
»Warum bringt der Laird sie zu den Pirateninseln? Was hat er dort vor?«, fragte Felice . Er blickte zu ihr hinab. Sie war ein zierliches Mädchen, reichte ihm kaum bis zur Schulter. Kurz darauf schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es nicht.« »Er will sie opfern, oder? Ich bin keine Närrin, Lewen, ich weiß, was vor sich geht. Oh Lewen, mir ist elend vor Angst um sie alle!« »Mir auch«, antwortete er. Er konnte die Worte kaum formulieren. »Wir müssen auch gehen«, rief Felice . »Du kennst die BanrighWitwe, du warst jahrelang ihr Knappe. Wenn wir zu ihr gingen und sie darum bäten - würde sie uns dann nicht auch mitnehmen?« Lewen sah sie an, und sein Puls beschleunigte sich jäh. »Können wir nicht gehen und sie fragen? Sie muss Leute mitnehmen, Dienstboten, warum dann nicht auch uns? Komm schon, Lewen, lass uns jetzt gehen und sie fragen. Sie will bald aufbrechen. Komm schon!« 242 Sie nahm seine Hand und zog daran, und Lewen ging mit ihr, wobei sein Herz zu hämmern begann. Es war das Warten, was so schwer war. Die Stunden vergingen so langsam. Er hatte die ganze Zeit gedacht: Wenn ich nur mit ihr hätte fliegen können! Wenn ich nur auch hätte gehen können! Als sie über die Wiese auf den Palast zueilten, liefen ihnen zwei große, braunhaarige Jungen mit aufgeregten Gesichtern entgegen. Der eine war neunzehn, der andere achtzehn Jahre alt, und sie waren, zusammen mit Felice und ihrem Freund Landon sowie zwei weiteren Mädchen, mit Ninas und Ivens Wohnwagen durch Ravenshaw gereist. »Habt ihr die Neuigkeiten gehört? Der Laird von Fettercairn ist entkommen«, rief Cameron. »Er ist draußen auf dem Meer, auf dem Weg zu den Pirateninseln«, sagte Rafferty.
»Die Banrigh-Witwe segelt heute hinter ihm her... sie und dieser Wetterhexer, der Stürmische Briant.« »Und der Hauptmann der Garden!« »Sie hat nur noch dich als Knappen«, sagte Cameron. »Fymbar von Blessem zieht morgen mit seiner Mutter nach Hause, und Alasdair MacFaghan und seine Schwester kümmern sich beide um ihre Mutter, die noch immer schläft, ist das nicht seltsam? Und Aindrew und Barnabas MacRuraich haben den Hof ebenfalls verlassen.« »Damit bliebe nur der Sohn des MacAhern, und seine Familie reitet heute Nachmittag nach Hause nach Tireich«, schaltete sich Rafferty wieder ein. »Du siehst also ...« »Sie hat nur noch dich als Knappen«, sagte Cameron erneut drängend. »Sie wird gewiss wollen, dass ihr jemand dient und Botschaften überbringt und ... und ihr Wein eingießt«, sagte Rafferty. »Wenn du sie fragst...« »Vielleicht...« 243 »Vielleicht wird sie uns auch mitnehmen!« »Wirst du sie fragen, Lewen? Du gehst doch mit, oder?« Felice war aufgeregt auf und ab gesprungen, und nun schaltete sie sich ein. »Also gehen wir jetzt hin und fragen sie!« »Was, du auch?«, spottete Cameron. »Mädchen können keine Knappen sein.« »Nein, aber ich könnte ihre Kammerfrau sein«, erwiderte Felice . »Kommt schon! Gehen wir!« Sie eilten alle auf den Palast zu. Lewen empfand fast schmerzliche Besorgnis, dass sie zu spät kämen oder dass Iseult seine Hilfe nicht wollte. Er hatte die Banrigh-Witwe seit der Nacht von Lachlans Ermordung nicht mehr gesehen. Er war ans Bett gefesselt gewesen, mit Gehirnerschütterung und einigen gebrochenen Rippen, weil er sich an den Klöppel der großen Glocke gebunden hatte, und sie hatte sich trauernd in ihrem Zimmer vergraben. Er wusste nicht einmal, ob sie erkannt hatte, dass er derjenige war, der Rhiannon vor dem Galgen gerettet hatte. Iseult hatte den Befehl gegeben, dass Rhiannon gehängt werden sollte, und er
befürchtete, dass sie ihm sein Eingreifen übelnehmen könnte. Seine Freunde schienen nicht daran zu zweifeln, dass Iseult ihn zurückhaben wollte, aber Lewen war nicht so zuversichtlich. Sie war stolz und streng, die Banrigh-Witwe, und Lewen hatte niemals etwas anderes als ehrfürchtigen Respekt vor ihr empfunden. Er hatte das Gefühl, dass sie nicht leicht vergab, und er konnte nur hoffen, dass sie nicht wusste - oder es ihr nichts ausmachte -, dass Lewen derjenige war, der verhindert hatte, dass ihre Befehle ausgeführt wurden. Ihr Freund Landon wartete vor dem kunstvollen Palasttor auf sie. Er trug wie üblich sein schwarzes Lehrlingsgewand, das um seine knochigen Schultern hing, da er nur wenige andere Kleidungsstücke besaß. »Ich hab die Nachricht gerade gehört«, keuchte er. »Ist es wahr?« »Dass die Banrigh ... die Banrigh-Witwe, meine ich ... dass 244 sie hinter dem Laird von Fettercairn hersegeln will? Ich weiß es nicht«, antwortete Lewen. »Ich denke, es könnte sein. Sie ist eine Khan'cohban, denkt daran, und eine Kriegerin. Sie ist stets in die Schlacht gezogen.« »Ich wäre so gerne dort, wenn es zu Ende geht«, sagte Landon mit glühendem Gesicht. »Denkt nur, was für eine Ballade ich schreiben könnte! Glaubt ihr ...?« »Wir werden sie fragen«, rief Felice . »Sie wird uns gewiss gehen lassen! Wir sind diejenigen, die zuerst entdeckten, was Laird Malvern vorhatte! Wenn wir nicht gewesen wären ...« »Und Rhiannon«, sagte Landon. »... hätte niemand überhaupt etwas über ihn erfahren. Komm schon, Landon! Ich hab solche Angst, dass wir zu spät kommen könnten und sie bereits aufgebrochen ist.« Sie eilten die rückwärtige Treppe hinauf und mieden Dienstboten, die mit Armen voller Rüstungen, Stapeln dicker, grauer Jacken, aufgerollten Karten oder Tabletts mit Essen und Getränken überall umherhasteten. Die Wächter vor der Zimmerflucht der Banrigh kannten Lewen gut, und obwohl sie beim Anblick seiner Horde aufgeregter Freunde die Stirn runzelten, erklärten
sie sich bereit, Iseult zu berichten, dass er hier war und darum bat, vorgelassen zu werden. Ein Wächter ging hinein, und der andere stand Wache. Er blickte strikt geradeaus und bemühte sich, die aufgeregten Studenten zu ignorieren, die erwartungsvoll umherliefen und wie ein Wasserfall plapperten. Schließlich kam der Wächter zurück öffnete die Tür für sie und sagte knapp: »Sie will euch sehen, aber schnell! Sie bricht in weniger als zehn Minuten auf.« Lewen ging in Iseults Zimmerflucht voran, sein Hände waren plötzlich feucht und seine Kehle wie zugeschnürt. Die BanrighWitwe stand mitten im Raum, mit alten Ledergamaschen sowie einem narbigen Lederkürass über einem Kettenhemd aus geschmeidigem, glänzendem Silber bekleidet. Unter einem Arm 245 trug sie ihren stahlverstärkten Lederhelm. In der anderen Hand hielt sie ihre Armbrust, der Köcher lag auf einem in der Nähe stehenden Stuhl. Lewen freute sich zu sehen, dass er voller Pfeile war, die er selbst befiedert hatte. Dies verlieh ihm die Hoffnung, dass die Banrigh-Witwe ihm das vergeben hatte, was sie schlimmstenfalls als einen Verrat und bestenfalls als Aufsässigkeit ansehen musste. Ihr Gesichtsausdruck war nicht ermutigend. Sie schaute auf, als Lewen hereinkam und sich verbeugte, und zog beim Anblick Felices, Camerons, Raffertys und Landons, die sich dicht hinter ihm zusammendrängten, die Augenbrauen hoch. »Was ist los, Lewen?«, wollte sie wissen. »Beeile dich, denn es wartet ein Schiff auf mich, und ich möchte vor der Dämmerung nach Dün Gorm gelangen.« Lewen war bestürzt, denn von Lucescere aus den Fluss entlang nach Dün Gorm war eine Reise von mehreren Tagen. Sie musste sehr zuversichtlich sein, dass der Wind, den sie heraufbeschwören könnte, ihre Segel füllen würde. »Bitte, Euer Hoheit... ich meine, Mylady ... ich bitte Euch -dürfen wir mitkommen, um Euch zu dienen und Euch zu helfen?«, fragte Lewen eifrig. »Wir hatten alle Anteil an der Geschichte, von Anfang an. Dies sind Lady Felice , die Tochter des Earl von
Stratheden, Cameron MacHamish, der in Ravenscraig Knappe war, bevor er zur Theurgia kam, und Landon MacPhillip aus Magpie Wood in Ravenshaw sowie Rafferty MacDonovan aus Tullimuir. Wir sind alle mit Nina und Iven gereist, falls Ihr Euch erinnert, und haben im Sturm auf Burg Fettercairn Zuflucht gesucht. Wir alle kennen Laird Malvern ... wir haben schon einmal zuvor gegen ihn angekämpft, und wir... wir möchten helfen, ihn zur Strecke zu bringen.« Er hatte noch etwas über Rhiannon sagen wollen, wagte es aber im letzten Moment nicht, weshalb er eher lahm endete und sich wünschte, Iven Gelbbarts Redegewandtheit zu besitzen. 246 Iseult runzelte die Stirn, sah sie alle nacheinander an und wandte ihre Aufmerksamkeit dann dem Waffengurt zu, den sie gerade um ihre Taille band. »Bitte, Euer Hoheit«, sagte Lewen erneut. »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um zu helfen.« »Eine Horde Kinder an Bord zu haben, wird mir nicht helfen«, erwiderte sie kühl. »Es tut mir leid, aber wir müssen schnell vorankommen. Dies ist keine Vergnügungsreise.« »Bitte, Euer Hoheit«, rief Cameron. »Wir könnten Eure Knappen sein. Wir könnten Euren Bogen und die Pfeile tragen ...« »Danke, aber ich werde sie selbst tragen«, antwortete sie. »Wir könnten Nachrichten für Euch überbringen« »An Bord eines Schiffes? Welche Nachrichten sollte ich da wohl überbracht haben wollen?« »Wir kennen Laird Malvern«, rief Felice . »Wir können ihn Euch zeigen. Wir können Euch sagen, wie er denkt.« Iseult sah sie lange und angespannt an. »Ihr seid also Lady Felice von Stratheden, ja?«, fragte sie. »Diejenige, welche die Ballade von Rhiannons Ritt gesungen und so viele Probleme mit den Zauberwesen heraufbeschworen hat?« Felice errötete und senkte den Blick. »Ja, Mylady.« Iseult betrachtete sie lange und stirnrunzelnd, wobei Felice mit jedem Moment stärker errötete, und richtete ihren Blick dann auf Landon. »Und Ihr seid der Poet?«
»Ja, Mylady.« Landon presste seine dünnen, knochigen Hände flehentlich zusammen. Iseults Stirnrunzeln vertiefte sich. Eine ihrer Ladys kam mit einem dicken, grauen Umhang herein und legte ihn ihr um die Schultern. Dann beugte sich Iseult herab, nahm ihren Köcher hoch und schlang ihn sich über den Rücken. »Ich werde einen Knappen brauchen«, sagte sie. »Lewen, ich sehe an der Quetschung an deiner Schläfe, dass du nicht im besten Zustand bist. Bleib hier in Lucescere und komm wieder zu 247 Kräften. Lady Felice , die Tatsache, dass Ihr hier seid, lässt mich auf eine nicht sehr hohe Intelligenz Eurerseits schließen. Glaubt Ihr allen Ernstes, Euer Vater würde es mir danken, wenn ich Euch erlaubte, Euch einem so gefährlichen Abenteuer anzuschließen?« »Aber, Mylady!«, rief Felice mit Tränen in den Augen. Iseult verengte ihre Augen. »Bleibt zu Hause und näht Euer Mustertuch. Ihr, der Poet. Es tut mir leid, aber Ihr seht nicht kräftig genug aus für diese Aufgabe. Ihr seid ein Studierender, kein Knappe. Wir werden schnell segeln, und das Meer wird aufgewühlt sein. Dieser schreckliche Laird hat einen Sturm heraufbeschworen, um uns aufzuhalten. Ich brauche jemanden, der die Sache durchstehen und notfalls kämpfen kann.« Als Landon enttäuscht den Kopf hängen ließ, wandte sie sich an die letzten beiden, die sie flehend ansahen. Sie betrachtete sie kritisch. »Cameron. Ich habe von Euch gehört. Der MacBrann sagte, Ihr wärt ein guter Junge, aber ich hege Zweifel bezüglich Eurer Verschwiegenheit. Zu große Ohren und eine zu schnelle Zunge sind keine Eigenschaften, die ein Knappe haben sollte.« Cameron wurde rot bis zu den Ohrenspitzen. Er wusste zweifellos, wovon Iseult sprach. Er wünschte, er würde es wagen, der Banrigh-Witwe zu erklären, dass der MacBrann ihn schon kannte, seit er ein kleiner Junge war, und ihn sorgfältig nach allem befragt hatte, was auf seiner Reise von Ravenscraig nach Lucescere geschehen war. Er hatte ihm über eine Stunde lang
ständig Fragen gestellt. Der MacBrann war sein Herr und Prionnsa. Es war Cameron nicht einmal in den Sinn gekommen, nicht über das zu berichten, was er wusste. Er würde es unter denselben Umständen wieder tun. Iseult hatte ihre Aufmerksamkeit nun Rafferty zugewandt. »Ihr seid der junge Mann, der am Mittsommerabend Nachrichten für Lewen überbrachte, oder?« »Ja, Mylady«, antwortete er eifrig. 248 »Ich hätte es auch getan, wenn Lewen mich nicht gebeten hätte, ihm bei der Suche nach dem Prionnsa ... ich meine, dem Righ ... zu helfen!«, sagte Cameron ungehalten. »Oh, bitte, Mylady, können wir nicht beide mitkommen? Ihr werdet Tag und Nacht jemanden zur Hand haben wollen!« Sie betrachtete sie erneut kritisch. »Könnt Ihr eislaufen?«, fragte sie jäh. »Aber, ja, Mylady, natürlich können wir das«, antwortete Cameron. »Wir kommen aus dem Hochland von Ravenshaw! Dort gibt es im Winter nichts anderes zu tun.« Iseult seufzte. »Also gut. Ihr beiden könnt mitkommen. Ihr werdet jedoch nicht viel Zeit haben, euch vorzubereiten. Gebt der Gewandmeisterin Bescheid, damit sie euch einen Waffenrock und ein Dienstabzeichen gibt sowie ein Schwert. Ich nehme an, ihr wisst, wie man es benutzt?« »Ja, Mylady!«, riefen die Jungen hocherfreut. »Bittet sie, euch Schlittschuhe anzupassen. Alte von Owein und Donncan würden wahrscheinlich genügen. Ihr braucht vielleicht auch Kleidung zum Wechseln. Es ist keine Zeit, um in eure eigenen Räume zurückzukehren, also bittet um die Kleidung, die ihr braucht. Trefft uns in einer halben Stunde unten am Kai. Ihr werdet euch beeilen müssen! Wir nehmen ein Flussschiff namens Jessamine. Wenn ihr nicht rechtzeitig dort seid, werdet ihr zurückgelassen. Ist das klar?« »Ja, Mylady!« »Dann geht. Ich sehe euch bei der Jessamine.«
Die beiden Jungen eilten freudig aus dem Raum und stießen und schubsten einander auf ihre übliche Art. Bitter enttäuscht und verletzt, verbeugte sich Lewen und wandte sich zum Gehen, während Felice und Landon untröstlich vorausgingen. »Lewen«, sagte die Banrigh-Witwe sanft. Er wandte sich wieder um und konnte durch die Tränen der Scham, die wie Nebel vor seinen Augen aufstiegen, kaum etwas 249 sehen. Felice , deren Gesicht vor Elend verzerrt war, blickte zu ihm zurück, ging dann mit Landon weiter und schloss leise die Tür hinter ihnen. »Es tut mir leid, ich weiß, dass du enttäuscht bist«, sagte Iseult. »Du bist mir jedoch mit einem angeknacksten Kopf und gebrochenen Rippen kaum von Nutzen. Es ist viel besser, wenn du hierbleibst und dich erholst.« Lewen hob eine Hand zu der hässlichen Quetschung an seiner Schläfe. »Es ist nur ein blauer Fleck«, sagte er verteidigend. »Owein hat mich schlimmer verletzt, als er mir mit einem Übungsschwert auf den Kopf schlug.« »Man sagte mir, du wärest stark gestaucht und durchgerüttelt worden«, sagte Iseult. »Du warst fast einen Tag bewusstlos. Das Meer wird wirklich rau und übel sein. Ich will nicht riskieren, dass du wieder verletzt wirst.« »Bitte, Mylady. Bitte.« Sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich halte es wirklich für das Beste.« Lewen wandte sich zum Gehen, unfähig zu sprechen oder sich auch nur noch einmal zu verbeugen. »Ich bin froh, dass es deinem Thigearn-Mädchen gelungen ist, Roden zu retten«, sagte Iseult mit Mühe. »Und sie hat den Laird fast zur Strecke gebracht, wie ich hörte. Sie haben vier oder fünf Leute verloren, nicht wahr? Das hat sie gut gemacht.« »Sie ist hinter ihnen hergeflogen«, sagte Lewen elend, ohne sich umzuwenden. »Über das Meer. Schwarzdorn kann nicht so weit fliegen. Sie werden es niemals schaffen.«
»Sie scheint ein umsichtiges Mädchen zu sein«, sagte Iseult kurz darauf. »Ich bin mir sicher, dass sie ihr Pferd nicht unnötig riskieren wird. Und erinnere dich, Isabeau flog in Gestalt eines Schwans zu den Pirateninseln. Es ist also möglich.« Lewen wandte sich zu ihr um, während Hoffnung seine Züge erhellte. »Das hat Isabeau geschafft?« 250 »Ja. Als Margrit von Arran Donncan und Neil entführte, als sie noch Kinder waren. Isabeau flog hinter ihnen her und rettete sie. Das war, als Margrit starb. Darum liegt ihr Leichnam auf den Pirateninseln. Hast du die Geschichte nie gehört?« Lewen schüttelte benommen den Kopf. »Eines Tages, wenn ich Zeit habe, werde ich Dide bitten, sie dir zu erzählen. Im Moment sorge dich nicht so um dein wildes Mädchen. Wenn Isabeau in Gestalt eines Schwans zu den Lieblichen Inseln fliegen konnte, so kann das auch dieses geflügelte Pferd.« »Nur dass ein Schwan für Langstreckenflüge geeignet ist«, sagte Lewen bedrückt. »Für ein geflügeltes Pferd gilt das nicht.« »Ich bin mir sicher, dass es ihr gut gehen wird«, sagte Iseult, bemüht, nicht zu ungeduldig zu klingen. »Hoffen wir, dass sie sie schnell einholt und meine Kinder für mich rettet! Dann werde ich für dein verdammtes Eingreifen dankbar sein, Lewen.« Er rang sich ein vages Lächeln ab, verbeugte sich und verließ sie, wobei er sich nur der Tatsache bewusst war, dass er wieder einmal zurückgelassen wurde. Sobald sich die Tür hinter ihnen schloss, wandte sich Felice um und packte Landons Arm. »Komm schon!«, rief sie. »Wohin gehen wir?«, fragte Landon verdutzt, als sie ihn hastig den Gang hinabzog. »Du glaubst doch nicht, dass ich wirklich einfach zu Hause herumsitzen und mein Mustertuch nähen werde, oder?« Felice war zutiefst empört. »Nein, wir müssen irgendwie auf dieses Schiff gelangen. Es wird schwierig sein, zweifellos. Wir werden eines dieser Dienstabzeichen brauchen, von denen sie sprach.«
»Du willst, dass wir blinde Passagiere werden?« Landon war entsetzt. Felice lächelte ihm zu. »Wenn wir können. Wenn nicht, wer 251 den wir vorgeben müssen, Schiffsjungen zu sein oder so. Komm schon! Wir haben keine Zeit, zur Theurgia zurückzugehen, wenn das Schiff in einer halben Stunde aufbricht. Hast du deinen Dolch bei dir?« Landon nickte dumpf, während eine Hand zu dem Hexendolch wanderte, der wie immer an seiner Seite hing. »Ausgezeichnet«, sagte Felice , öffnete aufs Geratewohl eine Tür, zog Landon hinter sich her und schlug die Tür hinter ihnen zu. »Gib ihn mir.« »Was hast du vor?«, fragte Landon, während er sein Messer aus der Scheide nahm und es ihr reichte. »Mein Haar abschneiden natürlich«, antwortete sie ungeduldig. Sie ergriff mit einer Hand eine Strähne ihres seidigen, braunen Haares und schnitt sie mit der scharfen Schneide des Messers unmittelbar unter dem Ohr ab. Landon keuchte entsetzt, als sie sie fallen ließ und eine weitere Strähne abschnitt. »Felice , nein!«, rief er, obwohl es bereits zu spät war. »Ich kann nicht vorgeben, ein Schiffsjunge zu sein, wenn mir das Haar bis zu den Knien reicht«, antwortete sie ungeduldig. »Gibt es hier irgendwo einen Spiegel? Ich muss sicher sein, dass es gleichmäßig geschnitten ist.« Sie sah sich in dem düsteren, stillen Raum um. Alle Möbel waren mit Tüchern abgedeckt, und der Kamin war sauber und leergefegt. Felice deckte einen hohen Spiegel in der Ecke bei dem leeren Waschtisch ab. »Ich sehe vollkommen entsetzlich aus«, sagte sie vergnügt. »Sieh mich nur an! Wäre nicht das Kleid, könnte man mich für einen rotznäsigen Schiffsjungen halten! Nun, was trägst du unter deinem Gewand, Landon?« Er errötete und sagte mit halb erstickter Stimme: »Nur mein Hemd und die Hose. Es ist kalt, weißt du, und ich hab nichts anderes zum Anziehen, so dass ich ...«
»Ausgezeichnet«, rief Felice und machte sich nicht die Mühe, 252 dem Ende seines Satzes zuzuhören. »Zieh sie aus, sei ein guter Junge.« »Aber warum?« Er machte keinerlei Anstalten, ihrer Aufforderung zu folgen, sondern schrak gekränkt vor ihr zurück. »Es sei denn, du willst derjenige sein, der zur Gewandmeisterin geht und uns ein Dienstabzeichen besorgt, wie Rafferty und Cameron? Nein? Das dachte ich mir! Es ist viel besser, wenn du hier wartest und ich gehe. Wenn ich erst deine Kleidung trage, wird niemand mehr vermuten, dass ich in Wahrheit ein Mädchen bin.« »Du willst wirklich hiermit weitermachen? Das ist Wahnsinn! Wir werden bestimmt erwischt.« Sie zuckte die Achseln. »Nun, zumindest hätten wir es dann versucht. Was können sie uns antun? Uns zurechtweisen, zweifellos, na und? Besser als wie brave kleine Kinder nach Hause zu gehen, während Cameron und Rafferty ihren Spaß haben. Komm schon, Landon! Hör auf, mit mir zu streiten, und gib mir deine Kleider, sonst werden wir das Schiff verpassen, und ich hab meine Haare umsonst abgeschnitten.« In der Kälte zitternd, tat Landon, wie ihm geheißen, wobei er sich unter den voluminösen Falten seines Lehrlingsgewandes verbarg. Felice nahm seine Kleidung und zog sich zum Umziehen hinter einen Wandschirm zurück. Als sie wieder hervorkam, sah sie vollkommen verändert aus. Ihr kurz geschnittenes Haar und ihr schlanker Körper in der schäbigen, fadenscheinigen Kleidung des jungen Poeten ließen sie wie einen einfachen Bauernburschen aussehen. Sie verbeugte sich zackig vor Landon und sagte mit dem breiten Akzent des Hochlandes: »'tschuldigung, Sir, aber ich hab mich gefragt, ob Ihr mir den Weg zu den Docks weisen könntet?« »Erstaunlich«, erwiderte Landon. »Ich muss ein wenig schmutziger sein«, sagte Felice kritisch und fuhr auf der Suche nach Staub mit einem Finger über den 252
Kaminsims. Sie runzelte die Stirn, als der Finger sauber blieb, und ließ sich auf Knie und Hände nieder, um unter der Frisierkommode entlangzufahren. Landon wandte errötend den Blick ab. Felices Hand war nun grau vor Staub, den sie auf ihrer Stirn und den Wangen verschmierte und dann noch ein wenig Spucke hineinrieb, damit Streifen entstanden. Mit funkelnden Augen vollführte sie vor dem Spiegel einen Hofknicks und sagte: »Oh, lä, lä, Lady Felice , welch einen Anblick Ihr bietet! Ich hätte Euch niemals erkannt!« »Felice , meinst du nicht...« »Oh, schsch, Landon, hör auf, dich zu sorgen. Ich bin gleich zurück Kauere dich unter die Abdecktücher, damit du nicht frierst, und ich werde zurück sein, bevor du es merkst.« Felice öffnete vorsichtig die Tür, schaute den Gang hinauf und hinab und zuckte zurück als zwei Dienstmädchen vorübergingen, die Arme voller sauberer Leintücher. Sie bemerkten sie jedoch nicht, und sie konnte schließlich hinter ihnen hinausschlüpfen und den Gang hinabeilen. Felice war noch niemals zuvor im Palast von Lucescere gewesen, aber sie war in Ravenscraig aufgewachsen, dem königlichen Hof des Clans der MacBrann, und kannte daher die Räumlichkeiten eines großen Schlosses gut. Sie fand mühelos zur Kleiderkammer, die sich stets in der Nähe der Kemenate befand, da von den Damen des Hofes erwartet wurde, den Schneiderinnen mit den ungeheuren Mengen an Näharbeiten zu helfen, die ein solch großes Schloss benötigte. Wie sie es erwartet hatte, herrschte hektische Betriebsamkeit in dem Raum, in dem überall Kleiderstapel lagen, Kleider über Stuhllehnen drapiert waren oder an Stangen hingen. Frauen eilten umher, sortierten und verstauten oder unterhielten sich über den Zustand eines zu flickenden Kleiderstapels. Andere saßen in der Nähe der großen Fenster, blinzelten, während sie einen Faden in eine Nadel einfädelten, oder plauderten ruhig miteinan 253 der, während sie geschickt die Säume eines neuen Kleidungsstücks zusammenfügten. Mehrere Frauen arbeiteten an großen, an die Wände geschobenen Webstühlen, andere saßen an Spinn-
rädern, wobei das Klappern und Surren ihrer Geräte fast das leise Murmeln der Stimmen der Frauen übertönte. »'tschuldigung, Madam, ich such die Gewandmeisterin«, sagte Felice mit tiefer, unwirscher Stimme, von der sie hoffte, dass sie genau wie Rafferty klänge. »Was kann ich für Euch tun?«, fragte eine der Frauen, ließ den Saum des Gewandes sinken, den sie gerade betrachtet hatte, und trat stirnrunzelnd vor. Felice wurde von gescheiten, grauen Augen begutachtet. Sie verbeugte sich leicht und sagte: »Mr wurde befohlen, mich bei Euch zu melden, Madam. Ich stech mit der Banrigh-Witwe in See. Sie sagte, ich solle mir einen Umhang holen und ein Dienstabzeichen und ein Schwert sowie alles andere, was ich brauchen werde.« »Nun, Ihr werdet hier kein Schwert bekommen, dafür müsst Ihr zum Waffenmeister gehen«, sagte die Frau. Sie maß Felice gekonnt. »Ihr seid ein wenig klein, nicht wahr, für einen Knappen? Und es waren bereits zwei Burschen hier, die um dasselbe gebeten haben. Große, stramme Burschen waren das. Ihre Hoheit überrascht mich. Sie nimmt normalerweise keine dürren, kleinen Burschen wie Euch mit auf solch gefährliche Missionen.« »Ich soll Schiffsjunge werden«, sagte Felice verzweifelt und mit dünner Stimme. Sie räusperte sich bestürzt und sagte erneut und wesentlich tiefer: »Ich kenn mich mit Schiffen aus, jawohl.« Die Frauen lachten alle, und die Gewandmeisterin sagte eher bissig: »Nun, dann werdet Ihr kein Schwert brauchen, Junge. Wenn ich mich recht erinnere, sind Schiffsjungen nicht wie Ritter bewaffnet!« Felice biss sich auf die Lippen, schwieg aber, während die Frau einen Schrank durchsuchte. Sie verschränkte die Arme, wippte mit einem Fuß und bemühte sich, einem Jungen so ähnlich zu se 254 hen wie nur möglich. Dann wandte sich die Frau mit den Armen voller Kleidungsstücke wieder um. »Hier sind ein paar gute, feste Hosen für Euch, Junge«, sagte sie. »Eure wirken ein wenig abgetragen. Und ein paar Hemden. Sie sind nicht neu, aber besser
als das, was Ihr habt. Und ein warmes Wollwams, weil es in der Nähe der Banrigh-Witwe kalt ist, das lässt sich nicht leugnen.« »Ich brauch alles doppelt«, sagte Felice , um ein gewinnendes Lächeln bemüht. »Wir gehen zu zweit.« Das Lächeln der Frau schwand, und sie sah Felice stirnrunzelnd an. »Wo ist dann dieser andere Bursche?«, wollte sie wissen. »Überbringt gerade Nachrichten«, antwortete Felice . »Für die Banrigh-Witwe. Das Schifflegt in weniger als einer halben Stunde ab, wisst Ihr. Und es ist noch schrecklich viel zu tun.« Das Misstrauen schwand aus dem Blick der Frau. »Wie wahr«, erwiderte sie seufzend. »Ich wünschte, wir wären irgendwie vorgewarnt worden. Myladys Rüstung war jahrelang weggepackt, und es war schwierig, sie so kurzfristig hervorzuholen. Und Schlittschuhe! Was, um alles in der Welt, will die Banrigh-Witwe auf dem Meer mit Schlittschuhen?« »Ich hab keine Ahnung«, antwortete Felice wahrheitsgemäß. Die Gewandmeisterin seufzte. »Nun, vielleicht müssen ihre Knappen Schlittschuhe tragen, weil sie alles um sich herum in Eis und Schnee verwandelt«, sagte sie. »Schneestürme mitten im Sommer! Und ich hatte bereits sämtliche Winterkleidung für die Saison weggepackt! Jetzt sieht mein Lagerraum wie Kraut und Rüben aus. Ich hab Glück, wenn ich überhaupt was finde.« Felice wartete höflich. »Also braucht Ihr auch Schlittschuhe?«, fragte die Frau mit leidendem Tonfall. »Vermutlich«, antwortete Felice , entschlossen, alles zu bekommen, was Cameron und Rafferty bekommen hatten, wie bizarr es auch schien. Tatsächlich fragte sie sich unwillkür 255 lich, ob die Banrigh-Witwe verrückt geworden wäre. Keine ihrer Handlungen, seit ihr Ehemann gestorben war, schien wirklich vernünftig - der Schneesturm, das Rufen des Namens des Drachen, um Rhiannon zur Strecke zu bringen und sie zum Hängen ohne Gerichtsverhandlung zurückzuschleppen, die zwei Wochen Abgeschiedenheit bei zugezogenen Vorhängen in ihrem Raum und dann dieser plötzliche, wahnsinnige Impuls, etwas in Gang
zu setzen, woraufhin überall Menschen umherliefen, um nach Schlittschuhen, altmodischen Rüstungen und Karten der Pirateninseln zu suchen. Felice kümmerte es nicht. Wenn es sie Owein näherbrachte, dem geflügelten Prionnsa, an dessen Lächeln Felice jeden Abend dachte, bevor sie einschlief, dann war nur das wichtig. »Alles doppelt, sagtet Ihr?«, murrte die Gewandmeisterin weiterhin. »Nun gut - obwohl der Schrank leer werden wird, wenn ich vier Jungen in ebenso vielen Minuten ausstatten muss. Zumindest musste ich Euch keine Hofkleidung geben! Und da Ihr kein Knappe, sondern nur ein Schiffsjunge sein werdet, brauch ich Euch auch keinen Wappenrock mit dem Wappen der MacCuinn zu geben.« Felice betrachtete bedauernd die langen, blauen, seidenen Wappenröcke, welche die Gewandmeisterin wegpackte, und wünschte, sie hätte nicht gesagt, dass sie nicht wirklich ein Knappe würde. Im nächsten Moment waren ihre Arme jedoch mit großen Stapeln Kleidung gefüllt, zwei lange, graue Umhänge lagen obenauf. »Und hier sind Eure Dienstabzeichen«, sagte die Frau, schloss eine kleine Kiste auf und nahm zwei Dienstabzeichen mit dem Emblem eines goldenen Rothirschs auf dunkelgrünem Hintergrund heraus. »Passt gut darauf auf. Sie zeigen, dass Ihr im Dienste der MacCuinn steht. Wenn Ihr sie verliert, werdet Ihr gewiss entlassen!« »Danke!«, rief Felice und vergaß dabei, ihre Stimme zu senken. 256 Die Frau lächelte nur, denn sie dachte offensichtlich, Felice sei gerade im Stimmbruch. Felice neigte den Kopf und wandte sich zum Gehen, nur um von der Frau zurückgerufen zu werden, die inzwischen ein dickes Hauptbuch zu sich herangezogen hatte und ihre Feder gerade in das Tintenfass tauchte. »Nicht so schnell, Bursche!«, sagte sie. »Ich brauche Euren Namen und den Namen Eures Freundes, bevor Ihr geht, und Eure Unterschrift.«
Felice starrte sie mit offenem Munde an, und dieses eine Mal weigerte sich ihr Geist zu reagieren. »Wie bitte?«, fragte sie schließlich in dem Versuch, Zeit zu schinden. »Euer Name, Bursche! Und bei wem Ihr Euch melden werdet.« »Oh! Natürlich. Nun, mein Name ist Phillip«, sagte Felice . »Phillip, Sohn Landons, aus Magpie Wood in Ravenshaw. Und mein Freund, mein Freund ist Max... Maxwell, Sohn von ... Rafferty dem Schuster aus Tullimuir.« Sie konnte spüren, wie sich ihre Wangen röteten, und verfluchte sich für ihre geistige Schwerfälligkeit. »Interessant, wir hatten gerade einen anderen Rafferty aus Tullimuir«, erwiderte die Gewandmeisterin, während sie umständlich schrieb. »Kein Name, den man jeden Tag hört.« »Wirklich?«, fragte Felice . »In Ravenshaw ist es ein geläufiger Name.« Die Frau hob den Blick. »Seid Ihr alle aus Ravenshaw? Nun, das ist interessant.« Felice wand sich unter ihrem misstrauischen Blick und tat ihr Bestes, um arglos zu wirken. »Wirklich? Warum? Hier sind viele von uns Burschen aus Ravenshaw, da wir keinen eigenen Turm haben, wisst Ihr, und es zu weit ist, als dass jemand von uns nach Hause reisen könnte, jetzt, wo die Theurgia geschlossen ist. Die Schule ist voll von uns - wir lungern herum und haben nichts zu tun. Die Banrigh versucht vermutlich einfach, uns von Schwierigkeiten fernzuhalten.« 257 »Da wünsch ich ihr viel Glück dabei«, erwiderte die Frau verdrießlich und streute Sand auf die nasse Tinte. »Nun denn, Bursche, dann geh, sonst verpasst du dieses Schiff.« »Ach ja, das will ich nicht«, antwortete Felice und eilte aus dem Raum, wobei sie deutlich ihre schwitzenden Handflächen, ihre heißen Wangen und ihr hämmerndes Herz spürte. Sie konnte jedoch ein breites Lächeln nicht unterdrücken, sobald sich die Tür der Kleiderkammer hinter ihr geschlossen hatte. Sie hatte es geschafft! Mit noch etwas Glück, und hoffentlich weitaus mehr Verstand, würden sie und Landon auf dieses Schiff gelangen!
DER DISTELRING Bronwen seufzte, sah ihre Papiere durch, erhob sich, trat zum Fenster und blickte auf den Springbrunnen im Hof unter ihr hinab. Menschen liefen überall geschäftig umher und bereiteten Iseults Abreise vor. Bronwen empfand jähen Neid. Was würde sie nicht darum geben, aufs Meer zu gelangen! Sie biss die Zähne zusammen, zerknüllte ihren Rock zwischen den Händen und schritt unruhig auf und ab. Sie hasste Lucescere! Kein Wunder, dass ihre Mutter ihren Vater veranlasst hatte, Rhyssmadill für sie wiederaufzubauen. Oh, in Sicht- und Hörweite des Meeres zu leben! Ein unterdrücktes Stöhnen entrang sich ihr. Maura, das alte Moorzauberwesen, das ihr Kindermädchen gewesen war, blickte von ihrer Näharbeit auf. »Bron ist ständig zappelig«, beklagte sie sich. »Was ist los mit meinem Mädchen?« »Ich langweile mich!«, antwortete Bronwen. »Und ich bin es leid, Banrigh zu sein. Ich bin es leid, in Trauer zu sein. Ich bin alles leid.« 258 »Du brauchst ein wenig frische Luft«, sagte Maura. »Warum machst du keinen Ausritt? Ein hübsches Mädchen wie du sollte nicht den ganzen Tag im Zimmer eingesperrt sein, den Kopf in Büchern und Papieren vergraben. Geh raus, galoppiere, hab ein wenig Spaß. Dann fühlst du dich besser.« »Maura, du bist ein Schatz!« Bronwen lächelte ihr zu. »Schickst du einen meiner Knappen zu Neil, damit er die Pferde herbringen lässt?« »Alles, was meine armen alten Beine schont«, sagte Maura, erhob sich steif und seufzte, während sie zur Tür hinüberhinkte und mit dem Knappen sprach, der unmittelbar davor saß. Joey lief davon, um ihrer Aufforderung zu folgen, und das alte Moorzauberwesen stapfte zurück um Bronwen beim Umkleiden zu helfen. Wenn sie stand, reichte sie Bronwen nur bis zur Taille, und die Banrigh musste sich herabbeugen, um sie zu umarmen. Maura
tätschelte liebevoll ihren Rücken. Ihre ledrige Hand war schwarz und ganz von gekräuseltem Fell bedeckt, und ihre runden, schwarzen Augen waren sehr klar. »Fordere ich dich zu sehr?«, fragte Bronwen besorgt. »Neil sagte erst gestern, dass ich eine richtige Zofe haben sollte. Würde dir das gefallen? Wenn ich irgendeinem Mädchen die schweren Arbeiten übertragen würde, meine ich, und dir ein wenig Ruhe verschaffte?« »Dieser Kuckuck, er denkt, er weiß alles, aber er hat keine Ahnung«, erwiderte Maura mürrisch. »Er sagt dies, er sagt das, und du springst, springst, springst. Er ist nicht dein Ehemann, Kind, und er ist nicht dein Geliebter. Du musst aufpassen, wie viel du dir von ihm sagen lässt.« »Ach, Maura! Sei nicht albern. Neil springt für mich überall umher. Ich muss aufpassen, dass er sich nicht überarbeitet.« Bronwen wandte sich um, damit Maura ihr schwarzes Seidengewand aufschnüren konnte. »Ich glaube nicht, dass er während 259 dieser letzten Woche viel geschlafen hat. Nun, es war nach Mitternacht, als er gestern Abend fertig war, und er saß beim Frühstück am Ratstisch. Das ist mehr, als ich vom halben Geheimen Rat behaupten kann.« »Du sagst diesem Kuckuck, dass du eine neue Zofe genauso sehr brauchst wie ein Loch im Kopf«, sagte Maura. »Der Junge hat Nerven!« Bronwen lächelte, als sie Neil bei seinem kindlichen Spitznamen nennen hörte, stieg in das Reitgewand, das Maura ihr hinhielt, und stand still, während das Moorzauberwesen es zuknöpfte. »Wie kommt es, dass du hier in Lucescere geblieben bist, anstatt nach Arran zurückzugehen?«, fragte sie neugierig, wobei ihr niemals zuvor in den Sinn gekommen war, sich darüber zu wundern. Moorzauberwesen waren in Arran ansässig, und Maura war dort geboren, denn ihre Mutter Aya war das Kindermädchen von Neils Vater Iain gewesen, als er ein Junge war. Maura schnaubte. »Dieser Turm der Nebel beherbergt für mich zu viele Geister und schlechte Träume«, antwortete sie.
»Außerdem warst du mein Mädchen. Du denkst, ich würde mich einfach verabschieden und gehen und dich ganz allein lassen? Hmmphf!« Sie wäre tatsächlich ganz allein gewesen, wie Bronwen erkannte, da ihre Mutter eine stumme Dienerin der Hexen war und ihr Onkel nie ganz gelernt hatte, ihr zu vertrauen, ganz zu schweigen davon, sie zu lieben. Da waren natürlich Donncan und Neil gewesen, die ihre gesamte Kindheit und Jugend hindurch um ihre Zuneigung gewetteifert hatten, und Isabeau, die für sie eher eine Mutter als eine Tante gewesen war, sie praktisch vom Säuglingsalter an aufgezogen und ihr ganzes Leben lang auf sie aufgepasst hatte. Aber Isabeau war die Bewahrerin des Schlüssels, musste sich um einen gesamten Hexensabbat kümmern und konnte ihr gewiss nicht die konzentrierte Liebe und Aufmerksamkeit geben, 260 nach der Bronwen sich gesehnt hatte. Ohne Maura, die sich ihr ganzes Leben lang um sie gekümmert hatte, ihr heiße Schokolade ans Bett gebracht und ihre Kleider für sie ausgebürstet hatte, wäre ihr Leben weitaus einsamer gewesen. »Ja, ja, manchmal vermisse ich die Moore«, murmelte Maura, während sie Bronwens Haar auskämmte und es für sie aufsteckte. »Aber nicht den Turm, o nein! Wenn man zu lange in diesem Turm bleibt, wird man krank, Geister beginnen in deiner Haut umherzugehen. Ja, ja, wir Moorzauberwesen wissen das. Wir sehen es. Du solltest auf dein altes Kindermädchen hören, BronnyKind, und dich vor diesen Geistern in Acht nehmen.« Bronwen amüsierte sich. »Donncan sagte auch, er hätte die ganze Zeit Albträume gehabt, während er dort war«, sagte sie. »Die Luft muss schlecht sein.« »Schlechte Luft, schlechte Träume, schlechte Menschen«, sagte Maura. »Jetzt bestimmt nicht mehr«, erwidert Bronwen. »Nun, Iain von Arran ist wirklich ein Lieber, und Kuckuck ist ein absoluter Schatz. Ich muss sagen, dass seine Mutter in meinen Augen nicht der liebste Mensch auf Erden ist, aber abgesehen davon, dass sie einen seltsamen Geschmack in Bezug auf Religionen hat, richtet
sie keinen Schaden an. Ihr Pastor, gut, er verursacht mir eine Gänsehaut, daran besteht kein Zweifel, aber er stammt, streng genommen, nicht vom Turm der Nebel.« »Pass einfach auf diese Geister auf, Mädchen«, sagte Maura und trat zurück, um ihren Schützling zu begutachten, die in einem dunkelblauen Reitgewand sehr schneidig aussah, das, obwohl es vom Kinn bis zu den Handgelenken und den Stiefelspitzen geschlossen war, fast unerhört eng an ihrem Körper anlag. Bronwen hatte weder die Zeit noch, wenn sie ehrlich war, Lust gehabt, sich ein neues, sittsameres Reitgewand anfertigen zu lassen. Dieses war wirklich wunderschön. Als Bronwen angezogen und ausgehbereit war, wartete Joey 261 vor ihrem Schlafzimmer bereits aufgeregt auf sie, ihre Reitgerte und den hohen Hut in Händen. Einer von Bronwens Leibwächtern, Dolan der Schwarze, folgte ihr, als sie die Treppe hinabging, den Zipfel ihres Rockes über ihren Arm gelegt. Joey lief unmittelbar hinter ihr und trug ehrerbietig ihre Handschuhe, ihren Hut und die Peitsche. Neil wartete draußen im Vorhof auf sie, hielt die Zügel von Bronwens weißem Zelter und seinem hübschen Fuchs, während auch einige andere Lords und Ladys in der Nähe auf ihr Erscheinen gewartet hatten, um aufzugsteigen. Es war ein schöner, frischer Tag, und der Atem der Pferde bildete weiße Wolken. Da die meisten Reitgewänder ohnehin schlicht gestaltet waren, war keines schwarz eingefärbt worden, und so war es eine Erleichterung für die Augen, üppige Rostrot-, Waldgrün-, Perlgrau- und Herbstbrauntöne zu sehen anstatt das unablässige Schwarz, das Bronwen nun Tag für Tag erblickt hatte. Das einzige sichtbare Schwarz trugen Elfrida und ihr Pastor, die steif wie zwei Säulen gemeinsam um den Vorplatz spazierten und mit missbilligend gerunzelter Stirn die Munterkeit der Höflinge betrachteten, die alle froh waren, der Monotonie eines trauernden Hofes zu entkommen, wenn auch nur für eine Stunde. Gerade als Bronwen sich in den Sattel heben lassen wollte, kamen mehrere Menschen aus dem Palast auf sie zu, um mit ihr zu
sprechen. Es waren der MacAhern und seine Familie, die an diesem Nachmittag nach Tireich zurückreiten wollten. Jedem von ihnen folgte nur ein Dienstbote, der einige kleine Gepäckstücke trug, woraufhin sich Bronwens Augen erstaunt weiteten. »Gütiger Himmel! Ist das alles, was Ihr mitgebracht habt?«, rief sie aus. »Ich schwöre Euch, wenn ich Euch in Tireich besuchen würde, hätte ich nur für mich alleine schon zehn Mal so viele Kisten bei mir.« »Wir reisen gerne mit leichtem Gepäck«, erwiderte der MacAhern. 262 »Wir brauchen nicht viel«, fügte seine Frau mit kaum wahrnehmbarer Verachtung in der Stimme hinzu. »Ein Pferd, eine Tasche, und fort sind wir«, sagte Hearne MacAhern heiter und lächelte Bronwen zu. Sie musste das Lächeln unwillkürlich erwidern. Sie kannte Hearne natürlich gut, da er einer der Knappen ihres Onkels gewesen war und sich daher viel am königlichen Hof aufgehalten hatte. »Ist das Euer neues Fohlen?«, fragte der MacAhern und begutachtete Bronwens Zelter mit geübtem Blick »Sie ist ein hübsches Tier. Wie läuft sie?« »Glatt wie Seide«, antwortete Bronwen stolz. »Neil hat sie für mich besorgt.« Sie lächelte vergnügt, als der MacAhern, der anerkannte Pferdelaird, eine Hand über die Flanke der Stute führte und anerkennend nickte, als der Zelter seitwärts tänzelte, den Hals durchbog und die Mähne aufwarf. »Sie hat Temperament«, sagte der MacAhern. »Ich sagte dem Mann, dass ich ein Pferd für die Banrigh brauchte, und er versuchte, mir eine richtige Mähre anzudrehen«, erklärte Neil lachend. »Er konnte nicht glauben, dass ich Bronnys Hals auf einer temperamentvollen Stute wie Schneefall riskieren würde. Ich blieb jedoch unnachgiebig. Ich sagte, wenn ich ihr dieses plattfüßige Tier mit dem durchhängenden Rücken kaufte, müsste ich sie reiten! Das wollte ich nicht riskieren.«
Während alle lachten, sah Bronwen, dass ein mürrisch dreinblickender junger Mann mit einem Schopf hellen Haars von der Treppe aus niedergeschlagen zusah. Es war Fymbar MacThanach aus Blessem, ein weiterer der früheren Knappen des Righ. Wie bei Hearne MacAhern und Barney MacRuraich waren auch seine Pflichten gegenüber dem Hof mit Lachlans Ermordung beendet, und seine Familie wollte ihn unbedingt mit nach Hause nehmen, zumindest bis der Mörder gefunden und bestraft wäre und das Leben bei Hofe wieder sicher schien. 263 Sie winkte ihm zu und lächelte, und er winkte sie zu sich. Bronwen seufzte, da sie ungeduldig aufbrechen wollte, aber sie entschuldigte sich höflich und trat zu ihm, während er mit über der Brust verschränkten Armen dastand. »He, Fymbar, wie geht es dir?«, fragte sie. »Ich habe dich seit Tagen nicht gesehen.« Sie sprach herzlich, da sie Mitgefühl für den jungen Mann hatte, der genug davon haben musste, ständig am Rockzipfel seiner Mutter hängen zu sollen. Die NicThanach von Blessem hatte ihren kostbaren Sohn und Erben keinen Moment aus den Augen gelassen. »Nein, du warst zu sehr mit deinem Kuckuck beschäftigt«, erwiderte er sarkastisch. Bronwen runzelte die Stirn »Wie bitte?«, fragte sie frostig. Fymbar litt sehr leicht unter verletztem Stolz. Als einziger Sohn von fünf Kindern, war er von seiner mächtigen Mutter und vier liebenden Schwestern sein ganzes Leben lang gehätschelt und getätschelt worden und war es nicht gewohnt, nicht zu bekommen, was er wollte. Nun, er hatte Bronwen schon gewollt, als er zum ersten Mal in den Palast kam, und doch hatte sie niemals mehr getan als ihn angelacht und ihn ausgeschickt, etwas zu trinken für sie zu besorgen, während sie mit jemand anderem flirtete. Er war bereit gewesen, für Donncan großmütig beiseitezutreten, wohl wissend, wie wichtig ihre Heirat aus strategischen Gründen war, aber er hatte nicht die Absicht, sich für Neil von Arran wegschicken zu lassen, der ein Lump war, weil er ver-
suchte, die Ehefrau seines besten Freundes zu verführen. Und so fuhr er, obwohl Bronwens Miene und Stimme ihn hätten warnen sollen, dennoch fort. »Ihr solltet Euch schämen, Mylady«, sagte er. »Euer Onkel ist noch keine zwei Wochen tot, Euer Ehemann wird - Eà weiß wo vermisst, und Ihr amüsiert Euch mit seinem besten Freund. Das ist Eurer nicht würdig...« 264 Alle Freude bei der Aussicht auf eine Stunde Freiheit vom Palast wich von Bronwen. »Wie kannst du es wagen!«, schrie sie und dachte erst dann daran, ihre Stimme zu senken. »Wie kannst du es wagen, mir zu unterstellen, dass ich meinem Ehemann, und der Krone, untreu wäre«, zischte sie. »Ich habe nur mein Bestes getan, um dieses Land zu regieren, seit mir die Rolle am Mittsommer aufgezwungen wurde. Du denkst, ich hätte Zeit oder Kraft für eine Tändelei? Du bist ein Narr und ein Dilettant. Du denkst, ein Land dieser Größe regiert sich von alleine? Du denkst, ich wäre nur eine Marionette, die die ihr vorgelegten Dokumente unterzeichnet, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen? Da hast du dich aber geirrt, mein Lieber! Ich habe jede wache Stunde seit dem Verschwinden meines Ehemannes mit dem Versuch verbracht, ihn zu finden und zurückzuholen sowie ihn bestmöglich zu vertreten, solange er fort ist. Und Neil war die ganze Zeit meine Stütze, mein Halt, der beste und liebste Freund, den sowohl ich als auch mein Ehemann haben könnten. Du wirst dich bei mir entschuldigen, Fymbar, und bei ihm auch!« Sie war den Tränen nahe, ihre Brust hob und senkte sich, während er vor Zorn und Scham scharlachrot wurde. »Ich mich bei einem MacFoghnan entschuldigen!«, rief er. »Niemals! Weißt du nicht, dass ihnen nicht zu trauen ist? Du wurdest hinters Licht geführt, Bronwen. Er benutzt dich für seine eigenen Zwecke, und du tanzt nach seiner Pfeife. Weißt du nicht, dass dieser ganze Clan wie Schlangen im Gras ist? Unsere Länder sind jahrhundertelang Seite an Seite marschiert, und wir haben schmerzlich gelernt, dass ...«
»Man berührt eine Distel nicht, ohne Schmerzen zu empfinden«, sagte eine sehr leise, höhnische Stimme neben Bronwen. Sie zuckte wie angestochen zusammen, fuhr herum und sah Elfrida und ihren Pastor unmittelbar hinter sich stehen. Sie mussten jedes Wort gehört haben. 265 Elfrida stand sehr aufrecht, eine Hand auf die Brust gepresst. Sie trug einen sehr großen, schwarzen Ring, wie Bronwen bemerkte, in den das Distelwappen des Arranclans eingraviert war. Sie lächelte Fymbar zu, der zurückschrak während die Worte in seiner Kehle erstarben. »Ihr tätet gut daran, Euch das zu merken, junger Fymbar«, sagte Elfrida. »Fasst die Distel nicht an.« Niemand sagte etwas. Elfrida lachte. »Wollen wir weitergehen, Euer Gnaden?«, fragte der Pastor und bot ihr seinen Arm. Er war groß, dünn und knochig, mit dünnem, blondem, kurz geschorenem Haar, einem spitzen Kinn und einer Nase mit hohem Nasenrücken, die er hoch erhoben trug. Elfrida hob ihre Hand und liebkoste den Distel-Siegelring. »Ja, es ist so erfreulich, nach so vielen Tagen Schnee die Sonne zu spüren. Ihr stimmt mir doch gewiss zu, Euer Majestät.« »Ja«, sagte Bronwen töricht. Elfrida lachte erneut und ging weiter, wobei ihre üppigen Röcke neben dem schmalen Gewand des Pastors wie eine schwarze Mohnblume an einem schwarzen Stiel schwangen. Bronwen wandte sich wieder zu Fymbar um. »Wenn du jemals wieder so mit mir sprichst, werde ich dich wegen Verrats anklagen und in den Turm werfen lassen«, sagte sie sehr leise. »Wärst du nicht solch ein junger Narr, und wären wir nicht seit Jahren Freunde gewesen, würde ich es jetzt tun.« All sein prahlerisches Benehmen war gewichen. »Ich... Es tut mir leid«, keuchte er. »Es ist nur ...« »Neil hat nichts getan, um sich selbst oder mich zu entehren«, sagte Bronwen. »Er ist ein wahrer Freund des Righ. Daran soll-
test du denken und versuchen, mir ein ebenso guter Freund zu sein wie er.« Sie dachte, Fymbar würde nach diesen Worten in Tränen ausbrechen. Seine Stimme klang erstickt, als er sich erneut zu ent 266 schuldigen versuchte. Bronwen wartete seine Worte nicht ab. Sie wandte sich um und ging zu ihrer Gruppe zurück, die sich noch immer am Springbrunnen unterhielt und lachte, wobei die meisten von ihnen die kleine Szene an der Treppe zum Glück nicht bemerkt hatten. Neil hatte jedoch etwas gespürt. Er blickte sie fragend an, während er ihr auf ihre Stute half, und sie lächelte ihm beruhigend zu. Sie sah, wie er sich umwandte und besorgt zu seiner Mutter blickte, die ihren Spaziergang wieder aufgenommen hatte, als sei nichts geschehen. Auch Bronwen tat so, als sei nichts geschehen. In gewisser Weise entsprach das auch der Wahrheit. Nur Elfridas Lachen hatte sie beunruhigt. Und es war gewiss seltsam, sie so sprechen zu hören, als wäre sie die Banprionnsa von Arran und nicht die des Nachbarlandes Tirsoilleir. Ihr Familienmotto lautete »Von Kraft zu Kraft«, und ihr Amtszeichen war eine schwertführende Hand. Bronwen fand es sehr merkwürdig, sie die MacFöghnan-Distel tragen zu sehen und sie Arrans Familienmotto anstatt ihres eigenen zitieren zu hören. Das Rätseln darüber beschäftigte ihre Gedanken den gesamten Ritt über, bis Neil sein Pferd neben ihres lenkte und sie mit besorgter Mene fragte, ob alles in Ordnung sei. »Ach ja«, sagte Bronwen mit strahlendem Lächeln. »Ich meine, so gut es unter den gegebenen Umständen sein kann.« Seine Miene klärte sich ein wenig. »Ja, es war eine schreckliche Zeit für dich. Ich kenne keine andere Frau, die nicht daran zerbrochen wäre, wenn man die Situation bedenkt. Du bist wirklich fabelhaft, Bronny!« »Und du auch!«, erwiderte sie, ihm über die Schulter zulächelnd. Seine Augen leuchteten auf. »Wirklich?« »Ja. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft, Neil. Ich danke dir.« »Es ist mir ein
Vergnügen, Euch zu dienen, Mylady«, antwortete er mit einer spöttischen, höfischen Verbeugung, und sie lachte. 267 »Machen wir ein Wettrennen zu der alten Eiche!«, rief sie und grub ihre Fersen in Schneefalls Flanken. Die weiße Stute sprang sofort vorwärts und Neils Wallach eine Sekunde später ebenfalls. Die beiden Pferde galoppierten auf gleicher Höhe durch die herabfallenden Streifen Sonnenlicht, und Bronwen spürte, wie alle Unruhe hinter ihr abfiel. GOLDENE PFERDE Lewen war ziemlich überrascht, Felice und Landon nicht draußen auf ihn wartend vorzufinden. Er fragte sich, ob sie böse auf ihn waren, weil er Iseult nicht überzeugen konnte, sie alle mitzunehmen. Oder vielleicht ging es ihnen nur vor Elend und Enttäuschung ebenso schlecht wie ihm, und sie waren in ihre Räume in der Theurgia zurückgekehrt, um allein Trübsal zu blasen. Lewen wollte nicht in sein Zimmer zurückkehren. Dessen Kälte und Leere quälten ihn. Er musste fort vom Palast, in der frischen, kalten Luft dahingaloppieren und sich den Wind ins Gesicht wehen lassen. Er beschloss, zu den Ställen zu gehen und seinen Hengst Argent zu holen. Schon immer hatte er einen guten Teil seiner Freizeit in den Ställen verbracht, sich als Stallbursche zusätzliches Geld verdient und mit seiner Arbeit für Argents Unterhalt bezahlt. Er konnte gut mit Tieren umgehen und hatte eine ruhige, sanfte Art, die Pferde mochten. In den Ställen herrschte üblicherweise eine Geschäftigkeit wie in einem aufgewühlten Ameisenhaufen, und seine Hilfe wurde stets überaus geschätzt, aber in letzter Zeit war es hier ruhig gewesen, da der halbe Hof in seine jeweilige Heimat zurückgekehrt war. Daher war Lewen überrascht, als er auf den großen, gepflasterten Hof gelangte und hektische Betriebsamkeit vorfand. Stallburschen sattelten eifrig eine Viel 267 zahl von Pferden, und Dienstboten in der warmen, braunen Livree des Clans der MacAhern beluden Packpferde. Große, rotgoldene Hunde lagen überall herum, und ihr Atem dampfte in der
frostigen Luft, während eine große Gruppe Männer und Frauen in braunen Plaids mit gelb-rotem Karomuster wartend danebenstanden. Lewen erinnerte sich, dass jemand erwähnt hatte, der Clan der MacAhern ritte am Nachmittag davon, und hielt sofort nach seinem Freund und Mitknappen Hearne MacAhern Ausschau, den er seit der Nacht der Ermordung kaum gesehen hatte. Lewen erblickte ihn sofort. Er sprach gerade mit seiner Schwester Madeline und seinem Bruder Aiken; beide waren groß und hatten ihr braunes Haar mit Lederbändern zurückgebunden. Lewen war ihnen schon ein oder zwei Mal zuvor begegnet, als sie an der Theurgia studiert hatten, aber beide hatten schon vor einigen Jahren ihren Abschluss gemacht und waren seitdem nicht an den Hof zurückgekehrt. Die MacAhern mochten Städte und Paläste nicht, wie er wusste, sondern zogen die Freiheit der weiten, braunen Ebenen, die sie ihre Heimat nannten, bei weitem vor. »Hearne!«, rief er. Hearne wandte sich um, lächelte bei seinem Anblick strahlend, hob eine Hand und winkte ihn zu sich. »Lewen!«, rief er. »Das trifft sich gut! Ich hatte gehofft, dich noch zu treffen, bevor ich fortgehe. Ich habe dich die ganze Woche kaum gesehen. Du kennst meine Schwester Maddie und meinen Bruder Aiken?« »Ich erinnere mich noch daran, wie du zur Theurgia kamst«, sagte Madeline und reichte ihm die Hand. Sie schüttelte sie wie ein Mann, fest und rasch. »Du hattest einen wunderschönen Grauen, einen großen Burschen, der aussah, als stammte er von Vervain ab.« »Ja, das ist mein Hengst, Argent. Er ist irgendwo hier drinnen, frisst sich die Wampe voll und wird von zu vielem Hafer dick. Ich bin hergekommen, um mit ihm auszureiten.« 268 »Sei vorsichtig, die Straßen sind noch vereist«, sagte sie. »Du willst sicher nicht ausgleiten und stürzen.« »Gut, ich danke dir«, erwiderte Lewen. Sie nickte, wandte sich ab und trat mit raschem, langbeinigem Schritt zu ihren in der Nähe stehenden Eltern. Aiken nickte auch abrupt und wandte
sich um, um ihr zu folgen. Obwohl er ebenso groß und gut aussehend war wie seine Schwester, wirkte sein Gesicht düster und grüblerisch und zeigte nicht dieselbe angenehme Offenheit wie Hearnes Gesicht. »Stör dich nicht an Aiken«, sagte Hearne eher entschuldigend. »Er ist kein großer Redner.« »Nun, ich auch nicht«, erwiderte Lewen. »Außer bei Pferden«, sagte Hearne, und sie grinsten einander an. »Also willst du nach Hause?«, fragte Lewen. »Ja, und ich bin froh darüber. Ich meine, die Theurgia ist ohnehin für den Rest des Semesters geschlossen, und meine Eltern sorgen sich darüber, was als Nächstes geschehen könnte. Sie wollen nach Hause ziehen und uns alle in ihrer Nähe wissen, bis feststeht, dass es keinen Krieg oder irgendwelche anderen Schwierigkeiten gibt.« »Ja, es sind düstere Zeiten«, sagte Lewen. »Ja. Ist es nicht schrecklich? Ich kann kaum glauben, dass das alles geschehen ist! Der Righ ermordet, Prionnsa Donncan und Prionnsa Owein entführt, und Banprionnsa Olwynne auch. Du musst völlig am Boden zerstört sein. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?« Lewen schüttelte den Kopf und sagte angespannt: »Sie sind aufs Meer hinausgefahren. Die Banrigh-Witwe folgt ihnen in der Hoffnung, sie zu erwischen, bevor sie die Pirateninseln erreichen.« »Hat ein Pirat sie entführt?«, fragte Hearne rasch neugierig. »Wozu, um alles auf der Welt? Wollen sie Lösegeld?« 269 »Ich weiß es nicht«, sagte Lewen. »Vielleicht.« Hearne spürte, wie sich eine schwarze Wolke über Lewen senkte, und stellte daher keine Fragen mehr, auch wenn er es eindeutig gerne getan hätte. Stattdessen sagte er: »Möchtest du das Pferd meines Vaters sehen?« »Ja!«, antwortete Lewen eifrig. »Natürlich möchte ich. Darf ich?«
»Sie werden Zänkischer Drachen als letzten herausbringen«, sagte Hearne. »Sonst geht er einfach durch, und dann haben wir ein Problem.« »Er ist also nicht von der sanftmütigen Art?«, fragte Lewen und folgte seinem Freund in den Stall. »Nein, er hat seinen Namen zu Recht. Er ist ganz ruhig, wenn Dai-dein auf seinem Rücken sitzt, aber er will niemand anderen in seine Nähe lassen. Er hasst es, in einem Stall gehalten zu werden, also wird er schlecht gelaunt sein. Sie mussten ihn wegen der Schneestürme hereinbringen, was ihm überhaupt nicht gefiel.« Sie hörten den Hengst, als sie den Stall betraten, wie er vor Zorn wieherte und tobte. Seine Hufe donnerten auf die Pflastersteine, während er in seiner Box umhertänzelte, stieg und darum rang, seinen Kopf von dem Halfter und Seil zu befreien, die ihn fest angepflockt hielten. Kenneth MacAhern, Hearnes Vater, war der letzte der Thigearns, und daher war Zänkischer Drachen ein großes, altes, geflügeltes Tier mit sanft honigfarbenem Fell und einer Silberschattierung um Maul und Augen. Er konnte seine regenbogenfarbenen Schwingen im Stall nicht richtig ausbreiten, was noch zu seinem Zorn und seiner Enttäuschung beitrug, und so hielt er sie halb entfaltet hoch, wobei die Spitzen über die Holzwände zu beiden Seiten strichen. Auf seinem Kopf trug er ein samtumkleidetes Geweih wie bei einem Rothirsch, das er in seinem Zorn aufwarf und wiederholt gegen die Tür rammte, die dadurch eingedrückt wurde. 270 »Er ist prachtvoll!«, rief Lewen, während er ihn bewundernd betrachtete. Die goldenen, geflügelten Pferde Tireichs waren weitaus größer und wilder als ihre schwarzen Cousins in Ravenshaw und waren inzwischen fast ebenso selten, da sie während der Regentschaft der Verhexerin fast bis zur Ausrottung gejagt wurden. Da geflügelte Pferde selten in Gefangenschaft gezüchtet werden konnten, mussten sie in der Wildnis eingefangen und gezähmt werden, und nur wenige besaßen die Kraft und Ent-
schlossenheit, das zu schaffen. Es hieß, die einzige Art, ein geflügeltes Pferd zu zähmen, bestünde darin, ein Jahr und einen Tag auf dessen Rücken zu bleiben, ohne abzusteigen - eine Aufgabe, die nur wenigen gelang. »Ja. Er wird jetzt alt. Mein Vater hat versucht, mit ihm zu züchten, um seine Linie zu erhalten, aber leider war keines der geborenen Fohlen geflügelt.« »Und niemand konnte ein weiteres zähmen?« »Nein. Aiken hat es letztes Frühjahr versucht, konnte aber nicht einmal nahe genug an eines herankommen. Ich denke, darum ist er so griesgrämig.« »Ach, nun, dann bleibt es dir überlassen.« Hearne lächelte flüchtig. »Ja! Ich darf es erst versuchen, wenn ich mündig werde, und bis dahin sind es noch vier Jahre, aber ich beabsichtige eines zu finden und es dann zu zähmen, selbst wenn ich drei Jahre und drei Tage auf seinem Rücken bleiben muss!« Der geflügelte Hengst stieg in seiner Box und wieherte herausfordernd. Hearne grinste erneut, steckte eine Hand in seine Tasche, trat ruhig vor, streckte seine Hand aus und erwiderte leise das Wiehern. Der Hengst beruhigte sich und rollte ein goldenes Auge in seine Richtung. Hearne trat einen weiteren Schritt vor, und das silbrige Maul senkte sich auf seine Hand und nahm sehr zart das Zuckerstück auf, das Hearne ihm hinhielt. Er zermalmte es genüsslich, tänzelte dann fort und warf erneut seinen mit 271 dem Geweih versehenen Kopf auf. Hearne trat zurück und lächelte breit. »Welch eine Schönheit!«, rief er. Lewens Blick wurde von etwas Goldenem an Hearnes Schulter angezogen, und er beugte sich vor, um genauer hinzusehen, als sein Freund an seine Seite zurückkehrte. »Ist das Eure Familienspange?«, fragte er. »Ja, das ist sie. Hast du sie noch nie gesehen?« Hearne löste sie und reichte sie Lewen. Es war ein wunderschön gearbeitetes goldenes Abzeichen, das ein steigendes Pferd mit aufgeworfener Mähne und Schweif zeigte.
»Nein, das habe ich nicht. Du trugst sonst vermutlich immer entweder deine Hofkleidung oder dein Lehrlingsgewand. Sie ist hübsch.« »Danke.« Hearne nahm sie zurück und steckte sein braunrotes Plaid wieder damit fest. »Hearne, was würde es bedeuten, eine sehr ähnliche Spange zu besitzen, aber mit einem laufenden Pferd, nicht einem steigenden?« »Das steigende Pferd ist das Abzeichen der königlichen Familie und das friedlich voranlaufende Pferd das Abzeichen unserer Garde«, antwortete Hearne. »Sie sind dem Abzeichen der Blaugardisten und dem von uns Knappen sehr ähnlich. Wir tragen den voranlaufenden Rothirsch, während die MacCuinns selbst den gekrönten, steigenden Rothirsch tragen.« »Also wäre jemand, der ein solches Abzeichen trägt, ein goldenes Abzeichen mit einem voranlaufenden Pferd, einer eurer Leute?« »Ja, ein Mitglied der Königlichen Pferdegarde, welche die spezielle Kavallerie-Einheit ist, die den königlichen Clan bewacht und bei jedem Angriff voranreitet. Nur die Allerbesten werden dort angenommen. Die meisten von ihnen waren üblicherweise Thigearns, aber jetzt ist natürlich niemand mehr übrig. Warum willst du das wissen?« 272 »Rhiannon ...«, wollte Lewen sagen, aber seine Stimme versagte. Er versuchte es erneut. »Rhiannon trägt ein solches Abzeichen. Sie sagt, es habe ihrem Vater gehört.« »Rhiannon? Das Mädchen mit dem schwarzen, fliegenden Pferd?« Hearne war sofort hellwach und interessiert. »Ja.« »Wie seltsam. Ich frage mich ... Komm, erzählen wir das meinem Dai-dein. Er wird es wissen wollen.« Lewen folgte Hearne wieder in den Sonnenschein hinaus und empfand unwillkürlich jähe Ungeduld. Obwohl Rhiannon ihren Vater selten erwähnte, der gestorben war, als sie fünf Jahre alt war, war er sich sicher, dass sie mehr über ihn wissen wollen würde.
Kenneth MacAhern beaufsichtigte gerade das Befestigen des Gepäcks seiner Familie auf den Kruppen der Packpferde. Beim Klang seines Namens wandte er sich um und lächelte, als er Hearne und Lewen herankommen sah. Hearne kam rasch zum Wesentlichen und beschrieb Rhiannons Spange, was den MacAhern und jedermann um ihn herum dazu veranlasste, Lewen sehr interessiert anzusehen. »Laird Farnell, wollt Ihr bitte herkommen?«, rief der MacAhern. Ein großer, ältlicher Mann mit ergrauendem schwarzem Haar kam auf den Ruf seines Herrn herüber, einen fragenden Ausdruck auf dem verwitterten Gesicht. Er hatte den o-beinigen, wiegenden Gang eines Mannes, der den größten Teil seines Lebens auf dem Pferderücken verbracht hatte, und bewegte sich, trotz seines Alters, mit flinker Anmut. Lewen bemerkte, dass die Augen des Laird von einem ungewöhnlichen, leuchtenden Blaugrau waren, und spürte, wie sein Herz schneller schlug. »Wollt Ihr Lewen Euer Abzeichen zeigen?« Verwundert, aber bereitwillig zeigte der ältliche Reiter Lewen das Abzeichen, das sein Plaid an seiner Schulter festhielt. 273 »Es ist dasselbe«, sagte Lewen. »Genau dasselbe.« »Wir schmieden nicht viele dieser Abzeichen«, sagte der MacAhern. »Die meisten davon sind sehr alt, vom Vater an den Sohn weitergegeben oder von den Körpern Toter genommen, um sie denjenigen weiterzugeben, die neu in die Pferdegarde eingeführt werden. Gold ist in Tireich sehr selten und sehr kostbar. Wir verschwenden es nicht.« »Rhiannon sagte, das Abzeichen habe ihrem Vater gehört.« »Wie alt ist dieses Mädchen ... diese Thigearna?« »Sie ist sich nicht sicher, denn sie hat niemals gelernt zu zählen oder sich an Jahrestage wie Geburtstage zu erinnern. Sie könnte schätzungsweise siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein.« Der blauäugige Reiter stand sehr still und starr und hörte intensiv zu.
»Es ist achtzehn Jahre her, seit Conall vermisst wurde, oder?«, sagte der MacAhern mit sehr sanfter, freundlicher Stimme zu ihm. Der Reiter nickte, bemüht, seinen Schock und seine heraufdämmernde Hoffnung zu verbergen. »Glaubt Ihr ... es ist möglich?« »Vielleicht«, sagte der MacAhern. »Wir müssten die Spange sehen und die Geschichte dieses Mädchens hören.« Er wandte sich wieder an Lewen. »Dies ist Laird Farnell MacAhern, einst der Hauptmann der Garden und der Cousin und liebe Freund meines Vaters. Sein Sohn, Conall, verschwand kurz vor dem Ende der Fairgean-Kriege. Er sollte eine Nachricht nach Ravenscraig bringen, eine Warnung an den MacBrann, dass in den Buchten entlang der Küste Fairgean gesehen wurden. Er war ein Thigearn. Das Letzte, was wir über ihn hörten, war, dass er gerade über den Bald Ben flog und die Abkürzung über die Berge nahm. Er kam jedoch niemals an, und wir fanden nie heraus, was mit ihm geschehen ist, obwohl wir Suchtrupps in die Hügel schickten.« 274 »Rhiannons Stamm lebt am Dubhglais, ein See, der zwischen dem Bald Ben und dem Ben Eyrie liegt«, sagte Lewen. »Wollt Ihr damit sagen, dass dieser... Satyricorn-Stamm meinen Sohn vielleicht gefangen genommen hat?« Lord Farnell war offensichtlich zwischen dem Entsetzen darüber, dass sein Sohn ein Gefangener der Satyricorns gewesen war, und der Hoffnung, dass Conall dort vielleicht Vater einer Tochter geworden sein könnte, einer Tochter, der es gelungen war, selbst ein geflügeltes Pferd zu zähmen, hin- und hergerissen. »Es ist eine Möglichkeit«, sagte der MacAhern achselzuckend. »Rhiannons Augen haben dieselbe Farbe wie Eure«, sagte Lewen zu Lord Farnell und beobachtete, wie sich seine weiteten und vor Aufregung jäh glänzten. »Und sie trägt auch einen Bogen wie Euren.« Er deutete mit dem Kopf auf den Langbogen, den der Reiter über eine Schulter geschlungen trug.
»Die Waffe des Thigearn«, sagte Hearne aufgeregt. »Gebratene Ratten, das Hingt, als könnte sie wirklich eine Verwandte sein!« »Mylaird, könntet Ihr mich vom Dienst befreien?«, fragte Lord Farnell. »Ich muss dieses Mädchen treffen und sehen, ob sie womöglich meine Enkeltochter ist.« »Natürlich«, erwiderte der MacAhern mit verständnisvollem Lächeln. »Sie ist nicht hier«, wandte Lewen mit elender Stimme ein. »Sie versucht im Dienste der Banrigh, die Entführer aufzuhalten.« »Eine gefährliche Aufgabe«, sagte Lord Farnell stolz. »Ja«, bestätigte Lewen. »Ich werde dennoch auf sie warten«, sagte Lord Farnell. »Sie wird sicher bald zurückkehren. Dann kann ich ihre Spange selbst sehen und sie nach ihrem Vater fragen.« »Sie hat kaum Erinnerungen«, erwiderte Lewen. »Sie war erst fünf, als er starb.« »Armes Mädchen«, sagte Lord Farnell mit verhangenen Augen. »Was für ein schreckliches Leben sie gehabt haben muss 275 unter Satyricorns aufzuwachsen, ohne eine Vorstellung davon, wer sie wirklich war.« »Nun, denn, wenn Ihr bleiben müsst, Mylaird, werde ich Euch ein Regiment Reiter als Hilfe und zum Schutz zurücklassen«, sagte der MacAhern. »Bringt diese Thigearna nach Tireich zurück. Ich bin höchst neugierig darauf, sie zu treffen, wie wir alle, denke ich.« Die Zuschauer nickten und murmelten zustimmend, außer Hearnes Bruder Aiken, der die Stirn runzelte und höchst ungehalten wirkte. Lewen spürte, wie sein Mut sank. Das Letzte, was er wollte, war, dass Rhiannon nach Tireich davonritt und eine komplett neue Familie entdeckte. Dann schalt er sich jedoch für seine Selbstsucht, schwieg und beschwor sogar zum Abschied ein Lächeln für Hearne herauf, während dieser auf seinen großen Fuchshengst stieg.
»Komm auch mit, Lewen!«, rief Hearne, als vermute er die Gedanken seines Freundes. »Pferdeflüsterer sind in Tireich immer willkommen!« Lewen lächelte, winkte und trat dann zurück um zuzusehen, wie Zänkischer Drachen, der stieg und buckelte und gegen die Zügel ankämpfte, von vier Reitern des Prionnsa herausgebracht wurde. Seine Schwingen waren nun vollkommen ausgebreitet, und Lewen konnte ihre vollkommene Schönheit erfassen. Der MacAhern trat vor, sprang auf den Rücken des Hengstes und streifte mit einem Ausdruck äußerster Verachtung die Zügel ab. Zänkischer Drachen hätte bei der Befreiung von der Beschränkung noch mehr buckeln und steigen sollen, aber stattdessen beruhigte er sich sofort, faltete seine Schwingen ein und wandte den Kopf, um liebevoll am Stiefel des MacAhern zu schnuppern. »Kommt, reiten wir!«, rief der MacAhern und gab ein Zeichen. Die gesamte Pferdekavalkade brach gleichzeitig auf und drang als lebender Fluss aus Schwarz, Kastanienbraun, Fuchsfarben und Grau aus den Stalltoren auf die Straße. 276 Lewen sah ihnen nach und wandte sich dann mit schwerem Herzen ab. Nun erkannte er, dass der alte Reiter mit den blaugrauen Augen ihn genau beobachtete. »Ihr kennt dieses Mädchen, diese Thigearna, gut?«, fragte Lord Farnell. Lewen nickte. Der alte Mann legte eine schwielige Hand auf Lewens Schulter. »Kommt, trinkt einen Schluck mit mir und erzählt mir alles, was Ihr wisst«, sagte er. »Ist es wahr, dass sie ihr geflügeltes Pferd in einem Tag und einer Nacht gezähmt hat?« »Ja, es ist wahr«, bestätigte Lewen, und Stolz ließ sein Herz schwellen. »Fabelhaft! Kommt, erzählt mir alles darüber.« Es war spät, als Lewen schließlich zur Theurgia zurückgelangte, und er fühlte sich von all dem Whiskey, den er getrunken hatte, benommen. Lord Farnell war höchst interessiert daran gewesen, alles über Rhiannon zu hören, und Lewen hatte gemerkt, dass
Liebe und Stolz ihm regelrecht den Atem nahmen, während er von all ihren gemeinsamen Abenteuern sowie von Rhiannons Tapferkeit und Geistesgegenwärtigkeit erzählte. Er merkte, dass er sich mehr nach ihr sehnte denn je, und musste sich ermahnen, dass er mit Olwynne, nicht mit Rhiannon verlobt war. Sein Dilemma stürzte ihn erneut in tiefstes Elend, und folglich trank er mehr, als er sollte, und glaubte, dem alten Reiter gegenüber mehr von seinen Gefühlen offenbart zu haben, als klug war. Als er in der Hoffnung den großen Saal in der Theurgia betrat, noch etwas Brot und Eintopf zu erhaschen, um den Whiskey aufzusaugen, sah er Edithe und Maisie, die beide ziemlich verärgert wirkten, wie sie da zusammen an einem der langen Tische saßen. Alles in allem saßen nur ungefähr ein Dutzend Menschen in dem Saal, obwohl es normalerweise mehrere Hundert gewesen wären. Lewen erbleichte und bemühte sich, unbemerkt zu blei 277 ben, denn er fühlte sich in der Gesellschaft der beiden Mädchen, die er auf der Reise durch Ravenshaw kennengelernt hatte, nicht wohl. Edithe war eine eingebildete, überhebliche, anmaßende Wichtigtuerin, während Lewen bei Maisie befürchtete, dass sie ein herzlicheres Gefühl als nur reine Freundschaft für ihn entwickelt hatte. Sie war während ihrer Reise von wilden Hunden schwer verletzt worden, und Lewen hatte sie vor Schlimmerem bewahrt und hatte sich auch weiterhin mit um sie gekümmert. Diese beiden waren ein ungleiches Paar, Edithe war die Tochter einer der ältesten und respektiertesten Familien Ravenshaws, während Maisie die Tochter eines Dorfweisen und recht einfach war. Sie trug ihr mausbraunes Haar in über den Ohren aufgesteckten Zöpfen und neigte dazu, in von Hand gefertigten Holzschuhen in den Sälen der Tneurgia herumzustapfen, da sie kein Geld für einen Schuster hatte. Lewen hatte den Saal schon fast wieder verlassen, als Edithe ihn unglücklicherweise bemerkte. Sie rümpfte über die einfache Nahrung, die zum Abendessen angeboten wurde, die Nase und winkte ihn gebieterisch herüber.
»Lewen, wo sind sie alle? Hast du Cameron und Rafferty gesehen?« »Sie haben sich als Knappen bei der Banrigh-Witwe gemeldet«, sagte Lewen, zu müde und berauscht, um zartfühlend zu sein. »Was! Diese schlitzohrigen Jungen. Ich wusste, dass sie vorankommen wollten. Wie, um alles auf der Welt, haben sie die Aufmerksamkeit von Mylady errungen? Hast du sie einander vorgestellt?« »Ja, das hab ich«, antwortete Lewen, setzte sich seufzend hin, nahm ein Stück Brot und tunkte es in die Schale mit dem eher wässerigen Eintopf. Die Köche im Palast waren viel besser als die Köche in der Theurgia. »Ich denke, du hättest mich der Banrigh-Witwe auch vorstel 278 len können«, jammerte Edithe. »Ich bin immerhin eine NicAven von Avebury! Rafferty ist nur der Sohn eines Uhrmachers! Nun, was weiß er davon, einer Banrigh zu dienen? Ich wäre eine weitaus passendere Wahl gewesen...« »Mylady wollte keine Kammerfrau, sie wollte einen Knappen.« Lewen trank etwas Wasser und stützte seinen hämmernden Kopf auf die Hände. Maisie betrachtete ihn genau. »Geht es dir gut, Lewen? Du siehst ein wenig grün im Gesicht aus. Hast du Kopfschmerzen?« Maisie wollte mehr als alles andere auf der Welt eine Heilerin werden und war zur Theurgia gekommen, um an der Königlichen Schule der Heiler zu studieren. Lewen nickte und wünschte dann, er hätte es nicht getan. »Komm, lass mich dich massieren«, sagte Maisie und errötete leicht. Sie erhob sich, trat hinter Lewen und massierte ihm sanft Nacken und Schultern. »Soll ich dir etwas Weidenrinde holen?« »Nein, es geht mir gut«, sagte Lewen und entzog sich ihrer Berührung. Er ging normalerweise freundlicher mit ihr um, da sie ihm leidtat und er ihre Gefühle nicht verletzen wollte. Heute war er jedoch zu betrübt, als dass es ihn gekümmert hätte. Maisie wurde tiefrot und trat mit Tränen in den Augen von ihm fort.
»Und was ist mit Landon und Felice ? Wo sind sie abgeblieben? Oh bitte, erzähl mir nicht, dass die Banrigh-Witwe dieses schamlose Luder als ihre Kammerfrau eingestellt hat! Wirklich, ich bin schockiert! Felice ist für ein adliges Mädchen recht geradeheraus. Natürlich will sie Prionnsa Owein in ihre Klauen bekommen, und darum will sie sich bei seiner Mutter einschleimen. Ich glaube...« »Ich sagte dir bereits, Ihre Hoheit hatte keine Verwendung für eine Kammerfrau!«, sagte Lewen ungeduldig und nahm dann die Hand von seinen Augen. »Du meinst, ihr habt Felice und Landon auch den ganzen Nachmittag nicht gesehen?« 279 »Nein, haben wir nicht«, sagte Edithe verärgert. »Und es war sehr langweilig, nur mit Maisie als Gesellschaft. Wir haben sie überall gesucht, konnten sie aber nicht finden. Sie hat sich vermutlich in die Stadt davongeschlichen, das Luder.« »Seltsam«, sagte Lewen zögernd und spürte, wie sein Mut sank. Was hatte Felice dieses Mal vor? Felice und Landon fanden heraus, warum Iseult so zuversichtlich gewesen war, den Hafen bis zur Dämmerung zu erreichen. Obwohl sie drei Wetterhexen bei sich an Bord hatte und dafür bekannt war, auch selbst starke, wenn auch eher unkontrollierte Kräfte zu besitzen, hatte Iseult nicht die Absicht, noch zu dem Wetterchaos beizutragen, indem sie einen Wind heraufbeschwor. Stattdessen hatte sie aus dem Loch Lucescere eine Seeschlange herbeigerufen. Die Seeschlange, ein großes, geschmeidiges Tier mit schleimigen, grüngrauen Schuppen, war als Antwort auf die seltsamen Klagelaute, die Iseult von sich gegeben hatte, langsam aus den Tiefen der weiten Wasserfläche aufgestiegen. Als Felice den Deckel des Fasses anhob, in dem sie sich versteckte, konnte sie das kalte Grün aus dem Wasser hervorkommen und dann eine dicke Schlinge schuppiger Haut sehen, die langsam abrollte. Sie erschauderte, kauerte sich tiefer in das Fass und hielt bei dem starken Geruch des Ales, welches das Fass ursprünglich enthalten hatte, den Atem an. Sie fragte sich, woher
Iseult die Sprache der Seeschlange kannte, und fragte sich weiterhin, ob sie wohl mit der Sprache der Drachen verwandt war. Sie erinnerte sich, dass Iseult, genau wie Isabeau, ein Lehrling der großen Zauberin Meghan von den Tieren gewesen war, die, wie man sie gelehrt hatte, die Sprache jedes Lebewesens beherrschte hatte. Der Schrei, der aus Iseults Kehle erklungen war und der nun von dem Tier erwidert wurde, das seinen mit einem 280 Kamm versehenen Kopf aus dem See erhob, hatte wie ein langes, wildes Heulen geklungen. Iseult heulte erneut, und die Seeschlange antwortete. Felice verrenkte sich bei dem Versuch zu sehen, was geschah, fast den Hals, wagte es aber nicht, ihren Fassdeckel weiter zu öffnen. Überall auf dem Schiff befanden sich Soldaten, einige in den blauen Jacken der Yeomen, andere in den schweren Fellen der Khan cohbans und weitere im Grau des allgemeinen Heeres. Es waren auch Hunde da, ein ganzes Rudel, die jaulten und knurrten und an den Enden ihrer Leinen umhersprangen. Ihr Anblick ließ Felice die Entdeckung fürchten, und sie konnte nur hoffen, dass der überwältigende Gestank des Ales ihren Eigengeruch überdecken würde. Plötzlich wurde das Fass heftig erschüttert, so dass sich Felice hart den Kopf an dem Holz stieß, und dann preschte das Schiff mit unglaublicher Geschwindigkeit davon. Felice hörte Rufen und Jubeln, und als sie erneut durch den Spalt blickte, sah sie Gischt hoch über die Seiten des Schiffes aufstieben. »Sind alle Flussschiffe benachrichtigt worden beizudrehen?«, rief jemand. »Ja, Sir!«, rief jemand anderer zurück. »Dann halt dich fest, Junge, denn wir werden jetzt schnell wie der Blitz laufen!«, schrie der erste Mann, der sich offensichtlich großartig amüsierte. Felice wünschte, sie empfände dasselbe. Der Gestank des Ales, die feuchte Enge ihres Verstecks und das wilde Schaukeln des Schiffes sorgten dafür, dass sie sich sehr elend fühlte. Sie biss die Zähne zusammen, dachte an Owein und harrte aus.
281 LANGE NACH MITTERNACHT Bronwen seufzte schwer und setzte sich auf. Es hatte keinen Sinn. Sie konnte nicht schlafen. Auch wenn die Erschöpfung an allen ihren Gliedern hing wie Bleigewichte, konnte sie ihr Gehirn nicht daran hindern, um dieselben alten Gedanken zu kreisen. Ihre unglückliche Beziehung zu ihrem Ehemann war wie ein ausgetretener Pfad in ihrem Kopf. Sich zu fragen, wo er sein könnte, war ein weiterer. Sich über die Konsequenzen des Impulses zu sorgen, der sie veranlasst hatte, den Leitstern, und damit die Krone, aufzunehmen, war ein dritter. Der vierte war die Frage, wer ihren Onkel möglicherweise ermordet haben könnte, sowie die Sorge, ob dieser verborgene Mörder auch für sie mörderische Pläne hegte. Das letzte, doch nicht geringste Thema, das ihre Gedanken beschäftigte, waren Neil und seine Liebe zu ihr. Sie wusste nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte, wie sie ihn auf Armeslänge fernhalten und ihn davon überzeugen sollte, dass er keine Chance hatte, ihr Herz zu gewinnen, wenn doch für jedermann offensichtlich sein musste, dass sie sich allmählich immer mehr auf ihn verließ. Es half ihr nicht wirklich, wenn sie nachdachte und sich sorgte, und doch konnte sie nicht anders. Also lag Bronwen Nacht für Nacht stundenlang wach, nur um irgendwann vor der Dämmerung in einen unruhigen Schlummer zu sinken. Sie wusste nur aufgrund ihrer Träume, dass sie geschlafen hatte. Diese Träume waren entsetzlich und dem wahren Leben so nahe, dass sie sich selbst versichern musste, dass es nur Albträume waren. Sie schwang die Beine aus dem Bett, steckte ihre Füße in ihre pelzgefütterten Pantoffeln und schlang dann ihren kostbaren, blauseidenen Morgenmantel um ihre Schultern. Obwohl sich das Wetter bemerkenswert gebessert hatte, seit Iseult früher an diesem Tag abgereist war, war es für die Jahreszeit immer noch 281 zu kalt. Bronwen trat zu ihrem Kamin hinüber, stocherte mit einem Schürhaken in den Kohlen und legte dann einige kleine
Holzscheite auf. Gelbe Flammen begannen an deren Seiten aufwärtszulecken. Sie verspürte ein jähes Verlangen nach dem süßen, duftenden Tee, den zu trinken sie sich angewöhnt hatte, und schaute zu ihrer Glocke. Es gab keinen Grund, nicht zu läuten und irgendeinen armen Dienstboten aufzuwecken, um ihn ihr zu holen. Es wäre jedoch wahrscheinlich ihr kleiner Page, dachte sie, und er war so jung, dass er seinen Schlaf brauchte. Sie zündete mit einem langen Kienspan eine Lampe an, da sie das Element Feuer nicht sehr gut handhaben konnte, und setzte sich dann hin, um die Berichte des Geheimen Rats durchzuarbeiten. Es gab viel zu tun, so viele Anforderungen an ihre Zeit und ihre Energie, dass sie das Gefühl hatte, als müsse sie einen Berg Papiere erklimmen, alle mit unverständlichen Wörtern bedeckt. Nach einer Weile schmerzte ihr Kopf heftig, und sie hatte ein so jähes Verlangen nach Tee, dass sie ständig zur Glocke schaute, auch wenn ihr bewusst war, dass es schon lange nach Mitternacht war und es grausam wäre, sie zu läuten. Also erhob sie sich, streckte sich, trat durch die flackernde Dunkelheit zu ihrer Tür und öffnete sie leise. Zu ihrer Überraschung schlief Joey draußen, fest in seinen Umhang gewickelt. Sie runzelte die Stirn. Ihr Page hatte doch gewiss ein eigenes Bett? Sie beugte sich herab, um ihn zu wecken, aber er schlief so friedlich, dass sie ihre Hand sinken ließ und über ihn hinwegtrat. Zwei ihrer Leibwächter standen im Gang draußen vor ihrem Zimmer, der Flur in beiden Richtungen war von hellen Laternen beleuchtet. Sie kannte sie gut. Sie wachten schon über sie, seit sie ein Kind war. »Könnt Ihr nicht schlafen, Mylady?«, fragte Dolan der Schwarze und zog eine dichte Augenbraue hoch. 282 Sie schüttelte kläglich den Kopf. »Ich dachte, ich sollte hinuntergehen und mir etwas Tee holen«, sagte sie. »Schickt Euren Jungen, dafür ist er da«, sagte Dolan mit freundlicher Verachtung.
»Er schläft«, erwiderte Bronwen. »Vor meiner Tür! Warum ist er dort? Hat er kein eigenes Quartier?« »Er hat wohl die Vorstellung, dass er über Euch wacht«, sagte Dolan nachsichtig. »Anscheinend fürchtet er um Euch, Mylady, und denkt, er sei besser ausgerüstet, Euch zu bewachen, als wir, Eà segne sein törichtes Herz.« »Ich kann für Euch gehen, Euer Majestät«, sagte der jüngere Wächter, ein blonder, rotgesichtiger Mann namens Barlow. »Danke, Barlow, aber ich möchte mir die Beine vertreten. Ich bin ganz... zappelig.« Sie lachten. »Ich kenne das Gefühl«, sagte Dolan. »Ich werde Euch begleiten, Mylady.« Sie wusste es besser, als dass sie Einwände erhoben hätte. Dolan war ihr zugewiesen worden, als sie kaum älter als acht Jahre war. Er duldete keine Diskussion. Sie ging den Gang weiter hinab, Dolan folgte leise wenige Schritte hinter ihr. Als sie das Ende des Ganges erreichte, lag der Palast ganz dämmerig und ruhig vor ihr, nur von gelegentlichen Laternen beleuchtet. Es war kalt, und sie steckte die Hände in ihre Ärmel und wünschte sich, der Sommer würde zurückkehren. Der Tee, den Mirabelle für sie bereitet hatte, würde in der speziellen Speisekammer des Hausdieners aufbewahrt werden, wie sie wusste, zusammen mit ihrem Glühwein, einer Dose mit ihren Lieblingskeksen und Zuckerwerk sowie allem anderen, wonach ihr irgendwann gelüstete. Die Speisekammer befand sich nicht im Küchenflügel, der in einem anderen Gebäude untergebracht war, sondern unmittelbar im Stockwerk unter ihr, damit sie nicht warten musste, wenn sie klingelte und um etwas bat. Sie ging 283 leise die Treppe hinab und bewegte sich durch Meere der Dunkelheit von einem trüben Lichtkreis zum anderen, während ihr Wächter sich hinter ihr ebenso leise bewegte. Jemand kam seufzend den Gang entlang. Bronwen konnte nur ein weißes, schwebendes Gesicht und zwei weiße, körperlose Hände sehen, die das sanft flackernde Licht einer Kerze um-
wölbten. Bronwen blieb, plötzlich von Entsetzen ergriffen, auf der Stelle stehen. Wäre nicht das Tappen von Schuhen zu hören gewesen, hätte sie sich einbilden können, es sei ein Geist oder irgendein Phantom aus einem ihrer Albträume. Das Gesicht war sehr weiß, die Augen wirkten hohl, und die Nacht selbst schien mit vagem Rascheln und Knistern hinter ihr herzuschleifen. Dann sah Bronwen den schweren, schwarzen Ring an einer der Hände und erkannte ihn als den Distel-Siegelring, den Elfrida von Tirsoilleir am Morgen getragen hatte. Da erst konnte sie das Muster aus Weiß und Schwarz einordnen und Elfridas Gesicht sehen, bleich und tief unglücklich, durch die Kerze von unten dämonisch beleuchtet. Bronwen atmete erleichtert tief durch und hätte sich auf der Treppe in der Dunkelheit bemerkbar gemacht, hätte sie nicht die leise gemurmelten Worte aus Elfridas Mund gehört. »Geh weg, geh weg«, sagte sie gerade. »Warum quälst du mich so? Ich habe alles getan, was möglich war. Ich habe es alles getan. Was kann ich noch tun? Nein, nein, nein, nein. Zu viel. Zu viel. Oh, warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Ich bin so müde, so müde. Ich bin zu müde, um noch etwas zu tun. Alles läuft gut. Alles ist wunderbar. Was willst du noch?« Sie hielt inne. Sie schien zurückzuschrecken. Bronwen wagte kaum zu atmen. »Das kannst du nicht tun«, flüsterte Elfrida so leise, dass Bronwen die Worte kaum verstehen konnte. »Das würdest du nicht tun. Das könntest du nicht. Nein.« Es folgte eine lange Pause. Alle Haare an Bronwens Körper 284 standen aufrecht. Sie schauderte und schlang die Arme um sich. »Ja«, sagte Elfrida und seufzte, so dass ihre Kerze zitterte. »Sehr gut. Was es schaden kann? Gar nichts. Fast gar nichts.« Sie schien auf einen Punkt neben sich zu starren, als begleite sie jemand in der kalten Dunkelheit - aber da war niemand. Bronwen fragte sich, ob sie schlafwandelte. Sie war vollkommen angezogen. Wenn sie geschlafen hatte, dann in ihren Kleidern. Bronwen hätte nicht erklären können, warum der Anblick
Elfridas, wie sie um drei Uhr morgens durch die Gänge wandelte, vollkommen angezogen und vor sich hin murmelnd, so beunruhigend wirkte. Vielleicht weil Elfrida stets so beherrscht schien, als hätte sie niemals in ihrem Leben einem verrückten Impuls nachgegeben. Vielleicht war es nur die nächtliche Stunde, zu der alles seltsam und gespenstisch schien. Bronwen versuchte den Mut aufzubringen, die letzten zehn Stufen hinabzusteigen, Elfrida am Arm zu nehmen und sie aufzuwecken, als Dolan eine Hand auf ihren Arm legte, den Kopf schüttelte und sie fortziehen wollte. Bronwen zögerte. Genau in dem Moment kam ein weiterer Lichtschein den Gang hinab auf sie zu. Er wirkte wärmer, freudiger und goldener. Bronwen wich instinktiv einige Schritte in die Dunkelheit zurück Elfrida schien ihre Bewegung zu hören. Sie wandte den Kopf, blickte die Treppe hinauf und wäre ein wenig näher herangetreten, wenn nicht das Licht der Laterne sie erreicht hätte, woraufhin sie zusammenzuckte und ihre Augen abschirmte. Es war die Heilerin Mirabelle. »Euer Gnaden«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Ihr solltet zu dieser Nachtstunde nicht die Gänge durchwandeln. Was ist los? Könnt Ihr wieder nicht schlafen?« Elfrida seufzte tief. »Schlafen, schlafen, wann habe ich zuletzt geschlafen?« »Die Mohntinktur, die ich Euch gab, wirkt nicht?« 285 »Ich habe schlimme Träume«, erwiderte Elfrida. Sie erschauderte so sichtbar, dass sich die Kerzenflamme wellenförmig wie eine Schlange bewegte und heißes Wachs ihre Hände hinabtropfte. Sie schien es nicht zu bemerken. »Kommt, Ihr müsst schlafen. Lasst mich einen stärkeren Trank für Euch mischen. Ihr braucht Eure Kraft, Euer Gnaden. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, Zweifeln und Schwächen nachzugeben. Lasst mich Euch wieder zu Bett bringen ...« Elfrida wandte den Kopf und blickte die Treppe hinauf. »Sie sagte, ich solle mich vor den stummen Beobachtern in Acht nehmen.«
Nun wünschte Bronwen, sie hätte Dolans Rat angenommen und wäre früher in ihr Zimmer zurückgegangen. Aber was gab es zu fürchten? Eine erschöpfte alte Frau, die nicht schlafen konnte, und eine Heilerin, die sich um ihre Bedürfnisse kümmerte. Und doch - was tat Mirabelle hier im Palast, um drei Uhr morgens? Warum waren beide Frauen vollkommen angezogen, und warum hatten sich alle Haare auf ihren Armen aufgerichtet? Noch während Bronwen sich schalt, eine argwöhnische, abergläubische Närrin zu sein, zog sie sich langsam Schritt für Schritt zurück. Mirabelle trat näher an den Fuß der Treppe heran und hob ihre Laterne an. Sie beleuchtete den Rand von Bronwens besticktem, blauem Morgenrock. Bronwen atmete bewusst tief ein und trat dann ins Licht hinab. »Mirabelle!«, sagte sie heiter. »Das trifft sich gut! Ich wollte gerade zu Euch.« »Könnt Ihr auch nicht schlafen, Euer Majestät?« Bronwen schüttelte den Kopf. »Nein, ich fürchte nicht. Wir haben vermutlich beide ein schlechtes Gewissen, Euer Gnaden«, sagte sie, Elfrida anlachend. Weder sie noch Mirabelle verstanden den Scherz, sondern blickten mit ausdruckslosen Gesichtern zu Bronwen hoch. Sie lächelte gewinnend, um zu zeigen, dass sie sich nicht lustig gemacht hatte. 286 »Lasst mich Euch einen Schlaftrank geben, Euer Majestät«, sagte Mirabelle. »Ihr braucht Euren Schönheitsschlaf.« Sie sprach mit ausdrucksloser, ernster Stimme, aber Bronwen lächelte als Reaktion dennoch und sagte: »Ich danke Euch, Mirabelle, aber ich dachte, dass vielleicht ein wenig von Eurem köstlichen Tee genügen würde...« »Der Tee ist ein Stimulans«, sagte Mirabelle, »aber Ihr braucht etwas, um Euch zu beruhigen und zu trösten. Hier, ich habe bereits etwas zusammengestellt. Nehmt nur zwei Finger davon, nicht mehr, und bemüht Euch, am Abend keinen Glühwein oder Tee zu trinken, Euer Majestät.« Bronwen seufzte und dachte an die vielen Becher, die sie jeden Abend trank während sie ihr müdes Hirn zu zwingen versuchte,
die jeden Abend in ihren Privaträumen hinterlegten Papierpyramiden zu verstehen. Sie nahm die kleine, braune Flasche, die Mirabelle ihr reichte, jedoch an und dankte ihr lächelnd. »Geht nun wieder zu Bett, Euer Majestät«, sagte Mirabelle. »Ich werde Ihre Gnaden in ihr Zimmer zurückführen.« Bronwen sah Elfrida an, die ausdruckslos an die Wand starrte. »Ist mit ihr alles in Ordnung?«, fragte Bronwen leise. »Ich meine, sie scheint...« »Ihre Gnaden hat als Kind in den Händen der Fealde und deren Schergen sehr gelitten«, antwortete Mirabelle freundlich. »Sie hat Albträume und leidet unter Schlaflosigkeit. In anstrengenden Zeiten sind ihre Träume und Erinnerungen schlimmer denn je. Niemand von uns kann viel dagegen tun - wir können nur versuchen, ihr zu einem traumlosen Schlaf zu verhelfen.« »Ich verstehe«, sagte Bronwen, als sie sich erinnerte, dass ihre Tante Elfridas schreckliche Kindheit erwähnt hatte. »Es tut mir so leid. Das habe ich nicht erkannt.« Mirabelle zog eine Augenbraue hoch, eine Geste, bei der sich Bronwen aus einem unbestimmten Grund entsetzlich gedankenlos und schuldig fühlte, und sagte mit tonloser Stimme: 287 »Ich werde Euch morgen früh aufsuchen, Euer Majestät. Nun geht wieder zu Bett, trinkt ein wenig von der Medizin, die ich Euch gegeben habe, und versucht zu schlafen. Ihr braucht Eure Kraft.« »Ja, die brauche ich wirklich«, antwortete Bronwen, um ein Lächeln bemüht, wandte sich um und stieg die Treppe wieder hinauf, während Dolan ihr folgte. Als sie ihre Tür erreichten, wandte sie sich zu Dolan um, denn sie fühlte sich aufgrund der kleinen Szene, deren sie gerade Zeuge geworden war, unbehaglich. Dolan runzelte die Stirn, aber angesichts ihrer besorgten Mene sagte er freundlich: »Geht wieder zu Bett, Mylady, und grübelt nicht mehr. Die Heilerin hat Recht, Ihr braucht Euren Schönheitsschlaf. Möchtet Ihr etwas warme Mich oder Ähnliches?«
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung«, erwiderte Bronwen eilig, das sie es hasste, wie ein Kind behandelt zu werden. Sie ging in ihr Zimmer. Joey schlief noch immer vor ihrer Schlafzimmertür. Sie trat über ihn hinweg, schloss die Tür, trank zwei Fingerbreit der berauschenden, widerlich süßen Medizin und stieg in ihr kaltes Bett. Während sie, zu einer kleinen Kugel zusammengerollt, ihre Füße langsam das Bett hinabbewegte, versuchte Bronwen darüber nachzudenken, was sie gerade gesehen und gehört hatte. Einiges störte sie und schien seltsam, aber noch während sie versuchte, es aus ihrem Unterbewusstsein an die Oberfläche zu holen, übermannte sie der Schlaf und riss sie in einen Abgrund. Sie träumte nicht. Bronwen erwachte spät am nächsten Morgen und fühlte sich benommen und lethargisch. Als ihr einfiel, was sie heute alles zu tun hatte, stöhnte sie, vergrub sich tiefer in ihre Eiderdaunen und wünschte, sie könnte im Bett bleiben. An ihrer Tür erklang ein ganz leises Geräusch, aber Bronwen war sofort hellwach und außergewöhnlich wachsam. Ange 288 spannt lauschend, öffnete sie mühsam ein Auge und sah dann Mirabelle sich über ein Tablett auf dem Tisch beugen. »Was tut Ihr?«, fragte Bronwen scharf. Mirabelle richtete sich auf und wandte sich um. »Ach, tut mir leid, Euer Majestät, habe ich Euch geweckt? Ich bin gekommen, um nachzusehen, wie es Euch heute Morgen geht, fand Euer kleines Dienstmädchen beim Zubereiten Eures Tees vor und dachte, ich könnte ihn selbst heraufbringen. Hier ist er. Er ist heiß. Ich sagte dem Moorzauberwesen, sie solle Euch heute länger schlafen lassen, da Ihr eine unruhige Nacht hattet, aber sie erwiderte, Ihr hättet eine morgendliche Besprechung mit Euren Beratern.« »Leider ja«, sagte Bronwen, nahm den dampfenden Becher mit einem knappen Nicken entgegen und schüttelte ihre Kissen auf, damit sie sich hinsetzen konnte. Sie nahm einen Schluck Tee und seufzte behaglich. Es war ein köstlicher Tee, der mit jedem Mundvoll Wärme und Kraft durch sie hindurchströmen ließ.
»Ich habe Euch ein kleines Geschenk mitgebracht«, sagte Mirabelle und stellte ein Glasgefäß mit einem goldenen Deckel auf Bronwens Nachttisch. »Wir wollen doch nicht, dass unsere Banrigh wegen mangelnden Schönheitsschlafs ihre Ausstrahlung verliert, nicht wahr? Dies ist aus Holunderblüten und Schöllkraut gemacht, was ein wenig brennen kann, wenn Ihr es zum ersten Mal auftragt, den Teint aber stark glättet.« »Nun, ich danke Euch«, antwortete Bronwen mit leichtem Schuldgefühl. Wie sie sich erinnerte, hatte sie Mirabelle einst ausgelacht, als sie sie eine Rezeptur für genau solch eine Gesichtslotion lehrte, und sie gefragt, ob sie glaube, ihr eigener Teint sei ein Ansporn für ihre Studenten, auf ihre Rezeptur zu vertrauen. Es war lange her - als Bronwen erst sechzehn Jahre alt war und zum ersten Mal die Macht ihrer Schönheit entdeckte. Sie hoffte, dass sich Mirabelle nicht daran erinnern würde. »Tragt sie auf, unmittelbar nachdem Ihr Euch das Gesicht 289 gewaschen habt«, sagte Mirabelle. »Ich denke, Ihr werdet feststellen, dass sie einen sehr angenehmen Duft hat.« Bronwen fragte sich, ob sie erwähnen sollte, dass ihre Tante, Königin Fand, ihr, nachdem Bronwen bemerkt hatte, wie fein und weich die Haut der Fairgean-Frauen war, einen großen Tiegel mit der Hautlotion geschenkt hatte, welche die FairgeanFrauen benutzten und die mit Meeresalgen gemacht war. Sie beschloss, dass es taktvoller wäre, Mirabelle einfach zu danken und den Tiegel fortzustellen, bis die Lotion, die sie jetzt benutzte, verbraucht wäre. Also lächelte sie und sagte: »Ich danke Euch, das werde ich tun.« Mirabelle erwiderte das Lächeln, was den Ausdruck ihrer plumpen, pockennarbigen Züge erhellte, ging dann fort und überließ es Bronwen, ihren Tee zu Ende zu trinken und sich in Ruhe aus dem Bett zu erheben. Es war ein langer, langer Tag. Die Zeiger der Uhr krochen sehr langsam um das Zifferblatt herum. Bronwen fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Manchmal musste sie sich aus einem Tagtraum reißen, in dem sie sich auf die Suche nach Donncan begab,
ihn aus einer schrecklichen Gefahr errettete und sein Herz für immer errang. Vor ihrem geistigen Auge drückte er sie an seine Brust und flüsterte ihr »Bronwen, mein Liebes!« ins Ohr, was so verlockend war, dass es ein dauerhaftes Lächeln auf ihre Lippen zauberte, das sie sehr bestimmt verbannen musste, bevor es jemand bemerkte, da es für eine Diskussion über die Aufwertung der Währung völlig unangemessen war. Streng musste sie sich daran erinnern, dass ihre Zeit der Freiheit vorüber war. Sie konnte es sich nicht einmal leisten, in ihren Tagträumen dem Hof zu entkommen und sich auf die Suche nach Donncan zu begeben, ganz zu schweigen davon, es tatsächlich zu tun. Sie musste sich darauf konzentrieren, als Banrigh so gut wie möglich zu sein. Am Ende einer sehr langen Sitzung des Geheimen Rates hatte 290 Bronwen Kopfschmerzen und fühlte sich den Tränen gefährlich nahe. Sie zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, nahm nach ungefähr sechzehn unwillkommenen Störungen mit einem Seufzer der Erleichterung das Diadem von ihrem Kopf und bat ihr Dienstmädchen Maura, ihr etwas von Mirabelles Spezialgebräu zu bringen. Das Moorzauberwesen runzelte die Stirn. »Mir gefällt dieser Tee nicht. Macht Bronny ganz zappelig. Ich mache Bronny etwas schönen Kamillentee.« »Ich würde einschlafen, wenn du das tätest«, sagte Bronny. »Bitte, Maura, bring mir einfach den Tee. Mein Kopf wird davon ganz klar.« Das Moorzauberwesen tat murrend, wie ihr geheißen. Bronwen setzte sich hin, legte das Gesicht in die Hände und flüsterte vor sich hin: »Donncan, wo bist du?« Tränen liefen durch ihre Finger. Die Tür öffnete sich, aber Bronwen schaute nicht auf, da sie erwartete, dass es Maura mit ihrem Tee wäre. Sie hörte einen schnellen Schritt und sah dann ein graues Seidengewand sich bauschen, als ihre Mutter in den Sessel neben
ihr sank, wobei die dunklen Schwingen ihres Haars über ihre Wangenknochen fielen, als sie sich besorgt vorbeugte. »Bronny, mein Liebes, was ist los?« Bronwen wischte sich eilig übers Gesicht und setzte sich auf. »Nichts! Ich bin nur müde. Und das Warten auf Nachrichten leid. Wann wird Tantchen Beau zurückkommen? Es sind schon so viele Tage. Was dauert so lange? Ich dachte, es wäre eine einfache Angelegenheit, Donncan und Donnerlilie auf den Alten Wegen zu folgen, Johanna zu überwältigen und ihn zurückzubringen. Was kann schiefgegangen sein?« Maya legte ihre von der Arbeit rauen Hände auf Bronwens Seidenärmel. »Du musst dich vielleicht wappnen, Liebes«, sagte sie. »Isa 291 beau ist vielleicht nicht rechtzeitig gekommen. Donncan könnte...« »Donncan ist nicht tot!« »Ich fürchte, er könnte es sein. Du musst dich darauf vorbereiten.« Bronwen schwieg. Sie saß mit starrem Rücken da, ihre Kiefer waren zusammengepresst, und ihre Hände zerdrückten den Stoff ihres Gewandes. Maya runzelte die Stirn. »Ich weiß, du hast deinem Cousin stets nahegestanden«, begann sie vorsichtig, »aber ich hätte nicht gedacht, dass du dich auf diese Art um ihn sorgst. Du schienst ihn die ganze Zeit, als er fort war und Neil den Winter über in Arran besuchte, nicht vermisst zu haben. Tatsächlich schienst du erleichtert, als er gegangen war.« Ihre Tochter wandte den Blick ab und presste die Lippen zusammen. »Dann, bei der Hochzeit, schienst du vollkommen kalt. Ich wollte dir sagen, dass du versuchen solltest, wenigstens der Form halber zumindest ein wenig Eheglück vorzutäuschen, konnte es aber nicht, da ich noch immer stumm sein sollte.« Da war ein leicht ironischer Unterton, der der Schönheit von Mayas goldener Stimme eine gewisse Schärfe verlieh. »Ich war nicht die
Einzige, die die Heirat als eine reine Zweckheirat angesehen hat. Habe ich mich geirrt? Hegst du tiefere Gefühle für Donncan?« Es herrschte kurzzeitig Schweigen, und dann platzte Bronwen plötzlich heraus: »Ich bin jetzt die Banrigh. Ich sollte glücklich sein... Ich sollte mich daran weiden, dass das Schicksal mir alles in die Hände gegeben hat, was ich mir jemals gewünscht habe... den Thron, die Krone, den Leitstern ... und doch ist es nicht so, wie ich es mir erträumt habe.« »Nichts ist jemals so«, murmelte Maya. Bronwen ergriff den Arm ihrer Mutter. »Es war nicht so, Mama? Wirklich? Weil du meinen Vater niemals geliebt hast, 292 nicht wahr? Du hast ihn dazu verhext, dich zu heiraten, und hast ihn dazu verhext, all seine Macht in deine Hände zu legen. Du hast mich ins Leben gehext! Ich dachte, du liebst sie, die Macht, die Kontrolle. Ich dachte, du liebtest es, Banrigh zu sein und alle nach deiner Pfeife tanzen zu lassen. Du hast es gehasst, gestürzt zu werden.« Dieses Mal war es an Maya zu erröten, sich auf die Lippen zu beißen und den Blick abzuwenden. Sie schwieg lange Zeit, so lange, dass Bronwens Schultern herabsanken und sie seufzend den Atem ausstieß. Dann sagte Maya sehr ruhig: »Nein, es war nicht genug. Ich sagte mir, dass es das wäre, aber ...« »Aber was?« »Ich wünschte...« »Du wünschtest was?« »Manchmal... viele Male ... wünschte ich mir, dein Vater hätte gelebt... und mich um meiner selbst willen geliebt... und wir hätten nichts anderes zu tun gehabt, als einander zu lieben und zusammen das Land zu regieren ... Aber ...« »Aber?« »Es sollte nicht sein. Sie ... Mein Vater... sie hätten es niemals zugelassen...« »Ich weiß.« Erneut langes Schweigen.
»Es hätte niemals funktioniert. Außerdem war es zu spät, als ich es erkannte,... und er ... Jaspar ...« Bronwen merkte, dass ihre Mutter mit den Tränen kämpfte. Sie hatte sie noch nie weinen sehen. Sie sah Maya an, überrascht und unbehaglich, und streckte dann zögernd eine Hand aus, um sie zu trösten. Maya duldete es einen Moment, schüttelte Bronwens Hand dann ab und richtete sich seufzend auf. »Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, was gewesen sein könnte«, sagte Maya. »Wir können nur mit den Karten spielen, 293 die uns zugeteilt werden. Und du hast einen Royal Flush, Bronwen. Nutze ihn.« »Es ist nur so, dass ich...« Bronwen seufzte und schloss dann den Mund. Sie wollte ihrer Mutter nicht erzählen, dass sie diese neu gewonnene Kraft fürchtete und sich danach sehnte, dass Donncan ihr zumindest einen Teil der Last abnähme. Sie wollte nicht sagen, dass sie seine ständige Anwesenheit an ihrer Seite vermisste, seine schnelle Auffassungsgabe und sein Verständnis, seine Intelligenz und seine Kraft. Aber vor allem wollte sie nicht zugeben, dass sie sich danach sehnte, sich in seine Arme zu schmiegen, ihr Gesicht zu seinem zu erheben und wieder von ihm geküsst zu werden, wie er es in jener Nacht des Maitagfests getan hatte. Dies war etwas, was sie schon sich selbst gegenüber nicht gerne zugab, ganz zu schweigen davon, es ihrer Mutter gegenüber zu tun. »Ich will nur sagen, Bronny, dass du dich dafür wappnen musst, allein zu regieren«, fuhr Maya fort, ohne der Erschütterung ihrer Tochter Beachtung zu schenken. »Donncan könnte sehr wohl tot sein, und wenn das so ist, wirst du darum kämpfen müssen, deinen Thron zu behalten. Wenn es deinem Thig-earn-Mädchen gelingt, Owein und Olwynne zu retten, könntest du dich einer Herausforderung gegenübersehen, der du nicht standhalten kannst. Vielleicht wäre es tatsächlich das Beste, sicherzustellen, dass Owein und Olwynne niemals lebend zurückkehren.« Bronwen sah ihre Mutter mit geweiteten Augen an.
»Man sollte stets vorausschauen«, sagte Maya ruhig und lächelte dann Maura an, als das Moorzauberwesen hereinkam und über das Gewicht des Tabletts, das sie trug, murrte. »Ah, gut! Tee. Soll ich eingießen, Bronny?« 294 SCHIFF IM DÜSTEREN STURM »My soul, like to a ship in a black storm, Is driven, I know not whither.« JOHN WEBSTER, The White Devil, 1612 DIE PI RATEN INSELN Olwynne lag stöhnend auf den rauen Holzplanken. Sie stank nach Erbrochenem und Schweiß, nach Urin und Exkrementen. In dem sich hebenden, tanzenden, schwankenden Laderaum des Schiffes war es trotz aller Bemühungen unmöglich, es immer rechtzeitig bis zum Eimer zu schaffen. Und Olwynne war es noch nie in ihrem Leben so schrecklich elend gewesen wie jetzt. Sie wurde von so heftigen Krämpfen geschüttelt, dass sie laut aufkeuchte, da ihr Magen ständig gegen die unaufhörliche Bewegung und die schauderhafte Ernährung rebellierte. So konnte Olwynne nichts anderes tun, als zu weinen und zu stöhnen. Wäre nicht die Gesellschaft ihres Zwillingsbruders gewesen, sein entschiedener Mut und sein beherzter Optimismus, hätte sie vielleicht aufgegeben und wäre gestorben. Sie konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen, aber seine starke Hand und Schulter, seine warme Schwinge, seine sanfte Stimme verfehlten selten ihre beruhigende Wirkung, auch wenn ihm ebenso elend war wie ihr. Olwynne hatte immer geglaubt, sie sei die Starke, diejenige mit dem ruhigen inneren Kern der Sicherheit und Standhaftigkeit, aber Owein hatte sie während dieser letzten beiden Wochen eines Besseren belehrt. Sie wussten nicht, wie lange sie schon im stinkenden Bauch des Schiffes eingesperrt waren. Und doch glaubte Owein, anhand der Male, die Jem gekommen war, um ihnen eine schreckliche Brühe madenverseuchten Haferschleims zu bringen und unter vielen Flüchen und Spott den Eimer zu leeren, dass es min
295 destens drei Tage waren, vielleicht sogar sechs. Das hing davon ab, ob er nur ein Mal am Tag kam oder zwei Mal. Olwynne merkte, dass der junge Mann sie mit äußerstem Entsetzen erfüllte. Er versäumte es nie, sich über sie zu stellen, sie zu verspotten und ihnen beiden mit Vergewaltigung und Folter, Tod und Verlassenheit zu drohen. »Is keiner hier, der es sehen oder den es kümmern würde«, pflegte er höhnisch zu bemerken. »Wollte immer schon mal meinen Schwanz in den Arsch einer Banprionnsa stecken. Werd' die Chance vermutlich nie wieder kriegen. Kann mich auf dieser Reise ebenso gut amüsieren.« Er stellte sich über Olwynne, hielt die Laterne hoch, damit ihr grausamer Strahl grell auf sie fiel, und rieb mit einer Hand sein Gemächt. Olwynne wich zu Owein zurück, der sie mit seinen gefesselten Händen festhielt und sie zu beruhigen und zu stärken versuchte. Dann schnaubte Jem vor Lachen. »Obwohl ich vermutlich auf ein hübsches, sauberes Mädchen warten werde. Ich will nicht, dass mein Schwanz abfällt!« Ein anderes Mal konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf Owein. »Hast immer gedacht, du wärst so fein, oder? Bist jetzt nicht mehr so hochstehend und mächtig, was? Wie fühlt es sich an, in deiner eigenen Scheiße und Pisse zu liegen und zu wissen, dass du nicht besser bist als jeder andere Mann? Scheiße und Pisse, nur darum geht's, und einen Righ zum Vater zu haben, macht verdammt noch mal keinen Unterschied.« Owein erwiderte seinen Blick nur und schwieg. Sie hatten beide gelernt, dass jegliche Gegenwehr ihnen nur einen Tritt in die Rippen einbrachte. Einmal, nachdem Owein die Beherrschung verloren und sich so gut wie möglich gewehrt hatte, hatte Jem sogar seine Hose aufgeknöpft und, sehr zu ihrer Empörung, auf sie uriniert. Er hatte jedoch nichts Schlimmeres getan, trotz all seiner üblen Worte und Drohungen, und es fiel ihnen mit der Zeit leichter, ihn zu ignorieren. 295
Das Schiff war mit hoher Geschwindigkeit vor dem Wind gelaufen, das konnten sie am Knarren der Planken und dem Stampfen des Bodens erkennen, auf dem sie lagen. Aber nun gelangte das Schiff in ruhigere Gewässer, und das wilde Rollen hatte sich gelegt, so dass Olwynne in einen unruhigen Schlaf gleiten konnte. Sie träumte, sie ginge einen dunklen Gang hinab, ertastete blind ihren Weg. Vor ihr war eine Tür einen Spalt weit geöffnet. Licht fiel durch den Spalt wie durch einen Riss in einem Vorhang. Olwynne schlich darauf zu und blickte hindurch. Dahinter saß Lewen und ließ weiße Rindenspäne von seinem Messer herabfallen. Er schnitzte so lange an einem Holzknauf, bis nichts mehr übrig blieb. Olwynne legte froh eine Hand an die Tür und stieß sie auf. Lewen schaute zu ihr hoch, sein Gesicht war vor Elend und Hass verzerrt. »Meine Klinge braucht Blut«, sagte er. Er erhob sich, trat rasch vor und zog das Messer über ihre Kehle. Als Olwynne keuchend stürzte und Blut zwischen ihren Händen hervorsprudelte, wiederholte er unglücklich die Worte, während er auf sie hinabblickte. »Meine Klinge braucht Blut.« Olwynne erwachte ruckartig. Sie zitterte und kroch ein wenig näher an Owein heran, der seine ramponierte Schwinge über sie legte. »Wieder schlechte Träume?« Sie nickte. Owein spürte die Bewegung in der Dunkelheit und sagte mit gezwungener Fröhlichkeit: »Vergiss es, es war nur ein Traum.« »Er schien so real«, sagte Olwynne mit zitternder Stimme. »Es war nur ein Traum.« Owein klang nicht überzeugt. Er wusste ebenso gut wie sie, dass Träume selten bedeutungslos waren, besonders für Olwynne, die ein Talent zum Traumwandeln zu entwickeln schien. Sie hatte vom Tod ihres Vaters geträumt, bevor er eintrat. Das zumindest war ein Traum, der sich 296 als prophetisch erwiesen hatte. Owein fürchtete den Gedanken an die Bedeutung einiger ihrer anderen Albträume.
Stille senkte sich zwischen sie. »Das Schiff hat aufgehört zu rollen«, sagte Olwynne. »Ja. Ich würde sagen, wir sind an unserem Ziel angekommen, wo auch immer das ist.« »Wo? Wo?«, rief sie. Owein zuckte die Achseln. »An keinem guten Ort, würde ich sagen.« »Was haben sie mit uns vor?« »Nichts Gutes, könnte ich wetten.« Sie hörte den bitteren Humor in seiner Stimme und musste jäh aufkommende Tränen hinunterschlucken. »Was haben sie mit uns vor? Warum haben sie uns entführt?« »Um uns zu töten«, antwortete er. »Nun, ich weiß es nicht, aber es ist eindeutig, dass sie uns, unseren Clan, unser Blut hassen. Olwynne, du musst tapfer sein. Ich weiß nicht, ob wir uns retten können oder nicht, aber wir müssen es versuchen. Wenn ich nur meine Hände frei bekäme! Aber ich kann es nicht. Ich habe mir bei dem Versuch die Handgelenke wund gerieben, aber dieser Grobian Jem hat mich zu fest gefesselt. Olwynne! Wir müssen unsere Chance ergreifen, wenn sie kommt. Sei bereit. Wenn ich das Zeichen gebe, lauf. Kannst du das tun?« Olwynne dachte an ihre Beine, die vor Schwäche zitterten und dort, wo die Seile immer wieder daran gerieben hatten, wunde Stellen hatten. Sie nickte und versuchte zu lächeln, auch wenn Owein ihre Miene in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Er kannte sie jedoch gut. Seine Hand tätschelte sie schwach, und er sagte mit rauer Stimme: »Braves Mädchen.« Wenige Minuten später legte das Schiff an. Sie erkannten die vertrauten Geräusche, da sie oft mit dem Schiff ihres Vaters, dem Königlichen Rothirsch, gereist waren. Dann kam Jem herunter, um sie hochzuzerren und an Deck zu zwingen. 297 Es war dämmerig. Die Luft über dem schimmernden Wasser war warm und roch nach fremdartigen Gewürzen. Olwynne sah sich um. Dies war kein Land, das sie wiedererkannte. Wie ein Ammonit wölbte sich die Insel um die Lagune und stieg rundum
zu hohen Gipfeln an, die sich schwarz von der Kuppel des dämmerigen Himmels abhoben. Im Westen, wo sich das Meer in kleinen Wogen an einem Riff brach, stieg der erste Mond auf. Er war groß, rot und unförmig und ließ Olwynne erschaudern. Owein und Olwynne waren so schwach und desorientiert, dass sie kaum laufen konnten. Ihre Augen waren so an die Dunkelheit gewöhnt, dass das Licht der Laternen sie schmerzte, so dass sie zurückschraken und ihre Gesichter abschirmten. Laird Malvern stand an der Reling, die Augenbrauen bis zu seiner Nase zusammengezogen. »Du Narr!«, sagte er zu Jem. »Ich dachte, du kümmerst dich um sie! Sieh sie dir an. Sie sind schmutzig und krank. Wir brauchen sie stark und gesund, wenn wir sie opfern wollen, nicht mit vergiftetem Blut und Fieber. Wie konntest du so dumm sein?« »Sie haben sich ganz wohl gefühlt.« Jem spie über die Reling. »Wenn sie krank sind, werde ich dich an ihrer Stelle opfern«, antwortete der Laird frostig. Jem wurde blass und warf einen raschen Blick auf die königlichen Zwillinge, die ihr Bestes taten, um sich gegenseitig aufrecht zu halten. »Dedrie!«, rief Laird Malvern. Die weise Frau trat schwerfällig an Deck. Sie war blass und zitterte, und an der Art, wie sie sich vornüberbeugte, war deutlich zu erkennen, dass auch sie unter Seekrankheit gelitten hatte. »Ja, Mylaird«, antwortete sie mit schwacher Stimme. »Seht Euch die Opfer an! Nennt Ihr das aufpassen? Die Banprionnsa wird nicht erfreut sein! Sie will kein mit Eiter oder Schmutz verseuchtes Blut, sie will reines, sauberes, jugendliches Blut, wie wir es ihr versprochen haben. Ich will, dass sie gewaschen, genährt und versorgt werden und etwas bekom 298 men, damit es ihnen besser geht, und ich will, dass es jetzt geschieht! Morgen ist Vollmond. Bis dahin habt Ihr Zeit, besonders das Mädchen so weit zu stärken, dass es getötet werden kann. Sonst werdet Ihr es sein, die ich auf den Steinaltar binde! Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja, Mylaird, natürlich, Mylaird«, brabbelte Dedrie mit wahrem Entsetzen, und dann wurden Owein und Olwynne wieder abwärts in eine Kabine gedrängt, die offensichtlich Dedries eigene war. Der saure Geruch von Erbrochenem hing in der Luft und Flaschen und Gefäße mit Tränken und Heilmitteln standen auf jeder freien Oberfläche. Jem verwünschend, ließ die weise Frau Krüge mit heißem Wasser von der Kombüse heraufbringen und goss sie in ein Zinkbecken. Jem stand stirnrunzelnd dabei und hielt seinen Dolch bereit, während Dedrie vorsichtig die vom Blut starren Fesseln abschnitt, Olwynnes und Oweins Wunden säuberte, sie mit einer Art Balsam bestrich, der furchtbar brannte, und sie dann sauber verband. Sie wurden gezwungen, bitteren, grünen Nesseltee zu trinken, um das Blut zu reinigen, sowie eine übelriechende Mischung, aus der Olwynne den Geschmack von Klettenwurzel und Borretsch herausschmeckte. Weiteres Wasser wurde gebracht, und Owein und Olwynne taten ihr Bestes, um sich zu säubern, ihre Gesichter und Hände, ihre Hälse und Achseln, ihre Arme und Beine zu waschen. Olwynne hätte sich gerne auch die Haare gewaschen, die stumpf und verdreckt waren, aber es war nicht genug Wasser da und auch kein Shampoo oder ein Kamm. Sie hatte schon vor langer Zeit ihre hübschen, hochhackigen Sandalen verloren, und ihre Füße waren schmutzig und mit üblen Schnitten und Quetschungen bedeckt. Sie konnte nur müde auf der Koje sitzen und sie in einem Becken warmen Wassers einweichen, in das Dedrie eine trübe Flüssigkeit goss, die schrecklich roch. Owein war in etwas besserer Verfassung, da er noch seine Stiefel besaß und 299 einen Großteil seiner Jugend draußen auf der Jagd, beim Zelten, beim Fischen und Reiten verbracht hatte, Jahre, die Olwynne mit der Nase in den Büchern in der Bibliothek verbracht hatte. Dennoch waren Jem und sein Dolch nicht nötig. Keiner der Zwillinge konnte die Kraft aufbringen, mehr zu tun, als in kleinen Schlucken die heiße Suppe zu trinken, die Dedrie ihnen brachte, und sich wieder zum Schlafen hinzulegen. Ihre
stumpfen, roten Köpfe teilten sich ein Kissen, und Oweins Schwinge lag über sie beide gebreitet. »Schlaft fest, kleine Babys«, gurrte Jem spöttisch und ging hinaus. »Genießt eure letzte gemeinsame Nacht.« Als er die Tür schloss, hörten sie Dedrie gereizt sagen: »Pass auf, dass du nicht zu viel vom Wasser des Lebens trinkst und nicht wieder auf Wache einschläfst, Jem, denn ich werde die Schuld dafür nicht auf mich nehmen! Mylaird will, dass wir die alte Festung vor Sonnenaufgang erreichen, also pass einfach...« Die Tür rastete ein, und sie hörten das Geräusch eines Schlüssels im Schloss. Olwynne seufzte und legte ihre Wange wieder auf das säuerlich riechende Kissen. Sie schlief im Handumdrehen ein. Aber ihr Schlaf wurde erneut durch Bilder von Messern und Nebel und Grabsteinen, ihren Hals hinabtropfendem Blut und der Stimme einer äußerst schadenfrohen Frau gestört. Als sie erwachte, merkte sie, dass finsteres Elend in ihrer Brust hochstieg wie ein heimtückischer Kobold, der sie erstickte. Sie wandte sich um und schüttelte ihren Bruder leicht, da sie zu große Angst hatte, allein dort in der Dunkelheit zu liegen. Er wachte sofort auf, angespannt und wachsam. »Was ist los?«, flüsterte er. »Was los ist? Was los ist? Hast du nicht gehört, was der Laird gesagt hat? Sie wollen mich heute Abend töten«, erwiderte sie ebenfalls flüsternd. »Sie wollen mich opfern. Opfern! Ich kann nicht glauben, dass das wahr ist!« 300 Er nickte. »Dies ist nicht nur ein Komplott, um den Clan der MacCuinn zu vernichten«, murmelte er. »Da geht noch mehr vor. Ich wünschte, ich hätte Lewen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als er uns vom Laird von Fettercairn erzählte. Sie sind Totenbeschwörer, sie versuchen, die Geister der Toten wiederzuerwecken. Dai-dein ...« Seine Stimme brach, und Tränen Hefen Olwynnes Wangen hinab. Der Kummer über den Tod ihres Vaters war noch immer stark und unfassbar. Es war keine Zeit, keine Ruhe für Begreifen und Heilung gewesen.
Owein hob eine Hand und führte sie über seine Nase. »Ich weiß, dass Dai-dein vor Jahren den Bruder des Laird und seinen Neffen getötet hat«, fuhr er leise fort, »und Laird Malvern will sich dafür rächen und sie von den Toten wiedererwecken. Daher kann ich verstehen, warum ich entführt wurde, und Roden, aber nicht du. Wer ist diese Banprionnsa, die sie wiedererwecken wollen?« »Heute Abend«, flüsterte Olwynne. »Schon heute Abend! Owein, was sollen wir tun?« »Bestimmt sind uns die Yeomen dicht auf den Fersen«, sagte Owein. »Sie werden die Pläne des Laird doch gewiss erahnt haben? Sie werden rechtzeitig hier sein.« »Aber was ist, wenn nicht?« Olwynnes Stimme war vor Entsetzen wie gelähmt. Sie konnte die Worte kaum hervorzwingen. Owein ergriff mit einer Hand ihre Schulter. »Tapfer und weise, Olwynne, denk daran! Tapfer und weise.« Sie zitterte heftig, aber aufgrund der Worte ihres Bruders bemühte sie sich, sich zu beruhigen. »Wir werden zu entkommen versuchen«, sagte Owein und verlagerte sein Gewicht in der engen Koje, versuchte, eine bequemere Position zu finden. Eine rotfedrige Schwinge war hinter ihm eingeklemmt, die andere noch immer über Olwynne gelegt, um sie mit ihrer weichen Wärme zu trösten. »Sie haben unsere Fesseln durchschnitten, den Schicksalsgöttinnen sei Dank! Ge 301 ben wir vor, extrem geschwächt und matt zu sein. Sie werden nicht vermuten, dass wir entkommen könnten. Wenn sie uns wieder fesseln wollen, dann schrei vor Schmerzen.« »Das kann ich vollkommen aufrichtig tun«, sagte Olwynne grimmig. Ihre Handgelenke und Knöchel pochten heftig. »Sehen wir uns nach irgendeiner Waffe um. Diese weise Frau muss irgendwo ein Messer oder eine Schere haben. Sehen wir jetzt nach, solange wir alleine sind.« Er erhob sich und streifte leise durch den Raum, aber Dedrie hatte am Vorabend alle ihre Habe mit sich genommen und hatte den Raum leer zurückgelassen.
Olwynne nutzte den Vorteil, dass er sich erhoben hatte, um sich in der beengten kleinen Koje auszustrecken. Sie war erstaunt, dass sie überhaupt hatten schlafen können, denn beide Zwillinge waren groß, und Owein war zusätzlich breitschultrig und hatte seine Schwingen. Die Koje war in den gewölbten Rumpf des Schiffes eingepasst. Über ihnen befanden sich schwere Balken mit einem runden Bullauge. Mondlicht drang durch das dicke Glas herein und erfüllte den Raum mit kaltem Licht. Olwynne legte sich zurück und sah den Umriss einer kleinen Flasche vor dem Glas abgebildet. Sie hob die Hand und nahm sie aus der tiefen Aussparung, in die das Bullauge eingepasst war. Dedrie hatte die Flasche offensichtlich dorthin gestellt, damit sie in Reichweite war, wenn sie in der Koje lag. Sie war mit einem Glasstöpsel versehen, der leicht herauszunehmen war. Olwynne roch an der darin befindlichen Flüssigkeit und verspürte schwach wärmende Hoffnung. Es war eine Tinktur aus Mohn und Baldrian, die den Schlaf unterstützen sollte. Ein oder zwei Tropfen unter der Zunge genügten, um sich zu entspannen und leicht einzuschlafen. Die gesamte Flasche in ein stark schmeckendes Getränk wie Glühwein oder Whiskey gegossen, würde genügen, um einen Mann außer Gefecht zu setzen. 302 Sie hatte nur noch Zeit, Owein zuzuflüstern, was sie gefunden hatte, als sie schon jemanden an der Tür hörten. Während Owein wieder neben ihr ins Bett schlüpfte und vorgab, noch zu schlafen, versteckte Olwynne die Flasche unter der Decke. Es war Dedrie, die ihnen ein wenig heißen Porridge und weiteren Nesseltee brachte, was sie im Licht einer Laterne beides gehorsam verzehrten. Die weise Frau hatte Olwynne am Vorabend zum Schlafen ein sauberes Hemd gegeben. Nun brachte sie ihnen weitere saubere Kleidung - ein grobes, braunes Kleid und Holzschuhe für Olwynne, die offensichtlich der weisen Frau gehörten, und eine Lederhose für Owein. Sein Hemd, das speziell angefertigt wurde, damit es um seine Schwingen passte, war gewaschen und getrocknet worden, und Dedrie hatte ihm einen
großen Umhang gebracht, den er über seine Schwingen legen konnte, damit sie nicht sichtbar wären. Es war auch ein Umhang für Olwynne da, mit einer Kapuze. Sie ließ die Flasche mit dem Schlafmittel heimlich in dessen Tasche gleiten, als die weise Frau ihnen den Rücken zuwandte. Sowohl Owein als auch Olwynne gaben weitaus stärkere Schwäche vor, als sie empfanden. Dedrie sorgte sich um sie und gluckte um sie herum, mischte ein weiteres ihrer übel schmeckenden Heilmittel und bestand darauf, dass sie es tranken. Olwynne gab vor, so wenig Kraft zu haben, dass sie nicht einmal den Becher an ihre Lippen heben konnte, und Dedrie beugte sich beflissen über sie und sagte: »Es ist Engelwurz und Raute, Mylady, damit Ihr Euch nicht mehr schwindelig fühlt. Mylaird darf Euch nicht so elend und schwach sehen.« Owein wechselte einen schnellen Blick mit Olwynne und rückte ein wenig näher an sie heran. Er bereitete sich darauf vor, die weise Frau bewusstlos zu schlagen, während sie ihnen den Rücken zuwandte. Aber genau in dem Moment richtete Dedrie sich auf und wandte sich um, und Owein gab vor, zu stolpern und hinzufallen. Dedrie fing ihn auf und rief nach Jem, der sofort 303 durch die Tür hereinstürzte, so dass die Zwillinge froh waren, dass sie die weise Frau doch nicht angegriffen hatten. »Warum konntest du dich nicht richtig um sie kümmern?«, wütete Dedrie, als sie den zusammengesunkenen Owein ins Bett zurückbrachten. »Du sagtest, du hättest alles unter Kontrolle!« »Ihr seid die weise Frau«, höhnte Jem, »es ist Eure Aufgabe, sie gesund zu erhalten, nicht meine.« »Mir war speiübel«, erwiderte Dedrie. »Du sagtest, du würdest dich um sie kümmern.« »Das hab ich«, sagte Jem. »Ich hab ihren Schmutzeimer gewechselt, oder? Und sichergestellt, dass sie etwas zu essen hatten. Was hätte ich noch tun sollen?« »Sie am Leben erhalten!«, erwiderte Dedrie bissig. »Komm schon, hilf mir. Wir müssen sie an Deck bringen. Mylaird will
das Schiff lang vor der Dämmerung verlassen, damit wir in der alten Festung sind, bevor jemand auftaucht.« Alte Festung?, dachte Olwynne und blickte zu ihrem Bruder. »In diesem von Piraten verseuchten Loch schläft ohnehin niemand, was soll's also?«, murrte Jem. »Die Straßen werden voller betrunkener Seeleute und dreckiger Huren sein, die alle bis zur Dämmerung trinken und schwelgen.« Von Piraten verseucht? Olwynne spürte und sah das plötzlich aufflackernde Begreifen in Oweins Augen. Die Pirateninseln!, dachte sie. Aber warum? Was gibt es hier außer Piraten und Mördern? Die Lieblichen Inseln hatten lange unter Kontrolle der Piraten gestanden. Lachlan hatte regelmäßig seine Kriegsflotte hingeschickt, um das Piratennest auszuheben, aber sie gingen einfach an Bord ihrer Schiffe, sobald sie am Horizont Segel auftauchen sahen, entkamen aufs offene Meer und kehrten später zurück, um ihre Gasthäuser und Bordelle, ihre Molen und Lagerhallen wieder aufzubauen. Lachlan hatte hier lange Zeit eine Kompanie Soldaten stationiert, aber sie waren allmählich an Fieber oder 304 durch Verrat gestorben oder selbst zur Piraterie verleitet worden. Also hatte er schließlich einen unbestechlichen Kommandanten namens Eiserner John hingeschickt, der die Inseln sieben Jahre lang weitgehend von Diebstahl und Korruption freigehalten hatte, aber nachdem Eiserner John von seinem eigenen Diener vergiftet wurde, waren die schlimmen alten Zeiten allmählich zurückgekehrt. Die Pirateninseln waren dem Righ ein beständiger Dorn im Auge, und bei jeder Zusammenkunft an Lammas forderten die Lairds und die Händler strengere Maßnahmen, und Lachlan gab Versprechen, die zu halten er sich nach besten Kräften bemüht hatte. Das Problem war, dass Eileanan Teil eines Archipels von Inseln war, die über einen scheinbar grenzenlosen Ozean verstreut lagen. Viele, viele Schiffe waren aufgebrochen, um die fernen Meere zu erkunden, und die meisten waren niemals zurückgekehrt.
Der außergewöhnlich starke Tidenhub, von der Anziehungskraft der zwei Monde bewirkt, machte Seereisen wirklich trügerisch, und daher hielten sich die meisten Schiffe an die Küste von Eileanan und mieden die natürlichen Risiken der Sandbänke und Seeschlangen, der Harlekin-Hydra und der Strudel. Nur den Piraten war es gelungen, die äußeren Inseln zu erkunden, und so blühte der illegale Handel, besonders mit Tabak, Zimt und Rhinfrew, die nur auf den Fernen Inseln wuchsen, sowie mit Mondfluch, der süchtig machendsten - und teuersten - aller Drogen. Kraftlos und mit bleiernen Beinen wurden Owein und Olwynne von Dedrie und Jem die Leiter hinauf und an Deck geschoben und gezogen. Es war noch dunkel, obwohl die beiden Vollmonde im Osten gerade hinter den Gipfeln der Insel versanken. Das Wasser schimmerte im Mondlicht in einem gespenstischen Blau, und die Sterne über ihnen waren sehr groß und hell. Olwynne klammerte sich Halt suchend an die Reling und blickte auf die Piratenstadt. Obwohl es sehr spät war, brannten am ge 305 samten Strand entlang noch immer Lichter, und sie konnte den schwachen Klang von Musik und betrunkenem Lachen hören. Hunderte anderer Schiffe waren entlang der Mole vertäut oder tanzten im weiten Kreis der Bucht vor Anker. Die meisten der Gebäude waren grobe Holzbauten, aber Olwynne konnte auch ein großes, quadratisches Steingebäude hoch oben auf der Klippe ausmachen, welches die alte Festung sein musste. Es war ein grimmig wirkender Ort, halb zerfallen, mit Schießscharten und Zinnen. Jem zog seinen Flachmann aus der Tasche, nahm einen großzügigen Schluck, brummte zufrieden und wischte sich den Mund. Ein Gedanke schoss den Zwillingen durch den Kopf. Owein richtete sich sofort auf und ergriff die Gelegenheit zur Flucht. Jem stieß mit einem Überraschungsschrei den Stöpsel in seine Flasche, ließ sie fallen und rannte ihm nach. Dedrie wandte sich um und brüllte die Luke hinab: »Ballard, ahoi!«
Olwynne sank blitzschnell auf die Knie, ergriff den Flachmann und leerte das kleine Fläschchen, das sie in ihrer Tasche trug, dort hinein. Es dauerte nur einen Moment, obwohl ihre Hände so sehr zitterten, dass sie kaum den Stöpsel wieder hineindrücken konnte. Als der Leibwächter Ballard die Treppe heraufgesprungen war und Jem half, Owein zu packen und zurückzuziehen, stand Owynne wieder an ihrem Platz, lehnte schwach an der Reling, und der Flachmann lag dort, wo Jem ihn fallengelassen hatte. Owein war, sehr zu Olwynnes Entsetzen, schlaff und bewusstlos. Sie sank neben ihm auf die Knie und weinte, aber zu ihrer Erleichterung blinzelte er ihr heimlich zu, als die anderen nicht hinsahen. Sie sah Jem sich herabbeugen, seinen Flachmann aufheben und einen Schluck trinken, und dann reichte er die Flasche auf ein Zeichen hin an Ballard weiter, damit auch er trinken konnte. Olwynne senkte den Blick, damit sie die Aufregung und Hoffnung in ihren Augen nicht sähen. 306 Gegen die Kälte der Nacht gut eingehüllt, eilte Laird Malvern das Deck entlang, dicht gefolgt von Irving und Piers. Der Rabe des Laird flog ihnen voraus und kauerte sich auf eine der Rahen. »Was war das für ein Aufruhr?«, fauchte der Laird. »Habe ich nicht befohlen, alles ruhig abzuwickeln?« »Der Prionnsa hat zu entkommen versucht«, erklärte Dedrie, bestürzt die Hände ringend. »Jem und Ballard haben ihn jedoch erwischt.« »Die Opfer haben sich also offensichtlich gut erholt«, sagte der Laird. »Hebt ihn hoch, Ballard. Wir werden vorgeben, dass er sturzbetrunken sei. Nun, denkt daran, ich will nicht, dass wir in der Stadt Aufmerksamkeit auf uns ziehen, wenn irgend möglich. Eilen wir schnell und still hindurch und zur Festung hinauf. Morgen früh werden diese verruchten Seeleute, die ich angeheuert habe, ihre Ladung löschen und davonsegeln, und niemand wird jemals erfahren, dass wir hier waren.« »Ja, Mylaird«, erwiderten sie einhellig.
»Haltet die Opfer ruhig, während wir durch die Stadt ziehen. Ich will sie nicht freikaufen müssen, um sie wieder zurückzubekommen, falls sie irgendjemanden darauf aufmerksam machen sollten, wer sie wirklich sind.« Jem hob seinen Dolch und grinste. »Sehr gut. Bemüht Euch, sie nicht zu töten, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Ich freue mich darauf, MacCuinn-Blut dazu zu benutzen, MacFerris-Blut wiederzubeleben. Es würde mich nicht wirklich zufriedenstellen, wenn ich jemanden von Euch benutzen müsste.« Seine Gefolgsleute wechselten unbehagliche Blicke. »Ja, Mylaird«, sagten sie. Laird Malvern ging über den Landungssteg auf die Mole voraus. Dedrie folgte ihm, und dann brummte Jem Olwynne etwas zu und bedeutete ihr, vorwärtszugehen. Olwynne stolperte und fiel bei dem Versuch, seine Berührung zu vermeiden, fast hin. 307 Piers kam, nahm ihren Arm und half ihr. Er sprach nicht, aber sie war froh, von Jem und seinen beständigen Blicken fortzukommen, und ließ sich daher helfen. Ballard hatte Owein, der still lag und auf eine weitere Gelegenheit wartete, auf seine Schulter gehievt. Niemand achtete auf sie, als sie durch die Stadt gingen, da die Bewohner zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt waren. Ballard gab demonstrativ vor, einem betrunkenen Freund zu helfen, und Jem zeigte mit einem missglückten Lächeln seine schlechten Zähne. Olwynne hielt den Kopf gesenkt, die Kapuze war über ihr unverwechselbares rotes Haar gezogen. Auch Owein war so in einen Umhang gehüllt, dass keine rote Locke oder Feder zu sehen war. Jenseits der Stadt befand sich eine steile, gepflasterte Straße, die den Hügel hinauf zur Festung auf der Klippe führte. Fernab von den Lichtern der Stadt war es dunkel, und Ballard musste häufig stehenbleiben, um Oweins schlaffes Gewicht auf seiner Schulter zu verlagern und um einen weiteren Schluck Whiskey mit Jem zu
teilen. Auch Irving trank ein oder zwei Mal, aber Piers nicht, und seine Hand unter Olwynnes Ellenbogen erlahmte nicht. Als sie das obere Ende der Straße erreichten, schwankten und stolperten sowohl Jem als auch Ballard. Piers machte ihnen leise Vorhaltungen und ließ Olwynne dann los, um Ballard zu helfen, als der große Mann plötzlich auf die Knie sank. Owein glitt von seiner Schulter zu Boden und lag still da, während Piers und Jem gemeinsam versuchten, Ballard aufzuwecken, der aufs Gesicht fiel und sehr laut zu schnarchen begann. Jem kicherte hilflos, sehr zu Piers Verärgerung, und stürzte dann plötzlich auch aufs Gesicht. Olwynne wich langsam zurück, bis sie neben Owein gelangte und ihm heimlich aufhelfen konnte. Schritt für Schritt wichen sie langsam in die Dunkelheit zurück, sorgfältig darauf bedacht, sich dicht an dem Hügel zu 308 halten, damit sie in ihrer Blindheit nicht über die Klippe stürzten. Plötzlich hörten sie Rufe und den rauen Schrei eines Raben. Sie nahmen einander bei der Hand, liefen los und zwangen ihre steifen, zitternden Glieder vorwärts, wobei sie bereits Seitenstiche verspürten. Dann beleuchtete eine große, bläuliche Kugel die gesamte Straße. Owein und Olwynne blickten über die Schulter zurück und sahen Piers und Irving ihnen die Straße hinab folgen. Irving hatte einen Dolch in der Hand. Oben auf dem Hügel stand Laird Malvern, eine Hand hoch erhoben, so dass ein großes Hexenlicht den Hügel rund um ihn herum beleuchtete. Sein Rabe schoss rau krächzend auf sie zu. Owein und Olwynne konnten nur so schnell wie möglich vorwärtsstolpern. Sie hörten das Trommeln laufender Füße hinter sich und erwarteten, jeden Moment schwere Hände auf ihren Schultern zu spüren. Dann erklang aus der Dunkelheit ein neues Geräusch. Das Schlagen großer Schwingen. Olwynne schaute entsetzt auf und sah Schwarzdorn mit Rhiannon auf dem Rücken aus dem Himmel herabsinken. Verzweifelte Hoffnung keimte in Olwynnes
Herzen auf. Rhiannon reichte ihr eine Hand herab. Ihre Blicke begegneten sich. Einen Moment herrschte zwischen ihnen vollständige Erkenntnis, vermischt mit schwelendem Zorn, Scham und verbittertem Hass. Dann hob Olwynne eine Hand, und Rhiannon ergriff sie und schwang sie hoch. Obwohl ihre Beine von den schweren Röcken behindert wurden, gelang es Olwynne, sich über Schwarzdorns Widerrist zu hieven, wobei die Wölbung des Sattelpolsters schmerzhaft in ihren Bauch drückte. »Warum?«, gelang es ihr zu keuchen. »Lewen wollte es«, antwortete Rhiannon, und dann beugte sie sich vor und rief Owein zu: »Flieg! Ich kann Euch nicht beide tragen! Du kannst fliegen!« 309 Owein breitete sofort seine Schwingen aus und sprang hoch in die Luft. Olwynne erkannte mit jähen Tränen in den Augen, dass ihr Bruder während der letzten Stunde wahrscheinlich jederzeit hätte entkommen können, da sie sich nicht die Mühe gemacht hatten, seine Flügel an seinen Körper zu binden, wie sie es vorher so häufig getan hatten. Rhiannon stieß Schwarzdorn die Knie in die Seiten, und die geflügelte Stute wendete und hielt auf den Rand der Klippe zu. Genau in dem Moment stach etwas Scharfes und Eiskaltes tief in Rhiannons Schulter. Sie zuckte zusammen und schrie laut auf. Brüllender Schmerz erfüllte ihre Ohren und Augen. Das Eis wurde zu Feuer, zu einer Feuersbrunst. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie erkannte, dass sie stürzte. Ein Schrei riss an ihren Stimmbändern. Sie streckte einen Arm aus, griff nach etwas, was sie halten könnte. Ihre Hand traf auf etwas Weiches. Ihre Finger schlossen sich darum. Zwischen dem Entsetzen über den Sturz, die größte Angst jedes Thigearn, und dem Schmerz und Schock über den tief in ihre Schulter getriebenen Dolch erkannte Rhiannon, dass sie Olwynne mit sich hinabzog. Es war keine Zeit nachzudenken. Rhiannon ließ los und fiel. Starke Arme ergriffen sie. Sie wurde dicht an eine leinenbekleidete Brust gedrückt und hörte überall um sich herum das Schla-
gen starker Schwingen. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, und sie wurde einen Moment ohnmächtig. Dann zerrten Höllenqualen sie wieder halb ins Bewusstsein. Sie hörte vage Schreie und Rufe, und bläuliches Licht blitzte in ihren Augen auf. Etwas Hartes stieß gegen sie, und dann empfand sie erneut das schreckliche, ihr den Atem raubende Gefühl des Fallens. Alles wurde dunkel. 310 DIE ALTE FESTUNG Rhiannon kam langsam wieder zu Bewusstsein. Als Erstes spürte sie den harten, kalten Boden unter sich und nahm den Geruch feuchten Steins und säuerlichen, ungewaschenen Haars auf. Der Geruch war so vertraut, dass eine Woge der Panik in ihr aufstieg. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ihr Atem stockte, und sie dachte zusammenhangslos: Oh nein, nicht wieder! Nicht der Kummertor-Turm... Sie versuchte, den Atem anzuhalten, öffnete die Augen und richtete sich mühsam auf. Schmerz schoss durch ihre Schulter. Laut keuchte sie auf und erstarrte, eine Hand vorsichtig angehoben, um die Quelle des Schmerzes zu berühren. Sie hatte das Gefühl, als wäre eine glühend heiße Stange durch ihre Schulter getrieben worden und sie hinge daran, festgehalten wie ein noch flatternder Schmetterling. »Rhiannon, geht es dir gut? Owein, sie ist aufgewacht!« Beim Klang der Stimme der Banprionnsa hob Rhiannon ihren verschwommenen Blick Sie sah Olwynne gegenüber von sich sitzen und sich besorgt vorbeugen. Ihr rotes Haar war wie ein Vogelnest und bauschte sich als wirre Krause um ihr Gesicht, in der sich Blätter und Kletten verfangen hatten. Sie befanden sich in einer dunklen Zelle oder in einem Verlies, in dem nur moderiges, altes Stroh auf dem Boden die Feuchtigkeit der Steine abhielt. In der Mauer über ihnen befand sich ein schmaler Fensterschlitz, durch den Licht hereinfiel. Neben der Banprionnsa saß ihr Zwillingsbruder. Obwohl Rhiannon ihm niemals zuvor begegnet war, war seine Identität unverkennbar. Sein Haar war
ebenso rot und lockig wie Olwynnes, seine Augen waren braun, und er hatte die prächtigen, langen Schwingen seines Vaters, obwohl sie so flammend rot wie sein Haar und nicht nachtschwarz wie Lachlans waren. 311 Er beobachtete sie mit ebenso angespannter Sorge wie Olwynne. »Was ist passiert?«, fragte Rhiannon schwach. »Irving schleuderte seinen Dolch und erwischte dich an der Schulter. Du fielst in Ohnmacht und bist gestürzt. Ich versuchte dich aufzufangen, aber Olwynne stürzte auch. Ich konnte euch nicht beide halten, obwohl ich es versucht habe. Wir stürzten alle drei. Glücklicherweise trafen wir auf der Straße auf, sonst wären wir vermutlich tot. Dein Pferd hat uns zu retten versucht, aber sie waren zu viele.« »Sie haben es erwischt?« Rhiannon keuchte entsetzt. »Nein. Es ist entkommen, aber nur knapp. Es bestand keine Hoffnung für uns. Sie zerrten uns die Straße hinauf und warfen uns in diesen Raum. Das war vor ungefähr drei oder vier Stunden.« Rhiannons Augen brannten vor Tränen. Sie senkte den Kopf auf die Arme, denn sie wollte nicht, dass sie sie weinen sahen. »Du hast es versucht«, sagte Olwynne mit zitternder Stimme. »Du hast dein Bestes getan.« »Wie bist du hierhergelangt?«, fragte Owein gespannt. »Bist du mit den Yeomen gekommen? Sind sie auch hier irgendwo? Vielleicht werden sie...« »Keine Yeomen«, antwortete Rhiannon knapp. »Ich flog eurem Schiff auf Schwarzdorn hinterher. Es war sehr hart. Wir hätten es beinahe nicht geschafft. Der Sturm ... ich habe so etwas noch nie erlebt. Die Wogen waren so hoch wie Berge.« »Kein Wunder, dass uns so elend war«, sagte Olwynne zu Owein. »Und Dedrie und all den anderen auch.« »Vor euch war der Himmel stets klar«, sagte Rhiannon, »aber hinter euch herrschten eine Dunkelheit und ein Sturm, wie ich sie nie zuvor erlebt habe. Die Blitze und der Donner, der Wind... es war wie Frostriesen, die Krieg führen. Also flog ich ... flogen
312 wir voraus. Es war zu hart, euch nur zu folgen. Wir hätten es niemals geschafft. Und als wir euch erst überholt hatten, ging es leichter. Wir gelangten gestern Abend zu dieser Insel und errichteten oben in der alten Ruine unser Lager. Dann warteten wir auf euch.« Sie musste sich stark konzentrieren, um die Worte zu bilden und auszusprechen, denn sie fühlte sich elend, benommen und äußerst unglücklich. Der Schmerz in ihrer Schulter war intensiv. Behutsam griff sie über ihre Schulter hinweg nach der Stelle, wo der Dolch sie durchbohrt hatte. Jemand hatte sie mit einer Art Tuch verbunden, aber es löste sich, als sie sich bewegte und fiel zu Boden wie eine zerdrückte, karmesinrote Blume. Die Wunde fühlte sich unter ihren Fingern nass und breiig an und schmerzte höllisch. Ihre Finger waren blutig, als sie sie wieder löste. »Ich konnte die Wunde nicht besser versorgen«, sagte Olwynne entschuldigend. »Wir konnten Oweins Hemd zerreißen, aber du hast zu stark geblutet. Das meiste davon war nutzlos.« Sie vollführte mit einer Hand eine Geste, und Rhiannon sah einen in eine Ecke geworfenen Stapel blutgetränkter Stofffetzen. »Du hast viel Blut verloren«, fuhr Olwynne unglücklich fort. »Aber ich glaube nicht, dass du lebensgefährlich verletzt wurdest. Weder am Herzen noch an der Lunge.« »Das ist gut«, antwortete Rhiannon, die sich leer und seltsam fühlte. Sie wollte aufstehen und den Raum gründlich nach einem Ausweg - oder nach einer Waffe oder einem anderen Hilfsmittel durchsuchen, hatte jedoch einfach nicht die Kraft dazu. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen aufzustehen. »Also weißt du nicht, ob die Yeomen auf unserer Spur sind?«, fragte Owein. Sie konnte aus seiner Stimme heraushören, dass er sich bemühte, seine bittere Enttäuschung zu verbergen. Sie sah ihn mühsam an, und es gelang ihr, mit einer Schulter zu zucken. »Ich hab ihnen eine Nachricht geschickt. Ich teilte ihnen mit, wo das Schiff hinfuhr. Aber ich weiß nicht, ob sie sie überhaupt 312
bekommen haben. Und auch wenn sie sie bekommen haben, liegen sie Tage zurück Vielleicht noch weiter, weil sie in diesen Sturm segelten.« Es schwang wider Willen äußerste Hoffnungslosigkeit in ihrer Stimme mit. Rhiannon konnte sich nicht vorstellen, wie jemand den schwarzen Sturm, den Laird Malvern heraufbeschworen hatte, überleben konnte. Sie waren auf sich allein gestellt. Iseult klammerte sich an die Reling. »Ich werde nicht umkehren!«, schrie sie. »Mylady, wenn wir nicht beidrehen, werden wir alle ertrinken!«, erwiderte Kapitän Tobias, ebenfalls schreiend. Er war nicht nur der Kapitän des Königlichen Rothirschs, der großen Kriegsgaleone, an deren Ruder er sich nun in dem Bemühen klammerte, das Schiff vor dem Untergang zu bewahren, sondern auch der Großadmiral der königlichen Flotte. Zwanzig Schiffe schwärmten hinter dem Königlichen Rothirsch aus und bemühten sich nach Kräften, sich ihren Weg durch die schwere See zu den Pirateninseln zu erkämpfen. Sie mussten einander anschreien, denn anders konnten sie sich über den heulenden Wind, das Krachen der Wogen, das Knattern und Pfeifen der gequälten Segel und den Donner, der über den Himmel rollte wie Kanonenkugeln, die eine gewaltige Treppe hinunterstürzten, nicht verständlich machen. Regen peitschte in ihre Gesichter. Der Königliche Rothirsch erklomm eine riesige, schwarze Wasserwand und wirkte dabei so zerbrechlich wie ein Sturmvogel. Meerwasser strömte das Deck hinab, fegte Matrosen von den Füßen und riss alles, was nicht festgebunden war, in einer wilden Schaum- und Gischtwoge mit sich. Das Schiff stieg höher und höher. Es schien, als müsste der Kamm der Woge über ihnen einbrechen und sie alle zerschmettern. Aber dann brach das Schiff hindurch und schwankte einen Moment. Die Segel füllten sich. Das Schiff kippte und begann 313 den Abstieg in den schwarzen Abgrund, während hohe Wände aus Meerwasser auf beiden Seiten anschwollen. Die Matrosen
kämpften um Halt, während das Wasser in die entgegengesetzte Richtung zurückwogte. »Wir können nicht durch diesen Sturm segeln«, schrie Kapitän Tobias. »Wir müssen!«, schrie Iseult zurück »Meine Kinder sind irgendwo dort draußen. Wir müssen sie finden, wir müssen dieses Schiff einholen!« »Das ist Wahnsinn!« »Vielleicht, aber wir tun es trotzdem! Ich bitte Euch nur, das Schiff auf Kurs zu halten, bis wir diesen Wind wieder unter Kontrolle bekommen können.« Er lachte rau auf. »Diesen Wind unter Kontrolle bekommen? Ihr seid Narren und Wahnsinnige!« »Vergesst nicht, mit wem Ihr sprecht«, sagte Iseult mit verengten Augen. Der Kapitän erzitterte in dem Hauch arktischer Luft, der plötzlich von den Falten ihres Umhangs auf ihn zuwirbelte. Eiszapfen hingen von ihrer Kapuze herab, und das Deck um ihre Füße wurde weiß und glatt. »Das habe ich nicht vergessen, Mylady«, schrie der Kapitän, »aber Ihr könnt nicht von mir erwarten, meine Flotte und alle meine Männer auf den Grund des Meeres zu führen, ohne zumindest zu versuchen, Euch zur Vernunft zu bringen.« Sie lachte. Es war ein wilder, fast jubelnder Klang. »Vertraut mir, Kapitän! Wir sind noch nicht besiegt.« Er blickte aufs gewaltige, wogende Meer hinaus und erschauderte. »Wenn Ihr den Wind nur in unserem Rücken halten könntet ...«, sagte er eher hoffnungslos. »Das können wir zumindest schaffen«, antwortete Iseult. »Es geht nur darum, ihn stetig wehen zu lassen.« Ein Blitz riss die Unterseite der großen, schwarzen Wolke auf. Donner dröhnte. Kapitän Tobias vollführte das Zeichen des Se 314 gens Eà s und schrie sich dann heiser, während Matrosen umherrutschten und -schlitterten, um seine Befehle zu befolgen. Die oberen Segel wurden gerefft und rasch verstaut.
Ein kleines Sturmsegel wurde am Heck gehisst, um dem Kapitän die Kontrolle über das Steuerrad zurückzugeben, und ein weiteres Segel am Besanmast. Das Schiff bockte und tanzte, als Wind und Meer es gemeinsam seitwärtsrissen. Der Kapitän rief nach Hilfe, um die Pinne ruhig zu halten, und alle ergriffen die Reling, als eine weitere graue Wasserbestie fauchend und schäumend darüber hinweg auf die Decks krachte. Iseult betrachtete das turbulente Meer ängstlich prüfend, atmete dann tief durch, als sich das Schiff wieder aus dem Wellental herausmühte, und eilte zu ihren Gefährten auf dem Vorderdeck zurück. Der Stürmische Briant stand, die Reling umklammernd, vor dem Fockmast, sein dunkles Haar wehte ihm ums Gesicht, und seine Augen leuchteten. Er liebte einen guten Sturm. Zu seinen beiden Seiten standen die Wetterhexen, die als seine Lehrlinge ausgebildet worden waren. Die ältere, namens Cristina, war vor ungefähr vier Jahren in den Hexensabbat aufgenommen worden und arbeitete derzeit auf ihren ersten Zauberinnenring hin. Sie war eine große, attraktive Frau mit grauen Augen und braunem Haar, von der es hieß, sie sei für Briant mehr als nur seine Assistentin. Der jüngere Hexer hatte erst kürzlich seine Dritte Prüfung der Macht abgelegt und wirkte angesichts eines solch wilden Sturms eher ängstlich. Da er Fredric hieß, wurde er sehr zu seiner Empörung von seinen Mentoren im Allgemeinen Freddy genannt. Finn die Katze kauerte unter einem Schutz aus Segeltuch und wirkte sehr elend. Sie war, so erinnerte sich Iseult, keine gute Seefahrerin. Jay saß neben ihr, einen Arm um ihren Rücken gelegt, in der anderen Hand einen Eimer, den er ihr bei Bedarf reichte. Nina die Nachtigall saß auf ihrer anderen Seite und half dabei, 315 sie gegen das Stampfen des Schiffes festzuhalten. Roden war mit seinem Vater oben auf dem Poopdeck und bat den Kapitän, ihn das Steuerrad drehen zu lassen. Der Kapitän schüttelte nur den Kopf und forderte ihn auf, wieder unter Deck zu gehen und nicht
mehr jedermann im Weg zu stehen. Rafferty und Cameron taten beide ihr Bestes, um sich nützlich zu machen, obwohl sie nie zuvor auf einem Schiff gewesen waren und absolut keine Ahnung hatten, was sie tun sollten. Hauptmann Dillon befahl seinen Männern, die Kanonen am Platz festzuzurren und sicherzustellen, dass die Fässer mit Schießpulver gut gesichert waren und nicht vom Wasser verdorben wurden. Er schaute zu Iseult, als sie vorüberging, und sie nickte kurz, um anzuzeigen, dass sie stetigen Kurs halten würden. Er erwiderte das Nicken und befahl allen Soldaten, sich ein Seil um die Taille zu knüpfen, das sie mit dem Schiff verband. Er wollte keinen Mann über Bord gehen sehen, falls das Meer wie zu erwarten noch rauer würde. »Finn, fühlst du dich gut genug, um erneut den Kreis der Macht zu bilden?«, fragte Iseult, als sie sich über die unter dem Schutzdach kauernde Zauberin beugte. »Wir müssen versuchen, diesen Sturm zu beruhigen!« Finn nickte und bemühte sich aufzustehen, eine Hand fest auf den Mund gepresst. Ihre Beine gaben jedoch nach, und Nina und Jay mussten ihr beide helfen. Die übrigen Hexen wandten sich von der Reling ab und kamen, um einander in einem Kreis die Hände zu reichen, wobei der Stürmische Briant in ihrer Mitte stand. »Was für ein gewaltiger Sturm!«, rief er. »Dieser Laird hat Macht, daran besteht kein Zweifel!« »Haben wir genug Macht, um zu binden, was er entfesselt hat?«, fragte Iseult. Briant grinste und zuckte die Achseln. »Es ist weitaus leichter, einen Sturm zu erheben, als ihn zu kontrollieren. Er hat den 316 Wind jedoch heraufbeschworen, um sein Schiff anzutreiben, und wir folgen nur in seinem Kielwasser. Hätten wir einen vollen Zaubererkreis, wäre es wohl leicht! Wenn wir nur einen Halbkreis von Wetterhexen hätten, wäre es nicht zu schwierig. Ein Halbkreis von Hexen, von denen die Hälfte kein Wettertalent -
nun, sagen wir, das wird eine Herausforderung.« Seine Augen glänzten vor Aufregung. »Versuchen wir es erneut«, sagte Iseult. »Nina, willst du den Gesang für uns singen?« Nina nickte. Ihre ganze Macht lag in ihrer Stimme, und so begann sie mit geschlossenen Augen und konzentrierter Energie zu singen, die Eine Macht heranzuziehen, bis die Luft ringsum so kalt wurde, dass die in der Nähe arbeitenden Seeleute und Soldaten Mühe hatten zu atmen. Eiszapfen begannen sich an den Fallen zu bilden. Der Regen wurde zu Graupel. Dann sangen die übrigen Hexen mit ihr, streckten, als der Gesang sein vorletztes Crescendo erreichte, die Hände hoch in die Luft und lenkten alle ihre Macht zu Briant. Er nahm sie und verwob sie zu einer Schlinge, um den Wind einzufangen und ihn wieder unter Kontrolle zu bringen. Es war so, als versuche man, eine Herde wilder, fliegender Pferde mit dem Lasso fangen zu wollen. Der Wind war so stark und stürmisch, dass er nicht leicht zu zähmen war. Briant wankte und fiel fast hin. Er war beinahe so grün im Gesicht wie Finn, die ihre Übelkeit zu kontrollieren versuchte, bis Nina den Kreis wieder öffnete. Cristina eilte Briant zur Hilfe, der die Hände auf die Knie stützte, den Kopf hängen ließ und seine Lungen mit der graupeligen, salzigen Luft vollsog. Das Schiff kippte und kenterte beinahe, und alle ergriffen den nächsten Mast oder die Reling, während Wasser über alle Decks strömte. Briant wurde von den Füßen gerissen und zur Seite gezogen. Hätte sich Cristina nicht verzweifelt an ihn geklammert, hätte er leicht über Bord gehen können. Einen Moment schien es, 317 als könne sich das Schiff vielleicht nicht wieder aufrichten. Entsetzte Schreie und Rufe waren überall zu hören. Dann stabilisierte sich die Galeone und lief weiter, und alle mühten sich hustend und spuckend wieder hoch und wischten sich das Salzwasser aus den Augen. Der Wind schnitt durch ihre nasse Kleidung und zerrte an ihrem nassen Haar, und die Hexen waren nicht die
Einzigen, die mit den Fingern rasch das Segenszeichen Eà s vollführten. »Mögen die Schicksalsgöttinnen uns verschonen«, stöhnte ein junger Seemann. »Es ist Wahnsinn weiterzulaufen«, rief ein anderer. Iseult blickte zu Briant, der die Reling umklammerte, während Cristina einen Arm um seine Taille schlang. Er zuckte die Achseln. »Ich hatte es fast geschafft«, sagte er. »Ach, dieser Sturm ist wirklich wild. Wäre Cailean hier, um mir seine Kraft zur Verfügung zu stellen, könnte ich ihn jetzt bezwingen, das schwöre ich. Aber wir haben einfach nicht die Kraft.« »Wenn ich mich nur nicht so elend fühlen würde«, murmelte Finn. Jay drückte sie fester an sich und strich ihr das nasse, beschmutzte Haar zurück. Sie kämpfte mit den Tränen. »Sir!«, rief eine Stimme. Hauptmann Dillon wandte sich sofort um. Seine Augenbrauen zogen sich über der Nase zusammen, als er zwei Soldaten an Deck kommen sah, die jeweils eine kleine, sich wehrende Gestalt festhielten. »Was ist das?«, wollte er wissen. »Blinde Passagiere, Sir!« »Blinde Passagiere!« »Ja, Sir. Wir fanden sie im Laderaum. Hättet Ihr uns nicht losgeschickt, um das Schießpulver zu überprüfen, hätten wir sie wahrscheinlich erst gefunden, wenn wir Land erreicht hätten. Sie haben dort unten ein Lager errichtet, Sir, mit Betten aus Segeln und Decken, und auch Wasser und Nahrung. Nicht dass sie großen Hunger hatten, Sir. Beiden war speiübel.« 318 »Blinde Passagiere auf dem königlichen Schiff!«, schrie Hauptmann Dillon mit Donnerstimme. »Wie ist das möglich?« »Sie haben Passierscheine, Sir. Ich weiß nicht woher. Sie müssen sie benutzt haben, um an Bord des Schiffes zu gelangen, als wir die Vorräte an Bord brachten. Überall waren Leute, Sir, und auch Jungen, welche den Proviant und die Waffen einluden und dabei
halfen, das Schiff seetüchtig zu machen. Da müssen sie sich in den Laderaum geschlichen haben, Sir.« Hauptmann Dillon wirkte äußerst zornig. »Findet für mich heraus, wer für die Gewährleistung der Sicherheit des Schiffes verantwortlich ist, während die Banrigh-Witwe an Bord ist, und bringt ihn her«, schrie er über das Brüllen des Sturmes hinweg. »Aber bringt zuerst diese Schiffsratten zu mir!« »Ja, Sir!«, sagten die Soldaten und ließen die beiden blinden Passagiere los, die vor Dillon auf die Knie fielen. »Wer seid ihr, und was habt ihr an Bord dieses Schiffes zu suchen?«, verlangte Hauptmann Dillon zu wissen. Einer der blinden Passagiere hob sein blasses, schmutziges Gesicht an. »Bitte, Sir, es ist nicht Landons Schuld. Es war alles meine Idee. Seht Ihr, ich wollte ... wir wollten ...« Die Stimme des blinden Passagiers versagte, und sie hob eine Hand und rieb zornig über ihre nassen Augen. »Felice ?«, fragte Nina ungläubig. In dem Moment brach eine weitere große Woge über den Bug und rauschte das Deck hinab, riss Seeleute von den Füßen und wirbelte um die Masten herum. Hauptmann Dillon ergriff mit beiden Händen fest die Reling, bis das Wasser wieder verebbt war. Dann schaute er sehr streng auf die beiden schmuddeligen Gestalten zu seinen Füßen hinab. Um nicht fortgeschwemmt zu werden, hatten sie sich mit beiden Händen an seine Beine geklammert. »Danke, ihr könnt meine Stiefel jetzt loslassen«, sagte er kalt. »Ja, Sir, es tut uns leid, Sir«, sagten sie und lösten sich von seinen Knöcheln. 319 »Felice , Landon, seid ihr das?«, fragte Nina und trat eilig vor. Die beiden wirkten so schmutzig und schäbig, dass sie sie kaum erkennen konnte, besonders Felice , deren kurz geschnittenes Haar am ganzen Kopf wie eine Kaminbürste hochstand. »Ja, Nina, wir sind es«, sagte Landon unglücklich. »Landon?«, rief Rafferty. »Was tust du hier? Bei Eà s Augen, bist du das, Felice ? Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«
»Ich habe sie abgeschnitten«, antwortete Felice trotzig. »Seid ihr blinde Passagiere?«, fragte Cameron. »Gütiger Himmel, welch ein Streich!« »So ein Pech, dass sie nach dem Schießpulver sehen mussten«, sagte Felice . »Wir waren schon seit Tagen dort, und niemand hatte etwas gemerkt.« Die übrigen Hexen hatten sich nun alle um sie versammelt und stießen überraschte und einige auch belustigte Ausrufe aus, als Nina kurz erklärte, wer die Missetäter waren. Iseult war jedoch nicht belustigt. »Lady Felice , was tut Ihr hier? Ihr seid zu alt für solch einen albernen, kindischen Streich. Dies ist keine Vergnügungsreise!« Während sie sprach, krachte eine weitere riesige Woge über den Bug des Schiffes, als wolle sie die Wahrheit von Iseults Worten beweisen. »Das weiß ich!«, rief Felice , die um Halt rang. »Glaubt Ihr, wir verstünden nicht die verzweifelte Dringlichkeit dieser Mission? Wir kennen Laird Malvern! Wir haben gesehen, wozu er fähig ist. Erkennt Ihr nicht... seht Ihr nicht... wir konnten nicht einfach zurückbleiben und abwarten! Owein ist in schrecklicher, schrecklicher Gefahr! Glaubt Ihr, ich könnte einfach herumsitzen und nichts tun, keinen Rettungsversuch unternehmen?« »Olwynne ist auch in schrecklicher Gefahr«, sagte Iseult leise. Felice errötete so stark, dass die Rötung durch all den Schmutz hindurch erkennbar war. »Ja, natürlich. Olwynne auch.« Ein kurzes Schweigen entstand, in dem das gequälte Ächzen 320 der Schiffsplanken und das Heulen des Windes lauter denn je schienen. »Hättet Ihr einfach herumgesessen und auf Nachrichten wartend auf die Uhr gesehen?«, fragte Felice , während Tränen ihr Gesicht hinabliefen. »Nein, ich glaube nicht, dass ich das getan hätte«, antwortete Iseult. »Aber ich bin auch eine Narbige Kriegerin. Ihr seid eine behütet aufgewachsene Hofdame. Was glaubt Ihr, wie Ihr uns helfen könnt?«
Felice ballte ihre Hände zu Fäusten und sah rebellisch zu Iseult hoch. »Wir könnten dem magischen Kreis unsere Kraft zur Verfügung stellen«, sagte sie. »Wir sind Hexenlehrlinge, wie Ihr wisst, und dank der Hofzauberin in Ravenscraig recht gut ausgebildet. Und Landon ist sehr stark er wird eines Tages ein Zauberer sein. Wenn Ihr auch Rafferty und Cameron mit aufnehmt, werdet ihr fast einen vollständigen Kreis haben. Das ist wohl besser als ein Halbkreis, auch wenn sie mehr Knochen als Hirn zwischen ihren Ohren haben.« Sie schnitt den beiden Knappen, während sie sprach, eine Grimasse, die von beiden erwidert wurde. Iseult blickte auf Felice hinab, während ein Hauch von Respekt in ihren Augen dämmerte. »Hauptmann Dillon, wir baten Euch schon einmal, einen vollständigen Kreis zu bilden - können wir das wieder tun?«, fragte sie, ohne den Blick von dem schmuddeligen Mädchen mit dem kurz geschnittenen Haar abzuwenden, das so herausfordernd vor ihr stand. »Wie Ihr befehlt, Euer Hoheit«, erwiderte Hauptmann Dillon, obwohl am Tonfall seiner Stimme deutlich zu erkennen war, dass er es hasste, um einen solchen Dienst gebeten zu werden. »Briant, glaubt Ihr, wir könnten den Wind zügeln, wenn wir einen vollständigen Kreis von dreizehn Hexen hätten?« »Wir können es nur versuchen«, antwortete Briant. »Ein bisschen Feuer könnte gewiss nicht schaden.« Und er warf Felice 321 einen bewundernden Blick zu, während er auf seine Position in der Mitte des Kreises zurücktrat. Die übrigen Hexen schlossen den Kreis mit verschränkten Händen. Mit Dillon, Cameron, Rafferty, Landon und Felice im Bunde waren sie nun dreizehn, die bevorzugte Anzahl, um mächtige Magie zu handhaben. Nina erhob erneut ihre wunderschöne, silberhelle Stimme gegen das Brüllen der Wogen und des Windes. Die übrigen zwölf stimmten mit ihr ein. Der Gesang wob sich rundum und sog die Kraft eines unsichtbaren Wirbelwindes reiner Energie auf. Sie spürten ihr Kribbeln auf ihrer Haut, spürten, wie sich die Haare an ihrem Körper aufrichteten, und
schmeckten ihren metallischen Geschmack auf ihren Zungen. Sie dröhnte um sie herum, erstickte die Geräusche des Sturmes und des Schiffes, erfüllte ihre Ohren und Augen und Münder. Sie intonierten die letzten Worte des Gesangs und streckten die Arme empor. Felice sah einen Kegel blauweißen Feuers um sie herum aufflammen. Der Stürmische Briant nahm die Macht, die sie ihm gaben, und verwob sie zu einem Seil aus zischendem Weiß. Er fing den Wind und knotete sein Seil darum, und dann, aus einem Hochgefühl heraus laut schreiend, ritt er den Sturm, als wäre er ein lebendiges Tier, mit aufgeworfener Mähne aus Wolken und Regen, feurigen Augen aus stechenden Blitzen und großen Donnerhufen, die das Meer hinter ihnen zu einem weißen Mahlstrom aufschäumten. Sechs Herzschläge lang bekämpfte der Sturm Briant. Das wilde Meer hämmerte auf das Schiff ein, zuerst in eine und dann in die andere Richtung hereinbrechend. Briant befand sich hoch am Himmel und wurde dann ins Wasser geschmettert, zwischen Wogenkamm und Wolkenbruch geschleudert, während Blitze rund um ihn herum zuckten. Dann herrschte plötzlich ein langer Moment reiner Stille und Ruhe. Hoch über dem Großmast ritt Briant den Wind, die Zügel des Hexenfeuers fest in Händen. Er lachte. Alle sahen erstaunt und verängstigt zu ihm hoch. 322 »Ein wahrer Sturmreiter«, flüsterte Cristina, die mit Ehrfurcht und Bewunderung zu Briant hinaufblickte. Dann drehte sich der Wind. Er wehte stark und sicher und trieb ihnen die Haare in die Augen. Die Segel füllten sich. Das Schiff schoss vorwärts. Während die Wogen sanft unter dem geschnitzten Bug des Schiffes dahinrollten und hinter ihnen zu einem breiten, weißen Kielwasser aufbrachen, eilte die Galeone, gefolgt von der übrigen Flotte, auf die Pirateninseln zu. BEI VOLLMOND Dunkelheit hatte sich herabgesenkt. Ratten raschelten im Stroh. Ein einzelner Strahl Mondlicht drang durch das schmale Fenster und fiel auf die Mauer. Sein silbriges Leuchten ließ die Schatten undurchdringlich scheinen.
Olwynne saß mit im Schoß gefalteten Händen da und wartete. Sie war über Entsetzen und Verzweiflung hinaus an einen Ort der Stille und Akzeptanz gelangt. Heute Abend sollte sie sterben. Dessen war sie sich äußerst sicher. Owein hatte vor ungefähr einer halben Stunde ihre Hände ergriffen und sie ermahnt, nicht das Vertrauen zu verlieren. »Die Yeomen werden herkommen«, hatte er nachdrücklich gesagt. »Wir werden rechtzeitig befreit werden.« Dann war Dedrie gekommen, hatte Olwynne gezwungen, einen weiteren ihrer üblen Tränke zu trinken, und hatte ihr eine Schüssel mit parfümiertem Wasser gebracht, in der sie sich waschen sollte, sowie ein loses, weißes Nachtgewand zum Tragen. Die weise Frau hatte wenig gesprochen, aber als sie die Zelle verließ, hatte sie mit einem bedeutungsvollen Blick gesagt: »Beide Monde sind heute Nacht voll. Es wird, dank sei der Wahrheit, hell genug sein, um alles zu sehen.« 323 Danach hatte Owein zusammengesunken und still dagesessen. Olwynne konnte ihn in der Dunkelheit nicht sehen, aber sie konnte seinen rauen Atem hören. Rhiannon lag regungslos auf der anderen Seite der Zelle. Sie war vor einiger Zeit eingeschlafen und wimmerte gelegentlich im Schlaf, als habe sie schlechte Träume. Olwynne wusste, dass ihre Zeit des Träumens vorüber war. Ihr Schlaf war seit Monaten von grausamen Visionen, von Skeletten und Grabsteinen, Mord und Verrat heimgesucht. Sie hatte in ihren Träumen zahllose Male gesehen, wie ihr Vater niedergestreckt wurde, und hatte es dann ein Mal wach miterlebt. Sie hatte sich selbst sterben sehen, an einem Band aus Blut hängend, von einer geschwungenen Sense getötet. Nun war die Zeit gekommen, dass diese Träume wahr wurden. Ghislaine hatte ihr einmal erzählt, dass in einem Traum zu schlafen den Tod bedeute. Also blieb Olwynne wach, als wolle sie sich davon überzeugen, dass sie letztendlich den Tod vermeiden könnte, den sie selbst vorausgesehen hatte. Nach dem Trank fühlte sie sich sehr ruhig und seltsam, fast als schwebe sie. Ihre
Füße schienen weit von ihrem Kopf entfernt. Ihre Hände waren schwer, schlaff und viel zu kalt. Sie atmete langsam und gleichmäßig und betrachtete das kunstvolle Filigranwerk aus Schwarz und Silber, welches das durch das Stroh scheinende Mondlicht schuf - ein Anblick, dessen Schönheit ihr Herz schmerzte. Sie wünschte, sie hätte Lewen noch einmal sehen können. Sie wünschte, sie hätte ihn nicht verhexen müssen. Wenn seine Liebe nur wahr gewesen wäre. Wenn er nur Rhiannon nicht begegnet wäre. Olwynne dachte unwillkürlich, dass diese unglückselige Wendung der Ereignisse ganz dem Satyricorn-Mädchen zuzuschreiben war. Wenn Lewen ihr nicht begegnet wäre und sich nicht in sie verliebt hätte und nicht mit ihr zur Burg Fettercairn gezogen wäre und Laird Malvern nicht bei seinen schrecklichen Taten behindert und veranlasst hätte, dass er festgenommen und 324 nach Lucescere gebracht wurde - wäre sie dann jetzt hier, mit dem Tod vor Augen? Wie komplex der Wandteppich der Menschenleben war, dachte sie. Jeder Faden war mit dem eines anderen Menschen verwoben, so dass kein Faden gekappt und herausgezogen werden konnte, ohne dass sich das gesamte Gewebe auflöste. Wenn Rhiannon von dem allen abgetrennt wäre - wäre ihre eigene Geschichte dann anders verlaufen? Das konnte man unmöglich sagen. Sosehr sie auch dagegen anging, konnte Olwynne doch nicht umhin, sich zu wünschen, Rhiannon wäre niemals in ihr Leben geflogen. Dann hätte sie Lewens Liebe vielleicht ehrlich erworben und nicht feststellen müssen, dass sie beide durch ihre Verhexung auf einem vollkommen falschen Weg waren. Während sie noch darüber nachdachte und sich bemühte, die ironische Stimme zu ignorieren, die daraufhinwies, dass Lewen sie niemals mit den Augen eines Liebenden betrachtet hatte, wurde plötzlich die Tür aufgerissen. Lampenlicht fiel herein und verwandelte das kunstvolle Gebilde des Mondlichts und der Schatten wieder in eine entsetzliche, feuchte, rattenverseuchte Zelle. Olwynne schaute auf, wobei ihr Kopf sich anfühlte, als sei
zu viel Sauerstoff darin, wie ein Ballon aus einer Schweinsblase, der aufwärtsschweben und an die Decke stoßen könnte. Laird Malvern stand im Eingang, sein Rabe hockte auf seiner Schulter, Jem stand triefäugig, unrasiert und nach Whiskey stinkend an einer Seite, Piers mit einer hochgehaltenen Laterne an der anderen. »Holt das Opfer«, befahl Laird Malvern. »Die Rote?« »Ja. Ich freue mich darauf, MacCuinn-Blut an meinem Messer zu sehen.« »Aber wollte der Geist nicht die Schwarzhaarige? Sie hat sie im Gefängnis ausgewählt.« »Glaubst du wirklich, es kümmert sie, wer stirbt, solange sie wieder leben kann? Nein, wenn ich jemandes Kehle durchschnei 325 den muss, dann kann es genauso gut die Tochter des MacCuinn sein, und dann werde ich wirklich das Gefühl haben, dass meine Rache vollendet ist.« »Ach ja, dann die Rote«, sagte Jem, schlurfte vorwärts und packte Olwynne am Arm. Sie erschauderte. Owein wachte auf und drehte sich um, wobei seine Schwingen das Stroh rascheln ließen. Sie spürte den Moment, als er erwachte, und erkannte, dass die Zeit gekommen war. Er sprang auf und stürzte auf die Männer in der Tür zu, vor Kummer und Zorn außer sich. Jem erwartete ihn. Er hielt eine schwere Eisenlanze in einer Hand und ließ sie auf Oweins Kopf krachen. Der Prionnsa stürzte und lag still. Olwynne sank neben ihm auf die Knie und barg seinen Kopf in den Händen. Er war bewusstlos. Sie beugte sich herab und küsste ihn auf die Stirn. »Leb wohl, Owein«, flüsterte sie, und eine Träne fiel auf seine Wange, die sie mit dem Daumen fortwischte. Sie fragte sich, nicht zum ersten Mal, ob er ihren Tod spüren würde. Sie standen einander unheimlich nahe, wie es bei so vielen Zwillingen war, und hatten oft unerklärliche Schmerzen verspürt, die sich später dadurch erklärten, dass der andere verletzt worden war. Da Olwynne ein ruhiges, fleißiges und Owein
ein lautes, abenteuerlustiges Kind gewesen war, hatte Olwynne am häufigsten die Phantomschmerzen verspürt. Es beunruhigte sie, dass Owein ihren Schmerz spüren würde, wenn sie starb, und vielleicht mehr als Schmerz. Wie fühlte es sich an, tot zu sein?, fragte sie sich. »Seht sie euch an, sind sie nicht süß?«, spottete Jem. Laird Malvern ignorierte ihn. Er hörte Piers zu, der mit einem leisen, drängenden Unterton sprach. Kurz darauf vollführte Laird Malvern eine nachlässige Handbewegung. »Gut, wenn das so wichtig ist, kannst du sie haben, wenn du willst«, sagte er. Einen kurzen, benommen machenden Moment lang dachte Olwynne, Piers würde um ihr Leben flehen, aber dann, als Laird 326 Malvern weitersprach, erkannte sie mit sinkendem Mut, dass Piers um Rhiannon bat. Er wollte sie opfern, um seine Mutter von den Toten zu erwecken. »Wir müssen zuerst Falkner und Rory wiedererwecken«, sagte Laird Malvern gerade, »aber dann, gewiss, Piers, wenn du die Dunkelhaarige benutzen willst, um deine Mutter wiederzuerwecken, dann ist das in Ordnung. Sie war uns schon von Anfang an ein Dorn im Auge, und ich werde froh sein, sie loszuwerden. Wäre es nicht so passend, dass ich die MacCuinnTochter zuerst opfere, würde ich jetzt tatsächlich sie benutzen, als Rache für all die Schwierigkeiten, die sie uns bereitet hat.« Piers sprach erneut mit leiser Stimme. »Ja, das verspreche ich«, sagte Laird Malvern verärgert. »Ich habe Eurem Vater Vorjahren mein Wort gegeben, dass Eure Mutter die Nächste wäre, die wiedererweckt werden sollte. Woher sollte ich wissen, dass es so lange dauern würde, das Geheimnis zu erfahren?« »Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Piers. »Ihr braucht Euch keine Mühe zu machen, Mylaird. Wenn Ihr mir den Zauber und das Mädchen überlassen wollt, werde ich es selbst durchführen.« Er fügte, angesichts der finsteren Miene Laird Malverns, hastig hinzu: »Natürlich erst nachdem wir Euren Bruder und Euren Neffen wiedererweckt haben, Mylaird.«
»Und habt Ihr auch einen eigenen Kreis von Totenbeschwörern? Ich glaube nicht«, antwortete der Laird äußerst sarkastisch. »Nein, der Zauber bleibt allein bei mir.« »Wir brauchen einen Kreis von Totenbeschwörern, um es durchzuführen?«, fragte Piers kurz darauf. »Aber... wie, Mylaird? Wir haben ... wir haben ein Drittel unseres Kreises verloren.« Olwynne wandte sich um und sah zu ihm hoch. Sie hatte sich gefragt, was er wohl empfand, nachdem sie seinen kranken und ältlichen Vater am Straßenrand mitten im Nirgendwo zurückgelassen hatten. Er hatte seit jenem Moment kaum gesprochen, 327 und sie hatte die Hoffnung gehegt, dass er vielleicht aufrührerischen Zorn auf den Laird von Fettercairn verspürte, der vielleicht dazu benutzt werden könnte, ihn gegen die anderen einzunehmen. Jedoch deutete nichts in seiner Stimme auf eine solche Rebellion hin, oder auch auf Kummer um den Verlust seines Vaters. Olwynne fand das schrecklich. »Das Problem habe ich Ballard überlassen«, sagte Laird Malvern unangenehm lächelnd. »Er war für einen Tag in der Piratenstadt. Ich bin mir sicher, dass er jemanden gefunden hat, der für ein paar Goldmünzen bereitwillig helfen wird, eine Kehle durchzuschneiden, selbst wenn sie einen roten Umhang anlegen und ein paar Verse singen müssen, um das zu tun.« Wie Olwynne wusste, war es ihre Kehle, die durchgeschnitten werden sollte. »Aber ... ist das klug, Mylaird? Wir wollten diese Angelegenheit geheim, sehr geheim halten.« »Und das werden wir«, antwortete Laird Malvern, dessen Rabe höhnisch krächzte. »Wollen wir die ganze verdammte Nacht hier stehen und plaudern«, knurrte Jem. »Soll ich das Mädchen holen?« »Ja, Jem, hol das Mädchen«, sagte Laird Malvern sardonisch. »Und dann schick Dedrie hierher, damit sie sich den Jungen ansieht. Wir wollen nicht, dass er stirbt, weil du mit deiner Lanze ein wenig ungeschickt warst. Sie muss sich auch um das andere
Mädchen kümmern. Piers will sie, und daher müssen wir sie lange genug am Leben erhalten, bis wir wieder nach Fettercairn gelangen.« »Gut«, antwortete Jem und zog Olwynne hoch. Sie wehrte sich nicht. Ein letztes Mal blickte sie zu ihrem Bruder, der bewusstlos und mit vom Blut stumpfen Locken im schmutzigen Stroh lag, und ließ sich dann aus der Zelle führen. Das Letzte, was sie sah, waren Rhiannons Augen, die sie aus den Schatten heraus stumm beobachteten. Mitleid und Qual und ein verzweifeltes Bedauern 328 lagen in den Augen des Satyricorn-Mädchens, und das brach Olwynnes Entschlossenheit, so dass sie stolperte und Tränen ihre Wangen hinabliefen. Die Nacht war kühl und windig, und Wolken rasten über die Monde. Beide stiegen gerade groß, rund und golden wie neue Münzen aus dem Meer. Sie wirkten seltsam glatt, als wären die Vertiefungen und Mulden auf ihrer Oberfläche weggewischt worden. Olwynne sah zu ihnen hoch, während sie über einen dunklen, leeren Hof gezerrt wurde. Dies ist das letzte Mal, dass ich die Monde sehe, dachte sie. Sie gingen durch einen schemenhaften Garten mit toten Bäumen und einer verdorrten Hecke. Unkraut gedieh, wo einst Kräuter und Gemüse gewachsen waren. Olwynne spürte, wie sich Dornen in ihrem Nachtgewand verfingen. Jenseits des Gartens befand sich ein Friedhof, der von neun hohen Kerzen in Eisenlaternen beleuchtet wurde. Deren Flammen tanzten und beugten sich im Wind und warfen verzerrte, orangefarbene Umrisse auf die grauen Steine. Sie spendeten nur sehr wenig Licht. Den Monden gelang es weitaus besser, den Friedhof auszuleuchten. Olwynne konnte bei ihrem kühlen, unnahbaren Licht sich zur Seite neigende Kreuze und Engel und schiefe, verwitterte Steinplatten erkennen. Auf einer Seite befand sich ein großes, gähnendes Loch, wo ein Grab ausgehoben worden war. Die Erde lag hoch angehäuft daneben. Auf einem Grab in der Nähe war ein Skelett ausgelegt.
Erst j etzt begann Olwynne, zu schluchzen und sich zu wehren und um Gnade zu bitten. Es hatte keinen Zweck Hände zerrten sie vorwärts, näher und näher an die bleichen, filigranen Knochen heran. Das weiße Nachtgewand wurde ihr heruntergerissen. Eine Schere klapperte an ihrem Kopf und schnitt einen Großteil ihres Haars ab. Sie wurde gezwungen, sich auf das Skelett zu legen, spürte, wie sich dessen scharfe Knochen in ihre Hüften, ihre Brust, ihre Kehle bohrten. Olwynne spannte jeden 329 Muskel in ihrem Körper an und versuchte, sich davon loszureißen, aber sie wurde unerbittlich mit aus ihrem eigenen Haar geflochtenen Seilen an das Skelett gefesselt. Sie weinte, aber es war wie ein Traum. Sie verursachte keinerlei Geräusch, und all ihre verzweifelten Versuche blieben folgenlos. Es ist nur ein Traum, dachte sie erleichtert. Nur ein Traum. Aber dann sah sie aus dem Augenwinkel ein silbernes Messer aufblitzen. Rund um sie herum befanden sich ganz in Rot gekleidete Gestalten, die Worte ohne Bedeutung intonierten. Diejenige mit dem Messer streckte eine Hand aus, ergriff ihr Kinn und zwang ihren Kopf zurück. Das Messer kam auf sie zu. Olwynne schrie. Aber kein Laut erklang. Sie hatte keine Kehle mehr, um damit zu schreien. Ein Moment der Röte, der Dunkelheit. Dann war Olwynne tot. *** Lewen erwachte ruckartig. Er war in seinem Stuhl eingeschlafen, der in eine Ecke seines kleinen Schlafraums in der Theurgia geschoben war. Sein Messer lag auf dem Tisch vor ihm, mitten in einem Haufen Späne. Es war spät, und seine Kerze war heruntergebrannt. Er konnte jedoch deutlich sehen, denn Mondlicht strömte durch das hohe, schmale Fenster herein. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Er konnte dessen Echo in seinen Ohren hören. Benommen und unsicher stand Lewen auf, trat ans Fenster und blickte zu den runden Monden hinauf, die über dem Hexenwald schwebten. »Rhiannon«, flüsterte er.
Seine Hände zitterten. Er presste sie zusammen und versuchte, seinen abgehackten Atem zu kontrollieren. Etwas war geschehen. Er hatte den wirren Eindruck eines Albtraums. Dunkelheit, Nebel, der aus einem Grab aufstieg, greifende Gestalten, eine Frau, die vor Schadenfreude laut auflachte. 330 Und doch waren es nicht die Nachwirkungen des Traumes, die sein Herz rasen und seine Hände zittern ließen. Es war, als hätte er in einem goldenen Käfig gesessen, dessen Stäbe sich um ihn schlossen, und als wären die Stäbe nach vielen Wochen der Anspannung plötzlich aufgebrochen, und er konnte aufstehen und sich strecken und tief einatmen und, wenn er wollte, davonlaufen. »Rhiannon«, flüsterte Lewen erneut. Es schien plötzlich unerträglich, nicht zu wissen, wo sich Rhiannon aufhielt oder ob sie in Gefahr war. Er dachte erneut über seinen Albtraum nach. Laird Malvern war darin vorgekommen, war wie der Schatten einer schwarzen Vogelscheuche drohend über dem Traum geschwebt. Er erinnerte sich, dass er gestürzt war. Was wäre, wenn es Rhiannon war, die gestürzt war? Was wäre, wenn sie verletzt oder, noch schlimmer, tot war? Lewen konnte es nicht länger ertragen. Er musste ihr folgen, musste sie finden. Er musste wissen, dass sie in Sicherheit war, denn ein Leben ohne Rhiannon wäre, wie er letztendlich erkannte, ein Leben ohne Freude, Abenteuer, Lachen und Leidenschaft. Es wäre wie ein ausgedörrtes Feld, die Erde vergiftet, die Ackerfurchen nur von Disteln bestanden. Es war keine Zeit nachzudenken, keine Zeit, durch Unentschlossenheit und Zögerlichkeit alles zu verlieren. Der Gedanke zündete wie Öl und brannte sich in seinen Geist. Er musste einfach handeln. Also nahm Lewen seinen Werkzeuggürtel vom Haken und seinen Umhang vom Stuhl, nahm sein Messer vom Tisch und lief schnell die Treppe hinab, so dass seine Stiefelabsätze auf den Steinstufen klapperten und durch das höhlenartige Treppenhaus widerhallten. Alles war pechschwarz. Nur seine lange Ver-
trautheit mit den Eigenheiten des ausgetretenen Steins verhinderte, dass er stolperte oder sogar stürzte. Er lief durch die dunkle, stille Halle und durch die großen Doppeltüren hinaus, wobei 331 es ihn nicht kümmerte, dass sie so laut wie ein Pistolenschuss hinter ihm zuschlugen. Draußen war es kalt, und er war froh, dass er daran gedacht hatte, seinen Umhang mitzunehmen. Er legte ihn sich im Lauf mühsam um und steckte die tauben Hände in dessen Taschen. Es schien unmöglich, dass erst vor zwei Wochen Mittsommer gewesen war, als sich die Luft wie ein warmes Bad angefühlt hatte und er in seinen besten Kleidern geschwitzt hatte, als er mit Olwynne übers Feuer sprang. Olwynne, dachte er, und ein Bruchstück des Traumes kam zurück um ihn kurzzeitig mit Entsetzen zu erfüllen. Er konnte es nicht greifen. Kein Bruchstück mehr, nur der Fetzen eines Wahnbildes, nur die Ahnung eines Verhängnisses. Es ließ ihn den Atem anhalten und erschaudern, und noch schneller weiterlaufen, durch silbriges Mondlicht und dunkle Schattenspitze. Er gelangte zu dem großen Stallkomplex, wo er Rhiannon vor zwei Wochen zum Abschied geküsst hatte. Es war eine stürmische Nacht gewesen. Ein Blitz hatte eine alte Eiche gefällt. Sie lag noch immer da, wo sie umgestürzt war, da niemand die Zeit oder die Energie gehabt hatte, sie fortzuräumen. Die meisten ihrer Äste waren in diesem unnatürlichen Winter als Feuerholz abgesägt worden. Der Rumpf des Baumes war liegen geblieben, knorrig und uralt und vom Blitz schwarz versengt. Während Lewen ihn etwas entmutigt betrachtete, begann die Turmglocke die Mitternacht einzuläuten. Sie läutete immer weiter und erinnerte ihn an die Nacht, in der Lachlan ermordet und seine drei Kinder entführt worden waren, sowie daran, wie er selbst in der unmittelbar darauffolgenden Dämmerung die Glocke am Läuten gehindert und Rhiannon damit vor dem Gehängt werden gerettet hatte.
Lewen war nicht sehr redegewandt. Er hätte nicht erklären können, warum der Klang der Glocke ihn aus seiner jähen Unschlüssigkeit riss und mit frischem Elan und Mut vorantrieb. Er 332 hätte mit sich rötenden Ohren die Achseln gezuckt und nur unbehaglich gesagt: »Es eilt.« Nur mit seinem Schnitzwerkzeug ausgerüstet, machte sich Lewen daran, sich aus der vom Blitz gefällten Eiche ein fliegendes Pferd zu schnitzen. Er sah das großartige Tier im Geiste deutlich vor sich - ein Hengst, so groß und kräftig wie sein geliebter Argent, mit wogender Mähne und Schweif, einem stolz erhobenen Kopf, von zwei gedrehten Hörnern gekrönt, hellen, weisen Augen und sardonisch geschürzten Lippen. Aus den kräftigen Schultern des Hengstes entsprangen zwei großartige Schwingen, einige der Federn so lang, wie Lewen groß war. Er arbeitete unter dem Schein einer großen Kugel Hexenlicht, die er aus dem Nichts heraufbeschworen hatte. Lewens Kräfte im Element Feuer waren nie stark gewesen, und er hatte eine solch große Lichtquelle noch nie so lange aufrechterhalten können. Nun tat er es, ohne nachzudenken - es war nötig, und daher tat er es. Nur mit seinem Messer, Meißel, Beitel, Sandpapier, Feilen und Raspeln gerüstet, versicherte sich Lewen, dass das Fell des Hengstes so glatt wie Seide, seine Federn so kunstvoll geädert wie die eines Finks und seine hölzerne Mähne so fließend war wie die eines echten Pferdes. Er brauchte lange Zeit. Die Monde sanken, und die Sonne stieg auf, bevor er fertig war, und seine Hände waren vom hastigen Arbeiten in der Dunkelheit von Schnitten übersät. Er hatte sein Blut und seinen Schweiß und seine Tränen äußersten Kummers und Frustes auf jedem Zentimeter des großartigen, geflügelten Hengstes hinterlassen. Das Tier stand vor ihm, ein befiederter Huf angehoben, den Kopf gewandt, um ihn mit einem Auge wissend anzusehen, als könne er jeden Moment diese mächtigen Schwingen erheben und davonfliegen.
Lewen konnte es nicht ertragen, ihn anzusehen. Er schloss die Augen, trat vor und legte seine heiße, schmutzige Wange an 333 die hölzerne Schulter, während er eine Hand hob, um die harte Wange des Pferdes zu liebkosen. Er wünschte, er hoffte, er wollte, so verzweifelt, dass er dachte, sein Herzschlag würde einfach aussetzen. Einen langen Moment stand er dort in der kalten, schlierigen Dämmerung und konnte, halb erstickt von Tränen, nicht atmen. Dann spürte er ungläubig heißen Atem auf seinem Arm. Er spürte die Haut unter seiner Hand erzittern und zucken und blickte, als er aufschaute, unmittelbar in ein großes, dunkles, lebendiges Auge. Der Hengst beugte den Kopf und stupste ihn wiehernd an. Lewen stolperte und fiel fast hin. Er konnte nicht glauben, dass er es geschafft hatte. Ein lebendiges Pferd aus einem alten, großen Stück Holz zu schnitzen - das kam beinahe dem Wesen eines Gottes gleich. Er bedeckte mit seinen blutigen, schmutzigen Händen sein Gesicht und murmelte: »Ich danke dir, Eà , ich danke dir! Ich weiß, dass dies dein Werk ist. Ich danke dir!« Der Hengst stupste ihn erneut an und stieß ihn fast um. Lewen wischte sich die Tränen vom Gesicht, wankte dann in den Stall und pumpte kaltes Wasser über seine Hände, das er in großen Schlucken trank und sich ins Gesicht spritzte. Der Hengst folgte ihm und stieß ihn beiseite, um aus dem Trog zu trinken. Lewen streichelte seine Schulter und seine Flanke und ließ seine Hand staunend und bewundernd über die tiefe Wölbung seines Rückens gleiten. Dann wandte er sich um und eilte tiefer in den Stall, wo die Pferde in ihren Ständen dösten und ein Stallbursche namens Jack gähnte und sich streckte, während er in einer Kohlenpfanne stocherte, um etwas Glühwein zuzubereiten. Lewen kannte Jack gut. Es dauerte nicht lange, die Dinge zu erbitten und sich auszuleihen, die er vermutlich für eine verzweifelte Reise über Land und Meer brauchen würde. Er borgte sich Jacks All-Wetter-Jacke mit Kapuze, Satteltaschen, eine Rolle starken Seils, eine Decke und einen Dolch anstatt seines Messers, das nach dem stundenlangen Schnitzen abgenutzt und
334 stumpf war. Dann schickte er Jack los, um seinen Langbogen und die Pfeile zu holen, während er wirklich dankbar Jacks Becher heißen Glühwein trank und in der Küche der Stallburschen die Vorräte plünderte. Als Jack zurückkehrte, waren inzwischen die meisten der Stallburschen aufgewacht, standen im Hof und starrten mit großen Augen auf das geflügelte Pferd, das ruhig einen Eimer warme Maische fraß. Lewen schüttete alles Geld, das er in seinen Taschen hatte, in Jacks Hand, und legte dann, zitternd den Atem anhaltend, langsam die Satteltaschen auf den Rücken des Hengstes. Das Pferd zuckte nicht einmal zusammen. Es schien, als hätte Lewen ihn mit seiner Erschaffung gleichzeitig gezähmt. Lewen atmete noch einmal tief durch und stieg auf den Rücken des Hengstes, wobei er den Trog als Aufsteighilfe benutzte. Der Hengst wandte sich um, sah ihn an und vertrieb mit dem Schweif eine Fliege. »Ein Thigearn braucht keine Zügel und keinen Sattel«, flüsterte Lewen und drängte den Hengst sanft vorwärts, beide Hände in die dichte Mähne verschränkt. Das Pferd reagierte sofort, und Lewen empfand bei der fließenden Anmut seiner Bewegungen jähe Freude. Er beugte sich vor, schnalzte mit der Zunge und sagte: Flieg mein Schöner... Der Hengst breitete augenblicklich seine Schwingen aus und stieg in den Himmel hinauf. Alle Stallburschen riefen aufgeregt und warfen ihre Kappen in die Luft. Lewen keuchte laut und klammerte sich so fest an die Mähne des Hengstes, dass die Haare in seine bereits wunden und pochenden Handflächen einschnitten. Der Boden wirbelte davon. Lewen schloss die Augen, hob sein Gesicht in den Wind und dachte: Rhiannon! Ich komme! 334 AUFGESCHNITTENE GLOCKENFRUCHT Rhiannon saß über die bewusstlose Gestalt des Prionnsa gebeugt, der auf der Seite lag. Sein Kopf ruhte auf ihrem Schoß, seine Schwingen waren am Rücken gefaltet.
Er war schon seit Stunden bewusstlos. Rhiannon hatte wegen der Schmerzen in ihrer Schulter nicht viel schlafen können, so dass sie bei ihm Wache gehalten und sich hin und wieder versichert hatte, dass er noch lebte, indem sie ihre Wange unmittelbar über seinen Mund senkte, so dass sie in der Dunkelheit seinen Atem spüren konnte wie das unsichtbare Vorbeistreichen von Nachtfalterflügeln. Nun wich die Dunkelheit, und sie konnte sein blasses Gesicht und vage den Umriss der Wölbung seiner Schwinge sehen. Sie saß still da und wünschte sich, dass er lebte, für Lewen, für Felice , sogar für seine Mutter, die zornige, rachsüchtige Banrigh, die Rhiannon auf dem Drachenrücken zur Strecke gebracht und in die Stadt zurückgezerrt hatte, wo sie sich ihrer harten Gerechtigkeit stellen sollte. Rhiannon kannte Owein nicht. Er kümmerte sie nicht persönlich, aber sie hatte während dieser letzten Monate schon zu viel Kummer gesehen. Sie wollte Owein für diejenigen retten, die ihn liebten, und angetrieben durch ihren Wunsch zur Wiedergutmachung. Das Licht wurde heller. Sie sah, dass seine roten Locken durch eine üble, klaffende Wunde oberhalb seiner Schläfe stumpf geworden waren. Ein Krug Wasser und ein Becher waren für sie zurückgelassen worden. Rhiannon befeuchtete den Saum ihres Hemdes, wischte den größten Teil des getrockneten Blutes ab und ließ dann etwas Wasser über Oweins blasse Lippen rinnen. Seine Augenlider flatterten, und er schluckte. Rhiannon spürte, wie das beengende Gefühl in ihrer Brust etwas nachließ. 335 Es tut mir leid, Lewen, dachte sie. Ich konnte sie nicht retten. Tränen traten ihr in die Augen. Sie fühlte sich durch die Schwere ihres Versagens niedergedrückt, durch die jähe Angst um Schwarzdorn und ihren kleinen Elfenblauvogel und durch ihre schreckliche Angst vor der Zukunft. Die wochenlange Jagd auf Laird Malvern hatte das Entsetzen über ihn nur verschärft. Rhiannon wusste, dass er ihr ohne die geringsten Gewissensbisse oder Bedauern die Kehle durchschneiden und sie langsam im Teich ihres eigenen Blutes ertrinken lassen würde.
Fürchtet er die dunklen Wanderer nicht?, fragte sie sich. Er hat so viele Menschen gequält und getötet, so viele Geister sein Land heimsuchen lassen. Wie kann er nachts schlafen? Die Tränen liefen ihr langsam das Gesicht herab. Eine fiel auf Oweins Wange, bevor sie ihre Hand bewegen konnte, um sie fortzuwischen. Er seufzte und murmelte und hob eine Hand, um seine Augen vor dem Licht abzuschirmen. »Owein?«, flüsterte sie und erinnerte sich dann, dass er ein Prionnsa war. »Euer Hoheit?« Er blinzelte und rieb sich die Augen, berührte dann vorsichtig seine Wunde und zuckte zusammen. Dann sah er zu ihr hoch. Blaugraue Augen sahen in braune Augen hinab und teilten einen breiten Strom des Schmerzes. »Sie ist tot, oder?« Seine Stimme klang heiser. Rhiannon nickte. »Ich denke, sie muss tot sein. Es ist Stunden her, seit sie sie fortbrachten.« Er schloss die Augen. Sie spürte, wie seine Schultern bebten. »Es tut mir leid«, sagte sie, und ihre Tränen strömten stärker. »Ich hab es versucht, ich hab es wirklich versucht, aber ich konnte Euch einfach nicht beide retten. Sie waren zu viele.« Er antwortete nicht und öffnete auch nicht die Augen, aber seine Brust hob und senkte sich in keuchendem Schmerz. Sie saßen lange Zeit still da, während Rhiannon zornig ihre Tränen fortwischte. Sie hasste es, Schwäche zu zeigen, und doch 336 überwältigte sie stets das, was sie fühlte und dachte. Owein hörte ihr Schluchzen, rückte von ihr fort und sah sie ungläubig an. »Du weinst.« »Nein, tue ich nicht!« »Doch! Das tust du. Du weinst.« Rhiannon antwortete nicht, sondern trocknete Augen und Nase am Ärmel ihres Hemdes, wobei sie sich weigerte, seinem Blick zu begegnen. »Aber warum kümmert es dich? Ich dachte, du hasst Olwynne.« »Das tue ich! Aber ich ... ich hab Lewen versprochen, Euch für ihn zu retten. Euch beide. Lewen liebt Euch. Er wollte Euch
zurück. Euch und Eure Schwester. Ich sagte, ich würde Euch für ihn zurückholen.« Rhiannon atmete tief ein. »Aber du warst doch sicher froh, dass Olwynne entführt wurde. Ich meine...« »Sie hat ihn verhext!«, erwiderte Rhiannon mit blitzenden Augen. »Er gehörte mir, und sie hat ihn mir gestohlen. Ich wollte sie retten und zurückholen und sie dazu bringen, diesen Zauber aufzuheben, damit Lewen wieder mir gehörte. Nun wird er nie gebrochen werden. Lewen wird niemals erfahren ...« Sie wimmerte leicht und weinte dann stärker. Schließlich legte sie beide Hände auf die Augen und bemühte sich, sich wieder zu fassen. Nach einem langen Moment sagte Owein sehr kalt und mit erkennbarer Abneigung in seiner Stimme: »Wenn es stimmt, was du sagst, und meine Schwester Lewen mit einem Liebeszauber belegt hat, was ich, hör zu, keinen Moment glaube, nun, dann wäre es Blutmagie gewesen - wie es alle dunkle Magie ist - und der Zauber würde bei ihrem Tod gebrochen.« Rhiannon ließ die Hände sinken und sah ihn an. »Der Zauber würde gebrochen?« 337 »Ja.« Owein sprach knapp und blickte über ihre Schulter hinweg auf die Wand. »Dank sei den dunklen Wanderern!«, rief Rhiannon und sagte dann, nachdem Oweins Augen verärgert aufblitzten: »Nein, nicht wegen des Zaubers - obwohl ich natürlich froh bin, dass er gebrochen wurde. Es wäre mir jedoch lieber gewesen, ich hätte ihn gebrochen. Ich meine, ich wünschte, sie hätte nicht so sterben müssen... es ist schrecklich. Niemand sollte so sterben. Wir sollten... richtig sterben.« Rhiannon rang darum zu vermitteln, was sie meinte. Sprache war für sie noch immer ein Mysterium, voller Fallstricke und Peinlichkeiten. Sie sah Owein flehend an, denn sie wollte, dass er sie verstand. Er runzelte die Stirn, da er in seinem Kummer aufgebracht und eigensinnig war. Sie versuchte es erneut.
»Nein, der Grund, warum ich so froh bin, ist der, dass, nun, dass Lewen kommen wird, wenn der Zauber wirklich gebrochen wurde. Er wird auf dem Weg sein! Lewen wird uns retten.« In der gedämpften, nebligen Dämmerung auf dem Hügel des Grabmals der Raben materialisierten sich jäh acht Gestalten aus der dünnen Luft. Mit hageren Gesichtern, schmutzig und zerlumpt sanken sie alle auf die Knie. Einige übergaben sich krampfartig. Andere stöhnten oder weinten. Ein großer, schwarzer Hund heulte. Eine kleine, weiße Eule fiel aus dem Himmel und schmiegte sich zitternd an Isabeaus Schulter. Diese lag auf Händen und Knien und sog tief die Luft ein, während ihre roten Locken wirr um ihr Gesicht und die Schultern hingen. Sie hob eine Hand, um Buba zu tätscheln, und versuchte, ihr beruhigend zuzuschreien, aber ihre Kehle war zu wund und trocken. Donncan kam taumelnd auf die Füße, tauchte seine Hände in den langen, rechteckigen Teich und spritzte sich immer wieder 338 Wasser ins Gesicht. Cailean und Ghislaine schlossen sich ihm an, schütteten sich Wasser über Köpfe und Hände und tranken große Schlucke des eiskalten Wassers. Sturmreiter fasste sich mühsam, half Wolkenschatten hoch und stützte sie auf dem Weg zum Teich, damit auch sie trinken und sich mit seiner Kühle beleben konnte. Dann bot er Donnerlilie seine Hand, die auf ihrem Leidensweg so viel Gewicht verloren hatte, dass sie so zart wie ein Glockenfruchtsame wirkte, der am Ende eines Zweiges tanzt. Sie nahm seine Hand dankbar an, und er half ihr zum Teich und senkte seine große Hand ins Wasser, damit sie sie als Becher benutzen konnte. Isabeau und Dide gelang es ebenfalls gemeinsam, zum Teich zu kriechen und zu trinken. Beide glaubten, nicht geschlafen zu haben, obwohl sie dachten, der jeweils andere hätte sehr wohl geschlafen. Sie wirkten im Morgenlicht kreidebleich und ausgezehrt.
»Ich hatte vergessen...«, sagte Dide und beobachtete, wie das Wasser durch seine Finger rann,»... wie es ist, kühles Wasser zu trinken, wenn man am Verdursten ist.« »Es tut gut«, krächzte Isabeau. »Sehr gut«, erwiderte er und lächelte. Mehr brachte er nicht zustande. Er konnte sich nicht erheben. Er lag auf den großen Steinplatten, den Kopf auf den Armen, und sagte: »Ich glaube, ich bin um hundert Jahre gealtert. Seid ihr sicher, dass wir wieder in unserer Zeit und nicht hundert Jahre später gelandet sind?« »Wir müssen nur nach Rhyssmadill gelangen«, sagte Donncan. »Dann können wir uns ausruhen.« Ghislaine warf einen verzweifelten Blick über den in Nebel getauchten Park zum Schloss, dessen Türme sich ätherisch und scharf aus dem Nebel erhoben. »Es ist zu weit«, rief sie. »Ich kann nicht mehr so weit laufen. Mein ganzer Körper schmerzt. Meine Gelenke...« 339 Sie war den Tränen nahe. Das waren sie alle. Die Heimreise, die nur wenige Sekunden gedauert hatte, hatte sie körperlich und emotional an unerträgliche Grenzen geführt. Isabeau hatte in ihrer Jugend die Qual der Folterbank durch Mayas Inquisitoren erlitten, aber sie konnte sich keine andere Erfahrung denken, die dem quälenden Schmerz des Bereisens der Alten Wege durch die Zeit gleichkam. Sie konnte sich nur bemühen, nicht vor äußerster Erschöpfung zu weinen. Donncan stöhnte und bewegte versuchsweise seine Schultern. Er war von ihnen allen am wenigsten beeinträchtigt, da er erst vierundzwanzig Jahre alt und ein starker und athletischer junger Mann war, der an harte Ritte und Lager in der Wildnis gewöhnt war. »Ich werde zum Schloss fliegen«, sagte er. »Es wird nicht lange dauern, und ich werde Hilfe holen. Wartet hier. Ruht euch aus.« Als alle vor Erleichterung und Dankbarkeit aufseufzten, lächelte Isabeau ihm zu und dachte, welch ein großartiger Righ er sein würde.
»Wirst du Nachricht nach Lucescere schicken?«, fragte sie. »Ja, sofort«, sagte er. »Mama muss vor Angst außer sich sein.« »Sie wird so froh sein zu erfahren, dass du wieder sicher und gesund zu Hause bist«, sagte Isabeau mit Tränen in den Augen. Er nickte, schüttelte seine zerzausten Federn und rollte die schmerzenden Schultern. »Eà sei Dank!«, sagte er und stieg eher schwerfällig in die Luft. Und was ist mit Bronwen, meiner Frau?, dachte er, während er auf Rhyssmadill zuflog. Wird sie auch froh sein, mich wieder zu Hause zu haben? Elfrida blickte zu dem seidenen Himmel ihres Bettes hinauf. Sie lauschte. Keine Stimme in ihrem Ohr. Keine heimtückischen Anspielungen, keine Drohungen, keine hässlichen Hinweise und Versprechen, kein schadenfrohes, lautes Auflachen. Kein Durchforsten 340 ihrer Erinnerungen - kein Verdunkeln und Vernichten ihrer Gedanken. Kein beständiges Zischen in ihrem Ohr, das sie warnte, sie beschimpfte, sie verhöhnte, sie verspottete. Keine hämische Freude, kein Plündern, kein Lügen, kein Höhnen, kein Verheeren, kein Schikanieren. Keine Stimme. Kein Geist. Sie war frei. Elfrida keuchte laut vor Lachen. Dann weinte sie, die Hände vor dem Gesicht. Sie keuchte und bebte lange Zeit vor Tränen, aber schließlich lag sie still, lauschte erneut, fragte sich, was sie tun sollte. Der Geist war verschwunden. War sie für immer fort? Es schien möglich. Sie war nicht die Einzige, die von Margrit heimgesucht wurde. Manchmal war Elfrida über Stunden frei, frei zu schlafen, frei zu beten, frei, einen Weg aus ihrer misslichen Lage zu ersinnen. Aber Margrit kehrte stets zurück, schikanierte, drohte, täuschte, verschwor, besetzte jeden Winkel und jeden Spalt von Elfridas Geist und Seele, bis Elfrida nicht mehr wusste, wer sie war oder was sie selbst wollte. Aber nun herrschte schon seit sechs Stunden Schweigen, die Stunden von Mitternacht bis zur Dämmerung. Elfrida hatte die
ganze Zeit wachgelegen, darauf gewartet, dass der Geist zurückkehrte, und langsam gemerkt, wie ihr Körper zu hoffen begann, während sich der Raum mit Licht füllte. Sechs Stunden Freiheit. Die Glocke läutete das Ende des Ausgehverbots ein. Elfrida erhob sich steif von ihrem Bett und beugte ihre schmerzenden Knie, bis sie auf dem Boden kniete. Sie schloss die Augen, faltete die Hände und betete. Betend und weinend suchte sie lange um Rat und bat um Vergebung. Ihr Gott war jedoch grausam, und das einzige Zeichen, das ihr gesandt wurde, war ein großer, dünner Mann mit Haaren so hell wie bei einem neugeborenen Baby und Augen so kalt wie Stein. Er war ganz in Schwarz gekleidet und kam mit Nachrichten zu ihr. 341 »Steht vom Boden auf«, sagte er, ohne Höflichkeit vorzutäuschen. »Die Zeit ist gekommen, die Falle zu schließen.« Elfrida schaute auf; ihr Gesicht war ganz fleckig und nass von Tränen. »W-was?« »Donncan MacCuinn lebt und ist wohlauf. Er befindet sich in Rhyssmadill, mit der Bewahrerin des Schlüssels und der übrigen Gruppe. Die Celestine-Hure ist auch dort.« »Donncan lebt und ist wohlauf?«, wiederholte Elfrida töricht. Die Brauen des Pastors zogen sich zusammen, und er sah verächtlich auf sie herab. »Ja. Sie kamen in der Dämmerung und haben eine Brieftaube mit der Nachricht geschickt. Die ganze Stadt feiert. Der Fairgean-Mischling ist in heller Aufregung und macht sich bereit, ihm den Fluss hinab entgegenzusegeln. Sie muss aufgehalten werden.« »Aber... aber warum?« »Seid nicht so dumm«, sagte er heftig. »Wir dürfen nicht zulassen, dass der MacCuinn lebt. Wenn er jedoch stirbt, wenn sie in seiner Nähe ist, wird sie verdächtigt werden. Nein, sie muss über jeden Verdacht erhaben sein, und Ihr ebenfalls. Wir werden den Mischling hierbehalten und Neil an seiner Stelle schicken lassen. Ich werde mit ihm gehen und dafür sorgen, dass Donn-
can stirbt und der Verdacht auf jemanden fällt, den wir hassen. Am besten auf eines der Uile-bheistean.« Elfrida zitterte. »Aber... aber wird es sicher sein? Sie könnten Neil verdächtigen. Ich will nicht, dass er in Gefahr gerät. Kann er nicht hierbleiben, bei mir?« »Welchen Vorwand könntet Ihr dann dafür vorbringen, mich mitzuschicken? Ich bin kein Freund der Bewahrerin des Schlüssels und dieser anderen Hexenhuren noch ein Freund des MacCuinn. Wir dürfen es nicht riskieren, dass er hierher zurückkehrt, wo die Yeomen über jeden seiner Schritte wachen. Nein, wir müssen schnell zuschlagen - und das bedeutet, dass Neil mich noch heute nach Rhyssmadill bringen muss.« 342 Elfrida bemühte sich, daran zu denken, dass sie eine NicHilde war - und eine Banprionnsa -, aber sie war so erschöpft und verwirrt, dass sie keine Kraft finden konnte, von der sie hätte zehren können. »Was ... was werdet Ihr tun?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Nicht ich. Ihr«, erwiderte er lächelnd. »Nun, wir wollen sie nicht töten, also müsst Ihr vorsichtig vorgehen. Träufelt ein wenig hiervon in ihren Wein oder ihr Essen, indem Ihr den Giftring benutzt, und dann spült es gut aus, bevor Ihr es mir zurückgebt. Für den MacCuinn werde ich ein anderes Pulver benutzen.« Sein Lächeln wurde breiter, als er ihr ein kleines, zusammengefaltetes Papier reichte, das ein grobes, braunes Pulver enthielt. Elfrida betrachtete es und streckte dann eine zitternde Hand aus, um es entgegenzunehmen. Sie legte es auf den Nachttisch, während sie das Geheimfach in ihrem großen Onyxring aufgleiten ließ. Der Ring hatte einst Margrit gehört ebenso wie der goldene Fächer, den sie vor zwei Wochen beseitigt hatte. Ihre Hände zitterten so stark, dass es schwierig war, das Pulver in den Ring zu füllen, aber sie wagte es nicht, etwas zu verschütten, solange die kalten, grauen Augen des Pastors sie beobachteten. Schließlich war es vollbracht, und sie ließ das Geheimfach zuschnappen. Jetzt war nur noch ein rascher Seitwärtsruck nötig, und das Pulver würde herausrieseln.
»Ausgezeichnet«, sagte der Pastor. »Nun, wir müssen uns beeilen. Die Mischlingsfrau frühstückt noch, bevor sie zum Fluss hinuntereilt. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie Lucescere verlässt!« Bronwen konnte kaum atmen, denn sie wurde von stürmischen Empfindungen überwältigt. Vor allem waren es äußerste Freude und Erleichterung darüber, dass Donncan lebte und unverletzt war und sie bald wieder zusammen sein würden. Aber fast ebenso intensiv war ihre Angst. Würde Donncan es ihr je 343 mals vergeben, dass sie den Leitstern ergriffen hatte? Würde er fordern, dass sie ihn ihm überließe? Würden sie ihn teilen können, ihn zusammen erheben können, wie sie es als Kinder getan hatten, oder würde er fordern, nur von einem allein gehalten zu werden? Sie kannte die Antworten auf diese Fragen nicht, und so schritt sie im Frühstücksraum auf und ab, trank mehrere Tassen Engelwurztee und gab knapp und abgelenkt Antwort auf all die Fragen, mit denen ihre Diener und Berater sie belagerten. »Wie lange ich fort sein werde? Bei den Augen Eà s, wie soll ich das wissen? Ihr solltet vermutlich genug für mehrere Wochen einpacken. Donncan könnte verletzt sein ... er wird Ruhe brauchen ...«Ihre Stimme zitterte. »Bitte, Euer Majestät, setzt Euch«, sagte Neil und zog einen Stuhl für sie hervor. »Ihr müsst essen. Ich habe Euch seit Tagen nicht mehr essen sehen.« Er drückte sie sanft auf den Stuhl und winkte einen der Diener herbei, damit er ihr ein paar Pfannkuchen servierte. Bronwen verzog das Gesicht. Allein der Anblick des Essens verursachte ihr Übelkeit. Sie winkte ab und trank noch einen Tee. »Porridge«, sagte Neil. »Versucht etwas Porridge.« Der Lakai stellte eine Schale vor sie hin, und sie rührte mit dem Löffel in dem klebrigen Brei, denn sie wollte Neils Gefühle nicht verletzen. Der Raum war voller Menschen, die herein- und hinauseilten, einander zuriefen, alle lächelnd und zum ersten Mal seit Tagen glücklich wirkend. Die Glocken läuteten laut.
»Soll ich Eure Hofkleidung einpacken, Eure Hoheit?«, rief die Gewandmeisterin, die sehr gehetzt wirkte. »Nein! Nein! Wir sind noch immer in Trauer, und Donncans Nachricht besagte nur, sie seien alle erschöpft und brauchten Ruhe«, erwiderte Bronwen und schob ihre Schale zurück. »Ich werde wirklich nicht viel brauchen, nur ein paar einfache Gewänder.« 344 Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Worte einmal aus meinem Munde hören würde, dachte sie bei sich und lachte laut auf. »Vielleicht würde Eure Majestät ein wenig Obst vorziehen«, sagte Elfrida, die plötzlich mit einer Silberplatte mit geschälten Glockenfrüchten neben Bronwen auftauchte. »Ich weiß, dass es Euer Lieblingsobst ist.« »Danke, das würde ich tatsächlich vorziehen«, sagte Bronwen, überrascht, aber erfreut, und aß ein Stück Glockenfrucht, während ihr Knappe ihr einen weiteren Becher Tee eingoss. Es stand noch jemand neben ihr, mit einem Bündel Papiere, die sie unterzeichnen sollte, und Elfrida wich wieder in die Menge zurück, während sich Bronwen abwesend ein weiteres Stück Obst in den Mund steckte und ihren Namen dorthin setzte, wo man es ihr zeigte. Das Obst war nicht so süß wie gewöhnlich und wirkte ein wenig zerdrückt, aber nach den Verheerungen des Schneesturms war Obst knapp geworden, und Bronwen hatte es vermisst. Sie spürte, wie ihre Gefühle Elfrida gegenüber herzlicher wurden. Es war nett von ihr gewesen, daran zu denken. Sie aß einige weitere Stücke, während ihre Gedanken bei Donncan und ihrem bevorstehenden Zusammentreffen weilten. Sie würde so lieb zu ihm sein, beschloss sie, dass er nicht daran denken würde, ihr die Thronübernahme zu verübeln. Was hätte sie sonst tun können? Sie würde ihm zeigen, dass es kein gieriger Ehrgeiz gewesen war, der sie angetrieben hatte, sondern die Sorge um das Land. Sie würde ihn so nett behandeln, ihn so lieblich anlächeln, ja, genau das würde sie tun ... Bronwen führte eine Hand an ihren Kopf Sie fühlte sich elend und schwach. »Neil«, sagte sie.
Er war sofort neben ihr. »Euer Majestät?« »Ich fühle mich...« »Stimmt etwas nicht, Bronny?« »Ich glaube, mir wird übel«, sagte sie, und tatsächlich erbrach sie sich unfein über den Ärmel seines Wamses und die halb ge 345 leerte Platte mit den braun werdenden Glockenfrüchten. Bestürzung und Empörung wurden laut. Bronwen presste eine Hand auf ihren Mund. »Es tut mir leid«, sagte sie und erbrach sich erneut. Ihr war schwindelig. Ihr Magen rebellierte. Jemand hielt ihr einen silbernen Weinbehälter hin, und sie ergriff ihn und benutzte ihn dankbar. Es war Elfrida, wie sie bemerkte, und es war auch Elfrida, die ihr aus dem Raum und die Treppe hinaufhalf, bis sie schließlich ihr Stockwerk erreichte, wobei sie sich auf jedem Schritt des Weges erbrach. »Könnte sie ... Ihr wisst schon ...«, hörte sie jemanden sagen und schloss äußerst elend die Augen. Nein!, wollte sie schreien, aber ihre Stimme wurde ganz von Würgen vereinnahmt. Dann half Elfrida ihr auf ihr Bett, zog ihr die Schuhe aus, legte ihr ein feuchtes, mit Lavendel getränktes Tuch auf die Stirn und gab ihr Wasser, damit sie sich den Mund ausspülen konnte. Bronwen hätte vor Dankbarkeit weinen können. Eine sehr unangenehme Stunde verging, und als sich der Krampf schließlich erschöpft hatte, war Bronwen so schwach und elend, dass sie nur noch schlafen wollte. Mirabelle war gerufen worden, und sie hatte Bronwen etwas gegeben, das ihren Magen beruhigte, sie aber sehr schläfrig machte. »Euer Majestät?« Im Halbschlaf zwang sich Bronwen, die Augen zu öffnen. Zwar fühlte sie sich sauber und behaglich, war aber immer noch erschöpft. »Ja?« Es war Gwilym der Hässliche. Bronwen lächelte ihm schwach zu. Sie kannte ihn schon seit Kindheitstagen. »Euer Majestät, wir haben beschlossen, dass es das Beste wäre, wenn wir so bald wie möglich eine Delegation nach Rhyssmadill
schickten, um die Bewahrerin des Schlüssels und den Righ zu Hause willkommen zu heißen und ihre Geschichte zu hören.« 346 Donncan dachte Bronwen, und eine Träne löste sich aus einem Augenwinkel. »Die Heiler sagen, Ihr dürft nicht reisen, weshalb ich dachte, dass ich gehen sollte«, fuhr Gwilym fort, während er sie mitleidig ansah, »und Seine Gnaden Neil MacFoghnan von Arran ebenfalls. Wir werden Seiner Majestät alles erklären, was in seiner Abwesenheit geschehen ist und wie krank Ihr wart. Ich bin mir sicher, dass es ihm in ein oder zwei Tagen gut genug gehen wird, um heim nach Lucescere zu kommen.« Zwei weitere Tränen rannen ihre Wangen hinab. »Versucht Euch auszuruhen, meine Liebe. Ihr habt Euch zu hart angetrieben. Mirabelle sagt, Ihr wäret äußerst erschöpft. Wir werden eine Nachricht schicken, sobald wir etwas wissen, keine Angst.« Sie nickte. Er verbeugte sich, tätschelte ihre Hand und stapfte dann aus dem Raum, wobei er ein ungleichmäßiges Geräusch verursachte, als zuerst sein Stiefel und dann sein Holzbein auf dem Boden auftraf. Sie schloss die Augen. Dann beugte sich Neil über sie und drückte ihre Hand mit seinen beiden. »Oh Bronny! Du armer Liebling! Ruh dich jetzt aus. Ich werde dich bei Donn entschuldigen. Ich weiß, er wird es verstehen, wenn er erst hörst, wie schlecht es dir ging.« »Kuckuck...«, sagte Bronwen schwach. Neil wandte sich ihr wieder zu. »Ja?« Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Es ist nichts.« »In Ordnung. Schlaf jetzt. Wir sehen uns bald.« Als Neil aus dem Raum eilte, drehte sich Bronwen auf die Seite und spürte die Tränen jetzt schneller fließen. Es wäre nicht nett gewesen, dachte sie, einen Mann, der sie liebte, mit Liebesworten für einen anderen Mann zu belasten, aber sie wünschte, bei Eà s Augen, sie hätte Donncan eine Nachricht schicken können, irgendein Zeichen dessen, was sie empfand. Ihre gegenseitige Kälte bei ihrer Hochzeit schmerzte sie wie Peitschenhiebe.
347 Sie wünschte, sie wäre nicht so stolz gewesen. Sie wünschte, sie hätten in liebevoller Fröhlichkeit geheiratet und sich ebenso getrennt. Bronwen schloss die Augen, und nach einer Weile versiegten die Tränen, und sie schlief ein. FROST AM MITTAG Margrit von Arran lag lachend inmitten von Seiden- und Satinstoffen auf ihrem Bett. »Ich will mehr!«, rief sie. »Und bringt mir Wein und gebratenes Lamm mit jungen Erbsen, Austern und Hummer, frische Glockenfrüchte und Erdbeeren. Und heißes Wasser mit Rosenöl. Und ein Sitzbad. Und jemanden, der mir die Haare wäscht und meine Füße schrubbt. Und bringt mir einen Mann. Ihr! Ihr werdet im Moment genügen!« Sie deutete auf Piers, der bestürzt einen Schritt zurückwich. »Ihr seid der Einzige, der nicht stinkt oder mit einem Fuß im Grab steht«, sagte sie. »Warum musste ich von einem Klüngel von Totenbeschwörern wiedererweckt werden, die alle alt genug sind, um mein Vater zu sein? Kommt schon! Glotzt mich nicht so an. Habt Ihr so viel Zeit bis zu den Ellenbogen in Toten verbracht, dass Ihr vergessen habt, wie sich eine richtige, lebendige Frau anfühlt?« Sie lachte und drehte sich um. »Lebendig! Eine wahre, lebendige Frau! Goldene Göttin, ich hatte vergessen, wie gut es sich anfühlt zu leben!« Der Laird von Fettercairn stand auf seinen Stock gestützt da und runzelte die Stirn, und die Übrigen wirkten alle gleichermaßen verängstigt und verärgert. Dies war nicht das, was sie erwartet hatten. Der Zauber der Wiedererweckung hatte wie geplant fünktio 347 niert, die Substanz des Körpers des NicCuinn-Mädchens hatte den Margrits von Arran wiederaufgebaut. Dedrie hielt das Gegenmittel zu dem Gift bereit, das die Zauberin so viele Jahre zuvor getötet hatte, und hatte es rasch verabreicht. Dann hatten sie erwartet, dass die lange verstorbene Zauberin in demütiger
Dankbarkeit vor ihnen auf die Knie sinken würde, damit sie ihren Dank anmutig annahmen und sich dann sofort auf den Weg machen konnten - zurück zur Burg Fettercairn und den Knochen ihrer eigenen vor langer Zeit verstorbenen Liebsten. Jedermann wusste, dass sie schnell handeln mussten, denn wenn sie zögerten, würden die Jagdhunde der Rache sie angreifen. Margrit von Arran hatte jedoch andere Pläne. Soweit es sie betraf, waren sie ihre Diener und mussten ihrem Geheiß folgen. Sie lachte Laird Malvern dafür aus, dass er glaubte, er könne der königlichen Kriegsflotte entkommen, und prophezeite, dass sie in der Dämmerung, trotz all seiner Wetterhexerei, Segel am Horizont sehen würden. Sie hatte, sehr zu Laird Malverns Leidwesen, Recht behalten. Die königliche Kriegsflotte war trotz des Sturms, der über sie hinweggefegt war und die bröckelnden Steine des alten Forts erschüttert hatte, schnell und unaufhaltsam herangekommen und hatte jede rasche Flucht unmöglich gemacht. Margrit hatte befohlen, dass die Piratenstadt die Waffen aufnehmen sollte, und die Piraten hatten, zu Laird Malverns Verdruss, augenblicklich gehorcht. »Oh, aber wir sind alte Freunde«, hatte Margrit geschnurrt, als sie den Ausdruck auf all ihren Gesichtern sah. »Wusstet Ihr das nicht?« Ihr Geist hatte anscheinend einige Einwohner der Piratenstadt heimgesucht, von denen ihr viele gedient hatten, als sie während ihres Exils von Arran in der alten Festung gelebt hatte. Als Laird Malvern seinen Leibwächter in die Stadt geschickt hatte, um Mörder anzuheuern, die ihnen bei dem Zauber der Totenbeschwörung helfen sollten, hatte er in der Tat Männer verdingt, 348 die bereits von Margrit beeinflusst und unterworfen worden waren. Als Laird Malvern seinen Leuten das Signal gegeben hatte, die Piraten anzugreifen und sie zu töten, um kein Wort von dem nach außen dringen zu lassen, was sie getan hatten, fanden sie sich stattdessen zahlenmäßig unterlegen und umringt. Verwirrt und fassungslos, konnte Laird Malvern nichts anderes tun, als
allen Forderungen Margrits nachzugeben, auch wenn er feststellen musste, dass seine schwere Geldbörse mit dem Gold rasch geleert wurde. »Hinaus! Hinaus!«, kreischte Margrit. »Holt mir meinen Wein und meine Austern! Bringt mir das köstlichste Parfüm, die feinsten Seiden! Kommt schon. Sonst befehle ich meinen Piraten, Euch die Kehle von einem Ohr zum anderen aufzuschlitzen!« Die großen, behaarten, mit Narben, Tätowierungen und Zahnlücken versehenen Piraten standen im Raum herum, grinsten, stießen einander mit den Ellenbogen an und tasteten nach ihren Messern. Als die Diener des Laird von Fettercairn den Raum sehr bedrückt verließen, lachte Margrit freudig. Sie liebte es, wenn sie jemanden überlisten konnte, selbst einen unfähigen alten Narren wie Laird Malvern. Sein Gesicht, als er erkannt hatte, dass der Friedhof von ihren Handlangern bevölkert war, die ihre Waffen im Gras verborgen hatten! Das war es fast wert, ihn jetzt ertragen zu müssen. Glücklicherweise war er reich, sonst hätte seine Prahlerei sie vielleicht schon vor Stunden gelangweilt und sie hätte ihn an die Haie verfüttert. Die Krönung des Spaßes, dachte sie, war es, dass Laird Malvern nur eine lebende Seele und ein scharfes Messer benötigt hatte, um sie von den Toten wiederzuerwecken. Abgesehen von dem Wissen um den Zauber natürlich. Also hätte er es nicht riskieren müssen, Piraten aus der Stadt anzuheuern, um seinen Kreis von neun Totenbeschwörern zu vervollständigen. Und doch hatte es ihren Zwecken gedient, ihn glauben zu machen, er brauchte einen vollen Kreis, um den Zauber auszuführen, und so hatte sie ihn Nacht für Nacht wach 349 gehalten, indem sie ihm ins Ohr zischelte: »Versichert Euch, dass Ihr die neun habt«, bis er genau das getan hatte, was sie wollte. Margrit lächelte und streckte die Arme über den Kopf. In dem Moment erkannte sie, dass der jüngste Diener des Laird den Raum nicht mit den Übrigen verlassen hatte, sondern wartend und köstlich unsicher dastand.
Sie nickte ihm zu. »Zieh dein Hemd aus. Langsam. Mmmm, nicht schlecht. Dreh dich um. Wie heißt du?« »Piers, Mylady. Piers Harper.« »Du bist ein Harfenist? Darum sind deine Arme vermutlich so erfreulich muskulös. Komm, Harfenist. Sehen wir einmal, ob du mich zum Singen bringen kannst.« Felice ergriff die Schiffsreling mit beiden Händen und beobachtete, wie die Pirateninseln langsam aus einem grauen Fleck am Horizont zu einer Ansammlung von Bergen wurden, die steil aus den tiefen Kräuselungen weißer Gischt aufstiegen. »Ich hoffe, wir kommen rechtzeitig«, flüsterte sie. »Wir haben so lange gebraucht, hierherzugelangen!« »Letzte Nacht war Vollmond«, sagte Landon und klang genauso entmutigt, wie sie sich fühlte. »Wenn sie etwas vorhatten, wäre es letzte Nacht geschehen.« »Wir hätten nicht schneller vorankommen können«, sagte Rafferty. »Die Matrosen können ohnehin schon kaum glauben, welche Geschwindigkeit wir bereits erreicht haben. Wir haben in weniger als zwei Tagen fast sechshundert Meilen zurückgelegt!« Rafferty hatte die letzten achtundvierzig Stunden damit verbracht, sich gründlich auf dem Schiff einzuleben, war selbst bei schlimmstem Wetter wie ein Arak in die Takelage hinaufgeklettert, hatte die Leinen eingezogen und sie aufgerollt wie ein erfahrener Matrose und hatte am Tagesende einen Becher mit Rum und ein melancholisches Lied mit den übrigen Seeleuten geteilt. Er konnte nicht verstehen, warum allen anderen 350 so elend war, besonders Cameron, mit dem er stets in freundschaftlicher Rivalität stand. Da Cameron ein Jahr älter und ein wenig größer und schwerer war, hatte er ihn fast immer ausgestochen, und daher bereitete es Rafferty nun großes Vergnügen, besorgt nach ihm zu fragen und ihm anzubieten, ihm etwas Suppe zu bringen, deren bloße Erwähnung genügte, Cameron zum Eimer taumeln zu lassen, den er sich mit einer sehr kranken und elenden Finn teilte.
Es war eine wilde, raue Reise gewesen. Der Zauberwind war, Eis und Graupel spuckend, zwei ganze Tage lang von hinten gekommen, ohne abzuweichen oder nachzulassen, und hatte sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit über das Meer getrieben. Der Stürmische Briant hatte es nicht gewagt zu schlafen, damit er nicht die Kontrolle verlöre, und hatte seinen früheren Lehrlingen befohlen, ihn an den Mast zu binden, damit er nicht einschlief. Dort stand er und blickte zu den Pirateninseln, eine Seillänge wie Zügel um seine Hände geknotet. Felice konnte ihn gelegentlich wie einen Wahnsinnigen schreien oder lachen hören. Er aß nichts, nahm aber ungefähr jede Stunde einen Schluck Whiskey und urinierte ein oder zwei Mal am Tag über die Schiffsseite. Hinter ihrem Schiff folgten sechzehn weitere Galeonen und Karracken, alle von einem vollen Satz Segel angetrieben, die sich spannten, um die Macht des Windes zu halten. Sie hatten im Sturm vier Schiffe verloren und konnten nur hoffen, dass sie nur vom Kurs abgetrieben worden waren und es nach Dün Gorm zurück schaffen würden. Vor ihnen war Sonne, hinter ihnen Sturm. Die sechs Pirateninseln lagen in hellem Sonnenschein. Ihre Küsten waren rau und felsig und viel zu gefährlich, um sich ihnen zu nähern. Stattdessen kreuzte die Flotte, um zu der Mündung einer weiten Lagune zu gelangen. Als sie zwischen den Landzungen hineinsegelten, begannen auf beiden Seiten Kanonen zu feuern, und die königliche Flotte erwiderte das Feuer. Obwohl einiger Schaden 351 entstand, liefen die Schiffe zu schnell, um leichte Ziele zu sein, und keines wurde versenkt. »Große Eà !«, sagte Cameron mit offen stehendem Mund. »Seht Euch das an!« Eine Flotte von mehr als zwanzig großen Schiffen segelte ihnen entgegen, alle mit der schwarz-roten Flagge der Piraten. Die Schiffe eröffneten bereits das Feuer auf sie. Sie konnten die weißen Wolken und den Rauch sehen und dann einen gewaltigen Knall hören, und Minuten später warfen sich alle aufs Deck, als
eine Kanonenkugel durch eines der Segel zischte und die Takelage aufs Deck herabkrachen ließ. »Sie waren bereit und haben uns erwartet!«, schrie Rafferty. »Jungs, geht unter Deck!«, befahl Iseult, während sie über das Deck auf sie zuschritt, ihren Helm auf dem Kopf und eine Hand an ihrem Waffengürtel. Sie wirkten sehr bleich, und ihre Augen waren rot gerändert. Felice sank der Mut wie Blei, als sie in ihr Gesicht blickte. »Aber Euer Hoheit!«, protestierte Rafferty. »Holt eure Schlittschuhe und macht euch aufbruchsbereit«, fuhr Iseult fort. »Unsere Schlittschuhe?« Iseult warf ihm einen Blick zu. »Ja! Habt ihr gedacht, sie wären nur zu Dekorationszwecken da? Geht!« Rafferty, Cameron und Landon gehorchten eilig, aber Felice blieb noch. Iseult sah sie finster an. »Du bist nicht bei Hof, Mädchen, sondern ein Soldat auf meinem Schiff! Tu, was ich dir gesagt habe!« »Ja, Euer Hoheit«, sagte Felice . »Es ist nur ... ich wollte fragen ...« »Was?« »Kommen wir zu spät?« Iseult stand vollkommen still, ihre Hände waren um ihren Gürtel verkrampft. Dann nickte sie einmal knapp. »Zu spät für Ol 352 wynne«, antwortete sie mit bebender Stimme. »Sie wurde letzte Nacht ermordet, um Mitternacht. Finn spürte, wie sie starb. Ich wünschte ... ich hätte ...«Ihre Stimme verklang. »Für Owein kommen wir jedoch nicht zu spät«, sagte sie nach einem langen Moment, in dem Felice darum rang, die Tränen des Schocks und des Entsetzens zu verbergen. »Und wir kommen nicht zu spät, um sie für das bezahlen zu lassen, was sie getan haben.« »Nein, Euer Hoheit«, flüsterte Felice . Iseult wandte sich um und sah sie an. »Liebst du meinen Sohn?«, fragte sie ruhig. Felice nickte. Dies war keine Zeit zu lügen.
»Ich fragte mich, was er in dir sah, abgesehen von deinem hübschen Gesicht«, sagte Iseult. »Ich denke, ich begreife es allmählich. Willst du helfen?« »Ja, Euer Hoheit«, antwortete Felice sehr gedämpft. »Gut. Warte einen Moment. Ich muss nur ...« Iseults Stimme verklang. Ihr Blick wurde unscharf. Felice spürte, wie die Temperatur drastisch sank, und erschauderte. Sie schlang die Arme um sich, als Schnee vom Himmel herabzuwirbeln begann. Iseult hob ihre Hand. Blitze zuckten aus den dunklen Wolken, die sie jagten. Der Schnee wirbelte dichter. Der Schatten der Wolke fiel über das glitzernde blaue Wasser der Lagune und ließ alles grau werden. Es wurde immer kälter. Das Wasser bebte und lag dann ruhig da, wurde fahler und fahler. Das Schiff bremste überstürzt ab und riss alle an Bord vorwärts. Plötzlich erkannte Felice , was sie sah. Das Wasser der Lagune gefror, verwandelte sich in Eis. »Ich komme, wie du weißt, vom Rückgrat der Welt«, erklärte Iseult ihr, ein klägliches Lächeln auf den Lippen. »Dort oben besteht alles aus Schnee und Eis. Ich bin aufgewachsen, ohne etwas anderes zu kennen.« Das Eis traf die Piratenschiffe und prallte wie eine weiße Faust dagegen. Bei einigen brach die getroffene Seite auf, und 353 sie begannen zu sinken, bevor sie vom Eis eingeschlossen wurden, das ihre Planken eindrückte und die Schiffe auseinanderbrach. Andere krachten frontal hinein und wurden am Fleck eingefroren. Einige Momente lang blieben sie unbeweglich, bevor das Eis langsam zuzudrücken begann und ein lauter, klagender, ächzender Lärm aufstieg. Der Königliche Rothirsch drängte voran. Felice blickte verängstigt und erstaunt zu den anderen Schiffen zurück und sah, dass auch sie langsam in das Eis vordrangen, von dem dramatischen Wandel des Mediums, auf dem sie liefen, anscheinend unbeeindruckt. »Die gesamte königliche Flotte wurde dafür ausgerüstet, in den nördlichen Meeren zu segeln«, sagte Iseult. »Unsere erste große
Seereise führte uns während des letzten Krieges gegen die Fairgean nach Carraig hinauf. Wir segelten in Meeren, die häufig so kalt waren, dass sie überfroren, weshalb alle unsere Schiffe so gebaut wurden, dass sie dem standhalten können. Ich dachte mir schon, dass die Piratenschiffe nicht so verstärkt wären, wenn man bedenkt, dass sie normalerweise nur in den warmen Meeren des Südens segeln.« »Verstehe«, sagte Felice . »Wie klug!« »Danke«, erwiderte Iseult. »Ich kann meine Kräfte nur selten einsetzen, da ich nicht richtig ausgebildet wurde, aber Wasser in Eis zu verwandeln, ist etwas, was ich beherrsche. Wir müssen immer mit dem arbeiten, was wir zur Verfügung haben.« »Stimmt«, sagte Felice nickend. »Hast du die Schlittschuhe mitgebracht?« Felice nickte und lächelte wider Willen. »Und kannst du damit umgehen?« Felice nickte erneut. »Ich komme auch aus Ravenshaw«, sagte sie selbstgefällig. »Was ist mit Pfeil und Bogen? Kannst du beim Schlittschuhlaufen schießen?« 354 Felices Lächeln schwand. Sie schüttelte den Kopf. »Macht nichts. Du kannst eine brennende Fackel tragen. Versuche, nicht zu nahe an die Piratenschiffe zu geraten, sonst erschießen sie dich. Lauf schnell heran, wirf deine Fackel und entferne dich wieder. Bist du gut im Werfen?« Felice schwieg und schüttelte erneut kläglich den Kopf. »Zumindest bist du ehrlich. Nun, ich möchte nicht, dass du erschossen wirst. Das würde Owein mir nie verzeihen. Wie wäre es, wenn du dabei hilfst, die Katapulte zu bedienen. Auf diese Weise kannst du immer noch etwas beitragen, gerätst aber nicht zu nahe an die Hauptkämpfe.« Felice nickte. »Ich danke Euch«, brachte sie hervor. »Es ist nicht dein Fehler, wenn dir nie beigebracht wurde, wie man richtig wirft«, sagte Iseult recht sarkastisch. »Das muss
man deinem Vater vorwerfen, ebenso wie die Tatsache, dass er dir das Schießen nicht beigebracht hat.« »Mein Vater ist ziemlich altmodisch«, erklärte Felice kleinlaut. »Dann ist es erstaunlich, dass du dich so gut gemacht hast. Komm schon, Mädchen! Zieh deine Schlittschuhe an! Es ist an der Zeit, einige Piraten zur Strecke zu bringen!« Dann stieg Iseult über eine Leiter an der Seite des Schiffes hinab aufs Eis, wobei ihre Schlittschuhe gegen ihren Rücken schlugen. Der restliche Tag verging in einem Rauchnebel, während die Piraten verzweifelt Kanonenkugel auf Kanonenkugel von ihren brennenden und auseinanderfallenden Schiffen abschössen. Schnelle Schlittschuhläufer umkreisten die gefangenen Galeonen, schössen brennende Pfeile in deren Takelage oder schleuderten Fackeln auf die pechgetränkten Planken. Der königlichen Flotte war es gelungen, in einem groben Halbkreis um die gefangene Piratenflotte herumzugelangen, aber weiter kamen sie nicht. Sie schleuderten von den Katapulten auf ihren Decks Feuerkugeln auf die Piraten, während deren Kanonen unaufhörlich 355 dröhnten. Bei Sonnenuntergang war die feindliche Flotte vernichtet, und die Schlittschuhläufer brachten jene Piraten zur Strecke, die rutschend und gleitend über das Eis zu fliehen versuchten. Diejenigen, die in der Piratenstadt zurückgeblieben waren, waren den blutigen Tag lang nicht faul gewesen. Sie hatten ihre Schutzwälle verstärkt und auf jeden Schlittschuhläufer, der zu nahe herankam, geschossen. Ihr Feuer hatte das Eis am Ufer entlang aufgebrochen, so dass sich niemand der Stadt auf Schlittschuhen nähern konnte. Die königlichen Streitkräfte mussten sich auf ihre Schiffe zurückziehen, um sich umzuorganisieren und sich auszuruhen, um ihre Verletzten zu versorgen, etwas zu sich zu nehmen und den Angriff auf die Stadt zu planen. Es wurde beschlossen, in den frühen Morgenstunden erneut anzugreifen, lautlos, unter dem Schutz
der Dunkelheit, wenn das Eis am Ufer wieder hatte zufrieren können. Schmutzig, erschöpft und vom Rauch hustend, suchten sich Felice , Landon, Rafferty und Cameron einen Platz an Deck und tranken dankbar etwas Wasser. »Ihre Hoheit sagt, die Banprionnsa Olwynne sei tot«, berichtete Felice ihnen mit heiserer Stimme. »Sie haben sie letzte Nacht getötet.« »0 nein!«, rief Landon. »Was ist mit der Hexe, die sie wiedererwecken wollten?«, fragte Rafferty. »Sie lebt vermutlich und befindet sich irgendwo dort oben«, erwiderte Felice und schaute zu der alten Festung hinauf, die hoch auf dem Hügel noch immer vom letzten Sonnenlicht bestrahlt wurde. »Sie ist, allen Berichten zufolge, eine mächtige Zauberin. Ich darf gar nicht daran denken, was sie wohl vorhat.« »Und der Prionnsa?«, fragte Cameron hustend. »Er lebt noch, obwohl - wer weiß, wie lange noch?« 356 »Was ist mit Rhiannon?«, fragte Landon, die Hände vor der Brust verschränkt. »Irgendwelche Nachrichten?« »Keine«, erwiderte Felice und brach jäh in Tränen aus. Sie hatte noch nie zuvor eine Schlacht erlebt. Rafferty und Cameron legten beide die Arme um sie, prallten versehentlich gegeneinander und sahen sich über ihren Kopf hinweg finster an. Felice wischte sich die Augen. »Ich hoffe nur, dass es ihr und Schwarzdorn gut geht«, sagte sie. »Ich wünschte, ich wüsste, wo sie sind!« Rhiannon und Owein waren noch immer in ihrer feuchten, übelriechenden, unbequemen kleinen Zelle eingeschlossen. Dedrie war einmal gekommen, um ihnen weiteres Wasser und ein wenig Essen zu bringen und sich ihre Wunden anzusehen, aber sie war unaufmerksam und in Eile und wurde von Jem und Ballard, die mürrisch dreinblickten, gut bewacht, so dass es unmöglich war zu entkommen.
Danach war niemand mehr in ihre Nähe gekommen. Sie hatten den ganzen Tag damit verbracht, dem fernen Donnern von Kanonen zu lauschen und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was wohl geschah. »Es sind die Yeomen! Endlich kommen sie!«, rief Owein. »Aber für Olwynne zu spät.« Er führ sich ungeduldig mit einer Hand über die Augen. »Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt hier sind«, sagte Rhiannon. »Ihr habt den Sturm nicht erlebt, dem sie trotzen mussten, um hierherzugelangen.« »Was geschieht? Was geht da vor?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Rhiannon gereizt. »Hört auf, hin- und herzulaufen, Ihr wirbelt den Staub auf, und es bereitet mir wirklich Schmerzen in der Schulter, wenn ich niesen muss.« »Bei Eà s Augen, ich wünschte, ich wüsste, was vor sich geht!« Genau in dem Moment erklang ein hohes, freudiges Trillern, 357 und ein kleiner Elfenblauvogel schoss durch die Gitterstäbe herab. Rhiannon war überglücklich. »Blauchen!«, rief sie. »Wo warst du? Ich dachte, du wärest verletzt oder getötet worden, als sie mich herabschössen! Wo ist Schwarzdorn? Geht es ihr gut?« Der Elfenblauvogel antwortete mit einem weiteren Trillern, und Owein und Rhiannon sahen einander erleichtert an, als sie in der schlichten Sprache der Vögel hörten, dass Schwarzdorn lebte und sich unverletzt draußen im Wald hinter der alten Festung verbarg. »Dann haben wir eine gewisse Chance zu entkommen«, sagte Owein und schritt erneut auf und ab. »Oh Rhiannon, bitte frag deinen kleinen Vogel, ob er nachsehen mag, was vor sich geht. Ich werde verrückt, solange ich hier drinnen eingesperrt bin und nicht weiß, was los ist!« Also huschte der Elfenblauvogel hinein und hinaus und vermittelte den beiden Gefangenen eine sehr vage und ungenaue Vorstellung von dem, was vor sich ging. Eine Neuigkeit munterte Owein jedoch ungeheuer auf.
»Schnee und Eis«, rief er. »Das ist meine Mama! Eà sei Dank, dass sie hier ist. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern, Rhiannon, und wir werden frei sein!« Rhiannon hatte nicht die gleiche hohe Meinung von der Banrigh-Witwe wie Owein, aber sie nickte und lächelte, und dann beugte sie den Kopf zu dem Vogel hinab. »Finde Lewen«, flüsterte sie. »Finde Lewen und bring ihn her.« *** Lewen flog durch die Dämmerung, während der Himmel vor ihm von langen Streifen grauen Regens bedeckt war, die an Soldatenbataillone erinnerten. Er hatte seine Kapuze über den Kopf und die Schultern gegen den scharfen Wind zusammengezogen, aber er fühlte sich so froh wie schon lange nicht mehr. Die großartigen Schultermuskeln des Hengstes bewegten sich rhythmisch 358 unter ihm, während die prächtigen Schwingen den Wind formten und ihn baten, ihm zu dienen. Lewen konnte nicht glauben, wie schnell das Land unter ihnen dahinflog, wie eine dunkelgrüne Daunendecke, von dünnen, glänzenden Wasserrinnsalen zusammengeheftet. Sie hatten bereits die Hälfte der Entfernung zum Meer zurückgelegt. Morgen würde er übers Wasser fliegen. Und übermorgen würde er, wenn alles gut ging, die scharfen Gipfel der Pirateninseln aus dem Meer aufsteigen sehen. Pass auf dich auf, Rhiannon, dachte er. Ich komme... DIE ENTHÜLLUNG DES KÄFIGS Bronwen lag im Sonnenschein auf einer Chaiselongue und fühlte sich so erschlafft wie der Spüllappen einer Küchenmagd. Man hatte sie auf ihre dringende Bitte hin hier herausgetragen, da sie es nicht aushielt, noch länger in ihrem stickigen Raum eingekerkert zu sein. Man hatte sie zu einem ihrer Lieblingsplätze gebracht, zu einem tiefen, grünen Teich im Wald, gerade weit genug jenseits der Hecken des Gartens, dass sie nur die Wölbung einer goldenen Kuppel über den Bäumen sehen konnte. Hier konnte sie liegen, den Vögeln und dem Wind in den Bäumen lauschen und die Wärme des Sonnenscheins genießen.
In ihre Nähe hatte man einen kleinen Tisch gestellt, mit einem Krug geeisten Wassers und einem Glas, einigen Riechsalzen, einem Stapel der neuesten Nachrichten, die anzusehen Bronwen Kopfschmerzen bereitete, und einem Teller mit Früchten und Zuckerwerk, auf die sie absolut keinen Appetit hatte. Joey stand mit einem Sonnenschirm bei ihr, um ihr Gesicht vor der Helligkeit der Sonne abzuschirmen, und Maura kauerte auf einem Stuhl neben ihr. Ausnahmsweise saß sie müßig da und wirkte sehr krank und elend. Der Atem pfiff in ihrer Brust, und sie 359 hustete alle paar Atemzüge, ein tiefer, kehliger Husten, der so klang, als wären ihre Lungen voller Schlamm. »Oh Maura, bitte, geh zu Bett«, sagte Bronwen schwach. »Dein Husten bereitet mir Kopfschmerzen!« »Ich wollte ... hust, hust... Euch ... hust... nicht verlassen.« »Du bist krank. Geh zu Bett. Ich werde Mirabelle schicken, damit sie sich um dich kümmert.« »Nein danke!« Bronwen richtete sich halb auf einen Ellenbogen auf. »Warum nicht? Sie ist jetzt die führende Heilerin. Es ist ihre Aufgabe.« »Moorzauberwesen haben eigene Heilmittel«, sagte Maura mit vom Husten heiserer Stimme. »Außerdem mag ich sie mit ihrem pockennarbigen Gesicht nicht. Sie lächelt nie.« »Es ist nicht ihre Schuld, dass sie pockennarbig ist«, erwiderte Bronwen. »Ich bin mir sicher, dass sie eine sehr gute Heilerin ist, sonst wäre sie nicht die Leiterin der Gilde der Heiler.« »Wie diese andere? Wer hat unseren Donn entführt?« Maura hielt inne, um rau in ihr Taschentuch zu husten. »Du solltest Mirabelle nicht verurteilen, nur weil sie Johannas Gehilfin war«, sagte Bronwen, und dann kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Er war so schrecklich und doch so offensichtlich, dass sie einen Moment vollkommen erstarrt dasaß, an die letzten Tage zurückdachte und deren Muster sich vollkommen neu gestalten sah. »Joey«, sagte sie nach einem langen Moment. »Ja, Euer Majestät?«
»Ich hätte gerne etwas von Mirabelles speziellem Engelwurztee. Könntet Ihr bitte gehen und den Diener bitten, mir eine Kanne voll zuzubereiten und mir hier herauszubringen?« Joey zögerte. »Mr wurde befohlen, Euch nicht allein zu lassen«, sagte er. »Ich bin nicht allein. Maura ist hier. Sie kann auf mich aufpassen. Bitte. Ich denke, dann werde ich mich besser fühlen.« 360 »Ja, Euer Majestät. Ich werde gehen.« Er lehnte den Sonnenschirm an den Stuhl und verkeilte ihn sorgfältig mit einem Stein, damit er nicht umfallen und Bronwen dem harten, blendenden Sonnenlicht aussetzen würde, und dann lief er in Höchstgeschwindigkeit in Richtung Palast zurück. »Maura«, sagte Bronwen. Ihre Stimme klang träge und undeutlich und drang nur schwer durch ihre tauben Lippen. »Wann fing es an, dass du dich unwohl fühltest?« Das Moorzauberwesen hustete heftig, bevor es antwortete, und blickte dann einen Moment auf sein Taschentuch. »Vor ein oder zwei Tagen. Vielleicht früher. Ich war so traurig und tief betrübt, seit der Geflügelte starb, dass es schwer zu sagen ist.« »Hast du etwas Ungewöhnliches gegessen?«, fragte Bronwen. Maura war überrascht. »Nein, nein. Ich habe gegessen wie immer. Überwiegend mit den anderen Bediensteten in der Küche. Euer Junge - er war freundlich, er bringt mir abends Suppe und Brot, wenn ich aufbleibe und auf Euch warte. Ich werde derzeit leicht müde. Bin nicht mehr so jung, wie ich war.« »Joey hat dir Suppe gebracht?« »Ja, Suppe und einen guten Tropfen heißen Holunderbeerwein. Ich habe meine Meinung über diesen Jungen geändert. Ich dachte, er wäre schnell und verschlagen, als Kuckuck ihn zum ersten Mal herbrachte, aber er war freundlich.« Die Stimme des Moorzauberwesens wurde gelegentlich von Husten und Räuspern unterbrochen. »Maura, wirst du bitte zu Bett gehen? Für mich?« Das Moorzauberwesen protestierte, und Bronwen sagte mit dringlicher, von Gefühlen bewegter Stimme: »Maura! Mir wird
elend, wenn ich dir zuhöre. Geh... zu... Bett! Und kannst du mir auf dem Weg Dolan schicken?« »Ach, Dolan fühlt sich auch nicht allzu gut«, sagte Maura. »Habt Ihr es nicht gehört? Die halbe Palastwache liegt mit denselben Symptomen darnieder wie Ihr. Sie sind völlig elend.« 361 »Auch Barlow?« »Ach ja. Sie denken, es wäre eine Art Fäulnis ins Getreide geraten, wegen des Wetters. Sie waren die ganze Nacht wach und haben sich die Seele aus dem Leib gewürgt, die armen Jungen.« Eine Art Fäulnis, soso, dachte Bronwen grimmig. Sie fragte sich, was sie tun sollte. Sie war so schwach, dass sie kaum gehen konnte. Sie war kurzatmig. Es fiel ihr schwer zu atmen. Es ist alles nur Zufall. Nur meine dummen, argwöhnischen Einbildungen. Mirabelle war meine Lehrerin, als ich noch ein Kind war. Sie könnte wohl kaum eine Verräterin sein. Sie könnte mich wohl kaum vergiften... »Euer Majestät, wie fühlt Ihr Euch?« Mirabeiles Schatten fiel über sie. Bronwen zuckte heftig zusammen. Sie legte eine Hand auf ihr Herz. »Schrecklich«, sagte sie mit jämmerlicher Stimme. »Als wäre ich mit Knüppeln geschlagen worden.« »Lasst mich Euch noch ein wenig Arznei geben«, sagte Mirabelle und maß aus einer ihrer großen, braunen Flaschen eine Dosis ab. »Joey sagt, Ihr hättet um weiteren Tee gebeten. Er kommt gleich. Ich bin so froh, dass Ihr mein Spezialgebräu mögt. Ich habe es nur für Euch gemacht.« Darauf wette ich, dachte Bronwen, während sie den Becher mit der Arznei entgegennahm. Sie hielt ihn an die Lippen und bemerkte, wie angespannt Mirabelle sie beobachtete, bis sie die Medizin ausgetrunken und ihr den leeren Becher zurückgereicht hatte. »Jetzt werdet Ihr gut schlafen, und wenn Ihr erwacht, werdet Ihr Euch viel besser fühlen, das verspreche ich«, sagte Mirabelle und ging ruhig davon, wobei ihre grüne Heilerrobe zwischen den Farbschattierungen des Gartens fast unsichtbar war.
Bronwen beugte sich zur Seite, steckte sich die Finger so tief wie möglich in die Kehle und erbrach die dickflüssige, süße Medizin. Maura beobachtete sie bestürzt. »Euch ist wieder übel. Ich hole die Heilerin!« 362 »Sei keine Närrin«, erwiderte Bronwen schonungslos. »Hol meine Mutter! Und dann, Maura, möchte ich, dass du von hier fortgehst. Geh und such dir ein hübsches Gasthaus in der Stadt. Das Nisse und Nixie wäre das beste. Hol einen Zauberwesenheiler und lass dir von ihm den Darm entleeren. Hörst du?« Maura sah sie an, wandte sich dann um und blickte verängstigt den Weg hinauf, den Mirabelle genommen hatte. »Ich kann Euch ... hust, hust... nicht verlassen ...« »Doch, du kannst. Bitte, Maura. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn etwas passierte ... bitte ...« Maura nickte. »Was soll ich zuerst tun?« »Ich will nur meine Mutter. Sag ihr, sie soll Joey auf irgendeine Besorgung schicken, damit wir eine Gelegenheit haben, ungestört miteinander zu reden. Dann bring dich irgendwo in Sicherheit und finde jemanden, der dir hilft. Warte! In meinem Schlafzimmer ist Geld, du weißt, wo es ist. Nimm eine Geldbörse mit Münzen mit und versuche, zu entkommen, ohne dass dich jemand sieht.« »Niemand bemerkt Dienstboten«, sagte Maura. »Es wird mir gut gehen.« Sie beugte sich herab, umarmte Bronwen fest und tätschelte mit ihren kleinen, runzligen Pfoten ihren Arm. Dann eilte sie davon und ließ Bronwen allein. Bronwen fror sehr, trotz des warmen, goldenen Sonnenscheins. War es also Mirabelle, die meinen Onkel getötet hat?, fragte sie sich. Aber nein. Das konnte nicht sein. Mirabelle war in der Halle der Heiler. Sie war ebenso betäubt wie die Übrigen. Obwohl Gwilym sagte, sie hätte sich als Erste erholt... Bronwen schlug die Hände vors Gesicht. Irrte sie sich, wenn sie Mirabelle verdächtigte, mit dem Komplott zum Sturz des
Thrones zu tun zu haben? Welchen Beweis hatte sie? Ein Tee, der köstlich schmeckte, aber ein verzweifeltes Verlangen nach mehr sowie Schlaflosigkeit hinterließ? Weitere Medizin, um ihr beim 363 Schlafen zu helfen, wonach sie jedoch den Eindruck hatte, als wäre ihr Kopf voller Watte und ihre Glieder mit Blei beschwert? Mirabeiles ständige Anwesenheit im Palast, selbst nachts, vollkommen angezogen, die Taschen voller Tränke? Und dass sich Bronwen in ihrer Gegenwart stets unbehaglich fühlte ... Doch das waren keine Beweise. Mirabelle war eine jener dicken, untersetzten, missgünstigen Frauen, in deren Anwesenheit sich diejenigen, die in der Lotterie des Lebens mehr Glück gehabt hatten, stets unwohl fühlten. Es war nicht ihre Schuld, und es war nicht Bronwens Schuld. Es war einfach so. Und Mauras schrecklicher Husten und die Krankheit, welche die Palastwache dezimierte - auch das konnten bloße Zufälle sein und kein Versuch, Bronwen zu isolieren und sie verletzlich werden zu lassen. Obwohl sie sich sehr verletzlich fühlte. Ihre Tante Isabeau hatte einmal zu ihr gesagt: »Vertrau stets deiner Intuition. Das ist der Hexensinn, der dich leitet. Hör auf ihn.« Bronwen wünschte sich verzweifelt, dass Isabeau hier wäre, um ihr zu helfen und sie zu beraten. Schließlich erhob sie sich und hielt sich zur Unterstützung an der Chaiselongue fest. Sie schaute den Pfad hinauf und sehnte sich verzweifelt nach ihrer Mutter. Sie war allein im Garten. Dies fühlte sich alles falsch an. Bronwen wurde niemals ohne Dienstboten oder Wächter irgendeiner Art allein gelassen. Ihre Angst überwältigte sie fast. Sie musste den Kopf senken und tief durchatmen, wie man es sie während ihrer Zeit an der Theurgia gelehrt hatte, bevor sie die Panik bezwingen konnte. »Wie geht es Euch, Euer Majestät?« Elfridas Stimme unterbrach ihre Gedanken. Bronwen schaute auf. Elfrida stand vor ihr und hielt ein Tablett mit einer Teekanne und einem Becher. »Ihr seht
sehr krank aus«, sagte Elfrida. »Habt Ihr Euch wieder übergeben müssen? Setzt Euch, meine Liebe. Soll ich Mirabelle rufen?« 364 »Nein!« Elfrida zog eine Augenbraue hoch. »Es tut mir leid. Es geht mir gut, wirklich. Ich bin aufgestanden, und mir wurde schwindelig. Ich werde mich wieder hinsetzen. Es ist alles in Ordnung.« »Ich hörte, dass Ihr etwas Tee wolltet. Joey wurde von Eurer Mutter aufgehalten, um einige Besorgungen für sie zu machen, also dachte ich, ich sollte ihn Euch selbst herausbringen. Wo ist Euer kleines Moorzauberwesen? Ihr solltet nicht allein sein.« Bronwen schickte ein inbrünstiges Dankgebet gen Himmel, als sie hörte, dass ihre Mutter die Nachricht bekommen hatte, und so wurde sie für einen Moment einer Antwort enthoben. »Oh. Ich ... ich habe sie geschickt, mir aus meinem Zimmer ein Buch zu holen.« »Ihr solltet nicht ganz allein hier draußen sein, wenn Euch so elend und schwindelig zumute ist. Ihr könntet in Ohnmacht fallen oder Euch wieder übergeben müssen. Kommt, lasst mich Euch etwas Tee eingießen.« »Nein, nein. Es geht mir gut. Vielleicht ein wenig Wasser. Danke. Bitte, es besteht kein Grund, Aufhebens zu machen. Ich bin gleich wieder in Ordnung.« Bronwen trank einen Schluck Wasser, damit sie nicht weiter drauflosplapperte, und reichte Elfrida das Glas dann zurück Sie merkte, dass ihr Blick von Elfridas bloßen Fingern angezogen wurde. Kein Onyxring mit dem Siegel der Distel daran. Das beunruhigte Bronwen auf seltsame Weise. Sie erinnerte sich an das Silbertablett mit der aufgeschnittenen Glockenfrucht und begann, sich Fragen zu stellen. Elfrida setzte sich neben sie, breitete ihren schwarzen Rock aus, stellte die Füße nebeneinander und legte die Hände in den Schoß. Bronwen erkannte jäh, dass eine der sonderbaren Unstimmigkeiten, die Elfrida heute umgaben, das Fehlen des Pastors war, der sonst stets wie der dünne, lange Schatten des frühen Abends hinter ihr
stand. Das ließ Elfrida herzlicher, lebhafter, menschlicher erscheinen. 365 »Ist es heute nicht heiß, jetzt, wo die Banrigh-Witwe fort ist und aller Schnee und Frost mit ihr?«, sagte Elfrida und fächelte sich mit einer Hand Luft zu. »Ja, es ist fast wieder wie im Sommer«, erwiderte Bronwen und lehnte sich seufzend zurück. »Arme Mistress Dorcas. Das ist die Gewandmeisterin, wisst Ihr. Sie wird alle Sommerkleidung fortgeräumt und alle Winterkleidung hervorgeholt haben, und nun ist es plötzlich wieder Sommer. Sie wird rotieren.« Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Wie schade, dass ich in Trauer bin! Mein Fächer ist weiß, und ich möchte ihn nicht schwarz färben. Er ist aus Federn des weißen Bhanaisvogels gemacht, wisst Ihr, derjenige, der im Labyrinth lebt. Er ist sehr selten. Wenn es wieder schwül wird, werde ich einen neuen Fächer in Auftrag geben müssen. Vielleicht aus schwarzer Seide gestaltet, mit Stäben aus Gagat.« Im Garten zu sitzen und über Mode zu plaudern, ließ Bronwen sich viel besser fühlen, auch wenn ihr bewusst war, dass es nur eine Ablenkung war, um Elfridas Verdacht zu entkräften, dass etwas nicht stimmte. Maya würde jetzt jeden Moment kommen, und Bronwen würde irgendeine Entschuldigung ersinnen, um Elfrida loszuwerden. Bronwen sehnte sich verzweifelt nach ihrer Mutter. Maya hatte den schärfsten, schlauesten Verstand von allen, die sie kannte. Sie würde wissen, was zu tun wäre. Elfrida rückte ihren Stuhl zurück so dass sie nicht mehr direkt in der Sonne saß, und wedelte mit der Hand auf und ab. Es war warm. Bronwen bemerkte kleine Schweißperlen auf Elfridas Oberlippe. »Wo ist Euer Fächer?«, fragte sie träge und trank einen weiteren Schluck Wasser. »Ich erinnere mich, dass ich ihn bei der Hochzeit bewundert habe. Er war aus schwerem Gold und sehr kunstvoll gearbeitet. Eine Art Antiquität, oder?« Sie schaute zu Elfrida hoch und war überrascht, wie kreidebleich und atemlos sie war. »Ach, ja, mein Fächer«, sagte sie. »Hmm, er zerbrach. Ich habe ihn fortgeworfen.«
366 »Aber er muss doch gewiss sehr wertvoll gewesen sein! Er war aus Gold!« »Mag sein, aber ... er war zerbrochen. Er konnte nicht repariert werden.« »Wie schade. Er war wunderschön, wenn man diesen schweren, kunstvollen Stil mag. Entsprach jedoch nicht Eurem üblichen Stil, hätte ich gedacht. Wie schade, dass er zerbrochen ist. Wie ist das passiert? Er wirkte recht stabil.« Bronwen redete eher, um die Konversation aufrechtzuerhalten, als aus einem anderen Grund, aber sie stellte fest, dass sie sich in der seltsamen Lage befand, sich selbst gegenüber allmählich etwas zu offenbaren, während sie sprach. Als wären ihre Worte schwere Laken über einer schreienden Kreatur in einem Käfig und als würde mit jedem Wort eine weitere Abdeckung entfernt, bis Bronwen schließlich das hässliche, schreckliche Wesen erkennen konnte, das sich darunter befand. Ihre Stimme brach. Der Atem stockte in ihrer Kehle. Sie nahm einen großen Schluck Wasser und blickte in den Garten hinaus, sorgsam darauf bedacht, Elfrida nicht anzusehen. »Er war nichts Besonderes«, sagte Elfrida gerade. »Er gehörte meiner Schwiegermutter. Ihr habt Recht, es ist nicht wirklich mein Stil, etwas so Protziges zu tragen. Ich werde mir einen neuen Fächer anfertigen lassen, einen, der leichter zu tragen ist.« »Wir werden alle neue Fächer brauchen, wenn es noch viel heißer wird«, gelang es Bronwen zu sagen. Sie konnte Elfrida noch immer nicht ansehen. Ungläubigkeit brannte durch ihre Adern. Es war doch gewiss unmöglich! Elfrida die Mörderin? Elfrida die geheime Attentäterin? Kuckucks Mutter! Diese Krankheit hat mein Gehirn beeinträchtigt, dachte sie. Ich bilde mir abscheuliche Dinge ein, schreckliche Dinge, über Menschen, die ich seit Jahren kenne. Es stimmt nicht, nichts davon stimmt. Und doch verharrte ihr Geist weiterhin bei diesem Problem, 366
drehte kleine Puzzleteile der Seltsamkeit um und stellte fest, dass sie ein Ganzes bildeten. Elfrida und Mirabelle in den dunklen Stunden der Nacht in den Gängen. Mirabelle, wie sie zur Banprionnsa sagte: »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, Zweifeln und Schwächen nachzugeben.« Was hatte sie damit gemeint? Warum jetzt nicht? Der Engelwurztee. Elfrida, wie sie ihr die Glockenfrucht gab. Die furchtbare Krankheit, die folgte. Der goldene Fächer, mit seinen dicken, erhaben gearbeiteten Stäben, den Elfrida diese ganze schreckliche Nacht lang, in der Lachlan ermordet wurde, so fest umklammert und dann später so achtlos beiseite geworfen hatte. Die Stäbe des Fächers waren breit genug gewesen, um ein dünnes Blasrohr und einige Pfeile zu verbergen. Er hatte Margrit von Arran gehört, die allen Berichten zufolge nie gezögert hatte, ihre Feinde zu vergiften. Margrit von Arran, deren Geist den Laird von Fettercairn heimgesucht und ihn zum Zauber der Wiedererweckung geführt hatte. Margrit von Arran, deren Ring Elfrida getragen hatte und den sie nun nicht mehr trug. Margrit von Arran, die der Laird von Fettercairn von den Toten erwecken wollte, indem er das Blut von Bronwens Cousine, Olwynne, benutzte. Margrit von Arran, die Distel genannt. »Wo ist Euer Ring?«, fragte Bronwen abrupt. Sie sah jähe Röte in Elfridas Gesicht aufsteigen. »Mein... mein Ring?« »Ja, der schwarze.« »Nun, ich ... ich weiß es nicht. Er wird irgendwo sein. Zweifellos in meinem Schmuckkästchen.« »Aber Ihr habt ihn in letzter Zeit täglich getragen. Warum jetzt nicht?« Elfrida war offensichtlich erregt. »Er ... er gefiel mir nicht mehr ... er ist zu schwer.« Bronwen sah, wie Elfridas Schultern plötzlich einsanken und wie in ihren Augen Misstrauen aufblitzte. Sie bemühte sich, unverfängliche Worte zu ersinnen, etwas, was Elfrida ablenken 367
würde, aber ihr fiel nichts ein. Sie atmete hastig, und sie umklammerte verzweifelt die Armlehnen ihrer Chaiselongue. Kuckucks Mutter! »Ihr habt es vermutet, nicht wahr?«, fragte Elfrida. Sie setzte sich auf und presste einen Moment die Hände auf ihr Gesicht. »Margrit sprach neulich durch mich, nicht wahr? Sagte diesem jungen Narren, er solle aufpassen, wenn er die Distel berührte. Sie war zornig. Ich versuchte, sie zurückzuhalten, aber sie will niemals aufpassen. Er hat Glück dass sie ihn nicht auf der Stelle getötet hat. Hätte er getrunken oder gegessen, hätte sie es bestimmt getan, dessen bin ich mir sicher.« »Der Ring...« »Ja. Er hat, genau wie der Fächer, eine Besonderheit. Eine kleine Drehung, und Gift fällt heraus, in Euren Becher oder auf Euren Teller...« »Die Glockenfrucht...« »Ja.« Bronwen schwieg, vor Entsetzen elend. Elfrida seufzte. »Ihr müsst wissen, dass ich versucht habe, ihr zu widerstehen«, sagte sie im Plauderton. »Aber sie war die ganze Zeit in meinem Ohr, flüsterte schreckliche Dinge über mich und über meine Vergangenheit, sagte mir, Iain kümmere sein Righ mehr als ich, und nun tat sein Sohn Donncan dasselbe, stahl mir Neil. Es hörte niemals auf. Ich hörte ihre Stimme überall im Turm der Nebel. Sie sagte mir, ich sei hässlich, dumm, machtlos, eine Betrogene. Sie sagte, sie würde dafür sorgen, dass Neil auf irgendeine Weise verletzt oder verkrüppelt würde, wenn ich nicht täte, was sie sagte. Sie hat sich jahrelang in mich hineingegraben und sich dort niedergelassen, hat gewartet, auf ihre Chance gewartet. Manchmal schien sie zu schlafen, oder sie ging woandershin, ich weiß es nicht. Sie wollte, dass ich den Zauber der Wiedererweckung für sie finde, aber ich widerstand dem, das tat ich wirklich. Ich wollte nicht hier 368 her nach Lucescere kommen, ich blieb in Arran und versuchte, sie verborgen zu halten.«
Sie atmete zitternd ein. »Ich dachte... ich dachte, Pastor Francis würde mir helfen, ihren Geist irgendwie austreiben. Ich betete jeden Tag, sieben Mal am Tag, ich bat ihn um Hilfe. Aber er ist das Geschöpf der Fealde. Er erkannte, dass Margrits Rachsucht den Träumen der Fealde helfen würde, die westlichen Länder zu erobern und zu verwandeln. Er sagte, wir müssten tun, was sie sagte, und zwang mich, hierher nach Lucescere zu kommen, sie mit mir hierher zu bringen wie einen widerlichen Fötus in meinem Leib...« Die Woge des Entsetzens in Bronwen flaute langsam ab, und sie konnte wieder sprechen. »Ihr habt Onkel Lachlan getötet? Ihr habt den vergifteten Pfeil auf ihn geblasen?« »Ja. Es war das Werk eines Augenblicks. Niemand hat es gesehen. Als sie daran dachten, den Raum zu durchsuchen, hatte ich das Blasrohr und die Pfeile schon wieder sicher in den Stäben des Fächers verborgen. Ich saß die ganze Nacht da und hielt den Fächer in Händen, während sie mein Zimmer und all mein Gepäck durchsuchten.« Sie lachte. »Ist sie ... ist sie jetzt in Euch?« »Nein. Sie ist fort. Ich würde sagen, sie hat ihren Willen bekommen und lebt wieder. Sie braucht mich nicht mehr. Oder zumindest meinen Körper nicht als ihren, meine Arme und Beine, meinen Mund...« Bronwen schluckte. »Also ... ist Olwynne ...« »Tot, würde ich vermuten.« Tränen wallten in Bronwens Augen auf. Sie und Olwynne hatten sich nie sehr nahe gestanden, aber sie war immer noch ihre Cousine, und es schien eine schreckliche Art zu sterben. Elfrida hatte den Deckel einer kleinen, braunen Flasche aufgeschraubt, die sie ihrer Tasche entnommen hatte. Sie erhob sich, stand dann da und sah auf Bronwen hinab. »Ich bedaure dies. 369 Es wird alle unsere Pläne verderben, Euch nun töten zu müssen. Es wäre viel leichter gewesen, Euch am Leben zu erhalten, mit Neil zu verheiraten und den Thron ohne Krieg zu erringen. Aber
Ihr versteht doch, dass ich Euch nun nicht mehr leben lassen kann, oder?« Bronwen sah sie an, hievte sich dann plötzlich hoch und wollte fliehen. Aber Elfrida bohrte ihr ein Knie in die Brust, legte ihre freie Hand auf Bronwens Stirn und zwang die Flasche zwischen ihre Zähne. Bronwen kämpfte verzweifelt, aber sie war von ihrer Krankheit noch schwach und benommen, und Elfrida war überraschend kräftig. Der Inhalt der Flasche ergoss sich unaufhaltsam in ihren Mund, während Elfrida ihr die Nase zuhielt und ihr die Luft abschnitt, so dass sie nicht atmen konnte. Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nicht befreien. Sie schluckte unfreiwillig und rang nach Luft. Bronwen erkannte den schweren, süßlichen Geschmack von Mirabelle s Mohntinktur. Zwei Finger, nicht mehr, hatte die Heilerin gesagt, und Bronwen hatte gerade eine ganze Flasche voll getrunken. Sie würgte, aber Elfrida hielt ihr Gesicht hoch und ihren Kiefer fest geschlossen. Obwohl sie unfähig war zu atmen, kämpfte Bronwen, aber die Banprionnsa war zu stark für sie. »Es wird nicht lange dauern«, sagte Elfrida mit Bedauern in der Stimme. Dann verschwand sie. In einem Moment war sie noch über Bronwen aufgeragt, hatte sie auf die Chaiselongue zurückgezwungen, sie gewürgt und vergiftet. Und im nächsten Moment war sie fort. Bronwen hustete und hustete und versuchte, sich aufzusetzen. Dann schrie sie auf und schrak zurück. Eine schwarze Ratte saß auf ihrer Brust, quiekte erschreckt, wobei ihre roten Augen hervorquollen. Bronwen wischte sie mit einem Arm fort, und sie fiel und drehte sich mitten in der Luft, bevor sie ins Gestrüpp huschte. Bronwen atmete tief durch, rollte sich dann herum und zwang 370 sich erneut, sich zu übergeben. Wieder und wieder erbrach sie sich, geschwächt wie sie war, ins Gras. Jemand setzte sich neben sie und reichte ihr ein Glas Wasser. Bronwen spülte sich dankbar den Mund aus und trank dann einen Schluck Ihre Kehle war äußerst wund.
»Ich dachte immer schon, Elfrida hätte etwas von einer Ratte«, sagte Maya bedächtig und strich Bronwens feuchtes Haar zurück »So wie sie immer umherhuschte, Leute ausspionierte, üble Gerüche erschnüffelte. Ich habe sie nie gemocht.« »Du hast das gemacht? Du ... hast sie verwandelt?« Maya nickte. »Natürlich. Was hätte ich sonst tun sollen? Sie war dabei, dich zu töten.« In Mayas Stimme klang keine Reue mit. Bronwen erschauderte. Sie hatte dieses Talent ihrer Mutter immer als das Erschreckendste an ihr empfunden. Alle Geschichten über die Zeit von Mayas Regentschaft berichteten von Menschen, die sie verwandelt hatte. Lachlan und seine beiden älteren Brüder waren in Amseln verwandelt worden, und Maya hatte ihren Falken auf sie angesetzt. Isabeaus und Iseults Vater war in ein Pferd verwandelt worden, und Maya hatte ihn jahrelang geritten. Tabithas, die Bewahrerin des Schlüssels, war in einen Wolf verwandelt worden und Margrit von Arrans Haushofmeister in eine Kröte. Es war Mayas geheimste und verheerendste Waffe und höchstwahrscheinlich auch ihre grausamste. Bronwen erinnerte sich nicht gerne an diesen Charakterzug ihrer Mutter. Sie zog es vor, Maya als die stumme und vernarbte Dienerin der Hexen zu sehen, die einst die schönste und mächtigste Frau im Lande gewesen war. Und doch war es unmöglich, Unwissen vorzutäuschen, wenn jemand, den sie schon ihr ganzes Leben lang kannte, unmittelbar vor ihren Augen in eine Ratte verwandelt wurde. »Was ... was wird mit ihr geschehen?« »Es gibt hier viele Katzen«, sagte Maya gleichgültig. Sie be 371 trachtete Bronwen genau. »Du siehst furchtbar aus. Wie fühlst du dich? Hast du alles Gift herausgebracht?« »Das hoffe ich.« »Es wäre besser, wenn wir deinen Darm reinigen könnten«, sagte Maya. »Nur wollen wir, aus ersichtlichen Gründen, nicht zur Schule der Heiler gehen und um eine Reinigung bitten. Haben sie dich in deiner Schule irgendetwas darüber gelehrt, wie man den Körper von Gift befreit?«
»Es stand nicht wirklich auf dem Lehrplan«, antwortete Bronwen zitternd, »zumindest nicht für mich. Ich wollte niemals eine Heilerin werden. Oh, ich wünschte, Tante Beau wäre hier.« »Ich auch«, sagte Maya. »Wenn auch nur, um sie in einen Terrier zu verwandeln, damit sie diese Ratte für mich erlegt. Ich mag keine unerledigten Sachen.« »Kannst du das nicht tun?« »Ich kann nicht mich selbst verwandeln, nur andere«, erwiderte Maya. »Ich könnte dich in eine Katze oder einen Hund verwandeln, wenn du das erledigen willst.« Bronwen erkannte ungläubig, dass ihre Mutter nicht scherzte. »Nein danke«, sagte sie schaudernd. »Komm, säubern wir dich, dann kannst du mir die ganze Geschichte erzählen. Maura sagte mir nur, dass du vermutest, Mirabelle verabreiche allen etwas, so dass sie krank würden. Vermutlich hast du entdeckt, dass auch Elfrida mit dem Komplott zu tun hatte?« Bronwen erzählte ihrer Mutter die ganze Geschichte, während Maya sie und die Chaiselongue rasch und gründlich säuberte und jegliche Anzeichen des auf das Gras Erbrochenen mit dem Tee in der Teekanne fortspülte. »Sie wollte mich mit Neil verheiraten«, sagte Bronwen. »Als würde ich jemals Kuckuck heiraten!« »Das könntest du«, sagte Maya. »Wenn Donncan tot wäre und du ganz allein wärest und Neil dir zur Seite stünde, um dich zu 372 unterstützen und zu trösten. Er hat diese Aufgabe bereits recht gut erfüllt.« »Donncan«, flüsterte Bronwen. »Elfridas Pastor ist auf dem Weg zu ihm. Er muss vorhaben, ihn zu töten!« »Das würde ich auch sagen«, bestätigte Maya, während sie das letzte Wasser benutzte, um jegliche Spuren an Bronwens Gewand zu beseitigen. »Wahrscheinlich hat Elfrida den Giftring Neil gegeben, so dass er etwas Schädliches in Donncans Wein schütten könnte.« »Nein! Nicht Neil!«
»Warum nicht? Es besteht kein Zweifel, dass er dich wollte, und er wäre ein Narr, wenn er nicht auch die Krone wollte.« »Aber ... aber Donncan war sein bester Freund! Sie sind zusammen aufgewachsen, fast wie Brüder.« »Das nützt nichts, wenn eine Frau zwischen zwei Freunde tritt«, sagte Maya. »Oder zwischen zwei Brüder, was das betrifft.« Bronwen sprang auf und musste sich am Stuhl festhalten, da sich ihre Sicht in einem Sprühnebel auflöste. »Ich muss ... ich muss ihn warnen ... ich muss Neil aufhalten ...« »Wie?« »Ich werde eine Nachricht schicken ... ich werde ...« Sie hielt inne, als sie die Schwierigkeiten erkannte. Es gab niemanden, dem sie vertrauen konnte. Wenn Mirabelle einer der Verschwörer war, wer könnte es dann sonst noch sein? Bronwens Schreiber, der ihr von Neil empfohlen worden war? Ihr Page Joey? Der neue zweite Oberhofmeister? Alles Neils Leute. Und wenn sie selbst zum Taubenschlag ginge, um eine Taube nach Rhyssmadill zu schicken, welche Garantie hätte sie dann, dass die Taube es rechtzeitig schaffen würde? Sie konnte nicht wissen, wie weit sich die Tentakel der Verschwörung durch den Palast gewunden hatten. Jeder der Dienstboten oder Wächter könnte in Elfridas Lohn stehen. Und wenn Bronwen etwas völlig Ungewöhnliches 373 täte, würde sie auf sich aufmerksam machen und sich in Gefahr bringen. Maya hatte ihr Zeit und Sicherheit verschafft, indem sie Elfrida in eine Ratte verwandelt hatte, aber nicht für lange. Die Banprionnsa würde bald vermisst werden, und Mirabelle war von Natur aus argwöhnisch. _ Bronwen presste ihre zitternden Hände zusammen. »Ich muss selbst gehen«, sagte sie. »Es gibt keine andere Möglichkeit sicherzustellen, dass Donncan nichts passiert. Ich werde schwimmen. Wenn ich in meine Meergestalt schlüpfe, werde ich den Fluss schneller hinab gelangen als jedes Boot. Mama, du musst mir helfen.« »Wie?« »Du bist Lucescere einst entkommen. Sag mir, wie du das geschafft hast.«
Maya nickte. »In Ordnung. Wir haben nicht viel Zeit. Mirabelle darf nicht merken, dass du allein bist. Ich habe deinen Pagen auf eine sinnlose Suche geschickt, aber er wird es bald erkennen und zurückkommen. Lass uns den besten Weg ersinnen. Und lass es uns schnell tun!« 374 DAS KARUSSELL DER ZEIT •>Und so bringt das Karussell der Zeit seine gerechte Vergeltung herbei.« WILLIAM SHAKESPEARE Was ihr wollt, 1601 FLUCHT AUS LUSCESCERE Es wurde kalt, als die Sonne auf die Bäume zusank. Bronwen schaute zu ihrer Mutter zurück und lächelte. Sie lag mit bleichen Wangen in Bronwens Bett, ihr langes, schwarzes Haar war auf dem Kissen ausgebreitet, und sie trug Bronwens Gesicht sowie eines ihrer Nachthemden. Bronwen konnte nicht glauben, wie wirkungsvoll Mayas Tarnzauber war. Es war, als wenn sie sich selbst im Spiegel betrachtete. Nur dass Bronwen nicht mehr wie sie selbst aussah. Sie sah aus wie ein altes Moorzauberwesen mit runzliger, schwarzer Gesichtshaut, Augen, die wie schwarze Perlen glänzten, und einem Buckel unter ihrem schlichten grauen Gewand mit Schürze. An einem Arm trug sie einen Korb, über den ein Tuch gelegt war. Darin befand sich eine große, wasserdichte Tasche, die ihrer Mutter gehörte und in die eilig einige Kleider und Nahrung gepackt worden waren. Bronwen würde zwei oder mehr Tage kräftig schwimmen müssen, um Rhyssmadill zu erreichen, und sie würde irgendwann Rast machen, sich ausruhen und essen müssen. Sie öffnete die Tür und fiel fast über Joey, der unmittelbar davor saß. Seine Augen glänzten, und seine Nase war gerötet, und sie fragte sich, ob er dafür gemaßregelt worden war, dass er sie so lange in den Gärten allein gelassen hatte. »Was tust du, Junge, die ganze Zeit am Boden?«, murrte Bronwen in, wie sie hoffte, gekonnter Nachahmung von Mauras Stimme und Art.
»Nichts, Madam. Ich warte nur ab, ob Ihre Majestät mich braucht.« 375 »Ihre Majestät geht jetzt schlafen, also stör sie nicht weiter«, schalt Bronwen, während sie die Tür fest hinter sich schloss. Sie trat in den Gang hinaus und an zwei Wächtern vorbei, die sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Sie nickte ihnen zu, wie es Maura vermutlich tun würde, und ging, so schnell es möglich war, ohne Verdacht zu erregen, den Gang hinab. Der Tarnzauber würde nicht lange vorhalten, hatte Maya sie gewarnt. Sie durfte nicht trödeln. Es fiel ihr schwer, daran zu denken, kleine Schritte zu machen, als wäre sie nur drei Fuß groß, und stöhnen und seufzen und schlurfen zu müssen, wie Maura es tat. Ein Tarnzauber war nur eine Illusion. Bronwen war nicht in ein Moorzauberwesen verwandelt worden, sondern sah nur wie eines aus. Wenn sie unter einem tief hängenden Ast hindurchginge, würde sie sich immer noch den Kopf stoßen, auch wenn es so aussah, als hätte sie mehrere Zoll Platz. Wenn sie wie eine junge, langbeinige Frau ging, würde sie auch so scheinen. Maya hatte sie gewarnt, dass viele Tarnzauber dadurch aufgedeckt würden, dass man sich anders verhielt, als man aussah. Die Wächter hatten sie kaum angesehen, und Bronwen atmete ein wenig leichter. Aber dann stieg sie die Treppe hinab und stieß unmittelbar auf Mirabelle , die sich hastig mit zwei Palastwächtern beriet. »Was meint Ihr damit, dass Ihr sie nicht finden könnt? Sie muss hier irgendwo sein. Fragt herum und findet heraus, wer sie zuletzt gesehen hat.« »Ja, Madam«, sagten die Wächter und eilten davon. Bronwen konnte vor Entsetzen kaum atmen. Wenn Mirabelle wie so viele Hexen die Gabe des Klarsehens besaß, würde sie den Tarnzauber sofort durchschauen, und Bronwen wäre entlarvt. Sie beschloss, so handeln zu müssen wie üblich, und so stieg sie steif die Treppe hinab, seufzte bei jedem Schritt, eine Hand auf der Hüfte, als schmerze sie, nickte Mirabelle zu, sagte verdrießlich: »'n' Abend, Mistress Mirabelle«, und ging an ihr vorüber.
376 Die Heilerin bemerkte sie kaum. Sie nickte als Reaktion nur knapp und starrte dann weiterhin mit verkrampften Händen ins Leere. Sie stand noch immer dort, als Bronwen um die Ecke und die nächste Treppe hinabging, wobei sie dagegen ankämpfte loszulaufen. Bronwen hätte Stunden gebraucht, um zum See zu gelangen, wenn sie den üblichen Weg genommen hätte - die Straße hinab, durch die Palasttore, an den prüfenden Blicken der Soldaten vorbei, durch die geschäftigen Straßen der Stadt bis zum Tor, eilig, um vor der Glocke zum Sonnenuntergang dorthin zu gelangen, an weiteren Wächtern vorbei, über die Brücke und die lange, gewundene Straße zu den Landungsstegen und Lagerhäusern am Ufer des Sees hinab. Lucescere war auf einer Insel zwischen zwei Flüssen erbaut worden, die sich über eine zweihundert Fuß hohe Klippe in den See hinab ergossen, weshalb man die Stadt nicht leicht unbemerkt verlassen konnte. Stattdessen ging Bronwen, von allen Wächtern und Dienstboten unbeachtet, durch die vordere Halle in den Garten hinaus. Sie erkannte, dass es stimmte, was Maura gesagt hatte. Niemand bemerkte eine kleine, alte Dienerin. Der Garten war von warmem Abendlicht erfüllt. Es drang wie eine Segnung durch die vom Frost befallenen Bäume und vom Sturm entlaubten Zweige. Ihren Korb umklammernd, ging Bronwen durch den Hexenwald zu dem Labyrinth in der Mitte des Gartens und fand mühelos ihren Weg durch seine Windungen und Biegungen, bis sie am Teich der Zwei Monde ankam. Hier legte sie ihre Dienstbotenkleidung ab und verbarg sie hinter einer Hecke, obwohl sie nicht erwartete, dass jemand sie hier suchen würde. Soweit ihr bekannt war, waren Lachlan, der tot war, Isabeau, die weit fort war, und sie selbst die einzigen Menschen, die wussten, dass Maya einst durch diesen Teich entkommen war. Der Teich floss über, denn er war von all dem Regen und Hagel 376
und Schnee des ungestümen Wetters der letzten beiden Wochen bis über den Rand gefüllt. Bronwen nahm den wasserdichten Beutel ihrer Mutter aus dem Korb, schlang ihn sich über den Rücken und tauchte dann nackt in den Teich. Das Wasser war eiskalt, aber Bronwen merkte es kaum. Die Fairgean waren es gewohnt, in Meeren voller Eisberge zu schwimmen. Sie tauchte hinab, nahm instinktiv ihre Meergestalt an, schloss ihre Nasenlöcher und ließ ihre Kiemen flattern. Der Teich der Zwei Monde hatte keinen Grund, wie sie entdeckte. Er verengte sich unten zu einem senkrechten Tunnel, durch den sie tauchte, wobei die Felsen an ihren Schultern schabten. Sie tauchte immer weiter hinab und glitt in eine Art unterirdischen Strom hindurch, der sie fortriss, sich in hoher Geschwindigkeit wellenförmig dahinbewegte und durch tiefe Rinnen toste, bis sie schließlich in den Ban-Bharrach ausgespien wurde. Vom Sturm angeschwollen, riss der Fluss sie mit, so dass ihr Kopf auf und ab tanzte. Sie hatte keine Zeit, Atem zu holen. Wären ihre Kiemen nicht gewesen, wäre sie ertrunken, dessen war sie sich sicher. Sie sah die großartige Kräuselung der von der Sonne beschienenen Gischt vor sich, wo der Fluss über den Rand der Klippe tauchte und weit hinabstürzte. Die untergehende Sonne verwandelte sie in einen schimmernden Regenbogen. Bronwen gelang es, tief durchzuatmen. Sie führte die Arme über den Kopf und vollführte einen Schwalbensprang über den Rand der Klippe. Sie fiel zweihundert Fuß tief. Hätte sie nicht gewusst, dass ihre Mutter diesen Sturz auf sich genommen und überlebt hatte, hätte sie vielleicht aufgegeben und wäre sich ihres nahen Endes sicher gewesen. Aber so hielt sie ihren Körper im Gleichgewicht, bemühte sich, nicht durch die Lungen zu atmen, und ritt auf der gesamten gewaltigen Länge des Wasserfalls in den darunterliegenden See. Bronwen gelangte tief unter die Oberfläche. Sie wartete, bis 377 der Druck nachließ, und schwamm dann diagonal aufwärts, um so weit wie möglich von dem aufgewühlten Wasser
fortzugelangen, wo die Wasserfälle auf den See auftrafen. Sie konnte mindestens drei Minuten unter Wasser bleiben und nutzte jede Sekunde davon, um weit in den See hinauszuschwimmen. Dann durchbrach sie die Oberfläche und atmete keuchend ein. Nachdem sich ihr Puls beruhigt hatte, schwamm sie weiter im schnellen, wellenförmigen LangstreckenSchwimmstil der Fairgean. Bronwen schwamm fast die ganze Nacht und nutzte den Vorteil der Dunkelheit und der Leere des Flusses, so dass die Entfernung zwischen ihr und Lucescere möglichst schnell wuchs. Sie hielt mehrmals inne, um sich auszuruhen und hängte sich an das Ankerseil eines der Fluss-Lastkähne, die in der Nähe des Ufers auf und ab tanzten. Einmal kroch sie an Land und lag keuchend auf dem Boden, während ihre Brust schmerzte und ihre Glieder zitterten. Es war schwer, wieder ins Wasser zu gleiten und weiterzuschwimmen, wo sie doch nur an Ort und Stelle, nackt und frierend, auf den Steinen in den Schlaf gleiten wollte. Nur ihre verzweifelte Angst um Donncan trieb sie weiter. Als es hell genug wurde, dass Bronwen etwas sehen konnte, war sie bereits weit den Fluss hinaufgelangt. Vorsichtig stieg sie die Leiter am Heck eines der Fluss-Lastkähne hinauf und verbarg sich zwischen Säcken und Fässern, die auf dessen breitem Deck gelagert waren. Sie entnahm der wasserdichten Tasche, die sie auf dem Rücken getragen hatte, eines der alten Gewänder ihrer Mutter, zog es über ihren nassen, zitternden Körper und aß dann ausgehungert. Sie hatte das Essen eingepackt, das man ihr zum Abendbrot gebracht hatte - kalten gebratenen Fasan, weiches Weißbrot und Käse, eine Fischpastete und eine Auswahl an kleinen Früchtekuchen. In der Dämmerung auf dem Heck eines stinkenden, alten Lastkahns gegessen, von Kisten und Fässern umgeben, nach einer langen, durchschwommenen Nacht, war dies die köstlichste Mahlzeit, die Bronwen je zu sich genom 378 men hatte. Sie hoffte, dass ihre Mutter nicht zu hungrig geworden war.
Als sie zu Ende gegessen und sich zum Schlafen in ein altes Schultertuch gewickelt hatte, war die Besatzung des Lastkahns erwacht und stapfte mit angezündeten Pfeifen und großen Bechern starken schwarzen Tees in Händen über das Schiff. Bronwen lag angespannt da, denn sie fürchtete die Entdeckung, aber die Männer dachten nicht daran, ihre Ladung zu überprüfen. Es dauerte nicht lange, bis der Lastkahn ruhig den Fluss hinabgestakt und Bronwen in den Schlaf gewiegt wurde. Mitten am Nachmittag erwachte sie steif und wund und in höchst unbequemer Lage. Sie lockerte ihre verkrampften Muskeln, so gut es in ihrem stickigen, kleinen Nest möglich war, und spähte zwischen den Kisten hindurch. Die Besatzung des Lastkahns stakte das Schiff noch immer voran und arbeitete gemeinsam in stetigem, angenehmem Rhythmus. Alle Arten von Schiffen drängten sich auf dem Fluss, und die Luft hallte von Rufen und Schreien, dem Rasseln von Ketten, dem Schlagen von Seilen und Segeln und dem leisen Anschwappen des Wassers am Rumpf wider. Weiße Vögel schwebten über ihnen und schrien rau, während sie nach den Fischköpfen tauchten, die von einem anderen Schiff über Bord geworfen wurden. Ein leichter Salzgeruch lag in der Luft. Bronwen konnte, wenn sie den Kopf ein wenig über den Rand der Kisten anhob, sehen, dass sich der Fluss zu einem See beachtlicher Größe verbreitert hatte. Ihr Puls beschleunigte sich vor Aufregung. Die Besatzung des Lastkahns war gut vorangekommen. Sie befanden sich auf dem Lochbane, dem letzten der Juwelen von Rionnagan. Bei Sonnenuntergang setzte die Besatzung des Lastkahns den Anker und briet sich Massen von Zwiebeln, Schinken, Würsten und Kartoffeln, die Bronwen mit ihrem appetitanregenden Aroma quälten. Sie wünschte nur, sie hätte sich mehr zu essen aufbewahrt als nur die Reste von Käse und Brot, die nun recht hart 379 waren, als plötzlich eine große, braune, schwielige Hand über ihrem Nest erschien, die einen schwer beladenen, brutzelnden Teller hielt.
»Dachte, du müsstest hungrig sein«, sagte eine raue Stimme. Bronwen blickte bestürzt hoch und sah ein kantiges, ledriges Gesicht mit einem grauen Kinnbart und sanften, braunen Augen mit schweren Tränensäcken darunter. »Du kannst gerne herausklettern und mit uns essen, wenn du deine Beine ausstrecken willst«, fuhr die Stimme fort. »Du musst dort drinnen ganz verkrampft sein.« »Das bin ich wirklich. Danke.« Bronwen gewann im Handumdrehen ihre Fassung wieder und ließ sich von dem alten Kahnführer aus ihrem Versteck helfen. Sie konnte nur mühsam über die Bank steigen, auf der der andere alte Kahnführer saß, an seiner Pfeife sog und sie neugierig betrachtete, aber nach wenigen Minuten begann das Blut wieder frei durch ihre Adern zu kreisen, und sie konnte ihr Essen mit großem Genuss verspeisen. Die Kahnführer stellten ihr keine Fragen, obwohl sie sich gewundert haben mussten, warum sie sich auf ihrem Schiff versteckt hatte. Wenn man bedachte, dass sie Dienstbotenkleidung trug, vermutete Bronwen, dass sie glaubten, sie sei ein abhängiger Lehrling, der vor einem grausamen Meister floh. Das war die Geschichte, die sie erzählen wollte, wenn sie gefragt würde. Sie sprachen jedoch nicht, abgesehen von ein paar Kommentaren zum Wetter und ob sie ihre Mahlzeit genossen hatte. »Das habe ich wirklich«, erwiderte Bronwen und wischte den Teller mit einem Stück dunklem Brot sauber. »Wenn du dich heute Nacht hier einquartieren willst, können wir dir dort drüben ein wenig mehr Platz anbieten«, sagte einer der Kahnführer und deutete mit seiner Pfeife auf einen anderen Teil des Decks. »Nein danke«, sagte Bronwen. »Ich bin sehr dankbar für Eure Freundlichkeit, aber ich ziehe weiter, sobald es dunkel ist.« 380 Sie zogen die Augenbrauen hoch, schauten auf den unter einem dämmerigen Himmel schimmernden Fluss und zuckten dann die Achseln. Das Ufer war ein beträchtliches Stück entfernt. Bronwen fragte sich, ob sie vermuteten, dass Fairgean-Blut in ihren Adern floss. In dem schäbigen, alten Gewand ihrer Mutter,
das hochgeschlossen und langärmelig war, waren ihre Kiemen und Flossen gut verborgen. Sie bereiteten ihr einen Becher Tee, den sie ebenso sehr genoss wie die gebratenen Würste, und dann, als es vollkommen dunkel war, dankte Bronwen ihnen erneut und verabschiedete sich. »Würdet Ihr bitte eine kleine Weile die Augen schließen?«, bat sie. Sie sahen einander an, zuckten erneut die Achseln und bedeckten mit ihren großen, schwieligen Händen ihre Augen. Nicht darauf vertrauend, dass sie nicht hindurchspähen würden, zog sich Bronwen hinter die Fässer zurück, legte Gewand und Schultertuch ab, steckte sie wieder in den wasserdichten Beutel und zog dessen Bänder fest zu. Dann, wieder nackt, tauchte Bronwen in den Fluss ein, wobei sie kaum eine Kräuselung hinterließ. Das Schwimmen fiel ihr in der zweiten Nacht viel leichter als in der ersten. Der Tag Ruhe und zwei solide Mahlzeiten hatten ihr geholfen, einen Großteil ihrer Kraft zurückzuerlangen, und sie hatte Zeit gehabt, das Entsetzen über Elfridas Mordversuch zu überwinden. Während sie schwamm, waren ihre Gedanken auf Donncan konzentriert. Wo war er diese ganze Zeit gewesen, und was war ihm zugestoßen? Würde er sich freuen, sie zu sehen? Was wäre, wenn er ihr nicht glauben würde? Was wäre, wenn er Neil mehr Glauben schenkte als ihr? Was wäre, wenn sie zu spät käme? Bronwen war innerhalb von zwei Stunden zum Berthfane gelangt und musste nun langsamer schwimmen und vorsichtig die vielen Boote, Lastkähne und Schiffe meiden, die überall entlang der Kais und Landungsstege vertäut lagen. Die glitzernden 381 Lichter der Stadt spiegelten sich im Hafenbecken. Dün Gorm war eine große Hafenstadt, die fast den gesamten östlichen Bereich der Bucht einnahm. Im Westen war alles dunkel bis auf das Schloss, das hell erleuchtet war. Bronwen richtete ihren Blick darauf und hoffte verzweifelt, dass sie rechtzeitig käme. Sie war schneller geschwommen, als jedes Schiff reisen konnte. Sie hatte die Gruppe aus Lucescere doch ganz gewiss überholt?
Viele Vergnügungsschiffe lagen in jener Nacht draußen im Hafen, voller lachender und plaudernder, den Musikern lauschender und, auf einigen der größeren Schiffe, sogar tanzender Menschen. Bronwen musste sehr vorsichtig sein, um nicht gesehen zu werden. Sie tauchte tief und schwamm unter Wasser, strebte durch den Hafen unmittelbar auf das Schloss zu. Als sie schließlich an die Oberfläche kam, war alles viel ruhiger und dunkler. Das Schloss ragte auf seinem hohen Felsen über ihr auf. Sie befand sich in dessen Schatten. Ein Boot kam vom Hafen her auf sie zu, an Bug und Heck waren Lichter angebracht. Sie hörte leise Stimmen. Bronwen bemühte sich, ihren Atem zu beruhigen, während die Kiemen in ihrer Kehle heftig flatterten. Dann tauchte sie erneut ab, denn sie wagte es nicht, auch nur den kleinsten Spritzer zu verursachen. Unmittelbar neben dem Boot tauchte sie wieder auf, ergriff einen schmalen Metallstab an dessen Rückseite und hängte sich dankbar daran. Sie konnte die Stimmen der Passagiere deutlich hören. »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte Gwilym der Hässliche. »Wir sind rasch vorangekommen. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht eher entspannen und freuen können werde, als bis ich den Righ mit meinen eigenen Augen sehe.« »Sollten wir ihn den Righ nennen, wenn seine wunderschöne Frau den Leitstern hält?«, fragte Pastor Francis. Bronwen biss die Zähne zusammen. Hätte sie die Kräfte ihrer Mutter besessen, hätte sie keinerlei Bedenken gehabt, ihn in etwas Schleimi 382 ges und Abscheuliches zu verwandeln. In eine Schnecke oder eine Kröte. »Aber natürlich«, erwiderte Gwilym überrascht, »sie werden sich den Leitstern und den Thron doch gewiss teilen?« »Kann der Leitstern geteilt werden?« »Ich weiß es nicht«, sagte Gwilym und klang besorgt. »Sie haben ihn als Kinder zusammen erhoben, um den Fairgean-König zu besiegen. Das werden sie gewiss wieder tun. Sie tragen beide MacCuinn-Blut in sich.«
»Was man als Kind bereit ist zu tun, unterscheidet sich sehr von dem, was man als Mann zu tolerieren bereit ist«, sagte Pastor Francis. »Wohl wahr«, erwiderte Neil. »Ich glaube nicht, dass Donn wirklich glücklich darüber sein wird. Ich meine, er war für ihn bestimmt.« Ich konnte ihn nicht zwischen all dem Gerumpel dort auf dem Boden liegen lassen, dachte Bronwen bei sich und hob ihre freie Hand, um den über ihre Schulter hängenden Beutel zu berühren. Sie harte den Leitstern natürlich mitgenommen. »Nun, sie werden es klären«, sagte Gwilym. »Die Banrigh hat sich während dieser vergangenen zwei Wochen gut benommen, unter sehr schwierigen Bedingungen. Ich weiß, dass ihr Ehemann, der Righ, dankbar sein wird.« In dem dunklen, kalten Wasser nur wenige Fuß unter dem einbeinigen Zauberer dahingleitend, lächelte Bronwen und dachte: Hoffentlich habt Ihr Recht, Gwilym. Am Fuß der steilen Klippe tauchte eine breite Landeplattform mit einer massiven, in den Fels eingelassenen Eisentür auf. Laternen warfen hell orangefarbenes Licht aufs Wasser. Als das Boot knirschend an der Plattform anlegte und die Mannschaft heraussprang, um es zu sichern, blieb Bronwen im Schatten, ebenso sehr aus Sittsamkeit wie aus dem Wunsch heraus, sich nicht zu bald zu offenbaren. Eine Planke wurde hinübergeschoben, und die Männer aus 383 Lucescere gingen an Land. Außer Gwilym, Neil und Pastor Francis waren da noch der Lordkanzler, ein sehr gebrechlicher, alter Mann mit zitternden Händen und einem glänzenden, kahlen Kopf, der von einem Kranz weißen Haars umgeben war, sowie sein Schreiber, Lord Morgan, ein alter Freund Neils aus der Theurgia. »Nun, Pastor, wie ich sehe, habt Ihr einen neuen Ring«, sagte Lord Morgan plötzlich. »Ist das nicht Lady Elfridas Ring?« Eine Pause entstand, und dann sagte der Pastor aalglatt: »Ah, ja. Ihre Gnaden schenkte ihn mir, bevor wir aufbrachen, als Zeichen ihrer Anerkennung. Ich glaube, er ist sehr alt.«
»Das ist der Distelring«, sagte Neil überrascht. »Er ist ein Familienerbstück.« »Tatsächlich?«, erwiderte der Pastor. »Ich hatte nicht erkannt, dass er irgendwelchen Wert besitzt. Eure Mutter sagte, Euren Vater kümmere er nicht, also könnte ebenso gut ich ihn haben, als Erinnerung an Arran. Ich trete aus dem Dienst Eurer Mutter aus, wie Ihr wissen müsst, Mylaird, und kehre nach Tirsoilleir zurück, sobald unsere Aufgabe hier beendet ist.« »Verstehe«, sagte Neil. »Nun, es stimmt, dass meinen Vater der Ring nicht kümmert. Er gehörte seiner Mutter. Ich wäre jedoch vorsichtig, Pastor Francis. Die Gegenstände meiner Großmutter enthielten oft üble Überraschungen.« Seine Stimme klang seltsam. Ohne sein Gesicht sehen zu können, konnte Bronwen nur schwer erkennen, was er dachte. Sie glaubte, es schwinge Kummer und Zorn in seiner Stimme mit, aber auch Erleichterung bei dem Gedanken, dass der Pastor aus dem Dienst seiner Mutter austrat. Einer der Dienstboten hatte an einer rostigen Kette an der Tür gezogen, woraufhin sie die Glocke hoch über ihren Köpfen im Schloss laut klingen hörten. Bronwen war schon viele Male zuvor in Rhyssmadill gewesen. Sie wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis jemand die über zweihundert Stufen hinab 384 gestiegen wäre, um die Tür zum Fluss zu öffnen, und dann noch längere Zeit, bis die Gruppe die Treppen in den Hauptteil des Schlosses hinaufgestiegen wäre. Für Gwylim wären die Treppen mit seinem Holzbein schwer zu erklimmen, und Cameron, der Lordkanzler, war so alt und tatterig, dass auch er gewiss ewig brauchen würde. Bronwen glitt in die Dunkelheit und dachte angestrengt nach. Ihre beste Chance, so glaubte sie, bestünde darin, vor den anderen zu Donncan zu gelangen, damit sie die Gelegenheit hätte, ihm alles zu erklären und ihn zu warnen. Das wäre doch gewiss besser, als jetzt auf die Plattform zu steigen, nackt und triefnass, vor aller Augen? Und wenn sie darauf wartete, dass die Männer die Treppen erklommen, dann aus dem Wasser stieg, sich anzog
und bereitmachte, bevor sie die Glocke läutete, läge sie mindestens zehn Minuten hinter den anderen zurück. Mehr als genug Zeit, um ein wenig Gift in Donncans Glas zu geben. Wenn Bronwen jedoch den geheimen, unterirdischen Eingang zum Schloss finden könnte, hätte sie eine Chance, vor die Männer zu gelangen und Donncan vor ihnen zu erreichen. Bronwen, Donncan und Neil hatten die unterirdischen Höhlen vor Jahren erkundet, nachdem sie eines Tages ihr Kindermädchen abgeschüttelt hatten. Bronwen hatte das sichere Gefühl, dass sie den Eingang wiederfinden könnte. Also atmete sie tief ein und tauchte ab. VERGIFTETER WEIN Bronwen tauchte sehr tief bis ganz zum Fuß des Felsens hinab, auf dem Rhyssmadill errichtet worden war. Es war pechschwarz. Sie konnte selbst mit weit geöffneten Augen und um sich blickend nichts sehen, sondern konnte sich nur von ihren emp 385 findsamen, langfingrigen Händen leiten lassen. Der Eingang war nicht weit vom Flusstor entfernt, das wusste sie, aber mehrere Minuten vergingen, und sie war gezwungen aufzutauchen, um Luft zu schnappen. Bei ihrem dritten Tauchgang fand sie ihn; es war ein schmaler Spalt im Fels, der sie durch einen langen Unterwassertunnel führte. Bronwens Ohren tosten, und ihr war vom mangelnden Sauerstoff elend und benommen zumute, als ihr Kopf schließlich durch die Wasseroberfläche brach. Sie konnte nichts sehen und nichts außer ihrem eigenen gequälten Atem und dem beständigen Schwappen des Wassers um sich herum hören. Sie streckte ihre Hände vor sich aus, schwamm langsam vorwärts und fragte sich, wie sie dies jemals für eine gute Idee hatte halten können. Ihre Hände fanden einen Steinsims, und sie zog sich darauf und durchsuchte dann ihren Beutel, bis ihre Finger auf die glatte Rundung des Leitsterns trafen. Sofort sprang Licht in seinen Tiefen auf. Dankbar nahm sie ihn aus seiner Kleiderumhüllung hervor und steckte das Szepter durch die Sprossen der rostigen, alten Leiter, die die Wand
hinauf in die Dunkelheit verschwand. Bei seinem Licht zog sie sich eilig an, steckte das Szepter dann wieder in den Beutel und zog dessen Bänder unmittelbar unter dem Leitstern zu, so dass sein Licht ihr noch immer den Weg leuchtete. Den Beutel über die Schultern geschlungen, begann Bronwen den langen Aufstieg die Leiter hinauf. Rhyssmadill war ursprünglich vor vielen Jahrhunderten von Brann dem Raben erbaut worden, und dieser Geheimzugang war nur eines der vielen Geheimnisse des Schlosses. Vorjahren, als Bronwen ein Kind gewesen war, hatten die Fairgean diesen verborgenen Zugang benutzt, um in Rhyssmadill einzudringen und Lachlan und seine Leute anzugreifen, während sie Beltane feierten. Es war eine der schrecklichsten Erinnerungen Bronwens. Nun, während sie im unbeständigen Licht des schwingenden 386 Leitsterns die Leiter erklomm, konnte sie nicht umhin, bedrückende Furcht zu empfinden. Ihr Blut hämmerte in ihren Ohren, und ihr Atem kam abgehackt. Donncan, dachte sie und konzentrierte ihren ganzen Willen auf ihn. Schließlich erreichte Bronwen das obere Ende der Leiter und fand eine Holzabdeckung vor, die über die Schachtöffnung gezogen worden war. Es kostete sie ihre letzte Kraft, die schwere Abdeckung zu einer Seite zu wuchten. Schwindel überkam sie. Dann lag sie halb ohnmächtig in dem dunklen Hof, während der sternenübersäte Himmel sich über ihr drehte. Schließlich verging der Schwindel. Es gelang ihr, sich aufzusetzen und ihren Beutel zu lösen, damit sie den Leitstern an sich drücken und Kraft aus ihm ziehen konnte. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Zu viel, fürchtete sie. Durch die schweren, nassen Röcke behindert, lief sie los. Wo würden sie sein? Im großen Empfangsraum? In der großen Halle? Oder in der Kemenate? Vielleicht sogar in Donncans Schlafzimmer, wenn er krank oder verletzt war. Den Leitstern an ihr Herz gepresst, sandte Bronwen ihre Gedanken aus, wie sie es an der Theurgia gelernt hatte. Ihr war elend vor Angst, und sie wünschte sich seit der Ermordung ihres
Onkels nicht zum ersten Mal, dass sie an der Schule der Hexen nicht so viel Zeit mit Oberflächlichkeiten und Spaß vertan hätte. Ihr Herz tat einen Satz. Sie konnte Donncan spüren! Er lebte, er lächelte, sie konnte ihn reden hören. »Gwilym! Neil! Wie froh ich bin, Euch zu sehen! Kommt herein, kommt herein, erzählt mir alle Neuigkeiten. Möchtet Ihr etwas Wein?« Nein, Donncanlüronwen schrie mit all ihrer Geisteskraft. Trink den Wein nicht! Keuchend und schluchzend lief sie die Treppen hinauf auf die Kemenate zu. Rhyssmadill war ein großes Schloss, teilweise sieben Stockwerke hoch, mit vielen Türmen und Galerien. Es war 387 ein anstrengender Aufstieg von dem Schacht im Hof bis zur Kemenate des Righ am höchsten Punkt des Turmes. Sie kam unterwegs an einer Anzahl Dienstboten vorüber und drängte an ihnen vorbei, zu verzweifelt, um auch nur eine Erklärung zu versuchen. Sie erkannten sie selbst in ihrem tristen Dienstbotengewand und riefen: »Mylady! Euer Majestät! Was tut Ihr hier?« Die Wächter, die merkten, dass etwas nicht stimmte, eilten mit erhobenen Lanzen hinter ihr her. Als Bronwen das obere Stockwerk erreichte, rang sie nach Atem und beugte sich wegen Seitenstechens halb vornüber. Vor der Kemenate standen Wächter, die nun Habachtstellung annahmen und ihr die Tür öffneten. Bronwen stolperte hinein und versuchte, zu Atem zu kommen. Der Raum war rund und mit Polstersesseln, bestickten Vorhängen und vielen Gemälden in kunstvollen Goldrahmen üppig möbliert. Ein Feuer brannte in dem wuchtigen Kamin, und eine Gruppe Leute stand lachend und sich unterhaltend davor. Bronwen sah nur ihren Ehemann, der einen bestiefelten Fuß auf den Eisenrost gestellt hatte und einen Becher Wein in der Hand hielt. Neben ihm stand der Pastor wie ein Mann aus Knochen und Schatten. Der Feuerschein spiegelte sich flackernd in seinen verschleierten Augen wieder, und ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen, als Donncan seinen Becher anhob.
Bronwen konnte nicht sprechen. Ihr Atem fing sich schluchzend in ihrer Kehle, sie hob den Leitstern an und richtete ihn auf ihren Ehemann. Halt..., dachte sie. Donncan erstarrte mitten in der Bewegung, der Becher ruhte an seinem Mund. Bronwen trat vor, so langsam, dass es sich anfühlte, als wate sie bis zur Taille durch Schlamm. Um sich herum sah sie die Mienen derjenigen, die erstarrt am Platz gefangen waren. Sie sah Bestürzung, Schock Verärgerung, Misstrauen. Sie sah Donnerlilie, eine Hand in schmerzlicher Überraschung und Freude zu ihr ausgestreckt, und sagte: Gift... Sie sah Isabeaus 388 Gesicht sich wandeln, als sie den Geistgedanken auch hörte, und sah Dides Augen sich jäh weiten. Bronwen erreichte ihren Ehemann, der völlig erstarrt war. Nur die Augen waren vor Zorn und Schmerz lebendig. Er sah nur, wie sie wusste, seine frisch angetraute Frau mit dem Leitstern in der Hand auf sich zukommen, ihn und alle seine Freunde wie in einem Spinnennetz lähmend. Alle Arten schrecklicher Vermutungen zogen blitzartig durch seinen Geist. Sie konnte sie alle in seinen Augen sehen. Er wollte sich bewegen, sich zwingen, eine Hand gegen sie zu erheben, aber er konnte es nicht. Ihr Atem kam abgehackt und ungleichmäßig, ihre Brust hob und senkte sich schmerzlich. Schließlich nahm Bronwen den Becher von seinen Lippen, wandte sich um und bot ihn dem Pastor dar. Er stand ebenso still wie Donncan, nur seine Augen zuckten unter seinen verschleierten Lidern hin und her. Bronwen war noch zu kurzatmig, um sprechen zu können. Sie drängte ihm den Becher auf, und er schüttelte langsam den Kopf, während er versuchte zu lächeln. »Was ist das?«, fragte er, sich die trockenen Lippen leckend. »Eine Art Spiel?« Bronwen brachte ein schnaubendes Lachen hervor. »Kein Spiel«, antwortete sie. Allmählich konnten sich alle wieder bewegen. Die Augenlider der anderen flatterten, und ihre Hände streckten sich ihr entgegen. Bronwen wandte sich Neil zu. »Was ist mit dir?«, fragte sie mit pfeifendem Atem. »Wirst du es trinken?«
Neil wirkte entgeistert. »Bronny ... Euer Majestät... was ist das?« »Wirst du es trinken?« Sie hielt ihm den Becher an den Mund. Er stieß ihn heftig fort. »Was ist hier los? Was tust du hier? Du warst krank...« Sie nickte. »Ja, das war ich. Sehr, sehr krank.« 389 »Bronny, was meinst du? Was ist los?« Er wandte sich entschuldigend an Donncan. »Ich weiß nicht, was sie meint. Sie war krank Wir haben dir gerade erzählt, dass das der Grund war, warum sie nicht kommen konnte ...« Donncan konnte sich weder bewegen noch sprechen. Er war noch immer am Fleck erstarrt. Bronwen spürte seinen brennenden Blick auf sich, der voller unausgesprochener Vermutungen war. Der Leitstern fühlte sich in ihrer Hand sehr schwer an. »Aber ich bin gekommen«, sagte Bronwen. »Dir zum Trotz.« Sie fühlte sich sehr seltsam und wieder schwindelig. Die Welt vor ihr schwankte. Sie zwang sich, aufrecht zu stehen und den Becher mit Wein ruhig zu halten, während sie ihren Ehemann flehend ansah. »Er ist vergiftet«, sagte sie. »Sie haben mich auch vergiftet. Darum war ich krank. Wir alle im Palast, krank.« Der Pastor sagte: »Ich denke, die Krankheit hat ihren Geist verwirrt. Sie fantasiert. Seht sie euch an! Sie ist durchnässt. Sie war im Fluss. Welcher Wahnsinn, nachts im Fluss zu schwimmen, wenn es ihr eindeutig schlecht geht.« Er trat, während er sprach, einen Schritt vor und gab dann vor zu stolpern. Sein Arm schlug Bronwen den Becher aus der Hand. Sie sah ihn mit äußerster Bestürzung durch die Luft segeln und schon beinahe zu Boden fallen, wobei der karmesinrote Wein nach allen Seiten verspritzt würde. Halt... rief Bronwen lautlos und spürte, wie der Leitstern als Reaktion aufloderte. Das Karussell der Zeit drehte sich erneut langsamer. Der Becher schwebte mitten in der Luft, der Wein gefror in dunklen Schnörkeln, und auch alle Gesichter im Kreis des Feuerscheins erstarrten mitten im Aufschrei. Bronwen atmete tief ein, trat mit dem Leitstern in ihrer Ellenbogenbeuge zum Tisch, nahm einen weiteren Becher hoch und
hielt ihn mit beiden Händen fest, um damit den Wein aufzufangen, wenn er langsam wieder zu fallen begänne. Er ergoss sich 390 in den Becher, und erst dann fiel Donncans Becher klappernd zu Boden und rollte unter einen Sessel. »Wenn der Wein nicht vergiftet ist, werdet Ihr nichts dagegen haben, ihn zu trinken«, sagte sie zum Pastor und bot ihn ihm erneut herausfordernd an. »Trinkt ihn«, sagte Isabeau mit leiser, drohender Stimme. »Bronny hat Recht. Wenn er nicht vergiftet ist, sollte Ihr nichts dagegen haben, ihn zu trinken.« Die Augen des Pastors zuckten hierhin und dorthin. Plötzlich glitzerte ein Dolch in Dides Hand. »Er will ihn vermutlich nicht trinken«, sagte er. »Soll ich ihn dazu zwingen?« »Kommt schon, Pastor Francis, trinkt ihn«, sagte Bronwen. »Oder gesteht den Verrat und die Verschwörung zum Mord und seht dem Galgen entgegen.« Die Wächter standen alle mit gezogenen, unmittelbar auf den Pastor gerichteten Waffen da. Neil wirkte bleich und elend, aber er schwieg. »Aufgrund welchen Beweises?«, fragte der Pastor mit zitternder Stimme. »Ich kann den Inhalt dieses Bechers untersuchen lassen«, sagte Bronwen mit jetzt kräftigerer Stimme. »Und wenn wir uns den Ring ansehen, den Ihr tragt, so bin ich mir sicher, dass wir auch darin Spuren des Gifts finden werden. Und wir werden die Räume der Heilerin Mirabelle sowie auch Lady Elfridas Räume durchsuchen.« Neil stürzte einen Schritt vorwärts, und die Wächter legten sofort ihre Speerspitzen an seine Kehle an. Der Pastor warf einen raschen Blick durch den Raum und riss Bronwen dann jäh den Becher aus der Hand. Sie schrie vor Überraschung laut auf und zuckte zurück aber er warf ihn nicht auf sie und auch nicht ins Feuer, wie sie erwartet hatte. Er lachte, prostete ihr zu und zischte: »Verdammter Mischling, mögest du in der Hölle brennen!« Dann trank er den vergifteten Wein.
391 Es war kein angenehmer Tod, und er schien sehr lange zu dauern. Obwohl Isabeau und Ghislaine ihm die Qual zu erleichtern versuchten, konnte man dem Pastor nicht helfen. Schließlich endete das Umsich-Schlagen und Schreien, und Ghislaine konnte einen kleinen Teppich über sein leicht violettes Antlitz ziehen und somit die schrecklich angeschwollenen Augen und die Zunge sowie die mit Schaum befleckte Haut verbergen. Bronwen weinte unwillkürlich. Donnerlilie weinte mit ihr, und die beiden Mädchen hielten sich fest und schluchzten in den Armen der anderen. Als letztendlich alles vorüber war und schockiertes und entsetztes Murmeln den Raum erfüllte, löste sich Bronwen sanft aus Donnerliliens Armen und trat zu Donncan. Obwohl er nicht mehr unter ihrem Bann lag, stand er ebenso still und schweigend da wie zuvor und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Sie bot ihm den Leitstern dar. »Ich konnte ihn nicht einfach auf dem Boden liegen lassen«, sagte sie. Noch immer verärgert und misstrauisch nahm er ihn von ihr entgegen. Tränen brannten in ihren Augen. »Oh Donncan, ich bin so froh, dass du zu Hause bist!«, rief sie und warf ihm die Arme um den Hals. Einen kurzen Augenblick reagierte er nicht, aber dann nahm er sie plötzlich in die Arme und presste allen Atem aus ihr heraus. Sie hob das Gesicht an, er senkte seines, und sie küssten sich, fest, leidenschaftlich und atemlos. »Oh Bronny!«, murmelte er in ihr Haar. »Eà sei Dank! Ich habe dich vermisst!« »Und ich dich«, schluchzte sie. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr.« »Ich bin so froh, dass du hier bist.« »Ich bin so froh, dass ich rechtzeitig gekommen bin. Ich hatte solche Angst...« 391 »Gerade noch rechtzeitig.«
»Ich wollte den Leitstern niemals gegen dich erheben.« »Ich weiß, ich weiß.« »Ich wollte ihn dir nicht stehlen. Aber er rief mich, Donn, er rief, und ich musste antworten.« Er schwieg. Sie spürte, wie er über ihren Kopf hinwegblickte, zu dem Leitstern, den er noch immer in der Hand hielt und an ihren Rücken presste. »Können wir ihn uns nicht teilen?«, flüsterte sie. »Wir haben ihn zusammen erhoben, als wir Kinder waren, und sieh, was wir geschafft haben! Können wir ihn und das Land nicht gemeinsam erhalten? Als Freunde und Verbündete zusammenarbeiten?« »Natürlich können wir das«, erwiderte Donncan und beugte den Kopf, um sie erneut zu küssen. »Und auch als Geliebte, hoffe ich«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie lächelte ihr träges, verführerisches Lächeln. Es war sehr spät. Isabeau und Dide lagen zusammen in ihrem Bett, und der Feuerschein warf sanfte, sich ständig verändernde Schatten über den Raum. Sie lagen dicht beieinander, waren aber nicht zusammen, und obwohl sie beide unter der Wärme der Bettdecke nackt waren, blickten sie doch beide seltsam befangen. Isabeaus Haar, das frisch gewaschen und geflochten war, lag ordentlich auf dem Kissen. Dides Augen waren weit geöffnet und beobachteten die ihre Gestalt verändernden Schatten. »Dide?« »Ja?« »Dide, Dide ... stört es dich? Macht es dir etwas aus? Du musst... du musst mich hassen!« »Ich hasse dich nicht.« Seine Worte befriedigten sie nicht. »Aber macht es dir etwas aus? Empfindest du... empfindest du nun anders, weil ich so etwas tun konnte?« 392 Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht und schwieg. »Dide?« »Ich empfinde anders«, sagte er schließlich. Sie spannte sich an. »Hat es die Dinge verändert?«, fragte sie mit kleiner Stimme. »Empfindest du mir gegenüber anders?«
Er sah sie an. »Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich. »Ich meine ... ich ringe immer noch darum, das alles zu verstehen. Was geschehen ist, wie ich mich gefühlt habe. Ich hatte Angst, Beau, schreckliche, schreckliche Angst.« »Das ist natürlich ...«, begann sie, aber er führ eilig fort. »Nein, ich meine, ich hatte Angst, dass all ihr Hexen euch irrtet und der Tod definitiv das Ende von allem wäre. Ich hatte Angst, dass ich sterben und entdecken würde, dass es doch keine Seele gibt und wir einfach von Fleisch umhüllte Maschinen wären, die ablaufen und wie eine nicht aufgezogene Uhr stehenbleiben, und dann ist unsere Geschichte vorbei. Es war nicht der Tod selbst, den ich fürchtete, sondern das, was ich danach entdecken würde.« Isabeau schwieg. »Aber ich träumte, während ich tot war«, sagte er leise. »Ist es möglich? Konnte ich wirklich träumen? War ich tot oder schlief ich nur? Wenn dies nicht wäre ...«,- er hob seine Hand und zog die Narbe an seiner Kehle nach - »würde ich das alles für einen Traum halten, einen Spaß, einen Streich.« »Erinnerst du dich an irgendetwas? Warst du dir deiner selbst bewusst?« Er lachte verbittert. »Immer die Hexe, die alles wissen will.« »Nun, warst du es?« »Nur bruchstückhaft«, flüsterte er. »Aber ich habe unwillkürlich das Gefühl, dass ich mich erinnern sollte. Was sie mir gesagt haben, es war schrecklich, schrecklich w i c h t ig a b e r ich kann mich nicht erinnern.« »Wer waren die, die gesprochen haben?« 393 Er streckte eine Hand aus und zog die Linie ihrer Wange nach. »Du willst mich verspotten.« »Ich? Die Bewahrerin des Schlüssels des Hexensabbats? Dide, ich hungere nach irgendetwas, was du mir erzählen kannst. Bitte.« Er zuckte die Achseln. »Ich kann mich nicht erinnern. Sie schienen wie Lichtwesen zu sein aber ihre Gesichter waren
umschattet. Ihre Stimmen waren laut und schrecklich. Ich konnte sie nicht ansehen. Sie sagten ...« »Was?« »Vielleicht haben sie es mir nicht gesagt, vielleicht haben sie es mir gezeigt... aber Beau! Es war ein Beweis. Ich weiß, dass es ein Beweis war. Ich wünschte, ich könnte mich erinnern.« »Ein Beweis? Wofür?« Er vollführte mit einer Hand eine hilflose Geste. »Vielleicht für die Richtigkeit aller Dinge. Für Eà .« Tränen brannten in Isabeaus Augen. »Ich wünschte, ich könnte mich erinnern.« Sie berührte sein Herz und dann den Puls an seiner Kehle und dann die Stelle zwischen seinen Augenbrauen, wo, dem Glauben der Hexen nach, das dritte Auge verborgen war. »Du erinnerst dich«, sagte sie sanft. »Hier drinnen.« Er seufzte. Sie schmiegte sich enger an ihn. »Beau?« »Mmm?«, antwortete sie schläfrig. »Seit... es geschehen ist ... höre ich dauernd Dinge«, sagte Dide. »Was die Menschen denken, immer. Mein Kopf schmerzt, so sehr ist er von Lärm erfüllt, meine Ohren klingen davon. Ich kann es nicht aushalten, es ist unerträglich.« Isabeau hob den Kopf, damit sie ihn ansehen konnte. »Da ist noch mehr«, sagte er. »Ich ... ich weiß, wie man Dinge tut.« 394 »Was zum Beispiel?« Er deutete zum Feuer, und es erlosch jäh und tauchte sie in Dunkelheit. Wenige Sekunden später flammte es wieder auf, ein tosendes Inferno, das mit hungrigem Kiefer an dem Holz riss und aus dem Kamin zu springen drohte. Isabeau beruhigte es mit Gedankenkraft. »Ich habe schon immer einige Kunstgriffe der Hexen beherrscht«, sagte Dide, »aber nicht so.« Isabeau schwieg. »Bin ich Brann?«, flüsterte Dide. »Bin ich er geworden?«
Sie streckte eine Hand aus und strich ihm das Haar aus den Augen. »Nein«, sagte sie. »Du bist noch immer dein eigenes, liebenswertes Selbst. Ich würde jedoch sagen, dass diese ganze Erfahrung des Sterbens und Wiedergeborenwerdens einige ... Türen in dir geöffnet hat. Die Schleier beiseitegeschoben hat. Du hattest dieses Potenzial schon immer, Dide, du warst nur einfach nie bereit, dessen Realisierung in Angriff zu nehmen. Du kannst nicht erwarten, solch eine Erfahrung zu durchleben und unverändert zu bleiben.« »Was soll ich tun? Ich ... ich fürchte mich davor zu schlafen. Ich hab Angst, dass er dort auf mich wartet, in der Traumwelt, und mich in Besitz nehmen will.« Isabeau nickte. Sie konnte diese Angst verstehen. »Ich kann dein drittes Auge blockieren, zumindest für eine Weile«, sagte sie. »Das wird die Dinge erleichtern. Und Ghislaine kann mit dir traumwandeln, die Tür finden, die geöffnet wurde, und sie wieder schließen. Ich denke, du wirst jedoch zur Theurgia kommen müssen, Dide, und so viel wie möglich darüber lernen, diese neuen Kräfte zu kontrollieren und zu benutzen.« Er antwortete nicht. Dide hatte sich noch nie der Disziplin des Hexensabbats unterworfen. Er war stets ein freier Geist gewesen, ein umherziehender Jongleur, der im Dienste seines Righ auskundschaftete. Isabeau hatte all diese Jahre versucht, ihn in 395 den Hexensabbat zu bringen, und er hatte stets widerstanden. Sie wollte ihn jetzt nicht bedrängen, da sich ihre Liebe noch zu zerbrechlich anfühlte. »Wir können andere Dinge tun«, sagte sie ruhig. »Ich habe nachgedacht... das Erste, was wir tun sollten, ist, einen Kreis von Zauberern zu versammeln, zu Branns Grab zu gehen und ihn zu exorzieren. Er ist zu lange geblieben, es ist an der Zeit, dass er in die Geisterwelt weiterzieht und wiedergeboren wird, um seine Lektionen neu zu lernen. Dann müssen wir die Seite verstecken oder vernichten, auf der er den Zauber der Wiedererweckung aufgeschrieben hat. Ich habe
mir insgeheim große Sorgen darum gemacht. Das Buch der Schatten ist unser heiligster Text, das Zauberbuch des Hexensabbats. Aber dieser Zauber ist falsch und böse und besitzt das Potenzial, wieder Schaden anzurichten. Er darf nicht im Buch der Schatten lauern wie ... wie ...« »Ein Sandskorpion«, schlug Dide vor. Sie lächelte. »Ja, oder eine schwarze Spinne. Nein, er muss vernichtet werden.« Er nickte, wobei die Anspannung in seinem Gesicht ein klein wenig wich. »Dide, Leannan, das Beste, was du tun kannst... um dich sicher zu fühlen, meine ich... ist, dein Leben mit Liebe und Freude und guten Dingen zu erfüllen. Böse Geister können dich nur besitzen, wenn du in deinem Herzen Platz für sie hast.« Isabeau begann, während sie sprach, auf der glatten Haut seiner Brust kleine Kreise zu beschreiben, wobei ihre Hand langsam tiefer wanderte. Sie beugte den Kopf und küsste seine Schulter. Er regte sich und wandte sich ihr zu. »Liebste«, flüsterte er. »Ja«, erwiderte sie ebenfalls flüsternd. »Die Dunkelheit, die Angst, all die bösen Dinge mit den guten Dingen vertreiben, mit den Dingen, die wichtig sind.« 396 Als sich ihr Mund und ihre Hand tiefer bewegten, lächelte er und verschränkte seine Finger in ihrem Haar. »Das ist nun wirklich etwas sehr Gutes«, murmelte er und schloss die Augen. SICHERE PASSAGE Margrit lief in dem schäbigen, alten Raum auf und ab. Sie lächelte, ein Ausdruck, den Piers bereits zu fürchten gelernt hatte. »Diese rothaarige alte Hexe!«, lachte sie laut heraus. »Sie denkt, sie kann mich mit ihrem erbärmlichen kleinen Eissturm besiegen? Ha! Was tut Euer Laird? Ich dachte, er hätte ein Wettertalent? Sagt ihm, er soll die Hexe mit einem Lichtblitz niederstrecken!« »Ihre Hexen sind zu stark«, sagte Piers und bedauerte es sofort.
»Zu stark!«, kreischte sie. »Sie ist nicht einmal voll ausgebildet. Sie verfügt über keinen vollen Kreis der Macht! Die Hälfte von ihnen sind Lehrlinge.« »Das ist mehr, als wir haben«, sagte Piers. »Ihr solltet mit einem Kreis Totenbeschwörer kommen. Und was finde ich vor? Einen alten, wahnsinnigen Laird, eine Dorfweise, einige törichte Dienstboten und einen pathetischen, unfähigen Harfenisten, der nicht einmal den Liebesgesang richtig singen kann.« Ihre Stimme troff vor Verachtung. »Seit zwei Tagen verkriechen wir uns in dieser frostigen, zugigen alten Festung, und Ihr besitzt die Frechheit, hierherzukommen und mir zu sagen, wir hätten kein Schießpulver mehr!« Piers sagte ihr klugerweise nicht, dass sie auch kein Feuerholz mehr hatten. Margrit blieb an der Fensterlaibung stehen, und der Schneewind blies ihr das von Grau durchzogene dunkle Haar aus dem 397 Gesicht. Sie trug einen schweren, pelzgefütterten Mantel über einem üppigen Samtgewand, und doch zitterte sie und rieb ihre behandschuhten Hände aneinander. Es war bitterkalt. Das Feuer im Kamin schwelte nur und spuckte gelegentlich, wenn Schnee den Kamin herabfiel. Draußen war nichts anderes zu sehen als weißes Schneetreiben. Keines der Fenster der Festung war verglast, aber Piers hatte Jem und Ballard dabei geholfen, grobe Fensterläden daranzunageln, um die schlimmste Kälte abzuwehren. Es hatte wenig Zweck. Der Wind blies so heftig, dass er ihre Behelfsfensterläden aus den Nägeln riss oder sie so unaufhörlich klappern ließ, dass Margrit vor Ärger aus der Haut fuhr und drohte, Nägel in ihrer aller Köpfe zu hämmern, wenn sie den Lärm nicht augenblicklich beseitigten. »Ich habe dieses Rattenloch ohnehin nie gemocht«, sagte Margrit plötzlich. Sie wandte sich vom Fenster ab und trat an das schwelende Feuer, um sich die Hände zu wärmen. »Es war nie eine passende Residenz für mich, für Margrit von Arran. Ihr sagt, Burg Fettercairn sei sehr groß und prächtig?« »Ja, Mylady«, sagte Piers mit ungutem Gefühl.
»Und solide. Sie wurde niemals gestürmt, nicht wahr?« »Nur ein Mal, und das gelang nur durch Arglist und Betrug«, erwiderte Piers. »Ach ja, durch den MacCuinn, zu der Zeit, als er den Bruder Eures Laird tötete. Ich erinnere mich an die Geschichte. Nun, es klingt weitaus zuträglicher als dieses stinkende Loch. Wir werden dorthin ziehen.« »Wie?«, fragte Piers und sah in den heulenden Sturm hinaus. »Wir werden verhandeln«, sagte Margrit, süß lächelnd. »Entweder gewährt uns die alte Hexe ein Schiff und eine sichere Passage, oder sie muss zusehen, wie ihr kostbares Jüngelchen auf den Zinnen langsam ausgeweidet wird.« Piers atmete zitternd tief ein. »Das könnte funktionieren.« »Natürlich wird es funktionieren. Geht es bei diesem ganzen 398 törichten Kampf nicht darum, ihren hübschen Sohn zu befreien? Ich werde ihn zurückgeben, fast heil, wenn sie uns freien Abzug gewährt. Dann, wenn wir erst sicher auf Burg Fettercairn angekommen sind, können wir Pläne für die Zukunft schmieden.« »Mylaird will den MacCuinn-Jungen opfern, um seinen Bruder wiederzuerwecken«, erinnerte Piers sie. Sie schnaubte. »Laird Malvern hatte seine Rache, indem er der Schwester die Kehle durchgeschnitten hat. Sagt ihm, er soll nicht zu habgierig sein. Wir werden einen netten jungen Mann finden, der die Aufgabe erledigen kann, wenn wir wieder in Ravenshaw sind. Hat er über diesen Punkt hinausgedacht? Was hat er vor, wenn sein Bruder und sein Neffe erst wieder leben?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Piers. »Nun, ich könnte mir vorstellen, dass ich selbst einige hübsche Kunstgriffe anwenden könnte. Wie alt war der Junge?« »Sechs«, sagte Piers widerwillig. »Gewiss ein wenig jung, aber er wird wachsen. Und in diesem Alter sind sie formbar. Ich werde ihn lehren können. Ach ja, das ist der beste Plan. Nun schickt jemanden mit einer Nachricht in die Stadt hinunter. Sagt Iseult vom Schnee, dass ich ihren Sohn mit Freuden persönlich ausweiden werde, wenn sie mir nicht
wärmeres Wetter und das Versprechen einer sicheren Passage morgen in der Dämmerung gewährt.« »Ja, Mylady«, erwiderte Piers und verließ unter Verbeugungen dankbar den Raum. Unten in der Piratenstadt saßen Iseult und ihre Gefährten an einem großen Tisch vor einem tosenden Feuer, grobe Pläne der Stadt und der alten Festung vor sich ausgebreitet. Sie planten am Morgen einen Angriff auf die Festung. Es war der Abend des zweiten Tages nach Olwynnes Tod. Die Tage waren mit verbitterten, grausamen Kämpfen, Siegen und Sichern der Piratenstadt vergangen, und dann mit dem Versuch, 399 die Festung einzunehmen. Obwohl halb zerstört, war sie hoch auf ihrem Hügel mit nur einer hinaufführenden Straße praktisch unangreifbar. Es war einer ganzen Reihe Piraten gelungen, sich dorthin zurückzuziehen, bevor die Straße gesperrt wurde, und die alten, aber immer noch wirksamen Kanonen der Festung waren auf die Stadt gerichtet und hatten einen Großteil in Schutt und Asche gelegt. Für Iseults Streitkräfte war es schwierig zu kontern, da die Kanonen auf ihren Schiffen nicht schlagkräftig genug waren, um der Festung viel Schaden zuzufügen. Also hatten sie Magie benutzt und die alte Ruine mit faustgroßen Hagelkörnern bestürmt, mit mächtigen Windstößen daran gerüttelt, so dass ein Großteil des Daches abgetragen wurde, und sie mit unzähligen Blitzen angegriffen. Diese Arbeit war für die Hexen recht anstrengend, besonders da Margrit von Arran und auch Laird Malvern eigene mächtige Magie besaßen. Die Zauberin hatte von Trugbildern erfüllte Nebel gesandt, um sie zu verspotten, in Angst zu versetzen und ihre Entschlossenheit zu schwächen. Nebel, die voller Schlangen und Tentakel und schrecklicher Kriechtiere waren, voller Krieger, die gnadenlos auf sie zumarschierten. Nebel, aus denen die Stimmen der Toten und der Geliebten flehten, spotteten und verführten. Der Laird von Fettercairn hatte ihr eigenes Wetter zu ihnen zurückgelenkt, wann immer er konnte, und es war ihm gelungen,
eine gesamte Kompanie Soldaten zu töten, indem er ein Fass Schießpulver mit einem Blitz traf. Die Methoden des Laird waren grausam, und Margrits waren weitaus subtiler und noch grausamer, indem sie das Vertrauen und die Entschlossenheit unterminierte und so manchen harten Soldaten vor Sehnsucht nach einem verlorenen, geliebten Menschen weinen ließ. Iseult hatte nicht geweint. Der Kummer, den sie wegen ihres ermordeten Ehemannes und ihrer Tochter empfand, war tief und bitter, und sie war noch immer gramgebeugt wegen ihrer beiden 400 Söhne, aber sie war entschlossen, sich nicht wieder in der Düsterkeit der Verzweiflung zu verlieren. Iseults Mutter versank im Schlaf, wann immer das Leben für sie zu schwer zu ertragen war, und Iseult hatte sie für diese Schwäche stets verspottet und sie ihr verübelt. Sie war sich jedoch nur allzu bewusst, dass die Heftigkeit ihres Kummers die Dinge nach Lachlans Tod nur verschlimmert hatte. Hätte sie nicht Eis und Schnee heraufbeschworen, hätte sie nicht den Namen des Drachen gerufen, um Rhiannon hinterherzujagen, anstatt ihn um Hilfe bei der Suche nach ihren Kindern zu bitten, hätte sie nicht zwei lange Wochen lang in ihrem Zimmer geschmollt, anstatt ihre Kräfte dazu zu benutzen, Laird Malvern zu finden, dann würde vielleicht zumindest Olwynne noch leben. Daher hielt Iseult ihre Empfindungen fest unter Kontrolle und konzentrierte alle ihre Energien darauf, Owein zu retten und Laird Malvern und Margrit von Arran zu besiegen. »Ich will nicht die ganze Festung in die Luft sprengen!«, sagte sie jetzt verärgert. »Owein ist noch immer irgendwo dort drinnen eingesperrt. Ich denke, ein heimlicher Angriff, um ihn zu finden und zu befreien, ist eine weitaus bessere Idee, Kapitän Tobias! Dann können wir sie in die Luft jagen, so oft Ihr wollt!« »Mylady, wir wissen nicht, ob Euer Sohn noch lebt«, sagte der Kapitän. »Er lebt noch«, sagte Finn. »Ich kann ihn deutlich spüren. Er und Rhiannon befinden sich in einer dunklen Zelle irgendwo zur Rechten.«
»Rhiannon!«, rief Felice freudig. »Rhiannon ist hier?« Finn nickte und lächelte ihr zu. Die letzten beiden Tage hatte sie auf einem der vom Eis eingeschlossenen Schiffe verbracht und sich den Soldaten erst angeschlossen, nachdem die Stadt eingenommen war. Sie war blass, ihre Augen waren geschwollen, und sie hatte gegen die Kälte einen großen Umhang um sich geschlungen. Goblin, ihr Vertrauter, hatte sich so nahe am Feuer zusammengerollt wie möglich, ohne sich das Fell zu versengen. 401 »Ja, sie ist dort. Ich spüre sie deutlich. Sie wurde verletzt, aber nicht ernstlich.« »Finn, willst du einen verdeckten Feldzug leiten, um sie zu befreien?«, fragte Iseult. »Nur du kannst das tun. Du könntest die Klippe erklimmen, wie du es getan hast, als du Killian den Lauscher aus dem Schwarzen Turm befreit hast.« »Natürlich will ich das«, antwortete Finn. Jay hatte ruhig, aber mit gerunzelter Stirn zugehört. Nun beugte er sich vor und ergriff die Hand seiner Frau. »Nein, Finn. Es ist zu gefährlich. Das kannst du nicht tun.« »Unsinn!«, erwiderte Finn und schüttelte ihn verärgert ab. »Finn, ich meine es ernst.« »Heiliger Drachenarsch, Mann, wirst du wohl still sein!« »Nein, das werde ich nicht! Du bringst nicht nur dein Leben in Gefahr, sondern auch das unseres Babys. Das werde ich nicht zulassen.« »Wer bist du, dass du mir sagen willst, was ich tun soll?«, wollte Finn wissen, wenn auch ohne allzu großen Nachdruck. »Finn! Willst du mir erzählen, dass du schwanger bist?«, rief Iseult. »Ich will dir gar nichts erzählen. Jay hat die Katze aus dem Sack gelassen, nicht ich. Typisch Mann. Kann den Mund nicht halten.« Iseult war im Handumdrehen aufgesprungen und drückte zuerst Finn, dann Jay und lächelte zum ersten Mal seit Tagen. »Ein Baby! Welch wundervolle Neuigkeit. Ach, kein Wunder, dass dir so elend war.«
»Mr wird auf Schiffen immer elend«, sagte Finn, vor Verlegenheit errötend. »Jay sagt, ich sei wie eine Katze. Ich hasse es, auf dem Wasser zu sein. Es hat nichts mit dem Baby zu tun.« Auch alle anderen im Raum scharten sich nun um sie, gratulierten ihnen und neckten sie. »Kein Wunder, dass Finn so missmutig war«, sagte Dillon, 402 während er sie drückte und küsste. »Du wirst die Dinge jetzt langsamer angehen müssen, meine Wildkatze.« »Nein, das werde ich nicht«, erwiderte sie stirnrunzelnd. »Warum sollte ich? Es ist ein Baby, keine Krankheit.« »Warte nur, bis du neun Monate weiter bist, dann möchte ich sehen, wie du Wände erklimmst und auf einem Seil balancierst«, sagte Iseult. Plötzlich änderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Oh Eà ! Jay hat natürlich Recht. In deinem Zustand kannst du die Klippe nicht erklimmen.« »Was für ein Haufen Drachenmist. Natürlich kann ich das. Nun, mein Bauch ist noch nicht so dick. Er wird mir nicht im Wege sein.« »Aber was ist, wenn du ausgleitest und abstürzt? Das würde Jay mir nie verzeihen. Das würde Isabeau mir nie verzeihen. Weißt du, wie selten zwei Zauberern ein Baby geboren wird?« »Darum waren wir selbst eher überrascht, als wir es herausfanden«, sagte Jay trocken. »Wir hätten beide nie gedacht, dass das möglich wäre.« »Oh, es ist möglich. Nur nicht alltäglich«, sagte Iseult. »Warum habt ihr es mir nicht früher erzählt? Ich hätte dich Owein und Olwynne niemals verfolgen lassen, wenn ich es gewusst hätte.« »Darum haben wir es dir nicht erzählt«, erwiderte Finn. Iseult war besorgt. »Oh Finn, ihr hättet es tun sollen. Ich weiß, die Entdeckung, dass du schwanger bist, muss ein Schock für dich gewesen sein, aber du solltest dich und das Baby nicht in Gefahr bringen, jetzt, wo du es weißt.« »Ich erinnere mich, dass du mit Donncan schwanger warst, als wir auf Lucescere zumarschierten«, erklärte Finn stirnrunzelnd. »Wir mussten meilenweit laufen, Berge erklimmen und tosende
Flüsse überqueren, ganz zu schweigen davon, dass wir kämpfen mussten, als wir erst dort angekommen waren. Ich erinnere mich, wie sehr ich dich dafür bewundert habe.« »Aber ich war mit Zwillingen schwanger, weißt du nicht 403 mehr?«, erwiderte Iseult sanft. »Von denen ich eines verlor. Ich würde nicht wollen, dass du dein Baby verlierst, Finn. Das ist kein Kummer, den man leicht überwindet.« Ihre Stimme brach, sie wischte sich mit einer Hand über die Augen und wandte sich ab, die Schultern gegen den Schmerz gebeugt. Iseult hatte nun ihre beiden Töchter verloren, und sie glaubte, dass sie sich von diesem Kummer niemals erholen würde. Finns Augen weiteten sich. Obwohl sie nichts erwiderte, stritt sie nicht länger mit Iseult. Goblin erhob sich, streckte sich träge und sprang auf ihren Schoß, und Finn saß ruhig im Feuerschein und tätschelte mit nachdenklicher Miene ihren Vertrauten. »Dillon, Ihr werdet derjenige sein müssen, der die Gruppe die Klippe hinaufführt«, sagte Iseult, als sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle hatte. »Es wird im Schutz der Dunkelheit geschehen müssen. Glaubt Ihr, Ihr könnt das tun?« »Natürlich, Mylady«, erwiderte er stirnrunzelnd, wobei eine Hand das Heft seines Schwertes liebkoste. »Finn ist nicht die Einzige, die eine Klippe erklimmen kann.« »Ich werde mitkommen und dir den besten Einstieg zeigen«, sagte Finn zuckersüß, und er warf ihr einen halb verärgerten, halb belustigten Blick zu. »Finn, könntest du auf der Karte einzeichnen, wo sich Owein befindet?« »Mylady...«, sagte Felice zögernd. »Ja?« Iseult wandte sich mit hochgezogener Augenbraue um. »Der Laird von Fettercairn war ein Sucher der Liga gegen Hexen, erinnert Ihr Euch? Er kann Menschen ausfindig machen, genau wie ... Finn es kann.« Felice zögerte erneut ein wenig, bevor sie den Namen der Zauberin aussprach, wohl wissend, dass sie eine geborene Banprionnsa war. Da sie in der erlesenen Vornehmheit des Hofes des MacBrann aufgewachsen war, fiel es Felice
schwer, Finn nicht mit ihrem wahren Namen und Titel anzusprechen. Finn hasste es jedoch, »Mylady« oder »Euer Gnaden« 404 genannt zu werden, und hatte ihre diesbezüglichen Gefühle am ersten Tag ihrer gemeinsamen Seereise sehr deutlich gemacht. Felice fiel es jedoch immer noch schwer, sie bei ihrem Namen zu nennen, und sie vermied die Angelegenheit recht oft, indem sie sie überhaupt nicht ansprach. Iseult runzelte bei Felices Worten die Stirn und biss sich auf den Daumennagel. »Das stimmt. Ich hatte es vergessen. Rhiannon sagte, sie hätte das Gefühl gehabt, dass er mehrere Male gewusst hätte, dass sie kam, und ihr aufgelauert hätte. Sie werden irgendeine Art Angriff erwarten. Ich möchte Euch nicht in eine Falle schicken, Dillon.« »Wie umfassend ist sein Talent?«, fragte Finn. »Weiß er es immer mühelos, oder muss er seine Gedanken auf eine bestimmte Person konzentrieren?« »Er war anscheinend ein mächtiger Sucher«, sagte Felice . »Aber mehr weiß ich nicht.« »Lewen und ich haben ihn einmal belauscht, ohne dass er es merkte«, sagte Nina. »Das gelänge uns bei dir nicht, Finn.« »Nein«, antwortete sie. »Noch bei irgendeiner anderen wahren Hexe. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde Laird Malvern aus der Schule der Hexen hinausgeworfen, als er noch ein Lehrling war. Ich könnte mir vorstellen, dass er eine ungeformte Begabung besitzt, die nicht durch lange Ausbildung gemäßigt wurde. In welchem Falle er sich wahrscheinlich nur auf einen oder zwei Menschen auf einmal konzentrieren kann, und nur auf Menschen, die er kennt, oder wenn er etwas von ihnen in der Hand hält. Wir könnten ihn vielleicht überlisten ...« »Indem wir einen Lockvogel schicken«, sagte Hauptmann Dillon, während ein Funke in seine verhangenen Augen trat. »Ja. Am besten Nina. Er kennt sie, und er hat nach ihrer Konfrontation auf Burg Fettercairn Grund, ihre Macht zu fürchten.« »Während ich an einer anderen Stelle eine kleine, gut getarnte Gruppe die Klippe hinaufführen könnte.«
405 »Es ist einen Versuch wert«, sagte Iseult. »Gut. Denken wir über den besten Zeitpunkt nach. Gemeinsam oder zu verschiedenen Zeiten? Wie wäre es am besten?« In dem Moment erklang ein lautes Krächzen und dann ein Ruf vom Wachposten. Dillon erhob sich und trat zur Tür, öffnete sie einen Spalt und schirmte seinen Körper hinter der Wand ab. »Wer ist da?«, rief er. »Ein Rabe hat eine Art Nachricht gebracht«, erwiderte der Wachposten mit leiser Stimme. Eine Pause entstand, und dann wurde Dillon eine schmale Papierrolle hereingereicht, die vom Schnee ein wenig feucht war. Sie konnten den spöttischen Schrei des Raben hören, als er zur Festung zurückflog. Dillon las die Nachricht, runzelte die Stirn und reichte sie dann an Iseult weiter. Sie las sie ebenfalls rasch und setzte sich dann mit bleichem Gesicht hin, während sie die Nachricht an ihr Herz drückte. »Was steht darin?«, fragte Nina ängstlich. »Sie wollen eine sichere Passage«, sagte Dillon. »Ein weiterer Versuch, die Festung einzunehmen, und sie werden den Prionnsa töten. Langsam und mit großem Genuss, heißt es. Sie wollen ein Schiff, bewaffnet und mit Proviant versehen, und gutes Wetter. Wenn wir ihnen all das gewähren, werden sie uns Prionnsa Owein lebend zurückgeben. Wenn nicht, bekommen wir ihn stückweise zurück heißt es.« Alle in dem vollen Raum schrien auf. Sie begannen, über die Nachricht und ihre Auswirkungen zu diskutieren sowie über die weitere Vorgehensweise. Einige waren der Meinung, sie sollten das Fort sofort stürmen und ihnen Owein entreißen. Andere mahnten zur Vorsicht. Einige dachten pessimistischer, sie würden den Prionnsa stückweise zurückbekommen, gleichgültig welche Versprechen sie gäben. Das Stimmengewirr war ohrenbetäubend. Nur Iseult sprach nicht. 405
Nina trat zu ihr, kniete sich neben ihren Sessel und legte die Arme um sie. »Was sollen wir tun?«, fragte sie sanft. Iseult sah zu ihr hoch. »Was auch immer sie wollen natürlich«, sagte sie. »Ich werde nichts unternehmen, was Oweins Leben in Gefahr bringt! Ich habe bereits mein geliebtes Mädchen verloren - glaubst du, ich will auch noch Owein verlieren? Nein, nein, Margrit wird ihr Schiff bekommen, und wenn ich ihr eigenhändig an Bord helfen muss. Wenn wir Owein erst sicher zurückhaben, dann werden wir darüber nachdenken, wie wir mit Laird Malvern und der Distel umgehen werden.« Sie blickte lächelnd auf die Nachricht in ihrer Hand hinab. »Langsam und mit großem Genuss«, zitierte sie leise. »Du willst Rache?«, fragte Nina stirnrunzelnd. »Er hat über zwanzig Jahre auf seine Rache gewartet und sagte, dies sei ein Gericht, das am besten kalt gegessen würde. Nun, es ist ein Gericht, das ich heiß zu essen gedenke!« GANZ ODER GAR NICHT Owein und Rhiannon verbrachten eine weitere elende Nacht aneinandergedrängt in ihrer eiskalten Zelle. Obwohl sie Rhiannons Umhang und eine Decke um sich geschlungen hatten und Oweins große Schwingen über sie gelegt waren, konnten sie die Kälte nicht fernhalten. Das Wasser in ihrem Krug gefror, und Eiszapfen hingen von den Balken. Als die frühe Morgensonne durch die Eiszapfen drang, wurden sie zu blendend hellen Dolchen. »Dies ist vermutlich eine Art, dich besser kennenzulernen«, sagte Owein mit ironischem Lächeln. »Da du doch in meinen besten Freund verliebt bist.« »Und er in mich«, erwiderte Rhiannon heftig. 406 »Ja, und er in dich«, erwiderte Owein beschwichtigend, rieb seine Hände aneinander und blies darauf. »Nun, und seid Ihr nicht auch in meine beste Freundin verliebt?«, fragte Rhiannon. Owein sah sie überrascht an.
»Felice «, sagte Rhiannon. »Sie ist deine beste Freundin?« »Die beste und treueste Freundin, die ein Mädchen haben kann«, erwiderte Rhiannon in Erinnerung daran, dass Felice sie immer noch im-Gefängnis besucht hatte, als niemand anders es mehr tun wollte, sowie daran, dass sie bei Rhiannons Hinrichtung dagewesen war und mit sehr lauter Stimme »Verschont sie!« gerufen hatte. Eine lange Pause entstand, und dann sagte Owein leise, ohne Rhiannon anzusehen: »Sie ist ein Schatz, nicht wahr?« Rhiannon nickte und wackelte in ihren Handschuhen mit den Fingern und in ihren Stiefeln mit den Zehen und wünschte, sie könnte Feuer heraufbeschwören, wie Felice es konnte. Owein hatte es versucht und hatte mehrere Stunden eine kleine Flamme unterhalten, aber nachdem alles Stroh verbraucht und nichts zum Verbrennen übrig geblieben war, hatte er sie erlöschen lassen müssen. Ein Feuer ohne Brennstoff zu unterhalten, kostete ungeheure Kraft, erklärte er niedergeschlagen, und Owein hatte noch nie starke Hexenkräfte besessen. »Liebt Ihr sie also oder nicht?«, fragte Rhiannon, als Owein schwieg. »Warum? Glaubst du, sie liebt mich?«, fragte er. »Ich hab zuerst gefragt.« Owein brummte belustigt. »Ich weiß es nicht«, sagte er kurz darauf. »Vielleicht.« »Entweder liebt Ihr sie oder nicht«, sagte Rhiannon scharf. »Man kann nicht vielleicht lieben. Es gibt dabei nur alles oder nichts. Ganz-oder-gar-nicht-Liebe.« 407 Owein nickte. »Du hast Recht«, sagte er sehr leise, ohne über Rhiannons Unbeholfenheit mit den Worten zu lachen. »Ich bin vermutlich einfach...« »Furchtsam?« Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich.« »Und Felice ist solch ein kleines Wesen, und Ihr seid so groß und stark«, neckte sie. »Sie ist sehr furchteinflößend, ich weiß!«
Er runzelte die Stirn und lachte dann. »Oh, nun, die Liebe ist furchteinflößend«, sagte er. »Sie ist eines dieser großen, furchteinflößenden Dinge, nicht wahr?« »Wie der Tod«, sagte Rhiannon. Owein war sofort ernüchtert. »Ja, wie der Tod«, echote er. Ein kurzes Schweigen entstand. »Du bist nicht sehr taktvoll, oder?«, platzte er heraus. »Was ist taktvoll?« Er schnaubte erneut belustigt. »Es ist vermutlich schwer, taktvoll zu sein, wenn man nicht einmal weiß, was das ist.« »Was ist es also?« »Dinge nicht zu sagen, die andere Menschen beunruhigen könnten«, erklärte er. »Oh«, sagte Rhiannon. »Ja, >oh<«, ahmte er sie nach. Sie zuckte die Achseln. »Nun, woher soll ich das wissen? Es ergibt keinen Sinn, da die Menschen über so vieles beunruhigt sind.« »Nun, meinst du nicht, ich könnte beunruhigt darüber sein, an den Tod und das Sterben erinnert zu werden?«, fragte er. »Ich könnte immerhin sehr wohl morgen sterben.« »Das könnten wir alle«, erwiderte Rhiannon. »Stimmt. Aber ich bin es, dessen Schwester erst vor ein paar Tagen von diesen Wahnsinnigen ermordet wurde, und mich wollen sie morgen auf den Festungsmauern ausweiden!« Rhiannon zuckte zusammen und legte die Hände auf ihre 408 Ohren. »Ihr braucht nicht zu schreien. Ich bin direkt neben Euch«, sagte sie. »Und ich weiß, wie Ihr Euch wegen morgen fühlen müsst. Die Schlinge des Henkers lag schon um meinen Hals, erinnert Ihr Euch? Ich weiß, wie es ist, den dunklen Wanderern direkt ins Gesicht zu sehen. Aber ich verstehe nicht, warum es besser sein sollte, nicht darüber zu reden. Wir könnten beide morgen sterben, wenn wir nicht vorher erfrieren! Ist es nicht besser, wenn wir darüber nachdenken und darüber reden und alles sagen, was eigentlich schon früher gesagt hätte werden sollen?«
Ein langes Schweigen entstand. Owein atmete mühsam. Dann nickte er einmal knapp. »Du hast Recht«, sagte er. »Weise und tapfer, so muss man.es angehen.« »Ja«, sagte sie ein wenig unsicher. Er lächelte ihr flüchtig zu. »Das ist unser Familienmotto. Sapienter etAudacter. Ich sagte es zu Olwynne, bevor ... bevor ...« »Ich wünschte, ich hätte ein Familienmotto«, erwiderte Rhiannon recht wehmütig. »Ich werde vermutlich niemals herausfinden, wer mein Vater war oder wo ich wirklich hingehöre.« »Es würde mich nicht überraschen, wenn du irgendwie mit dem Clan der MacAhern verwandt wärest«, sagte Owein. »Sie sind die Thigearns, weißt du, diejenigen, die als Erste ein fliegendes Pferd zähmten. Es ist ein wirklich seltenes Talent, die Fähigkeit, Pferde zu bezaubern, besonders solche mit Schwingen. Ihr Motto ist Nunquam obliviscar, was >Ich werde niemals vergessen< bedeutet.« »Ich werde niemals vergessen«, wiederholte Rhiannon und lächelte. »Das ist ein gutes Motto.« Owein nickte. »Ja. Ich werde Olwynne niemals vergessen. Und ich werde niemals vergessen, wie du kamst und versucht hast, uns zu retten. Ich hatte noch keine richtige Gelegenheit, dir zu danken, aber das würde ich gerne. Du warst sehr tapfer.« »Aber ich hab versagt«, sagte Rhiannon. »Ich wünschte, das wäre nicht geschehen.« 409 »Ich auch«, erwiderte Owein, und sie verfielen erneut in Schweigen. »Wenn ... wenn morgen früh alles schrecklich schiefläuft und sie ... du weißt schon ...« »Ja?« Rhiannon wandte sich um, damit sie sein Gesicht sehen konnte. »Wirst du Felice erzählen ... wirst du ihr sagen, dass ich ...« »Dass Ihr was?« »Wirst du ihr sagen, dass ich sie liebe?«, fragte Owein, heftig errötend.
Rhiannon nickte. »Natürlich.« Sie lächelte flüchtig. »Ich werde es niemals vergessen.« Es entstand erneut ein langes, brütendes Schweigen. Rhiannon berührte Owein mit ihrem Ellenbogen. »Er wird kommen, wisst Ihr. Er wird rechtzeitig hier sein, und er wird nicht versagen.« »Wer? Lewen?« Rhiannon nickte erneut. »Ich wünschte, ich hätte dein Vertrauen.« »Er wird hier sein, und wir sollten uns besser für ihn bereitmachen«, sagte sie. »Denn er wird unsere Hilfe brauchen.« »Richtig«, sagte Owein. »Das springt ins Auge.« Rhiannon sah ihn äußerst schockiert und verwirrt an und fing dann plötzlich an zu lachen. Sie lachte so sehr, dass sie fast erstickte. Nach ein oder zwei Sekunden fiel auch Owein ein. »Das springt ins Auge«, rief Rhiannon. »Ins Auge springen! Welch eine törichte Sprache ihr alle sprecht. Ins Auge springen!« Sie lachten und lachten und lachten, und als sie schließlich nicht mehr lachen konnten, saßen sie lächelnd im Halbdunkel der Dämmerung. Lachen, so erkannte Rhiannon, trieb die dunklen Wanderer in ihre Spalten und Löcher zurück, wie nichts sonst es jemals vermochte. Ich werde niemals vergessen, dachte sie bei sich. 410 Das Sonnenlicht war weitergewandert und wärmte nun ihre Zehen, als der Elfenblauvogel durch die Gitterstäbe hereinschoss und tschilpte: Gefahr! Gefahr! Dann wurde die Tür der Zelle krachend geöffnet. Jem stand stirnrunzelnd dort, und sein unrasiertes Gesicht wirkte abstoßender denn je. »Mal sehen, wie sehr deine Mama dich liebt!«, höhnte er. Owein und Rhiannon standen bereits und gingen auf die Geste von Jems Dolch hin Schulter an Schulter zusammen hinaus, während sie sich beide fragten, ob sie es wagen würden, Jem den Dolch zu entwinden. Ballard wartete jedoch draußen mit vier großen, bärtigen Piraten. Einer hatte einen blauen Anker auf einen Unterarm sowie
die Worte »Hass« und »Töten« auf die Knöchel tätowiert. Ein weiterer hatte ein Auge verloren, weshalb die Augenhöhle laienhaft zugenäht war, und dem dritten mit kupferrotem Haar fehlte ein halbes Ohr. Der letzte war der größte und überragte die anderen. Er trug goldene Ringe in seinen Ohren, und eine zahme Ratte kauerte auf seiner Schulter. »Is das der Prionnsa?«, fragte Kupferrot. »Sieht nich' sehr danach aus.« »Solltest besser nich versuchen davonzufliegen, Vögelchen, sonst schneiden wir dir deine hübschen Schwingen ab«, sagte Einauge. Er hatte fast keine Zähne mehr, und die wenigen, die er noch hatte, waren schwarz und standen schief. »Deine Mama hat uns ein Schiff versprochen«, sagte Anker. »Sie denkt, sie kann deine Haut retten, aber wir wissen es besser, oder, Jungs?« Er lachte brüllend, und Rhiannon und Owein zuckten ebenso sehr vor seinem üblen Atem wie vor seinen Worten zurück. »Zumindest hat es aufgehört zu schneien«, sagte Ratte erwartungsvoll. »Das ist gut, oder?« Gegen die Sonne anblinzelnd, gingen Owein und Rhiannon 411 über den schneeverwehten Hof und durch ein Labyrinth verfallener Gänge und Treppen, bis sie auf die Festungsmauer des Torhauses gestoßen wurden. Auf seinen Stock gelehnt, erwartete sie Laird Malvern mit dem Raben auf seiner Schulter. Margrit, die einen schweren, pelzgesäumten Samtmantel trug, schritt auf und ab, während Dedrie in der Nähe stand und ihren Korb umklammerte. Irving und Piers warteten neben einem großen Berg Reisegepäck. Die sechs kleinen Eilande der Pirateninseln lagen im Bogen vor ihnen. Sie bildeten einen unregelmäßigen Kreis um die Lagune, die im Sonnenschein blau glitzerte. Das Wasser war so klar, dass sie mühelos die schwarzen Rümpfe der zerstörten Piratenflotte auf dem Meeresboden sahen. Knapp über ein Dutzend Schiffe liefen noch, die alle die grün-goldene Flagge des Clans der MacCuinn trugen. Eines war an den Überresten des Landungs-
stegs vertäut worden, und Soldaten schleppten geschäftig Kisten und Fässer an Bord. Alle MacCuinn-Flaggen wurden nun darauf entfernt und eilig von roten Piratenflaggen ersetzt. Margrit runzelte die Stirn. »Habe ich euch nicht gesagt, dass diese dumme Hexe alles tun würde, was wir ihr befehlen? Schaut, Sonnenschein! Aller Schnee schmilzt! Der Sturm ist vergangen. Wir werden es kaum fassen können, wie schnell wir auf dem Weg nach Fettercairn sind.« »Sobald sie ihren Sohn zurückhat, wird sie unser Schiff angreifen und uns versenken«, sagte Laird Malvern verdrießlich. Margrit lachte. »Ihr glaubt doch nicht, dass ich wirklich so dumm wäre, ihn einfach auszuhändigen, oder? Nein, nein, der MacCuinn-Junge kommt mit uns, und meine kleine, schwarzhaarige Hexe ebenfalls.« Sie lächelte Rhiannon strahlend an. »Wie schön, Euch endlich zu begegnen, sozusagen leibhaftig.« Rhiannon spürte, wie sie trotz des warmen Sonnenscheins beim Klang dieser Stimme von Eiseskälte überwältigt wurde. Sie hatte eine tiefe, instinktive Angst vor Margrit empfunden, als sie 412 vor so vielen Monaten ihren Geist sich in den Kreis der Totenbeschwörer am Turm der Raben hatte hineindrängen sehen. Margrit hatte seitdem ihren Schlaf heimgesucht, sie verspottet und bedroht. Rhiannon wäre das perfekte Opfer, hatte sie gesagt, da sie Margrit als junger Frau so ähnlich sah - wunderschön, dunkelhaarig, mit starken magischen Kräften und einem unnachgiebigen Herzen. Rhiannon hatte dies strikt von sich gewiesen. Ich bin Euch überhaupt nicht ähnlich!, hatte sie immer wieder in die Dunkelheit geschrien, aber Margrits Geist hatte nur gelacht. Nun, als sie sah, wie Rhiannon zitterte und blass wurde, lachte sie erneut. Sie mag es, wenn die Menschen sie fürchten, dachte Rhiannon. »Aber wie sollen wir das schaffen?«, fragte Laird Malvern. »Sie erwarten, dass wir ihn aushändigen.« »Er wird unser Schild sein«, sagte Margrit und winkte ihn zu sich. Owein regte sich nicht, und einer der Piraten stieß ihn rau
vorwärts. Margrit ergriff seinen Arm, hob ihren Dolch an und drückte ihn gegen seine Kehle. »Mmm, sehr hübsch«, sagte sie und führte ihre Hand über seine Armmuskeln. »Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass du in unserem Verlies warst. Welch ein hübscher junger Mann du bist. Und mit dem roten Haar deiner Mutter. Ich hatte schon immer eine Schwäche für rote Haare. Es heißt, es sei ein Zeichen einer leidenschaftlichen Natur. Bist du leidenschaftlich, mein feiner junger Hahn?« Owein biss die Zähne zusammen und schwieg. Sie streichelte seine Wange und ließ die Hand dann seine Brust hinabgleiten, bis sie unmittelbar über seiner Gürtelschnalle verharrte. Als Owein feuerrot wurde, seufzte sie und sagte bedauernd: »Sie beobachten uns zweifellos durch ein Fernglas. Wir wollen doch nicht den Zorn deiner Mama erwecken, oder, indem wir ihren lieben Jungen vor ihren Augen verführen. Dafür ist noch viel Zeit, wenn wir erst an Bord unseres Schiffes sind. Komm, mein Hüb 413 scher, du gehst vor. So werden sie durch dich hindurchschießen müssen, um mich zu erwischen, und irgendwie glaube ich nicht, dass Iseult das gefallen würde.« Sie stiegen die Treppe ins Torhaus hinunter. Zwei der Piraten zogen an den Seilen, die das Fallgitter hochzogen, und dann wurde das Tor vorsichtig geöffnet. Der Hof dahinter war leer. Der auf einer Seite von hohen Festungsmauern und auf der anderen von einem Abgrund begrenzte Hof war nur von der Straße aus zugänglich, die steil abfiel. Ballard ging voraus, um nachzusehen, ob alles in Ordnung wäre. Auf sein Zeichen hin betraten sie alle die weite, offene Fläche vor dem Torhaus, wobei sie sich misstrauisch umsahen. Es war kein Zeichen eines Hinterhalts erkennbar. Rhiannon blickte über den Rand der Mauer auf die Piratenstadt hinab. Das Schiff mit der Piratenflagge lag ein gutes Stück von all den anderen Schiffen entfernt, und das königliche Heer war am entgegengesetzten Ende des Kais versammelt. Rhiannon konnte
die Banrigh-Witwe sehen, deren rotes Haar im Sonnenschein aufleuchtete, Nina und Iven Gelbbart sowie im Hintergrund den kleinen Roden, der ausnahmsweise still und ruhig dastand und Lulus Hand hielt. Sie konnte Hauptmann Dillon mit angespanntem Körper bei der Banrigh-Witwe stehen sehen, ebenso wie Finn die Katze, die trotz der Wärme in einen großen Umhang gehüllt war, sowie Jay den Fiedler. Dann sah Rhiannon zu ihrer Freude und Überraschung die dünne, gebeugte Gestalt Landons neben zwei großen, braunhaarigen Jungen in königlicher Livree stehen, die nur Cameron und Rafferty sein konnten. Bei ihnen stand noch ein Junge. Rhiannon sah hin und runzelte die Stirn, sah genauer hin und grinste plötzlich. Felice ! In Jungenkleidung und mit abgeschnittenem Haar. Sie hätte sich denken können, dass Felice sich weigern würde, ruhig zu Hause zu bleiben und abzuwarten. Jem drängte sie vorwärts, und Rhiannon folgte der Aufforde 414 rang widerwillig. Der Anblick ihrer Freunde hatte ihr neue Hoffnung gegeben. Sie atmete tief ein, genoss die frische Luft nach dem üblen Geruch der Zelle und bewegte versuchsweise ihre Schulter. Sie schmerzte, aber nicht mehr annähernd so sehr wie noch vor drei Tagen. Rhiannon dachte, dass sie im Notfall kämpfen könnte. Sie gingen alle dicht zusammengedrängt, Owein weiterhin voraus, Margrit und Laird Malvern dicht hinter ihm, die verängstigte Dedrie ihnen auf den Fersen. Alles in allem bildeten ungefähr ein Dutzend misstrauisch um sich blickende Piraten mit Entermessern oder Dolchen die Nachhut. Plötzlich schoss hinter dem Schutz der Mauer ein geflügeltes Pferd herauf. Sein Fell hatte die Farbe alten Eichenholzes, Mähne und Schweif flössen wie schwarzer Regen herab. Auf seinem Rücken saß Lewen wie ein wahrer Thigearn, ohne Sattel und Zügel. Er hielt einen Langbogen mit eingelegtem Pfeil in Händen. Der erste Pfeil sirrte an Oweins Ohr vorbei und sank in Margrits Auge. Der zweite spaltete den ersten mittendurch und versank tief im Gehirn der Zauberin. Margrit stürzte ohne einen einzigen
Schrei oder ein Stöhnen rückwärts. Owein breitete sofort seine Schwingen aus und flog davon. Ein gewaltiger Freudenschrei entrang sich der Menge am Kai. Lewens Pfeile fanden rasend schnell einer nach dem anderen ihr Ziel. Jem stürzte als Nächster. Rhiannon beugte sich herab, ergriff seinen Dolch und floh vor den Piraten, die rund um sie herum wie Steine fielen - bis auf den größten von ihnen, der vor Angst schrie und ergeben die Hände hob, während seine Ratte sich entsetzt unter seinem wirren Haar verbarg. Irvings Vater war gestorben, indem er sich vor Laird Malvern geworfen und einen für ihn bestimmten Pfeil auf sich genommen hatte. Irving der Zweite besaß diesen Instinkt nicht. Er packte den Laird um den Hals, zog ihn vor sich und benutzte ihn als Schild. Lewen zögerte nicht. Er schoss einen Pfeil mit solcher Macht ab, 415 dass er unmittelbar Laird Malverns rechte Schulter durchschlug und Irvings Herz durchbohrte. Der Seneschall schrie überrascht und entsetzt auf und stolperte rückwärts, wodurch Laird Malvern auf ihn fiel und den Pfeil noch tiefer in seine Brust trieb. Auf seinen Seneschall gepfählt, umklammerte Laird Malvern das befiederte Ende des Pfeils, das aus seiner Schulter ragte und sah in äußerstem Entsetzen zu Lewen hoch. »Nein!«, schrie er. Lewen konnte für ihn keine Zeit verschwenden. Ballard zielte sorgfältig mit seinem eigenen Pfeil und Bogen sorgfältig. Lewen riss sein Pferd herum, gerade als Rhiannons Dolch im Körper des großen Leibwächters sein Ziel fand. Ballard erstarrte entsetzt und verzog seinen Pfeil. Während sich Lewen in Sicherheit brachte, blickte Ballard auf den Dolch hinab, wölbte beide Hände darum und stürzte dann vornüber, wodurch er ihn tief in seinen Körper trieb. Rhiannon atmete keuchend ein und sah sich fieberhaft um. Abgesehen von dem großen Piraten, der mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen am Boden kauerte, war niemand außer Dedrie geblieben, die es geschafft hatte, Laird Malvern von Irvings Körper fortzuziehen. Mit ihrem Halstuch stillte sie ge-
rade das Blut aus seiner Wunde. Gemeinsam wollten sie in die Festung zurückwanken. Der Rabe des Laird war hinter Lewen hoch in den Himmel gestiegen und griff ihn nun heftig an. Er schlug mit den Flügeln auf seinen Kopf ein, pickte ihm ins Gesicht und schrie vor Zorn. Lewen hatte beide Hände über den Kopf gelegt und wand sich, um dem Vogel auszuweichen. Er war kurz davor, herunterzugleiten und Hunderte von Fuß in den Tod geschleudert zu werden. Rhiannon trat zwei große Schritte vorwärts, ergriff den Bogen, der Ballards Hand entfallen war, und riss einige Pfeile aus dem Köcher, der noch auf seinem Rücken hing. Sie hob den Bogen an und zielte sorgfältig. Wenn sie den Raben durch einen dummen Zufall verfehlen sollte, wäre es ihr Liebster, den sie töten würde. 416 Rhiannons Pfeil erreichte sein geplantes Ziel. Er stieg hoch in die Luft und durchbohrte unmittelbar die Brust des Raben, der in einer Woge schwarzer Federn herabstürzte und unmittelbar vor Laird Malvern auf dem Boden aufschlug. »Nein!«, schrie er. Er sank steif auf die Knie, hob den Raben hoch und barg ihn schluchzend an seiner Brust. »Donal, Donal«, rief er und presste seine Wange an die schwarzen, leblosen Federn. »Mylaird, Mylaird, lauft!«, schrie Dedrie. Und dann, als sie den Schatten des geflügelten Pferdes mit jeder Sekunde größer werden sah, während Lewen auf sie zukam, verließ sie ihn und eilte zur Festungstür. »Nein, das werdet Ihr nicht tun!«, rief Rhiannon und packte sie mit einem großen Satz. Dedrie schlug dumpf auf dem Boden auf. Rhiannon saß rittlings auf ihr, ergriff dann, als Dedrie sie abzuwerfen versuchte, mit beiden Händen den Kopf und schlug ihn hart auf den Boden. Dann lag Dedrie still. Die wuchtigen Hufe des geflügelten Pferdes setzten leicht auf dem Boden auf, gefolgt von Lewens Stiefeln.
»Du schlägst noch immer die Köpfe von Leuten auf den Boden?«, fragte er. »Das tue ich in der Tat«, erwiderte Rhiannon, löste sich von Dedries hingestrecktem Körper und stürzte in seine Arme. Sie schlossen sich fest um sie. Einen langen Moment standen sie in inniger Umarmung. Dann hob Rhiannon stumm das Gesicht an, und Lewens Mund senkte sich auf ihren. Ein Hufklappern, ein empörtes Wiehern und das entschlossene Drängeln eines schwarzen Mauls trennten sie. Rhiannon sah sich um, zwischen Tränen und Lachen gefangen, und sah Schwarzdorn hinter sich, die vor Ungeduld ein wenig tänzelte. Rhiannon schlang ihre Arme um den Hals des Pferdes und presste ihr feuchtes Gesicht an die seidige schwarze Schulter. Neben 417 ihnen wiegte sich Laird Malvern und summte weinend für den toten Raben in seinen Armen, ohne zu merken, was um ihn herum vorging. Lewen nahm ruhig ein zusammengerolltes Seil aus seinen Satteltaschen und wand es um den alten Mann. Laird Malvern schaute mit kummervollem Gesicht kurz auf und beugte seinen grauen Kopf dann wieder über den toten Vogel. »Also bist du jetzt ein Thigearn?«, fragte Rhiannon, als sie schließlich ihre Stimme wiederfand. »Wo, um alles in der Welt, hast du ein geflügeltes Pferd für dich gefunden?« »Ich habe ihn erschaffen«, sagte Lewen fast entschuldigend. »Mir fiel nichts ein, wie ich sonst hierher hätte kommen können.« »Du hast ihn geschnitzt?« »Aus dem Eichbaum, der in der Nacht umstürzte, als du gingst.« »Er ist wunderschön.« »Danke. Ich habe ihn Blitz genannt.« »Schwarzdorn mag ihn auch«, sagte Rhiannon mit schelmischem Lächeln, als die beiden Pferde die Nasen aneinanderrieben und dann leise wieherten. »Glaubst du, dass ...?« »Vielleicht eines Tages«, antwortete Lewen grinsend. »Wer weiß?«
Dann, während der Elfenblauvogel um sie herumflog und verzückt sang, trat er vor und legte seine Arme erneut um Rhiannon, und sein Mund fand den ihren. »Ich liebe dich«, flüsterte er unsicher, als er schließlich zum Atemholen den Kopf anhob. »Ach, das weiß ich doch«, antwortete Rhiannon. 418 SPRACH KÖRPER Rhiannon und Lewen hatten nur wenige Momente miteinander, bevor Hauptmann Dillon und die Yeomen mit grimmigen Gesichtern auf sie zuliefen. Sie blickten ungläubig auf die aufgehäuften Körper und schauten dann zum Laird von Fettercairn, der sich vor- und zurückwiegte und über dem Körper seines Raben die Totenklage hielt. »Nehmt ihn in Gewahrsam«, sagte Hauptmann Dillon und nahm die Hände von seinem Schwertheft, dankbar, dass Joyeux ihres Festmahls beraubt worden war. »Und die weise Frau auch.« Laird Malvern umklammerte den Vogel fester und wich zurück, als die Soldaten sich ihm näherten. »Nein!«, schrie er. »Lasst mich in Ruhe! Ich gebe euch alles, alles, was ihr wollt. Ich kenne das Geheimnis des Lebens und des Todes, wisst ihr. Verhelft mir zur Flucht, und ich werde es mit euch teilen. Gibt es niemanden, den ihr liebt, der tot und kalt in der Erde liegt? Ich werde sie für euch wiedererwecken!« Hauptmann Dillons Gesicht war hart wie Granit. Seine Vergangenheit war voll von toten geliebten Menschen. Er wandte sich ab und sagte ruhig: »Knebelt und fesselt ihn und werft ihn in den Frachtraum. Der Laird hat eine Verabredung mit dem Henker.« »Gnade! Gnade!«, heulte Laird Malvern. »Ich werde Euch dieselbe Gnade erweisen, die Ihr Mylady Olwynne erwiesen habt«, sagte Hauptmann Dillon und schritt davon, während die Soldaten Laird Malvern den toten Raben entrangen, ihn dann fesselten und knebelten und davonzerrten. Laird Malvern wehrte sich auf jedem Schritt des Weges, während er tränenüberströmt zurückblickte, um das schlaffe Bündel schwarzer Federn anzusehen.
»Unglaublich, dass das Einzige, was er letztendlich wirklich geliebt hat, dieser schreckliche Vogel war«, sagte Lewen. 419 »Sollten wir ihn ihm nicht geben?«, fragte Rhiannon unglücklich. »Wir können ihn nicht einfach dort auf dem Boden liegen lassen.« Lewen zog sie an sich und küsste sie. »Weißt du, du versuchst so sehr, hart zu sein, aber ich glaube, du hast das sanfteste Herz von allen, die ich kenne.« Rhiannon runzelte die Stirn. »Was für ein Drachenmist!«, sagte sie verächtlich. Lewen lachte. »Wie ich sehe, haben zwei Wochen in der Gesellschaft von Finn der Katze deinen Wortschatz ungeheuer verbessert.« Sie grinste. »Ich mag ihn ... wie nennt ihr ihn? Ihren Sprachkörper.« »Ihre Sprachfiguren«, korrigierte Lewen sie und sah ihre Augen dann vor Lachen strahlen. »Du Göre«, sagte er. Sie beobachteten, wie sich der große Pirat mit der zahmen Ratte kleinlaut ergab und Dedrie von zweien der Soldaten gefesselt und davongetragen wurde. Rhiannon rief einen weiteren zurück und reichte ihm den toten Raben. »Gebt ihn dem Laird«, sagte sie schroff. Der Soldat verzog angewidert das Gesicht, nahm den Vogel aber und trug ihn davon. »Endlich allein«, sagte Lewen. »Wir haben uns viel zu erzählen. Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll. Erzähl du zuerst. Wie geht es dir? Bist du verletzt?« Sie berührte ihre blutbefleckte Schulter. »Ein Kratzer, nicht mehr. Und du? Wie geht es deinem Kopf?« »Er dröhnt noch«, erwiderte er grinsend, woraufhin er sie erneut an sich zog und ausgiebig küsste. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, murmelte er schließlich. »Es tut mir so leid.« Die Worte waren unzulänglich. Zwischen ihnen lag ein Meer der Empfindungen - Rhiannons Zorn und Herzschmerz über Lewens Verrat an ihr, sein Schuldge
420 fühl und seine Verwirrung ebenso wie der Kummer und das Entsetzen, die er über Olwynnes Tod empfunden hatte, auch wenn es bedeutete, dass er von ihrem Liebeszauber befreit worden war. Rhiannon hatte jedoch noch nie viele Worte gemacht. Der Blick in seine Augen, die Wärme seiner Hände auf ihrem Körper und die hypnotisierende Berührung seines Mundes genügten ihr. Sie lächelte und hob ihren Mund erneut seinem entgegen. Seine Hände glitten unter ihr Hemd und pressten sie immer näher an sich. Er atmete schwer, als Rafferty und Cameron mit Landon im Schlepptau höchst aufgeregt den Weg heraufliefen. Lewen ließ Rhiannon widerwillig los und trat mit stark gerötetem Gesicht und kläglicher Miene zurück. Erneut war ihre Chance dahin, sich ungestört zu unterhalten und zu küssen. Denn die Jungen schleppten sie den Weg hinab zu der verbrannten und zerstörten Piratenstadt, wo Iseult wartete, um ihnen beiden zu danken und ihnen zu gratulieren. Es herrschten Lärm und Durcheinander. Oweins Kopf wurde von einer Felice mit rosigen Wangen und glänzenden Augen eher unsachgemäß verbunden, während sich Iseult sehr bemühte, nicht vor Erleichterung und verzweifeltem Kummer zu weinen. Hauptmann Dillon überwachte das Zusammentreiben und die sichere Einkerkerung aller Gefangenen im Laderaum des Schiffes. Die Seeleute machten die Schiffe zum Segeln klar, da jedermann schnellstens nach Hause gelangen wollte, um zu sehen, was in ihrer Abwesenheit geschehen war. Eine Kompanie Soldaten war abgestellt worden, um die Toten zu begraben und um Olwynnes Gebeine zu exhumieren und sie zum Begräbnis in der Krypta der MacCuinn nach Lucescere zurückzubringen. Weitere Soldaten beluden die Schiffe mit all der Beute der Piraten, die als Kriegsbeute genommen wurde, während die Piratenstadt hinter ihnen systematisch bis auf die Grundmauern niedergebrannt wurde. Roden sprang ebenso wie Lulu aufgeregt umher. Er warf sich 420
in Rhiannons Arme und umarmte sie freudig, bis er merkte, dass sie verletzt war. Schließlich wurde auch Rhiannon verbunden, Nina und Iven machten Aufhebens um sie, und Lewen konnte nichts anderes tun, als daneben zu stehen, je eine Hand auf den Rücken der geflügelten Pferde, während alle über das Wunder Blitz staunten und sich aufgeregt äußerten. Lewen errötete bei dem Aufruhr, den alle wegen des von ihm aus einer vom Blitz gefällten Eiche geschaffenen, geflügelten Pferdes machten, denn er war zwischen Stolz und Verlegenheit hin- und hergerissen. Er verstand selbst noch immer nicht, wie er ein solches Wunder bewirkt hatte, und spürte voller Unbehagen, dass es eher der Gunst Eà s als seinen eigenen kümmerlichen Kräften zuzuschreiben war. Er war erleichtert, als Rafferty ihn sanft an der Schulter berührte und sagte: »Mylady Iseult würde dich gerne sprechen, wenn du einen Moment Zeit hast. Rhiannon auch.« Lewen bemerkte unwillkürlich die Zaghaftigkeit von Iseults Ruf. Er war einen weitaus entschiedeneren Befehlston gewohnt. Mit einem Nicken umfasste er Rhiannons Ellenbogen und führte sie aus der lärmenden Menge heraus. Sie folgten Rafferty zu einem Gasthaus in der Nähe des Kais, eines der wenigen Gebäude, die in der vom Feuer verheerten Piratenstadt noch standen. Iseult saß am kalten Kamin und starrte blicklos in die Asche. Sie trug noch immer ihre altmodische Lederrüstung, die fleckig und vom Kampf gezeichnet war, obwohl sie ihren Helm auf einem in der Nähe stehenden Tisch abgelegt hatte. Ihr offenes Haar floss ihren Rücken hinab; sein feuriges Rot wirkte gedämpft wie die Glut im Kamin. Aber ihre Augen waren so strahlend blau wie der Sommerhimmel, und zum ersten Mal seit Wochen schwebte Lewens Atem nicht frostig vor seinem Mund, als er sich ihr näherte. Sie lächelte ihm müde zu. »Es tut mir leid, dass ich dich von den Feierlichkeiten fortzerren musste«, sagte sie weich und be 421
deutete ihnen mit einer anmutigen Geste ihrer Hand, sich hinzusetzen. »Ich wollte euch nur danken - und mich bei euch entschuldigen.« »Nicht nötig«, stammelte Lewen, während er sich auf den äußersten Rand seines Stuhles setzte. Ihr Lächeln verstärkte sich. »Ich weiß, wie viel ich euch beiden schulde«, sagte sie. »Wenn ihr nicht gewesen wärt, wäre Owein noch immer in den Händen dieser schrecklichen Zauberin. Margrit hätte ihn niemals gehen lassen, das weiß ich. Wir hätten kämpfen müssen, und noch mehr von uns hätten ihr Leben verloren, selbst wenn Owein überlebt hätte. Es fällt mir immer noch schwer zu glauben ... dein Anblick, wie du über die Klippe aufstiegst und Margrit niederstrecktest - deine Hände bewegten sich so schnell, dass sie verschwammen! Oh Lewen! Du hast dich als ein wahrer Freund der MacCuinn erwiesen. Ich danke dir!« Lewen spürte beim Schlucken einen Kloß in seiner Kehle. »Ich ... ich bin froh, dass ich helfen konnte.« »Es tut mir leid, dass ich dich gebeten habe, zurückzubleiben«, sagte Iseult. »Ich weiß, dass ich dich damit verletzt habe.« Er zuckte die Achseln. »Ich hätte Blitz nicht geschnitzt, wenn Ihr es nicht getan hättet.« Iseult lachte. »Dann bin ich froh! Die Schicksalsgöttinnen handeln auf geheimnisvolle Weise. Offensichtlich sollte es so sein.« Es fiel ihm schwer, die nächsten Worte zu äußern. »Ich wünschte nur, ich hätte ... wäre rechtzeitig ... wäre früher hier eingetroffen... Olwynne...« Iseult hob eine Hand und presste sie auf ihre Augen. »Ja«, sagte sie. »Ich weiß. Ich wünschte auch ... oh, ich wünschte so viele Dinge! Und alle sind sinnlos. Lachlan ist tot, nichts wird ihn zurückbringen. Olwynne ... meine kleine Olwynne! So strahlend, so wunderschön, so großartig! Ich kann noch immer nicht glauben, dass sie tot ist. Ich dachte... ich denke unwillkürlich... 422 warum können wir nicht den Zauber der Wiedererweckung benutzen, um sie zurückzubringen? Hätten wir sie nicht irgendwie retten können? Aber wen würde ich für sie opfern? Wen könnte
ich töten, ohne einer anderen Mutter den entsetzlichen Kummer zuzufügen, den ich jetzt empfinde? Ich könnte es nicht tun.« Rhiannon regte sich ruhelos. Iseult schaute zu ihr. »Du denkst, niemand würde trauern, wenn wir dich verlören?«, fragte sie recht scharf. »Du irrst dich! Es gibt viele, die dich lieben, Satyricorn-Mädchen, und viele, die trauern würden, wenn du umkämst. Und ich weiß, dass du dein Bestes getan hast. Ich weiß, dass du sie beinahe gerettet hättest. Owein hat mir alles erzählt. Ich bin wirklich dankbar und ...« Sie hielt inne, focht einen kleinen Kampf mit sich aus und sagte dann, noch schärfer als zuvor: »Es tut mir auch leid. Ich habe dir ebenfalls Unrecht getan. Wäre Lewen nicht gewesen, wärest du gehenkt worden, und das wäre eine schwere Last für mein Gewissen gewesen, jetzt, wo ich die Wahrheit kenne. Es tut mir leid. Ich hoffe, du wirst mir verzeihen.« Rhiannon runzelte die Stirn und wusste nicht, was sie antworten sollte. Die Wahrheit war, dass sie Iseult nicht verziehen hatte. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie für immer einen Groll gegen die Banrigh-Witwe hegen würde, und war nun überrascht, dass Iseults Worte sie berührt hatten. Rhiannon hätte Zungenfertigkeit misstraut, aber dass es Iseult so schwergefallen war, die Worte auszusprechen, ließ sie wahrhaftiger erscheinen. Als sie schwieg, seufzte Iseult und richtete sich auf ihrem Stuhl gerader auf. »Wenn wir wieder in Lucescere sind, werde ich mit Donncan sprechen ... und mit Bronwen ... mit dem Righ und der Banrigh ... Ich bin mir sicher, dass sie dich großzügig belohnen werden.« »Ich habe das, was ich getan habe, nicht in der Hoffnung auf eine Belohnung getan«, sagte Rhiannon steif. 423 »Nein.« Iseults Züge wurden weich. »Du hast es aus Liebe getan, nicht wahr? Lewen kann sich glücklich schätzen, so sehr geliebt zu werden.« Ihre Stimme schwankte. »Das tue ich«, sagte er. »Ich bin sehr glücklich.« Er streckte eine Hand aus und legte sie auf Rhiannons Hand, die verkrampft auf der Armlehne des Sessels lag. Sie warf ihm einen
raschen Blick zu, und er lächelte sie an. Kurz darauf merkte sie, wie sich ihr Mund gegen ihren Willen lockerte und sich die Mundwinkel aufwärtswandten. Er lächelte ihr ermutigend zu, tätschelte leicht ihre Hand, nahm sie dann in seine große, warme Hand und zog sie auf seinen Schoß. Sie konnte nicht umhin, nun natürlicher zu lächeln. »Es tut mir auch leid wegen Olwynne«, sagte sie dann impulsiv. »Ich hab es wirklich versucht.« Iseult nickte. »Ich danke dir. Es ist nicht deine Schuld, dass sie sie getötet haben. Wir haben es alle versucht und sind alle gescheitert. Ich könnte den Rest meines Lebens damit verbringen zu denken wenn nur, wenn nur<, und obwohl ich es so gut wie möglich zu vermeiden versuche, geht es mir fast ständig durch den Sinn. Aber ich bin entschlossen, nicht in meinem Kummer zu versinken. Das ist, mehr als alles andere, der wahre Grund für Olwynnes Tod. Ich war von meiner Trauer um Lachlan so überwältigt, dass ich nicht schnell genug gehandelt habe ... nicht das Richtige getan habe ... und daher ist Olwynne auch tot.« »Es ist niemandes Schuld außer Laird Malverns«, sagte Rhiannon eindringlich. »Er hat das Messer geführt! Wenn Ihr jemandem die Schuld geben wollt, dann ihm!« »Glaube mir, das tue ich«, erwiderte Iseult kalt. »Was wird mit ihm geschehen? Und mit Dedrie?« »Sie werden hängen«, antwortete Iseult. »Und sie sollten dankbar sein. Wenn es nach mir ginge, würden sie für die Weißen Götter öffentlich gepfählt werden!« Dem Ausdruck auf Iseults Gesicht nach zu urteilen, vermute 424 te Rhiannon, dass ihre Götter ebenso düster und furchterregend waren wie die dunklen Wanderer der Satyricorns. Sie vollführte eine kleine, abergläubische Schutzbewegung, und Lewen nahm ihre freie Hand und umfasste sie ebenfalls. »Mylady«, sagte er. »Ihr spracht vom Righ. Bedeutet das ... habt Ihr Neuigkeiten?« Iseult strahlte. »Die habe ich in der Tat! Als sich das Wetter beruhigt hatte, flog eine Brieftaube herbei. Es ist ein Wunder,
dass sie den Sturm überlebt hat. Donncan befindet sich sicher in Rhyssmadill! Und - kaum zu glauben - wäre Bronwen nicht gewesen, wäre auch er getötet worden, von der Fealde vergiftet!« Sie erzählte ihnen, wie Bronwen verzweifelt zu Donncan geschwommen war, und es war ihrer Stimme anzuhören, dass sie über den Mut und die innere Kraft der Banrigh erstaunt und davon beeindruckt war. »Wer hätte gedacht, dass sie den Verstand oder den Mumm hat?«, staunte Iseult. »Und Beau sagt, sie und Donncan seien genau, wie ein jung verheiratetes Paar sein sollte: Sie haben nur Augen füreinander und können die Hände nicht vom anderen lassen.« Sie seufzte, zuckte dann die Achseln, lächelte und tupfte sich mit ihrem durchtränkten Taschentuch die Augen ab. »Aber hier habe ich wirklich eine Neuigkeit!«, rief sie. »Beau und Dide wollen heiraten! Nach all diesen Jahren! Ich kann es kaum glauben. Und er wird dem Hexensabbat beitreten, so dass wir ihn vermutlich weitaus häufiger sehen werden. Ich bin so froh.« Lewen und Rhiannon äußerten beide ihre Überraschung und Freude, und dann sagte Lewen wieder etwas zurückhaltender: »Mylady, Ihr wisst, dass ich... dass Rhiannon und ich... wir wollen auch möglichst bald übers Feuer springen.« Iseult sah ihn einen langen Moment schweigend an und nickte dann langsam. »Ich weiß, dass Olwynne dich verhext hatte«, sagte sie leise und gestelzt. »Ich weiß, dass es keine wahre Liebe 425 war, die dich dazu veranlasst hat, mit ihr übers Feuer zu springen. Aber wenn du und Rhiannon noch eine Weile warten könntet... nur eine Weile... Ich möchte nicht, dass alle wissen...«Ihre Stimme verklang. Lewen sah Rhiannon an. Es war halb eine Frage und halb eine Bitte, Rhiannon hatte mit ihrer Eifersucht und ihrem Stolz zu kämpfen. Sie wollte, dass alle erfuhren, dass Lewen ihr gehörte und immer ihr gehört hatte. Also warf sie den Kopf auf und sagte: »Es wird ohnehin noch eine Weile dauern. Es gibt vieles, was ich tun möchte. Ich möchte diese Theurgia besuchen, über
die jedermann ständig spricht, und sehen, ob ich dorthin gehen möchte, und dann will ich zur Burg Fettercairn zurückgehen...« »Aber warum?«, rief Lewen aus. »Rory. Der kleine Geisterjunge. Er ist noch immer dort, ganz allein bis auf die Geister all jener anderen ermordeten Jungen. Ich hab versprochen, ihm zu helfen, obwohl ich nicht weiß wie.« Iseult lächelte ihr zu. »Da kann Isabeau dir helfen. Sie wird wissen, was zu tun ist.« »Ich möchte, dass Rory seine Ruhe findet«, sagte Rhiannon. Beschämenderweise brannten Tränen in ihren Augen. Sie runzelte die Stirn und zwang sie fort. »Es würde mich nicht überraschen, wenn Donncan und Bronwen dir die Burg ganz überlassen würden«, sagte Iseult. Rhiannon starrte sie mit offenem Munde an. »Mir? Burg Fettercairn? Warum?« »Allen Berichten zufolge hat es eine strategisch wichtige Lage«, sagte Iseult. »Donncan wird jemanden dort einsetzen wollen, der ihm und Bronwen treu ergeben ist, und du und Lewen habt eure Treue immer wieder bewiesen. Wenn ihr heiraten wollt, wie ihr sagt, nun, dann wäre es ein angemessenes Hochzeitsgeschenk, findet ihr nicht? Außerdem wird Isabeau wollen, dass der Turm der Raben wiederaufgebaut wird, und ich kann mir niemand Passenderen denken, um ihn zu leiten.« 426 »Ich?« Rhiannon und Lewen sprachen gleichzeitig, sahen einander dann an und lachten. »Beizeiten«, sagte Iseult lächelnd. »Ihr seid noch immer sehr jung. Und doch wäre ich sehr überrascht, wenn ihr für das, was ihr während dieser letzten Wochen getan habt, nicht euren Zaubererring zuerkannt bekämt - besonders du, Lewen! Ein lebendiges Pferd aus einem Stück altem Holz zu schnitzen! Das ist außergewöhnlich!« »Ich glaub nicht, dass ich es jemals wieder tun könnte«, gab Lewen zu und wirkte besorgt. »Dein geflügeltes Pferd ist Beweis genug für die Tatsache, dass du es ein Mal getan hast...«, begann Iseult.
»Zwei Mal!«, rief Rhiannon »Vergesst Blauchen nicht!« Der kleine Elfenblauvogel hatte die ganze Zeit auf der Rückenlehne von Rhiannons Sessel gehockt und seinen Schnabel an einer Sepia gewetzt, die er unten am Strand gefunden hatte. Beim Klang seines Namens schaute er auf, tschilpte, plusterte seine Federn auf und wandte sich dann wieder der Sepia zu. Iseult war wirklich überrascht, und Lewen und Rhiannon mussten ihr die ganze Geschichte erzählen. Dann fragte Lewen schüchtern: »Was ist mit Euch, Mylady? Was habt Ihr jetzt vor?« Sie wirkte nachdenklich. »Ich denke, ich werde dem Hexensabbat beitreten«, sagte sie. »Ich muss viel lernen. Und dann, wenn alles gut geht, werde ich zum Schnee zurückkehren. Ich habe ihn all diese Jahre schrecklich vermisst. Der Turm der Rosen und Dornen braucht eine Erste Zauberin - es ist der einzige Hexenturm, der Mayas Verbrennung unbeschadet überstanden hat, und doch waren nur wenige Hexen bereit, Lucescere zu verlassen und auf die Berghöhen zu ziehen. Es gibt dort in der Bibliothek so viel Wissen, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden!« Genau in dem Moment ergoss sich ein Strom glücklicher, strahlender Menschen auf der Suche nach Essen und Getränken durch die Tür des Gasthauses. Owein an der Spitze, den Arm 427 um Felices Taille gelegt, Rafferty, Cameron und Landon ihnen auf den Fersen und Nina und Iven, die Roden zwischen sich schwangen, wiederum hinter ihnen. Alle redeten und lachten, obwohl ein Schatten Oweins Gesicht verdüsterte, den auch noch so viel Erleichterung und Freude über seine sichere Befreiung nicht verbannen konnte. Owein hatte seine Zwillingsschwester verloren und hatte noch keine Zeit oder wirkliche Muße gehabt, wahrhaft zu realisieren, was dieser Verlust bedeutete. Lewen wusste, dass sein Freund es während der kommenden Monate sehr schwer haben würde, und versprach ihm im Stillen, für ihn da zu sein. Sie wechselten einen raschen Blick bekümmerten Verständnisses, bevor sich Owein abwandte und Ale verlangte.
Beim Anblick Rhiannons lief Felice mit ausgestreckten Händen und strahlendem Gesicht vorwärts. Die beiden Mädchen umarmten sich eifrig, obwohl Rhiannon unwillkürlich zusammenzuckte und zurückwich, als ihre Schulter wieder zu schmerzen begann. Sie hatten einander viel zu erzählen, saßen geraume Zeit da und tauschten Geschichten aus, während alle anderen um sie herum aßen und tranken und sich ebenfalls unterhielten. »Aber dein Haar, dein hübsches Haar«, sagte Rhiannon. »Wie konntest du es nur alles abschneiden!« Felice warf den Kopf auf. »Es dauerte nur eine Sekunde, und ich versichere dir, ich habe es überhaupt nicht vermisst! Ich fühle mich ohne viel leichter und freier. Außerdem wette ich, dass es an dem Tag nach unserer Rückkehr der letzte Schrei sein wird! Alle Mädchen werden sich ihr Haar abschneiden, das versprech ich dir.« Rhiannon grinste. »Ich schließe nur Wetten ab, wenn ich sicher sein kann, sie zu gewinnen«, sagte sie. »Oh Felice , es tut so gut, dich zu sehen!« »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht«, erwiderte Felice . »Ist alles ... ist jetzt alles in Ordnung?« Sie betrachtete forschend Rhiannons Gesicht. 428 Rhiannon lächelte breit. »Es ist mehr als in Ordnung.« »Ich bin so froh«, sagte Felice und drückte ihre Hand. Dann beugte sie sich vor und flüsterte mit einem raschen Seitenblick zu Owein: »Ich glaube, für mich ist auch alles in Ordnung.« »Ich weiß, dass es das ist«, erwiderte Rhiannon und warf Owein lachend einen Blick zu. Zur Mittagszeit waren die Schiffe bereit, die Pirateninseln hinter sich zu lassen. »Es ist zu weit für euch, um nach Dün Gorm zurückzufliegen«, sagte Iseult. »Wir sollten eure Pferde an Deck anpflocken, und ihr könnt mit uns zurückreisen.« »Nein danke«, sagte Lewen bestimmt. »Blitz würde das überhaupt nicht gefallen.« »Und Schwarzdorn auch nicht«, sagte Rhiannon.
»Seid ihr sicher?« »Sicher sind wir sicher«, sagte Lewen. »Lasst uns ein paar Vorräte hier, dann werden wir heute Nacht hier oben ausruhen und morgen früh nach Hause fliegen.« »Wir werden Euch bis zu Hause überholen«, sagte Rhiannon herausfordernd. Owein grinste seinen Freund an. »Schlauer Hund«, sagte er leise, wohl wissend, wie beengt und laut es auf dem Schiff sein würde und wie schwierig es für ihn wäre, Felice allein zu sehen. Lewen lächelte. »Gute Reise. Ich sehe dich in Rhyssmadill!« Sie standen gemeinsam auf dem Kai und winkten, bis die Schiffe aus der Lagune hinaussegelten. Dann wandte sich Lewen um und riss Rhiannon fest an sich. »Nun, wo sollen wir jetzt hingehen?«, fragte er und beugte sich herab, um ihre Kehle zu küssen. »Die Piratenstadt ist zerstört, so dass uns nur die Festung und der Wald bleiben.« Rhiannon lachte ihn an. »Können wir es mit der Festung versuchen?«, fragte sie wehleidig. »Ich würde dich so gerne in einem 429 Bett lieben, mit Kissen und Decken, nur weil es etwas Neues wäre.« Lewen lachte. »Das ist noch etwas, was ich an dir liebe, Rhiannon«, sagte er. »Du tust nie schüchtern.« »Ich bin mir nicht ganz sicher, was das bedeutet«, sagte Rhiannon, »aber es ist vermutlich ein Kompliment.« »Das ist es, glaub mir, das ist es.« »Nun, dann lass uns gehen und die alte Festung ausprobieren«, sagte Rhiannon. »Ich kann dir sagen, dass sie eine sehr kalte und unbequeme Zelle haben, aber sonst weiß ich nichts darüber.« Sie schwang sich auf Schwarzdorns Rücken und strich mit einer liebevollen Hand über das seidige, schwarze Fell der Stute. »Ein Wettrennen?«, fragte sie mit schalkhaftem Grinsen und grub der Stute dann ihre Fersen in die Seiten, so dass Schwarzdorn gerade in die Luft sprang und die Schwingen ausbreitete.
Lewen sprang lachend und fluchend auf Blitz' Rücken, beugte sich tief hinab und drängte seinen Hengst, ihr zu folgen. Der große Fuchs breitete seine dunklen Schwingen aus und nahm die Verfolgung auf. Der Elfenblauvogel schoss, vor Freude jubilierend, vor ihnen her. Die beiden Pferde stiegen immer höher, bis das Meer vor dem verhangenen Horizont wie ein abgelegtes Gewand unter ihnen lag. Dann kreisten sie langsam abwärts, die Neigung der Erdachse genießend, auf der Suche nach einem Ort, wo sie einander in Ruhe lieben könnten. 430 DANACH »Dann traten wir vor, um erneut die Sterne zu sehen.« DANTE ALIGHIERI, Göttliche Komödie, 1314-1320