Geister-
Krimi � Nr. 52 � 52
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Geister-
Krimi � Nr. 52 � 52
Andrew Hathaway �
Das Grauen hockt � in Zelle 8 �
2 �
Den Vorsitz der Gerichtsverhandlung im Old Bailey, dem Kriminalgericht von London, führte Sir Winston Storrington. Der Prozess gegen den unbedeutenden Einbrecher hatte nur etwa ein Dutzend Neugierige angelockt. Außerdem quälten sich noch zwei Lokalreporter durch die Langeweile der Routineverhandlung. Der Fall war klar, die Verurteilung stand fest. Nur das Strafmaß mußte noch festgesetzt werden. »… zu sieben Jahren«, hallte die monotone Stimme des Richters durch den Saal. Endlich ausgestanden, dachten die Reporter und nickten einander zu. Sie wollten gemeinsam zum Essen gehen. Ihre Gedanken waren bereits weit weg von Old Bailey, dem Londoner Kriminalgericht, als Sir Winston Storrington ein fürchterliches Brüllen ausstieß. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf und begann zu torkeln. Seine Schmerzensschreie gingen in ein lang gezogenes Wimmern über, das dem Heulen eines Wahnsinnigen glich. Seine Finger verkrallten sich in die weiße Perücke und zerrten mit aller Kraft daran, doch das Zeichen seiner richterlichen Würde ließ sich nicht bewegen. Wie festgeschweißt saß die Perücke an dem Kopf Sir Winston Storringtons, ein starrer Panzer, der sich immer enger zusammenzog. Wie ein Schraubstock umklammerte die Perücke den Kopf des Unglücklichen. Die Augen traten weit aus den Höhlen, färbten sich rötlich durch geplatzte Äderchen. Sir Winston Storrington riß den Mund weit auf, doch nur mehr ein heiseres Röcheln kam aus seiner Kehle. Er schwankte, lehnte sich haltsuchend gegen den Richtertisch. Der Kopf Sir Storringtons wurde zermalmt. Der leblose Körper sackte über dem Richtertisch zusammen. 3 �
*
»Hier drinnen ist es also geschehen«, stellte Rick Masters fest, als er und Chefinspektor Kenneth Hempshaw von Scotland Yard den Verhandlungssaal 32 von Old Bailey betraten. »Eine ganz unglaubliche Sache. Ein Richter wird von seiner Perücke zu Tode gequetscht. Das könnte aus einer Komödie mit sehr viel schwarzem Humor stammen.« »Leider ist es keine Komödie, sondern eine Tragödie«, bemerkte Chefinspektor Kenneth Hempshaw. Die beiden Männer waren schon rein äußerlich das genaue Gegenteil voneinander. Dazu übten sie noch Berufe aus, die sich normalerweise schlecht miteinander vertrugen. Rick Masters war ein sehr erfolgreicher Londoner Privatdetektiv, der sich durch die Aufklärung einiger spektakulärer Verbrechen einen guten Namen gemacht hatte. Chefinspektor Kenneth Hempshaw diente treu und wesentlich weniger von der Öffentlichkeit beachtet Scotland Yard. Rick Masters mit seinen krausen blonden Haaren und den hellbraunen Augen wirkte in seiner saloppen Kleidung schlank und sportlich. Der Chefinspektor dagegen bewegte seine massige Gestalt mit der Eleganz eines Wasserbüffels, und sein kantiges Gesicht, von einer graumelierten Haarmähne eingerahmt, drückte Entschlossenheit und Kraft aus. Zudem war der Chefinspektor um einiges älter als der Privatdetektiv. Daß diese beiden ungleichen Menschen trotzdem ausgezeichnet zusammenpassten, hatten sie in zahlreichen gemeinsam gelösten Fällen bewiesen, in denen es immer um außergewöhnliche Vorfälle ging. Da auch der Tod von Sir Winston Storrington außergewöhnlich war, hatte sich Chefinspektor Kenneth Hempshaw nicht gewundert, als Rick Masters vor einer Stunde in sei4 �
nem Büro im Yard aufgetaucht war und genaue Informationen über den Tod des Richters verlangt hatte. »Es kann sich nur um einen Mord handeln«, sagte Rick Masters, während er eine schmale Treppe zum Richtertisch hinaufstieg und sich auf den Platz von Sir Storrington setzte. »Irgend jemand hat in die Perücke einen teuflischen Mechanismus eingebaut, so daß sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt unwiderstehlich zusammenzog und seinen Tod verursachte.« Chefinspektor Hempshaw war dem jungen Privatdetektiv gefolgt, blieb aber unten vor dem Tisch stehen. »Wir haben natürlich die Perücke ins Labor gegeben, und unsere Wissenschaftler sind soeben dabei, das seltsame Mordwerkzeug zu untersuchen.« Er breitete hilflos die Arme aus. »Aber, Hand aufs Herz, Rick, können Sie sich vorstellen, wie das technisch funktioniert haben soll? Ich meine, so einfach verwandelt sich eine harmlose Perücke nicht in eine tödliche Waffe.« Rick genoß es, einmal auf dem Stuhl zu sitzen, von dem aus der berühmte Richter Storrington seine oft sehr Aufsehen erregenden Prozesse geführt hatte. Richter Storrington das war ein Begriff für jeden, der sich in irgendeiner Form mit Kriminalistik beschäftigte. Trotz seines Hochgefühls, auf dem Richterstuhl zu sitzen, vergaß Rick keineswegs, den Fall weiterzuverfolgen. »Ich kann mir das Wie auch noch nicht erklären«, sagte er laut, damit ihn der Chefinspektor verstehen konnte. »Das überlasse ich vorläufig den Wissenschaftlern. Es steht jedoch fest, daß zahlreiche Augenzeugen gesehen haben, wie sich die Perücke immer enger um den Kopf Sir Winston Storringtons spannte, bis das Schlimme geschah. Also interessiert mich im Augenblick das Wie nicht so sehr wie das Warum. Das kann ich auch leichter herausfinden, hoffe ich. Bei einer Persönlichkeit wie Sir Storrington dürfte es nicht schwer sein, ein Motiv für einen Mord zu finden.« 5 �
»Sie denken an Rache?« rief Hempshaw zurück. »An einen von Sir Storringtons Verurteilten, der nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus den Richter getötet hat?« »Das liegt zumindest nahe.« Rick Masters verließ den erhöhten Sitz im Verhandlungssaal 32 des Kriminalgerichts von London und stieg zu Chefinspektor Hempshaw hinunter. »Behaupten Sie nur nicht, Kenneth«, sagte er, als er wieder neben seinem Freund stand, »daß Sie nicht längst schon auf denselben Gedanken gekommen sind und Anweisung gegeben haben, alle von Sir Storrington Verurteilten und inzwischen Freigelassenen zu überprüfen.« Der Chefinspektor zuckte grinsend die Schultern. »Ich hätte ja Prügel verdient, wenn ich es nicht veranlasst hätte«, gab er zu. »Ich finde, daß für diesen Mord nur ein Mann mit großen technischen Fähigkeiten in Frage kommt, der eine Faser entwickelt hat, die sich bei einer gewissen Temperatur ganz eng zusammenzieht, oder etwas Ähnliches. Sie verstehen mich schon.« »Schließen Sie eine Frau als Täterin aus?« Der junge Privatdetektiv schüttelte missbilligend den Kopf. »Sie halten wohl nicht viel von Gleichberechtigung?« »Wenn Sie wollen, können Sie mich in den Yard begleiten«, schlug Hempshaw vor, ohne auf Ricks nicht ernst gemeinten Tadel einzugehen. »Vielleicht gibt es schon erste Ergebnisse aus dem Labor.« Rick Masters war nur zu gern einverstanden. Schließlich mußte er jede erdenkliche Information sammeln, um sich näher an den Täter herantasten zu können, von dem er im Augenblick überhaupt noch nichts wußte. »Wieso haben Sie eigentlich diesen Fall übernommen?« erkundigte sich der Chefinspektor, während sie in seinem Dienstwagen zum Yard fuhren. »Aus eigenem Interesse, wie schon ein paar Mal, oder haben Sie diesmal einen offiziellen Auftrag erhal6 �
ten?« »Ich muß Geld verdienen, Kenneth«, antwortete Rick lachend. »Ich kann es mir nicht leisten, meine Zeit mit der Klärung von Verbrechen zu verbringen, die mich einfach interessieren. Die Familie von Sir Winston Storrington ist über ihren Rechtsanwalt an mich herangetreten, ich solle mich um den Tod des Richters kümmern.« Chefinspektor Hempshaw zog ein missmutiges Gesicht. »Die haben es aber eilig gehabt«, bemerkte er bissig. »Sir Storrington ist kaum einen halben Tag tot, und schon engagieren sie einen Privatdetektiv, weil sie der Polizei nicht vertrauen.« »Lassen Sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen«, versuchte Rick seinen Freund zu trösten. »Ich vertraue der Polizei auch nicht.« Noch ehe sie sich in die Haare bekommen konnten, hielt der Wagen auf dem Innenhof von Scotland Yard. Nebeneinander betraten sie das riesige neue Bürogebäude, in dem die berühmteste Kriminalpolizei der Welt untergebracht war. Auf dem Korridor trafen sie Dr. Sterling, den alten Polizeiarzt, der durch seine medizinischen Kenntnisse und seine spitze Zunge gleichermaßen bekannt war. Er blinzelte Chefinspektor Hempshaw vielsagend durch seine dicken Brillengläser zu. »Gehen Sie nur schnell ins Labor, Kenneth!« forderte er den Chefinspektor auf und nickte Rick Masters grüßend zu. »Sie werden eine kleine Überraschung erleben.« »Was ist es denn?« wollte Hempshaw wissen. »Sie sind doch informiert. Schießen Sie los, Doktor!« »Vorfreude ist die schönste Freude«, stellte der Arzt weise fest. »Die paar Minuten Spannung bekommen Ihrem Blutdruck.« Damit war er in einem der Labors verschwunden. »Altes Ekel!« fauchte Hempshaw hinter ihm her, dann beeilte er sich, in das für seinen Fall zuständige Labor zu kommen. Rick 7 �
Masters schloß sich ihm an. Dr. Sterling hatte nicht übertrieben, im Gegenteil. Es war keine kleine Überraschung, sondern eine sehr große. »Wir haben die Perücke in jeder Weise untersucht, die uns bekannt ist«, erklärte der Wissenschaftler, der die Experimente überwachte. »Wir haben mit Luftfeuchtigkeit, Temperaturschwankungen, verschiedenen Strahlungen…« »Machen Sie es kurz«, unterbrach ihn Hempshaw ungeduldig. »Das können Sie alles in Ihrem schriftlichen Bericht unterbringen. Im Moment genügt es mir, wenn Sie mir das Ergebnis verraten.« Der Wissenschaftler kannte Hempshaws rüde Art bereits, so daß er nicht beleidigt war. »Die Perücke unterscheidet sich von allen anderen, die von Richtern und Anwälten in Old Bailey verwendet werden, nicht im geringsten!« lautete die Auskunft. Hempshaw starrte seinen Gesprächspartner an. »Nicht im geringsten«, wiederholte er, als könnte er nicht begreifen, was er gehört hatte. »Wissen Sie, was Sie sagen?« »Natürlich.«Der Wissenschaftler nickte. »Ich kenne die Hintergründe des Falles. Sie wissen jetzt nicht einmal, wie Sir Storrington ermordet wurde.« »Sehr scharfsinnig«, knurrte Hempshaw wütend. »Die Tatwaffe ist gar nicht die Tatwaffe.« »So kann man es auch ausdrücken«, mischte sich erstmals Rick Masters ein. »Die Augenzeugen haben beschrieben, wie sich die Perücke immer enger um den Köpf des Richters schloß, und die Wissenschaft sagt, daß es nicht geschehen konnte.« Rick gab dem Chefinspektor unauffällig einen Wink, den Hempshaw sofort verstand. »Schicken Sie mir möglichst schnell den Bericht«, verlangte er noch, dann verließ er gemeinsam mit dem Privatdetektiv das Labor. »Was haben Sie auf der Seele, 8 �
Rick?« fragte er draußen auf dem Korridor. Rick bot ihm eine Zigarette an, die Hempshaw ablehnte. Der junge Privatdetektiv steckte sich selbst eine an. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, weil er noch nicht sicher war, ob der Gedanke, der ihm drinnen im Labor gekommen war, nicht vielleicht reiner Unsinn war. »Nun, was ist?« drängte der Chefinspektor. »Brauchen Sie eine schriftliche Einladung, um den Mund aufzumachen?« »Kenneth«, sagte Rick endlich, »ich habe mir den Verhandlungssaal genau angesehen. Und mir ist dabei nichts Ungewöhnliches aufgefallen, das den Tod von Sir Winston Storrington hätte verursachen können.« »Das weiß ich auch.« Hempshaw gingen wieder einmal die Nerven durch in seiner Ungeduld. »Wir haben den Saal schließlich Zoll für Zoll untersucht. Wir haben auch die Namen der Zuhörer festgestellt und jeden einzelnen von ihnen vernommen.« »Und das alles in dieser kurzen Zeit?« Rick nickte anerkennend. »Sie machen ganz schön Dampf hinter die Sache.« »Nicht ich, der Dampf kommt von oben. Ein Richter bei der Ausübung seines Amtes ermordet, das darf sich nicht wiederholen und muß schnellstens gesühnt werden, damit das Gefüge des Staates nicht in Frage gestellt wird.« »Schön und gut«, sagte Rick Masters, »jetzt wissen wir aber, daß keiner der Zuhörer, kein Mitglied des Gerichts und auch nicht die Perücke die Schuld an dem Tod des Richters trägt. Es bleibt also nur ein Schluß übrig.« Sie betraten das Büro des Chefinspektors und machten es sich auf der Kunstledergarnitur bequem. In meinem Wohnbüro stehen Echtledersessel, dachte der junge Privatdetektiv, dann konzentrierte er sich wieder auf den Fall. »Eine bisher unbekannte Kraft, ein unerklärlicher Einfluß hat 9 �
den Tod Sir Storringtons herbeigeführt«, schloß Rick seine Theorie. »Das ist mir zu hoch«, gestand Chefinspektor Hempshaw. »Was meinen Sie mit unbekannter Macht?« »Wenn ich das wüsste, wäre sie nicht mehr unbekannt«, versetzte Rick mit dem Anflug eines Lächelns. »Ich denke dabei an einen hypnotischen Befehl oder etwas Ähnliches. Die Zeugen haben berichtet, daß Sir Storrington die Hände gegen den Kopf preßte.« »Er soll sich selbst…« Chefinspektor Hempshaw brach ab und starrte den jungen Privatdetektiv an. »Ich weiß es nicht«, erklärte Rick Masters hastig. »Ich habe nur angedeutet, daß es sich um etwas handelt, das bisher noch nie dagewesen ist.« »Was wollen Sie unternehmen?« wurde der Chefinspektor konkret. »Ihre Theorie ist mir einfach zu nebulös. Ich brauche etwas Handgreifliches.« »Können Sie haben«, erwiderte der junge Privatdetektiv, der im Augenblick noch bester Laune war. Das sollte sich schnell ändern, als er erkennen mußte, wogegen er wirklich kämpfte. Doch vorläufig hatte er noch nicht die geringste Ahnung, was alles auf ihn wartete. Auf ihn und Chefinspektor Hempshaw. »Ich möchte von Ihnen eine Liste aller Personen, die Sir Storrington innerhalb der letzten zehn Jahre verurteilt hat.« »Zehn Jahre?« entgegnete Hempshaw fassungslos. »Warum nicht gleich fünfzig Jahre?« »Weil Sir Storrington noch nicht im zarten Alter von zehn Jahren in Old Bailey Recht gesprochen hat, darum«, sagte Rick Masters und stand auf. »Ich hole mir die Liste morgen ab. Okay?« Chefinspektor Hempshaw konnte nur stumm nicken. Gegen Ricks Schwung war er machtlos.
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*
Zu den Verhandlungen, in denen James Lindfield als Anwalt der Krone auftrat, kamen meistens zahlreiche Zuhörer, und auch die Presse interessierte sich lebhaft dafür. Nicht umsonst war James Lindfield eine bekannte Persönlichkeit. Seine Beweisführung und seine Plädoyers glänzten durch geschliffenen Geist und Logik, so daß auch die erfahrensten Verteidiger einen schweren Stand gegen ihn hatten. Old Bailey stand noch unter dem Schock des Todes von Sir Storrington, der am Vortag auf geheimnisvolle Weise ermordet worden war. Die offiziellen Stellen sprachen zwar vorsichtig von einem »mysteriösen Todesfall«, doch hielten sich hartnäckige Gerüchte über einen gewaltsamen Tod, über Mord. Auch der Staatsanwalt Lindfield hatte vor der Verhandlung, in der er gerade Anklage gegen einen Einbrecher erhoben hatte, mit seinen Kollegen über nichts anderes gesprochen als Sir Storrington, doch jetzt konzentrierte er sich ganz auf die Verhandlung. Er versuchte es wenigstens. Seine Gedanken schweiften immer wieder vom eigentlichen Thema ab. Er hatte, wie viele andere, die Meinung vertreten, daß es leicht möglich war, daß Sir Storrington einem Racheakt zum Opfer gefallen war. Sollte das stimmen, so schwebte vielleicht auch er selbst in Gefahr! Schließlich hatte er oft vor Sir Storrington als Richter die Anklage vertreten, und vielleicht hatte auch er eine Rolle in dem Prozess gespielt, in dem der jetzige Mörder verurteilt worden war. Der Richter mußte James Lindfield zweimal aufrufen, einen Zeugen zu vernehmen, bis er reagierte. Er entschuldigte sich, trat vor und führte das Verhör durch, etwas zerstreut und fahrig, wie Juristen und Zuhörer im Saal erstaunt feststellten. Staatsanwalt Lindfield kehrte auf seinen Platz zurück. Er 11 �
merkte nicht einmal, daß die Verteidigung den Zeugen, den er ursprünglich von Seiten der Anklage aufgerufen hatte, so verwirrte, daß er zugunsten des Angeklagten aussagte. »Wenn das so weitergeht, wird es sein erster Prozess seit langem, den er verliert«, flüsterte ein Reporter seinem Kollegen zu. »Hat sich vielleicht mit seiner Freundin gezankt«, antwortete dieser grinsend. James Lindfield grübelte verbissen darüber nach, wer von den Verurteilten in Frage kam, die er angeklagt hatte. Wem war ein so raffinierter und grausamer Mord zuzutrauen? Eine lange Liste von Namen und Gesichtern erschien vor seinem geistigen Auge, Menschen, in deren Leben Sir Storrington und er gleichermaßen entscheidend eingegriffen hatten. Aber keiner von ihnen besaß gleichzeitig die geistigen Fähigkeiten und die Skrupellosigkeit, den Mord an dem Richter zu planen und auch durchzuführen. Keiner, bis auf… Ein bestimmtes Gesicht erstand vor dem Staatsanwalt. Er wußte nicht, wieso er gerade auf diesen Menschen verfiel. Soweit er sich an die Verhandlung erinnerte, war er dumm und primitiv. Aber das Gesicht gab ihn nicht mehr frei, es hielt ihn magisch gefangen. »Ja, der Staatsanwalt hat das Wort«, sagte der Richter, als James Lindfield von seinem Platz hochfuhr. Der Vorsitzende glaubte, Lindfield wollte in den Gang der Verhandlung eingreifen. Es wäre auch höchste Zeit gewesen, da die Anklage knapp vor dem totalen Zusammenbruch stand, dank des geschickten Vorgehens der Verteidigung und der mangelnden Konzentration des Staatsanwaltes. Doch James Lindfield konnte nichts mehr sagen, obwohl er einen Namen in den Saal hinausschreien wollte, den Namen des Mannes, dessen Gesicht riesig groß und hassverzerrt vor ihm stand. 12 �
Staatsanwalt Lindfield brachte keinen Ton aus seiner Kehle, obwohl er seine ganze Kraft zusammennahm. In seiner Brust breitete sich ein Brennen und Glühen aus, als hätte jemand Säure oder geschmolzenes Eisen in seine Lunge gegossen: Mit den Händen griff er sich an den Hals, riß seine Robe und den Hemdkragen auf. Schweiß lief in Strömen über sein Gesicht, in seine Augen, über seinen Hals. Er hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen, auszudörren wie der Wüstenboden unter sengender Sonne. Im Saal breitete sich Unruhe aus. Alle merkten, daß sich der Staatsanwalt nicht wohl fühlte, obwohl noch niemand das volle Ausmaß des Grauens erfasste. »Mr. Lindfield«, fragte der Richter besorgt, »was haben Sie denn? Soll ich einen Arzt kommen lassen?« Er bekam keine Antwort, weshalb er entschied: »Die Verhandlung ist für eine Stunde unterbrochen!« Noch ehe die Beteiligten auf diese Anordnung reagieren konnten, geschah das Unfassbare. Staatsanwalt Lindfield warf die Arme in die Luft, als wolle er sich an etwas Unsichtbarem festhalten. Aus seinem Mund brach ein dicker Blutschwall, der sich über den Tisch, die ausgebreiteten Akten und den Boden ergoss. Innerhalb weniger Augenblicke waren die Kleider des Staatsanwaltes mit seinem eigenen Blut getränkt. Die Haut seines Gesichtes aber färbte sich leichenblass, wurde gleichsam durchschneidend. Staatsanwalt Lindfield starb wie Richter Storrington im Stehen, so schnell kam der Tod über ihn. * Diesmal gelangte Rick Masters an den Tatort, noch ehe die Leiche weggeschafft worden war. Er war gerade mit seinem Mor13 �
gan, einem dunkelgrünen offenen Sportwagen im Stil der Dreißiger Jahre, unterwegs, als über Polizeifunk die Meldung vom Tod James Lindfields durchkam. Im Handschuhfach seines Wagens hatte Rick Masters, der junge Londoner Privatdetektiv, ein Funkgerät eingebaut, das ihm bei seiner Zusammenarbeit mit der Polizei schon oft gute Dienste geleistet hatte. Außerdem war ihm das seltene Recht zugesprochen worden, als Privatmann Blaulicht und eine jener schrillen Klingeln benutzen zu dürfen, die von den Londoner Streifenwagen anstelle von Sirenen verwendet werden. Rick durfte jedoch dieses Vorrecht nur in lebensgefährlichen Situationen, also in Notfällen, in Anspruch nehmen. Der Tod des Staatsanwaltes war zwar ein dringender Fall, doch keineswegs eine Rechtfertigung für den Einsatz des Blaulichts. Rick Masters blieb daher nichts anderes übrig, als sich zum Old Bailey, dem Kriminalgericht, durch den stockenden Verkehr zu quälen, der um elf Uhr vormittags kaum von der Stelle zu kommen schien. Dennoch traf der junge Privatdetektiv noch rechtzeitig ein, um an Ort und Stelle zu erfahren, daß Lindfields Tod ein Fall für Scotland Yard war. »Die Leiche ist vollkommen ausgeblutet«, erklärte Dr. Sterling, der alte Polizeiarzt, der gemeinsam mit Chefinspektor Kenneth Hempshaw die Untersuchung im Verhandlungssaal durchführte. »Hallo, Rick! Da ist ja unser Privatschnüffler wieder. Sind Sie unter die Hellseher gegangen, daß Sie so schnell hier aufkreuzen?« Der Privatdetektiv nahm den alten Arzt seine Bemerkung keineswegs übel. Er beschränkte sich darauf »Polizeifunk!« als Erklärung hinzuwerfen. »Wie ich soeben zu Kenneth sagte«, fuhr Dr. Sterling fort und deutete mit einem Kopfnicken zu dem Chefinspektor, »ist die Leiche vollständig ausgeblutet. Sehr mysteriös, wenn Sie mich 14 �
fragen. Ich kenne keine medizinische Erklärung dafür.« »Was verstehen Sie unter »vollständig«, Doktor?« Der Chefinspektor hörte sich mit verkniffenem Gesicht die Erklärungen seines Mitarbeiters an. »Hat er nur viel Blut verloren oder…« »Vollständig heißt vollständig, Kenneth.« Dr. Sterling zuckte die Schultern und schaute auf die Leiche des Staatsanwalts hinunter. »In diesem Körper befindet sich nicht ein einziger Tropfen Blut mehr, das möchte ich beschwören. Genaueres werden wir bei der Obduktion erfahren, aber eines steht jetzt schon fest: mit rechten Dingen geht das nicht zu.« »Das kann ja heiter werden«, seufzte Chefinspektor Hempshaw. Rick Masters ging in die Hocke und betrachtete das wächserne Gesicht des Toten nachdenklich. »Innerhalb von zwei Tagen zwei Tote in Old Bailey«, murmelte er. »Das muß ganz einfach etwas mit einer früheren Gerichtsverhandlung zu tun haben, Kenneth!« Er blickte zu dem Chefinspektor hoch. »Haben Sie schon die Liste der von Richter Storrington Verurteilten zusammengestellt?« Hempshaw nickte und zeigte mit den ausgestreckten Armen die Länge an. »Eine endlose Namensliste«, sagte er düster. »Sie können sich nicht vorstellen, wie weit wir zurückgehen mußten. Zuerst haben wir alle Urteile herausgesucht und aufgeschrieben und dann zu jedem Verurteilten vermerkt, wann er entlassen wurde oder wird.« »Dasselbe machen Sie wohl jetzt auch bei dem Staatsanwalt, nicht wahr?« erkundigte sich Rick Masters. »Dadurch wird der Kreis der Verdächtigen weitgehend eingeengt. Es kommen nur mehr Personen in Frage, bei denen Storrington der Richter und Lindfield der Staatsanwalt war.« »Sie scheinen sich nicht genau in Old Bailey auszukennen«, stellte der Chefinspektor mit einem verzweifelten Verdrehen der 15 �
Augen fest. »Haben Sie eine Ahnung, in wie vielen Fällen Storrington und Lindfield zusammengearbeitet haben? Es müssen Hunderte sein. Die beiden waren ein in der Verbrecherwelt berüchtigtes Gespann.« »Setzen Sie einen Computer zum Vergleichen der beiden Listen ein«, schlug Rick vor. »Kluger Bursche«, ließ sich Dr. Sterling vernehmen. »Kenneth läßt bereits einen Computer im Yard heißlaufen.« »Ich scheine Sie unterschätzt zu haben, Kenneth«, sagte Rick Masters grinsend. Sein Gesicht verdüsterte sich sofort wieder, als er hinzufügte: »Wer wird der Nächste sein?« »Wie meinen Sie das?« fragte Chefinspektor Hempshaw scharf. Rick sah ihn erstaunt an. »Glauben Sie etwa, daß der unbekannte Rächer Schluß macht, nachdem er den Richter und den Staatsanwalt getötet hat? Da sind noch die Geschworenen und…« »Hören Sie auf, ich kann das nicht mehr ertragen!« Hempshaw stand kurz vor der Explosion. »Was meinen Sie, was ich mir seit gestern von meinen Vorgesetzten anhören muß? Die Gerichte müssen unantastbar sein und so weiter. Wenn jetzt auch noch Geschworene…« »Vorläufig steht ja noch nicht fest, ob Lindfield ermordet wurde«, wollte Rick ihn beruhigen, aber Dr. Sterling winkte ab. »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß es nicht normal ist, wenn ein Mensch innerhalb von Minuten sein gesamtes Blut verliert. Es ist Mord, nur kann ich noch nicht sagen, auf welche Weise er ausgeführt wurde.« Rick, der sich ebenso wie der Chefinspektor noch an die Hoffnung geklammert hatte, es vielleicht doch mit einem normalen Todesfall zu tun zu haben, zuckte resigniert die Schultern. »Dann können wir uns auf einiges gefaßt machen«, sagte er mit 16 �
leiser Stimme. »In den nächsten Tagen stehen uns noch unangenehme Überraschungen bevor.« »Ich mag es nicht, wenn Sie sich als Prophet betätigen!« fauchte Chefinspektor Hempshaw. »Sie haben nämlich meistens, recht.« * Rick Masters plante, sich nach dem Mittagessen ein wenig in Old Bailey umzuhören. Vielleicht erfuhr er von einem der Richter oder Staatsanwälte etwas, das ihm bei seinen Ermittlungen weiterhalf. Denn bis die fertigen Listen vom Computer des Yard ausgedruckt waren, konnte noch viel Zeit vergehen. Daran war nicht der Computer schuld, sondern die Menschen, die ihm viel zu langsam das Material einfütterten, das er zu verarbeiten hatte. Es galt Hunderte von Strafakten durchzuackern, und obwohl der Chefinspektor einen großen Stab von Beamten auf den Fall »Old Bailey« angesetzt hatte, war vor dem Abend kein Ergebnis zu erwarten. Rick mußte aber etwas unternehmen, einerseits um sich das Honorar zu verdienen, das ihm die Familie des ermordeten Sir Winston Storrington in Aussicht gestellt hatte, andererseits um weitere Morde zu verhindern. Damit er möglichst wenig Zeit verlor, suchte er sich ein Restaurant in der Nähe des Kriminalgerichts, in dem auch zahlreiche Rechtsanwälte und bei Old Bailey beschäftigte Juristen aßen. Rick setzte sich an einen Tisch in der Nähe des Fensters und beobachtete das Leben und Treiben auf der Straße, während er auf sein Steak wartete. Ein Schatten fiel auf seinen Tisch, und als er sich umdrehte, sah er vor sich einen untersetzten Mann mit schneeweißen Haaren stehen. Der Mann konnte trotz der weißen Haare nicht älter als fünfzig sein: Sein rundes Mondgesicht kam Rick Masters bekannt vor, und plötzlich fiel der Groschen. 17 �
Er kannte dieses Gesicht aus den Zeitungen. Bei großen Sensationsprozessen trat Richard Seton meistens als Verteidiger auf, und als solcher hatte er sich einen bekannten Namen in London gemacht. Dieser Mann war Richard Seton. »Verzeihen Sie, Sir, wenn ich störe«, sagte der Rechtsanwalt höflich. »Sie sind doch Mr. Masters, Rick Masters, der Privatdetektiv, wenn ich mich nicht irre?« »Sie irren sich nicht, Mr. Seton«, sagte Rick und bot dem Anwalt einen Stuhl an. »Woher kennen Sie mich?« »Wahrscheinlich daher, woher Sie mich auch kennen«, erwiderte Richard Seton und setzte sich. »Aus der Zeitung. Ich störe wirklich nicht?« »Wenn Sie mich in Ruhe mein Steak essen lassen, das der Kellner gerade bringt, stören Sie mich nicht.« Rick blickte erwartungsvoll dem Kellner entgegen, der tatsächlich das erwartete Steak brachte. »Oh, dann entschuldigen Sie mich«, sagte Seton sofort und wollte aufstehen. »Bleiben Sie!« Rick machte sich über das saftige Stück Fleisch her und bedeutete dem Anwalt, sitzen zu bleiben. »Höflichkeit tritt im Geschäftsleben zurück, und es handelt sich doch um Geschäftliches, wenn ich mich nicht irre«, ahmte er den Rechtsanwalt nach. Seton merkte die kleine Spitze und lächelte säuerlich. »Sehr richtig, Mr. Masters. Es hängt mit dem Tod von Sir Storrington und Mr. Lindfield zusammen.« Da wurde Rick Masters wirklich neugierig. Auf beiden Backen kauend, nickte er Seton aufmunternd zu. Der Rechtsanwalt griff in das Sakko seines tadellos sitzenden Maßanzuges und zog seine Brieftasche hervor. Er klappte sie auf, wobei zwei nur lose eingelegte Briefe zum Vorschein kamen. »Ich habe diese beiden Schreiben gestern beziehungsweise 18 �
heute erhalten«, erklärte Mr. Seton. »Jedes Mal kurz nach dem Tode Sir Storringtons und Mr. Lindfields. Und beide durch Eilboten. Lesen Sie, Mr. Masters, dann werden Sie meine Sorge verstehen!« Rick schob sich ein besonders großes Stück Fleisch in den Mund, sozusagen auf Vorrat, und öffnete die Briefe vorsichtig mit der Serviette, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Der Miene des Rechtsanwaltes nach zu schließen handelte es sich nämlich um etwas Kriminelles. Rick hatte sich nicht getäuscht Der erste Brief war kurz und lautete: SO WIE DIESES SCHWEIN WIRD ES AUCH DIR ERGEHEN, FETTWANST! Der zweite Brief war nicht viel länger: DEINE STUNDEN SIND GEZÄHLT, FETTWANST! ICH MACHE REINEN TISCH! Eine Unterschrift fehlte. »Haben Sie die Polizei informiert?« wollte der junge Privatdetektiv wissen. »Noch nicht.« Richard Seton wirkte hilflos. »Gestern maß ich diesem Schreiben keine Bedeutung bei. Ich erhalte gelegentlich Drohbriefe von ehemaligen Klienten, die mir die Schuld an einer zu hohen Verurteilung geben. Sie meinen, ich hätte sie nicht gut genug verteidigt.« »Und heute sehen Sie den Fall schon etwas anders«, sagte Rick Masters. »Verständlich, nach Lindfields Tod. Wer könnte Ihrer Meinung nach die Briefe geschrieben haben?« »Ich weiß es wirklich nicht.« Der Staranwalt duckte sich auf seinem Stuhl wie ein Vogel, der einen Adler niederstoßen sieht. Er hatte Angst, das war ihm auf einen einzigen Blick anzusehen. »Glauben Sie mir, ich weiß es nicht. Ich würde es Ihnen sonst sagen.« »Warum ausgerechnet mir?« fragte Rick, obwohl er die Antwort schon im voraus zu kennen glaubte. 19 �
»Weil ich möchte, daß Sie den Briefschreiber ermitteln«, erklärte der Anwalt. »Mr. Seton«, Rick hatte sein Steak restlos vertilgt und winkte dem Kellner, »ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie sich an die Polizei wenden sollten!« »Das werde ich auch tun. Aber ich möchte, daß Sie sich ebenfalls in die Ermittlungen einschalten zur größeren Sicherheit.« »Einen Kaffee und einen Kognak«, bestellte Rick Masters. Und zu dem Rechtsanwalt gewandt, fuhr er fort: »Außerdem muß ich Ihnen sagen, daß ich bereits den Auftrag habe, den Tod von Sir Storrington zu untersuchen. Damit hängt auch der Tod von Mr. Lindfield zusammen.« »Eben!« Richard Seton betrachtete den jungen Privatdetektiv, als hätte er ein kleines Kind vor sich, dem er mühsam das Dezimalrechnen beibringen müßte. »Diese beiden Briefe kamen jeweils knapp nach dem Tod eines der beiden Genannten. Sie müssen etwas mit diesen mysteriösen Todesfällen zu tun haben.« »Müssen nicht, können«, verbesserte ihn Masters. »Also gut, können etwas damit zu tun haben. Unternehmen Sie etwas, Mr. Masters, bitte! Nehmen Sie meinen Auftrag an!« flehte der Rechtsanwalt. Rick überlegte kurz, dann nickte er. »Also gut, aber nur unter einer Voraussetzung: falls ich zu dem Schluß komme, daß der Brief Schreiber nichts mit Storringtons und Lindfields Tod zu tun hat, gebe ich ihnen den Fall zurück. Einverstanden?« Der Rechtsanwalt nickte mit einem erleichterten Lächeln. »Jetzt fühle ich mich gleich besser«, sagte er. Rick bekam seinen Kaffee und seinen Kognak. Er hob das Glas und sah Richard Seton über den Rand hinweg an »Geben Sie gut auf sich acht«, sagte er ernst, »damit Sie sich nicht sehr bald wieder schlechter fühlen«, warnte er. »Die Briefe nehme ich an mich. 20 �
Wahrscheinlich haben Sie das Papier mit bloßen Fingern berührt?« »Ja, ich…« »Auch gut.« Rick zuckte die Schultern. »Ich möchte wetten, daß der Schreiber Handschuhe trug. Und die Großbuchstaben helfen auch nicht bei einem Schriftvergleich. Am besten wäre es, Sie würden sich eine Leibwache zulegen.« »Das hätte Sir Storrington und Mr. Lindfield auch nichts genützt«, wandte Richard Seton niedergeschlagen ein. »Da haben Sie recht«, gab Rick Masters zu. »Dann überlegen Sie wenigstens angestrengt, wen Sie in einem Prozess verteidigt haben, in dem Sir Storrington den Vorsitz und Mr. Lindfield die Anklage führte. Wenn Sie etwas wissen, rufen Sie sofort mich oder Scotland Yard an. Verlangen Sie Chefinspektor Hempshaw.« Der Rechtsanwalt schaute auf die Uhr. »In einer halben Stunde habe ich Verhandlung.« Er stand auf und deutete eine knappe Verbeugung an. »Vielen Dank, Mr. Masters.« Rick blickte ihm nach, während er durch das Lokal zum Ausgang lief. »Bedanken Sie sich erst, wenn Sie in einer Woche noch leben, Mr. Seton«, murmelte er. »Die Rechnung!« rief er laut und schob die beiden Drohbriefe in seine Tasche. Ein Anhaltspunkt aber würde er zum Mörder führen? * Scotland Yard war für Rick Masters bereits wie ein zweites Zuhause geworden. Er ging dort aus und ein, war den Torposten bestens bekannt und genoß sogar das Vorrecht, seinen dunkelgrünen Morgan auf dem Innenhof des Gebäudekomplexes abstellen zu dürfen. Das war nicht unerheblich, weil er sonst bei jedem Besuch Hempshaws durch halb Westminster hätte kreisen 21 �
müssen, ehe er einen Parkplatz gefunden hätte. Auch an diesem Nachmittag rollte der offene Roadster, Ricks schnittiger Sportwagen, auf den Hof von Scotland Yard. Der erfolgreiche Privatdetektiv flankte über die geschlossene Seitentür aus dem Auto und eilte leichtfüßig in das Gebäude. Chefinspektor Hempshaw blickte mit geröteten Augen von seinem Schreibtisch auf, als Rick in sein Büro fegte. »Um Ihre Kondition beneide ich Sie«, stellte er trocken fest, ohne eine Spur von Überraschung zu zeigen, daß Masters schon wieder bei ihm auftauchte. »Sie könnten an meiner Stelle die Computerlisten durchsehen, dann bekommen Sie auch tränende Augen!« »Ich will sie nicht durchsehen«, erklärte Rick Masters und setzte sich auf den harten Besucherstuhl vor dem Schreibtisch, »sondern ich möchte, daß Sie eine neue Liste aufstellen.« »Sie sind verrückt!« behauptete Hempshaw. »Ich bin froh, wenn ich mit meinen Listen zurande…« Rick Masters knallte ihm die beiden Drohbriefe auf den Schreibtisch, ohne sie mit bloßen Fingern zu berühren. Hempshaw merkte es und schob die Briefe mit einem Kugelschreiber in die richtige Lage. Er las sie und runzelte die Stirn. »An wen waren sie gerichtet?« fragte er knapp. »Richard Seton«, antwortete Rick Masters auch nicht ausführlicher. Chefinspektor Hempshaw pfiff durch die Zähne. »Sehr aufschlussreich«, sagte er. »Besteht ein Zusammenhang zu Storrington und Lindfield?« »Das weiß ich eben noch nicht.« Rick zündete sich eine Zigarette an und hörte, wie Hempshaw über Haustelefon der Spurensicherung die Anweisung gab, die Briefe auf Fingerabdrücke zu untersuchen. »Wie war das mit der Liste?« wollte Hempshaw wissen, nachdem die Briefe abgeholt waren. 22 �
»Nehmen wir an«, setzte ihm der junge Privatdetektiv auseinander, »daß Rechtsanwalt Seton das nächste Opfer des Rächers werden soll. Dann könnte Ihr Computer doch relativ schnell eine Liste erstellen von Personen, die…« »Verstehe.« Hempshaw winkte hastig ab. »Prozesse, in denen alle drei Juristen aufgetreten sind. Dazu brauche ich Angaben über Setons Fälle.« »Rufen Sie in seinem Büro an, dort bekommen Sie die Auskünfte!« Der Chefinspektor befolgte Ricks Rat. Auf Tonband zeichnete er die Angaben von Setons Kanzlei auf und bestellte einen seiner Mitarbeiter in sein Büro. »Füttern Sie damit den Computer«, wies ihn Hempshaw an und gab ihm das Tonband. »Beeilen sie sich, es ist dringend!« »Ein Menschenleben kann davon abhängen«, ergänzte Rick Masters, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Sie besprachen eine halbe Stunde lang den Fall von allen Seiten, kamen aber dabei nicht voran. »Fest steht nur, daß Staatsanwalt Lindfield und Richter Storrington keines natürlichen Todes gestorben sind«, schloß Chefinspektor Hempshaw, »obwohl wir bei beiden keine Ahnung haben, wie sie ums Leben kamen.« Die Spurensicherung meldete sich. »Nur ein Satz Fingerabdrücke von einer Person auf den Briefen«, gab Hempshaw an Masters weiter. »Die Abdrücke von Richard Seton, der so unvorsichtig war, die Briefe anzufassen«, folgerte Rick. »Wie weit ist die Computerliste?« Hempshaw wollte gerade zum Telefon greifen, als sein Mitarbeiter das Büro betrat und die sehnlichst erwartete Liste brachte. »Das war wirklich schnelle Arbeit«, lobte Hempshaw und vertiefte sich mit Rick Masters in die Liste. Sie umfasste nur fünf Namen. Hempshaw setzte einen Rotstift 23 �
an und strich einen durch. »Er ist vor einem halben Jahr gestorben«, erklärte er. »Der hier scheidet ebenfalls aus«, fuhr er fort. »Er sitzt noch im Gefängnis.« »Bleiben also drei Personen.« Rick notierte sich die Namen. »Keine besonders schweren Fälle und alle bereits vor mehr als zwei Jahren entlassen. Finden Sie das nicht seltsam?« »Warum seltsam?« Hempshaw verstand nicht, worauf sein Freund hinauswollte. »Weshalb haben sie sich nicht sofort gerächt? Weshalb beginnt die Mordserie erst nach mehreren Jahren?« »Vielleicht wegen der Vorbereitungen.« Hempshaw trommelte nervös auf seinen Schreibtisch. »Ich weiß es auch nicht, aber ich werde mich sofort um diese drei Leute kümmern. Was machen Sie, Rick?« »Ich will hören, was Richard Seton dazu zu sagen hat«, antwortete Rick Masters, klappte sein Notizbuch zu und steckte es ein. »Immerhin ist er doch der Hauptbetroffene, wenn unsere Vermutung stimmt.« »Hoffen wir, daß sie stimmt«, seufzte Hempshaw. »Sonst haben wir wieder eine Chance verloren, den Täter zu fangen und weitere Morde zu verhindern.« »Dann nichts wie los!« Während Rick aus dem Büro des Chefinspektors lief, hörte er, wie Hempshaw seine Befehle ins Telefon bellte. Die Polizeiaktion war auf vollen Touren angelaufen. * Rechtsanwalt Richard Seton, der berühmte Strafverteidiger, hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Zwei Verhandlungen am Vormittag, eine am Nachmittag, dazu noch Büroarbeit. Und seit Jahren hatte er keinen richtigen Urlaub mehr eingelegt. Zudem hatte er keine Ehefrau, die ihn an seine Gesundheit erin24 �
nerte. Diesen Mangel bekam er auch zu spüren, als er gegen sechs Uhr abends endlich in seinem Haus in Westminster ankam. Seine Haushälterin hatte nämlich ihren freien Tag, so daß es nur ein kaltes Abendessen gab. Richard Seton hätte natürlich in ein Restaurant gehen können, aber erstens war er dazu zu müde, und zweitens wäre seine »Perle« tödlich beleidigt gewesen, hätte er den von ihr zubereiteten Fleischsalat im Eisschrank unberührt gelassen. Der Strafverteidiger hatte die Stille im Haus bisher nie als drückend oder beängstigend empfunden, aber seit am Vormittag Staatsanwalt Lindfield auf so schreckliche Weise gestorben war, hatte er ständig das Gefühl, von einem unsichtbaren Augenpaar beobachtet zu werden. Er glaubte sich belauert und verfolgt, und es fehlte nicht viel, so hätte er mehrmals an diesem unglückseligen Tag die Nerven verloren. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, die Haushälterin hätte keinen freien Tag, damit er nicht allein daheim sein mußte. Er versuchte, seine Depressionen und Ängste dadurch zu vertreiben, daß er den Fernseher mit großer Lautstärke anstellte und in den Zimmern die Lichter einschaltete, obwohl es draußen erst dämmerte. Außerdem überlegte er, ob er ein paar Bekannte einladen sollte, doch machte sich wieder seine Müdigkeit bemerkbar. Er würde noch eine Flasche Wein trinken, ein wenig lesen und zeitig schlafen gehen. Am nächsten Morgen warteten schon wieder die nächsten Verhandlungen auf ihn. Richard Seton holte aus einer Schublade seines Schreibtisches den Schlüssel zum Weinkeller, der zwei Geschosse unter der Erdoberfläche lag. Das Haus war eines der ältesten Gebäude des Viertels und befand sich seit Generationen im Besitz der Familie Seton. Es war schmalbrüstig, so daß auf jeder Etage nicht mehr als drei Zimmer untergebracht waren, und wegen der kleinen Grundfläche hatte man zwei Kellergeschosse gegraben. 25 �
Der Rechtsanwalt begann den Abstieg in die Tiefe. Im ersten Keller befanden sich die normalen Vorratsräume für Heizmaterial und Lebensmittel. Er schob den reichverzierten Schlüssel in das mächtige Schloß einer dicken Holztür, mit der die Treppe hinunter in den zweiten, den Weinkeller, verschlossen war. Laut knackend sprang das Schloß auf. Knarrend und quietschend schwang die Tür in den breiten, rostigen Angeln zurück. Richard Seton tastete nach dem Lichtschalter. Elektrisches Licht, das war die einzige Spur von moderner Technik in diesen alten Gewölben. Er fand den Schalter und drückte ihn. Gleichzeitig spürte er, wie etwas über seine Hand lief. Mit einem gellenden Aufschrei schlenkerte er seine Hand. Im Licht der trüben Kellerlampen sah er die kleine schwarze Spinne, die durch seine heftige Bewegung auf den Boden geschleudert wurde. Richard Seton schüttelte sich vor Ekel. Es dauerte fast eine Minute, bis er sich wieder beruhigt hatte. Viele Menschen mögen Spinnen nicht, aber er hatte einen übertriebenen Abscheu vor diesen Tieren. Er wußte, daß sie harmlos und sogar nützlich waren, aber wie manche Menschen nicht über einen großen freien Platz gehen können, so ertrug er nicht den Anblick einer Spinne, schon gar nicht die Berührung. Der Wein! Seton verdrängte die Gedanken an die Spinne, die ihm einen solchen Schrecken eingejagt hatte, und tappte die feuchte Kellertreppe hinunter. Modrige Luft schlug ihm entgegen, Geruch nach nassen Steinen und Erde. Er passierte eine der in großen Abständen angebrachten Lampen. Sein Schatten wanderte an ihm vorbei, überholte ihn und fiel riesengroß auf die Kellerwand vor ihm. Er hatte den Boden des Gewölbes erreicht. Vor ihm waren Hunderte von Weinflaschen gestapelt. In Kennerkreisen sprach 26 �
man über Richard Seton als einen der größten Weinsachverständigen. Stolz glitt sein Blick über die Regale, fiel auf eine staubbedeckte Flasche. Er zog sie fast liebevoll aus ihrem Fach und hielt sie gegen das Licht an der Decke. Die Flasche entfiel seiner Hand und zerbarst klirrend zu seinen Füßen. Der kostbare Wein spritzte über die Hose seines teuren Anzuges, doch Richard Seton achtete nicht darauf. Aus vor Grauen verdrehten Augen starrte er zur Decke des Gewölbes. Er begann am ganzen Körper zu zittern, wankte, tastete nach einem Halt. Sein Gesicht verfärbte sich, das Blut schoß ihm in die Wangen. Die Adern an seiner Stirn schwollen an, als würden sie jeden Moment platzen. Seine Lippen bebten und formten lautlos Worte. Sein Verstand versagte. Ein klägliches Wimmern, wie das Winseln eines Hundes, brach aus seinem Mund, schwoll an, bis es zu einem entsetzlichen Brüllen wurde. Dutzende, nein, Hunderte von Spinnen saßen dort oben an der Decke, ineinander verschachtelt mit ihren langen, teils behaarten Beinen. Die ganze Decke war überzogen mit einem lebenden, zuckenden schwarzen Schleier aus diesen Tieren, vor denen er sich so sehr ekelte. Richard Seton verlor das Gleichgewicht. Er stürzte rücklings zu Boden und blieb wie gekreuzigt liegen, Arme und Beine weggespreizt. Sein Kopf war gegen die Steine geschlagen, aber der Aufprall betäubte ihn nicht. Bei vollem Bewußtsein mußte er miterleben, was er sich in seinen schlimmsten Alptraum niemals vorgestellt hatte. Wie auf ein geheimes Zeichen ließen sich alle Spinnen gleichzeitig fallen. Die wenigen Sekunden dehnten sich für den Menschen zu Ewigkeiten. Gleich einer schwarzen Wolkendecke senkte sich die ineinander verschlungene Masse zu Boden, 27 �
bedeckte den ganzen Keller. Seton wurde von den Tieren eingehüllt. Er schrie, daß er meinte, seine Lungen würden bersten. Er schlug und trat um sich, wälzte sich, doch die Spinnen strömten aus allen Richtungen zusammen. Das Kribbeln auf seiner Haut war unerträglich. Sie liefen über sein Gesicht; seine Hände, gerieten in sein Hemd. Seton blieb völlig erschöpft liegen. Nur mehr leise vor sich hinwimmernd, wurde er von den Spinnen wie mit einem schwarzen Leichentuch zugedeckt. * Rick Masters hatte nicht weit von Scotland Yard zu dem Haus des Strafverteidigers Seton zu fahren. In einer stillen Straße hielt er vor einem schmalbrüstigen Gebäude, an dem nur ein kleines, schlichtes Schild verkündete, daß dort Richard Seton wohnte. Rick parkte den Morgan, stieg aus und stieg die kurze Steintreppe hinauf. Sie überspannte den freien Raum zwischen Bürgersteig und Hausmauer, der durch einen Zaun gesichert war und etwa ein Stockwerk tief war. Blinde Fenster führten in diese tiefe Rinne, Kellerfenster. Rick Masters klingelte, doch nichts im Haus rührte sich. Dabei war er sicher, daß Seton daheim war, weil in allen Räumen Licht brannte. Die Klingel schrillte so laut, daß man sie im ganzen Haus hören mußte. Es gab einige Erklärungen, warum der Anwalt nicht zur Tür kam. Er wollte nicht gestört werden, oder er saß gerade in der Badewanne, oder er hatte das Radio so laut angestellt, daß er die Klingel trotz des schrillen Tons überhörte. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sich der junge Privatdetektiv mit einer dieser Erklärungen zufrieden gegeben und wäre unverrichteter Dinge wieder abgezogen, aber seit die Mordserie 28 �
an Juristen begonnen und er die beiden Drohbriefe an Seton gelesen hatte, hatte sich Misstrauen in ihm gleichsam festgefressen. Den Zeigefinger auf den Klingelknopf gepresst, trat Rick Masters unruhig von einem Fuß auf den anderen Rick zog den Finger für einen Moment zurück, damit er hören konnte, ob sich im Haus etwas rührte. Er legte das Ohr an die Tür und strengte sich an, aber drinnen blieb alles totenstill, abgesehen von einem ziemlich laut eingestellten Radio oder Fernseher. Das Misstrauen und gleichzeitig die Angst wuchsen. Licht und Radio das bewies doch, daß der Anwalt daheim war. Und inzwischen müßte er auch auf das Klingeln reagiert haben. Bei einem solch höllischen Konzert stieg jeder sogar aus der Badewanne. Rick Masters wollte wieder den Druckknopf bearbeiten, als sein Finger in der Luft erstarrte. Vorsichtig schaute er sich nach allen Seiten um. Niemand zeigte sich an den Fenstern der benachbarten oder gegenüberliegenden Häuser. Auf der Straße waren keine Fußgänger unterwegs, auch keine Autos, und die Fenster der Häuser blieben geschlossen. Und trotzdem war Rick sicher, eine menschliche Stimme gehört zu haben, ganz in seiner Nähe. Er konnte sich kaum geirrt haben. Er legte den Kopf ein wenig auf die Seite und lauschte angespannt in die Stille. Da war es wieder ein leises, lang gezogenes Stöhnen! Rick ging in die Hocke und neigte sich vor. Endlich hatte er festgestellt, woher dieses Stöhnen kam: aus der Tiefe, aus einem der blinden, schmutzverklebten Fenster ein Stockwerk unter ihm, in dem künstlichen Graben entlang der Hauswand. Und gleichzeitig begriff Rick, daß dort unten ein Mensch nicht stöhnte, sondern aus Leibeskräften schrie, sonst hätte er auf dem Straßenniveau die Stimme überhaupt nicht hören können. Dort unten schrie und brüllte ein Mensch in Todesnot! Und das 29 �
mußte Richard Seton sein! Für Rick Masters gab es kein langes Überlegen. Er stürmte die kurze Treppe zurück auf den Bürgersteig. Dann schwang er sich über das Schutzgitter, das verhindern sollte, daß Fußgänger in die Tiefe stürzten. Auf der anderen Seite ließ er sich herunter sinken, bis er sich nur mehr mit den Händen auf Höhe des Pflasters an die Gitterstäbe klammerte. Seine Füße schwebten noch immer fast mannshoch über dem Steinboden des künstlichen Grabens. Der Sprung war hoch, aber nicht gefährlich. Rick ließ das Gitter los, fiel in die Tiefe, federte ab und fing den Schwung mit den Händen ab. Er schnellte sich an eines der Fenster. Nun hörte er das Schreien deutlicher, auch wenn es noch sehr gedämpft klang. Es mußten sich starke Türen oder zahlreiche Räume zwischen ihm und Seton befinden. Rick trat zwei Schritte zurück, zielte, und trat mit voller Wucht gegen das Fenster, das in kleine Abschnitte eingeteilt war und einen Metallrahmen hatte. Die Stäbe bogen sich unter seinem Tritt, Glas splitterte, aber der junge Privatdetektiv konnte noch nicht in den Keller gelangen. Verbissen bearbeitete er das Fenstergitter, bis es endlich krachend und klirrend nach innen fiel. Ohne auf seine Kleider zu achten, ließ sich Rick Masters durch die entstandene Öffnung in die Tiefe gleiten. Das dämmrige Licht, das in den Kellerraum fiel, genügte nicht, um Einzelheiten erkennen zu lassen. Rick löste seinen Griff. Er landete weich und rutschte auf einem Haufen Kohlen hinunter. Setons Schreie, die nur mehr vom Atemholen unterbrochen wurden, brachten Ricks Nerven zum Beben. Was mußte der Mann leiden, daß er so fürchterlich brüllte. Masters ertastete die Tür, stieß sie auf und stand auf einem 30 �
schwach erleuchteten Korridor im Keller. Da war es für ihn nicht mehr schwer, sich weiter zu orientieren. Er mußte nur dem Schall nachgehen, um an die offen stehende Bohlentür zu gelangen. So schnell er es auf der feuchten, glitschigen Treppe schaffte, rannte er tiefer hinunter in den Weinkeller. An der Einmündung der Treppe in das Gewölbe blieb Rick fassungslos stehen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Ekel und Abscheu. Was er vor sich auf dem Kellerboden sah, war einfach unfassbar. Vor ihm lag ein zuckendes und wimmerndes Bündel Mensch Richard Seton. Vor seinem verkrampften Mund stand dicker Schaum. Er hielt die Augen fest geschlossen, und sein früher so freundlich wirkendes rundliches Mondgesicht war nur mehr eine verzerrte Maske. Es war blau angelaufen und so entstellt, daß man den Anwalt kaum wieder erkennen konnte. Seton hielt seine Hände weit von sich gestreckt, die Finger gespreizt, die Nägel in den Steinboden verkrallt. Sein Körper hob und senkte sich in unkontrollierten Zuckungen, von unzähligen Spinnen bedeckt, die an ihm klebten wie Fliegen am Honig. Rick konnte sich nicht erklären, wo so viele dieser Tiere herkamen. In ganz London konnte es nicht so viele Spinnen geben, wie hier den Anwalt marterten. Sie taten ihm nichts, sie verletzten ihn nicht, doch Rick konnte sich die Wirkung auf ihn vorstellen, und er sah rein äußerlich ungefähr, in welchem seelischen Zustand sich der Anwalt befand. Verzweifelt blickte sich Rick nach einer Möglichkeit um, wie er Seton helfen konnte. Er erinnerte sich daran, oben im ersten Kellergeschoß im Vorbeilaufen einen aufgerollten Gartenschlauch gesehen zu haben. Blitzschnell jagte Rick die Treppe hinauf. Da hing der Schlauch, ordentlich aufgewickelt und über einen starken Haken gehängt. 31 �
Mit zitternden Fingern schloß Rick das eine Schlauchende an einen Wasserhahn an, drehte auf volle Stärke auf und riß die Schlauchrolle vom Haken. Mit einem lauten Klatschen fiel sie zu Boden. Der junge Privatdetektiv versetzte der Rolle einen kräftigen Stoß, daß sie über die Kellertreppe nach unten hüpfte. Mit geschickten Griffen sorgte er dafür, daß sie sich richtig öffnete. Unten angekommen, richtete Rick das Ende des Schlauches, der zum Glück lang genug war, auf die Horden von Spinnen. Der Wasserstrahl zischte über den Steinboden, schwemmte die zappelnden und krabbelnden Massen weg, bis sie in einem Abfluss in einer Ecke verschwanden. Nur langsam und vorsichtig tastete sich Rick mit dem Wasserstrahl an Seton heran, damit der Mann nicht einen neuerlichen Schock durch das kalte Wasser erlitt. Doch Richard Seton schien überhaupt nichts mehr wahrzunehmen, was mit ihm geschah. Er veränderte weder seine Stellung, noch seine verkrampfte Haltung von Kopf und Armen. Rick brauchte Minuten, bis er den größten Teil der Spinnen weggeschwemmt hatte. Erst danach konnte er den Schlauch fallen lassen und sich um den Rechtsanwalt kümmern. Rick beugte sich zu ihm hinunter, berührte ihn an der Schulter. Keine Reaktion. »Mr. Seton!« rief der Privatdetektiv, »Mr. Seton, ich bin es, Rick Masters! Mr. Seton! Sie sind in Sicherheit, es ist alles vorbei! Haben Sie keine Angst mehr!« Es nützte nichts. Seton war blind und taub für alles. Er merkte nicht einmal, daß Masters seinen Ekel vor den an seinem Körper klebenden toten Spinnen überwand, ihn hochhob und die Treppe hinaufschleppte. Es war ein schweres Stück Arbeit, den massigen Rechtsanwalt bis hinauf in die Halle des Hauses zu bringen. Rick war völlig 32 �
außer Atem und schweißgebadet, als er Seton endlich auf den Teppich gleiten ließ. In diesem Moment dröhnten heftige Schläge gegen die Tür. Gleichzeitig klingelte es Sturm. Rick wankte zur Tür und öffnete. Zwei Polizisten standen draußen. Sie stutzten, als sie Masters vor sich erblickten. Er sah nach der Klettertour durch den Keller und die anschließende Vernichtung der Spinnenarmee nicht so aus, als würde er auf einen Empfang im Buckingham Palast gehen. Dann fiel der Blick der Polizisten auf die reglose Gestalt des Strafverteidigers. »Was haben Sie mit Mr. Seton gemacht?« rief einer der Polizisten. Er trat an Masters vorbei in die Halle und beugte sich zu dem Ohnmächtigen. Mit einem Würgen richtete er sich wieder auf. Der zweite Polizist behielt Rick wachsam im Auge, damit er jeden Fluchtversuch des vermeintlichen Verbrechers verhindern konnte. Rick Masters zog mit einer müden Handbewegung seinen Ausweis aus der Tasche und hielt ihn den Hütern des Gesetzes hin. »Ich habe Seton in diesem Zustand gefunden«, sagte er leise. »Rufen Sie Scotland Yard an und… Besser, ich rufe an.« Die Polizisten waren durch das Aussehen Richard Setons, das entstellte Gesicht, den Schaum vor den Lippen und die toten Spinnen so schockiert, daß sie keinen Einwand hatten, als Rick Masters an das Telefon in der Halle trat und die Nummer des Yard wählte. »Wieso sind Sie hier?« fragte er die Beamten, während er auf die Vermittlung wartete. »Ein Nachbar hat beobachtet, daß jemand in den Keller eingedrungen ist«, gaben sie Auskunft. »Waren Sie das?« Rick nickte, dann drehte er sich dem Telefon zu. »Kenneth? Kommen Sie sofort in Setons Haus! Nein, es ist wichtig. Lassen 33 �
Sie alles liegen und stehen. Seton ist in einer schrecklichen Verfassung. Bringen Sie einen Arzt mit und am besten auch gleich einen Nervenarzt! Falls Seton überhaupt noch jemand helfen kann, dann ein Spezialist!« Er legte auf und gab den beiden Polizisten eine knappe Schilderung, warum er gewaltsam in das Haus eingedrungen war. Sie schienen nicht so recht zu wissen, ob sie ihm glauben sollten oder nicht, aber das Auftauchen von Chefinspektor Hempshaw, den sie kannten, zerstreute alle Bedenken. Hempshaw brachte im Schlepptau Dr. Sterling, den alten Polizeiarzt seiner Mordkommission. Die beiden blieben wie angewurzelt stehen, als sie Richard Seton sahen. »Das darf nicht wahr sein!« flüsterte Hempshaw bleich. »Rick, das ist scheußlich, das ist teuflisch.« Dr. Sterling dachte bereits wieder praktischer. »Wenn dieser Mann eine Phobie, eine übertriebene Angst, vor Spinnen hat, kann es für ihn einen bleibenden geistigen Schaden bedeuten.« Er kniete neben dem Rechtsanwalt nieder und zog dessen Augenlider hoch. Mit einer resignierenden Geste ließ er Sie wieder fallen. »Schwerer Schockzustand«, stellte er fest. »Ich würde sagen, sein Zustand ist kritisch.« »Wie ist das geschehen?« fragte der Chefinspektor, der sich bemühen mußte, sachlich zu bleiben. »Und wo?« Rick Masters erzählte ausführlicher, wie er das Stöhnen gehört hatte und in den Keller eingestiegen war. Als er schilderte, welchen Anblick er unten im Weinkeller vorgefunden hatte, wurden alle blaß, sogar Dr. Sterling, der sonst über alles eine spitze Bemerkung bereit hatte, schwieg erschüttert. »Nur ein satanisches, krankes Gehirn kann einen solchen Plan ausbrüten«, sagte Chefinspektor Hempshaw nach einer Weile dumpf. »Sie glauben also auch nicht an einen Zufall, ein seltenes aber 34 �
natürliches massiertes Auftreten von Spinnen?« fragte Rick Masters. »Ich werde Zoologen und andere Spezialisten auf diesen Weinkeller ansetzen«, erwiderte Hempshaw. »Aber ich glaube nicht, daß Mr. Seton freiwillig das Gewölbe betreten hätte, wenn es dort unten zahlreiche Spinnen gegeben hätte. Und von einem Tag auf den anderen sollten unzählige Tiere in dem Keller auftauchen? Glauben Sie daran, Rick?« Der junge Privatdetektiv schüttelte den Kopf. Dann erinnerte er sich an etwas. »Haben Sie keinen Nervenarzt benachrichtigt, Kenneth?« Chefinspektor Hempshaw deutete auf Dr. Sterling. »Wir haben sofort nach Eintreffen Ihrer Nachricht Dr. Van Ness angerufen, eine Kapazität. Er hat versprochen, daß er kommt, und wir haben ihm einen Streifenwagen zur Verfügung gestellt, damit es schneller…« Hempshaw unterbrach sich, weil die schrille Alarmklingel eines Polizeiautos zu ihnen drang. »Das wird er sein«, sagte der Chefinspektor. Er lief zum Eingang und kam mit einem großgewachsenen Mann im dunklen Anzug zurück. »Dr. Van Ness«, stellte er vor, während sich der Arzt bereits an eine erste Untersuchung des Strafverteidigers machte. Hempshaw erklärte, was vorgefallen war, und das Gesicht von Dr. Van Ness wurde immer ernster. »Der Zustand von Mr. Seton ist bedenklich«, stellte er zum Schluß fest. »Wir bringen ihn jetzt in meine Klinik. Hoffentlich kann ich noch etwas für ihn tun.« Rick Masters beobachtete verbissen den Abtransport des Opfers dieses heimtückischen Anschlages. Die Spinnen waren nicht aus natürlichen Gründen so zahlreich in dem Weinkeller aufgetreten, das konnte sich Rick nicht vorstellen, vor allem nicht nach den vorangegangenen mysteriösen Todesfällen. Zwar würden die Wissenschaftler noch Tage; brauchen, bis sie ein 35 �
endgültiges Untersuchungsergebnis über den Weinkeller lieferten, doch darauf durfte der junge Privatdetektiv nicht warten. In der Zwischenzeit konnten zu viele Dinge geschehen. Rick Masters faßte kurz den Stand der Ermittlungen zusammen. Chefinspektor Hempshaw half ihm dabei. »In drei Fällen hat Staatsanwalt Lindfield die Anklage vertreten, Richard Seton die Verteidigung geführt und Sir Storrington das Urteil gesprochen«, sagte Rick Masters. »Haben Sie die drei Männer schon überprüft, Kenneth? Sie wollten doch damit beginnen, als ich den Yard verließ?« »Einer der drei scheidet auch aus.« Hempshaw blätterte in einem kleinen schwarzen Notizbuch. »Chambers ist vor einer Woche bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Also sind nur mehr zwei ehemalige Sträflinge auf freiem Fuß.« »Ist ja ausgezeichnet«, freute sich Rick. »Der Kreis der Verdächtigen engt sich ein. Was unternehmen Ihre Leute?« »Ich habe Ihnen Anweisung gegeben, vorläufig noch nicht einzugreifen«, antwortete der Chefinspektor. »Die Verdächtigen werden überprüft, damit sie nicht zu früh Wind von der Sache bekommen.« Rick Masters schien Hempshaw gar nicht gehört zu haben. Erstarrte auf einen Punkt an der Wand, obwohl es dort nichts zu sehen gab. »Sie sind mit meinen Maßnahmen nicht einverstanden, Rick?« fragte der Yard-Beamte nach einer Weile, als ihm das beharrliche Schweigen seines Freundes zu lange dauerte. »Ich habe nur überlegt«, erklärte der junge Privatdetektiv. »So ganz gefällt mir die Sache mit den beiden entlassenen Sträflingen nicht.« »Kann ich mir vorstellen.« Hempshaw deutete auf sein Notizbuch. »George Norland und Joe Dolus sind keine Leuchten der Wissenschaft. Ich weiß auch nicht, woher einer von ihnen die 36 �
Fähigkeiten haben sollte, solch raffinierte Morde auszuklügeln.« »Eben.« Rick nickte. »Aber ich denke dabei sicher an etwas ganz anderes als an Sie, Kenneth. Ich habe mir vorgestellt, wie man überhaupt Morde in dieser Form durchführen kann, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es für einen normalen Menschen unmöglich ist.« Chefinspektor Hempshaw musterte den jungen Privatdetektiv aus zusammengekniffenen Augen. »Rick«, sagte er mit einem leisen Grollen in der Stimme, »Mann, fangen Sie nicht schon wieder an!« Rick Masters kannte die empfindliche Stelle des Chefinspektors. Schon oft hatte Hempshaw feststellen müssen, daß übernatürliche, übersinnliche Kräfte in einem Fall eine wichtige Rolle spielten, doch immer noch wehrte er sich bis zuletzt dagegen, einen Fall anders zu behandeln, als es dem routinemäßigen Ermittlungslauf der Polizei entsprach. Chefinspektor Hempshaw war ein eingefleischter Kriminalist, in dessen strengem Denken das Übersinnliche keinen Platz hatte. Und genau deshalb befürchtete Hempshaw, daß Rick wieder von übernatürlichen Einflüssen sprechen würde. Der junge Privatdetektiv war schlau genug, sofort das Thema zu wechseln. »Ich werde mir einmal die beiden Verdächtigen näher ansehen«, sagte er schnell. »Vielleicht finde ich etwas heraus, das Ihnen und mir weiterhilft.« »Machen Sie die Pferde nicht scheu«, warnte der Chefinspektor. »Wir haben nichts davon, wenn die Kerle untertauchen und wir sie nicht mehr finden.« »Stehen Sie denn nicht unter Bewachung?« fragte Masters erstaunt. »Natürlich, das schon.« Hempshaw machte eine ungeduldige Handbewegung. »Aber Sie selbst kennen doch die Möglichkeit von solchen Leuten wie Norland und Dollis. Sie haben überall 37 �
gute Freunde, die ihnen weiterhelfen, und wir können nicht ganz London nach ihnen auf den Kopf stellen.« »Es wird schon nicht so schlimm werden«, versuchte Rick ihn zu beruhigen, obwohl er selbst nicht ganz davon überzeugt war. * Rick Masters nahm sich vor, bei seinen Besuchen bei George Norland und Joe Dollis, den entlassenen Sträflingen, gleichzeitig auf mehrere Dinge zu achten. Wer kam als Schreiber der anonymen Drohbriefe in Frage, die Richard Seton erhalten hatte? Wer verfügte über die wissenschaftlichen Fähigkeiten, die außergewöhnlichen Verbrechen durchzuführen, denen bisher drei Spitzenjuristen des Landes zum Opfer gefallen waren? Wer verfügte über außerordentliche, übersinnliche Kräfte? Daß keiner der drei Fragen leicht zu beantworten sein würde, war Rick von Anfang an klar, aber davon durfte er sich nicht abschrecken lassen. Der junge Privatdetektiv begann mit George Norland, der wegen bewaffneten Raubüberfalls eine Strafe von sieben Jahren verbüßt hatte. Er arbeitete als Automechaniker. Norland öffnete sofort auf Ricks Klingeln, obwohl es bereits neun Uhr abends war. Er wohnte in Shoreditch, nur ein kurzes Stück nördlich der City. Die Gegend war nicht gerade schön, aber es war ein anständiges Viertel. Die Leute wirkten ein wenig ärmlich aber sauber. Das Haus, in dem Norland eine Wohnung im obersten Stockwerk bewohnte, unterschied sich angenehm von Gebäuden, in denen Rick normalerweise ehemalige Sträflinge aufsuchen mußte. Im Gegensatz zu den meistens nur als Rattenlöcher zu bezeichnenden Unterkünften war es ein zwar altes, aber gut geführtes Mietshaus ohne jeden Luxus, doch auch ohne jeden 38 �
Geruch nach Laster und Verbrechen. Auch George Norland machte einen angenehmen Eindruck auf Rick Masters, als er ihm in der geöffneten Tür gegenüberstand. Er mochte vielleicht dreißig Jahre alt sein, hatte dunkle Haare und dunkle Augen und einen schmalen, energischen Mund. »Was wollen Sie?»fragte er mißtrauisch. Masters zeigte ihm seinen Ausweis und schlug instinktiv den richtigen Ton an. »Sie brauchen mir nicht zu antworten, Mr. Norland, aber ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir ein paar Auskünfte geben könnten.« »Rick Masters, Privatdetektiv«, las der ehemalige Sträfling aus dem Ausweis. »Masters? Den Namen habe ich doch schon gehört? Ja, ich erinnere mich. Meinetwegen, kommen Sie rein, Mr. Masters.« Er gab den Eingang frei, und Rick betrat eine einfache Wohnung, in der offensichtlich die Frau fehlte, in der aber trotzdem leidlich Ordnung herrschte. Wenn er dagegen an sein eigenes Wohnbüro dachte, war er sogar versucht, diese Wohnung als blitzblank aufgeräumt und tadellos in Ordnung zu bezeichnen. Sie setzten sich auf eine abgeschabte Sesselgarnitur im winzigen Wohnzimmer, in dem der Fernseher lief. Norland schaltete ihn aus und stellte eine Flasche Gin und zwei Gläser auf den Tisch. »Ich arbeite im Auftrag der Familie Storrington«, begann Rick vorsichtig. Sofort verschloss sich Norlands Gesicht. »Daher also weht der Wind«, murmelte er. »Kann man mich nicht in Ruhe lassen? Das sind doch alte Geschichten, für die ich gebüßt habe. Ich arbeite als Mechaniker, und ich verdiene mein Geld auf anständige Weise. Ich will nicht immer erinnert werden…« »Ich habe nicht vor, Ihnen Schwierigkeiten zu machen, Mr. Norland«, unterbrach ihn Rick. »Ich habe gehofft, daß Sie mir helfen können. Storrington, Lindfield, Seton sagen Ihnen die Namen etwas?« 39 �
Norland trank seinen Gin hastig aus und schenkte sich nach. »Natürlich, und Sie wissen das, sonst wären Sie nicht hier. Storrington hat mich verknackt, Lindfield hat für den Staat rausgeholt, was an Jahren drin war, und Seton hat für mein Geld getan, was er konnte. Sonst noch was?« »Jemand hat Drohbriefe an Richard Seton geschickt«, sagte Rick Masters geradeheraus. Er erhoffte sich nicht mehr viel an neuen Informationen. »Wahrscheinlich ist der Schreiber dieser Briefe auch ein Mörder.« »Seton?« staunte Norland. »Ist ihm auch etwas passiert?« »Er ist zwar nicht tot, aber man hat ihn so lange gefoltert, bis er den Verstand verloren hat.« »Seton?« Der Automechaniker war fassungslos. Mit bebenden Fingern führte er das Glas zum Mund, verschüttete die Hälfte und trank den Rest gierig aus. »Seton war anständig« sagte er eindringlich. »Glauben Sie mir, Mr. Masters, auf eine gewisse Art mochte ich den Fettwanst sogar. Er hat sich wirklich vor Gericht bemüht, und nur ihm habe ich es zu verdanken, daß ich schon wieder auf freiem Fuß bin. Mr. Masters, ziehen Sie mich nicht in eine Sache hinein, mit der ich nichts zu tun habe und auch nichts zu tun haben will. Ich möchte Ruhe haben! Die Geschichte damals mit dem Überfall, das war eine Jugendsünde.« »Ich glaube Ihnen ja«, beruhigte ihn der junge Privatdetektiv. »Ich dachte nur, Sie könnten mir weiterhelfen. Sagt Ihnen der Name Dollis etwas, Joe Dollis?« George Norland stutzte. »Der krumme Joe?« fragte er verblüfft. »Was hat denn der mit der ganzen Sache zu tun? Natürlich kenne ich ihn. Wir waren gleichzeitig in Wandsworth.« Rick war überrascht, daß die beiden Verdächtigen zur gleichen Zeit ihre Strafe im selben Zuchthaus verbüßt hatten. Ob das nicht mehr als ein Zufall war? 40 �
Außerdem war Ricks Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß Norland von dem Strafverteidiger als »Fettwanst« gesprochen hatte. So war Seton auch in dem Drohbrief genannt worden. Es mußte nichts zu sagen haben, denn bei der beachtlichen Leibesfülle des Anwalts konnte leicht jemand auf diesen Spitznamen verfallen. »Hat Joe Dollis jemals davon gesprochen, daß er sich an dem Richter oder dem Staatsanwalt rächen will?« fragte Rick. »Oder war er wütend auf Mr. Seton?« »Lieber Himmel«, seufzte Norland. »Wer ist nicht sauer auf den Richter und den Staatsanwalt, solange er im Knast sitzt. Natürlich hat Dollis auf Storrington und Lindfield geschimpft, aber ganz besonders auf Seton. Irgendwie schob er dem Verteidiger einen Teil seiner Strafe in die Schuhe. Er hat sich verschaukelt gefühlt, glaube ich.« »Ich suche nach jemandem, der mit allen drei Opfern in seinem Prozess zu tun hatte und sich an ihnen rächen wollte«, erklärte Masters endlich dem ehemaligen Sträfling. »Vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein, Mr. Norland, dann können Sie mich jederzeit unter dieser Nummer anrufen.« Er schob ihm seine Visitenkarte zu. »Wenn ich nicht daheim bin, meldet sich ein automatischer Anrufbeantworter. Dann können Sie eine Nachricht für mich hinterlassen.« »Sie wollen schon gehen?« fragte George Norland, als der Privatdetektiv aufstand. »Ich möchte heute Abend noch etwas erledigen«, antwortete Masters. »Jedenfalls vielen Dank, daß Sie mir geholfen haben, Mr. Norland. Vielleicht sehen wir uns bald wieder.« Norlands Gesicht war nicht anzumerken, ob er sich über diese Aussicht freute. * 41 �
Auf der Straße vor George Norlands Haus sah sich Rick Masters unauffällig um, konnte jedoch keinen Bewacher von Scotland Yard entdecken. Vermutlich war er gut versteckt. Rick ging zu seinem dunkelgrünen Morgan und fuhr los. Der ›krumme Joe‹, wie Norland seinen ehemaligen Mitgefangenen genannt hatte, wohnte eine halbe Autostunde entfernt, so daß Rick genug Zeit hatte, das eben Gehörte zu verarbeiten. Er hielt George Norland kaum für den Schuldigen an dem Tod von zwei Juristen und dem seelischen Zustand des dritten. Der Mann hatte ehrlich gewirkt, als er versicherte, er wolle mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Ob er übersinnliche Kräfte hatte, war nicht festzustellen gewesen schwer vorstellbar bei dieser harmlos biederen Umgebung, in der er wohnte. Rick hatte jedoch die Erfahrung gemacht, daß er sich nicht von den äußeren Umständen täuschen lassen durfte, eine alte Polizeiweisheit. Unterwegs griff er nach dem Funkgerät und ließ sich über die Zentrale von Scotland Yard mit Hempshaws Büro verbinden. »Ich wollte gerade weggehen«, sagte der Chefinspektor. »Sie haben mich in letzter Sekunde erwischt. Gibt es bei Ihnen etwas Neues, Rick?« »Nein, ich war bei Norland. Er macht einen guten Eindruck, obwohl es noch keinen Beweis seiner Unschuld gibt. Jetzt bin ich unterwegs zu Dollis. Ist Ihr Dienst für heute schon zu Ende, Kenneth?« »Zu Ende?« erwiderte der Chefinspektor. »Sie meinen, weil ich aus dem Büro gehen wollte?« Er lachte bitter. »Jetzt fängt es für mich erst richtig an. Seton ist tot.« »Was?« schrie Rick und brachte den Morgan mit einem harten Ruck zum Stehen. »Seton? Wie ist das geschehen?« »Selbstmord. Er bekam eine Beruhigungsspritze, die ihn 42 �
eigentlich für Stunden schlafen lassen sollte. Doch sie hat nicht gewirkt. Seton ist plötzlich aufgesprungen, hat zu schreien und zu toben begonnen. Als die Pfleger in Dr. Van Ness' Klinik ihn festhalten wollten, schrie er etwas von unzähligen Spinnen, die ihn angreifen würden. Er ist ihnen entkommen und hat sich aus dem Fenster gestürzt.« Eine Weile schwieg Rick erschüttert. Nur der im Leerlauf tuckernde Motor seines offenen Sportwagens unterbrach die Stille. »Also sind es bereits drei Morde«, sagte er nach einer Weile gepresst. »Das Schuldkonto des Unbekannten läuft immer höher auf.« »Unsere Nachforschungen haben noch immer kein Ergebnis gebracht«, berichtete Hempshaw. »Die Sache wird mir unheimlich. Wenn jetzt auch noch die Geschworenen einer nach dem anderen…« »Ermitteln Sie die Geschworenen aus den Prozessen gegen Norland und Dolus«, fuhr Rick dazwischen. »Stellen Sie einfach die Leute unter Polizeischutz.« »Raten Sie mal, Rick, was ich vor einer halben Stunde gemacht habe«, rief der Chefinspektor über Funk. »Glauben Sie daran, daß es helfen wird? Ich nicht, wenn ich ehrlich sein soll.« Rick Masters gab sich einen inneren Ruck. »Ich fahre weiter, Kenneth«, entschied er. »Wenn sich etwas bei mir tut, verständige ich Sie.« »Viel Glück, Rick«, wünschte Hempshaw und unterbrach die Verbindung, »Viel Glück den Geschworenen«, murmelte Rick, während er den Gang einlegte und wieder anfuhr. »Sie können es eher brauchen als ich.« * Joe Dollis, der zweite Verdächtige, wohnte in Whitechapel in � einer Straße, die schlechte Erinnerungen wachrief. Die Hanbury � 43 �
Street wurde oft im Zusammenhang mit dem berüchtigten Jack the Ripper genannt. Hoffentlich war das kein schlechtes Vorzeichen, dachte Rick Masters, als er auf das Haus zuging, das ebenfalls unter Bewachung von Scotland Yardstand. Man soll von Äußerlichkeiten nicht auf den Menschen schließen, aber Rick konnte sich nicht dagegen wehren, Dollis zu misstrauen, sobald er ihn zu Gesicht bekam. Die eng beisammen stehenden Augen hatten einen stechenden Blick, der den späten Besucher zu durchbohren schien. Joe Dollis öffnete so schnell, daß Rick meinte, er hätte hinter der Tür gewartet. Aus der Wohnung schlugen dem jungen Privatdetektiv die verschiedensten Gerüche entgegen, die nicht gerade zum Eintreten einluden. Auch Joe Dollis tat es nicht. »Was ist los?« schnauzte er unfreundlich. »Hauen Sie ab und lassen Sie mich in Ruhe, verdammt noch mal!« Rick beschloß, es hier nicht erst auf die sanfte Tour zu versuchen, da er damit bei Dollis nicht durchkommen würde. »Deine Stunden sind gezählt, Fettwanst! Ich mache reinen Tisch«, wiederholte Rick genau die Worte des zweiten Drohbriefes, den der Strafverteidiger Richard Seton erhalten hatte. Rick hatte gehofft, daß seine Worte eine Wirkung haben würden, aber er wurde trotzdem völlig überrascht. Die Augen von Joe Dollis weiteten sich. Schon glaubte Rick, der Mann würde ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, als Dollis sich auf ihn stürzte. Von dem Angriff überrumpelt, taumelte Rick drei Schritte zurück. Die rechte Hand des ehemaligen Sträflings zuckte hoch, zur Faust geballt. Hart trafen die Knöchel Ricks Kinn. Der Schlag trieb ihn noch weiter rückwärts. Krachend fiel er gegen die gegenüberliegende Wohnungstür. Vor seinen Augen tanzten Funken von den Schlägen, die hageldicht auf ihn niederprasselten. Dollis legte seine ganze Kraft hinter die Fausthiebe. 44 �
Rick Masters versuchte, die Wirkung des ersten Treffers am Kinn abzuschütteln, doch er schaffte es nicht schnell genug, obwohl er hart im Nehmen war. Noch ehe er sich ein wenig erholt hatte, explodierte ein zweiter Schlag genau auf seiner Kinnspitze. Rick knickten die Knie unter dem Körper weg. Während er mit dem Rücken an der Holztür herunterrutschte, wurde es schwarz vor seinen Augen. Die Betäubung war nicht vollständig und dauerte auch nicht lange, aber sie gab Joe Dollis genügend Zeit, um sich aus dem Staub zu machen. Ohne daß er es sehen konnte, hörte Rick, wie der Verdächtige die Treppe hinunterhastete. Das Haustor fiel zu. Auf der Straße erschollen einige befehlende Worte. Wahrscheinlich hatte der Detektiv von Scotland Yard den Fliehenden aufgefordert, stehenzubleiben. Dann wurde es still. In der Wohnung, an deren Eingang Rick lehnte, rührte sich nichts. Entweder war niemand zu Hause, oder die Leute wollten in nichts hineingezogen werden. Der junge Privatdetektiv mußte sich ohne fremde Hilfe stöhnend auf die Beine stemmen. Am Türrahmen zog er sich hoch und hielt sich daran fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sein Schädel dröhnte, und das Treppenhaus drehte sich vor seinen Augen in einem verrückten Wirbel. Erst nach einigen Minuten war Rick Masters wieder soweit, daß er, vorsichtig auf das Geländer gestützt, hinunter auf die Straße gehen konnte. Die frische Nachtluft tat ihm gut und klärte seinen Kopf. Mit unsicheren Schritten wankte er auf seinen Morgan zu und ließ sich auf den Sitz fallen. Die erste Zigarette schmeckte wie Stroh, und Rick warf sie, nur zur Hälfte geraucht, aus dem offenen Wagen. Bei der zweiten ging es schon besser, und dann griff er zum Funkgerät. Hempshaw war nicht im Haus, lautete die Auskunft der Zentrale, Der 45 �
zuständige Mann versprach, den Chefinspektor zu suchen und ihn zu verständigen, daß Masters ihn sprechen wolle. Rick hatte kaum den Hörer des Funkgerätes wieder im Handschuhfach des Morgans verstaut, als er das Blaulicht am Anfang der Straße sah. Zwei Streifenwagen und ein neutrales Auto hielten vor Joe Dollis Haus. Aus dem nicht gekennzeichneten Wagen stieg der Chefinspektor. Rick drückte kurz auf die Hupe. Hempshaw schaute sich um und kam zu dem offenen Sportwagen herüber. »Was ist Ihnen denn auf den Kopf gefallen?« fragte der Chefinspektor nach einem prüfenden Blick. »Sie sehen aus, als hätten Sie eine Boxrunde hinter sich gebracht.« »Dollis ist unser Mann«, krächzte Rick, der sich noch immer ziemlich schlecht fühlte. »Ich habe ihm den Inhalt des zweiten Drohbriefes zitiert. Daraufhin hat er mich wie eine Dampfwalze überfahren und ist getürmt.« »Ich dachte es mir doch, daß Sie unser Wild verscheucht haben«, knurrte der Chefinspektor. »Habe ich Ihnen nicht ausdrücklich gesagt, Sie sollen die Leute nicht verschrecken? Wir wollten Dollis überwachen.« »Hätte ihr Mann hier unten auf der Straße nicht in der Gegend herumgeschrien, sondern wäre er Dollis auf der Spur geblieben, dann wäre alles in Ordnung«, konterte Rick, dessen Kampflust sofort wieder erwachte. »Auf jeden Fall wissen wir jetzt, daß Dollis die Briefe geschrieben hat, sonst wäre er nicht ausgerückt. Und wir wissen jetzt auch, daß er für die drei Todesfälle verantwortlich ist.« »Ich habe die Fahndung bereits angekurbelt«, berichtete Chefinspektor Hempshaw versöhnlicher. »Hoffen wir, daß wir Dollis erwischen, bevor er noch größeres Unglück anrichtet.« »Und wenn Sie ihn auch erwischen und einsperren, so garantiere ich nicht dafür, daß nichts mehr geschieht«, unkte Rick. 46 �
»Wenn er über die außergewöhnlichen und übersinnlichen Kräfte…« «Lassen Sie mich damit in Ruhe!« fauchte Hempshaw. »Ich sehe mir jetzt die Wohnung an. Kommen Sie mit?« Da war wieder die Abneigung des Chefinspektors gegen das Übersinnliche. Rick zuckte die Schultern. »Ich fahre nach Hause«, sagte er mit einem gequälten Lächeln. »Falls Sie in der Wohnung eine Sensation finden, was ich nicht glaube, rufen Sie mich an. Ich brauche Erholung und Pflege für meinen lädierten Kopf.« »So gut wie Ihnen müßte es mir auch einmal gehen«, seufzte Chefinspektor Hempshaw. »Ich kann mich nicht einfach ins Bett legen, wann ich will.« »Dafür muß ich die Mörder fangen, die Scotland Yard durch die Lappen gehen«, flachste Rick Masters und startete schnell seinen Morgan, um nicht von Chefinspektor Hempshaws Zorn getroffen zu werden. In seinem Wohnbüro in der City von London angekommen, stellte sich der junge Privatdetektiv unter die kalte Dusche. Um Punkt ein Uhr fiel er in sein Bett. Er schlief genau zu dem Zeitpunkt ein, als sich in London ein neues Drama ereignete. * Mary Jean Kiffen arbeitete in der Stadtbücherei ihres Bezirks als Bibliothekarin. Daß sie mit ihren zweiundfünfzig Jahren täglich zur Arbeit ging, hatte nichts damit zu tun, daß sie im Zuge der Gleichberechtigung mit den Männern auch ihren Anteil beitragen wollte, sondern daß sie als allein stehende Frau Geld verdienen mußte. Sie hatte nie einen Mann zum Heiraten gefunden und war wohl etwas wunderlich geworden. Die Nachbarn mochten sie trotz ihrer Schrullen, und die von ihr geleitete 47 �
Bibliothek hatte einen größeren Zulauf als andere, was auf ihre freundliche Beratung rückzuführen war. Miß Kiffen hatte ihren Tagesablauf streng eingeteilt, weil sie großen Wert darauf legte, immer pünktlich und zuverlässig zu sein. Deshalb ging sie auch nie nach Mitternacht schlafen. In dieser Nacht war ihr Zeitplan jedoch vollständig durcheinander geraten. Schuld daran waren die Nachrichten in Fernsehen und Rundfunk gewesen, die von dem Tod des Staatsanwalts Lindfield und des bekannten Strafverteidigers Seton berichtet hatten. War Miß Kiffen schon am Vortag durch das Ableben von Sir Storrington tief erschüttert worden, so warf sie der Tod Lindfields und Setons völlig aus der Bahn. Jetzt um ein Uhr nachts saß sie in ihrer kleinen Küche und schälte Kartoffeln für das Essen, das am nächsten Abend nach dem Dienst rasch fertig sein mußte, damit sie rechtzeitig ihr Lieblingsprogramm im Fernsehen einschalten konnte. Während sie die langweilige Arbeit erledigte, geriet Miß Kiffen in verzücktes Schwärmen über ihre Erinnerungen. War das damals eine Aufregung gewesen, als sie Old Bailey betrat, um über Schuld oder Unschuld von Menschen zu entscheiden mit zu entscheiden, korrigierte sie sich. Die Berufung zur Geschworenen war der bisherige Höhepunkt in ihrem Leben gewesen. Und dann gleich in so interessanten Fällen. Verbrecher, von denen sie sonst nur in den Zeitungen las, standen vor ihr, und manchmal hatte sie das Gefühl gehabt, daß es außer ihr niemanden sonst im Saal gab, an den der Angeklagte und sein Anwalt ihre Worte richteten. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, ihre Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen, und daher hatte sie auch den Dank der Richter, den diese an die Geschworenen aussprachen, allein für sich in Anspruch genommen. Das war schließlich ihr gutes Recht gewesen. 48 �
Und vor 24 Stunden war dann die fürchterliche Nachricht über den geheimnisvollen Tod von Sir Storrington gekommen. Sie erinnerte sich gut an die imposante Gestalt in Talar und mit Perücke. Sir Storrington war ihr Lieblingsrichter gewesen, das stand fest. Seine bedächtige Art, seine klaren Formulierungen ein Richter, wie er in keinem Buch in ihrer Bibliothek besser beschrieben war. Auch Staatsanwalt James Lindfield war Miß Kiffen unvergesslich geblieben. Noch verhältnismäßig jung, sah er blendend aus und hatte eine persönliche Art, sich an die Geschworenen zu wenden. Nur den Strafverteidiger Richard Seton hatte sie nicht sonderlich gemocht. Vielleicht kam das daher, daß sie Strafverteidiger überhaupt nicht leiden konnte, weil sie meistens dafür sorgten, daß Verbrecher eine zu geringe Strafe erhielten. Miß Kiffen senkte das Schälmesser und legte ihre glatte Stirn über der schmalen Brille mit dem schwarzen Gestell in dicke Falten. Sie dachte angestrengt nach, ob alle drei nunmehr Verstorbenen in einer Verhandlung zusammengearbeitet hatten, in der sie Geschworene gewesen war. Und dann fiel es ihr wieder ein. Miß Kiffen strahlte, daß ihr Gedächtnis nicht gelitten hatte. In den Prozessen waren nur Männer angeklagt gewesen. Finstere Gestalten, erinnerte sie sich, und die Angeklagten waren verurteilt worden. Das war jetzt schon wieder etliche Jahre her. Wie die Zeit verging. Wie hießen die Männer? Miß Kiffen stellte sich gern selbst Denkaufgaben, und diesmal wollte sie sich an die Namen der Angeklagten aus den denkwürdigen Prozessen erinnern. Der eine begann mit D, aber der zweite… Miß Mary Jean Kiffen griff in den Topf mit den Kartoffeln, der mit Wasser gefüllt war und vor ihr auf dem Tisch stand. Vergeblich versuchte sie, eine der Kartoffeln zu greifen. Es war seltsam, 49 �
aber sie hatte plötzlich kein Gefühl mehr in ihrer rechten Hand. Sie merkte gar nicht, ob sie die Finger bewegte. Es war, als würde ihr Arm… Miß Kiffen wollte die Hand zurückziehen, um sie zu betrachten. Der Unterarm tauchte aus dem Topf auf. Der Schock warf Miß Kiffen fast um, als sie den nackten Armstumpf sah. Die Hand fehlte, genau am Gelenk abgetrennt, ohne daß sie etwas gespürt hätte. Die Frau verstand nichts mehr, begriff nichts mehr. In einer reinen Reflexbewegung beugte sie sich vor, um in den Topf zu schauen. Unterhalb der Wasseroberfläche sah sie die Hand liegen, um eine Kartoffel gekrampft. Miß Kiffen verhielt sich so unsinnig, wie es dieser ganzen irrsinnigen Situation entsprach. Anstatt um Hilfe zu rufen, wollte sie nach ihrer in dem Gefäß liegenden Hand greifen, doch kaum tauchte ihre linke Hand in das Wasser, als sie sich am Gelenk vom Arm trennte. Langsam sank auch die zweite Hand auf den Grund des Topfes. Ihre Armstümpfe von sich gestreckt, stand Miß Kiffen stocksteif vor dem Tisch. Ihre Lippen begannen zu beben, ihre Nasenflügel flatterten leicht, als sie tief Luft holte zu einem fürchterlichen Entsetzensschrei. Doch ehe sie den Schrei ausstoßen konnte, wurde es dunkel vor ihren Augen. In einer schraubenförmigen Bewegung sank sie auf den Steinboden der Küche. Sie fühlte noch, daß die grässlichen Wunden an ihren Armen zu bluten begannen, fühlte, wie das Leben aus ihrem Körper strömte. Dann tauchte sie in tiefe Bewusstlosigkeit ein. *
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Beamte von Scotland Yard hatten die Anweisung erhalten, zwölf ehemalige Geschworene rund um die Uhr zu bewachen, bei einer Gefahr sofort einzugreifen und den Yard bei dem geringsten Verdacht zu alarmieren, daß etwas nicht in Ordnung wäre. Sergeant Austell war einer dieser zwölf Männer, und er saß um acht Uhr morgens in seinem Wagen in einer Seitenstraße des Londoner Stadtteils Hornsey und ließ das Haus Nr. 13 nicht aus den Augen. Vier Wohnungen gab es in diesem Gebäude, eine davon gehörte Miß Mary Jean Kiffen, Bibliothekarin, ehemalige Geschworene. Sergeant Austell hatte seit Mitternacht Dienst versehen und wartete auf die Ablösung. Noch ehe ein Kollege eintraf, erregte eine Frau Austells Aufmerksamkeit, die mit eiligen Schritten auf das Haus Nr. 13 zuging, es betrat und nach drei Minuten sichtlich beunruhigt wieder heraus auf den Bürgersteig kam. Der Sergeant stieß die Seitentür seines Wagens auf und stieg aus. Die Frau stand noch immer unschlüssig vor dem Haus und blickte an der Vorderfront hoch. Austell überquerte die Straße und ging auf die Frau zu. »Verzeihung«, sprach er sie freundlich an. »Wollten Sie vielleicht zu Miß Kiffen?« Die Frau sah ihn erstaunt an. »Allerdings, ja«, antwortete sie, überrascht darüber, daß dieser unbekannte Mann sie ansprach. »Sie sollte vor einer Stunde schon zum Dienst erscheinen, aber sie ist nicht gekommen, geht nicht ans Telefon und reagiert auch nicht auf mein Klingeln. Aber wer sind Sie, junger Mann?« Der Sergeant zog seinen Ausweis aus der Tasche und hielt ihn ihr entgegen. »Gehen Sie noch einmal hinein und klingeln Sie ununterbrochen! Ich komme gleich nach.« Er lief zu seinem Wagen zurück und hängte sich ans Funkgerät. »Mary Kiffen könnte etwas zugestoßen sein«, meldete er. »Sie hat ihre Wohnung nicht verlassen, aber sie rührt sich nicht. 51 �
Ich versuche, in die Wohnung einzudringen.« Die Zentrale versprach, sofort Chefinspektor Hempshaw zu verständigen und Verstärkung zu schicken. Sergeant Austell schaltete das Gerät aus und betrat das Haus Nr. 13. Durch das ständige Schrillen der Türklingel waren die anderen Bewohner aufmerksam geworden. Sie standen in einer kleinen Gruppe im Treppenhaus. »Ist hier ein Hausmeister?« fragte der Sergeant. Und als ein älterer Mann einen Schritt vortrat, ordnete er an: »Schließen Sie die Wohnung von Miß Kiffen auf! Sie haben sicher einen Zweitschlüssel?« »Das schon«, sagte der Hausmeister, »aber…« Ein zweites Mal zückte Sergeant Austell seinen Dienstausweis. »Ich fürchte, daß Miß Kiffen etwas zugestoßen ist«, erklärte er, um jeden Widerstand auszuschalten. Der Hausmeister beeilte sich, den Zweitschlüssel aus seiner Wohnung zu holen, und gemeinsam stiegen sie in den ersten Stock hinauf. Sergeant Austell nahm den Schlüssel an sich und sperrte auf. Er wies die Leute an, draußen auf dem Korridor zu bleiben, und betrat allein die Wohnung. »Miß Kiffen!« rief er, um die Frau nicht zu erschrecken. »Miß Kiffen! Alles in Ordnung?« Er öffnete die Tür zur Küche. Nein, er konnte Miß Kiffen weder erschrecken, noch konnte die seine Frage beantworten. Die Frau lag auf dem Rücken, die Arme zur Seite gestreckt die Armstümpfe. Die Hände fehlten. Auf dem Boden hatten sich zwei Blutlachen gebildet. Mit weit aufgerissenen Augen taumelte der entsetzte Sergeant zwei Schritte näher, bis sein Blick in den großen Topf auf dem Tisch fiel. Als er die Hände unter der Wasseroberfläche sah, mußte er sich an einer Stuhllehne festhalten, sonst wäre er umgekippt. 52 �
Gegen die in seinem Magen verkrampfte Übelkeit ankämpfend, taumelte er zurück in das Vorzimmer und hinaus auf den Korridor. Die Hausbewohner wichen erschrocken zurück, als sie sein schweißbedecktes und verzerrtes Gesicht sahen, Fragen prasselten auf den Beamten nieder, doch Sergeant Austell war nicht in der Lage, die zu beantworten. Er lehnte sich zitternd gegen die Mauer, ständig das Bild der verstümmelten Miß Kiffen vor sich. * Weder Telefon noch Türklingel hatten seinen Schlaf gestört, so daß Rick Masters erholt und mit neuen Kräften erwachte. Die Nachwirkungen der Schlägerei waren verschwunden. Schon eine halbe Stunde nach dem Aufstehen war Rick unterwegs zum Yard. Als erstes an diesem Tag wollte er hören, ob Chefinspektor Hempshaw etwas Neues herausgefunden hatte. Gerade als er mit seinem dunkelgrünen Morgan in den Innenhof des Yards einbiegen wollte, sperrten zwei Polizisten den Bürgersteig und hielten die Autos auf. Alarm! Mit grellem Schrillen der Alarmklingeln bogen zwei schwarze Polizeiwagen aus der Einfahrt in die Victoria Street. Rick neigte sich gespannt vor. In dem zweiten Wagen hatte er Chefinspektor Hempshaw erkannt. Rasch drückte er auf den Hupknopf. Hempshaw drehte den Kopf und winkte dem Privatdetektiv, ihm zu folgen. Mit geübten Handgriffen holte Rick die kleine blaue Kunststoffglocke mit dem Blinklicht aus einem Seitenfach und steckte sie auf das Metallrohr neben der Windschutzscheibe. Fast gleichzeitig schaltete er das Blaulicht ein, gab Gas und stellte die normale Hupe ebenfalls auf Klingeln um. Jetzt bewährte sich die Sonderanlage. Rick hängte sich mit Blaulicht an die beiden Polizeiwagen an, 53 �
die nach Norden rasten. Bald erkannte der junge Privatdetektiv, daß es etwas sehr Ernstes sein mußte, weil die sonst so zurückhaltenden Fahrer alles aus ihren Wagen herausholten. Als sie freie Strecke vor sich hatten und Rick sich nicht so sehr auf das Fahren konzentrieren mußte, griff er nach dem Funkgerät und rief direkt Hempshaws Wagen. »Was ist denn los, Kenneth?« wollte er wissen. »Wem jagen Sie denn wie verrückt nach?« »Wir haben die Geschworenen unter Beobachtung genommen«, antwortete Hempshaw über Funk, während er sich im Auto umdrehte und Rick durch die Heckscheibe einen Blick zuwarf. »Vorhin haben wir die Meldung erhalten, daß mit einer der ehemaligen Geschworenen etwas geschehen ist. Genaues weiß ich noch nicht.« Damit war die kurze Unterhaltung auch schon zu Ende. Die drei Wagen jagten, mit zuckenden Blaulichtern durch Hornsey, bis sie in eine Nebenstraße einbogen. Vor einem der Häuser Nummer 13, sah Rick Masters, als er aus seinem Auto sprang hatte sich eine kleine Menschenansammlung gebildet. Zwei Streifenwagen des Reviers standen in zweiter Spur vor dem Haus. Die Polizisten hielten die Neugierigen ab, das Gebäude zu betreten. Rick schloß sich dem Chefinspektor an, so daß er keine Schwierigkeiten hatte. Im ersten Stock saß ein junger Mann, in dem Rick einen Sergeant vom Yard erkannte, auf der Treppe. Sein Gesicht war weiß wie die gekalkte Wand. Es war also tatsächlich etwas geschehen, und es mußte sich um etwas Besonderes handeln, sonst hätte es den Mann nicht so mitgenommen. Rick betrat gemeinsam mit Hempshaw die Wohnung mit dem Namensschild KIFFEN. Drinnen standen zwei uniformierte Polizisten, die ihre Haltung strafften, als sie den Chefinspektor sahen. 54 �
»Wir haben nichts berührt oder verändert«, meldeten sie stramm. »Wir konnten gar nicht…« Sie vermieden es krampfhaft, durch die offen stehende Tür in einen Raum zu schauen, in dem Rick die Küche vermutete. Er hatte sich nicht getäuscht, wie er gleich darauf feststellte. Hempshaw unterdrückte mit Mühe einen Aufschrei, als er die Tote sah, und Rick hatte das Gefühl, als würde eine eisige Hand über seinen Rücken streichen. Er wußte nicht, ob Miß Kiffen vor ihrem Tod gelitten hatte, aber auf jeden Fall war ein satanischer Geist am Werk gewesen. Nur ein krankes Gehirn konnte etwas derart Teuflisches ausgebrütet haben. Rick kannte den Chefinspektor inzwischen sehr gut. Er wußte, daß es auf Hempshaw nicht zutraf, wenn man behauptete, Kriminalisten würden im Lauf der Jahre abstumpfen. Ein Anblick wie dieser ging Hempshaw sehr nahe. Um sich aber keine Gefühlsregung anmerken zu lassen, stürzte sich der Chefinspektor in eine hektische Betriebsamkeit. So auch diesmal. Er scheuchte die Mitglieder seiner Mordkommission herum, bellte seine Befehle und war überall gleichzeitig. Um Rick kümmerte er sich vorläufig nicht, und so nutzte der Privatdetektiv die Gelegenheit, um sich ein eigenes Bild zu machen. Er hatte zwar nicht Medizin studiert, aber so viel verstand er auch, daß die Verstümmelung kaum mit einem gewöhnlichen scharfen Gegenstand durchgeführt worden war. Er betrachtete alles mit anderen Augen als der Chefinspektor und kam sehr bald zu dem Schluß, daß die weitere Arbeit der Mordkommission keine Ergebnisse bringen würde. Hatte Rick bisher noch leichte Zweifel daran gehabt, daß übersinnliche Kräfte wirkten, so waren sie nunmehr völlig ausgelöscht. Ein derartiges Verbrechen konnte nicht an der Frau verübt worden sein, ohne daß einer der Hausbewohner oder der 55 �
draußen auf der Straße Wache haltende Sergeant etwas davon merkten. Außerdem gab es keine Anzeichen dafür, daß Miß Kiffen am Schreien gehindert worden wäre, und bei einer so schweren Verletzung hätte sie die ganze Straße zusammengebrüllt. »Haben Sie schon an die Computerliste gedacht, Kenneth?« fragte der junge Privatdetektiv den Chefinspektor in einer ruhigen Minute, als Hempshaw zwischen zwei Befehlen Luft holen mußte. »Jetzt kennen Sie ja auch den Namen einer Geschworenen, das engt die Prozesse stark ein, die noch in Frage kommen. Vielleicht bleibt sogar nur mehr ein einziger Prozess und somit ein einziger Verurteilter übrig.« Chefinspektor Hempshaw starrte Rick einen Moment lang an, dann schüttelte er den Kopf. »Habe ich doch tatsächlich in der Aufregung vergessen«, murmelte er. In der Diele hing ein Telefon. Hempshaw wählte den Yard an und gab Anweisung, sofort die Listen mit den Geschworenen in den in Frage kommenden Prozessen zu vergleichen. »Dazu brauchen wir den Computer gar nicht«, sagte er zu Rick Masters, während er auf das Ergebnis wartete. »Wir hatten zuletzt nur mehr drei Prozesse. Das wird in wenigen Minuten… Ja«, unterbrach er sich, »ich höre.« Nach einer Weile sagte er noch: »Besser als gar nichts« und legte auf. »Was ist?« drängte Rick gespannt. »Wir können nur einen ausscheiden«, erklärte Hempshaw. »Nämlich George Norland, der jetzt als Automechaniker arbeitet. In zwei anderen Prozessen paßt auch Miß Kiffen in das Bild, bei dem Prozess von Nat Fowlers, der noch immer wegen Mordes sitzt, und bei Joe Dollis, der letzte Nacht geflohen ist.« »Wir müssen Dollis so schnell wie möglich finden.« Rick schaute auf die Uhr. Mittlerweile war es fast zehn geworden. »Während Sie die Fahndung ausdehnen, werde ich auch einige Erkundigungen einziehen. Wir sehen uns später, Kenneth.« 56 �
Und damit sauste er aus dem Haus. Rick war ein Gedanke gekommen, wo er noch etwas über den Hauptverdächtigen Dollis erfahren konnte. Wenn das auch nicht klappte, war er aus dem Rennen und mußte alles weitere der Polizei überlassen. Diese Möglichkeit gefiel Rick Masters gar nicht, weil er einerseits selbst gern Erfolge erkämpfte und andererseits für das ihm zugestandene Honorar in diesem Fall etwas leisten wollte. * Die Autoreparaturwerkstätte war in einem alten, windschiefen Haus am Rand des Victoria Parks untergebracht. Unter Überfluss an Aufträgen schien sie nicht zu leiden, weil der Besitzer und zwei Mechaniker untätig herumsaßen. Einer der Mechaniker war George Norland, der ehemalige Sträfling. Sein Gesicht verdüsterte sich, als er Masters mit seinem Wagen auf der anderen Straßenseite halten sah. Er sagte ein paar Worte zu dem Besitzer, dann kam er zu Rick. »Wollen Sie mir Schwierigkeiten machen, damit ich meine Arbeit verliere?« fragte er unfreundlich. »Mein Chef weiß zwar alles über meine Vergangenheit, aber wenn er glaubt, daß ich in etwas Neues verwickelt bin, fliege ich.« »Ich komme nur, um Ihnen zu sagen, daß Sie in nichts Neues verwickelt sind«, erwiderte Rick Masters ruhig. »Jetzt ist auch die Polizei davon überzeugt, daß Sie nichts mit Storrington, Lindfield und Seton zu tun haben. Sagt Ihnen der Name Kiffen etwas, Mary Jean Kiffen?« »Sollte er?« fragte George Norland dagegen. »Warten Sie mal, Mr. Masters, Kiffen… Kiffen… Natürlich, die war doch Geschworene in meinem Prozess.« Rick hätte es beinahe umgeworfen, wenn er nicht so gut in seinem Fahrersitz gesessen hätte. 57 �
»Geschworene bei Ihrem Prozess?« echote er mit schwacher Stimme. »Wir haben das überprüft, aber dabei ist der Name Kiffen nicht im Zusammenhang mit Ihnen…« »Ganz einfach«, fiel ihm der Mechaniker ins Wort. »Die Kiffen ist in der zweiten Verhandlung Geschworene gewesen. Mein Prozess mußte zweimal begonnen werden, weil beim ersten Mal einer der Geschworenen erkrankte.« Dann hatte der Yard also die falsche Liste gehabt, nämlich die vom ersten Prozess. Rick Masters wußte nicht, was er davon halten sollte, daß ihn George Norland selbst darauf aufmerksam machte. War der Mann, unschuldig, so daß er nicht begriff, welchem Verdacht er sich mit seinem Eingeständnis aussetzte, oder war er schuldig und so raffiniert, Rick durch seine scheinbare Harmlosigkeit täuschen zu wollen? Rick wechselte das Thema. »Ich suche Joe Dollis, den krummen Joe, wie Sie ihn genannt haben, Mr. Norland. Können Sie mir einen Tip geben, wo ich ihn finde?« »Ist er denn nicht in seiner Wohnung?« staunte der Mechaniker. »Er ist untergetaucht«, gab der Privatdetektiv zu. »Also, haben Sie einen Tip für mich?« Norland überlegte lange. »Wir haben nur selten in Wandsworth miteinander gesprochen«, sagte er dann. »Ich glaube, er hat einmal von einem Bruder gesprochen, aber ich kann es nicht beschwören. So, Mr. Masters, und jetzt muß ich gehen, unsere Pause ist zu Ende.« Er lief über die Straße. Rick Masters blickte nachdenklich hinterher. Unschuldig oder mehrfacher Mörder? Anständiger Mensch oder mit dem Bösen im Bunde? Fragen, die über das Leben zahlreicher Menschen entscheiden mußten.
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Wo konnte Rick Masters etwas über den Bruder von Joe Dolus erfahren? Natürlich bei Scotland Yard, und Rick war auch schon unterwegs zu dem Hauptsitz der weltberühmten Kriminalpolizei, als ihm ein anderer Gedanke kam. Warum sollte er nicht einfach in einem Telefonbuch nachsehen. Dollis war kein weit verbreiteter Name, vielleicht hatte er Glück. In der Nähe des Marmorbogens hielt Rick Masters am Hyde Park und betrat eine freie Telefonkabine. Zu seiner Freude gab es tatsächlich nur vier Eintragungen unter Dollis, was natürlich noch lange nicht bedeuten mußte, daß der Bruder des Geflohenen ein Telefon hatte. Von den vier Dollis schieden drei Frauen aus, weshalb nur Arnold Dollis übrig blieb. Es gab keine Berufsbezeichnung. Rick notierte die Adresse und verließ die Kabine. Da er diesen Mr. Arnold Dollis nicht kannte, hielt er einen Anruf für riskant. Arnold Dollis konnte seinen Bruder warnen, falls Rick seinen Besuch vorher ankündigte. Quer durch die City fuhr Rick nach Stepney in die Lindley Street. Bei der angegebenen Adresse schluckte er allerdings erst einmal und vergewisserte sich dann durch einen zweiten Blick auf seinen Zettel, daß er sich nicht getäuscht hatte. Hier stand nämlich eine Kirche mit dem dazugehörigen Pfarramt. Mit sehr gemischten Gefühlen stieg Rick aus und klingelte. Ein älterer weißhaariger Geistlicher öffnete. »Ja, bitte?« fragte er höflich. »Können Sie mir sagen, wo ich Mr. Dollis finde, Mr. Arnold Dollis?« fragte Rick ebenso höflich und auch ein wenig verlegen. Er hoffte nur, der Geistliche würde ihn nicht fragen, warum er Mr. Dollis sprechen wollte. »Bitte, kommen Sie herein«, sagte der Reverend. »Ich bin Arnold Dollis.« 59 �
Rick hatte schon den Fuß erhoben, um das Pfarramt zu betreten, doch jetzt ließ er ihn wieder sinken und starrte den Geistlichen fassungslos an. Mr. Dollis merkte, daß mit seinem Besucher etwas nicht stimmte. Ein prüfender Blick traf Ricks Gesicht, dann schüttelte der Geistliche den Köpf. »Von der Polizei sind Sie nicht«, erklärte er. »Kommen Sie trotzdem herein.« Rick folgte dem Reverend in dessen Büro im ersten Stock. Während sie die Treppe hinaufstiegen, hatte er Gelegenheit, sich von seiner ersten Überraschung zu erholen. Warum sollte ein ehemaliger Strafgefangener schließlich nicht einen Geistlichen als Bruder haben? »Ich habe vergessen, mich vorzustellen«, sagte Rick, als sie im Arbeitsraum des Hausherrn angekommen waren. »Ich bin Rick Masters, Privatdetektiv.« »Freut mich, Mr. Masters.« Arnold Dollis bot ihm etwas zu trinken an, doch Rick wehrte ab. »Dann kommen wir zur Sache. Sie erwähnten etwas von meinem Bruder, Mr. Masters.« »Ja, er hat mich in der vergangenen Nacht zusammengeschlagen, als ich ihn etwas fragen wollte«, erzählte der junge Privatdetektiv. »Und jetzt lege ich großen Wert darauf, ihn zu finden.« »Das tut die Polizei auch«, bemerkte der Reverend mit einem müden Lächeln. »Woher Wissen Sie das?« fuhr Rick auf. Er hat geglaubt und gehofft, der erste zu sein, der auf den Bruder von Joe Dollis gestoßen war. »Vor einer Stunde war ein Detektiv von Scotland Yard bei mir, Mr. Masters. Ich fürchte, daß ich Ihnen auch nichts anders sagen kann als ihm,« »Wo hält sich Joe Dollis versteckt?« Rick beugte sich vor und beobachtete genau das unbewegliche Gesicht seines Gegenübers. »Ich weiß es nicht«, lautete die klare und feste Antwort. 60 �
Rick blieb nichts anderes übrig, als die Antwort zu akzeptieren. »Sie wissen sicherlich, weshalb Ihr Bruder derzeit gesucht wird?« fuhr er fort. Und als der Geistliche nickte, sagte Rick: »Es ist eine schwerwiegende Anklage, Mr. Dollis, in den Tod von vier Menschen verwickelt zu sein, sie vielleicht sogar selbst getötet zu haben. Können Sie mir nicht wenigstens sagen, ob Ihr Bruder der Schuldige ist oder nicht? Ihnen würde ich glauben, ich habe Vertrauen zu Ihnen, auch wenn ich Sie erst seit einigen Minuten kenne.« »Mr. Masters!« Arnold Dollis saß wie aus Stein gemeißelt hinter seinem Schreibtisch. In seinen klaren Augen war nicht zu erkennen, was er dachte. »Sie können sich vorstellen, wie sehr ich es bedaure, daß mein Bruder auf die schiefe Bahn geraten ist. Ich würde ihm gern helfen, aber ich kann es nicht. Was nun Ihre Frage betrifft, Mr. Masters, ich bin an meine Schweigepflicht gebunden. Somit haben Sie wirklich die gleiche Antwort erhalten wie der Mann von Scotland Yard.« Der Geistliche erhob sich zum Zeichen, daß er nichts weiter hinzuzufügen habe. Rick verstand den deutlichen Hinweis und versuchte auch nicht, mehr aus Arnold Dollis über seinen Bruder Joe herauszukriegen, als ihm der Reverend freiwillig sagen wollte. »Jedenfalls vielen Dank für Ihre Auskünfte.« Rick legte seine Visitenkarte auf den Schreibtisch. »Unter der Telefonnummer können Sie mich ständig erreichen. Auf Wiedersehen.« Als Rick das Haus verließ, hörte er aber im ersten Stock durch das offene Fenster des Arbeitszimmer das Telefon schrillen. * Ein Geistlicher kann aus unzähligen Gründen einen Telefonanruf erhalten. Dafür gab es sogar noch mehr Gründe als bei einem � 61 �
gewöhnlichen Menschen. Rick schenkte dem Klingeln auch weiter keine Bedeutung, sondern überquerte die Straße und setzte sich in seinen Morgan. Dann überlegte er, was er tun konnte. Er hatte mit Norland gesprochen und herausgefunden, daß auch er als Täter in Frage kam, trotz abweichender Informationen vom Yard. Er hatte mit Joe Dollis' Bruder gesprochen, der ihm nicht weitergeholfen hatte. Schon überlegte er, ob er einen Geschworenen nach dem anderen besuchen und über die schon einige Jahre zurückliegenden Prozesse befragen sollte, als er Arnold Dollis aus dem Pfarramt kommen sah. Der Geistliche hatte es offenbar sehr eilig und entfernte sich in der entgegengesetzten Richtung, ohne Ricks Wagen bemerkt zu haben. Es war gar nicht so einfach, einen Fußgänger mit dem Wagen zu beschatten. Rick hielt mehr als einen Autofahrer im Fließverkehr auf, und das, obwohl er jede freie Parklücke ausnutzte. Auf jeder Ausweichstelle lenkte er seinen Wagen von der Fahrbahn weg und wartete, bis er den Reverend fast nicht mehr sehen konnte. Erst dann fuhr er wieder ein Stück und begann das gleiche Spiel von vorn. Mr. Arnold Dollis ging nicht sehr weit, nur bis zur nächsten Bushaltestelle. Rick hängte sich an den roten Doppeldecker in einem gebührenden Abstand an. Einmal verlor er den Bus vor einer Ampel, die knapp vor seinem Wagen auf Gelb und Rot sprang. Doch der Bus hielt an einer Station hinter der Kreuzung, so daß Rick Gelegenheit bekam, aufzuholen. Der Reverend fuhr bis zur Endstation in Westham. Keine sehr einladende Gegend, fand Rick, während er seinen Wagen vor der riesigen Anlage der Gaswerke parkte, ausstieg und Arnold Dollis zu Fuß folgte. Der Geistliche ging durch die St. Leonard's Road, bis er die Bahnlinie erreichte. Dort bog er in einen schmalen Fußweg entlang des Bahndamms ein und verschwand bald 62 �
hinter den Büschen. Auf die Idee, daß dieser Ausflug nichts mit Joe Dollis zu tun haben könnte, kam Rick erst gar nicht. Er ließ eine Minute verstreichen, ehe er ebenfalls auf den Fußweg einschwenkte. Er mußte sehr vorsichtig sein, weil Joe Dollis, der »krumme Joe«, vielleicht noch nicht hier war und der Reverend auf ihn warten sollte. In diesem Fall wäre alles verdorben gewesen, wenn Rick entdeckt Wurde. Er kam deshalb nur entsprechend langsam voran. Oben auf dem Bahndamm donnerte ein Zug der District Line vorbei, und als das Rattern der Räder auf den Schienen verklungen war, glaubte Rick, vor sich einen erstickten Schrei zu hören. Sofort hetzte der junge Privatdetektiv los, alle Vorsicht vergessend. Nun kam es nur darauf an, so schnell wie möglich einzugreifen. Er bog um eine Kurve des Pfades und erfasste augenblicklich die Situation. Arnold Dollis lag auf der Erde. Über die Schläfe des Reverend sickerte Blut. Drei Schritte neben ihm stand Joe Dollis, der Gesuchte. Er hielt in seiner Hand noch einen schweren Schraubenschlüssel, mit dem er seinen Bruder niedergeschlagen hatte. Als Dollis den Detektiv erkannte, wurde sein vor Zorn rot angelaufenes Gesicht bleich. Er ließ sich auf keinen Kampf ein, sondern steckte den Schraubenschlüssel in seine Jackentasche und wandte sich zur Flucht. Ohne nach links oder rechts zu schauen, kletterte er den Bahndamm hinauf. Rick sah den Zug herandonnern. Dollis stolperte, fing den Sturz ab, taumelte über die Schienen. Wenige Schritte vor dem Triebwagen erreichte Dollis den rettenden Raum zwischen den beiden Gleisen. Der Zug donnerte so nahe, daß er den Fliehenden fast streifen mußte, an Dollis vorbei. 63 �
Verzweifelt blickte Rick zum Ende des Zuges. Er war mehr als zwanzig Wagen lang. Zwischen den Rädern hindurch sah Rick den Gesuchten auf der anderen Seite den Bahndamm hinunterlaufen und in den Büschen verschwinden. Bis der Zug vorbei war, mußte Dollis bereits einen nicht einzuholenden Vorsprung haben. Eine sofortige Verfolgung hatte also keinen Sinn. Der junge Privatdetektiv kümmerte sich zuerst um den Reverend. Arnold Dollis schien nicht schwer verletzt zu sein, weil er sich in der Zwischenzeit auf einen Ellbogen aufgerichtet hatte. Die andere Hand preßte er gegen seinen Kopf. »Bleiben Sie liegen, Mr. Dollis«, sagte Rick und ging in die Hocke. »Ich laufe zur Straße zurück und hole einen Krankenwagen.« »Nein, nein«, stöhnte der Geistliche. »Lassen Sie mir ein wenig Zeit, es geht gleich wieder. Ich fahre nach Hause und lasse meinen Arzt kommen. Nur kein großes Aufsehen, bitte!« »Es kann sich um etwas Ernsteres handeln«, warnte Rick. »Seien Sie nicht leichtsinnig!« »Helfen Sie mir auf!« verlange der Reverend mit wiederkehrender Energie. An Ricks Arm kam er auf die Beine, anfänglich noch unsicher, dann zusehends kräftiger. Er holte ein Taschentuch hervor und tupfte das Blut von seiner Schläfe. »Jetzt gehen wir gemeinsam zur Straße zurück«, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Sagen Sie mir, was geschehen ist! Oder fühlen Sie sich auch jetzt noch an irgendeine Schweigepflicht gebunden?« »Sie haben keinen Grund, wütend auf mich zu sein, Mr. Masters.« Arnold Dollis verzog leicht das Gesicht bei einem unvorsichtigen Schritt, der einen Stoß bis in seihen Kopf schickte. »Joe wollte mich sprechen, ich sollte ihm helfen. Hier haben wir uns getroffen, ohne daß ich es ahnte, wer mir folgte.« Dabei warf er 64 �
einen Seitenblick auf Rick. »Was sagte Ihr Bruder?« fragte Masters, ohne weiter zu erklären, warum er den Reverend verfolgt hatte. »Daß ich ihn verstecke, selbstverständlich.« Sie erreichten die Straße und gingen auf Ricks Morgan zu. »Ich habe es abgelehnt und wollte ihn dazu überreden, sich der Polizei zu stellen. Er verlor die Nerven und schlug mich. Das ist alles.« »Ich bringe Sie nach Hause«, entschied Rick Masters und öffnete die Seitentür. Der Reverend setzte sich ohne Widerrede in den Wagen. Er war offensichtlich froh, sich ausruhen zu können. Rick ging um das Fahrzeug herum, klemmte sich hinter das Lenkrad und öffnete das mit einem Spezialschloß versehene Handschuhfach. Schweigend beobachtete Arnold Dollis, wie Rick über Funk die Verbindung zur Zentrale herstellte. »Der Gesuchte Joe Dollis befindet sich in Westham in der Nähe der District Line, zuletzt unterwegs zu Fuß in Richtung Three Mill Lane. Er trägt einen Schraubenschlüssel als Waffe bei sich.« Rick Masters wartete noch die Bestätigung seines Funkspruchs ab, dann setzte er den offenen Sportwagen in Bewegung. »Die Fahrtluft wird Ihnen gut tun«, bemerkte er. »Lassen Sie auf jeden Fall einen Arzt kommen, der sich Ihre Verletzung anschaut. Sie haben eine tiefe Schramme, die vielleicht genäht werden muß. Und an dem Schraubenschlüssel waren Rost und Schmutz. Das kann gefährlich werden. Ich mache mir Sorgen um Sie.« »Und ich um meinen Bruder«, murmelte der Geistliche. »Wenn er nur nicht noch mehr Dummheiten macht.« * Nach Arbeitsschluss fuhr George Norland nicht sofort nach � Hause, sondern trank mit einigen Kollegen ein Glas Bier, aus � dem mehrere und ein angeregtes Gespräch wurden. Als er end65 �
lich das Pub in der Nähe der Werkstatt verließ, dämmerte es bereits, und die Nacht war angebrochen, als er sein Wohnhaus erreichte. Nichts ahnend betrat er es, kletterte die Treppe hinauf bis auf seine Etage und steckte den Schlüssel ins Türschloss. Zu spät hörte er hinter sich ein leises Scharren. Norland war vorsichtig geworden. Er wirbelte herum und stand Joe Dollis gegenüber. Sofort entspannte sich der Automechaniker. Er wußte zwar, daß Dollis gesucht wurde, aber er erwartete von seinem ehemaligen Mithäftling keine Gefahr. »Hallo, Joe«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Du hast mir einen ganz schönen Sehreck eingejagt.« Joe Dollis grinste seinen Bekannten an. »Hallo, George. Es geht dir gut, wie ich sehe.« Dieses Grinsen gefiel Norland nicht. Es verhieß Schwierigkeiten. »Was willst du hier?« fragte er schroffer, als er beabsichtigt hatte. Schließlich wollte er keinen Streit anfangen. »Lass mich rein«, forderte Dollis und deutete mit einem Kopfnicken auf die Wohnung. »Ich muß von der Bildfläche verschwinden, und dazu eignet sich ein ehemaliger Kumpel am besten.« »Nein!« George Norland stellte sich entschlossen vor den Eingang. »Joe, das ist nicht gegen dich persönlich, aber du wirst gesucht. Ich möchte nicht hineingezogen werden in die Sache. Ich habe Schluß gemacht mit den krummen Touren, ich arbeite jetzt und…« »Mir kommen gleich die Tränen«, spottete Joe Dollis. »Leider irrst du dich, George, alter Freund. Du hängst bereits bis über beide Ohren mit drin.« »Wie meinst du das?« fragte Norland, der bei dem überlegenen Ton unsicher wurde. »Ganz einfach!« Dollis zog die rechte Hand aus der Tasche. 66 �
Norlands Augen weiteten sich erschrocken, als er den kurzen, bulligen Revolver sah. »Also, vorwärts. Du gehst zuerst rein!« befahl der von der Polizei Gesuchte. Hintereinander betraten sie die Wohnung. Norland verzichtete auf Widerstand, weil er im Gefängnis Dollis als einen Mann kennen gelernt hatte, der sofort zuschlug und erst hinterher überlegte. Dollis trieb ihn ins Wohnzimmer. »Hör zu, Joe«, versuchte Norland seinem ungebetenen Besucher zuzureden, doch Dollis wollte nichts hören. »Hör du lieber zu!« fauchte er. »Versuche nicht, mich mit einem Trick hereinzulegen! Denk an Storrington und Lindfield und Seton!« »Also hast du sie doch…?« Norland brach abrupt ab. Der Schreck war ihm gehörig in die Knochen gefahren. »Kümmere dich nicht um meine Angelegenheiten!« schnauzte ihn Dollis an. »Los, ich will was trinken, und dann räumst du den Eisschrank aus! Ich habe Hunger.« Widerspruchslos gehorchte Norland. Wenn er doch irgendwie Hilfe hätte holen können! Der nächste Tag war noch dazu ein Samstag, also ein arbeitsfreies Wochenende. Mehr als zwei Tage lang würde ihn niemand vermissen, und Dollis zwang ihn bestimmt, jeden Besucher wieder wegzuschicken oder sich gar nicht erst zu melden. Und hinterher würde die Polizei glauben, er hätte gemeinsame Sache mit einem Mörder gemacht Norland hätte Dollis am liebsten eine Bierflasche über den Schädel geschlagen, doch der Anblick des bulligen Revolvers hielt ihn zurück. »Woher hast du denn das Knallding?« fragte er, um wenigstens irgend etwas zu sagen. »Man hat eben noch Freunde, die einem in der Not helfen.« Dollis grinste und nahm seinem ehemaligen Mithäftling die Bierflasche aus der Hand. »Beeil dich, damit ich nicht ungeduldig werde!« 67 �
»Wie geht es jetzt weiter?« fragte George Norland, als er alle Befehle seines unerwünschten Gastes erfüllt hatte. Er sollte es gleich sehen und fühlen. Joe Dollis trieb ihn mit seinem Revolver ins Schlafzimmer und fesselte ihn ans Bett. »Mach eine Schlafkur, George«, riet er ihm lachend. »Das soll gut für die Nerven sein.« Er verließ das Schlafzimmer. Gleich darauf hörte Norland, wie der Eindringling im Wohnzimmer den Fernseher anstellte. Er machte es sich gemütlich. Ein polizeilich gesuchter Mörder in seiner Wohnung! George Norland hätte die Wände hochgehen können, wenn ihn diese verdammten Fesseln nicht zurückgehalten hätten. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Stricke, bis es knirschte. * Die intensive Suche nach Joe Dollis in Westham brachte keinen Erfolg, wie Rick sofort erfuhr, nachdem er den Reverend im Pfarramt sicher abgeliefert und einen Arzt gerufen hatte. Dollis war entwischt. Als einzig erfreuliche Nachricht stellte der Hausarzt des Reverend fest, daß die Wunde nur leicht und nicht verschmutzt war. Arnold Dollis mußte nicht ins Krankenhaus. Rick Masters verabschiedete sich von dem Bruder des gesuchten Joe Dollis und stattete dem Chefinspektor einen kurzen Besuch ab, ehe er nach Hause fuhr. »Die in Frage kommenden Geschworenen stehen weiterhin unter Bewachung«, erklärte Chefinspektor Hempshaw und zuckte resignierend mit den breiten Schultern. »Welchen Erfolg wir damit haben, wissen Sie ja leider, Rick.« »Wie steht es mit Norland?« fragte der junge Privatdetektiv. »Er hat selbst zugegeben, daß Miß Kiffen auch in seinem Prozess 68 �
mitwirkte. Er scheidet also als Verdächtiger noch nicht ganz aus, obwohl ich ihn mir nicht als gemeinen Mörder vorstellen kann.« Der Chefinspektor wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch und zog ein Blatt hervor, »Nach der Arbeit ging er noch mit Kollegen in ein Lokal. Gegenwärtig ist er zu Hause. In seiner Wohnung läuft der Fernseher, wie unser Mann berichtet. Das wäre alles.« »Ein mageres Ergebnis«, stellte Rick trocken fest. »Nicht so ganz.« Chefinspektor Hempshaw zog die Augenbrauen zusammen und rieb sich über das Kinn. Es gab ein scharrendes Geräusch, weil bereits wieder ein kräftiger Stoppelwald um den Mund Hempshaws wuchs. »Eine ergänzende Mitteilung muß ich Ihnen noch machen, Rick. Wir haben nämlich alle einen Punkt übersehen.« »Und der wäre?« fragte der junge Privatdetektiv gespannt. »Wir haben nicht daran gedacht, daß sich ein Verurteilter auf Rachefeldzug auch an den Polizisten halten wird, der ihn verhaftet hat.« »Hm«, machte Rick und wunderte sich, daß er nicht selbst schon längst auf diesen Gedanken gekommen war. »Und wer hat die Verhaftungen in den fraglichen Fällen durchgeführt?« Chefinspektor Hempshaw lehnte sich seufzend in seinem Drehstuhl zurück. »Ich«, sagte er und fröstelte. * George Norland stutzte. Trotz des sehr laut eingestellten Fernsehapparates im Nebenzimmer hatte er das leise Knirschen der Stricke gehört, mit denen ihn Joe Dollis gefesselt hatte. Und nun erinnerte sich der Mechaniker auch daran, daß sein ehemaliger Mithäftling die Wäscheleine aus dem Badezimmer verwendet hatte, diesen alten Strick, der von der Feuchtigkeit bereits 69 �
morsch und brüchig geworden war. Schweißtropfen glänzten auf Norlands Stirn, als er deutlich seine Chance erkannte. Er war ein kräftiger Mann. Warum sollte er die Stricke nicht sprengen können? Noch einmal spannte Norland alle Muskeln bis zum Zerreißen an, dann hatte er es geschafft. An seinem linken Handgelenk knirschte es, und mit einem Ruck glitt sein Arm aus den Fesseln. Einen Augenblick lang blieb er still auf seinem Bett liegen und lauschte angestrengt. Nein, Dollis hatte nichts bemerkt. Im Wohnzimmer änderte sich nichts. Hoffentlich kam Joe jetzt nicht in das Schlafzimmer, um nach seinem Gefangenen zu sehen. Mit hastigen Bewegungen löste George Norland den Knoten an seiner rechten Hand. Seine Füße waren innerhalb von Sekunden frei. Nichts wie raus hier! dachte Norland. Zu seinem Glück konnte er das Schlafzimmer nicht nur durch das Wohnzimmer verlassen, in dem Dollis Wache hielt, sondern auch noch durch einen zweiten Ausgang, der in das Badezimmer und von dort in den Vorraum führte. Der auf laut gestellte Fernsehapparat half Norland bei seinem Fluchtversuch. Das leise Quietschen der Türklinken wurde von dem Ton eines Wildwestfilms überdeckt. Mit angehaltenem Atem betrat der Automechaniker die Diele. Auch hier war er nur durch eine Tür von dem Eindringling getrennt, der einen Revolver besaß. Auf Zehenspitzen schlich George Norland zur Tür und erstarrte vor Enttäuschung und Wut. Die Wohnungstür war versperrt. Dollis hatte die Schlüssel abgezogen und wahrscheinlich eingesteckt. Hier in der Diele lagen sie jedenfalls nicht. Aber auf einem Schränkchen stand das Telefon. Norland überlegte blitzschnell. Wenn er den Polizeinotruf 70 �
wählte, mußte er erst seinen Namen und die Adresse sagen und durchgeben, warum er anrief und Hilfe brauchte. Wenn er sich aber an Rick Masters wandte, genügte sein Name. Der Privatdetektiv würde dann schon wissen, daß bei ihm etwas nicht stimmte und selbst kommen oder die Polizei schicken. Das ging schneller und barg für Norland kein so großes Risiko. Er zog die Visitenkarte des Privatdetektivs aus der Hemdtasche und wählte dessen Nummer. Trotz des Fernsehtons glaubte der Mechaniker, daß die Wählscheibe einen Höllenlärm veranstaltete. Seine überreizten Nerven bebten. Das Rufsignal ertönte nur einmal, dann meldete sich Rick Masters. Aber Norland hätte zum zweiten Mal bei seinem Rettungsversuch am liebsten vor Wut aufgeschrien. »Hier ist der automatische Anrufbeantworter der Nummer…«, sagte die Stimme des Privatdetektivs vom Tonband. Norland wartete, bis er aufgefordert wurde, seine Nachricht aufzusprechen. »Norland«, flüsterte er so leise, daß Dollis es nicht hören sollte, und andererseits so laut, daß es Masters später verstehen konnte. »Dollis, Revolver, Wohnung!« Vorsichtig legte Norland den Hörer auf. Das würde genügen, dachte er. Rick Masters mußte begreifen, was der Hilferuf zu bedeuten hatte. Doch dann kam ihm zu Bewußtsein, daß er ein großes Risiko einging, ein zu großes. Wer weiß, wann Masters nach Hause kam und ob er dann überhaupt noch den automatischen Anrufbeantworter abspielte. Dollis würde aber früher oder später in das Schlafzimmer schauen und feststellen, daß sich sein Gefangener befreit hatte. Die Zähne zusammenbeißend, hob Norland den Telefonhörer noch einmal ab. Er mußte die Polizei anrufen, er hatte keine andere Wahl. 71 �
»Neun, neun, neun«, sagte eine spöttische Stimme hinter ihm. George Norland wirbelte herum. Joe Dollis stand in der Tür zum Wohnzimmer, den Revolver auf ihn gerichtet. »Dreimal die Neun, das ist der Notruf«, sagte Dollis sanft. »Leg auf!«, fauchte er plötzlich und hob den Lauf. George Norland legte nicht auf, er tat nur so. Blitzschnell packte er das Telefon und schleuderte es auf seinen Gegner. Dollis wurde ins Gesicht getroffen und wankte rückwärts ins Wohnzimmer. Norland setzte nach und prellte ihm mit einem Fußtritt die Waffe aus der Hand. Doch Dollis gab sich noch nicht geschlagen. Er griff in seine Jacke, und ehe Norland eine abwehrende Bewegung machen konnte, riß Dollis den schweren Schraubenschlüssel aus der Tasche und schlug auf den Mechaniker ein, bis sich der auf dem Teppich Zusammengebrochene nicht mehr rührte. Keuchend bückte sich Dollis, steckte Revolver und Schraubenschlüssel ein und verließ die Wohnung. Die Tür drückte er leise ins Schloß. * Sehr unzufrieden betrat Rick Masters sein Wohnbüro, das im selben Haus lag wie das älteste Cafe der City von London. Die Aufklärung der mysteriösen Todesfälle, hinter denen Rick scheußliche Morde vermutete, war stecken geblieben. Es gab Verdächtige, sogar einen Hauptverdächtigen, aber keine Beweise für die Schuld. Außerdem lagen die Tatmotive völlig im dunkeln. Niemand wußte, wie der Mörder vorgegangen war. Rick konnte sich auch noch nicht im entferntesten vorstellen, wie es weitergehen sollte. Am liebsten hätte er sich nach einem kräftigen Schluck Whisky 72 �
in sein Bett gelegt und einmal rund um die Uhr geschlafen, doch das Pflichtbewusstsein erinnerte ihn daran, daß er vorher noch einiges zu erledigen hatte. Seufzend stellte er sich hinter seinen Schreibtisch, legte die Beine auf die Tischplatte und steckte sich eine Zigarette an. Dann holte er eine Flasche Whisky aus dem Fach, schenkte sich fingerbreit ein und stellte den Telefonbeantworter ein. Der Anwalt der Familie Storrington hatte angerufen und wollte wissen, ob Rick Masters schon mit den Ermittlungen über den Tod des bekannten Richters weitergekommen war. Es folgten eine falsche Verbindung und zwei unbedeutende Nachrichten, bis Rick erstaunt aufhorchte. Er hörte deutlich im Hintergrund Schüsse und Indianergeheul. Innerhalb weniger Augenblicke verstand er, daß es ein im Fernsehen laufender Film sein mußte. Dann kam eine leise, unverständliche Stimme. Rick stoppte das Band und ließ die Stelle noch einmal laufen, wobei er sich weit vorneigte und das Ohr an den Lautsprecher hielt. Nun verstand er die vier Wörter. Norland – Dollis Revolver Wohnung! Danach war die Verbindung unterbrochen. Einen Augenblick blieb Rick wie versteinert sitzen, dann zündete in seinem Gehirn der Funke. Norland hatte angerufen und wollte ihm mitteilen, daß der mit einem Revolver bewaffnete Dollis in seiner Wohnung war. Rick stieß das Whiskyglas um, als er aufsprang und eiligst sein Wohnbüro verließ. Unten auf der Straße warf er sich in seinen Morgan, steckte das Blaulicht auf und schaltete es ein. Während er losbrauste, nahm er den Hörer des Funkgerätes aus dem Handschuhfach und gab eine Meldung an die Polizei durch. »Vorsicht bei der Annäherung an das Haus!« empfahl er. »Wenn Dollis merkt, daß die Polizei anrückt, dreht er vielleicht 73 �
durch. Er hat einen Revolver!« »Verstanden, Ende!« bestätigte die routinemäßig gelassene Stimme des Mannes in der Funkzentrale. Schon drei Blocks vor Norlands Haus verzichtete Rick Masters auf die schrille Alarmklingel, und einen Block vorher schaltete er auch das Blaulicht aus. Die Polizei war bereits vor ihm eingetroffen, und zu seiner Befriedigung stellte Rick fest, daß man sogar darauf verzichtet hatte, Streifenwagen zu schicken. Auch wenn sie die Blaulichter nicht einschalteten, waren sie an der Glaskuppel auf dem Dach doch als Polizeifahrzeuge zu erkennen. Statt dessen parkten in der Straße zivile Autos vom nächsten Revier. Rick schloß sich zwei Detektiven in Zivil an, die gerade das Haus betraten. Schon an der Wohnungstür sah Rick, daß sie zu spät gekommen waren. George Norland lag in einer kleinen Blutlache im Wohnzimmer. Ein Kriminalbeamter kniete neben ihm, ein zweiter telefonierte nach einem Krankenwagen. »Lebt«, meldete der Polizist. »Scheint ihm aber nicht gut zu gehen.« »Krankenwagen kommt gleich«, sagte der zweite Mann und legte den Hörer auf. Rick wurde unsanft zur Seite geschoben. Er drehte sich um und erkannte den Neuankömmling. Es war Chefinspektor Hempshaw, der sich gleichzeitig mit den anderen Detektiven vom Revier auf den Weg gemacht hatte. Sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr, als er den Bewußtlosen sah. »Verraten Sie mir doch eines«, wandte er sich an einen unauffällig gekleideten Mann, der neben dem Telefon in der Diele stand. »Wieso konnte das passieren? Haben Sie geschlafen?« Das ist also der Yard-Beamte, der Norland beschattete, dachte Rick Masters. Eine Zigarre war ihm sicher, eine sehr dicke sogar. Rick täuschte sich. 74 �
»Ich habe weisungsgemäß vor dem Haus Stellung bezogen«, verteidigte sich der Kriminalist. »Der Täter muß schon in der Wohnung gewesen sein, oder erst über den Hinterhof gekommen, über den er auch geflohen sein wird. Wir hätten zwei Mann zur Überwachung einsetzen sollen.« Hempshaw starrte ihn kurz aus zusammengekniffenen Augen an, dann nickte er. »Sie haben recht, die Sache ist in Ordnung«, sagte er und drehte sich um. Gerecht war Hempshaw, das mußte ihm sein ärgster Feind lassen. Das änderte jedoch auch nichts an der Tatsache, daß der mit dem Krankenwagen eingetroffene Arzt ein bedenkliches Gesicht machte, nachdem er Norland untersucht hatte. »Verdacht auf Schädelfraktur«, diagnostizierte er. »Er wurde mit einem harten Gegenstand niedergeschlagen.« »Wahrscheinlich mit einem schweren Schraubenschlüssel«, bemerkte Rick Masters. »Könnte sein«, bestätigte der Arzt. »Geht vorsichtig mit ihm um!« wies er die Sanitäter an und hob den Hörer vom Telefon ab. Er rief das Krankenhaus an. »Röntgen und Schädeloperation vorbereiten«, sagte er und fügte noch einige Hinweise hinzu. »Wird er durchkommen?« fragte Chefinspektor Hempshaw. »Ich bin nicht allwissend«, entgegnete der Arzt ein wenig gereizt und folgte den Trägern mit der Trage. »Eine schöne Bescherung!« fluchte Hempshaw. »Erzählen Sie doch, Rick, wieso Sie Alarm geschlagen haben. Woher wußten Sie, daß Dollis bei Norland in der Wohnung ist?« In Kürze erzählte der junge Privatdetektiv, wie er über den ungewöhnlichen, auf Tonband aufgezeichneten Anruf auf die Idee gekommen war, daß sich Norland in Gefahr befand. »Ich möchte nur wissen, warum er nicht den Notruf betätigt hat.« Hempshaw ging prüfend durch die Wohnung, in der bereits Spuren gesichert wurden. Er blieb kurz vor dem Bett ste75 �
hen, an dem noch die Stricke hingen, mit denen Norland gefesselt gewesen war. »Die Frage wird wahrscheinlich nur Norland selbst beantworten können«, entgegnete Rick Masters, der den Chefinspektor auf seinem Rundgang begleitete. »Hoffentlich kann er überhaupt noch sprechen. Dollis hat sich vielleicht zu unüberlegten Äußerungen ihm gegenüber hinreißen lassen, weil er den Mann wehrlos in seiner Gewalt wußte.« »Möglich.« Chefinspektor Hempshaw wirbelte zu Rick herum. Sein Gesicht zeigte deutlich eine große innere Anspannung. »Ich habe die genauen Berichte der Autopsien der bisherigen Opfer erhalten. Rechtsanwalt Richard Seton ist der einfachste Fall, er hat sich selbst aus dem Fenster gestürzt, weil er das fürchterliche Erlebnis mit den Spinnen nicht verkraften konnte. Richter Storringtons Schädel wurde mit fürchterlicher Gewalt von zwei Seiten eingedrückt. Staatsanwalt Lindfields Lungen haben sich vollständig aufgelöst total rätselhaft. Und kein Messer, kein Beil, überhaupt kein fester Gegenstand hat Miß Kiffens Hände abgetrennt, auch keine Laserstrahlen oder Ähnliches. Auch hier stehen unsere Spezialisten vor einem Rätsel.« Er wischte sich nervös über die Stirn und blinzelte in das Licht der Deckenlampe. »Ich fürchte«, sagte Chefinspektor Hempshaw, und es war das erste Mal, daß Rick solche Worte aus seinem Mund hörte, »ich fürchte, daß ich langsam die Nerven verliere. Wenn ich daran denke, daß ich die Verhaftungen durchgeführt habe und vielleicht der nächste Kandidat auf der Liste bin…« »Machen Sie sich nicht selbst verrückt, Kenneth«, versuchte Rick Masters seinen Freund zu beruhigen, obwohl er genau wußte, daß es keinen Sinn hatte, den Kopf in den Sand zu stecken. »Wir müssen vor allem einen klaren Verstand bewahren.« »Sie können das, Rick.« Hempshaw lachte bitter auf. »Sie sind 76 �
ja nicht in Gefahr, aber ich.« »Irrtum«, verbesserte ihn der junge Privatdetektiv. »Mein Kopf sitzt auch ziemlich locker. Der Mörder weiß, daß ich ihm auf der Spur bin. Wenn er sich durch mich zu sehr bedroht fühlt, wird er bestimmt nicht zögern, auch mich auszuschalten.« »Jedenfalls kommen Sie erst an zweiter Stelle«, beharrte der Chefinspektor auf seinem Standpunkt und verstaute seinen massigen Körper auf einem Stuhl in Norlands Wohnzimmer. »Glauben Sie mir, Rick, es ist kein angenehmes Gefühl zu wissen, daß jeden Augenblick etwas Schreckliches, Unerklärliches geschehen kann, gegen das sich niemand wehren, dem man nicht entgehen kann. Ein Kampf mit zehn Verbrechern unten im Themsehafen, alle bewaffnet, ich unbewaffnet, das ist mir viel lieber als dieses nerven zermürbende Warten. Bei den bewaffneten Verbrechern habe ich wenigstens eine winzige Chance, daß ich mich meiner Haut wehren kann, aber in diesem Fall… Was soll ich machen, wenn sich plötzlich irgendein Körperteil auflöst, wenn es mir wie dem Staatsanwalt geht oder dem Richter?« »Sie tragen wenigstens keine Perücke«, versuchte Rick einen lahmen Scherz. Er hätte seinem Freund so gerne geholfen, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, er mußte sich eingestehen, daß Hempshaw mit seinen düsteren Prophezeiungen recht hatte. Gleichzeitig schwor sich Rick Masters, daß er alles unternehmen würde, um den Täter unschädlich zu machen, noch bevor etwas geschah. Rick Masters wußte aber auch, daß er praktisch auf verlorenem Posten stand. * Obwohl wenig Aussicht darauf bestand, noch in dieser Nacht � eine Aussage von George Norland zu erhalten, schloß sich Rick � 77 �
Masters den beiden Polizeiwagen an, die zum Krankenhaus fuhren, in dem der Automechaniker auf dem Operationstisch lag. Wie erwartet, wurden Hempshaw und. Masters von den Ärzten angewiesen zu warten. »Eine Vernehmung ist ausgeschlossen«, erklärte der Chefarzt entschieden. »Mehrere Tage strenge Ruhe für den Patienten, davon kann ich nicht abgehen.« »Aber es hängen Menschenleben von der Aussage Norlands ab«, hielt ihm der Chefinspektor entgegen. »In erster Linie hängt das Leben meines Patienten daran«, erwiderte der Chefarzt kühl. »Ich weiß nicht, ob Sie Menschenleben wie eine Ware gegeneinander abwiegen können.« »Das meine ich auch nicht!« Hempshaw zwang sich sichtlich zur Ruhe. »Ich brauche eine Information, eine einzige Information, an der alles hängt. Fehlt sie, dann bleiben die Ermittlungen stecken. Zwei Minuten, mehr ist nicht nötig.« Der Chefarzt zögerte. »Wir werden sehen«, entgegnete er dann unbestimmt. »Vielleicht kommt der Patient kurz zu sich. Dann können Sie Ihre Fragen stellen, aber sprechen darf er auf keinen Fall.« »Wenigstens etwas«, seufzte Chefinspektor Hempshaw erleichtert auf. »Wir werden warten.« Das taten sie dann auch bis zum Morgengrauen. Endlich wurden sie von der Krankenschwester, die ständig Wache bei Norland hielt, in das Zimmer gerufen. »Er wird unruhig«, flüsterte sie. »Kann sein, daß er jetzt zu sich kommt. Ich rufe auf jeden Fall den Chefarzt.« Der Arzt traf zwei Minuten später ein. Er prüfte den Puls Norlands und nickte. »Er wird gleich aufwachen. Sprechen darf er nicht«, wiederholte er seine Warnung. George Norland lag mit weißem Gesicht und dick bandagiertem Kopf im Bett, schmal und zerbrechlich. Seine Lider flatterten, dann schlug er die Augen auf. 78 �
»Lassen Sie mich sprechen«, flüsterte Rick Masters dem Chefinspektor zu. »Mich kennt er, zumindest hat er kurz vor den fürchterlichen Schlägen an mich gedacht.« Hempshaw nickte, und der Detektiv beugte sich über den Schwerverletzten. »Mr. Norland«, sagte er. »Ich bin es, Rick Masters.« George Norland wollte etwas sagen, er strengte sich an, doch Rick hob sofort die Hand. »Sie dürfen nicht sprechen, Mr. Norland. Schließen Sie kurz die Augen bei ›ja‹ und lassen Sie sie offen bei ›nein‹. Hat Dolus die Morde durchgeführt?« Schließen der Augen, also ja. »Wissen Sie, wo er jetzt ist?« Die dunklen Augen des Mechanikers schauten Rick unverwandt an. Der Privatdetektiv zuckte die Schultern. Norland wußte es also auch nicht. Er setzte noch zu einer weiteren Frage an, doch dann merkte er, daß der Verletzte wieder ohnmächtig oder eingeschlafen war. »Sie müssen gehen«, drängte der Chefarzt. »Ich habe schon gesagt, daß der Patient absolute Ruhe…« »Die könnte ich auch brauchen«, fiel ihm Chefinspektor Hempshaw ins Wort. »Rufen Sie sofort den Yard an, wenn eine Veränderung in seinem Zustand eintritt! Und wenn er vernehmungsfähig ist, muß ich das gleich wissen.« Sie verabschiedeten sich von dem Arzt und verließen gemeinsam das Krankenhaus. Auf dem Vorplatz blieben sie stehen. »Was machen Sie jetzt, Kenneth?« erkundigte sich Rick Masters. »Fahren Sie nach Hause?« Der Chefinspektor schüttelte den kantigen Kopf. »Nein, ich werde mich im Yard ein wenig hinlegen. Ich möchte heute nicht gern allein sein.« »Kann ich verstehen.« Rick nickte. »Ich lege mich aufs Ohr, damit ich morgen wieder frisch bin.« 79 �
»Heute«, korrigierte Hempshaw nach einem Blick auf die Uhr und zum Himmel, der schon hellgrau wurde. »Machen Sie schnell, damit Sie wieder frisch auf den Beinen sind, wenn sich etwas Neues tut.« »Hoffentlich geschieht nichts mehr«, rief Rick und hob abwehrend die Hände. »Ausgenommen die Verhaftung von Dollis natürlich, aber sonst ist mein Bedarf gedeckt.« »Meiner auch.« Hempshaw nickte Rick zu und stieg in den Dienstwagen. Der junge Privatdetektiv kletterte in seinen offenen Sportwagen, nahm das Blaulichtgehäuse ab und verstaute es in dem Spezialfach unter dem Sitz. In normalem Tempo fuhr er zurück in die City und schleppte sich todmüde die Treppe hinauf in sein Wohnbüro. Kaum hatte er sich die Kleider vom Leib gerissen, als er auch schon auf sein Bett fiel und im selben Augenblick einschlief. Nicht einmal das heraufdämmernde Sonnenlicht störte ihn dabei. * Da niemand anrief und er vergessen hatte, einen Wecker zu stellen, wurde Rick Masters erst gegen zwölf Uhr mittags wach. Verschlafen blinzelte er in die grelle Sonne, die seine Wohnung durchflutete, und tastete sich mühselig in die Wirklichkeit zurück. Er hatte wirres Zeug geträumt von selbständigen Händen, die gehen konnten, und von einem mächtigen Schraubenschlüssel, der ihn verfolgte. Dann wußte er wieder, was in der letzten Nacht geschehen war. Noch immer schlaftrunken, tastete er nach dem Telefon, wählte automatisch Scotland Yards Nummer und verlangte Chefinspektor Hempshaw. Das Gespräch landete bei Dr. Sterling, dem Arzt von Hempshaws Mordkommission. 80 �
»Wie kommen Sie in die Leitung, Doktor?« fragte Rick erstaunt. »Sie gehen doch sonst nie ans Telefon.« »Ich bin in Kenneths Büro«, erklärte der alte Polizeiarzt. »Es geht Kenneth nicht gut. Ich habe ihm vorhin etwas für die Nerven gegeben, weil er sonst nicht durchgehalten hätte. Im Augenblick schläft er im Nebenzimmer.« »Das sind ja schöne Neuigkeiten«, seufzte Rick Masters. »Wie ist es dazu gekommen?« »Anstatt sich Ruhe zu gönnen«, erzählte Dr. Sterling, »hat er den Rest der Nacht und den Vormittag durchgemacht. Ich mußte ihn einfach in Ruhestellung versetzen, sonst wäre er umgekippt. Daher weiß er auch noch gar nicht, was vor einer halben Stunde geschehen ist.« »Wovon reden Sie?« »George Norland ist tot. Ein Blutgerinnsel im Gehirn, ausgelöst durch die harten Schläge. Die Meldung kam vor wenigen Minuten.« Rick schwieg verbittert. Der Automechaniker war ihm sympathisch gewesen, ein ehemaliger Sträfling, der den Weg zurück ins normale Leben geschafft hat, aus dem er nun so brutal gerissen worden war. »Sind Sie noch in der Leitung, Rick?« fragte Dr. Sterling, als ihm das Schweigen zu lange dauerte. »Ja, ja, ich bin noch da.« Rick zündete sich mit einer Hand eine Zigarette an und stellte das Feuerzeug mit einem harten Ruck auf den Tisch. »Wann sagen Sie es Kenneth?« »Das hat noch viel Zeit. Ich spreche dabei nicht als Mitarbeiter von Scotland Yard, sondern als Arzt. Durch den Tod von Norland ändert sich doch nichts, oder?« »Wir sind nur um eine Chance ärmer geworden, den Täter schnell zu fangen«, erklärte Rick wütend. »Gibt es sonst noch unangenehme Neuigkeiten, die Sie mir nur stückweise beibrin81 �
gen?« »Sie sollten auch einmal wieder ausspannen«, sagte Dr. Sterling lachend. »Ihre Nerven sind in einem schlechten Zustand.« »Ihr Nervenkostüm sähe nicht viel besser aus, wenn Sie an meiner Stelle wären, Doktor«, erwiderte Rick Masters gereizt. »Also, sonst nichts Neues?« »Zum Glück nicht, sonst hätte ich zwei Patienten statt einem. Was werden Sie unternehmen, Rick?« »Keine Ahnung, Doktor. Ich melde mich wieder bei Ihnen. Bis später!« Der junge Privatdetektiv besorgte sich zunächst Zeitungen und kombinierte Frühstück und Mittagessen in Form eines Imbisses, den er sich in einer Snackbar holte. Während er in seinem Wohnbüro kauend am Schreibtisch saß, überflog er die Zeitungen. Sie berichteten alle in großer Aufmachung von den mysteriösen Todesfällen in Old Bailey und von dem Ableben des bekannten Strafverteidigers und einer Geschworenen. Rick wußte nicht, woher die Journalisten ihre Informationen bezogen, aber sie kamen ziemlich genau an die Wahrheit heran, als sie Spekulationen über einen Rachefeldzug anstellten. Und sie nannten in diesem Zusammenhang in dicken Lettern den Namen. Joe Dollis. Auch einige Fotos des Flüchtigen waren in die Zeitungen gelangt. Ob Chefinspektor Hempshaw hinter diesen Pressemeldungen steckte, konnte Rick im Augenblick nicht feststellen, aber er bezweifelte es. Er wußte, daß in solchen Fällen der Chefinspektor sehr sparsam mit seinen Informationen an die Zeitungen umging, weil er sich auf den Standpunkt stellte, daß man nicht öffentlich einen Menschen des Mordes verdächtigen sollte, wenn seine Täterschaft nicht sicher feststand. Nun, in dem Fall »Old Bailey« stand überhaupt nichts fest, außer daß Joe Dollis einen Totschlag an George Norland began82 �
gen hatte. Rick glaubte kaum, daß Dollis in einer Verhandlung wegen Mordes an Norland verurteilt werden konnte. Der junge Privatdetektiv faltete die Zeitungen zusammen. Diese Überlegungen führten auch nicht zum Ziel. Positiv an dem Presserummel war nur, daß sich Joe Dollis kaum noch auf die Straße wagen konnte, weil er sofort von Tausenden von Zeitungslesern erkannt worden wäre. Es gab zum Glück immer genug Menschen, die sich als Amateurdetektive versuchten. Sie waren Dollis im Moment wahrscheinlich gefährlicher als das Heer von Polizisten, die nach ihm Ausschau hielten. Dennoch ist und bleibt Dollis verschwunden, dachte Rick bitter. Er griff zum Telefon und rief den Bruder des Gesuchten an. Der Reverend konnte Rick allerdings auch nicht weiterhelfen. »Ich habe schon davon gehört, was Joe getan hat«, sagte Arnold Dollis niedergeschlagen. »Es ist einfach schrecklich, wozu ein Mann, fähig ist, wenn er in die Enge getrieben wird. Er hätte gestern doch meinem Rat folgen sollen, sich der Polizei zu stellen.« »Er wollte leider nicht glauben, daß es tatsächlich das Beste gewesen wäre«, erwiderte Rick Masters. »Sie rufen mich an, sobald Sie etwas von ihm hören?« »Selbstverständlich«, versicherte Reverend Dollis. Das ist vorläufig alles, was ich tun kann, dachte Rick Masters düster, während er den Hörer auflegte. Er hatte kaum den Apparat berührt, als das Telefon schrillte. »Rick Masters«, meldete sich der junge Privatdetektiv. »Joe Dollis«, kam die Antwort durch den Draht. * Rick Masters mußte schlucken, ehe er etwas sagen konnte. Daß � ihn der fieberhaft gesuchte ehemalige Sträfling einfach anrief, � 83 �
verschlug ihm die Sprache. »Dollis!« rief er schließlich. »Wo stecken Sie?« »Könnte Ihnen so passen, daß ich Ihnen einfach verrate, wo ich bin«, erwiderte der Mann. »Besonders jetzt, wo doch Norland tot ist, nicht wahr?« »Allerdings«, gab Masters zu. »Norland ist heute an seinen Verletzungen gestorben.« »Armer Kerl!« Es klang sogar aufrichtig, stellte Rick zu seiner Überraschung fest. »Ich wollte ihm nichts tun, glauben Sie mir, Masters, aber er hat mich dazu gezwungen. Er versuchte, die Polizei anzurufen, und ich mußte mich doch irgendwo verstecken.« »Mir kommen gleich die Tränen«, versetzte der junge Privatdetektiv bissig. »Wollen Sie sich von aller Schuld reinwaschen, Dollis, oder warum rufen Sie sonst an?« Es blieb eine Weile still. Rick hörte nur im Hintergrund vorbeifahrende Autos und Stimmen. Vermutlich sprach der Mann aus einer öffentlichen Telefonzelle. »Masters, Sie müssen mir helfen!« meldete sich Joe Dollis nach einer halben Minute wieder. »Sie müssen mich in Sicherheit bringen, sofort, sonst ist es zu spät!« »Sie sind verrückt«, antwortete Rick hart. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß ich einen Flüchtigen in Sicherheit bringe, der von Scotland Yard gesucht wird und vor Wenigen Stunden einen Menschen ins Jenseits befördert hat? Sagen Sie mir, wo Sie sind, dann helfe ich Ihnen, indem ich Sie sicher zur Polizei bringe! Man wird es Ihnen später mildernd anrechnen, wenn Sie sich freiwillig stellen. Mehr ist nicht drin bei mir, Dollis, tut mir leid.« »Masters!« keuchte der Verbrecher. »Masters, Sie können sich meine Lage nicht vorstellen.« 84 �
»Doch, ich weiß, was es heißt, wenn man sich verstecken muß, wenn man ständig in Gefahr ist, entdeckt zu werden und von der Polizei…« »Ach was, Polizei!« fiel ihm Joe Dollis ins Wort. »Wenn es nur die Polizei wäre, mit der würde ich schon fertig werden. Masters, meine ehemaligen Freunde und Bekannten machen Jagd auf mich. Ich glaube sogar, daß sie mich umbringen wollen.« »Was soll denn das heißen?« rief Rick wütend. »Wollen Sie mich vielleicht auf den Arm nehmen?« »Nein!« keuchte Dollis. »Glauben Sie mir! In den Zeitungen steht doch, daß ich den Richter und den Staatsanwalt und die anderen getötet habe. Das ist ungefähr gleichbedeutend mit einem Polizistenmord. Alle glauben jetzt, daß ich daran schuld bin, daß die Leute vom Yard überall herumschwirren. Verstehen Sie endlich? Sie meinen, daß ich ihnen das Geschäft verdorben habe, daß meinetwegen Hunderte von Plattfüßen durch die Kneipen ziehen.« »Das ist etwas ganz Neues«, antwortete Masters grinsend. »Nicht schlecht, Dollis, Ihre eigenen Leute heizen Ihnen ein. Dann stellen Sie sich endlich der Polizei, und alles ist vorbei.« »So einfach ist das auch nicht.« Der Mann schien echte Angst zu haben. »Die Ermordeten waren alle sehr populär. Die Leute auf der Straße halten Ausschau nach mir, weil sie den Mörder von so beliebten Persönlichkeiten fangen wollen. Was glauben Sie, was geschieht, wenn mich so eine wütende Menschenmenge in die Mangel nimmt? Da bleiben von mir nicht einmal mehr die Knochen heil.« »Ein Grund mehr, um die Polizei zu holen«, redete Rick dem Flüchtigen zu. »Hören Sie, sagen Sie mir, wo Sie sind, dann legen Sie auf und rufen 999! Ich komme auch sofort. Ich garantiere Ihnen, Dollis, daß Ihnen nichts geschehen wird. Vor Gericht müssen Sie sich natürlich für alles verantworten, aber es wird Sie 85 �
niemand unmenschlich…« »Um Himmels willen!« unterbrach ihn Joe Dollis erschrocken. »Was ist denn? Masters, da draußen steht einer und glotzt mich an wie ein Mondkalb. Ich glaube, der hat mich erkannt. Helfen Sie mir! Er schreit die Leute zusammen.« »Wo sind Sie?« rief Rick aufgeregt. Er hörte deutlich die drohenden Rufe einer schnell anwachsenden Menschenmenge. Es stimmte, was Dollis am Telefon gesagt hatte. Die ermordeten Persönlichkeiten von Old Bailey waren sehr beliebt gewesen, und ihr Tod hatte viel Staub aufgewirbelt. Und Rick wußte auch, wozu eine tobende Menschenmenge fähig war. »Hoxton!« nannte Dollis rasch den Stadtteil. Glas klirrte, als die Scheiben der Telefonzelle zu Bruch gingen. »East Road!« Mit einem lang gezogenen Schrei brach er ab. * Nur eine Sekunde lang zögerte Rick Masters, dann unterbrach er die Verbindung. Er hätte gerne weiter mitgehört, was sich in der Telefonzelle abspielte, doch dann hätte er Dollis keine Hilfe schicken können, da er keinen zweiten Apparat in der Wohnung hatte. In fliegender Hast wählte Rick dreimal die Neun. »Joe Dollis wird in Hoxton, East Road, in oder bei einer Telefonzelle von einer Menschenansammlung verprügelt«, gab der junge Privatdetektiv durch, warf den Hörer auf die Gabel und lief aus seinem Wohnbüro. Er nahm sich noch die Zeit, das Blaulicht auf seinem Sportwagen zu montieren. Auf die halbe Minute kam es nicht mehr an, und er holte die verlorene Zeit dadurch auf, daß ihm anschließend die anderen Autofahrer auswichen. In der East Road, die nicht lang war, wimmelte es bereits von 86 �
Polizeifahrzeugen, als Rick Masters etwa fünf Minuten später eintraf. Wegen seines Blaulichts und der Alarmklingel ließen ihn die Polizisten passieren, die jeden Verkehr in der Straße gesperrt hatte. Rick erkannte auf den ersten Blick, daß er zu spät kam, was immer sich hier auch ereignet hatte. Es war bereits wieder Ruhe eingekehrt. Uniformierte umstanden kleinere Menschengruppen. Es sah aus, als würden zahlreiche Hunde einige Herden bewachen und ständig umkreisen. Erstaunt stellte der junge Privatdetektiv fest, daß sein Vergleich ganz genau stimmte. Von den in diesen Gruppen zusammengetriebenen Passanten durfte nämlich niemand weggehen. Sie wurden von der Polizei festgehalten. Rick hatte ursprünglich geglaubt, daß sie nur zurückgedrängt wurden. Den Grund für die außergewöhnliche Maßnahme sah er, als er etwa zehn dicht beieinander stehende Personen umrundete und die Telefonzelle und die Straße davor sah. Ein Krankenwagen bahnte sich von der anderen Seite her einen Weg durch die Absperrungen. Der ganze Aufwand galt Joe Dollis, dem aber auch der aus dem Krankenwagen springende Arzt nicht mehr helfen konnte. Dollis lag auf der schmutzigen Straße in seltsam verrenkter Haltung. Sein Kopf war blutig, und als der Arzt ihn jetzt leicht bewegte, sah Rick die tiefe Wunde an der Schläfe. »Die Leute müssen wie die Irren über den Mann hergefallen sein«, erklärte einer der Polizisten dem jungen Privatdetektiv, nachdem dieser sich ausgewiesen hatte. »Sie kennen das ja. Keiner schlägt richtig fest zu, aber alle Schläge zusammen haben eine verheerende Wirkung. Dollis ist schließlich auch noch unglücklich gestürzt und mit dem Kopf gegen die Bordsteinkante geschlagen. Wir konnten nicht mehr rechtzeitig eingreifen.« 87 �
»Exitus«, sagte der Arzt und klopfte den Straßenstaub aus seinem weißen Kittel. »Wahrscheinlich Schädelfraktur.« Also wurden die Personen, die in die Schlägerei verwickelt gewesen waren, zum Teil als Zeugen und zum Teil als mögliche Gemeinschaftstäter festgehalten. Rick wandte sich mit einem Achselzucken ab. Nicht, daß ihm der Tod dieses Mannes nicht nahe gegangen wäre, aber hätte ihm Dollis am Telefon sofort gesagt, wo er war, hätte ihm Rick sicher noch helfen können. Nur seiner Angst, sich der Polizei zu stellen und sich für seine Taten zu verantworten, hatte er letztlich sein schreckliches Schicksal zu verdanken. Rick streifte die Menschen mit einem verächtlichen Blick. Sie standen mit betretenen Gesichtern herum. Rick hasste es, wenn sich die Masse stark fühlte und ihre Wut an einem Schwächeren ausließ. Keiner von ihnen war auf die Idee gekommen, den gesuchten Verbrecher festzuhalten und die Polizei zu rufen. Nein, sie hatten selbst »Gerechtigkeit« spielen müssen. Sollten sie jetzt ausbaden, was sie sich da aufgeladen hatten. Mit einem bitteren Geschmack im Mund setzte sich Rick Masters wieder in seinen dunkelgrünen Morgan. Ruckartig zog er das blaue Blinklicht aus seiner Halterung und ließ den Motor aufheulen. Der Fall »Old Bailey«, wie Rick selbst die Kette von Rachemorden an Juristen und Geschworenen genannt hatte, war zu einem blutigen Ende gekommen. * Dr. Sterling, der Polizeiarzt mit den weißen Haaren, den dicken Brillengläsern und der spitzen Zunge, hielt nach wie vor wie ein Löwe die Stellung in Chefinspektor Hempshaws Büro. »Es ist schwer«, sagte er, nachdem er Rick Masters begrüßt hatte, »diesen sturen Polizisten klarzumachen, daß ein Chefin88 �
spektor auch nur ein Mensch ist, der sich einmal ausruhen muß, sonst klappt er zusammen.« »Wie geht es ihm?« fragte Rick und deutete mit dem Kinn zum Nebenzimmer, in dem eine schmale Couch stand. »Das beste wäre, er würde vierzehn Tage Urlaub machen«, seufzte Dr. Sterling. »Aber die paar Stunden Schlaf haben ihm sicher gut getan. Ich habe mich nicht weiter um ihn gekümmert.« »Dann wecken Sie ihn erst einmal vorsichtig auf«, sagte Rick und machte es sich bequem. »Ich habe eine Nachricht für Kenneth, die dafür sorgen wird, daß er sich gleich wesentlich besser fühlt.« Dr. Sterling verzichtete auf Fragen, da er wußte, daß Rick nicht gern zweimal erzählte. Er verschwand im Nebenzimmer und kam nach wenigen Minuten mit Chefinspektor Hempshaw zurück. »Sie haben schon besser ausgesehen, Kenneth«, empfing ihn Rick Masters. »Vielen Dank für das Kompliment«, gähnte Hempshaw. Er hatte tiefe Ringe unter den geröteten Augen und konnte sich nur schwer auf den Beinen halten. »Ich habe ein Mittel, das Ihren Kreislauf beleben wird«, versprach der junge Privatdetektiv und gab eine komprimierte Schilderung der jüngsten Ereignisse. Hempshaws Gesicht rötete sich zusehends. Es war ihm anzumerken, daß er gleich explodieren wollte, doch ehe er dazu kam, mischte sich Dr. Sterling ein. »Bevor Sie mir den Kopf abhacken, Kenneth«, sagte er spöttisch, »sollten Sie mir danken, daß ich Sie vor einem Infarkt gerettet habe. Es hat nicht mehr viel gefehlt, und Sie wären aus den Pantoffeln gekippt.« »War es wirklich so schlimm?« fragte Hempshaw. 89 �
»Es sieht auch jetzt noch nicht blendend aus«, bemerkte Dr. Sterling und begann mit seiner Lieblingsbeschäftigung, dem endlos langen Putzen seiner Brille. Er blinzelte den Chefinspektor aus seinen kurzsichtigen Augen an. »Sie müssen unbedingt ausspannen.« »Das geht nicht, ich muß die Mordserie…« »Die ist aufgeklärt«, fiel Rick Masters ein. »George Norland hat bestätigt, daß Joe Dollis den Richter und die anderen getötet hat, und Dollis ist tot.« Chefinspektor Hempshaw sah Rick Masters entgeistert an, der ihm auch noch das Ende des Falles in allen Einzelheiten schilderte. »Jetzt fühle ich mich wirklich etwas besser«, stellte Hempshaw fest, als der Privatdetektiv mit seiner Erzählung am Ende war. »Die weiteren Ermittlungen sind nur mehr Routinearbeit.« »Es ist jedenfalls eine Beruhigung zu wissen, daß nichts mehr geschehen kann«, fügte Rick ergänzend hinzu. »Und auch Sie, Kenneth, befinden sich nicht mehr in Gefahr.« Bester Laune gingen sie auseinander Rick Masters, Chefinspektor Hempshaw und Dr. Sterling. Rick beschloß, sich den Rest des Tages frei zunehmen und auszuspannen. * Der Vorgarten lag dunkel vor dem Mann, als er von der Straße her auf sein Haus zuging. Er kam aus seinem Stammlokal, in dem er bei einigen Whiskys mit alten Bekannten und Freunden aus der Nachbarschaft geplaudert hatte. Natürlich hatten sich die Gespräche um den Tod der bekannten Starjuristen von Old Bailey gedreht, denn jeder in diesem Viertel wußte, daß Frank Painters einer der Geschworenen war, die unter Richter Storrington und Staatsanwalt Lindfield an Verhandlungen teilgenom90 �
men hatten. Du kannst froh sein, daß du nichts mehr zu befürchten hast, hatten seine Freunde gesagt und ihm auf die Schulter geklopft. Der Mörder ist tot. Jetzt bist du wieder sicher. Wahrscheinlich in dem guten Bewußtsein, daß die Angst der letzten Tage ein Ende hatte, waren einige Gläser Whisky zuviel durch Franks Kehle geflossen. Painters war ein mäßiger Trinker, der sich nur bei außergewöhnlichen Gelegenheiten etwas mehr gönnte. Und dieser Tag war eine solche außergewöhnliche Gelegenheit. »Das hast du wieder geschafft«, sagte Frank Painters mit schwerer Zunge zu sich selbst und zog grinsend die Hausschlüssel aus der Rocktasche. Er brauchte nicht mehr bei dem kleinsten Geräusch zusammenzuschrecken, und er ging furchtlos auf sein völlig im Dunkeln liegendes Haus zu, was er nicht getan hätte, wenn der Mörder noch am Leben gewesen wäre. Schließlich hatte er, Frank Painters, sich bei den Prozessen durch besonderen Eifer hervorgetan, was dem Angeklagten bestimmt nicht gefallen hatte. Unter einigen Schwierigkeiten schloß Painters, ein Mann um die Sechzig, die Haustür auf und tappte in die finstere Diele. Seine Finger glitten, über den Lichtschalter, bis die schwache Glühbirne an der Decke aufflammte. Der Whisky hatte durstig gemacht. Painters, zu seinem Glück Junggeselle, polterte lautstark in, die Küche. Eine Ehefrau wäre bereits wütend wach geworden, überlegte er und klammerte sich am Eisschrank fest. Er öffnete die Tür, setzte die Milchflasche an die Lippen und trank in hastigen Zügen. Nachdem er den Eisschrank wieder geschlossen hatte, torkelte er hinüber in das Wohnzimmer. »Das ist ja falsch«, murmelte er, weil er das Schlafzimmer angepeilt hatte, doch dann beschloß er, das breite Sofa für diese 91 �
Nacht zu benutzen. Der Weg hinüber ins Schlafzimmer war ihm zu weit. Schon wollte er auf den bequemen Sessel sinken, als ihn ein unerklärliches Grauen erfasste. Die Haare in seinem Nacken sträubten sich, als hätte ihn ein eisiger Lufthauch am Hals getroffen. Vor Angst fast gelähmt, drehte er sich langsam um. Er hatte erwartet, hinter sich etwas Schreckliches zu sehen, dessen Anwesenheit im Raum er gefühlt hatte. Doch außer ihm befand sich niemand im Zimmer. Dennoch ließ ihn die Todesangst nicht los. Die Wirkung des Alkohols war innerhalb von Sekunden verflogen. Nur mehr namenlose Furcht hielt ihn umkrallt, vor einem Menschen, dessen Gesicht er plötzlich mit erschreckender Deutlichkeit vor sich sah, obwohl er nicht zugegen war. »Nein!« schrie er entsetzt. »Um Himmels willen, nein! Nur das nicht!« Er schlug wild um sich. Seine Arme ruderten durch die Luft, als würde er einen unsichtbaren Insektenschwarm abwehren. Dabei schrie und tobte er, bis ihm Schaum vor die Lippen trat. Die Schreie brachen wie abgeschnitten ab. Painters Hände fuhren an seinen Hals, griffen immer wieder ins Leere, während er sich unter gurgelndem Würgen wand. Eine übermächtige Gewalt riß ihn vorwärts, ließ ihn gegen ein ebenfalls unsichtbares Hindernis prallen. Frank Painters stand stocksteif da, die Finger um seinen Hals gekrallt. Sein Gesicht lief dunkelrot, dann blau an. Seine Augen traten weit aus den Höhlen. Sein Mund stand klaffend offen. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er wurde nach hinten geschleudert, prallte gegen die Tischkante, fiel auf den Fußboden. Frank Painters merkte nichts mehr davon. Er war bereits tot, als sein Kopf die Tischkante berührte. 92 �
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Da sich Rick Masters trotz des Abschlusses des Falles Sorgen um Chefinspektor Hempshaw und dessen Gesundheit machte, suchte er ihn am nächsten Vormittag im Yard auf. Anschließend wollte er zu dem Rechtsanwalt der Familie Storrington fahren, um das Honorar für seine Bemühungen bei der Aufklärung des Todes von Sir Storrington zu kassieren und einen Abschlußbericht vorzulegen. Chefinspektor Hempshaw war zwar im Dienst, aber erst um neun Uhr gekommen, wie er Rick strahlend berichtete. »Ich kann mich gar nicht mehr erinnern«, sagte er anschließend, »seit wie vielen Jahren ich zum ersten Mal zu spät ins Büro komme.« »Sie werden richtig lasterhaft«, frotzelte Rick Masters und drohte ihm mit der erhobenen Hand. »Ein Disziplinarverfahren liegt in der Luft.« »Ich werde uns Kaffee aus der Kantine kommen lassen«, schlug der Chefinspektor vor und streckte seine Hand nach dem Telefon aus, das in diesem Augenblick anschlug. Er hob ab und hörte eine Minute lang zu, ohne den Anrufer zu unterbrechen. Rick stellte nur besorgt fest, daß der Chefinspektor kreidebleich wurde. »Danke«, sagte Hempshaw nach einer Weile und ließ den Hörer auf den Apparat fallen. »Kenneth!« fragte Rick eindringlich. »Was ist passiert? Wer war das?« »Frank Painters wurde in der vergangenen Nacht ermordet«, sagte der Chefinspektor mit dumpfer Stimme. »Vor einer halben Stunde haben Nachbarn seine Leiche gefunden.« »Wer ist Frank Painters?« erkundigte sich Rick ungeduldig, da er sich das seltsame Verhalten Hempshaws nicht erklären 93 �
konnte. Der Chefinspektor griff mit einer müden Handbewegung nach einem Blatt auf seinem Schreibtisch und warf es Rick zu, der es auffing und auseinanderfaltete. Es war der typische Papierbogen, auf dem die Ergebnisse eines Computers ausgedruckt wurden. »Siebente Zeile von oben«, bemerkte Hempshaw. Rick überflog die Liste, fand den Namen Frank Painters und stieß mit einem schrillen Pfiff die Luft aus. »Einer der Geschworenen!« murmelte er. »Das kann doch nicht wahr sein. Wann trat der Tod ein?« »In der vergangenen Nacht, daran besteht kein Zweifel«, seufzte der Chefinspektor. »Ich weiß, woran Sie denken. Sie meinen, Dollis hätte den Mann schon früher ermordet und man die Leiche erst jetzt gefunden. Stimmt nicht. Painters war gestern Abend noch in seinem Stammlokal, wie die Kollegen inzwischen herausgefunden haben. Er wurde zwischen Mitternacht und Morgengrauen getötet.« »Und wie?« wollte Rick Masters wissen, doch Hempshaw hob die Schultern und ließ sie in einer resignierenden Geste wieder sinken. »Fahren wir hin, sehen wir uns alles an«, sagte er. »Ich muß mich ohnehin um diesen Fall kümmern, ganz gleich, wie und von wem Painters getötet wurde.« Schweigend verließen sie das Büro des Chefinspektors. Unten im Hof warteten bereits die übrigen Mitglieder von Hempshaws Mannschaft, auch Dr. Sterling, der ausnahmsweise auf seine spitzen Bemerkungen verzichtete. Er wußte, was auf dem Spiel stand. Rick und Hempshaw schwiegen während der Fahrt zu Painters' Haus. Jeder hing seinen eigenen düsteren Gedanken nach. Wenn sich die bösen Vorahnungen bestätigten… 94 �
Sie bestätigten sich vollständig. Rick warf noch einen prüfenden Blick auf die steife Leiche, bevor sie weggeschafft wurde. Am Hals des Toten war deutlich eine dunkle Linie zu erkennen, die von einem dicken Strick stammen mußte von einem sehr dicken Strick, wie von einer Henkersschlinge. Entsprechend fiel auch der erste Bericht des örtlichen Polizeiarztes aus. »Scheint so, als wäre der Mann mit einer Hanfschlinge erdrosselt worden«, erklärte er. »Der Mörder muß mit unglaublicher Kraft vorgegangen sein. Ich stelle es mir ungefähr so vor, daß er seinem Opfer die Schlinge über den Kopf warf, am Hals zusammenzog und dem Opfer das Knie gegen den Brustkorb stemmte, um eine Art von Widerlager zu erhalten.« »Wie kommen Sie zu dieser Meinung?« fragte Chefinspektor Hempshaw mechanisch. »Drei Rippen des Mannes sind gebrochen«, erläuterte der Arzt. »Mein Kollege, Dr. Sterling, wird vermutlich meine Theorie bestätigen.« Dr. Sterling hatte, während der Chefinspektor die ersten Ergebnisse entgegengenommen hatte, seine Aufmerksamkeit dem Toten zugewandt. Er nickte zustimmend. »Es wird wichtig sein«, fügte er noch hinzu, »ob die Spezialisten im Labor Faserreste der Hanfschlinge am Hals des Toten finden werden.« »Zweifeln Sie etwa daran?« erkundigte sich Rick Masters, der durch den Gesichtsausdruck Dr. Sterlings mißtrauisch geworden war. Er kannte den alten Polizeiarzt gut genug, um zu wissen, daß etwas nicht stimmte. »Ich will mich nicht festlegen«, wich Sterling aus. »Aber ich habe einige Zweifel bei diesem Mord. Es ist alles zu glatt, zu genau, zu präzise, wenn Sie verstehen, was ich damit meine.« »Ich fürchte, ja.« Rick schüttelte den Kopf. »Wir haben irgendwo einen eklatanten Fehler begangen, etwas Wichtiges übersehen, und das rächt sich jetzt.« 95 �
»Aber was?« Hempshaw raffte seine ganze Energie zusammen. Die Strapazen der letzten Tage waren ihm nicht mehr anzumerken. »Was haben wir falsch gemacht?« Rick grübelte verbissen, dann schlug er mit der Faust in die flache Hand. »Ich habe eine Idee«, rief er. »Um zu überprüfen, ob sie stimmt, müssen wir aber in den Yard. Kenneth, kommen Sie.« »Ich bin hier noch nicht fertig«, entgegnete der Chefinspektor. »Die Spurenleute und…« »Unwichtig!« Rick Masters packte ihn am Ärmel und zog ihn mit sich aus dem Haus. »Sie können hinterher wieder hierhin fahren.« Hempshaw verzichtete auf weiteren Widerstand, vor allem, weil er selbst neugierig war, was hinter Ricks Idee steckte. Der Polizeiwagen brachte sie zum Yard und hielt neben Rick Morgan. In Hempshaws Büro angekommen, riß der junge Privatdetektiv die Computerliste an sich. »Da, Kenneth, sehen Sie!« rief er und deutete auf die Zeile mit Frank Painters' Namen. »Lesen Sie! Ich habe mich nicht getäuscht.« Hempshaw starrte verständnislos auf die Liste. »Was soll das?« fragte er verwirrt. »Ich komme nicht ganz mit.« »Beachten Sie doch, bei welchem Prozess Painters Geschworener war!« forderte ihn Rick auf. »Nur bei dem Prozess gegen George Norland. Norland ist aber schon längst tot, gestorben an den Verletzungen, die ihm sein ehemaliger Mithäftling beigebracht hat. In den anderen Verhandlungen aber, in denen Painters Geschworener war, ist Weit und breit nichts von Richter Storrington oder Staatsanwalt Lindfield und so weiter zu lesen. Klingelt es jetzt bei Ihnen?« Der Chefinspektor ließ langsam die Liste sinken. »Können Sie mir auch erklären, was das heißen soll?« fragte er. 96 �
»Leider kann ich es.« Rick nickte. »Leider, weil ich befürchte, daß es sehr unangenehm für uns wird. Eine Möglichkeit ist, daß Painters von irgendeinem Außenstehenden Täter ermordet wurde. Diese Möglichkeit möchte ich ausschließen. Dr. Sterling hat einige Andeutungen über die Würgespur am Hals des Toten gemacht. Er meinte, eine gewöhnliche Hanfschlinge hätte eine andere Spur hinterlassen müssen. Ich stimme zu. Wenn wir aber annehmen, daß Painters von dem gleichen Täter ermordet wurde wie die anderen, dann stimmt die Computerliste nicht.« »Die stimmt!« behauptete Hempshaw mit Nachdruck. »Schließlich haben wir alle Daten richtig eingegeben.« »Mag schon sein«, räumte Rick Masters ein. »Sie haben aber den Computer so programmiert, daß er nur die Namen von bereits entlassenen Verurteilten ausgab, nicht aber auch die von noch inhaftierten.« »Die können aber nicht. »Die können schon«, fuhr Rick dem Chefinspektor dazwischen. »Ich habe von Anfang an auf übersinnl…« »Hören Sie damit um Himmels willen auf, wenn Sie nicht wollen, daß ich Ihnen an die Gurgel springe!« »Na schön, dann denke ich es mir eben nur. Sie können sich daran halten, daß ein Freund oder Verwandter eines noch im Gefängnis sitzenden Verurteilten die Morde durchgeführt hat. Ganz gleich, wer von uns beiden nun recht hat, eines braucht jeder von uns, nämlich eine Liste der noch eingesperrten Verurteilten.« Sofort gab Hempshaw telefonisch die entsprechenden Weisungen durch. Sie rauchten zwei Zigaretten, dann war die Antwort auch schon da. Ein Mitarbeiter aus der Computerzentrale brachte die Liste. Sie enthielt nur einen einzigen Namen: Nat Fowlers. 97 �
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»Fowlers… Fowlers…« Chefinspektor Hempshaw suchte in seinem, Gedächtnis, bis er den Namen einordnen konnte. »Selbstverständlich, Nat Fowlers, Mörder. Ich habe ihn vor vier Jahren verhaftet, weil er seine Frau ermordet hat. Er hat lebenslänglich bekommen.« »Was werden Sie unternehmen, Kenneth?« Rick Masters hütete sich, noch einmal von seinem Verdacht zu sprechen, daß dieser Fowlers selbst durch übersinnliche Kräfte die Serie von Todesfällen ausgelöst haben könnte. »Werden Sie den Freundeskreis des Mannes durchleuchten?« »Worauf Sie sich verlassen können, Rick.« Hempshaw schlug krachend mit der Faust auf den Schreibtisch. »Jeden einzelnen nehme ich unter die Lupe, der jemals etwas mit Nat Fowlers zu tun hatte. Er sitzt übrigens im Zuchthaus Watford, nicht weit von London.« »Erwirken Sie doch für mich eine Besuchserlaubnis, Kenneth«, bat Rick Masters. »Und könnten Sie den Leiter des Zuchthauses verständigen, daß ich mich bei ihm umsehen will?« Hempshaw warf dem jungen Privatdetektiv einen forschenden Blick zu. »Sie gehen von Ihrer alten Idee also nicht ab, daß Fowlers selbst…?« Er ließ die Frage unvollendet in der Luft hängen. »Bekomme ich die Besuchserlaubnis und die Empfehlung an den Direktor des Zuchthauses?« wollte Rick wissen, ohne auf Hempshaws Frage weiter einzugehen. Der Chefinspektor zuckte die kantigen Schultern. »Meinetwegen, Rick, verschwenden Sie Ihre Zeit, wenn es Ihnen Spaß macht. Ich verschaffe Ihnen die Erlaubnis. Kommen Sie am Nachmittag wieder vorbei. Bis dahin werde ich die nötigen Papiere wahrscheinlich schon haben. Den Anruf bei dem Direk98 �
tor des Zuchthauses kann ich sofort erledigen.« »Dann tun Sie es doch bitte, Kenneth!« Rick sah auf die Uhr. »Mit der Besuchserlaubnis kann ich frühestens morgen Vormittag zu Fowlers. Aber ich hätte bereits gern heute nach dem Essen mit dem Direktor gesprochen.« »Wie Sie wollen.« Chefinspektor Hempshaw war so bereitwillig, daß Rick Masters den Verdacht nicht abwehren konnte, der Yardmann wolle ihn nur loswerden, damit er ungestört seinen eigenen Ermittlungen nachgehen konnte. Hempshaw telefonierte zehn Minuten lang, dann nickte er Rick zu. »Der Direktor erwartet Sie gegen zwei Uhr«, sagte er. »Er ist bereit, Ihnen jede mögliche Hilfe zu geben. Sind Sie zufrieden?« »Zufrieden werde ich erst sein, wenn ich den Mörder unschädlich gemacht habe«, erklärte Rick Masters. »Und wenn es nicht wieder einen solchen Irrtum gibt wie bei Joe Dollis, den wir alle: für den Schuldigen gehalten haben, obwohl er nur zwei Drohbriefe geschrieben hat.« »Irren, ist menschlich«, zitierte der Chefinspektor ein altes Sprichwort. Rick stand schon an der Tür. »Manchmal auch tödlich«, ergänzte er grimmig. * Der junge Privatdetektiv machte sich unverzüglich auf den Weg nach Watford. Unterwegs schon dicht an der Stadtgrenze von London hielt er vor einem einladend aussehenden Restaurant an und legte eine verfrühte Mittagspause ein. Das vorzügliche Essen konnte er kaum genießen, da er mit seinen Gedanken ständig woanders war, bereits ein Stück weiter im Zuchthaus. Was würde er dort vorfinden? War er endlich auf der richtigen Spur, oder stellte sie sich hinterher wieder als falsch heraus? 99 �
Als Rick die Rechnung bezahlte, wusste er kaum, was er gegessen hatte. Es interessierte ihn auch nicht weiter, weil der Zeitpunkt seiner Verabredung mit dem Zuchthausdirektor näher gerückt war und er losfahren mußte, wenn er nicht zu spät kommen wollte. Rick Masters hasste Besuche in Zuchthäusern. Die trostlose Atmosphäre in den meistens alten Gebäuden, die Aussichtslosigkeit auf eine Besserung der Verhältnisse, die Niedergeschlagenheit einerseits und die Aufsässigkeit andererseits, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit das alles deprimierte ihn jedes Mal, obwohl er beruflich schon oft in Zuchthäusern zu tun gehabt hatte. Watford unterschied sich rein äußerlich in nichts von den anderen Anstalten, in denen Rick bisher gewesen war, auch drinnen fand er seine schlechten Erwartungen bestätigt. Die einzige angenehme Überraschung war Direktor Malfort, ein kleiner, rundlicher Mann mit grauen Schläfenhaaren und hinter Fettpolstern verschwindenden Augen. Man konnte sich ihn eher als gemütlichen Gastwirt vorstellen, nicht aber als Leiter eines großen Zuchthauses, in dem vorwiegend Schwerverbrecher saßen. »Chefinspektor Hempshaw von Scotland Yard hat mich ausdrücklich gebeten, Ihnen in jeder Weise zu helfen, Mr. Masters«, sagte Direktor Malfort nach der ersten Begrüßung. »Ich stehe Ihnen also ganz zur Verfügung. Was kann ich für Sie tun?« »Ich interessiere mich für einen Ihrer Häftlinge«, begann Rick Masters. »Nat Fowlers. Ist über ihn etwas Besonderes zu sagen, das Ihnen auf Anhieb einfällt? Hinterher stelle ich dann meine Fragen, aber erst möchte ich Ihren allgemeinen Eindruck von dem Mann kennenlernen.« Direktor Malfort brauchte in keiner Kartei nachzusehen. Er wußte sofort, von wem die Rede war. »Fowlers! Einer von den 100 �
ganz großen Einzelgängern.« »Wie soll ich das verstehen?« hakte Rick sofort ein. »Er bekommt keinerlei Besuche, keine Post, schreibt an niemanden, hat sich mit keinem anderen Häftling angefreundet. Er hat Kontaktschwierigkeiten.« »Dann ist er auch in einer Einzelzelle?« »Er bewohnt allein Zelle acht«, Verbesserte ihn der Direktor. »Das ist eigentlich eine Doppelzelle, doch keiner der Häftlinge wollte bei Fowlers bleiben.« »Ist er denn ein so schwieriger Mensch?« »Will ich nicht sagen, Mr. Masters. Wir von der Aufsicht haben wenigstens bisher nie Schwierigkeiten mit ihm gehabt. Wie das mit den anderen Häftlingen ist, da müßten Sie sie schon selbst fragen.« »Ich möchte lieber mit einem der Aufseher sprechen, der auch mit Fowlers zu tun hat«, bat Rick. »Und ich würde mir gern die Zelle ansehen, ohne mit Fowlers zusammenzutreffen. Läßt sich das machen?« Direktor Malfort überlegte kurz, dann nickte er. »In fünf Minuten beginnen die Häftlinge ihren Rundgang im Hof. In dieser Zeit kann Sie einer der Aufseher in die Zelle acht bringen.« Er drückte eine Taste an dem Sprechgerät auf seinem Schreibtisch. »Schicken Sie Brent zu mir!« ordnete er an. Bis der Aufseher kam, unterhielten sie sich über belanglose Dinge. Brent war ein älterer Mann, der kurz vor der Pensionierung zu stehen schien. Er wirkte ruhig und vertrauenerweckend. Direktor Malfort machte den jungen Privatdetektiv und den Aufseher miteinander bekannt. »Dann gehen Sie am besten gleich los«, sagte er. »Falls Sie noch etwas von mir wissen wollen, Mr. Masters, Sie finden mich in meinem Büro. Und morgen kommen Sie dann wohl mit der Besuchserlaubnis wieder. Dann können Sie mit Fowlerss sprechen.« 101 �
Sie verabschiedeten sich, und Rick folgte dem Aufseher in der Zellentrakt. »Hier ist es«, sagte Brent, der schweigend vorangegangen war und die Gitter auf- und zugeschlossen hatte, die den Weg hinaus in die Freiheit unterbrachen. Der Schlüssel rasselte im Schloß, die Tür von Zelle 8 schwang zurück. Rick beträt den kleinen Raum mit den beiden Pritschen, von denen eine leer war. Während er seinen Blick herumschweifen ließ, fragte er den Aufseher: »Wissen Sie, warum keiner bei Fowlerss schlafen will? Ist er so unangenehm?« »Im Gegenteil.« Brent zuckte gelassen die Schultern. »Wir kommen sogar gut mit ihm aus. Er ist nicht aufsässig, tut alles, was man ihm sagt. Ich glaube eher, daß es an der Zelle liegt.« Rick blickte den Aufseher überrascht an. »An der Zelle?« echote er. »Ich kann nichts Besonderes daran finden.« »Ich auch nicht.« Der alte Aufseher lachte und breitete kurz die Arme aus. »Aberglaube, sonst nichts.« Rick schüttelte verständnislos den Kopf. »Die Nummer acht ist keine Unglückszahl oder so etwas Ähnliches. Was soll das dann?« »Vor einem Jahr hat sich hier drinnen ein Häftling umgebracht«, berichtete Mr. Brent. »Er hat sein Essgeschirr zerbrochen und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Wir fanden ihn in einer riesigen Blutlache, da war es schon zu spät. Er war bereits tot. Seither scheuen sich die meisten Häftlinge, diese Zelle überhaupt zu betreten. Sie behaupten, daß hier der Geist des Toten spukt. So ein Unsinn.« Rick Masters strich sich nachdenklich über seine Narbe auf der rechten Wange. »Mr. Brent«, sagte er, einer plötzlichen Eingebung folgend, »wenn ich wiederkomme, dann haben Sie mich noch nie vorher gesehen, verstanden? Sie kennen mich einfach nicht. Versprechen Sie mir das?« Der alte Aufseher starrte Masters verblüfft an, doch dann 102 �
zuckte er die Schultern. »Wenn es Ihnen Spaß macht«, erwiderte er. »Mir kann es recht sein. Aber eine Frage noch: wann kommen Sie denn wieder?« Rick grinste ihn verzerrt an. »Wenn man mich als Strafgefangenen in Zelle acht sperrt. Und jetzt lassen Sie mich raus!« * »Sie sind verrückt, Rick!« Damit meinte Chefinspektor Hempshaw die nun schon seit einer halben Stunde andauernde hartnäckige Diskussion beendet zu haben. Weit gefehlt. Er hätte Rick Masters besser kennen und wissen müssen, daß der junge Privatdetektiv sich nicht so einfach eine Idee ausreden ließ, die er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. »Es wäre nicht das erstemal, daß die Polizei einen ihrer Leute zu einem Strafgefangenen in die Zelle setzt, damit er etwas aus dem Mann herauskriegt«, brachte Rick zum dritten Mal das Argument vor, mit dem er Hempshaw dazu bringen wollte, ihm eine Sondergenehmigung ganz spezieller Art zu verschaffen. »Nichts zu machen«, schaltete der Chefinspektor auf stur. »Hören Sie, Kenneth!« Rick stützte sich auf den Schreibtisch Hempshaws in seinem Büro bei Scotland Yard und fixierte ihn mit einem bohrenden Blick »Sie haben Ihre eigene Theorie über den Fall, ich habe eine andere. Ich behindere Ihre Ermittlungen in keiner Weise, aber Sie wollen es mir unmöglich machen, meine Spur weiterzuverfolgen, indem Sie mir die Genehmigung verweigern.« »Was soll das sein?« fuhr Hempshaw auf. »Sie verdrehen einem ja das Wort im Mund. Von einer Behinderung kann nicht die Rede sein, ich kann Ihnen die Genehmigung auch gar nicht erteilen.« »Aber Sie können sie mir verschaffen.« Rick beugte sich 103 �
beschwörend zu Hempshaw hinunter. »Kenneth, es geht um ein Menschenleben! Auch wenn Sie davon überzeugt sind, daß ich auf dem falschen Dampfer bin, sollten Sie mir wenigstens eine Chance geben. Ich meine, für den Fall, daß ich doch nicht ganz unrecht habe.« »Ausgeschlossen!« Hempshaw war nicht zu erweichen. Rick setzte zum Sturm an. Fünf Minuten später hisste Hempshaw die weiße Fahne. »Also gut, ich ergebe mich.« Rick Masters verließ zufrieden das Büro des Chefinspektors. Jetzt mußte er nur noch herausfinden, ob Nat Fowlers tatsächlich die Morde ausgeführt und vor allem, wie er es angestellt hatte. Und zuletzt blieb noch übrig, weitere Morde für alle Zukunft zu verhindern. Rick verlor beinahe den Mut, als er sich vorstellte, was da auf ihn zukam, aber er raffte sich auf. Er durfte jetzt nicht aufgeben. Dazu hatte er schon zuviel in diesem Fall investiert. * Der Aufseher Brent wurde am nächsten Vormittag in das Direktionszimmer des Zuchthauses von Watford gerufen. Als er das Büro betrat, sah er darin zwei Personen. Direktor Malfort saß hinter seinem Schreibtisch. Davor stand ein Sträfling im grauen Drillich. »Brent«, sagte Direktor Malfort mit einem seltsamen Lächeln, »ich stelle Ihnen einen neuen Häftling vor. Er wird in Zelle acht wohnen.« Brent trat erstaunt einen Schritt näher. Malfort wußte doch, daß es niemand außer Nat Fowlers lange in Zelle acht aushielt. Da drehte sich der neue Gefangene um und Brent stieß einen Ruf der Überraschung aus. 104 �
»Mr. Masters!« Er starrte den jungen Privatdetektiv so verblüfft an, daß Rick und der Direktor schallend lachen mußten. »Ich habe Sie doch gebeten, mich bei einem Wiedersehen nicht mehr zu kennen«, sagte Rick. »Also, für Sie bin ich nur mehr ein Gefangener wie die anderen auch. Ich bin hier wegen eines bewaffneten Überfalls. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Ich werde mich in Zelle acht häuslich niederlassen, für wie lange, kann ich noch nicht sagen.« »Mr. Masters hat eine Sondervollmacht, es ist also alles in Ordnung, Brent«, fügte Direktor Maifort noch er klärend hinzu. »Behandeln Sie Mr. Masters nicht anders als die anderen Häftlinge, sonst fällt er auf. Niemand darf ahnen, daß er eigentlich gar nicht hierher gehört.« »Na gut«, sagte der Aufseher, der sich inzwischen von seiner Verblüffung erholt hatte. »Dann kommen Sie mit!« Er führte Rick Masters in den Zellentrakt und schloß die Tür von Zelle acht auf. »Sie bekommen Gesellschaft, Fowlers!« rief er hinein. »Ein Neuer! Vertragen Sie sich mit ihm!« »Er wird wahrscheinlich auch nicht lange hier bleiben«, kam von innen die Antwort zurück. »Abergläubisch sind doch alle hier.« Rick betrat die Zelle acht. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloß, der Schlüsselbund rasselte. Er war allein mit Nat Fowlers. Zum ersten Mal sah er den Mörder. Rick war überrascht. Wie ein fanatischer Rächer sah Fowlers nicht aus. Er war mittelgroß, sehr kräftig gebaut. Sein Gesicht zeigte die ungesunde Farbe aller lange Inhaftierten, und seine Augen blickten Masters glanzlos entgegen. Fowlers saß auf seiner Pritsche, ohne sich mit etwas zu beschäftigen. Er warf dem jungen Detektiv einen gelangweilten Blick zu. »Ich heiße Nat«, murmelte er. »Und du?« »Rick.« »Warum bist du hier?« 105 �
»Bewaffneter Überfall.« Damit war die Unterhaltung für die nächsten zwei Stunden zu Ende. Rick Masters hatte sich auf seiner Pritsche ausgestreckt und tat so, als würde er zur Decke schauen. In Wirklichkeit beobachtete er Nat Fowlers aus den Augenwinkeln heraus. Der Mann wirkte in seinen Bewegungen schwerfällig. Sein ganzes Benehmen deutete nicht auf einen hervorragenden Geist hin, der ein raffiniertes Mordsystem ausgeklügelt hatte. Wenn wirklich Fowlers hinter der Serie von Todesfällen steckte, dann waren übersinnliche Kräfte im Spiel. Sein Verstand hätte bestimmt nicht ausgereicht, um diese Verbrechen zu begehen. »Hast du schon von Richter Storrington gehört?« begann Rick endlich ein Gespräch anzuknüpfen. »Und von Staatsanwalt Lindfield?« »Hm«, brummte Nat Fowlers. »Haben beide ins Gras gebissen. Die Nachrichten kommen hier bei uns schnell durch.« Er deutete auf die Rohrleitung. »Morsezeichen.« »Seton ist auch tot, und Painters und die Kiffen«, sprach Rick Masters weiter. »Die Kiffen und Painters auch?« Nat Fowlers wirkte richtiggehend überrascht. »Das ist ja 'n Ding! Ob da vielleicht einer dahintersteckt, der ein wenig nachhilft?« »Vielleicht will sich jemand rächen, Nat.« Rick beschrieb ausführlich, wie die einzelnen Opfer ums Leben gekommen waren. Nat Fowlers zuckte die Schultern, als Rick mit seinem, Bericht zu Ende war. »Eines kann ich dir schriftlich geben«, sagte er. »Um keinen von denen, die du da genannt hast, tut es mir leid. Meinetwegen sollen sie alle in der Hölle braten. Das ist mir egal. Ich habe lebenslänglich zu sitzen, und ob die draußen herumlaufen oder nicht, hilft mir gar nichts.« Rick hatte so getan, als würde er Fowlers nicht beachten, aber er hatte ihn sehr scharf gemustert. Gab Fowlers die Taten nur 106 �
deshalb nicht zu, weil er seinen neuen Zellengenossen noch nicht gut genug kannte, oder hatte er wirklich nichts damit zu tun? Seinem ausdruckslosen Gesicht nach zu urteilen, interessierte er sich tatsächlich nicht sehr dafür, was mit den Leuten geschehen war, die einmal einen Prozess gegen ihn geführt hatten. Rick Masters wurde abgelenkt, weil die Routine des Zuchthauses weiterlief. Es gab Mittagessen, und bis zum Abend waren immer irgendwelche Dinge, die ein ruhiges Gespräch mit Nat Fowlers erschwerten. Als es Zeit zum Schlafen war und Rick auf seinen ersten Tag im Zuchthaus zurücksah, stellte er unzufrieden fest, daß er jetzt zwar den Hauptverdächtigen persönlich kennen gelernt, aber nichts weiter herausgefunden hatte, als daß Fowlers ein mustergültiger Häftling war. Fowlers hatte ihm murmelnd eine gute Nacht gewünscht, doch Rick lag wach und starrte auf das helle Viereck des Fensters. Es war seine erste Nacht im Gefängnis, und er fühlte sich von den Mauern und den vielen Gittern eingeengt und bedroht. Andererseits dachte er ständig an seine Aufgabe und daran, wie wichtig ein Erfolg wäre. Ein leises Geräusch ließ ihn herumfahren. Fowlers wälzte sich auf seiner Pritsche hin und her. Er seufzte und stöhnte im Schlaf, als hätte er Alpträume. Und dann setzte er sich plötzlich auf und starrte Rick aus großen, geisterhaft starren Augen an. Sein Blick schien durch den Privatdetektiv hindurchzugehen. »Nat«, sprach ihn Rick vorsichtig an. »Nat, was hast du? Ist etwas nicht in Ordnung?« »Alles in Ordnung«, kam die Antwort. Die Stimme des Häftlings klang seltsam gepresst und unwirklich. »Ich habe alles erreicht, was ich wollte.« Blitzartig begriff Rick Masters. Der Mann war nicht bei vollem 107 �
Bewußtsein, sondern sprach im Schlaf oder in einer Art Trancezustand. Rick ergriff seine Chance. »Nat, was hast du mit Richter Storrington gemacht?« fragte er drängend. »Du hast ihn doch getötet, nicht wahr?« Ein krächzendes Lachen entrang sich den leicht geöffneten Lippen. »Natürlich!« zischte Fowlers. »Ich habe Storrington während des ganzen Prozesses gehasst, wie er da oben so würdig mit seiner Perücke auf dem Kopf gesessen und auf den Angeklagten heruntergeschaut hat. Ich habe geträumt, daß ihm die Perücke den Kopf zerquetscht. Und das hat sie ja auch getan.« »Und der Staatsanwalt?« fuhr Rick Masters fort. »Wie war das mit James Lindfield?« »Lindfield der hat soviel gesprochen. Ich habe mir vorgestellt, wie Blut statt kluger Worte aus seinem Mund kommt. Seton«, setzte Fowlers sein unbewusstes Geständnis fort, »der Dicke hat sich während der Verhandlung fürchterlich über eine Spinne erschrocken. Ich habe ihm viele von diesen Tieren geschickt, damit er sich nicht so gescheit vorkommt.« »Weiter, Nat!« drängte Rick Masters. »Mary Jean Kiffen, die Geschworene!« »Sie hat ständig ihre Finger geknetet. Das hat mich halb verrückt gemacht im Gerichtssaal. Und sie hat für einen Schuldspruch gestimmt. Weg mit ihr!« »Painters!« warf Rick dem unheimlichen Mörder das Stichwort hin! »Painters, dieses Schwein, hätte mich am liebsten am Galgen gesehen. Es hat ihm richtig leid getan, daß es die Todesstrafe nicht mehr gibt. Ich habe geträumt, daß ich ihm eine Schlinge um den Hals lege und zuziehe.« Fieberhaft überlegte Rick, was er noch fragen könnte. Dann fiel ihm etwas Wichtiges ein. »Wann hast du das alles geträumt, Nat?« 108 �
»Das ist schon lange her, ein paar Wochen vielleicht. Ich weiß, daß meine Träume gewirkt haben, daß sie Wirklichkeit geworden sind, aber immer erst einige Zeit danach.« Rick Masters wollte nach den nächsten Opfern fragen, als von draußen gegen die Zellentür geschlagen wurde. »Ruhe da drinnen!« rief einer der Aufseher. »Jetzt wird geschlafen!« Sofort legte sich Rick Masters wieder flach auf seine Pritsche. Fowlers aber schlug die Augendeckel zu, wischte sich über das Gesicht und öffnete die Augen wieder: »Was ist los?« fragte er verwirrt. »Hast du mich geweckt?« »Nein, ein Wächter hat draußen etwas gerufen«, murmelte Rick gespielt schlaftrunken. »Leg dich wieder hin! Morgen wird ein schwerer Tag für uns.« »Nicht schwerer als die anderen davor und danach«, murrte Fowlers verbittert. »Du bist eben kein Lebenslänglicher wie ich. Und jetzt will ich schlafen.« Er streckte sich auf der Pritsche aus und drehte das Gesicht zur Wand. Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen. Rick Masters lag den Rest der Nacht wach. Er wartete immer darauf, daß Fowlers noch einmal in diesen eigenartigen Trancezustand verfallen würde, in dem er ein volles Geständnis seiner Taten abgelegt hatte. Rick überdachte noch einmal, was er bisher herausgefunden hatte. Nat Fowlers, der wegen Mordes an seiner Frau lebenslang im Zuchthaus saß, war die Ursache für den Tod der Gerichtspersonen. Wenn er aber bei vollem Bewußtsein war, konnte er sich an nichts erinnern. Der junge Detektiv war überzeugt, daß ihm der Strafgefangene kein Theater vorgespielt hatte, als er sich ahnungslos stellte. Fowlers war ein wenig primitiv und hätte sich irgendwie verraten. Nat Fowlers setzte also Kräfte ein, von denen er nichts wußte. Sofort dachte Rick an den Gefangenen, der in Zelle acht des 109 �
Zuchthauses Selbstmord begangen hatte. Seine Erfahrung sagte ihm, daß die übernatürlichen Kräfte Fowlers' mit diesem gewaltsamen Tod in Zusammenhang standen. Stundenlang sann der Privatdetektiv über eine Möglichkeit nach, diesem Teufelskreis ein Ende zu bereiten, und als alle Sträflinge zum Frühstück geführt wurden, hatte er sich einen Plan zurechtgelegt. Mr. Brent, der alte Aufseher, hatte Dienst, und als Rick ganz dicht an ihm vorbeikam, flüsterte er ihm zu: »Ich muß sofort den Direktor Sprechen.« Brent ließ sich nicht anmerken, daß er etwas gehört hatte, aber eine halbe Stunde, nachdem Rick und Nat Fowlers wieder in ihrer Zelle waren, öffnete sich die Tür. »Masters, zum Direktor!« rief Brent und winkte den jungen Privatdetektiv hinaus auf den Korridor. Schweigend gingen sie nebeneinander hinüber in den Verwaltungstrakt. Direktor Malfort blickte seinem ungewöhnlichen »Gast« gespannt entgegen. »Haben Sie sich schon ein Bild von Fowlers gemacht?« fragte er sofort nach dem Eintreten des Privatdetektivs. »Bedienen Sie sich, bitte, ich fürchte sonst, daß Sie mit mir nicht zufrieden sind.« Trotz seiner Neugierde hatte er daran gedacht, für Masters ein komplettes Frühstück auf seinem Schreibtisch aufbauen zu lassen. Rick ließ sich nicht zweimal auffordern und langte kräftig zu. »Das ist ja doch etwas anderes als die allgemeine Verpflegung«, bemerkte er, während er sich dampfenden Kaffee eingoss. Auf den ebenfalls auf dem Tablett stehenden Tee verzichtete er. In diesem Punkt handelte er immer sehr unenglisch. »Um Ihre Frage zu beantworten, Mr. Malfort, ja, ich habe mir ein sehr genaues Bild gemacht, und ich habe ein Anliegen.« 110 �
»Da bin ich aber gespannt.« Der Direktor des, Zuchthauses gönnte sich eine Tasse Tee, während Rick berichtete. »Ich möchte, daß Sie Fowlers und mich in einer anderen Zelle unterbringen und Zelle acht leer stehen lassen, wenigstens vorläufig«, verlangte der Privatdetektiv. Das freundliche runde Gesicht des Direktors verzog sich erstaunt und mißmutig zugleich. »Wie stellen Sie sich das vor?« fragte er zurückhaltend. »Ich kann doch nicht die ganze Ordnung in meinem Zuchthaus durcheinander bringen, nur weil…« »Ich kann und darf Ihnen keine genauen Erklärungen geben«, fuhr Rick dazwischen. »Aber es ist lebenswichtig, daß Sie Zelle acht räumen.« Doch so leicht konnte er den Direktor nicht überzeugen. Malfort brachte laufend Argumente vor, weshalb er den Wunsch des Privatdetektivs nicht erfüllen konnte, bis Rick wütend aufstand. »Darf ich allein mit Scotland Yard telefonieren?« fragte er kühl. Direktor Malfort nickte und deutete auf den Nebenraum. »Der Apparat steht auf dem Tisch.« Rick Masters ging in das leerstehende Büro hinüber und schloß die Tür hinter sich. Chefinspektor Hempshaw mußte erst im Gebäudekomplex von Scotland Yard gesucht werden, aber nach zehn Minuten hörte Rick dessen Stimme. »Wie geht es unserem neuen Sträfling?« erkundigte sich Hempshaw spöttisch. »Vielleicht bleiben Sie für immer im Bau?« »Das würde Ihnen so passen«, ging Rick auf den scherzhaften Ton ein, wurde aber gleich darauf ernst. »Kenneth, ich weiß, daß Sie von meiner Theorie über den Fall nicht viel halten, aber ich bin jetzt überzeugt, daß Nat Fowlers übernatürliche Kräfte besitzt, durch die er die Morde begangen hat und weiterhin begehen wird, wenn er nicht in eine andere Zelle verlegt wird.« »Was hat die Zelle damit zu tun?« fragte Hempshaw erstaunt. »Das würde jetzt zu weit führen, wenn ich Ihnen alles am Tele111 �
fon haarklein erklärte«, wehrte Rick ungeduldig ab. »Außerdem kann ich den Direktor nicht so lange warten lassen, und Fowlers wird vielleicht mißtrauisch, wenn ich nicht bald zurückkomme. Also, Kenneth, erweichen Sie Malfort, daß er uns beide in eine andere Zelle verlegt und Zelle acht vorläufig nicht benutzt wird. Setzen Sie alles daran!« Hempshaw versprach es. Rick legte beruhigt auf und ließ sich wieder in Zelle acht zurückbringen. Der Vormittag verlief trostlos langweilig, und erst nach dem Mittagessen kam Mr. Brent und eröffnete den beiden Häftlingen, daß sie in einen anderen Raum gebracht würden. Fowlers wollte natürlich den Grund wissen, und Brent redete sich auf eine Überprüfung der elektrischen Leitungen heraus. Fowlers gab sich; mit dieser Erklärung zufrieden, so daß Rick in seiner Vermutung bestärkt wurde, daß Fowlers nichts von dem verhängnisvollen Zusammenhang zwischen Zelle acht, ihm selbst und den mysteriösen Todesfällen ahnte. Der neue Raum unterschied sich von dem alten kaum, und innerhalb einer Stunde hatten sie sich »häuslich« eingerichtet. Dann kam die Abenddämmerung und die Stunde der allgemeinen Nachtruhe. Rick hatte tagsüber ein wenig geschlafen. Dennoch war er so übermüdet, daß er kaum die Augen offen halten konnte. Aber auch in dieser Nacht würde er nicht schlafen können, das stand jetzt schon fest. Es mußte sich nämlich in wenigen Stunden zeigen, ob diese einfache Maßnahme die Gefahr bannte oder nicht. Vor Anspannung fiebernd, heftete Rick Masters seinen Blick auf den friedlich schlafenden Fowlers, Stunde um Stunde. Genügte es, daß Fowlers nicht mehr in Zelle acht war? Ein Uhr nachts. Mit steigendem Entsetzen verfolgte Rick Masters das unheimliche Schauspiel, das vor seinen Augen ablief.
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Es begann damit, daß sich Nat Fowlers unruhig auf seiner Pritsche herumwälzte, sich schließlich aufsetzte und die Füße auf den Boden der Zelle stellte. Wie in der vergangenen Nacht waren auch diesmal seine Augen weit geöffnet und blickten starr ins Nichts. Dennoch ging von ihnen ein faszinierendes Funkeln und Glühen aus, als versprühten Diamanten ihr Feuer unter einem scharfen Lichtstrahl. Fowlers begann zu gestikulieren, sein Gesicht verzog sich zu einem lebhaften Mienenspiel, und seine Lippen formten Wörter, immer lauter, immer deutlicher. Dann konnte Rick Masters genau verfolgen, was Nat Fowlers in seinem Trancezustand gleichsam träumte. Rick Masters wußte jedoch ganz genau, daß es sich nicht um einen gewöhnlichen Traum handelte, auch nicht um die Trugbilder, denen ein Mondsüchtiger folgte, sondern um blutige Visionen, die sich einige Zeit später in Wirklichkeit verwandeln würden. »Blut«, keuchte Fowlers. »Ich will sein Blut sehen! Ich will diesen Kerl vor mir in seinem Blut liegen sehen, diesen verdammten Plattfuß, diesen Polypen!« Rick zuckte zusammen. Er konnte sich bereits denken, von wem Fowlers diesmal »träumte«. »Ein Messer!« Der Gefangene griff in die Luft. Seine Finger schlossen sich um einen unsichtbaren Gegenstand, der nur in der Einbildung des Träumenden vorhanden war. »Ein langes, scharfes Messer! Jetzt geht es auf Leben und Tod, Polyp! Jetzt geht's dir an den Kragen. Es ist aus, verdammter Kerl!« Fowlers vollführte blitzschnell ein paar Hiebe mit dem unsichtbaren Messer. »Deine Angst nützt dir nichts, du kannst nicht fliehen. Ich bleibe dir auf den Fersen, ich höre nicht auf, bis du tot bist.« 113 �
Er schnellte von seinem Bett hoch. Seine Linke krallte sich um den Hals eines Mannes, während er mit der Rechten das Messer immer wieder in den Rücken seines Opfers rammte. Natürlich war nichts zu sehen außer Fowlers, aber die Bewegungen wirkten so echt, wurden so genau ausgeführt, daß Rick erkannte, wie plastisch Fowlers seinen Traum erlebte. Durch die übersinnlichen Kräfte, die in ihm schlummerten, würde sich dieser Traum in kurzer Zeit verwirklichen. Wann? »Tot!« stöhnte Nat Fowlers mit wilder Freude. »Ich habe dich umgebracht!« Er ließ die nicht vorhandene Leiche los. »Meine Rache!« Rick Masters entschloß sich dazu, alles auf eine Karte zu setzen. »Wann, Nat, wann?« fragte er flüsternd. Zuerst reagierte der Gefangene gar nicht, doch als Rick seine Frage mehrmals wiederholte, hob er lauschend den Kopf. Irritiert wischte er sich mit der Hand über das Gesicht. »Am Dreizehnten«, murmelte er kaum verständlich. »Dreizehnten.« Dann sank er zurück auf die Pritsche und fiel in einen tiefen, ruhigen Schlaf. Auch Rick legte sich flach auf sein Bett, ohne jedoch die ersehnte Ruhe zu finden. Zuviel ging ihm durch den Kopf. Und vor allem quälte ihn eine Frage: Wie konnte er Chefinspektor Hempshaw vor dem ihm drohenden Schicksal bewahren? Denn von ihm hatte Fowlers gesprochen. Am Dreizehnten sollte er sterben, das war genau in zweiundzwanzig Stunden. Wenn Rick bis dahin kein Mittel gefunden hatte, um die übersinnlichen Kräfte Fowlers' auszuschalten, war Hempshaw rettungslos verloren. *
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»Träumst du immer so wirres Zeug und so lebhaft?« fragte Rick Masters seinen Mitgefangenen am nächsten Morgen. »Wieso?« staunte Nat Fowlers. »Ich schlafe wie ein Murmeltier. Andere können das nicht im Knast, ich schon. Du zum Beispiel, du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht wach gelegen.« »Habe ich auch, weil du so heftig geträumt hast«, murmelte Rick, der wirklich todmüde war und es nicht erst schauspielern mußte. »Du hast auch im Schlaf gesprochen, etwas von einem Polizisten oder so.« »Keine Ahnung, Kumpel.« Fowlers zuckte die Schultern, und damit war für ihn das Thema erledigt. Er wußte wirklich nicht, was in der Nacht mit ihm vor sich gegangen war. Rick aber stand unter einer schweren nervlichen Belastung. Um Mitternacht schon begann der Dreizehnte. Von Mitternacht an konnte sich Fowlers' Traum erfüllen. Dann würde Chefinspektor Hempshaw, mit fürchterlichen Wunden übersät, tot zusammenbrechen. Irgendwann ab Mitternacht, innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Rick hatte also nur diesen Tag noch Zeit, und das waren auch nur mehr achtzehn Stunden. Was sollte er nur tun? Er konnte Hempshaw warnen, doch was nützte das? Die anderen Opfer hatten zum Teil unter Polizeiaufsicht gestanden, und dennoch waren sie gestorben. Wie konnte man Fowlers' übersinnliche Kräfte abschirmen? Das war die Frage, auf die es vorläufig keine Antwort gab. Rick konnte Fowlers doch nicht einfach umbringen. Die Zeit verging, das Mittagessen rückte heran. Rick trottete schweigend mit den anderen Gefangenen in den großen Speisesaal und würgte lustlos ein paar Bissen hinunter. Und plötzlich kam ihm der rettende Gedanke. »Ich muß sofort den Direktor sprechen«, sagte er zu einem der Aufseher. Mr. Brent hatte an diesem Tag keinen Dienst. »Hinsetzen!« schnauzte ihn der Mann an. »Hier wird nicht 115 �
gesprochen.« »Es ist dringend«, beharrte Rick. »Ich muß sofort mit Mr. Malfort sprechen! Führen Sie mich zu ihm!« Die anderen Gefangenen und Aufseher wurden bereits auf den Auftritt aufmerksam. »Hinsetzen, sonst werde ich ungemütlich!« drohte der Aufseher. Verzweifelt erkannte Rick Masters, daß er und auch der Direktor einen Fehler begangen hatte. Sie hätten das gesamte Wachpersonal einweihen müssen. Jetzt glaubten sie, er wäre einfach ein Gefangener, der sie nur schikanieren wollte. Ein zweiter Wächter kam näher. »Was ist denn hier los?« fragte er barsch. »Der Kerl will unbedingt zum Direktor gebracht werden«, gab der Aufseher Auskunft, den Rick angesprochen hatte. Der andere rieb sich nachdenklich das Kinn. »Hör mal, ich habe gestern gesehen, wie Brent ihn zum Direktor geführt hat. Vielleicht ist was dran. Ich frage lieber nach.« Er verschwand, und Rick wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, als er fünf Minuten später zurückkam und dem jungen Privatdetektiv zunickte. Bald darauf war Rick Masters in dem ihm nun schon vertrauten Büro von Direktor Malfort. »Beinahe wäre es schiefgegangen«, seufzte er, als er sich in den Sessel vor dem Schreibtisch sinken ließ. »Ich bekam schon richtige Angstzustände.« »Das kenne ich von meinen echten Gästen«, erwiderte Malfort. »Wie gehen Ihre Ermittlungen voran?« »Sie stehen vor einer entscheidenden Wende, Mr. Malfort.« Rick nahm dankend die angebotene Zigarette entgegen und inhalierte den Rauch. »Ich muß unbedingt sofort mit Chefinspektor Hempshaw sprechen, und am besten hören Sie diesmal mit. Es geht um jede Minute.« 116 �
Während Rick mit Scotland Yard sprach, schaltete der Direktor einen Zimmerlautsprecher dazu. »Morgen sind Sie dran, Kenneth«, sagte Rick, nachdem er in Kürze eine möglichst genaue Erklärung seiner Theorie und der Vorgänge in der Zelle gegeben hatte. »Sie sollen unter zahlreichen Messerstichen sterben. So hat es Fowlers jedenfalls geträumt, und wir wissen, daß sich seine Vorstellungen bisher immer erfüllt haben.« Direktor Malfort hatte: mit wachsendem Erstaunen zugehört. Rick weihte ihn nur ungern ein, weil er Schwierigkeiten befürchtete. War es schon schwer genug, den Chefinspektor von, Fall zu Fall davon zu überzeugen, daß es »nicht mit rechten Dingen zuging«, wie er sich ausdrückte, so war es fast vollkommen unmöglich, Außenstehende zur Einsicht zu bringen. »Also gut«, entschied Chefinspektor Kenneth Hempshaw nach einer Weile. »Sie haben mich überzeugt, Rick. Ich glaube, daß Ihre Theorie stimmt.« Seine Stimme klang gepresst. Kein Wunder, schließlich sollte er in etwa zehn Stunden sterben. »Was hält Direktor Malfort von der Sache?« Rick Masters reichte dem Leiter des Zuchthauses den Telefonhörer hin. »Sie können sich vorstellen, daß ich überrascht bin«, formulierte Malfort seine Antwort sehr vorsichtig. »Ich will mich nicht festlegen, weil ich einerseits Mr. Masters' Aussage vorliegen habe, andererseits habe ich bisher von diesen übernatürlichen Dingen nichts gehalten. Ich würde sagen, daß die Entscheidung bei Ihnen liegt, was wir jetzt unternehmen. Ich werde dann tun, was in meinen Kräften steht.« Damit gab er den Hörer wieder an Masters zurück. »Kenneth, ich habe lange überlegt«, fuhr der junge Privatdetektiv fort. »Ich glaube, daß wir nur eine Möglichkeit haben, Fowlers' Kräfte zu brechen: wir müssen ein Medium einsetzen.« »Ein Medium?« fragten Hempshaw und Direktor Malfort wie 117 �
aus einem Munde, der eine über Telefon, der andere direkt im Zimmer. »Ja, ein Medium«, bekräftigte Rick Masters. »Sehen Sie, die besonderen Fähigkeiten von Fowlers stehen in einem Zusammenhang mit dem Selbstmord eines Gefangenen in Zelle acht. Durch den langen Aufenthalt in diesem Raum muß mit Fowlers eine Veränderung vor sich gegangen sein, die wir nur dann kontrollieren können, wenn wir die genauen Ursachen und Hintergründe kennen. In diesem Fall kann uns nur ein Medium helfen. Kenneth, das wird Ihre Aufgabe sein im eigenen Interesse«, fügte Rick leise hinzu. »Beeilen Sie sich, die Zeit rast! Sie müssen so schnell wie möglich ein seriöses, zuverlässiges Medium auftreiben und hierhin ins Zuchthaus bringen.« »Ich werde tun, was ich kann«, antwortete der Chefinspektor mit vibrierender Stimme. »Schließlich habe ich keine andere Wahl, als mich voll und ganz auf Sie zu verlassen.« »Gut, daß Sie das einsehen.« Rick seufzte erleichtert auf und warf einen Blick zu der elektrischen Uhr auf Malforts Schreibtisch. »In genau neuneinhalb Stunden beginnt der Dreizehnte, Kenneth! Also machen Sie schnell!« Direktor Malfort wandte sich an den jungen Privatdetektiv, nachdem dieser sich von Chefinspektor Hempshaw verabschiedet hatte. »Wie schätzen Sie die Chancen ein, Mr. Masters«, fragte er gespannt, »daß alles glatt geht?« Rick ballte die Hände zu Fäusten. »Um ehrlich zu sein, Mr. Malfort«, antwortete er grimmig, »sehr schlecht. Und jetzt lassen Sie mich wieder in die Zelle zurückbringen. Ich will wenigstens in Fowlers' Nähe sein.« * Rick hatte heimlich eine Taschenuhr zu sich gesteckt, damit er in � 118 �
der Zelle nicht ganz das Gefühl für die Zeit verlieren konnte. Falls es nämlich mit dem Medium nicht rechtzeitig klappen sollte, mußte er selbst sich noch schnell etwas einfallen lassen. Was das sein würde, stand noch in den Sternen. Vorläufig lag Ricks ganze Hoffnung bei Chefinspektor Hempshaw und dessen Spürsinn, mit dem er möglichst bald ein gutes Medium auftreiben sollte. Um acht Uhr abends wäre Rick am liebsten vor Nervosität bereits die Wände hochgegangen, aber er durfte Fowlers nicht mißtrauisch machen. Also tat er so, als würde er teilnahmslos auf seiner Pritsche liegen. Die Stimme von Fowlers riß ihn aus seinen Gedanken. »Der Betrieb hier geht mir langsam auf die Nerven. Man hat gar keine Ruhe mehr, seit du da bist.« Erst in diesem Moment merkte Rick Masters, daß sich jemand von außen an der Tür der Zelle zu schaffen machte. Die Tür flog auf, und Direktor Malfort persönlich wurde sichtbar. Brent, der alte Aufseher, war bei ihm. »Masters, Sie kommen mit!« ordnete Brent an. Rick trat an ihm vorbei hinaus auf den Korridor. Von drinnen kam die ungehaltene Stimme von Fowlers, der sich über den Krach beschwerte, bei dem er nicht schlafen könne. Brent erwiderte etwas Unverständliches, dann fiel die Tür wieder zu. »Hat es geklappt?« war Ricks erste Frage. Direktor Malforts Gesicht drückte Skepsis aus. »Chefinspektor Hempshaw hat zwar jemanden gefunden, doch ich weiß nicht, ob es funktionieren wird. Aber meine Meinung ist nicht so wichtig, glaube ich. Auf den Erfolg kommt es an.« »Sehr richtig«, konnte Rick sich nicht verkneifen. Schweigend gingen sie in den Verwaltungstrakt. Rick war gespannt, wen Hempshaw in der kurzen Zeit aufgetrieben hatte. Die massige Gestalt des Chefinspektors war das erste, was Rick 119 �
bei seinem Eintreten in Malforts Büro sah. Ansonsten schien der Raum leer zu sein. »Kenneth!« Rick ging auf seinen Freund zu. »Ich habe geglaubt, Sie hätten…« »Drehen Sie sich um, Rick!« Hempshaw deutete auf den Sessel hinter dem jungen Privatdetektiv, der erstaunt der Aufforderung folgte. Sein Erstaunen verwandelte sich in grenzenlose Verblüffung, als er die Person in dem bequemen Sessel sah. Klein und zerbrechlich saß eine mindestens achtzigjährige Frau vor ihm. Ihr von unzähligen Falten Verknittertes Gesicht drückte Ruhe und Gelassenheit aus. Ihre wasserblauen Augen blickten Rick gerade und scharf ins Gesicht. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Mr. Masters«, sagte die Greisin mit einer kräftigen, angenehmen Stimme. »Mich kennen Sie allerdings nicht. Ich bin Dorothy Valentine.« Sie ließ den jungen Privatdetektiv überhaupt nicht zu Wort kommen. »Die Zeit drängt, wir haben nur mehr maximal drei Stunden. Ich muß als erstes sofort den Mann sehen, ohne daß er wissen darf, worum es geht. Nur so kann ich feststellen, ob ich Ihnen nützlich sein werde.« Die drei Männer starrten Dorothy Valentine ratlos an. Ihr Schwung und ihre Entschlossenheit ließen aber gar keinen Widerspruch aufkommen. »Holen Sie Fowlers!« befahl Direktor Malfort. Mr. Brent stürmte aus dem Büro. Schweigend warteten die Zurückgebliebenen auf dessen Rückkehr. Keiner sprach ein Wort, weil es nichts zu sagen gab, das für die kommenden Ereignisse von entscheidender Bedeutung gewesen wäre. Rick lagen zwar unzählige Fragen auf der Zunge, die alle die Person Dorothy Valentines betrafen, aber er hielt sie zurück. Eine gewisse Scheu hinderte ihn daran, die Greisin auszufragen. 120 �
Brent kam herein, den murrenden und ungeduldigen Fowlers mit sich führend. Der Aufseher schob Fowlers ins Büro. »Schließen Sie die Tür ab!« ordnete Mrs. Valentine an, als wäre sie die Hausherrin. Brent gehorchte widerspruchslos. Fowlers' Unwilligkeit verflog augenblicklich, als er die Frau zu Gesicht bekam. Er war vermutlich von dem Anblick der weißhaarigen Dame so perplex, daß er vergaß, wie er sich eigentlich hatte verhalten wollen, weil er sich über die späte Störung ärgerte. »Mr. Fowlers«, begann Dorothy Valentine, »setzen Sie sich mir gegenüber und schauen Sie mir in die Augen!« Es war mit Überraschung zu beobachten, wie der Mörder der mit freundlichem Nachdruck ausgesprochenen Aufforderung nachkam. Er setzte sich auf den bezeichneten Stuhl und richtete seinen Blick auf die wasserblauen Augen der Alten. Sofort versank er in leichte Trance. Mrs. Valentine mußte über eine ungeheure innere Kraft verfügen. Fowlers konnte sich nicht mehr abwenden. Sein Blick wurde gleichsam von den Augen der Frau aufgesogen. Sein Körper begann zu zucken, sich zu verkrampfen und zu winden. Sofort neigte sich Dorothy Valentine vor und strich Fowlers leicht mit den vom Alter gekrümmten Fingern über das Gesicht. Der Gefangene richtete sich hoch auf und schüttelte den Kopf, als erwachte er aus einem leichten Schlummer. »Dieser Mann ist von dem Geist eines Selbstmörders besessen«, erklärte die Greisin, »der auch ein sehr schlechter Mensch zu Lebzeiten war. Durch diesen Mann hier mordet der Geist des Selbstmörders. Er wird in den nächsten Stunden einen weiteren Menschen töten.« »Haben Sie ihr…?« flüsterte Rick Masters dem Chefinspektor zu. 121 �
»Kein Wort habe ich verraten«, flüsterte Hempshaw zurück. »Sie muß es durch Gedankenübertragung erfahren haben.« »Nein«, rief Mrs. Valentine, die das kaum vernehmliche Flüstern verstanden hatte. »Ich hatte Kontakt mit dem Geist des Selbstmörders, der sich gegen meine Kräfte wehrte. Sie selbst haben gesehen, wie er sich in dem Körper festklammerte, von dem er Besitz ergriffen hat.« »Moment mal!« unterbrach sie die derbe Stimme von Nat Fowlers. »Was soll der ganze Unsinn mit Geistern und so weiter? Spinnen Sie vollständig? Ich will meine Ruhe haben.« »Fowlers!« rief Direktor Malfort scharf. Er wollte dem Sträfling eine Zurechtweisung erteilen, doch Mrs. Valentine kam ihm zuvor. »So geht das nicht«, sagte sie entschieden. »Ich brauche seine Mithilfe, wenn ich den Geist bannen soll. Er darf sich nicht gegen mich sträuben. Und noch etwas…« Die alte Dame blickte sich im Kreis um. »Wenn ich tatsächlich versuche, mit dem Geist Kontakt aufzunehmen und ihn zu bannen, dann kann das sehr gefährlich werden.« »Wieso gefährlich?« fragte Chefinspektor Hempshaw verständnislos. »Ich dachte, Sie würden über besondere Kräfte verfügen, wie Sie behauptet haben?« »Das schon.« Dorothy Valentine nickte. Ein feines Lächeln huschte über ihre faltigen Züge. »Das schon, aber ich bin nicht allmächtig. Es ist schon sehr viel, wenn ich den Geist aus diesem Mann vertreibe. Doch er hat einen Mord beschlossen, und ich befürchte, daß er ihn ausführen wird.« »Dann muß also jemand sterben?« fragte Rick Mästers schnell. »Das wäre doch kein Erfolg für uns.« »Doch, natürlich«, antwortete Mrs. Valentine. »Wenn dieser Mann hier weiterhin in der Gewalt des Geistes des Selbstmörders bleibt, wird er noch sehr oft morden. So aber stirbt nur ein 122 �
Mensch. Machen Sie sich keine Sorgen«, fügte sie mit einer seltsamen Hast hinzu, »ich werde alles tun, damit es kein Unglück gibt.« »Ich verstehe immer nur Bahnhof«, murrte Nat Fowlers. Da das Medium darauf bestanden hatte, daß der Gefangene mit ihr zusammenarbeitete und sich nicht gegen ihre Handlungen wehrte, blieb Rick Masters nichts anderes übrig, als Nat Fowlers über die Hintergründe ihrer Zusammenkunft aufzuklären. Fowlers machte immer größere Augen, aber er zweifelte nicht an der Wahrheit von Ricks Worten. Er nahm es auch sehr gelassen auf, als er erfuhr, wer Rick in Wirklichkeit war. »Dachte ich es mir doch, daß Sie keinen bewaffneten Überfall gemacht haben«, stellte er nur zum Schluß fest. »Für so was habe ich einen sechsten Sinn.« »Fangen wir endlich an?« rief Chefinspektor Hempshaw ungeduldig. Er war sehr blaß, und auf seiner Stirn glänzten feine Schweißtropfen, obwohl es in dem Raum kühl war. Rick warf ihm einen besorgten Blick zu. Hoffentlich, hielten die Nerven Hempshaws durch. Es ging letztlich um seinen Kopf. Wenn die Bemühungen des Mediums versagten, wenn die bevorstehende Beschwörung die Kräfte von Mrs. Dorothy Valentine überstieg, war Hempshaw ein toter Mann. »Nein, wir fangen noch nicht an.« Dorothy Valentine wandte dem Chefinspektor ihr runzeliges Greisinnengesicht zu, in dem Güte und Intelligenz zu erkennen waren. »Wir müssen bis Mitternacht warten. Erst dann ist der Geist des Selbstmörders zu seiner Tat bereit, und nur dann habe ich eine Chance, ihn zu bezwingen.« »So lange sollen wir warten?« stieß Hempshaw hervor. Rick legte ihm die Hand auf den Arm. »Ruhig, Kenneth!« warnte er. »Nur nicht die Nerven verlieren.« Hempshaw biss sich auf die Lippen. »Schon gut, Rick, schon 123 �
gut. Ich nehme mich zusammen.« Er warf einen Blick zur Uhr. »Noch zwei Stunden«, murmelte er verkrampft. »Noch ganze zwei Stunden!« Lähmendes Schweigen senkte sich über das Büro, in dem nur eine einzige Lampe brannte, die Arbeitslampe auf dem Schreibtisch. In der Stille hörten sie nur ein Geräusch, sehr leise und doch scheinbar ohrenbetäubend laut. Das Surren der elektrischen Uhr, die unaufhörlich die Zeiger weiter gegen Mitternacht voran schob. * Dorothy Valentine, das greisenhafte Medium, saß völlig ruhig und entspannt in dem weichen Sessel. Sie wirkte wie eine alte Frau, dachte Rick Masters, die während eines Gesprächs eingeschlafen ist. Schon kamen ihm erste Bedenken. War sie geeignet für den bevorstehenden Kampf? Würde sie überhaupt die unwahrscheinliche Kraft aufbringen, um dem Übersinnlichen die Stirn zu bieten? Und was hatten ihre dunklen Andeutungen zu sagen, der Geist werde auf seine Tat nicht verzichten? Rick mußte sich in diesem Punkt noch Klarheit verschaffen, bevor die Beschwörung begann. Doch Dorothy Valentine überraschte ihn schon wieder, so daß seine ganzen Pläne über den Haufen geworfen wurden. Genau fünf Minuten vor zwölf öffnete sie die Augen. Ihre Stimme traf die fünf Männer so unerwartet, daß sie erschrocken zusammenzuckten. »Wer überhaupt kein Risiko eingehen will, der muß sofort den Raum verlassen«, sagte sie. Als keiner antwortete, stand sie auf und trat zu Rick Masters. »Sie bleiben natürlich, weil Sie miterleben wollen, wie der von Ihnen geklärte Fall ausgeht.« 124 �
Dann ging sie zu Chefinspektor Hempshaw, der ihr entgegenstarrte, als wäre er ein zum Tode Verurteilter und sie der Henker. »Ich würde Ihnen gern einen besseren Bescheid geben«, sagte Dorothy Valentine mit ihrer sanften Stimme, »aber die Chancen für Sie stehen fünfzig zu fünfzig.« Zu Ricks Überraschung ging sie daraufhin zu Nat Fowlers, der gebannt auf dem Stuhl hockte. »Sie sind der einzige, der nichts dabei riskiert. Ich brauche es Ihnen nicht lange zu erklären, dazu fehlt die Zeit, aber Sie können mir glauben.« Fowlers atmete sichtlich erleichtert auf. »Nun zu Ihnen!« Das Medium stellte sich vor den Direktor des Zuchthauses. Vor seiner breiten Gestalt wirkte sie noch zierlicher und zerbrechlicher. »Bleiben Sie?« Malfort nickte heftig. »Irgendwie betrifft mich die Sache persönlich«, behauptete er. »Es geht um einen meiner Häftlinge und um einen früheren Häftling. Selbstverständlich bleibe ich.« »Gut.« Mrs. Valentine drehte sich um und richtete ihren Blick auf Brent, den Wächter. »Wie steht es mit Ihnen?« »Sie können selbstverständlich jederzeit gehen, Brent«, kam der Direktor einer Erklärung seines Untergebenen zuvor. »Danke«, antwortete Mr. Brent, »aber ich glaube, ich sollte mir nicht die Gelegenheit entgehen lassen, etwas Derartiges zu sehen.« »Also bleiben alle.« Mrs. Dorothy Valentine ging mit kleinen Schritten zurück zu dem Sessel, in dem sie gesessen hatte, bückte sich und hob eine alte, abgeschabte Lederhandtasche vom Boden auf. Sie klappte den Deckel auf und griff hinein. »Jeder von Ihnen bekommt ein Stück«, sagte sie und zeigte eine Schachtel mit Kreide. »Sie nicht, Mr. Fowlers. Damit ziehen Sie einen Kreis um ihren Standort. Wenn Sie den Kreis vollendet 125 �
haben, dürfen Sie ihn unter keinen Umständen mehr verlassen, sonst können Sie augenblicklich verloren sein Sterben!« fügte sie mit Nachdruck hinzu. Sie verteilte die Kreide, und Rick Masters, Chefinspektor Hempshaw, Direktor Malfort und Mr. Brent führten ihre Anweisung aus. »Werfen Sie die Kreidestücke auf den Boden außerhalb der Kreise!« ordnete das Medium an. »Augenblick!« Jetzt erinnerte sich Rick daran daß er eigentlich vor Beginn der Zeremonie noch etwas hatte klären wollen. »Wie steht es mit der Gefahr, von der Sie gesprochen haben? Sie schweben doch auch in Lebensgefahr, wenn Sie die Beschwörung durchführen.« Bevor ihm die alte Dame antwortete, trat sie rasch an ihn heran, bückte sich und versah seinen Kreidekreis ringsherum mit Zeichen und Symbolen, die Rick noch nie gesehen hatte. Dasselbe machte sie bei den anderen. »Natürlich bin ich in Gefahr«, sagte Mrs. Dorothy Valentine, als sie ihre Arbeit beendet hatte. Ihr Gesicht hatte einen ernsten, fast feierlichen Ausdruck. »Aber ich bin alt, sehr alt, habe ohnehin nicht mehr lange zu leben. Bei mir spielt es keine Rolle, wenn…« »Doch, es spielt eine Rolle!« fuhr Rick auf. »Bleiben Sie stehen!« warnte Mrs. Valentine. Rick achtete nicht auf die Warnung. Er wollte springen, doch kaum schwebte sein Fuß über die Kreidelinie, als ein heftiger Stoß, wie ein elektrischer Schlag, durch seinen Körper ging. Er schrie vor Schmerzen auf, taumelte, sank in die Knie. »Ich habe Sie gewarnt«, sagte Dorothy Valentine leise. »Sie können Ihre Kreise nicht mehr verlassen, meine Herren. Und das ist auch gut so.« Dorothy Valentine ging zu Nat Fowlers. Um ihn er saß 126 �
regungslos auf dem Stuhl und um sich selbst zog sie nun ebenfalls einen Kreidekreis, den sie mit den gleichen Zeichen und Symbolen versah. Diesmal brachte die Greisin sie aber an der Innenseite an. »Sie dürfen Ihre Standorte erst verlassen«, sagte sie zu den atemlosen Zuschauern, »wenn der um uns beide gezogene Kreis nicht mehr zu sehen ist.« Ihr maskenhaft starres Gesicht richtete sich auf den ihr gegenübersitzenden Mörder. »Wir können mit der Beschwörung beginnen«, verkündete sie laut und mit Pathos. * Die welken Lippen der alten Frau zuckten, bewegten sich, formten ganze Sätze, die aber unhörbar blieben. Dann ertönte wieder ihre Stimme. In einer fremden, Rick unbekannten Sprache, rief sie summend, singend, beschwörende Worte. Es war nicht Latein, das verstand der junge Privatdetektiv, und es klang auch nach keiner anderen Sprache, die Rick jemals gehört hatte. Er hätte viel darum gegeben, wenn er die Bedeutung dieser Formeln gekannt hätte. Fowlers' Körper wurde plötzlich und unerwartet von heftigen Krämpfen geschüttelt. Seine Augen schlossen sich, er preßte die Lider fest zusammen. Seine Zähne knirschten mit einem durch Mark und Bein gehenden Geräusch aufeinander. Schweiß lief in Strömen über seine Stirn und sein Gesicht. Innerhalb von wenigen Minuten war seine ganze Kleidung klatschnass. Das Zittern wurde immer heftiger, rüttelte und schüttelte ihn, daß Rick meinte, der Mann müsse vom Stuhl fallen. Doch er hielt sich starr in derselben Stellung. Da Rick lief eine Gänsehaut über den Rücken. Nat Fowlers 127 �
stieß einen grässlichen Schrei aus, der in ein schmerzliches Wimmern überging. Sein Gesicht war wild verzerrt. Ein letzter, fürchterlicher Krampf krümmte seinen Körper, dann sackte er wie tot in sich zusammen. Innerhalb des Kreidekreises, der Fowlers und das Medium umgab, bildete sich eine rote Wolke, die sich ausbreitete bis an die Grenzen des Kreises und bis hinauf an die Zimmerdecke. In wenigen Sekunden stand eine starre rote Säule im Raum und verdeckte die Sicht auf die beiden darin eingeschlossenen Menschen. Im Büro hörte man nur das heftige schwere Atmen der vier Zuschauer, dann ein leises Stöhnen aus der Rauchsäule heraus. Schlagartig klärte sich der Blick wieder. Wie von einem starken Ventilator weggefegt, war der rote Rauch verschwunden. Auch durch den Kreidekreis, der den Besessenen und das Medium eingeschlossen hatte, war nicht mehr zu sehen. Nat Fowlers saß vorgeneigt auf seinem Stuhl. Sein Blick hing an der Greisin, die schlaff in dem Sessel lehnte. »Sie ist tot«, preßte der Mörder mit Tränen in den Augen hervor. »Ich habe sie getötet!« Rick Masters verließ als erster den um ihn gezogenen Kreis. Er trat auf die tote Frau zu. In ihrem Körper klafften die Einstichwunden, die Nat Fowlers in der vergangenen Nacht in Trance dem Chefinspektor hatte zufügen wollen. Sie hatte den Mord auf sich gelenkt und damit Fowlers vom Geist des Selbstmörders befreit. Rick Masters hörte hinter sich ein gepresstes Stöhnen und drehte sich um. Chefinspektor Kenneth Hempshaw blickte auf die tote Frau in dem Polstersessel. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er war zu erschüttert. Mit einer hilflosen Geste hob er die abgeschabte Lederhandta128 �
sche vom Boden auf und legte sie der Toten in den Schoß. Dann verließ er mit schleppenden Schritten das Büro. ENDE
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