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Das Ende der Schwertbrüder Roman von Austin Osman Der unglaublich fette Magier sah seinen Assistenten an. Der schaffte es erfolgreich, seinen Ekel zu verbergen, während er zusah, wie Nikophorus Pfettner - der Fette - eine Trüffelpraline nach der anderen zwischen seine feisten Lippen schob. Es war, als wäre Kauen unnötig, als würden die nachgestopften Süßigkeiten einfach die vorangegangenen weiterschieben, durch den Rachen und die Speiseröhre direkt in den Magen. Der Magier rülpste laut, bevor er sich an seinen Assistenten wandte. »Bring mir ein Kind, Luca. Es muss von seinen Eltern verkauft worden sein, und es muss Waise sein. Seine Eltern müssen, nachdem sie das Balg versilbert haben, eines gewaltsamen Todes gestorben sein. Das ist das Letzte, was ich für unseren großen Plan noch benötige...«
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In diesem Viertel lag das Elend in der Luft wie ein Pesthauch. Es war überall zu spüren, es überfiel den Fremden wie ein kalter Windstoß, es setzte sich unter die Haut wie die trübe Feuchtigkeit eines Novembernebels. Die Ausstrahlung dieses Elends wurde weniger durch verfallene Fassaden oder verschmutzte Straßen bestimmt. Eher lag es an den stumpfen Blicken der Kinder, die auf dem Gehsteig spielten. Maria Allayo war ein Produkt dieses Viertels. Am Anfang hatte sie eine Art von lärmender Aufsässigkeit kultiviert, mit der sie ihre Zerbrechlichkeit überspielen wollte. Diese Pose war ihr aber schnell zu anstrengend geworden und wurde daher durch berechnende Weinerlichkeit ersetzt. Lucanor Tomasi spürte unter seinen Schuhabsätzen das Vibrieren des morschen Fußbodens. Auf der Straße machten einige Jugendliche ein Rennen mit mühevoll aufgemöbelten Wagen. Die Maschinen dröhnten heiser und unglaublich laut, als wäre dies hier ein Flugzeugträger voll startender Propellerflugzeuge. Der Lärm schien an den Mauern des Wohnblocks zu rütteln, um deren Festigkeit zu testen. »So ist das immer«, jammerte Maria Allayo. »Diese Bastarde basteln an ihren Scheiß-Autos, saufen Bier und hängen rum, und wenn sie genug Benzin haben, dann machen sie diese lächerlichen Rennen und wir gehen auf dem Zahnfleisch. Und glauben Sie nicht, hier würde sich irgendwo ein Bulle sehen lassen.« Die Frau konnte ihre Tiraden herausbringen wie ein alter Schauspieler seinen Text und dabei gleichzeitig in ihrer schäbigen Wohnküche völlig sinnlos Dinge von links nach rechts und zurück räumen, um sich den Anschein der fleißigen Hausfrau zu geben. Sie mochte dabei mit dem Geschirr scheppern so laut sie konnte, Tomasi wusste es besser. Inzwischen kannte er sie schon ein wenig näher, schließlich hatten sie schon seit zwei Wochen miteinander Verhandlungen geführt. Vielleicht lag es ja an einer grundsätzlichen Behinderung seitens Tomasis, die ihn für menschliche Gefühle ungeeignet machte, aber in dieser Zeit war ihm Maria Allayo nicht um einen Deut sympathischer geworden. Er schaute auf die kleine, hagere, absolut reizlose Frau, deren Alter schwer abzuschätzen war. Sie selbst behauptete, Mitte Zwanzig zu sein. Das mochte sogar stimmen, trotz der sechs Kinder, die sich in dem Raum aufhielten. Die Bälger hatten offensichtlich verschiedene Väter, aber eindeutig nur eine Mutter - Maria Allayo. Die Bälger hatten mehr Schmutz an sich als eine Gruppe Marines nach einem Manöver. Tomasi war sich sogar sicher, dass er den Marmeladenfleck an der Wange des kleinen Mädchens auch schon bei seinem letzten Besuch gesehen hatte. Alle Kinder wirkten verschüchtert und gehemmt, in diesem Moment jedoch glotzten sie ihn allesamt an, als wäre er 3
ein Teil einer Monstrositätenschau. »Misses Allayo, wann kommt Ihr Mann?«, fragte Tomasi. Unter seiner gelassenen Haltung regte sich langsam die Ungeduld. Die Frau baute sich vor ihm auf und stemmte die Arme in die Hüften. Das Waschweibgehabe passte nicht zu ihr. Aber weniger die Erkenntnis dieser Tatsache, als vielmehr Tomasis Blick, bewogen Maria Allayo zu einer veränderten Haltung. Dabei war sein rechtes Auge milchig weiß und blind. Er konnte dadurch nicht gucken, da war sie sich sicher. Und trotzdem ... Irgendwie - irgendwie wurde sie den Verdacht nicht los, dass er auch dieses Auge gebrauchte. Sie entschied sich für einige sorgenvolle Stirnfalten, hochgezogene Schultern und ausgebreitete Arme. »Ach, was soll ich sagen? Der Kerl kommt und geht, wann er will. Ich habe ihm gesagt, er soll hier sein um die verabredete Zeit. Aber vergiss es doch, so sind die Kerle eben. Wenn er einen Kumpel getroffen hat, dann quatscht er halt 'ne Stunde mit ihm. Was kann ich dagegen tun? Er haut mir in die Fresse, wenn ich ihm Vorhaltungen mache, mehr passiert nicht!« »Haben Sie ihrem Mann nicht deutlich gemacht, dass mein Anwalt, Mister Finkelboum III., einen Tarif von 900 Dollar die Stunde hat?« Tief Luft holend starrte die Frau auf den Begleiter Tomasis. Finkelboum hieß der also. Na ja, bei dem Namen musste er ja wohl Anwalt sein. Obwohl, er sah noch sehr jung aus. Sehr, sehr jung für einen Anwalt. Aber ein hübscher Mann, ganz ohne Zweifel. Groß und muskulös. Gesagt hatte er bisher nicht viel, nur dagestanden und ziemlich finster geschaut, als wäre er so eine Art Leibwächter. Nun ja, dachte sich Maria Allayo, auch Anwälte waren in der heutigen Zeit eine Art von Leibwächter. »Wollen Sie unseren Vertrag nicht mehr unterschreiben, Mister Tomasi?« »Es geht nicht um mich, Misses Allayo. Ich brauche die Unterschrift beider Elternteile und wenn Ihr Ehemann nicht anwesend ist, kann das Geschäft nicht abgeschlossen werden.« »Morgen? Wollen wir alles auf morgen verschieben?« »Heute. Oder gar nicht.« »Gar nicht?« In den dunklen Augen Maria Allayos glitzerte Enttäuschung, sogar Panik. »Sie sagten doch, Mister Tomasi, dass Ihre Kunden genau dieses Kind wollten. Ich meine - unsere kleine Christina.« »Ich bin mir durchaus bewusst, was ich sagte. Aber wir wollen einen einwandfreien juristischen Vertrag. Machen Sie sich eigentlich eine Vorstellung, wie viele Leute in den Adoptionsbehörden nur damit beschäftigt sind, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen? Jetzt haben wir alle Papiere, jetzt muss die Sache über die Bühne gehen, sonst verfällt 4
der Termin, und wir können noch einmal von vorne anfangen. Dann aber, da können Sie sicher sein, werden wir uns an verlässlichere Partner wenden!« In diesem Moment erklang aus einem Bettchen in einer Raumecke ein dünnes, zitterndes Quäken. »Oh, meine kleine Christina!« Maria Allayo eilte zu ihrer jüngsten Tochter, warf theatralisch die Hände in die Luft und begann ein überzogenes und äußerst peinliches Gute-Mutter-Schauspiel, wie Tomasi fand. Sie holte das winzige schreiende Bündel aus den schmuddeligen Decken und begann es zu wiegen, wobei sie irgendwelche »Kuschikuschi« Laute ausstieß, die so echt wirkten wie die Kirschen auf einem Eisbecher. »Haben Sie wenigstens die Taufbescheinigung besorgt?« »Taufbescheinigung? Natürlich ... « Das Baby wurde schwungvoll zurück in das Bettchen befördert, wo es laut weiterschrie. Die Frau suchte in einigen Schubladen und brachte dann ein Blatt zum Vorschein. Auf der Treppe erklangen polternde Schritte. Die Tür flog auf und ein Mann trat ein. Er brachte einen schweren Dunst von Bier und Zigaretten mit sich. Missmutig nickte er den Gästen zu und verzog sich hinter den Tisch wie hinter eine Barrikade. »Schön«, sagte Tomasi, »dann können wir ja.« Auf seinen Wink legte sein Begleiter einen Aluminiumkoffer auf den Tisch, ließ die Verschlüsse aufklacken und holte einen Stapel Papiere hervor. »Bitte unterschreiben Sie beide jeweils neben dem Kreuz. Hier, bitte, nehmen Sie doch meinen Kugelschreiber.« Tomasi reichte den beiden einen Stift mit Platinhülle. Der Mann schaute ihn verstockt an, aber die Hand der Frau schoss hervor mit der Schnelligkeit einer zustoßenden Klapperschlange. Ungerührt beobachtete Tomasi ihr mühsames Gekritzel, dem ein angeberischer Schwung für die männliche Unterschrift folgte. Warum hatten sie sich eigentlich Mühe gemacht, die verdammten Papiere mit so viel Aufwand zu fälschen, fuhr es Tomasi durch den Kopf. Das hier waren Analphabeten. »So viel zum geschäftlichen Teil«, erklärte Tomasi und bemühte sich, einen falschen Glanz in seine Stimme zu legen. »60.000«, knurrte der Mann. »Sicher. Aber wichtiger ist doch das Wissen, dass ihre geliebte Tochter Christina für ein Leben ausersehen ist, dass Sie ihr beim besten Willen nicht 5
bieten könnten. Medizinische Versorgung, aufmerksame Lehrer, die beste Ausbildung...« »Ach ja.« Maria Allayo verdrehte die schwarzen Augen. »Darum geht es doch. Nur darum. Wie sollten wir sonst unser Kind zur Adoption freigeben? Was für Eltern wären wir sonst?« »Sie wären schlechte Eltern, wenn Sie ihrem Kind diese Chance rauben würden. Außerdem machen Sie ein Ehepaar glücklich, das Christina als die eigene geliebte Tochter ins Herz schließen wird.« Tomasi lächelte wie ein Gebrauchtwagenhändler. Dann griff er in den Koffer und legte die Packen mit den Dollarscheinen auf den Tisch, um im Gegenzug die Verträge einzusammeln. Der Mann begann zu zählen, von der Frau argwöhnisch beobachtet. »Das Kind, bitte«, forderte Tomasi. Maria Allayo ging zu dem Bettchen, in dem inzwischen eine erschöpfte Stille eingekehrt war, ohne den Blick von ihrem Mann oder vielmehr von dem Geld zu wenden. In dieser Haltung nahm sie das Kind und drückte es Tomasi in den Arm. Wenn sie ihn nun gesehen hätte, wie er in einer Mischung aus Abscheu und Ungeschick das kleine Menschlein auf dem Arm balancierte, dann hätte sie erkannt, dass er nicht der Spezialist für Adoptionen war, für den er sich ausgab. Aber sie beachtete ihn nicht. Maria Allayo musste auf ihren Ehemann achten, der versuchen würde, einige Scheine fallen zu lassen, um sie mit seinen Flittchen zu verjubeln oder seinen Kumpeln zu versaufen. Tomasi und sein Begleiter gingen. Sie gingen bis zum ersten Treppenabsatz, dann blieb Tomasi stehen. Immer noch hielt er das streng riechende Bündel steif im Arm. »Die Sache ist noch nicht erledigt«, sagte er. »Was?« Sein Begleiter machte große Augen. »Nun ... « Tomasi räusperte sich. »Das Kind muss Waise sein.« »Waise?« »Es darf keine lebenden Eltern mehr haben«, kam die Antwort leicht genervt. Tomasis Begleiter formte seine Hand zu einer Pistole. Tomasi schüttelte den Kopf und fuhr in einer unzweideutigen Geste mit zwei Fingern an seinem Hals entlang. Sein Begleiter begann, lautlos die Treppe hochzusteigen. »Das Geld«, fragte er noch, sich umwendend. »Nimm es für dich, Gerry.« Die Wohnungstür war schon mehrmals aufgebrochen worden, daher gab es kein funktionstüchtiges Schloss mehr. Der Mann musste lediglich seine Fingerspitzen zwischen Tür und Rahmen schieben und einmal kräftig 6
rucken. Er war schon halb im Zimmer, bevor Maria Allayo und ihr Ehemann ihn bemerkten. Die beiden stritten sich um einen Dollarschein, den sich der Mann heimlich in den Hosenbund gesteckt hatte. Seine rechte Hand hielt die Handgelenke der Frau umklammert, sodass ihre Haut unter seinem Griff bereits weiß wurde. Maria Allayo wand sich - teils aus Wut, teils aus Schmerzen - und beschimpfte mit deutlichen Mundbewegungen, wegen der Kinder aber völlig tonlos, den Mann. Gerry warf einen Blick in die Runde, dann trat er schnell zu dem Ehepaar, das ihn verständnislos anschaute. Gerrys linke Hand legte sich auf den Mund der Frau, seine Rechte brachte aus der Tasche ein großes Springmesser zum Vorschein. Der Daumen drückte auf den Metallknopf, die Klinge sprang auf und war noch nicht ganz arretiert, als sie durch den Hals des Mannes fuhr. Der Mann versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht mehr und sackte zurück auf den Stuhl. Seine verständnislosen Augen bekamen einen glasigen Schimmer. Ein Röcheln kam aus seinem Mund. Dann fiel der Mann vom Stuhl. Maria Allayo dachte gar nicht daran zu schreien. Sie verstand nicht, was vorging. Sie sah nur ihren Mann am Boden über einer sich schnell vergrößernden Blutlache liegend, und sie sah diesen Anwalt vor sich. Dann brannte ein Schmerz in ihrer Kehle. Kalt und unbeteiligt, als würde er ein Experiment beobachten, schaute Gerry zu, wie die Frau zusammenbrach und auf den Boden fiel. Als beide ruhig waren, nahm sich Gerry die Geldbündel und stopfte sie in seine Taschen. Der Wagen wartete auf der anderen Straßenseite. Das Kind schlief. Endlich konnte Lucanor Tomasi aufatmen. Alle Dinge waren so erledigt, wie sie sein sollten. Er brachte Nikophorus Pfettner ein Waisenkind, dessen Eltern es verkauft hatten, bevor sie durch Gewalteinwirkung gestorben waren. Das Ziel war nahe. * Da war Angelina Thornton, die Kultur-Reporterin der New York Times. Katrina Stein winkte der Journalistin einen neckischen Gruß mit wedelnden Fingern zu. Angelina hatte ihr biologisches Verfallsdatum eindeutig schon überschritten, dachte Katrina. So wie sie mit starrem Gesicht einen gescheiterten Versuch eines Lächelns startete, war sie alleine schon für 50 Prozent des Umsatzes der US-Schönheitschirurgen verantwortlich. 7
Das waren die Gedanken, die sich hinter der klaren Stirn von Katrina Stein tummelten, während sie mit einem liebreizenden Lächeln auf die Thornton zuschritt. »Katrina, du siehst wieder göttlich aus. Ich hasse dich dafür«, rief Angelina ihr schon durch den ganzen Raum zu. Aber das Organ der Angelina Thornton ließ die Entfernung schrumpfen. Katrina lächelte noch etwas liebreizender als liebreizend, wartete aber mit ihrer Antwort, bis sie vor der Journalistin stand. »Du Schmeichlerin. Es sieht so aus, als müssten wir uns nun gegenseitig ein wenig hassen.« Die Antwort war eher freundlich als wahrheitsgetreu, denn in dieser Galerie gab es kein weibliches Wesen, das Katrina auch nur annähernd das Wasser reichen konnte. Sie sah in ihrem langen, eng anliegenden roten Seidenkleid schlichtweg atemberaubend aus. Und sie schaffte das Kunststück, sich den Anschein zu geben, als wäre ihr nicht klar, dass sie die Schönste von allen war. »Katrina, darf ich dir meinen alten Freund ... « Jetzt fing das schon wieder an! Angelina hatte so viele alte Freunde wie die Kongressbibliothek Bücher und sie nahm es als eine Art Hobby, ständig alte Freunde alten Freunden vorzustellen. In diesem Fall war es ein linkischer junger Mann, ein typisches Gewächs einer Eliteuni, der ihr die Hand zur Begrüßung reichte. Seine wasserblauen, etwas kurzsichtigen Augen suchten nervös nach einem Fixpunkt, als sich diese dunkelhaarige Schönheit nach seiner Meinung zu dieser Ausstellung erkundigte. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stotterte irgend etwas. Sie schaute ihm direkt ins Gesicht und das machte ihn völlig konfus. Sie war so perfekt, so viel perfekter als perfekt. Diese Lippen, die ihn anlächelten. Und diese Augen! Sein Puls begann sich dampfhammerartig zu beschleunigen. Seine Knie schienen nur noch aus einer weichen Gelatinemasse zu bestehen. Wie durch einen Wattebausch hörte er seine eigene Stimme und ihr perlendes Lachen. Katrina Stein legte den Kopf schräg und tupfte ihrem Gegenüber in einer kleinen Geste intimer Vertrautheit mit den Fingerspitzen auf den Oberarm. »Ich muss leider weiter, um noch mit einigen langweiligen alten Männern zu sprechen«, sagte sie mit einem genau berechneten Hauch von Bedauern. Für mich ist so eine Ausstellung leider immer auch Geschäft. Aber wir sehen uns, ja?« In ihrem letzten Satz mischte sich eine Feststellung mit einem leisen Flehen. Katrina ließ einen bis über beide Ohren verknallten jungen Mann zurück. 8
Während sie weiter an den ausgestellten Bildern entlangschlenderte, hier und dort grüßte oder für einen kurzen Plausch stehen blieb, kicherte Katrina innerlich. Männer! Es war so einfach, diese Deppen verliebt zu machen. Ihre spezielle, übernatürliche Begabung war gar nicht nötig. Natürlich hätte sich Katrina Stein sowieso an diesen Sammelpunkt der New Yorker Kulturschickeria begeben. Sie gehörte als Künstlerin einfach dazu. Jetzt aber gab es einen besonderen Auftrag des Baron von Kradoc. »Kümmere dich um diesen Mann, Katrina«, hatte er ihr gesagt und dabei ein Foto gezückt, das allem Anschein nach mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden war. Katrina hatte nur einen Blick auf das Foto geworfen und verachtungsvoll den Mund verzogen. Er war einfach unterstes Mittelmaß: klein, schmächtig, blass, mit wenigen Haaren auf dem Kopf. Das Foto war aus einer überhöhten Position aufgenommen worden. Dennoch erkannte man deutlich, dass mit dem rechten Auge des Mannes etwas nicht stimmte. Es schimmerte weißlich und schien keine Pupille zu haben. »Darf ich fragen, Herr, wer das ist«, murmelte Katrina Stein und schaute den Baron bittend an. »Wenn ich es wüsste, Katrina, bräuchte ich dich nicht mit diesem Auftrag zu belästigen. Ich weiß nur so viel, dass mir dieser Mann als gefährlich beschrieben wurde.« »Dieser Mann?« Katrinas Unglaube war echt. »Es ist ein schwerer Fehler, das Gegenüber nach dem Äußeren zu beurteilen. Mir wurde berichtet, dass dieser Mann mit den Ereignissen der letzten Zeit in Zusammenhang stehen könnte. Es waren Ereignisse, die für mich schmerzhafte Verluste brachten und die mein Imperium bedrohten. So lange ich nicht die wirklichen Urheber kenne, kann ich die Angelegenheit nicht zu den Akten legen. Wir dürfen uns nicht von der trügerischen Ruhe einlullen lassen! Darum möchte ich, dass du mit diesem Mann eine Bekanntschaft anknüpfst. Nutze deine Fähigkeiten. Dieser Sterbliche soll sich nach dir verzehren, Katrina! So wirst du alles von ihm erfahren, was für uns wichtig ist.« Ein ehrenvoller Auftrag, ganz ohne Zweifel. Vor allem, wenn man bedachte, dass dieser Dummschwätzer Bruce Darkness sich damit brüstete, er habe die sogenannte Bruderschaft des Schwertes vernichtet und einen Anschlag auf den Baron vereitelt. Anscheinend war sich der Baron nicht sicher genug, um in das Triumphgeheul seines großmäuligen Vize einzustimmen. Katrina hätte es dennoch nicht als Schicksalsschlag empfunden, wenn der Mann entgegen den Informationen des Barons nicht auf dieser 9
Ausstellungseröffnung erschienen wäre. Auf dem Foto hatte er so ausgesehen, als würde er einen sehr unangenehmen Körpergeruch haben. Etwas ungläubig blieb Katrina in diesem Moment stehen und schaute auf den alleine stehenden Herrn. Er hatte die richtige Figur - klein und schmächtig. Er hatte auch eine blasse Haut und einen fast kahlen Schädel. Aber er war in einen perfekt sitzenden Anzug gehüllt, der mit Sicherheit Maßarbeit war und außerdem Geschmack verriet: schwarz, mit Stehkragen und einem Schnitt, den Angelina Thornton als »asketische Eleganz« oder so beschreiben würde. Tatsächlich, dieser ältliche Vertreter der Gattung Mann hatte so ein gewisses Etwas. Außerdem betrachtete er gerade andächtig eines ihrer Bilder ... Katrina schob sich unauffällig näher an den Mann heran. Während sie sich mit einigen Bekannten über das Wetter unterhielt, konnte sie ihn genauer anschauen. Verflixt, er trug eine Sonnenbrille. Das nahm ihr die Möglichkeit, sein Auge, das beste Erkennungszeichen, zu sehen. Sie musste die Frontalattacke reiten. Der Mann wechselte den Standort. Er hinkte ein wenig. Katrina schnappte sich ein Champagnerglas, kippte die Hälfte des Inhalts ungesehen in einen Blumentopf und schlenderte mit diesem Symbol des kultivierten Plauderns auf den Mann zu. »Gefällt es Ihnen?«, fragte sie. Katrina war es gewohnt, dass Männer zusammenzuckten, wenn sie von ihr angesprochen wurden. In diesem Fall kam diese Reaktion nicht. »Wollen Sie die höfliche Version oder die Wahrheit?« Er sprach flüssiges Englisch, aber mit einem leichten italienischen Akzent. Vielleicht kultivierte er diesen Akzent ja ganz bewusst, es erinnerte Katrina jedenfalls ganz unwillkürlich an den typischen feurigen Liebhaber aus alten Kinofilmen »Was meinen Sie mit höflicher Version?«, fragte Katrina verblüfft. »Miss Stein, sie werden doch wohl akzeptieren, dass ich der Schöpferin dieses Werkes gegenüber Höflichkeit walten lasse.« »Oh, Sie kennen mich?« Katrina strahlte. »Leider noch nicht persönlich. Aber ihr Foto ist im Katalog dieser Ausstellung >Aktuelle Kunst im Big Apple< abgebildet. Auf die Gefahr hin, jetzt etwas zu dick aufzutragen, aber wer Ihr Foto gesehen hat, der erkennt Sie sofort wieder, Miss Stein.« Der Mann machte einen kleinen ironischen Kratzfuß, während Katrina sich enorm geschmeichelt fühlte. Doch sie war ein wenig verärgert, weil sie den Mann nicht einschätzen konnte. Charmant war er immerhin, und wie. Aber handelte es sich auch wirklich um denjenigen, auf den sie der Baron 10
angesetzt hatte? »Im Übrigen«, fügte der Mann jetzt lächelnd hinzu, »ist ihr Foto das mit Abstand Erfreulichste im Katalog.« »Nachdem Sie nun kräftig geschmeichelt haben, kann ich dann meine Antwort bekommen? Bitte die höfliche Version und auch die andere.« »So sei es. Die höfliche Version: Ich finde das Werk grandios. Die ehrliche: Ich verstehe es nicht.« »Vielleicht fiele Ihnen das Verständnis leichter, wenn Sie die Farben ungefiltert sehen können. Dazu müssten Sie allerdings Ihre Sonnenbrille abnehmen.« Katrinas lächelte einladend. Der Mann war nicht sonderlich beeindruckt. Trotzdem griff er zum Bügel seiner Ray-Ban. »Ich verabscheue das Ding auf meiner Nase, es wirkt so gewollt - wie sagen Sie hier in den USA? - cool. Ich trage es in Gesellschaft eher aus Eitelkeit, da ich nicht mit Piratenklappe auftreten möchte.« Mit diesen Worten schob er seine Brille auf die Nasenspitze. Er war es! Er war der Mann auf dem Foto. Sein rechtes Auge bot einen erschreckenden, geradezu abstoßenden Anblick. Es war trübe, milchig weiß und ohne Pupille. Trotzdem hatte Katrina jetzt die sichere Empfindung, dass sie ein Blick aus diesem Auge traf, der tiefer drang. Sie wandte sich instinktiv ab. »Sehen Sie, nun habe ich Sie verschreckt.« »Nein, nein, bitte ... Überrascht, nicht erschreckt.« Sie lächelte. Katrina war verwirrt. Was war mit diesem Auge, fragte sie sich. Gerade wollte sie Blickkontakt herstellen, um durch seine Augen in seinen Geist einzudringen, da hatte er die Sonnenbrille bereits wieder zurechtgerückt. Verdammt! »Wieso verstehen Sie das Bild nicht?«, rettete sich Katrina zurück in das Gespräch. Ihre Blicke glitten über das Bild, das sie hasste, weil es sie Wochen der Arbeit und ständiger Änderungen gekostet hatte, bis es sich bei ihrem künstlerischen Gewissen als vollendet abgemeldet hatte. Wieder suchten ihre wundervollen dunklen Augen die seinen und wieder scheiterten sie an der Sonnenbrille. »Wie soll ich es ausdrücken? Es erscheint mir wie eine Kombination widersprüchlicher Elemente, und ich verstehe nicht, wieso es in mir dennoch den Eindruck von Harmonie vermittelt. Da sind diese Anklänge des klassischen Kubismus und daneben die Farbspuren, die in ihrer Dynamik an Jackson Pollock erinnern und daher wie Feuer auf Eis wirken.« Katrina lächelte geschmeichelt. Dieser Mann sollte ihre Ausstellungskataloge schreiben. »Vielleicht drückt sich darin auch das Wesen der Künstlerin aus ... ? Gefühl und Härte - würde Ihnen dieser Tipp weiterhelfen, Mister...?« »Oh, wie unhöflich von mir. Schreiben Sie es meiner Bescheidenheit zu, 11
dass ich meinen uninteressanten Namen nicht neben dem eines weiblichen Genies stellen wollte.« Erneut kam der ironische Kratzfuß, in diesem Fall aber mit weniger Ironie und einer Andeutung von echter Höflichkeit. »Gestatten, Lucanor Tomasi«, sagte er dann. »Wie Sie meinem fürchterlichen Akzent sicherlich schon entnommen haben, bin ich Italiener. Aber, um Ihrer Kreativität wenigstens meinerseits einen kleinen biographischen Glanzpunkt entgegensetzen zu können: Ich bin waschechter Venezianer. Nun, und nachdem wir hiermit den Konventionen Rechnung getragen haben, möchte ich Ihnen antworten, Miss Stein, dass mir Ihr Tipp vielleicht weiterhelfen könnte, aber leider ist mir die Seelenlandschaft der Künstlerin zu fremd, um darin das Feuer und das Eis zu entdecken ... « »Daran kann man arbeiten, Mister Tomasi.« Der Abend versprach angenehm zu werden. Katrina konnte sich schwer erinnern, in letzter Zeit so gute Voraussetzungen für einen perfekten Abend gesehen zu haben. »Katrina!« Die Stimme ließ sie zusammenzucken. Nicht das! Nicht dieses dumme Stück und nicht in diesem Moment! Katrina Steins sorgfältige lackierte Fingernägel formten sich für einen Moment zu Krallen. Dabei war die junge Dame, die sich ihnen näherte, keineswegs völlig abstoßend. Sie war jünger als Katrina und repräsentierte einen völlig anderen Typ: langes, honigblondes Haar, helle Haut und blaue Augen. Ihre Figur war perfekt, und ihre zugleich geschmeidige wie kraftvolle Art der Fortbewegung zwang die Hälse sämtlicher umherstehender heterosexueller Männer zur Drehung. Irgendein Kerl hatte mal zu ihr gesagt: »Es ist ein Verbrechen, dass du deinen süßen Hintern nur zum Sitzen verwendest.« Sie hatte es Katrina kichernd erzählt und dieser war sofort klar gewesen, dass solcher Stuss nur aus dem Mund eines Bruce Darkness kommen konnte. Natürlich war sie keine Konkurrenz für Katrina. Sie sah im Grunde von hinten besser aus als von vorne, jedenfalls ließ ihr Gesicht jeglichen offenen Liebreiz vermissen. Nicht dass sie hässlich gewesen wäre, aber ihre Züge wirkten zu herb, fast verschlossen und erst bei längerer Betrachtung konnte sich die verborgene kristallklare Schönheit erschließen. Aber, mal ehrlich, wer würde sich schon diese Mühe machen, vor allem, wenn Katrina Stein in der Nähe ihr Lächeln leuchten ließ? So kam es, dass besagte junge Dame im Büro Katrinas eine Anstellung gefunden hatte, als Sündenbock diente, nützliche Zuarbeiten machte und auch die künstlerische Tätigkeit als eine Art von Sekretärin unterstützte. »Darf ich vorstellen«, sagte Katrina mit spürbar wenig Enthusiasmus in der Stimme. »Lucanor Tomasi - Sandy Davis, meine Sekretärin. Sandy, das ist Lucanor Tomasi. Was gibt es?« 12
»Chester Turnbull ist vorhin aufgetaucht und will Sie unbedingt sprechen, Miss Stein.« »Hat der Arme meine Telefonnummer verloren?« »Er will Sie persönlich sprechen.« »Dann mach ihm einen Termin. Sandy, was soll dieses Spiel eigentlich? Ich bin hier, um Kunst zu genießen und nicht, um mit alten Männern über Geschäfte zu reden.« »Es tut mir Leid, Miss Stein, aber ... Chester Turnbull hat gestern von Thomas Alden die Verwaltung des Ankauf-Budgets der Solomon-TurnerStiftung übernommen und daher wäre es vielleicht doch gut, ihn gleich jetzt zu treffen ... Er wartet am Eingang neben dem Brunnen auf Sie, Miss Stein.« Keine italienische Operndiva hätte diese Geste stiller Verzweiflung und bitterer Schicksalsergebenheit besser auf die Bühne gebracht als Katrina Stein. »Ich lasse Ihnen meine Sekretärin als Lotse durch die Welt meiner Pinseleien hier, Mister Tomasi«, sagte sie zum Abschied. »Vielleicht sehen wir uns ja doch noch im Laufe des heutigen Abends.« »Es wäre mir mehr als ein Vergnügen, Miss Stein. Es wäre mir ein Bedürfnis!« Während sie in der angebrachten Mischung aus Eile und Lässigkeit auf den wartenden Chester Turnbull zuschritt, dachte Katrina an Tomasi. Ein überaus reizender Mann. Aber sie hatte wie immer alles unter Kontrolle. Absolut! * »Pass auf, du Schlampe, du hast mich jetzt genug Zeit gekostet. Also, mach dein blödes Maul auf, sonst bist du ein Fall für den Sondermüll.« Aus dem Mund des Mädchens kam als Antwort nur ein leises Wimmern. Ihr Gesicht war Zeuge davon, dass sie schon übel zusammengeschlagen worden war. Mit dem rechten Auge - das Linke war zugeschwollen - schaute das Mädchen angstvoll den Mann an. Er tat ihr weh. Aber das war nicht einmal das Schlimmste. Schlimmer war die Veränderung, die in dem Gesicht des Mannes vorging, wenn er - wie jetzt wieder sehr wütend war. Dann sah es so aus, als würde seine Stirn schwellen und über der Nase erschienen dann drei tiefe waagerechte Kerben. Seine Augen bekamen einen grellgelben Schimmer und wenn er sprach, dann konnte sie plötzlich spitze Zähne hinter seinen Lippen erkennen. 13
»Spucks aus, du Miststück. Wo ist er? Na? Ich warte!« »Ich weiß es doch nicht!«, wimmerte sie. »Falsche Antwort, Schlampe. Absolut falsche Antwort.« Das gelbe Glitzern in seinen Augen leuchtete wie ein Signallicht. Seine Stimme hatte einen kehligen, dröhnenden Klang bekommen, als wäre sie mit einem Nachhall versehen. Er holte wieder aus, diesmal nicht mit der flachen Hand, sondern mit der geballten Faust. »Wenn du sie platthaust, wird sie dir schon aus praktischen Gründen nichts mehr erzählen.« Die Stimme von Bruce Darkness kam aus dem Hintergrund. Er saß auf einem der wackligen Stühlen, die in diesem schäbigen Hotelzimmer standen, und hatte die Beine auf die Fensterbank gelegt. Seine schwarze Lederjacke hing über der Stuhllehne, und da er der Meinung war, dass es sich für einen Vampir so gehörte, waren auch seine Jeans, das T-Shirt und die Motorradstiefel schwarz. Bruce mochte diesen Kerl nicht. Alec Sistran, so nannte er sich wenigstens, war ihm durch Baron von Kradoc als Partner zugewiesen worden. Der Halbdämon war extra deshalb eingeflogen worden. Der Baron war nach wie vor im höchsten Maße alarmiert und blieb bei seiner Überzeugung, dass der eigentliche Angriff durch die Bruderschaft des Schwertes erst noch kommen würde. Alles, was seitens der Sterblichen in der letzten Zeit versucht worden war, um sein Imperium zu zerstören, war für den Baron nur eine Vorbereitung auf die letzte Schlacht. Keiner wusste, wer die Angreifer sein würden und was ihre eigentlichen Ziele waren. Aber man musste gewappnet sein. Als die wichtigste Aufgabe erschien es, erst einmal die Reste der Bruderschaft des Schwertes aufzuspüren und zu vernichten. Nach dem Tod ihres Anführers Gerald Uncle waren die Mitglieder der Gang blitzartig von der Bildfläche verschwunden. Vielleicht handelte es sich nur noch um eine Bande frustrierter US-Amerikaner, die von nichts anderem als der Absicht angetrieben wurden, die beträchtliche Summen, die der Bruderschaft des Schwertes gehörten, zu verteilen und dann nach Sun City abzuhauen. Vielleicht war alles aber auch ganz anders. Vielleicht organisierte sich die Gruppe neu. Vielleicht erstand ein neuer Anführer, so wie Gerald Uncle sich zum Boss aufgeschwungen hatte, nachdem Sarrak durch ihn - Bruce Darkness - getötet worden war? Und vielleicht war dieser mögliche neue Anführer ebenso intelligent, fanatisch und skrupellos wie seine beiden Vorgänger - der Mensch und der Krieger aus einer anderen Dimension? Der Baron wollte nicht warten, bis diese Fragen durch den Verlauf der Ereignisse beantwortet wurden. »Vernichte die Bruderschaft des Schwertes«, lautete seine erfreulich klare Anweisung an Bruce. 14
Und wegen der Wichtigkeit des Auftrags wurde ihm Alec Sistran zugewiesen, der sich - angeblich - in der Gemeinde der Vampire einen Namen als Detektiv gemacht hatte. Sehr schnell musste Bruce bemerken, dass nicht er diesen Alec bemuttern musste, sondern dass Alec Sistran ihn als Anhängsel von verminderter Brauchbarkeit behandelte. Okay, sollte der neue Liebling des Barons die Sache erledigen, wenn er so gut war, wie er tat. Danach würde Bruce ihm den Arsch aufreißen. Nur - Alec Sistran war nicht so gut, wie er tat. Nicht einmal halb so gut. Und jetzt verbockte er die Sache wieder. Und Bruce würde wahrscheinlich auch dafür verantwortlich gemacht werden. Eines störte ihn besonders: Sistran hatte keinen Stil. Es ging nicht um Ethik oder Moral. Es ging darum, ob man ein Schwein, das man zum Kotelett verarbeiten will, vorher unbedingt beschimpfen und foltern muss. Bruce jedenfalls fand es nicht in Ordnung, Mädchen zu verprügeln. Sistran dagegen? Bääh! Dieser Halbdämon mochte manche Fähigkeiten haben - es war ihm aber bisher gelungen, sie vor Bruce Darkness komplett zu verbergen. Das Mädchen brach in heftiges Schluchzen aus. Ihr ganzer Körper wurde geschüttelt. Sie lag halb auf dem Tisch, ihr Peiniger hatte seine harten Hände in ihrem Haar verkrallt. Das Mädchen hatte eine prächtige Mähne aus langem, gekräuseltem Haar. Dies war zweifelsohne ihre herausragendste optische Eigenschaft, denn ansonsten war sie die Verkörperung der klassischen grauen Maus. »Sie weiß nichts«, sagte Bruce Darkness und nahm die Füße herunter. »Und was ist das hier, du Trottel?« »Nenn mich nie wieder Trottel, sonst hämmere ich dir diese Höflichkeitsregel in den Schädel, Sistran!« Plötzlich herrschte Stille in dem Raum, man konnte das Mädchen leise weinen hören, das Keuchen Sistrans und das Knarren der Bohlen, als Bruce Darkness auf den Tisch zuging. Es gab ein Duell zweier wütend funkelnder Augenpaare, gelb und strahlend blau, das das blaue von Bruce gewann. Alec Sistran senkte knurrend den Kopf und schnippte ein Foto über den Tisch, in Richtung auf Bruce Darkness zu. Bei dem Foto handelte es sich um ein Sofortbild. Das Mädchen war darauf zusammen mit einem jungen Mann abgebildet. Beide strahlten in die Kamera, er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt, sie schlang ihren Arm um seine Hüfte und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Beide sahen glücklich aus. Ihr Glück überwand die alltägliche Durchschnittlichkeit ihrer Gesichter und gab ihnen einen Schimmer von Schönheit. Die glänzende 15
Oberfläche des Fotos war zerknittert, weil das Mädchen es anscheinend ständig bei sich getragen und oft angeschaut hatte. »Ist er es, oder ist er es nicht?«, fragte Sistran. »Ja«, kam die patzige Antwort von Bruce Darkness, »er ist es, Tom Dellman.« »Wie schön, wenn man einen verständigen Mitarbeiter hat.« Dieses Arschloch nannte ihn Mitarbeiter? Für Bruce war es damit sicher, dass er Sistran umhauen würde. Aber nicht jetzt... »Und die Schlampe auf dem Bild«, fuhr der Halbdämon unterdessen fort, »ist dieses Fleischstück hier! Richtig?« »Richtig.« »Also kennt sie ihn.« »Habe ich nie bestritten.« »Also macht sie einfach ihr dämliches Maul nicht auf, weil sie ihn decken will.« »Das ist nur eine Vermutung«, wiegelte Bruce ab. »Hast du eine bessere?« Mit Mühe konnte Alec Sistran sein wütendes Gebrüll in ein leiseres Fauchen und Schnauben umwandeln. Er schleuderte sein Opfer mit einer ungeduldigen Bewegung in die Zimmerecke neben der Tür. Dort kauerte sich das Mädchen verzweifelt zusammen. Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht, ihr Rücken zitterte unter dem unterdrückten Schluchzen. Sistran warf ihr einen hasserfüllten Blick zu und deutete in ihre Richtung. »Sie weiß etwas. Sie deckt ihn. Dieses Stück Dreck ist in den Typen verknallt. Sie profitiert von ihm. Hast du den Ring an ihrem Finger gesehen? Die Schlampe fegt irgendeine McDonalds Filiale aus. Meinst du, die zahlen genug Knete, dass sie sich selbst so einen Klunker kaufen kann? Den hat ihr Dellman geschenkt, und dieses Arschloch hängt bei der Bruderschaft des Schwertes dick drin. War ich überzeugend? Liebst du mich jetzt?« »Selbst wenn sie ihn noch heute getroffen hat, weiß sie nicht, wo er ist.« »Doch, verdammt noch mal, sie weiß die Treffpunkte. Er wird ihr erzählen, was Sache ist. Sie weiß es, und ich werde es aus ihr rausprügeln.« Plötzlich war die Fratze Alec Sistrans ganz nah. Bruce Darkness konnte sein eigenes Spiegelbild in dem matten Glühen der gelben Augen erkennen. Für einen Moment fiel es ihm schwer, dem Ansturm von Wildheit und Blutdurst zu widerstehen, der wie Ofenhitze von dem Halbdämon ausging. Es schlug wie eine Brandungswelle über ihm zusammen. Das Raubtiergebiss Sistrans zeigte sich im offenen Mund, er röchelte und seine Arme machten flatternde Bewegungen. Dann sprang er vor. Bruce Darkness ließ ihn kommen. Erst im letzten Moment wich der 16
Vampir mit übermenschlicher Schnelligkeit aus. Als Sistran an ihm vorbeigerauscht war, setzte Bruce hinterher und rammte den Halbdämon mit voller Wucht gegen die Wand. »Leg dich nicht mit mir an!«, knurrte der Vampir, während Sistran verzweifelt versuchte, sich zu befreien. Doch schließlich beruhigte sich der Halbdämon. Bruce ließ ihn los. »Es ist Magie«, sagte er dann. Sistran fuhr erneut herum. Er zeigte auf seinen Bizeps und dann auf seine dolchartigen Reißzähne, die größer waren als diejenigen der Vampire, die Sistran jedoch genau wie diese einziehen und verstecken konnte. »Das ist Magie. Und nicht irgendein Scheiß, den du alten Weibern erzählen kannst, Darkness.« »Es ist bemerkenswert, dass du angeblich seit Jahren irgendwelche Fälle löst, ohne zu kapieren, was hier eigentlich abgeht. Was ich versuche, dir zu erklären, ist, dass dieses Mädchen nicht weiß, was wir von ihr wissen wollen, selbst wenn sie sich noch vor fünf Minuten mit Dellman gepaart hätte. Es gibt etwas - oder jemanden - der die Bruderschaft des Schwertes deckt. Nenn es, wie du es willst. Für mich ist die Bezeichnung >Magischer Nebel< in Ordnung.« Sistran warf einen Blick auf das Mädchen, setzte sich auf einen Stuhl und spielte mit dem Foto. »Magischer Nebel, was? Keine nebulöse Magie, sondern magischer Nebel. Was, zum Teufel, habe ich mir darunter vorzustellen, außer, dass du nicht richtig hingucken kannst.« »Ich werde dein Leben durch eine Anekdote aus meinem Dasein bereichern, Sistran. Gestern, als wir uns getrennt hatten und du es für notwendig befunden hast, diese drei Teenies an die Wand zu nageln, habe auch ich mich umgeschaut. Ich wusste, dass die Bruderschaft des Schwertes in West-Brooklyn ein Haus hatte und wollte ...« »Hübsch zu hören, davon hast du mir gegenüber aber nichts erwähnt.« »Halts Maul, du verdirbst die Geschichte. Ich fahre also hin, eine ziemliche Scheiß-Gegend. Ich frage einen Typen, der gerade aus einem Haus gekommen ist, nach der Werkstatt von Simon und Benchley. Das war nämlich die Deckadresse der Bruderschaft des Schwertes und da haben sie letztens auch ihre geklauten Trucks mit Rammstangen versehen. Der Typ glotzt mich also an, kratzt sich am Kopf, überlegt. Er hat keine Ahnung und zieht grummelnd ab. Und ich gehe ein Stück weiter und was sehen meine hübschen Augen? An dem Haus, aus dem der Kerl gekommen war, hängt das Schild von Simon und Benchley. Natürlich waren die Kerle alle ausgeflogen, aber darum gehts ja jetzt nicht.« »Der Typ hat dich verarscht.« »Hat er nicht. Das hätte ich gemerkt. Nein, 17
er wusste es wirklich nicht. Er hätte seinen eigenen Namen nicht gewusst, wenn mir das irgendwie geholfen hätte, die Bruderschaft-Leute zu finden. Und genau das, wertes Publikum, meine ich mit magischem Nebel. Ich bin tagelang an einem miesen Haus vorbeigefahren, ohne es zu bemerken. Und das ist was anderes, als wenn du deine Socken suchst oder so.« »Na schön, Klugscheißer, und was lernt uns das?« »Wir haben ein Problem.« Bruce Darkness trat ans Fenster. Seine Finger trommelten einen unruhigen Rhythmus gegen das Glas. Plötzlich wandte er sich an Sistran, der ihn in der Zwischenzeit unverwandt fixiert hatte. »Was ist mit deinen Leuten?« »Lass meine Familie aus dem Spiel!« »Ich meine nicht deine reizende Familie. Ich rede von dem übrigen Höllengesocks, dass in New York rumschwirrt.« »Was ist damit? Du tust so, als seien das Massen. Dabei sind es gerade mal fünfzig Dämonen auf acht Millionen Sterbliche.« »Aber von den Fünfzig sind nicht unbedingt alle auf unserer Seite?« »Keiner ist auf der Seite der Vampire. Meinst du, ihr wäret besonders liebenswert?« »Was mich angeht, bin ich mir absolut sicher. Du meinst, ich bin es nicht?« Bruce Darkness klappte zusammen und legte leidend seine Handfläche an die Stirn. Dann grinste er Alec Sistran wieder an. »Machen wir mal eine logische Reihung. Deine Leute sind nicht unbedingt für uns. Deine Leute machen ihr eigenes Ding, das ist uns ja nicht verborgen geblieben. Also ist es für sie ganz praktisch, wenn einer den Baron und sein Volk auslöschen will. Also machen sie mit.« »Einige der besten Vampirjäger waren Dämonen«, antwortete Sistran mit unverhohlenem Stolz. »Mir brauchst du darüber nichts zu erzählen. Worauf ich hinaus will: Einer von euch könnte bei der Bruderschaft des Schwertes mitmachen.« »So wie die Jungs angeblich abräumen, kann ich mir das gut vorstellen.« »Schön, dann wissen wir, was wir zu tun haben.« In seiner völligen Verblüffung wandelte sich das Gesicht Sistrans jetzt und bot den Anblick eines feisten, wohlwollend wirkenden Endvierzigers. Diese seriöse Seite seines Wesens war es wohl auch, die Alec Sistran zu einem erfolgreichen Ermittler gemacht hatte. »Kannst du deine Leute erkennen, Sistran?« Der zuckte die Schultern. »Die meisten.« »Okay, wir schnappen uns einen davon, der zumindest die Chance bietet, dass er mit der Bruderschaft des Schwertes in Kontakt steht und quetschen ihn aus. Du wirst ja wohl wissen, wo hier Dämonen abhängen. Vielleicht wirkt der magische Nebel nur auf Sterbliche.« 18
Bruce Darkness verließ zuerst den Raum, den sie als eine Art von Unterschlupf gemietet hatten. Hinter ihm kam Sistran. Er überlegte, schaute dann auf das Mädchen und beugte sich zu ihr herunter. Sein Gesicht wandelte sich übergangslos in eine Fratze wilder Gier. Dann stürzte er sich auf sein Opfer... Bruce Darkness wartete neben seiner Harley. Im matten Schein der Straßenlampe sah er den bulligen Sistran in seinem billigen, schlecht sitzenden Anzug herauskommen. Sein Gesicht strahlte Zufriedenheit und bürgerliche Biederkeit aus. Bruce steuerte seine Harley hinter dem Firebird Sistrans her. Sein »Partner« ließ den Ellenbogen aus dem Fenster hängen und fuhr zwischendurch so langsam, dass es Bruce schwer fiel, mit seinem Zweirad nicht zu kippen. Natürlich musste das so sein, weil Sistran die Leute auf dem Gehsteig beobachtete. Aber Bruce entging nicht das im Rückspiegel sichtbare hämische Grinsen Sistrans, in dem er die schlenkernden Gleichgewichtsprobleme des Vampirs wie eine Motorshow genoss. Wie sucht man etwas, das unsichtbar ist? Man hält sich an die sichtbaren Zeichen, die das Unsichtbare hinterläßt. Wo wagten es die Reste der Konkurrenzgangs wieder, die Nase auf die Straße zu stecken? Wo verkauften welche Typen welchen Stoff aus welcher Quelle an welche Kunden? Wo waren welche Gangmarkierungen an die Wände gesprüht, ohne dass sofort ein Krieg ausbrach? Da war diese Kirche. Für den Vampir Bruce Darkness war darüber nicht viel zu sagen. Sollten sich die Sterblichen in ihr himmlisches Reich beten, so lange sie die Vampire nur in Ruhe ließen. Aber er hatte inzwischen herausgefunden, dass sich Gerald Uncle öfter in diesem Gotteshaus aufgehalten hatte. Wenn er so weit in seinen Überlegungen gekommen war, dann konnte sich Bruce Darkness auch vorstellen, dass weitere Mitglieder der Bruderschaft des Schwertes in den Mauern just dieses Gotteshauses nach geistlichem Beistand suchten. Also lungerten Bruce und Sistran mit Blick auf die Kirche herum und warteten, dass sich etwas tat. Was nicht geschah ... Einige Wagen röhrten vorbei, es gab sogar einige Gruppen von Fußgängern. Ansonsten wirkte diese Gegend auf seltsame Weise menschenleer. Also wirklich, sagte sich Bruce Darkness und grinste boshaft, in diesem Viertel könnte man als Vampir doch glatt verhungern. Was machte Sistran? Eingeschlafen, dieser Sack! Warum auch nicht? Kam sowieso nichts bei rum bei dieser Warterei. »Irgendwas passiert«, hörte er plötzlich Sistrans Stimme. Verdutzt schaute 19
er zum Wagen. Sistran lag in unveränderter Position, sein Arm hing aus dem Fenster, seine Augen waren geschlossen. »Siehst du was, Darkness?« Bruce suchte sorgfältig die heruntergekommene Straße ab. Er sah Müllberge, fahrbare Autowracks, kaputte Hydranten, die schäbige Kirche
... Und dann erkannte er eine Bewegung. Es waren Fußgänger, die sich trotz der Dunkelheit in der Deckung der Hauswände bewegten und darauf achteten, nicht in den Lichtkreis der wenigen Lampen zu geraten, die ihr schimmliges Licht auf den eigenen Mast warfen. Die Tatsache, dass beide schwarz gekleidet waren, machte das Beobachten auch nicht leichter. Nur bei dem einen schimmerte etwas Weißes. Bruce erkannte, dass es eine Art von Halstuch war. Die beiden Männer gingen auf die Kirche zu. Bruce Darkness versuchte, sie anhand ihrer Bewegungen, an der Art zu gehen, abzuschätzen. Sie waren nicht betrunken, standen nicht unter Drogen. Trotzdem liefen sie auf eine schwer einschätzbare Weise auch nicht normal. Sie waren fit, sie hatten Schwung, sie waren durchtrainiert und - ja das war es. Sie hatten so eine seltsame Mischung, zugleich vorsichtig wie Indianer auf dem Kriegspfad und rücksichtslos, als wollten sie alles niedertrampeln, was ihnen in den Weg kam. Das mussten sie sein! Bevor Bruce Darkness den Mund aufmachen konnte, um Sistran seine Erkenntnis mitzuteilen, erklang dessen Stimme: »Da ist einer!« »Welcher ist es?« »Warts ab!« Die Beiden hatten das Portal erreicht. Der eine reichte dem ändern einen Gegenstand, dann verschwand er in der Kirche. »Es ist der, der jetzt vor der Kirche steht.« Sistrans Augen waren immer noch geschlossen, aber er hatte den Kopf gehoben und wirkte, als würde er durch seine geschlossenen Lider aufmerksam beobachten. Auf die Idee wäre ich jetzt auch gekommen, sagte sich Bruce Darkness. Dämonen mögen Kirchen ebenso wenig wie der normale Sonntagsschüler. Die Gestalt, die jetzt mit verschränkten Armen vor dem Portal auf und ab ging, war gerade einmal mittelgroß. So weit Bruce es aus der Entfernung und bei den schlechten Lichtverhältnissen erkennen konnte, handelte es sich um einen glatzköpfigen, recht breitschultrigen Weißen, der aber auch afrikanisches Blut in sich hatte. Gut, da war das Zielobjekt, aber dennoch zögerte Bruce Darkness. »Vergiss ihn«, kam als Bestätigung sofort danach die Stimme von Alec 20
Sistran. »Kannst du das ein wenig genauer erklären?« »Wenn ich dir das Stichwort 120 Megatonnen gebe, kannst du damit was anfangen?« »Klingt so wie >Finger weg<.« »Exakt.« »Aber das ist unser Mann«, beharrte Bruce. »Darkness, renne gegen einen Güterzug, gurgele mit Salzsäure und stell dich dann zwei Tage in die Sonne - hinterher wird es dir besser gehen, als wenn du dich mit dem da anlegst.« »Der sieht gar nicht so böse aus. Buffy macht in jeder Folge zwei davon platt.« Sistran stöhnte genervt auf. »Glaubs mir, der Kerl macht dich weg wie nichts.« »Woher weißt du das eigentlich, Sistran?« »Ich kann seine Aura sehen. Sie ist schwarz mit roten Blitzen und gelben Sprenkeln. Soll ich noch mehr sagen?« »Danke, nicht nötig.« Davon verstand Bruce sowieso nichts. Dann drückte der Vampir auf den Anlasser seiner Maschine. Sistran riss verwirrt die Augen auf, als das tiefe Dröhnen des Antriebs erklang. »Sag mal, bist du bescheuert?«, rief er. Bruce ignorierte ihn und fuhr an. Er musste sich noch über seine Taktik klar werden. Taktik? Drauf und durch. Inzwischen war Bruce auch klar, dass Sistran Recht gehabt haben könnte. Möglicherweise war es besser, sich nicht mit diesem Typen anzulegen. Der Vampir schüttelte den Kopf. Blödsinn! Er hatte schon ganz andere Kaliber zusammengefaltet. Zehn Meter hatte er noch, dann kam die Bürgersteigkante, dann das Portal der Kirche und davor der Dämon. Die Harley, bisher unbeleuchtet, blendete auf. Ihre Scheinwerfer schlugen eine blendende Lichtschneise. Der Mann - der Dämon - wurde von der Helligkeit wie von einem Hammer getroffen. Er stand starr, eingehüllt in gleißendes Licht, umgeben von kantigen Schatten, die sich in wirrer Bewegung befanden. »Was zum ...?« Das Gesicht des Dämons verzerrte sich, in seine Augen trat ein giftgrüner Schimmer. Er versuchte, sich abzuducken, die Arme zur Abwehr hochzureißen. Nicht schlecht gedacht. Aber zu spät! Der Vampir knüppelte den nächsten Gang ins Getriebe. Das Vorderrad ging hoch, übersprang die Bordsteinkante. Der Fahrer stellte sich im Sattel auf, das Hinterrad knallte auf die Kante -und die schwere Maschine hob ab wie ein Flugzeug. 21
In der Mitte des Gehsteigs setzte das Hinterrad wieder auf, die Maschine fiel krachend in die Federn, raste in Schräglage weiter und erwischte den Dämon mit dem Vorderrad. Der Aufprall war brutal. Der Widerstand hatte kein richtiges Verhältnis zu der scheinbaren Größe des Opfers. Es sah aus wie ein Mensch und es fühlte sich an wie ein ganzes Gebirge. Bruce wurde nach vorne geschleudert. Doch damit hatte er gerechnet, und so konnte er das Schlimmste abwenden. Als er mehr oder minder elegant durch die Luft segelte, rollte er sich zu einem Ball zusammen. Dann überschlug er sich ein paar Mal auf dem Boden, und schon stand er wieder auf den Füßen. Die Schürfwunden und Prellungen waren schon fast wieder verheilt, als er sich das Ergebnis seines Stunts ansah. Der Dämon hatte dieser Wucht von hochbeschleunigtem Chrom und Stahl nichts entgegensetzen können. Brüllend war er von der Maschine nach hinten getrieben worden, hatte den Boden unter den Füßen verloren. Er prallte mitsamt der Harley gegen die Kirchentür, die durch die Wucht aus der Verankerung gerissen wurde. Krachend, eingehüllt in eine Wolke aus Holzsplittern und Mörtelstaub, stürzten sie in das Kirchenschiff. Der hohe, dunkle Raum verstärkte den Lärm zu einem apokalyptischen Dröhnen. Bruce rannte hinterher. Der Dämon lag auf dem Rücken unter dem schweren Motorrad. Seine Arme waren zum Himmel gerichtet, seine Hände wurden zu Krallen, aus seinem Maul kam das Gebrüll wilder Tiere. Seine Augen glühten, als wäre in seinem Kopf eine Quelle besonders gefährlicher radioaktiver Strahlung. Es dauerte zwei, drei Sekunden, bis Bruce Darkness den Dämon erreicht hatte. Der hatte die Harley wie ein Kinderfahrrad zur Seite gestoßen und richtete sich gerade auf. Bruce stieß sich ab und sprang mit beiden Füßen voran auf seinen Gegner zu. Er traf ihn genau vor die Brust. Wieder wurde der Dämon umgeworfen und rutschte auf dem Rücken liegend noch weiter in die Kirche hinein. Bruce packte seine noch immer knatternde Maschine, richtete sie auf und saß auf. Dann gab er Gas und überrollte den Dämon, noch bevor dieser sich wieder erholt hatte. Die Maschine bockte, das Hinterrad walzte über ein brüllendes Maul, dann beschleunigte die Harley in Richtung Altar. Bruce bremste. Die Reifen quietschten, rutschten auf dem glatten, von Tausenden Füßen polierten Kachelboden. Bruce warf sich zur Seite, um die Maschine zu stabilisieren. Vergeblich, sie kippte um und rutschte krachend in die Kirchenbänke. Vier, fünf 22
Bankreihen wurden übereinander geworfen. Der Vampir richtete die Maschine wieder auf. Auch der Dämon kam hoch, stand breitbeinig, während er sich noch mit einem Arm in einer geradezu gymnastischen Stellung auf dem Boden abstützte. Er wirkte eher wütend als verletzt. Harter Brocken, dachte Bruce, als das Hinterrad der Harley aufheulte und auf dem glatten Boden durchdrehte. Ungeduldig gab ihr Bruce mit den Beinen einen Vorwärtsstoß. Endlich. Das Rad gewann Haftung. Mit Urgewalt katapultierte der Motor das Zweirad vorwärts. Der Dämon wollte zur Seite hechten, da war der Gegner schon da, fuhr ihn in Grund und Boden, rammte ihn mit Stahlgewicht, warf ihn nach vorne, überrollte ihn. »Wohl nicht schnell genug?«, höhnte Bruce. Wieder bremste er und warf zugleich die Maschine herum. Die großen Glasfenster klirrten unter dem Gebrüll des Dämons. Trotz der schweren Treffer, schien er nur immer wütender zu werden. Der sieht nicht aus, als würde ihm das wirklich weh tun, dachte Bruce. Wieder brüllte der Dämon seine Wut heraus. Und im Gegensatz zu mir scheint er auch keinen Spaß dabei zu haben. Der Vampir grinste. Noch einmal erwischte Bruce seinen Gegner. Diesmal bremste er im letzten Moment ab, stellte die Maschine quer und nutzte sie wie einen Schlagstock, der frontal gegen den Dämon prallte und ihn den Mittelgang entlang schleuderte. Dämonen-Flipper!, dachte Bruce, als sein Gegner auf den Altar zu geschleudert wurde. Der Dämon sprang hoch, legte wie geblendet die Arme vor die Augen. Heulend taumelte er umher, pflügte wie ein Eisbrecher durch die Bankreihen und konnte endlich aus der Kirche fliehen. Als der Priester und sein Beichtkind aus der Sakristei stürzten, konnten sie nur noch Auspuffgase riechen und auf ein Trümmerfeld aus demolierten Bänken starren. Der junge Mann, der gerade dabei war, sein Gewissen im Beichtstuhl zu erleichtern, drehte sich dem Priester zu und sah ihn fragend an. Doch der Gottesmann konnte nur ratlos mit den Schultern zucken. Ohne es zu ahnen, hatte Bruce Darkness einen entscheidenden Vorteil gewonnen. Irgendetwas in dem Dämon war beim Anblick des Altars zerbrochen, hatte seinen Widerstandswillen geschwächt und ihn in die Flucht getrieben. Vielleicht hatte er nichts von seiner körperlichen Kraft verloren. Aber der Antrieb dieser Kraft fehlte. Und so rannte das Wesen, das ein Mitglied aus dem Volk war, dem sich Alec Sistran zugehörig fühlte, 23
wie von allen Teufeln gehetzt die Straße entlang. Bruce donnerte mit seiner Harley hinterher, und auch Sistrans Firebird fuhr mit quietschenden Reifen an. Das würde einfach werden, dachte der Vampir. Aus einem Variete weiter vorn strömten Gäste. Bruce fluchte, als er den Dämon in dem Gedränge aus den Augen verlor. Als der Menschenauflauf sich verlaufen hatte, war er verschwunden. Bruce stoppte und sah sich um. Frauen, die sich mit einem Minimum an Kleidung am Straßenrand aufreihten. Männer, alleine oder in Gruppen, die langsam schlenderten, taxierten und mit den Frauen verhandelten. Links war ein Hotel, rechts kündete eine Leuchtreklame von Madame LaReve 's Club. Vor der Tür standen einige Männer und schauten in den Eingang. »Also, der Kerl hatte wohl zehn Jahre Einzelhaft hinter sich, so wie der hier reinrannte«, hörte Bruce. »Hast du gesehen, der hatte Schwielen in der rechten Hand«, sagte ein anderer. Dann lachte die Stimme dreckig. Der Vorraum war in Rot gehalten und bemühte sich, in seiner plüschigen Pracht alle Jungenträume von derartigen Etablissements zu erfüllen. Ein erstickender Geruch nach verschiedenen Parfüms in unpassender Mischung lag in der Luft. »Mein Kumpel ist hier eben schon reingelaufen ...« sagte Bruce zu der übermäßig geschminkten Matrone, die neben dem Eingang thronte. »Allerdings«, kam es spitz zurück. »Und ich bin schon dabei, die Polizei zu rufen. Ein solches Benehmem werde ich hier nicht dulden.« »Warten Sie!« Bruce neigte sich verschwörerisch der weiß gepuderten Wange der Dame zu. »Mein Kumpel ist harmlos. Aber wenn jetzt die Polizei auftaucht, dann wird er bestimmt etwas gereizt und das könnte der Innenausstattung und der allgemeinen Geschäftslage schwer schaden.« »Fünf Minuten, dann geht der Anruf raus. Er ist die Treppe hoch. Mein Verwalter ist auch eben hinter ihm her.« Der Verwalter lag oben auf dem Flur, einige Schritte neben der Treppe zumindest der größte Teil von ihm. Es lag eine seltsame Stille über dem Flur. Alles musste sich so schnell und lautlos abgespielt haben, dass keiner der Sterblichen das Geschehen bemerkt hatte. Irgendwo war der Dämon, lauerte, versteckte sich und wartete, dass seine Kräfte zurückkehrten. Die Art und Weise, in der er den Disput mit dem Verwalter geführt hatte, zeigte, daß auch seine schwachen Kräfte schon mehr als gefährlich waren. Ohne lange zu überlegen, öffnete Bruce die erste Tür. 24
»Hallo! Ich bin hier im Auftrag der Stiftung für Ethik und Moral ... « Auf dem Bett befand sich ein seltsam spinnenartiges Wesen in zuckender Bewegung. Der Vampir brauchte einige Sekunden, um zu sortieren, zu wem das Bein gehörte und wie viele Arme im Spiel waren. Das war anscheinend eine Kama-Sutra-Stellung für Fortgeschrittene. Sah nicht aus, als ob es gut für die Bandscheiben wäre. Bruce legte den Kopf schief und betrachtete das ganze genauer. Dann erinnerte er sich an seine Aufgabe. »Na gut, dann komme ich später noch mal.« Er schloss die Tür. Im nächsten Raum ging es rustikaler zur Sache. Die Frau vergaß vor Schreck das Stöhnen, als Bruce die Tür öffnete und ihr direkt ins Gesicht schaute. »'n Abend, hatten Sie das Taxi gerufen?« Nein, hatten sie nicht, der Dämon war auch nicht hier. Das wollte der Kerl ihm wohl mit seinem gekeuchten »Raus hier!« sagen. »Ja, dann möchte ich doch nicht weiter stören.« Der nächste Raum war leer. Aber dann ... Das Paar, dass sich hier vergnügt hatte, war über den ganzen Raum verteilt. Es war kein schöner Anblick. Die beiden Flügel des einzigen Fensters standen weit offen. Bruce brauchte nur vier Schritte, um auf dem Fensterbrett zu stehen. Unter ihm war ein schmaler Lichthof, der durch einen Gang zwischen zwei Brandmauern verlassen werden konnte. Der Lichtschein aus den Fenstern erleuchtete den Hof kaum. Bruce sprang. Rasend schnell kam der Boden näher. Der Vampir kam auf, rollte ab und... Der zutretende Fuß zertrümmerte seine Rippen und schleuderte ihn gegen die Wand. Schnaubend wartete der Dämon, oder eher der junge Mann, als der er sich jetzt wieder zeigte, auf die nächste Reaktion seines Verfolgers. Bruce drückte sich mit dem Rücken zur Wand zurück in die Senkrechte. Er schaute den Gegner ruhig an. »He, vorhin hast du mir besser gefallen als mit dieser Visage. Diese kleinen Hörnchen waren echt niedlich, kannst du mir die verkaufen?« Diese Provokation zeigte sofort Wirkung. Durch das Menschengesicht schimmerte die Dämonenfratze. Bevor Bruce auch nur eine Abwehrbewegung machen konnte, war der Dämon bei ihm und schlug ihm die Faust in den Unterleib. Stöhnend sank der Vampir zusammen. Dann trat das Höllenvieh wieder einen Schritt zurück. »Wenn du so weitermachst, werden wir nie Freunde werden«, sagte Bruce, als er sich wieder aufgerichtet hatte. 25
Der Dämon trat nach Bruces Schädel. Der Vampir ruckte zur Seite, und der Fuß donnerte gegen die Wand hinter ihm, dass die Ziegel zerbrachen. »Sag mal, kann es sein, dass du ein bisschen ungeschickt bist?«, höhnte Bruce. Brüllend stürzte sich der Dämon auf den Gegner. Die Wut, die in ihm pulsierte, füllte mit ihrer Hitze den kleinen Hof und machte ihn heiß wie eine Sauna. Die hastige Attacke ging ins Leere. Wieder wich der Vampir aus. Er stellte dem vorbeistolpernden Dämon ein Bein und schickte ihn mit einem Tritt quer über den Hof, wo er mit dem Kopf voran gegen die Wand prallte. Eine Lawine aus schmutzigen Ziegeln prasselte aus der Mauer. Der Dämon schrak zusammen und verlor für einen Augenblick die Orientierung. Bevor er sich wieder fassen konnte, war der Vampir heran, prügelte auf ihn ein, trieb ihn mit seinen Schlägen im Kreis, gönnte ihm keine Sekunde Ruhe. Doch diese Phase dauerte nicht lange. Dann kamen die Abwehr, die Gegenreaktion, die Schläge und Tritte. Und es zeigte sich, dass der Dämon zwar angeschlagen, aber noch lange nicht besiegt war. Der Vampir wurde hart getroffen, fiel zu Boden, stieß sich wieder hoch und taumelte rückwärts durch den Hof, während seine Knochen unter den gnadenlosen Hieben krachten. Eine Mauer wurde seine letzte Stütze, er stützte sich gegen das rissige Mauerwerk und erwartete den letzten Schlag, bevor ihm der Dämon den Kopf von den Schultern riss. Und dieser Schlag einer Krallenhand kam, abgeschickt mit aller dämonischen Kraft und von einem wilden Aufheulen des Triumphes begleitet. Er sollte den Kopf des Vampirs abreißen und ihn durch die Wand treiben. Eine leichte Bewegung, ausgeführt im letzten Bruchteil der letzten Sekunde reichte aus. Die Faust schoss am Kopf des Vampirs vorbei, eine Kralle ritzte noch sein Ohr, dann schmetterte sie durch die Wand, und der Arm des Dämons versank bis zur Schulter zwischen zermalmten Ziegeln und Mörtel. Im nächsten Moment schlüpfte der Vampir an seinem Gegner vorbei, kam hinter ihn und drehte ihm den freien Arm auf den Rücken. Der Dämon brüllte auf, versuchte, den in der Wand gefangenen Arm zu befreien, aber Bruce warf sich immer wieder mit aller Gewalt gegen ihn und trieb seinen Schädel gegen die Mauer. »Kennst du die Geschichte von dem Mann, der immer zu spät kam?«, rief Bruce, als sich Alec Sistran durch den schmalen Gang schob. * »Halten diese Fesseln?«, erkundigte sich Bruce Darkness misstrauisch, als 26
sie mit Sistrans Firebird auf dem Weg zu einer ruhigen Stelle an den Docks waren. »Keine Angst, die halten. Damit fessele ich seit Jahrzehnten Typen wie diesen und schlimmere.« »Ah ja ... Keine Angst vor Materialermüdung?« Sistran gab keine Antwort und Bruce legte auch keinen Wert auf eine Unterhaltung. Er steckte den Kopf in den Fahrtwind. Die Hitze des Dämons, der recht lieblos auf den Notsitzen untergebracht war, war kaum auszuhalten. Der Vampir fand das nachfolgende Verhör unerträglicher als die Schmerzen des Kampfes. Alec Sistran nahm die Sache in die Hand. Er schleifte den Dämon in die Werkstatt, hängte ihn mittels einer elektrischen Laufkatze an die Decke, dass er baumelte wie ein Sack und begann. Am Anfang hätte die Szene aus einem alten Kriminalfilm stammen können, dachte Bruce. Zwei Angehörige rivalisierender Mafiafamilien unterhalten sich auf die gröbere Art. Sistran ließ sein Opfer ein wenig pendeln, schlug ihm in die Magengrube, hängte sich ein wenig an ihn, um die Arm- und Schultergelenke zu testen. Das Ergebnis war dürftig. Außer einem mehrfach wiederholtem »Leck mich!« bekam Sistran keine Informationen. Er wurde im Gegenteil verhöhnt, als halbe Portion verspottet und bespuckt. Langsam begann Alec Sistran, sich zu wandeln. Er zeigte immer noch das wohlwollende Gesicht des biederen Bürgers, aber in seinen Augen flackerte der erste matte, gelbeSchein. Genüsslich suchten seine Finger an der Werkbank nach einem passenden Werkzeug und entschieden sich für eine kleine Kneifzange ... Bruce war beeindruckt, wie lange der Dämon durchhielt, bevor er die gewünschten Informationen preisgab. Dabei schien er nicht einmal über Selbstheilungskräfte zu verfügen. Der Dämon war durch die Folter geschwächt. Als Sistran ihn herabließ, sank er reglos zu Boden. »Er war noch voller Energie. Und Energie darf in diesem Universum nicht verschwendet werden«, erklärte ein bestens gelaunter Sistran und stürzte sich mit aufgerissenem Maul auf sein Opfer ... * Detective Tom Uncle war dabei, sein gesamtes Weltbild neu zu formen. Er musste sich nicht einmal den Vorwurf machen, etwas verdrängt oder die Augen vor offensichtlichen Tatsachen verschlossen zu haben. Dennoch 27
brauchte es nur eine kleine Änderung der Sichtweise, um alles in einem neuen - und düsterem Licht - erscheinen zu lassen. Plötzlich bekamen die Fakten eine neue Bewertung, änderten sich Kleinigkeiten, verschoben sich die Gewichte und Urteile um eine Winzigkeit und dann befand man sich auf einem anderen Planeten, der nur gewisse äußere Merkmale mit dem bisher bekannten Wohnort im All gemeinsam hatte. Es war sein Sohn Gerald gewesen, der seinem Vater diesen Anstoß vermittelte. Gerald, der die Bruderschaft des Schwertes anführte, der dabei gewesen war, den entscheidenden Schlag gegen den Herrn des Imperiums der Finsternis - wie er es genannt hatte - zu führen und der starb, bevor er diesen letzten Schwertstreich erfolgreich ins Ziel bringen konnte. Gerald starb in den Armen seines Vaters. Es war ein trauriges und doch bittersüßes Wiederfinden zweier Menschen, die erst dann, als es zu spät war, erkannten, wie nahe sie sich eigentlich waren. Gerald gab seinem Vater einen Zettel, auf dem er die Namen der wichtigsten Personen des dunklen Imperiums notiert hatte. Und er nahm ihm das Versprechen ab, den Kampf weiterzuführen ... Tom Uncle hütete den Zettel wie seinen Augapfel, behandelte ihn wie eine Reliquie, musste aber dennoch erkennen, dass der Informationswert gering war und ihm die Namen zu wenig sagten. Nacht für Nacht saß er, wenn er wieder keinen Schlaf finden konnte, in der Küche und lauschte auf die Geräusche der Stadt. Vor ihm lag der Zettel, ein zerknittertes Stück Papier, besprenkelt mit dunklen Flecken, die vom Blut seines ältesten Sohnes kamen und beschrieben mit einer Schrift, die er durchaus als die Schrift Geralds, des Sorgenkindes erkannte. Die aber dennoch wiederum so anders war, dass er verstand, welchen weiten Weg auch Gerald gehen musste, wie sehr er sich veränderte, bis er sein Ende in irgendeinem Kanalisationsschacht fand. Tom Uncle presste die Finger gegen die Stirn. Er hatte in den letzten Wochen zugenommen, und er begann, sich zu vernachlässigen. Seine Kollegen stellten verwundert fest, dass er seine Umgänglichkeit verloren hatte, dass er härter wurde, kürzer angebunden war, knapper in der Rede und schneller in den Entscheidungen. Er bemerkte das Erstaunen in ihren Augen, aber es war ihm egal, weil sie ihm egal waren. Um ihn bildete sich eine unsichtbare Kältezone, die andere Menschen abschreckte. Seine Frau bemühte sich, ihn zu verstehen. Aber wie sollte sie einen Mann verstehen, der nicht redete und nicht antwortete und die Wunden seiner Seele so eifersüchtig hütete wie ein Drache einen Baum mit goldenen Äpfeln hüten mochte, an denen kein Mensch einen Anteil haben sollte. Benni, der jüngere Sohn, zog sich instinktiv vom Vater zurück. So glitt Tom Uncle in eine eisige Einsamkeit hinein, saß auf seinem neuen 28
Wissen wie auf einer treibenden Scholle im Meer und grübelte. Er konnte niemandem von Geralds Tod erzählen. Seiner Frau nicht, Benni nicht, niemandem. Ebensowenig konnte er ihr davon erzählen, was er über das finstere Imperium der Vampire wusste. Es gab niemanden, der den Weg mit ihm gemeinsam gehen konnte. Er war unendlich allein und verstand, dass schon diese Einsamkeit ein Fluch war, den die wahren Herrscher über die Wissenden legen, die Strafe des Imperiums für die Sterblichen, die der Wahrheit zu nahe kommen. Dann überkam ihn eines Nachts die wirkliche Erkenntnis. Er war so gut wie tot - und das war völlig nebensächlich. Lebendig oder nicht, was machte das schon für einen Unterschied. Sich im Mahlwerk des Alltags klein reiben zu lassen oder ins Nichts abzugleiten oder seinetwegen auch auf einer Wolke Harfe spielen. Für Tom Uncle schwanden die Unterschiede. Vor allem Eines wurde ihm deutlich: Er konnte nicht so leben wie bisher, den jetzt wusste er die Wahrheit. Und diese Wahrheit ließ nur eine Schlussfolgerung zu - kämpfe gegen das Imperium bis zum Letzten oder stürze dich gleich jetzt aus dem Fenster, eine Alternative hast du nicht. Tom Uncle schleppte genügend Übergewicht, Magengeschwüre, verstopfte Blutadern, verengte Bronchien und verschlissene Kniegelenke in seinem irdischen Leib mit sich herum, um sofort und ohne Nachfrage eine krankheitsbedingte Dienstfreistellung zu bekommen. »Warum sind Sie nicht schon viel früher gekommen«, hatte der Arzt, der den Krankenschein ausstellte, gefragt. Uncle mühte sich mit seinen Hosenträgern ab. »Ist mir früher gar nicht so bewusst geworden, was für ein alter Sack ich bin«, hatte er geantwortet. »Früher waren wir alle ja auch keine alten Säcke, sondern junge Trottel«, gab der Arzt schmunzelnd zurück. Dieser Tom Uncle war schon richtig. Und dieser Tom Uncle begann zu wühlen. Er stieß auf Unterlagen, die das seltsame Schicksal seines Ex-Kollegen Rob Killroy belegten. Er fand Namen, wie Morris Fletcher und John Legrand, die aus New Orleans gekommen waren, um - Vampire zu jagen und die ganz offensichtlich durch eben diese Vampire den Tod fanden. Jede seiner Entdeckungen nahm ihm den Atem, ließ ihn den Boden unter den Füßen verlieren und machte ihn auf der anderen Seite zugleich klüger, zorniger und geschickter. Schließlich machte sich Tom Uncle auf, um sozusagen zu Übungszwecken einige dieser Blutsauger in die Hölle zu schicken. Er musste seine Ausrüstung etwas verbessern, aber das war auch alles. Es war so simpel wie das Schießen auf Goldfische in einer Regentonne. Tom Uncle war ein Naturtalent. Jetzt war er so weit, dass er das Versprechen an Gerald einlösen konnte. 29
Er konnte die Nummer eins ins Visier nehmen, den Baron von Kradoc. Aber er durfte auch nichts übereilen, der Pfahl musste mitten ins Herz gehen, und darum zügelte Tom Uncle seine Ungeduld und legte sich auf die Lauer. Sie waren so unglaublich selbstbewusst. Sie waren sich ihrer Sache auf eine beinahe unverschämte Weise sicher. Sie glaubten tatsächlich, dass sich ihrer Herrschaft nichts entgegenstellen könnte. Und dadurch schaufelten sie sich ihr eigenes Grab ... Peter Gieves zuckte zusammen, als Tom Uncle seinen Laden für Elektronikbauteile betrat. Es war eher ein Verlies als ein Laden, eine Rumpelkammer voller Transistoren, Dioden, Messinstrumente. Gieves war früher in der Air Force ein anerkannter Spezialist gewesen. Dann gab es eine unklare Affäre um gestohlene Steuerelemente für Marschflugkörper und nachgebaute ultrageheime Chips, und der militärische Geheimdienst begann, sich für Major Gieves zu interessieren, der nicht nur maßgeschneiderte Uniformen hatte, sondern auch einen roten Porsche und eine Shelby-Cobra und einige Freundinnen, die ebenso teuer im Unterhalt waren wie seine Sportwagen. Der Abstieg des Peter Gieves war so phänomenal wie die Beschleunigung seines Porsche Turbo und wurde nur dadurch abgedämpft, dass die ganze Sache auch einer Reihe von anderen Leuten höchst peinlich war, sodass Gieves unehrenhaft entlassen wurde, ansonsten aber um juristische Konsequenzen herumkam. So baute er sich diesen kleinen Laden auf, der so eine Art Geheimtipp wurde. Auch deshalb, weil hier Geräte über den Ladentisch gingen, mit denen man die Pizzabestellungen über Polizeifunk abhören konnte, um nur eines zu nennen. Zu viel Alkohol und zu viele billige Nutten hatten Gieves frühzeitig altern lassen. Dennoch hatte er sich einen Rest an militärischer Haltung und Stil bewahrt. »Welche Freude, Detective Uncle, was führt Sie in meinen Laden? Brauchen Sie eine elektronische Rattenfalle?« Uncle ließ einen in Zeitungspapier eingewickelten Packen auf die Theke knallen. Eine kleine Staubwolke stieg auf. »Geschäfte«, sagte er. »Soll ich Ihre Autobiografie verlegen? Oder schreiben Sie jetzt schmutzige kleine Romane, Detective?« »Schau es dir an, Gieves!« Zögernd nahm Gieves den Packen und wickelte ihn aus dem Umschlag. Er war blass geworden. Es gab genügend Gründe, ein sehr schlechtes Gewissen zu haben. 30
Gieves schaute sich die Papiere an und blies die Backen auf. »Das sind polizeiliche Unterlagen ... « »Brillant, Gieves, du hast es sofort erkannt.« »Was wollen Sie damit?« »Wie ich schon sagte, Geschäfte machen.« »Welche Geschäfte?« »Es wird gesagt, du hättest auch ein kleines, aber gut ausgestattetes Tonstudio.« »Wollen Sie eine CD mit Gospeln aufnehmen lassen, da kann ich ... « »Halts Maul, Gieves!« Uncle griff in die Tasche und holte eine Audiokassette hervor. »Du sollst mir hieraus einen Text schneidern. Ich sage dir, wie er lauten soll.« »Und was springt für mich dabei rum?« »Du kriegst diese Unterlagen, die dich für den Rest des Lebens in den Knast bringen können. Und wenn die Sache mit den Irakis stimmt, dann wirst du von den flotten Jungs von der NSA perforiert. Und zwar hier.« Uncle tippte sich an die Schläfe. »Sie wissen, dass Sie damit erpressbar werden - durch mich!«, erinnerte ihn Gieves. »Ist mir schon klar.« »Was wäre, wenn ich bei den Bullen anrufe und sage, Onkel Tom hat Unterlagen geklaut. Dann wären Sie dran.« »Dir würde sowieso keiner glauben, Gieves.« »Gehen wir zu Fuß zu meinem Studio oder spendieren Sie ein Taxi, Detective?« * Die Werkstatt an den Docks war dunkel. Fluchend stieg Alec Sistran aus dem Wagen, schloß auf und schob das Tor hoch. Er würde diesen Bruce Darkness an die Wand nageln. Der bestellte ihn hierhin, brachte ihn durch seinen Anruf um einen gelungenen Abends und war nicht mal da! Was fiel diesem Kerl ein, ihn wie einen niederen Angestellten zu behandeln. »Komm bloß hierhin, du Vampirarsch! Ich gerbe dir das Fell, dass selbst du dich nicht mehr davon erholst«, knurrte Sistran. Ein Scheppern in einer dunklen Ecke der Werkstatt ließ ihn herumfahren. Wenn das ein Trick von diesem Witzbold Darkness sein sollte, dann brauchte der Baron demnächst einen neuen Vize! Langsam und vorsichtig näherte sich Sistran der Stelle. Unter seiner Wut auf Bruce Darkness regte sich plötzlich sein Instinkt und begann ihn zu 31
warnen. Sistran zögerte, stand dann still, gebeugt und lauernd wie ein Boxer, der den Gegner abschätzt. Dann hörte er ein heiseres Flüstern aus der Dunkelheit. Irgendwer verbarg sich dort und sprach zu ihm. Wer wagte es, ein Spiel mit Alec Sistran zu treiben? Aus dem Stand heraus sprang Sistran mit wenigen Sätzen in die Werkstattecke. Seine kräftigen Arme fegten Gasflaschen zur Seite, die scheppernd zur Seite kullerten, riss ein Schweißgerät hervor und warf es nach hinten. Er brüllte vor Wut, als unmittelbar vor ihm wieder die Stimme erklang. Dann entdeckte er einen winzigen Lautsprecher, der auf einem Haufen Putzlappen lag. Sistran nahm den Gegenstand in die Hände, betrachtete verblüfft und etwas hilflos die kurze Drahtantenne. Die Schritte in seinem Rücken registrierte er zwar noch, aber es war zu spät. Als er herumfuhr, berührte ihn ein Stab an der Hüfte. Ein Stromstoß fuhr durch den Körper des Halbdämons Alec Sistran, zwang ihn für einen Moment zu einem zuckenden Veitstanz, bevor er gelähmt zu Boden sackte und starr liegen blieb. Seine Augen sahen mit kindlichem Staunen den Mann an, der nun in seinen Gesichtskreis trat und sich mit einer ungeduldigen Bewegung das Kehlkopfmikrofon vom Hals riss. Der Mann sagte kein Wort, sondern umkreiste, eingehüllt in düsteres Schweigen, den liegenden Sistran. Sistrans Bewusstsein tobte wie ein wild gewordenes Tier in einem Käfig aus schmerzenden Muskeln und Sehnen und von einem inneren Brand zerfressenen Eingeweiden. Langsam beruhigte er sich, drängte den Schmerz zurück. Es tat immer noch weh, aber es störte ihn nicht mehr. Er konnte wieder klar denken. Die Lähmung blieb jedoch. Erst nachdem der Mann viele seiner schweigenden Runden um den liegenden Sistran gedreht hatte, spürte dieser, wie die Kraft langsam wieder in ihn zurückkehrte. Jetzt musste er klug sein und warten. Warten, bis er wieder stark genug war, um diesen fetten, bartstoppeligen Farbigen zu zerfetzen. Es sollte nicht mehr lange dauern ... Sistran kämpfte um Beherrschung, je länger er dort auf dem Boden liegen musste. Schon die Situation, diese Erniedrigung, dieses Ausgeliefertsein an einen stinkenden Sterblichen brachte ihn an den Rand der Raserei. Er wollte nicht länger warten. Sistran sammelte alle Kraft und sprang auf. Er hatte sich vorgenommen, lautlos zu handeln, um den Gegner nicht vorzuwarnen. Als er die neu gewonnene Kraft seiner Muskeln spürte, kam ihm das markerschütternde Brüllen ungewollt über die Lippen. 32
Aber selbst Lautlosigkeit hätte Alec Sistran nicht gerettet. Der Mann bemerkte das aufflackernde gelbe Licht in den Augen des Halbdämons, als würde dort eine Ofentür aufgerissen, und er hob seinen Stab. Ein Lichtbogen warf für eine Sekunde sein bläuliches Licht auf das Innere der Werkstatt. Dort, wo der Stab Sistran berührt hatte, war die Kleidung verbrannt. Der Stoff schmauchte noch um den Rand des Brandloches herum. Darunter war das schwärzlich verkokelte Fleisch erkennbar. Noch während er am Boden lag und von Krämpfen umhergeworfen wurde, sprangen Funken von den abstehenden Kopfhaaren Sistrans. Der Mann betrachtete zufrieden den Stab. »Guter alter Mister Gieves. Was er für feine Spielzeuge baut, finden Sie nicht auch? Wissen Sie was, Sie können sich noch ein wenig erholen und dann unterhalten wir uns, so von Mann zu Blutsauger ... « * Als Bruce Darkness bei der Werkstatt eingetroffen war, hatte er die fast völlig verbrannten, von Wunden bedeckten Überreste Alec Sistrans entdeckt. Die Sache ergab keinen Sinn. Bruce war zu dem Stundenhotel gefahren, in dem sich Sistran als einziger Dauergast für einige Tage einquartiert hatte, weil es ihm zu gefährlich erschien, nach Hause zu gehen. Statt seinen Partner hatte er nur jede Menge Polizeiwagen vorgefunden, und jemand erzählte ihm von einem irren Killer, der in dem Hotel gewütet hatte. Die genauere Beschreibung der aufgefundenen Frauenleiche deutete allerdings stark darauf hin, dass Sistran sich hier Vergnügen und Kalorien gleichzeitig gegönnt hatte. Bruce Darkness war nicht besonders glücklich über das unnötige Aufsehen, das sein Partner erregte, und er mochte es auch nicht, wenn man Verabredungen nicht einhielt. Sistran ist ein Ekel, dachte Bruce Darkness, und selbst nach dem Abgang zurück in die Hölle machte der Kerl noch Ärger. Denn Baron von Kradoc, dem Bruce in diesem Moment gegenübersaß, nahm diese Affäre unerwartet ernst. »Ich hatte dich gebeten, Alec Sistran als deinen Partner zu behandeln, Bruce«, sagte er. »Ich hab ihn nicht angerührt und ich konnte Sistran schlecht anbinden. Er bestand darauf, an wechselnden Orten seine freie Zeit zu verbringen und nahm auf meine Anweisungen wenig Rücksicht.« »Seltsam, mir wurde Alec Sistran als sehr kooperativer Informationsbeschaffer beschrieben.« 33
»Vermutlich hatte er gewisse Probleme mit dem Stil des Vizepräsidenten«, mischte sich Katrina Stein ein. »Vielleicht war die Einschätzung der Person Sistrans ja falsch«, knirschte Bruce mit mühsamer Ruhe. »Kehren wir zurück zu den Fakten«, sagte der Baron. »Angesichts der Bedrohung durch die Bruderschaft des Schwertes solltet ihr immer zusammen auftreten. Das war meine Anweisung. Warum wurde die nicht befolgt?« »Ich hatte mit Sistran einen Zeitpunkt abgemacht, zu dem ich ihn seinem Hotel abholen sollte. Ab dann wären wir zusammen und im Einsatz gewesen. Ich wiederhole, Sistran bestand darauf, alleine zu wohnen. Also holte ich ihn ab. Das heißt, ich wollte es. Er war nicht da, stattdessen wimmelte es von Polizei. Ich suchte Sistran die halbe Nacht, bis ich ihn schließlich an den Docks fand.« »Warum hat er sich nicht an die Abmachung gehalten?«, fragte der Baron. Die Stimmung war plötzlich unangenehm gereizt, und die Stimme des Barons bildete keine Ausnahme. »Ich weiß es nicht.« »Ich fürchte, ich muss hier etwas gerade rücken«, mischte sich Katrina wieder ein. »Alec Sistran hat auf meinen Anrufbeantworter gesprochen und sich beklagt, dass Bruce nicht zu dem vereinbarten Treffen kommen würde.« »Was?« Bruce fuhr in die Höhe und starrte sie an. Irgend etwas hatte er ja wohl nicht mitbekommen. So langsam knallten hier alle durch! »Ich will mir das Band anhören«, beschied der Baron. Katrina zauberte eine kleine Kassette aus ihrer Aktentasche hervor. War ja klar, dachte Bruce, allzeit bereit. Blöde Schlampe! Plötzlich stand er als Versager da, als einer, der seinen Partner ins offene Messer laufen lässt! Die Aufzeichnung des Anrufes war wie ein weiterer Schlag in die Magengrube. Durch das Rauschen einer schlechten Funktelefonverbindung war deutlich die Stimme Sistrans zu hören. »Wo bleibt mein verdammter Partner?« Katrina beeilte sich anhand der Liste einlaufender Gespräche zu belegen, dass der Anruf Stunden vor dem Zeitpunkt einging, an dem Bruce Sistran vom Hotel abholen wollte. »Was hast du dazu zu sagen, Bruce?« »Nichts. Es war so, wie ich gesagt habe. Keine Ahnung, was der schon von mir wollte.« »Nun, für mich scheint das ziemlich klar zu sein. Er wartete auf dich und zwar seit längerer Zeit«, sagte der Baron. Es klang wie ein Todesurteil. 34
Bruce Darkness fuhr sich über die Stirn. Hatte er sich wirklich so getäuscht? Hatte er irgendeine Änderung des Planes verpennt und damit Sistran gefährdet? Nein, da war er sich sicher! Der Baron ließ schweigend seine Blicke auf Bruce ruhen. »Wer hat Sistran getötet?« »Ich weiß es nicht.« »Die Bruderschaft des Schwertes!« »Möglich. Aber das wäre nur eine Option.« »Wie haben sie ihn getötet?«, verlangte der Baron zu wissen. »So wie es aussah, haben sie ihn mit einem Schweißgerät bearbeitet.« »Also gefoltert?« »So sah es aus.« »Also wollten sie Informationen, und es ist wahrscheinlich, dass Sistran sie ihnen gegeben hat.« Statt einer Antwort zuckte Bruce Darkness nur hilflos mit den Schultern. Eine ungeduldige Bewegung des Barons deutete an, dass das Gespräch beendet war. »Katrina, du bleibst bitte noch.« Katrinas triumphierender Blick brannte wie eine Wunde, als Bruce die Türe schloss und auf den Gang trat. Wer hatte dem Baron diesen Trottel Sistran als große Nummer verkauft? Schlimmer noch, er hatte das deutliche Gefühl, dass ihn diese Intrigantin Katrina Stein abservieren wollte ... * Aus dem Hintergrund des Raumes erklang das dünne Schreien eines Säuglings. Nikophorus Pfettner ließ die schwarze Kerze, die er eben in die Hand genommen hatte, wieder fallen und wandte sich mühsam in die Richtung der Störung. »Muss dieses Balg so einen Lärm machen? Wie soll ich mich konzentrieren?« Eine Frauenstimme antwortete mit einem perlenden Lachen. »Einen Moment noch. Soll ich dem süßen Kleinen hier etwa den Hals umdrehen?« »Du sollst es zum Schweigen bringen. Wie ist mir egal.« Mit ungnädigem Brummen nahm Pfettner die Schale, die ihm wenig später die Frau reichte und griff erneut nach der Kerze. Während sich seine Lippen lautlos bewegten, ließ er die wenigen Tropfen Blut aus der Schale auf die Kerze fallen. Befriedigt sah Pfettner, wie das Blut in der Kerze zu verschwinden schien, als würde es vom Wachs aufgesaugt. 35
Die Frau blieb hinter ihm und beobachtete ebenfalls das Geschehen, dann ging sie zurück zu der Wiege und nahm das Kind heraus. Leise redete sie zu dem weinenden Säugling, streichelte ihn und wiegte ihn in ihren Armen. Das Kind beruhigte sich und begann sogar, zufrieden zu lallen. »So, jetzt gehen wir in die Küche und trinken ein schönes Fläschchen«, flüsterte die Frau. Tomasi sah ihr hinterher. Ihr blondes Haar leuchtete in dem dunklen Flur hell, dann bog sie in die Küche ab. Pfettner hatte den Blick bemerkt. »Was ist, Luca?«, spottete er. »Gelüstet es dich nach heilem Familienleben - Frau und Kind und Küche? Oder bist du nur scharf auf das Mädchen?« »Ich suchte eigentlich nur eine Richtung, in die ich blicken konnte, da ich ungern mit geschlossenen Augen dastehe«, antwortete Tomasi säuerlich. Pfettner verzichtete darauf, das Gespräch weiterzuführen. Sein unförmiger, verfetteter Leib wurde durch ein stummes Lachen geschüttelt, sodass sich die Haut in kleinen Wellen bewegte. Pfettner hatte in der letzten Zeit seine Fressorgien unvermindert weitergeführt, sie sogar noch gesteigert. Die Kosten beliefen sich, wie Tomasi ausgerechnet hatte, täglich auf eine vierstellige Summe. Die Kalorienzahl, die Pfettner in sich hineinstopfte, konnte Tomasi nur schwer abschätzen. Wenn er allerdings Pfettner ununterbrochenes, raubtierhaft wütendes und gieriges Schlingen beobachtete, war er sicher, dass es mehrere Zehntausend Kilokalorien am Tag sein mussten. Entsprechend hatte sich auch die monströse Figur Pfettners weiter zu einem menschlichen Albtraum entwickelt. Inzwischen konnte er nur noch unter äußerster Anstrengung mit Hilfe seiner Krücken einige Meter zurücklegen. Jedesmal fürchtete Tomasi um seine Gesundheit, denn Pfettner wurde von wahren Schweißbächen genässt und schnappte keuchend nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Zum Glück verzichtete Pfettner in den letzten Tagen auf derartige Ausflüge, konnte sie vielleicht inzwischen auch schon nicht mehr bewältigen. Er blieb an seinem Platz, ein einziger menschlicher Berg von wabbelndem Fett, fast pyramidenförmig oder wie ein Stehaufmännchen geformt, und ließ sich das Essen auf einem Klapptisch servieren. Heute hatte Pfettner seltsamerweise noch keinen Bissen zu sich genommen. Er war umringt von Kerzen in verschiedenen Farben, Schalen voller bunter Salze, Erde, Ton und Sand. Zwei Holzbalken standen gegen die Wand gelehnt. Sorgfältig nahm sich Pfettner jedes einzelne Teil vor - vielmehr ließ er es sich von Tomasi anreichen, weil er selbst nicht über seinen Bauch zum 36
Boden reichen konnte - und nahm seine stummen Beschwörungen vor. Manchmal bewegten sich nur die Lippen, manchmal nutzte er einen Gong oder eine tibetanische Glocke. Bei anderen Gelegenheiten vollführten seine Arme mühsame Bewegungen und seine wurstförmigen Finger mühten sich in bestimmte Positionen, während Pfettners schnelles Atmen zu einem schrecklich gurgelnden, asthmatischen Röcheln wurde. Danach musste sich Pfettner ausruhen. Tomasi tupfte ihm den Schweiß von der geröteten Stirn, bis Pfettner ihn unwillig zur Seite stieß und nach einem neuen Gegenstand verlangte. »Etwas fehlt noch«, überlegte Pfettner laut und dann, zu Tomasi gewandt: »Fang schon mal an, den ersten Kreis zu ziehen, hier, mit dem grünen Salz!« Als Tomasi einen Kreis aus Salz gezogen hatte, der den größeren Teil des Wohnraumes einschloss, tippte sich Pfettner an die Stirn. »Natürlich, das Messer, die Nägel und der Hammer. Das ich nicht sofort daran dachte! Hole sie mir bitte, Luca.« »Wo finde ich die Sachen?« »In der Mitte.« Tomasi zögerte. Den Raum, den Pfettner stets als die Mitte bezeichnete, hatte er wohlweislich noch nie betreten. Ursprünglich war hier Pfettners Gebetsraum gewesen, in dem er seine widerwärtigen Gotteslästerungen wie eine Litanei herunterhaspelte. Dann lebte dort der Dämon, den Pfettner beschworen hatte, und als dieser aus Gründen, die Tomasi nicht kannte, plötzlich wieder verschwand, zog sich Pfettner aufs Neue dorthin zurück und vollführte einige geheime Rituale. »Geh schon, Luca, ich kann nicht ewig warten!« Warum ließ sich die Tür so schwer öffnen? Tomasi musste sich mit seinem gesamten, wenn auch nicht besonders eindrucksvollen Gewicht gegen die Tür werfen, um sie weit genug zu öffnen. Es lag nicht an der Tür, da war er sich sicher. Irgendetwas in diesem Raum schien wie eine Feder gegen den Eingang zu drücken und den Eintritt verwehren zu wollen. Tomasi tastete nach dem Lichtschalter. Die Lampen gaben nur ein mattes Licht, obwohl es sich um starke Strahler mit hohen Wattzahlen handelte. Es war nicht neblig oder rauchig, doch die Luft saugte förmlich alle Helligkeit auf und ließ nur einen grauen Dämmer übrig. Tomasi fröstelte. Es war kalt in dem Raum, kalt wie in einem Eisfach und sein Atem kondensierte sofort zu einer Wolke. Ein schwer definierbarer Geruch stieg Tomasi in die Nase. Es war eine Mischung aus Gewürzduft, nach verwelkten Blumen, Moos, faulendem Laub. Friedhofsgeruch, dachte Tomasi. Der Geruch stieg ihm zu Kopf wie eine Droge und machte ihn taumelig. 37
War das Nikis Absicht?, fuhr es ihm durch den Kopf. Will er mich als Opfer? Das Gehen fiel ihm schwer. Er musste sich konzentrieren, um einen Fuß vor den nächsten zu setzen. Vielleicht war es auch eine Prüfung. Ja, so war es. Das sähe Niki ähnlich, ihn auf diese Art auf die Probe zu stellen. An der gegenüberliegenden Wand stand als einziger Einrichtungsgegenstand ein kleiner Tisch. Mit Mühe kämpfte sich Tomasi dort hin. Er schwankte und taumelte, musste einige Male um sein Gleichgewicht kämpfen. Auf dem Tisch lagen das Messer, die vier Nägel und der Hammer. Wie schwer diese Dinge waren! Als hätten sie die Größe gewaltiger Maschinen. Trotz der Kälte brach Tomasi der Schweiß aus. Er musste die Sachen noch einmal zurücklegen und für einen Augenblick verschnaufen. Jetzt erst fielen ihm die kleinen Puppen auf, die hinter dem Werkzeug direkt an der Wand lagen. Es handelte sich um primitiv geformte Figuren aus Ton, mit absurd vergrößerten Geschlechtsteilen und winzigen Köpfen. Die Köpfe allerdings waren sehr fein gearbeitet und ließen individuelle Gesichtszüge erkennen. Staunend beugte sich Tomasi über die Puppen - ein junger schwarzhaariger Weißer war darunter, ein fetter Farbiger, ein seltsam hager wirkender Mann mit langem Haar, der Tomasi deswegen sofort an den Apachenhäuptling Geronimo erinnerte, obwohl seine Gesichtszüge ansonsten nichts Indianisches hatten. Und das da ... Tomasi rieb sich die Augen. Das war Katrina Stein! Unverwechselbar. Mit einer kindischen Neugier konnte sich Tomasi nicht zurückhalten und berührte mit den Fingerspitzen die übermäßig vergrößerten Brüste der Puppe. Dann zuckte er entsetzt zurück. Das konnte nicht sein! Die Puppe war warm, sie hatte die Temperatur eines menschlichen Körpers, und dies trotz der enormen Kälte in diesem Raum. Und während Tomasi noch darüber nachdachte, gaben seine Beine fast nach vor Schrecken. Die Puppen lebten! Sie lebten und nun konnte er sogar deutlich sehen, wie sich die Bäuche der Figuren im Verlauf des Ein- und Ausatmens bewegten! Tomasi starrte auf den Tisch, raffte das Werkzeug zusammen und rannte hinaus. Ja, er rannte, angetrieben von Schreck, Überraschung und Triumph. Atemlos warf Tomasi die Werkzeuge in den Kreis. Pfettner beobachtete ihn und verzog seine Gesichtszüge zu einem hässlichen Grinsen. »Haben Sie dir gefallen, Luca?« »Es ist unglaublich, Niki. Es ist einfach unglaublich. Vor allem - du hast ja gar nicht gezögert. Ich dachte, du zögerst und zauderst, und stattdessen hast du die Dinge vorbereitet. Ich habe dich falsch verstanden.« 38
»Das hat nichts mit verstehen zu tun. Du hast mich unterschätzt.« »Ja, das habe ich, verzeih, es war so unendlich dumm von mir, Niki!«, schmeichelte Tomasis fast gurrend. »Ich habe viele Dinge vorbereitet, sehe viele Dinge, ziehe viele Fäden, betrete viele Träume ... Komm her, Luca. Komm zu mir.« Als er vor dem Fleischberg Pfettner stand, streckte der seine Hand aus und legte Daumen und Zeigefinger um Tomasis Kinn. Seine Augen suchten unruhig den Blick des Stehenden und hielt ihn fest. »Luca, sag mir, könntest du mich je betrügen?« Tomasi schluckte und schüttelte stumm den Kopf. In Pfettners Auge glitzerte eine Träne und rollte in eine der Fettfalten seines Gesichtes. »Sag mir die Wahrheit, Luca, es ist sehr wichtig für mich. Könntest du mich je hintergehen? Könntest du mich je betrügen, Luca?« »Nein, Niki, das könnte ich nicht!« Ein keuchendes Rasseln deutete das befreite Einatmen des Magiers an. »So ist es gut, Luca«, sagte er dann. »Denn zusammen - und nur wir beide zusammen - können wir das Universum aus den Angeln heben. Oder zumindest dieser Scheiß-Welt den Fuß in den Nacken setzen. Und nun den Hammer bitte, Luca.« In der Küche goss sich Tomasi wenig später einen Kaffee ein. Durch die Tür erklang das metallische An- und Abschwellen einer Glocke, begleitet vom Pfettners Fistelgesang, in dem er eine Reihe von Silben immer neu und in anderer Betonung wiederholte. Das Kind ließ sich dadurch nicht stören. Leise trat Tomasi an das Bettchen heran. Satt, zufrieden und sauber schlummerte der Säugling. Er lag auf dem Rücken, hatte die kleinen Hände zu Fäusten geballt und seufzte nur manchmal im Schlaf. Kinder waren ja so etwas niedliches! Trotzdem war Tomasi froh, dass die Frau da war und sich um das Kleine kümmerte. Ansonsten mochte Tomasi die Frau nicht besonders, obwohl er nach langem Grübeln und indem er sie heimlich beobachtete, zu dem Ergebnis gekommen war, dass sie nicht häss-lich war, wie er zuerst gemeint hatte, auch nicht stumpfgesichtig oder mittelmäßig, sondern schön. Schön auf eine kristallharte, herbe, unangenehme Art - jedenfalls sah Tomasi es so. Schönheit, die dem Auge einen fast boshaften Widerstand bot, bevor sie sich offenbarte. Pfettners Gesang hatte die Tonlage geändert und erklang nun im tiefsten Bass. Der Klang brachte die Luft zum Vibrieren, schien lauter und lauter zu werden, erfasste jede Zelle in Tomasis Körper und ließ sie schwingen. Der Kaffee, der vor Tomasi auf dem Tisch stand, schwappte über den Rand der Tasse und zeigte auf seiner Oberfläche ein symmetrisches Muster, als wäre 39
es ein flüssiges Medaillon. Endlich brach der Gesang ab. Tomasi seufzte erleichtert auf, schnappte sich die Tasse und ging in den großen Raum, in dem Pfettner arbeitete. Hier stellte sich Tomasi vor die Fensterwand und schaute auf den Central Park. »Ich bin fertig« erklang die Stimme der Frau. Tomasi drehte sich um. Im Türrahmen lehnte mit verschränkten Armen die Frau und lächelte ihn spöttisch und zugleich herausfordernd an. Über ihren nackten Körper zogen sich schwarze und rote Linien, die komplizierte Muster bildeten. Pfettner grinste. »Sehr gut, Sandy.« * »Tom, so kann das nicht weitergehen.« Tom Uncle schaute von seinem Tisch auf. Sein Ausdruck verdüsterte sich, als er seine Frau erkannte. »Wirklich, Tom, ich will dich nicht nerven, aber du lässt dich gehen.« Valery Uncle wandte sich ab und wanderte unruhig durch den Raum. Sie konnte diesen abwehrenden Blick nicht ertragen. Sie hob ihre Hände bis zur Schulter hoch, vollführte hilflose Gesten, als könnte sie die Worte, die ihr so bitter fehlten, aus der Luft greifen. Seit Tagen versuchte sie sich in Formulierungen, hatte sich das Gespräch in allen Varianten vorgestellt und durchgespielt, aber nun war sie sprachlos. So sprachlos wie Tom, der sich immer mehr zurückzog, der sich selbst zum Fremden machte. »Tom, Liebling, du redest nicht mehr mit mir, du redest nicht mehr mit Benni. Du verschwindest mitten in der Nacht, kommst wieder und hast eine Wunde, als wärst du in eine Prügelei geraten. Und wenn es nicht das ist, dann sitzt du über dieser blöden Elektronikbastelei, als ob diese ScheißHandys wichtiger wären als wir. Was soll das überhaupt? Das da ist ein Scanner, damit kannst du Handy-Gespräche abhören. Bist du jetzt so eine Art Spanner oder was? Dafür wandert man in den Knast.« »Halt einfach dein dummes Maul.« Die unterschwellige Brutalität in seiner Antwort ließ sie zurückzucken. Einen Moment überlegte sie, ob es besser wäre zu gehen. Dann entschied sie sich, doch zu bleiben. Sie musste mit ihm reden, es gab keine Alternative. Jetzt musste es sein. »Tom, ich kann verstehen, wenn dir die ganze Situation auf den Geist geht. Du bist krankgeschrieben, du fühlst dich unwohl, dir fällt die Decke auf den Kopf. Gut ... Ich meine, nicht gut, aber wir kriegen das in den Griff. Wir müssen nur miteinander reden und dann finden wir eine 40
Lösung.« »Kann ich jetzt bitte weitermachen? Dein Gequatsche lenkt mich ab.« Tom Uncle wollte zum Lötkolben greifen, aber seine Frau fiel ihm in den Arm. »Nein, Tom, so geht das nicht! Nicht auf diese Art. Ich will wissen, was Sache ist. Gibt es eine andere Frau? Sag es mir, wenn es so ist, aber lass mich nicht in der Luft hängen, und verkauf mich vor allem nicht für blöd.« Uncle wischte ruckartig ihre Hand von seinem Arm. Sie schrie auf vor Schmerz und Überraschung, wankte und musste sich am Tisch festhalten, um nicht zu stürzen. Mit großen, fragenden Augen schaute sie auf ihren Mann. So hart hatte Tom Uncle sie noch nie zuvor angefasst. Nicht in all den Jahren, die sie sich kannten. In all diesen Jahren - und es waren gute Jahre gewesen, trotz allem, trotz Gerald, trotz dem Stress mit dem Polizeidienst - hatte er nie die Hand gegen sie erhoben. Und nun brannte die Stelle, an der seine Hand sie getroffen hatte, wie Feuer. »Tom, bitte, was soll das?« Tom Uncle fuhr auf. Der Stuhl polterte hinter ihm zu Boden. Sein Zeigefinger fuhr drohend, wie ein losgeleinter Jagdhund auf sie zu. »Das verstehst du nicht. Also halt um Gottes Willen die Klappe und zieh Leine! Ich muss mich konzentrieren.« »Nein, Tom, keine Ausreden! Wir müssen darüber sprechen! NEIN! Ich lass dich jetzt nicht gehen!« Sie stellte sich ihm in den Weg, als er, plötzlich wutschnaubend, aus dem Zimmer gehen wollte. Ihre Hände legten sich auf seine Brust, um ihn zurückzudrängen. Dann bemerkte sie die kalte Wut in seinen Augen und zuckte zurück, als hätten ihre Fingerspitzen eine heiße Herdplatte berührt. Ihre Hände wurden jetzt zu einem Schutz für sie selbst, sie hielt sie halb vor ihr Gesicht. Sie hatte schöne Hände ... Frauenhände ... Mutterhände, fuhr es Tom Uncle durch den Kopf. Dann waren es seine Hände, die verschmutzten, ungepflegten Pratzen, die in ihr Gesicht schlugen - einmal, zweimal, dreimal. In dem Moment kam Benni hereingestürmt und stürzte sich auf ihn. Uncle verstand nicht, was er schrie, er spürte nur die Schläge, eigentlich waren es nur Schlagversuche, seines Sohnes und hob die flache Hand. Nanu, sagte er sich zwischendurch, das ist doch Benni! Was mache ich denn? Ich kann doch meinen Jungen nicht schlagen! Aber er schlug seinen Jungen. Seine weinende Frau warf sich gegen ihn. Er taumelte rückwärts, stieß gegen den Tisch und stürzte. Während er sich aufrappelte, packte seine Frau ihren weinenden Sohn und beide verließen 41
fluchtartig die Wohnung. Auch Tom Uncle ging hinaus, denn er hatte Dinge zu besorgen. Als er zurückkam, fand er einen Teil der Wohnung ausgeräumt und einen Zettel, auf dem stand »Den Rest der Sachen hole ich morgen«. Scheiß drauf, sagte sich Tom Uncle und warf den zerknüllten Zettel in eine Ecke. Diese Ziege kapierte überhaupt nichts, und dieser kleine Idiot interessierte sich sowieso nur für Basketball und irgendwelche Schrottmusik. Sollten sie zum Teufel gehen. Er hatten seinen Job zu erledigen. Er befand sich im Krieg. Im Krieg kann man keine Rücksicht nehmen. Vor allem dann nicht, wenn man nur Feinde hat... * Er ließ sie warten. Ein Mann ließ Katrina Stein warten! Es gab nicht genügend Ausrufezeichen, um diese Feststellung gebührend hervorzuheben. Dabei war Katrina schon drei Minuten zu spät gekommen. Oder, genauer formuliert, nur drei Minuten. Normalerweise wäre es eine Verspätung von mindestens einer Viertelstunde gewesen, womit sie sich bei diversen Gelegenheiten einen großen Auftritt zu verschaffen wusste. Katrina streckte missmutig ihr Näschen in die Luft. Was nahm man nicht alles für den Job in Kauf! Wirklich, sie durfte gar nicht daran denken, was sie sich alles aufladen ließ! Als Tomasi stilgemäß mit einer Stretchlimousine samt Chauffeur vorfuhr, war Katrina bereit, ihm einiges zu vergeben. Er riss die Wagentür auf, noch bevor das lange Gefährt zum Stehen gekommen war und stürmte auf sie zu. Eigentlich war es auch eher ein gelassenes Gehen, das durch sein Hinken noch gemächlicher wurde, aber Katrina war geneigt, diese Fortbewegungsart als vorwärtsstürmend zu akzeptieren, schließlich bemühte sich ja ein Mann, in ihre Nähe zu kommen. »Verzeihen Sie, meine Liebe«, sagte Tomasi zur Begrüßung und versank in ihren Augen, »verzeihen Sie, dass ich Sie warten ließ, aber der Chauffeur, verfuhr sich und wir gerieten noch in einen Stau. Sonst wären wir seit einer Dreiviertelstunde schon hier.« Er beugte sich über Katrinas allerliebste Hand und zelebrierte einen perfekten Handkuss, der zwei vorübergehende Teens zu Kicherorgien veranlasste. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen verzeihen kann«, beschied ihm Katrina und schritt zum Automobil, um unterwegs über die Schulter zu blicken und neckisch hinzuzufügen: »Aber ich arbeite daran.« Sie schwiegen eine Weile und genossen die lautlose, schaukelnde 42
Bewegung des Wagens, oder vielleicht war es auch die Zweisamkeit, die sie aufsogen wie ausgetrocknete Schwämme. »Champagner?« Nein, Katrina Stein wollte keinen Champagner, obwohl es sehr stilvoll gewesen wäre, jetzt so ein Glas in der Hand zu halten, aber sie konnte ja kaum sagen: »Nein danke, aber hätten Sie vielleicht ein Gläschen Blut für mich?« Sie redete sich mit Diät heraus, worauf Tomasi mit bedauerndem Schulterzucken die Magnumflasche samt Eiskübel wieder im Kühlfach verschwinden ließ. »Aber Sie dürfen doch, mein Lieber ... Bitte, mich stört es nicht.« »Alleine macht es mir keine Freude, außerdem ist es vielleicht sowieso besser, wenn ich kühlen Kopf bewahre.« Tomasi begleitete diesen Satz mit einem leicht zweideutigen Lächeln. »Aber die beiden Plätze im Cipriani habe ich doch nicht etwa vergeblich bestellt...?«, fragte er in flehendem Tonfall. »Ich habe extra meine sämtlichen verfressenen Freunde… Verzeihung. Ich meine natürlich die Gourmets meiner Bekanntschaft, befragt, welches Speiselokal zu empfehlen ist. Und für die beiden Plätze musste ich tatsächlich Beziehungen spielen lassen.« »Tatsächlich? Haben Sie welche?«, versuchte Katrina abzulenken. »Diese und jene, aber damit ist meine Frage, oder nennen wir es eher, flehentliche Bitte um Bestätigung, noch nicht beantwortet.« Sie schaute ihn mit ihren seelenvollen, dunklen Augen an. Doch als keine Bestätigung kam, machte Tomasi sogleich den Vorschlag, eine der berühmtesten Privatsammlungen für afrikanische Kunst zu besuchen, deren Besitzer ihn schon lange eingeladen habe. Es wurde noch ein sehr anregender Abend, an dem Katrina Stein die von ihr hoch geschätzte Gelegenheit bekam, vor erlesenem Publikum ihren Liebreiz zu präsentieren und sich außerdem als Künstlerin, Kunstexpertin und Kunsttheoretikerin von Rang, Glanz und Esprit zu erweisen. Tomasi zog sich auf die Rolle des stummen Bewunderers zurück und gab Katrina allenfalls das Stichwort, um die Gesellschaft mit einem glanzvollen Bonmot zu entzücken. Wäre er ein Hund, könnte man ihn als stubenrein und gut dressiert bezeichnen, dachte Katrina und schenkte dem schmachtenden Tomasi ein Lächeln. Schließlich standen sie Seite an Seite und schauten auf die weltberühmte Skyline. »Im Grunde sind wir fast schon so weit, dass Sie mir Ihre Sozialversicherungsnummer geben müssen, zwecks Prüfung Ihrer Partnerschaftsfähigkeit«, scherzte Katrina. »W ... was? Ich fürchte ich werde diese etwas barbarischen Sitten, die 43
man in New York >Dating< nennt, nie so ganz verinnerlichen. Abgesehen davon habe ich so eine Nummer überhaupt nicht.« »Und wovon leben Sie? Überfallen Sie Banken oder so?« »Nur Drugstores, da bekommt man wenigstens Bargeld. Aber Scherz beiseite, ich bin so eine Art Privatsekretär und rechte Hand« »Klingt enorm interessant. Und für was sind Sie zuständig?« »Für die Organisation von extrem schwer zu beschaffenden Materialien. Aber was reden wir über mich, ich bin doch nebensächlich. Gehen auch Sie neben Ihrer künstlerischen Tätigkeit einem Brotberuf nach.« >Brotberuf< klingt missverständlich«, berichtigte Katrina. »Es ist eher so, dass ich auch den Bodenkontakt brauche. Als Künstlerin gerät man schnell in Gefahr, zu hoch zu fliegen ... « »Ja«, bestätigte Tomasi mitfühlend, »Wie ich Sie verstehen kann, meine Liebe. Ach, wie wünschte ich mir, auch einmal an einem großen Werk mitarbeiten zu könne, so wie Sie immer wieder in Ihrem Atelier eine neue Welt erschaffen. Ach übrigens, was ist es denn, das Sie den Bodenkontakt behalten lässt?« »Ein Job im obersten Stockwerk des Empire State Building, ich bin eine Art von Beraterin«, antwortete Katrina lächelnd und fragte sich, ob sie sich in diesem Augenblick nicht überflüssig weit vorgewagt hatte. »Glücklich ist der Chef, der Sie an seiner Seite weiß.« Tomasi legte den Kopf zur Seite. »Ähm, er ist wohl nicht zufälligerweise noch ziemlich jung, Ihr Chef?«, fragte er dann schelmisch. »Nein«, lachte Katrina, »er ist sogar ziemlich alt, aber er hat sich prachtvoll gehalten.« »Sicherlich eine bewundernswerte Person.« »Zuweilen etwas einseitig in ihren Ansichten.« »Oh, das klingt nach einem alten Tyrannen.« »So könnte man ihn beschreiben.« »Alte Tyrannen muss man beseitigen. Das wissen sie doch, Miss Stein?« Tomasi lächelte herausfordernd. »Tatsächlich, haben Sie einen Vorschlag?« »Mir würde bestimmt etwas einfallen ... « Die Sitzposition, die Katrina Stein einnahm, war eine exquisite Mischung aus damenhaft und aufreizend, aber Tomasi, dieser Idiot, benahm sich wie der perfekte Herr. So blieb es eine unterhaltsame Nacht, deren geplanten Höhepunkt Katrina Stein auf einen anderen Termin verschieben musste. Das war ärgerlich, denn unter allen Örtlichkeiten, an denen Männer zum Ausplaudern von Geheimnissen aufgelegt sind, ist der Raum zwischen Laken und Bettdecke immer noch der sicherste Tipp. 44
Aber man durfte nichts überstürzen. Als Katrina der Limousine nachwinkte, registrierte sie bei sich jedenfalls ein gewisses Bedauern, dass Tomasi nicht mehr an ihrer Seite war. Tatsächlich, mit ihm zusammen war es sehr lustig gewesen. Katrina Stein zog die Augenbrauen hoch. War sie etwa auf diesen hässlichen Trottel von Mann scharf? Und sie stellte fest, dass es mehr war als das: Sie brannte vor Begierde. * Die Bruderschaft des Schwertes begann Bruce langsam aber sicher auf den Geist zu gehen. Inzwischen wusste er, wo sie sich versteckt hielten. Obwohl »versteckt« nicht das richtige Wort war. Sie lagen nicht etwa unter den Betten und verhielten sich still. Sie blieben vielmehr im Umkreis ihres Hauptquartiers, bastelten in einer Hinterhofwerkstatt und verließen sich ansonsten darauf, dass sie nicht entdeckt wurden. Es waren zu viele, um sie in einer einzigen Attacke zu erledigen. Und abzuwarten, bis sie ihm jeweils in erträglichen Portionen vor die Faust liefen, hätte viel zu lange gedauert. In gewisser Hinsicht stand Bruce Darkness unter Erfolgsdruck. Er musste dem Baron zeigen, dass auf ihn Verlass war. Bruce verlegte sich auf die Torero-Taktik: Zeige, dass du da bist. Reize den Gegner. Und dann lass ihn in deinen Degen laufen. So weit die Theorie. Für die Umsetzung ins Faktische kamen Bruce die sechs Mitglieder der Bruderschaft gerade recht, die sich in einem Wagen zur nächsten Tankstelle aufmachten. Weil ein Pick-Up die Durchfahrt blockierte, mussten sie sich nach einigem Rangieren an die hinterste Zapfsäule stellen. Fünf blieben im Wagen, der Fahrer stieg aus, hängte die Zapfpistole in die Tanköffnung, schlenderte ein Stück weiter und studierte ein Plakat. Er trug das, was inzwischen so eine Art Uniform der Bruderschaft des Schwertes geworden war - eine lange schwarze Lederjacke und ein weißes Halstuch. Für den Vampir war die Situation günstig. Dennoch konnte er sich keinerlei Pirouetten erlauben, sondern musste schnell handeln. Niemand beachtete den jungen Mann in der schwarzen Lederkluft, der plötzlich aus einer Nebenstraße in den Tankstellenbereich raste. Der Vampir riss die Zapfpistole aus dem Tank, verteilte mit ihr Benzin über dem Wagendach und warf sie dann zur Seite. Immer noch strömte Benzin. Ätzender Gestank breitete sich aus, Dämpfe stiegen auf, brannten in den Augen, waberten als Schlieren in der Luft. »Hey!« Der Fahrer der Bruderschaft war inzwischen herumgewirbelt und 45
hatte eine UZI hervorgezogen. Um auf den Vampir schießen zu können, musste er einige Schritte zur Seite machen. Bevor er den Finger krümmen konnte, flog ihm ein eiserner Mülleimer entgegen. Zu spät duckte er sich ab. Die Kante des schweren Korbs traf ihn an der Schläfe und schickte ihn zu Boden. Jetzt erst registrierten die Insassen des Wagens wirklich die Bedrohung. Und da war es bereits zu spät ... Bruce hatte sein Zippo-Feuerzeug hervorgeholt, schnippste es an, hielt es über die Benzinlache - und ließ es fallen. Kaum hatte er losgelassen, sprintete er los. Der Vampir war schon gut zehn Meter entfernt, als das Zippo auf dem Boden aufkam. Zuerst gab es ein kleines, geradezu schüchternes blaues Flämmchen, das sich über das Benzinrinnsal ausbreitete. Dann stand der Wagen in Flammen. Die Männer im Inneren versuchten noch in panischer Angst, den Wagen zu verlassen. Es gab einen Knall, ein Feuerstrahl zischte fauchend in die Höhe und in der nachfolgenden Explosion wurde der Tankstellenbereich pulverisiert. Der Vampir war so schnell er konnte weitergerannt. Die Druckwelle warf ihn dennoch zu Boden, die Hitze fuhr im über den Nacken wie ein Rasiermesser. Zwei Autos fuhren auf der Straße scheppernd ineinander, Schreie drangen durch das Fauchen der Flammen, Hupen tönten, Menschen flohen in Panik. Bruce stand wieder auf und klopfte sich den Schmutz von der Kleidung. Zwischen den goldenen Flammenblüten wölkte schwarzer Qualm von brennenden Reifen auf. Der zweite Schlag gegen die Bruderschaft des Schwertes war ähnlich effektiv. Bruce rammte mit seinem Militärjeep der Marke »Hummer« voll in die Seite eines voll besetzten Wagens der Bruderschaft und drückte ihn gegen eine Hauswand. Dann sprang er aus dem Wagen, um den Sterblichen den Rest zu geben. Bruce Darkness wusste selbst, dass sein Gesichtsausdruck seinen an sich ganz guten IQ verleugnete, als ihm eine wutgerötete Dämonenfratze entgegenfauchte. Bevor er zu irgendeiner Abwehr fähig war, fuhr ihm die Krallenpranke durch das Gesicht. Brüllend vor Schmerz zuckte der Vampir zurück. Seine Augen waren plötzlich von seinem eigenen Blut verklebt. Für Sekunden konnte er nichts sehen. Als er endlich wieder etwas erkennen konnte, wühlte sich der Dämon zischend vor Wut, mit gelb flackernden Augen und rötlich glimmender 46
Haut aus dem Wrack. Die Wunde im Gesicht des Vampirs hatte sich schon geschlossen, aber als er aufstand, dröhnte sein Schädel und ließ ihn schwanken. »120 Megatonnen« hörte er in seinem Kopf die Stimme Alec Sistrans sagen. Hier war schnelle Entsorgung und eine robuste Methode angesagt. Der Dämon schob sich unter dem eingeknickten Dach aus der Wagentür. Seine unbezähmbare Wut hatte seine Gestalt wachsen lassen, sodass er sich nur mit Mühe zwischen den scharfen Blechkanten hindurch ins Freie zwängen konnte. Dieser Widerstand ließ ihn noch wütender werden. Endlich stand er fauchend vor dem Wrack, als ihn der Vampir von der Seite ansprang. Der Dämon taumelte zur Seite, wurde durch zwei, drei heftige Tritte weiter in diese Richtung getrieben und dann war sein Nacken über der messerscharfen Schneide, die von der zerknitterten Motorhaube gebildet wurde und der Ellenbogen des Vampirs schlug ihn wie ein Hammer gegen das Blech. Mit der Rechten zog Bruce sein Hiebmesser unter der schwarzen Lederjacke hervor und hackte auf den Nacken seines Gegners ein. Er benötigte tatsächlich mehrere Hiebe - etwas, das der Vampir überhaupt nicht gewohnt war - um dem Monster den Kopf von den Schultern zu trennen. Währenddessen spürte er, wie die Kralle des Dämons in seinem Körper wühlte und nach sein Herzen greifen wollte. Endlich hatte Bruce es geschafft und schleuderte den Schädel des Dämons zur Seite. Dann konnte er sich nur noch nach hinten fallen lassen. Der Dämonenschädel kollerte über die Straße und blieb schließlich liegen. Seine Hitze ließ den Asphalt Blasen treiben. Der Dämonenkörper lehnte noch an dem Autowrack. Immer noch wühlten die Krallen, als wären sie Maschinenteile, und rissen tiefe Furchen in das Blech der Karosserie. Der Vampir kümmerte sich nicht weiter darum. Mit schmerzverzerrter Miene wälzte er sich zur Seite und kam schließlich zähneknirschend und mühsam auf die Beine. Die anderen Mitglieder der Bruderschaft des Schwertes griffen ihn zwar an, aber sie waren verletzt, standen unter Schock und bildeten selbst für einen verletzten Vampir - der sich auch bereits wieder erholte - keine ernst zu nehmenden Gegner. Und der Jüngste der Sterblichen, in dessen glasigen Augen deutlich der Schock stand, tat dem Vampir einen großen Gefallen. Er rief über Handy um Hilfe. Bruce ließ ihn gewähren. Er hatte durch einige Knochen zerschmetternde Tritte gegen die Beine zwei der Sterblichen zu hilflosen Zuschauern gemacht. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen sahen sie still und 47
fassungslos zu, wie der Vampir einen der ihren in den Klauen hatte und ihm langsam das Blut aussaugte. Sie sahen den stumm aufgerissenen Mund ihres Kameraden, sahen, wie sich Todesblässe über seine Haut legte, wie seine Augen glasig wurden, bis er schließlich wie eine Puppe fortgeworfen wurde. »Bis dann, ihr Nieten«, rief der Vampir und verzog sich, bevor die Verstärkung eintraf. Aus einem sicheren Versteck konnte Bruce Darkness den Auftritt der Bruderschaft des Schwertes in ihrer ganze Macht und Herrlichkeit beobachten. Zehn Limousinen jagten heran, jede mit fünf oder sechs Jägern besetzt. Alle waren sie bis an die Zähne bewaffnet, alle trugen sie wieder die Gurte mit den Holzpflöcken über der Brust und alle dampften vor Kampfbereitschaft. Aber es war kein Gegner zu sehen. So sammelten sie ihre Verletzten ein, warfen die Überreste des Dämons in das Autowrack und zündeten den Wagen an. Als die Polizei erschien, flohen sie und trennten sich. So fiel es erst später auf, dass von den zehn Wagen nur neun zurückgekommen waren. * »Was wollen Sie?« Tom Uncle machte sich gar nicht die Mühe, freundlich zu wirken. Seine massige Gestalt füllte den Türrahmen. Er sah ungepflegt aus mit seinen Bartstoppeln und den verquollenen Augen. Auch seine Kleidung, bestehend aus einer ausgebeulten Jogginghose und einem fleckigen Unterhemd, bestätigte diesen Eindruck nur. Ein deutlicher Geruch nach Bier und ungewaschenen Achseln ging von Uncle aus. Ein schärferer Gegensatz zum Mann, der auf dem Flur stand, war nicht zu denken. Es war eine höchst elegant ganz in Weiß gekleidete männliche Person in den besten Jahren. Durch seine schwarzen Haare und die schwarzen Augen wurde die Farbe seines Anzugs nur noch mehr betont. Sie schien geradezu zu leuchten. Er war bestenfalls mittelgroß - was im Vergleich zum mammutartigen Uncle jetzt besonders auffiel - und hatte ein engelhaft-schönes Gesicht. »Ihnen helfen«, sagte er mit einem Lächeln. Die Antwort verblüffte Uncle und machte ihn erst einmal stumm. Das Wort Hilfe kam in seinem Kosmos nicht mehr vor. »Darf ich eintreten?«, fragte der weiß Gekleidete. Uncle antwortete nicht, schob sich aber etwas aus der Tür, was der andere 48
als Aufforderung betrachtete. »Hübsch hässlich haben Sie es hier«, sagte er nach einem Rundblick auf die kahlen Räume. »Ich muss wissen, wer Ihr Innenausstatter ist.« »Sind Sie von >Schöner Wohnen<, oder was?« »Sagen wir, ich komme von einem Orden, dem Sie sich inzwischen auch angeschlossen haben, ohne es zu wissen.« »Egal, was das für 'n Verein ist, ich trete nicht ein, ich gebe nichts, ich kaufe nichts, da ist die Tür.« »Sie hätten sich nicht die Mühe gemacht, in der letzten Zeit einige Blutsauger aus dieser Stadt zu entfernen. Und ich rede nicht über Anwälte ...« »Vampire ...« »Ich sehe, wir verstehen uns, Mister Uncle. Uns sind sogar Ihre weiteren Ziele bekannt und wir heißen sie gut. Pfählen Sie den dunklen Herrn dieser Stadt!« Der Besucher wartete mit milden Lächeln ab, bis sich Uncle von seinem Schreck erholt hatte. »Sie werden das hier brauchen. Und das auch!« Bei diesem Worten wurde ein Blatt Papier und ein Amulett aus der Tasche gezogen. »Was soll ich mit diesem abergläubischen Kram«, knurrte Uncle und betrachte das Amulett. »Mister Uncle, ich hatte gehofft, Sie wären in Ihrer Erkenntnis inzwischen so weit gediehen, dass sie zwischen Magie und Aberglauben zu unterscheiden wüssten. Aberglauben ist Magie, die nicht funktioniert. Und dieses Amulett wirkt. Es wurde gestaltet von dem Größten in unseren Reihen - Juan Maria Ruiz y Torquemada.« Der Besucher sprach den Namen mit einem lustvoll rollendem »R« aus. Tatsächlich hatte Uncle schon von diesem Mann gehört. Ein Hoch auf das Internet. Hierher, und nicht aus alten Schmökern, bezog Uncle am Anfang den größten Teil seiner Informationen. Und immer wieder tauchte der Name des Ruiz y Torquemada auf - in Spanien geboren, in Mexiko aufgewachsen, der gnadenlose Jäger der Nachtgeschöpfe ... »Ich dachte, dieser Torquemada wäre ein Fantasiegebilde.« »Mitnichten. Im Escorial, im Übrigen einem äußerst unerfreulich dunklem und feuchtem Gebäude, gibt es Archive und Keller, die nie betreten werden. Hier hat Torquemada das, was er sein Feldlager nennt. Und dort ist der Zentrum unseres Ordens. Also nehmen Sie. Und befolgen Sie die Anweisungen auf dem Papier ganz genau, sie sind Ihre einzige Chance! Möge die Macht der Sonne Ihnen scheinen ... Bruder!« Verblüfft schaute Uncle dem Besucher nach, der sich ohne weitere Formalitäten entfernte. Nach langem Grübeln fiel Uncle wieder ein, was ihn 49
erschrocken hatte. Der Besucher ging durch einen Sonnenstrahl, der durch die ungeputzten Fenster fiel und er warf keinen Schatten. Jedenfalls glaubte Uncle, das bemerkt zu haben. Aber sicher war er nicht. Draußen auf dem Flur kicherte Babriel, der gefallene Engel, unbeobachtet in sich hinein. Und er kicherte immer noch, als er sich scheinbar in nichts auflöste. * Die Stimme aus dem Handy war leise. Sie kam mit langen Pausen, unterbrochen von Stöhnen. Tom Dellman biss sich auf die Lippen. Er blickte von seinen Schuhspitzen auf und sah sich umringt von den Augenpaaren seiner Kameraden, die ihn zu einer Entscheidung drängten. »Hey, lebt bei euch noch einer?« Jetzt war es eine andere Stimme, frisch und fröhlich, die aus dem Lautsprecher kam. Dellman knirschte mit den Zähnen. »Wer ist da«, rief er. »Aber bitte, nicht in diesem Ton! Ich bin der freundliche Vampir von nebenan. Eigentlich wollte ich euch nur kurz berichten, wie es euren Freunden geht. Also, um ehrlich zu sein, derjenige, dem ich die Haut abgezogen habe, schaut gar nicht gut aus. Er behauptet, er fühle sich so nackt, der Arme. Es ist schlimm, dass ihr Sterblichen immer so an Äußerlichkeiten hängt. Das macht seelisch so dürftig. Und der, dem ich die Beine rausgerissen habe, der macht mir auch Kummer, er ... « Ein Mann drängte sich durch die Umstehenden und gab Dellman ein Zeichen. »Wir haben ihn!« Der Peilsender, den jeder aus der Bruderschaft des Schwertes in seinem Funktelefon trug, hatte bestens gearbeitet. Dellman warf das Handy auf den Boden und trampelte darauf herum. Dann schaute er in die Runde. »Was ist«, schrie er gellend. »Worauf wartet ihr noch?« Ihr Weg führte sie zu einem verlassenen Fabrikgelände. Eine verseucht Fläche mit verfallenden Maschinen und einem zerbröckelnden Gebäude. Auf dem Nachbargelände schimmerten silbern die Umrisse von Öltanks. Als die Männer die Halle betraten und ihre Leuchten in Position gebracht hatten, stöhnten sie vor Entsetzen und Wut. Sie bildeten einen Kreis und schauten wie betäubt auf die weißen, blutleeren Leichen ihrer Kameraden, die von der Decke baumelten. Dann bemerkten sie, dass man ihnen weder die Haut abgezogen noch sie 50
verstümmelt hatte. »Das ... « Dellman sah sich hektisch um. »Raus hier! Das ist eine ... « Zuerst sah der Vampir nur das Aufblitzen hinter den trüben Hallenfenstern. Es steigerte sich zu unerträglicher Helligkeit, dann brach die Feuerwolke aus dem Gebäude und verschlang es in einer Flammenblume, die sich langsam in den Nachthimmel öffnete und eine schwarze Rauchfahne entließ. Bruce Darkness setzte sich auf sein Motorrad. Die Bruderschaft des Schwertes war Geschichte. Sein Selbstbewusstsein war intakt. Bruce liebte die Welt. Er startete seine Harley und fuhr los. Dass hinter ihm der erste Öltank in einer Explosion zerfaserte, störte ihn nicht wesentlich. Bruce hielt es für seine Pflicht, den Baron sofort von seinem Erfolg zu unterrichten. Er wurde allerdings von Sandy Davis abgefangen, die zufällig seinen Weg kreuzte. »Nicht reingehen, wichtige Besprechung«, flüsterte sie, als könnte sie durch zu lautes Reden das wichtige Gespräch stören. »Katrina?«, fragte Bruce misstrauisch. Er hatte einen Kloß im Hals, als Sandy bestätigend nickte. Da hockte diese Intrigantin also wieder mal im Zentrum der Macht und für den Vize blieb nur die Möglichkeit, vor der Tür zu warten. Nun, immerhin sah Sandy enorm knackig aus, in ihren engen Jeans und einem äußerst Appetit anregenden, hautengen Top. »Sandy«, seufzte Bruce, »Du nimmst mal wieder keine Rücksicht auf den Blutdruck eines alten Mannes.« »Och ... Brucilein, armer, armer alter Mann!« Sandy lächelte ihn mit schräg gelegtem Kopf an und öffnete ein wenig den Mund. Ihre Zungenspitze berührte die Lippen. Für einen Moment ließ sie die Spitzen ihrer Eckzähne wie kleine, perfekte Schmuckperlen auf dem samtigen Rot dieser Lippen blitzen. »Eine Runde Mitleid«, fügte Sandy dann kichernd hinzu. »Ich brauche kein Mitleid, ich brauche Fürsorge ... Eine weibliche Hand, die sich meiner Schwächen annimmt.« »Aber ein Prachtkerl wie du, Bruce, und Schwächen? Undenkbar!« Wie sie jetzt die Hände vor ihrem Hintern verknotete, ihr Gewicht auf ein Bein verlegte, den anderen Fuß auf die Spitze stellte, sich leise hin und her wiegte, das war schon allererste Sahne!, fand Bruce. Und ihr Augengeklimper erst. »Doch, Sandy«, sagte er. »Glaub mir, manchmal fühle selbst ich hier und dort eine Schwäche. Und dann ... « »... dann brauchst du eine weibliche Hand? Weißt du was, Bruce, ich habe 51
noch etwas Besseres für dich.« »Was denn? Zwei Hände? Zwei Hände und den ganzen Rest?« »Noch viel besser: Diesen Zettel mit einer Adresse. Einer von uns braucht Hilfe, Dave Moore. Der Baron will, dass du dich darum kümmerst. Sofort.« Bruce grabschte sich das Blatt Papier. »Wenn das so eilig ist, hättest du ihn mir auch sofort geben sollen«, sagte er patzig. Er sah sie einen Moment prüfend an und erinnerte sich, wer ihr Boss war. »Kein Wunder, dass du und Katrina sexuell frustriert seid. Immer müssen die wirklich tollen Jungs zur Arbeit.« * Tom Uncle drückte den Rücken an die Wand und rutschte ächzend zu Boden. Nun konnte er nur noch warten. Die Vorbereitungen waren getroffen. Sie waren gut getroffen, alles war mehrmals geprüft und dennoch beschlich ihn Unruhe. Diese Gasse, die hier zwischen hohen Ziegelmauern endete, war ihm unheimlich. Es gab keinen Ausweg. Es gab nur den Sieg oder den Tod. Uncle hörte die Geräusche des Verkehrs, den Lärm von Schritten, hörte Stimmen und Rufe. Zorn stieg in ihm hoch. Wie dumm die Menschen waren! Wie unwissend! Wie arrogant in ihrer Dummheit oder wie verlogen und verräterisch! Dumm wie seine Frau, wie Benni. Und für diese blökende Schafherde hatte sich Gerald geopfert. Hatten seine Kameraden ihr Leben hingegeben ... Aber was sollte Selbstmitleid! Es ging doch darum, zu zeigen, dass man selbst nicht zur Herde gehörte. Dass man anders war, ein Wissender, ein Krieger gegen die Finsternis. Einer, der diese vor Arroganz berstenden Blutsauger in die Falle lockte, indem er ihre Handys abhörte und sich aus den aufgenommenen Gesprächen falsche Botschaften zusammenschneiden ließ. Der sie verwirrte, der Zwist säte. Der sie vernichtete! Uncle schrak aus seinen Gedanken und verkroch sich hinter einem Müllcontainer. Ein schweres Motorrad fuhr in die Gasse. Das Licht der Scheinwerfer tauchte die Sackgasse in weiße, unnatürliche Helligkeit. Uncle hörte auf zu atmen und rührte keine Wimper. Endlich! Das Motorengeräusch erstarb. Der Fahrer stieg ab, bockte die Maschine auf und ging zögernd auf das Ende der Gasse zu. Es war ein junger Mann mit durchtrainierter Figur, gekleidet wie ein Motorrad-Rocker. Uncle wurde starr. Sein Herz begann zu rasen. Er kannte diesen Mann! Er hatte ihn für den Bruchteil einer Sekunde gesehen, vorbeirasend in einem 52
Schacht tief unter der Erde. Ja, kein Zweifel, das war er. Tom Uncle kam in seinen hastigen Überlegungen nicht weiter, denn jetzt berührte der Mann den Draht. Der Stromschlag war so stark, dass die Gestalt sekundenlang von blauen Blitzen umgeben war, bevor sie zu Boden stürzte. Uncle mühte sich stöhnend, um wieder auf die Beine zu kommen. Er war wirklich nicht gut in Form. Aber er hatte Zeit. Der Vampir lag qualmend auf dem Rücken und wurde von heftigen Muskelkrämpfen durchgerüttelt. Es musste ein Vampir sein, denn obwohl seine Kleidung Brandstellen mit glühenden Rändern zeigte, waren die Wunden darunter schon geschlossen. Uncle verzichtete auf jedes unnötige Risiko und setzte seinen Stab ein. Der erneute Stromschlag schleuderte das Monster hoch, als würde es katapultiert, dann blieb es, von schnellem Zucken durchgerüttelt, liegen. Uncle zog den Holzpflock und den Hammer hervor. Auch seine Hände begannen vor Aufregung zu zittern. Mehrmals setzte er den Pflock an. Noch immer zuckte der Vampir wild vor sich hin. Endlich presste Uncle den Pflock fest auf die Brust seines Opfers, dann einige entschlossene Schläge mit dem Hammer... Anschließend rannte Tom Uncle los. Er dachte im letzten Moment an den Stromdraht und hüpfte ungeschickt darüber. Seine eigentliche Aufgabe war noch zu erfüllen. Und er hasste den Gestank, wenn diese Monster sich auflösten ... * »Hallo ... ich dachte, es wäre ganz nett, wenn ich Sie mal zu Hause besuche.« Katrina Stein wirkte auf geradezu rührende Art verlegen. Sie wusste genau, wie diese Pose wirkte. »Wie sind Sie so einfach hier hochgekommen? Normalerweise ruft der Pförtner bei fremden Personen erst einmal in der Wohnung an, ob man Besuch erwartet.« »Nun, ich konnte den Herrn da unten überzeugen, dass ich wirklich sehr schnell zu Ihnen musste, Mister Tomasi.« In diesem Moment gab es keine Pose und keine Lüge. Katrina sehnte sich nach Tomasi. Und als er jetzt vor ihr stand, elegant gekleidet wie immer, wurden ihre Knie weich und sie spürte die Begierde wie ein Feuer. Tomasi nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Niemals hätte ich zu hoffen gewagt, dass Sie ihre Schritte in meine bescheidene Behausung lenken, Miss Stein. Es ist mir unendlich peinlich, hier wird gerade renoviert, sehen Sie, ein Teil der Wohnung ist abgetrennt, 53
kein Blick auf den Central Park möglich, lassen Sie uns ausgehen ... « »Nein!« Ihre Hand legte sich auf seine Brust und drückte ihn zurück in den Flur. Ihre Augen suchten in unendlicher Zärtlichkeit die seinen, aber wie immer fand sie nur die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille. »Manchmal«, flüsterte Katrina Stein mit vor Begierde dunkler Stimme, »manchmal kann ich die vielen -Menschen um mich nicht ertragen. Und dann will ich allein sein. Oder zu zweit...« * Dieses Flimmern vor den Augen. Und dieser Schmerz, als hätte man ihm Säure unter die Lider gegossen. Seine Hände gehörten ihm nicht mehr, sie waren zu zuckenden Insekten geworden, die ihre Schmerzimpulse durch seine Nervenbahnen sandten. Über ihm war ein grauer Streifen. Langsam klärte sich das Bild. Die hoch aufragenden Hauswände traten hervor, die den Streifen matten Himmels einrahmten. Mit aller Energie gelang es Bruce, wieder die Herrschaft über seine Hände zu erobern. Mühsam hob er den Kopf und starrte auf den Pflock, der aus seiner Brust ragte. Oh, Scheiße, dachte er. Tut das weh! Mit einem Ruck riss ihn Bruce heraus, dann brauchte er eine Weile Erholung, bis die Schmerzwellen langsam abklangen. Warum bin ich nicht tot?, fragte er sich. Der Pflock muss mein Herz verfehlt haben. Stöhnend wälzte er sich zur Seite und kroch vorwärts. So wie weh das tut, hat der Pflock aber mindestens gestreift, zuckte es ihm durch den Kopf. Unendlich mühsam drückte er sich Meter für Meter vorwärts. Da war seine Harley. Dort hinten sah er die Autos vorbeifahren, Passanten ... Er befand sich in einer seltsamen Einöde, mitten in der Millionenmetropole. Er versuchte, sich zu heilen, aber so ganz erfolgreich war er damit noch nicht. Doch er konnte sich wenigstens auf seine Harley setzen. Er griff nach dem Zündschlüssel und ließ die Hand wieder sinken. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er in eine Falle getappt war. Selbst der fanatischste Vampirjäger kann so eine Installation nicht aus dem Hut zaubern. Er brauchte für den Aufbau Zeit und das wiederum bedeutete, er wusste, dass sich an genau dieser Stelle zu genau dieser Zeit ein Vampir einfinden würde. 54
Wollte ihn Baron von Kradoc etwa auf diese Weise abservieren lassen? Wollte ihn der Alte loswerden, um dann hinterher Krokodilstränen vergießen zu können. »Blödsinn!«, wies er sich selbst zu recht. Sandy hatte ihm den Zettel und die Anweisung gegeben. Und Sandy gehörte Katrina ... Ein harter Zug trat in Bruces Gesicht. Er startete den Motor und riss mit quietschendem Hinterreifen die Harley in eine Kehre. Er musste sich ein wenig mit dieser Schlampe Katrina unterhalten... * Katrina legte den Kopf in den Nacken und schnurrte wie eine Katze. Hinter ihr stand Tomasi und massierte ihr mit langsamen Bewegungen die Schultern. Um ihn dazu zu bringen, musste sie allerdings erst eine ganze Litanei von Beschwerden daher jammern. Das Sitzen im Büro und dann ganze Nächte vor der Staffelei, der Kampf mit der Inspiration, die schmerzhafte Geburt eines Kunstwerkes ... Oh ja, er hatte sehr zärtliche Hände, er strich so sanft und doch so entschieden über ihre Haut, dass ihr vor Lust fast der Atem stillstand. Die Vorstellung, dass diese Hände nicht nur ihren Hals streicheln könnten, machte es Katrina schwer, die damenhafte Haltung zu bewahren. Sie rutschte etwas unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und schlug die Beine übereinander. Mit einem zufriedenen Lächeln spürte sie, wie sich Tomasi zu ihr niederbeugte und ihr über die Wangen strich. Sie spürte seine Nase in ihrem Haar, sein Mund näherte sich ihrem Ohrläppchen und begann, zärtlich zu knabbern. »Gleich beginnt das Spiel«, hörte sie ihn flüstern. Wieder schnurrte Katrina. »Ich kann es kaum erwarten.« »Und ich erst!« Die Stimme riss Katrina aus ihrer Verzückung. Mit erschreckten Augen wollte sie aufspringen, aber Tomasi drückte sie zurück. »Sandy«, stammelte Katrina, »was machst du denn hier ... ?« »Nachschauen, ob er seinen letzten F ... mit mir heil überstanden hat.« Sandy Davis durchquerte mit provokativ schwingenden Hüften die Küche und setzte sich vor Katrina auf den Tisch. Katrina war völlig verwirrt, ihre Augen füllten sich mit Tränen und wanderten unruhig umher. »Ich verstehe das alles nicht«, flüsterte sie weinerlich. »Macht nichts«, antworte Sandy. Sie beugte sich vor und schlug Katrinas Rock zur Seite. »Gute Beine, nicht so gut wie meine, aber besser als der Durchschnitt. Trotzdem - im Bett wäre sie nur ein toter Fisch, Tomasi. Läge 55
da wie ein Kartoffelsack und ließe dich machen. Sie wäre 'ne Diva, so wie sie auch sonst im Leben eine Diva ist. Nicht wahr, Schatz?« Jetzt hatte Katrina genug. Sie fühlte in sich hinein, fand ihre Macht und ließ ihr freie Bahn. Die beiden sollten kriechen. Kein Sterblicher konnte ihr widerstehen! Ihre gottähnliche Aura erfüllte den Raum, drang in jede Ritze. Sie war Katrina Stein, die zweitmächtigste Vampirin New Yorks, egal, was diese kleine Ratte Darkness sich einbildete. Sie spürte, wie ihre Macht wirkte. Doch die beiden Sterblichen reagierten nicht. Mit harter Hand griff Sandy in einer Parodie von Zärtlichkeit nach Katrinas Kinn. »Das hättest du dir so gedacht!«, zischte sie. Ihre andere Hand ballte sich zur Faust, ihr Arm fuhr wie zur Probe vor und zurück. Sandy wandte sich an Tomasi. »Darf ich?« Katrina Stein konnte sein Nicken nicht sehen. Aber sie spürte den Faustschlag und fiel in Ohnmacht... * So etwas gab es nicht! Es war gegen die Regeln der Wirklichkeit, es leugnete alle Fakten, es stimmte schlichtweg nicht! Baron von Kradoc war eine einzige Verkörperung des Erstaunens. Da kam dieser Sterbliche so ganz einfach in sein Büro spaziert, schloss die Tür und machte sich nun daran, seine Utensilien bereitzulegen! Die lässige Entschlossenheit, mit der dieser fette Farbige vorging, leugnete alle Macht des Barons. Und indem er diese Macht leugnete, neutralisierte er sie. Langsam stand Baron von Kradoc von seinem Stuhl auf. Der Sterbliche warf nur einen beiläufigen Blick in seine Richtung und wandte sich wieder seinen Werkzeugen zu. Konnte dieser Mensch, dieser Floh gegen seine Macht bestehen, indem er sie ignorierte? Die Antwort lautete - ja. Der Baron spürte es. Vor ihm baute sich der Sterbliche auf. Der Baron schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Er brauchte nur einen winzigen Moment, um sich zu sammeln, dann würde er diesen Sterblichen vergehen lassen, alleine dadurch, dass dieser Wicht die Macht des Vampir-Herrschers erkannte ... Aber der Sterbliche griff nach ihm, drückte ihn mit dem Rücken auf den Schreibtisch und setzte ihm den Pflock auf seine Brust. * Als Katrina Stein mit einem Klagelaut erwachte, war sie nackt und an ein 56
X-förmiges Kreuz gefesselt. »Schade, dass wir nicht die Nägel nehmen konnten.« Das war die Stimme Tomasis. »Dann wäre euch diese Mimose abgenippelt. Sie schreit, wenn sie sich einen Fingernagel abbricht.« Das war Sandy. »Streitet euch nicht. Die Lösung mit den Handfesseln an den Nägeln ist gut.« Diese heisere Stimme kannte Katrina nicht. Sie hob ein wenig den Kopf. Da war ein unglaublich fetter, widerlicher Mann. Dann schob sich Sandy in ihr Blickfeld. »Na, wie geht es dir, Oberzicke?« »Was geht hier vor, Sandy? Was soll das? Mach mich sofort los!!« Wieder setzte Katrina ihre Macht ein, und wieder war es vergeblich. »Aber, aber, Katrina-Diva? Wonach sieht das denn aus?« Sandy kicherte hämisch. »Sandy, du kannst jetzt das Opfer holen«, mahnte Tomasi. »Mit Vergnügen - damit unsere Katrina bald die Freuden der Mutterschaft genießen kann.« Bruce Darkness wollte seinem Boss von dem Verrat Sandys und Katrinas berichten. Er stieß, nein, er rammte förmlich die Tür zum Büro des Barons auf. Dann prallte er zurück. Die Szene war so unglaublich, dass sie ihn zur Salzsäule erstarren ließ. Der Baron lag mit geschlossenen Augen halb auf dem Schreibtisch, über ihm der Farbige, mit einem Hammer in der einen Hand, mit der anderen Hand den Pflock auf die Brust des Barons pressend. Jetzt musste der Jäger zuschlagen. Aber warum zögerte er? Zögerte er? Oder begann sich die Zeit für Bruce Darkness zu verlangsamen? Bruce setzte zum Sprung an. Er flog durch die Luft, prallte auf den Sterblichen, gerade als sich dieser aus seiner Lähmung befreit zu haben schien und zuschlug, und riss ihn mit. Beide stürzten hinter dem Schreibtisch zu Boden. Der Fuß Uncles verhedderte sich in einem Kabel und zog einen Computermonitor vom Tisch. Es gab einen Knall, als die Röhre implodierte, dann knisterten Funken. Bruce katapultierte den qualmenden Monitor mit einem Tritt zur Seite. Diesen Moment nutzte Uncle, um den Pflock, den er immer noch umklammerte, in die Schulter des Vampirs zu stoßen. Aber er drang kaum ein. Der folgende Kampf war kurz. Eigentlich war es kein Kampf. Tom Uncles Gegenwehr war die eines unsportlichen alten Mannes und beugte sich vor der Wut des Vampirs wie Gras vor einem Hurrikan. Ein Ellbogenstoß brach die Rippen des Sterblichen und trieb die Splitter in seine 57
Lunge. Schmerzhafter Husten schüttelte Tom Uncle, auf seine Lippen trat blutiger Schaum. Der Vampir entdeckte das Amulett, riss es Uncle vom Hals. »Woher hast du das? Na los, sag schon.« Der Vampir brauchte seine Frage nicht durch körperliche Gewalt unterstreichen. Uncles Kopf fiel zur Seite. Er sah nur noch Schatten, eine große Dunkelheit begann, von den Rändern seines Sichtfeldes herabzufließen wie schwarze Tinte. »Tor - que - mada«, flüsterte Tom Uncle, »Gerald.« Dann wurden seine Glieder schlaff. Der Baron streckte die Hand aus. »Gib mir das!!«, befahl er. Mechanisch streckte Bruce die Hand aus und Kradoc nahm es aus seinen schlaffen Fingern. Danach war der Bann gebrochen. »Was ... ?«, setzte Bruce zum Protest an. »Still!!«, unterbrach ihn der Baron. Bruces Mund klappte noch einige Male lautlos auf und zu, dann begnügte er sich damit, seinen Boss nur noch irritiert anzusehen. »Woher immer er dieses Ding her hat, es ist jedenfalls nicht von Torquemada«, stellte Kradoc nach kurzer Untersuchung fest. »Woher wissen Sie das?«, fragte Bruce, und war schon zufrieden, dass er wieder sprechen konnte. »Weil der echte Torquemada ein christlicher Frömmler und Betbruder ist und ganz sicher keine Amulette verteilen wird, die einen gekreuzigten Affen darstellen.« Bruce zuckte mit den Schultern. Der Baron würde schon Recht haben. »Ich weiß jetzt, wer hinter dem ganzen Ärger steckt, den ich in letzter Zeit hatte«, sagte er dann. »Katrina!« * Die junge Frau war nicht bei Sinnen. Tatsächlich war sie von Sandy Davis und Lucanor Tomasi so mit Drogen voll gepumpt worden, dass sie den Tag sowieso nicht überleben würde. Trotzdem sollte sie nun geopfert werden. Sandy legte sie gerade in die richtige Position für das Ritual. »Jaaaa, es ist so weit«. Nikophorus Pfettner schlug die Augen auf. Eine lange Zeit war er wie in Schlaf versunken gewesen, hatte gesucht und gelauscht. Nun war er sicher. Er deutete auf das Messer neben sich. »Nimm es, ich brauche das Herz.« Ungläubig schaute Sandy ihn an, deutete in einer stummen Frage auf sich 58
selbst. Als Pfettner nickte, ging ein Strahlen über ihr Gesicht. Sie nahm das Messer, ließ geradezu wollüstig die Fingerspitzen an der scharfen Schneide entlang fahren und wandte sich der jungen Frau zu, die nackt auf dem Boden lag. Deren Augen starrten ins Leere, ihr Atem war schnell, kurz und abgehackt. Sandy lächelte, als sie zu schneiden begann. Kurze Zeit später legte sie das Herz an die vorher von Pfettner bezeichnete Stelle. Katrina starrte hinauf zur Decke. Einige blutige Tränen rannen ihre Wangen hinab. Mühsam hob sie den Kopf, versuchte zu erkennen, was um sie herum vorging. Sandy bemerkte es. »Hat es dir gefallen«, zischte sie hasserfüllt. »Was sagt die genialste Zicke des Big Apple zu dieser spontanen Performance? Ich war doch gut, oder? Das Spiel von Leben und Tod, von Liebe und Hass, ausgebreitet vor den Augen des begeisterten Publikums. Aber warte nur, es wird noch besser. Gleich spielst du mit. Gleich kriecht der Same, den Pfettner magisch erzeugt, in deinen Leib. Und dieser köstliche Unterleib hat die Ehre, den künftigen Herrn des Universums zu beherbergen, den schwarzen Titanen, den Brecher des Siegels, den Himmelsstürmer, den Gottesmörder, den Satan satanas ... « Sandys Stimme schwankte zwischen jugendlicher Begeisterung und düsterem Fanatismus, verlor sich endlich in heiserem Keuchen. Ihre Augen glitzerten vor bösem Triumph. Sie schob sich näher an Katrina heran, als sie fortfuhr. »Er wird dich nicht lange beschweren, Schönste, dann wird er dich nämlich von innen zerfetzen. Oh je, das könnte wehtun. Ooh, er wird dich sprengen, wenn er sich gebiert. Ich würde dir die Schmerzen ja gerne abnehmen, aber ich darf nicht. Ja, es musste ein Vampir sein, weil wir es sind, die die Macht haben. Und Macht muss aus Macht geboren sein. Aber ich habe nicht genügend Macht. Tja, dumm gelaufen. Du warst mal wieder die Glücklichere. So viel Macht nennst du dein eigen, und doch kannst du nicht einmal dich selbst retten. Aber dafür wirst du die Mutter des Herrschers der Welt. Wie ich dich beneide... Mütterchen!« Höhnisch lachend erhob sich Sandy und schaute von oben auf die schluchzende Katrina. So bemerkte sie nicht, wie Tomasi sich hinter sie schlich und ein Schwert schwang. Mit einem Schlag, der ihren Kopf abtrennte, beendete er die Existenz des Vampirs Sandy Davis. »Weißt du, schönste Katrina, im Universum muss Gleichgewicht herrschen«, erklärte Tomasi trocken und säuberte die Schwertklinge. »Die Magie muss sich daran halten. Wer mordet, muss gerichtet werden. Ein kleines Detail, das ich gegenüber der schönen Sandy nicht für 59
erwähnenswert hielt ... « Die Atmosphäre begann zu knistern. Es wurde merklich kühler in dem Raum, nachdem Nikophorus Pfettner mit seinen Beschwörungen begonnen hatte. Dennoch breitete sich eine drückende Schwüle aus, als würde ein Gewitter heranziehen. Die elektrischen Lampen waren ausgeschaltet, nur die Kerzen, die um die drei magischen Kreise angeordnet waren, spendeten eine flackernde, unsichere Helligkeit. Sie spiegelten sich in der breiten Fensterwand, dahinter flirrten die Lichter der Stadt über der schwarzen Fläche des nächtlichen Central Parks. Pfettner hustete und schnappte röchelnd nach Luft. Er lief rot an und brauchte eine Weile, bis er sich von dem Anfall erholte. Eine matte Geste sollte Tomasi anzeigen, dass es weiterging. Tomasi assistierte, reichte Pfettner die verschiedenen Schalen und Werkzeuge. Dann verneigte er sich und verließ die magischen Kreise. Pfettner war nun allein. Er war einsamer, als vielleicht je ein menschliches Wesen gewesen war, denn er hatte sich weiter vorgewagt als alle anderen. Eine Erinnerung fuhr ihm durch den Kopf: Ein Besuch in einer Irrenanstalt, die geschlossene Abteilung. Ein menschliches Wrack mit hektisch flackernden Augen, das sich wimmernd in den Ecken versteckte, weil es sich von einem unnennbaren Schrecken bedroht wusste. Das war Damian Sant Angelo, der Mann mit dem dritten Auge, der größte aller Magier, der mutigste und stärkste ... Ein Schauder lief über Pfettners jämmerliche irdische Hülle. Er fühlte sich hilflos wie ein Kind, das alleine vorausgeht und plötzlich bemerkt, dass seine Eltern nicht mehr da sind. Unendliche Einsamkeit, eisige Kälte zwischen den Sternen, die gnadenlose Gesetze des Kosmos, die wie Mühlräder alles zu Staub zermalmten ... Entschlossen fasste Pfettner den Bronzestab und schlug mit ihm auf eine Glocke. Ein jammervoll dünner Ton war zu hören, nicht lauter als das Fiepen einer Handy-Tastatur. Aber dieser Ton verklang nicht. Er brachte die kalte Luft zum Vibrieren, er kroch in die Köpfe der Anwesenden und schien in ihrem Inneren weiterzuschwingen. Für Katrina war es, als würde sich ein Insekt durch ihre Gehörgänge fressen und sich dann summend und brummend mitten in ihrem Kopf ein Nest bauen. Verzweifelt zerrte sie an ihren Fesseln, aber der schmerzhafte Druck zeigte ihr, wie lächerlich alle ihre Anstrengungen waren und sie gab auf. In schrillem Diskant begann Pfettner, sinnlose Silben herzusagen. Die Kraft seiner Stimme steigerte sich mit jeder Minute, ihr Klang wurde tiefer, dröhnender, gewann die Gewalt einer riesigen erzenen Glocke und schwang wie die Dünung eines Meeres in dem Raum. Katrina wollte schreien, sie wollte sich winden vor Schmerz und Angst. 60
Aber die Schwingungen der Atmosphäre erfassten sie und ließen sie beben wie ein verängstigtes Reh. * Sandys Büro verriet sofort, dass dort gearbeitet wurde. Nüchterne Büromöbel mit Gebrauchsspuren, Aktenstapel, Listen mit der Überschrift »Erledigt«, »Mist, hab ich vergessen« und »Okay, mach ich noch« und darunter zahllose Telefonnummern und Kurznotizen. Das hatte Witz und Schwung, es entsprach dem Stil von Sandy Davis. Bruce hätte sich allerdings lieber gleich über das Büro Katrinas hergemacht. Er war sich sicher, das diese Superzicke Schuld daran hatte, dass ihm dieser dicke Vampirjäger einen Pflock ins Herz gerammt hatte - na ja, zumindest fast. Sandy hielt er nur für eine Komplizin. Aber an Katrinas Büro ließ ihn der Baron nicht heran - noch nicht. Er drückte den Abspielknopf ihres Anrufbeantworters, ohne sich jedoch große Hoffnung zu machen ... Zu recht. Es waren nur Nichtigkeiten gespeichert. Dann blätterte Bruce durch den Terminkalender von Sandy Davis, und damit indirekt auch durch den Katrinas ... Wieder nichts ... Frustriert fing er an, ihren Schreibtisch zu durchsuchen. Dabei ging er nicht besonders feinfühlig vor. Er riss die Schubladen heraus, lehrte sie einfach auf der Arbeitsfläche aus und durchwühlte sie nach etwas Brauchbaren. Was er als wertlos erachtete, und das war alles, warf er einfach auf den Fußboden. Bei der dritten Schublade stutzte er. Was ist das denn, fragte es sich, als er einen Zettel entdeckte, der unter die Lade geklebt worden war. Darauf standen sieben verschiedene Handynummern von sieben verschiedenen Anbietern, aber nur ein Name. Für jeden Tag der Woche eine?, wunderte sich Bruce. Und wer ist Lucanor Tomasi? * Die Luft war so voller Elektrizität, dass Funken von Pfettners Fingerspitzen sprühten und der Geruch von Ozon sich breitmachte. Pfettner schnappte nach Luft, war puterrot im Gesicht und sein Gewand klebte vor schweißiger Nässe. Aus der Schale vor ihm quoll blutroter Schaum. Mit einer letzten Anstrengung beugte er sich vor und goss den Inhalt einer weiteren Schale 61
hinein. Ein Zischen mischte sich in das leise Knistern, das die Luft erfüllte. Eben noch war es so kalt, dass ihr Atem als Wolke gegen die Decke stieg und das Fensterglas beschlagen war, nun breitete sich schlagartig Wärme aus. Die Kerzen flackerten unter Windstößen, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Ein Heulen wurde hörbar, wurde lauter und schriller, dann fegte ein Sturm durch den Raum. Die Kerzenflammen standen als horizontale Flämmchen, wie kleine Wimpel, an den Dochten, aber sie erloschen nicht. Als der Sturm abbrach, ebenso abrupt wie er eingesetzt hatte, rieselte feiner, rötlicher Wüstensand aus der Luft und bildete eine helle Schicht auf allen Gegenständen und bedeckte auch den gequälten Körper Katrinas. Außerhalb der Schutzkreise war von all dem nichts zu spüren Undeutlich zeichnete sich hinter Pfettner eine männliche Gestalt ab, die dann, wie bei einer Überschneidung zweier Sender im Fernsehen, als grauer schwankender Umriss die magischen Kreise umschritt. Eine seltsame hohe Krone saß auf ihrem Haupt. Tomasi erkannte die zweifache Krone von Ober- und Unterägypten. »Seth«, flüsterte er. Katrina wimmerte, als sich die Gestalt zu ihr niederbeugte und über ihren Leib strich, als wolle er die Vorzüge einer Lustsklavin prüfen. Die Berührung war so heiß, als würde flüssiges Wachs auf ihre Haut tropfen. Die Gestalt gab nickend den Erfolg der Prüfung zu verstehen. In der nächsten Sekunde verschwand sie in einem Wirbel aus Sand. Als die Erscheinung verschwunden war, war auch die Sandschicht in dem Raum verschwunden. Triumph glitzerte in Pfettners Augen. Es war gelungen! Plötzlich zuckte er zusammen. Er spürte eine Änderung, eine Verschiebung der Dinge. Auch die elegant in Weiß gekleidete Gestalt, die in diesem Moment hinter Tomasi hervortrat, bemerkte Pfettners Zucken. Auf dem engelsgleichen, schönen Gesicht zeichnete sich ein boshaftes Lächeln ab. Ironisch Beifall klatschend, trat Babriel an den Rand des äußeren magischen Kreises. Er beobachtete das wutverzerrte Gesicht des Magiers, wandte dann aber seine Aufmerksamkeit der Schale zu. Wieder quoll Schaum über den Rand. Dieses Mal war er bunt und schillerte wie ein Ölfleck auf dem Wasser. »Ich bin beeindruckt«, sagte Babriel. »Nikophorus Pfettner ist wahrlich ein großer Magier - vielleicht der größte. Aber ... nun gibt es eine winzige Änderung des Planes.« Bei diesen Worten spuckte er sich auf die rechte Handfläche und ballte sie dann zur Faust. Als er die Hand wieder öffnete, schwebte ein kleiner Feuerball darüber. Babriel lächelte, als er ihn auf den fetten Magier zuwarf. Das Geschoss 62
durchschlug fauchend die Schutzringe der magischen Kreise und traf Pfettner. Einmal noch zuckte der monströse Pfettner. Sein Schrei: »Luca, warum nur?«, überdeckte alle anderen Geräusche. Dann sank er in sich zusammen. Aus seinem langen, verfilzten Haar kräuselten sich Rauchfäden in die Höhe. »Wie schade, dass er die Früchte seiner Mühen nicht mehr ernten kann«, sprach der weiß gekleidete Babriel mit zuckersüßer Stimme. »Aber diese Welt ist manchmal ungerecht - teuflisch ungerecht!« * »Lucanor Tomasi«, wiederholte Baron von Kradoc den Namen, nach dem Bruce gefragt hatte. »Ich hatte ihn im Verdacht, mit gewissen beunruhigenden Ereignissen der letzten Zeit im Zusammenhang zu stehen. Also bat ich Katrina, ihn zu umgarnen und ihn gesprächig zu machen. Allerdings wurde mir bald klar, dass sie damit keinen Erfolg hatte.« »Warum sollte Sandy seine Nummer verstecken?« »Ich verbot Katrina aus - nun - Sicherheitsgründen jeden weiteren Umgang mit Tomasi. Nun scheint es, als habe sie über ihre Sekretärin den Kontakt zu ihm gegen meinen Willen und heimlich aufrecht erhalten.« Boris Baron von Kradoc hielt einen Moment inne. »Möglicherweise ist dieser Tomasi auch gefährlicher als angenommen. Ich hatte sowieso den Eindruck, dass Katrina ihn unterschätzt. Vielleicht hat er auch mehr Einfluss auf sie, als gut für sie ist.« »Sie meinen, Katrina hat uns verraten?« »Wenn, dann sicherlich nicht ganz freiwillig. Es könnte aber auch sein, dass unser Sicherheitsleck in Sandy Davis besteht. Auch sie ist zweifelsohne mit Tomasi in Kontakt gekommen.« Er dachte einen Moment nach. »Durch Katrina wissen wir, wo Tomasi wohnt. Du wirst dorthin fahren und versuchen, die Sache zu klären. Weder Katrina Stein, noch Sandy Davis ist in dieser Sache zu vertrauen. Gehe also kein Risiko ein. Ich erwarte aber, dass zumindest Katrina wenn möglich - auch bei erwiesenem Verrat - lebend zu mir gebracht wird.« Bruce nickte. »Und wenn sie in Schwierigkeiten sind, hole ich sie da raus. Hab verstanden. Ich bin schon unterwegs.« * Immer mehr Schaum quoll aus der Schale und formte einen bunt schillernden Klecks. Die Schale kippte um, rollte ein Stück, bis sie gegen den leblosen Körper Pfettners stieß. 63
Über den magischen Kreisen begann die Luft zu flimmern. Sie schien sich zu verdichten und wie eine Glaskuppel die übrige Welt auszuschließen. »Nun wird es geschehen«, triumphierte Babriel. Durch den Schleier verdichteter Luft hindurch konnten sie beobachten, dass der Schaum zusammenfiel, sich verdichtete und zu einer Masse von glänzendem Schwarz wurde. Katrinas Kopf hing schlaff in ihrem Nacken. Ihr Haar breitete sich wie Teppich zwischen den beiden Armen des Kreuzes aus. Es schmerzte so sehr, trotzdem zwang sie sich nun, den Kopf zu heben. Sie spürte deutlich, dass etwas geschah. Ihr Hals zitterte, ihre Nackenmuskeln brannten, aber sie wagte nicht, den Kopf zu senken. Dort bewegte sich etwas! Eine schwarze Masse regte sich, begann wie unter Atemzügen zu pulsieren, wandelte sich, formte sich zu einer Art von Schnecke, begann sich langsam in die Richtung der gefesselten Katrina vorzuschieben. Ihre Muskeln begannen unkontrollierbar zu zittern, dann versagten sie den Dienst und ihr Kopf fiel zurück, sodass sie mit nach hinten gebogenem Hals gegen die flimmernde Wand der magischen Kuppel schauen musste. Sie spürte förmlich das Näherkommen dieser widerwärtigen Masse. Sie zuckte, weil sie glaubte, die Berührung bereits zu empfinden, die schleimige Masse auf ihrer Haut, das saugende Geräusch, das Eindringen ... »Was war das?«, rief Babriel, als das Geräusch von berstendem Holz erklang. Irgendjemand hatte die Wohnungstür eingetreten. * Als Bruce Darkness den Vorhang zur Seite riss, brauchte er erst einmal einen Augenblick, um zu verstehen, was vor sich ging. Dann handelte er ... Er wollte das schwarze, schneckenähnliche Etwas unter seinem Fuß zerquetschen. Doch sein Tritt wurde von dem Schutzkreis aufgehalten. Frustriert sah sich der Vampir um. Dann sah er, dass die Kerzen außerhalb des Bannkreises aufgestellt worden waren. Der Kreis diente in erster Linie dazu, etwas darin zu halten. Kurzerhand zerquetschte er einige der Kerzen unter den Sohlen seiner Bikerstiefel. Babriel schrie auf. »NEIN!« Lucanor Tomasi war von dem Schock immer noch wie gelähmt. Die schimmernde Kuppel brach zusammen. Bruce sprang vor und traf das kriechende Schneckending, das gerade Katrinas bloßen Oberschenkel erreicht hatte, mit einem Tritt. Es gab ein lautes Klatschen, dann troff wässriger dunkler Schleim von der Wand. 64
»Das kann nicht sein!«, rief Babriel panisch. »Tyria!« Der Vampir fuhr herum und traf Tomasis Brust mit einem Ellbogenschlag. Bevor dieses erste Opfer den Boden berührt hatte, stürzte sich der Vampir auf den weiß Gekleideten. Er hatte jetzt endgültig die Schnauze voll von diesem aufgeblasenen ExEngel. Er holte aus, wollte seine Faust direkt in das ebenmäßige Gesicht seines Widersachers krachen lassen ... Doch sein Arm wurde festgehalten, als klemme er in einem Schraubstock. Bruce wandte den Kopf. Er musste ihn etwas in den Nacken legen, um in das Gesicht der Dämonin schauen zu können, der hinter ihm aus dem Nichts aufgetaucht war. Die ledernen Schwingen schleiften an der Decke entlang, ihr Fächeln ließ die Luft in pfeifenden Stößen durch den Raum toben. »Hallo, kleiner Bruce«, grollte das Monster und fabrizierte etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte. Die riesigen Reißzähne ließen es jedoch nicht besonders freundlich aussehen. »Hi, Tyria!«, rief Bruce, während er bereits sein Hiebmesser unter der Jacke hervorzog. Die Dämonin zog die Lefzen noch weiter nach hinten, entblößte noch mehr zolllange, spitze Zähne. Dann schmetterte sie den Vampir wie eine übergroße Fliegenklatsche gegen die Wand, ohne seinen Arm loszulassen. Bruce hörte seine Knochen krachen. Sein Messer wurde ihm aus der Hand geprellt. Doch er kam gar nicht dazu, auf dem Boden aufzuprallen, denn sofort riss Tyria ihn wieder in die andere Richtung. Und diesmal ließ sie ihn los. Der Vampir segelte hilflos auf eins der großen Fenster zu. Er schaffte es gerade noch, die Arme schützend vor seinen Kopf zu legen, dann donnerte er gegen die Scheibe. Es handelte sich um Sicherheitsglas. Es bekam zwar einige Sprünge, zersplitterte jedoch nicht. Bruce sackte benommen zusammen. Beide Arme waren gebrochen, die Heilung würde einen Moment dauern. Aber diesen Moment hatte er nicht. Als Tyrias Schatten auf ihn fiel, blickte er auf. Und bevor er noch in irgendeiner Form reagieren konnte, trat die Dämonin zu. Eigentlich trat sie gar nicht zu, sondern stellte sich einfach mit einem ihrer riesigen, Krallen bewehrten Füße auf seinen linken Unterschenkel. Das reichte aus, um sein Schienbein geräuschvoll brechen zu lassen. Bruce schrie auf. Er war am Ende, konnte einfach nicht mehr. Er sah Babriel, der höhnisch auf ihn runter lächelte, sah Tyria, die seine gebrochenen Arme umfasste und ihn hochzerrte. »ES REICHT!« Die Stimme war gar nicht besonders Laut, trotzdem donnerte sie durch den ganzen großen Raum. 65
Benommen hatte Katrina beobachtet, wie Bruce ins Zimmer gestürmt war. Er hatte den Schutzkreis durchbrochen und dieses widerliche, schwarze, schleimige, eklige ... Sie schüttelte sich. Er hatte es getötet. Was aber fast genauso wichtig war: Er hatte Tomasi, diese miese kleine Ratte, niedergeschlagen, und Katrina konnte spüren, wie in ihrem Inneren eine Barriere zusammenbrach. Sie konnte ihre besonderen Fähigkeiten wieder einsetzen. Als dieses Ungeheuer - der Beschreibung nach, die sie bekommen hatte, war es wohl Tyria - Bruce gegen die Wand schleuderte, und der sein Messer fallen ließ, ergriff Katrina die Klinge mit ihren schwachen telekinetischen Kräften und schnitt sich hastig los. Als die Vampirin sich unbemerkt aufrichtete, zerquetschte Tyria gerade Bruces Bein. Einen Augenblick überlegte Katrina, ob sie abwarten sollte, bis Bruce vernichtet worden war, bevor sie einschritt. Doch das war ihr dann doch zu gefährlich. Möglicherweise wurde ihre Macht ein weiteres Mal blockiert. »ES REICHT!«, sagte sie, und ihre Anwesenheit erfüllte göttergleich den Raum ... Die Köpfe eines gefallenen Engels, einer Dämonin und eines zerschlagenen Vampirs ruckten zu Katrina Stein herum. Nackt und bloß stand die Vampirin da, der Körper mit dunklem Schleim besudelt, die Haare wirr und zerzaust. Und doch nahm sie eine unglaublich majestätische Pose ein. Mit einem Mal wusste Bruce nicht mehr, wie er sie je nicht hatte lieben können. Wunderschöne, begehrenswerte, göttliche Katrina. Er bemerkte, dass sein Mund offen stand und schloss ihn so hastig, dass seine Zähne hörbar aufeinander klackten. Tyria ließ ihn fallen, wo er hilflos liegen blieb, und sackte auf die Knie. Sie machte sich ganz klein, um nur ja nicht diese gottgleiche Vampirin zu überragen. Nur Babriel schien unbeeindruckt. »Oh, bitte«, rief er genervt aus. »Muss das jetzt sein? Tyria! Steh auf!« Doch die Dämonin reagierte nicht. Sie war völlig auf die vor ihr stehende Katrina Stein fixiert. Jetzt richtete die Vampirin sich an das gigantische Monster. »Tyria! Möchtest du mir einen Gefallen tun?« Die Dämonin nickte heftig. Wäre sie ein Hund, würde sie jetzt mit dem Schwanz wedeln, dachte Babriel wütend. »Dies«, fuhr Katrina Stein fort und wies auf den gefallenen Engel. »Dies ist mein Feind.« 66
Tyrias Kopf fuhr herum und sie starrte Babriel knurrend an. Oh, verdammt, schoss es dem ehemaligen Streiter Gottes durch den Kopf. Er machte einen schnellen Schritt auf seine Gefährtin zu und berührte sie an der Schulter. Er musste die riesige Dämonin aus dem Einflussbereich der Vampirin bringen! Gemeinsam lösten sie sich auf. Als sie verschwunden waren, sah Katrina Stein den am Boden liegenden Bruce kalt an. »Es wäre hilfreich«, sagte sie, »wenn du dich endlich heilen würdest, um mich hier wegzubringen.« Der Vampir nickte fast ebenso heftig, wie zuvor die Dämonin. Er würde tun, was dieses göttergleiche Wesen von ihm verlangte ... Und dann stand da wieder nur Katrina - nackt und schmutzig und schwach. »Dafür werdet ihr bezahlen!«, keuchte Lucanor Tomasi, der sich gerade hochstemmte. Blut rann aus seinem Mund, und sein Atem ging rasselnd. Doch um seine Hände zuckten helle Funken, und das sonst blind wirkende Auge leuchtete rot. Bruce lag immer noch hilflos auf dem Rücken. Katrina war wieder eine normale, nicht besonders kräftige Frau. Die Funken an Tomasis Händen wurden zahlreicher und heller. »Warum nur Luca?« Auch der fette Magier stemmte sich in die Höhe. »Wir waren so nahe davor. Wir hätten alles haben können. Alles. Aber du, du hast...« Der Blick aus den Augen des Nikophorus Pfettner machte seinen einstigen Freund und Assistenten willenlos. Pfettner saugte mit einem Heulen die Luft ein, ein Zittern lief über seine Fettmassen, dann richtete er sich langsam weiter auf, als würden ihn unsichtbare Fäden in die Senkrechte ziehen. Eine Träne quoll aus den Augen des Magiers. Langsam schob er sich Schritt vor Schritt vorwärts. Mit ausgestreckten Armen, wie ein Schlafwandler, versuchte er, das Gleichgewicht zu halten. Dann verzerrte Wut Pfettners Gesicht zu einer boshaften Fratze. Seine Augen funkelten hasserfüllt aus ihren Fettpolstern heraus, die Nase blähte sich zu Nüstern, die Hände formten sich zu zitternden Klauen. Langsam wie ein Reptil kroch Pfettner auf Tomasi zu. Der Saum des langen Gewandes schleifte durch den Staub der magischen Kreise, berührte den Docht der letzten flackernden Kerze. Gierig fraßen sich die Flammen durch den Stoff, sprangen wie bettelnde Hunde an seinen Bauch, seine Brust, erfassten seine Haare, hüllten Pfettner 67
ein. Pfettner erreichte Tomasi und umarmte ihn. Gemeinsam, aneinander gekrallt wie ein Liebespaar im Rausch der Vereinigung, stolperten sie gegen die Fensterwand. »Luca, warum nur ...«, flüsterte der fette Magier wimmernd. Pfettners Gewicht zerdrückte Tomasi. Der schnappte nach Luft und gurgelte, die Flammen erfassten auch ihn. Das Glas knackte und vibrierte. Es war die Scheibe, mit der auch Bruce schon zusammengestoßen war. Mit einem Knall zersplitterte sie vollends. Pfettner und Tomasi stürzten in die Tiefe - eine lodernde Fackel, von einem Splitterhagel begleitet, taumelnd, sich überschlagend, gebildet aus zwei Körpern, die im selben Moment auf dem Boden zerschmettert wurden. Katrina starrte entgeistert auf das zerstörte Fenster, aus dem eben ihre beiden Peiniger gestürzt waren. Währenddessen stand Bruce vor Schmerz stöhnend langsam auf. Er humpelte zum Fenster und sah hinab. Dann blickte er Katrina Stein an. Er fing bei den Füßen an und ließ seinen Blick langsam hochwandern, bis er ihr direkt ins Gesicht schaute. »Die kommen nicht wieder«, sagte er beruhigend, um dann mit einem Grinsen fortzufahren. »Na komm! Der Baron hat beschlossen, dass dein hübscher Arsch es wert ist, gerettet zu werden. Wir sollten hier jetzt nicht auf den Sonnenaufgang warten.« Er schlang einen Arm um ihre nackte Taille und grinste so breit, dass er beinahe seine Ohren verschluckt hätte. »Katrina, ich glaube, dass ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.« Und zum ersten Mal, seit er sie kannte, war Katrina Stein sprachlos ...
ENDE
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Als Kind musste Celestine Draven mit ansehen, wie ihre Eltern von Vampiren getötet wurden. Seit sie von der Existenz der Blutsauger weiß, hat sie nur noch eins im Sinn - Rache! Draven, die Jägerin hat ein Ziel. Sie wird Bruce vernichten,
Draven, die Jägerin von David Burnett Celestine Draven hatte das Gesicht eines Engels und das Aussehen einer Schlampe! Ihre schlanken Schenkel steckten in hauteng anliegenden Fetzenjeans, und der Stoff des schwarzen Tank-Tops spannte sich wie eine zweite Haut über ihre wohlgeformten Brüste. Das knallrote, zu fingerdicken Dreadlocks verfilzte Haar reichte bis über die Schultern. Das Auffälligste an dem Girl waren die Augen. Sie waren von einem so klaren, intensiven Blau, wie man es nur selten sah. Doch jetzt, da Draven vor der heruntergekommenen Baracke in einer schäbigen Ecke von SoHo stand, veränderten sich ihre Augen plötzlich. Das strahlende Blau verschwand, und die Augen begannen so gelb zu leuchten wie die hoch am Himmel stehende Sonne... Draven spürte es.
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