Das Ende der Reise
MARCEL DYKIERT
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Das Ende der Reise
MARCEL DYKIERT
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(c) Copyright ausschließlich dieses E-Books by X-Zine Frankfurt/Main, Jens Peter Kleinau. Verbreitung, Nachdruck (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung von X-Zine Frankfurt oder vom oben genannten Autor. Alle weiterfüh rende Rechte und Pflichten verbleiben bei oben genannten Autor.
Es ist das Nebelhafte, Unbegreifbare. Wenn Du es triffst, wirst Du seinen Kopf nicht sehen, und wenn du ihm folgst nicht seinen Rücken. (Laotse) Can you hear the dolphin cry? („The dolphins cry”, Live)
Silth'maelen brach sich ein letztes Stück von dem Brot ab und tunkte es in die dicke, braune Soße. Das Volk der Elfen brauchte nicht viel Nahrung zu sich nehmen und der Braten war so gehaltvoll, daß er vermutlich bis zum Ende der Woche davon gesättigt sein würde. Müde lehnte er sich auf der hölzernen Bank zurück und griff nach dem einfachen Kelch, der in der Vertiefung auf dem kleinen Tisch stand. Das klare Wasser belebte ihn und zufrieden dachte er an den Fang, den sie heute gemacht hatten. Wie die meisten Männer, die so lange Wale jagten, wie er es tat, hatte er ein Gefühl für die Routen entwickelt, die die friedlichen Riesen auf ihren Reisen nahmen und diese Intuition hatte ihnen heute eine sehr reiche Beute beschert. Der Tran von nicht weniger als sechs Nordlandwalen schwappte, sicher verstaut und mit Wachs versiegelt, in den Fässern im Bauch der „Rifftänzer”. Silth'maelen schloß seine großen Augen und lauschte nachdenklich. Seine Männer, es handelt sich ausschließlich um Menschen, hatten mit dem Feiern aufgehört und das kam ihm merkwürdig vor. Nein, er hörte nichts, außer dem ruhigen Auf und Ab der Wellen und ... Er hörte nicht einmal mehr die Seemöwen, die sich eigentlich um die Kadaver leewärts der „Rifftänzer” streiten sollten. Das Schiff knarrte leise, als wäre es ebenfalls müde. Kein Gesang, keine schweren Schritte auf den Planken, keine Gespräche und kein Zusammenstoßen tönerne Humpen. Plötzlich war Silth'maelen hellwach. „Noret?” Noret war sein erster Maat und die Zuverlässigkeit in Person. Da er ein gläubiger Shaal'arit war, trank er nicht einmal bei einer Gelegenheit wie dieser. Der Elf arbeitete bereits seit vielen Jahren mit dem grauhaarigen Mann zusammen und er hätte ihm, ohne zu zögern, sein Leben anvertraut. Aber jetzt antwortete Noret nicht. Seine kleine Crew war unter ihm quartiert und bis auf den Steuermann waren alle unter Deck. Silth'maelen erhob sich und ging zu der hölzernen Tür, die die Kabine des Kapitäns von dem schmahlen Gang trennte. Noch immer hörte er nichts. Im Vorbeigehen griff er nach einer der Laternen, die seine Kabine spärlich erleuchteten, bückte sich leicht und ging zu Stiege, die nach unten führte. Das Schiff knarrte nun nicht mehr, es lag ganz ruhig auf der See und verblüfft hielt er einen Moment inne. Selbst die Wellen schienen, als wären sie weiter weg, als läge das Deck der „Rifftänzer” viel höher. Die Flamme, die er hinter das milchige Glas seiner Lampe gesperrt hatte, loderte plötzlich hell auf und ging dann aus. Erschrocken ließ er die Laterne fallen. In der darauffolgenden Dunkelheit schien ihm die Stille plötzlich viel bedrückender, einengender. Er tastete nach der Lampe, aber das Feuer war ohnehin aus und er gab ihr einen Tritt, so daß sie die Stufen hinunterrollte. Im gleichen Moment verfluchte er sich dafür. Ihm war, als hätte er jemandem seine Position verraten, laut gehustet, obwohl er wußte, daß er von Feinden umzingelt war, Feinde, die nur darauf warteten, daß er einen Fehler ... Unsinn. „Das hier”, sagte er sich grimmig, „ist immer noch mein Schiff.” 1
Aber der Klang seiner Stimme beruhigte ihn keineswegs. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er unwillkürlich geflüstert hatte. Das etwas nicht stimmte, bezweifelte er nicht. Festen Schrittes, absichtlich laut auftretend, ging er zu seiner Kabine zurück und griff im Dunkeln nach dem Griff seines Schwertes. Das Gewicht der schweren Waffe beruhigte ihn. Er war, gerade in der Nähe der Laankam Inseln, schon öfter von Piraten überfallen worden und die Klinge hatte ihm bereits mehr als einmal gute Dienste erwiesen. Sie war kurz und sehr breit, fast sah sie aus wie das Beil eines Fleischers. Das Schwert war auch in den sehr engen Gängen eines Schiffes leicht einzusetzen und er verteidigte seine Ladung und sein Leben nicht zum ersten Mal. Es war auch keineswegs so, daß ihm noch nie etwas sonderbares auf hoher See zugestoßen wäre und mit einem unangenehmen Prickeln im Nacken dachte er an die „Küstenroß”, ein Schoner, dem er mit seine Mannschaft einmal begegnet war. Der flache Dreimaster, ein Schiff, das nur für die Küstenregionen gebaut worden war, trieb herrenlos auf hoher See. An Bord hatte ein Kampf stattgefunden, überall Blut, zerbrochenes Mobiliar und sogar Löcher in der Schiffswand. Aber von der Mannschaft fand sich, von den Blutspritzern einmal abgesehen, keine Spur. Natürlich hatten sie Seeräuber im Verdacht, aber die Ladung, vor allem Gewürze aus Hattmur, war unberührt. Zunächst wollten sie die „Küstenroß” zum nächstgelegenen Hafen schleppen, aber Noret war dagegen gewesen. Er hatte keinen Grund nennen können, nur ein unüberwindliches Unbehagen und nach einer Weile stimmten ihm immer mehr Männer zu; keiner wollte dieses verdammte Schiff in seinem Rücken haben und unter ihnen waren immerhin nicht wenige, die dem Tod jeden Tag mit einer Harpune in der Faust ins Auge schauten. Doch sie alle spürten etwas, was Silth'maelen nicht fühlen konnte. Sie hatten schließlich einen Brand auf dem Schiff gelegt und ein Gebet für die Seelen der Männer gesprochen, die dort so offensichtlich ihr Leben verloren hatten. Er fragte sich, ob es dort wohl genauso angefangen hatte? Ärgerlich über sich selbst wischte der Kapitain der „Rifftänzer” den Gedanken beiseite. Im fahlen Licht der Sterne sah er, wie seine Knöchel weiß hervortraten. Er wollte gerade aus seiner Kabine treten, als er Schritte auf der Treppe hörte. Sein erster Gedanke war es, etwas zu rufen, aber die Erleichterung wich schnell einer bösen Vorahnung und er biß sich rasch auf die Zunge. Die Schritte waren schwer und schleppend. Manchmal gingen die Matrosen so zu Bett, wenn sie zu viel getrunken hatten, aber aus irgendeinem Grund glaubte der Elf nicht, daß er es mit einem Betrunkenen zu tun hatte. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug und seine Handflächen feucht wurden. Die Schritte hatten mittlerweile den Gang erreicht und steuerten auf seine Tür zu. Lautlos glitt er in den Raum zurück und wartete, das Schwert in der Hand. Er konnte gar nicht glauben, daß es nur wenige Momente her sein konnte, als er sein Essen genossen hatte. Der Geruch hing noch in der Kajüte, ein leiser werdener Gruß aus einer fernen Welt. Die Schritte hatten die Tür fast erreicht. Hier oben hallten sie unnatürlich laut in dem hölzernen Gang und Silth'maelen überlegte rasch, wer seiner Männer so schwer sein mochte. Trian? Aret? Jael? Nein, seine Harpunierer waren alle drei große, schwere Männer, aber keiner von ihnen würde beim Gehen einen solchen Krach machen. Anselm? Der Smutje war zweifelsohne der schwerste Mann an Bord und sein Gewicht machte ihn zu einer willkommenen Zielscheibe für Spötteleien aller Art, aber was dort ... die Tür öffnete sich. Die großen Augen des Elfen weiteten sich. Er erkannte den Mann nicht, aber im blassen 2
Mondlicht schien es, als hinge ihm das Gesicht in Fetzen. Seine Kleidung war blutüberströmt und Blut tropfte von seinem fransigen Kinn. Der andere hielt einen Moment inne, als müßte er nach dem Kapitän suchen, dann setzte er sich schwerfällig in Bewegung. Langsam, fast mechanisch hob er die Arme und taumelte auf den Elfen zu. Silth'maelen hob die Klinge. Er drohte, ihm mit zittriger Stimme, ihn zu töten, wenn er nur einen Schritt näher käme, aber seine Worte machten offenbar keinen Eindruck auf den Mann. Seine schwerfällige Unbeholfenheit war trügerisch; als ihn nur noch eine Armeslänge von Silth'maelen trennte, griff er blitzschnell zu. Der Elf war jedoch noch schneller, tauchte unter den massigen Armen hinweg und schlug sein kurzes Schwert mit aller Kraft in den fleischigen Rücken. Die Klinge verschwand bis zum Griff im Körper seines Gegenübers. Mit einem Ruck lief der Mann nach vorne und torkelte mit dem Schwert im Rücken umher, bis er nach wenigen Schritten schließlich gegen den Tisch lief. Das Wasser aus seinem Krug lief ihm über den Körper und vermischte sich mit seinem Blut. Neben der Bank blieb er liegen und der Elf zählte langsam bis zehn. Noch immer tat sich nichts. Die Ruhe floß in den Raum zurück, spülte den Lärm des kurzen Kampfes und des Falls hinfort und ließ ihn mit der unbekannten Leiche und der Dunkelheit allein zurück. Er holte tief Luft. Er brauchte seine Waffe wieder. Außerdem wollte er wissen, wer ihn angegriffen hatte. Vorsichtig, noch immer traute er sich nicht, ein Geräusch zu machen, das ihn verraten könnte, ging er auf den reglosen Körper zu. Der Mann lag auf dem Bauch und so zog er das Schwert aus dem Rücken wie aus einer Scheide. Er wischte das Blatt an der Hose seines Angreifers ab und zog ihn dann an den Stiefeln hervor, denn sein Oberkörper lag unter dem Tisch, und drehte ihn um. Die blutbespritzte Schürze, die er trug, die Lederhose – es handelte sich doch um Jael, seinen Harpunierer. Aber was bei Orhans Licht war nur in ihn gefahren? Er beugte sich vor, um die Verletzungen zu begutachten, die er vorhin in seinem Gesicht bemerkt hatte. Was er sah, ließ ihn zurückzucken. Er wandte sich ab und hielt sich die Hand vor den Mund. Das schwere Essen schoß ihm sauer hoch, aber er übergab sich nicht. Jaels Gesicht war überhaupt nicht verletzt. Was er in Fetzten gesehen hatte, war das Gesicht Trians. Jemand hatte es abgeschnitten und der Harpunierer hatte es sich über sein eigenes gelegt. Wie benommen taumelte Silth'maelen zurück. Was für ein Wahnsinn war das? Er setzte sich erschöpft auf den hölzernen Boden seiner Kajüte. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, ganz ruhig zu bleiben, aber es fiel ihm zunehmend schwerer. Jael hätte sie nicht alle alleine umbringen können, oder? So oder so, er war nicht in Sicherheit und er mußte etwas unternehmen. Er stand auf, griff nach dem Schwert, das er neben sich gelegt hatte und machte sich zunächst eine zweite Laterne an. Elfen konnten in einer sternklaren Nacht fast so gut sehen, wie ein Mensch am hellichten Tag, aber im dunklen Schiffsbauch war er genauso benachteiligt wie alle anderen. Mit dem Licht in der linken und dem Schwert in der rechten trat er abermals auf den Flur und ging raschen Schrittes zur Treppe. Die wenigen Stufen hinab in die Finsternis hatte er schnell hinter sich gelassen. Er war schon lange nicht mehr hier unten gewesen, denn natürlich beteiligte sich der Kapitän nicht an den Verladearbeiten und die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sauberkeit in dem großen Mannschaftsraum oblag Noret. Hoffentlich ging es seinem alten Freund gut, aber irgendwie ahnte er, daß das 3
nicht der Fall sein würde. Das ganze untere Deck war nicht weiter unterteilt. Lediglich die Masten bohrten sich wie Wirbelsäulen durch den mächtigen Rumpf der „Rifftänzer”. Die Betten der Mannschaft waren entlang der Schiffswand angebracht, die auf dieser Höhe nicht besonders stark gekrümmt war. Ein breiter Schacht in der Mitte führte auf das unterste Deck, wo sich die Tranfässer und andere Vorräte befanden, aber Silth'maelen hatte für nichts von alledem einen Blick. Er schaute nicht einmal auf den Rest seiner Crew, der hier in kleinen Gruppen stand und anderen Männern die Haut vom Körper zog. Er sah weder die blutigen Überreste des Schiffsjungen Holli, noch beachtete er die Bißspuren, die sich an den kleinen Armen und Beinen befanden. Er stand einfach nur da starrte in den Rasierspiegel, der von einem seiner Männer an den Hauptmast angebracht worden war. Im Schein seiner Lampe sah er sein Spiegelbild. Unter seinen blutig-goldenen Haaren sah er das achtlos übergeworfene Gesicht seines Freundes Noret. Es war zerissen und viel runder als sein eigenes, weswegen es an den Rändern hinabhing, aber er hätte dieses Gesicht überall erkannt. Als seine Männer auf ihn zukamen und einen Kreis um ihn bildeten, bemerkte er den seltsamen Nachgeschmack, den der Braten in seinem Mund hinterlassen hatte, und als sie sich auf ihn stürzten und ihn zerissen und zerbissen, da sah er seine Frau, wie sie ihm zulächelte. Aber das stimmte natürlich nicht. „Und da es das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme des vierten Tieres sagen: Komm! Und ich sah ein fahles Pferd und darauf einen fahlen Reiter und der Name des Pferdes ward Pestilenz und der Name des Reiters ward Tod und die Hölle ritt mit ihm.“ (Die Offenbarung des Johannes, sechstes Kapitel) „Hölle? Hölle ist nur ein Wort.” (Dr. Weir, „Event Horizon”)
Sie träumte. Lächelnd glitt Sie durch die rabenschwarze Finsternis und Sie bewegte Sich dabei mit einer Geschwindigkeit, die kein Fisch und kein Schiff je würde erreichen können. Den Weg zu Ihrer Beute kannte Sie ohnehin. Uralte, schleimgefüllte Kanäle entlang Ihrer gelatineartigen Haut leiteten elektrische Impulse in einen Raum in Ihrem Innern, in dem der Kurs längst feststand. Sie wußte, obgleich Sie fest schlief, daß Sie zu einem entscheidenen Punkt in Ihrer Existenz unterwegs war. An den eisigen Gestaden Amariens würde sich alles entscheiden. Ihr Leben würde dort enden. Oder aber, Sie würde den endgültigen Sieg davon tragen. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten. Dazwischen war nichts. Augenlose, wurmartige Fortsätze kontrollierten die Umgebung, registrierten jede Bewegung, das Schlagen kleiner Herzen von aufgeschreckten Fischen ebenso wie das rythmische Rollen der Wellen weit über Ihr. Und Sie träumte. In Ihren Erinnerungen war die Welt noch heiß und jung und kein Land störte Sie auf Ihren Wegen. An manchen Tagen mußte Sie sich tief in dem kühlen Schlamm verbergen, vor den Steinen, die vom Himmel fielen. Die Welt gehörte Ihr. Und so würde es wieder sein. Während Sie durch die kalte Dunkelheit glitt, entstanden in Ihrer Erinnerung die alten Reiche noch einmal neu, lebten auf und vergingen, während die Jahrtausende vorbeizogen wie der Sand in einer Stundenuhr. Der süße Klang von Millionen Schreien fuhr wie ein kühler Windhauch über Ihren massigen 4
Körper – Sie seufzte wohlig. Der Geschmack von Fleisch ließ Sie ehrfurchtsvoll erschauern. Das Knacken der winzigen Knochen, warmen Bluts und der unvergleichliche Geschmack einer Seele. Seele, allein das Wort, nein, die Erinnerung, vermochten schon einen Teil Ihres rasenden Hungers zu besänftigen. Sie waren so sanft und zerbrechlich diese Seelen. Aber ihr Geschmack, ihre letzte, innerste Substanz war – ja, sie war unsterblich und köstlich in ihrer Unvergänglichkeit. Die Reminiszenz der Seele ließ ihren Körper orgastisch zucken. Eine Walschule floh in Panik vor dem herannahendem Übel und glücklich lachte Sie in sich hinein. Als ob sie sich für diese hirnlosen Zwerge interessieren würde! Das Lachen breitete sich durch die Stille hin aus, zerstörte mit schrillem Kreischen die empfindlichen Hörorgane der friedlichen Riesen und verlief sich irgendwo im Schlick. Sie tauchte noch tiefer hinab. Sie träumte noch immer. In Ihrem Schlaf durchpflügte sie die Meere, passierte Länder, Inseln und Kontinente, aber nichts vermochte Ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Einmal kam sie an einem kleinen Schiff vorbei, einem Walfänger. Sie schaute kurz in die Herzen der Männer, aber sie langweilten Sie und so hielt Sie Sich nicht lange auf. Weiter oben sank die Temperatur, aber hier unten spielte das keine Rolle. Hier unten war es immer dunkel und immer kalt. Zu kalt für alle anderen. Nur das war Ihr geblieben. Aber nicht mehr lange. Nicht mehr lange. Sie erwachte. Sie näherte sich ihrem Ziel und mit jeder Meile, die Sie ihm näher kam, stieg Sie etwas weiter auf. In der ewigen Nacht erstrahlte Ihr erwachendes Bewußtsein wie ein Leuchtfeuer. Über Ihr, auf einer Eisscholle im Nordmeer, fraß eine Eisbärenmutter plötzlich ihre beiden Kinder. Ihr Jagdinstinkt war zusammen mit Ihr erwacht. Ihr Hunger nach Blut und Seelen war kaum noch zu bezwingen. Einige Hammerhaie sahen eine Art silbernes Zucken und in ihrem dumpfen Dahinvegetieren erwachte ebenfalls der Trieb. Schnell schwammen die Jäger auf die Beute zu – sie konnten nicht verstehen, was aus der Dunkelheit auf sie zuschoß. Durchsichtige Fäden, dünn wie Garn, aber nicht weniger stark als die tödliche Umklammerung eines Riesengronshars schossen auf sie zu, packten die verzweifelten um ihr Leben kämpfenden Fische und umarmten sie. Als sie an Ihren Rumpf gezogen wurden, waren sie kaum mehr leere Hülle, ausgeschlürft und als schlaffer Hautsack dem restlichen Unrat, der Sie bedeckte, angefügt. Sie merkte es nicht. Es war ein instinktiver Reflex, Ihre Gedanken waren längst woanders. Ihre Phantasien eilten Ihr voraus und warteten in Amarien auf Sie. Die Malebolga lächelte. Ich weiß nicht, was ich vorziehe, die Schönheit der Modulation oder die angedeutete Schönheit. Das Pfeifen der Amsel oder die Sekunde danach. (Wallace Stevens)
Er erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Mühsam richtete er sich in dem riesigen Bett auf. Seinen dröhnenden Schädel hielt er in den Händen, als könnte der Druck von außen dem Pulsieren Einhalt gebieten. Daaleryk war zu Hause. Er sah sich um. Nein, das stimmte nicht. Er war nicht in Neu-Umbar. Er hatte auch keine Kopfschmerzen. Das Schlafen war so ungewohnt. Verwirrt versuchte 5
er aufzustehen, aber seine Beine wollten noch nicht. Sein ganzer Körper schrie förmlich nach der Wärme des Bettes, der dringend benötigten Erholung und der einlullenenden Erinnerung an bessere Tage. Es klopfte nocheinmal. Richtig! Das Klopfen hatte ihn überhaupt erst geweckt. Wie Menschen jede Nacht schlafen konnten, war ihm ein Rätsel. Eigentlich war es ihm ein Rätsel, wie sie das Bett jeden Morgen verlassen konnten. Schlafen war so ... sonderbar. Wieso hatte er überhaupt geschlafen? Der Alb sah aus dem bogenförmigen Fenster. Das Licht der Sterne schien matt herein, aber es war nicht das Panorama des Finns, welches er sah, sondern nur ein Lichthof, irgendwo in dem gigantischen Palast. Die silbernen Lichtlanzen, die der nächtliche Himmel auf die Marmorfliesen warf, waren unendlich zart. Selbst seine scharfen Augen konnten sie kaum erkennen. Wie Spinnenweben aus Licht. Er sah nach oben. Seine Mutter hatte ihm früher immer gesagt, daß die Sterne nichts anderes wären, als Löcher im Mantel der Nacht. Die Tür öffnete sich. Shudden Mell hatte offenbar lange genug geklopft. Wo hatte er nur seine Gedanken! Der Paladin hatte bereits die Zeit gefunden, seine Rüstung anzulegen. Ein großer Anderthalbhänder hing über seinen Rücken geschnallt, der Griff schaute über seinen langen, spitzen Ohren hinweg hervor. In der linken trug er einen kunstvollen Kandelaber, in der rechten ein Tablett, auf dem eine einzelne Tasse Kaffee stand. Noch vor wenigen Wochen hätte Daaleryk den Kandelaber bewundert, sich in seinen Windungen und Drehungen verloren und die meisterhafte Hand gelobt, die ein solches Kunstwerk aus einem einfachen Stück Platin hervorgezaubert hatte. Aber nach ein paar Tagen im hochköniglichen Palast erfreuten in solche Dinge nicht mehr. Er war einer solchen Flut von Reichtum, Kunstgegenständen, Schmuck und Schönheit ausgesetzt, daß er abstumpfte und nicht einmal einen zweiten Blick darauf warf. Mells Rüstung machte da keine Ausnahme. Zwar stammte sie von Cyriamoth, aber die verschlungenen, heiligen Symbole interessierten ihn ebensowenig, wie der Wert des Plattenpanzers. Der Kaffee war viel verlockender. Er sah vier Kaffeeringe auf dem Silber; der Alb war also bereits bei seinen Freunden gewesen. Ernst sahen sich die beiden in die Augen. In diesem Moment der absoluten Verbundenheit und der Stille dachten sie dasselbe und sie wußten es. Sie ist irgendwo da draußen, bahnt sich Ihren Weg durch die eiskalten Fluten und kennt nur ein Ziel; die totale Vernichtung der Millionenstadt. Sie würde nicht ruhen bis auch die letzte Mauer in sich eingestürzt war und das letzte lebende Wesen den Tod gefunden hatte. Daaleryk blinzelte, eine Bewegung, die für einen menschlichen Betrachter von verwirrender Länge war, denn die fast durchsichtigen Augenlieder der Alben waren riesig. Sie war schon ganz nahe, so nahe. „Beeil Dich lieber mit deinem Kaffee, ich habe die Knappen und Mädchen für genau 05:30 Uhr bestellt und ich denke, sie werden sehr pünktlich sein.“ Shudden Mell hatte noch viel mehr gesagt, aber er hatte nicht zugehört. Selbst wenn er es gewollt hätte, er konnte sich heute einfach nicht auf Knappen und Rüstungen konzentrieren. Man hätte meinen sollen, daß es Furcht oder Sorge seien, die sein Denken bestimmten, aber nein, es war vielmehr so, daß er sich auf überhaupt nichts konzentrieren konnte. Gerade dachte er an seine Mutter, dann bewunderte er das kalte Licht Orhans, dachte an die Malebolga, genoß den Kaffeeduft – es war zum Verrücktwerden. Es hätte so sein sollen, aber stattdessen bemerkte Daaleryk eine große Ruhe in sich. Ob es all jenen großen Männern so ging? Thissak, dem Elfen, der alleine neun Riesen im Kampf getötet 6
hatte, bevor er selbst fiel? Shasparr, der mit vierhundert Mann einen Paß gegen acht Legionen der Lugroki verteidigt hatte? Tellydor, der sein Leben im Kampf gegen einen Dämonengott verlor? Loryss, der Drachentöter? Hatten sie alle dem Unvermeintlichen ins Auge gesehen und getan, was getan werden mußte? Daaleryk schloß es jetzt zumindest nicht mehr aus. Er lächelte als ihm auffiel, daß ihm nur Helden eingefallen waren, die ihren unsterblichen Ruhm mit dem Leben bezahlt hatten, aber sein Lächeln gefror, als er sich umdrehte und nicht weniger als zehn ... Kinder? in seinem Zimmer sehen mußte. Sein erster Reflex war der Griff nach seiner Klinge, aber die Handtücher, Seifen, Öle, Kämme, die Kleidungsstücke, Rüstungsteile und Waffen beruhigten ihn augenblicklich. Nur sein Herz schlug ihm noch bis zum Hals. Ganz so ruhig, wie er dachte, war er wohl doch nicht. Einer der Jungen (Orhan, er war höchstens fünfzehn, und er war der älteste!) trat vor, verneigte sich elegant und tief und sagte mit fester Stimme: „Guten Morgen Herr. Ich bin Ja`haas Gendalin, ältester der Knappen und auserwählt, sie, als einen Gast unserer Kultur, durch den Ritus des Anlegens der heiligen Rüstung zu führen. Für das Fehlen von Vater Glioch muß ich sie um Vergebung bitten, aber er ist bereits bei ihren Mitstreitern. Die meisten der anderen heiligen Männer und Frauen sind bei den Truppen und stehen deshalb nicht zur Verfügung. Wir werden ohne ihn beginnen. Machen sie sich bitte keine Sorge, ich bin mit sämtlichen Schritten des Prozesses vertraut.“ Er machte eine Pause. Daaleryk sagte kein Wort, sondern sah ihn nur abschätzig an. Er mochte den Jungen nicht. In seiner Stimme lag eine Spur zu viel Selbstsicherheit, was für diese kleine Ansprache ganz erstaunlich war. Wie oft er sie sich wohl seit gestern Abend aufgesagt hatte? „Wenn ihr keine weiteren Fragen habt, Herr, dann können wir beginnen. Wir haben leider nur eine Stunde Zeit, dann werdet ihr im Frühlingszimmer zu einem gemeinsamen Mahl mit dem Kriegsherren erwartet.“ Gwyn war also zurück! Nicht, daß Daaleryk daran gezweifelt hätte, aber der Umstand, daß der neue Kriegsherr in der Stunde, in der er das Kommando übernommen hatte, für fast sechs Tage verschwunden war, war bei dem amarischen Adel auf wenig Gegenliebe gestoßen und sie hatten alle Hände voll zu tun gehabt, den Paladin in seiner Abwesenheit an der Macht zu halten. Eine Menge Fragen gingen ihm durch den Kopf, aber er dachte nicht daran, sich vor diesem Kind zu erniedrigen. Zweifelsohne würde er in einer knappen Stunde alle nötigen Informationen erhalten. Zwei der Mädchen, keines älter als zwölf, kamen auf ihn zu. Instinktiv wich er einen Schritt zurück, aber die beiden zögerten nicht und entkleideten ihn. Die nächsten zwanzig Minuten wurde er in der mitgebrachten Messingwanne geschrubbt, bis seine schneeweiße Haut krebsrot war. Kostbare Öle, Seifen und Düfte wurden von den anderen Mädchen in das Wasser gemischt, während Ja`haas in einem rhythmischen Singsang um den Beistand Orhans für die kommende Schlacht betete. Einer der kleineren Jungen brachte unsicher das Rasierzeug, aber ein strafender Blick des ältesten Knappen schickte ihn mit reuig gesenktem Haupt zurück an seinen Platz. Ob das Anreichen des Messers seine einzige Aufgabe gewesen war? Betörende Düfte und eine wohlige Wärme machten sich breit und fast hätte der Alb nocheinmal die Augen zum Schlaf geschlossen. Er streckte einen nassen Arm aus der heißen, dampfenden Wanne und augenblicklich reichte man ihm einen goldenen Pokal, gefüllt mit schwach 7
gewürztem, heißen Wein, der ihm wie ein reinigendes Feuer durch den Körper fuhr und seinen müden Geist ebenso wie seine Muskeln weckte. Seine Fingernägel wurden von zwei der Mädchen geschnitten, seine Fußnägel folgten. Dann fand das Bad – für Daaleryks Empfinden – ein jähes Ende. Man half ihm beim Aufstehen und trocknete ihn sorgfältig ab. Die Fenster waren alle beschlagen und der Alb verstand, welchen unglaublichen Luxus er gerade genossen hatte. Wasser in dieser Kälte heiß zu machen war zweifelsohne ein königliches Privileg – jedenfalls in den alten Tagen, lange bevor es Amarien gab. Hier und heute war es selbstverständlich, aber daß das Bad und das rituelle Anlegen der Rüstung ein sehr alter Brauch war, der sich irgendwo in den dunklen Tagen vor der Geschichtsschreibung verlor, daran zweifelte er nicht. Als er trocken, aber vor Kälte zitternd auf dem Marmorfußboden stand, folgte die Ölung. Diesmal wurde eine Salbe verwendet, der keinerlei Duftstoffe beigemischt waren, aber sie war sehr kühl und prickelte leicht. Die Aufgaben der Mädchen waren hiermit beendet. Respektvoll und mit einer Würde, die ihrem Alter kaum angemessen schien, traten sie zurück und stellten sich an dem Fenster in einer Reihe auf. Zwar folgten ihre Blicke auch dem Rest der Zeremonie - echtes Interesse, weder am Vorgang, noch an seiner Person, konnte Daaleryk in ihren leeren Augen aber nicht finden. Die Mädchen bezogen nun wieder Aufstellung und die Jungen wurden aktiv. Als erstes reichte man ihm leinerne Unterwäsche, so dünn, daß sie beinahe durchsichtig war. Sowohl Hose als auch Hemd wurden hinten mit feinen Schnüren zusammengebunden; entgegen seinen Erwartungen trug sich die einfache, ungefärbte Kleidung deswegen nicht unbequemer. Es folgte ein ebenfalls sehr dünne Lederhose, die an den Seiten zugeschnürt wurde. Alleine das Anziehen dieser Hose schien eine Ewigkeit zu dauern und Daaleryk hätte nicht einmal schätzen können, wie oft er die Frage, ob so alles richtig sitzen würde, mit „Ja!“ beantwortet hatte. Der Kleidung folgten dicke Lederstücke, die ihm bereits wie ein Harnisch mit den dazugehörigen Schienen für Arme und Beine angelegt wurden. Kniee und Ellbogen wurden extra umwickelt. Das Leder roch sehr intensiv, sauer, aber nicht unangenehm. Schon jetzt fand er die Kleidung schwer und hinderlich; er konnte seine Arme kaum durchstrecken und ihm war furchtbar heiß. Und dabei trug er noch kein einziges echtes Rüstungsstück! Das Leder wurde mit dünnen Schnüren fixiert und wieder war der genaue Sitz von größter Bedeutung für Ja`haas und seine Knappen. Überschüssiges Material wurde schnell mit langen Messern abgetrennt. Alles mußte fest und straff sitzen, aber nichts durfte einschneiden oder seine Beweglichkeit einschränken. Er sagte dem Jungen, daß er sich unwohl fühle und schon jetzt kaum einen Schritt machen konnte. „Das Leder ist noch etwas steif, Herr. Bereits nach einigen wenigen Schritten werdet ihr es gar nicht mehr spüren.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Amarische Ritter reiten seit Jahrhunderten so in die Schlacht.“ Daaleryk behielt seine Gedanken über amarische Kriegsbräuche für sich, es hätte ohnehin nur zu endlosen Diskussionen geführt, und mit einem Fünfzehnjährigen zu streiten, war so ziemlich das Letzte, was er jetzt wollte. Die Tür öffnete sich lautlos und vom Flur wurde die eigentliche Rüstung hereingeschoben. Wie ein Ritter stand sie ganz zusammengesetzt auf einem kleinen Wagen aus Gold, der von vier Männern geschoben wurde. Die vier 8
hoben nicht einmal den Blick, verbeugten sich respektvoll und verschwanden ebenso schnell und leise, wie sie gekommen waren. Die Knappen intonierten einem rituellen Gesang, aber Daaleryk hörte ihnen nicht zu. Die Rüstung war atemberaubend! Es war ein azurblauer Schuppenpanzer, dessen Wert der Alb nicht einmal annähernd zu schätzen wagte. Auf dem Brussteil war, in kämpferischer Position ein krähender Hahn zu sehen, Amariens Wappentier und Wahrzeichen. Ansonsten überraschte die ganz untypische Schmucklosigkeit. Ein wahrer Künstler schien hier am Werk gewesen zu sein, denn die Rüstung war gerade in ihrer Schlichtheit so wunderschön. Im Licht dutzender Kerzen schimmerte sie matt und ein Schauer durchlief den Krieger; daß er der Träger dieses Prachtstücks sein sollte, konnte er kaum fassen, ja, wagte es kaum zu denken. Die Knappen begannen mit den Stiefeln und schon jetzt wurde dem Alben klar, daß diese Prozedur noch erheblich länger dauern würde, als alle vorangegangenen zusammen. Nachdem sie ihn den rechten Eisenschuh angezogen hatten, wurde er einer Befragung unterzogen, die den Zweck hatte, auch die kleinste Druckstelle zu finden, sobald er einen unbequemen Sitz andeutete, wurde das Metallstück wieder ausgezogen und der Sitz, notfalls mit einem Stück Stoff korrigiert. Als seine Beine – Stunden später, wie es ihm schien – fertig gerüstet waren, forderte man ihn auf, ein paar Schritte im Raum zu gehen, die Beine durchzustrecken und sogar, einen kleinen Sprung zu machen. Zu seiner Überraschung behinderte ihn weder das Leder noch das Gewicht des Metalls, das lange nicht so schwer war, wie er gedacht hatte. Nach den ersten etwas unsicheren Schritten, wurde er selbstbewußter, rannte auf das Fenster zu, sprang kraftvoll ab und landete federnd in den Knien. Es war fabelhaft! Schnell lief er zurück, um den Rest der Prozedur endlich hinter sich zu bringen. Oberkörper und Arme folgten und falls das irgendwie möglich war, wurde hier mit noch mehr Präzision gearbeitet, ständig mußte er die Arme bewegen und die unmöglichsten Verdrehungen machen. Er überlegte, ob er nicht einfach sagen sollte, daß jetzt so alles in Ordnung sei, aber er wußte um den Wert der Genauigkeit; in der Schlacht konnte ein schlecht sitzender Riemen oder eine einschneidene Schnalle sein Schicksal besiegeln. So ließ er alles wortkarg über sich ergehen. Nach einer Ewigkeit war er endlich fertig. Der Schuppenpanzer schmiegte sich an ihn wie eine zweite Haut. Das Gewicht war nicht unbeträchtlich, aber er war sich sicher, daß er sich daran gewöhnen konnte. Dank der Vielzahl der Schuppen wurden seine Bewegungen nicht im mindesten eingeschränkt. Es war erstaunlich. Nun fehlte nur noch ein letztes Detail. Der kleine Junge, der fälschlicherweise das Rasiermesser anreichen wollte, trug nun stolz ein blutrotes Samtkissen, auf dem eine Art Maske thronte. Ein eiserner Dornenring symbolisierte die Krone und über dem ganzen Gesicht erhob sich reliefartig ein goldener Hahn. In Daaleryks großen Augen stand Verwunderung, er konnte weder einen Riemen, noch sonst irgendeinen Mechanismus zur Befestigung entdecken. Die schwarzen Augenschlitze hatten etwas bedrohliches. Es war, als würde er durch sie in die Finsternis der amarischen Nacht blicken. Kälte ging von dem Ding aus und dem Krieger fröstelte. Die Tür ging auf und ein Mann lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich. An der zinnoberfarbenen Robe und dem charakteristischen Haarkranz identifizierte der Alb den Mann sofort als einen Diener Cays, dem Kriegsgott. „Entschuldigt, Herr, aber wir haben nur noch sehr wenig Zeit. Der 9
Kriegsherr erwartet sie bereits. Ich werde sie nun segnen und dann sind sie bereit, die Maske anzulegen. Am besten, wir beginnen gleich.“ Statt eine Antwort abzuwarten, bedeutete er Daaleryk, sich niederzuknien. Aus einem silbernen Tiegel, den eines der Mädchen anreichte, nahm er etwas farblose Masse, die einen intensiven Duft nach Tannennadeln verströmte und sich auf der Stirn des Alben wie Fett anfühlte. Der Priester summte einen einzigen Ton, hoch, fast schrill und für empfindliche Ohren fast unerträglich. Seine dicken Finger zeichneten offenbar heilige Symbole mit der Paste nach, aber der Mann schien keinem Muster zu folgen, verwischte älteres, übermalte und ergänzte. Als er fertig war, ließ er sich die Maske geben. Cays Priester lächelte und sagte ihm, daß es anfangs möglicherweise etwas ungewohnt sein könnte. Es fühlte sich an, als würde er seinen Kopf in Schnee stecken. Zuerst war es so kalt, daß er meinte, winzige Dornen würden sein Gesicht zerstechen, aber dann begann es zu kribbeln, als bestünde die glatte Innenseite nun aus Ameisen. Daaleryk wollte sich die Maske vom Gesicht reißen, aber sie hatte sich scheinbar verformt, denn sie umgab nun seinen ganzen Kopf und er fand keinen erkennbaren Mechanismus, um sie zu öffnen oder auch nur eine Nahtstelle, an der man sie auseinanderdrücken könnte. Sie hörte erst unterhalb seines Halses auf, verjüngte sich aber dort derart, daß er sie nicht zu fassen bekam; immer wieder rutschten seine Finger von der glatten Oberfläche ab. Der metallerne Rand war mit seiner Haut verschmolzen! Der Alb wurde panisch. Was für ein Charonswerk war dies? Seine Finger fuhren hilflos immer und immer wieder über die harte Außenseite, aber es war zwecklos. Das Lachen von Vater Glioch drang durch seine Furcht zu ihm. Es klang, als hätte er auf genau diese Reaktion gehofft. Kurz darauf murmelte er: „Glesssyk terthk'erach meat koch dor!“ Das Metall zerlief zu einem zähen, aber immer noch kalten Schleim und war wieder die Maske, bevor Daaleryk blinzeln konnte. Es schien ihm fast ein Traum zu sein, ein böses Omen, das trotz seiner Unmittelbarkeit so irreal war, daß selbst die Maske in der Hand des Priesters vor ihm kein Beweis darstellte. „Was für ein unheiliges Ding ist das?“ Daaleryk hatte Schwierigkeiten, sich zu beherrschen. Der Mann, immerhin ein Priester, hätte ihn warnen müssen. Stattdessen hatte der Gottesmann nur darauf gewartet, daß er versagt, sich seiner Angst hingibt und selbst dann folgte keine Erklärung, keine Worte des Trostes, nichts, nur sein Lachen. Und jetzt stand Daaleryk ihm gegenüber, diesem fetten alten Menschen, sein Atem ging keuchend und sogar rasselnd und obwohl es nicht warm war, schwitzte er wie ein Schwein. In dem Alben erstarkte der Wunsch, diesen Mann, Priester hin oder her, niederzuschlagen, seine gepanzerte Faust in dieses fette Gesicht zu schlagen, um dann zu sehen, wer zuletzt lacht. Vor seinen geistigen Augen sah er Vater Glioch bereits zu Boden gehen, aber sein Zorn legte sich. Dieser Mann, Orhans Licht, er grinste immernoch so selbstzufrieden, hatte eine Strafe verdient, aber Daaleryk hatte im Moment andere Sorgen. Er hatte sich zudem bereits lange genug zum Narren gemacht. Statt ihn zu schlagen, zog er sich den Handschuh aus, fuhr sich über sein Gesicht und sah den Mann fragend an. „Die Maske von Toth ist ein uraltes und höchst heiliges Artefakt, welches ausschließlich von den amarischen Hochkönigen getragen werden darf. Sie besteht aus einer Legierung, die sich all unseren Identifikationszauber erfolgreich entzieht. Im Feldeinsatz hat sich aber gezeigt, daß sie nicht nur allen 10
Formen des physischen Angriffs widersteht, sie schützt den Träger selbst noch vor Drachenfeuer! Wir vermuten, daß sie einst Teil einer Rüstung war, aber das ist natürlich nur eine Theorie. Zudem verschärft sie die Wahrnehmung des Kriegers und schützt ihn vor den Auswirkungen negativer Magie, was auf dem heutigen Feld des Ruhmes und der Ehre aber ganz und gar unnötig ist. Dort, ihr wißt es natürlich längst, kann nicht gezaubert werden. Die Maske kann nur auf magischen Wege aufgesetzt und auch wieder abgenommen werden. Der erste Hochkönig mußte sie achtzehn Jahre tragen, bis wir die Formel für den Spruch der Rückkehr ermittelt hatten.“ Er machte eine kurze Pause. „Eine solche Kostbarkeit ist natürlich für das Haupt eines Königs bestimmt, aber was der vom Rat der Fürsten gewählte Kriegsherr anordnet, daß ist Gesetz, ob es uns nun gefällt oder nicht.“ Daß es Vater Glioch nicht gefiel, brauchte er nicht extra zu erwähnen. Daaleryk war trotz des Tones des Mannes beeindruckt. „Gut. Bringt mir die Maske zu meinem Schlachtroß. Ich werde sie in der Schlacht tragen.“ Der Alb wartete einen Moment. „Nun entfernt euch endlich!“ Mit feindseligen Blicken und einer angedeuteten Verbeugung verließ der Priester das Gemach. Auch die Knappen wollten schnellstmöglich das Weite suchen, aber Daaleryk räusperte sich. Erschrocken hielten die Kinder inne. „Für eure Dienste danke ich euch. Ihr habt eure Sache sehr gut gemacht.“ Ja'haas Gendalin trat vor. „Ruhm und Ehre dem amarischen Ritter!“ Die anderen Kinder wiederholten es wie mit einer Stimme: „Ruhm und Ehre dem amarischen Ritter!“ Sie verbeugten sich und verließen den Raum. Der Alb war wieder allein. Und obwohl er wußte, daß die Zeit drängte, war es genau das, was er, wenigstens für einen kurzen Moment, brauchte. Es gab noch so vieles, worüber er nachdenken wollte. Samani, der Tod seiner Freunde, sein eigener Tod, die Sherkai, die Malebolga – er lächelte; Samani. Figul ji Natek trat auf den breiten Flur. Er fühlte sich fast ein bißchen nackt, denn die Rüstung, die man ihm zugewiesen hatte, besaß fast kein Eigengewicht. Auf dem Flur standen bereits Shudden Mell in seiner Ordensrüstung, Samira, die ebenfalls eine leichte Rüstung trug; auch ihre war eigentlich schwarz, irisierte aber im Licht der Fackeln schwach. Misandul trug einen amarischen Schuppenpanzer, der an Ellbogen und Knien, sowie an den Schultern mit martialischen Stacheln bestückt war, jede davon täuschend dünn, aber fast so lang, wie ein Bierhumpen. Den sonderbarsten Anblick bot jedoch zweifellos Erkenbrand. Die Physiognomie des Kryliten war so ungewöhnlich, daß sich in den amarischen Waffenkammern nichts finden ließ, was auch nur annährend über seinen insektenhaften Körperpanzer gepaßt hätte. Da die Zeit nicht gereicht hatte, um ihm eine eigene Rüstung zu schmieden, hatte man kurzerhand den Panzer eines größeren, gefallenen Kryliten ausgekocht, mit Stahl verstärkt und mit Stacheln versehen und so zog der Zauberer mit der Haut eines der seinen in die Schlacht. In einen runden Helm hatte man zwei Löcher geschnitten, die groß genug waren, um seinen Fühlern Platz zu bieten; ein Gurt befestigte ihn unterhalb der Mandibeln. Erkenbrand leckte sich mit langer, dünner Zunge nervös über die Augen. Da auf den Feldern vor dem Jo'troom 11
nicht gezaubert werden konnte, hatte er heute sicherlich den schwersten Stand. Seine Fähigkeiten waren unnütz, lediglich sein scharfer Verstand und seine Männer konnten ihm heute das Leben retten. Alle anderen wirkten sehr ruhig, wie immer, wenn sie zu einer letzten Besprechung vor einem Einsatz standen. Daaleryk fehlte noch. Ein wütender Vater Glioch, gefolgt von ein paar Knappen rauschte soeben den Flur ohne ein Wort des Grußes an ihnen vorbei und erinnerte den Halbling daran, daß sie nur Gäste in Amariens Hauptstadt und vor allem auch in diesem riesigen Palast waren. Gliochs Wut machte Figul rasend. Am liebsten hätte er ihm hinterher geschrien, daß es bestimmt nicht sein Wunsch gewesen war, die Malebolga von innen heraus anzugreifen und seine Freunde wollten bestimmt nicht den ganzen Generalsstab ersetzen, aber es hatte sowieso keinen Sinn. Auf all ihren Reisen hatte Figul nie ein Volk getroffen, das so starrhalsig war, wie die Amarier, Menschen wie Elfen. Allerdings mußte er einräumen, daß er auch nicht viel davon halten würde, müßte er zusehen, wie Fremde im eigenen Land das Kommando übernahmen, seien ihre Absichten auch noch so rein und edel. Aber das alles spielte jetzt keine Rolle mehr. Dieser Pfeil hatte den Bogen längst verlassen; alle Entscheidungen waren unumstößlich getroffen. Jetzt war es besser, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihnen lag. Die Nachricht, daß Gwyn zurück war, beruhigte den Dieb. Es wäre ein Katastrophe gewesen, wäre der Paladin nicht zurückgekommen. Er sagte, er hätte einen Plan und das war auch verdammt gut so, denn wie es schien, hatten alle anderen keinen. Wo immer er auch die Woche zugebracht haben mochte, es war zweifelsohne wichtig, denn ... ein Klopfen riß ihn aus seinen Überlegungen. Seine Rechte war sofort an dem Griff, der an seinem Waffengurt baumelte, bereit, die Klinge aus Feuer erscheinen zu lassen, aber es war nur Mell, der ungeduldig an Daaleryks Tür klopfte. Kurz darauf erschien der Alb in der gleichen Rüstung wie Misandul. Seine riesigen dunklen Augen sahen im schwachen Schein der Lampen sehr traurig aus, als hätten sie die Schlacht schon verloren. „Und jetzt?“ fragte Misandul? „Jetzt holen wir Gwyn und dann stärken wir uns erst mal.“ Nichts in Shudden Mells Stimme deutete darauf hin, daß er sich vor dem Tag fürchtete, dabei hatte auch er eine Aufgabe übernehmen müssen, die seinen Erfahrungsrahmen sprengte. Er kämpfte weder zu Wasser, noch zu Land; seine Feinde erwarteten ihn in der Luft. Gedankenverloren folgten sie einem der Diener durch die riesigen Korridore, die man in anderen Gebäuden zweifelsohne selbst schon als Hallen bezeichnet hätte. Weiße und schwarze Marmorplatten ergaben komplizierte Muster auf dem Boden, silberne, goldene und manchmal sogar rote Metalle wurden für Einlegearbeiten verwendet, die ein Vermögen gekostet haben mussten. In den meisten Bildern und Fresken fanden sich halb mythische Darstellungen der großen Schlachten der Vergangenheit und der Halbling fragte sich unwillkürlich, ob der heutige Tag einst eine neue Sektion in dem Netz aus Fluren und Gängen schmücken würde. Der Gang war sehr breit, zwei Fuhrwerke hätten bequem aneinander vorbei fahren können; die Entfernung zu der von Bögen und Säulen getragenen Decke mochte etwa 10 Meter betragen. Und doch war dies nur ein Gang von vielen. Sie liefen nebeneinander und wo immer sie auftauchten, sprangen die Bediensteten, die Fürsten und Damen zur Seite, verbeugten sich eilig, die meisten mit Respekt, einige widerwillig. Sie bogen um eine Ecke, wo 12
sich der Flur weitete und mitten im Gebäude ein Brunnen plätscherte! Frauen saßen stumm daran; an anderen Tagen mochte dies ein Ort sein, der von fröhlichem Lachen und leichten Gesprächen beherrscht wurde, aber heute nicht. Der Gang wechselte sein Gesicht, die Bodenplatten bildeten nun einfache Schachbrettmuster, dafür standen zwischen den Säulen nun die sechs Meter hohen Statuen von Männern, von Königen. Das Reich gab es seit fast tausend Jahren und so schien der Gang endlos lang zu sein und die steinernen Blicke ihrer Ehrengarde wogen schwer auf Figul. Links standen die Menschen, alle schauten ihn grimmig an, fast vernichtend und alle schienen ihm die Last aufzubürden, diesen Krieg zu gewinnen, um zu retten, was sie in den knapp tausend Jahre aufgebaut hatten. Rechts standen die elfischen Könige, sanfter, filigraner, freundlich; bis man ihnen in ihre toten Augen sah. Dann kam man nicht mehr umhin zu bemerken, daß ihr Lächeln grausam war und ihre Haltung kampfbereit. Amarien war in mehr als einer Hinsicht ein kalter Ort. Beinahe hätte er den Anschluß verpasst und so beeilte er sich, den anderen zu folgen. Keiner unter ihnen hätte auch nur den Ausgang gefunden, so labyrinthisch und riesig war die Anlage. Schon eine ganze Weile hatten sie keine Fenster mehr gesehen, was darauf hindeutete, daß sie sich im Herzen des Palastes befanden; ob über oder unter der Erde vermochte Figul nicht mit Sicherheit zu sagen, denn sie waren schon viele Treppen hinabgestiegen, aber nicht weniger hinauf und manchesmal hatte er festgestellt, daß einige der breiteren Gänge stark abschüssig waren und sehr wohl zwei der zahllosen Stockwerke miteinander verbinden konnten. Doch hinter einer Biegung, die Statuen der amarischen Könige lagen bereits hinter ihnen, veränderte der Flur noch einmal sein Aussehen; er war nur noch übermannshoch und aus einfachen, grob behauenen Natursteinen gefertigt. Kostbare Bienenwachskerzen oder magische Lichtquellen wurden durch einfache Pechfackeln ersetzt und keine Bilder, Statuen oder Wandteppiche reizten seinen Blick. Auch war hier deutlich weniger Personal in den schmalen Gängen. Den wenigen einfach gekleideten Männern, die sie trafen, traten fast die Augen aus den Höhlen, so sehr wunderten sie sich, so hohe Adelige, und was sonst sollten sie in ihnen sehen, in ihren bescheidenen Gängen zu treffen. Der Halbling war überrascht; er hatte stets angenommen, daß hier selbst die Ställe der Tiere aus Gold wären, aber dieser Teil des Palastes schien sehr alt zu sein. Die Flure waren hier gewundener, als schlängele man sich durch die Tiefen der Anlage. Die kleine Gruppe erreichte schließlich eine sehr einfache, eisenbeschlagenen Tür. Der Diener, der sie zielsicher hierher gebracht hatte, wirkte unsicher: „Der Kriegsherr spricht hier ein letztes Gebet vor der Schlacht. Er hält sich bereits die ganze Nacht in der Kapelle auf.“ Shudden Mell öffnete die niedrige Pforte. Die Dunkelheit des dahinterliegenden Raumes wurde nur durch eine einzige Kerze erhellt. Ihr winziges Licht spiegelte sich in einem Wasserbecken, so daß es kalt und blau wirkte. Ansonsten war hier nichts, abgesehen von einem alten Schild, zerbeult und zerspellt, auf dem sich einige gravierten Wellen befanden. Gwyn stand davor, mit dem Rücken zu seinen Freunden und betete.
Es gibt keine wahre Macht außer der Macht zu helfen, keine wahre Ehre, außer der Ehre zu retten. (John Ruskin)
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Shaala' ar usa thu in wazzar bist,
geuuihid si thin namo.
Cuma thin riki.
Uerda thin uuilleo so sama an kulthea,
so an them wazzarez rikea.
Gef us dago ghuuilikes rad
endi alat us managoro mensculdio
al so uue odrum mannum doan.
Ne lat us farledean letha wihti,
ac help us uuithar allun ubilon dadium.
Er verstummte und drehte sich um. Einen Moment lang war es ganz still, dann sagte Gwyn: „Möge Orhans Licht auf uns alle scheinen. Viel hängt von euch ab und ich kann nur hoffen, daß ich alles richtig gemacht habe. All die Männer, die heute meinem Ruf folgen, lasten schwer auf mir. “ Einen Moment lang hielt er inne und es war ganz still. „Ich schaufle ihnen ein riesiges Grab, kalt und leer und so furchtbar sinnlos. Und Ihr werdet auch alle sterben, weil ich es so wollte, weil ich es gesagt habe, weil ich ich einem ganzen Land meinen Willen aufzwinge.“ Seufzend wandte er sich wieder dem kaputten Schild zu. Er wollte gerade wieder ansetzen, als Erkenbrand das Wort ergriff. Seine Stimme schnarrte leise, aber eindringlich: „Die Männer vertrauen dir. Wir vertrauen dir. Du hast alles richtig gemacht.“ „Worte. Leere Worte.“, dachte Daaleryk, doch er sagte nichts. Niemand wußte, was der Kriegsherr in der letzten Woche eigentlich gemacht hatte oder auch nur, wo er überhaupt gewesen war. Tatsächlich erschütterte es den Alben ziemlich, den Paladin so zu sehen. In den vergangenen Tagen waren es stets Mells Zuversicht und Gwyns Unerbittlichkeit, die er sich nur vor Augen führen mußte, wenn ihm Zweifel kamen, an dem, was sie zu tun gedachten. Diese beiden Männer waren wie Anker für ihn und jetzt stand er hier, wenige Stunden bevor alles losgehen sollte und da mußte er erfahren, daß zumindest Gwyn genauso viel Angst hatte, wie er selbst, genauso an sich zweifelte, wie der Alb. Es war soviel leichter gewesen, nach oben zu schauen und dort einen hellen Stern am Firmament zu sehen. Wieviel ihm das bedeutete, merkte er erst jetzt. Aber dann kam ihm ein neuer Gedanke; war es nicht unfair von Männern wie Gwyn zu verlangen, daß sie die letzte Entscheidung treffen sollten? Zu wem konnte der Ritter aufblicken? An wen wandte er sich, wenn ihn die Zweifel überkamen? Wozu hatte man Freunde? Es herrschte einen Moment unbehagliche Stille und es war Shudden Mell, der als erster das Wort ergriff. „Ich möchte dir, nein, ich möchte euch allen, uns, ein Geheimnis verraten. Ob wir gewinnen oder verlieren, wird keine Rolle spielen. Das da draußen ist nur ein Kampf, und den mögen wir verlieren, aber gewonnen haben wir schon, weil wir aufgestanden sind, als sich das Böse erhoben hat. Wir beugen uns nicht, und das mag uns vielleicht gering vorkommen, aber das ist es nicht. Vergeßt niemals, warum wir das hier alles tun. Wir gehen da raus und 14
kämpfen, weil hier Menschen und Elfen leben und wir werden ihnen ein leuchtendes Vorbild sein – wir können gar nicht verlieren, weil wir ein Zeichen setzen, eine Botschaft verkünden. Das tatsächliche Ergebnis wird nicht wichtig sein.“ Gwyn lächelte traurig. „Falls wir verlieren, dann wird die Botschaft lauten: Wenn das mächtige Amarien die Malebolga nicht aufhalten kann, dann kann es niemand. Shaal' ar, wenn wir doch nur mehr Männer hätten.“ Der Alb schüttelte den Kopf: „Ein Dichter, ich glaube es war ein Mensch, hat einmal in einem Heldenlied geschrieben: „Mehr Männer? Nein, gebt mir nicht einen einzigen Mann mehr. Denn wenn wir hier versagen, dann sind wir genug, um unserem Land einen großen Schaden zuzufügen. Aber wenn wir siegreich sind, dann will ich den heutigen Ruhm mit keinem anderen teilen, außer meinen Brüdern hier. Und wer heute an meiner Seite hat gefochten, der soll, unabhängig von Stand und Geburt, mein Bruder sein. Nein, gebt mir nicht einen Mann mehr!“ Gwyn nickte. Er rührte sich keinen Schritt, atmete tief ein und sah seinen Ordensbruder fragend an. Der erwiderte den Blick. „Kommst du, Gwyn?“ „Ich glaube, ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie soviel Angst, aber ja, ich komme.“ Er verneigte sich kurz vor dem zerkratzten Schild, ging zu dem Becken, nahm eine handvoll Wasser und goß sie sich über die Stirn. Dann bedeutete er den anderen zu gehen. „Ich hätte gern noch einmal mit euch gegessen, aber ich fürchte, die Zeit wird jetzt nicht mehr reichen.“ Gwyn warf einen Blick in die Runde. „Es gibt noch so vieles, was ich euch sagen wollte, so vieles, wofür ich euch danken muß, aber ich fürchte, im Moment fehlen mir einfach die Worte, also nehmt mein Schweigen als Dank und meinen Segen als Priester als Zuspruch. Egal wo ihr heute sein werdet, meine Gedanken und meine besten Wünsche werden immer bei euch sein. Weiß Shaal' ar, daß ich lieber selbst an eurer Seite kämpfen würde, aber es hat nun einmal nicht sollen sein.“ Gemeinsam traten sie vor die winzige Tür und der Diener, zweifellos hatte er alles gehört, aber er hielt einen respektvollen Abstand ein, führte die kleine Gruppe wieder durch die verschlungenen Pfade der Anlage. Nach etwa zehn Minuten gesellte sich eine weitere Gestalt aus einem dunklen Seitengang hinzu: Graf Manderyllen. Sein Anblick beeindruckte Daaleryk; die Rüstung, die er trug, war, eben so wie seine Waffe, von typisch elfischer Machart. Sie schien zugleich uralt und ganz neu zu sein, die perfekte Synthese aus Erfahrung und bestem Material. Ihren Verzierungen war sehr verschlungen, komplex; fast organisch, denn obgleich sie zweifellos aus einer Art Stahl zu bestehen schien, wirkte sie weniger wie von Händen geschmiedet, sondern vielmehr als wäre sie ... gewachsen. Wie feine Ranken wanden sich stählerne Stränge um den Träger, winzige Wurzeln und Blätter sorgten gleichzeitig für Stabilität und ein Maximum an Bewegungsfreiheit. An den breiten Schulterstücken formten sich die feinen Verästelungen zu Dornen, ebenso an den Knieen und Ellbogen. Im rötlichen Licht der Fackeln schien der Panzer grünlich-schwarz zu sein, aber das mochte eine Täuschung sein. Sein Schwert war eindeutig aus der selben Schmiede, fügte es sich doch wie ein langer Ast in die Rüstung ein. Es handelte sich um 15
einen schlanken Anderthalbhänder, der zu groß war, um an der Hüfte getragen zu werden und so hatte Manderyllen ihn sich auf den Rücken geschnallt. Wortlos schloß er sich der Gruppe an, kein Gruß, nicht die kleinste Ehrerbietung hatte er für sie übrig. Gemeinsam schritten sie durch die Gänge voller Wunder und Reichtümer, bis sie endlich eine Tür erreichten, die auf einen großen Balkon führte. Dieser öffnete sich nicht zu einer Straße sondern zu einem der zahlreichen Innenhöfe. Diesen hatte Daaleryk noch nie gesehen, aber das bedeutete gar nichts. Er war quadratisch und in seiner Grundfläche vielleicht so groß wie es der Marktplatz seiner Heimatstadt Neu-Umbar sein mochte. Reihe um Reihe standen amarische Soldaten hier, flüsterten leise in der morgentlichen Kälte und fragten sich wahrscheinlich ebenso sehr wie er selbst, was der heutige Tag wohl für sie bereit hielt. In zwei Blöcken standen sie vor ihnen, die rechte Hälte mit dunklen Metallrüstungen gepanzert, darüber trugen sie bodenlange blutrote Mäntel. Daaleryk erinnerte sich daran, auf einem der Treffen mit den Offizieren darüber belehrt worden zu sein, daß dieses Rot in den Mänteln verhindern sollte, daß je ein Feind amarisches Blut auch nur zu sehen bekam. Die Panzer des zweiten Blocks links waren von leichterer Machart, nicht aus Stahl, sondern aus Leder und ihre Mäntel waren nachtblau. Diese Männer waren keine Ritter, sondern Seemänner, Spezialisten für den Kampf von Schiff zu Schiff oder Schiff zu Land. Alles in allem mochten hier, an diesem kalten Morgen im Monat Anitul, vielleicht 2500 Ritter und Offiziere stehen, frierend, darauf wartend, daß ihr Kriegsherr ihnen noch einmal, ein letztes Mal, einige Worte des Trostes und des Beistands mit auf diesen härtesten aller Wege gab. Sicher und bestimmt trat Gwyn vor. In seinem Blick lag eine Härte die jedem unmißverständlich klar machte, daß weniger als das Beste heute nicht gut genug war. Er lehnte seinen Schild und den Streitkolben von Setmanen an die Wand und sah in die Runde. Alle Gespräche, selbst das leiseste Wispern verstummten augenblicklich. Der Baum der Freiheit muß von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen gedüngt werden. (Thomas Jefferson, 1787)
„All ihr amarischen Ritter!“ Seine Stimme rollte dank eines dem Alben unbekannten Zaubers langsam wie das Grollen eines fernen Gewitters über den Platz. Obgleich er nicht besonders laut sprach, war er auch in der letzten Reihen noch ganz deutlich zu verstehen. Gwyn schien das zu genießen, er kostete den Moment der Stille, der Überraschung aus, schwieg selbst kurz und setze erst dann wieder an: „All ihr amarischen Ritter, hört ihr den Ruf? Eure Feinde lagern vor den Toren der Stadt! Sie sind gekommen, um eure Herausforderung anzunehmen und ihr seid hierher gerufen worden, ihnen zu begegnen. Haben euch eure Könige gerufen? Nein. Sie sind fort, entführt von den Kräften der Finsternis. War ich es, der euch gerufen hat, euer Kriegsherr? Nein, ich habe euch nicht gerufen. Das brauchte ich nicht, denn ihr seid einem viel mächtigeren Ruf gefolgt, als ich oder irgendjemand sonst befehlen könnte. Amarien selbst ruft. Euer Land ruft. Eure Frauen und Kinder rufen, denn sie haben Angst. Angst vor den Horden der Eisbarbaren, die vor dem Jo'troom stehen, Angst vor dem uralten Grauen, welches von dem Grund des Meeres hinaufgestiegen ist, um 16
diese Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Sie haben Angst vor dem Vampir, der eure Könige gefangengenommen hat. Sie fürchten um ihr Leben. Werdet ihr den Feinden Amariens heute entgegentreten? Werdet ihr mit eurem Blut und eurem Leben zwischen der Stadt und jenen stehen, die sich geschworen haben, alle Amarier zu töten und keinen Stein auf dem anderen zu lassen?“ Die Antwort war ohrenbetäubend, wie Drachenfeuer durch einen Papierberg brauste das „JAAAAA!“ über die Köpfe der erregten Männer und fegte jeden Zweifel an ihrer Bereitschaft zu kämpfen und zu sterben hinweg. Aber dem Kriegsherrn genügte das nicht. Traurig lächelnd schüttelte er den Kopf, dann brüllte er wütend: „Ich habe euch gefragt, ob ihr bereit seid zu kämpfen, zu töten und zu sterben?“ Diesesmal meinte der Alb, die Antwort körperlich zu spüren; ein so tiefer Ton, daß er ihn fühlen konnte, eine Antwort, die ihm die Ohren klingen ließ. Waffen wurden gegen Schilde geschlagen, stählerne Stiefel trampelten auf dem Kopfsteinpflaster und wenn ihr erstes „JA“ einem Sturm geglichen hatte, dann war dieses ein Orkan, kein Unwetter mehr, sondern eine Naturkatastrophe. Durch die kochenden Emotionen der Männer gepackt, sprang Gwyn auf die breite Brüstung, die ihn von dem Fall in den Hof bewahren sollte und während der folgenden Worte ging er darauf auf und ab, gestikulierte wild mit den Armen, und mehr als einmal befürchtete Daaleryk, er würde stürzen. „Wenn ihr heute da raus geht, um die Sherkai und die Malebolga“ – bei der Erwähnung des Namens zuckten nicht wenige zusammen – „zu besiegen, dann geht ihr nicht als Adelige, Ritter, Offiziere oder einfache Soldaten hinaus. Nein, meine Freunde, wenn ihr heute kämpft, dann nicht für irgendeinen territorialen Konflikt, nicht um eure Grenzen zu verteidigen oder einfach nur einen Angriff zurückzuschlagen, wenn ihr heute kämpft, dann, weil man Amarien selbst angreift, die Hauptstadt, den Finn Tarakis, und das hat bisher noch keiner gewagt. Wenn ihr heute kämpft, dann sind die Gedanken jeder Frau, jedes Mannes der zu alt ist und jeden Kindes, das noch zu jung ist, bei euch, und das macht diese Schlacht zu etwas größeren. Heute zieht ihr nicht als amarische Krieger in die Schlacht, nein, meine Freunde, heute SEID ihr Amarien.“ Wieder jubelten die Männer, aber Gwyn brachte sie mit einer herrischen Geste zum Schweigen. „Ich möchte euch in keinem einzigen Punkt bezüglich der Ereignisse des heutigen Tages belügen. Die Sherkai unter Fearr Singetrech haben sich zu einem gigantischen Heer von nicht weniger als 20.000 Mann zusammengerottet, zusätzlich verstärkt durch die Truppen Destrins. Welche Gefahr von der Malebolga ausgeht, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Nein, die meisten von uns werden das Ende des heutigen Tages, nicht erleben. Auf sie wartet nicht die Umarmung des geliebten Weibes, sondern die des Todes. Nicht die Freunde, die Geschichten, die man sich erzählen wird, keine Verehrung von jenen, die erst noch kommen, kein Ruhm und kein Glück, nur der kalte, unbarmherzige Schnitter, der heute selbst ein Fest feiern wird. Und das ist vielleicht noch nicht einmal das Schlimmste.“ Wehmütig hielt er einen Moment inne. Die Männer, die gerade noch so voller Eifer gewesen waren, sahen ihn nun betrübt an, jegliche Kampfeslust schien sie verlassen zu haben. Natürlich hatte der Paladin ihnen nichts neues erzählt, aber 17
ihr Schicksal so unverblümt in so düsteren Farben gezeichnet zu bekommen, schmerzte sie doch, und Daaleryk meinte in mehr als einem Gesicht den Wunsch erkennen zu können, jetzt lieber fernab der Schlacht im eigenen Heim zu sein. Figul und Samira sahen Gwyn verständnislos an; was dachte er sich bloß dabei? „Das Schlimmste ist, daß man sich in tausend Jahren nicht mehr daran erinnern wird, wer ihr ward oder auch nur warum ihr heute hier gekämpft habt. Man wird nicht mehr wissen, für welchen Zweck ihr gestorben seid, wer diesen Konflikt begonnen hat und selbst ob ihr die Guten oder die Bösen ward.“ Die Stimmung erreichte definitv einen Tiefpunkt. Wozu all die Strapazen wenn, ... Gwyn leuchtete auf, Griff nach seinem Streitkolben und den Schild und riß sie in Siegerpose hoch: „Aber in tausend Jahren, meine Freunde, in tausend Jahren erinnert man sich auch nicht mehr an die Sherkai oder die Schrecken, die die Malebolga verbreitet hat.“ Sie jubelten wieder, als sie begriffen. Er führte sie wie Marionetten. „Hier und heute blättern wir um und schreiben eine neue Seite in die Geschichtsbücher. Namen und Gründe spielen keine Rolle. Hier und heute werdet ihr diese Welt ein kleines Stückchen besser machen. Ihr verteidigt euch nicht nur, nein, ihr tragt Licht in die Dunkelheit der Nacht. Und genau aus diesem Grund können gute Verlierer und Männer, die noch zögern, heute gern zuhause bleiben. Heute haben wir keinen Platz für all jene, die nicht bereit sind, das äußerste, das letzte zu geben. Und weil die Bedrohung so schrecklich ist und weil ich heute nur die allerhärtesten und die allerbesten gebrauchen kann, genau deshalb, meine Freunde, ...“ Es war als würde er sich vorlehnen, um den nächsten Satz freundschaftlich, fast vertraulich zu sagen, und alle 2500 Männer lehnten sich ebenfalls vor, um die zarte Bande nicht zu gefährden. „...genau deshalb bin ich so unendlich froh und dankbar in Amarien zu sein. Ich bin froh und glücklich und stolz mit euch in die Schlacht zu reiten, und in keinem anderen Land der Welt und mit keinen anderen Männern der Welt möchte ich heute hier stehen müssen. Doch nun, genug der eitlen Worte. Laßt Taten folgen!“ Breit grinsend sprang er unter jubelndem Lärm von der Balustrade und bedeutete seinen Begleitern, ihm zu folgen. Sie waren schon tief in den Eingeweiden des Palasts verschwunden, als das Triumphgeheul endlich verebbte. Daaleryk fand die ganze Szene faszinierend und mitreißend, gleichzeitig aber auch roh und abstoßend. Es blieb ihm keine Zeit mehr, weiter darüber nachzudenken. Hatte sich bis jetzt alles unerträglich in die Länge gezogen, wo ihm die Gänge endlos vorkamen und jedes Gespräch wie ein großer Stein auf seinem Weg nach vorn lag, da ging es auf einmal ganz schnell. Plötzlich, so als hätten sie kaum ein paar Schritte zurückgelegt, hatten sie schon die große Vorhalle erreicht, Männer in den hellen Farben der Bediensteten eilten hin und her, Pferde wieherten und Knappen kontrollierten ein letztes Mal den Sitz der Roßpanzer. Gwyn war sofort Herr der Lage; mit einer Handbewegung wischte er alle Gunstbezeugungen und guten Wünsche beiseite, befahl den Männern weiterzumachen und wo er vor kaum einer halben Stunde noch voller Selbstzweifel in den tiefsten Kellern des Palastes um Gnade und Beistand gebetet hatte, wirkte er jetzt, als wären alle Schlachten bereits 18
siegreich geschlagen. Sein Optimismus und sein Selbstvertrauen wirkten ansteckend, denn die Leute erkannten darin das Vertrauen in sich selbst und so sprach er ihnen – ohne auch nur ein Wort zu verlieren – durch sein Wesen, seine Anwesenheit, Mut zu. Ohne zu zögern ging er auf das größte Schlachtroß zu, das Daaleryk je gesehen hatte. Bitter lachte er auf. Natürlich war es das größte, natürlich war es am reichsten geschmückt und zweifelsohne kämpfte es praktisch von alleine. Alles andere hätte zu dem, wie hatte Ralman es einst so treffend genannt, dem „amarischen Größenwahn“ einfach nicht gepaßt. Das muskulöse Tier war mehr als nur beeindruckend und der Alb hatte Schwierigkeiten, sich der Aura von Macht und Gewalt, die von dem Pferd ausging, zu entziehen. Die dunkle Rüstung mit den martialischen Dornen an Hals, Brust und Hufen ließen ihn erschauern. Die fünf anderen Tiere standen dem, auf welchem Gwyn nun aufsaß kaum nach, aber trotzdem hatte er den Eindruck, als ritte der König der Menschen auf dem König der Pferde, eine Allianz, oder besser eine Vorstellung, die mehr sagte, als tausend Barden es in tausend Jahren hätten ausdrücken können; ein Blick genügte. Man reichte dem Kriegsherren, als er saß, ein amarisches Banner und er verkantete es in der Schlaufe an dem Sattel, als hätte er nie etwas anderes getan. Dann half er Figul, dessen Statur es unmöglich machte, selbst ein solches Tier zu reiten, in den Sattel. Auch die anderen saßen auf; jeder von ihnen brauchte dazu nicht nur eine Treppe, sondern auch die Unterstützung der Knappen. Sie hatten sich gerade dem riesigen Tor zugewandt, als er hinter sich einige wohlbekannte Stimmen zu hören meinte. Daaleryk wandte sich um. Enide, Gwyns Verlobte und Samani, seine eigene Geliebte, bahnten sich einen Weg durch die empörte Dienerschaft. Allein wären sie wohl aufgehalten worden, aber vor ihnen lief eine dritte Frau, eine Elfin, die in ihrer stummen Würde jeden ernsthaften Protest unmöglich machte. Zielstrebig steuerte sie Graf Manderyllen an und da erkannte er sie als seine Frau, Faerin. Obgleich sein Gesicht Mißbilligung ausdrückte, beugte er sich zu ihr herab, umarmte sie etwas unbeholfen und flüsterte ihr einige Worte ins Ohr. Enide ging nun ebenfalls zu ihrem Rittern, doch Daaleryk hatte nur Augen für Samani. Da bereute er, daß er den Abend davor und die letzte Nacht entgegen ihres Wunsches nicht mit ihr, sondern in Einsamkeit verbracht hatte. Eine Träne lief Samani über ihre Wange, die sie, nach Art der amarischen Hofdamen, rot gefärbt hatte. Er beugte sich zu ihr hinab. „Sag nichts, meine Fee. Meine Gedanken werden heute immer nur bei Dir sein. Der Sternenhimmel war dir ein schlechter Ersatz, aber ich verspreche dir, ich werde wiederkommen. Und ich will nie wieder eine Nacht oder auch nur eine Stunde von dir getrennt sein. Ich ...“ Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen und flüsterte mit erstickter Stimme: „Schweig still und nimm dieses Tuch als Zeichen meiner Liebe. Nur das und alles weitere, wenn du zurück bist.“ Sie band ihm um den linken Arm einen nachtblauen Schleier und trat einen Schritt zurück. „Komm zurück, ja? Versprich es mir.“ Sie wandte sich den anderen zu, die die Szene schweigend beobachtet hatten. „Ihr alle, kommt zurück.“ Samani trat beiseite und die Pferde, die bereits unruhig und kampflustig tänzelten, formierten sich als Pfeil vor den Toren der Anlage. Es war ganz still in der Halle und Daaleryk konnte hören, daß sich vor dem hochköniglichen Palast offenbar tausende von Menschen und Elfen versammelt hatten, er hörte 19
ihre aufgeregten Stimmen, das Scharren der Füße und das Rascheln ihrer Gewänder. Der Finn Tarakis erwartete sie. 2500 Ritter hinter ihnen würden ihre Ehrengarde sein. Knarrend und ächzend begannen die Torflügel ganz langsam aufzuschwingen. Gwyn starrte konzentriert geradeaus, aber dann drehte er sich um, lächelte und sagte: „Jetzt ist es mir eingefallen. Die Worte, die mir in der Kapelle fehlten.” Er räusperte sich und Daaleryk dachte, daß er ein bißchen nervös aussah. „Es, ... es war mir stets eine große Ehre euer kommandierender Offizier gewesen zu sein, aber wirklich stolz bin ich, mich euer Freund nennen zu dürfen.“ Er wartete auf keine Reaktion, sondern drehte sich wieder nach vorn. Die Torflügel waren nun schon fast ganz offen, längst weit genug, um sie hindurch zu lassen, aber Gwyn, der die Spitze der Formation bildete, stand noch immer einem Denkmal gleich dort und besah das Bild, welches sich ihnen bot. Offenbar war tatsächlich die ganze Stadt gekommen, um ihre Helden zu verabschieden. Wächter mußten eine Gasse bilden, um ihnen einen Durchgang auf der breiten Straße zu ermöglichen. Dicht an dicht standen tausende von Menschen, Elfen und Zwerge auf den Straßen und Plätzen, starrten aus den Fenstern und nicht wenige hatten die Statuen und Dächer erklettert, um keinen einzigen Moment zu verpassen. Überall in der Menge waren Geistliche, hier einige rote Priester Cays, die ihres Gottes Segen auf die Recken herabbeschworen, dort waren vier Männer im blauen Gewand und mit Tonsur, die ihre Gebete an Shaal richteten. Die Menge war für einen Moment ganz still, und nur das Gekreische der Möwen zerriß die Stille. Dann erhob sich ein Jubel, der dem Alben einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Er hatte sich seit jener Nacht in der Nebelfeste so manches Mal gefragt, ob er in dieser Angelegenheit überhaupt auf der richtigen Seite stand, aber als er in die Augen der Kinder, der Frauen und der Alten sah, da wußte er, daß er das richtige tat. Er sah dort nichts als Vertrauen und Glauben und er wollte sie nicht enttäuschen. Nicht weil sie Amarier waren, nein, sie kümmerten sich vermutlich wenig um Namen, Grenzen und Politik. Sie hatten ein Recht auf ein unbekümmertes Leben. Er wollte weder sehen, wie die Sherkai mordend und plündernd durch die Stadt zogen, noch wie die Malebolga alles zerstörte. Er wollte nur, daß die Amarier glücklich waren. Gwyns Streitroß machte einen Schritt nach vorn und die anderen folgten ihm. Der Zug setzte sich in Bewegung. An der großen Kreuzung, dem Zwiesel, würden sich ihre Wege trennen und es war mehr als ungewiß, ob sie sich heute Abend alle wiedersehen würden. Tief in Gedanken versunken ritt der Alb die Prachtstraße entlang, aber nun beachtete er die jubelnde Menge kaum noch. Die Fahnen und Wimpel, die Segen und Gebete der Priester, die flehenden Bitten der Frauen, das alles erreichte ihn nicht mehr. Er dachte an Samani, an die „Reisende“ und an seine Heimat, Neu-Umbar. Das alles war so schrecklich weit weg. Daaleryk blickte gerade in den morgendlichen Sternenhimmel, als er zuerst die Wolken bemerkte. Ein Sturm zog herauf, so schnell, daß er an ein heranstürmendes Heer denken mußte. Riesige Wolkenberge rasten heran, begleitet von fast schwarzen Wolkenfetzen, die um die drohenden Massen herumjagten, wie die Späher um eine Armee, bald hierhin, bald dorthin, die Lage auskundschaftend. Der Jubel erstarb, als die Menge des Unwetters gewahr wurde. Viele zeigten 20
nach oben, Finger reckten sich dem Himmel entgegen und aus dem „Heil den amarischen Rittern“ wurden Rufe der Ungewißheit und immer mehr auch der Furcht. Der Troß kam ins Wanken, hielt inne, als Gwyn an der Spitze ebenfalls nach oben schaute. Daaleryk folgte seinem Blick und erblickte mit Grauen einen Wolkenfetzen, der sich gegen den Wind rasend schnell zurückbewegte. Die amarischen Späher hatten einen Fehler gemacht. Dieser Sturm war keines natürlichen Ursprungs und die meisten dieser blitzschnellen Fetzen waren auch keine Wolken. Destrins Fledermausreiter waren bereits kurz vor den Toren der Stadt und ein Blick um ihn herum verriet ihm, daß er nicht der einzige war, der das begriff. Die Leute begannen zu schreien, hohe Kinderstimmen heulten durch die allgemeine Panik und die Menschen, Elfen und Zwerge begannen, in die Häuser zu rennen. In einiger Entfernung, aber fraglos bereits über dem Finn, sah Daaleryk nicht dutzende, sondern hunderte von schwarzen Punkten, wie eine dunkle Wolke oder eher ein riesiger Schwarm gewaltiger Ungeziefer. Please allow me to introduce myself, I'm a man of wealth and taste. I've been around for a long long year, stole many a man's soul and face. (...) Stuck around St. Petersburg when I saw it was the time for a change. Killed the Tsar and his ministers, Anastasia screamed in vain. I rode a tank in the general's rank, when the blitzkrieg raged, and the bodies stank. („Sympathy for the Devil”, Rolling Stones)
Kiel Ralmans kleine Ansprache endete. Seine Worte hatten keine großen Emotionen geweckt und trotzdem hinterließ er bei den Männern, zu denen er gesprochen hatte, ein gutes Gefühl, denn er hatte auf sie den Eindruck eines äußerst fähigen Kommandanten gemacht. Es war kein Übermut, sondern eher ein bedächtiges Handeln, zu dem er ihnen geraten hatte, kein Patriotismus, sondern der Gedanke an ihre eigene Sicherheit. Niemand interessierte sich weniger für die Sicherheit dieser Männer, keinem war die Zukunft des Finns oder Amariens gleichgültiger als Ralman, aber heute wollte er gewinnen und das konnte er nur mit erfahrenen und ruhigen Kriegern, Männern, die ihre Arbeit erledigten und nicht mit einer Bande heißblütiger Draufgänger, die abends mit den meisten toten Gegnern prahlen wollten. So hatte er denn auch fast nur über ihre Taktik gesprochen, war zum tausendsten Mal Pläne durchgegangen und hatte immer wieder die Wichtigkeit dieses kleinen Heeresteiles hervorgehoben. Er warf einen letzten Blick auf die Karte, die jemand an die Wand genagelt hatte und gab dann den Befehl, auf den diese Männer die letzten zwölf Wochen gewartet hatten: „Bemannt die Jäger!“ Er machte eine kurze Pause. Er hatte eigentlich nichts für solche religiösen Segenssprüche übrig, aber ihm war auch klar, daß es seinen Leuten vielleicht viel bedeutete: „Möge Orhans Licht heute gnädig auf uns scheinen.“ Gemessenen Schrittes begab er sich zu seinem eigenen Schiff, der „Tornado“. Das uralte Artefaktschiff der Alben schaukelte sanft im Wasser. Als der Assassine sich näherte, blähten sich dutzende von winzigen Segelfetzen wie von selbst und das kleine Schiff legte ab, wich soweit zurück, wie die Leinen es erlaubten. Ralman blieb stehen und lächelte böse. „Wehr dich ruhig, es hat sowieso keinen Sinn.“ Die Leine erschlaffte etwas, spannte sich dann abermals und ruckte unverkennbar, als wäre am anderen Ende kein Schiff, sondern ein verängstigtes Tier. Langsam ging der dunkle Mann an den Rand des Piers, zog das Boot 21
mühelos an die Kante und strich ungewohnt vorsichtig, fast behutsam über das eisenbeschlagene Holz. „Du kannst mich nicht besiegen. Aber ich zwinge dir meinen Willen ein letztes Mal auf, ein letztes Mal. Du bist dann frei – jedenfalls von mir. Aber heute wirst du tun was ich dir sage.“ Ein Schaudern lief durch die traubenartig angeordneten Segelfetzen, der Unwillen des Artefakts war nicht zu übersehen, aber der Commander lächelte nur nachsichtig während er das Deck betrat. Er überprüfte die beiden Ballisten an Heck und am Bug, überzeugte sich, daß mit der komplizierten Steuervorrichtung alles in Ordnung war und löste dann die Leinen. Dann manövrierte er durch all die Großkampfschiffe, den Zerstörern und schwimmenden Plattformen und setzte sich an die Spitze der Jägerstaffeln. Ihr Ziel war das Aka'troom, das Tor zur See, eine riesige Wehrmauer, die das Hafenbecken des Finn Tarakis vor seinen Feinden schützte. Seit über sechshundert Jahren hatte es keine Macht dieser Welt gewagt, die Hauptstadt des amarischen Reiches von See aus anzugreifen. Seit über sechshundert Jahren hatte allein der Anblick des Aka'trooms genügt, um die Hoffnung all jener fahren zu lassen, die von Eroberungsphantasien beflügelt auf den Finn blickten. Das alles sollte sich heute ändern, aber Ralman zweifelte nicht an sich. Andere mochten fallen und versagen, er nicht. Und wenn er dieses verdammte Schiff persönlich in den Nimbus schicken müsste und wenn die Stadt der Preis dafür war, er würde es tun. Die Gelegenheit war einfach zu gut. Das Aka'troom ragte düster vor ihm gleich einem Gebirge auf. Hier würde er seine Passagiere und die drei Männer aufnehmen, die ihn im Kampf unterstützen sollten, aber noch gehörte die „Tornado“ ihm allein und er genoß diesen Moment der Einsamkeit und der Ruhe inmitten der hektischen Schlachtvorbereitungen. In weniger als einer Stunde würde Charon seine Pforten öffnen, zu Land, zu Wasser und in der Luft. Aber dieser Augenblick, als die fahle Sonne des hohen Nordens sich dem gefrorenen Land erbarmte und ihre matten Strahlen zum ersten Mal seit vielen Wochen über das eisige Wasser schickte, dieser ganz besondere Moment gehörte keinem außer ihm allein. Er warf einen Blick zurück. Etwa achthundert der amarischen Kriegskatamarane folgten ihm. Es hätten leicht mehr sein könne, aber es fehlte an Männern. Das Reich war von diesem Krieg völlig überrascht worden und konnte nicht schnell genug mobil machen. Es waren schwierige Abwägungen darüber getroffen worden, an welcher Front wieviele Männer benötigt wurden. Letztlich hatte man sich für eine Halbierung der Streitkräfte entschieden, 20.000 Mann zur See und 20.000 Mann auf den Feldern vor der Stadt. Die dreihundert Männer für den Luftkampf waren dabei eine zu vernachlässigende Größe. Ralman betrachtete die Kriegskatamarane. Sie waren jeweils mit zwei Mann besetzt, klein und wendig, aber im Grunde überhaupt nicht gepanzert und mit einem sehr begrenzten Vorrat an Munition ausgerüstet. Versorgungsschiffe mußten sie ständig neu beladen, denn sehr viel mehr als zehn Schuß für die Bugballista konnten nicht transportiert werden. Das Konzept hatte sich trotz der offensichtlichen Nachteile bewährt. Zwar konnten die winzigen Boote größeren Schiffen nichts anhaben und erst recht nicht der Malebolga, aber sie richteten beträchtlichen Schaden unter feindlichen Mannschaftsmitgliedern an, zerstörten Segel und sorgten für erhebliche Verwirrung in dem ohnehin unübersichtlichen Seekampf. Ein koordinierter Angriff vieler solcher Winzlinge vermochte 22
mittelschwere Kreuzer in arge Bedrängins zu bringen, aber heute würde das keine Rolle spielen. Die „Reisende“ war ein Riese, amarische Schlachtschiffe waren Giganten und die bajorkanische Weltenbrandklasse ließ diese beiden wie Zwerge aussehen, aber was heute auf sie zukam spottete jeglicher Beschreibung. Die Malebolga war so unfassbar groß, daß der menschliche Verstand sich weigerte, den tatsächlichen Umfang zur Kenntnis zu nehmen; es überstieg einfach seine Vorstellungskraft, daß etwas halb kreatürliches, halb konstruiertes solche Ausmaße erreichen konnte. Im Gespräch mit den Besatzungsmitgliedern der „Reisenden“ hatte der Commander oft feststellen müssen, daß die Männer immer nur von einem Teil der Malebolga sprachen, als wäre dies der ganze Feind. Nur ganz wenige deuteten an, daß sie nur die Spitze des Eisbergs meinten. Nein, dachte er, leicht würde es heute nicht werden. Aber wann war es das schon? Daaleryk konnte seine Augen nicht von dem schrecklichen Bild lösen. Wie ein schwarzer Kometenschauer fielen die grotesken Monster aus dem Himmel, riesige Bestien, fast so groß wie ein Troll und beinahe ebenso massig, aber ausgestattet mit dem pelzigen Körper einer Fledermaus. Aus ihren häßlichen, schnauzenartigen Gesichtern stachen gelbliche Hauer hervor und in ihren roten Augen brannte flackernd und unstet eine unheimliche Mordlust. Es waren hunderte, umkreist wurden sie von echten Riesenfledermäusen, auf denen blaße Männer mit langen Speeren ritten. Wie welke Blätter kamen sie in großen Spiralen langsam hinunter, nur hier und da scherte einer aus und kam ebenfalls im Sturzflug herab. Es war, als hätten sich Charons Tore geöffnet, Menschen und Elfen schrien, rannten in Panik in die Häuser, trampelten sich gegenseitig nieder, weinten, kreischten und brüllten, aber trotz des gewaltigen Lärms hatte Daaleryk enorme Schwierigkeiten, seinen Blick vom Himmel zu lösen. Erst Shudden Mells Rufe rißen ihn aus seiner Lethargie. „Verschwindet endlich! Das ist nicht eure Front. Sie wollen euch aufhalten, damit ihr zu spät kommt!“ Daaleryk dachte überhaupt nicht daran, die Leute im Stich zu lassen. Die ersten Monster hatten die Menge erreicht und richteten ein furchtbares Gemetzel an, sie töteten jeden, den sie erreichen konnten, zerrißen Frauen mit ihren dolchlangen Krallen oder griffen nach Kinder, stiegen wieder auf und ließen sie in die entsetzte Menge fallen. Ohne zu zögern wollte der Alb sein Pferd wenden, aber die Massen von Alten, Frauen und Kindern standen noch immer zu dicht und boten ihm keine Chance, an irgendeiner Stelle zu den Hilfsbedürftigen durchzubrechen; er konnte sie ja schließlich nicht einfach niederreiten. Aber einfach nur abwarten konnte er auch nicht mehr. Als er eine besonders große Bestie zum Sturzflug ansetzen sah, ritt er neben einen mit einer Armbrust ausgerüsteten Gardisten, riß ihm Waffe aus der Hand, rief kurz dem Halbling etwas zu und warf sie ihm rüber. Geschickt fing Figul sie auf, spannte sie rasch, legte an, zielte vielleicht eine Sekunde und schoß. Selbst Daaleryks scharfe Augen vermochten dem Bolzen nicht zu folgen, aber kurz darauf verwandelte sich der Sturzflug des Monsters in einen freien Fall und mit einem gräßlichen Geräusch schlug es auf dem steinernen Platz auf und rüherte sich nicht mehr. Figul begann sich nach Munition umzusehen, aber Gwyn hatte mittlerweile schweren Herzens eine Entscheidung getroffen und ließ die verzweifelte Menge hinter sich. Während das Schlachtroß des Kriegsheren sich aufbäumte und 23
beinahe den Halbling abgeworfen hätte, brüllte er der Ehrengarde zu, sie solle sich teilen und die eine Hälfte möge sich Shudden Mells Kommando zum Schutz der Stadt unterstellen. Dann ritt Gwyn donnernd los und die anderen folgten ihm. Daaleryk hatte kein gutes Gefühl dabei und er brauchte nicht in die Gesichter seiner Freunde zu sehen, um zu wissen, daß es ihnen genauso ging. Noch nie waren sie einem Kampf ausgewichen, erst recht nicht, wenn Schutzbedürftige ihr Leben lassen mußten. Zu wissen, daß das alles ein Teil von Destrins Plan war, machte es kein bißchen leichter. Sie ritten im schnellen Galopp durch die breiten Straßen des Finn Tarakis, vorbei an den Kontoren und Kirchen, den Häusern der reichen Händler, über Brücken und Plätze, eine Zeitlang direkt neben dem mächtigen Strom, dem Tarak, der der Stadt zu seinem Namen verholfen hatte. Schließlich erreichten sie die große Kreuzung, den Zwiesel. Hier trafen sich die Heeresstraße, welche zum Jo'troom Tor führte und der Hafensteig, welcher zum Aka'troom führte. Daaleyrk selbst, Misandul, Erkenbrand und alle verbleibenden Ritter würden diesen Weg nehmen. Gwyn, Samira, Figul und die kommandierenden Offiziere der Seestreitkräfte würden den Hafensteig nehmen, um auf See ihren eigenen Kampf auszufechten. Daaleryk hatte noch keine Zeit gehabt, sich von seinen Freunden zu verabschieden, denn daß sie sich heute oder spätestens morgen alle wiedersehen würden, war mehr als ungewiß. Aber Gwyn ließ ihnen keine Zeit mehr dazu und so winkte Daaleryk den dreien nur kurz zu und sie jagten davon. Trotz der knappen Zeit sah er ihnen noch einen Moment nach, dann wandte er sich um, und gab seinem Tier, er wußte nicht einmal den Namen des Schlachtroßes, die Sporen, um Misandul und den Kryliten noch einzuholen. „So zog er durch die Stillten, deren Wellenschlag gleichsam vor Entzücken verstummt war; das Grauenvolle des Kolosses war dem Blick noch entzogen, die schauderhafte Mißgestalt seines Kiefers noch ganz unterm Wasser verborgen. Bald kam jedoch der vordere Teil langsam hoch.” (Melville, „Moby Dick”)
Figul ji Natek stand auf dem rechten Turm des Aka'troom. Gwyn hatte hier seinen Kommandoposten errichtet und dutzende von Botenjungen und Zauberern, taktischen Ratgebern und einfachen Dienern, sowie zwei Heiler kamen und gingen. Keiner schien sich zu trauen, etwas zu sagen, die heilige Stille vor dem großen Sturm zu zerbrechen, aber das alles bemerkte der Assassine kaum. Vor ihm breitete sich der schier unendliche Ozean aus und trotz des Umstandes, daß in dem Hafenbecken hinter ihm tausende von Männern hunderte von Booten und Schiffen bereit hielten, hörte er doch kaum etwas, nur das Rauschen der Wellen, so, wie es hier schon seit Jahrunderten zu hören war und hoffentlich noch in Jahrhunderten zu hören sein würde. Sein Blick glitt suchend über die spiegelglatte See, aber seine Gedanken waren in der Stadt und bei seinem Freund Shudden Mell. Er wußte, daß er nichts mehr für ihn tun konnte, aber er mußte einfach immer wieder an die schwarzen Monster denken, wie sie wie Regentropfen aus einer Wolke aus dem Himmel fielen. Wenn er sich umdrehen würde, könnte er vermutlich dunkle Punkte und den Schein von Feuer und Rauch über der Stadt sehen, aber er wollte nicht. Mit Gewalt versuchte er sich auf seine eigene Aufgabe zu konzentrieren. Seltsam. Er hatte irgendwie mit einem Sturm gerechnet, zwar gab es dieses Gewitter über dem Finn, aber das war nicht natürlichen Ursprungs und beschränkte sich auf 24
das Stadtgebiet. Die See war ganz ruhig. Zu ruhig?
Gwyn bemerkte den leeren Blick des Halblings und sprach ihn an. Keine
Reaktion. Der Ritter schüttelte den kleinen Mann und Figul sah ihn verblüfft an.
„Konzentriere Dich jetzt nur auf das, was vor Dir liegt. Denk nicht an Mell, denk nicht an Daaleryk oder Erkenbrand oder Misandul. Ich will, daß Du nur an die Malebolga denkst. Führe deinen eigenen Krieg, der Rest wird sich schon ergeben.“ Wie benommen nickte Figul. Es war ja nicht so, daß er geschlafen hätte. „Ich verlasse mich auf euch beide.“ Er seufzte und legte seine behandschuhten Hände schwer auf die Schultern von Figul und Samira. „Das Warten kurz davor ist immer am schlimmsten, vor allem, wenn man weiß, daß es andernorts bereits begonnen hat. Ich weiß noch, kurz nach meiner Schwertleite habe ich mal ...“ Er vollendete den Satz nicht mehr. Sein Auge weitete sich und er zeigte auf einen Punkt in der Ferne. Figul drehte sich um. Er kniff die Augen zusammen, hatte aber Schwierigkeiten, etwas zu erkennen. Die blasse Sonne warf noch nicht viel Licht, aber es wurde vom Wasser reflektiert und glitzerte matt. Da, in weiter Ferne konnte er tatsächlich etwas erkennen, eine Blase, die aufstieg. Sie mußte riesig sein, wenn er sie sogar von hier sehen konnte. „Shaal steh uns bei, sie ist bereits hier!“ murmelte Gwyn fassungslos. Aus einer Blase wurden zwei und aus diesen beiden noch mehr. Sie schienen in etwa die Größe eines Hausdaches zu haben, dicke, gelbliche Gasblasen, die sich kurz über der Meeresoberfläche wölbten und dann platzten, wobei sie einen widerlichen Gestank entließen, der zu ihnen herüber wehte. Um Figul herum erwachte der Turm zum Leben, an allen freien Stellen der mächtigen Zinnen streckten sich die Männer, um ihren Feind zum ersten Mal zu sehen. Rufe wurden laut, Botenjungen liefen schnell davon, andere kamen zurück. Figul starrte auf das Meer, wo die Blasen nun immer schneller, immer mehr kamen. Es bestand kein Zweifel mehr, daß etwas riesiges, etwas titanisches aus den eiskalten Tiefen zu ihnen heraufkommen würde. Der Halbling bekam ein flaues Gefühl im Magen. Es war weniger Angst, obwohl es natürlich auch Furcht war; ihm wurde übel, von dem Gestank, von dem Wissen, was er gleich sehen würde. Am Rand der Blasen stieg etwas aus dem Wasser, ein schwarzes, langes Seil, nein, eine Art Tentakel, mit einer furchtbaren Klaue am Ende, und da war noch eine und noch eine. In Windeseile waren es nicht weniger als ein dutzend und obgleich sie sich schon zwanzig, dreißig Meter in die Luft streckten, wie Giftschlangen, kurz bevor sie zustoßen, war noch kein Ende, kein Körper in Sicht. Die giftigen Dämpfe, die den Blasen entwichen, waren mittlerweile zu dicken, gelblichen Wolken zusammengeschlossen, vernebelten die Sicht und betäubten die Sinne. Figul meinte, in seinem Augenwinkel eine schwarze Gestalt zu sehen, aber als er sich umdrehte, war da niemand. Gebannt starrte er wieder auf die Szene vor ihm. Gerade in diesem Moment erhob sich aus dem Wasser ein so gewaltiger gallertartiger Körper, daß es schien, als wüchse ein Gebirge aus den grauen Fluten. Später befragt, würden die Männer nicht sagen können, welche Form die Malebolga hatte. Lediglich einige wenige Übereinstimmungen, wie sonderbare Sphären im Innern, das unirdische Licht, die ständige Bewegung in sich, die verdrehten Winkel, nicht endenwollende Fleischmassen, pulsierende Auswüchse und die tiefschwarze Farbe, als schaue man in finsterster Nacht in ein dunkles Loch. Die Schwärze vermittelte einen 25
Eindruck von Räumlichkeit, der es noch unfaßbarer machte, man konnte dieses Ding einfach nicht anschauen und begreifen, es schien ebenso sehr ein Schiff, wie eine tote Qualle, ein Wirbelsturm, wie ein Berg zu sein. Einig waren sich alle in den Gefühlen, die sie von der Malebolga wahrnehmen zu können, meinten. Ein abgründiger Haß auf alles Leben und ein nicht zu stillender Hunger. Das ganze Ding war fleischgewordener, brüllender Wahnsinn, allein in seiner schieren Größe war es unbegreiflich. Es war ein Tempel des Bösen, ein riesiger Altar, geboren, um zu töten, erschaffen, um die Dunkelheit und das lepröse Licht Charons überall auf Kulthea zu verbreiten. Es war das Ding, das nicht sein durfte, es konnte in seiner widerlichen Abartigkeit nicht als Ganzes gesehen werden und die, die es doch sehen mußten, konnten es nicht begreifen, wollten es nicht glauben; sie stürzten sich lieber in das eigene Schwert, als diese Ausgeburt Charons – und sei es auch nur die Erinnerung daran - ertragen zu müssen. Das Aussehen des alptraumhaften Monsters war nicht einmal das schlimmste, obgleich Worte es nicht beschreiben konnten, es war vielmehr wie es in seiner abgründigen, fleischgewordenen Widerlichkeit das Leben als ganzes verspottete, wie es einen Zweifel daran aufkommen ließ, daß man selbst, als denkendes Wesen edel und gut sein konnte, daß man eine unsterbliche Seele besaß, etwas, daß einen zu mehr machte, als die Summe seiner Teile. Das ganze Ding zuckte, atmete, keuchte, obszöne Auswüchse brachen durch die glibberige, schmutzige, blasenwerfenden Haut des Wesens, als riß es sich selbst Wunden, die noch erbärmlicher stanken, als selbst ihr fetter, schleimiger Riesenkörper es vermochte. Nie stand es still, nie konnte man es einen Moment in Ruhe betrachten und vielleicht war das auch besser so. Es war wie ..., es war die Malebolga und nicht wenige unter den Amarieren zogen den Freitod vor. Sie empfanden den kalten, unbarmherzigen Tod als eine Gnade und sie hatten recht. Ihre Seele aber vermochten sie so nicht zu retten; es gab kein Entkommen. Auch Gwyn ap Annwn, Figul ji Natek und Samira Gasai konnten ihre Augen nicht von dem uralten Grauen lösen, welches sich anschickte, die unergründlichen Tiefen des Meeres zu verlassen, um Tod und Verderben zu bringen. Aber sie zögerten nur einen Moment, denn sie hatten jede Nacht von dieser monströsen Entität geträumt, und auch wenn es Nächte waren, die keine Erholung brachten, so hatte die Präsenz des Bösen sie doch besser auf das vorbereitet, was sie nun erwatete. Als der Kriegsherr sich umdrehen wollte, um die beiden abzukommandieren, waren sie bereits auf dem Weg zur Wendeltreppe, die sie zur „Tornardo“ brachte. Doch auch ihre Herzen rasten, auch ihnen stand kalter Angstschweiß im Gesicht und auch sie hatten – wie alle anderen auch - Nasenbluten. Die einzige Person, die nicht im geringsten durch das Auftauchen der Malebolga beunruhigt war, war der Eydeet. Der kleine Dämon, der auf dieser Existenzebene in der Gestalt eines kleinen, ja, geradezu winzigen alten Mannes zu sehen war, blieb ganz ruhig auf seiner Zinne sitzen. Er schenkte Ihr nicht viel Aufmerksamkeit, denn er hatte sie schon oft gesehen und wußte nicht nur, wie diese zerbrechlichen Menschlein sie sahen, er konnte auch an jenen Ort schauen, den man vielleicht als Ihr Herz bezeichnen könnte. Er hatte sie nicht nur gesehen, er hatte sie auch verstanden. Interessanter war für ihn die Reaktion der Amarier, denn ihm war klar, daß das Auftauchen eines so 26
mächtigen Feindes die Moral der Männer entscheidend schwächen würde. Er hatte dies natürlich in seine taktischen und strategischen Berechnungen einfließen lassen, aber er konnte nur schwer sagen, wie genau die Soldaten den Demiurg aufnehmen würden. So hatten alle seine Pläne eine leere Stelle, einen weißen Fleck, den er sofort zu füllen begann. Zahlenkolonnen rasten durch seinen scheinbar kleinen Schädel, Verhaltensmuster, Pläne wurden revidiert, aufgegeben, von neuem betrachtet und schließlich endgültig verworfen. Nach wenigen Sekunden hatte er beschlossen, an ihrem wesentlichen Vorgehen nichts zu ändern, denn alle Modelle, die er durchgerechnet hatte, führten zu dem selben Ergebnis; wenn die Amarier nicht in kürze schreiend davon laufen sollten, dann bräuchten sie sehr schnell ein Erfolgserlebnis. Verdammt schnell. Gwyn, Figul und Samira hasteten die Treppe hinunter. Am Steg angekommen sprangen der Halbling und die Kuluku sofort in das Artefaktschiff und nahmen ihre Plätze an Bug ein. Gwyn sprang ebenfalls auf das schaukelnde Deck des Bootes und überprüfte persönlich den Sitz der Gurte, welcher die beiden vor dem Über-Bord-gehen bewahren sollte. Sollte das passieren, dann war diese Schlacht unrettbar verloren. Er war nicht eben zimperlich, fand Figul, das rauhe Seil hätte ihm in seiner normalen Kleidung sicher tief ins Fleisch geschnitten, aber die schwarze Rüstung, die er trug, ließ ihn nur einen kurzen Ruck spüren. Neben ihm griff Samira nach seiner Hand. Gwyn sah den beiden noch einmal in die Augen, Worte gab es für einen solchen Moment ohnehin nicht. Dann wandte er sich an Ralman. „Ich wünsche dir viel Glück ... Kiel. Bring die beiden sicher ans Ziel.“ In Ralmans Augen glitzerte beißender Spott und Figul sah genau, daß er eine Antwort geben würde, die den Ritter persönlich treffen sollte. Aber dann änderte sich der Gesichtsausdruck des Assassinen, Verwunderung machte sich in seinen harten, kantigen Gesichtszügen breit und vorsichtig, fast zaghaft antwortete er: „Ich wünsche dir auch viel Glück ... Gwyn. Möge Shaal heute unter dir sein.“ „Und unter dir. Unter uns allen.“ Ohne sich nocheinmal umzudrehen wandte er sich zum Gehen, sprang auf den Steg und verschwand im Turm. Ralman zögerte ebenfalls nicht länger. Aka'troom öffnete seine Pforten und die „Tornado“, winzig wie ein Pilotfisch neben einem Wal, segelte im Wind der Meeresdruiden auf die Malebolga zu. 400 Kriegskatamarane, die erste Angriffswelle, folgten ihr durch den Spalt, der sich sogleich wieder schloß. „Yai a werde firste man.“* ( Bulliwyf, Der dreizehnte Krieger)
Sie waren schließlich angekommen. Den ganzen Weg hin zum Jo'troom hatten ihn die Bilder verfolgt, um Hilfe rufende Frauen, sterbende Kinder, zerfetzte Alte, deren zerschmetterten Körper den Weg säumten, brennende Häuser; es war ein Alptraum und einer, von dem Daaleryk gil Ravadry gedacht hatte, daß es kein Entkommen geben könnte, aber hier, auf den Zinnen des größten Tores des Welt, hier oben, hatte er es vergessen. Vergessen waren Tod und Verderben im Finn Tarakis, vergessen das Grauen, das von der Malebolga ausging. Der Tod hatte viele Gesichter und es schien, als wollte er heute * Etwa: Ich werde der erste sein.
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möglichst alle zeigen. In den eisigen, schneebedeckten Ebenen und Hügeln, die sich jenseits des steinernen Walls befanden, hatten sich tausende von Eisbarbaren versammelt, jeder einzelne fast so groß wie ein Troll, halbnackt, die fettglänzende Haut mit den wilden blauschimmernden Tätowierungen zur Schau gestellt. Ihre Waffen waren so groß und schwer, daß der Alb nicht hoffen konnte, sie auch nur anzuheben und nicht wenige waren auf den riesigen Kriegskatzen gekommen, die in dem nordischen Urwald fernab der amarischen Zivilisation lebten. Felas nannten die Sherkai sie, Felas, wie ihre Frauen. Riesigen weißen Tigern gleich streiften sie unruhig zwischen den Männern hin und her, unter denen die scharfen Augen des Alben auch vereinzelt Truppen von Lord Destrin erblickte. Zwischen den Eisbarbaren sahen sie aus wie Halblinge. Ihr Trumpf war auch eher die eiserne Disziplin, die den Sherkai völlig abging; sie schrien, heulten, lachten und konnten es überhaupt nicht erwarten, endlich die verhaßten Amarier zu töten, nein, töten reichte ihnen heute nicht. Sie wollten Amarien vernichten, daß sah er ganz deutlich in ihren Augen, in ihren drogenvernebelten Blicken. Er dachte an Raschkralle und Grillenfänger, die beiden Grenzgänger, mit denen er zusammen die Nebelfeste gegen das Böse verteidigt hatte. Wenn er daran dachte, wie sie gekämpft hatten, dann spürte er ein für Alben sehr ungewöhnliches Gefühl im Bauch, aber auch im Herzen und am Rücken: Furcht. Diese muskelbepackten Riesen kämpften mit einer Leidenschaft und einer Wucht, die einer Naturgewalt glich. Sie hatten alldem nur sehr wenig entgegenzusetzen, keiner der hier Anwesenden bezweifelte das. Auch die leidenschaftliche Rede, die Misandul gerade an die Männer gerichtet hatte, konnte ihren Blick kaum trüben. Gwyn hatte den Vorteil gehabt, daß seine Soldaten noch keinen Feind gesehen hatte. Hier war die Ansprache seines Freundes ständig durch das Heulen der Barbaren unterbrochen wurden, jeder vermochte zu sehen, gegen wen er zu kämpfen hatte. Dutzende von Bannern wehten über dem Schlachtfeld, dutzende von Stämmen der Sherkai waren dem Ruf von Fearr Singetrech gefolgt. Sie hatten große Belagerungsmaschinen dabei und wenn es je jemanden gegeben hatte, der das Jo'troom schleifen konnte, dann die vereinte Kraft dieser Riesen. Zu seinem Entsetzen bemerkte Daaleryk neben der gewaltigen Gestalt Singetrechs eine zweite Person, die viel kleiner war, aber dennoch geradezu über eine Aura von Gewalt zu verfügen schien, die selbst bis hierher vordrang. Das es sich um eine Person handelte, wußte Daaleryk eher, als daß er es wirklich sah, denn er kannte den Mann gut. Lord Destrin selbst war auch hier. Das war für sich allein genommen schon eine wirklich schlechte Nachricht, aber im Grunde war dieser ganze Tag, hah, waren die ganzen letzten Wochen nichts anderes gewesen, als eine Verketteung schlechter Neuigkeiten und so konnte die Anwesenheit dieses uralten Vampirs den Krieger auch nicht mehr beunruhigen. Es waren etwa 21.000 Sherkai hier, Daaleryk selbst hatte zu den Männern gehört, die diese Information unter Einsatz ihres Lebens aus dem Rattblattwald geholt hatten, und damit war rein zahlenmäßig der Vorteil auf ihrer Seite, denn zusammen mit der persönlichen Hausmacht des Grafen Manderyllen verfügten sie über knapp 26.000 Männer. Aber die Zahlen waren in diesem Fall leider wenig aussagekräftig. Jeder Sherkai ersetze im Kampf – je nach sozialem Rang – zwischen vier und sechs amarischen Rittern und so waren sie also rechnerisch hoffnungslos unterlegen. Sie hatten sich aber dennoch für eine offensive Taktik 28
entschieden. Dies hatte einen ganz einfachen Grund. Weder Daaleryk, noch Misandul und am allerwenigsten Erkenbrand gingen davon aus, daß die Seeschlacht gegen die Malebolga gewonnen werden konnte. Sie alle hatten sie bereits in Aktion gesehen und ihnen war klar, daß selbst göttliches Eingreifen kein Garant für den Sieg sein mußte. Sie hofften es und sie hatten jeden Tag und jede Nacht dafür gebetet, aber für eine realistische militärische Planung konnten sie leider nicht davon ausgehen. Wenn nun aber die Malebolga nicht geschlagen werden konnte, dann stellte das Jo'troom den einzigen Fluchtweg für die Bevölkerung der Stadt dar und den konnten, den durften sie nicht von den Sherkai verstellen lassen. Wenn sie hier keinen schnellen Sieg herbeiführen konnten, dann hätten die Frauen und Kinder - falls sie die Attacken aus der Luft überlebten – nur die Wahl, wer sie töten sollte. Misanduls Rede endete. Die Männer hatten verstanden. Man mußte ihnen nichts von ihren unsterblichen Heldennamen erzählen, nichts von den Statuen, die man ihnen zu Ehren errichten würde oder gar von dem riesigen Lohn, der sie erwartete. Sie hatten verstanden. Sie wußten, worum es ging und sie waren bereit. Daaleryk wünschte, er hätte das auch von sich sagen können, aber es war, wie es war. Sei's drum, als Misandul und Manderyllen vor das Tor gingen, um mit ihren Einheiten die vereinbarten Punkte zu besetzen, da zögerte er nicht. Daaleryk fragte sich, wie es Erkenbrand wohl gerade erging. Der Krylit hatte sich mit einer kleinen, aber schlagkräftigen Eliteeinheit bereits vor Stunden im Schnee in einem nahen Wäldchen eingegraben und wartete. Wenn sein Plan aufging, dann könnte er zusammen mit Misanduls schwerer Kavallerie den Grenzgängern einen Hinterhalt stellen, aus dem sich selbst diese Besten unter den schlachtgewaltigen Sherkai nicht mehr befreien würden. Wenn. Er selbst sollte den Gargath Paß halten, der Hauptteil der Sherkai würde ihn passieren müssen und so würde Daaleryk dort mit dem Großteil der amarischen Streitkräfte auf sie warten. Alleine 10.000 Mann waren seinem direkten Kommando unterstellt, weitere 4.000 wurden von Erkenbrand kommandiert, der einen zweiten, viel kleineren Paß bewachte. Misandul war mit 6.000 Mann ihr Ass im Ärmel. Er wartete einfach nur zwischen den Päßen, an den Ausläufern der Berge und konnte binnen weniger Minuten an beiden Fronten sein – je nachdem, wo man ihn dringender benötigte. Blieben 6.000 schwere Infanteristen, die mit Manderyllen am Tor warteten. Erkenbrand wollte erst im Kampf entscheiden, wohin sie marschieren sollten. Sollten beide Fronten fallen, dann könnten sie vor dem Jo'troom ein letztes Gefecht liefern. Auf den Karten in dem Regierungssitz im Finn Tarakis hatte das ganz wunderbar geklungen und Erkenbrands Berechnungen gingen zwar von hohen Verlusten aus, es bestand aber eine realistische Möglichkeit zu siegen. Hier draußen, in der eisigen Realität schmolz Daaleryks Hoffnung, den Temperaturen zum Trotz, schnell. Er trat zwischen seine Männer, die ihm tapfer zunickten, grimmige Blicke austauschten und ihm schließlich folgten. Gemeinsam liefen sie zum Paß hinauf, eine Strecke, die vielleicht eine dreiviertel Meile sein mochte, aber der Schnee lag hoch und der Weg schlängelte sich nicht zwischen den Hügeln hindurch, sondern verlief einfach drüber und drunter. 9500 Männer warteten bereits am Paß, verschanzt hinter hastig errichteten Barrikaden. Niemand konnte ernsthaft glauben, daß diese hölzernen Hindernisse einen Sherkai, geschweige denn eine Fela aufhalten konnten, aber die Männer mußten von ihren schwermütigen 29
Gedanken ob einer drohenden Niederlage oder – noch schlimmer – den eigenen Tod abgelenkt werden. Harte körperliche Arbeit war dazu ein erprobtes Mittel, daß hatte der Alb auf der „Reisenden“ selbst lernen müssen. Es dauerte nicht lange, da erreichten sie ihren Heeresteil an diesem kalten Morgen. 19 Einheiten standen in ordentlichen Blöcken an den verschiedensten Stellen in dem breiten Paß; düster und bedrohlich ragten die dunklen Berge rechts und links von ihnen auf, wie dämonische Zuschauer. Unsicher sah Daaleryk sich um. Er mochte diesen Ort nicht. Einen Kriegsschauplatz zu mögen war ohnehin keine leichte Angelegenheit, aber dieser eisige Alptraum machte es, weiß Orhan, nicht leichter. Daaleryk kletterte mühsam auf eine Anhöhe, wo sich fünfhundert Bogenschützen in Reih und Glied aufgestellt hatten. Dies war die Einheit, die er direkt kommandieren wollte. Die Männer waren sowohl für den Fernkampf ausgebildet, als auch versierte Recken, sollte es Mann gegen Mann gehen. Er fühlte sich aber nicht wegen ihrer Ausbildung so besonders sicher bei ihnen, es war ihre Herkunft; außer Manderyllens Hausstreitmacht waren diese Soldaten die einzigen, die direkt aus dem Finn Tarakis kamen. Man konnte wohl davon ausgehen, daß sie mit mehr Leidenschaft kämpfen würden als andere. Es würde noch Monate dauern, bis ganz Amarien unter der Tigerklaue der Sherkai war, wenn der Finn erstmal erobert war, aber diese 500 Männer hier kämpften bereits heute um die Zukunft ihrer Kinder, sollten sie versagen, dann brannten ihre Häuser und nicht die irgendeiner fernen Hauptstadt. Es war ihr Kampf. Auf der anderen Seite des Passes hatten sich die Sherkai bereits zusammengerottet. Ihr Gejohle, das Rufen und Schreien, Metall, das an Metall geschlagen wurde; das Stampfen und Brüllen der Felas, es war eine Kakophonie, wie sie sonst nur in den inneren Sphären, der Heimat der Dämonen zu hören war. Da war keiner unter den Amariern, dem nicht ein eiskalter Schauer über den Rücken gelaufen wäre, egal in wievielen Schlachten er für sein Vaterland gestritten haben mochte, egal wie laut er heute morgen vor seinen Kameraden geprahlt hatte, da draußen standen sie nun und plötzlich war alles ganz anders. Daaleryk sah sich um und bemerkte die Nervosität unter seinen Männern. Die Art, wie sie zusammenzuckten, wie sie sich grimmig zunickten und wie weiß ihre Knöchel um die Griffe ihrer Waffen hervortraten. Das Angriffssignal war noch nicht gekommen und außer zu drohen, hatten auch die Sherkai noch nichts getan, aber der Krieger wußte, daß jeder Moment, der jetzt noch verstrich, die Chancen auf eine Panik unter seinen Männern drastisch erhöhen konnte. Er atmete noch einmal tief durch. Dann traf er eine Entscheidung. „Vorrücken bis zu der Anhöhe dort vorn!“ Er dachte, daß seine Stimme jämmerlich und zittrig geklungen haben mußte, aber wenn das der Fall war, dann kümmerte sich niemand darum. Er rief, und die Kriegstrommeln gaben den Takt an, in dem die Amarier ihm folgten. Sie waren gerade erst losgelaufen, als er sich umwandte, um den nächsten Befehl zu brüllen: „Auffächern!“ Die Männer, die hinten in der Einheit marschierten, legten etwas an Tempo zu und ohne, daß der ganze Zug langsamer geworden wäre, marschierten sie nun in einer langen Reihe zu der Anhöhe. Daaleryk hatten einen sehr großen Haufen Sherkai knapp außerhalb der Reichweite der gefürchteten amarischen Langbögen gesehen. Es fehlten zwar einige dutzend Meter, aber sobald sie sich ihrerseits in Bewegung setzten, konnte er sie mit wenigen Pfeilen 30
niederschießen, während die schwere Infanterie vorrücken würde, um den Rest zu erledigen. Die Sherkai waren im Nahkampf beeindruckende Gegner, aber in ihrem Denken zu schwerfällig. Von Taktik oder gar Strategie keine Spur. Es würde nicht leicht werden, aber es war sehrwohl möglich. „Anlegen!“ Die Männer zogen lange Pfeile aus den Köchern und hielten sie locker an den Bögen. Wenn er den Befehl dazu gab, dann würden sie innerhalb von 10 Sekunden 1500 Pfeile losschicken. Das würde nicht nur einen gewaltigen Schaden unter seinen Feinden anrichten, es würde innerhalb seiner eigenen Reihen auch ein wichtiges Signal setzen. Er mußte seinen Männer zeigen, daß die Sherkai auch nur Männer waren, groß und stark, ja, aber verwundbar und sterblich. Die Botschaft, dachte er, würde wohl ankommen. Er betrachtete die Eisbarbaren genauer. Es mochten vielleicht 800 Mann sein, eher mehr. Sie schienen einfach nur so dazustehen, unregelmäßig, aber von hier oben meinte er, doch ein Muster erkennen zu können. Es war relativ viel Platz zwischen den einzelnen Sherkai, was seinen Fernkampfangriff in der Effektivität deutlich minderte. Nun, das war nicht zu ändern, aber etwas stimmte nicht. Zwar brüllten sie genauso laut wie all die anderen Clans, sie zappelten aber nicht so viel herum, sprangen nicht auf und ab und fuchtelten auch nicht mit ihren riesigen Schwertern herum. Der Alb neigte seinen Kopf. Dieser Körper hatte Augen, die sich leicht mit denen eines Adlers messen konnten – war da nicht eine Bewegung zwischen den Sherkai gewesen? Er war sich nicht sicher. Da! Schon wieder. Als hätte sich der Schatten des Riesen dort ohne seinen Körper bewegt? Daaleryk sah an der Schlucht entlang; am anderen Ende, ebenfalls auf einer Anhöhe, standen die beiden anderen Feldherren, Fearr Singetrech und Lord Destrin. Destrin! Er begriff. Aber viel zu spät. Er wollte sich gerade zu seinen Männern umdrehen, als er gerade noch aus den Augenwinkeln sah, wie hinter jedem der Sherkai ein viel kleinerer Mann hervortrat, schwarz gepanzert und mit einem metallernem Langbogen bewaffnet. Destrins Männer hatten sich im Schatten der Sherkai bis an die Front vorgewagt und brachten nun eine Waffe ins Spiel, die die Sherkai als feige ablehnten, nämlich den Bogen. Er wollte seinen Männern zurufen, daß sie die Schilde hochreißen sollten, daß sie laufen sollten, alles auf einmal und dann, daß es ihm leid tat. Aber das letzte was er hörte, daß letzte, was all die amarischen Männer der Einheit aus dem Finn Tarakis hörten, war das Singen der Pfeile, wie sie schwirrend die Metallsehnen verließen, hoch in den schwarzgrauen Himmel aufstiegen und dann schnell wieder herab kamen, wie schwarze Schlangen, beißend, Tod und Verderben verbreitend. Das letzte was er sah, waren die drei, vier Pfeile, die seine Brustplatte durchschlagen hatten und das letzte was er dachte war, daß sie ihn, nach dem sie ihn über dem Schlund der Riesendohle bereits seines Lebens beraubt hatten, nun auch noch töten. Als Daaleryk gil Ravadry starb, verspürte Misandul einen Stich im Herzen und so kannte er die Antwort auf seine Frage bereits, bevor er sie an die Botenjungen und Flaggenträger brüllen konnte. Mit dem Alben starb auch ein Teil seiner Seele; ein Teil von dem er gar nicht gewußt hatte, daß er zu ihm gehörte und den er nun, da er ihn nie kennengelernt hatte, um so schmerzlicher vermißte. Und noch ein Wesen fühlte, wie etwas in ihm starb, Erkenbrand, der Krylit. Im 31
Gegensatz zu Misandul konnte er nicht weinen, aber er wünschte seinem Freund von Herzen, daß die Götter, an die er geglaubt hatte, ihn gnädig in ihr himmlisches Reich aufnehmen würden. Im Paß aber machte sich große Verzweiflung unter den Amariern breit. Eine ganze Einheit vernichtet, bevor sie auch nur einen einzigen Schuß abgegeben hatte, bevor sie auch nur das Schwert ziehen konnte! Einer von drei Heeresführern tot! Die Sherkai setzten sich in Bewegung. Laut fluchend rannte Shudden Mell durch die Straßen des Finns. Die Angriffe konzentrierten sich mittlerweile auf die vier Vathen'kai, die gigantischen Türme, in denen die riesigen Vögel hausten, die die Amarier als Reittiere benutzten. Wann immer eines dieser majestätischen Tiere ausflog, stürtzen sich sofort vier oder fünf der schwarzen Monster auf ihn und zerrißen ihn, bevor er mehr als einige wenige Flügelschläge tun konnte. Blutige Federn mischten sich unter den weißen Schnee und tote Körper bedeckten bereits die Straßen rund um die Türme. Zwei hochrangige Soldaten, beide bereits ergraut, bahnten sich ihren Weg durch die panischen Massen. Keuchend hielt er inne. Fassung. Und Haltung. Diese Männer bedurften seiner Führung im Moment dringender als alles andere. Er richtete sich auf. „Herr, wir müssen die Krieger zusammenziehen und die Türme verteidigen. Die Vathen können nicht starten, sondern werden zerfetzt, noch bevor sie sich formieren können.“ Der zweite nickte eifrig. Shudden Mell überlegte einen Moment und schüttelte dann seinen Kopf. „Nein. Die Soldaten sollen die Alten und Frauen in den Kirchen versammeln, wo sie sich unter ihrer Anleitung verbarrikadieren werden. In wenigen Momenten will ich keine Seele mehr auf der Straße sehen. Niemanden.“ Die Soldaten sahen sich unsicher an. Das Leben eines Nicht-Kombatanten bedeutete auf einem Schlachtfeld nur sehr wenig und so konnten sie mit dem Befehl nichts anfangen. Aber ein Blick in die unergründlichen Tiefen der gesprenkelten Augen und sie vergaßen ihre Bedenken und liefen los. Shudden Mell rief ihnen hinterher: „Die Universität; wo finde ich die Adepten der Zauberer?“ Er folgte dem ausgestreckten Arm, eines der beiden alten Recken und rannte wieder los, über einen kreisrunden Marktplatz, vorbei an einem gefroren Brunnen und unter einem Torbogen hindurch. Schon jetzt befanden sich deutlich weniger Leute auf den Straßen, aber das lenkte natürlich die Aufmerksamkeit der Angreifer auf die wenigen, die noch unterwegs waren. Als er über sich einen schwarzen Schatten sah, zögerte er nicht, griff nach seinem Schwert, zog es aus der Scheide, warf es in einem weiten Bogen in die Luft und blieb nicht stehen, um zu überprüfen, ob er getroffen hatte – alles eine einzige, fließende Bewegung, kein Moment des Zögerns oder Verharrens. Er wurde nicht einmal langsamer. Ein Krachen in der Häuserfront links hinter ihm war mehr als Beweis genug. Noch vier weitere Häuserblocks bis zu dem Universitätsgelände. Plötzlich fiel ihm etwas ein und er wandte sich wieder um. Das Monster hatte sich frontal in das Haus gebohrt, die Fassade war völlig zerstört, aber selbst jetzt war es noch nicht tot. Schwer hob und senkte sich seine Brust, aus der der silbrige Griff seines Schwertes schaute. Schwarzes Blut troff daraus hervor, 32
schmolz den weißen Schnee zu grauem Matsch und verpestete die Luft. Mell ging näher heran. Es war nicht sein Schwert, was ihn interessierte, er hatte im Laufe seines Lebens hunderte besessen, nein, er meinte etwas zu hören. Ein hohes Fiepen, ähnlich dem einer ... Fledermaus. Er blickte auf. Über ihm schloßen die Wesen die Lücke in einem Muster, daß er erst jetzt erkannte. Sie schienen Laub in einer Böe zu sein, aber es war in Wahrheit eine äußerst komplexe Formation, eine Decke, die sich langsam über die Stadt senkte. Vermutlich hatte es etwas mit ihrem Gesichtsfeld zu tun – und sie verständigten sich auf einer Tonhöhe, die selbst für seinen scharfen Albenohren an der Grenze des Hörbaren waren. Das änderte alles. Nein. Er lächelte. Nein, nicht alles. Kurze Zeit später kam der Paladin mit wehendem Mantel vor dem riesigen Portal zum Stehen. Das Gebäude strahlte eine Atmosphäre von Macht aus, Alter und Weisheit und ein geringerer Mann hätte sich vielleicht davon beeindrucken lassen, obgleich vielleicht niemand, der in so dringender Mission unterwegs war, aber Shudden Mell war über vierhundert Jahre alt und nichts, wirklich gar nichts außer seine schwierige Aufgabe konnte ihm im Moment zu mehr als einem müden Lächeln reizen. Da er sein Langschwert als Wurfwaffe mißbraucht hatte, zog er stattdessen das Kurzschwert an seiner Linken, und hämmerte mit dem schweren Stahlknauf an dem Holz, das sogar noch älter als er selbst sein mochte. Sämtliche Professoren und Magister waren auf den Schiffen im Hafenbecken, aber wenn sein Gedächtnis ihn nicht im Stich ließ, dann würde viel weniger weit mehr als genug sein. Sein Pochen wurde immer ungeduldiger, fordernder, und schließlich hörte er auf der anderen Seite ein dünnes Stimmchen, die Worte, die es faselte, durchdrangen das Holz aber nicht. „Mach auf Bürschen oder andere werden es in Kürze tun, aber bei Orhans blauem Licht, anklopfen werden sie gewiß nicht!“ In der Flügeltür öffnete sich eine viel kleinere, perfekt verborgene Tür einen Spalt breit. Das unstete Licht von vielen hundert Kerzen warf einen warmen roten Schein auf den kalten Schnee der Straße. Offenbar wartete der Mann auf eine Vorstellung, aber Mell hatte keine Zeit mehr für Floskeln oder freundliche Gespräche. Unwirsch trat er die Tür auf und war nicht schlecht überrascht, in mehrere dutzend grimmige Gesichter zu schauen, zahlreiche Augenpaare, die ihn fixierten, hinter denen die Magie nur so knisterte, bereit zuzuschlagen. Er schlug die Tür hinter sich zu und sah sich verblüfft um. Kinder! Es waren alles Kinder, keiner von ihnen hatte mehr als fünfzehn Sommer gesehen – was immer das in dieser lichtlosen Eiswüste bedeuten mochte. „Mein Name ist Shudden Mell. Ich bin ein albischer Ritter aus Cyriamoth und ein persönlicher Freund des Kriegsherren Gwyn ap Annwn. In seiner Abwesenheit bin ich mit dem Schutz der Stadt beauftragt. Die Zeit drängt und so frage ich euch; gibt es unter euch einen, der in den Künsten der Illusionen und Trugbildern bewandert ist? Jemand, der Sinnestäuschungen hervorrufen kann?“ Es meldeten sich sechs junge Männer, alles Menschen. Das war nicht viel, aber im Grunde hatte er schon fast damit gerechnet, überhaupt keine positive Rückmeldung zu erhalten. Er kratzte sich am Hinterkopf. Fragen zeigten sich auf den jungen Gesichtern, Finger fuhren in die Höhe, als wäre das alles hier eine 33
Schulstunde und nicht bitterer Ernst. Der Alb wischte alle ihre Zweifel mit einer herrischen Geste weg und ordnete seine sich überschlagenden Gedanken. „Ich meine mich an einen Zauber zu erinnern, der Geräuschwunder heißt, man kann damit ...“ Sie verstanden ihn. Alle. Und seine sechs nickten eifrig, sie kannten den Spruch! Er winkte sie näher heran. „Welche Art von Tönen kann man damit erzeugen? Du!“ Der junge Adept wirkte mehr als eingeschüchtert, aber Mell konnte hier und jetzt nicht auf seine Ängste eingehen. In jeder einzelnen Sekunde starben Männer, Frauen und Kinder. „Nun, im Grunde alle Arten von Tönen und Geräuschen, allerdings nur einstimmig.“ „Und auch alle Höhen?“ Nicken. „Dann kommt mit. Wir haben viel zu tun und vielleicht ist es schon zu spät.“ Gemeinsam rannten sie in die kalte, stürmische Dunkelheit hinaus und bald waren sie, unsehbar für die anderen Adepten, darin verschwunden, verschlungenen Pfaden folgend, den vereinzelten Kämpfen ausweichend und immer in Bewegung. „I see a dark sail on the horizon set under a black cloud that hides the sun. Bring me my broadsword and clear understanding, bring me my cross of gold as a talisman. Bless with a hard heart those who surround me and bless the women and children who firm our hands.“ („Broadsword”, Jethro Tull )
Die „Tornardo” setze Kurs auf den unaussprechlichen Schandfleck auf Kultheas Antliz, ein winziges Schiff, dem 200 ähnliche Jäger folgten. Samira und Figul hatten ihre Häupter gesenkt und starrten konzentriert auf den gischtbespritzten Holzboden, der sie von der trügerisch ruhigen See trennte. Sie wollten das Ding nicht anschauen, nicht länger als sie unbedingt mußten. Ralman kannte solche Bedenken nicht. Er stand vor der kleinen Obsidianplatte, mit der sich das Schiff steuern ließ – sofern man stark genug war, um den Willen des Artefakts zu brechen – und starrte gebannt auf das riesige Ungetüm. Als Figul aufsah, meinte er ein kleines Lächeln um die Mundwinkel des Assassinen zu sehen, aber das wunderte ihn nicht – er hielt den Mann ohnehin für verrückt, auch wenn er seinen nahezu unglaublichen kämpferischen Fähigkeiten Respekt zollte. Figul wandte sich um und sah, wie die Flotte sich in Geschwader aufteilte und diese sich wiederum auffächerten. Im Hafenbecken schienen es so viele zu sein, hier, vor dem Aka'troom waren es nur vereinzelte schwarze Punkte auf offener See. Obgleich sie auf die Malebolga zurasten, wurde das Dämonenschiff nicht mehr größer, schon lange segelten sie in ihrem Schatten und noch immer waren es bis zum direkten Kontakt annährend eine halbe Seemeile. Figul sah vorraus und der schwarze Berg füllte seine ganze Wahrnehmung, seine ganze Seele aus, wie ein wuchernder Pilzklumpen, der an ihm zehrte, ihn zog und zerrte, ihn aufzufressen drohte. Er blickte an der vorderen Kante des Bootes vorbei und bemerkte, wie sich etwas öffnete, eine Art überdimensionales Maul, ein unförmiges Loch, aus dem eine Dunkelheit strömte, die fast schon stofflich war. Giftige Dämpfe quollen hervor und die Augen des Halblings brannten – oder 34
weinte er? Weinte er ob dieser Gotteslästerung? Er wußte es nicht und es war ihm auch gleich. Er wollte sich nur auf seine Aufgabe konzentrieren, er wollte dieses Ding vernichten. Er wußte bereits, was jetzt kam. Er kannte diese Öffnung und wußte nur zu gut, wozu sie diente. Mit einem Geräusch, einem lauten Rülpsen nicht unähnlich, zogen sich die lippenhaften Ränder des Lochs zusammen und spuckten eine Art Ball aus, groß und ganz schwarz. Winzige Schleimbrocken flogen in alle Richtungen davon, als das Geschoß, die Gesetze der Physik verhöhnend, geradezu gravitätisch langsam über das Wasser flog. Doch das Augenscheinliche war trügerisch; die Kugel mochte viel langsamer sein, als ein Pfeil oder die Steine, die ein Katapult verschoß, aber es war immernoch erheblich schneller als die meisten Seevögel, die alle schon vor Stunden zu freundlicheren Gefilden aufgebrochen waren. Figul folgte dem Geschoß, bis es, ohne weiteren Schaden anzurichten, in einem weiten Bogen hinter dem Aka'troom verschwand. Eine Art Warnschuß? Das Ding war nicht einmal in die Richtung der Schlachtschiffe geflogen. Sonderbar. Mittlerweile hatten alle 200 Jäger eine lange Reihe gegenüber der Malebolga gebildet, etwa 300 Meter vor ihr kamen sie zur Ruhe. Die Formation war offen, wenigstens fünf Meter befanden sich zwischen den einzelnen Schiffen, so boten sie wenig Fläche für einen möglichen Angriff. Nebel zog auf. Er kam von See her und war dick wie in einem Dampfbad der Lugroki. Aber noch hinderte er die Sicht kaum und jeder der Soldaten konnte mühelos erkennen, was hinter der Malebolga vorgeschoßen kam. Knochige, schattige Dinger, kleinen Schiffen nicht unähnlich, jedes davon mit zwei der Wesen bemannt, die Gwyn als Avatare bezeichnet hatte; sie waren keine eigenständigen Dämonen, sondern eine Art stofflich gewordener Gedanke der Malebolga, eine Verlängerung ihrer Sinne und zugleich eine furchtbare Waffe; wie ein riesiger Bienenschwarm bewegten sich die geisterhaften Schiffe hinter Ihr hervor, nicht nur zu dutzenden, hunderte, vielleicht noch mehr. Sie kamen als blanker Hohn, eine Verspottung des amarischen Angriffs, eine Kopie. Wären sie auf Drachen geritten, die Antwort der Malebolga wäre etwas entsprechendes gewesen, verzerrt, aber als dunkles Abbild erkennbar. Ralman betrachtete die herannahenden Schiffe und eine Sorgenfalte bildete sich zwischen seinen Brauen. Seine Stimme war dennoch ruhig und gefasst, als er seinen linken Arm hob, um über das Armband mit seinem Kriegsherren zu sprechen. „Gwyn, wir stoßen hier auf Widerstand, auf anderen Widerstand als erwartet. Schick sofort die restlichen Jäger raus, die feindlichen Verbände sind viel zu stark.“ Schweigen. Das Armband des Kriegsherren erlaubte es Gwyn, mit allen seinen Truppenführern gleichzeitig zu kommunizieren, aber der Assassine bekam keine Rückmeldung. Er drehte sich um. Obgleich die blaße amarische Sonne den Tag ausreichend erhellen sollte, sah er nichts außer den Nebelschwaden. Keine Flaggen, keine Signale. Er hatte buchstäblich nichts. Er lächelte. „Also gut. Sie stört unsere Kommunikation. Könnten wir die Essenzströme sehen, würden wir vermutlich eine Art Sog bemerken. Es ist nicht direkt die magische Potenz, die sie absaugt, eher, als würde sie einem die Luft zum Atmen nehmen.“ Weder Samira noch Figul hatten mehr als nur ein sehr grundsätzliches Verständnis von Magie. 35
„Ja und was bedeutet das alles?“ Samira wurde nervös. Die feindlichen Jäger waren auf hundert Meter herangekommen; sie würden sicherlich nicht sehr viel mehr als ein paar Atemzüge brauchen, um die restliche Distanz zurückzulegen. Ralman lächelte abfällig, löste aber weder seinen Blick von der Malebolga noch seine rechte Hand von der Obsidianplatte. „Im Moment kann nicht gezaubert werden. Die Armbänder sind Artefakte, die die Stimmen der Benutzer entlang der Essenzströme schicken sie sind also nicht mehr als ein hübsches Stück Metall.“ Er holte tief Luft und sah sich um. „Der Nebel verhindert eine traditionelle Verständigung mittels Flaggen. Gwyn weiß nicht, was hier passiert, also kann er keine Verstärkung schicken.“ Figul schluckte schwer. „Und jetzt?“ Statt einer Antwort konzentrierte sich Ralman einen Moment. Seine Augenlider flatterten mit der Geschwindigkeit von Insektenflügeln, so schnell, daß man es kaum sehen konnte. Der Halbling hielt den Tropfen auf der Stirn des Assassinen zuerst für Gischt, aber es war eindeutig Schweiß. Dann hob er sein Armband etwas. „Gwyn, hier spricht Ralman. Schick sofort die restlichen Jäger raus, hast Du mich verstanden, wir brauchen sofort jedes Schiff hier draußen“ Die Antwort des Kriegsherren war klar und deutlich. „Ja, ich verstehe, wir hatten hier ein kleines Problem, aber wie es scheint hat es sich offenbar in Luft aufgelöst. Die restlichen Jäger kommen raus.“ Ralman wartete eine Sekunde, dann sprach er erneut. „Was ist mit den Schiffen?“ Gwyn zögerte. „Wir brauchen sie hier, es sind einfach zu viele!“ Der Paladin ließ sich mit seiner Antwort Zeit, und Figul kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er offenbar vor einer sehr schweren Entscheidung stand. „Ich schicke sie raus, aber welches Risiko ich damit eingehe, kannst Du nicht ermessen.“ Der Assassine verzichtete auf eine Antwort. Er sprach zwei Worte in das Armband; „Ji'ach'tech Kentar!“ Der Halbling hatte seinen Ring zu Hause gelassen, aber die Bedeutung dieser Silben war ihm auch ohne die Magie klar; Angriff, Feuer nach eigenem Ermessen. Die „Tornardo“ begann wieder Fahrt zu machen und als erstes Schiff in der Linie amarischer Jäger raste sie wieder auf die Malebolga zu. Die anderen folgten ihr. „Können wir überhaupt hoffen ihre Linien zu durchbrechen? Wir werden überhaupt nicht nahe genug an sie herankommen, um sie zu entern.“ Samira mußte gegen den Fahrtwind fast schreien. Figul zuckte nur mit den Schultern, aber Ralman schaute grimmig nach vorn. „Ich habe gesagt, daß ich euch dicht genug heranbringe und bei den Göttern, das werde ich auch tun. Ribur, komm nach vorne.“ Der Zauberer des zweiten Außenteams machte einige unsichere Schritte auf Deck. „Ich, ..., der Kriegsherr sagte, ...“ 36
„Spar dir deine Ausflüchte. Du wirst uns den Weg notfalls freischießen.“ „Welch ein Meisterwerk ist doch der Mensch. Wie edel durch Vernunft. Wie unbegrenzt an Fähigkeiten. In Gestalt und Bewegung wie ausdrucksvoll. Im Handeln wie ähnlich einem Engel, im Begreifen wie ähnlich einem Gott!” („Hamlet”, Shakespear)
Er hatte mit seinen Männern einen Hügel erreicht, der ihm das ganze Ausmaß seines Problems zeigte; tausende von Sherkai strömten durch den zweiten Paß, die Grenzgänger, die härtesten Krieger der Eisbarbaren, ritten auf ihren Felas vorne weg und alles, was sie von Misandul und den Amariern trennte, waren einige hundert Meter. Er schluckte schwer. Zu seiner rechten lag ein winziges Wäldchen in einer Senke und dort verbarg sich Erkenbrand und etwa 250 Elitesoldaten, die den feindlichen Infanteristen in die Flanke fallen sollten. Misandul fand diesen Teil des Plans wenig überzeugend. Die Zeit war hier der entscheidene Faktor. Wenn sie die Grenzgänger schnell unschädlich machen konnten, dann könnten sie sich ihrerseite einige hundert Meter Richtung Jo'troom zurückziehen. Dort, auf der Kenndach'kenn Höhe, warteten mehrere tausend Mann schwere Infanterie. Gemeinsam würden sie den Vormarsch der Sherkai auf dieser Seite des Berges stoppen können – so hoffte Misandul jedenfalls – aber das eigentliche Problem waren in diesem Moment eindeutig die Grenzgänger. Er mußte sie einfach in ihrer wilden Eleganz, ihrer kraftvollen Geschmeidigkeit bewundern. Die Männer wie auch die Katzen waren geborene Raubtiere. Sein Pferd machte einige unruhige Schritte. Der weiße Atem des Tieres vermischte sich mit seinem eigenem. Es mochten jetzt vielleicht noch 200 Meter sein. Nachdenklich sah Misandul zu den Bäumen, die wie Zuschauer unter ihren weißen Mänteln aus Schnee zu ihnen hinüberschauten, ein großartiges Schauspiel erwartend. Noch 150 Meter. Am Ende war es auch nichts anderes als ein großes Schauspiel, ein blutiges Theaterstück. Hoffentlich senkte sich ihr Vorhang nicht zu früh. Noch 100 Meter. „Kech dannsuni.” Er hatte den Befehl nicht besonders laut gegeben, aber die amarischen Ritter hatten ihn sehnsüchtig erwartet und so ritten sie los. Während sie immer schneller wurden, nahmen sie ihre Formation ein. Die vorderen Reiter legten an Tempo zu, die letzten fielen zurück und nach etwa 20 Metern ritten sie in einer Pfeilformation mit Misandul an der Spitze. Die schweren Schlachtrößer keuchten und schnauften und noch immer wurden sie schneller und schneller. Trotz der schweren Eisenrüstung, trotz dem massigen, warmen Körper unter ihm wurde Misandul plötzlich immer leichter, fast schwerelos, bis er über die eisigen Felder dahinschoß, als ob er fliegen würde und als sie nur noch 15 Meter von den Riesen trennen mochten, war es ihm, als wäre er körperlos, ein Sturmausläufer oder ein blitzschneller, tödlicher Gedanke. Aufregung und Glück peitschten durch sein stahlummanteltes Inneres und in diesem Augenblick höchster Intensität löste sich ein Schrei von seinen Lippen, den er erst wahrnahm, als seine Männer ihn aufgriffen und den herannahenden Sherkai entgegenbrüllten. „DAJUKIN!” 37
Es war unmöglich, daß die Amarier seine Bedeutung erfassten, denn sie kannten seine tote Verlobte nicht. „They violate our space and we draw back. They assimilate entire star systems and we draw back. Not again. Not on this ship. The line must be drawn here and I let them pay!” (Cpt. Picard, „First Contact”)
Die vier Vathen`kai standen auf einem Platz, dessen Name Shudden Mell bereits wieder vergessen hatte. Er versuchte sich immer nur auf das wesentliche zu konzentrieren und wie dieser Platz genannt wurde, interessierte ihn herzlich wenig. Die Türme standen den vier Himmelsrichtungen zugewandt, vier majestätische Gebäude, die zu den höchsten und massivsten Bauwerken gehörten, die der Alb in der Stadt gesehen hatte. Gerade in diesem Augenblick löste sich wieder ein Vathen, einer der gigantischen Albatrosse und wurde von drei Ungetümen zerfetzt, noch ehe er die Hälfte des Platzes überquert hatte. Wurden diese Narren da oben denn überhaupt nicht klüger? Wieviele der kostbaren Tiere waren überhaupt noch am Leben? Egal, er war bereit mit allem zu kämpfen, was er hatte und wenn das bedeutete, daß er sich den FledermausGarou mit nur zwei oder drei der Vögel stellen sollte, dann würde er eben das tun. Mit seinen sechs Adepten hatte er bereits alles besprochen, schnell verteilten sie sich auf die umliegenden Gebäude. Mell selbst rannte quer über den Platz – und kam schliddernd zum Stehen. Vor dem Hauptturm verteidigten einige Soldaten verzweifelt den Zugang zu den Tieren gegen das größte Werwesen, dem der Ritter je begegnet war. Mühelos zerriß das Monster die eisernen Rüstungen und die Menschen darin wie Papierstreifen und schleuderte sie geifernd auf einen großen Haufen an seiner Seite. Fieberhaft dachte Mell nach. In seiner jetzigen Gestalt konnte er es kaum riskieren, die Bestie anzugreifen, verwandeln konnte er sich aber auch nicht, denn in seinem Zorn könnte es eine Weile dauern, bis er sich wieder in einen albischen Krieger zurückverwandelt hatte und so lange war die Verteidigung der Stadt in den Händen einiger verkrüppelter Veteranen und jungen Burschen. Außerdem würde seine Autorität empfindlich leiden, wenn er sich vor den Augen seiner Soldaten selbst in ein haariges Monster verwandelen würde. Im fiel nur eine Lösung ein, ein Gebet, aber wenn Shaal`ar nicht hier war oder nicht zuhörte, dann ... er wollte lieber nicht darüber nachdenken. Gemessenen Schrittes ging er auf das Monster zu. Seine Lippen formten unaufhörlich die Worte der Anrufung, aber die Silben waren nur äußerlich: Es war sein Herz, das den Gott anflehte ihm, den geringsten seiner Diener einen Teil seiner Macht zu übertragen. Er war dem Monster bereits ganz nahe, als es ihn bemerkte. Eine Sekunde lang irritierte es die Ruhe, die dieses neue Futter ausstrahlte, länger aber nicht. Es machte einen gewaltigen Satz nach vorne, bereit, die riesigen Klauen in dem weichen Fleisch zu versenken, sich an dem roten Saft zu berauschen, als es wie von einem Faustschlag getroffen vor Shudden Mell auf die Knie fiel und sich nicht mehr regte. Tiefer innerer Friede bemächtigte sich Shudden Mells und da wußte er, daß der Herr der Meere ihn erhört hatte. Er blickte staunend auf seine Hände und sah, wie goldblaues Licht aus ihnen hervorbrach und ihn schließlich ganz mit einer so hellen Korona umgab, daß er kaum noch zu sehen war. Die noch lebenden Soldaten in seiner Umgebung fielen ebenfalls auf die Knie, denn auch sie 38
spürten Gottes Anwesenheit und sie beteten, nicht wenige der schwer verwundeten erhoben sich wieder, geheilt und erfrischt. Reuig hob der Dämon sein häßliches Haupt und Tränen der Verzweiflung flossen durch sein dickes, unförmiges Gesicht, benetzten die borstigen schwarzen Haare und näßten die gelben Hauer. Gott benutzte Shudden Mells Gesicht, um gütig zu lächeln. „Ich verzeihe dir.“ Seine Stimme war das Plätschern eines klaren Baches in den Bergen, das sanfte Kräuseln winziger Wellen auf einem Teich. Glück leuchtete in den roten, pupillenlosen Augen und es leuchtete noch immer dort, als Shaal'ar den Ritter sein Schwert ziehen und das winzige schwarze Herz durchbohren ließ. Sanft, fast zärtlich, zog er die Klinge wieder heraus und schloß dem Ding die Augen. Dann wandte er sich den amarischen Soldaten zu und sagte: „Geht meine Söhne, geht und kämpft. Eure Arbeit ist noch nicht getan.“ Plötzlich fühlte Shudden Mell sich unendlich einsam. Gerade noch war es, als hielte er in seiner Brust die ganze Welt umspannt, und jetzt war da nur ein riesiges schwarzes Loch. Leere, Einsamkeit, Verzweiflung, der Ritter mußte sich erst wieder klar machen, daß er mitten in einem Krieg ... auf der Straße lag! Kalter Schnee kühlte sein Gesicht und erst jetzt merkte er, daß er weinte, daß seine Hände sich in die Straßen des Finns krallten, als müßte er verhindern, daß das Kopfsteinpflaster floh – Gott hatte ihn wieder verlassen. Noch immer mit den Tränen kämpfend stand er wieder auf und unterließ es, sich den Dreck von der Rüstung zu streichen. Er schaute nach oben, wo noch immer die schwarzen Fledermausuntiere über der Stadt kreisten. Eines der Dinger geriet ins Trudeln, vollzog eigenartige Drehungen, kollidierte fast mit dem Türmchen einer Kathedrale und flog schließlich mit hoher Geschwindigkeit gegen eine steinerne Brücke, die unter der Wucht des Aufpralls zusammenbrach. Steinsplitter zerstörten die umliegenden Fensterscheiben und die Statue einer riesigen nackten Frau kippte um, aber Mells Blick schweifte bereits wieder nach oben, wo weitere der Monster wie Betrunkene über den Himmel torkelten, mit Häusern, Türmen oder einander zusammenstießen und langsam füllten sich die Straßen des Finns mit Jubelrufen. Der Alb schaute zu den hohen Gebäuden, die die Vathen`kai umgaben und auf jedem der Dächer entdeckte er die tapferen Adepten, die mit dem Illusionszauber bemüht waren, verwirrende Geräuschinformationen an die schwarzen Werfledermäuse zu liefern. Zum ersten Mal am heutigen Tage fühlte er, wie ihn Hoffnung wärmte. Shudden Mell wand sich an die Soldaten: „Bewacht die jungen Männer dort auf den Dächern mit euren Leben! Wenn am Abend des heutigen Tages überhaupt noch jemand in dieser Stadt lebt, so wird es ihr Verdienst sein.“ Dann rannte er den Turm hinauf, denn die Vathen warteten bereits auf ihn. Es waren nur einige Minuten gewesen, aber die Erinnerung begann bereits jetzt zu verschwimmen, so, als hätte er es vor einiger Zeit in einem Buch gelesen oder als wäre es dem Helden im Lied eines Barden wiederfahren, vorgetragen in irgendeiner verrauchten Kaschemme. Ribur hatte die magischen Essenzen zu einem gewaltigen Feuerball gebündelt und ein Loch in die geschlossene Linie der angreifenden Schiffe gesprengt. Auf einer Breite von fast zwanzig Metern 39
verwandelten sich die Jägerboote der Malebolga in rußige Fetzen, die träge über die ruhige See trieben. Nur wenige Sekunden später war die „Tornardo“ durch die sich bereits wieder schließende Lücke der feindlichen Flotte durch und setzte mit haarsträubender Geschwindigkeit Kurs auf die riesenhafte Erhebung, die den Horizont vor ihnen verschwinden ließ. Figul war ganz ruhig gewesen, selbst noch, als Ribur zu seinem zweiten Zauber ansetzte, in dieser ersten Phase der kritischste Moment ihres aberwitzigen Planes. Wieder spürte er knisternde, rohe Essenzmagie, die ihn wie die Faust eines Riesen packte und aus der „Tornardo“ schleuderte, 20, 50, 60 Meter in die Höhe. Hätte er den Kopf gedreht, hätte er Samria neben sich sehen können, aber er konnte seinen Blick nicht von Ihr abwenden, auch wenn er sich einredete, daß er sich konzentrieren mußte, um die Kletterklauen, die er an Händen und Füßen trug, an einem günstigen Punkt in dem weichen Fleisch der Malebolga zu versenken. Der Halbling erinnerte sich an die Einsatzbesprechung und an seine Frage an den Eydeeten, ob das dämonische Schiff es nicht merken würde, wenn sie die stählernen Klauen in Ihrem Körper versenken würden. Der winzige Dämon hatte nur freundlich gelächelt und es noch einmal erklärt. „Ja,“ hatte er gesagt, „so unwahrscheinlich es klingen mag, die Malebolga würde selbst eine so winzige Attacke sofort registrieren. Es gibt nichts, was ihrer Aufmerksamkeit entgehen würde, aber sie wird viel zu viel zu tun haben, um sich mit zwei Mücken zu beschäftigen. Ihre Kräfte sind kurz vor dem Zenit. Sie hat bereits mehr Macht, als viele der sogenannten regionalen Götter und Halbgötter, aber noch ist sie kein Gott. Jedes einzelne der feindlichen Jägerboote, jede der bemantelten Kreaturen ist eines ihrer Gedanken und sie muß sich auf jeden einzelnen konzentrieren. Gleichzeitig wird sie mit ihrem Körper angreifen und versuchen das Wetter zu ihren Gunsten zu beeinflußen. Sie wird Gwyn überall suchen und ihre Attacken auf ihn konzentrieren und sie wird wissen wollen, wie es um das Jo'troom Tor steht. Nein, Figul, so unglaublich ihre mentalen Fähigkeiten auch sein mögen, um euch beide wird sie sich unmöglich kümmern können.“ „Aber“ wandte Samira ein „als wir das letzte Mal in der Malebolga waren, stießen wir dort auf verschiedene Dämonen, die eine Art Wächterfunktion wahrgenommen haben. Was ist mit ihnen?“ Der Eydeet seufzte voller Mitleid. „Die Malebolga ist ein Mischwesen. Sie ist Schiff und Dämon zugleich, gebaut und gewachsen, Stahl und Fleisch. Ihr Körper verfügt über Abwehrmechanismen – genau wie die anderen Körper aller Tiere und Wesen auf Kulthea es auch tun. Diese Abwehrmechanismen kann sie ebensowenig steuern, wie du dein Blut oder deinen Herzschlag. Diese Dämonen sind beides zugleich; Seeleute auf dem Schiff und körpereigene Abwehrmechanismen in ihrem Leib. Umgeht sie. Versteckt euch vor ihnen, aber beeilt euch. Ihr müßt in Windeseile in die Kammer vordringen, die ihr letztes Mal gefunden habt und ihr das Herz, welches ihr magisches Schild erzeugt, zerstören. Die amarische Flotte wird ihrem Zorn nicht lange widerstehen können.“ Und nun war Figul ji Natek hier, flog wie ein abgeschossener Pfeil durch die Luft, und noch ehe er Zeit hatte, einen geeigneten Ort zu suchen, hing er auch schon an Ihr dran. Der Aufschlag war hart gewesen, aber lange nicht so schlimm, wie er gedacht hatte. Ihr Fleisch war ganz weich und nachgiebig. Über ihm öffnete sich eine Eiterbeule und er beeilte sich, ein wenig nach rechts zu 40
klettern, um dem weißgelben Strom, der sich nach unten ergoß, zu entkommen. War es Zufall, daß sich ausgerechnet jetzt und hier eines der zahllosen Geschwüre öffnete oder stellte es einen bewußten Akt der Verteidgung dar? Nervös schaute er sich um. Überall entlang des schwarzen, schwärenden Leibes öffneten sich Pusteln und Pickel, einige so groß wie Hund, andere nicht kleiner als ein Fuhrwerk. Figul konnte nicht entscheiden, ob es etwas mit ihnen zu tun hatte oder nicht. Er konzentrierte sich auf den Aufstieg. Es lagen noch gut 40 Meter vor ihm, die er zusammen mit Samira zurücklegen mußte. Ihr Plan – oder besser gesagt – ihre Hoffnung war es, auf der Oberseite irgendeine Form von Luke oder Einstieg zu finden, und darauf wollte er sich jetzt ganz und gar konzentrieren. Samira war nur einige Meter rechts von ihm gelandet, hatte mit dem Eiter aber nicht ganz so viel Glück gehabt. Ihr linker Arm war über und über damit bedeckt und fast erwartete der Halbling, dünne Rauchschwaden aufsteigen zu sehen, weil er glaubte, daß die Absonderung ätzend sein mußte, aber dem war nicht so. Er machte eine Kopfbewegung nach oben und Samira nickte ihm zu. Vorsichtig begann er den linken Arm aus dem warmen Fleisch zu ziehen. Wie einen dicken Batzen Leim zog er die Schiffswand mit und selbst als er die Kletterklauen ganz aus der zähen Masse raus hatte, hingen dünne schwarzrote Fäden zwischen den Metallspitzen und Ihr. Mit einem schmatzendem Geräusch schloß sich die Wunde, allerdings nicht ohne eine winzige kraterförmige Verwerfung zu hinterlaßen. Figul rang mit dem Brechreiz. Er spürte deutlich wie es sauer in ihm hochschoß und nur mit Mühe konnte er verhindern, die widerliche Wand vor sich anzuspeien; die Vorstellung, wie sein Erbrochenes an dem fauligen Fleisch hinunterlief und sich mit dem eitrigen Ausfluß vermischte, ließ ihn noch übler werden. Ohne weiter nachzudenken rammte er den freien Arm etwas weiter oberhalb wieder in Sie hinein und begann schnell mit dem Aufstieg. Samira tat es ihm gleich, und schnell hatten sie einige Meter zurückgelegt. Sie waren erst wenige Minuten unterwegs, ihr Rüstungen waren mittlerweile klebrig und besudelt, als sich zwischen ihnen eine weitere Pustel öffnete und geysirartig einen dünnen gelblichen Schleim ausspuckte. Die Öffnung zog sich dann wie ein zahnloser Mund zusammen, zurück blieb aber ein Loch in der Schiffswand, das ohne weiteres groß genug war, um sie beide aufzunehmen. Ein Seitenblick zu Samira bestätigte dem Halbling, daß sie das selbe dachte. Gleichzeitig schauten sie von rechts und links in das Loch. Das trübe Tageslicht ließ sie nicht viel erkennen, aber dort war eindeutig ein Gang, der sie tief ins Innere der Malebolga führen würde. Samira mußte gegen den Wind, der an ihnen zerrte, anbrüllen. „Wenn es eine Sackgasse ist, werden wir sehr viel Zeit verlieren!“ Figul brüllte zurück. Er wollte lieber hier draußen bleiben, als da reinzukletteren, aber was er sagte schien ihm leider logischer zu sein. „Wenn es ein Weg nach drinnen ist, werden wir sehr viel Zeit gewinnen.“ Die beiden überlegten kurz. Dies war nicht der richtige Ort für eine längere Diskussion – für die sie auch ohnehin keine Zeit hatten – und so begann Samira mit dem Kopf zuerst in die Schwärze zu kriechen. Die mundförmige Öffnung gab an den runzligen Rändern ein Stück nach und Schleimreste überzogen seine Freundin mit einem dünnen Film. Dann war sie drin. Figul spielte kurz mit dem Gedanken, sich einfach fallenzulassen, fand aber, daß er Samira das unmöglich zumuten konnte, bei aller Verlockung, die der Gedanke dennoch hatte, und 41
kletterte hinterher. „The beast behind our eyes is loose, the day has come! We march to Armageddon, hungry for the war. I see my hated enemy, I see what I was taught to see, and one of us will bend the knee, we understand the law.” („March or die”, Motörhead)
Der Zusammenstoß war furchtbar. Misandul war mit der Lanze ein geübter Kämpfer, aber die Grenzgänger waren so völlig andere Gegner, daß seine Erfahrung mit Menschen und Elfen keine große Hilfe war. Er hatte die metallerne Lanzenspitze in dem nackten Oberkörper des riesigen Anführers versenken wollen, aber dieser schlug kurz vor dem Zusammenprall einen schnellen Haken und so preschte Misandul direkt in die zweite Reihe, wo er einen älteren Krieger unter dem Herzen durchbohrte. Die Lanze bog sich unter dem Druck nach oben und zersplitterte dann wie ein trockener Ast. Schnell ließ er den Griff los, aber nicht rechtzeitig genug – als er nach oben schnellte, streifte der Zaungänger seine rechte Schulter, die vor Schmerz sofort taub wurde. Die Raubkatze seines Gegners schüttelte die tote Last ab und wollte sein Pferd in die Flanke fallen, aber das Schlachtroß trat mit dornenbewehrten Hufen zu und knackend brach der Schädel des Tieres. Mühsam zog Misandul das lange Schwert aus der Scheide und bemühte sich, die Waffe richtig in den Griff zu bekommen. Ein unangenehmes Kribbeln zog sich durch seinen Arm, aber es schien ihm, daß die zerbrochene Lanze keinen dauerhaften Schaden angerichtet hatte. Schnell versuchte er, sich einen Überblick über den ersten Ansturm der Amarier zu verschaffen. Es schien, als wäre der Lanzenangriff ein Erfolg gewesen, viele Grenzgänger lagen tot oder schwer verletzt am Boden und nicht wenige der Felas zogen reiterlos über die Ebene, suchten ihr Heil in der Flucht oder griffen, ohne die Kontrolle des Reiters, wahllos jeden an, der ihnen zu nahe kam. Nun, da die Wucht des Angriffs keinen Vorteil mehr bot, gewannen die Sherkai jedoch eindeutig und sehr schnell die Oberhand. Überall hackten und stachen die Eisbarbaren die Ritter von ihren Pferden und von einer Formation konnte bereits jetzt, wenige Sekunden nach der Lanzenattacke, keine Rede mehr sein. Ein geordneter Rückzug mochte ihre einzige Chance sein, aber er konnte die Verfolgungsgeschwindgkeit der Felas nicht einschätzen. Man hatte ihm erklärt, daß die Riesenkatzen nicht besonders ausdauernd wären, aber er wußte deshalb noch lange nicht, ob sie trotzdem noch genug Kraft hätten, die Pferde einzuholen. Sollte dies der Fall sein, wäre er kaum in der Lage, eine Verteidigungslinie zu organisieren. Neben ihm trieb ein junger Amarier sein Schwert tief in die Schulter eines Grenzgängers, aber der ignorierte die Verletzung einfach und zertrümmerte mit einem gewaltigen Schlag den Schädel des Ritters. Dahinter fraßen zwei reiterlose Felas einen Mann, rißen ihn in wilder Blutgier hin und her und es waren die Schreie dieses bedauernswerten Amariers, die Misandul entgültig überzeugten. Mit der linken Hand griff er hinter sich. An der Satteltasche waren verschiedene Flaggen befestigt und er suchte, ohne sich umzudrehen, nach der mit dem geriffelten Holzgriff, zog sie aus der Lederschlaufe und wollte sie gerade über seinem Kopf schwenken – RÜCKZUG! RÜCKZUG! - sollte seinen Männern so signalisiert werden, als ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde und vor seinen Augen farbige Sterne explodierten. Der Schmerz durchzuckte ihn erst eine Sekunde später, aber er 42
war gewaltig. Er merkte kaum, wie er aus dem Sattel gehoben wurde und hart in dem eisigen Matsch aufschlug. Panisch versuchte er Luft zu holen, aber er schien stattdessen Schmerz durch die rauhe Luftröhre zu ziehen, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, daß er wieder atmete, bei jedem Luftzug durchfuhr ihn ein Stich, aber es ging. Er richtete sich auf. Sein Pferd hatte sich nur einige wenige Schritte entfernt, es kämpft mit einer der Großkatzen, aber wer hatte ihm ... Er spürte wahrscheinlich eher den Luftzug, als das er den Angriff wahrgenommen hätte, aber welchem seiner Sinne er auch immer zu danken hatte, blitzschnell ließ er sich zur Seite fallen und jeder Gedanke an Schmerz und Leid wich sofort dem Urtrieb des Überlebens. Während er sich abrollte, zog er mühsam das Schwert unter sich hervor und riß es gerade noch rechtzeitig hoch, um den zweiten Schlag der Stahlpranken des Grenzgängers abzuwehren. Er kam auf die Beine, strauchelte unter der Wucht des dritten Hiebes und wäre beinahe über eine dampfende Leiche hinter sich gestolpert. Schnell griff Misandul nach dem Schild des toten Soldaten und erwehrte sich mit Mühe einer ganzen Serie von Attacken, sein linker Arm war bereits ganz taub von der Wucht, mit der der Sherkai zuschlug, als er ihn plötzlich erkannte. Dicke weiße und blaue Farbe war in das Gesicht des Mannes geschmiert, falls sie mal ein Muster ergeben hatten, so war es von Blut und Schweiß längst verwischt – oder besser; abgeblättert, aber nun, da der Mann sich zurücknahm und ihn bedächtig umkreiste, fragte sich Misandul, wie es so lange hatte dauern können. Er hatte Seite an Seite mit ihm in der Nebelfeste gestanden und den Ansturm der Untoten abgewehrt, sie hatten abends zusammen am Feuer gesessen und obgleich er das amarische Gemein nicht sprach, hatten sie viel zusammen gelacht, getrunken und gesungen. Er hatte Samira schöne Augen gemacht und sein Leben während des Kampfes mehr als einmal gerettet – wie hatte er Grillenfänger nicht erkennen können? Er hatte diesen Mann wie einen Bruder geliebt, denn was sie zusammen durchgemacht hatten, verband die beiden Krieger im Herzen, auf eine Art und Weise, wie nichts sonst auf der Welt zwei Seelen zusammenschweißen konnte. Plötzlich war Misandul, als stünde sein ältester Freund vor ihm, und er mußte ihn töten. Er mußte ihn töten, es gab keinen anderen Weg. Grillenfänger war, wie alle Grenzgänger und überhaupt die meisten der Sherkai von Drogen, die sie aus Pilzen gewannen, berauscht und in seinem wilden Blick erkannte er kein Zeichen des Erkennnens. Er wußte, daß es umsonst war, aber er versuchte es trotzdem: „Grillenfänger, ich bin es, Misandul!” Der Hühne antwortete mit einem gefährlichen Hieb, dem der Ritter nur mit knapper Not ausweichen konnte. „Grillenfänger, ich bin es, erinnere dich, ich bin es, Misandul. Wir haben zusammen gekämpft, Seite an Seite, bitte, du mußt dich erinnern.” Wieder kam ein Prankenhieb, doch diesmal war Misandul aufmerksamer und wich müheloser aus. Verzweiflung machte sich in seinem Herzen breit und ein dicker Kloß saß in seinem Hals. „Bitte Grillenfänger, hör auf, ich ...” Der Sherkai holte weit aus, öffnete seine Körperdeckung ein Stück zu weit und mit jahrelang antrainierten Reflexen stach Misandul zu, ohne zu überlegen. Es war ein guter Stich gewesen, er durchbohrte genau das große Herz von Grillenfänger und dieser ging sofort zu Boden. Vom Gewicht seines Freundes mitgezogen ließ sich der Ritter auf die Knie sinken und strich dem Sherkai die 43
Haare aus der weißen Stirn.
Mit rauher Stimme sagte Misandul:
„Mrrrienn'dao mein Freund. In einer anderen Welt hätte ich noch viele Lieder mit dir gesungen, aber nicht in dieser. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder und ich hoffe, du wirst mir vergeben, mein Bruder.” Seine Augen brannten, aber Misandul weinte nicht. Nein, er weinte nicht. Shudden Mell fühlte sich äußerst unwohl. Er war nie gerne geflogen und obgleich er Gwyn ap Annwn zu seinen besten Freunden zählte, verfluchte er den menschlichen Mann nicht zum ersten Mal, als sein Vogel in einer scharfen Kurve unter einer großen steinernen Brücke durchflog. Er glaubte schon lange nicht mehr daran, das Fledermausmonster vor ihm erwischen zu können, die kleine Armbrust, mit der man ihn bewaffnet hatte, zählte nicht gerade zu seinen bevorzugten Waffen; aber hier, wo der Wind scharf wie ein Messer in sein Gesicht schnitt, dieser verdammte Vogel sich ständig von rechts nach links und wieder zurücklegte und sämtliche Entfernungen sich ständig änderten, hier traf er nicht einmal eine Scheune. Zwei von seinen drei Wurfspeeren hatte er ebenfalls bereits geworfen, obwohl weggeworfen vielleicht eine treffendere Beschreibung war und bis jetzt hatte er eine Brücke und einen großen Platz erlegt. Sein einziger Trost war, daß seine Mitstreiter erheblich erfolgreicher waren, in der engen Formation, mit der sie durch die Straßen des Finns jagten, hatten sie bereits sechs der Monster erlegt und mindestens zwei verletzt, aber das alles spielte sich völlig unbhängig von ihm ab. Da er die Spitze des Pfeils bildete, gab er nur die Richtung an, eine Notwendigkeit, die dem Umstand Rechnung zollte, daß er diese Vögel kaum reiten konnte, der Gedanke, daß er eine so enge Formation in so schwierigem Gelände in diesem Gewitter halten könnte, war geradezu lächerlich. Sein Vogel, den Namen des Tieres bedeutete wohl soviel wie „Warmer Sonnenschein an einem kalten Tag“, flog zu seinem unendlichen Glück auch ganz alleine recht souverän. Mittlerweile hatte die kleine Gruppe ziemlich dicht zu den Monstren aufgeschlossen und Mell beschloß, mit seinem letzten Wurfspeer wenigstens einen einzigen Feind zu erledigen. Er schaute noch einmal kurz nach vorne, preßte die Beine eng an den warmen Vogelleib und richtete sich in dem Sattel auf. Als er seinen Vordermann lange genug angepeilt hatte, um seine nächste Bewegung voraussagen zu können, warf er den Speer kraftvoll nach vorn und setzte sich gleich wieder in den Sattel. Der Speer flog pfeilgerade durch den peitschenden Schneeregen, verfehlte das schwarze Ding um mehr als eine Manneslänge und schlidderte dann unten durch die Straßen. Shudden Mell fühlte sich mittlerweile unwohl. Seit über 350 Jahren war er ein Ritter, hatte unzählige Feinde in zahllosen Kämpfen bezwungen, galt – weit über Cyriamoths Grenzen hinaus – als einer der besten Schwertkämpfer und nun war er hier, Kommandant der amarischen Luftstreitkräfte und so nützlich wie ein altes Weib bei einem Faustkampf. Die Fledermausmonster begannen, ihre Formation aufzulösen und verteilten sich auf die Straßen, bogen rechts und links ab, während sie mit mächtigen Flügelschlägen über den Finn eilten. Keines von ihnen flog höher als 15 Meter und Shudden Mell hasste sie dafür. Er griff in die Satteltasche und zog ein sehr langes, tiefrotes Tuch heraus, schwenkte es kurz und steckte es dann wieder ein. Die anderen Vathen reagierten sofort und folgten den Leittieren in 44
Dreiergruppen. Noch immer flogen sie in Dreicksformation, um sich so gegenseitig Deckung geben zu können. Mell hatte das Monster, auf das er sinnloser Weise seinen letzten Wurfspeer verschwendet hatte, noch im Blick. Es wäre doch wirklich ein Witz, wenn ausgerechnet er heute abend bei der Siegesfeier nicht einen einzigen Toten vorzuweisen hatte, dachte er grimmig und legte sich ganz nahe an den Hals des Vogels, um den Luftwiderstand zu verringern, genau, wie man es ihm erklärt hatte. Unter ihm rauschten breite Straßen vorbei, winzige Gäßchen, er flog über und unter Brücken und umrundete riesige Türme, die wie Berggipfel aus der Stadt ragten. Mit klammen Fingern versuchte er bereits zum zweiten Mal seine Armbrust nachzuladen. Es war eine Repetierarmbrust und der Mechanismus war nicht nur sehr kompliziert und winzig klein, sondern auch anfällig für Schäden. Damit vereinte sie für Shudden Mells Vorstellung alle Eigenschaften, die eine Waffe in einer brenzligen Situation nicht haben sollte, ihre Durchschlagskraft war allerdings ziemlich beeindruckend, und selbst die lederhäutigen Fledermausuntiere brachen bereits nach dem zweiten oder dritten Treffer tot zusammen – vorausgesetzt man erwischte sie am Kopf. Als er endlich fertig war, richtete er sich wieder auf, zielte sorgfältig und wollte gerade abdrücken, als ein im Weg hängender Fahnenmast ihn zwang, sich zu ducken. Das war genau die Sekunde, die sein Gegner brauchte, um hinter einer Häuserecke zu verschwinden. Als Mell mit seinen beiden Begleitern ebenfalls um die Ecke flog, erwartete ihn eine böse Überraschung. Offensichtlich hatte das Ding selbst Jagdgelüste, denn wie eine Libelle stand es in der Luft, schlug lässig mit den riesigen Schwingen und wartete auf den Ritter. Blitzschnell bewegte es sich auf den Vogel zu, der stoisch weiter geradeaus flog und langte mit einem gewaltigen Prankenhieb nach dem Ritter. Mell duckte sich rechts weg, merkte, wie die Halteriemen rissen, er aus dem Sattel rutschte und plötzlich unter dem Vogel hing. Das Tier bekam eine merkliche Schieflage und stieß laute Klagelaute aus. Schnell zog er seinen rechten Fuß aus dem Steigbügel, griff um und hing schließlich rechts und links an den beiden Metallreifen, in denen er eigentlich seine Füße haben sollte. Heute war definitv kein guter Tag. Er drehte sich um. Sein Angreifer hatte gewendet und kam wieder auf ihn zugerauscht, von seinen beiden Begleitern konnte er im Moment nichts sehen, aber sein Blickfeld war stark eingeschränkt. Da er sein Gewicht nicht auf eine Seite verlagern durfte, hatte er nicht einmal die Möglichkeit, eine Waffe zu ziehen und so konnte er im Moment nur hilflos zusehen, wie das Ding rasch aufholte. Als er vor sich einen eckigen Kirchenbau entdeckte, der einen Lichtschacht auf dem platten Dach hatte, beschloß er, es einfach drauf ankommen zu lassen. Bis das Monster da war, konnte er unmöglich wieder auf den Vogel klettern, sich auf die Straße fallenzulassen war auch keine Option; es ging wenigstens 15 Meter in die Tiefe. Er zog ein bißchen am linken Fuß seines Vathen und hoffte, daß das Tier das als Richtungskorrektur verstehen würde. Als er genau über dem bunten Bleiglasfenster der Kirche war, schickte er ein Stoßgebet an die Götter und ließ sich fallen. Vater Glein'nen stand in der reichverzierten Kanzel seiner Kirche, die bis zum Bersten mit Menschen und Elfen gefüllt war. Junge Männer sah er heute keine, nur Alte, Frauen und Kinder. Jeder Mann, der eine Waffe halten konnte war entweder auf dem Meer oder am Jo'troom und da nun auch der Finn selbst 45
angegriffen wurde, hatte er einen spontanen Orhansdienst angesetzt, um die Götter um Gnade und Beistand anzuflehen und den Gemeindemitgliedern Schutz, Trost und Hoffnung zu geben. Das gemeinsame Kuorunser war gerade gesprochen und in seiner heutigen Predigt wollte er über die Notwendigkeit des Kampfes gegen das Böse, gegen die Dämonen dieser Welt sprechen. Vater Glein'nen wußte natürlich genau, daß er hier niemanden überzeugen mußte, aber all jene, die heute abend nicht nur Überlebende, sondern auch Hinterbliebene sein würden, mußten trotzdem daran erinnert werden, daß ihre ganz persönlichen Opfer keineswegs umsonst waren, sondern etwas größerem dienten: Amarien. Er wollte ihnen klar machen, daß Amarien kein abstrakter Begriff war, sondern sie selbst. Sie alle hier waren Amarien und all die Söhne und Ehemänner starben nicht für eine Idee, sondern für sie. „Und so spricht Kuor, unser oberster Hirte, Exarch XI; Die Dämonen sollst du nicht im Lande lassen, hinzugefügt aber hat er auch dies; noch am Leben! Weder im Lande noch am Leben. Und so schenkte er uns den Exarch XIII, den wir nur den Codex nennen; Er spricht über die Arten der Ausrottung oder wenigstens Bestrafung durch die gebührende Gerechtigkeit – das amarische Schwert! - vor den geistlichen und weltlichen Gerichten Amariens und das, meine Söhne und Töchter, macht euch klar, wenn ...“ Glein'nen war gerade so richtig in Fahrt gekommen als er über sich ein Krachen und Splittern hörte. Unter einem Scherbenregen kam etwas durch den Lichthof genau über ihn gerauscht! Erschrocken sprang er ungeschickt beiseite, verhedderte sich in seinem Talar und schlug schmerzhaft auf den breiten Marmorstufen auf. Als er den Kopf wieder hob – die Gemeinde hatte vor Entsetzen den Atem angehalten - lag jemand genau auf dem Altar! Es mußte sich um eines dieser widerlichen Monster handeln oder vielleicht auch um einen der kleinen blassen Männer, die die Fledermäuse ritten. Der Priester war kein Mann des Kampfes, aber feige war er auch nicht. Wie in jedem Kuorstempel Kultheas, so befand sich auch in diesem rechts vor dem Altarraum ein goldener Schrein und der war sein Ziel, denn eben jener goldene Tabernakel enthielt das heilige Schwert des Herrn, natürlich nur eine möglichst gottgetreue Nachbildung, ein Paradeschwert, viel zu schwer, aber scharf. Das Schwert symbolisierte den ewigen Kampf, den Kuor führte und den ewigen Kampf, den seine Kirche führte. Glein'nen riß die goldene Tür auf, packte das Schwert und rannte mit langen Schritten zum Altar. Nicht wenige in der Gemeinde stöhnten auf, Kinder begannen zu weinen, aber das machte den alten Mann nur entschlossener. In Zeiten der Not, in den Zeiten des Krieges mußte jeder an seinem Platz stehen, jeder die ihm zugedachte Aufgabe erfüllen. Er stand nun genau über dem Mann, hielt den Griff hoch über dem Kopf, die Schwertspitze zeigte auf den langen blassen Hals des Mannes und er war jederzeit bereit, die Klinge niedersausen zu lassen, nur ... Der Mann war viel größer, als die gräßlichen Männer auf den Fledermäusen. Er sah einem Elfen am ähnlichsten, nur waren seine Augen geradezu riesig. Seiner Kleidung und dem Panzer nach, war er ein heiliger Krieger Shaals – ein Ritter oder vielleicht sogar ein Paladin! Unsicher senkte Glein`nen sein Schwert und stellte die Waffe vorsichtig neben den Altar. Der Mann hustete und richtete sich schwach auf. Kuors Priester schaute nach oben. Der Ritter hätte den Sturz auf den massiven Marmorblock niemals überlebt, hätte der Lichthof nicht eine Reihe von bunten Tüchern und Glasscheiben, die für die einzigartigen Lichteffekte im Altarraum sorgten. 46
Trotzdem sah er nicht gut aus, Splitter hatten ihm das Gesicht zerschnitten, aus einer Platzwunde auf der Stirn sickerte Blut und er mußte sich zahllose Knochen gebrochen haben. Sein rechter Arm hing schlaff und verdreht von seinem unmenschlich schlankem Körper herunter und Kuors Priester mußte sich zurückhalten, um sich nicht zu übergeben. Langsam kam der Mann zu sich. Er setzte sich hin, und abermals ging ein Raunen durch das überfüllte Kirchenschiff. Gleichgültig blickte der Ritter nach oben und dann zur Gemeinde. Als er seinen Arm sah, ging ein fast unmerkliches Zucken durch sein blutverschmiertes Gesicht. Er versuchte das Glied zu bewegen und biß sich hart auf die Zähne, dann schloß er die großen Augenlider und intonierte kaum hörbare Silben in einer Sprache, die weder der Gottesmann noch seine Gemeinde je gehörte hatten, noch je wieder hören sollten. Blaugoldenes Licht umgab den Arm wie das Licht die Fackel, es strömte aus den offenen Wunden, legte sich um den Ritter, wogte vor und zurück, wie die Wellen einer unruhigen See, ergriffen den Priester, die Gemeinde, heilten die Wunden, die Brüche und erfüllten die Herzen der Männer und Frauen mit Hoffnung. Ergriffen schloßen sie alle die Augen, genoßen Gottes warmes Licht, gaben sich ganz hin, ihre Sorgen und Ängste floßen zusammen, wurden hinfort gespült und als sie die Augen wieder öffneten, war der fremde Mann fort. Glei'nens Lächeln erstarb jedoch, als er sah, daß auch die heilige Reliquie, Kuors Schwert, weg war! „Ihr Menschen seid nur Innereienbeutel, die piepsend durch die Gegend zittern” („Hiobs Spiel”, T. Meißner)
Schmerzen, unerträgliche Schmerzen! Das grelle Licht brannte auf seinem augenlosen Gesicht wie weißglühender Stahl, die blasse, faltige Haut schien sich in trockenen Streifen zu lösen, das fettige Fleisch schmolz wie Wachs und die uralten Knochen zerfielen unter der sengenden Hitze wie Salzkruste unter Hammerschlägen. Es brannte und es löste einen gewaltigen Juckreiz aus, nicht auf der hohen Stirn, sondern hinter der Schädelplatte und wie gerne hätte es sich seine Klauen in den eigenen Kopf gerammt, um es endlich abzustellen! Aber der andere Trieb war noch viel stärker – es mußte fressen. Das Jucken im eigenen Fleisch war schlimmer und es existierte nur für den Augenblick, in dem es endlich seine dünnen Zähne in das weiche Fleisch der anderen schlagen durfte. Es hatte noch keine Gelegenheit dazu gehabt, aber es spürte die befriedigte Resonanz bei seinen Brüdern wie einen angenehmen, tiefen Brummton, der sich langsam über die ganze See ausbreitete. Der Ton beruhigte es und machte es zugleich viel wilder, weil es die Gewißheit verschaffte, daß seine kurze Existenz nicht unmsonst war und es tatsächlich etwas zu fressen bekam, aber es wollte auch - es wollte jetzt - ihr saftiges Fleisch zerreissen, die hohlen Knochen zerknacken, beißen, schlingen, kauen. Es würde den Hunger nur verschlimmern, wenn es endlich fressen konnte, aber das wußte es nicht und selbst wenn, so wäre es ohne Bedeutung, denn es konnte ja ohnehin nicht dagegen ankämpfen. Plötzlich war der Drang fort. Es hatte jetzt keinen Hunger mehr; dort, wo sich gerade noch das alles verschlingende Loch in seiner Mitte befunden hatte, der schwarze Abgrund, der seine ganze Existenz bestimmte, war plötzlich Stille. Irritiert hielt es inne, hörte auf, die kalten, steinernen Wände zu erklimmen. Das Licht, das oben auf dem Turm schien, brannte noch immer furchtbar in seinem 47
alten Gesicht, aber es war nun etwas schwächer und da wußte es, daß es auserwählt war. Sie hatte beschloßen sein Dasein zu erhöhen, zu veredeln und es verstand. Es würde nicht mehr fressen, nie mehr – es würde sich opfern. Das Auslöschen seines kümmerlichen Daseins würde dieses gräßliche Licht verlöschen lassen und so den Weg für die anderen freimachen. Ja, es sah seine Aufgabe ganz deutlich vor sich. Gott hatte einen Teil seiner unermeßlichen Kraft in es, den geringsten Ihrer Diener gepflanzt, hatte seinen unstillbaren Hunger gestillt und nun zu einem mächtigen Werkzeug gemacht, daß der Gefahr des Lichtes trotzen konnte. Begeistert rammte es die Klauen in die weichen Steine und erklomm mit der Geschwindigkeit eines Gedanken den Rest der Strecke, bis es schließlich hinter IHM stand. Der Lichtschein brannte hier oben so gräßlich hell und furchtbar heiß, daß es am liebsten wieder in die kühle See zurückgekehrt wäre, denn da es jetzt keinen Hunger mehr hatte, hatte es eine Wahl! Aber es wußte nur zu gut, was Gott von ihm wollte, und tief in seinem Innern entdeckte es noch etwas, daß ihm vorher gar nicht bewußt war, weil der Drang zu Fressen alles überstrahlt hatte. Es war keine Liebe, aber eine so starke Hingabe, daß man es fast als Liebe bezeichnen könnte. Es liebte die Malebolga und was immer Sie von ihm verlangen würde, es würde es tun. ER hatte es noch nicht bemerkt, ER wandte ihm den Rücken zu und verbrannte seine Brüder. Als ER abermals zum Schlag ausholte, griff es nach dem leuchtenden Ding. Die verkrümmten Finger begannen zu schmelzen, kurz bevor es das Licht berüherte, aber es ließ sich davon nicht aufhalten, denn in dem Loch, das bis gerade eben noch Hunger war, spürte es jetzt die Zustimmung, die Liebe der Malebolga und so packte es das Licht, drückte es zwischen die vermoderten Arme, denn Finger hatte es nun nicht mehr, umarmte den Tod für Ihre Liebe, drehte sich um und sprang. ER sollte es nicht wiederhaben können. Als es endlich auf der Wasseroberfläche aufschlug, war es schon nur noch wenig mehr, als ein brenndes Gerippe, ein schwarzer kohliger Klumpen, aber es lachte noch immer röchelnd, denn es hatte seine Sache sehr, sehr gut gemacht. Gwyn merkte, wie ihm der heiligen Streitkolben von Setmaenen aus der Hand gerissen wurde. Ohne nachzudenken gab er dem Ding vor sich einen kräftigen Tritt, der es zwar nicht töten würde, dessen Wucht es aber über die niedrige Brüstung des letzten, noch stehenden Turmes des Aka'trooms, beförderte. Dann duckte er sich schnell in Erwartung eines Schlages von hinten – aber der kam nicht. Verblüfft drehte der Ritter sich um – hinter ihm war niemand. Er lief zum Rand des Turms von Aka'troom und sah gerade noch, wie seine Waffe funkelnd in den grauen Fluten verschwand. Unbewaffnet drehte er sich um. Vor ihm stand noch immer eines der Avatare der Malebolga. Langsam, fast genüßlich, so schien es ihm zumindest, senkte es seinen Speer. Gwyn kannte viele Männer, die eine besondere Beziehung zu ihrer Waffe aufgebaut hatten – unter ihnen war aber nicht ein einziger erstklassiger Krieger. Erfahrene Soldaten wußten, daß Schwerter oft brachen, Äxte sich im Feind verkanteten und verloren waren und so hätte er sich niemals allein auf den Streitkolben verlassen. Er griff nach dem Kurzschwert, das er quer am Rücken trug und ohne das er nie in eine Schlacht gezogen wäre – aber die Klinge war fort. Sie mußte irgendwann im Verlauf des Kampfes aus der Scheide gerutscht sein. Konzentriert sah er seinen Gegner an. Normalerweise hätte er ihm in die Augen geblickt, dort hätte er gesehen, wann der Ausfall kam, denn die Augen der 48
meisten Männer weiten sich kurz vor einem Schlag. Dieses Ding hatte keine Augen und so mußte er sich auf die Körperspannung des Avatars konzentrieren. Ein Ausfallschritt war auf jeden Fal nötig, um ihn mit dem Speer zu erreichen. Der Stoß kam blitzschnell. Gwyn drehte sich seitlich an der beinernen Speerspitze vorbei, packte den Stab etwa in der Mitte, wirbelte ihn herum und durchbohrte den Angreifer mit dessen eigener Waffe. Schwer atmend stütze er sich an einem Fahnenmast. Er drehte sich um. Kein einziges der Kapuzenwesen hatte den Angriff auf den Turm überlebt – und das war auch gut so, denn von Gwyn selbst einmal abgesehn stand auch von den Amariern keiner mehr. Er war ganz allein. Zwischen all den Toten sah er auch den Eydeeten liegen, der jetzt aussah, wie eine Marionette, der man die Fäden durchschnitten hatte. Der winzige alte Mann war völlig verdreht. Behutsam hob Gwyn ihn auf und legte ihn vorsichtig neben die Brüstung. Das kleine Gesicht wirkte unendlich friedlich und obgleich er auch eine Art Dämon gewesen war, versetzte es dem Ritter einen Stich, das Wesen tot zu sehen. „Auf Wiedersehen, mein Freund.“ Mehr brachte er nicht heraus. Als er ihm die Augen schließen wollte, zerkrümmelten die Lider bereits und kurz darauf wehte er davon, kaum eine handvoll Staub im Wind. Gwyn richtete sich auf und griff nach dem Langschwert eines gefallenen Soldaten. Die Schlacht hatte sich nun eindeutig zu Gunsten der Malebolga gewendet. Überall fielen die Jäger unter den Angriffen ihrer pervertierten Gegenstücke und der langsame, aber regelmäßige Beschuß von Ihr zerstörte ein Schlachtschiff nach dem anderen. Vielleicht hätte er doch Ralman mit in die Höhle des Löwen schicken sollen? Er mußte über seinen Gedanken lachen. Wie gerne hätte er gegen einen Löwen oder auch gegen tausend oder zehntausend Löwen gekämpft! Nein. Seine Entscheidung war richtig. Entweder Samira und Figul würden es tun oder es konnte überhaupt nicht vollbracht werden. Und genau deshalb würden die beiden es auch schaffen. Er schaute zur Malebolga. Von hier aus sah Sie fast wie ein riesiges Gesicht aus, ein monströses, verzerrtes Gesicht. Hatte man es einmal gesehen, konnte man sich von der Idee gar nicht mehr lösen und entdeckte immer mehr Details, die bucklige Nase, das scharf ausgeprägte Jochbein, die dunklen Höhlen, in denen Augen sein mochten. Das ausgefranste, zerfledderte Loch, das den Mund darstellen würde, öffnete sich abermals. Mit einem obszönen Geräusch spuckte es einen dunklen Ball aus, nahezu so groß wie eines der Jäger, und träge, fast langsam begann dieses Ding, sich auf den Turm, auf dem er stand, zuzubewegen. Es strahlte funkelnd, allerdings pechschwarz und so wie eine Kerze in der Dunkelheit eine Korona hatte, war dieser Ball von Schatten umgeben; einzelne Strahlen aus Schwärze durchschnitten das trübe Tageslicht. Der Anblick war faszinierend, eine Art umgekehrte Lichquelle, aber Gwyn wußte, daß er vor allem auch tödlich war. Er stürmte durch die Tür und rannte die Treppe herunter. Der Ball war langsam, aber der Kriegsherr mußte über 15 der hohen Stockwerke überwinden und unten wäre er keinesfalls sicher. Ein Boot, das nahe genug war, hatte er nicht gesehen, aber ein bißchen Glück gehörte schließlich auch dazu und so rannte er trotzdem weiter, auch wenn es eigentlich keine Hoffnung mehr für ihn gab. Er sprintete nach unten, nahm drei, vier der breiten steinernen Stufen auf einmal, sprang über tote Amarier und war doch zu 49
langsam. Jedesmal, wenn er auf seinem spiralförmigen Weg nach unten an einem Fenster zur Ostseite vorbeikam, sah er mit Entsetzen, daß der Ball schon viel näher gekommen war, und er es wahrscheinlich nicht einmal mehr bis zum Fuß des Turmes schaffen würden. Trotzdem hielt er nicht an, rannte ein weiteres Stockwerk nach unten, passierte wieder ein Fenster und jubelte innerlich! Da kam doch ein Schiff, das seine Notlage erkannt hatte; es war die „Tornardo“! Als Gwyn das nächste Mal eines der Fenster passierte, hatte das Geschoß einen Abstand von höchstens noch zehn Metern zu dem Turm. Er hielt an und blickte die sieben Stockwerke nach unten, die ihn noch von der Wasseroberfläche und dem rettenden Deck der bereits wartenden „Tornardo“ trennten. Er hätte gerne wenigstens einen Moment darüber nachgedacht, aber dazu hatte er nun wirklich keine Zeit mehr und so sprang er. Zunächst konnte der Halbling fast überhaupt nichts sehen, aber seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit und schließlich erkannte er Samira vor sich, wie sie auf allen Vieren durch den weichen Gang krabbelte. Er tat es ihr gleich, und bereits nach wenigen Augenblicken war es nicht nur völlig finster, sondern auch ganz still. Nur das Keuchen seiner Freundin und sein eigener unruhiger Atem füllten das Nichts und gaben ihm etwas, woran er sich klammern konnte. Es war furchtbar heiß in Ihr und der Schweiß floß ihm in Strömen herunter. Er war mittlerweile dazu übergegangen, Samiras Füße zu berühren, denn obwohl es fast ausgeschloßen war, daß sie sich auf diesem Stück des Ganges verlieren würden, brauchte er ihre Nähe, um nicht den Verstand zu verlieren. „Figul?“ Ihre Stimme klang durch den engen Gang gedämpft, als würde sie mit dem Stoff eines dicken Mantels vor dem Mund sprechen. „Der Gang wird vor uns enger. Es geht aber immer noch weiter.“ Er drückte kurz ihren Knöchel, als Zeichen, daß er verstanden hatte. Er hatte keine Kraft mehr zu sprechen, fühlte sich unendlich müde und ausgelaugt und wollte eigentlich nur noch schlafen. Das einzige, was ihn davon abhielt, war die Furcht. Anfangs hatte er bei jedem Meter vorwärts befürchtet, daß ihn irgendetwas von vorn oder hinten angreifen würde und er sich in der engen Röhre nicht würde verteidigen können, aber mittlerweile glaubte er nicht mehr daran. Obgleich die Angst nicht verschwunden war, hatte sie einer dumpfen Benommenheit Platz gemacht. Vor ihm streckte sich Samira und robbte dann weiter und Figul tat es ihr gleich. Er kam sich nun vor wie ein Wurm, der sich seinen Weg durch verfaultes Obst bahnt. Der Gestank, der die Malebolga wie eine Wolke umgab, wurde intensiver. Anfangs hatte er ihn gar nicht für so schlimm gehalten, unangenehm, süß, verdorben, aber eben auszuhalten. Jetzt atmete er nur noch mühsam durch die Zähne und der widerliche Geruch bedeckte ihn wie ein Kleidungsstück, sein Körper nahm ihn auf und an und mit trauriger Gewißheit wußte er, daß er ihn sein ganzes Leben nie wieder ganz los werden würde, daß in Zukunft alles was er aß, danach schmecken würde - daß er gezeichnet war. Gern hätte er Sie dafür gehaßt, aber in Wahrheit war es ihm egal. Ihm war alles egal und er bewegte sich nur noch vorwärts, weil es keinen Unterschied zwischen bewegen und verharren mehr gab. Der Gang wurde noch etwas enger. Nun bewegte er sich wirklich wie ein Wurm in einem Gang; eng wie die Pelle einer Wurst. Figul hatte die Arme ausgestreckt 50
und zog sich mühsam nach vorn, das Gesicht immer aufrecht, damit es nicht die warmen Pfützen berührte, die überall auf dem Boden waren. Malebolgas Fleisch war nachgiebig, und es zog sich um sie zusammen, denn sonst hätte Samira, die fast doppelt so groß war wie er, hier nicht durchgepaßt. Die Röhre war zwar nachgiebig aber auch zäh, sie beengte ihn, drückte ihn zusammen und machte das Atmen schwer. Die heiße, stickige Luft tat ihr übriges. Figul ji Natek hatte jegliches Zeitgefühl längst verloren. Vielleicht waren sie seit einer halben Stunde in diesem Gang, vielleicht seit zehn Stunden oder einem Tag, aber in Wahrheit vermutete er, daß er noch nie woanders gewesen war, daß sein ganzes Leben daraus bestand, durch diesen glitschigen Gang zu rutschen und all seine Erinnerungen an Sonnenschein, eine kühle Brise, an Liebe, Freundschaft oder etwas so lächerliches wie seinen Auftrag nichts als die fiebrigen Phantasien eines Bandwurmes waren, der durch den Darm seines Wirtes kroch und sich von dem ernährte, was an Nahrungsmitteln an ihm vorbeigedrückt wurde. Durstig öffnete er den Mund und wollte gerade den süßen Saft trinken, der sich direkt vor seiner Nase befand, als eine Stimme ihn wieder zur Besinnung brachte. „Figul? Figul ist alles in Ordnung bei dir?“ Er schüttelte sich und bejahte dann schwach. „Der Gang scheint vor uns ...“ sie überlegte kurz, „... durchzuhängen. Hier hat sich eine Art Mule gebildet, die mit dieser Flüssigkeit vollgelaufen ist. Sie ist nicht sehr tief, aber länger als mein Arm. Wir werden uns auf den Rücken drehen müssen, weil wir sonst darin ertrinken könnten.“ Einen Moment durchfuhr ihn Panik und alleine die Vorstellung mit seinem Gesicht an der nassen Decke entlang zu robben fand er so ekelhaft, daß er lieber riskieren wollte zu ... ja, zu was? Dieses Zeug nicht nur in den Mund zubekommen, sondern auch zu schlucken? Daran zu ersticken? „Reiß dich zusammen”, dachte er, Samira schafft es doch auch irgendwie. Das Samira sich mehrere Minuten nicht bewegt hatten, weil sie vor Ekel am liebsten geschrieen hätte, hatte er gar nicht bemerkt. Vor ihm drehte sich seine Freundin langsam um. Schließlich lag sie auf dem Rücken und versuchte ihr Gesicht wenigstens seitlich zu halten, aber es war anstrengend und als ihr Kopf in der Feuchtigkeit versank ging es nicht mehr und sie drehte ihn nach oben. Figuls Angst betäubte ihn fast völlig. Was, wenn dieser Schleimsee nach einigen Metern tiefer wurde, gerade so tief, daß er sein Gesicht nicht über der Oberfläche halten könnte, daß eine Drehung aber auch nicht möglich war? Oder wenn irgendetwas in dieser Riesenpfütze lebte? Was würde er tun, wenn er hörte, wie Samira vor ihm ertrank oder angegriffen würde und er könnte nichts tun? Die schlimmste Frage von allen aber war, was würde er tun, wenn er hier plötzlich alleine wäre, weil Samira tot war? Er könnte nicht zurück, weil er spürte, daß seine Fersen ebenfalls die Decke berührten und der Schlauch plötzlich nicht mehr so nachgiebig war; vor könnte er aber auch nicht, weil das Schleimloch, in das Samira gerade verschwand eine tödliche Falle war. Sein Herz raste, und er beruhigte sich erst ein wenig, als er Samira rufen hörte: „Es sind nur ungefähr drei Meter und es wird auch nicht tiefer.“ Er schluckte. Gern hätte er tief Luft geholt, wie er es immer tat, wenn er kurz vor einer schwierigen Aufgabe stand, aber der abgestandene, faulige Dunst verdiente kaum noch die Bezeichnung Luft; Figuls Lungen taten ihm weh, als 51
wäre er viele Meilen gerannt, und seine Augen tränten und juckten zugleich. Er biß die Zähne zusammen und begann, sich auf den Rücken zu drehen. Die Wand des Schlauches berührte sein Gesicht und sofort zuckte er zurück. Sie war warm, ganz weich, ekelhaft glitschig, und er meinte, ein schwaches Pulsieren zu spüren. Weit konnte er sich aber nicht zurücklehnen und so drehte er sich weiter, bis er auf dem Rücken lag und schob sich Zentimeter für Zentimeter durch die Senke. Gelegentlich streifte er etwas dickes in der Decke und er mußte unwillkürlich an dicke Adern denken, durch die das verdorbene Blut des Dämons floß, schwarz und zähflüssig wie der weiße Schleim, der ihn mittlerweile völlig umgab. Aber er kroch immer weiter, immer weiter, immer ... etwas hatte seine Füße berührt! Da war eindeutig eine Bewegung gewesen, im Schleim, als wäre ein Fisch sehr dicht an ihm vorbeigeschwommen. Panik überflutete ihn, machte rationales Denken unmöglich und so schnell es ging kroch er vorwärts, wild strampelnd, mit den Beinen um sich schlagend, nur weg von dem schrecklichen Ding, das an diesem gottlosen Ort leben mochte, nur weg, weg! Er hatte sich einen weiteren Meter vorgearbeitet, verfluchte sich und die Enge des Schlauches, weil er viel zu langsam voran kam und dann fiel er. Der Gang mußte sich über die ganze Breite geöffnet haben, vielleicht war es eine Art Falte oder ein Riß, aber so oder so, Figul stürzte in die Finsternis in Ihrem Inneren und das letzte was er dachte war, daß er Samira gar nicht schreien gehört hatte. Er schloß die Augen, aber es war so schwarz um ihn herum wie zuvor und vielleicht hatte er sie sogar noch auf. Alles in ihm zog sich zusammen und er stürzte noch immer. Als Gwyn ap Annwn mit brechenden Oberschenkeln auf dem Deck neben einem der Dunkelelfen aufschlug, überlegte Kiel Ralman für eine Sekunde, ob er die gesamte magische Kraft des Schiffes in die Geschwindigkeit leiten sollte oder ob er es riskieren konnte, stehenzubleiben und stattdessen die Schilde zu maximieren. Fassungslos beobachtete McIdram vom Deck des amarischen Zerstörers „Gerechtigkeit“ aus, wie die „Tornardo“ statt Fahrt aufzunehmen plötzlich hellgrün erstrahlte. Das schwarze Geschoß der Malebolga traf in der selben Sekunde den Turm. Er hatte mit einer Explosion gerechnet, aber im ersten Moment geschah das Gegenteil – der Turm schien sich in sich selbst zusammenzuziehen, wie die Fühler einer Schnecke, nur das der Punkt in der Mitte lag und auch der untere Teil von dem Ball aufgesogen wurde. Als die Explosion dann kam, war sie heftiger, als alles, was der Krieger bis dahin gesehen hatte. Die „Loyalität“, ein Fünfmaster, wurde von so vielen Schrapnellen getroffen, daß sie fast augenblicklich sank und selbst der „Gerechtigkeit”, die einige hundert Meter von dem Turm entfernt war, zerfetzten winzige Steinplitter die Segel und die Takelage. Der „Integrität” und der „Glaube” erging es kein bißchen besser. Von der „Tornardo” war überhaupt nichts zu sehen, nur ein grünes Leuchten, das von der Druckwelle durch die See gejagt wurde – direkt auf die „Gerechtigkeit“ zu. Erkenbrand saß zwischen den Ästen einer mächtigen Eiche und betrachtete nachdenklich die Schlacht, die sich die Grenzgänger und die amarischen Ritter lieferten. In diesem kritischen Moment arbeitete sein Verstand mit der kühlen Präzision einer Maschine, pausenlos errechnete er Chancen, die er aufgrund von 52
Zahlen erstellte, die er seinen Beobachtungen und Erfahrungen zuwies. Ohne es zu wissen, teilte er Misanduls Einschätzung der Lage; nur ein schneller Rückzug konnte die amarische Kavallerie jetzt noch retten, aber zu seinem wachsenden Ärger gab sein Freund diesen Befehl nicht. Hatte er am Ende Misandul falsch eingeschätzt? War er ein junger Heißsporn, begierig, Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld zu erlangen? Er hatte eigentlich nicht diesen Eindruck gemacht, aber der Krylit kannte ihn auch noch nicht so lange. Er errechnete anhand der Durchschnitts-geschwindigkeit einer Nordmähne und einer Fela, sowie aufgrund der Zahl der Männer auf beiden Seiten, wie lange sie sich noch leisten konnten, nicht zu fliehen. Die Zeit arbeitete gegen sie, aber zum einen tat sie das ja schon den ganzen Tag, und man gewöhnte sich irgendwann auch an den größten Druck, und zum anderen war sie für den analytischen Verstand des insektoiden Magiers nur ein weiterer Faktor in seinen Berechnungen. Noch während er so nachdachte, beobachtete er, wie zwei reiterlose Felas flohen, drei Sherkai den Tod fanden, vier Amarier starben und zwei seiner Männer so schwer verletzt wurden, daß es für seine Überlegungen keinen Unterschied mehr machte, ob sie tot oder nur schwer verletzt waren. Er korrigierte die Zahlen, rechnete erneut und kam auf etwa elf Minuten – dann gab es auf dieser Seite des Passes keine schwere Kavallerie der Amarier mehr und das war ein zu schwerer Verlust für diese Front. Wenn Misandul den Befehl nicht gab, dann würde er es tun, auch wenn er dadurch seine Position verriet. Die Infanterie der Sherkai rückte ebenfalls nach und würde – falls sie ihr Tempo nicht dramatisch ändern würden, aber für ein solches Verhalten konnte er keinen Grund erkennen – in rund neun Minuten da sein. Er stand auf. Zeit zu handeln. „Hauptmann. Wir fallen den Grenzgängern jetzt in die Flanke und erkaufen mit der gestifteten Verwirrung der Kavallerie die Zeit, die sie zur Flucht benötigt. Ich möchte, daß sie der Kavallerie das Signal zu einem geordneten Rückzug geben, sobald wir da sind. Wenn die Reiter unterwegs sind, ziehen wir uns sofort in dieses Wäldchen zurück, schlagen einen Bogen und schließen uns dann unseren Truppen auf der Kenndach'kenn Höhe an. Haben sie alles verstanden?” Der Hauptmann nickte nur. „Gut.” Erkenbrand leckte sich mit seiner langen Zunge schnell über seine traubenförmigen Augen. Die Luft war verdammt trocken hier. „Dann greifen wir an.” Figul ji Natek holte tief Luft. Es war warm und feucht hier. Er hörte das Geplapper von unsichtbaren Tieren überall im Wald und den Gesang der Vögel. „Ich war schon viel zu lange nicht mehr hier.“ dachte er. Verblüfft öffnete er die Augen. Die Lichtung zwischen den Bäumen war nicht sehr groß und die mächtigen Kronen hielten das meiste Tageslicht ab, aber der Schatten spendete angenehme Kühle. Wieso hatte er gedacht, daß er schon lange nicht mehr hier war? Figul kannte diesen Ort überhaupt nicht. Der Wald schien tropisch zu sein. Verblüfft sah er sich um. Das mußte ein Trick sein, Sie wollte ihn verwirren, ihn einlullen – oder? Neben ihm stand Samira. Auch sie sah sich überrascht um. Figul starrte sie mit offenem Mund an. Sie war noch immer eine wunderschöne Frau, aber sie war nun älter. Graue Strähnen durchzogen ihr rabenschwarzes Haar und winzige Krähenfüße zeichneten sich in ihrem Gesicht ab. Er liebte sie 53
aber noch immer. Liebte sie? Ja, er liebte sie. Es war eine unerfüllte Liebe, aber sein ganzes Leben lang hatte sie ihm genügt. Ein winziger Tümpel war zu seiner rechten und er sah hinein. Auch er war alt geworden, schlanker, aber auch faltiger. Altersflecken bedeckten sein Gesicht und seine Hände und das Haar fiel ihm nicht mehr so in die Stirn, es ging zurück und war eisengrau. Haare, er hatte Haare! Sie waren nicht mehr so dicht, aber lockig, wie eh und je. Hatte er jemals keine Haare gehabt? „Seltsam Viktor, gerade noch dachte ich, wir wären wieder in Ihr gewesen, haben noch einmal unseren Kampf gegen Sie durchlebt.“ Der Halbling machte einen unsicheren Schritt zurück. „Ich habe den Namen Viktor abgelegt, ich bin ... oder? Ich bin zu einem Racheengel geworden, ich habe geschworen ... Was habe ich geschworen?“ Samira lächelte ihm zu und da wußte er, daß er sie immer lieben würde. Ihre Zähne waren wie kleine weiße Perlen und ihre Augen blitzen noch immer wie die eines Mädchens. „Du hast deine Rache gehabt, alter Freund. Du warst der Figul ji Natek, aber du hast sie besiegt, die Malebolga.“ Richtig. Das war es. Er hatte die Malebolga angegriffen. Er war zusammen mit Samira in Ihr Inneres vorgedrungen und hatte Ihre ultimative Manifestation angegriffen und getötet. Ohne die zentrale Intelligenz, ohne das Gehirn war sie nur noch ein riesiges Monster, das von der amarischen Flotte schnell erlegt worden war. Jemand hatte sie vernichtet, war aber selbst dabei gestorben. Gwyn. Es war Gwyn. Viktor lächelte. Der alte Haudegen hatte es geschafft. Aber ohne ihn und Samira wäre es nicht möglich gewesen. Er erinnerte sich an die Siegesfeier, an die jubelnden Mengen, als man sie im Finn Tarakis empfangen hatte und später noch einmal, in ihrer Heimat, in Bajork. Man hatte ihm zu Ehren Statuen errichtet und für die Gefallenen ein Denkmal. Eine ewige Flamme brannte in Amarien für sie und in Bajork hatte man einen namenlosen amarischen Soldaten begraben, stellvertretend für all die Toten, die diese apokalyptische Schlacht gefordert hatte. Aber all das war vor so vielen Jahren passiert. Viktor war nun alt und manchmal überfiel ihn die Erinnerung an den Dämonengott noch und er hatte Schwierigkeiten zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu unterscheiden. Im Alter war es häufiger geworden. Samira kam mit den grauenvollen Erinnerungen besser zurecht. Sie hatte ihre Kinder, denen sie ihre ganze Liebe gewidmet hatte. Seine eigene Liebe war unerfüllt und doch war sie alles, woran er sich klammern konnte. Denn nach nunmehr vierzig Jahren waren es weder die Denkmäler, noch die Einladungen, sondern nur die Freundschaft zu Samira, die ihn seine geistige Gesundheit garantierte und ihm einen Grund zu leben gab. Er lächelte. Damals, als er nach den langen Jahren der Reise endlich wieder in ... er schüttelte sich. Nichts von alledem war wahr! Irgendwie, er sah sich verzweifelt, hilfesuchend um, irgendwie war das hier die Malebolga. Sie versuchte, ihn hereinzulegen. Es war ein Trick, alles ein Trick. „Samira, sie legt uns rein. Das hier ist die ...“ Ein Eichhörnchen sprang bogenförmig über die kleine Lichtung, hastete aufgeregt an ihnen vorbei und war mit wenigen Sätzen einen der dicken Stämme hinaufgeklettert. Samira legte beruhigend ihre kühlen Hände auf sein verschwitztes Gesicht und schaute ihm tief in die Augen. „Viktor, schau mich an. Du hast die Malebolga vor sehr vielen Jahren 54
besiegt. Das hier ist nur Ihr langer Schatten, der noch immer auf uns fällt, Ihre letzte Rache aus dem Nimbus. Du hast schon öfter geglaubt, Sie würde uns hereinlegen. Erinnere Dich an den Empfang in Bajorks Faust, als man Dich zum Ritter geschlagen hat. Oder an die Vorlesung an der Universität. Sie ist tot, alter Freund, Sie kann uns schon lange nichts mehr tun, wenn wir es Ihr nicht gestatten.“ Viktor war durcheinander. Er erinnerte sich tatsächlich an all die Ereignisse. Man hatte ihm nach der Rückkehr der „Reisenden“ einen Adelstitel verliehen und ihm ein kleines Stück Land auf der Ebene von Leng angeboten. Und einige Jahre später hatte er in der Bibliothek der Akademie von Sarnak über die Ereignisse und seine Eindrücke vom Kampf gegen Malebolga berichtet. Am beschämensten aber war, daß er sich tatsächlich an die Momente erinnerte, in denen er buchstäblich den Verstand verloren hatte. Ja. Ja, es war ihm schon öfter passiert, daß er zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit nicht mehr zu unterscheiden vermochte. Bajorks Heiler hatten ihm erklärt, daß der unheilvolle Einfluß des Dämons seinen Verstand irreperabel beschädigt hätte, aber daß er die meiste Zeit über ein ganz normales Leben führen konnte. Plötzlich strömten noch andere Erinnerungen auf ihn ein; wie er in einem Siechenhaus gelebt hatte, weggesperrt, weil er überall und in jedem einen dämonischen Handlanger zu sehen meinte, weil er die Männer und Frauen seiner Umgebung angegriffen hatte und ... Orhans Licht! Er hatte auch getötet. Eine Frau auf der Straße schien sich in etwas scheußliches, namenloses zu verwandeln und er hatte sie mit einem Bolzen niedergestreckt. Es war vor allem Samira gewesen, deren liebevolle Pflege ihn dorthin gebracht hatte, wo er heute war. Ein geachteter Gutsherr, jemand, der sich vor König Jandros für die Rechte der Halblinge einsetzte und der Samira ein guter Freund war. Er spürte, wie seine Beine drohten nachzugeben aber Samira war da und stützte ihn, wie sie es in all den Jahren so oft getan hatte. „Wo sind wir hier? Wenn das nicht ein Trick der Malebolga ist, was machen wir dann hier?“ Samira schien einen Augenblick zu zögern, als müßte sie selbst darüber nachdenken. Aber vielleicht hatte er sich das auch nur eingebildet. „Wir besuchen Suni, meine Tochter. Erinnerst du dich an Suni? Sie ist mittlerweile selbst Mutter und obwohl sie uns besuchen wollte, haben wir gesagt, daß wir uns aufmachen. Es war deine Idee gewesen. Ein bißchen Abwechslung – hattest du gesagt – würde uns beiden gut tun. Und Suni hat mehr als genug zu tun. Wir sind hier im großen Wald von Quum-Kaan, wo mein Volk herkommt.“ Natürlich erinnerte sich Viktor an Suni. Wie könnte er sein Patenkind vergessen? Plötzlich erinnerte er sich auch wieder an Kayn Laar, Samiras Mann. Aber er war schon tot, er starb vor vielen Jahren bei einem Schiffsunglück. Suni war daraufhin zurück zu dem Volk der Kuluku gegangen, um dort ein neues Leben anzufangen. Sie hatte Kel kennengelernt, sich verliebt und ihn geheiratet. „Es tut mir leid Samira, es geht schon wieder. Für einen Moment lang dachte ich wirklich ... es war so seltsam.“ Was er ihr nicht sagte, was er ihr nicht sagen konnte, teils, weil er sie nicht beunruhigen wollte, aber teils auch, weil er nicht wußte, ob sie sie war, war, daß es sich immernoch sehr seltsam anfühlte. Samira wandte sich ab und schluckte schwer. Eine Träne lief ihre Wange 55
hinunter und sie wischte sie rasch weg, denn sie wollte nicht, daß Viktor sah, wie besort sie um ihn war. Seine Anfälle häuften sich und der Heiler Gasnar hatte ihr von der Reise abgeraten. Sie wollte Suni schon schreiben, daß sie doch kommen müsse, aber er hatte sich so sehr darauf gefreut, daß sie es einfach nicht übers Herz gebracht hätte, ihn zu enttäuschen. Hinzukam, daß ihre eigenen Erinnerungen an Sie auch jedesmal hochkamen, wenn Viktor zwischen gestern und heute nicht mehr unterscheiden konnte. Es war keine Furcht, die sie mit der Malebolga verbandt, es war unendliche Trauer. Trauer über den Tod von Misandul, den sie gar nicht so richtig kennengelernt hatte, Trauer über den Tod von Daaleryk und Gwyn. Von den dreien fehlte ihr Gwyn am meisten, vielleicht, weil es von ihm nichts mehr gab, nicht einmal ein Grab. Es gab natürlich schon eines, aber der Sarg unter dem Stein war leer. Seine Leiche hatte man nie gefunden, vermutlich war er noch von Ihr gefressen worden oder bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Das Grab war zudem in Amarien, am anderen Ende der Welt. Manchmal hatte sie an den Klippen gestanden und nach Norden geschaut. Sie hatte mit Gwyn gesprochen und sich vorgestellt, daß die Wellen ihre Worte bis an die eisigen Gestade Amariens tragen würden, wo sein unbestatteter Körper irgendwo sein mußte und sie vielleicht hören würde. Misandul und Daaleryk waren als Bajorkaner in Neu-Umbar begraben worden und Samira besuchte ihre Gräber, wann immer sie die Zeit erübrigen konnte. Mittlerweile war Erkenbrandt auch tot, denn dem Volk der Kryliten war nur eine kurze Lebensspanne gewährt. Sie hatte ihn nach der Rückkehr der „Reisenden“ nie wieder gesehen. Er kehrte heim – wo auch immer das sein mochte und so waren nur sie und Viktor übrig. Der Halbling hatte schwere Kopfverletzungen von dem Kampf mit der Malebolga davongetragen und seitdem wechselten seine Geisteszustände zwischen klar und dämmrig. Doch obwohl er manchmal nicht mehr sagen konnte, wann er lebte, hatte er doch seinen Frieden mit sich gefunden, denn den verbitterten Namen Figul ji Natek hatte er abgelegt, wie eine alte Rüstung, die nicht mehr gebraucht wurde, weil der Kampf vorbei war. Sie hatte oft um ihn geweint und sich gefragt, ob er nicht vielleicht den höchsten Preis von ihnen bezahlt hatte, aber andererseits konnten nur sie selbst, Viktor und Erkenbrand sicher sein, daß ihren Seelen gerettet waren. Gwyns, Misanduls und Daaleryks waren von der Malebolga gefressen worden, daran konnte kein Zweifel bestehen. Mit ihnen würde es auch im nächsten Leben kein Wiedersehen geben und dieser Gedanke brachte sie mehr als einmal an den Rand der Verzweiflung und vielleicht sogar einen Schritt darüber hinaus. Sie strich dem Halbling zärtlich durch sein lockiges Haar. „Es ist schon in Ordnung, Viktor. Alles ist gut.“ Sie schaute sich eine Weile um. Sie kannte den Wald. Sie hatte hier eine sehr glückliche Kindheit verlebt, aber natürlich hatte sich im Laufe der Jahre alles verändert und an diese Lichtung konnte sie sich nicht erinnern. „Dort entlang,“ sagte sie mit falscher Zuversicht und Fröhlichkeit in der Stimme, die so gerne brüchig vor Trauer gewesen wäre, „bis zu dem Dorf ist es nicht mehr weit. Suni macht sich bestimmt schon Sorgen.“ Viktor nickte und ging langsam hinter ihr her. Samira hätte sich sicherlich erschrocken, hätte sie ihm ins Gesicht sehen können; sie hätte dort eine Gewissheit gefunden, die möglicherweise wieder zu Toten führen mochte.
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„Wenn die Geschwindigkeit des tosenden Wassers den Punkt erreicht, an dem es Felsblöcke mitreißen kann, dann liegt es an seiner Wucht. Wenn die Geschwindigkeit eines Falken so groß ist, daß er zuschlagen und töten kann, dann liegt es an seiner Genauigkeit. Genauso verhält es sich mit einem vortrefflichen Krieger – seine Kraft ist schnell, seine Genauigkeit geht nicht fehl, seine Kraft gleicht einer straff gespannten Armbrust, seine Genauigkeit gleicht dem Auslösen des Abzugs.” („Die Kunst des Krieges”, Sun Tzun)
Misandul drehte sich blitzschnell um, rollte zur Seite und riß die blutige Klinge hoch. Er durchstach den Sherkai von unten, zerschnitt die Haut, Sehnen und Adern und verkantete das Schwert schließlich in den Knochen. Ohne nachzudenken ließ er die Waffe in dem sterbenden Mann zurück und machte sich auf die Suche nach einer neuen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie eine massige Gestalt auf ihn zulief. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, unter all den Toten mußte einfach irgendwo eine Waffe liegen, ein Schwert, eine Axt, eine Lanze, ihr Mächte, irgendwas. Er schaute fieberhaft, der Sherkai war gleich bei ihm und er hatte noch immer nichts. Dort! Ein Griff, schnell rannte er hinüber, trat die amarische Leiche ungeduldig beiseite, aber die Klinge war zerbrochen. Langsam drehte Misandul sich um. Noch drei Meter, der Barbar grinste wölfisch. Sein Blick war genauso vernebelt wie der von Grillenfänger, aber in diesem lag noch mehr Blutgier. „General!” Er riskierte einen Seitenblick. Ein junger Ritter warf ihm sein eigenes Langschwert zu. Dankbar fing er die Klinge am Griff, beschrieb einen weiten Halbkreis in seiner Kopfhöhe und schnitt den Bauch seines Angreifers auf, sprang hastig zurück und trieb den Stahl tief in den entblößten Rücken seines strauchelnden Gegners. Dann atmete er tief durch, drehte sich abermals um und konnte nicht fassen, was er sehen mußte. Kannte der Wahnsinn keine Grenzen? Waren alle Gesetze der Rationalität und des gesunden Menschenverstandes so restlos aufgehoben worden? Der Amarier, der ihm ohne zu zögern seine Waffe gegeben hatte, lag tot am Boden, jedes Wort des Dankes kam zu spät. Er war von einem Sherkai niedergestreckt worden, der sich bereits wieder abgewandt hatte. Seine Hände waren leer. Misandul hätte ihn am liebsten angeschrien, getreten, aber er verfluchte ihn stattdessen, verfluchte ihn und sein orhansverdammtes Land, das solche Männer hervorbrachte. „Was für eine Verantwortung hast du mir auferlegt, du erbärmlicher Narr! In tausend Jahren hätte ich nicht nach dem Schwert verlangt, mit dem du dich selbst schützt, nicht in tausend Jahren.” Kopfschüttlend machte er sich auf die Suche nach seinem Pferd und der weißen Flagge, die dem Sterben hier, wenn auch nur für einen einzigen Moment, ein Ende machen sollte, als er von seiner rechten Seite aus eine neue Gruppe ausmachte. Für einen kurzen Moment geriet er in Panik, aber er erkannte schnell, daß es sich um Erkenbrand und die amarische Eliteeinheit handelte. Panik verwandelte sich in Ärger; sie waren zu früh. Misandul erkannte allerdings schnell, warum sie schon jetzt eingriffen, es stand nicht gut um seine Männer und sein eigenes Pferd war nirgendwo auszumachen. Die Männer strömten aus dem Wald kamen auf etwa 50 Meter an das Kampfgeschehen heran und feuerten dann ihre tödlichen Armbrüste ab. Das Nachladen dieses neuen Waffentyps dauerte zwar relativ lange, viel länger als ein gut 57
ausgebildeter Bogner brauchen würde, aber sie hatten dennoch Zeit, eine zweite Salve abzufeuern, ehe die Grenzgänger merkten, daß sie von der Flanke aus ebenfalls angegriffen wurden. Bei den meisten Truppen hätte dies zusammen mit dem Überraschungselement vermutlich zu einer Panik geführt, aber die Sherkai kämpften lakonisch weiter und auch ihre Verstärkung wurde nicht merklich schneller. Das Kampfglück der Riesen begann allerdings zu kippen. Ein einzelner Bolzen mußte zwar tödlich treffen, um einen der Grenzgänger sofort auszuschalten, aber auch die anderen Geschosse schwächten sie und so konnten die Ritter der amarischen Doppelkrone genug töten, um einen geordneten Rückzug zu ermöglichen – der Hauptmann von Erkenbrands Männern gab den Befehl dazu. Misandul stolperte wie betrunken über das mit Leichen übersäte Feld, fand aber kein Reittier für sich, sondern half stattdessen einem seiner Männer, indem er sich selbst als Ziel anbot und seinem Mitstreiter so die Deckung des Gegners öffnete. Das Ende des Sherkais kam schnell, aber er starb nicht, ohne Misanduls noch immer schmerzenden rechten Arm einen Hieb zu verpassen, der ihn gleich wieder taub werden ließ und das unangenehme Kribbeln verdrängte. Als wäre ihre Arbeit damit getan, erschien ein schweres Schlachtroß und die beiden Männer zogen sich müde in den Sattel und sprengten den anderen nach. Zurückblickend sah Misandul noch, wie Erkenbrands Männer, es schien keine nennenswerte Verluste bei ihm gegeben zu haben, einige Schüsse auf die nachstürmenden Grenzgänger abschoß und dann mit geisterhafte Geschwindigkeit wieder in dem Wäldchen verschwand, aus dem sie gekommen waren. Kurz darauf erklang Erkenbrands kratzige Stimme magisch in seinem Ohr. „Dein Angriff hat zu schnell an Wucht verloren. Ich mußte eingreifen, sonst wärt ihr alle verloren gewesen.” Misandul hatte aus irgendeinem Grund keine Lust auf Entschuldigungen und höfliches Getue. Er war sich allerdings nicht sicher, ob es wirklich das war, was ihn so wütend machte. Vielleicht war es der schlechte Verlauf des ersten Zusammenpralls? Oder der sinnlose Tod seines Gefolgsmannes? Am Ende war es auch gar nicht wichtig. Erkenbrand hatte sowieso recht, er wäre, wie der Rest der Kavallerie auch, längst tot, wenn er nicht eingegriffen hätte. „Du mußt dich für deine Rettung nicht entschuldigen, alter Freund, ich ...” Ein Kratzen, es handelte sich wohl um ein krylitisches Lachen, aber da war Misandul sich auch jetzt noch nicht ganz sicher, unterbrach ihn. „Nein, nein, ich wollte micht nicht entschuldigen, ich habe eine kleine Planänderung vorgenommen. Ich habe gerade mit Graf Manderyllen gesprochen und er hält mein Unterfangen für einen Versuch wert.” In Misanduls Ohren klang diese Aussage irritierenderweise, als hätten sie noch eine zweite Chance, falls Erkenbrands „Unterfangen” nicht funktionierte, aber er sagte nichts und hörte sich stattdessen an, was der Zauberer ihm vorschlug. Sein massiver Protest wurde ignoriert; Erkenbrand sah vielleicht nicht so aus, aber er war dickköpfiger als ein Troll mit Stahlhelm und so gab Misandul seufzend die Befehle an seine Männer und auch an die Infanterie, die auf der Anhöhe auf sie warteten.
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„Sic transit gloria mundi.”
Sie gingen noch fast eine Stunde durch das üppige Grün, folgten den verschlungenen Pfaden über umgestürzte Baumstämme, kletterten unter riesigen, höhlenhaften Luftwurzeln durch und einmal mußten sie innehalten, um eine nichtendenwollende Gruppe von Tezamis passieren zu lassen, die von einem Seitenarm des Kataanu Flusses zu einem anderen wollten. Die Gründe, die der leuchtend rote Teppich aus Panzern und Scheren dafür haben mochte, kannten die Tiere nur selbst, aber Samira griff geschickt hinein und griff sich zwei der armlangen Krebse. „Niemand bereitet Tezamis so zu, wie meine Tochter. Glaube mir Viktor, heute abend werden wir satt und glücklich an den Feuern meines Volkes sitzen.“ Figul ji Natek nahm die Krustentiere wortlos entgegen. Vier Stielaugen glotzten ihn an, aber er achtete nicht weiter darauf. Er hielt keine Krebse in den Händen und er sollte verdammt sein, wenn sein Name noch immer Viktor sei. Ich bin, dachte er, Figul ji Natek, und ich bin gekommen, um in das Herz der Malebolga vorzudringen. Er hatte es sich ganz anders vorgestellt, hatte gedacht, daß er sich durch dunkle Korridore kämpfen müßte, hatte auf grauenhafte Wesen stoßen wollen, verdammt, er hatte sich darauf eingestellt. Aber er erkannte nun, daß man ihm einen viel schwereren Kampf aufgebürdet hatte. Er begriff, daß er gegen sich selbst kämpfen mußte, und er konnte nicht anders, als Sie für Ihre Schläue und Hinterlistigkeit zu bewundern. Malebolga wußte längst, daß sie hier waren. Sich zu verstecken und zu hoffen, daß sie unbemerkt bis ins Innerste vordringen konnten, war nun vergeblich. Aber wie konnte er diesen Täuschungen entkommen? Und was war überhaupt Täuschung und was war echt? War diese gealterte Samira vor ihm seine Freundin oder existierte sie nur in seiner Vorstellung? Sicher, er konnte sie anfassen und sie würde sich genau wie Samira anfühlen. Er hatte ja auch zwei – wie hatte sie diese Mistviecher genannt; Tezantis? - in den Händen und auch die fühlten sich sehr real an. Ihre Schale war hart wie Glas und glitschig. Sie zappelten, und er konnte das leise Knacken hören, wenn ihre Scheren sich mechanisch öffneten und wieder schlossen. Die Luft hier war wirklich warm und stickig. Er schwitzte und auch das war mit Sicherheit keine Einbildung oder doch? Aber in der Malebolga war es ohnehin sehr heiß gewesen. Lag er vielleicht immer noch in der engen Röhre? In dem fauligen Tümpel, der ihn zwang, sein Gesicht an diese schleimige, feuchtwarme Darmwand zu drücken? Ihn schauderte bei der Vorstellung, sich selbst dort wie tot liegen zu sehen und zu glauben, er wäre hier in Quum-Kaan. Aber er war ja gefallen, oder nicht? Vielleicht gehörte dieser Teil bereits zu einer falschen Erinnerung. Er hatte nur seinen Verstand und er mußte einen Weg finden, sich selbst zu überlisten. Seine Erinnerungen an die Zeit nach dem Kampf gegen die Malebolga waren absolut real. Er wußte noch genau, wie er zusamen mit Samira in die Burg auf der Ebene von Leng gezogen war, etwas abseits von dem Trubel der Städte. Er erinnerte sich an sein Haus und an die Katzen, die er dort gehabt hatte. Er wußte, daß die beiden Tiere ein Geschenk des hohen Rates von Sarnak waren und daß er sie vor elf Jahren in dem kleinen Garten neben der Burgkapelle begraben hatte. Mati und Resi hatte er sie genannt, nach den beiden Töchtern, die Kuor, der Herr der Götter in den Legenden mit der sterblichen Frau Latima gehabt haben soll. Er 59
wußte, wie er angefangen hatte, die Geschichte seines Lebens niederzuschreiben. Er hatte sie „Blut und Stahl“ nennen wollen, aber der Titel hatte Samira so sehr mißfallen, daß er sie schließlich in „Das Ende der Reise“ umbenannt hatte, ein Titel, mit dem er im nachhinein glücklicher war. Nein! Er hatte nichts von alledem erlebt, nichts davon war wahr. Die Malebolga belog ihn unaufhörlich und auch wenn die Stimme aus ihm herauszukommen schien, war es doch Ihr leises Flüstern. Er blieb stehen und schüttelte sich, als könnte er sein falsches Leben so abwerfen. Einer der Krebse fiel herunter und versuchte, im dichten Unterholz zu verschwinden, aber er war an Land erbärmlich ungeschickt und ohne große Mühe nahm Vik ... Figul ji Natek, verdammt! Ihn wieder auf. Natek, Natek, Natek, ich bin Figul ji Natek! Am liebsten hätte er es hinausgebrüllt, aber erst mußte er sicher sein, daß Samira auf seiner Seite stand. Er hatte nur leider nicht die allergeringste Idee, wie er das anstellen sollte. „Verdammt seist du Malebolga. Ich finde die Kammer und reiße dein schwarzes Herz in tausend Stücke.“ murmelte er. „Was hast du gesagt, Viktor?“ Samira hielt inne. Er bemühte sich zu lächeln, aber es fiel ihm sehr schwer. Schweiß tropfte von seiner Stirn und er fühlte sich müde und ausgelaugt. Das Alter, dachte, fordert eben seinen Tribut. Nein. Ich bin 31 Jahre alt. Keinen charonverdammten Tag älter. Ich bin Figul ji Natek. Und ich bin gekommen, um dich zu töten, du Monster. „Ich habe gesagt, daß wir hoffentlich bald da sind, denn es wird langsam spät und die verdammten Krebse scheinen statt aus Fleisch aus Blei zu bestehen.“ Er zwang sich zu lächeln und wenn sie etwas bemerkt hatte, verbarg sie es gut, denn sie lächelte ebenfalls, nahm eines der zappelnden Tiere und sagte: „Wir sind gleich da. Hinter dieser Wegbiegung ist der Kantara Fluß und nach der Brücke ist es nur noch einen Steinwurf. Sieh nur!“ Sie zeigte auf eine schlanke Statue, die völlig verwachsen zwischen zwei Bäumen stand und ihrerseits mit ausgestrecktem Arm den Weg entlang wies. „Es ist ein Kentaran. Ich habe dir doch erzählt, daß man an der Art der Statue erkennen kann, wie weit es noch bis zum nächsten Dorf ist. Der Kentaran steht stets fast am Eingang, denn er ist nicht nur ein Wegweiser, sondern auch ein Schutzgeist.“ Mädchenhaft beschleunigte sie ihren Schritt und rannte ausgelassen über die niedrige Holzbrücke, die sie mittlerweile erreicht hatten. Dahinter konnte er im schwächer werdenen Licht der untergehenden Sonne die ersten Baumhäuser der Kuluku sehen. Sie hatten das Dorf erreicht, und irgendwie hatte der Halbling das sichere Gefühl, daß er hier eine paar Antworten finden würde, auch wenn er sich im Moment überhaupt nicht vorstellen konnte, wie sie aussehen könnten. Er kannte das Dorf nur aus Erzählungen, denn der Weg von Bajork nach QuumKaan war furchtbar weit; fast zwei Monate waren sie unterwegs gewesen, aber der Halbling fand es ganz so vor, wie Samira es ihm stets beschrieben hatte. Die Häuser der Kuluku waren kaum mehr als hölzerne Kisten, die von zu dicken Tauen verarbeiteten Lianen von den knorrigen Ästen der großen Bäume hingen. Das ganze Leben spielte sich auf dem Waldboden zwischen den Stämmen ab, die Häuser waren nur Schlaf – und Zufluchtsort. Beim Betreten der Lichtung 60
zählte er etwa 20 der eigentümlichen Häuser in unterschiedlichsten Größen und aufgehangen in den verschiedensten Höhen, einige fast an den Kronen hängend, andere waren schnell vom Boden aus zu erreichen. Er erinnerte sich, daß Samira ihm erzählt hatte, daß nicht alle der Häuser zum Wohnen gedacht waren, einige waren auch Lagerräume für Lebensmittel – obgleich die Kuluku traditionell nicht viel sammelten, sondern ihre Nahrung tageweise jagten – wieder andere wurden verwendet, um Waffen und Werkzeuge zu horten oder, wie in ihrem Fall, Gäste unterzubringen. Die Kuluku waren ein eigentümliches, ursprüngliches Volk, schlank und hochgewachsen, von hellbrauner Hautfarbe und allesamt schwarzhaarig. Der Halbling hatte den Eindruck, von den Elfen einmal abgesehen, selten ein ganzes Volk von solcher Schönheit gesehen zu haben. Die kleinen Kinder bewegten sich mit derselben katzenhaften Anmut wie die weißhaarigen Alten; so etwas wie Häßlichkeit schien es an diesem Ort gar nicht zu geben. Viktor war sein ganzes Leben der festen Überzeugung gewesen, daß Samira ein Mensch von außergewöhnlicher Schönheit war, eine Frau, die bei jeder Gelegenheit alle Blicke auf sich zog und selbst jetzt noch, da sie in einem Alter war, in dem die meisten Menschen, unabhängig wie schön sie einst gewesen sein mochten, nur noch alt und verbraucht waren, viele jüngere Frauen an Lieblichkeit übertraf. Doch in diesem Ort, mitten im Nirgendwo, hier war sie nur eine unter vielen. Nicht, daß sie das weniger attraktiv gemacht hätte, es war vielmehr, als hätte man einen Diamanten wieder in das Diadem eingepaßt, aus dem er ursprünglich hinausgebrochen war. Und ganz so, wie ein Edelstein in einer schönen Fassung noch besser zur Geltung kam, so strahlte auch sie hier im Kreise der ihren gleich noch einmal so hell. Sie wurden mit viel Lachen und Umarmungen begrüßt und Viktor konnte sich nicht daran erinnern, je von wildfremden Menschen so herzlich begrüßt worden zu sein. Suni schien um keinen Tag gealtert zu sein und die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Mutter war fast schon beängstigend. „Onkel Viktor! Ich freue mich ja so. Wir hatten bereits gestern mit euch gerechnet. Ich wollte schon Kendii losschicken, um nach euch zu suchen.“ Viktor lachte und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Suni zu umarmen. Er ging der großen schlanken Frau gerade bis zur Hüfte. „Wir sind zwei alte Leute, keine Rennpferde. Und ich freue mich auch, meine Kleine.“ Sie kniete sich vor ihm nieder und sie schauten sich in die Augen. Beide lachten und dann küßte Samiras Tochter den alten Halbling liebevoll auf die Stirn. „Es ist schön, daß du da bist.“ Viktor wollte etwas erwidern, als er in ihren Augen meinte, etwas zu entdecken. Wahrscheinlich war es nichts, aber plötzlich mußte er daran denken, daß er auf dem Weg hierher über etwas gegrübelt hatte. Er wußte nur nicht mehr, was es war. Nachdenklich kniff er die Augen zusammen und sah sie scharf an. „Was ist?“ fragte sie. Etwas stimmte hier nicht, da war er sich ganz sicher. Aber er konnte den Finger nicht drauf legen. Etwas hatte ihn beschäftigt, etwas störte ihn, wie ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern, an der Stelle, wo man selbst nicht rankam. Das Kribbeln war gar nicht so schlimm, es war nur das eigene Unvermögen, es zu beenden, was ihn an den Rand der Verzweiflung trieb. „Ich überlege nur, ob du im Laufe der Jahre noch schöner geworden bist.“ 61
Sie lachte und obgleich sie selbst Mutter war und älter als Samira damals, als sie beide noch auf der ..., auf dem verdammten Schiff – er wurde wirklich alt – gedient hatten, klang ihr Lachen wie das eines fröhlichen Kindes. „Du hast dich jedenfalls nicht verändert, Onkel Viktor.“ Etwas störte ihn an diesem Onkel Viktor. Er wußte, daß sie ihn schon immer so genannt hatte, ihr ganzes Leben lang, aber trotzem klang es fremd oder besser, es klang falsch. „Oh doch, ich bin älter geworden. Früher hätte mir eine solche Reise nichts ausgemacht und ich wäre nicht schon gestern, sondern vorgestern hier angekommen.“ „Aber im Herzen bist du der selbe alte Halunke, den ich so liebe.“ Er lachte, aber es war freudlos. Das hier war nicht seine Suni und nun fiel ihm auch wieder ein, was hier nicht stimmte. Es gab keine Suni. Hier, in QuumKaan, mochte irgendwo dieses Dorf sein, aber Samira hatte keine Tochter, und er war nicht einmal halb so alt wie er sich fühlte oder nach außen aussehen mochte. Er hatte einen Auftrag. Er sah sich nach Samira um. Sie umarmte gerade einen Mann und lachte herzlich. In ihren Augen konnte er keinen Argwohn entdecken, nicht den leisesten Zweifel. Sie war zuhause. Sie war bei ihrer Tochter, und er fragte sich abermals, ob sie vielleicht voneinander getrennt worden waren und sie ebenso wenig hier war, wie er in Quum-Kaan. Die Vorstellung hier ganz alleine zu sein, ängstigte ihn furchtbar, aber gleichzeitig merkte er, wie er immer wieder eingelullt wurde, wie ihn Erinnerungsfragmente und Bruchstücke eines Lebens überfielen, das er nie gelebt hatte. Er kämpfte aber nicht nur gegen diese falsche Vergangenheit, sondern auch gegen sich selbst, denn er wollte gerne hier sein. Er wollte ein in Ehren ergrauter Viktor Walding sein, der all das Grauen und Kämpfen lange hinter sich hatte. Er wollte furchtbar gerne sein Leben in einem Landhaus verbracht haben und hier wie von einer Familie, die er nie gehabt hatte, begrüßt werden. Welchen Unterschied machte es schon, ob man ein Leben erlebt hatte, oder ob man sich nur daran erinnerte, wenn es am Ende aufs selbe hinauskam? Es war ein schönes Leben, das er gehabt hatte und auch der Lebensabend, den er noch vor sich hatte, war eine schöne Aussicht. Verdammt, er wollte gerne glauben, daß all das hier die Wahrheit sei, und für einen Moment verspürte er nichts als den Wunsch, sich hier treiben zu lassen. Entschlossen biß er sich so stark auf die Zunge, daß er einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken konnte. Figul ji Natek hatte den metallischen Geschmack von Blut im Mund. Meinen Schmerz, dachte er grimmig, kannst du mir nicht nehmen, du Monster. Ich bin Figul ji Natek und wenn ich dabei drauf gehe, du wirst das Ende des heutigen Tages nicht erleben. „Samira und ich sind von der Reise erschöpft, meine Süße. Meinst du, wir könnten uns irgendwo ein Weilchen hinlegen?“ Suni sah ihn noch immer verwundert – mißtrauisch? - an. Er zwang sich, matt zu lächeln. „Aber natürlich. Wie unhöflich von mir.“ Gemeinsam gingen sie zu einem dicken Baum, um dessen Stamm als Kletterhilfe dicke Taue gebunden waren und so kletterte er zusammen mit Samira hinauf und kurz darauf zu dem Haus hin an einem anderen Seil wieder hinab. Das kleine Haus schwankte, aber weder Samira noch dem Halbling machte das etwas aus. Durch eine Luke im Dach verschwanden beide im 62
Inneren. Der Raum war klein und bar jeglicher Einrichtung. Zwei Strohmatten waren das einzige Zugeständnis an ihren Schlafkomfort und Samira legte sich fast augenblicklich hin. „Samira?“ Seine Freundin drehte sich mürrisch zur Seite. „Ich würde mich wirklich gerne etwas hinlegen, Viktor. In einer Stunde werden wir unten Essen, dann können wir reden, in Ordnung?“ Er schüttelte energisch den Kopf. Er hätte nicht sagen können warum, aber er ahnte, daß es um jede einzelne Sekunde ging. „Wie haben wir die Malebolga vernichtet?“ Sie seufzte. „Wir haben uns an Bord geschlichen und den Kapitain des Schiffes gesucht. Wir fanden ihn schließlich und haben ihn getötet. Wir waren Garou, weißt du das nicht mehr? Werwölfe. Es war ein kurzer Kampf, denn wir haben ihn überrascht.“ „Samira, das stimmt nicht. So war es nicht, das war nicht unser Plan und so ist es auch nicht gelaufen. Erinnere Dich.“ Sie wurde hörbar ärgerlich und ihre Stimme klang erschöpft, als hätte sie ihm schon tausendmal erzählen müssen, was wirklich passiert war. „Doch, Viktor, so war es. Du selbst hast ...“ Sie stockte. „Kommen dir auch Zweifel? Wir haben es nie getan. Wir haben die Malebolga nicht getötet.“ „Oh doch, wir haben sie getötet, denn sonnst wären wir jetzt nicht hier. Niemand konnte Ihr entkommen und wenn wir sie nicht getötet hätten, dann hätte sie uns vernichtet. Du entehrst das Andenken von Misandul und Daaleryk. Und du entehrst das Andenken Gwyns.“ Seine Geduld schwand. Er hatte keine Zeit, um solche Diskussionen zu führen und obgleich er sie liebte wie eine Schwester und ihm fast schlecht wurde, bei dem Gedanken sie hier zurückzulassen und alleine weiterzugehen, würde er es tun. „Samira, wir sind hier nicht in Quum-Kaan.“ „Sondern?“ „Wir sind immernoch in ihr. Wir sind in der Malebolga.“ Sie lachte, aber es war ein trauriges Lachen. Sie drehte sich um und nahm ihn in den Arm, wie sie es so oft getan hatte. „Viktor. Du denkst das oft. Wir haben dich zu den besten Heilern von Emer und sogar bis nach Jaiman geschickt, aber keiner konnte dir helfen. Du kannst manchmal nicht mehr unterscheiden zwischen dem, was bereits Vergangenheit ist und der Gegenwart. Wir haben die Malebolga besiegt. Du selbst hast den tödlichen Hieb geführt, hast das grauenhafte Monster im Innern des Schiffes zerrissen und es so ermöglicht, daß die amarische Flotte es endgültig töten konnte. Aber du hast ...“ „... einen Schlag an den Kopf bekommen.“ vollendete er den Satz. Andere Erinnerungen strömten auf ihn ein. Wie er von fremden Männern und Frauen untersucht wurde, wie sich Heiler, Animisten und Mentalisten über ihn beugten und da war auch ein längerer Aufenthalt in einem Haus der Kranken. Die Erkenntnis traf ihn wie die Faust eines Trolls. Er war geisteskrank. Er hatte den Preis für den Sieg über die Malebolga bezahlt. Das alles lag schon Jahre, 63
Jahrzehnte zurück. „Orhan, es tut mir leid Samira, es tut mir so leid. Ich habe alles falsch gemacht und bin dir nur ein Klotz am Bein.“ Samira dominierte seine Erinnerungen plötzlich. Wie sie in tausend Nächten bei ihm gewacht hatte, seine Verbände und Umschläge gewechselt hatte, wie sie ihn auf jeder Reise zu jedem Heiler begleitet hatte. Sie hatte ihr halbes Leben damit verschwendet, ihm zu helfen und dann erinnerte er sich an all die Streitereien, die sie seinetwegen mit ihrem Mann Kayn Laar, geführt hatte. „Du bist überhaupt kein Klotz am Bein,“ sagte Samira mit Tränen in den Augen, „du bist mein Freund und du hättest dasselbe für mich getan. Ich hab Dich lieb, alter Mann.“ Sie drückte ihn fest an sich und er erwiderte die Umarmung. Er war umnachtet. Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit, Hoffnungslosigkeit, aber auch Dankbarkeit für Samiras Liebe. Er drehte sich auf die Seite und schlief, völlig erschöpft, sofort ein. Manderyllen ging nachdenklich auf und ab. Er erkannte natürlich die Weisheit im Plan des Kryliten, aber er war sich trotzdem unsicher. Sie setzten alles auf eine Karte und der Graf hatte lieber noch ein A s im Ärmel, wenn er um sein Leben und die Zukunft des Reiches spielte. Alternativen sah er allerdings keine und so nickte er grimmig. Am Ende blieb ihm ohnehin nichts anderes übrig, denn er hatte hier keine Befehle zu geben. Der Kriegsherr hatte andere zu seinen Generälen ernannt und auch dazu hatte er nur nicken können. Er wandte sich an Faestlyn, den Hauptmann seiner Soldaten. „Wer bewacht das Jo'troom heute, Faestlyn?” Pflichtbewußt verneigte sich der Elf, bevor er antwortete. „Der Tormechanismus wird heute von Gran Metani bewacht. Er öffnet und schließt Jo'troom, Herr.” Manderyllen sah nachdenklich an der geschwärzten Wand hinauf. Er hatte den Namen dieses Mannes noch nie gehört und er kannte die meisten der Torwächter. Vielleicht sollte er eine zusätzliche Maßnahme ergreifen, kein As, aber vielleicht das Zünglein an der Waage. „Ruft nach Metani.” Faestlyn nickte abermals und tat wie ihm befohlen war. Unterdessen ging Manderyllen zu einem seiner Soldaten und nahm ihm die schwere Armbrust aus der Hand, spannte sie mit schnellen geübten Handgriffen und warf sie dann kommentarlos zu Hakon. Der Mann war der beste Schütze, den er je gesehen hatte, was er aber noch mehr schätzte, war seine Eigenschaft, auch ohne viele Worte zu verstehen, was Manderyllen von ihm wollte. Als Gran Metani rund 50 Meter über ihnen seinen Kopf aus dem Torhaus streckte, hatte er sein Schicksal besiegelt. Mit einem Bolzen, der präzise zwischen seinen Augen in den Schädel eingedrungen war, fiel er zurück. „Keiner,” zischte Manderyllen, „passiert am heutigen Tag das Jo'troom. Keiner.”
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„Even if a Samurai's head where to be suddenly cut off, he should still be able to perfom one last action with certainity.” („Hagakure”, Tsunetomo Yamamoto)
Misandul warf einen Blick zurück. Statt einer Armee führte er nun einen ungeordneten Haufen von Männern an, die offenbar nur noch von einem einzigen Gedanken getrieben wurden: FLUCHT! Sie mochten im ganzen vielleicht sechstausend Mann sein, aber die Sherkai, die ihnen alle dicht auf den Fersen waren, waren beinahe ebenso zahlreich und er konnte ihre wilden Schreie hören. Nicht wenige Amarier hatten Teile ihrer Rüstung weggeworfen und sich auch der schweren Waffen entledigt, um noch schneller laufen zu können. Er rannte und rannte und seine Lungen arbeiteten wie die Blasebälge in einer Schmiede. Hoffentlich ging seine Flamme nicht aus. Das Jo'troom erhob sich wie ein Bergmassiv vor ihnen, aber es war geschlossen. Sie rannten noch einige Meter, dann kamen sie zum Halt. Sechstausend Mann hielten inne, mußten es, denn das gewaltige Bollwerk öffnete seine Pforten nicht für sie. Er begab sich schnell durch die Reihen, denn er würde nur wenige Sekunden haben, bis sie hier waren. Misandul brüllte einige Befehle und der wilde Mob verwandelte sich wieder in eine geordnete Schlachtreihe, die Männer nahmen die Speere auf, die Manderyllen hier zurückgelassen hatte und stellten sich präzise zu der Schlachtordnung „Igel” auf, als die Sherkai auf die vermeintlich leichte Beute prallten. Die Hausstreitmacht Manderyllens brach rechts und links aus den baumgesäumten Hängen, die das Tor flankierten und hinter den Eisbarbaren kamen Erkenbrands Elitesoldaten. „Hammer und Amboß,” dachte Misandul, „Hammer und Amboß. Orhans Licht scheine auf uns. Auf uns alle.” Dann warf er sich ins Kampfgetümmel. Als er erwachte, war es draußen dunkel. Es waren die Geräusche des Waldes, die ihn geweckt hatten, das Zirpen der Insekten, die Rufe der Vögel und natürlich die Geräusche im Lager der Kuluku. Lange konnte er nicht geschlafen haben, denn besonders erholt fühlte er sich nicht. Samira regte sich neben ihm und er erhob sich ächzend. „Laß uns etwas essen, ich sterbe vor Hunger.“ Sie nickte müde und beide machten sich daran, ihre Schlafstätte zu verlassen und gen Boden zu klettern. Viktor mochte das sanfte Schaukeln der Häuser im Wind. Es hatte die gleiche beruhigende Wirkung auf ihn, wie eine Kinderwiege auf ein Neugeborenes. Nachdem er sich ein wenig bewegt hatte, fühlte er sich auch erfrischt und vergnügt sprang er den letzten Meter auf den erdigen Boden, wo Suni sie bereits strahlend erwartete. „Wir haben Klaani gemacht. Die Krebse, die ihr mitgebracht habt, essen wir einfach mit etwas Salat davor.“ Viktor sah Samira fragend an. „Klaani ist eine Art Wildschwein, aber viel kleiner als die Tiere, die du kennst. Es schmeckt auch so, vielleicht etwas intensiver. Die Kuluku essen es sehr scharf gewürzt, aber das kennst du ja von mir.“ Viktor hätte nicht sagen können, wann er das letzte Mal in seinem Leben so glücklich war. Vielleicht damals, im „Seelöwen“? All die Strapazen der monatelangen Reise waren ebenso vergessen, wie die Hitze und die Insekten, 65
die ihn offenbar auffressen wollten. Hier war er zu Hause, hier wurde er freundlich willkommen geheißen, nicht nur von Suni, ihrem Mann und den reizenden Kindern, sondern auch von allen anderen Stammesmitgliedern. Es war, als wäre er hier geboren worden. Er ging zu einer kleinen Gruppe von Kuluku, die um ein Feuer herum saßen und fand unter ihnen einen Platz. Obgleich sie kein Gemein sprachen und er ihre sonderbare Sprache, die offenbar nur aus Klick – und Schnalzlauten zu bestehen schien ebenfalls nicht verstand, hatten sie einen unterhaltsamen Abend, an dem viel gelacht wurde und man sich trotzdem irgendwie zu verständigen wußte. Das Klaani schmeckte großartig und selbst der Umstand, daß zum Essen kein Wein sondern nur klares Wasser gereicht wurde, störte ihn nicht im geringsten. Viel später am Abend, er versuchte gerade von einem seiner zahllosen früheren Kämpfe zu erzählen – vor allem pantomimisch – setzte sich Suni zu ihnen. „Suni, ich erzähle gerade wie ich damals zusammen mit Gwyn und den anderen das Sklavenlager der Eiskraal ...“ Blankes Entsetzen packte den Halbling. Es war, als würden eiskalte Klauen nach dem alten Herzen Viktors greifen und es zerdrücken wie eine reife Frucht. Alles Leben schien aus ihm zu weichen, als er seinem Patenkind in die Augen sah. Sie warf noch immer den Schatten eines Menschen, aber das war auch schon alles, was sie mit seiner Suni gemein hatte. Das Wesen, das vor ihm stand, war dick und aufgequollen, wie ein fettiger Sack, der an vielen Stellen riß oder zu reißen drohte. Faulige Innereien und Ungeziefer ergossen sich aus dem Inneren und unaufhörlich blubberten stinkende Blasen auf der öligen Haut. Der Kopf war ebenso unförmig wie der Rumpf und wurde von einem riesigen Maul dominiert, ein gähnender Schlund, aus dem sich schlangengleich eine schwarze, armdicke Zunge räkelte. Die winzigen Augen starrten ihn boshaft an. „Was ist Onkel Viktor? Hast du keinen Hunger mehr?“ Die Stimme war ein obszöner Hohn, schrill und hoch und während es sprach regneten in einem Sprühnebel winzige Fleischbrocken auf den Halbling herab. Als er sich umsah bemerkte er, daß sich alle Kuluku in ähnliche Monstrositäten verwandelt hatten und daß das Essen am Feuer ein eitriges Insekt war, in seiner widerlichen Häßlichkeit nicht weniger blasphemisch, als die anderen Monstrositäten. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, daß er davon gegessen hatte. Sie hatten sich alle verwandelt – alle bis auf Samira. Er hatte also recht gehabt. Sie waren noch immer an Bord der Malebolga, dies alles war eine Täuschung und er war völlig gesund. Panisch sah er sich um. Neben der Feuerstelle lag ein Krannji, die Axt eines Jägers, und ohne lange nachzudenken griff er nach dem schweren Griff, holte aus und vergrub die steinerne Schneide tief in Sunis Hals. Die Kuluku Frau war viel zu perplex um zu reagieren. Einen Moment stand sie noch da, versuchte etwas zu sagen, aber es kam nur ein gurgelndes Geräusch heraus und dann quoll blutiger Schaum aus ihrem Mund und aus der klaffenden Wunde an ihrem Hals. Mit einem Ruck riß Figul ji Natek das Krannji zurück und stellte sich kampfbereit hin. Die Kuluku hielten vor Entsetzen den Atem an, keiner wagte etwas zu sagen. Samiras Wehklagen zerriß die Stille schließlich. Suni war lag auf dem Gesicht und im Schein des Feuers war deutlich zu sehen, wie sich unter ihr ein größer werdener Fleck auf dem Waldboden ausbreitete. Figul hatte sich mit dem Rücken zu Samira gestellt, denn er vertraute ihr. Sie packte den kleinen Mann am Arm und riß ihn herum. 66
„HAST DU DEN VERSTAND VERLOREN?“ Er riß sich von ihr los. „Samira, wach endlich auf. Ich hatte recht, ich bin nicht wahnsinnig. Wir sind hier an Bord der Malebolga. Unsere Freunde sterben da draußen während wir hier Orhan weiß wieviel Zeit verschwendet haben. Wir müssen weiter. Vielleicht gibt es noch Hoffnung, aber wir müssen uns beeilen.“ „Oh, ihr Mächte, wovon redest du nur?“ „Samira, bitte vertrau mir, wir müssen weiter.“ „Du hast meine Tochter umgebracht!“ Ihr Schluchzen zerbrach ihm fast das Herz. „Ich habe deine Tochter nicht umgebracht, weil du keine hast. Samira, niemand kennt mich so gut wie du, und du weißt, daß ich für sie gestorben wäre, so wie ich es für dich tun würde. Ich hätte ihr kein charonsverdammtes Haar gekrümmt, aber DAS IST NICHT DEINE TOCHTER!“ Er zeigte auf Suni, die sich mittlerweile aufzulösen begonnen hatte. Es war, als bestünde sie aus Wasser und nicht nur ihr Blut lief aus ihr heraus, auch alles andere, Organe, Haut und Knochen, alles verflüssigte sich unter dem orhansbeschienen Nachthimmel. Es war ein einziger, nicht endenwollender Alptraum - und es stank bestialisch. Samira sah fassungslos auf das, was sie für ihre Tochter gehalten hatte. Figul zögerte nun nicht mehr. Er packte sie am Handgelenk und rannte los. Hinter ihnen hörten sie die Kulukus anfangen zu lachen, erst leise, dann immer lauter und lauter, bis es eine dröhnende Geräuschkulisse unerträglichen Ausmaßes wurde, ein Lärm, der den ganzen Wald zu erschüttern schien, alles um sie herum verstummte, das Rauschen der Blätter, das Zirpen der Insekten und die Rufe der Nachtjäger und schließlich selbst in ihre Herzen drängte und sie ganz erfüllte. Es dauerte eine Weile bis sie bemerkten, daß sie weinten und ihnen Blut aus Nase und Ohren schoß. Sie rannten und rannten und keiner von beiden wußte, wohin es eigentlich gehen sollte. Sie waren noch immer im Wald von Quum-Kaan, und sie hielten sich an den Händen wie zwei kleine Kinder, die sich verlaufen hatten. Nach einer ganzen Weile, keiner von ihnen hätte sagen können, wie lange oder wie weit sie gelaufen waren, hielten sie erschöpft inne. „Danke Figul. Ich hätte mich in dieser Illusion ganz verirrt. Ohne dich wäre alles verloren.“ Er winkte ab. Seine Lungen brannten und er brachte die Worte nur keuchend über die Lippen. „Ich wäre genauso darauf reingefallen, aber ich habe plötzlich ihre wahre Gestalt gesehen. Es war eine teuflische Falle. Das wir unbemerkt bis ins Innere vordringen, können wir wohl vergessen.“ Samira nickte und sah sich um. „Es ist alles so anders, als beim ersten Mal. Keine dunkeln Gänge, keine labyrinthartigen Kanäle und auch keine von diesen weißen Monstern, die überall waren. Wie sollen wir den Raum, den wir suchen, wiederfinden, wenn alles so anders ist?“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber ich glaube, wir bewegen uns schon durch diese Gänge, nur ist Sie Sich unserer Anwesenheit bewußt und versucht, uns zu täuschen. Wir gehen einfach weiter in diese Richtung und versuchen auf diesen Hügel da drüben zu kommen. Aufwärts ist in jedem Fall 67
richtig.“ Die beiden gingen noch eine ganze Weile und obgleich sie äußerlich noch immer alt waren, fühlten sie sich wieder kräftiger und ausgeruhter, ihre Sinne schärften sich und nach einer Weile waren sie wieder so jung, wie , hmm, wie vorhin? Gestern? War der Beginn der Schlacht vielleicht noch länger her? Gab es überhaupt noch einen Kampf oder waren sie beide die letzten Überlebenden, dazu verdammt, durch den Bauch dieses Monsters zu laufen, bis sie schließlich vor Hunger und Erschöpfung sterben würden? „Blut, Blut, Blut. Ein Kranich fliegt über den See.” (orkisches Haiku)
Wie lange der Kampf nun schon hin und her tobte, hätte er nicht zu sagen vermocht. Es kam ihm vor, als wären es Tage, seine Arme schmerzten von den Hieben, die er austeilte und von der Wucht der Schläge, die er mit dem Schild blockierte. Sein Schild war mittlerweile in der Mitte gespalten, die Rüstung zerbeult und der Helm zerspellt. Sein Kopf dröhnte noch immer von der Attacke, aber er war offenbar mit einer Platzwunde davongekommen. Aus wievielen Wunden er noch blutete, hätte er so ohne weiteres gar nicht sagen können, aber mechanisch kämpfte er immer weiter und weiter. Es war kein Ende in Sicht, denn obgleich die Sherkai von vier Seiten angegriffen wurden, kämpften sie mit der Verbissenheit eines wütenden Drachens. Sie kannten keine Furcht und gaben ihr Leben nur allzugerne hin, so lange sie nur im Kampf starben – und dazu hatten sie hier reichlich Gelegenheit. Zuerst hatte es so ausgesehen, als würde Erkenbrands Plan aufgehen. Misandul hatte so getan, als würde er mit seiner Kavallerie eine Massenpanik auslösen und gemeinsam waren sie auf das Tor zugeflohen, wo die Falle zuschnappte. Aber selbst jetzt, eingekesselt und ohne Aussicht auf Verstärkung – wie stand es eigentlich an der Front, die Daaleryk hätte halten sollen? - kämpften sich die Sherkai sogar aus dieser tödlichen Situation heraus, erschlugen die Amarier zu dutzenden und opferten sich bereitwillig, um eine Bresche in die Reihen der Soldaten zu schlagen. Misandul hatte so etwas noch nicht erlebt, weder diese fast schon unheimliche Leidenschaft, mit der das Volk der Eisbarbaren kämpfte, noch die Kraft und Anmut, mit der sie fochten, diese Gleichgültigkeit, die sie dem Tod entgegenbrachten. Das erstaunlichste war allerdings Manderyllen. Als Misandul ihn zum ersten Mal im Nahkampf gesehen hatte, blieb er wie ein dummer Junge mit offenem Mund stehen und starrte ihn an. Hätte ein Amarier ihn nicht beiseite geschubst, er wäre getötet worden und hätte nicht einmal mitbekommen, von welcher Seite er erschlagen worden wäre. Manderyllens Kampfstil glich einem Tanz. Er bewegte sich im Takt einer Musik, die nur er hören konnte, aber er kombinierte buchstäblich jede Bewegung mit einem tödlichen Schlag; machte einen Schritt nach vorne – tötete, wich geschmeidig nach links aus – tötete, drehte sich – tötete und dabei sah er aus, als bewege er sich über ein Festparkett. Sein langer Mantel schwang mit und wen immer er zum Tanzen aufforderte, starb zuckend unter seinem Anderthalbhänder, der auf so sonderbare Art und Weise einem Ast ähnelte. Vielleicht war seine Art zu kämpfen weniger ein Tanz, als vielmehr ein Gedicht, in dem sich jede Bewegung, jede Parade und jeder Hieb reimte – „alles auf Tod”, dachte Misandul grimmig. „Alles reimt sich auf Tod.” 68
Der Elfenfürst mußte in dieser Schlacht bereits mehr Sherkai erschlagen haben, als Misandul überhaupt gesehen hatte, um ihn herum wuchsen die Leichenberge und ein Amarier aus der Hausstreitmacht des Grafen informierte den Ritter darüber, daß Manderyllen diesen eigentümlichen Kampfstil vor Jahrhunderten selbst entwickelt hatte und ihn seitdem perfektionierte. Er nannte ihn „Jael gal tenenrach”, „Blätter, die sich im Wind wiegen”. Misandul hätte bei der Namensgebung zwar eher an eine Sense und Korn gedacht, aber sei's drum. Doch selbst Manderyllen konnte nicht verhindern, was längst nicht mehr zu verhindern war; die Amarier, die die Falle gestellt hatten, wurden vom Jäger langsam aber sicher selbst zum Gejagten, überall zerrissen ihre Linien und die Sherkai brachen durch und statt die Riesen zu umzingeln, wurden sie zunehmend selbst in die Enge getrieben, griffen zum Teil überhaupt nicht mehr an, sondern verteidigten sich mit Müh und Not. Etwas lief hier grundlegend falsch. Misandul kämpfte sich keuchend seinen Weg zu Erkenbrand frei. Der Krylit war längst selbst in die Nahkämpfe verwickelt worden, obgleich das das Letzte war, was er gewollt hatte. Sein Kurzschwert wirkte lächerlich gegen die Riesen, die beinahe viermal so groß waren wie er, aber er schlug sich tapfer. Misandul sprang einen der Grenzgänger vor ihm auf den Rücken und trieb das Schwert durch den muskulösen Nacken des Mannes. Als er nach vorne fiel, rollte er sich ab und kam beinahe neben Erkenbrand zum Stehen. Der Krylit schaute sich schnell um. „Misandul, wir müssen unsere Truppen von hier zurückziehen. Wenn wir sie hier nicht schnell rausbekommen, dann werden wir auf unserem eigenen Amboß zerschlagen.” Der Mensch nickte grimmig. „Da hinten ist ein Hügel, auf den Karten war er als Kenndach'kenn Hügel verzeichnet. Wir können ihn auch mit einer handvoll Männer gut verteidigen. Dorthin wollen wir uns zurückziehen.” Misandul mußte gegen den Schlachtlärm anbrüllen: „Und was ist, wenn sie uns dann ignorieren und sich gleich auf das Tor stürzen?” Der Krylit schüttelte den Kopf, eine sonderbar eckige Bewegung, bei der seine traubenförmigen Augen schwer von einer Seite auf die andere schwankten. Misandul würde sich niemals an diesen Anblick gewöhnen. „Das werden sie nicht. Falls sie es aber doch tun, können wir einen Moment Atem schöpfen und ihnen dann in den Rücken fallen.” Der Ritter nickte. Gerade rechtzeitig bemerkte er zwei Angreifer, die auf sie zuschossen. Er ließ sich einfach fallen und spürte, wie eine stählerne Axt über seinen Kopf hinwegzischte. Auf dem Boden liegend beobachtete er entsetzt, wie der zweite Sherkai seinen Freund mühelos hochhob. Schnell drehte er sich auf den Rücken und trat seinem Gegner mit dem sporenbesetzten Reitstiefeln gegen das bloße Knie. Der Riese taumelte zurück und Misandul sprang auf. Er wollte gerade zu einem Hieb ausholen, als er verwundert beobachtete, wie Erkenbrand die Tentaklen oder Barteln oder wie auch immer er die Dinger vor seinem ... Mund nannte, hob und darunter ein Paar scharfer Mandibeln an drei Gelenkpaaren ausklappte. Er zerfetzte die Kehle des nicht minder verwunderten Sherkai, der gurgelnd zu Boden ging. Wieder machte das Rieseninsekt dieses 69
schabende, kratzende Geräusch und abermals mußte der Mensch sich daran erinnern, daß es wohl ein Lachen oder Lächeln sein sollte. Er versuchte auch zu lächeln, aber das verging ihm, als er den Schatten des Eisbarbaren sah, dem er gegen die Kniee getreten hatte. Dieser sprang nach vorne, die Axt über den Kopf haltend - Erkenbrand ging mit traumwandlerischer Sicherheit dazwischen und der Barbar schlug so gewaltig zu, daß sich der scharfe Kopf der Waffe tief in den gefrorenen Boden grub. Im ersten Moment dachte Misandul, die Axt hätte seinen krylitischen Freund verfehlt, er glaubte, der Sherkai hätte die Distanz zu ihm falsch abgeschätzt und schlicht zu kurz geschlagen. Die Traubenaugen schauten ihn überrascht an und die Tentakeln zuckten wie Fische an Land, als wollte er noch etwas sagen. Stattdessen quoll dicker weißer Schleim aus dem breiter werdenen Riß und Tkrrrl'tk, der sich für seine Freunde Erkenbrand nannte, klappte wie ein aufgeschlagenes Buch auseinander. Brüllend vor Trauer und Zorn schlug Misandul auf den muskulösen Arm, der gerade seine Waffe aus dem Boden ziehen wollte, schlug auf den Kopf, die Brust, schlug und schlug, immer wieder und wieder, bis er nur noch einen blutigen Klumpen Fleisch vor sich hatte. Erschöpft lehnte er sich auf das schartige Schwert und hätte am liebsten gleich wieder zugeschlagen. Warum, warum, warum war er dazwischengegangen? Warum versuchte ihn jeder vor dem Unvermeintlichen zu bewahren? Was taten ihm all die Leute an, wie sollte er mit dem Schmerz leben? Er hätte gerne etwas gesagt, daß Erkenbrand auf seinem letzten Weg begleiten sollte, aber ihm fiel nichts ein und so brüllte er: „Zum Kenndach'kenn! Zum Kenndach'kenn, ihr Amarier!” Die breite Doppeltür der heiligen Kuorskirche schlugen krachend hinter ihm zu und sperrten ihn aus der wohligen Wärme des Gotteshauses in die beißende amarische Kälte. Shudden Mells erstes Ziel waren die Vathen'kai, aber im Laufe des Luftkampfes war er in den südlichen Teil der riesigen Stadt geraten und die gewaltigen Türme befanden sich im Nordosten; das hätte einen Fußmarsch von wenigstens einer Stunde bedeutet. Es mußte einen besseren Weg geben und so sah sich der Paladin eilig um. Die Straßen waren mittlerweile ganz leer, die Leute versteckten sich in den Häusern und die Soldaten hatten sich auf den flachen Dächern und Türmen verschanzt. Gelegentlich sah er einen Feuerball durch die Luft rauschen und dunkle Gestalten, die ihnen kunstvoll auswichen. Hier unten konnte er nichts ausrichten und so lief er eine Weile durch die Straßen, bis er ein Haus fand, daß allen Anforderungen entsprach; es war viergeschossig, hatte ein flaches Dach und am wichtigsten – die Eingangstür war offen. Schnell trat er ein, rannte die Treppen hinauf und öffnete schließlich eine Luke, die ihn direkt auf das Dach brachte. Lange zu warten brauchte er nicht, sein in dem dämmrigen Licht leuchtend blauer Mantel war wie eine Einladung. Ein Gruppe bestehend aus zwei der Fledermaus Garou und einer echten, berittenen Riesenfledermaus. Sie hatten ihn bereits entdeckt und änderte die Flugrichtung, um ihn vom Dach zu holen. Kampfbereit stellte er sich hin, verlagerte das Körpergewicht leicht nach vorne und hielt das Paradeschwert Kuors fest in der rechten. Er hätte gern ein Schild gehabt, denn auch wenn es ihm gegen die gewaltigen Klauenhiebe ohnehin nur wenig genützt hätte, so hätte er sich doch etwas sicherer gefühlt. Sie lösten die Formation erst in allerletzter Sekunde auf und Mell dachte schon, sie wollten ihn 70
einfach rammen, aber stattdessen flog die Fledermaus haarscharf über seinen Kopf hinweg und die beiden Monster griffen ihn von rechts und links an, rasiermesserscharfe Klauen hieben nach ihm und er ließ sich fallen, konnte einen Schlag auf den Kopf aber nicht mehr verhindern. Er hatte den Boden noch nicht berühert, als er Kuors Langschwert wieder hochriß und dem Monster den Bauch aufschnitt. Jedenfalls war das sein Plan, aber die Waffe ließ ihn im Stich. Sie brach unterhalb des Brustbeines ab und blieb in dem Monster stecken. Beide Werfledermäuse flogen ein Stück weiter, doch während der eine einen Bogen aufwärts zog, rauschte der zweite direkt auf die Brüstung zu, brach durch sie hindurch und verschwand in der Straßenschlucht. Das Geräusch von berstenden Mauern und splitterndem Glas ließ keinen Zweifel zu. „Einer weniger”, dachte Shudden Mell, aber er war nun unbewaffnet und die beiden anderen kamen schnell zurück. Diesmal war es die Fledermaus, die den Hauptangriff führen sollte, während der Garou für eine Finte sorgen würde, die ihn zu einem Fehler verleiten sollte. Mell konnte sich über die Koordination dieser Angriffe nur wundern. Mit einem Werwolf wären so komplizierte Manöver nicht möglich, der Blutrausch war stets zu stark in ihnen. Noch zwanzig Meter. Mell betrachtete den nutzlosen Schwertgriff in seiner Rechten. Ohne Bedenken ließ er ihn in den Schnee fallen. Noch zehn Meter. Der Fledermaus Garou änderte den Winkel und kam jetzt von rechts während die Fledermaus tiefer flog, um den Reiter eine Lanzenattacke zu ermöglichen. Shudden Mell rieb sich über den schmerzenden Schädel. Es war nichts ernstes, aber es tat furchtbar weh. Noch einen Meter bis zu der Lanzenspitze. Mell ließ sich blitzschnell fallen, drehte sich auf den Bauch und rollte sich zur Seite. Direkt neben seinen Kopf kratzte das metallerne Ende der Waffe über das Steindach und im Geiste dankte der Ritter dem Herrn der See für seinen Schutz. Aber es war eine alte Weisheit, daß die Götter jenen halfen, die sich selbst zu helfen wußten und so wartete er nicht länger sondern sprang sofort wieder auf und machte einen Satz nach vorn. Sein Plan war es gewesen, den Reiter von hinten zu packen und von dem Tier zu zerren, aber das klappte natürlich nicht. Er erwischte nicht einmal die Fledermaus, geschweige denn den Reiter, sondern griff nur in die kalte Luft. Ein schneller Schritt beiseite verhinderte, daß mächtige Arme ihn packten und ein neuerliches Ducken, daß ledrige Schwingen ihn trafen. Er beobachte das Duo, wie es über den Häusern abermals schwenkte und auf ihn zugeschossen kam. Diesmal stürzte der Garou fast senkrecht auf ihn herab, während die Fledermaus in Boden - bzw. Dachhöhe auf ihn zugerast kam. „Und das,” dachte Shudden Mell, „war euer letzter Fehler. Das hättet ihr lieber andersrum machen sollen.” Statt paralisiert stehen zu bleiben – was die beiden wohl erwartet hatten – rannte er mit langen Schritten auf die Fledermaus zu, packte die Lanze, drückte sie beiseite und ... ging zu Boden. Sich vor Schmerzen krümmend lag er im kühlen Schnee und schrie und schrie. Instinktiv griff er sich in die linke Seite, die in Flammen stehen mußte. Seine Hand war warm und naß, er blutete stark. Erst jetzt schaute er sich um und richtete sich die Zähne zusammenbeißend auf. Die Fledermaus mußte ihn gebissen haben, als er sich unter ihr wegducken wollte, ihre Flügel hatten ihn zudem erwischt, aber das war halb so schlimm. Der Reiter lag neben ihm im Schnee, das Genick gebrochen, den ganzen Körper schlangengleich verdreht. Der Körper der Riesenfledermaus, das Tier lag schwer 71
keuchend neben ihnen, hatte ihn vor der Attacke des Monsters geschützt, denn erst jetzt bemerkte er, daß sie ihn verdeckt hatte, daß er unter ihrem Flügel hervorgekommen war, als er sich aufgerichtet hatte. Ihm wurde schwindlig. Es ging ihm wohl schlechter, als er sich eingestehen wollte. Sein Schädel dröhnte noch immer und er schwankte, kämpfte um sein Gleichgewicht. Gern hätte Shudden Mell seine Wunden versorgt, gebetet, aber der letzte der drei Angreifer hatte ihn entdeckt und fiel wie ein Falke aus dem morgendlichen Himmel. Mell ging auf Destrins Soldaten zu, die Lanze lag zerbrochen neben der Fledermaus, aber der Mann hatte eine kleine Wurfaxt im Gürtel stecken. Er zog sie aus der Schlaufe, drehte sich um, peilte das häßliche Gesicht des Monsters an, schleuderte die Waffe fast senkrecht in die Luft und sprang. Er hatte keine Zeit mehr, zu schauen, ob er getroffen hatte oder nicht, aber das Krachen und die Schmerzensschreie des Reittiers waren ihm Antwort auf die Frage. Er wandte sich um und sah den kurzen Stiel der Axt in der Stirn des Garou stecken. Das Monster hatte die Riesenfledermaus unter sich begraben, aber das Tier lebte noch. Mit einem Ruck zog der Paladin die Axt aus dem Kopf und schlug der erbärmlich fiepsenden Fledermaus in den Nacken. Ein Zucken lief durch den großen Leib, dann hatte ihr Leiden ein Ende. Shudden Mell setzte sich auf den warmen Leib und zog mit zittrigen Händen einige Blätter aus einer Gürteltasche und legte sie mit schmerzverzogenem Gesicht auf seine offene Wunde. Die Blutungen wurden fast augenblicklich schwächer und befriedigt nahm er ein weiteres und kaute nachdenklich darauf herum. Von einem Dach aus war er so stark unterlegen, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis seine Feinde ihn töteten. Diesmal hatte er noch Glück gehabt, aber Kämpfe wie diesen gewann man, indem man sich in eine überlegene Position brachte. Wärme lief kribbelnd durch seinen ganzen Körper, linderte den Schmerz und schloß die Wunden. Sein Kopf wurde klarer und seine Sicht schärfte sich wieder. Mit der Wärme kam die Kraft, er fühlte sich ausgeruht und voller Tatendrang. Shudden Mell erhob sich, nahm die Axt, die einzige Waffe, die noch in einem Stück war, und auch die zerbrochene Lanze. Der Kopf war noch in Ordnung und es befand sich noch gut ein Meter Holz darunter. Nicht ideal, aber er konnte nicht wählerisch sein. Dann lief er Richtung Norden über das Dach. An dieser Seite führte ein Steinbogen über eine enge Gasse zu einem anderen Haus. Er riß sich den Mantel von den Schultern und stopfte ihn hastig in die kleine Umhängetasche. Dann legte er sich flach auf den Bauch und robbte auf die eisige Brücke. Etwa zwanzig Meter unter ihm konnte er auf das Kopfsteinpflaster schauen. Und da kamen sie. Drei Fledermausreiter; er hatte sie schon auf dem Dach gesehen und gehofft und gebetet, daß sie tatsächlich zwischen den Häusern in die Gasse fliegen mögen. Als sie hintereinander in die Gasse einschwenkten, wartete er, bis die ersten beiden unter ihm hindurch waren, dann ließ er sich fallen. Für den Bruchteil einer Sekunde zog sich alles in ihm zusammen, dann kam der Aufprall. Die Fledermaus war viel leichter als einer der Riesenvögel und selbst die hätten niemals das Gewicht zweier Männer in schweren Plattenrüstungen tragen können. Kreischend und vergeblich mit den Flügeln schlagend rasten sie auf den Boden zu. Shudden Mell hatte bereits bei dem Reiter auf dem Dach gesehen, daß sie sich mit Lederriemen in den Sätteln festschnallten. Er griff nach der Axt, schnitt ihn durch und schob den Mann aus dem Sitz. Als die Fledermaus endlich wieder aufstieg und mit dem Schreien 72
aufhörte, waren sie bereits so dicht am Boden, daß der eigentliche Reiter sich nicht einmal verletzte, sondern wilde Flüche ausstoßend hinter ihnen herrannte. Um dieses Problem würden sich andere kümmern müssen. Destrins Männer waren viel kleiner als ein Alb und so saß er unbequem in dem winzigen Sattel, seine Körper zu groß für den Sitz, seine Beine zu lang für die Steigbügel, aber dafür stellte er schnell fest, daß die Tiere ungleich ruhiger flogen, als die Vathen, zudem genügte der kleinste Druck und sie korrigierten die Richtung. Drei seiner eigenen Männer hatten mittlerweile die beiden Begleiter seiner Fledermaus attackiert und so nahm er die Lanze, band schnell seinen Mantel daran, eine Verwechslung hätte ihm heute wirklich noch gefehlt, und stieg auf. Endlich war er wieder da, wo er hingehörte. Während er die Freiheit über der Stadt genoß, dachte er nach. Die Fledermäuse reagierten blitzschnell, aber als er sich von oben auf eine fallen ließ, hatte sie nicht einmal versucht, eine Ausweichbewegung zu machen. Wenn ihre Wahrnehmung nach oben also weniger gut funktionierte ... Shudden Mell lächelte. Er stieg noch ein bißchen höher, der Donner grollte, Blitze zuckten und die Amarier folgten ihm wenig später. „I left my throne a million miles away, I drink from your tits and sing your blues every day. Now give me the strenght to spit the world in two – I ate all the rest and now I gotta eat you!” („Space Lord”, Monster Magnet)
Samira Gasai und Figul ji Natek liefen über die waldigen Hügel von Quum-Kaan und standen ... vor den Toren Neu-Umbars! „Wenn wir noch einen Beweis gebraucht haben, dann haben wir ihn ja wohl jetzt. Zuerst waren wir in deiner Heimat, jetzt sind wir in meiner.“ Figul überlegte einen Moment. „Meinst du, wir werden wieder mit falschen Erinnerungen angegriffen?“ Samira schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich glaube nicht. Sie weiß, daß wir kommen und uns mit einer falschen Vergangenheit zu täuschen, hat nun ebensowenig Sinn für Sie, wie es für uns noch Sinn macht, uns zu verstecken. Komm!“ Sie ergriff seine kleine Hand. „Wir wollen gehen. Wir haben lange genug gewartet. Ich glaube, die Malebolga will auch keine Spielchen mehr spielen. Bringen wir es zu Ende, so oder so.“ Er nickte und etwas von ihrer Ruhe ging auf ihn über, sein Atem ging langsamer und sein Herz raste nicht mehr so. Er hatte noch immer furchtbare Angst, aber eigenartigerweise war er auch voller Zuversicht - oder war es Gleichgültigkeit? Sich selbst gegenüber? Seinem Schicksal oder dem der ganzen Welt? Figul wußte es nicht, aber der ersten Falle entronnen zu sein, gab ihm in jedem Fall die Kraft, die er brauchte, um weiterzugehen. Gemeinsam liefen sie zu den Toren der Stadt und die menschlichen Wachen ließen sie ebenso passieren, wie sie auch all die anderen Besucher durch ließen. Es war tatsächlich, als würde er nach Hause kommen, aber dieses Mal ließ er sich nicht täuschen. Die beiden gingen durch die Straßen, durch die er als Kind so oft gelaufen war, kam an all den Läden, an denen so viele seiner Erinnerungen hingen, vorbei und selbst einige der Männer und Frauen kannte er – dabei war er noch nicht einmal im Halblingsviertel. Es wäre verlockend gewesen, wenigstens dort vorbei zu schauen, aber dafür hatte er keine Zeit und als er Samira über den großen Marktplatz führte und die Düfte von den 73
verschiedenen Ständen auf sie eindrangen, da meinte er, vom Heimweh übermannt werden zu müssen. Aber in Wahrheit erwartete er nur, so zu empfinden – er fühlte tatsächlich nichts derartiges, dabei hatte er Neu-Umbar immer als „seine“ Stadt betrachtet. Er hielt für einen Moment inne. „Sie ist nicht real. Ich meine, die Stadt, sie ist es nicht. Ich müßte sie vermissen, bzw. mich freuen wieder hierzusein, aber ich bin es nicht. Sie ist trotz allem nur eine schlechte Kopie, ein trauriger Versuch etwas nachzuahmen, was Sie gar nicht versteht. All das Leben, das echte Leben, und die Schicksale der Männer und Frauen von Neu-Umbar, all die kleinen Geschichten und die Atmosphäre – nichts davon ist an diesem Ort.“ Samira sah ihn an. „In Quum-Kaan sagt man, daß das Böse nur nachäffen kann, es kann nichts selbst erschaffen.“ Figul nickte. Dann gingen sie weiter. Einige Meter von ihnen entfernt bahnten sich bajorkanische Soldaten ihren Weg durch die Menge. Ihre roten Umhänge hoben sich deutlich von der bunten Menge ab, Waffengeklirr begleitete sie ebenso, wie der Respekt der Leute. Es mochten vielleicht 20 Männer sein, alles Menschen. Der Anführer, ein Mann, der auf Figul den Eindruck machte, hart wie ein Stück Stahl zu sein, sprach ihn nicht ohne Respekt an. „Seid ihr die Gesandten Figul ji Natek und Samira Gasai?“ Figul nickte nur und Samira antwortete: „Ja, die sind wir. Wer will das wissen?“ Der Mann räusperte sich. Nichts feindseliges lag in seiner Stimme, aber genau das machte Figul so nervös. „Uns schickt der König. Wir sollen sie nach Bajorks Faust eskortieren. Ihr werdet dort erwartet.“ Figul japste. Bajorks Faust lag in Bajorkham! Das waren drei Tagesritte von hier. So viel Zeit hatten sie beim besten Willen nicht. Er wollte gerade etwas scharfes erwidern, als Samira ihn anlächelte, nickte und ihm einen Stoß in die Rippen gab. Abwarten, wollte sie ihm sagen und vermutlich hatte sie recht. „Wir begleiten sie gern und freuen uns über die Aufmerksamkeit, Hauptmann.“ Die Abzeichen der Uniform waren die selben, wie sie an Bord der „Reisenden“ verwendet wurden. Gemeinsam mit den Soldaten, die sie jeweils zu zehnt auf beiden Seiten flankierten, durchquerten sie zügig die breiten Hauptstraßen und im Schutz ihrer Patroullie kamen sie viel schneller voran; niemand wagte es, sich ihnen in den Weg zu stellen. Zu seiner allerdings mittlerweile ziemlich gelinden Verwunderung stellte Figul fest, daß Bajorks Faust, der Herrschaftssitz von König Jandros von Orgillion, nun in Neu-Umbar statt in Bajorkham lag. Die kleine Burg, eigentlich eher ein Schloß, erhob sich aus der Mitte eines Sees und war mit dem Ufer durch eine breite hölzerne Brücke verbunden. Als der Halbling sich umwandte, war Neu-Umbar verschwunden – die Häuser, die er sehen konnte, gehörten indess zu Bajorkham. Es rang ihm nicht mehr als ein Lächeln ab und Samira kommentierte es überhaupt nicht, denn sie war nie in Bajorkham gewesen und kannte den Ort nicht. Bajorks Faust war, Figul hatte im Laufe der letzten Jahre einen Blick für soetwas bekommen, nur sehr schlecht zu verteidigen. Große Fensterfronten in allen Stockwerken, keine Wehrgänge, keine Schießscharten – es war ein Landsitz, mit ausladenen Balkonen, winzigen Erkern und kleinen Gärten drumherum. Selbst 74
der See bot keinen effizienten Schutz, denn die Brücke war nicht schnell genug zu zerstören und die kleine Insel, die das Schlößchen barg, war vom Ufer aus ohne Schwierigkeiten mit einem Katapult unter Beschuß zu nehmen. König Jandros konnte hier binnen weniger Stunden zur Kapitulation – oder Schlimmerem – gezwungen werden. Der Halbling wußte nicht, daß im Krisenfall der Regierungssitz binnen kürzester Zeit in die Eisenberge verlegt wurde, in eine schier uneinnehmbare Festung am Fuße der Berge, aber es hätte ihn im Moment auch nicht interessiert und all seine taktischen Überlegungen zur Verteidigung der Anlage liefen nur halbbewußt durch seinen nervösen Verstand. Er dachte fieberhaft darüber nach, was dieses freundliche Willkommen bedeuten sollte. Es lag auf der Hand anzunehmen, daß es eine Falle oder ein Hinterhalt sein mußte, aber sein Gefühl sagte ihm, daß dem nicht so wäre. Seit er erfahren hatte, daß er ein Werwolf war, hatte er an sich einen Sinn für Gefahren bemerkt, der sich immer als höchst zuverlässig erwiesen hatte. Die Malebolga mochte von diesem Gespür wissen und ihn bewußt einlullen, aber irgendwie mochte er nicht daran glauben. Ihre Schritte klangen schwer und hohl zugleich auf der hölzernen Brücke. Sie mochten vielleicht fünfzig Meter zurücklegen müssen, bis sie Bajorks Faust erreichen würden und der Halbling wußte, daß der Raum, den sie so verzweifelt suchten, sich irgendwo in dem bajoranischen Regierungssitz befinden mußte. Er wußte es so sicher, wie er den Namen seines Vaters kannte. Noch zwanzig Meter und er wußte noch immer nicht , was ihn an Gefahren erwarten würde und wie er darauf reagieren sollte. Er nahm den Schwertgriff in die Hand, aber er vermittelte ihm kein Gefühl der Sicherheit. Er war kein Schwertkämpfer, sondern ein Schütze und die Gefahren, denen sie bis jetzt ausgesetzt waren, hätten mit einem Schwert ohnehin nicht gelöst werden können. Erst jetzt wurde ihm klar, daß er nicht nur wieder jung war, sondern auch die Artefaktrüstung trug. Noch zehn Meter. Diener öffneten bereits die reichverzierte Doppeltür des Anwesens. Sollte es hier zu einem Kampf kommen, würden sie 20 Männer töten können? Selbst als Werwolf wäre das keine leichte Aufgabe. Es war nicht geplant, daß es zu vielen Kämpfen kommen sollte, ihr Plan basierte auf Heimlichkeit und Schnelligkeit. Wäre es um Krieger gegangen, hätte man andere ausgewählt. Daaleryk, Misandul, vielleicht Gwyn selbst. Sie waren es, die in den ersten Reihen standen und töteten. Samira bevorzugte Messer, er selbst seine kleine, leichte Armbrust. Sie kämpften nicht, sie töteten. Sie erreichten das Ende der Brücke. „Wir haben unseren Auftrag ausgeführt. Geht durch die Haupthalle und dann durch die geöffnete Tür zu Eurer Linken. Ihr werdet erwartet.“ Samira sah den Hauptmann nachdenklich an. Dann nickte sie bedächtig. Ein Fremder hätte ihr nichts angesehen, aber Figul kannte sie wie sich selbst und er bemerkte die Anspannung und Furcht unter ihrer Maske der Gelassenheit. „Vielen Dank für die Dienste. Wir werden eure Zuverlässigkeit und eure Integrität lobend erwähnen.“ Der Hauptmann lächelte. Dann deutete er eine Verbeugung an und nahm seine Position in der Reihe ein. Reglos wie Statuen standen die zwanzig Männer entlang der Brücke und bewachten den Eingang von Bajorks Faust. Samira und Figul gingen durch die Tür, sie fanden alles so, wie man es ihnen beschrieben hatte. Die Haupthalle wäre ihnen sicherlich prächtig vorgekommen, aber im Vergleich zu dem amarischen Reichtum war sie bestenfalls einfach und sie 75
hatten ohnehin keine Augen für derartige Dinge. Stattdessen wendeten sie sich gleich nach links und gingen abermals durch eine Tür. Figul kannte diesen Raum aus seiner Kindheit. Er war mit seinem Vater hier gewesen, als Jandros zum König gekrönt wurde, zusammen mit sehr vielen anderen Männern und Frauen, denn er war von Anfang an ein Mann des Volkes. Dumpf hallten ihre Schritte auf den nackten, schwarzweißen Marmorfliesen. Der Raum war riesig, Regale aus dunklem Holz, über und über beladen mit Büchern bedeckten die ganze, gegenüberliegende Wand. Zwischen den Büchern standen immer wieder auch Ziergegenstände, der Totenkopf einer Echse, ein wertvoller kristallener Briefbeschwerer und dergleichen mehr. Zu ihrer rechten stand der einfache Thron Jandros, kaum mehr als ein großer, hölzerner Stuhl auf einer Stufe und zu ihrer linken war eine breite Fensterfront, die eine wunderbare Aussicht über den See nach Bajorkham ermöglichte. Die Sonne schien und tauchte alles in warmes, goldenes Licht. Neben der Tür befand sich ein riesiger Spiegel, eingefaßt in einen Rahmen aus Gold, den kunstvolle Hände in die Gestalt tanzender Elfenfrauen verwandelt hatten. Außer ihnen befand sich niemand hier. „Meinst du, das verfluchte Ding ist hier irgendwo?“ Samira schüttelte den Kopf. „Das wäre wohl zu viel verlangt. Ich glaube eher, daß man uns eine Audienz gewährt.“ Figul kratzte sich am rasierten Schädel. Alles war so sonderbar, so ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte und obgleich er nun nicht den geringsten Zweifel an seiner Identität oder seiner Mission hatte, merkte er, daß die vertraute Umgebung ihn immer mehr einlullte und er sich immer und immer wieder sagen mußte, daß dies nicht Bajorks Faust war und er keineswegs König Jandros treffen würde. „Meinst Du, wir treffen Sie? Ich meine, Ihre ultimative Manifestation?“ Samira zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe nicht. Shudden Mell hat mir gesagt, daß es eine Prophezeiung gibt, daß kein lebendes Wesen den Kapitain dieses Schiffes töten kann. Wir hätten ihm nichts entgegenzusetzen.“ Hinter ihnen hörten sie schnelle Schritte herbeieilen, begleitet von dem Klirren eines schweren Panzers und dieser Schritt war ihnen sehr vertraut, aber das konnte nicht ... Gwyn rannte um die Ecke, schlidderte ein Stück über den polierten Boden, drehte sich um und schlug die Tür zu. Blut tropfte von seinem Streitkolben und obgleich er unverletzt war, sah man an den Rissen und Dellen in seiner Rüstung, daß er nicht kampflos bis zu diesem Ort gekommen war. Sein Gesicht war verschwitzt und er keuchte mühsam, als hätte er bereits viele Meilen rennend zurückgelegt. „Figul, Samira, da seid ihr ja. Ich suche euch schon seit Stunden.“ Er stützte sich auf seine Knie, wie er es morgends nach ihren gemeinsamen Runden immer getan hatte. Der Halbling sah ihn verblüfft an. „Aber was machst du hier?“ „Ihr seid schon seit vielen Stunden hier und deshalb sind Ralman und ich euch nach, weil wir dachten ihr hättet es nicht geschafft.“ Samira lächelte milde. „Du bist nicht Gwyn ap Annwn.“ In ihrer Stimme lag keine Furcht, kein Vorwurf oder Zweifel. Was Figul noch am 76
ehesten zu hören glaubte, war eine leichte Belustigung. Gwyn lächelte. Er war jetzt nicht mehr außer Atem und seine Rüstung war wieder wie neu. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und obgleich ihn Samira um ein gutes Stück überragte, war seine schiere Präsenz, seine unglaubliche körperliche Kraft, ein guter Grund, einen Schritt zurückzutreten. Figul wollte nicht gegen Gwyn kämpfen. Nicht nur, daß er sein Freund war, der Halbling hatte ihn im Kampf erlebt und der Paladin war ein furchtbarer Gegner, in einem Moment so gnadenlos wie freundlich und liebevoll im nächsten. Auf der Nebelfeste waren ihm selbst die Grenzgänger der Sherkai mit Respekt begegnet und obgleich er jung an Jahren war, war er kampferprobter, als viele ältere Recken. Aber Gwyn machte überhaupt keine Anstalten, sie anzugreifen. „Ihr habt natürlich recht. Ich bin nicht Gwyn ap Annwn.“ Figul kannte die Antwort, aber er fragte trotzdem: „Sondern?“ „Im Laufe der Jahrtausende hatte ich sehr viele Namen. Wattenborn, nannte mich mein Vater, Kallnir bin ich bei den Shuluuri, den Wasserelfen. Wanderer oder Reisender nannte mich das Volk der Menschen, als es noch jung war und selbst die Zwerge, die keine Schiffe bauen, kennen mich als Zhan Burani – der hinter dem Horizont lauert. Aber hier und heute heißt man mich Malebolga, die Festung der See.“ „Du hättest uns längst töten können,“ sagte Samira vorsichtig, „warum sind wir hier?“ „Wir sind,“ beantwortete Figul ihre Frage, aber da spürte Samira plötzlich, daß er einen Fehler machen würde und deshalb fiel sie ihm ins Wort. „... gekommen, um dich zu töten, Malebolga.“ Gwyn lächelte abermals. Sein Gesicht war ebenmäßiger als das des echten Gwyns, seine Haut makelloser und seine Zähne viel zu weiß. „Ja, ihr seid gekommen, um micht zu töten. Doch wißt ihr nicht alles.“ Samira schnaubte verächtlich. Sie hatte die Hand am Schwertgriff, zog aber noch nicht. „Versuche nicht uns zu belügen. Selbst wenn wir nicht alles wissen, ändert das nichts daran, daß wir dich töten werden, gleich, was du uns erzählen magst, Dämon.“ „Ich möchte mit euch reden. Wenn wir fertig sind und ihr mich dann immer noch töten wollt, bleibt noch genug Zeit zum kämpfen.“ Samira schüttelte den Kopf. „Nein. Draußen sterben Männer während du uns hinhalten willst.“ Sie überlegte kurz und sagte dann scharf: „Zudem frage ich dich, wenn du nichts zu verbergen hast, warum dann diese Maskerade? Zeige uns deine wirkliche Gestalt, Dämon!“ Gwyn schüttelte traurig den Kopf. „So wenig Zeit und so viel zu erklären. Was meine Gestalt betrifft, so ist diese ebenso wahr, wie jede andere, die ich annehmen könnte. Du bist in meinem Inneren, Samira, und ich bin nur eine Verbildlichung meiner Gedanken. Hier kann ich jede Gestalt annehmen, aber ich dachte, die einer euch vertrauten Person wäre euch lieber. Ich weiß, daß du dir alles ganz anders vorgestellt hast, dunkle Labyrinthe, gräßliche Monster und am Ende ich, ein tentakelbewehrtes Ungeheuer, irgendetwas riesiges, grauenhaftes, unverständliches. Und doch hätte dir das eher zugesagt, weil du hergekommen bist, um zu töten. Ich aber sage dir, es ist nicht nötig zu töten. Wir müssen nicht einmal kämpfen.“ 77
Samira lachte laut auf, Figul jedoch war interessiert. Was sollte diese eigentümliche Unterhaltung und worauf würde sie hinauslaufen? „Du kämpfst, während wir sprechen. Alles, was du sagst ist Lüge!“ „Nein Samira, aber ich verstehe, daß du denkst, daß ich lüge. Ich bin nicht nach Amarien gekommen, um zu töten, sondern aus einem anderen Grund. Ich habe diesen Kampf nicht gewollt und ich habe ihn auch nicht angefangen. Ich verteidige mich nur.“ „Wir rührend,“ höhnte Samira, „mir kommen die Tränen. Das arme, mißverstandene Kind, will nur Liebe und Frieden!“ Gwyn lachte und es lag so viel Herzlichkeit darin, daß Figul selbst lächeln mußte. „Ihr beide wurdet die ganze Zeit belogen, daß ist wahr. Aber der Lügner bin nicht ich, obgleich ich nun seine Gestalt angenommen habe.“ Samira wurde noch zorniger. „Gwyn hat uns nicht belogen. Du lügst!“ „Nein Samira, warum sollte ich euch belügen? Ich will es euch beweisen.“ Samira wollte ihm ins Wort fallen, aber Figul hob eine Hand. „Ihr wißt natürlich noch, daß ihr von Peindämonen, von den Zenobiten, gefangen und gefoltert wurdet. Ich sage euch, wer hinter diesem Überfall steckte. Es war kein anderer als Kiel Ralman, der Commander des zweiten Außenteams.“ Dieser Enthüllung folgte ein tiefes, nachdenkliches Schweigen der beiden. „Um die ganze Geschichte zu erzählen, muß ich etwas weiter ausholen.“ Er holte tief Luft, als müsse er ihnen eine schwere, unangenehme Mitteilung machen. „Kiel Ralman war niemals an Bord der „Reisenden“. Als er die Assassinenschule verließ, wurde er nachts, auf dem Weg von Bajorkham nach Neu-Umbar getötet. Ich bin mir über die Identität des Wesens, daß seinen Platz eingenommen hat nicht ganz sicher. Möglicherweise ist es ein Dämon der äußeren Schalen, aus dem Nimbus herabgestiegen aus Gründen, die nur ihm allein bekannt sind. Oder er ist ein Gestaltswandler, von denen es mehrere in Bajork gibt. Vielleicht ist er auch ein sehr mächtiger Zauberer, es gibt einiges, das darauf hindeutet. Im letzteren Fall kann ich über die Motive des Wesens allerdings nur spekulieren. Tatsache ist jedenfalls, daß Ralman euch fürchtet und nachdem er mehrere erfolglose Angriffe auf euch unternommen hatte, hatte er schließlich Kontakt zu den Zenobiten aufgenommen.“ Figul schüttelte den Kopf. „Warum hat er die Zenobiten dann umgebracht?“ Gwyn sah ihn an. „Die Zenobiten hätten noch Jahre mit euch gespielt und er nahm an, daß euch schließlich abermals die Flucht gelungen wäre. So wie bei all den anderen Fallen, die er euch gestellt hatte auch. Zudem hat es seinen Preis, die Zenobiten zu rufen und so mußte er nicht zahlen. Die Peindämonen haben euch gefangen, er hat euch bei lebendigem Leibe begraben. Für ihn lief es perfekt.“ „Nur das wir abermals entkamen.“ murmelte Figul. „So ist es. All den Ärger den ihr hattet, jede schlechte Wendung, der Tote an Bord und selbst der Kontakt mit dem Vampirlord – all das verdankt ihr Ralman.“ Er machte eine Pause. „Ihr seht, ich habe keine Geheimnisse vor euch. Warum auch? Und nun will ich euch sagen, warum ihr wirklich hier seid.“ Er ging einige Schritte in den Raum hinein und obgleich er ihnen den Rücken zuwandte kamen weder Samira noch Figul auf die Idee ihn anzugreifen. Beide 78
waren tief in Gedanken versunken. Jeder von ihnen hatte Ralman schon öfter für alles mögliche im Verdacht, aber das er tatsächlich hinter nahezu jedem Problem, dem sie begegneten steckte, war einfach ungeheuerlich! Ebenso häufig, wie er ihnen Ärger bereitet hatte, hatte er ihnen auch geholfen, aber fast immer, das erkannten sie jetzt, im Dienste seines eigenen Nutzens. Ralman war verteufelt schlau, ein eiskalter, berechnender Mann und auf seine Art nicht weniger gefährlich als eine Gruppe Zenobiten. Der Assassine war nur unendlich viel subtiler. „Ihr werdet es nicht gerne hören, aber auch Gwyn ist nicht der Mann, der er zu sein scheint.“ Jetzt wurde auch Figul ärgerlich. „Natürlich! Gwyn ap Annwn ist vermutlich selbst ein Zenobit? Der letzte dämonische Diener Kabis? Was, was soll mit ihm sein, hmm?“ „Gwyn ap Annwn ist ein Mensch. Aber in den Herzen der Menschen tun sich mitunter Abgründe auf, die der Seelenlosigkeit eines Dämons nichts nachstehen.“ „Du bist selbst ein seelenloser Dämon, Malebolga.“ sagte Samira. „Nein, ich bin kein Dämon. Mein Vater war ein Gott. Aber das soll jetzt keine Rolle spielen, obgleich wir später darüber reden können – wie gesagt, ich habe keine Geheimnisse vor euch. Um auf Annwn zurückzukommen; er ist ein Mensch und er ist der Paladin, für den ihr ihn immer gehalten habt, aber seine Motivation ist bei weitem nicht so ehrenhaft, wie man denken könnte.“ Samira und Figul gingen ihm ein paar Schritte nach. Beide sahen sich unsicher an. Als Figul gerade etwas sagen wollte, sprach Gwyn weiter. „Es ist krankhafter Ehrgeiz, der ihn antreibt. Würde er irgendwo ein Fleckchen auf dieser Welt finden, wo es als ehrenhaft gelten würde, schwangere Frauen und Säuglinge zu töten, er würde es ohne Bedenken tun. Aber nicht einmal die Orks könnten über so etwas lachen.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er wieder ansetzte. „Ihr kennt die Lebensgeschichte dieses Mannes?” Samira wurde nun ernstlich wütend. Die Offenbarung, daß Ralman ein Spieler auf der falschen Seite war, würde dieser Pestbeule nichts als einige Minuten bringen. „Gwyn ap Annwn,” fauchte sie den falschen Gwyn an, „ist ein ehrenwerter Mann. Sein ganzes Leben hat er den Hilflosen und Bedürftigen geweiht. Er ist ein Ritter! Mich selbst hat er aus der Sklaverei gerettet und jetzt gerade in diesem Moment führt eine aussichtslose Schlacht, um einem Volk zu helfen, von dessen Existenz er vor einigen Monaten noch nichts wußte!” Malebolgas Lachen war tief und herzlich, aber zu ihrer Verwunderung fanden weder Samira noch Figul Boshaftigkeit darin. „Das Leben des Mannes, den ihr als Gwyn ap Annwn kennt, begann als Sohn eines einfachen Bauers im Norden Bodleas.” Figul winkte ab. „Wir kennen die Geschichte, er geriet als Kind in die Sklaverei. Ritter des Ordens von Shaals Flut retteten ihn. So kam er ins Klosterleben und wurde schließlich selbst ein Ritter, obgleich ihm dieser Weg eigentlich verwehrt gewesen wäre, denn er war nicht von adliger Abstammung.” Gwyn lächelte, bevor er den Satz beendete: „... denn er war nicht von adliger Abstammung. Ganz genau. Die Ritter 79
nahmen ihn auf und akzeptierten ihn schließlich in ihren Reihen. Aber das genügte ihm nicht. Er hatte es nie verwunden, diesen Makel, nur geduldet zu sein. Annwn versuchte schon seit seiner frühsten Kindheit immer etwas mehr zu leisten als alle anderen.” „Und was soll daran falsch sein?” fragte Samira. „Oh, daran ist gar nichts falsch, gar nichts. Jedenfalls nicht, so lange man sich im Rahmen der Regeln bewegt. Annwn tat das nicht. Er wurde ein brillianter Schüler, ein Krieger von unglaublicher Kraft und Geschick, ein Meister mit der Klinge und zugleich ein gläubiger Priester – jedoch ... Des Nachtens studierte er noch andere Bücher, unheilige Texte, die der Orden im Laufe der Zeit vor der Welt zu verwahren gelernt hatte. Es waren keine wirklich schwarzen Sprüche, er fiel nicht vom Glauben ab, nein, er wollte nur die Waffen des Bösen gegen seinen schlimmsten Feind einsetzen. Mich.” Samiras Miene machte deutlich, daß sie kein Wort glaubte. „Gwyn soll die dunklen Künste studiert haben? Um dich anzugreifen?” „Annwn studierte einige Kontaktsprüche. Er verfeinert sein Wissen, seine taktischen Kenntnisse, er verbrachte jede freie Minute mit dem Studium, wie er mich besiegen konnte, denn das war es, was Shaals Flut seit Jahrhunderten versuchte und was den Männern niemals gelang. Sie haben im Laufe der Zeit tausende von Rittern gegen mich geschickt, Zauberer, Krieger, Flotten, aber niemand kehrte zurück. Gwyn ap Annwn hatte einen anderen Plan. Euch! Die Kontaktsprüche sollten ein Treffen mit mir ermöglichen, denn die meisten Seeleute wissen nicht einmal von meiner Existenz und eine Suche auf Kultheas Meeren hätte seine Lebensspanne leicht überdauern können. Er lernte also, wie man mich rief. Aber das war nicht der einzige Spruch, den er sich im Eigenstudium beibrachte. In einer Nacht stieß er auf ein uraltes Buch, das Liber Garou. Und da begann sich der eigentliche Plan in seinem Kopf zu formen. Ihr glaubt, Gwyn ap Annwn ist hier, um die Amarier zu retten?” Er lächelte. „Gwyn ap Annwn ist hier, um sie zu opfern. Er schert sich einen Dreck um andere, das einzige was ihn interessiert, ist seine Unsterblichkeit in den Annalen der Menschen und Elfen.” Abermals machte Malebolga eine Pause. „Aus dem Liber Garou lernte er, wie man einen Werwolf erkennt, selbst, wenn er nicht in der Crinosform unterwegs ist und sofort machte er sich auf die Suche. Daß er welche gefunden hat, brauche ich euch nicht zu sagen. Glaubt ihr wirklich, daß es Zufall war, daß es ihm gelang von den seltensten Wesen der Welt gleich fünf, Shudden Mell mitgerechnet sogar sechs, zu finden?” „Es ist Schicksal,” murmelte Figul unsicher, „Gott hat uns ...” Malebolga lachte, aber es klang eher traurig als spöttisch, mitleidig, aber nicht herablassend. „Figul, wie oft hast du erlebt oder nur davon gehört, daß die Götter sich in das Leben der Sterblichen einmischen? Annwn hat das arrangiert, denn er konnte euch nicht nur erkennen, sondern ebenfalls rufen. Ihr habt natürlich keinen Ruf gehört. Ihr habt ein Sehnen verspürt, das Verlangen zu reisen und als ihr Annwn schließlich getroffen habt, hattet ihr das Gefühl, diesem Mann vertrauen zu können – und ihr tut es noch. Es ist einfache Magie und natürlich kam im Laufe der Zeit echte Zuneigung hinzu, denn er kann sehr charmant sein. Begreift doch, euer ganzes Leben ist ein Puppentheater, bei dem Annwn 80
und Ralman die Fäden ziehen. Ihr seid nur Bauern auf einem Schachbrett. Führt euch doch nur diese unglaubliche Ironie vor Augen. Ihr seid Garou! Selbst die Drachenlords sind zahlreicher als ihr und nicht einmal ein Einhorn hat eine so reine Seele, wie ihr beiden. Und doch laßt ihr, die ihr die Herren der Welt sein solltet, euch von einem Bauern herumkommandieren, einem armen Tropf, der so von Ehrgeiz zerfressen ist, daß er nicht einmal merkt, was für ein lächerliches Spiel er spielt.” „Warum erzählst du uns das? Selbst wenn die Motive falsch sind, das Ergebnis stimmt. Du muß sterben, Malebolga. Du hast schon zu viel Schaden angerichtet.” Samira ging leicht in die Knie und reckte die linke Schulter vor. Sie war seiner Worte müde. Figul hingegen sah Gwyn nachdenklich an. „Ich habe – um die Wahrheit zu sagen – noch gar nicht genug Schaden angerichtet. Aber dazu kommen wir gleich. Zunächst ...” Samira schüttelte energisch den Kopf. „Nein, kein später mehr. Du findest dein Ende jetzt und hier.” „Samira, was ich zu sagen habe ist von so großer Wichtigkeit, so unendlich bedeutsam, daß wir diesen kostbaren Augenblick nicht durch unbedachte Hast zerstören wollen. Zum Kämpfen bleibt noch genug Zeit, ich bitte dich, höre mir nur eine Minute zu. Wenn ich dich nicht überzeuge, dann greife mich an, strecke mich nieder, denn ohne euch hat ohnehin nichts mehr einen Sinn. Vielleicht ist es das Schicksal, das uns heute hier zusammengeführt hat. Ich hatte auf euch alle fünf gehofft, aber jetzt verstehe ich, daß die Vorsehung mir nur die beiden besten geschickt hat. Ich weiß, was du sagen willst, Figul. Wenn ich Vorsehung sage, dann spreche ich nicht von jenen kümmerlichen Gottheiten auf Orhan oder Charon, es gibt Mächte in diesem Universum, die über ihre Kräfte nur lächeln würden. Ich bitte euch, hört mir zu.” Samira zögerte. Alles war so anders, so fremd. Figul nickte ihr zu und sie kannte ihn gut genug um zu wissen, daß er ihr sagen wollte, „Nur einen Moment. Umbringen können wir ihn doch immer noch.” Und obgleich sie sich nicht sicher war, wartete sie. Der Dämon, nein, er hatte gesagt, er sei der Sohn eines Gottes, setzte wieder zum Sprechen an. Sie erkannte Gwyns Feuer in seiner fast kindlichen Begeisterung. „Wir können nicht mehr hinaus. Sie haben die Brücke und die zweite Halle genommen. Wir können nicht hinaus. Trommeln, Trommeln in der Tiefe. Sie kommen.” (Letzter Eintrag im Mazarbul in Khazad Dum, „Der Herr der Ringe”)
Auf dem Hügel mochten vielleicht noch sechshundert der ursprünglich 26.000 Männer, die ausgezogen waren, die Sherkai aufzuhalten, stehen. Mittlerweile wußte Misandul, wie es an der anderen Front im Paß stand. Zwar fehlte ihm die Verbindung zu Daaleryk, aber er konnte sehen, wie etwa tausend weitere Sherkai zwischen den Bergen hindurch kamen. Das bedeutete, daß die Amarier dort sehr tapfer gekämpft haben mußten, denn dies war der Weg der Hauptstreitmacht des Heeres von Fearr Singetrech gewesen. Mit den rund achthundert Sherkai, die ihnen vom Jo'troom her gefolgt waren, machte das also 1800 gegen sechshundert. „Dreifache Überzahl garantiert den Sieg bei einem Sturm auf einen gut zu verteidigenden Punkt”, dachte Misandul mißmutig. Dies war eine alte 81
Faustregel, die selbst er kannte, obgleich er sonst nicht viel von Taktik und Strategie verstand. Seinen tapfereren sechshundert Männer war die Müdigkeit, die Erschöpfung und am schlimmsten, die Resignation deutlich anzusehen. Und er hatte ihnen nichts mehr zu sagen. Keiner von ihnen würde lebend von diesem Hügel kommen. Was auch immer Gwyns Plan gewesen war, zur See schien es ebenfalls nicht gut zu stehen, denn sonst wäre sicherlich längst Verstärkung eingetroffen. Vermutlich war die Malebolga gerade dabei, den Finn Tarakis in Schutt und Asche zu legen. Aber wie auch immer, wie auch immer. Er richtete sich noch einmal auf, obgleich ihm schon lange nicht mehr danach zu Mute war, straffte die Schultern und zog sein Schwert. Dann trat er vor die Männer. Er hatte sich nicht überlegt, was er ihnen sagen wollte, er sprach ganz spontan. „Ihr tapferen amarischen Soldaten. Ihr habt heute das Unglaubliche, das Unmögliche wahr gemacht. Ihr habt euch 20.000 Sherkai gestellt, seid nicht gewichen und habt das Tor zu eurer Heimat verteidigt. Nur zu gerne würde ich euch nach Hause schicken, aber ich fürchte, eure Heimat wird keiner von uns mehr wiedersehen. Ihr seht selbst, wieviele noch übrig sind – von ihnen und von uns. Aber so lange wir stehen, so lange noch warmes Blut durch unsere Adern fließt, so lange werden wir kämpfen! Ich bin keiner von euch, ich habe hier nichts mehr zu verlieren, als mein Leben – und wie es aussieht, verliere ich das sowieso. Wir werden alle sterben. Die Frage ist nur noch wie.” Seine Stimme war nun kaum mehr als ein heiseres Krächzen. „Jeder Sherkai der jetzt noch stirbt, ist ein Sherkai, der nicht mehr raubend und plündernd und vergewaltigend durch den Finn zieht. Ja, ich werde mein Leben hier verlieren, aber verdammt, ich werde meine Haut so teuer wie möglich verkaufen.” Er machte eine Pause, die dramatisch wirkte, aber nur von seiner Erschöpfung herrührte. „Wir haben einen Auftrag, deswegen sind wir hier – den Hilflosen zu helfen und sie zu beschützen ... bis zum Ende. Also dann, ein letztes Mal, ihr Krieger Amariens, ein letztes Mal.” Graf Manderyllen trat vor, schlug sein Schwert gegen seinen Schild und stellte sich kampfbereit in die erste Linie. Die letzten Männer seiner Hausmacht schloßen sich ihm sofort an und nach und nach kam auch der Rest hinzu. „Bildet einen Kreis. Deckt euch gegenseitig den Rücken und denkt immer daran, heute abend sitzen wir alle zusammen bei einem warmen Feuer, kalten Bier und erzählen uns von unseren Kämpfen – welcher Gott uns auch immer aufnehmen mag.” Grimmig trat er ebenfalls nach vorne, zog die Kinnriemen seines neuen Helms fest, er gehörte einem Mann, der in diesem Augenblick an Blutverlust starb, und packte das einfache Schwert, das er nun schon den ganzen Tag bei sich führte, fest am Griff. Sollten sie doch kommen. Was hatte er schon noch zu verlieren. Die Sherkai, die die Kenndach'kenn Anhöhe mittlerweile umzingelt hatten, ließen sich nicht lange bitten. Mit der Gewalt einer Horde wildgewordener Stiere trampelten die Eisbarbaren hinauf und warfen sich ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben in die Reihen der Speerträger, Schwertkämpfer und Bogner. Es waren nicht mehr genug Männer übrig, um die Soldaten sinnvoll nach Waffengattung zu unterteilen und so schlug und schoß jeder mit dem, was er gerade zur Hand hatte. Es war ihr 82
letztes Gefecht und Misandul sah befriedigt, daß sie durchaus nicht einfach überrannt wurden. Zwar starben die Amarier, dieses tapfere Häuflein aus Verwundeten, Erschöpften und Verzweifelten, aber noch war Leben in ihnen und Liebe – zu ihren Familien und Freunden, für die sie hier kämpften und jeder einzelne gab noch einmal, ein letztes Mal, wie Misandul es gefordert hatte, alles. Er selbst kämpfte nicht weniger verbissen, Seite an Seite mit Graf Manderyllen, aber ihr kleiner Kreis schmolz wie Butter an der Sonne. Sie achteten stets auf den Schulterschluß und mußten einfach blind hoffen, daß ihre Mitstreiter im Rücken dasselbe taten, zum Umdrehen hatten sie keine Zeit. „Das ist es,” dachte Misandul bitter, „das ist die wahre Strategie und die einzige Taktik. Ein paar Männer stehen im eisigen Dreck und versuchen sich wenigstens den Rücken freizuhalten, auch wenn es schon gar keinen Sinn mehr macht. Wo sind jetzt die hübschen Jadefiguren, die wir über den Plan geschoben haben? Wo sind die vielen tausend Männer, die heute lieber etwas anderes hätten tun sollen, als unserem Ruf zu folgen? Wir hätten vielleicht eher daran denken sollen, daß sich Männer nicht wie Steine auf einem Spielplan hin und her schieben lassen, hätten vielleicht bedenken sollen, daß sich das Leben nicht in eine Form pressen läßt. ” Er schlug zu, wohl zum tausendsten Mal heute. Der Mann vor ihm starb und sein Platz wurde durch einen anderen eingenommen. „Vielleicht kann ich es mir fürs nächste Leben merken. In diesem kommt die Erkenntnis zu spät.” Misandul duckte sich unter seinem Schild und das Metall bog sich unter der Axt des Sherkai. Er schaute schnell nach rechts und links und dachte, daß die Amarier wie Kinder zwischen echten Kriegern aussahen. Er stach dem Mann vor ihm in den Fuß und riß gleichzeitig seinen Schild hoch. Er erwischte den Grenzgänger am Kinn und dieser torkelte benommen in die Masse der Angreifer zurück. Die Drogen hatten ihn auch jetzt, Stunden nach der Einnahme, so fest im Griff, daß er nicht vor Schmerzen schrie und wegen der Kälte blutete er kaum. Vielleicht nahmen sie die Drogen nicht, um sich wilder oder schmerzunempfindlicher zu machen, sondern weil sie das Leid auf dem Schlachtfeld nicht ertragen konnten? Links von Misandul fiel ein weiterer Mann, ein anderer rückte nach. Ihr Kreis war auf vielleicht einhundert Männer geschrumpft, aber er glaubte nicht, daß auch nur ebensoviele Sherkai gefallen waren. Sie gaben alle ihr bestes, aber das reichte schon lange nicht mehr. Misandul rechnete nun jeden Moment mit dem tödlichen Schlag, der ihn von hinten, von der Seite oder möglicherweise auch von vorne treffen mußte. Er erwartete ihn, aber keine Furcht bemächtigte sich seiner. Als er sich auf diesen Hügel zurückgezogen hatte, hatte er längst mit seinem Leben abgeschlossen und der Tod erschien ihm jetzt viel eher als der Schlaf, den er in seiner unendlichen Müdigkeit so dringend brauchte, als die rettende Sandbank in diesem Meer aus Blut, Leid und Schmerz. „Komm doch endlich, ihr Mächte, wo bleibt er denn, der Schlag, der all dem ein Ende bereitet?”, dachte er, aber er öffnete seine Deckung nicht, machte keine Fehler, kämpfte mit müden Gliedern und schmerzenden Knochen mit der Präzision eines Uhrwerkes. Dann, wie lange es dauerte, hätte er nicht zu sagen vermocht, geschah, womit er schon gar nicht mehr gerechnet hatte; am dunstigen Horizont, vielleicht sechs – oder siebenhundert Meter von hier, konnte er auf einem anderen Hügel 83
die Gestalt eines Reiters ausmachen, der sich deutlich vor der riesigen, blassen Sonne abzeichnete. Einen Moment stand er dort, sein Pferd unruhig tänzelnd, dann preschte er den Hügel in ihre Richtung hinunter und wie Ameisen folgten ihm hunderte, tausende von Kriegern – die Verstärkung war endlich gekommen. „Wir schaffen es einfach nicht Gwyn, wir richten nicht genug Schaden an. Die amarische Flotte ist bereits zu stark dezimiert.“ Wie um die Worte des Kapitains zu unterstreichen, verwandelte sich leewärts ein weiteres Großkampfschiff, die „Barmherzigkeit”, unter dem wütenden Beschuß der Malebolga in eine Wolke aus Holz, Stahl und Blut. Winzige Schrapnelle bohrten sich in die Schiffswand, perforierten die Segel und zerfetzten die bloße Haut der Männer. Aber weder der Kriegsherr noch McIdram kümmerten sich um die oberflächlichen Verletzungen. Die beiden standen auf dem Poopdeck, dem höchsten Deck der „Gerechtigkeit“. Es war etwa eine Stunde vergangen, seit die Besatzung des Flaggschiffs den Paladin und die Besatzung der „Tornardo“ aus der See gefischt hatten. Die zahlreichen Knochenbrüche, die Gwyn sich bei dem Sprung auf das Artefaktschiff zugezogen hatte, waren bereits Minuten später von den Animisten und Wundheilern versorgt, aber all ihre Heilkünste versagten ob der Sorgen, die Gwyn quälten. Seit der Eydeet getötet worden war, hatte er den Überblick verloren, über diese Schlacht, über die Schlacht vor dem Jo'troom und vor allem über die verstrichene Zeit. Dabei war Zeit der alles entscheidene Faktor in dieser furchtbaren Schlacht. Wann genau waren Samira und Figul in dem Bauch dieser Bestie verschwunden? Bestand überhaupt noch eine Chance, daß sie auch nur am Leben waren? Gwyn wußte es einfach nicht, aber er wußte, daß sie es einfach schaffen mußten, denn solange der magische Schild die Malebolga schütze, war es, als wollte man einen Berg mit Pfeil und Bogen erlegen. „Sie brauchen nur noch einen Moment, nur noch einen verdammten Moment. Ich bin mir ganz sicher, daß sie es schaffen. Ich weiß es.“ McIdram schüttelte verständnislos den Kopf. „Verdammt Gwyn, sie sind längst tot. Und selbst wenn sie es nicht sind, könnten sie monatelang in diesem Ding rumirren, ohne auch nur einen Raum in der Größe des königlichen amarischen Palastes zu finden!“ Gwyn verlor langsam die Geduld mit McIdram. Er registrierte sehr wohl, daß der ältere Mann ihn respektlos bei seinem Vornamen genannt hatte und wenn er eines nicht leiden konnte, dann Männer, die in einer schwierigen Situation weiter Panik schürten, anstatt die Sache anzugehen. Er antwortete lauter als sonst, obwohl er am liebsten geschrieen hätte, aber er wollte sich nicht auf sein Niveau herablassen. „Und was verdammt schlägst du vor? Soll ich den Angriff abblasen? Alle nach Hause schicken? Soll ich einen Unterhändler mit einer Parlamentärsflagge übersetzen lassen?“ Auf der anderen Seite wurden amarische Seeleute gerade von einem Maul gefressen, daß sich am Ende einer Art Tentakel befand. Der Schlund war groß wie ein Türbogen und die dünnen Zähne waren lang wie Fleischermesser. Gwyn schauderte. Er hatte jetzt wirklich keine Zeit für so einen Aberwitz, aber McIdram war noch längst nicht fertig. „Dieser ganze Plan ist eine einzige Katastrope! Dein Angriff ist das größte 84
militärische Disaster der amarischen und der bajorkanischen Geschichte. Du bist persönlich für zehntausende Tote verantwortlich und die Zahl wird auf die Millionen zugehen, wenn dieses Ding den Finn erreicht. Wir haben jetzt nur noch eine Chance. Blas den Angriff ab, wir fliehen mit den Truppen an der Küste entlang. Wenigstens ein paar können es schaffen, aber wir dürfen jetzt nicht mehr zögern!“ Gwyn sah McIdram an, nur mühsam unterdrückte er den Wunsch dem törichten alten Mann ins Gesicht zu schlagen. Stattdessen zertrümmerte sein stählerne Handschuh einen Großteil der Reeling vor ihm. „Verdammt McIdram, es reicht. Es gibt hier für niemanden ein Entkommen und das weißt du! Ich werde bestimmt nicht fliehen, während in der Stadt unschuldige ...“ McIdram unterbrach ihn mit einer herrischen Geste. „Dein Größenwahn hat uns überhaupt erst in diese Situation gebracht. Aber jetzt reicht es. Ich übernehme das Kommando. Du bist unter Arrest gestellt. Und sei bloß froh, daß ich Dich nicht in eines dieser lächerlich kleinen Boote verfrachten lasse. Falls wir das hier überleben, wirst du vor einen Richter gestellt.“ Er lächelte böse. „Hochverrat. Kollaboration mit dem Feind. Wachen.“ Er wandte sich um. „Verhaftet den Kriegsherren. Ich übernehme das Kommando.“ Gwyn drehte sich einfach weg und schaute wieder auf das Schlachtfeld. Die Amarier schlugen sich wirklich tapfer. Überall fielen die schwarzen Boote, die die Malebolga zum Spott aussandte, aber McIdram hatte leider nicht unrecht. Wenn nicht schnell etwas passierte, war hier nichts mehr zu retten. „Es gibt,“ sagte Gwyn ganz ruhig „nur einen Herr der Meere und nur einen Kapitain auf diesem Schiff!“ Er drehte sich um. Zorn blitzte in seinen Augen und die Wachen, die sich mit Schwertern bewaffnet auf ihn zu bewegten, hielten unsicher inne. „Du bist ein erbärmlicher Feigling McIdram. Deine mangelnde Loyalität und dein fehlender Glaube werden hier niemanden zur Flucht bewegen.“ Gwyn atmete ein. Dann brüllte er und sein Zorn ließ die Männer erbleichen. „Und wenn du jetzt nicht augenblicklich von meiner Brücke verschwindest, dann werde ich dich persönlich Kielholen lassen, hast du mich verstanden?“ Die Wachen salutierten und gingen wieder auf ihre Posten. McIdram murmelte irgendetwas, aber der Kriegsherr war in Gedanken längst wieder bei seinen Freunden. Zeit, Zeit, sie rieselte ihm wie Sand ... er traute seinen Augen nicht. Die Malebolga war die ganze Zeit ein schwarzer Fleck in seiner Wahrnehmung, sie lauerte als dunkler Abgrund am Rande seines Blickfeldes, aber jetzt; jetzt war sie plötzlich grau! Ein helles, fast schmutzigweißes Grau. Und das konnte nur eines bedeuten. Sie hatten es geschafft! Einen Moment lang, vielleicht bildete er es sich auch nur ein, aber für einen winzigen Moment schien es ganz still auf der eisigen See zu sein. Die Jubelschreie der Männer, die von allen Schiffen und Booten zu ihm herüberdrangen füllten die Luft, verdrängten das Meer, wurden zur ganzen Welt! Und Gwyn sprang vor Freude auf die Brüstung und brüllte mit ihnen. Gleichzeitig liefen ihm die Tränen hinunter und nicht nur aus Freude, denn er wußte in dem selben Moment, daß Samira und Figul diese Tat mit ihren Leben bezahlt hatten. Er hatte sich einen Rettungsplan für die 85
beiden überlegt, aber er wußte, daß für sie jede Hilfe zu spät kam und so schrie er vor Freude und weinte vor Trauer. Ein Sieg war nun möglich; gewonnen hatten sie aber noch nicht. Zwar war Sie jetzt endlich verletzlich, aber noch war die Malebolga unverwundet und obgleich die Amarier mit frischem Mut angriffen, lag der Vorteil doch immer noch auf ihrer Seite; zu viele Schiffe waren bereits in der Tiefe verschwunden. Noch während die Männer vor Glück schrien, besann Gwyn sich eines besseren. Er aktivierte das Armband des Kriegsherren. Alle Kapitaine und die Besatzungen der Jäger konnten ihn nun hören. Obgleich er wußte, daß sie ihn sehr gut verstehen konnten, brüllte er, als müsse er die Distanz zu ihnen ohne die magische Hilfe überbrücken. „Die Jäger sollen sich sofort von der Malebolga zurückziehen! Lassen sie sich nicht mehr in Zweikämpfe verwickeln und schützen sie die Schiffe vor feindlichen Angreifern. Sämtliche Fregatten und Kreuzer müssen sich sofort auf die ihnen zugewiesenen Positionen begeben, ich wiederhole, sämtliche Kriegsschiffe müssen die ihnen zugewiesenen Positionen einnehmen. Selektieren und Feuern nach eigenem Ermessen, aber nur auf die Seite, die der Küste zugewandt ist.“ Er holte tief Luft. Auf den folgenden Satz hatte er schon den ganzen Tag gewartet. „Feuer frei.“ Endlich schossen sie zurück. Abermals drehte Gwyn sich um. McIdram stand mit offenem Mund an der Reeling und der Paladin gönnte sich wenigstens einen triumphierenden Seitenblick. Dann wandte er sich zwei Botenjungen zu. „Sagt dem Navigator, daß es soweit ist, er soll das Tor öffnen.“ Der Junge verschwand und kurz darauf erschien am Himmel ein gleißendes, blaues Licht, wie ein Fenster aus wabernden Essenzströmen selbst verwebt. Worauf es einen Blick ermöglichte, konnte der Kriegsherr nicht erkennen oder besser gesagt, er konnte es nicht deuten, denn er sah nichts als wirbelnde, formlose Dunkelheit, als schaue man in tiefer Nacht in einen Sturm aus Schwärze. Vom Bug der „Gerechtigkeit“ aus lenkte ein Tierbändiger einen Schwarm blauer Vögel durch das magische Tor. Das Piepsen der Tiere kam ihm so rein und unschuldig vor. Es war alles, was die Malebolga nicht war. Gwyn ging unruhig auf und ab. Er war nach dem Tod des Eydeeten das einzige Wesen in einem Umkreis von mehr als zehntausend Seemeilen, das wußte, daß wenn jetzt irgendeiner der Kapitaine seine Anweisung nicht bis auf das ITüpfelchen genau ausführte, es zur größten Schiffskatastrophe der Geschichte kommen würde. Aber, dachte er sich, es wäre doch wohl ein schlechter Scherz, wenn die Malebolga wegen einer solchen Kleinigkeit entkommen sollte. Das durfte einfach nicht sein. Tief in Gedanken versunken bemerkte er nicht, daß hinter ihm aus dem Jubel Schreie wurden, daß Männer ihr Leben ließen und die Temperatur an Bord der „Gerechtigkeit“ um etwa zehn Grad fiel. Als die Avatere der Malebolga das Schiff heckwärts enterten, hatte Gwyn sich gerade zum Bug begeben und suchte verzweifelt den Himmel ab. Er wartete auf ein Zeichen, irgendeine Reaktion, denn daß sich nichts tat, konnte nur eines bedeuten; alles war umsonst. Wenn die kleinen blauen Vögel, Eistaucher, so glaubte er, waren ihre Namen, ihr Ziel nicht erreicht hatten, oder schlimmer, man sie dort nicht wahrnahm, dann waren sie verloren. Schilde hin oder her, dann gab es keine Hoffnung mehr. 86
Ungeduldig drehte er sich um – und konnte einfach nicht glauben, was sich vor seinen Augen abspielte. Wie eine schwarze Springflut wälzten sich dunkelgraue Gestalten in langen Mänteln über das Poopdeck, wie eine langsame, aber unaufhaltsame Welle rollten sie über die Reeling und verschluckten jeden Mann, der sich ihnen entgegenstellte. Es hatte eine Weile gedauert, bis die Malebolga ihn wiedergefunden hatte, aber sie war noch immer wild entschlossen, den Kopf der amarischen Kriegsbestie zuerst abzuschlagen. Gwyn lächelte grausam. „Ja, wehr dich ruhig, du Monster. Du kommst hier nicht mehr weg.“ „Warum, warum, warum! Warum nur fragt ihr Menschen immer nach dem Warum, wo das Wie doch so viel interessanter ist!” (Violator, „Spawn”)
„Diese Welt,” hob Gwyn an, „diese Welt ist ein Sündenpfuhl, nichts als der verrottende Leichnam einer Gemeinschaft von Lebewesen, die es besser wissen müßten. Und Menschen, Elfen, Orks, Halblinge und wie sie alle heißen sind nichts als die Maden, die sich durch verwesendens Fleisch fressen und das alles für ganz köstlich halten.” Er holte tief Luft und schaute sie erwartungsvoll an. „Kulthea ist ein sterbender Ort. Es gibt nichts als Ungerechtigkeit, Habgier, Neid und Zorn. Wie kultiviert doch die Menschen sind, wollt ihr sagen? Sie versklaven die Halblinge, töten sich in sinnlosen Kriegen und wenn sie sich gerade nicht umbringen, intrigieren, vergewaltigen und vergiften sie sich gegenseitig. Wie wunderbar das Volk der Elfen ist, wendet ihr ein? Das Wissen der Elfen ist so groß, daß sie Hunger, Armut und fast alle Krankheiten für alle besiegen könnten, aber tun sie das? Sie denken nicht einmal daran. Und so geht es weiter und weiter – Zwerge? Außer auf ihre Habgier ist auf sie kein Verlaß. Halblinge? Wo man überhaupt noch welche findet, sind sie so verbittert, daß sie einem Fremden genau die Art von Verachtung entgegenbringen, die ihr eigenes Volk an den Rand der Vernichtung getrieben hat. Kryliten? Ihr Fremdenhaß ist sogar noch ausgeprägter als ihr Wissensdurst. Kein Volk unter dieser Sonne verdient es, weiter zu existieren. Kein Volk, daß je existierte – und wieviele wurden schon vernichtet, denkt nur an die Vogelmänner aus eurer Heimat – hat ein solches Paradies, wie es diese Welt leicht sein könnte verdient. Wie ein Krebsgeschwür bewegt sich intelligentes Leben über die Länder Kultheas und die sogenannten Götter, die alles richten könnten, sitzen nur oben und lassen sich träge zu einem müden Lächeln hinreißen, wenn wiedereinmal Mord und Totschlag zu ihrer Unterhaltung aufgeführt werden. Warum, warum, warum, frage ich euch, hilft ein allmächtiges Wesen nicht, wenn es doch könnte? Warum hilft es nicht, all die Fehler, die es bei der Erschaffung gemacht hat, zu korrigieren? Weil sie überhaupt keine Lust dazu haben! Weil es langweilig wäre, auf eine perfekte Welt hinunterzuschauen! Was, was für eine Welt ist das überhaupt, in der ein kleines Mädchen durch den Wald läuft und von Sklavenhändlern weggefangen wird? Was für eine Welt ist das, in der Halblinge in eigenen Vierteln leben müssen, nur weil sie halb so groß sind, wie die Menschen – als würde ihre körperliche Größe sie irgendwie schlechter machen. Pah! Was ist das für eine Welt, in der betrunkene Väter sich an ihren Töchtern vergehen und in der eine gemeinsame, friedliche Zukunft nicht einmal angedacht wird – oder habt ihr euren Annwn jemals darüber reden hören, wie 87
man mit den See-Kraal Frieden schließen könnte? Nein, immer nur Tod und Vernichtung, immer nur wir hier und die da. Es gibt nichts mehr dazwischen, keine Liebe, keine Freundschaft, kein Nichts. Alles ist so festgefahren, daß die Menschen denken, nur der totale Sieg könnte noch Frieden bringen. Stellt euch das einmal vor – eine Welt ohne Orks. Herrlich was? Nein, es wäre ein schrecklicher Ort, denn die Orks haben ebenfalls eine Kultur. Sie gehören ebenfalls hierher, verdammt, es sind intelligente Wesen. Alle Völker gemeinsam könnten alle Probleme lösen, sie würden feststellen, daß sie sich nicht fremd sind, sondern, daß sie sich ähneln und warum? Weil sie alle Brüder sind, deshalb. Ja, schaut mich ruhig an, als hätte ich den Verstand verloren, aber wir sind alle Brüder und Schwestern. Wem wollt ihr denn glauben, den Gwyns dieser Welt, die euch erzählen Kulthea wäre zu klein, um den Planeten mit anderen zu teilen oder mir? Ich sage, wir könnten alle nebeneinander in Frieden leben, hier ist genug Platz für uns alle, genug zu essen, genug Sonnenschein und mehr Gold als irgendwer ausgeben könnte. Sagt mir, warum das nicht stimmt, sagt mir, wem die Welt zu klein ist, sagt es mir, denen oder mir?” Figul schwieg bedächtig. Gwyn hatte recht. So hatte er es nie gesehen. Er hatte nie, nicht einen Moment darüber nachgedacht, mit den Orks in Frieden zu leben, er hatte nicht einmal daran gedacht, auch nur mit einem zu sprechen. „Wenn das war ist, was du sagst und du nur Frieden für alle willst, warum ziehst du dann mordend durch die Welt?” Samira glaubte Malebolga kein Wort. „Weil es schon zu spät ist. Wir kommen hier nicht mehr raus, Samira Gasai. Es wird keinen Frieden zwischen den Völkern geben, keine Verständigung und kein Gespräch. Nur Haß. Unendlicher Haß, der sich im Laufe von Jahrtausenden angestaut hat – ein Ballast, den wir nicht mehr los werden, an dem wir jämmerlich ersticken müssen, wenn wir ihn nicht abwerfen. Deswegen sagte ich vorhin, daß ich noch lange nicht genug zerstört habe. Ich sage, wir fangen von vorne an. Wir verbrennen diese armselige Welt mit einem reinigenden Feuer, all die Krankheiten, der Dreck und der Unrat wird sich in Rauch auflösen und aus der Asche erhebt sich ein Phönix,” seine Augen leuchteten, „ein unendlich reines Wesen, bestehend aus der Vielheit der Völker, die sich achten und ehren, die um ihre Verletzlichkeit wissen und die begriffen haben, daß es die unversehrte Zerbrechlichkeit ist, die jedes einzelne Leben so kostbar macht. Ja, es mag wie Wahnsinn klingen, aber ich will eine neue Welt schaffen. Eine Welt ohne Tod und Leid, eine Welt aus Schönheit und Liebe und Achtung. Eine Welt, in der man durch den Wald spazieren kann, ohne auf der Hut vor Sklavenjägern sein zu müssen, eine Welt, in der alle gleich sind, gleich vor dem anderen.” Samira konnte kaum glauben, was sie da hörte. Figul sah ihn mit offenem Mund an. „All das Leiden, das du verbreitest, dient einem höheren Ziel? Haben dich die Götter geschickt?” „Nein, Figul, die Götter werden ebenfalls brennen. Sie sind Teil des Problems. Ich komme nicht von Orhan und ich komme nicht von Charon. Ich werde beide vernichten und dann von vorne beginnen.” „Mit dir als neuem Gott?” höhnte Samira. „Nein, in meiner Welt wird es keine Götter mehr geben. Wenn ich Eigenverantwortlichkeit und freien Willen verteile, dann meine ich das auch so. 88
Ich werde nur einer unter vielen sein und die Macht, die ich jetzt besitze, werde
ich aufgeben.”
„Natürlich, ...” wollte Samira gerade ansetzen, aber Figul unterbrach sie.
„Warum erzählst du uns das alles?” „Weil ihr,” sagte Gwyn, „ein reines Herz habt. Ihr seid die Krone der Schöpfung und ich will, daß ihr die Reinheit eurer Vision dazu benutzt, um mich auf dem richtigen Weg zu halten.” Er sah aus, als hätte er etwas sehr peinliches gestehen müssen, sein Gesicht färbte sich dunkelrot, und er zeigte Gwyns jungenhaftes Grinsen. „So, jetzt ist es raus. Es ist nicht ganz leicht, es zuzugeben, aber wenn diese Stadt vernichtet ist, werde ich eine unglaubliche, eben eine göttliche Machtfülle haben. Ich will mich nicht selbst korrumpieren, versteht ihr? Ihr müßt mir helfen, den eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen.” „Warum wir?” keuchte Figul ungläubig. „Weil ihr tiefverletzt seid. Ihr tragt den Schmerz der ganzen Welt in euch, aber ihr haßt nicht. Ihr habt vergeben, ihr liebt und ihr habt euch einen tiefen Respekt für das Leben bewahrt. Ihr seid einzigartig und ihr wißt nicht einmal wie sehr. Es ist genau diese Unschuld, die ich brauche, um alles richtig zu machen.” Einen Moment schwiegen sie, dann sagte er: „Bitte helft mir. Bitte versteht, wie großartig dieses Zusammentreffen ist, bitte ...” Er streckte die Hände aus und Figul machte einen Schritt auf ihn zu. Samira reagierte mit fast unmenschlicher Schnelligkeit. Ihre rechte Hand griff nach dem Schwert, Flammen schossen fauchend aus der dunklen Öffnung und sie trennte den rechten Arm des Gwyn-Dings kurz unterhalb des Ellbogens ab. Das alles war eine einzige, fließende Bewegung und dauerte weniger als eine Sekunde. „Du bist ein Lügner, Malebolga.” Sie sagte es ganz ruhig, ohne Anspannung in der Stimme, aber es schwang eine Härte darin mit, die Figul augenblicklich zur Besinnung brachte. Dem Halbling war, als erwache er aus einem Traum. „Du vermischst Wahrheit und Lüge, aber eines ist sicher. In einer Welt, die du geschaffen hast, will ich ganz gewiß nicht leben. Lieber kämpfe ich jeden Tag in dieser, als nur einen einzigen in deiner zu genießen.” Gwyns Arm lag auf dem gefliesten Boden und verwandelte sich langsam in eine stinkende, ölige Pfütze. „Samira, Figul, bitte. Hört mir zu, ich meine es ernst. Wir können gemeinsam etwas größeres schaffen, etwas dauerhaftes. Wir sind nicht angewiesen auf ...” Figuls Flammenklinge schoß ebenfalls aus dem Griff. Sie waren beide keine Schwertkämpfer, aber sie würden beide alles geben. Gwyn nickte traurig. Aus seinem Handgelenk bohrte sich etwas kaltes, stählernes, ein Dorn, an dem noch immer Blut und Fleischfetzen hingen. Die rechte Hand Gwyns fiel zu Boden und ein Schwert wuchs direkt aus dem Stumpf. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und als Samira dachte, es wäre vorbei, klappten rechts und links die Parierstangen aus dem Handgelenk. „Ob es Teil meiner Reinheit ist”, dachte Samira spöttisch, „daß ich immer noch angeekelt bin, immer noch nicht abgestumpft?” „Ich habe das nicht gewollt. Aber ich töte euch, wenn ich muß. Ich kann 89
nicht riskieren, daß ihr meinen Traum einer besseren Welt mit dem Schwert in der Hand zerstört. Vielleicht habe ich mich in euch gestäuscht, aber das wird gleich keine Rolle mehr spielen.” Eine zweite Klinge wuchs in der Dauer eines Lidschlages aus seinem linken Arm. Mit einem schmatzenden Geräusch durchschnitt sie das Fleisch und Malebolga kreuzte die beiden bluttriefenden Klingen über dem Kopf. „Ihr seid so unendlich dumm, so sehr Geschöpfe dieser kranken Welt, daß ich über meine eigene Dummheit lachen könnte, wenn es nicht so ernst wäre. Es liegt doch eine gewisse Gerechtigkeit in dem Gedanken, daß diese beiden Wölfe von einem Bauerntrampel in die Schlacht geführt werden wie junge Hunde an einer Leine.” Samira lächelte ausdruckslos. Figul machte einen Ausfallschritt nach links und die erstarrte Flamme in seiner Hand beschrieb einen weiten Bogen. Fast gleichzeitig duckte Samira sich nach rechts weg und holte ebenfalls zu einem weiten Hieb aus, aber Malebolga parierte die Schläge mühelos und so umlauerten sie sich einen Moment, umkreisten einander und zumindest die beiden Eindringlinge dachten fieberhaft nach. Man hatte ihnen in der königlichen Waffenschmiede versichert, daß diese Klingen selbst durch Stahl zu schneiden vermochten, aber die Schwerter Malebolgas schienen aus einer ganz anderen Substanz gemacht zu sein. Gleichzeitig ging ihnen auf, wie wenig sie doch von diesem Waffentyp verstanden. Es schien ein kostbarer Vorteil zu sein, zu zweit angreifen zu können, aber wenn man sein Blatt nicht auszuspielen vermochte, weil man die Regeln nicht kannte, dann half einem auch der sicherste Vorteil nichts. Ein koordinierter Angriff wäre für Daaleryk oder Misandul überhaupt kein Problem gewesen, aber sie waren Schützen. Sie konnten Pfeile und Bolzen mit schier unglaublicher Präzision verschießen, aber den Schwertkampf verstanden sie nur in den Grundzügen. Er lauerte ebenfalls. Keiner der beiden konnte sich vorstellen, worauf er wartete, aber irgendwann entschied der Halbling, daß es keinen Sinn machen würde, noch mehr Zeit zu verschwenden. Ihr Gegner würde keinen einfachen Fehler machen und sie würden ganz bestimmt nicht besser werden oder unerwartete Hilfe bekommen. Er machte einen Satz nach vorne und versuchte einen Stich zu landen. Er hatte sehr wohl im Hinterkopf, daß Daaleryk ihm bei einem seiner raren Schwertkampfübungen erklärt hatte, daß der Stich zwar meist den Kampf beendet, aber daß er am leichtesten zu parieren war und deshalb fast nie gelang. Figul setzte auf den Moment der Überraschung und auf seine Schnelligkeit, aber Malebolga schob blitzschnell die Hüften nach vorn, so daß der Angriff des Halblings nur die Luft hinter ihm erstach, und rammte ihm den gepanzerten Ellenbogen gegen die Stirn, so daß er benommen nach hinten taumelte. Samira hatte den kurzen Moment der Ablenkung für einen eigenen Angriff nutzen wollen, aber Er stand so schnell kampfbereit vor ihr, daß sie verblüfft innehielt. Nun war es Malebolga, der lächelte. „Warum verschwenden wir unser gemeinsames Potential? Warum arbeiten wir nicht zusammen, bündeln unsere Fähigkeiten und nutzen sie, wahrhaft Gutes zu tun? Warum seid ihr so kleingläubig?” Samiras Klinge durchschnitt abermals fauchend die Luft und wärend ihr Schwert auf Malebolga niedersauste, parierte Er Figuls Angriff von hinten, ohne auch nur hinzusehen. „Habt Vertrauen in eure Fähigkeiten. Kommt mit mir.” 90
Figuls nächster Schlag sollte seine Beine treffen, aber trotz der schweren Metallrüstung sprang Er elegant über den Hieb hinweg und parierte drei schnelle Schläge von Samira. „Ihr seid so sehr die Kinder dieser Welt, daß ihr euch eine bessere nicht einmal vorzustellen wagt! Dabei müßt ihr doch nur an euch selbst glauben! Seht in euch, schaut in eure Herzen. Dort ist kein Haß, nicht einmal auf mich.” Diesmal schlugen sie beide zu, frontal, aber Er erwehrte sich auch dieser Hiebe – mit unmenschlicher Kraft fing Er beide Schläge mit seiner rechten Klinge ab und versetzte Samira einen schweren Schlag an die Schläfe. „Verdammt, gebt es endlich auf. Ihr könnt diesen Kampf nicht gewinnen! Aber ihr verliert nur, weil es der falsche ist.” Figul sah zu Samira hinüber. Sie lag am Boden und erhob sich in diesem Moment mühsam. Dann sah er zu Ihm. Es war tatsächlich der falsche Kampf und deswegen waren sie auch nicht hier. Sie konnten dieses Wesen im Kampf nicht besiegen. „Samira, erinnere dich, wir sind hier, um ...” Die Wucht des Schlages raubte ihm den Atem. Figul bemerkte nicht einmal, daß er den Boden unter den Füßen verlor, durch den bajorkanischen Thronsaal segelte und hart auf den Marmorfliesen aufschlug. Ein brennender Schmerz an Brust und Bauch loderte so hell in ihm, daß er alle anderen Empfindungen auffraß. Er berührte die ausgefransten Rüstung, die gerade noch eine massive Metallplatte gewesen war und dann berührte er die ausgefransten Wundränder, die einen Moment zuvor noch er gewesen waren. Er hatte ein leises Rauschen in den Ohren. Die Schmerzen - ahh, sie waren fast unerträglich. Aber er sagte nichts, klagte nicht, stöhnte nicht. Er gönnte sich nicht einmal einen Seufzer. Vielleicht konnte er auch gar nicht mehr. Er lag einfach nur da und gab sich den Schmerzen ganz hin. Er versuchte sich vorzustellen, daß die Schmerzen ihn durchdrangen, ihn umgaben, daß er in sie eintauchte, wie in einen See. Das sie schließlich ihren Höhepunkt jetzt, genau jetzt erreichten und ihn dann verlassen würden. Aber er wußte auch, dass es nur noch einen Weg gab, um die Schmerzen loszuwerden und er wusste auch, dass sein Körper diesen Weg jetzt gleich einschlagen würde - ohne ihn noch lange zu fragen. Mit dem Blut verließ ihn auch sein Lebenswille, seine Kraft, direkt aus dem Loch in seinem Bauch. Müdigkeit, unendliche Müdigkeit schien den Platz zu füllen und breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Im Grunde seines Herzens hieß er den ewigen Schlaf, der der Müdigkeit folgen würde, schon willkommen. Schlafen war das, wonach er sich schon so lange sehnte. Er versuchte sich trotzdem noch einmal aufzurichten. Er wollte noch einmal einen Blick auf die Welt werfen, und wenn es auch nur der Blick auf diesen stinkenden Thronsaal war. Ohne großes Staunen stellte er fest, dass ihm das nicht mehr möglich war. Er hatte die Kontrolle über dieses seltsame Stück Fleisch, das ihn sein ganzes Leben lang so trefflich gedient hatte, bereits verloren. Nur am Rande bemerkte er, daß ihm kalt wurde. Aber es war, als würde ihn das gar nicht mehr betreffen, als würde jemand anders kalt werden. Eigentlich war es ihm auch egal. Alles war egal. Es gab nur noch ihn - seine letzten Gedanken - und den Tod. Was spielte da noch eine Rolle? Er bemerkte, daß Samira ihn ansah. Wie durch einen Schleier sah er die Gestalt seiner Freundin. Er bemerkte auch, daß ihr eine Träne die schmutzige Wange hinunterlief. Weinte sie etwa um ihn? Figul wollte etwas sagen, ihr sagen, sie 91
solle jetzt an sich denken und kämpfen, aber auch das war ihm nicht mehr möglich. Die Worte formten sich in seinem Kopf, erreichten die Zunge, aber diese wollte nicht mehr. Sein Mund blieb verschlossen. Verschlossen. Müde, er war so müde. Alles war so anstrengend, sogar das ... das Denken. Der weiße Schleier, der ihm die Sicht auf Samira versperrte wurde immer dichter. Das Rauschen wurde lauter - wie von einem kleinen Wasserfall - dachte er noch. Alles wurde in ein weißes Licht getaucht. Es wurde langsam heller und heller. Der Wasserfall wurde lauter, das Rauschen schwoll an und bildete schließlich eine gewaltige Geräuschkulisse. Das ganze Universum schien sich in einen Wasserfall zu verwandeln, den man aber nicht sehen konnte, weil alles so weiß war. Samira sagte etwas; er erkannte konturenhaft durch den weißen Nebel, wie die Lippen seiner Freundin Worte formten, aber er konnte sie nicht mehr hören. Der Wasserfall wuchs und wuchs und schließlich wurde er so mächtig, daß er sogar den Schmerz verbannte. Alles wurde ganz leicht. Dichter und dichter wurde der Schleier, bis er nichts mehr erkennen konnte, aber das bedeutete ihm auch nichts mehr. Der Schmerz war weg, und das war das, was wirklich zählte. Alles wurde weiß, die Konturen verschwammen und nichts unterschied sich mehr. Nichts, auch er nicht. „Wirst du, heute abend auf der Siegesfeier mit mir tanzen, Figul?” Samira wollte noch mehr sagen, Orhan, sie wollte ihm noch so viel sagen, aber sie brachte nichts mehr raus. Er hatte es wohl auch schon nicht mehr gehört. Als Viktor Walding seinen letzten Atemzug tat, brach sie weinend über ihm zusammen. Samira war nun ganz Leid, ganz Schmerz, ganz Mensch. Sie stützte sich mühsam neben ihm auf und wischte mit ihrer Hand liebevoll Blut und Malebolgas Unrat aus der Stirn des kleinen Mannes. Sie küsste ihn und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Auf Wiedersehen, mein Freund.” Dann stand sie auf und drehte sich um. Gwyn stand die ganze Zeit hinter ihr und hatte respektvoll gewartet. „Es ist so schade um ihn. Er hätte noch Großes vollbringen können.” Sie schüttelte traurig den Kopf. „Er hat Großes vollbracht.” „Für dich muß es noch nicht zu spät sein, Samira. Komm zu mir. Komm zu Gwyn. Erinnere dich doch nur an damals, als ich dich aus den Händen dieses Sklaventreibers befreit hatte.” Er lächelte wehmütig und Sein Blick war in eine unbestimmte Ferne gerichtet. „Ich weiß noch, wie du im ersten Moment dachtest, ich hätte dich für mich selbst rauben wollen, damit du meine Sklavin sein würdest.” Gwyn lachte. „Und wie erleichtert du warst und wie geborgen du dich gefühlt hast, als du endlich begriffen hast, daß ich nichts als dein Freund sein wollte. Dein Freund, Samira. Komm zu mir. Laß uns nicht länger streiten.” Samira sah Gwyn in Sein großes blaues Auge. Im Laufe der letzten Jahre war er ihr ein Bruder gewesen und es war nicht nur die Tatsache, daß er sie aus der Skalverei gerettet hatte, es war vor allem die Zeit danach gewesen, für die sie ihm unendlich dankbar war. Gwyn ap Annwn hatte ihr einen Platz im Leben gegeben, eine Aufgabe, an der sie gewachsen war und in der sie helfen konnte. Wenn sie ihn ansah, wenn sie nur an ihn dachte, fühlte sie nichts als Liebe und Wärme in ihrer Brust. Sie zwang sich dennoch an ihm vorbeizusehen und in das Regal zu schauen und dort, zwischen den dicken Lederbänden, die irgendwo auf der Welt in diesem Thronsaal stehen mochten oder auch nicht, dort sah sie 92
das Herz, wegen dem sie hier war. Es war ein kümmerliches, kleines Ding und erinnerte sie am ehesten an ein Stück verdorrtes Fleisch. Es mußte ganz trocken sein, obgleich es in einer klaren Flüssigkeit schwamm. Samira lächelte ausdruckslos. Sie bemerkte erst jetzt, daß die Klinge noch immer in ihrer Hand war. Ohne zu zögern deaktivierte sie den Mechanismus und ebenso fauchend wie es gekommen war, verschwand das Feuer im Inneren des Griffes wieder. Achtlos ließ sie ihn fallen und es beschrieb einen weiten Bogen wärend das Schwert laut über die Fliesen rollte. Unter einem Regal kam er schließlich zur Ruhe und dieses Regal sollte die letzte Ruhestätte der uralten Artefaktwaffe werden. „Ich wußte, daß du Vernunft annehmen würdest. Vielleicht müssen wir beide durch das Feuer und den Schmerz gehen, um am Ende das Licht zu sehen. Vielleicht ist es ein göttliches Königspaar, was eine neue Welt braucht. Nur du und ich und die Ewigkeit. Eine Phönixgeburt im Kleinen.” Samira lächelte noch immer. Sie streckte ihre Arme aus und im ersten Moment dachte Gwyn, sie würden sich nun umarmen. „Du”, sagte sie und ihr Lächeln verwandelte sich in eine Maske aus Haß, „DU BIST NICHT GWYN AP ANNWN!” Sie sprang die wenigen Meter, die sie trennten nach vorn. In ihrem Körper hatte bereits die ganze Zeit etwas gelodert, eine winzige Flamme, nicht die mächtige Feuersbrunst, die sie jetzt ganz und gar verschlang, aber es war ihr, das wußte sie jetzt, ein Wegweiser gewesen, ihr einziges Licht in finsterster Nacht und der einzige Grund, warum sie es bis hierher geschafft hatte. Die Flamme war gewachsen, hatte an Licht und Hitze so lange zugenommen, bis Samira Gasai ganz verzehrt war. Ihre Muskeln schwollen an und ihre Knochen brachen unter der plötzlichen Last, wuchsen aber sofort wieder zusammen, härter, stärker, bis sie Stahl glichen, dabei aber biegsam wie ein Grashalm waren. Sie schoß in die Höhe und überragte Gwyn nun fast um das Doppelte. Ihre Zähne wuchsen ihr aus dem breiten Maul und wurden scharf und spitz wie dicke Skalpelle, jeder so lang wie ein Finger. Samiras Finger wurden schmerzhaft in die Länge gezogen und verwandelten sich in dolchartige Klauen, hart genug, um Steine wie Papier zu zerreißen. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, hätte aber erwartet, daß die Rüstung wie totes Laub von ihr abfallen würde. Stattdessen passierte aber etwas anderes; das Material verschwand in ihr, wurde aufgesogen wie Wasser von einem Schwamm - kochend heißes Wasser - und legte sich über die offenliegenden Nervenbahnen, zog fleischige Fäden und wurde schließlich eins mit ihrer Haut. Zuletzt sproß dichtes, borstiges Fell, wo die Rüstung nicht mit ihr verschmolzen war. Das alles dauerte weniger als einen Lidschlag, aber die unendlichen Schmerzen, die mit jeder Verwandlung einhergingen, dehnten den Moment für sie auch diesmal auf einige Stunden, Stunden der Verzweiflung, der Angst und schließlich Stunden des Hasses. Malebolga war von der Attacke überrascht worden und so erwischte ihn der erste Prankenhieb vor der Brust und schleuderte ihn quer durch den Raum auf den Thron zu, der unter dem Gewicht zerbrach. Ihre Fähigkeit klar zu denken war nun stark eingeschränkt, aber selbst in ihrer Raserei, in ihrem blinden, alles zerstörenden Zorn war ihr klar, daß sie Ihn nicht besiegen konnte. Sie sprang auf das Regal zu, fegte mit der linken Klaue dutzende Folianten beiseite und griff nach dem kleinen Herzen. Ihre Krallen wollten sich eben darum schließen, als es an ihr vorbei durch die Luft segelte und in Malebolgas Händen landete. Er 93
stand neben dem Thron, scheinbar unverletzt, und wo eben noch einige Stufen gewesen waren, öffnete sich nun der gähnende Schlund eines tiefen Abgrundes. „Ich verstehe, ich verstehe. Ihr habt niemals gedacht, daß ihr mich töten könntet. Das war sehr klug von euch. Vielleicht habe ich Gwyn doch unterschätzt. Doch meinen Schild zu vernichten wird euch nun auch nichts mehr nützen – zu lange warst du im Wald von Qum-Kaan, meine Liebe. Eure Schiffe sind bereits vernichtet.” Am Rand des Abgrundes sah sie den heißen Widerschein eines Feuers, „Hungrig”, dachte sie. „Es wirkt hungrig”. Die Leiche ihres Freundes rutschte über den Boden, hinterließ einen schmierigen Film aus Blut und Innereien und verschwand in dem Loch. Einen Moment brannten die Flammen heißer, heller und dann schienen sie sogar noch unersättlicher zu sein. „Du, Samira, hast mich nicht nur verraten, du hast mich auch abgewiesen und deshalb werde ich dich ganz langsam töten. Die Qualen deiner Verwandlung werden dir wie ein Liebesspiel im Vergleich zu dem vorkommen, was ich für dich habe. Und du wirst sehr, sehr lange leiden, viele Jahre. Wer weiß, vielleicht sogar für immer, denn in wenigen Stunden ist mir nichts mehr unmöglich.” Der Werwolf stand schnaubend auf der anderen Seite der Schlucht in der Nähe des Regals. Kalter, weißer Dampf stieg aus seinen Nüstern und die Reflexion des Feuers glomm matt in seinen pechschwarzen Augen. Obgleich er nicht in der Lage war, genau zu verstehen, was Malebolga sagte, spürte er es, die Bedrohung, die Finsternis, die sich über sie alle zu senken drohte. Plötzlich dachte Samira an Daaleryk, an Erkenbrand, Gwyn, Misandul und an Viktor – sie sah etwas riesiges, Aufgeblähtes platzen und sie alle in brandigem, fauligem, halbflüssigem Unrat ertrinken. Sie traf eine Entscheidung. Abermals sprang sie auf Malebolga zu, sechs, sieben Meter mühelos aus dem Stand überquerend, nur daß Malebolga diesesmal darauf vorbereitet war; die geschwärzte Klinge, die aus dem blutigen Stumpf Seines linken Armes ragte, durchbohrte den Werwolf noch in der Luft und ächzend hielt Er das riesige Wesen über dem Abgrund, das Herz in der Rechten, die wieder eine Hand war. Schweiß trat auf Gwyns Gesicht, aber Er hielt den tonnenschweren Garou und lächelte sogar gequält. „Du entkommst deiner Strafe nicht, Samira. Ich halte dich.” Ein Grollen und Stöhnen, ein Ächzen entwich der mächtigen Schnauze und dann verwandelte sich das Monster wieder in einen Menschen. Im Bruchteil einer Sekunde wurde aus dem schweren Crinos eine zierliche Frau und der Gewichtsunterschied überraschte Malebolga so sehr, daß Er ins Straucheln kam. Mit der Rückverwandlung wurden ihre Schmerzen schlimmer, die linke Hand preßte sie auf ihren warmen, klebrigen Bauch, aber das Blut quoll unaufhaltsam aus ihr heraus, an der Klinge vorbei und verdampfte zischend in der heißen Tiefe. Mit der rechten Hand machte sie eine ruckartige Bewegung, nicht besonders stark, aber es fehlte auch nicht mehr viel. Immer und immer wieder stach Malebolga vor Zorn brüllend auf sie ein während sie fielen, aber Samira lachte nur. Sie hatte es geschafft, sie beiden, Viktor und Samira, hatten Ihn aufgehalten. Sie spürte nun keine Schmerzen mehr und war lange tot, bevor sie mit dem Gwyn-Ding und dem Herzen von dem dämonischen Feuer gefressen wurde und so starb Samira Gasai – lachend. 94
„Jetzt beeil dich schon, du Idiot. In der Zeit, in der du hier herumtrödelst, hätte ich schon ein Dutzend Männer umgebracht.” (Die letzten Worte des Massenmörders Carl Panzram, als er 1930 im Gefängnis von Leavenworth auf seine Hinrichtung wartete.)
Gwyn rannte nach vorne, griff im Laufen nach dem Schwert eines Soldaten, der mit gebrochenem Rückrat grotesk verdreht um den Hauptmast gewickelt war und stürzte sich mit fiebrigem Eifer in die Schlacht. Unter den Männern der „Gerechtigkeit“ begann Panik auszubrechen, und das war nun wirklich das Letzte, was er gebrauchen konnte. „Eine Reihe, bildet eine Reihe! Speerträger dahinter. Heiler und Zauberer zum Bug! Nun macht schon, ihr Hunde!“ Von allen Seiten des mächtigen Schiffes strömten Männer herbei, zogen Verletzte weg und ersetzten die Gefallenen. Der Kampf wog hin und her und gerade als es schien, die zu kaltem Fleisch gewordenen Gedanken der Malebolga, die, genau wie das Gehirn, das sie dachte, sonderbar grau geworden waren, könnten zurückgeschlagen werden, standen sie plötzlich alle in Flammen! Es dauerte nur Sekunden, bis jeder einzelne von ihnen zu einem Pesthauch verbrannte, aber in dieser kurzen Zeit entzündeten sie das ganze Poopdeck und die Feuerzungen sprangen bereits in die Takellage, um hier von Mast zu Mast zu eilen. Gwyn stand schwer atmend an der Reeling, die er, so schien es ihm zumindest, vor Stunden bereits im Zorn zerstört hatte, und konnte sein Unglück nicht fassen. Obwohl er unendlich müde war und das Gewicht der Rüstung und der Verantwortung an ihm zerrte, raffte er sich noch einmal auf und fing wieder an zu brüllen: „Habt ihr noch nie ein Feuer gesehen? Eine Eimerkette, na los, und holt die Sandsäcke aus den Laderäumen, tempo, tempo, tempo!“ Er selbst wollte gerade mit anpacken, als er zusehen mußte, wie über ihm der Hauptmast brannte wie eine riesige Fackel. Öliger, schwarzer Rauch stieg kerzengerade in den Himmel und er überlegte noch, ob er die Anweisung geben sollte, ihn fällen zu lassen, aber er wußte, daß die „Gerechtigkeit“ unrettbar verloren war. Er tippte auf seine metallerne Armschiene. „Ralman?“ Die Antwort des Assassinen klang so ruhig, als ob er gerade irgendwo einen Spaziergang unter Linden machen würde. Kein noch so kleines Zeichen der Anspannung verzerrte sie, da war nur Ruhe und Selbstgewißheit und Gwyn merkte, wie sich seine Gelassenheit auf ihn übertrug. „Ralman, ich brauche hier sofort 20 der amarischen Jäger. Die „Gerechtigkeit“ muß evakuiert werden.“ Plötzlich lächelte er wieder. Er erinnerte sich an Myddenhach, seinen alten Schwertmeister, der ihm stets eingebleut hatte, daß es keine Situation gibt, die man nicht durch präzises Denken und Flexibilität in einen strategischen Vorteil verwandeln konnte, sei er auch noch so klein. Gwyn tippte nocheinmal auf das Armband. Nach der Zerstörung des Aka'troom waren die wenigen Zauberer, die überlebt hatten, auf verschiedene Kreuzer verteilt worden und sie waren alle geschwächt. Die Überlebenden sollten später von einer Art magischen Sog berichten, als hätte man ihre zauberischen Fähigkeiten auf ein Minimum reduziert. Aber ein Minimum war mehr als nichts und es würde einfach reichen müssen. 95
„An alle Katapulte, Feuer sofort einstellen. Die Ölfässer werden den Zauberern zur Verfügung gestellt.“ Gwyn sah sich kurz um. Die ersten Jäger waren auf beiden Seiten der „Gerechtigkeit“ erschienen und begannen, die Überlebenden an Bord zu nehmen. Mittlerweile wurde es unangenehm heiß auf dem Flaggschiff. Am Bug brannte es aber noch nicht. Der Paladin hoffte inständig, daß es noch ein paar Minuten so bliebe. „Sämtliche verbleibende Ölfässer werden sofort mittels Magie auf die „Gerechtigkeit“ gebracht. Die Fässer müssen alle in den Bugbereich. Sofort.“ Gwyn drehte sich noch einmal um. Das Schiff bekam bereits Schlagseite, aber das machte nichts, denn die Druiden konnten es selbst dann noch über die See pusten, wenn es bereits größtenteils untergegangen war. Dennoch wollte er das Steuer fixieren. „Steuermann,“ brüllte er durch den schwarzen Rauch, „bindet das Ruder fest! Bindet es fest!!“ Gwyn konnte den Mann durch den Qualm nur schemenhaft sehen, aber seine Antwort hörte er klar und deutlich. „Welchen Kurs, Herr?“ hustete er. Der Kriegsherr lächelte böse. „Mitten in ihr schwarzes Herz. Mitten in ihr schwarzes Herz, mein Freund. Bind es ganz fest und dann sieh zu, daß du hier endlich runter kommst.“ Er wartete bis zuletzt, beobachtete die Männer, die das Schiff verließen und zuckte jedesmal zusammen, wenn ein weiteres Fass am Bug erschien. Es mußten bereits um die 25 Stück sein. Endlich ging der letzte Amarier von Bord und Gwyn sah sich nocheinmal um. Die „Gerechtigkeit“ war ein stolzes Schiff und ihm gefiel der Gedanke, das dem Untergang geweihte Schiff seinem Namen ein letztes Mal alle Ehre zu machen. Schnell kletterte er über die zerstörte Reeling, ließ sich mit routinierten Griffen an dem Seil herab und landete kurz darauf auf einem winzigen Jäger, der bereits kurz davor war, wieder Fahrt aufzunehmen. Entsetzt sah er, daß am Heck des strauchelnden Schiffes etwas aus dem Wasser schoß, wie ein dickes graugrünes Seil reckte es sich aus der Tiefe und tastete mit einem widerlich kratzendem Geräusch über das Deck des Schiffes. Gwyn ahnte, daß die Malebolga das Steuer herumreißen wollte. Er zögerte einen Moment – er wollte nicht sterben. Aber er dachte an die Kinder, die ihnen heute morgen auf den Straßen des Finns zugejubelt hatten, an all die Männer und Frauen, die niemals etwas getan hatten, um ein so grausamens Schicksal zu verdienen und dann dachte er an Enide. Enide, von der er gehofft hatte, daß er sie ehelichen würde, wenn dieser Apltraum endlich ein Ende hatte. Er dachte an ihr warmes Lächeln, an das Glitzern in ihren Augen und dann traf er eine Entscheidung. Der Ritter griff das Tau, das noch immer an der Seite hing, zog sich kraftvoll nach oben und brüllte zurück: „Verteilt euch auf die anderen Kriegssschiffe! Shaal'ar unter euch!“
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„I only smile in the dark. My only comfort is the night gone black. I didn't accidentally tell you that. I'm only happy when it rains. You know I love it when the news is bad!” („I'm only happy when it rains”, Garbage)
Im königlichen Palast von Bajork stand das Ding wieder im Kronsaal. Es war noch immer deutlich als Gwyn ap Annwn zu erkennen, aber nun war Es verbrannt, eine schwarze Patina bedeckte die Rüstung, die Gesichtshaut schälte sich von dem haarlosen Schädel und überall sickerte rotes Blut durch das rohe, wunde Fleisch. Nur das Auge leuchtete noch immer strahlend blau. Der verkohlte Gwyn starrte in den Spiegel und beobachtete mit Genugtuung den Verlauf der Schlacht. Mehr und mehr der amarischen Jäger wurden aufgebracht und mittlerweile konnten sich auch die Großkampfschiffe vor Seinen zornigen Attacken nicht mehr schützen. Es war schon fast vorbei, aber die Tatsache, daß Gwyns Mörderbande Sein Herz zerstört hatte, ließ Ihn vor Zorn beben. Nicht, daß das in wenigen Stunden noch eine Rolle spielen würde, aber Er hatte noch nie verloren, weder einen Kampf, noch einen so wichtigen Teil Seiner Selbst. Winzige Rauchschwaden gingen von ihm aus, als Er sich plötzlich umdrehte und mitten in die Schatten hinter Seinem Thron schaute. „Bist du gekommen, um der Vernichtung dieser Stadt beizuwohnen – oder hast du dir mein Angebot noch einmal überlegt, Vater?“ Shaal trat lächelnd in das Licht der Lampen. Er war ein unglaublich fetter, kleiner alter Mann, der ständig vor Schweiß zu glänzen schien. Seine dünnen Haare klebten an seinem kugelrunden Kopf und überall, wo der Gott stand und ging, bildete sich eine Wasserlache. Seine Stimme klang wie das sanfte Flüstern der Wellen an einem Kiesstrand. „Fürchtest du die Einsamkeit, mein Sohn? Aber warum hast du dich dann selbst in die Isolation getrieben?“ Malebolga starrte ihn haßerfüllt an. „Ich fürchte überhaupt nichts!“ brüllte Er zornig. „Aber warum möchtest du unbedingt jemand aus dieser Welt in deine schöne neue mitnehmen?“ Wütend wandt Malebolga sich ab. „In meiner Welt wird es keine Einsamkeit geben – für niemanden! Es wird eine gerechte Welt sein, ohne Leid und Schmerz. Wir werden ...“ Shaal unterbrach ihn. „Glaubst Du nicht, daß wir eine bessere Welt erschaffen hätten, wenn es so leicht wäre?“ Gottes Sohn winkte desinteressiert ab. „Wir haben dieses Gespräch schon so oft geführt. Ich bin es leid, Vater. Wenn es nicht die Zerstörung der amarischen Hauptstadt ist, was ist dann der Grund für dein Kommen?“ Shaal sah sein Kind traurig an. „Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden. Deine Reise endet hier.“ Malebolga lachte kehlig. „Die amarische Flotte ist zerstört, Vater. Der jämmerliche Plan deines nutzlosen Dieners hat versagt. Wenn ich die Seelen der Männer und Frauen dieses Finns habe, bin ich mächtig genug, selbst Orhan zu trotzen. Und du, Vater, du kannst mich nicht töten. Was also könnte mich jetzt noch aufhalten?“ 97
Wortlos ging Gott zu dem Spiegel, machte eine Geste, als würde er Kreide von einer Schieferplatte wischen und die Schlacht vor dem Finn Tarakis verschwand. Shaal drehte sich zu Malebolga um. „Weißt du noch, wie ich dir diesen Spiegel geschenkt habe, damit du auch in der Ferne die Fische leichter beobachten kannst? Sie hatten schon immer Angst vor dir. Selbst damals.“ Malebolga hob die verbrannte Haut an der Stelle, wo vor kurzem noch seine Augenbraue war. Nur mäßig interessiert beugte Er sich vor. Der Spiegel zeigte eine Szene, die sehr weit weg sein mußte, denn die Sonne schien heiß an jenem Ort. Ihr Glitzern reflektierte sich tausendfach in den hellblauen Wellen und darüber hinaus sah man überhaupt nichts. Dann bewegte sich das Bild, als schaue man durch die scharfen Augen eines Vogels und in das Blickfeld geriet der Rumpf eines gewaltigen Kriegsschiffes. Auf einer Bronzeplatte am Bug stand zu lesen „Jerakeen Neshley“. Der Vogel oder besser gesagt die Szene flog über das Deck, immer dichter, Matrosen und Soldaten wurden sichtbar, alle arbeiteten emsig, die sechs Hauptsegel wurden gesetzt, Katapulte beladen, Ballisten arretiert und tönerne Öltöpfe entzündet. Aber die Perspektive hielt nicht inne, erst als sie die große Brücke erreicht hatte. Auch hier herrschte nicht weniger Betrieb, Signalflaggen wurden bereitgelegt, zwei kräftige Männer drehten am Steuer und Boten liefen hin und her. Im Zentrum all dieser Aktivitäten standen zwei Gestalten, so ruhig, als wären sie das Auge eines Sturms. Er war ein älterer Mann, ein ordentlicher, aber bereits ergrauter Bart umrahmte sein kantiges Gesicht und seine kurzen Haare waren unter einem Dreispitz verborgen. Die andere Gestalt trug einen blauen Mantel und eine auffällige Tätowierung, die sich von ihre rechten Arm bis in das Gesicht hineinwandt. Hätte der Körperschmuck sie nicht ohnehin einwandfrei identifiziert, so hätte Malebolga sie doch an den Augen erkannt. Obgleich sie hübsch zu nennen war, waren ihre Augen stumpf und glanzlos. Ihr Blick ging stets an allem vorbei und ihre Ruhe kam offensichtlich daher, daß sie nichts wirklich betraf. Diese dunkelgeränderten Augen, der leere Gesichtsausdruck; diese Frau war in der Hölle gewesen und der schlanke Anderthalbhänder, dessen Griff über ihre linke Schulter ragte, hatte bereits das Blut eines Gottes getrunken; sie war die bajorkanische Dame des Schwertes - Enedwyn. „Das triadische Flaggschiff? Oh Vater, es muß viele tausend Seemeilen entfernt sein. Selbst deinem Willen sind Grenzen gesetzt. Und ein einziges Schiff wird hier gar nichts ändern.“ Der grauhaarige Mann wandte sich Lady Enedwyn zu. Als er sich drehte, konnte man an seiner Brust den silbernen Stern auf goldenem Grund sehen, es handelte sich um Flottenadmiral Tek Ulema. „Kennt ihr diesen ap Annwn, Herrin?“ Enedwyn blickte weiter geradeaus. Offenbar sah sie etwas am Horizont, daß sich den anderen entzog. „Als die „Reisende“ ihren Stapellauf hatte, habe ich ihn kurz kennengelernt. Er machte damals einen tüchtigen Eindruck auf mich.“ Tek Ulema war offensichtlich unwohl in seiner blauen Uniform. „Er ist auch jetzt nur im Rang eines Captains ohne Erfahrung mit Seeschlachten. Wenn er sich irrt oder irgendwo einen Fehler gemacht hat, werden wir ...“ Enedwyn seufzte nur zur Antwort und der Flottenadmiral verstand. Kurz darauf 98
erhellte ein gleißend blauer Blitz den sonnigen Tag und ein kleiner blauer Vogel landete auf dem ausgestreckten Arm der Lady. Sie lächelte den Vogel einen Moment verträumt an, dann nickte sie Tek Ulema zu. Dieser brüllte über das ganze Schiff und die „Jerakeen Neshley“ setzte sich in Bewegung. Matrosen kamen und brachten den beiden dicke Pelzmäntel. Immer mehr Fahrt machte der Koloss und während die Perspektive sich wieder in höhere Gefilde zurückzog, konnte man erkennen, daß das triadische Flaggschiff nicht alleine war; hinter ihr erhoben sich tausende von Masten! Malebolga erkannte mindestens dreizehn weitere Schiffe der Ultra-Weltenbrandklasse und unzählige der Vorgängermodelle. Drachenfresser, Schlepperschiffe, die riesige Katapulte mit sich zogen, schwer gepanzerte Wallschiffe und er sah so viele Fahnen, nicht nur aus Bajork, Stroane und von den Amazonen, sondern auch die gelbe Flagge der Elfen von Namar Toll, Haalkitaine und sogar einige der fliegenden Barken aus Eidolon, da waren Schiffe aus Rael und Tai-Emer. Er wagte es nicht, ihre Zahl zu schätzen. Plötzlich drehte sich das Bild und statt auf die Flotte zu sehen, erblickte er hunderte von Energietoren, die sich kurz über der Wasseroberfläche öffneten! Die Navigatoren! „Die Navigatoren dürfen sich nicht in Kriegshandlungen einmischen! Das ist gegen die Regeln! ES IST GEGEN DAS GESETZ!“ Malebolgas Stimme klang nun schrill und panisch. Shaal lachte, aber es lag weder Freude noch Belustigung darin. Seine Stimme war nun nicht mehr das sanfte Flüstern der Wellen es war vielmehr die Stille über dem Meer, wenn die Seeleute wissen, daß ein Sturm ausbrechen wird, man die Spannung in der Luft spürt und sich dunkle Wolken am Horizont zusammenziehen. Dann brach das Gewitter los. „Es gibt kein Gesetz neben mir! ICH BIN DAS GESETZ!“ Shaal wandte sich um. „Es tut mir leid, daß ich dich nicht davon überzeugen konnte, deine Gerechtigkeitsliebe weniger zerstörerisch auszudrücken. Du bist zu weit gegangen und nun bezahlst du den Preis.“ Der Herr der Meere ging wieder in die Mitte des Raumes und verschwand dann durch das Licht, so wie der Schein einer einzigen Kerze in dem hunderter Fackeln verschwindet. Malebolga stürzte ihm nach, wollte ihn packen, festhalten, Er wollte erklären. Aber Sein Vater, der Gott der Meere, war bereits fort und da wußte Er, daß es zu spät war. In Seinem Spiegel hörte Er Lady Enedwyn gerade noch fragen: „Ob es dort wohl schneien wird?“, dann ging Er zu dem Artefakt und machte eine ähnliche Handbewegung wie Sein Vater zuvor. Statt der blutigen Schlacht sah Er nun Fische, Rotrückenlachse, vor der Küste Jaimans, und im Schneidersitz ließ Er sich vor dem Spiegel nieder und betrachtete mit glasigen Augen die anmutigen Tiere. Er saß noch so dort, als die Kanonen Seinen aufgeblähten Leib trafen, als Er aus vielen Wunden blutete und der andauernde Beschuß den bajorkanischen Thronsaal einstürzen ließ. „This is the way I pray!” („Prayer”, Disturbed)
Kurz darauf kletterte Gwyn schon wieder an Bord, riß seinen salzwassergetränkten Umhang in Fetzen und hielt ihn sich hustend vor den 99
Mund, um sich wenigstens etwas Linderung zu verschaffen. Aber viel Zeit blieb ihm nicht und so stürmte er nach vorne, riß das Schwert des toten Seemannes aus der Scheide und hackte voller Zorn auf die Tentakel, die sich sofort vom losgerissenen Steuer löste und ekelhaft stinkend zu Boden sank. Keuchend und mit brennenden Augen riß er das Ruder wieder rum und raste wieder auf die Malebolga zu. Die Fässer standen noch immer vom Feuer unberührt und er betete unabläßlich, daß die Flammen sie noch ein paar Minuten verschonen würden, Herr im Wasser, nur einen kurzen Augenblick, bitte, nur noch einen verdammten Moment! Mittlerweile glaubte er nicht mehr, daß sein Plan, dessen Startsignal die Eistaucher gewesen waren, noch funktionieren würde, denn sie hätten längst kommen sollen, aber so konnte er Ihr die flammende „Gerechtigkeit“ selbst in die Seite stoßen und das mußte eben genügen. Zu seiner Rechten tauchte eine neue Tentakel auf, stinkend, eiternd, mit einem Maul voller scharfer Zähne am wulstigen Ende und er wollte sich gerade auf diesen Auswuchs stürzen, als er zu seiner Linken eine weitere bemerkte und auch hinter sich hörte er ein Geräusch. Schnell wandte er sich um, um sich in eine günstigere Ausgangsposition zu bringen. Die Fangarme der riesigen Kreatur schoßen auf ihn zu, mit aller Kraft schlug er den ersten beiseite, duckte sich mit knapper Not unter dem zweiten weg, der dritte aber versetzte ihm einen gewaltigen Schlag auf die Brustplatte, der ihn von den Beinen riß und quer über das Deck bis zum Hauptmast schlittern ließ. Erschöpft blieb er liegen. Es war einfach zuviel; mehr als ein Mann leisten konnte. Er hatte die ganze Zeit gekämpft wie ein in die Enge getriebener Drache, aber die Malebolga war selbst jetzt noch stärker. Er richtete sich auf, seine Augen tränten und er sah Sterne, als er plötzlich eine Stimme hörte und eine Hand ihn stützte. „Geh wieder ans Ruder, Kriegsherr. Ich kümmer mich um diese Dinger.“ McIdram! Gwyn wollte etwas sagen, aber in diesem Moment verstanden sich die beiden Männer auch so. Zornerfüllt und vor Wut brüllend hackte der Captain auf das Monster ein und während Gwyn wieder zum Steuer rannte, ächzte und stöhnte die „Gerechtigkeit“ plötzlich auf und es waren nicht die Flammen, die das Flaggschiff in seinen Grundfesten erschütterten, sondern die graugrüne Kreatur unter ihnen, die sich an den Maststümpfen festhielt und ihren massigen, warzenübersäten Körper steuerbord hochhievte! Ein einzelnes, milchiges Auge, so groß wie ein Pferd starrte Gwyn verständnislos an und ohne nachzudenken schleuderte er im Vorbeilaufen das hastig aufgehobene Stück der brennenden Takelage hinein. Kreischend verschwand das Untier wieder unter dem sterbenden Schiff, aber die zahllosen Tentakeln attackierend sie nun um so heftiger, als wollten sie ihnen etwas von dem Schmerz heimzahlen, den der Ritter verursacht hatte. Der Kurs der „Gerechtigkeit“ hatte sich durch das losgerissene Steuer und das Gewicht des Tiefseeungeheuers an Steuerbord dramatisch verändert. Die Flammen fraßen sich noch immer methodisch zu den Ölfässern durch und die Zeit wurde immer knapper. Gwyn packte das große Steuerrad und riß es wieder herum. Der Qualm wurde immer dicker, aber selbst in finsterster Nacht und dickstem Nebel hätte er die Malebolga gar nicht verfehlen können. Selbst völlig blind hätte er sie gefunden, denn der Haß, die abgrundtiefe Bosartigkeit, die sie wie Hitze ausstrahlte, hätte ihn auch dann noch sicher geführt. Das Holz des Steuers war mittlerweile furchtbar heiß und so zerriß er den Rest seines Umhanges, legte ihn darüber und hielt es fest. Ihre Geschwindigkeit wagte er 100
kaum zu schätzen, aber bis zu dem Zusammenstoß mochte es nun weniger als eine Minute sein. Sorgenvoll blickte er auf die Fässer, schaute zu den Flammen und auf Sie. Es mußte einfach klappen, es mußte. McIdram hatte sich mittlerweile bis zur Brücke durchgekämpft und hielt seinem Kriegsherrn den Rücken frei. Die Malebolga nahm nun fast ihr gesamtes Blickfeld ein. Sie waren eine Mücke, dachte Gwyn grimmig, eine Mücke, die einen Riesen angreift. Aber Mücken übertrugen manchmal sehr gefährliche Krankheiten. Neben ihm wurde McIdram von einer rasiermesserscharfen Klaue durchbohrt. Sie durchbrach den gepanzerten Rücken ohne auch nur langsamer zu werden und bluttriefend erschien sie kurz unter seinem Hals wieder. Nun, da der Widerstand des Kriegers gebrochen war, näherten sich die Klauen und Münder des Monsters von allen Seiten, hackten, stachen, fraßen. Aber es war genau dieser kurze Moment, den Gwyn noch an Ablenkung gebraucht hatte. So sagte er nur: „Aye, geh nur voraus. Ich komme gleich.“ Der Ritter aktivierte mit einem Fingertippen das Armband des Kriegsherren, so daß jeder Soldat auf jedem Schiff und selbst im Finn hören konnte, was er zu sagen hatte. Noch Jahrzehnte später stritten sich die Gelehrten über die Bedeutung der letzten Worte des Annwns. Wollte er sich selbst versichern, daß er das richtige tat? Wollte er Ihr noch einmal deutlich sagen, wem Sie den Schmerz zu verdanken hatte? Oder wollte er sich nur seiner Unsterblichkeit in den Legenden und Liedern der Amarier sichern? Er führte den linken Arm an sein zerschundenes Gesicht und sagte laut und mit klarer Stimme: „Ich bin Gwyn ap Annwn.“ In diesem Moment bohrte sich der stählerne Rumpf der „Gerechtigkeit“ mühelos in das weiche, nachgiebige Fleisch der Malebolga, zerschnitt die runzelige Haut, den jahrhundertealten Unrat, pulsierende, mit Schleim und Eiter gefüllten Blutbahnen und Nervenstränge so dick wie Masten. Der ganze vordere Teil des amarischen Kriegsschiffs verschwand im finsteren Inneren der Unnennbaren und das Feuer des brennenden Flaggschiffs sprang sofort auf die größere Beute über, die dem unersättlichen Hunger der Flammen viel mehr Nahrung bot. Für einen Moment war es ganz still und die Amarier starrten gebannt auf die Szene – dann explodierten die Ölfässer. Die Druckwelle, die die Detonation auslöste, fegte die amarischen Jäger, die sich noch zu dicht an der Malebolga befanden wie trockenes Laub über die Meeresoberfläche, zu spüren war sie noch auf den letzten der Großkampfschiffe, der „Ehre“ und der „Tugendhaftigkeit“, die beiden einzigen der größeren Schiffe, die die Schlacht völlig unbeschadet überstehen sollten. Die Malebolga unterdessen brüllte vor Schmerzen, doch obwohl das Geräusch gräßlich schrill war, erfüllte es die Herzen der Menschen und Elfen weiter mit Hoffnung. Ein riesiges, unförmiges Loch klaffte dort, wo einmal die „Gerechtigkeit“ gewesen war und nichts als einige brennende Planken, die auf dem Meer trieben und der Mast, der wie ein riesiger Speer in die Seite des Dämonenschiffes getrieben war, zeugten von dem stolzen Schiff oder seinem Captain. Flammen loderten im Inneren des Feindes und die schlaff herabhängenden Wundränder glommen ebenfalls. Langsam, aber unaufhörlich fraß sich die Glut durch die fettige, dicke Haut, aus der sich immer mehr Klumpen lösten und platschend in die See fielen. Dicht über der Wasseroberfläche öffneten sich bläulich schimmernden Energietore, Tore, wie 101
nur die Navigatoren sie beuntzen konnten. Zählen konnte sie so schnell keiner der Anwesenden – es mußten hunderte sein. „Mit Ausnahme von mir ist praktisch jeder ein feiger Hundesohn.” (General George S. Patterson jr. 1885 - 1945)
Alnaar, Captain der „Macht zu helfen”, hatte die Befehle die Kurskorrekturen betreffend gerade an seinen Steuermann weitergegeben, aber im Grunde interessierten sie ihn im Moment wenig. Er beobachtete stattdessen mit morbider Neugier die schwarzen Jägerboote der Malebolga, winzige Katamarane; jedes der kleinen Boote war in Größe und Form den amarischen Gegenstücken nicht unähnlich, aber eine Verwechslung war selbst bei einer sehr oberflächlichen Betrachtung ausgeschloßen. Zwei riesige Hörner oder Zähne bildeten die Schwimmkörper, zwischen denen offenbar ein Stück Haut gespannt war. Auf dieser Haut kauerten stets zwei der Avatare, die alle gleich aussahen. Ein zerfetzter grauer Mantel bedeckte sie so vollständig, daß man von ihren Körpern nichts als die bleichen, fast bis auf das Skelett abgemagerten Finger sehen konnte. Der Katamaran schien sich von alleine zu manövrieren – auch die Windrichtung spielte scheinbar keine Rolle. Die beiden Gestalten konzentrierten sich völlig auf die knochige Ballista, die ihre tödlichen Bolzen verschoß. Wo immer einer der langen Speere einschlug, explodierte er wenige Sekunden später. Der Schaden, den er dabei anrichtete, war zu verkraften – jedenfalls für ein Schlachtschiff, für ihre eigenen Jäger aber bedeutete ein einzelner Treffer den sicheren Untergang. Captain Alnaar glaubte aber nicht, daß das Reich auf diesem Wege mehr als ein dutzend Schiffe verloren hatte, denn die winzigen Jäger waren viel zu schnell, um von den schwerfälligen Geschoßen getroffen zu werden. Wo immer dies allerdings doch der Fall gewesen war, war das Schicksal der beiden Amarier ebenfalls besiegelt. Obgleich Alnaar seit über zwanzig Jahren zur See fuhr, hatte er die meisten der Kreaturen, die die Wanderin begleiteten, noch nie gesehen, nicht einmal in den schlimmsten Seemannsgarnen waren solche Tiefseeungeheuer aufgetaucht. Sie schnappten unterschiedslos nach Schiffbrüchigen beider Seiten, attackierten die Jäger und einige hatten sich auch an den Fregatten und schweren Kreuzern versucht, aber sie hatten es alle bereut. Mehrere Schüsse waren bereits auf die „Macht zu helfen” abgefeuert worden, nicht alle waren Treffer, aber insgesamt sechs Mal hatten die explosiven Speere mannsgroße Löcher in den Schiffsrumpf gesprengt. Die beschädigten Stellen befanden sich alle deutlich über der Wasseroberfläche, aber das war ärgerlich genug. Unruhig ging Captain Alnaar über das Deck, die eigenen, wie auch die feindlichen Jäger niemals aus den Augen lassend. Nach dem der fremde Kriegsherr den Befehl dazu gegeben hatte, waren 14 amarische Katamarane zum Schutz der „Macht zu helfen” von Ihr zurückgekehrt und versuchten verzweifelt, ihre bösartigen Spiegelbilder von dem Schlachtschiff abzulenken. Eine Ihrer Parodien manövrierte geschickt zwischen zwei Jägern hindurch und feuerte bei voller Geschwindigkeit knapp über die Wasseroberfläche. Alnaar nickte seinem ersten Offizier zu und dieser brüllte seinen Befehl an die nervöse Mannschaft. „Feuer!” 102
Das Buggeschütz reagierte sofort, aber die Waffe war konstruiert, andere Großkampfschiffe auf den Meeresgrund zu schicken, nicht ein so winziges und wendiges Boot und so war der feindliche Jäger bereits ein gutes Stück weiter, als die Stahlkugel das Wasser präzise dort durchschlug, wo er sich nur wenige Augenblicke zuvor noch befunden hatte. Eine Explosion riß ein weiteres Loch in sein Schiff und schüttelte die Besatzung durcheinander. Alnaar dachte nach. Er hatte keine Lust mehr, hier zu warten und wozu er auf die neuen Koordinaten wechseln sollte, konnte er auch nicht erkennen. Wenn er schon nicht auf diesen fleischgewordenen Alptraum schießen durfte, dann wollte er wenigstens seinen Männern in den Jägern helfen. „Wendet das Schiff. Wir geben unseren Jungs da unten ein bißchen Deckung.” Car Stierin am Steuer nickte und ihm war deutlich anzusehen, daß er diesen Befehl sehr gerne befolgt hätte, aber offensichtlich hatte er Bedenken. „Captain, man hat uns in der Einsatzbesprechung mehrfach eingeschärft, die uns angegebenen Koordinaten unbedingt ...” Sein Captain wischte alle Bedenken mit einer Handbewegung davon. „Stierin, sie und ich waren schon in vielen Seeschlachten, aber dieser grüne Junge,” er deutete wage in Richtung der „Gerechtigkeit”, die mittlerweile schlingernd auf die Unnennbare zuraste, „dieser grüne Junge dort verliert keine Landsmänner in dieser Schlacht. Ich für meinen Teil habe genug davon, hier rumzusitzen. Wenden sie das Schiff, Lieutnant.” Stierin versuchte es ein weiteres Mal. „Wir würden durch die Wende genau in den Korridor geraten, der ...” „Wenden sie das Schiff, verdammt, oder ich finde jemanden der es tut!” Pflichtbewußt korrigierte Lieutnant Stierin den Kurs in die befohlene Richtung. Das schwere Schlachtschiff durchpflügte wenig später die grauen Fluten, zerschnitt das Wasser zu schäumender Gischt, fuhr quer zu seiner Ausgangsposition und als die „Gerechtigkeit” mit ihrer tödlichen Fracht an der Flanke der Malebolga explodierte, nahm sie Fahrt mitten in den Korridor hinein auf. Als nur einen kurzen Moment später hunderte von Energietoren beinahe direkt vor ihrem Bug auftauchten, blieb dem Steuermann der „Macht zu helfen” fast das Herz stehen. Hektische Aktivitäten überall an Deck entfalteten sich und Captain Alnaar brüllte fluchend zu ihm herüber. „Abdrehen, abdrehen, verdammt!” Aber es war bereits zu spät. Aus einem riesigen, grünschwarz flimmernden Tunnel aus roher, magischer Essenz, kam das größte Schlachtschiff auf sie zugerast, das Stierin je gesehen hatte. Die Kollision war unvermeidlich und stand unmittelbar bevor. Die „Macht zu helfen” drehte sich viel zu langsam und das fremde Schiff, er konnte schon den Namen auf dem Bronzeschild lesen „Jerakeen Neshley” - bewegte sich beinahe so schnell, wie eines der Jäger. Sein Captain rannte zum Steuer, wohl wissend, daß er am Heck genauso sterben würde, wie am Bug, aber er stolperte trotzdem nach vorne. Die „Jerakeen Neshley” hatte ihre Passage durch den magischen Korridor mittlerweile beendet und befand sich nun nur noch wenige Meter von ihnen entfernt, als sie, gewaltig wie ein Nordlandwal, aber immer noch mit der Geschwindigkeit eines Vogels, etwa einen Meter über dem Meeresspiegel in amarische Gewässer wechselte. Ohne langsamer zu werden und ohne eine Chance den Kurs jetzt noch zu korrigieren schoß sie auf die „Macht zu helfen” zu und auf beiden 103
Schiffen hielt die Besatzung den Atem an. Er meinte schon das Splittern des Holzes zu hören, das Knirschen, wenn sich der stählerne Rammsporn in ihren metallernen Rumpf bohren würde, aber als Stierin die Augen wieder öffnete, rauschte das riesige Schlachtschiff gerade an ihnen vorbei. In seinem ganzen Leben hatte er noch nicht gesehen, wie zwei so große Schiffe so dicht aneinander vorbeifuhren. Wäre das Deck des anderen Schlachtschiffes nicht so viel höher gewesen, er hätte den fremden Matrosen die Hand geben können, ohne sich auch nur vorlehnen zu müssen. Enedwyn betrachtete nachdenklich das amarische Schiff das hinter ihnen noch immer versuchte, die Schneise zu verlassen, die eigentlich für die Flotte der Triade und der verbündeten Kampfverbände reserviert sein sollte. Sie haßte unprofessionelles Verhalten und konnte nur den Kopf schütteln, als die ... sie kniff die Augen zusammen ... „Macht zu helfen” fast gleichzeitig von der „Orgilion”, einem älteren Schiff der Weltenbrandklasse und einer Fregatte aus Haalkitaine gerammt wurde. Das amarische Schlachtschiff begann wegen der hohen Geschwindigkeit, mit der es getroffen wurde, sofort zu sinken, während die stählernen Rammsporne der beiden triadischen Schiffe sie effektiv schützten. Zwar verloren beide Schiffe an Geschwindigkeit, aber ansonsten wurden sie nur ein bißchen durchgeschüttelt. Neben ihr räusperte sich Tek Ulema, dann sprach er mit klarer Stimme in das von Amarien zur Verfügung gestellte Armband. „Hier spricht der bajorkanische Flottenadmiral Tek Ulema. Ich übernehme das Kommando. An alle amarischen Schiffe, feuern sie weiter auf die Malebolga oder ziehen sie sich entlang des Korridors zum Hafenbecken zurück, wenn sie dazu zu schwer beschädigt sind.” Fröstelnd zog Enedwyn den pelzverbrämten Mantel dichter an sich heran. Es war kalt hier. Ihre eigene Flotte kannte die Befehle. Alle Schiffe nahmen sofort Kurs auf die Malebolga und nicht wenige der winzigen Jäger – amarische wie auch die ... anderen – wurden von den plötzlich auftauchenden Großkampfschiffen einfach zermalmt. Sie zeigte nur kurz auf die Malebolga und die „Jerakeen Neshley” korrigierte ihren Kurs leicht und abermals ging das Schiff der Ultraweltenbrandklasse auf einen Kollisionskurs – diesesmal mit einem wesentlichen größeren Gegner, allerdings auch in voller Absicht. Kurz vor dem Zusammenstoß wurde das Steuerrad erneut herumgerissen und nun befand sich das Schlachtschiff auf einem Parallelkurs, nur wenige Armlängen von der fettigen Außenhülle der Wanderin entfernt. Dicht unter der Wasseroberfläche zerschnitten stählerne Klingen die weiche, nachgiebige Haut und alle drei Decks feuerten aus allernächster Nähe Bolzen und Brandgeschoße auf den riesigen Feind. Gräuliche Avatare strömten wie Blut aus den gerissenen Wunden über die „Jerakeen Neshley”, aber sie wurden von grimmigen Kriegern willkommen geheißen. Tek Ulema zog sich hinter das Steuer zurück, Enedwyn hingegen fand sich im dichtesten Schlachtengetümmel, stets umringt von ihren Ordensrittern von Cays Falken. Nach wenigen Hieben hielt die Dame des Schwertes inne. Diese Wesen zu bekämpfen war, als würde man gegen Strohpuppen fechten und sie verspürte nicht die geringste Lust dazu. Stattdessen tippte sie einmal auf das Armband, so, wie man es ihr gezeigt hatte. Ihre Leibgarde verteidigte sie mit Müh und Not, aber sie achtete nicht darauf. „General Ostopher, beginnen sie mit der Truppenlandung.” 104
Anderthalb Seemeilen von ihrem Standpunkt aus wurde ihr Ruf in einem völlig neuen Schiffstyp gehört. Von außen ähnelte er einem schwimmenden Sarg, aber die 500 Infanteristen, die sich im Inneren des Truppentransporters befanden, waren noch höchst lebendig. Der Zentauer in ihrer Mitte nickte überflüssigerweise und gab den Befehl weiter. 21 dieser Schiffe durchquerten kurz darauf den Korridor, flankiert von den zahllosen Großkampfschiffen, die nun alle das Feuer auf die Malebolga eröffneten, und setzen Kurs auf einen namenlosen Strand, der sich ganz in der Nähe des Jo'troom befand. „Begehen wir alle heiligen Gebräuche. Man singe das Non nobis und Te deum. Und sind die Toten christlich eingescharrt, fort nach Calais und dann in unser Land, wo Frankreich nie Beglücktere heimgesandt.“ („Henry V.”, Shakespear) „Wir sind zu Besessenen Gottes geworden.” (van Helsing, „Dracula”)
AMARIUM VICTOR! Graf Manderyllens Siegesschrei hallte über das eisige Hügelland und wo immer seine Männer ihn vernahmen, griffen sie ihn auf und trugen ihn weiter. Amarien hatte gesiegt. Die überlebenden Sherkai wurden ihn diesem Moment von der stroanschen Kavallerie in die Berge zurückgetrieben und zum ersten Mal seit Stunden – oder so kam es ihm zumindest vor - holte Misandul tief Luft. Es war vorbei. Er ging an einigen verletzen Offizieren vorbei, die bereits von einem Wundheiler behandelt wurden, machte einige Schritte den Hügel hinauf und stand neben dem elfischen Grafen. Dieser rammte eben sein Schwert kraftvoll in den gefrorenen Boden und sah ihn an. „Dieser Sieg gebührt euch, mein Freund. Ihr habt den Tag,“ er lächelte, „und das amarische Reich gerettet.“ Misanduls Blick folgte dem ausgestreckten Arm Manderyllens und was er sah sollte ihn für den Rest seines Lebens tags wie nachts in seinen Träumen und Gedanken verfolgen. Vor den Feldern des Jo'troom lagen tausende, zehntausende von Toten; Leichen und Sterbende soweit der Blick reichte. Nebel legte sich über das große Tal und verlieh dem Bild einen alptraumhaften Zug, für den jungen Mann verwies er auf die Unwirklichkeit des Grauens und in seiner farblosen Formlosigkeit auf die Unendlichkeit des Leidens, das er hier besiegelt hatte. Krähen, Raben und andere Aasfresser hielten ein Festmahl unter den Gefallenen, überall hüpften schwarze Punkte zwischen den Toten, rißen und rupften, zerrten und bißen und bei dem Gedanken daran, daß es erst einige Stunden her war, daß diese kalten, toten Fleischklumpen Männer waren, Männer mit Frauen, Kindern - Männer wie er - da wurde ihm furchtbar übel. Er stützte sich auf sein Schwert, das er, wie er erst jetzt bemerkte, noch immer verkrampft in seiner rechten Hand hielt und würgte es hinaus, den Schmerzen und die Trauer, vielmehr wollte er es, es kam stattdessen nur bittere Galle. Manderyllen klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich an einen alten Hauptmann, der ihm gerade eine Mitteilung verlesen wollte. Mit einer Handbewegung schüttelte er das Anliegen des Mannes ab. „Befolgen wir die alten Sitten und Gebräuche! Sammelt unsere Toten ein, die Offiziere und Edlen bahrt hier auf dem Hügel auf, den einfachen Soldaten richtet ein Massengrab in der Nähe des Tors her.“ Er überlegte kurz und ließ seinen Blick durch die Ferne schweifen. „Vielleicht dort bei den Bäumen. Die 105
Sherkai sammelt ebenfalls ein und verbrennt sie. Jeder Mann, auch die Fremden, sollen dabei mithelfen. Gesungen wird „Mein ist die Rache“ und „Amarien währt ewig“. Stellt mir dann eine Liste zusammen. Wie ist dein Name, Hauptmann?“ Der graubärtige Mann hielt sich nur mühsam aufrecht. Seine Lederrüstung war am linken Bein aufgerissen und die Wunde sah böse aus, ausgefranst und sehr tief. „Mein Name ist Rall Kardien.“ Manderyllen hatte seine Aufmerksamkeit bereits einem anderen Problem zugewandt und nickte nur beiläufig. „Sehr gut, Hauptmann Kardien. Ihr seid mir persönlich für den Ablauf der Beerdigung verantwortlich. Und denkt an meine Aufstellung. Keiner, der heute hier gefochten hat, soll vergessen werden. Keiner von ihnen verdient das.“ Er machte eine kurze Pause und sog scharf Luft ein. Dann sagte er: „Man wird sich an dieses Zusammentreffen als die „Schlacht des schnellen Todes” erinnern, denn nie zuvor in unserer Geschichte haben so viele in so kurzer Zeit ihr Leben lassen müssen.” Von den Bergen her löste sich aus dem Nebel die Gestalt eines Reiters, jedenfalls dachte Misandul, der sich eben wieder aufrichtete, einen Reiter zu sehen, aber zum zweiten Mal an diesem Tag, täuschte ihn seine Sehgewohnheit, denn in seiner Heimat gab es keine Zentauren und so erkannte er erst relativ spät, daß es sich um ein solches Wesen handelte. Der Mann, Misandul hielt ihn jedenfalls für einen Mann, war bis zum Bauchnabel ein Pferd, ging auf vier Beinen, hatte eisenbeschlagene Hufe, einen Schweif und den massigen Körper eines Pferdes, aber dort, wo bei einem normalen Pferd der Halsansatz zu finden ist, wuchs ein breiter, menschlicher Oberkörper mit einem menschlichen Kopf. Misandul fragte sich, ob er in einem Kampf einen Roßharnisch zum Schutz des Pferdeteils tragen würde, aber im Moment trug er nur eine metallerne Rüstung und eine Schärpe, die ihn als General kennzeichnete. Das Gesicht war nicht direkt als hübsch zu bezeichnen, aber er war auch nicht häßlich und hätte man nur seinen Kopf gesehen, so hätte man an nichts erkennen können, daß dieser Kopf nicht zu einem Menschen gehörte. Der Zentauer kam vor den beiden Männern zum Stehen und sah einen Moment fragend auf sie herab. Ob ihm Menschen fremdartig vorkamen? Aber er war ja mit welchen gekommen. „Nach meinen Informationen werden diese Streitkräfte von Erkenbrand, Daaleryk gil Ravadry und einem Misandul Aloa de Destrin geführt.“ Misandul nickte. „Das ist richtig. Die beiden erstgenannten sind allerdings gefallen. Ich bin Misandul. Das ist der amarische Graf Manderyllen. Er ist ein enger Berater der Doppelkrone.“ Das Wesen beugte sich etwas herab und musterte die beiden mit unverhohlener Neugier. „Ich bin General Ostopher aus Bajork. Ich leite die triadischen Truppen, die zu ihrer Unterstützung im Kampf gegen die Eisbarbaren gekommen sind. Es tut mir leid, daß wir uns unter diesen Bedingungen kennenlernen müssen und besonders tut es mir um den Tod der beiden anderen leid. Ich kannte sie leider 106
nicht persönlich, aber wir waren Landsmänner.“ Misandul nickte mechanisch, während er den Ausführungen des Pferdemannes folgte. Er horchte allerdings auf, als er erfuhr, daß dieses Wesen ebenfalls aus Bajork kam. Seine Freunde hatten nicht viel aus ihrer Heimat erzählt, es schien ein wundersamer Ort zu sein. Und so braungebrannt wie die meisten der triadischen Männer, die er hier sehen konnte – es waren auch viele Frauen dabei! - schien es auch ein sehr viel wärmerer Ort zu sein. Plötzlich fehlte Misandul die Sonne schrecklich. Dann fiel ihm etwas anderes ein – zum Staunen war er einfach zu müde. Nein, nicht müde, ausgebrannt. „Habt ihr Informationen darüber, wie es zur See steht? Geht es Gwyn gut? Haben Figul und Samira es geschafft?“ Der Zentauer räusperte sich. „Als wir gelandet sind, haben die Kriegsschiffe Amariens und die Seeflotte der Triade die Malebolga zusammen angegriffen und mittlerweile dürften sie es wohl vernichtet haben. Es hat nicht mehr allzuviel Widerstand geleistet.“ Er machte eine kurze Pause. „In der Art wie ihr die beiden Männer und die Frau nennt, meine ich eine gewisse Vertrautheit zu erkennen und deswegen fällt es mir schwer ...“ Aber Misandul kannte die Antwort bereits, bevor er sie von Ostopher zu hören bekam. Er hatte es bereits zuvor gewußt, so sicher, wie er seinen Namen kannte. Ja, sie hatten es geschafft, aber sie waren alle drei tot. „ ... ihnen mitteilen zu müssen, daß alle drei tot sind. Gasai und Natek konnten die Malebolga offenbar nicht mehr rechtzeitig verlassen oder wurden noch im Inneren getötet, Annwn hat sich geopfert und dem Wanderer so massiven Schaden zugefügt. Es tut mir leid.“ Misandul sackte in den nassen Schnee. „Der Tag ist noch nicht einmal zur Hälfte rum und zehntausende sind tot. Gefallen für unsere Idee einer besseren Welt.“ Er sah Ostopher an. Dieser zögerte keine Sekunde. „Es gab keine Alternative zu dem hier. Das sieht vielleicht schlimm aus, aber alles andere wäre noch viel schlimmer gewesen.“ Sonderbarerweise fand Misandul nicht, daß Ostopher aussah, als hätte er viel Mitgefühl für die Gefallenen und Verwundeten, aber er mochte sich täuschen und wenige Momente später hatte er den eigenartigen Gedanken auch schon vergessen. In der Ferne wurden die gewaltigen Tore geöffnet. Offenbar hatte Mell, den er vorhin kurz über den Feldern gesehen hatte, die Stadt wieder erreicht und Männer schicken lassen. Manderyllen bot Misandul eine Hand, um ihn aufzuhelfen. „Komm mit. Wir gehen nach Hause.“ „Oh why was I born with a different face? Why was I not like the rest of my race? When I look each one starts, when I speak I offend. Then I was silent and passive and lose every friend.” (William Blake)
Misandul stand vor der großen Doppeltür. Auf der anderen Seite konnte er, gedämpft durch das dicke Holz, Stimmen, Gläserklirren, Gelächter und Tanzmusik hören. Er atmete einmal tief durch und sah den Diener zu seiner rechten fragend an. Ihr Mächte, es war noch keine zehn Stunden her, daß er auf 107
dem Schlachtfeld dutzende von Männern getötet hatte, Entscheidungen getroffen und über das Schicksal einer riesigen Nation entschieden hatte, aber nun, da er der amarischen Doppelkrone Rechenschaft ablegen mußte, hier, da man ihn wie eine neue Attraktion in einem Zoo vorführte, hatte er fast ebensoviel Angst, wie auf den eisigen Feldern vor Jo'troom. Nein, das stimmte natürlich nicht, die Furcht war hier vielleicht nicht so existenziell, aber auf ihre Art nicht weniger beklemmenend. Im Grunde hatte er sich nichts vorzuwerfen, die Sherkai konnten zurückgeschlagen werden. Allerdings hatte der Sieg fast 30.000 amarischen Männer das Leben gekostet – nur an dieser Front. Zudem wäre der Sieg ohne die Streitkräfte der Triade überhaupt nicht möglich gewesen. Was Misandul wirklich beunruhigte war die Strategie, die er mit Daaleryk und Erkenbrand zusammen erarbeitet hatte. Die schützenden Mauern zu verlassen war ein hohes Risiko gewesen. Hatte es sich ausgezahlt? Andere würden das entscheiden müssen. Im Grunde war es ihm egal, das jedenfalls sagte er sich, denn rückgängig war es ohnehin nicht mehr zumachen. Er hatte sein bestes getan, mehr war eben nicht möglich. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er dem älteren Mann in der Uniform eines Bediensteten noch immer in die Augen sah. Der Mann räusperte sich fragend: „Sind sie soweit, Herr?“ Misandul nickte, erst zögerlich, dann entschlossener. Mehr als den Kopf konnten sie ihm ja wohl nicht abreißen. Die riesigen Türen glitten geräuschlos auf, der Diener trat vor, klopfte sechsmal mit einem Metallstab auf den Boden und sagte: „Ich präsentiere Misandul, Aloa de Destrin, letzter Überlebender der Generäle des Kriegsherren Gwyn ap Annwns, Sieger über die vereinten Sherkai, Bezwinger des Fearr Singetrechs, Verteidiger des Finn Tarakis.“ In dem Thronsaal mußten sich über fünfhundert Personen befinden, Zwerge, Elfen und Menschen, selbst den Zentauren konnte er sehen. Die Würdenträger vieler Länder, Grafschaften, wichtige und unwichtige Adelige, Diplomaten der Nachbarländer, sie alle standen mit Sektkelchen in den Händen da, Vertreter des Feenvolkes flogen durch den hohen Raum und über allem thronten die amarischen Könige, der Mensch und der Elf. Jedes Gespräch im Raum, jedes Flüstern und Kichern erstarb sofort, als die Ankündigung des Dieners vorbei war. Es war so still, daß Misandul meinte, seine eigenen Augenlider rascheln hören zu können. Er versuchte trotzig zu schauen, wußte aber nicht, ob es ihm gelang, ebensowenig vermochte er in den steinernen Gesichtern der Anwesenden zu lesen. Wollte man ihn feiern? Anklagen? Misandul wußte es einfach nicht, aber der Moment, der natürlich nur sehr kurz währte, kam ihm endlos lange vor. Schließlich trat eine elfische Frau hervor. In diesem Augenblick erkannte Misandul sie nicht, später würde ihm ihr Name wieder einfallen; es war Faerin, Manderyllens Frau, und sie begann zu klatschen. Zunächst ganz langsam, dann immer schneller und so, wie sich ihr Tempo steigerte, kamen nach und nach immer mehr der Männer und Frauen hinzu, allesamt klatschten sie nun, anerkennende Blicke oder ein freundliches Nicken nahmen dem Krieger endgültig die Angst. Als die Geräuschkulisse unerträglich laut zu drohen wurde, erhob sich der menschliche König Amariens, klatschte ebenfalls und beendete die Ehrung schließlich mit einer Geste. „Wir freuen uns, daß wenigstens einer der tapferen Krieger, die unsere Truppen in unserer Abwesenheit geführt haben, den heutigen Tag überlebt hat 108
und hier mit uns feiert. Es hat uns,“ sagte er nach einem Moment bedächtigen Schweigens, „mit großer Trauer und Anteilnahme erfüllt, als wir vernommen haben, daß der Kriegsherr selbst nicht mehr unter uns weilt. Auf Gwyn ap Annwn!“ Er hob sein Glas und Misandul wollte gerade einen Schluck aus dem seinigen nehmen, daß man ihm eilig in die Hand gedrückt hatte, als er merkte, daß der König seinen Toast noch nicht beendet hatte. Der elfische Hochkönig erhob sich von seinem Thron. „Auf Daaleryk gil Ravardry! Auf Herrn Erkenbrand!“ Auch er schaute nachdenklich in die Runde und sagte erst dann: „Und ganz besonders wollen wir Samira Gasai und Figul ji Natek ehren, ohne deren Opfer keiner von uns hoffen dürfte, sein Leben hier oder an irgendeinem anderen Ort führen zu dürfen.“ Der menschliche König fügte noch einen Satz an, der in Misanduls Ohren zwar ein wenig formelhaft, aber nicht weniger nachdrücklich und ernst klang, als das bisher gesagte. „In Gedenken an die tapferen Männer und Frauen, die heute in unserem Auftrag und zu unserem Schutze ihr Leben gelassen haben. Möge Orhan ihrer Seelen gnädig sein.“ Er hob das Glas, senkte den Blick und nahm einen tiefen Zug aus seinem Sektkelch. Die anwesenden Würdenträger taten es ihm gleich und auch Misandul bildete keine Ausnahme. „ Wenn du einen Mann tötest, bist du ein Mörder. Wenn du zehn tötest, bist du ein Monster. Wenn du hundert tötest, bist du ein Held. Wenn du zehntausend tötest, bist du ein Kriegsheld.” (Boyar Alexandr von Kislev)
Später am Abend, Misandul war bereits sehr erschöpft vom ständigen Wiederholen der jüngsten Ereignisse, schlenderte er durch den Thronsaal, trank zu viel und suchte nach jemandem, den er kannte. Er hätte nie geglaubt, wie einsam man in einer solchen Menge aus Leuten sein könnte und Samira, Erkenbrand und die anderen fehlten ihm. Irgendwann im Laufe der Feier hatte er Samani gesehen, aber nur sehr kurz und er kam nicht von einigen Adligen aus Kallwangen weg, denen es nicht genügte, einen Bericht der Schlacht zu hören, sondern die am liebsten jeden einzelnen Schlagabtausch, jeden Hieb und Stich, jede Parade und jeden Schritt erzählt bekommen hätten. Es war furchtbar. Misandul hatte gehofft, seine Einsamkeit und seine Trauer über den Verlust seiner Freunde, seiner einzigen Freunde in dieser Welt, in Sekt und Wein ertränken zu können, aber mit jedem Becher wurde es schlimmer, die Leute nervten ihn und jeder, der ihn für seinen tapferen Kampf bewunderte, schien ihn in Wahrheit dazu zu gratulieren, daß er abertausende von Männern in den sicheren Tod geschickt hatte. Er fühlte sich furchtbar und das um ihn herum alle den Grund dafür feierten, machte ihn langsam aber sicher aggressiv. Gern hätte er sich mit Admiral Nerwah unterhalten oder auch mit Shudden Mell, aber beide führten angeregte Diskussionen mit den amarischen Königen und die beiden waren die letzten Personen, mit denen er sprechen wollte. So sehr er sich gewünscht hatte, von ihnen gelobt zu werden, zumindest nicht bestraft, so wenig hätte er jetzt nur ein weiteres Wort der Anerkennung vertragen. Alles um 109
ihn herum war so schal und falsch, jedes Lächeln aufgesetzt, jede Bewegung anerzogen. Am liebsten wäre er einfach gegangen, doch er wußte, daß man von ihm erwartete, daß er zumindest noch mit den amarischen Generälen sprach. Zwar mußte er morgen ohnehin zu ihnen, aber natürlich waren auch sie da und würden nicht bis morgen warten können. Er goß sich von dem gesüßten Rotwein nach. Ein Faß von dem edlen Tropfen kostete fast soviel wie ein Pferd. Misandul mußte plötzlich ein Lachen unterdrücken. Da waren hier fast fünfhundert geladene Gäste und beinahe ebensoviele Bedienstete und keiner merkte, daß es sich um eine Trauerfeier handelte. Alle lachten, tranken, amüsierten sich prächtig und nur er wußte es. Nur er gedachte der Toten und, ja, er hätte heulen können. Sein unterdrücktes Lachen schlug um und er wischte sich eine Träne aus den Augen. Eine junge Adlige, eine menschliche Frau, verstand die Geste offenbar völlig falsch, kam breit lächelnd auf ihn zu und goß ihm noch einmal nach. „Ich glaube,“ hauchte sie, „ihr seid der tapferste Mann, dem ich je begegnet bin.“ Misandul sah sie unverhohlen angewidert an, aber auch das verstand sie falsch. „Entschuldigt, ich bin Baronin Genai von Hattmur.“ Was für einen winzigen Moment an Unsicherheit in ihrem Gesicht zu finden war, war dahin. Sie hatte offenbar gedacht, sie hätte einen protokollarischen Fehler begangen und die Situation gerettet. Die Baronin Genai von Hattmur, sie mochte vielleicht sechszehn Jahre zählen, verstand überhaupt nichts. „Ihr braucht natürlich keine Vorstellung. Misandul Aloa de Destrin.“ Sie verneigte sich, noch immer lächelnd. „Ich habe gehört, ihr seid ein Schwertkämpfer.“, sagte sie, um die peinliche Pause zu überbrücken, die entstand, weil Misandul immer noch nichts erwiederte. „Es ist wohl recht schwierig, die Eisbarbaren mit dem Schwert zu besiegen, weil sie so groß sind, meine ich. In Amarien bevorzugt man im Kampf gegen sie die Lanze. Man gleicht so ihren Vorteil in der Reichweite aus.“ Er zog sichtlich entnervt die Augenbrauen hoch. „Natürlich muß ich einem Mann wie euch nichts über die Kriegskunst erzählen,“ beeilte sie sich zu sagen, „schließlich seid ihr der Held von Jo'troom und ich bin nur eine Frau.“ Misandul wollte hier weg. Er wollte sich einfach nur umdrehen, die Baronin Baronin und die Genräle Genräle sein lassen. Er wollte wieder auf seinen Hof, nach Hause – zu Dajukin. Aber da war noch ein anderer Impuls in ihm und da er bereits stark angetrunken war, gab er ihm nach. „Gegen wie viele Sherkai hast du denn schon gekämpft, meine Kleine? Wieviele Männer hast du überhaupt schon getötet? Keine? Dann erzähl mir nicht, wie man einen Mann umbringt. Glaube mir, ich weiß, wie das geht.“ „Sie verstehen mich falsch, ich wollte nicht ...“ „Ich verstehe dich sehr gut. Aber du irrst dich. Es ist nichts heroisches dabei. Man steht sich gegenüber und man sieht im Blick des anderen, daß es keinen Ausweg mehr gibt, daß nur einer von beiden weiterleben darf, weil diese gottverdammte Welt angeblich nicht groß genug ist. Nach Hause, zu Frau und Kind, kann leider nur einer, der andere hat einfach Pech.“ Misandul merkte, daß er lallte und er wußte, daß er aufhören sollte, aber er hatte sich so in Rage geredet, daß er gar nicht mehr anders konnte. „Und dann stößt du kalten Stahl in seinen Körper und obwohl er es ist, der blutet, schreit und stirbt, zuckst du auch zusammen, weil es so schrecklich 110
nahe ist. Weil es eben nicht reicht, daß der andere nicht mehr zu seiner Frau und seinen Kindern darf, nein, du, du, du mußt auch noch der Grund dafür sein. Deinetwegen muß er sein Leben lassen. Und wenn du das einmal gemacht hast, dann stirbt auch in dir etwas. Mit dem Mann, den du gerade getötet hast, stirbt etwas von deiner Lebenskraft, deiner Freude, der ... Schlichtheit deines Lebens. Mit jedem Mann, den du tötest, stirbst auch du.“ Sie war unter all ihrer Schminke kreidebleich, wahrscheinlich aber nicht wegen seiner Worte, sondern wegen seiner Art, da machte Misandul sich keine Illusionen. „Als ich eure Künste als Schwertkämpfer ...“ Er lachte laut auf und einige der umstehenden Leute sahen interessiert hinüber. „Künste? Künste? Hast du mir nicht zugehört? Einen Mann zu töten ist das genaue Gegenteil von Kunst. Wenn du getötet hast, dann gibt es in deinem Leben keine Kunst mehr. Meine Künste mit dem Schwert?“ Misandul zog seine Klinge und die Baronin wich entsetzt zurück. Er nahm die Klinge und drückte ihr den Griff in die kleine Hand. „Da, nehmt mein Schwert. Ich will es nicht mehr. Ich habe heute genug Leid für ein ganzes dutzend Leben gesehen. Ich brauche es nicht mehr, denn ich bin meiner eigenen Schwertkunst müde. Hiermit gelobe ich, nie wieder ein Schwert anzufassen. Ich gehe anstatt des nächsten Mannes nach Hause. Mein Heim,“ sagte er und winkte müde ab, „befindet sich ohnehin nicht auf dieser Welt. Möge irgendein Gott meiner Seele gnädig sein.“ Er drehte sich um und ging mit schweren Schritten davon. Weit kam er aber nicht. „Ihr seid Misandul?“ Er hob den Blick. Vor ihm stand ein junger Mann, vielleicht um die zwanzig. Er sah außergewöhnlich gut aus, lockige dunkle Haare, blaue Augen – er schien dem Lied eines Barden entstiegen zu sein. Zudem bewies er mit seiner teuren Kleidung Geschmack. Misandul erkannte das Wappen nicht, aber der amarische Hahn in der linken Ecke des viergeteilten Schildes wiesen ihn als einen der zahllosen Vassallen der Doppelkrone aus. „Entschuldigt, daß ich euch anspreche, aber ich habe eine Frage.“ In diesem Moment wurde Misandul klar, daß es kein Entkommen gab. Nicht hier, nicht an diesem Ort. Vielleicht war er tot und auf Charon? „Ich bin gerade erst aus der Daikur Provinz gekommen. Ist Samira Gasai auch hier?“ Er wußte nicht so genau, was er sagen wollte, denn er wollte auf keinenfall ein längeres Gespräch provozieren. „Samira Gasai ist tot.“ „Es tut mit sehr leid, daß zu hören. Ich hätte sie gerne kennengelernt. Man sagte mir sie sei sehr schön gewesen und ich hätte sie gerne zu einem Tanz aufgefordert.“ Verständnislos sah er auf. Hatte der Mann den Verstand verloren? Misandul wollte gerade etwas heftiges erwiedern, als sein Blick, der abschätzig über das Gesicht seines Gegenübers glitt, an dessen Augen hängen blieb. Diese Augen ... diese blauen Augen. Sein Blick verengte sich, die Augen schienen zu wachsen, wurden größer und größer bis sie schließlich das einzige waren, was er sehen konnte; die Haut um die Augen wurde pergamentartig, wächsern, wuchsen zu dicken Falten und da erkannte er ihn endlich. 111
„Destrin!“ „Ich bin gekommen, um mich von Dir zu verabschieden, mein Falke.“ Er wollte etwas erwiedern, aber er konnte nicht. Er löste stattdessen seinen Blick. Die Welt um ihn stand still, wie eingefroren. Niemand bewegte sich, die Flammen an den Kronleuchtern zuckten nicht und die Sektperlen in den Gläsern bildeten starre Ketten. Destrin lächelte väterlich. „Du hast dich heute sehr tapfer geschlagen und mutig gekämpft. Ich betrachte unseren Streit als beigelegt. Du bist aus dem Bann genommen und ich werde dich nicht weiter verfolgen, sondern in Frieden in dieser Welt leben lassen. Wir schulden einander nun nichts mehr. Die Wege trennen sich.“ „Wie kommst du darauf, daß mein Zorn verraucht ist. Was läßt dich glauben, daß ich nicht alles unternehmen werde, um dich zu töten.“ Destrin lachte abermals freundlich. „Du bist sehr müde, mein Falke. Und am Ende warst du es, der mich enttäuscht hat. Ich hatte großes mit dir vor.“ „Du bist ein Monster, Destrin. Du hast die Frau getötet, die ich liebe.“ „Weil du frei sein mußtest, für die Aufgaben, die dir bevorstanden. Frei und zornig. Doch all das spielt nun keine Rolle mehr. Ich habe deinen Schwur vernommen und ich blicke in dein Herz. Du wirst nicht mehr kämpfen. Dir steht ein langes Leben in Reichtum und Ehre bevor und ich habe mich entschloßen, dies zu respektieren. Das du mich verraten hast, ist damit beglichen.“ „Deine Enttäuschung war nicht der Grund dieses Konflikts, jedenfalls nicht von meiner Seite aus.“ „Begreifst du es denn immer noch nicht? Du hast überhaupt keine Seite.” Er lachte herzlich, als hätte Misandul einen wirklich guten Witz erzählt. „Und nun flieg! Flieg, flieg, mein Falke. Du bist frei.“ Mit diesem Worten wandte Destrin Misandul den Rücken zu und schob sich zwischen zwei Rittern durch. Als er hinterher wollte, sah er nur eine Reihe tanzender Frauen; Destrin, in welcher Gestalt auch immer, konnte er nicht ausmachen. Die Hasen spielen nicht mehr, die Vögelchen sind müde. Die Butterblumen falten sich ein. Gute Nacht, gute Nacht mein Liebling. Den Kindern rings im Land, den Kindern in der Stadt, fallen die Augen zu. Gute Nacht, gute Nacht meine Schöne. („Gute Nacht”, Rose Fyleman)
Er sah gerade noch, wie ihr weißes Gewand zwischen dem stark verzierten Rahmen und der dicken Tür verschwand. Dann fiel die Pforte ins Schloß, aber Misandul drückte den schweren Messinggriff hinunter und stieß das schwere Portal mühsam auf. Samani lief die Stufen bereits weiter nach oben, er konnte ihre Schuhe auf dem Marmor hören. Was ihn zu solcher Eile trieb wußte er nicht zu sagen; er hatte einfach das Gefühl, daß er schnell bei dieser Frau sein mußte. Ganz oben hatte er sie endlich eingeholt. Er lief durch eine weitere Tür und da stand sie, an der Brüstung eines riesigen Balkons, der – als einer von vielen – aus dem Haupthaus des königlichen amarischen Palastes herausstach. Unter ihnen mochte es 60, vielleicht auch 70 Meter in die Tiefe gehen. Misandul war kein furchtsamer Mann, aber etwas in ihm zog sich auf höchst unangenehme Weise zusammen, wenn er auf den in Schatten getauchten Hof schaute, der sich wie ein riesiges Bild zu ihren Füßen ausbreitete. 112
„Samani? Ist alles in Ordnung?“ Er kam sich sofort dumm vor. Ihr Geliebter war noch nicht einmal 20 Stunden tot, alle um sie herum feierten ausgelassen und er fragte diese arme Seele, ob alles in Ordnung sei. Trotzdem lächelte sie tapfer. Die Tränen hatten ihre Schminke in häßliche schwarze Streifen verwandelt, ihr Gesicht wirkte bleich, fast fahl und eingefallen, aber selbst jetzt noch war sie eine wunderschöne Frau. „Ich ... ich vermisse ihn so.“ Der eiskalte amarische Wind zerrte an ihrem dünnen Festkleid und Misandul legte den Arm um ihre Schulter. Fast unmerklich zuckte sie unter der Berührung zusammen. „Ich will zu ihm.“ Er lächelte traurig. „Das wirst du, du wirst zu ihm kommen, aber erst in vielen Jahren, wenn du dein eigenes Leben gelebt hast.“ Samani begann wieder zu weinen und ihre Tränen funkelten wie rötliche Edelsteine in der aufgehenden Sonne. „Du weißt nicht, was es bedeutet ihn zu verlieren. Auf der ganzen Welt habe ich niemanden mehr, ich habe überhaupt nichts mehr. Er war alles was ich will und das weiß ich erst jetzt, wo er tot ist.“ Sie schluchzte und Misandul drückte sie an sich. „Du hast noch so vieles Samani. Dir erscheint es jetzt, als hätte man dich deines Lebens beraubt, aber deine Vergangenheit, deine Erinnerungen, all die schönen Stunden, das kann dir keiner nehmen. Und was deine Zukunft betrifft, so liegt sie in deiner Hand. Es ist nur die Gegenwart, die dir genommen ist und was wäre flüchtiger als der Augenblick?“ Sie schnaubte verächtlich. „Was weißt du schon von Verlusten, Misandul?“ „Ich habe meine Vergangenheit verloren, denn alles wofür ich je gekämpft habe, war eine Lüge, die Welt eines Vampirs. Meine Verlobte hat er mir genommen, aber ich kann nicht mit der Gewißheit leben, daß ihre Seele an einem besseren Ort ist, denn sie ist nun ebenfalls Nosferatu. Ich bin hier gestrandet. Außer dir und Shudden Mell kenne ich wirklich niemanden auf dieser Welt. Eine Zukunft habe ich nicht, denn das Schiff, das mich aufgenommen hat, gibt es ebenfalls nicht mehr und so stehe ich hier auf diesem Turm, aber selbst der Trost, den ich in meiner Verzweiflung zu geben versuche, verhallt ungehört. Morgen sind die Feierlichkeiten vorbei. Alle werden nach Hause gehen, heimkehren in die amarischen Städte, nach Stroane, Bajork, wo auch immer sie hergekommen sind – alle kehren sie zurück in den Kreis ihrer Lieben. Ich werde morgen nirgendwo hingehen.“ Sie sah ihn zum ersten mal an und umarmte ihn. „Ich hatte ja keine Ahnung“ hauchte sie, aber er spürte, daß ihr Interesse an ihm trotzdem nur oberflächlich war, ein Lippenbekenntnis, nicht aus Desinteresse, sondern weil ihr eigener Schmerz alles überschwemmte und sie in ein tiefes schwarzes Loch spülte. Er hatte es wirklich nicht leicht, aber sie tat ihm trotzdem leid. „Ihre Feier ertrage ich nicht. Es ist, als würden sie auf seinem Grab tanzen.“ „Sie wollen ihn doch nur ehren, bekunden, daß sein Tod einen Sinn hatte.“ sagte er ihr. 113
„Einen Sinn? Hatte sein Tod einen Sinn? Oh ja, er ist gestorben für Amarien. Für Orhan und das Gute. Und was ist mit mir? Wäre sein Leben mit mir nicht Sinn genug gewesen? Hat das Shaal nicht genügt? Bin ich nicht gut genug? Nicht wichtig genug?“ Misandul löste sich aus ihrer Umarmung und ging ein paar Schritte. Sein ganzes Leben lang war er Krieger gewesen und er hatte schon oft jungen Frauen beibringen müssen, daß ihre Männer nicht mehr heim kommen würden. „Samani, Daaleryk, du, ich, wir alle sind nur Figuren in einem Spiel dessen Regeln wir nicht kennen. Wir können nur versuchen, den Platz, den man uns zugewiesen hat, so gut wie möglich auszufüllen. Wir müssen unsere Aufgabe aus unseren Lebensumständen ableiten und ausführen. Mehr können wir nicht tun. Daaleryks Leben war vielleicht nicht lang, aber er hat so vieles vollbracht und noch in Jahrhunderten wird er Menschen und Elfen inspirieren.“ Sie reagierte überraschend heftig: „Und was nützt es mir? Wie soll ich den morgigen Tag überstehen?“ Sie lehnte sich erschöpft an die niedrige Brüstung und starrte in den Abgrund. „Wie soll ich den heutigen Abend überstehen? Wie den nächsten Atemzug?“ Da begriff er, daß sie völlig zerbrochen war. „Er war mir Sonne und Mond, Licht und Wasser, seine Anwesenheit war wie eine Umarmung. Ohne ihn bin ich nicht. Ich bin tot. Ich will sterben.“ Misandul hatte ihren Zustand unterschätzt. Er hatte nur eine trauernde Frau gesehen, aber Samani war über die reine Trauer längst hinaus. Er begriff, warum sie sich diesen Balkon als Rückzugsort ausgesucht hatte; er verstand, und er hatte Angst, denn er wußte nicht, was er tun sollte. „Samani, bitte komm rein, es ist sehr kalt. Wir trinken etwas heißes und unterhalten uns drinnen weiter.“ Er griff ihre eiskalte Hand und sie ließ es geschehen, als wäre kein Leben mehr in ihr – ganz so, wie sie es gesagt hatte. Von der Brüstung konnte er sie allerdings nicht wegziehen, auch wenn ihre Hand scheinbar matt und kraftlos in seiner lag. „Bitte,“ in seiner Stimme lag ein flehendlicher Ton und er merkte, wie ihre tiefe Verzweiflung auf ihn überging, „bitte komm mit rein.“ Sie schaute noch immer in die Tiefe. „Ich will sterben.“ In Samanis Stimme lag nichts als Resignation, keine Trauer, keine Furcht – nichts. Misandul kämpfte mit einem Kloß in seinem Hals. „Es ... es sind doch schon so viele gestorben.“ Sie lächelte und ihre Augen leuchteten, als hätte sich vor ihr ein Weg aufgetan. „Was macht es dann schon, ob ich sterbe oder nicht?“ „Ob du lebst oder stirbst,“ sagte er „ist ein Unterschied so groß wie ganz Kulthea. Geh nicht Samani, bleib bei mir. Überlege es dir, wenigstens noch einen Moment, einen heißen Met lang, bitte komm rein. Bitte.“ Sie nickte ergeben. Er packte ihre kleine Hand noch etwas fester und ihre Gelassenheit deutete er als einen kleinen Sieg. Obgleich er mit den Tränen kämpfte, weil es so furchtbar knapp gewesen war, jubelte er innerlich, denn nur ein einziges Leben gerettet zu haben, schien ihm plötzlich wichtiger, als der Sieg über die Sherkai an den Toren von Jo'troom. Er stieß die Tür auf und 114
sofort umfing ihn die Wärme des Palastes. Von unten schlugen ihnen die ausgelassene Heiterkeit des Siegesfestes entgegen. Musik, Gelächter, Stimmengewirr. Samani riß sich von ihm los, als er gerade durch die Tür war. Auf dem Schlachtfeld hätte er blitzschnell reagiert, jetzt war er vom Alkohol benebelt, seine Verwundungen schmerzten und sein Körper und seine Seele waren unendlich müde. Sie schlug die Tür zu und erst als sie eine der winzigen Statuen unter den Türgriff stellte, begriff er. Misandul war plötzlich wieder nüchtern. Durch das Bleiglas in der Tür beobachtete er, wie sie ganz langsam auf die Brüstung zuging, ihr Kleid wehte geisterhaft im Wind. Er machte einige Schritte zurück rannte nach vorne und warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. „SAMANI! Nein, bitte, mach die Tür auf! BITTE!“ Das Holz bebte unter der Wucht seiner Verzweiflung, aber es hielt. Daaleryks Verlobte war nur noch wenige Schritte von ihrem Abgrund entfernt. Wieder nahm er Anlauf, schickte ein Stoßgebet zu Shaal, dem einzigen Gott, den er auf dieser verfluchten Welt kannte und rannte noch einmal los. Die Tür zersplitterte und er bemerkte, daß er sich die Schulter verstaucht hatte, aber es war ihm gleichgültig. Sofort lief er stolpernd nach vorne, rief ihren Namen sah entsetzt, daß sie nicht langsamer wurde, nicht weiter nachdenken wollte; dann sah er, daß sie geschickt über die flache Brüstung kletterte, sich noch einmal umdrehte – und sich in die Tiefe stürzte. Misandul sprang. Er war viel zu weit von dem Rand des Balkons entfernt, um sie auch nur zu erreichen, aber er sprang trotzdem, schlug hart auf den Fliesen auf, schlitterte weiter, riß den Arm nach vorne, packte zu und griff genau zwischen ihre ausgestreckten Arme hindurch. Er rutschte noch etwas weiter, erst das Gitter bremste seinen Weg, und sah fassungslos, wie sie, ganz ohne zu schreien oder mit den Armen zu rudern, fiel. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ihre Gewändern breiteten sich im Wind wie Flügel aus, aber Misandul dachte nicht, daß sie fliegen könnte. Als sie dumpf auf dem dunklen Hof aufschlug, zerbrach etwas in ihm und die Tränen, die er den ganzen Tag zurückgehalten hatte, kamen mit aller Macht heraus. Er hatte nicht geweint, als er die zehntausenden Toten auf dem Schlachtfeld sah und nicht als er gehört hatte, daß Samira, Figul, Daaleryk und Gwyn tot waren. Er hatte nicht einmal geweint, als Erkenbrand sich für ihn geopfert hatte. Aber jetzt, jetzt weinte er hemmungslos, die Tränen liefen ihm rechts und links runter, er schluchzte, rollte sich auf die Seite, zog die Kniee an und weinte um Samani, seine toten Freunde, um Dajukin und um sich selbst. Der Schmerz der ganzen Welt schien sich wie ein dunkles, schweres Tuch über ihn zu legen, aber es wärmte ihn nicht und so weinte er wie ein kleines Kind. Es war Enide, die ihn über eine Stunde später dort fand – in eine Ecke zusammengekauert und weinend. „I've been to the edge. There I stood and looked down. You know I've lost a lot of friends there baby – I've got no time to mess around. So if you want me, you got to bleed baby.” („Ain't talking 'bout Love”, van Halen)
„Du gehst?“ Misandul sah seinen letzten Freund an. Er war der letzte aus dem Volk der Alben, der alten Hochelfen, nun, da Daaleryk tot war. Er war zugleich, aber das 115
ahnte keiner der beiden auch nur, der letzte der großen Garou, Kultheas Rächer und Jäger. Es schien, als sei ihre Zeit vorbei, als gäbe es, nun da die Malebolga vernichtet war, keine Herausforderungen mehr für sie. Es war ein Naturgesetz; mit der Beute verschwindet auch der Jäger. Shudden Mell schnallte drei der kurzen amarischen Wurfspeere an die rechte Seite seines großen Rucksacks und hob ihn dann leicht auf den Rücken. Er war so voll gepackt, daß die schwere Schlafrolle über seinem Kopf zu sehen war. „Ja“, sagte er schließlich, „ja, ich gehe. Destrin ist noch irgendwo da draußen.“ Einen Moment sah er verträumt aus dem schmahlen Fenster seines Turmzimmers, als könnte er den Vampirlord am Horizont schon sehen. „Solange er nicht vernichtet ist, ist er eine Quelle des Unheils. Ich muß ihn finden.“ Er band sich sein Schwertgehänge um und besfestigte es an dem breiten Gürtel. Er hielt plötzlich mitten in der Bewegung inne und Misandul hatte den Eindruck als wolle er nun endlich etwas sagen, etwas, daß ihm schon die ganze Zeit auf der Seele brannte. „Warum kommst du nicht mit?“ Der Alb sah auf. „Ich habe gehört, wie du dich in der Schlacht geschlagen hast – einen wie dich könnte ich gebrauchen. Außerdem kenne ich hier niemanden, genau wie du. Wir haben beide keine Heimat mehr, in die wir zurückgehen können.“ Er machte eine unsichere Pause. Das Schweigen stand zwischen ihnen wie eine Wand; beide kannten Misanduls Antwort. „Was sagst du?“ Misandul lächelte. Vor einigen Monaten noch hätte er ohne mit der Wimper zu zucken ja gesagt. Er hätte nur das Abenteuer gesehen, die wilde Romatik und vor allem eine Möglichkeit zu vergessen, sich eine neue Aufgabe zu geben. Aber heute war es gerade mal zwei Tage her, daß er vor dem Jo'troom gekämpft hatte; er hatte mehr Blut gesehen, als die meisten der ältesten Veteranen – mehr als er überhaupt je hatte sehen wollte. Er schüttelte den Kopf. „Ich habe mir geschworen, nie wieder eine Waffe anzufassen. Ich habe vorgestern so viel Leid gesehen, so viel Unrecht, Blutvergießen und Mord, das war mehr als genug für ein kurzes Menschenleben. Du folgst dieser Straße weiter, ich verurteile das nicht, denn deine Sache ist gerecht, aber ich kann nicht mitkommen. Ich kann nicht mehr kämpfen. Ich bin so müde. Ausgebrannt. Ich habe viel zuviel gesehen.“ Der Alb nickte verständnisvoll. „Auch ich achte deine Entscheidung. Manche Kämpfe müssen jedoch bis zum bitteren Ende ausgefochten werden und Destrin zu vernichten wird Kulthea sicherer machen.“ Nachdenklich sah er Misandul an. „Viele Alben haben im Laufe ihres Lebens eine ganze Reihe von Berufen und üben zahllose Tätigkeiten aus. Ich nicht. Ich habe schon immer gekämpft. Ich kann gar nicht anders und ich glaube, Gwyn und die anderen würden jetzt ebenfalls hier stehen, ihre Sachen packen und sich meiner Jagd anschließen. Es ist wie ein innerer Zwang, als wäre man der Held im Lied eines Barden. Gelderach, beispielsweise wähnt sich frei zu sein, selbst innerhalb der Realität eines Gedichtes, aber er ist es nicht. Er kann nur kämpfen und so ist es wohl auch mit mir. Manchmal, wenn ich die anderen sehe, wie sie abends nach 116
Hause gehen und ihr Weib und ihre Kinder auf sie warten, dann denke ich, daß ich sie beneiden müßte, daß es doch schön sein müßte, so ein ruhiges und geordnetes Leben zu führen. Manchmal stehe ich nachts an ihren Fenstern und lächele, aber ich zwinge mich dazu, denn mir ist nicht nach Lächeln zumute. Nein, ich beneide sie nicht. Ich bin ein Krieger.“ Misandul nickte, aber er verstand nichts von dem, was Shudden Mell ihm sagte. Nach den letzten Tagen hatte auch er keine Wahl mehr, denn des Kämpfens war er müde. Er überlegte, ob er dem Paladin von den Ländereien in Stroane erzählen sollte, aber er ahnte, daß er seinen Freund, seinen letzen und einzigen Freund, den er noch hatte, ohnehin nicht umstimmen konnte und aufhalten wollte er ihn ganz gewiß nicht. „Ich wünsche dir alles Glück für deine Reise. Möge Orhan dir stets sanftes Licht auf deinen Pfaden spenden und mögen die Götter deine Quest mit Wohlwollen verfolgen. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.“ Shudden Mell schloß die Riemen und Gurte an seinem Rucksack, steckte einen zweiten Schwertbrecher in die Scheide und legte dem Menschen die Hand auf die Schulter. „Auch ich wünsche dir alles gute, Frieden deiner Seele, und daß du nie wieder kämpfen mußt, zumindest nicht mit dem Schwert in der Hand. Zu glauben, man könne den anderen Kämpfen ausweichen ist ein Irrtum, aber das weißt du. Ich wünschte mir ebenfalls, dich eines Tages wiederzusehen, aber schon bald kehrst du nach Emer zurück, während Destrin zuletzt im hohen Norden gesehen wurde. Unsere Wege trennen sich hier und es ist eher unwahrscheinlich, daß wir einander noch einmal begegnen. Alles Gute und Shaal unter dir.“ Er drehte sich nicht einmal um, ging einfach zur Tür und verschwand in den labyrinthischen Gängen. Misandul stand noch eine Weile unschlüssig in dem Zimmer des Alben, dann trat er auf den Flur, wo bereits die Bediensteten darauf warteten, die letzten Spuren der Anwesenheit seines Freundes zu entfernen. Misandul und Mell sahen sich tatsächlich nie wieder. Eine Zeit lang hörte man noch Geschichten von einem Alben im Norden Kultheas und wann immer eine dieser Neuigkeiten Misandul erreichte, freute er sich, denn immerhin war sein Freund noch am Leben. Aber dann, er hätte nicht zu sagen vermocht, wann genau, hörte er nichts mehr von ihm; Shudden Mell verschwand und ward nie wieder auf Kulthea gesehen. Von dem Vampirlord Destrin allerdings, hörte man auch nichts mehr. Später am selben Tag stand Misandul mit Admiral Nerwah vor den geschlossenen Toren eines riesigen Docks. Der alte Mann war mühsam hierher gehumpelt, denn ein riesiges Monster, Plage genannt, hatte ihm das rechte Bein abgerissen und er hatte noch nicht viel Zeit, mit der Elfenbeinprothese das Laufen zu üben. Gemeinsam mit Misandul stieß er das Doppeltor auf und die beiden Männer standen in einem überdachten Dock, groß genug, um ein Kriegsschiff von der Größe der „Gerechtigkeit“ zu bauen und zu warten. Im Moment aber, war hier an Reparaturarbeiten nicht zu denken. Der ganze hintere Gebäudeteil war wie von riesigen Klauen weggerissen und das Schiff, das hier lag, war nur noch ein großer Haufen Brennholz. Beide Männer starrten gebannt auf die Schiffsreste, der Admiral voller Ehrfurcht, Misandul unsicher, warum Nerwah ihm diesen Ort zeigte. 117
„Es war ein gutes Schiff.“ sagte der alte Mann schließlich seufzend und endlich verstand der Jüngere. „Es war,“ er suchte nach den richtigen Worten, um seinen Beileid Ausdruck zu verleihen, denn nun spürte er instinktiv die emotionale Verbindung zwischen diesem Mann und der „Reisenden“, „ein tapferes Schiff. Wie hat sie ...?“ Nerwah drehte sich traurig lächelnd zu dem Krieger um. „Ganz zu Beginn der Schlacht, noch bevor sie irgendetwas anderes tat, löste sich wohl ein einziger Schuß, den alle zunächst für schlecht gezielt hielten. Aber er war keineswegs unpräzise, im Gegenteil, er fand seinen Weg durch die ganze Hafenanlage bis zu diesem Dock, wo er das einzige Objekt zerstörte, das der Malebolga jemals entkommen ist; die „Reisende“. Es war ihre letzte Rache.“ Misandul nickte. Er hatte die Malebolga nie gesehen und es fiel ihm schwer, den Beschreibungen der Männer auch nur Glauben zu schenken, aber dieser Beweis ihrer Vernichtungskraft und ihrer Boshaftigkeit beeindruckte ihn. Der Trümmerhaufen vor ihm war nicht einmal mehr als Schiff zu erkennen. Nerwah hatte offenbar etwas entdeckt, denn er humpelte etwas ungelenk auf den Holzberg zu, räumte einige Planken beiseite, drehte sich dann um und wollte etwas zu ihm sagen, aber Misandul fiel ihm ins Wort. Er hatte eine Frage, die ihn schon die ganze Zeit bewegte und er hatte sich bereits gestern vorgenommen, den alten Admiral zu fragen. „Haben wir die alten Prophezeiungen tatsächlich erfüllt? Ich meine, haben wir in Gottes Auftrag gehandelt?” Nerwah lächelte breit. „Du fragst, weil du Gottes Anwesenheit weder gesehen, noch gespürt hast?” Es war eigentlich keine Frage, die er ihm stellte. „Ja. Ich meine, es ist nicht nur das Leid, am Ende war es eine ganz gewöhnliche Schlacht, oder nicht? Das es um so viel mehr ging hat am eigentlichen Kampf gar nichts geändert.” Misandul machte eine nachdenkliche Pause. „Oder doch? Hat es das möglicherweise doch?” Nerwah legte ihm freundschaftlich die Hand auf seine Schulter. „Die Frage mag interessant sein, aber sie ist unwichtig. Wurde die Prophezeiung geschrieben, damit sich Männer finden, die die Malebolga eines Tages aufhalten würden? Bot sie tatsächlich einen Blick in zukünftige Ereignisse? Immerhin, eine konkrete Handlungsanweisung war ihr nicht zu entnehmen und jene Männer, die dem uralten Schrecken Einhalt gebieten sollten, waren nicht weiter beschrieben. Am Ende hätte es jeder sein können. Am Ende sind es aber die Taten und nicht die Worte – geschriebene, wie gesprochene – die die Geschichte ausmachen. Und die Aufforderung der Prophezeiung bestand vielleicht nur darin – sich aufzuraffen.” „Gott war also nicht hier?” „Gott ist immer bei uns. Aber das hier ist unsere Welt und wir leben hier. Ich glaube, Shaal'ar mag Männer, die ihre Probleme selbst lösen und das ist euch gelungen. Alles andere ist müßig.” Er drehte sich wieder zu seinem zerstörten Schiff. „Habt ihr euch schon entschieden, wie es nun weitergehen soll, Misandul? Werdet ihr das Angebot Amariens oder das Stroanes annehmen?“ Misandul schüttelte den Kopf und sah zu Boden. „Ich weiß es nicht. Vielleicht keines von beiden. Shudden Mell habe ich 118
gesagt, ich würde nach Stroane gehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das
wirklich will. Letzlich sind beide Länder nicht mein Zuhause.“
Der Admiral nickte verständnisvoll.
„Ich möchte euch etwas schenken.“ Er zog das Steuerrad der „Reisenden“ aus den Trümmern. „Die „Reisende“ brauchte gar kein Steuerrad, so wie andere Schiffe. Es war kreissrund und konnte nur magisch manövriert werden. Aber es hatte uns stets angezeigt, wohin wir unterwegs waren. Ich wünschte, dieses Steuerrad könnte nun etwas ähnliches für dich tun. Du bist ein tapferer Mann, Misandul und beide Länder, Amarien ebenso wie die Triade können sich glücklich schätzen einem so großen Mann wie dir eine Heimat zu schenken. Willkommen bist du in beiden, aber das weißt du.“ Misandul nickte dankbar. Er hatte Nerwah sehr gern und obgleich er jetzt noch zögerte, wußte er tief in seinem Herzen längst, daß er nach Stroane wollte. Er würde Enide fragen, ob sie ihn begleiten wolle und das würde sie auch tatsächlich tun, denn auch sie hatte in Amarien nichts mehr, was sie noch hielt. Gemeinsam würden sie viele Jahre auf dem Gut in Stroane leben und schließlich würde Enide sterben – am Ende eines langen, glücklichen Lebens. Misandul würde sie überleben, seinen Eid nie wieder eine Waffe anzufassen brach er bis zu dem Tag seines Todes nicht. Als die Triade in den großen Krieg hineinmanövriert wurde, an dem sie schließlich zerbrechen sollte, bot der alte Mann seine Dienste als Berater an und starb schließlich im Alter von 71 Jahren bei der Belagerung von Bajorks Faust. Mit dem Schwert in der Hand versuchte er den Kindern und Frauen einige Sekunden gegen die Feinde zu erkaufen, die die letzten Verteidigungsanlagen längst überrannt hatten – ohne Erfolg, aber das bekam er schon nicht mehr mit. Auf seinem Gut in Stroane ist eine Gedenktafel für ihn angebracht, aber auch seine Burg wurde von den plündernden Horden geschliffen und so erinnert man sich nur noch in Amarien an Misandul, den Falken Destrins. „Nachdem man William H. Boney, besser bekannt als „Billy the Kid”, in Fort Lauderdale begraben hatte, fand sich eines morgens eine Inschrift auf dem Grabstein. Sie bestand nur aus einem einzigen Wort – Freunde.” („Young Guns”)
Geht man im Finn Tarakis vom königlichen Palast aus über den Cronberg, vorbei an den Handelskontoren, den teuren Hurenhäusern und den Stadtvillen der reichsten Händler, kommt man auf den Platz der Raben. Viele Wanderer halten hier einen Moment inne, trinken – bei schönem Wetter - ein kühles Bier oder einen würzigen Wein im Gasthaus „Des Königs Waffen“ und nehmen ihren Spaziergang durch die amarische Hauptstadt wieder auf, gehen ein Stück am blauen Tarak vorbei, wenden sich dann schließlich nach links in die Bardengasse und stehen vor einem altertümlichen Bau, einer Art Dom, deren riesige Kuppel sicher weithin für Aufmerksamkeit sorgen würde, wären nicht die umliegenden Gebäude im Laufe der Zeit noch höher gewachsen. So liegt es stets im Schatten der anderen Häuser und Türme und ist, selbst bei den Männern und Frauen, die direkt an dem Dom wohnen, in Vergessenheit geraten. Die Mauern des Hauses sind verwittert und das es einmal verputzt war, mag man kaum glauben. Die Fenster sind milchig und einige mittlerweile 119
zerbrochen, ob sie eingeworfen wurden oder durch die Last ihrer Jahre zerfielen, weiß man nicht mehr. Die Statuen, die den Eingangsbereich zieren sind durch die Jahrhunderte, die sie gesehen haben, ganz grau und unansehnlich geworden, bei einigen kann man selbst bei aufmerksamer Betrachtung nicht mehr sagen, ob sie einen Menschen oder einen Elfen darstellen und bei manchen sieht man nicht einmal mehr, ob es sich um die Darstellung eines Mannes oder einer Frau handelt. Ein Schild, das über die Funktion des Hauses Auskunft geben könnte, gibt es nicht mehr. Es gab mal eines, aber die Halterung zerrostete; schließlich fiel es ab und einige spielende Kinder nahmen es mit. Das Kopfsteinpflaster auf dem kleinen Platz vor dem Dom ist aufgebrochen und kaputt und selbst an sehr warmen Tagen gibt es immer Pfützen vor dem Haus. Das dort niemand lebt, da sind die Amarier sich einig und sie haben recht. Einst war das Archiv – denn das ist es – keineswegs unbelebt, gelehrte Männer und Frauen studierten hier die Geschichte einer Schlacht und auch Besucher waren stets willkommen. Wagt man es heute, hineinzugehen, aber das tut heute eigentlich niemand mehr, dann findet man sich unversehens in einem großen, kühlen, dunklen Raum wieder. Es riecht modrig in dem alten Haus, fast wie in einer Gruft. Rechts vom Eingang kann man einige ehemals goldene Schilder sehen. Seltsam altmodische Namen stehen darauf, „beherztes Handeln“, „Glaube“, „Tapferkeit“ und „Entschlossenheit“. Sie sind im Laufe der Zeit alle grün geworden und man muß sich ein bißchen vorbeugen, um in dem dämmrigen Licht überhaupt etwas erkennen zu können. Einen besonderen Platz unter diesen Schildern nimmt eines ein, das mehr als doppelt so groß ist, wie die anderen. Es ist als einziges nicht aus Gold, sondern, nach bajorkanischer Art, aus Bronze. Darauf steht in verschnörkelten Buchstaben ein Wort, das kein Besucher des Archivss lesen könnte. Deshalb befindet sich darunter eine kleine Metalltafel auf der eingeritzt die amarische Übersetzung des Wortes steht. Es heißt „Reisende“. Links findet sich, in einem alten Kreidekreis, der schon vor langer Zeit einmal hätte nachgezogen werden müssen, eine riesige Klaue. Diese Kralle ist so groß, daß man einige Schritte zurückgehen muß, um zu erkennen, um was es sich handelt. Selbst heute noch ist sie so scharf, daß man damit Stahl mühelos durchtrennen kann. Wenn man sie eine Weile anstarrt – und man starrt sie nach einer Weile unwillkürlich an – dann wird einem seltsam zumute, um nicht zu sagen übel. Der Weg führt einen weiter nach hinten und an den Wänden hängen Pergamentfetzen, Waffen rosten vor sich hin, eine alte Rüstung ist irgendwann mal umgekippt und liegt nun quer über den Weg. Das ausgerechnet diese Rüstung nicht amarisch sondern aus einem längst untergegangen Reich namens Stroane stammt, kann man hier nirgendwo erfahren, aber es kommt ja ohnehin niemand. Am Ende des Raumes schließlich steht eine Gruppe von staubigen Statuen; jede von ihnen ist so groß, wie die dargestellte Person gewesen sein muß. In ihrer Mitte, den Blick aus dem einzigen Auge starr nach vorne gerichtet ein Ritter. In seiner linken hält er einen mächtigen Streitkolben und obgleich seine altmodische Rüstung völlig zerspellt ist, wirkt er unverletzt. Sein Gesichtsausdruck ist grimmig und man weicht instinktiv vor ihm zurück, so aggressiv wirkt selbst seine Darstellung noch. Zu seiner rechten eine Frau, größer als der Ritter, aber nicht einmal halb so breit. Graziler als ein Elf steht sie da, von so betörender Schönheit, daß selbst 120
diese Statue damals, in den alten Tagen, in nicht wenigen Besuchern Begehren weckte. Im Gegensatz zu dem Ritter lächelt sie, aber ihr Blick ist nicht weniger entschlossen. Das sie einmal schwarz war, kann man nicht mehr sehen. Links von dem Ritter steht ein winziger Mann, drahtig, glatzköpfig und nicht größer als ein fünfjähriges Kind. Von allen wirkt er am härtesten, als wäre auch das Orginal aus Stein gemeißelt und früher haben sich die Kinder manchmal vor ihm hinter ihren Eltern versteckt. Er zielt mit einer altertümlichen Armbrust auf seinen Betrachter und fast meint man, den tödlichen Bolzen zu spüren. Neben diesem kleinen Mann steht ein Mensch – kein Amarier, nein, dafür ist er zu klein. Sein Blick wirkt im ersten Moment entschlossen, aber dann sieht man, daß er unsicher in der Ferne schaut, oder vielleicht auch in die Zukunft. Er trägt eine amarische Rüstung und das Schwert in seiner Faust ist fast so lang, wie der kleine Mann neben ihm. Diese Figur ist sehr traurig; sein Haupt ist gebeugt und eine silberne Träne läuft ihm für immer die metallerne Wange hinunter. Neben der Frau, auf der anderen Seite des Ritters, steht ein Krylit und das ist sonderbar, denn wie jeder weiß gibt es keine Kryliten mehr – die Amarier haben dieses Ungeziefer ausgerottet und man kann sich heute nicht mehr erklären, warum er hier eine Abbildung gefunden hat. Er scheint gleichberechtigt neben diesen Helden zu stehen, nicht als Opfer. Seinen Gesichtsausdruck zu deuten ist selbstverständlich nicht möglich – wer könnte das schon? Neben den Kryliten steht ein Elf mit viel zu großen Augen. Auch das ist sonderbar, denn die anderen Figuren wirken so lebensecht. Wieso der Künstler ausgerechnet hier so übertrieben hat? Er sieht sehr traurig aus und in dem amarischen Schild, der neben seinen Beinen lehnt, stecken zahllose Pfeile, jeder so dick wie ein Zeigefinger. Das Sonderbarste an diesen Statuen ist aber das Schild, das auf dem Sockel zu finden ist. Einmal mehr kann man die eigenartigen Runen sehen, die auch das Bronzeschild zieren, aber auch hier gibt es eine Übersetzung ins amarische. Diese Platte ist nicht aus Gold – sie ist aus Platin, denn scheinbar waren diese Männer und diese Frau vor Urzeiten einmal sehr bedeutend. Dieses Schild ist noch gut zu lesen, denn es hat die Jahrhunderte gut überstanden. Darauf ist zu lesen: Sie wurden niemals besiegt – nur getötet.
Unseren Freunden vom ersten Außenteam. Ihr fehlt uns.
„Und der Rabe rührt sich nimmer, sitzt noch immer, sitzt noch immer auf der bleichen Pallast Büste überm Türsims wie vorher; und in seinen Augenhöhlen eines Dämons Träume schwelen!“ („Der Rabe”, E.A. Poe)
Heiß brannte die Sonne auf der staubigen Straße. Goldene Felder, nur hier und da durchbrochen von einigen Hecken und langen, schlanken Bäumen, sonst nichts, soweit das Auge reicht. Im Schatten eines dieser Bäume stand der dunkle Mann und dachte nach. Er vermißte die anderen. Nicht, daß sie ihm als Personen gefehlt hätten, es war eher die Situation als ganzes oder noch präziser 121
die Position, die er in dem komplizierten Wirkungsgeflecht eingenommen hatte, das und nichts anderes fehlte ihm. Aber es half alles nichts, er hatte einige Jahre hart gearbeitet und er hatte bekommen, was er wollte. Als die Malebolga starb war er nicht nur da, er war auch bereit. Sie war ausgeblutet und er hatte getrunken. Er hatte einen Moment lang gefürchtet, daß er es nicht überwältigen könnte, daß es ihn vernichten würde und er nichts anderes als ein Gefäß für die rohen Energien sein würde, aber er hatte es geschafft. Die Malebolga gab es nicht mehr. Der Demiurg war gestürzt. All die Jahre des Planens, des Zusammenführens der richtigen Personen und das Aussieben der falschen, die nächtlichen Kontaktrituale und das Morden – alles hatte sich letztlich ausgezahlt. Es war ein voller Erfolg, aber trotzdem, trotz der gewaltigen Macht, die er nun hatte, er fand seinen Abgang doch unbefriedigend. Was aber im Moment viel wichtiger war, war der Neuanfang. Die ersten Seiten eines neuen Buches waren doch immer die besten; die Personen stellten sich vor, das Problem wird umrißen und wie in einem dunklen Sog ist der Leser geradezu gefangen. Er richtete sich auf. Zeit, sich vorzustellen. Zeit, einen gewaltigen Sog zu entfesseln. Hinter einer Biegung kam ein kleiner Junge zum Vorschein. Seine ärmliche braune Kleidung wies ihn als das Kind eines Bauern oder einer ähnlich bedeutungslosen Person aus, aber was den dunklen Mann faszinierte, war die Seligkeit auf dem breiten Gesicht des Kleinen. Er lief bald hierhin und bald dorthin, schaute den Vögeln nach, hielt dann plötzlich inne und nahm einen besonders interessanten Stein mit und bei alledem sang er ein dummes, kleines Lied. Er wartete, bis das Kind fast bei ihm war, dann trat er aus dem Schatten und sprach ihn an: „Wie heißt du, Kleiner?“ Der Junge sprang erschrocken zur Seite. Mit großen Augen, aber ohne jede Furcht sah er zu dem schlanken Mann auf, der mit seinem schweren Pelzmantel so seltsam in der Mittagssonne wirkte. „Ich heiße Carvais und wer bist du?“ Der dunkle Mann lächelte und beugte sich herab. „Ich heiße Seben'ai und ich bin fremd in dieser Gegend. Ich glaube, ich habe mich verlaufen. Wo sind wir denn hier?“ Ah, dachte der Junge, deswegen trägt er so eine dicke Jacke, er ist eine Fremder! „Wir sind in der Nähe von Wachhügel, der schönsten Stadt im Star Crown Empire!“ Der dunkle Mann lächelte noch etwas breiter. Er hatte bereits von diesem Imperium gehört. Er war also auf Govon. Pläne begannen sich zu entwickeln. „So, in der Nähe von Wachhügel. Dann bin ich tatsächlich ein bißchen vom Weg abgekommen, aber nicht weit. Ich danke Dir in jedem Fall, Carvais. Hier, fang auf!“ Der Mann zog einen funkelnagelneuen Kreutzer aus seiner Tasche und schnippte ihm die Münze zu. Die großen Augen des Jungen leuchteten, als er ihn fing. „Vielen Dank, Herr“ stammelte er glücklich, „Vielen Dank. Ich muß gleich nach Hause und sie meiner Mutter zeigen. Die wird sich vielleicht freuen! Vielen Dank!“ Er wandte sich um und wollte los rennen. 122
„Carvais!“ Der Junge drehte sich fröhlich lächelnd um. Und fiel tot zu Boden. Der dunkle Mann ging hinüber, hob die Münze auf, die aus der kleinen Hand gefallen war und ging in die Richtung aus der Carvais gekommen war. Govon also. Ralman lachte.
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