Das Dorf der verfluchten Seelen von Marisa Parker
Rätselhafte Rebecca.
Wer ist sie, wo kommt sie her? Sie wurde von ...
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Das Dorf der verfluchten Seelen von Marisa Parker
Rätselhafte Rebecca.
Wer ist sie, wo kommt sie her? Sie wurde von einer Frau aufgezogen, die sie Tante Betty nennt.
Bei ihr wurde Rebecca in einer stürmischen Winternacht vor fast 28 Jahren zurückgelassen, von
einer blassen, verängstigten jungen Frau, die danach spurlos verschwand - ihre Mutter? Nur ein
silbernes Amulett hatte die Unbekannte dem Baby mitgegeben, in das die Buchstaben R.G.
eingraviert sind - ihre Initialen? Bei allen ihren Abenteuern ist die junge Reiseschriftstellerin von
einem Wunsch beseelt: das Geheimnis ihrer Herkunft zu lösen...
Der Garten kommt Rebecca verwildert vor. Zwischen wuchernden Sträuchern erheben sich hüfthohe Steine. Beim Näher kommen erkennen Rebecca und ihr Freund Tom verwitterte Schriftzüge darauf. Grabsteine! Rebecca erschauert. Ein Friedhof als Garten! Jetzt tritt eine schwarz gekleidete Frau aus dem Haus. Uralt muss sie sein, in ihren stechenden grünen Augen scheint das Wissen aus Jahr-hunderten zu liegen - und dennoch mustern sie ihre Besucher hell wach wie die einer Zwanzigjährigen. „Was wollt ihr?”, krächzt die alte Heilerin und lässt dabei einen Mund voller schwarzer Zahnstummel sehen. „Wir wollen wissen, wo Ines ist!”, erklärt Rebecca entschlossen. „Ich habe sie nicht gesehen”, behauptet die Alte. Doch ein hämisches Lächeln huscht über ihr runzliges Gesicht, und Rebecca überläuft es eiskalt. Wenn ihre Ahnung sie nicht trügt und diese Frau die junge Ines wirklich in ihrer Gewalt hat - dann ist das Mädchen in allergrößter Gefahr...
Selbst die Vögel und Eichhörnchen hatten sich in ihre Verstecke in den Korkeichen zurückgezogen. Kein Lebewesen regte sich zwischen den dichten Farnen am Boden, nur der Wind bewegte die Blätter und Halme. Die Luft war feucht und schwer, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die dicken Wolken ihre Regenflut auf die Erde entlassen würden. Die Atmosphäre war geladen, voller elektrischer Spannung, die sich am Himmel aufgestaut hatte und sich nun Bahn brach. Ein Gewitter ließ die Berge im Norden Portugals erzittern. Es gab keine menschliche Kraft, die sich gegen die elementare Gewalt der Natur stemmen konnte. Was geschehen sollte, geschah. Das wusste auch Ines Rodrigues, die einsame junge Wanderin. Das Gewitter war ihre kleinste Sorge, denn sie wusste, dass eine andere Gefahr viel näher war. Sie hastete den einsamen Waldpfad entlang, immer bemüht, nicht langsamer zu werden. Stehen zu bleiben hätte ihren sicheren Tod bedeutet. Das wusste sie genau. Ihr Verfolger war ihr dicht auf den Fersen. Noch hatte sie nicht viel mehr als einen massigen grauen Schatten von ihm gesehen, doch dieser Eindruck hatte genügt, um sie ihr Tempo beschleunigen zu lassen. Aber hatte sie überhaupt eine Chance? Vermutlich nicht. Ihr Verfolger war schnell. Er bewegte sich so geschmeidig auf dem steinigen, unebenen Untergrund, als wäre es der weiche Teppich in der Empfangshalle eines Palasthotels, während sie selbst immer wieder auf den kantigen Steinen ausrutschte. Und mehr als einmal war sie über eine vorstehende Wurzel gestolpert. Doch Ines war nicht bereit, ihr Schicksal einfach hinzunehmen. Sie lief weiter, obwohl sie heftiges Seitenstechen spürte und ihre Lungen vor Anstrengung zu platzen drohten. Zwei grelle Blitze durchschnitten die abendliche Dunkelheit wie silbernes Feuer. Fast unmittelbar darauf folgte ein Donner, der in den Ohren schmerzte. Heftiger Wind zerrte an ihren langen, seidig schimmernden schwarzen Haaren, die nur von einer silbernen Spange gehalten schwer über ihren Rücken fielen. Der nächste Blitz ließ die Spange aufleuchten und zeigte, dass sie aus sorgfältig bearbeitetem altem Silber bestand, das kunstgerecht in die Form eines Adlers gebracht worden war. Ines begann zu schwitzen, obwohl die abendlichen Temperaturen kaum mehr als zwölf Grad betragen konnten. Zudem behinderte sie ihr langer Rock beim Laufen. Ohne zu zögern raffte sie ihn zwischen zwei Schritten etwas hoch, sodass ihre langen schlanken Beine sichtbar wurden. Sofort gewann sie an Tempo. Sie hetzte weiter. Zweige schlugen ihr schmerzhaft ins Gesicht, wenn sie nicht schnell genug auswich. Doch dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu dem, was sie erwarten würde, wenn ihr unheimlicher Verfolger sie erwischte. All seine Signale standen auf Töten! Ines war nicht zum ersten Mal nachts allein in den Bergen unterwegs. Die Menschen aus ihrem Dorf lebten weit verstreut. Einige hausten auf abgelegenen Bauernhöfen hoch oben in den Bergen, und ihre Babys suchten sich nicht immer die passende Tageszeit aus, um auf die Welt zu kommen. Als einzige Hebamme in der Gegend hatte Ines gut zu tun. Und da sie eine umfassende medizinische Ausbildung genossen hatte und es keinen Arzt in der Gegend gab, wurde sie auch oft von kranken Bewohnern des einsamen Gebirgslandstrichs gerufen. Das machte ihr nichts aus, denn sie liebte ihren Beruf über alle Maßen. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als Menschen zu helfen. Doch nun brauchte sie selbst Hilfe. Dringend! Sie hatte große Furcht, denn sie wusste, dass sie sich Mächten entgegengestellt hatte, die vermutlich nicht von dieser Welt waren und weiter reichten, als sie sich vorstellen konnte. Nun bekam sie die Quittung dafür, denn die Unheimlichen ließen nicht mit sich spaßen. Sie räumten aus dem Weg, wer sich ihnen entgegenstellte. Doch Ines wusste, dass sie immer wieder so handeln würde. Sollte sie diese Nacht wider Erwarten überleben, würde sie weiter kämpfen. Sie konnte die Menschen hier nicht dem Bösen überlassen, das sich in den Bergen eingenistet hatte. Das brachte sie einfach nicht fertig, auch wenn es sie vermutlich das Leben kosten würde. Noah heute Nacht.
Der Mond war hinter den Wolken verborgen, doch die unablässig über den Himmel zuckenden Blitze warfen genug Licht, um den Weg erkennen zu können. Schmal war er, und die Urlauber, die sich manchmal aus der Stadt hierher verirrten, hätten ihn wohl kaum als Weg erkannt, doch Ines war in den Bergen groß geworden. Sie kannte jeden Winkel, und genau darauf setzte sie ihre Hoffnung. Sie brauchte einen Unterschlupf! Wenn sie weiter lief, würde sie vermutlich früher oder später vom Blitz erschlagen werden. Das Gewitter tobte inzwischen genau über ihr. Doch stehen bleiben konnte sie auch nicht, denn darauf wartete ihr Verfolger nur. So oder so - die Chancen, ihren dreißigsten Geburtstag zu erleben, waren äußerst gering. Das unheimliche Wesen hatte sich bereits Opfer geholt. Zwei Männer aus ihrem Dorf waren verschwunden. Diego und Fernando, die beiden Holzfäller. Nur zwei große Blutlachen waren im Wald gefunden worden. Ines bezweifelte, dass ein Mensch so große Blutverluste überleben konnte. Isabella, eine junge Frau, die sich wie Ines mit den Gegebenheiten nicht abfinden wollte, war schwer verletzt in ihrer Hütte gefunden worden. Sie hatte überlebt, doch seitdem war ihr Geist verwirrt. Fragte man sie, wer sie angegriffen hatte, brach die Bäuerin in erstickte Schreie aus und stammelte etwas von Geistern und Hexen. Ines ahnte, dass die drei demselben Wesen zum Opfer gefallen waren, das sie verfolgte. Nur noch ein paar Minuten, dann musste sie einen Bach erreichen, hinter dem sich eine mächtige Felswand erhob. Also weiter! Ines verlor keine Zeit damit, sich nach ihrem Verfolger umzudrehen. Ihre Füße fanden einen steten Rhythmus. Links-rechts-links... Sie lief gleichmäßig und so schnell sie konnte. Sie wusste, dass sie das Tempo nicht mehr lange durchhalten konnte und mobilisierte alle Kräfte. Sie hatte nur eine einzige Chance: ihrem unheimlichen grauen Verfolger am Bach zu entkommen. Wenn sie zwischen den mannshohen Büschen und den Bäumen verschwand, würde er ihre Spur nicht so schnell wieder finden. Da blitzte schon der kristallklare Wasserlauf vor ihr auf. Er schlängelte sich zwischen bizarren Steinen und Ginsterbüschen hindurch. Mit einem Satz sprang sie hinein und lief einige Meter Bach aufwärts, ehe sie das Wasser an der anderen Seite wieder verließ und zwischen den Stämmen mächtiger Kiefern verschwand. Nach wenigen Metern baute sich das Massiv einer Felswand vor ihr auf, größer als die mächtigste Burg. Bizarr geformte Steine bildeten eine natürliche Leiter nach oben. Flink erklomm Ines den ersten Stein. Dann den nächsten. In etwa drei Metern Höhe musste sie die Hände zu Hilfe nehmen, denn die Steine wurden schmaler und glatter. Zehn Meter über dem Erdboden erreichte sie eine Höhle, die sich kaum sichtbar hinter einem schmalen Durchlass öffnete. Sie zwängte sich hinein und atmete auf. Als sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, erkannte sie, dass der Raum gerade so hoch war, dass sie darin stehen konnte. Hinter einem Felsen entdeckte sie einen schmalen Gang, der weiter in den Felsen führte. Sie tastete sich vorwärts. Auf der anderen Seite endete der Felsen in einem Spalt, der direkt in die Tiefe führte. Ein Abgrund gähnte unter ihr. Nur die Krone einer mächtigen Korkeiche reichte bis hier herauf. Konnte man den Sprung wagen? Unbewusst schüttelte Ines den Kopf. Lieber nicht. Es war zu weit weg, beinahe vier Meter. Ein Sturz würde etliche gebrochene Knochen bedeuten. Oder Schlimmeres! Sie hob den Kopf und horchte. Zwischen den Donnerschlägen war nur das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume zu hören. Hatte ihr Verfolger ihre Spur verloren? Ines schöpfte Hoffnung. Wenn sie es bis zum Morgen hier aushielt, würde man sie bestimmt im Dorf vermissen. Zwei Frauen aus ihrem Dorf erwarteten jeden Tag ihre Babys. Sie würden ihre Männer sicher auf die Suche nach ihr schicken.
Ines kauerte sich auf einen Stein und zog die Beine an. Ihre Knie zitterten nach dem langen Lauf und der psychischen Anstrengung, doch sie fühlte sich hellwach. Das Adrenalin hielt ihre Sinne lebendig. Sie hörte den einsetzenden Regen und den Sturm. Ohne große Erwartungen zog sie ihr Handy aus der Rocktasche und schaltete es an. Ein Blick auf das Display bestätigte ihre Ahnung. Kein Empfang. So war es meistens. Es gab einfach zu wenige Sendetürme in ihrer Heimat. Und den Menschen, die es in der einsamen Berggegend aushielten, war es zumeist egal. Die wenigsten wussten, wie man ein Handy bediente, und noch weniger besaßen eines. Ines strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Aufatmend dachte sie an das Baby, das heute Abend zur Welt gekommen war. Babys bedeuteten Hoffnung, und ihr Dorf konnte etwas Hoffnung wirklich brauchen. Joana hatte eine schwere Geburt gehabt. Trotzdem hatte sie auf die Hilfe der Hebamme verzichten wollen. Das ist Floras Schuld, dachte die junge Frau erbost. Flora hatte behauptet, in den Nächten vor Beltane wären die Ungeborenen nicht in Gefahr, und hatte der Schwangeren nur etwas Tee aus getrocknetem Beifuss verordnet. Seit die alte Frau im Dorf aufgetaucht war, waren schon zwei Babys tot zur Welt gekommen. ihre Mütter hatten Flora - und nicht die Hebamme geholt. Doch die Kräutermedizin der alten Frau hatte die Babys nicht retten können. Ines wusste nicht, ob sie mehr für die Babys hätte tun können, aber sie nahm es an. Auch heute Nacht wäre sie um ein Haar zu spät gekommen. Joanas Baby hatte in Steißlage gelegen und wäre erstickt, wenn sie es nicht rechtzeitig im Mutterleib gedreht hätte. Doch sie hatte es geschafft, und danach war die Geburt sehr schnell gegangen. Joana war ihrem Blick ausgewichen, nur ihr Mann Pedro hatte ihr unter Tränen gedankt. Er war es auch gewesen, der sie entgegen Joanas Wünschen gerufen hatte. Seit Flora im Dorf lebte, hatte sich das Klima unter den Menschen verändert. Sie schien die meisten von ihnen in ihrem Bann zu haben. Nicht zum ersten Mal schüttelte Ines bei diesem Gedanken beklommen den Kopf. Es war kühl in der zugigen Höhle. Obwohl Portugal zu den milder klimatisierten Gegenden Europas gehört, war es nachts in den Bergen empfindlich kalt. Ines fröstelte. Wenn doch Mario hier wäre, dachte sie sehnsüchtig. Bei dem Gedanken an den geliebten Mann leuchtete ein verliebtes Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht, und ihre großen dunklen Augen nahmen einen verträumten Schimmer an. Er würde sie jetzt wärmen. Mit seinem wundervollen maskulinen Körper und seiner Liebe... Plötzlich hörte Ines ein Geräusch. Es war nicht viel mehr als ein leises Tapsen. Doch dann nahm sie den Geruch wahr. Wild und beißend stieg ihr der Geruch von Urin, feuchtem Fell und Blut in die Nase, und ihr wurde beinahe übel davon. Auch ohne ihn zu sehen, wusste sie, dass ihr Verfolger sie gefunden hatte. Sie fuhr hoch. All ihre Sinne waren in Alarmbereitschaft. Die Angst lag wie ein kalter Klumpen in ihrem Bauch. Schwer atmend starrte sie auf den Gang. Dann kam er. Zum ersten Mal sah sie ihn nicht nur als Schatten, und merkwürdigerweise war sie nicht überrascht, als sie merkte, dass es sich um einen Wolf handelte. Groß und grau, mit zottigem Fell und einer langen Schnauze stand er vor ihr. Sein schwerer Körper stand auf breiten Pfoten, und sein Kopf war ihr voll zugewandt. Das Erschreckendste an ihm waren seine roten Augen. Sie schimmerten, als loderte Höllenfeuer in ihnen. Dieses Glühen schien nicht von dieser Welt zu sein. Sie sah, wie er alle Muskeln anspannte - bereit zum Sprung. Jetzt erst wurde ihr klar, dass sie einen Riesenfehler gemacht hatte, als sie hierher geflüchtet war. Sie saß in der Höhle wie in einer Falle fest! Vor ihr stand der unheimliche Wolf, und hinter ihr gähnte der Abgrund.
Sie überlegte blitzschnell. Bevor sie dem Wolf zum Opfer fiel, versuchte sie ihr Heil lieber im
Sprung. Noch ehe das unheimliche Tier ihre Absicht erfassen konnte, hatte sie sich bereits
umgedreht, alle Kräfte auf ihre Sprunggelenke konzentriert und sich abgestoßen.
Pfeilschnell schoss sie auf die rettende Korkeiche zu.
Doch sie hatte die Entfernung falsch eingeschätzt. Noch im Sprung wusste sie, dass sie den Baum
verfehlt hatte. Sie schabte schmerzhaft an einigen Asten entlang, doch sie bekam keinen von ihnen
zu fassen. Ein wütender Schmerz durchfuhr ihren Leib, als sie hart auf dem Boden aufprallte.
Dann verlor sie das Bewusstsein, und das war gut so, denn sonst hätte sie bemerkt, dass ihr der
graue Wolf mit einem geschmeidigen Satz nach sprang.
Er war sich seines Opfers ganz sicher...
*** Die Sonne hatte ihren Zenit längst überschritten, als ein gelber Kleinwagen auf der Serpentinenstraße durch den Wald hinauf in die Berge Portugals rollte. Die Straße war nicht viel mehr als ein Pfad, auf dem hier und da noch einige Stellen mit Kopfsteinpflaster ausgelegt waren. Das übrige Pflaster war im Laufe der Zeiten auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Heidekraut und kniehohe Farne säumten den wildromantischen Weg. „Bist du sicher, dass dies der richtige Weg ist?” Rebecca von Mora sah den Mann am Lenkrad zweifelnd an, als der Wagen über eine Baumwurzel holperte und sie kräftig durchgeschüttelt wurden. Thomas Herwig warf einen raschen Blick auf die Karte, die am Armaturenbrett festgeklemmt war, und nickte. „Es gibt nur eine Straße in dieser Region des Gebirges.” „Straße ist gut”, schmunzelte die hübsche dunkelhaarige Frau, als sie einmal mehr gegen den Sitz geworfen wurde. „Die Straße scheint noch aus den Zeiten zu stammen, als der gute, alte Cäsar mit seinen Truppen in Portugal einmarschierte”, stimmte ihr Freund zu und schaltete einen Gang zurück. Das Getriebe heulte auf, und der Wagen bockte. „Komm schon, Kleiner, lass uns nicht im Stich”, murmelte Tom. Sofort setzte das Auto seine Fahrt fort. Es war ein Mietwagen, den sie sich nach ihrem Flug aus Deutschland in Lissabon genommen hatten. „Meinst du, dein Freund Mario erwartet uns bereits?”, forschte Rebecca, während sie im Handschuhfach nach einer Wasserflasche suchte und dann durstig trank. „Bestimmt. Seine Einladung kam ziemlich plötzlich. Es schien mir so, als hätte er es eilig damit, dass ich ihn besuche”, antwortete Tom. Seine kurzen, braunen Haare waren nach der langen Reise zerzaust, doch das tat seinem guten Aussehen keinen Abbruch. Sportlich, beinahe eins neunzig groß und mit klugen, wachen blauen Augen war der junge Kriminologe ein Bild von einem Mann, der die Blicke der Frauen auf sich zog. Rebecca bemerkte, dass ein warmes Lächeln seine Lippen umspielte, als er an seinen Freund aus Kindertagen dachte. „Sagtest du nicht, er sei verlobt? Vielleicht wollen er und seine Verlobte heiraten, und er möchte dich dabei haben”, vermutete sie. „Immerhin seid ihr zusammen aufgewachsen.” „Das hätte er doch sagen können”, gab Tom skeptisch zurück. „Stimmt auch wieder. Also lassen wir uns überraschen, was los ist. Jedenfalls freue ich mich, dass du mich gefragt hast, ob ich dich begleiten möchte.” Der kräftige Mann warf ihr einen warmen Blick zu. „Ich dachte, du könntest einen Kurzurlaub genauso gut gebrauchen wie ich. Immerhin hattest du in den letzten Wochen alle Hände mit deinem neuen Buch zu tun. Und dann noch die rätselhaften Ereignisse in Ägypten...” Rebecca nickte. „Du hast Recht. Ich freue mich auf ein paar Tage Erholung.” Ihr Blick schweifte über die Gipfel. Ringsum gab es nur Wald, Berge und sattes Grün. Es hieß, bis auf einige Großstädte bestünde Portugal nur aus Landschaft. Dieser Satz schien sich in den Bergen zu bestätigen. „Serra da Estrela - Sternengebirge. Was für ein romantischer Name”, stellte sie fest und ignorierte tapfer, dass der Wagen immer mehr durchgeschüttelt wurde, je höher sie kamen. Zu ihrer
Rechten erhob sich eine steile, zerklüftete Felswand. Mit leisem Schaudern bemerkte sie die grauen
Geröllmassen, die sich darauf angesammelt hatten.
„Einige Berge sind bis zu 2000 Metern hoch.” Tom wies, die Hände am Lenkrad lassend, mit
ausgestrecktem Zeigefinger auf einen weiß begipfelten Berg. „In oberen Lagen gibt es selbst im
milden Klima Portugals im April noch Schnee, und...”
Er unterbrach sich, als ein leises Rumpeln ertönte, das rasch lauter wurde und zu einem
vibrierenden Donnern anwuchs.
„Was, um Himmels willen...”
„Tom!", schrie Rebecca auf und deutete nach rechts.
Sie erfassten im selben Moment die tödliche Gefahr, die unaufhaltsam auf sie zu rollte.
Eine Steinlawine hatte sich gelöst!
Sie donnerte den Hang herunter, riss Felsen und Pflanzen mit sich und schwoll im Nu zu einer
riesigen, rollenden Geröllmasse an. Staub wirbelte auf. Und der Steinkoloss bewegte sich genau auf
den Kleinwagen zu!
Ohne nachzudenken drückte Tom aufs Gas.
Der Motor heulte auf, und im selben Moment ging er aus.
Schwer atmend drehte der Kriminologe den Zündschlüssel. Wieder und wieder.
Vergeblich.
Der Wagen tat keinen Mucks.
„Raus hier!”, rief Tom und löste Rebeccas Gurt, ehe er die Tür aufstieß und sie aus dem Auto
schob. Einen Moment später folgte er ihr. Sie rannten um ihr Leben.
Wir schaffen es nicht, stellte Rebecca entsetzt fest, als sie einen raschen Blick auf den Berg warf.
Der ganze Hang schien ins Rutschen gekommen zu sein, und die Lawine hatte sie fast erreicht!
Ihr sank das Herz. Würde ihr Urlaub ein so schnelles Ende finden?
Begraben unter Tonnen von Steinen?
Da erspähte sie einen Felsvorsprung in der Nähe, der kräftig genug aussah, um einiges auszuhalten.
„Rasch, dort drunter”, brüllte sie ihrem Begleiter zu.
Er verstand sofort, nickte und riss sie förmlich mit sich. Sein trainierter Körper drückte sich an sie,
als er sich schützend vor sie stellte, den Kopf mit den Armen schützte und ebenso wie sie hoffte,
dass der Vorsprung hielt und sie wie ein Dach vor dem Ärgsten schützte. Selbst wenn sie nicht
starben, konnte ein einziger Felsen sie schwer verletzen...
Da prasselten auch schon die Steine mit Macht über sie hinweg. Staub flog hoch. Rebecca hustete
und presste sich enger an die Felswand in ihrem Rücken. Ihre Lungen brannten, als sie die staubige
Luft einatmete. Jeder Atemzug war eine Qual.
Raum und Zeit schienen für einige endlose Minuten vollkommen nebensächlich.
Als Tom aufstöhnte, überrieselte es Rebecca eiskalt. War er getroffen worden? Brach der
Vorsprung zusammen? Sie hatte keine Gelegenheit, um die Fragen auszusprechen.
Genauso unerwartet, wie das Chaos über sie hereingebrochen war, war es vorbei. Der Berg kam zur
Ruhe, und Rebecca und ihr Begleiter tauchten unter dem Vorsprung auf.
„Alles okay?”, forschte Tom. Seine Haare waren grau vor Steinchen und Staub.
Rebecca hustete und nickte, überrascht, dass sie unverletzt davon gekommen waren. „Mir geht’s
gut. Und dir?”
Er verzog das Gesicht. „Ich habe einige Steine abbekommen, aber ich denke, bis auf ein paar blaue
Flecken ist nichts passiert.”
„Ich frage mich, was die Steinlawine so plötzlich ausgelöst hat.” Sie warf einen Blick zurück und
gab ein Stöhnen von sich. Von ihrem Wagen war nur noch das gelbe Dach zu sehen. Der Rest war
unter einem Berg Felsbrocken begraben.
„Sieht so aus, als müsstest du heute Nacht im Evaskostüm schlafen”, neckte Tom.
Um ihr Nachthemd machte sie sich keine Sorgen, aber ihr Laptop und all ihre Papiere lagen unter
den Steinen. Rebecca schickte einen Blick himmelwärts.
Der Kriminologe machte sich versuchsweise daran, die Felsen wegzuräumen. Doch selbst ein
Herkules hätte die massigen Steine nicht ohne Zugmaschine wegschaffen können.
Da bemerkte Rebecca eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Sie hob den Kopf und sah gerade
noch, wie zwei Schatten hinter den Felsen auf dem Gipfel verschwanden. Der eine war so groß wie
ein Mensch, aber der andere nicht. Das hätte ein Hund sein können - ein sehr großer Hund.
Irgendwo über ihnen heulte ein Tier auf.
Rebecca runzelte die Stirn. „Gibt es hier Wölfe?”
„Keine Ahnung. Möglich wäre es schon. Immerhin leben im Naturreservat weiter südlich welche.
Vielleicht hat sich einer hier herauf verirrt.”
Sie biss sich auf die Lippen. „Da oben war jemand. Ich habe ganz deutlich einen Menschen
gesehen. Meinst du, die Lawine ist nicht zufällig losgegangen? Vielleicht will jemand nicht, dass
wir kommen.”
„Das glaube ich nicht. Es weiß doch außer Mario niemand, dass wir kommen. Und er hat mich
extra eingeladen.” Tom gab seine Bemühungen auf. „Fünfundzwanzig Kilometer liegen seit dem
letzten Ort hinter uns, und wenn ich mich richtig erinnere, sind es noch etwa fünf Kilometer bis zu
unserem Ziel. Wir sollten uns gleich auf den Weg machen, damit wir das Dorf vor Einbruch der
Dunkelheit erreichen.”
Doch so weit sollte es nicht kommen.
Sie hatten erst wenige Schritte zurückgelegt, als ein Brummen ankündigte, dass sich ein Auto
näherte. Wenig später hielt ein brauner Jeep vor ihnen, und ein kräftiger Mann um die Fünfzig
sprang heraus. Seine schwarzen Haare wiesen ebenso wie sein Schnauzbart graue Strähnen auf.
Seine derbe Jacke spannte sich über beeindruckenden Muskeln. Er wirkte wie jemand, der sein
halbes Leben im Freien verbracht hatte.
Er musterte den Steinberg und sagte dann etwas in schnellem Portugiesisch, das Rebecca nicht
verstand. Sie hörte, wie Tom etwas erwiderte, er hatte von seinem Freund Mario etwas
Portugiesisch gelernt. Dann wechselte der Fremde ins Deutsche.
„Ich bin Pablo Montegas. Sie hatten Glück, dass Sie der Lawine entkommen sind.” Er wies mit
dem Kopf auf die Felsen.
„Das stimmt”, bestätigte Tom. „Leider sitzt unser Gepäck nun fest, und wir haben keine
Fahrmöglichkeit mehr.” Er stellte Rebecca und sich vor. „Mein Freund Mario Tagarro hat uns
eingeladen.”
Ein undeutbarer Schatten glitt über das Gesicht des Fremden. „Ich werde Sie zu ihm bringen.
Steigen Sie ein”, sagte er kurz und wandte sich ab.
In diesem Moment entdeckte Rebecca den Schädel.
In ihrem eigenen Flitzer daheim in Deutschland baumelte ein kleiner Plüschbär fröhlich am
Rückspiegel, ein Geschenk ihrer besten Freundin Martina. Der Portugiese dagegen hatte einen ganz
anderen „Glücksbringer”: Ein verschrumpelter Schädel mit fahler, grauer Haut und zotteligem Haar
hing an einer Kordel an seinem Rückspiegel.
„Das ist ein Schrumpfkopf”, vermutete Tom.
„Aber der ist doch nicht echt, oder?” Sie schauderte.
„Wer weiß”, schmunzelte er. „Jedenfalls sieht er echt aus.”
In diesem Moment wendete sich Pablo Montegas ihnen wieder zu und bemerkte, wohin sie
Blickten. Ein stolzes Leuchten ging über sein Gesicht. „Flora sagt, der Schrumpfkopf bringt Glück.
Ich habe auch einen zu Hause. Flora hat sie mir als Zeichen ihrer tiefen Freundschaft geschenkt.”
„Ein kolossales Zeichen der Freundschaft”, schmunzelte Rebecca, während der Portugiese die
Beifahrertür öffnete. Sie hatte ihren Schauder inzwischen über-wunden. „Und was schenkt er ihr?
Getrocknete Spinnenbeine?”
Toms Mundwinkel zuckten. „Ich wüsste gern, woher sie die Köpfe hat.”
„In einem Reiseführer habe ich gelesen, dass die Kelten Tausend vor Christus mit ihren Schiffen an
der portugiesischen Küste gelandet sind. Sie haben sich mit den Bewohnern vermischt und
natürlich auch ihre Mythen und Bräuche mitgebracht. Sie hatten viele geheimnisvolle Rituale.
Möglicherweise hat sich etwas davon erhalten."
Ihr Freund gab ein undefinierbares Geräusch von sich. „Ich frage mich, welche Bräuche hier wohl
noch überlebt haben.”
„Flora sagt, es ist nicht gut, nach Sonnenuntergang unterwegs zu sein”, mischte sich der Portugiese
mit leiser Ungeduld in ihr Gespräch. „Wir sollten fahren.”
„Wenn diese Flora seine Zukünftige ist, hat sie ihn jedenfalls schonganz schön an der Kandare”,
raunte Tom Rebecca beim Einsteigen zu.
„Ich sollte sie besuchen und sehen, wie sie das macht. Es kann nie schaden zu wissen, wie man
Männer um den Finger wickelt”, schmunzelte Rebecca und kletterte in den Jeep.
*** Auf dem kargen Boden neben dem Gasthof wuchsen Olivenbäume und Zypressen. Rebecca hatte bei ihrer Ankunft überrascht bemerkt, dass das abgelegene Bergdorf über eine Fremdenunterkunft verfügte. Das zweigeschossige, weiß gekalkte Haus mit dem Schieferdach wies einen flachen Anbau auf, aus dem lautes Muhen und Grunzen erklang. Offenbar verließ man sich nicht allein auf die Urlauber, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Angesichts der einsamen Lage weit oben im Serra da Estrela erschien Rebecca das vernünftig. Der Abend war viel zu schön und mild, um drinnen zu bleiben. Sie saß mit Tom bei einem Glas Apfelmost auf der Veranda. Eine Holzbalustrade trennte sie von der Straße. Rebecca nippte an ihrem Getränk und bemerkte die eigenartige Stille ringsum. Das ständige Rauschen, das in der Großstadt so selbstverständlich war, dass man es gar nicht mehr bewusst wahrnahm, fehlte. Hier hörte man nur dann und wann ein Käuzchen rufen, einige Ein-heimische miteinander sprechen, und natürlich die Tiere im Stall. Außerdem erklang irgendwo in der Nähe das rhythmische Hämmern von Eisen auf Stahl. Eine Schmiede, vermutete Rebecca. Doch ansonsten gab es weder Busse noch Autos oder Industrieanlagen, und solange die Straße verschüttet war, würde es überhaupt keinen Verkehr geben. Entspannt lehnte sich Rebecca auf ihrem Stuhl zurück. Der Himmel spannte sich wie eine dunkelblaue Kuppel über ihnen. Für wenige Augenblicke sauste eine Sternschnuppe wie ein goldenes Band über den Himmel. „Es ist romantisch hier, so ursprünglich”, entfuhr es ihr. „Es kommt mir so vor, als wäre die Zeit hier vor hundert Jahren stehen geblieben.” Sie sah sich um. Die Häuser lagen so eng beieinander, als sollten sie sich gegenseitig Schutz gewähren. Die weiß gekalkten Gebäude mit den rötlichen Schieferdächern ähnelten einander. Beinahe jedes Haus verfügte über einen angebauten Stall. Hinter dem Dorf begann ein Oliven- und Orangenhain, und weiter westlich lag ein Weizenfeld. Dahinter gab es nur Wald und Berge. In der Dorfmitte erhob sich ein haushoher Pfahl aus erdig braunem Stein. Der gewundene Säulenschaft mündete in eine kronenförmige Spitze. -Ein Schandpfahl. Rebecca schauderte, als sie sich vorstellte, wie Delinquenten in früherer Zeit dort festgebunden und öffentlich bestraft worden waren. „Er wird sicher nicht mehr benutzt”, meinte Tom, der ihren Blick bemerkt hatte. „Bist du sicher?” „Ziemlich sicher.” „Hast du bemerkt, dass wir die einzigen Gäste sind?” Es war offensichtlich, dass die Region wirtschaftlich nicht gut gestellt war. An den meisten Häusern rieselte der Putz ab. Nebenan ging eine Frau mit einem Eimer zum Brunnen und holte Wasser aus der Tiefe. Offenbar gab es noch nicht in allen Häusern fließendes Wasser. Das Gasthaus gehörte zu den Häusern mit einigem Komfort. Rebeccas Zimmer war mit einem separaten Badezimmer und einer Dusche ausgestattet, dazu gab es einen Ventilator über dem Bett und ein Radio, aus dem allerdings nur Rauschen ertönte.
Das Geräusch von festen Schritten riss sie aus ihren Gedanken. Einen Moment später stand ein Mann vor ihnen und umarmte Tom wie einen wieder gefundenen Bruder. Es war ihr Gastgeber, Mario Tagarro. Er hätte der Bruder von Antonio Banderas sein können, stellte Rebecca beeindruckt fest. Seidig schimmernde dunkle Haare umrahmten seinen Kopf. Sein markant geschnittenes Gesicht wies die leichte Bräune der Portugiesen auf, die auch im Winter nie ganz verschwand. Er konnte nur wenig mehr als dreißig Jahre zählen, doch er hatte eine Ausstrahlung, die Sofort Respekt und Vertrauen einflößte. Er trug rustikale Kleidung, die seine sportliche Figur betonte. Zu der braunen Kordhose hatte er ein cremefarbenes Hemd und eine Kordweste. Das Hemd war an den Ärmeln tatkräftig aufgekrempelt. Seine dunklen Augen schauten eine Spur zu ernst in die Welt, doch als er jetzt seinen Freund umarmte, kräuselten sich sympathische Lachfältchen darum. Dass er seine Kindheit in Deutschland verbracht hatte, bewies er, indem er seine Gäste in akzentfreiem Deutsch ansprach. „Ich freue mich, dass du gekommen bist”, sagte er zu Tom. Dann sah er Rebecca fragend, aber freundlich an. „Ich habe meine Freundin Rebecca mitgebracht..." Mehr musste Tom nicht sagen, denn sofort drückte Mario herzlich Rebeccas Hand. „Ich freue mich, eine Freundin meines Freundes kennen zu lernen. Ich hoffe, die Unterkunft fällt nach eurem Geschmack aus. Mein Hof ist etwas heruntergekommen, da ich unter der Woche in Lissabon lebe und arbeite. Ich möchte im Herbst renovieren, aber bis dahin...” Er machte eine entschuldigende Geste. „Wir sind sehr zufrieden mit unseren Zimmern”, beruhigte Rebecca ihn und deutete einladend auf den freien Stuhl. Der Portugiese setzte sich. „Ich habe gehört, was euch unterwegs passiert ist. Ich habe schon einen Abschleppwagen geordert und einen Trupp Männer losgeschickt, um euer Gepäck zu befreien.” „Das ist sehr freundlich von Ihnen”, bedankte sich Rebecca. „Das ist doch das Mindeste, was ich tun kann. Was machst du beruflich?” Unvermittelt duzte er Rebecca und gab ihr damit zu verstehen, dass er sein freundschaftliches Verhältnis zu Tom auch gern auf sie übertragen würde. „Ich schreibe Reiseromane und Reportagen. Und du?” „Ich unterrichte in Lissabon Mathematik und Deutsch.” „Wie kommt es, dass du diese Woche frei hast?”, erkundigte sich Tom auf seine übliche direkte Art. Ein Schatten huschte über das gebräunte Gesicht des Lehrers. „Meine Verlobte ist seit einer Woche spurlos verschwunden. Ich habe Urlaub genommen, um sie zu suchen.” „Dann möchtest du, dass ich dir bei deiner Suche helfe?”, folgerte Tom. „Ja. Ich brauche einen Profi, denn ich befürchte, Ines ist etwas Furchtbares zugestoßen.” Der Portugiese stöhnte. „Ich habe mich schon an unsere Policia gewandt, aber sie tun kaum mehr als Krankenhäuser und Flugplätze zu kontrollieren. Es gab einen Suchtrupp, aber nach zwei Tagen wurde die Suche eingestellt. Die Berge sind einfach zu weit.” „Hattet ihr vielleicht Streit?”, erkundigte sich Tom. Mario nickte. „Wir hatten einen schlimmen Streit, kurz bevor sie verschwand. Ich arbeite in Lissabon, während sie hier als Hebamme tätig ist. Wir streiten oft, wer nach der Hochzeit zu wem zieht und damit alles aufgibt." „Dann braucht sie womöglich nur etwas Zeit zum Nachdenken. - Allein.” Sein Freund schüttelte überzeugt den Kopf. „Du kennst sie nicht. Sie würde die Kranken im Dorf niemals allein lassen, ohne eine Vertretung für sich zu besorgen. Ich bin sicher, dass sie nicht freiwillig fort gegangen ist.” Er sah Rebecca an. „Es tut mir sehr Leid, dich unwissentlich mit in Gefahr gebracht zu haben.” „In was für eine Gefahr?”, gab sie erstaunt zurück.
„Im Dorf gehen seltsame Dinge vor. Menschen und Tiere verschwinden, und die Einheimischen
haben sich verändert. Ich merke es, wenn ich aus Lissabon herkomme. Die Menschen, die noch vor
wenigen Monaten gastfreundlich und offen waren, sind jetzt abweisend und lassen niemanden an
sich heran. Sie mögen keine Fremden mehr im Dorf.” Mario hob die Schultern. „Doch ich weiß
nicht, warum.”
„Aber du hast einen Verdacht, stimmts?”, vermutete Tom scharfsinnig.
„Die Veränderung hat begonnen, als eine alte Frau in unser Dorf gezogen ist”, bestätigte Mario
Tagarro. „Sie und Ines sind sich spinnefeind. Während Ines die Kranken und die werdenden Mütter
mit dem Wissen der modernen Medizin behandelt, versorgt die alte Frau sie mit Kräutern und
Zaubersprüchen. Und sie hasst Ines, da bin ich sicher.”
„Wie heißt sie?”
„Flora Braga!”
Rebecca und Tom sahen sich an. „Die Frau mit den Schrumpfköpfen.”
„Ihr kennt sie?”
Tom schüttelte den Kopf. „Der Mann, der uns hergefahren hat, hat uns von ihr erzählt. Rebecca, ich
denke, du solltest lieber wieder abreisen.”
„Er hat Recht”, sprang Mario dem Freund bei. „Ich hätte Sie gern meiner Verlobten vorgestellt,
besonders, weil Ines keine Verwandten hat, aber es ist zu gefährlich für Sie im Dorf.”
„Ines hat keine Eltern mehr?” Sofort fühlte sich Rebecca der jungen Hebamme verbunden. Sie war
selbst bei einer Pflegemutter aufgewachsen und liebte ihre Tante Betty, wie sie Elisabeth von Mora
nannte, heiß und innig. Trotzdem fühlte sie sich oft wurzellos, weil sie nichts über ihre Eltern
wusste. „Ich bleibe”, entschied sie spontan. „Je mehr Menschen nach Ines suchen, umso besser,
denke ich.”
„Wir sitzen hier in der Höhle des Löwen”, gab Tom zu bedenken. „Ich möchte trotzdem bleiben.
Außerdem sitzen wir hier fest, solange die Straße versperrt ist. Habt ihr das vergessen?"
Diesem Argument hatten die Männer nichts entgegenzusetzen.
In diesem Moment wurde die Tür des Gasthauses geöffnet und die hagere Wirtin erschien. „Sie
sollten schlafen gehen, es ist spät”, knurrte sie unfreundlich in gebrochenem Deutsch.
Mario antwortete etwas in schnellem Portugiesisch, worauf die Frau eine noch finsterere Miene
machte und sich wieder zurückzog.
„Früher hätte sie sich zu uns gesetzt und einen Schwatz mit uns gehalten” , erzählte Mario ernst.
„Ich weiß nicht, was die Dorfbewohner so verändert hat. Die Zeiten waren schon immer hart hier
oben, aber seit Flora hier lebt, sind die Menschen unzufriedener und verschlossener geworden.”
„Ich denke, wir sollten dieser Flora Braga morgen einen Besuch abstatten”, meinte Tom.
„Gute Idee. Sie wohnt etwas abgelegen, aber ich kann euch hinführen. Ist es okay, wenn ich euch
um sieben abhole?”
„Sagen wir acht Uhr”, schlug Rebecca vor, die kein Morgenmensch war. Normalerweise arbeitete
sie bis tief in die Nacht und schlief dafür morgens etwas länger. Es dauerte immer seine Zeit, bis sie
sich im Urlaub umgestellt hatte.
„Einverstanden”, nickte Mario. „Ich bin euch sehr dankbar, dass ihr helfen wollt.”
„Das ist doch selbstverständlich unter Freunden”, wehrte Tom ab. „Aber du hättest mich ruhig
vorwarnen können. Hast du gedacht, ich würde dich im Stich lassen, wenn du mir die Wahrheit
sagst?”
„Nein. Ich hatte Angst, jemand könnte erfahren, dass ich dich um Hilfe bitte, und euch daran
hindern, herzukommen”, antwortete sein Freund ernst.
Rebecca runzelte die Stirn. Um ein Haar wären sie tatsächlich nicht angekommen, dachte sie.
Steckte vielleicht doch mehr als eine Laune der Natur hinter dem Abgang der Steinlawine?
***
Als Rebecca erwachte, wusste sie nicht, was sie geweckt hatte. Doch eins stand fest: Es war noch lange nicht Zeit zum Aufstehen. Es war dunkel, nur etwas Mondlicht fiel herein. Sie hatte das Fenster vor dem Schlafengehen geöffnet, um die frische Gebirgsluft ins Zimmer zu lassen. Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass es drei Uhr morgens war. Sie hatte erst ein paar Stunden geschlafen, und ihr Herz schlug wie ein Presslufthammer. Normalerweise schlief sie wie ein Stein die ganze Nacht durch. Was also hatte sie geweckt? Reglos blieb sie in ihrem Bett liegen und lauschte in die Dunkelheit. Es war eine friedliche Nacht. Die Blätter der Olivenbäume vor ihrem Fenster raschelten leise im Nachtwind, und irgendwo schrie ein Vogel im Schlaf. Daran war nichts Ungewöhnliches. Etwas anderes musste ihren Schlaf gestört haben. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das spärliche Licht. Sie konnte die Umrisse der Möbel in ihrem Zimmer sehen: die zwei Bettpfosten an ihren Füßen, den hellen Schrank an der Wand gegenüber und den Schreibtisch, auf dem ihr Laptop und Schminksachen lagen. Dass sie ihre Sachen bereits wiederhatte, verdankte sie Mario Tagarro, dessen Freunde ihr Gepäck nahezu unbeschadet aus dem Kofferraum des Mietwagens geborgen hatten. Selbst ihr Laptop funktionierte noch. Der Wagen allerdings hatte einen Totalschaden und würde vermutlich schon bald in die Schrottpresse wandern. Rebecca konnte jetzt den schmalen Nachttisch und die Tür ausmachen, die ins angrenzende Badezimmer führte. Sie war geschlossen. Alles war so, wie es sein sollte, bis auf die Tatsache, dass Rebecca hellwach war. Das Herzklopfen konnte nicht von ungefähr kommen. Ihr Unterbewusstsein musste etwas registriert haben. Doch sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Deshalb entschloss sie sich, aufzustehen. Sie setzte sich auf, woraufhin die Bettfedern leise quietschten, und schwang die langen Beine aus dem Bett. Dann stand sie auch schon neben dem Bett und öffnete die Tür zum Badezimmer. Es hatte kein Fenster, deshalb war sie gezwungen, das Licht anzuschalten. Ein rascher Druck auf den Knopf, dann erstrahlte der kleine Raum in gleißendem Licht. Die saubere Nasszelle war leer. Aufatmend löschte Rebecca das Licht wieder, schloss die Badezimmertür und ging zum Fenster. Sie streckte den Kopf weit hinaus. Die nächtliche Luft war herrlich frisch. Das Mondlicht erhellte die hohen Berggipfel und schien auf den Wald ringsum. In den weiß gekalkten Häusern war es dagegen stockdunkel. Das ganze Dorf schlief. Wirklich das ganze Dorf? Vor ihrem Fenster lagen Gemüsebeete, die an die Stämme einiger Olivenbäume grenzten. Plötzlich nahm Rebecca dazwischen eine Bewegung wahr. Auf den ersten Blick lag der Hain still und friedlich da. Doch sie war sicher, dass da etwas war, das nicht hierher gehörte. Etwas Fremdes. Konzentriert kniff sie die Augen zusammen und musterte die Baumkronen, die im Mondlicht seltsam fleckig wirkten. Noch ehe sie realisiert hatte, dass die „Flecken” keine Blätter waren, geschah es auch schon. Ein Schwarm aus schwarzen Kugeln brauste auf sie zu! Nur einen Lidschlag später war ihr klar, dass es sich bei den vermeintlichen Kugeln um Vögel handelte. Raben! Und es mussten mindestens zwei Dutzend sein! Ein bekannter Film ihres Lieblingsregisseurs Alfred Hitchcock kam ihr in den Sinn. Darin hatten ebenfalls Vögel eine junge Frau attackiert. Doch dies hier war kein Film. Das war die Wirklichkeit. Und das wurde ihr im selben Moment schmerzhaft bewusst. Mit weit vorgestreckten Schnäbeln schossen die Vögel auf sie zu. Instinktiv wich sie zurück und presste eine Hand schützend vor die Augen, als der erste Vogel sie schon erreichte und seinen Schnabel in ihre Schläfe hieb. Kalte Vogelkrallen streiften ihre Wangen. Dann hackte der Rabe ein zweites Mal zu. Vor Schmerz wurde ihr übel. Doch dann handelte sie.
Sie trat zurück und schlug das Fenster im selben Moment zu, in dem der Schwarm es erreichte. Die Vorhut schlug unsanft gegen die Scheibe. Rebecca sah, wie schwarze Federn und Krallen an der Glasscheibe abrutschten. Blut lief in ihr Auge. Sie presste die Lider zusammen und tastete nach einem Taschentuch, mit dem sie das Blut abtupfte. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sich der Schwarm zurückgezogen. Nichts deutete draußen mehr auf den Angriff hin. Rebecca ging ins Bad, machte Licht und reinigte die Wunde mit einem feuchten Waschlappen. Ihre Schläfe wies einen unschönen Riss auf. Wie alle Kopfwunden blutete die Verletzung heftig, deshalb presste sie den Lappen eine Weile dagegen. Als die Blutung nachließ, versorgte sie sie mit einem Pflaster. Die Wunde war nicht sehr tief und würde schnell heilen. Doch was hatte die Tiere zu diesem unnatürlichen Verhalten getrieben? Wieso waren sie mitten in der Nacht unterwegs und griffen gezielt Menschen an? Das war doch nicht normal! Rebecca entschloss sich, dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Sie schlüpfte in ihre Jeans und zog eine Strickjacke über ihr dünnes Nachthemd. Dann nahm sie ein Messer aus der Obstschale auf dem Schreibtisch. Es war nur ein Obstmesser, aber das war besser als gar keine Waffe. Sie verließ ihr Zimmer. Der Gang war nur spärlich beleuchtet, aber immerhin fand sie den Weg zur Haustür und trat hinaus in die Nacht. Vorsichtig schlug sie einen Bogen um das Gasthaus, bis sie im Garten stand. Ihre Augen fest auf die Kronen der Bäume geheftet, schob sie sich vorwärts. Doch die Wipfel lagen ebenso verlassen da wie der übrige Garten. Aufatmend wollte sie sich soeben umwenden, als sie plötzlich ein Geräusch hinter sich hörte. Alarmiert sträubten sich ihre Nackenhärchen. Sie warf sich herum, hob die Hand mit dem Messer - und prallte im selben Moment gegen den breiten Brustkorb ihres Freundes Tom. „Hey, immer langsam mit den jungen Pferden”, brummte er, umschlang ihre bewaffnete Hand und entwand ihr das Obstmesser. Er stutzte, dann erschien ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. „Auf wen wolltest du denn damit Jagd machen? Auf entlaufene Bananen?" Diese Bemerkung brachte ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Seite ein. Aber das hielt ihn nicht davon ab, ihre Blessur zu bemerken. „Was ist passiert?” „Ein Schwarm Raben ist auf mich losgegangen.” Rebecca erzählte, was geschehen war. „Meinst du, diese Attacke könnte mit dem Verschwinden von Marios Verlobter zusammenhängen?” „Keine Ahnung. Ich bin immer noch skeptisch, ob sie wirklich unfreiwillig verschwunden ist. Ich könnte mir vorstellen, dass sie einfach eine Auszeit braucht, um sich darüber klar zu werden, wie sie sich ihr weiteres Leben vorstellt. Sie müssen sich schließlich irgendwann entscheiden, wo sie Leben wollen. In Lissabon oder hier.” „Aber er sagte, dass nicht nur Ines verschwunden ist”, gab Rebecca zu bedenken. „Und wir treffen erst auf eine Steinlawine und dann auf einen Schwarm wild gewordener Raben. Das sind mir ehrlich gesagt zu viele Zufälle.” „Stimmt, mir auch”, bestätigte Tom. „Geht es dir wirklich gut?”, forschte er besorgt. Sie nickte. „Es ist nur ein Kratzer. Aber wenn ich das Fenster nicht rechtzeitig geschlossen hätte..." Sie schauderte. „Was machst du eigentlich hier?” „Als ich Schritte vor meiner Tür hörte, bin ich aufgewacht. Ich dachte mir sofort, dass du es bist. Immerhin sind wir die einzigen Gäste. Ich wollte nach dir sehen.” Tom ließ sie für einen Moment allein und sah sich gründlich im Garten um, ehe er wieder zu ihr trat. „Hier ist niemand mehr. Wir sollten noch ein paar Stunden schlafen.” Zögernd nickte Rebecca. Sie bezweifelte, jetzt noch schlafen zu können. ***
Wider Erwarten schlief Rebecca noch einige Stunden tief und traumlos. Als sie das nächste Mal
aufwachte, fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Die Sonne schien warm zum Fenster herein, und
während sie sich fürs Frühstück bereit machte, zwitscherten in den Zweigen der Olivenbäume
Rotschwänzchen und Amseln.
Tom war ein stiller Frühstückspartner. Während des Essens schien er sich in Gedanken intensiv mit
den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden zu beschäftigen. Erst als sein Freund kam, um
sie abzuholen, kehrte er in die Gegenwart zurück.
Mit einem geheimnisvollen Lächeln führte Mario Tagarro sie aus dem Frühstücksraum ins Freie.
Vor dem Gasthaus wartete schon ihr Transportmittel auf sie: drei kräftige Pferde. Es waren zwei
Hengste und eine Stute. Sie waren braun und hatten lange, goldgelbe Schwänze und Mähnen.
„Ich hoffe, ihr könnt reiten” , sagte der Lehrer. „Zu Floras Haus führt leider keine Straße. Wie ich
schon sagte, wohnt sie sehr abgelegen.”
„Sie sind wunderschön”, meinte Rebecca begeistert und strich der Stute sanft über die Stirn.
Das Pferd senkte den Kopf, als wollte es sagen: Hey, das ist toll! Bitte mehr davon...
Rebecca musste lachen.
„Wie ich sehe, habt ihr schon Freundschaft geschlossen”, schmunzelte Mario Tagarro zufrieden.
„Haflinger sind bei uns sehr beliebt. Sie sind kräftig und kommen auch mit den steilen Bergpfaden
gut zurecht.” Er schwang sich so kraftvoll in den Sattel, dass Antonio Banderas wahrscheinlich vor
Neid erblasst wäre, wie Rebecca bei sich feststellte. Der Hengst tänzelte, doch als der
dunkelhaarige Mann nach den Zügeln fasste und dem Pferd beruhigend etwas ins Ohr flüsterte,
beruhigte er sich.
Rebecca und Tom stiegen ebenfalls auf. Dann brachen sie auf.
Mario ritt voran und geradewegs nach Süden in den Wald hinein. Der Boden war weich und mit
Gras, Moos und Farnen bewachsen, die manchmal bis zu den Oberschenkeln der Pferde reichten.
Bereits zu ebener Erde sahen die Berge beeindruckend aus, aber vom Pferd aus waren sie schlicht
umwerfend! Durch einen sattgrünen Wald aus Zypressen, Kiefern, dichten Farnen und goldgelbem
Ginster zu reiten, vermittelte Rebecca das wundervolle Gefühl, ganz nah an der Natur zu sein. Am
Ursprung.
Sie musste sich daran erinnern, dass sie nicht nur im Urlaub war, sondern nach einer jungen Frau
suchte, die allem Anschein nach dringend Hilfe brauchte.
Sie ritten über eine halbe Stunde lang. Ab und zu zügelte Mario seinen Hengst und lenkte ihn neben
Rebeccas und Toms Pferde, doch er sprach kein einziges Wort dabei.
Kein Wunder, dachte Rebecca, der arme Mann macht sich sicher Tag und Nacht Sorgen um seine
Verlobte.
Je weiter sie ritten, umso klarer erkannte sie, wie riesig das Gebirge war. Wer hier einmal verloren
ging, tauchte so schnell nicht Wieder auf.
Als sie eine Erhebung passierten, machte Rebecca weiter westlich einen gespaltenen Kamm aus,
der ihr bekannt vorkam. Dahinter musste der Steilhang liegen, an dem es gestern Steine auf sie
geregnet hatte.
Plötzlich tauchte zwischen den Zweigen einer mächtigen Tanne vor ihnen ein Anwesen aus grauen
Steinen und Schiefer auf. Das flache Dach wies einige Löcher auf, die man mit Lehm geschlossen
hatte. Ein windschiefer Holzzaun umgab das Grundstück und hielt zwei Maultiere, ein Schwein
und einige Hühner davon ab, aus dem Garten zu flüchten. Auf dem Brunnen krähte ein Hahn.
Der Garten kam Rebecca verwildert vor. Dichte Büsche wucherten ungehindert, und dazwischen
erhoben sich hüfthohe Steine. Im Näher reiten erkannte sie verwitterte Schriftzüge auf den Steinen
und erschauerte.
Es waren Grabsteine!
Ein Friedhof als Gärten. Sie spürte, wie Gänsehaut ihre Arme überzog. .
Als sie absaßen, rief das Schnauben der Pferde die Hausherrin in den Garten. Flora Braga erschien,
und sie kam nicht allein.
Die Frau erschien Rebecca seltsam alterslos. Vermutlich hatte sie die Siebzig längst überschritten,
zumindest wiesen ihr faltiges Gesicht und das weiße, im Nacken streng zu einem Knoten
zusammengefasste Haar darauf hin. In ihren grünen Augen lag ein tiefes Wissen, das Hunderte von
Jahren alt zu sein schien, doch sie musterten die Besucher so hellwach und aufmerksam wie die
einer Zwanzigjährigen. Flora Braga trug ein hoch geschlossenes schwarzes Kleid mit einem weiten
Rock, der am Saum mit Spitze besetzt war. Stolz erhobenen Hauptes starrte sie ihre Besucher
misstrauisch an. Sie strahlte eine Macht aus, der sich Rebecca nicht entziehen konnte. Ihr Blick
klebte förmlich an der Fremden. Flora stützte sich auf einen geschnitzten Stock, der jedoch eher
wie eine Waffe als wie eine Stütze wirkte.
Und auf ihren Schultern saßen zwei schwarze Raben. Unwillkürlich fasste Rebecca an das Pflaster
auf ihrer Schläfe, und sie sah, wie die Augen der Älteren aufblitzten.
„Was wollt ihr?”, wandte sich die Heilerin mit heiserer Stimme an Mario und ließ dabei einen
Mund voller schwarzer Zahnstummel sehen. Ihr abweisender Ton ließ keinen Zweifel daran, dass
ihr die Gäste unwillkommen waren.
„Wir möchten dich fragen, ob du meine Verlobte in den letzten Tagen gesehen hast”, gab er
zurück.
„Ich habe sie nicht gesehen, und ich bedaure das nicht”, antwortete die Alte krächzend. „Du weißt,
wie wir zueinander stehen. Sie hält mich für eine Scharlatanin, die mit Kräutern Unfug treibt, aber
sie irrt sich. Ich habe Kräfte, die sie nicht einmal erahnen kann. Ich bin eine Heilerin und die Frau,
die das Dorf wieder zu Wohlstand führen kann.” Flora lächelte hintergründig. „Ich vermute, das ist
Ines endlich aufgegangen.”
„Was hast du ihr getan?”, fragte er gepresst.
„Ich? Nichts”, gab Flora achselzuckend zurück.
Plötzlich ahnte Rebecca, dass Flora vermutlich nicht einmal log. Aber sie hatte ihre Helfer. Raben,
Wölfe und wusste der Himmel, wen noch. Wenn Ines Floras Helfern in die Hände gefallen war,
war sie vermutlich in großen Schwierigkeiten.
„Ines behandelt Krankheiten lieber mit Medizin als mit Beschwörungen und Kräutern, aber sie ist
nicht deine Feindin", betonte Mario. „Bitte sag mir, was du weißt.”
„Ich weiß vieles”, versetzte die Alte, „aber nichts davon ist für dich gedacht. Wenn ihr nicht wegen
meiner Heilkünste gekommen seid - geht!"
„Sie machen sich strafbar, wenn Sie Informationen über eine Vermisste zurückhalten”, schaltete
sich Tom ein.
Ein belustigtes Grinsen huschte über das Gesicht der Alten und legte es noch mehr in Falten. „Ah,
der lange Arm der Polizei ist also auch in unser Dorf gekommen”, gab sie zurück. „Aber meine
Macht reicht weiter. Sie können mir nichts anhaben.”
„Dann leugnen Sie nicht, etwas über das Verschwinden von Ines zu wissen?”, fragte der junge
Kriminologe nach.
„Ich leugne nichts, aber ich sage Ihnen auch nichts.”
„Wir werden Ines finden - mit oder ohne Ihre Hilfe”, platzte Rebecca ungeduldig heraus.
Floras Blick wanderte zu ihr. „Sie sollten vorsichtiger sein, wenn Sie nachts frische Luft
schnappen”, empfahl sie kühl.
Rebecca hatte soeben eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, als aus dem Stall ein jämmerliches
Fiepen erklang.
Die Heilerin erbleichte, dann wandte sie sich wortlos ab und verschwand in dem flachen Bau.
„Wer weiß, was sie da drinnen versteckt hat”, murmelte Mario. „Sollen wir ihr folgen?”
„Dazu haben wir kein Recht”, erwiderte Tom. Doch dann tauschten die Männer einen Blick und
folgten der Alten.
Rebecca wollte ihnen gerade nachgehen, als sie das geöffnete Fenster im Erdgeschoss bemerkte.
Das war die Gelegenheit für einen Blick in das Haus der geheimnisvollen Frau. Sie machte drei
lange Schritte, hob den Kopf, spähte ins Innere des Hauses und erstarrte.
Sie hatte einen Volltreffer gelandet. Das Zimmer ließ sich nur mit einem Wort beschreiben:
Hexenküche!
Von der Decke baumelten getrocknete Kräuter wie die Arme eines Skeletts. Unzählige Fläschchen
und Gläser bedeckten die Borde an den Wänden. In der Mitte des Raumes köchelte ein großer
Kupferkessel auf einem Feuer, aus dem grünlicher Rauch aufstieg. Rebecca verzog das Gesicht.
Nichts, das so qualmte, erschien ihr besonders genießbar.
Das Schlimmste jedoch lag auf dem blank gescheuerten Tisch gleich neben der Tür. Grauen kroch
in ihr hoch, als sie die sauber aufgereihten Knochen entdeckte, die verdächtig wie menschliche
Schienbeine aussahen. Daneben grinste sie ein bleicher Totenschädel an.
Anscheinend holte sich Flora ihre Kochzutaten vom benachbarten Gottesacker!
Rebeccas Kopf begann zu hämmern. Der Schmerz setzte so heftig und unvermittelt ein, dass ihr
beinahe übel wurde.
In was waren sie da nur hineingeschlittert?
Da krächzte plötzlich eine wütende Stimme neben ihr „Gehen Sie! ", hörte sie und dann folgte
etwas, das sie nicht verstand, das aber verdächtig wie eine Verwünschung klang.
Flora Braga war unbemerkt herangekommen und funkelte Rebecca böse an.
*** „Die Mittagszeit ist vorbei”, knurrte der rundliche Wirt un-freundlich, als Rebecca und die beiden Männer von ihrem Ausritt in das Gasthaus zurückkehrten. Er sah aus, als wollte er sie nicht einmal in die Gaststube lassen. Rebecca setzte ihr freundlichstes Lächeln auf. „Wir sind sehr hungrig. Können Sie uns nicht noch etwas zaubern?” Gegen so viel weiblichen Charme war der silberhaarige Mann machtlos. „In Ordnung”, brummte er. Da sie die einzigen Gäste waren, konnten sie sich einen Tisch auswählen. Sie suchten sich einen Fensterplatz mit Blick auf das Serra da Estrella. „Die Menschen hier sind nicht besonders gastfreundlich”, stellte Rebecca fest, während sie zwischen Tom und Mario Platz nahm. „Das war nicht immer so”, erzählte Mario. „Früher wurden Gäste in jedem Haus willkommen geheißen und äußerst ungern Wieder weggelassen. Erst seit Flora hier lebt mag man keine Fremden mehr. Und das schließt mich mit ein.” Tom hob den Kopf. „Warum denn? Dein Vater wurde doch hier geboren.” „Das schon, aber er hat viele Jahre mit meiner Mutter und mir in Deutschland gelebt, bis zu meinem achten Geburtstag. Danach lebten wir hier. Mit einigen Unterbrechungen, aber immerhin. Aber seit ich die Woche über in Lissabon lebe und arbeite, gehöre ich nicht mehr dazu.” Er stellte es in sachlichem Ton fest, doch Rebecca spürte, dass ihm die Entfremdung von seinen Freunden und Nachbarn zu schaffen machte. „Du solltest abreisen, Rebecca”, bemerkte Tom. „Die Straße ist Wieder frei. Wenn ich gewusst hätte, was hier los ist, hätte ich dich nicht mitgenommen.” „Dir ist es also auch nicht geheuer?”, fragte sie. „Nein. Irgendetwas geht hier vor. Etwas Schlimmes. Ich kann es förmlich riechen”, gab der junge Kriminologe ernst zurück. Da wurde die Tür geöffnet, und der Wirt schleppte ein volles Tablett an ihren Tisch. Sofort verbreitete sich ein herrlicher Duft nach Meeresfrüchten, Pilzen und Reis. Offenbar wirkte sich die Zurückhaltung der Bewohner des einsamen Berglands nicht auf ihre Kochkünste aus. „Im Frühling ist Lampreia, das Flussneunauge, eine besondere Spezialität”, erklärte Mario, als er Rebeccas verzückten Gesichtsausdruck sah. „Ich liebe Fischgerichte”, offenbarte sie und kostete.
Ihr Freund ließ sich einen Teller mit gefülltem Hühnchen und Salat schmecken und probierte dazu
den süffigen Portwein, den ihnen der Wirt serviert hatte.
Nur Mario stocherte lediglich auf seinem Teller herum. „Flora wird mir immer unheimlicher”,
gestand er. „Man sieht sie nie ohne die beiden Raben auf den Schultern.”
„Ja, das ist merkwürdig”, warf Tom ein. „Ich dachte immer, Raben gelten als unzähmbar.”
„Nach einem Blick in ihre Küche kann ich nur sagen, dass ich ihre Brühe lieber nicht kosten
möchte” erklärte Rebecca und dachte an die aufgereihten Menschenknochen. „Was habt ihr in
ihrem Stall entdeckt?”
„Eine kranke Katze”, gab Tom Auskunft. „Sie hatte eine lange, blutige Wunde an der Seite. Es sah
so aus, als hätte sie sich mit einem weit größeren Tier angelegt. Flora hat sie in aller Eile ins Haus
geschleppt.”
„Lass mich raten: Es war eine rabenschwarze Katze”, mutmaßte Rebecca.
„Bingo! Und das ohne Publikumsjoker”, schmunzelte Tom.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage”, meinte sie zögernd. „Aber ich glaube, Flora ist eine
Hexe.”
„Eine Heilerin und eine Hexe”, bestätigte Mario und nickte. „Und sicherlich keine weiße.”
„Was hat sie damit gemeint, als sie sagte, sie würde Wohlstand ins Dorf bringen?”
Der junge Lehrer schob seinen erst halb geleerten Teller von sich. „Wie ihr vielleicht schon
gemerkt habt, sind die Menschen hier nicht gerade reich. Es ist ein hartes Leben, dem Boden das
Nötigste abzugewinnen. Viele sind schon weggegangen, um in der Stadt ihr Glück zu suchen. Das
Land hier oben erlebt glühend heiße Sommer, die die Ernte verbrennen, und bitterkalte Winter, in
denen die übrige Welt so weit weg ist wie der Mond, und das Heizmaterial nie reicht...”
„Und was hat Flora damit zu tun?”, wollte Tom wissen.
Mario kam nicht gleich zu einer Antwort, weil der Wirt erschien und die leeren Teller durch Platten
mit verführerisch duftenden Süßigkeiten ersetzte. Die Pasteis de aböbora, wie Mario die mit
Kürbismarmelade gefüllten Törtchen nannte. taten es Rebecca besonders an.
„Mhm, lecker”, schwärmte sie, woraufhin der Wirt das erste Lächeln seit ihrer Ankunft sehen ließ.
Danach zog er sich wieder zurück.
„Seit Flora hier ist, fallen die Ernten üppiger aus als in den Jahren davor”, nahm Mario den Faden
wieder auf und hob die Schultern.
„Ich habe keine Erklärung dafür, aber so ist es.”
„Woher kam sie, als sie vor zwei Jahren hier auftauchte?”
„Das weiß niemand. Sie spricht nie über ihre Vergangenheit.” Der dunkelhaarige Lehrer blickte auf
seine Hände hinab. „Sie behauptet, die besseren Ernten hätten wir ihrem Zauber zu verdanken. Ines
hat ihr misstraut und versucht, die Menschen vor Floras Kräutermixturen zu warnen. Ich traue Flora
zu, dass sie Ines... aus dem Weg geräumt hat.”
„Weil sie ihre Macht im Dorf gefährdet?”, vermutete Rebecca. Der Lehrer nickte.
Tom schwieg, doch seine düstere Miene verriet, dass auch er ahnte, dass der jungen Hebamme
etwas Schreckliches zugestoßen war.
„Möglicherweise hatte Flora auch etwas mit der Steinlawine zu tun”, grübelte Rebecca.
„Andererseits: Warum sollte sie uns so hassen, dass sie uns umbringen will?”
„Vielleicht war es nur eine Warnung, sich nicht einzumischen”, antwortete Mario.
„Kann sein...” Sie rieb sich den schmerzenden Kopf.
„Ist dir schlecht?”, fragte Tom beunruhigt.
„Ich habe Kopfschmerzen, seit ich einen Blick in Floras Hexenküche geworfen habe.”
„Ein Stück die Straße runter gibt es eine farmácia”, empfahl Mario.
„Eine Apotheke?”, wunderte sich Rebecca. „Ich hätte nicht gedacht, dass Flora Konkurrenz zu
ihrem `Kräutershop' zulässt.”
„Die Besitzer haben sich mit ihr arrangiert, schätze ich. Aber es dürfte kein Problem sein,
Kopfschmerztabletten von ihnen zu bekommen.”
„Dann werde ich jetzt einen kleinen Bummel durchs Dorf machen.” Rebecca erhob sich, doch sie hatte ein dumpfes Gefühl dabei im Bauch. Sie spürte, dass etwas auf sie zukam. Und es war gewiss nichts Gutes! *** Eine kleine Glocke bimmelte hell über der Tür, als Rebecca das weiß gekalkte Haus mit der Aufschrift „farmácia” betrat. Sie bemerkte gerade noch die deckenhohen Regale, die sich prall gefüllt mit Schachteln, Tuben und Fläschchen hinter der Theke türmten, ehe eine helle Stimme erschrocken aufschrie. Ein junges Mädchen in einem Kleid aus kariertem Stoff in kräftigen Herbsttönen und mit einem dicken schwarzen Zopf, der ihr bis über den Rücken reichte, kämpfte mit einem Stapel Gläser, der aus dem Gleichgewicht geraten war und jeden Moment umzukippen drohte. Die Gläser waren mit Flüssigkeiten gefüllt, die in allen Farben schillerten. Rasch packte Rebecca zu und rettete die beiden obersten Gläser vor dem Sturz. Dann die nächsten beiden. Endlich bekam der Stapel mehr Standfestigkeit. „Vielen Dank”, stammelte das Mädchen und blies sich aufatmend eine Strähne ihres dichten dunklen Ponys aus dem Gesicht. Sie konnte nicht viel älter als siebzehn sein, schätzte Rebecca. Zu ihrer Überraschung sprach das Mädchen Deutsch. „Mein Vater hätte mich umgebracht, wenn die Gläser mit dem kostbaren Inhalt zerbrochen wären. Ihm gehört die Apotheke nämlich.” „Was ist denn darin?” „Kräuteressenzen aus seltenen Pflanzen. Sie sind sehr teuer. Wir mussten sie extra in der Stadt bestellen. Flora wartet schon ungeduldig darauf. Ich wollte sie alle auf einmal verpacken, aber um ein Haar wäre es schief gegangen.” Das Mädchen seufzte erleichtert. Rebecca mochte sie sofort. Für Flora also, dachte sie. Ich hätte es mir denken können. Das Mädchen deutete ihr Schweigen falsch. „Sie sind bestimmt überrascht, dass ich Sie auf Deutsch angesprochen habe, nicht? Ich lerne in der Schule Deutsch und freue mich immer, wenn ich jemanden habe, an dem ich meine Kenntnisse ausprobieren kann.” Sie lachte. „Sie sprechen es sehr gut. Woher wussten Sie, dass ich aus Deutschland komme?” „Oh, in unserem Dorf spricht sich alles schnell herum. Außerdem habe ich Sie gestern mit Ihrem Mann gesehen.” „Mit wem? Oh, das ist nicht mein Mann. Wir sind nur befreundet.” Das Mädchen errötete. „Er sieht sehr gut aus. Meine Mutter hofft, dass ich einmal einen Deutschen heirate. Dann würde ich auch aus dem Dorf wegkommen.” „Möchten Sie das denn?”, erkundigte sich Rebecca und vergaß für einen Moment ihre Kopfschmerzen. „Nein, ich liebe meine Heimat. Trotzdem muss ich vielleicht weggehen, denn es gibt hier nicht viele Jungs in meinem Alter, und ich hätte später gern einmal eine große Familie.” Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. „Ich heiße übrigens Silvia.” „Ich bin Rebecca.” „Hat Ihr Begleiter schon eine Frau?” „Nein, Tom geht ganz in seinem Beruf als Polizist auf.” Die roten Lippen des Mädchens formten ein großes: „Oh!" Aber dann lächelte es. „Es ist gut, dass er sich so engagiert. Das wird er dann auch bei der Frau tun, die er liebt. Die Frau, in die er sich einmal verlieben wird, wird sehr glücklich sein.” Rebecca nickte. „Im Moment untersucht er das Verschwinden von Marios Verlobter. Wissen Sie etwas darüber?” Die Miene des Mädchens wurde traurig. „Ines war meine einzige Freundin im Dorf. Die anderen Frauen...” Sie brach ab. „Was ist mit ihnen?”, fragte Rebecca sanft nach.
„Sie folgen Flora blind. Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Ines war die Einzige, die das verstanden
hat. Sie hat sich Flora auch nicht angeschlossen, und jetzt ist sie weg.”
„Angeschlossen?”, wiederholte Rebecca überrascht. „Das klingt, als gäbe es irgendeinen Bund um
Flora.”
Das Mädchen sah sich hastig nach rechts und links um, ehe es sich über die Theke beugte und
flüsterte: „Sie haben Recht, es gibt einen Zirkel. Flora versammelt die Frauen des Dorfes um sich,
um uralte Beschwörungen und Rituale durchzuführen. Und sie folgen ihr. Alle. Sogar meine
Mutter.”
„Dann ist Flora tatsächlich eine Hexe?”
„Offiziell nennt sie sich Heilerin, aber in ihrem Zirkel lässt sie sich die Schwarze Hexe nennen. Das
weiß ich von meiner Mutter. Ich war noch nie dabei, wenn sie eine Beschwörung durchgeführt
haben. Erst war ich zu jung, und dann habe ich mich mit Schulaufgaben und Arbeit herausgeredet.
Doch sie drängen mich immer mehr, daran teilzunehmen. Ich weiß nicht, wie lange ich ihnen noch
standhalten kann. Jetzt, wo Ines weg ist, stehe ich ganz alleine”, gab sie erstickt zurück.
„Und was ist mit den Männern?”
„Sie haben Angst vor Flora und wagen es nicht, sich einzumischen. Wahrscheinlich fürchten sie,
Flora würde ihnen sonst einen Fluch anhexen oder bei der nächsten Behandlung absichtlich das
falsche Elixier verabreichen.”
Am liebsten hätte Rebecca das Mädchen tröstend umarmt und die Frauen aus dem Dorf kräftig
geschüttelt, bis sie die Finger von den heidnischen Riten ließen.
„Was für Beschwörungen führt sie durch?”
„Liebes und Fruchtbarkeitszauber für die Frauen, die Probleme mit ihren Männern oder
ausbleibendem Nachwuchs haben”, antwortete Silvia prompt. „Und Beschwörungen, damit das
Wetter ausgeglichener wird und die Ernten reicher ausfallen... Flora hat allen im Dorf Wohlstand
versprochen, als sie herkam. Das war kurz nach einem harten, langen Winter. Viele waren krank
und finanziell am Ende. Flora traf auf offene Ohren, als sie im Dorf auftauchte.”
Ein Geräusch aus dem hinteren Teil der Apotheke ließ Silvia zusammenfahren. Rebecca spürte,
dass sich das Mädchen vor der alten Frau fürchtete. Es war beängstigend, welchen Einfluss Flora
im Dorf hatte. Sie schien die heimliche Herrscherin zu sein. Wahrscheinlich brachten die Menschen
ihr Geschenke oder steckten ihr Geld zu, denn umsonst arbeitete Flora sicher nicht.
„Bleiben Sie noch ein bisschen bei uns”, bat Silvia. „Ich habe niemanden mehr zum Reden, seit
Flora da ist. Sie vergrault alle Gäste. Die alten Prozeduren werden streng geheim gehalten, deshalb
sind Fremde im Dorf unerwünscht."
Die Kopfschmerzen brachten sich hämmernd wieder in Erinnerung, deshalb bat Rebecca um eine
Schachtel mit Kopfschmerztabletten.
„Wir sehen uns sicher bald Wieder”, verabschiedete sie sich dann.
Das junge Gesicht der Portugiesin leuchtete erfreut auf.
Mit einer blauen Schachtel in der Hand verließ Rebecca die Apotheke und traf ihren Freund Tom.
Er hockte auf einem umgestürzten Baumstamm.
„Ich habe etwas Wichtiges herausgefunden”, begann er.
„Ich auch.” Rebecca fischte eine Tablette aus der Packung. „Du zuerst.”
„Flora Braga hat bis vor zwei Jahren in einem abgelegenen Dorf an der Algarve gelebt. Und jetzt
rate mal, warum sie dort verschwinden musste.”
„Vielleicht, weil sie dort ebenfalls geheimnisvolle Rituale durchgeführt hat?”
„Ach, du weißt schon davon? Aber es war nicht nur das. Ein Mädchen ist dort vor drei Jahren
spurlos verschwunden. Man fand ihre Leiche erst ein Jahr später, und sie war schrecklich
zugerichtet worden, so viel konnten die Gerichtsmediziner noch herausfinden. Es schien so, als
wäre ein wildes Tier über sie hergefallen. Oder Schlimmeres.”
„Vielleicht ein Wolf?” Rebecca dachte an den Steilhang, wo sie die Umrisse einer schmalen
Frauengestalt und eines großen Hundes - oder Wolfes? - zu sehen geglaubt hatte.
„Möglicherweise ein Wolf, ja. Flora konnte nichts nachgewiesen werden, aber neben der Leiche
fanden sich verschiedene Kultobjekte - glaub mir, du willst gar nicht wissen, was für welche.
Jedenfalls wiesen sie auf Floras schwarzmagische Praktiken hin. Die Beweise reichten nicht für
eine Verhaftung, aber die Menschen in der Gegend mieden die Alte daraufhin.”
„Und nun ist wieder eine junge Frau verschwunden.” Entsetzt sah Rebecca auf. „Mein Gott,
möglicherweise ist Marios Verlobte längst tot.”
Ihr Freund nickte düster. „Das könnte sein. Inzwischen glaube ich auch nicht mehr daran, dass Ines
freiwillig verschwunden ist.”
„Woher weißt du denn das alles über Flora?”
„Ich habe ein wenig herumtelefoniert. Und was hast du herausgefunden?”
„Flora hat einen Kreis Frauen um sich versammelt, mit denen sie magische Rituale durchführt. Sie
scheinen ihr blind zu folgen, und es würde mich nicht wundern, wenn sie sie irgendwie
beeinflussen würde.”
„Das gefällt mir ganz und gar nicht”, murmelte Tom. Schweigend machten sie sich auf den
Heimweg. Dabei beschäftigten viele Fragen ihre Gedanken, von denen sich eine besonders abhob:
War Ines Rodrigues das Opfer eines schwarzmagischen Rituals geworden?
Plötzlich fiel Rebecca etwas Alarmierendes ein.
Sie blieb stehen und fasste nach der Hand ihres Freundes. „Silvia ! " „Was? Wer ist Silvia?”
„Sie arbeitet in der Apotheke. Neben Ines ist sie die einzige der Frauen im Dorf, die sich Flora noch
nicht angeschlossen hat.”
Er verstand sofort. „Dann sollten wir besser ein Auge auf sie haben. Lass uns diese Nacht abwarten
und morgen noch einmal mit Flora sprechen. Ich werde ihr klar machen, dass sie nicht damit
durchkommt, wenn der Kleinen etwas passiert.”
Rebecca nickte.
Doch diese Nacht war genau eine Nacht zu viel...
*** Ein leichter Luftzug weckte Rebecca. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und sah sich überrascht im
Zimmer um. Es hätte dunkel sein müssen, denn sie hatte das Licht gelöscht, als sie schlafen
gegangen war.
Aber es war nicht dunkel.
Ein grünliches Licht schimmerte von den Wänden wider, das sie sofort an den Dampf aus dem
Kupferkessel in Flora Bragas Küche erinnerte. Es ließ die Möbel grün schimmern und tauchte die
gekalkten Wände in ein unheimliches Licht.
Rebecca sah auf ihre Hände herab, die unruhig an der Bettdecke zupften.
Auch sie waren grün.
Sie hob den Blick wieder und bemerkte, dass die Zimmertür sperr-angelweit offen stand.
Was ging hier vor?
Zögernd schwang sie die Beine aus dem Bett und zog den Morgenmantel über ihr dünnes
Nachthemd. Dann verließ sie ihr Zimmer.
Das grüne Licht wurde stärker, je weiter sie lief.
Das Gasthaus lag in todesähnlicher Stille. Nicht einmal der Kühlschrank im Erdgeschoss brummte.
Nicht ein einziges Lebewesen war außer ihr unterwegs.
Nicht einmal eine Mücke.
Die Stille zehrte an Rebeccas Nerven. Plötzlich ging ihr auf, was sie störte. Sie hätte wenigstens
ihre eigenen Schritte hören müssen! Aber dem war nicht so.
Sie widerstand der Versuchung, etwas zu sagen, nur um zu sehen, ob sich die Stille durchbrechen
ließ.
Stattdessen schlich sie weiter. Jemand hatte ihre Tür geöffnet. Aber wer?
Sie erreichte die Haustür. Die Tür bestand aus schwerem Eichenholz. Eine Klinke aus
angelaufenem Silber schimmerte ihr entgegen. Das grüne Licht war jetzt so stark, dass es sie
beinahe blendete.
Sie drückte die Klinke herunter. Geräuschlos schwang die Tür auf, und ein Feuerwerk aus grünen
Lichtern blitzte ihr entgegen.
Geblendet schloss sie für einen Moment die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, bemerkte sie, dass sich der Garten vor dem Gasthaus verändert hatte.
Hohe Bäume, mit Stämmen, so dick wie fünf Männer, und dichten Kronen, ragten sich vor ihr auf.
Dazwischen stand eine junge Frau. Doch wie sah sie aus!
Instinktiv spannte sich Rebecca an, bereit zur Verteidigung. Ihr Körper war angespannt wie eine
Feder, ihre Hände geballt, und sie ließ das unheimliche Wesen keine Sekunde aus den Augen.
Vor ihr stand ein Monster. Zur Hälfte Skelett und zur Hälfte Mensch!
Die linke Gesichtshälfte wies die zarte, weiße Haut einer Frau auf, übersät mit Schmutzstreifen und
Wunden. Dunkle Augen blickten Rebecca beinahe flehend an. Darüber wölbte sich eine helle Stirn,
die von blutigen Schrammen zerkratzt war. Es sah aus, als hätten Krallen die Haut zerrissen.
Rechts grinste Rebecca ein bleicher Totenschädel mit leeren Augenhöhlen an. Der rechte Arm des
Wesens war nur Knochen, ebenso wie das rechte Bein.
Während ihre linke Körperhälfte verletzt, aber lebendig erschien, wirkte die rechte, als sei die Frau
schon lange tot. Ein heller Rock wehte zerrissen um die schmale Gestalt, und eine helle Bluse
verdeckte nur notdürftig die Wunden. Trotz ihrer schrecklichen Erscheinung wirkte die Frau nicht
bedrohlich, eher todtraurig.
Das muss ein Traum sein, sagte sich Rebecca. So etwas gibt es einfach nicht. Sie zwickte sich mit
zwei Fingern in den rechten Arm. Es schmerzte.
Also doch kein Traum?
Die Unheimliche öffnete den Mund und begann zu sprechen. „Ich habe mich für das Dorf geopfert.
Sei nicht so dumm wie ich. Reise ab, solange du noch kannst”, drängte sie. Ihre Stimme klang hohl,
doch Rebecca war froh, dass es in dieser Welt aus Schrecken überhaupt Töne gab.
Ein Wesen - halb Mensch, halb Skelett. Das war unmöglich. Und doch sah sie es genau vor sich:
Höchstens zwei Meter entfernt.
Rebecca wich zurück, als die Fremde den skelettierten Arm nach ihr ausstreckte. „Wer bist du?”
„Weißt du das nicht?” Die Fremde lächelte traurig. „Sieh mich an, das wird auch mit dir geschehen,
wenn du nicht vorsichtig bist.”
Rebecca schüttelte sich, doch sie unterdrückte den Impuls, wegzulaufen. Stattdessen sagte sie: „Ich
möchte dir helfen.”
„Das kann niemand mehr. Aber du bist noch nicht verloren. Sei gewarnt. Du hast anderes zu tun,
als dich gegen Flora aufzulehnen. Du musst deine Eltern suchen.”
Rebecca spürte, wie ihr Herzschlag einen Moment aussetzte.
„Was weißt du von meinen Eltern?” Sie dachte daran, dass ihre Mutter sie in höchster Angst als
Baby bei Elisabeth von Mora zurückgelassen hatte und seitdem spurlos verschwunden war.
Niemand wusste, woher sie gekommen war, oder wer Rebeccas Familie war.
„Deine Mutter ist in großer Gefahr. Du musst sie finden und retten.”
„In welcher Gefahr?”
Die Fremde schüttelte den Kopf. „Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass sie in Gefahr ist.
Seltsame Kräfte haben es auf sie abgesehen. Kräfte, die nicht von dieser Welt sind.”
„Dann lebt sie noch?”
„Ich weiß es nicht. Ich kann sie spüren, aber nur schwach. Vielleicht ist es nur ihre Seele, die
keinen Frieden findet.”
Ich würde sie auch gern spüren, dachte Rebecca. Nur ein einziges Mal.
Dennoch klammerte sie sich an die Hoffnung, dass ihre Mutter noch leben könnte. „Wie kann ich
sie finden?”
„Wenn die Zeit reif ist, wirst du...”
Plötzlich ließ ein lautes Klingeln Rebecca aufschrecken. Die unheimliche Gestalt begann zu
verschwimmen. Das Schrillen schien von überallher zu kommen...
Mit einem Ruck setzte sich Rebecca in ihrem Bett auf und war sofort hellwach.
Sie hatte geträumt!
Schweratmend strich sie sich die Haare aus dem Gesicht.
Um ein Haar hätte sie mehr über ihre Mutter erfahren.
Hatte sie wirklich nur geträumt?
Sie kam nicht dazu, sich weiter Gedanken darüber zu machen, denn das Telefon neben ihrem Bett
klingelte weiter.
Ihre Hand zitterte, als sie abhob und sich meldete.
„Hallo meine Liebe”, schallte ihr die fröhliche Stimme ihrer Pflegemutter entgegen. „Ich wollte un
bedingt hören, wie es dir geht.”
„Hallo Tante Betty.” Rebecca sah auf den Wecker neben ihrem Bett. Zweiundzwanzig Uhr dreißig.
Sie hatte kaum eine Stunde geschlafen. Die vertraute Stimme hatte etwas Tröstliches, und so
erzählte sie ihrer Pflegemutter vom Sternengebirge, der verschwundenen Hebamme und den
schweigsamen Einheimischen.
„Aber das ist noch nicht alles, oder?”, vermutete Betty, die ihre Adoptivtochter genau kannte.
„Ich hatte einen seltsamen Traum. Eine junge Frau warnte mich. Es hätte Ines sein können, aber sie
sah schlimm aus.” Rebecca erlebte den Traum noch einmal, während sie ihn erzählte. „Ob Flora
Braga Träume schicken kann? Vielleicht wollte sie mich von hier weglocken.”
„Das könnte sein. Du weißt ja, dass ich Übersinnliches durchaus für möglich halte. Und diese Flora
scheint eine mächtige Frau zu sein."
„Jedenfalls scheint Ines wirklich tot zu sein.”
Zu ihrer Überraschung gab Tante Betty einen verneinenden Ton von sich. „Nicht unbedingt.
Erstens weißt du nicht genau, ob es wirklich Ines war, und zweitens haben Träume ihre eigene
Symbolik. Sie sind meist verschlüsselt. Ich denke, dein Unterbewusstsein wollte dir eine Warnung
zukommen lassen. Du bist auch in Gefahr, wenn du dich Flora entgegenstellst. Bitte sei vorsichtig,
mein Kind.”
„Ich verspreche es dir.”
„Am liebsten wäre es mir, du würdest sofort heimkommen.”
„Das kann ich nicht.” Rebecca schwieg einen Moment. „Ich denke, der Traum kam von Flora. Ich
spüre das einfach. Ines muss etwas Schreckliches zugestoßen sein.”
„Aber Flora würde ihren Fehler sicher nicht wiederholen”, tröstete Tante Betty. „Immerhin wurde
sie bereits einmal beinahe verhaftet, weil ein Mädchen starb.”
„Vielleicht hat sie nun schon Übung. Oder sie fürchtet die weltlichen Mächte nicht, weil sie weiß,
dass ihr andere Kräfte zur Seite stehen.” Rebecca sah das besorgte, liebe Gesicht ihrer
Adoptivmutter in Gedanken vor sich. „Wie geht es dir?”
„Oh, ich hatte einen tollen Ausflug mit Johannes zu...”
In diesem Moment erklang vor Rebeccas Fenster ein ohrenbetäubender Schrei.
Hoch und gellend rief eine helle Stimme um Hilfe. Ein Mädchen, das sich in Todesgefahr befand!
*** Rebecca traf nur einen Moment nach Tom vor dem Gasthaus ein. Sie hatte sich hastig einen
Morgenmantel übergeworfen, den sie jetzt eng um sich wickelte. Trotzdem fröstelte sie.
Sie ahnte, wer geschrieen hatte, noch ehe sie die schmale Gestalt am Boden liegen sah.
Das Mädchen bewegte sich nicht. Ihr Gesicht war blutverschmiert, und ihre Glieder waren seltsam
verrenkt. Es war Silvia, das Mädchen aus der farmácia. Der junge Polizist kniete sich neben sie und
überprüfte ihren Puls.
Aus dem Augenwinkel sah Rebecca, dass aus jedem Haus Menschen strömten. Die meisten trugen
nur ein Nachthemd oder einen Schlafanzug. „Was ist passiert?”, fragte sie erstickt.
„Jemand hat sie brutal zusammengeschlagen”, gab Tom zurück. „Es sieht übel aus. Möglicherweise
hat sie innere Verletzungen. Sie braucht sofort einen Arzt.”
Mario Tagarro trat zu ihnen. Seine sonst so warmen braunen Augen blickten finster. „Ich habe
bereits nach einem Arzt telefoniert, aber es wird eine Stunde dauern, bis er hier oben ist.
Mindestens. Kannst du nichts für sie tun, Tom?” „Ein wenig. Ich habe eine Erste-Hilfe-Ausbildung.
Tragen wir sie ins Haus. Aber vorsichtig!"
Die Männer hoben das Mädchen an, während die Dorfbewohner mit versteinerten Mienen um sie
herum standen. Niemand sprach. Erst jetzt fiel Rebecca auf, dass es lauter Frauen waren. Wo waren
die Männer?
Die Frauen ließen keinerlei Mitgefühl erkennen und zeigten nur unbewegte Mienen. Das traf
Rebecca bis ins Herz.
„Schau dir die Frauen an”, raunte sie ihrem Freund zu. „Sie sehen aus, als ginge es sie gar nichts
an, dass ein Mädchen aus ihrer Mitte überfallen wurde.”
Tom nickte. Dann konzentrierte er sich auf die Verletzte. Das schlanke Mädchen bedeutete für die
Männer keine Last. Behutsam trugen sie es ins Haus und legten es auf die Couch. Es war ein
sauberes kleines Wohnzimmer, mit alten Eichenmöbeln und Fellen ein-gerichtet.
Die Frauen folgten ihnen.
„Ich habe einen Verdacht, was geschehen sein könnte”, meinte Tom leise.
„Flora”, gab Rebecca wie aus der Pistole geschossen zurück.
„Genau. Nachdem Silvia dir einiges über sie erzählt hat, wird sie überfallen. Das riecht mir ein
wenig zu sehr nach Zufall. Ich denke, Flora wollte den Dörflern ein mahnendes Zeichen geben, sie
nicht zu verraten. Schau dir die Frauen an. Eher presst man aus einem Stein Wasser, als dass sie
uns etwas sagen.”
„Ich denke wie du. Aber wie beweisen wir das? Und wie verhindern wir, dass so etwas noch mal
passiert?”
„Wir brauchen einen Plan, aber vorher müssen wir das Mädchen versorgen."
Ein kleiner Mann wieselte heran und brachte ihnen Sanitätsinstrumente und eine Schale mit
Wasser. Er hatte dieselbe klare, hohe Stirn und das leicht gekerbte Kinn wie Silvia, deshalb
erkannte Rebecca ihn sofort als den Vater des Mädchens.
Eine hagere Frau mit großen dunklen Augen trat vor und sagte barsch etwas zu ihm. Daraufhin zog
er leicht den Kopf ein und ging. Allerdings nicht ohne noch einen flehenden Blick zu Tom und
Rebecca zu werfen.
„Das ist Silvias Mutter. Sie hat ihm gesagt, er soll sich heraushalten”, übersetzte Mario, während
sich Tom ans Werk machte und vorsichtig das Gesicht des Mädchens reinigte.
Rebecca breitete eine Decke über ihr aus. Silvia hielt die Augen geschlossen, doch sie zitterte
unkontrolliert. Da wandte sich Rebecca an die Frauen, die wie ein Ring aus Schweigen um sie
herum standen. „Möglicherweise hat Silvia innere Verletzungen”, sagte sie auf Englisch. „Ines
könnte ihr mit ihrem medizinischen Wissen helfen. Wo ist sie?”
Schweigen, ja Feindseligkeit begegnete ihren Blicken.
„Silvia braucht sie. Sie gehört doch zu euch.” Rebecca sah Silvias Mutter an. „Sie ist Ihre Tochter.”
„Das ist sie, aber sie gehört nicht zu uns”, gab die Angesprochene in gebrochenem Englisch zurück
und funkelte Rebecca an.
Offenbar war nicht nur Silvia in Gefahr. Mario, Tom und sie selbst waren es auch.
„Wir bedrohen den Wohlstand, den sie sich von Flora erhoffen”, bestätigte Mario, als hätte er ihre
Gedanken gelesen.
„Nicht zu fassen, dass sie dafür sogar ein Mädchen aus ihrer Mitte sterben lassen würden”, gab sie
zurück. „Ich bin sicher, dass sie ahnen, wo Ines ist. Vielleicht wissen sie es sogar. Floras Macht
über sie ist mir nicht geheuer.”
„Mir auch nicht. Besonders, weil es möglich ist, dass sie ihre Macht ausdehnt. Es gibt noch mehr
einsame Bergdörfer wie unseres hier oben.”
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als Tom ein entsetztes Stöhnen hören ließ.
Erschrocken fuhr Rebecca herum. „Was ist denn...” Dann sah sie das Mal.
Tom hatte die Blutschicht von Silvias Gesicht gewaschen. Darunter waren zwei Zeichen
erschienen. Offenbar hatte jemand sehr sorgfältig ihr Gesicht zerschnitten.
„Was ist das?”, fragte Rebecca beklommen. „Es sieht aus wie das Symbol für einen Sessel, oder?
Drei Striche, einer senkrecht, zwei verlaufen waagerecht am Fuß des senkrechten nach rechts. 0
nein! " Sie biss sich auf die Lippen.
Fragend hoben die Männer die Brauen.
„Es ist ein F, aber auf den Kopf gestellt! Seht es euch an. Ein umgekehrtes F, so wie die
Teufelsanbeter auch die Kreuze verkehrt herum tragen. Es symbolisiert, dass alles umgekehrt wird.
Die Macht des Guten wird ins Schlechte verwandelt...” Rebecca hielt einen Moment inne und sah
die Männer bedeutungsvoll an. „F wie Flora! Und auf der anderen Wange ist mit einiger Fantasie
ein B zu erkennen. Ein senkrechter Strich mit zwei Bögen. B wie Braga!”
Die Männer hatten sich gut in der Gewalt, aber sie wurden eine Spur bleicher. Dass jemand so
etwas einem jungen Mädchen antun konnte, musste erst einmal verdaut werden. Silvia würde für
ihr Leben gezeichnet sein, wenn sie diese Nacht überhaupt überlebte.
Rebecca strich dem Mädchen das Haar aus der Stirn. Silvia schwitzte und zitterte gleichzeitig, und
ihre Haut war aschfahl. Das war kein gutes Zeichen. Rebecca verständigte sich mit einem Blick mit
den beiden Männern. Sie wurden nicht gehen, bis der Arzt eingetroffen war.
Doch ebenso wenig verließen die Frauen das Zimmer. Stumm wachten sie neben dem Bett, als
sollte ihnen das Opfer entrissen werden.
Tom beugte sich zu Rebecca herunter. „Wieso warst du so schnell draußen? Konntest du auch nicht
schlafen?”
„Ich hatte einen Albtraum, aus dem mich Tante Betty und das Telefon zum Glück herausgeholt
haben. Es war schlimm. Ich habe von einem Wesen geträumt, das halb Mensch und halb Skelett
war.”
Zu ihrer Überraschung hob er ruckartig den Kopf. „Wie war das?”
„Eine junge Frau hat zu mir gesprochen. Sie sah schrecklich aus.”
„Lieber Himmel, hast du noch mit jemand anderem telefoniert, Rebecca?”
„Nein, wieso?”
„Das ist seltsam. Wirklich seltsam. Du konntest doch nicht wissen, dass...” Er schüttelte leicht den
Kopf. „Erinnerst du dich, dass wir darüber gesprochen haben, dass Flora schon einmal aus einem
Dorf fliehen musste? Ich wollte dir nicht alles über das Opfer von damals sagen.”
„Richtig”, nickte Rebecca.
„Nun, das Mädchen gab den Spezialisten von der Obduktion ein un-heimliches Rätsel auf. Es war
halb verwest.”
„Daran ist doch nichts Ungewöhnliches, nach einem Jahr”, warf Mario ein.
„O doch, denn das Mädchen war nur auf einer Hälfte zum Skelett geworden, die andere war bis auf
ein paar Wunden unversehrt.” Tom schnaubte. „Die Wissenschaftler haben alles Mögliche in
Betracht gezogen, Säure, Gift oder Ähnliches... Aber keine Erklärung hat sie wirklich befriedigt. Es
ist ein Rätsel.”
Rebecca biss sich auf die Lippen. „Und nun ist mir das Mädchen im Traum erschienen, obwohl ich
nichts davon wusste. Seltsam. Es würde mich nicht wundern, wenn der Traum von Flora geschickt
worden wäre, um uns loszuwerden.”
„Du solltest wirklich abreisen.” Tom sah sie besorgt an.
Sie ließ ein kleines Lächeln sehen. „Nein, Tom. Ich bin Schriftstellerin. Ich höre nie vor der
spannendsten Stelle auf.”
„Was ist denn die spannendste Stelle?”
„Wenn das Gute auf das Böse trifft.” Sie sah ihn ernst an. „Eins ist klar: Dies hier ist noch nicht
vorbei.“
***
„Soll ich Ihnen die Rechnung fertig machen?”, fragte die hagere Gastwirtin, kaum dass Rebecca
und Tom am nächsten Mittag ihre Teller geleert hatten. Ihre Stimme klang so heiser, als hätte sie
drei Nächte durchzecht.
„Wie kommen Sie darauf, dass wir abreisen wollen?”, fragte Rebecca verblüfft.
„Es ist das Klügste, das Sie tun können. Sie haben Silvia gestern gesehen. Möchten Sie auch so
aussehen?”
Rebeccas Hand fuhr unbewusst zu ihrer Wange, doch dann hob sie entschlossen den Kopf. „Wir
bleiben.”
„Das ist dumm von Ihnen”, gab die Wirtin dumpf zurück. Ihre dunklen Locken bebten vor
unterdrückter Empörung, als sie den Tisch abräumte.
„Wenn Sie netter zu Ihren Gästen wären, hätten Sie mehr Urlauber in Ihrem Gasthof und bräuchten
keinen faulen Zauber, um zu Wohlstand zu kommen”, warf Tom bewusst provozierend ein.
Die Wirtin schluckte den Köder. „Fauler Zauber?” Sie lachte rau. „Floras Mächte übersteigen alles,
was Sie sich vorstellen können.”
„Dann weiß sie sicher auch, wo Ines ist. Wissen Sie es ebenfalls?”
„Ich weiß gar nichts”, wehrte die Angesprochene ab. Doch ihre Wangen färbten sich flammend rot.
Es war offensichtlich, dass sie log.
Rebecca und Tom tauschten einen Blick, dann erhob sich Rebecca. „Lass uns einen Abstecher zu
Silvia machen. Ich möchte wissen, wie es ihr geht.”
Sie verließen das Gasthaus, überquerten die schmale Straße und betraten die Apotheke. Silvias
Vater stand hinter der Theke.
„Guten Morgen”, grüßte Rebecca. „Wie geht es Ihrer Tochter?”
„Sie schläft. Der Arzt hat ihr ein Mittel gegeben. Er sagt, sie hätte keine inneren Verletzungen, nur
Prellungen und eine leichte Gehirnerschütterung.” Der kleine Mann stockte. „Und die Wunden. "
„Es tut uns so Leid. Können wir irgendetwas für Sie tun?”
„Das ist sehr freundlich von Ihnen”, brachte er heraus, „aber Sie können nur eins tun. Beten, dass
der Spuk bald ein Ende hat.” Er sah sich so ängstlich nach allen Seiten um, als könnte Flora
plötzlich von der Decke herabschweben.
Sie versprachen, seine Bitte zu erfüllen, später noch einmal wiederzukommen, wenn Silvia wach
war, und verließen die Apotheke. Draußen blieb Tom stehen.
„Armes Ding. Wenn ich daran denke. dass die Kleine womöglich ihr Leben lang entstellt bleibt,
würde ich dieser Frau, die glaubt, sie sei eine Hexe, gern mal den Zauberkessel zurechtrücken und
ihr ihre eigene Medizin zu kosten geben.”
„Das geht mir auch so”, bestätigte Rebecca. „Kannst du denn nicht gegen sie einschreiten? Oder
die Polizei von hier? Die Knochen auf dem Küchentisch waren bestimmt keine Hühnerknochen.”
Sie sah ihn bedeutungsvoll an.
„So weit ich weiß hat Mario die Polizei von seinem Verdacht gegen Flora unterrichtet. Offenbar
wurde bisher nichts Unrechtes bei ihr gefunden.”
„Wer weiß, ob überhaupt gesucht wurde.”
Tom seufzte. „Mario ist heute nach Lissabon gefahren. Er muss wieder arbeiten, wenn er seine
Stelle nicht verlieren will. Aber wir sollten uns ein bisschen die Gegend ansehen. Was hältst du von
einem Picknick? Das macht den Kopf frei, und vielleicht fällt uns dabei etwas ein.”
„Nach der letzten Nacht ist mir eigentlich nicht so...”
„Es wird dir gut tun”, versprach Tom. Als Rebecca nickte, verschwand er für zehn Minuten im
Gasthaus und kehrte mit einem Korb unter dem Arm zurück.
Einträchtig schlugen sie den Weg in den nördlichen Wald ein, und wenig später hatten die dichten
Bäume und Farne sie aufgenommen. Jetzt, um die Mittagszeit, war es angenehm warm im Wald.
Irgendwo stieß ein Roter Milan seinen durchdringenden Schrei aus. Vögel zwitscherten in den
Zweigen, und es duftete nach Kiefern und blühendem Ginster. Zwischen den goldenen Blüten
flatterten unzählige Schmetterlinge.
Rebecca spürte, wie sie sich entspannte.
„Wie hast du es geschafft, die Wirtin zu überreden, uns einen Picknickkorb zu packen?”, fragte sie
und kletterte über einen umgestürzten Baum, der quer über dem Weg lag.
„Mein Charme gepaart mit einem Geldschein”, gab er zurück. „Obwohl wahrscheinlich eher das
Geld als mein Charme den Ausschlag gegeben hat.”
„Das wäre das erste Mal, dass dein Charme bei einer Frau versagt”, neckte sie und wich lachend
aus, als er nach ihr griff. Doch er war schneller. „Hilfe, nicht kitzeln!“
Schmunzelnd ließ er von ihr ab. „Na gut, ich verschone dich.” Er griff nach ihrer Hand. „Lass uns
weiterlaufen.”
Sehr schnell wurde der Pfad steiler. Sie brauchten ihren Atem, um vorwärts zu kommen, und
wanderten eine Weile schweigend.
Plötzlich blieb Rebecca stehen und spähte den Hang hinauf. „Schau mal, ist das da drüben nicht
Flora Braga?”
Etwa dreihundert Meter von ihnen entfernt stand die Frau mit dem silbernen Haarknoten. Sie
schien sie schon bemerkt zu haben, denn sie bewegte die Lippen und schaute so böse drein, dass
Rebecca sicher war, dass sie eine Verwünschung aussprach.
„Wahrscheinlich sammelt sie Kräuter”, vermutete Tom und nickte ihr zu. „Lass uns zu ihr gehen
und mit ihr sprechen.”
Doch als sie wieder aufsahen, war die alte Frau verschwunden.
Sie kletterten ihr nach, aber sie fanden keine Spur mehr von ihr.
„Das gibt's doch nicht. Wie vom Erdboden verschluckt”, murmelte Rebecca und fügte düster hinzu:
„Wahrscheinlich stimmt das sogar.”
Ihr Begleiter lachte leise. „Ich dachte immer, du glaubst nicht an Zauberei?”
Sie hob zweifelnd die Schultern. „Nach allem, was hier geschehen ist, denke ich, dass Floras Macht
in jedem Fall weiter reicht, als wir denken.”
Suchend sah sie sich um. Dann zeigte sie auf eine Lichtung, die weiter oben direkt vor ihnen lag.
„Wollen wir dort hinauf wandern? Von da hat man sicher einen fantastischen Blick über die
Berge.”
„Eigentlich wollte ich zu den Felsen im Westen, aber die Lichtung ist verlockender”, stimmte Tom
zu.
Es war ein warmer Frühlingstag, und so kamen sie gehörig ins Schwitzen, als sie dem schmalen
Bergpfad folgten. Links von ihnen erhob sich eine kahle Hügelkette, während auf drei Seiten
dichter Wald gedieh. Hier und da mussten sie an großen Findlingen vorbei, und ab und zu
wucherten Farn oder Ginster über den Weg. Nicht sicher, ob es hier Schlangen gab, suchte sich
Rebecca einen Stock, mit dem sie erst in den Farn hineinstieß, ehe sie einen Fuß hineinsetzte.
Eine Stunde später waren sie oben.
„Der Weg war länger, als er von unten aussah”, stellte Rebecca fest und ließ sich auf einen Baum
stumpf sinken.
Tom setzte sich neben sie und packte den Picknickkorb aus. Es gab kleine Kuchen, Früchte und
sogar eine Thermoskanne mit heißem Kaffee.
Rebecca hielt ihren Reiskuchen selbstvergessen in der Hand. „Hier irgendwo muss Marios Verlobte
verschwunden sein.“ Ihr Blick glitt über die dichten Baumwipfel, die sich sanft im Wind wiegten,
als könnten sie ihr verraten, wo die junge Hebamme geblieben war. Der Bergwald war voller
Geheimnisse. „Ich habe Angst um Ines.”
„Alles wird gut”, machte Tom ihr Mut. „Aber ich hoffe, sie wird bald gefunden. Ich glaube nicht,
dass Mario ohne sie wieder glücklich wird. Männer seines Schlages lieben nur einmal, aber dann
fürs ganze Leben”, philosophierte er.
Überrascht sah Rebecca ihn an. „Meinst du wirklich?”
Er nickte. „Ich kenne ihn. Wir haben als Kinder in demselben Viertel gewohnt. Mario war stets
absolut loyal. Wen er einmal in sein Herz geschlossen hatte, der war für immer sein Freund.
Wahrscheinlich hatte deshalb unsere Freundschaft über alle Trennungen hinweg Bestand. Diese
unverbrüchliche Treue findet man nicht überall. Ich denke, ebenso treu ist er Ines. Für immer.”
„Sie könnte eine sehr glückliche Frau sein, wenn Flora sie nicht... " Rebecca brach ab. „Wenn Ines
noch lebt, werden sie und Mario einen Weg finden müssen, um zusammenzuleben. Mario würde
seine Arbeit in Lissabon sicher nur schweren Herzens aufgeben.”
Tom biss abwechselnd in ein Stück Apfelkuchen und eine Banane. Er nickte versonnen. Rebecca
musste unwillkürlich lächeln. Tom tat alles, was er machte. mit Hingabe. Essen, arbeiten und sicher
auch lieben. Wahrscheinlich waren sich Mario und er ähnlicher, als ihm bewusst war...
„Würdest du für eine Frau alles aufgeben? Auch den Beruf wechseln?”
„Wenn ich sie liebe, ja”, gab er nach kurzem Nachdenken zurück.
Rebecca sah den Jugendfreund nachdenklich an. „Wie müsste sie denn sein, die Frau, für die du
alles tun würdest?”
„Sie müsste denselben Geschmack haben wie ich”, gab er zurück. „Möchtest du ein Stück von dem
Kuchen probieren? Er ist super.” Er hielt ihr ein Stück Apfelkuchen hin.
„Mhm”, machte Rebecca begeistert und biss gleich noch einmal ab.
„Und sie müsste dieselben Ziele wie ich haben”, fuhr Tom fort. „Sag mal, wollen wir nachher auf
der anderen Seite des Berges absteigen? Wir könnten sehen, ob wir ein paar abgelegene Höfe
finden und etwas über Ines herausfinden. "
„Das wollte ich auch schon vorschlagen”, nickte Rebecca. „Aber weiter. Was noch?”
„Sie müsste meine Gedanken aussprechen können und dieselben Träume haben wie ich. Weißt du,
irgendwann hätte ich gern einmal eine eigene Familie. Mit vielen Kindern und...” Er hielt kurz inne
und biss in seinen Kuchen.
„Und mit einem Hund und einem Haus”, beendete Rebecca seinen Satz. „Ein Haus voller Liebe
und Lachen. Ja, das wünsche ich mir auch.”
„Ganz genau. Aber woran erkennt man die Richtige?”
„Dein Herz wird es dir verraten, wenn es soweit ist. Wer weiß, Vielleicht kennst du sie sogar
schon.” Sie sah versonnen auf den sonnenbeschienenen, grünen Wald. „Ich würde gern in die
Zukunft schauen können. Wissen, welchen Mann das Schicksal mir zugedacht hat. Im Moment
fühle ich mich noch nicht bereit für eine Familie. Aber irgendwann... Dann werde ich den
Richtigen finden und ihn ganz fest halten.”
Tom nahm ihre Hand und drückte sie leicht. Dann holte er ein blaues Samtkästchen aus seiner
Hemdtasche und reichte es ihr. „Ich habe etwas für dich.”
„Was ist das?” Rebecca öffnete das Kästchen und fand darin eine hübsche Brosche. Die
Anstecknadel hatte die Form einer Katze und war aus reinem Silber. „Oh, Tom, sie ist reizend!”
„Ich freue mich, wenn sie dir gefällt. Sie soll dir Glück bringen und dir sagen, dass ich dein Freund
bin - durch Dick und Dünn.” Er lächelte. „Versprich mir, sie immer anzulegen.”
„Einverstanden." Rebecca befestigte die Brosche an ihrer hellen Bluse. Dann fiel sie dem Freund
um den Hals.
*** Der Abstieg auf der anderen Seite des Hügels erwies sich als müh-selig. Hier gab es keinen Weg,
sodass sich Rebecca und Tom einen Pfad durch Farne und dichten, stacheligen Ginster schlagen
mussten. Das Dickicht zerrte an ihrer Kleidung, und nach einer Stunde war Rebecca überzeugt,
dass sie sich in dem riesigen Bergwald hoffnungslos verirrt hatten.
„Keine Sorge, ich bin mit einem eingebauten Kompass zur Welt gekommen”, beruhigte sie Tom.
„Ich weiß. Mir ist nur neu, dass die Spitze immer nach Norden zeigt”, schmunzelte Rebecca,
worauf sie einen halb strafenden, halb belustigten Blick erntete und vorsichtshalber einen Schritt in
Deckung ging.
Der attraktive Kriminologe blieb stehen und wies ein Stück voraus. Rebeccas Blick folgte seiner
ausgestreckten Hand.
„Ein Haus! Mitten im Nirgendwo”, stieß sie hervor.
Vor ihnen erhob sich ein eingeschossiges Holzhaus. Die Veranda war liebevoll mit Blumenkästen
ausgestattet worden und grünte ebenso üppig wie die Kräuter im Vorgarten.
Ein junger Mann in den Zwanzigern war soeben dabei, mit breiten Latten und Nägeln den
morschen Zaun rings um das Grundstück auszubessern. Die Nägel steckten erstaunlicherweise in
seinem Mund, sodass nur die Köpfe zwischen den Lippen hervorschauten. Seine dichten dunklen
Haare und die schwarzen Augen wiesen ihn als Einheimischen aus. Er war knabenhaft schmal, aber
so groß wie Tom.
„Hallo”, sprach Tom ihn an. „Wir haben uns die Gegend angesehen und dabei verirrt. Wir wollten
zu Flora Braga.”
Der junge Portugiese ließ die Nägel aus dem Mund fallen, als er auf Englisch antwortete.
„F-Flora lebt auf der anderen Seite des H-Hügels”, stotterte er.
„Kennen Sie sie gut?”
„Nein, aber m-meine Frau geht oft zu ihr.” Er biss sich auf die Lippen, als hätte er ein Geheimnis
ausgeplaudert.
„Können wir mit ihr sprechen?”, fragte Rebecca hoffnungsvoll. Vielleicht wusste die junge Ehefrau
mehr über das Verschwinden von Marios Verlobter.
„T-tut mir Leid, sie ist nicht da.” Er wich ihrem Blick aus und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Tom stieß Rebecca leicht an und raunte: „Wenn ich mich nicht irre, hat er eine Riesenangst vor
Flora. Für die Menschen hier scheint sie übers Wasser gehen zu können.”
Rebecca nickte. Dann sah sie den jungen Portugiesen bittend an. „Wir suchen Ines, die Verlobte
unseres Freundes. Sicher kennen Sie sie. Können Sie uns einen Tipp geben, wo sie sein könnte?”
„Nein. W-wer sind Sie überhaupt?”
Tom übernahm es, sie vorzustellen. Er ließ auch seinen Beruf nicht aus, und im selben Moment
hellte sich das Gesicht seines Gegenübers auf.
„M-mein Name ist Nicolas. Ich arbeite als Korkschäler und manchmal als Fremdenführer, wenn
Gäste kommen. Ich würde Ihnen gern helfen”. taute er auf. „Ines ist eine gute Frau. Sie hat mir
geholfen. als ich eine Lungenentzündung hatte. Ich weiß nicht, wo sie ist, ich weiß nur, dass sieh
die Frauen im Dorf verändert haben, seit Flora hier lebt. Sie haben sich ihr angeschlossen und tun
seltsame Dinge. Nur Ines misstraut Flora. Die anderen sind ihr hörig."
„Ihre Frau auch, Nicolas?”, erkundigte sich Rebecca.
„M-meine Frau verehrt Flora.”
„Flora ist eine Hexe, nicht wahr?”
Der Korkschäler nickte unmerklich. „Sie beten die vier Elemente an. Feuer, Erde, Wasser und Luft.
F-flora hat meiner Frau ein Fruchtbarkeitsmittel gebraut, weil wir noch keine Kinder haben,
obwohl wir schon zwei Jahre verheiratet sind.”
Toms Augen blitzten. „Wenigstens wissen wir jetzt, dass wir es nicht mit Teufelsanbetung zu tun
haben. Dies hier scheint älter zu sein. Es erinnert mich an die Bräuche der Kelten.” Er sah den
Korkschäler an. „Wo treffen sich die Frauen?”
„Sie treffen sich immer nachts. Aber wo, das halten sie streng geheim. Einmal bin ich meiner Frau
heimlich gefolgt. Ich... ich wollte nicht, dass ihr etwas passiert. Doch sie hat mich bemerkt und mir
mit Scheidung gedroht, wenn ich ihr weiter folge.” Der Korkschäler seufzte. „Bald ist ein wichtiger
Hexenfeiertag, dann wird sie wieder zu Flora gehen.”
„Wann, Nicolas?”
Der schmächtige Mann hob die Schultern. „Flora verteilt Schrumpfköpfe, wussten Sie das?
Niemand weiß, woher sie sie hat.” Er schüttelte sich, als hätte er
Angst, sein Kopf könnte ebenfalls so enden.
Wahrscheinlich ist dieser Gedanke gar nicht so abwegig, dachte Rebecca bei sich.
„Es ist Beltane, das Maifest. Eins der vier Jahreszeitenfeste. F-für Hexen ein besonderer Feiertag.
Dann sind die Geister frei und können herumwandern und nach ihrem Belieben Gutes und Böses
tun. Und die Hexen beschwören sie.”
„Wann ist dieses Fest?”, drängte sie sanft.
„Es beginnt heute Abend.”
Rebecca sog scharf die Luft ein. Flora würde einen so wichtigen Tag nicht ungenutzt verstreichen
lassen. „Wenn Ines noch lebt, wird Flora sie wahrscheinlich heute Nacht ausschalten wollen”,
wandte sie sich an Tom.
Tom nickte. „Es wird Zeit, dass wir etwas unternehmen.”
„Hast du einen Plan?"
Die Frauen werden uns nicht helfen, also müssen wir ihre Männer mobilisieren. Einer von ihnen
muss doch mehr wissen. Vor allem, wo Flora praktiziert." Er hielt kurz inne. „Mario, die Männer
und ich könnten zu ihr gehen und ihr ins Gewissen reden.”
„Sofern sie eins hat”, ergänzte Rebecca. „Guter Plan, und welche Rolle hast du mir zugedacht?”
„Du schließt dich in deinem Zimmer ein und kommst nicht raus, bis wir zurück sind.”
Sie starrte ihn verblüfft an. „Ich soll Däumchen drehen? Das kommt nicht in Frage. Ich werde euch
begleiten.”
„Nein, Rebecca, das geht nicht. Wir dürfen Flora nicht unterschätzen. Sie hat ein ganzes Dorf
geistig gesunder Frauen in ihren Bann gezogen. Keine Ahnung, wie sie es gemacht hat, aber du bist
auch eine Frau und damit gefährdet. "
„Ines hat ihr widerstanden”, wandte Rebecca ein. „Ebenso wie Silvia.”
„Und was hat es ihnen gebracht?” Tom schüttelte den Kopf. „Solange wir nicht mehr wissen,
möchte ich dich nicht in Floras Nähe wissen.”
Sie biss sich auf die Lippen. Tom stand immer mit beiden Beinen auf der Erde. Wenn er Flora
übermächtige Kräfte zutraute, dann war wirklich Vorsicht geboten.
„Trotzdem kann ich nicht einfach untätig bleiben und mich verkriechen. Ich werde Silvia besuchen.
Vielleicht kann ich sie etwas aufheitern.”
Tom sah sie forschend an. „Du willst sie ausfragen, stimmts?” Er schüttelte resignierend den Kopf.
„Dann sei wenigstens vorsichtig, okay?”
Rebecca nickte. Doch sie war nervös. Es ging bereits auf den Nach-mittag zu. Für Ines wurde es
knapp, wenn sie denn überhaupt noch lebte. Ihnen blieben nur noch ein paar
Stunden, um die Vermisste zu finden!
*** Der Apotheker führte Rebecca in die Kammer seiner Tochter.
„Sie hat hohes Fieber, aber sie ist wach”, erklärte er leise. Seine Augen lagen hohl über bleichen
Wangen, die eine lange, schlaflose Nacht verrieten.
„Wo ist ihre Mutter?”
„Heute ist Beltane”, gab er scheu zurück.
Rebecca nickte verständnisvoll. Für die Männer des Dorfes musste die Veränderung ihrer Frauen
schlimm sein. Sie standen Floras Macht hilflos gegenüber, während sich ihnen ihre Frauen
entfremdeten und sich damit ihr Familienleben veränderte.
Der kleine Mann öffnete die Kammertür.
Silvias Zimmer war eine richtige Mädchenkammer. Ein üppiges Arsenal Schminksachen bedeckte
das Wandbord. Daneben hingen Poster von Britney Spears und Enrique Iglesias. Auf dem
Schreibtisch vor dem Fenster stapelten sich Schulbücher, Stifte und Fotos von ihren Eltern, und das
Bett auf der anderen Seite war mit Plüschtieren umrahmt.
Überrascht bemerkte Rebecca, dass sie nicht die einzige Besucherin war. Ein Mann saß bereits am
Bett des fiebernden Mädchens, das mit glänzenden Augen zu ihm aufsah.
Es war Mario Tagarro.
„Ich habe unbezahlten Urlaub genommen, als mir klar wurde, welchen Tag wir heute haben”,
erklärte er und fügte nach einem Moment hinzu: „Beltane. Heute wird etwas geschehen. Davon
können wir ausgehen.”
Das Mädchen im Bett nickte. Die Wunden auf ihren Wangen waren verbunden und schmerzten
sicher noch, aber ihr Blick hing an dem attraktiven Lehrer. Er war in Gedanken bei seiner
Verlobten und schien nicht zu merken, wie Silvia ihn anhimmelte.
Aber Rebecca bemerkte es. Sie zog sich einen Stuhl heran. „Wie geht es Ihnen, Silvia?”
„Mir tut alles weh. An den Überfall kann ich mich kaum erinnern. "
„Haben Sie gesehen, wer es war?”
Das Mädchen schüttelte zögernd den Kopf. „Es war dunkel. Ich wollte nach Pepe, meinem Kater,
sehen. Er kommt normalerweise abends ins Haus, aber gestern war er noch nicht da. Plötzlich
spürte ich Hände an meiner Kehle. Ich rief um Hilfe und bekam einen Schlag auf den Kopf, und
dann weiß ich nichts mehr.”
,.Haben Sie nichts von dem Angreifer gesehen?”
„Leider nicht. Er kam ja von hinten. Aber er roch aufdringlich nach Lavendel.”
„Also vermutlich eine Frau”, bemerkte Mario düster. „Ich denke, es war Flora.”
Silvia zitterte zur Antwort und kroch tiefer unter ihre Decke.
„Ich habe mit dem Arzt gesprochen”, berichtete er. „Die Wunden
auf deinen Wangen werden Narben geben, aber sie können wegoperiert werden.”
„So viel Geld haben wir nicht”, wisperte Silvia. Ihre dunklen Augen schwammen in Tränen. „Ich
bin entstellt.”
„Nein, Silvia. Ich werde die Operation bezahlen.” Mario hob die Hand, als das Mädchen Einwände
machen wollte. „Du hast dich für meine Verlobte in Gefahr begeben, als du Rebecca von Flora
erzählt hast. Deshalb ist das das Mindeste, was ich für dich tun kann. Ich wünschte, ich könnte dir
auch die Schmerzen abnehmen.”
..Sie nennen sich `Töchter des Blutes'", erzählte Silvia leise, aber entschlossen. „Ich habe gehört,
wie meine Mutter mit einer anderen Frau darüber gesprochen hat. Sie haben einen geheimen
Tempel. Sie sind Hexen, und Flora ist ihre Anführerin. Ich wollte nicht mitmachen, und ich denke,
einige andere wollen das auch nicht, aber sie haben Angst vor Flora.” Schweißperlen bildeten sich
auf ihrer Stirn. „Heute ist die Nacht, in der neue Hexen in den Bund aufgenommen werden. Ich
sollte auch...”
Rebecca sah einen Waschlappen am Waschbecken neben der Tür liegen. Sie stand auf, kühlte ihn
unter fließendem Wasser und legte ihn dann sanft auf die Stirn des Mädchens. Hoffentlich
entzündet sich die Wunde nicht, dachte sie besorgt. Nicht zu fassen, dass eine Frau einer anderen so
etwas antun kann. Flora muss unbedingt das Handwerk gelegt werden. „Mario, Tom möchte nach
Flora suchen.”
Der junge Lehrer erhob sich Sofort. „Wo ist er?”
„Im Gasthaus. Er wollte die Männer aus dem Dorf versammeln.”
„Ich werde zu ihm gehen.”
Das Mädchen hob die Hand. „Wenn du möchtest, Mario, kannst du morgen zum Frühstück zu mir
kommen.” Heiße Röte stieg in ihre Wangen. „Wir haben noch Apfelkuchen.”
Der Mann nahm ihre Hand. „Du bist ein liebes Mädchen.”
Trotz ihrer Schmerzen schnaubte Silvia empört. „Ich bin kein Kind mehr.”
Er lächelte leicht. Dann verließ er die Kammer.
„Er ist ein toller Mann, aber er denkt immer an Ines und schaut keine andere an”, bedauerte Silvia.
„So wie Ihr Freund. Er sieht auch nur Sie an.”
Rebecca hob überrascht den Kopf. „Tom?”
Die Siebzehnjährige nickte.
„Nein, wir sind nur Freunde. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.”
Das Mädchen lächelte rätselhaft, als wüsste sie etwas, von dem Rebecca noch keine Ahnung hatte.
Doch dann wurde ihr Blick traurig.
Rebecca bemerkte es. „Wissen Sie, was Flora heute vorhaben könnte?”
„Sie will Rosmerta beschwören.”
„Rosmerta? Ist das ein Geist?”
„Eine Schutzgöttin. Sie soll vor Hunderten von Jahren gelebt haben. Damals wurde sie von vielen
Menschen verstoßen, aber denen, die an sie glaubten, hat sie Glück und Wohlstand gebracht.”
Rebecca schürzte die Lippen. Töchter des Blutes, dieser Name
ging ihr nicht aus dem Sinn. Es war nicht schwer zu erraten, womit die Frauen die heidnische
Göttin anbeten wollten. Der Gedanke an ein Menschenopfer überfiel sie.
Nein. das ist zu weit hergeholt, rief sie sich selbst zur Ordnung. Immerhin leben wir im
einundzwanzigsten Jahrhundert.
Dennoch konnte sie ein flaues Gefühl im Bauch nicht unterdrücken.
Sie war so in ihr Nachdenken vertieft. dass sie erst eine Weile später bemerkte, dass Silvias Atem
tief und regelmäßig kam. Sie war eingeschlafen.
Rebecca blieb neben dem Bett sitzen und hing ihren Gedanken nach. Plötzlich bemerkte sie auf
dem überfüllten Schreibtisch - gleich neben dem Mathematikbuch - einen walnussgroßen
Gegenstand aus weißem Material.
Es war ein Totenkopf. Die leeren Augenhöhlen starrten ihr blind entgegen. Nachdenklich nahm sie
ihn in die Hand.
Er fühlt sich an, als sei er aus einem Knochen geschnitzt, bemerkte sie mit leichtem Schauder. Ist es
nur Teenieschmuck - oder mehr?
Sie wollte den Blick schon abwenden, als sic das gelbe Papier entdeckte, das unter dem
Mathematikbuch hervorblitzte.
Zögernd zog sie das Blatt hervor.
Es schien uralt zu sein und sah aus, als hätten Mäuse an den Rändern genagt. In den vier Ecken
standen merkwürdige Schriftzeichen, die Rebecca sofort als Runen erkannte. In die Mitte war eine
Karte der Umgebung gezeichnet. Das Dorf war ebenso wie der Steilhang eingezeichnet. Ein
blutrotes Kreuz im nördlichen Wald markierte eine Stelle. Daneben stand mit Bleistift in weicher
Mädchenhandschrift: 30. April 2003.
Das war heute. Rebecca starrte auf die Karte. Das sah wie eine Einladung aus. Aber wozu? Zu
Silvias Aufnahme in die Hexengemeinschaft?
Ihr Verdacht erhärtete sich, als sie die Initialen in der rechten Ecke der Karte bemerkte. F.B. - Flora
Braga!
Diese Karte konnte sie zu Floras Versteck führen!
Warum hatte Silvia nichts davon gesagt? Hatte sie es im Fieber vergessen?
Rebecca schüttelte den Kopf. Das war unwahrscheinlich, aber für Erklärungen war später noch
Zeit. Sie hielt den Weg zur Lösung des Rätsels in den Händen. Vielleicht zeigte das Kreuz den
Aufenthaltsort von Marios Verlobter an!
Ich muss dorthin. Gleich. Aber besser nicht allein.
In Gedanken überschlug sie, dass Tom Zeit genug gehabt hatte, um die Männer aus dem
unmittelbaren Umkreis zu versammeln. Sie waren sicher schon auf dem Weg zu den abgelegeneren
Höfen. Es würde Stunden dauern, sie aufzuspüren.
So viel Zeit hatte sie nicht.
Entschlossen nahm sie einen Zettel, zeichnete mit fliegenden Fingern die Skizze ab und vermerkte
am Rand, wann sie zu der bezeichneten Stelle aufgebrochen war. Das Blatt legte sie gut sichtbar
neben Silvias Bett. Wenn Tom sie suchte, würde er hierher kommen, den Zettel finden und ihr
hoffentlich folgen.
Noch besser wäre es, wenn sie ihn unterwegs traf, aber darauf wollte sie sich besser nicht verlassen.
Vorerst war sie auf sich allein gestellt.
Allein gegen die Töchter des Blutes.
*** Wie Rebecca befürchtet hatte, war der Apotheker der einzige Mann, der noch im Dorf war. Er war aus Sorge um seine Tochter geblieben. Die anderen waren Tom und Mario gefolgt und suchten
Floras Versteck. Dass Flora die Rituale nicht auf ihrem Hof abhielt, war klar. Wussten die Männer,
wohin sie sich wenden mussten?
Rebecca fürchtete, dass sie die Einzige war, die über einen konkreten Hinweis verfügte. Immerhin
hatten die Frauen ihr Treiben vor ihren Männern geheim gehalten. Jetzt waren sie alle bei Flora.
Das kleine Bergdorf lag da wie ausgestorben. Alle Fenster waren dunkel, obwohl es kaum nach
acht Uhr war.
Rebecca bestieg das kräftige Pferd, das ihr der Apotheker zur Verfügung gestellt hatte. Es war eine
Haflingerstute, die ungeduldig schnaubte, als sie aufsaß. Sie klopfte dem Tier sanft auf den Hals.
„Wenigstens eine von uns kann es nicht erwarten, in den Wald zu reiten.”
Sie packte die Zügel und sah sich um. Das Vollmondlicht tauchte das Dorf in silbriges Licht und
ließ die gekalkten Häuser mit den Schieferdächern so geheimnisvoll wirken, als seien sie nicht von
dieser Welt. Die unnatürliche Stille unterstrich diesen Eindruck noch. Wie ein Schal aus
golddurchwirkter, mitternachtsblauer Seide spannte sich das Firmament über den Bergen. Es war
hell genug, um jede einzelne Erhebung ausmachen zu können. Im Norden erhob sich der Kamm
eines zweigipfeligen Berges.
Das war die Richtung, in die sie musste.
„Até a próxima! Gott sei mit Ihnen”, rief der Apotheker.
Rebeccas Portugiesisch reichte aus, um den Abschiedsgruß zu verstehen. Auf Wiedersehen. Ein
Kribbeln überlief sie, als ihr bewusst wurde, dass er das Wort 'Wiedersehen' betont hatte.
Sie presste ihrer Stute sacht die Fersen in die Flanken. Sofort setzte sich das Pferd in Bewegung,
und wenige Minuten später hatte sie der Wald verschluckt.
Nächtliche Stille umfing sie. Der Wind strich sacht durch die Bäume, und ab und zu schrie ein
Vogel.
Die Schritte des Pferdes wurden vom weichen Waldboden gedämpft. Das Bergpferd setzte seine
Hufe mit traumwandlerischer Sicherheit. Trotzdem ließ Rebecca es nicht schneller als in leichtem
Trab gehen. Die Gefahr, dass es mit dem Fuß in einen Kaninchenbau geriet und strauchelte, war
groß. und sie wollte nicht, dass sich die brave Stute verletzte.
Nach etwa zehn Minuten gabelte sich der Weg. Rebecca sah auf die Karte. dann lenkte sie ihre
Stute nach rechts.
Plötzlich knackte es im Unterholz. Zweimal kurz hintereinander. Irgendwo rechts von ihr. Rebecca
kniff die Augen zusammen und musterte die Büsche, deren dunkles Geäst im Mondlicht wie ein
skurriles Muster aussah.
Sie fühlte sich seltsam beobachtet. In ihrem Nacken kribbelte es, als starre sie jemand an. Fast so,
als lauere hinter den Büschen ein geheimnisvoller Schatten darauf, sich auf sie zu stürzen.
Ich hätte nicht gerade Stephen Kings ‚Friedhof der Kuscheltiere’ als Reiselektüre einpacken sollen,
dachte sie. Ein leichter Urlaubsroman hätte es auch getan, dann würde ich jetzt nicht hinter jedem
Baumstamm Unheil wittern.
Trotzdem blieb das Gefühl der Bedrohung, es verstärkte sich sogar noch.
Irgendetwas stimmte nicht, das spürte Rebecca deutlich.
Es war jetzt so still im Wald, als hätte sich alles Leben in Höhlen und andere Verstecke
zurückgezogen, weil etwas Böses im Wald umher strich. Selbst der Wind hatte sich gelegt.
Rebecca spürte, wie ein Zittern ihre Stute überlief. Das Pferd schnaubte und warf unruhig den Kopf
hoch.
Rebecca blieb aufmerksam, während sie ihr Pferd immer weiter nach Norden lenkte. Sie
durchquerten einen Bach, der kaum einen Fuß tief war. Danach wurde der Weg steiler. Oft
schlugen ihr Zweige entgegen, denen sie nur im letzten Moment ausweichen konnte. Es konnte
nicht mehr weit sein bis zu den auf der Karte bezeichneten Ort.
Sie hielt an, stemmte sich in die Steigbügel und sah sich forschend um.
Ein böser Fehler!
Unvermittelt tönte ein bedrohliches Heulen durchs Unterholz. Es ging ihr durch und durch.
Die Stute scheute, ging auf die Hinterbeine, und Rebecca wäre aus ihrer unsicheren Lage um ein
Haar zu Boden gestürzt, wenn sie nicht im letzten Moment den Sattelknauf erwischt und sich daran
festgehalten hätte.
Ihre Stute bockte vor Angst wie ein wild gewordener Teufel.
Das Heulen wiederholte sich vor-erst nicht, doch Rebecca registrierte den süßlichen Geruch eines
Raubtieres.
„Ruhig, meine Hübsche, niemand tut dir etwas.” Leise sprach sie auf die Stute ein. Langsam gab
das Pferd nach und stand schließlich, doch das Zittern hielt an.
Die Gefahr war da. Sie lauerte, um im richtigen Moment zuzuschlagen.
Beunruhigt sah sich Rebecca um und lenkte ihr Pferd nach rechts auf eine Anhöhe zu. Dort würde
sie einen besseren Überblick über die Gegend haben.
Ich weiß nicht einmal, wonach ich suchen muss, dachte sie bei sich. Wo halten Hexen ihre Feste
ab? Sicher nicht in einem normalen Haus. Vielleicht in einer Höhle?
Sie kam nicht mehr dazu, sich auf der Anhöhe nach etwas derartigem umzusehen, denn plötzlich
glitt von links eine graue Gestalt auf sie zu.
Die Gefahr lauerte nicht länger. Sie war da!
Pfeilschnell. Erbarmungslos. Tödlich.
Die Stute schnaubte ängstlich. Ehe Rebecca Zeit fand, sich festzuhalten, hatte sich das graue Wesen
schon vom Boden abgehoben und flog auf sie zu. Ein gestreckter, geschmeidiger Körper und
messerscharfe Zähne waren alles, was sie von ihm sehen konnte.
Sie spürte den schmerzhaften Aufprall, als das Wesen sie erreichte und erbarmungslos von ihrem
Pferd riss. Struppiges Fell streifte ihren Arm.
Ein Wolf!
Im nächsten Moment fand sich Rebecca auf dem Boden wieder und sah gerade noch die Hinterhufe
ihrer Stute, ehe das verängstigte Pferd zwischen den Bäumen verschwand. Ihr Körper schmerzte
von dem Sturz, aber sie hatte keine Zeit, sich um gebrochene Knochen Sorgen zu machen, denn
knapp eine Armeslänge von ihr entfernt lauerte der Wolf.
Graues, struppiges Fell umgab seinen kraftvollen, massigen Körper. Er schien sehr alt zu sein,
erfahren und darum noch gefährlicher. Ungewöhnliche rote Augen funkelten sie an. Er regte sich
nicht, doch sie sah, dass alle Sehnen unter seinem Fell sprungbereit angespannt waren.
Hatte dieses Tier auch Ines gejagt? Plötzlich war Rebecca sicher, dass es so gewesen war. Wenn sie
nicht aufpasste, würde sie ebenso verschwinden wie die junge Hebamme! Sie brauchte etwas,
womit sie sich verteidigen konnte.
Ihr Blick glitt suchend über den Waldboden. Doch da gab es keine Knüppel, nur Gras und Flechten.
Also blieb ihr nur ein Ausweg: Weglaufen!
Langsam stand sie auf, den Wolf dabei fest im Blick behaltend.
Schritt für Schritt wich sie zurück. Sie ging rückwärts, denn um nichts in der Welt hätte sie dem
Raubtier den Rücken zugewandt.
Er schien sie gehen lassen zu wollen. Das weckte ihren Argwohn, aber was hätte sie anderes tun
können? Nichts!
Viele hämmernde Herzschläge später prallte sie gegen etwas Hartes, Kaltes und wurde abrupt
gestoppt. Sie tastete nach hinten und fühlte überrascht eine Steinwand. Ein Haus?
Jetzt riskierte sie es doch. Sie wandte sich um und keuchte auf. Sie hatte gefunden, was sie gesucht
hatte.
Mitten im Wald stand ein Hexentempel!
*** Das Haus aus geweißeltem Stein glich einer kleinen Kapelle. Es hatte sogar einen Turm mit einer Glocke. Wahrscheinlich hatte es früher einmal christlichen Zwecken gedient, doch jetzt wiesen die Motive auf den Buntglasfenstern auf seinen veränderten Zweck hin. Heidnische Motive und
ausführliche Darstellungen von gehörnten Figuren, die sich mit üppigen Frauen vergnügten, gab es
da. Angewidert wandte sich Rebecca ab und hob den Blick zum Dach. Da, wo einmal ein Kreuz
befestigt gewesen sein musste, prangte heute ein silberner Rabe.
Wolf oder Hexentempel? Nach einem letzten Blick auf die gebleckten. gelben Zähne des
Raubtieres fiel Rebecca die Wahl nicht schwer. Sie öffnete die niedrige Holztür und trat ein.
Von Kräuterduft geschwängerte Luft schlug ihr entgegen. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre
Augen an das Zwielicht der flackernden Kerzen gewöhnt hatten. Doch dann verschlug es ihr schier
den Atem.
Ein Altar dominierte das Innere des Hexentempels. Gesäumt von zwei Totenköpfen lagen allerlei
Utensilien darauf, die sie lieber nicht so genau ansah. Vor dem Altar standen zwölf Frauen in roten
Umhängen, angeführt von einer hohen Gestalt, auf deren Schultern zwei Raben saßen. Flora Braga!
Plötzlich erkannte Rebecca, dass sie in eine Falle getappt war.
Sie blickte auf die Karte in ihrer Hand. „Es war kein Zufall, dass ich Sie gefunden habe, oder?”
Die weißhaarige Frau schüttelte den Kopf.
Ein schwerer, süßlicher Geruch hing in der Luft. Rebecca bemerkte, dass die gekalkten Wände
eigenartige Flecken aufwiesen. Tiefrot wie getrocknetes Blut.
Sie wandte hastig den Blick ab. „Wo ist Ines Rodrigues?”, fragte sie laut.
Die grünen Augen der alten Frau glühten auf. „Sie sollte uns bei unserem Ritual behilflich sein,
aber ich denke, wir haben soeben eine bessere Helferin bekommen...”
Diese Worte ließen Rebecca aufatmen. Also lebte Marios Verlobte noch!
„Sie irren sich, wenn Sie glauben, ich würde bei Ihrem gefährlichen Unsinn mitmachen”, gab sie
zurück. „Ich bin gekommen, um Ines zu holen.”
„Unsinn?”, wiederholte ihr Gegenüber zornig. „Sie werden bald sehen, welche Macht ich habe. Sie
haben keine Wahl, Rebecca.”
„Selbstverständlich habe ich die. Sie denken doch nicht, dass ich allein hier bin?”, bluffte Rebecca.
Ein böses Lächeln zuckte um den faltigen Mund der alten Frau. Sie zog einen Zettel aus ihrem
Gürtel, den Rebecca sofort wieder erkannte. Es war ihre Notiz an Tom. Darin stand, wo sie zu
finden war.. . Ihr wurde schwindlig.
,.Die erbetene Unterstützung wird nicht kommen. Ihr Freund ist vollkommen ahnungslos."
Wenigstens scheint sie nichts von dem Suchtrupp zu wissen, dachte Rebecca. Ihr Blick glitt zu den
versammelten Frauen. Sie wichen ihrem Blick aus. Keine schien bereit zu sein, sich der Anführerin
entgegenzustellen.
Plötzlich blitzte ein Dolch in Floras Hand auf.
Rebecca wich zurück und überlegte fieberhaft. Hatte sie die Tür hinter sich geschlossen oder nicht?
Einen Lidschlag später wusste sie es. Sie war gefangen.
„Wir brauchen ein Opfer. Sie können sich freiwillig fügen oder sich wehren. Aber Gegenwehr wird
es für Sie nur schmerzhafter machen”, erklärte Flora.
„Sie können mich nicht zwingen.“
„Na schön.” Mit einer Schnelligkeit, die Rebecca ihr niemals zugetraut hätte, machte Flora einen
Satz nach vorn und hieb mit dem Dolch nach ihr. Die Spitze wirbelte genau auf ihre Schulter zu.
Offenbar wollte Flora sie nicht töten.
Noch nicht.
Rebecca warf sich zur Seite und stürzte hinter die Angreiferin. Gerade noch rechtzeitig, ehe die
silberne Klinge an der Stelle die Luft zerschnitt, an der sie soeben noch gestanden hatte.
In ihrem Stiefel steckte das Messer, das sie vorsorglich eingesteckt hatte. Doch es war
unerreichbar. Wenn sie sich jetzt bückte, konnte sie genauso gut eine Zielscheibe auf ihren Rücken
malen. Die Übermacht der dreizehn Frauen war förmlich greifbar.
Tom! Tom, beeil dich bitte, schoss es Rebecca durch den Kopf.
Sie holte zu einem kräftigen Tritt aus und ließ ihren Fuß auf Floras Hand schnellen, doch die
Angreiferin war schneller, packte ihren Fuß und zog daran.
Rebecca stürzte zu Boden. Im nächsten Moment spürte sie, wie die zwölf Frauen näher rückten und
sie etwas schmerzhaft an der Schläfe traf.
Dann wurde es dunkel um sie.
*** „Sie wollen WAS?” Pures Entsetzen stand dem alten Portugiesen ins Gesicht geschrieben, als Tom ihm sein Vorhaben erklärt hatte. „Ich möchte Flora suchen und verhindern, dass sie weiterhin ihre Zeremonien abhält”, wiederholte Tom ruhig. „Genauso gut könnten Sie versuchen zu verhindern, dass morgen die Sonne aufgeht”, grollte sein Gegenüber. „Floras Macht ist riesig.“ Er sah die Männer hinter Tom mahnend an. „Habt ihr vergessen, was sie uns gesagt hat? Wenn wir ihr folgen, wird sie Wohlstand und Sicherheit in unser Dorf bringen. Wenn wir uns aber gegen sie stellen, werden uns Verderben und Plagen heimsuchen.” Die Männer nickten und wichen stumm Toms Blicken aus. „Außerdem ist sie eine Heilerin”, hieb der Portugiese weiter in die Kerbe. „Sie hat mich mit einem Tee aus Eichbaumrinde von meinen Bauchkrämpfen befreit. Wir sollten sie nicht verärgern.” Der Kriminologe seufzte. dieselben Argumente hatte er bei allen Männern gehört, die er gefragt hatte, ob sie ihm helfen würden, die Frauen von Floras Bann zu befreien. Natürlich wollten sie das, aber sie hatten auch Angst vor Flora, deshalb waren die meisten äußerst widerwillig mit ihm gegangen. Und jetzt schien sich eine Entscheidung anzubahnen. „Was geht Sie das alles überhaupt an?”, fragte der alte Bauer, auf dessen Hof sie gerade standen. „Sie gehören nicht zu uns.” Ernst sah Tom die Männer an. Das silberne Mondlicht ließ ihre Gesichter unnatürlich bleich wirken, und so mancher zuckte zusammen, wenn irgendwo ein Käuzchen schrie. Die Männer wussten, dass etwas im Gange war, und sie schienen eine Heidenangst davor zu haben. „Mein Freund ist einer von euch. Alles, was ihn angeht, geht auch mich an. Seine Verlobte ist verschwunden. Wollt ihr, dass es euch genauso geht?” Verneinendes Gemurmel erhob sich. „Natürlich nicht”, stimmte der alte Portugiese zu. „Aber Flora ist zu mächtig.” „Unsinn. Ihr seid viele”, beharrte Tom. „Ihr habt die Macht, über euer Leben zu bestimmen. Nicht Flora. Wollt ihr eure Frauen an eine Hexe verlieren? Ihr seid nah dran, also tut endlich etwas! Habt ihr nicht gemerkt, dass eure Frauen euch immer fremder werden? Seid ihr glücklich, wenn ihr Gäste abweisen müsst aus Angst, sie könnten etwas herausfinden? Wo ist eure Freundschaft geblieben? Wollt ihr all das, was euch glücklich gemacht hat, Flora opfern?” Einhellig schüttelten die Männer die Köpfe, und sogar der alte Portugiese schien seine Abwehr aufzugeben. „Ich weiß trotzdem nicht, wo meine Frau hingeht, wenn sie zu Flora geht”, murrte er. „Sie hat mir streng verboten, ihr zu folgen.” Da meldete sich ein junger Mann zu Wort, der höchstens zwanzig sein konnte. Er war dünn, aber größer als die anderen, sogar größer als Tom. „Meine Mutter gehört auch dazu. Sie ist nicht glücklich dabei, aber sie hat Angst vor Flora.” „Meine auch”, murmelten mehrere. „Die Frauen scheinen in Floras Bannkreis geraten zu sein”, gab Tom zu. „Aber ihr nicht. Eure Aufgabe ist es, eure Frauen zu beschützen und ihnen zu helfen.” Der alte Portugiese trat von einem Bein aufs andere. „Und was genau haben Sie vor?” „Ich möchte Flora zur Rede stellen und eure Frauen von ihr wegholen. Heute ist Beltane, und vermutlich haben sie irgendetwas vor. Wenn es etwas mit der verschwundenen Ines zu tun hat, will ich sie retten. Notfalls auch allein.” „Das schaffen Sie nicht allein”, meldete sich der junge Riese erneut. „Ich komme mit.”
Daraufhin verkündete einer nach dem anderen: „Ich auch.”
„Ich weiß aber leider auch nicht, wo Mutter hingeht, wenn sie zum Tempel geht”, bedauerte der
Riese.
„Es gibt hier einen Tempel?”, wiederholte Tom erstaunt.
„Ein Hexentempel. Dort führen sie ihre Zauber durch.”
In diesem Moment kündigte eiliges Hufgetrappel einen weiteren Besucher an. Einen Moment
später sprang Mario Tagarro auf dem Hof von einer Schimmelstute. „Du wolltest doch, dass ich
sicherheitshalber eine Weile bei Rebecca bleibe, aber sie ist nicht mehr im Dorf. Ich habe sie
überall gesucht, sogar bei Silvia."
Die Männer brachen in betroffenes Gemurmel aus.
„Ich habe es geahnt”, murmelte Tom düster. „Sie kann sich einfach nicht heraushalten.”
„Der Apotheker sagte, sie sei in den Wald geritten. Sie soll eine Karte bei sich gehabt haben.”
„Hat sie keine Nachricht hinter-lassen? Nein? Das sieht ihr gar nicht ähnlich.”
„Es tut mir Leid. Ich hätte dir diesen Gefallen gern getan, obwohl es mir schwer gefallen wäre,
gerade heute Nacht untätig zu bleiben.” Sein Freund sah ihn beklommen an. „Aber ich bin zu spät
gekommen.”
„Mach dir deshalb keine Gedanken. Wir haben noch ein Ass im Ärmel." Tom tippte geheimnisvoll
auf seine Jacke, ignorierte aber den verständnislosen Blick seines Freundes für den Moment.
Sofort, nachdem er mit Rebecca ins Dorf zurückgekehrt war, hatte er um Hilfe durch seine
portugiesischen Kollegen aus der Stadt gebeten. Man hatte versprochen, jemanden zu schicken,
aber er hatte niemanden gesehen. Vielleicht durchkämmten die Polizisten schon die Gegend.
Vielleicht aber auch nicht. „Weiß niemand von euch, wo der Tempel liegt?”
Die Männer schüttelten einhellig die Köpfe.
„Trotzdem müssen wir sofort aufbrechen”, drängte der große, dünne Mann. „Ich weiß die
Richtung, in die meine Mutter immer geht.”
„Wahrscheinlich will sie dich nur in die Irre führen und schlägt dann im Wald eine andere Richtung
ein”, gab einer der Männer zu bedenken. „Ist doch klar, dass sie ihr Versteck so geheim wie
möglich halten wollen.”
„Trotzdem ist es der einzige Anhaltspunkt, den wir haben”, beharrte der Riese.
Eine ungefähre Richtung, die durchaus in die Irre weisen konnte, fasste Tom bei sich zusammen,
und ein Countdown, der schneller lief, als sie vorwärts kamen.
Das wird knapp, dachte er bei sich. Verdammt knapp!
*** Als Rebecca wieder zu sich kam, glaubte sie für einen schrecklichen Moment, gelähmt zu sein. Sie konnte sich nicht rühren. Ihre Arme und Beine gehorchten ihr nicht. Selbst ihre Lider schienen zu schwer zu sein, um sie zu heben, und in ihrem Kopf hämmerte es schmerzhaft. Dann fiel ihr wieder ein, dass eine der Frauen sie hinterrücks niedergeschlagen hatte. Aber wo war sie jetzt? Sie hörte einen hellen Gesang, der entfernt an einen kirchlichen Choral erinnerte. Doch sie kannte die Sprache nicht. Es war weder Deutsch, noch Englisch oder Französisch. Die Sprache schien viel älter zu sein. Der Gesang hallte von den Wänden wider, deshalb vermutete sie, dass sie sich noch im Hexentempel befand. Unter sich fühlte sie eine harte Fläche, die unnatürliche Kälte verströmte. Wenn sie dies hier lebend überstand, würde sie vermutlich ein Paar Frostbeulen am Po haben. Endlich schaffte sie es, die Augen zu öffnen, doch nur einen Lidschlag später wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Jetzt wusste sie, wo sie war, und ihre Lage war alles andere als rosig. Sie lag festgebunden auf dem Opferaltar im Hexentempel!
Ihre Arme und Beine waren mit blutroten Tüchern an Eisenringen festgebunden, die ihr vorher
nicht aufgefallen waren. Rings um sie waren Kerzen aufgestellt. Sie zählte sieben Stück. Neben
ihren Füßen standen zwei silberne Schalen. Eine war mit einer glasklaren Flüssigkeit gefüllt, aus
der anderen loderten Flammen.
Räucherstäbchen verbreiteten einen starken Geruch nach Rosmarin und Fichte. Doch der Duft
konnte den schrecklichen Gestank, der von dem Altar ausging, nicht überdecken. Es roch nach
Blut!
Krampfhaft versuchte sie, die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken.
Rings um sie standen zwölf Gestalten in bodenlangen, scharlachroten Umhängen. Sie hatten die
Köpfe gesenkt und die Kapuzen so weit über die Stirn gezogen, dass ihre Gesichter vollkommen
verdeckt waren. Von ihnen kam der helle Singsang, der Rebecca seltsam willenlos machte.
Die Frauen schienen sich in Trance zu singen.
Zwischen ihnen stand eine drei-zehnte Gestalt, eingehüllt in einen schwarzen Mantel, dessen breiter
Saum mit mystischen Symbolen bestickt war. Ihre Kapuze fiel weit über das Gesicht.
Plötzlich verstummte der Gesang, und die Gestalt in Schwarz hob den Kopf und warf ihre Kapuze
zurück. Es war Flora Braga – doch wie sehr hatte sie sich verändert!
Ihr silbernes Haar steckte nicht länger in einem Knoten. Es fiel ihr offen über die Schultern. Sie
hatte rote Bänder hineingeknöpft, sodass der Eindruck entstand, Blut rinne zwischen den Strähnen
hervor. Ihre Wangen und die Stirn waren mit magischen Symbolen bemalt, die Rebecca entfernt an
Runen erinnerten.
Die alte Heilerin sah sie mit einer Mischung aus Neugier und Triumph an.
Verzweifelt zerrte Rebecca an den Fesseln, doch die Tücher und Eisenringe hätten einen Stier
bändigen können. „Binden Sie mich los, Flora”, verlangte sie.
„Das werde ich”, gab die Angesprochene kühl zurück. „Nachdem das Ritual beendet ist.”
„Welches Ritual? Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten.”
„Sie hatten kein Recht, unsere Kreise zu stören”, versetzte Flora. „Heute Nacht sind unsere Kräfte
stärker als sonst. Wir werden unsere Schutzgöttin Rosmerta um Reichtum und Glück für unser Dorf
bitten. Dafür bringen wir ihr ein Opfer dar.”
Rebecca musste nicht lange fragen, wer das Opfer sein sollte.
Aber da hatte sie auch noch ein Wörtchen mitzureden!
Die zwölf Frauen standen reglos und mit gesenkten Köpfen da. Sie erweckten den Eindruck, in
Gedanken weit fort zu sein. In einer anderen Dimension. In Trance.
Zeit gewinnen, dachte Rebecca. Ich muss Zeit gewinnen, bis mir etwas einfällt, um von hier
wegzukommen.
„Wer ist diese Rosmerta? ebenfalls eine Hexe?”
Ein böses Lächeln umspielte Floras Lippen, als wüsste sie genau, was Rebecca bezweckte. Doch
sie schien sich ihres Opfers sicher zu sein. „Rosmerta hat einst auf der Erde gelebt. Sie besaß
Zauberkräfte und belohnte diejenigen, die ihr Gutes taten. Sie lebt als Schutzgöttin weiter. Wir
bitten sie oft um Beistand, und sie lässt uns nie im Stich.”
„Sie scheint eine gute Frau gewesen zu sein. Ich glaube nicht, dass es ihr gefallen würde, wenn in
ihrem Namen gemordet wird”, wandte Rebecca ein.
Eine der Frauen hob den Kopf, sodass ihr die Kapuze aus der Stirn rutschte. „Sie hat Recht.”
„Schweig! ", herrschte Flora sie an, und ihr Mund mit den schwarzen Zahnstummeln öffnete sich
wie eine finstere Grotte. „Ich halte oft Zwiegespräche mit der Göttin, und ich weiß, dass ihr ein
Blutopfer gefallen wird.”
„War diese Rolle zunächst Ines zugedacht?”, schoss Rebecca einen Pfeil ins Blaue ab.
„Ganz genau.”
„Was haben Sie mit ihr gemacht? Wo ist sie?”
Die Furchen im Gesicht der alten Frau vertieften sich, als sie grinste. „Sie sind ihr näher, als Sie
ahnen.”
Hoffentlich meint sie nicht, dass ich bald genauso tot sein werde wie die arme Ines, schoss es Rebecca durch den Sinn. Flora hob den Arm, und sofort setzte der Gesang wieder ein. Leiser diesmal, doch dadurch nur umso hypnotischer. Die junge Schriftstellerin zerrte vergeblich an ihren Fesseln. Das Messer in ihrem Stiefel war ebenso unerreichbar für sie wie der Mond. Sie war absolut wehrlos. Es sei denn... „Können Sie wenigstens meine Füße losbinden?”, bat sie. „Ich kann Ihnen ja nicht weglaufen.” Zur Bestätigung zerrte sie an den Tüchern, die ihre Handgelenke hielten. „Bitte, es ist so unbequem.” Die silberhaarige Frau sah sie missbilligend an. Doch dann blitzte die Klinge eines Messer in ihrer Hand auf, und sie durchtrennte mit zwei Schnitten die Tücher an ihren Füßen. Die scharfe Klinge glitt so rasch durch das Gewebe, als sei es Butter. Erleichtert schüttelte Rebecca die taub gewordenen Beine. Doch die Erleichterung währte nicht lange, als sie erkannte, dass die alte Heilerin das Messer in der Hand behielt. Nein, kein Messer, es war ein Dolch, erkannte sie nach näherem Hinsehen. Die Klinge glänzte silbern im Kerzenlicht. Der Griff war fein ziseliert und am oberen Ende mit Gold ausgelegt. Die zwölf Frauen schienen längst nicht mehr wahrzunehmen, was geschah. Ihre Blicke waren entrückt, und ihr Bewusstsein schien auf einer anderen Ebene zu liegen. Der Gesang und die Kräuterdüfte benebelten auch Rebecca. Ihr Geist glitt davon. Sollte doch geschehen, was geschehen musste... Sie begann zu schwitzen. Sie spürte, wie sich Schweiß zwischen ihren Brüsten sammelte und langsam über ihren Bauch rann. Da griff Flora zu einem Kelch, der neben dem Altar stand, und hob ihn hoch über den Kopf. Er war aus purem Silber und üppig mit Edelsteinen besetzt. „Für dich, Rosmerta, opfern wir das Blut einer Frau”, begann sie und begann mit einer Litanei von Bitten. Plötzlich verstummte der Gesang. Die alte Heilerin hob den Dolch und zielte damit genau auf Rebeccas Kehle. Ein leichter Schmerz durchzuckte sie, als die Klinge ihre Haut ritzte. Sie spürte, wie ein dünner Strahl Blut ihren Hals hinab rann. Das beseitigte alle Zweifel. Flora meinte es ernst. Todernst sogar! Der Kelch für das Opferblut wartete schon... Die Frauen zogen einen Kreis um den Altar und begannen, etwas in einer fremden Sprache zu murmeln. Flora will mir die Kehle durchschneiden!, dachte Rebecca entsetzt. Da verstärkte sich der Druck des Dolches. *** Keine der zwölf Frauen würde Rebecca helfen. Sie standen unter einem Bann. Flora Braga nutzte ihren unheimlichen Einfluss auf ihre Anhängerinnen, um ihre Macht und ihre Stellung im Dorf zu halten und Rebecca auszuschalten. Die Bedrohung riss Rebecca endlich aus der Lethargie, in die die Kräuterdüfte und der Gesang sie gehüllt hatten. In wenigen Augenblicken würde Floras Hand den Befehl zum Töten ausführen! Doch so weit ließ Rebecca es nicht kommen. Sie spannte sich an, zog blitzschnell die Knie an den Bauch und ließ die Füße gegen den Oberkörper der Bewaffneten schnellen. Flora keuchte auf und taumelte zurück. Der Dolch entglitt ihren Fingern und fiel mit einem lauten Scheppern zu Boden. Rebecca hatte genau das bekommen, was sie gebraucht hatte: einen kleinen Aufschub. Doch schon packten vier kräftige junge Frauenhände ihre Seine und hielten sie fest. Zwei weitere umklammerten ihre Kehle und erstickten buchstäblich jeden Widerstand.
Rebecca wand sich und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Angreiferinnen, doch die waren in
der Übermacht und hatten die Kontrolle über ihren Körper. In ihrem Kopf begann es zu rauschen,
und der Sauerstoffmangel ließ bunte Kreise vor ihren Augen flimmern. Ihre Lunge hämmerte,
schrie nach der Leben spendenden Luft, doch vergeblich.
Ihre Kehle wurde schmerzhaft zusammengepresst.
Langsam erlahmte ihr Widerstand.
Sie sah, dass Flora sich neben dem Altar aufrappelte. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht hob sie den
Dolch auf.
Da erschien plötzlich zwischen den hohen Deckenbögen des Hexentempels ein rundes, gütiges
Frauengesicht. Zwischen den bunten Kreisen vor ihren Augen hatte Rebecca Schwierigkeiten, das
Gesicht überhaupt zu erkennen. Doch es war unbestreitbar da. Groß und transparent flackerte es vor
den Deckenbalken. Die Augen blickten ernst und eine Spur missbilligend. Die Haare waren zu
einem altmodischen Knoten am Oberkopf aufgesteckt.
Rebeccas kastanienbraune Augen weiteten sich.
War das, was sie da sah, nicht vollkommen unmöglich?
Einen Moment lang huschte eine hoffnungsvolle Frage durch ihren Kopf: Sah sie jetzt, kurz vor
ihrem Ende, zum ersten Mal ihre Mutter, die sie nie kennen gelernt hatte?
Doch die Frau ähnelte ihr keineswegs. Sie hatte seidiges blondes Haar, blaue Augen und ein breites
Gesicht.
Es blieb ihr keine Zeit mehr für längere Überlegungen. Unbarmherzig schnitten die Frauen ihr die
Luft ab, und Rebeccas Bewusstsein verabschiedete sich.. .
„Aufhören!", rief eine sanfte weibliche Stimme laut durch den Tempel.
Die Hexen zuckten zusammen, als hätte sie ein Schlag von oben getroffen. Und vielleicht war es
so, denn Rebecca spürte am Rande ihres Bewusstseins, dass die Frauen einen Schritt zurückwichen.
Endlich bekam sie wieder Luft!
Keuchend schöpfte sie den Lebens spendenden Sauerstoff. „Wer war das?”, fauchte Flora. „Wer
wagt es, mein Ritual zu stören?”
„Wir”, meldete sich eine ernste Männerstimme an der Tür. Rebecca sah nur noch, dass ihr Freund
Tom mit seinen Begleitern in den Tempel stürmte. Mario rannte auf Flora zu und war einen
Lidschlag später in einen erbitterten Kampf mit der Hexe verwickelt. Offenbar wollte er etwas von
ihr wissen, was sie nicht bereit war, ihm zu verraten, denn sie stritten sich heftig. Erstaunt
registrierte Rebecca, dass ihr Freund von lauter Männern begleitet wurde. Doch die Stimme, die
von den Frauen verlangt hatte, aufzuhören, war eindeutig weiblich gewesen!
Das war der letzte Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, dann verlor sie das Bewusstsein.
*** „Was zum Teufel treiben Sie da?”, entfuhr es Rebecca unsanft, als sie einen festen Männerkörper
spürte, der sich über sie beugte und sich an ihren Handgelenken zu schaffen machte. Wo war sie?
Und wer war der Mann? Ihr ganzer Körper schmerzte, und ihre Erinnerung ließ sie im Stich, nicht
aber ihr Kampfgeist. Sie wollte den Mann wegstoßen und bemerkte erschrocken, dass sie
festgebunden war.
„Zapple nicht so, sonst bekomme ich dich nie frei”, gab eine vertraute Stimme zurück.
„Tom?”
„Wer denn sonst”, knurrte der Kriminologe gutmütig. „Sag mal, müsstest du nicht leise hauchen
`Wo bin ich?', wie die Edelfräulein es in den Liebesfilmen zu tun pflegen, wenn sie aus einer
Ohnmacht erwachen? Aber ich wusste j a schon immer, dass du nichts auf Konventionen gibst.”
„Mach dich nur lustig”, krächzte Rebecca und rieb sich aufatmend die Kehle, als ihr Freund die
erste Fessel gelöst hatte.
Plötzlich sah er sie direkt an. Er war so ernst, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. „Himmel,
Rebecca, als ich dich mit der blutigen Kehle daliegen sah, dachte ich schon, wir wären zu spät
gekommen.”
Zack! Die zweite Fessel fiel. Sofort nahm Tom sie fest in die Arme und drückte sie.
Sie schmiegte sich aufatmend an seine breite, warme Brust. Der vertraute Geruch nach seinem
Aftershave stieg ihr tröstlich in die Nase. „Oh Tom, ich bin so froh, dass du da bist.” Sie schloss
kurz die Augen.
Sofort drängten sich ihr schreckliche Bilder auf. Schrumpfköpfe... Knochen auf dem Küchentisch...
Flora, der Dolch, die zwölf Frauen... Ebenso wie die Erinnerung kehrte das Blut in ihre Glieder
zurück. Es pulsierte schmerzhaft. „Woher wusstest du, wo du mich findest?”
Er tippte auf die Brosche an ihrer Jacke. Es war die silberne Katze, die er ihr geschenkt hatte. „Das
ist ein Sender. Ich habe geahnt, dass so etwas passieren könnte, deshalb habe ich dich abgesichert.”
„Wow”, rutschte es Rebecca heraus.
Er grinste. „Ich dachte, es könnte nicht schaden, uralte Zauberei mit etwas moderner Technik zu
bekämpfen.”
„Damit hast du vollkommen richtig gelegen”, bestätigte sie.„Dann wusstest du die ganze Zeit, wo
ich mich aufhalte?”
„Ja, und das war ein Glück, sonst hätten wir nicht so schnell hergefunden. Gibt es eine Spur von
Ines?”
„Flora hat gesagt, ich sei ihr näher, als ich ahnen würde, aber ich weiß nicht, wie sie das gemeint
hat.”
„Lass mich erst mal deine Wunde versorgen.”
„Das ist nur ein Kratzer”, wehrte sie ab und sah sich um.
Die zwölf Frauen aus dem Dorf standen neben dem Altar. Sie sahen sich um, als seien sie aus
einem bösen Traum erwacht und wüssten noch nicht genau, was Traum und was Wirklichkeit war.
Ihre Männer und Söhne standen bei ihnen. Einige schimpften, andere weinten verstohlen, die
meisten hielten ihre Frauen einfach in den Armen.
„Meinst du, Flora hat sie hypnotisiert?”
Tom schnaubte. „Schon möglich, aber etwas mehr Gegenwehr hätten sie, ruhig zeigen können.”
Rebecca dachte an den hypnotischen Gesang, der sie beinahe selbst übermannt hätte. „Vielleicht
hatten sie dazu keine Gelegenheit. Ob das Dorf nun ohne Frauen auskommen muss? Das wäre
schlimm. Was wird mit ihnen?”
„Das kommt darauf an. Vorerst sind sie in Schwierigkeiten, denn sie haben einige Gesetze
gebrochen. Andererseits wurden sie stark von Flora beeinflusst. Ich denke, wenn wir Ines heil
wieder finden würden, würden sie mit einer milden Strafe davonkommen."
„Ja, wenn...” Rebecca hob den Kopf. „Glaubst du, Flora hat die Steinlawine ausgelöst, um uns vom
Dorf fernzuhalten?”
„Davon bin ich überzeugt. Aber ich glaube nicht, dass wir ihr das beweisen können.”
„Nein, das wohl nicht.” Sie zögerte. „Vorhin habe ich ein Frauengesicht an der Decke gesehen.
Eine Stimme gebot den Frauen aufzuhören. Ich bin nicht sicher, ob mir der Sauerstoffmangel das
nur vorgegaukelt hat, aber Fakt ist, dass sich der Griff der Frauen um meine Kehle sofort gelockert
hat.” Sie blickte zur Decke, doch das Frauenbild war verschwunden. „Könnte es sein, dass Flora es
geschafft hat, die Göttin zu beschwören?”
Toms Miene war skeptisch. „Wer weiß. Aber was auch immer es war, es hat dir die nötige Luft
verschafft, bis wir hier waren. Und das allein zählt.” Er zog sie wieder an sich, als wolle er sich
davon überzeugen, dass es ihr gut ging.
Ein warmes Gefühl durchströmte sie.
In diesem Moment ertönte neben dem Altar das wilde Geschrei einer Frau. Rebecca sah, dass drei
Männer Flora festhielten. Ihren Gesichtern war abzulesen, dass ihnen das nicht geheuer war. Sie
hatten Kratzer im Gesicht, und ihre Hemden waren zerrissen. Mario stand vor ihr und sprach erregt
auf sie ein.
„Um Flora wird sich bald ein Richter kümmern”, sagte Tom. „Entführung und Körperverletzung sind kein Pappenstiel. Und wer weiß, was in ihrem Haus noch so alles gefunden wird...” Rebecca sah, dass Floras Blick starr und konzentriert an der Tür des Hexentempels hing. Die Hexe bewegte die Lippen, als flüstere sie tonlos einen Befehl. Rebecca sah verwundert zur Tür und bemerkte, dass sie sich wie von Geisterhand öffnete. Da erkannte sie die Wahrheit. Es war noch nicht vorbei! Ein großer grauer Wolf preschte herein, und ehe jemand eingreifen konnte, hatte er sich auf eine der Frauen gestürzt, sie umgeworfen und sich mit den Vorderpfoten auf sie gestemmt. Seine spitzen Zähne blitzten gefährlich nah an der Kehle der Wehrlosen. Flora Braga richtete sich auf. „Wenn ihr mich nicht gehen lasst, beißt er ihr die Kehle durch! ", rief sie. Sie hat ihn gerufen, dachte Rebecca entsetzt. Er gehorcht ihr ebenso wie ihre Raben. Wie skrupellos von ihr, eine ihrer Anhängerinnen opfern zu wollen, nur damit sie entkommen kann! „Nein! ", brüllte Mario Tagarro. „Du wirst nicht einfach gehen! Das lasse ich nicht zu! " Er packte den schweren Silberkelch vom Altar und stürzte sich ohne zu zögern auf den Wolf. Das Raubtier knurrte, als es den Angreifer wahrnahm, und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Mann mit dem Kelch. Er machte einen gewaltigen Satz auf ihn zu, und einen Moment später bildeten Mann und Tier ein Knäuel aus Fell und Beinen. Sie rangen auf dem Boden miteinander, und das breite, gelbe Gebiss des Wolfes ließ keinen Zweifel daran, dass er fähig war, einem Menschen mit einem Biss die Kehle durchzubeißen. Die Menschen ringsum standen vor Entsetzen wie erstarrt. Bis auf einen Mann. „Hey, teil den Spaß mit mir”, rief Tom grimmig und eilte dem Freund zu Hilfe. Doch da versetzte der kräftige Lehrer dem Wolf bereits einen Schlag mit dem Kelch. All seine Kraft legte er in diesen Schlag, denn er schien zu ahnen, dass er keine Gelegenheit für einen zweiten bekommen würde... Floras Wolf heulte auf, sackte zusammen und blieb reglos auf dem Boden vor dem Hexenaltar liegen. Ob er tot war oder nur bewusstlos, wusste Rebecca nicht zu sagen. Drei Männer stürzten herbei und banden vorsichtshalber sein Maul und die Pfoten zusammen. Tom hielt seinem Freund die Hand hin. Schwer atmend rappelte sich der Lehrer auf. Sein Hemd war ebenso zerfetzt wie die Hose. Die Krallen des Raubtieres hatten mehrere tiefe Wunden in seinen Oberschenkel gerissen, doch er ignorierte den Blutstrom und wankte auf Flora zu. „Was hast du mit Ines gemacht?” Flora verzog ihren Mund zu einem überlegenen Lächeln und schwieg. Nur die beiden Raben auf ihren Schultern gaben ein Krächzen von sich. Rebecca ging zu ihrem Freund. „Wenn ich nicht dazwischen geraten wäre, hätte Flora Ines heute geopfert. Also muss sie hier im Tempel sein, Tom! Ob es hier einen Keller gibt?” „Nein, die Männer haben schon nachgesehen. Wir haben keine Verstecke gefunden. Ines muss woanders sein.” „Nein, sie ist hier, da bin ich ganz sicher. Flora hatte das Ritual doch schon vorbereitet.” „Dein Dickkopf könnte Wände einrennen”, stöhnte Tom halb belustigt, halb im Ernst. „Wände? Oder Stein...” Elektrisiert hob sie den Kopf, als ihr ein Gedanke kam. „Der Altar! Flora hat doch gesagt, ich sei Ines näher, als ich ahnen würde, als ich gefesselt vor ihr auf dem Altar lag. Vielleicht hat sie das wörtlich gemeint.” „Groß genug wäre er.” Tom rief zwei Männer und untersuchte mit ihnen den massigen Felsen, der den Frauen als Altar gedient hatte. Flora erbleichte bei ihren Bemühungen sichtlich. Zum ersten Mal blitzte das Eingeständnis einer Niederlage in ihren grünen Augen auf. „Hier ist so etwas wie eine Tür” rief Nicolas, der Korkschäler. Rebecca trat näher und sah, wie die Männer den Altar öffneten und ihnen ein lebloses weißes Bündel vor die Füße rollte. Es war eine Frau...
„Ines!” Mario Tagarro eilte herbei. Dann wurde sein Gesicht wachsbleich. „Ist sie tot?” *** Die zwölf Frauen hoben entsetzt die Köpfe, als Mario den Kopf seiner Ines sanft auf seinen Schoß bettete. „Wir wussten nicht, dass sie hier ist”, beteuerte eine von ihnen. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie schlüpfte aus ihrer roten Kutte, als hätte sie sich plötzlich in eklige grüne Masse verwandelt. Die anderen elf taten es ihr gleich. Dann blickten sie bang auf die junge Hebamme. Ines war so blass, als hätte sie tagelang kein Sonnenlicht gesehen. Sie hatte verschorfte rote Kratzer im Gesicht und an den Armen, und ihre weiße Bluse war schmutzig, aber ansonsten wirkte sie unversehrt. Als Mario sacht über ihr zerzaustes schwarzes Haar strich, regte sie sich plötzlich. Ihre Lider flatterten, und sie kam zu sich. Als ihr Blick in die dunklen Augen des Lehrers tauchte, erblühte ein liebevolles Lächeln auf ihrem Gesicht, das keinerlei Zweifel an ihren Gefühlen für ihn zuließ. Doch dann verzerrte sich ihre Miene angstvoll. „Schsch, ruhig mein Liebes”, flüsterte Mario und drückte sie an sich. „Du bist in Sicherheit. Flora wird dir nie wieder etwas tun.” Er hatte sich so gesetzt, dass seine breite Brust Ines die Sicht auf Flora versperrte. „Wie geht es dir?” Ein Zittern überlief die schlanke junge Frau, doch sie lächelte. „Jetzt geht es mir wieder gut. Ich bin bei dir.” „Hat sie dir etwas getan?” Seine Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn. „Ein Wolf hat mich durch den Wald gejagt, als ich nach einer Geburt nach Hause ging. Einmal dachte ich, ich sei ihm in den Höhlen oben am Riesenmassiv entkommen, aber er hat mich doch gefunden. Also sprang ich aus der Höhle, aber dabei stürzte ich unglücklich und verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, war ich hier”, erzählte Ines. „Flora hatte mich an den Altar gebunden. Ich sei für das Ritual an Beltane bestimmt, sagte sie. Sie kam jeden Tag und brachte mir Wasser und etwas zu essen. Einmal gelang es mir, die Fessel mit einem Stein zu lösen. Ich scheuerte so lange, bis der Stoff riss. Die Tür war verschlossen, aber da waren noch die Fenster. Ich öffnete eines und wollte fliehen. Aber da... Ich fand mich dem Wolf gegenüber, und er sah ziemlich hungrig aus.” Ines schloss kurz die Augen. „Das muss gestern gewesen sein. Danach sperrte mich Flora in den Altar.” Erschöpft lehnte sie sich an Mario. „Ich werde nie wieder zulassen, dass dir etwas geschieht”, versprach er. Und das waren mehr als Worte, es war ein heiliger Eid. „Ich habe immer wieder an dich gedacht, daran, wie sehr ich dich liebe und wie viele Sorgen du dir machen musst”, wisperte sie. „Nur dieser Gedanke hat mich durchhalten lassen. Ich wollte Leben, damit du keinen Kummer hast.” „Oh Ines.” Bewegt schloss er sie in seine Arme, als seien sie ganz allein im Tempel. Und so war es für ihn auch, die Menschen ringsherum zählten im Moment nicht, nur die bebende junge Frau in seinen Armen. „Ich bin so froh, dass ich dich wiederhabe. Wir dürfen uns nie mehr trennen.” „Aber du arbeitest in Lissabon, und ich werde hier gebraucht.” Ines seufzte leise. Nun hatte sie ihr altes Thema wieder eingeholt... „Nein.” Der dunkelhaarige Mann schüttelte den Kopf. „Ich werde mir eine Stellung in deiner Nähe suchen. Lehrer werden überall gebraucht. Wenn wir zusammen Leben können, werde ich auch gern einen längeren Arbeitsweg in Kauf nehmen. Für dich würde ich alles tun, Ines. Du bist mein Leben. Mein Glück. Ich liebe dich über alles, und ich werde von nun an immer auf dich aufpassen.” Sie strich ihm über die Schrammen an seiner Brust, die vom Kampf mit dem Wolf stammten. „Das klingt wundervoll. Und ich werde auch auf dich aufpassen, damit du nie wieder mit Wölfen kämpfen musst.”
Er lachte. „Das ist hier vielleicht nicht der richtige Ort und auch nicht der richtige Zeitpunkt, aber
ich möchte dich am liebsten nie wieder aus den Armen lassen. Wollen wir sobald wie möglich
heiraten, Ines?”
Da strahlte ihr Gesicht auf. „Ja, o ja, Mario, ich möchte auch nicht mehr länger warten, um mit dir
vereint zu sein.” Sie schlang die Arme um den Hals des geliebten Mannes, und dann besiegelte ein
langer, zärtlicher Kuss ihr Glück.
„Wir gehören zusammen”, raunte Mario nach einer kleinen Ewigkeit.
„Für immer”, bestätigte sie.
Mario bemerkte Tom und Rebecca, die lächelnd zu ihnen blickten, und winkte sie heran.
„Das sind die beiden Menschen, denen wir unser Glück verdanken”, sagte er dankbar auf Deutsch.
„Ohne Rebecca und Tom hätten wir es nicht geschafft.”
Ines richtete sich auf, und dann gab es so viele Umarmungen und Dankbarkeit, dass hier und da
doch ein paar Tränen flossen. „Bitte, kommen Sie zu unserer Hochzeit. Sie werden unsere liebsten
Freunde die Ehrengäste sein”, lud Ines sie freundlich ein, und Rebecca und Tom willigten gern ein,
nachdem Mario ihre Worte übersetzt hatte.
„Unser Dorf soll wieder so freundlich und gastlich sein, wie es war, bevor Flora ins Dorf kam”,
meinte Mario.
„Ist sie wirklich eine Hexe?”, fragte Rebecca leise.
Ines sah sie ernst an. „In Flora wohnen böse Mächte. Viele Menschen besitzen diese Kräfte, doch
ihr Gewissen lässt nicht zu, dass sie sie nutzen. Bei Flora ist das anders. Sie nutzt sie für Dinge, die
besser im Dunklen bleiben sollten. Ich weiß nicht, ob sie wirklich zaubern kann, aber ich bin froh,
wenn sie unser Dorf verlässt."
Während Mario seine junge Verlobte küsste, schmiegte sich Rebecca an ihren Freund Tom.
Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Albtraum. Hatte die alte Heilerin ihn ihr geschickt? Sicher nicht
in guter Absicht, vielmehr hatte sie Rebecca vertreiben wollen, aber es war durchaus möglich, dass
sie ein Stück des Schleiers gelüftet hatte, der über ihrer Vergangenheit lag.
Rebecca hatte eine Aufgabe bekommen: ihre Eltern zu suchen, die in Gefahr schwebten. Vielleicht
würde sie sie nicht gleich heute oder morgen finden, schließlich besaß sie keinerlei Anhaltspunkte -
aber sie würde sie finden.
Irgendwann, irgendwo und mit der Hilfe von irgendjemandem, den sie heute noch nicht kannte,
würde sie ihre Aufgabe lösen.
Alles würde gut werden.
ENDE
Sie lasen einen Roman mit der Bastei-Zinne.
Wo gute Unterhaltung zu Hause ist.
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Das Schloss, in dem das Unheil wohnt
Was war das? Rebecca hält den Atem an und lauscht in die Stille hinein. Sie ist sich sicher, einen dumpfen Knall gehört zu haben. Jetzt ertönen Schritte, und irgendwo in dem alten Schloss knarrt eine Tür. Dann hört sie ein Geräusch, das ihr durch Mark und Bein geht. Es klingt wie das Fauchen eines wilden Tieres, dann folgt ein lang gezogener Schrei. Mit einem Ruck setzt sich Rebecca in ihrem Bett auf und tastet nach dem Schalter der Nachttischlampe. Als das kleine Licht aufflammt, zwingt sie sich zu Ruhe. War das wirklich das Fauchen eines Tieres?, überlegt sie. Rebecca überläuft es eiskalt, als sie daran denkt, was ihr Robin, der Besitzer von Schloss Waldstein, erzählt hat: dass in dem alten Gemäuer ein seltsames, gefährliches Wesen lauert. Robin nennt es den „Katzenmann"...
Das Schloss, in dem das Unheil wohnt heißt der neue spannende Roman um Rebecca, eine außergewöhnliche junge Frau, die dem Geheimnis immer auf der Spur ist. Schon zwei junge Männer sind auf Schloss Waldstein auf grausame Art und Weise zu Tode gekommen. Rebeccas Freund Robin ist überzeugt, dass der „Katzenmann” seine beiden Freunde auf dem Gewissen hat — und dass dieses finstere Wesen noch einmal zuschlagen wird... Liebe Leserinnen und Leser, was Rebecca in dem unheimlichen Schloss erlebt, erfahren Sie nächste Woche in Band 19 der Romanserie „Rätselhafte Rebecca” aus dem Bastei Verlag. Ihr Zeitschriftenhändler hält diese fesselnde Geschichte gern für Sie bereit! BASTEI - wo gute Unterhaltung zu Hause ist