„Alle in meinen Aufzeichnungen vorkommenden Personen sind erfunden … Wichtig ist zu wissen, daß jede Person sich aus mi...
58 downloads
1512 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
„Alle in meinen Aufzeichnungen vorkommenden Personen sind erfunden … Wichtig ist zu wissen, daß jede Person sich aus mindestens neun verschiedenen möglicherweise lebenden Personen zusammensetzt. Auch der Erzähler ist nicht ICH. ICH möchte vielleicht ICH sein.“ Auch DAS DORF ist nicht irgendein Fleckchen am Südhang der Alpen nahe der schweizerischitalienischen Grenze, sondern die Summe alles Dörflichen in dieser paradiesischen Gegend. Wie auch immer: Es geht recht lebendig zu bei der Kneipenwirtin Tina. Ihre kleine Gaststube ist das Herz des Ortes, hier treffen sich Bewohner und Besucher, hier reden sie mit- und übereinander bei Grappa und starkem einheimischen Roten. Hierher zieht es berühmte Künstler, den legendären Bankräuber Pino Patocchi und Menschen wie Violetta, die, ihrer Abenteuer müde, ins Dorf zurückgekehrt sind. Auch die Schmuggler sind bei Tina zu Hause – Chichi Ponti mit seinem tragisch-komischen Lebenslauf ist einer von ihnen. Alle in diesem Dorf haben ihre Geschichte, und mit jeder wird die Struktur des Ortes durchschaubarer, sondern sich kleine von großen Gaunern, kauzige Außenseiter von Ernsthaften. Am Ende ersteht DAS DORF, in dem der Geschichtenerzähler nicht ICH werden kann.
Walter Matthias Diggelmann, Schweizer des Jahrgangs 1927, hat mit seinem „Tagebuch in Geschichten“ eine neue Form gefunden. Bisher demonstrierte er an „unerhörten Ereignissen“, an besonders prägnanten Geschichten und Schicksalen, was er zu sagen hatte: so im „Verhör des Harry Wind“ (1962), in der „Hinterlassenschaft“ (1965) und in der „Vergnügungsfahrt“ (1969). In seinen brisanten Stoffen hatte Diggelmann immer wieder Grundprobleme der modernen imperialistischen Gesellschaft aufgegriffen, wobei er in starkem Maße der linksbürgerlichen, vor allem der studentischen Protestbewegung verpflichtet war. Das ist eine Position, die scharfe, unnachgiebige Kritik am Imperialismus mit politischer Ohnmacht verbindet. Darunter leidet die Ich-Figur dieses neuen Romanes und nicht minder sein Autor. „Ich bin ein freier Schriftsteller ohne jede Freiheit“, formuliert Diggelmann, und er spricht von Selbsthaß, weil er keine Möglichkeit findet, die Gesellschaft zu verändern. So gelangt er bei aller Kritik und bei allem Aufbegehren immer wieder zur Kontemplation und Resignation des Außenseiters. Er steht in einem Teufelskreis, ist aber ehrlich genug, sich das einzugestehen. Nüchtern beobachtet er und gibt zu Protokoll – in hohem Maße die Wahrheit seiner Welt.
Walter Matthias Diggelmann
Ich und das Dorf Ein Tagebuch in Geschichten
Verlag Volk und Welt Berlin
1. Auflage Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1974 für die Deutsche Demokratische Republik (c) S. Fischer Verlag GmbH., Frankfurt am Main 1971 L. N. 302, 410/80/74 Printed in the German Democratic Republic Einbandentwurf : Thomas Schallnau Satz, Druck und Einband: Märkische Volksstimme Potsdam LSV 7321 Bestell-Nr. 646 7781 EVP 5,80 M
Alle in meinen Aufzeichnungen vorkommenden Personen sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden sind zum Teil beabsichtigt. Wichtig ist, zu wissen, daß jede Person sich aus mindestens neun verschiedenen, möglicherweise lebenden Personen zusammensetzt. Auch der ‘Erzähler ist nicht Ich. Ich möchte vielleicht Ich sein.
Das Dorf Es liegt an der schweizerisch-italienischen Grenze, hat hundertfünfzig Einwohner, zwei Osterias und einen Grotto, zwanzig eingeschriebene Mitglieder der Liberalen Partei, zwei eingeschriebene Mitglieder der Konservativen und einen, der sich Sozialist nennt und keiner Partei angehört. Die Frauen besitzen das Stimmrecht, die meisten von ihnen können auch Auto fahren. Es gibt dann noch zwei Landwirte, jeder hat sieben Kühe, einige Kälber und Schweine, einen Traktor. Der eine von beiden hat drei Kinder und ist Italiener. Während des zweiten Weltkrieges war er antifaschistischer Widerstandskämpfer, man sagt, er sei so etwas wie ein General gewesen. Nach dem zweiten Weltkrieg war er viele Jahre Schmuggler. Jetzt schmuggelt er nicht mehr. Meine Beine sind zu müde geworden, sagt er. Der andere hat keine Kinder, und man sieht ihn immer mit seiner Frau gemeinsam bei der Arbeit. Alle übrigen Männer arbeiten in der nahen Grenzstadt bei der Bundesbahn, beim Zoll oder in einem der vielen Transportunternehmen. Nebenbei, so an Samstagen und Sonntagen, arbeiten sie in ihren Weingärten. Aber viele Weingärten, Mais- und Tabakfelder liegen jetzt brach, auch viele Wiesen verwachsen und verfilzen. Es lohnt sich nicht mehr, Wein, Mais, Tabak und Gemüse anzupflanzen. Milch, Butter und Käse haben die Schweizer auch zuviel. Die italienischen Tomaten sind besser und billiger. Wir haben dennoch einen Garten. Aber nur, weil ich mir einbilde, ich täte bei der Gartenarbeit etwas Gutes für meine Gesundheit. 7
Ich pflanze Zucchettis, Gurken, Tomaten, Bohnen, Karotten, Kopfsalat und Blumen. Wenn Gemüse und Blumen viel Wasser brauchten, hätten wir im Dorf Wassernot. Plinio, der stellvertretende Bürgermeister, flucht. Früher hatten wir genug Wasser, aber jetzt haben alle im Dorf Badezimmer und Duschen, und alle haben ein Auto, und alle meinen, man müsse jeden Tag baden und jeden Samstag das Auto waschen. Ich sage zu Plinio, wir müßten eine neue Wasserleitung bauen, das Reservoir vergrößern. Plinio antwortet, wir haben im eigenen Grund und Boden kein Wasser mehr, wir müssen Wasser von A. beziehen, aber die Hunde wollen uns kein Wasser geben. Die können uns doch nicht verdursten lassen, sage ich, und ich wundere mich über die von A., denn wenn wir im Gemeindesaal einen Ball veranstalten, sind die von A. auch immer dabei, und wenn die „Filarmonica“ zweimal jährlich auf der Piazza vor Tinas Osteria ein Konzert gibt, blasen die von A. mit; denn wir haben gar nicht soviel Männer, um ein Konzert veranstalten zu können, abgesehen davon, daß nicht alle Männer ein Blechinstrument beherrschen. Boccia können alle spielen. Doch kürzlich hatte Plinio eine gute Nachricht. Er sagte, wir Liberalen müssen für unseren Kreis einen Delegierten für den Bezirksausschuß nominieren, und da habe ich den Bürgermeister von A. vorgeschlagen; natürlich habe ich zuerst mit unseren Parteifreunden in M. und B. gesprochen, und die waren einverstanden. Und wenn der Bürgermeister von A. durch unseren Vorschlag Delegierter wird, muß er uns auch das Wasser geben. Wir könnten natürlich auch von M. Wasser bekommen, aber dann müßten wir eine Pumpstation bauen, die dreimal mehr leistet als die, die wir brauchen, wenn wir das Wasser von A. bekommen. Im vergangenen Sommer begann die Wasserknappheit schon Anfang Juni. Ich wußte, warum. Und ich ging auch so8
fort zu Edo, der Bürgermeister ist, und sagte, wir haben kein Wasser mehr, weil der Galli, der auf dem Gebiet von M. einen Marmorbruch besitzt, seinen Rasen jede Nacht mit drei Apparaten besprengt, das ist unsozial, das ist eine Schweinerei. Edo war meiner Meinung, aber, sagte er, ich kann Galli unmöglich verbieten, seinen Rasen zu besprengen, denn ich bin auch Gallis Steuerberater. Ich will Plinio beauftragen, im guten mit Galli zu reden. Ich sah, daß Galli nicht aufhörte, den Rasen zu sprengen, und mir war auch klar, daß der Rasen gesprengt werden mußte, denn es war ein neuer Rasen, und der wäre im Keim verdorrt, wenn man ihm kein Wasser gegeben hätte. Trotzdem fragte ich Plinio, warum er mit Galli nicht gesprochen habe. Plinio antwortete, der Rasen gehört zum neuen Haus, das Galli jetzt gebaut hat, und wenn das Haus fertig wird, zieht Galli ein, und das heißt, erstens bezahlt er die Steuern bei uns, und zweitens hat er vorzügliche Beziehungen zu einflußreichen Geschäftsleuten, und wenn du bedenkst, ich bin Präsident der „Filarmonica“, und Galli spendet jedes Jahr beim Fest der Sant’ Agata fünfhundert Franken … Aber ich sage Arturo, er soll mal mit Galli über das Wasser reden. Ich lachte nur, denn Arturo ist Chefbuchhalter bei Grassi & Co., und Grassi hat eine Galli zur Frau und außerdem stehe – habe ich gehört – Grassi bei Galli in der Kreide. Schließlich hat der Gemeindevorstand beim Bezirkshauptort im Tal unten Wasser bestellt, und unser Reservoir wurde von der Feuerwehr wieder aufgefüllt. Der Gemeindevorstand hat beschlossen, das Wasser zwischen acht Uhr abends und sechs Uhr morgens abzustellen. Übrigens ist Galli kein übler Mensch, er ist freundlich und hilfreich. Er unterstützt nicht nur die „Filarmonica“ unseres Dorfes, sondern stiftet auch Trophäen für die Boccia-Meisterschaften, und wenn er mit seiner Frau zum 9
Ball kommt und man sitzt zufällig mit ihm am gleichen Tisch, bezahlt selbstverständlich er die ganze Zeche. Er entstammt einer der Patrizierfamilien dieses Landkreises, die alle verarmt sind. Den Marmorbruch, den er jetzt besitzt, hätte er erben können, wenn sein Vater gearbeitet hätte. Aber sein Vater hat sich zwei Reitgäule gehalten und den Rest des Familienbesitzes versoffen. Das sagt Galli heute ohne Bitterkeit. Das väterliche Unternehmen kam vor vierzig Jahren unter den Hammer, und Galli konnte den Marmorbruch mit Hilfe der Gläubiger für sich retten. Die Gläubiger machten nur zur Bedingung, daß er täglich mindestens zwölf bis vierzehn Stunden im Bruch arbeite, und das tat Galli auch. Als ich ihm dann sagte, der Wassermangel rühre auch daher, daß einige Leute Schwimmbassins hätten, die sie gegen die Bestimmungen auf einmal statt auf fünfmal füllten, antwortete er, wir müßten halt drakonische Strafen einführen. Man sagt, die Landschaft hier sei toskanisch. Aber was sagt das dem, der die Toskana nicht kennt? Und die Landschaft bei San Vincenzo im Kreis Livorno ist gar nicht toskanisch, und dennoch gehört San Vincenzo zur Toskana. Vielleicht ist es besser, zu sagen, wir wohnten und lebten in einer Landschaft, die vom Norden gegen Süden hin abfallend hügelig ist und in die Poebene einmündet. Im Norden haben wir die Voralpen und Alpen; vor uns im Süden fällt der Horizont mit der Rundung der Erdkugel zusammen. Ich lebe mit Marianne, meiner zweiten Frau, und ihrem Sohn Daniel und meinem Oliver aus erster Ehe seit drei Jahren in diesem Dorf. Mit meiner ersten Frau und unseren beiden Kindern sind wir schon vor zehn Jahren zum erstenmal in dieses Dorf gekommen. Wir hatten sogleich ein Haus gemietet und hatten dann bis zu unserer Trennung alle Ferien hier verbracht. Als meine erste Frau mich verließ, heiratete ich sofort 10
Marianne, und da wir nicht wußten, wo wir uns niederlassen sollten, kamen wir vorübergehend in mein Ferienhaus, und jetzt sind wir immer noch vorübergehend da. Allerdings nicht mehr im Ferienhaus, denn da gab’s zwar wunderbare Kamine, aber kein Bad, keine richtige Heizung, kein Warmwasser, und die Fenster konnte man nicht mehr dicht schließen, unter der Haustür kamen Mäuse und Ratten durch, so groß war der Spalt, und das Dach sah auch so aus, als ob es demnächst einfallen würde. Jetzt leben wir am Rande des Dorfes in einem Mehrfamilienhaus. Wir haben Bad und Zentralheizung, einen Hund und eine Katze, Fernsehen, Radio und Plattenspieler. Und viel Sonne. Und unter uns einen Deutschschweizer, der im Bad Arien von Verdi und Puccini singt, dick ist und einige Jahre in Afrika gelebt hat. Seine Wohnung ist ein Museum, er hat kleine Kinder und eine Frau, die sich langweilt; eigentlich fühlen sich alle nicht wohl, aber wir klagen nicht, weil wir wissen, daß wir nur vorübergehend da sind. Der unter uns macht sich zuweilen Gedanken über uns, vor allem über mein Einkommen. Er denkt laut, oder er redet manchmal mit seiner Frau auf dem Balkon über mich. Neulich hörte ich ihn sagen, der da oben muß von Hause aus reich sein, oder er hat eine gute Erbschaft gemacht, denn der tut den ganzen Tag nichts und fährt trotzdem einen Alfa Romeo und hat eine Vierzimmerwohnung mit Kamin. Wem immer die Tage gehören, ich jedenfalls stehle sie niemandem. Ich bin „freier“ Schriftsteller, ich schreibe auf einer Schreibmaschine, die sehr leise ist, und mein Werktisch steht auf einem dicken Teppich, damit man mein Tippen auf der Maschine unten nicht hören kann. Dafür sollte der unten dankbar sein. Im übrigen könnte er wissen, daß Marianne halbtags im Lebensmittelgeschäft arbeitet, wo sie zwar miserabel bezahlt wird – für die Stunde bekommt sie drei Franken –, ich bezahle unserer Putzfrau, die aus Italien kommt, sieben Fran11
ken die Stunde, aber Marianne ist keine geborene Hausfrau, und dann sagt sie auch, ich hab einen Sohn in die Ehe eingebracht, und ich will nicht, daß du allein für ihn aufkommst, und da wir noch nicht wissen, wie wir Männer die Hausarbeit der Frauen mit Geld bezahlen sollen, und die Frauen darum meinen, sie arbeiteten gratis, das heißt, nur wir Männer verdienten Geld, da Marianne mir also nicht glaubt, wie sehr sie mir hilft, wenn sie den Haushalt in Ordnung hält und lästigen Besuchern sagt, ich sei nicht daheim – da ich ihr diese Zusammenhänge nicht deutlich machen kann, lasse ich sie halbtags im Lebensmittelgeschäft arbeiten. Dafür muß ich das Mittagessen machen, und nach dem Mittagessen muß ich zuhören, was für „Kühe“ und „Kälber“ in unserem Dorf leben und wie beschissen das Lebensmittelgeschäft ist, das zu einer Ladenkette gehört, die von Basel bis nach Chiasso reicht. Ich bin ein freier Schriftsteller ohne jede Freiheit. Mein Verleger ist viel freier als ich, er kann meine Manuskripte ablehnen, sein Cheflektor, der ihm die Ablehnung empfiehlt, ist viel freier als ich, jedenfalls hat er ein festes Salär; er kann auf alle nur denkbaren Sozialleistungen zählen, er hat Sicherheit bei Krankheit und im Alter, und sein Urlaub wird ihm bezahlt. Wenn ich Urlaub machen will, bekomme ich keinen Rappen und keinen Pfennig, und wenn ich krank bin, ergeht’s mir ebenso. Ich bin ein freier Schriftsteller, aber die Rundfunkanstalten bestimmen, wieviel ich für ein Hör- oder Fernsehspiel bekomme. Ich bin ein freier Schriftsteller und schreibe für eine große Wochenzeitung eine Kolumne. Sie können schreiben, was Sie wollen, sagt mir der Herr Chefredakteur, aber wenn ich pro Jahr dreimal schreibe, das kapitalistische System ruiniere unsere Welt, Marx sei nie so aktuell gewesen wie heute, bekomme ich vom Herrn Chefredakteur einen Brief (keinen Telefonanruf), und in dem Brief steht, der Verlagsleiter habe beim Busineß-Diner durchblicken lassen, 12
daß verschiedene Großinserenten angedeutet hätten, daß es für die Zeitung klüger wäre, auf meine Kolumne zu verzichten. Ich bin ein freier Schriftsteller, und wenn ich einen Roman schreiben will, fahre ich nach Frankfurt zu meinem Verleger, erzähle ihm, was ich vorhabe, und am Schluß des Gesprächs sage ich auch noch, daß ich Vorschüsse brauche. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Vorschüsse zu bekommen. Man kann dem Verleger seine eigene Misere vorjammern, man kann sagen, man habe noch drei außereheliche Kinder zu ernähren, man kann behaupten, die Frau sei an Krebs erkrankt oder müsse dringend einen Kuraufenthalt in einer Nervenklinik machen, man kann solche Geschichten, sofern man noch Geschichten erzählen kann, so gut ausmalen, bis man selbst daran glaubt und anfängt zu weinen. Alle drei Monate sagt Marianne, laß das Schreiben, tu doch eine anständige Arbeit, das Schreiben macht dich ja nur verrückt. Marianne ist die Tochter eines Fischers aus LausanneOuchy, der mit dem Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im zweiten Weltkrieg, General Guisan, viele Gläser Weißwein getrunken hat. Ich antworte jeweils, ich bin nicht verrückt, weil ich schreibe, sondern ich schreibe, weil ich verrückt bin. Es ist schändlich, sagt Marianne, daß du in einer Stunde drei- oder vierhundert Franken verdienen kannst, während ich im Lebensmittelladen nur drei Franken die Stunde bekomme. Ein Leser meiner wöchentlichen Kolumne schrieb mir vor einem Jahr, eben habe er hören müssen, daß ich es mir erlauben könne, im Tessin zu leben, wo sonst nur Deutschlands Millionäre lebten, das lasse sich nicht vereinbaren mit meinen Theorien, für ihn sei ich als Sozialist abgeschrieben. Ich bin dafür, schrieb ich zurück, daß im Tessin nicht nur Deutschlands Millionäre leben und nicht nur die Kapitalisten Autos haben, sondern daß es uns allen gut geht. 13
Eine Woche später bekam ich von einem Arzt aus Bern einen Brief. Sozialisten, schrieb er, sind Menschen, die die Reichen hassen. Nachdem ich mich mit Marianne vorübergehend hier niedergelassen hatte, kam eine Fernsehequipe; ich mußte später ins Studio fahren und erzählen, was ich hier vorhätte und woran ich arbeite. Am Tag nach der Sendung grüßten mich alle Leute in der weiten Umgebung, und Paoling, der Vorsitzende der Liberalen, hielt mich auf der Straße an und sagte, Sie müssen unbedingt bei uns mitarbeiten, sind Sie denn auch politisch engagiert? Ich antwortete, ich sei Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, und er klopfte mir auf die Schultern und sagte, dann sind Sie ja ein richtiger Liberaler. Ich ging viele Monate später zu einer ihrer Sitzungen. Paoling hatte gesagt, das mußt du dir nicht entgehen lassen. Wir duzen uns, seit ich mit ihm Boccia spiele. Er behauptet, ich setze gute Punkte. Vor der Sitzung kam er bei uns vorbei und fragte, ob ich bereit sei, in einem Komitee für kulturelle Fragen mitzuarbeiten, vielleicht sogar den Vorsitz zu übernehmen. Da hier nur Wein-, Tabak- und Maiskulturen von einiger Bedeutung sind, wußte ich nicht recht, was Paoling meinte, aber ich bin anpassungsfähig, ich will hier leben, vorübergehend wenigstens, und so sagte ich, ja natürlich. Ging aber dann doch nicht in die Sitzung. Ein Reporter kam und wollte wissen, wie man als freier Schriftsteller existieren könne. Am nächsten Tag umarmte mich Paoling auf offener Straße und sagte, man hat dich einstimmig gewählt. Wofür? Du bist jetzt im Vorstand der Liberalen Partei und verantwortlich für das Ressort Kultur. Der Reporter, der mich daran hinderte, an der Sitzung der Liberalen teilzunehmen, wollte wissen, wovon unsereins lebe und wieviel man verdiene. Ich sagte, ich verdiene so viel, wie ich ausgebe. 14
Der Reporter hielt mich für arrogant. Ich mußte ihm sagen, daß ein alter Jude mich in das Geheimnis eingeweiht habe. Ich war zu jener Zeit knapp zwanzig Jahre alt. Der Jude hatte mir gesagt, du mußt zuerst lernen, Geld auszugeben. Je mehr du ausgibst, desto mehr strengst du dich an, einzunehmen. Der Reporter fragte, warum muß das ein Jude gesagt haben? Er war Jude! Warum soll man einen Juden nicht Juden nennen, auch wenn ich keinen Unterschied sehe zwischen Juden und Nichtjuden. Das war kurz nach Auschwitz, und der Mann geisterte durch die Stadt Zürich, hielt Leute auf der Straße an und sagte, ich bin Jude. Er ging auch nachts durch Zürichs Straßen, läutete an irgendwelchen Haustüren, und wenn sich in irgendeinem Fenster ein böses Gesicht zeigte, rief er, ich bin Jude, aber ich lebe noch. Polizeistreifen hielten ihn oft an und verlangten seine Papiere, aber er sagte nur, ich bin Jude. Dreimal brachten sie ihn ins Irrenhaus, und auch zu den Ärzten sagte er nichts weiter als, ich bin Jude. Schließlich stand einer im Stadtparlament auf und fragte den Polizeiminister, was die Exekutive gegen dieses öffentliche Ärgernis zu unternehmen gedenke. Mein Reporter konnte mit dieser Geschichte nichts anfangen. Er ist ja auch fünfundzwanzig Jahre jünger als ich und sagte, die Juden seien doch das tapferste und klügste Volk auf Erden. Schließlich wollte ich nicht, daß der Reporter mich für einen Zyniker hielt, für einen Schreiberling, der Worte aneinanderreiht, damit er einen Alfa Romeo fahren und teure Flaschenweine saufen kann. Mit dem Alfa, sagte ich ihm, fahre ich aus Versehen. Ich hatte einen Volvo, einen Gebrauchtwagen, und als Marianne und ich uns vorübergehend hier niederließen, sagte die Polizei, ich müßte mir andere Kontrollschilder beschaffen, es sei verboten, hier zu wohnen und mit Zürcher Polizeischildern herumzufahren. Ich stellte also Antrag für 15
Tessiner Polizeischilder. Um diese zu bekommen, mußte ich den Wagen in eine Garage bringen, und der Garagist fuhr, mit ihm nach Taverne und führte ihn vor. Und dann sagten die vom Straßenverkehrsamt, der Volvo ist in Ordnung, wir schicken die Polizeinummern. Aber die kamen nie. Und darum fuhr ich mit Marianne nach Bellinzona und ging aufs Straßenverkehrsamt. Dort zeigte man mir die Schilder und die dazugehörigen Dokumente, und ich sagte, kann ich sie gleich haben? Wir schicken sie Ihnen mit der Post, per Nachnahme, antwortete der Mann am Schalter. Nicht nötig, sagte ich, ich habe genug Geld bei mir, und die Schilder brauche ich jetzt dringend. Aber ich bekam sie nicht. Wir verschicken alles nur mit der Post, mit Einzugsmandat, sagte er und schloß den Schalter. Marianne und ich fuhren weiter nach Ascona. Dort trafen wir mit Freunden zusammen, mit denen wir viel Wein tranken; abends fuhren wir nach Losone in einen Grotto zum Essen. Hernach lud uns Eliane zu sich nach Hause ein. Sie sagte, macht nur Musik, mein Vater liegt im Bett und behauptet, er sei krank, aber er tut nur so; seit die Mutter gestorben ist, benimmt er sich wie ein Kind, klopft mitten in der Nacht an die Wand und schreit mit heiserer Stimme, komm, komm, ich ersticke. Macht euch nichts daraus. Eliane ging zu ihm, als er klopfte. Um zwei Uhr wollte ich nach Hause fahren. Marianne hielt mich für verrückt, du willst jetzt fahren? Und Eliane sagte, ihr könnt beide hier schlafen, es gibt genug Betten. Aber ich wollte nicht in einem Haus schlafen, wo alte Leute sterben. Mein Vater überlebt uns alle, sagte sie. Wir fuhren trotzdem. Marianne erwachte erst, als ich mit Tempo siebzig über eine Verkehrsinsel fuhr. Sie schlug mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe; jetzt ist die Karre kaputt, sagte ich, und brachte sie aber dennoch im Schrittempo nach Hause. Am nächsten Vormittag kamen Leute von der 16
Garage und untersuchten den Wagen. Der Chef sagte, ich möchte gern herausfinden, wie Sie mit diesem Wrack noch sieben Kilometer geschafft haben. Ich weiß es nicht. Marianne war wütend, als ich ihr sagte, man könne den Wagen nicht mehr reparieren, der Motorblock sei um fünf Zentimeter verschoben, die vordere Achse gebrochen und das ganze Chassis wahrscheinlich verzogen. Macht doch nichts, sagte ich, der Wagen ist ja versichert. Auch gegen einen selbstverschuldeten Unfall. Der Garagist sagte, er habe gerade einen Alfa Romeo. Zufällig. Ein Kunde, der vier Monate darauf gewartet habe, sei vor zwei Tagen gestorben. Ich fuhr mit dem Garagisten in sein Büro und unterschrieb den Kaufvertrag. Anschließend rief ich meine Versicherung an und sagte, ich möchte eine Schadenmeldung machen, Totalschaden. Selbstverschuldet. Der Versicherungsmann sagte, einen Augenblick bitte, und nach diesem Augenblick sagte er, Sie müssen keine Schadenmeldung machen, Sie sind nämlich nicht gegen „Selbstunfall“ versichert. Drei Tage später lag eine Todesanzeige im Postfach. Elianes Vater war kurz nach unserer Abfahrt gestorben. Wir gingen zur Beerdigung. Eliane sagte danach, der ist nur gestorben, um recht zu behalten, sein ganzes Leben lang war er starrsinnig. Wenn Marianne einen schlechten Tag erwischt, sagt sie, ich will mein Leben nicht in diesem Kaff verbringen, ich will fort von hier, was hält dich hier? Wohin möchtest du, frage ich, Zürich, Genf, Bern? Wir können auch nach Paris oder Berlin, meinetwegen nach Hamburg oder Frankfurt. Aber Daniel geht hier zu Schule. Wir könnten nur nach Lausanne, weil Daniel nur französisch und italienisch spricht. Aber in die französische Schweiz will Marianne nicht. Sie kommt von dort. Und nach Zürich will ich nicht. Ich komme von dort. Ich sage, hier ist es schön. Hier haben wir auch unsere Freunde. Wir sind ja hier 17
nicht die einzigen Fremdlinge, Zugezogenen, Ausländer. Und hier mögen die Einheimischen die Künstler, die artisti. Plinio sagt immer wieder, die ersten Maler und Bildhauer sind schon vor mehr als siebzig Jahren zu uns gekommen. So ein Licht, sagt Plinio, gibt es auf der ganzen Welt nicht mehr. Nur Schriftsteller sind noch nie zu uns gekommen. So einfach ist unsere Situation nicht Ich bin ein deutschschreibender Autor, in der Familie wird nur französisch gesprochen und im Dorf nur italienisch. Viele sprechen auch französisch, weil in der Schule Französisch die zweite Pflichtsprache ist. Wenn ich einen schlechten Tag habe, sage ich zu Marianne, dieser Hund, dein Hund, du hast einen Hund haben wollen, dieser Hund läßt Haare. Meine Teppiche sind voller Hundehaare. Dein billiger Bastard ruiniert meine kostbaren Teppiche … Unsere Teppiche, antwortet Marianne laut. Du bist überhaupt ein Bourgeois geworden, nur ein Bourgeois redet von seinen Teppichen, ein Sozialist nicht! Daniel behauptet, ich hätte eine Million auf der Bank und würde monatlich fünftausend verdienen. Daniel muß seine Behauptung beweisen. Wenn er Geld bekommt, kauft er Kaugummi und Schokolade und verteilt alles unter seine Freunde. Und die sagen zueinander, er ist wirklich reich. Daheim ärgert sich Daniel, weil er keinen Kaugummi mehr hat. Im vergangenen Sommer hat er mein Taschenmesser einem seiner Freunde geschenkt. Auch sein kleines Fahrrad hat er verschenkt, um seine Behauptung zu beweisen. Und als das große Fahrrad kaputt war, ging Daniel zu einem unserer Freunde, der einmal gesagt hatte, er verkaufe sein Fahrrad, das eigentlich noch neu sei, für hundert Franken. Daniel sagte zu seinen Freunden, das macht doch nichts, wenn mein Fahrrad zum Teufel ist, wir haben genug Geld, um ein neues zu kaufen, und als seine Freunde daran zweifelten, ob er sich einfach so 18
ein neues Fahrrad leisten könne, ging Daniel zu unserem Freund und sagte, mein Vater hat gesagt, er nehme dein Fahrrad, er komme abends zu dir, um es zu bezahlen. Marianne sagt zuweilen, hier verkommst du langsam, aber sicher. Ich behaupte gegenüber allen Leuten, die mich fragen, ich stünde morgens um sechs Uhr auf. Marianne lacht. Um sechs Uhr läutet bei uns der Wecker; denn Marianne muß um sieben im Lebensmittelladen sein; sie braucht eine Stunde für ihre Toilette. Ich stehe auch auf, weil ich Wasser lösen muß. Aber ich gehe wieder ins Bett, und meistens schlafe ich auch wieder ein. Daniel steht um halb sieben auf, führt den Hund aus und verläßt dann mit Marianne die Wohnung. Oliver geht schon um sechs aus dem Haus. Er besucht in Lugano die Kunstgewerbeschule; mittags kann er nicht nach Hause kommen. Ich stehe um halb acht auf, trinke ein großes Glas Orangensaft und zwei Tassen Kaffee. Dann gehe ich mit dem Hund ins Dorf und ärgere mich, weil er alle zehn Meter pißt. Im Postfach suche ich manchmal vergeblich nach Post, denn Marianne hat sie schon abgeholt. Ich gehe nun zu ihr und hole die Post. Sie sagt meistens, geh doch bitte zu Tina und hole mir eine Tasse Kaffee. Bei Tina sitzt Martin, und der sagt, trinkst du zusammen mit mir ein Fläschchen Bier? Aber zuerst bringe ich Marianne den Kaffee; die Frauen. die jetzt im Laden stehen, loben mich, weil ich für Marianne so liebevoll sorge. Marianne sagt, was gibt es zum Mittagessen? Ich antworte, ich weiß nicht, ich bin Schriftsteller, nicht Hausfrau. Marianne drückt mir den Einkaufskorb in die Hand, schubst mich aus dem Laden und sagt, es wird dir schon etwas einfallen. Ich gehe zurück zu Tina und trinke mit Martin zusammen ein Fläschchen deutsches Bier. Dann sagt Martin, ich muß dringend nach Chiasso, ich habe um neun eine Verabredung, es geht um ein großes Wandbild in Mailand. Ich gehe nach Hause 19
zurück. Um neun Uhr sitze ich am Schreibtisch, aber ich schreibe nicht, sondern lese die Morgenzeitungen, das heißt, es sind Abendzeitungen, denn hier treffen alle Zeitungen zu spät ein. Um elf Uhr gehe ich in die Küche. Meine Mittagessen sind nie großartig. Teigwaren und Salat, Suppen, manchmal tiefgefrorene Fische, manchmal Linsen mit Speck. Mittags kommen Marianne und Daniel nach Hause. Marianne erzählt von den blöden Weibern, die ständig zu reklamieren haben, und von seltsamen Dingen, die im Dorf passiert sind. Die Frauen gehen ja nicht nur in den Laden, um einzukaufen, sie gehen alle zwischen acht und zehn in den Laden, weil wir keinen eigenen Pfarrer mehr haben und darum auch keine Morgenmesse. Jetzt treffen sie sich halt im Laden. Nach dem Mittagessen verschwindet Daniel gleich wieder, ich spüle das Geschirr, und Marianne trocknet ab. Anschließend schlafen wir. Manchmal bis vier Uhr. Danach gehen wir zum Postfach und dann zu Tina. Zwei- oder dreimal in der Woche fahren wir nach Lugano oder Chiasso und kaufen ein. Manchmal bin ich aber auch nicht da. Ich reise hin und wieder nach Deutschland oder auch nur bis Zürich. Früher kam Marianne immer mit. Marianne reist gerne. In Deutschland macht es ihr gar nichts aus, daß sie kein Wort verstehen kann. Sie sagt nur, ich will, daß wir gut und lange essen. Ich muß also meinem Verleger und allen, mit denen ich zu tun habe, sagen, daß die Besprechungen mit einem großen und guten Essen zu verbinden seien. Aber ich muß nicht immer nach Deutschland. Die Dramaturgen vom Fernsehen sagen jeweils am Telefon, nein, nein, ich will Ihnen diese Reise ersparen, ich komme zu Ihnen …
20
Das Schwarze Brett Der Gemeinderat hat in seiner letzten Sitzung beschlossen: Die kantonale Polizei− und Justizbehörde wird ersucht, während der Ferienzeit die allgemeine Polizeistunde (23 Uhr 30) für alle öffentlichen Veranstaltungen und vor allem für die Restaurants aufzuhe− ben, mit der Begründung, daß die Ferien− gäste zu uns kommen, um sich zu erho− len. Wer gegen diesen Beschluß ist, kann laut Gemeindeordnung innerhalb von vierzehn Tagen auf dem Gemeindesekreta− riat Einspruch erheben. Der Gemeinderat empfiehlt den Einwohnern einstimmig, gegen diesen Beschluß keinen Einspruch zu erheben.
21
Tina Ende September. Jetzt ist es wieder still im Dorf. Die Feriengäste sind heimgezogen, vereinzelt tauchen noch Touristen auf, meist ältere Leute, deren Kinder schon längst nicht mehr zur Schule gehen. Manchmal sieht man noch Wagen auf der Piazza mit deutschschweizerischen oder auch deutschen Kontrollschildern. Aber es ist gefährlich, zu sagen, sieh, da ist schon wieder ein Zürcher. Vielleicht ist es gar kein Zürcher, sondern ein Hiesiger, der in Zürich lebt. Kürzlich stand auch ein Wagen mit Hamburger Kontrollschildern im Dorf, und ich sagte zu Marianne, hat man denn nie seine Ruhe vor diesen Deutschen? Marianne antwortete, das sei nicht der Wagen eines Deutschen, sondern gestern sei Pietro Sacchi eingetroffen. Pietro lebt sei zwei Jahren in Hamburg. Gestern ging die Jagd los. Luciano hat sich einen roten Mantel aus Segeltuch gekauft und einen Cowboy-Hut. Er möchte nicht wie vergangenes Jahr eine Schrotladung in den Hintern bekommen, nur weil Franco ihn mit einem etwas zu groß gewachsenen Fasan verwechselt hatte. Abends bei Tina habe ich gesagt, unsere Jäger seien wie Kinder, Hauptsache, es knalle; aber Max sagte, die schießen jetzt aus allen Rohren, was sie das ganze Jahr über haben einstecken müssen, wer im Bett schlecht schießt oder gar nicht schießen darf, der geht jetzt auf die Jagd. Katzen und Hunde dürfen wir jetzt nicht frei laufen lassen, Franco kann jetzt auch nicht zwischen einem Fasan und einer Katze unterscheiden. 22
Wenn sie nicht auf der Jagd sind, bringen sie die Tabakblätter ein und ernten den Wein. Heuer sei ein gutes Jahr gewesen, sagt der Einkäufer von der Cantina Sociale, seit mehr als zehn Jahren sei der Sommer nicht mehr so günstig für den Wein gewesen. Giovanni ist anderer Ansicht. Er sagt, ich habe meinen Wein wie immer gegen Hagel versichert, aber dieses Jahr hat es nicht gehagelt, und nun habe ich kein Versicherungsgeld und dafür die Arbeit, und weil’s angeblich ein gutes Jahr gewesen ist, haben wir zuviel Wein, und das drückt den Preis, porcodio … Jetzt gehen wir abends wieder zu Tina. Im Sommer müssen wir daheim bleiben. Im Sommer ist Tinas Osteria von Feriengästen belagert. Das Dorf ist ein Mythos. Die Leute kommen von weit her gereist, um bei Tina zu essen und zu trinken. Sie meinen, hier sehe man Künstler, aber wenn die Leute kommen, verkriechen sich die Künstler oder sie verkleiden sich und tun, als ob sie auch Feriengäste wären. Tinas Osteria liegt an der Piazza gegenüber der Kirche, und die Kirche ist ohne Pfarrer. Tina ist Mitglied der Liberalen Partei, aber die Partei ist so klein, daß alle Mitglieder dem Vorstand angehören. Die Liberalen haben den Pfarrer vor fünfzig Jahren zum Teufel gejagt. Jetzt holen sie den Pfarrer vom Nachbardorf, wenn einer stirbt. Auch am Tag der Dorfheiligen Sant’ Agata kommt der Pfarrer vom Nachbardorf und führt die Prozession an. Tina ist im ganzen Umkreis berühmt für ihre Küche. Sie kocht aber nur auf Bestellung und immer nur das, worauf sie im Augenblick selbst Lust hat. Wenn Leute unangemeldet kommen und essen möchten, Tina aber gerade nicht zum Kochen aufgelegt ist, sagt sie, gehen Sie nach M., da gibt es eine gute Osteria. In Tinas Osteria gibt es fünf Fremdenzimmer; vierzig Jahre hat sie Feriengäste und Touristen beherbergt. Im vergangenen Sommer hat sie allen Leuten gesagt, sie könne keines der Zimmer mehr vermieten, weil ihre eigenen Kinder 23
mit Kindern kämen. Aber das war nicht die Wahrheit. Uns sagte Tina, ich mag nicht mehr. Tina ist im vergangenen Sommer kleiner geworden und mager. Jetzt, da es still ist im Dorf, sitzt sie am Kamin und lächelt und ist froh, wenn wir uns selber bedienen. Drei Jahre lang fühlte sich Tina krank, sie aß kaum, sie schlief schlecht, und wir sagten, Tina, geh jetzt endlich zum Doktor, sie meinte nur, die Doktoren sind wie die Pfaffen, sie versprechen einem das Himmelreich, und wenn man dann genau hinschaut, ist es die Hölle. Im Januar dieses Jahres ging dann Tina doch zum Arzt; er stellte ein Magengeschwür fest, das man operativ entfernen muß. Als die Chirurgen Tinas Magen geöffnet hatten, sahen sie keine Spur von einem Geschwür, dafür fanden sie eine Ansammlung seltsamer Steinchen in der Gegend, wo die Speiseröhre in den Magen einmündet. Diese Steine bewahrt Tina in einem Kristallglas auf und zeigt sie jedermann, wenn von ihrer Krankheit die Rede ist. Aber Tina hat nicht nur unter diesen Steinchen gelitten. Acht Tage nach der Operation haben die Ärzte ihr gesagt, sie müßten sie noch einmal öffnen, denn sie hätten ein verdächtiges Gewebe entdeckt gehabt. Tina sagte, als wir sie besuchten, das sind doch alles Pfuscher, aber sie wehrte sich nicht gegen eine zweite Operation. Tina sagten sie nicht, daß es sich um beginnenden Krebs handle, aber ihren beiden Töchtern, die verheiratet sind. Die ältere, Lucia, wohnt in der nahen Hauptstadt, die jüngere, Lilia, lebt mit ihrer Familie in Barcelona. Tina erholte sich nur langsam. Sie verlangte von Lucia und Lilia, daß sie Tag und Nacht bei ihr waren. Lilia kehrte aus Spanien zurück, Lucia wohnte in der Zeit mit Mann und Kindern ebenfalls in der Osteria. Lilia ging vormittags zu Tina, Lucia nachmittags. Tina sagte, warum seid ihr nicht beide den ganzen Tag bei mir, warum überlaßt ihr mich diesen dummen Krankenschwestern und Ärzten? 24
Sie kauften Tina einen Fernsehapparat, aber Tina sagte, was nützt mir so ein Apparat, ich kann ihn nicht selber ein- und ausschalten, ich muß jedesmal die blöde Schwester rufen. Alle vom Dorf besuchten Tina und brachten ihr kleine Geschenke. Tina lag klein und gelb im großen Bett und sagte jedem, sie habe doch recht gehabt mit ihrer Behauptung, die Ärzte seien Pfuscher. Wenn ich so kochen würde, wie die operieren, hätte ich die Osteria vor vierzig Jahren schließen können. Aber Tinas Zorn auf die Ärzte hat noch einen ganz anderen Grund. Tina kommt aus einer der Patrizierfamilien, die vor vielen hundert Jahren das Dorf gebaut und bis nach dem ersten Weltkrieg beherrscht haben. Die letzte Generation, die noch im neunzehnten Jahrhundert geboren wurde, hat allen Reichtum und Besitz verfressen und versoffen, am Ende haben sie Tabak- und Maisfelder und ihre großen Weingärten den Pächtern für einen Pappenstiel verkaufen müssen. Und heute sind die meisten Abkömmlinge dieser Patrizier nicht einmal Pächter, sondern ganz gewöhnliche Arbeiter und Büroangestellte und arbeiten in der nahen Grenzstadt bei der Bundesbahn oder bei einer der vielen Transportfirmen. Einige haben sich der Schmugglerorganisation angeschlossen, und Paoling, der letzte Sproß der ehemals reichsten Familie, kehrt heute die Straßen, und wenn’s einmal schneit, räumt er den Schnee weg. Was Tina betrifft, hat sie vor fünfzig Jahren ihren Vater, der gerade dabei war, den allerletzten Familienbesitz in billiges Geld umzuwandeln, vor die Türe gesetzt, und aus dem großen alten Haus mit dem schönen Hof, der von Wein und Glyzinien überdacht ist, hat sie eine Osteria gemacht. Später hat sie den Vater wieder hereingelassen, aber nur unter der Bedingung, daß er ihr nicht ins Geschäftliche hineinrede und statt dessen die Felder bestelle und den Wein kultiviere. Sie heiratete den Postchauffeur, und alle, die sich an diese Ehe erinnern können, 25
sagen, die beiden seien bis zu seinem Tode verliebt gewesen wie Romeo und Julia. Tina verlor ihren Mann nach vierzehn Jahren. Er kam eines Abends nach Hause und legte sich ins Bett und sagte, ihm sei kotzübel, und das Herz gehe unregelmäßig und der Schweiß ströme nur so aus den Poren. Tina rief sofort den Arzt an. Der Arzt war von den vier Dörfern angestellt worden, bekam ein festes Gehalt und wie die Pfarrer ein Haus, für das er nichts bezahlen mußte. Tina sagte dem Arzt, der oft in der Osteria saß und jeden Monat einmal mit seiner ganzen großen Familie bei Tina aß, komm sofort, mein Mann liegt im Sterben. Aber der Arzt meinte, mach ihm warme Umschläge an den Füßen und gib ihm Grappa, ich komme dann morgen. Als Tina zu ihrem Mann zurückkehrte, atmete er nicht mehr. Als Ranconi, so hieß der Arzt, am nächsten Morgen kam, erhielt er von Tina einige Ohrfeigen und einen Tritt in den Hintern, und sie sagte, komm nie wieder in dieses Haus, du Mörder! Da aber auch in diesem Dorf Totenscheine ausgestellt werden müssen und nur Ärzte den Tod eines Menschen feststellen dürfen, rief der Bürgermeister einen Arzt aus einem anderen Bezirk. Tina habe nicht geweint, sagen Lucia und Lilia, auch nicht nachts, denn sie hätten das hören müssen, die Tür zwischen Elternzimmer und dem Zimmer der beiden Töchter habe auf Tinas Geheiß nach dem Tod ihres Mannes nachts geöffnet sein müssen. Tina habe nur gesagt, so etwas tue ein Mann, der seine Frau wirklich liebe, nicht. Tina ging auch nicht zur Beerdigung, und sie hat nie das Grab ihres Mannes besucht. Aber sie fragt noch heute, wie sieht das Grab aus? Tina hat einen Gärtner angestellt, der ihr den Garten und den Keller besorgt und im Herbst 26
die Trauben keltert. Diesen schickt sie einmal im Monat mit Blumen an das Grab ihres Mannes. Jetzt, nachdem sie im Krankenhaus gelegen hat und nur noch selten für ihre Gäste kocht, erzählt sie viel aus ihrem Leben. Sie berichtet auch von ihrem Mann, der der schönste im ganzen Land gewesen sein soll, ein Lump zwar und ein Weiberheld – wie sie sagt –, aber unschuldig wie ein Neugeborenes. Er hat die Weiber nie gesucht, sagt Tina, die Weiber haben ihn verfolgt, und sie haben ihn auch umgebracht. Diese Hexen! Gestern sagte ich zu Tina, such dir doch eine tüchtige Köchin und ein Mädchen, das serviert, und du machst einfach die Padrona. Denn ich fürchte, so geht das nicht weiter. Da treffe ich beispielsweise morgens auf der Post meine paar Freunde, und wir sagen, wir wollen nach dem Nachtessen bei Tina einen Jaß klopfen, und wenn wir dann so um acht Uhr kommen, ist Tina schon zu Bett gegangen. Oder sie hat einfach die Tür verriegelt und sitzt im Hinterzimmer vor dem Fernseher. So, meinen auch andere im Dorf, gehe das nicht weiter. Aber Tina antwortete, das kann ich nicht, ich ertrage das nicht, wenn eine andere Frau in meiner Küche hantiert, das ist meine Küche, basta. Warum übernimmt Lucia die Osteria nicht? Weil Giorgio dabei wäre, und Giorgio ist ein Mann, der jedem geradeheraus sagt, was er von ihm hält, und er hält von den meisten nichts, wie soll da einer Wirt spielen? Und Lilia? Da wäre der Silvio dabei, und du hast es ja selbst noch erlebt, noch bevor die beiden verheiratet waren, hat er ihr jeweils Eifersuchtsszenen gemacht, wenn sie mit unseren Gästen ein wenig freundlich war. Aber so geht’s nicht weiter. Du magst nicht mehr, das ist begreiflich, und weil du nicht mehr magst, geht’s uns schließlich schlecht, wo sollen wir denn hin. Mà, sagte Tina, sei jetzt geduldig, es wird schon so herauskommen, wie es muß … 27
Das Schwarze Brett Infolge der zunehmenden Wasserverschmut− zung ist es verboten, weiterhin Abfälle auf der westlichen Seite der Schutthalde zu deponieren. Untersuchungen haben er− geben, daß das Grundwasser weniger ver− schmutzt wird, wenn die Abfälle nur auf der nördlichen Seite abgelagert werden.
28
Marianne Marianne mißtraut meiner Schriftstellerei. Darum zeige ich ihr alle Gutschrift-Anzeigen meiner Bank, auch die langen Abrechnungen der Verleger, außerdem sammle ich, seit ich Marianne geheiratet habe, meine eigenen Bücher, nicht nur die Originalausgaben, sondern auch alle Lizenzausgaben und Übersetzungen. Meine Bücher stehen schön aufgereiht auf dem Regal am Kopfende unseres Bettes, mit einer kurzen Bewegung meines rechten Armes kann ich jedes beliebige Buch herunterholen, ob ich auf dem Bauch oder auf dem Rücken liege. Um mich zu rechtfertigen! Ich lese Marianne zwei- bis dreimal in der Woche vor, was ich geschrieben habe, das heißt, ich übersetze das, was ich geschrieben habe, fortlaufend und aus dem Stegreif, und Marianne sagt oft, das ist nicht wahr, das war alles ganz anders. Wenn Marianne sagt, du lügst, antworte ich, ich lüge nicht, sondern ich übersetze schlecht. Schließlich ist meine Berufsund Umgangssprache Deutsch und nicht Französisch. Als ich Marianne damals an meinen Tisch bei Tina bat, sagte ich quelle horreur (welch ein Schrecken), aber ich hatte sagen wollen quel honneur (welch eine Ehre). Marianne ist die Tochter eines Fischers aus Lausanne, genauer aus Ouchy, der sich, laut Marianne, einfach zu Tode gesoffen hat. Als ich Marianne hier im Dorf zum ersten Male begegnete, war sie in Lausanne bei einem Unternehmer angestellt, der Jahr für Jahr Literaturpreise stiftet. Dieser Literatur29
preis trägt seinen Namen, und die damit ausgezeichneten Autoren werden in allen Zeitungen, im Fernsehen und im Rundfunk erwähnt. Und es werden nur Autoren prämiert, die „positive“ Bücher schreiben. Marianne verdiente mit einem kleinen Sohn aus erster Ehe wegen dieser Preise nur 700 Franken monatlich; womit mir die Bürgerlichen erneut beweisen, daß Literatur nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat. Ich beschimpfte Marianne und forderte sie auf, unverzüglich zu streiken, aber sie nannte mich einen Narren und fragte, womit bezahle ich am Monatsende die Miete? Ich las ihr Oscar Wilde vor, denn ich wußte, daß sie ihn mochte und Wilde ihr unverdächtig war, weil sie ihn für einen Dandy hielt. Marx und Lenin hätte sie abgelehnt. Ich lese ihr aus Wildes „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“ vor: „Elend und Armut sind so völlig entwürdigend und üben eine so lähmende Wirkung auf die menschliche Natur aus, daß eine Klasse sich ihres eigenen Leidens niemals wirklich selbst bewußt wird. Es muß ihnen von anderen Menschen gesagt werden, und sie glauben ihnen häufig durchaus nicht …“ Marianne glaubte mir auch nicht und glaubt mir heute noch nicht. Wenn ich länger als eine Viertelstunde „Sozialismus“ predige, steht sie barsch auf, geht an meinen Schreibtisch und holt die Kontoauszüge hervor, die sie mir wütend vor der Nase auf den Tisch knallt. Aber Marianne ist nicht nachtragend und schnell wieder sanft. Auch erzählt sie gern Räubergeschichten. Am liebsten die abenteuerlichen Geschichten von ihrem toten Vater. Im Leben schlank, ja ausgemergelt gewesen, sei der Leib des Vaters nach dem Sterben in Sekundenschnelle aufgequollen; der Normalsarg aus dem städtischen Vorrat sei zu klein gewesen. Mariannes Großmutter, bei der der Vater die letzten Tage seines Lebens im Bett gelegen hatte, sagt, der Vater habe bis zum 30
letzten Augenblick stets zwei volle Weißweinflaschen auf dem Nachttisch stehen gehabt, und kaum war er tot, habe sie den Arzt, die Ambulanz, die Feuerwehr und die Polizei alarmiert. Man habe den Toten sogleich aus dem Hause geschafft, nur in Decken gehüllt, und der Feuerwehrkommandant habe gesagt, die Leiche könne jeden Moment explodieren, der Alkohol gäre und treibe. Marianne läßt sich auch durch Ärzte, nicht von dieser Geschichte abbringen. Eine Leiche, sagen alle, könne durchaus aufquellen, aber explodieren? Marianne wird zornig und sagt, warum hat der Vorsteher des Krematoriums die Einäscherung verweigert? Eben wegen der Explosionsgefahr! Und warum hat man meinen Vater noch am gleichen Tag beerdigt, und warum war der Erdhügel über dem Grab weitaus höher als der der anderen Gräber? Mariannes Vater hatte von seinem Vater drei Fischerboote, einen Anliegeplatz und alle nötigen Fischerutensilien geerbt. Aber schon als Fünfunddreißigjähriger lief er mit seinen Booten nur noch selten aus. Er bevorzugte die Terrassen der Wirtshäuser am Quai von Ouchy, trank gerne Weißwein und blickte auf den See hinaus. Heute, sagte er täglich, hat’s keinen Sinn, auszulaufen, ich seh es mit bloßem Aug, daß keine Fischzüge unterwegs sind. Mariannes Mutter arbeitete dafür jahrelang als Putzfrau, und Marianne hat heute noch eine Abneigung gegen Kartoffeln, weil sie in ihrer Mädchenzeit zweimal täglich Kartoffelgerichte essen mußte, dazu gab’s Kaffee und ein bißchen Brot. Schließlich klagte die Mutter auf Scheidung, denn der Vater, zwar ein glücklicher und friedfertiger Trinker, kehrte jeden Abend blau wie ein Kanonenrohr nach Hause, verwechselte Wohnungstüren, und wenn er endlich in der eigenen Wohnung ankam, verwechselte er die Zimmertüren, plumpste auf die Betten seiner drei Töchter und war nicht wieder wach31
zukriegen. Am Morgen verschaffte er sich irgendwoher Geld und frequentierte die Kneipen. Nach der Scheidung ging er nach wie vor in der Wohnung ein und aus, schlief aber oft bei seiner Mutter und klaute ihr Geld. Wenn er kein Geld mehr hatte, bekam er seinen Weißwein ohne Widerrede; er war ein großer Schwätzer, und alle mochten ihn gern und sagten, jemand wird einmal bezahlen. Im Winter, wenn die Bise über den See heulte und die Nebel sich nicht mehr auflösten, wenn der Schnee kam, meldete er sich beim Straßenamt, Abteilung Schneeräumung. Sie teilten ihm eine kleine Quartierstraße zu, doch wenn Schnee fiel, räumte er ihn nicht weg, er sagte dem Chef, es riecht nach mehr Schnee, ich habe das dritte Gesicht für Schnee, sogar auf der Zunge schmecke ich Schnee, es hat doch keinen Sinn, jetzt den Schnee wegzuräumen, das kommt der Stadt teuer zu stehen, denk doch an die Steuerzahler. Und er ging in seine Kneipen. Marianne sagt, ich bin ein Wunderkind. Es ist doch ein Wunder, daß mein Vater mich noch hat machen können. Marianne sagt das, seit sie weiß, daß chronischer Alkoholismus zur Impotenz führen kann. Während der Vater in den Kneipen saß, die Mutter bei fremden reichen Leuten Fenster und Fußböden und Treppenhäuser reinmachte, wuchs Marianne wild auf. Mit fünfzehn lag sie zum ersten Mal im Bett eines Mannes, und dieser Mann konnte nicht, weil die kleine „Hure“ sich so schamlos bei Licht und vor seinen offenen Augen auszog, unter die Bettdecke kroch und sagte, hast du auch schon, zeig, was du kannst. Und er konnte nicht. Und er konnte jahrelang nicht, so peinigte ihn die Angst, er könnte nicht. Alles über die rechte Liebe hat Marianne von ihrem Vater gehört. Er erzählte gern und lustig, auf einer Bank am Quai sitzend, die Weißweinflasche zwischen den Schenkeln, von seinen großen Liebesaffären. Die erste Geschichte hatte er als 32
Vierzehnjähriger mit der Frau eines Polizisten gehabt, die zweite drei Wochen später, mit der Frau eines Briefträgers, später sei eine Feuerwehrfrau drangekommen, überhaupt, sagt Marianne, hat es mein Vater immer mit Frauen Uniformierter zu tun gehabt. Erstens, habe der Vater gesagt, sei es ungefährlich, mit Frauen Uniformierter anzubandeln (das Berufsmilitär nicht vergessen), weil alle Uniformierten zuverlässig ihre Dienste antreten, selbst mit 39 Grad Fieber, und zweitens kämen sie auch nie vor Dienstende zurück. Mariannes Vater meinte, das Allgemeine wüßten die meisten schon, aber die Einzelheit müßte man lernen. Man sei eben keine Katze und kein Hund. Und so brachte er Marianne viele wunderbare Winkelzüge bei, und wenn es dann und wann schiefging oder fast schief, sprang sie schnell zum Vater, erzählte ihm, was sie getan oder unterlassen hatte, und fragte, was wohl daran falsch gewesen sei, und er dachte still und trinkend darüber nach und fand immer eine Erklärung oder sogar eine Lösung. Marianne lernte Verkäuferin. Sie arbeitete anfangs nur in Warenhäusern und dort nur in den Abteilungen für Herrenwäsche. Am liebsten verkaufte sie Hemden, Krawatten, Unterwäsche, Handschuhe und dergleichen. Da suchte sie sich auch ihre Liebesgenossen (ein Wort von Marianne) aus. Sie hatte nie zwei auf einmal. Marianne ist das, was wir eine treue Frau nennen. Solange sie liebt, liebt sie. Sie ist ehrlich. Wenn es nicht mehr geht, geht sie. Auf Tragödien läßt sie sich nicht ein. Als ich nach Paris fuhr, nachdem sich Löwe, meine erste Frau, für einen anderen entschieden hatte, fuhr ich über Lausanne, um Marianne zu sehen. Kennengelernt hatte ich sie hier im Dorf. Eine vom Dorf, die in jungen Jahren nach Lausanne gezogen war, hatte sie eingeladen, hier ihren Urlaub zu verbringen. Eines Abends, nachdem Löwe schon gegangen 33
war, saß ich mit meinen Freunden bei Tina, und da sah ich Marianne mit ihrer Freundin, sie saßen am runden Tisch vor dem Kamin und tranken Coca Cola, und da sagte ich, kommen Sie doch an unseren Tisch, und sie kamen auch, nachdem Tina beiden gesagt hatte, ich sei ein armer Tropf, jedoch ein liebenswürdiger. Einige Tage später fuhr Marianne wieder nach Hause und ich auch, und als mein Freund G. mir beigebracht hatte, es sei besser für mich und für Löwe und überhaupt für alle, wenn ich nach Paris ginge, fuhr ich über Lausanne, was von Zürich aus ein großer Umweg nach Paris ist. Nylonhemden, sagte Marianne, sind nichts für Herren. Sie verkaufte mir fünf Baumwollhemden, vier Pullover, zehn Paar Socken, zwölf Unterhosen und zwölf Unterhemden. Marianne sagte nebenher, die Unterwäsche mußt du täglich wechseln, die Pullis oder Hemden kannst du drei Tage tragen, wenn du jeden Tag eine Dusche nimmst. Marianne sagte auch, deine Haare sind scheußlich, du mußt sie wachsen lassen und zweimal wöchentlich waschen, was hast du eigentlich beim Friseur verloren? Abends gingen wir in ein teures Lokal und aßen gut und tranken viel. Der Wirt vermittelte mir ein Hotelzimmer, denn der Spätzug nach Paris war schon abgefahren. Ich fuhr anderentags mit dem TEE. Marianne übernachtete nicht bei mir, mit Frauen, die ich wirklich gut mag, schlafe ich nicht bei der erstbesten Gelegenheit. Als ich in Paris lebte und an einem Roman schrieb, fühlte ich mich gar nicht wohl. Ich schrieb jeden Tag bis zu zehn Schreibmaschinenseiten, spazierte bis zu sechs und acht Stunden durch die Stadt. Auf dem Montparnasse hockend, hoch über dem berühmten Friedhof von Montparnasse, allein, manchmal auf die Gräber stierend, wo so viele berühmte Dichter, Bildhauer und Musiker vermodern, schrieb ich die Geschichte einer Ehescheidung. 34
Nach zehn Tagen blätterte ich in meiner Agenda, weil ich nicht wußte, wen ich anrufen könnte, und da fand ich Mariannes Telefonnummer, und ich wählte sie. Marianne sagte, bist du verrückt, heute haben wir Donnerstag und du willst, daß ich am Samstag bei dir bin, ich komme zum übernächsten Wochenende. Marianne kam. Ich lese also Marianne alle zwei Tage vor, was ich geschrieben habe. Gerade habe ich ihr auch die Geschichte von Marianne vorgelesen. Sie sagt, du bist der größte Lügner, der mir je begegnet ist. Erstens heiße ich nicht Marianne, zweitens … Ich habe Marianne gesagt, Geschichten müssen niemals wahr sein, sie müssen nur wahrscheinlich sein. Und gut. Sie sagte, ich finde deine Geschichte blöd, und wenn du sie trotzdem veröffentlichst, klage ich gegen dich. Warum kannst du nicht arbeiten wie andere Leute? fragt Marianne, warum mußt du schreiben, Geschichten erfinden?
35
Das Schwarze Brett Es ist verboten, auf privaten Grund− stücken Kastanien zu sammeln. Mit der Einwilligung des Grundstückbesitzers ist es erlaubt, Kastanien zu sammeln.
36
Als ich siebzehn Jahre alt war Als ich siebzehn Jahre alt war, hat ein Student zu mir gesagt, Sie sind ja der geborene Schriftsteller, und weil ich siebzehn Jahre alt war und nichts anderes als Laufjunge, bin ich am nächsten Morgen aufs Einwohneramt gegangen und habe dem Schalterbeamten gesagt, ich möchte, daß Sie eine Eintragung machen in meine Papiere, ich bin jetzt Schriftsteller. Und seither bin ich Schriftsteller. Ich hatte eine schwere Kindheit Ich war außerehelich geboren, und wir waren arm, und meine Mutter heiratete einen armen Mann. Ich weiß, kein Mensch will diese Geschichte noch einmal hören oder lesen. Ich erzähle sie auch nicht mehr. Jetzt, da ich einen Stiefsohn habe. Dabei habe ich Löwe nur deshalb zur Heirat überredet, weil ich Stiefsohn gewesen war und endlich einmal meine eigene Familie haben wollte. Doch zurückblickend, jetzt Vater eines Stiefsohnes, was kann ich meiner Mutter beziehungsweise meinem Stiefvater vorwerfen? Nichts! Er hat mich geprügelt wie seine eigenen Kinder. Ich hatte so wenig Taschengeld wie seine eigenen Kinder. Ich war im Sommer Hirtenbub auf den Alpen wie seine eigenen Kinder. Ich habe höhere Schulen besuchen wollen, aber ich habe versagt. Maria, das ist meine Mutter, hat mich an ihren Schwager 37
verschachert, bei dem sollte ich eine Uhrmacherlehre absolvieren. Ich lernte rasch, aber er gab mir kein Taschengeld. Ich nahm es mir aus seiner Kasse, er kam mir auf die Schliche und machte Lärm, und ich stahl noch einmal Geld und zwei Uhren und türmte nach Italien. Das war 1944. In Mailand stand die deutsche Wehrmacht, die wollte mich an die Grenze bringen, aber ich sagte, mit mir könnt ihr alles machen, bloß das nicht. Folglich schoben sie mich ab nach Dresden, aber es war schon Winter und kalt, und die Rote Armee, sagte man, stehe achtzig Kilometer vor Dresden, dennoch werde man den Krieg gewinnen, aber der Krieg interessierte mich gar nicht, die ständigen Fliegerangriffe der sogenannten Alliierten ärgerten mich, Hunger hatte ich auch, und die Baracken konnte man nicht mehr heizen, also türmte ich. Doch in Nürnberg auf dem Bahnsteig wurde ich von zwei Männern in grüner und grauer Uniform angehalten, und es stellte sich heraus, daß ich mittlerweile Volksdeutscher (es gab auch Reichsdeutsche) geworden war und daß ich somit einschlägige Gesetze verletzt hatte durch mein Davonlaufen. Sie steckten mich ins Gefängnis. Vier oder fünf Monate später kamen die Sieger und stellten mich an die Grenze. Bei Buchs. Und die Schweizer Polizei steckte mich ins Gefängnis, weil ich mittlerweile ein Nazi geworden war. In ihren Augen! Und als der Jugendrichter mich fragte, ob ich die Diebstähle bereute, erzählte ich von den Bombardierungen in Dresden und von den vielen Toten, und deshalb schickte er mich in die Heil- und Pflegeanstalt. Sechs Monate später wußten die Psychiater, daß ich gemütsarm, egozentrisch und schwererziehbar war. Ich wurde entlassen und auf die Straße gestellt, und ich wurde Laufjunge, Küchenbursche, Bauarbeiter, Fabrikarbeiter, ich schrieb Briefe an meine Mutter, den Jugendrichter, an den Vormund, den sie mir inzwischen auch beigegeben hatten, ich erzählte Geschichten von einem ER, 38
Jesus kam vor darin und ein Tänzer und ein Seiltänzer und ein Säufer und ein Mörder. Ich mußte mich entscheiden. Ich entschied mich, Verbrecher zu werden. Wennschon. Aber auf dem Weg zu meinem ersten richtigen Verbrechen begegnete ich jenem Studenten, der Untermieter gewesen war bei meinem Onkel, und dem erzählte ich ebenfalls die Geschichte vom ER, und so um drei Uhr morgens herum sagte er, Sie sind der geborene Schriftsteller. Ich weiß, diese üble Geschichte langweilt oder ärgert die Leute. Vor allem meine Freunde. Vor einem Jahr kam wieder ein Journalist und fragte mich aus. Natürlich auch über die Jugend. Ich sagte meinen Spruch auf: außerehelich, arm, Diebstahl, Flucht, Gefängnis, Irrenhaus, Schriftsteller, Ehe, Scheidung … Ein Freund las das alles, besuchte mich an Pfingsten, und kurz vor Mitternacht sagte er, kannst du nicht endlich aufhören mit diesem Dreck, glaubst du, nur du hättest Schwierigkeiten, hör doch endlich auf, immer über deine schwere Kindheit zu reden. Ich antwortete, wenn dir meine Biographie nicht paßt, kannst du ja gehen, ich weiß nicht, warum du mich besuchst, ich kann meine Biographie nicht ändern wie ein alter Nazi. Darum gab es Streit, und am Schluß, nach Mitternacht, nahm er, mein Freund, das Schnapsglas und schlug damit auf meinen Kopf ein. Das Glas blieb ganz, aber mein Kopf blutete dermaßen, daß der Tisch rot war und meine Kleider und der Fußboden auch. Und das alles nur, weil ich mich weigere, meine Biographie zu ändern. Ich denke nicht einmal daran, mir eine andere Biographie vorzustellen.
39
Das Schwarze Brett Der Gemeindevorstand hat anläßlich seiner Sitzung vom 5. Juli ac. be− schlossen, Bernfahrten für Automobile innerhalb des Dorfes mit sofortiger Wirkung zu verbieten. Baut Gesetz sind Einsprachen gegen diesen Be Schluß in− nerhalb von dreißig Tagen möglich. Der Gemeindevorstand bittet jedoch alle Mitbürger, von diesem Recht keinen Ge− brauch zu machen, denn der Beschluß wurde einstimmig gefaßt im Hinblick auf die Sicherheit unserer Einwohner.
40
Alfredo und Marcello Die stimmberechtigten Einwohner des Dorfes spielen Parlament. Wir sollten darüber abstimmen, ob der Weg, der südlich des Dorfes in einem großen Bogen über das Feld zur Hauptstraße führt, und der kleine Weg hinab zum Grotto asphaltiert werden sollten. Edo, der Bürgermeister, hielt eine Rede. Er sagte, wir müssen die Straße, die übers Feld führt, asphaltieren. Jetzt fahren täglich sehr viele Autos über diese Straße, die wirbeln Staub auf, der Staub legt sich auf die Wiesen, und somit wird das Heu schlecht, und Kühe, die solches Heu fressen, geben schlechte Milch, wir kommen nicht darum herum. Tullio sagte, das mit der Straße über das Feld geht in Ordnung, aber kannst du mir erklären, warum der Weg zum Grotto hinunter asphaltiert werden soll? Das ist ganz einfach, sagte Edo, wenn’s heftig regnet, spült das Wasser ständig den halben Weg weg, der Weg wird zum Bachbett. Darauf antwortete Tullio, wenn einer beim Lügen ersticken könnte, wärst du jetzt eine Leiche. Erstens einmal bist du der Schwager von Marcello, und Marcello hat ein Baugeschäft, er wird die Straßen asphaltieren, und zweitens wirst du in wenigen Jahren den Grotto erben, und du hast jedes Interesse daran, daß die Scheiß-Autos ungehindert in den Grotto hinunterfahren können. Dann stand Alfredo, der aus Basel stammt, auf und schrie, das alles interessiert mich überhaupt nicht, ich werde ohnehin gegen die Asphaltierung stimmen, ich werde so lange jedes Budget bekämpfen, bis dieses Scheiß-Dorf endlich die hundert 41
Quadratmeter bezahlt, die man mir für die Erweiterung des Friedhofes gestohlen hat. Niemand hat dir die hundert Quadratmeter gestohlen, sagte Plinio, und dir schon gar nicht, wir haben das Grundstück ordentlich von deinem Vater gekauft. Gekauft! schrie Alfredo, ihr habt meinen Vater enteignet und fünf Franken für den Quadratmeter bezahlt, und mein Vater war zu der Zeit schon todkrank und folglich unzurechnungsfähig, und ich weiß, daß ihr euch an mir rächt, daß ihr mich fertigmachen wollt, weil mein Vater euren Vätern, den versoffenen, verfressenen, degenerierten Patriziern, sämtliches Land für einen Pappenstiel abgekauft hat, aber was hätten eure versoffenen und degenerierten Alten gemacht ohne die Hilfe meines Vaters, und ihr, die ihr jetzt groß die Mäuler aufreißt, ihr alle wärt ohne meinen Vater in Armen- und Waisenhäusern gelandet. Hör zu, sagte Arturo so sanft wie nur möglich, hör zu, Alfredo, die Gemeinde hat deinem Vater das Grundstück bezahlt, die Quittung ist vorhanden … Alfredo ließ Arturo nicht ausreden, er schrie immer lauter und heftiger und stampfte mit den Füßen, er schrie, ihr Verbrecher habt meinem Vater, der lag ja damals schon in Agonie, habt ihr, habt ihr, habt ihr fünf Franken für den Quadratmeter bezahlt … Ja, schrie Plinio zurück, fünf Franken, das war damals der Preis. Der Quadratmeter kostet aber zwanzig Franken. Heute kostet er je nach Lage sogar dreißig Franken, antwortete Galli, der inzwischen sein neues Haus bezogen hat und die Steuern hier bezahlt. Eben, sagte Alfredo, um mindestens zwanzig Franken betrügt ihr mich, weil ihr mich fertigmachen wollt. 42
Erstens bist du jetzt reif fürs Irrenhaus und fürs Gefängnis, sagte Edo, warum redest du immer von „meinem Land“, du hast noch eine Mutter, und du hast noch zwei Schwestern, das Land, von dem du redest, ist überhaupt nicht dein Land. Meine Mutter, antwortete Alfredo, ist unzurechnungsfähig, lebt seit drei Jahren in der Heil- und Pflegeanstalt, und meine beiden sogenannten Schwestern habt ihr bevormunden lassen, ich bin der einzige, der gesund und zurechnungsfähig ist. Prima, sagte Plinio, du hast deine Mutter irrenhausreif gemacht, du hast sie halbwegs verrecken lassen, du bist jeden Morgen in ihr Haus gegangen, du hast dein dreckiges Ohr an die Tür ihres Zimmers gelegt, und immer, wenn du sie hast röcheln hören, bist du wieder weggegangen und hast genau gewußt, daß deine Schwestern nicht klar im Kopf sind und darum nicht imstande, die kranke Mutter zu pflegen, und du hast alles darangesetzt, deine Mutter verrecken zu lassen, und wenn es eines Tages nicht so im Dorf gestunken hätte, weil deine Mutter im eigenen Dreck lag, monatelang, hätten wir nie eingegriffen, was willst du eigentlich, du Erbschleicher, hier und bei uns kannst du mit Müttern nicht so umgehen, hättest halt in Basel bleiben sollen, warum bist du überhaupt zu uns gekommen? Morgen, antwortete Alfredo, bestelle ich den Trax, und ich lasse die Gräber eurer Mütter ausheben und verkaufe die Parzelle als Bauland. Zu vierzig Franken den Quadratmeter. Ich habe keine Erklärung für Alfredos Verhalten. Ich mag ihn eigentlich gern. Er kam vor zehn Jahren ins Dorf. Heute ist er einundsechzig Jahre alt und Vater von acht Kindern, das jüngste ist sieben, und er ist zum zweiten Mal verheiratet und Großvater. Sein Beruf ist Ingenieur, und in Basel hatte er ein eigenes Büro für Straßenbau, er hatte sich auf Tunnels spezialisiert. Aber daneben hat er sich mit Religionen befaßt, er ist 43
nebenamtlich Rutengänger und stellt heimlich Talismane her, aus Silber oder Eisen und Blech, die er für viel Geld verkauft. Sein Vater hatte irgendeinen Motor erfunden und damit viel Geld verdient. Ebenfalls in Basel. Man behauptet hier, Alfredos Vater habe seine Erfindung an den Großvater von Gunter Sachs verkauft, und darum wollen die hier alles wissen, was mit Gunter Sachs los ist. Alfredos Vater hatte mit vierzig die Nase voll, verließ Basel und kaufte hier, das war in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, den verarmten Patriziern möglichst viel Land für wenig Geld ab. Doch er spielte den Bauern nur, und er spielte ebenso den Patrizier, er setzte Pächter auf die vier Höfe, die er gekauft hatte, ritt auf dem Roß auf die Maisfelder und durch die Weingärten, um die Arbeit seiner Leibeigenen zu prüfen, und zweimal in der Woche ließ er im Hof seines Besitzes eine Armensuppe kochen. Der Kirche, obwohl die Liberalen den Pfaffen zum Teufel geschickt hatten, schenkte er eine neue Uhr und ein neues Geläute. Wenn die Armensuppe bereit war, ließ er die Glocken läuten. Über Alfredo werden hier viele Geschichten erzählt, aber ich möchte nicht an Eides Statt eine der vielen Geschichten als eine wahre weitererzählen. Alfredo, sagt man, habe nachts Begegnungen mit dem Teufel, tags rede er mit Engeln, er sei Magier und besitze das siebente Buch Mosis. Doch Alfredo könnte hier in Ruhe leben, wenn er auf den Vorschlag der Behörde, die Anwartschaft nach Gesetz jetzt schon zu teilen, eingehen würde. Aber er ist störrisch. Er sagt, alle Mitglieder der Behörde sind Gauner, sind Abkömmlinge jener versoffenen und degenerierten Patrizier, denen mein Vater das Leben gerettet hat. Marcello ist der Katholisch-Konservative im Dorf und hat ein Baugeschäft. Außer Alfredo, seiner Mutter und seinen Schwestern besitzt die Kirche, auch ohne Pfaffen, die schön44
sten Grundstücke, ich meine die schönsten Bauplätze. Die Kirche verkauft keinen Quadratmeter an irgend jemand. Marcello ist der Verwalter des Kirchengutes. Wenn ich morgen zu ihm sage, baue mir ein Haus auf einem der Grundstücke, das der Kirche gehört, bekomme ich das Grundstück und das Haus. Gebaut von der Baufirma Marcellos. Abgesehen von alldem sagt Marcello immer wieder, der Tessin gehört den Tessinern, dem Ausverkauf der Heimat muß ein Ende gesetzt werden. Gegen diesen Ausverkauf sind auch die Liberalen. Der Vorsitzende unseres Landkreises hat gerade kürzlich einen heftigen Vortrag gegen die verdammten ausländischen, hauptsächlich deutschen Millionäre und Milliardäre gehalten, die den ganzen Tessin aufkaufen. Wofür und wozu weiß niemand. Aber der betreffende Vorsitzende betreibt im Bezirkshauptort ein Anwaltsbüro, und seine hauptsächlichste Arbeit besteht darin, Aktiengesellschaften zu gründen (Société anonyme), welchen er als einziger als Verwaltungsrat vorsteht und die den Zweck haben, Grundstücke zu kaufen. Die Aktieninhaber sind Ausländer, vor allem Deutsche und Italiener, aber da der Verwaltungsrat, dem Gesetz entsprechend, ein Schweizer ist, mehr noch, ein Tessiner, sind die Landkäufe legal. Gegen Ende der Gemeindeversammlung weinte Alfredo beinahe. Er sagte, wie sind wir heruntergekommen. Als ich noch ein Junge war und einige Jahre hier verbrachte, war dieses Dorf eine Hochburg des Liberalismus. Wir haben den Pfaffen zum Teufel geschickt und die Faschisten spitalreif geschlagen. Und jetzt? Mà, sagten alle, was willst du, die Zeiten ändern sich, warum änderst du dich nicht?
45
Das Schwarze Brett Unser lieber und von allen verehrter Mitbürger Enzo Rusconi, Arzt, wohnhaft gewesen in Basel, ist von unserem aller Herr in die Ewigkeit abberufen worden. Sein Leichnam wird zu uns übergeführt werden. Das Requiem und die anschlie− ßende Beisetzung auf unserem Friedhof werden stattfinden am 13. Juni. Herr Enzo Rusconi hat, wie uns seine Erben mitteilten, der Gemeinde hunderttausend Franken vermacht mit der Auflage, dar− aus einen Kindergarten−Fonds zu grün− den. Herr Enzo Rusconi war ein wahrer Mensch. Als Arzt stritt er wider den Tod, und sein lebenslänglicher Gedanke war, was nach dem Tod sein werde. Jetzt weiß er es.
46
Ildo Ich bin vorweißichwievieljahren wegen Ildo hierhergekommen. Ich lag neben ihm, eines Verkehrsunfalls wegen in einem Zweibettzimmer im Krankenhaus von Chur. Die Polizei, zwei in Uniform, kam jeden Tag. Die Stationsschwester öffnete die Türe und sagte, nicht länger als sechs oder sieben Minuten. Die Männer stellten sich breitspurig vor Ildos Bett auf, einer am Fuß-, der andere am Kopfende. Ildo tat, als sehe und höre er nichts; nur ich wußte, daß er Ildo hieß und aus diesem kleinen Kaff in der Nähe der italienischen Grenze kam. Ich sagte zu den Polizisten, man hat ihm vor zehn Minuten eine Spritze gegeben, jetzt kann er den Renoir-Druck an der Wand drüben nur noch als Farbklecks erkennen. Was heißt hier Renoir? fragte der jüngere der beiden. Der ältere, der am Kopfende stand, fragte, wie war’s denn? Ildo, beide Unterschenkel ab, antwortete nicht und ließ die Augen geschlossen. Ich wiederholte, man hat ihm vor zehn Minuten eine Spritze gegeben. Morphiumderivat. Wir haben Sie nicht gefragt, antwortete der ältere, der am Kopfende von Ildos Bett stand. Der jüngere lenkte ein. Immerhin, auch der Herr ist krank. Ich bin nicht krank, ich bin operiert worden, ich stecke mir Zäpfchen gegen Schmerzen in den Hintern und bin klar im Kopf. Also das mit der Spritze stimmt? fragte der ältere, haben Sie solche Spritzen auch schon bekommen? Mama mia, sagte ich (ich hatte in der Oberrealschule Italienischstunden gehabt, Gott sei Dank, so konnte ich mich mit Ildo unterhalten), also ich 47
sagte: Mama mia, versuchen Sie es einmal ohne Morphium. Beide Unterschenkel ab. Ja, ja, schon, sagte der jüngere, aber das ist nun vier Wochen her, und selbst der Chef sagt, das sei medizinisch unbegreiflich. Geben Sie es doch zu, zwischendurch ist er bei Bewußtsein, wir haben einfach Pech, immer wenn wir kommen … Was sagt der Chef? Bei Ihnen, sagte der ältere, hat man doch auch etwas gemacht, und Sie sind klar. Bei mir ist das etwas anderes. Bei mir haben sie eine orthopädische Korrektur gemacht, das postoperative Trauma wiegt nicht so schwer. Ich war zum Blödeln aufgelegt. Doch die beiden Polizisten hatten keine Lust, auf meine Scherze einzugehen. Also, sagte ich ernsthaft, was wollen Sie von mir? Helfen Sie uns, sagten beide. Gut. Aber wie? Wir müssen ihn endlich identifizieren, wir wollen wissen, wie er heißt, woher er kommt … Seine Angehörigen … Ich kann’s ja versuchen, antwortete ich. Aber was ist, wenn er nicht will? Und warum hat er keine Papiere, keinen Paß zum Beispiel? Das wollen wir ja gerade erfahren. Reist denn einer heutzutage, sagte ich, und hat keine Papiere bei sich. Die Fahrkarte, sagte der jüngere, die haben wir gefunden. Zürich-Mailand. Was tut der hier? Aber wie das Unglück passiert ist, wissen Sie? Nicht genau, sagt der ältere. Mehr als hundert Menschen auf dem Bahnsteig, und keiner hat’s wirklich gesehen. Hat er auf den fahrenden Zug auf- oder abspringen wollen? Man weiß nur, daß er am Trittbrett hängengeblieben ist und daß es ihn also unter die Räder gedreht hat. Im übrigen keine Anhaltspunkte? 48
Gar nichts, sagten beide. Geld? Siebenhundertzweiundfünfzig Franken, achtzigtausend Lire … Vielleicht ist es besser, wir machen ein Foto von ihm und geben’s dem Fernsehen. Aber eigentlich wollen wir das auch nicht … Der ältere sagte dann, versuchen Sie doch herauszufinden, wer er ist und so. Prima, sagte ich, ich will der Polizei gern helfen. Die Tür fiel hinter den beiden Polizisten ins Schloß, und ich hörte ihre Schritte langsam auf dem Korridor verhallen. Nachher war’s still. Ildo wachte auf, hob den Kopf und sagte, gib mir einen Schluck. Ich hatte die Polizisten angelogen; der Chef hatte mir erlaubt, Whisky zu trinken; Whisky, hatte er gesagt, ist unter Umständen besser als all diese Scheiß-Medikamente. Zwei oder drei, nicht mehr, und nur am Abend, hatte der Chef gesagt, ich kontrolliere nicht. Ich gab Ildo die kleine Whiskyflasche, und er trank einen mächtigen Schluck daraus. Und jetzt? fragte er, was tust du jetzt? Ich habe doch alles gehört. Ich warte, bis du einen klaren Kopf hast, und dann frage ich dich, wie du heißt, wer du bist, woher du kommst, und nachher rufe ich die Polizei an und sage alles. Ich bin jetzt klar im Kopf, antwortete Ildo, fang an. Bist du auf- oder abgesprungen? Du kannst mir. Das weiß ich wirklich nicht mehr. Was weißt du denn? Schock, sagte er, nie gehört, was Schock bedeutet? Los, sagte ich, ich ruf die Polizei nicht an, spiel dein Stück zu Ende. In Landquart habe ich schon gezögert, antwortete Ildo. (In Landquart muß man umsteigen, wenn man nach Klosters und 49
Davos will. In Klosters und Davos haben einige Millionäre und Filmstars Villen und Chalets wie in St. Moritz und Gstaad.) Ach ja. Soll ich umsteigen nach Davos, oder soll ich’s lieber sein lassen? Und in Chur, sagte ich, hast du wieder gezögert? Wolltest du weiterfahren nach St. Moritz oder hier in Chur bleiben? Du hättest auch nach Thusis fahren können und dort mit dem Postauto über den San Bernardino nach Bellinzona … Du bist verrückt. Ich deduziere bloß. Was ist das? Ich schließe aus, was nicht drin ist. Nichts ist drin, sagte Ildo. Und er redete weiter, als ob er bereut hätte, zu sagen, nichts sei drin. Also, sagte er, ich bin in Zürich in einen Schnellzug gestiegen. Erster Klasse. Mußte also in Chur umsteigen in diese verfluchte Rhätische Bahn, kennst du die Rhätische Bahn? Natürlich kenne ich die Rhätische Bahn, ich habe ja in dieser Gegend meine Jugend verbracht. Soll ich jetzt umsteigen nach St. Moritz oder nach Arosa? Arosa, habe ich entschieden, kommt nicht in Frage, Arosa ist eine Endstation, aber ab St. Moritz hätte ich das Postauto nehmen können, Malojapaß, Lumano, Lugano-Chiasso-Italien. Warum fährst du von Chiasso erst nach Zürich, von Zürich nach Chur, wenn du nach Italien willst? Warst du schon mal in Italien? Klar. Wo? Adria, also Rimini, Cattolica, Venedig, Lignario … Das ist nicht Italien. Ich meine das richtige Italien. Rom zum Beispiel. Florenz. Verona. Bologna. 50
Okay, ich war in Florenz, in Verona, in Bologna, in Rom nicht. Immerhin. Und kennst du Frankreich? Paris. Und Spanien? Madrid. Das erste Mal im Ritz, das zweite Mal im Hilton. Aber eine Filmgesellschaft hat das alles bezahlt. Warst du im Prado? Ich habe Goya gesehen und sterbende Hirsche, ich mag so alte Schwarten (Helvetismus) nicht. Wo warst du noch? Kanarische Inseln. Deutschland? Red nicht davon. Berlin? Hamburg, Berlin, Frankfurt, Stuttgart, Nürnberg … sogar Sylt. Toll, sagte Ildo. Aber du hast eine Fahrkarte Zürich-Mailand dabei gehabt. Er schaute mich an. Schweigend. Desolat. Und? Ach, antwortete er, ich habe doch schon in Zürich gezögert. Gleis 3 oder Gleis 11 … Du, kennst du Peer Gynt? Was willst du? Ich habe einen Tick. Glaub ich wenigstens. Das ist möglich. Ich kann das Solveig-Lied nicht mehr hören. Dann hör’s eben nicht mehr. Aber ich muß. Warum? Weil ich die Platte auflege. Leg die Platte nicht auf. 51
Ich sage immer, das ist das letzte Mal. Dieses eine und letzte Mal mußt du Solveig hören. Und nachher geschieht es. Was? Ich verwechsle die Bahnsteige. Verstehst du? Nein. Schade. Warum? Ildo antwortete nicht mehr. Er fiel in die Kissen zurück und stellte sich schlafend. Drei Stunden später wimmerte er vor Schmerzen, und die Schwester gab ihm wieder eine Spritze. Er schlief wenige Minuten später ein und erwachte erst wieder, als am Morgen um sechs die Nachtschwester kam. Was willst du der Polizei sagen, wenn sie heute wieder kommt? Ich bin nicht da heute. Ich gehe spazieren. Fahre mit dem Bus in die Stadt, gehe in ein Café, lese Zeitungen. Kannst du telefonieren? Habe ich gelernt. Für mich? Was willst du? Telefoniere selbst, ich stecke den Apparat auf deiner Seite ein. Das geht nicht. Also, es geht nicht. Telefoniere ich halt für dich. Was soll’s denn sein? Schreib auf. Ich nahm Kugelschreiber und Papier. Die Nummer ist 091 Punkt 6 Komma 53 Komma 75. Tina sagt pronto Galli, und dann sagst du bongiorno, sono un amico di Ildo, volevo domandare comme stà Ildo, percche non scriva mai e anche il telefono non ba. Ist Tina deine Freundin? Du spinnst. 52
Und was soll diese Übung? Du mußt mir nachher Wort für Wort sagen, was Tina geantwortet hat. Die Schwestern kamen und machten Morgentoilette. Dann brachten sie das Frühstück. Ildo war wach. Die Stationsschwester war glücklich, daß Ildo wie ein Holzfäller frühstückte. Kann ich heute dem Chef melden, daß Sie ... Noch nicht, antwortete Ildo. Er wird ja bestimmt Visite machen, sagte sie sanft. Bist du eigentlich ohne Gepäck gereist? Und ohne Paß? Du wolltest ja von St. Moritz aus über den Malojapaß nach Italien. Das ist es ja, antwortete Ildo, schwieg eine Weile und fuhr fort, aber jetzt ist ja alles unwichtig geworden … ohne Füße … Du bekommst zwei wundervolle Prothesen, und in einem Jahr spätestens brauchst du höchstens einen Stock, und kein Mensch sieht dir’s an … Ja, ja, sagte Ildo, es ist jetzt alles gut. Aber es macht dir wirklich nichts aus? Was? Die Füße. Wieso? Immerhin, keine Füße mehr. Ich brauche Füße nicht, sagte Ildo. Wieso nicht? Ich bin Uhrmacher, sieht man mir das nicht an? Nein. Nun ja. Aber sonst. Spazieren und so? Gib dich zufrieden. Ich habe jetzt meine Ruhe. Oder stellst du dir vor, Männer ohne Füße müßten noch Bäume ausreißen? 53
Das wäre zuviel verlangt. Ohne Füße, sagte er, mit Prothesen, ist man doch einigermaßen eingeschränkt? Ich meine auch. Das Reisen ist auch mühsam? Ja, eher mühsam. Koffer tragen? Also Koffer hattest du nicht dabei? Die Polizei hat die Koffer. Aber das hilft ihr nicht. Sind nur Kleider und Unterwäsche drin. Dann schwieg er eine Weile und sagte schließlich, du, wenn ich mit dir rede, habe ich immer das Gefühl, du seist ein Freund. Bin ich ja auch. Ich meine, ich würde dich schon seit Jahrzehnten kennen. Das gibt es. Ich habe keine Freunde. Ich habe nur Bekannte. Wie alt bist du? Achtunddreißig. Mir würdest du keine vierzig geben, sagte ich. Zweiunddreißig! Frauen? fragte ich. Wieso? Ich weiß ja nicht. Gar nichts, antwortete Ildo, bin Junggeselle. – Am Nachmittag ging ich in die Stadt. Ich rief die Telefonnummer 091 Punkt 6 Komma 53 Komma 75 an. Pronto Galli, sagte eine Frau. Ich bin ein alter Freund von Ildo, aber ich habe nie mehr etwas von ihm gehört, und Telefon hat er auch nicht, wissen Sie etwas über ihn? Tina, ja, es war Tina, sie sagte, wir haben eine Karte aus Florenz bekommen, Ildo hat eine Weltreise angetreten, mit jeder Post erwarten wir eine Karte aus Rom, dann will er nach 54
Tunis, bestimmt schafft er’s bis Tunis … Erinnern Sie sich? Vor vier Jahren wollte er nach Amsterdam, aber in Basel hat er den falschen Zug erwischt, und so landete er wieder hier. Und als er vor drei Jahren nach Marseille wollte, hat er in Genf den Zug verfehlt. Als er nach Paris wollte vor zwei Jahren, verpaßte er das Flugzeug, wurde wütend und kam mit dem Nachtschnellzug wieder zurück. Jetzt, scheint es, hat er’s geschafft. Was sagen Sie dazu? Großartig, antwortete ich. Sie kennen ihn ja, sagte Tina, er redet immer groß von seinen Weltreisen, dabei ist er bisher kaum aus dem Dorf gekommen. Wissen Sie, ich bin seine Tante, ich habe ihm gesagt, was ist jetzt, los, Ildo, sei ein Mann … Zum Mittagessen mußte ich wieder im Krankenhaus sein. Du bist im Augenblick unterwegs zwischen Florenz und Rom, sagte ich, wahrscheinlich bist du schon in Rom, magst du die Filme von de Sica? Ildo hat’s also geschafft, antwortete er. War’s denn eine große Anstrengung für Ildo? Das weiß ich auch nicht. Ildo hat von klein auf auswandern wollen. Argentinien, Kolumbien, Kanada, Japan … was weiß ich. Aber Ildo hat es weder bis Rotterdam noch bis Genua noch bis Marseille geschafft. Und warum nicht? Weiß nicht. Angst? Heimweh? Weiß nicht. Ildo hat sich im Dorf immer so gut gefühlt. Ach ja, du kennst mein Dorf nicht. Und alle, vor allem Tina, haben immer wieder gesagt, los jetzt, Ildo, geh endlich. Daheim habe ich einen Globus von Bertelsmann. Du weißt gar nicht, wie viele Weltreisen ich mir ausgedacht habe. Aber 55
Tina hat immer gesagt, man muß wegkönnen. Und Ildos Freunde waren auch miese Kerle. Die haben ihn immer auf den Arm genommen, haben immer gesagt, nun Ildo, wann geht dein Schiff nach Mexiko? Und wenn ich gesagt habe, wer hält eure Uhren in Gang, wenn ich weg bin, haben sie geantwortet, Feigling. Immer wieder Feigling … Er schwieg. Ich sagte, ich verstehe. Du schon. Aber diese Bauern? Aha. Und du hast es auch leichter. Wieso? Mach mir nichts vor, ich weiß doch, wer du bist. Ja? Ildo ist dir ähnlich. Nur, er kann nicht schreiben. Aber, zum Teufel, warum liegst du jetzt in Chur? Das ist leicht zu erklären. Ildo ist zunächst einmal nach Florenz gefahren. Da hat er umsteigen müssen. Da hat er seiner Tante Tina eine Ansichtskarte geschrieben. Nächste Stationen Rom und Tunis. Dann hat er die Koffer dem Dienstmann übergeben, hat gesagt, Diretissimo per Roma, er selbst aber hat den Bahnsteig verfehlt … Das ist doch auch so eine Krankheit Ildos … er fuhr also statt nach Rom nach Chiasso, wagte es nicht, dort auszusteigen, fuhr nach Zürich, kaufte sich eine neue Fahrkarte Zürich-Rom, verfehlte den Bahnsteig und stieg in den Zug Zürich-Chur ein, und in Chur schämte sich Ildo ... nun ja. Und was ist mit dem Paß? Tina hat also eine Karte aus Florenz bekommen? Ja. Und das ganze Dorf weiß, daß ich jetzt in Rom bin? Alle nehmen es an. Aber wo ist der Paß? Der Paß? Weißt du, der 56
Ildo ist ein Aas. Ildo hat zwanzig Jahre lang Visa eingeholt, Mexiko, Kolumbien, Ungarn, Rumänien, Griechenland … Die Botschafter haben das immer schön in den Paß gestempelt, und der Ildo hat den Paß allen Leuten gezeigt und gesagt: Bitte! Ja, und zwischen Zürich und Chur hat der Ildo alle Visa betrachtet, am offenen Fenster, und da hat ihm der Wind den Paß aus den Händen genommen … Ich rief die Polizei an und fragte, ob der Fall der Presse übergeben werden müsse, doch sie sagten nein, wir sind zufrieden, wenn wir endlich wissen, wer er ist und woher er kommt. Sie dürfen, sagte ich, aber auch seine Familie nicht benachrichtigen, denn eigentlich ist er jetzt in Rom, zumindest in Florenz. Abends vor dem Einschlafen war Ildo friedlich und glücklich. Er sagte, es stimmt doch, ich hätte auch in Florenz oder in Rom unter die Räder kommen können. Willst du, fragte ich, daß ich Tina erzähle, ich hätte dich in Florenz im Krankenhaus kennengelernt? Florenz, sagte er, war doch schön. Zwei Monate später besuchte ich Ildo in seinem Dorf. Tina sagt jetzt oft, wenigstens ist er bis nach Florenz gekommen. Ildo hatte schließlich zwei schöne Füße bekommen. Aus Kunstharz. Ildo braucht aber zwei Krücken; die Fußprothesen sind unbeweglich. Doch abgesehen von den Füßen, die er jetzt nicht mehr hat, geht es ihm gut. Eine Versicherungsgesellschaft hat ihm eine große Summe bezahlen müssen, und mit dem Geld hat er das von seinen Großeltern geerbte Haus renovieren lassen. Er hat jetzt zwei Badezimmer und Zentralheizung und eine Warmwasseranlage. Weil er kaum Treppen steigen kann, hat er 57
eine kleine Rolltreppe vom Erdgeschoß zur ersten Etage bauen lassen. Emilia, seine Freundin, wartet immer noch auf die Heirat, Ich heirate nicht, sagt Ildo. Emilia aber sagt, er wird heiraten, weil er sagt, ich heirate nicht.
58
Das Schwarze Brett Nach dem schmerzlichen Tod unseres Freundes und Sekretärs der Gemeinde wird dieser Posten zur freien Bewerbung ausgeschrieben. Jeder weibliche oder männliche Bürger, der im Besitz der bürgerlichen Ehrenfä− higkeit ist, kann sich bewerben. Vor− aussetzungen: Beherrschung einer Fremd− sprache (Deutsch) und Kenntnisse einer zweiten (Französisch) und ferner Kennt− nisse in der Führung der Buchhaltung sowie des Maschinenschreibens.
59
Eine Reise Als wir vom Münchner Flughafen Riem in die Stadt fuhren, fiel mir an der Autoantenne ein schwarzer Flor auf. Was das zu bedeuten habe, fragte ich den Fahrer. Ob ich denn nicht wisse, vor vier Tagen sei doch wieder ein Taxichauffeur ermordet worden. Tut mir leid, sagte ich. Davon wird er auch nicht mehr lebendig. Ich schwieg. Die Todesstraf sollte man halt haben, sagte er. Todesstraf? Nur für Taximörder, sagte er. Ich schwieg. Sind Sie vielleicht gegen die Todesstraf? Er sagte das mit einer Stimme, daß ich drauf und dran war, ja zur Todesstraf zu sagen. Aber ich sagte trotzdem, ich bin dagegen, das heißt, ich sagte, nur für Taximörder? Und was ist mit den NS-Verbrechern? Er schlug gleich zurück, sagte, aber hören S’ doch auf, das eine ist kriminell und das andere ist Politik. Am Nachmittag des Mittwochs waren die Dachauer, Baldurund Homerstraße für den zivilen Verkehr gesperrt. Die Bundeswehr übte Feierlichkeit. Am Donnerstag war sie dann feierlich. (Dachau, Baldur (von Schirach), Bundeswehr, Feierlichkeit, Fahnenübergabe …) Am Donnerstagabend übergab irgendein General im Dantestadion die neuen Truppenfahnen an die Verbände der Luftwaf60
fe. An der Parade nahmen teil 1550 Soldaten, darunter 330 Fackelträger, 170 Musikanten. Beim Einmarsch (Einmarsch!) wurden 27 Standarten der einstigen königlichen bayrischen Regimenter mitgeführt. Hunderttausende von Zuschauern. In der Münchner Abendzeitung stand es zu lesen. Am Freitag. Am Freitagabend war ich mit Marianne in einer Bar, und auf einmal setzte sich ein Offizier der Bundeswehr, so etwas wie ein General, ich kenne mich da nicht aus, neben uns. Ein freundlicher Mann. Er hörte, daß wir französisch redeten, und sagte nach einer Weile, die schönste Zeit meines Lebens habe ich in Paris verbracht, als Besatzer. Er nahm Mariannes rechte Hand, bückte sich tief und küßte die Hand und sagte, excusezmoi, Madame, ich wäre auch lieber als Zivilist dort gewesen. Ich redete ihn auf deutsch an und fragte ihn nach dem Sinn der militärischen Feierlichkeit. Public relations, antwortete er. Lächelte. Und? Man muß die Armee dem Volk näherbringen. Besonders die jüngere Generation macht da nicht mehr mit wie früher. Er lächelte. Er sagte, eine Armee mit Fahnen und Musik mögen sie. Und wenn sie eines Tages nach Vietnam geschickt wird? Man darf nicht immer ans Schlimmste denken. Abgesehen davon, sind wir eine reine Verteidigungsarmee. Der Präventivkrieg gilt auch als Verteidigung, sagte ich. Eine Armee, die man nicht hat, kann man nicht in den Krieg schicken, sagte ich. Er lächelte, erwiderte, Sie gehören auch zu denen, die meinen, der Krieg sei schon zu Ende. Er winkte dem Barmann und bestellte eine Flasche Champagner. Aber wirklich Champagner, sagte er, nicht diesen deutschen Sekt. Vous aimez le Champagne? fragte er Marianne. Wir ließen ihn im Glauben, Pariser zu sein. 61
Am Dienstag flogen wir nach Berlin. Ich las im Club der Jungbuchhändler. Schon nach fünf Minuten begannen einige zu kichern. Nach zehn Minuten lachten sie, und nach fünfzehn Minuten lachte auch ich, und die Lesung war vorbei. Der „Vorsitzende“ sagte, so, jetzt wird Bier und Korn ausgeschenkt, und dann wollen wir mit dem Autor diskutieren. Dann stand einer auf und sagte, ich habe gehört, Sie seien ein Linker, aber ich halte Sie für einen Scheißliberalen. Ich fragte den zornigen Mann, warum er mich dafür halte, und er antwortete, bei wirklich linksengagierter Literatur gibt es nichts zu lachen. Alle lachten. Ich auch. Ein anderer fragte, ist es wahr, daß Sie sich angeblich Mühe geben, so zu schreiben, daß möglichst viele Leser Ihre Bücher verstehen? Ich antwortete, Kerr oder Polgar hat einmal geschrieben, ein Buch, das von einem intelligenten Arbeiter nicht verstanden werde, sei ein unnötiges Buch. Ein dritter stand auf und fragte, damit behaupten Sie, für den Arbeiter zu schreiben? Nicht nur. Eigentlich für alle. Ha, sagte er, ein Zyniker sind Sie, wie kann ein Arbeiter 20 DM aufbringen für einen einzigen Roman, und Ihr jüngstes Buch kostet genau 20 DM. Ich sagte, die Typographen, die meine Manuskripte setzen, die Buchdrucker, die meine Bücher drucken, die Buchbinder, die meine Bücher binden, die Verlagsvertreter, die meine Bücher den Buchhändlern aufschwatzen, die Buchhändler, die meine Bücher verkaufen, die Lektoren, die meine Geschichten neu schreiben, der Buchhalter, der mir die Vorschüsse überweist, sind alle Arbeiter, wollen verdienen, bin dafür, sie sollen gut verdienen, und schließlich ergibt sich aus alldem der Preis für das Buch. 62
Am Ende des Abends, nach viel Bier und Korn und Geschwätz bot mir der zornige Mann, der mich als Scheißliberalen betrachtet, eine hektographierte Broschüre von 50 DIN-A4Seiten an und verlangte 10 DM dafür. Thema: Dokumente über das Versagen der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) in der Frage der Mitbestimmung. Ich bezahlte. Ich sah nachher im Hotelbett liegend: Raubdruck. Na ja, die Linken müssen auch leben. Ich ging mit Marianne nach Ostberlin. Es war immer noch fürchterlich kalt, aber in der Nähe des Check-Point Charly standen jetzt wenigstens Taxis. Ich hatte 30 Ostmark gekauft und sagte dem Fahrer, bitte für 30 Mark Berlin. Ich sagte, all die neuen Hochhäuser und Chausseen und Plätze bewundernd, das hat sich ja toll gemacht, das ist ja eine prächtige Stadt geworden. Der Fahrer antwortete, ja, schließlich machen wir alle Überstunden. Und dann ging’s los. Wir hätten es alle viel besser, schimpfte er, aber sie müßten alles den Russen verkaufen, und die Russen diktierten die Preise, die Ausländer könnten viel billiger einkaufen, auch die hohen Funktionäre seien bevorteilt, und sie müßten zuviel arbeiten; statt dessen könnten wir es viel besser haben und und und … Nach einer stündigen Fahrt setzte er uns in der Nähe des Grenzüberganges ab. Ich fragte ihn, und wie geht es Ihnen, haben Sie persönliche Sorgen? Er schüttelte den Kopf. Wieso Sorgen? Meine Frau und ich arbeiten noch zwei Jahre. Dann gehen wir in Pension. Dann fahren wir mit unserem „Trabant“ um die ganze Welt, mindestens zwei Wochen bleiben wir am Plattensee und vier Wochen am Schwarzen Meer … Sehen Sie nur, sagte ich, der Sozialismus hat auch seine Vorteile. 63
Der Sozialismus, antwortete er, ich habe nichts gegen den Sozialismus, der ist schon recht, aber die Sozialisten, du meine Güte … In Berlin-Weißensee tagte die Evangelische Akademie, ich las dort. Nach der Lesung sprach mich ein sehr gepflegt wirkender älterer Herr an. Er hielt mich für einen Bürger der Bundesrepublik, und ich fragte ihn, wie das jetzt so sei. Er sagte, sehen Sie mich an. Früher war ich Fabrikbesitzer. Nun haben die mich enteignet. Ich wohne noch in meiner Villa, aber sie gehört mir nicht. Ich habe Wagen und Fahrer, aber sie gehören mir nicht. Ich bin Direktor der Fabrik, aber sie gehört mir nicht. Dafür kann ich jetzt an solchen Tagungen teilnehmen, kann Theater und Konzerte besuchen und bin nie krank. Abends im Hotelbett übersetze ich Marianne wieder einmal Oscar Wilde: „Das Eigentum hat nicht nur Pflichten, sondern so viele Pflichten, daß es eine Last ist, viel davon zu besitzen. Fortwährend muß man aufs Geschäft achten, fortwährend werden Absprüche geltend gemacht, fortwährend wird man behelligt. Wenn das Eigentum nur Annehmlichkeiten brächte, könnten wir es aushalten; aber seine Pflichten machen es unerträglich. Im Interesse der Reichen müssen wir es abschaffen …“ Marianne sagte, ich will jetzt schlafen.
64
Das Schwarze Brett Die Jagdaufsichtsbehörde hat erlassen, daß die Niederjagd dieses Jahr vom 15. September bis zum 20. November dauert. Jagdtage sind: Samstag, Dienstag, Don− nerstag und Freitag. Zwischen 21.00 Uhr und 06.00 Uhr darf nicht geschossen werden. Haustiere sind zu schonen. Im Übrigen wird auf das allgemeine gültige Jagdgesetz aufmerksam gemacht.
65
Chichi Ponti Chichi Ponti hat alles gestanden. Der Oberstaatsanwalt konnte bereits vier Wochen nach Chichis Verhaftung eine Pressekonferenz einberufen und Chichis Geständnis in allen Einzelheiten erzählen; die Pressekonferenz dauerte darum auch fünf Stunden. Vor vier Wochen, als ich zwischen acht und neun wie immer über die asphaltierte Feldstraße zur Post ging, standen über ein Dutzend Frauen und Männer auf der Piazza vor Tinas Osteria und schwiegen oder flüsterten nur. In aller Herrgottsfrühe, erzählte mir dann Tina, sei die Polizei aufgetaucht, habe sich zu Chichi Pontis Villa, die am südlichen Rande des Dorfes steht, begeben und ihn mitgenommen. Chichi Ponti, seit sieben Jahren unbesiegter Schmugglerkönig. Und warum kam gerade die eigene Polizei, um ihn zu verhaften? Die eigene Polizei und die Grenzpolizei sind gehalten nach einem ungeschriebenen Gesetz, unsere Schmuggler zu unterstützen, ihnen in jeder Lage zu helfen. Schmuggel, sagte mir der Chef der Grenzpolizei, als ich noch Neuling war, ist der zweite Absatzmarkt für unsere Zigaretten-, Kaffee- und Uhrenindustrie, mindestens ein Drittel der Produktion dieser Industrien wird durch die Schmuggler nach Italien gebracht. Es gibt viele Möglichkeiten. Die eine ist die: Man erkundigt sich bei den Disponenten der Bundesbahn nach den Wagen, die für eine bestimmte Zugkomposition nach Italien bestimmt sind. Dann besteigt man diese Wagen, löst mit dem Schraubenzieher 66
die Rücklehnen und versteckt das Schmuggelgut dahinter. Man kennt die Endstation der Wagen, Genua zum Beispiel oder Venedig oder auch Rom. Dem Partner im anderen Land teilt man Wagennummer, Bestimmungsort und Ankunftszeit mit. Der besteigt den Wagen, sobald sie auf die Abstellgeleise geschoben worden sind und gelegentlich für die Rückfahrt flottgemacht werden, und löst die Rücklehnen mit dem Schraubenzieher. Diese Methode eignet sich vorzüglich für Uhren. Die konservative Methode ist abenteuerlicher, und unsere Schmuggler ziehen sie allen andern vor: Die schweren Lastzüge der Zigarettenfabriken fahren in eines der Grenzdörfer. Dort wartet unsere Grenzpolizei, stempelt die Dokumente ab und kassiert die Warenumsatzsteuer. Dann werden die Zigarettenstangen in Jutesäcke abgefüllt. Diese sind mit zwei Tragegurten aus dicken Schnüren versehen. Sobald es dunkel ist, kommen die jungen und alten Männer zu Tina und warten auf einen Telefonanruf. Um elf Uhr läutet das Telefon, und einer von drüben meldet, ihre Streife sei jetzt in nordwestlicher Richtung losgegangen. Der, der das meldet, bekommt dafür in der Woche hunderttausend Lire, und die kann er gut brauchen, weil auch die italienischen Zöllner schlecht bezahlt werden. Unsere Schmuggler sagen nun „Gute Nacht“, und Tina sagt „Gute Reise“. Sie gehen in die Nacht hinaus, gehen zu ihrem Schuppen und nehmen die Säcke auf. Sie wissen jetzt ganz genau, wo die gegnerische Streife nicht durchkommt, und drüben im italienischen Grenzdorf warten einige Helfer mit schnellen Autos. Die Zigaretten werden in diese Autos verladen, und dann fahren sie los, manchmal hinunter bis nach Livorno. Auch das ist gefährlich, denn die italienischen Zollfahnder kennen diese Methode, allein schon deshalb, weil viele von ihnen auch schon mitgemacht haben. Sie dürfen verdächtige Wagen überall anhalten und durchsuchen. Doch die Fahrer kennen auch die 67
Zollfahnder und deren Autos, und wenn sie vor sich oder im Rückspiegel ein solches Auto erkennen, drücken sie das Gaspedal durch und kümmern sich nicht um den übrigen Verkehr. Die Zollfahnder aber dürfen mit Maschinenpistolen schießen, und manchmal gelingt es ihnen, ein Schmuggelauto dadurch anzuhalten. In solchen Situationen läßt der Fahrer seinen Wagen stehen und flüchtet zu Fuß. Weniger aufregend und gefährlich ist die Bestechung sowohl der Zollwächter als auch der Zollfahnder. So wissen die Schmuggler genau, wann wer wo Dienst tut, und sie richten sich danach. Bestechungsgelder sind immer drin, denn der Chef kauft ja die Zigaretten en gros ein. Bei dieser Methode werden die Zigaretten bereits auf unserer Seite in schnelle Wagen geladen. Das ist auch deshalb vorteilhafter, weil die Leute so in Ruhe arbeiten und jeden Hohlraum sorgfältiger ausnützen können. Doch wie immer es gemacht wird, von Zeit zu Zeit bleibt einer drüben hängen, und dann sehen wir ihn ein bis drei Jahre nicht mehr. Chichi Ponti war vor sieben Jahren eigene Wege gegangen, niemand erfuhr genau, welche Methode er erfunden hatte, man wußte nur, daß er Wein aus der Gegend von Verona importierte, zwei Lastzüge besaß und wöchentlich einmal hinunterfuhr, das heißt, seine Chauffeure. Chichi fuhr lieber mit seinen reichen Freunden, die er überall hatte, nach Mailand, und von Mailand flogen sie nach Monte Carlo, und dort verspielten sie einen Teil ihres enormen Einkommens. Ich kenne Chichi so recht und schlecht. Wir grüßten uns, und manchmal sagte er, schönes Wetter heute. Wenn wir Mitte November immer noch schönes und tagsüber warmes Wetter hatten, sagte Chichi auch noch, hoffentlich hält das an bis Weihnachten. Chichi ist nicht größer als 1,65, und ich muß zugeben, daß ich mir immer ein anderes Bild gemacht hatte von 68
einem durchtriebenen Schmugglerkönig, von dem man im ganzen Land erzählte, er versteuere ein Einkommen von einer Million und müsse jetzt bestimmt Milliardär sein. Chichi Ponti ist schüchtern, er trinkt und raucht nicht, er hat eine einzige Leidenschaft und das sind teure und schnelle Autos. In der Dreifachgarage seiner Villa stehen zwei Maserati und ein Ferrari. Jetzt stehen sie natürlich nicht mehr dort, weil die Polizei sie beschlagnahmt hat. Ebenso die Villa. Und jetzt weiß man auch im ganzen Land, was los ist mit Chichi Ponti: Er habe gestanden, vierundvierzig Millionen unterschlagen zu haben. Das Gerücht, Chichi habe finanzielle Schwierigkeiten gegenüber einer Großbank, kam schon am Tag seiner Verhaftung auf, aber es blieb bis heute Gerücht, weil auch seine Mutter Nina und sein Stiefvater Romolo nicht nur nichts sagten, sondern eine Woche ihr Haus, das mitten im Dorf steht, nicht verließen. Man sagte, Chichi habe sich wahrscheinlich und dummerweise auf einen illegalen Waffentransfer eingelassen und sei dabei zu großem Schaden gekommen. Einige wollten wissen, daß Fazzini, ein anderer mächtiger Schmuggler und Widersacher Chichis, seine schmutzigen Hände dabei im Spiel gehabt habe. Fazzini, der gerne trinkt und gelegentlich auch ein unvorsichtiger Angeber ist, habe mehrmals davon geredet, den Chichi werde er zur rechten Zeit erledigen. Wieder andere munkelten, Chichi sei plötzlich vom Größenwahn befallen gewesen, sei ausgebrochen aus seinem Revier und habe angefangen an der Börse zu spekulieren. Nichts als Gerüchte. Präzis wußte man nur, daß die Polizei Chichi abgeholt und daß seine Frau, die in St. Moritz im Palace in den Ferien weilte, einen Tag nach der Verhaftung nicht mehr aufzufinden war. Das stand sogar in den Zeitungen. Die Hotelrechnung von über fünftausend Franken hatte sie auch nicht bezahlt. Chichis Töchterlein Sandra lebt bei den Großeltern. Nina, als sie nach einer Woche wieder zu se69
hen war, redete mit Abscheu von ihrer Schwiegertochter, sagte, sie habe Chichi ja auch verboten, diese Hure zu heiraten, und wenn man Sandra genau ansehe, merke man, daß das nicht Chichis Kind sei, aber damals habe sie es ihrem Bub noch geglaubt, daß er Vater würde, und darum habe sie auch in diese Ehe eingewilligt. Nina war von Hause aus alles andere als reich. Sie soll nur gut ausgesehen und einen, wie man hier sagt, leichten Lebenswandel geführt haben. Jedenfalls war sie nicht verheiratet, als sie Chichi zur Welt brachte und auf eine Vaterschaftsklage verzichtete, da ihr der Rechtsanwalt erklärte, sie habe wenig Aussicht auf Erfolg, denn der Beklagte könne beweisen, daß sie zur fraglichen Zeit auch noch mit anderen intime Beziehungen unterhalten habe. Immerhin soll jener, der sich dennoch als Chichis Vater betrachtete, Nina freiwillig und hintenherum geholfen haben. Nina arbeitete in einer der zahlreichen Hemden- und Hosenfabriken, die von irgendwelchen Unternehmern aus der deutschen Schweiz gebaut worden waren, und sie brachte sich und Chichi ganz brav durch. Wenn Tina große Essen hatte, so halbwegs Bankette, half Nina aus, entweder in der Küche oder sie servierte. Und da gab es eines Samstagsabends, Chichi hatte gerade seinen zehnten Geburtstag, bei Tina ein Essen, ebenfalls zur Feier eines Geburtstages. Der Gefeierte war Romolo, der in der nahen Grenzstadt ein Transport- und Zolldeklarationsunternehmen besitzt. Chichi, der seine Mutter begleitet hatte, hörte einen Trinkspruch, den einer von Romolos Freunden zum besten gab. Einige Minuten später hörte Romolo, wie Chichi zu Nina sagte, warum haben arme Leute keinen Geburtstag? Romolo fragte Nina, ist das Ihr Bub, und Nina wurde rot, wohl weil sie dachte, Romolo könnte nun auch noch nach dem Vater fragen, antwortete leise: Ja, und Romolo nahm Chichis Gesicht 70
in beide Hände, beugte sich zu ihm hinunter und fragte, was wünschst du dir denn zum Geburtstag? Chichi sagte, einen Vater. Und nun verließ Romolo seine Freunde für ein paar Minuten und lud Nina an einem anderen Tisch zu einem Espresso mit Grappa ein, wollte viel wissen von Nina, und Nina erzählte auch viel, was niemand überraschte, weil Nina schon immer gern und viel erzählt hat, und schließlich sagte Romolo, seine Frau sei vor zwei Jahren gestorben und habe ihm nichts als schmerzliche Erinnerungen hinterlassen, nicht einmal ein Kind. Romolo sagte, warum schenkst du deinem Chichi nicht mich als Vater zum Geburtstag? Romolo kaufte von Alfredos Vater eines der schönsten alten Häuser mitten im Dorf, baute es innen aus, renovierte die Fassaden und das Dach, und ein Jahr nach jener Begegnung, an Chichis elftem Geburtstag, gab es im Dorf ein gewaltiges Hochzeitsfest. Romolo ist wirklich reich. Er hat ein bereits großes Unternehmen geerbt und hat auch noch stark erweitert. Er sitzt seit Jahren nicht mehr als zwei Stunden täglich in seinem Büro, das Geschäft, sagt er, geht auch ohne mich. Romolo war einundfünfzig, als Nina seine zweite Frau wurde, sie war zweiunddreißig. Und die Leute sagen heute noch, als Nina an Romolos Seite in die Kirche zur Trauung ging, war sie noch Nina und rief den Leuten auf der Piazza derbe Worte zu, aber als sie nach einer halben Stunde herauskam, war sie nicht mehr Nina. Alle sahen und fühlten das, nur Romolo nicht. Er war ein Narr oder ein Kind. Nina erfüllte er alle Wünsche: an Chichi hing er geradezu mit Affenliebe. Chichi empfand Ninas Verwandlung am stärksten und unangenehmsten. Schon nach wenigen Monaten hieß er nicht mehr Chichi Riva, sondern Chichi Ponti. In die Dorfschule, wo er die dritte Klasse hatte wiederholen müssen, durfte er auch nicht mehr. Er mußte 71
ins Internat. Nach einem Jahr kam er wieder zurück, denn auch dort wurde aus Chichi kein besserer Schüler. Chichi liebte seinen kleinen Blumengarten und seine Kaninchen, für die er die Ställe selber schreinerte, Chichi liebte seine Modelleisenbahn, die Romolo ihm geschenkt hatte. Chichi war daheim das brave Kind, spülte das Geschirr und bohnerte das Treppenhaus, Chichi konnte Socken und Handschuhe stricken und bastelte einen Radioempfänger aus Teilen von fünf nicht mehr funktionierenden. Chichi sagte, ich möchte Automechaniker werden, aber Nina antwortete, sei nicht blöd, du wirst etwas Richtiges. Chichi beendete hier die Volksschule, und dann schickte Nina ihn nach Lausanne in die Ecole supérieure de commerce. Aber schon nach sieben Wochen schrieb der Schuldirektor, Chichi sei ganz und gar untalentiert, der Schulpsychologe habe mit Chichi einen psychotechnischen Test gemacht und herausgefunden, daß der Junge ein talentierter Bastler sei, er schlage in dem Falle vor, Chichi ein Handwerk lernen zu lassen. Nina war wütend, und Romolo fuhr anderntags über Domodossola und Simplonpaß nach Lausanne, um Chichi heimzuholen. Romolo schlug vor, Chichi im eigenen Unternehmen auszubilden. Romolo sah in Chichi seinen Nachfolger. Chichi war sehr unglücklich, aber er fuhr jeden Morgen mit seinem Stiefvater zur Stadt an der Grenze; Romolo war nicht begeistert, weil er nun Chichis wegen jeden Morgen ins Geschäft mußte. Er fand nach einigen Wochen eine Lösung, Chichi wurde, sofern Romolo nicht mochte, von einem Fahrer abgeholt. Chichi sollte nach Ninas Befehl in Romolos Unternehmen eine kaufmännische Lehre machen. Aber Chichi war immer in den Lagerhallen und half dort die Lastenzüge auf- oder abzuladen. Er hielt sich auch oft in den Garagen und Werkstätten auf, wo die betriebseigenen Lkws gewartet und repariert wurden. Aber nur Romolo wußte das. Nina sagte er, Chichi mache jetzt großartige 72
Fortschritte, und man dürfe hoffen, daß er in fünf Jahren ungefähr die Direktion des Unternehmens übernehmen könne. Diesen Schwindel konnte Romolo im Einverständnis mit Chichi drei Jahre aufrechterhalten. Weil Romolo ein liebenswerter Chef war, schwiegen auch die Angestellten, und Nina erfuhr die niederschmetternde Wahrheit erst an Chichis 18. Geburtstag. Nun konnte Chichi die Fahrprüfung machen, und Romolo schenkte ihm daraufhin einen gebrauchten Alfa Romeo; Chichi einen neuen Wagen zu schenken getraute sich Romolo nicht, denn Nina war ohnehin der Auffassung, er verwöhne den Jungen zu sehr und sei ihm gegenüber nicht hart genug. Aber das mit dem Gebrauchtwagen war auch eine Fehlrechnung, denn der Alfa streikte schon nach wenigen Tagen, Chichi nahm ihn auseinander, holte in der Generalvertretung in Agno, wegen der der deutsche Hemden- und Hosenfabrikant Müller-Wipperführt ausgezogen war, neue Ersatzteile. Nina schaute Chichi ungläubig und überrascht und schließlich mißtrauisch zu, wie geschickt er den Wagen reparierte. So kam an den Tag, was Chichi im elterlichen Geschäft wirklich getan hatte. Nina habe ihren Mann bei geöffneten Fenstern fürchterlich beschimpft und mit der Scheidung gedroht. Romolo habe daraufhin sein Geschäft tagelang im Stich gelassen, und Chichi sei für einige Wochen zu einer entfernteren Verwandten nach Zürich gefahren. Nach diesem Zusammenbruch sahen sich auch Romolos Angestellte nicht mehr ans Schweigen gebunden und erzählten überall, daß Chichi unfähig sei, das Geschäft zu übernehmen, ja, er sei nicht einmal in der Lage, zwei und zwei zusammenzuzählen. So ging Chichi in den folgenden zwei Jahren nicht mehr ins väterliche Geschäft, sondern blieb daheim, besorgte den Garten und arbeitete oft auch bei Tina. Nina aber war mit der Lösung nicht zufrieden, Chichi, sagte sie, ist ein Spätzünder, der kommt schon noch. 73
Und Chichi kam. Kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag erfuhr Nina durch Tina, daß ein kleineres Weinimportgeschäft infolge Todesfalls käuflich zu erwerben wäre. Nina überredete Romolo, dieses Unternehmen für Chichi zu kaufen, sie sagte sogar offen, mir macht’s nichts mehr aus, wenn er die Lastwagen selber chauffieren will, Hauptsache, er ist sein eigener Herr … Nachdem Chichi nun Inhaber eines Unternehmens geworden war, wollte er auch eine Wohnung nehmen, aber Nina war strikt dagegen. Sie sagte, Chichi sei zu sehr gefährdet, räumte ihm aber die ganze obere Etage im Haus ein und verlangte nur noch, daß er niemals nach Mitternacht nach Hause komme. Aber das hätte Nina auch nicht verlangen müssen, denn Chichi verließ das Haus nur selten nach dem Nachtessen. Ein- oder zweimal in der Woche ging er nach dem Essen noch einmal zu Tina, um einen Espresso zu trinken. Romolo delegierte einen fähigen Buchhalter seines Unternehmens zu Chichi, und Chichi überließ praktisch diesem die ganze Geschäftsführung, während er sich ohne Ninas Wissen eine Werkstätte einrichten ließ, zunächst nur die drei eigenen Lastzüge wartete und wenn nötig reparierte, später aber auch fremde Autos übernahm. Nina schien sich damit abgefunden zu haben. Jedenfalls redete sie nicht darüber, und Chichis Hände, die gar nicht nach Bürohänden aussahen, übersah sie. Im Dorf lächelte man über Nina, nicht aber über Romolo und schon gar nicht über Chichi. Jedermann im weiten Umkreis wußte allmählich, daß Chichi der beste Spezialist für italienische Wagen war, daß er spottbillig arbeitete und jederzeit zuverlässige Gebrauchtwagen zu verkaufen hatte. Mit der Zeit, so schien es, hatte Chichi sogar Spaß am Autohandel bekommen. Genaues allerdings wußte niemand zu erzählen, weil weder Chichi noch Romolo und Nina schon gar nichts über die Geschäfte redeten. Heute weiß jedermann, Chichis Unternehmen war vom ersten Tag an ein Verlustge74
schäft gewesen, Romolo hatte Jahr für Jahr Hunderttausende in Chichis Geschäft gesteckt, und sowohl Romolo als auch Nina hatten fest daran geglaubt, aus ihrem Sohn sei ein zweiter Schmugglerboß geworden. Aber jetzt stehen Nina und Romolo nicht deshalb mit eingezogenen Köpfen da, weil Chichi Dummheiten gemacht hat, sondern weil alle Zeitungen die ganze Geschichte in allen Einzelheiten erzählen. Eine Woche vor seiner Verhaftung war Chichi ja auch noch mit einem Scheck über hundertzwanzigtausend, ausgestellt von Romolo Ponti, am Schalter der Bankgesellschaft erschienen. Der Kassier aber kannte den alten Kunden zu gut, wußte, daß Romolo Ponti niemals so hohe Summen auf seinem laufenden Konto liegenlassen würde, er schaute auch gar nicht erst nach, sondern ging in ein Nebenzimmer und rief Romolo Ponti an. Der war zunächst verblüfft, denn er konnte sich nicht erinnern, zugunsten Chichis einen Scheck ausgestellt zu haben. Doch dann, so erzählte es der Untersuchungsrichter anläßlich der Pressekonferenz, sei Signor Ponti doch unsicher geworden, habe sich über Gedächtnislücken beklagt, man werde ja mit den Jahren nicht jünger, habe vorgeschlagen, er werde sogleich vorbeikommen, es sei nicht ausgeschlossen, daß ihm ein krasser Fehler unterlaufen sei. Chichi, dem es mulmig geworden war, verabschiedete sich ohne Geld mit der Bemerkung, er habe noch Geschäfte zu erledigen und werde in einer Stunde wiederkommen. Er sei aber nicht zurückgekehrt. Romolo habe den Scheck geprüft und gleich gemerkt, daß Chichi ihn gefälscht habe. Der geht in Ordnung, sagte Romolo, entschuldigen Sie, daß ich im Augenblick, als ich den Scheck ausfüllte, nicht daran gedacht habe, daß ich niemals soviel liquides Geld auf dem Konto habe. Aber das ist nicht Ihre Unterschrift, Signor Ponti, antwortete der Kassier. Romolo empörte sich. Das ist meine Unterschrift. 75
Bitte unterschreiben Sie auf diesem Blatt. Romolo unterschrieb, versuchte Chichis gefälschte Unterschrift nachzumachen, aber es gelang ihm nicht. Der Kassier legte Romolo daraufhin die von Romolo bei der Bank hinterlegte und beglaubigte Unterschrift vor. Ein unbegabter Fälscher, sagte er zu Romolo. Aber Romolo wurde wütend, sagte, ich war magenleidend und hatte außerdem Kopfschmerzen, als ich den Scheck für Chichi ausstellen ließ. Ich muß die Polizei informieren, antwortete der Kassier. Wenn Sie das tun, erwiderte Romolo, werde ich mich mit dem Generaldirektor über Sie und Ihre Leistungen unterhalten. Ich lasse mich nicht einschüchtern, auch von einem Signor Ponti nicht. Romolo tat die Drohung leid. Sie sind so alt wie Chichi, sagte er jetzt. Der Kassier nickte. Also, sagte Romolo, Chichi hat Dummheiten gemacht. Für Dummheiten sind weder die Polizei noch die Gerichte zuständig. Und überdies hätte ich Chichi das Geld gegeben, wenn ich erreichbar gewesen wäre. Ich war leider nicht da, als Chichi das Geld dringend brauchte. Der Kassier sagte, schön, und gab Romolo den gefälschten Scheck zurück. Das erzählte der Kassier, er erzählt die Geschichte immer wieder, und man konnte sie in allen Zeitungen lesen. Romolo droht aber noch heute jedem, der diese Geschichte erzählt, er verklage ihn beim Gericht wegen Ehrverletzung, wegen Verleumdung, wegen übler Nachrede. Ich bin zwar nicht hier, aber immerhin in Zürich sogenannter akkreditierter Gerichtsberichterstatter, und als solcher hat man die Möglichkeit und sogar das Recht, Akten einzusehen. Freilich übe ich dieses Amt schon seit langem nicht mehr aus, 76
aber ich habe auch unterlassen, den amtlichen Ausweis zurückzugeben. An diesen Ausweis erinnerte ich mich im Fall Chichi, und so fuhr ich zum Oberstaatsanwalt, zeigte ihm den Ausweis und bat um Akteneinsicht, sagte, ich hätte vor, als Korrespondent deutschschweizerischer Zeitungen und für die deutsche Wochenzeitung „Christ und Welt“ einen Bericht zu schreiben. Der Oberstaatsanwalt war zunächst weder dafür noch dagegen. Er sagte, es ist für uns alle peinlich. Wir haben Chichi neben Fazzini für den bedeutendsten Schmuggler gehalten, und nun hat sich’s herausgestellt, daß er gar nichts für unsere Volkswirtschaft getan hat. Doch nach einem zweistündigen Gespräch gab er mir die Akte Chichi. Ich sagte, in meinem Alter ist diese trockene Luft dieser Amtsräume für die Atmungsorgane sehr schädlich und für mich persönlich unerträglich, ich möchte die Akte in einem Café lesen und nachher zurückbringen. Er sagte, übrigens habe ich Sie und Ihre Frau im Fernsehen gesehen, könnten Sie mir nicht eines Ihrer Bücher schicken, ich habe kaum Zeit, Buchhandlungen aufzusuchen. Selbstverständlich, antwortete ich, nahm die Akte Chichi unter den Arm, ging zu Gianni Casagrande und ließ von Chichis ausführlichem Bericht eine Fotokopie herstellen. Anschließend ging ich ins Wirtshaus, las die Akte und wartete drei Stunden, um den Oberstaatsanwalt nicht mißtrauisch zu machen. Chichi hatte zu Protokoll gegeben: „Ja, ich gestehe, 44 Millionen veruntreut zu haben, und bitte, mich dafür zu entschuldigen. Ich kann nichts dafür. Meine Mutter sagte immer, du bist jetzt ein Sohn, der einzige Sohn von Romolo Ponti, und du wirst einmal das Transportgeschäft Romolo Ponti erben, warum bist du so blöd und willst Automechaniker sein? Ich bin nicht Automechaniker, aber ich kenne alle Alfas und Lancias, die Ferraris und die Maseratis und überhaupt alle Italiener. Das Unglück hat angefangen, als ich den Alfa Berlina eines Freun77
des in Ordnung bringen sollte. Da fehlte mir die elektrische Spule, die war nämlich beim Berlina nicht mehr in Ordnung, und ich fuhr mit meinem Alfa zu Coduri, der der Alfa-Vertreter ist. Aber Giacomo Coduri war nicht da, und sein Chefmechaniker meinte (der war nämlich neu und aus Mailand), er dürfe keine Ersatzteile herausgeben, ohne daß der Chef es ihm erlaube. Wo ist Giacomo, fragte ich, und er sagte, wie immer um diese Zeit ist er bei Bianchi. Bianchi ist die Bar, wo alle sich treffen, ich meine alle, die mit Sport und mit Autos zu tun haben. Bevor Clay Regazzoni weltberühmt war als Formel-1Rennfahrer, war Clay, der damals noch nicht Clay, sondern Claudio hieß, auch immer bei Bianchi. Ich ging zu Bianchi, obwohl ich sonst nie in Bars gegangen bin, meine Mama mag mich nicht in Bars sehen; zu Tina darf ich schon. Ich ging zu Bianchi, und Giacomo Coduri war da. Er saß zusammen mit Fazzini, den ich immer schon verehrt habe und der ein großer Mann ist, hier bei uns zusammen mit zwei anderen, die ich noch nicht kannte, an einem Tisch; sie spielten. Ich wollte die Herren nicht stören und blieb an der Bar stehen und bestellte einen Espresso. Aber nach einer Weile sah mich Giacomo und fragte, ob ich seinetwegen gekommen sei. Ich bejahte, und er fragte: Was brauchst du? Ich gab ihm Auskunft. Er sagte, hast du ein bißchen Zeit; ich nickte. Dann setz dich doch zu uns, forderte er mich auf; ich nahm mir einen Stuhl. Giacomo stellte mich vor, das ist also Herr Fazzini – aber den kannte ich ja schon –, der andere ist Herr Bernasconi, und der dritte ist Herr Pedrazzini. Die Herren waren sehr freundlich zu mir, weil Giacomo erklärte, ich sei der Sohn meines Vaters Romolo Ponti. Sie bemerkten alle drei, oh, den Romolo kennen wir, das ist ein feiner Kerl, früher haben wir mit ihm gespielt, und er hat immer gewonnen, aber seit er älter ist und einen Sohn hat, spielt er nicht mehr, warum spielt eigentlich sein Sohn nicht? 78
Ich sagte, ich verstehe nichts von diesem Spiel, und Giacomo antwortete, das sei Poker und kinderleicht, man brauche nur Geld und ein bißchen Mumm zum Bluffen. Spiel mit, ermunterte er mich, wir machen eine Fünferpartei. Ich sagte, ich brauche eine Elektrospule für meinen Alfa Berlina, aber Giacomo sagte, das hat doch Zeit, komm, spiel jetzt. Ich war dafür, dabeizusein, denn ich verehrte den Herrn Fazzini sehr. Er hatte ja früher auch Rennen gefahren, Bergrennen, und war überhaupt sehr bekannt. Viele hatten Angst vor ihm. Ich trug nur wenig Geld bei mir, aber Giacomo sagte, das macht doch nichts, wohlhabende Leute haben selten Bargeld bei sich, du kannst, wenn du verlierst, einen Schuldschein unterschreiben, und Fazzini darauf, dein Vater steht hinter dir, und das ist auch wahr. Aber die Angst, kein Geld oder zuwenig zu haben, hinderte mich nicht. Ich gewann an jenem Nachmittag fast immer. Wir spielten bis abends um zehn Uhr; ich ging mit drei tausend Franken nach Hause. Meine Mutter sagte, siehst du, jetzt bist du endlich ein Mann geworden, was, der große Fazzini spielt mit dir, und du nimmst ihm alles Geld ab? Und Papa, ich meine Romolo Ponti, sagte, ja, ja, der Fazzini, dem war bisher keiner gewachsen ...“ Der Oberstaatsanwalt hatte selbstverständlich innerhalb kürzester Zeit auch Fazzini und Konsorten vernommen. Fazzini sagte über seine erste Begegnung mit Chichi Ponti aus: „Der hatte ja gar nichts von diesem Spiel begriffen. Er konnte zwischen einem ,Zweiständer’ und einer ,Kleinen Straße’ oder gar einem ,Flush’ überhaupt nicht unterscheiden. Aber wir hatten ausgemacht, Chichi gewinnen zu lassen. Wir alle kennen doch Nina und den Romolo, und wir wußten, wie Nina den armen Chichi behandelte, und wir sagten uns (ohne es auszusprechen), dem Romolo nehmen wir es schon wieder ab. 79
Schließlich spielte Chichi ja mit Romolos Geld. Wir haben Chichi übrigens immer wieder gewinnen lassen. Manchmal paßte ich mit einer ,Großen Straße’ in Händen und wußte, daß Chichi nur einen ,Dreiständer’ hatte, aber was wollen Sie, er ist ein lieber Kerl.“ Vorhalt des Oberstaatsanwaltes: „Sie, Herr Fazzini, sollen mehrfach geäußert haben, Chichi Ponti schon zur rechten Zeit unschädlich zu machen. Was sagen Sie dazu?“ Fazzini: „Das ist Quatsch. Ich habe an Chichi einige Millionen verdient, alles in allem, und ich bin nicht so saublöd, ein Huhn zu schlachten, das goldene Eier legt, nur weil ich Zahnweh habe.“ Überhaupt, aus den Akten zu schließen, mochten sie ihn alle gut, ja, sie schätzten, liebten ihn. Giacomo Coduri sagte aus: „Wir diskutierten oft über Chichis Genialität. Ich bestreite nicht, daß Fazzini manchmal sagte, dem Chichi müsse man das Handwerk legen, der werde allmählich zu mächtig. Nicht einmal Fazzini hat mit richtigen Großbanken arbeiten können.“ Der Untersuchungsrichter hatte auch Nina und Romolo vorgeladen. Romolo beharrte darauf, Chichi einen Scheck gegeben zu haben. Er sei auch all die Jahre überzeugt gewesen, daß Chichi im großen Stil Markenuhren nach Italien schmuggle. Warum er es denn für nötig gefunden habe, Chichis Villa zu bauen, fragte der Untersuchungsrichter. Romolo darauf, warum nicht, was soll ich sonst mit all meinem Geld? Romolo gab auf Vorhalt auch zu, daß er Chichis teure Sportwagen finanziert habe. Haben Sie sich nie Gedanken darüber gemacht, daß Chichi eigentlich kein Geld hatte? Romolo antwortete, nein, darüber habe ich nie nachgedacht. 80
Nina sagte nur, sie verstehe die Welt nicht mehr. Chichi, sagte sie, war immer ein lieber Kerl. Jeden Samstag, wenn er nicht gerade im Ausland war, kam er und reinigte das Treppenhaus, klopfte die Teppiche, half überhaupt überall. Und daheim, nachdem er geheiratet hatte, half er seiner Frau, wo er nur konnte … Chichi erzählte dem Untersuchungsrichter: „Von diesem Tag an spielte ich mindestens dreimal in der Woche mit meinen Freunden. Ich habe natürlich auch oft verloren. Dann ging ich zu meinem Stiefvater, der gab mir Geld und sagte, ich solle meiner Mutter nichts davon erzählen. Nach einiger Zeit beschlossen meine Freunde, ein- oder zweimal in der Woche bei Tina zu spielen. Beim Spielen berichteten alle immer auch über ihre Geschäfte. Coduri erzählte, er habe im ersten Jahr sieben Lancias und zwölf Alfas von Italien durch die Schweiz nach Deutschland geschmuggelt. Das sei eine ganz einfache Geschichte. In Italien kaufe ein Italiener einen Wagen. Zum Beispiel einen Alfa Romeo Giulia. In der Schweiz oder in Deutschland suche man auf den Autofriedhöfen ebenfalls einen Alfa Romeo Giulia. Man notiere Motor- und Chassisnummer, und womöglich versuche man, den Fahrzeugausweis zu bekommen. Dann schreibe man dem Italiener, wir haben gefunden Alfa Romeo Giulia, Motor- und Chassisnummer soundso, Farbe Blau, Baujahr soundso. Daraufhin gehe der Italiener und lasse seinen Wagen blau spritzen. Gleichzeitig versichere er den Wagen gegen Diebstahl. Dann parke er das Auto irgendwo, hinterlege den Schlüssel bei einem Barmann, weil die Versicherung nur geschlossene Wagen vergüte, rufe eine bestimmte Telefonnummer an und sage, der Wagen könne abgeholt werden. Am nächsten Tag werde der Alfa gestohlen und legal über die Grenze in die Schweiz gefahren. Wenn er für die Schweiz 81
bestimmt sei, werden hier die Motor- und Chassisnummern jenes Wagens, den man auf dem Autofriedhof gefunden habe, eingraviert. Das Straßenverkehrsamt habe ja diese Nummern registriert und sehe, daß der Wagen verzollt sei, und fertige einen neuen Fahrzeugausweis nur deshalb aus, weil man sage, der alte sei verlorengegangen, es habe überhaupt eine Handänderung stattgefunden. Der Italiener hingegen gehe einige Tage später zur Polizei und sage, sein Alfa Romeo Giulia sei gestohlen worden. Gleichzeitig mache er Meldung bei der Versicherungsgesellschaft, und nach einiger Zeit bezahle sie ihm den Verlust. Dieses Spiel, sagte Coduri, könne ein einzelner einige Male machen. Erstens mit verschiedenen Versicherungsgesellschaften und dann in verschiedenen Städten. Ich war zuerst empört, moralisch, und sagte das auch, aber meine Freunde lachten mich aus und sagten, glaubst du, der Kennedy-Klan in Amerika ist auf anderen Wegen zu seinem Vermögen gekommen? Sie sagten, auch Rockefeller und überhaupt alle diese Superreichen seien nur auf solchen Wegen zu ihrem Geld gekommen. Sie sagten auch, die Moral hätten die Reichen erfunden, um die armen und dummen Leute davon abzuhalten, ebenfalls reich zu werden. Und weil meine Mutter auch sagte, Fazzini und Coduri und die anderen seien sehr angesehene Leute bei uns, sie seien reich und mächtig, dachte ich, das sei eben doch alles in Ordnung, und ich sei ein großer Dummkopf.“ Fazzini erzählte, er fliege einmal im Monat nach Rom und lade den Polizeiminister zum Essen ein. Bei diesem Essen mache er dann die großen Geschäfte ab. Man könne natürlich nicht wirklich große Geschäfte machen, wenn man die führenden Regierungsleute nicht hinter sich habe. Allerdings gehe es auch nicht so, daß man dem Polizeiminister sagen könne, nächste Woche will ich mit zwei Lastzügen voll Zigaretten rüberkommen, bitte geben Sie die richtigen Befehle an die Zöllner. 82
Überhaupt rede man nicht so direkt über diese Geschäfte. Es komme darauf an, daß man sich wortlos verstehe, daß man die gleiche Wellenlänge habe. Der Polizeiminister telefoniere dann mit dem Chef des Zolldistrikts, frage, wie es ihm gehe und was er sich so wünsche, sage, er, der Polizeiminister, sei sehr zufrieden mit ihm und auch der Finanzminister, und ganz am Schluß sage er, ein Freund aus der Schweiz, ein gewisser Herr Fazzini, habe sich beklagt, er werde am Zoll immer so schikanös behandelt, dabei sei der Fazzini ein grundanständiger Geschäftsmann, und wenn er die Zolldeklarationspapiere ausfülle, schreibe er wirklich die Wahrheit, wenn er also Wolle deklariere, habe er gewiß keine Zigaretten in den Kisten. Einmal sagte Pedrazzini, nach seiner Meinung sei das Uhrengeschäft immer noch das beste. Er habe früher immer für fünfhunderttausend, ja manchmal für eine Million Omegas und Tissots und andere Markenuhren eingekauft, natürlich bar bezahlt und damit einen Rabatt von mindestens zehn Prozent herausgeholt, den Transfer so gut organisiert, daß er das Geld zwei Tage später in Turin, Rom oder Mailand wieder habe kassieren können. Ich fragte, ob er solche Geschäfte nicht mehr mache, und er antwortete, der Doktor habe ihm jede Aufregung verboten, das Herz schaffe es nicht mehr, und darum habe er ein Bierdepot, Henning und so, übernommen, und das sei ein Geschäft, das von alleine gehe und ihm keine Aufregungen mache. Und da sagte ich auf einmal und ohne daß ich es sagen wollte, schön, Pedrazzini, daß du mir die Uhren überläßt, und sie legten alle ihre Karten auf den Tisch und sagten, du, Chichi, du willst doch nicht behaupten, daß du dick drin bist im Uhrengeschäft? Ich lachte und antwortete, ist das für euch eine Neuigkeit? Ja, es war für sie eine Neuigkeit. Ich sagte, ich würde bei jeder Fahrt nach Verona, wo ich den Chianti einkaufe, Tausende von Markenuhren mitnehmen, der Unterschied zwischen mei83
ner Art von Transfer und jener Fazzinis bestehe nur darin, daß mein Weinproduzent mit dem Finanz- und Polizeiminister in Rom an meiner Stelle esse, ich hätte überhaupt noch nie Schwierigkeiten gehabt, Verluste sowieso nicht. Die waren schön erstaunt, als ich das erzählte. Aber ich wollte mich vor ihnen nicht größer machen als sie selbst, und darum sagte ich, daß ich leider nicht soviel an diesen Geschäften verdienen würde. Ich sagte, leider habe ich ohne Eigenkapital anfangen müssen, mein Weinproduzent in Verona finanziert immer alles. Einen Tag später telefonierte Fazzini und sagte, er müsse sofort mit mir reden. Wir trafen uns bei Tina; das sei doch wirklich blöd, meinte er, daß ich meine Uhrengeschäfte mit dem Mann aus Verona abwickeln müßte, er schlage vor, daß wir beide zusammenspannen, wieviel ich dem Veroneser geben müßte. Ich sagte, der nehme zwei Drittel vom Nettogewinn. Fazzini rechnete lange und sagte, wenn du Geld brauchst, gebe ich es dir, und du beteiligst mich mit mindestens fünfundzwanzig Prozent. Den Rest teilst du mit dem Veroneser, wenn der nicht einverstanden sein sollte, sagst du einfach, du hast einen anderen Partner, du wirst sehen … Und zum Schluß fragte er, wieviel ich brauchte, und ich sagte einfach dreihunderttausend. Ich gebe sie dir morgen, sagte Fazzini, aber die Sache bleibt unter uns, ich will nicht, daß unsere Freunde etwas davon erfahren. Am anderen Tag gab mir Fazzini dreihunderttausend Franken in bar, und ich wußte einfach nicht, was ich damit machen sollte. Er sagte, du gibst sie mir in vier Wochen zurück, das heißt, wir machen das einfacher, du gibst mir dreihunderttausend plus vierzigtausend zurück, so mußt du nicht lange mit mir abrechnen. Ich antwortete, ist gut so. Gott sei Dank kam auch Coduri zu mir und später Pedrazzini. Beide schlugen mir das gleiche Geschäft vor, und beide sagten, sie wünschten, daß ich den anderen nichts davon sage, und ich 84
sagte auch nichts. Vier Wochen später mußte ich Fazzini also dreihundertundvierzigtausend zurückgeben. Nun, die dreihunderttausend hatte ich noch, aber es fehlten die vierzigtausend. Ich ging zu Coduri und sagte, eben könnte ich einen Posten Uhren absetzen, aber es fehlten mir dazu dreihundert-fünfzigtausend. Er lächelte nur und antwortete, das sei kein Problem. Am anderen Tag gab er mir das Geld, und ich gab Fazzini die dreihundertundvierzigtausend, und zehntausend behielt ich für mich. Aber meine Freunde sagten, du hast jetzt ein Bombengeschäft gemacht, jetzt gehen wir auf deine Kosten nach Monte Carlo. Sie sagten, dieser kleine Chichi ist schlauer und gerissener als wir alle miteinander. Da konnte ich ja nicht mehr gut zurück, und so fuhren wir nach Mailand, und von dort flogen wir nach Monte Carlo. Mir war gar nicht wohl bei der Geschichte, aber auf der anderen Seite war ich trotzdem glücklich. Fazzini kam mit einer Frau, die dann später meine Frau wurde. Es war seine Freundin, und heute weiß ich, daß er sie loswerden wollte, weil seine Frau Schwierigkeiten machte. Darum war ich dann wütend, als wir in Monte Carlo im Hotel ankamen und für mich war ein Doppelzimmer bestellt. Die Frau, Elena, war sehr freundlich zu mir und sagte, wir könnten doch gut im gleichen Zimmer miteinander schlafen, es habe ja zwei Betten und so, aber beim Nachtessen redete sie auch so anzüglich, daß ich sicher war, sie wolle etwas von mir. Ich ging dann zur Rezeption und verlangte zwei Einzelzimmer, die man uns auch gab. Wir gingen ins Spielkasino und spielten, ich verlor in dieser Nacht etwa zweitausend Franken. Fazzini sagte aber, das sei seine Schuld, und gab mir die Hälfte zurück. Wir gingen ungefähr um zwei Uhr ins Bett, als ich schon den Bademantel anhatte, dachte ich, es sei vielleicht freundlich, wenn ich Elena noch gute Nacht sagen würde. Ich ging also in ihr Zimmer, aber ich wurde sehr enttäuscht, denn Fazzini saß auf dem Bettrand. Da wich ich schnell zurück. 85
In Monte Carlo verlor ich achttausend Franken, das heißt, soviel kosteten der Flug und das Hotel, und die anderen wollten immer Champagner trinken. Dann kam der Tag, an dem ich Coduri dreihundertfünfzigtausend zurückgeben mußte. Ich ging zu Pedrazzini und sagte, ich könnte gerade ein tolles Geschäft machen, aber es fehlten mir dreihundertsechzigtausend Franken. Er antwortete, das ist nichts, du kannst sie von mir haben. Als ich ihm nach fünf Wochen diese Summe mit Gewinnanteil zurückgeben mußte, ging ich nochmals zu Fazzini, der gab mir das Geld und meinte, ich könne jederzeit kommen. Und alle sagten immer wieder zu mir, ich sei der zuverlässigste und beste Geschäftspartner. Als wir von Monte Carlo zurückgekehrt waren, machte mir Fazzini Vorwürfe, er sagte zu mir, ich hätte mich schlecht benommen gegenüber Elena, Elena sei ganz verrückt nach mir, und er fragte, ob ich, was Frauen angehe, eigentlich kalt sei, er habe jährlich mindestens vier bis fünf Frauen und sei daneben auch noch verheiratet. Ich gebe zu, daß mir Frauen nichts sagten oder daß ich sogar eine gewisse Angst vor Frauen hatte, warum, weiß ich nicht, aber diesen Vorwurf konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, und darum lud ich Elena ein, mit mir nach München zu fliegen, warum gerade München, weiß ich auch nicht, und in München nahmen wir im Hotel „Vierjahreszeiten“ ein Doppelzimmer, und ich sagte zu Elena, als sie statt in ihr Bett zu mir kam, das mache ich nur mit, wenn wir auch heiraten. Elena war meine erste und einzige Frau. Sie sagte eine Woche später, Chichi, ich bin glücklich, du wirst Vater. Ich ging zu meiner Mutter und sagte ihr alles. Sie schimpfte furchtbar und wollte alle Einzelheiten wissen. Ich gab alles zu. Darauf sagte sie zu mir, so wird man nicht Vater. Ich wurde zum erstenmal wütend auf meine Mutter, ging zu Elena und 86
sagte, ich will mit dir schlafen. Es ging beim zweiten Mal alles viel besser, und ich stehe zu meiner Tochter Sandra. Daß ich später zuerst Kredite von Kleinbanken und nachher von Großbanken aufgenommen habe, ist nicht mein Fehler. Fazzini hat das alles für mich geregelt. Er hat auch gesagt, wieviel Einkommen und wieviel Vermögen ich auf dem Steueramt angeben müsse. Er hat gesagt, wenn du Kredite haben willst, mußt du viel Einkommen und viel Vermögen angeben. Auch haben Fazzini und alle anderen Freunde den Bankdirektoren schriftlich gesagt, ich sei ein guter Kaufmann, und sie hätten mit mir nur allerbeste Erfahrungen gemacht. Ich gebe zu, das war alles dumm von mir, ich weiß, daß ich dafür ins Zuchthaus muß, aber ich gehe gern, jetzt muß ich nicht mehr schwindeln …“
87
Das Schwarze Brett Herr Gino Rossi, heimatberechtigt in Montagnola, wohnhaft in Mendrisio, hat ein Baugenehmigungsgesuch eingereicht. Die zuständigen Behörden sowie der be− ratende Heimatschutz haben das Projekt bewilligt. Die Pläne liegen zur Ein− sicht der Einwohner auf dem Sekretariat der Gemeinde aus. Ende der Einsprache− frist 20.5. Einsprachen müssen schriftlich und dreifach an den Gemein− devorstand gerichtet werden.
88
Jakob Meine Mutter war drei Tage bei uns gewesen. Sie hatte allein kommen müssen, weil Jakob, mit dem sie seit achtunddreißig Jahren verheiratet ist, daheim bei den Kühen, dem Pferd, den Hühnern und den Schweinen bleiben mußte. Man findet ja heutzutage keine Knechte mehr. Niemand schätzt die Landarbeit. Und nicht einmal für drei Tage findet man eine Hilfe. Stell dir vor, bei uns! Sie sagte: Du hast ja auch schon graue Haare. Geht’s eigentlich gut mit dir und Marianne? Schade, daß ich nicht Französisch kann und sie nicht Deutsch. Es geht gut. Und jetzt hast du einen Stiefsohn. Ich muß viel daran denken. Warum? Du warst ja auch Stiefsohn. Wie geht es Papa? Nicht gut. Offene Beine. Er geht ganz gebückt. Manchmal hat er wahnsinnig Schmerzen im Rücken. Ich bin schon mitten in der Nacht aufgewacht, weil er stöhnte. Er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Was sagst du da? Vierundsechzig. Aber eben, seit er fünfzehn war, hat er tagtäglich schuften müssen, stell dir vor, keinen Tag Ferien hat er machen können. Du hast es besser. Warum kommst du eigentlich so selten zu uns? Ich weiß nicht. Ohne Grund. Dafür schreibe ich dir ja. Oder telefoniere. 89
Ja, so alle Schaltjahre einmal. Weißt du, wann du das letzte Mal bei uns warst? Ich hab’s vergessen. Drei Wochen nachdem dir deine erste Frau weggelaufen war. Ja, das ist mein letzter Besuch bei meinen Eltern gewesen. Damals wurde Jakob zornig. Er sagte, ich habe immer geglaubt, du wärst gescheit, aber jetzt sehe ich, wie dumm du bist. Du mußt doch einfach die Polizei anrufen, die Polizei holt die Frau schon wieder zurück, und den anderen stecken sie ein, bei uns geht das doch nicht, daß so ein Kerl einem anderen die Frau wegnimmt, das ist in meinen Augen Diebstahl, glaubst du, ich würde da zusehen? Nein, ich würde allerdings nicht einmal zur Polizei gehen, ich würde zu dem Kerl gehen und ihn grün und blau prügeln. Die Mutter sagte zu Jakob, du redest auch wieder, als ob du drei Schnäpse zuviel gehabt hättest, glaubst du, ich würde mich stehlen lassen? Jakob schaute seine Maria an, kratzte sich den dürren weißen Bart und antwortete, bei Frauen weiß man nie so recht, woran man ist. Ich erklärte Jakob, daß eine Frau kein Eigentum ist, das man mit Hilfe der Polizei zurückholen kann, und ich fragte, wie stellst du dir eigentlich eine Ehe vor, wenn ich sie gewaltsam wieder zurückholen würde? Er antwortete, das ist halt auch so amerikanisches Zeug, und ihr alle seid dem Teufel vom Wagen gefallen, also bei unsereins ist man dem Herrgott dankbar, wenn er das eine nicht vor dem anderen holt. Maria sagte, jetzt redest du groß daher, aber wenn du so weitermachst, holt dich der Herrgott viele Jahre vor mir. Und wenn du nicht aufhörst mit deinem Kaffee und dem ewigen Kuchen, bin ich es, der jeden Sonntag auf den Friedhof 90
muß. Aber das schwör ich dir, etwas anderes als Farnkraut bring ich nicht mit. Sei jetzt still, wir haben ja beschlossen, daß wir miteinander gehen. Jakob steckt voller Geschichten. Während des zweiten Weltkrieges hatte er zum Wehrdienst einrücken müssen. Er gehörte zu einer Infanteriekompanie, welche die Eisenbahnbrücken und Viadukte der Linie Chur-St. Moritz vor Saboteuren bewachte. Da hatten sie einen ehrgeizigen und ein wenig ängstlichen Hauptmann, der nachts die Brückenpatrouillen kontrollierte. Er schlich so geräuschlos wie möglich an die Posten heran, um ihnen zu zeigen, was für schlechte Bewacher sie wären. Aber bei Jakob hatte er sich verrechnet. Jakob hatte ein scharfes Gehör und behauptete, er sehe nachts so gut wie eine Katze. Jedenfalls gelang es dem Hauptmann nie, an Jakob heranzukommen. Aber einmal tat Jakob, als schliefe er, und ließ den Hauptmann herankommen. Und da packte er ihn am Kragen, hievte ihn mit dem ausgestreckten rechten Arm übers Geländer des Viaduktes und sagte, wenn du mir noch einmal nachspionierst, packe ich dich noch einmal, aber beim zweiten Mal öffne ich die Faust, und dann kannst du sehen, wie naß und kalt das Wasser da unten ist. Jakob kann auch bestätigen, daß auf den Alpen noch heute Hexen und die Seelen von Wilddieben und anderen bösen Menschen herumgeistern. Er besitzt die unheimliche Gabe, mit diesen Geistern gut auszukommen. Er lädt sie einfach in seine Hütte ein, wenn er im Spätherbst mit den Kühen aufs Maiensäss zieht und dort das Heu füttert. Und sie kommen in seine Hütte und erzählen ihm ihre Lebensläufe. Jakob kennt Geister, die schwarzen Kaffee trinken und sogar Veltliner. Er weiß auch als einziger, daß auf den Alpen noch Wölfe leben. Er ist mehr als einem begegnet und hat sogar einmal stundenlang gegen 91
einen kämpfen müssen. Der Förster behauptete allerdings, er kenne diesen Wolf auch, er habe den verwilderten Hund schon öfter gesehen. Das sagte der Förster an einem Sonntagnachmittag im Wirtshaus beim Kartenspiel, und als Jakob davon hörte, grüßte er den Förster ein Jahr nicht mehr. Erst, als dieser ebenfalls beim Kartenspiel sagte, er habe sich wohl getäuscht damals, denn kürzlich erst habe er wirklich den Kadaver eines Wolfes gefunden, setzte sich Jakob wieder an den gleichen Tisch. Jakob erzählte auch gern die Geschichte mit dem Selbstmörder: Da war ich Roßknecht in Arbon am Bodensee in einer Futtermühle. Im Winter 1928 war das. Ich hatte mich für den Heimweg arg verspätet, war auch noch etwas zu lange in einem Wirtshaus sitzen geblieben. Auf dem Heimweg, es war schon stockdunkel, kam ich durch einen langen Wald, und auf einmal scheuten die Pferde. Ich sagte, hü, was fällt euch ein, und sie machten noch ein paar Schritte, aber da stießen auf einmal ein Paar Schuhe gegen meinen Kopf. Ich nahm die Petrolfunzel und hob sie hoch, und was sah ich? Einen, der mitten über dem Weg an einem Tannenast hing. Ich schnitt den Strick mit dem Taschenmesser durch. Der Kerl war schon ganz steif von der Kälte, und ich deckte ihn mit den Pferdedecken zu. Daheim, nachdem ich die Tiere gefüttert hatte, wußte ich nicht, was ich mit ihm tun könnte. Ich hatte aber Erbarmen mit ihm und trug ihn in mein Zimmer, das über dem Pferdestall war. Aber dort wußte ich wieder nicht, was ich mit ihm machen sollte, ihn einfach auf den Boden legen mochte ich auch nicht, schließlich, sagte ich mir, ist er ein Christ wie du, also legte ich ihn in mein Bett. An dieser Stelle schweigt Jakob immer, stopft sich seine krumme Pfeife, zündet sie an, pafft und trinkt mindestens ein Glas Wein in einem Zuge leer und sagt dann: 92
Und jetzt stellt euch vor, als ich am frühen Morgen aufwachte, war er nicht mehr da …
93
Das Schwarze Brett Die eidgenössische Hagelversicherung teilt mit, daß die Anmeldefrist am 15. April abläuft. Anmeldeformulare können auf dem Sekretariat der Gemeinde bezo− gen werden.
94
Meine Mutter Meine Mutter sagte, der Doktor ist auch der Meinung, wir sollten jetzt mit der Landwirtschaft aufhören. Aber jedesmal, wenn ich nur schon davon anfange, steht er auf und geht in den Stall oder in den Wald, jedenfalls sehe ich ihn nicht mehr bis zum Abend. Ja, ja, sagte ich. Mutter schwieg einen Augenblick, sagte dann, wenn er nur nicht mehr pflügen müßte … Meine Mutter schaute mich an, schaute dann weg und schwieg. Ich stand auf und ging zum Fenster. Ich behaupte, wenn einer nur kräftig genug spucken könne, sei es möglich, von diesem Fenster aus nach Italien zu spucken. Meine Mutter sagte, warum schreibst du eigentlich nicht auch für das schweizerische Fernsehen? Weiß auch nicht. Papa hat gesagt, wir könnten jetzt billig einen mittelgroßen Traktor kaufen. Einen gebrauchten. Für nur viertausend Franken. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Ich sagte nichts. Du weißt, fuhr Mutter fort, er hat doch ein halbes Leben lang davon geträumt. Wovon? Es ist ja nicht wahr, daß er mit seinen Brüdern Streit gehabt hat. Sie waren halt zwölf Kinder, und als der Vater 1918 an der Grippeepidemie starb … du kannst auch zwei Höfe nicht unter zwölf Kinder teilen. 95
Das sicher nicht, aber warum haben die anderen ihn nicht wenigstens mit Geld abgefunden? Du kennst ihn ja. Kenn ich ihn? Dein Vater. Entschuldige, wir haben ihn geheiratet, als ich sechs Jahre alt war, und als ich fünfzehn war, bin ich wieder fortgegangen. Du hast es aber schön gehabt bei uns. … Papa hat sich nie etwas anmerken lassen. … Er hat dich wie seine eigenen Kinder behandelt. Ja, ja. Du warst halt sieben Jahre älter als sein Ältester. Natürlich. Das ist in allen Familien so. Die Ältesten haben es am schwersten. Und in unserer Familie warst du der Älteste. Ich sage ja gar nichts. Und die Zeiten! Diese Arbeitslosigkeit. Erinnerst du dich, wie wenig Papa in den dreißiger Jahren verdient hat? Als Knecht? Und ich habe als Magd noch mitgeholfen. Zweihundert im Monat, dazu Milch frei, das Brennholz, und jeden Herbst zwei Zentner Kartoffeln. Ja, ich erinnere mich. Dann der zweite Weltkrieg. Mehr als tausend Tage war er im Militärdienst, Zwei Franken Sold am Tag. Sonst nichts. Heute ist es anders, sagte ich. Meine Mutter sagte, wir sind stolz auf dich. Ich antwortete, kauft doch diesen Traktor. Marianne hat auch gesagt, man muß das Geld ausgeben, solange man welches hat. Aber so habe ich es nicht gemeint, sagte die Mutter, du mußt nicht immer alles so persönlich auffassen. Du rufst Papa heute 96
abend an und sagst ihm, daß er den Traktor kaufen soll. Die Rechnung geht an mich. Du weißt gar nicht, wie sich Papa darüber freut, daß es dir gut geht. Ich bin zufrieden. Daß du es zu etwas gebracht hast. Übertreibe nicht. Die Schulen waren halt damals zu teuer. Heutzutage geht alles besser. Man macht Fortschritte. Es gibt Stipendien. Damals sagte Papa, unsereins studiere nicht. Das hat er doch nur gesagt … weißt, wie der Fuchs … wie war das? Die Trauben sind sauer … Weil sie zu hoch hängen … Hast du Lust, eine kleine Spazierfahrt zu machen? Lust schon, aber ich finde es nicht fein. Marianne muß arbeiten, und wir fahren spazieren. Also nicht. Papa hat mir übrigens nie Vorwürfe gemacht. … Er hat nur manchmal gesagt, das ist schließlich dein Bub, du mußt wissen, von wem er das hat. Was? Das hat er eben im Zorn gesagt. Wenn er müde war. Was habe ich von wem? Ich rede jetzt davon, wie du als Bub immer aufbegehrt hast. Papa, hast du gesagt, warum arbeitest du für diesen Hungerlohn? Bleib doch zu Hause. Mach doch nicht den Dreck für diese Halsabschneider. Du machst dich zum Krüppel. Und sie lachen und werden reich auf deine Kosten. Mit mir jedenfalls teilen sie ihren Gewinn nicht. Hast du immer gesagt. Ich erinnere mich nicht. 97
Bis es eines Tages im Dorf hieß, euer Bub hat möglicherweise einen Kommunisten zum Vater. Das haben die Leute gesagt? Der Pfarrer vor allem. Und du hast immer gesagt, es muß doch Reiche geben, wer sonst könnte den Armen helfen. Das sage ich heute noch. Du nicht? Nein. Ja, du bist jetzt reich. Darum kannst du uns helfen. Wir, fuhr sie fort, ohne mich anzusehen, wir sind ja glücklich, wenn wir Jahr für Jahr den Pachtzins zusammenbringen und dabei nicht verhungern. Aber weißt du, das ist auch was Dankbares. Gerade kürzlich hat das Fräulein wieder gesagt, sie ist so froh, daß wir ihre Wiesen und Äcker und Weiden nicht verkommen lassen. Und dazu Stall und Scheune instand halten. Es will ja keiner mehr. Die Jungen gehen alle in die Fabrik. Du mußt einmal über die Felder gehen. Alles verkommt. Gott wird die noch strafen. Gott soll euer Fräulein strafen. Sei still. Red nicht so. Das Fräulein meint es gut mit uns. Natürlich ist es besser, wenn die Wiesen nicht verkommen und man dazu noch Geld bekommt jeden Herbst. Das Fräulein fragt manchmal auch nach dir. Sie liest sogar, was du schreibst. Und daran siehst du, daß sie dir alles vergeben hat. Sie ist nicht nachtragend. Das siehst du schon daran, daß sie dann den Hof an uns verpachtet hat. Was hätte das Fräulein mir nachtragen sollen? Sie hat es mir erst vor ein paar Jahren erzählt. Was? Du weißt schon, spiel jetzt nicht … Ich habe deinem Fräulein gesagt, sie soll mir zwei- oder dreitausend Franken pumpen, damit ich das Gymnasium besuchen könne, denn ich wollte studieren. 98
Ich weiß, antwortete die Mutter, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Was ist die ganze Wahrheit? Du hast ihr gesagt, sie sei eine Hure … woher hast du nur dieses schreckliche Wort gehabt. Ja, ich habe dein Fräulein angeschrien, habe gesagt, Sie sind eine katholische Kirchenhure … Du meine Güte … Weil das Fräulein mir geantwortet hatte, wenn wir deinen Vater kennen würden, könnte ich dir helfen, aber da wir nicht wissen, was du alles geerbt hast … vielleicht ist dein Vater ein Verbrecher, jedenfalls müssen wir mit dem schlimmsten rechnen, schon allein, daß er deine Mutter hat sitzenlassen, deutet darauf hin, daß er kein Ehrenmann ist … Hat das Fräulein gesagt? Und ich habe geweint aus Wut … Ja, so etwas hätte sie natürlich auch nicht sagen dürfen, aber jetzt hast du doch alles vergessen. … Zu jener Zeit waren die Leute halt noch so. Was, glaubst du, hat man mir alles gesagt? Ist es wahr, was du gesagt hast? Was? Daß du Papa einen Traktor kaufen willst? Ja. Aber ich werde heute abend nicht mit ihm telefonieren, sondern mit dem Pfarrer. Mit dem Pfarrer? Aber das ist jetzt natürlich ein anderer, ein junger, und der ist auch Verwalter, der Raiffeisenkasse, und du mußt ihm das Geld geben. … 99
Papa weiß nichts. … Ich habe Papa nie gesagt, daß wir alles dir und deinem kleinen Bruder verdanken. Was? Tu nicht so. Ich red von dem vielen Geld, das du uns gegeben hast. Der Pfarrer hat von Anfang an alles geregelt, was mit Geld zu tun hat. Und Papa ist überzeugt, daß wir allein alles Geld verdient hätten. Warum dieses Versteckspiel? Daß dein kleiner Bruder auch viel Geld gegeben hat, weiß er. Das findet er natürlich. Aber daß auch du, wo du ja nicht sein Sohn bist … Und wenn ich es dir gegeben hätte, nur dir, dein Sohn bin ich ja. Wir sind nicht so modern, antwortete meine Mutter, und dabei blieb es.
100
Das Schwarze Brett Wer Feriengäste beherbergt (Familienan− gehörige ausgeschlossen), ist ver− pflichtet, dieselben bei der Polizei anzumelden zwecks Erhebung der Kurtaxe. Zuwiderhandlungen haben Bußen zur Fol− ge,
101
Ildo Gestern kam Ildo zu mir und sagte, ich gehe für drei oder vier Wochen nach Zürich in die Bircher-Benner-Klinik. Viele berühmte Menschen gehen einmal im Jahr in die Bircher-BennerKlinik. Ich fürchte, ich leide an Krebs. Ich habe in vier Wochen zwanzig Pfund abgenommen. Schau meine Hände an. Findest du nicht, sie seien sehr mager? Ildo ist eins siebzig groß und wiegt hundertundvierzig Pfund. Sein Kopf ist fast so rund wie ein Fußball, sein Haar ist seidenfein und schütter, seine Gesichtsfarbe ist rosig, ich nehme an, sein Blutdruck ist überdurchschnittlich hoch. Er behauptet, mein Blutdruck ist hundertundneunzig. Ich habe meinen Hausarzt gefragt, was ein so hoher Blutdruck zu bedeuten habe, und der Arzt antwortete, das kommt darauf an, die Höhe des Blutdrucks allein ist nicht maßgebend, daraus kann ich noch keine Diagnose ableiten. Ildo sagte zu mir, als meine Mutter vierzig war, verlor sie innerhalb von vier Wochen zwanzig Pfund, ihre Hände bestanden nur noch aus Knochen und Haut, ihr Blutdruck stieg und stieg, und alle lachten sie aus, mein Vater und ich und alle Tanten und Onkel, aber auch die Leute im Dorf lachten sie aus, und drei Jahre später starb sie an Krebs. Da lachte keiner mehr, die Beerdigung war unheimlich, ich bin sicher, ich gehe den gleichen Weg. Einen Tag später saß Emilia, Ildos Freundin, in Tinas Osteria, als Marianne und ich zum Apero gingen. Emilia war teils 102
wütend, teils traurig. Er ist verrückt, sagte sie, kannst du nicht mit ihm reden, ihm Vernunft beibringen? Und ihm beibringen, er soll weniger saufen? Sein ganzes Elend kommt doch nur von seiner Sauferei. Und weil er nicht mehr arbeitet. Als Ildo noch seine beiden Füße hatte, besaß er im Bezirkshauptort unten ein Uhrengeschäft. Ein Uhrmacher ist ja nicht einer, der Uhren macht, sondern mit Uhren handelt und Uhren repariert. Nach dem Unglücksfall verkaufte Ildo seinen Laden und begann zu malen. Er wurde Kunstmaler. Eines seiner Bilder hängt über meinem Schreibtisch. Ildo hatte nie Uhrmacher werden wollen. Aber nach dem Tod seiner Mutter hatte der Vater angefangen zu trinken und hatte in wenigen Jahren sein schönes Malergeschäft versoffen. Die Gemeindebehörden gaben ihm einen Vormund, und der Vormund kaufte von Ildos Vater Grundstücke für sieben Franken den Quadratmeter und verkaufte die Grundstücke für dreißig Franken. Heutzutage sind solche Geschäfte allerdings nicht mehr möglich. Heute gibt es ein Gesetz, wonach erstens ein Vormund keine Grundstücke und keine Häuser von seinem Mündel erwerben darf, und zweitens dürfen Grundstücke und Häuser eines Mündels nur verkauft werden, wenn das für den Lebensunterhalt des Mündels notwendig ist. Und Verkäufe müssen behördlich überwacht werden. Das will aber in unserem Dorf nichts heißen, denn unsere sogenannten Behörden sind ja zugleich auch die Vormünder. Theoretisch sind bevormundete Mitbürger allerdings jetzt geschützt gegen Ausbeutung. Emilia ist fünfundzwanzig Jahre älter als Ildo. Sie ist vieroder fünfundsechzig, und wenn es wahr ist, was man im Dorfe sagt, ist sie sehr reich. Des Geldes wegen müßte Ildo nicht arbeiten, aber Emilia meint, ohne zu arbeiten, verkomme Ildo moralisch. 103
Ildo ist im Augenblick aber auch nicht auf Emilias Geld angewiesen. Denn es war jenem Vormund doch nicht gelungen, Ildos Vater jeden Quadratmeter abzukaufen, und das Haus besitzt Ildo auch noch. Ildo ist nur insofern bevormundet, als Emilia sein Geld verwaltet, überhaupt seinen Haushalt und seine Wirtschaft überwacht. Emilia bezahlt die Rechnungen und gibt Ildo Taschengeld. Dafür war Emilia damals auch angestellt worden nach dem Tod von Ildos Mutter. Sie sollte Ildo eine zweite Mutter sein, und Tina erzählte mir, man habe geglaubt, Ildos Vater würde Emilia heiraten, aber anstelle einer zweiten Frau habe er sich unzählige Wein- und Schnapsflaschen gekauft. Emilia behauptet, sie habe nie in ihrem Leben mit dem Gedanken gespielt, Ildos Vater zu heiraten. Zuweilen kommt es zu richtigen Schlägereien zwischen Emilia und Ildo. Nach jeder Schlägerei ist Ildo sehr verliebt und Emilia auch. Aber das hält nie lange an. Schon wenige Tage später sagt Ildo, ich denke nicht daran, meine Großmutter zu heiraten. Doch jetzt, da er öfter betrunken ist, sagt er zu vielen Leuten, Emilia ist eine wunderbare Frau, ich habe Emilia noch nie so geliebt wie gerade heute, ich werde meine Emilia nie verlassen, und ich werde jeden verprügeln, der geile Augen auf meine Emilia wirft. Emilia gibt sich jede denkbare Mühe, jünger zu scheinen. Marianne findet Emilias Bemühungen nicht nur lächerlich, sondern blöd. Marianne hat so unrecht nicht. Emilia sollte wirklich keine Miniröcke tragen und sollte sich nicht schminken wie eine Siebzehnjährige. Emilia ist heute noch verliebt und will es nicht wahrhaben, daß sie eigentlich schon Rentnerin ist. Gestern behauptete Marianne, der Schaffellmantel, den wir im vergangenen Herbst gekauft hatten, sei nicht warm genug. Und es sei überhaupt kein echtes Schaffell, sondern Nylon oder etwas Ähnliches. Ich sagte nur, jetzt haben wir wenigstens 104
einen Grund, das sauer verdiente Geld in deinem Sinn wieder auszugeben. Wir fuhren darum nach Lugano, und Marianne fand einen echten Schaffellmantel. Einen braunen. Für siebenhundert Franken. Ich protestierte nicht, denn mit der Morgenpost war ein Brief einer der bedeutendsten Frauenzeitschriften gekommen. Ob ich bereit wäre, eine Kolumne zu schreiben? Regelmäßig. Für sechshundert Franken monatlich. Über Eheund Erziehungsprobleme. Nun werde ich wohl müssen. Am Abend kam Ildo, und wir gingen nach M. in ein vor kurzem eröffnetes Restaurant. Weil es mir jetzt auch nicht mehr darauf ankam. Den Aperitif tranken wir an der Bar. Ildo war erst nur leicht betrunken, trotzdem lud er jedermann ein, der gerade zufällig hereinkam – fast alles Schmuggler. Wir aßen gut und teuer, Ildo aber bestellte nur einen Kalbskopf mit Vinaigrette, und das kostete nicht soviel. Als der Kellner die Rechnung brachte, rechnete Marianne Ildos Anteil aus, und der betrug trotzdem dreißig Franken. Ildo wurde wütend, sagte, ein Kalbskopf kostet nur sechs Franken, und den Burgunder hast du bestellt, also bezahlst du auch. Marianne versuchte, Ildo zu erklären, daß er anderen Leuten für vierundzwanzig Franken Aperos offeriert habe, und die solle er gefälligst selbst bezahlen. Ildo wurde nur noch wütender und sagte, Emilia und ich können uns keine Mäntel für sechshundert Franken leisten. Ich antwortete, das können wir uns auch nicht leisten. Schließlich bezahlte ich, und Ildo blieb verstimmt. Heute begegnete ich Ildo auf der Post, und er sagte, behauptest du immer noch, ich habe keinen Krebs? Glaubst du, ich wäre gestern abend so verstimmt gewesen, wenn ich gesund wäre?
105
Das Schwarze Brett Infolge Wassermangels hat der Gemeinde− rat beschlossen, die Wasserzufuhr zwi− schen 20.00 Uhr und 06.00 Uhr einzu− stellen. Wir bitten um Verständnis. Während der Periode der Wasserknappheit ist es verboten, Schwimmbassins zu fül− len, Autos zu waschen und Gärten zu be− gießen. Auch soll jeder Einwohner nicht öfters baden als unbedingt notwendig.
106
Der Hund Marianne sagt, du wärst der unglücklichste Mensch, wenn du meinen Hund nicht hättest. Erstens bist du nicht den ganzen lieben Vormittag allein, und zweitens hast du dreimal täglich einen plausiblen Grund, die Wohnung zu verlassen, weil du den Hund ausführen mußt. Deinen Hund, sagte ich schnell. Unseren Hund, antwortete Marianne, und ich weiß doch, daß du mit ihm immer übers Feld ins Dorf gehst, und bei Tina machst du einen Halt, wie kämst du dreimal täglich bei Tina vorbei, wenn der Hund nicht wäre. Siehst du, sagte ich, der Hund macht mich am Ende noch zum Alkoholiker. Abgesehen davon, was dieser Hund zusammenfrißt, zwei Büchsen täglich, mit anderen Worten: vier Franken täglich frißt er … Deswegen arbeite ich ja halbtags, antwortete Marianne. Ach, sagte ich, wir haben ja wieder Vollmond. Der Mond ist leer. Der Mond ist voll. Ich habe im Kalender nachgeschaut, der Mond ist schwarz, also ist er voll. Wenn der Mond im Kalender schwarz ist, ist er leer. Wenn er im Kalender leer ist, ist er voll. Basta. Es gibt Leute, sagte sie auch noch, die spinnen bei Neumond heftiger als bei Vollmond. Leider war es nicht möglich, die Frage abzuklären, denn jetzt ist der Himmel auch bei uns bedeckt. Alles grau. Und es war ja auch Mittag und nicht Nacht. 107
Nach dem Nachtessen stand ich auf und sagte, ich muß den Hund noch ausführen. Denk an deine Leber, sagte Marianne. Ich hatte mich kaum gesetzt und bei Tina ein Glas Wein bestellt, kam Elio herein, setzte sich zu mir und sagte, als ob er wüßte, wieviel ich bereits erfahren hatte, Marina ist übergeschnappt, die läßt mich nicht ins Haus, sie hat die Haustür mit dem Schlüssel zugeschlossen und den Schlüssel so steckenlassen, daß ich nichts machen kann. Ich bin zu meiner Mutter gegangen und habe Marina angerufen, aber sie hat nur gesagt, Hundetöter, Mörder. Was tu ich da? Am besten tust du, als ob es Marina gar nicht gäbe, gehst zu deiner Mutter, die wird ja noch ein Bett für dich haben. Wenn Marina einfach den Kopf hängen ließe, weil der Hund tot ist, würde ich das verstehen. Aber mir vorzuwerfen … Warum verdächtigt sie dich eigentlich? Ist doch klar. Ich bin immer gegen den Hund gewesen. Tut mir leid, aber ich mag Hunde nicht. Ich mag Katzen. Und manchmal habe ich dem Hund einen Tritt gegeben, und manchmal habe ich gesagt, mach, daß du zum Teufel kommst, und ich habe auch schon gesagt, schade, daß er nicht in ein Auto rennt. Elio und Marina sind seit zwölf Jahren verheiratet und haben keine Kinder. Gelegentlich soll Marina schon behauptet haben, Elio sei unfruchtbar. Elio ist Stationsbeamter bei der Bundesbahn, Marina ist gelernte Schneiderin und arbeitet daheim. Ihre Hauptarbeit besteht darin, für alle Frauen des Dorfes Kleider abzuändern, aus alten Röcken neue zu machen. Ich kenne Elio nur als schweigsamen, liebenswürdigen und friedfertigen Mann. Er ist eher klein und hat auch einen kleinen, lustigen runden Bauch. In der „Filarmonica“ spielt er Trompete. Er ist auch ein guter Bocciaspieler. 108
Marina kenne ich auch nicht besonders gut. Hier ist es ja noch so, daß die Männer ihre Frauen nur an den Festtagen mitnehmen. Ich treffe Marina meistens im Lebensmittelgeschäft an. Sie ist klein wie Elio und hat auch schon ein Bäuchlein. Und ich finde, Marina ist eine hübsche und lustige Frau. Jedenfalls erzählt sie gerne Klatsch und lacht viel. Warum ist deine Frau nicht mitgekommen? fragte Elio. Wir haben uns gestritten, antwortete ich, was gelogen war, denn am Abend haben wir nicht mehr gestritten. Marianne wollte einen Film sehen, und ich mag das Fernsehen eigentlich nicht, ich schalte den Kasten nur ein, wenn Fußballspiele übertragen werden oder wenn Konrad Adenauer beerdigt wird. Marianne wirft mir oft vor, ich sei schizophren, auf der einen Seite würde ich für Fernsehanstalten Fernsehspiele schreiben und auf der anderen Seite behauptete ich, Fernsehen langweile mich. Marianne kann nicht verstehen, daß Produzieren etwas anderes als Zuschauen ist. Ich habe vergangenes Jahr auch ein Filmszenario geschrieben, obwohl ich seit Jahrzehnten nicht mehr ins Kino gehe. Ich versuche jetzt gerade ein Theaterstück zu schreiben, obwohl ich nie ins Theater gehe. Und überhaupt bin ich ein Leser. Worüber habt ihr gestritten? fragte Elio, und ich dachte, der sei ganz froh, daß auch andere Ehepaare streiten. Es ging um den Hund. Jaja, du hast ja auch einen Hund. Es ging um deinen Hund, sagte ich, und ich sagte das nur, weil ich hoffte, Elio würde mir alles erzählen, denn ich hielt es nicht für ausgeschlossen, daß er irgendwas gedreht hatte. Warum habt ihr einen Hund? fragte er. Weil Marianne unbedingt einen Hund haben wollte. Magst du Hunde? Ich kann Hunde nicht ausstehen. 109
Ich auch nicht. Und schon gar nicht Hunde, die im Schlafzimmer schlafen. Schläft euer Hund auch im Schlafzimmer? Eher würde ich ihn umbringen, sagte ich. Warum habt ihr einen Hund … gehabt? Weil Marina hundeverrückt ist. Das heißt, weil Marina keine Kinder kriegen kann. Aber was zuviel ist, ist zuviel. Bei Tisch frißt der Hund mit uns. Marina hat für den Hund ein Kissen gemacht, und der Hund sitzt auf dem Stuhl auf dem Kissen … du kannst dir das nicht vorstellen … Und Marina füttert ihn, während wir essen. Für die Nacht hat sie dem Hund ein zweites Kissen gemacht. Der Hund schläft neben unserem Bett. Und verstehst du, wenn ich Lust habe, was doch ganz natürlich ist … oder nicht? Marianne sagt immer, „laisser sortir la nature“, antwortete ich und bat Tina, uns eine Flasche Merlot zu bringen. Ja, saufen wir uns einen an, sagte Elio. Also was ist, wenn du willst „laisser sortir la nature“? Du glaubst es nicht, aber es ist die reine Wahrheit, Marina sagt … nicht immer, denn so ist sie ja auch nicht … aber manchmal sagt sie, sei still, Elio der Hund ist da. Das geht zu weit, sagte ich. Und wenn ich dann aufstehe, den Hund am Halsband nehme und aus dem Schlafzimmer bugsiere, schreit Marina, so kannst du nicht umspringen mit mir. Aber das ist noch nicht alles. Seit fünf Jahren haben wir keine Ferien mehr machen können. Alles wegen dem Hund. Der Hund verträgt das Autofahren nicht, mit dem Hund kannst du nicht an den Strand und so weiter und so fort. Und seit wir da dieses blödsinnige Gesetz haben, daß man keine Hunde mehr in die Restaurants nehmen darf, kommt Marina auch nie mehr mit mir essen. Weißt du, ich bin nicht so konservativ, ich gehe gerne mit Marina aus, das heißt, wenn ich könnte, aber wir können nicht, denn jedesmal sagt Marina, 110
nicht, Elio, denk an den Hund, der so allein wäre. Natürlich schreie ich, und ich, bin ich nicht allein, ich armer Hund? Und darum hast du den Hund umgebracht? Elio, der gerade trinken wollte, stellte das Glas ab und schaute mich an, wollte antworten, das sah ich, aber er brachte zunächst kein Wort über die Lippen. Du auch? keuchte er. Wir hatten inzwischen schon ganz schön getrunken, Tina entkorkte gerade die dritte Flasche Merlot, und ich sagte, gestehe mir, wie du es gemacht hast, hilf mir, Elio, ich jedenfalls will nicht, daß meine Ehe mit Marianne wegen dem Hund auf den Hund kommt. Tina schenkte erneut die Gläser voll. Ist doch klar, daß es unser Geheimnis bleibt. Elio wollte nicht. Ich sagte, Elio, du hast einen großen Fehler gemacht. Erstens weiß man, daß du den Hund in deinen Wagen genommen hast und mit ihm weggefahren bist. Zweitens … Ich, antwortete Elio, nein, nicht ich, Marina hatte gesagt, geh mit dem Hund laufen, aber ich wollte nicht mit dem Hund um den Hügel von Sant’ Agata laufen, also habe ich ihn in den Wagen genommen und bin hinuntergefahren. Nach Chiasso. Und zweitens, sagte ich, hättest du wenigstens den Kadaver nach Hause bringen müssen. Um Marina zu beweisen, daß der Hund wirklich unter die Räder eines Autos gekommen ist. Ach Scheiße, sagte Elio, es ist alles viel schlimmer. Ich habe Marina gesagt, ich sei nicht dazu da, um mit ihrem dreckigen Hund spazierenzugehen. Marina schrie, wenn du meinen Hund einen dreckigen Hund nennst, liebst du mich nicht mehr. Ich liebe dich, schrie ich zurück, aber du liebst den Hund und nicht mich. Wenn du mich liebst, schrie Marina zurück, dann gehst du jetzt mit dem Hund spazieren … Und so fuhr ich nach Chi111
asso, und in Chiasso ging ich ins Hotel „Touring“, und ich nahm den Hund mit ins Restaurant, und sie sagten nichts, weil ich schließlich stellvertretender Stationsvorsteher bin, da kam Romano, du kennst ihn auch, den Tierarzt, ich hatte wirklich schon drei Whisky getrunken und war parterre und klagte ihm alles. Am Ende sagte er, dafür gibt es gewisse Spritzen, die sind schmerzlos für den Hund, ich nehme ihn mit und Marina soll mich anrufen … Da hast du’s … Ich stand sofort auf und ging in die Telefonkabine und rief Marina an. Ich sagte, hören Sie, Marina, ich sitze da bei Tina mit Elio zusammen, und Elio ist jetzt ein gebrochener Mann, weil Sie behaupten, er habe den Hund getötet. Aber er hat ihn nicht getötet. Rufen Sie sofort Romano an, Sie kennen ihn, den Tierarzt, er war Zeuge des Unfalls, und dann kommen Sie auch zu Tina und holen Elio ab. Marina tat, was ich ihr gesagt hatte, und eine Viertelstunde später saß sie an unserem Tisch. Sie legte den Arm um Elios Nacken und sagte, es ist alles wieder in Ordnung, warum hast du mir nicht gesagt, daß er in Romanos Auto gelaufen ist? Und ich hätte den Hund ja längst weggegeben, wenn du nicht so böse gegen ihn gewesen wärst. Gib doch zu, du hast nie den Hund, sondern immer mich gemeint. Ich habe doch gehört, wie du manchmal zum Hund gesagt hast, Marina spinnt … Es war Mitternacht, als ich mit unserem Hund aufbrach. Marianne war schon lange im Bett, schlief aber nicht. Sie war sanft, schüttelte nur den Kopf und sagte, warum mußt du immer zuviel trinken? Ich sagte, heute habt ihr alles den Hunden zu danken.
112
Das Schwarze Brett An die Eltern schulpflichtiger Kinder: Alle Kinder, die am 31. März das sech− ste Lebensjahr zurückgelegt haben, sind schulpflichtig. Die Schule beginnt am 15. September. Der Schulbus fährt pünktlich um 09.00 Uhr von der Piazza weg. Nachher wird der Schulbus täglich um 07.30 Uhr fahren. Die Fahrt ist un− entgeltlich. Wir bitten die Eltern, ih− re Kinder darauf aufmerksam zu machen, sich während der Fahrt ruhig und an− ständig zu verhalten.
113
Sigismondo Sigismondo hat in den dreißiger Jahren in Spanien gegen die Franco-Truppen gekämpft, und als er zurückkam und die Faschisten überall in Europa die Übermacht bekamen, war er hier arbeitslos. Plinio freilich sagt, das ist nicht wahr, hier war das Zentrum der antifaschistischen Kräfte, schade, daß du die Kundgebungen, die wir in unserem Theatersaal durchgeführt haben, nicht miterlebt hast. Sigismondo hätte trotz der Arbeitslosigkeit arbeiten können, aber er ist faul. Sigismondo ist heute einundsechzig Jahre alt, verdient sein Geld als Gelegenheitsarbeiter, ist schlank und groß und trinkt viel. Er hat schon alle Berufe ausgeübt, die es gibt. Auf einem Ozeandampfer hatte er als Matrose alle Weltmeere befahren. Er weiß nur nicht mehr, wie das große Schiff geheißen hat. In einem deutschsprachigen Theater in Argentinien hat er den „Othello“ gespielt, wenn ich ihn frage, wer das Stück geschrieben habe, sagt er, du bist ein Ignorant, weißt du auch nicht, wer den Schiller geschrieben hat? In Kuba hat er an der Seite Fidel Castros gekämpft, obwohl er das Dorf seit 1939 nicht mehr verlassen hat. Aber kein Mensch widerspricht ihm. Und ich kann bestätigen, daß er außer italienisch und deutsch auch englisch spricht. Zwei- oder dreimal jährlich schreibt er Leserbriefe zu politischen Fragen an die Redaktionen. Wenn er blau genug ist, sagt Sigismondo, in seinen Adern fließe blaues Blut, der Name seines Vaters werde nur geheimgehalten, weil er ein italienischer Prinz und Thronanwärter gewesen sei. Sie sind 114
neidisch, sagt er, diese kleinbürgerlichen Patrizier hier mit ihrem Scheiß-Patrizierverein. Vor einem halben Jahr kam Plinio zu mir und sagte, du bist doch nun bei den Liberalen zuständig für die Kultur, und vor Jahrzehnten haben wir nebst der „Filarmonica“ auch einen „Dramatischen Verein“ gehabt, und wir haben jeden Winter ein Theaterstück aufgeführt, weißt du, ein richtiges Volksstück, damals haben wir hier auch noch Dramatiker gehabt, richtige Volksschriftsteller … ja, und jetzt … du kennst doch den jungen Piff, ich meine den Pifaretti, der Professor ist am Gymnasium … Natürlich kenne ich Piff. Also paß auf, sagte Plinio, Piff hat ein Stück geschrieben, es handelt von der Schweizer Geschichte und heißt „Die Schlacht am Morgarten“. Ich habe es gelesen und finde es sehr gut, und da du auch einiges vom Theater verstehst, habe ich mir gedacht, das heißt, Piff hat gesagt, ob es nicht möglich wäre, daß du sein Stück inszenieren würdest. Ich habe im Dorf herumgehört, und alle haben gesagt, es wäre fein, wenn wir wieder einmal einen „Dramatischen Verein“ hätten, und schließlich haben wir den Theatersaal und die Bühne, und es ist einfach lächerlich, daß wir im Theatersaal immer nur Lotto spielen und der „Filarmonica“ zuhören. Piffs Stück hat zwar viele Personen, ich meine Rollen, so daß wir vielleicht keine Zuschauer mehr aus dem eigenen Dorf haben, aber ich bin sicher, die Zuschauer kommen von überallher, jedenfalls ist unsere Partei bereit, die Kosten zu übernehmen, du weißt, nächsten Frühling sind ja wieder Wahlen, und die Sozialisten haben schon angekündigt, daß sie jetzt auch in unserem Dorf aktiv werden wollen. Ich wunderte mich, daß Plinio mit Piffs Stück zu mir kam. Denn Piff ist der einzige Sozialist in unserm Dorf, und zwar einer, der verdammt weit links steht. Aber bei uns weiß man 115
nie genau, woran man ist mit den Liberalen. Die Regel ist, daß sie so lange liberal sind, bis es ihren eigenen Geldbeutel trifft. Dann können sie sehr konservativ und reaktionär werden. Nun gut, ich las Piffs Stück und war nicht enttäuscht. Es handelte von der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft und davon, wie die Habsburger empört waren, weil die drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwaiden den Landvogt Gessler zum Teufel geschickt hatten. Wilhelm Tell kam nicht in Piffs Stück vor. Piff sagte, Tell ist eine schwedische Märchenfigur, ich habe viele Sympathien für die Schweden, aber Friedrich Schiller war doch ein Arsch, in seinen Augen waren alle Urschweizer dummköpfige Idealisten, die nichts als Freiheit wollten, aber was die wirklich gewollt haben, war wirtschaftlicher Vorteil, die haben ganz genau gewußt, was für eine Rolle der Gotthard spielt, wieviel Zölle man da einnehmen kann, und sieh doch einmal genau nach bei Schiller, da sind die treibenden Kräfte alle Patrizier, von Reding, Stauffacher und wie die Verbrecher alle heißen. Aber um die historische Wahrheit zu verschleiern, hat Schiller einen dummen Jäger und Hirten namens Wilhelm Tell erfunden, um dem Volk, dem dummen, weiszumachen und vorzugaukeln, es habe sich damals nur um idealistische Ziele gehandelt, dabei ging es damals wie heute um handfeste wirtschaftliche Interessen. Aber Schiller hat ja auch den Wallenstein, diesen Opportunisten, während der Bauernkriege verfälscht, genau wie Herr Goethe vor seiner Italienreise einen richtigen Götz von Berlichingen geschrieben hatte, das Stück aber nachher umschrieb, weil er das Lob der Fürsten suchte. So war damals auch Schiller umgefallen, weil auch er die Verfolgung durch die Fürsten nicht mehr ertragen wollte, sondern ihr Lob und ihr Brot. Ha, sagte Piff, es gibt ja nur einen wirklich revolutionären deutschen Dramatiker, und das ist Georg Büchner. 116
Piff zeigte in seinem Stück, daß die herrschende Klasse schon damals nicht anders umgesprungen war mit den Armen und Proleten, als es die heutigen Krupps und Bührles und Flicks, und wie sie alle heißen, tun. Auch damals hatten sie aus den rebellierenden Armen Kriminelle und Asoziale gemacht. Aber als es zur kriegerischen Auseinandersetzung mit den Habsburgern kam, weil die ebenfalls ein wirtschaftliches Interesse am Gotthard hatten, sagten die von Redings und Konsorten zu ihren Kriminellen und Asozialen, wenn ihr bereit seid, schön für uns zu sterben am Morgarten, sollt ihr wieder zur Gemeinschaft gehören in Ehren und in Würde. Piff schilderte auch die Schlacht am Morgarten ungefähr so, wie sie wahrscheinlich stattgefunden hat. Die Eidgenossen erfuhren durch ihren Geheimdienst rechtzeitig, daß Rudolf von Habsburg mit einem Heer von Reitern auf dem Weg zu ihnen war. Herr von Reding, der große Gutsbesitzer und darum auch der große Freiheitskämpfer, beschloß, dem Habsburger am Morgarten einen Hinterhalt zu bauen. Er bildete eine Guerillabande aus, die er aus Kriminellen und Asozialen rekrutierte. Die sollten Felsbrocken und Baumstämme bereitstellen und diese in dem Augenblick über einen Hang rollen lassen, da die Habsburger einen Engpaß, der kein Ausweichen erlaubte, passieren würden. Soweit die Geschichte. Ich sah auch Plinio wieder und fragte ihn, hast du das Stück wirklich gelesen? Er erwiderte, das ist doch fein, wie Piff diese miesen Habsburger darstellt, denen ist es doch allein ums Geld gegangen. Ich sagte, du hast Piffs Stück hervorragend verstanden, mir macht es Freude, die Regie führen zu dürfen. Schwierig wurde es erst, als ich die vielen Rollen besetzen mußte. Plinio hatte sich jene des von Reding ausbedungen, Paoling wollte unbedingt den Walter Stauffacher spielen, aber 117
keiner fand sich für den Rudolf von Habsburg, für jenen also, der die junge, kleine Urschweiz vernichten wollte. Ich redete auch mit Sigismondo, aber nachdem er das Stück gelesen hatte, lehnte er zunächst ab. Ich habe bereits genug Schwierigkeiten mit den Leuten, sagte er, ich kann es mir nicht leisten, den Habsburger zu spielen. Aber ich antwortete, du bist genauso dumm wie alle anderen, ich zweifle heute mehr denn je, daß du einmal Schauspieler gewesen bist, denn ein echter Schauspieler weiß, daß er Rollen und nicht Leben spielt. Das wirkte. Einen Tag danach kam Sigismondo ins Lebensmittelgeschäft und sagte Marianne, sie soll mir ausrichten, er werde die Rolle übernehmen. Als wir am Spätnachmittag zu Tina gingen, saß er schon da und sagte, die werde ich alle an die Wand spielen, ich bin ja der einzige Profi. Nicht nur das, sagte ich, du siehst auch aus wie einer, der von Fürsten abstammt, und nur einer, der fürstlich ausschaut, kann glaubhaft einen Habsburger darstellen. Wir kamen darauf, aus dem Theaterstück ein Festspiel zu machen und dieses im Grotto zu spielen. Da gibt es eine Felswand, da gibt es Kastanienbäume, und da gibt es einen natürlichen Engpaß, man kann da mit richtigen Pferden aufmarschieren, und die Abende sind im Sommer immer warm genug. Die Uraufführung sollte am Nationalfeiertag stattfinden, am 1. August. Und weil dieser 1. August auf einen Freitag fiel, beschlossen wir, die Uraufführung zu einem großen Dorf- und Volksfest auszuweiten und bis zum Sonntagabend zu feiern. Im Mai begann ich mit den Proben. Wer gerade nicht probieren mußte, schneiderte Kostüme für das Fußvolk und die gemeinen Soldaten. Die Kostüme für die Edelleute und Fürsten, aber auch für die Herren von Reding und Walter Stauffacher und so weiter bestellten wir bei einem Kostümverleih in Zürich. Aus Emballagen und Stroh und Holzwolle machten wir Baumstämme 118
und Felsblöcke, denn ich hatte beschlossen, die eigentliche Schlacht am Morgarten realistisch darzustellen. Plinio verhandelte mit Umberto, der in der Reitschule Pauzella Reitlehrer ist. Umberto wiederum sollte mit den Leuten verhandeln, die bei ihm Reitstunden nehmen, denn ich wollte Ritter haben, die auch wirklich reiten konnten. Nur Sigismondo weigerte sich, Reitstunden zu nehmen. Er behauptete, er sei in jungen Jahren in Mexiko Dressurreiter gewesen und habe sogar Concours hippique geritten. Das Gegenteil konnte ihm niemand beweisen. Ich sagte, du mußt es wissen. Im übrigen wurde aus Sigismondo ein leidenschaftlicher Habsburger. Er konnte seinen Text in wenigen Wochen fehlerfrei auswendig, Piff begeisterte sich so sehr für ihn, daß er noch weitere Szenen für ihn schrieb. Eines Tages mußte ich zu Piff sagen, hör auf jetzt, denn sonst müssen wir den Titel ändern, schon heute könnte es heißen „Rudolf von Habsburg“. Je länger wir probierten, desto ernster wurde Sigismondo. Ohne daß ich ihn noch einmal aufgefordert hätte, ging er zu Umberto in die Reitschule, und Umberto erschien nach einiger Zeit und sagte, der sitzt wirklich wie ein geborener König auf dem Pferd. Aber den Alkohol gab Sigismondo trotzdem nicht auf, und so kam er oft betrunken auf die Proben, und wenn er so betrunken war, schüttelte er Piffs Verse durcheinander und erfand neue aus dem Stegreif. Die Leute aber lachten und stachelten ihn zu noch größeren Albernheiten an. Immer wieder sagte der eine oder der andere, jetzt glauben wir dir, du bist keiner von hier, dein Alter muß ein Fürst gewesen sein, aber kein italienischer, sondern ein österreichischer, die Österreicher haben ja auch immer mit den Italienern zusammengehalten. Jawohl, antwortete Sigismondo, ich bin wirklich der Sohn eines Fürsten, aber was seid ihr? Halunken, Viehtreiber, Räuber. Wehrlose Pfaffen überfallt ihr. Und dann bandelt ihr immer 119
gerade mit jenen an, die noch reicher sind und noch mächtiger. Was? Mal mit dem König von Bayern. Mal mit mir. Freiheit sagt ihr? Daß ich nicht lache. Plünderer seid ihr. Sklavenhalter. Das Kloster von Einsiedeln habt ihr ein dutzendmal überfallen und ausgeplündert. Dafür werde ich euch den Lohn noch geben. Das Kloster Einsiedeln steht unter meiner Schirmherrschaft. Und was habt ihr auf der anderen Seite des Gotthards gemacht? Da habt ihr die Bauern versklavt hinunter bis nach Bellinzona … Oder er fuhr die Leute an, sagte, Rapperswil habt ihr auch überfallen und in Brand gesteckt. So habt ihr auch den Thurgau versklavt. Und das Elsaß habt ihr geplündert. Und euer Herr von Attinghausen ist nicht einmal ein echter Urschweizer, der kommt aus Bern … Piff erzählte mir, daß Sigismondo schon vor Wochen zu ihm gekommen sei und sich Geschichtsbücher ausgeliehen habe. Und ich zweifelte auch nicht daran, daß Sigismondo diese Geschichtsbücher eifrig studierte, nur, wenn er zuviel getrunken hatte, wirbelte er alles durcheinander. Und vor allem hielt er auf unseren Proben Brandreden, die mit dem Stück und mit der Zeit, in der das Stück angesiedelt war, nichts zu tun hatten. Zum Beispiel : Und was ist mit den Burgunderkriegen? Das Volk befreien? Ja, das Volk befreien von fremdem Joch und es unter die eigene Herrschaft nehmen. Haben die Berner bei Héricourt nicht mit den Österreichern gekämpft? Haben sie. Weiß ich alles. Haben also den Erzfeind so schnell vergessen. So gelenkig und anpassungsfähig seid ihr freiheitsdurstigen Schweizer. Und dem Franzosen Ludwig habt ihr sechstausend Söldner verkauft, die Goldfüchse haben aber die Herren von Bern in ihre Taschen gesteckt. Und woher nehmt ihr das Recht, euch die älteste Demokratie zu nennen? Demokratie hat’s bei euch nie gegeben. 120
Bei euch hat es immer „Wohledelfeste“ und „Edelfeste“ und „Feste“ gegeben. Und die Stadtpatrizier haben die Bauern versklavt. Was Montesquieu über die französischen Aristokraten gesagt hat, trifft auch auf die Regenten eures Landes zu: „Ehrgeiz, im Bunde mit dem Müßiggang, die Gemeinheit, im Bunde mit dem Hochmut, die Begierde, sich zu bereichern ohne Arbeit, die Abneigung gegen die Wahrheit, die Schmeichelei, der Verrat, die Treulosigkeit, der Wortbruch, die Verachtung der Bürgerpflichten“, das alles trifft zu auf eure Herren, und ihr Schnapsköpfe laßt euch für diese Herren einspannen und riskiert euer Leben … Sigismondo erteilte uns also Geschichtsunterricht. Und alle hatten ihren Spaß an ihm. Und alle foppten ihn auch. Saß er nach der Probearbeit bei Tina im Garten, kamen sie und sagten: He, Habsburger, wann ziehst du endlich gegen uns? Am 1. August, antwortete er. Der 1. August kam. Die Liberalen und die „Filarmonica“ und die Gemeindebehörden hatten beschlossen, das Fest ganz groß aufzuziehen, ließen Anzeigen erscheinen und richteten einen Vorverkauf ein. Wir hatten im Grotto ein Podest aus Brettern gezimmert, und die Innenszenen wurden durch Holzwände nur angedeutet. Piff hatte noch viele Szenen so umgeschrieben, daß sie statt in Innenräumen nun im Freien spielten. Zwei Tage nachdem der Vorverkauf begonnen hatte, waren bereits drei Vorstellungen ausverkauft. Die Leute waren stolz und konnten den großen Tag kaum mehr erwarten. Sigismondo wurde in der letzten Woche ein wenig ruhiger. Mir fiel auf, daß er auch viel weniger trank und kaum noch laut war bei den Proben. Jedenfalls hatte ich keinen Grund, Angst zu haben, daß etwas schiefgehen könnte. Und es ging auch nichts schief. Sigismondo gab wirklich einen wunderbaren Habsburger, und selbst nach jener Szene, wo er beschloß, die frechen Eidgenos121
sen hart zu bestrafen, bekam er sekundenlangen Applaus, obwohl die Einheimischen „auf der Seite“ der Eidgenossen waren und die ganzen Auseinandersetzungen sehr persönlich empfanden. Sigismondo war einfach ein guter Schauspieler. Um zehn Uhr begann der letzte Akt. Die Eidgenossen marschierten auf und versteckten sich über der Felswand, bald darauf hörten wir die Fanfaren der Habsburger und dann die Hufe der Pferde. Unten an der Felswand angekommen, hielt Sigismondo sein Pferd an und fiel zum erstenmal aus der Rolle. Er schrie: Wo seid ihr, ihr dreckigen Feiglinge? Doch laut Stück sollte er ja gar nicht wissen, daß sie ihm hier einen Hinterhalt gebaut hatten. Das Publikum schrie vor Vergnügen. Und nun polterten die gebastelten Baumstämme und Felsbrocken herunter, und laut Stück sollte Sigismondo vom Pferd fallen und unter den Baumstämmen und Felsbrocken begraben werden. Aber Sigismondo dachte offenbar nicht daran, vom Pferd zu fallen, und sein Pferd scheute auch nicht. Er ritt einige Meter weiter bis zum Rand des Spielplatzes. Inzwischen hatten die Eidgenossen ihre Baumstämme und Felsbrocken „verschossen“. Sigismondo saß aufrecht auf seinem Pferd und schrie, wenn ihr meint, einen edlen Habsburger in einen gemeinen Hinterhalt locken und töten zu können, kennt ihr die Habsburger nicht. Die Mitspieler waren so überrumpelt, daß sie langsam vom Felsen herunterstiegen, und das Stück endete so, daß die Eidgenossen ratlos zwischen den Reitern der Habsburger standen. Sie hatten die Schlacht verloren. Das Publikum aber schrie wieder vor Vergnügen, und Sigismondo war und blieb seither ein Star. Er verlor keine einzige Schlacht, doch er variierte bei jeder Vorstellung seine Schlußsätze. Manchmal holte er auch zu gewaltigen Tiraden aus, beschimpfte nicht nur die Mitspieler, sondern auch das Publikum. Ich wunderte mich. Aber Piff 122
meinte, es sei leicht zu erklären, warum das Publikum Sigismondo zujuble. Er sagte, schließlich beschimpft er ja die Urschweizer, und die haben ja die Tessiner damals wirklich versklavt. Wir spielten Piffs Stück etwa zwanzigmal und immer vor „ausverkauftem Haus“.
123
Das Schwarze Brett Der Gemeinderat hat anläßlich seiner letzten Sitzung beschlossen: Ab dem ersten April dürfen die Hühner nicht mehr freien Auslauf haben. Ebenso darf auch anderes Vieh nicht mehr frei− en Auslauf haben.
124
Pentzold Vor zwei Jahren hat sich hier im Dorf ein fünfundsiebzigjähriger Deutscher mit seiner fünfzigjährigen Frau niedergelassen. Er habe, erzählte er, sein Leben dem Auswärtigen Amt geopfert, und jetzt, da er alt sei, müsse er sich abfinden mit einer kleinen Rente, die „Gangster von Bonn“ hätten ihn nach Strich und Faden betrogen. Er habe früher festen Wohnsitz in Berlin gehabt, sei aber 1942 nach Budapest beordert worden, 1944 in russische Gefangenschaft geraten und 1947 wieder nach Berlin zurückgekehrt. Aber da sei das Haus seiner Eltern nur noch ein Schutthaufen gewesen, und die Eltern hätten auch nicht mehr gelebt, und andere Familienangehörige habe er nicht finden können, die seien, wie es sich später herausgestellt habe, beim Herannahen der Roten Armee westwärts geflohen und lebten heute in Bonn und Düsseldorf. Auch das Auswärtige Amt wie überhaupt die ganze Regierung habe nicht mehr funktioniert, und seine Frau und er hätten hilf- und ratlos in BerlinCharlottenburg gestanden, hätten nicht mehr besessen, als was sie auf dem Leib trugen. Ich bin dann, sagte er, in den amerikanischen Sektor gegangen und habe mich beim zuständigen Kommandanten gemeldet. Er habe ja bis 1935 dem diplomatischen Corps in Amerika angehört, sei von 1930 bis 1935 sogar Vizekonsul in Boston gewesen, und darum habe er geglaubt, die Amerikaner würden ihm besonders gern helfen. Er könne ja nichts dafür, daß Hitler ans Ruder gekommen sei und den zweiten Weltkrieg provoziert 125
habe, abgesehen davon könne zwar auch ein Diplomat eine eigene politische Meinung haben, aber dies nur privat, im Amte sei er gehalten, die Politik der Regierung zu vertreten, ob ihm das nun passe oder nicht. Immerhin habe er im Jahre 1944 ganz und gar nicht die Politik seiner Regierung vertreten, im Gegenteil, er habe damals, als Reichsverweser Horthy abgesetzt worden war und die ungarischen Faschisten, die „Pfeilkreuzler“, die Macht übernommen hatten, mindestens sechzigtausend Juden das Leben gerettet, wenn auch nicht allein und auch nicht aus eigener Kraft, er habe mit dem schweizerischen Gesandten und dessen Konsularbeamten und mit dem schwedischen Gesandten eng zusammengearbeitet. Er habe die beiden ermuntert und unterstützt bei der Herstellung von gefälschten Auswandererzertifikaten für Juden, die vor Eichmann und seinen Gehilfen einigermaßen sicher waren, wenn sie sich eben durch diese Auswandererzertifikate als Angehörige eines anderen Landes, Palästinas, ausweisen konnten. Er, Pentzold, habe aber durch allerlei Tricks und durch Falschmeldungen und durch gezielte Indiskretionen viele Pläne deutscher Kommandostellen durchkreuzt, und er sei im wahrsten Sinne des Wortes ein Widerstandskämpfer gewesen. Ich habe täglich meinen Kopf riskiert. Das sagte Herr Pentzold immer wieder. Er hat ja auch nur diese einzige Geschichte. Und er ist jetzt alt. Und er beginnt seine Geschichte immer wieder von vorn. Da hilft nichts dagegen. Sage ich, Herr Pentzold, das haben Sie mir schon erzählt, schüttelt er energisch den Kopf und sagt, nein, diese Geschichte habe ich Ihnen noch nicht erzählt, ich wüßte nicht wann, ich bin ja erst gestern beim Durchblättern meines Tagebuches wieder darauf gestoßen. Seinen Bericht schließt er immer mit der Bemerkung ab, dem schweizerischen Konsul, Lutz habe der Mann geheißen, 126
sei es ja auch nicht besser ergangen. Der habe sicher mehr als dreißigtausend schweizerische Schutzpässe für Juden gefälscht, und er habe die schweizerische Flagge auf jenen Häusern gehißt, in welchen nur Juden gewohnt hätten, um die Judenverfolger irrezuführen. Dem Lutz hätte die schweizerische Regierung nach seiner Rückkehr im Jahre 1945 Kompetenzüberschreitung vorgeworfen, und der Mann sei deshalb auch nicht mehr befördert worden. Die letzten Amtsjahre habe Lutz als Konsul in Bregenz verbracht, und jetzt sei er einsam und verbittert, vielleicht lebe er auch schon nicht mehr. In einigen Belangen sei es Lutz aber besser ergangen als dem ehemaligen Diplomaten Pentzold, Lutz habe in Bonn das große Verdienstkreuz bekommen, und in Tel Aviv gebe es jetzt ebenfalls eine Lutzstraße. Ihm hätten die Bonner Gangster Kompetenzüberschreitung und darüber hinaus erst noch Kollaboration mit dem Feind vorgeworfen, und das sei auch der Grund, warum alle seine Wiedergutmachungsgesuche negativ beantwortet worden seien. Er verstehe diese Welt nicht mehr. Sicher habe er damals im Jahre 1935, als er nach Berlin zurückgerufen worden sei, einen Fehler begangen, indem er Mitglied der NSDAP geworden sei, aber er sei auch nur Parteimitglied geworden, weil es die Eltern seiner ersten Frau gewünscht hätten und weil er seine Karriere nicht habe gefährden wollen. Und Positives habe sich daraus auch ergeben, erstens habe er sich 1943 sehr viel leichter scheiden lassen können, und zweitens habe er das Vertrauen der Vorgesetzten genossen und dadurch sehr viel mehr für die Rettung der Juden tun können. Aber die Amerikaner, als er sich in ihren Sektor begeben habe, hätten ihm diesen Schritt bitter übelgenommen, und er habe das ganze entwürdigende Entnazifizierungs-Prozedere wie ein gewöhnlicher Nazi durchstehen und noch von Glück reden müssen, als Bonn ihm wenigstens die übliche Beamtenrente zugesprochen habe, nachdem er dann 127
noch zehn Jahre in untergeordneter Stelle im Staatsdienst gearbeitet habe. Wenn ich schreiben könnte wie Sie, sagt er jede Woche einmal, würde ich meine Geschichte schreiben. Warum wollen Sie sie nicht schreiben? Ich bin sicher, das gäbe einen Bestseller. Ich bin sicher, daß sich die großen Illustrierten in Deutschland darum reißen würden. Wir könnten viel, viel Geld verdienen. Ich würde Ihnen fünfzig Prozent überlassen. Ich bin sicher, daß man aus meiner Geschichte auch eine Serie für das Fernsehen machen könnte. Das wäre eine Geschichte für Sie. Und als seine Frau um sieben Uhr kam und sagte, Pentzold, komm essen, sagte er, bitte leihen Sie mir doch einmal Ihre Bücher aus, ich lese schrecklich gern, aber ich kann mir keine Bücher leisten mit meiner kleinen Rente, und Leihbibliotheken gibt es hier ja nicht. Pentzold erzählt, er sei 1895 in Berlin-Charlottenburg zur Welt gekommen. Sein Vater sei Zahnarzt gewesen; beide Eltern waren sehr religiös, sie hätten einer Pietistengemeinschaft angehört, und der einzige Glaubenssatz, der für seine Eltern wie auch für ihn maßgebend gewesen sei, habe gelautet und laute für ihn natürlich heute noch, liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst. So sei es auch dieser Wahr- und Leitspruch gewesen, der ihn damals getrieben habe, den Juden zu helfen. Nicht, weil die Juden Juden, und nicht, weil die Nazis Nazis gewesen seien, habe er gegen die Weisungen seiner eigenen Regierung gearbeitet, sondern weil er Christ sei und Pietist und weil es gelte, jedem Bruder in Christo, der verfolgt werde, zu helfen. Er habe nicht Zahnarzt werden wollen wie sein Vater, denn er habe seinem Vater schon im Alter von vier Jahren bei der Arbeit zugeschaut, und er sehe noch heute die von Schmerzen verzerrten Gesichter der Patienten, und es habe viele Jahre 128
gedauert, bis er begriffen habe, daß der Vater den Patienten nicht willentlich Schmerzen zufügte, doch auch nachdem es ihm bewußt geworden sei, was sich da abspiele, habe er dieses Trauma weder überwinden noch die Vorstellung verdrängen können, daß der Vater anderen Menschen Schmerzen zufüge, und darum habe er beschlossen, Jura zu studieren. Vaters Bruder, der ein hoher Beamter im Auswärtigen Amt gewesen sei, habe ihm den Weg dorthin gezeigt und geebnet. Drei Jahre sei er in Berlin tätig gewesen, im Amt sei er auch Renate, einer Sekretärin, begegnet, habe sich in das Mädchen verliebt, und schon nach einem Jahr hätten sie sich verlobt. Nach den drei Berliner Jahren sei er nach England versetzt worden und nach einem Jahr von England nach Amerika, zunächst nach Washington, später nach Los Angeles und zuletzt nach Boston. Dort angekommen, habe er Renate geschrieben, sie möchte ihm doch folgen, und sie sei ihm so schnell, wie sich das habe machen lassen, gefolgt. Doch schon nach wenigen Wochen habe er das ungute Gefühl gehabt, Renate sei nicht mehr die gleiche, Renate liebe ihn womöglich nicht mehr so stark wie in Berlin, in Renate schaffe etwas, aber was? Er habe dann von Heirat gesprochen, um sie zu prüfen, aber sie sei nur ausweichend darauf eingegangen. Eines Tages, erzählt Pentzold, habe ich Renate in ihrem Appartement besucht und gesagt, heraus mit der Wahrheit, und sehen Sie, da kam’s an den Tag, Renate hatte sich in einen amerikanischen Architekturstudenten vernarrt. Ich schrieb sogleich an ihre und meine Eltern und fragte um Rat. Renates Eltern seien entsetzt gewesen und hätten ihrer Tochter jeglichen Umgang mit dem Studenten untersagt und die baldigste Heirat gefordert. Das Mädchen, hätten sie ihm geschrieben, sei wohl erkrankt, ein Mädchen, zumal ein deutsches Mädchen, das mit einem Beamten des Auswärtigen Amtes, der 129
eine sichere Laufbahn vor sich habe, verlobt sei, könne doch solche Sicherheiten nicht eintauschen gegen die Unsicherheiten, die ein unfertiger Student mit sich bringe. Abgesehen davon sei es fraglich, ob in Amerika angesichts der Wirtschaftskrise so bald, wieder Häuser gebaut würden. Renate habe sich von solcher Argumentation umstimmen lassen, und beide Eltern hätten in der Folge Urlaub genommen und seien mit dem nächsten Schiff nach Amerika gekommen. Die Hochzeit habe schlicht und einfach sein müssen, weil allein die Schiffsreise und die Unterkunft in Amerika schon viel Geld verschlungen habe. Aus der Ehe sei nie was Rechtes geworden. Renate habe keine Kinder haben wollen, und so sei es auch kaum zu dem gekommen, was er später in Budapest mit seiner jetzigen Frau erlebt habe. Allerdings sei ihm das auch nicht aufgefallen, schon seine Eltern hätten in getrennten Zimmern geschlafen, und er habe zeit seines Lebens nie einen Hauch von Zärtlichkeiten zwischen Mutter und Vater erkennen können. Die beiden hätten sich gegenseitig hochgeachtet, böse Worte seien nie gefallen, liebe Worte freilich auch nicht. Und so habe er auch das Verhältnis zwischen Renate und sich für ganz normal gehalten. Daß sowohl der Mann als auch die Frau sich gegenseitig viel mehr geben könnten als nur Hochachtung und Korrektheit, habe er erst durch seine zweite Frau Julia erfahren. Julia sei er zum erstenmal dienstlich begegnet. Sie habe ihn zunächst schriftlich um seine Unterstützung bei ihrer Auswanderung nach Palästina gebeten, sie habe zu Recht vermutet, die Ausreisegenehmigung einerseits und die Einreisegenehmigung in Palästina andererseits wäre leichter zu erhalten, wenn selbst ein deutscher Diplomat zustimmen würde. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe, sagt Pentzold, der auch diese Geschichte gerne und oft erzählt, ich weiß nicht, 130
was in mich gefahren war, aber ich habe es getan, ich habe Julia, ebenfalls schriftlich, aufgefordert, mich an meinem Amtssitz zu besuchen. Und sie besuchte mich … Und als sie mir gegenübersaß, ein Bein über das andere geschlagen … Sie werden mir zustimmen, Julia ist noch heute eine wunderschöne Frau, und nun müssen Sie sich vorstellen, wie wunderschön Julia im Jahre 1942 gewesen ist. Sie war ja damals erst zweiundzwanzig Jahre alt … Ja, und dann tat ich nochmals etwas, für das ich keine Erklärung hatte, ich sagte Julia, ich möchte gerne mit ihr soupieren heute abend, und Julia nahm meine Einladung an … Über sein damaliges Verhältnis zu Julia erzählt Pentzold keine Einzelheiten. Er sagt nur, Renate sei die Beziehung nicht geheimgeblieben, und sie habe sich empört, sie habe sich einmal hinreißen lassen und geschrieben, und dazu noch eine Jüdin. Monate später sei sie erkrankt und habe ihn gebeten, nach Berlin zurückkehren zu dürfen, eine Bitte, die er ihr um so bereitwilliger erfüllt habe, als zwischen ihr und ihm kein Vertrauensverhältnis mehr möglich gewesen sei, ja selbst von Hochachtung habe man nicht eigentlich mehr reden können. Die Ehe sei dann 1943 mit Genehmigung des Führers in Berlin geschieden worden, er habe deshalb Budapest für zwei Wochen verlassen müssen. Ich frage Pentzold immer wieder, warum er Julia nicht nach Palästina habe ausreisen lassen, und er zwinkert mit den Augen und fragt, würden Sie Marianne ausreisen lassen? Julia konnte er damals nicht heiraten. Er habe sie aber trotzdem als seine Frau betrachtet, sie habe später, als die Judenverfolgungen einsetzten, auch bei ihm gewohnt, geheiratet hätten sie erst 1945, in Berlin. In Budapest habe er selbst Julias Papiere gefälscht, aus ihr eine, Arierin gemacht und ihr einen deutschen Paß verschafft … 131
Gestern sagte ich zu Pentzold, ich habe es mir überlegt, ich denke, ich will Ihre Geschichte nun doch schreiben, aber Sie müssen mir dabei helfen, Sie müssen möglichst viel auf Tonband reden, und ich muß auch mit Ihrer Frau sprechen, auch Ihre Frau muß erzählen. Das, antwortete er barsch, das kommt nicht in Frage, Julia will erstens nicht erzählen, Julia kann nicht erzählen, drittens hat sie ein Gedächtnis wie ein Teesieb, viertens … und Pentzold sprach plötzlich leise, viertens lügt Julia. Was lügt sie? Julia, sagte Pentzold gestern, Julia behauptet, ich hätte keinem einzigen Juden in Budapest das Leben gerettet, das heißt, Julia behauptet, wenn sie mir nicht ständig gedroht hätte … Womit? fragte ich ihn. Es ist wahr, antwortete Pentzold, Julia sagte, wenn du imstande bist, aus einer Jüdin eine Arierin zu machen, bloß, damit du ein Weib im Bett hast … Aber ich meine, so kann und darf man die Geschichte doch nicht betrachten.
132
Das Schwarze Brett Die militärdienstpflichtigen Einwohner unserer Gemeinde können ihre obligato− rische Schießpflicht in A. absolvieren, und zwar an folgenden Tagen: 15. 5. 22. 5. 29. 5. jeweils zwischen 09.00 Uhr und 12.00 Uhr.
133
Bartolo und Dodo Bartolo und Dodo sind vor vierzig Jahren in diesem Dorf zur Welt gekommen, beide in derselben Woche, beide wurden am gleichen Sonntag getauft, und ihre Eltern feierten diese Doppeltaufe gemeinsam mit einem Essen bei Tina, an dem siebzig Verwandte mitaßen und mittranken und das von zwölf Uhr mittags bis Mitternacht gedauert hatte. Bartolos und Dodos Väter waren gute Freunde. Bartolos Vater war Zollbeamter, und Dodos Vater war Direktor eines großen Transportunternehmens. Bartolos Vater war der bessere Bocciaspieler, und Dodos Vater kaufte Bilder von jungen Künstlern, obgleich sich niemand im Dorf erinnern konnte, daß in dieser Familie jemals Bilder gesammelt worden wären. Man sagte, die offene Hand vor dem Mund, Dodos Großvater sei der Außereheliche eines Patriziers aus einem Nachbardorf gewesen. Nicht aus Übermut und nicht in betrunkenem Zustand habe jener Patrizier, dessen Name nie genannt wird, die Tochter des damaligen Posthalters geschwängert, sondern weil er unbedingt habe Vater werden wollen. Und weil das so gewesen sei, habe jener Patrizier Dodos Großvater ein beträchtliches Vermögen hinterlassen (offenbar hatten nicht sämtliche Patrizier alles Hab und Gut verfressen und versoffen), dieser Großvater habe dieses Vermögen mehr als nur gut verwaltet, sondern sogar vergrößert. Ähnlich erfolgreich sei dann Dodos Vater mit der Erbschaft umgegangen, habe sich in ein großes Transportunternehmen eingekauft, 134
sei dessen Generaldirektor geworden und habe das Familienvermögen trotz Weltwirtschaftskrise um einiges vermehrt. Bartolos Vorfahren, erzählt man, seien so etwas wie Leibeigene der Patrizier gewesen, die sich nicht durch Aufstände und gewaltsame Revolutionen befreit haben, sondern dadurch frei geworden waren, daß die Patrizier durch ihre übermäßige Freßund Sauflust schließlich in die Abhängigkeit ihrer Leibeigenen geraten waren. Bartolos Großvater sei noch einfacher Grenzwächter gewesen, doch der Vater habe es bereits bis zum Postenchef gebracht und Befehlsgewalt über ein Dutzend Grenzwächter errungen. Bartolo und Dodo besuchten gemeinsam die Volksschule. Das Unglück, meint Tina heute, habe damit angefangen, daß Bartolo an den Sonntagen oft auf den Fußballplatz und Dodo in Konzerte und Kunstausstellungen gegangen sei. Bartolo habe jeden Franken zusammengekratzt, um Fußballänderspiele in Basel, Zürich oder Bern besuchen zu können, Dodo hingegen habe von seinem Vater genug Geld erhalten, um die großen Museen von Florenz, Bologna, Paris und sogar München besuchen zu können. Doch trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Interessen und Leidenschaften galten die beiden als unzertrennliche Freunde. Ihre Freundschaft wurde zum erstenmal ernstlich gefährdet, als die beiden gemeinsam das Gymnasium besuchten, Dodo das erste Jahr als Primus beschloß, während Bartolo nicht für die nächste Stufe promoviert wurde. Dabei, erinnerte man sich allgemein im Dorf, büffelte Bartolo Abend für Abend, bis er am Arbeitstisch vor Erschöpfung einschlief, während Dodo einen Text von Vergil mit derselben Leichtigkeit wie einen von Manzoni auswendig lernte und Tina genüßlich damit ärgerte, indem er lateinisch redete. Bartolos Vater verschaffte seinem Sohn eine Lehrstelle bei der Zolldirektion, Dodo beschloß, nach dem Abitur Kunstge135
schichte und Romanistik zu studieren. Er besuchte Universitäten in Zürich, Berlin, München, Paris und Rom. Als Dodo seinen Doktor mit „summa cum laude“ gemacht hatte, wurde Bartolo in der Kantonshauptstadt Bellinzona als Polizeisoldat vereidigt. Bartolo tat nun jahrelang Dienst im Polizeikreis Bellinzona und kam nur selten zu seinen Eltern ins Dorf, und wennschon, immer in Uniform. Dodo übernahm in Lugano eine Kunstgalerie, eröffnete in Mailand eine Filiale und wurde vor allem als Kunsthändler tätig. Bartolo, davon wußte niemand etwas im Dorf, besuchte in der Freizeit Abendschulen, machte tatsächlich das Abitur und studierte dann mit Hilfe seines Vaters und staatlicher Stipendien in Zürich die Rechte und begann, als auch er seinen Doktortitel besaß, als Gerichtssubstitut in Bellinzona. Er war schon als Polizeisoldat der Partei der Liberalen beigetreten und hatte für diese Mehrheitspartei so unerbittlich ehrenamtlich gearbeitet, daß er, kaum hatte er den Titel eines Doktors der Rechte, zunächst Delegierter der Kreispartei, dann Delegierter der Kantonspartei und kurz danach Vorsitzender der Kantonspartei wurde. Nebenbei ließ er sich ins Stadtparlament wählen, und im Alter von fünfunddreißig Jahren zog er als Tessiner Nationalrat im Berner Bundeshaus ein und rückte hauptamtlich zum zweiten Staatsanwalt auf. Tina mochte ihn nicht. Seitdem er Nationalrat und Staatsanwalt war, kam er jedes zweite Wochenende ins Dorf. Tina sagte mir, der kann nur Boccia spielen und kennt die Bibel und das Strafgesetzbuch auswendig. Essen kann er nicht, trinken kann er nicht, lachen kann er nicht, und warum er keine Kinder hat, wundert mich gar nicht. Dodo konnte nach Tinas Meinung viel mehr. Er lebte auch im Dorf. Er konnte trinken, essen, lachen und mit fünfunddreißig Jahren für drei außereheliche Kinder aufkommen. 136
Dodo ging an den Sonntagnachmittagen auch in den Grotto zum Bocciaspiel, sofern er nicht auf Reisen war, und das war er oft. Dodo spielte genausogut Boccia wie Bartolo, ja im Wegspicken al volo von gegnerischen Kugeln war er sogar treffsicherer als Bartolo. Dieser setzte dafür gute Punkte. Aber gerade diese sich ausgleichenden Talente, da die beiden niemals in derselben Mannschaft spielten, halfen ein wenig mit, ihre Freundschaft zu untergraben. Setzte Bartolo einen unübertrefflichen Punkt, war es für die gegnerische Mannschaft selbstverständlich, daß Dodo Bartolos Kugel al volo wegfegte. Doch nicht daran scheiterte die Freundschaft der beiden. Hinzu kam, daß die beiden sich mit den Jahren aus vielerlei äußeren Ursachen immer weniger sahen. Je älter die beiden wurden, desto öfter und desto lauter sagte Bartolo, Dodo sei ein Playboy, der auf Vaters Kosten den Kunstmäzen spiele, von jungen Malern Bilder kaufe, um deren Frauen oder Freundinnen kennenzulernen, und dieses häßliche Urteil begründete Bartolo nur damit, daß Dodo tatsächlich die Freundin eines jungen Malers, dessen Werke er wirklich schätzte, geschwängert hatte; nur eben verschwieg Bartolo, daß der betreffende Maler ebendiese Freundin sitzengelassen und sich einer anderen zugewandt hatte. Dodo hingegen redete nie häßlich über Bartolo. Er foppte ihn nur, fragte ihn allzugern vor möglichst vielen Freunden, nun Bartolo, warst erfolgreich diese Woche, insgesamt zwölf Jahre Gefängnis und sieben Jahre Zuchthaus in einer einzigen Woche, solange du uns als Staatsanwalt erhalten bleibst, wissen wir wenigstens, wozu unser Staat siebzig Millionen Steuergelder für die Justiz ausgibt, dein Gehalt mitgerechnet. Solche Redensarten vertrug Bartolo nur schlecht, so schlecht wie sein Magen opulente Nachtessen und Wein und Grappa vertrug. Während Bartolo langsam, aber sehr sicher Sprosse um Sprosse auf der Leiter der Justiz emporkletterte, Erster Staats137
anwalt wurde und schließlich als Polizei- und Justizminister zu einem der mächtigsten Männer aufstieg, glitt Dodo, ohne daß er oder seine Umwelt es bemerkt hätte, ebenso langsam wie sicher der Talsohle entgegen. Er war berühmt und beliebt als Kunstsammler, Kunsthändler, Kunstmäzen, als sein Vater an Leukämie erkrankte. Und es war für Dodo selbstverständlich, daß für seinen Vater nur die besten und berühmtesten Ärzte und Kliniken in Frage kommen durften. Obgleich Dodos Vater schon eineinhalb Jahre nach der Entdeckung dieser Krankheit starb, war vom einstigen Vermögen kein Rappen mehr vorhanden. Der Vater, ein gutmütiger Mensch, ein Philanthrop im kleinen, hatte das Transportunternehmen schon vor Jahren in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, hatte Aktien, die zunächst alle ihm gehörten, bis auf jene, die ein Verwaltungsrat von Gesetzes wegen besitzen muß, nach und nach verkauft, um Dodos Leidenschaft zu fördern. Und nun war es soweit. Die Gerichtsvollzieher kamen und stellten in ihrer Bilanz fest, daß die Passiven die Aktiven um ein vielfaches überstiegen. Vergeblich verwies Dodo auf seine übermäßig große Sammlung von Werken junger Künstler, eine Sammlung, die, wie er behauptete, nach dem Tode der Künstler Abermillionen wert sein würde. Der älteste aus Dodos „Kunststall“ aber war knapp fünfundvierzig, und obwohl als Trinker bekannt, konnte der Doktor für innere Medizin keine Spur einer beginnenden Leberzirrhose oder eines unheilbaren Magenleidens infolge mangelnder Magensäfte diagnostizieren; an ein Sterben von Dodos Künstler war also nicht zu denken, und die Gerichtsvollzieher bezeichneten seine Sammlung als „Dubiose Passiven“. Trotzdem schien Rettung nahe. Die Gläubigerversammlung war mit einer Nachlaßstundung einverstanden, vorausgesetzt, Dodo wäre bereit, seine Mutter zu überreden, jene Werke zu verkaufen, die eigentlich ihr gehörten, darunter ein Bild von Kirchner, 138
eines von Cézanne und eines von Gauguin. Die alte Mutter, die ihren Dodo liebte, wie sie ihren Mann geliebt hatte, ohne je eine Ahnung davon gehabt zu haben, womit die beiden ihre Zeit vertrieben und ihr Geld verdienten, war sogleich bereit, diese Bilder herzugeben. Dodo fand durch einen mit ihm befreundeten Kunsthändler in Zürich sofort einen Käufer, der ihm für die drei Werke 1,2 Millionen anbot. Dodo, der seinen Lamborghini schon vor Wochen für einen lächerlichen Preis verkauft und an dessen Stelle einen Mercedes älteren Jahrgangs angeschafft hatte, ließ die Werke, die bislang lediglich bei der Eidgenössischen Mobiliarversicherung versichert waren, zusätzlich für den Transport bei der Internationalen LloydGesellschaft für zwei Millionen versichern. Die Prämien borgte er sich bei Tina, die seit der Weltwirtschaftskrise den Banken gegenüber so mißtrauisch war, daß sie ihr gesamtes Barvermögen in verschiedenen Schränken zwischen den Stapeln von Bettüchern aufbewahrte. Von alledem wußte man im Dorf nichts Genaues. Man war auf Bartolos düstere Andeutungen angewiesen, man wunderte sich und wunderte sich auch nicht, und Dodo ließ sich nichts anmerken. Eines Tages, es war ein übermäßig heißer Augusttag, fuhr Dodos Galerieleiter und Sekretär mit dem altertümlich anmutenden Mercedes im Dorf vor. Die kostbaren Werke wurden sorgfältig im Fond des Wagens verstaut, und man fuhr los. Dodo trank noch einen doppelten Grappa bei Tina und war bester Laune wie immer, denn mit dem Erlös der Werke würde er den Konkurs aufhalten können. Niemand im Lande und schon gar nicht im Dorfe wünschte Dodo Unglück, ausgenommen wahrscheinlich Bartolo. Dodos Sekretär fuhr. Die beiden hatten sich für den San Bernardino entschieden. Doch noch ehe sie die Paßhöhe des 139
Monte Ceneri erreicht hatten, stießen zunächst Rauchschwaden aus dem Auspuffrohr, sodann bemerkte Dodo, daß auch aus dem Motorgehäuse Rauch entwich, den er zunächst für Wasserdampf hielt. Er dachte, das Kühlwasser wäre überhitzt, und hieß den Sekretär anhalten. Dodo selbst öffnete die Motorhaube, und da geschah es. Eine meterhohe Stichflamme schlug ihm entgegen, und der Mercedes brannte augenblicklich wie ein Augustfeuer. Autofahrer, die hinter ihm hatten anhalten müssen und teils mit Schaumlöschern ausgerüstet waren, rannten herbei, aber es war nichts mehr zu retten. In kürzester Zeit erschien die Polizei, fotografierte die schwarzen Überreste des Wagens, hielt die Koordinaten der Unglücksstelle fest, befragte Dodo und den Sekretär und alle anwesenden Zeugen. Und alle Zeugen sagten unwidersprüchlich aus, die Rauchschwaden, die dem Auspuffrohr entwichen waren, seien ihnen schon Minuten vor der Katastrophe aufgefallen, aber sie hätten gedacht, es handle sich eben um einen alten Wagen, dessen Motor zusätzlich Öl verbrenne. Auch ein Schadensinspektor des Lloyd traf eine Stunde später an der Unglücksstelle ein und stellte für seine Versicherungsgesellschaft fest, daß ihr nun ein Schaden von zwei Millionen Franken entstanden war. Doch von Amtes wegen, und weil dem Lloyd immerhin ein Schaden von zwei Millionen erwachsen war, wurde das Wrack von der Polizei beschlagnahmt und nach Bellinzona übergeführt. Dodo und sein Sekretär mußten sich ebenfalls nach Bellinzona verfügen. Dodo bat die Polizisten, das Blaulicht und das Martinshorn einzuschalten, denn er möchte einmal erleben, wie sich so eine Fahrt aus der Sicht des Polizeifahrzeuges abspiele. Es war wunderbar, sagte Dodo nachher zu Tina, die sind glatt mit neunzig bei Rot über die Kreuzungen gefahren. Dodo mußte auf dem Polizeiposten noch einmal die ganze Geschichte, ja auch die Vorgeschichte, zu Protokoll geben. 140
Ebenso wurde auch der Sekretär noch einmal vernommen. Dann endlich durfte er die Heimfahrt antreten. Er hatte auch in Bellinzona genügend gute Freunde, die alles stehen- und liegenließen, um Dodo rasch heimzufahren. Im Dorf angekommen, ging er zunächst zu Tina und trank einige doppelte Grappas. Er sagte, daß alle Anwesenden es genau hören konnten, Gott sei Dank habe ich die Bilder für zwei Millionen versichert. Jetzt kann mir nichts mehr geschehen. Und er fügte dem nach dem dritten doppelten Grappa bei, eigentlich hätte ich selbst auf den Gedanken kommen können, den Wagen in Brand zu stecken. Nun, das Schicksal meinte es gut mit mir. Dodo hatte sich getäuscht. Die Direktion des Lloyd verlangte selbstverständlich eine sorgfältige Abklärung des Falles, und Bartolo, der eben gerade zum Ersten Staatsanwalt aufgestiegen war, verlangte wegen Dodos Ausspruch, eigentlich hätte er auch auf die Idee kommen können, den Wagen in Brand zu stecken, die Polizeiakten. Bartolo studierte sie sehr genau und stieß auf die Aussage eines Luganers, der als dritter in der Kolonne hinter Dodo gefahren war. Dessen Aussage lautete: „Mir war sofort klar, daß mit diesem Wagen einiges nicht in Ordnung und ein Brandausbruch nicht ausgeschlossen war, und so blinkte ich unablässig mit der Lichthupe und betätigte auch das Klaxon. Doch wollte mir scheinen, der Fahrer wolle es darauf ankommen lassen.“ Bartolo erhob Anzeige gegen Dodo. Er beschuldigte Dodo, den Brand vorsätzlich verursacht zu haben, um in den Besitz der zwei Millionen zu gelangen. Als Dodo das hörte, lachte er. Seine Freunde rieten ihm aber, seine Lage nicht zu unterschätzen, zumal zwei Millionen auch für den Lloyd keine unbedeutende Summe sei. Zudem rieten sie ihm, Bartolo als 141
von vornherein befangen abzulehnen. Dodo lachte. Bartolo ist ein Phantast, sagte er, mit Bartolo werde ich jederzeit fertig. Dodo wurde verhaftet. Wegen Verdunkelungsgefahr, erklärte Bartolo. Ebenso wurde Dodos Sekretär ins Gefängnis gebracht. Dieser, der Dodo während vieler Jahren bewundert, ihn aber auch oft vor riskanten Einkäufen von Werken völlig unbekannter Künstler gewarnt hatte, sagte schon bei der ersten Vernehmung durch Bartolo aus, er habe Dodo auf den mißlichen Zustand des Mercedes aufmerksam gemacht, aber Dodo habe nur gelacht und geantwortet, was soll’s, ich habe die Bilder hoch genug versichert. Und als Bartolo Dodo diese Aussage vorhielt, lachte Dodo schon wieder und sagte, deinen Zeugen, der mich angeblich durch Blinken mit der Lichthupe gewarnt haben will, kenne ich genausogut wie du. Sacchini, der für die katholische Kirche Dutzende von Christi am Kreuz geschnitzt hat und immer behauptete, ich sammelte entartete Kunst und Pornographie. Mir verdankt er es, daß er seit Jahren nicht mehr in der Kantonalen Kunstkommission sitzt … Hier sei nicht von Kunst die Rede, antwortete Bartolo, sondern von Versicherungsbetrug, Brandstiftung und Gefährdung des öffentlichen Verkehrs. Dodo wurde sechs Monate in Untersuchungshaft gehalten und schließlich in Anbetracht der hohen Deliktsumme und seines „obszönen Lebenswandels“ (so Bartolo) zu fünfzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Alle im Dorf waren auf Dodos Seite, waren aber auch überzeugt, daß er versucht hatte, die Versicherung zu betrügen, was sie ihm andererseits nicht übelnahmen, denn, sagten alle, die Versicherungsgesellschaften seien allesamt auch nur Betrügerinstitutionen, verdienten so viel, daß sie alle fünf Jahre ihre Marmorpaläste demolierten, um neue zu bauen. Bartolo ächteten sie. Auf ihre Weise. Denn die große Mehrzahl der Dörfler gehörte der Liberalen Partei an, 142
Bartolo war inzwischen Vorsitzender der Kantonspartei geworden, und da die Gemeindekasse stets leer und das Dorf immer auf die Hilfe des Kantons angewiesen war, wäre es zu riskant gewesen, Bartolo offen einen Schuft zu nennen. Doch Bartolo ließ sich nicht beeindrucken. Er kam nach wie vor ins Dorf, ging nach wie vor zum Grotto hinunter und stellte gelassen fest, daß die beiden Bocciamannschaften immer schon vollzählig waren, wenn er ankam. So setzte er sich an den Rand der Bocciabahn und kommentierte, wie das hier üblich ist, das Spiel, gab laut Ratschläge, teilte Lob und Tadel aus, und das tat er so lange, bis die Dörfler zermürbt waren und ihn freundlich wieder zum Mitspielen einluden. Die ersten Male lehnte er ab, er ließ sich bitten und bemerkte beiläufig, er habe sich bei der Kantonsregierung heftig für die Subventionierung einer Kehrichtverbrennungsanstalt und den Neubau des geplanten Kreiskrankenhauses eingesetzt und sei dabei keineswegs auf taube Ohren gestoßen. Dodos Verteidiger war mit dem Urteil allerdings nicht zufrieden. Er ging in die Berufung, verfaßte einen fünfzigseitigen Schriftsatz, in welchem er Bartolo der fahrlässigen Untersuchungsführung und der Befangenheit bezichtigte. Der ausgebrannte Mercedes beispielsweise sei nie durch den wissenschaftlichen Dienst der Polizei untersucht, die Brandursache niemals geklärt worden. Ebenso habe Bartolo es unterlassen, einwandfrei festzustellen, ob ein ihm nachfolgender Automobilist ihn wirklich mittels Licht- und Hupsignalen habe warnen wollen. Des weiteren sei erwiesen, daß Bartolo insgesamt drei Leumundszeugnisse durch die Polizei habe erstellen lassen, weil das erste und das zweite günstig für Dodo gelautet hätten. Erst beim dritten Anlauf hätten sich sowohl im Dorf als auch in Lugano Zeugen bereit gefunden, über Dodos liederlichen und eben „obszönen“ Lebenswandel auszusagen, freilich unter der Bedingung, 143
daß die Namen dieser Zeugen nicht genannt würden, weil Dodo nicht nur mit den Frauen junger Künstler freundschaftliche, ja intime Beziehungen unterhalten habe, sondern auch gerne mit Huren und sogenannten Schlägertypen, vor allem ehemaligen Amateurboxern umgegangen sei, so daß die negativ aussagenden Zeugen Repressalien zu befürchten gehabt hätten. Ferner habe Bartolo in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Liberalen dem Vorsitzenden des Gerichts drei Wochen vor der Hauptverhandlung verbindlich zugesichert, die Partei werde ihn im kommenden Jahr zur Wahl als Staatsanwalt aufstellen. Der damalige Polizei- und Justizminister bat Bartolo, zu diesen massiven, ungeheuerlichen Vorwürfen Stellung zu nehmen. Bartolo antwortete schriftlich: „Es ist richtig, daß ich schon vor der Durchführung der Untersuchung von der Schuld Dodos überzeugt war. Man wird mir zugestehen, daß ich diese Überzeugung, gestützt auf die Gesamtheit der damals vorliegenden Akten, haben konnte, zumal ich meinen Beruf schon längere Zeit ausübe. Dem Angeschuldigten konnte lediglich nicht rechtsgenügend nachgewiesen werden, daß er das Auto persönlich in Brand gesteckt hatte …“ Der Verteidiger schrieb an den Justizminister: „Ich verlange erneut, daß entweder die Gewährspersonen des dritten Leumundsberichtes vom betreffenden Polizisten genannt und diese Zeugen geladen werden oder aber daß die Verwendung dieses ,Leumundsberichtes nach Maß’ in der Berufungsverhandlung unterbleibt.“ Jene Gewährspersonen, antwortete darauf der Polizeikommandant, hätten inzwischen ihren Wohnsitz in Lugano aufgegeben und sich irgendwo in Italien niedergelassen. Den Zeugen aus dem Dorf habe man vor sieben Wochen beerdigt. Der Verteidiger ließ nicht locker. Er schrieb: „Ich komme nicht darum herum, Sie zunächst auf folgendes hinzuweisen: 144
Das Gericht hat sein Urteil wohl nach Anhören meiner Verteidigung gefällt, hatte es aber, wie ich nachher erfuhr, in zwei internen Vorbesprechungen festgelegt, so daß die Beratung im Anschluß an die Hauptverhandlung nur noch dazu diente, das in den Hauptzügen vorbereitete Urteil definitiv zu bereinigen. Es mag dies vom Standpunkt der Prozeßbeschleunigung aus gesehen ein zweckmäßiges Verfahren sein, es entspricht aber in keiner Weise dem Sinn und Zweck des Strafprozesses, der voraussetzt, daß der Verteidiger mit seinem Klienten vor ein Kollegium tritt, das den Urteilsspruch noch – und eben auch nicht durch eine interne Vorberatung, wie diese formell auch immer gestaltet sein möge, präjudiziert hat. Ich hätte genausogut die ganze Vorbereitung bleiben und den Angeklagten allein vor das Tribunal gehen lassen können, hielten es die Richter doch unter ihrer Würde, sich mit den meisten meiner Vorbringungen auch nur auseinanderzusetzen …“ Die Berufung wurde abgelehnt. Ungefähr ein Jahr danach machte ich die Bekanntschaft mit Dodos Verteidiger. Bei Tina. Ich konnte ihn dazu überreden, mir die Akten zu überlassen für einige Tage, sagte ihm, ich möchte diesen Justizskandal der Öffentlichkeit bekanntgeben. Ich schrieb die Geschichte in der Form eines „Offenen Briefes an den Polizei- und Justizminister“, ließ die Geschichte ins Italienische übersetzen und bot sie allen Zeitungen an. Doch nur die der Sozialisten publizierten meinen „Offenen Brief“ und natürlich „meine eigene Zeitung“ in Zürich. Zehn Tage nach Erscheinen bekam ich einen Brief des Polizei- und Justizministers. Darin stand unter anderem zu lesen, ich sei wohl das Opfer eines juristischen Amokläufers geworden. Doch wenn ich es vorziehen würde, diesem zu glauben und an der Rechtsstaatlichkeit unseres Landes zu zweifeln, bleibe mir anheimgestellt, das Tessin zu verlassen, zumal ich ja ohnehin Deutschschweizer sei … 145
Unterzeichnet war der Brief von Bartolo. Ich hatte übersehen, daß Bartolo, abgelöst durch den Vorsitzenden des Gerichtes, das Dodo verurteilt hatte, inzwischen zum Polizei- und Justizminister aufgestiegen war. Ich gab den Brief Tina und vielen anderen zu lesen, aber sie sagten alle nur, Dodo wird auch das überstehen.
146
Das Schwarze Brett Der Schulvorstand hat anläßlich seiner letzten Sitzung im Einverständnis mit dem Gemeindevorstand (Schul− und Ge− meindevorstand sind identisch. Der Verf.) beschlossen, für die Durchfüh− rung eines Skilagers für unsere Schüler in Airolo 500,− Fr. zu bewilligen. Um dieses Skilager (eine Woche) durch− führen zu können, suchen wir eine Kö− chin und zwei Betreuer (männlichen oder weiblichen Geschlechts). Pro Teilnehmer (Schüler ab der vierten Klasse) müssen wir einen Beitrag von 7,− Fr. pro Tag erheben. Köchin (oder Koch) und Betreuer arbei− ten gratis. Aber der große Dank der El− tern schulpflichtiger Kinder ist ihnen gewiß. Mädchen und Buben schlafen in getrennten Zimmern. Nur die Skiausflüge werden gemeinsam durchgeführt. Ebenso wird in einem gemeinsamen Speisesaal gegessen.
147
Fulvio In der Nacht hatte es geschneit. Dreißig Zentimeter, sagte Paoling, der für die Schneeräumung verantwortlich ist. Ich weiß nicht, warum es bei uns immer nachts schneit, wenn es überhaupt schneit. Überhaupt sollte es hier gar nicht schneien. Der Schnee gehört nach St. Moritz, auf die Lenzerheide und ins Berner Oberland. Noch gestern sagte der Nachrichtensprecher von der Tagesschau, das Lauberhornrennen werde nach St. Moritz verlegt, weil sie in Mürren keinen Schnee hätten. Und wir wissen hier nicht, was anfangen mit dem Schnee. Fulvio besitzt einen Zehntonnenlastwagen, und die Gemeinde beauftragt ihn, jedes Jahr, wenn Schnee fällt, mit dem Schneepflug die Straßen zu räumen. Das ist alles, was unsere „Dorfältesten“ gegen den Schnee unternehmen. Fulvio fährt mit dem verrosteten Schneepflug durch die engen Straßen und preßt Schneemauern gegen die Hauswände, so daß wir danach nur noch Gäßchen, aber keine Straßen mehr haben. Zwischendurch pflügt Fulvio schnell Marcellos (Baugeschäft) Privatstraße. Ich sage zu Fulvio, bahne uns doch eine Gasse zu unserem Haus, aber Fulvio antwortete, du weißt doch, daß das nicht geht, ich darf nur die öffentlichen Straßen und Wege pflügen. Und Marcellos strada privata? Das ist was anderes, sagt Fulvio, Marcello sitzt im Gemeinderat, und er braucht seine Straße, weil er ein Baugeschäft hat, und da muß er doch zirkulieren können, weil er ja Leute vom Dorf beschäftigt, und die könnten nicht arbeiten, wenn Marcellos Straße zum Lagerplatz und Lagerhaus 148
nicht frei wäre und also, das siehst du doch ein, das ist ein gewaltiger Unterschied, die Leute würden nämlich nichts verdienen. Fulvios Logik leuchtet mir ein. Man muß nur lange genug hier gelebt haben, um alles verstehen zu können. Während der ganzen Woche kommen täglich die Benzintanker der großen Benzinkonzerne von Italien in die Schweiz. Hier stehen Hunderte von Benzinbehältern und ebenso Hunderte von Tanksäulen. An den Sonnabenden und Sonntagen kommen Zehntausende von Italienern zu uns und tanken ihre Autos voll und fahren das Benzin, das die Tanker während der Woche von Italien in die Schweiz gebracht haben, wieder aus der Schweiz nach Italien. So verdienen alle am Benzin. Die Transportunternehmen, die Chauffeure, der Schweizer Zoll, die Tankstellenhalter und so weiter. In Italien ist das Benzin viel teurer als bei uns.
149
Das Schwarze Brett Der Gemeindevorstand hat in seiner letzten Sitzung beschlossen, daß das Fußballspiel auf der Piazza zwischen der Osteria und der Kirche ab sofort verboten ist. Zuwiderhandlungen haben Bussen und Konfiskation des Fußballes zur Folge.
150
Tomkowiz Plinio kam und sagte, wir haben heute eine peinliche Verhandlung im Gemeindevorstand, wir brauchen jemand, der sehr gut deutsch spricht, aber auch ausreichend Italienisch versteht, wir haben beschlossen, dich zu bitten, als Übersetzer zu fungieren, aber nicht nur das, du bist ein gelehrter Mensch, du mußt dem Deutschen beibringen … nun ja, du wirst schon sehen, was. Welchem Deutschen? Kennst du ihn nicht? Wenn du mir sagst, wer er ist. Er tut mir ja leid. Tomkowiz heißt er. Er kommt aus Hamburg. Aber er ist kein Hamburger. Früher hatte er in Berlin gelebt. Nach dem Krieg ist er nach Hamburg gegangen. Wenn’s wahr ist, was er sagt. Daß er aus Hamburg zu uns gekommen ist, stimmt, aber das mit Berlin müßte er erst noch beweisen. Bist du ihm nie begegnet? Tomkowiz? Nie gehört. Und ich dachte immer, ihr Deutschen kennt euch alle untereinander. Ich bin aber Zürcher. Na, entschuldige, für uns … Schon gut, Plinio, was hat der Tomkowiz verbrochen? Ich habe mich schon am Anfang dagegen gewehrt, daß wir ihm die Niederlassung geben, aber die Fremdenpolizei hat gesagt, wir sollen, und Arturo hat geschimpft und gesagt, ich sei ein Dummkopf, einem Deutschen, der mit einem Vermögen 151
von mehr als einer Viertelmillion zu uns kommen möchte, müsse man die Niederlassung bewilligen, es sei nicht nötig, daß alle deutschen Millionäre in Castagnola, Lugano, Locarno, Ascona und so weiter hockten, wir hätten reiche Leute ebenso nötig, ich soll nur ans Wasser denken, die neue Wasserleitung, die wir eines Tages bauen müßten … ach, du weißt ja, wie Arturo denkt, immer nur Geld, Geld und noch einmal Geld. Und jetzt haben wir’s. Tomkowiz hat keinen Rappen mehr, und das Armenrecht schreibt vor, daß wir ihn unterstützen müssen, und Arturo ist sogar dafür, weil es nicht ausgeschlossen ist, daß Tomkowiz eines Tages wieder zu seinem Geld kommt. Ich und einige andere sind aber dafür, daß Tomkowiz freiwillig nach Hamburg, meinetwegen auch nach Berlin zurückkehrt. Also, du kommst? Acht Uhr Gemeindekanzlei. Tomkowiz wartete schon vor der Kanzleitüre, obwohl auch ich fünf Minuten zu früh war; auf Bahnhöfen bin ich immer zwanzig Minuten zu früh und auf Flughäfen eine halbe Stunde. Nur einmal war ich pünktlich auf einem Bahnhof, und der Zug war schon abgefahren. Der Stationsvorsteher behauptete, meine Uhr gehe nach. Eine Omega! sagte ich. Aber nach der Bahnhofsuhr hatte die Omega drei Minuten Verspätung. Ich stellte mich Tomkowiz vor. Sehr erfreut, sagte er, seit wann leben Sie in der Schweiz? Ich habe immer in der Schweiz gelebt mit Ausnahme … Sie sind aber auch Deutscher? Nein. Verzeihung, man hat mir aber gesagt, ein Deutscher würde mir beistehen. Macht nichts. Aber hüten Sie sich davor, einen Tessiner für einen Italiener zu nehmen. Tomkowiz hat etwa meine Größe (1,82), ist schmal wie ich, aber sein Gesicht ist eingefallen, voller Falten wie ein 152
Apfel, den man im Ofenrohr gebacken hat, die Hautfarbe gelblich, die Augen wäßrig. Sein Händedruck war schwach, kaum spürbar. Sind Sie krank? Ich habe jetzt zwei Jahre vergeblich um mein Recht gekämpft, antwortete er, ich bin noch gesund, verglichen mit meiner Frau. Wenn meine Frau nicht wäre. Aber ihr habe ich das Paradies auf Erden versprochen, und jetzt sind wir in der Hölle. Arturo, Plinio und die übrigen Mitglieder des Gemeindevorstandes kamen. Sie waren gegenüber Tomkowiz nicht gerade freundlich, sie murmelten so etwas, das nach buona sera klang, und Plinio öffnete die Kanzleitüre. Die Gemeinderatskanzlei unseres Dorfes ist auch Versammlungsort, Gerichtssaal, und selbst wenn man heiratet, wird in diesem Raum geheiratet. Früher einmal war es das Schulzimmer gewesen, im Parterre war die Wohnung des Lehrers. Jetzt werden in den Räumen im Parterre Hosen zugeschnitten und genäht, und im Schulzimmer wird regiert. Arturo sagte, frag den Tomkowiz (er sagte nicht einmal Herr Tomkowiz), warum er überhaupt in dieses Dorf gekommen sei. Ich antwortete, aber stellt euch doch nicht dumm, ihr müßt das doch wissen. Plinio sagte, damals haben wir einen Brief von einem Rechtsanwalt bekommen, und darin stand zu lesen, ob wir einen Herrn mit seiner Ehefrau aus Hamburg aufnehmen würden zu den und den Steuerbedingungen, und wir haben beschlossen, den nehmen wir auf, nachdem Arturo zur Sicherheit mit der Fremdenpolizei in Bellinzona telefoniert oder Briefe gewechselt hatte. Was soll ich ihn fragen? fragte ich. Du bist doch ein gebildeter Mensch, antwortete Arturo, also weißt du ganz genau, was man so einen Menschen fragen muß. 153
Herr Tomkowiz, sagte ich, woher kommen Sie eigentlich, die Herren möchten das wissen. Die Herren wissen doch, daß ich aus Hamburg komme. Wann sind Sie in dieses Kaff gekommen? Vor drei Jahren. Weil der Direktor der „Fides Treuhandgesellschaft Lugano“, einer Aktiengesellschaft, die es heute nicht mehr gibt, leider, weil dieser Direktor Bürger dieses Dorfes ist oder war und weil er mir vorgeschlagen hatte, hier Wohnsitz zu nehmen. Wie hieß denn der Mann? Enrico Riva. Enrico Riva, sagte ich zu den Regierenden, euer Mitbürger und Freund, hat Herrn Tomkowiz ins Dorf gebracht. Das ist ein Witz, sagte Plinio. Arturo sagte, Enrico Riva ist zwar heimatberechtigt bei uns, aber er wurde in Zürich geboren und kam erst mit dreißig Jahren nach Lugano, gründete da mit zwei Rechtsanwälten zusammen diese Treuhandgesellschaft, und Tina hat mir bestätigt, daß er in all den Jahren nicht mehr als fünfmal bei ihr zum Essen war. In meinen Augen gehört er gar nicht zu uns. Aber es ist schon möglich, daß er dem Tomkowiz gesagt hat, er soll sich hier niederlassen. Zu mir sagte Arturo, frag ihn, warum er sein Geld verloren habe. Tomkowiz antwortete auf diese Frage ausführlich. Meine Frau und ich, sagte er, wohnten ursprünglich in Berlin. Da wurden wir 1945 ausgebombt und flohen irgendwohin, gerieten in Flüchtlingslager und landeten schließlich in Hamburg. Im Jahre null besaßen wir auch null. Was waren Sie von Beruf? Kaufmann. In welcher Branche? 154
Ich hatte mich auf kein besonderes Gebiet spezialisiert. Ich habe gekauft und verkauft. Ich habe zum Beispiel Restposten aufgekauft und dem Einzelhandel verkauft. Was zum Beispiel? Waschmaschinen, Schreibmaschinen, Fotoapparate, Möbel, was Sie nur wollen. Frage ihn, sagte Plinio (ich übersetzte fortlaufend), wieviel er verdient hat. Nun also, antwortete Tomkowiz, 1965 hatte ich rund dreihunderttausend Mark auf der Bank. Sie haben nicht schlecht verdient. Ich habe schwer gearbeitet. Und weshalb sind Sie in die Schweiz gekommen? Das Hamburger Klima war schädlich für die Gesundheit meiner Frau. Doch abgesehen davon, war die Schweiz immer ein Traumland für mich. Insbesondere das Tessin. Wie sind Sie zu uns gekommen? Ich habe eine Annonce in die „Neue Zürcher Zeitung“ setzen lassen. Suche dreihunderttausend D-Mark in der Schweiz zu investieren. Schon drei Tage später antworteten mir verschiedene Kleinbanken und Kleinunternehmer. Unter anderem die „Fides Treuhandgesellschaft Lugano“. Ich schrieb allen, ich wünschte nicht nur, mein Vermögen anzulegen, sondern die schweizerische Staatsbürgerschaft zu erhalten, um meinen Lebensabend gemeinsam mit meiner verehrten Gemahlin in der Schweiz verbringen zu können. Darauf antwortete nur die „Fides Treuhandgesellschaft Lugano“ positiv. Das sei eine Kleinigkeit, antworteten die. Wer genau? Enrico Riva. Direktor. Und Sie glaubten, es sei eine Kleinigkeit, Schweizer zu werden? 155
Ja. Sie setzten voraus, mit Geld könne man Schweizer werden? Ehrlich gesagt, ja. Aber ich liebe ja die Schweiz auch. Und was geschah dann? Direktor Riva, dieser Gangster, schrieb, ich soll nur darauf bedacht sein, so rasch wie möglich alles Geld auf eine Bank, auf ein Konto der „Fides“ zu überweisen. Warum haben Sie sich für die „Fides“ entschieden? Arturo sagte zornig, Herr Tomkowiz soll in bezug auf Enrico Riva nicht von einem Gangster sprechen, schließlich sei Riva ein Bürger unseres Dorfes. Tomkowiz antwortete, Riva ist ein Gangster, das Gericht hat ihn zu einem Jahr Gefängnis wegen Urkundenfälschung verurteilt. Aber er hat die Strafe hinter sich, und jetzt ist er kein Verbrecher mehr, er ist wieder ein Ehrenmann. Aber ich habe meine dreihunderttausend trotzdem nicht mehr, ich habe überhaupt keinen Pfennig mehr, dieser Gangster hat mir alles genommen. Warum, fragte ich, haben Sie sich eigentlich für die „Fides“ entschieden? Die „Fides“ schlug mir die besten Bedingungen vor. Nämlich? Ich sagte, ich wollte von den Zinsen leben. Die „Fides“ schlug keine Zinsen, sondern Beteiligung vor. Womit beschäftigte sich die „Fides“? Das können Sie in den Gerichtsakten nachlesen. Mit der Finanzierung von Feriensiedlungen im Tessin. Und wie hoch wäre Ihr Anteil gewesen? Mindestens zehn Prozent. Auf dreihunderttausend D-Mark umgerechnet, damals gab es ja noch keine D-Mark-Aufwertung, rund dreißigtausend im Jahr. Damit kann man leben. 156
Wir sind von Natur aus bescheiden. Warum haben Sie heute kein Geld mehr? Weil die „Fides“ in Konkurs gegangen ist. Vier Millionen Passiven und keine Aktiven. Und Schweizer Bürger sind Sie auch nicht? Dieser Gangster hat doch nichts für mich unternommen. Warum haben Sie dieser „Fides“ vertraut? Weil die Schweizer im allgemeinen vertrauenswürdige Geschäftsleute sind. Denken Sie! Jedenfalls, was Geld angeht. Wenn Sie zehn Prozent erwarten, müssen Sie doch damit rechnen, daß irgend jemand auf dieser Welt dafür arbeitet. Mein Geld hätte arbeiten sollen. Geld arbeitet nicht. Haben Sie mal einen Hundertfrankenschein gesehen, der die Straßen gewischt oder Uhren fabriziert hätte. Sie verstehen nichts von der Materie. Aber Sie! Darum stehen Sie jetzt heute in diesem Zimmer. Ich stehe heute da, weil Enrico Riva ein Verbrecher ist. War! schrie Arturo. Plinio sagte, er war nicht einmal ein Verbrecher, Enrico hatte sich einfach verrechnet. Tomkowiz hat sich übrigens auch verrechnet. Ich sagte, Herr Tomkowiz, Sie hätten mit Ihrem Geld Bankobligationen kaufen können. Die werfen im Schnitt allerdings nur fünf Prozent ab. Manchmal auch weniger. Aber sie sind mündelsicher, das heißt, die staatlichen Banken beziehungsweise der Staat trägt die volle Verantwortung. Mit Ihren dreihunderttausend D-Mark hätten Sie somit allerdings nur fünfzehntausend Franken im Jahr verdienen können. Für einen hanseatischen Kaufmann nicht gerade viel. Was wollen Sie damit sagen? 157
Ich will nichts damit sagen, sondern Sie fragen, wie sind Sie eigentlich, da Sie 1945 mit weniger als nichts angefangen haben, in so kurzer Zeit auf einen Reingewinn von dreihunderttausend D-Mark gekommen? Ich war tüchtig. Warum eigentlich sagen Sie, Riva sei ein Verbrecher? Er hat mich um meine gesamten Ersparnisse gebracht. Heute besitze ich keinen Pfennig mehr. Riva, antwortete ich, hat dasselbe versucht wie Sie. Er hat Pech gehabt, Enrico Riva geht es sehr gut. Die Gefängnisstrafe hat er nicht absitzen müssen. Heute ist er Handlungsbevollmächtigter einer Firma, die mit Grundstücken handelt. Er verdient gut, hat wieder einen Wagen, seine Tochter nimmt Klavierunterricht, und wenn ich gegen ihn klage, weil er mir dreihunderttausend Franken schuldet, sagen die Richter, Riva habe Anrecht auf ein gesetzlich festgelegtes Minimum an Einkommen. Meine Frau und ich sind auf die Fürsorge angewiesen, der Herr Verbrecher lebt auf großem Fuß. Ist das Gerechtigkeit? Arturo antwortete, das Gericht habe Riva nicht in allen Anklagepunkten schuldig sprechen können, abgesehen davon, sei es ja nicht Rivas persönliches Unternehmen gewesen, sondern eine Aktiengesellschaft, jedenfalls sei dem Recht Genüge getan worden. Tomkowiz war entrüstet, er sagte, Sie, meine Herren, stehen also ein für einen Gangster? Marcello, der auf seine Seite schaufelt, soviel er nur kann, gab mir die Fotokopie einer Gerichtsakte. Ich las sie und las dann die wesentlichen Punkte Herrn Tomkowiz vor. Herr Tomkowiz hat Westberlin nicht 1945 verlassen, sondern 1955, nachdem gegen ihn ein Strafverfahren angestrengt worden war wegen fahrlässigem oder gar betrügerischem Konkurs. Es konnte ihm jedoch nur eine geringe persönliche Schuldhaftig158
keit nachgewiesen werden, so daß er mit einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten mit Bewährung davonkam. Auf Grund dieses Verfahrens waren ihm in Westberlin erhebliche Schwierigkeiten erwachsen, so daß er seine Tätigkeit nach Hamburg verlegte.
159
Das Schwarze Brett Der Gemeindevorstand ersucht alle jene Gemeindemitglieder, welche die Steuern noch nicht bezahlt haben, ihrer Pflicht nachzukommen. Der Gemeindevorstand macht die säumigen Steuerzahler darauf aufmerksam, daß die Gemeinde und der Kanton ihre Pflichten gegenüber dem Bürger nicht erfüllen können, wenn der Bürger seinerseits seine Pflichten nicht erfüllt. P.S. Ein Mitglied der Gemeindebehörde hat vorgeschlagen, die Namen der Schuldner am Schwarzen Brett bekanntzu− geben. Wir werden diesen Vorschlag prüfen, wenn die Moral nicht besser wird.
160
Mein Bruder Jakob Der Hund ist nicht mehr da. Marianne war mit Daniel nach Ouchy zu ihrer Mutter gefahren, ich fuhr am nächsten Tag mit Oliver zu meinem Bruder Jakob, der in Graubünden lebt. Den Hund nahmen wir mit. Der Katze, die Bumbum heißt, öffneten wir vier Büchsen Katzenfleisch und stellten es ihr in einem Suppenteller auf den Küchenboden. Mein Bruder Jakob, der jetzt Lastwagenchauffeur ist, in frühen Jahren aber Landwirtschaft studiert hatte, obgleich er Automechaniker werden wollte, sagte, das ist ein sehr schöner Hund. Ich antwortete, das ist nicht nur ein sehr schöner Hund, das ist auch ein sehr braver und sehr kluger Hund. Aber was mich bedrückt – es ist ein sehr armer Hund. Warum hast du überhaupt einen Hund? Ich habe gar keinen Hund, das ist Mariannes Hund. Und warum ist das ein armer Hund? Weil ich der einzige bin, der sich mit ihm abgibt, und ich gebe mich gar nicht mit ihm ab. Braucht ihr denn überhaupt einen Hund? Ich wüßte nicht, wozu. Ich könnte einen brauchen. Wofür? Für die Jagd. Jakob geht auf die Jagd. Seit fünfzehn Jahren. Wenn du wenigstens was nach Hause brächtest, sagte seine Frau. Ich weiß 161
nicht, antwortete Jakob, ich habe immer Pech. Mal komme ich plötzlich auf eine Waldlichtung und vor mir ein Dutzend äsende Hirsche, und mindestens einer davon wäre zu schießen, aber verflucht noch mal, in dem Augenblick, da ich den Stutzer hochnehme, schaut so ein Kerl auf, sieht mich, und schon sind alle weg. Ein andermal stelle ich mich auf die Lauer, ich kenne ja die Passen, und dann kommt einer, und ich lege an und drücke ab, und da ich abdrücken will, merke ich, daß ich den Druckpunkt nicht gedrückt habe, und bis ich soweit bin, ist das Tier weg. Warum drückst du nicht vorher den Druckpunkt? Das, sagt Jakob mit schweren Worten, das ist lebensgefährlich. Da drückst du den Druckpunkt, und das ist nicht rückgängig zu machen, du schießt aber trotzdem nicht, vergißt alles, stellst den Stutzer plötzlich ab, und der Schuß geht los und trifft dich selber. Denk mal, wie viele Jagdunfälle dadurch schon zustande gekommen sind. Ja, ja, sagt seine Frau, auf der Niederjagd kommst du auch immer mit leeren Händen nach Hause. Keinen Hasen, kein Murmeltier, nicht mal einen Fuchs. Die Jagd, behauptet Jakob, ist nicht dazu erfunden, um Tiere zu töten. Wenn du Fleisch willst, geh in die Metzgerei. Aber wenn du einen Hund hättest, sagte ich, hättest du vielleicht mehr Erfolg auf der Niederjagd. Woher soll ich einen Hund nehmen? Jagdhunde sind teuer. Im letzten Herbst, sagte seine Frau, hat er einen neuen Stutzer gekauft. Er gibt überhaupt zuviel Geld aus für die Jagd. Man muß gut ausgerüstet sein, antwortete Jakob, sonst kann man genausogut daheim bleiben. Ich kenne keinen zweiten Jäger, der ohne Hund auf die Niederjagd ginge, sagte ich. Ist dein Hund ein Jagdhund? 162
Natürlich. Das heißt, er ist kein geborener, will sagen, kein reinrassiger Jagdhund, aber er kann jagen. Wenn bei uns Jagd ist, gehe auch ich auf die Pirsch. Das ist aber eine Neuigkeit, sagte Jakob. Ich gehe ohne Flinte. Ich will weder Fasane noch Hasen noch Füchse schießen. Dann sag nicht, du gingst auf die Pirsch. Ich gehe mit dem Hund. Der Hund spürt Fasane auf, und wenn ich eine Flinte hätte, könnte ich sie erlegen. Jakob betrachtete den Hund, der flach auf dem Bauch auf dem Boden unter dem Tisch lag, alle vier Beine von sich gestreckt. Es gibt so Ausnahmen, sagte Jakob, es gibt Hunde, die keine Jagdhunde sind und trotzdem jagen. Mein Hund ist so ein Hund, antwortete ich. Wieviel hast du für ihn bezahlt? Wenig, ich erinnere mich nicht mehr, wieviel. Das war gelogen. Die Leute, die Marianne den Hund gegeben hatten, waren glücklich gewesen, nicht alle Welpen umbringen zu müssen. Ein schöner Hund, sagte Jakob. Ich sagte, wenn es nur am Hund liegt.:, den kannst du haben. Hör auf damit, sagte Jakobs Frau, am Ende kauft er ihn noch, und dabei haben wir die letzte Milchrechnung noch nicht einmal bezahlt. Wieviel würdest du verlangen, fragte Jakob. Ich zögerte. Ich sagte dann, schließlich bist du mein Bruder, und du brauchst dringend einen Hund, während ich keinen Hund brauche. Bei uns ist der Hund auch nicht glücklich. Er hat viel zuwenig Bewegung. Ich würde ihn dir schenken. Jakob wollte es zunächst gar nicht recht glauben. Er sagte, wirklich, du willst mir den Hund schenken? 163
Weil du mein Bruder bist und einen Hund brauchst. Ja, sagte er verlegen, wenn es dir nichts ausmacht … also ich nehme ihn natürlich gerne. Es macht mir nichts aus, schließlich hängt man an solchen Tieren, aber ich weiß, daß er es bei dir gut hat. Mag Jakob Hunde, fragte Marianne nach der Heimkehr. Er ist ganz verrückt nach Hunden. Er hat mich auch gefragt, ob er den Hund im kommenden Herbst für die Jagd ausleihen dürfe. Was meinst du dazu? Marianne überlegte. Marianne sagte, wenn er’s natürlich soviel besser hat bei Jakob … Bei Jakob hat er’s tausendmal schöner als bei uns. Bei Jakob hat er ein richtiges Hundeleben, bei uns … Also, wenn Jakob den Hund behalten will … dem Hund zuliebe, nicht dir zuliebe … bin ich einverstanden.
164
Das Schwarze Brett Der Gemeindevorstand hat in seiner letzten Sitzung beschlossen: Es ist ab sofort verboten, im Dorf und auf anderen öffentlichen Strassen Hunde frei laufen zu lassen, Hunde sind an der Leine zu führen. Streunende Hunde werden ab sofort eingefangen und den Hundehaltern erst gegen Entrichtung ei− ner Busse wieder übergeben. Bösartige Hunde werden erschossen, wenn sie sich nicht friedlich einfangen las− sen.
165
Langeweile Ich werde zuweilen auch wütend. Jeden Morgen um sechs zeigt der elektrische Wecker an, ich erwache, gehe aufs Klo und dann wieder ins Bett, während Marianne die Filterkaffeemaschine in Betrieb setzt. Manchmal kann ich wieder einschlafen. Oft geht das nicht mehr. Wir gehen zu früh zu Bett. Manchmal um acht Uhr, manchmal um zehn, selten erst um Mitternacht. Als wir in dieses Dorf kamen, vorübergehend, beschloß ich, nur noch wenig zu arbeiten. Mehr als meine Wochenkolumne für die Zürcher Wochenzeitung wollte ich nicht mehr schreiben. Aber Marianne langweilte sich nach drei Monaten und beschloß, im Lebensmittelgeschäft zu arbeiten. Und was sollte ich tun? Ich konnte und kann nicht den lieben langen Tag herumsitzen und auf dem Bett liegen, Kaffee oder Wein oder Schnaps trinken. Ich kann auch nicht den ganzen Tag lesen. Ich habe schon soviel gelesen. Und den ganzen Tag Radio hören mag ich auch nicht. Darum habe ich wieder angefangen zu schreiben. Geschichten. Und Fernseh- und Hörspiele. Auch zwei Filmstorys habe ich gemacht. Und langweile mich trotzdem. Marianne langweilt sich jetzt auch. Marianne sagt, Lausanne wäre besser. Ich sage, du wolltest ja nie wieder zurück. Ich habe nie gesagt, nie wieder. Hast du aber gesagt. Du hast gesagt, nie wieder Zürich. Was willst du mit Zürich? Du sprichst ja nicht deutsch. 166
Aber du sprichst französisch. Was willst du damit sagen? Oliver spricht auch französisch. Ja. Daniel sowieso. Schließlich kommt er von Lausanne. Denk auch einmal an Oliver. In welcher Hinsicht? Hier gibt es keine Mädchen für ihn. Er hat ein Mädchen gehabt. Warum hat er dem den Laufpaß gegeben? Hast du im gleichen Alter jahrelang das gleiche Mädchen gehabt? Ich habe mit siebzehn oder achtzehn mein erstes Mädchen gehabt, und das war kein Mädchen, sondern eine Frau. Mit dir kann man überhaupt nicht vernünftig diskutieren. Wir müssen nicht diskutieren, sondern du mußt klipp und klar sagen, was du eigentlich willst. Ich will weg von hier, sagte Marianne. Warum? Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich komme mir vor wie eine Leiche in einem Sarg. Ich lachte. Ich sagte, das habe ich noch nie gehört, das Tessin ein Sarg! Bis heute habe ich immer gelesen, das Tessin ist die Sonnenstube der Schweiz, das Eldorado der reichen Leute … Bitte, sagte Marianne, bitte komm mit, wir ziehen weg von hier. Seit wir hier sind, bist du immer müde. Ich habe mit Doktor Realini gesprochen. Er sagte, das Klima hier ist nicht für jedermann gut. Und die Langeweile … Oliver hatte schon einige Zeit unter der Tür gestanden und unser Gespräch mitgehört. Jetzt sagte er, ja, Marianne hat doch recht, komm mit, wir ziehen um nach Lausanne, in der Nähe 167
von Lausanne liegt Montreux, und in Montreux gibt es immer wieder berühmte Popkonzerte. Daniel hatte hinter Oliver gestanden und kam jetzt auch herein und sagte, in Lausanne gibt es im Winter eine Eisbahn, und in Lausanne kann ich im Sommer ganz allein an den Strand, hier maulst du immer, wenn ich dich bitte, mit mir an den Strand zu fahren. Von Lausanne aus, sagte Marianne, bist du in vierzig Minuten auf dem Flughafen Genf-Cointrin. Mit der Eisenbahn bist du in drei Stunden in Zürich. Nach Lausanne kommen das Bolschoi-Ballett und der Chor der Roten Armee und die Gala Karsenty aus Paris, und in Lausanne gibt es auch ein eigenes Theater, und alle weltberühmten Filme werden in den Kinos von Lausanne gezeigt. Was soll ich auf dem Flughafen von Genf-Cointrin? Und ich gehe ja nie ins Kino. Und ins Theater gehe ich erst wieder, wenn die ein Stück von mir aufführen. Dann schreib endlich ein Stück, sagte Oliver. Ich sagte, gut, ich schreibe ein Theaterstück, das von einer verrückten Familie handelt, die im Tessin vorübergehend wohnt und plötzlich den Koller kriegt und den Vater umbringt und nach dessen Tod kein Geld hat, um das Tessin zu verlassen … Du spinnst, antworteten Marianne, Oliver und Daniel im selben Atemzug. Wenn ihr mir ein Haus findet in der Nähe von Lausanne, fünf Zimmer, zwei Badezimmer, Garten, Gemüsegarten, still und doch zentral gelegen, dann komme ich. Das soll ein Wort sein, antwortete Marianne.
168
Das Schwarze Brett Am 4. Februar wird der Gemeinderat neu gewählt. Die wahlberechtigten Bürgerin− nen und Bürger werden ersucht, Kandida− ten zu nennen. Dies hat schriftlich zu erfolgen. Auch Frauen können jetzt no− miniert werden. Anonyme Nominierungen werden nicht akzeptiert. Der Sekretär der Gemeindekanzlei P. S. Alle Mitglieder des bisherigen Gemein− derates haben sich bereit erklärt, ihr Amt beizubehalten.
169
Zardini Bei Tina kam es zu einer bösen Schlägerei. Tina flüchtete in ihre Zimmer und rief die Polizei um Hilfe. Nachdem vier Stühle und zwei Lampen demoliert und der Ölofen umgekippt waren, kamen drei Polizisten mit einem Jeep angefahren, um festzustellen, daß die Schlägerei zu Ende war. Tina stand wieder hinter der Theke, und die drei Polizisten tranken Kaffee und Grappa. Es habe keinen Sinn, sagte der anführende Polizeikorporal, ein Protokoll aufzunehmen, Anzeigen zu erstatten, Tina soll sich an die Mobiliarversicherung wenden, oder die in die Schlägerei verwickelten Männer sollen ihre private Haftpflichtversicherung bemühen. Der Polizeikorporal war ein Bruder von Primus, der heftig aus der Nase blutete, weil Giovannis Faust sie getroffen hatte. Ich schwöre, sagte Giovanni, Primus allein hat schuld, warum hat er sich gebückt, ich wollte ihm einen Leberhaken versetzen. Tina sagte, wir haben wahrscheinlich Vollmond. Aber es war kein Vollmond. Es war überhaupt nichts. Was war, war in Zürich. Da hatten sie einen Italiener getötet. Zardini hieß er. Er war vor zwei Tagen in die Schweiz eingereist, hatte in Zürich Arbeit gefunden, hatte ein wenig Geld, verstand kein Wort Deutsch, fand Zürich, wie seine Freunde später sagten, phantastisch. Zardini hatte Zürich gefeiert. Eben bei seinen Freunden, die ihm eine Arbeitsstelle und die notwendigen Bewilligungen der Fremdenpolizei verschafft hatten. Frühmorgens, als die ersten Schnapskneipen geöffnet wurden, ging Zardini in eine 170
dieser Kneipen und bestellte Bier. Er setzte sich an einen Tisch, wo ein Zürcher saß, ein großer breiter Kerl, der, wie sich später herausstellte, ein gefürchteter Schläger war. Zardini war klein und schmalbrüstig und schaute den Zürcher an und grinste und sagte, Zürich ist zu schade für dich. Der Zürcher verstand kein Wort italienisch, aber Zardinis Gesicht gefiel ihm nicht, überhaupt mochte er die Italiener nicht, er war wie andere fünfhunderttausend Schweizer gegen die Italiener, die Spanier, die Türken und Griechen. Er mochte nur Schweizer. Aber auch nicht wirklich. Jahrelang schlug er übers Wochenende Schweizer blutig. Doch seit Herr Schwarzwald, Doktor der Philosophie, praktizierender Katholik, Zeitungsredakteur und Mitglied des eidgenössischen Parlaments, herausgefunden hatte, daß die Schweiz überfremdet werde, nicht durch Juden wie in den dreißiger Jahren, sondern durch Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei, seit Herr Schwarzwald die „Nationale Aktion für Volk und Heimat“ gegründet hatte, fühlte sich Schwager, so hieß der Schläger, als guter Schweizer, fühlte er sein patriotisches Herz schlagen, fühlte er sich aufgerufen, nicht nur wörtlich gegen die Überfremdung zu kämpfen, erinnerte er sich vielleicht an die Worte des ermordeten USPräsidenten John F. Kennedy, der gesagt hatte, es komme nicht darauf an, was andere für einen tun, sondern darauf, was man für andere tue, und so ließ Schwager sich, wie er später sagte, von Zardini provozieren, damit die Schweiz wenigstens um einen Gastarbeiter freier würde. Er stand auf, packte Zardini und schlug ihn tot. Die anderen Gäste sahen nicht, daß Zardini tödlich getroffen war. Sie schleiften ihn vor die Tür der Kneipe und ließen ihn da liegen. Da kamen die ersten Arbeiter, die zur Arbeit gingen, und sahen, daß da ein Italiener lag, und weil sie sich ebenfalls an die vielen Mahnungen des Herrn Schwarzwald erinnerten, gingen sie an dem tödlich Verletzten vorbei. 171
Schließlich kam einer daher, der möglicherweise kein guter Schweizer ist, und der rief die Polizei an. Die Polizei bestellte eine Ambulanz und brachte Zardini in die Notfallstation, wo ein Oberarzt sagte, ist das das Neueste, daß Leichen mit der Ambulanz befördert werden, wo wir doch zuwenig Ambulanzen haben? Die Schweizer hatten wenige Wochen zuvor über eine Initiative des Herrn Dr. Schwarzwald abstimmen müssen. Man nannte sie durchwegs die „Schwarzwald-Initiative“. Schwarzwald und seine Anhänger malten Legionen von Teufeln an alle weißen Wände der sauberen Schweizer Häuser. Schwarzwalds Gegner warfen den Befürwortern Faschismus, Fremdenhaß und Borniertheit vor. Und alle fragten sich, was eigentlich in diesen Schwarzwald gefahren sei. Er war Sproß einer der mächtigsten Industriellenfamilien, verheiratet mit der Tochter einer anderen mächtigen Industriellensippschaft, seine Brüder und Schwäger galten als einflußreiche Lobbyisten der Rüstungs- und Exportindustrie, deren Fabriktore hätten geschlossen werden müssen, falls die Stimmbürger Schwarzwalds Initiative gefolgt wären; immerhin, vierzig von hundert stimmten gegen die Fremdarbeiter. Schwarzwald hielt überschwengliche Reden, sprach von Ruhe und Ordnung, von der sauberen Schweiz, vom christlichen Abendland, und er zählte all die Schlachten auf, welche die alten Eidgenossen vor Hunderten von Jahren gegen die Habsburger und Burgunder und andere königliche Heere gewonnen hatten. Aber er verschwieg, daß die alten Eidgenossen bis zu ihrer fürchterlichen Niederlage in der Schlacht bei Marignano als mit Kriegswaffen ausgerüstete Fremdarbeiter sich einmal dem Papst, ein anderes Mal den Spaniern, ein drittes Mal den Franzosen, ganz einfach jeweils jenem Fürsten oder König verkauft hatten, welcher die höchsten Stundenlöhne bezahlen konnte. Und er verschwieg auch, 172
daß jene Schweizer, welche in den dreißiger Jahren in Spanien gegen die Franco-Armee gekämpft hatten, nach dem verlorenen Krieg in schweizerischen Gefängnissen harte Strafen abbüßen mußten. Und daß in Amerika, in Deutschland, in Italien und in Frankreich und am Ende sogar in der Schweiz viele Arbeiter streikten und Hunderttausende von jungen Menschen auf die Straße gingen, begründete er damit, es fehle ihnen die rechte Gottgläubigkeit. Zardinis Tod kam Herrn Schwarzwald sehr ungelegen. Denn zu Gewalttaten, sagte er, habe er nie aufgerufen. Herrn Schwarzwalds Gegnern hingegen kam Zardinis Tod gelegen. Der Stadtrat von Zürich überwies der Witwe unverzüglich eine größere Summe und sprach öffentlich sein Beileid aus. Herr Schwarzwald sagte, Wirtshausschlägereien kämen immer wieder vor. Bedauerlicherweise. Und nach Zardinis Tod kam es überall in der Schweiz zu weiteren Wirtshausschlägereien. Fälle mit tödlichem Ausgang wurden allerdings nicht bekannt. In Zürich schrie einer, wenn ein Schweizer in der Schweiz einen dreckigen Italiener nicht mehr ungestraft bestrafen darf, wandere ich nach Griechenland aus. In unserem Dorf herrschte die gegenteilige Stimmung. Giovanni sagte, wenn die dreckigen Deutschschweizer Hunderttausende von Italienern in unser Land holen, damit diese für sie die Dreckarbeit machen, für welche sie selbst zu vornehm geworden sind, wenn sich so ein Italiener plötzlich als Mensch entpuppt, wo man doch geglaubt hatte, bloß eine Arbeitskraft importiert zu haben, und wenn diese dreckigen Deutschschweizer diesen Menschen totschlagen, weil er nicht nur eine Arbeitskraft ist, dann schlage ich vor, wir schenken die deutschsprachige Schweiz der Bundesrepublik. Mit Hilfe dieser Deutschschweizer können dann die Westdeutschen ihren Eroberungskrieg gegen Rußland bedenkenlos riskieren. 173
Lardelli aber, ein Piemontese, der zwei Jahre in Zürich als Küchenbursche gearbeitet hatte und vor zwei Monaten zu uns gekommen war und zur Zeit im Nachbardorf in einer Hemdenfabrik arbeitet, wurde wütend und sagte, nirgends in der ganzen Welt sind die Menschen so friedfertig, hilfreich und brüderlich wie in der Schweiz. Ich wette, dieser dreckige Zardini hat den Tod selbst verschuldet. Was hatte er in der Morgenfrühe in jener Kneipe zu suchen? Er war Gast dieses Landes. Er war gekommen, um hier zu arbeiten, um hier Geld zu verdienen. Seine Schuld, wenn er die ganze Nacht säuft und am Morgen nicht mehr weiß, was sich gehört. Was hast du gesagt, schrie Giovanni, du dreckiger Italiener verteidigst einen Totschläger? Ich verteidige nicht den Totschläger, ich sage nur, dieser Zardini würde noch leben, wenn er sich aufgeführt hätte, wie sich eben guterzogene Italiener aufführen. Du hast dich überhaupt nicht einzumischen in diesen Fall, sagte Giovanni und stand auf und ging an den Tisch, an welchem Lardelli saß. Primus stand ebenfalls auf. Ich erhob mich auch, aber ich ging in Richtung Tür. Was heißt, ich habe mich nicht in diesen Fall einzumischen? schrie Lardelli. Dieser Schwager, dieser Totschläger ist ein Schweizer, und er hat einen Italiener ermordet, und dafür gehört er ins Zuchthaus oder, noch besser, ebenfalls totgeschlagen, antwortete Giovanni. Der Tote war immerhin ein Italiener, also geht mich dieser Fall auch etwas an. Und ich bleibe dabei, die Schweizer sind ein friedfertiges Volk, das beweist schon die Tatsache, daß sie seit Hunderten von Jahren keine Kriege mehr geführt haben. Du Arschloch, sagte Giovanni, die machen jeden Krieg mit, wo immer auf dieser Welt ein Krieg stattfindet. Oder weißt du 174
nicht, mit was für Kanonen die deutschen Messerschmitts im letzten Weltkrieg geschossen haben? Ich lasse mich nicht Arschloch titulieren. Du bist schlimmer als ein Arschloch. Du bist ein mieser Patriot, du liebst dein Land nicht, ich weiß schon, du würdest dein Vaterland nicht verteidigen, ich habe dir oft genug zugehört, wie du die Armee deines Vaterlandes verhöhnt hast, wenn es auf dich ankäme, könnten die Russen morgen schon einmarschieren, du würdest keinen Finger rühren. Leute wie dich müßte man einsperren … Jetzt schlug Giovanni zu. Lardelli verlor das Gleichgewicht und stürzte auf die Steinfliesen. Primus versuchte, Giovanni in die Arme zu fallen, andere Gäste packten ihn an den Schultern, aber Giovanni schüttelte sie ab und stieß sie von sich, als ob es nur Fliegen gewesen wären, und wenn Tina nicht geschrien hätte, Giovanni, nimm Vernunft an, wäre Lardelli möglicherweise innerhalb weniger Wochen der zweite totgeschlagene Italiener gewesen. Tina schüttelte noch oftmals den Kopf, wenn wir darauf zu sprechen kamen. Eines Tages sagte sie, weißt du, ich muß immer darüber nachdenken, warum Giovanni so heftig reagiert hat. Schließlich ist auch er Italiener. Nur mit dem Unterschied, er besitzt die Niederlassungsbewilligung. Aber andererseits, wenn man bedenkt, daß er im zweiten Weltkrieg so etwas wie ein Partisanengeneral gewesen war … Die Zürcher wurden nach Monaten der Untersuchung auch elegant fertig mit der Geschichte. Schwager wurde aus der Haft entlassen. Ein anderer Gast wollte gesehen haben, wie einer, der ausgesehen hat wie ein Italiener, dem auf dem Boden liegenden Zardini mit beiden Füßen auf den Bauch gesprungen sei. Es sei alles so unheimlich schnell vor sich gegangen, daß er sich erst tagelang später wieder daran erinnert 175
habe. So der Zeuge. Der Gerichtsmediziner erklärte, Zardini könnte eventuell an der Verletzung der Bauchspeicheldrüse gestorben sein. Jener, der ausgesehen haben soll wie ein Italiener, konnte nie ermittelt werden. Herr Dr. Schwarzwald erklärte anläßlich einer neuen Kundgebung „Gegen die Überfremdung von Volk und Heimat“ wörtlich: „Damit ist der klare Beweis erbracht, daß nicht wir Gewalt säen.“ Nur eins ist unbestritten: Wäre Zardini nicht als Gastarbeiter in die Schweiz eingereist, hätte er auch nicht den Tod in einer Zürcher Kneipe erleiden müssen.
176
Das Schwarze Brett Der Gemeindevorstand hat beschlossen, eine außerordentliche Gemeindeversamm− lung durchzuführen, und zwar am kommen− den Donnerstag, dem 14. Januar. Traktandum: Die Lehrer von A. haben vorgeschlagen, dieses Jahr zum ersten Mal ein Skilager in Airolo durchzuführen. Nach Berech− nungen der Lehrer muß für jeden teil− nehmenden Schüler (ab 4. Klasse) Fr. 25,− bezahlt werden. Die Gemeinde wäre in der Lage, zusätzlich die Miete des Lagers und die Prämien für die außeror− dentliche Ski−Unfallversicherung zu übernehmen. Eine Abstimmung ist nach Gemeindeverordnung notwendig.
177
Pino Patocchi Pino Patocchi ist nicht von hier, er ist nicht einmal Schweizer, er ist Genuese, wohnt aber seit vielen Jahren in Mailand. Zu uns kommen auch viele Leute aus Mailand und Como. Viele haben am Rande unseres Dorfes oder in Nachbardörfern kleine Häuschen oder Mietwohnungen. Auch in dem Hause, in dem wir zur Zeit wohnen, gibt es einen Mailänder. Er ist Zahnarzt und kommt jeden Freitag und verbringt hier das Wochenende. Auch die Ferien verbringt er hier. Er muß nicht schlecht verdienen, alle diese Comonesen und Mailänder müssen ganz schön verdienen, daß sie sich bei uns oder in Nachbardörfern Ferienhäuser oder Ferienwohnungen halten können. Das ganze Jahr über. In Mailand sind die Lebenskosten gewaltig. Aber ich käme auch zu uns, wäre ich Mailänder. Im Sommer liegt eine dumpfe feuchte Hitze über der Poebene, der Zahnarzt sagt, man kann nachts nicht schlafen, und am Tag kann man nicht wach sein. Im Winter ist die Poebene in dicken Nebel eingewattet, und wer eine Viertelstunde in Mailands Straßen spazierengeht, muß danach baden und Wäsche und Kleider wechseln. Pino Patocchi könnte eigentlich das ganze Jahr hier leben. Er ist ein berühmter Schriftsteller. Er verdient unheimlich viel, aber er macht auch unheimlich viele Schulden. Er bezahlt selten gleich. Bei Tina hat er in der Regel eine Jahresrechnung von zehntausend Franken. In Mailand ißt er oft bei Biffi und läßt die Rechnung bis zu zwei Jahren stehen. Doch eigentlich haben die Leute gar kein Vertrauen zu ihm. Sie behaupten zwar 178
alle, Pino ist berühmt, Pino verdient Geld wie Heu, Pino ist zuverlässig. Ich glaube hingegen, alle haben Angst vor ihm. Er ist groß und kräftig, hat Hände wie ein Steinmetz; er hatte auch dieses Handwerk gelernt. Dann wurde es ihm zu langweilig. Er wurde Gangster. Ein richtiger Räuber mit Maschinenpistolen und zwei Gehilfen. Jahrelang überfiel er Bankfilialen und Postbüros in und um Mailand herum. Das war ein Leben, sagt er heute noch. Über Literatur, über seinen jetzigen Beruf kann man kaum mit ihm reden. Mit mir spricht er manchmal darüber. Aber nicht viel. Er sagt, ich kann ohnehin nicht schreiben. Ich schreibe zwar eine Geschichte auf, aber der Verleger macht daraus einen Roman. Darum steht vieles in meinen Büchern, von dem ich keine Ahnung habe. Ich kann das nicht beurteilen. Ich kann mir nur vorstellen, daß Pino die Wahrheit sagt. Ich kann Schriftsteller nicht leiden, sagt er auch, du bist eine Ausnahme, dich mag ich leiden, du hast mehr Verständnis für Gangster als für Literatur, du bist in Ordnung, aber die richtigen Schriftsteller, zum Beispiel die von Ascona, die würde ich am liebsten mit der linken Hand erwürgen, ihnen den Adamsapfel eindrücken, das macht so ein komisches Geräusch. Die Polizei hat Pino und seine zwei Gehilfen vor fünfzehn Jahren erwischt. Die Bullen sind die feigsten Hunde von der Welt, sagte Pino. Du hättest jeweils dabeisein sollen. Wir haben denen doch manchmal telefoniert, haben ihnen gesagt, wo und wann wir anzutreffen sind. Und wir wußten natürlich, wo sie sich verstecken konnten, und richteten uns danach ein. Was denkst du, was jeweils geschah, wenn wir ein paar Bohnen, tatatatata, in die Luft schossen? Die sind abgehauen. Ach geh, Bullen sind stark und mutig, wenn sie auf streikende Arbeiter und demonstrierende Studenten eindreschen können. Kenne ich. Aber vielleicht werde ich eines Tages wieder aktiv. Nein, 179
nicht Banküberfälle, habe genug Geld jetzt, aber ich werde für Ideen schuften. Übrigens könntest du mir mal genau erzählen, was das ist, Marxismus, das muß was Gutes sein, du bist doch auch so was. Nachdem die Polizei Pino Patocchi vor fünfzehn Jahren festgenommen hatte, log er vier Wochen, stritt alles ab, erzählte den Vernehmungsbeamten und dem Staatsanwalt dumme Geschichten, wurde dem Psychiater vorgeführt und sollte bei ihm einige Psychotests machen, zum Beispiel auch einen Assoziationstest. Da sagt dir der gute Mann, erzählt Pino, Christbaum, und du sollst ihm sagen, was dir dazu einfällt. Er sagte also Christbaum, und ich sagte, Frau im Bett. Er sagte Eisenbahn, und ich antwortete, Frau im Bett. Ich antwortete immer Frau im Bett. Der Psychiater wurde wütend, fragte, warum sagen Sie immer Frau im Bett, und ich sagte, ich denke immer und überall an Frau im Bett, ich mag Frau im Bett. Schließlich sangen seine beiden Gehilfen. Aber damit hatten die mich noch lange nicht. Interessant, sagte ich nur, erzählen Sie mir doch ein bißchen. So, so sagte ich, ich war also am 3. Dezember in Florenz. Wissen Sie, ich habe nie Tagebuch geführt. Und so. Na ja, die glaubten, ich brate, aber die schmorten. Ich habe rein gar nichts zugegeben. Die mußten mir alles beweisen. Aber am Ende waren dann eben doch fast zweihunderttausend Franken umgesetzt, und mir gaben sie zwölf Jahre Zuchthaus. Pino wurde nach acht Jahren begnadigt. Wegen guter Führung. Ich hab die doch nur hintergangen, bin doch nicht blöd, führ mich doch gut, wenn ich weiß, so schenken sie einem vier Jahre. Im Zuchthaus fing Pino an zu lesen. Aus Langeweile. Ich las alles und verstand überhaupt nichts. Aber es war schön, zu wissen, wenn ich zwanzig Seiten gelesen hatte, war eine Stunde weg. 180
Pino hatte seine Mutter schon als Kleinkind durch eine tödliche Krankheit verloren. Sein Vater war Fabrikarbeiter und ging 1941 zu den Partisanen. Die Deutschen erwischten ihn, als er in der Gegend vom Gardasee eine Eisenbahnbrücke mit Sprengstoff ausstopfte. Sie retteten die Brücke und hängten ihn auf. Pino strolchte durch die Poebene, lebte von Gemüse und von Baumfrüchten, von Trauben, schlief in Maisfeldern, im Winter, wenn’s zu kalt wurde, verkroch er sich in Heuschober. Nach Kriegsende wurde er von den Camerieris aufgegriffen, und irgendeine Jugendbehörde übergab ihn irgendeinem Waisenhaus, das von katholischen Schwestern geführt wurde. Ich lernte beten und singen und das Einmaleins und das Abc. Ich langte den Nonnen unter die Röcke und wurde dafür grün und blau geschlagen. Aber ich langte immer wieder unter die Röcke der Nonnen. Als ich sechzehn war, war ich groß und breit und stark wie heute, und die Nonnen hatten Angst vor mir. Sie gaben mir einige tausend Lire und ein Freßpaket und stellten mich vor die Tür. Mir war’s recht. Ich kam zufällig nach Bergamo, und dort lernte ich Luigi kennen, und Luigi gab mir Arbeit, ich wurde Steinmetz. Aber schon nach drei Jahren hatte ich das satt. Alle Leute fluchten und sagten, diese Pirellis und Fiats und Alfa Romeos und Montecattinis seien Gangster, und die Kommunisten sagten, man müsse streiken. Dann erzählten die Leute, daß einer in Rom mit einer Maschinenpistole eine kleine Bank ausgeraubt und ein paar Dutzend Millionen Lire gefunden habe. Dem gehe es jetzt gut, sagten die Leute, das sei ein Kerl, sagten sie, man sollte alle Banken ausrauben. Und ich dachte, was der in Rom konnte, kann ich in Mailand auch. In Bergamo wollte ich es nicht probieren, ich dachte, hier kennen dich zu viele Menschen. Aber ich fing da schon mit meiner Ausbildung an. Lesen konnte ich ja, und ich las möglichst viele Zeitungen, doch nur die Berichte über Überfälle und derglei181
chen. Glücklicherweise hatte Luigi einen Onkel, der bei der Polizei etwas Höheres war, und den fragte ich genau aus über Überfälle, und der konnte mir sehr viel helfen. Er sagte mir auch, wie man als Gangster zu den nötigen Maschinenpistolen oder Revolvern kommt. Das sei nicht schwer, sagte Luigis Onkel, du mußt einfach in ein Waffenarsenal der Armee einsteigen, mußt dich dabei natürlich nicht erwischen lassen, und da findest du alles. Und ich dachte, es ist doch gut, daß wir eine Armee haben, aber so leicht war’s dann doch nicht. Ich ging erst zurück nach Mailand, und da hatte ich Glück, weil ich da in der Nähe der Piazza del Duomo in einer Bar eine Frau kennenlernte, und diese Frau war eine Hure und verliebte sich in mich, sie sagte, sie brauche einen Freund wie andere Frauen und einen, der sie beschützen könne, ich sei stark, und so was brauche sie. Und ich brauchte sie. Sie verdiente eine Masse Geld, und ich wohnte bei ihr und konnte so in aller Ruhe ein Waffenarsenal ausfindig machen. Stela, so nannte ich sie, brachte mir auch sonst Glück, ich lernte durch sie viele andere, sehr gute Gangster kennen, die mich noch weiter ausbildeten. Wie viele Überfälle Pino Patocchi ausgeführt hat, weiß er selbst nicht. Er kennt auch nur das offizielle Register, das die Polizei aufgestellt hat. Man muß als guter Gangster solche Dinge sofort vergessen, sagt er, sonst läuft man Gefahr, sich daran zu erinnern und der Polizei alles zu sagen. Ich habe auch vor Gericht immer wieder gesagt, ja, meine Herren, das müßt ihr wissen, da bin ich überfragt, und wenn da gewisse andere Gangster Geschichten erzählen, bei denen ich angeblich als Chef mitgewirkt habe, bin ich für solche Erzählungen nicht verantwortlich. Im Zuchthaus fühlte sich Pino verlassen. Verwandte hatte er keine, Luigi in Bergamo wollte nichts mehr von ihm wissen, Stela hatte ihn schon längst verlassen, weil sie nicht einverstanden war mit seinen Banküberfällen. Sie sagte, ich habe 182
wirklich nichts gegen Gangster, im Gegenteil, aber ich bin dagegen, daß sich mein Freund unnötig in Gefahr begibt, ich verdiene genug, und was habe ich davon, wenn Pino eines Tages einsitzt. Stela hatte recht, von ihrem Standpunkt aus, sagt Pino, aber ein Mann muß doch was leisten, muß arbeiten, kann nicht Tag für Tag in den Bars herumstehen, flippern, Musikbox laufen lassen und auf die Kohlen warten. Weil Pino sich einsam im Zuchthaus fühlte, schrieb er einer Frauenzeitschrift, sie möge ihren Leserinnen mitteilen, daß er ein Gangster sei und einsam im Zuchthaus sitze und niemand auf der Welt habe und daß er wenigstens Briefe wünsche. Er bekam Hunderte von Briefen, und die Zuchthausleitung übergab sie ihm, und er las sie alle durch. Er wählte unter den vielen Schreiberinnen ein zwanzigjähriges Mädchen, und das ist heute seine Frau. Ich konnte ja damals nicht wissen, daß Angela die Tochter des damaligen Polizeiministers war. Es gibt Leute im Dorf und auch in Mailand, die nicht nur Angst haben vor Pino, sondern ihn auch abscheulich finden, weil er so oft brutal wird. Er soll, sagen die Leute, sich nun endlich entscheiden, ob er ein berühmter Exgangster sein will oder ein berühmter Schriftsteller. Es ist wahr, Pino kann sich nicht entscheiden. Er ist viel stolzer auf seine Laufbahn als Bankräuber als auf seine Erfolge als Geschichtenerzähler, wobei ich sagen muß, daß Pino bis heute nur Geschichten aus dem Gangster-, Zuchthaus- und Hurenmilieu geschrieben hat. Man kann nicht sagen, es seien Selbstbiographien, aber gut sind die Geschichten, man spürt sogleich, daß der Autor weiß, worüber und wovon er schreibt. Er sagt oft zu mir, wer weiß denn sicher, daß ich von meinen Büchern lebe? Vielleicht bin ich wieder Gangster. Denk an all 183
die Überfälle, über die in den Zeitungen geschrieben wird, und von den Tätern fehlt jede Spur. Ausgeschlossen ist es nicht, daß Pino immer noch gangstert. Pinos Bücher werden von den Literaturkritikern nicht ernst genommen. Die Leser aber nehmen Pino ernst. Die Auflagen seiner Bücher gehen in die Hunderttausend. Seine Bücher werden verfilmt, man macht Fernsehspiele daraus, und sie werden in viele Fremdsprachen übersetzt. Das erste Buch schrieb Pino im Zuchthaus. Eigentlich, sagt Pino, wollte ich gar kein Buch schreiben, sondern ein Begnadigungsgesuch an den Staatspräsidenten. Ich schrieb und schrieb, wollte dem Staatspräsidenten klarmachen, daß ich allein nicht schuldig sei, daß die Umstände mich dazu gebracht hätten, und ich erzählte mein halbes Leben. Aber als ich so rund tausend von Hand geschriebene Blätter dem Direktor ablieferte mit der Bitte, sie an den Staatspräsidenten weiterzugeben, lachte der und sagte, Sie schreiben ja neuerdings Romane. Er las das Zeugs, kam zu mir in die Zelle und sagte, das könne er nicht an den Staatspräsidenten schicken, er habe alles geprüft, die Hälfte zumindest stimme nicht überein mit den Akten. Ich sagte, Herr Direktor, ich habe meine Wahrheit geschrieben und nicht die des Herrn Staatsanwaltes … Der Zuchthausdirektor hatte die Tochter eines ehemaligen Verlagslektors geheiratet, und darum wußte sie ein bißchen Bescheid. Sie las Pinos Begnadigungsgesuch auch, fand auch, die Hälfte sei nicht wahr, jedoch eine gute Geschichte, und schickte das Manuskript ihrem alten Vater. Der wieder übergab es dem Sohn jenes Verlegers, für den er dreißig Jahre lang die traurige oder gar niederschmetternde Arbeit eines Lektors geleistet hatte. Der Juniorverleger setzte einen Verlagsvertrag auf, der Zuchthausdirektor ein taugliches Begnadigungsgesuch, und so verließ Pino Patocchi das Zuchthaus als Schriftsteller. 184
Wie ich schon sagte, die gebildeten Feuilletonredaktoren nahmen Pinos Roman nicht zur Kenntnis, das heißt, ich nehme an, sie verschlangen ihn genauso heißhungrig wie die ehrliche Arbeiterfrau und die Sekretärin, aber sie überließen es den Boulevardzeitungen und den Illustrierten, Pino zu Ruhm und Popularität zu verhelfen. Auch die Tageszeitungen der Sozialdemokraten und Kommunisten berichteten ausführlich über Pinos Vorleben und waren alle der Meinung, Pino habe mit dem Roman soziale Mißstande angeprangert. Die Kommunisten gingen sogar so weit und verlangten wegen Pinos erstem Roman eine Totalrevision des Strafgesetzbuches und der Vollziehungsverordnung zum Strafvollzug. Die einfachen Menschen nannten Pino einen „Rächer der Enterbten“, aber jene, die er mit seinen zwei Gehilfen ausgeraubt hatte, verlangten jetzt, da er reich zu werden drohte, ihr Geld zurück. Wegen des Urteils mußte er, wiederum durch das Urteil eines Zivilgerichtes, rund eine halbe Million Franken (umgerechnet) zurückbezahlen, denn bei bandenmäßigen Raubzügen, so will es das Gesetz, haften die Bandenmitglieder solidarisch. Die beiden Arschlöcher, sagt Pino, die nie Phantasie, aber immer die Hosen voll gehabt und schließlich gesungen haben, sind beide mit fünf Jahren davongekommen, und ich, der alles mit ihnen geteilt hat, konnte hinterher bezahlen. Auch der Polizei- und Justizminister wehrte sich gegen die Vorwürfe der Kommunisten. Er erklärte anläßlich der Parlamentsdebatte, wie vorzüglich der Strafvollzug gestaltet werde, beweise Pino Patocchi, dieser sei im Zuchthaus zum berühmten Dichter herangereift. Pino weiß und weiß doch nicht, was ihm geschehen ist. Der Erfolg hat ihn stolz und arrogant gemacht, aber auch unsicher. Er liest seit seiner Entlassung viel, aber er trinkt auch viel. Und vieles, das er liest, versteht er nicht. Ich bin ein Analphabet geblieben, sagt er, und das, meine ich, beweist, daß er doch kein 185
Analphabet mehr ist. Ich sagte ihm mehrmals, Pino, jetzt mußt du dich entscheiden : Was ist wichtiger für dich, daß du Gangster gewesen oder daß du heute ein erfolgreicher Schreiber bist? Ich entscheide mich erst, wenn ich den Nobelpreis bekommen habe. Daß die Bürger Geschriebenes einteilen in Unterhaltungs-, Trivial-, Volks-, Arbeiter- und Literatur-Literatur, hat Pino nie begriffen, aber er weiß, daß die Bürger braven Dichtern oder solchen, die sie unschädlich machen möchten, Goethe-, Schiller-, Büchner-, Gottfried-Keller-, C.-F.-Meyer- und Adenauer-Preise austeilen. Mich interessieren nur die Piepen, sagt Pino. Seine Frau Angela ist, ich kann es nicht anders sagen, da auch ich bürgerlich-christliche Erziehung genossen habe, ein Engel, wie ihr Name zeigt. Klein und, was das Körperliche betrifft (oder man meint zumindest), zerbrechlich, zart. Ich meine, Pino sei ein Stier von einem Mann, aber auch das ist ein überholtes Bild, ich sollte es wissen, denn ich bin bei Bauern und somit auch unter Stieren aufgewachsen. Wer sanft umgeht mit Stieren, hat es nur mit sanften Stieren zu tun. Angela, das weiß ich, geht sanft um mit Pino, aber trotzdem packt ihn plötzlich die Wut. Packt ihn die Wut in der Küche, schmeißt er sämtliche Teller und Tassen und Untertassen, die im Küchenschrank sind, ohne die Fenster zu öffnen, in den Garten. In Mailand hat er eine größere Wohnung als bei uns. In Mailand hat er auch ein Gästezimmer. Und da er, seit er berühmt ist, auch viele Bewunderer und Freunde hat, die ihn gern tage-, wenn nicht wochenlang besuchen, hat er das Bett eines Tages, ohne das Fenster zu öffnen, auf die Straße geworfen. Ein Passant wurde dabei verletzt, die Polizei kam und entschuldigte sich. Pino ging ins Krankenhaus zum Verletzten, brachte ihm Blumen, Pralinen, Whisky und zehntausend Franken und hatte einen Bewunderer mehr. 186
Angela schüttelt nicht einmal den Kopf. Sie hat Pino einen Jungen geboren, und der ist so ungestüm wie der Vater. Darauf ist Pino sehr stolz. Was soll dein Sohn werden, falls du es bestimmen könntest? Bankräuber, antwortet Pino. Pino und Angela kommen oft und, ich glaube, gerne zu uns. Angela und Marianne gehen dann in die Küche, und wenn sie nicht Kochrezepte austauschen, reden sie über Männer, daß Männer unmögliche Kreaturen sind. Marianne sagt zum Beispiel, man dürfe nicht sagen, der Mann sei der letzte Mensch. Richtiger sei zu sagen, der Mann sei der erste Mensch, den man nie in Serie hätte herstellen dürfen. Pino entwirft laufend präzise Überfallpläne. Ich glaube, es gibt in Mailand keine Bank, keine Postfiliale, die er nicht ausgekundschaftet hätte. Er kennt die Sicherungs- und Alarmanlagen aller Banken, aller Postfilialen. Er kennt auch alle Securitas-Männer, er weiß, auf was für Umwegen man an die Schließfächer gelangt, und ich übertreibe sicher nicht, daß sämtliche Kassiere und Posthalter von Mailand, ja sogar von ganz Italien, Pino jede Menge Geld geben und dafür ein Autogramm verlangen würden, wenn er nur endlich als Räuber auftauchte. Alle machen es Pino leicht. Pino schreibt an den Generaldirektor einer Großbank, ich beabsichtige, Ihren Laden auszuräumen, bitte geben Sie mir Gelegenheit, den Tatort vor der Tat genau kennenzulernen. Darauf antworten die Generaldirektoren, sehr verehrter, lieber Herr Patocchi, darf ich Sie am nächsten Dienstag zu einem Souper bei Biffi einladen. Vorher würde ich Ihnen gerne unser Institut zeigen … Pino nimmt alle Einladungen zu Soupers an. Und wenn die Einladenden nach dem Espresso mit doppeltem Grappa fragen, und jetzt, verehrter Herr Patocchi, sagt Pino, jetzt eine einundzwanzigjährige blonde schlanke Hure mit einem Porsche. Die Einladenden lächeln, winken den Oberkellner herbei und fra187
gen diskret, ob er so was kenne oder gar auf Lager habe. Manchmal muß Pino auch zufrieden sein mit einer vierundzwanzig-jährigen, kastanienbraunen Schlanken mit einem Fiat 124 Sport. Pino liebt die Huren. Er schläft auch mit ihnen. Aber von ihm nehmen sie kein Geld an. Sie lassen sich von ihm zu großen Soupers einladen, und wenn er nach einem Souper den unwiderstehlichen Trieb empfindet, suchen sie ihm eine Kollegin. Blumen und Goldreife hingegen nehmen sie an. Sie gehen auch ins Bett mit ihm, wenn er es wünscht. Angela weiß alles. Pinos Safaris dauern immer drei und vier Tage. Danach kehrt er nach Hause zurück, meistens am frühen Morgen, legt sich zu Angela ins Bett, beginnt zu weinen und erzählt Angela in allen Einzelheiten, was er getrieben hat. So verderbt, so schlecht sei diese Welt, sagt er dann, und zu mir sagt er, es ist meine moralische Aufgabe, die Reichen auszurauben, Geld macht die Menschen schlecht.
188
Das Schwarze Brett Infolge des Todes des von uns allen verehrten Giuliano Torti ist das Amt des Gemeindeweibels neu zu besetzen. Seine Aufgaben: Verteilung der Wahl− und Stimmformulare. Verteilung zwei Mal jährlich der Steuerrechnungen. Bei Todesfällen für die Erstellung der Gräber zu sorgen. Betreuung der Kirchenuhr. Der Gemeinderat hat in seiner letzten Sitzung beschlossen, das Amt des Ge− meindeweibels mit demjenigen des Kir− chendieners zu vereinigen. Alle Arbeiten, welche er am Dienste der Kirche verrichtet (Betätigung des Ge− läutes, Kirchenreinigung, Besorgung der nötigen Kerzen, etc.), entschädigt das Pfarramt. Die Bewerbungen müssen schriftlich er− folgen.
189
Violetta Violetta ist nach fünf Jahren ins Dorf zurückgekehrt. In diesem Dorf wird man über alles informiert, auch über Vorgänge, die weder stattgefunden haben noch stattfinden werden, doch daß Violetta zurückkehren würde, wußte niemand. Hätte es jemand gewußt, dann hätte es Tina bestimmt erfahren, und Tina hätte es mir gesagt, hätte gesagt, bereite dich gut vor oder geh ihr aus dem Weg, Violetta ist bestimmt die Hexe, die sie war, geblieben, und wenn sie kommt, kommt sie, um sich zu rächen. Vielleicht hätte Tina auch nur gesagt, Violetta kommt. Gestern abend saß ich mit Marianne bei Tina. Wir tranken eine Flasche Burgunderwein, weil man nicht jahrelang täglich Tessinerwein trinken kann. Auf einmal ging die Türe auf, und Violetta kam herein. Sie sah mich, Tina war gerade in der Küche, sie kam an unseren Tisch, lächelte, gab mir die Hand und sagte friedlich und erfreut, schön, dich wieder einmal zu sehen. Ich stand auf und fragte, bist du es wirklich? Violetta antwortete, ja, ich bin es wirklich. Ich sagte, das ist Marianne, ich habe wieder geheiratet, und Violetta erwiderte, ich weiß, meine Tante, hat es mir geschrieben, deine Frau heißt Marianne und kommt aus der französischen Schweiz, du hast sie hier kennengelernt, und ihr habt in Paris beschlossen, ein Paar zu werden … Violetta wandte sich an Marianne und sprach sie in französischer Sprache an. Seit wann sprichst du französisch? Dummkopf, antwortete Violetta, erstens lernen wir hier in der Schule 190
Französisch, zweitens habe ich fünf Jahre in Frankreich gelebt, in Lyon und später in Marseille. Tina kam aus der Küche, und Violetta ging auf sie zu und umarmte und küßte sie. Und dann erfuhren wir, daß Violetta niemandem geschrieben hatte, daß sie kommen würde. Nicht einmal ihre Tante hatte sie informiert, dabei wohnt sie bei ihrer Tante, seit sie zehn Jahre alt war, denn in diesem Alter hatte sie ihre Mutter verloren, diese war an Krebs gestorben, hier sterben viele an Krebs, und einen Vater hatte Violetta nie gehabt. Ich versuchte im vergangenen langen Winter aus purer Langeweile zu erfahren, wer Violettas Vater ist oder war, aber es kamen verschiedene Männer, lebende und bereits gestorbene, in Frage. Ich fragte Violetta, bist du auf Urlaub, oder bist du zurückgekehrt? Ich bin zurückgekehrt, antwortete sie, und Tina sagte sofort, du könntest bei mir servieren, ich bin alt geworden und finde niemand. Violetta blieb an der Theke stehen und trank einen Espresso, und dann ging sie wieder, verabschiedete sich in französischer Sprache, lächelte Marianne zu und sagte, passen Sie gut auf ihn auf. Qu’est-ce que c’est comme histoire? fragte Marianne, und Tina kam an unseren Tisch und sagte, sie hat sich schon verändert, findest du nicht, ihr Gesicht zeigt Ruhe und Sicherheit, ich fürchte, der Schlag treffe mich, als ich sie sah, ob sie wohl noch immer das alte Luder ist? Mà, sagte ich, wie kann ich das wissen? Daß sie so freundlich zu dir war, ja geradezu herzlich ... In diesem Augenblick mußte Tina wohl eingesehen haben, daß sie zu weit gegangen war, zu weit im Hinblick auf Marianne. Qu’est-ce que c’est comme histoire? Eigentlich ist es die Geschichte, die traurige meiner Freunde, und weniger jene Violettas und die meine. Die vom Dorf haben damals gesagt, Violetta sei halt eine Hure, und haben sie 191
aus dem Dorf vertrieben. Für mich ist Violetta nie eine Hure gewesen, und ich habe ihr auch nie etwas nachgetragen. Es geschah im dritten Sommer, den ich mit meiner Familie in diesem Dorf verbrachte. Die Blechmusik jubilierte ihren fünfzigsten Geburtstag, man tanzte und trank im Grotto und auf der Piazza, und es gab wohl kaum einen Menschen, der nicht wenigstens angeheitert in den Abend hineinschlitterte. Ich kannte Violetta schon ganz gut. Sie war zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt, einen Kopf kleiner als ich, schlank, und wenn ich jetzt Worte suche, um ihr Gesicht, und was ihr Gesicht ausstrahlte, zu beschreiben, gerate ich in Verlegenheit. Violetta war schön, sie ist es natürlich noch immer, Violetta war zierlich und kräftig in einem. Violetta hatte einen schlechten Ruf. Doch den hatte sie schon von der Mutter übernehmen müssen. Violetta hatte viele Männer. Im Sommer während der Touristensaison arbeitete sie oft in Lugano als Bardame. Aber sie hielt es nirgends lange aus. Die Barbesitzer schimpften, weil Violetta immer nur einen der vielen Gäste bevorzugte, so daß die anderen wütend wurden und nicht mehr kamen. Violetta schimpfte, weil die Barbesitzer von ihr verlangten, daß sie es mit jedem ein wenig treibe. Ich bin doch keine Hure, sagte sie. Violetta hatte viele Männer, jüngere und ältere, ärmere und reichere, und sicher kam es mehr als einmal vor, daß sie den einen und anderen am Narrenseil herumführte. Sie selbst sagte zu mir, ich liebe es, Männer scharfzumachen, vor allem brave Männer unseres Dorfes. Und genau das machte sie auch mit mir. In jenem Sommer waren bereits mehr als zehn meiner Freunde aus Zürich und Basel, einer sogar aus Hamburg, ins Dorf gekommen, wohnten bei Tina und machten hier ihre Ferien. Am Fest der „Filarmonica“ gingen wir alle in den Grotto hinunter. Meine damalige Frau war unpäßlich und blieb zu Hause. Im Grotto tanzte ich vor allem mit Violetta. Wir tranken 192
beide nicht schlecht, und als die Sonne unterging, die heftige Wärme des Tages aber blieb, sagte Violetta, komm, wir gehen ins Dorf, wir tanzen auf der Piazza weiter. Wir gingen ins Dorf. Violetta legte ihren Arm um meine Hüften und ich den meinen um ihren Nacken. Violetta drückte ihren heißen und sehnigen Körper so stark gegen mich, daß ich immer wieder vom Weg abkam. Ich hielt an und küßte Violetta, und sie sagte, ich will dich, komm. Wir langten im Dorf an, gingen auf die Piazza, und da sagte Violetta, komm, komm, wir gehen hinaus aufs Feld, es ist warm jetzt, und ich will dich mitten im Feld haben. Also verließen wir die Piazza und gingen Richtung Campagna. Als wir am anderen Ende des Dorfes ankamen, etwa dort, wo jetzt das Haus steht, in welchem wir wohnen, dieses fürchterliche Mehrfamilienhaus, drückte ich Violetta an mich, und wir küßten und streichelten uns gegenseitig, und plötzlich stieß sie mich weg und schrie, du bist ein schönes Schwein, hast Frau und Kinder und willst mit mir schlafen, was bildest du dir eigentlich ein? Ich war erst sprachlos, dann kam die Wut, und ich packte Violetta an den Schultern und schrie, du bist ein Dreckspatz, eine Hure, du bist, du bist … Ich stieß sie weg, und sie taumelte und fiel auf den Hintern, und ich lief ins Dorf, und auf der Piazza traf ich meine Freunde. Als ich eine Weile gesoffen hatte, dachte ich, sie hat recht. Nach ungefähr zehn Minuten erschien schreiend und heulend Violetta, und erst jetzt sah ich plötzlich, daß auch sie besoffen war. Violetta schrie, auf mich zukommend, der da hat mich ermorden wollen, der hat mich vergewaltigen wollen, der da … seht mich an … Keiner konnte es übersehen: Ihr Gesicht und ihre Hände bluteten und waren zerkratzt. So, sagte ich, vergewaltigt und ermordet man keine Frau. Seht ihr vielleicht Würgespuren? 193
Meine Freunde umringten Violetta und mich. Die Männer vom Dorf bildeten einen zweiten Ring. Violetta schrie nach Polizei. Dieses gemeine Schwein, schrie sie, gehört ins Zuchthaus. Ich sagte, die ist ja besoffen. Die hat es mit mir haben wollen und jetzt … Hör doch auf, schrie einer meiner Freunde, Violetta lügt nicht, und du bist ein trauriger Hund, wenn du jetzt nicht die Courage hast, dazu zu stehen. Ein zweiter Freund sagte, wir kennen dich doch, und wir kennen auch deine faule Theorie, und wir wissen, daß es zwischen dir und deiner Frau schon längst nicht mehr geht. Und der vierte sagte, du befindest dich in Sexualnot, und deine einzige Chance besteht darin, alles zuzugeben. Zwischendurch versuchte Violetta, mich anzugreifen, sie krümmte ihre Finger mit den langen roten Fingernägeln, sie wetzte die Krallen, aber immerhin beschützten meine Freunde mich vor ihr. Violetta schrie immer noch nach der Polizei. Es war längst dunkel geworden, es brannten die rotgelb-blau-grünen Lämpchengirlanden, die Kleinformation der „Filarmonica“, die Bandella, spielte nicht mehr zum Tanz auf, Besoffenen entfielen volle und halbvolle Weingläser, und ich dachte bereits darüber nach, wie es sein würde, wenn die mich an Ort und Stelle aufhängten. Doch dann durchbrach Plinio, der stellvertretende Bürgermeister, den Ring meiner besten Freunde und sagte, da er auch Deutsch verstand, Violetta ist eine notorische Lügnerin, wenn ein Mann eine Frau ermorden will, dann kratzt er nicht, sondern würgt sie oder nimmt eine Axt oder einen Revolver. Wir kennen ihn, sagten meine Freunde, seine Ehe geht nicht gut, was Violetta sagt, stimmt, wir haben ihre Schreie gehört. Welche Schreie? Meine Freunde redeten, als ob sie das Ehrenbürgerrecht dieses Dorfes anstrebten. Plinio ging zu Violetta und flüsterte ihr etwas zu, ich weiß nicht, was, ich hörte nur, daß Violetta 194
schrie, du bist auch so ein etabliertes Schwein. Dann lief sie weg, rannte zu Tina, und wie ich später hörte, schlief sie in jener Nacht bei Tina. Ich schlief nicht in jener Nacht. Ich hörte immer wieder meine Freunde sagen, wir haben die Schreie gehört, Violetta lügt nicht, bei ihm ist das drin.
195
Das Schwarze Brett Der Gemeindevorstand teilt mit: Da durch zahlreiche Neubauten und In− stallationen von Badezimmern der Was− serdruck von vier atü nicht mehr aus− reicht, wurde eine Zusatz−Wasserpumpe installiert. Der Wasserdruck wird nun 12 atü betragen. Die Zusatzpumpe wird in drei Wochen in Betrieb gesetzt. Es wird jeder Hausbesitzer aufgefordert, seine Apparate und seine Wasserleitun− gen durch einen Fachmann kontrollieren zu lassen (Boiler, Waschmaschinen etc.), um mögliche schwere Schäden zu verhindern. Wir machen darauf aufmerk− sam, daß in einzelnen Häusern u. U. De− pressions−Apparate eingebaut werden müssen.
196
Yvonne und Pietro Yvonne, zweiunddreißig Jahre alt, aus Frankreich stammend, durch die Heirat mit Pietro Tessinerin geworden, sagte, ich werfe noch einmal viel Geld aus dem Fenster und hole ihn mit dem Leichenwagen zurück. Mehr tu ich nicht mehr für ihn. Yvonne telefonierte kurz nach vier Uhr. Wir waren bei Tina, wo wir auf sie und Pietro warteten. Ich habe nach einem zweistündigen Zeremoniell die Grenze passieren dürfen, sagte sie, in zwanzig Minuten sind wir im Dorf. Wir gingen fünfzehn Minuten später in den Kirchturm hinüber und zogen am Strang der großen Glocke. Für Frauen darf nur die kleine Glocke geläutet werden. Wir läuteten aber keineswegs zu Pietros Ehren. Pietro selbst hatte nach der zweiten Kommunion nie wieder eine Kirche betreten und bezeichnete sich großspurig als Atheisten; wir läuteten, um unsere Mitbürger hinters Licht zu führen, Yvonne wollte nicht, daß irgend jemand erfahren würde, wie und warum Pietro in Neapel gestorben war. Wir zogen während zehn Minuten am Strang, hoffend, daß der Leichenwagen in dieser Zeit das Trauerhaus erreicht haben würde. Dann gingen wir alle den Weg hinunter, der am Ende in den Grotto einmündet, denn Yvonne und Pietro hatten in diesem Weg ein altes Haus gekauft, für wenig Geld, das Haus im Laufe der Jahre renoviert, Badezimmer, Duschräume, moderne Küche installiert für unsäglich viel Geld. Immerhin, das Haus hat zwölf Zimmer, und immer, wenn man Pietro sagte, du spinnst, du hast ja gar kein Geld, wozu zwölf Zimmer, drei 197
Badezimmer und so weiter, antwortete er, ich brauche ein großes Haus, weil ich viele und bedeutende Gäste in meinem Haus unterbringen muß. Der Sarg lag noch im Totenauto, als wir ankamen, und Yvonne und der Chauffeur traten gerade wieder aus dem Haus. Der Katafalk, bestehend aus zwei einfachen, mit schwarzem Tuch drapierten Holzböcken, und die vier zwei Meter hohen Kerzenständer sowie die Riesenpalmenzweige, alles Dinge, welche die Kirche den Toten ausleiht bis nach der Beerdigung, waren bereits in Pietros Spielzimmer, das durch die Wohnküche und den Livingroom einfach zu erreichen war. (Warum Pietro zeit seines Lebens darauf bestanden hatte, das schöne rustikale Wohnzimmer Livingroom zu nennen, hat er nie erklärt.) Die anderen, Plinio, Arturo, Marcello und so weiter, die alle Pietros wegen ihrer Arbeit ferngeblieben waren, trugen den Sarg ins Totenzimmer. Während Arturo die Siegel aufbrach und mit Marcellos Hilfe den Sargdeckel abhob, zündete ich die Kerzen an. Dann standen wir einen Augenblick neben Pietro und stellten fest, daß er schön und friedfertig schlafe, doch Yvonne kam dazu, schaute ihn auch an und sagte, dieser Blödian. Wir gingen in die Wohnküche, entkorkten eine Menge Flaschen Wein und warteten auf die ersten Trauergäste. Sie kamen bald, und bald war die Wohnküche voll, und Yvonnes Augen wurden feucht, denn die Leute, all die alten Frauen und Hutzelmännchen, waren während der vergangenen Jahre nie so lieb zu ihr gewesen wie jetzt. Aber der Kult der Totenwache und der Klageweiber hatte sich verändert, niemand betete, niemand sang, und niemand jammerte und klagte, alle redeten nur von den schönsten Beerdigungen, die je in diesem Dorf stattgefunden hatten, und alle meinten, die Beerdigung Pietros werde auch eine der schön198
sten. Und niemand fragte, warum Pietro ausgerechnet in Neapel und mit knapp vierzig Jahren gestorben war. Hätte freilich Yvonne von sich aus angefangen, darüber zu reden, wäre es zu eifrigen Debatten gekommen, aber Yvonne schwieg und trank Wein wie wir alle, und ihr Schweigen wurde respektiert. Um elf Uhr nachts rief Marianne an und fragte, ob ich vorhätte, die Nacht bei Yvonne zu verbringen. Dabei wußte Marianne sehr genau, daß Pietro und Yvonne unsere Freunde waren und daß ich beiden gegenüber besondere Verpflichtungen hatte. Ich hätte allerdings auch Grund gehabt, wütend zu sein auf Pietro, denn drei Jahre lang haben er und ich an einem Filmdrehbuch gearbeitet, und jetzt, da er einen römischen Koproduzenten gefunden hatte, den richtigen Regisseur und auch der deutsche Schauspieler Leonard Steckel den Vertrag unterschrieben hatte, flog Pietro erneut nach Neapel, stieg in einem mittelgroßen Hotel ab, legte seine wenigen Utensilien, Armbanduhr, Brieftasche, Taschenmesser, Paß und so weiter, auf den Tisch, schrieb eine Notiz an die Polizei: Ich bin Pietro Sacchi, Filmproduzent, und habe am Abend des 28. Juni vierzig Tabletten Valium zu je 5 Milligramm eingenommen. Er hängte das Schild „Do not disturb“, „Bitte nicht stören“, an die Außenseite der Zimmertüre, schloß die Türe mit dem Schlüssel, zog diesen aber ab, damit man das Zimmer leicht würde öffnen können. An der Rezeption hatte er vorsorglich gesagt, er sei hundemüde und werde unter allen Umständen bis zum nächsten Mittag schlafen. Sie entdeckten ihn erst am frühen Abend des folgenden Tages und auch nur deshalb, weil der Direktor vor Wochen ein liederliches Zimmermädchen eingestellt hatte. Er rechnete diesem Mädchen einmal mehr vor, daß es täglich drei bis vier Zimmer vergesse, daß sich die Gäste beschwerten und zum Teil deswegen abreisten. Er ging mit dem schlampigen Mädchen durch die Etagen, von Zimmer zu 199
Zimmer und fragte, hast du dieses Zimmer gemacht? Das Mädchen sagte immer ja, und der Direktor machte Stichproben, und so öffnete er zufällig auch Pietros Zimmer. Er sah sogleich, daß da nichts mehr zu machen war. Als Yvonne zwei Tage später eintraf, sagte er, sehen Sie, es hätte auch sonst nichts genutzt. Um in die nächste Klinik zu gelangen, muß man den Bahnhofplatz überqueren, und wer den Bahnhofplatz von Neapel kennt, weiß, daß da die Ambulanzen keine Chancen haben. Wir haben aber auch zuwenig Ambulanzen und zuwenig Ärzte, und er war ja ohnehin schon tot. Die Polizei kam dann auch erst kurz vor Mitternacht, sie hatten Pietro inzwischen in einen Abstellraum abgeschoben, und auch der Polizeiarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Yvonne und ich bekamen zwei Tage nach seinem Verschwinden und einen Tag nach seinem Tod Abschiedsbriefe. Einige Stunden später, ich hatte mich schon bereit gemacht, erneut nach Neapel zu fliegen, um den Dummkopf zurückzuholen, traf das Telegramm des Konsuls von Neapel ein. Yvonne rief mich an und sagte, du kannst den Flug absagen. Pietro hatte immer gesagt, vedere Napoli e poi morire, Neapel sehen und dann sterben. Er mochte es nicht wahrhaben, daß dieser beschwörende Satz auf einer Fehlinterpretation beruht: In einem alten Reiseführer steht nämlich geschrieben, Reisender, erst siehst du Neapel, dann Morire. Und Morire ist nichts anderes als ein kleiner Flecken in der Nähe von Neapel und hat mit Sterben nichts zu tun. Aber Pietro hat Neapel geliebt. Pietro war neapelkrank, Pietro fuhr bei jeder Gelegenheit nach Neapel, und wenn’s nach mir gegangen wäre, hätten wir Pietro in Neapel beerdigt. Ich blieb bis nach Mitternacht bei Yvonne. Als ich heimkehrte, war ich mittelschwer betrunken und Marianne wütend. 200
Yvonne, sagte sie, kann ja noch von Glück reden, denn wär’s nach ihr gegangen, wären die beiden jetzt geschieden, und sie bekäme keine Witwenrente. Ich mußte Marianne korrigieren. Nicht Yvonne hatte ständig von Scheidung gesprochen, sondern Pietro. Mindestens zehnmal war Pietro nach Neapel geflogen oder mit dem Auto hinuntergefahren und hatte Yvonne geschrieben, nächsten Monat würde er die Scheidung beantragen. Mir hatte er jeweils geschrieben, den größten Fehler, den ich in meinem Leben gemacht habe, ist der, daß ich die einzige Frau, die ich liebe, heiratete. Wir beerdigten Pietro am nächsten Tag. Es war ein Freitag und sehr heiß. Um drei Uhr kam der Priester in seiner verblichenen Soutane mit vier Ministranten ins Trauerhaus und segnete die Leiche ein. Während der Priester den geschlossenen Sarg noch einmal mit Weihwasser bespritzte, füllte sich das Dorf mit Menschen, die Pietro die letzte Ehre geben wollten. Von allen Nachbardörfern kamen sie, sogar von Locarno und Lugano, denn einem die letzte Ehre erweisen bedeutet einen arbeitsfreien Nachmittag, bedeutet alte Freunde und Bekannte wiedersehen. Marianne war wieder freundlich geworden und verhielt sich, als trauere sie heftig um Pietro, dabei hatte sie ihn nie so richtig gemocht, aber auch das nur, weil er immer behauptet hatte, ein Mann, der eine Frau wirklich liebe, heirate diese Frau nicht. Willst du vielleicht behaupten, mein Mann liebe mich nicht? Es war nicht schwierig, Pietro in die Enge zu treiben, und darum antwortete er jedesmal, die Ausnahme bestätige die Regel. Yvonne hatte bei „Albatros“ ein sehr schönes schwarzes Kostüm gefunden, schwarz, hatte sie gesagt, aber mini. Mir war nichts anderes übriggeblieben, als mit Marianne ebenfalls nach Lugano zu fahren, und auch sie hatte ein hübsches Kleidchen gefunden, nicht schwarz allerdings, aber auch nicht aufdringlich lustig. Auch mini. Und jetzt standen wir vor 201
dem Haus, und vier Männer, die dem Gemeindevorstand angehören, Plinio, Arturo und andere, trugen den Sarg aus dem Haus, ihm gingen der Priester und die Ministranten voraus, Chichis Mutter hatte wie eh und je die Rolle der Vorsängerin übernommen, Marcello jene des Maitre de plaisir. Er rief mit gewaltiger Stimme, jetzt die Familienangehörigen, jetzt die nahen Freunde, jetzt seine Geschäftsfreunde, jetzt die vom Dorf, jetzt die Auswärtigen. Denn in einem Dorf muß alles seine Ordnung haben. Der Sarg wurde in die Kirche getragen, die Tinas Osteria gegenüber steht. Die Piazza war voll von riesigen Kränzen mit riesigen Schleifen, auf denen mit Blattgold in riesigen Lettern die Namen der Spender standen. Plinio hatte mir schon oft gesagt, der oder jener müßte eigentlich, ob seiner Kranzspenden bedeutend mehr Steuern bezahlen. Vor dem Kirchenportal angekommen, löste ich mich von Mariannes Arm und sagte, ich bin aus der Kirche ausgetreten, also kann ich Pietros wegen nicht wieder eintreten. Aber da Marianne anderseits bei Yvonne eingehakt hatte und Yvonne sie über die Schwelle des Portals mitzog, konnte Marianne nicht mehr antworten. Sie verschwand in der Kirche, ich in Tinas Osteria, in der ich gerade noch einen Stehplatz an der Theke fand. Eine traurige Beerdigung, sagte Tina. Sie. hatte ihren Platz am Fenster, das wußten alle, und niemand wagte es, sich auf ihren Stuhl zu setzen. Sie saß hinter dem geschlossenen Fenster wie vor dem Fernsehschirm, sie nahm alles wahr und berichtete noch viele Tage nach Beerdigungen, wer dabeigewesen war und wer nicht, und oft kam es zu Auseinandersetzungen, sagte einer, was, Tina, du hast mich nicht gesehen, ich glaube, du mußt dir jetzt einen Operngucker anschaffen. Das Requiem dauerte über eine Stunde. Yvonne hatte viel Geld dafür ausgegeben. Ich denke, sie hat ein einstündiges 202
Requiem bezahlt, um die Leute von der wahren Todesursache Pietros abzulenken. Mir hingegen – und anderen auch – tat sie keinen guten Dienst. Ich trank einen Pernod nach dem anderen, wobei ich gestehen muß, daß ich Pernod eigentlich gar nicht mag, und war blau, als das Requiem endlich zu Ende war. Tina sagte, sie kommen. Sie sagte, was für ein prächtiger Sarg. Geh jetzt, rief sie mir zu, Pietro war doch dein bester Freund, warum sterben bei uns die jungen Männer? Es ist wahr, in den letzten zwei Jahren starben fünf Männer, und keiner war älter gewesen als fünfundvierzig. Der eine war nach einer Magenoperation nicht mehr aufgewacht, der zweite starb an Krebs, der dritte und der vierte erlagen einem Herzinfarkt, und nur der fünfte, Rinaldo, starb eines natürlichen Todes; er war Rangierbeamter bei der Bundesbahn gewesen und war beim Kuppeln der Lok an den Hamburg-Rom-Expreß in Chiasso zwischen die Puffer geraten. Plinio, Arturo und das Dorf schoben den Sarg ins Totenauto, der Priester mit den Ministranten schritt diesem voraus und sang die Litanei. Chichis Mutter trug das große verwaschene Holzkreuz und führte mit greller Stimme den Chor der Weiber an. Rossi, der Chauffeur, setzte sich ans Steuer, drehte fünfmal den Zündschlüssel, bis der Motor endlich ansprang. Ich stand neben ihm und sagte, willst du eine unserer schönsten Beerdigungen sabotieren? Er fluchte und sagte, glaubst du, das liegt an mir? Ständig muß ich diese Karosse im ersten Gang fahren, das mag der Motor nicht, wie oft komme ich schon auf die Autobahn? Sie hatten das Grab in jenem Teil des Friedhofes ausgehoben, der laut Alfredo immer noch ihm gehörte und daher jedes Grab widerrechtlich geschaufelt würde. Alfredo drohte noch immer, er werde diesen unbezahlten Teil eines Tages mit dem Bagger ausheben, aber er nahm an jedem Trauerkondukt teil 203
und drängelte sich, auf dem Friedhof angekommen, immer in die erste Reihe der Zuschauer. Vielleicht dachte er, ein bevorzugter Platz stehe ihm immerhin zu. Mitten im Friedhof gibt es einen kleinen viereckigen Platz, und in der Mitte desselben steht ein von Marcello betonierter Katafalk. Auf diesen stellten sie den Sarg, und der Priester sang noch eine Litanei und betete anschließend ein langes Gebet in lateinischer Sprache. Dann ging er zum Grab und segnete es. Danach eilte er davon, die Ministranten ratlos zurücklassend. Ich erfuhr später durch Tina, daß er in A. noch eine Beerdigung zu leiten hatte. Nachdem der Priester fort war, stellte sich Plinio mit gespreizten Beinen hinter dem Katafalk auf und las eine Laudatio vom Blatt. Lieber Pietro, du warst ein Kind unseres Landes. Zwar bist du nicht in unserem Dorf zur Welt gekommen, aber du bist zurückgekehrt, als du den Höhepunkt deiner Schaffenskraft und deines Erfolges erreicht hattest. Und so weiter. Alles erlogen und erstunken. Arturo kam mit langsamen Schritten auf mich zu, kam dicht an mich heran und flüsterte mir ins Ohr, man erwarte allgemein auch von mir einige Worte des Abschieds. Also stellte ich mich, nachdem Plinio, seinen Vers aufgesagt hatte, ebenfalls hinter dem Sarg auf und sagte, Pietro, warum bist du ausgerechnet in dem Augenblick zurückgetreten, wo du endlich einen Schimmer von Erfolg gesehen hast, wenn auch am fernen Horizont, warum, Pietro, hast du dein und mein Geschäft des Lebens vermasselt, was soll jetzt aus uns werden? Dennoch wünschen wir dir alle alles Gute im Himmelreich … Wie gesagt, ich hatte bei Tina etliche Pernods zuviel getrunken, die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, kaum ein Hauch von Wind, und dazu meine Wut auf Pietro. Aber außer Yvonne verstand kaum einer, was ich sagte, denn erstens sagte ich es in deutscher Sprache und zweitens nicht sehr laut, und 204
drittens flog gerade eine DC 9, die in Mailand landen sollte, über uns hinweg. Nach mir redete noch einer, ich kannte ihn nur vom Sehen, dann endlich legten sie die Seile unter den Sarg und trugen ihn zum Grab. Kaum hatten sie die Seile wieder hochgezogen, erschien Tullio im Überkleid, mit einer Schaufel bewaffnet, und begann mit seiner Arbeit, während Yvonne noch immer den Sarg anstarrte. Ich sagte nur, so komm jetzt, worauf wartest du noch? Sie weinte auf einmal, drückte ihr Gesicht an meine Brust und sagte, er war ein so lieber Mensch, ich war so glücklich mit ihm, warum hat er sterben müssen? Tote Männer, nehme ich an, sind immer liebe Männer, mit ihnen hat man immer glücklich gelebt. Vor vier Wochen kam Yvonne eines Morgens aufgeregt zu mir und sagte, jetzt ist Pietro übergeschnappt, stell dir vor, er hat das ganze Geld von der Bank abgehoben und ist weg. Er ist nach Neapel, sagte ich, dahin geht er immer. Aber das hat er noch nie getan. Ich rufe die Polizei. Was hat er noch nie getan? Das ist doch nicht eigentlich sein Geld. Welches Geld? Siehst du, was für ein Kerl er ist, dir hat er nichts gesagt. Was hätte er mir sagen sollen? Daß er für die Produktion eures Filmes immerhin schon hunderttausend Franken beisammen hatte. Stimmt, davon hat er mir nie etwas gesagt. Aber er war ja auch nicht dazu verpflichtet. Du mußt ihm sofort nachreisen, sagte Yvonne, der ist nämlich verrückt geworden, du mußt ihn zurückholen, und wenn er da ist, lasse ich ihn entmündigen. Ich flog noch am gleichen Tag nach Neapel. Yvonne hatte behauptet, er steige immer im gleichen Hotel ab. Sie hatte 205
recht, er wohnte auch diesmal in diesem Hotel. Aber an der Rezeption sagte man mir, Herr Sacchi dürfe unter keinen Umständen gestört werden. Immerhin verriet man mir die Zimmernummer. Ich ging zum Lift und fuhr in die vierte Etage. Ich hatte Glück, es kam gerade ein Zimmermädchen den Korridor entlang, und ich sagte, entschuldigen Sie, ich kann meinen Schlüssel nicht finden, würden Sie bitte mein Zimmer aufschließen. Das Mädchen öffnete die Türe, ging davon, und ich sah Pietro schlafend auf dem Bett liegen. Auf dem Tisch schön geordnet seine Utensilien, sein Paß, dazu die Notiz, ich bin Pietro Sacchi und habe am Abend des 25. Mai fünfzehn Tabletten Valium zu fünf Milligramm genommen, ich ersuche Sie, meine Frau zu benachrichtigen … Ich rüttelte und schüttelte den schlafenden Pietro, aber er reagierte überhaupt nicht. Ich alarmierte den Chef der Rezeption, und der sagte zunächst, Sie haben überhaupt nichts zu suchen in einem fremden Zimmer. Als er endlich begriff, daß Pietro, sein Gast, versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, sagte er, was stellen Sie sich eigentlich vor, ich kann doch meinen Posten nicht verlassen, aber wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen eine Leitung, und Sie können einen Arzt oder eine Klinik anrufen. Zum Teufel, sagte ich, wie kann ich einen Arzt oder eine Klinik anrufen, wenn ich kein Telefonverzeichnis habe? Ach ja, ich schicke Ihnen einen Pagen mit einem Telefonverzeichnis. Der Page kam nach zehn Minuten und half mir, die richtigen Nummern zu finden. Ich rief wahllos eine Klinik nach der anderen an. Die Sprecherin der ersten Klinik antwortete, wir haben keine Ambulanzen. Die zweite Klinik hatte auch keine Ambulanzen. Ich soll mich an die Polizei wenden. Ich wandte mich an die Polizei. Der Sprecher der Polizei sagte, wir alarmieren die Rettungswache nur, wenn Ärzte uns die Notwendigkeit bestätigen. Wir haben sowieso keine Ambulanzen frei, 206
und selbst wenn wir eine frei hätten, wie, glauben Sie, käme die jetzt durch den abendlichen Stoßverkehr, aber rufen Sie gleichwohl einen Arzt an. Der Chef der Rezeption gab mir die Nummer eines Arztes, ich rief ihn an, die Praxisgehilfin meldete sich und sagte, der Herr Doktor mache prinzipiell keine Hausbesuche. Ich sagte, mein Freund habe fünfzehn Tabletten Valium à fünf Milligramm geschluckt und sei am Sterben. Übertreiben Sie nicht, antwortete sie, aber ich gebe Ihnen die Telefonnummer eines Arztes, der Hausbesuche nicht ablehnt. Ich rief den zweiten Arzt an. Der kam aus Versehen selbst an den Apparat. Valium, sagte er, das ist doch nichts; ich habe jetzt Feierabend; aber rufen Sie die Mariahilf-Klinik an, das ist eine Privatklinik, sehr teuer … Ich untersuchte Pietros Rocktaschen und fand, sage und schreibe, sechzigtausend Franken. Also Mariahilf-Klinik, sagte ich und rief diese an. Wir nehmen grundsätzlich keine Selbstmörder auf, sagte die Frauenstimme in der Mariahilf-Klinik. Es gibt eine Privatklinik, die sich mit solchen Fällen befaßt. Die Schwester, ich nahm an, es sei eine, gab mir die Telefonnummer einer anderen Privatklinik. Da sagte man mir, ja gerne, kommen Sie mit Ihrem Freund, Ambulanzen haben wir leider keine, nehmen Sie einfach ein Taxi. Das Taxi traf zwanzig Minuten später ein, aber als ich den Chauffeur bat, mir zu helfen, den halbtoten Pietro vom Zimmer in den Wagen zu tragen, lehnte er ab. Ich mußte annehmen, daß der Chef der Rezeption den Mann informiert hatte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als Pietro allein runterzutragen. Die Klinik lag am anderen Ende der Stadt. Wir müssen mit einer Stunde Fahrt rechnen, sagte der Chauffeur. Es geht um Leben und Tod, antwortete ich, aber das beeindruckte ihn nicht. Dennoch fuhr er wie ein Verrückter. Er überholte andere Wa207
gen links und rechts, fuhr auch über Kreuzungen, wenn die Ampeln rot waren, fuhr auf der durch gelbe Streifen markierten Bahn für öffentliche Autobusse, aber ich merkte allmählich, daß die anderen genau das gleiche taten. Der Chauffeur sagte, er habe zwei Jahre in Wuppertal als Gastarbeiter gearbeitet, er könne daher Vergleiche anstellen, die Neapolitaner, sagte er, sind keine Italiener, die machen, was sie wollen. So erreichten wir die Klinik schon nach vierzig Minuten. Aber es vergingen noch einmal zehn Minuten, bis zwei Krankenschwestern mit einer Tragbahre kamen. Und wo ist der Arzt? fragte ich. Der Arzt? Wir haben keinen eigenen Arzt, unsere Patienten bringen ihre eigenen Ärzte mit, hat man Ihnen das nicht gesagt? Ob sie so liebenswürdig wären und mir einen Arzt bestellen würden? Um diese Zeit? Es ist doch jetzt Nachtessenszeit! Die Schwestern waren jedoch liebenswürdig und riefen mehrere Ärzte an, sie hatten Ausdauer und schließlich Erfolg. Während der ganzen Zeit saß ich auf dem Bettrand oder stand am Fenster und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Als der Arzt nach einer Stunde eintraf und sich über Pietro beugte, schlug dieser die Augen auf und stammelte einige Worte, die ich nicht verstand. Der Arzt sagte empört zu mir, was fällt Ihnen eigentlich ein, der Mensch da lebt ja, dem fehlt nichts. Ich wiederholte, Pietro habe Valium geschluckt, eine Überdosis. Aber er lebt, antwortete der Arzt. Er hatte recht, Pietro lebte wieder. Der Arzt verlangte fünfzehntausend Lire und Pietro eine Zigarette. Als der Arzt gegangen und Pietro mehr und mehr zu sich gekommen war, sagte ich, warum hast du das getan? Was? Warum hast du mich nicht sterben lassen? Pietro, antwortete ich, du hast selber schuld, das nächste Mal mußt du die doppelte Dosis nehmen. Das mußt du mir nicht zweimal sagen, antwortete er und schlief wieder ein. Ich ging auf den Korridor 208
hinaus und suchte eine Schwester. Ich traf eine und bat sie, auf Pietro aufzupassen, ich wäre in zwei Stunden wieder zurück. Es war eine freundliche Schwester, und sie versprach, auf Pietro aufzupassen. Ich ging in die Stadt und suchte ein Reisebüro, um für den nächsten Tag zwei Flugplätze nach Mailand zu buchen. Als Pietro am nächsten Morgen erwachte, fraß er, als hätte er vier Jahre Hunger gelitten. Er redete über das Wetter und schlug eine Fahrt nach Iscchia vor, sagte, er gäbe Kliniken den Vorzug vor Hotels, vorausgesetzt, es gäbe in den Kliniken auch Alkohol. Doch er sagte kein Wort, als ich ihn darauf aufmerksam machte, unser Flugzeug starte in zwei Stunden. Über sein Valiumabenteuer verloren wir kein Wort, und ich muß sagen, daß ich bis heute auch nicht einen Hauch von Grund für seinen Selbstmord gefunden habe. Pietro war in Genf zur Welt gekommen als Sohn eines hohen Beamten der Oberzolldirektion. Geschwister hatte er keine. Seine Eltern waren beide über vierzig gewesen, als es ihnen endlich geglückt war, einen Stammhalter zu erzeugen. Nach Yvonnes Erzählungen soll er ein unproblematisches Kind und später ein mittelmäßiger Abiturient gewesen sein. Für eine bestimmte Fakultät an der Universität hatte er sich nicht entscheiden können, so entschied der Vater für ihn, ebenfalls in die Dienste der Oberzolldirektion einzutreten. Mit dreißig Jahren wurde er der Zollfahndungsabteilung zugeteilt, und nach kurzer Ausbildungs- und Dienstzeit im Zollbezirk Genf versetzten sie ihn auf seinen Wunsch in den Zollbezirk Lugano. Er war Bürger dieses Dorfes, und da er der Sohn eines hohen Staatsbeamten war, selbst ein von Geheimnis umwitterter Zollfahnder und daher auch Freund der Schmuggler, war er angesehen, und beliebt und umsorgt. Unser Pietro! Er hieß aber laut Paß Pierre. Pietro tat seinen Dienst gleichgültig. Er hatte, wie Yvonne 209
behauptet, von Kindesbeinen an nur eine Leidenschaft gekannt: Film. Er gab viel Geld aus, um seiner Leidenschaft zu frönen. Er benützte die Ferientage, um Filmfestivals zu besuchen: Berlin, Venedig, Cannes, Locarno, aber auch Oberhausen. In seinem Arbeitszimmer fanden wir nach seinem Tod Tausende von Standfotos und Hunderte von Fotos, die ihn mit weltberühmten Regisseuren und Filmschauspielern zeigten. Yvonne sagte, das habe ich immer vermutet, aber gezeigt hat er mir diese Fotos nie. Film war sein Passion und seine Krankheit. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er an dieser Krankheit starb. An dieser Krankheit hatte er dreißig Jahre gelitten. Aber kein Arzt hätte diese Krankheit diagnostizieren können. Als er fünfunddreißig war, starb seine Mutter, und kurz danach auch der Vater. Die Lebensversicherung, die sein Vater hinterließ nebst einem kleinen Barvermögen, töteten ihn; Pietros Krankheit wurde akut. Er trat aus dem Staatsdienst aus, kassierte die bisher einbezahlten Pensionsbeträge und wurde Filmproduzent. Er kannte Krethi und Plethi unter den Filmschauspielern und zeigte diesen den Ausbruch der tödlichen Krankheit mittels persönlicher Briefe an. Krethi und Plethi gratulierten ihm, boten sich ihm an. Bei Tina erzählte er, Paul Belmondo hat mir geschrieben, es gehe ihm sehr gut, Curd Jürgens hat mich in der vergangenen Nacht um halb vier angerufen, du meine Güte, was war der blau, Marlene Dietrich hat mich nach Los Angeles eingeladen, aber leider kann ich jetzt nicht zu ihr, denn ich bereite einen Breitleinwandfilm vor mit Sophia Loren, Heinz Rühmann und Jean Gabin, einen dreisprachigen Film, international … Ich habe in meinem Leben oft mit Filmproduzenten zu tun gehabt und werde noch mit ihnen zu tun haben, und darum wußte ich, daß Filmproduzenten genauso lügen wie Theaterdi210
rektoren, Verleger, Schauspieler, Regisseure und Schriftsteller. Die Frage ist ja nicht, lügen oder nicht lügen, sondern gut lügen oder miserabel lügen. Pietro war ein guter Lügner, und darum ist die Trauer um ihn auch entsprechend heftig und anhaltend. Wir haben einen Lügner verloren. Aber gerade weil er einer war, darf man’s nicht sagen. Pietros Krankheit war schon ausgebrochen, als Marianne und ich vorübergehend ins Dorf kamen. Pietro war zunächst mir gegenüber zurückhaltend und sehr höflich. An mir haftete seit vielen Jahren der Ruch, ein engagierter Schriftsteller zu sein, links zu stehen, und Pietro gestand mir später, er habe anfänglich Angst davor gehabt, ich würde ihn als Ausbeuter, dreckigen Kapitalisten und Playboy beschimpfen. Als er dann merkte, daß ich nichts weiter bin als ein Geschichtenerzähler, ein Entertainer, der die Schmuggler und die Räuber liebt, schloß er mich in sein verwundetes Herz. Er bestellte eine Filmgeschichte bei mir und bezahlte dafür ein Salär, mit dem ich endlich den Alfa Romeo bezahlen konnte. Das Geheimnis um Pietros Tod konnte bis auf den heutigen Tag im Dorf gewahrt werden. Das heißt, sein Tod ist und bleibt – für wie lange noch? – ein Geheimnis. In den ersten Tagen und Wochen redete man viel darüber. Krebs, Leukämie, Diabetes, Herzinfarkt? Yvonne, jetzt, da er tot ist, plappert es ihm nach: „Neapel sehen und dann sterben.“ Morire, sage ich noch heute, ist ein dummes armes Nest südlich von Neapel, auch wenn morire deutsch sterben und auf französisch mourir heißt. Aber du siehst es ja am Beispiel Pietros, er ist in Neapel gestorben! Schön. Yvonne hat Pietro schon immer verinnerlicht. Wenn er, weil er besoffen war, nicht Liebe machen konnte mit Yvonne, dann konnte er nicht, weil er sie zu sehr liebte, weil er über eine Liebesgeschichte nachdachte, die er auf die Breit211
leinwand, Welturaufführung in Lugano, bringen wollte. Pietro litt. Laut Yvonne. Yvonne ist noch heute davon überzeugt, mehr, Yvonne ist sicher, ist ohne Zweifel. Obgleich sie sechs Wochen nach seinem geheimnisvollen Tod das Haus hat räumen müssen und zur Zeit bei Tina in der Osteria wohnt. Das Haus mit zwölf Zimmern, sagt sie allen Leuten, mit zwei Badezimmern, hat keinen Sinn mehr für mich. Das Haus gehört jetzt einem deutschen Filmproduzenten. Er hat es in Zahlung genommen. Auf die restlichen achthunderttausend Mark, die ihm der tote Pietro noch schuldig ist, will er (muß er?) verzichten. Aus dem Haus macht er ein Ferienhaus. Wenn das wahr ist, hat Marianne vorgestern gesagt, ziehen wir weg. Ich weiß noch immer nicht, woran Pietro wirklich gestorben ist. Das heißt, ich sage, er ist an der Krankheit Film gestorben oder, anders gesagt, weil Pietro nicht rechtzeitig erkannt hat, daß Filmstars, Regisseure, Produzenten und Kinobesitzer Geld und nicht Filme wollen. Er wollte Filme. Er wollte Illusionen. Er war ein lieber Mensch. Ich danke es immerhin ihm, daß ich die letzten sechstausend Franken, die ich dem Lieferanten des Alfa Romeo noch schuldete, bezahlen konnte.
212
Das Schwarze Brett Infolge Personalmangels und infolge des Umstandes, daß immer häufiger Past− Milch im Konsum gekauft wird, muß der Ausschank von Frischmilch auf die Zeit zwischen 18.30 Uhr und 19.00 Uhr einge− schränkt werden. Die Entgegennahme der Milch bleibt mor− gens wie abends unverändert.
213
Daniel Am Abend des ersten Schultages nach den Weihnachts- und Neujahrsferien kehrte der Jüngste nach Hause zurück, knallte die Schulmappe auf den Tisch im Korridor und sagte, Scheiße. Ich sagte, man sagt nicht Scheiße. Er antwortete, im Fernsehen sagen sie auch Scheiße, und du hast auch schon Scheiße gesagt. Warum aber, fragte ich, brauchst du dieses Wort überhaupt? Er müsse einen Aufsatz schreiben. Und? So ein blödes Thema! antwortete er. Was? Was ihm an Weihnachten die größte Freude bereitet habe. Das ist doch kinderleicht, sagte ich. Nein, antwortete er, kinderleicht hast du es, deine Zeitung schreibt dir nicht vor, was du zu schreiben hast, du hast es kinderleicht, weil du immer nur über das schreibst, was dir gerade paßt. Ich helfe dir, sagte ich. Wir setzten uns an seinen Schreibtisch. Er, gerade zehn Jahre alt geworden, dachte nach. Dann nahm er den Füllfederhalter und schrieb: „Ich habe mich über nichts gefreut.“ Er steckte die Füllfeder ins Etui zurück und schlug das Aufsatzheft zu. Ende. Ich sagte, du bist ein undankbarer Sohn, hast du dich wirklich über nichts gefreut? Ich muß nicht dankbar sein, antwortete er, du sagst es ja selbst immer. Du mußt, sagte ich, nicht im blöden Sinn dankbar sein. Du bist verpflichtet, mir Geschenke zu machen, antwortete er. Und nur, weil du eine Pflicht erfüllst, hast du keine Dankbarkeit verdient. Ich war ratlos. 214
Komm, sagte ich schließlich, fangen wir von vorne an. Er nahm den Füllfederhalter wieder murrend aus dem Etui und schlug das Aufsatzheft erneut auf. Er dachte nach und schrieb dann, am meisten haben mich die Geschenke gefreut. Nachdem er diesen Satz geschrieben hatte, steckte er die Füllfeder erneut ins Etui. Das ist doch kein Aufsatz. Deine Lehrerin erwartet sicher mehr von dir. Streng dich doch ein bißchen an. Hast du dich nur über die Geschenke gefreut? Du bist genauso dumm wie die Lehrerin, sagte er, aber er nahm die Füllfeder wieder und schrieb, ich habe mich auch am meisten darüber gefreut, daß ich zehn Tage nicht in die dumme Schule mußte. Ich sagte, sehr schön, aber du mußt jetzt auch noch begründen, warum du dich an den Geschenken gefreut hast und an den Ferien und warum du die Schule dumm findest. Er schrieb, ich freue mich am meisten an den Geschenken, weil ich mich immer an Geschenken freue. Die Schule finde ich dumm, weil man nichts lernt. Du übertreibst, sagte ich. Hast du etwas gelernt in der Schule? Ja, ich habe lesen und schreiben gelernt und rechnen und Geometrie und Geschichte und … Wenn ich mit einem Rechenproblem zu dir komme, sagst du immer, geh zur Mutter, weil du nichts davon verstehst. Wir haben eben damals nach einer anderen Methode gerechnet. Also ist die Schule dumm, weil du jetzt nicht rechnen kannst. Ich muß nicht rechnen können, sagte ich, meine Aufgabe ist … Und warum hast du so viele Bücher auf den Bücherregalen? 215
Das sind Lexika und Nachschlagebücher, Bücher über Geschichte und Philosophie und so weiter. Siehst du, wenn du in der Schule wirklich Geschichte gelernt hättest, brauchtest du jetzt keine Bücher über Geschichte. Und jedesmal, wenn ich dich frage, was ein Wort bedeutet, sagst du, einen Augenblick bitte, und dann nimmst du ein Buch aus dem Regal, und du mußt lange Zeit suchen, und dann hältst du mir einen Vortrag. Das könnte ich auch. Das, antwortete ich, kann ich nur, weil ich es in der Schule gelernt habe. Du hast gar nichts gelernt. Wie könnte ich denn mein Leben mit Schreiben verdienen, wenn ich nichts gelernt hätte? Ich will aber mein Leben nicht mit Schreiben verdienen, ich werde Taxichauffeur. Warum Taxichauffeur? Da hat man viel freie Zeit, man kann im Auto sitzen und Zeitung lesen. Siehst du, sagte ich, wenn du Taxichauffeur werden willst, mußt du erst recht zur Schule gehen. Weil du ja lesen willst. Und wenn du die Taxiprüfung machen willst, mußt du lesen und rechnen können. Warum rechnen? Du mußt zum Beispiel den Bremsweg ausrechnen können. Du bist blöd, antwortete er, ich fahre nicht so schnell, daß ich bremsen muß. Ich sagte, nun schreibe wenigstens alles das auf, was wir jetzt miteinander, geredet haben, so kann die Lehrerin vielleicht etwas lernen. Ich habe nicht gesagt, die Lehrerin sei dumm, ich habe gesagt, die Schule sei dumm. Schreib das. 216
Du gehst mir auch auf die Nerven, sagte er, aber er schrieb. Am nächsten Tag brachte er mir einen Brief der Lehrerin mit. Sie schrieb: „Sie sollten wenigstens der Jugend gegenüber verantwortungsbewußter sein.“
217
Das Schwarze Brett Die Destillier−Brennerei steht uns in der Woche vom 18. bis 25. Januar zur Verfügung. Anmeldungen unter Angabe der Quantität sind an die Gemeindekanzlei zu richten bis zum 12. Januar.
218
Mein Sohn Oliver Heute früh um sechs klingelte die Hausglocke. Ich erwache meistens etwas vor oder nach sechs Uhr. Und kurz nach sechs rasselt auch Mariannes Wecker, und dann ist’s ohnehin mit Schlafen vorbei. Die Hausglocke klingelte also, und schließlich rutschte ich brummend und schlecht gelaunt aus dem Bett, sagte, was für ein Idiot kann das sein, Telegramm ist unmöglich, Polizei? Aber was will die Polizei? Es war Oliver. Ich sagte, ach, du bist es, grüß dich, wie geht’s dir? Ich gab ihm links und rechts einen Kuß auf die Wangen, mußte mich wie immer dabei leicht strecken, denn Oliver ist zehn Zentimeter größer als ich, obwohl er gerade erst sechzehn geworden ist. Er küßte mich ebenfalls links und rechts auf die Wangen, kam herein, schloß die Wohnungstüre und stellte seine Reisetasche in der Diele ab. Kann ich baden? fragte er. Vor sieben, antwortete ich, soll man nicht baden, das fließende Wasser macht einen Heidenlärm, ich verstehe überhaupt nicht, warum die Erfinder noch immer kein System erfunden haben, mit dem man geräuschlos Badewannen füllen kann. Ich mach dir einen Kaffee, sagte ich, oder möchtest du einen Orangensaft, ich trinke seit Monaten jeden Morgen Orangensaft, frisch gepreßten, in den nüchternen Magen. Kürzlich sagte mir der Geschäftsführer einer Filmgesellschaft, Orangensaft auf den nüchternen Magen reiße die Schleimhäute ein. In einem gewissen Alter unterhält man sich nicht nur über Geld und Frauen, sondern auch über Gesundheit und Ernäh219
rung. Ein Freund, der Werbeberater für Reformhäuser ist und von vegetarischer Ernährung schwärmt, selbst aber am liebsten Filets und Steaks und Ragouts frißt und dazu literweise Beaujolais, Burgunder und andere französische Rotweine säuft, bringt mir seit Jahren bei, daß ich fleischlos essen und dafür sorgen soll, daß mein Vitaminhaushalt ausgeglichen sei. Oliver zog seinen Mantel aus und setzte sich ins Eßzimmer. Ich ging, bevor ich den Kaffee machte, zu Marianne und sagte, es ist nur Oliver. Es ist nur Oliver, äffte Marianne mich nach, es ist nur Oliver, und du bist sanft wie ein Schaf, ich glaube, du bist wirklich ein Schaf, warum brüllst du ihn nicht an? Warum soll ich ihn anbrüllen? Immerhin, sagte Marianne, da haut er mir nichts, dir nichts ab, läßt wochenlang nichts von sich hören, kehrt morgens um sechs zurück, und du begrüßt ihn, als käme er gerade aus dem Urlaub. Beruhige dich, sagte ich, ich bin ja froh, daß er wieder da ist. Ich auch, antwortete Marianne, aber du mußt es ihm nicht zeigen. Wenn du schon froh bist, dann spiele wenigstens Zorn. Liegt mir nicht. Mir gegenüber spielst du manchmal auch den Wütenden, sagte sie. Nein, antwortete ich, auf dich bin ich manchmal wirklich wütend, und wenn du jetzt von mir verlangst, Oliver gegenüber den Zornigen zu spielen, werde ich wütend auf dich. Ach geh, sagte Marianne, du hast überhaupt keine Ahnung, was Erziehung heißt. Ich ging in die Küche und setzte die Filterkaffeemaschine in Betrieb, preßte auf dem elektrischen Apparat sechs Jaffa-Orangen aus. Oliver ging ins Badezimmer und wusch sich Gesicht und Hände. In den Zeitungen lasen wir jeden Tag Berichte über junge Leute, die Haschisch und LSD nehmen, und Marianne sagte, ich glaube, Oliver ist auch nicht ganz astrein. Ich sagte, wie kommst du darauf, mein Sohn macht so was nicht mit. Aber er machte mit. Obwohl er eine Freundin hatte und diese Freundin übers Wochenende jeweils einlud, obwohl er mit seiner Freundin 220
Liebe machte und mit Marianne und mir darüber sprach, damit aus ihm ein guter Liebhaber würde. Seiner Freundin wegen machte er mich nur einmal richtig wütend. Nämlich als er mich von Lugano aus anrief und sagte, bitte geh in die Apotheke und kauf ein Verhütungsmittel. Ich antwortete, gottverdammt, wenn du willst, beschaffe dir doch selbst die Verhütungsmittel, aber er sagte, er habe zuwenig Geld bei sich. Das wunderte mich, denn er hatte nach meiner Rechnung genug Geld bei sich. Daß er mit dem Geld statt Verhütungsmittel Haschisch kaufte, kam mir nicht in den Sinn. Ich kam erst dahinter, als die Polizei anrief und fragte, ob mein Sohn Oliver hasche. Der Polizeibeamte sagte, wir haben ihren Sohn nun öfter in haschverdächtigen Kreisen gesehen, wir haben Ihren Sohn auch zu einer Aussprache eingeladen, und da wir einige Erfahrungen im Umgang mit Jungen haben, die trippen, sind wir so gut wie sicher, daß er auch … Als Oliver abends heimkehrte, fragte ich ihn, und er stritt nicht ab, einige Joints geraucht zu haben, aber er sagte, den letzten Joint habe er vor sechs Wochen gehabt. Er sagte, Hasch erweitere das Bewußtsein, und das nahm ich ihm ab, wenn auch skeptisch. Marianne sagte, du mußt ihm das strikt verbieten, und Marianne verstand nicht, daß man mit Verboten nicht weiterkommt. Ich fuhr eine Woche später nach Zürich, Oliver hatte mir erklärt, in welchem Café man Haschisch kaufen könne, und so ging ich in jenes Café und beschaffte mir für dreißig Franken Stoff. Wieder daheim, bat ich Oliver, auch mich in das Geheimnis dieser Bewußtseinserweiterung einzuweihen. Ich hatte gerade eine üble Periode, nichts fiel mir ein, und ich zog es vor, Geschirr zu spülen, die Fußböden zu bohnern und hinter dem Haus das Gras zu mähen. Die Schreibmaschine ließ ich tagelang zugedeckt. Oliver drehte zwei Joints, und wir rauchten das Zeugs in seinem Zimmer. Zu Marianne hatte ich gesagt, ich werde heute 221
dem Sohn die Leviten lesen. Tu das nur, antwortete sie, aber gib nicht klein bei. Wir rauchten also einen Joint, aber mein Bewußtsein wurde von Minute zu Minute kleiner statt größer. Nach einer Stunde verspürte ich ein unheimliches Schlafbedürfnis, ich legte mich ins Bett und schlief sofort ein. Nach jenem Abend redeten wir stundenlang über Drogen. Ich dachte nicht daran, autoritär aufzutreten, Oliver das Jointen rundweg zu verbieten, denn was hätte ein solches Verbot verhindert? Aber auch mit dem „gut zureden“ kam ich nicht weiter. Ich konnte bald genau sehen und erkennen, wann Oliver gehascht hatte und wann nicht. Das Schulsekretariat schickte jetzt auch häufiger Absenzmeldungen, und Oliver brauchte plötzlich Geld, um irgendwelches Material für die Schule zu kaufen. Ich rief das Schulsekretariat an und fragte, warum man die Schüler zwinge, für viel Geld Material zu kaufen. Man antwortete mir, mehr als zweimal jährlich komme es nicht vor, daß Schüler ausnahmsweise Material beschaffen müßten, das Schulmaterial werde seit Jahren vom Staat bezahlt. Als Oliver am Abend heimkehrte, sagte ich, du bist ein Lügner, und er schrie mich an, ich bin kein Lügner, ich schlug ihn, und Marianne packte mich von hinten und weinte und schrie, bist du eigentlich übergeschnappt? Oliver ging in sein Zimmer und ich in die Küche und fing an zu saufen. Ich war furchtbar wütend auf mich, weil ich Oliver geschlagen hatte, aber ich war auch wütend auf Oliver, weil er mich so weit gebracht hatte. Als ich genug Wein hatte, legte ich mich schlafen. Am Morgen um sieben erwachte ich, und ich weiß noch heute nicht, warum ich in Olivers Zimmer ging. Oliver mußte schon um sechs aufstehen, damit er um acht in der Schule sein konnte. Oliver war nicht in seinem Zimmer, aber ich sah sofort, daß auch ein kleiner Reisekoffer fehlte, und wußte, daß er abgehauen war. Ich ging ins Bett zurück und sagte zu Marianne, Oliver ist fort, was tun wir? Nichts, antwortete Marianne. 222
Am Mittag rief ich Olivers Freund Raffaele an, der in Lugano bei seinen Eltern wohnt. Er sagte, ja, Oliver ist heute früh zur Schule gekommen und hat gesagt, er haue ab. Wir haben Geld für ihn gesammelt, und er ist mit dem 9.40-UhrZug nach Zürich gefahren. Von Zürich aus wird er nach Würzburg weitertrampen. Warum gerade Würzburg? Raffaele antwortete, Oliver habe erklärt, er kenne in Würzburg die Adresse eines Mädchens, und dieses Mädchen lebe in einer Kommune. Hat Oliver gesagt, warum er ging? Raffaele schwieg, und ich wiederholte meine Frage. Nun ja, antwortete er verlegen, nun ja, Oliver habe gesagt, er sei überflüssig daheim, und er schaffe seinem Vater und dessen Frau nur Probleme, und sein Vater habe jetzt genug Unglück gehabt, er selbst hänge sehr an Marianne, aber Marianne sei schließlich die Frau seines Vaters und so. Ich zählte das Geld, das bei uns immer in Mariannes Handtasche liegt, und Marianne sagte später, er hat also nichts mitgenommen. Ich sagte, warum hat dieser Dummkopf nicht wenigstens hundert Franken mitgenommen? Am vierten Tag nach Olivers Abreise lag ein Brief von ihm im Postfach. Bitte suche mich nicht. Laß die Polizei aus dem Spiel. Die würden mich doch nicht finden. Sei mir nicht böse. Ich bin Dir auch nicht böse. Ich brauche Dich jetzt nicht mehr. Ich muß selbständig werden. Wir bleiben Freunde. Ich bin trotzdem Dein Sohn. Du warst kein schlechter Vater. Aber ich muß jetzt ich werden. Tschüss … Und jetzt war er wieder da. Benahm sich, als ob nichts gewesen wäre. Marianne stand auch auf und sagte, Salue. Und als sie bemerkte, daß Oliver auch ihr einen Begrüßungskuß geben wollte, streckte auch sie sich; sie ist ja noch kleiner als ich. 223
Marianne setzte die Filterkaffeemaschine in Betrieb und ging anschließend ins Badezimmer. Ich wartete in der Küche, bis der Filterkaffee fertig war. Dann setzten Oliver und ich uns ins Fernsehzimmer und tranken Kaffee. Woher kommst du? fragte ich. Meine letzte Station war Frankfurt gewesen, antwortete er. Zuerst bin ich über Zürich nach Würzburg gefahren. Wieso Würzburg? Weil ich in Lugano einen deutschen Freund habe. Der kommt aus Würzburg. Und der kennt in Würzburg einige Freunde, die eine Kommune gegründet haben. Ach so. Und du bist nicht in Würzburg geblieben? Nein, ich bin per Anhalter nach Hamburg gereist. Warum Hamburg? Weil ich in Würzburg ein Mädchen aus Hamburg kennenlernte, und weil dieses Mädchen sagte, in Hamburg gäbe es bessere Kommunen, und in Hamburg könnte ich bei ihrem Freund arbeiten, ihr Freund hat nämlich eine Boutique für Schmuck, den er selbst herstellt. Und in Hamburg? Da habe ich eine Woche in einer Kommune gelebt, da war gerade ein Bett frei, weil einer unterwegs war, und mit der Arbeit war dann nichts, weil der Freund des Mädchens wütend war, weil das Mädchen nach Würzburg abgehauen war, und jetzt machte er Schluß mit ihr und behauptete auch noch, ich wäre jetzt ihr neuer Freund. Darum bist du wieder zurückgekommen? Nein, ich habe in Hamburg zwei LSD-Trips gemacht, und beim zweiten Trip habe ich dich gesehen und gehört, du warst sehr traurig, und ich glaube, du hast beinahe geweint, jedenfalls war es plötzlich in meinem Kopf, du kannst das deinem Alten nicht antun. 224
Ja, ich war zuweilen sehr traurig. Warum hast du kein Geld mitgenommen? Du weißt doch, wo das Geld ist. Ich hatte verschlafen. Ich war in Eile. Und so vergaß ich, Geld mitzunehmen. Wärst du nicht wütend geworden, wenn ich Geld mitgenommen hätte? Nein. Wie bist du von Hamburg zurückgekommen? Ein Freund brachte mich mit dem Auto bis zur Einfahrt der Autobahn. Dort wartete ich. Dann kam ein Streifenwagen der Polizei, und ein Polizist stieg aus und kontrollierte meine Papiere und fragte, wohin ich wolle, und ich sagte, nach Hause, und er sagte, aber hier ist’s verboten, Autos anzuhalten, steig ein, wir bringen dich an den richtigen Ort. Wir fuhren zehn Minuten, und dann hielt der Streifenwagen, und der gleiche Polizist stieg aus und hielt einen Wagen an und fragte den Mann, ob er mich nach Basel mitnehmen würde. Ich bedankte mich, und der Polizist wünschte mir schöne Reise. Aber der Mann im Auto sagte, er fahre nach Frankfurt und nicht nach Basel. Ich sagte, das sei mir egal. Am Abend kamen wir in Frankfurt an, und er setzte mich beim Bahnhof ab. Ich war schon sehr schlau geworden und konnte ohne weiteres Fahrpläne lesen. Aber dann fiel mir ein, daß ich nur noch einige Mark hatte, also keine Fahrkarte nach Basel lösen konnte. Dann sprach ein anderer Langhaariger mich an. Du mußt wissen, die Langhaarigen auf der ganzen Welt helfen einander. Der hatte aber auch kein Geld, aber er sagte, ich soll eine Bahnsteigkarte kaufen und einfach in den Zug einsteigen. Das machte ich. Ich setzte mich ganz zuhinterst in den Zug. Aber noch vor Heidelberg kam ein Kontrolleur und wollte meine Fahrkarte sehen. Ich suchte sie in allen Taschen und sagte, es sei mir unerklärlich, wo ich sie denn nur verloren haben könnte, und Geld für eine neue hätte ich nicht. Da antwortete der Mann, dann müßte ich in Heidelberg aussteigen und dort mit Beamten verhandeln, so 225
jedenfalls könne ich nicht nach Basel fahren. Ich stieg also in Heidelberg aus und setzte mich, bevor der Zug abfuhr, in der Mitte in einen Wagen. Aber kurz vor Baden-Baden kam wieder so ein Kontrolleur, und ich sagte, ich sei in Heidelberg zugestiegen, und ich suchte die Fahrkarte wie ein Verrückter und fand sie nicht. Ich müßte, sagte der Mann, in Baden-Baden aussteigen und mit dem Stationsvorsteher verhandeln. In Baden-Baden stieg ich im vordersten Wagen wieder zu, und da kam dann keiner mehr bis Basel. In Basel ging ich zu Peter, und Peter war gerade allein daheim. Als er abends die Patientenbesuche beendet hatte, gingen wir abendessen, wir hatten einen sehr lustigen Abend. Ich erzählte Peter von meinen Trips, aber Peter sagte, hör auf damit, das nächste, was du nimmst, ist Heroin, und dann bist du für immer erledigt. Peter hat schon recht. Das Schlimme an der Sache ist ja, daß man ganz gleichgültig wird allem gegenüber, sogar sich selber gegenüber … nein, das ist das Allerschlimmste, man läßt sich gehen, alles wird Scheiße, alles ist zum Kotzen, man hat keinen eigenen Willen mehr, und so denkt man, besser, man geht gleich wieder auf einen Trip. Und Peter hat dir die Fahrkarte hierher gekauft? Ja. Und jetzt bist du da. Ja. Und was machen wir jetzt? Peter hat mir ein ärztliches Zeugnis mitgegeben. Ich sei vor zwei Wochen nach Basel gereist und in Basel schwer erkrankt. Jetzt bist du wieder gesund? Ja. Und besuchst wieder die Schule? Etwas muß ich ja tun Marianne kam aus dem Badezimmer, setzte sich mit einer Tasse Kaffee zu uns und sagte zu Oliver, es wäre lieb von dir, 226
wenn du heute das Treppenhaus reinigen würdest, wir haben es seit zwei Monaten nicht mehr getan. Oliver antwortete, okay, ging ins Badezimmer und ließ das Wasser einlaufen. Ich hatte Lust, noch einmal ins Bett zu gehen, überwand aber diese Lust und setzte mich an den Schreibtisch. Nach dem Bad reinigte Oliver das Treppenhaus. Danach kam er zu mir und fragte, wie war es denn damals, als du mit siebzehn Jahren abgehauen bist? Vielleicht schlage ich dir nach. Du bist doch damals nach Italien gefahren. 1944. Hast du Geld gehabt? Nein, ich habe kein Geld gehabt. Nachdem mein Onkel meine Diebstähle entdeckt hatte und mich zur Rechenschaft zog, einige Tage später seine christliche Nächstenliebe wiederentdeckte und sagte, er verzeihe mir, ich müßte jetzt nur schön brav sein und schlechte Gesellschaft meiden. Am vierten Tag stellte er mich auf die Probe. Er sagte, er müsse einem Kunden eine Pendule bringen, ich soll den Laden hüten und die Kunden freundlich bedienen. Ich hatte gesehen, daß er zuvor das Geld in der Ladenkasse gezählt hatte. Mich kriegst du ja nicht, dachte ich, und schön brav will ich auch nicht sein, und Umgang habe ich, mit wem ich will. Als er den Laden verlassen hatte, ging ich zur Kasse. Aber ich nahm kein Geld, sondern den Tresorschlüssel, öffnete den Tresor, nahm einen Fünfzigfrankenschein und zwei Markenuhren und schloß den Tresor wieder. Mein Onkel kehrte zurück, zählte das Geld in der Ladenkasse, und es fehlte kein Rappen. Nach dem Tischgebet, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast, sagte mein Onkel, bleib heute abend nach der Turnstunde nicht wieder bis elf Uhr weg, du hast Schlaf nötig, du bist noch in den Entwicklungsjahren, weißt du, wir meinen es alle nur gut mit dir. Ich sagte ja, ja, lieber Onkel, du siehst, ich strenge mich an. Schön von dir. Ich ging in mein Zimmer, stopfte einige 227
Unterwäsche in meine Schulmappe und auch einiges Uhrmacherwerkzeug, das ich heimlich mitgenommen hatte. Ich beschloß, nach Australien auszuwandern. Warum Australien? fragte Oliver. Ich besaß eine farbige Weltkarte, und Australien hatte die schönste Farbe. Und im übrigen war überall sonst Krieg. Ich ging nicht in den Turnverein, sondern zum Hauptbahnhof und studierte den Fahrplan. Ich fand einen Zug, der um Mitternacht von Zürich nach Chiasso fuhr. Ich rechnete damit, daß mein Onkel mir wirklich vertrauen und mich um elf Uhr nicht in meinem Mansardenzimmer suchen würde. Dann ging ich in ein Kino. Der Film war um elf Uhr zu Ende, ich ging wieder zum Bahnhof. Dort kaufte ich eine Fahrkarte Chiasso einfach und sah, daß der Zug schon bereitstand. Also setzte ich mich in ein Abteil. Morgens um vier war ich in Chiasso. Ich ging zum Grenzübergang. Es war noch dunkel, aber man fühlte den Morgen schon. Am Grenzübergang standen bewaffnete Soldaten und fragten mich, wohin willst du. Ich sagte, nach Australien, und sie lachten und antworteten, hier gehe es nach Italien, und nach Italien könnte ich nicht, die Grenze sei gesperrt. Sie traten einige Schritte zurück und tuschelten miteinander. Dann kamen sie wieder zu mir und sagten, ich soll den Berghang auf der linken Talseite hinaufwandern eine Stunde lang und dann Richtung Süden marschieren. Ich käme an einen Drahtzaun, und den müßte ich übersteigen, und schon wäre ich in Italien. Ich tat, wie sie mir gesagt hatten, und wanderte eine ganze Stunde bergauf und dann nach Süden und stand auf einmal vor einem zwei Meter hohen Drahtzaun, aber es war mittlerweile hell geworden, und ich fühlte, daß da etwas nicht in Ordnung sein könnte. Ich betrachtete den Zaun und entdeckte die kleinen Glöcklein. Gleichzeitig hörte ich weit unten Schritte. Das muß eine Patrouille sein, dachte ich, nahm schnell die Kluppzange 228
aus der Schulmappe und schnitt ein Viereck aus dem Zaun und schlüpfte durch und war in Italien. Alles andere habe ich dir bereits mehr als einmal erzählt. Aber du erzählst diese Geschichte immer wieder ein wenig anders. Willst du damit sagen, ich lüge? Hast du denn keine Angst gehabt? Wovor Angst? Es war Krieg. Du hast doch erzählt, wie Krieg war und daß die deutsche Wehrmacht dort war; gestern haben wir den Film „Stalingrad“ im Fernsehen gesehen. Krieg ist schlimm. Aber ich wußte nicht, was Krieg ist. Und mir war viel wichtiger, wegzukommen, bloß keinen Onkel mehr und keinen Vormund und keine Polizei und überhaupt Leute, die einem ständig sagen, mach jetzt das, und geht jetzt dorthin, und jetzt machst du eine Uhrmacherlehre, und morgen meldest du dich im Turnverein, und Kino ist nur für Erwachsene und und und … Aber dann war eben doch Krieg, sagte Oliver, ich wäre umgekehrt. Hast du gelernt, wie man sich im Krieg benimmt? Das lernt man schnell. Wie? Also siehst du … ja, da waren in Mailand noch andere Jungen wie ich, und die mußten auch hinüber über den Brenner mit dem Transportzug, und einer von diesen Jungen kannte den Kommandanten des Zuges sehr gut, und weil wir Freunde geworden waren, ging er zu dem Hauptmann und fragte, ob wir im Abteil des Kommandanten mitfahren durften. Und der Hauptmann sagte ja. Er gab sich auch gar nicht wie ein Hauptmann, er war ein Zivilist, der Uniform trug, weil er vielleicht seine Zivilkleider nicht mehr hatte finden können. Der Zug stand in Sesto San Giovanni, auf der Station eines Mailänder Vorortes. Wir hätten schon am Vormittag fahren 229
sollen, aber der Zug wurde zurückgehalten, weil noch siebzig Soldaten erwartet wurden. Die seien auf dem Weg von der Front zu uns und würden in wenigen Stunden eintreffen. Später hieß es, englische Flieger hätten den Bahnhof von Brescia bombardiert, und man müsse erst wieder die Geleise instand setzen. So wurde es Abend. Mein Freund war ein Jahr älter als ich und kam aus Berlin. In Deutschland sei er Flakhelfer gewesen, aber weil er gut italienisch sprach, weil er für Italien schwärmte und weil sein Vater irgend etwas Höheres war in irgendeinem Ministerium in Berlin, hatte er nach Mailand kommen dürfen und hatte hier als Dolmetscher gearbeitet. Es war genau sieben Uhr, als der Hauptmann ins Abteil kam und sagte, so, wir fahren, und wirklich, wir hörten die Dampflokomotive stampfen, und das Rütteln ging durch den Zug. Sind die Urlauber endlich eingetroffen? fragte mein Freund. Der Hauptmann hatte die Frage nicht verstanden oder mit Fleiß überhört. Er zog die Schuhe aus. Seine Füße stanken fürchterlich nach abgestandenem Schweiß. Er bückte sich nun, packte mit beiden Händen den linken Fuß, zog den Socken aus, drehte den Fuß nach innen und hob ihn in die Höhe, ächzte dabei und legte den Fuß auf das rechte Knie und begann, mit den Fingernägeln die Zehennägel zu bearbeiten. Das darf ich daheim nicht, sagte er und lächelte. Auch Mutter war schon dagegen gewesen. Sind eure Mütter auch so? Schade, sagte mein Freund, daß wir so spät fahren. Der Hauptmann beschäftigte sich jetzt mit dem rechten Fuß. Und mein Bauch wird auch immer dicker. Dabei haben wir Krieg. Hast du nicht gestaunt darüber, wie man in Mailand alles haben kann? Das ist Korruption. Da steckt die Mafia dahinter. Wir fahren doch am Gardasee vorbei? fragte mein Freund. Der Hauptmann wußte es nicht genau. Möglich, sagte er. Als 230
wir kamen, sagte mein Freund, war es auch dunkel. Und ich möchte gern die Landschaft sehen. Auch Landschaft, antwortete der Hauptmann, besteht sowieso nur noch aus Trümmern und Aschenhaufen. In dieser Gegend nicht. Die massieren ihre Angriffe auf unsere Nachschubwege. Wären auch schön blöd, wenn sie’s nicht täten. Mein Freund sagte auf einmal, er müsse auf die Toilette. Gut, sagte der Hauptmann, dann schau doch auch schnell nach, ob die anderen Wagen verdunkelt haben. Die fliegen ja neuerdings auch in der Nacht Angriffe. Auf fahrende Züge. Wenn man sie der Lichter wegen sehen kann. Mein Freund kam nach wenigen Minuten wieder zurück. Er war in der kurzen Zeit anders geworden. Der Hauptmann sah ihm das an. Was ist mit dir, wird dir übel? fragte er. Mein Freund hatte Mühe mit Sprechen. Die … die … sind ja gar nicht dabei. Wer? Die Urlauber. Ach die. Warum haben wir denn so lange mit der Abfahrt gewartet? Weil die Nachricht, daß die Leute kurz vor Mailand in einen Hinterhalt der Partisanen geraten sind, erst kurz vor sieben bis zu uns gelangte. In einen Hinterhalt? Und? Für die ist der Krieg zu Ende, und Urlaub brauchen die auch keinen mehr. Tot? Ich glaube, es ist klüger, wenn wir jetzt schlafen. Wir müssen bis Innsbruck mit Angriffen rechnen. Das kann schon verdammt schnell losgehen. Und ist man wenigstens ein bißchen ausgeruht … 231
Wir setzten uns alle so bequem wie möglich hin, streckten die Beine aus und versuchten zu schlafen. Ich konnte nicht einschlafen. Ich stellte mir immer vor, wie die siebzig Urlauber in den Hinterhalt geraten und getötet worden waren. Kurz vor Brescia stand das Einfahrtssignal auf Halt. Der Zug hielt an. Wir hörten Maschinenpistolen und Maschinengewehre. Der Hauptmann erwachte, schlüpfte in die Schuhe, ohne das Gesicht zu verziehen, hängte sich den Mantel um die Schultern und sagte zu uns, wenn ihr Lust habt, dürft ihr mitkommen. Die Maschinengewehre und -pistolen schossen nicht mehr. Es war still. Als wir draußen standen, hörten wir in Richtung Lokomotive kurze Worte, die wie Befehle klangen. Die Partisanen hängten die Lok ab und fuhren mit Volldampf davon. Wir gingen mit dem Hauptmann nach vorn. Niemand soll die Wagen verlassen, schrie der Hauptmann. Vor dem ersten Wagen neben den Schienen lagen der Heizer und der Lokführer, beide durchlöchert. Der Hauptmann sagte zu uns, holt die Harken und die Schaufeln, sie sind im zweiten Güterwagen. Wir holten das Schippwerkzeug. Der Hauptmann sagte, wir müssen ohnehin einige Stunden auf eine Ersatzlok warten, da könnt ihr was Vernünftiges tun und die beiden Leichen begraben. Wir gruben zehn oder zwanzig Meter neben dem Geleise ein Grab. Es muß nicht so tief sein wie bei den Zivilisten, sagte der Hauptmann, die beiden frieren nicht mehr. Ich geh mal ins Abteil und versuche, Funkkontakt mit der Station Brescia zu bekommen. Wir beide gruben das Grab. Nach einer Stunde hatten wir ein ungefähr ein Meter tiefes Grab geschaufelt. Der Hauptmann stand wieder bei uns. Es kann jeden Augenblick die Ersatzlok eintreffen, wir haben wieder einmal großes Glück gehabt, sagte der Hauptmann. Wir steckten die Hände in die Hosentaschen. Wagten nichts zu sagen. Er aber sagte, los, hinein mit den beiden, nehmt ihnen aber 232
erst die Papiere ab, falls sie welche bei sich haben. Wir taten keinen Schritt. Der Hauptmann schaute uns lange an und sagte, Kinder. Dann bückte er sich zu den Toten hinab und suchte nach Papieren. Er fand keine. Aber seine Hände waren blutig. Er wischte sie notdürftig im taunassen Gras ab und sagte, na, los jetzt, einer packt sie an den Füßen und der andere an den Händen, die Lok kommt ja schon. In dem Augenblick hörten wir sie auch, und wir taten, was der Hauptmann gesagt hatte … Und? fragte Oliver. Du hast mich gefragt, wie man Krieg lernt. Seid ihr noch einmal angegriffen worden? Ja, in der Nähe von Innsbruck durch Jagdflieger. Wie viele Tote? Ich glaube, annähernd dreißig. Das ist aber nicht viel, wenn man’s vergleicht mit Stalingrad, sagte Oliver. Siehst du, antwortete ich, jetzt hast du schon ein bißchen Krieg gelernt.
233
Das Schwarze Brett Obwohl es anläßlich der Gemeindever− sammlung vom vergangenen Donnerstag um den Verkauf von Bauland zur Erstellung einer Ferienkolonie der Gewerkschaft „Verband des Personals der öffentlichen Dienste“ der Stadt Zürich ging, sind nur sieben stimmberechtigte Bürger er− schienen. Somit war nach Gemeindever− ordnung die Versammlung nicht beschlußfähig. Die Bürger werden aufgerufen und ernstlich ermahnt, die auf nächsten Freitag, 13. März, erneut anberaumte Gemeindeversammlung zu besuchen. Der Gemeinderat hat die Frage erwogen, Bürger, welche ihrer Stimm− und Wahl− pflicht nicht nachkommen, in Zukunft zu bestrafen. Die jetzt viel gehörte Be− hauptung, der Gemeinderat tue ja doch, was er wolle, und ignoriere die Meinung der Bürger, entbehrt jeder Grundlage. Sämtliche Abstimmungsergebnisse werden vom Gemeindesekretär in unserer Gemein− dechronik schriftlich festgehalten, und die Bürger können diese jederzeit ein− sehen und kontrollieren, ob Abstim− mungsergebnisse ignoriert werden.
234
Dino Puzzi, der Hundezüchter Er heißt Dino Puzzi, Jahrgang 1915, Bürger unseres Dorfes, wohnt heute im Nachbardorf A., war während zwanzig Jahren Inhaber einer Schreinerei, bastelte außer Tischen, Stühlen, Kommoden und Fenstern auch massenhaft Särge, einfache für Arme und reichverzierte aus Eichen- und Buchenholz für Schmugglerbosse und andere Honoratioren der Öffentlichkeit wie Vorstandspräsidenten des Fußballklubs „Mendrisio Star“ oder des „FC Lugano“ oder irgendeines Gemeinde- oder Parteipräsidenten oder Barbesitzers. Er schrieb mir zunächst, da er während sechs Jahren auch Grenzwächter gewesen war, in deutscher Sprache, er habe kürzlich gehört, es gebe nun auch mich in dieser Gegend, und da sich sein Herz und sein Geist seit einigen Jahren nach links gedreht haben – warum, wolle er mir noch ausführlich berichten –, er schrieb mir also zwei Briefe, gab seine Telefonnummer an und bat um Rückruf. Ich meldete mich nicht bei ihm, da rief er mich an und fragte, wann wir uns treffen könnten, egal, wo auch immer, er sei frei, er sei heute selbständiger Handelsreisender für Isoliermaterial und besuche ausschließlich Großunternehmer der Baubranche. Seine Stimme klang freundlich, der Himmel war beinahe azurblau, und da ich im Gegensatz zur Meinung meiner literarischen und politischen Kritiker kein 235
Nein-, sondern ein Jasager bin, sagte ich, kommen Sie an einem Nachmittag zwischen drei und vier, vormittags muß ich schreiben. Er kam an einem der nächsten Nachmittage, ein dicklich untersetzter Mann, in der linken Hand einen Aktenkoffer, wie sie Diplomaten, Manager und Repräsentanten von Investmentfonds sowie erfolgreiche Schriftsteller tragen; ich dachte, ein Koffer voller Versprechen, Angebote, Lügen und Überredungskünste. Er setzte sich, die Sonne blendete uns durch die gezogenen Gardinen hindurch, Giovanni, der Tabak- und Weingärtner, machte mit einer Ackerhackmaschine, benzingetrieben, im neben unserem Haus liegenden Garten einen infernalischen Lärm, innerlich wohl fluchend, daß der Hochdruck über dem westlichen Festland seit Tagen anhielt und noch tagelang anhalten würde und somit seine Träume von einem prächtigen Hagelwetter, das seine gesamten Tabak- und Weingärten vernichten würde, womit die obligatorische Hagelversicherung die von Jahr zu Jahr schwankenden Absatzpreise für Tabak und Trauben gegenstandslos machte. Ich bemerkte als erstes, daß Dino Puzzi künstliche Vorderzähne hatte, wovon einer im oberen Kiefer gräulich gefärbt war. Auf die Frage, ob er Kaffee, Grappa oder Wein möge, entschied er sich für ein Glas Merlot. Ich sagte, ich sei ein ungeübter Gastgeber, zwar stellte ich die Weinflaschen und auch anderes auf den Tisch, aber leere Gläser, ausgenommen mein eigenes, würde ich nie nachfüllen. Er trank das erste Glas leer, füllte selber nach und sagte, die Sache ist ernst, ernst für unser Land, ernst für Sie, ernst für mich. Bitte? Zunächst muß ich erklären, seit wann und weshalb ich in die Opposition gegangen bin. Ich bin nämlich weder Kommunist, von Marxismus verstehe ich überhaupt nichts, die Sozialdemo236
kraten können mich am Arsch lecken, die Radikal-Demokraten sind ein korruptes Lumpenpack, das Volk ist dumm, und ich bin ein „Hündeler“. Ein Hündeler? Ich bin Kynolog, ich bin, das heißt, ich war, ein Hundezüchter, und mein Hund, er ist heute fünfzehn Jahre alt, übertrifft mit seinen Fähigkeiten alle dreihundert „Lassies“ der amerikanischen Verblödungsindustrie. Wenn ich meinem Hund sage, geh in die Küche und stell am Kochherd die Kochplatte vier auf Null, dann kann er das. Ich komme jetzt gerade zurück aus Berlin, wo sie mit meinem Hund als Hauptdarsteller einen Film gemacht haben. Der Vertrag lautete auf vier Wochen. Die Dreharbeiten aber dauerten neun Wochen. Und warum? Weil die Schauspieler, ich will jetzt keine Namen nennen, neunmal blöder waren als mein Hund. Nun, ich bin ja dafür bezahlt worden … Er zog ein Päcklein Zigaretten aus seiner Rocktasche, Virginia, sagte, eigentlich dürfe er weder trinken noch rauchen, aber diese Scheißwelt verdiene es nicht, daß er sich schone, bloß um zehn Jahre länger zu leben. Übrigens müsse er sich korrigieren, es liege nicht an der Welt, er meine damit die Menschheit, und er nehme sich davon nicht aus, auch er habe sich während dreißig Jahren wie ein Mensch benommen … Er prüfte das Zimmer, das mein Arbeits-, nachts aber unser Schlafzimmer ist, er schaute die Bilder an, alles (außer einer Lithographie von Jean Arp) Werke lebender und meist gänzlich unbekannter Künstler, und fragte, Was bedeuten diese Helgen (Bilder)? Ich sagte, die bedeuten gar nichts. Ist das Kunst? Das weiß ich nicht. Es sind Dinger, es sind Gebilde, die man an die Wand hängt. Also keine Kunst? 237
Wenn man diese Dinger in einem öffentlichen Lokal ausstellt, nennt sich der Vorgang Kunstausstellung. Also haben diese Objekte etwas mit Kunst zu tun. Er sagte, ich kenne viele Künstler hier im Mendrisiotto, und ich mag sie alle verdammt gut, aber was sie tagsüber zusammenschmieren, das könnte ich auch. Aber Sie tun’s offenbar nicht. Ich bin Hündeler, das heißt, ich war es, ich war zwanzig Jahre lang Präsident des Hundezüchtervereins, bis ich dahintergekommen bin, daß das eine politische Saubande ist. Was für Bilder lieben Sie? Ich habe an allen Wänden meiner Wohnung farbige, handgemalte Porträts von den schönsten Hunderassen dieser Welt. Wissen Sie, es liegt nicht an den Hunden, die Hunde sind schon recht, aber die Menschen … und ich sage jetzt immer, die Hunde sind auf den Menschen gekommen … Ich sagte, es wäre jetzt doch an der Zeit, daß wir auf den Zweck seines Besuches kämen. Ja, antwortete er, eine zweite Zigarette anzündend, ich hätte recht, aber bevor er davon reden könne, müsse er mir das Wichtigste über seinen Lebenslauf erzählen, damit ich auch verstünde, warum er zu mir gekommen sei. Sie wollen mir also Ihre Lebensgeschichte erzählen in der Meinung, ich könnte danach einen Roman, ein Fernsehspiel oder etwas Ähnliches machen? Erlauben Sie, daß ich Ihren Bericht auf meinem Tonband festhalte? Ja, sagte er, das ist eine prima Idee. Schreiben nämlich kann ich nicht, aber reden. Wenn Sie bedenken, wie viele hundert Reden ich über Hundezucht gehalten habe … Er sagte, man muß natürlich meinen Lebenslauf kennen, wenn man mich verstehen will … will sagen … wenn man 238
begreifen will, warum ich heute zu Ihnen gekommen bin, dabei habe ich keinen richtigen Lebenslauf, also nicht so einen wie Sie, will sagen, unter Lebenslauf verstehe ich so etwas, wie Sie einen gehabt haben, Sie sind, wenn mich meine Freunde richtig informiert haben, sozusagen aus dem Nichts gekommen und heute … aber sehen Sie, ich bin also hier zur Welt gekommen, 1915, mein Vater war Schreinermeister, hatte eine kleine Werkstätte in Mendrisio, und weil es ihm eines Tages zuviel wurde, jeden Morgen mit dem Fahrrad nach Mendrisio zu fahren und jeden Abend das Rad bergauf zu schieben, zogen wir halt nach Mendrisio, wo ich dann auch zur Schule ging … übrigens blieb ich einziges Kind, warum, weiß ich nicht, meine Mutter weigerte sich, darüber zu reden, und den Vater zu fragen, fürchtete ich, obwohl ich ihn im allgemeinen nicht zu fürchten hatte, er prügelte mich nicht mehr, als andere Väter ihre Kinder prügelten, er war ein prima Bocciaspieler, und als ich die Primarschule beendet hatte, sagte er, du wirst Schreiner und übernimmst einmal die Werkstatt. Damals hatte er zwei Arbeiter. Aber dann kamen die Krisenjahre, und es wurden keine Häuser mehr gebaut, und die Leute ließen ihre Häuser auch nicht mehr reparieren, sie sagten, sie hätten jetzt kein Geld, sogar der Schmuggel funktionierte nicht mehr wie früher, weil nämlich in Italien Mussolini regierte und einfach alle Arbeitslosen zur Armee einzog und die Armee so groß wurde, daß er die Soldaten als Grenzwächter an die Grenzen stellte, damit sie etwas zu tun hatten. Sie wissen vielleicht nicht, aber in Italien macht einer zuerst die Rekrutenschule, und wenn er Lust hat, wird er danach Grenzwächter, das ist nicht wie bei uns, in Italien sind nämlich die Grenzwächter nichts anderes als Berufssoldaten, darum gibt es auch so viele Dummköpfe unter ihnen, weil sie nämlich nur Infanteristen oder Artilleristen sind und nicht wie bei uns richtig ausgebildete „Grenzer“. Also 239
1935 oder 1936 sagte mein Vater, unser Geschäft hat keine Zukunft mehr, ich bin dafür, daß du jetzt einen sicheren Beruf ergreifst und dich zur Grenzwache meldest. Ich muß noch vorausschicken, daß ich immer gern Fußball gespielt und auch sonst gern Sport getrieben habe. Ich meldete mich also zur Grenzwache, mußte aber zuerst auch die Rekrutenschule machen, und als ich diese gemacht hatte, nahmen sie mich, obwohl sich viele angemeldet hatten, aber mein Vater hatte einen guten Freund, der in dieser Sache viel mitzureden hatte, und so wurde ich Grenzwächter. Wir hatten natürlich als Grenzwächter auch Hunde, aber Hunde interessierten mich damals überhaupt nicht, und sie waren ja auch schon dressiert für die Menschenjagd, man mußte höllisch aufpassen, denn ich kann Ihnen sagen, wenn so ein auf Menschenjagd dressierter Hund auf einen Menschen losgeht, und dieser fällt zufällig um, und der Hund greift ihn mit seinen Reißzähnen am Hals oder auch nur unten am Knöchel, ist’s aus, denn die Reißzähne reißen die Schlagadern auf, und zwar so, daß nichts mehr zu machen ist, und ein Menschenhund kann ja einen Unschuldigen, der nur davonläuft, weil er Angst hat vor dem Hund, von einem Schuldigen nicht unterscheiden, und wenn der Grenzer nicht gottverdammt gut aufpaßt und die Leine nur so hält, wie er zum Beispiel das Händchen seiner Braut hält … also ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen … Dino Puzzi machte eine Pause, trank einen Schluck Wein, steckte sich eine neue Zigarette an und erkundigte sich nach der Qualität des Tonbandgerätes, worauf ich ihm nicht viel sagen konnte außer, daß es sich um ein japanisches Produkt handle, worauf er sagte, ja, die verdammten Japaner, wer hätte das gedacht, neulich habe ich in den Zeitungen gelesen, die seien noch tüchtiger als die Deutschen und die Schweizer zusammen, 240
ich rede natürlich nur von den Deutschschweizern, wir Tessiner sind da viel gemütlicher, wir sind zwar nicht so faul, wie man immer behauptet, und wenn ich nur schon das Wort dolce far niente höre, bekomme ich einen roten Kopf und Bauchkrämpfe, aber Unterschiede gibt es schon … Ich schaltete das Tonbandgerät wieder ein und fragte, waren Sie damals politisch interessiert, und wenn ja, in welcher Richtung? Er antwortete, ehrlich gesagt, was das Wort Politik bedeutete, wußten wir gar nicht, will sagen, wir kümmerten uns darum nicht, aber so rückblickend meine ich, Politik war für uns Faschismus, will sagen, Mussolini in Italien, Hitler in Deutschland, Polizei, Militär, Regierungsrat und das Bundeshaus in Bern, aber was den Faschismus angeht, sagten wir Jungen uns damals, die Deutschen seien farblose, phantasielose Kerle, wir bewunderten Mussolini und seine Soldaten, so daß wir eher nach Rom zu einer faschistischen Kundgebung gefahren wären als nach Mailand in die Scala. Aber erwarten Sie heute nicht von einem alten Mann, der immerhin 1915 geboren wurde und immerhin seit 1956 so etwas wie ein politisches Bewußtsein entwickelt hat, erwarten Sie also von mir nicht, daß ich Ihnen die ganze Wahrheit sagen kann. Von heute aus betrachtet, muß ich bekennen, daß ich ein Ignorant war, und da Sie ja italienisch sprechen, wissen Sie, daß es eine der schlimmsten Beschimpfungen bedeutet, wenn man bei uns jemanden ignorante nennt. Ich kenne kein deutsches Wort, das diesem in der Bedeutung entsprechen würde. Aber lassen wir das. Wenn Sie mich nach meiner politischen Haltung fragen, müßte ich ja notgedrungen auch von meinem Vater reden, und mein Vater war vielleicht kein ignorante, er war einfach Schreinermeister und hatte seine liebe Not, genug Geld zu verdienen. Und ich? Ich war also 241
Grenzwächter, ich und meine Kameraden machten, nachdem der Krieg richtig in Gang gekommen war, unsere guten Geschäfte mit den italienischen Kollegen. Bei uns war alles rationiert, und wir, das heißt die Italiener, die schmuggelten Reis von Italien nach der Schweiz, denn entweder hatten sie zuviel Reis oder zuwenig Geld; was uns anging, hatten wir wirklich zuwenig Reis, wir bezahlten anständige Preise, unsere Kunden aber bezahlten noch anständigere Preise, und da mein Vater, da er als Schreiner nicht genug zu tun hatte, sich mit dem Verkauf von dem geschmuggelten Reis einiges zur Seite legen konnte, war er auch damit einverstanden, daß ich das wurde, was man heute als Spitzensportler bezeichnet. Ich wurde nämlich Langstrecken- und Marathonläufer und gewann zweimal die Schweizer Meisterschaft. Ich war auch, was es heute gar nicht mehr gibt, ein ausgezeichneter Kurzstreckenläufer, hundert Meter lagen mir so gut wie fünftausend, aber weil es damals noch keine Bankiers und Industriellen und Zeitungsverleger und Ovomaltine-Fabrikanten gab, welche die guten Sportler finanzierten, mußten wir alles aus eigener Tasche bezahlen. Der Erfolg als Sportler zahlte sich ja, was mich angeht, trotzdem aus. Ich wurde bald einmal Postenchef, weil ich berühmt war als Langstreckenläufer, und weil ich Postenchef war, verlief auch das Schmuggelgeschäft mit dem Reis leichter, und weil dieses Geschäft dadurch einträglicher wurde, konnte ich mehr und besser trainieren als meine Kameraden, und weil und weil und weil … und so war es eben damals trotzdem nicht anders als heute … heute ist es nur noch viel besser, wenn Jo Siffert oder sonst so ein weltberühmter Rennfahrer sich nur schon ein Pirelli-Etikett auf ‘n Overall kleben läßt, kriegt er seine hunderttausend Franken … Politisch? Also heute bin ich politisch engagiert, aber das hat nicht damit angefangen, daß ich auf die Universität gegangen wäre, sondern damit, daß 242
unser damaliger Bundesrat von Steiger und sein Chef der Eidgenössischen Bundes- oder Fremdenpolizei 1942 befohlen haben, wir müßten alle jüdischen Flüchtlinge an die Faschisten zurückgeben. 1944 wurde es aber noch schlimmer. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich erzähle jetzt so ungefähr das, was damals durch meinen armen einfältigen Langstreckenläuferkopf gelaufen ist: Was ein Jude war, wußte ich nicht, man sagte uns nur, Juden seien von Natur aus faul und geldgierig und verschlagene Hunde und verdienten keine Schonung … trotzdem … ich schwör’s. … ich habe nie einen Juden gesehen, weil ich nie einen sehen wollte ... aber 1944 oder schon 1943, da kam der Befehl, daß die ganze Südgrenze hermetisch geschlossen werde von wegen der Deserteure der deutschen Wehrmacht. Und da kamen sie also an, die geschundenen Hunde, von den Engländern und Amerikanern gejagt, und ich sah solche vor mir, und weil meine Mutter aus Basel stammte, hatte ich auch Deutsch gelernt und konnte mit ihnen reden, und ich sah, ihre Uniform war nicht schöner und nicht häßlicher als meine, und nun sollte ich die zurückjagen, und sie sagten, sie hätten nichts anderes getan, als einen Eid geschworen und auf Befehl gehandelt, und ich sagte, ich habe auch so einen gottverdammten Eid geschworen und habe meine Befehle, aber du und ich, wir beide sind Soldaten, die sollen uns doch am Arsch lecken, komm rüber, aber schweig … Ja … und dann kam’s eines Tages an den Tag, daß ich nicht mehr Reis schmuggelte, sondern Juden und deutsche Soldaten, und sie stellten mich vor Gericht, ich wurde verurteilt wegen Amtspflichtverletzung und wurde entlassen. Das war mir alles sehr recht, es war mir nur nicht recht, daß ich jetzt keine Gelegenheit mehr hatte, Verfolgte herüberzulassen, aber was hätte ich tun können. Kurzum: Mein Vater sagte, wir haben genug verdient am Reisgeschäft, du kannst die Werkstatt übernehmen, der Krieg ist bald zu 243
Ende, und du wirst sehen, nachher müssen die wieder aufbauen, auch die italienischen Bonzen kommen wieder in den Mendrisiotto und wollen da ihre Wochenendhäuser haben, aber es kam mit den Jahren noch viel besser, auch die Deutschen kamen und wollten ihre Ferienhütten hier haben, bloß waren es nicht jene Deutschen, die 1943, 44 und 45 als Soldaten gekommen waren, sondern es waren jene Deutschen, welche die Soldaten nach Italien geschickt hatten. Nazis. Jawohl. Aber das hat mit meinem Lebenslauf nichts zu tun, ich bin auch nicht gekommen, um Ihnen das zu erzählen. Es ist nämlich so, daß ich 1945 von einem auf den anderen Tag herzkrank wurde, man nennt das heute Herzinfarkt, und das kam davon, weil ich meinen Körper zu stark strapaziert hatte als Lang- und Kurzstreckenläufer, und die Ärzte sagten, so Dino, jetzt ist es vorbei. Aber ich konnte das Gehen und Laufen nicht lassen, und weil ich mich im Laufe meiner Grenzwächterzeit schließlich mit den Hunden angefreundet hatte und herausgefunden hatte, daß man ihnen die Menschenjagd wieder abdressieren kann, kam ich auf den Gedanken, „Hündeler“ zu werden. Das Geschäft ging gut, ich hatte geheiratet, war Vater eines Sohnes geworden, warum nur eines Sohnes, kann ich Ihnen offen sagen, meine Frau litt nach der Geburt an einer Unterleibsinfektion, und sie mußten die ganze Apparatur ausräumen, aber das ist nicht nur negativ, ich kann Ihnen heute ehrlich sagen, und meine Frau wird’s Ihnen auch sagen, seither ist wenigstens unser Sexualleben völlig normal … vergessen Sie nicht, ich bin Katholik … Aber das gehört nicht hierher … Ich habe also angefangen, Hunde zu züchten. Als Sport. Als Liebhaber. Aber nicht Grenzer- und Polizeihunde … ich hatte immer ein Ideal vor meinen Augen, ich wollte nur Hunde züchten, die dem Menschen helfen sollten … Berghunde, Lawinenhunde … wissen Sie, wenn man auf die Lusttriebe der Hunde eingeht, 244
kann man alles von ihnen haben, das Menschenfeindliche wie das Menschenfreundliche. Und weil ich gelernt hatte, mit den Hunden zu reden, brachte ich ganze Kunststücke fertig, ich, das heißt meine Hunde, gewannen nach und nach sämtliche Konkurrenzen und Wettbewerbe, ich wurde dadurch ohne mein Dazutun allmählich Vorsitzender des Hundezüchterverbandes, erst des kantonalen, dann des gesamtschweizerischen, aber die nennen sich ja nicht Hundezüchter, sondern Kynologen, und jetzt erst beginnt meine Geschichte, und jetzt erst werden Sie allmählich begreifen, warum ich bis nach Zürich, Bern und sogar nach Berlin reise, um an den großen Demonstrationen gegen die Neonazis und Altimperialisten mitzumachen … Die Hunde nämlich, die Grenzerhunde, die waren auf Judenjagd und auf Landserjagd, also entschuldigen Sie, ich will ja unter Menschen keinen Unterschied machen, Jud oder Nazi, entschuldigen Sie, Nazi oder Schweizer … es gibt ja auch jüdische Nazis genauso, wie es amerikanische oder deutsche Sozialisten gibt, übrigens gibt es auch jüdische Kommunisten und jüdische Antisemiten, die jährlich Millionen nach Israel schicken und hier bei uns aber Millionen mit Betrügereien und Antikommunismus verdienen … also das lassen wir lieber … sehen Sie, ich, als Vorsitzender des Hundezüchterverbandes … also ich muß noch schnell beifügen, aus Judenhunden kann man mit den gleichen Mitteln und Methoden auch Negerhunde machen, und dem weißen Faschisten möcht ich’s doch mal gönnen, wenn er seine braunen Brustwarzen einem Antinazihund hergeben müßte … Können wir das bisher Gesagte mal abhören? Ich schaltete das Bandgerät um, und das Tonband spulte rückwärts. Dino Puzzi trank währenddessen sein Glas aus, zündete sich eine weitere Zigarette an, ich füllte unsere Gläser nach, und er sagte, wenn man den Ärzten stets glauben und gehorchen würde, läge man Jahrzehnte zu früh ein Meter acht245
zig unter der Erdoberfläche. Dann hörte er aufmerksam seinen Erzählungen zu und sagte anschließend, nun ja, das ist alles völlig uninteressant, warum haben Sie eigentlich darauf bestanden, meine Plauderei auf Tonband aufzunehmen? Weil ich nicht stenografieren kann, antwortete ich. Er sagte, mich dünkt, ich hätte nur die Hälfte gesagt, und vor allem … ich weiß gar nicht, ob es genau so gewesen ist … aber sehen Sie, vor fünf Jahren, also da war ich noch Vorsitzender des Hundezüchterverbandes unseres Kantons, und da kam ein Radioreporter zu mir ins Haus, ich redete drei Stunden lang ins Mikrofon. Dann hockte ich jeden Abend vor dem Radio, bis meine Frau abschaltete, übrigens eine außerordentlich liebenswürdige, gescheite Person … wenn alle Frauen so wären … und ich wartete immer auf die Wiedergabe meiner Erzählung, aber vergeblich. Schließlich telefonierte ich mit dem Reporter, den ich ja gut kenne, und der sagte, die Programmdirektion habe die Sendung abgelehnt. Warum? fragte ich. Er sagte, ich hätte mit meiner Erzählung die Hundezüchter verletzt und vor allem, ich hätte die Hundezüchterei in unzulässiger Weise mit Politik vermischt, was nicht statthaft sei, denn Kynologie habe mit Politik nichts zu tun … diese Schweine. Und wenn ich sage Schweine, meine ich, Schweinezüchterei hat natürlich mit Politik auch nichts zu tun, wohl aber Politik mit Schweinezüchterei … Ich hatte das Tonbandgerät inzwischen wieder eingeschaltet. Er sagte, es war also so … als ich also wegen meiner Herzerweiterung keinen Sport mehr treiben durfte, verfiel ich auf die Hundedressur. Ich erfuhr, daß es überall an guten Menschenhunden mangelte, ich meine damit, wir hatten zuwenig Lawinenhunde, wir hatten keine Hunde, die imstande waren, verirrte alte Men246
schen … alte Menschen, die an Hirnverkalkung leiden, verirren sich oft, finden den Heimweg nie wieder, und wenn’s Winter ist und die Nächte eiskalt sind, erfrieren sie … der Erfrierungstod ist allerdings nicht schmerzhaft, aber trotzdem … Aber was sage ich? Wir hatten nicht genug Menschenhunde? Wir haben noch heute keine oder viel zu wenige. Was wir haben … Jetzt zog er ein dickes Fotoalbum aus seiner Aktentasche und zeigte mir Bilder: Polizeihunde, die in Berlin am Kurfürstendamm auf Demonstranten losgelassen wurden, Polizeihunde, die im Basler Fußballstadion einen Zuschauer bissen, der danach wochenlang im Krankenhaus lag, Hunde, die in Paris im Mai 1968 im Boulevard Saint-Michel auf die Studenten und Arbeiter losgelassen worden waren, Polizeihunde, die vor dem Weißen Haus in Washington auf die jungen Freunde Martin Luther Kings gehetzt worden waren, Hunde, die in Lausanne im Auftrag des liberal-demokratischen Bürgermeisters auf Jugendliche im Alter zwischen vierzehn und zwanzig Jahren, die für ein billiges Kino, für ein Volkskino demonstrierten, eingesetzt wurden und einige der jungen Menschen erheblich verletzten … Hunde, überall Hunde, welche darauf abgerichtet waren und noch sind, Menschen zu verletzen, Menschen zu töten … Er sagte, und ich war also jahrelang Vorsitzender eines Meuchelmördervereins. Natürlich kannte ich die Mitglieder meines Vereins. Und natürlich wußte ich, was diese Mitglieder in Wahrheit taten. Natürlich wußte ich, daß praktisch alle Hundeliebhaber entweder Polizisten, Zöllner, Grenzwächter oder Offiziere und Unteroffiziere waren, oder dann waren sie zumindest Beamte der zivilen Verwaltung, und ich wußte auch, daß sie … ich war ja fast immer dabei … daß sie an den Wochenenden mit ihren Hunden in ihre Blockhütten zogen, nicht zu Fuß, im Auto na247
türlich, und daß sie sich dort vollsoffen, vor allem die Polizisten, die dann am späten Nachmittag vollbesoffen mit ihren Menschenfresserhunden im Fond nach Hause zurückkehrten, um ihre Frauen und Kinder zu verprügeln … ich muß noch heute kotzen, wenn ich daran denke, ich muß aber kotzen, weil ich daran denke, daß ich damals nicht daran gedacht habe … Seit wann denken Sie so? Angefangen hat es damit, daß ich eines Tages von einem hohen Politiker, der noch heute hofft, Bundesrat zu werden … und es auch sicher werden wird, wenn die Linke ihn nicht fertigmacht … also ich wurde zu einem großen Essen zu Ehren einer Delegation aus Saigon, Sie wissen, Südvietnam, eingeladen. Ich ging zu dem Essen, das Essen war gut, der Wein war prima, und als wir besoffen genug waren, wollten die Saigoner wissen, wie viele Hunde wir ihnen liefern könnten, und sagten, zweitausend Franken pro Hund wäre ihnen nicht zuviel. Ich lachte mich krank, ich antwortete, ihr seid allesamt verrückt, wir Schweizer exportieren Uhren und Käse und weiß der Teufel was, aber doch wohl keine Hunde. Darauf antworteten die Saigoner, sie hätten vor einem halben Jahr schon einmal hundert Hunde, allerdings in Zürich, eingekauft, und man habe ihnen gesagt, unser Hundezüchterverein gehöre zu den besten. Natürlich müßten wir die Hunde nicht direkt nach Saigon liefern, sondern die Hundezentrale des amerikanischen Geheimdienstes CIA befinde sich in Frankfurt am Main. Sie sagten, ob ich sie auf den Arm nehmen wolle, es sei doch bekannt, daß alle Regierungen, welche von den Amerikanern unterstützt würden, Schweizer Hunde bekämen, nicht nur Schweizer Hunde, natürlich nicht, denn so viele Hunde, die man brauche, um die kommunistisch subversiven Leute in den friedlichen Staaten zu bekämpfen, könnten die Schweizer allein gar nicht produzieren, das heißt dressieren, worauf ich sagte, wieso Hunde, 248
worauf die Saigoner sagten, wenn man die kommunistisch subversiven Elemente mit Maschinenpistolen und Gas bekämpfe, ginge gleich ein großes Geschrei los in der UNO und in der ganzen Welt, wenn man aber Hunde einsetze, sagten alle Menschen, daß sogar Hunde instinktiv merkten, daß Kommunisten menschenfeindliche Elemente seien … Ja, und dann ging ich wortlos, elend und zornig nach Hause, und am nächsten Tag rief mich der hohe Herr Politiker an und sagte, ich hätte mich nach Strich und Faden daneben benommen, denn ich sei im Ausland bekannt als einer der vorzüglichsten Vorsitzenden eines bedeutenden Hundezüchtervereins, und ob ich’s denn nicht schon wüßte, daß man mich im kommenden Herbst als Vorsitzender des gesamtschweizerischen Hundezüchtervereins wählen wolle … Nein, antwortete ich, davon habe ich nichts gehört, sowenig ich bis heute davon gehört habe, daß unsere Hundeliebhaber antikommunistische Menschenfresser züchten … Sie werden verstehen, daß mir die Geschichte keine Ruhe ließ, daß ich anfing, der Sache nachzugehen. Gesamtschweizerisch, gesamteuropäisch … Und die Wahrheit ist, daß die Mehrzahl unserer Hundeliebhaber ihre Hunde, die Freunde und Helfer, wie sie das so verlogen nennen, daß sie also ihre Hunde zu Menschenfressern dressieren und sie nach Katanga, Saigon, Kambodscha, Portugal, Spanien, Argentinien, Angola und so weiter und so fort für teures Geld verkaufen. Kynologie! Ich habe dann auch die Mitglieder dieser Hundezüchtervereine nochmals gründlich studiert: Alles potentielle Faschisten, Militär- und Polizeiköpfe, waffenlose Mörder … Dino Puzzi hatte sich so stark erregt während dieser Schilderung, daß seine Erzählung, als wir das Tonband nochmals abhörten, ständig durch hohe Pfeiftöne gestört war (er hatte zu laut geredet). 249
Schließlich, er war völlig erschöpft und trank gleich zwei Gläser Merlot sozusagen in einem Zug aus, fragte ich ihn, was er bisher unternommen habe. Ich habe einen Tatsachenbericht geschrieben und allen Zeitungen angeboten. Doch alle Zeitungen haben mir den Bericht zurückgeschickt, haben mir dazu geschrieben, sie könnten es nicht verantworten, die Hundeliebhaber auf der ganzen Welt durch solche Greuelmärchen in ihrer Ehre zu verletzen. Einige Redakteure nannten mich sogar einen Amokläufer. Und jetzt? Jetzt habe ich meine Schreinerwerkstätte verkaufen müssen. Zunächst sind mir die Arbeiter weggelaufen, haben erklärt, mit einem Wahnsinnigen wollten sie nichts zu tun haben. Dann bekam ich keine Aufträge mehr, die Kunden sagten, ich sei ein Lügner und ein Verleumder, und der hohe Politiker schrieb mir, wenn ich nicht aufhören würde, solche dreckigen Lügengeschichten zu erzählen, käme es noch zu einem Prozeß … Und jetzt? Ich habe diese Geschichte jedermann erzählt, auch Leuten, die gar nicht zuhören wollten. Mein Rechtsanwalt hat mich zum Arzt geschickt, und nachdem ich dem Arzt die Geschichte ebenfalls erzählt hatte, sagte der, er wolle meinen Fall gründlich studieren, es sei nämlich nicht ausgeschlossen, daß die Eidgenössische Invalidenversicherung für mich aufkommen müsse … Und jetzt? Der Arzt sagte, die Eidgenössische Invalidenversicherung übernehme auch Fälle von Geistesstörungen und Hirnschäden, sofern Hoffnung bestünde, der Kranke könnte resozialisiert werden … Und jetzt? Dino Puzzi schwieg und füllte sein Glas mit Merlot. 250
Das Schwarze Brett Der Gemeindevorstand hat vor vier Jah− ren in Zusammenarbeit mit der Schulbe− hörde die Verordnung erlassen, daß schulpflichtige Kinder während der Schulzeit nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr im Dorf angetroffen werden dürfen. Während den Ferien sollen die Eltern die Kinder dazu anhalten, späte− stens um 21 Uhr zu Hause, zu sein. Lei− der hat der Gemeindevorstand feststel− len müssen, daß diese Verordnung weder von den Eltern noch von den Kindern, strikte eingehalten worden ist. Verord− nungen aber werden erlassen, damit sie eingehalten werden.
251
Der Umzug Der Frühling stehe vor der Tür, lasen wir in den Zeitungen. Auf den Feldern lag aber noch immer eine dünne, faule Schicht Schnee, und der Himmel war Tag und Nacht bedeckt. In den Zeitungen lasen wir auch, für die kommenden Osterfeiertage seien sämtliche Hotels im ganzen Tessin ausgebucht; man suche dringend Ferienwohnungen, auch nur Zimmer, möglichst heizbar, da man mit kühlen Nächten rechnen müsse. Tina entschuldigte sich. Sie habe es einfach nicht übers Herz gebracht, ihren früheren Stammgästen abzusagen. Jetzt sind also auch Tinas Betten für die Osterfeiertage ausgebucht. Zürcher und Baseler werden kommen. Sie werden Ziegenkitzen und Polenta essen und Tinas selbstgekelterten Wein, von dem wir Durchfall bekommen, literweise trinken. Sie werden tagsüber durch das Dorf spazieren und ungeniert jedes Tor öffnen und jeden Innenhof betreten und sagen, ach, wenn wir nur auch hier leben könnten. Abends werden sie wieder saufen, fröhlich sein und singen. Wenn die Deutschschweizer singen, kann man sie nicht von echten Deutschen unterscheiden. Auch sie singen „Am Brunnen vor dem Tore“. Wir sind auch froh, daß der Frühling bald kommen wird. Der Winter war lang. Hier sind die Winter viel länger als anderswo, obwohl sie viel kürzer sind. Wir lebten in einem Sarg, hatte Marianne herausgefunden. Manchmal läuft in einem Luganer Kino ein Film von Fellini. Aber seit Fellini nur noch Filme für Leute mit Hochschulbildung macht, haben wir auch 252
nichts davon. Die italienischen Western langweilen uns ebenfalls. Wenn wir uns langweilen wollen, können wir auch den Fernsehempfänger einschalten. Aber wir wollen uns nicht langweilen. Mitte Dezember lasen wir in den Zeitungen, die Salzburger Oper werde im Casino mit „Cosi fan tutte“ von Mozart gastieren. Wir kauften Karten zu je sechzehn Franken. Das Orchesterensemble bestand aus zwölf Mitgliedern. Die Sänger hatten auf ihrer langen Reise von Salzburg nach Lugano ihre Stimmen verloren. Nach der Pause gingen wir in eines der teuersten Restaurants und aßen ein Porterhouse-Steak. Beim Kaffee mit Cognac kam mir in den Sinn, daß ich wohl die Salzburger Oper mit den Salzburger Festspielen verwechselt hatte. Man könnte natürlich nach Mailand in die „Scala“ oder ins „Piccolo Teatro di Milano“, wo Giorgio Strehler sehr kenntnisreich Stücke von Goldoni inszeniert, die man auch dann nicht versteht, wenn man italienisch kann, denn Strehler besteht darauf, daß Goldoni im Dialekt gespielt wird. Aber man kann oder man könnte sich trotzdem unterhalten. Nur ist die Reise nach Mailand zu mühsam. Erstens ist das Risiko, daß die italienischen Zöllner ihren Dienst vorschriftsmäßig versehen, zu groß. Jetzt, nachdem eine halbe Million Schweizer sich gegen die Einwanderung italienischer Arbeiter geäußert hat, ist dieses Risiko noch größer geworden. Da kann man lange sagen, man habe für die Einwanderung gestimmt. Sie benehmen sich wie die Zöllner der DDR, wenn der Bonner Bundestag in Westberlin Sitzungen abhält. Außerdem ist der Nebel zwischen Chiasso und Mailand jetzt so dicht und weiß wie Watte. Man findet in Mailand auch keinen Parkplatz. Man könnte natürlich mit dem Zug reisen. Aber erstens weiß man nie, wann die italienischen Eisenbahner streiken, und zweitens fahren die letzten Züge ab Mailand, bevor die Vorstellungen zu Ende sind. 253
Man könnte lesen. Bücher zum Beispiel. Das tun wir auch oft. Bis uns die Augen zufallen. Man kann auch trinken. Bis einem die Augen zufallen. Man kann auch Platten hören. Bis der dicke Deutschschweizer unter uns mit dem Besenstiel gegen die Decke klopft. Man kann auch Schlaftabletten nehmen. Man kann auch streiten. Die Frage ist nur, worüber? Im vergangenen Winter hatten wir einige Male Streit. Das ist ein beschissenes Land, sagte Marianne, warum hast du mich auf diesen Friedhof gelockt? Ich habe dich nicht auf diesen Friedhof gelockt. Ich hatte dir gesagt, ich besäße mietweise ein Haus im Tessin, als wir nicht wußten, wo wir uns niederlassen sollten. Deine erste Ehe ist hier in die Brüche gegangen, und du bist wie jene Verbrecher, die an den Tatort zurückkehren. Erstens hatten wir ausgemacht, hier bloß unseren festen Wohnsitz zu nehmen, um von hier aus die ganze Welt zu bereisen. Um meine in Polen und in Prag festgefrorenen Honorarguthaben durchzubringen, um einige Wochen in Paris oder in Berlin zu verbringen, aber dann kam dein Sohn, und unser Traum war ausgeträumt. Lügner. Dein Sohn kam als erster. Und weil dein Sohn kam, wollte auch Daniel zu uns kommen. Und ich hatte dir von Paris aus geschrieben, nie wieder Familie, nie wieder eine Organisation … mit dir zusammen leben, ja. Und hier hast du deine alten Freunde, deine Saufkumpane, und überhaupt reist du nicht gerne. Ich reise nicht gerne, aber du reist gerne, und weil ich dich liebe, reise ich jetzt auch gerne, aber weil wir wieder eine Familie sind, muß ich oft alleine reisen. Sage nicht, du liebst mich, denn wenn du mich lieben würdest, würdest du dieses Dorf verlassen. 254
Und jetzt also wird es Frühling werden. Die Polizeikommandos der Kantone Tessin, Graubünden und Uri publizieren bereits „Verhaltensregeln“ auf den beiden Routen Nord-Süd, San Bernardino und Gotthard. Man rechne mit täglich zwischen fünfzehn- und zwanzigtausend Wagen. Die Bundesbahnen geben bekannt, daß auf der Gotthardlinie zwischen Göschenen und Airolo die Autozüge alle zehn Minuten abgefertigt würden. In den Operationssälen waschen sich die Chirurgen bereits die Hände, und die Instrumentenschwestern ordnen die Bestecke. Das steht in keiner Zeitung. Die Sargfabrikanten überprüfen ihre Lager. Auch das steht in keiner Zeitung. Die Wirte inserieren Galadiners mit sieben Gängen für nur dreißig Franken, Getränke nicht inbegriffen. Hoffentlich schneit es am Gründonnerstag und am Karfreitag, sagte ich. Schnee und Regen hält die Invasoren zurück. Aber das ist nicht wahr, das ist nur ein Wunschtraum, den mir der liebe Gott nicht erfüllen wird zur Strafe dafür, daß ich an seiner Existenz zweifle. Marianne sagte, wir fahren Mittwoch vor Ostern einfach nordwärts. Und wohin? Nach Lausanne. Warum nicht? Am Dienstag vor Ostern nach dem Abendessen sagte Marianne, warum regst du dich eigentlich auf? Du bist schlimmer als dieser Doktor Schwarzwald, der die ausländischen Arbeiter als Läuse im reingewaschenen Pelz seines Vaterlandes empfindet. Du bist Zürcher. Du lebst hier. Dein Italienisch ist so miserabel, daß es die Einheimischen vorziehen, französisch mit dir zu reden, obwohl sie genauso schlecht französisch sprechen wie du. Du bist ein Fremdenhasser. 255
Es ist einesteils wahr, gab ich zu, ich mag die Zürcher nicht, weil ich Zürcher bin, und weil ich Zürcher bin, kenne ich die Zürcher. Wäre ich Jude, wäre ich Antisemit. Aber ich will genau sein, weil das ein diffiziles Thema ist: Ich mag nur jene Deutschschweizer nicht, die glauben, sie seien von Gott oder von wem auch immer Auserwählte. Ich mag überhaupt keine Menschen, die mir deutlich machen, woher sie kommen, bloß weil sie glauben, ihre Herkunft sage etwas aus über ihre Menschlich- oder Unmenschlichkeit. Ich hatte es beispielsweise in den vierziger Jahren in Zürich erlebt, daß man in gewissen Restaurants rascher und höflicher bedient wurde, wenn man hochdeutsch sprach. Nach dem Untergang des Dritten Reiches wurde man in denselben Restaurants überhaupt nicht bedient, wenn man sich in hochdeutscher Sprache mit seinem Partner unterhielt. Aber auch das ist nicht der Grund, nicht der einzige, warum ich Touristen und Ferienmacher hasse. Ich hasse überhaupt nicht diese Menschen, die da springflutartig das Land verwüsten. Ich hasse mich, weil ich mich außerstande fühle, diese Springflut zu verhindern. Weil ich nicht imstande bin, unsere Gesellschaftsordnung so zu verändern, daß diese Menschen nicht mehr während fünfzig Wochen im Jahr als Sklaven gehalten werden, daß dieses Sklaventum damit verschleiert wird, indem man diesen Menschen jährlich zwei oder drei Wochen in die scheinbare Freiheit entläßt, ins Tessin oder ans Adriatische Meer, auf die Bermudas oder nach Mallorca, an die Ostsee oder in die Provence, wo sie von den Urlaubsmanagern erneut versklavt und ausgebeutet werden. Ich mag diese Touristen und Ferienmacher nicht, weil sie aufgehört haben zu denken, und weil sie aufgehört haben zu denken, ist ihnen nicht bewußt, was mit ihnen wirklich gespielt wird … Eigentlich sind sie nichts anderes als Flüchtlinge oder, wenn du willst, Sklaven oder Kettenhunde, denen der Besitzer einmal jährlich 256
für wenige Tage freien Auslauf läßt, ihnen aber immer noch vorschreibt, wo sie fressen müssen und wo sie scheißen dürfen. Ich will fort von hier … Von allem, was ich zornig von mir gegeben hatte, hatte Marianne nur die Schlußfolgerung verstanden. Sie sagte strahlend wie die Sonne, welche zu Ostern erwartet wurde, auch ich will fort von hier. Als ich damals anfing, von diesem Dorf und über dieses Dorf Geschichten aufzuschreiben, als ich damals schrieb, Marianne und ich hätten uns nur vorübergehend hier niedergelassen, wollte ich eigentlich damit das Gegenteil sagen; ich war überzeugt, daß ich dieses Dorf nie wieder verlassen würde. Und nun verließen wir es dennoch. Am Mittwoch vor Ostern. Es regnete, als ob wir November hätten. Die Fahrt nach Domodossola und mit dem Autozug nach Brig im Kanton Wallis, durch das Rhonetal hinunter nach Lausanne dauerte sechs Stunden. Mariannes Mutter hatte ihre Zweizimmerwohnung in einem Haus gleich hinter dem Bahnhof. Die beiden Söhne brachten wir bei Mariannes Schwester unter. Ich war todmüde und ging früh zu Bett. Ich schlief ein und wachte wieder auf. Ich schlief ein und wachte wieder auf, ich schlief ein und … Ich hätte es wissen müssen: Die Bundesbahnen hatten bekanntgegeben, sie würden ab Mittwoch vor Ostern für die italienischen Gastarbeiter und für Urlauber, die Ostern in Italien oder im Tessin verbringen wollten, achtzig Extrazüge einsetzen. Diese würden zur Entlastung des normalen Fahrplanes hauptsächlich zur Nachtzeit fahren. Lausanne liegt an der internationalen Linie Paris-GenfMailand-Rom. Die Schweiz ist ein gastfreundliches Land, sofern es sich nicht um Gastarbeiter, sondern um zahlende Gäste handelt. Darum werden auf unseren Bahnhöfen alle Nachrichten an die Reisenden in vier Sprachen über die Lautsprecher gegeben. Gott sei Dank krankt meine Schwiegermut257
ter an chronischen Schlafstörungen und hat deshalb immer ein stark wirkendes, rezeptpflichtiges Schlafmittel im Hause. Um Mitternacht stahl ich mich in die Küche und holte mir zwei dieser Pillen. Ich erwachte erst zwölf Stunden später wieder. Obwohl die Wohnung nur zwei Zimmer und eine Küche, dazu ein Badezimmer hatte, suchte ich Marianne und ihre Mutter ergebnislos. Sie kehrten um ein Uhr zurück. Marianne sagte, morgen erscheint die Annonce im „Feuille d’Avis de Lausanne“. Welche Annonce? Wir suchen in der Nähe von Lausanne ein kleines Haus, mindestens vier Zimmer und Badezimmer, womöglich Garten. Nur ruhige Lage kommt in Frage … Die Annonce erschien am Ostersamstagmorgen. Um zehn Uhr rief eine alte Dame an. Sie habe ein kleines Haus mit fünf Zimmern und Garten in ruhigster Lage zehn Kilometer außerhalb der Stadt zu vermieten, sie würde es auch verkaufen. Ich sagte, macht, was ihr wollt. Ich bin in Zürich geboren, habe in Basel ein Waisenhaus besucht, in Graubünden die Schulen, in Italien die Partisanen (1944), in Deutschland Dresden und Gefängnisse, lebte fünfundzwanzig Jahre in Zürich, schrieb und betrank mich in Paris, wohnte zwei Jahre im Tessin, ich werde wohl nicht darunter leiden, nun auch noch in der Suisse Romande leben zu müssen. Nur eines bedinge ich mir aus: Ich will mit dem Kram nichts zu tun haben, weder mit der alten Dame zehn Kilometer außerhalb von Lausanne noch mit der Kündigung unserer Wohnung im Tessin noch mit dem Umzug. Aber du wirst wenigstens die Verträge unterschreiben, alle amtlichen und halbamtlichen Dokumente, die es zu unterschreiben gilt? Ja. 258
Marianne kam um fünf Uhr nachmittags mit dem von der alten Dame bereits unterzeichneten Mietvertrag zurück, telefonierte mit dem Hausbesitzer im Tessin und kündigte die Wohnung zunächst mündlich, rief ein Transportunternehmen an und erfuhr, daß sie zufällig zehn Tage nach Ostern eine Leerfahrt von Chiasso nach Lausanne hätten, was die Umzugskosten um fünfzehn Prozent verbillige. Wir fuhren am Ostermontag ins Dorf zurück. Von Lausanne bis Lugano kreuzten wir als einzige eine ungeteilte Autoschlange. Das Haus, in welchem wir jetzt wohnen, sah ich zum erstenmal, als die Möbelwagen bereits angekommen waren. Es gefiel mir gar nicht. Es steht außerhalb eines kleinen Bauerndorfes. Die schweizerisch-französische Grenze ist sehr nahe. Auch Deutschland sind wir wieder näher. Denn in dreißig Minuten erreichen wir auf der Autobahn den internationalen Flughafen Genf-Cointrin, und von dort aus sind wir in dreißig Minuten beispielsweise in Frankfurt, vorausgesetzt, das Personal der deutschen Flugsicherung macht keinen Bummelstreik. Aber was mehr zählt: Wir leben nicht mehr in einem Ferien- und Touristenland, und Deutsche sehen wir nur, wenn wir nach Deutschland kommen. Und dort sehen wir nicht Deutsche, sondern Freunde. Oder einfach Menschen. Nur in einem hat sich für uns nichts geändert: Wir leben wieder in einem Dorf an der Grenze …
259
Inhalt Das Dorf.....................................................................................7 Tina ..........................................................................................22 Marianne ..................................................................................29 Als ich siebzehn Jahre alt war .................................................37 Alfredo und Marcello ..............................................................41 Ildo...........................................................................................47 Eine Reise ................................................................................60 Chichi Ponti .............................................................................66 Jakob ........................................................................................89 Meine Mutter ...........................................................................95 Ildo.........................................................................................102 Der Hund ...............................................................................107 Sigismondo ............................................................................114 Pentzold .................................................................................125 Bartolo und Dodo ..................................................................134 Fulvio.....................................................................................148 Tomkowiz ..............................................................................151 Mein Bruder Jakob ................................................................161 Langeweile.............................................................................166 Zardini....................................................................................170 Pino Patocchi .........................................................................178 Violetta ..................................................................................190 Yvonne und Pietro .................................................................197 Daniel.....................................................................................214 Mein Sohn Oliver ..................................................................219 Dino Puzzi, der Hundezüchter...............................................235 Der Umzug.............................................................................252 260