Kölner Schriften zum Medizinrecht Band 1 Reihenherausgeber Christian Katzenmeier
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Kölner Schriften zum Medizinrecht Band 1 Reihenherausgeber Christian Katzenmeier
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Christian Katzenmeier • Klaus Bergdolt (Hrsg.)
Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert
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Prof. Dr. iur. Christian Katzenmeier Universität zu Köln Institut für Medizinrecht Albertus-Magnus-Platz 50923 Köln Deutschland
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Bergdolt Universität zu Köln Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Joseph-Stelzmann-Straße 20 50931 Köln Deutschland
ISSN 1866-9662 ISBN 978-3-540-70531-4 e-ISBN 978-3-540-70532-1 DOI 10.1007/978-3-540-70532-1 Springer Dordrecht Heidelberg London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2009 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Vorwort
Das Bild des Arztes hat sich, abhängig vom sozialen und kulturhistorischen Kontext der jeweiligen Epoche, seit der Antike vielfach gewandelt. Mit dem naturwissenschaftlich-positivistischen Paradigmenwechsel zur Mitte des 19. Jahrhunderts trat die technische Komponente in den Vordergrund, die Heilkunde wurde für die meisten Ärzte eine primär naturwissenschaftliche Disziplin. Deren Errungenschaften und Fortschritte prägen das moderne Leben. Das positivistische Zeitalter sollte mit Hilfe der Medizin und Naturforschung die ausstehenden Probleme der Menschheit lösen. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts weckten freilich, ungeachtet des nachhaltigen Optimismus der Forscher, am technisch-naturwissenschaftlichen Arztbild auch deutliche Kritik. Für den ärztlichen Alltag gewannen in Deutschland die Bismarck’schen Sozialgesetze und die Einrichtung gesetzlicher Krankenkassen Bedeutung, obgleich sie zunächst nur einer Minderheit zugute kamen. Früh entwickelte sich eine faktische Zweiklassenmedizin, da parallel auch „Privatpatienten“ behandelt wurden, doch erfreuten sich alle Bevölkerungsschichten einer zuvor nie gekannten Sicherheit, was die gesundheitliche Versorgung betraf. Nach einigen Rückschlägen, die mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zusammenhingen, schwand zur Zeit des sogenannten „Wirtschaftswunders“ (im Grunde erst nach dessen Blütezeit) das Bewusstsein, dass jede ärztliche Behandlung mehr oder weniger Geld kostet, vor allem, wenn sie dem letzten Stand der Wissenschaft entspricht. Durch die Koinzidenz einiger sozialer und politischer Entwicklungen, etwa der Ausbildung der „umgekehrten Alterspyramide“, der zunehmenden Kosten bestimmter Therapien oder lebenserhaltender Maßnahmen und zeitweilige wirtschaftliche Rezessionen geriet das jahrzehntelang in vielen Ländern bewunderte deutsche Gesundheitssystem in eine schwere Krise. Heute lastet ein ökonomischer Druck auf dem ärztlichen Alltag, der Dienst am Kranken und das vertrauensvolle Gespräch mit ihm leiden zunehmend unter wirtschaftlichen Zwängen. Freundlichkeit und Altruismus am Krankenbett werden, wie jüngste Studien zeigen, unter den an vielen Kliniken aufoktroyierten Wettbewerbsbedingungen reduziert oder gar verhindert. Schließlich durchdringt das Recht die Medizin in einer Intensität, die historisch kein Vorbild besitzt. Trotz der Etikettierung des Arztberufes als „freier Beruf“ ist dessen rechtliche Einbindung ebenso weitreichend wie komplex. Der Alltag in Arztpraxis und Krankenhaus erscheint juristisch durchnormiert, reguliert und bemessen. Die prinzipielle Notwendigkeit einer staatlich-rechtlichen Regelung der ärztlichen Tätigkeit wird heute zwar nicht mehr bestritten. Doch besteht Anlass zur Warnung vor allzu weit gehenden Reglementierungen, soll ein Auseinandertreten von Recht und ärztlichem Ethos vermieden, der Verlust der Vertrauensbasis zu dem Patienten verhindert und einer Entwicklung zur Defensivmedizin begegnet werden.
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Vorwort
Die Schrift dokumentiert die auf dem 1. Kölner Symposion zum Medizinrecht im Oktober 2008 gehaltenen Vorträge. Rechtswissenschaftler, Mediziner, Medizinhistoriker, Philosophen und Gesundheitspolitiker reflektieren das aktuelle Arztbild, seine historische Entwicklung und die Erwartungen für die Zukunft. Dabei steht die prospektive Komponente im Mittelpunkt, die interdisziplinäre Bestandsaufnahme zur Identität der ärztlichen Profession soll Impulse für die künftige Entwicklung des Berufsstandes geben. Die Tagung an der Universität zu Köln und Drucklegung der Schrift wurden durch freundliche Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung ermöglicht. Köln, im März 2009
Christian Katzenmeier und Klaus Bergdolt
Inhaltsverzeichnis
Die Patient-Arzt-Beziehung im 21. Jahrhundert......................................................1 Jörg-Dietrich Hoppe Die jüngere Entwicklung des Arztberufs im Spiegel des Rechts ............................9 Adolf Laufs Dienst am Menschen oder Kunden-Dienst? Ethische Grundreflexionen zur sich wandelnden ärztlichen Identität ...............................................................21 Giovanni Maio Der Arzt im Spannungsfeld von Versorgungsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit ...........................................................................................37 Eckhard Nagel Verrechtlichung der Medizin.................................................................................45 Christian Katzenmeier Wirtschaftlichkeit und Ethik in der universitären Krankenversorgung .................61 Otfried Höffe Ärztliche Kompetenz und Patientenautonomie .....................................................75 Gerda Müller Der verfassungsrechtliche Rahmen des ärztlichen Handelns ................................87 Edzard Schmidt-Jortzig Das Arztbild der heutigen Hochschulmedizin .......................................................93 Joachim Klosterkötter Das Kontinuum des Ärztlichen............................................................................105 Klaus Bergdolt Das Arztbild im 21. Jahrhundert..........................................................................117 Rainer Hess Rationierung, ihre kritischen Wirkungen für die ärztliche Berufsausübung und die Schutzfunktion der ärztlichen Selbstverwaltung – Einige rechtliche und medizinethische Anmerkungen ....................................................................121 Horst Dieter Schirmer/Christoph Fuchs
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Inhaltsverzeichnis
Der Versorgungsauftrag in der Krankenhausrahmenplanung ............................. 147 Dorothea Prütting Die europäische Arzthaftung im Prozess: Internationale Zuständigkeit und Kollisionsrecht .................................................................................................... 157 Hanns Prütting Therapieren oder Optimieren? Herausforderungen des ärztlichen Selbstverständnisses im 21. Jahrhundert ............................................................. 171 Michael Quante Der Arzt als Heiler und Manager – Zur erforderlichen Integration des scheinbar Unvereinbaren..................................................................................... 181 Christiane Woopen
Die Patient-Arzt-Beziehung im 21. Jahrhundert Jörg-Dietrich Hoppe Der Medizinhistoriker Hermann Kerschensteiner (1873-1937) schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts über den Arztberuf: „Der ärztliche Beruf ist wunderlicher Natur, und immer wieder haben geistvolle Köpfe darüber nachgedacht, was eigentlich an diesem Gemisch von Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft das Wesentliche ist.“ Dieser Spruch hat an Aktualität nichts verloren, weil alle fünf Parameter auch in unserer Zeit eine wichtige Rolle spielen. Mir scheint, dass Wissenschaft und Handwerk an Bedeutung zugenommen haben, Kunst und Liebestätigkeit aber in Politik, Gesellschaft und Medien geringer eingeschätzt werden als früher, während das Geschäft – auch bei manchen Ärzten – einen gewaltigen Bedeutungszuwachs verzeichnen kann. Nicht von ungefähr sprechen wir heute mehr über Gesundheitswirtschaft als über ein Gesundheitswesen und die Gesundheitspolitik wird nicht mehr so sehr als Sozialpolitik, sondern mehr und mehr als Wirtschaftspolitik verstanden.
I. Rückblick Eine kurze Rückblende in das vergangene Jahrhundert macht deutlich, dass bis etwa in die Mitte der 80er Jahre der einzelne Patient als Individuum gesehen und die Patient-Arzt-Beziehung als eine höchst individuelle Interaktion respektiert wurde. Die einzige auf diese individuelle Situation gemünzte Vorschrift im Sozialrecht war, dass der Patient Anspruch auf eine ausreichende und zweckmäßige Behandlung habe, dass diese das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfe und, dass die Gebote der Wirtschaftlichkeit zu beachten seien. Keinem Patienten sollte das Notwendige vorenthalten werden. Die Patienten haben ihre Erkrankungen als Schicksal aufgefasst und betrachteten ihre Ärzte als Hoffnungsträger, als Heiler oder zumindest als Helfer und auch als Tröster. Sie vertrauten ihnen, dass sie ihre Versprechen einhalten würden, die Grundsätze der ärztlichen Berufsethik zu beachten. Diese Grundsätze basierten auf der abendländischen Gesinnungsethik. Ärzte versprachen, salus aegroti suprema lex zu beachten, das Gebot des primum nil nocere einzuhalten, sich als Anwalt ihrer Patienten zu fühlen, absolute Verschwiegenheit zu üben und keinesfalls persönliche, insbesondere merkantile Motive bei der Betreuung ihrer Patienten zu präferieren. Die Politik kümmerte sich um Daseinsvorsorge im Gesundheitswesen, das heißt, die Einrichtungen für ambulante, stationäre und weitere Versorgung in ausreichendem Umfang vorzuhalten. Ansonsten beschränkte sie sich auf eine die individuelle Patientensituation respektierende Rahmengesetzgebung. Die Krankenkassen verwalteten die Beitragseinnahmen und bezahlten die durch die Kassenärztlichen Vereinigungen überprüften
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Leistungen. Sie zollten aber ebenfalls der individuellen Patient-Arzt-Beziehung Respekt. Die Rechtspflege akzeptierte zumindest bis in die frühen 70er Jahre den damals bei Patienten und Ärzten selbstverständlichen Grundsatz: salus aegroti suprema lex. Rechtliche Auseinandersetzungen gab es im Wesentlichen nur wegen Verletzungen der Sorgfaltspflicht im Rahmen einer ärztlichen Betreuung. De facto gab es somit ein Spannungsdreieck zwischen der Patient-Arzt-Beziehung, der Politik und der Rechtspflege. Das bisher Geäußerte soll kein nostalgischer Rückblick sein, zumal die meisten heute berufstätigen Ärztinnen und Ärzte diese Zeit ja schon gar nicht mehr miterlebt haben, sondern nur das enorme Ausmaß der Veränderungen aufzeigen, das sich in dem relativ kurzen Zeitraum der letzten 25 bis 30 Jahre allein bis heute ereignet hat.
II. Veränderungen der deutschen Gesundheitslandschaft Der Trend dieser Entwicklung und insbesondere das Tempo, mit dem sie sich weiter vollziehen wird, dürfte ungebrochen bleiben und die deutsche Gesundheitslandschaft regelrecht umpflügen. Aus dem genannten Spannungsdreieck ist zumindest ein Spannungssechseck entstanden, das sich aber weiterentwickeln dürfte. Die folgenden Ausführungen gelten nicht dem unweigerlich stattfindenden medizinischen Fortschritt, konzentrieren sich vielmehr auf die politisch-gesellschaftliche Dimension. Die Patient-Arzt-Beziehung wurde seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch zwei getrennt voneinander verlaufende Entwicklungen massiv beeinflusst: Die Politik der zunehmenden impliziten Rationierung einerseits und die veränderte Rechtsprechung andererseits.
1. Die Politik zunehmender impliziter Rationierung Durch eine Fülle von Gesetzgebungen seit 1976/77 ist eine staatlich verordnete Mittelknappheit eingeführt worden, die die Finanzierung unseres Gesundheitswesens den steuerfinanzierten Systemen immer ähnlicher macht. Dies geschah zunächst in Form von Kostendämpfungsgesetzen, seit 1987 im ambulanten und 1993 im stationären Bereich durch die gesetzlich festgelegten Budgetierungen der Versorgungsbereiche und geschieht schließlich ab dem Jahr 2009 durch den dann eingerichteten Gesundheitsfonds. Seit 1993 sind Krankenhäuser übrigens nicht mehr soziale Einrichtungen, die aus der Mildtätigkeit hervorgegangen sind, sondern gesetzlich gewollt Wirtschaftsunternehmen. Der Öffentlichkeit wurde und wird mitgeteilt, dass erhebliche Rationalisierungsreserven mobilisiert werden müssten, was keineswegs völlig falsch ist, ihr wird aber verschwiegen, dass genauso implizite Rationierung stattfindet, ein Vorgang, der mit Formulierungen wie „Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit“ euphemistisch dargestellt wird. In dieser Phase haben die Patienten implizite Rationierung im Wesentlichen im Arzneiverordnungswesen gespürt. Die Patient-Arzt-Beziehung wurde und wird in
Die Patient-Arzt-Beziehung im 21. Jahrhundert
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diesem Zusammenhang nach wie vor dadurch belastet, dass die Patienten nicht selten den Eindruck haben, ihre Ärztinnen und Ärzte verordneten zur Schonung oder gar Aufbesserung des eigenen Honorars minderwertige Arzneimittel. Was im früher diesbezüglich unregulierten Gesundheitswesen undenkbar gewesen wäre, ereignet sich in Deutschland seit Beginn des neuen Jahrhunderts in der konkreten Patientenversorgung mittels staatlicher Eingriffe, wobei die Operationalisierungen der heute Aufträge erfüllenden Selbstverwaltung, die früher eine gestaltende Selbstverwaltung gewesen ist, überantwortet wurde: Gemeint sind die durch Rechtsverordnungen implementierten Eingriffe in die Prozeduren der Patientenbehandlung, etwa durch die inhaltlichen Vorgaben bei diagnosebezogenen Fallpauschalen im stationären Sektor und noch viel mehr durch Disease-ManagementProgramme (wörtlich übersetzt: Krankheitshandhabungsvorschriften), die die mitwirkenden Ärztinnen und Ärzte bei eingeschriebenen Patientinnen und Patienten mit definierten, zumeist chronischen Erkrankungen eins zu eins zu beachten haben. Dass diese Programme nicht mehr auf das individuell Notwendige abgestellt sind, sondern auf die Diagnose hin, so dass die entsprechenden Patienten nicht mehr Erkrankte mit einer Diagnose sind, sondern Besitzer einer Diagnose, ist die völlig natürliche Folge dieser Entwicklung. Dass diese Programme außerdem nicht nur nach medizinischen Gesichtspunkten, sondern mindestens genauso nach Kriterien der finanziellen Ressourcen ausgestaltet sind, ist die notwendige Konsequenz einer durchaus gewollten Zuteilungspolitik. Von einer freien Patient-ArztBeziehung kann da allenfalls noch eingeschränkt die Rede sein. Eine weitere Konsequenz und überhaupt nicht unerheblich ist bezüglich der Patient-Arzt-Beziehung die Einschränkung der bisher gemeinsam ausgeübten Therapiefreiheit, die zumindest einer Teilentmündigung und auch einer Entindividualisierung der Patient-Arzt-Beziehung gleich kommt. Der gegenläufige gravierende politische Eingriff des Staates ist der Wechsel von der staatlichen Daseinsvorsorge in eine wettbewerbliche Marktsituation im Bereich der Leistungserbringung, das heißt der eigentlichen Patientenversorgung. Die gesetzlichen Krankenkassen wurden mittlerweile von „payern“ zu „playern“ umgewandelt, die – selbst im Wettbewerb untereinander stehend – den Auftrag haben, mit in Konkurrenz stehenden im ambulanten und stationären Sektor agierenden Leistungserbringern Verträge zu schließen. Wohlgemerkt, die zu erbringenden Leistungen (sozusagen Warenkörbe) und die dafür zu zahlenden Preise sind staatlich festgelegt, die Leistungserbringer buhlen heute um Verträge mit den gesetzlichen Krankenkassen, die wiederum entsprechende Ausschreibungen vornehmen. Dieses Verfahren muss in logischer Konsequenz eine möglicherweise gar nicht einmal unerhebliche Einschränkung der Wahlfreiheiten von Patientinnen und Patienten mit sich bringen, weil es gut vorkommen kann, dass ihre Krankenkasse mit dem gewünschten Leistungserbringer keinen Vertrag unterhält. Das Krankenkassenmitglied kann nur durch Kassenwechsel noch einen Rest von Wahlfreiheit in Anspruch nehmen.
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Jörg-Dietrich Hoppe
2. Einfluss der Rechtsprechung Die Rechtspflege hat ganz unabhängig aber doch parallel zu dieser politischen Entwicklung eine nahezu gleich bedeutsame Änderung der Patient-ArztBeziehung geschaffen, die die tradierte Funktion des Arztes als Heiler, Helfer und Tröster und auch die des Patientenanwaltes tiefgreifend umgestaltet hat. Der Wechsel von salus aegroti suprema lex zu voluntas aegroti suprema lex als führende Verhaltenssteuerung in der Patient-Arzt-Beziehung hat nicht nur für diese Beziehung gravierende Konsequenzen, sondern auch für das Bild des Arztes in der Öffentlichkeit insofern, als Patienten mehr und mehr den Eindruck haben, ihren Ärztinnen und Ärzten Aufträge zu erteilen, die von diesen auch erfüllt werden müssten. Ärzte sind so zum Dienstleister am Patienten degradiert worden. Viele Patienten empfinden ihre Erkrankungen längst nicht mehr nur als Schicksal, sondern weit mehr als Schaden – auch im versicherungsrechtlichen Sinne –, der gefälligst von ihren Ärzten zu beseitigen oder zumindest zu lindern sei. Eine gewisse Werkvertrags-Mentalität hat sich eingeschlichen, wobei die Meinung herrscht, dass die Nichterreichung des Vertragszieles einer Schlechterfüllung des Vertrages gleichkomme, woraus sich Schadenersatzansprüche ergäben. Chronisch kranke Patienten sind bekanntlich häufig Experten ihrer eigenen Krankheit und haben sehr genaue Vorstellungen von dem, was sie von ihren Ärztinnen und Ärzten erwarten dürfen. Patienten mit akuten, sogenannten EpisodenErkrankungen informieren sich nicht selten über die Bedeutung der selbst festgestellten Symptome und kommen mit mehr oder weniger fertigen Diagnosen in die Sprechstunde des Arztes, um die entsprechenden Aufträge zu erteilen. Das kann manchmal hilfreich sein, aber nicht immer. Der Aufwand, gelegentlich InternetUnsinn aus den Köpfen mancher Patienten zu vertreiben, kann durchaus erheblich sein. Zurück zur Rechtspflege: Notwendige Konsequenz der Betonung von Patientenautonomie, die die Ärzteschaft natürlich uneingeschränkt respektiert, sind sorgfältige Aufklärung und Dokumentation darüber. Schwer nachzuvollziehen ist aber für Ärztinnen und Ärzte die Spruchpraxis, dass trotz Mittelknappheit die Verpflichtung besteht, das Notwendige im Sinne des Standes der medizinischen Wissenschaft zu applizieren, obwohl nur das Finanzierbare vergütet wird, so dass nicht selten – insbesondere für aufwändige Leistungen – Defizite entstehen.
III. Ausblick Noch ein paar Sätze zur Zukunft der Struktur der ärztlichen Versorgung, wie sie sich einerseits durch den Gesetzgeber, andererseits auch durch die Überantwortung der Patientenversorgung in einen wettwerblich agierenden Markt ergeben wird: Der Wunsch der Politik ist es, die hausärztliche Versorgung zu stärken, also etwa sechzig bis siebzig Prozent der ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte als Hausärzte agieren zu lassen, um eine Breiten-Grundversorgung sicherzustellen. Nach Aussagen der WHO bereits im Jahre 2000, der Gesundheitsministerkonfe-
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renz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2005 und der Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung ebenfalls im Jahre 2005 besteht die Vorstellung, dass bisher unter Arztvorbehalt stehende Verrichtungen aus diesem Arztvorbehalt herausgelöst und auch für andere, nichtärztliche Berufe durchzuführen erlaubt werden sollen. Auch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz aus dem Jahre 2007 sieht schon vor, dass beispielsweise die Verordnung von Pflegebedarfsartikeln auch durch Pflegende vorgenommen werden darf. Diese Entwicklung soll weitergehen. So plädiert die Weltgesundheitsorganisation, die primär allerdings eher an Entwicklungsländer als an Industrienationen denkt, für ein erweitertes Pflege-Berufsbild. In der Bundesrepublik Deutschland ist gleichwohl eine entsprechende Entwicklung ebenfalls im Gange in Form eines Curriculum „Community Medicine Nursing“ an der Universität Greifswald und der Hochschule Neubrandenburg. Es gibt viele weitere Beispiele. Die dort ausgebildeten Pflegekräfte sollen als „verlängerter Arm von Hausärztinnen und Hausärzten“ z.B. telemedizinische Verlaufskontrollen vornehmen, Hausbesuche und präventive Maßnahmen, z.B. Sturzprophylaxe bei älteren Menschen, durchführen. Die Bundesärztekammer favorisiert allerdings die Weiterqualifikation der früheren Arzthelferin, jetzt Medizinische Fachangestellte genannt, die durch entsprechende Fortbildungscurricula in den Stand gesetzt werden soll, Patientenbegleitung und Koordination der Patientenbetreuung durchzuführen, Prävention im Kindes- und Jugendalter zu betreiben, aber auch bei Jugendlichen und Erwachsenen, sowie besondere Kenntnisse in der Ernährungsmedizin zu erlangen, um auf diesem Wege Beratungen durchzuführen. Außerdem gehen die Vorstellungen in die Richtung eines verstärkten Einsatzes in der geriatrischen Versorgung. Dies alles würde aber in ärztlicher Verantwortung geschehen. Auf diesem Wege soll eine Konzentration des Arztes auf seine Kernkompetenzen erreicht werden und ihm insbesondere mehr Zeit für das Gespräch mit Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen. Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. hat ein Positionspapier verabschiedet zu dem Thema: Kooperation und Kompetenz – Zukunftsorientierte Zusammenarbeit in der Patientenversorgung. Die Medizinstudierenden von heute gehen von vornherein davon aus, dass sie als eine Profession – der ärztlichen nämlich – in multiprofessionellen Teams die koordinierte Zusammenarbeit aller Gesundheitsberufe erleben werden und fordern wörtlich: „Im Rahmen einer solchen Umstrukturierung ist die Schaffung klarer rechtlicher Rahmenbedingungen zur Abschaffung momentaner und Verhinderung zukünftiger rechtlicher Grauzonen essentiell.“ Teilung der Verantwortung soll somit ein wichtiger Tatbestand sein und zur Qualitätsverbesserung in der Versorgung und zur Patientensicherheit beitragen. Dies ist zweifellos ein Paradigmenwechsel im Selbstverständnis des Arztberufs. Die spezialistische ärztliche Versorgung wird sich zunehmend in von unterschiedlichen Trägern unterhaltene Institutionen verlagern. Hier konkurrieren Ärzte als Freiberufler, z.B. in Praxisnetzen mit gemeinnützigen Einrichtungen, mit NonProfit-Unternehmen wie z.B. kommunalen Krankenhäusern und natürlich auch mit profit-orientierten Betreibern, die nicht einmal unbedingt aus dem Gesundheitswesen stammen müssen, sondern durchaus auch als Investoren in der Gesundheits-
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Jörg-Dietrich Hoppe
wirtschaft auftreten können. Sie alle werden entweder Ärzte sein oder Ärzte brauchen, wobei darauf zu achten ist, dass die gestärkte Patientenautonomie einhergeht mit einer entsprechenden Arztautomomie, hier u.a. gemeint als eine Autonomie gegenüber den allfälligen Betreibern von Gesundheitseinrichtungen, so dass dem gegenwärtigen Zustand der Einmischung Dritter in die individuelle Patient-ArztBeziehung ein Ende bereitet werden muss. Die ärztliche Selbstverwaltung hat die Aufgabe, dazu die Freiberuflichkeit des Arztberufes zeitgemäß zu definieren. Ärztinnen und Ärzte behandeln Individuen und sind deswegen auch individualethisch eingestellt; eine alleinige und ausschließliche sozial-ethische Denkweise ist den Angehörigen dieses Berufes und deren Patienten nicht zuzumuten. Hier befinden wir uns derzeit aber auf einem sehr gefährlichen Weg, weil Ärztinnen und Ärzte ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich Heiler, Helfer, Tröster und Berater zu sein statt nur Schadensbeseitiger, kaum noch nachkommen können. Vielmehr müssen sie als Budgeteinhalter, Allokationsjongleure und – zu meinem großen Leidwesen – auch als Geschäftsleute, z.B. bei IGeL, Vertrauen zerstörende oder zumindest gefährdende Verhaltensweisen an den Tag legen. In einer neueren Umfrage haben 4.500 Ärztinnen und Ärzte zu ihrer Rolle heute und in 25 Jahren Stellung genommen und Patienten sind gefragt worden, welchen Arzt sie in Zukunft erwarten oder befürchten. Auf die Frage: „Welche Rolle spielen Sie heute als Arzt und was für eine Rolle wird der Arzt in 25 Jahren haben?“ antworteten knapp 90% mit Therapeut, 66% mit Seelsorger, 34% mit Heiler und 82% mit Berater. 29% empfanden sich als Krankschreiber, 42% als Gesundheitsmanager, 13% als Gesundheitstechniker und 58% als Gesundheitsbürokraten. Die Frage, wie das Ganze in 25 Jahren wohl aussehen dürfte, wurde wie folgt beantwortet: Dieselben Ärzte meinten, zu 55% seien die dann agierenden Ärztinnen und Ärzte Therapeuten, zu 32% Seelsorger, zu 20% Heiler, zu 47% Berater und zu 20% Krankschreiber, aber 64% fühlen sich als Gesundheitsmanager, 32% als Gesundheitstechniker und 59% als Gesundheitsbürokraten. Patienten fürchten, dass Ärzte im Jahre 2020 mehr Techniker und weniger Therapeuten seien. 90% wünschten sich aber eine Beraterfunktion, 73% die Funktion des Therapeuten und jeweils etwa 50% wünschten sich den Arzt als Heiler und Seelsorger. Die Patienten glauben aber nicht, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen. Vielmehr glauben sie, dass 2020 66% als Berater aufträten, 55% als Therapeuten, 37% als Heiler, aber 48% als Gesundheitsmanager und 42% als Gesundheitsökonomen sowie 48% als Medizintechniker. Bezeichnend ist, dass die Bevölkerung den Arztberuf in den sechziger Jahren am meisten mit geistlichen und künstlerischen Berufen assoziierte, in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts aber schon mit dem Ingenieurberuf und mit Bankern. Zum Schluss sei das Spannungssechseck (gegenüber dem Spannungsdreieck der achziger Jahre des vorigen Jahrhunderts) benannt: Es besteht zwischen Patient (als autonomes Wesen) – Arzt in verschiedenen Funktionen – Politik als direkter Gestalter des Gesundheitswesens – Auftragsselbstverwaltung als Rationierungsinstitution – im Wettbewerb stehende Leistungserbringer – Rechtspflege.
Die Patient-Arzt-Beziehung im 21. Jahrhundert
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IV. Fazit Wir befinden uns in einem Durchgangsstadium zu einem neuen Gesundheitswesen, das starke Ähnlichkeiten aufweisen wird mit den Gesundheitswesen in den skandinavischen Ländern, mit kleineren Anleihen aus den Niederlanden, und mit wettbewerblichen Ideen aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Bezüglich der Patient-Arzt-Beziehung wird sich das in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelte Gefüge weiter ausdifferenzieren: Schwerkranke Patienten, die durch ihre Erkrankung stark bedroht sind, werden ihre Ärztinnen und Ärzte als fürsorgliche Partner und Hoffnungsträger sehen. Patienten mit chronischen Erkrankungen und solche mit nicht lebensbedrohlichen Episodenerkrankungen werden in ihrem Arzt den Partner als Berater suchen. Patienten, die nicht krank sind, sondern lediglich Wünsche nach ärztlichen Verrichtungen äußern, die bezüglich ihrer Durchführung unter Arztvorbehalt stehen, z.B. plastische Operationen zur Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes, werden ihren Arzt als Auftragnehmer und sich selbst als Kunden betrachten.
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Die jüngere Entwicklung des Arztberufs im Spiegel des Rechts Adolf Laufs
I. Literarische Erinnerung „Freuet Euch, Ihr Patienten, der Arzt ist Euch ins Bett gelegt“. Diese Spruchweisheit findet sich in der Erzählung „Ein Landarzt“ von Franz Kafka, dessen wir in diesem, seinem 125. Geburtsjahr gedenken.1 Des Dichters Lieblingsonkel Dr. Siegfried Löwy war hochangesehener Landarzt im Mährischen und der Intellektuelle in der jüdischen Familie. Er nahm sich 1942 zu Prag das Leben in der Nacht vor seiner Deportation2 in eine der Mordfabriken, an denen deutsche Ärzte mitwirkten. Noch einige Sätze aus der Erzählung, die dem Vortragenden, der als Sohn eines auch chirurgisch tätigen Landarztes aufwuchs, vertraut klingen: „Ich bin kein Weltverbesserer … Ich … tue meine Pflicht bis zum Rand, bis dorthin, wo es fast zuviel wird. Schlecht bezahlt, bin ich doch freigebig und hilfsbereit gegenüber den Armen … Rezepte schreiben ist leicht, aber im übrigen sich mit den Leuten verständigen, ist schwer … Nun, hier wäre also mein Besuch zu Ende, man hat mich wieder einmal unnötig bemüht, daran bin ich gewöhnt, mit Hilfe meiner Nachtglocke martert mich der gesamte Bezirk … So sind die Leute in meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arzt verlangen. Den alten Glauben haben sie verloren; … aber der Arzt soll alles leisten mit seiner zarten chirurgischen Hand“. – Mancher niedergelassene Arzt mag sich auch heute noch in diesen Sätzen wiederfinden. Im eigentlich Kafkaesken der Erzählung, das hier nicht vorgezeigt werden kann, in den luzid gegenständlich beschriebenen, albtraumhaften und aussichtslosen Szenen lassen sich Fingerzeige erkennen: Vorausahnungen unserer glänzenden medizinischen Welt mit ihren beklemmenden Kehrseiten und Vergeblichkeiten.
II. Überreguliert und unterfinanziert Lastet nicht auf vielen Ärzten der Albtraum eines rechtlichen Netzwerks, das – beengend geknüpft, hoch veränderlich und wenig durchsichtig – alle Bewegungen umspannt? Recht gehört zu den Lebensbedingungen des Alltags, auch des beruflichen Alltags. Sein Bestand an Vorschriften hat sich, wie die Berufswelt selbst, differenziert und verdichtet. Es folgt den Fortschritten der naturwissenschaftlichtechnischen Realisation wie dem gesellschaftlichen Wandel, und es gibt manchen Entwicklungen selbst die Richtung vor. Dabei geht das Recht in politischer Bewe1 2
Sämtliche Werke, Suhrkamp 2008, S. 844, 847 f. Wagenbach, FAZ v. 2.8.2008 (Kafkas Sätze).
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Adolf Laufs
gung auf, weil absolute Maßstäbe für Gerechtigkeit, eine Metaphysik des Rechts nicht mehr allgemein anerkannt sind. Die politische Bewegung erzeugt nur vorübergehende Regelfestsetzung. Die Politik findet darin ihr Genüge, weil ihr das ganze Feld des Rechts nach Willkür zu Gebote steht. Ihre Gestalt gewinnt die Willkür durch parlamentarische Mehrheiten.3 Ein Beispiel dafür bietet das Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung, das die ärztliche Tätigkeit wie kaum ein anderes legislatives Werk beherrscht. Seit der Einfügung der GKV in das SGB V durch das Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen des Jahres 1988 und der Erstreckung der Sozialversicherung auf das Gebiet der DDR 1991 sind nicht weniger als zehn teils tief einschneidende und umfängliche Novellen ergangen. So brachte das GKV-Reformgesetz 2000 die integrierte Versorgung, ein neues Vergütungssystem für stationäre Leistungen, eine verstärkte Qualitätssicherung und die Deckelung der Gesamtvergütung. Das Modernisierungsgesetz von 2003 baute die hausarztzentrierte und integrierte Versorgung und damit das Feld selektiver Verträge aus; es verstärkte die Kontrolle von Wirtschaftlichkeit und Qualität; es nahm nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel aus dem Leistungskatalog heraus und führte die Praxisgebühr ein.4 Diese der Unterfinanziertheit des Gesundheitssystems entsprungenen Reformen haben, so urteilt der jüngste Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer, die Kultur der ärztlichen Freiberuflichkeit und der freien Arztwahl der Patienten beschädigt. Die Individualität der Krankenversorgung werde durch die Vorgaben der Politik konterkariert. Der ärztliche Alltag werde inzwischen bestimmt durch schlechte Arbeitsbedingungen, knappe Ressourcen, verdeckte Rationierung und eine durch Bürokratie und Dokumentation verursachte drückende Zeitnot.
III. Gespaltene Ärzteschaft? Dabei hat sich die Arztdichte in Deutschland kontinuierlich stark erhöht. Kamen 1955 noch 832 Einwohner auf einen berufstätigen Arzt, so 1990 nur noch 335 und 2007 gar 261. Die Zahl der berufstätigen Ärzte erhöhte sich von 237.750 im Jahr 1990 auf 314.912 anno 2007, wobei die Zahl der stationär Tätigen die der ambulant Praktizierenden stets überwog. Zugleich vermehrten und veränderten sich die Tätigkeitsfelder.5 Angesichts dieser Bewandtnisse erscheint die Annahme eines einheitlichen Berufsstandes zweifelhaft. Von der gemeinsamen Prägung hängt indes viel ab. Hans Thomas6 vertritt die Ansicht, dass ein konsistentes gemeinschaft3
Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 4. Aufl. 2000, S. 150. Übersicht von Orlowski/Wasem, Gesundheitsreform 2007 (GKV-WSG), 2007. Kingreen, Die Entwicklung des Gesundheitsrechts 2007/2008, NJW 2008, 3393. Der Autor bezieht das am 1.1.2009 in Kraft tretende GKV-OrgWG mit ein. „Man darf vermuten, dass jede Gesundheitsreform hunderte von juristischen Arbeitsplätzen sichert“ (3399). 5 Die Daten in dem inhaltsreichen, überaus informativen „Tätigkeitsbericht 2007 der Bundesärztekammer“, 2008, 439. 6 Thomas, Standesethos oder Pluralismus der Wertvorstellungen? Der ethische Relativismus unterwirft die Ärzte der Politik, in: ders. (Hrsg.), Ärztliche Freiheit und Berufsethos, 2005, S. 183-204, 183. 4
Die jüngere Entwicklung des Arztberufs im Spiegel des Rechts
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liches Berufsethos die Ärzteschaft noch am besten zu schützen vermöchte „gegen politische Vereinnahmung, öffentliche Kontrolle und Bürokratisierung, gegen den Druck gesellschaftlicher Modewünsche und sonst berufsfremde Einmischungen“. Doch die ideellen Gemeinsamkeiten haben sich verringert wie im weltanschaulich zerklüfteten Publikum, das sich mit einigen seiner Charakterzüge auch in der Ärzteschaft abbildet. Die Gespaltenheit zeigt sich beim Lebensschutz, insbesondere beim Schwangerschaftsabbruch.7 Hier ist die ärztliche Berufsordnung vom Hippokratischen Eid – unter Freiheitsvorbehalt – durch Rückzug hinter das allgemeine Strafrecht abgerückt. Das nach jahrzehntelangen Konflikten gesetzlich etablierte strafrechtliche Beratungs- und Fristensystem räumt den Ärzten die Befugnis zur Vornahme rechtswidriger Schwangerschaftsabbrüche ein. Dem Beratungskonzept „ist unausweichlich die Zumutung an einen Teil der Ärzteschaft immanent, etwas zu tun und zu verantworten, was das BVerfG selbst als Unrecht missbilligt und deshalb auch nicht für verantwortbar halten kann. Darin liegt eine Aufforderung zur Unrechtsteilnahme, die selbst Beteiligung am Unrecht ist.“8 Nicht wenige sehen darin keine Zumutung. Gespalten zeigt sich die Ärzteschaft – wie die Gesellschaft – auch im Hinblick auf die Embryonen verbrauchende artifizielle Reproduktion: die In-vitro-Fertilisation (mit Freistellungsklausel),9 die in Deutschland unzulässige Präimplantationsdiagnostik10 und die begrenzt mögliche Stammzellenforschung.11 Noch besteht unter Ärzten und ihren Vertretungen weithin Einigkeit über die Grenzen der Sterbehilfe;12 doch auch hier zeigt das Meinungsbild erste Risse. Die Biomedizin13 verändert das Bild des Arztes, und neues umstrittenes Recht beglaubigt es, doch nicht für alle. In der Biomedizin geht es um Forschung, Lehre, therapeutische Konzepte und Forschungsmethoden der Humanmedizin, die – ausgehend von den Erkenntnissen und Anwendungen der Humanbiologie – dem Beginn und Ende des menschlichen Lebens gelten. Das Recht der Biomedizin ist in hohem Maße instabil. Die erhöhte Instabilität des Rechts der Biomedizin resultiert aus der weltweiten Wirksamkeit der Naturwissenschaften, deren Fortschritte unablässig Veränderungen der Medizin anstoßen und damit auch je und je die Rechtspolitik und den Gesetzgeber anregen. 7
§ 14 Abs. 1 MBO. Vgl. dazu den Kommentar zur Musterberufsordnung von Ratzel/Lippert, 4. Aufl. 2006, S. 176 ff. Siehe ferner Schumann (Hrsg.), Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen bei embryopathischem Befund, 2008. 8 Kühl (ehedem Lackner), StGB, 26. Aufl. 2007, vor § 218 Rdnr. 14. 9 MuBO D Nr. 15, Kommentar wie Note 7, S. 437 ff. 10 Heiß umstritten, die Literatur kaum noch zu überblicken; vgl. nur Neidert zum SingleEmbryo-Transfer, MedR 2007, 279-286; Hillgruber/Goos zum Grundrechtsschutz für den menschlichen Embryo, ZfL 2008, 43-49. 11 Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes v. 14. August 2008, BGBl. I, S. 1708. 12 Aus der reichen Literatur wenigstens drei Buchtitel: Duttge et al., Preis der Freiheit. Zum Abschlußbericht der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“, 2004; Schumann, Dignitas-Voluntas-Vita. Überlegungen zur Sterbehilfe aus rechtshistorischer, interdisziplinärer und rechtsvergleichender Sicht, 2006; Kettler/Simon/Ansehn/Lipp/Duttge (Hrsg.), Selbstbestimmung am Lebensende, 2006. 13 Zuck, in: Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, S. 833 ff.
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Die Rechtsregeln zur modernen Medizin kommen, so will es scheinen, immer weniger zur Deckung mit dem überlieferten, einenden Berufsethos, und durch das sich verdichtende Netz spezieller Vorschriften leuchten die alten hippokratischen Maximen einer korporativ verfassten Ärzteschaft kaum mehr durch. Eine der Maximen hat das Staatslexikon noch 1957 wie folgt gefasst: „Die Ausformungen des Arztrechts in Vertrag und Gesetz müssen von dem Grundsatz bestimmt sein, daß das Arztrecht von der Liebe her gestaltetes Recht ist. Das rechtliche Versprechen ungemessener Dienste vom ganzen Menschen an den anderen in dessen Sein und Leiden gehört daher zum Liebesrecht“.14 Mögen diese Sätze je und je uneingelöst geblieben sein, so wurden sie doch oft zitiert und bewusst gehalten. In den überfüllten Wartezimmern unserer Gegenwart aber finden sie kaum noch Platz. Professionelle Arbeitsteilung, Gerätemedizin und Effizienzdenken sind über sie hinweggegangen. Das nach den nationalsozialistischen Verirrungen15 in der Nachkriegszeit entfaltete, die Grundrechte der Verfassung aufnehmende Arztrecht mit seinem Koordinatensystem Indikation, informed consent, Verfahren lege artis16 reicht nicht mehr aus. Der gesellschaftliche Wandel und die neuen apparativen Verfahren haben einen Medizinbetrieb hervorgebracht, der ein Medizinrecht erfordert, dessen Begriff und Inhalt noch nicht festgelegt, dessen philosophische Fundamente noch ungeklärt und ungefestigt sind, so wenig wie neue Kriterien des Arztberufs.
IV. Paradigmenwechsel Die Umbrüche reichen tief. Es lässt sich durchaus sprechen vom Paradigmenwechsel in der postmodernen Medizin, der in den Gesetz- und Verordnungsblättern wie in der juristischen Literatur seine Spuren hinterließ. Im Zuge des technisch-naturwissenschaftlichen, des ökonomischen, des gesellschaftlichen und demographischen Wandels hat sich das Berufsbild des Arztes – auch im Spiegel des Rechts17 – in jüngster Zeit tief verändert.18 Auf einem durch ungleiche Gesundheitschancen19 gekennzeichneten Gesundheitsmarkt20 betätigen
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Küchenhoff, Arztrecht, in: Staatslexikon Bd. 1, 6. Aufl. 1957, Sp. 601-612. Über die Medizin im „Dritten Reich“ geben viele Forschungen Auskunft. Wenigstens ein Buchtitel sei angeführt: Süß, „Der ‚Volkskörper’ im Krieg“. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 19391945, 2003. 16 Laufs, Arzt und Recht im Wandel der Zeit, MedR 1986, 163. 17 Laufs, Zur Entwicklung des Arztberufes im Spiegel des Rechts, in: Festschrift für Jayme, 2004, Bd. 2, S. 1501; ders., Arzt zwischen Heilberuf, Forschung und Dienstleistung, in: Thomas (Hrsg.), Ärztliche Freiheit und Berufsethos, 2005, S. 77. 18 Duttge (Hrsg.), Perspektiven des Medizinrechts im 21. Jahrhundert, 2007. 19 Siegrist, Ungleiche Gesundheitschancen in modernen Gesellschaften, 2007; Lauterbach, Der Zweiklassenstaat. Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren, 2. Aufl. 2007; Brink/Eurich/Hädrich/Langer/Schröder (Hrsg.), Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 2006; Schimmelpfeng-Schütte, Soziale Gerechtigkeit und Gesundheitswesen, ZRP 2006, 180. 15
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sich die Ärzte als an das Gewerbe angenäherte21 „Dienstleister neuer Prägung“22 im Zeichen des Mediziner-Marketings.23 Die Effizienzgebote einer ökonomisierten Gesellschaft treiben die Spezialisten zur Kooperation in unterschiedlichen Gesellschaftsformen24 und in die entsprechenden Steuermodelle.25 Zur herkömmlichen Gemeinschaftspraxis26 kamen die Ärztegesellschaft mbH unter Einschluss auch anderer „Leistungserbringer“27 und die medizinischen Versorgungszentren.28 Das Ertragsfeld weitete sich aus nicht nur durch die Teilnahme am Vertrieb von Gesundheitsprodukten,29 sondern viel mehr noch durch die wunscherfüllende Medizin, das Enhancement, das jenseits ärztlicher Indikation dem Begehren, nicht mehr der Bedürftigkeit folgt.30 Ungewohnt die Beteiligung Dritter an den wirtschaftlichen Ergebnissen ärztlicher Tätigkeit.31 Die chronische Unterfinanziertheit des deutschen Gesundheitssystems führt zunehmend zu Bedrängnissen in Krankenhäusern32 und Praxen. Unablässig dreht die Legislative an den Stellschrauben der Gesetzlichen Krankenversicherung,33 ohne 20 Preusker (Hrsg.), Vom Gesundheitswesen zum Gesundheitsmarkt. Das Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland, 2007; Oberender, Gesundheitspolitik: zwischen Solidarität und Markt, 2003. 21 Gesellensetter, Die Annäherung des Freien Arztberufes an das Gewerbe. Eine verfassungs-, sozial- und berufsrechtliche Untersuchung, 2007. 22 Ratzel/Lippert, Das Berufsrecht der Ärzte nach den Beschlüssen des 107. Deutschen Ärztetages in Bremen, MedR 2004, 525. 23 Barth, Mediziner-Marketing: Vom Werbeverbot zur Patienteninformation, 1999. 24 Krahe, Ärztliche Kooperationsformen in den USA und in Deutschland, MedR 2005, 691. 25 Braun/Richter, Gesellschaftsrechtliche und steuerrechtliche Grundfragen der ÄrzteGmbH, MedR 2005, 685. 26 Zu den Beteiligungsfragen Haack, MedR 2005, 631. 27 Häußermann/Dollmann, MedR 2005, 255. Vgl. auch Koller, Ärztliche Kooperationsformen unter haftungs- und berufsrechtlichen Gesichtspunkten. Von der Einzelpraxis zum Unternehmensnetzwerk, 2007; Katzenmeier, MedR 2004, 34. 28 Nach dem GKV-Modernisierungsgesetz 2003: Ambulante Versorgung durch interdisziplinäre Zusammenarbeit von ärztlichen und nichtärztlichen Heilberufen. Vgl. Wigge, MedR 2004, 123. Siehe ferner Dahm, Vertragsgestaltung bei Integrierter Versorgung am Beispiel „Prosper - Gesund im Verbund“, MedR 2005, 121; eingehend Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, S. 389 ff.; neuerdings auch Reichert, Das medizinische Versorgungszentrum in Form einer GmbH, 2008. Zu den Anforderungen an eine Integrierte - verschiedene Leistungssektoren übergreifende - Versorgung im Krankenhaus BSG, MedR 2009, 110. 29 Thünken, MedR 2007, 578. 30 Eberbach, in: Festschrift für Hirsch, 2008, S. 365; Nitschmann, Chirurgie für die Seele. Eine Fallstudie zu Gegenstand und Grenzen der Sittenwidrigkeitsklausel, ZStW 119, 2007, 547; Beck, Enhancement – die fehlende rechtliche Debatte einer gesellschaftlichen Entwicklung, MedR 2006, 95. 31 Gummert/Meier, MedR 2007, 75. 32 Eindrucksvoll Vogd, Die Organisation Krankenhaus im Wandel. Eine dokumentarische Evaluation aus Sicht der ärztlichen Akteure, 2006. 33 Vgl. neuerdings etwa Orlowski/Wasem, Gesundheitsreform 2007 (GKV-WSG). Änderungen und Auswirkungen auf einen Blick, 2007; Kingreen, NJW 2008, 3393.
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durchgreifende Abhilfe zu schaffen. Das Übermaß an Regulierung droht Freiberuflichkeit wie Therapiefreiheit zu ersticken. Der Gemeinsame Bundesausschuss, juristische Person des öffentlichen Rechts, steht als „zentrale korporative Superorganisation“34 mit demokratisch fragwürdig legitimierter Normsetzungskompetenz für kollektive Bindungen.35 Vor dem Hintergrund begrenzter finanzieller Ressourcen stellt sich die dramatische Frage nach den Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht.36 Es drohen ärztliche Behandlungsfehler durch wirtschaftlich motiviertes Unterlassen.37 Kassenarztrecht und Haftpflichtrecht gerieten in ein Spannungsverhältnis.38 Das alte Problem der Triage39 wird ein alltägliches der Rationierung,40 die den Arzt überfordert. Das Bild des Arztes gewinnt neuartige Züge nicht zuletzt durch die Möglichkeiten der Hochtechnologiemedizin41 mit ihren erfinderischen Verfahren bis hin zur Telemedizin,42 am meisten wohl durch die am Menschen forschende, ethisch heikle Biomedizin mit ihren fließenden Grenzen.43 Die Grenze zwischen Personen und Sachen droht sich aufzulösen. „Leben wird nach Art vorhandener Dinge begriffen, und damit auch unser eigenes Leben.“44 Mögliches Herstellen tritt an die Stelle spontanen Werdens, in der Gynäkologie Erzeugen an die Stelle von Zeugen. In der Intensivmedizin45 kann sich das Leben des todgeweihten Patienten zu einer Apparatur verdinglichen. In der Forschung werden der Embryo und der einwilli34
Fischer, MedR 2006, 509. Zum GBA Hase, MedR 2005, 391; Hess, MedR 2005, 385; Kingreen, MedR 2007, 457; Pitschas, MedR 2006, 451; Plagemann, MedR 2005, 401; Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2006, 519; Schrinner, MedR 2005, 397; Ziermann, Inhaltsbestimmung und Abgrenzung der Normsetzungskompetenzen des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Bewertungsausschüsse im Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung, 2007. Vgl. auch Sawicki, Aufgaben und Arbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, MedR 2005, 389. 36 Ulsenheimer, in: Feschrift für Kohlmann, 2003, 319. 37 Kreße, MedR 2007, 393. Vgl. auch Lesinski-Schiedat, Sparzwang contra Heilauftrag aus ärztlicher Sicht, MedR 2007, 345. Kluth, Ärztliche Berufsfreiheit unter Wirtschaftlichkeitsvorbehalt? Eine Analyse der Auswirkungen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes auf die ärztliche Berufsfreiheit und die wirtschaftliche Risikoverteilung im Gesundheitswesen, MedR 2005, 65. 38 Kern, MedR 2004, 300; ders. ZaeFQ 2004, 222. Zur Kontrolle medizinischer Standards durch die Sozialgerichtsbarkeit Engelmann, MedR 2006, 245. 39 Brech, Triage und Recht. Patientenauswahl beim Massenanfall Hilfsbedürftiger in der Katastrophenmedizin, 2008. 40 Huster/Strech/Marckmann/Freyer/Börchers/Neumann/Wasem/Held, Implizite Rationierung als Rechtsproblem. Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie zur Situation in deutschen Krankenhäusern, MedR 2007, 703. 41 Niederlag/Lemke/Nefiodow/Grönemeyer (Hrsg.), Hochtechnologiemedizin im Spannungsfeld zwischen Ökonomie, Politik, Recht und Ethik, 2005. 42 Niederlag/Dierks/Rienhoff/Lemke (Hrsg.), Rechtliche Aspekte der Telemedizin, 2006. 43 Zuck, Biomedizin als Rechtsgebiet, MedR 2008, 57. 44 Fuchs, „Lebenswissenschaften“ und Lebenswelt, Scheidewege 34, 2004, 127, 128 f. 45 Lindemann, Die Grenze des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin, 2002. 35
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gungsunfähige Proband zum Objekt. „Die Biotechniken zerlegen das kontinuierliche Werden des Lebens in feststellbare Einzelzustände. So produzieren sie hybride Existenzformen wie den kryokonservierten Embryo und den hirntoten Menschen, die sich in unsere lebensweltliche Erfahrung nicht mehr einordnen lassen“.46 Auch die Neurowissenschaften stellen die lebensweltliche Selbsterfahrung in Frage und erklären das personale Handeln zu einer Abfolge physiologischneuronaler Ereignisse.47 Die postmodernen Fragen, die diese Gegenstände aufwerfen, beschäftigen nicht nur Mediziner und Juristen in einem interdisziplinären Dialog,48 sondern in ungewöhnlichem Maß auch eine breite Öffentlichkeit. Im verrechtlichten Gesundheitssystem verändert sich auch die Rolle des Patienten. Es treffen ihn wachsende Pflichten und Lasten,49 andererseits erhält er neuerdings wieder mehr Rechte in der Sozialversicherung.50 Eine durch die Gesundheitsreform 2007 gestärkte Kompetenz vermehrt den Schutz des Patienten, auch wenn gewisse Defizite bleiben: Zur Verbesserung tragen bei „insbesondere der Ausbau der – mediatisierten – Patientenbeteiligung an Leistungsentscheidungen auf den Ebenen der »Systemverantwortung« einerseits und die Stärkung der »individuellen Gesundheitsverantwortung« andererseits“.51 Zum neuen Bild gehören eine heftige Medizinkritik52 und schon fast alltäglich gewordene Strafprozesse gegen Ärzte.53 Viel schwerer lasten auf den Ärzten die Bürokratie mit einem Zuviel an Papierarbeit und das steuernde und bis zur Undurchschaubarkeit komplizierte sozialversicherungsrechtliche Abrechnungssys46
Wie Note 44, 129. Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, 2004; Gestrich/Wabel (Hrsg.), Freier oder unfreier Wille? Handlungsfreiheit und Schuldfähigkeit im Dialog der Wissenschaften, 2005. 48 Man sehe etwa die reichhaltigen Bände des „Jahrbuchs für Wissenschaft und Ethik“, zuletzt Bd. 13, 2008. 49 Engst, Patientenpflichten und -lasten. Eine rechtsdogmatische und systematische Untersuchung zur Mitwirkungsverantwortung eines Patienten im Rahmen der medizinischen Behandlung, 2008; Michna/Oberender/Schultze/Wolf (Hrsg.), „ ... und ein langes gesundes Leben“. Prävention auf dem Prüfstand: Wieviel organisierte Gesundheit – wieviel Eigenverantwortung?, 2006. Zum Vorschlag einer E4-Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte Röbke, MedR 2009, 79. Zeh, Corpus Delikti, 2009 (Science-Fiction-Szenario einer Gesundheitsdiktatur). 50 Pitschas, Zur Rolle des „Patienten“ im Wandel des Gesundheitssystems. Stärkt die Gesundheitsreform 2007 die verfassungsverbürgte Patientenkompetenz?, VSSR 2007, 319. 51 Pitschas, wie vorstehende Note, 334. 52 Beispiele: Bartens, Das Ärztehasserbuch. Ein Insider packt aus, 2007. Weiss, Korrupte Medizin. Ärzte als Komplizen der Konzerne, 3. Aufl. 2008. 53 Badle, Betrug und Korruption im Gesundheitswesen. Ein Erfahrungsbericht aus der staatsanwaltlichen Praxis, NJW 2008, 1028; Ellbogen, Die Anzeigepflicht der Kassenärztlichen Vereinigungen nach § 81a IV SGB V und die Voraussetzungen der Strafvereitelung gemäß § 258 I StGB, MedR 2006, 457; Ellbogen/Wichmann, Zu Problemen des ärztlichen Abrechnungsbetruges, insbesondere der Schadensberechnung, MedR 2007, 10; Verrel, Überkriminalisierung oder Übertreibung? Die neue Furcht vor der Korruptionsstrafbarkeit in der Medizin, MedR 2003, 319; Tag/Tröger/Taupitz (Hrsg.), Drittmitteleinwerbung – Strafbare Dienstpflicht?, 2004. 47
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tem. Die Kassenärztlichen Vereinigungen befinden sich ihrerseits in einem „partiellen Systemwandel“54. Je mehr Einzel- und Gruppenverträge die Kassen entgegen dem Prinzip des Kollektivabschlusses und im Widerspruch zum herkömmlichen Sicherstellungsauftrag abschließen, umso mehr stellt sich die Frage, welche substanziellen Aufgaben außerhalb des Wettbewerbsfeldes den Kassenärztlichen Vereinigungen noch bleiben, um die Selbstverwaltung, die demokratische Partizipation und die gesetzliche Pflichtmitgliedschaft verfassungsrechtlich legitim erscheinen zu lassen. Die Monographie von Catrin Gesellensetter aus dem Jahr 2007 über „Die Annäherung des Freien Arztberufes an das Gewerbe. Eine verfassungs-, sozial- und berufsrechtliche Untersuchung“ ist ein wohlbegründetes Plädoyer gegen den Dirigismus im Gesundheitswesen und für die ärztliche Berufsfreiheit. Die Autorin sieht qualitative Einschränkungen der Freiberuflichkeit bei der vertragsärztlichen Tätigkeit deutlich hervortreten. „Budgetierungen und Honorarverteilungsmechanismen gefährden die Freiheit der Entscheidung über die ärztliche Therapie und damit ein Kernelement der ärztlichen Freiberuflichkeit.“ Die Streichung von Leistungen aus dem oder die Nicht-Aufnahme in den Katalog der Gesetzlichen Krankenkassen bedeuteten erhebliche Einschnitte in die ärztliche Behandlungsfreiheit. Jede Rationierung stehe in diametralem Widerspruch zum ärztlich-deontologischen Selbstverständnis und beschneide die ärztliche Berufsfreiheit „in einem nicht hinzunehmenden Maß“. Sozialrechtliche Einschränkungen setzten die Therapiefreiheit unter Druck. Diene das Instrument der Qualitätssicherung als Mittel zur Verwaltung verminderter Ressourcen, gehe diese Art der Drittkontrolle zu Lasten elementarer Merkmale freier Berufsausübung. Die Entscheidung über das Leistungsspektrum einer Praxis müsse beim einzelnen Arzt bleiben. Der „Markt für medizinische Dienstleistungen“ habe „in weiten Teilen einen Zustand erreicht, der Marketing und Werbung notwendig macht“. Die Zunahme von Selektivkontrakten berge die Gefahr unausgewogener Verhandlungsmacht, verschärfe das ökonomische Diktat und gehe zu Lasten der Freiberuflichkeit. Auch in den Gestaltungsformen der Integrierten Versorgung vermöchten ökonomische Zwänge langfristig die Leistungserbringung zu überlagern und die freie Berufsausübung der Ärzte zu beeinträchtigen.
V. Vieles im Fluss Die Bundesärzteordnung von 1961, ein in den letzten beiden Dezennien nicht weniger als vierzehnmal geändertes Gesetz,55 hält über alle Novellen hinweg am freiberuflichen Berufsbild fest. Und die Musterberufsordnung, ihrerseits in den „unheilvollen Strudel der Verrechtlichung hineingeraten“, wie ihre Kommentatoren
54 Kluth, Kassenärztliche Vereinigungen – Körperschaften des öffentlichen Rechts, MedR 2003, 123. 55 BÄO v. 2. Oktober 1961, zuletzt geändert durch Gesetz v. 2. Dezember 2007, bei Thürk (Hrsg.), Recht im Gesundheitswesen, Textsammlung, 126. Lieferung.
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Ratzel und Lippert urteilen,56 bestätigt dieses Bundesrecht: „Ärztinnen und Ärzte üben ihren Beruf nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus.“ § 70 Abs. 2 SGB V gemahnt seinerseits an das humane Erbe: „Die Krankenkassen und die Leistungserbringer haben durch geeignete Maßnahmen auf eine humane Krankenbehandlung ihrer Versicherten hinzuwirken“. Das Berufsbild erscheint also rechtlich stabil verankert. Halten diese Anker fest am Grunde, so sind ihre Ketten aber doch gelockert oder gar gelöst: das Berufsbild ist im Fluss. Der Prolog zu den vom 111. Deutschen Ärztetag 2008 in Ulm beschlossenen gesundheitspolitischen Leitsätzen sucht diesen Fluss zu dämmen, mit der Erinnerung daran, „dass das Gesundheitswesen keine Gesundheitswirtschaft oder Industrie ist, dass Ärzte keine Kaufleute und Patienten keine Kunden sind, dass Gesundheit und Krankheit keine Waren und Wettbewerb und Marktwirtschaft keine Heilmittel zur Lösung der Probleme des Gesundheitswesens sind, dass Diagnose und Therapie nicht zum Geschäftsgegenstand werden dürfen“. Seit Jahren nimmt die Macht der Kassen zu und der Einfluss der Ärzte im Gesundheitssystem ab. In der partnerschaftlichen Selbstverwaltung verschieben sich die Gewichte. Medizinische Standards sollen allgemein im Zeichen der Ökonomie von Rechts wegen des Konsenses mit den Krankenkassen als Vertretern der Versichertengemeinschaft bedürfen. Die Therapiefreiheit57 stößt sich zunehmend an den Vorgaben des Sozialversicherungsrechts. Die ärztliche Internalisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots führt zu einer schleichenden ökonomischen Infiltration des medizinischen Standards. Kritiker sehen den Vertragsarzt oder Leistungserbringer längst auf dem Weg zum Kassenbeamten. Eine Veränderung des Berufsbildes bewirkten andererseits die Gesetze des Marktes und des Wettbewerbs, denen die Berufsregeln folgten, indem sie einen Dienstleister neuer Prägung schufen. Die überlieferte Freiberuflichkeit verliert ihre Konturen: eine höchstpersönliche und selbständige Berufstätigkeit mit spezifischer eigenschöpferischer Gestaltungskraft und eigener Einstands- oder Haftpflicht. Zwischen freiem Beruf und Kapitalgesellschaft besteht ein fundamentaler rechtlicher Gegensatz. Dennoch gilt das Verbot, ambulante ärztliche Heilkunde in der Form einer Kapitalgesellschaft auszuüben, nicht in allen Bundesländern; es ist auf dem Rückzug. Nach § 23a der Musterberufsordnung58 nämlich sollen Ärztinnen und Ärzte auch in der Form einer juristischen Person des Privatrechts, also in einer GmbH oder AG, tätig werden können. Dann ist Vertragspartner des Patienten nicht mehr der niedergelassene Arzt, sondern die GmbH oder AG. Dies scheint einem in der Ärzteschaft weit verbreiteten Grundbedürfnis nach Beschränkung der persönlichen Haftpflicht zu entsprechen. Aber die persönliche, Freiheit gewähren-
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Im Vorwort zu ihrem Kommentar, vgl. Note 7. Siehe ferner den Aufsatz der Autoren in MedR 2004, 525. 57 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 6. Aufl. 2008, S. 14 f.; Laufs, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl. 2009, 1. Kap. § 3. 58 Dazu instruktiv der Kommentar v. Ratzel/Lippert (Note 7), S. 286 ff.
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de Einstandspflicht bei Verstößen gegen die professionelle Sorgfalt gehört seit alters zu den Kennzeichen der Freiberuflichkeit.59 Ärzte dürfen nicht nur in kapitalgesellschaftlich verfassten Krankenhäusern und nun auch Gemeinschaften wirken, sondern selbst Kliniken und Sanatorien betreiben, obwohl es sich dabei um gewerbliche, auf Gewinn ausgerichtete Unternehmen handelt. Für sie galt von vornherein das Verbot der Selbstanpreisung nicht. Inzwischen haben die Gerichte, allen voran das BVerfG, und ihnen folgend die Kammersatzungen das Werbeverbot, das für jeden Arzt galt, stark eingeschränkt. Die Werbung gibt dem Berufsstand einen weiteren Zug ins Gewerbliche, das ihm nach seiner Grundordnung doch fern liegen soll. Zurückhaltung und Unaufdringlichkeit kennzeichneten den ärztlichen Dienst. Werbung ließ sich schwerlich damit vereinbaren. Andererseits verlangte das Publikumsinteresse in einer durch verdichtete Kommunikation geprägten Gesellschaft nach Hinweisen und Aufschlüssen. In einem sich verschärfenden Wettbewerb um Patienten gewann das Bedürfnis nach sachdienlichen Informationen zusätzliches Gewicht. Der Leistungswettbewerb erforderte die Transparenz der Angebote, vor allem bei hochspezialisierten und kostenintensiven Diensten. Der betriebswirtschaftliche Aufwand und der innovative Antrieb des Spezialisten drängten an die Öffentlichkeit, um potentiell vorhandene Nachfragen zu wecken und zu finden. Kurzum: Verboten bleibt am Ende nur noch die berufswidrige Werbung.60 Was als berufswidrig zu gelten hat, entscheiden die Gerichte, und diese urteilen, wie sich oft zeigt, nicht kleinlich. Der Ton macht die Musik, und die klingt allzu oft schrill. Das Werbeverbot wollte eine Verfälschung des Berufsbildes durch den Gebrauch von Werbemethoden, wie ihn die gewerbliche Wirtschaft übt, verhindern. Diese Intention scheint obsolet. Wir haben zu konstatieren: Durch die inzwischen gängige Werbepraxis hat sich das Bild der Ärzte in der Öffentlichkeit verändert. Der Arzt erscheint als Teilnehmer an einem Markt für Gesundheitsdienstleistungen.
VI. Gesamtbild Das Berufsbild, das die Ärzte selbst in sich tragen und das sie der Öffentlichkeit bieten, stellt sich schon wegen der angestiegenen Zahl unterschiedlichster medizinischer Tätigkeitsfelder überaus vielgestaltig dar. Eine Minderheit der Ärzte hat sich der Biomedizin, eine andere der Wunschmedizin verschrieben, und beide vermitteln dem Beruf ein zukunftsweisendes, oft sensationell anmutendes Ansehen. Für die große Mehrheit der Krankenhilfe Leistenden fallen nach den angeführten rechtlichen Manifestationen drei seit den sechziger Jahren zunehmend wirkmächtige Tendenzen der Veränderung ins Auge, die sich – knapp zusammengefasst – mit den Stichworten Regulierung, Vergesellschaftung und Ökonomisie59 Freiberufler wie Ärzte, Anwälte, Wirtschaftsprüfer „müssen zur Sicherung ihrer Handlungs- und Entscheidungsfreiheit von Haftung frei sein, wenn sie den Anforderungen ihres Berufes entsprechend die erforderliche Sorgfalt beobachtet haben“: von Caemmerer, Rabels Zeitschrift 42 (1978), 24. 60 Rieger, Werbeverbot, in: Rieger/Dahm/Steinhilper (Hrsg.), Heidelberger Kommentar. Arztrecht, Krankenhausrecht, Medizinrecht, Nr. 5530.
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rung überschreiben lassen. Dabei hat sich bei allem Wandel ein verbindender hippokratischer Kern erhalten. 1. Legislative, Satzungsgeber und die Justiz haben den ärztlichen Dienst stark reguliert. Die oft als Fesselungen empfundenen Bindungen umfassen die gesamte berufliche Tätigkeit von den angespannten zivilgerichtlichen Aufklärungs- und Dokumentationspflichten im Verhältnis zum eigenwilligen und mitunter auch maßlos gewordenen Patienten über die medizinischen Richt- und Leitlinien bis zu den wechselhaften sozial- und kammerrechtlichen Vorgaben. 2. Vergesellschaftet ist der Arzt im Verhältnis zum sozialversicherten Patienten durch die verstärkte rechtliche Bindung an das vordem eindeutig sekundäre Gemeinwohl in der Rolle als zuteilender und auch einschränkender Leistungserbringer neben den Leistungserbringern anderer Gesundheitsberufe, mit denen er sich die begrenzten Mittel teilt. 3. Bei aller Kassenplanwirtschaft agiert der Arzt als konkurrierender und werbender Teilnehmer auf einem kapitalistischen Markt für Gesundheitsleistungen. Angesichts gestiegener apparativer und personeller Kosten gewinnt das ökonomische Kalkül bei der zulassungs- und gesellschaftsrechtlichen Etablierung und bei der Ausübung ärztlicher Tätigkeit eine vordem nicht gekannte Bedeutung. Trotz seines vergleichsweise noch immer hohen, demoskopisch beglaubigten Ansehens hat der Arzt doch in der Konkurrenz mit anderen Heilberufen, in einer generell anspruchsvollen arbeitsteiligen Welt, im Angesicht selbstbewusst fordernder Patienten, nicht zuletzt als Teilnehmer des Ringens um Einkommen an Leuchtkraft und auch an Respekt eingebüßt. Die durch die Rechtspolitik in der Demokratie begünstigte gesellschaftliche Einebnung erreichte auch die Ärzte. Wie lesen wir bei Franz Kafka? „’S ist nur ein Arzt. ’S ist nur ein Arzt“.61
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Wie Note 1.
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Dienst am Menschen oder Kunden-Dienst? Ethische Grundreflexionen zur sich wandelnden ärztlichen Identität Giovanni Maio Die Medizin durchläuft gegenwärtig einen grundlegenden Transformationsprozess mit enormen Auswirkungen auf die ärztliche Identität. Am Ende einer solchen Transformation wird die klassische an der Fürsorge orientierte Arzt-PatientBeziehung durch eine an den Kundenwünschen orientierte Dienstleister-KundenBeziehung ausgetauscht. Wie ist ein solcher Umformungsprozess der Medizin in ethischer Hinsicht zu bewerten? Die Transformation der Medizin hin zu einem Dienstleistungsbetrieb auf Wunsch setzt sowohl was das Patientenbild als auch was das Arztbild angeht ein bestimmtes Verständnis voraus. Beide Selbstverständnisse sollen im Folgenden unter ethischen Gesichtspunkten kritisch beleuchtet werden. Diese Selbstverständnisse lassen sich jedoch in ihrer Tragweite nur ermessen, wenn sie eingebettet werden in einen größeren Rahmen der Reflexion. Gerade die Ethik hat die Aufgabe, darüber nachzudenken, auf welchen Grundannahmen und Vorverständnissen die Probleme beruhen, die im Alltag der modernen Medizin auftauchen. Ethisches Denken kann nicht darauf reduziert werden, pragmatische Instrumentarien zu entwickeln, um konkrete Konfliktsituationen zu lösen. Ethik denken heißt insbesondere, den Versuch zu unternehmen, auch und gerade herrschende und beherrschende Denkmuster kritisch zu hinterfragen. Dieses Hinterfragen der beherrschenden Leitgedanken der modernen Medizin soll am Anfang des Beitrags stehen, weil sie für die Einordnung des Arztbildes von heute essentiell sind.
I. Leitgedanken der modernen Medizin Leitgedanke 1: Gesundheit wird zum obersten Gut Der moderne Mensch ist in vielfältige Zwänge eingeklemmt, die von einer Konsum- und Leistungsgesellschaft diktiert werden. Die Paradigmen der modernen Leistungsgesellschaft suggerieren dem Einzelnen, dass er nur so lange einen Wert hat, wie er etwas aus sich macht. Der Wert des modernen Menschen besteht demnach nicht in seinem Sein, sondern der Wert des Menschen wird vor allem davon abhängig gemacht, welches Lebens-Produkt der Einzelne durch sein Tun hervorzubringen in der Lage ist. Solange nun der Wert des eigenen Selbst vor allem davon abhängt, ob man es schafft, ein „gelingendes“ Leben vorzulegen und solange das Gelingen sich vornehmlich an den Parametern der Leistungsgesellschaft orientiert, erlangt gerade die Gesundheit einen besonderen Stellenwert, denn ohne die körperliche und seelische Verfassung, diesem Gelingensimperativ zu folgen, er-
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hält der Einzelne das Gefühl, gerade nicht dazugehören zu können. Die „Gesundheit“ gilt in dieser Perspektive als unabdingbares Ermöglichungsgut für eine auf Machbarkeit und Gestaltungsimperativ ausgerichtete Gesellschaft. Da die Gesundheit als einzige Möglichkeit betrachtet wird, ein gutes Leben zu führen, erliegt sie einer gesellschaftlichen Verabsolutierung, an deren Ende ein irrationaler Gesundheitskult steht. Genau diese Irrationalität machen sich viele Gesundheitsbranchen zunutze. Viele Wellness-Einrichtungen, Fitnessstudios, Apotheken, ja auch Kliniken und Praxen werben bezeichnenderweise häufig mit dem Schopenhauer zugeschriebenen Aphorismus „Gesundheit ist nicht alles – aber ohne Gesundheit ist alles nichts“. Mit der Wahl dieses zum Allgemeingut gewordenen Aphorismus soll ausgedrückt werden, dass man in der Apotheke, im Fitnessstudio, im WellnessCenter, in der Praxis (!) diese wertvolle Gesundheit kaufen könne. Die Unbeschwertheit, mit der dieser Aphorismus verwendet wird, zeigt auf, dass man im Zeitalter von Fitness und Aktionsimperativ blind geworden ist für die tieferliegende Ideologie, die durch diesen so breit verwendeten Aphorismus zum Ausdruck gebracht wird. Wenn ohne Gesundheit tatsächlich alles nichts ist, dann impliziert dieser moderne Trend, dass damit das Leben all derjenigen, die nicht mehr gesund sind oder nie gesund waren, dass ihr Leben im Grunde „nichts ist“.1 Wenn ohne Gesundheit alles nichts ist, dann ist für die chronisch Kranken, für die behinderten Menschen, für die alten Menschen jede Chance vertan, überhaupt noch ein „gutes“ Leben zu führen. Eine Medizin, die sich diesen Aphorismus so unreflektiert zu eigen macht und ihn sogar für Werbezwecke – selbst für Hausarztpraxen – verwendet und damit tatsächlich Kunden und selbst Patienten anlockt, eine solche Medizin ist einer Glorifizierung und zugleich einer äußerst verkürzten Vorstellung von Gesundheit zum Opfer gefallen, und sie desavouiert damit alle Menschen, die mit Krankheit und Gebrechlichkeit leben. Die moderne Medizin hat aus dem Blick verloren, dass sie mit ihrer Übernahme und ihrer positiven Reaktion auf den Gesundheitskult viele kranke, gebrechliche und schwache Menschen in die Isolation und zuweilen auch in die Verzweiflung stürzt.
Leitgedanke 2: Anspruch auf ein Leben ohne Mangel Der manchem als harmlos erscheinende Gesundheitskult ist unter anderem Ausdruck einer utopischen Erwartung eines Lebens ohne Mangel, ohne Verzicht, ohne Beschwerden. Ein solcher Gesundheitskult befördert eine Einstellung zum Leben, die einer Herabsetzung jeglichen verzichtvollen Lebens gleichkommt. Was so harmlos klingt, verrät auf den zweiten Blick eine zutiefst fragwürdige Selbstdeutung des Menschen, die hinter einer solchen Anspruchshaltung gegenüber der Medizin steckt.
1 Siehe zu diesen Auswirkungen auch Zimmermann-Acklin, Gesundheit, Gerechtigkeit, Glück. Ethische Bemerkungen zum Umgang mit den Errungenschaften der modernen Medizin. Bioethica Forum 51 (2006), 2 ff.; Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, 2002.
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Erstens stellt schon die Erwartung, ja der Anspruch auf ein Leben ohne Beschwerden eine Leugnung des Leibseins des Menschen dar. Solange der Mensch lebt, manifestiert er sich über seinen Körper, der ihm nicht nur als Werkzeug dient, sondern zugleich eine Grundbedingung seines Seins darstellt. Der Mensch ist somit nicht auf ein Körper-Haben reduzierbar, sondern stellt immer ein LeibSein dar.2 Damit stellt das Leib-Sein eine conditio humana dar, die dem Menschen, solange er lebt, stets Beschwerden, Bedürfnisse und Erfahrungen des Mangels auferlegt. Vom menschlichen Leben eine Beschwerdefreiheit, ein „mangelloses Leben“3 zu erwarten, kommt daher einer Leugnung der Grundbedingungen menschlichen Seins gleich und stellt damit eine irrationale Erwartung des modernen Anspruchsmenschen dar. Zweitens scheinen Gesundheit und der Anspruch auf Selbstverwirklichung in vielen Fällen etwas zu ersetzen. Oft müssen diese Erwartungen stellvertretend das ausgleichen, was zuvor verloren gegangen ist, nämlich die Erfahrung von Sinn. Indem die Leistungsfähigkeit und Beschwerdefreiheit verabsolutiert werden, degenerieren sie zu Sinnersatzkonstruktionen. Odo Marquard hat dies treffend zum Ausdruck gebracht, indem er die moderne Anspruchsgesellschaft als „Kummerspeck des Sinndefizits“4 beschrieben hat. Gleichsam beklagt Marquard, dass dem modernen Menschen der „Sinn für das Gute im Unvollkommenen“ abhanden gekommen sei, was zu einer „Infernalisierung des Vorhandenen“ führe.5 Ähnlich weist auch Schneider-Flume auf den Zusammenhang zwischen Perfektionserwartung und Sinndefizit hin, indem sie darauf abhebt, dass die moderne Anspruchsgesellschaft zum Verlust der Erkenntnis geführt hat, „dass die vorhandene Wirklichkeit aus sich heraus Sinn ergeben kann und nicht erst die Vision des Perfekten, das nie erreicht werden wird“.6 Der Anspruch auf eine absolute Beschwerdefreiheit resultiert somit aus der Verbannung des Sinns und aus der dadurch entstandenen Leere, die durch überzogene Erwartungen an die Medizin ausgeglichen werden soll. Die immensen Ansprüche an ein perfektes Leben, die Verbannung der Sinnfrage und der Ersatz des Sinns durch die Kultivierung von Gesundheit mindert jede Bereitschaft, Leben mit Krankheit, mit Behinderungen, mit Beschwerden jeglicher Art als ein in sich wertvolles Leben anzunehmen. Demnach ist nicht zuletzt der gegenwärtige Gesundheitskult mit dafür verantwortlich, dass nur das Leben akzeptiert wird, das in die beschriebene Ideologie des „mangellosen Lebens“7 hin-
2 Als Grundlagenwerk hierzu siehe Böhme, Leibsein als Aufgabe. Leitphilosophie in pragmatischer Hinsicht, 2003. 3 Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, 1973, S. 156. 4 Marquard, Zur Diätetik der Sinnerwartung. Philosophische Bemerkungen, in: ders., Apologie des Zufälligen, 1986, S. 39. 5 Marquard, Zur Diätetik der Sinnerwartung. Philosophische Bemerkungen, in: ders., Apologie des Zufälligen, 1986, S. 50. 6 Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, 2002. 7 Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, 1973, S. 156.
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einpasst und dass alles andere Leben von vornherein abgelehnt, ja auch verhindert und beendet wird. Der moderne Mensch ist unfähig geworden, hinter jeder vermeintlichen Unvollkommenheit nur die äußere Manifestation eines von Grund auf wertvollen Lebens zu erblicken. Genau mit diesen Ideologien sind Ärzte konfrontiert, wenn sie es mit Menschen zu tun haben, die von ihnen verlangen, dass sie ihren Körper, ganz gleich wie alt dieser ist, schnellstmöglich reparieren und die kein Verständnis dafür haben, dass der Mensch in seinem Leibsein stets angewiesen ist auf seinen Körper und dass allein seine Leibhaftigkeit es dem Menschen verunmöglicht, absolut frei von Beschwerden und körperlichen Nöten zu sein. Diese modernen Menschen empfinden sich als Leidende und rufen daher die Medizin an, aber die Ursache ihres Leids ist nicht das Beschwerdebild selbst, sondern die Haltung des Anspruchs auf ein „mangelloses Leben“; sie leiden an ihrer utopischen Erwartung. Der Wunsch eines jeden Menschen nach Beschwerdefreiheit ist nachvollziehbar und legitim; das Problem liegt daher nicht am Wunsch nach Beschwerdefreiheit, sondern einzig und allein an der Verabsolutierung dieses Wunsches im Zuge der Überhöhung der Gesundheit. Ab dem Moment, da die Beschwerdefreiheit zur absoluten und unverzichtbaren Voraussetzung für die Wertschätzung des Lebens gemacht wird, ab diesem Moment wird der ursprünglich legitime Wunsch schließlich zur Obsession und damit zur lebensvernichtenden Ideologie.
Leitgedanke 3: Das Schicksal wird zum „Machsal“8 Das Zusammenkommen von Machbarkeitsdenken, Leugnung der conditio humana und Verlust an Sinnerfahrung führt gerade im Kontext der Medizin dazu, dass das, was ehedem als Widerfahrnis angenommen wurde, zunehmend zum Verfügungsbereich des Menschen gezählt wird.9 Im Zuge des Strebens des modernen Menschen nach einer grundlegenden Emanzipation von allen Bedingungen des Lebens, verfällt er zuweilen in den Irrglauben, dass er nicht nur die äußeren Bedingungen des Lebens, sondern die Ausgestaltungen des Lebens selbst „machen“ und steuern könne. In dieser Ideologie wird nicht zuletzt auch Krankheit zu einem MachensErgebnis herabgestuft, dem jeglicher Widerfahrnischarakter abhanden gekommen ist. Indem Krankheit – nicht zuletzt bedingt durch die Verheißungen der modernen Gendiagnostik – zunehmend zum Produkt menschlicher Vorentscheidungen stilisiert wird, verliert sie jegliche Schicksalhaftigkeit. Auf diese Weise werden Krankheiten zu verhinderbaren, vorhersehbaren und von menschlicher Hand abhängigen Resultaten, die nicht mehr als etwas Hinzunehmendes zu betrachten sind, sondern die lediglich als Ergebnisse menschlicher Entscheidungen aufgefasst werden. Leben und krank zu werden erscheint in dieser Perspektive nicht mehr als Schicksal, zu dem man in ein positives Verhältnis treten kann, sondern Krankheit
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Marquard, Zur Diätetik der Sinnerwartung. Philosophische Bemerkungen, in: ders., Apologie des Zufälligen, 1986, S. 45. 9 Siehe Maio/Clausen/Müller (Hrsg.), Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, 2008.
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erscheint nur noch als „Machsal“,10 für das der Mensch selbst Verantwortung trägt und dem er nur mit Verhinderung, Bekämpfung, Abwehr und – wenn all das nicht gelingt – mit Ablehnung begegnen kann. Durch das Abstreifen des Schicksals macht sich der moderne Mensch zum eigenen Gestalter. Er nimmt die Zügel in die Hand und verliert damit den Blick dafür, dass die Machbarkeit des eigenen Schicksals sich nur auf Marginalia begrenzt im Vergleich zu all dem Unverfüg- und Unmachbaren, zu all den Vorbedingungen, in die der Mensch einfach hineingeboren wird und im Vergleich zu all den Widerfahrnissen, denen der Mensch bestenfalls nur in „reflektierter Gelöstheit“11 begegnen kann. Angesichts der Nicht-Machbarkeit der Welt, die schon vor der eigenen Existenz bestand, erscheint der Anspruch des modernen Menschen, sich zum Macher nicht nur seiner äußeren Lebensbedingungen, sondern auch seiner selbst zu erklären, als irrationale Selbstüberschätzung des Menschen, die mit der schwerwiegenden Folge verbunden ist, dass sich dieser moderne Mensch der Chance beraubt, in ein gutes Verhältnis zu dem Vorgegebenen und ihm Widerfahrenen zu treten, ihm etwas Positives, ja etwas Sinnstiftendes abzugewinnen. Die moderne Medizin nährt mit ihren Angeboten die Erwartung vieler Menschen, ihr Schicksal abstreifen zu können, ohne dass sie dabei bedächte, dass sie mit dem impliziten Versprechen, den Menschen von seinem Schicksal zu befreien, eine Grundhaltung zum Leben fördert, die auf einer problematischen Selbstdeutung, ja am Ende auf einer Selbstverleugnung des Menschen beruht. Mit all den dargelegten ideologiegefärbten Selbstdeutungen verschließt sich der moderne Mensch der Einsicht, dass die Frage, ob Leben gelingt, nicht primär davon abhängt, ob man beschwerdefrei und gesund ist, sondern davon, welchen Sinn man dem Leben gibt. Unter dem Diktat des Gesundheitskultes wird der Verlust der Gesundheit gleichgesetzt mit dem Verlust der Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen. Damit wird aber in fataler Weise verkannt, dass auch und gerade krankes Leben nicht nur Sinn ermöglicht, sondern in vielen Fällen sogar Sinn erst eröffnet. Die Medizin wäre aufgerufen gewesen, hier eine Hilfsantwort zu geben, die darin hätte bestehen können, dem Menschen dabei zu helfen, sich für die Einsicht zu öffnen, dass es kein sinnloses Sein gibt, und erst recht nicht, solange auch der kränkeste Mensch auf ein verstehendes Gegenüber hoffen kann. Dass die moderne Medizin sich unreflektiert einer solchen Ideologie weitestgehend angeschlossen hat, ohne ihr eine andere Vorstellung von Menschsein und von Sinnerfüllung entgegenzustellen, ist daher ein verhängnisvolles Versäumnis.
Leitgedanke 4: Der Patient wird zum Konsumenten Im Zuge des gegenwärtigen Wandels der modernen Medizin wird nicht zuletzt der Patient zunehmend umdefiniert, indem er immer weniger als Patient im Sinne eines notleidenden Mitmenschen gesehen wird. Stattdessen wird im Patienten im10 Marquard, Zur Diätetik der Sinnerwartung. Philosophische Bemerkungen, in: ders., Apologie des Zufälligen, 1986. 11 Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, 1973, S. 159.
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mer mehr der mögliche Verbraucher von medizinischen Dienstleistungen entdeckt. Der notleidende Patient, der sich hilfesuchend an seinen Arzt gewandt hat, wird zunehmend ersetzt durch den begehrenden und fordernden Patienten, der nicht nach Hilfe sucht, sondern der als wohlinformierter Bürger und Beitragszahler seine Rechte und Ansprüche einlösen zu müssen glaubt. Was heute zwischen Arzt und Patient verhandelt wird, ist in dieser neuen Partnerbeziehung kein wertvolles, unverzichtbares und einzigartiges Hilfsangebot des einen speziellen Arztes, sondern es ist eine beliebig austauschbare und von jedwedem Dienstleisterarzt in gleicher Weise anzubietende Gesundheitsdienstleistung geworden, die auf ihre abprüfbaren Qualitätskriterien erst abgeklopft werden muss, bevor sie in Anspruch genommen wird. An die Stelle einer personalen Beziehung zwischen einem Notleidenden und einem Helfer ist eine rein sachliche Vertragsbeziehung zwischen einem Dienstleistungsanbieter und einem Dienstleistungskonsumenten getreten. Der moderne Patient ähnelt immer mehr einem Verbraucher, der nicht mit einem Hilfsbegehren, sondern mit Qualitätsansprüchen kommt und der, dem Kunden gleich, selbstverständlich als König behandelt werden möchte und nur das Beste zum geringsten Preis verlangt. Schlussendlich stellt dieser Wandel des ArztPatient-Verhältnisses nicht weniger als einen Wandel von einem Vertrauens- zu einem Vertragsverhältnis dar. Die Arzt-Patient-Beziehung unterliegt damit einer zunehmenden Versachlichung, Verrechtlichung und Entpersonalisierung.
Leitgedanke 5: Der moderne Arzt wird zum wunscherfüllenden Dienstleister Dem modernen Patienten als Konsumenten steht der moderne Arzt als Dienstleistender gegenüber. Auch der moderne Arzt richtet sich darauf ein, nicht mehr nur Leiden zu lindern und in Not geratenen Menschen mit einer anteilnehmenden Hilfe zu begegnen. Stattdessen verwandelt sich der moderne Arzt zunehmend zu einem Anbieter von Gesundheitsleistungen, der mit seinem Wissen und Können nicht mehr zugleich auch seine Person in den Dienst der Hilfe für in Not geratene Menschen stellt, sondern der nunmehr lediglich sein Wissen und seine Technik seinen Nicht-Patienten unverbindlich anbietet, ohne diese Wünsche weiter zu hinterfragen. An die Stelle einer personalen Fürsorgebeziehung tritt eine zweckrationale Dienstleistungsbeziehung, über die nicht nur Krankheitsbehandlungen vollzogen, sondern zugleich auch persönliche Wünsche und Vorlieben erfüllt werden. Ob Anti-Aging-Produkte, kosmetische Maßnahmen, Brustimplantate oder Sectio auf Wunsch, ob Sexualhormone gegen das Altern oder Mittel zur Abschaffung des „beschwerlichen“ Menstruationszyklus, ob Ritalin für nicht kranke Kinder, ob stimmungsaufhellende Medikamente für nicht kranke Patienten, ob IGELLeistungen jeglicher Art – in vielen Bereichen der modernen Medizin hat die wunscherfüllende Medizin von Dienstleisterärzten bereits breiten Eingang gefunden. Der moderne Mensch möchte jegliche Krankheit, jegliche Behinderung, jegliche Beeinträchtigung beseitigt wissen, und er wird keine Mühe haben, Ärzte zu finden, die ihm genau dies versprechen – alles nach Wunsch und Belieben.
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Was der moderne Arzt anbietet, ist im Kontext einer solchen wunscherfüllenden Medizin kein persönlicher und unverwechselbarer Dienst am Menschen, sondern es ist die Lieferung eines Produktes, bei dem es lediglich um die „Einwandfreiheit“ des Produktes selbst und die Garantie des Funktionierens dieses Produktes geht. Ob die mit der Verwendung des Produktes verfolgte Zielsetzung eine gute und vertretbare ist, spielt somit in einem solchen Dienstleistungsdenken keine zentrale Rolle. Der Arzt bietet nicht mehr an als eine Sachleistung, die im Rahmen eines Vertrages „abgewickelt“ wird. Solange der Dienstleisterarzt hier ausreichend über die Risiken informiert hat, hat er – nach dieser Auffassung - seiner „moralischen“ Verpflichtung ausreichend Genüge getan und kann sich vermeintlich jeglicher weiteren moralischen Verantwortung entledigt fühlen. Trägt der Dienstleisterarzt tatsächlich keine weitere Verantwortung als die der ausreichenden Information?
Leitgedanke 6 und Grundgedanke: Medizin wird zum Markt Alle dargelegten Leitgedanken der modernen Medizin laufen darauf hinaus, Medizin als Markt zu begreifen bzw. die Vorstellung der Medizin als Markt liegt sozusagen als Grundlage allen dargelegten ideologischen Verstrickungen zugrunde. Wenn sich die Medizin als Markt versteht, so geht sie implizit davon aus, dass der Kranke ein Mensch ist, der – dem Kunden gleich – frei nach Dienstleistungen sucht. Beziehungen zwischen Anbieter und Kunden haben sich in vielen Bereichen des Lebens als segensreich erwiesen, weil sie per se nicht unfair sind – im Gegenteil. Aber sie sind nur dann nicht unfair, wenn gewährleistet ist, dass beide Parteien in einer gleich guten Position sind, wenn man also von einer „Kundensouveränität“ sprechen kann. Genau das ist der vulnerable Punkt einer sich als Markt verstehenden Medizin. So mag das nüchterne Tauschverhältnis zwischen Anbieter und Kunden für „Patienten“ funktionieren, die sich nicht in einer existentiellen Krise befinden. Patienten in Not hingegen sind Menschen in einer schwachen Position, Menschen, die sich gerade nicht auf die Suche nach Gesundheitsleistungen machen können, weil sie auf die Gesundheitsleistung, also auf die ärztliche Hilfe, gar nicht verzichten können. Krankgewordene Menschen sind existentiell bedürftige Menschen; schon deswegen sind sie vom Ansatz her kaum geeignet für rein kommerzielle Beziehungen. Sie sind nicht geeignet, als Kunden wahrgenommen zu werden, weil sie als kranke Menschen nicht – wie souveräne Kunden – die Möglichkeit und den inneren wie äußeren Freiraum haben, die einzelnen Produkte erst zu prüfen und miteinander zu vergleichen, bevor sie sie in Anspruch nehmen.12 Patienten sind angewiesene Menschen; sie sind angewiesen auf jemanden, der ihnen hilft, sie sind aber auch oft auf medizinische Produkte existentiell angewiesen, ohne die sie oft gar nicht weiterleben könnten. Von Kundensouveränität kann hier somit nicht die Rede sein. In einer solchen Beziehung mit einem 12 Siehe hierzu näher Deppe, Zur Kommerzialisierung des Menschenrechts, in: Kolb/ Seithe (Hrsg.), Medizin und Gewissen, 2002, S. 210-221.
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angewiesenen Menschen hat der Anbieter der unverzichtbaren Dienstleistung grundsätzlich „alle Karten in der Hand“.13 Während der Markt angesichts einer solchen Schwäche in der Regel mit Ausbeutung reagiert, kann eine ärztliche Antwort auf Schwäche nur der Schutz des Patienten sein. Die Marktbeziehung erweist sich somit gerade dort als für die Medizin ungeeignet, wo die Medizin es mit dem schwachen Patienten zu tun hat. Dass die Arzt-Patient-Beziehung nicht in einer reinen Marktbeziehung aufgehen kann, liegt überdies an der Differenz zwischen der Identität des Patienten und der Identität des Kunden. Der Kunde wird lediglich als Kunde wahrgenommen; seine Identität wird auf seine Kaufkraft und sein Kosumverhalten reduziert. Eine darüber hinausgehende Identität ist dem wirtschaftlichen Blick auf den Kunden fern. Wer keine Kaufkraft besitzt, wird vom Markt komplett fallengelassen. Anders ist die Wahrnehmung der Identität des Patienten. Beim Patienten erschöpft sich seine Identität gerade nicht auf seine Kaufkraft und sein Konsumverhalten, sondern idealerweise wird der Patient als Mensch wahrgenommen, in all seinen Facetten und seinen Bedürfnissen. Wenn nun die moderne Medizin im Zuge der Marktorientierung den ursprünglichen Patienten zunehmend zum Kunden macht, wird der Kunde zwar König sein – was nichts anderes heißt, dass man seinen Narzissmus pflegen wird – aber nur um den Preis, dass er nur noch in der Funktion als Konsument und in seiner Kaufkraft ernst genommen werden wird. Die Umfunktionierung des Patienten zum Kunden bedeutet daher nicht weniger als die Ausblendung des Menschseins im Kunden und die Instrumentalisierung seiner Person zum Zwecke der Gewinnmaximierung. So lässt sich festhalten, dass die Beziehung zwischen Arzt und dem angewiesenen Patienten von ihrer Grundlage her keine Marktbeziehung ist, sodass der Arzt die Regeln der Marktwirtschaft gerade nicht zum Ausgangspunkt seines Handelns nehmen kann.
II. Auswirkungen des Marktgedankens in der Medizin 1. Ärztliche Hilfe als Ware? Oft werden die Verrichtungen des Arztes als Waren bezeichnet. Bezeichnenderweise wird diese Terminologie nicht nur durch Krankenhausmanager, sondern zunehmend auch von Ärzten selbst gewählt, ohne dass hierbei hinlänglich darüber nachgedacht wird, was mit einer solchen Begriffswahl bereits begrifflich vorentschieden wird. So wird mit dem Begriff der Ware vorausgesetzt, dass die ärztliche Behandlung einen rein instrumentellen Wert hat, einen austauschbaren und letztlich vom Anbieter dieser Ware unabhängigen Wert. Freilich gibt es viele Bereiche der Medizin, in denen tatsächlich nicht mehr vollzogen wird als die Anwendung einer Technik, deren Wert unabhängig davon zu sein scheint, von welchem Arzt sie angewendet wird. Allerdings sind diese rein instrumentellen Handlungen wie13
Welie, The dentist as healer and friend, in: Thomasma/Kissel (Hrsg.), The Health Care Professional as Friend and Healer: Building on the Work of Edmund D. Pellegrino, 2000, S. 46.
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derum nicht losgelöst zu sehen, sondern sie sind eingebettet in einen gesamten Behandlungsplan, der gerade nicht von anonymen Technikern entwickelt wird, sondern im besten Falle doch nur von einem Menschen entwickelt werden kann, der diese Behandlung nicht als bloße Anwendung einer Technik versteht, sondern sie idealerweise als Dienst am Menschen begreift. Wenn die Behandlung eines kranken Menschen durch einen Arzt oder einer Pflegenden ein Dienst am Menschen sein soll, so kann dieser Dienst gerade nicht als reine instrumentelle Dienstleistung betrachtet werden, sondern dann hat dieser Dienst in der Art und Weise, wie er erfolgt, einen intrinsischen Wert.14 Die Behandlung des Arztes bzw. der Pflege, ihr Sorgen für den Kranken ist in sich wertvoll; allein dadurch, dass sie vollzogen wird. Gerade weil der Wert dieses Dienstes im besten Falle im Sinne einer Caritas zu verstehen ist, gerade deswegen kann dieser Dienst nicht im Konzept einer marktfähigen Ware aufgehen. Genau dieses Problem liegt der Umstellung auf DRGs, auf Fallpauschalen, zugrunde; es wird stillschweigend davon ausgegangen, dass eine gute Medizin sich allein nach dem instrumentellen Charakter des Dienstes bemisst, danach also wie schnell und effektiv das Ziel der „Gesundheit“ oder der Krankheitsbehandlung erreicht wird. Es wird aus- und aufgerechnet, dass für diese und jene Krankheit diese und jene Handlung notwendig ist. Hierbei wird jedoch übersehen, dass auf diese Weise Medizin reduziert wird auf eine Anwendung von Techniken. Die Annahme, dass der Mensch einzig und allein durch die Anwendung von Techniken gesunden könne, setzt voraus, dass der Mensch eine Menschmaschine darstellt, die nichts weiter braucht als eine technische Reparatur. Wenn Medizin tatsächlich für das Wohl von Menschen in Not zuständig sein soll, dann erweist sie sich als äußerst defizitär, wenn sie den Menschen darauf reduziert, die Plattform zu sein, auf der die Technik ihre Wirkung erzielen soll. So bedarf es zur Heilung von Menschen mehr als der Anwendung von Technik. Vielmehr braucht der wirklich kranke Mensch zu seiner Heilung zusätzlich zur Technik – und nicht etwa anstatt der Technik – gerade Verständnis für seine Krisensituation, er braucht ein Gegenüber, das in ihm eine einzigartige Person erblickt, die eben nur in einer einzigartigen Form gesunden kann. Der Arzt heilt gerade nicht allein über die Technik, die er anwendet, sondern er heilt auch und gerade dadurch, dass er sich als Mitmensch eines anderen Menschen annimmt und eine „heilende“ Beziehung zu ihm aufbaut. Innerhalb dieser Beziehung stellt die anzuwendende Technik ein Instrument dar, das gerade so viel Wirkung entfalten kann, wie die Form der Beziehung es überhaupt ermöglicht.15 Eine reine Dienstleisterbeziehung wird somit auch bei der ausgefeiltesten Technik weniger wirksam sein als eine auf Respekt und Fürsorge gegründete Mitmensch-Beziehung auch mit weniger Technik erreichen könnte. Zentraler Gesichtspunkt im Behandlungs- und Heilungsprozess ist somit die Art der Beziehung, die im Umgang mit kranken Menschen keine Dienstleistungsbeziehung, sondern eher eine Beziehung der authentischen Sorge um das Gegen14
Siehe hierzu auch Kaveny, Commodifying the polyvalent good of health care, The Journal of medicine and philosophy, 1999 Jun; 24 (3): 207-223. 15 Siehe hierzu auch Dörner, Das Gesundheitsdilemma. Woran unsere Medizin krankt, 2004.
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über sein kann. Zentral ist nicht das Mittel, das zur Heilung angewendet wird, sondern die Grundhaltung, von der aus man sich um das Gegenüber sorgt. Weil zwar Mittel, aber keine Grundhaltungen gekauft werden können, kann demzufolge genauso wenig eine Arzt-Patient-Beziehung in einer marktfähigen Dienstleisterbeziehung aufgehen wie der Dienst an einem kranken Menschen als reine Ware betrachtbar sein wird. Die Behandlung von Kranken ist eine im besten Falle heilsame, manchmal lebensrettende, oft eine Zuversicht spendende Begegnung von Menschen, und eine solche Begegnung lässt sich gerade nicht in Marktwert ausdrücken.
2. Konkurrenzfähigkeit als Qualitätskriterium der Medizin? Im Zuge der Ökonomisierung der gesamten Medizin werden die Klinika vor allem als Konkurrenten betrachtet, denen es zur Sicherung ihrer Existenz vorrangig um „Wettbewerbsfähigkeit“ gehen muss. Diese Orientierung an der Wettbewerbsfähigkeit hat weitreichende Implikationen, die (1) die Außenwirkung der modernen Klinika genauso betreffen wie (2) ihre innere Identität. (1) In Bezug auf die Außenwirkung gilt es zu bedenken, welche Botschaft von einem solchen Wettbewerbsparadigma für kranke Menschen ausgeht. Wenn man die einzelnen Klinika vor allem als Konkurrenten betrachtet und sie auch so benennt, wird den Patienten damit unweigerlich vermittelt, dass es gute Kliniken und schlechte Kliniken gibt, denn sonst bedürfte es nicht eines Konkurrenzsystems.16 Wenn dann überdies mit der Betonung der Konkurrenzfähigkeit die einzelnen Klinika sogar – wie dies zunehmend der Fall sein wird – Reklame für sich machen, so ist dies zusammengenommen für das zunächst rein äußere Ansehen der Medizin fatal. Denn die Reklame bedeutet ja zweierlei: einerseits impliziert sie, dass es gute und schlechte Ärzte, gute und schlechte Kliniken gibt. Wer also Reklame für seine Klinik als Unternehmen macht, schadet der Gesamtmedizin, weil Patienten verunsichert werden und annehmen müssen, dass sie nicht überall eine gute Behandlung bekommen, sondern nur wenn sie die Klinik richtig aussuchen. Zum zweiten suggeriert die Werbung, dass es dem werbenden Arzt oder der werbenden Klinik eigentlich darum geht, einen Wettbewerb zu gewinnen und nicht primär darum, ihre Patienten gut zu versorgen,17 denn wenn es einer Klinik nur um ihre Patienten ginge, müsste sie einfach gut behandeln und bräuchte keine Werbung. (2) In Bezug auf die innere Identität der modernen Kliniken gilt es zu bedenken, dass ein solches Wettbewerbsdiktat, wie es über alle Klinika verhängt wird, immer mehr dazu führen wird, dass sich die Medizin von ihrem Wesen her verändert. In einem wettbewerbsorientierten System hängt die Existenz der modernen Klinik nicht davon ab, wie gut man Menschen geholfen hat, sondern zuerst oder zumindest genauso davon, wie wirtschaftlich die Klinik geführt wurde. Innerhalb solcher marktorientierter Vorgaben wird der Arzt ständig in eine Konfliktsituation 16
Siehe hierzu Welie, Is dentistry a profession? The hallmarks of professionalism. Journal of the Canadian Dental Association 70, 2004. 17 Ebd.
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hineingetrieben, die für ihn, wenn es ihm um seine eigene berufliche Existenz geht, schwer auszuhalten ist. In jedem Falle ist bereits heute abzusehen, dass Ärzte durch finanzielle Anreize dazu motiviert werden, sich am Ende für eine Unterversorgung ihrer Patienten zu entscheiden. Rein ökonomische Anreize stellen somit alles andere als eine Gewähr dafür dar, dass Patienten gut versorgt werden, gerade weil die Medizin dazu verleitet wird, die Effizienz dadurch zu steigern, dass in Bereichen eingespart wird, die dem Patienten nicht (sofort) bewusst werden. Das Grundproblem besteht darin, dass die modernen Anreizsysteme in den Klinika so ausgestaltet sind, dass Ärzte dazu gezwungen werden, sowohl die Bedürfnisse der Patienten im Auge zu haben als auch die ökonomischen Interessen. Mehr noch – da die Sicherung der Zukunftssicherheit des Unternehmens Krankenhaus vor allem von der Wirtschaftlichkeit und somit vom Management abhängt, werden die Orientierung am Wohl des Patienten und die ethischen Grundlagen Zug um Zug zum rein idealistischen „Beiwerk“18 herabgestuft.
III. Ethische Schlussfolgerungen 1. Reine Ökonomisierung als Aushöhlung des Kerngehalts der Medizin Nimmt man diese Leitgedanken der modernen Medizin zusammen und konfrontiert sie mit einer Realität, in der ökonomische Engpässe ganz bewusst politisch herbeigeführt werden, um die „Konkurrenzfähigkeit“ der einzelnen Klinika zu testen, so wird deutlich, wie unheilvoll gerade dieses Zusammenspiel der Ausrichtungen ist. Unheilvoll insofern, als dies zusammengenommen unweigerlich dazu führen wird, dass die Medizin, um ihre finanzielle Grundlage zu sichern, in Zukunft immer mehr darauf setzen wird, nur das zu stärken, was dem „Unternehmen Krankenhaus“ Profit bringt. Dies würde bedeuten, dass diejenigen, die entweder seltene Krankheiten haben oder eine seltene Patientengruppe darstellen (Beispiel Kinder!) oder diejenigen, die keine Ansprüche formulieren und anmelden können, am Ende weniger gut versorgt sein werden bzw. schon sind. So liegt es auf der Hand, dass es allein von der Quantität her mehr Profit bringt, gesunden Menschen Dienstleistungen anzubieten als behinderten und schwerstkranken Menschen eine ganzheitliche Versorgung anzubieten. Die Allianz von marktorientierter Medizin und Gesundheitsüberhöhung in einer Anspruchsgesellschaft hätte somit die Folge, dass die gesamte Medizin sich umorientiert und mehr auf „Gesundheit“ für Gesunde setzt als darauf, sich um das Wohl der Randständigsten, Schwächsten und Kränkesten zu kümmern. Die Ökonomisierung der Medizin führt in der Allianz mit einem weit verbreiteten Gesundheitskult und einer unreflektierten wunscherfüllenden Ärzteschaft zwangsläufig dazu, dass die Medizin zunehmend in Bereiche investiert, die zwar lukrativ sind, die aber mit dem Grundauftrag der Medizin,
18 Kühn, Ethik ist kein Beiwerk, sondern die Sache selbst. Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Soziale Medizin 28, 2001.
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eine umfassende Hilfe für krankheitsbedingte Krisensituationen anzubieten, nicht mehr viel zu tun haben.
2. Notwendige Fokussierung der Medizin auf die Kernidentität Das Grundproblem, das der Markt aufwirft, besteht darin, dass der Markt sich grundsätzlich allein nach der Kaufkraft und nach den Kundenwünschen richtet. Eine hinter diesen Kategorien stehende ethische Zielsetzung hat der Markt nicht. Der Markt reagiert auf private Individualinteressen, für die er meist eine bewusst kurzfristige Befriedigung bereitstellt. Weder die Ausrichtung auf das Gemeinwohl noch die langfristige Erfüllung des Patientenwohls sind spezifische Merkmale des Marktes. Eine definitive Befriedigung der Bedürfnisse wäre marktwirtschaftlich gesehen „unvernünftig“. Käufer wie Verkäufer sind in einem reinen Marktsystem allein auf ihren eigenen Vorteil aus. Das heißt, dass wenn man sich allein auf den Markt verlässt, man keinerlei Gewähr dafür hat, dass dadurch das Gute erreicht wird.19 Die Medizin hingegen ist eine soziale Einrichtung, die sich grundsätzlich einem „bonum commune“ verschreibt. Daher braucht sie eine eigene Vision, die sich nicht mit der Vision des Marktes je decken kann. Daraus wird deutlich, dass ein zentrales Manko der modernen ökonomisierten Medizin nicht die Ökonomisierung per se ist. Die größte Gefahr der modernen Medizin geht eher davon aus, dass die heutige Medizin der Ökonomie keine andere – eigene – Identität entgegenzusetzen vermag. Die moderne Medizin steht nicht deswegen vor ihrer Auflösung, weil sie in finanzielle Engpässe getrieben wird, sondern sie hat sich an einen solchen Abgrund treiben lassen, gerade weil sie sich nur treiben ließ ohne selbst zu gestalten. Die Medizin wird gestaltet, sie gestaltet sich aber nicht selbst. Was der modernen Medizin am meisten fehlt ist eine eigene Vision, die sie zur Gestaltung ihrer selbst anhalten könnte. Ein großes Problem der modernen Medizin ist somit ihre Unreflektiertheit, ihre Unfähigkeit, über sich selbst, über ihren Ursprung, über ihre Identität nachzudenken. Auch wenn es ganz unterschiedliche Bereiche der Medizin gibt, die man nicht zu einem kohärenten System mit einer einheitlichen „Identität“ zusammenfügen kann, so erscheint es dennoch lohnend, sich zumindest über den Bereich der Medizin Gedanken zu machen, der für alle Menschen existentiell wichtig ist, und das ist die Medizin angesichts von existentieller Not, angesichts von krisenhaftem Leid, angesichts von unheilbarer schwerer Krankheit. Dort ist die Medizin für alle Menschen unverzichtbar und notwendig. Alle anderen Bereiche, in die die heutige Medizin mitsamt ihrer Krankenhaushotelerie investiert, sind mehr oder weniger für den Menschen verzichtbare Bereiche, und in all diesen Bereichen werden die heutigen „medizinischen“ Angebote morgen schon ersetzbar sein durch Angebote, für die es auch nicht mehr im Entferntesten der Medizin bedürfen wird. Eine Medizin, die nur noch in diese nicht notwendigen Bereiche investiert, wird Gefahr laufen, mor19
Dies ist eine der Grundthesen von Callahan und Wasunna. Siehe Callahan/Wasunna, Medicine and the market. Equity versus choice, 2006.
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gen schon ersetzt zu werden durch neue Investoren, die diese Leistungen besser erbringen können als die Medizin. Von dieser Überlegung ausgehend erscheint es erforderlich, gerade über diesen notwendigen Teil der Medizin nachzudenken und die unverwechselbaren Charakteristika einer solchen Medizin herauszufiltern, die gerade für jene Menschen offen steht, die durch Krankheit in existentielle Not geraten sind. Diese Fokussierung geht nicht ohne eine anthropologische Grundreflexion der modernen Medizin.
3. Notwendige Anthropologische Neubesinnung der Medizin Alle dargelegten Leitgedanken der modernen Medizin setzen ein gemeinsames Menschenbild voraus, und das ist das Leitbild des leistungsfähigen, souveränen und unabhängig-autonomen Menschen. Dieses Leitbild hat zur Folge gehabt, dass das Krankwerden, das Schwachwerden, das Gebrechlichwerden, das Hilfsbedürftigwerden allesamt nicht als Manifestationen des Menschseins gedeutet wurden, sondern lediglich als bedauernswürdige Defiziterscheinungen und befremdliche Schwundstufen des „normalen“ gesunden Menschen. Unter dieser Perspektive wird jeder kranke Mensch und jeder nicht mehr heilbare Mensch als „Störfall“ angesehen, dem es mit der Aufwartung aller Technik entgegenzuwirken gilt, ist doch der Störfall allein dadurch definiert, dass er nicht sein darf. Daraus wird deutlich, dass das Leitbild des leistungsfähigen Menschen eine problematische Ausgangslage für eine gute Medizin ist, kann doch für eine humane Medizin der kranke und angewiesene Mensch gerade nicht als Störfall betrachtet werden. Vielmehr wird der Arzt dem krank gewordenen Menschen nur dann wirklich helfen können, wenn das Krankgewordensein als das zum Menschen unweigerlich Dazugehörende und als eine Existenzweise des Menschen verstanden wird. Romano Guardini hat dies treffend wie folgt beschrieben: „Hinter den üblichen Aussagen über Gesundheit und Krankheit steht die Voraussetzung, der Mensch sei ein «normales System»; ein Gefüge von Kräften, Tendenzen, Regulativen, das «in Ordnung» ist; […] Das ist aber nicht der Fall. Wie der Mensch ist, enthält er quasi-konstitutiv den Widerspruch. Er ist von vornherein nicht einfachhin «gesund». Die Störung, die Krankheit kommt nicht nur von außen, sondern auch von innen. Sie ist dem Menschen endogen.“20 Nur von diesem Ausgangspunkt, dass das Krankwerden zum Menschsein dazu gehört und die Schwäche, das Angewiesensein konstitutive Merkmale menschlicher Existenz sind, nur von hier aus eröffnet sich die Möglichkeit, auf diese Existenzformen nicht mit blindem technischem Aktionismus, sondern mit einer verstehenden Grundhaltung zu reagieren, die das Sosein erst einmal als ein in sich wertvolles und von sich aus grundsätzlich zu bejahendes Sein stehen lässt. Erst in einer solchen Haltung des Stehenlassens (letztlich angelehnt an die antike Ataraxia) und in der Vermeidung eines stetigen Abgleichs der in sich wertvollen Wirklichkeit mit einem fiktiven Ideal, erst durch diese zu leistende Arbeit an sich gibt sich der 20
Guardini, Der Arzt und das Heilen, in: ders., Ethik, 1993, S. 973.
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Mensch die Chance, dem Sosein einen Sinn abzugewinnen, einen Sinn, der es ihm ermöglicht, das neue Krank-Sein in das eigene Leben zu integrieren. Diese Integration der körperlichen und seelischen und sozialen, ja auch der geistigen Veränderung durch Krankheit in das eigene Leben schließt eine sinnvolle Behandlung der Veränderungen nicht aus, aber die Integration verhindert, dass die Behandlung und „Bekämpfung“ der Krankheit zu einer Obsession wird, in der und durch die der krank gewordene Mensch übersieht, dass er auch als schwacher und angewiesener Mensch ein erfülltes Leben führen kann. Dieses erfüllte Leben in Krankheit macht sich der moderne Mensch selbst zunichte, und zwar nicht durch die Krankheit selbst, sondern vor allem durch eine problematische Selbstdeutung, nach der Krankheit lediglich mit einer Haltung des „Bekämpfens“ begegnet wird. Eine Medizin, die sich nicht den angewiesenen und vulnerablen und auf Krankheit und Sterben angelegten Menschen zum anthropologischen Ausgangspunkt macht, wird allen ihren Patienten die letzte Chance nehmen, dem menschlichen Sein in all seinen Facetten einen Sinn zu verleihen. Wie zentral eine solche Grundhaltung der grundsätzlichen Annahme eines jeden menschlichen Seins sein kann, hat Romano Guardini wie folgt treffend auf den Punkt gebracht: „Der entscheidende Schritt zum Beginn echter Gesundheit ist die Annahme seiner selbst; seiner Geschichtlichkeit mitsamt ihrer Tragik.“21 Gerade Guardini macht deutlich, wie verkürzt das Gesundheitsverständnis des modernen Menschen in unserem Gesundheitsmarkt ist. Unter Zugrundelegung des Bildes vom Menschen als eines grundsätzlich vulnerablen und angewiesenen Menschen würde auch Gesundheit nunmehr in einem ganz anderen Licht erscheinen. Dann wäre Gesundheit nicht mehr die Fähigkeit, alles zu können, sondern sie würde vielmehr zur Fähigkeit, sich als Mensch in seiner Angewiesenheit anzunehmen, so dass nach dieser Vorstellung gerade der Mensch gesund wäre, der befähigt ist, in ein gutes und akzeptierendes Verhältnis zu seinem Kranksein zu treten.
4. Medizin als ein bedingungsloses Hilfeversprechen Von dieser Überlegung und dieser anthropologischen Vorannahme ausgehend wird die Kernaufgabe der Medizin nunmehr nicht als unparteiische Lieferin von Dienstleistungen auf Wunsch zu begreifen sein, sondern ihre Kernaufgabe bestünde dann darin, eine Antwort auf die Angewiesenheit des Menschen zu geben, und diese Antwort kann nur die absolute Zusicherung sein, das medizinische Wissen in den Dienst des notleidenden Menschen zu stellen. Demnach könnte der angewiesene Patient gerade nicht ein moralisch fremder „(Geschäfts-)Partner“ sein, sondern der Patient bliebe für die Heilberufe ein moralisch verwandtes Gegenüber, ein Wesen, das allein durch sein Sein, durch seine Not, durch sein Leiden einen Behandlungsimperativ auslöst. Im Sinne einer responsiven Ethik, wie sie von Levinas entworfen worden ist, ließe sich sagen, dass allein das Antlitz eines Kranken ausreichen muss, um in den Heilberufen die Motivation zur Hilfe auszulösen. Me-
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Guardini, Der Arzt und das Heilen, in: ders., Ethik. 1993, S. 972.
Dienst am Menschen oder Kunden-Dienst?
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dizin könnte in dieser Perspektive als ein bedingungsloses Versprechen verstanden werden, den Menschen in Not zur Seite zu stehen.
IV. Zum Schluss Der Kern dessen, was Medizin ausmacht, liegt möglicherweise gerade in dieser Bedingungslosigkeit, mit der die Medizin dem Krankgewordenen – ohne sich seiner zu bemächtigen – eine Hilfsantwort gibt. Da der Mensch in Not sich seinen Arzt nicht frei aussuchen kann, sondern darauf angewiesen ist, dass er ganz gleich, wo er in Not gerät, einen Arzt findet, der ihm beisteht, kann das Hilfeversprechen nicht nur ein persönliches Versprechen eines einzelnen Arztes sein, sondern muss ein kollektives Versprechen sein, das jeder allein dadurch gibt, dass er sich als Arzt bezeichnet. Pellegrino spricht hier von einem „öffentlichen Bekenntnisakt“,22 das vom Arztsein ausgeht. Das öffentliche Bekenntnis bezieht sich nicht darauf, den Kranken in jedem Fall zu heilen oder auf die Zusicherung, dass die ärztliche Behandlung auch glückt. Es ist nicht der Effekt der ärztlichen Handlung, der durch ein solches Hilfeversprechen zugesichert wird, sondern die Zusicherung bezieht sich allein auf die der ärztlichen Handlung zu Grunde liegende Motivation zur Hilfe. Daher lässt sich sagen, dass das Wesen der Medizin sich nicht in der Anwendung der Mittel realisieren lässt, sondern dass der eigentliche Kern der Medizin in ihrer ganz spezifischen Zielgerichtetheit liegt. Ab dem Moment, da das medizinische Handeln nicht mehr primär von der Motivation zur Hilfe getragen ist, hat sich die Medizin als Medizin aufgelöst, ganz gleich welche medizinischen Apparaturen dabei auch eingesetzt werden mögen. Die neuen Ausrichtungen der Medizin werden daher nur solange vertretbar sein wie es der Medizin gelingt, den beschriebenen Kerngehalt der Medizin trotz der modernen Transformation nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern ihn über allen anderen Zielsetzungen als übergeordnetes Anliegen (neu) zu verankern. Theda Rehbock hat jüngst die Medizin als eine „Grundform der menschlichen Praxis“ beschrieben,23 weil gerade die Medizin eine „elementare Form der personalen Beziehung und Zuwendung zum Anderen“24 darstellt. Damit wird deutlich, dass es fatal wäre, wenn die Medizin sich nach Belieben verändern würde. Als Grundform der menschlichen Praxis bleibt die Zuwendung eines Helfers ein Bestandteil der gesamten Gesellschaft, auf den kein vernünftiger Mensch zu verzichten bereit sein dürfte. Daher wäre die Ablösung einer solchen sittlichen Helfer-Person durch einen marktorientierten Dienstleister für die gesamte Gesellschaft ein nicht ersetzbarer Verlust.
22 Pellegrino, Bekenntnis zum Arztberuf – und was moralisch daraus folgt. Eine tugendorientierte Moralphilosophie des Berufs, in: Thomas (Hrsg.), Ärztliche Freiheit und Berufsethos, 2005, S. 39. 23 Rehbock, Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns, 2005, S. 325. 24 Ebd.
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I. Medizin im Kontext von Zuwenden und Zuteilen Es ist mittlerweile nicht von der Hand zu weisen, dass die primär an betriebswirtschaftlichen Zielen ausgerichteten gesundheitspolitischen Vorgaben die ärztliche Entscheidungsfindung auf vielen Ebenen durchdringen und das Verhältnis zu Patienten und Patientinnen überschatten. Der ärztliche und pflegerische Handlungsspielraum im klinischen Alltag wird eingeengt und es bleibt wenig Zeit für ruhiges Nachdenken und integrative Überlegungen. Aus ökonomischer Sicht wird es zudem zukünftig sinnvoll erscheinen, mehr diagnostische und therapeutische Leistungen in weniger Zeit umzusetzen. Das wird sich vermutlich nur auf Kosten einer fürsorglichen und mitfühlenden Patientenbetreuung realisieren lassen. Das traditionelle ärztliche Prinzip der Zuwendung scheint immer häufiger mit dem ökonomischen Prinzip der Zuteilung zu kollidieren. Während die „Zuwendung“ zum Patienten impliziert, dass zu allererst danach gefragt wird, was im jeweiligen Fall medizinisch geboten ist, und erst in zweiter Linie der Blick dahin geht, wie das finanzierbar oder politisch vermittelbar sein kann, ergibt sich bei der an „Zuteilung“ orientierten Vorgehensweise eine primär vom ökonomischen Kalkül angeleitete Entscheidungs- und Handlungsstruktur. Hier ist die grundlegende Frage: Welche Ressourcen sind vorhanden? Erst danach ist zu klären, wie sich die Medizin mit den begrenzten Mitteln organisieren muss. Selbstverständlich wird die Reduktion der denkerischen Alternativen auf ein Entweder-Oder in der Regel der Komplexität der aktuellen und zukünftigen Situation im deutschen Gesundheitswesen nicht gerecht. Es kann daher auch nicht sein, dass man sich in der Medizin für eine der beiden skizzierten Optionen entscheiden muss. Vielmehr geht es darum, die Zuordnung dieser beiden Muster oder Prinzipien neu zu durchdenken. Entscheidende Kriterien bei dieser Überlegung sind die Prinzipien „Zuteilung“ und „Zuwendung“, aber auch der Begriff der Solidarität und der eines solidarischen Gesundheitssystems. In diesem Zusammenhang ist es auch hilfreich, sich auf die Wurzeln ärztlichen Handelns und ärztlicher Ethik zurückzubesinnen.
Überarbeitete und fortgeschriebene Fassung des Beitrages „Zwischen Solidarität und Eigenverantwortung, zwischen Zuwendung und Zuteilung: Herausforderungen für Ärzte und Patienten unter den ökonomischen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen“, in: Bittmann (Hrsg.), Ärzte im Sog der Ökonomie, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2007.
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II. Die Wurzeln des ärztlichen Behandlungsauftrags im abendländischen Denken „Das Leben ist kurz, die Kunst ist weit, der günstige Augenblick flüchtig, der Versuch trügerisch, die Entscheidung schwierig.“ So lesen wir es im Werk des Hippokrates aus dem vierten Jahrhundert vor Christus. Wir finden darin eine elegante und treffende Beschreibung der ärztlichen Tätigkeit, wie sie auch heute noch, wenn auch erweitert, Gültigkeit besitzt. Ärztliches Handeln muss zeitlich exakt strukturiert und mit hoher Präzision thematisiert sein, es muss markante Problembereiche in der Versorgung aufgreifen und Gefahrenquellen beschreiben können. Dabei beschreibt Hippokrates eindrücklich, wie schwierig es im konkreten Fall sein kann, das naturwissenschaftliche Wissen, die manuelle Fertigkeit und die ärztliche Verantwortung zum Wohle des Patienten zu konzentrieren. Damals wie heute finden diese Gedanken ihre Konkretion in der Behandlungssituation zwischen Arzt und Patient. Längst haben sich die Prämissen und Anforderungen an die Medizin angeglichen. Was einst als spezifische Fertigkeit einer handwerklich besonders geschickten Gruppe zugewiesen war, ist heute „Techne“ im klassischen Sinne: Medizin ist eine Kunst, so wie die Hellenen den Begriff „Technik“ verstanden, eine Fertigkeit, die mit nicht Lernbarem, Begabtem einhergeht. Mit etwas, das dem Individuum zuzuordnen ist, über das Objektivierbare hinaus. Die Kunst des Heilens bedeutet keineswegs, dass auf naturwissenschaftliche Grundsätze, konkretisierbare Wissenschaftstheorie oder strukturierte Didaktik verzichtet werden könnte – sie macht nur deutlich, dass zu erfolgreichem Handeln darüber hinaus noch mehr gehört. Im Rahmen der Professionalisierung und Spezialisierung innerhalb der Medizin ist die Tendenz nicht zu übersehen, diese spezifischen Charakteristika zu verdrängen. Für die zukünftigen Entwicklungen sind sie aber so unabdingbar wie einst. Der „Medicus“ – vom lateinischen Wort „mederi“: heilen, helfen – wird in der abendländischen Kultur als derjenige angesehen, dem es zukommt, als Linderer menschlicher Leiden seine Tätigkeit zu versehen. Dabei ist er neben seiner Kenntnis der Exaktheit, mit der er seine Erkenntnis einsetzt, der Verbindlichkeit des Rahmens, in dem er handelt, vor allem auch auf seine ethischen Grundannahmen verpflichtet, ohne die seine Profession die gesamtgesellschaftliche Aufgabe nicht erfüllen könnte. Zuerst steht hier die Verpflichtung der Zuwendung zum Leidenden. Darüber hinaus trägt der Arzt oder die Ärztin Verantwortung für die Weiterentwicklung des Wissens, um zukünftig bisher nicht behandelbare Situationen meistern zu können, und er tut dies – drittens – auch in einer übergeordneten Beziehung zum Versorgungssystem der Gemeinschaft. Das zu erhalten, ist er so lange verpflichtet, wie es der Umsetzung seiner verantwortlichen Aufgaben entspricht. Diese Wertorientierung war Grundlage für die Entstehung von Krankenhäusern, Betreuungsstationen, Begründung für die Versorgung akut in Not Geratener und letztlich auch die tiefere Begründung für die Solidarität mit Kranken innerhalb einer demokratischen Gesellschaft. Die hippokratische Medizin hat ärztliches Handeln erstmalig auf eine rationale Grundlage gestellt, eine gewisse Rechtssi-
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cherheit im Vertrag zwischen Arzt und Patient vermittelt und den medizinischen Behandlungsauftrag mit der Pflicht verbunden, eben gerade das Wohl des Kranken in den Mittelpunkt aller Bemühungen zu stellen. Die christliche Tradition verpflichtet darüber hinaus, den Kranken nicht nur als Vertragspartner zu sehen, den es sachgemäß und höflich zu behandeln gilt, sondern ihn als fürsorglich und karitativ zu betreuenden Mitmenschen zu begreifen. Albert Schweitzer hat quasi exemplarisch für Generationen von Betroffenen und Helfenden diese Zusammenhänge verdeutlicht und sie der – von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen äußerst positiv beeinflussten – hoffnungsvollen Entwicklung medizinischer Behandlungsmöglichkeiten ins Stammbuch geschrieben: „Das denknotwendige Prinzip des Sittlichen bedeutet nicht nur Ordnung und Vertiefung der geltenden Anschauung von Gut und Böse, sondern auch ihre Erweiterung. Wahrhaft ethisch ist der Mensch (und der Arzt bzw. die Ärztin) nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig.“
III. Das naturwissenschaftliche Paradigma in der Medizin und seine Auswirkung auf ärztliches Handeln Die Entwicklungen moderner Naturwissenschaften haben die Praxis des medizinischen Handelns bei Diagnose und Therapie grundsätzlich verändert. Die Frage aber stellt sich, ob sich dadurch der ärztliche Behandlungsauftrag oder gar das Bild von Patienten und Arzt gewandelt haben. Die Diskussionen um gentechnologische Entwicklungen, um Transplantationen, um rekonstruktive, gravierend verändernde Eingriffe oder auch um die Fragen der Selbstbestimmung des Patienten stellen den vorläufigen Höhepunkt dieser Anfrage dar. Gibt es einen Wertewandel in den Rollen von Arzt und Patient? Romano Guardini schreibt: „Die Gestalt und Tätigkeit des Arztes scheinen sich in einer Krise zu befinden. Nicht deshalb, weil ärztliche Wissenschaft und therapeutische Technik noch unentwickelt wären, sondern weil sie sich in einer Weise entwickelt haben, die den Selbsterhaltungsinstinkt des Menschen beunruhigt.“ Sicherlich hat die sogenannte Mechanisierung der ärztlichen Theorie und Praxis und damit die Mechanisierung des Menschenbildes nicht mit Kernspintomographie und Gentechnik begonnen, aber sie steht in einem Zusammenhang mit dem ersten Fortschritt medizinischer Wissenschaft und Technik: Was den Fortschritt getragen, hat auch die Gefährdung gebracht. So jedenfalls darf man es wohl annehmen für eine allzu mechanistische Grundauffassung des Menschen selbst. Die auf den Philosophen Descartes zurückgehende Auffassung, dass der Mensch als eine hochdifferenzierte Apparatur zu verstehen sei, war und ist für das wissenschaftlich-medizinische Denken eine große Versuchung. „Die in der modernen Technik verborgene Macht bestimmt das Verhältnis des Menschen zu dem, was ist,“ schreibt Heidegger und weiter: „Dabei ist jedoch das eigentlich Unheimliche
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nicht dies, dass die Welt zu einer durch und durch technischen wird. Weit unheimlicher bleibt, dass der Mensch für diese Weltveränderung nicht vorbereitet ist, dass wir es noch nicht vermögen, besinnlich denkend in eine sachgemäße Auseinandersetzung mit dem zu gelangen, was in diesem Zeitalter eigentlich heraufkommt.“ An den Grundprinzipien des Lebens – also auch am Menschenbild – verändert sich dadurch aber eigentlich nichts. Die heute divergent diskutierten Darstellungen menschlichen Selbstverständnisses gehen auf eine andere Veränderung zurück: Francis Bacon und David Hume waren es, die eine zunehmend anthropozentrische Sichtweise des Denkens mit dem Empirismus einführten. Sie haben damit das bürgerliche Selbstverständnis und besonders auch das Selbstverständnis der angelsächsischen Wissenschaft nachhaltig geprägt. Unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten stehen wir diesem Gedanken heute noch sehr nahe. Das jüdisch-christliche Menschenbild, das wesentlich für die Wertorientierung unserer Gesellschaft geblieben ist, weist jedoch darauf hin, dass jeder einzelne Mensch und auch jedes einzelne Lebewesen in der Natur sein Lebensrecht ganz unabhängig von seiner Tüchtigkeit, seiner Gesundheit und seiner Konkurrenzfähigkeit hat. Dieses Lebensrecht steht heute auch im Mittelpunkt, wenn es darum geht, den Stellenwert moderner Medizin im gesamtgesellschaftlichen Gefüge zu diskutieren. Die Gefahr, dass der Vorgang der Heilung in der modernen Medizin in einer von der Mechanik des Daseins geprägten Prozesshaftigkeit – im Sinne eines technischen oder chemischen Prozesses – missverstanden wird, war und ist in dem angesprochenen mechanischen Denkschema groß. Eine derartige Prozessorientierung findet sich auch zunehmend in den Managementstrukturen von Krankenhäusern. Demgegenüber ist das christliche Menschenbild durch die Vorstellung geprägt, Kranksein und Krankheit seien Teil eines Lebensvorganges und das Heilen ein Akt, der dem Leben hilft, nicht die Reparatur eines Maschinendefektes. Insofern erscheint es wesentlich, an die Ehrfurcht vor dem Leben zu appellieren – und dies nicht zu tun aus Sentimentalität, sondern aus der Erkenntnis, dass dies zum Wesen des Heilungsprozesses gehört.
IV. Ökonomie und ärztliches Handeln Jedem wird einsichtig sein, dass in einer hochkomplex organisierten Gesellschaft wie der unsrigen weite Felder der Medizin nicht mehr allein der Verantwortung von Ärztinnen und Ärzten unterstehen können. Faktisch ist es immer schon so gewesen, dass ärztliches Handeln begrenzt wurde – durch die vorhandene Zeit, die Leistungsfähigkeit eines Arztes oder den Stand der Medizin der jeweiligen Zeit. Dass medizinisches Handeln auch durch ökonomische Faktoren begrenzt wird, ist also an sich nichts Neues. Neu scheint hingegen die Qualität dieser Restriktion zu sein: In den gegenwärtigen Diskursen scheint die ökonomische Rationalität zur allgemeinen Leitkategorie zu avancieren – und alle anderen Rationalitäten in den Hintergrund zu drängen, wie z.B. Medizin, Ethik, Technik usw. Zunehmend haben wir den Eindruck, dass die systemischen Veränderungen, Regelungen und politischen Reformen der letzten Jahre nicht nur eine Fortschreibung der bisherigen Kostendämpfungsversuche darstellen. Vielmehr findet hier womöglich ein qualita-
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tiver Umschlag statt, innerhalb dessen die Ökonomie zur dominanten Leitkategorie in den gesundheitspolitischen und gesundheitsethischen Diskursen wird. Die „Kolonisierung der Lebenswelten durch die Ökonomie“ (Jürgen Habermas) macht offensichtlich auch vor der Medizin nicht Halt. Behandlungsoptionen werden zu knappen Gütern – aufgrund der Begrenzung der sachlichen und personellen Struktur oder ganz generell der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel. Interessenskonflikte mit den Zielsetzungen des Arztes oder mit den Wünschen eines Kranken werden nicht selten unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten diskutiert. Zuwendung könnte dann nur noch dort stattfinden, wo sie sich rechnet, nicht aber dort, wo sie geboten erscheint. Das Arzt-Patient-Verhältnis wäre dann primär eines von Anbieter und Kunde auf der Basis eines marktlichen Tauschverhältnisses. Das ist aber grundsätzlich etwas anderes als die zuwendungsorientierte Haltung des Arztes zum Patienten. Die vorausgeschickten Betrachtungen verdeutlichen aber, dass in diesem Kontext primär die individuelle Situation von besonderer Tragweite ist, und erst sekundär die Bedeutung eines so genannten Grenznutzens oder der entstehenden Opportunitätskosten der jeweils in Rede stehenden Leistungen oder gar einer übergeordneten Bedarfsdiskussion zielleitend sein können. So sehr das für die ärztliche Patientenbeziehung richtig ist, lässt sich feststellen, dass für die Entwicklung eines Gemeinwesens auch übergeordnete Gesichtspunkte wie Bedarfsanalysen notwendig werden und ethisch gefordert sind. Auch wenn viele Diskussionen um gesundheitsökonomische Zusammenhänge als missverständlich, einschränkend und schlussendlich ungerecht empfunden werden, ist jedoch unzweifelhaft, dass sie angesichts begrenzter Ressourcen und der Spezifität der Bedeutung, die das Gesundheitswesen für eine demokratische Gesellschaft hat, unabdingbar sind.
V. Gesundheit als individuelles und gesellschaftliches Gut So eindeutig die Verantwortung des Einzelnen bezüglich individueller Handlungen ist, und so eindeutig sich diese Handlungen auf das Zusammenleben auswirken, so unfraglich ist auch, dass ein funktionierendes System aufgebaut und fortentwickelt werden muss, das den Bedürfnissen Einzelner und der Gemeinschaft gerecht wird. Systeme wie das Gesundheitswesen funktionieren in erster Linie nicht deshalb, weil man darauf vertraut, dass irgendjemand das irgendwie schon richtig entscheiden und steuern wird. Vielmehr werden entsprechende Kontrollmechanismen im System implementiert, damit im Bedarfsfall nach- oder gegengesteuert werden kann. Das Vertrauen in die Zukunft beruht auf einem sehr fließenden Gleichgewicht zwischen den Polen Vertrauen auf Personen, Systeme und Mechanismen auf der einen Seite und Kontrolle eben dieser Personen, Systeme und Mechanismen auf der anderen Seite. Erst in diesem ständigen neu auszubalancierenden Wechselverhältnis von Vertrauen und Kontrolle funktioniert das Zusammenleben in einer Gesellschaft.
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Wenn wir nach den gesellschaftspolitischen, rechtlichen und moralischen Grundlagen fragen, die unser Zusammenleben beeinflussen, steht der Gedanke des Sozialstaates und der Solidarität im Fokus. In einem Sozialstaat ist das Gemeinwesen bestrebt, soziale Unterschiede auszugleichen. Allen Mitgliedern des Gemeinwesens soll die Teilhabe an den gesellschaftlichen, politischen, technischen und medizinischen Entwicklungen gewährleistet werden. Darüber hinaus hat der Sozialstaat die Aufgabe, seinen Bürgern in Notfällen Hilfe anzubieten, was in Deutschland zur Schaffung der Sozialversicherungen im 19. Jahrhundert geführt hat. In unserem Grundgesetz ist der Sozialstaat mit seinen Grundprinzipien in mehreren Artikeln verankert. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, heißt es in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Dieses Prinzip ist als Staatsziel mit einer Ewigkeitsgarantie versehen (Art. 79 Abs. 3 GG: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes […] ist unzulässig.“). Ferner heißt es in Art. 14 Abs. 2 GG: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Hier findet sich zugleich der Grundgedanke für das solidarische Versicherungsprinzip. Die Verpflichtung auf den Sozialstaat bedeutet, dass der Staat sich ein Recht vorbehält, ordnungspolitisch in die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen, mit dem Ziel, den sozialen Frieden in Deutschland zu erhalten. Das gilt, im Unterschied beispielsweise zu den Vereinigten Staaten, auch für die gesundheitliche Versorgung. Der Begriff der Solidarität stammt aus dem 19. Jahrhundert und meint „die sittlich qualifizierte, wesentliche und aktive Bezogenheit des Einzelnen auf die Gemeinschaft und umgekehrt“. Solidarität zielt inhaltlich auf eine Vermittlung von Freiheit und Gleichheit und berücksichtigt Ungleichheiten, um sie durch ausdrückliches Handeln auszugleichen oder aufzuheben. Sie steht als Orientierungsmodell für eine Gemeinschaft zwischen Kollektivismus und Liberalismus. Auch wenn Solidarität durch Ordnungspolitik und durch entsprechende Organisationen wie beispielsweise gesetzliche Krankenversicherungen institutionalisiert ist, beruht sie auf der freien Entscheidung des Einzelnen zur Solidarität. Solidarität kann nur bedingt verordnet werden. Die beschriebene Entwicklung zur Zunahme des Moral-Hazard-Phänomens (der Versicherte, der die Höhe seiner Beiträge nicht beeinflussen kann, fühlt sich dann benachteiligt, wenn er die Versicherungsleistung nicht beansprucht) unter gesetzlich Krankenversicherten oder Diskussionen um Altersgrenzen für kostspielige Interventionen oder Ausschluss bestimmter Risiken zeigen, dass der Grundgedanke der Solidarität in unserer Gesellschaft permanent der Erinnerung und Realisierung bedarf. Hieran zeigt sich, dass nicht in akademischen Disputen entschieden wird, ob und wie eine Gesellschaft funktioniert, wie sozial und gerecht sie ist, sondern dort, wo die hehren Pläne auf die Wirklichkeit stoßen. Dann erst zeigt sich, ob im konkreten Handeln den Erfordernissen des Sozialen und der Gerechtigkeit entsprochen wird. Für das Gesundheitswesen bedeutet das in erster Linie: Wie wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung so gestaltet, dass alle Mitglieder dieser Gesellschaft trotz ihrer ungleichen Ausgangslage hinsichtlich ihrer körperlichen, geistigen oder finanziellen Ausstattung gleiche Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung erhalten? Gesundheit gilt im Allgemeinen als ein „transzendentales Gut“, d. h. Gesundheit ist nicht alles, aber ohne sie ist im irdischen
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Dasein vieles nichts. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Ungerechtigkeit und unsoziale Verhältnisse im Bereich der Gesundheit am allerwenigsten toleriert werden können: In vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft wird Ungleichheit von den Menschen leichter ertragen als dort, wo es um Leib, Leben und Gesundheit geht. Von daher besteht eine besondere politische Herausforderung darin, aus den Ungleichheiten, die zweifelsohne zwischen den Menschen bezüglich ihrer gesundheitlichen Disposition bestehen, keine Ungerechtigkeit hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Versorgung werden zu lassen. Das bedeutet aber, dass innerhalb der Gesellschaft aufgrund bestimmter Wertentscheidungen sozialpolitisch gesteuert werden muss – wohl wissend, dass auch die beste Steuerung in einem menschlichen System fehlbar und imperfekt bleiben muss. Dies wird in den letzten Jahrzehnten besonders dort erlebt, wo der Hang zur Einzelfallgerechtigkeit über den Versuch expliziter Gesetzgebung ein System geschaffen hat, das sich selbst überfordert und zum Scheitern verurteilt ist.
VI. Teilhabe-Gerechtigkeit und die Verantwortung des Einzelnen Gerechtigkeit muss nicht zwangsläufig Gleichheit bedeuten: Ein gerechtes Gesundheitssystem ist nicht unbedingt eines, das allen die gleichen Leistungen zukommen lässt. Gerecht ist es erst dann, wenn es die differenzierten Bedürfnisse der Mitglieder des Gemeinwesens zu berücksichtigen vermag und ihnen zur Sicherung dieser Bedürfnisse gleichen Zugang ermöglicht. Die Verantwortung der Gesellschaft besteht darin, die Verschiedenartigkeit der Menschen in ihrer Gemeinschaft, ihre verschiedenen körperlichen und geistigen Ausgangsbedingungen zum Anlass dazu zu nehmen, dass nicht alle Menschen gleich werden oder die gleichen Ausgangsbedingungen halten, sondern dass sie aufgrund ungleicher Startbedingungen trotzdem Rechte und Möglichkeiten auf Teilhabe in dieser Gesellschaft haben. In den letzten Jahren hat sich auch auf politischer Ebene ein verstärktes Bewusstsein hinsichtlich des durchschnittlich schlechteren Gesundheitszustandes und der kürzeren Lebenserwartung von sozial Benachteiligten entwickelt, das in einzelnen Förderprogrammen zur Gesundheitsförderung sozioökonomisch schwacher und bildungsferner Bevölkerungsgruppen gemündet ist. Hier ist allerdings noch erhebliche Entwicklungsarbeit zu leisten. Ein Gesundheitssystem, wie es in der Bundesrepublik Deutschland verankert ist, fordert alle auf, sich mit ihren Rechten und Pflichten vertraut zu machen und sie wahrzunehmen. Sich mit den eigenen Rechten und Pflichten vertraut zu machen, funktioniert allerdings nur dort, wo Menschen dieser Zusammenhang erklärt wird, sie ihn einüben und Vertrauen entwickeln können in die Sinnhaftigkeit dieses gesellschaftlichen Arrangements. Um Vertrauen zu gewinnen und im Vertrauen zu handeln, braucht es Lernprozesse. Vertrauen stellt sich nicht per Dekret oder Steuerungsimpuls ein. Vertrauen entwickelt sich nur dort, wo Einzelne und das übergeordnete System konsistent und nachvollziehbar handeln.
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Unsere gesellschaftliche Grundordnung misst der Autonomie und Freiheit des Einzelnen in den Entscheidungen seines Lebens einen hohen Stellenwert bei. So gilt auch im Bereich von Gesundheit, dass die Entscheidung zu einem Gesundheits- oder Risikoverhalten der Eigenverantwortung des Einzelnen obliegt, solange die Freiheit des Anderen dabei nicht eingeschränkt wird. Eine „verordnete Gesundheit“ (Fritz Beske) durch Zwang und Druck zu gesundheitsförderlichem Lebensstil ist mit unserer Grundordnung nicht vereinbar; das eigenverantwortliche Handeln kann durch nichts ersetzt werden. Auf der anderen Seite macht man es sich häufig zu einfach, auf die Eigenverantwortung des Einzelnen zu verweisen und sie zum Entscheidungskriterium für die Zuteilung knapper Ressourcen zu machen. Denn mittlerweile hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass ein Großteil der Faktoren, die die Entscheidungen eines Individuums beeinflussen, außerhalb seiner Kontrolle liegt. In vielen Fällen ist das Verhalten daher weniger gewählt als vielmehr bestimmt. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse ist das Vorgehen, den Menschen die Verantwortung für ihre Lebensweisen zuzusprechen und damit auch die Schuld für Fehlverhalten aufzubürden, bereits Anfang der 80er Jahre als „blame the victims“-Strategie abgelehnt worden. Bei aller Respektierung der Autonomie des Individuums wird klar, dass es Gruppen bzw. Verhaltensweisen gibt, wo die Entscheidung des Individuums keine wirklich freie Entscheidung darstellt und der Staat in seinem Sinne protektiv eingreifen kann oder sollte. Es ist unfraglich: Um die Ansprüche der Versicherten zu bedienen, dem medizinisch-technischen Fortschritt gerecht zu werden und die Leistungsfähigkeit der Teilsysteme der Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten, wird man mehr Geld im System brauchen. Der Versuch, Effizienzreserven durch Optimierung von Prozessen zu erzielen, lässt sich nur bis zu einer gewissen Grenze treiben. Danach wird das System nicht effizienter, sondern produziert konträre Effekte. Die Ökonomen sprechen vom „Grenznutzen“. Auch der Versuch, über Personalkosteneinsparungen das im System vorhandene Geld effizienter zu verwenden, stößt an solche Grenzen. In der Gesundheitsversorgung ist der Mensch, der die Leistung erbringt, kein oder zumindest nicht vorrangig ein Kostenfaktor, sondern – ökonomisch gesprochen – Humankapital und damit der wichtigste Produktionsfaktor. Wer hier spart, tut es am falschen Fleck und darf sich nicht wundern, wenn Ärzten bzw. Ärztinnen und den ihnen zur Seite stehenden Berufsgruppen die „Puste“ und die Motivation ausgehen.
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Verrechtlichung der Medizin Christian Katzenmeier Medizinrechtliche Themen gewinnen in modernen, hoch entwickelten Gesellschaften immer größere Bedeutung. Die wissenschaftliche Durchdringung der vielfältigen Fragestellungen ist eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Fragen etwa der Humangenetik, der Reproduktionsmedizin, der Krankenversicherung, der Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitssystem, der Sicherung von Patientenrechten, der Arzthaftung, des Arzneimittelrechts, des Lebensschutzes oder der Sterbehilfe besitzen hohe gesellschaftliche Aktualität und politische Brisanz.
I. Medizin und Recht – zum Verhältnis zweier wesensverschiedener Disziplinen 1. Der Zugriff des Rechts Über Jahrhunderte hinweg war ärztliches Handeln in der Hauptsache ein deontologischer, professions- und moral-philosophischer Topos. Die Dignität der Heilbehandlung wurde als überzeitlich angesehen. Auf der Arzt-Patient-Beziehung lag ein Tabu. Die Betonung der Einzigartigkeit, der Unvergleichbarkeit, der Intimität, der Unabdingbarkeit eines geschützten Vertrauensverhältnisses innerhalb dieser Beziehung1 verhinderte jeden objektivierenden Zugriff. Ärztliches Verhalten wurde nach den Regeln der Standesethik bestimmt. Rechtliche Festlegungen erschienen in den naturwüchsigen, überschaubaren sozialen Verhältnissen entbehrlich. Blindes Vertrauen enthob den Fachmann der ausdrücklichen Legitimierung seiner Entscheidung. Nicht dass der Arzt zu irgendeiner Zeit unverantwortlich hätte handeln können, wohl aber nahm man ihm seine intuitive Entscheidung ab, ohne dass er sie explizit hätte begründen müssen. Dem auf die Antike zurückgehenden Selbstverständnis der Ärzteschaft entsprach es, dass der Berufsstand sich dem geleisteten Eid und dem Standesethos, nicht aber direkt staatlichen Regeln verpflichtet fühlte.2 Inzwischen hat der moderne Interventionsstaat auch die Medizin erfasst. „Verrechtlichung“ ist ein viel beredetes Phänomen, kritisches Schlagwort seit Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts.3 Es bezeichnet jenen Vorgang, durch den Sozialbereiche und Sozialkontakte, insbesondere soziale Konfliktlagen, für die ge1
Zu dem besonderen Charakter der Arzt-Patient-Beziehung vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 5 ff. m.w.N. aus dem medizinischen und medizinsoziologischen Schrifttum. 2 Zu ärztlicher Moral von der Antike bis heute Bergdolt, Das Gewissen der Medizin, 2004. 3 Raiser, Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland, 3. Aufl. 1999, S. 300 ff.
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richtsförmig durchsetzbare Regeln bislang nicht vorhanden waren, juristischer Normung unterworfen und damit in staatlich kontrollier- und steuerbare Bahnen gelenkt werden („Kolonialisierung der Lebenswelt“).4 Die Verrechtlichung ärztlichen Handelns begann mit der Sozialgesetzgebung Bismarcks, endgültig aber am 31. Mai 1894. An diesem Tage qualifizierte das Reichsgericht erstmals den ärztlichen Heileingriff als tatbestandsmäßige Körperverletzung, der nur durch die Einwilligung des ordnungsgemäß aufgeklärten Patienten gerechtfertigt sein kann.5 Seither unterfällt jedes ärztliche Handeln der Beurteilung durch die Gerichte. Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen zurück bis in die Zeiten der naturwissenschaftlichen Grundlegung der Medizin im 19. Jahrhundert und bis zur Begründung der Selbstverfügung des Menschen in vernunftbestimmter Autonomie durch die Aufklärung, wodurch aus dem ärztlichen Heilauftrag schließlich der juristisch nachprüfbare Behandlungsvertrag wurde.6 Heute durchdringt das Recht die Medizin in einer Intensität, die historisch kein Vorbild besitzt.7 Trotz Etikettierung des Arztberufes als „freier Beruf“ ist die rechtliche Einbindung ebenso weitreichend wie komplex. Darin liegt zunächst kein Widerspruch, denn „Freiberuflichkeit“ bedeutet nicht Bindungslosigkeit.8 Gerade das Anknüpfen an die Tradition des „freien Berufes“ hat aber zu einer Hypertrophie der Regelungsebenen geführt, indem zu dem allgemeinen Recht noch besondere berufsrechtliche Regeln hinzutreten.9 Der Alltag in Arztpraxis und Krankenhaus erscheint juristisch durchnormiert, reguliert und bemessen.10 Regelungen der Ausbildung, der Weiterbildung, der Organisation der Versorgungsbereiche, der Verordnung, der Vergütung und von vielem anderem mehr wirken neben zivilund strafrechtlichen Haftungsvorschriften nachhaltig auf die Berufsausübung ein. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung sorgen längst nicht mehr nur für die allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingungen, die den Raum lediglich eingrenzen, innerhalb dessen der Arzt tätig ist. Sie sind dazu übergegangen, auch diesen Raum selbst mit einem zunehmend dichter werdenden Geflecht von Rechtsnormen zu durchsetzen, deren Regelungsanspruch sich mittlerweile oft schon auf fachliche Details erstreckt.11 Der Staat kontrolliert nicht nur die ärztliche Tätigkeit, er schreibt der Medizin nachdrücklich ihre Entwicklung selbst vor. 4
Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 1981, Bd. 2, S. 522. RGSt 25, 375; zu Reaktionen, der weiteren Entwicklung und dem aktuellen Meinungsstand im Straf- wie Zivilrecht vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 112 ff. 6 Buchborn, Zur Verrechtlichung der Medizin – vom ärztlichen Heilauftrag zum zivilrechtlichen Behandlungsvertrag, MedR 1984, 126. 7 Laufs, Der Arzt im Recht – historische Perspektiven und Zukunftsfragen: eine Skizze, in: Festschrift für H. Lange, 1992, S. 163 ff. Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen bei Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, §§ 1-3. 8 Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 3, Rdnr. 23; Hess/Schirmer, in: Narr, Ärztliches Berufsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 1994 ff., Rdnr. 39. 9 Koch, Medizinrecht: Ersatz oder Pendant medizinischer Ethik?, EthikMed 1994, 2, 4 f.; zur geschichtlichen Entwicklung, den Funktionen und der Stellung ärztlichen Standesrechts im Rechtssystem vgl. Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe, 1991. 10 Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rdnr. 24. 11 Wieland, Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik, 1986, S. 74. 5
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2. Funktionen des Rechts Bevor die Gefahren einer zu strengen Reglementierung des Arztberufes benannt werden, sei daran erinnert, dass Verrechtlichung keineswegs von vornherein und per se eine negative Erscheinung ist, sondern zunächst einmal Ausdruck des Siegeszuges des modernen Rechtsstaates, der Herrschaft des Rechts über Machtausübung, Willkür und Rücksichtslosigkeit im zwischenmenschlichen und sozialen Umgang.12 Neben Verwissenschaftlichung, Spezialisierung und Technisierung ist Verrechtlichung einer der bedeutendsten Aspekte des „abendländischen Rationalisierungsprozesses“ (Max Weber)13, sie ist ein zentrales Element des „Aufbruchs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, auf den wir uns seit Kant als Fortschritt berufen.14 Die prinzipielle Notwendigkeit einer staatlich-rechtlichen Regelung der ärztlichen Tätigkeit wird heute nicht mehr ernsthaft bestritten. Dies, obwohl die Leistungen des Arztes bisweilen schwer mit traditionellen juristischen Kategorien zu erfassen sind und gesetzliche Regelungen nur begrenzt dazu beitragen können, Spannungen und Unsicherheiten im Arzt-Patient-Verhältnis abzubauen. Auch im Bewusstsein ihrer Unvollkommenheit sind rechtliche Regelungsmechanismen als Hilfsmittel für den Krisenfall unverzichtbar. Die berufliche Tätigkeit des Arztes betrifft fundamentale Rechtsgüter des Menschen: Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung. Die Voraussetzungen festzulegen, unter denen ein Eingriff in diese Rechtsgüter zulässig ist, kann nicht Sache der Ärzteschaft oder des einzelnen Arztes sein. Wie jeder andere Lebensbereich hat sich in einem Rechtsstaat auch die Medizin einer Außenkontrolle durch nichtärztliche Instanzen zu unterwerfen.15 Heteronom auferlegte und notfalls sanktionierbare Rechtsnormen erfüllen zugunsten des Patienten eine Schutz- und Missbrauchsabwehrfunktion, indem sie den Arzt für sein fehlerhaftes Handeln verantwortlich machen (repressive Wirkung des Rechts). Zudem geht schon von der rechtlichen Regelung als solcher ein 12 Müller-Graff, Verrechtlichung und Deregulierung, in: Vollkommer (Hrsg.), 1945-1995: Zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft in den letzten fünfzig Jahren, 1995, S. 18; Bock, Verrechtlichung ohne Maß – Die Bedeutung der Verrechtlichung für Person und Gemeinschaft, 1988, S. 12. 13 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1924; dazu im vorliegenden Kontext Buchborn, Zur Verrechtlichung der Medizin – vom ärztlichen Heilauftrag zum zivilrechtlichen Behandlungsvertrag, MedR 1984, 126: „An diesem Rationalisierungsprozess hat auch die Medizin wesentlichen Anteil, stellt sie doch keine isolierte Subkultur der Gesellschaft dar, vielmehr ihr Spiegelbild und manchmal auch ihr Zerrbild.“ 14 Allg. zu den Funktionen des Rechts (soziale Integration, Verhaltenssteuerung, Konfliktbereinigung, Legitimation sozialer Herrschaft, Freiheitssicherung, Gestaltung der Lebensbedingungen, Erziehung) Raiser, Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland, 3. Aufl. 1999, S. 210 ff.; Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 217 ff. 15 Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 1984, S. 29, 34 f.; Koch, Medizinrecht: Ersatz oder Pendant medizinischer Ethik?, EthikMed 1994, 2, 5 f.; Steindorff, Freie Berufe – Stiefkinder der Rechtsordnung?, 1980, S. 10 ff., 16, 19; Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rdnr. 21.
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Bewertungs- und Bestimmungseffekt aus (präventive Wirkung). Als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“,16 hat Recht die schwierige Aufgabe, die Freiheit der Individuen zu gewährleisten und zugleich sozialverträglich zu begrenzen. In der Erfüllung dieser Aufgabe liegt seine friedens- und ordnungsstiftende Funktion. Besonders zu betonen ist, dass rechtliche Regelungen des Arzt-Patient-Verhältnisses nicht nur Reglementierungen des therapeutischen Handlungsspielraums bedeuten, sondern – indem sie bestimmte Diagnose- und Behandlungsmethoden legalisieren – den Arzt auch entlasten und gerade Freiräume schaffen können.17 Vermutlich gehört dies zur „Dialektik des Rechts“, dass es faktische Möglichkeiten einschränken, zugleich aber freisetzen kann.18 In diesem Sinne ist auch die klarstellende Richtlinienfunktion des Rechts zu verstehen, wonach Normen im Interesse der Allgemeinheit wie des einzelnen Arztes für Berechenbarkeit und Erwartenssicherheit sorgen. Schließlich kann Recht – für die Beziehung zwischen Arzt und Patient besonders bedeutsam – Vertrauen erleichtern.19 Nur wenn der Hilfesuchende davon ausgehen darf, dass ärztliches Handeln stets den gleichen Grundsätzen verpflichtet ist, die Leistungen des Arztes rechtlich nachprüfbar sind und sich so die Interessen des Patienten absichern lassen, kann jene „akzeptierte Abhängigkeit“ entstehen, die für das Vertrauen zwischen Arzt und Patient so wichtig ist. Vertrauen ist letzten Endes allein durch Verantwortung legitimierbar, und so kann die Vertrauensbeziehung dadurch sogar stabilisiert werden, dass im Falle ihres konflikthaften Versagens das Rechtsverhältnis mit seinen rational kontrollierten Forderungs- und Abwehrmöglichkeiten als Alternative und Korrektiv zur Verfügung steht.20
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Definition des Rechts nach Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Teil I, AB 33. Taupitz, Die Zukunft der ärztlichen Selbstverwaltung, MedR 1998, 1 ff. berichtet demgemäß „von einem Hoffen und zugleich Bangen, das das Verhältnis zwischen Medizin und Recht ganz allgemein beherrscht: Einerseits wird das Recht als Bedrohung und unangemessener Eingriff in ureigene ärztliche Aufgaben empfunden, andererseits erwartet die Medizin aber auch Schutz und Fürsorge im Recht und vom Recht.“ 18 Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1981, S. 530 ff., 539: ambivalente Beurteilung der „Kolonialisierung der Lebenswelt durch das Recht“, weil dieser Vorgang zugleich Freiheit entzieht und Freiheit verbürgt, Mittel der Gesellschaftssteuerung zum Vorteil aller ist, aber um den Preis der Unterwerfung unter die systemimmanenten Zwänge und der Zerstörung gewachsener und noch gesunder Sozialstrukturen. 19 Eser, Der Arzt zwischen Eigenverantwortung und Recht, in: Festschrift für Auer, 1980, S. 166, 187; Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 1984, S. 29, 35; Laufs, Zum Wandel des ärztlichen Berufsrechts, in: Festschrift für W. Geiger, 1989, S. 228, 236; ders., in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 3, Rdnr. 23: Recht fundiert das Vertrauensverhältnis. 20 Buchborn, Zur Verrechtlichung der Medizin – vom ärztlichen Heilauftrag zum zivilrechtlichen Behandlungsvertrag, MedR 1984, 129. 17
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3. Gefahren einer übermäßigen Juridifizierung Dieses grundsätzliche Bekenntnis zu einer rechtlichen Kontrolle der Medizin löst nun aber noch keine Probleme, vielmehr bereitet gerade ein beständig steigender Regelungsbedarf Schwierigkeiten. Die Bedeutung des Rechts nimmt weiter zu in Zeiten, in denen die Religion die Funktion einer umfassenden verbindenden Kraft in unserer Gesellschaft verloren hat, traditionelle Wertvorstellungen nicht mehr geteilt und Autoritäten kaum mehr anerkannt werden.21 Eine pluralistische, auf immer weniger Konsense gestützte Gesellschaft neigt deutlich mehr dazu, gesellschaftliche Verhältnisse rechtlich verbindlichen Regeln zu unterwerfen, nicht zuletzt um dem Arzt wenigstens in grundlegenden Fragen Orientierungshilfen zu geben, derer er angesichts des Schwindens allgemein anerkannter Verhaltensstandards zunehmend bedarf.22 Zusätzliche rechtliche Bindungen gehen einher mit den erweiterten Handlungsmöglichkeiten und Gefahren der naturwissenschaftlichtechnischen Medizin. Immer wieder sieht sich der Gesetzgeber veranlasst, in eine Art Wettlauf mit dem technischen Fortschritt zu treten, ohne doch Schritt halten zu können. „Je größer ein Fortschritt technisch, umso unheimlicher wird er in menschlicher Hinsicht, vor allem hinken Moral, Ethik und Recht stets hintendrein.“23 Schließlich tragen Veränderungen der normativ-kulturellen Rahmenbedingungen des fraglichen Handelns zur Verrechtlichung bei. So resultieren etwa die Ausweitungen ärztlicher Aufklärungspflichten aus einer kulturspezifischen Sublimierung und Expansion des Selbstbestimmungsrechts des Patienten.24 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung werden in unserer Zeit allseits betont, aber doch nicht stets wahrgenommen. Die viel beklagte Gesetzesinflation hat ihre Wurzel nicht nur (und noch nicht einmal in erster Linie) in einer Kompetenzüberschreitung des Staates, sondern weit mehr darin, dass die Bürger unaufhörlich nach dem alles regelnden und alles gebenden Staat rufen.25 Auch auf Seiten der Ärzte werden oftmals hohe Erwartungen an das Recht gerichtet: Es müsse – so der Wunsch – doch für jeden Fall eine eindeutige, vorher erkennbare Entscheidung bereithalten, die leicht abrufbar sei.26 21
Mansel, Eigen- und Fremdverantwortung im Haftungsrecht – Zu den außerjuristischen Triebkräften der Haftungsverschärfung, in: Festschrift für Henrich, 2000, S. 425, 433 ff. 22 Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 1984, S. 29, 38. 23 Bauer, Organtransplantation: Rechtsfragen aus der Sicht des Chirurgen, Langenbecks Archiv für Chirurgie 1968, 23; s. auch Laufs, Medizin und Recht, in: Rössler/Waller, Medizin zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft, 1989, S. 105, 129: „Die Krise des Arzttums und die Krise des Rechts besitzen eine gemeinsame Wurzel, sie liegt in der 'technischen Realisation' (Forsthoff). Die sich um ihrer selbst willen produzierenden technischen Prozesse wecken immer neue Bedürfnisse und schaffen immer neue Probleme.“ 24 Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 322 ff., Kritik an der ausufernden Rechtsprechung zur ärztlichen Aufklärungspflicht auf S. 350 ff. 25 Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 224. 26 Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 1984, S. 29, 31.
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Infolge des fortgesetzten und sich noch beschleunigenden wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Wandels sowie der weiter zunehmenden Neigung der Rechtsgenossen, ihre Verhältnisse unter juristischen Gesichtspunkten wahrzunehmen und zu strukturieren, erlangt das Recht in der Begegnung von Arzt und Patient allmählich eine Bedeutung, bei der es nicht mehr Frieden stiftet, Freiheit sichert und Vertrauen als konstitutives Element stabilisiert, sondern vielmehr negative Rückwirkungen zu befürchten sind. Nachdrücklich ist heute vor allzu weit gehenden Reglementierungen der ärztlichen Tätigkeit zu warnen, soll ein Auseinandertreten von Recht und ärztlichem Ethos vermieden, der Verlust der Vertrauensbasis verhindert und einer Entwicklung zur Defensivmedizin begegnet werden. Eine übermäßige Juridifizierung kann die verpflichtende Kraft jener außerrechtlichen Maßgaben schwächen oder gar aufheben, die für das Selbstverständnis des Arztes bislang essentiell waren.27 Sie bringt die Gefahr mit sich, dass nur noch das, was im Verhältnis zwischen Arzt und Patient objektiviert wie auch garantiert werden kann, Gegenstand der primären Intention des Handelns wird und dadurch auf längere Sicht die Beziehung zu einer reinen Geschäftsbeziehung herabsinkt, innerhalb derer der Arzt selbst nach Art eines Geschäftsmannes als Person hinter den von ihm angebotenen Leistungen zurücktritt.28 Nachlässigkeiten im ständigen Überdenken der eigenen Handlungsschemata können auftreten, scheint die persönliche Verantwortung zunehmend durch die des Gesetzgebers oder rechtsanwendenden Juristen abgelöst. In einer von Paragraphen beherrschten Welt trifft der Arzt Entscheidungen eher nach den Buchstaben des Gesetzes denn nach seinem persönlichen Gewissen, zumal es in bestimmten Fällen bequem sein kann, sich auf den ethischen Minimalkonsens des formalen Rechts zurückzuziehen.29 Auf diese Weise wird ärztliches Ethos durch den vorausgeworfenen Schatten juristischer Konfliktbewältigung deformiert.30
4. Unterschiede ärztlichen und juristischen Denkens Juristen müssen erkennen, dass Recht schaden kann, wenn es überdosiert wird, darin ist die rechtliche Medikation der ärztlichen gleich.31 Doch nicht immer bringen die Experten des Rechts Verständnis für die Interessen der Ärzteschaft und die Besonderheiten ihrer Berufsausübung auf. Deren Handeln steht mehr und mehr im 27
Zur Bedeutung autonomer Sittlichkeit sowie ärztlicher Standesethik (Gruppenmoral) als dem Recht komplementäre Ordnungskraft Honnefelder, Die ethische Entscheidung im ärztlichen Handeln, in: Honnefelder/Rager, Ärztliches Urteilen und Handeln, 1994, S. 135, 143 f.; Schreiber, Recht und Ethik – Am Beispiel des Arztrechts, in: Festschrift für Dünnebier, 1982, S. 633, 642 f.; Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 67 ff. m.w.N. 28 Wieland, Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik, 1986, S. 77 ff. 29 Honsell, Handbuch des Arztrechts, 1994, S. 1; Buchborn, Zur Verrechtlichung der Medizin – vom ärztlichen Heilauftrag zum zivilrechtlichen Behandlungsvertrag, MedR 1984, 129. 30 Ellscheid, Die Verrechtlichung sozialer Beziehungen als Problem der praktischen Philisophie, Neue Hefte der Philosophie 17: Recht und Moral, 1979, S. 37, 46. 31 Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rdnr. 23 f.; s. auch Uhlenbruck, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 39, Rdnr. 7.
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Zentrum eines Netzwerkes aus sprunghaft ansteigenden technisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten, ethisch-moralischen Herausforderungen und ökonomischen Zwängen.32 Der einzelne Arzt sieht sich z.T. paradoxen externen Rollenforderungen ausgesetzt, wenn er nämlich zugleich die medizinische Rolle des Heilers, die soziale Rolle des Gesundheitswächters, die psychologische Rolle des Beraters und die ökonomische Rolle des Vertragspartners zu erfüllen hat und schon damit in die Widersprüche zwischen wissenschaftlich objektiver Fallorientierung und humaner, einfühlsamer Orientierung an der Einzelperson, sowie zwischen technologischer Spezialisierung, Fragmentierung des Kranken und patientenzentrierter Fürsorge gerät. Die Auflösung und Bewältigung dieses schwierigen Sachverhalts muss letzten Endes dem Arzt überlassen bleiben. Rechtsregeln können seine gewissenhafte Entscheidung im Einzelfall nicht ersetzen. Diese sollten sich auf die Ausübung einer Art „Grenzkontrolle“ beschränken33 und dabei die grundlegenden Unterschiede zwischen ärztlichem und juristischem Denken gewärtigen. Mediziner sehen den hilfsbedürftigen, schwachen, nicht immer sein Selbstbestimmungsrecht wahrnehmenden Kranken vor sich, dessen Wohl ihnen oberstes Gebot ist (salus aegroti suprema lex). In der Welt des Leidens und des Sterbens müssen sie Risiken eingehen, wollen sie Erfolge verzeichnen und den Menschen effektive Hilfe leisten.34 Juristen dagegen gehen vom freien und selbstverantwortlich entscheidenden Menschen aus, dessen Wille unbedingt zu respektieren ist (voluntas aegroti suprema lex). In ihrer Welt der Ordnung, der Kontrolle, der Verantwortlichkeit und des Haftbarmachens tendieren sie deutlich zu einer Risikominimierung, um einen möglichst weitgehenden Rechtsgüterschutz sicherzustellen.35 Mediziner widmen sich meist engagiert und nicht ohne Emotionen der Zukunftsgestaltung, demgegenüber verfahren Juristen kühl, logisch und distanziert bei ihrer Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung. Während Ärzte in regelwidrigen Behandlungsverläufen oftmals das Ergebnis von Individualität, Geschichtlichkeit, Multifaktoralität und Vieldimensionalität der biologischen, psychischen, personalen und sozialen Erfahrungswelt erkennen, konzentrieren sich Juristen bei einem Behandlungsmisserfolg ganz auf die Frage nach einem Fehlverhalten, welches für den Patientenschaden ursächlich und dem Arzt zuzurechnen sein könnte. Mit anderen Worten: Der Arzt fragt, wie er bestimmte biologische und psychische Zusammenhänge möglichst wirklichkeitsnah erkennen kann, der Jurist hingegen
32 Diehl, Innere Medizin und Recht, in: Madea/Winter/Schwonzen/Radermacher, Innere Medizin und Recht, 1996, S. 3; s. auch Bergmann/Kienzle, Krankenhaushaftung, 2. Aufl. 2003, Einleitung. 33 Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 1984, S. 29, 38. 34 Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, in: Aufsätze und Vorträge, 2000, S. 73: „Medizin ist (...) auf Ausweitung und Risiko angelegt. (...) Damit ist in Diagnostik und Therapie außerordentlich viel erreicht worden, vieles führt aber jedenfalls zunächst zum Misserfolg.“ 35 Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 1984, S. 29, 33; Laufs, Medizin und Recht, in: Rössler/Waller, Medizin zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft, 1989, S. 105 f.
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fragt, welchen Rechtsnormen ein bestimmtes Verhalten zuzuordnen ist. Wenn der Arzt seinsorientierter Empiriker ist, ist der Jurist normorientierter Dogmatiker.36 Die Ausgangspunkte, Methoden und Denkweisen sind damit grundverschieden. Sie führten in der Vergangenheit zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Medizin und Recht. Die Konfrontation ging schließlich so weit, dass von einem „Kalten Krieg“ zwischen Ärzten und Juristen die Rede war,37 von einem Spannungsfeld, auf dem es aus prinzipiellen Gründen „keinen Waffenstillstand“ geben könne.38
II. Ausgewählte Themenkreise 1. Arzthaftung Der „Kalte Krieg“ zwischen Medizinern und Juristen begann mit der Rechtsprechung, die den ärztlichen Heileingriff als tatbestandsmäßige Körperverletzung qualifiziert.39 Von Beginn an wurde diese Judikatur als völlig wirklichkeitsfremd gegeißelt, sie diskriminiere den Arzt, stelle ihn einem Messerstecher gleich.40 Trotz dieser Kritik hält der Bundesgerichtshof bis heute an dieser Rechtsauffassung fest.41 Und das höchste deutsche Zivilgericht überzieht die Ärzteschaft in einem breiten Strom der Erkenntnisse mit einem immer strenger werdenden Pflichtenprogramm, erlegt der Behandlungsseite überdies zunehmend Beweislasten im Prozess auf. Rechtsprechung und Literatur zur hoch ausdifferenzierten und komplizierten Arzthaftung füllen inzwischen ganze Bibliotheken. Zu der strengen Judikatur tritt ein – nicht selten übersteigertes – Anspruchsdenken auf Patientenseite: Die Erwartung, der Arzt schulde die Gesundheit als vertragliche Leistung, gepaart mit der ungehemmten Bereitschaft zur Klage, wenn der Heilungserfolg ausbleibt.42 So nimmt die Zahl der Arzthaftungsstreitigkeiten be36
Bochnik/Gärtner/Richtberg, Richter und psychiatrischer Sachverständiger. Grundlagen und praktische Erfahrungen, MedR 1988, 73, 74. 37 Kuhlendahl, Ärztlicher Entscheidungsspielraum: Handlungszwänge, in: Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 465, 469; Giesen, Arzthaftungsrecht im Umbruch, JZ 1982, 391, 401; Diehl/Diehl, Die Aufklärung und Begleitung des Krebspatienten, VersR 1982, 716; Ehlers, Die ärztliche Aufklärung vor medizinischen Eingriffen, 1987, S. 2. 38 Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 1984, S. 29, 30; auch Bodenburg, Zur Reform des Arzthaftungsrechts – Kunstfehlerbegriff, Haftungsmodelle, ärztliche Gutachter- und Schlichtungsstellen, ZVersWiss 1981, 155; Schewe, in: Madea/Winter/Schwonzen/Radermacher, Innere Medizin und Recht, 1996, S. 9, 12: Der Höhepunkt der Auseinandersetzung dürfte mit der Diskussion auf dem 52. Deutschen Juristentag 1978 in Wiesbaden erreicht worden sein. Damals „knisterte noch die Spannung zwischen beiden Lagern, und es gab viel Misstrauen, und auch viel Polemik.“ 39 S. unter I. 1. 40 Vgl. die Nachweise bei Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 114 ff. 41 Vgl. etwa BGHZ 29, 46; 29, 176, 179; 106, 391, 397 f.; BGH NJW 2006, 2108; s. auch G. Müller, S. 76 u. 79 f. 42 Zu den Erwartungen einer „emanzipierten“ Patientenschaft vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 25 ff.; Höffe, Ein sicheres Kennzeichen schlechter Sitten. Philosophische
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ständig zu.43 Dabei lassen sich die beschriebenen negativen Rückwirkungen eines übermäßigen Einsatzes des Rechts deutlich beobachten: Wo an die Stelle vertrauensvoll zusammenwirkender Partner nur mehr die Träger rechtlich definierter und gegeneinander abgegrenzter Rollen treten, entsteht leicht ein antagonistisches Verhältnis. Der Arzt, der im Patienten bereits den Gegner im Rechtsverfahren fürchten muss, wird sich juristisch so weit wie möglich gegen den Vorwurf eines Behandlungsfehlers oder der Aufklärungspflichtverletzung absichern.44 Er wird bei seiner Tätigkeit neben den Risiken, die der Patient mitbringt und die diesem bei diagnostischen oder therapeutischen Eingriffen drohen, auch die eigenen forensischen Gefahren bedenken und als indizierende wie kontraindizierende Faktoren mit ins Kalkül ziehen. So droht aus der verrechtlichten eine defensive Medizin zu werden, die entweder zu wenig tut, weil sie nichts mehr wagt, oder zuviel unternimmt, etwa an diagnostischen Maßnahmen, um sich für alle Fälle zu feien.45 Absicherung durch Formulare, Überdiagnostik, fehlende Bereitschaft, die Chancen des Patienten auch unter Risiko wahrzunehmen, mangelndes Engagement und Verantwortungsscheu sind Zeichen einer Haltung, bei welcher der Arzt zugunsten seiner eigenen Sicherheit sein Gewissen und das Wohl des Patienten zurückstellt und sich an den Empfehlungen seines Rechtsbeistandes orientiert.46 Vor einer Dramatisierung der Situation sollte man sich hüten, andererseits die Warnung ernst nehmen, dass ein Wandel zur Defensivmedizin sich langsam und fast unmerklich vollziehen wird, zum Schaden der Gesamtheit und zum Schaden des einzelnen Kranken, der die Auswirkungen des ärztlichen Sicherheitsbedürfnisses zu spüren bekommt.
Überlegungen über die Begehrlichkeit am Beispiel der Medizin, in: F.A.Z. v. 22.2.1997, Nr. 45, Bilder und Zeiten; zu tatsächlichen und rechtlichen Aspekten der wunscherfüllenden Medizin s. Eberbach, Die Verbesserung des Menschen, MedR 2008, 325. 43 Offizielle Statistiken fehlen weiterhin; einige Zahlenangaben bei Weidinger, Aus der Praxis eines Haftpflichtversicherers, in: Wenzel, Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, 2. Aufl. 2009, Kap. 5, Rn. 139 ff. Die Bundesärztekammer stellte 2007 erstmals eine bundeseinheitliche Statistik der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen mit Angaben zum Fehlervorkommen zur Verfügung, Zahlen abrufbar unter http://www.baek.de/ downloads/Gutachterkommissionen_Statistik_2006.pdf; Auswertung bei Meurer, Außergerichtliche Streitbeilegung in Arzthaftungssachen, 2008, S. 51 ff. 44 Ellscheid, Die Verrechtlichung sozialer Beziehungen als Problem der praktischen Philosophie, Neue Hefte der Philosophie 17: Recht und Moral, 1979, S. 37, 45. 45 Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rdnr. 26; Ulsenheimer, Ausgreifende Arzthaftpflichtjudikatur und Defensivmedizin, 1997, S. 9. 46 Hammerstein, Defensives Denken in der Medizin. Irrweg oder Notwendigkeit?, 1991, Vorwort; Wieland, Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik, 1986, S. 86 ff.; Hennies, Rechtliche/medizinisch-ethische Probleme der „Rechtfertigungsmedizin“, ArztR 1999, 94.
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2. Beginn und Ende menschlichen Lebens Auf anderen Feldern der Medizin ist keine „Überdosierung“ des Rechts zu beklagen, sondern der Ruf nach dem Gesetzgeber zu vernehmen. Doch die Gesetzgebung erweist sich bisweilen als ausgesprochen schwierig. Besonders deutlich wird dies bei den aktuellen Bestrebungen zur Regelung von Grundsatzfragen zu Beginn und Ende menschlichen Lebens. Neben der rasanten Entwicklung in der Medizin machen sich hier unterschiedliche Lebensauffassungen, differierende Wertmaßstäbe sowie Schwankungen des Rechtsbewusstseins geltend. Die durchaus anspruchsvoll geführte rechtspolitische Diskussion befindet sich in vollem Gange.47 Die Konflikte führen zu der Frage nach unserem Menschenbild. Eine tiefe Kluft besteht zwischen den Verfechtern eines christlichen oder kantischen Menschenbildes auf der einen, eines scientistisch-sozialdarwinistischen auf der anderen Seite.48 Die Hauptfrage heißt: Darf die Medizin, was sie kann? a) Beginn menschlichen Lebens Wo liegen im Einzelnen die Grenzen der prädiktiven Gendiagnostik, der Gentherapie? Wo liegen die Grenzen der Verfahren artifizieller Reproduktion? Homologe oder heterologe In-vitro-Fertilisation mit Embryonentransfer, Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik, Stammzell- und Embryonenforschung, Kryokonservierung, das Klonen, die Erzeugung von Chimären und Hybridwesen liefern reichlich Diskussionsstoff.49 Einige der genannten Verfahren werden hierzulande praktiziert. Im Internet etwa findet man eine große Zahl von Instituten, die die In-vitroFertilisation anbieten, ohne dass die verfassungs-, zivil-, berufs- und strafrechtlichen Fragen befriedigende Antworten erfahren hätten.50 Weitere biowissenschaftliche und medizin-technische Durchbrüche stehen unmittelbar bevor. Die Fortpflanzungsmedizin öffnet der Gentechnologie die Tore. Die Ektogenese erscheint am Horizont: die extrakorporale Aufzucht in vitro erzeugter Embryonen in künstlichem Uterus. Angesichts der durch die neuen Technologien aufgeworfenen Lebensfragen hat die Rechtsordnung klare Aussagen über die Grenzen des Erlaubten zu treffen. Das Bestreben der Medizin, Not zu wenden und Unheil zu bannen, schiebt diese immer weiter hinaus. Die gute Absicht des Wissenschaftlers und verlockender Er47
Vgl. nur etwa die Beiträge in Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Medizinethik und -recht, 2007; Laufs, Auf dem Weg zu einem Fortpflanzungsmedizingesetz? Grundfragen der artifiziellen Reproduktion aus medizinrechtlicher Sicht, 2003; Damm, Beratungsrecht und Beratungshandeln in der Medizin – Rechtsentwicklung, Norm- und Standardbildung, MedR 2006, 1; weitere Nachweise bei Spickhoff, Die Entwicklung des Arztrechts, NJW 2006, 1630, 1637; 2007, 1628, 1636; 2008, 1636, 1642. 48 Laufs, Auf dem Weg zu einem Fortpflanzungsmedizingesetz?, 2003, S. 16. 49 Die juristischen Beiträge und Abhandlungen zu den einzelnen Techniken und Verfahren sind inzwischen kaum mehr zu übersehen; Problemaufriss bei Laufs, Auf dem Weg zu einem Fortpflanzungsmedizingesetz?, 2003, S. 21 ff.; Kersten, Biotechnologie in der Bundesrepublik Deutschland, Jura 2007, 667 ff. 50 Laufs, Auf dem Weg zu einem Fortpflanzungsmedizingesetz?, 2003, S. 30 ff.
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kenntnisgewinn machen es der Kritik schwer, Einhalt zu gebieten oder auch nur ein Interim verhaltener Selbstprüfung zu verlangen. Doch tragen Humangenetik und Reproduktionsmedizin einen durchaus ambivalenten Charakter.51 Preisgaben des Embryonenschutzes bedrohen die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens und den Respekt vor dem behinderten Leben. „Ausgangspunkt aller Bewertung“ – so die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ des Deutschen Bundestages – „muss sein, dass die Menschlichkeit des Menschen im Kern auf natürlichem Werden beruht, nicht auf technischem Herstellen und nicht auf einem sozialen Akt der Anerkennung. Die Würde des Menschen gründet wesentlich in der Geburtlichkeit und der Naturwüchsigkeit seines Ursprungs, die er mit allen anderen Menschen teilt.“52 b) Ende menschlichen Lebens Wenden wir den Blick vom Beginn auf das Ende menschlichen Lebens. Zu den bewegendsten und schwierigsten ärztlichen, juristischen, ethischen und moralischen Problemen unserer Zeit gehören – angesichts der immer perfekteren technischen Mittel zur Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen des Menschen – die Fragen, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Behandlungsabbruch erlaubt ist, wo die Grenzen der Behandlungspflicht enden, ob aktive „Sterbehilfe“ zulässig sein soll, wie sich straflose Beihilfe zur Selbsttötung und strafbare Tötung auf Verlangen oder unterlassene Hilfeleistung abgrenzen lassen.53 Immer wieder und immer häufiger steht der vor Ort tätige Arzt im Grenzbereich zwischen Leben und Tod in dem Entscheidungsdilemma, ob er sich dem Todeswunsch beugen darf oder behandeln muss; ob es erlaubt ist, einen Patienten, dessen Zustand irreversibel zum Tode führt, ohne Fortführung künstlicher lebenserhaltender Maßnahmen „in Frieden“ sterben zu lassen, oder die Pflicht besteht, bis zuletzt alles Erdenkliche zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens zu tun. In solchen Konfliktsituationen verlangt der Arzt klare, eindeutige Antworten, die das Recht – trotz einer ganzen Reihe höchstrichterlicher Grundsatzentscheidungen – jedoch nicht gibt, angesichts der Komplexität und der Besonderheit jedes einzelnen Falles in allgemeiner Form vielleicht auch nicht geben kann. Wie schwierig es ist, Zweifelsfragen und Wertungswidersprüche zu klären oder auch nur Ent51 Laufs, Auf dem Weg zu einem Fortpflanzungsmedizingesetz?, 2003, S. 9 ff.; s. auch die Beiträge in Diedrich/Hepp/v. Otte, Reproduktionsmedizin in Klinik und Forschung: Der Status des Embryos, 2007. 52 BT-Drucks. 10/6775 v. 6.1.1987, S. 187. 53 Vgl. aus jüngerer Zeit etwa die Stellungnahme des Nationalen Ethikrats, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, 2006; Kutzer, Patientenautonomie am Lebensende, 2006; Höfling/Schäfer, Leben und Sterben in Richterhand?, 2006; Schreiber, Das ungelöste Problem der Sterbehilfe, NStZ 2006, 473; Duttge, Einseitige (objektive) Begrenzung ärztlicher Lebenserhaltung?, NStZ 2006, 479; Otto, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, NJW 2006, 2217; Ingelfinger, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, JZ 2006, 821; Lipp, Betreuung und Zwangsbehandlung, JZ 2006, 661; Holzhauer, Patientenautonomie, Patientenverfügung und Sterbehilfe, FamRZ 2006, 518; Dreier, Grenzen des Tötungsverbotes, JZ 2007, 317, 320 ff.; Beiträge in FPR, Heft 3/2007; Schmidt-Recla, Voluntas et vita – Tertium non datur, MedR 2008, 181.
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scheidungskriterien zu vermitteln, zeigt die aktuelle Kontroverse. Die auf dem 66. Deutschen Juristentag54 wie kurz zuvor vom Nationalen Ethikrat55 mehrheitlich gefasste Empfehlung zur Straflosigkeit bestimmter Behandlungsbegrenzungen erfährt zum Teil massive Kritik: So lehnt der Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe den ärztlich assistierten Suizid kategorisch ab, da er Standesrecht wie auch dem ethischen Selbstverständnis der Ärzteschaft widerspricht.56 Die Kirchen warnen vor einer Überbetonung des Rechts auf Selbstbestimmung in Fragen zum Suizid. Palliativmedizin und Hospizversorgung weisen eine Alternative auf.57
3. Reform des Gesundheitssystems Ein dritter und letzter Punkt sei angesprochen: Das Dauerthema „Reform unseres Gesundheitswesens“. In den vergangenen Jahrzehnten sind die Ausgaben für das Gesundheitswesen beträchtlich gestiegen. Aktuell belaufen sie sich auf über 245 Mrd. Euro per annum, Tendenz weiter steigend.58 Der Nationale Ethikrat debattierte die Frage „Gesundheit für alle – wie lange noch?“59 Es zeigt sich ein immer deutlicherer „Überhang des theoretisch Machbaren über das praktisch Finanzierbare in der modernen Medizin“,60 eine „Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung“ öffnet sich im Gesundheitswesen.61 Weite Bevölkerungskreise befürchten den Einzug einer Zweiklassenmedizin.62 Die zentrale Frage hier lautet: Wie gehen wir um mit den knappen Mitteln, wie stellen wir eine gerechte Verteilung sicher?63 Ärzte sind zunehmend gefordert, die sozialen Konsequenzen ihrer Ressourcenverwendungsentscheidung zu verantworten und den Mitteleinsatz auf das medizi54 Beschlüsse des 66. DJT 2006, Abteilung C (Strafrecht) „Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung“, abrufbar unter http://www.djt.de/index.php. 55 Stellungnahme „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ vom Juli 2006, abrufbar unter http://www.ethikrat.org/stellungnahmen/stellungnahmen.html. 56 Statement zu „Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung“ vom 27.3.2007, abrufbar unter http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.6.5048.5054. 57 Höfling, Recht und Ethik der Palliativmedizin, 2007; Uhlenbruck, Rechtsfragen der Palliativmedizin, in: Gedächtnisschrift für Heinze, 2005, S. 949 ff.; Voltz, DÄBl. 2008, A-20. 58 Genaue Angaben in: Statistisches Jahrbuch für die BRD, zuletzt 2008, S. 255 ff., abrufbar über http://www.destatis.de. 59 Wortprotokoll der Jahrestagung vom 26.10.2006, abrufbar unter http://www. ethikrat.org/veranstaltungen/pdf /Wortprotokoll_Jahrestagung_2006-10-26.pdf. 60 Krämer, Muss Medizin rationiert werden?, MedR 1996, 1; s. auch Arnold, Rationierung und zukünftige Reallokationen im Gesundheitssystem, 2005. 61 Flöhl, zit. nach Krämer, Muss Medizin rationiert werden?, MedR 1996, 1; Fuchs, Kostendämpfung und ärztlicher Standard – Verantwortlichkeit und Prinzipien der Ressourcenverteilung, MedR 1993, 323, 326. 62 Vgl. dazu Schulze Ehring/Weber, „Zwei-Klassen-Medizin“ – ein Beitrag zur Versachlichung der Diskussion, VersMed 2008, 177 ff. 63 Dazu die Beiträge in Rebscher (Hrsg.), Festschrift für G. Neubauer, 2006; Brink/Eurich et al. (Hrsg.), Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 2006.
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nisch Notwendige zu begrenzen.64 Der bestehende Zielkonflikt zwischen humanitärer Ausrichtung, medizinischer Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit des Versorgungssystems verschärft sich weiter.65 Effizienzsteigernde Rationalisierungen werden alleine nicht ausreichen, um dem Kostenanstieg im Gesundheitswesen wirksam zu begegnen. Letzten Endes sind Rationierungen unumgänglich,66 wobei diese ethisch stets bedenklich bleiben, da sie immer einen Verzicht auf effektive Leistungen bedeuten.67 Gesundheitsökonomische Überlegungen leisten wichtige Hilfe bei dem Bestreben, die vorhandenen Ressourcen optimiert, d.h. mit maximalem Nutzen für die Gesundheit aller, zu verwenden. Ökonomische Analysen zeigen freilich immer nur Wege auf, wie mit verfügbaren Mitteln mehr oder wie das gleiche mit weniger Mitteln zu erreichen ist, niemals sind ihre Ergebnisse selbst Entscheidungen hinsichtlich des geschuldeten Aufwandes bei Diagnostik oder Therapie. Aus ethischer Sicht ist das simplifizierende Vorteil-Nachteil-Kalkül nur bedingt verwertbar, ökonomische Evaluierungen können keine Entscheidungspriorität haben, da mit der Forderung nach Gesundheit die Effektivität einer Heilmaßnahme das maßgebende Kriterium sein und bleiben muss.68 Letztlich wird es dem Staat nicht erspart bleiben, Regeln für den Umgang mit der Knappheit aufzustellen. Nicht die interaktionelle Ebene zwischen Arzt und Patient ist dabei Ort der Entscheidung über unumgängliche Rationierungsmaßnahmen, sondern der gesundheitspolitische Diskurs, der die Rahmenbedingungen für eine effiziente Mittelverteilung aufgrund der vorfindlichen wissenschaftlichen
64 Oberender, Rationieren auch in der Medizin?, in: Festschrift für Gitter, 1995, S. 701; Oberender/Zerth, Gesundheitsökonomie: Nutzen, Gerechtigkeit und Rationierung: ein (un-) lösbares Dilemma?, in: Festschrift für G. Neubauer, 2006, S. 67. 65 Katzenmeier, Kostendruck und Standard medizinischer Versorgung, in: Festschrift für G. Müller, 2009, 237 ff.; Weissauer, Recht und Risiko in der Medizin, in: Festschrift für Spann, 1986, S. 511, 516. 66 Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 287 ff.; Isensee, Rationierung von Gesundheitsleistungen – Verfassungsrechtliche Maßstäbe der Kontingentierung, ZVersWiss 2004, 651; ders., Verwaltung des Mangels im Gesundheitswesen – verfassungsrechtliche Maßstäbe der Kontingentierung –, in Gedächtnisschrift für Heinze, 2005, S. 417 ff.; Jachertz/Rieser, Rationierung im Gesundheitswesen. Grenzen für den Fortschritt, DÄBl. 2007, A-21 ff.; vgl. auch Beschluss 111. Dt. Ärztetag 2008 („Ulmer Papier“) = DÄBl. 2008, A-1189, A-1195. 67 Vgl. Rosenberger, Die beste Medizin für alle – um jeden Preis?, DÄBl. 2006, A-764; Schultheiss, Maack, Siegrist, Bahro/Kämpf/Strnad u. Eibach in EthikMed 2001, Heft 1-2. Zu den rechtlichen Grenzen vgl. Uhlenbruck, Rechtliche Grenzen einer Rationierung in der Medizin, MedR 1995, 427, 429 ff.; Nettesheim Rationierung in der Gesundheitsversorgung – verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen, VerwArch 2002, 315. 68 R. Giesen, Rationierung im bestehenden Gesundheitssystem, ZVersWiss 2004, 557; Honecker, Die Begrenzung von Gesundheitsleistungen als ethisches Problem, ZVersWiss 2004, 623; Hart, Rechtliche Grenzen der „Ökonomisierung“, MedR 1996, 60, 61 f.; Steffen, Die Arzthaftung im Spannungsfeld zu den Anspruchsbegrenzungen des Sozialrechts für den Kassenpatienten, in: Festschrift für Geiß, 2000, S. 487, 497 f. Weiterführend die allg. Kritik an der utilitaristischen Theorie von Mackie, Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, 2000, S. 157 ff.
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Gesamtanalyse festlegen muss.69 Sparen auf einer höheren Allokationsebene70 ist notwendig, da dem Arzt sonst die Rolle eines „Funktionärs austeilender Gerechtigkeit“ droht, die den besonderen Charakter seines Dienstes grundlegend veränderte, zu deutlich mehr Rechtsstreitigkeiten führte, und zu weiteren Reglementierungen des klinischen Alltags von außen.71 In Deutschland war eine Diskussion über objektive und allgemeine Verfahren der Rationierung und der Priorisierung medizinischer Leistungen lange Zeit tabu, doch nun wird sie eröffnet. Transparente und bestimmte Zuordnungsregeln müssen herausgearbeitet werden und an die Stelle der bislang kasuistischen, intransparenten und häufig impliziten Vorenthaltung medizinischer Leistungen treten. Die Verfahren sind jeweils auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben der Rechtsordnung, insbesondere mit den Grundrechten zu prüfen. Eine schwierige, heikle, aber unumgängliche Aufgabe.72
III. Ausblick Die Ausführungen skizzieren das schwierige Verhältnis von Medizin und Recht, benennen Bereiche defizitärer Normierung ebenso wie solche übermäßiger Juridifizierung. Es war die Rede vom „Kalten Krieg“ zwischen Ärzten und Juristen, von einem „Spannungsfeld, auf dem es keinen Waffenstillstand geben könne“.73 Doch gibt es eine Perspektive, die hoffnungsfroh stimmt. In den letzten Jahren sind verstärkt Bemühungen zu verzeichnen, die darauf abzielen, die interdisziplinären Verständnisschwierigkeiten zwischen Medizin und Recht zu überwinden. Deutlich geworden ist die Notwendigkeit einer Konsensbildung, soll am Ende nicht der Patient, um dessen Wohl es Juristen wie Medizinern geht, Schaden leiden.74 Die Hoffnungen richten sich heute darauf, von der Konfrontation über Kommunikation zu einer Kooperation von Ärzten und Juristen zu gelangen.75 Als wichtiges, ja 69 Beschluss 111. Dt. Ärztetag 2008 („Ulmer Papier“) = DÄBl. 2008 A-1189 ff.; Richter, EthikMed 1997, 3, 11 ff. 70 Grundlegend zur Unterscheidung versch. Allokationsebenen Engelhardt, The Foundation of Bioethics, 1986, S. 344 f. (2. Aufl. 1996); dazu etwa Illhardt/Piechowiak, Mittelverteilung, in: Kahlke/Reiter-Theil, Ethik in der Medizin, 1995, S. 126 ff. 71 Laufs, Standards, Kostendruck und Haftpflichtrecht, in: Nagel/Fuchs, Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 1993, S. 291; ders., Immer weniger Freiheit ärztlichen Handelns, NJW 1999, 2717, 2718. 72 Vgl. dazu die Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO), DÄBl. 2007, A-2750 ff.; Informationen zur Arbeit der DFG-Forschergruppe FOR 655 unter http://www.priorisierung-in-der-medizin.de. 73 Vgl. unter I. 4. 74 Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rdnr. 28; Mayer-Maly, in: Mayer-Maly/Prat, Ärztliche Aufklärungspflicht und Haftung, 1998, Vorwort. 75 Vgl. den Untertitel und das Vorwort von Madea zu dem Tagungsband des Kölner Symposiums „Innere Medizin und Recht“ vom 30.6. bis 1.7.1995 von Madea/Winter/Schwonzen/Radermacher. Bereits der Altrektor der Universität zu Köln Peter Hanau verlieh in seinem Beitrag zur Festschrift für Baumgärtel, „Arzt und Patient – Partner oder Gegner“, 1990, S. 121 ff., der Hoffnung Ausdruck, dass ein echtes partnerschaftliches Verständnis
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dringliches Anliegen wird die Entwicklung eines „integrativen Medizinrechts“ formuliert, das gekennzeichnet ist durch eine inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit sowohl mit der Medizin – hier mit den klinischen Fächern und der Rechtsmedizin ebenso wie mit normativen Fragen der Heilkunde zugewandter Disziplinen wie Medizinethik, Medizingeschichte, Sozialmedizin, medizinischer Psychologie und Soziologie – als auch mit den herkömmlichen juristischen Fachdisziplinen.
der Arzt-Patient-Beziehung auch zwischen Ärzten und Juristen Spannungen abbaut und schließlich zu einer Partnerschaft führt.
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Wirtschaftlichkeit und Ethik in der universitären Krankenversorgung
Otfried Höffe Ein Philosoph, der viele Ärzte persönlich kennt, aber noch nicht allzu oft Patient war, beginnt mit zwei Caveats: Er ist weder medizinisch noch sozialwissenschaftlich ein Fachmann, sondern lediglich ein Amateur. Außerdem steht uns der größte Teil des 21. Jahrhunderts noch bevor, so dass er es mit einem islamischen Gelehrten des 17. Jahrhunderts hält: „Weissagen ist Narrheit, doch gut dafür, den Toren zu imponieren!“1 Wegen des ersten Teils könnten sich Regierungen die teuren Konjunkturprognosen sparen, wegen des zweiten Teils allerdings doch nicht. Der Philosoph aber spart sich das Weissagen und orientiert sich an der Gegenwart. Diese ist so stark von einer Ökonomisierung, näherhin einer betriebswirtschaftlichen Perspektive geprägt, dass sich die Wirtschaftlichkeit als Titelbegriff aufdrängt.
I. Knappheit: ein Grundproblem Mancherorts lehnt man Überlegungen zur Wirtschaftlichkeit rundweg ab. Bei Fragen der Menschenwürde oder den Menschenrechten ist die Ablehnung richtig, bei vielen anderen Fragen nicht. In seiner meisterhaften Erzählung „Die Nase“ lässt Nikolai Wassiljewitsch Gogol einen Arzt mit Entrüstung sagen, er habe keine finanziellen Interessen. Wer geerbt oder glücklich spekuliert hat, kann das unterschreiben. Die anderen Ärzte müssen ihr Auskommen suchen, und keine Klinik kann sich auf Dauer rote Zahlen erlauben. Im Vorübergehen habe ich damit, was man vom Philosophen erwartet, einen Begriff, den ersten Titelbegriff erläutert. Häufig setzt man die Wirtschaftlichkeit mit ökonomischer Rationalität gleich, bestimmt diese als effizienten Einsatz knapper Ressourcen, und präzisiert diesen Einsatz in zwei Strategien: Während die Maximalstrategie mit vorgegebenen Mitteln den maximalen Erfolg sucht, will die Minimalstrategie ein vorgegebenes Ziel mit möglichst wenigen Mitteln erreichen. Diese innerökonomische Definition genügt freilich nicht. Sie ist um eine auf das Wohl der Betreffenden bezogene Bestimmung zu ergänzen. Ihr zufolge verlangt das Minimum von Wirtschaftlichkeit sowohl für einen niedergelassenen Arzt als auch eine Klinik, dass mittelfristig ihre Einnahmen höher als die Ausgaben liegen, statt dass man draufzahlt. Das Maximalziel liegt dagegen im möglichst hohen Einnahmenüberschuss: in großer Rentabilität. 1
Nach O. Pamak, Die weiße Festung, 2008.
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Der andere Titelbegriff, die Ethik, ist als Philosophie der Moral, mithin als die Theorie der höchsten Stufe normativer Verbindlichkeiten zu verstehen. Auf der ersten und untersten Stufe des Normativen geht es in einem weiteren Sinn um technische Verbindlichkeiten, nämlich um die Frage, was „für irgend etwas gut“ ist. Hier hat die innerökonomische Definition der Wirtschaftlichkeit ihren Ort. Die zweite, pragmatische Stufe, beantwortet die Frage, für wen denn das „irgend etwas“ gut ist; es zählt das eigene Wohl, dessentwillen jeder statt draufzuzahlen, sich lieber hohe Einahmen-Überschüsse wünscht. Auf der dritten, moralischen Stufe wird selbst das Eigenwohl relativiert, teils zugunsten jener Moral, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, der Gerechtigkeit; teils zugunsten der nicht mehr geschuldeten, wohl aber verdienstlichen Mehrleistung, der Wohltätigkeit. Für sich genommen gehört die Wirtschaftlichkeit also zur ersten Stufe: Ein beliebiges Unternehmen soll ohne externe Zuschüsse auskommen. Nimmt man den Träger des Unternehmens, etwa einen niedergelassenen Arzt oder ein Krankenhaus in den Blick, so gehört die Wirtschaftlichkeit zur zweiten Normativitätsstufe. Und wenn die Ressourcen, die möglichst effizient eingesetzt werden sollen, auch anderen gehören, so hat der wirtschaftliche Umgang mit ihnen sogar einen moralischen, aber nur subsidiär moralischen Rang. Denn es kommt vorrangig auf den Zweck an, um dessentwillen die Ressourcen wirtschaftlich eingesetzt werden. Der Vorrang gebührt jedenfalls der Moral. Wo die Wirtschaftlichkeit dem geschuldeten Teil der Ethik, der Gerechtigkeit, widerspricht, muss sie sich zurückhalten. Ein einfaches Beispiel: Im Namen der Wirtschaftlichkeit ist keinerlei Betrug erlaubt. Ein Philosoph soll nicht nur Begriffe, sondern auch Grundlagen klären. Bei der Wirtschaftlichkeit beginnt er mit der Einsicht, dass alles menschliche Leben von begrenzten Ressourcen vielfach umstellt ist: Das Gesundheitswesen gibt dafür ein klares Beispiel ab. Patienten und ihre Krankheiten gibt es in Hülle und Fülle. Die Personen, die sich mit ihnen befassen, die Ärzteschaft und das Pflegepersonal samt deren Zeit, pflegt knapp zu sein. Vor 30 Jahren hieß ein Buchtitel „Fünf Minuten pro Patient“, heute liest man in der Presse, bleiben dem Hausarzt durchschnittlich nur drei Minuten Zeit für insgesamt drei Aufgaben, für Früherkennung, Diagnostik und Therapie. Dasselbe Problem, die Knappheit, stellt sich in der Regel bei Geräten, Betten und Arzneimitteln und „natürlich“ auch außerhalb des Gesundheitswesens: Selbst die wissenschaftlich-technische Zivilisation kann nämlich die wirtschaftliche Produktivität steigern, sie ist aber außerstande, aufzuheben, was ich das dreiteilige „anthropologische Gesetz der Knappheit“ nenne: (1) dass die letzte Vorgabe aller Wirtschaft, die Erde samt den Tieren, Pflanzen und Materialien, begrenzt ist; (2) dass der Mensch die Vorgaben „im Schweiße seines Angesichts“ verarbeiten muss, was er lieber scheut; und (3) dass eine tendenzielle Unersättlichkeit droht, ein Immer-mehr-wollen, in der Sprache der Philosophie eine Pleonexia, die alles Menschliche – ob Individuum, Gruppe oder Institution – mit ausufernden Begehrlichkeiten bedrängt. Wie ist auf die Knappheit zu reagieren; braucht es etwa ein Rationieren? Der Ausdruck lässt an extreme Knappheit denken. Man stellt sich Kriegs- und Nachkriegszeiten, jedenfalls eine so hohe Not vor, dass angefangen mit Lebensmitteln und Wohnungen, die fürs Überleben notwendigen Güter von staatlicher Seite zu-
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geteilt werden. Unter so extremer Not leidet das deutsche Gesundheitswesen zweifellos nicht. Mit dem Ausdruck „Rationieren“ wird die Lage überdramatisiert und stillschweigend erhebt man die Forderung nach weit mehr medizinischen Ressourcen. In Wahrheit ist das Leistungsniveau der gesetzlichen Krankenversicherungen international gesehen hoch. Dass trotzdem Wünsche offen bleiben, freilich weniger als in anderen Ländern, ist wegen des anthropologischen Gesetzes der Knappheit nicht zu vermeiden. Wie das Gesundheitswesen, so „leiden“ nämlich auch andere Gesellschaftsbereiche unter einer „Leistungsexplosion“: Die Veränderungsgeschwindigkeit der Berufs- und Lebenswelt erfordert wachsende Bildungs- und Ausbildungskosten. Wegen gesunkener Lebensarbeitszeit und gewachsener Rentenzeit verlangt die Altersvorsorge einen höheren Anteil am Arbeitseinkommen. Und weil noch in weiteren Bereichen bald das Arbeitsniveau, bald das Leistungsniveau wächst, verschärft sich die Ressourcenknappheit und ihretwegen der Zwang zur Wirtschaftlichkeit. Wer einen Blick in die Geschichte wirft, sieht rasch, dass für das Gesundheitswesen in der längsten Zeit Geldknappheit vorherrschte. Zu Gogols Zeiten konnte sich vermutlich nur eine kleine Schicht die akademisch ausgebildete Ärzteschaft leisten. Im Fall von Deutschland ändert sich die Situation mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung, und in den 60er Jahren beginnt eine enorme Steigerung der zur Verfügung stehenden Mittel. Binnen 15 Jahren, von 1960 bis 1975, wächst der Anteil des Gesundheitswesens am Bruttoinlandsprodukt von etwa 5% auf knapp das Doppelte an. Der zweite Blick schwächt zwar etwas ab, da durch das Krankenhausfinanzierungsgesetz von 1972 Kosten in das Gesundheitswesen aufgenommen werden, die vorher anderswo „verbucht“ wurden. Gleichwohl dürfte dies unstrittig sein: Gäbe es seither keine Kostendämpfungsmaßnahmen – in Deutschland Dutzende von Gesetzen mit fast fünfstelligen Einzelvorschriften –, dann wäre vermutlich der Anteil auf ein Mehrfaches gestiegen. Der kurze Blick in die Geschichte und Statistik macht drei Dinge deutlich: Erstens ist der Kostenanteil des Gesundheitswesens veränderbar. Zweitens ist die Frage, auf welchem Niveau er sich kollektiv auf das Gesundheitswesen eines Staates einpendeln soll, letztlich politisch zu entscheiden. Drittens kann man den irreführenden Ausdruck „Kostenexplosion“ aufgeben und trotzdem sagen, dass sich ein Weiterwachsen nach dem Muster der Jahre von 1960 bis 1975 kaum vertreten lässt. Denn andere gesellschaftliche Faktoren neigen, wie angedeutet, ebenfalls zu einer „Leistungsexplosion“: Wer von einer Zunahme wirtschaftlicher Zwänge spricht, sollte daher nicht nur an das Gesundheitswesen denken. Der erfahrungsoffene Blick bemerkt nämlich allerorten wachsende Ansprüche, folglich Ressourcenknappheit und ihretwegen wirtschaftliche Zwänge. Im persönlichen Leben heißt die Antwort auf Ressourcenknappheit „Besonnenheit“: Statt nach allem zu verlangen, was man sich so den lieben langen Tag wünscht, lässt man sich beispielsweise auf Verzichte ein. Moralphilosophen sind freilich keine rückwärtsgewandten Moralisten, die über sich verschlimmernde Weltläufe klagen. Sie kennen durchaus den zweiten Grund für die Ressourcenknappheit, jetzt keine anthropologischen Faktoren, sondern eine spezifisch moderne Mentalitätsveränderung. Während man früher die ausufernden Antriebskräfte als Leidenschaften oder als Laster brandmarkte, gelten sie jetzt als Interessen. Was
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ehemals als illegitim verdächtigt wurde, gilt mittlerweile seit langem als normativ neutral. Nur ein Beispiel: Im Wirtschaftsbereich wandelt sich das Laster des Neides zur wirtschaftlichen Kompetenz, und die Habsucht wird zum lobenswerten Geschäftssinn. Früher dem Vorwurf der Leidenschaft bzw. Lasterhaftigkeit ausgesetzt, also in normative Fesseln eingebunden, wird die Begehrlichkeit jetzt entfesselt. Mit Shakespeares Venus und Adonis, Vers 389: „Der Ozean ist begrenzt, die Begier dagegen unbeschränkt.“ Solange nun, was ehemals Leidenschaft und Laster hieß, jetzt als normativ harmloses, politisch abermächtiges Interesse auftritt, kommt Besonnenheit nur systemkonform zustande. Infolgedessen braucht es Interessen, die den gewöhnlichen, gleichwohl imperialistischen Interessen, die der wuchernden Begehrlichkeit, Widerstand leisten. Im persönlichen Leben kann sich die Besonnenheit oft noch unmittelbar durchsetzen, denn die Folgen der Pleonexie muss jeder selbst tragen: beispielsweise den Nachrausch nach einem Zechgelage, getreu dem Sprichwort „Gott schuf den Wein und der Teufel den Kater“. In der modernen Medizin dagegen hat es wegen der Verbindung von der Leistungsexplosion mit entfesselter Begehrlichkeit die Besonnenheit schwer. Ich belasse es bei diesem Hinweis und kehre zur Krankenversorgung, und zwar ihrem universitären Anteil zurück.
II. Aufgaben der universitären Krankenversorgung Eine universale Krankenversorgung hat bekanntlich drei Aufgaben zu erfüllen: die Krankenversorgung auf dem Niveau der Maximal- und Großversorgung, die Ausbildung von Ärzten und Fachärzten und die medizinische Forschung. Alle drei Aufgaben sind auf jenem höchsten Niveau zu erfüllen, das wir „Exzellenz“ nennen. Die hier erste Forderung der Ethik liegt auf der Hand und ist trotzdem nicht trivial. Die Frage, ob das Klinikum von jedem seiner Mediziner alle drei Aufgaben verlangt oder sich mit der Konzentration auf zwei Aufgaben begnügt, ist pragmatisch zu entscheiden. Dem Klinikum als ganzes stellen sich jedenfalls alle drei Aufgaben gleicherweise und gleichermaßen. Die jeweils leitenden Imperative sind bekannt und unstrittig. Gegenüber den Patienten gebietet die Ethik das bekannte Trio Patientenwohl, Schädigungsverbot und Recht auf Selbstbestimmung. Bei der Lehre fordert die Ethik „salus studiosi suprema lex“. Und bei der Forschung verlangt sie unmittelbar, der Wahrheit und nichts als der Wahrheit, mittelbar der Diagnose und Therapie, auch der Prävention, zu dienen. Für jede der drei Aufgaben braucht es drei Dinge, von denen die Ärzte, sinngemäß das Pflegepersonal, nur zwei mitbringen: Fachkenntnisse und Engagement. Vom Dritten sagt der österreichische Bühnendichter Johann Nestroy, dass die Phönizier es erfunden haben, aber, so fährt er fort, „Warum nur so wenig?“ Es ist das Geld, das knapp zu sein pflegt. Das Stichwort, das dem Wesen der ärztlichen Tätigkeit, dem Helfen und Heilen fremd ist, die Wirtschaftlichkeit, dürfte schon immer eine Rolle gespielt haben, allerdings, wie angedeutet häufig versteckt, da nur ein kleiner Bevölkerungsteil einen akademisch ausgebildeten Arzt aufsucht. Ein Philosoph weiß jedenfalls, dass auch ärztliche Tätigkeit zu finanzieren ist und
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dass das Finanzierungsmedium im engeren Sinn, das Geld, typischerweise knapp ist. Knapp sind allerdings auch andere Dinge: Studienplätze und Arbeitsplätze; Fachkräfte, darunter in ländlichen Gebieten Deutschlands Ärzte; Energie ist knapp, vielerorts Lebensmittel, saubere Luft oder Trinkwasser und fast allerorten, trotz steigender Lebenserwartung, die Zeit. Damit nun das Geld nicht zu knapp wird, braucht es eine möglichst florierende Wirtschaft: Der Sozialstaat sorgt erst für eine Umverteilung, die Wirtschaft vorab, dass es möglichst viel zu verteilen gibt. Knapp ist freilich nicht nur das Geld, sondern auch der andere Aspekt von Wirtschaftlichkeit, die Zeit. Patienten wünschen sich sofortige Hilfe; in der Wirklichkeit müssen sie oft warten, gelegentlich sogar ziemlich lange: in der Sprechstunde, auf den Notarzt, auf ein Spendeorgan oder den Operationstermin. Und wenn ein Patient an der Reihe ist, drängt der nächste nach: Die Zuwendungszeit von Ärzten und Pflegepersonal ist oft kürzer, als es sich der Patient wünscht. Trotz des Zusammenhangs von Zeit und Geld – „time is money“ – ist daher die Zeit als eigener Begriff einzuführen, andernfalls wird das Thema der Wirtschaftlichkeit verkürzt. Weil Universitätsärzte allen drei Imperativen unterworfen sind, leiden sie notgedrungen unter Zeitknappheit, weshalb Entlastung geboten ist. Was in anderen Ländern das Pflegepersonal unternimmt, muss in Deutschland teilweise die Ärzteschaft leisten. Beide, Ärzte und Pflegende, sind jedenfalls von berufsfremden Arbeiten zu befreien. Zu allen drei Aufgabenbereichen eines Universitätsklinikums, der Krankenversorgung, der Lehre und der Forschung stelle ich exemplarisch die Frage, wie es mit der Exzellenz im Spannungsfeld von Wirtschaftlichkeit und Ethik aussieht. In Zeiten der Ökonomisierung droht die Unverzichtbarkeit der Wirtschaftlichkeit sich zu einer Vorherrschaft zu steigern. Dem trete ich mit einem erweiterten Blick entgegen. Bei zwei der drei Fragen weise ich auf ein von der Wirtschaftlichkeit unabhängiges Thema hin.
1. Ausbildung Ich beginne mit der Ausbildung, mache zu ihr aber nur eine überknappe Bemerkung: Assistenzärzte klagen, es gebe zu wenig erfahrene Ärzte, nennen wir sie „Betreuer“, die die Jüngeren hinreichend anleiten. Dafür reicht es nicht, schwierige Fälle medizinisch durchzusprechen; zu einer guten Ärzteausbildung gehört auch eine emotionale, psychische Betreuung. Für sie braucht es Zeit. Dass sie vielerorts fehlt, dürfte eine Folge der ökonomischen Zwänge sein. – Zur Aufgabe, den Nachwuchs tatsächlich in Exzellenz auszubilden, möge dieses Lamento genügen.
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2. Forschung Die zweite Aufgabe eines Universitätsklinikums, die Forschung, behandele ich nicht forschungsintern, obwohl es hier genug Probleme gibt. Ich greife nur die Frage auf, welche Organisationsform qua Trägerschaft geeignet ist. Der Anlass zu dieser Frage ist ethisch hochbrisant: Weil Deutschland seit Jahren über seine Verhältnisse lebt, hat das Land so enorme Schulden angesammelt, dass ein Kernbereich der Ethik, die Gerechtigkeit gegen künftige Generationen, verletzt wird. Die wenigen Neugeborenen, deren sich unser Land erfreut, erhalten zur Geburt einen Geschenkgutschein von 200.000 Euro Schulden, in Worten: 400.000 DM, immerhin den Gegenwert einer komfortablen Eigentumswohnung oder eines Reihenhauses. Und dank des Finanzdebakels vom Herbst 2008 erhält diese Wohnung noch eine komfortable Innenausstattung. Nicht etwa die Schuldentilgung, sondern allein die Schuldzinsen verlangen einen so hohen Anteil unserer Staatshaushalte, dass sich vielerorts, auch in den Krankenhäusern, ein enormer Investitionsbedarf aufgestaut hat. Seit den 90er Jahren haben die Länder ihre Krankenhaus-Zuschüsse gekürzt. Einem Gutachten des „Wirtschaftsweisen“ Bert Rürup zufolge stellen die Länder 1991 noch 3,6 Milliarden Euro, im Jahr 2006 aber nur 2,7 Milliarden bereit, was sich auf eine reale Kürzung um 44,3 Prozent beläuft. Die Folge, ich sage es exemplarisch und in aller Unvorsichtigkeit: Deutschlands größtes Klinikum, wissenschaftlich immer noch hochberühmt, benannt nach der Barmherzigkeit, freilich in Zeiten, als die französische Sprache die lateinische verdrängt hat, also die Berliner Charité, hat nicht genügend Geld, um hochrangige Neuberufungen vorzunehmen. Bekanntlich geht es dabei nicht nur um das persönliche Gehalt, sondern auch, vielleicht sogar vornehmlich, um die Ausstattung an Mitarbeitern und Geräten und um die Anzahl der Betten, also um mangelnde Investition. Für deutsche Krankenhäuser gab es früher vier Träger: Kirchen, Kommunen oder Kreise und in Gestalt der Bundesländer zusätzlich gemeinnützige Stiftungen; Universitätskliniken lagen aber ausschließlich in staatlicher Hand. Durch den Investitionsmangel veranlasst, erprobt man seit einiger Zeit neue Modelle. Das Extrem kennen wir aus Gießen und Marburg, wo man – es heißt euphemistisch „Systemwechsel“ – die Universitätskliniken einem privaten Träger übergeben hat. Dies soll den Kliniken den Weg zum privaten Kapital eröffnen, um endlich wieder Investitionen zu ermöglichen. Das private Kapital, sofern es nicht in wertlose USImmobilien versenkt worden ist, stellt sich allerdings nicht bloß Privatkliniken zur Verfügung. In Deutschland muss eine private Trägerschaft mit politischem Misstrauen rechnen, da die Gabe, die Investition, eine Gegengabe erwartet: das Kapital will Rendite. Ein generelles Misstrauen gegen private Träger universitärer Einrichtungen hegt die Ethik nicht. Sie erhebt aber die klare Forderung, dass selbst in Zeiten von Finanzkrisen keine der drei Aufgaben leiden darf: weder die Krankenversorgung noch die Lehre und auch nicht die Forschung.
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Ein Universitätsklinikum ist längst ein Großunternehmen, das eine kaufmännische Leitung braucht, die allerdings ein nicht bloß effizientes, sondern auch umsichtiges Management vornehmen soll. Zur unerlässlichen Umsicht gehört, dass auf die Beziehung Arzt – Patient der Management-Charakter nicht durchschlagen darf. Hier ist jeder Kolonialisierung durch die Betriebswirtschaft Widerstand zu leisten. Vor allem in einem Klinikum darf ein Management seine Dienstaufgabe nicht vergessen. Denn die Kern- und Hauptaufgabe bei der Krankenversorgung, ihr letztentscheidender Zweck, besteht in der Zuwendung des Arztes zu seinen individuellen Patienten. Wird diese Art von Zuwendung gefährdet, sollten die Ärzte, einzeln oder im Verbund, Standfestigkeit, sogar Zivilcourage beweisen. Die unverzichtbare, aber subsidiäre Wirtschaftlichkeit darf sich im Klinikum nicht zur Herrscherin aufschwingen. Patienten sind keine gewöhnlichen Kunden, Ärzte keine üblichen Dienstleister. Nach dieser Vorbemerkung zu einer Gefahr, die viele Ärzte befürchten, kehre ich zur Frage der eventuell privaten Trägerschaft zurück: Im Bereich des Rechts bietet Hamburg mit seiner privaten Hochschule ein schönes, aber atypisches Beispiel. Träger der Bucerius Law School ist eine Stiftung. Und da die Hochschule trotz hoher Studiengebühren Jahr für Jahr kräftige Zuschüsse braucht, kann von Wirtschaftlichkeit keine Rede sein. Andererseits ist diese Hochschule wegen ihrer weit überdurchschnittlich guten Absolventen, sichtbar an herausragend guten Prüfungen, zu Recht hochgerühmt. Zweifellos kann es auch für Medizin eine private Hochschule geben. Das deutsche Beispiel, Witten-Herdecke, braucht indes erhebliche Zuschüsse. Das Universitätsklinikum Marburg-Gießen lasse ich beiseite, weil hier erst ein Teil, die Krankenversorgung, privatisiert ist. Vor allem stellt sich die Frage der Forschung: Selbst von exzellenten Krankenhäusern erwartet man sie nicht, bei Universitätskliniken dagegen gehört sie zu den Grundaufgaben. Exzellente Forschung, wissen wir, ist kostenintensiv. Ist sie auch wirtschaftlich? Im Beispiel, der Bucerius Law School, sind Lehre und Studentenschaft hervorragend, die Forschung kommt dagegen zu kurz. Kann man erwarten, dass es sich in der Medizin, deren Forschung sehr viel kostspieliger ist, anders verhalten wird: dass die Forschung, wie man unschön sagt, „sich rechnet“? Oder verlässt man sich auf Drittmittel, meist aus staatlicher Hand, so dass die Hochschulen in privater Trägerschaft am Ende nur Quasi-Privatklinikum wären, privat hinsichtlich der Krankenversorgung, vermutlich schon in der Lehre nicht so privat und noch weniger privat in der Forschung? Wie angekündigt gehe ich auch auf einen wirtschaftlichkeitsneutralen Aspekt der Forschung ein: Zu ihrer Exzellenz gehört eine kostenneutrale Exzellenz, sichtbar in einer richtigen Einschätzung der Möglichkeiten: Auf der Forscherebene müssen Naturwissenschaftler und Mediziner auf Verheißungen verzichten, die sie vorhersehbar nicht erfüllen. Auf einem berühmten Londoner MolekularbiologenKongress des Jahres 1962 setzte man die Verheißung eines schmerzfreien, überdies keimfreien, daher von Infektionskrankheiten freien Lebens in die Welt. Derartigen Verheißungen liegt eine Allmachtsillusion und Hybris zugrunde. Um sie zu vermeiden, braucht es eine Einstellung, die der Medizin angesichts ihres bewundernswert großen Innovationspotentials schwer fällt: Es bedarf einer Urteils-
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fähigkeit, die sich noch mit Gelassenheit verbindet; von Nöten ist die überlegte und überlegene Einschätzung der tatsächlichen Möglichkeiten. Die Verantwortung dafür teilen sich beide Seiten. Die Gesellschaft darf an die Medizin keine überzogenen Erwartungen herantragen. Vor allem darf die Medizin nicht mit den Hoffnungen der Menschen spielen und unberechtigte Heilungsversprechen in die Welt setzen. Einer Pharmawerbung mag es erlaubt sein, ein Leben zu versprechen, „in dem es außer Liebeskummer keine Herzleiden mehr gibt“. Die darin liegende Hybris sollte sich die Medizin versagen; die Wirklichkeit sieht anders aus. Ich denke an die Euphorie der Krebsbekämpfung, die in den siebziger Jahren von medizinischer Seite genährt wurde, und an die Versprechen der Gentherapie seit den 80er Jahren, später an die Verheißungen, die mit der Organübertragung von Tieren auf Menschen einhergingen, und neuerdings hören wir von übertriebenen Verheißungen seitens der Stammzelltherapie und in anderer Weise der Hirnforschung.
3. Krankenversorgung Ich komme zur dritten, aber keineswegs tertiären Aufgabe eines Universitätsklinikums, der Krankenversorgung. Hier stoße ich, wo ich mich kundig mache, auf ein erstaunliches Phänomen: Klinikdirektorinnen und -direktoren denken bei „Exzellenz“ nur an Forschung. Taucht sie, so meine naive Frage, bei der Diagnose und der Therapie von Patienten nicht auf? Ich weiß, dass es ein Bündel von Qualitätskriterien gibt, das einzuhalten, dessen Einhalten zu prüfen und dessen Prüfung zu dokumentieren ist. Trotz der dadurch erreichten Qualität, sagt alle Erfahrung, gibt es gute, sehr gute und sogar begnadete Diagnostiker. Dasselbe dürfte für die Therapieseite zutreffen, deutlich bei Operationen. Die Anforderungen der Ethik sind hier zunächst bescheiden: Sie beinhalten die bekannten, oft diskreditierten Sekundärtugenden Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Gründlichkeit sowie ständige Fortbildung. Ernste Gefahren tauchen anderswo, etwa bei den standardisierten Programmen auf. Angeblich dienen sie drei Zielen zugleich. Es sind so genannte Behandlungspfade, von denen man erwartet, dass sie die medizinische Qualität sichern, zusätzlich die Kosten genau berechenbar machen und sie möglichst, vielleicht sogar in erster Linie senken. Die angesprochenen Handlungsanweisungen schreiben den Ärzten die genaue Abfolge von diagnostischen Schritten für wohl definierte Patientengruppen vor. Darin liegt eine Reglementierung, von der schon der Laie erwartet, was der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten ausspricht: Man wird dem konkreten Patienten schon deshalb nicht gerecht, weil er selten an nur einer Krankheit leidet. In die konkrete Sachdebatte tritt die Ethik hier nicht ein, weil dafür Ärzte als Fachleute zuständig sind. Sie unterstützt aber den in der Kritik beanspruchten normativen Gesichtspunkt: Gemäß dem hippokratischen Prinzip „salus aegroti suprema lex“ hat der Arzt den Patienten in dessen individueller Krankheitssituation zu behandeln und diese Sorge ist gegenüber Wirtschaftlichkeitsfragen prioritär.
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Ein zweites, jetzt sozialethisches Problem schafft der Gesetzgeber: Wenn er vom Arzt fordert das Notwendige zu leisten, ihm aber nur das Finanzierbare honoriert. Hier besteht, was man andernorts eine „Gerechtigkeitslücke“ nennt. Gegen die Gerechtigkeit wird auch dort verstoßen, wo man von den Assistenzärzten zahllose Überstunden verlangt, aber nur einen kleinen Teil honoriert. (Nur in Klammern: Darin liegt einer von mehreren Gründen, warum nicht wenige deutsche Ärzte lieber im Ausland arbeiten.) Eine dritte Gefahr besteht in einem Phänomen, das ich „unter der Hand sich spezialisieren“ nenne: Für ein Universitätsklinikum sind junge, im Wesentlichen gesunde Patienten lukrativ, die sich lediglich selektiven Eingriffen wie etwa einer Arthroskopie oder einer Endoskopie unterziehen. Eine vierte Gefahr: Kliniken drängen die Patienten heraus, da jeder gewonnene Pflegetag, jeder Tag einer früheren Entlassung, viel Geld einspart. Nicht zuletzt meldet die Ethik dagegen Bedenken an, dass Kliniken um ausländische Patienten werben, sie finanziell wie Privatpatienten betrachten, ihnen aber nicht sagen, dass die Behandlungen so lang und die Kosten so enorm sein können, dass sich Familien hoch verschulden. Diese Beispiele mögen genügen, damit ich noch eine wirtschaftlichkeitsneutrale Frage stellen kann: Trägt jede medizinisch denkbare Maßnahme auch zur positiven Leitaufgabe der Medizin, dem Wohl des Patienten, bei? Aus Gesprächen mit erfahrenen Ärzten kennt mittlerweile selbst der Laie die konkreten Fälle. Zum Beispiel die maximale chirurgische Notfallmedizin: Ein 93jähriger Patient wird aufgrund einer geplatzten Bauchschlagader im blutungsbedingten Schock mit dem Hubschrauber aus einem Regionalkrankenhaus ins Zentralklinikum transportiert. Angesichts höchst geringer Überlebenschancen fragen sich die Verantwortlichen selber, ob der Aufwand auch gerechtfertigt war. Oder die maximale apparative Diagnostik: Ein Patient mit einem Krebsleiden samt Metastasen und schwerster Atemnot wird vom diensthabenden Arzt der Notaufnahme zu einer Computertomographie geschickt. Wegen der atemnotbedingten Unruhe des Patienten kann sie nur nach Intubationsnarkose und manueller Beatmung durch einen Anästhesisten durchgeführt werden. Wesentliche Erkenntnisse für den weiteren Erkrankungsverlauf liefert diese Diagnostik des wahrscheinlich in Kürze versterbenden Patienten aber nicht. Nicht zuletzt gibt es ein expansives Konsilswesen: Manche Frage des Internisten an den Anästhesisten, ob der Patient mit nichtheilbarem Tumorleiden noch narkosefähig sei, vermeidet lediglich das heikle Gespräch mit dem Patienten über die Sinnlosigkeit weiterer diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Für exzellent halte ich Ärzte, die bei derartigen Fällen zu einer Optimal- statt einer Maximaltherapie fähig sind. Maximieren meint, eine gewisse Einzelsache maximal erreichen wollen. Nun kommt es im menschlichen Leben in der Regel auf mehrere Gesichtspunkte an. Optimieren heißt, die Gesamtheit der einzelnen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, in Abwägung der einzelnen Punkte ihr relatives Gewicht einzuschätzen und dann eine nicht atomar, sondern gesamthaft beste Situation anzustreben. Das Patientenwohl, dem der Arzt dient, hat nun genau diesen Charakter: Es ergibt sich aus einer komplexen Verbindung vieler Gesichtspunkte, so dass statt einer Maximierung die Optimierung geboten ist. Weder in der
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Diagnostik noch in der Therapie darf man daher die einzelnen Gesichtspunkte eines Patienten exklusiv maximieren. Aus einem Blick auf den Zusammenhang ist vielmehr eine Optimierung anzustreben, die gelegentlich eine Kunst des Unterlassens einschließt. Ein Extremfall: Soll man eine Behandlung beginnen, die zwar nicht absolut chancenlos ist, bei der aber mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit herauskommt, was im Englischen „vegetative“ heißt: ein nur noch vegetativ lebender Körper? Auch außerhalb von Extremsituationen braucht man eine Kunst des Unterlassens. Entgegen einem falschen Sicherheitsdenken ist nicht immer der pauschale und globale „Rundumcheck” angebracht. Erfahrene Ärzte, die sich von den faszinierenden Bildern der diagnostischen Großgeräte noch distanzieren können, vermögen einen Großteil aller Diagnosen durch Untersuchung mit den natürlichen fünf Sinnen zu stellen, zusätzlich und vorab mit einem sechsten Sinn, dem einfühlsamen Gespräch. Für all dieses braucht man außer Fachkenntnissen die schon erwähnte Urteilskraft, auch Klugheit genannt. In Universitätskliniken verfügt nun über Exzellenz in der Urteilskraft, wer trotz der unverzichtbaren Spezialisierung zur „generalistischen“ Optimierung fähig bleibt. Ich darf betonen: Dass die Optimierung hier nicht etwa wegen knapper Ressourcen geboten ist. Man braucht zwar „Muße im Kopf“, während eine Entscheidung für Maximierung rascher, im Fall sklavisch befolgter Behandlungspfade sogar so gut wie ohne Überlegung zu treffen ist. Die Kosten der „Muße im Kopf“ dürften aber durch Unterlassen von optimierungsschädlichen Maßnahmen aufgewogen werden, auf den finanziellen Saldo kommt es jedoch nicht an. Wichtiger als die übermächtige Kostenfrage ist die Notwendigkeit eines neuen, nicht länger ausschließlich auf bloße Spezialisierung orientierten Arztbildes. Weil die Spezialisierung unverzichtbar bleibt, sind drei kontrapunktische Aufgaben vonnöten: Der Spezialist darf sein ärztliches Allgemeinwissen nicht verkümmern lassen, muss es vielmehr in ständiger Fortbildung „à jour bringen“. Der Arzt muss die genannte Urteilskraft entwickeln. Und vor allem, damit spreche ich den Gesetzgeber, noch mehr die Gerichte an, ist den Ärzten der für eine Optimierung notwendige Entscheidungsspielraum zu belassen, gegebenenfalls ist er ihnen neu einzuräumen. Nicht mehr kostenneutral sind andere Aufgaben, und hier frage ich, wie man sie unter den Imperativ der Wirtschaftlichkeit soll subsumieren können. Erneut exemplarisch und zufällig. Das erste Beispiel kennen Sie als die große Anzeige, die eine Reihe von Krankenhäusern in die Zeitungen gesetzt haben: „Nachts da zu sein ist unwirtschaftlich.“ Die Erläuterung: „2 Uhr nachts in einem großen Krankenhaus. Es stehen bereit: Maria P., Chirurgin, Herbert M., Anästhesist, Lorenz H., Intensivpfleger, Petra B., Röntgenärztin, weitere 30 Fachärzte und 150 Pflegekräfte. Das kostet viel Geld, jede Nacht.“ Die Wirtschaftlichkeit besteht oft in einem Rechenstift, der am liebsten streicht, also im Rotstift. Wer, so meine Frage als Ethiker, führt stattdessen den Grünstift, der neue Möglichkeiten öffnet? Ein zweites Beispiel: In vielen Fällen können Ärzte heilen, in anderen Fällen das Leben auf durchaus humane Weise verlängern; das Wesen des Menschen, seine Sterblichkeit, können sie aber nicht aufheben. Die dann noch angesagte Hilfe
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gehört zu dem, was ich eine „Kultur des Sterbens“ nenne. Steht sie im Widerstreit zur Wirtschaftlichkeit? Das medizinethische Vorbild Hippokrates darf nicht überall zum Maßstab dienen. Er verbot nämlich dem Arzt, sich mit dem Sterbenden zu beschäftigen: Asklepios ging, wenn Thanatos kam. Noch in unserer Zeit war es gängige Praxis, Sterbende aus den Krankenzimmern zu verbannen und etwa ins Badezimmer oder einen Abstellraum zu verlegen. Das Leitprinzip Patientenwohl gebietet anderes. Wenn der Sterbeprozeß unwiderruflich eingesetzt hat, fallen lebensverlängernde Maßnahmen unter den Aspekt der futility, der Vergeblichkeit, so dass, wo man die Maßnahmen nicht einleitet, keine „Begehung durch Unterlassung” droht. Trotzdem ist der Arzt nicht von jeder Patientenbetreuung freigestellt. Durch eine wirksame Kontrolle der quälenden Symptome hat er zum Wohl bzw. der Lebensqualität des Patienten beizutragen, also Schmerzen, Durst und Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung und quälende Atemnot zu bekämpfen. Aus meiner Zeit in der Ethikkommission der Deutschen Bundesärztekammer weiß ich, dass in Deutschland die Palliativmedizin unterentwickelt ist. Obwohl man selbst schwerste Dauerschmerzen zu lindern versteht, ohne dass es zu den befürchteten Folgen einer Sedierung, Ateminsuffizienz oder Sucht kommen muss, herrscht noch immer eine Furcht vor dem Morphium. Der Strafgesetzgeber sieht es anders: Die Nichtabwendung von Schmerzen kann den Tatbestand der Körperverletzung (§§ 223 und 230 StGB) durch Unterlassen, sowie den der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) erfüllen. Glücklicherweise, so scheint, ist die Furcht vor dem Morphium geschwunden, aber die bereitgestellten Mittel stehen immer noch kaum zur Verfügung. Außer den körperlichen sind auch die seelischen Schmerzen zu lindern: Angst, Unruhe, Vereinsamung, Resignation und Depression. Statt die Menschen bloß an den sprichwörtlichen Schläuchen sterben zu lassen, ist eine Sterbebegleitung wünschenswert, die die Schmerzlinderung um jene soziale Betreuung erweitert, wie sie etwa die Hospiz-Bewegung und die schon ältere Krankenhausseelsorge pflegen – freilich mit personell und finanziell weit unterdotierten Mitteln. Zur Kultur des Sterbens gehört es auch, am Krankenbett keine falschen Hoffnungen zu wecken, auch nicht stillschweigend, durch den Beginn einer Therapie, der unvermeidbar Hoffnungen weckt. Noch immer folgen viele Ärzte einer Maxime des Leibarztes von Goethe und Schiller, Christoph Wilhelm Hufeland. Er verlangte, immer und überall Leben zu verbreiten, daher selbst dort dem Kranken den Schein der Hoffnung aufrecht zu erhalten, wo keine Hoffnung mehr besteht. Bei manchen Ärzten kommt noch ein Forschungsinteresse hinzu: das Interesse, für eine klinische Versuchsreihe Patienten zu gewinnen. Im Konfliktfall hat dann das Patientenwohl Vorrang vor dem Wissensgewinn. In den Worten von Claudia, der Ostberliner Ärztin in Christoph Heins Novelle „Der falsche Freund“: „Wenn ich an einem unheilbar Kranken herumexperimentiere, erniedrige ich ihn zum Versuchstier. Er wird ohne mich auch sterben, aber leichter, unangestrengter. Er muss dann weniger Energien in unsinnigen Hoffnungen verbrauchen.” Ohnehin sind Humanexperimente nur mit Zustimmung der Versuchspersonen erlaubt.
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Fortgeschrittene Krebserkrankungen an Magen, Bauchspeicheldrüse und Dickdarm beispielsweise verlangen bekanntlich derart tiefe Eingriffe, dass sie die Lebensqualität empfindlich beeinträchtigen, die Überlebenszeit des Patienten aber bestenfalls um wenige Monate verlängern. Man darf deshalb, wofür der Schweizer Strafrechtlcher Peter Noll in entsprechender Lage plädiert, man darf sich gegen weitere Eingriffe sperren und lieber in Würde sterben. Ähnliches gilt für manche aggressive Chemotherapie und ebenso für gewisse Organverpflanzungen. Vor allem in der Hochleistungsmedizin droht die Gefahr der Überreaktion. Besser, sowohl ehrlicher als auch würdiger ist es, die vom Patienten oder den Angehörigen gehegten, aber nicht erfüllbaren Hoffnungen zurechtzurücken. Statt eine Allmacht vorzuspielen und die Ohnmacht angesichts der Übermacht des Todes unter einem „therapeutischen Aktivismus“ zu verstecken oder ins andere Extrem, in Resignation zu verfallen, geben erfahrene Ärzte ihren jüngeren Kollegen beispielhafte Entscheidungen an die Hand. Zum Verzicht auf therapeutischen Aktivismus gehört die wahrheitsgemäße, zugleich aber auch feinfühlige Aufklärung. „Nackte Ehrlichkeit” mag zwar leichter sein, ist aber unbarmherzig; zudem verstößt sie gegen das Patientenwohl. Die entsprechende Aufklärung ist allerdings schwierig, erneut eine Kunst. In der Angst, sie nicht zu beherrschen, könnte eine Ursache für „therapeutischen Aktivismus” liegen. Im Übrigen ist auch bei der Aufklärung die Kunst des Unterlassens gefordert. Die selbstverständliche Entscheidungshoheit des Patienten verlangt nicht, jede belastende und mit geringen Erfolgsaussichten durchführbare Therapiemöglichkeit auszubreiten. Manchmal gebietet die Fürsorge für das Wohl des Patienten, ihm die Entscheidung für oder gegen die Behandlung zu ersparen. Wirtschaftlichkeit und Ethik können durchaus harmonieren. Philosophen besitzen hier kein Sonderwissen; ein Mangel an gesundem Menschenverstand folgt aus ihrer Profession aber auch nicht. Ich spreche also nur für mich: Nach meiner Einschätzung empfiehlt es sich, bei Sterbenden eine Zwangsernährung zu unterlassen. Ich weiß von einer älteren Frau, die, im wörtlichen Sinn des Lebens satt, während ihres Sterbeprozesses jede Nahrungsaufnahme verweigerte, deshalb ihre Zähne fest zusammenpresste: Darf man sie mittels einer Sonde zur Ernährung zwingen? Eine Magensonde, erklärt der Präsident der Bundesärztekammer, kann für Sterbende sehr belastend sein. Bei einem anderen Thema stehen Ethik und Wirtschaftlichkeit nicht mehr im Einklang: Von den 140.000 Ernährungssonden, die pro Jahr in Deutschland gelegt werden, gehen zwei Drittel an Bewohner von Pflegeheimen. Menschlicher wäre es, diese Personen zu füttern. Freilich kostet das Zeit, mithin Personal, also Geld. Ähnliches dürfte im Klinikalltag vielerorts vorkommen: Um Zeit und Geld zu sparen, treten an die Stelle der persönlichen Betreuung anonyme Geräte.
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III. Schluss Ich breche an dieser Stelle abrupt ab. Statt Bilanz zu ziehen, greife ich auf den Gerechtigkeitsaspekt zurück, den ich beim Investitionsstau betont habe: Die Ärzteschaft von Universitätskliniken bietet ein schönes Beispiel, wie man der Gegenwart und zugleich der Zukunft verantwortlich sein und dabei der Gerechtigkeit gegen künftige Generationen genüge leisten kann. Mein Vorschlag für ein Arztbild des 21. Jahrhunderts, ein Vorschlag mit visionärem Potential: In der Krankenversorgung dienen Universitätskliniken der gegenwärtigen Generation. In der Lehre bilden sie die zukünftige Generation aus. Und mit der Forschung bereiten sie die Krankenversorgung von Morgen und Übermorgen vor. So wünsche ich der universitären Krankenversorgung, dass sie trotz knapper Ressourcen auch künftig alle drei Aufgaben in Exzellenz erfüllt.2
2 Einige Überlegungen ausführlicher in: O. Höffe, Medizin ohne Ethik?, 2003; ders., Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger, Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, Teil I, 2004, S. 15 ff.
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Ärztliche Kompetenz und Patientenautonomie
Gerda Müller Wenn der Arzt ins Blickfeld des Richters gerät, geht es meist um seine Haftung für Fehler, die ihm bei Ausübung seiner Tätigkeit unterlaufen. Ein weiteres Problem ist das Spannungsverhältnis zwischen medizinischer Kompetenz und Patientenautonomie, das beim Aufklärungsfehler sowie dem ärztlichen Beistand am Beginn und Ende des menschlichen Lebens besonders hervortritt. Beide Themen seien im Folgenden angesprochen.
I. Der ärztliche Fehler 1. Die Bedeutung der Arzthaftung Ärztliche Fehler sind oft nicht mehr zu korrigieren und können das weitere Leben eines Patienten nachhaltig prägen, im schlimmsten Fall sogar beenden. In zeitlicher Hinsicht kann die ärztliche Betreuung bereits vor der Zeugung eines Kindes beginnen, wenn diese etwa durch eine genetische Beratung gesteuert wird,1 und sie reicht bis zum Lebensende, bei dem der Arzt mit der Problematik einer Patientenverfügung konfrontiert werden kann.2 Entsprechend groß ist die Macht, die ihm seine fachliche Kompetenz verleiht. Sie gründet sich auf das Vertrauen des Patienten in diese Kompetenz, weil er der fachlichen Kenntnis und dem Rat des Arztes vertraut, seine Lebensführung hiernach einrichtet und bei Operationen dem Arzt wahrhaft einschneidende Eingriffe in seine körperliche Integrität gestattet. Umso größer ist seine Enttäuschung, wenn die ärztliche Behandlung nicht den gewünschten Erfolg hat. Allerdings kann die ärztliche Haftung von ihrer Grundkonzeption her keine Erfolgshaftung sein; denn der Arzt schuldet dem Patienten im Hinblick auf dessen körperliche und gesundheitliche Besonderheiten in aller Regel nicht die Wiederherstellung seiner Gesundheit, sondern nur eine Heilbehandlung nach dem anerkannten und gesicherten Qualitätsstandard der medizinischen Wissenschaft.3 Eine wirkungsvolle Kontrolle des ärztlichen Handelns ist unerlässlich, weil der Arzt unmittelbaren Einfluss auf Gesundheit und Leben des Patienten hat, also auf Rechtsgüter, die – wenn auch vielleicht der Güter höchste nicht – dem Menschen doch außerordentlich wichtig und in jeder Hinsicht teuer sind. Für den nüchternen 1
Zu einem solchen Fall BGHZ 124, 128 = NJW 1994, 788. Hierzu Müller, in: Festschrift für E. Lorenz, 2004, 475, 496. 3 Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl. 2006, Rn. A 4; Müller, NJW 1997, 3049; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl. 2006, Rn. 129. 2
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Juristen sind es Rechtsgüter im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB, so dass der deliktische Schutz im Vordergrund steht. An der sog. Körperverletzungsdoktrin hat die Modernisierung des Schuldrechts nichts geändert4 und auch nicht der Umstand, dass nunmehr Schmerzensgeld auch bei vertraglicher Haftung verlangt werden kann. Die derzeitige Diskussion im Schrifttum, ob die Deliktshaftung für Behandlungsfehler aufgegeben werden soll,5 hat die Rechtsprechung bisher nicht beeinflusst. Das liegt weniger an deren Beharrungsvermögen als an dem erforderlichen Gleichklang mit dem Strafrecht. Zwar ist auch schon früher die Auffassung vertreten worden, dass ein indizierter Heileingriff keine tatbestandsmäßige Körperverletzung sei, aber diese Auffassung hat das Reichsgericht bereits im Jahr 1894 zurückgewiesen6 und seither wird ein solcher Eingriff von der Rechtsprechung als Körperverletzung betrachtet. Davon könnte der VI. Zivilsenat ohne Kontroverse mit den Strafsenaten gar nicht abrücken, die hier sehr streng sind und sogar die nicht indizierte Anfertigung einer Röntgenaufnahme als Körperverletzung ansehen.7 Der Gleichklang mit dem Strafrecht ist umso wichtiger, als das deutsche Arzthaftungsrecht im Wesentlichen aus dem Deliktsrecht heraus entwickelt worden ist und sich als Richterrecht reinsten Wassers darstellt. Deshalb dürften für die Beurteilung des eigentlichen ärztlichen Handelns die von der Rechtsprechung entwickelten Leitlinien jedenfalls so lange Gültigkeit behalten, als keine Kodifizierung der Arzthaftung erfolgt.8 Insoweit kann man Zweifel hegen, ob im Hinblick auf den Fortschritt der europäischen Einigung eine nationale Kodifizierung, wie sie derzeit wieder einmal erwogen wird, überhaupt noch sinnvoll ist, darf aber schon wegen des äußerst unterschiedlichen medizinischen Standards in den einzelnen Ländern die Schwierigkeiten einer europäischen Regelung nicht unterschätzen.
2. Behandlungsfehler als Verfehlung des medizinischen Standards Die Haftung kann auf Behandlungsfehler und Aufklärungsfehler gestützt werden. Ein Behandlungsfehler liegt in aller Regel vor, wenn die Behandlung nicht dem medizinischen Standard entspricht. Dieser ist maßgeblich für die Beurteilung, welches Verhalten vom Arzt in der konkreten Behandlungssituation nach dem anerkannten und gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft erwartet werden kann.9 Ausschlaggebend sind primär die Maßstäbe der Medizin, so dass der Standard in den eigentlichen medizinischen Fragen von den Ärzten selbst festgelegt wird. Das hat zur Folge, daß im Arzthaftungsprozess die Frage nach dem medizi4
Vgl. hierzu Deutsch, JZ 2002, 588; Katzenmeier, VersR 2002, 1066; Rehborn, MDR 2002, 1281; Spickhoff, NJW 2003, 1701, 1705; Weidinger, VersR 2004, 35. 5 Schmidt, MedR 2007, 693; 2008, 408 ff.; Gödicke, MedR 2008, 405. 6 RG JW 25, 375. 7 BGHSt 43, 346 = VersR 1998, 319. 8 Das im Bundesanzeiger Nr. 240 b v. 24. 12. 2002 veröffentlichte Dokument „Patientenrechte in Deutschland“ ist sicher hilfreich, wenn auch ohne Gesetzeskraft. 9 Steffen/Pauge (Fn. 3), Rn. 133 m.w.N.
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nischen Standard in aller Regel nicht ohne Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen geklärt werden kann.10 Nur in Einzelfällen hat die Rechtsprechung hier selbst Maßstäbe gesetzt, meist in Fällen, bei denen es um organisatorische Anforderungen oder das Sicherheitsinteresse des Patienten ging, wie etwa beim Fall der unzulänglichen Überwachung eines sedierten Patienten.11 Den Ursachenzusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden muss grundsätzlich der Patient beweisen, wenn es nicht um ein voll beherrschbares Risiko in der Sphäre der Behandlungsseite geht.12 Bei einem groben Behandlungsfehler kommt ihm meist eine Umkehr der Beweislast zugute, die entscheidend für den Erfolg des Prozesses sein kann. Sie ist von der Rechtsprechung speziell für die Arzthaftung entwickelt worden, weil es unbillig erscheint, dem Patienten den schwierigen Nachweis des Ursachenzusammenhangs auch in solchen Fällen aufzuerlegen, in denen ein gröbliches ärztliches Fehlverhalten vorliegt und Ursache des Gesundheitsschadens sein kann.13 Ob ein Fehler grob ist, bestimmt sich nach zusätzlichen Kriterien, die der BGH in langjähriger Rechtsprechung entwickelt hat.14 Danach liegt ein grober Fehler nur dann vor, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Gemeint sind also Verstöße gegen elementare Behandlungsregeln und elementare Erkenntnisse der Medizin, die so schwer wiegen, dass sie die Umkehr der Beweislast rechtfertigen. Deshalb reicht ein eindeutiger Verstoß gegen den Standard nicht für die Annahme eines groben Behandlungsfehlers aus, sondern ergibt eben nur einen eindeutigen Behandlungsfehler.15 Die Anforderungen an den Standard müssen sich an den Gegebenheiten ausrichten, die für den Patienten tatsächlich erreichbar sind, sofern damit noch eine medizinisch ausreichende Behandlung erzielt werden kann.16 Ein gewisser Basisstandard ist also unverzichtbar. Sind die medizinischen Maßnahmen zu gering, kann sich die Möglichkeit eines Übernahmeverschuldens stellen.17 Insoweit darf der von Überschätzung der eigenen Fähigkeiten oder womöglich von finanziellen Beweggründen geleitete Wunsch, einen Patienten zu behalten, keinesfalls dessen Anspruch auf die erforderliche ärztliche Versorgung verdrängen. Die Abgrenzung zwischen den konkreten Gegebenheiten und einem Übernahmeverschulden durch Selbstüberschätzung kann schwierig sein und muss ggf. vom Gericht mit Hilfe ei10
BGH NJW 1995, 776; VersR 2008, 1216. BGH VersR 2003, 1126 = NJW 2003, 2309 m. Anm. Laufs, 2288 = MedR 2003, 629 m. Anm. Katzenmeier. 12 Hierzu BGHZ 171, 358 = VersR 2007, 847 (Infektion in Arztpraxis); 2007, 1416 (Strahlentherapie); 2008, 490 (Hygienefehler bei Injektion). 13 BGHZ 159, 48, 54 = NJW 2004, 2011 = JZ 2004, 1029 m. Anm. Katzenmeier; zur Beweislastumkehr bei grobem Verstoß gegen die Pflicht zur Sicherungsaufklärung BGH VersR 2005, 228. 14 BGHZ 159, 48 m.w.N. 15 BGH VersR 2001, 1115. 16 Zu Einzelheiten des Standards Müller, in: Festschrift für G. Hirsch, 2008, 413, 414 ff. 17 Zu den Pflichten eines Arztes im Bereitschaftsdienst BGH VersR 2008, 221. 11
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nes Sachverständigen geklärt werden. Bei Prüfung des Standards ist auch der Grundsatz der Therapiefreiheit zu beachten.18 So wird die Anwendung einer herkömmlichen bewährten Methode nicht schon wegen der Verfügbarkeit einer moderneren Methode zum Behandlungsfehler.19 Auch wenn die Therapie dem Stand der Medizin entsprechen muss, wird nicht stets das jeweils neueste Therapiekonzept geschuldet. Hier ist sowohl beim medizinischen Sachverständigen, der die Grundlagen für die Beurteilung des Behandlungsgeschehens liefert, als auch beim Richter, dem die rechtliche Bewertung obliegt, Augenmaß gefordert. Ziel ist eine Balance zwischen dem Kostenaufwand und dem ständigen apparativen Modernisierungsdruck sowie dem Interesse des Patienten an der Qualität und Sicherheit der Behandlung.20
3. Versäumnisse bei der Diagnose Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten, die erst in wenigen Spezialkliniken erprobt und durchgeführt werden, sind für den allgemeinen Qualitätsstandard nur zu berücksichtigen, soweit es um die Frage geht, ob der Patient an eine solche Klinik hätte verwiesen werden müssen.21 Bei der Diagnostik besteht ohnehin ein größerer Spielraum. Bekanntlich bewertet der BGH ärztliche Diagnosefehler mit Zurückhaltung und nimmt insbesondere einen groben Diagnosefehler – mit der Folge einer Beweislastumkehr – nur bei einer fundamentalen Fehldiagnose an.22 Aber auch ein einfacher Diagnosefehler ist nicht stets ein Behandlungsfehler,23 weil die Symptome einer Erkrankung nicht immer eindeutig sind und auf die verschiedensten Ursachen hinweisen können. Deshalb können Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, nur dann als Behandlungsfehler gewertet werden, wenn Symptome vorliegen, die für eine bestimmte Erkrankung kennzeichnend sind, vom Arzt aber nicht ausreichend berücksichtigt werden,24 oder wenn der Arzt ohne vorwerfbare Fehlinterpretation von Befunden eine objektiv unrichtige Diagnose stellt und diese darauf beruht, dass er eine notwendige Befunderhebung entweder vor der Diagnosestellung oder zur erforderlichen Überprüfung der Diagnose unterlassen hat.25
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BGH NJW 1982, 2121; 1988, 1516. Hierzu ausführlich BGHZ 102, 17 = NJW 1988, 763 = JZ 1988, 411 m. Anm. Giesen. 20 Geiß/Greiner (Fn. 3), Rn. B 6 m.w.N. 21 BGH VersR 1984, 470; zur Einweisung durch den Bereitschaftsarzt BGH VersR 2008, 221. 22 BGHZ 132, 47 = NJW 1996, 1589. 23 BGH NJW 2003, 2827 mit mißverständlichem (von der Redaktion formuliertem) Leitsatz. 24 So auch BGH VersR 1958, 545. 25 Vgl. BGHZ 138, 1 = NJW 1998, 1780; sowie BGH VersR 1999, 231; zur Abgrenzung zwischen Diagnose- und Befunderhebungsfehler BGH VersR 1995, 46; 2003, 1256; 2007, 541. 19
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4. Verschulden Die zivilrechtliche Haftung setzt Verschulden voraus. Hierfür gilt der objektivierte zivilrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff im Sinne des § 276 Abs. 2 BGB, so dass der Arzt die für sein Fachgebiet erforderliche Sorgfalt und damit den jeweiligen Standard beachten muss. Anders als im Strafrecht ist mit Fahrlässigkeit also nicht das persönliche Verschulden gemeint. Das zeigt ein Fall,26 in dem der beklagte junge Arzt der Hebamme bei der Lösung einer Schulterdystokie behilflich sein wollte, hiermit jedoch fachlich überfordert war und mit seinem ungeschickten Ziehen am Kopf des Kindes eine Schädigung verursachte. In diesem Urteil wird klargestellt, dass im Hinblick auf den objektivierten zivilrechtlichen Fahrlässigkeitsbegriff der Arzt für sein dem medizinischen Standard zuwiderlaufendes Vorgehen auch dann haftungsrechtlich einzustehen hat, wenn dieses aus seiner persönlichen Lage heraus subjektiv entschuldbar ist, weil das konkrete Behandlungsgeschehen ihn überfordert hat und er mit medizinisch falschen Mitteln helfen wollte.
5. Die ärztliche Aufklärungspflicht Während es beim Behandlungsfehler um Mängel der ärztlichen Kompetenz geht, steht bei der Aufklärungspflicht das Spannungsverhältnis zwischen der fachlichen Kompetenz des Arztes und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten im Vordergrund. Aus rechtlicher Sicht stellt die Verletzung der Aufklärungspflicht eine eigenständige Anspruchsgrundlage dar, die den Arzt ebenso wie ein Behandlungsfehler zum Schadensersatz verpflichten kann.27 Das entspricht der ständigen Rechtsprechung und wird auch im Schrifttum durchweg akzeptiert.28 Von besonderer Bedeutung ist die sog. Risikoaufklärung, mit der der Arzt dem Patienten die wesentlichen Risiken des Eingriffs erläutern muss, damit dieser sein Selbstbestimmungsrecht sinnvoll – nämlich informiert – wahrnehmen kann.29 Freilich kommt eine Haftung wegen eines Aufklärungsfehlers nur dann in Betracht, wenn aus der Heilbehandlung ein Gesundheitsschaden des Patienten resultiert;30 allein die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts reicht also nicht aus.31 Vom deliktischen Konzept der Arzthaftung her liegt die Bedeutung der Aufklärung darin, dass 26
BGH VersR 2001, 646; vgl. auch VersR 2003, 1128. Zu den prozessualen Konsequenzen BGH VersR 2007, 414 = MedR 2007, 722 m. Anm. Prütting. 28 Vgl. hierzu Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 350 f. 29 BGH VersR 2003, 858; NJW 2005, 1718 (Behandlungsalternativen); VersR 2007, 66 m.w.N.; zur Organisation der Aufklärung im Krankenhaus BGHZ 169, 364 = VersR 2007, 209 = JZ 2007, 641 m. Anm. Katzenmeier; zur Aufklärung über Nebenwirkungen eines Medikaments BGHZ 162, 320 = VersR 2005, 834; bei Bluttransfusion BGHZ 163, 209 = VersR 2005, 1238 = NJW 2005, 2614 m. Anm. Katzenmeier, 3391; vor fremdnütziger Blutspende BGHZ 166, 336 = VersR 2006, 838 = NJW 2006, 2108 m. Anm. Spickhoff, 2075; zum Zeitpunkt der Aufklärung BGH NJW 2003, 2012. 30 BGH NJW 2008, 2344. 31 Anders OLG Jena VersR 1998, 586; vgl. auch Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 366. 27
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sie eine wesentliche Voraussetzung für die wirksame Einwilligung des Patienten bildet. Weil diese einen Rechtfertigungsgrund darstellt, liegt hier die Beweislast beim Arzt, auch für eine hypothetische Einwilligung des Patienten.32 Dass dieser auch gegen den ärztlichen Rat eine Behandlung ablehnen kann, versteht sich eigentlich von selbst und folgt jedenfalls aus dem Grundsatz der Patientenautonomie. Auch beim Aufklärungsfehler ist das Verschulden objektiviert und deshalb nur ausnahmsweise zu verneinen.33 Da es in der Unterlassung der Aufklärung in Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis der Aufklärungspflicht besteht, setzt es voraus, dass der Arzt nach dem Stand der medizinischen Erkenntnis im Zeitpunkt der Behandlung das Risiko kennt, weil es in der medizinischen Wissenschaft bereits ernsthaft diskutiert wird.
6. Neue Methoden und Medikamente Damit komme ich zu mehreren neuen Entscheidungen des BGH, die die Anwendung neuer Heilmethoden und Medikamente betreffen. Beim Robodoc-Urteil vom Juni 200634 wird die Problematik sowohl eines (noch) fehlenden Standards wie auch noch nicht bekannter Risiken deutlich. Während bei einer standardgemäßen Behandlung der Patient nicht darüber aufgeklärt zu werden braucht, dass der Eintritt bisher unbekannter Komplikationen in der Medizin nie ganz auszuschließen ist, weil ihn das nur verwirren und beunruhigen würde,35 muss er bei einer neuen Methode gerade hierauf mit Deutlichkeit hingewiesen werden, damit er zwischen den Risiken der bekannten Methode einerseits sowie den in Aussicht gestellten Vorteilen und den noch nicht in jeder Hinsicht bekannten Gefahren der neuen Methode andererseits abwägen kann. Neu ist auch das Urteil zu einem Heilversuch mit einem neuen, erst im Lauf der Behandlung zugelassenen Arzneimittel gegen Epilepsie, das beim Patienten schwere Sehschäden verursacht hat.36 Danach muss der Arzt bei Behandlung des Patienten mit einem noch nicht zugelassenen Medikament besondere Vorsicht walten lassen. Wird im Lauf der Behandlung ein besonderes Risiko erkennbar – auf das im Streitfall überdies auch der Zulassungsbescheid hingewiesen hatte –, so ist nicht nur eine entsprechende Aufklärung geboten, sondern auch eine Sicherung des derzeitigen Status sowie dessen fortlaufende Kontrolle. Ein weiteres Urteil befasst sich mit dem Einsatz eines für den Patienten neuen Medikaments,37 dessen Verabreichung der Arzt (und die Vorinstanzen!) während einer Erprobungszeit auch ohne Aufklärung des Patienten für zulässig gehalten hatten – zu Unrecht, wie schon die Tatsache zeigt, dass der Patient während dieser Probezeit einen Kreislaufstillstand mit bleibenden Schäden erlitten hat. 32
BGH VersR 1994, 683; 1996, 1239; 2005, 694. BGH VersR 2001, 646. 34 BGHZ 168, 103 = NJW 2006, 2477 m. Anm. Katzenmeier, 2738 = VersR 2006, 1073 m. Anm. Buchner, 1460. 35 BGH VersR 1990, 522. 36 BGHZ 172, 1 = NJW 2007, 2767 = JZ 2007, 1108 m. Anm. Katzenmeier = MedR 2007, 653 m. Anm. Hart, 631. 37 BGH NJW 2007, 2771. 33
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Dass bei Anwendung einer Außenseitermethode eine besonders intensive Aufklärung erforderlich ist,38 liegt auf der Hand, natürlich auch bei einer zweifelhaften Operationsindikation mit hohem Misserfolgsrisiko.39 Bei Anwendung neuer Methoden ist jedenfalls so lange Vorsicht geboten, als sie noch nicht dem Standard entsprechen. Vorher braucht der Arzt auch nicht über die Möglichkeit ihrer Anwendung aufzuklären.40
7. Der Umfang der Arzthaftung Die ärztliche Haftung ist grundsätzlich auf vollen Schadensersatz gerichtet, wie das dem „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ unseres Zivilrechts entspricht. Bloße Mitursächlichkeit reicht aus,41 wenn sich nicht – selten genug – der Verursachungsanteil des Behandlungsfehlers im Sinne einer Teilkausalität abgrenzen lässt.42 Diese volle Haftung bei bloßer Mitursächlichkeit ergibt sich aus den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts – bei der Arzthaftung kann sie problematisch sein, wenn am Gesundheitsschaden auch Risiken aus der körperlichen Verfassung des Patienten beteiligt sind. Deshalb ist es verständlich, dass immer wieder Vorschläge zu einer Begrenzung der Haftung gemacht werden. Dass allerdings Ärzte generell nur bei grober Fahrlässigkeit haften sollen, entspräche nicht mehr unserem Haftungssystem und wäre wohl auch im Hinblick auf das Interesse der Patienten an einer ordentlichen Versorgung nicht akzeptabel. Ein anderer Vorschlag ist die sog. Proportionalhaftung, wie sie Wagner beim 66. DJT propagiert hat.43 Danach soll bei zweifelhaftem Kausalverlauf der Patient in Höhe derjenigen Quote entschädigt werden, die der Wahrscheinlichkeit eines schadensfreien Verlaufs bei sorgfaltsgemäßem Verhalten entspricht. Das klingt zunächst bestechend einfach, wird aber m.E. den besonderen Gegebenheiten des Arzthaftungsprozesses nicht gerecht. Ich habe schon an anderer Stelle dogmatische Bedenken gegen diesen Vorschlag geäußert44 und will mich hier auf wenige Punkte beschränken. Problematisch ist schon der Ausgangspunkt, weil die Proportionalhaftung an den Verlust der Heilungschance anknüpft, der Arzt aber gar nicht den Heilerfolg schuldet, sondern „nur“ eine fehlerfreie Behandlung nach ärztlichem Standard. Auch stellt der Vorschlag viel zu sehr auf die Statistik und den Durchschnittspatienten ab, so dass für die Bewertung des ärztlichen Fehlverhaltens und der konkreten Gegebenheiten kein Raum bleibt. Zudem würde mit diesem Modell den Sachverständigen noch mehr Macht eingeräumt, weil von ihrer Beurteilung dann auch die Höhe des Schadensersatzes abhinge und ein Patient auch bei gröblichstem Fehlverhalten des Arztes keinen Schadensersatz erhielte, 38
BGHZ 172, 254 = NJW 2007, 2774 = MedR 2008, 87 m. Anm. Spickhoff. BGH VersR 1980, 1145. 40 BGHZ 102, 17, 23 ff. = NJW 1988, 763. 41 BGH NJW 1997, 796; zur Mitursächlichkeit auch BGH NJW 2000, 2741; 3423. 42 BGH NJW 1997, 796; vgl. auch BGH NJW 1990, 2882. 43 Wagner, Verhandlungen des 66. DJT, Bd. I, Gutachten A, S. 58 f.; ders. auch in: Festschrift für G. Hirsch, 2008, S. 453. 44 Müller, Verhandlungen des 66. DJT, Bd. II /1, Referat L, S. 26 ff. 39
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wenn der Sachverständige eine vollständige Heilung ohne den Behandlungsfehler für wenig wahrscheinlich hält. All das kann den Patienten nicht befriedigen, dient deshalb nicht dem Rechtsfrieden und widerspricht wesentlichen Grundsätzen der Verschuldenshaftung. Beim Aufklärungsfehler indes kann die Haftung auf vollen Schadensersatz sehr hart sein, wenn nur eine leichte Pflichtverletzung vorliegt, weil etwa bei der Mitteilung zahlreicher Risiken eines vergessen oder nicht hinreichend verdeutlicht wird. Dennoch ist beim materiellen Schadensersatz auch bei leichtester Fahrlässigkeit kein Raum für eine Differenzierung der Haftung nach dem Grad des Verschuldens. Insofern ist es nicht unproblematisch, wenn der Arzt wegen eines leichten Aufklärungsversäumnisses für einen durch die Behandlung verursachten Körperschaden haften soll, obwohl bei Unterlassung der Behandlung ebenfalls eine – womöglich weitaus schwerere – Gesundheitsschädigung zu erwarten gewesen wäre. Denn der Patient kann zwar nach erfolgter Aufklärung den Eingriff ablehnen und damit dessen Risiko vermeiden, wird hierdurch aber meist nicht gesund werden. Dieser Gesichtspunkt des „Tauschrisikos“ kann nach geltendem Recht nur dann zur Versagung von materiellem Schadensersatz führen, wenn sich das Schadensersatzbegehren des Patienten insgesamt als rechtsmissbräuchlich darstellt. Deshalb hat der BGH diesen Gesichtspunkt bisher nur bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in einer schon lange zurückliegenden Entscheidung greifen lassen.45 Doch kann es Unbehagen erregen, wenn z.B. ein Patient nach schwerer Krebsoperation Schadensersatzansprüche aus einem Aufklärungsmangel herleiten will, obwohl er ohne die Operation vermutlich längst gestorben wäre. Solche Fälle kommen vor und können Anlass zum Nachdenken über Sinn und Zumutbarkeit ärztlicher Haftung geben.
8. Wirtschaftlichkeitsgebot und Haftung Ein weiteres Problem sind die Grenzen, die dem ärztlichen Handeln in finanzieller Hinsicht gesetzt sind. Im Schrifttum wird diskutiert, ob echte oder vermeintliche Sparzwänge den Arzt zu Einschränkungen bei der Behandlung verleiten können, die sich der Sache nach als Behandlungsfehler darstellen. Solche Fälle sind bisher nicht zum BGH gelangt. Ob es sie tatsächlich (noch) nicht gibt, oder ob lediglich im Arzthaftungsprozess finanzielle Beweggründe für ein bestimmtes ärztliches Vorgehen als untunlich nicht vorgetragen werden, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls hatte der BGH bisher keinen Anlass, zum Spannungsverhältnis zwischen Wirtschaftlichkeitsgebot und Haftungsregeln46 und insbesondere zu der Frage Stellung zu nehmen, ob echte Sparzwänge dem ärztlichen Handeln auch einmal Grenzen setzen können.47 Das Revisionsgericht kann diesen Aspekt auch nicht von sich aus aufgreifen, wenn er im Prozess von keiner Seite angesprochen wird. 45
BGH VersR 1967, 495; zum Tauschrisiko vgl. auch Steffen/Pauge (Fn. 3), Rn. 438, 453. 46 Zum Wirtschaftlichkeitsgebot vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 323; Müller, in: Festschrift für G. Hirsch, 2008, S. 413, 419 ff.; Steffen/Pauge (Fn. 3), Rn. 136. 47 Zum Verhältnis von Standard und Kassenleistung BVerfGE 115, 25 = NJW 2006, 891.
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Erwähnen möchte ich immerhin die Überlegung meines Kollegen Greiner,48 dass die gemäß § 92 Abs. 1 SGB V aufgestellten Richtlinien Bedeutung für den medizinischen Standard haben können: Wenn nämlich eine Behandlung nach diesen Richtlinien nicht oder nur eingeschränkt abgerechnet werden darf (hierzu § 135 SGB V), wird sie sich schwerlich zum Standard entwickeln können.
II. Medizinische Kompetenz und Patientenautonomie 1. Medizinische Maßnahmen zu Beginn des menschlichen Lebens Der Einfluss des Arztes auf die Entstehung menschlichen Lebens ist groß und nimmt durch den Fortschritt der Fortpflanzungsmedizin noch ständig zu.49 Aus dieser Verantwortung kann sich nach der gefestigten Rechtsprechung des BGH eine Schadensersatzpflicht ergeben, wenn ihm ein Fehler unterläuft und zur Geburt eines Kindes führt, das andernfalls nicht geboren worden wäre.50 Ich möchte mich auf die medizinische Indikation nach neuem Recht beschränken, weil hier Macht und Schranken des Arztes besonders deutlich werden.51 Mit der Neuregelung des § 218a StGB ist im Jahr 1995 die frühere embryopathische Indikation gestrichen worden.52 Das beruht zweifellos auf menschenfreundlichen Erwägungen und soll hier nicht kritisiert werden. Indessen gibt es nach wie vor Kinder mit angeborenen schweren Beeinträchtigungen. Den schweren Konfliktlagen, die sich hieraus ergeben können, wollte der Gesetzgeber dem Vernehmen nach dadurch Rechnung tragen, dass er die medizinische Indikation auf diese Fälle erstrecken wollte.53 Jedenfalls wird sie im strafrechtlichen Schrifttum aus diesem Grund auch als „medizinisch-soziale“ Indikation bezeichnet.54 Das ändert aber nichts daran, dass es eine medizinische Indikation ist und sie nach dem Wortlaut des § 218a Abs. 2 StGB nur dann in Betracht kommt, wenn der Abbruch der Schwangerschaft angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands der Schwangeren abzuwenden. Da diese Indikation sich eindeutig am Befinden der Mutter und nicht an den zu erwartenden Behinderungen des Kindes orientiert, ist es schon bemerkenswert, dass diese Neuregelung und damit der 48
Geiß/Greiner (Fn. 3), Rn. B 9 a. Hierzu Müller, in: Festschrift für Steffen, 1995, S. 355. 50 BGHZ 151, 133 m.w.N. = NJW 2002, 2636 m. Anm. C. Wagner, 3379 = JZ 2003, 151 m. Anm. Stürner = JR 2003, 70 m. Anm. Katzenmeier; zum Schutzbereich eines auf Schwangerschaftsverhütung gerichteten Vertrags BGH NJW 2007, 989 m. Anm. Katzenmeier, LMK 2007, 213142. 51 Zur Problematik des § 218 a StGB Müller, NJW 2003, 697 ff. sowie in: Festschrift für E. Lorenz, 2004, S. 475, 496 ff. 52 Das BVerfGE 88, 203 = NJW 1993, 1751 hatte gegen die embryopathische Indikation übrigens keine Bedenken erhoben. 53 BT-Drucks. 13/1850, S. 51. 54 Nachweise bei Müller, NJW 2003, 697, 702 Fn. 69. 49
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Wegfall der embryopathischen Indikation weithin unbekannt geblieben ist und selbst Juristen noch immer meinen,55 dass schwere Schädigungen eines Embryos per se den Abbruch der Schwangerschaft rechtfertigten. Auch vielen Gynäkologen scheint die vor 13 Jahren geänderte Rechtslage noch immer nicht bekannt zu sein,56 und selbst im Fall der Kenntnis werden sie oft hilflos dem Verlangen einer Frau nach Abbruch der Schwangerschaft gegenüberstehen, wenn die immer präziser werdenden Kontrolluntersuchungen eine schwere Behinderung des Kindes befürchten lassen. Ungeachtet der Frage, ob die gesetzliche Regelung gelungen ist, weist sie ganz klar dem Mediziner die Kompetenz für die Beurteilung der Frage zu, ob die Voraussetzungen für eine medizinische Indikation und damit für einen legalen Schwangerschaftsabbruch gegeben sind. Ob die Schwangere ihn durchführen läßt, unterliegt sodann ihrer eigenen Entscheidung, für die der Arzt ihr die erforderlichen Informationen erteilen muss. Diese Kompetenzverteilung zeigt ein Fall, in dem es um die Frage ging, ob der Arzt insoweit eine Pflichtverletzung begangen hatte und deshalb zum Schadensersatz verpflichtet war.57 Dabei hat der BGH klargestellt, dass sich voraussichtliche Behinderungen eines Kindes allenfalls mittelbar in Richtung einer medizinischen Indikation auswirken können, nämlich dahin, dass die Erwartung eines solchen Kindes und insbesondere eine damit verbundene psychische Belastung die Gesundheit der Schwangeren derart gefährdet, dass ein Abbruch der Schwangerschaft aus medizinischer – und zwar ausschließlich auf die Mutter gerichteter – Sicht indiziert ist. In einem weiteren Urteil58 hat der BGH zu der erforderlichen Prognose Stellung genommen. Dass sie regelmäßig nur von einem Arzt getroffen werden kann, legt diesem letztlich die Verantwortung für Fortsetzung oder Abbruch der Schwangerschaft auf. Denn von dieser Prognose hängt es ab, ob ein legaler Schwangerschaftsabbruch möglich ist, was von Bedeutung für die Entschließung der Schwangeren ist oder jedenfalls sein sollte.
2. Patientenautonomie am Lebensende Im Brennpunkt des Interesses steht derzeit die ärztliche Behandlung am Lebensende bzw. die Frage, inwieweit der Patient diese mit einer sog. Patientenverfügung auch für den Fall wirksam ablehnen kann, dass er seinen Willen nicht mehr zu äußern vermag. Dass zu der Frage, ob eine lebensverlängernde und vielfach kostenintensive Behandlung fortgesetzt oder abgebrochen werden soll, unterschiedliche Vorstellungen beim Patienten bzw. seinem Betreuer, bei seinen Angehörigen und 55
Ipsen, NJW 2004, 268, 270 versteht die medizinische Indikation dahin, dass jede Mutter ein nach pränataler Diagnostik „erbkrankes“ (sic!) Kind bis zum Zeitpunkt der Geburt abtreiben dürfe. Diese Auslegung ist jedoch mit dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift nicht vereinbar. 56 Hierzu Schwenzer, Der Frauenarzt, 2003/5, 490. 57 BGHZ 151, 133 = VersR 2002, 1148; zu einem Fall embryopathischer Indikation vgl. BGHZ 149, 236 = VersR 2002, 233. 58 BGH VersR 2003, 1541; zum Schutzbereich eines auf Schwangerschaftsabbruch gerichteten Vertrags BGH NJW 2007, 989.
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beim behandelnden Arzt bestehen können, liegt auf der Hand und kann insbesondere dann zum Konflikt führen, wenn der Patient selbst seine Wünsche nicht mehr artikulieren kann. Solange er das kann, ist natürlich sein Wille maßgeblich. Dieser Wille sollte auch beachtet werden, wenn er sich aus einer Patientenverfügung feststellen lässt. Die rechtliche und medizinische Problematik solcher Verfügungen ist vom DJT 2006 aufgegriffen worden und wird derzeit in einem Gesetzgebungsverfahren diskutiert. Man kann nur hoffen, dass dieses bald abgeschlossen ist und hierbei die Patientenautonomie ausreichend beachtet wird, auf die kürzlich Prof. Dreier zu Recht nachdrücklich hingewiesen hat.59 Vorläufig muss sich die Praxis noch an einem Beschluss des XII. Zivilsenats des BGH60 orientieren, der sich mit der Einschaltung des Vormundschaftsgerichts beim Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen befasst. Er ist vielfach kritisiert worden61 und hat wohl auch einige Schwachstellen. Bei den Ausführungen, wonach der Betreuer seine Einwilligung in eine vom Arzt angebotene lebenserhaltende oder -verlängernde Behandlung nur mit Zustimmung des Vormundschaftsgerichts verweigern kann, kommt nicht zum Ausdruck, dass bereits die Vornahme einer solchen Behandlung (und nicht erst ihr Abbruch) nach allgemeinen Grundsätzen der Einwilligung des Patienten bedarf. Auch kann man daran zweifeln, ob mit dem irreversiblen und zum Tode führenden Grundleiden die Konfliktlagen ausreichend beschrieben sind, was sicherlich eines der Hauptprobleme der Patientenverfügung ist. Im Übrigen nimmt der Beschluss mit der Zuweisung der Entscheidung an das Vormundschaftsgericht eine sinnvolle Aufgabenverteilung zwischen Arzt und Gericht vor, die grundsätzlich dem Wohl des Patienten entsprechen dürfte. Folgerichtig, wenngleich in Eilfällen wenig praktikabel, erscheint auch, dass das Vormundschaftsgericht die medizinischen Fragen des Falles unter Heranziehung eines medizinischen Sachverständigen zu prüfen hat. Soweit durch diese Zuständigkeitsregelung die Behandlungskompetenz vom Arzt auf das Gericht verlagert wird, sieht nämlich § 1904 BGB ebenfalls vor, dass riskante ärztliche Heilmaßnahmen bei unter Betreuung stehenden Personen der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedürfen. Angesichts dieser gesetzgeberischen Wertung ist die Einschaltung des Vormundschaftsgerichts in Fällen, wo die Einstellung von ärztlichen Maßnahmen nicht nur riskant ist, sondern zum früheren Eintritt des Todes führt, nicht nur konsequent, sondern wird in vielen Fällen den Arzt von einer schweren Verantwortung befreien.
59
FAZ v. 30. 8. 2008, S. 8; zum Gesetzgebungsverfahren Stünker, DRiZ 2008, 248. BGHZ 154, 205 = NJW 2003, 1588. 61 Kritisch Deutsch, NJW 2003, 1567; Kutzer, ZRP 2003, 213; Spickhoff, JZ 2003, 739; Uhlenbruck, NJW 2003, 1710; zur strafrechtlichen Sicht der Sterbehilfe vgl. Ulsenheimer, in Der Urologe 2000, 449. 60
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III. Schluss Ich fasse zusammen: die Macht des Arztes ergibt sich aus seiner Kompetenz und dem Vertrauen, das der Patient ihm deshalb entgegenbringt. Die hauptsächlichen Schranken ergeben sich bereits aus den klassischen Leitprinzipien des ärztlichen Handelns – nämlich Beachtung des Patientenwohls, des Patientenwillens und des Verbots zu schaden –, die durch die Rechtsprechung aufgenommen und präzisiert worden sind.
Der verfassungsrechtliche Rahmen des ärztlichen Handelns Edzard Schmidt-Jortzig Mit dem Verfassungsrecht soll nun für die vielen rechtlichen Aspekte, die schon zur Sprache kamen, der Maßstab geliefert werden, an dem sie ihre Substanz beweisen müssen. Und dies gleich in zweierlei Weise. Zum einen stellt die Verfassung, in Deutschland also das Grundgesetz, die höchste juristisch-positive Normebene dar. Nur die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“, auf die das Grundgesetz gleich im Eingangsartikel Bezug nimmt, sind theoretisch noch höher angesiedelt; aber sie werden dann inhaltlich im Grundrechtskatalog der Verfassung wieder aufgegriffen, so dass sie als aktuelle „Supernorminstanz“ außer Acht bleiben können. Das Grundgesetz also bietet für all die vielen Einzelgesetze, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften, aber auch alle Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte die omnipräsente Nagelprobe, denn sie können eben nur Bestand haben, wenn sie ihm nicht widersprechen. Zum anderen aber stellt die Verfassung auch den Katalysator dar, an dem sich beweist, welches juristisch klingende Vorbringen in der Debatte wirklich rechtliche Bedeutung hat und nicht vielleicht (nur) ein politisches, allgemein vernunftgemäßes oder sogar ein ethisches Argument ist. Denn eines muss auf diesem Diskussionsfeld wieder ins Gedächtnis gerufen und dann festgehalten werden: Nicht alle Verhaltensnormen, die den Einzelnen lenken, sind unbedingt rechtlicher Natur. Viel häufiger sind es ja gottlob Moralvorstellungen oder schlicht eingebrannte Unwägbarkeiten. Namentlich Recht und Ethik müssen als Normquellen mithin auseinander gehalten werden und ebenso Ethik und Religion. Sie mögen zwar in jedem von uns wieder ganz subjektiv zusammenfließen, aber wissenschaftlich oder theoretisch-methodisch gilt es sie strikt zu unterscheiden.
I. Dreipoliges Kräftefeld Wenn danach jetzt also der „verfassungsrechtliche Rahmen“ für das „Bild des Arztes im 21. Jahrhundert“ skizziert werden soll, liegt natürlich die Assoziation zur Malerei und der Darbietung ihrer Werke nahe. Bilderrahmen sind dort normalerweise rechteckig. Nur bei der Avantgarde kommen auch dreieckig eingefasste Kunstwerke vor. Und in der Philatelie etwa kennt man dreieckige Briefmarken nur bei ganz exotischen Staaten. Allemal gilt die Sonderform aber als besonders wertvoll. Augenscheinlich sieht nun auch die Verfassung das Arztbild mit seiner Umrahmung als ein solches Preziosum.
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Jedenfalls geht es hier um ein Dreiecksverhältnis, dessen genauer Inhalt von den jeweiligen Ausstrahlungen der Eckpunkte bestimmt wird. Und es verändert sich sein Aussehen wie bei einem Vexierbild, wenn sich jene Richtgrößen wandeln.
1. Ärztliche Betätigung als freier Beruf: Art. 12 Abs. 1 GG Den oberen Eckpunkt, gewissermaßen die Spitze eines gleichseitigen Dreiecks, gibt das Grundrecht der Berufsfreiheit ab. Diese Gewährleistung hat die arbeitsmäßige Entfaltung des tätigen Menschen im Blick, hier also des Arztes als Person. Sein Tun ist dabei nicht nur Ausdruck seines Freiheitsauslebens und der Darstellung besonderer Neigungen und Fähigkeiten, sondern auch Einkommensquelle und Grundlage für den Lebensunterhalt. Es geht also um die subjektiven Bedürfnisse des Berufsträgers als solchen. Die Grundrechtslehre unterscheidet hier Berufswahl, Berufsaufnahme und Berufsausübung und will im Grunde alle Facetten des Berufslebens bzw. der beruflichen Entwicklung erfassen. So lückenlos der Schutz damit ansetzt, so offen legt die Verfassung allerdings auch die gesetzliche Einschränkbarkeit der Berufsfreiheit an. Obwohl nominell nur Berufsausübungsregelungen zugelassen worden sind, haben Rechtsprechung und Praxis die Eingriffsmöglichkeiten bis in die Anfangsstadien der beruflichen Konkretion vorverlagert und formulieren dafür dann lediglich strengere Anforderungen. Wer jemals Jura studiert hat, kennt den rituellen Tanz um die betreffende sog. „Dreistufentheorie“ des Bundesverfassungsgerichts sicher noch zur Genüge. Man kann realiter danach jedenfalls schon auf die Berufswahl Einfluss nehmen, die Ausbildungswünsche kanalisieren oder die Berufsaufnahme von diversen Voraussetzungen abhängig machen, und das geschieht ja auch mannigfach. Umgekehrt gewinnt die ärztliche Berufsfreiheit allerdings u.U. noch Bestärkung aus anderen Grundrechten, etwa der Glaubens- und Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG, der Privatautonomie bzw. Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) oder dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Aber darauf wird nicht mehr besonders eingegangen, weil dies keine spezifisch ärztliche Rechtsaufbesserung ist, sondern jedem Menschen zusteht. Der Arztberuf gilt danach zwar weiterhin als ein sog. „freier Beruf“, d.h. ein solcher, der im Gegensatz zu den in die Staatsorganisation einbezogenen sog. „staatlich gebundenen Berufen“ noch relativ unvorgeprägt sei und vor allem keine hoheitlich zu verantwortende Tätigkeit ausübt. In der Realität aber hat sich diese Einschätzung stark eingetrübt. Das bemerkt der Interessent schon gleich am Anfang, beim Studienwunsch, wenn Numerus-Clausus-Schranken überwunden werden müssen oder ihn das Verteilungsverfahren an ungewollte, ferne Ausbildungsstätten verschlägt. Und die Dinge setzen sich ja fort. Curriculumsanforderungen, Studien- und Approbationsordnungen, Zulassungsverfahren als Vertragsarzt, sozialrechtliche Therapievorgaben, Berufsrecht, Budgetzwänge, Kautelen von Behandlungsverträgen, Versicherungsbedingungen, strafrechtliche Sorgfaltspflichten, Anstellungskonditionen usw. erfassen ihn allenthalben. Aus dem ursprünglich weitgehend freien Beruf ist längst eine umfassend reglementierte Tätigkeit gewor-
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den. Und auch die Einkommensverhältnisse, Gestaltungsspielräume oder Expansionsmöglichkeiten schrumpfen ja weiter. Die Klagen über einen Ärztemangel nicht nur in abgelegenen Regionen sind Symptom für diesen Freiheits- und Wirksamkeitsschwund und gefährden das Gesundheitssystem insgesamt. Dabei ist der Arztberuf von seinem Tätigkeitsinhalt her an fachlicher Erfüllung und menschlichem Erlebnisreichtum eigentlich unübertroffen. Der verfassungsrechtliche Freiheitsschutz mit seinen Verhältnismäßigkeitsmechanismen bietet aber eben nur begrenzte Zuflucht. Die faktischen Einschnürungen durch Bedingungen des Gesundheitssystems, durch wirtschaftliche Zwänge und politische Entwicklungen erweisen sich offenbar als stärker.
2. Gesundheitsanspruch des Patienten: Art. 2 Abs. 2 GG Der ärztlichen Berufsfreiheit steht verfassungsrechtlich der Wunsch nach gesundheitlichem Wohlbefinden beim einzelnen Menschen gegenüber oder – wie es das Grundgesetz bezeichnet – sein „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Der Anspruch ist in der Verfassung eigentlich als reines Abwehrrecht angelegt worden, verteidigt also nur sein Schutzgut gegen Angriffe. Die Grundrechtslehre betont aber immer stärker auch „Leistungsgehalte“ solcher Gewährung, hat Schutzpflichten des Staates für die garantierten Güter entwickelt und unterliegt namentlich beim Gesundheitssujet auch einem starken völkerrechtlichen Trend, beispielsweise aus dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, wo „das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ anerkannt wird. Selbst die Europäische Grundrechte-Charta spricht ja vom „Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung“. Unter diesen Einflüssen ist das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG heute in seiner Aussage jedenfalls deutlich ausgeweitet worden und mindestens zum verfassungsrechtlichen Schutz einer bestimmten gesundheitlichen Leistungserwartung herangewachsen. Konstitutionell wird mit diesem Grundrecht – wie gesagt – ein Antagonismus zum ärztlichen Handeln (und der dortigen Berufsfreiheit) aufgebaut, obwohl beide Dinge in der Sache doch aufeinander bezogen sind. Es entsteht ein Spannungsfeld, und das Gegeneinander reicht ja bekanntlich so weit, dass rechtlich jede invasive ärztliche Behandlung eine strafbare Körperverletzung darstellt, wenn der Patient dem Eingriff nicht zustimmt. Dieses Dogma hat zwar das Reichsgericht schon ausgangs des 19. Jahrhunderts aus der Taufe gehoben, aber ihm entspricht die geltende Verfassungslage haargenau. Die Polarität gilt heute namentlich auch für die Mitwirkungsansprüche des Patienten. Galt er früher als vorbildlich, wenn er sich „keinen Kopf machte“ über die richtige Behandlung und seinen Arzt so ungedrängt wie vertrauensvoll seine Arbeit tun ließ, so möchte er heute über alles aufgeklärt und konsentiert werden, und das Gesetz gibt ihm darauf einen Anspruch. Hier hat die Betonung der Patientenrechte einen breiten Siegeszug angetreten, und das ist aus Würdegarantie, Selbstbestimmungsgründen und Persönlichkeitsschutz auch absolut richtig so. Im Arbeitsalltag des Arztes aber bedeutet diese Rechtsbeachtung zusätzliche Inan-
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spruchnahme. Der Zeitdruck wächst, die Kontakte werden unpersönlicher, das Behandlungsverhältnis wird geschäftsmäßiger. Grundlage bleibt jedoch allemal, dass es der kranke, sich krank fühlende oder einfach vorsorgende Mensch ist, der sich mit seinem Wunsch nach Gesundheit an einen Arzt wendet. Und dies ist dann bei aller rechtlichen Ausgestaltung als dienstvertragliche Anbahnung mit anschließenden kontraktgemäßen Haupt- und Nebenpflichten ein Vertrauensverhältnis. Der Patient begibt sich letztlich ja deshalb in die Hände eines bestimmten Arztes, weil er an dessen Fähigkeit glaubt, ihm helfen zu können, ihn zu heilen. Und ein einfühlsam geführtes, persönlich dosiertes Aufklärungsgespräch kann dieses Vertrauen auch noch festigen. Für den Patienten besteht im Übrigen grundsätzlich freie Arztwahl. Er sucht sich (mit oder ohne Krankenhauszusammenhang) seinen Arzt aus, weil er sich bei ihm nach Intuition, Erfahrung oder Empfehlung voller Hoffnung und Zuversicht medizinischtherapeutisch gut aufgehoben fühlt. Und der Arzt seinerseits unterliegt, außer in Notfällen oder falls schon eine frühere Einlassung vorliegt, keinerlei Kontrahierungszwang. Er kann mithin die Behandlung des Patienten auch ablehnen und ihn an einen Kollegen verweisen, wenn er persönliche Vorbehalte hat. Dieses Fundament aber wird immer mehr durch Systemanforderungen und Rechtsnotwendigkeiten zugedeckt. Auch beim Gesundheitsanspruch zeigt insoweit eben die erneut ausdrückliche Einschränkungsermächtigung deutliche Wirkung. Allenthalben sind Vorschriften erlassen worden, die mindestens in ihrer gerichtlichen Ausdifferenzierung das Vertrauensverhältnis überlagern. Es gibt also auch für den Patienten alle möglichen Vertragsobliegenheiten, Versicherungsvorgaben und Krankenhausordnungen, die seinen Wunsch nach sehr persönlicher ärztlicher Behandlung konditionieren. Augenfällig steht dafür die Resignation, die ein hoffnungsvoller Patient beim Eintreffen im Krankenhaus spürt, wenn ihn der ganze Verwaltungsaufwand für seine Aufnahme überfallen hat und am Ende noch die ärztliche Aufklärung auf ihn zukommt, die ihm routinemäßig auch die statistisch letzten Lebensrisiken noch eröffnen muss, die mit seinem Behandlungsschritt verbunden sein könnten. Hier wie bei der Berufsfreiheit des Arztes wirkt sich zusätzlich aus, dass Grundrechte sich ja immer an die Hoheitsmacht wenden. Grundrechte gelten genuin nicht zwischen Privatpersonen, sondern wehren staatliche Eingriffe ab bzw. verlangen staatliches Aktivwerden. Zur interpersonalen Geltung – sog. „Drittwirkung“ – brauchen sie Vermittlung durch das Gesetz, sei es durch ausdrückliche Transformation (sog. „Gelenknormen“), sei es über entsprechende Generalklauseln. Gegeneinander bestehende Rechte und Pflichten, Erwartungen und Leistungsgrenzen zwischen Arzt und Patient entspringen entweder dem gemeinsamen Vertrag oder eben verbindlicher gesetzlicher Einmischung. Und das heißt, dass sich schon grundrechtssystematisch der Staat als dritter Akteur in das ArztPatienten-Verhältnis hineindrängt und die Vorstellungswelt des Patienten ebenso wie das Bild des Arztes mitbestimmt.
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3. Sozialstaatsprinzip: Art. 20 Abs. 1 GG Dieser dritte Eckpunkt auf dem Kräftefeld zeichnet sich verfassungsrechtlich nun erst recht durch große Offenheit und Flexibilität, also durch gesetzliche Formungsbedürftigkeit aus. Das Sozialstaatsprinzip ist nicht nur ein unantastbarer Strukturgrundsatz des Gemeinwesens, sondern auch sog. „Staatszielbestimmung“, d.h. ausdrücklicher Gestaltungs- und Verwirklichungsauftrag an die Staatsseite. Und das gilt vor allem inhaltlich, denn die Weite und Unbestimmtheit dessen, was „Sozialstaat“ im Sinne der Verfassung bedeuten soll, verlangt nach den Worten des Bundesverfassungsgerichts konstitutiv lediglich, „dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft“. Was dazu konkret gehört, hat nun der Gesetzgeber zu bestimmen. Für die gesetzliche Krankenversicherung als Teil der Sozialversicherung werden dazu nur noch gewisse Organisationsvorgaben gemacht (Art. 87 Abs. 2 GG) sowie eine staatliche Mitfinanzierungsgarantie gegeben (Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG). Was der Gesetzgeber insoweit nun im Einzelnen ausgeformt hat, lässt sich hier mit Sicherheit nicht abschließend ausbreiten. Verwiesen sei nur auf die umfänglichen Vorschriften im SGB V bei der gesetzlichen Krankenversicherung mit der schönen Gesamteinschwörung auf ausreichende, zweckmäßige und humane Krankenbehandlung (§ 70) – was immer gerichtlich daraus dann hergeleitet wird –, aber ebenso etwa im SGB VII bei der gesetzlichen Unfallversicherung. Auch das auf uns zukommende Ungetüm eines Gesundheitsfonds, dessen Regulierungs-, Kontroll- und Bürokratieansätze das System nicht nur noch komplizierter machen, sondern auch spürbar verteuern werden, mag zur Veranschaulichung dienen. Allemal fühlt sich zudem auf diesem Terrain die Politik zum Tätigwerden besonders animiert. Der „fürsorgende Staat“, „Bürgerfreundlichkeit“, „soziale Gerechtigkeit“ sind die Schlagworte, die hier den öffentlichen Diskurs bestimmen und sowohl verbalen Antrieb erzeugen wie argumentative Rechtfertigung liefern. Und es lässt sich augenscheinlich eben auch Wählerzustimmung erwarten, wenn man zusätzliche Leistungen verspricht, soziale Sicherheiten suggeriert und dem Einzelnen Risiken abnimmt. Vom Verfassungsrecht her kann man hiergegen nur wenig Einwände erheben. Eigentumsschutz für die geleisteten Versicherungsbeiträge, Systemgerechtigkeitsgebote aus dem Gleichheitssatz, Über- und Untermaßverbot oder Organisationskautelen greifen immer nur marginal. Das Sozialstaatsprinzip ist ein Handlungsauftrag an die Politik. Der Bürger kann da auch als Patient nur politisch reagieren. Aber wie begrenzt diese Möglichkeiten in der Massendemokratie sind oder wie medienwirksam man sie andererseits organisieren kann, weiß jeder.
II. Fazit: Das verfassungsrechtliche Bild des Arztes Bei den maßgeblichen Verfassungseckpunkten für das ärztliche Handeln wurde bewusst nicht die Menschenwürdegarantie genannt. Sie ist gleich als erster Aussagesatz des Grundgesetzes verankert worden, rückt damit gewissermaßen vor die Klammer aller anderen Anordnungen und überstrahlt das gesamte Verfassungs-
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werk. Auch die Grundrechte der Berufsfreiheit und des Gesundheitsanspruches erhalten von dort ja ihre besondere Ausrichtung. Aber zusätzliche Einzelaussagen für das ärztliche Handeln – in welche Richtung auch immer – lassen sich daraus nicht gewinnen. Insoweit sind immer die Sondervorschriften des Grundgesetzes heranzuziehen. Die Menschenwürdegarantie zeigt sich dafür zu abstrakt. Wollte man aus ihr konkrete Problemlösungen herleiten, müssten auch erst ihre Voraussetzungen näher bestimmt werden. Bisher aber hat noch niemand eine gültige, subsumtionsfähige Definition menschlicher „Würde“ anbieten können, und wann eine Entität – etwa ein Zellverband – schon „Mensch“ im Sinne der Norm ist, scheint ebenso ungeklärt. Wer hier anderes behauptet und im Brustton der Ergebnissicherheit argumentiert, hat offenbar nicht wirklich die Rechtsnorm der Menschenwürdegarantie im Sinn, sondern diskutiert ethisch oder politisch, und darum soll es hier ja nicht gehen. Es bleibt also bei dem skizzierten Kräftedreieck. Berufsfreiheit, Gesundheitsanspruch und Sozialstaat formen das Bild und zeichnen damit heute eine recht vielschichtige Vorstellung vom ärztlichen Handeln in der Gesellschaft. Der große Nimbus des Arztes als „Herrscher in Weiß“ ist demgemäß sicher vorbei. Auch die gestalterische, humanitäre Weite seiner Wirkungsmöglichkeiten hat sich wohl verflüchtigt. Der Beruf ist rechtlich auf das Normalmaß eines anspruchsvollen Handlungsauftrages zurückgestutzt. Und was dazu die gesellschaftliche Entwicklung oder die rechtliche Normierung beigetragen hat, heißt die Frage nach „der Henne und dem Ei“ zu stellen. Nach wie vor ist aber auch vom Recht her das ärztliche Berufsbild anderen überlegen, weil trotz aller Systemzwänge die interpersonale Vertrauensbasis für die therapeutische Tätigkeit bestimmend bleibt. Und dazu tragen letztlich auch die grundrechtlichen Fundierungen bei. Das gleichbleibend hohe Ansehen des Arztes in der Gesellschaft kommt insoweit nicht von ungefähr.
Das Arztbild der heutigen Hochschulmedizin Joachim Klosterkötter
I. Einleitung Bisher nahmen die Symposiumsbeiträge mehr oder weniger alle auf den Arztberuf überhaupt Bezug, unabhängig davon, ob er etwa in der Allgemeinarzt- oder Facharztpraxis, in Ambulanzen oder medizinischen Versorgungszentren, in Versorgungskrankenhäusern oder gar Universitätskliniken ausgeübt wird. Je nach dem eigenen Aufgabenfeld zwar in Art und Ausmaß etwas anders, vom Grundsatz her aber überall bekommt man es als Ärztin oder Arzt unter diesen Rahmenbedingungen heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts jedenfalls in Deutschland mit denselben Antinomien zu tun. Die Gesundheitspolitik verfolgt schon seit langen Jahren aus naheliegenden Gründen das Ziel, die Belastung der Solidargemeinschaft durch die anwachsenden Kosten des medizinischen Fortschritts unter Kontrolle zu bringen. Das dabei zu Hilfe genommene, bei uns in Deutschland noch junge Wissensgebiet der Gesundheitsökonomie ist naturgemäß an einer sachimmanenten Logik orientiert, die dem herkömmlichen Berufsethos der Ärzteschaft zunächst einmal in vieler Hinsicht widerspricht. Viele gesundheitsökonomisch begründete Maßnahmen wie die Modelle der Integrierten Versorgung, die Disease-Management-Programme oder die Etablierung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, haben zwar auch aus ärztlicher Sicht durchaus sinnvolle Korrekturen mit sich gebracht und sind inzwischen schon zu einer alltagsbegleitenden Selbstverständlichkeit geworden. Wenn wir aber einem schwerkranken Patienten mit seinen Angehörigen gegenübersitzen und dieses konkrete ArztPatienten-Verhältnis aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr im Sinne des ärztlichen Ethos gestalten können, wenn wir zugleich eine Vielzahl einengender Rechtsvorschriften berücksichtigen und oft auch schwerwiegende, Leben und Tod betreffende Entscheidungsaufgaben von philosophisch-ethischer oder gar moraltheologischer Relevanz lösen müssen, dann bekommt man das ganze heutige Spannungsfeld des ärztlichen Handelns in den Blick. Ins Negative gewendet ließe sich feststellen, der Arztberuf kann nur in verantwortungsbewusster Freiheit zum Wohle der Patienten ausgeübt werden, so viel Unfreiheit jedoch in Folge in sich widersprüchlicher zwingender Anforderungen gab es bisher noch nie. Und in positiver Wendung ließe sich dem vielleicht entgegenhalten, was kürzlich der Schweizerische Wissenschaftsrat seinen Empfehlungen für eine zukunftsorientierte Medizin als neu formuliertes Arztbild vorangestellt hat: Vom Arzt wird nicht nur ärztliches Wissen und Können verlangt, sondern auch wirtschaftliche und soziale Kompetenz, eine hoch entwickelte Persönlichkeit, ein Bewusstsein über die Gren-
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zen der medizinischen Möglichkeiten und ein Bewusstsein über die zentrale Rolle der Ethik.1
II. Sonderstellung der Hochschulmedizin Das gerade formulierte Arztbild ist schon anspruchsvoll genug, wird aber durch die Anforderungen der heutigen Hochschulmedizin, denen sich dieser Beitrag zuzuwenden hat, noch einmal stark erweitert und zugleich vertieft. Was die Hochschulmedizin im Unterschied zur Versorgungsmedizin ausmacht, kann man in der großen Aula einer traditionsreichen Universität leicht nachvollziehen. Es sind dies nämlich zunächst Forschung und Lehre, für die Wilhelm von Humboldt, als er seinerzeit die Universitäten des Alten Reiches inspizierte und statt „wirklich qualifizierender Einrichtungen nur Stätten einer pseudogelehrten, wirklichkeitsfernen Halbbildung“2 vorfand, seine folgenreiche Einheitsprogrammatik entwickelte. Die universitäre Freiheit von Forschung und Lehre sollte hiernach nur der in Anspruch nehmen können, der seine Lehre als Teil wissenschaftlicher Forschung konzipiert und die Studierenden nicht nur wie in der Schule auf eine bloße Übernahme von abgemachten und fertigen Erkenntnissen oder Lehrmeinungen verpflichtet, sondern zur Mitwirkung an der Forschung provoziert. Ob Humboldt damals auch schon die Sonderstellung der Medizin mit im Blick hatte und in seine Einheitsforderung auf diesem Gebiet die Krankenversorgung mit einschloss, müsste man in seinen Vorträgen und Schriften einmal nachsehen. Jedenfalls war es auch zu seiner Zeit schon lange klar und entsprach einer selbstverständlichen Tradition seit den frühen Universitätsgründungen im 13. und im 14. Jahrhundert, übrigens auch und gerade in Köln, dass medizinische Forschung und Lehre sinnvoll nur im unmittelbaren Kontakt zum Patienten durchgeführt werden können. Und dies bedeutet eben auch heute noch, dass alle in der Hochschulmedizin tätigen Ärztinnen und Ärzte zugleich in Forschung, Lehre und Krankenversorgung tätig sein sollen und müssen, die Ordinarien, Klinikleiter und Institutsdirektoren natürlich ohnehin, genauso aber auch alle anderen Professoren, Privat-Dozenten sowie Oberärzte und auch schon die Jungassistenten, die noch ganz am Anfang ihrer Karriere stehen. Die Einheit der drei Gebiete wird nach wie vor in ein und derselben Person gesucht.
III. Hochschulmedizin heute Nun soll sich dieser Beitrag naheliegenderweise, weil es ja um die Charakterisierung des Arztbildes zu Beginn des 21. Jahrhunderts geht, nicht zeitübergreifend auf die universitäre Medizin im Allgemeinen, sondern auf die heutige Hochschulmedizin beziehen. Also wäre jetzt im nächsten Schritt zunächst einmal diese 1
Schweizerischer Wissenschafts- und Technologierat, Für eine zukunftsorientierte Hochschulmedizin, SWTR Schrift I/2006. 2 Benner, Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie, Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, 2003.
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heutige Situation in irgendeiner definitorisch plausiblen Weise von früheren Verfassungen der Hochschulmedizin abzugrenzen. Dazu könnte man natürlich mehr oder weniger weit ausholen und vielleicht schon, wie es sich an der Universität zu Köln so schön anböte, auf die frühe wissenschaftliche Vorstellungswelt von Albertus Magnus zurückblicken oder noch andere historische Entwicklungszeiten der Universitätsmedizin kontrastierend nachzuzeichnen versuchen. Stattdessen zeigt Übersicht 1 einfach einmal beispielhaft einige programmatische Sätze, wie sie die Medizinischen Fakultäten derzeit typischerweise ihren Leistungs- und Zielvereinbarungen mit den zuständigen Landesministerien als Leitgedanken voranstellen. Übersicht 1: Heutige Hochschulmedizin Wesentliches Ziel der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln ist es, medizinische Spitzenforschung auf einem international konkurrenzfähigen Niveau zu betreiben und die Forschungsergebnisse möglichst direkt zum Nutzen von Patienten umzusetzen. Unabdingbare Voraussetzung ist hierfür eine enge Verzahnung von Forschung, Lehre und Krankenversorgung. Um am hiesigen Standort auch in Zukunft sichtbar und nachhaltig zum Erkenntnisgewinn in den Lebenswissenschaften beizutragen, wird es notwendig sein, sich dynamisch auf die sich schnell entwickelnden Veränderungen in der biomedizinischen Forschung einzustellen. Zudem gilt es, sich den ebenfalls rasch ändernden Rahmenbedingungen unseres Gesundheitssystems zu stellen.3 Forschung, Lehre und Krankenversorgung sollen also noch enger miteinander verzahnt werden als bisher. Diese wechselseitige Durchdringung gilt als unabdingbare Voraussetzung dafür, dass medizinische Spitzenforschung auf einem international konkurrenzfähigen Niveau betrieben und mit ihren Ergebnissen möglichst direkt in die Patientenversorgung umgesetzt werden kann. Sehr bezeichnend für die heutige Hochschulmedizin ist auch der Verweis auf den rasanten Fortschritt der biomedizinischen Forschung einerseits und die sich ebenfalls rasch ändernden Rahmenbedingungen unseres deutschen Gesundheitssystems andererseits. Nur wenn es gelingt, einen sichtbaren und nachhaltigen Beitrag zum Erkenntnisgewinn in den heute die Medizin überall dominierenden Lebenswissenschaften zu leisten, kann die Fakultät die im nationalen und internationalen Wettbewerb nötige Profilierung erreichen. Das aber setzt, weil erfolgreiche Grundlagenwissenschaft vom Tierexperiment translational über die Anwendung am Menschen bis in die Versorgungspraxis hineingetragen werden muss, wiederum eine geschickte Nutzung jedes sich abzeichnenden Wirtschaftlichkeitsspielraums durch das die Forschung tragende Universitätsklinikum voraus.
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Leitgedanken der Leistungs- und Zielvereinbarung 2007-2010 der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln.
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Übersicht 2: Heutige Hochschulmedizin Bis zum Beginn der 90er Jahre: Traditionelles klinisch-nosologisches Paradigma Vorrang der klinischen Leistung, geringerer Stellenwert der Forschung, Lehre als selbstverständliche Zutat Seither mit zunehmender Entwicklungsgeschwindigkeit: Molekularmedizinisches Paradigma Vorrang der biomedizinischen Forschung, geringerer und durch Wirtschaftlichkeitsforderungen erschwerter Stellenwert der Patientenversorgung, anwachsende Qualitätsansprüche an die Lehre Wenn dies die maßgeblichen Zielsetzungen und Zukunftserwartungen sind, dann muss man gar nicht weit in die Entwicklungsgeschichte zurückblicken, um die heutige Situation kontrastierend von früheren Konstellationen der Hochschulmedizin abzuheben. Noch bis in die 90er Jahre hinein legten die Berufungskommissionen an den Medizinischen Fakultäten, wie dies in Übersicht 2 angedeutet wird, ungleich viel mehr Wert auf die Leistung in der Krankenversorgung. Gesucht wurde in erster Linie der fachlich hoch qualifizierte, organisatorisch hoch erfahrene Kliniker mit imponierender ärztlicher Ausstrahlung und großer Anziehungskraft für die Patienten. Die Forschungsleistung rangierte erst an zweiter Stelle unter den Bewertungskriterien und Qualifikation für die akademische Lehre sowie diesbezügliches Engagement setzte man mehr als eine Selbstverständlichkeit voraus. Das dabei maßgebliche Hintergrundverständnis war noch traditionell klinisch-nosologisch ausgerichtet und ging letztlich auf Gründerväter der modernen Medizin wie Rudolf Virchow oder Robert Koch zurück. Sie hatten erstmals Beschwerden und körperliche Veränderungen als klinische Symptome bestimmter Krankheitseinheiten verstanden und Physiologie oder Biochemie als naturwissenschaftlich arbeitende Hilfsdisziplinen für die Aufklärung der Krankheitsursachen benutzt. Heute ist an die Stelle dieser traditionellen krankheits- und fachbezogenen klinischen Medizin im Zuge der gewaltigen methodologischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte besonders bei der Entschlüsselung des humanen Genoms und der Funktionsweisen des menschlichen Gehirns ein neues Paradigma getreten. Zielsetzung bleibt zwar weiterhin letztlich die Verbesserung von Diagnostik, Therapie und Prävention, man wählt hierfür aber einen anderen, primär grundlagenwissenschaftlichen Weg und versucht die krankhaften Veränderungen des Organismus von den komplexen genetischen, molekularbiologischen und zellbiologischen Mechanismen des Lebens her zu verstehen. Daher wundert es nicht, dass im Anforderungsprofil der Deutschen Hochschulmedizin inzwischen eine ganz unverkennbare und auch von allen maßgeblichen Organisationen der Forschungsförderung, wie dem Wissenschaftsrat oder den Senatskommissionen der DFG, seit langem angestrebte, flankierte und unterstützte Gewichtsverschiebung stattgefunden hat. Natürlich sollen alle geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten weiterhin auch hervorragende Kliniker sein und ihre Leitungsaufgaben in einem Universitätsklini-
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kum wirtschaftlich erfolgreich wahrnehmen können. Es dominiert aber heute anders als noch bis in die 90er Jahre hinein sehr klar die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit unter den Bewertungskriterien, und sie wird umso höher eingeschätzt, je mehr sie durch eine eigene biowissenschaftliche Profilierung gekennzeichnet ist. Sicherlich muss man diese Entwicklung auch vor dem Hintergrund der hoch erfreulichen, den Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert vielleicht einmal auszeichnenden Wiederentdeckung wissenschaftlicher Exzellenz als Hauptziel deutscher Forschungs- und Hochschulpolitik sehen. Man möchte nicht mehr nur die alten Hochzeiten der deutschen universitären Wissenschaft verklären und ab und zu einmal einen deutschen Nobelpreisträger, wie kürzlich auch an der Universität zu Köln, feiern dürfen, der dann zumeist auch noch aus nicht universitären Einrichtungen wie der Max-Planck- oder der Helmholtz-Gesellschaft hervorgegangen ist. Die eklatanten Rückstände in Forschung und Bildung sollen allmählich aufgeholt, die großen Potentiale der außeruniversitären Forschungsgesellschaften mehr für die wissenschaftliche Entwicklung der Universitäten nutzbar gemacht und immerhin drei bis vier deutsche Hochschulen auf das Niveau international konkurrenzfähiger Eliteuniversitäten angehoben werden. Wenn man in diesem Zusammenhang nun mehr und mehr auch die Bedeutung der akademischen Lehre wiederentdeckt und sie ähnlichen Exzellenzkriterien wie die Forschung unterwerfen will, dann ist diese Forderung im Rückblick auf Humboldts Einheitsprogramm nur konsequent und auch in der Hochschulmedizin schon präsent.
IV. Zentrale Umstrukturierungsmaßnahmen Woran kann man denn, das wäre jetzt naheliegenderweise die nächste Frage, diesen Paradigmenwandel erkennen? Am besten dürften die großen, zentralen Umstrukturierungsmaßnahmen hierüber Aufschluss geben, mit denen die Medizinischen Fakultäten und die Universitätsklinika in Deutschland auf die neuen Herausforderungen reagieren. Sie sind an den einzelnen Standorten unterschiedlich weit vorangeschritten und lassen sicherlich auch die ein oder andere standortspezifische Variante erkennen, laufen aber im Grundsätzlichen überall nach derselben Entwicklungslogik ab.
1. Schwerpunktbildung Der wichtigste dieser langfristig angelegten und über sukzessiv zu erreichende Meilensteine in die Zukunft hineinprojizierten Umstrukturierungsvorgänge ist sicherlich in der Schwerpunktbildung zu sehen. An die Stelle der im vergangenen Jahrhundert mehr oder weniger naturwüchsig entstandenen Standortprofile, für die dann oft eine durch Mundpropaganda oder Medieninformation vermittelte Bewertung zu der breitenwirksamen Annahme führte, dass man ein bestimmtes Krankheitsbild am besten in dieser oder jener Universitätsklinik behandeln könne, sollen tatsächliche Forschungsschwerpunkte treten. Sie müssen, wie dies die in Übersicht 3 wiedergegebenen diesbezüglichen Forderungen des Wissenschaftsrats an-
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zeigen, durch wissenschaftliche Exzellenz charakterisiert sein und diese auch durch Evaluationsgrößen fortlaufend belegen können. Übersicht 3: Forschungsschwerpunkte Ein Schwerpunkt wird durch wissenschaftliche Exzellenz charakterisiert. Klinische Expertise und Anerkennung genügen nicht, einen Bereich als universitätsmedizinischen Schwerpunkt zu definieren. Vielmehr muss der Schwerpunkt akademisch begründet werden und sich anhand seiner Input- und Output-Größen messen lassen können. Ein Schwerpunkt wird nicht durch wissenschaftliche Einzelleistungen definiert, sondern durch thematische Fokussierung, an der mehrere Institutionen oder Arbeitsgruppen beteiligt sind. Forschungsschwerpunkte zeichnen sich durch die Einwerbung von Gruppenförderinstrumenten wie zum Beispiel Sonderforschungsbereiche, klinische Forschergruppen, Graduiertenkollegs etc. aus.4 Als zwingender Exzellenznachweis gilt bei uns in Deutschland vor allem die Einwerbung von Sonderforschungsbereichen, klinischen Forschergruppen oder Graduiertenkollegs der DFG. Wenn es sogenannte Alleinstellungsmerkmale gibt, also etwa bestimmte wissenschaftliche Methodologien oder Untersuchungs- und Behandlungsverfahren, die nur an diesem einen Standort angeboten werden können, dann empfiehlt es sich, die Schwerpunktbildung genau hierauf zuzuschneiden. Dann lassen sich die Kliniken, Institute und wissenschaftlichen Arbeitsgruppen, die bei der Generierung und der Anwendung dieses Alleinstellungsmerkmals miteinander kooperieren müssen, umso besser zu einem thematisch fokussierten Schwerpunkt zusammenfassen. Für den Erhalt und die Fortentwicklung dieser Umstrukturierung kommt es folgerichtig darauf an, durch neue Kommunikationsformen eine Schwerpunktkultur und auch so etwas wie eine Schwerpunktidentität zu schaffen, die das bisherige Leitbild aller ärztlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erweitert und ergänzt.
2. Transparenzrechnung Die Hochschulmedizingesetze und gerade auch das neue in Nordrhein-Westfalen sehen vor, dass die Entscheidungsbefugnis der Fakultät über die Verwendung des Landeszuschusses für Forschung und Lehre besser abgesichert werden muss als bisher. Das ist nur konsequent und entspricht auch einer schon langjährigen Forderung des Wissenschaftsrats und anderer Forschungsförderinstitutionen, weil der Erfolg solcher Umstrukturierungsmaßnahmen wie der Schwerpunktbildung natürlich von der Steuerungsmöglichkeit dieser Finanzmittel abhängig ist.
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Wissenschaftsrat, Allgemeine Empfehlungen zur Universitätsmedizin, 2007.
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Übersicht 4: Trennungs-(Transparenz-)rechnung Das Universitätsklinikum dient dem Fachbereich Medizin zur Erfüllung seiner Aufgaben in Forschung und Lehre. Es nimmt Aufgaben in der Krankenversorgung einschließlich der Hochleistungsmedizin und im öffentlichen Gesundheitswesen wahr. Es gewährleistet die Verbindung der Krankenversorgung mit Forschung und Lehre. Über die Verwendung des Landeszuschusses für Forschung und Lehre entscheidet der Fachbereich Medizin. Es muss sichergestellt werden, dass Mittel für Forschung und Lehre nicht für Aufgaben in der Krankenversorgung zweckentfremdet werden. Ebenso dürfen die erwirtschafteten Budgets für die Krankenversorgung nicht für Forschung und Lehre eingesetzt werden. Wegen der Verpflichtung der Fakultäten, ein Höchstmaß an Leistungseffizienz mit Hilfe der Landesmittel zu erreichen, ist eine transparente Kostenzuordnung unumgänglich.5 Je mehr an zweckentfremdender Querfinanzierung der Krankenversorgung vermieden werden kann, um so mehr steht dann an personellen und sachlichen Ressourcen für die Förderung von Forschung und Lehre zur Verfügung. Diesbezüglich volle und tragfähige Abstimmungen zwischen dem Fakultäts- und dem Klinikumsvorstand herbeizuführen, ist natürlich nicht immer einfach. Denn die Universitätsklinika erhalten ja bislang zumeist noch das komplette medizinische Fächerangebot und sichern es vor allem deshalb, weil sie der Fakultät für die Erfüllung der Aufgaben in Forschung und Lehre dienen. Würden sie nur ihre Aufgaben in der Krankenversorgung und dem öffentlichen Gesundheitswesen wahrnehmen sowie dazu noch Hochleistungsmedizin betreiben und sollten dabei unter den heutigen ökonomischen Rahmenbedingungen wirtschaftlich bleiben, müssten sie sich vielleicht von dem einen oder anderen Fächerangebot trennen. Umgekehrt gilt daher genauso klar und deutlich, dass die Erlössituation der Universitätsklinika nicht durch Querfinanzierung von Forschung und Lehre geschmälert werden darf.
3. Leistungsorientierte Mittelvergabe für Forschung und Lehre Noch eine andere, eng mit der Schwerpunktbildung zusammenhängende Umstrukturierungsmaßnahme, beginnt heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr und mehr das Arztbild der deutschen Hochschulmedizin zu prägen. Sie wird in Übersicht 5 wiederum durch die einschlägigen Forderungen des Wissenschaftsrats verdeutlicht.
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Hochschulmedizingesetz (HMG) NRW v. 20.12.2007, GVBl. S. 744.
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Übersicht 5: Leistungsorientierte Mittelvergabe Durch die leistungsorientierte Mittelvergabe soll ein wettbewerblicher Anreizrahmen geschaffen sowie Transparenz hinsichtlich der Budgetierung einerseits und der Leistungen andererseits erreicht werden. Im Bereich der Forschung sollte es in letzter Konsequenz möglich werden, Abteilungen, die keine nachweisbaren Forschungsleistungen erbringen, Forschungsressourcen weitestgehend zu entziehen, um sie in wissenschaftlich aktive Bereiche umzulenken. Auch die Zuteilung des Lehrbudgets sollte über eine leistungsorientierte Komponente verfügen. Nur wenn gute Lehrleistungen einen entsprechenden Ressourcenzufluss sicherstellen, besteht ein wirksamer Anreiz, die Lehre zur zentralen Aufgabe neben der Forschung jeder Medizinischen Fakultät zu machen. Wer keine nachweisbaren Forschungsleistungen erbringt, dem sollen die Forschungsressourcen entzogen werden, um sie in wissenschaftlich aktive Bereiche der Medizinischen Fakultäten umzulenken. Dieselbe leistungsorientierte Mittelvergabe soll auch die zunehmend als dringlich erachtete Verbesserung der Lehrleistungen in der Hochschulmedizin voranbringen. Die Landesministerien benutzen dieses Instrumentarium, indem sie die Verteilung der Mittel auf ihre verschiedenen hochschulmedizinischen Standorte an solchen Leistungskriterien orientieren, und auch die großen Forschungsförderungsinstitutionen verwenden es, wenn sie die Förderungszusage für Großprojekte zunehmend auch vom Umsetzungsstand der leistungsorientierten Mittelvergabe an den betreffenden Fakultäten abhängig machen. Man tut also gut daran, jeweils den besten eigenen Umsetzungsweg herauszufinden, der dann wirklich auch die Forschung und Lehre in der jeweiligen Schwerpunktstruktur optimiert.
V. Entwicklungsziele im Bereich der Lehre Verbesserungen der akademischen Lehre beispielsweise durch medizindidaktische Weiterbildung und unterschiedliche Verfahren der Qualitätssicherung werden einmal schon benötigt, um die reformierten Regelstudiengänge mit ihrer verstärkten Ausrichtung auf den praktizierenden Arzt mit dem von ihm verlangten eigenverantwortlichen Handeln im unmittelbaren Patientenbezug erfolgreich durchführen zu können. Noch mehr verlangen die in manchen Fakultäten in der Erprobung befindlichen Modellstudiengänge mit ihrer verstärkt gegenstandsbezogenen und fächerübergreifenden Organisation hohe Qualifikation und starkes Engagement von allen Lehrenden. Hinzu kommen neue medizinnahe Studienangebote, die aktuelle Entwicklungen in den Biowissenschaften und/oder Sozial- und Geisteswissenschaften mit der Medizin verknüpfen. Sie sollen, und das ist sicherlich auch im Hinblick auf das Leitbild vom Arzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts sehr sinnvoll, eine vertiefte Methodenkompetenz hinsichtlich aller relevanten Umgebungswissenschaften herstellen. Schließlich sind in diesem Zusammenhang auch die Stu-
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dienbeiträge noch mit anzuführen, die, wie umstritten sie auch sein mögen, doch bei zielgenauem, transparent gemachtem und konsensgetragenem Einsatz deutliche Verbesserungsmöglichkeiten etwa der baulichen Infrastruktur oder auch des Verhältnisses zwischen Lernenden und Lehrenden bieten.
VI. Krankenversorgung in der Hochschulmedizin Auf die Krankenversorgung in der Hochschulmedizin schließlich wurde mit den bisherigen Ausführungen ja schon wiederholt Bezug genommen hinsichtlich ihrer dienenden Funktion für Forschung und Lehre etwa und natürlich auch im Hinblick auf den starken Eigenanspruch, eine über das Niveau der Krankenhäuser der Maximalversorgung noch hinausgehende Hochleistungsmedizin anzubieten. Die Verwirklichung dieser Zielsetzungen fällt allerdings unter den heutigen Rahmenbedingungen in unserem deutschen Gesundheitssystem alles andere als leicht. Die gravierenden Schwierigkeiten, mit denen alle Krankenhäuser nicht erst seit der Einführung der diagnosebezogenen Einheitspreise, sondern schon seit langem in Folge der gesundheitspolitisch erzwungenen Kostendeckelung zu kämpfen haben, zugespitzt inzwischen noch durch nicht oder nur unzulänglich ausgeglichene Tarifsteigerung, ausufernde Personalkosten durch die Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes und vieles andere mehr, potenzieren sich ja notwendigerweise in den Universitätsklinika noch. Da man all das jetzt täglich aus den Medien entnehmen kann, etwa den vielen aufgeregten Diskussionen über den Gesundheitsfond oder das Krankenhausfinanzierungsreformgesetz, soll hierauf nicht näher eingegangen und stattdessen nur auf die in Übersicht 6 zusammengestellten Entwicklungsperspektiven und Leitbildkomponenten noch verwiesen werden. Übersicht 6: Krankenversorgung in der Hochschulmedizin Patientenversorgung in modernen integrativen Diagnostik- und Behandlungszentren, die den medizinischen Fortschritt fächerübergreifend krankheitsbezogen umsetzen und innovativ weiterentwickeln. Sicherstellung und Förderung der Wirtschaftlichkeit durch erlösorientierte Budgetierung mit weitgehender Eigenverantwortlichkeit der Zentren für den klinischen und ambulanten Ressourceneinsatz. Klinikumsweite Sicherstellung und Förderung eines durch Empathie und verantwortungsbewusste Zuwendung gekennzeichneten Arzt-Patienten-Verhältnisses. Qualitätskontrolle, Patientenschutz, Beschwerdemanagement und institutionell verankerte Verfahren zur ethischen und juristischen Güterabwägung bei Leben und Tod betreffenden Entscheidungsaufgaben.
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Maßgebliche Organisationseinheiten der Krankenversorgung werden nicht mehr so sehr die einzelnen Universitätskliniken, sondern vielmehr fächerübergreifende organ- oder krankheitsbezogene Diagnostik- und Behandlungszentren sein. Der Unwirtschaftlichkeit immer noch viel zu vieler Versorgungsbereiche tritt man am besten dadurch entgegen, dass man die Klinik- oder Zentrumverantwortlichen auf ihre jeweilige Erlössituation verweist und innerhalb dieses Rahmens eigenverantwortlich wirtschaften lässt. Und klar erkannt ist es auch, dass gerade die Universitätsklinika in all ihren Funktionsbereichen ein Arzt-Patienten-Verhältnis sicherstellen müssen, das auch der psychosozialen Lebenswelt der Kranken und ihrer Angehörigen gerecht wird und bei schweren Entscheidungsaufgaben ethische und theologische Beratung in Anspruch nimmt. Gerade der in Übersicht 6 zuletzt hervorgehobene Punkt der festen Institutionalisierung in Form etwa von klinischen Ethikkonsilen, von Ethikforen für die Diskussion innovativer Forschungsprogramme, von ethisch ausgerichteten Curricula in den Reformstudiengängen u. a. ist stark zu betonen. Je mehr die Molekularbiologie mit ihrem stark naturalistischen Menschenbild die Hochschulmedizin bestimmt, umso mehr müssen die sich daraus immer weiter ergebenden Eingriffsmöglichkeiten in Lebensvorgänge in ein normativ-konsensuales Regelwerk eingebunden werden. Dazu bedarf es vor allem auch einer konkreten auf die jeweiligen Anwendungsperspektiven ausgerichteten empirischen Ethikforschung, wie sie das BMBF erfreulicherweise mehr und mehr zu fördern beginnt.
VII. Einheit von Forschung, Lehre und Krankenversorgung durch neue Organisationsformen Was bedeutet dies alles für das Arztbild der Hochschulmedizin zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Kann man denn überhaupt Forscher, akademische Lehrer, patientenbezogen und wirtschaftlich denkender Kliniker, umfassend biopsychosozial orientierter und ethisch fundierter Arzt zugleich in ein und derselben Person sein, wenn die Anforderungen in der Hochschulmedizin derart angewachsen sind? Die Antwort auf diese Frage war noch vor wenigen Jahren auch aus maßgeblichen DFG-Kreisen heraus ein so klares Nein, dass man eine Doppelbesetzung der Leitungspositionen mit Chefärzten für die Krankenversorgung einerseits und Professoren für Forschung und Lehre andererseits ins Auge zu fassen begann.
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Abb. 1: Neue Qualifizierungswege der Universitätsmedizin6
Tatsächlich nehmen die Karrierewege in der Hochschulmedizin ja oft auch Verläufe, wie sie in dieser Abbildung skizziert werden: nach der Facharztweiterbildung über die Oberarztfunktion zur klinischen Leitungsposition einerseits oder über Postdoktoranden-Zeit und die Juniorprofessur zur wissenschaftlichen Leitungsposition andererseits. Und es muss Besorgnis erregen und zu Gegensteuerungen Anlass geben, dass insbesondere die wissenschaftliche Laufbahn in den letzten Jahren immer weniger attraktiv geworden ist und sich dieses Problem jetzt durch die schlechteren Verdienstmöglichkeiten der Forschenden im Vergleich zu den klinisch Tätigen infolge der neuen Arzttarife noch weiter erschwert. Wenn duale Klinikleitungen allerdings die Aufgabenbereiche auseinander driften ließen, würde dies die volle Wertschöpfungskette von der Grundlagenforschung über die translationale und die klinische Forschung bis hin zur Versorgungsforschung behindern und damit der wichtigsten Zielsetzung heutiger Hochschulmedizin zuwider laufen. Deshalb kommt alles darauf an, die in einer Person nicht mehr zu leistende und durch zwei Personen in der Leitungsfunktion möglicherweise eher gefährdete Einheit jetzt und in Zukunft mehr und mehr auf institutioneller Ebene sicherzustellen durch geregelte Verbindungswege in den neuen Schwerpunkt- und Zentrenbildungen, die Forschung, Lehre und Krankenversorgung zusammenführen.
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Wissenschaftsrat, Empfehlungen zu forschungs- und lehrförderlichen Strukturen in der Universitätsmedizin 2004
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VIII. Schlussbemerkung Ob uns dies alles in der deutschen Hochschulmedizin gelingt, bleibt abzuwarten. Wieder ins Negative gewendet, könnte man feststellen, das Arztbild der deutschen Hochschulmedizin war noch nie auch nur annähernd so anspruchsvoll und zugleich im Arbeitsalltag der Universitätsklinika so schwer umsetzbar wie heute. Dem ließe sich aber dann auch wieder entgegen halten, dass es noch nie so viele aussichtsreiche und faszinierende Entwicklungsperspektiven wie heute bei der Nutzbarmachung der Lebenswissenschaften für die Krankheitsbeherrschung gab.
Das Kontinuum des Ärztlichen Klaus Bergdolt
I. Das Wesen des Ärztlichen Ungeachtet aller Ökonomisierungstendenzen innerhalb unseres Gesundheitssystems sowie aller bedrohlich erscheinenden Entwicklungen auf dem Finanzmarkt, die uns in diesen Tagen sprachlos machen, darf ein wichtiger Punkt nicht übersehen werden: Mag sich in der Medizin auch alles ändern – etwas bleibt doch bestehen, was die Heilkunde seit Urzeiten auszeichnet. Es handelt sich um die klassische Begegnung eines hilfesuchenden, häufig verzweifelten, sich in seiner Existenz bedroht fühlenden Menschen mit einem kompetenten Helfer, worunter man gemeinhin – nicht nur in den westlichen Ländern – den akademisch gebildeten Arzt versteht.1 Daran darf sich – so der Wunsch unzähliger Betroffener – auch in Zukunft nichts ändern. Wer beruflich mit der Krankenversorgung zu tun hat, weiß: Nicht in ein berufsfremd verwaltetes Kompetenzzentrum, nicht in den Case Manager, nicht in ebenso ausufernde wie überfordernde Internet-Ratschläge, nicht in die Gesundheitsbeilagen der Zeitungen, nicht in die Hotline von Ministerien und Ämtern, nicht in Beschlüsse des Fakultätentages oder die Mahnung von Gesundheitsbürokraten setzt der wirklich Kranke seine Hoffnung, sondern in den guten Arzt. Planungen (auch wenn es sich „nur“ um unbeabsichtigte „Nebenwirkungen“ gutgemeinter Umstrukturierungen handelt), dieses vom Urvertrauen in die ärztliche Kunst getragene Verhältnis, das vor allem auf einem die Würde des Kranken respektierenden Dialog beruht, zu erschweren, erscheinen deshalb inhuman und ethisch mehr als fragwürdig. Es muss als Alarmzeichen gedeutet werden, wenn Professor Schmidt-Jortzig, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, sinngemäß sagte, die humanitären Möglichkeiten des deutschen Arztes hätten sich in den letzten Jahren deutlich verringert.2 Alles spricht dafür, dass er recht hat. Aber ist dieses Faktum nicht eine Provokation für das ärztliche Selbstverständnis? Steht es nicht für eine Verrohung des medizinischen Systems? Müsste die Gesellschaft hier nicht rebellieren? Ärzte waren selten Heilige, und in ihrem Interesse an Gewinn und Prestige unterschieden sie sich in nichts von anderen Traditionsberufen. Allerdings ginge es an der Realität vorbei, zu behaupten, dass man im ärztlichen Alltag allein aus technischem oder ökonomischem Interesse glücklich werden kann. Stress, Druck, Verantwortung und persönlicher Einsatz sind (und waren schon immer!) allzu einschneidend. Unzählige Haus-, Klinik- und Notärzte sehen noch immer in der freundlichen Behandlung ihrer Patienten die wichtigste und schönste Seite ihres Berufs. Dies macht sie erst zu guten Ärzten! 1 2
Vgl. Unger (Hrsg.), Paradigma der Medizin im 21. Jahrhundert, 2007, S. 3-7. Schmidt-Jortzig, S. 87, 92.
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Das Vertrauen in den Arzt, das jeder Kranke anstrebt, schließt natürlich nicht aus, dass auch Psychologen, Sozialarbeiter, Geistliche und ganz besonders die Pflegeberufe im Medizinischen System wichtige Rollen spielen. Ohne sie wird es auch in Zukunft nicht gehen. Wer hier – oft am grünen Tisch, fern der Realität – harte Einsparungen plant, kratzt an der Substanz der Krankenversorgung. Der Patient im Krankenhaus – und von ihm sei zunächst die Rede – braucht dringend die Unterstützung all dieser Berufsgruppen,3 denken wir nur an den Sozialarbeiter, der dem alleinstehenden Multimorbiden – unter oft völlig veränderten Bedingungen nach einem Krankenhausaufenthalt – doch noch die Rückkehr und Integration in die Gesellschaft ermöglicht. Und dennoch: Der Patient kommt, selbst im Notfall, zunächst wegen des Arztes bzw. der Ärzte in die Klinik oder Praxis, weil er – ich idealisiere bewusst, weil dies auch viele Kranke in kritischen Momenten tun – kompetent und einfühlsam, d.h. ärztlich behandelt werden will. Alle Neuerungen der Medizingeschichte konnten hieran nichts ändern. Um kurz zurückzublicken: Vesals bahnbrechende Entdeckungen zur menschlichen Anatomie (im 16. Jhd.), die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey (im 17. Jhd.), die Organpathologie Morgagnis sowie die Emanzipation der Chirurgie (im 18. Jhd.) und schließlich die Zelltheorie Virchows (im 19. Jhd.) veränderten das subtile Verhältnis von Arzt und Krankem, diesen einzigartigen „Gestaltkreis“ (Viktor von Weizsäcker4), erstaunlich wenig. Der Diskurs der Forschung und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wechselten häufig, der hilfesuchende Patient blieb.
II. Bedrohungen des Arzt-Patienten-Verhältnisses 1. Das Paradigma der reinen Naturwissenschaft Allerdings führte der von Virchow betriebene Paradigmenwechsel hin zur naturwissenschaftlich-positivistischen Medizin gegen Ende des 19. Jahrhunderts – man darf aus aktuellem Anlass daran erinnern! – in Deutschland dazu, dass große Krankenhäuser, vor allem Universitätskliniken, eher unbeliebt waren, weil das Gespräch mit dem Arzt dort nur bedingt geschätzt wurde und – so wurde es jedenfalls von breiten Volksschichten empfunden – kalte Technik zu triumphieren schien. Es waren allerdings – im Gegensatz zu heute – die Ärzte selbst, die damals dem Positivismus huldigten. Nur die ärmsten Berliner ließen sich, nicht ohne Ressentiments und gegängelt durch das in den Neunzigerjahren eingeführte Sachleistungsprinzip der Krankenkassen,5 vor 100 Jahren in der Charité behandeln. Reiche Patienten, „Prominente“ und Adlige sah man dort vor 1900 kaum. Sie fürchteten Objekt einer Studie zu werden. Auch andere Großkrankenhäuser hatten Mühe, ihr 3
Zur historischen Entwicklung der Pflegeberufe vgl. Seidler/Leven, Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, 7. Aufl. 2003. 4 v. Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, 4. Aufl. 1950. 5 Vgl. Labisch/Spree, Neuere Ergebnisse und Entwicklungen einer Sozialgeschichte der Medizin und des Gesundheitswesens in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 5 (1982), S. 209, 215.
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altes Image von Armenanstalten abzustreifen, mit der Konsequenz, dass lange Zeit selbst Arbeiter und Tagelöhner, ungeachtet ihrer oft unwürdigen Wohn- und Hygienebedingungen, der familiären Pflege den Vorzug gaben. Bei aller Bewunderung für das naturwissenschaftliche Paradigma, das mit „alten Lehren“ (Karl Wunderlich6) brach und auch in der Presse gefeiert wurde, erlitt die Schulmedizin einen einschneidenden Vertrauensbruch. Die ärztliche Elite hatte ihn selbst provoziert. Der französische Physiologe Claude Bernard hatte um 1870 das berühmte, einprägsame Bild vom „Tempel der medizinischen Wissenschaft geschaffen“, dessen „Vorhalle“ der Patient, dessen „Allerheiligstes“ das Labor darstellt. Die mit bestem Gewissen gewählte Metapher entsprach ganz dem Zeitgeist. Niemand aus der Universitätselite widersprach. Moral wurde zunehmend nach den Kriterien und Ergebnissen der Naturwissenschaften interpretiert.7 Bereits 1869 hatte der Chirurg Friedrich Esmarch erklärt, „dass unsere Zeit in der Humanität mächtig Fortschritte gemacht hat und auch in dieser Beziehung höher steht als die sogenannte ‚gute alte Zeit’.“8 Die Menschen mieden das Krankenhaus dennoch. Den naturwissenschaftlich begabten, psychologisch häufig weniger geschulten Ärzten, die das nicht verstanden, erschien es sogar konsequent, als Vorbedingung des klinischen Medizinstudiums das Philosophicum durch das Physicum zu ersetzen.9 Geisteswissenschaften sollten in der Medizin keine Rolle mehr spielen, „Kegelschnitte! Kein griechisches Skriptum mehr“, empfahl der Physiologe Emil Du BoisReymond (1818-1896), der sich für seine Berliner Rektoratsrede den anklagenden Titel „Goethe und kein Ende“ gewählt hatte.10 Neben Mechanik, Hydrostatik und Hydraulik zählte nun vor allem die Mathematik, „welche zu einem geordneten Denken gewöhnt“ (so der Tübinger Arzt Wilhelm Ploucquet), zu den medizinischen Basisfächern.11 Die Seele, d.h. die subjektive Sicht des Menschen verschwand zunächst aus dem Lernstoff des Medizinstudenten. Der französische Philosoph Auguste Comte (1798-1857), einer der Vordenker der neuen Medizin, hielt das Individuum für „eine zu überholende Abstraktion“.12 Dass dem Arzt im Kranken auch ein fühlender, sich fragender, ängstlicher, Trost suchender, unsicherer Mensch gegenübersteht, meilenweit weg vom „Kunden“, der heute im „Gesundheitsladen“ verharmlosend hochgejubelt wird, wurde verdrängt. Das Gespräch mit dem Patienten und seinen Angehörigen, jahrtausendelang eine der wichtigsten 6 Vgl. nach Schipperges, Utopien der Medizin. Geschichte und Kritik der ärztlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts, 1968, S.79. 7 Vgl. Bergdolt, Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute, 2004, S. 242-248. 8 Zit. nach Schipperges (Fn. 6), S. 86. 9 Lenoir, Politik im Tempel der Wissenschaft, Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, 1992, S. 71. 10 Schipperges (Fn. 6), S. 130. 11 Ploucquet, Der Arzt oder über die Ausbildung, die Studien, Pflichten, Sitten und Klugheit des Arztes, 1797, S. 29 f. 12 Zit. Schipperges (Fn. 6), S. 74.
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ärztlichen Pflichten, schien Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich verloren.13 Es wurde bestenfalls (häufig leicht euphemistisch) durch die „Information“ ersetzt. Dass diese durch die selbstherrlich-paternalistische Entscheidung des Arztes gefiltert wurde, war selbstverständlich. Ploucquet zeigte sogar Bedenken, in kritischen Situationen Familienangehörige zu informieren, könnten sie doch „mit Weinen und Lamentieren“ den Patienten belästigen und „eine dem Kranken nicht eben vorteilhafte Unruhe“ ins Krankenhaus bringen.14
2. Gegenreaktionen Die breiten Schichten der Bevölkerung, Arme wie Wohlhabende, die sich zu Hause behandeln ließen, waren eher beunruhigt. Das Urvertrauen zum Arzt wankte, weshalb Alternativmediziner verschiedenster Couleur und diverse Kurorte um 1900 rasenden Zulauf erhielten. Hier war die klassische Begegnung von oft charismatischen Ärzten und Patienten noch möglich.15 Mit menschlicher Zuwendung und der individuell-exklusiven Atmosphäre der Sanatorien wurde sogar demonstrativ Reklame gemacht.16 Zudem schossen kirchliche Krankenhäuser aus dem Boden, die durchaus Gegenmodelle zu den Universitätsklinika darstellten. Sie genossen das Vertrauen der Massen, auch wenn diese, wie in Berlin, wenig mit Religion zu tun hatten. Auch Virchow spottete über die „Leviten, Mönche und Diakonissen“.17 Die uralte christlich-religiöse Motivation Kranken zu helfen und die neue naturwissenschaftliche Begeisterung schienen vielen ihrer Protagonisten inkompatibel. In den 16 hier in Köln zwischen 1840 und 1909 gegründeten Krankenhäusern waren unter insgesamt 646 Pflegepersonen 538 Ordensschwestern, 20 Diakonissen (im einzigen evangelischen Krankenhaus) sowie 23 jüdische Pflegerinnen (im Israelitischen Hospital in Ehrenfeld). „Weltliche“ Pflegerinnen stellten somit eine absolute Minderheit dar.18 Auch die 1836 in Kaiserswerth von Theodor Fliedner (1800-1864) begründete Bewegung der Diakonissen sah in der menschlich-individuellen Betreuung von Krankenhauspatienten und Notleidenden ihre Hauptaufgabe. Diese Frauen sprachen mit den Patienten, sie fingen sie auf. Die Avantgarde der Forschung nahm dies mit einiger Arroganz wahr. Dafür boomte die kleine Praxis der niedergelassenen Hausärzte. Auch das war eine Gegenbewegung zur Atmosphäre des Großkrankenhauses, wo man allerdings bald auch Ordensschwestern und Diakonissen für die Pflege gewann. Allgemein lässt sich sagen: Erst nach dem ersten Weltkrieg fasste man zu den großen Kliniken wirklich Vertrauen, nicht zuletzt aus der Erfahrung des Lazarettbetriebs, wo, wie schon im 13 Zum Siegeszug des naturwissenschaftlichen Positivismus in der Medizin des 19. Jahrhunderts vgl. Bergdolt (Fn. 7), S. 242 ff. 14 Ploucquet (Fn. 11), S. 182 f. 15 Vgl. Rothschuh, Naturheilbewegung, Reformbewegung, Alternativbewegungen, 1978. 16 Verschiedene – begeisterte wie kritische – Standpunkte zeigen sich bei Jütte (Hrsg.), Wege der Alternativen Medizin, 1996. 17 Bergdolt (Fn. 7), S. 243. 18 Reimer, Die Geschichte des St. Franziskus-Spitals in Köln-Ehrenfeld von seiner Gründung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1866-1945), Diss. Köln 1999, S. 28.
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Deutsch-Französischen Krieg 1870/71,19 Offiziere und niedrigere Ränge, also Vertreter aller Stände, nebeneinander behandelt wurden. Das Vertrauen und die Hoffnung in die alte Arzt-Patient-Beziehung kamen nun auch an Universitätskliniken zum Tragen. Bezeichnend war, dass mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch die Expansion der Privatkliniken gestoppt wurde. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Krankenanstalten ging in den folgenden Jahren übrigens in ganz Europa drastisch zurück.20
3. Heute: Rechtliche Regulierungen und Wirtschaftlichkeitsgebot Wie sieht die Situation heute aus? Die Pflege – ist sie nicht im Sinne Esmarchs und Ploucquets meistens (und offensichtlich endgültig) zum Job geworden? Nicht weil die alten Pflegeorden im Aussterben begriffen sind oder Schwestern und Pfleger diese Entwicklung gewollt hätten, sondern weil „Pflege“ – im Rahmen umfassender struktureller und wirtschaftlicher Reformen – als Dienstleistung begriffen wurde. Arbeitszeitgesetz, Richtlinien, Streiks, Unterbezahlung, Schichtwechsel – das sind die neuen Schlagwörter, die sich in den letzten Jahrzehnten herausbildeten. Wir müssen uns fragen, ob der neue Trend nicht endgültig das Ende des delikaten und sensiblen Arzt-Patient-Verhältnisses einläutet, das auf Vertrauen und Dialog gebaut sein muss und – ungeachtet aller Krisen – immer wieder eine zentrale Rolle spielte. Die Gefahr besteht ohne Zweifel. Viele Assistenz-, Ober- und Chefärzte, aber auch genervte „Niedergelassene“ versichern, der Fall sei längst eingetreten. Mit rein ökonomisch akzentuierter Statistik und Organisationskriterien ärztlicher Praxen bzw. Polikliniken, die fast genau so gut für Autoreparatur-Annahmen gelten könnten, kommt man in der Tat schnell an die Grenzen dessen, was als menschliche Medizin bezeichnet werden kann. Ich betone das, weil Computerprogramme zur Praxisorganisation zunächst aus solchen entwickelt wurden, die sich in der Autobranche bewährt hatten! Man müsste das reduzierte, im 18. Jahrhundert entwickelte Bild des „homme machine“ eines La Mettrie (1709-1751) verinnerlicht haben21 (und im Übrigen die vielen Katastrophen vergessen, die auf der Basis eines rein mechanistischen Menschenbildes, das viele Ärzte des 18. und 19. Jahrhunderts exklusiv mit „Wissenschaft“ gleichsetzten, „vorprogrammiert“ wurden), um Menschen mit Autos zu vergleichen. Es ist im zeitkontrollierten ärztlichen Alltag schwierig geworden, angesichts der enormen Belastungen Patienten in ihrer subjektiven, seelischen Not zu verste19
Vgl. Achilles, Theodor Fontane: Der Krieg gegen Frankreich 1870/71, Medizinhistorische Aspekte eines Kriegsberichts, Diss. Köln 2002. 20 Labisch/Spree, Sozialgeschichte des Allgemeinen Krankenhauses in Deutschland (19. und frühes 20. Jahrhundert), in: Historia Hospitalium 19 (1993/1994), S. 287, 289. 21 J. Offray de la Mettrie, L`homme machine. Französisch-Deutsch, übers. und hrsg. v. C. Becker, 1990 (= Philosophische Bibliothek 407). De la Mettrie verglich den Menschen mit der „Zusammensetzung von Triebfedern, die sich alle gegenseitig aufziehen“, ebd. S. 111.
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hen. Wir gehen heute davon aus, dass etwa zwei Drittel aller Menschen, die einen Arzt aufsuchen, keinen objektivierbaren pathologischen Befund aufweisen. Sind das alles Neurotiker, Hypochonder, Verrückte, Sozialparasiten, wie man vor 100 Jahren locker sagte? Es sind schlicht Notleidende, die das Gespräch suchen, das ihnen, wie sie spüren, im modernen, naturwissenschaftlichen Medizinbetrieb gekürzt wird. Leider zeigen sich einige betriebswirtschaftliche Modelle modernen Krankenhausmanagements, im Sinne von La Mettrie, auf geradezu skandalöse Weise reduktionistisch. In einem Moment größter Schwierigkeiten, eine befriedigende und nach westlicher Tradition menschenwürdige Versorgung kranker Menschen auch für die Zukunft zu garantieren, ist man erneut versucht Krankheiten als wirtschaftliche Größe oder Ungröße zu deuten. Und wieder gilt das Gespräch zwischen Arzt und Patient als Manövriermasse. Von Consultants werden bereits Richtgrößen in Minuten vorgegeben. Der leitende Krankenhausarzt wird auf bedenkliche Weise auch nach seinem wirtschaftlichen Erfolg taxiert, der, wie treuherzig versichert wird, von seinem ärztlichen Können abhängig sei. Leider geht es aber nur am Rande darum, dass ein bekannter Spezialist Patienten anzieht und auf diese Weise die Gewinne seiner Klinik mehrt. Das ethische Problem ist subtiler: Bringt laut DRG-Taxierung ein Patient, betritt er die Klinik, durch die Art seiner Erkrankung pro Tag 500 Euro ein, ein anderer aber 1500 Euro, muss der Arzt zunehmend, und zwar in voller Verantwortung, entscheiden, welchem der Vorzug gegeben wird. Oft steht die komplizierte, kostspielige Pflege dem schnellen Geschäft gegenüber, „cash cows“ konkurrieren mit „poor dogs“.22 Nicht selten sucht man Kranke, deren Pauschale verbraucht ist, als „Draufleger“ möglichst schnell zu entlassen.23 Entscheidet der Arzt andauernd zugunsten der wirtschaftlich unattraktiven Option, steht die Verlängerung des Zeitvertrags in Frage. Da gleicht der „Durchschnitt“, die Verteilung über die Zeit (und was so alles argumentativ ins Feld geführt wird) nichts aus. Unsere Urbegegnung, das eigentliche Kontinuum der ärztlichen Handlung, ist unter diesen Umständen wirklich gefährdet. Der Kranke muss im schlimmsten Fall davon ausgehen, dass nicht zu seinem individuellen Vorteil entschieden wird. Visiten und Beratungen erhalten Wahrheitsgehalt und Charme eines Bankberatungsgesprächs. „In dem Augenblick, in dem ärztliche Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verraten. Dieser moralische Irrtum lässt sich nicht mehr reparieren“, warnt der Herzspezialist Bernard Lown.24 Der frühere Kölner Onkologe Volker Diehl hat diese These jüngst in einem Aufsatz untermauert.25 22
Vgl. Diehl, Definition von Arzt und Patient aus der Sicht der Medizin, in: Schumpelick/Vogel (Hrsg.), Arzt und Patient. Eine Beziehung im Wandel, 2006, S. 178, 179. 23 vgl. Badenberg, Dafür habe ich nicht Arzt werden wollen, in: Ärztezeitung v. 9.10.2008, S. 17. 24 Lown, Die verlorene Kunst des Heilens – Anleitung zum Umdenken, 2004. 25 Diehl (Fn. 22).
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III. Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis Ungeachtet der Tatsache, dass heute nicht die Einzelverantwortung, sondern das „Teamwork“ der gesellschaftlichen und politischen „correctness“ entspricht, fordern Krankenhauspsychologen, Patientenvertreter, Medizinethiker und ärztliche Standesvertreter zu Recht, dass der Patient im Krankenhaus – im Gewirr der Spezialuntersuchungen – einen ärztlichen Ansprechpartner behält, dem er Vertrauen schenken kann und von dem er weiß, dass er seine „Geschichte“ kennt.26 Es geht um den schützenswerten Freiraum, in welchem sich das Vertrauen des Kranken verfestigen kann. Bestürzt nimmt man zur Kenntnis, dass Verwaltungsrichtlinien und Gesetzesvorlagen, die im Rahmen von Modernisierungs- und Rationierungsmaßnahmen erlassen wurden, dem entgegenstehen. Bürokratische Restriktionen, Schreibtischverpflichtungen und Abrechnungsmodalitäten gefährden das Vertrauensverhältnis inzwischen selbst in den Praxen der niedergelassenen Ärzte.27 Etwa 40 Prozent seiner Arbeitszeit verwendet ein Klinikarzt heute für Dinge, die nicht unmittelbar den Patienten betreffen. Spürt dieser, dass sein Arzt unter Zeitdruck steht und die Behandlung womöglich ökonomisch beurteilt, ist es kaum möglich, Vertrauen zu entwickeln. Sensible Patienten spüren den Stress des Arztes, seine Überforderung und sein Dilemma sehr wohl. Nach Auskunft des Villinger Instituts für Ärztegesundheit sind deutsche Mediziner schwergewichtiger, sterben häufiger am Herzinfarkt und sind stärker selbstmordgefährdet als in allen anderen westlichen Ländern. 20 Prozent greifen zur Zigarette. In den USA (nur zum Vergleich) rauchen drei Prozent, in England etwa jeder zehnte Arzt.28 Hängen diese Zahlen vielleicht auch mit dem neuen Druck, dem zunehmenden Unwohlsein der deutschen Mediziner zusammen? Ein gestresster Arzt als Gesprächspartner? Wunderbare Voraussetzungen für ein unbelastetes, therapeutisch effektives ArztPatient-Verhältnis! 30.000 Mediziner sollen inzwischen, obgleich in Deutschland auf Kosten der Steuerzahler ausgebildet, im Ausland arbeiten. 35 Prozent der Klinikärzte bereuen, wie der Berliner Sozialwissenschaftler Sebastian Klinke herausgefunden hat, ihre Berufswahl!29 Nun gibt es genügend Planer, Politiker, Ethiker usw., die das Bild des menschlichen, vertrauenerweckenden Arztes kompromisslos bejahen und – scheinbar ganz im Sinne einer Kontinuität – auch für heute und morgen einfordern. Es handelt sich in Wirklichkeit um einen Trick. In einer Zeit, in der die menschliche Zu26
Diehl (Fn. 22), S. 186. Vgl. M. Weber, Das Arzt-Patienten-Verhältnis aus der Sicht des Internisten, in: Schumpelick/Vogel (Fn. 22), S. 257. 28 Vgl. Mäulen, Förderung der Ärztegesundheit: Es besteht Nachholbedarf, DÄBl. 2002, B-2855; Reimer/Jurkat, Zur Problematik der Lebensqualität und Suchtgefährdung von Ärzten und Ärztinnen, in: F. Stetter (Hrsg.), Wege aus der Sucht, 2000; Rottenfußer, Burnout deutscher Vertragsärzte, in: G. Heiß (Hrsg.), Wie krank ist unser Gesundheitswesen?, 2000. Hierzu auch Bergdolt, Humanität, Wettbewerb und das medizinische System – Historische Akzente und aktuelle Probleme, in: Schumpelick/Vogel (Hrsg.), Medizin zwischen Humanität und Wettbewerb. Probleme, Trends und Perspektiven, 2008, S. 17-33, 29. 29 Klinke, Dafür bin ich nicht angetreten. Über die zunehmende Unzufriedenheit von Krankenhausärzten, WZB Mitteilungen H. 121, September 2008, S. 40. 27
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wendung im Gesundheitssystem immer schwieriger wird, löst man – und das ist das Tückische! – die Schwierigkeit schlicht durch zusätzliche Forderungen. Da lassen sich eine „gesunde Öffentlichkeit“ und die nach schnellen Lösungen suchende Politik gerne verführen: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts soll ein guter Arzt den letzten Kenntnisstand der naturwissenschaftlich technischen Forschung verinnerlicht haben, ökonomisch denken und unzähligen bürokratischen Vorschriften Rechnung tragen, ohne die er, wie auch die Krankenhausträger, kein Geld bekommt. Er soll zudem nicht nur menschlich und empathisch handeln, sondern auch, und zwar durchaus im wissenschaftlichen Sinn, soziologisch und psychologisch versiert sein, muss er doch, wie es viele herausragende Kollegen von Hufeland bis Ludolf Krehl, von Jaspers bis Thure von Uexküll30 forderten, den familiären Hintergrund kennen und die möglichen Umweltgründe von Krankheiten und Schmerzen berücksichtigen. Arbeitet er als Chirurg, ist eine zusätzliche manuelle Begabung unabdingbar: Er muss fingerfertig sein, ja oft genug künstlerische Fähigkeiten entwickeln. Stets behält er, wie Professor Brinkmann in der berühmten, inzwischen selbst historischen Schwarzwaldklinik-Serie, einen klaren Kopf, den man beim Kranken, den Angst und Inkompetenz verwirren, nur bedingt findet. Als Universitätsprofessor ist er auch noch ein begabter Lehrer, ein glänzender Redner und möglichst ubiquitär für die Kollegen in zahllosen Gremien tätig. Ironisch könnte man sagen: Der gute Arzt verfügt über eine Universalbegabung, welche die Natur außerhalb seines Standes nicht geschaffen hat.31 In Wirklichkeit gefährdet er durch diese Erhöhung eben das Gespräch, die Vertrauensbildung, die Glaubwürdigkeit. Er ist ständig unter Druck und befindet sich im Grunde in einer schizoiden Situation. Den Arzt so zu überfordern scheint inhuman. Manchmal müssen Mediziner – die Rahmenbedingungen legen dies nahe – allerdings auch vor ihrem eigenen Ehrgeiz geschützt werden. Selbstüberschätzungen sind die Regel. Schon Virchow fühlte sich als Sozialforscher, Pathologe, Kliniker und Politiker kompetent und war Mitglied unzähliger Gremien. Was man anstreben sollte, wäre eine Beschränkung auf die ärztliche Grundkompetenz, d.h. auf Diagnostik und Therapie nach dem Stand der Forschung sowie eine menschliche, einfühlsame Art der Beratung. Es macht allerdings, wie sich an einigen Kliniken bereits abzeichnet, wenig Freude und nagt nachhaltig am eigenen Ego, wenn man Patienten krank nach Hause schicken muss, nur damit die Wirtschaftlichkeit der Therapie erhalten bleibt. Sozialwissenschaftliche Studien (F. Fehr, K. Schmidt) haben längst ergeben, dass unter Druck und Wettbewerbsbedingungen kollektivistische Neigungen, d.h. die Freude an der Kommunikation und auch jeder Altruismus zum Erliegen kommen. Man wird hart, mitleidlos und selbst zum Paragraphenreiter.32 30
Vgl. Hartmann, Ärztliche Anthropologie. Das Problem des Menschen in der Medizin der Neuzeit, 1973, S. 330; ferner Bergdolt (Fn. 7), S. 274 f. 31 Zur speziellen Situation an Universitätskliniken vgl. van de Loo, Die Zukunft der akademischen Medizin, in: Diehl (Hrsg.), Medizin an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 1999, S. 67. 32 Fehr/Schmidt, Theories of Fairness and Reciprocity, Evidence and Economic Applications = Münchner Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge (VWL), Januar 2001.
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IV. Rückbesinnung auf die humanitäre Gestaltung des Arzt-Patienten-Verhältnisses Der Psychiater Viktor Emil von Gebsattel, nach dem Krieg in Würzburg erster deutscher Lehrstuhlinhaber für medizinische Psychologie, hat die klassische Begegnung von Arzt und Patient in drei Phasen unterteilt: Zunächst ist das empathische, menschliche Gespräch angemessen, das Vertrauen schafft, danach – notgedrungen entfremdend, aber im Interesse des Kranken – die kühle Analyse, in der sich der Arzt in einen kritisch beobachtenden, durchaus distanzierten Naturwissenschaftler verwandelt. Stehen die Ergebnisse der Untersuchungen und Analysen fest, folgt erneut ein einfühlsames Gespräch, das in der Regel den Charakter einer Beratung hat und auf den Ausgangsdialog Bezug nimmt. Der Gebsattelschen Behandlungstrias33 entspricht ein Ideal, das die Tradition des Naturforschers aus dem 19. Jahrhundert mit dem Bild des humanen Arztes verbindet. Der Hausarzt (er ist inzwischen etwas zum Mythos geworden!) erscheint als Berater der Familie und stellt für sie eine selbstverständliche Vertrauensperson dar. Es ist vielleicht bezeichnend, dass uns dieses Ideal vor allem in der schöngeistigen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, bei Ibsen, Stifter, Storm und Balzac begegnet, wo die Sehnsüchte noch ausgesprochen wurden.34 Wer sehnte sich nicht nach dem einfühlsamen, menschlichen ärztlichen Ratgeber, wie ihn etwa Adalbert Stifter in „Die Mappe meines Urgroßvaters“ beschrieben hat!35 Schon die alten Griechen sahen den vorbildlichen Arzt, der die „Ursachen der Krankheiten“ kennt und seine Patienten entsprechend aufklärt, vor allem auch als „Führer der Gesunden“, als Lebensberater und Philosophen, ja, wie Aischylos, als „Seher“ bzw. Propheten.36 Wir würden eine solch metaphysische Erhöhung heute zu Recht belächeln. Interessanterweise wurden Patienten, welche ihren Arzt wechselten, ihrer Wankelmut und Illoyalität wegen getadelt! Ein Wechsel des Arztes schließt, folgt man den Hippokratikern, eine Vertrauensbildung aus, ebenso wie dieser, wenn er den Ort und somit die Patienten wechselt, unethisch handelt!37 Aus der durch Höhen und Tiefen gekennzeichneten Krankengeschichte des konkreten Individuums, viel weniger aus der Theorie, sammelt der Arzt ein Leben lang Erfahrung. Die antike Forderung würde zunächst für den heutigen „niedergelassenen“ Arzt gelten, aber auch innerhalb eines Krankenhauses (das es in der Antike in dieser Form nicht gab). Der aktuelle Alltag sieht freilich anders aus, Dienstpläne stehen oft genug jeder Vertrauensbildung entgegen. Man denke nur an die (durch das von der EU aufoktroyierte Arbeitszeitgesetz bestimmte) Schichtfolge im Achtstundentakt, die genau dies bei Ärzten wie Schwestern verhindert. 33 Von Gebsattel, Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, 1954, S. 467; vgl. auch Hartmann (Fn. 30), S. 294. 34 Vgl. von Engelhardt, Krankheit, Schmerz und Lebenskunst. Eine Kulturgeschichte der Körpererfahrung, 1999, S. 73. 35 Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, 1995. 36 Bergdolt (Fn. 7), S. 26-28. 37 Bergdolt (Fn. 7), S. 45.
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Nach dem zweiten Weltkrieg gewann die Frage nach dem Verhältnis von Arzt und Patient – vor dem Hintergrund der medizinischen Verbrechen zwischen 1933 und 1945 – nicht nur in Deutschland eine neue Intensität. Schon in den Fünfzigerjahren nahmen sich zahlreiche Ärzte, Medizintheoretiker und Medizinhistoriker des Themas an. Der aus dem 19. Jahrhundert tradierte Positivismus wurde hinterfragt. Nach 1968 wurde vielerorts die Psychosomatik gefördert, vielleicht auch zuweilen überschätzt. Die „Heidelberger Schule“ setzte, auch vom Ausland beachtet, die von Krehl, Siebeck und Viktor von Weizsäcker begründete Tradition fort.38 Kein Zweifel allerdings, dass die in den letzten Jahren erfolgten Umstrukturierungen der Kliniken Lösungen akzeptabel erscheinen ließen, die man zuvor als utilitaristische Fehlentwicklung abgelehnt hätte, Lösungen die, historisch gesehen, sogar bedenklich stimmen. Man kann sich, wagt man den Blick in die Vergangenheit, des Eindrucks nicht erwehren, dass immer dann, wenn rein ökonomisch argumentiert und betont wurde, dass im Zweifelsfall das Glück und die Gesundheit vieler gegenüber dem Glück und der Gesundheit einzelner Vorrang hätten, die Medizin von Inhumanität bedroht war. Der Arzt darf sich eine Degradierung, die ihn zum Techniker und Buchhalter statt zum humanen Partner des Kranken stempelt, nicht gefallen lassen. „Gesundheit ist keine Ware, Ärzte sind keine Anbieter und Patienten keine Kunden“, erklärte der frühere Bundespräsident Johannes Rau beim Deutschen Ärztetag 2004. Es ist freilich zu erwarten, dass die zunehmende Verwirtschaftlichung des Gesundheitssystems das ärztliche Gewissen, aber auch dasjenige der Gesellschaft in fragwürdiger Weise beeinflussen wird. Allokationsfragen bzw. das alte Problem der „Triage“ werden heute wieder offen diskutiert. Die Bankenkrise dürfte diese Entwicklung beschleunigen. Jeder weiß: Eine optimale Therapie für jeden Schwerkranken, unabhängig vom Lebensalter, ist schon heute nicht mehr bezahlbar. Dürfen (oder müssen) deshalb bestimmte Patienten, auch im Hinblick auf die drohende „umgekehrte Alterspyramide“, in der Behandlung bevorzugt oder benachteiligt werden? Hier beunruhigt auch der schillernde Begriff des „Notwendigen“. Wird das mit den Kranken und ihren Angehörigen offen besprochen? Juristen fordern das. Rechtlich ist der Fall klar. Aber wie sieht es im Alltag aus? Auch die Messung der Lebensqualität, vor der man aus historischer Sicht hätte warnen müssen, wird wieder für möglich gehalten. Der große englische Arzt und Ethiker des 18. Jahrhunderts, Thomas Percival (er war der erste, der von „medical ethics“ sprach), sah es gerade in einem utilitaristisch geprägten Umfeld, das er bewusst verteidigte, als ärztliche Aufgabe an, die Interessen der Kranken gegen Sparbeschlüsse und Wirtschaftsplanungen des Staates zu verteidigen. Der Arzt ist der natürliche Vertreter des einzelnen Menschen! Die Grenzen staatlicher Einflussnahme wurden schon damals mit Leidenschaft diskutiert. Ein Tabu gab es freilich: Was der Kranke seinem Arzt zu sagen hat und sagen will, darf weder inhaltlich noch zeitlich noch personell beschnitten oder kontrolliert werden. Das klang einigen – vom 19. Jahrhundert bis heute – zu weich, zu „unwissenschaftlich“. Doch 38 Hierzu Schipperges, Heidelberger Schule der Medizin. Medizin in Bewegung. Geschichte und Schicksal, 1990.
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dieses Tabu bleibt für die Medizin lebensnotwendig. Es ist die Basis der guten Diagnostik. Die Medizin rutscht sonst zum Reparaturbetrieb für Menschen ab! Es bleibt Aufgabe der Gesellschaft, die Rahmenbedingungen festzulegen, auf deren Grundlage der Arzt ethisch und human handeln kann. Diese hängen auch von gewachsenen Werten, historischen Erfahrungen, weltanschaulichen Bindungen, religiösen und antireligiösen Einflüssen sowie zahlreichen subjektiven Kriterien ab. Es müsste aber ein Konsens möglich sein, der erkennen lässt, wann das ethisch gebotene Sparen, d.h. der Kampf gegen Selbstbedienungsmentalität und utopische Forderungen an das Gesundheitssystem in eine ethisch verwerfliche Reduktion jener Ressourcen übergeht, welche es dem Arzt erlauben, im Alltag auf menschliche Weise, aber auch nach dem Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse kranken Menschen zu helfen.
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Das Arztbild im 21. Jahrhundert Rainer Hess Der Arztberuf ist nach § 1 Abs. 2 BÄO kein Gewerbe, sondern seiner Natur nach ein freier Beruf. Diese gesetzliche Einordnung des Arztberufes prägt seit mehr als 50 Jahren zumindest rechtlich das Arztbild. Auf den arbeitsrechtlichen Status des Arztes hat diese berufsrechtliche Einordnung keinen Einfluss. Auch der angestellte oder beamtete Arzt kann sich auf die ihm berufsrechtlich garantierte Freiheit der Berufsausübung berufen.1 Sie bedeutet rechtlich, dass der Arzt in seiner beruflichen, d.h. fachlich ärztlichen Entscheidung nicht Weisungen Dritter unterworfen werden darf, sondern insoweit nur seinem ärztlichen Wissen und Gewissen verantwortlich sein kann. Die von den Ärztekammern mit Genehmigung der zuständigen Landesaufsicht in Anlehnung an die Musterberufsordnung der Bundesärztekammer beschlossenen Berufsordnungen der Ärzte prägen diese grundsätzliche Einordnung des Arztberufes als freier Beruf für die jeweiligen Funktionen und Tätigkeitsbereiche ärztlicher Berufsausübung aus.2 Trotz dieses rechtlichen Manifestes ärztlicher Berufsunabhängigkeit hat sich das Arztbild in den letzten Jahren erheblich geändert. Es ist zum einen in der Patient – Arzt Beziehung im Spannungsfeld „salus aut voluntas aegroti suprema lex“ immer stärker zugunsten des Selbstbestimmungsrechts des Patienten verschoben worden. Der Arzt ist an die durch Aufklärung vorzubereitende Entscheidung des Patienten zur Durchführung eines aus seiner Sicht gebotenen Heileingriffs gebunden (informed consent) und kann seine eigene berufliche Unabhängigkeit – von einer Notfallbehandlung abgesehen – nur noch durch Ablehnung eines mit seinem ärztlichen Gewissen nicht vereinbaren Eingriffs verwirklichen. Dieses Recht hat er grundsätzlich auch gegenüber seinem Arbeitgeber.3 Der Arzt gerät zunehmend aber auch in ein Spannungsfeld zwischen immer besseren diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten als Folge des medizinischen Fortschritts einerseits und begrenzten Ressourcen des Gesundheitswesens zu deren Finanzierung andererseits. In diesem Spannungsverhältnis droht die ärztliche Entscheidungsfreiheit des niedergelassenen Vertragsarztes unter dem auf ihn lastenden Budget- und Regressdruck zur Zuteilungsmedizin reduziert zu werden.4 Auch der angestellte Krankenhausarzt und die angestellten Pflegekräfte werden durch den gleichermaßen auf dem Krankenhaus lastenden Budgetdruck durch Stellenabbau und bürokratischen Rechtfertigungsdruck in ihrer beruflichen Entfaltung erheblich eingeschränkt. Die indirekte Rationierung medizinisch notwendiger Leistungen wird zwar öffentlich bestritten; sie findet jedoch zumindest in Form einer Verlagerung notwendiger Leistungen auf den nächsten Budgetzeitraum lei1 2 3 4
BAG AP § 611 Gewissensfreiheit Nr. 1 = BB 1969, 1120. So insbesondere §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 MBO i.d.F. d. 103. Dt. Ärztetages. S.o. Fn. 1. Dazu Huster et al., MedR 2007, 703.
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der in beiden Bereichen zunehmend statt. Der berechtigte Einwand, dass es viele Ärzte und Krankenhäuser gibt, die trotz begrenzter Mittel nach wie vor eine gute medizinische Versorgung auch ohne unzumutbare Wartezeiten anbieten, ändert an dem allgemeinen Phänomen eines sich wandelnden Arztbildes nichts. Dieser Wandel besteht in jedem Falle darin, dass die Freiheit in der beruflichen Entscheidung zunehmend um eine ökonomische Verantwortung für effiziente Versorgungsstrukturen und einen effizienten Mitteleinsatz ergänzt werden muss. Wenn Ärzte sich diesem Wandel ihres Berufsbildes nicht selbst stellen, laufen sie Gefahr, in eine immer stärkere Fremdbestimmung auch ihrer ärztlichen Tätigkeit durch Gesundheitsmanager zu geraten. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich in absehbarer Zeit etwas an der Begrenztheit der für das Gesundheitswesen verfügbaren öffentlichen Finanzmittel ändern wird. Die auch politisch erhobene Forderung, die gesundheitliche Versorgung als einen die Wirtschaft ankurbelnden „Gesundheitsmarkt“ zu begreifen und auszugestalten, wird den ökonomischen Druck auf den Arztberuf in seiner Funktion als für die Diagnostik und Behandlung von Krankheiten primär verantwortlichen Beruf nicht mindern. Im Gegenteil drohen die begrenzten Finanzmittel dazu beizutragen, das Berufsbild des Arztes um bisher ihm berufsrechtlich vorbehaltene Leistungen zugunsten einer eigenständigen Leistungserbringung durch andere „kostengünstigere“ Gesundheitsberufe zu entlasten.5 Die Notwendigkeit, den zunehmenden medizinischen Fortschritt bei einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung in einer vom Staat als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge mehr oder weniger umfassend oder umfangreich gestalteten medizinischen Versorgung gewährleisten zu können, beschäftigt alle Industrienationen. Sie haben darauf unterschiedliche Antworten gefunden. Nationale Gesundheitsdienste wie Dänemark, Finnland, Großbritannien, Kanada, Norwegen, und Schweden nehmen die Versicherten durch ein stringentes hausärztlich/pflegerisches „gatekeeper“ System mit bewusst einkalkulierten Wartezeiten für die fachärztliche Versorgung an entsprechend zentralisierten Einrichtungen, kombiniert mit Präventionsprogrammen zur Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens, stärker in die Pflicht. Entsprechend klar ist dort das ärztliche Berufsbild jeweils hausärztlich bzw. fachärztlich geprägt. Auch die Niederlande haben in einem privatrechtlich neu strukturierten Versicherungssystem mit öffentlichrechtlichem Versorgungsauftrag diese Struktur der ärztlichen Versorgung. Andere Länder wie Belgien, die Schweiz und Frankreich setzen stärker auf freie Wahlrechte ihrer Bürger und eine Steuerung über erhöhte Zuzahlungen. Deutschland hat meines Erachtens in der Gestaltung des Gesundheitswesens seinen Weg in das 21. Jahrhundert noch nicht gefunden. Dem Bürger wird in der Regelversorgung eine flächendeckende haus- und fachärztliche Versorgung mit einer durch Versichertenkarte garantierten freien Arztwahl und dem international wohl breitesten Leistungskatalog mit einer im internationalen Vergleich niedrigen Selbstbeteiligung zugesichert; er soll aber freiwillig diejenigen Versorgungssys5
Dazu § 63 Abs. 3c SGB V i.d.F. d. GKV-WSG zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf Pflegeberufe zunächst im Rahmen von Modellversuchen.
Das Arztbild im 21. Jahrhundert
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teme wählen, die seine Wahlrechte und auch Leistungsansprüche einschränken, wie hausarztzentrierte Versorgung nach § 73b SGB V, die facharztzentrierte Versorgung nach § 73c SGB V, die integrierte Versorgung nach §§ 140a ff. SGB V und spezielle Behandlungsprogramme für bestimmte chronische Erkrankungen (DMP nach § 137f SGB V). Das deutsche Gesundheitswesen befindet sich insgesamt in einem Versuchsstadium ungeheueren Ausmaßes, da auch die Ausrichtung der neuen Vergütungs- und Risikoausgleichssysteme an der Morbidität der Versicherten (DRG; EBM, Morbi-RSA) in ihren Auswirkungen nicht absehbar sind. Entsprechend tief verunsichert sind die Ärzte in Deutschland über die künftige Ausgestaltung ihres Berufsbildes in einem auf Kassenwettbewerb und selektiven Vertragswettbewerb angelegten Entwicklungsprozess. Dieser Entwicklungsprozess wird das Arztbild auch in Deutschland verändern. Eine stärkere Konzentration der vertragsärztlichen Berufsausübung in Berufsausübungsgemeinschaften oder Medizinischen Versorgungszentren ist bereits im Gange. Eine stärkere Verknüpfung ambulanter und stationärer Versorgung durch integrierte Versorgungsformen, insbesondere in der spezialisierten fachärztlichen Versorgung, wird erfolgen. Die Auswanderungstendenz deutscher Ärzte gerade in die genannten Staaten mit staatlichem Gesundheitssystem lässt erkennen, dass viele Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf lieber in einem gesicherten Anstellungsverhältnis mit geregelten Arbeitsund Freizeiten verbringen wollen als im Stress unternehmerischer Verantwortung als Arzt in eigener Praxis. Eine vergleichbare Verunsicherung ergreift aber auch die Patienten. Zumindest die im Gemeinsamen Bundesausschuss vertretenen Patientenorganisationen begrüßen auf der einen Seite zwar durchaus die den Versicherten angebotenen Wahlfreiheiten. Sie befürchten aber gerade wegen der fortbestehenden Begrenztheit der Mittel und dem bewusst gesetzgeberisch durch den Gesundheitsfond erzeugten Wettbewerbsdruck auf die Krankenkassen, dass die Wahltarife eher zur Kostenreduzierung und nicht zur Qualitätsverbesserung genutzt werden und ihnen in der Regelversorgung das Notwendige nicht mehr garantiert wird. Ihre Forderung geht daher gerade wegen dieser wettbewerblichen Ausrichtung sehr stark in Richtung einer verbindlichen Definition des medizinisch Notwendigen, einer Sicherung der Versorgungsqualität durch einrichtungsübergreifende Maßnahmen der Qualitätssicherung und Gewährleistung einer umfassenden Transparenz ihrer Ergebnisse durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Damit öffnet sich für das Arztbild im 21. Jahrhunderts ein weiteres, drittes Spannungsfeld. Das was von vielen Ärzten als Eingriff in ihre individuelle Therapiefreiheit abgelehnt wird, wird von Patienten zunehmend eingefordert: Eine Ausrichtung der Medizin an gesicherten Qualitätsstandards, die in ihren Auswirkungen messbar sind und an deren Einhaltung der Patient seine Wahlentscheidung ausrichten kann. Die medizinische Wissenschaft hat durch die von ihr entwickelte Methode der evidenzbasierten Medizin selbst die Grundlage für entsprechende Bewertungsentscheidungen geschaffen. Dabei sollen evidenzbasierte Leitlinien primär den Arzt selbst befähigen, sein ärztliches Handeln an gesicherten Erkenntnissen der Medizin auszurichten. Im Arzthaftungsrecht orientiert sich aber die Rechtsprechung bereits an „medizinischen Standards“, die, soweit vorhanden, anhand solcher gesi-
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Rainer Hess
cherter Leitlinien definiert werden.6 Ihr Nachteil ist, dass sie von ärztlichen Fachgesellschaften entwickelt werden, die häufig die Möglichkeiten ihres Fachgebietes darstellen und nicht die zunehmende Begrenztheit der Mittel und sich daraus zumindest in der GKV ergebende erhöhte Anforderungen an die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung berücksichtigen. Zwei aus dem Jahre 1994 stammende Zitate des ehemaligen Vorsitzenden Richters des BGH-Arzthaftungssenates zeigen die sich dadurch ergebende Problematik auf: „Arzthaftung hat die Qualitätsstandards der Medizin primär nicht zu korrigieren, sondern nur daraufhin zu kontrollieren, dass der Patient die von ihm zu beanspruchende medizinische Qualität auch erhalten hat. Solange nicht der die Ausgabenspirale ankurbelnde medizinische Fortschritt den Zwang zur Abstimmung mit den Grenzen der Ressourcen akzeptiert und in seine Handlungsmaxime mit aufgenommen hat, und solange nicht für jede diagnostische und therapeutische Betreuung das Bewusstsein von ihrem Ressourcenverzehr zur Selbstverständlichkeit geworden ist, kann auch das Recht solche Begrenzungen des Versorgungsauftrags nicht umsetzen.“7 Wenn die durch den Gemeinsamen Bundesausschuss nach §§ 137, 137a SGB V neu sektoren- und einrichtungsübergreifend aufzubauende Qualitätssicherung für die Patienten den Stellenwert erhalten soll, wie dieser eingefordert wird, muss bei der Definition von Qualitätsindikatoren das Gebot der Wirtschaftlichkeit entsprechend berücksichtigt werden. Daran ausgerichtete Richtlinien des G-BA hätten ihrerseits auch Auswirkungen auf den zivilrechtlichen Haftungsmaßstab und würden dem Arzt insoweit mehr Sicherheit geben. Sie würden aber auch im Vertragswettbewerb der Krankenkassen dazu beitragen, dass die Qualität der Versorgung messbar bleibt. Die Auswirkungen einer solchen zu erwartenden Transparenz auf das Arztbild sind vielschichtig. Durch eine Risikoadjustierung der Ergebnisse an dem jeweiligen Schwerebild behandelter Erkrankungen muss auch im Interesse der Patienten verhindert werden, dass die gewünschte Qualitätstransparenz in eine Defensivmedizin mündet. Wie bei medizinischen Leitlinien muss die individuelle Verantwortung des Arztes, im einzelnen Behandlungsfall eine abweichende Entscheidung treffen zu können, gewährleistet bleiben. Auch unter diesem Gesichtspunkt gewinnt die ärztliche Dokumentation eine besondere Bedeutung. Die hierfür erforderlichen elektronischen Dokumentationssysteme und die damit mögliche elektronische Vernetzung werden ihrerseits das Arztbild der Zukunft wesentlich mit prägen.
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Dazu Hart, MedR 2007, 631 ff. Steffen, MedR 1995, 180.
Rationierung, ihre kritischen Wirkungen für die ärztliche Berufsausübung und die Schutzfunktion der ärztlichen Selbstverwaltung – Einige rechtliche und medizinethische Anmerkungen Horst Dieter Schirmer/Christoph Fuchs
I. Rationierung und Implikationen für die ärztliche Berufsausübung 1. Rationalisierung vs. Rationierung Seit geraumer Zeit wird mit Bezug auf die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland eine sozialpolitische und gesundheitsökonomische Diskussion unter dem – als „Gegensatzpaar“ verstandenen – Schlagwort „Rationalisierung versus Rationierung“ geführt.1 Die Gründe hierfür sind verschiedene; sie werden teilweise kontrovers diskutiert. Einige Hinweise sollen angeführt werden: 1. Die Finanzierungsgrenzen der gesetzlichen Krankenversicherung werden durch den medizinischen Fortschritt einerseits und die finanziellen Regelungen andererseits deutlicher sichtbar. 2. Wie für alle Sozialversicherungssysteme hat Arbeitslosigkeit und Veränderung der Arbeitsstruktur Einwirkungen auf die Finanzierung. 3. Beitragsbezogene Systeme, wie die deutsche GKV mit einkommensabhängigen Beiträgen, setzen einen hohen Anteil von sogenannten Nettozahlern voraus, also Personen mit hohen Beiträgen und geringen Kosten. Dies ist langfristig nicht mehr gesichert. 4. Veränderungen der Morbidität, Demografie, innovative medizinische Entwicklungen erhöhen den Aufwand. Gleichwohl wird derzeit noch die gesetzliche Krankenversicherung als Hochversorgungssystem mit Transferpflicht für den medizinischen Fortschritt konzipiert, auch als solche begriffen, auch wenn die Diskussion darüber, ob und wie dies auf Dauer finanzierbar bleiben soll, ausgebrochen ist. Die Diskussion wird mit den Begriffen Rationalisierung oder Rationierung geführt. Darunter schimmern auch zwei politische Grundhaltungen zur Problemlösung: 1 Uhlenbruck, Rechtliche Grenzen einer Rationierung in der Medizin, MedR 1995, 427; Fischer, EthikMed 1997, 3; Fuchs, MedR 1993, 323; Michalski, VersR 1996, 265; Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, 2007.
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1. Fortführung des bisherigen Leistungsniveaus mit Steuerungsregelungen wie Budgets auf der Leistungserbringerseite; 2. Tendenzielle Einschränkung und Privatisierung mit dem akzeptierten Ergebnis von unterschiedlichen Versorgungschancen innerhalb der GKV-Versorgung und außerhalb. Zur terminologischen Verständigung ist eine Begriffsbestimmung2 vorauszuschicken: Rationierung im Gesundheitswesen kann man verstehen als das explizite Vorenthalten von Gesundheitsleistungen, welche objektiv notwendig für die Linderung oder Heilung bei solchen Krankheiten sind, die das Individuum vital bedrohen oder seine Lebensqualität dauerhaft oder – falls vorübergehend – zumindest gravierend beeinträchtigen. Demgegenüber versteht man unter „Rationalisierung“ Techniken, um Rationierungen möglichst zu vermeiden, und zwar durch Maßnahmen, welche weder Gesundheit noch Lebensqualität des Individuums beeinträchtigen, sondern allenfalls mit zumutbaren Einschränkungen verbunden sind. Rationalisierungsmaßnahmen sollen der Effizienzsteigerung bei Leistungserstellungen dienen. Die thematische Breite einer möglichen Diskussion ist vor dem Hintergrund der folgenden Betrachtungen einzuschränken: Nicht befassen wollen sich die Verfasser mit den jedem Gesundheitswesen implizierten Rationierungen – die vielleicht besser Systemgrenzen heißen: Die Begrenztheit von Krankenhäusern, Intensivbetten, Rettungshubschraubern, Notarztwagen, auch von Organtransplantaten kann eine allgemeine Zuteilungschance bedeuten, die sich im Individualfall als Verlust einer Lebenschance auswirken kann. Diese aus der individuellen Hilfssituation, den Arzt aus der Entscheidung entlassende statistische Rationierung existiert – und muss existieren, allerdings am besten im gesellschaftlichen Konsens. Wir diskutieren also über das Problem der aus dem Leistungssystem entstehenden Grenzen für die ärztliche Tätigkeit. In diesem Zusammenhang ist auf den Unterschied zwischen der heimlichen und der offenen Rationierung hinzuweisen. Während bei der offenen Rationierung einzelne Leistungen aus dem Leistungskatalog der GKV ausgegliedert werden oder ausgegliedert werden sollen (z.B. Zahnersatz, Psychotherapie), arbeitet die heimliche Rationierung versteckt, in dem sie z.B. durch Budgetierungsmaßnahmen die Finanzmittel verknappt. Die „Rationierung muss dann von den Leistungserbringern jeweils beim Einzelfall vorgenommen werden. Es bleibt dann weitgehend dem Zufall oder auch der Willkür oder den Gefühlen der einzelnen Leistungserbringer überlassen, welcher Patient welche Versorgung erhält.“ 3 Beispiele für solche heimlichen Rationierungsmechanismen sind die in der Politik bisher geschätzten Budgets, als Globalbudget für Kollektive von Leistungserbringern, als Mikrobudgets für Einzelpraxen oder Krankenhäuser, mit Variati2 3
Fuchs/Nagel/Raspe, DÄBl. 2009 (106), A-554. Arnold, Solidarität 2000, 1993, S. 165 f.
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onsbreiten vom strangulierenden Haftungsbudget mit Vergütungsaufrechnung bis zum Orientierungsbudget. Beispiele für Rationierungsfolgen gibt es ebenfalls. Im Vordergrund steht das Krankenhaus, inzwischen aber auch die ambulante Praxis und die Arzneimittelversorgung. Es ist nicht zu erwarten, dass die Politik in der Lage ist, die Ärzte aus diesem Dilemma zu entlassen. Sogenannte Megatrends im Gesundheitsbereich, der ja als einer der entwicklungsträchtigsten Wirtschaftsbranchen gilt, zeichnen sich ab, welche die Konfliktlage verschärfen, wie etwa die zunehmende Grenzverwischung zwischen Gesundheit und Sicherheit, Ernährung und Wellness und körperlicher Fitness, durch die einerseits weit über den Aspekt der Krankheitsversorgung hinaus, andererseits aber auch mit Auswirkungen auf die Schwellenbestimmung der Krankheit Gesundheitsleistungen ausgelöst werden.
2. Folgenprobleme Der aufgezeigte Sachverhalt ist auch rechtlich von Belang. Finanzierungsgrenzen durch Budgets oder andere vergütungsbegrenzende Regelungen (z.B. „Regelleistungsvolumina“) werfen die Frage nach dem Umfang des Behandlungsauftrages des Arztes und seinen Pflichten gegenüber dem Patienten auf. Beispielhaft seien folgende Fragen angesprochen: Werden die Pflichten des Arztes aus dem Behandlungsauftrag geändert? Verändern sich z.B. die Haftungsrisiken eines Krankenhauses, das infolge von Sparmaßnahmen bei der Besetzung von ärztlichen Stellen Bereitschaftsdienste in Rufbereitschaften in größerem Ausmaß umwandelt? Welchen rechtlichen Stellenwert hat das Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in bezug auf die Entscheidungen über seine Gesundheit im Verhältnis zu einer möglichen Begrenztheit des inhaltlichen Sachleistungsanspruchs der gesetzlichen Krankenversicherung? Welche Folgen haben die „Erschöpfung“ von Budgets und die unzureichende Finanzierung einzelner ärztlicher Leistungen im Blick auf die vertragsärztlichen Pflichten (Leistungsverweigerung? Ausweichen in privatärztliche Versorgung?)?
3. Standards und Leitlinien 1. Sogenannte Grundrechte auf Gesundheit oder im Rahmen der Daseinsvorsorge rechtlich verbürgte Ansprüche auf Gesundheitsversorgung stellen ein ausschließlich auf staatlicher Ebene zu realisierendes Problem dar. Ob und wie Krankenversicherung oder Krankenhausfinanzierung oder sonstige staatliche Maßnahmen der Daseinsvorsorge im Gesundheitswesen dem von Verfassungs wegen gebotenen Anspruch der Bürger auf Gesundheitsversorgung gerecht werden, ist eine staatli-
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che Entscheidung, der die gesellschaftliche Bereitschaft zur Mittelaufwendung vorauszugehen hat.4 2. Das Niveau der ärztlichen Versorgung richtet sich nach der medizinischen Praxis und Wissenschaft. Die Formulierung ärztlicher Standards ist Aufgabe der ärztlichen Praxis und der Wissenschaft.5 3. Es ist nicht Aufgabe der Ärzteschaft, ökonomisch motivierte Versorgungsgrenzen zu konkretisieren (z.B. Altersgrenzen oder nach einer aus Aufwand und Nutzen gewonnenen generellen Einschätzung). Was im individuellen Falle der sorgfältigen – und zulässigen – medizinischen Einschätzung unterliegt, und zwar im Verhältnis von Arzt und Patient, ist nicht stets als „Regel“ der ärztlichen Kunst verallgemeinerungsfähig. Die berufsethischen Pflichten zur patientenangemessenen Versorgung im individuellen Fall stehen einer nicht-medi-zinischen Überlagerung der Kriterien der ärztlichen Berufsausübung entgegen. Auch ein versicherungsrechtliches Wirtschaftlichkeitsgebot findet dort seine Grenzen, wo der Heilauftrag des Arztes zum Nachteil des Patienten minimiert wird. Deshalb muss der Gesetzgeber auch in der Krankenversicherung die Leistungsgrenzen selbst definieren.6 4. Versorgungsdefizite mit Folgen für die regelgerechte Behandlung der Patienten können nicht durch das ärztliche Haftungsrecht ausgeglichen werden.7 Führen Versorgungsdefizite zu einer Versorgung unter Standard, darf der Arzt die Behandlung des Patienten ablehnen, wenn eine auch haftungsrechtlich wirksame Risikoverlagerung auf den Patienten nicht gewährleistet ist. Diese Frage ist gegenwärtig offen, da eine entsprechende „Risikoabsprache“ mit der Folge einer zulässigen Einwilligung des Patienten in eine entsprechende Behandlung rechtlich höchst zweifelhaft ist. Da es sich insoweit nicht mehr nur um eine rein theoretische Frage handelt, sind hier Leitlinien zu entwickeln. 5. Die Begrenzung finanzieller Mittel für die Deckung des Aufwands ärztlicher Versorgung erweitert zugleich das Restrisiko für die Heilung oder Gesunderhaltung des Einzelnen. Diese Interdependenz ist unausbleiblich. Sie bewusst zu machen, läge in der Verantwortung der Politik. Zugleich sichert Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG das Selbstbestimmungsrecht des Bürgers als Patienten, die regelgerechten ärztlich gebotenen Leistungen in Anspruch zu nehmen. Enthält das Leistungsrecht der GKV insoweit ein Defizit, ist es von Verfassungs wegen geboten, die individuelle Ergänzung des Gesundheitsschutzes durch flexible Instrumente des Versi4
Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 288; Richter, EthikMed 1997, 3, 11. Hart, Leitlinien und Haftungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Klinische Leitlinien und Recht, 2005, S. 93 f. 6 vgl. dazu Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, 2001, S. 268. 7 Groß, VersR 1996, 657; Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 291. 5
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cherungsschutzes zu ermöglichen (z.B. Kostenerstattung). Objektiv nachweislich unangemessene Vergütung darf bei Versicherten zur Ablehnung der Behandlung führen. 6. Dessen ungeachtet ist die Entwicklung von Diagnosestandards, welche ein System von Zweckmäßigkeitsstufen des Einsatzes diagnostischer Methoden enthalten, empfehlenswert. Auch in einzelnen Bereichen der medizinischen Therapie mag die Bewertung von Therapiealternativen auch unter wirtschaftlichen Erwägungen sinnvoll sein, wenn die Letztentscheidung dem Arzt im Interesse des Patienten überlassen bleibt. Es wird im Übrigen häufig verkannt, dass sich wichtige Bereiche der Medizin einer solchen Bewertung durch „Standards“ völlig entziehen. 7. Sowohl zur Herstellung von mehr Handlungssicherheit als auch zur Orientierung der juridischen „Ex-Post-Betrachtung“ sind Qualitätssicherungsmaßnahmen geeignet. Ihre Entwicklung und weitere Einführung ist das zur Zeit bestimmende Instrument der Ärzteschaft zur Risikominimierung der ärztlichen Berufsausübung. Von einer Verbreitung entsprechender Maßnahmen kann sich die Ärzteschaft neben dem Effekt der intraprofessionellen Erfüllung einer Berufspflicht auch relative Sicherheit in der Einhaltung des gebotenen Standards der ärztlichen Untersuchung und Behandlung versprechen.
4. Behandlungsauftrag und „Standard guter ärztlicher Versorgung“ Der Abschluss des Behandlungsvertrages oder – im Rahmen des Sachleistungsprinzips der gesetzlichen Krankenversicherung das Zustandekommen eines Behandlungsverhältnisses mit dem Vertragsarzt – begründen auf Seiten des Patienten den Anspruch der Behandlung nach dem Standard guter ärztlicher Versorgung. Mit dem im Haftungsrecht vom BGH verwendeten Begriff „Standard guter ärztlicher Versorgung“ begegnet uns ein allgemeiner Maßstab, der für die Entscheidung darüber zugrundegelegt wird, ob der Arzt im Einzelfall bei unangemessenem Ergebnis der Behandlung, also in der Regel bei einem Gesundheitsschaden, die geschuldete erforderliche Sorgfalt gewahrt hat. So führt der BGH beispielsweise aus: „Nach § 276 BGB schuldet der Arzt dem Patienten vertraglich wie deliktisch die im Verkehr erforderliche Sorgfalt. Diese bestimmt sich weitgehend nach dem medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebiets ... Der Arzt muss diejenigen Maßnahmen ergreifen, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs vorausgesetzt und erwartet werden ... Ob ein Arzt seine berufsspezifische Sorgfaltspflicht verletzt hat, ist deshalb in erster Linie eine Frage, die sich nach medizinischen Maßstäben richtet ... Demgemäß muss der Richter den berufsfachlichen Sorgfaltsmaßstab mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen ermitteln ...“ 8
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BGH MedR 1995, 276.
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In anderem Zusammenhang führt der BGH bezüglich der Beachtung von Fortschritten in der Medizin folgendes aus: „Der Arzt schuldet seinem Patienten neben einer sorgfältigen Diagnose die Anwendung einer Therapie, die dem jeweiligen Stand der Medizin entspricht. Indessen bedeutet das nicht, dass jeweils das neueste Therapiekonzept verfolgt werden muss, wozu auch eine stets auf den neuesten Stand gebrachte apparative Ausstattung gehören müsste. Der Zeitpunkt, von dem ab eine bestimmte Behandlungsmaßnahme veraltet und überholt ist, so dass ihre Anwendung nicht mehr dem einzuhaltenden Qualitätsstandard genügt und damit zu einem Behandlungsfehler wird, ist jedenfalls dann gekommen, wenn neue Methoden risikoärmer sind und/oder bessere Heilungschancen versprechen, in der medizinischen Wissenschaft im wesentlichen unumstritten und deshalb nur ihre Anwendung von einem sorgfältigen und auf Weiterbildung bedachten Arzt verantwortet werden kann (Deutsch, Arzthaftungsrecht und Arzneimittelrecht, S. 35).“ 9
Eine thesenhafte Zusammenfassung könnte ergeben: Medizinischer und rechtlicher Sorgfaltsmaßstab fallen nicht auseinander. Aus rechtlicher Sicht können keine anderen Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht gestellt werden als aus medizinischer Sicht. Die rechtlich verlangte Sorgfalt richtet sich deshalb danach, was die Medizin in dem jeweils in Betracht kommenden Fachgebiet für geboten erachtet und damit als Standard betrachtet. Dies gilt auch für die Versorgung der Patienten mit Arzneimitteln. Jeder Arzt ist grundsätzlich verpflichtet, dasjenige Mittel zu verordnen, das die beste Wirkung verspricht. Als Standardmethode zur Behandlung einer bestimmten Krankheit kann sogar die Therapie mit einem Medikament gehören, das zwar zugelassen ist, aber noch nicht für diese Behandlung, und zwar dann, wenn es sich als einzig nachhaltig erfolgversprechendes Mittel herausgestellt hat. Standards sind also – so sie vorfindlich sind oder geschaffen werden – Regelmaßstäbe für die erforderliche Sorgfalt. Ihre Gewährleistung ist aber nur ein Indiz für regelgerechte Versorgung. Der zivilrechtliche Standard muss also das Vertrauen rechtfertigen, das die Medizin als Institution in Anspruch nimmt. Auch wenn aus der Rechtsprechung nicht ohne weiteres die Gleichstellung von Sorgfalt und Kunstregel abgeleitet werden kann, so geht die heutige Tendenz dahin, dem behandelnden Arzt weniger Ermessen und mehr Verhaltensanweisung an die Hand zu geben. Dies wäre die Funktion von Leitlinien, Richtlinien und Empfehlungen. In der Literatur wird daraus der Schluss gezogen, dass das Arztverschulden hauptsächlich bei der Verletzung von Verhaltensregeln festzumachen ist. Ihre Einhaltung schafft mithin Sicherheit. Diese Sicht trifft sich auch mit dem Haftungsniveau, welches im Entwurf der Kommission der Europäischen Union für eine Dienstleistungshaftungs-Richtlinie beschrieben war:
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BGH MedR 1988, 91, 93.
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„Das Verhalten des Dienstleistenden muss unter normalen und vorhersehbaren Bedingungen die Sicherheit gewährleisten, die berechtigterweise erwartet werden kann.“ 10
5. Standards und das sozialrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot Eine besondere rechtliche Problematik weist der Zusammenhang von Standards guter ärztlicher Versorgung und sozialrechtlichem Wirtschaftlichkeitsgebot im Rahmen der Behandlung von Versicherten auf. Das Problem ist rechtlich verdichtet im Vertragsarztrecht des SGB V, wo beispielsweise Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen einen nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot bemessenen Standard setzen. Nach dem SGB V und den Bestimmungen des Bundesmantelvertrages-Ärzte ist die Beachtung dieser Richtlinien vorgeschrieben, allerdings in dem Geltungsspielraum, den sie selbst vorsehen. In der Rechtsprechung hat sich dabei ein Wandel – der im Übrigen bemerkenswert ist – der Bedeutung des Geltungsspielraums dieser Richtlinien ergeben. Während es nach einer früheren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum pflichtgemäßen Ermessen des therapierenden Arztes gehörte, auch solche Behandlungsmaßnahmen in Erwägung zu ziehen, deren Wirksamkeit zwar noch nicht gesichert, aber nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft für möglich gehalten werden musste, hat neuerdings das Bundessozialgericht die Anforderungen verschärft, die an die Nutzung einer nicht anerkannten Außenseitermethode gestellt werden dürfen. Mehrere Judikate des 1. Senats befassen sich mit der Problematik der Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in die gesetzliche Krankenversicherung und der dafür maßgeblichen Rechtsgrundlage des § 135 Abs. 1 SGB V. Das Bundessozialgericht deutet diese Vorschrift als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. In einer Entscheidung vom 28. März 2000 bekräftigt das Bundessozialgericht die Abwendung von der früheren Rechtsprechung unter der Geltung der Reichsversicherungsordnung und führt Folgendes aus:11 „Eine Erweiterung der Leistungspflicht der Krankenkassen auf Behandlungsmethoden, die sich erst im Stadium der Forschung oder Erprobung befinden und (noch) nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen, lässt das Gesetz auch bei schweren und vorhersehbar tödlich verlaufenden Krankheiten grundsätzlich nicht zu. Dem Einwand, in solchen Fällen müsse ein individueller Heilversuch zu Lasten der Krankenversicherung auch mit noch nicht ausreichend gesicherten Therapieverfahren möglich sein, kann deshalb in dieser allgemeinen Form nicht Rechnung getragen werden ...“
Zu erwähnen bleibt allerdings auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 – der sogenannte „Nikolaus-Beschluss“12 –, mit dem das Bundesverfassungsgericht aus der Systematik der Pflichtversicherung unter 10 Der Entwurf ist von der Kommission zurückgezogen worden. Ein entsprechendes Projekt wird derzeit nicht verfolgt. 11 BSGE 86, 54. 12 BVerfGE 115, 25.
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Berufung auf den grundrechtlich gesicherten Schutz aus Art. 2 Abs. 1 GG (Gesundheit und Leben) eine verfassungsrechtliche Grenze gezogen hat, bei der in Fällen lebensbedrohlicher oder regelmäßig tödlicher Erkrankungen auch unkonventionelle Heilmethoden Gegenstand der gesetzlichen Krankenversicherung sein müssen. Die Beschränkung der – vom Gericht so gedeuteten – gesetzlichen Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung im Krankheitsfall wirft das Problem der Verknüpfung von ärztlich-medizinischem Heilauftrag und Wirtschaftlichkeit auf. Der Heilauftrag wird nicht allein durch die vertraglich und deliktisch geschuldete Sorgfalt bestimmt, sondern auch durch die Gewissenhaftigkeits-Norm der Berufsordnung. Die Vermittlung beider Gesichtspunkte hat für lange Zeit bisher im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung und im Vertragsarztrecht grundsätzlich zu keiner Einschränkung des Anspruchs an die ärztliche Behandlungsqualität geführt, da im Rahmen der Orientierung an den Regeln der ärztlichen Kunst oder dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft dem Therapieermessen gemäß dem medizinischen Standard der Vorrang vor wirtschaftlichen Gesichtspunkten eingeräumt wurde. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch der im Haftungsrecht verwendete ärztliche Sorgfaltsmaßstab nicht frei von wirtschaftlichen Gesichtspunkten sein muss. Es ist auch der Rechtsprechung des BGH entnehmbar, dass der Patient nicht stets optimale Behandlungsbedingungen, nach der neuesten Methode arbeitende Ärzte, die modernsten Apparate erwarten kann. Die Grenzen der je verfügbaren ärztlichen, pflegerischen, apparativen, räumlichen Potentiale verbieten es, den Maßstab für die ärztliche Behandlung und Haftung einheitlich ganz oben anzusiedeln. Dies löst indessen nicht das Problem, wie zu verfahren ist, wenn diese Potentiale nur eine suboptimale oder – nach dem Leistungsrecht der GKV – gar keine Versorgung ermöglichen.
6. Folgen für die Sorgfaltsanforderungen Die eingangs erwähnte Diskussion hat zunächst die rechtliche Problematik geschärft, ob und wie die Sorgfaltsanforderungen auf Versorgungsgrenzen zu reagieren haben. Allgemein lässt sich aus der bisherigen Diskussion die Schlussfolgerung ziehen, dass die Anforderungen, welche sich aus strukturellen, apparativen und organisatorischen Grenzen für die Behandlung eines Leidens im Einzelfall ergeben können, sich auf die Frage auswirken, wie die Verantwortung zur Übernahme der Behandlung zu handhaben ist. Es ist nach bisherigem Verständnis nicht auszuschließen, dass sich signifikante Defizite einer Versorgungsstruktur im Einzelfall mittelbar über das Übernahmeverschulden auswirken können. Ist der gebotene Standard als Mindeststandard nicht mehr gewährleistet und ist eine dem Standard entsprechende Behandlung anderernorts verfügbar, muss der Arzt – vom Notfall abgesehen – die Verantwortung für die Behandlung ablehnen, weil er das Risiko einer durch die nicht standardgemäße Behandlung verwirklichten Gesundheitsschädigung auf den Patienten nicht überwälzen kann. Jedenfalls scheint eine Einwilligung – trotz vollständiger Aufklärung – als „Risiko-Einwilligung in suboptimale Versorgung“ rechtlich nicht zulässig zu sein.
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7. Gibt es einen Widerspruch in der GKV? Die eingangs erwähnte Diskussion hat zum anderen auch die Frage aufgeworfen, ob in der GKV medizinischer Standard und leistungsrechtliches Niveau in Harmonie nebeneinander leben. Zwei Zitate mögen auch das rechtliche Dilemma erläutern. Einerseits Steffen: „Zwar hat auch der Kassenpatient Anspruch auf eine ausreichende Behandlung nach dem Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 1 Satz 2 BGB (§ 76 Abs. 4 SGB V). Aber das Wirtschaftlichkeitsgebot erlaubt die Beschränkung auf die weniger aufwendige Alternative; den Verzicht auf Perfektion einer diagnostischen Abklärung bei nur noch minimalen therapeutischen Konsequenzen; den Verzicht auf Methoden, über die der Patient wegen ihrer zweifelhaften Indikation besonders aufgeklärt werden müsste; Verzicht auf Bequemlichkeiten, Erleichterungen, Beschleunigung, kosmetische Kaschierung, soweit sie dem Patienten auch vom Standpunkt einer aktuellen modernen Medizin zugemutet werden können. Demgemäß verletzt das Vorenthalten von Behandlungsmaßnahmen, die das Kassenarztrecht als nicht notwendig honoriert, auch die ärztliche Sorgfaltspflicht nicht, sofern nicht der besondere Zustand des Patienten derartige Maßnahmen als indiziert gebietet.“ 13
Andererseits Kullmann: „... Es ist davon auszugehen, dass man unter medizinischem Standard auch im Sinne des Sozialversicherungsrechts eine Diagnose und Therapie zu verstehen hat, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, und dass der von den Krankenkassen zu finanzierende Standard der Krankenbehandlung nicht nur eine Behandlung nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft einschließt, sondern auch den medizinischen Fortschritt insoweit zu berücksichtigen hat, als neue Verfahren wenigstens von einem ernstzunehmenden Teil der medizinischen Wissenschaft anerkannt sind. Damit kann auch ein Patient, der nur Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse ist, eine Behandlung erwarten, die den medizinischen Qualitätsanforderungen der Gegenwart entspricht. Auch der sozialversicherungsrechtliche Standardbegriff stimmt demnach grundsätzlich mit dem medizinischen und dem haftungsrechtlichen überein.“ 14
Unseres Erachtens wäre es auch rechtlich nicht zulässig, gesetzlich zu erlauben, dass bei Versicherten der Versorgungsstandard „riskanter“ sein oder den nach medizinischen Maßstäben festgelegten Mindeststandard unterschreiten darf. Dazu hätte der Gesetzgeber des Krankenversicherungsrechts wegen des nachhaltigen Eingriffs in die Grundrechte der Versicherten (Gesundheitsschutz) und das ärztliche Berufsrecht keine Befugnis.
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Steffen, MedR 1995, S. 190 f. Kullmann, VersR 1997, S. 529 ff.
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8. GKV-leistungsrechtliche Einschränkungen und Pflichten des Arztes oder der Krankenhäuser Auf einer völlig anderen rechtlichen Betrachtungsebene liegt die Frage, wie versicherungsrechtliche oder besser, leistungsrechtliche Deckungslücken das Verhalten des Arztes tangieren. Dabei zeichnen sich u. a. also folgende Probleme ab, die schon durch die Eingangsfragen illustriert worden sind, welche aber auch streng rechtlich unterschieden werden müssen: 1. Verändern Finanzierungsengpässe den Standard der guten ärztlichen Versorgung? Finanzierungsengpässe können den Standard guter ärztlicher Versorgung grundsätzlich nicht verändern. Ist der Mindeststandard nicht gewahrt, darf eine Behandlung nicht ausgeführt werden. „Risikovereinbarungen“ zwischen Arzt und Patient sind rechtlich unzulässig, da der Arzt auch berufsrechtlich an die Einhaltung des Mindeststandards gebunden ist. Daher wurde die Idee diskutiert, durch die Entwicklung von Leitlinien oder Kriterien für eine wirtschaftliche Behandlung eine Versöhnung von medizinischem Niveau und Ökonomie zu ermöglichen, wie dies die Institutionalisierung des Gemeinsamen Bundesausschusses mit der Kompetenz zur Bestimmung der GKV-Leistungen und den zu konkretisierenden Inhalten für die Dienstleistungen der Leistungserbringer intendiert. Die Idee geht zurück auf Voten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion, der in zwei Gutachten 1994 und 1995 dazu Folgendes ausgeführt hat: „... Der Rahmen des ärztlichen Handelns wird überwiegend von der sogenannten Schulmedizin bestimmt. Hierunter versteht man so weit wie möglich und vertretbar präzise formulierte und wissenschaftlich gesicherte Regeln der ärztlichen Kunst. ... Es bestehen in dem Feld der Schulmedizin ständig Wandel- und Handlungsbedarf. Dennoch lässt sich ein wissenschaftlich begründetes, durch Erfahrung gefestigtes, diagnostisches und therapeutisches Vorgehen in Standards formulieren. ... Der rationelle, d.h. wirtschaftlich begründete Einsatz der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten dient in dieser Betrachtung einem Teilziel der übergeordneten Rationalität. ... Kriterien für die Bewertung des Überflüssigen sind nicht allein Wirksamkeit und Menge der erbrachten Leistung. Vielmehr wird ebenso im Konsensus durch abgestimmte ärztliche Erfahrung ein akzeptabel kleines Restrisiko definiert, das von Patient und Arzt in zumutbarer Weise getragen werden kann. ...“
Gleichsam als Fazit dieser Erwägungen stellt der Rat in dem erwähnten Gutachten fest: „Rationeller Einsatz der medizinischen Standards beinhaltet also auch ein kalkuliertes Risiko. Aufgabe der Qualitätssicherung ist, u.a. zu gewährleisten, dass sich das ärztliche Handeln innerhalb der akzeptierten Grenzen des Aufwandes bewegt und dass die Ärzte zur Anwendung der akzeptierten Standards gebracht werden. Die Qualitätssicherung des rationalen und rationellen Einsatzes der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten ist in Sachwaltung der Interessen der Patienten Aufgabe der Ärzte und ihrer Selbstverwaltungen. Sie kann nur mit und nicht gegen diese erreicht werden. Sie bedarf der Unterstützung und Akzeptanz durch Patienten und Versicherungen.“
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Die rechtliche Problematik solcher Standards liegt auf der Hand. Im folgenden Gutachten 1995 führt denn auch der Rat Folgendes dazu aus: „Das Nahziel muss zunächst sein: Den Konsensus über Diagnostik und Therapie belastbar zu machen, indem er sich einerseits auf das Wesentliche beschränkt und andererseits lange genug reflektiert wird. Die stufenweise Abstimmung ist von der wissenschaftlichen Spezialgesellschaft über die umfassende Gebietsgesellschaft und die AWMF zu führen, um Lobbyismen und Fächeregoismen zu eliminieren. Praktikabilität und Finanzierbarkeit sind abschließend durch Einschaltung geeigneter Gremien unter Einbeziehung von Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Kassen zu klären. Hierbei wird vor allem das Problem der Umsetzbarkeit von Leitlinien und der Durchsetzung der Qualitätssicherung im Sinne des Verfahrens nach Standards zu lösen sein. Das für Patienten und Ärzte zu tragende Restrisiko zu beschreiben, welches bei diagnostischer und therapeutischer Optimierung zu tragen bleibt und in Rechtssetzung und -sprechung berücksichtigt werden muss (Sachstandsbericht 1994, Ziffer 256 f.).“
Ursprünglich hatte § 137e Abs. 3 SGB V15 diese Idee aufgegriffen, wo einem sog. „Koordinierungsausschuss“ die Aufgabe zugewiesen wurde, „auf der Grundlage evidenzbasierter Leitlinien die Kriterien für eine im Hinblick auf das diagnostische und therapeutische Ziel ausgerichtete zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung für mindestens zehn Krankheiten je Jahr (zu beschließen), bei denen Hinweise auf unzureichende, fehlerhafte oder übermäßige Versorgung bestehen und deren Beseitigung die Morbidität und Mortalität der Bevölkerung nachhaltig beeinflussen kann ...“. Deutlich wird hier als Bestandteil der Versorgung in der GKV die „wirtschaftliche“ Leistungserbringung auch unter der Geltung von evidenzbasierten Leitlinien. Ob dazu der neue § 135a Abs. 1 Satz 2 SGB V in Widerspruch steht, der die sogenannten Leistungserbringer ausdrücklich verpflichtet, dass die Leistungen dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechend und in der fachlich gebotenen Qualität erbracht werden müssen, ist eine andere Frage. Die Frage bleibt, ob solche Kriterien, wie sie der Koordinierungsausschuss zu beschließen hat – gegebenenfalls gegen die Stimmen der Ärzteschaft, denn der Koordinierungsausschuss ist ein Mehrheitsgremium –, im Einzelfall den gerichtlichen Anforderungen an eine sachgerechte ärztliche Versorgung standhalten, wenn die Kriterien selbst mittelbar im Rahmen eines Haftungsproblems auf dem rechtlichen Prüfstand stehen. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit des ärztlichen Handelns bei – aus Wirtschaftlichkeitserwägungen in Kauf genommenen – Restrisiken bleibt.
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§ 137e Abs. 3 SGB V – Einrichtung eines sog. Koordinierungsausschusses – ist nicht mehr geltendes Recht.
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2. Ist das im Sachleistungsprinzip der GKV angelegte „Alles-oder-Nichts“-Prinzip sachgerecht oder gar noch rechtens, wenn der Leistungsumfang der GKV nicht mehr „alles“ leistet? Würden in der GKV die medizinischen Leistungsbeschränkungen erweitert, stellt sich eine systematische Frage. Gegen solche Einschränkungen kann nicht eingewandt werden, dass das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes die Abdeckung aller Gesundheitsschäden und der damit verbundenen Heilbehandlungskosten in einem Sozialversicherungssystem geböte. Neben dem Sozialstaatsgrundsatz ist auch der allgemeine Persönlichkeitsschutz in Verbindung mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, der Schutz der Menschenwürde sowie der Gleichheitsgrundsatz in Erwägung zu ziehen. Die im Zusammenhang mit Umgestaltungen von Sozialversicherungen zusätzlich in Betracht gezogenen Maßstäbe des Eigentums bzw. Vertrauensschutzes spielen im Zusammenhang mit der gesetzlichen Krankenversicherung eine nachgeordnete Rolle, anders als beispielsweise bei der Rentenversicherung. In einer Ausarbeitung „Verfassungsrechtliche Grenzen bei der Umgestaltung des Sozialstaats im Bereich der Gesundheitssicherung“ führt Schulin16 unter anderem Folgendes aus: „Bezüglich Einschränkungen im Leistungsrecht ist zunächst festzuhalten, dass als verfassungsrechtliche Grundsätze neben dem Sozialstaatsprinzip der Schutz der Menschenwürde und das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein Absinken des Niveaus einer ausreichenden gesundheitlichen Versorgung verhindern. Sollte zukünftig die Finanzierung für die Versicherten trotz Ausschöpfung aller Rationalisierungsmaßnahmen nicht mehr tragbar sein, so kann die Kompetenz zur Einschränkung von Gesundheitsleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung – ungeachtet der Notwendigkeit des Versicherungsprinzips – nur bei den Versicherten selbst liegen. Gesetzlich fixierte Leistungskataloge stehen dem entgegen. Kommt es zu Leistungseinschränkungen, müssen diese aber kompensierbar sein, entweder über das interne Angebot einer Zusatzvereinbarung innerhalb der öffentlichen Gesundheitssicherung oder aber über eine Privatversicherung.“
Schulin ist der Auffassung, dass der Versicherungszwang in der gesetzlichen Krankenversicherung gemessen am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 GG nur solange gerechtfertigt ist, „wie dem pflichtversicherten Bürger nicht faktisch ein geringerer Versicherungsschutz aufgezwungen wird, als er in dem Fall fehlender Pflichtversicherung in der privaten Krankenversicherung erhalten könnte“. Er kommt zu dem Schluss, dass „dem Selbstbestimmungsrecht der Versicherten ... das Krankenversicherungsrecht nur dann gerecht (wird), wenn ihnen durch Wahlmöglichkeiten die Chance eingeräumt wird, Versicherungslücken zu schließen“. Ob allerdings sein Vorschlag, einen risikoäquivalenten Beitragszuschlag zu dem gesetzlich vorgesehenen Versicherungsschutz als dessen freiwillige Erweiterung zu zahlen, aus anderen rechtlichen Gründen sachgerecht ist, ist zweifelhaft. Darauf wird noch einzugehen sein. Die von Schulin mit Recht beklagte Vernachlässigung des rechtlichen Gesichtspunkts des Selbstbestimmungsrechts des Versicherten ge16
Schulin, VSSR 1997, 43 ff.
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winnt erhebliche Bedeutung unter dem Blickwinkel der künftigen Gestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung bei aus wirtschaftlichen oder sonstigen sachlichen Erwägungen abgeleiteten Leistungseinschränkungen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss vom 5. März 1997, dem eine Verfassungsbeschwerde gegen die Interpretation des sozialrechtlichen Wirtschaftlichkeitsgebots durch das Bundessozialgericht – keine Leistungspflicht der Krankenkassen hinsichtlich nicht zugelassener Arzneimittel – zugrunde lag, ausgeführt, dass durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die freie Selbstbestimmung des Patienten über ärztliche Heileingriffe verbürgt ist mit der Folge, dass ihm allein auch die Letztentscheidung über die in seinem Fall anzuwendende Therapie überlassen ist. Von Bedeutung ist jedoch die weitere Ausführung des Gerichts: „Jedoch ergibt sich daraus kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung entsprechender medizinischer Versorgung oder auf Gewährung finanzieller Leistungen hierfür. Ein mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbarer Anspruch auf Bereitstellung spezieller Gesundheitsleistungen, die der Heilung von Krankheiten dienen oder jedenfalls bezwecken, dass sich Krankheiten nicht weiter verschlimmern, kann aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht hergeleitet werden.“ 17
Auch soweit für die in der GKV geregelten Sach- und Dienstleistungsansprüche der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG eröffnet ist (Schutz vermögenswerter Rechtspositionen), wird im Ergebnis nur deren Kernbereich garantiert, da dem Gesetzgeber nach herrschender Meinung auch weitreichende Einschnitte eingeräumt sind, welche über Inhaltsbestimmungen des Wirtschaftlichkeitsgebots hinausgehen und Beschränkungen der Einstandspflicht – wie zuvor diskutiert – darstellen. Aus den vorgenannten verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten folgt jedoch unseres Erachtens bei einer – politisch entschiedenen und verfassungsrechtlich zulässigen – Einschränkung des Leistungsangebots der gesetzlichen Pflichtversicherung – gleichsam als Ergebnis des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Abwägung von Versicherungspflicht und Selbstbestimmungsrecht über die Inanspruchnahme von zweckmäßigen Gesundheitsleistungen aus autonomer Entscheidung – die Einräumung von Wahlfreiheit für den Versicherten. So wie beispielsweise auch verfassungsrechtlich problematische Beitragssatzunterschiede in der Vergangenheit bei der Pflichtzugehörigkeit zu einer bestimmten Krankenkasse durch die Einräumung eines Wahlrechts bei der Wahl der Krankenkasse eingeebnet worden sind, so müsste künftighin dem Versicherten bei einem notwendig eingeschränkten Leistungskatalog der GKV im Einzelfall durch das Instrument der Kostenerstattung die Ergänzung eines als nicht ausreichend angesehenen Gesundheitsschutzes ermöglicht werden. Mit anderen Worten: Das „Alles-oder-NichtsPrinzip“ der Sachleistung – entweder die gesetzlich eingeschränkte Sachleistung oder gar keine oder volle private Zahlung – kann aus den genannten verfassungsrechtlichen Gründen nicht aufrechterhalten werden. Kostenerstattung oder Festzu17
BVerfG MedR 1997, 318.
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schüsse bilden die kompensatorische und ergänzende Öffnung i.S. des Patientenrechts. Die durch § 13 Abs. 2 SGB V mit dem 2. GKV-NOG eingeführte Möglichkeit der Kostenerstattung war daher auch die verfassungsrechtlich zutreffende Antwort auf die mögliche Einschränkung eines Leistungskatalogs. Diese Möglichkeit könnte daher nur beseitigt werden, wenn das Gesundheitsschutzniveau der gesetzlichen Krankenversicherung weiterhin dem Maßstab der medizinischen Erkenntnisse entsprechen würde, womit es allerdings wohl nicht mehr mit den bisherigen Beiträgen finanzierbar wäre. Diesen Zusammenhang sollte sich auch die Politik bei Überlegungen zur Beseitigung des Kostenerstattungsprinzips klarmachen. Selbstverständlich kann auch Kostenerstattung nicht unbegrenzt sein. Sie kann ebenfalls an qualitative und wirtschaftliche Begrenzungen geknüpft sein. 3. Ist die Inpflichtnahme des Arztes als Vertragsarzt in eine suboptimale Versorgung auf der Grundlage der GKV-Leistungen mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, wenn ihm die Herstellung der medizinisch gebotenen Versorgung nur durch private Zusatzbelastung des Versicherten oder unter Inkaufnahme eigener Einkommenseinbußen zumutbar ist? Die nur in Akzentuierungen unterschiedlichen Auffassungen über den Behandlungsanspruch des Versicherten bei Rationierungsmaßnahmen in der GKV lassen erkennen, dass eine weitergehende Leistungseinschränkung auch dem sozialrechtlichen Behandlungsanspruch des Versicherten Grenzen setzt. Daher muss auch dem Arzt unter Berücksichtigung seines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG die Möglichkeit gegeben werden, den Versicherten über die aus seiner Sicht notwendigen medizinischen Maßnahmen aufzuklären und ihm die Entscheidung darüber zu überlassen, sie durch Wahl einer anderen Finanzierungsform bei seinem Versicherungsschutz in Anspruch zu nehmen. Selbstverständlich ist, dass unter eine bestimmte Basisschwelle der Qualität der Versorgung auch der GKV-Versiche-rungsschutz nicht gehen kann. Daraus ziehen die Verfasser folgendes Fazit: Mit einer – gebotenen – Einschränkung des Versicherungsschutzes im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung im Hinblick auf medizinische Leistungen, sei es durch den Ausschluss bestimmter medizinischer Leistungen, sei es durch eine Verschärfung der Wirtschaftlichkeitsanforderungen durch Haftungsbudgets, geht notwendig einher die Öffnung von Wahlfreiheit für den Versicherten durch die Schaffung eines Kostenerstattungsanspruchs, der ihm zumindest eine Teilfinanzierung eines vom Arzt und dem Patienten konsentierten Behandlungsaufwandes sichert und ihm ungehindert die Wahrnehmung seines Patientenrechts auf Nachfrage nach Gesundheitsleistungen eröffnet. 4. Dürfen Ärzte und Krankenhäuser die Übernahme der Behandlung trotz grundsätzlicher Behandlungspflicht bei Versicherten verweigern, gegebenenfalls auch prolongieren, wenn ihre Budgets erschöpft sind? Budgeterschöpfung oder unangemessene Vergütung werden in aller Regel nach der Auffassung der Mehrheit in Rechtsprechung und Literatur nicht als Grund an-
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gesehen, die Behandlung eines Patienten aufgrund der Behandlungspflicht durch die Teilnahme am System der vertragsärztlichen Versorgung zu verweigern. Da die Behandlung nicht verweigert werden kann, verpflichtet die Übernahme der Behandlung zur Ausführung der ärztlichen Leistungen nach den Regeln der ärztlichen Kunst in der – wie es in § 135a Abs. 1 S. 2 SGB V heißt: fachlich – gebotenen Sorgfalt, auch wenn sich der Arzt dabei finanziell selbst schädigen würde, etwa durch Überschreitung von Richtgrößen und daraus folgender Haftung für zusätzliche Arzneimittelkosten oder auch in ähnlichen Zusammenhängen, wenn Behandlungsbudgets eingeführt werden. Dies trifft indessen nur grundsätzlich zu. Der Sachverhalt muss jedoch differenzierter betrachtet werden: (1) Steht objektiv fest, dass bestimmte medizinische Leistungen wegen unterwertiger Vergütung nur durch Inkaufnahme einer vermögensrelevanten Selbstschädigung des Vertragsarztes erbracht werden können, darf dieser die Behandlung auch eines versicherten Patienten ablehnen. Die Möglichkeit, dem versicherten Patienten eine privatärztliche Behandlung anzubieten, ist dem Arzt nicht genommen. Für diese Einschätzung reichen allerdings subjektive Annahmen des Arztes, die im Gesamtvertrag vereinbarte Vergütung seiner ärztlichen Leistungen sei unangemessen, nicht aus. Eine solche Beurteilung widerspräche dem bundesmantelvertraglich festgelegten Diskriminierungsverbot mit Blick auf die versicherten Patienten, das gerade dazu beitragen soll, dass der Versicherte nicht wegen seines Versicherungsstatus nicht behandelt wird. Dennoch stellt die Behandlungsverweigerung die einzige Möglichkeit dar, auch im Zulassungsstatus einer Schädigung gegenzusteuern, solange die Rechtsprechung durchsetzbare Individualansprüche auf angemessene Vergütung verweigert und nur Verteilungsansprüche anerkennt. (2) Der Arzt hat in solchen Fällen dazu beizutragen, dass der versicherte Patient andernorts behandelt wird.
II. Wie geht es weiter? Die rechtlichen und medizinethischen Sicherungen: Ärztliche Selbstverwaltung, Berufsrecht, ethische Standards 1. Ärztliche Selbstverwaltung Historisch ist die sog. berufsständische Selbstverwaltung der „verkammerten Freien Berufe“ Ausdruck eines doppelten Freiheitsstrebens: einmal Sicherung der internen Professionalität der Angehörigen des Berufes – auch in Abgrenzung zu „nicht-qualifizierten“ Dienstleistern, welche vergleichbare Aufgaben wahrnehmen wollen – und die Organisation der eigenen Angelegenheiten in körperschaftlicher Verfassung unter staatlicher Rechts-, allerdings nicht Fachaufsicht. Auf die Geschichte der ärztlichen Selbstverwaltung kann im Einzelnen in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Historisch ist sie im 19. Jahrhundert in Opposition zum absolutistischen Anstaltsstaat entstanden, zunächst in freiwilligen Zusammenschlüssen, später (1880er und 90er Jahre) in den Reichslän-
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dern als Ärztekammern (vgl. z.B. die Preußische Verordnung betreffend die Einrichtung einer ärztlichen Standesvertretung, vom 25. Mai 1887). Im Verlaufe der Zeit wurde die ärztliche Selbstverwaltung in Deutschland parallel zur politischhistorischen Entwicklung unterschiedlich i.S. einer unitarischen, nach dem Zweiten Weltkrieg dezentralen Organisationsform bestimmt. Von Anfang an begleitend – im Zusammenhang mit der Schaffung der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Reichsversicherungsordnung – zieht sich die Parallelität der Auseinandersetzung der Ärzteschaft mit den Krankenkassen mit dem Ziel einer ausgleichenden Positionierung der Ärzte bei der Versorgung von Versicherten. Selbstverwaltung durch Kammern ist „janusköpfig“. Sie ist – wie schon ausgeführt – ein in unserem Rechtsstaat demokratisch legitimiertes Organisationsprinzip zur Ausführung von Aufgaben, welche dem Staat zukommen, aber auch von Aufgaben im Interesse des Berufstandes. Ein Zitat von Taupitz macht dies deutlich: „Selbstverwaltung durch Kammern ist keine bloße Veranstaltung des Staates und meint nicht Fortsetzung der Staatsverwaltung nur unter formaler Auswechslung des Trägers, sondern bedeutet Wahrnehmung eigener Aufgaben und Interessen des Standes, und zwar, das sei betont, auch gegenüber dem Staat. Aber: Selbstverwaltung ist auch keine private und rein interne Angelegenheit des Berufsstandes, nicht Ausfluss der Privatautonomie mit ihrer Möglichkeit der einseitigen Verfolgung eigener Interessen, sondern ist eine auch der Allgemeinheit und dem Gemeinwohl verpflichtete Institution.“ 18
Nach allgemeinem Verständnis ist in Deutschland die berufsständische Selbstverwaltung zugleich Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips. Eine Garantie dieses Organisationsprinzips von Verfassungs wegen wird allgemein verneint. Wie sich aus einer Analyse der Heilberufsgesetze im Hinblick auf die Ärzte ergibt, stehen im Mittelpunkt der Kammeraufgaben – verkürzt – die Berufsausicht und die Interessenvertretung („Wahrnehmung der beruflichen Belange“). Die Berufsaufsicht ist normativ mit der Ermächtigung zu autonomer Rechtssetzung verknüpft und administrativ mit der Möglichkeit der Sanktionierung im Falle von Berufsrechtsverstößen. Vor allem im Laufe der letzten Jahre hat sich zunehmend ein weiteres wichtiges Aufgabenfeld der Ärztekammern – was schon immer rechtlich vorhanden war – zu großer praktischer Bedeutung entwickelt: die Qualitätssicherung der ärztlichen Berufsausübung im weitesten Sinne. Darunter ist nicht nur die Weiterbildungsordnung als Facharztordnung, das Fortbildungswesen und die Normsetzung in diesen Bereichen zu verstehen, sondern auch im weiteren Sinne die Beratung und Unterstützung der Ärzte bei der Qualitätssicherung ihres ärztlichen Handelns. Ärztekammern erfüllen darüber hinaus zunehmend wichtige Aufgaben – auch in Gestalt von Empfehlungen der Bundesärztekammer – auf Feldern, welche medizin-ethische Fragen berühren und auf denen eine Orientierung der Ärzte geboten erscheint. Ärztekammern sind auch Träger von Ethikkommissionen zur Beratung der Ärzte.
18
Taupitz, DÄBl. 1997 (94), A-3078, 3079.
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Fazit: Ärztliche Selbstverwaltung in der Gestalt der Ärztekammern ist ein unerlässliches Organisationsprinzip zwischen staatlichen Aufgaben und Interessenwahrnehmung durch Durchsetzung einer vernünftigen Ordnung des Berufsstandes, deren es bedarf, um die Patientenversorgung professionell und qualitativ zu gewährleisten. Unter Konzentration auf diese Sinngebung hält auch das Handlungsinstrument des untergesetzlichen Berufsrechts der verfassungsrechtlichen und – inzwischen zunehmend wichtigeren – gemeinschaftsrechtlichen Prüfung unter dem Blickwinkel des Art. 12 Abs. 1 GG sowie der Art. 81, 82 EGV stand.
2. Notwendige gesetzliche Vorgaben Seit dem Facharztbeschluss des Bundesverfassungsgerichts19 ist die Frage, in welchem Umfang der Gesetzgeber Regelungen der Berufsausübung einem Selbstverwaltungsträger überantworten darf, verstärkt in den Blickpunkt der Diskussion getreten. In der Entscheidung vom 13. Juli 2004 wiederholt das BVerfG den Kerngedanken:20 „Die Einrichtung funktionaler Selbstverwaltung als Ausprägung des Demokratieprinzips des Art. 20 Abs. 2 GG mit dem Ziel der Verwirklichung der freien Selbstbestimmung (vgl. BVverfGE 107, 59, 92 unter Bezugnahme auf BVerfGE 44, 125, 142) darf nicht dazu führen, dass der Gesetzgeber sich seiner Regelungsverantwortung entäußert. Überlässt er öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Anstalten als Trägern funktionaler Selbstverwaltung bestimmte Aufgaben zur Regelung in Satzungsautonomie, darf er ihnen die Rechtssetzungsbefugnis nicht zur völlig freien Verfügung überlassen. Das gilt insbesondere bei Regelungen, die mit Grundrechtseingriffen verbunden sind. Der Gesetzesvorbehalt – hier der des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG – weist dem parlamentarischen Gesetzgeber die Entscheidung darüber zu, welche Gemeinschaftsinteressen so wichtig sind, dass Freiheitsrechte des Einzelnen zurücktreten müssen (vgl. BVerfGE 33, 125, 159).“
Die in dieser Entscheidung verfassungspolitisch erkennbare gesteigerte Grundrechtssensibilität geht mit dem Gedanken einher, dass sich eine nachträgliche Rechtsaufsicht des Staates über autonome Rechtssetzung als unzureichendes Kontrollinstrument erwiesen hat und erweisen kann und daher die vorbeugende Kontrollfunktion des Parlaments durch eine Ausweitung des parlamentarischen Regelungsvorbehalts eine erhebliche Ausdehnung erfahren müsse. Eine Auseinandersetzung mit den begrifflichen und kategorialen Abgrenzungen zu der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes oder – wie es heute weitgehend heißt – des sog. Parlamentsvorbehalts und der Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt und den einzelnen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten ist hier nicht möglich. Festzuhalten bleibt, dass sich der Parlamentsvorbehalt als ein zum Delegations- oder Ermächtigungsverbot verdichteter Gesetzesvorbehalt versteht, dessen Wirkung auch im Kammerrecht und im Vertragsarztrecht im Hinblick auf die zuvor beschriebenen Rechtssetzungsbefugnisse untersucht werden muss. Zum Einen 19 20
BVerfGE 33, 125. BVerfGE 111, 191, 216.
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steht im Zentrum dieser Vorbehaltsdiskussion die Frage, in welchen Fällen der parlamentarische Gesetzgeber überhaupt tätig werden muss (Problem der Regelungsebene). Zum anderen ist für die Frage eine Antwort zu finden, welche Kriterien für das erforderliche Maß an tatbestandlicher Bestimmtheit der jeweiligen Regelungen im Parlamentsgesetz vorhanden sein müssen (Frage nach der Regelungsdichte). Das BVferG legt als allgemeine Leitlinie fest: „Im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands, insbesondere die Intensität der Grundrechtseingriffe, ist zu beurteilen, wie weit die gesetzlichen Vorgaben ins Einzelne gehen müssen.“ 21
Diesen Prinzipien kommt Bedeutung sowohl für die Grundrechtseffektivierung durch Selbstverwaltung als auch für die Grundrechtssicherung gegenüber der Selbstverwaltung zu. Der freiheitlichen Intention des Art. 12 Abs. 1 GG entspricht es eher, wenn Berufsregelungen speziell durch die Berufsangehörigen selbst getroffen werden, als wenn dies allein durch staatsunmittelbare Organe geschieht. Selbstverwaltungseinrichtungen sind daher geeignet, der Berufsfreiheit des Art. 12 GG zusätzlichen Gestaltungsspielraum zu eröffnen. Durch die unmittelbare Teilhabe der Berufsangehörigen an der Entscheidungsfindung ergeben sich erhöhte Einflussmöglichkeiten des Einzelnen auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen seiner freiheitlichen Berufsausübung. Autonomes Berufsausübungsrecht begrenzt daher das Grundrecht der Berufsausübung nicht nur, sondern es „effektiviert“ es auch. Andererseits bleibt die besondere Verantwortung des Gesetzgebers für die Wahrung der Rechte der sich innerhalb eines Berufsstandes entfaltenden Individuen zu sehen. Zur Funktion der Grundrechte als personaler Freiheitsverbürgung gehört keineswegs nur der Schutz des Individuums vor ungehemmtem staatlichem Zugriff, sondern auch der Schutz vor anderen Institutionen, welche die grundrechtlich geschützte Freiheit bedrohen – und deren Entscheidungen gegenüber Minderheiten und Außenseitern gerade keine Partizipation, sondern Fremdbestimmung bedeuten würde. Erst recht muss dies gelten, wenn diese Institutionen vom Staat mit einer qualifizierten Rechtssetzungsmacht ausgestattet sind. Doch stellt sich die Frage, ob nicht teilweise der Schutz auch durch die Herstellung von korporatistischen oder genossenschaftlichen Schutzzwecken erreicht werden kann (also eine Art Grundrechtssicherung durch Verfahren gemeinschaftlicher Interessenwahrnehmung), wenn – wie im Vertragsarztrecht – die gesetzliche Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigung gerade in der Wahrnehmung der Rechte der Vertragsärzte gegenüber den Krankenkassen besteht, so dass eine Gesamtschau der Systemelemente bei der Beurteilung der Notwendigkeit gesetzlicher Vorgaben geboten ist. Ähnlich ist die auch staatsgerichtete Wahrung beruflicher Belange im Kammerrecht zu sehen.
21
Vgl. BVerfGE 98, 218, 251.
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Der Parlamentsvorbehalt ist in besonderem Bezug zur berufsständischen Autonomie zu sehen, d.h. der Rechtssetzungsverleihung an einen Berufsverband mit dem Ziel der Entwicklung besonderer Berufsausübungsregelungen mit dem Charakter eines Eingriffs in die Berufswahl- und Berufsausübungsfreiheit, so dass auch für die Kassenärztliche Vereinigung ein Vergleich mit den Regeln über die Autonomieverleihung an berufsständische Körperschaften nahe liegen könnte. Es erscheint indessen angebracht, die Geeignetheit dieses Ansatzes in mehrfacher Hinsicht in Frage zu stellen.
3. Gestaltung ärztlichen Berufsrechts Ein Kern der ärztlichen Selbstverwaltung ist die Autonomie zur Gestaltung von Berufsrecht – auch als Entwicklungspotential berufsbild-konstitutiver Normen. 1. Von ärztlichem Berufsrecht soll hier in einem traditionellen und funktionalen Verständnis die Rede sein, indem darunter die Rechtsnormen gefasst werden, welche – auch im Sinne der Sprechweise des europäischen Gemeinschaftsrechts von den reglementierten Berufen – den Beruf des Arztes als Rechtsinstitut konstituieren, also die berufsbild-konstitutiven Normen, welche aus der Besonderheit des Freien Berufs und seiner gesellschaftsrechtlichen Verantwortung entstehen und die dafür typischen Bindungen regeln, so wie beispielsweise § 1 Abs. 2 des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes allgemein für die in seinem Anwendungsbereich tätigen Freien Berufe – dazu gehören auch die Ärzte – folgendermaßen definiert: „Die Freien Berufe haben im Allgemeinen auf der Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation oder schöpferischer Begabung die persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Erbringung von Dienstleistungen höherer Art im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit zum Inhalt.“
und wie § 1 der Bundesärzteordnung im Besonderen das Berufsbild des Arztes mit der Definition prägt: „Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes. Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe; er ist seiner Natur nach ein Freier Beruf.“
2. Das ärztliche Berufsrecht ist funktional ein besonderer Verhaltenskodex für die Berufsausübung der Ärzte, welcher spezifische Aspekte berufsethischer, qualitätssichernder und patientenbezogener Regeln umfasst, die insgesamt ein Grundmuster ärztlicher Professionalität bilden. Indem mithin als Folge Marktfreiheiten und Wettbewerb nur in einem eingeschränkten Umfang die Berufsausübung leiten, bleibt das Grundverständnis und die Identität der Angehörigen dieses Heilberufs als nach der ärztlichen Berufsordnung zum Wohle des Patienten und in unabhängiger medizinischer Entscheidung zu diesem Wohle professionell Handelnde gewahrt. Das in den Besonderheiten des Arzt-Patienten-Verhältnisses reflektierte professionelle Selbstverständnis der
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Ärzte wird in der Präambel der Muster-Berufsordnung der Bundesärztekammer bestimmt: „Mit der Festlegung von Berufspflichten der Ärzte dient die Berufsordnung zugleich dem Ziel, das Vertrauen zwischen Arzt und Patient zu erhalten und zu fördern; die Qualität der ärztlichen Tätigkeit im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung sicherzustellen; die Freiheit und das Ansehen des Arztberufes zu wahren; berufswürdiges Verhalten zu fördern und berufsunwürdiges Verhalten zu verhindern.“
3. Die besondere Freiheit der Berufsausübung, derer der Arzt bedarf, die aber auch gesichert werden muss, ergibt sich aus dem ärztlichen Berufsrecht. Dieses Berufsrecht regelt die Berufspflichten und die Berufsrechte, ohne nach selbständigen, angestellten oder beamteten Ärzten zu unterscheiden. Nach den Gesetzesmaterialien will die Bundesärzteordnung klarstellen, „dass grundsätzlich die Freiheit ärztlichen Tuns gewährleistet sein muss, unabhängig davon, in welcher Form der Beruf ausgeübt wird“.
Die verantwortliche Freiheit des Entscheidens als Voraussetzung jedes ärztlichen Handelns bleibt verbindliches Berufsprinzip, gleichviel in welcher Position der Arzt seinen Dienst tut. Für die Selbstverwaltung ist deshalb die selbstverantwortlich geregelte Berufsausübungsfreiheit das identitätsstiftende Merkmal unabhängig vom beruflichen Status. 4. Die Rechtsregeln des Berufsrechts im engeren Sinne finden sich als Grundsatznormen in den Kammer- und Heilberufsgesetzen der Länder und in der Einzelkonkretisierung in den Satzungen der Landesärztekammern über die Regelungsgegenstände, die nach den Gesetzen getroffen werden dürfen, darunter die Berufsordnung und die Weiterbildungsordnung. Die Berufsordnungen legen fest, was der Arzt im Einzelnen bei der Ausübung seines Berufs zu beachten und unter Vermeidung berufsgerichtlicher Sanktionen zu unterlassen hat. Die berufsbezogenen Vorschriften der Landesärztekammern bedürfen durchweg der Genehmigung der nach Landesrecht zuständigen staatlichen Aufsichtsbehörden. Sie erlangen als Satzungsrecht Wirksamkeit und verpflichten unmittelbar die Mitglieder der Kammern. Indem die öffentlich-rechtlich verfasste Ärzteschaft sich dieser gesetzlich eingeräumten Satzungsgewalt bedient, bewahrt sie ihre Berufsfreiheit. Der Berufsstand hat nicht nur das Recht und die Pflicht, angemessene Regeln für die Berufsausübung, für das Verhältnis zum Patienten, für die fachlichen Standards zu entwickeln und fortzuentwickeln, sondern er hat auch angemessene Regeln für die Organisation der Ärzteschaft und für den ärztlichen Dienst eigenverantwortlich aufzustellen.
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4. Zukunftstrends ärztlicher Selbstverwaltung Welche Einflüsse prägen die Zukunft der ärztlichen Selbstverwaltung und damit auch die Rahmenbedingungen ärztlicher Berufsausübung? Betrachtet man unter diesem Blickwinkel die jüngere Rechtsentwicklung, so sind folgende vier rechtspolitisch relevante Tendenzen erkennbar: 1. Festzustellen ist die verfassungsrechtlich über Art. 12 Abs. 1 GG vermittelte Liberalisierung solcher Regeln des Berufsrechts, insbesondere der Berufsordnungen, welche eher einem überkommenen Reglementierungsbild des Freien Berufes des Arztes zugehören, also das Aufbrechen einer von der Gewährleistungsgarantie des Grundrechts auf Berufsfreiheit gerade nicht geschützten Versteinerung von Berufsbildaspekten, deren Notwendigkeit häufig mit dem Argument gerechtfertigt wurde, dass sie zum Bild des entsprechenden Berufs gehören. Damit einher geht aber auch die Reduzierung berufsbildprägender Autonomie. Ohne dies im Einzelnen zu vertiefen, ist ein Beispiel die Regelungsintensität des Werberechts der Ärzte, welche in mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – mittelbar auch solchen, welche Werberegelungen anderer Berufe betrafen – aufgelockert worden ist. Diese Rechtsprechung ist zugleich ein Beispiel für die Funktion des Art. 12 Abs. 1 GG: Nämlich den Freiheitsgrad der Berufsausübung auch unabhängig vom überkommenen Berufsbild zu sichern, wenn Einschränkungen der Berufsfreiheit nicht allein mit Verweis auf ein traditionelles Berufsbild gerechtfertigt werden können, sondern nur durch konkrete Gemeinwohlbelange, und zwar insoweit auch nur, wenn als Maßstab zugrundegelegt wird, ob die Eingriffe zur Gewährleistung einer funktionsgerechten Aufgabenerfüllung des Angehörigen des Freien Berufs erforderlich und zumutbar sind. Nicht also das überkommene standesrechtliche Berufsbild an sich, sondern nur eine funktionsgemäße – von der Gemeinwohlaufgabe der Freien Berufe her konzipierte – Berufsbildbestimmung hat eine Grundrechtseingriffe legitimierende Kraft. Oder – wie es das Bundesverfassungsgericht in einer Apothekerentscheidung einfach und klar ausdrückt: „... das Berufsbild ... (ist) nicht Selbstzweck, sondern zum Schutz der Volksgesundheit entwickelt ... worden ....“
2. Andererseits verstärkt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Gemeinwohlbindung der Ärzte – fast in Abkehr von der aus der Interpretation des Art. 12 Abs. 1 GG abgeleiteten rechtlichen Wertung, dass diese Vorschrift das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Bereich der individuellen Leistung und Existenzerhaltung konkretisiere und auf eine möglichst unreglementierte berufliche Betätigung abziele –, wenn im Hinblick auf die Betätigung der freiberuflich tätigen Ärzte im Rahmen des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung das Bundesverfassungsgericht regelmäßig judiziert: „Das System der gesetzlichen Krankenversicherung ist so ausgestaltet, dass es in weiten Bereichen nicht durch Marktkräfte gesteuert wird. Die Preise für Güter und Leistungen sind nicht Gegenstand freien Aushandelns im Rahmen eines freien Wettbewerbs. Deshalb unter-
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liegen die Leistungserbringer in erhöhtem Maße den Einwirkungen sozialstaatlicher Gesetzgebung (vgl. BVerfGE 68, 193, 220 f.). Staatliche Regulierungen des Berufsrechts eröffnen insoweit die Beteiligung an dem umfassenden sozialen Leistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung, das aus Beiträgen der Versicherten finanziert wird, von dem auch die Leistungserbringer profitieren und für dessen Funktionsfähigkeit der Staat die Verantwortung trägt (vgl. BVerfGE 70, 1, 3).“
Man ist fast geneigt zu formulieren: Das Teilhaberecht „schlägt“ Art. 12 Abs. 1 GG. 3. Von erheblicher Bedeutung ist das Liberalisierungspotential des europäischen Gemeinschaftsrechts, das über die Rechtswirkungen des Binnenmarktrechts in der Gestalt der Gewährleistungsfunktionen der sogenannten Grundfreiheiten und der Wettbewerbsregeln ausgelöst wird, und zwar in die Frage mündend, ob der Status der Freien Berufe mit eigener Berufsordnung – geschaffen aus Selbstverwaltungsautonomie – nicht dem Binnenmarktrecht geopfert werden muss. Die Verbürgungen der vertraglichen Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Warenverkehrsfreiheit) wirken unmittelbar auf die sogenannten Gesundheitsmärkte als Erscheinungen des Binnenmarktes ein, sofern sie sich auf das Angebot und die Nachfrage nach medizinischen Dienstleistungen und Gütern erstrecken. Anders als in der Zielrichtung des Art. 12 Abs. 1 GG in der verfassungsrechtlichen Liberalisierungstendenz geht es den Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote für einen grenzüberschreitenden Leistungsaustausch vor allem darum, Behinderungen abzubauen, die gerade den Angehörigen des Berufs aus einem Herkunftsstaat im sogenannten Aufnahmestaat betreffen und ihm in diesem den Marktzugang erschweren. Es geht mithin also nicht etwa darum zu prüfen, ob berufsrechtliche Einschränkungen, die einen deutschen Arzt aufgrund des geltenden Berufsrechts treffen, überhaupt zumutbar sind, als vielmehr darum zu prüfen, ob sie insbesondere bei grenzüberschreitender Dienstleistungserbringung ohne Niederlassung demjenigen zumutbar sind, welcher diese Dienstleistungen von seinem Herkunftsstaat aus erbringen will. Soweit es das europäische Wettbewerbsrecht angeht, ist dessen rechtliche Brisanz für die Berufsrechte Freier Berufe erst in den letzten Jahren zutage getreten. Grund hierfür ist die in den 90er Jahren herausgebildete und jüngst in den Urteilen „Wouters“ und „Arduino“ gefestigte Rechtsprechung, wonach Angehörige von Freien Berufen als Unternehmen und die berufsständischen Kammern als Vereinigungen von Unternehmen im Sinne des Art. 81 EGV zu begreifen sind – mit der erheblichen Konsequenz, dass ihre Beschlüsse – mithin das berufsrechtliche Satzungsrecht – als verbotene Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen angesehen werden könnten, soweit sie eine Wettbewerbsbeschränkung bewirken oder bezwecken und den Handel mit Dienstleistungen zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind. Erhebliche Wirkungen für das besondere Profil des Berufsrechts in Deutschland, nämlich seine autonome Gestaltung durch Kammern unter der Rechtsaufsicht des Staates, ergeben sich aus der speziellen Logik der Interpretation der Wettbewerbsregeln des Art. 81 EGV. In dem erwähnten Urteil „Wouters“ trifft
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der Europäische Gerichtshof folgende Unterscheidung: Entweder der Staat gibt der Kammer für die Satzungsgebung bestimmte Kriterien des Allgemeininteresses vor und behält sich diesbezüglich die Letztentscheidungsbefugnis vor – dann ist die Satzungsregelung dem Staat zuzurechnen und dem Kartellrecht entzogen. Andererseits allerdings – bei fehlender Gemeinwohlvorgabe und Letztentscheidungsbefugnis – ist sie allein der Kammer zuzurechnen und am Kartellrecht zu messen. Die Besonderheit des deutschen Selbstverwaltungssystems wird im Grunde genommen bei dieser Antinomie verfehlt. Argumentiert man, dass die Satzungsgebung der Ärztekammern dem Modell der gesetzlichen Gemeinwohlvorgabe und Letztentscheidungsbefugnis des Staates folge, gefährdet man diese Art der berufsständischen Selbstverwaltung, weil damit im Grunde genommen die Konsequenz folgen müsste, dass das Berufsrecht staatlicher Fachaufsicht unterliegen müsste. Will man hingegen den Freiheitsraum des berufsständischen Kammerrechts hervorheben, besteht die Gefahr, dass die Beschlüsse als Ausdruck der Interessenvertretung gewertet und dementsprechend den Regeln des Kartellrechts unterworfen sind, wobei die Freistellungsmöglichkeit nach Art. 81 Abs. 3 EGV ebenfalls nur von begrenzter Tauglichkeit wäre. Es ist allerdings dem Europäischen Gerichtshof in der erwähnten Entscheidung gelungen, eine den Besonderheiten der Freien Berufe gerecht werdende Abwägung zu entwickeln, indem er bei der tatbestandlichen Bewertung des Art. 81 EGV prüft, ob Regelungen, die bei vernünftiger Betrachtung trotz ihres wettbewerbsbeschränkenden Charakters zur Sicherung einer ordnungsgemäßen Ausübung des Freien Berufs – im konkreten Fall des Rechtsanwaltsberufs – erforderlich erscheinen, mit Art. 81 EGV vereinbar sind. Der Generalanwalt hatte es noch abgelehnt, eine sogenannte „rule of reason“ in die Anwendung des Art. 81 EGV einzuführen, nach der im Allgemeininteresse gebotene Wettbeschränkungen bereits tatbestandlich aus Art. 81 EGV ausgenommen werden sollten, jedoch die Anwendung des Art. 86 Abs. 2 EGV, also den Vorbehalt zugunsten von Dienstleistungen von allgemeinen wirtschaftlichen Interesse, als heranziehbar angesehen. Unverkennbar ist indessen auch hier die Liberalisierungstendenz der Wettbewerbsregeln, wenn der Maßstab das für das ordnungsgemäße Ausüben des entsprechenden Berufes Erforderliche ist, wobei die Analogie zum Maßstab des deutschen Verfassungsrechts bei der Prüfung des Art. 12 Abs. 1 GG sich aufdrängt. Für die weitere Rechtsentwicklung auf diesem Felde von Bedeutung ist auch eine Entschließung des Europäischen Parlaments, die mit großer Mehrheit am 16. Dezember 2003 angenommen worden ist und die sich mit Marktregelungen für die Freien Berufe befasst. In dieser Entschließung wird in Auseinandersetzung mit der Interpretation des europäischen Wettbewerbsrechts u.a. hervorgehoben, dass: „... im besonderen Zusammenhang jedes Berufsstandes Regeln generell notwendig sind, insbesondere solche, die sich auf die Organisation, die Qualifikationen, die Standesethik, die Überwachung, Haftung, Unparteilichkeit bzw. den Sachverstand der Berufsangehörigen beziehen oder die Interessenskonflikte und irreführende Werbung verhindern sollen, sofern sie (a) dem Endverbraucher die Sicherheit geben, dass die notwendigen Garantien im Hinblick auf die Integrität und die Erfahrung gegeben sind, und (b) keine Wettbewerbsbeschränkungen darstellen; ...“
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Die Entschließung steht auch im Zusammenhang mit dem nunmehr erschienenen Bericht der Kommission über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen. Ohne hier über den Bericht im Einzelnen sprechen zu können, ist die Schlussfolgerung der Kommission erwähnenswert: „Nach Auffassung der Kommission ist bei der Überprüfung aller Regelungen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verfahren. Die Regeln müssen objektiv notwendig sein, um ein klar definiertes legitimes Ziel des Allgemeininteresses zu erreichen und sie sollten den Wettbewerb so wenig wie möglich einschränken. Solche Regeln dienen sowohl den Interessen der Verbraucher als auch den Berufsangehörigen. ...“
4. Schließlich ist viertens – nunmehr speziell für den ärztlichen Heilberuf - zu konstatieren, dass in Ausschöpfung von Kompetenzen für die Gestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung eine mittelbare Fremdprägung des Berufsrechts und damit des Berufsbilds durch Strukturentscheidungen des Gesetzgebers des SGB V erfolgt, indem Normen, welche die Versorgungsstruktur für die Sachleistungen der ärztlichen Behandlung bestimmen sollen, autonomes Berufsrecht tangieren. Das SGB V erzwingt deren Änderung, wie nunmehr die Beispiele der Medizinischen Versorgungszentren in Bezug auf das Problem der Heilkundegesellschaften und der Einführung der Fortbildungspflicht für Vertragsärzte mit ihrer Wirkung für die Kammeraufgaben zeigen. Die Frage eines Kompetenzkonflikts zwischen Sozialversicherungsrecht als Bundesgesetzgebungsmaterie und Berufsrecht als Berufsausübungsmaterie stellt sich allenthalben. Gleichermaßen ist eine Fremdprägung in dem zunehmenden Zugriff auf ärztliches Handeln durch fremddefinierte Leitlinien und Patientenbeteiligung festzustellen.
5. Folgerungen Eine Folgerung für die Zukunft der Ärztekammern: Die zuvor aufgezeigten Entwicklungen veranlassen ein Überdenken des regulatorischen Bedarfs im ärztlichen Berufsrecht. Verfassungsrecht und europäisches Gemeinschaftsrecht zwingen, der Frage nachzugehen, ob die Berufsordnungen das für das ordnungsgemäße Erfüllen des Berufes nur Notwendige enthalten. Der bisherigen Tradition, letzte Details zu regeln – z.B. unter der Fragestellung, wer mit wem unter welchen Voraussetzungen in welcher Rechtsform und mit welcher Außendarstellung kooperieren darf –, sind Grenzen gesetzt. Die Definitionsmacht der Ärzteschaft erhält im Lichte dieser Regelungen eine emanzipatorische Option: Berufsregeln können dazu genutzt werden, die medizinische Unabhängigkeit, Qualität und Professionalität des Arztes – also kurz seine Freiberuflichkeit – unter berufsethischen Maßstäben im Interesse der Patienten zu sichern, sich aber grundsätzlich darauf auch zu beschränken. Darin liegt die Stärke der Ärztekammern – gleichsam in einer Rückbesinnung auf ihren historischen Anspruch: die Freiheit des Berufs gegenüber dem Staat bei gleichzeitiger Verantwortung seiner gesellschaftlichen Bedeutung und Außenwirkung für die Patientenversorgung zu wahren. Damit einher geht die Abkehr von den Binnenregeln des Umgangs im Sinne
Rationierung und die Schutzfunktion der ärztlichen Selbstverwaltung
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eines Konkurrenzschutzes. Der Verlust vermeintlichen formalen Schutzes muss durch Beratung als Dienstleister der Kammer kompensiert werden. Die aufgezeigte Rechtsentwicklung müsste allerdings auch die Landesgesetzgeber zwingen, den Regelungskatalog in den Ermächtigungsgrundlagen für Berufsordnungen dem Test der Maßstäbe des Verfassungs- und EG-Rechts zu unterwerfen. Dies erscheint umso wichtiger, als Ärztekammern mit ihren Handlungsinstrumenten für die Bewahrung der Identität des Arztes in seinem professionellen Selbstverständnis u.a. auf folgende Entwicklungen reagieren müssen: 1. In der Politik verstärkt sich die Tendenz zu einer „Deprofessionalisierung“ des Arztberufes durch gesetzlich induzierte Drittbestimmung, wie beispielsweise die Entwicklung von medizinischen Leitlinien nach ökonomischen Gesichtspunkten durch Beratungsunternehmen, Leitlinien durch staatliche Einrichtungen unter dem Blickwinkel wirtschaftlicher Versicherungsmedizin und auch die Vorgaben Außenstehender über den notwendigen Inhalt medizinischer Fortbildung. Dazu gehört in einem weiteren Sinne auch eine überzogene Haltung, Verbraucherschutzverbänden und Patientenschutzverbänden eine unmittelbare Beteiligung an der Normsetzung im Berufsrecht zu ermöglichen. 2. Die Vergesellschaftung der Berufsausübung in Heilkundegesellschaften wirft gerade für den Heilberuf des Arztes Probleme auf, für deren Fragen, z.B. der Sicherung unabhängiger Binnenstrukturen oder einer Kammermitgliedschaft der Gesellschaften selbst, wir derzeit noch keine gültigen Antworten haben. 3. Eine weitere politische Perspektive eröffnet sich. Eine Herausforderung bildet nämlich auch die Debatte um Staatsentlastung, Privatisierung, Deregulierung. Gibt es staatliche Aufgaben, welche in Selbstverwaltungsaufgaben der Kammer, also Aufgaben im Interesse der Kammermitglieder, umgewandelt werden können? Dies ist im öffentlichen Gesundheitswesen möglicherweise der Fall. Ist aber – was nunmehr auch angeboten wird – die Approbationserteilung oder -entziehung ein solches Feld? Ist dann Fachaufsicht des Staates die Folge? Ungeachtet dessen scheint aber die Implementierung zeitgemäßer neuer Aufgaben ein Gewinn, z.B. Qualitätssicherung und Zertifizierung.
6. Schlussbemerkung Mit den Sicherungen der ärztlichen Selbstverwaltung und der Freiheit ärztlicher Berufsausübung, wie sie im Rahmen der ärztlichen Berufsordnung gewährleistet ist, ist vorrangig dem Patientenschutz gedient. Die in eigener Autonomie entwickelte Professionalität der Ärzte enthält eine emanzipatorische Option zum Schutz der Patienten, sie ist ein Garant der Patientenrechte – auch in der Rationierungsdebatte. Um Konflikte, wie sie sich alltäglich stellen, auflösen zu können, muss dem Arzt ein Freiraum zu einer gewissenhaften Entscheidung im Einzelfall bleiben. Ein Zuviel an Reglementierung zerstört die Tatkraft und Initiative des Arztes. Was demnach nicht fehlt, ist eine weitere Reglementierung des Arzt-Patienten-
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Verhältnisses. Sozialrechtlich ist es bereits genug und – insoweit auch von berechtigter Kritik der Ärzteschaft begleitet – überreglementiert. Dies erzeugt, wie auch an den politischen Begleitungen der jüngsten Gesundheitsreform seitens der Ärzteschaft zu sehen ist, Frustration und im schlimmsten Falle Flucht.
Der Versorgungsauftrag in der Krankenhausrahmenplanung Dorothea Prütting
I. Einleitung Das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) verpflichtet die Länder, Krankenhauspläne aufzustellen: § 6 KHG. Dazu räumt es ihnen einen breiten Spielraum ein. Dieser umfasst allerdings nicht das Recht, die Planungskompetenz vollständig aufzugeben. So können die Länder eine sehr detaillierte Planung vornehmen, sich auf eine Rahmenplanung zurückziehen oder verschiedene Mittelwege wählen. Ob sie lediglich die Gesamtbettenzahlen für das einzelne Krankenhaus, Gebiete, Teilgebiete und Schwerpunkte „auf das Bett genau“ planen, Leistungen definieren oder ob sie kombinierte Varianten einschlagen wollen, steht ihnen grundsätzlich frei. Der Bundesgesetzgeber trägt mit seiner Regelung in § 6 KHG den Vorgaben des Grundgesetzes Rechnung, wonach in Art. 74 Nr. 19 a GG Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung lediglich die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Gestaltung der Entgelte und Pflegesätze ist. Das Krankenhausplanungsrecht gehört zu den Länderkompetenzen. Daher haben die Länder auch das Recht, Krankenhauspläne nach ihren regionalen Bedürfnissen und Versorgungskonzepten zu gestalten. Das Spektrum für Mitwirkungshandlungen Dritter hat der Bundesgesetzgeber insbesondere in § 7 KHG nur sehr grob beschrieben. Eine weitere und differenziertere Beteiligung Dritter an der Vorbereitung und Umsetzung des Krankenhausplans ist durch Bundesrecht weder definiert, ausgeschlossen noch begrenzt worden. Die Länder haben auch insoweit Spielräume. Das Land Nordrhein-Westfalen hat bis in die jüngste Zeit hinein bundesweit noch am detailgenauesten geplant. Das Land Niedersachen bestimmt zwar ebenfalls eine sehr exakte Bettenzahl pro Disziplin und Krankenhaus, arbeitet aber mit der Variante, die Entwicklungen vor Ort, also die Verhandlungsergebnisse zwischen den Krankenhäusern und den Krankenkassen, im Wesentlichen nachzuvollziehen und nicht prognostisch vorzugeben. Die Rechtsprechung hat dies durchaus als zulässig angesehen.1 Das Land Bayern setzt die Gesamtbettenzahlen und Gebiete pro Krankenhaus fest und praktiziert insoweit eine Form der Rahmenplanung. Mit dem Krankenhausgestaltungsgesetz (KHGG NRW) hat sich das Land Nordrhein-Westfalen nunmehr von der Detailplanung verabschiedet. Unter den Zielmargen, mehr Verantwortung für Leistungserbringer und Kostenträger an der Krankenhausplanung zuzulassen, den Wettbewerb in einem starren Planungssystem in Grenzen zu fördern, den Kosten- und Leistungserbringern Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen sowie eine Entbürokratisierung einzuleiten, hat der Ge1
OVG Niedersachsen, Urteil v. 15. 12. 1998 – 11 L 6820/ 96 –, KH 1999, 321 = NdsVBl. 1999, 210.
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Dorothea Prütting
setzgeber eine deutliche Veränderung in der Landesplanung formuliert. Damit das Land seiner Planungsverantwortung gerecht werden kann, müssen bei einer Rahmenplanung Handlungsinstrumente so gestaltet werden, dass sie zunächst lediglich subsidiär vorhanden sind, aber, wenn von ihnen Gebrauch gemacht werden muss, wirksam greifen können. Nur so kann das Spannungsfeld zwischen den Interessen der Leistungserbringer in ambulanter und stationärer Versorgung einerseits sowie der Patientinnen und Patienten andererseits beherrscht werden. Eine Herausforderung stellt in diesem Zusammenhang die Vorgabe und Definition des Versorgungsauftrages durch das Land im Zusammenwirken mit seinen Partnern, den Krankenkassen und Krankenhäusern, dar.
II. Definition des Versorgungsauftrages 1. Regelkreise Der Versorgungsauftrag eines Krankenhauses wird durch mehrere Parameter festgelegt. Er ist im Ergebnis am Krankenhausplan abzulesen, der – als Verwaltungsinternum gestaltet – durch die Feststellungsbescheide der einzelnen Krankenhäuser in die Versorgungsrealität umgesetzt wird und damit Außenwirkung entfaltet.2 Der Krankenhausplan legt im Hinblick auf das Merkmal Versorgungsauftrag zunächst Regelkreise fest, in denen ein Land versorgt wird. Sie umschreiben gleichzeitig die Einzugsbereiche der Krankenhäuser. So kennen die Krankenhauspläne in Deutschland in der Regel drei Bereiche: Die ortsnahe oder Grundversorgung, die Regionalversorgung sowie die Schwerpunkt- bzw. Maximalversorgung. Ortsnah versorgen Krankenhäuser die Patientinnen und Patienten regelmäßig in einem Umfeld von 15 bis 20 km. Regional versorgende Krankenhäuser werden nicht über die Entfernung, sondern über ihre stationären Angebote definiert. So halten sie neben den Angeboten der Grundversorgung, zu denen nach derzeitigem Verständnis grundsätzlich die Allgemeinchirurgie und die Innere Medizin gehören, speziellere Gebiete oder Teilgebiete vor. Dies können z.B. Neurologien, Psychiatrien, medizinische Teilgebiete wie Kardiologien und Gefäßchirurgien sein. Die Maximalversorgungs- oder Schwerpunktkrankenhäuser bieten grundsätzlich das gesamte Spektrum medizinischer Gebiete und Teilgebiete an. Sie sind auch durch besonders teuere, seltene und spezielle Disziplinen wie z.B. Herzchirurgien oder Transplantationszentren gekennzeichnet. Einschließlich der Universitätsklinika sind dies in Nordrhein-Westfalen rund zwanzig Krankenhäuser. Mit dieser Einteilung werden die Krankenhäuser nicht etwa Versorgungsstufen zugeordnet. Selbst wenn § 1 KHGG NRW, eine Vorschrift, die bundesweit entsprechende Regelungen hat, von einer gestuften Versorgung spricht, meint die Vorschrift nur die Einzugsbereiche von Krankenhäusern. Sie lässt nämlich durchaus zu, dass Patientinnen und Patienten z.B. unmittelbar in ein Krankenhaus der Maximalversorgung eingewiesen werden, wenn dies das nächstgelegene geeignete Krankenhaus ist. Dies gilt auch dann, wenn die Behandlung in einem Grundver2
BVerwG NJW 1987, 2318.
Der Versorgungsauftrag in der Krankenhausrahmenplanung
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sorgungskrankenhaus möglich gewesen wäre. Patientinnen und Patienten müssen also während ihrer Behandlung keine Versorgungsstufen durchlaufen, wenn sie unmittelbar das Krankenhaus ihrer Wahl in Anspruch nehmen möchten. Diese Regelung war in der Vergangenheit nachteilig. Die Therapie von Krankheiten, die in Grund- und Regelversorgungskrankenhäusern hätten stattfinden können, musste aufgrund der Vorhaltekosten in Einrichtungen der Hochleistungsmedizin teurer bezahlt werden. Das System der Diagnosis Related Groups (DRG) hat diesem Problem entgegengewirkt. Die Behandlungsleistungen werden bundesweit einheitlich kalkuliert. Abrechnungsunterschiede in den Ländern bestehen allerdings nach wie vor. Dies hat seinen Grund im Multiplikator Landesbasisfallwert, der auf der Grundlage der von der Bundesregierung festgesetzten Steigerung der Grundlohnrate im Verhandlungswege zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern vereinbart wird.
2. Versorgungsstrukturen Nach Festsetzung der Regelkreise bestimmt der Krankenhausplan die Versorgungsstrukturen. Er nennt die Gebiete, die in den Krankenhäusern der gestuften Versorgung vorgehalten werden dürfen. Er erlaubt den Krankenhäusern der Grundversorgung in der Regel den Betrieb von Allgemeinchirurgien und Abteilungen für Innere Medizin. Während in der Vergangenheit die Gynäkologie und Geburtshilfe zur Grundversorgung zählten, hat sich diese Einschätzung im Laufe der Zeit gewandelt. Die demographische Entwicklung verlangt heute zunehmend wohnortnahe geriatrische Angebote. Ältere und multimorbide Menschen benötigen diese Form der Versorgung in nächster Nähe. Junge Familien suchen insbesondere geburtshilfliche Angebote gezielt nach ausgewählten Kriterien aus. Sie nehmen Geburtshäuser in Anspruch, berücksichtigen das Umfeld von Entbindungsstationen, wünschen eine bestimmte Atmosphäre im Kreissaal oder erwarten eine Spezialbetreuung in geeigneten Einrichtungen, soweit die Schwangerschaften mit Problemen behaftet sind und Geburten im Risikobereich liegen. Perinatalzentren an Krankenhäusern der Regional- oder Maximalversorgung sind in diesen Fällen die Betreuungsangebote der Wahl.
3. Orientierung an Weiterbildungsordnungen für Ärztinnen und Ärzte Eine wichtige Orientierung für die Definition des Versorgungsauftrages im Krankenhausplan sind für die Landesplanungsbehörden die Weiterbildungsordnungen für Ärztinnen und Ärzte. Dabei ist kein Land an die Inhalte der Weiterbildungsordnungen gebunden. Die dort beschriebenen Leistungsarten der Gebiete, Teilgebiete und Schwerpunkte können vollständig in den Versorgungsauftrag übernommen werden, mit Abweichungen versehen, kombiniert oder sogar ignoriert werden. So hat eine Planungsbehörde durchaus das Recht, Abteilungen im Krankenhausplan auszuweisen, die in einer Weiterbildungsordnung überhaupt nicht als
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Dorothea Prütting
Gebiete ausgewiesen sind. Von dieser Möglichkeit macht das Land NordrheinWestfalen z.B. seit Jahren für die Einrichtung geriatrischer Abteilungen Gebrauch. Die in den Weiterbildungsordnungen beschriebenen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Leistungen beschreiben einen weiten Katalog medizinischer Maßnahmen, den eine Ärztin oder ein Arzt nach dem Kammerrecht grundsätzlich in der stationären Praxis nutzen darf. § 41 Heilberufsgesetz Nordrhein-Westfalen (HeilBerG NRW) legt wie die vergleichbaren Kammergesetze anderer Bundesländer fest, dass die Ärztinnen und Ärzte, die Gebietsbezeichnungen erworben haben, grundsätzlich auch nur in diesen Gebieten tätig werden dürfen. Für Teilgebiete gilt die Verpflichtung, in allen erworbenen Teilgebieten zu praktizieren: § 41 Abs. 1 HeilBerG NRW. Die Weiterbildungsordnungen legitimieren die entsprechend qualifizierten Ärztinnen und Ärzte über die Approbation hinaus für die Ausübung ihrer Berufstätigkeit. Mit der Spezialisierung durch Weiterbildung wird den Ärztinnen und Ärzten aber auch eine „qualitative“ Grenze gesetzt. Eine approbierte Ärztin oder ein approbierter Arzt darf zunächst grundsätzlich jede ärztliche Tätigkeit ausführen. Durch die speziellen Qualifikationsangebote der Weiterbildungsgänge wird das Fachwissen in einer bestimmten fachlichen Richtung erweitert. Gleichzeitig wird damit eine höhere Qualität für diese fachlichen Leistungen erzielt. Das bedeutet, dass sich jeder, der keine Weiterbildung absolviert hat und dennoch in einem Spezialgebiet tätig werden will, an der Qualität der weitergebildeten Ärztinnen und Ärzte in dem Gebiet oder Teilgebiet messen lassen muss. Dabei darf vermutet werden, dass eine fehlende Weiterbildung grundsätzlich eine geringere Qualität nach sich zieht. Selbstverständlich könnte hier auch der Gegenbeweis angetreten werden. Ein Krankenhaus kann nunmehr zwar einen Arzt oder eine Ärztin mit einer Gebiets- oder Teilgebietsbezeichnung einstellen, um eine Abteilung führen zu lassen. Damit ist es nach Planungsrecht aber noch nicht befugt, eine der Bezeichnung entsprechende Abteilung auch tatsächlich vorzuhalten und die dort erbrachten Leistungen gegenüber den Krankenkassen abzurechnen. Dieses Recht gewährt ihm erst der Feststellungsbescheid der Planungsbehörde, mit dem das Krankenhaus in den Krankenhausplan aufgenommen wird und mit dem gleichzeitig ein Versorgungsvertrag mit den Krankenkassen nach § 108 Nr. 2 SGB V fingiert wird. Die Krankenkassen unterliegen insoweit einem Kontrahierungszwang mit den Krankenhäusern. Die Planungsbehörde definiert damit einen grundsätzlichen Versorgungsauftrag in einem Gebiet oder Teilgebiet. Sie kann im Feststellungsbescheid Einschränkungen vornehmen oder Leistungen ausweiten. Eine Leistungsplanung findet sich in der Mehrzahl der Länder z.B. in der Transplantationsmedizin. Dort unterliegen sogar die zu transplantierenden Organe der detaillierten planerischen Vorgabe. Das Vorgehen ist durch die geringe Zahl der zur Verfügung stehenden Organe gerechtfertigt. Sie sollen in speziellen, besonders ausgewiesenen, erprobten und qualitativ hochwertigen Zentren transplantiert werden.
Der Versorgungsauftrag in der Krankenhausrahmenplanung
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III. Art und Umfang des Versorgungsauftrages 1. Rahmenplanung Da es ein Ziel der Rahmenplanung ist, den Leistungs- und Kostenträgern Gestaltungsspielräume zu gewähren, kann es nicht sinnvoll sein, für Gebiete und Teilgebiete schon im Feststellungsbescheid detaillierte Weichenstellungen vorzunehmen. Das bedeutet, dass der Versorgungsauftrag anderweitig konkretisiert werden muss. Geht man davon aus, dass der Feststellungsbescheid nur noch Gebiete enthält, keine Teilgebiete, keine Schwerpunkte mehr, es sei denn, die Rahmenvorgaben des Landes verlangen Konkretisierungen für ausgewiesene Spezialbereiche, dann muss der Versorgungsauftrag anderweitig definiert werden. Die fachlichen Möglichkeiten, die ein Arzt und eine Ärztin durch Weiterbildung mitbringen, sind es – wie ausgeführt – nicht. Es kann auch nicht sein, dass die Gebiete mit ihren oftmals sehr verzweigten und spezialisierten Teilgebieten bei einem Grundversorgungskrankenhaus die gleichen Leistungsinhalte haben wie bei einem Krankenhaus der Maximalversorgung, wenn auch identische Gebietsbezeichnungen im Feststellungsbescheid stehen. Dass dies nicht Sinn und Zweck einer gestuften Krankenhausplanung sein kann, liegt auf der Hand. Insoweit kommt es entscheidend darauf an, mit welchen Anforderungen die Abgrenzungen vorgenommen werden.
2. Leistungsarten Entgelt- und Pflegesatzverhandlungen zwischen Krankenhausträgern und Krankenkassen können grundsätzlich nicht das Instrument sein, die Aufgabenstellung und Struktur eines Krankenhauses festzustellen und gegen planerische Vorgaben abzugrenzen. Diese Aufgaben sind Bestandteil der Krankenhausplanung und liegen in der Kompetenz der Länder. Die Krankenkassen und Krankenhäuser können nach § 7 KHG jedoch mitwirken. Sie können ergänzende Instrumente liefern. Die Gefahr, dass den Ländern durch Pflegesatz- und Entgeltverhandlungen bei einem weiten Spielraum der Verhandlungspartner die Krankenhausplanung entgleitet, ist dann gering, wenn eine Steuerung über Kriterien bei der Bestimmung der Leistungsarten erfolgt. Alle medizinischen Leistungen, die sich aus den ärztlichen Gebieten nach den Weiterbildungsordnungen ableiten lassen und die von den Planungsbehörden hinzugenommen werden – vgl. die Geriatrie in Nordrhein-Westfalen – bilden den Leistungsartenkatalog, den ein Krankenhaus theoretisch anbieten kann. Es besteht für kein Krankenhaus ein Anspruch darauf, diesen Leistungsartenkatalog in vollem Umfang auszuschöpfen. Da der Krankenhausplan eine gestufte Versorgung vorsieht, müssen auch die Parameter für die Leistungsarten in den Rahmenvorgaben im Grundsatz umschrieben und festgelegt werden. Der Bezug auf das jeweilige Krankenhaus wird dadurch hergestellt, dass die anzuwendenden Parameter, die für einen bestimmten Regelkreis notwendig sind, entweder im Feststellungsbescheid niedergelegt werden oder bei den Verhandlungen über die Leistungsarten
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zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen ausgehandelt werden. Es kommt also darauf an, Qualitätskriterien in den Rahmenvorgaben als geeignete Instrumente zur Begrenzung der Leistungsarten vorzugeben. Sie können z.B. durch die Festsetzung von Art und Zahl des zur Leistungserbringung notwendigen Personals definiert werden. Sie können sich auch in der Vorgabe von Quantitäten artikulieren. Dies gilt z.B., wenn Mindestmengen eine gewisse Routine und Übung für ärztliche Eingriffe garantieren. Die meisten Bundesländer haben in Teilbereichen der stationären Versorgung bereits entsprechende Kriterien z.B. für die Ausweisung von Brustzentren oder bei der Etablierung von Perinatalzentren formuliert. Es ist planungsrechtlich durchaus zulässig, den Krankenkassen und den Krankenhäusern an dieser Stelle Verhandlungsspielraum zu lassen.
3. Leistungsmengen Neben der Bestimmung der Leistungsarten vervollständigt das Aushandeln der Leistungsmengen den Versorgungsauftrag eines Krankenhauses. Die Leistungsmengen können je nach Zeitpunkt der Vereinbarung zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern sehr unterschiedlich zustande kommen. a) Prospektives Budget i.e.S. In vielen Fällen gelingt es nicht, die Budgets der Krankenhäuser am Anfang eines Jahres zu vereinbaren, wie es der Gesetzgeber eigentlich vorgesehen hat: § 3 BPflV (prospektives Budget). Die Verhandlungspartner können sich nicht einigen. Krankenhausträger und Krankenkassen rufen die Schiedsstellen nach § 19 BPflV an. Die Landesbehörden haben nach § 20 BPflV die Entscheidungen der Schiedsstellen zu genehmigen. Ist dies aus Rechtsgründen nicht möglich, müssen sich die Schiedsstellen auf Antrag unter Berücksichtigung der Auffassung der Genehmigungsbehörden erneut damit befassen. Gegen die Bescheide der Landesbehörden ist aber auch unmittelbar der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet. Ein Vorverfahren findet nach § 6 Abs. 3 Nr. 1 AG VwGO NRW nicht mehr statt. In allen diesen Fällen müssen die Planungsbehörden den Versorgungsauftrag im Vorfeld der Entscheidungen definiert haben, damit sowohl die Schiedsstellen als auch die Verwaltungsgerichte einen einheitlichen Prüfmaßstab anlegen können. Einem prospektiven Budget i.e.S. sollen zwischen Krankenhaus und Krankenkassen vereinbarte Leistungsmengen für einen künftigen Zeitraum zugrunde liegen. Das Krankenhaus hat das Interesse, seine Leistungen möglichst auszuweiten. Die Krankenkassen möchten das Gegenteil erreichen, es sei denn sie sehen ein Defizit von bestimmten Leistungsarten in der Region oder erkennen das verhandelnde Krankenhaus als leistungsfähiger an als ein dazu im Wettbewerb stehendes. Im letztgenannten Fall ist die Umsteuerung von Leistungsmengen ihre Motivation, einer Leistungsausweitung des Krankenhauses zuzustimmen. Die Krankenkassen können also grundsätzlich eine vom Krankenhaus gewünschte Leistungsausweitung sowohl hinsichtlich Art als auch Menge verweigern, selbst wenn durch eine Gebietsbezeichnung im Feststellungsbescheid ein weiter Versorgungsauftrag formuliert worden ist. Dabei darf die Ablehnung der Vereinbarung nicht
Der Versorgungsauftrag in der Krankenhausrahmenplanung
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willkürlich geschehen. Wenn die Krankenkassen darlegen können, dass die stationäre Versorgung der Bevölkerung in der relevanten Region absehbar auf andere Weise qualitativ und quantitativ gesichert ist und die Auswahl der dafür vorgesehenen Anbieter sachlich begründet ist, ist grundsätzlich auch die Ablehnung der Leistungsausweitung gerechtfertigt. Die Krankenkassen können sogar eine angemessene Leistungsreduzierung durchsetzen, wenn dies mit den Anforderungen an die Versorgungssicherheit im Einklang steht und insbesondere unter Qualitätsaspekten begründet ist. Eine solche Entscheidung muss dem Krankenhaus aber eine angemessene Zeit zur betrieblichen Anpassung lassen. Sie kann daher in der Regel nur in einem zeitlich adäquaten Stufenprozess erfolgen. Das Krankenhaus musste zur Leistungserbringung in der Vergangenheit personelle und sächliche Ressourcen aufbauen. Diese kann es nicht von heute auf morgen reduzieren. Selbst wenn Krankenhäuser, um sich auf dem Markt zu etablieren, systematisch gemäßigte Leistungsausweitungen vorgenommen haben, die vom Versorgungsauftrag umfasst waren, aber im letzten Budget noch nicht berücksichtigt wurden, dürfen diese nicht automatisch von den Krankenkassen als „nicht vereinbart“ abgelehnt werden. Auch hier ist zu prüfen, ob ein Bedarf unter den bestehenden Rahmenvorgaben entstanden war, der berücksichtigt werden musste. Insoweit gilt ein sehr strenger Maßstab, um einer beliebigen Leistungs- und Mengenausweitung entgegenzuwirken. Aufgrund der demographischen Entwicklung und des dadurch konkretisierten Bedarfs an stationären Leistungen kann durchaus auch eine vom Krankenhaus selbstständig vorgenommen Leistungsausweitung anerkannt werden. Auf den Einzelfall kommt es an. Das geschilderte Vorgehen ist nicht nur im Bereich der im Feststellungsbescheid verankerten Gebiete möglich, sondern auch in Gebieten, auf denen das Krankenhaus bisher nicht tätig gewesen ist. Es kann sich durchaus ein Bedarf für die Vorhaltung zusätzlicher Angebote in einer Region ergeben. Unter dem Aspekt der Qualität ist in diesen Fällen besonders auf die Geeignetheit und Leistungsfähigkeit des expandierenden Krankenhauses in seinem Regelkreis und Einzugsbereich3 abzustellen. b) Unechtes prospektives Budget Werden Budgetvereinbarungen ganz oder teilweise rückwirkend geschlossen (unechtes prospektives Budget), weil man sich etwa nicht einigen konnte und nur vorläufige Budgets zustande kamen oder weil die Verhandlungen zu spät aufgenommen wurden oder nicht rechtzeitig zum Abschluss kamen, dann haben die Krankenhäuser bei der Frage bereits erbrachter Leistungen eine relativ starke Position. Sie können diese Leistungsmengen in der Regel auch budgetär erzwingen. Dazu müssen die Qualitätskriterien der Rahmenvorgaben beachtet sein. Die Forderung nach ggf. nötigen Mindestmengen ist bereits erfüllt oder kann erfüllt werden. Die Krankenkassen sind nicht in der Lage, im Rahmen ihrer Prüfungsmöglichkeiten den Nachweis fehlender medizinischer Notwendigkeit zu führen. In diesem Fall 3
S. unter II. 1.
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würde eine Verweigerung einer entsprechenden Budgetierung im Widerspruch zum Kontrahierungszwang stehen. Die Krankenkassen müssen sich insoweit nämlich zurechnen lassen, dass sie ihre Gestaltungsspielräume nicht durch eine prospektive Vereinbarung i.e.S. genutzt haben. Die Leistungsausweitung ist zu akzeptieren. Über bereits erbrachte Leistungen hinausgehende Mengenforderungen der Krankenhäuser dürfen sie allerdings mit den genannten Argumenten4 abwehren, soweit sie zutreffen. Sollen in der Vergangenheit vereinbarte Leistungsmengen, die als medizinisch notwendig eingestuft und deshalb erbracht wurden, gekürzt werden, so ist dies grundsätzlich nur für die Zukunft möglich. Die Krankenkassen können für den noch nicht begonnenen Teil des Vereinbarungszeitraums unter den geschilderten Voraussetzungen5 den vorsichtigen Einstieg in einen Abbauprozess durchsetzen, wenn die Rahmenvorgaben und die Versorgungsnotwendigkeit in der Region dies erlauben.
IV. Altfälle Bei den sog. Altfällen handelt es sich um Krankenhäuser mit Feststellungsbescheiden, die neben den Gebieten auch noch Teilgebiete der Detailplanung ausweisen. In Nordrhein-Westfalen sind das naturgemäß die meisten Krankenhäuser. Die Teilgebiete in den bestandskräftigen Feststellungsbescheiden beschreiben zwar den Versorgungsauftrag genauer als dies bei den Gebietsbezeichnungen der Fall ist. Auch hier wurden in der Vergangenheit Leistungsmengen vereinbart. Die Leistungsarten waren bei der Orientierung an den ärztlichen Weiterbildungsordnungen bereits umrissen. Künftig muss der geltende Feststellungsbescheid mit den aufgeführten Teilgebieten, um Nachteile für die betroffenen Krankenhäuser zu vermeiden, im Sinne der neuen Regelungen extensiv ausgelegt werden. Die Zurechnung aller Leistungsarten des Gebietes, dem das Teilgebiet zugehört, ist durch die Formulierung des Feststellungsbescheides nicht mehr ausgeschlossen. Insoweit müssen die Verhandlungspartner, die Krankenkassen und das Krankenhaus vor dem Hintergrund der Rahmenvorgaben die Leistungsarten und die Leistungsmengen vereinbaren. Für die ärztliche Tätigkeit gilt aber dennoch das jeweilige Kammergesetz weiter. Das bedeutet, dass die weitergebildeten Ärztinnen und Ärzte trotz alleiniger Ausweisung von Gebieten im Feststellungsbescheid des Krankenhauses nach wie vor nur in ihren Teilgebieten tätig sein dürfen: § 41 Abs. 1 HeilBerG NRW. Es ist außerdem trotz der Änderungen des Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes6 nicht zulässig, dass ein niedergelassener Arzt oder eine niedergelassene Ärztin in einem Gebiet eines Krankenhauses tätig ist, dessen Gebietsbezeichnung er oder sie nicht führt. So darf etwa ein niedergelassener Neurochirurg keine zur Allgemeinchirurgie und zur Neurochirurgie gehörende Operation in der Allgemeinchirurgie eines Krankenhauses durchführen, wenn dieses Krankenhaus 4 5 6
Vgl. unter III. 3. a. Vgl. unter III. 3. a. Gesetz vom 22. Dezember 2006, BGBl. I S. 3439.
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für das Gebiet Neurochirurgie nicht ausgewiesen ist. Als niedergelassener Chirurg dürfte er auf Honorarbasis allerdings in der Allgemeinchirurgie operieren, § 20 Abs. 2 Zulassungsordnung für Vertragsärzte.7 Für prospektive und unechte prospektive Budgets bei Altfällen gelten die obigen Ausführungen8 entsprechend.
V. Schlussbemerkung Die Änderungen in der Krankenhausplanung vom Detail hin zum Rahmen werfen spannende Fragen auf. Natürlich werden gerade in der Übergangszeit noch einige Unklarheiten auftreten, die sich auf Planung und Betriebskostenfinanzierung auswirken. Die medizinischen Leistungen der Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern werden nach Inhalt und Menge zwar einerseits weiterhin die Budgetverhandlungen dominieren, andererseits wird hier jedoch gleichzeitig eine leistungsgerechte Schwerpunktbildung in den Krankenhäusern erleichtert. Nicht jede inhaltliche Veränderung im Leistungsspektrum muss künftig noch durch ein aufwändiges Planungsverfahren umgesetzt werden. Kleinere Krankenhäuser können Schwerpunkte in der ortsnahen Versorgung setzen. Das gilt z.B. für geriatrische Teilangebote, die zum Leistungsspektrum der Inneren Medizin gehören, ohne dass eine Abteilung Geriatrie im Krankenhausplan ausgewiesen sein muss. Niedergelassene Chirurginnen und Chirurgen können neben ihren ambulanten Versorgungsangeboten an einem Krankenhaus in der Allgemeinchirurgie z.B. fußchirurgische Leistungen anbieten und von Fall zu Fall entscheiden, was ambulant und was stationär zu erbringen ist. Die Wege für die Patientinnen und Patienten werden kürzer. Damit wird das Versorgungsangebot besser. Die Gesetzgebung des 21. Jahrhunderts versucht somit, den Belangen der Patientinnen und Patienten sowie der Ärztinnen und Ärzte gleichermaßen besser gerecht zu werden.
7
Ärzte-ZV vom 28. Mai 1957, BGBl. I, S. 572, 608, zuletzt geändert durch Gesetz vom 6. Dezember 2007, BGBl. I, S. 2686. 8 S. unter III. 3.
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Die europäische Arzthaftung im Prozess: Internationale Zuständigkeit und Kollisionsrecht Hanns Prütting
I. Einleitung Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert als Generalthema hat faszinierend vielfältige Facetten. Bei näherem Zusehen tut sich allerdings auch heute noch eine Kluft zwischen Medizin und Recht auf. Die im Rahmen des Generalthemas von Katzenmeier angestellten Überlegungen zur Verrechtlichung zeigen dies ganz besonders deutlich. Dabei fällt auf, dass einerseits vielfach die Verrechtlichung bzw. die allzu starken Einwirkungen des Rechts beklagt werden, dass aber andererseits ebenfalls häufig ein Handeln des Gesetzgebers eingefordert wird. So wird vom Gesetzgeber teilweise verlangt, dass er eine Regelung der Patientenschutzrechte kodifiziert, dass er Regelungen zu den heiklen Fragen am Beginn und Ende des Lebens trifft und dass er die Frage der Bindung der Patientenverfügung gesetzlich festlegt. Gegenüber dieser materiellen Kluft zwischen Medizin und Recht ist die Situation aber eindeutig, wenn es zu einem Prozess zwischen Arzt und Patient kommt. An dieser Stelle muss das Arzt-Patienten-Verhältnis zwangsläufig vollständig verrechtlicht werden, da jedes Gerichtsverfahren zwingend solche Rechtsregeln voraussetzt. Im Falle eines innerstaatlichen Arzthaftungsprozesses erscheint dies selbstverständlich. Schwieriger ist die Situation, wenn prozessual und materiell ein Problem im Arzt-Patienten-Verhältnis über die Grenze hinweg auftritt. Im Folgenden sollen diese Fragen im Hinblick auf die europäische Situation ein wenig näher untersucht werden.
II. Die Internationalisierung als Rechtsproblem Die Internationalisierung aller Lebensbereiche macht auch vor dem Arzthaftungsrecht nicht halt. Man denke insoweit nur an die Behandlung eines Urlaubers an seinem ausländischen Urlaubsort, an den Austauschstudenten, der in seinem Gastland erkrankt oder an die Reisegruppe, in der ein Arzt mitfährt. Rechtsfälle mit Auslandsbezug ergeben sich auch, wenn die Haftung des ausländischen Zahnarztes in Rede steht, zu dem sich der deutsche Kassenpatient begeben hatte, um Behandlungskosten zu sparen. Auch seien im Ausland durchgeführte Schönheitsoperationen genannt, ferner Ärzte, die zeitlich limitiert jenseits der Grenze ihres Heimatlandes praktizieren. Ganz neue Herausforderungen sind schließlich mit der sogenannten Telemedizin verbunden. Hierunter versteht man die Erbringung medizinischer Dienstleistungen in Überwindung räumlicher Entfernungen durch Zuhilfenahme moderner Informations- und Kommunikationstechnologien.
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Hanns Prütting
Alle skizzierten Situationen weisen Bezüge zu mehreren Rechtsordnungen auf, so dass sich die Frage stellt, welches materielle Recht auf den Fall anzuwenden ist und in welchem Staat der Kläger seine Ansprüche etwa wegen eines Behandlungsfehlers geltend machen kann. Diese Fragen sind mit Hilfe des internationalen Privatrechts und des internationalen Zivilverfahrensrechts zu beantworten. Der Rechtsanwalt, der mit einem grenzüberschreitenden Mandat betraut ist, wird sich zunächst um die Frage kümmern müssen, welche Gerichte international zuständig sind. Denn die internationale Zuständigkeit bestimmt das anwendbare Kollisionsrecht und besitzt insofern vorentscheidende Bedeutung für die Frage des anwendbaren Sachrechts. Vor einer materiellrechtlichen Prüfung muss also die prozessuale Frage der internationalen Zuständigkeit geklärt werden.
III. Die internationale Zuständigkeit im Arzthaftungsprozess nach der EuGVVO Hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit ist zunächst ein Blick auf die in Frage kommenden Rechtsquellen zu werfen. Von besonderer Bedeutung ist insoweit die EuGVVO,1 die außer im Rechtsverkehr mit Dänemark seit dem Jahre 2002 das EuGVÜ, also das Brüsseler Übereinkommen von 1968,2 ersetzt hat. Die EuGVVO regelt die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen bei Verfahren mit Bezug zu EU-Mitgliedstaaten. Im Rechtsverkehr mit Island, der Schweiz, Norwegen und Liechtenstein ist das Lugano-Übereinkommen zu berücksichtigen, das als Parallelabkommen zum alten EuGVÜ eine in weiten Teilen nahezu identische Regelung vorsieht.3 Am 30.10.2007 haben die EU und die Lugano-Vertragsstaaten ein revidiertes LugÜE geschlossen, das allerdings noch nicht in Kraft getreten ist. Erst wenn diese beiden Rechtsquellen nicht eingreifen, kommt das autonome deutsche Recht in Form der ZPO zur Anwendung. Die ZPO enthält dabei keine ausdrücklichen Vorschriften zur internationalen Zuständigkeit. Vielmehr besitzen die Regelungen der örtlichen Zuständigkeit insoweit eine Doppelfunktionalität, so dass sie neben der örtlichen Zuständigkeit auch entsprechend auf die Frage der internationalen Zuständigkeit angewendet werden können.
1
Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22.12.2000 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen; ABl. EG Nr. L 12 vom 16.01.2001, S. 1, in Kraft seit 01.03.2002. 2 Brüsseler Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, vom 27.09.1968, BGBl. II 1972, S. 774, in Kraft seit 01.02.1973. 3 Lugano-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, vom 16.09.1988, BGBl. II 1994, S. 2660. Dazu und zugleich zum revidierten Lugano-Übereinkommen vom 30.10.2007 vgl. Dasser/Oberhammer, Kommentar zum Lugano-Übereinkommen, 2008.
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1. Anwendungsbereich der EuGVVO Die EuGVVO betrifft gemäß Art. 1 Abs. 1 nur zivil- und handelsrechtliche Streitigkeiten. Die Anwendbarkeit der EuGVVO auf den Arzthaftungsprozess ist insofern unproblematisch, da er eine zivilrechtliche Streitigkeit ist, die keinem der Ausschlusstatbestände aus Art. 1 Abs. 2 EuGVVO unterfällt. Weitere Anwendungsvoraussetzung ist, dass der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat und dass der Fall einen grenzüberschreitenden Bezug besitzt. Für Arzthaftungssachen bedeutet dies, dass die EuGVVO immer dann anwendbar ist, wenn der beklagte Arzt oder der wegen des Honorars verklagte Privatpatient seinen Wohnsitz im Sinne von Art. 2 EuGVVO in einem Mitgliedsstaat haben.
2. Die Gerichtsstände nach der EuGVVO Ähnlich wie die ZPO unterscheidet die EuGVVO zwischen dem allgemeinen Gerichtsstand einer Partei und verschiedenen besonderen Gerichtsständen.4 a) Der allgemeine Gerichtsstand des Art. 2 EuGVVO Der allgemeine internationale Gerichtsstand wird durch Art. 2 EuGVVO ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit durch den Wohnsitz des Beklagten bestimmt. Juristische Personen haben gemäß Art. 60 EuGVVO ihren Wohnsitz im Sinne der EuGVVO am Ort des satzungsmäßigen Sitzes, am Ort der Hauptverwaltung oder am Ort ihrer Hauptniederlassung. Eine Krankenhausgesellschaft könnte also an allen drei genannten Orten gemäß Art. 2 EuGVVO verklagt werden. b) Besondere Gerichtsstände aa) Der Vertragsgerichtsstand gemäß Art. 5 Nr. 1 EuGVVO Haftungsansprüche gegen den Arzt oder gegen den Träger des Krankenhauses können sich bekanntlich sowohl aus Vertrags- wie aus Deliktsrecht ergeben. Insofern kommen bei den besonderen Gerichtsständen sowohl der Vertragsgerichtsstand nach Art 5 Nr. 1 EuGVVO als auch der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung nach Art. 5 Nr. 3 EuGVVO in Frage. Bei einer Klage gegen den Patienten käme wohl nur der Vertragsgerichtsstand in Betracht. Der Vertragsgerichtsstand richtet sich mangels einer abweichenden Vereinbarung nach dem Ort, an dem die vertragscharakteristische Leistung zu erfüllen war. Bei einem Behandlungsvertrag, der für die Zwecke der EuGVVO als Dienstvertrag im Sinne von Art 5 Nr. 1 b) EuGVVO anzusehen ist, ist die vertragscharakteristische Leistung die Heilbehandlung, so dass der Ort, an dem diese durchgeführt wird, der Erfüllungsort und damit der Vertragsgerichtsstand ist. Für den Arzt, der 4
Zum Folgenden insbesondere MüKo-ZPO/Gottwald, Art. 5 EuGVVO, Rn. 13 ff., 24 ff., 30 ff., 62 ff. m.w.N.; Geimer, Internationales Zivilprozeßrecht, 5. Aufl. 2005, S. 293 ff., 373 ff., 413 ff., 464 ff., 474 ff.; Mansel, in: Festschrift für Weitnauer, 1985, S. 33 ff.
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Behandlungen in seiner Praxis oder in seinem Krankenhaus durchführt, ergibt sich hieraus ein sogenannter „Beklagtengerichtsstand“, da der Patient gezwungen ist, am Ort des Tätigwerdens durch den Arzt zu klagen. Das wird auch im autonomen Recht von der herrschenden Meinung so gesehen.5 bb) Die Gerichtsstände der unerlaubten Handlung gemäß Art. 5 Nr. 3 EuGVVO Für den Patienten kann es daher interessant sein, die Klage am besonderen Gerichtsstand der unerlaubten Handlung zu erheben. Hierdurch kommt auch im Hinblick auf die internationale Zuständigkeit dem Gerichtsstand der unerlaubten Handlung besondere Bedeutung zu. Art. 5 Nr. 3 EuGVVO schafft für deliktische Ansprüche einen besonderen Gerichtsstand an dem Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht (ebenso § 32 ZPO für das autonome Recht). Dieser besondere Gerichtsstand am Ort des Delikts soll dem Geschädigten die Rechtsverfolgung erleichtern. Insofern wird eine weite Auslegung der Norm dahingehend befürwortet, dass sowohl an dem Ort, an dem der Täter gehandelt hat (Tatort), als auch an dem Ort, an dem das schädigenden Ereignis eingetreten ist (Erfolgsort), die Zuständigkeit zu bejahen ist. Ein sehr anschauliches Beispiel für das Auseinanderfallen von Tat- und Erfolgsort und die Folgen im Hinblick auf die Zuständigkeit in Arzthaftungssachen liefert eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom Mai 2008.6 Der in Deutschland wohnhafte Kläger hatte sich als Patient in ein Kantonsspital in der Schweiz in Behandlung begeben. Der beklagte Arzt empfahl eine Therapie mit zwei Medikamenten. Diese sollte sich der Kläger für sechs Monate bei wöchentlichen Kontrollen seines Hausarztes selbst verabreichen. Vier Monate später brach der Kläger die Therapie ab. Er behauptet, die Einnahme der Medikamente habe zu schweren Nebenwirkungen geführt, über die er vom schweizerischen Arzt, dem Beklagten, nicht aufgeklärt worden sei, und verlangt deshalb – gestützt auf § 823 BGB – an seinem Wohnort (also vor einem deutschen Landgericht) Schmerzensgeld und Schadensersatz. LG und Berufungsinstanz (OLG Karlsruhe) bejahten die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte. Dem schloss sich im Ergebnis auch der BGH an. Die maßgebliche Zuständigkeitsvorschrift ergab sich hier freilich nicht aus der EuGVVO, sondern wegen des Bezugs zur Schweiz aus dem LuganoÜbereinkommen (LugÜE). Dieses sieht allerdings eine in weiten Teilen der EuGVVO sehr ähnliche Regelung vor, insbesondere ist der hier einschlägige Art. 5 Nr. 3 LugÜE wortgleich mit der EuGVVO. Nach Art. 5 Nr. 3 LugÜE kann eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, in einem anderen Vertragsstaat vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist, verklagt werden, wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, den Gegenstand des Verfahrens bilden. 5
Vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 27. Aufl. 2009, § 29 Rn. 25 „Ärztlicher Behandlungsvertrag“. 6 BGH NJW 2008, 2344.
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Bei der Auslegung dieser Vorschrift unterstreicht der BGH, dass die Frage, ob es sich bei dem geltend gemachten Anspruch um einen deliktischen Anspruch im Sinne von Art. 5 Nr. 3 LugÜE handelt, nicht nach deutschem Recht (also nach der lex fori) zu entscheiden ist. Die Qualifikation der Arzthaftung und entsprechend die Auslegung des Übereinkommens hätten wegen seiner völkerrechtlichen Natur autonom zu erfolgen, so dass ein Rückgriff auf das deutsche Recht ausgeschlossen sei. Der BGH grenzt dann die deliktische von der vertraglichen Haftung ab und stellt fest, dass die Klage schon deshalb nicht an einen Vertrag anknüpfe, weil der Kläger nicht vortrage, ob er einen Vertrag abgeschlossen habe und gegebenenfalls mit wem. Die Klage knüpfe vielmehr an eine unerlaubte Handlung an, weil er dem Beklagten eine Körperverletzung vorwerfe. Dabei moniere der Kläger eine unzureichende ärztliche Aufklärung, also den Verstoß gegen eine Pflicht, die eine ärztliche Berufspflicht darstellt und entgegen der Auffassung der Revision nicht „immer auf vertraglicher Grundlage“ bestehe. Selbst wenn im Übrigen mit der Klage zugleich ein vertraglicher Anspruch geltend gemacht würde, würde der deliktische Gerichtsstand jedenfalls nicht vom vertraglichen Gerichtsstand verdrängt. Der BGH ordnet die Klage somit als die Geltendmachung eines Anspruchs wegen unerlaubter Handlung ein und prüft daher, wo der Erfolgsort dieser Handlung liegt. Hierzu macht er folgende Ausführungen:7 „Bei einer Medikamententherapie, die in der Schweiz verordnet und über die dort angeblich fehlerhaft aufgeklärt wurde, liegt der Erfolgsort in Deutschland, wenn das Medikament - wie zwischen Arzt und Patient besprochen - dort eingenommen wurde und die Nebenwirkungen dort auftraten. Der Auffassung der Revision, bei Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht sei Erfolgsort nicht der Ort, an dem die Gesundheitsschäden eingetreten sind, sondern der Ort, an dem der Patient sich befand, als die Aufklärungspflicht verletzt wurde, überzeugt nicht. Die Revision will sich darauf stützen, dass die „Primärverletzung“ in einem Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht bzw. die Entscheidungsfreiheit des Patienten zu sehen sei. Dabei verkennt sie jedoch, dass Art. 5 Nr. 3 LugÜ als Erfolgsort denjenigen Ort ansieht, an dem der Schaden (erstmals) eingetreten ist. Insoweit räumt auch die Revision ein, dass ein die Haftung auslösender Schaden bei einer Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht erst dann eintritt, wenn die Behandlung zu einer Beeinträchtigung der Gesundheit führt. Diese Betrachtungsweise entspricht sowohl Wortlaut und Sinn des Art. 5 Nr. 3 LugÜ als auch der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats.“ Die gelegentlich vertretene Auffassung, wonach eine ärztliche Heilbehandlung ohne rechtfertigende Einwilligung in erster Linie eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts darstellt und deshalb zu einer Haftung führt, lehnt das Gericht ab, da sich aus der bloßen Verletzung einer Aufklärungspflicht mangels eines Gesundheitsschadens kein durchsetzbarer Schadensersatzanspruch ergeben könne.8 Der BGH hält also den Gerichtsstand der unerlaubten Handlung für einschlägig und lokalisiert dabei den Erfolgsort am Wohnsitz des Patienten, wenn dort anweisungsgemäß die Therapie durchgeführt wird. Aus dieser Rechtsprechung kann sich ein Auseinanderfallen von vertraglichem und deliktischem Gerichtsstand er7 8
BGH NJW 2008, 2344, 2345. Vgl. G. Müller, S. 75, 79 f. m.w.N.
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geben. Der Arzt muss also möglicherweise mit einer doppelten Inanspruchnahme in verschiedenen Prozessen vor verschiedenen Gerichten rechnen. Sein Prozessrisiko kann sich so verdoppeln.
3. Das Problem der Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs Dieses Risiko bestünde nicht, wenn am deliktischen Gerichtsstand auch vertragliche Ansprüche geltend gemacht werden könnten und würden. Ein solches Vorgehen wird unter dem Stichwort einer Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs auch für das nationale deutsche Recht hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit diskutiert. Der BGH hat eine solche Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs zuletzt anerkannt, so dass der Kläger am deliktischen Gerichtsstand nach § 32 ZPO auch nicht-deliktische Ansprüche geltend machen kann. Zur Begründung dieser Rechtsprechung wird auf § 17 Abs. 2 GVG verwiesen, nach dem ein Gericht befugt ist, auch über rechtswegfremde Anspruchsgrundlagen zu entscheiden. Dann müsse ein zuständiges Gericht erst recht befugt sein, auch über rechtswegeigene Anspruchsgrundlagen entscheiden zu können. Der EuGH lehnt demgegenüber in den Fällen der Anspruchsgrundlagenkonkurrenz eine internationale Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs ab. Am vertraglichen Gerichtsstand nach Art. 5 Nr. 1 EuGVVO können daher nur vertragliche Ansprüche geltend gemacht werden, am deliktischen nach Art. 5 Nr. 3 EuGVVO nur gesetzliche Ansprüche wegen unerlaubter Handlung. Eine einheitliche Zuständigkeit ergibt sich also nur bei einer Klage am allgemeinen Gerichtsstand oder bei einer rügelosen Einlassung des Beklagten nach Art. 24 EuGVVO. Es bleibt insofern dabei, dass dem Arzt eine doppelte Inanspruchnahme droht. Doch auch für den geschädigten Patienten kann diese Zuständigkeitsspaltung Nachteile haben, da er gegebenenfalls erneut Klage erheben muss, wenn das Gericht die von ihm angeführte Anspruchsgrundlage als nicht einschlägig erachtet.
4. Zuständigkeitsvereinbarungen Vor diesem Hintergrund einer drohenden Zuständigkeitsspaltung ist die Frage von besonderem Interesse, ob sich die internationale Zuständigkeit durch vorherige Vereinbarung eindeutig festlegen lässt. Eine solche Begründung einer einheitlichen Zuständigkeit durch entsprechende Vereinbarung kann auch für den Patienten interessant sein, da er hierdurch alle seine Ansprüche an einem Ort geltend machen kann. Vorteile hat er hiervon freilich nur, wenn die Vereinbarung die Zuständigkeit nicht am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten festlegt, denn an diesem kann er ohnehin über Art. 2 EuGVVO sämtliche Ansprüche in einer Klage geltend machen.
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a) Dogmatische Einordnung von Zuständigkeitsvereinbarungen Die Gerichtsstandsvereinbarung ist ein Vertrag, dessen Zustandekommen sich nach materiellem Recht richtet, während seine Wirkungen prozessualer Art sind. Für die materiellrechtliche Seite gilt die lex causae, also das auf den Vertrag anwendbare Recht, die prozessualen Rechtsfolgen bestimmen sich nach der lex fori. Bei den Wirksamkeitsvoraussetzungen ist insofern zu differenzieren, ob der Rechtsstreit der EuGVVO, dem LugÜ oder dem autonomen deutschen Recht unterliegt. Die EuGVVO geht dabei als höherrangiges Recht den ZPO-Vorschriften vor. Nach herrschender Meinung erfasst Art. 23 EuGVVO auch den Fall, dass nur eine der Parteien ihren allgemeinen Gerichtsstand in einem Mitgliedstaat hat. Auch eine Zuständigkeitsvereinbarung zwischen einem Deutschen und einem U.S.-Amerikaner ist daher nach Art. 23 EuGVVO zu beurteilen, da sich der erforderliche Gemeinschaftsbezug hier aus dem allgemeinen Gerichtsstand einer Partei in einem Mitgliedstaat ergibt. b) Wirksamkeitsvoraussetzungen von Zuständigkeitsvereinbarungen nach Art. 23 EuGVVO Die EuGVVO erkennt Vereinbarungen der internationalen Zuständigkeit in Art. 23 EuGVVO grundsätzlich an. Dabei ist prinzipiell auch Nicht-Kaufleuten die Vereinbarung der internationalen Zuständigkeit möglich. Zwar ist bei Verbrauchern die Beschränkung aus Art. 23 Abs. 5 EuGVVO in Verbindung mit Art. 17 EuGVVO zu beachten, die eine Abweichung von den Verbrauchergerichtsständen aus Art. 15 ff. EuGVVO nur im Wege einer nachträglichen Vereinbarung zulässt. Der Behandlungsvertrag wird allerdings von den in Art. 15 Abs. 1 EuGVVO genannten Verträgen im Regelfall wohl noch erfasst, so dass insoweit keine Besonderheiten zu berücksichtigen sind. Die Fälle a und b passen nicht, der Fall c wäre nur anwendbar, wenn der Arzt im Wohnsitzstaat des Patienten seine Tätigkeit ausübte, ohne selbst hier seinen Wohnsitz zu haben. Dann hätte ausnahmsweise der Patient als Kläger nach Art. 16 Abs. 1 EuGVVO die Wahl zwischen den beiden Wohnsitzstaaten. In formmäßiger Hinsicht ist nach der EuGVVO wie nach § 38 Abs. 2 ZPO eine schriftliche oder eine schriftlich bestätigte Vereinbarung erforderlich. Dieses Erfordernis kann auch eine Vereinbarung in AGB erfüllen, wenn eine tatsächliche Einigung über die Einbeziehung der AGB und insbesondere der Gerichtsstandsvereinbarung festgestellt werden kann. c) Wirkungen von Zuständigkeitsvereinbarungen: Prorogation und Derogation Eine Zuständigkeitsvereinbarung enthält neben der Vereinbarung der Zuständigkeit der Gerichte des bezeichneten Staates (Prorogation) regelmäßig auch die Vereinbarung der Unzuständigkeit der Gerichte anderer Staaten. Andere Gerichtsstände sind durch eine solche Derogation abbedungen. Sofern die Parteien nichts anderes vereinbaren, sind die Gerichte des prorogierten Staates somit ausschließlich zuständig.
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Die objektive Reichweite einer Gerichtsstandsvereinbarung können die Parteien frei bestimmen. Mangels anderweitiger Anhaltspunkte wird man allerdings davon ausgehen müssen, dass eine Gerichtsstandsvereinbarung sämtliche in Frage kommenden Anspruchsgrundlagen erfasst. Sieht also der Behandlungsvertrag eine wirksame Vereinbarung der internationalen Zuständigkeit vor, so gilt diese grundsätzlich sowohl für Ansprüche wegen Vertragsverletzung als auch wegen deliktischer Ansprüche im Zusammenhang mit der Behandlung. Nimmt der in Deutschland ansässige und hier tätige Arzt in seine Behandlungsverträge eine den Formerfordernissen des Art. 23 EuGVVO genügende Gerichtsstandsklausel auf, so kann er sich vor einer Inanspruchnahme im Ausland in vollem Umfang schützen. Mittels der Wahl eines inländischen Gerichtsstands kann sowohl hinsichtlich vertraglicher wie hinsichtlich deliktischer Ansprüche eine Inanspruchnahme im Ausland ausgeschlossen werden.
IV. Das anwendbare Sachrecht Bei der Haftung des Arztes für Behandlungsfehler haben wir es materiellrechtlich mit einem zweispurigen Haftungssystem zu tun, in dem vertragliche Schadensersatzansprüche neben deliktische treten können. Diese Zweigleisigkeit ist auch bei der Frage zu berücksichtigen, nach welchem Recht sich eventuelle Haftungsansprüche richten. Denn die vertragliche und die deliktische Haftung werden grundsätzlich selbständig angeknüpft, so dass insoweit unterschiedliche Rechtsordnungen berufen sein können. Allerdings wird zu untersuchen sein, inwieweit über das Modell einer sogenannten akzessorischen Anknüpfung des Deliktsstatuts an das Vertragsstatut diesbezüglich ein Gleichlauf erreicht werden kann. Die kollisionsrechtliche Beurteilung soll hier unter der Prämisse vorgenommen werden, dass ein deutsches Gericht mit dem Verfahren befasst ist.9 Hieraus folgt, dass das deutsche Kollisionsrecht als lex fori anzuwenden ist. Das deutsche Kollisionsrecht wird sich allerdings durch die beiden im Jahr 2009 in Kraft tretenden Rom Verordnungen künftig unmittelbar aus europäischem Einheitsrecht ergeben, so dass sämtliche EU-Mitgliedstaaten einheitliche Kollisionsregeln anwenden werden, soweit es um vertragliche oder außervertragliche Schuldverhältnisse geht.
1. Das Vertragsstatut Wendet man sich zunächst der Frage zu, welches Recht auf einen Behandlungsvertrag mit Auslandsberührung anzuwenden ist, so sind – jedenfalls nach noch geltendem Recht – die Art. 27 ff. EGBGB zu befragen.
9 Zum Folgenden insbesondere Fischer, in: Festschrift für Laufs, 2006, S. 781; Deutsch, VersR 2007, 1323; Hoppe, MedR 1998, 462; Stumpf, MedR 1998, 546; Mansel, in: Festschrift für Weitnauer, 1985, S. 33; ferner MüKo-BGB/Martiny, Art. 28 EGBGB Rn. 210 m. w. N.
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a) Rechtswahl nach Art. 27 EGBGB Grundsätzlich können die Parteien nach Art. 27 EGBGB das auf den Schuldvertrag anwendbare Recht im Wege der Rechtswahl bestimmen. Eine solche Rechtswahl kann auch in AGB vorgenommen werden. Ebenso kann sie sich konkludent aus den Umständen des Vertrages ergeben, wenn sich mit hinreichender Sicherheit den Umständen ein realer Wille der Parteien entnehmen lässt, dass ein bestimmtes Recht Anwendung finden soll. Indizien für eine konkludente Rechtswahl sind zum Beispiel der Vertragsabschluss zwischen im Inland ansässigen Parteien in deutscher Sprache oder die Verwendung von Formularen, die auf einer bestimmten Rechtsordnung aufbauen. Man muss insoweit allerdings zurückhaltend abwägen, dass man nicht den vom Gesetz verlangten realen Willen der Parteien durch einen hypothetischen Willen der Parteien ersetzt. Es geht nicht an, eine konkludente Rechtswahl anzunehmen, nur weil die Parteien möglicherweise gar nicht daran gedacht haben, dass auch eine andere Rechtsordnung anwendbar sein könnte. In der Alltagssituation, in der ein in Deutschland wohnender Ausländer sich von seinem deutschen Arzt behandeln lässt, wird man also nicht ohne weiteres von der Wahl deutschen Rechts als Vertragsstatut ausgehen dürfen. b) Mangels Rechtswahl anzuwendendes Recht gemäß Art. 28 EGBGB Soweit das auf den Vertrag anwendbare Recht nicht nach Art. 27 EGBGB vereinbart worden ist, unterliegt der Vertrag nach Art. 28 Abs. 1 EGBGB dem Recht des Staates, mit dem er die engsten Verbindungen aufweist. Bezüglich der engsten Verbindungen stellt Art. 28 Abs. 2 EGBGB eine widerlegliche Vermutung auf, nach der dies der Staat ist, in dem die Partei, welche die charakteristische Leistung zu erbringen hat, ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort oder – bei juristischen Personen – ihre Hauptverwaltung hat. Der ärztliche Behandlungsvertrag unterliegt danach im Normalfall dem am Niederlassungsort des behandelnden Arztes geltenden Recht, da dieser die vertragscharakteristische Leistung erbringt. Für die Lokalisierung des Vertragsstatuts am Ort der Niederlassung spricht auch, dass so ein Gleichlauf von Niederlassungsstatut und Vertragsstatut erreicht werden kann, der zu einer Parallelisierung von Haftung und berufsrechtlichen Verhaltenspflichten führt. Die Anknüpfung an den Niederlassungsort ist daher für den Normalfall, in dem dort auch die Behandlung vorgenommen wird, sachgerecht. Zweifelhaft kann freilich sein, ob dann engere Verbindungen zu einem anderen Staat bestehen, wenn dort die Behandlung stattfindet. Art. 28 Abs. 5 EGBGB erlaubt in solchen Fällen eine abweichende Anknüpfung. Bei dieser Norm handelt es sich allerdings um eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift. Dass (wie im erläuterten Fall des BGH10) die Therapie vom Patienten an seinem ausländischen Wohnort durchgeführt wurde, wird man insoweit nicht genügen lassen können. Nur wenn der Arzt selbst im Ausland handelt und dies auch nicht nur zufällig ist, wird man eine enge-
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re Verbindung mit dem Behandlungsort annehmen können, so dass dieser das Vertragsstatut bestimmt. Soweit die Parteien also keine Rechtswahl getroffen haben, wird man in der Mehrzahl der Fälle das Vertragsstatut an den Ort der Niederlassung des Arztes anknüpfen können.
2. Das Deliktsstatut Bei der Bestimmung des Deliktsstatuts ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich das Kollisionsrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse nur noch bis zum 11. Januar 2009 nach dem EGBGB richtet. An diesem Tag ist die sogenannte Rom II-Verordnung in Kraft getreten und hat in allen Mitgliedstaaten das Kollisionsrecht insoweit vereinheitlicht. a) Art. 40 EGBGB Einschlägig sind für deliktische Ansprüche die Art. 40-42 EGBGB. Eine Rechtswahl lässt Art. 42 EGBGB anders als Art. 27 EGBGB nur nach dem schadensbegründenden Ereignis zu. Daher wird eine im Vertrag vorgenommene Rechtswahl bezüglich des Vertragsstatuts nicht auch das Deliktsstatut umfassen, da eine vorherige Rechtswahl nach Art. 42 EGBGB unzulässig ist. Grundsätzlich findet auf unerlaubte Handlungen nach Art. 40 EGBGB das am Tatort geltende Recht Anwendung. Auch insoweit kommt man also bei der deliktischen Haftung für Behandlungsfehler oder unterlassene Aufklärung zu einem Gleichlauf mit dem Niederlassungsstatut, wenn der Arzt die Behandlung am Ort seiner Niederlassung vornimmt. Das Recht am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts findet auch dann Anwendung, wenn ein deutscher Arzt etwa im Rahmen einer Urlaubsreise eine andere gleichfalls in Deutschland ansässige Person im Ausland behandelt. Hier bestimmt Art. 40 Abs. 2 EGBGB, dass das Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts maßgeblich ist. Allerdings hat der Geschädigte nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 EGBGB bis zum Ende des frühen ersten Termins oder dem Ende des schriftlichen Vorverfahrens die Möglichkeit, zu verlangen, dass das Recht des Staates angewandt wird, in dem der Erfolg eingetreten ist. Der Verletzte kann also bei sogenannten Distanzdelikten, die sich dadurch auszeichnen, dass Handlungs- und Erfolgsort nicht zusammenfallen, das Recht des Erfolgsorts als anwendbares Recht wählen. Hierdurch kann es, wenn der Patient an einem anderen Ort als dem Behandlungsort wohnt, zu einem Auseinanderfallen von Delikts- und Vertragsstatut kommen. Eine solche Situation könnte sich etwa bei entsprechender Ausübung des Wahlrechts in der oben dargestellten BGH-Entscheidung ergeben, da hier der Erfolg am Wohnort des Patienten eintrat.
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b) Akzessorische Anknüpfung Zu überlegen ist in solchen Situationen, in denen Vertrags- und Deliktsstatut auseinanderfallen, ob sich nicht durch die sogenannte akzessorische Anknüpfung des Deliktsstatuts an das Vertragsstatut ein Gleichlauf herstellen lässt. Ansatzpunkt für eine derartige Korrektur des durch Art. 40 EGBGB gefundenen Ergebnisses ist Art. 41 EGBGB, nach dem bei einer wesentlich engeren Verbindung mit dem Recht eines anderen Staates dessen Recht anzuwenden ist. Eine solch wesentlich engere Verbindung kann sich nach Art. 41 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB insbesondere aus einer besonderen rechtlichen Beziehung zwischen den Beteiligten im Zusammenhang mit dem Schuldverhältnis ergeben. Insoweit ist zu beachten, dass sich die deliktische Verantwortlichkeit des Arztes nicht nur anlässlich des Behandlungsvertrages ergibt, sondern in untrennbarem kausalem und rechtlichem Zusammenhang mit diesem steht. In der Literatur wird die akzessorische Anknüpfung der deliktischen Arzthaftung an den Behandlungsvertrag mit dem weiteren Argument bejaht, dass so das kollisionsrechtliche Vertrauensprinzip geschützt würde: Wenn sich typischerweise die kollisionsrechtlichen Erwartungen der Parteien in legitimer Weise ganz auf ein zwischen ihnen bereits bestehendes Sonderverhältnis konzentrieren, das den Schutz der in concreto verletzten Interessen mit umfasst, so sei eine akzessorische Anknüpfung des Deliktsstatuts an dieses Sonderverhältnis geboten. Eine akzessorische Anknüpfung des Deliktsstatuts hat auch den Vorteil, dass die sachrechtliche Einordnung der Haftungsansprüche als vertraglich oder deliktisch durch das materielle Recht keine Auswirkungen auf die kollisionsrechtliche Behandlung zeitigt. Somit ist festzuhalten, dass in den Fällen, in denen das nach Art. 40 EGBGB ermittelte Deliktsstatut nicht dem Niederlassungsstatut entspricht, das Ergebnis durch eine akzessorische Anknüpfung unter Anwendung von Art. 41 EGBGB zu korrigieren ist, um einen Gleichlauf mit dem Vertragsstatut zu erreichen.
3. Die Rom II-Verordnung Wie schon angedeutet, trat am 11. Januar 2009 die Rom II-Verordnung in Kraft11 und vereinheitlichte das Kollisionsrecht der außervertraglichen Schuldverhältnisse europaweit – mit Ausnahme Dänemarks. Diese neue Rechtsgrundlage beeinflusst die Rechtslage in grenzüberschreitenden Arzthaftungsfällen insofern, als gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO auf unerlaubte Handlungen stets das Recht des Erfolgsorts anzuwenden ist. Eine Anknüpfung an den Handlungsort findet danach nicht statt. Ein Auseinanderfallen von Vertrags- und Deliktsstatut wird allerdings dadurch verhindert, dass auch nach der Rom II-VO eine akzessorische Anknüpfung des Deliktsstatuts gemäß Art. 4 Abs. 3 möglich ist. Auch künftig wird man daher davon ausgehen können, dass sich das Deliktsrecht bei Arzthaftungssachen nach dem Vertragsstatut richtet. 11 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.07.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, ABl. EG Nr. L 177 vom 04.07.2008, S. 6.
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V. Zwischenergebnis Die Ausführungen haben bisher ergeben, dass es aus Sicht des behandelnden Arztes in jedem Falle ratsam erscheint, in seinen AGB eine Gerichtsstandsvereinbarung vorzusehen und in dieser die Zuständigkeit der Gerichte am Ort der Niederlassung vorzusehen. Hierdurch kann in Fällen mit Auslandsberührung eine Zuständigkeitsspaltung in einen deliktischen Gerichtsstand und einen vertraglichen Gerichtsstand ausgeschlossen werden. Eine solche Spaltung droht demgegenüber nicht, soweit es um die Frage des anwendbaren Rechts geht. Auch ohne Rechtswahlklausel kann hier durch eine akzessorische Anknüpfung des Deliktsstatuts sichergestellt werden, dass sich sowohl die vertragliche als auch die deliktische Haftung des Arztes nach dem am Ort der Niederlassung des Arztes geltenden Recht richtet.
VI. Forum shopping und Zuständigkeitserschleichung Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf das Phänomen des forum shopping geworfen. Unter forum shopping versteht man das systematische Ausnutzen in mehreren Staaten nebeneinander existierender internationaler Zuständigkeiten um bestimmter tatsächlicher oder rechtlicher Vorteile willen. Wie gesehen, können sich bei Arzthaftungssachen Zuständigkeiten sowohl am allgemeinen Gerichtsstand wie am besonderen Gerichtsstand etwa der unerlaubten Handlung ergeben. Grundsätzlich ist der Kläger frei, zwischen diesen Gerichtsständen zu wählen. Beim forum shopping steht aus materiellrechtlicher Sicht im Vordergrund, dass die Wahl eines bestimmten Gerichtsstands vorentscheidend für das anwendbare Sachrecht sein kann, da jedes Gericht das Sachrecht stets durch die Anwendung „seines“ Kollisionsrechts ermittelt. Diese Möglichkeit, durch die Klageerhebung in einem bestimmten Staat das anwendbare Recht zu beeinflussen, wird allerdings durch das Inkrafttreten der Rom II-Verordnungen stark an Bedeutung verlieren. Denn durch die damit erreichte kollisionsrechtliche Rechtsvereinheitlichung wird der Ort des Verfahrens irrelevant für das anwendbare Kollisionsrecht, da jedenfalls in allen EU-Mitgliedstaaten ein einheitliches Kollisionsrecht gilt, so dass – jedenfalls in der Theorie – alle Gerichte in allen Mitgliedstaaten zu Anwendung derselben Rechtsordnung kommen. Jedenfalls im Rechtsverkehr mit EU-Mitgliedstaaten ist das forum shopping insofern wenig problematisch. Der Kläger kann und darf sich bei mehreren eröffneten Gerichtständen den ihm günstigsten aussuchen, wobei er sich in erster Linie davon leiten lassen wird, wo für ihn die Durchführung eines Verfahrens am einfachsten ist. Um auch im Rechtsverkehr mit Nicht-EU-Staaten oder LugÜE-Staaten forum shopping und sonstige unangenehme Überraschungen zu vermeiden, empfiehlt sich in jedem Fall der Abschluss einer Zuständigkeitsvereinbarung, in der zugleich auch das anwendbare Recht festgelegt werden sollte. Solche Vereinbarungen können wie dargestellt auch in AGB geschlossen werden.
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Soweit man mit forum shopping das Erschleichen einer Zuständigkeit durch Beeinflussung der tatsächlichen Anknüpfungspunkte meint, kommt im Arzthaftungsrecht allenfalls die Verlegung des Wohnsitzes in Betracht, um so am neuen Wohnsitz eine Zuständigkeit nach Art. 5 Nr. 3 EuGVVO als dem Erfolgsort zu begründen. Dieser Weg ist freilich allenfalls dann erfolgversprechend, wenn auch nach der Verlegung des Wohnsitzes noch weitere, völlig neue Schäden eintreten. Das wird man wohl nur bejahen können, wenn ein neues Schmerzensgeld wegen desselben Delikts verlangt werden kann, das nicht durch die Rechtskraft eines Vorprozesses über denselben Haftungsfall bereits erfasst ist. Ist der Schaden dagegen bereits vollständig eingetreten, berührt die spätere Verlegung des Wohnsitzes die am Erfolgsort begründete Zuständigkeit nicht. Zuständigkeitserschleichungen werden daher im Arzthaftungsrecht die Ausnahme sein.
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Therapieren oder Optimieren? Herausforderungen des ärztlichen Selbstverständnisses im 21. Jahrhundert Michael Quante Das Technische findet sich ein, wenn das Bedürfnis vorhanden ist. G.W.F. Hegel
I. Einleitung Im Zentrum des ärztlichen Selbstverständnisses steht seit der Antike die Aufgabe, Krankheiten zu heilen oder zumindest Leiden zu mindern und das menschliche Sterben, wenn es denn unausweichlich ist, zu lindern. Dies ist angesichts der Fragilität des menschlichen Lebens, die in unseren Grunderfahrungen von Krankheiten, Gebrechen, Leiden und Tod allgegenwärtig ist, nicht verwunderlich. Dabei nimmt diese Vulnerabilität je nach historischer und kultureller Formation sowie in jeweils individueller Gestalt, die dem Arzt als Patient (und nicht nur als ‚Fall’) gegenübertritt, unterschiedliche Formen an. Obwohl es sich um eine der basalen Konstituenten des menschlichen Lebens handelt, gehört die historische Variabilität und – zumindest in der Moderne – auch die individuelle Pluralität in nicht zu eliminierender Weise zu ihr. Die Charakterisierung des Menschen als eines Mängelwesens bringt diese menschliche Urerfahrung auf den philosophischanthropologischen Punkt; dennoch sollten wir nicht vergessen, dass die konkrete Ausprägung dieser Urerfahrung variieren und sehr individuelle Formen annehmen kann. Manches, was heute als Verstoß gegen die je eigene Menschenwürde zurückgewiesen oder zum Gegenstand individuellen Leidens wird, kann den außen stehenden Betrachter durchaus in Erstaunen versetzen. Unbestritten geblieben bis zum heutigen Zeitpunkt ist aber, dass die Behebung von Krankheiten und die Beseitigung von Behinderungen zu den ethisch akzeptierten medizinischen Handlungsformen der Therapie zu zählen ist. Auch der Topos der Verbesserung des Menschen mittels der Ersetzung von Körperteilen durch leistungsfähigere Apparate oder der Steigerung kognitiver Funktionen durch die Einnahme von dazu geeigneten Substanzen hält sich durch die Geschichte unserer Kultur hindurch. Der Traum vom Fliegen als technische Erweiterung menschlicher Handlungsmöglichkeiten ist genauso alt wie das Bestreben von Erziehern, Lehrern oder Trainern, ihre Schützlinge zu verbessern und sie sich optimal entwickeln zu lassen. Auf das Selbstverständnis der ärztlichen Rolle hat sich dieser grundlegende Aspekt der menschlichen Lebensform jedoch kaum ausgewirkt. Während die Therapie als standardmäßig ethisch geboten oder zumindest als standardmäßig ethisch zulässig gilt, versuchen viele, mittels der Un-
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terscheidung von Therapie und Enhancement eine klare Wasserscheide zwischen ethisch zulässigem und ethisch unzulässigem ärztlichem Handeln zu finden. Angesichts sich stets weiterentwickelnder Möglichkeiten der Verbesserung von körperlichen und mentalen Funktionen stellt sich heute, gerade in einer sich über Leistung definierenden und auf Wettbewerb ausgerichteten Gesellschaft, die Frage, ob auch Ärzte mit ihren spezifischen Handlungsmöglichkeiten verbessernde Eingriffe vornehmen dürfen oder ob dies mit dem Ethos des Arztseins unvereinbar ist. Die biomedizinische Ethik führt diese Diskussion gegenwärtig unter dem Stichwort des Enhancement, vor allem im Bereich der Humangenetik und der Neuro-Wissenschaften. Eine der prinzipiellen Fragen ist, ob es normative Grenzen für den verständlichen Wunsch nach Verbesserung des menschlichen Daseins und nach Steigerung der menschlichen Leistungsfähigkeit gibt. Lassen sich solche Forderungen einer philosophisch stichhaltigen Kritik unterziehen? Oder sind die Versuche, dem Druck des (technisch) Machbaren eine Ethik der Selbstbeschränkung entgegen zu setzen, lediglich irrationale und die Selbstbestimmung der Menschen gefährdende Reaktionen, in denen sich die in der Geschichte der Menschheit ebenfalls durchhaltende Angst vor Veränderungen und vor dem Neuen einmal mehr Ausdruck verleiht? Gegeben den Fall, dass sich auf der Ebene einer allgemeinen Ethik ein solches Verbot des Enhancement nicht plausibel und verallgemeinerbar begründen lässt: Könnte es sein, dass ein solches Handeln mit dem Selbstverständnis und der Rolle des Arztes unvereinbar ist? Haben wir es hier möglicherweise mit einer An- und Aufforderung zu tun, die zwar nicht prinzipiell unberechtigt ist, aber illegitimer Weise an die Ärzte adressiert wird? Die Frage danach, ob es ethisch akzeptabel sein kann, den menschlichen Körper oder die menschliche Psyche, einschließlich der emotionalen, affektiven und kognitiven Fähigkeiten, zu verbessern, stellt sich längst nicht mehr nur im Kontext philosophischer Gedankenexperimente oder literarischer Utopien: Im Bereich der Nanotechnologie, der Biotechnologie, der Informationstechnologie oder der Kognitionswissenschaften geht es nicht mehr nur darum, behinderten Menschen oder Kranken Therapien zur Verfügung zu stellen, um Defizite und Defekte zu beseitigen, Funktionsausfälle des menschlichen Körpers oder der menschlichen Psyche zu beheben und für möglichst viele Menschen ein normales Leben im Rahmen der uns vertrauten Dimensionen zu ermöglichen. Auch wenn die gegenwärtig unter dem Stichwort des Transhumanen diskutierte Forderung, die menschliche Lebensform durch technische Evolution zu überwinden, (noch) weit entfernt von ihrer technischen Realisierbarkeit ist, darf uns dies weder dazu verführen zu übersehen, wie viel an Verbesserung des Menschen bereits zum festen Bestandteil unseres alltäglichen Lebens geworden ist. Noch sollte es uns davon abhalten, die Auswirkungen auf die Rolle des Arztes zu reflektieren, die eine solche Nachfrage nach Verbesserungen hat. Dass diese technischen Verbesserungsutopien einen für die westliche Zivilisation des homo faber charakteristischen Zug zum Ausdruck bringen, an dem auch die Medizin partizipiert, wird man schwerlich gänzlich bestreiten können. Die Intuitionen und die mit ihnen verbundenen ethischen Bewertungen sind jedoch vielschichtig, wenn nicht gar verworren. Gleiches gilt für die normwissenschaftlichen und politischen Diskurse, in denen es um die Regelung
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dieser neuen Handlungsoptionen geht. Um hier klarer zu sehen, sind verschiedene Verwendungs- bzw. Funktionsweisen des Begriffs Enhancement zu unterscheiden, denen unterschiedliche Fragestellungen und Zwecksetzungen zugrunde liegen.
II. Therapieren oder Optimieren: drei Kontexte der Debatte Der Begriff des Enhancement spielt in drei verschiedenen Kontexten eine Rolle, die sich teilweise überlappen. Die Funktionsweise von „Enhancement“ ist in diesen drei Kontexten unterschiedlich, so dass auch das genauere Verständnis dieses Begriffs je nach zugrunde gelegtem Kontext variieren kann. Allen drei Kontexten ist jedoch gemeinsam, dass der Begriff des Enhancement zur Beantwortung evaluativer oder normativer Fragen herangezogen wird.
1. Der Kontext der biomedizinischen Ethik Der erste Kontext ist die biomedizinische Ethik. Hier wird mit der Gegenüberstellung von Enhancement und Therapie nach den Grenzen dessen gesucht, was Gegenstand ärztlichen Handelns sein sollte und was nicht. Während die Therapie als Beseitigung einer Einschränkung oder eines Mangels gilt, stellt Enhancement eine Verbesserung der Funktions- oder Leistungsfähigkeit dar. Dabei sind zwei Intuitionen weit verbreitet: (I-1)
Aufgabe der Medizin kann nur sein, Krankheiten zu therapieren und Leiden zu beheben bzw. zu lindern. Die Verbesserung des Menschen dagegen gehört nicht zu den Aufgaben medizinischen Handelns.
Mindestens genauso tief wie diese Extensionsintuition sitzt eine ethische Intuition, die wir die Ethische-Differenz-Intuition nennen können: (I-2)
Therapeutisches Handeln ist in der Regel ethisch geboten (oder zumindest erlaubt), während verbessernde Eingriffe in der Regel ethisch problematisch oder gar generell abzulehnen sind.
Dem Begriff des Enhancement wird in diesem Kontext und vor dem Hintergrund der Extensions- und der Ethische-Differenz-Intuition eine doppelte Aufgabe zugewiesen: Erstens soll er, im Zusammenspiel mit seinem Gegenbegriff der Therapie, einen von unseren Wertungen unabhängigen, deskriptiven Inhalt haben. Zweitens soll er die Grenze zwischen dem ethisch Zulässigen und dem ethisch Problematischen bzw. Verbotenen markieren. Beides erweist sich bei näherem Hinsehen als problematisch. Gehört die Schönheitschirurgie beispielsweise in den Bereich medizinischen Handelns? Oder ist sie ein Dienstleistungsangebot, welches nur von medizinisch entsprechend ausgebildeten Anbietern auf den Markt gebracht werden darf? Die Wirkmächtigkeit der beiden oben genannten Intuitionen zeigt sich daran, dass Eingriffe dieser Art häufig damit legitimiert werden, dass sie dazu dienen,
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das Leiden von Patienten zu mindern. Gerade dieses Beispiel zeigt aber auch, dass es vermutlich keinen natürlichen oder rein deskriptiven Standard der Normalität gibt, der uns jenseits kulturell geteilter oder individueller Wertschätzungen zu entscheiden erlaubt, welcher Eingriff die Behebung eines Mangels darstellt und welcher eine Verbesserung wäre. Für diese Differenzierung ist der Bezug auf das Leiden des jeweiligen Individuums sicher keine hinreichende Basis, da man durchaus auch an der normalen Ausstattung des Menschen ‚leiden’ kann. Nicht nur die Bedürfnisstruktur, sondern, einhergehend damit, auch die Leidensmöglichkeiten des Menschen sind offensichtlich extrem formbar. Die immer weiter zunehmenden Handlungsoptionen des Enhancement verstärken damit einen Trend, der sich schon im Kontext der Humangenetik beobachten lässt. Die Frage lautet an dieser Stelle, ob es uns gelingt, einen Begriff von Krankheit zu entwickeln, der frei ist von individuellen oder sozial geteilten Wertvorstellungen. Gelingt dies nicht, dann lässt sich die Unterscheidung von Therapie und Enhancement nicht in der Form verwenden, dass erstere eine rein deskriptive, in letzter Instanz rein naturwissenschaftliche Unterscheidung darstellt, die wir als unabhängige Begründung zur Abgrenzung des ethisch zulässigen und des ethisch unzulässigen medizinischen Handelns heranziehen könnten. Dieses Resultat fügt sich in die Reihe ähnlicher Befunde ein, die man erhält, wenn man die scheinbar rein deskriptiven Kriterien des „medizinisch Notwendigen“ oder der „vergeblichen Therapie“ genauer auf den Prüfstand stellt. Auch hier zeigt sich, dass in diese Abgrenzungen stets Wertungen eingehen, so dass sie keine neutrale Grundlage für eine ethische Grenzziehung bereitstellen. Unter der Voraussetzung, dass es uns gelingt, die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement auf der semantischen Ebene in rein deskriptiver Form plausibel zu machen, zeigt sich in der Folge sehr schnell, dass die Bestimmung der Extension beider ein weiteres Problem darstellt: Die Grenzziehung zwischen dem therapeutischen Beheben eines Defektes und dem verbessernden Eingriff ist ebenfalls weniger klar als zuerst vermutet. Wenn wir beispielsweise durch Impfungen das Immunsystem von Kindern verbessern, ohne dass eine Krankheit vorliegt, müsste man von Enhancement sprechen, da wir die natürlich vorgegebene Ausstattung verbessern. Angesichts dieser Art von Beispielen eine präzisere Fassung der Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement zu entwickeln, die es uns erlaubt, jede Form der Verbesserung durch medizinisches Handeln als ethisch unzulässig zu klassifizieren, indem wir die Fälle, die gegen eine solche ethische Einschätzung sprechen, nicht mehr als Verbesserungen zählen, wird kaum erfolgreich sein. Daher liegt an dieser Stelle der Schluss nahe, dass nicht alles, was uns natürlich mitgegeben wird, so beschaffen ist, dass seine Veränderung bzw. seine Verbesserung durch medizinisches Handeln automatisch ethisch unzulässig wäre. In dem Maße aber, in dem sich der Begriff des Enhancement im Kontext der biomedizinischen Ethik als nur bedingt geeignet erweist, seine beiden Aufgaben zu erfüllen, geraten die in diesem Kontext wirkmächtigen Extensions- und Ethische-Differenz-Intuition unter Druck. Kritiker des Enhancement im Bereich der biomedizinischen Ethik ziehen sich angesichts dieses allgemeinen Befundes auf den Standpunkt zurück, dass das Telos ärztlichen Handelns die Verbesserung des Menschen nicht einschließt und deshalb mit der Therapie-Enhancement-Unter-
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scheidung eine ethisch relevante Grenze benannt ist. Die Kritiker dieser Kritiker wiederum weisen darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement weder rein deskriptiv ist, so dass in die Klassifikation einer medizinischen Handlung als Therapie oder Enhancement bereits Wertungen eingehen, noch wirklich hinreichend klar ist, um die Bereiche des ethisch zulässigen und des ethisch unzulässigen medizinischen Handelns voneinander abzugrenzen.
2. Therapieren versus Optimieren: eine Grenze der Solidarität? Der soeben im ersten Kontext erhobene Befund hat Auswirkungen auf den zweiten Kontext, in dem der Unterscheidung von Therapie und Enhancement eine wichtige Funktion zukommt. In Gesellschaften, die sich von der Vorstellung leiten lassen, dass Individuen einen normativen Anspruch auf eine solidarisch finanzierte medizinische Grundversorgung haben, stellt sich die Frage, welche medizinischen Handlungsoptionen in dieser über soziale Sicherungssysteme garantierten Grundversorgung enthalten sein sollten. Es liegt auf der Hand, dass diese Frage umso dringender wird, je größer der finanzielle Druck aufgrund knapper Ressourcen wird. Darüber hinaus stellt sich, z.B. für den Gesetzgeber, die Frage, ob es möglicherweise medizinische Handlungsoptionen gibt, die aus ethischen Gründen rechtlich verboten werden sollten. Es ist nicht überraschend, dass die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement in diesem Kontext relevant wird. Ließen sich die Thesen begründen, dass verbessernde Eingriffe generell ethisch unzulässig oder gar keine Formen medizinischen Handelns sind, dann wäre damit zugleich begründet, weshalb sie nicht im Leistungskatalog der solidarisch abgesicherten medizinischen Grundversorgung enthalten sein können. Und ließe sich die Differenzierung zwischen Therapie und Enhancement rein deskriptiv ziehen, dann hätte man mit ihr ein Kriterium an der Hand, um die unvermeidlich anstehenden politischen Entscheidungen in diesem Bereich wert- und normfrei zu begründen. Angesichts der Probleme mit der Unterscheidung von Therapie und Enhancement, die sich im ersten Kontext herausstellen, kann es nicht verwundern, dass der Begriff des Enhancement diese Bürde nicht tragen kann – zumindest dann nicht, wenn man um eine redliche Begründung bemüht ist. Hier droht ihm vielmehr die gleiche Gefahr, welcher die Redeweise vom „medizinisch Notwendigen“ längst schon erlegen ist. Mit letzterer werden regelmäßig Wertentscheidungen, die bei Verteilungsentscheidungen hinsichtlich knapper Ressourcen unvermeidlich sind, verschleiert, um die mit ihnen verbundenen evaluativen oder normativen Fragen zu umschiffen und die Legitimation für die politischen Entscheidungen aus dem Bereich der naturwissenschaftlich oder rein medizinisch feststellbaren Notwendigkeiten zu beziehen. Damit werden Wert- und Normfragen dem gesellschaftlichen und politischen Diskurs entzogen und als umetikettierte Sach- und Faktenfragen an die für diese zuständigen Experten delegiert. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Entwicklung hin zur Techno- und Expertokratie mit dem demokratischen Selbstverständnis unserer Gesellschaft nicht vereinbar ist; vielmehr bedür-
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fen die auf diesem Wege ermittelten Regelungen einer normativen Begründung und einer demokratischen Legitimation. Mit Blick auf die Rolle des Arztes in diesem Kontext ist festzuhalten, dass hier ein doppelter Missbrauch droht: Auf der einen Seite lauert die Gefahr, dass das ärztliche Ethos von außen vorgeschoben wird, um Maßnahmen der Verbesserung aus dem gesellschaftlichen Diskurs über die gerechte Verteilung medizinischer Leistungen fernzuhalten. Es ist zu erwarten und auch legitim, dass diese Vereinnahmung auf Seiten der Ärzte nicht hingenommen wird, solange nicht sichergestellt ist, dass sich aus dem ärztlichen Selbstverständnis wirklich in nachvollziehbarer Weise diese normativen Konsequenzen ableiten lassen. Auf der anderen Seite droht dem gesellschaftlichen Diskurs die Gefahr, dass einzelne Ärzte oder gar offizielle Repräsentanten der Ärzteschaft als solche, ihre persönlichen ethischen Überzeugungen über die Grenzen der Medizin im Namen des ärztlichen Ethos einbringen. Damit würde aber nicht nur eine erst noch auszuweisende Deutung des ärztlichen Selbstverständnisses unhinterfragt als verbindliche Norm vorgeschrieben, sondern zugleich auch der Anspruch erhoben, dass die Grenzen des ärztlichen Handelns zugleich auch die Grenzen des medizinischen Handelns sind (oder zu sein haben).
3. Selbstverbesserung als tugendethischer Imperativ Der erste und der zweite Kontext, in denen der Begriff des Enhancement eine zentrale Rolle spielt, hängen eng miteinander zusammen; der Bezug zum dritten Bereich ist dagegen indirekter Natur und weist deutliche Unterschiede zu den ersten beiden auf. Doch obwohl er sich weder auf das ärztliche Ethos noch auf das medizinische Handeln beschränken lässt, muss auch dieser dritte Kontext kurz mit in Betracht gezogen werden, weil er über die Ebene der ethischen Intuitionen in die ersten beiden Kontexte hineinwirkt. Innerhalb einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition ist das Ziel ethischen Handelns zu verstehen als die Selbstverbesserung des Menschen hin zu einer tugendhaften Person. Die Verbesserung der Kinder und Mitmenschen sowie die Selbstverbesserung seiner selbst ist in diesem Paradigma der praktischen Philosophie eine Grundaufgabe menschlichen Lebens, die darauf abzielt, sich selbst und andere zu tugendhaften Bürgern eines guten und gerechten Gemeinwesens zu machen. Ein Blick auf das Ethos des Erziehers und Lehrers, aber auch die Erwartungshaltung von Eltern, belegt eindeutig, dass diese ethische Grundintuition bis heute wirkmächtig geblieben ist. Während die grundlegende Strategie im ersten und zweiten Kontext darin besteht, die Grenzen des ethisch zulässigen Handelns durch die Grenzen des medizinischen Handelns zu bestimmen, kann es in diesem dritten Kontext bei dem Versuch einer ethischen Grenzziehung nur darum gehen, innerhalb des Projekts der Verbesserung Unterschiede zu identifizieren. a) So ließe sich erstens fragen, ob es Ziele gibt, die mit der Selbstverbesserung eines Menschen auf eine Weise verknüpft werden, dass die Verbesserung ethisch inakzeptabel wird. Es ist evident, dass Verbesserung ohne weiteren qualifizieren-
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den Zusatz ethisch nicht eindeutig bewertbar ist und deshalb auch kein Selbstzweck sein kann. Das klassische Ideal lautet ja, tugendhaft zu werden, und die ethische Qualität der Verbesserung auf dem Weg dorthin leitet sich von der ethischen Qualität des Ziels ab. Aber es lassen sich eben auch Optimierungsziele vorstellen, die sicher nicht ohne weiteres die Maßnahmen der Verbesserung des Menschen in diese Richtung ethisch legitimieren. Außerdem stellt sich in diesem Kontext die Frage, wer die Ziele vorgibt und wie es um die Selbstbestimmung derjenigen bestellt ist, die verbessert werden sollen. Dies schlägt sich in dem uns interessierenden Kontext von Therapie und Enhancement durch medizinisches Handeln in der Sorge nieder, dass auf diese Weise nicht die Autonomie des Individuums gestärkt wird, wie von liberalen Verteidigern des Enhancement regelmäßig behauptet wird, sondern den Individuen gesellschaftliche Normen auferlegt werden. In ideologiekritischer Variante verstärkt sich dieser Einwand dann gelegentlich sogar zu der Annahme, dass die Nachfragen der Individuen nach solchen Verbesserungen keine autonomen Handlungen sind, sondern Ausdruck einer hinter dem Rücken der Individuen sich vollziehenden gesellschaftlichen Indoktrination. Auch wenn diese Bedenken im Fall der Selbstverbesserung prima facie unproblematisch zu sein scheinen, leuchtet doch sofort ein, dass im Fall der Verbesserung anderer Personen Konflikte zwischen Selbstbestimmung und Optimierungszielen bzw. zwischen der zu verbessernden Person und der Instanz, die dieses Ziel vorgibt, auftreten können (die paternalistische Bedrohung, die sich z.B. im Rahmen staatlich vorgegebener Erziehungsoder gar Umerziehungsprogramme regelmäßig einstellt, ist ein schlagender Beleg für diese Gefahr). b) Neben dem Ansatz, die Grenze zwischen ethisch zulässiger (oder gar gebotener) Verbesserung und ethisch unzulässiger Verbesserung über den Weg der Bewertung der Zielsetzungen, die mit der Verbesserung verbunden sind, zu bestimmen, kann man zweitens auch die Strategie verfolgen, diese Grenzziehung anhand der Mittel, die für die Verbesserung eingesetzt werden, vorzunehmen. Nehmen wir folgendes Beispiel: Ich möchte mich zu einer geduldigen und auf den Gesprächspartner eingehenden Person weiterentwickeln, die ihre Neigung, dem Gegenüber ins Wort zu fallen und in Diskussionen sehr ‚kämpferisch’ aufzutreten, überwindet. Setzen wir voraus, dass ich dies freiwillig und nur aus lauteren Motiven anstrebe. Unter der plausiblen Annahme, dass diese Selbst-Veränderung zugleich eine ethisch zu begrüßende Verbesserung darstellt: Macht es einen ethischen Unterschied, ob ich dies durch ein mehrmonatiges Verhaltenstraining unter Einsatz großer Willensstärke bewirke oder durch die Einnahme eines ‚Medikaments’, welches die gewünschte Wirkung erzielt (alternativ können wir uns auch vorstellen, dass die Wirkung durch Einsatz eines Gehirnimplantats erzielt werden kann)? Während die Intuitionen in diesem Fall vielleicht uneindeutig sind, liegt der Fall der Verbesserung der eigenen Verhaltensweisen in anderen Kontexten vermutlich anders: Ist es ethisch gleichwertig, wenn ich mich auf der Grundlage entsprechenden Trainings in Bewerbungssituationen besser präsentiere oder unter Einnahme geeigneter Präparate? Analog dazu: Ist es ethisch gleichwertig, wenn ich nicht durch Training, sondern durch Doping meine Leistungsfähigkeit im
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Sport optimiere? Und fielen unsere Bedenken weg, wenn alle Bewerber oder Wettkämpfer den gleichen Zugang zu den Präparaten erhalten? Diese Fragen sind nicht als rhetorische misszuverstehen. Aber sie zeigen an, dass sich hier vermutlich weder einfache noch generelle Differenzierungen werden ermitteln lassen, die es uns erlauben, ethische Unterschiede zu begründen. Dies wird sich auch auf den Bereich des medizinischen Handelns auswirken. Auch dort müssen wir damit rechnen, dass es auf die spezifischen Verfahren und Ziele ankommt, ob eine Verbesserung als ethisch zulässiges medizinisches Handeln einzuschätzen ist oder nicht.
III. Ein offenes Fazit Es bedürfte einer umfassenden anthropologisch-ethischen Studie, um das in diesem Beitrag thematisierte Gewirr von Begriffsverwendungen, Intuitionen und Werturteilen aufzuklären und die aufgeworfenen Fragen in einer philosophisch überzeugenden Weise zu beantworten. Dies lässt sich im Rahmen eines solchen Beitrags nicht leisten. Es sollte jedoch plausibel geworden sein, dass weder der Begriff des Enhancement noch der Begriff der Therapie rein deskriptiv zu fassen sind. Deshalb kann die Unterscheidung von Therapie und Enhancement auch keine unabhängige Begründungsressource für die Frage darstellen, welche medizinischen Handlungsweisen ethisch zulässig sind und welche nicht. Wenn die suggestive Kraft der Extensions- und der Ethische-DifferenzIntuition aber erst einmal gebrochen ist, dann kann und muss bezweifelt werden, dass Enhancement in jedem Fall und unter allen erdenklichen Umständen als ethisch unzulässig eingeschätzt werden muss. Fragen des Risikos, der gerechten Verteilung und der Chancengleichheit werfen sicher zusätzliche Gesichtspunkte auf, die eine umfassende ethische Bewertung des Enhancement in Betracht zu ziehen haben wird. Damit lassen sich jedoch keine kategorischen Verbote begründen, so dass wir auf Abwägungen und die Prüfung einzelner Handlungsoptionen in spezifischen Kontexten angewiesen sein werden. Meine Vermutung ist daher, dass sich auch der Ausschluss von verbessernden Eingriffen aus dem Bereich medizinischen Handelns nicht strikt durchhalten lassen wird. Damit aber stehen wir vor einer Herausforderung des ärztlichen Selbstverständnisses, die sich in einer von rapidem technischem Fortschritt, zunehmender Individualisierung der Lebenspläne und vom immer weiter vordringenden Primat des Respekts vor Autonomie gekennzeichneten Gesellschaft wohl in immer schärferer Form stellen wird. Sie lässt sich in folgendem ‚Dilemma’ artikulieren: Entweder wir geben die Vorstellung auf, dass ärztliches Handeln nur Therapie, nicht aber Verbessern umfassen darf. Oder wir gewöhnen uns an den Gedanken, dass der Bereich des ärztlichen Handelns und der Bereich des medizinischen Handelns nicht deckungsgleich sind. Im ersteren Fall besteht die Herausforderung darin, das historisch gewachsene ärztliche Selbstverständnis einer kritischen Prüfung und wohlmöglich einer behutsamen Aktualisierung zu unterziehen. Im letzteren liegt die Herausforderung darin, ethische Prinzipien für den Bereich des medizinischen Handelns zu ermitteln, die durch das ärztliche Ethos nicht erfasst werden. Wenn man den in der biomedizini-
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schen Ethik schon länger diskutierten Fall, ob man medizinisches Handeln ohne den Begriff der Krankheit bestimmen sollte, als Analogie heranziehen darf, dann spricht aus meiner Sicht vieles für die behutsame Adaptation des ärztlichen Ethos an die sich verändernden kulturellen Rahmenbedingungen. Denn der Wegfall der ethischen Prinzipien, die dem medizinischen Handeln durch das Ethos des ärztlichen Handelns zuwachsen, wird sich vermutlich ungleich schwerer kompensieren lassen als die Umbrüche, welche durch die Bewältigung der Herausforderungen des Enhancement innerhalb eines reflektierten ärztlichen Selbstverständnisses erforderlich sein werden.
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Der Arzt als Heiler und Manager – Zur erforderlichen Integration des scheinbar Unvereinbaren Christiane Woopen Qualitätsmanagement, Case-Management, Praxismanagement, Gesundheitsmanagement, Patientenmanagement … – Management im Medizinbetrieb allerorten. Der Arzt selbst jedoch will kein Manager sein und wehrt sich gegen ein ihn einengendes Management, weil es gegen sein ärztliches Selbstverständnis und seine unbedingte Verpflichtung dem einzelnen Patienten gegenüber verstößt. Ein Konflikt, der einer Zerreißprobe gleichzukommen scheint. Zweifellos ist die Medizin unserer Tage im Gefolge der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung sowie des ökonomischen Drucks in einer Identitätskrise: Das Gewohnte bietet keine Orientierungssicherheit mehr und wird in Frage gestellt, eine neue Vergewisserung anhand allgemein akzeptierter Leitideen aber steht noch aus. Die Medizin ist herausgefordert, auf die Frage nach ihren Funktionsprinzipien, ihrem Wertefundament und ihren Zielen neue, zumindest differenziertere Antworten zu geben. Vor dem Hintergrund knapper Ressourcen sowie angesichts der Überformung der Gesundheitsversorgung, die sich einst auf die dyadische Arzt-Patient-Beziehung gründete, durch eine zunehmende Vielfalt rechtlicher Regelungen sowie ständig neuer Organisationsstrukturen1 liegt es nahe, dazu Anleihen aus einem Praxisbereich zu machen, der sich seit jeher mit Organisationen befasst – dem Management. Dieses wird alsdann zum handlungsleitenden Prinzip, um mit den Herausforderungen des modernen Medizinbetriebs fertig zu werden. Wie ein trojanisches Pferd trägt es zugleich die Ökonomie mitten in den medizinischen Alltag hinein. Wird in diesem Zusammenhang an die hehren Ideale der persönlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient als zwei Individuen in einer existenziell bedeutsamen Situation gemahnt, wird dies schnell als ewiggestrig abgetan. Die Schärfe der Auseinandersetzungen auf der politischen Bühne ebenso wie im Krankhaus rührt nicht zuletzt daher, dass es um nicht weniger als das ethische Fundament des ärztlichen Handelns geht. Aber sind die Rollen des Arztes als Heiler und als Manager tatsächlich unvereinbar? Kann ein Arzt kein Manager sein, ohne seine handlungsleitenden Prinzipien zu verletzen und die vertrauensvolle Beziehung zum Patienten zu untergraben? Im Folgenden sollen zunächst die grundlegenden Elemente des Handelns eines Managers dargestellt werden (I). Diese werden anschließend in Beziehung zum Handeln des Arztes gesetzt, und es wird die Bedeutung nichtärztlichen Manage-
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Vgl. W. Wieland, Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik, 1986.
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ments für die Therapiefreiheit des Arztes und die Arzt-Patient-Beziehung diskutiert (II). Mit einem Fazit schließt dieser Beitrag (III).
I. Das Handeln eines Managers Der Management-Begriff wird vielseitig verwendet und erhielt seine ökonomische Prägung erst mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Seither steht er vorrangig für die zielgerichtete Führung und Leitung eines Unternehmens und seiner Mitarbeiter, wobei sich die verfolgten Ziele und die daraus abgeleiteten Aufgaben im Rahmen unterschiedlicher Strömungen und Lehrmeinungen im Laufe der Zeit verändert haben.2 Aus einer sektorenübergreifenden, systemtheoretischen Perspektive und vor dem Hintergrund langjähriger Praxis-Erfahrung formuliert der Wirtschaftswissenschaftler Fredmund Malik, einer der führenden Management-Theoretiker, die konstitutiven Merkmale eines professionellen Managers.3 Nach seiner Auffassung betrifft Management alle Segmente der Gesellschaft sowie jeden Einzelnen (im Sinnes eines Selbstmanagements), unabhängig davon, ob er Chef ist oder einen Chef hat. „(F)ast jeder Beruf hat einen Managementanteil. Das hängt damit zusammen, dass die Ausübung praktisch eines jeden Berufs heute – und in markantem Gegensatz zu früher – innerhalb einer Organisation stattfindet oder von Organisationen abhängt. Management ist der Beruf, der die Institutionen einer modernen Gesellschaft wirksam macht, und es ist der Managementanteil an jedem Beruf, der die Menschen innerhalb der Institutionen wirksam werden lässt“.4 Management verfolgt – als Transformation von Wissen in Ergebnisse – nach Malik das Ziel, sich und andere wirksam und erfolgreich zu machen – eine Fähigkeit, von der letztlich alles abhängt: Leistung, Ansehen, Gesundheit und ein erfülltes Leben. Es ist global und in seinen grundlegenden Merkmalen kulturübergreifend. Im Folgenden seien die von Malik herausgearbeiteten Charakteristika des Handelns eines professionellen Managers im Sinne seiner Grundsätze, Aufgaben und Werkzeuge wirksamer Führung zusammenfassend dargestellt.
1. Grundsätze Ein professioneller Manager handelt – mehr oder weniger bewusst – nach sechs Grundsätzen: Zum ersten orientiert er sich am Resultat einer Arbeit. Ob die Arbeit selbst Spaß macht oder nicht, ist nachrangig – es zählt vorrangig das Ziel, bei dessen Erreichen sich Freude automatisch einstellt. Der zweite Grundsatz besteht darin, einen Beitrag zum Ganzen zu leisten und sich nicht in die Arroganz (verstanden als Stolz, von anderem nichts zu verstehen) 2
Bühner, Management-Lexikon, 2001, S. 458. Malik, Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2006. Vgl. auch Mullins, Management and Organisational Behaviour, 2002. 4 Malik (Fn. 3), S. 22 und 62. 3
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oder Indifferenz (verstanden als fehlendes Interesse für anderes) eines reinen Spezialisten zurückzuziehen. Man kann und muss als Spezialist nicht ganzheitlich, sehr wohl aber an das Ganze denken und seinen Beitrag dazu leisten – wie der Geiger zur orchestralen Aufführung der Sinfonie. Gemäß dem dritten Grundsatz konzentriert sich der professionelle Manager auf Weniges, da er sonst eine zwar hervorragende Arbeits-, aber wohl nur eine klägliche Leistungsbilanz hervorbringt. Im Rahmen dessen nutzt der Manager – so Maliks vierter Grundsatz – konsequent bereits vorhandene Stärken und verwendet seine Energie nur auf die Beseitigung derjenigen Schwächen, die der Entfaltung der Stärken im Wege stehen. Der fünfte Grundsatz unterstreicht die Bedeutung des gegenseitigen Vertrauens. Dieses führt zu einer robusten Führungssituation, in der unvermeidbare Fehler und Konflikte bewältigbar sind. Charakterliche Integrität zählt hier mehr als die Art des Führungsstils, sei er kooperativ oder autoritär. Positives und konstruktives Denken macht schließlich den sechsten Grundsatz aus. Die Aufmerksamkeit sollte auf die Zukunft und auf die Chancen gerichtet werden und nicht nur auf die Bewältigung von Problemen, die schnell in der Vergangenheit stecken bleibt.
2. Aufgaben Auf der Grundlage dieser Grundsätze professionellen Management-Handelns stehen nach Malik fünf Aufgaben in dessen Zentrum: Management hat für Ziele zu sorgen. Es sollten wenige und große Ziele sein, die möglichst, aber nicht dogmatisch, zu quantifizieren sind. Die Verantwortung zur Erreichung jeden Ziels sollte individualisiert werden – damit wird ein Ziel zu einem persönlichen Ziel. Die zweite Aufgabe besteht in der Organisation, die jedoch nicht in eine „Organisitis“ ausarten darf. Sie soll ermöglichen, dass Mitarbeiter und Führungsspitze das tun können, wofür sie bezahlt werden, und dass dasjenige im Zentrum der Aufmerksamkeit aller stehen kann, wofür der Kunde bezahlt. Wirksame Organisationen sind „Ein-Zweck-Gebilde“, seien sie auch noch so komplex. Eine der wesentlichsten Aufgaben des Managers besteht drittens im Treffen von Entscheidungen – idealerweise von wenigen und wesentlichen Entscheidungen. Dem Entscheiden geht eine präzise Analyse des Problems voraus. Es folgt eine genaue Bestimmung der Anforderungen, die die Entscheidung erfüllen muss, wobei Kompromisse am Ende und nicht am Anfang des Prozesses stehen sollen. Für alle Alternativen, die kreativ aufzuspüren sind, müssen die Risiken und Folgen bedacht werden, um sodann die Entscheidung unter Einbeziehung dessen, was man gemeinhin Intuition nennt, zu treffen. Die Festlegung der Schritte und Zuständigkeiten für die Umsetzung des Entschiedenen gehören ebenso noch zum Entscheidungsprozess hinzu wie ihre Nachverfolgung (follow-up und followthrough). Zählt man als viertes die Kontrolle zu den Aufgaben des Managers, spricht dies – wird sie richtig ausgeführt – nicht gegen den Grundsatz des Vertrauens. Gleich-
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wohl liegt die Gefahr eher in einer Über- als in einer Untertreibung. Wenige, stichprobenartig erhobene Kontrollpunkte mit der Ausrichtung auf Verhaltenssteuerung und nicht auf umfangreiche Informationserhebung, die oft eher Misstrauen hervorruft, führen in der Regel zu einem angemessenen Verhältnis von Aufwand und Ergebnis. Als fünfte ist die Entwicklung und Förderung von Menschen – nicht nur verstanden als Mitarbeiter – eine der wesentlichsten und schwierigsten Aufgaben des Managers, da Menschen sich letztlich nur selbst entwickeln können. Er kann ihnen Aufgaben geben, die groß und schwierig genug sein müssen, damit sie an und mit ihnen wachsen können. Er kann sich bei der Entwicklung an den Stärken des Einzelnen orientieren, die er an bereits erfolgreich erfüllten Aufgaben erkennen kann. Für die Förderung ist der richtige Vorgesetzte wichtig, dessen fachliche Vorbildhaftigkeit und Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, ja dessen charakterliche Integrität, letztlich ausschlaggebend dafür sind, ob er Menschen in einem guten Sinne entwickeln und fördern kann. Und schließlich müssen die Menschen eine Stelle haben, die in ihrem Anforderungsprofil zu ihnen passt und sie weder dauerhaft unter- oder über-, noch auf die falsche Weise fordert.
3. Werkzeuge Die Werkzeuge eines professionellen Managers bestehen – ihren richtigen und klugen Gebrauch hier einmal vorausgesetzt – in der (nicht zu häufigen) Sitzung, dem (empfängerorientiert verfassten) Bericht, der Gestaltung der Arbeitsstelle (Job-Design) und der genauen Zuweisung von Aufgaben im Sinne einer Einsatzsteuerung (Assignment Control). Weiterhin gehören die sorgfältige Entwicklung einer persönlichen Arbeitsmethodik, das Budget, die individuelle (und nicht standardisierte oder checklisten-geleitete) Leistungsbeurteilung sowie die ‚systematische Müllabfuhr’ im Sinne des Abwerfens unnötigen Ballastes zu den hauptsächlichen Instrumenten des Managers.
II. Das Handeln des Arztes In welchem Verhältnis stehen diese Grundsätze, Aufgaben und Werkzeuge eines Managers nun zu den grundlegenden Merkmalen ärztlichen Handelns?5 Gibt es Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten und wo liegen wesentliche Unterschiede, die Konflikte hervorrufen können? Ungeachtet dessen, dass der Arzt sich selbstverständlich selbst führen muss, ist seine Führung auf zwei Ebenen relevant: auf der Arzt-Patient-Ebene sowie auf der Ebene der Organisationseinheit, in der er tätig ist, also z.B. einer Praxis oder einem Krankenhaus (gegenüber eigenen Mitarbeitern oder auch Vorgesetzten). Dies wird im Folgenden unter dem Begriff ärzt5
Zur Theorie ärztlichen Handelns vgl. Woopen, Medizinisches Handeln als Gegenstand von Ethik, Qualitätsmanagement und Gesundheitsökonomie, in: Lauterbach/Schrappe (Hrsg.), Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidence-based Medicine. Eine systematische Einführung, 2. Aufl. 2004, S. 10.
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liches Management zusammengefasst. Darüber hinaus wird der Arzt selbst in unterschiedlichem Maße durch andere Funktionseinheiten, etwa Verwaltung oder Politik, geführt, was hier als nichtärztliches Management bezeichnet werden soll. Um ärztlichem und nichtärztlichem Management eine Orientierung an den konstitutiven Merkmalen ärztlichen Handelns aufzeigen zu können, sei zunächst der Doppelcharakter ärztlichen Handelns im weiteren Sinn (iwS) dargestellt, der das Handeln im engeren Sinn (ieS) sowie das Herstellen umfasst.
1. Der Doppelcharakter ärztlichen Handelns als Handeln und Herstellen Aristoteles hat herausgearbeitet, dass das Verhältnis eines Tuns zu seinem Ziel spezifische Merkmale aufweisen kann, die ihn zu einer Differenzierung zwischen Handeln (im engeren Sinne, griech. praxis) und Herstellen (griech. poesis) führen.6 Herstellen ist dadurch gekennzeichnet, dass das Ziel des Tuns in einem Produkt besteht, das von der Tätigkeit selbst zu unterscheiden ist und nach deren Beendigung von diesem unabhängig als ein Ding oder ein Zustand in der Welt vorliegt. Die Eigenschaften des Produkts stehen im Vorhinein modellhaft fest, so dass die Tätigkeit im Rahmen einer technischen Anleitung als schrittweises Vorgehen normierbar sowie standardisierbar ist. Auf diese Weise ist die Tätigkeit lehrbar, und das Produkt sowie die Regelkonformität des Prozesses sind überprüfbar.7 Der Prozess selbst ist beliebig oft wiederholbar, die ausführende Person ist austauschbar und das Ergebnis ist garantierbar sowie widerrufbar, beispielsweise indem das Produkt zerstört oder verändert wird.8 Handeln im engeren Sinn zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass sein Ziel vorrangig in ihm selbst liegt wie beispielsweise beim Schenken oder Kommunizieren. So entzieht es sich der standardisierbaren Reglementierbarkeit, Lehrbarkeit und Prüfbarkeit. Das handelnde Subjekt ist nicht austauschbar, das Handeln ist an eine konkrete Situation gebunden, nicht wiederholbar und das Gelingen ist weder garantierbar noch widerruflich. Handeln, das in diesem Sinne als Lebensvollzug verstanden wird, beinhaltet den Verweis auf Einzelhandlungen im Unterschied zu Handlungstypen, wohingegen Herstellen als Einzelhandlung seine verallgemeinerte Form als Handlungstyp zum Vorbild hat. Liegen die Bewertungsmaßstäbe für ein Tun im Sinne von Herstellen im Wesentlichen in der Zweckrationalität des Einsatzes von Mitteln und der Übereinstimmung des hergestellten Produktes mit dem angezielten Modell, so erfolgt die Bewertung des Handelns im engeren Sinn anhand moralischer Maßstäbe. Ärztliches Handeln iwS weist Züge beider Handlungscharaktere auf: Der Arzt als Handelnder ist – ebenso wie der Patient – in der personalen Beziehung, in der es zudem um existenzielle Belange gehen kann, weitestgehend nicht austauschbar. Dies gilt für die langfristige Behandlung einer chronischen Erkrankung sicherlich 6
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140a, 1094a. Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft, 1976, 74. 8 G. Wieland, Ethik als praktische Wissenschaft, in: Honnefelder/Krieger (Hrsg.), Philosophische Propädeutik, Band 2: Ethik, 1996, S. 36 ff. 7
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in stärkerem Maße als für die einmalige Durchführung einer hoch spezialisierten Operation an einem narkotisierten Patienten. Zudem stößt die Standardisierbarkeit ärztlichen Handelns auf Grenzen, was sich – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Vielzahl und Heterogenität einflussnehmender Faktoren – in der Diskussion um die Ausgestaltung und die Verbindlichkeit von Leitlinien niederschlägt. Standards, die sich auf herzustellende Umgebungsbedingungen ärztlichen Handelns beziehen, sind zwar lehrbar, letztlich ist es jedoch die praktische Urteilskraft des Handelnden, hier insbesondere bei der Diagnose- und Indikationsstellung, die für die Einzelhandlung am Patienten unerlässlich und nur begrenzt standardisierbar ist. Bestimmte ärztliche Tätigkeiten insbesondere technischer Art, lassen sich zwar überprüfen, vergleichen, lehren und messen, jedoch sind zentrale Aspekte wie Aufklärung und Beratung sowie die Berücksichtigung individueller und situativer Faktoren bei Handlungsplanung und -durchführung in ihrer Komplexität solchen Methoden nur begrenzt zugänglich. Darüber hinaus ist ärztliches Handeln nicht rückgängig zu machen und damit irreversibel. Zwar können unerwünschte Folgen möglicherweise behandelt oder gar korrigiert werden, die Wirkungen auf den betroffenen Patienten aber sind unwiderruflich ein Teil seiner Geschichte geworden. Schließlich kann der Arzt das Ziel seines Handelns im Sinne der Heilung, Linderung oder Vorbeugung nicht garantieren9 – er kann eine Garantie nur dafür geben, ein vereinbartes Ziel zu verfolgen. Mit dem – je nach konkreter Tätigkeit unterschiedlich gewichteten – Doppelcharakter ärztlichen Handelns unterliegt dieses auch beiden Arten von Bewertung: derjenigen der Zweckrationalität wie derjenigen der Ethik. In ärztlichen Gelöbnissen und Verhaltenskodices wurde der Doppelcharakter seit jeher berücksichtigt. Zum einen wurden stets Anforderungen an die ärztliche Grundhaltung gestellt, aus der der Arzt handeln und die das gesamte Leben des Arztes umfassen sollte. Darüber hinaus wurde der Arzt auf bestimmte Ziele, nämlich auf die Herstellung des gewünschten Zustandes – der Gesundheit – und auf das Wohl des ihm anvertrauten Patienten verpflichtet; die zulässigen Mittel dazu wurden festgelegt und eine Abgrenzung zu anderen Berufsgruppierungen mit verwandten Aufgabenbereichen und Techniken vorgenommen.10 Auf beide Kompetenzen schließlich bezieht sich das Vertrauen des Patienten.
2. Strukturanalogien zum Handeln von Managern Vergleicht man die Beschreibungen des Handelns eines Arztes und eines Managers, so überwiegen die Gemeinsamkeiten in den Grundsätzen die Unterschiede bei weitem: Ebenso wie im Management wird in der Medizin derjenige Arzt besonders wirksam sein, der sein Handeln an einem Ziel – nämlich der erfolgreichen Behandlung des Patienten ausrichtet – und der bereit ist, z.B. als Spezialist in einem bestimmten Fachgebiet, einen Beitrag zum Ganzen – nämlich dem Wohl des 9
Dieser Umstand kommt auch im Recht zur Geltung: Der Arzt schuldet nicht den Erfolg einer Behandlung, sondern ihre Durchführung nach den anerkannten Qualitätsstandards. Vgl. dazu den Beitrag von Müller, S. 75. 10 Vgl. zum historischen Überblick Bergdolt, Das Gewissen der Medizin, 2004.
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Patienten – zu leisten. Er wird sich auf Weniges und auf das Wesentliche konzentrieren, er wird seine eigenen und die Stärken des Patienten nutzen,11 seinen Beitrag zum Aufbau einer Beziehung gegenseitigen Vertrauens leisten und im Sinne positiven zukunftsgerichteten Denkens dem Patienten Zuversicht vermitteln. Auch seine Organisationseinheit wie z.B. seine Praxis oder seine Krankenhausabteilung wird er nach diesen Grundsätzen leiten. Ähnliche Gemeinsamkeiten findet man bei den Aufgaben des Arztes und des Managers: Der Arzt muss ebenso Ziele – in diesem Fall gesundheitlicher Art – definieren, die Behandlungsabläufe so organisieren, dass alle Beteiligten möglichst wirksam am Erfolg mitarbeiten können, Entscheidungen treffen (mit dem Patienten gemeinsam) und deren Umsetzung verfolgen, den Behandlungsverlauf kontrollieren und bestenfalls den Patienten als Menschen entwickeln und fördern, indem er ihn in der Verarbeitung der krankheitsbedingten Krise unterstützt und ihm Perspektiven aufzeigt, die nicht ausschließlich in Heilung bestehen müssen, sondern ihren letzten Maßstab in der bewältigenden Integration der Krise, vielleicht gar des Sterbens, in den Sinnhorizont seines Lebens finden.12 Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu wünschenswert, als Arzt ein guter Manager zu sein, da gerade dies eine erfolgreiche Behandlung des Patienten ermöglicht. Der Patient ist in diesem Zusammenhang für den Arzt nicht etwa nur „Kunde“, sondern Mithandelnder im Behandlungprozess selbst. Die Definition von Management als „the art of getting things done through people in organizations“ 13 schließt ärztliches Handeln demnach nicht aus, sondern bringt es gerade unter den heutigen Handlungsbedingungen angemessen in den Blick.14 Größere Unterschiede gibt es zweifelsohne in den Werkzeugen. Um im Rahmen einer Organisation wirksam werden zu können, ist der Arzt aufgefordert, zusätzlich zu den Fähigkeiten und Fertigkeiten der fachspezifischen Patientenbehandlung die Instrumente für das Managen dieser Organisation zu erlernen – zumindest insoweit dies erforderlich ist, um seine primären Ziele erfolgreich erreichen und gegen Bedrohungen ‚von außen’ schützen zu können. Nun kann man einwenden, dass die hier gezogene Analogie in die Irre führe, da sich die Beziehung des Arztes zu seinem Patienten gerade deswegen grundlegend von der Beziehung eines Managers zu seinem Mitarbeiter oder seinem Unternehmen unterscheide, weil es um eine Situation der Not und der Hilfsbedürftigkeit gehe. Richtig daran ist, dass die Gesundheit ein besonderes, ja fundamentales – wenn auch nicht das höchste – Gut darstellt, das uns in unserer körperlichseelischen Existenzform unmittelbar und ganz betrifft, und die gesundheitlichen Voraussetzungen in erheblichem Maße unsere Möglichkeiten beeinflussen kön11 Hier gibt es erhebliche Unterschiede in Abhängigkeit von dem sozial vorherrschenden und wissenschaftlich geprägten Gesundheits- und Krankheitsverständnis. Die Stärken des Patienten werden beispielsweise – im Unterschied zu einer pathozentrischen Sichtweise – in besonderem Maße im Ansatz der Salutogenese von Aaron Antonovsky in den Vordergrund gestellt. 12 Vgl. dazu den Beitrag von Maio, S. 33 f. 13 Z.B. Hill/Shane, Principles of Management, 2008, S. 4. 14 Vgl. zu analogen Schwierigkeiten und Herausforderungen von Management im Bereich des Public Health Hunter (Hrsg.), Managing for Health, 2007.
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nen, unsere Lebenspläne zu verfolgen. Insofern ist die gesundheitliche Betroffenheit des Patienten bis hin zu existenzieller Bedrohung ein Handlungskontext mit einer – im Vergleich etwa zur Herstellung von Kaffeemaschinen – unzweifelhaft herausragenden ethischen Relevanz. Dies aber spricht nicht etwa gegen, sondern gerade für die besondere Verantwortung des Arztes, seine fachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie eben auch seine Führungsqualitäten in den Dienst des Patienten zu stellen. Es spricht nicht dagegen, dass sich der Arzt – auch – als Manager begreift, und noch viel weniger steht eine solche Sicht für einen grundlegenden und damit abzulehnenden Wandel des Arztbildes. Vielmehr spricht es für eine dringend erforderliche Weiterentwicklung der Professionalität des Arztes, die gerade mit Blick auf den zunehmenden Druck nichtärztlichen Managements unverzichtbar erscheint.15
3. Konflikte mit nichtärztlichem Management Nichtärztliches Management, das gleichsam von außen auf das ärztliche Handeln am Patienten einwirkt, trägt – trotz im Wesentlichen gleichartiger Grundsätze und Aufgaben – ein wesentlich höheres, strukturelles Konfliktpotenzial in sich. Es kann direkt auf das ärztliche Handeln einwirken, indem es Handlungsweisen und -ziele vorschreibt oder ausschließt, und es kann das Handeln indirekt über die Gestaltung der Umstände z.B. rechtlicher, ökonomischer oder administrativer Art beeinflussen.16 Es findet auf mehreren Ebenen statt, die das Gesundheitswesen als Ganzes, bestimmte Sektoren oder auch einzelne Organisationen betreffen.17 Als besonders bedrohlich für die Integrität ärztlichen Handelns werden dabei solche Maßnahmen empfunden, die sich in ihrer Zielsetzung von den Zielen ärztlichen Handelns grundsätzlich unterscheiden,18 und die in der Folge in die Therapiefreiheit und damit Handlungshoheit des Arztes eingreifen und die Vertrauensbasis der Arzt-Patient-Beziehung untergraben oder jedenfalls zu untergraben drohen. a) Therapiefreiheit Therapiefreiheit steht dafür, dass der Arzt seine Handlungsweise – mit dem Patienten gemeinsam – auswählen sowie die Gründe dafür nach eigener Fachkompetenz und Urteilskraft für die konkrete Situation ohne äußere Einschränkungen oder 15 Vgl. Royal College of Physicians, Doctors in Society. Medical Professionalism in a Changing World, 2005. Die Arbeitsgruppe stellt die Entwicklung und Förderung von „leadership” des Arztes als ein zentrales Element seiner Professionalität heraus. In diesem Sinne für das Krankenhaus auch schon Raem/Schlieper (Hrsg.), Der Arzt als Manager, 1996, und aus professionssoziologischer Sicht Kälble, GMS Psychosoc Med, 2005, 2: Doc01. 16 Vgl. mit Blick auf die über die Gestaltung von Rahmenbedingungen hinaus gehende Durchdringung des Handlungsraumes selbst durch rechtliche Regulierung den Beitrag von Katzenmeier, S. 46. 17 Vgl. z.B. zur Steuerung im Krankenhauswesen den Beitrag von D. Prütting, S. 147. 18 Vgl. mit Blick auf den englischen National Health Service Draper, Should Managers adopt the Medical Ethic?, in: Dracopoulou (Hrsg.), Ethics and Values in Health Care Management, 1998, S. 38-55.
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Vorgaben ausbilden kann. Sie wird als zentrales Merkmal der Integrität ärztlichen Handelns angesehen und im Ulmer Papier, den auf dem 111. Deutschen Ärztetag 2008 verabschiedeten gesundheitspolitischen Leitsätzen der deutschen Ärzteschaft, folgendermaßen herausgestellt: „Dabei ist die Therapiefreiheit von grundsätzlicher, sehr hoher Bedeutung für Patienten und Ärzte. Jeder Arzt ist für seine Therapie verantwortlich. Er entscheidet gemeinsam mit dem Patienten, inwieweit er dabei die Ergebnisse evidenz-basierter Leitlinien in seine Therapie einfließen lässt. Externe Eingriffe in die Therapiefreiheit, wie etwa schematische Standardisierungen, können sich nur destruktiv auf die Vertrauensbeziehung von Patient und Arzt auswirken: Der Arzt fühlt sich seiner Freiheit beraubt, der Patient zweifelt an der Unabhängigkeit seines Arztes. Aus der Individualität jeder Erkrankungssituation und aus der Notwendigkeit einer auf jeden einzelnen Menschen ausgerichteten Form der Begegnung resultiert eben die Notwendigkeit der Freiberuflichkeit, da nur der in Fragen der Therapie freie Arzt die jeweils angemessene Therapieform wählen kann.“ 19
So sei zunächst ein kurzer Blick auf die Gründe des Arztes für sein Handeln geworfen. Nach von Wright versteht man eine Handlung überhaupt erst, wenn man sie mit Gründen in Verbindung gebracht hat.20 Der Grund für einen Arzt, ärztlich tätig zu werden, liegt zunächst in einer Handlungsaufforderung durch den Patienten, der den Arzt aufsucht, um Hilfe zu erlangen. Dieser externe Grund reicht für den Arzt jedoch nicht aus. Er muss im Rahmen einer Indikationsstellung interne Gründe für sein Handeln entwickeln. Diese Gründe bilden sich auf der Grundlage seines allgemeinen Fachwissens aus Informationen, die er vom und über den individuellen Patienten erhält, und führen zu einer Behandlungs-Empfehlung. Es geht mithin in der Indikationsstellung vor allem um eine Zuordnung und Ausgestaltung, und nicht etwa um eine schematische Anwendung. Es geht um die „Integration der jeweils besten externen Evidenz mit der individuellen klinischen Expertise (interne Evidenz) in konkreten klinischen Fällen“.21 Die Verteidigung der Therapiefreiheit des Arztes kann sich sinnvollerweise nur auf diesen Bereich der Entfaltung der individuellen Urteilskraft in der konkreten Behandlungssituation beziehen, nicht aber auf die Möglichkeit, erwiesenermaßen kaum oder gar nicht Nützliches oder Übermäßiges auf Kosten der Solidargemeinschaft anzuwenden. Der Arzt sieht sich im Vergleich zu früheren Zeiten schon durch zwei Management-unabhängige Entwicklungen in seiner alleinigen Handlungshoheit eingeschränkt: Zum einen führt er durch die Spezialisierung der Medizin die Untersuchung und Behandlung eines Patienten nur noch selten allein durch – er muss oft
19 Bundesärztekammer, Gesundheitspolitische Leitsätze der deutschen Ärzteschaft. Ulmer Papier, 2008, S. 5. 20 von Wright, Norme, Werte und Handlungen, 1994. 21 Borgetto, Ökonomisierung, Verwissenschaftlichung und Emanzipation. Die Reformen im deutschen Gesundheitswesen und das Rollengefüge von Arzt und Patient, sozialersinn 2006, S. 240.
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mit weiteren Ärzten sowie nichtärztlichem Fachpersonal zusammen arbeiten.22 Des Weiteren ist die ursprünglich paternalistische Arzt-Patient-Beziehung zwischen einem fachkundigen und fürsorgenden Arzt und einem unkritischen und vertrauenden Patienten weitgehend durch ein partnerschaftliches Verhältnis oder gar Dienstleistungsverhältnis abgelöst worden, demgemäß der Patient nach Aufklärung und Beratung sowohl mit-entscheidet als auch mit-handelt. Nichtärztliches Management greift darüber hinaus auf unterschiedlichen Ebenen z.B. durch rechtliche Vorgaben (etwa Umfang des Anspruchs auf solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung im SGB V, Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses), Festlegung von Versorgungsstrukturen,23 Einrichtung standardisierter Behandlungsformen24 und das Setzen von ökonomischen Anreizen in die ärztliche Therapiefreiheit ein.25 Ebenso wie in Bezug auf ärztliches Handeln müsste ein Qualitätsmanagement für nichtärztliches Management eingeführt werden. Dieses müsste insbesondere die Auswirkungen auf das ärztliche Handeln als Qualitätsindikatoren einführen. Dazu würde gehören, dass nichtärztliches Management den Doppelcharakter ärztlichen Handelns als Handeln und Herstellen angemessen zur Geltung bringt, ermöglicht und befördert. In diesem Aspekt liegt wohl die größte strukturelle Herausforderung nichtärztlichen Managements: Je einseitiger es auf messbare, gar quantifizierbare Ziele ausgerichtet ist und bei den Werkzeugen das Budget sowie standardisierte, Checklisten-artige Leistungsbeurteilungen verwendet, umso mehr wird die Dimension des Handelns im engeren Sinn ausgeblendet – Zweckrationalität übertrumpfte in diesem Fall die Moral. Wenngleich die Sicherung des Bestehens einer Einrichtung der Gesundheitsversorgung unzweifelhaft eine wesentliche Aufgabe nichtärztlichen Managements darstellt, können außermedizinische Ziele wie der wirtschaftliche Erfolg nur sekundär sein. „Leider tendieren diese Dinge aber immer wieder dazu, Selbstzweck zu werden und ein Eigenleben zu entwickeln. Alle unterstützenden Funktionen, die als Folgen des Hauptzwecks einer Organisation benötigt werden, haben einen inhärent imperialistischen Charakter – und daher muss man diese Dinge und die Art, wie man sie abwickelt, immer wieder im Lichte des grundsätzlichen Hauptzwecks in Frage stellen.“ 26 Gemäß dem Grundsatz guten Managements, einen Beitrag zum Ganzen zu leisten, ist jedoch die Wahrung der Handlungsfreiheit derer, deren Handeln für das Wohl von PatienDie zunehmend drängende Frage nach der Delegation – oder gar Substitution – ärztlicher Leistungen an nichtärztliches Heilpersonal stellt eine besondere ManagementAnforderung dar, die hier jedoch nicht weiter diskutiert werden kann. 23 Vor diesem Hintergrund mahnt das Ulmer Papier (Fn. 19), S. 22 als Grundlage patientenorientierten Schnittstellenmanagements in Konzepten Integrierter Versorgung eine gemeinsame Qualitätsphilosophie der Partner und ein umfassendes Qualitätsmanagement an. 24 Vgl. die Kritik im Ulmer Papier (Fn. 19), S. 18 an Disease-Management-Programmen, die den in vielen Fällen multimorbiden Patienten nicht gerecht würden, da sie auf eine einzige Erkrankung fokussiert seien. 25 Vgl. dazu den Beitrag von Hoppe, S. 3. 26 Malik (Fn. 3), S. 364. Laufs weist auf die Gefahr hin, dass „die ärztliche Internalisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots“ zu einer „schleichenden ökonomischen Infiltration des medizinischen Standards“ führe; s. den Beitrag von Laufs, S. 17. 22
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ten letztlich den Zweck der Organisation ausmacht,27 ein herausragendes Anliegen. b) Arzt-Patient-Beziehung Neben der Therapiefreiheit ist die Arzt-Patient-Beziehung dasjenige Konstitutivum ärztlichen Handelns, das durch nichtärztliches Management erheblich geprägt, ja zerstört werden kann.28 Zwei Besonderheiten zeichnen diese Beziehung aus: Zum einen ist die Beziehung asymmetrisch. Der Arzt ist der Fachkundige, der die erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Mittel hat, um dem Patienten zu helfen. Der Patient ist sowohl der Bedürftige und Leidende, der vom Arzt Hilfe erbittet, als auch der Kundige bezüglich seiner Biographie und seiner Wertvorstellungen. Er erhofft vom Arzt, dass er sowohl Experte als auch Partner ist, da die gelingende Überwindung der Krankheit im Kern beides erfordert. Die zweite Besonderheit der Beziehung besteht darin, dass der Patient als ‚Handlungsobjekt’ nicht nur Beziehungspartner und Mit-Handelnder ist, sondern dass sein Wohl zugleich das Handlungsziel darstellt – behandeln kann der Arzt nicht eine Krankheit, sondern nur einen kranken Patienten und damit die ganze Person, deren gesundheitlicher Zustand verbessert werden soll. Eine Arzt-Patient-Beziehung kann sich sehr unterschiedlich darstellen, und es sind verschiedene Modelle herausgearbeitet worden, die im gängigen Sprachgebrauch als das paternalistische, das partnerschaftliche und das Dienstleistungsoder Kunden-Verhältnis gekennzeichnet werden. Je nach soziokulturellem Hintergrund, vorliegender Krankheitssituation und Persönlichkeit des Patienten sind unterschiedliche Mischformen und Schwerpunkte der Beziehungsgestaltung vom Arzt gewünscht und angebracht.29 Es kann jedoch nicht oft genug betont werden, wie bedeutsam und unverzichtbar Empathie und Vertrauen als Grundlage einer gelingenden Arzt-Patient-Beziehung in allen diesen Modellen sind – angesichts der anthropologisch tief greifenden Betroffenheit des Patienten, angesichts der Asymmetrie der Beziehung und angesichts der schon in der Handlungsstruktur angelegten gegenseitigen Angewiesenheit. Vor diesem Hintergrund muss nichtärztliches Management die Förderung und Bewahrung gedeihlicher Bedingungen für die Arzt-Patient-Beziehung zu seinen vornehmsten – und wohl schwierigsten – Zielen zählen.30 Vieles ist hier zu bedenken, nur weniges kann an dieser Stelle genannt werden: So kann und muss dieser Aspekt bei der Auswahl, Entwicklung und Förderung der Mitarbeiter bedacht werden, z.B. mit Blick auf die EmpathieFähigkeit. Er ist bei der räumlichen Gestaltung für die medizinische Versorgung
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Zu den Besonderheiten der Hochschulmedizin mit ihren zusätzlichen Anforderungen in Forschung und Lehre vgl. den Beitrag von Klosterkötter, S. 93 ff. 28 Vgl. dazu auch den Beitrag von Bergdolt, S. 105 ff. 29 Vgl. Borgetto (Fn. 21), S. 247. 30 Eine in der Management-Literatur zuweilen anzutreffende Einordnung des Patienten in ein sich auf alle Bereiche des Gesundheitswesens (Versicherungen, Arztpraxen, Krankenhäuser etc.) beziehendes „Kundenmanagement“ weist vor diesem Hintergrund in die falsche Richtung.
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und die Unterbringung des Patienten ebenso zu berücksichtigen wie bei der Planung zeitlicher Abläufe in einer Organisation.31 Die zentrale Herausforderung stellt jedoch wohl die Bewältigung der Probleme knapper finanzieller Ressourcen dar. Sie muss mit Hilfe von Maßnahmen erfolgen, die die Vertrauensbeziehung nicht, jedenfalls möglichst wenig untergraben. So lehnt das Ulmer Papier vor diesem Hintergrund z.B. Anreizstrukturen wie Bonus-Malus-Regeln ab.32 Eine Wahrnehmung des Arztes als „Teilnehmer an einem Markt für Gesundheitsdienstleistungen“, nicht zuletzt durch eine zunehmende Werbepraxis,33 nimmt dem Patienten das Vertrauen, dass der Arzt in seinem Handeln auf sein Wohl ausgerichtet ist und lässt den Verdacht aufkommen, er achte vornehmlich auf seinen eigenen finanziellen Vorteil. Ein zunehmendes Angebot sogenannter Individueller Gesundheitsleistungen (IGeL),34 die dem Patienten vom Arzt mehr oder weniger aktiv empfohlen oder gar angepriesen werden, nähren den Verdacht, dem Arzt ginge es um sein eigenes wirtschaftliches Interesse. Schließlich trägt der gewinnbringende Einsatz ärztlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten im Bereich des sogenannten Enhancements, das auf eine Steigerung von nicht etwa krankheitsbedingt beeinträchtigten, sondern regulären körperlichen, geistigen und emotionalen Funktionen zielt,35 zu einer Verunsicherung bei, was eigentlich die Ziele der Medizin sind und wie sich ärztliche Identität definiert. Das Doppelziel eines guten und sich bestenfalls steigernden persönlichen Einkommens und einer guten medizinischen Versorgung des Patienten bleibt für den einzelnen Arzt jedoch im Grundsatz so lange bestehen, wie die Menge und Art der erbrachten Leistungen auch nur irgend einen Zusammenhang zu seinem Einkommen haben. Erschwerend wirkt hier die Verlagerung des Morbiditätsrisikos von den Krankenkassen auf die Leistungserbringer.36 Nur eine vollständige Entkopplung, z.B. durch ein leistungsunabhängiges festes Gehalt, würde den möglichen Konflikt beseitigen, dafür aber andere Schwierigkeiten mit sich bringen. Es kann also nur um ein vernünftiges Maß und klug ausgewählte Instrumente finanzieller Steuerungen durch nicht-ärztliches Management gehen – die persönliche Integrität des Arztes und sein Ethos bleiben aber letztlich entscheidend und können durch Management gefördert, nie aber hergestellt oder garantiert werden. Wie bei der Therapiefreiheit ist es auch mit Blick auf die Arzt-PatientBeziehung darüber hinaus bedeutsam, den Doppelcharakter ärztlichen Handelns als Handeln und Herstellen zu bewahren. Eine Reduktion ärztlichen Handelns auf einen Herstellungsprozess deutet unter der Hand die Beziehung zu einem reinen Dienstleistungsverhältnis um, in der die Partner beliebig austauschbar, die Leis31 Man denke beispielsweise an die Gestaltung der Krankenzimmer, der Arztzimmer und der räumlichen sowie zeitlichen Möglichkeit für vertrauliche Gespräche. 32 Ulmer Papier (Fn. 19), S. 10. 33 Vgl. den Beitrag von Laufs, S. 18. 34 Diese medizinischen Leistungen muss der Patient im Falle der Inanspruchnahme selbst bezahlen, weil sie nicht im Umfang der solidarisch finanzierten Versorgung enthalten sind. Ein Beispiel sind frühe Screening-Untersuchungen auf Fehlbildungen des Ungeborenen in der frühen Schwangerschaft. Vgl. Rabbata, DÄBl. 105 (36), C1541. 35 Vgl. den Beitrag von Quante, S. 171 ff. 36 Vgl. Borgetto (Fn. 21), 234 f.
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tung standardisierbar und das Produkt garantierbar sind.37 Für das nichtärztliche Management sind ein solches Verständnis zwar besser handhabbar und die Steuerung sowie Kontrolle leichter operationalisierbar. Rechtliche Regulierungen tragen zusätzlich dazu bei, Garantierbarkeit zu einem Prüfmaßstab für die ärztliche Entscheidung zu machen.38 Der Tragweite und den Dimensionen ärztlichen Handelns wird dies jedoch nicht gerecht. Zudem verunsichert es den Arzt in seiner Beziehung zum Patienten, auf deren prinzipielle Unsicherheit und Gebrochenheit er sich nicht mehr einlassen kann und dem Patienten damit den Weg zu einer gelingenden Bewältigung seines Krankseins zumindest teilweise versperrt.
III. Fazit Ärztliches Handeln weist in seiner Struktur erhebliche Gemeinsamkeiten mit Management-Handeln auf. Im Sinne guten Führens kann der Arzt von einer vertieften Beschäftigung mit den Grundsätzen und Aufgaben professionellen Managements profitieren – zum einen für die Führung des Patienten und seiner selbst, zum anderen für die Führung derer, mit denen er im Rahmen einer Organisation (welcher Art und auf welcher Ebene auch immer) zusammen arbeitet.39 Nicht zuletzt ist eine Stärkung und Professionalisierung ärztlichen Managements mit Blick auf die vielfältigen Herausforderungen auf den unterschiedlichen Ebenen eines Gesundheitssystems wünschenswert. Da dies jeden Arzt betrifft, erscheint eine Einführung in die wesentlichen Grundsätze, Aufgaben und Werkzeuge professionellen Managements schon im Medizin-Studium und nicht erst auf dem Weg zur Chefarzt-Position angebracht zu sein. Durch den ökonomischen und den rechtlichen Druck ist die Gefahr erheblich, dass insbesondere unter dem Einfluss nichtärztlichen Managements dem ärztlichen Handeln unzuträgliche Rahmenbedingungen geschaffen oder verfestigt werden. So können Handlungsalternativen, zwischen denen der Arzt für medizinische Maßnahmen überhaupt nur wählen kann, unangemessen eingeengt und seine im Einzelfall erforderliche Urteilskraft vereitelt werden. Es können Durchführungsbedingungen einzelner Handlungen geprägt und sogar Handlungsziele vorgegeben und der Arzt in seinen Handlungsgründen korrumpiert werden – und damit der Wesensgehalt der ärztlichen Handlung betroffen sein. Handlungsumstände können das ärztliche Handeln deformieren, dessen Ausrichtung auf das Patientenwohl unterminieren, die Orientierungskraft des ärztlichen Ethos schwächen,40 die ArztPatient-Beziehung ihrer Grundlage der Empathie und des Vertrauens berauben 37
Vgl. den Beitrag von Maio, S. 26 f. Vgl. den Beitrag von Katzenmeier, S. 52 ff. 39 „Basisfähigkeiten in Management sind für das 21. Jahrhundert das, was Lesen und Schreiben für jeden Menschen seit dem 18. Jahrhundert sind.“, Malik (Fn. 3), S. 23. Vgl. dazu das Curriculum Ärztliche Führung der Bundesärztekammer von 2007, das diese Erkenntnis – wenngleich an der ein oder anderen Stelle noch zu zurückhaltend – aufnimmt. In Deutschland scheint noch weitgehend die irrige Vorstellung vorzuherrschen, ärztliches Management beträfe nur Chefärzte und Leiter großer ambulanter Einrichtungen. 40 Vgl. den Beitrag von Katzenmeier, S. 50. 38
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und damit letztlich die ethische Grundlage des ärztlichen Selbstverständnisses zerstören. Damit derartige Fehlentwicklungen verhindert und Missstände beseitigt werden, hat nichtärztliches Management die Ziele angemessen zu wählen und die Werkzeuge klug einzusetzen. Insbesondere aber darf der Arzt sich nicht länger auf die Ausschließlichkeit seiner Aufgabe als Heiler berufen, vielmehr muss er sich im Rahmen der heute unvermeidbaren Organisationen gleichzeitig als Manager verstehen, der das Wirksamwerden der jeweils beteiligten Personen mit Blick auf das Ziel, nämlich der qualitativ guten medizinischen Versorgung des Patienten, zu seiner Verantwortung zählt. Nur der Arzt als Heiler und Manager kann die Bedrohungen der Therapiefreiheit und der Arzt-Patient-Beziehung bewältigen ohne der frucht- und verantwortungslosen Leugnung ökonomischer Zwänge zu verfallen. Nur der Arzt als Heiler und Manager kann sich der Deformierung seines Handelns zu einem reinen Herstellungsprozess verweigern und damit dem Paradigma der Zweckrationalität sein ärztliches Ethos wirkungsvoll entgegensetzen.