Talon Nummer 20 „Das Auge des Ra“ von Thomas Knip
ergab, auch wenn sie ihm seltsam vertraut erschien. Ohne Vorwarnung schoss der kleine, schlanke Körper aus dem Dickicht hervor, das ihn bis zur Hüfte verdeckt hatte, und flog auf Talon zu. An den Enden der kurzen Finger konnte er die sichelförmig gebogenen Krallen erkennen, an denen dunkles, lange getrocknetes Blut klebte. Unter der Haut der dünnen Arme, die tatsächlich an die einer jungen Frau erinnerten, war das kräftige Spiel der Muskeln deutlich zu sehen. Talon war sich unschlüssig, wie er reagieren sollte. Mit einer fließenden Bewegung tauchte er unter dem Wesen weg und rollte sich durch das spärlich wachsende Gras. „Senmu!“, rief er dem jungen Mann zu, noch während er sich nach der Raubkatze umsah, deren wütendes Fauchen ob der verpassten Beute in seinem Rücken erklang. „Wenn du kannst, tu etwas!“ Der junge Schwarze, der die letzten Augenblicke wie versteinert gewirkt hatte, stand abseits und hielt sich im Schatten eines hoch gewachsenen Baumes, der von Efeu umrankt wurde. Nur langsam erwachte er aus seiner Starre. Er sah zu, wie sich Talon und das Wesen, das seine Schwester sein mochte, beide mitten in der Bewegung drehten, um den Gegner nicht aus dem Auge zu verlieren. Die lange Klinge blitzte im fahlen Sonnenlicht, das in breiten Streifen durch die Baumkronen drang, in der Hand des Weißen bedrohlich auf. Senmu hob abwehrend beide Arme an und stellte sich vor Talon. „Nein!“, entfuhr es hilflos seinen Lippen. „Sie dürfen ihr nichts tun! Sie kann nichts dafür! Deshalb sind wir doch geflohen!“ Talon war nicht gewillt, dem jungen
„Nayla, nein!“, erscholl abermals der Ruf des jungen Schwarzen. Doch das Raubtier, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte, reagierte nur mit einem bedrohlichen Knurren. Die bernsteinfarbenen Augen leuchteten in einem Feuer, das Talon nur allzu bekannt war. In ihnen loderte die unerfüllte Gier nach Blut, die Bereitschaft zu jagen. Und zu töten. Talon schloss die Finger fester um den Griff des langen Bajonetts. Seine Muskeln spannten sich an, während er das Wesen nicht aus dem Blick ließ. Die wenigen Fetzen hellen Stoffs konnten die eindeutig weiblichen Attribute des schlanken Körpers nicht verhüllen, doch die dunkle Haut schimmerte nur an wenigen Stellen unter dem dichten Fell durch, das ihn an das eines Löwen erinnerte. Der Kopf jedoch wirkte, als habe man die Züge einer Löwin in das Gesicht gemeißelt, das offensichtlich einer jungen Frau gehören musste. Denn anders als bei einer Löwin wurde der Kopf durch eine Mähne aus langen, dunkelbraunen, fast schwarzen Haaren eingerahmt, die an manchen Stellen noch mit farbigen Stoffbändern zusammen gehalten wurden. Über die schmalen Lippen des Wesens kamen dunkle, grollende Laute. Talon zuckte zusammen. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Fast glaubte er, aus den Lauten einen Sinn heraushören zu können. Sie entstammten jedoch keiner Sprache, die von Menschen gesprochen wurde. Es war lange her, dass er sie das letzte Mal gehört hatte. Seitdem er von den Löwen ausgestoßen worden war, waren diese Laute nicht mehr Teil seines Lebens gewesen. Doch sie waren verwoben mit einer anderen Sprache, die für ihn keinen Sinn 2
wollen. Doch das Wesen schien sich vor ihm vollkommen zurückzuziehen. Seine zögernde Haltung ermutigte das Raubtier. Es preschte vor und hieb seine Klauen nach dem nackten Oberkörper, der in der feuchten Umgebung vor Schweiß glänzte. Talon schrie unterdrückt auf, als sich die Krallen in seine Haut bohrten und sich ein breiter, roter Streifen über den Brustkorb zog. Schmerzerfüllt taumelte er zurück und hatte Mühe, seinen Stand nicht zu verlieren. Die Wunde brannte, als würde ihm heißes Metall auf die Haut gegossen. Kurz sah er an sich herab und konnte dabei die Ränder der zerfetzten Haut sehen, die in einem schwach auflodernden Licht leuchteten, das jedoch rasch verlosch. Ein wütendes Knurren kam über seine Lippen. Er wusste nicht, was hier geschehen war, doch er war nicht bereit, sein Leben für ein Wesen zu riskieren, das ihn offensichtlich töten wollte. Der schlanke, weibliche Körper warf sich herum. Sein Kopf wandte sich zu dem Mann um. Fast schien es, als glitten die Züge eines triumphierenden Lächelns über die bizarr verzerrte Mimik. Sofort wollte das Wesen ein weiteres Mal nachsetzen. Doch nun war Talon auf den Angriff vorbereitet. Er tauchte unter dem nächsten Hieb weg und stieß gleichzeitig die Klinge seines Bajonetts nach oben. Ein helles Kreischen, in dem sich gleichzeitig Überraschung und Schmerz vereinten, durchschnitt die Umgebung. Talon konnte sehen, wie das Wesen mühsam auf allen Vieren landete und einen Schritt zurücktaumelte, wobei es sich die rechte Schulter hielt. Mehrere dünne rote Fäden lösten sich unter der verdeckenden Hand und flossen über das kurze Fell hinab, das die Flüssigkeit rasch in dunklen Flecken aufsog. Die Augen blitzten wuterfüllt auf. Aus dem Stand heraus preschte das Raubtier auf den Mann zu, der den Angriff kommen ließ. Erst im letzten Augenblick stieß er sich selbst ab und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den deutlich kleineren Körper. Dennoch presste ihm der
Mann zuzuhören. Er hatte von ihm erwartet, dass er seine Schwester aufhalten würde. Nicht, dass er ihm die Sicht versperrte. Seine Augen blitzten verärgert auf. Er versuchte den Schatten hinter der Silhouette des Schwarzen auszumachen, der in dem Gras kaum zu erkennen war. Senmu sah, wie der Weiße an seiner linken Seite vorbei wollte und bewegte sich deshalb in die Richtung, um ihn aufzuhalten. Er setzte noch einmal zu einer Erläuterung an, als ihn ein schwerer Hieb in den Nacken traf. Betäubt taumelte er zu Boden. Nur undeutlich konnte er sehen, wie über seinen Rücken hinweg ein schlanker Schatten nach vorne sprang. „Nayla, bitte …“, kam es nur müde über seine Lippen, während er gegen die aufstobenden Wellen einer Ohnmacht ankämpfte. Talon sah, wie der junge Mann zusammensackte und im Gras fast verschwand. Doch ihm blieb keine Zeit, sich weitere Gedanken über ihn zu machen. Einem Schemen gleich glitt das raubtierhafte Wesen durch die unauslotbare Tiefe der grünen Wand des Dschungels und jagte auf den Weißen zu. [Die Rache … mein!], löste es sich grollend aus der Kehle des Tieres. Seine rechte Pranke zuckte noch im Sprung durch die Luft. Talon wich erneut aus, ohne sein Messer einzusetzen. Er wusste jedoch, es war nur eine Frage der Zeit, bis er gezwungen war, keine Rücksicht darauf zu nehmen, ob er ein menschliches Wesen vor sich hatte oder nicht. „Nayla!“, rief er dem Wesen zu, ohne zu wissen, ob es ihn verstand. Er hob die linke Hand abwehrend und deutete damit an, nicht kämpfen zu wollen. Ein kurzer Seitenblick zeigte ihm nicht, ob Senmu, ihr Bruder, noch bei Bewusstsein war und ihm weiterhelfen konnte. Die Löwin zeigte sich von der Aktion jedoch unbeeindruckt und strich auf zwei Beinen um den hochgewachsenen Mann herum. Geifer tropfte über die dunkle Unterlippe. Talon suchte in den dunkel leuchtenden Augen des Tieres nach einer Bereitschaft, mit ihm kommunizieren zu 3
verschwammen immer wieder und tauchten dabei in ein tiefes Schwarz ab. Eine Stimme klang näher als die anderen. Sie kam von rechts und schien der Person zu gehören, deren Hand er vorhin gespürt hatte. Talon zwang sich dazu, sich zu konzentrieren und wandte den Kopf nach rechts. Er blickte in das Gesicht eines Mannes undeutbaren Alters, das ihn ausdruckslos ansah. Dieser hob nun seinerseits den Kopf und sprach mit jemand, der außerhalb von Talons Blickfeld stand. Es fiel ihm schwer, etwas von dem zu verstehen, was die beiden miteinander besprachen. Manchmal glaubte er, etwas an Kiswahili zu verstehen, dann etwas an Arabisch, doch dies alles war von einem rauen Dialekt überlagert, in dem ihm bestenfalls der eine oder andere Satzfetzen bekannt vorkam. Nach und nach klärte sich nun sein Blick. Talon wollte sich aufstützen, fiel aber sofort mit einem schmerzverzerrten Gesicht zurück. Sein Schädel fühlte sich an, als wolle er auseinander brechen. Etwas Feuchtes legte sich an seine Lippen. Es war das Mundstück eines Schlauchs aus Ziegenleder, dessen lauwarmes Wasser Talon trotz des abgestandenen Geschmacks begierig in sich aufnahm. Mehrmals konnte er den Begriff „Sekhmet“ verstehen, der von den Umstehenden mit einem von Ehrfurcht erfüllten Tonfall verwendet wurde. Er bekam mit, wie sich jemand hinter ihm auf dem Boden niederließ und seinen Kopf anhob und ihn mit den Händen stützte. Jetzt erst konnte Talon die Menschen um sich herum richtig erkennen. Und obwohl sich sein Blick inzwischen geklärt hatte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Es waren allesamt Männer mit einer Hautfarbe, die deutlich heller war als die der Menschen, die hier in den umliegenden Siedlungen lebten. Sie glich damit seiner eigenen viel eher, bronzefarben getönt unter dem kräftigen Licht der afrikanischen Sonne. Doch es war nicht die Hautfarbe, die ihn glauben ließ, noch immer in einem Traum
Aufprall die Luft aus den Lungen, und ein Schmerz durchzog seine rechte Seite. Beide Körper wirbelten durch die Luft und prallten hart auf dem lehmigen Boden auf. Talon wusste, dass ihm nur der Hauch einer Chance blieb. Seine Finger gruben sich in das Fell seiner Gegnerin und zogen sie zu sich her. Sie war jedoch schwerer zu fassen zu bekommen als er gehofft hatte. Eine Kralle zog eine heiße Spur über seine rechte Wange. Wieder konnte Talon sehen, wie die Ränder der Wunde in einem unwirklichen Feuer kurz aufloderten. Doch er setzte dem nicht nachlassenden Widerstand alles entgegen, was er an Kraft noch aufbieten konnte. Schließlich gelang es ihm, den Körper des Raubtieres unter sich zu bringen und sich selbst nach oben zu stemmen. Er konnte den Atem des Wesens fast schmecken, so eng hatte er es umschlungen. In einer fließenden Bewegung warf er seinen Oberkörper nach oben und riss den Arm mit dem Messer empor. Seine Augen zeigten keinen Moment des Zögerns, als er die Kehle des Geschöpfs fixierte. Dann jedoch explodierte die Welt um ihn herum. Von seinem Kopf aus tobten Wellen voller Schmerz durch seinen Körper. Die Geräusche und die Farben um ihn herum zerflossen zu einem einzigen unfassbaren Bild, das immer weiter in die Ferne rückte. Noch bevor sein Körper auf dem Boden aufschlug, hatte er das Bewusstsein verloren. Er sah nicht mehr, wie Senmu hinter ihm stand, einen knorrigen Ast in der Hand. Das erste, was er spürte, war eine Hand, die über seinen Oberkörper strich. Mehrere Stimmen dröhnten wie Donnergrollen in seinen Ohren. Nur unwillig merkte er, wie sich sein Bewusstsein aus der alles umschlingenden Tiefe herauswand, die ihn beschützend umgeben hatte. Übergangslos öffnete Talon die Augen und sah mehrere Schemen, die um ihn herum versammelt standen. Noch hatte er Schwierigkeiten damit, seine Umgebung deutlich zu erkennen. Die Eindrücke 4
nie viel mit ägyptischen Gottheiten beschäftigt hatte, wusste er zumindest so viel, dass Ra ein hoher Gott war, der auch mit der Sonne gleichgesetzt wurde. „Sekhmet“, bestätigte der Mann vor ihm. „Sie hat dich verschont.“ „Wer ist Sekhmet?“, hakte er nach. „Das Auge des Ra“, erhielt er zur Antwort. Unwillig schüttelte er den Kopf. So kamen sie nicht weiter. So gut er konnte, erzählte Talon, was geschehen war. Er sah in dieser unwirklichen Situation keinen Sinn darin, etwas vor Menschen zu verheimlichen, die nicht viel wirklicher erschienen als das raubtierhafte Wesen, mit dem er gekämpft hatte. Doch je mehr er erzählte, desto ungläubiger wurde der Blick des Mannes vor ihm. Immer wieder wechselte dessen Blick zwischen Talons Mund und seinen Augen, als suche er nach einer Bestätigung für das, was er gerade hörte. Als der Weiße aufhörte, nickte der Mann zögerlich und schloss für einen Moment die Augen. „Ich muss dir wohl glauben“, setzte er an. „Auch wenn es mir schwer fällt. Du wirst mitkommen“, stellte er fest, ohne auf Talons Zustimmung zu warten. „Sekhmet hat dich verschont. Und dafür wird sie einen Grund gehabt haben. Es ist nicht an uns, über dich zu entscheiden.“ So zwanglos ihr Gespräch zuvor verlaufen war – nun machte der Mann deutlich, dass Talon sein Gefangener war und er überhaupt nicht daran dachte, ihn laufen zu lassen. Nur kurz sah sich Talon um und versuchte seine Chancen abzuschätzen. Doch er sah sich von mehr als einem halben Dutzend bewaffneter Männer umgeben, die ihm trotz ihrer altertümlichen Waffen deutlich überlegen war. Er bekam mit, wie der Mann, der sich als ‚Nefer’ vorstellte, sein Bajonett mit einem verwunderten Blick bedachte, es dann aber an einen seiner Männer weiter reichte, der es bei sich verstaute. Sie nahmen ihn in seine Mitte, ohne ihn zu fesseln oder seine Bewegungsfreiheit in anderer Weise einzuschränken. Nur wenige Augenblicke, nachdem die Männer ihre
zu stecken. Die Männer trugen allesamt als einziges Kleidungsstück einen kurzen Lendenrock aus hellem Tuch, der um die Hüften geschlungen war und vorne von einem breiten Band zusammen gehalten wurde. Sie alle trugen eine metallene Haube aus kunstvoll beschlagenem Kupfer, die ihren offenbar kahl geschorenen Kopf schützte. Jeder von ihnen führte einen langen Speer bei sich, dessen Bronzeklinge die sichelartige Form eines Halbmondes hatte. Ein Schatten schob sich von der rechten Seite in Talons Blickfeld. Neben ihm ließ sich ein Mann nieder, dessen Lendentuch von einem breiten Gürtel gehalten wurde, an dem ein altertümlich scheinendes Kurzschwert hing. Brust und Schultern wurden von einem kunstvoll geflochtenen Kragen aus roten und blauen Perlen bedeckt. Seine dunklen, tief liegenden Augen bedachten Talon mit einem prüfenden Blick. Er redete langsam auf den am Boden liegenden Mann ein und machte nach mehreren Worten immer wieder eine kleine Pause. Talon war bewusst, dass der Mann sehen wollte, ob er ihn verstand, und so erklärte er ihm in einfachem Arabisch, dass er seinen Worten nicht sehr weit folgen konnte. Obwohl es für ihn klang wie ein semitischer Dialekt, war er anders als alles, was er zuvor gehört hatte. Dennoch schien sein Gegenüber diese Erklärung sogar nachvollziehen zu können. Der Mann, dessen ausgeprägtes Spiel der Muskeln sich bei jeder Bewegung seines durchtrainierten Körpers deutlich zeigte, formulierte Sätze, die Talon zumindest zum Teil zu verstehen glaubte. Je mehr sie miteinander sprachen, desto mehr schien er die Worte intuitiv erfassen zu können und ihnen mit den Sprachen, die er kannte, die richtige Bedeutung zuordnen zu können. Wieder hörte er den Begriff „Sekhmet“, begleitet von ehrerbietenden Floskeln. Dabei wies der Mann auf die Wunden an Talons Körper. Das „Auge des Ra“ habe sich auf ihn gelegt. „Das Auge des Ra?“, wiederholte Talon und wurde hellhörig. Auch wenn er sich 5
eine Stunde durch das scheinbar undurchdringliche Dickicht des Dschungels, in dem sich erst auf den zweiten Blick immer wieder kleine Wege auftaten. Mehrere Male erhaschte Talon aus dem Augenwinkel kleine Wegsteine, die fast unsichtbar in den Schatten der Bäume platziert worden waren. Er konnte nur undeutlich die Form von Hieroglyphen auf ihnen ausmachen, die nicht minder fremdartig wirkten als die Männer, die ihn flankierten. Das wabernde Licht der feuchten Luft, die noch immer zwischen den Blätterkronen festhing, legte die Umgebung in einen dämmrigen Schein, der den Ablauf der Zeit zu verlangsamen schien. Nur wenige Geräusche von Tieren klangen zu ihnen durch, und sie wirkten versteckt, zögernd, als fühlten sie sich hier nicht zu Hause. Es war nur ein leises Rascheln, das zu hören war. Dann durchbrach von einem Augenblick auf den anderen ein schlanker Schatten die unauslotbaren Grüntöne. Die Männer schrien auf und suchten nach Deckung. Doch einer von ihnen sackte bereits mit durchtrennter Kehle zu Boden, noch bevor er sich hatte bewegen können. Ein zweiter der Männer hob den linken Arm mit dem schmalen Schild aus geflochtenen Korb schützend vor sich. Talon hörte die gellenden Rufe, die um Gnade flehten. Doch der Mann machte keinen Versuch, sich mit seiner Waffe zu wehren. Genauso wie die Männer um ihn herum nicht bereit waren, ihm zur Hilfe zu eilen, sondern sich ehrfurchtsvoll zurückhielten. Talon zuckte vor, um dem Mann zu helfen. Doch die kräftige Hand Nefers packte ihn an der Schulter und hielt ihn zurück. Wütend warf Talon den Kopf herum und sah in die kompromisslosen Augen des Hauptmanns, der die Spitze seines Kurzschwerts auf seinen Gefangenen gerichtet hatte. Die Schreie des Mannes ebbten ab, und genauso schnell wie der Schatten aus dem Dschungel aufgetaucht war, verschwand er auch wieder in ihm. Talon hatte Nayla
wenigen Ausrüstungsgegenstände aufgesammelt hatten, machte sich der Trupp auf den Weg. Der Marsch verlief schweigend. Nefer ließ sich auf kein Gespräch mit Talon ein, und so hatte dieser Zeit, in Ruhe seine Gedanken zu sammeln. Einerseits hatte er in all den letzten Wochen so viel Fremdartiges erlebt, dass sich die Geschehnisse des heutigen Tages fast schon nahtlos einfügten. Wenn er an die Wächter im Tempel von Shion, dem schwarzen Löwen, zurückdachte, so waren sie genauso unwirklich wie jene Männer, die er nun begleiten musste. Doch er sah sich hier von Menschen umgeben, die offensichtlich noch an die alten ägyptischen Götter glaubten. Und mehr noch, ihre ganze Kultur auch weiterhin zu leben schienen. Dabei befanden sie sich hier Hunderte Kilometer entfernt vom südlichsten Punkt, den die Ägypter während ihrer langen Zeit erobert hatten. Weiter bis auf das Gebiet des heutigen Sudans waren sie kaum vorgestoßen. Es war müßig, sich Gedanken darüber zu machen, ob es das, was er gerade erlebte, geben durfte oder nicht. Wichtiger schien es ihm, so viel wie möglich über seine Lage in Erfahrung zu bringen. „Wohin gehen wir, Nefer?“, unterbrach er die erzwungene Stille zu seinem Bewacher. Gleichzeitig versuchte er damit, die Sprache besser verstehen zu lernen. Dieser bedachte ihn mit dem gleichen undeutbaren Blick, der allen seinen Männern zu Eigen zu sein schien und schürzte das Kinn, wie um sich vor einer Antwort zurückzuhalten. „Wir bringen dich zu Menasseb.“ Damit schien die Sache für ihn erledigt zu sein. Doch noch bevor Talon nachfragen konnte, fuhr er fort. „Er ist der höchste Priester. Es obliegt an ihm zu entscheiden, was mit dir geschehen wird. Viele unerklärliche Dinge passieren …“, schloss er seine Antwort ab und schien nicht mehr gewillt, weiter auf den Mann an seiner Seite einzugehen. Ihr Weg führte sie bereits etwas mehr als 6
dünnes Band erkennen, das ihm den Weg durch den Spalt wies. Ein kleiner Bach, dessen Ursprung sich hinter ihnen in den riesenhaften Bäumen verlor, schlängelte sich mit seinem brackigen Wasser am Rand des Fels entlang und folgte dem Weg, den nun auch die Männer nahmen. Ein kalter, leise aufheulender Wind jagte durch den schmalen Canyon hindurch. Talon konnte von den Männern um sich herum kaum mehr erkennen als ihre silhouettenhaften Gestalten, die schweigsam dem Pfad folgten, der sich in leichten Windungen durch den Fels zog. Die Schritte ihrer nackten Füße hallten dumpf auf dem feuchten, steinigen Boden wider. Das Geräusch mischte sich mit dem versteckt wirkenden Plätschern des Wassers zu einem monotonen Gleichklang, der die Männer auf ihrem Weg, der sie leicht bergab führte, begleitete. Es dauerte gut zehn Minuten, bis sich der Spalt ohne großen Übergang öffnete und den Blick auf einen Talkessel freigab, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Auf mehreren Ebenen verteilt standen flache Lehm- und Ziegelbauten, die umgeben waren von karg bewachsenen Feldern. Doch das Zentrum des Kessels wurde durch eine Gruppe hoch aufragender palastartiger Bauten eingenommen, die mit ihrem hellen Putz und der bunten Verzierung am oberen Ende der Außenmauern so wirkten wie Kulissen für einen Sandalenfilm, die eine Filmcrew hier vor langer Zeit vergessen hatte. Eine Allee aus hoch aufragenden, mit zahlreichen Reliefs aus Hieroglyphen verzierten Säulen säumte den Weg zu dem Palastkomplex, der mit blank gescheuerten Platten aus einem granitartigen Material gepflastert war. Talons Blick ging nach oben. Weit über ihm verfing sich das Tageslicht in einer undurchdringlich scheinenden Decke aus Dunst und Wolken, die das Licht in einem diffusen Schein gleichmäßig über das Tal verteilte. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wie selbstverständlich hatte er sich auch nach einer Pyramide umgesehen, oder
deutlich erkennen können, denn ihre fast schwarzen Haare umloderten ihren löwenhaften Kopf wie ein düsteres Feuer. Nach mehreren Minuten erst entspannte sich Nefers Haltung, und er löste seinen Griff um Talons Schulter. Dieser bedachte den Mann nur mit einem glühenden Blick und konnte sich nur schwer zurückhalten. Er sah, wie die Männer ihre beiden getöteten Kameraden untersuchten und nun ihrer Trauer freien Lauf ließen. „Du verstehst es nicht, nicht wahr?“, ging Nefer auf Talons offensichtliche Wut ein. „Sekhmet hat ihren Durst nach Blut gestillt. Dazu hat Ra sie erschaffen. Um die Menschen zu strafen. Wer sind wir, dass wir sie aufhalten?“ „Und das heißt, du lässt zu, dass zwei deiner Männer getötet werden?“, presste Talon nur schwer zwischen seinen Lippen hervor. „Ja“, kam die einsilbige Antwort. „Wenn es ihr Wille ist, wird keiner von uns Dar Amun erreichen“, schickte er noch nach. Trotz seiner Beherrschtheit war sein Blick dabei fest auf den Boden gerichtet. Talon hielt sich nur mühsam unter Kontrolle. Es schien, als sei er hier auf eine fanatische Sekte gestoßen, die einem uralten Ritus folgte und dabei bedenkenlos bereit war, den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen. Nach einer knappen Stunde gelangte die Gruppe ohne weitere Zwischenfälle an eine schroffe Felswand, die sich monolithisch aus der Erde schob, ohne dass sich ein sanfter Übergang zum Boden gebildet hätte. An den tiefer liegenden Überhängen hatten sich kleine Pflanzen und Schlinggewächse angesiedelt. Mit ihren dunklen Schattierungen hoben sie sich deutlich vom lichten Moosbewuchs ab, der den feuchten Stein bedeckte. Die Männer folgten der schmalen Schneise, die sich zwischen Fels und Dschungel auftat, und erreichten bald darauf einen kaum zu erkennenden Spalt in der Wand, der kaum breiter war als zwei Meter. Weit über sich konnte Talon den hellen Schein des Tageslichts wie ein 7
mussten. Dennoch blieb ihm der interessierte und nachdenkliche Blick des Hageren nicht verborgen, mit dem er ihn mehrmals bedachte. Schließlich nickte dieser und verschwand im Inneren des Gebäudes. Ohne eine weitere Regung blieb Nefer am oberen Treppenende stehen und verharrte. Es dauerte einige Minuten, bis der hagere Mann wieder im offenen Türrahmen erschien. Bereits durch die Gesten war Talon klar geworden, dass er nach oben kommen sollte. Doch erst, als ihm Nefer mit einer ruckartigen Bewegung der Hand einen Hinweis gab, löste er sich aus seiner Gruppe, immer taxiert von den lebendigen, fast schwarzen Augen des hageren Mannes. Er reichte Talon kaum weiter als bis zur Brust. Um seinen Kopf trug er einen dünnen Reif aus Gold, der an der Stirnseite mit einer Sonnenscheibe und einer gewundenen Schlange verziert war. Ein leichtes Lächeln schien seine Lippen fortdauernd zu umspielen. „Komm mit“, wies er Talon an und machte gleichzeitig eine dementsprechende Handbewegung. Kurz nur sah sich der hochgewachsene Mann nach Nefer um, der sich umdrehte und kommentarlos zu seinen Männern ging. Doch direkt als Talon den nachtdunklen Raum betrat, dessen hohe Decke sich im Dämmerlicht der zahlreichen brennenden Ölbecken verlor, wurde er von zwei Wachen flankiert, die durch einen Brustpanzer aus polierten Metallplättchen geschützt waren und in ihrer Hand ein Schwert mit einer kurzen aber schweren Klinge trugen. Ohne ein Wort mit ihm zu wechseln, durchschritt der hagere Mann die säulenbewehrte Halle, deren Luft von Weihrauchdämpfen erfüllt war, denen außerdem ein süßlicher Beigeschmack anhing. Talon merkte, wie ihm schwindlig wurde. Fast glaubte er, im Hintergrund engelsgleich die Stimmen junger Frauen singen zu hören, doch er konnte nicht sagen, ob das nicht bereits auf einen beginnenden Rausch zurückzuführen war. Durch mehrere schmale Gänge wurde er
zumindest einer überlebensgroßen Statue. Doch bei aller stillen Getragenheit wirkte der Gebäudekomplex eher schlicht und einfach. Nur wenige Menschen begegneten ihnen. Selbst am Eingang des Tals hatte Talon auf den vereinzelten Feldern kaum jemand arbeiten gesehen. Alles wirkte, als hätten hier früher weitaus mehr Menschen gelebt. Doch keines der Häuser machte einen zerfallenen oder heruntergekommenen Eindruck. Die Menschen betrachteten Talon mit nicht minder großem Erstaunen wie er sie selbst. Manche von ihnen hatte eine leicht dunklere Haut als seine Wächter, dennoch hatten auch hier die meisten eine helle, kaum getönte Hautfarbe. Ihre Kleidung wirkte ebenso wie die der bewaffneten Männer wie aus einer vergangenen Zeit. Selbst in den entlegensten Dörfern Afrikas, die Talon gesehen hatte, hatten sich zumindest Anzeichen der modernen Welt finden lassen. Doch hier wies nichts darauf hin, dass sich die Zeit fortbewegt hätte. Sie wurden auf ihrem Weg zu einem der zentral liegenden Gebäude von niemandem behelligt. Eine breite Treppe aus flach verlaufenden Stufen führte langsam nach oben. In regelmäßigen Abständen standen links und rechts auf Podesten breite Ölbecken, deren schwere Kupferwände vom Ruß längst geschwärzt waren. Noch bevor sie das obere Ende der Treppe erreicht hatten, erschien im Schatten der dunklen Türöffnung ein hagerer Mann mittleren Alters, der über seinen Rock einen Überwurf aus gelbem Stoff trug. In der rechten Hand hielt er einen bodenlangen Stab, der am oberen Ende leicht geschwungen war. Demonstrativ streckte er ihn von sich und winkte Nefer herbei, der sich bereits auf der Treppe leicht vor ihm verbeugte. Als der kräftig gebaute Mann dem hageren gegenüber stand, kreuzte er die Hände vor der Brust und verbeugte sich tief. Danach führten die Männer ein Gespräch, von dem Talon nichts verstehen konnte, da seine Gruppe mehrere Meter unterhalb des oberen Absatzes warten 8
Zufall nur ist unsere Expedition damals auf diese heilige Stelle gestoßen. Als die Legenden längst berichteten, Ra habe Sekhmet gezähmt und sie zu Hathor gemacht, stießen wir auf die Wahrheit.“ Er bedachte Talon mit einem Blick, dessen Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit ihn einen Augenblick lang erschreckten. „Sekhmet ist die Fleisch gewordene Rache von Ra, ausgeschickt, um die Menschen für ihre Frevel zu bestrafen! Sie ist der Tod. Sie ist das Auge des Ra, seine eigene Tochter. Und wir“, er stockte und senkte den Kopf, „wir haben die einzige Möglichkeit zu überleben darin gesehen, Sekhmet im Körper einer Frau wieder auferstehen zu lassen. Im schwachen Körper einer Frau, der sich irgendwann durch den Hass, der in ihm selbst innewohnt, selbst zerfleischt.“ Tiefe Schatten hatten sich in den wenigen Augenblicken unter die Augen des Mannes eingegraben, der Talon mit düsterem Blick ansah. „Um sie dann in den Körper der nächsten Auserwählten zu übertragen. Die sich selbst vernichtet und die Menschen damit verschont.“ „Doch dieses Mal ist es anders“, stellte Talon trocken fest, der nicht wusste, wie er mit dem Gehörten umgehen sollte. „Ja“, bestätigte der Mann und zog den blassblauen Überwurf um seinen Körper enger zusammen. „Dieses Mal richtet sich die Rache der Auserwählten nicht gegen sich selbst. Sondern gegen die Menschen. Sekhmet ist zurückgekehrt, um ihre Bestimmung zu erfüllen!“
in einen karg eingerichteten Raum geführt, der im Vergleich zur Halle äußerst klein wirkte. Über einen Tisch aus dunklem Ebenholz gebeugt betrachtete sich ein Mann im Licht einer kleinen Ölpfanne ein pergamentartiges Schriftstück, auf das er an den Rand etwas mit einer Rohrfeder notierte. Als er die Ankömmlinge bemerkte, hielt er in seiner Arbeit inne und wies durch mehrere Handbewegungen die Wachen an, vor dem Raum zu warten sowie den hageren Mann an, sich im Hintergrund zu halten. Er kam um den Tisch herum und lehnte sich gegen dessen Kante. „Ich bin Menasseb. Du bist also der Mann, den Sekhmet verschont hat“, stellte er übergangslos fest. Er betrachtete sich Talons langsam verheilende Wunden und nickte kurz. Talon spielte kurz mit dem Gedanken, diesen Menschen zu erklären, dass ihn dieses Wesen, Nayla oder Sekhmet, nicht ‚verschont’ hatte, sondern sie es offensichtlich nur ihrem Bruder, wenn er das denn war, zu verdanken hatte, dass sie jetzt nicht tot war. Doch er ließ den Gedanken fallen. Er war nicht interessiert daran, sich mit den religiösen Fanatismus dieser Leute auseinander zu setzen. Sie mochten glauben, was sie wollten. „Wir können deine Hilfe gebrauchen, so schwer es mir fällt, dies zuzugeben“, stellte der massig gebaute Mann weiterhin fest. „Du musst wissen, wir sind die Hüter Sekhmets. Und das seit nun bald hundertundzwanzig Generationen. Durch
Fortsetzung folgt in Talon Nummer 21 „Die Auserwählte“
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