DIE UNTERHALTUNGSINDUSTRIE GEHT AUFS GANZE Damit ihre Angehörigen eine hohe Versicherungsprämie kassieren können, lasse...
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DIE UNTERHALTUNGSINDUSTRIE GEHT AUFS GANZE Damit ihre Angehörigen eine hohe Versicherungsprämie kassieren können, lassen sich Menschen mit tödlichen Krankheiten vor laufender Kamera spektakulär umbringen. Der Star dieser perversen TV-Shows ist Calloway, ein Fernseh-Killer, dem man jegliche Skrupel mit elektronischen Implantaten ausgebrannt hat. Doch als sich das Militär für ihn interessiert, merkt Calloway, an was für einem üblen Spiel er da teilnimmt …
»Wer William Gibson mag, wird auch dieses Buch mögen – vielleicht sogar noch mehr.« Editor's Quaterly
PAUL COLLINS
CYBERSKIN Roman
Aus dem australischen Englisch von MIKE NORIS Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6360
Titel des englischen Originalausgabe CYBERSKIN Deutsche Übersetzung von Mike Noris Das Umschlagbild ist von p.n.m. doMANSKI (GRUPPE d4)
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 2000 by Paul Collins Erstausgabe 2000 Hybrid Publishers, Melbourne Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Thomas Schlück, Literarische Agentur, Garbsen (# 50318) Copyright © 2000 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München http://www.heyne.de Deutsche Erstausgabe 1/2001 Printed in Germany 11/2000 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-17112-8
DANKSAGUNG
Ich stehe in der Schuld meiner vielen Mitarbeiter, ohne deren Hilfe dieses Buch nie geschrieben worden wäre: Sean McMullen, Gabrielle Epstein, cat/dev/null, Damien Jones, Trevor Donohue, Avatar Polymorph, Stephen Stanley, Mim, Dr. John Mondesire, Dr. Elizabeth Reed, Virginia Kelly-Berman, Randal Flynn, Rebecca Hill, Russell Blackford und Michele Goodman.
ERSTER AKT
Der flüchtige Star
BLENDE AUF: BEGINN VORSPANN 1. INNEN. ÄSTHETISCH STERILER RAUM, HELLE BELEUCHTUNG, KEINE FENSTER Johnny Debro unterschreibt und verkauft sein Leben. Der Angestellte schaut von seinem Visuellen Ausgabe-Gerät auf. Er wirkt müde, ein wenig bekümmert, als könnte er nicht glauben, wie dämlich sich der andere anstellt. »Sie können die Hand jetzt wegnehmen. Sie sind registriert.« Debro dreht seine Hand um und starrt morbide auf die Handfläche. Die Hauptsumme seines Daseins steht da geschrieben. Er hat seine Persönlichkeit in dem Sekundenbruchteil heruntergeladen, den der RECO-Scanner brauchte, um sein Muster zu erkennen. Johnny Debro ist ein Nebenprodukt einer neuen Wegwerfgesellschaft in einer immer allmächtiger regierten Welt. Seine Freunde wissen nicht, dass er hier ist. Wer wirklich ein
Todeskandidat ist, verkauft sich ohne Brimborium. Es ist wie beim Selbstmord: Wozu allen erzählen, dass man vorhat, Schluss zu machen? Weil man in Wahrheit Aufmerksamkeit sucht und nicht wirklich sterben will. Johnny Debro will nicht sterben, aber sein Leben gegen zwei andere zu tauschen, scheint keine gar so schlechte Sache zu sein. Die Liebe seines Lebens, Sheila Harris, wird ihrer beider Kind verlieren, wenn Johnny ihre Behandlung nicht bezahlen kann. Die praktischen Ärzte sagen, sie habe nur noch ein paar Wochen zu leben. Tut ihnen Leid, aber es gibt Tausende in Sheilas Zustand. Ein Talentsucher von Rhinestone Pictures * war an ihn mit einem Filmangebot herangetreten. Johnny weiß alles über Splatterfilme – Splatties –, Filme mit realistischem Blutvergießen, mit legalem gewaltsamem Tod mit Genehmigung der Regierung. Für einen einmaligen Auftritt bekommt man eine einmalige Bezahlung: »eine Lebensversicherungs-Police«, wie die Talentsucher von Rhinestone den ins Auge gefassten Todeskandidaten sagen. Schließlich muss man sowieso bald sterben, warum nicht seinen Nächsten ein bisschen Sicherheit hinterlassen? Verdammt, sogar, wenn man nicht bald sterben muss, warum egoistisch sein? Dann doch lieber einmal in seinem verpfuschten Leben etwas Altruistisches tun und es den Menschen, die man liebt, etwas leichter machen. Außerdem, beschwichtigen sie einen, hat jeder eine Chance gegen den großen Star. Man ist ja nicht ganz wehrlos. Und nicht alle werden in den Splatties erledigt. Ja doch, Calloway ist geradezu berüchtigt dafür, dass er auf Schritt und Tritt Todes*
Rhinestone: Rinnstein. Hier und weiterhin Anmerkungen des Übersetzers.
kandidaten – Toddies – am Leben lässt. Kotzt die Manager von Rhinestone unheimlich an! »Der nächste!« Johnny fährt hoch. Er schaut von der mattschwarzen beschichteten Tischplatte auf. Der Angestellte mustert ihn finster und entrüstet. »Alles in Ordnung, Kumpel? Also los, Abgang!« Johnny steht unsicher auf. Er denkt an Sheila, wie sie in ihrem Loch auf einer Trage liegt. Er hat sich für den nächsten Film verpflichtet – was die meisten Todeskandidaten vermeiden. Sie möchten gern so lange wie möglich leben, ehe sie ausgelöscht werden. Doch Johnny weiß, dass Sheila versuchen wird, ihn aufzuhalten. Diesmal wird er sie nicht im Stich lassen. Durch die Sicherheitskontrolle wird er in einen Wartebereich geführt. Er denkt an seine große Großmutter. Elizabeth ist unvorstellbar wohlhabend. Doch Johnnys Stolz hat es ihm nicht erlaubt, um Hilfe zu bitten. Geld bringt nicht nur angenehmes, sondern auch langes Leben. Que sera sera.
ÜBERBLENDEN ZU: 2. INNEN. WOHNUNG (ZIMMER 210), NACHT Das Zimmer ist auf Automatik eingestellt. Die Fenster, mit Chamäleon-Phosphor imprägniertes Fusionsglas, werden dunkler, die Temperatur räkelt sich bei gemütlichen 21 Grad, Fuzzy-Logic-Schaltungen dämpfen das Licht automatisch gerade so ein bisschen. Das Zimmer kennt seinen Bewohner bis
zum letzten Molekül. So hat man das hier. Calloway legt sich in das Schaumpolster zurück. Er lässt die Spiegelblenden seines Gesichtsschildes herunterfahren, und die LED-Frequenzen treiben seine Hirnwellen in den Beta-Modus hoch. Ausgewählte Passagen aus den Weltnachrichten des Tages werden automatisch aktiviert. Das Klangpaket ist ein leises Gemurmel modulierter Chiptöne, wodurch die wechselnden Akzente der Sprecher wirksam unterdrückt werden. Manche, sagen wir der Akzent der Amerikaner aus dem tiefen Süden, können verdammt lästig sein. Nicht, dass es Calloway viel ausmachen würde, aber schließlich hat man im Leben so schon genug kratzige Stellen, warum also nicht ein paar davon glätten? Giselle Brash, die Nachrichtensprecherin für CNA Internet, leuchtet in seiner Brille auf. Die Eurasierin lächelt mit stereotyper Aufrichtigkeit. Es ist ein Lächeln mit allen Zähnen, das es fertig bringt, in der unteren Hälfte ein halbes Lächeln 'rüber zu bringen, das im Widerstreit mit seinem nördlichen Vetter zu liegen scheint. »Tausende von Todesopfern werden nach dem Erdbeben befürchtet, das heute Osttaiwan erschüttert hat. Mit Stärke 8 auf der Richterskala warf das Beben Gebäude wie Streichholzschachteln um, wie ein Augenzeuge berichtet. Die Wissenschaftler kennen seit langem die verheerenden Folgen, die das Abschmelzen der antarktischen Eiskappe auf den Planeten haben muss. Die Gefahr einer globalen Erwärmung ist nie so offensichtlich wie heute gewesen, da Tausende aus ihren Häusern flohen, als Gezeitenwellen die Insel Nowaja Semlja vor der Küste der ehemaligen UdSSR überfluteten.
Dämme, manche bis zu vierzig Meter hoch, werden voraussichtlich das Meer nicht zurückhalten können, das diese Woche schon die letzten der Queen-Elizabeth-Inseln verschlungen hat.« Liveaufnahmen zeigen verstärkte Stahlbarrikaden, gegen die brodelnde Wellen mit solcher Wucht anbranden, dass ihre Kämme hoch und über die Dämme geschleudert werden. Es sind starke Aufnahmen, aber nicht das, was unser Held jetzt braucht. Der Kanalwähler schaltet sich ein. Mike Davies, Reporter für HUN TV, füllt Calloways Bildschirm aus. »Bürgerbewegungen haben heute die jüngste der Gesetzreformen von Premierminister John Clark kritisiert. Gebäude der städtischen Wohnungkommission, die früher als Unterkünfte für Personen am Rande des Existenzminimums dienten, sind im Laufe des letzten Jahrzehnt immer weiter abgerissen und in die äußeren Vorstädte verlagert worden, was zu zunehmenden Rassenkonflikten und Feudalkriegen in ländlichen Gegenden Australiens geführt hat. Die Exmittierung von ehemaligen Bewohnern der inneren Vorstädte, die den neuen finanziellen Anforderungen nicht mehr genügen konnten, ist von der Opposition als ›drakonisch und ein Armutszeugnis für die Gesellschaft, das dem Kriegsrecht gleichkommt‹ bezeichnet worden.« Die Gewalt, die in Calloways Visor abläuft, ist nichts Neues. Bereitschaftspolizisten – wahrscheinlich die Elite-Todesschwadron – mit schwarzen polarisierten Gesichtsmasken und Straßenkampfausrüstung zerren Hausbesetzer heraus und werfen sie in gepanzerte Wagen. Wer sich widersetzt, wird hart behan-
delt. Paktruns sind elektronische Schlagstöcke mit einem ringförmigen Achtzigtausend-Volt-Bereich. Schwachstrom, aber Hochspannung. Die Ladung wird in einem Kondensator gespeichert, sodass der Schlag stark ist, aber sehr kurz. Pech, wenn man einen Herzschrittmacher hat. Es sind größtenteils Einwanderer und Dissidenten in für die Stadtschaft typischer Tarnung, die Gesichter zu wettergegerbt und faltig, als dass es einen kümmerte, die wie Schafe weggetrieben werden. Es ist ein weltweites Dilemma – zu viel Vieh zu füttern und nicht genug Gras. Überleben des Tüchtigsten im Stil des 21. Jahrhunderts. »Weiter mit Weltnachrichten«, fährt Davies fort. Anders als manche seiner Kollegen kann er einigermaßen gekonnt ein betrübtes Gesicht ziehen. »Die zehntausend Hektar große britische Insel Montserrat ist heute evakuiert worden, als der neunhundertfünfzehn Meter hohe Vulkan der Insel ausbrach und die karibische Insel vollständig mit Lava bedeckt hat. Es wird befürchtet, dass die Hälfte der zwanzigtausendköpfigen Bevölkerung ums Leben gekommen ist, als der Vulkan in den frühen Morgenstunden Asche und Lava ausspie.« Danka Bravic vom Kabelsender TVZ fällt ein. Ihr slawisches Gesicht lässt wenig Gefühle erkennen, während sie die Tagesnachrichten hersagt. Der Zeitschrift Wired & Serious zufolge ist sie das erste Modell der T-Klasse von TechTron, einer Bioelektronik-Gesellschaft aus der Gegend von Michigan. »Überschwemmungen«, sagt sie. »Bangladesh und der KazirangaNationalpark im benachbarten Indien haben das schwerste Monsun-Hochwasser in der Geschichte beider Länder erlebt. Zigtausende Flüchtlinge haben in den Karbi-Anglong-Bergen
Zuflucht vor der monatelangen Überschwemmung gesucht. Auch Nord- und Zentraljapan hat unter den, wie Wissenschaftler es nannten, ›schlimmsten Regengüssen seit der Sintflut‹ gelitten. Die Präfekturen Nigata, Nagano und Toyama sind völlig unter Erdrutschen verschwunden. Man rechnet nur mit zehntausend Überlebenden. Der Futurologe Marc Willis wurde heute mit dem Ausspruch zitiert: ›Die apokalyptische Zukunft ist hier und heute.‹« Der Bildschirm nimmt das schwindende Interesse seines Trägers wahr und schaltet sich ab. Rhythmische Stroboskopblitze im Einklang mit Calloways Herzschlag geleiten ihn in einen angenehm erzeugten Schlaf im Deltamodus. Die Todeszuckungen eines gebrechlichen Planeten sind für einen aufgeklärten Bürger nichts Neues. Das Licht erlischt allmählich, und die Einheit schläft.
BLENDE AUS BLENDE AUF: 3. AUSSEN. WINDIGES GELÄNDE. CALLOWAYS BLICKWINKEL. TAG Der Wind heult widerwärtig mit fast zwanzig Kilometern pro Stunde über das Gelände. Er zerrt an Calloways Kleidung und wirbelt Staubwolken hoch über den abgegrenzten Aufnahmebereich. Die Sonne sticht glühend rot durch den krebsgiftigen Nebel; Filter werden diesen Anachronismus korrigieren. Man braucht nur einen bestimmten Tag in jedem beliebigen Monat oder Jahr
zu nennen, und die Techniker von Rhinestone reproduzieren ihn auf dem Zelluloid. Es ist, wie man bei Rhinestone Pictures sagt, ›eine sichere Sache‹. Calloway trägt einen beigen Trenchcoat Marke House of Spencer über einem zweireihigen Nadelstreifenanzug, weißes Hemd und rot-weiße Krawatte. Die Aufschläge seiner Hose mit messerscharfem Bruch fallen über Schnürschuhe. Er schlägt den Mantelkragen hoch, während er auf die Kreuzung zugeht. »'tschuldigung«, sagt ein alter Mann. »Gehn Sie über die Straße?« Das Pfeifen des Windes lässt die Stimmlage des Mannes dumpf erscheinen, aber Calloway kennt seinen Text auswendig. Er hakt den Mann unter, und die beiden überschreiten die Bordkante. Müll aus einem längst vergangenen Zeitalter fließt im Rinnstein vorbei: buntes Bonbonpapier, Limonadenflaschen und Pappschachteln. Ein Stück stromauf pumpt ein müder Mann Liter um Liter Wasser aus einem Spender und wirft ab und zu Müll in die Strömung. Es hat keinen Sinn, sich allzu sehr um Echtheit zu bemühen. Jeder weiß, dass sich Müll im Rinnstein anzusammeln pflegt und dass es in ferner Vergangenheit nicht anders war. Der alte Mann bietet ihm aus einem Knäuel Zeitungspapier ein Stück Pommes frites an. Die Kartoffel war tiefgefroren und schmeckt scheußlich, aber Calloway isst sie trotzdem. Auf die sensorische Spur wird später der Geruch von Pommes frites mit reichlich Essig aufgespielt. Natürlich werden noch andere Gerüche beigemengt: negative Ionen, um den Regen wiederzugeben, der Gestank von der Kleidung des alten Mannes, der an alten Schweiß erinnert, kräftiges Kohlenmonoxid von Aus-
puffgasen, vielleicht sogar Calloways Kölnischwasser. DesignerParfümerien kostet es ein kleines Vermögen, mit Calloways Eau de Toilette in Verbindung gebracht zu werden. Lebensmittelgerüche sind beim Filmpublikum auch sehr beliebt – sie erhöhen die Umsätze von Kinobars um mindestens 25 Prozent. »Ich bin achtzig«, stellt der Mann fest. Wenn keine übernatürliche Macht eingreift, hat er noch Sekunden zu leben, und er rechnet nicht mit Mitgefühl. Es war nicht viel mehr als eine Zugabe, dass man ihn noch einen Monat auf den Tod warten ließ. Seine Augen sind tief eingesunken, umrahmt von der Blässe der Todeserwartung. Wie seine Rolle es erfordert, hat er sich seit Tagen nicht rasiert, seine Bartstoppeln heben sich kräftig weiß vom aschgrauen Gesicht ab. Calloway lockert den Griff, mit dem er den alten Mann hält. Schon jetzt kann er die alten Automobile aufheulen hören, während die Statisten aufs Gaspedal treten und Gummi verbrennt. Calloway empfindet einen Anflug von Mitleid mit dem alten Kerl, beschwichtigt sich aber mit dem Wissen, dass er für seine Person nicht in einem Körper aus verkalkten Knochen und erschlafften Muskeln würde leben wollen. »Seh nicht besonders gut.« Die Worte leicht wie Spinnfäden. »Kann die verdammten Autos nicht sehen.« Er krächzt, zieht ein Taschentuch hervor und hustet hinein. Er wischt sich mit dem blutverschmierten Tuch übers Gesicht und knüllt es zusammen. Er behält es in der Hand. Keine Zeit, die Tasche zu suchen. Calloway spricht seinen Text. »Keine Sorge, wenn man gut
sieht, ist man auch nicht allzu sicher.« Calloway und der Achtzigjährige überqueren die mittlere Spur, als die beiden museumsreifen Fords um die Ecke biegen und beschleunigen. Sie sind nach dem Vorbild jener Wagen gebaut, die in dem als die Wilden Zwanziger bekannten Zeitalter hergestellt wurden, werden aber von Fusionsreaktoren angetrieben: Mordmaschinen, die wahnsinnig aufheulend nebeneinander her rasen, dass die Räder vom verbrannten Gummi rauchen. Nachdem sie die Geschwindigkeiten angeglichen haben, verteilen sie sich über die Breite der Straße, zwei altertümliche blutrünstige Behemots. Statisten stieben auseinander, als Maschinengewehrfeuer auf dem Bürgersteig einschlägt. Für den alten Mann ist die Zeit gekommen. In scheinbarer Panik reißt er sich von Calloway los. Blindlings stolpert er drein, anscheinend betäubt vom Krach, gelähmt von der Geschwindigkeit der heranrasenden Automobile. Der linke Kotflügel eines der Wagen trifft den alten Fußgänger mit entsetzlicher Wucht. Er schleudert ihn in die Luft, Fleisch und Knochen zu einem blutigen Brei zermalmt. Der Körper überschlägt sich und prallt gegen die Windschutzscheibe. Seine falschen Zähne springen ihm aus dem Mund, als sein Kopf zwischen Bruchstücken von der berstenden Scheibe zerplatzt. Calloway flucht und reißt instinktiv die Arme hoch, als Glassplitter die Luft zerschneiden. Der Körper des anderen hängt gefangen in der geborstenen Scheibe, seine Beine schwingen hin und her und prallen vom Kopfsteinpflaster ab, während das
Fahrzeug wie verrückt Schlangenlinien fährt. Zwischen den beiden Wagen gefangen, geht Calloway abwehrend in die Hocke und schlägt auf dem Pflaster auf, als der Insasse des ersten Wagens ein Magazin Stahlmantelgeschosse durchs Rückfenster seines Rivalen feuert. Calloway springt vor, rollt ab, um die Wucht des Aufpralls auf der unebenen Straße zu mildern. Um sich in Sicherheit zu bringen, rennt er auf die neu erbaute Bankfassade zu. Die beiden Wagen rasen kreischend davon, aus dem vorderen, dessen obszöne Fracht über der Motorhaube hängt, quillt Rauch. Den Höhepunkt bildet eine Explosion, die die Luft erschüttert. »Schnitt!« schreit Toby. Die Stimme des Regisseurs klingt euphorisch. Er sieht aus wie ein verzweifelter Versicherungsvertreter oder ein Gebrauchtwagenhändler: Übergewicht, rot geädertes Gesicht, starker Raucher. Durchaus umgänglich, aber offensichtlich voller Dreck. Die Filmindustrie ist genau das, was er braucht. Leroy Reichman, der Geldgeber dieses Splatterfilms, lehnt sich in seinem Leinwandstuhl zurück. Der Vizepräsident ist Mr. Geldsack in Person. Sein Selbstbewusstsein ist unübertroffen, mit seiner Moral ist es nicht weit her. Der perfekte Multimillionär. Seinen Weg an die Spitze hat er über die Köpfe geringerer Sterblicher gemacht; die Sorte, wo es allen anderen dreckig gehen muss, wenn sie mal einen schlechten Tag haben. Aber jetzt gluckst er schadenfroh. »Hast du den alten Knacker fliegen sehen?!« Haste den alln Knacker flie'n sehn?! »Hast du das gesehen?!« Haste das gesehn?! Er ist außer sich vor Freude. Toby erlaubt sich ein Grinsen. Er ist Zeit seines Lebens Re-
gisseur gewesen und weiß, wie man die wichtigsten Geldgeber bei Laune hält. Man stimmt einfach zu, egal, was sie sagen. Calloway wischt den Staub von seiner Kleidung und läuft zu seiner Garderobe. Die Überreste des alten Mannes werden gerade von zwei Handlangern aus dem ausgebrannten Wagen gepolkt. »Verrückter alter Hund«, jubelt Leroy. »Das stand nicht im Drehbuch.« Das stannich im Drehbuch. »Der reinste Flickenteppich vom Kahlkopf bis zum Arsch, und dann ab mit Karacho!« Toby streckt die Arme aus, um die ganze Welt zu umfassen. »Ja, Glück gehabt. Wir machen 'ne Überblendung, lassen das Bild stehen, wenn seine Zähne 'rausfliegen, wiederholen, wie sein Kopf auf die Windschutzscheibe prallt, und bringen in Zeitlupe, wie sein Körper in die Karosse kracht.« Er zieht ausgiebig an seiner dicken Zigarre. »Du hast weiß Gott was für dein Geld gekriegt.« »Ja«, stimmt Leroy zu, außerstande, seine Begeisterung zu bezähmen. »Die zehn Riesen war das wirklich wert.« Die zehn Riesn waswirlich wert. »Wie der alte Spinner den Abgang gemacht hat, würde ich seiner Familie die Summe verdoppeln.« Tobys Lächeln verfliegt. Sein Kopf ist eine Rechenmaschine. Doch alsbald gewinnt er wieder Farbe. Leroy hat nur Spaß gemacht. Er bildet sich gern ein, dass er diesen Todeskandidaten einen Gefallen tut, nicht wahr, wenn er doch an ihre Verwandten zahlt, als ob er ein gütiger Gott oder sowas wäre. Calloway schüttelt den Kopf. Er weiß, dass die Verwandten des alten Burschen Glück haben, wenn sie die Hälfte der Summe zu Gesicht kriegen.
»He, Calloway«, brüllt Leroy. »Was hältst du von dem alten Scheißer?« Was hälstu vonnem altn Scheißer? Er wuchtet sich von dem Stuhl hoch und holt eine Zigarre aus der Verpackung. Calloway bleibt stehen und dreht sich um. Hundertdreißig Kilo mit Bio-Engineering getrimmtes Fleisch, bereit, loszugehen. Für ihn ist Leroy ein aufgeblasenes Nichts, ein Klumpen Schweineschmalz, den blutige Morde anmachen – je spektakulärer, umso besser. Calloway unterdrückt mit einem Achselzucken seine Verachtung. Der Mann ist es nicht wert. Es gehört zu seinem Image, unnahbar zu bleiben; er kann sich eigene Gedanken leisten – als Kassenschlager ist ihm eine Beteiligung an den Gesamteinnahmen garantiert. Er weiß, dass er mit seiner Überlebensversicherung relativ sicher ist. Nur relativ. »Er war ein alter Mann«, sagt Calloway, über dem Rauschen des heraufziehenden Unwetters kaum hörbar. »Er hatte das Recht auf einen besseren Tod.« Leroy lacht höhnisch und wirft sich gewichtig in die Brust. »Junge, komm mir nicht auf die Tour! Du bist keine so große Nummer, dass du …« Calloway pfeift, und eine dunkle Gestalt löst sich aus den Schatten. Crunch ist ein muskelbepackter und narbenübersäter Dobermann, den man oft vor latenter Feindseligkeit beben sieht. Er trabt neben seinen Herrn, als gäbe es weiter nichts auf der Welt. Zwei unzertrennliche Einzelgänger, die so nahe an Seelengemeinschaft kommen, wie es ihrer beider Selbstachtung erlaubt. Hinter Herr und Hund holt Leroy tief Luft und bläst sich auf wie eine fette Kröte. So ähnlich, wie es ein Bodybuilder tun
würde, wenn er seine Muskeln spielen lässt, um zu zeigen, was für ein harter Bursche er ist. Nur dass bei Leroy größtenteils Fett ins Spiel kommt. Jedenfalls macht er seine Stentorstimme und ruft: »Vergiss nicht, wer dich bezahlt!« »Du jedenfalls nicht«, grunzt Calloway. »Du alter Scheißer.« Das ist die Antwort, wie man sie von einem Splattie-Star der zweiten Generation erwarten sollte. Leroy verharrt offenen Mundes in entrüstetem Schweigen. Er ist außer sich vor ohnmächtiger Wut. Aber Calloway ist eben ein STAR, und für gewöhnlich geht dieser Sorte Menschen alles durch. Aber selbst die Unsterblichen in Celluloid City werden wütend, wenn man sie behandelt, als wären sie niemand. »Der kriegt eine große Klappe«, sagt Leroy finster. Der kriechtne große Klappe. Toby zuckt zusammen. Er weiß, dass Calloway ein ultraempfindliches Gehör hat. »Lass ihn. Er ist ein Star. Die sind immer Primadonnen. Weißt du?« »Er wird weich«, sagt Leroy vor Wut kochend. Er kneift die Augenlider zusammen, bis es böse rote Schlitze sind. »Er ist bloß eine Mordmaschine, Toby. Ihm sollten diese Toddies nicht Leid tun. Dieser Mitleid-Scheiß ist ihm weggezüchtet worden. Kommt in seiner DNS nicht vor.« Toby nickt nonchalant. Er weiß, was Leroy meint. Es ist eine feine Sache, wenn man ein reinrassiges Pferd im Stall hat, doch wenn es erst einmal einen Defekt entwickelt, sieht man zu, dass man es los wird. Vor kurzem haben sie aber ein großes Geschäft mit Leuten abgeschlossen, mit denen man keine Dummheiten macht. Daher ist Calloway momentan eigentlich unentbehrlich, egal, was der wichtigste Geldgeber von Rhinestone möchte.
»Er kriegt, was ihm zusteht«, sagt Toby und klopft Leroy auf den Rücken. Er lächelt aufrichtig. »Lass gut sein, Leroy Wir haben ihn in der Tasche.« Leroy schüttelt Tobys Hand ab. »Lass mich in Ruhe.« Lammich in Ruhe. Er tritt nach einem Erdklümpchen und starrt in den Himmel, als wolle er kosmische Unterstützung beschwören. Es zeigt sich keine. »Er wird allmählich zur Tunte«, sagt Leroy. »Einer richtig beschissenen Tunte.« Ner richtsch beschissnen Tunte. Toby überlegt einen Augenblick lang. »Das Publikum will heutzutage kräftige junge Hirsche, keine von Anno dazumal.« »Ja«, knurrt Leroy. »Der Kerl ist ein beschissener Ana … Ana …« »Anachronismus«, springt Toby ein. »Genau«, sagt Leroy verbissen. »So einer.« Soner. Zwei Machiavellis, verlassen sie schweigend das Gelände. Toby gibt es ungern zu, aber Leroy hat Recht. Calloway hat sich in letzter Zeit ein bisschen sonderbar verhalten. Es gehört nicht zu seinen Kennziffern, Mitleid mit Toddies zu haben. Was, zum Teufel, ist in ihn gefahren? Da ist einfach kein Platz für Gefühle, wenn man als Mordmaschine gezüchtet worden ist. Calloway und Crunch traben zur Garderobe. Die beiden, Mann und Hund, unterscheiden sich kaum in Haltung, Auftreten und Instinkt. Mit freiem Oberkörper lässt der Mann ähnliche Muskulatur wie sein Hund erkennen: kleine, straffe Muskeln. Er hat kein Fett, und die hohen Brustmuskeln und runden Bizepse zeugen von regelmäßigem Training. Sein dauerhaft bronzefarben pigmentierter Körper ist so ausgiebig von Narben überzogen wie der des Hundes.
Crunch bleckt die Zähne: gelbgefärbtes, stahlkernverstärktes Email, von dem Speichel tropft, imstande, ein Opfer in einer einzigen Sekunde zu entwaffnen. Seine Haut klappt von den Zähnen weg, die Parodie einer Totenmaske. Ein tiefes Knurren dringt aus seinem Maul. Die Bioware um seinen Hals steigert sich in eine Raserei hinein. Nicht gut. »Platz.« Calloways Nase zuckt. Er öffnet den ledernen Hosengürtel. Methodisch zieht er sich aus. Mit verhohlener Ungeduld tritt er in die Duschkabine, wo Wasserstahlen unter Hochdruck seinen Körper massieren. Er entspannt sich, atmet tief durch und lässt die Muskeln spielen, während ihn der aufsteigende Dampf einhüllt. Unvermittelt wird das Wasser eiskalt, und er schnappt nach Luft. »Jenelle, du Miststück!« Er lächelt. Er hatte gewusst, dass sie hier irgendwo war – seit seinem neuralen Upgrade sind seine Geruchsnerven empfindlich wie die eines Hundes. Nur ein Spezialist würde die Hundenerven erkennen, die in seine Nase eingepflanzt worden sind. Kein Zweifel, dass die Frau in diesem Moment Testosteron ins Spiel bringt. Er hatte den Geruch sofort wahrgenommen, als Crunch geknurrt hatte. Der Hund ist nicht dumm. Calloway beendet die Dusche und dreht sich vor dem Trockner einmal um sich selbst. Warme Luftströme trocknen seinen Körper binnen Sekunden. »Diesmal hab ich dich erwischt, was?« Sie redet wie ein Girlie. Ganz nach der aktuellen Mode. Sogar Oldies machen das, aber manchmal muss man wissen, wann man aufhören muss, wie Oldies auch ein bisschen hinterher sind, wenn sie dieselbe Kleidung wie ihre Kinder tragen. Es ist wie der Unterschied
zwischen raffiniert und lächerlich. Jenelle Jardene ist seine neue Filmpartnerin. Sie hat alles, was die neueste Mode verlangt: schmale Taille, große Brüste, perlweiße Zähne und eine Mähne schwarzen glänzenden Haars. Natürlich nichts davon Natur. Das gesunde Mädchen vom Lande gibt es längst nicht mehr. Und dann natürlich die Stimme. »Ich lasse anscheinend nach«, sagt er. Er schaut an ihr hinab und lächelt frech. Die Grübchen schaffen es immer. »Ich werde einfach schlauer«, sagt sie neckisch. »Und wie ist es draußen gelaufen?« Sie reckt den Kopf vor und lächelt lüstern. »Ich habe eine Explosion gehört.« »Leroy und Toby mit ihren alten Tricks. Ich glaub nicht mal, dass diese Darsteller einen Vertrag hatten.« Er versucht, Jenelles leeres Geplapper zu überhören. Er kann ziemlich gut auf Durchgang schalten, aber jetzt klappt es nicht. Zu viele Störgeräusche. Jenelle rückt näher, während er sich anzieht. Sie hält seine Hand fest, als er ein Hemd anzieht. »Du weichst immer so aus. Nie willst du was mit mir gemeinsam haben.« Sanft schiebt er ihre Hand weg. »Also nehme ich meine Arbeit ernst.« Sie reißt die Hand zurück und starrt ihn an. Es ist ein Moment von Theatralik, die sie sich nicht leisten kann, was sie jedoch nicht weiß. »Verdammt, und du denkst, ich tu das nicht!« Calloway knöpft sein Hemd zu. »Klar tust du es.« Er bestellt beim Autoserve Drinks für sie beide und reicht den Gin Tonic an sie weiter.
»Für dich ist das bloß noch so ein Splatterfilm im Kasten, aber ich möchte besser werden und von deiner Erfahrung profitieren. Ja?« »Das ist ein harter Beruf, Jen. Man kommt schwer 'rein. Ich bin da hineingeboren worden. Du weißt?« Er schnaubt verächtlich bei dem Gedanken. Er schlägt sich so hart gegen die Brust, dass Jenelle einen Schritt zurückweicht. »Das? Das ist nicht echt. Ich bin so mit Drogen vollgepumpt worden, dass nichts mehr echt ist. Wenn ich dir das alles geben könnte, täte ich's.« »Na ja«, sagt Jenelle unsicher. »Ich bin auch nicht ganz echt, weißt du.« Ihre Miene hellt sich bei dem Gedanken auf. »Wir haben etwas gemeinsam.« Calloway kippt eine Jurumba hinunter, etwas wie dunklen Rum, mit Honig versetzt. Sie rutscht glatt in seinen Stoffwechsel. »Ich rede nicht von Implantaten aus Silikon oder Email, Jenelle. Ich rede von in der Retorte gezüchteten Gliedmaßen, eingelegt in Steroide. Ich meine mehr Neuroson als Blut.« »Was ist Neuro … – du weißt schon?« Calloway seufzt. »Neuroson. Das ist ein NeurorezeptorHormon, das im Blut die Hirnschranke überwindet und die Synapsen der Nervenzellen des Benutzers anregt. Das Zeug peitscht nach einem interarteriellen Ausstoß deine Reflexe hoch. Ein Gerät mit einem Behälter, das in der Hauptschlagader eingepflanzt und über einen gerichteten elektrischen Impuls durch Gedanken aktiviert wird. Neuroson hat nur eine Wirkungsdauer von ein paar Minuten; die Wirkung nimmt von Sekunde zu Sekunde ab.« »Oh.« Jenelle lächelt zögernd. »Du bist echt.« Sie will ihn berühren, zieht die Hand aber ungeschickt zurück. »Mein Gott,
Calloway. Du kannst 'nem Mädchen wirklich weh tun. Weißt du?« Calloway setzt seine betrübte Miene auf – gefurchte Stirn und herabgezogener Mund. Er riecht die Angst, die wie tröpfelndes Motoröl hervorquillt, übertönt vom bitteren Geschmack des Neids. »Also wird aus mir nie ein zweiter Calloway«, sagt sie. Brillant, wie sie sich gefangen hat. »Aber momentan habe ich keine Aufträge.« Sie hält inne, überlegt. »Ein Jammer, dass Toby dem Star in seinen Filmen nie dieselbe Partnerin gibt. Warum eigentlich nicht?« Calloway bringt eine Art Lächeln zustande. Man weiß nie, wer einen Toddie-Vertrag hat und wer illegal über die Klinge springt. »Du müsstest Tobys sexuelle Perversionen inzwischen kennen. Frauen sind auf der Liste leicht zu ersetzen.« Im Grunde ist in Tobys Büchern jeder Kanonenfutter, aber Calloway bringt gerade gutes Geld. Jenelle bekundet Ungläubigkeit. »Woher soll ich wissen, worum es ihm geht?« Sie senkt den Blick zu der Stelle, wo Crunch sitzt, ohne mit der Wimper zu zucken. Während des ganzen Gesprächs ist der Dobermann gleichgültig geblieben – es gab keine Veränderung in seiner Atmung oder seinen Bewegungen. Sein Stummelschwanz ist reglos und lässt weder Abneigung gegen die Frau noch Akzeptanz erkennen. Aber dem Tier ist eine Wachsamkeit eigen, die das Zutrauen der meisten Leute auf die Probe stellen würde. Sie zeigt sich größtenteils in den Augen: Stecknadelköpfe von schwarzem Achat, die sofortige Vergeltung ankündigen, wenn es notwendig werden sollte. Das und die aufgestellten Ohren. Und die vollkommene Reglo-
sigkeit des verdammten Tiers. Warum bewegt es sich nicht? Ich meine, atmet das verdammte Vieh denn nicht einmal? »Das war nicht fair«, sagt sie mürrisch. Sie ist ein wenig irritiert, ist dem Hund nicht gewachsen gewesen, also schaut sie wieder Calloway an. »Weißt du was? Dieser dämliche Hund von dir macht mir eine Gänsehaut.« Calloway schnippt mit den Fingern, und Crunch kommt zu ihm herangetrottet. Er zaust ihm das Nackenfell, und das Tier lehnt sich gegen ihn. Jenelle runzelt die Stirn. »Es ist nur, dass ich nie gehört habe, er hätte die weibliche Hauptrolle zweimal an dieselbe vergeben. Ich denke, ich könnte viel mehr lernen, was mich weiterbringt, wenn er mich wieder engagieren würde.« Calloways kühle graue Augen verweilen einen Moment auf ihrem Gesicht. »Gestern erst hast du mir versucht einzureden, ich sollte mit dir zusammen von hier verschwinden. Die Flocke machen und so. Du hast es dir anders überlegt?« Jenelle erwidert den Blickkontakt. Eine Woge von Pheromonen strömt auf ihn zu. Sie zuckt die Achseln. »Hab dich einfach getestet, denke ich. Ich würde sofort gehen, wenn du willst. Ich habe Pläne gemacht … Ich weiß, dass es klappen wird.« Dieses Gespräch hat er schon mit anderen Filmpartnerinnen durch. Schöne, talentlose Frauen, aufgenommen auf einer Abfolge von Studio-Couches. Sie haben vier, fünf Maschen drauf, aber im Grunde ist es immer dieselbe Tonart. Jenelle jedoch erweckt in ihm eine sonderbare Leidenschaft. Er schiebt diese aufkeimenden Gedanken mit einiger Mühe beiseite. Mit ihr geht es rasch bergab. »Es ist allgemein bekannt, dass du aus deinem Vertrag heraus
möchtest, Calloway.« Sie kommt zu ihm und schiebt ihre Arme unter seine. Ihre Lippen streifen seine Wange. »Ehe du weitermachst«, sagt er und dreht ihr Kinn mit dem Zeigefinger zur Seite. »Ich bin unter Vertrag. Ich kann nicht einfach aussteigen – wenn ich es täte, wäre ich leichte Beute. Ich bin in derselben Lage wie jeder ehemalige Revolvermann, der seinen Pistolengürtel an den Nagel hängen und die Vergangenheit vergessen wollte.« »Aber was«, beharrt Jenelle, »wenn ich es arrangieren würde, uns beide herauszubringen? Mit sicherer Tarnung … nur uns beide. Du weißt, die Anstandsliga wird von Tag zu Tag stärker. Splatterfilme werden der Vergangenheit angehören. Du wirst ohne einen Freund hinausgeworfen werden.« Calloway verwirft das Argument. Dieselben Propheten des Untergangs für das Geschäft hat er zeit seines Lebens gehört. Er weiß, dass Jenelle ihn nur für die Publicity braucht. Später würde sie Kopfjäger informieren, wo er sich aufhält, und einen Anteil am Kopfgeld kassieren. Ungeachtet dieser grundlegenden Überlegungen weiß Calloway, dass er mit seinem Kredit die Dienste einer kleinen Armee kaufen und wie ein Lord leben könnte. Bis einen von den Söldnern die Gier überkäme. Jenelle holt plötzlich eine Computer-Kennkarte hervor. »Damit kommen wir vom Gelände, und ich habe ein paar Freunde, die uns helfen werden, bis wir in Sicherheit sind.« »In Sicherheit wären wir nie.« Calloway bestellt noch eine Jurumba. Einen Moment grübelt er über das Ende des alten Mannes. Die Passage wird als Zugpferd fürs Publikum dienen, aber für sich selbst hat er den Eindruck, dass sie ein schlechtes
Licht auf seine professionelle Klugheit wirft. Er ist ein Opfer seines Rufes. Gegner, die freiwillig ihr Können gegen seins einsetzen wollen, werden allmählich rar. In letzter Zeit hat er ein paar Nebenrollen angenommen. Im Wasser heißt es entweder schwimmen oder untergehen. Calloway greift nach Jenelle. Er gräbt die Finger in ihre weichen, parfümierten Schultern. »In Ordnung. Ich habe es so satt, eingesperrt zu sein. Wenn du dabei bist, machen wir heute nacht den Abflug.« Er hält nach dem ausweichenden Grinsen Ausschau, doch sie erlaubt sich keins. Stattdessen wirft sie sich ihm begeistert in die Arme. Crunch hebt den Kopf, das Nackenfell warnend gesträubt. Die Muskeln in seinem Hinterteil spannen sich, breit zum Angriff. Jenelle erstarrt und hofft, dass der Hund sie vielleicht vergisst. »He, Crunch. Ganz ruhig. Du bist unter Freunden.« Calloway zaust dem Hund liebevoll den Kopf. Eine seltene Gefühlsbekundung. Heute abend hat er das schon zweimal getan. Ein gutes Zeichen, dass er allmählich menschlich wird, das heißt, die Ersatz-DNS niederkämpft, die ihn in seinem Beruf nach ganz oben gebracht hat. Crunch ist auf seine Art eine kleine Berühmtheit – der Hund hat sogar seinen eigenen Fanklub. In mehr als einem von Calloways Filmen hat er mitgetötet. Jenelle knabbert an Calloway Hals. »Manchmal frag ich mich, an wen du mehr denkst – an mich oder an diesen Hund.« Er bringt ihr Haar durcheinander, nicht viel anders, als er es bei dem Hund getan hat. »Du bist kein Hund«, sagt er.
LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF: 4. INNEN. ABGEDUNKELTES ZIMMER. NACHT Sie verlassen die Garderobe und nehmen nur das Nötigste mit. Draußen ist es Nacht geworden, und das Aufnahmegelände ist verhältnismäßig menschenleer. Licht fällt in schmalen Keilen aus den Fertighäusern der Promenade. Es laufen heftige Parties. Drogen, Sex und Rock'n'Roll gehören alle zum Angebot von Rhinestone, Leute. Calloways Turbohai mit Doppelantrieb steht passend vor seiner Garderobe. Er zieht das Plastahl-Schutzdach zurück und pfeift nach Crunch, der durch die Nacht heranschnellt, dann in sein maßgefertigtes Abteil springt. Calloway schnallt ihn an. Der Hund ist wieder zur Statue erstarrt und starrt Jenelle mit unverrückbarer Feindseligkeit an. Dieser Hund weiß, dass es Scheiße ist. Er kann es nur nicht gut verbergen. Jenelle wirft Crunch einen unbehaglichen Blick zu und verzieht das Gesicht, als sie die Tür öffnet. Vielleicht überlegt sie sich, dass sie, wenn sie sich nach vorn setzt, etwa aufs Steuerpult, den stinkenden Atem des Tiers nicht im Nacken spüren wird. Sie lässt eine beeindruckende Menge Schenkel sehen, als sie sich in den Schalensessel für den Beifahrer setzt. Wie vorauszusehen, hat sie Crunchs heißen Atem im Genick, als sie sich vorsichtig zurücklehnt. »Er beißt nur, wenn ich es ihm sage«, erklärt Calloway, als könne er ihre Gedanken lesen. »Gut zu wissen«, sagt sie mit Kleinmädchenstimme. Sie reibt
sich das Genick und beugt sich vor. »Mein Gott, ich glaube, er leckt mich.« Calloway muss lächeln. »Kluger Hund. Er weiß, was gutes Fleisch ist.« Jenelle ruckt unbehaglich ein Stück weg und richtet den Blick voraus zwischen die Quarzscheinwerfer des Hais. »Mein Gott.« Überwachungskameras verfolgen jede ihrer Bewegungen. Versteckte Mikrofone fangen jedes Geräusch auf. Später werden die Aufnahmen in den Labors zurechtgestutzt werden; Sinnesund Klangzutaten werden jedes Kino in geballte Spannung versetzen. Sie spürt ein sachtes nervöses Pochen in der Kehle, während sie das Steuerpult betrachtet. Es wirkt verwirrend komplex. »Los geht's«, sagt Calloway und tritt das Pedal durch. Jenelles Kopf wird näher an Crunchs Kiefer gedrückt, als sie mit starker Beschleunigung losfahren. Der heiße Atem des Hundes setzt ein paar schreckliche Muskelkontraktionen in ihrem Magen in Gang. Es ist der Beginn einer Talfahrt. Calloway blickt zu ihr hinüber. »Soweit, so gut.« Gelassen und selbstsicher lässt er das Lenkrad los und hält einen Augenblick lang ihre Hand. »Alles okay?« Sie ringt sich ein Lächeln ab und zieht an den Gurten, die ihr in den Brustkorb schneiden. »Ich denke bloß, dieses Ding sitzt ein bisschen straff.« Sie langt nach unten und stellt eine geringere Spannung ein. Der Gurt rastet um einen ganzen Schritt weiter wieder ein. »Jetzt kriege ich Luft.« Die vier grellen Scheinwerfer des Hais stechen in die Nacht. Der Hai verlässt rasch das Aufnahmegelände, und bald kommen sie zum ersten Kontrollpunkt.
Calloway hält neben einem Prozessor und schiebt die Kennkarte in den Schlitz. Als er ihr einen prüfenden Blick zuwirft, wirkt Jenelle einen Moment lang beunruhigt. Aber es ist alles nur Show. Eine barsche Computerstimme erlaubt die Weiterfahrt. Das Tor verschwindet im Boden. Der Hai fährt über das Gitter. Im Rückspiegel sieht Calloway es wieder hochschnellen. Das Tor ist ein Ausgang, kein Eingang. Jenelle ist sonderbar still, während Calloway improvisiert. »Ich habe mein ganzes Leben bei Rhinestone verbracht«, sagt er. »Weißt du, ich bin so gut wie Eigentum von Toby und Leroy Toby ist sogar mein Pate.« Er lächelt im Dunkeln. »Kann sogar sein, dass ich mir da draußen verloren vorkomme. Also das ist ja ein interessanter Gedanke.« Es ist nur eine Formsache, den letzten Kontrollpunkt zu passieren. Der Hai fährt lautstark an das ausdruckslose Betongebäude heran. Calloway scheint sich nicht um den ungewöhnlich starken Verkehr in der Zufahrtsgasse zu kümmern. Etliche große Wartungs- und Aufnahmewagen haben sich am Hauptausgang angesammelt. »Scheint viel los zu sein heute nacht«, sagt er mit strahlendem Lächeln. Jenelle beugt sich von der Kopfstütze vor. Crunchs Atem geht rasselnd, während er nach vorn drängt. Zu nahe, um sich behaglich zu fühlen. »Alles okay bei dir?« Jenelle erschaudert angesichts der Kälte in seiner Stimme. Das genügt, um es sich anders zu überlegen. »Weißt du, vielleicht machen wir hier einen Fehler.«
»Meine Überlebensversicherung ist ungültig geworden, sobald wir das Gelände verlassen haben. Ich bin jetzt finanziell entbehrlich. Rhinestone Pictures büßt nichts ein, wenn ich jetzt umgebracht werde.« »Das ist ganz faul«, sagt sie langsam. Trübe Warnleuchten beginnen in ihrem Unterbewusstsein aufzuflammen. »Das ist ganz faul.« Ihre Stimme hat die Girlie-Töne verloren und ist kantig geworden. Sie schüttelt den Kopf langsam hin und her. Erregung explodiert in Calloway, als aus dem Boden ein Gitter mit Sägezähnen hochfährt. Haarfeine Zähne aus gehärtetem geripptem Stahl versuchen seine Reifen zu zerstören. Ein flakkerndes Lämpchen im Armaturenbrett zwingt Calloway, seine Aufmerksamkeit zu teilen. Er schaltet das Visifon ein – sogar auf dem kleinen Bildschirm wird immer deutlicher, dass Leroy puterrot angelaufen ist. Seine Kehllappen wabbeln vor Empörung, und die bösartigen Schweineaugen hat er wütend zusammengekniffen. »Pass auf, du verdammter Killerheini«, sprudelt Leroy hervor. »Ich hab dich gewarnt, was passiert, wenn du versuchst, aus deinem Vertrag auszubrechen!« Leroy hat die Fäuste geballt. Sieht aus wie – was? Leroy? Ein Kämpfer? Calloway bringt der Kamera zuliebe ein amüsiertes Lächeln zustande. Immerhin läuft eine Show. »Du fetter Sack Dünger. Mach 'n Abgang.« Calloway schaltet die Verbindung ab. Also sticht als nächstes eine Batterie von Quarz-HalogenScheinwerfern durch die Nacht. Darauf ist Calloway nicht gefasst. Schmerzerfüllt wendet er das Gesicht Jenelle zu. Nur im Hintergrund ist ihm bewusst, dass sein Leben jetzt in Tobys Hand liegt.
Jenelle kreischt auf. Ein Kameraprojektil ist herangeflogen. Es landet mit metallischem Jaulen und heftet sich magnetisch an die Kühlerhaube. Seine Weitwinkel-Linse schwingt herum und starrt ins Wageninnere. Zwei Tonantennen erscheinen und verstärken die Fremdartigkeit seines Aussehens. »Sieht nach abgekartetem Spiel aus«, sagt er ohne Überzeugung. »Wo hast du diese Sicherheits-Kennkarte her?« Ein seltsames Glitzern ist in ihren Augen. »Ich habe einem Freund von Leroy ein paarmal einen Gefallen getan.« Calloway späht voraus und scheint sich seine Antwort zu überlegen. Wenn er etwas falsch macht, wird es später synchronisiert. »Das passt. Schön, wenn sie Spielchen spielen wollen, werden wir mitmachen.« Er spürt, wie Adrenalin durch seine Adern gepumpt wird und seine Berserker-Neuronen stimuliert. Er fühlt sich lebendig, beschäftigt. Jenelle spielt keine Rolle mehr. Die Geschichte ihrer Zukunft ist schon geschrieben worden. Jenelle ist vollauf mit ihrer eigenen Rolle in dieser Szene beschäftigt. Sie zerrt an seinen Schultern, das Gesicht lebhaft, um der Warnung mehr Nachdruck zu verleihen. Vor ihnen ragt eine Wand von Stahlgeflecht empor, rasiermesserscharfer Draht, der sich wirr in die Ferne erstreckt, der fünf Meter hohe Rand zerfurcht wie eisernes Laubwerk. Was einst ein Testgelände der Regierung war, bietet jetzt eine wohlbewachte und fast unzugängliche Fluchtzone. Calloway weiß, dass er über das Gitter rasen könnte, denn seine gekammerten Reifen können nicht platzen – doch sie würden von den Zähnen zerfetzt werden. Er zeigt leichte Beunruhigung – das Publikum kann ihn nie-
mals völlig verblüfft sehen. Während er den Wagen wendet und den Kiesweg entlang donnert, erfassen seine Scheinwerfer eine Nebenstraße, die Entkommen verspricht. Calloways Fuß stößt auf die Bremse, als ein weiteres riesenhaftes Gitter hochschnellt, um ihm die Einfahrt zu versperren. Er flucht und schnippt den Regler der hydraulischen Hebevorrichtung herum, die den Schwerpunkt des Wagens verschiebt. Das Gewicht des Wagens wird auf die Hinterräder konzentriert, und der Hai bremst rutschend. Der Wagen ruckelt, als die Vorderräder harmlos über das Gitter holpern. Calloway führt auf der Stelle eine kreischende Bremswendung durch, das Hinterteil des Hais verfehlt die Zähne des Gitters und lässt den Wagen schwindelerregend herumwirbeln. Im Rückwärtsgang drängt der Hai wie verrückt nach hinten. Rings um das Fahrzeug blüht schwarzer pulverfeiner Gummi auf wie eine Insekten fressende Pflanze, die ihre Beute verschlingt. Wie auf ein Signal klappen zwei Geschütztürme auf, und Bündel von Laserstrahlen brennen Rillen in die Motorhaube des Hais. Seine automatischen Reflektoren schalten sich ein. Zurückgeworfene Strahlen werden wie Blitze in die Nacht gestreut. Mit berechneter Aggression aktiviert Calloway einen Schalter, der Hunderte von Stahlkugeln über ihren Weg ausstreut. Eine Folge von Explosionen zerreißt die Nacht. Die Straße ist vermint. Wie ein rasender Stier, der einen Ausweg aus der Arena sucht, wirbelt der Hai herum, um auf eine letzte Konfrontation zuzustürmen.
Als sie sich der Parkbucht nähern, von der sie abgefahren sind, entdecken sie einen Schwarm von Geschäftigkeit. Im Einklang mit der Aufregung wirft sich Crunch unaufhörlich hin und her und versucht fieberhaft, sich aus seinen Gurten zu befreien. Endlich erkennt Jenelle, dass sie betrogen worden ist. Das ist keine Gegenintrige mehr, in der sie mitspielt, sondern eher eine Gegen-Gegenintrige. Wie betäubt klammert sie sich an ihren Schalensessel. Calloway knurrt. Er spürt und riecht den verwirrten Jubel, der von dem Starlet ausgeht. Das ist der Höhepunkt all ihrer Pläne, das Endergebnis ihrer Täuschung. Sie macht eine plötzliche Bewegung, aber Calloway hat zu viel Übung. Ein Schuss Neuroson durchströmt seine Adern, beschleunigt seine Reflexe. Mit Sehnen wie Stahl packt er ihre Hand, in der sich eine winzige, aber tödliche Schockpistole befindet. Er dreht sie ihr aus den erstorbenen Fingern. Während er einhändig lenkt, beschreibt er kreischend einen Halbkreis und kommt mit einem Ruck zum Stehen. Die Scheinwerfer reißen ein heftiges Wortgefecht zwischen Leroy und Toby aus der Dunkelheit. Toby haben sie gerade etwas von der Schockpistole gesagt, denkt Calloway. Calloway drückt auf einen Knopf und löst die Verriegelung von Jenelles Tür. »Dein Boss ist da drüben. Ihr beide solltet zusammen sehr froh sein.« »Calloway … ?« »Vergiss es!« Er verliert schon an Stärke. Da draußen ist der sichere Tod. Rhinestone wird die Eventualität einkalkuliert haben. Er versucht, diese kontraproduktiven Gedanken beiseite
zu wischen. »Es war Leroy! Er hat das alles geplant!« »Was immer er dir angeboten hat, es war nicht genug.« Mit professionellem Interesse beobachtetet er die wachsende Verzweiflung in ihren rasenden Augen. Er weiß, dass die Kameras sie aufnehmen. »Eine Draufgabe wäre auf Wunsch der Hai gewesen, nehme ich an.« Fast kann er die Übelkeit fühlen, die den Rest ihres Gleichmuts zunichte macht. »Leck mich doch am Arsch, Calloway.« Die Worte treffen ihn hart. Etwas stimmt nicht. Sie hat geschauspielert. Gar zu gut. Mit einem Zucken ihres Handgelenks stößt sie ihm eine Nadel in den Arm. In zwei Sekunden ist die Welt weg. Es dauert eine Sekunde, Crunch loszulassen. »O Herr im Himmel, hilf mir!«, stöhnt sie. Aber er hört nicht. Sie taumelt aus dem Hai und beginnt zu rennen. Das Hakkende Stakkato der Stahlabsätze auf dem Trottoir endet abrupt. Crunch hat sie drei Schritte von Hai entfernt erwischt.
SCHNITT AUF: 5. INNEN. BÜROS VON RHINESTONE (COMPUTERRAUM). NACHT Velazquez ist ein neuer Kunde und ganz auf Technik eingestellt; ein verkrachter Elektronikstudent, der alles weiß, was man über Hightech wissen kann, und noch etwas mehr. Er ist ein schlak-
siger, knochiger, blutarmer Junge, der sich hinter einer Bifokalbrille versteckt, obwohl ihm zeitgemäße FocChips mehr als perfekte Sicht verschaffen können. Im Augenblick hat er nicht viel mehr im Sinn, als Leute zu ärgern. Er meint, das sei eine ziemlich harmlose Beschäftigung, freilich eine, die ihn letzten Endes in die Scheiße reiten wird. Aber diese spezielle Entwicklung liegt so weit in der Zukunft, dass er rechnet, sein Verhalten noch lange Zeit nicht korrigieren zu müssen. Sowas ist ja allgemein als Jugendsünde bekannt. Das manipulierte Optikkabel ist reine Erholung – Velazquez weiß, dass es ihn in der Cybermord-Hierarchie nicht weiterbringen wird, aber manches drängt sich einem einfach auf, nicht wahr? Cybermörder sind weder Mörder noch Selbstmörder. Sondern was dazwischen. Wenn man seine Sache beherrscht, ist man eher Mörder. Wenn nicht, endet man früher oder später in einem Hirntank der Regierung und wird programmiert. Das nennen Cybermörder Selbstmord. Er spielt seine Rolle als Marvin der Gebäudereiniger konsequent; sogar, wenn er allein ist. In dem verlassenen Büro arbeitet er sich methodisch mit geübten Schwüngen des Staubsaugers voran. Das Kabel hat er sich um die Taille gewickelt – es gibt das Gefühl, als trage er eine Knarre. Die Tür des Lagerraums hat er schon überprüft. Sie ist nicht abgeschlossen; drinnen stapeln sich Kisten mit Peripheriegeräten, zugemüllt mit Verpackung und Schaumstoff-Flocken. Der Prototyp des Holodruckers für 3D-Bilder schreit nach Aufmerksamkeit. An den Wand-Adapter angeschlossen, ist er leicht auszumachen. Der unverschlossene Lagerraum gilt wohl
als Sicherheitsbereich. Ihr sollt vor Neid platzen, Kollegen Cybermörder, denkt er, während er hinwischt und leise die Tür öffnet, sie dann hinter sich schließt. Der Holodrucker ist noch im Erprobungsstadium, doch nach tagelangen Konfigurationsexperimenten – die er mit Interesse verfolgt hat –, weiß er, dass das Gerät reif für ein paar kreative Eingriffe ist. Wie in Gedanken führt er mit einem kieferimprägnierten Lappen über ein paar Tasten und wirft etwas Verpackungsmaterial in den Müllwagen. Er ist bereit, beim geringsten Geräusch aufzuspringen, dann macht es klick, und er ist im automatischen Schnellgang. Binnen acht Sekunden sind die vier Schrauben des Optikkabels ab, und es ist vierfach gerollt spurlos im grauen Matsch unter dem trüben Seifenschaum im Eimer verschwunden. Noch drei Sekunden, und er hat sein eigenes Kabel von der Taille gewickelt und in den Holoprinter und die Wanddose gesteckt, und sieben Sekunden danach hat er die Schrauben festgedreht. Die Tür schwingt auf. Velazquez dreht sich so lässig herum, wie es die vor Furcht erstarrten Synapsen erlauben. Es ist Anna. Messerscharfe Bügelfalten in Hemd und Hose, eine .38er an der Hüfte. Das Haar zu einem Billardball mit grauen Strähnen zurückgespannt. Ihre Haut ist blässlich alabasterweiß, ein unansehnliches Tropfgesicht. Eine Kreuzung zwischen einem Panzer und einer Bulldogge mitsamt hängender Lippe und Schlappohren. »Also, Putzer, was machen Sie hier drin?« Velazquez scannt fieberhaft ihr Gesicht ab und weiß im Handumdrehen, dass er erledigt ist.
Es sei denn … Unter ihrem lähmenden Blick reißt er die Augen auf und lächelt offen. Es ist eine psychologische Wiederaufführung von David und Goliath. »Ich hätte nie gedacht, dass Sie hier drin nach mir sehen«, sagt er glatt. »Ich warte seit einer Woche jede Nacht auf Sie.« Ihr Gesicht erschlafft plötzlich, als sei Gummi durchgeschnitten worden, und die Haut kann Falten bilden und bequem herabsacken. Ist sie auf ihn aus, oder sollte er weglaufen und riskieren, erschossen zu werden? Unschlüssigkeit quält ihn. Er hat Pheromon-Plus aufgetragen – ›Das Aftershave, das es im richtigen Moment bringt‹. Bei seiner Nachbarin hat es nichts gebracht. Augenblicklich hat er wenig Vertrauen in seine Fähigkeiten. »S-Sie stehlen hier«, stammelt sie und hebt das hässliche Stück Waffe, das sie nicht länger an der Hüfte hat. »Gehen Sie in die Mitte des Zimmers. Sofort.« Velazquez gleitet instinktiv zu ihr hin und lässt mit verbissenem Lächeln die Fingerspitzen über ihre strammen Schenkel hochgleiten. Er hakt die Finger in ihre Gürtelschnalle und zieht dann nach unten, langsam, aber unnachgiebig. Sie wirft zweifelnd den Kopf zurück, aber er redet ihr gut zu. »Nur großes Zeug hier drin, das könnte ich nie 'raus schmuggeln.« Er zieht sie sanft herunter. »Fühl nur den Schaumstoff, der ist dazu da, dass es die richtig teure Ausrüstung bequem hat.« Sie sagt: »Nein, lassen Sie mich, oder ich führe Sie ab«, aber sie knickt die Beine ein und geht langsam neben ihm in die Knie. Er küsst sacht, aber nachdrücklich und hat eher gegen
ihren Unglauben als gegen Hemmungen anzukämpfen, während er auf ihrem wächsernen Lippenstift hin und her rutscht. Einundzwanzig Minuten und sechs Sekunden, stellt er fest, als sie schließlich still liegen, in tröpfelnden Schweiß und klebrigen Schaumstoff gehüllt. Die gut gebügelte braune Hose hat sie um die Knöchel, die Pistole ist darin verheddert. Sie liegt da wie ein gestrandeter Wal, den weißen Bauch mit stachligen Haaren bedeckt. Was, wenn die Etagenwache hereinkäme und … Aber sie ist ja die Etagenwache, also besteht keine Gefahr. Er beginnt sich von ihr zu lösen, doch sie zieht ihn zurück. »Eh, kommt wieder zu Anna. Kluger Junge. Kein hechelnder Quicky wie die meisten Putzer hier. Außerdem, wir haben Zeit. Ich melde die Etage okay. Okay?« Nicht okay. In seinem Eimer liegt unter Wasser zusammengerollt ein Optikkabel. »Okay.« »Du bist wirklich scharf auf mich? Eine alte Mutti von fünfundvierzig? Warum nicht dieses Flittchen Marla, die die Etagen 17 bis 19 macht? Nichts als hohe Titten und enge Jeans. Die gefällt dir garantiert, wette ich.« Das stimmt, aber wenn Velazquez es zugeben würde, könnte er auch gleich verlangen, dass sie ihm die Eier wegschießt. »Stil«, sagt er, während er fieberhaft nach einer Rechtfertigung sucht. »Stil, Stil, du hast Stil. Sie wäre 'ne gute Nummer, aber du … du lohnst dich.« Sie entspannt sich, doch sogleich stellt sich Unruhe ein, der südländische Eifersucht auf den Fersen folgt. »Du hast sie auch aufs Kreuz gelegt?«
»Machst du Witze?« Velazquez reißt ungläubig die Augen auf, jede Silbe ist von Skepsis getränkt. »Wo ich seit Wochen nur Augen für dich habe?« Sie grunzt und knurrt, dann schwingt sie sich auf ihn. Die Frau ist einfach unersättlich. Vielleicht hat er heute Morgen zu viel Aftershave aufgetragen?
SCHNITT AUF: 6. AUSSEN. DURCHGANG. NACHT Velazquez kettet seine uralte Yamaha 60 mit Kickstarter los, während die von der Stadt geröteten Wolken früh um vier vor dem abnehmenden Mond vorbeiziehen. Der Motor stottert gereizt und murmelt mit beißenden Wolken von verbranntem Zweitakteröl, dass er schon seit Jahrzehnten verdient hätte, in Frieden gelassen und verschrottet zu werden. Velazquez ist kalt, er fühlt sich erschöpft und unbehaglich. Das kalte und schleimige Optikkabel ist unter seinem Hemd zusammengerollt, und Schaumflocken kleben an seiner Haut. Die Nacht ist ungewöhnlich still. Er hat keine Razorboys gesehen, wie sie die Straßen zumüllen, keine Hoons in ihren Weltuntergangsmaschinen mit V8-Motor haben Jagd auf ihn gemacht, keine Polizeistreife hat ihn der Mühe für wert gehalten. Er öffnet das Garagentor, das von seinem Schlafzimmer zur Straße führt, schiebt die Yamaha herein und lehnt sie gegen den Kühlschrank. Das Kabel muss weg. Er packt es in alte Pizza-
Schachteln und stopft alles zusammen in einen SupermarktBeutel. Er lässt es fallen, tritt dagegen und vergewissert sich, dass der Beutel nicht aufreißt und ›Cybermörder!‹ in alle Welt hinausschreit. Ein kurzer Ausflug in die kalte Luft draußen, und das Ding landet im Müllschacht des Eigentumsblocks nebenan. Aus dem Wäschekorb fördert er eine ramponierte Flasche Chardonnay zutage, gießt den Inhalt über die Zuckerrückstände in seinem Kaffeepott und trinkt in großen Schlucken. Er wird mehr brauchen, um die Misshelligkeiten der letzten Nacht zu vergessen.
SCHNITT AUF: 7. INNEN. KRANKENHAUS (PRIVATZIMMER). TAG Calloway erwacht in einem Miasma von dumpfem Schmerz. Er kämpft sich hindurch und schlägt langsam die Augen auf. Er befindet sich in einem abgedunkelten Zimmer auf einem Krankenhausbett. Ferne Stimmen heben und senken sich wie in einem Streit. Das letzte, woran er sich erinnert, ist, dass Crunch knurrte. Ein etwas abgerücktes Gedächtnis bringt ihm den schweren Atem einer Frau in Erinnerung. Ein plötzlicher Wechsel zu jemandem, der die Lage nachhaltig unter Kontrolle hat. Ein Pfeil in seinem Arm. Er schwingt die Füße über die seitlichen Chromstangen. Die Fliesen fühlen sich kalt an. Er hat ein weißes Trikothemd und Arbeitshosen aus Lycra an. Plötzlich wird die Tür aufgerissen, und Elizabeth stürmt her-
ein. »Das ist mir egal!«, sagt sie gerade. »Ich übernehme die Verantwortung.« Sie hält abrupt inne, als sie Calloway dastehen sieht. Elizabeth. Sie war früher einmal eine führende Ärztin, doch bei ihr war tödlicher Krebs diagnostiziert worden. Sie war für eine Rhinestone-Produktion verpflichtet worden, wo sie mit aller Wahrscheinlichkeit von Calloway legal umgebracht worden wäre. Ihr Honorar wären dreihunderttausend Dollar zugunsten ihrer beiden jüngeren Geschwister gewesen. Sie war eine von fünfzehn Todeskandidaten, die ihr Leben als Zugaben in einem Rhinestone-Splatterfilm verkauft hatten. Calloway sollte bei einem Remake eines Gangsterfilms aus den vierziger Jahren die Kontrolle über einen schnell fahrenden Wagen verlieren. Stattdessen schaltete er seinen Gegner aus, ohne das Leben der Statisten zu gefährden. Die Manager von Rhinestone waren fuchsteufelswild gewesen, da sie trotzdem bezahlen mussten, ohne für ihren Streifen zusätzlich Blut zu kriegen. Und als sie den Film überlebt hatte, entdeckte sie, dass ihr Krebs nicht tödlich war. Elizabeth lächelt. »Komm, Calloway, zieh dich an. Wenn du halbnackt bist, machst du vielleicht auf die jüngere Generation Eindruck, aber ich bin ein bisschen darüber hinaus.« Calloway schüttelt staunend den Kopf. Sie trägt einen gebatikten zerknitterten Baby-Doll-Rock und ein Kameenhalsband, ein Muschelkettchen klimpert über Strohsandalen. Mit der Menge Geld, die ihr zur Verfügung steht, kann sie es sich leisten, exzentrisch zu sein. Dem Kalender nach ist sie 132. Ihrer Erscheinung nach würde man sie höchstens Mitte Sechzig schätzen. Es sind ihre Art und ihr Wissen, die auf eine ausgiebi-
gere Vorgeschichte hindeuten. Beim Anziehen sagt er: »Ich hab dich doch nicht aus etwas herausgerissen, oder?« Elizabeth blickt auf ihre Aufmachung hinab. »Ein kurzer Urlaub. Die Insel heißt Rhuhulu.« Calloway nickt. Das ist eine künstliche Insel mitten im Südpazifik. Exklusiv. Etwas, das sich Direktoren multinationaler Unternehmen wünschen können, was aber außer Reichweite geringerer Götter liegt. »Also was hast du angestellt, Calloway?« Sie tritt näher und schaut ihm forschend in die Augen. Sie nickt weise. »Immer noch voll von dem Zeug, wie ich sehe.« Sie runzelt die Stirn und berührt leicht die fleischfarbene Mikrofilmschicht, die seinen Warzenfortsatz bedeckt. »Noch mehr Apparatur?« Calloway könnte wirklich wütend werden, wenn er diesen Huckel fühlt. Doch was soll's? Noch ein bisschen Hardware wird ihn nicht bremsen können. Dann kommt Toby herein. Er sieht schuldbewusst aus. »Diesmal bist du hart am Rande vorbeigeschrammt, Calloway. Beinahe hätte sie dich erwischt.« »Das ist ja der Knackpunkt, nicht wahr? Jeder hat eine Chance, ein Splattie zu überleben.« Er schaut zu Elizabeth hinüber. »Manche schaffen es.« Toby nickt Elizabeth zu. »Ich hab gehört, du warst bei den Aufnahmen, Liz. Wie steht's? Alles in Ordnung?« »Ich bewundere gerade die Arbeit deiner Chirurgen«, teilt sie mit. »Wenn unser Freund Calloway noch mehr Hardware eingebaut kriegt, fängt er zu klappern an.« »Na ja«, sagt Toby. Er zuckt hilflos die Achseln. »Weißt du,
das war Leroys Idee. Ist doch sein Geld. Du hast versucht, aus deinem Vertrag auszubrechen. Die Geldgeber von Rhinestone würden ein Vermögen einbüßen, wenn sie dich verlieren.« »Ich brauche also nur in die falsche Richtung loszuschlendern, und ich mache 'nen Abgang.« Calloway zieht ein Hemd an. Es ist Multivexgewebe, so entworfen, dass es wie ein Handschuh über die Muskulatur passt, während sich bewegende Muster eine hypnotische Wirkung erzeugen. »Also sieh dich vor«, sagt Toby. Er blinzelt und wendet sich von dem Multivex ab. »Diese Dinger sollten verboten werden, Calloway. Gehen einem richtig beschissen aufs Auge.« »Und diese?« sagt Calloway. Er tastet seine freien Rippen ab, bis er zwei harte Knoten von der Größe von Eiern findet. »Die gehen einem nicht nur ›beschissen auf die Augen‹, die sind zusätzliche Last, die ich nicht gebrauchen kann.« »Es sind Beobachtungsderms. Nichts, worum du dir einen Kopf zu machen brauchst.« Toby schaut zur Decke hoch, verzieht schmerzhaft das Gesicht, als die Fluoros ihm entgegen brennen. Himmel, wenn sie diesen Ort noch ein bisschen steriler und ästhetisch unbefriedigender machen würden, würden die Leute lieber sterben, statt hier herzukommen. Es erinnert ihn an Zuhause. Seine Frau. Eine Menge, woran er lieber nicht denken möchte. Und jetzt legt ihm Elizabeth die Daumenschrauben an. Sie spielt ihre Rolle gar zu gut. Dafür kriegt sie später mal ihr Fett. »Wozu sind sie dann da?« will Elizabeth wissen. Sie reckt den Kopf vor, wie sie es tut, wenn sie sich heftig über etwas wundert. Sie sagt, so kann sie besser denken, es hat irgendwas damit zu tun, wie das Hirn liegt.
»Sie beobachten Calloways Herzschlag und derlei Zeug.« Er schaut mit gespielter Verzweiflung von einem zum anderen. »Wir möchten gern wissen, wie unsere Hauptinvestition funktioniert. Was ist mit den Daumenschrauben?« Calloway schnallt seine Schuhe zu. Es sind stoßgesicherte spezialgeformte Doc-Martens-Schuhe, faserverstärkt, sodass sie länger halten, als ein gewöhnlicher Sterblicher lebt – behauptet jedenfalls die Werbung. Wenn er steht, reicht ihm Toby kaum bis zur Brust. Er ist ein kleiner Mann dem Wuchs nach, aber nicht von Natur. Bei mehr als einer Gelegenheit hat er Calloway fast zu Tode gebracht. »Wo also ist Crunch?«, sagt Calloway leise. Toby gibt ein hohles Glucksen von sich. »Oh, er hat zu Fressen gekriegt, Calloway. Ich denke, er schläft jetzt drüber.« »Du bist krank, Toby«, sagt Calloway. »Es ist das Splattergeschäft«, sagt Toby ernsthaft. »Das ganze Blut und Gekröse andauernd. Das kann nicht gut für die Seele sein. Verdammt, das krieg ich zu Hause, auf Arbeit brauch ich das wirklich nicht. Du weißt, was ich meine?« Calloway führt Elizabeth aus dem Zimmer. »Ja, ich denke schon.«
BLENDE AUS BLENDE AUF: 8. AUSSEN. (PARK IM HINTERGRUND.) TAG Es ist ein grauer Morgen mit böigem Wind und Nieselregen, als Velazquez in der Telefonzelle am Rande des Parks steht und
seine Mordtat durchgibt. »Mord-1-2-RU. Optisches Kabel zwecks kreativem Fasermix ausgetauscht.« »Cool, Kleiner. Fein. Das freut mich für dich«, sagt Mord-1. »Unterbrecher. Ein getesteter Holodrucker in einem Büro voll Cybernieten«, sagt Velazquez. Die von Mord-1 demonstrierte lässige Überlegenheit täuscht. »Ich würde es auf 100 Stunden Verlust schätzen, plus einen möglichen Rückruf des Druckers. Wer würde vermuten, dass jemand am Kabel gedreht hat?« »Du willst also eine Gutschrift über einer halben K-Piepe?« In spöttischem Ton. »Hm.« »Nö. Ich geb dir ein Zehntel K. Diese Art Unterbrecher ist zu lasch. Du bist zu lasch. Kümmerst dich mehr um den Stil als um die großen, großen K-Piepen-Treffer. Du solltest was riskieren, RU.« »Hab ich. Der Wachdienst hat mich in dem Lagerraum überrascht. Hatte 'ne.38er.« Stille. Beeindruckt oder gelangweilt? »Gar nicht faul, Paul. Rausgeredet?« Verhaltene Ungläubigkeit. Velazquez schließt die Augen. Ja oder nein? Warum nicht? »Hab ihr die Software hochgenommen.« Pause … »Das ist stark, Mark.« »Krieg ich jetzt das halbe K?« »Nö.« »Arschloch! Mir fehlen nur noch zwei K bis zu meiner ersten Megapiepe Schaden, Mord-1. Ich arbeite hart, arbeite mir 'nen Wolf.«
»So läuft das nun mal, Kumpel. Aber ich muss meine Maßstäbe wahren, sonst verliere ich die Einstufung als Zählmeister. Stil stinkt. Die Mordkönige in Japsland wollen richtigen Schaden, Schlagzeilen im Netz, Petz. Es sind Japse. Stil ist denen egal.« Schweigen. Regen tröpfelt durch die zerbrochenen bruchsicheren Scheiben der Telefonzelle. »Bist du noch da, RU?« »Ja.« »Pass auf, Partner, ich werte den Stil, okay? Ich meine, die Sicherheit hochzunehmen, ist einmalige Spitze, weißt du?« »Bloß Glück gehabt. Bloß Glück, dass ihr Alter es nur ein paarmal im Jahr bringt. Bloß Glück, dass ich sie überrumpelt hab. Bloß Glück, dass es kein Kerl war.« »Okay, okay … Angebot: Wenn Miss Drucker im Laufe der Woche einen Rückruf kriegt, geb ich dir eine halben K-Piepe Unterbrecherwert. Fein, Hein?« Der unerwartete Gewinn schlägt Velazquez nieder, lässt kaltes, klebriges Schuldgefühl seinen Kragen hinabrinnen. »Lass stecken, Mord-1. Ich mach 'n Rückzieher. Einfach einen fairen Wert, okay? Wenn du sagst, Null Komma ein KPiepen ist fair, dann nehme ich eine K-Piepe.« »Wenn der Rückruf kommt, ist eine halbe K-Piepe fair, Blaire. Und nun geh los und in den Megapiepen-Club.« »Ja.« »Halt das Chaos in Gang.« »KI decken, KI verstecken.«
SCHNITT AUF: 9. INNEN. AUSGEDEHNTER SCHLAFRAUM. NAHAUFNAHME VON DEBROS GESICHT. NACHT Johnny Debro saugt die Wangen nach innen und inhaliert. Er beobachtet die trägen Dampffäden des Cirrus, wie sie in den Luftzügen wirbeln. »Ja, ich sterbe«, sagt er zu dem Terminal neben sich. Egal was, wenn sie nur ruhig bleibt. Er kann ihr nicht sagen, dass sie weggehen soll. Es gibt weiter keinen Ort, wo man sich verstekken könnte. »Also ob … was?« will sie wissen. Als Debro mit den Schultern zuckt, verzieht sie das Gesicht. »Als ob es keine große Sache wär?« Sie hat eine hohe, blecherne Stimme, die bei Debro auf einen blanken Nerv trifft. Eine Kinderstimme. Die Stimme eines Kindes, die er niemals hören wird. Niemals erleben. »Ich sterbe auch!« Der Gedanke scheint sie aufzumuntern. Dann furcht sich ihr Gesicht. »Dabei hab ich keine Ahnung, wie ich das gekriegt habe.« Sie tippt auf ihre nässenden offenen Stellen. Es sind hässliche Ausbrüche von Rot, die ihr Gesicht wie Mondkrater überziehen. »Die Ärzte wollten es nicht wissen. Haben mich behandelt, als wär ich die Pest selber?« »Das Leben ist widerwärtig, und dann stirbt man«, sagt Debro. Er drückt den Cirrus aus. Der hat seine Sache gemacht. Die Rothaarige scheint gar nicht so übel zu sein. Bloß ein schwaches Gemurmel von Fragezeichen. »Ist doch komisch, sowas zu sagen?« Sie grübelt, die Augen vom Cirrus glasig. »Verdammt komisch?« Johnny lässt sich auf das Relaxi zurück sinken. Ihm haftet der
Geruch von Angst und Verzweiflung an. Die murmelnden Stimmen der Todgeweihten schwinden, und der Cirrus haut richtig 'rein. Er wird in die besten Jahre seines Lebens teleportiert. Die Rothaarige sieht bekümmert aus. »Was ich sag? Warum machen diese Fieslinge das immer mit mir? Gottverdammt? Warum wirkt Cirrus bei mir nicht?« Sie geht zu einem anderen weiter. Johnny Debros Gesicht verliert die müden Züge. Er durchlebt noch einmal den Augenblick, als er zum ersten Mal Sheila begegnete.
SCHNITT AUF: 10. AUSSEN. UNIVERSITÄTSGELÄNDE. TAG Velazquez trottet übers Universitätsgelände zum Studentenbund, wo er gewohnheitsmäßig die kostenlosen Duschen im Keller besucht. Er macht seine übliche Runde durch die Duschkabinen – kein Glück mit der Seife. Er duscht, drückt gelbliches Wasser aus Hemd, Socken und Unterwäsche. Flocken von Schaumverpackung lösen sich und sammeln sich um das Abflussloch an. Dieses billige Duschen ist 'ne Wucht, okay? Er ist, sagen wir, unabhängig wohlhabend. Er trocknet sich mit einem Knäuel Papierhandtücher ab, wringt das Wasser aus seiner Wäsche und gießt es in seinen Radfahrerhelm. Es ist sonderbar beruhigend, wenn man nur einen sich aufräufelnden Pullover, Jeans und stinkende NikeSchuhe trägt und dabei immer weiß, dass man nahe daran ist,
eine Million Dollars anderer Leute in den Sand gesetzt zu haben. Gewiss, er ist schäbig angezogen, aber er ist nicht arm – bei weitem nicht. Der Vertrag als Gebäudereiniger bei Rhinestone gibt ihm Zugang zu einigen Hochsicherheits-Computernetzen und bringt gutes Geld. In der Cafeteria kauft er sich ein Frühstück: Würste, Eier, Schinken, in Zuckersirup verwandelten Kaffee. Tim, Decca und Dava erscheinen, als er schon zu essen begonnen hat. Sie tragen tadellos ausgebleichte Blue Jeans und sind professionell auf Rebellion gestylt. Decca ist der Typ, den man noch übersieht, wenn man mit ihm allein im Zimmer ist, was für einen Cybermörder von einigem Vorteil ist, doch ihr T-Shirt schreit Here Comes Trouble, sie trägt ausrangierte Chips, die zu Ohrringen zusammengeklebt sind, und abgetrennte Drähte als Ringe. Viel zu offensichtlich. Ein guter Cybermörder trägt niemals irgend etwas, das mit Computern zu tun hat, aber manche Leute wollen einfach nicht hören: Sie müssen angeben. Gegen den totalitären Staat zu kämpfen, ist eine Sache, ihm seine Verachtung unter die selbstgerechte Nase zu reiben, ganz was anderes. Wie ihre Vorfahren – Punks, Wildwuchs und Zippies – werden Cybermörder vom rebellischen Bürgertum hervorgebracht. Kinder reicher Leute auf Abwegen, Eliteanarchisten. Decca gießt einen Bananen-Milchshake über fettarmes Müsli, während Tim einen Totenkopf in seinen Apfel schnitzt und die Stückchen in die Afrolook-Perücke einer Assistentin aus den Schönen Künsten schnippt, die The Sands of Time in einem Proust-Schutzumschlag liest. »Ich hab 'n Virus«, flüstert Dava und klopft auf die unsicht-
bare Diskette in seiner Hemdtasche. »Es ist ein Wurm«, korrigiert Decca. »Würmer sind Scheiße«, schnaubt Dava. »Deshalb nennt er ihn ein Virus«, sagt Tim. »Den kriegst du nie rein.« Velazquez klingt so allwissend, dass die anderen aufschauen. »Wie die Nonne zum Bischof sagte«, sagt Tim und holt einen großen Brocken aus seinem Apfel-Totenkopf. »Dein Workshop-System hat C2-Unix-Sicherheit. Das ist Insektenspray gegen Bugs.« »Der Maschinenbau hat ein Prototyp-Netz. NPT/100, das ganze gute Zeug.« »Und C2-Sicherheit.« »Noch nicht. Sie haben Superuser- und schreibbare Verzeichnisse, dazu einen Satelliten-Patch zu fünf Uni-Sites in Übersee.« Dava tippt wieder gegen die versteckte Diskette. »Es ist ein Retro-Computervirus, der erst lange nach der Infektion zuschlägt, und er mutiert. Mit Superuser- und schreibbaren Verzeichnissen steht dieses Hetrogenetz weit offen.« »Es ist eine Bandwurmbombe«, berichtigt Decca. »Ich habe zwei Kerle vom Personal im Alfred General * reden hören«, eifert Dava, verzweifelt auf Anerkennung von Velazquez aus, dessen Nihilismus und Verwahrlosung echter ist als ihre teuren Fassaden. »Wie kriegst du ihn 'rein?« »Ich bleib in der Nähe, tue so, als würde ich nacharbeiten, und warte, bis die Schlüpfer unten sind.« *
Das Alfred General ist das größte Krankenhaus in Melbourne.
»Da hast du die Schlüpfer«, sagt Velazquez und tippt sich an den Kopf. »Die Schlüpfer vom Maschinenbau. Mach einen Patch für ein schreibbares Verzeichnis wie in der UnixVorlesung, wo sie sagen, wie man es nicht tun soll. Stell eine Dummy-Befehlsdatei hinein, die sie ignorieren können. Schieb sie ihnen unter. Sie werden denken, dass einer von ihren eigenen Systemleuten sie für ihre neue disperse heterogene Datenpumpe zusammengestoppelt hat, die auf diesem ZwillingsCPU-Server mit den RV 1005 Motorola-Chips basiert.« Velazquez' Lächeln durchdringt das verblüffte, ehrfurchtsvolle, eingeschüchterte Schweigen. »Schieb deinen Wurm in diese Art Schlüpfer und mach dir bloß nicht die Mühe, ins Labor einzubrechen. Warte, bis der Systemadministrator frühstücken geht, schieb es unter seiner Bürotür durch und schnips dagegen. So lassen ihm seine eigenen Systementwickler neue Versionen zukommen, wenn er nicht da ist – sie schnipsen die Diskette unter der Tür durch. Wenn die Schlüpfer hochgezogen werden, rutscht der Wurm zack! 'rein.« Deccas Blick hat einen Goldrahmen von Einladung, doch obwohl Velazquez ihn genüsslich einsaugt, bleibt er reserviert. Sie liebt die Romantik von Livetheater und würde ihn nur zu gern verraten, um eine gute öffentliche Szene und einen Skandal zu kriegen. Solange sich die Verheißung, sie könnte ihn verführen, nicht ganz erfüllt, hat sie emotional keinen Gewinn, wenn sie ihn verrät. »Dava, einen Tipp noch, ehe du dir dieses System vornimmst.« »Hm?« »Du solltest bei ihm anklopfen, ehe du die Diskette unten
durchschiebst.« »Anklopfen … Ja! O ja!« Er haut mit der Faust auf den Tisch. »Perfekt!« »Woher weißt du das alles?«, fragt Decca. Velazquez strahlt sie mit einem breiten Grinsen an. »Es gehört mehr zu Cyberspielen als überschlaues Programmieren.« Er steht auf und verbeugt sich theatralisch. »Ciao, Kollegen Cybermörder.« Als er die Cafeteria verlässt, sieht er, wie Decca heftig auf Dava einredet. Das Lächeln verschwindet abrupt von seinem Gesicht.
ÜBERBLENDEN ZU: 11. INNEN. MODERNES WOHNZIMMER (RHOAL LARAZIZ' EINHEIT). NACHT Rhoal Laraziz legt den Schalter an seiner Virt-Einheit um. Er ist ein kleiner Mann mit einem großen Hass. War mal Diktator eines Landes, ist aber jetzt ein Halbgott. Mit seinem Geld ist er tatsächlich ein Gott. Denn Geld macht jeden zum Gott. ›Glücksgeleeland‹ verspricht einen ›Zustand konzentrierter Seligkeit‹. Es ist das brandneue Produkt einer Firma, die ihm zur Hälfte gehört, und ist wahrscheinlich von seiner Frau programmiert worden, von Marla Teixeira. Oder demnächst eher von seiner Exfrau. Alles im Westen ist so verdammt kompliziert, vor allem Scheidung. Daheim in Paraguay wäre Marlas Verschwinden kaum bemerkt worden. Doch jetzt ist sie in einer großen Wohnung mitten im Rozelle Psychiatric Hospital abge-
taucht. Sie weigert sich einfach, mit wem auch immer zu kommunizieren, es sei denn über die Virtbank. Marla ist vollständig compos mentis und hat tatsächlich wieder begonnen, mit neuen Gedanken, neuen Techniken zu experimentieren. Seine Experten versichern ihm, dass sie völlig außer Tritt und wahrscheinlich psychotisch ist. Wie sonst wären ihre Behauptungen zu erklären, er habe einen Anschlag auf sie geplant? Scheidung ist eine Möglichkeit, die in Betracht zu ziehen sie sich geweigert hat. Aber egal, das Mädchen ist schon zu erwischen. Irgendwer wird an sie 'rankommen. Für das Geld, das er bietet, zum Teufel, da könnte sogar jemand das ganze Krankenhaus in die Luft sprengen. Also das wär doch ein Gedanke. Laraziz ist ein Mann, der lose Enden um den Tod nicht ausstehen kann. Und seine hübsche kleine Frau hat sich als ganze Garnrolle erwiesen. Marla ist ein Jucken auf dem Rücken, an das bisher mit Kratzen nicht 'ranzukommen war. Das Zimmer um ihn beginnt langsam zu verschwimmen, wird zu einer fast krankhaft bunten Landschaft von Gelee, das wie ein öliger Strudel herumwirbelt. Als sich die an seinem Körper befestigten Drähte und Sensoren aktivieren, gewahrt er die geringe Schwerkraft, und das Bild scheint in seine Haut einzusickern. Er beginnt durch die geleeartige Substanz zu waten und wird bald schon in die orangefarbenen Wolken getrieben. Er sinkt langsam nieder, nur, um beim Landen noch höher zurückzuschnellen. Formen materialisieren sich: verrückt aussehende Wesen wie übermäßig aufgeblasene Geleemenschen, die herumspringen und ihn schubsen, sodass er in Zeitlupe herumgewirbelt wird.
Er landet auf dem Bauch, schnellt dann empor. Die Geleemenschen lachen und kichern mit pummeligen Stimmen, was ihn zum Lächeln bringt. In Marlas Programmen ist es immer so verdammt nett, lieb und glücklich. Das ist eine Seite von ihr, die den ehemaligen Diktator von Paraguay zunächst anzog. Doch nun ist es das Einzige, was er um jeden Preis ins Vergessen fegen möchte. Scheiße. Er schlägt auf die Taste. Die Landschaft verblasst langsam, und die vertraute Wohnung kehrt ins Bild zurück. Von der Erinnerung an Marla unangenehm berührt, tritt er an einen hübschen Stapel Platten, und wie jemand nach einer Giftschlange langen könnte, nimmt er ›The City‹ heraus. Die Platte ist wahrscheinlich wertvoller als jedes von den paar verbliebenen Tieren, und wie bei jenen, besitzt nur eine Handvoll Neureiche eine. Wieviele Leute in der Welt können schließlich von sich behaupten, dass sie den Staatsschatz eines ganzes Landes haben mitgehen lassen? Das System, das die Platte benutzt, um das Realitätsfeld zu erzeugen, beruht auf neuen Forschungen zu InterstellarTechniken, und die KI-Formulierungen erfordern, dass das System Brainspace mit dem mächtigsten Computernetz der Welt teilt. Nachdem er die Platte ins Laufwerk eingelegt hat, das in die onyxschwarze Wand eingelassen ist, geht Rhoal zurück zur Virteinheit, die von der Decke herabhängt und deren Nervenstimulations-Drähte wie die Fäden einer Roboterpuppe baumeln. Er setzt sich die Schädelkappe auf, gewahrt sofort den Geschmack von Adrenalin im Mund und fühlt, wie seine Haut schwitzt.
Nachdem er die verschiedenen Sensoren angeschlossen hat, reckt er sich hoch, biegt den Körper zurück und entspannt sich, während er die Taste in seinem Nacken drückt. Eine beschwichtigende Frauenstimme spricht irgendwo in seinem Geist. »Systemstart in fünf Sekunden – vier – drei – zwei – eins – System initialisiert.« Es gibt kein Verschwimmen, keinen Bildwechsel, denn nichts ändert sich an seiner Wirklichkeit. Direkt vor sich hat er dieselbe schwarze Onyxwand, der Computerbildschirm kaum auszumachen in der trüben Schwärze. Rechts sieht er durch das Quarzfenster das Kreuz des Südens. Er macht einen Schritt voran zwischen den Dimensionen, Alice unterwegs ins Spiegelland: eine Hightech-Astralprojektion. Er weiß, dass er in Wirklichkeit – oder in der Wirklichkeit, wie ein Beobachter sie sieht – immer noch an die Virteinheit angeschlossen ist, doch die Welt der Virteinheit, die in ihn projiziert wird, beruht nicht auf irgendeiner Phantasiewelt, sondern wird im Grunde um die Wirklichkeit herum errichtet. Er trottet zu dem Himmelsfenster und schaut auf die verfallende Metropole gut dreihundert Meter weiter unten hinab. Die Stadtschaft ist in Smog eingehüllt, der wie dicker Matsch festsitzt. Elektrostatik-Generatoren halten den Smog im Zaum, obwohl die Schmutzpartikel rapide tiefer sinken, sodass die Straßen bald im Schlick versinken werden, den die Bestie aus Stahl und Beton ausstößt. In der wirklichen Welt steigen zwei sphärische Metalldroiden in den Nachthimmel auf, durchstoßen die Smogschicht, um vor dem Fenster zu schweben. Für Rhoal Laraziz sind sie unsichtbar, denn es sind die Werkzeuge, die seine Reise möglich ma-
chen. In der Virtumgebung tritt er vom Fenster zurück, hebt beide Arme und springt dann mit einem Triumphschrei vorwärts. Er ist ein Gott unter Sterblichen. Zwei Kugeln von blauer Energie bilden sich auf seinen Händen, schnellen dann vor und lassen das Quarzglas zu Schneeflocken zerstieben. »Süße Erinnerung der Macht«, frohlockt er. Er tritt nach den Quarzbruchstücken und steigt auf den Sims. Die kalte Nachtluft erfüllt ihn mit Elan. Er stemmt sich gegen den Wind und lässt sich vorwärts fallen. Der schwefelhaltige Wind küsst sein Gesicht, als er kopfüber fällt, dann in das Meer des heterogenen Smogs eintaucht. Er schmeckt seine Bitterkeit, während er auf die Erde zuschießt. Hinab, hinab, immer schneller, das Straßenpflaster reckt sich ihm entgegen, um ihn in Besitz zu nehmen, indes die unzähligen Neonschilder in eilige Vergessenheit ausflackern. Eine Sekunde vor dem Aufprall bringt sich Laraziz mit einer Willensanstrengung zum Halten. Er richtet sich auf, schwebt dann sanft auf den Beton zu: ein Seuchenvirus, im Begriff, sein Arsenal einzusetzen.
SCHNITT AUF: 12. INNEN. RHINESTONE (COMPUTERRAUM). NACHT Die Affaire mit Anna kommt Velazquez gelegener, als er gegenüber Mord-1 jemals eingestehen wird. Sie arrangiert sorgfältig jedes Rendezvous; so weiß er, dass bestimmte Zeiten und Orte
absolut sicher sind. Die glänzend graue Antistatik-Hülle ist mit einem gelben Klebstreifen versiegelt. VORSICHT! ELEKTROSTATISCH EMPFINDLICHE GERÄTE. NUR AN STATIKFREIER WORKSTATION ÖFFNEN ODER HANDHABEN. Spitze Vorsprünge auf dem Board im Innern haben kleine Spalte in das Plastik gerissen. Es ähnelt den abgedunkelten Fenstern, ein schwarzer Hintergrund von Nacht mit verstreuten Farbpunkten. Velazquez löst die Spangen von einem Kabelstecker und wikkelt eine Sonde aus einem isolierten verdrillten Kupferdrahtpaar ab. Ein Druck gegen den Stift auf halber Höhe des Gegenstücks, und ein Testfunke springt am Ende der Sonde weg. Er schiebt die Sonde durch einen Riss, richtet sie unter dem halbdurchsichtigen Film an einem Masterchip aus und schneidet mit der winzigen, hellen Klaue seiner Sondierpistole das Herz aus dem Gerät heraus. Er notiert die Seriennummer des Concentrator-Boards in seinem eigenen Code. Anna ist noch Minuten weit weg. Er spritzt die kalten Reste aus einem Kaffeepott in ein Diskettenlaufwerk, dann wischt er die verräterischen Spuren weg. Das wird nur ein wahrscheinlicher Mord, doch es gibt zusätzlichen Wert, weil er die Schuld jemand anderem im Büro in die Schuhe geschoben hat. Anna tapst leise den Korridor entlang und in das Büro, als er die Lichtschalter an der Wand abwischt. »He, du hast heute nacht diese Pistole dabei?«, fragt sie und verzieht die Gummilippen mit mehr Lippenstift als sonst zu einem Schmollmund.
»Pistole? Was …« Kalte, beengende Panik erfasst ihn für einen Moment, doch er schafft es, die Angst in leichte Verwirrung umzuwandeln. Anna starrt ihm ins Gesicht und ignoriert die Sondierpistole, die ihm sichtbar um den Hals hängt. »Pistole inner Tasche«, kichert sie. Velazquez grinst erleichtert zurück. »Siehst du, was ich mit Stil meine, Anna? Du hast haufenweise davon.« Die Elritze wird von dem Wal verschluckt.
ÜBERBLENDEN ZU: 13. INNEN. CAFETERIA IN DER UNIVERSITÄT. TAG Das lärmende Chaos des Studentenbundes übertönt beruhigend seinen Bericht an Mord-1. »0,9 K für das Board, Claude. 0,005 K für Kaffeelaufwerk«, sagt Mord-1. »Und dann gibt's 100 K-Piepen Strafe.« »100 K!« Velazquez' Stimme rutscht eine Oktave höher. »Stil, Mord-l-2-RU. Sein Hemd und Unterzeug auf den Kühlschlitzen einer Sun-Workstation zu trocknen, ist öffentlich und plump.« Er atmet geräuschvoll aus. »Kitsch, Mitch.« »Wer hat das gesehen?« »Ein paar Dutzend andere Studenten im PC-Labor mitsamt dem Assistenten, der dich 'rausgeschmissen hat.« »Also wer hat mich verpfiffen?« »Da ist so ein Mörder.« »Wer?« »Mord-l-2-QT, der fürs Petzen deine 100 K gekriegt hat.«
»Ich musste mich zum Affen machen. Ich brauch einen Aufschub, ich habe zu viele Punkte für meinen akademischen Grad zusammengebracht. Wenn ich graduiere, büße ich von meinem Guthaben 250 K-Piepen wegen schlechten Stils ein. Zum Teufel, Mord-1, du kennst die Regeln, du setzt sie durch.« »Das hat man davon, wenn man ein Klugscheißer ist. Verhau einfach eine Prüfung. Geh's ruhig an wie sonst jeder, Peter.« »Wenn ich noch eine Prüfung für den Honours Degree * vermassle, zwingen sie mich, das Studium mit ›Ausreichend‹ abzuschließen.« »Klugscheißer.« »Mord-1.« »Ja?« »Jemand hat Dava etwas angehängt. Hat Mord-1-2-QT das gemeldet?« »Fies, aber geschickt eingefädelt; aber er war kein Mörder. Null Punkte.« »Kommt hin«, sagt Velazquez. »Halt das Chaos in Gang.« »KI decken, KI verstecken.« Velazquez hängt auf. LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF:
*
Ein akademischer Grad mit Auszeichnung, für den spezielle Prüfungen auf einem bestimmten Gebiet abzulegen sind.
ZWEITER AKT
Der Stahlbasilisk
14. INNEN. LKW-KABINE. TAG Die Fahrerkabine des Mack ist heiß, als Calloway einsteigt. Sogar mit seinen Nasenfiltern riecht er in der Luft die Krebs erregenden Substanzen wie Benzol: Teilchen von weniger als 2,5 Mikrometer Größe, die, einmal eingeatmet, sich in der Lunge anlagern und dort bleiben können. Er hat über Jenelle Jardene nachgedacht. Eine Autopsie hat chirurgisch implantierte Behälter mit Multi-Endorphinen ergeben, die zeitlich auf allmählichen Ausstoß eingestellt waren. Das hatte ihn total in die Irre geführt, ihn glauben gemacht, sie sei wirklich von ihm angezogen gewesen und habe wirklich Angst gehabt, als sie ihre Flucht versuchten. Sie war bisher die Beste gewesen. Aber wie weit kann er Toby trauen? Der Regisseur ist nicht länger beim Programm. Elizabeth hat über seinen Zynismus gelacht. »Bleib auf der Höhe der Handlung, mein Lieber«, hatte sie gesagt. Vielleicht hatte sie Recht.
Er lehnt sich gegen das Lenkrad des Macks und schaut auf seine Hände hinab. Er betrachtet sie oft beim Fahren. Sie sind kräftig, braun gebrannt und sehnig. Seine Haut ist strapazierfähig und fest wie Plastik, eine Scheide über Sehnen und Nerven wie über straff gespannten Drähten. Mit seinen Händen nimmt er es sehr genau. Die Nagelhaut ist immer hart und perfekt beschnitten und glänzt; nie gibt es einen Niednagel, und nie sind die Nägel abgekaut worden. Es sind seine persönlichen Waffen, ein scheinbar eigenständiger Teil von ihm, der auf dringende Situationen reagiert, wie es Automaten täten. Heute werden sie jedoch eine sehr kleine Rolle in seinem Auftritt spielen. Es ist eine ›sichere‹ Aufnahme, und es wird gewiss zu keinem Körperkontakt mit seinem Gegner kommen. »Er ist losgefahren.« Tobys dünne, pfeifende Stimme kommt aus dem Steuerpult. »Ich glaube, der blöde Kerl will abhauen, Calloway. Setz deine Kiste in Bewegung.« Calloway tritt aufs Gas. Der alte Mack Value-Liner R700 ist zu groß für das, was er vorhat. Die Handlung verlangt einen Überland-Lastzug, aber das ist lächerlich. Reifen, Windschutzscheibe und Fahrerkabine des Wagens sind kugelsicher gemacht worden. Nichtsdestoweniger ist er viel zu schwerfällig für das, was er tun soll. Der Stahlbasilisk steht in dekorativer Schrift auf der Kabinentür. Calloway hat diese Szene bei früherer Gelegenheit als aufgemotzten Western für Truckies bezeichnet. Während der Mack vorspringt, überlegt sich Calloway, dass Toby mehr als nur ein bisschen nervös klang. Dieser Film bricht in neue Dimensionen durch. Die Verwandten der Vertragsdar-
steller, die ihr Leben an den Film verkauft haben, werden die Lebensversicherungspolice bekommen, doch Der Stahlbasilisk wird an echten Drehorten aufgenommen: auf den Straßen, in den Bars, am Arbeitsplatz von Calloways Fans. Wenn es sich herumspricht, dass Rhinestone live dreht, wird der Drehort von den Medien und vom neugierigen Publikum überlaufen sein. Es ist eine Publicity-Nummer, die Leroy organisiert. Er hat eine Telefonumfrage durchgeführt, die ergab, dass unglaubliche 89 Prozent der Befragten aktiv befürworten, das Publikum sollte einer Gefahr ausgesetzt werden – das zeigte ein deutliches Einschwenken auf die immer stärkeren sadomasochistischen Neigungen der Massen. Die Politiker und die Polizei haben ihre Zuwendungen erhalten, aber die Sache ist höchstens halblegal. »Pass jetzt auf, Calloway!« Tobys wehleidige Stimme. Er meint natürlich ›pass auf das Publikum auf‹. Calloway nähert sich seinem ersten Opfer. Der Junge ist miserabel. Calloway könnte genauso auf Scheiben schießen. Kein Zweifel, Leroy und Toby haben beschlossen, erst einmal ein paar einfache Aufnahmen zu kriegen, nur für den Fall, dass irgendein harter Brocken den Film abwürgt. Leroy und Toby überlassen kaum etwas dem Zufall. Der Junge ist eine Rotznase, ein Halbwüchsiger, der ganz ordentlich fährt, aber nur ganz ordentlich. Sein hochgetrimmter Dodge schwingt von einer Straßenseite zur anderen; er versucht, irgendwie auszuweichen. Er ist rosa lackiert, und was der Fahrer nicht weiß: der Kofferraum ist mit vierzig Litern Benzin präpariert. Das ist keine ökonomische Nummer, wo eine Plastikbombe
viel billiger wäre, hat Toby erklärt, aber sei's drum, explodierendes Benzin knallt lauter, und der schwarze Rauch ist entschieden publikumswirksam in einem Land, in dem sogar Holzkohlengrills vor drei Jahrzehnten verboten wurden. Calloway spricht in sein Reversmikrofon: »Halt dich ans Drehbuch, Junge.« Seine Stimme ist guttural, aber kantig. Der Junge reißt den Kopf hoch, als er den gemurmelten Befehl hört. Sein weißes Gesicht wendet sich herum, und sein Mund bleibt offen stehen wie vor Entsetzen. Was er sieht, ist ein riesiger Mack-Lastwagen, der sein hinteres Wagenfenster ausfüllt, ein heranjagendes Etwas, das alles Licht auslöscht. »Was macht der Junge?« schreit Toby. Sorge liegt auf seinen Stimmbändern. »Was meinst du, Calloway? Er hat eine Scheißangst und will 'raus?« »Ich denke, er hat es auf deinen Hintern abgesehen, Toby«, sagt Calloway grinsend. »Vielleicht sogar auf Leroys. Der ist doch der Hintermann – nicht wahr, Leroy?« »Gib mir das beschissene Mikro!« Gimmirs beschissne Mikro! Leroys Entgegnung wird plötzlich abgeschnitten. »Vergiss den Scheiß und schalt ihn aus, Calloway!«, sagt Toby angespannt. Calloway zuckt im Geiste die Achseln. Für ihn ist das kein Spiel. Es ist sein Leben, sein Lebensunterhalt. Dessen ungeachtet hat er sich nicht die Mühe gemacht, das Drehbuch zu lesen. Er weiß nur, dass er ein rebellierender Truckfahrer ist, dessen Familie vom Mob umgebracht wurde. Welche Rolle er dabei zu spielen hat, kann sich jeder denken. Eine Kleinigkeit nur irritiert Calloway – dass sie, nachdem er den Jungen erledigt hat, die Handlung ändern und die ganze
Passage streichen könnten. Das passiert vielen großen Filmstars, also erst recht den Eintagsschauspielern. Und zum Teufel, er glaubt allmählich, dass er diese Leute kennt. Dieser Junge da vorn – etwas nagt an Calloway. Der Junge sieht so vertraut aus. Nicht in seiner gegenwärtigen Verfassung: kreidebleiches Gesicht, von Urangst gezeichnet, jedes Nervenende im Bewusstsein des unmittelbar bevorstehenden Todes. Aber abgesehen von der Totenmaske weiß Calloway, dass ihn irgendetwas mit dem Toddie verbindet. Er hat die Unterlagen des Jungen gelesen, wie er es immer tut, hat aber bisher nicht den Zusammenhang hergestellt. Es ist etwas Irritierendes, das sich seinem prüfenden Blick entzieht. Laut Drehbuch soll er den Dodge vor sich hertreiben, bis er genug Tempo hat, um etliche Kilometer weiter vorn in den Torbogen aus Beton getragen zu werden. Die Kameras sind aufgebaut, und die Tontechniker sind in Stellung gegangen. »Scheiße!« stößt Calloway hervor. Die Rücklichter des Jungen flammen auf. Er versucht, an den Rand der Straße auszuweichen. Calloway zieht den Truck über den Körper des Dodge, und Calloway schüttelt bedauernd den Kopf. Er sieht, dass der Junge kopflos flennt. Übers Lenkrad gekrümmt, die erstaunten Augen ungläubig aufgerissen, versucht er fieberhaft, seinem Schicksal zu entkommen. »Du bist am Zug, Junge«, sagt Calloway in das Mikrofon der internen Sprechanlage. »Beweg dich, oder ich beweg dich eher.« Calloway fragt sich, warum der Junge den Job überhaupt angenommen hat. Wahrscheinlich hat er einer kleinen HotpantsBiene ein Kind gemacht und beschlossen, das große Geld zu machen. Wer sich meldet, wird nicht immer erledigt. Manch-
mal überlebt man. Aber dieser ist an Calloway geraten. Abgesehen von Jenelle, hat niemand auch nur annähernd Calloway übertrumpfen können: Der Junge weiß, dass er seinen Traum nie wird verwirklichen können, ein Splatterheld zu werden, seine Lady zu heiraten und ein glückliches, normales Leben mit den Freuden der Ehe zu führen. Sie sind ins Stocken gekommen. Leroy schaltet sich ein. »Was machst du denn, Calloway?« Was machstun, Calloway? »Bring den Trottel auf Trab, endlich«, enlich. »Du bist hinter der Zeit!«, hinnerr Zeit. »Das kannst du deinem Frisör erzählen, Leroy.« Calloway schüttelt den Kopf. Er hasst den Geldgeber rachsüchtig, hasst seine quengelnde, fordernde Stimme. »Du willst Action? Sollst du kriegen!« Der Junge umklammert verzweifelt das Lenkrad. Er hat nicht vor, irgendwohin zu fahren. Calloway lächelt. Ein Lächeln, das später einen Hundert-Quadratmeter-Bildschirm auf dem alten Parlamentsgebäude ausfüllen wird. »Komm schon, Junge. Du hast eine Chance, es zu schaffen.« »Mir reicht's!«, schreit der Junge. Er wirft den Kopf verzweifelt herum. »Gegen dich gibt's keine Chance!« Er macht kein Kompliment. Es ist eine pure Tatsache. Calloway schiebt sich an dem Dodge vorbei, dann fährt er vor ihm auf den Seitenstreifen, tritt auf die Bremsen und reißt den Mack in den Rückwärtsgang. Die Kabine beginnt zu vibrieren. Er fährt mit angezogener Hand- und Fußbremse den Motor hoch. Der Motor heult auf, die Schalldämpfer stöhnen, als sei der fossile Treibstoff wieder zum Leben erwacht: der Urschrei eines verdampften Dinosau-
riers. Calloway fährt ruckweise zurück, bis seine Heckklappe mit der Kühlerhaube des rosa Dodge abschließt. Der Junge versucht fieberhaft, die Tür zu öffnen. In seiner Panik hat er die Punktschweißnaht vergessen, die ihn einschließt. Er krallt die Hände gegen das Fenster, dann beginnt er mit blutenden Händen dagegen zu hämmern. Es ist eine sinnlose Geste, die in der Endfassung geschnitten wird. Ein unansehnlicher Blutschleier trübt die Scheibe. Es sieht aus, als habe jemand seine Innereien über das Glas verschmiert. Die Kameraleute wird das mächtig anstinken. Calloway bewegt die Hydrauliksteuerung am Schaltpult, und sein hinterer Stoßdämpfer hebt sich. Ein Kamm aus gezacktem Stahl schwebt über der umgebauten Basis. Er kracht in die Kühlerhaube des Dodge und hakt sich fest. Calloway schaltet durch die Gänge vorwärts. Sie beginnen sich langsam zusammen zu bewegen. Calloway erhöht die Geschwindigkeit, während Adrenalin durch seinen Körper jagt. Er unterbricht den Kontakt mit dem Jungen. Sie haben nichts mehr zu besprechen. Der Truck prescht voran. Der Zeiger des Tachometers beginnt hochzuklettern: 60 … 70 … 85 … 90 … Leroys wütende Stimme schaltet sich ein. »Was, zum Teufel – kannst du nicht schneller?« Calloway weiß, dass die Videoschirme im Studio nicht richtig wiedergeben, mit welcher Geschwindigkeit er wirklich fährt. »Ihr Rücksitzfahrer kotzt mich an«, sagt Calloway trocken. »Und wenn du nicht Acht gibst, verpasst du die Brücke!« Wennu nicht achgibbst, verpasstu die Brücke! »Du bist falsch,
Calloway! Auf die Brücke!« Calloway weiß, dass er zu schnell auf zu hohes Tempo gekommen ist. Wenn er versucht, auf die Brücke zu kommen, überschlägt sich der Truck. Er jagt an ihr vorbei. »Ich glaub's nicht«, hört er Leroy flüstern. »Das kanner doch nich machen.« Er hat bei der Verkehrspolizei dafür gesorgt, dass die vierspurige Autobahn für dreißig Minuten gesperrt wird. Die Aufnahme wird nicht zu wiederholen sein. Calloway hat ihn eben glatt zwanzig Riesen gekostet. Vor Calloway ist Verkehr, hinter ihm nichts. Jenseits des Mittelstreifens ist der Verkehr dicht. Volle Autos mit Familien auf dem Weg nach Norden; Lkws, mit Gütern für die Hochhäuser beladen. Calloway wendet seine Aufmerksamkeit dem Asphalt vor sich zu. Er nähert sich rasch einem großen verzierten Wohnwagen, der sich auf der Überholspur breit macht. Er wird von einem alten Geländewagen gezogen. Calloway springt in die andere Spur. Der Mack ist eine brüllende Bestie, mit der sich niemand anlegen will. »Bistu verrückt geworn?« schreit Leroy. »Du gefährdest die Öffentlichkeit!« Tobys Stimme fällt ein: »Schnitt! Schnitt!« Er klingt, als wäre er im Begriff, sich zu übergeben. Ein dünnes Lächeln verzieht Calloways Gesicht. Die Ader auf seiner Stirn pulsiert. Bei anderen Gelegenheiten hat er einen schmalen Lederstreifen um den Hals getragen, nur um diese Wirkung zu erzielen. Die kleinen CAM-Kameras übertragen seine Aktionen auf ein Dutzend Bildschirme im Zentrum.
Eine dünne glitschige Schicht von Schweiß überzieht Calloways Hände. Sie irritiert ihn. Er ist im Begriff, einen weiteren Vertrags-Todeskandidaten umzubringen. Der Junge wird sowieso sterben. Strahlenschäden, wie es in den MitspielerUnterlagen steht. Calloway schilt sich, dass er überhaupt in die Fallgeschichten schaut. Aber in letzter Zeit … Verdammt! Mit verbissenem Grimm starrt Calloway auf seine Hände, wie sie den Truck über die Trennlinien auf der Autobahn lenken. Sie sind es, die alles organisieren … seine Hände … sie wissen, was sie tun. Sie halten ihn in Gang. Während sich der Mack über den Asphalt arbeitet, wird der Verkehr allgemein dünner. Was die Fahrer sehen, ist ein Truck, zu dem ein rosa Dodge mit heulender Hupe ganz dicht aufgefahren ist. Der Fahrer des Dodge ist ein wahnsinniger Jugendlicher. Wer nahe genug herankommt, weiß, dass er auf Cirrus oder einer anderen modischen Droge ist. Es sieht aus, als habe der Truck Schwierigkeiten. Der Fahrer scheint fieberhaft zu versuchen, seinen Sattelschlepper unter Kontrolle zu bekommen. Dann ist der Mack im nächsten Stau. Limousinen werden wie Spielzeugautos zur Seite geschleudert, manche werden an den Leitplanken entlanggeschoben und bis zur Unkenntlichkeit demoliert. Eine überschlägt sich spektakulär wieder und wieder und verstreut ihre Insassen über dem Asphalt, ehe sie explodiert. Mit ruckartiger Gewalt schlägt das Hinterteil des Dodge gegen einen Geländewagen und der daran hängende Wohnwagen stellt sich quer. Er springt zurück und bringt das Zugfahrzeug ins Schleudern und der umkippende Wohnwagen lässt es
abermals taumeln. Von geborstenen Scheiben ergießt sich eine Lawine von Glassplittern, dann von persönlichen Habseligkeiten, als der aufgerissene Wohnwagen in Stücke zerfällt. Calloway grunzt. Der Fahrer des Geländewagens steht da und fuchtelt ihm mit den Fäusten hinterher. Es läuft gut. Calloway hofft, dass Toby das alles auf Film hat. Der Dodge hängt noch immer fest, denn der Mack hat den größten Teil des Stoßes aufgefangen. Jetzt rasen sie auf ihr Ziel zu. Er drückt ein paarmal auf die Hupe – ein Sprachrohr, das plärrend Ungemach ankündigt. Calloway sieht die hektischen Bewegungen auf der Brücke. Alles muss neu aufgestellt werden. Da sind Richtmikrofone, Kamerakabel und ein Regiestudio, das sich weiter hinten zu schaffen macht. Doch sie sind schnell. Sie haben alle schon mit Calloway gearbeitet. Er bemerkt, dass der Junge über das Lenkrad gesackt ist. Sein Gesicht ist Schnee mit Brandlöchern anstelle von Augen. Es ist das Gesicht des Todes. Calloway beugt sich übers Lenkrad, tanzt zwischen allen Spuren hin und her. Der Dodge wird hin und her gepeitscht. Calloway kalkuliert den Ablauf sorgfältig. Dann weiß er in einem Augenblick blendender Panik, wer der Junge ist. Es ist Johnny Debro, Elizabeth Arlanes Urenkel. »Nein!«, sagt Calloway unwillkürlich. Im Unterbewusstsein hört er Technogebrabbel über den Sprechfunk: Toby und Leroy, wie sie Anweisungen brüllen, fluchen. Er blendet sie völlig aus.
SCHNITT AUF: 15. INNEN. LÄRMERFÜLLTE CAFETERIA. TAG Decca sitzt allein an einem Tisch inmitten der geschäftigen Cafeteria. Velazquez' Nikes machen quietschende Geräusche, als er über das frisch geschrubbte Linoleum fegt. Aus irgendeinem Grund runzelt Decca deswegen die Stirn. »Dava haben sie 'rangekriegt.« Triviale Tatsache. Es war nicht damit zu rechnen gewesen, dass er es lange machen würde. »Echt?« sagt Velazquez mit gespielter Unruhe. »Sie haben seinen Wurm ratz-batz festgenagelt«, sagt sie und schnippt mit den Fingern. Velazquez kommt nicht umhin, ihre neueste Fingerzierde zur Kenntnis zu nehmen: lackierte keramische falsche Nägel in poliertem Chrom. »Ich wette, er hat vorher nicht angeklopft.« »Er schwört, dass er's getan hat. Einfach nur Pech«, sagt Decca, die Stirn noch immer gerunzelt. Sie scheint ganz mit ihren Nägeln beschäftigt zu sein. Rings um sie quasselt und ruft der mittägliche Lärm der Cafeteria. »Ja, 'ne blöde Diskette voll Pocken«, schreit ein vorübergehender Student am Walkman seines Freundes vorbei. Decca schaut plötzlich auf. »Meine Festplatte ist sauber«, sagt sie und bringt die Worte mit temperamentvollem Lächeln hervor. Sie wirft sich einen Chip in den Mund und beißt langsam zu, ehe sie sich mit der Zunge routiniert über die Lippen fährt und Reste aufsammelt. Velazquez' Herz beschleunigt seinen Rhythmus in einer Woge von Hormonen. »Aha«, erwidert er nach reiflicher Überle-
gung. Sie ist am Zug. »Du siehst in letzter Zeit ein bisschen … kränklich aus«, sagt Decca leise, leckt sich die Finger ab und wischt die Tüte zu Boden. »Kann ich etwas für dich tun?« »Ich denke, ich bin ein bisschen überlastet.« »Wie wär's mit 'nem bisschen Overdrive?« »Über deine?« »Drüber, drunter, jedes beliebige Protokoll.« Es ist so weit. Er braucht etwas in seinem Leben als Ausgleich für Anna. Außerdem ist Decca für ihn wertvoller, als ihr bewusst ist. »Ack«, sagt er mit einem Grinsen. *
ABBLENDEN SCHNITT AUF: 16. INNEN. BÜROS VON RHINESTONE (COMPUTERRAUM). NACHT Anna lässt ihn vor den Sicherheitstüren des SupercomputerBereichs warten, wahrend sie hineingeht und ihre Kontrollrunde dreht. Velazquez späht sehnsüchtig durch die Dreifachverglasung und sieht zu, wie sich Anna zwischen den Kojen und Peripheriegeräten verliert. Der GENKAI 3-03 ist heruntergefahren, die Boards schlafen hoch über ihren Kryostaten. Aus dem Flüssigstickstoff-Bad darunter steigen Dämpfe hoch. *
ACK (für Acknowledge) ist der Name des Bestätigungssignals bzw. einer dafür reservierten Leitung bei der Datenübertragung.
Eine Tür wird aufgerissen, und ein kleinwüchsiger Thai in ramponiertem Nadelstreifenanzug kommt halb heraus, dreht sich um, wobei er die Tür offen hält. »Ihr Australier denkt, ihr habt die Computerweisheit mit Löffeln gefressen, aber ich sage, ihr habt keinen blassen Dunst«, schreit er zurück. »Wir haben nur Ihr blödes Handbuch befolgt«, schreit jemand außer Sicht, die Stimme zittert, aber nicht vor Wut. »Überwachung zeigt ruckartiges Rückziehen von Boards. Das macht Risse, das macht Schaden von … äh … thermischer Hysteresis.« »Wir haben sie sachte 'rausgezogen.« »Dann warum zeigt Überwachung Ruck?« »Ich … wegen kaputten Teilen der …« »Hä? Ach, selber kaputte Australier!« Der Thailänder schreitet an Velazquez vorbei, als sei der Luft. Velazquez wünscht sich sehnlich, ein Operator zu sein, der die Boards des mächtigen 3-03 so sorglos 'rausziehen kann. Warum nicht? Anna kommt heraus und hebt eine Augenbraue. »Ich weiß 'nen guten Platz, Packraum, komm mit«, flüstert sie. »Warum eine Gelegenheit ungenutzt lassen?« »He?« »Äh, warum einen guten Raum ungenutzt lassen, ja. Viel weiche Verpackung?« Er drängt sich ungeduldig an sie, schlingt seine Arme um ihren Stiernacken und zieht sie an sich. »Ja. Weich, warm, wie ich.« Sie gibt sich ihm hin.
ABBLENDEN SCHNITT AUF: 17. AUSSEN. BUNTE STRASSENSZENE. DÄMMERUNG, VON LUFTVERSCHMUTZUNG RAUCHIG »Die wirkliche Welt«, spottet Laraziz. Nichts hier kann ihn persönlich berühren, doch für die in seiner Umgebung bedeutet er Leben und Tod. Es ist eine virtuelle Realität, die kaum jemand außer der korrupten Elite erfährt. Auf der Straße drängt sich der Pöbel: Razorboys in ihren körpergeformten Lederjacken, gerippt mit Muskeln andeutenden Strängen und kreuz und quer mit Munitaschen behängt, Prostituierte mit grellem Make-up, um die nässenden Wunden zu überdecken, posieren demütig in Hauseingängen und zeigen ihre begehrtesten Besitztümer, Drogenhändler in Pelzimitation, die Kragen gegen Regen und Erkennen hochgeschlagen, den Kopf gesenkt und die Hände in den Taschen, Armeelatscher in der Stadtschaft angepassten tarnfarbenen, kugelsicheren Overalls, die Waffen lässig über der Schulter – die einzigen Gutgenährten, die man im Pöbel zu Gesicht bekommt. Laraziz lächelt und geht auf sein auserwähltes Opfer zu. Der Händler ist ein Schrank von einem Mann, die Sorte, die Laraziz besonders zuwider ist, nachdem er in einem vom Hunger geplagten Land aufgewachsen ist. Und das ungeachtet der Tatsache, dass durch seine eigene Schuld das Land in die schwerste Krise seiner Geschichte gestürzt wurde. Der Händler hat eine raue Stimme, gewöhnt an die Umstände, in denen er sich befindet. Er verkauft proteinreich aufge-
motzte Nahrung. Die Sonden schweben auf den Mann zu, scannen seinen Geist ab, um seine Persönlichkeit ins System zu laden. Der Händler lächelt kurz, sein Gesicht ist von langjähriger Bergbauarbeit auf dem Mars wettergegerbt, und seine Augen lassen Anzeichen einer Adrenalinsucht erkennen, die er noch anstoßen muss. »Na, das ist wirklich ein Vergnügen, die Bekanntschaft eines ›Luftjungen‹ oder -mädchens zu machen, was Sie auch sein mögen«, knurrt er. »Hab in dieser Gegend längere Zeit keinen mehr gesehen; am wohlsten scheinen sie sich jetzt in den Subaqua-Grünzonen zu fühlen. Quarkblinzen, gefillte Fisch, Matzekugeln? Was möchten Sie?« Das Gerede wird in Laraziz' Realität eingefügt, obwohl in der Realzeit der Händler Laraziz' Erwiderung nicht hören kann. Das Scannen seines Geistes hat es dem System im Grunde ermöglicht, diese Person einzubeziehen, und ihn eigentlich im Cyberspace wiedererschaffen, und es ist dieser Ersatz-Händler, mit dem Laraziz nun sprechen wird. »Was mir sehr gefallen würde …« – er packt den Händler hart am Arm – »ist, dir diesen beschissenen Arm abzureißen …« Das Gesicht des Händlers ist bleich, und blankes Entsetzen quillt aus seinen Augen. Er übergibt sich, als sich sein Fleisch ablöst, dann rutscht er auf den widerlichen Säften seines Magens und seiner Innereien aus. »Und jetzt«, fährt Laraziz fort, »wirst du deinen Arm essen.« Er legt den zuckenden Körperteil in den Megawellen-Herd, drückt den Startknopf, nimmt ihn Sekunden später wieder
heraus. Er löst ab, was vom Hemdsärmel des Händlers übrig ist, und hält ihm den dampfenden, geschwärzten Arm vors Gesicht. »Neineinein …«, bettelt der Mann. »Jemand soll die Armee rufen!«, kreischt er, aber das Mitgefühl der Straße ist vor Jahrzehnten erstorben. Laraziz zieht die Brauen hoch, als die Passanten ihren Schritt beschleunigen. Er lächelt engelsgleich. »Heute offensichtlich nicht.« Er stopft dem Mann seinen Arm in den Mund. Der würgt trocken, als er sich aus Laraziz' Umarmung windet. Iss, bedeutet ihm Laraziz mit Gesten. Der Mund des Händlers öffnet sich langsam, dann bricht er bewusstlos zusammen. Laraziz murmelt »na, na« und bringt mit einem Willensakt den Mann wieder zu Bewusstsein. Mit ekelhaft kläglichem Ausdruck beißt der Mann zögernd in sein eigenes angekohltes Fleisch. »Kauen und schlucken«, sagt Laraziz melodisch. Sein Blick verschwimmt vor Vergnügen, ein Fix wie sonst keiner. Der Händler beißt zu, würgt und spuckt das misshandelte Fleisch aus. »Gnade!« Laraziz schüttelt bedauernd den Kopf. »Du wirst langweilig.« Er langt nach dem Gesicht des Mannes, stößt dann seine gespreizten Finger in dessen Augenhöhlen. Die Augäpfel springen wie Korken heraus. Dann drischt er auf den Kopf des Mannes ein, bis er sich vom Hals löst. Blut sprüht über das rissige Pflaster wie die Graffiti einen irren Neo-Ludditen. Laraziz lässt den in Nervenspasmen zucken-
den Leichnam zu Boden fallen. »Hübsche Malerei«, sagt er, während das Blut die Mörtelspalten hinabkriecht. Wie ein euphorisches Kind geht Laraziz auf die Mitte der Straße. Er steht da, den Arm gerade vorgestreckt, und zeigt seine Trophäe wie eine Bowlingkugel. Altertümliche Fahrzeuge hupen ihn an, während er ihrer Annäherung geschickt ausweicht. Gelegentlich tritt er nach ihnen und schickt sie schleudernd gegen Fußgänger oder Häuserwände, wo sie explodieren, Krüppel und Tote hinterlassen. Mit einer Geste unendlicher Macht hebt Laraziz den Arm und teilt den Verkehrsstrom. Fahrzeuge überschlagen sich, Menschen brüllen ihren Zorn heraus, Anarchie ist Laraziz' Vergnügen. Die Straße ist nun Unheil verkündend leer. Laraziz beginnt zu laufen, den abgetrennten Kopf des Händlers in der Hand, wird allmählich schneller. Dann schleudert er den Schädel, der mit unmöglicher Geschwindigkeit auf die mittelweit entfernten Mietshäuser zurast. Sekunden später zerreißt eine Explosion die Luft. Ein Gebäude stürzt gegen ein anderes, Körper fallen, schlagen auf der Straße auf und werden zweidimensional wie bei Jackson Pollock. Laraziz springt in die Luft, die Faust emporgereckt. »Guter Wurf! König des Scheißhaufens!«, schreit er wild. Ohne eine bestimmte Richtung vorzuziehen, lässt er Tod und Zerstörung hinter sich und wagt sich nach Druid's Corner, die Einbahnstraße zur Hölle mit Videoarkaden, McDonalds, Huren. »Huren?«
Ausgesucht böse Gedanken kommen ihm in den Sinn, wo er kalkuliert, Pläne schmiedet und das weibliche Fleisch taxiert.
SCHNITT AUF: 18. AUSSEN. TELEFONZELLE. FRÜHER MORGEN Velazquez holt Mord-1 früh um vier aus dem Bett. Wind bläst den Gestank von Urin durch die zerschlagenen Scheiben der Telefonzelle hinaus, während er dem fernen Klingeln zuhört. Es ist beißend kalt, doch das Unbehagen, das er fühlt, ist vergessen, während er die Rufzeichen mitzählt. Elf, zwölf … »Du solltest einen verdammt guten Grund haben!« schreit Mord-1. »3-03 abgeschrieben, erledigt von Mord 1-2-RU.« »Red keinen Stuss! Was ist mit der Sicherheit?« »Ich hab doch Mrs. Sicherheit aufs Kreuz gelegt, weißt du noch? Hab ihr gesagt, ich mach es gern an richtig aufregenden Orten, sie sagt, wie wär's mit dem Supercomputer-Raum, sie hat den Schlüssel. Ich sag ja.« »Weiß sie es?« »Nö. Hat mich für … 9,5 Sekunden allein gelassen, um eine Vidkamera zu kontrollieren. Ich brauchte bloß neun, um die Boards zu erledigen.« Schweigen in der Leitung, abgesehen vom fernen Tastenklakken. »Dafür könntest du 5 Meg kriegen, vielleicht mehr, bis zu 8. Du bist nahe an 10 Megapiepen, alles auf einen Schlag, nahe dran, selber ein Mord-1 zu werden. Dann bist du in der hiesigen
Mordzelle mit mir, Lear.« »Mord-l-2-RU gibt eine Falle bekannt. Decca Higgins, Studentin an meiner Uni.« »Eine Falle auf Verdacht also.« »Schön wär's, Mord-1, aber ich weiß, dass sie Mord-1-2-QT ist und sich die 100 K von meinem Guthaben geholt hat. Ihre Software hab ich auch hochgenommen.« »Scheiße.« »Auf Einladung, klar? Sie sucht mein Vertrauen, hat nach jeder Nummer Passwortraten mit mir gespielt. Wenn sie es 'rauskriegt, kannst du deine Eier wetten, dass in meiner Partition in der IBM ein Virus-Testrahmen auftaucht und die Pokkenpatrouille ihn vor mir findet. Es geht das Gerücht, dass sie Davas Wurm mit einer eingebauten Spurfunktion geimpft hat. Der Administrator hat ihn erwischt, noch ehe er vom Campus war.« »Du denkst also, diese Decca ist QT, Ray?« »Sicherer Fakt. Du hast die Falle registriert?« »Ist gemacht, RU. Bist durch und durch 'n Mörder. Halt das Chaos in Gang.« »KI decken, KI verstecken.«
SCHNITT AUF: 19. INNEN. DECCAS SCHLAFZIMMER. NACHT Sie liegen zusammen auf Deccas Matratze, diffuses orangefarbenes Licht von Natrium-Straßenlampen erhellt den Bambusvorhang von hinten wie eine monströse Parodie auf einem
bernsteinfarbenen Monitor. »Das Weltnetz ist wie eine neue große Grenze«, sagt sie schläfrig und verträumt. »Egal, wie sehr man es erkundet und darin herumhackt, es wächst immer weiter.« »Eher wie ein Dschungel«, sagt Velazquez, der hellwach ist und die blauen Ziffern auf ihrer Radiouhr auf 2.07 Uhr zustolpern sieht. Er hat ihr Passwort auf einem IBM-Server der Universität geknackt. IRQTRU * war ihr ziemlich offensichtliches Cyber-Passwort für diese Woche, zu Ehren ihres neuen Liebhabers/Opfers. 2.07 Uhr wird das Überwachungsprogramm ihrer Partition einen verzögerten Prozess zu starten versuchen. 2.07 Uhr wird dieser Prozess übel schief gehen, während er versucht, eine bessere Version von Davas Wurm zu aktivieren. 2.08 Uhr wird auf der IBM der Alarm losgehen, und überall im verteilten Netzwerk der Universität werden Software-Schotts niederrasseln. Am kommenden Vormittag wird Decca vor Schuld nicht mehr aus den Augen sehen können und auf dem Wege aus der Universität sein. Wenig später wird Velazquez einen ordentlichen Batzen von ihrem Schadensguthaben besitzen. »Ich möchte in diesem Dschungel die größte Mieze sein«, gesteht Decca in einem Augenblick schläfriger Zerstreutheit. Ihr Gesicht kringelt sich still zu Streifen bernsteinfarbenen Lächelns. *
Die Buchstabenfolge enthält die Pseudonyme der beiden, QT und RU, aber auch die Computer-Abkürzungen IRQ (für Hardware-Interrupts) und TRU für den logischen Wert TRUE. QT spricht sich englisch übrigens wie cutie, ›Süße‹.
Wäre Velazquez weniger selbstsicher gewesen, so hätte er wohl etwas mehr als ihren Narzissmus spüren können. Als er am nächsten Morgen aufwacht und Decca nicht mehr in seinem Bett ist, packt ihn die Furcht so hart, dass er beinahe daran erstickt. Er hat sich noch nicht einmal angezogen, als die InduSpi-Agenten durch seine Garagentür hereinkommen, als sei sie aus Balsaholz. Mord-1 hat wirklich eine Falle registriert. Aber nicht seine. Velazquez lächelt noch vor Bewunderung, als die Beamten ihn unsanft von seinem Duroform reißen. Ihr braucht doch nicht die Tür 'rauszureißen, Leute; manch einer hat Kaution hinterlegt. Die perfekte Gegen-Gegenintrige. Die Tage, da er mit Computern herumgebosselt hat, sind vorbei. Dafür werden die Hirntanks der Regierung sorgen.
HARTER SCHNITT AUF: 20. INNEN. SCHWACH BELEUCHTETES SCHLAFZIMMER (VON MORD-1). SPÄTER NACHMITTAG Gefiltertes Neonlicht von Mikroblenden zeichnet Streifen auf zwei nackte Körper. Der zur Rechten – in der Ikonographie des CyberNet – ist ein innovativer Provokateur. Er bricht alle grundlegenden Regeln und stürmt auf Gebiete, wo sich seine Kollegen Deckjockeys nicht hinwagen. Daher hat ihn seine hedonistische Einstellung neuerdings dazu gebracht, seine Mordzelle mit Decca Higgins zu teilen. Manche lernen nie, trotz aller Warnsignale.
Decca erwacht zuerst. Es war ein arbeitsreicher Tag für sie. Eine Gewinnsträhne. »Buzz?« »Hmmm?« «Zeit zum Anziehen. Ich hab Hunger. Ich bin dran.« Buzz öffnet bleierne Lider. Sein Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln. »Du hast dem Velazquez so ein gutes Ding verpasst«, murmelt er mit Genugtuung. Seine Position als Mord-1 ist jetzt völlig sicher, dank seiner neuesten Konkubine. Decca schaut zu seinem SUN KE 2051 hinüber. Er steckt voll ausgeschlachtetem RAM – seinerzeit eine heiße Kiste, aber jetzt so untüchtig wie ein Plastikausweis. Sie weiß, dass er mit einem System samt Datenbank gespielt hat, um ein BanksystemInterface zu emulieren. Sie kennt sogar einen hochrangigen Hacker, der ein Kunde war. Doch diesem Mädchen genügt das nicht. Sie will einen neuen Ansatz – sie ist wirklich scharf auf ihn. Sie schlingt die Hände um seinen Hals und küsst ihn aufs Ohr. »Weißt du, was ich an dir so mag«, flüstert sie verführerisch. »Du bist so verdammt antibürgerlich.« »A-ha.« Träge. Voller Zufriedenheit. Er steigt aus dem Bett und zieht seine Hosen an. Er grinst schief zu ihr herab. »Und was mir an dir gefällt – du weißt schon, Joan?« Sie schürzt die Lippen und deutet einen Kuss in Richtung seiner Genitalien an, ehe sie Verstecken spielen. »Ich weiß.« »Sieh dir mal das an, Fun«, sagt er und zeigt ihr Schnappschüsse aus dem Datenstrom von seinem Modem auf einem kleinen Bildschirm. »Das ist einer von meinen … äh … Bankkunden. Diesmal versucht er es mit einem Wurm. Ganz schlau
auch. Siehst du hier? Das nennt man DNS-WurmcodeEindringen. Er schleust ein paar harmlose Bits Code ein, sie linken sich zusammen, dann bilden sie einen Prozess, der gerade lang genug ist, um ein paar Tricks zu machen und Systeminformation zu speichern. Dann löscht er sich selbst – löscht sich selbst, wenn jemand versucht, ihn zu betrachten.« Decca setzt sich auf. Ihre Begeisterung für diese Sache wächst. So sehr, dass sie ihre Angriffsrichtung ändert. Sie möchte keineswegs, dass die Behörden von der Mordzelle erfahren. »Das ist einfach so verdammt unglaublich, Buzz«, schwärmt sie. »Na ja, klar.« Buzz macht einen kleinen Rückzieher. Will sie sarkastisch sein, oder was? Ausgeschlossen, wo ihr diese Begeisterung ins Gesicht geschrieben steht. »Ich habe mir ein bisschen Zeit auf einem vernetzten Cray PA-32 organisiert, um ein paar rekombinierende Codeoptionen vorzunehmen. Vor einiger Zeit hat dieser Kerl versucht, Befehle in Strings einzufangen, die der Unix-Superuser aufnehmen sollte. Schlau, der Versuch – es ist eine Technik, die als unmöglich gilt. Ich habe seine Arbeit Bit für Bit überwacht. Hab den ganzen Kuchen geschluckt. Wissen ist Macht.« »Halt das Chaos in Gang.« »KI decken, KI verstecken.« Gelächter, Buzz geht was zu essen machen. Kommt gar nicht in Frage, dass er diese Mieze heute aus seinem Schlafzimmer lässt. Decca wartet, bis sie die Mikrowelle rotieren hört, ehe sie geradewegs zu seinem Müllschlucker geht. Sie hat Glück – es ist noch nicht geschreddert worden. »Wer meinen Müll kennt, kennt mich«, sagt sie leise, wäh-
rend sie systematisch wühlt. Papiertaschentücher, Haar, zwei benutzte Nahkampfsocken – äks! … eine Rechnung für die Bayside Sands. Sie merkt sich das Datum und den falschen Namen auf der Rechnung. »Du hast 'ne Bude, warum dann zum Muschifüttern in ein Motel?« wundert sie sich. Sie kontrolliert seine Garderobe. Ein dunkler Anzug, sauber und gebügelt, geputzte Schuhe, die unter schmutziger Wäsche hervor lugen. Tarnkleidung, kein Zweifel.
LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF: 21. STRENG SACHLICHES BÜRO (DESPREY & ODDESKY). MORGEN Simon Desprey und Ewen Oddesky sind InduSpi-Agenten. Oder das ist es, was bei Rhinestone alle glauben sollen. Es ist ihr Job, die Cyberzecken-Netze und dergleichen im Zaum zu halten. Gerüchtweise heißt es, dass die Agenten mehr tun, als nur Hardware zu debuggen. Dass es um harte Sachen geht. Aber momentan ist es ziemlich ruhig. Desprey liest einen Brief zum dritten Mal, dann knüllt er ihn zusammen. Er schaut zu Oddesky hinüber. »Da steht: Der sich nennt Jimmy Rand, macht viel am Mobil, seid helle zur Stelle.« »Also das ist Cybervandalen-Slang. Irgend so ein Scheißer, der sich Jimmy Rand nennt, benutzt von Bayside Sands Motel draußen beim Palm Valley aus ein Mobil. Ich denke, er benutzt einen Pagetop, um sich irgendwo 'reinzuhacken.«
Oddesky nickt schweigend. Sein kurz geschnittenes graues Haar, der scharfe Blick und harte Züge kennzeichnen ihn als einen gefährlichen Mann. »Ja«, stimmt sich Desprey selber zu. »Diese Methode ist praktisch nicht aufzuspüren. Der Mann zahlt Motelrechnungen, um seiner Schwäche nachzugeben, und jemand möchte ihn verpfeifen – muss ein großer Brocken sein.«
SCHNITT AUF: 22. INNEN. MOTEL-RAUM (MIT BLICK AUF PALMEN). TAG Buzz logt sich mit seinem Laptop ein. Telnet donald an der Melbourne University, Telnet saxon in Oxford, Telnet Y-34WR in Fort Knox. Es ist eine kurze Folge von Telnet-Logins, doch er fühlt sich sicher. Diese Sache wird kurz und grob sein. Es zahlt sich aus, wenn man seine Finger sogar in den kleinen Sachen drin hat. Wahrscheinlich wird er den Schaden nicht einmal den japanischen Mordkönigen melden. Könnte das kleine Guthaben sogar an Decca abtreten. Sie ist irgendwie nett. Solange sie nicht zu sehr auftrumpft. Decca. Velazquez. Die Namen purzeln nacheinander vorbei. Er steht auf und geht langsam auf dem Linoleum hin und her. »Nö. Decca?« Der Gedanke sitzt im Hintergrund seines Denkens fest wie ein hartnäckiger Bug. Buzz streckt sich und schaut auf die trockene Landschaft da unten hinaus. Seine Augen fallen auf das Pflaster unten. Zwei Kerle in Schwarz. Einer ein riesiger Neger, der andere ein Typ,
mit dem man sich rasieren könnte. Gäste von den Bayview Sands sind das nicht. Er ist zur Tür hinausgerannt, noch ehe Desprey und Oddesky begonnen haben, den Lift auszulassen und drei Stufen auf einmal zu nehmen. Im Fahrstuhl nach unten hat Buzz seinen Anzug weggeschmissen. Er hat jetzt sein kurzärmeliges kitschiges Hawaiihemd an, Khaki-Schlumperhosen und Nikes mit dicken roten Socken. Er zieht die Chrom-Spiegelbrille von der Stirn herunter und verlässt den Laden, als wäre er ein Tourist bei einem Mordsabenteuer. Er weiß es nicht mit Sicherheit, doch er rät richtig, dass Desprey und Oddesky gerade die Eichentür aufgebrochen haben und Desprey in diesem Moment alle Lästerungen hervorstößt, die ihm auf die Zunge kommen. Buzz ist nicht mehr Mord-1. Er ist ein Mann auf der Flucht. Nur gut, dass er seinen Job tagsüber nie aufgegeben hat.
BLENDE AUS BLENDE AUF: 23. AUSSEN. SCHNELL FAHRENDER TRUCK, DICHT AUFGEFAHREN EIN PKW. EINE SCHWARZE RAUCHWOLKE AM HORIZONT. TAG Calloway und Debro sind auf der Brücke. Calloway wirft das Lenkrad herum und tritt auf die Bremse. Der große Mack dreht in einem Halbkreis herum. Eine ganze Seite des Dodge kracht gegen die Mauer und reißt sie in Stücke. Die Tür springt auf.
Sitze schießen heraus. Der Junge wird in einem atemberaubenden Bogen aus dem berstenden Dodge geschleudert. Er liegt als Klumpen auf der Brücke. Aus der tödlichen Umarmung des Trucks losgerissen, überschlägt sich der Dodge einmal, zweimal, bis er schwer auf dem reglosen Körper des Jungen zu liegen kommt. Der versteckte Treibstoff fängt Feuer und explodiert in einem Feuerball. Das Aufnahmeteam hält sicheren Abstand. Als die zweite Explosion kommt, erschüttert sie die Brücke bis in die Grundfesten. »Jesus, nein«, flüstert Calloway. Doch er behält es für sich. Das ist nicht die Zeit, um Gefühle zu zeigen. Am Abend bringen die Nachrichten auf allen Kanälen die Geschichte von dem heldenhaften Truckfahrer, der alles in seinen Kräften Stehende versucht hat, um von dem selbstmörderischen Fahrer wegzukommen, der versuchte, ihn von der Autobahn zu drängen. Es gibt jede Menge Zeugen … Kleindarsteller, die freischaffend arbeiten, geben anschauliche Schilderungen vom Drama des Tages auf der Autobahn. Der Truckfahrer, der Leroy aufgetrieben hat, gibt eine glaubhafte Beschreibung der Ereignisse. Dem Publikum erzählt man, Johnny Debro habe vor kurzem erfahren, dass er an einer tödlichen Krankheit litt. Verwandte werden bemüht, um zu bezeugen, wie es in letzter Zeit mit ihm bergab ging. Es war ein tragischer Fall von gewaltsamem Selbstmord. Um ehrlich zu sein, Johnny hatte seinen Lohn verspielt, indem er vom Drehbuch abwich und zu entkommen versuchte. Wenn die Begünstigten ihre Auszahlungen einstekken wollen, müssen sie mit Rhinestone zusammenarbeiten.
Calloway war einfach ›da 'nüber‹ * gegangen. Er war aus seinem Truck gestiegen und ausgeblendet worden. Während er sich auf seinem Viewer die Nachrichten ansieht, hebt Calloway ironisch das Glas auf die Berichterstattung. Die geschickte Inszenierung hat sich wieder einmal durchgesetzt. In der Nacht wird festgestellt, dass jemand Johnny Debros Dateien entschlüsselt hat. Es gibt ein hektisches Treiben, um die im neunten Monat schwangere Sheila Debro zu eliminieren, aber sie sind nirgends aufzufinden. Anscheinend hat irgendein Wohltäter sie weggezaubert und ihnen neue Identitäten verpasst. Die Debro-Dateien werden zu nie vorhanden gewesenen Dingen. Johnny wer? Nicht alles ist koscher bei Rhinestone. Leroys Beziehungen halten aber. Am Nachmittag brüllen die Schlagzeilen auf den Nachrichtentafeln in hellem LED-Licht: »Heldentrucker bezwingt Wahnsinnsfahrer!« Calloways Name fällt bei mehr als einer Gelegenheit. Abgesehen von der Debro-Sache, wo er ein Hauptverdächtiger ist, ist er diesmal zu weit gegangen. Es hat Tote gegeben, und sie können ihre Aufnahmen nicht verwenden, wenn sie bei ihrer zusammengebastelten Geschichte bleiben wollen. Es wird eine Untergrund-Ausgabe werden müssen und nie einbringen, was eigentlich drin wäre. Spät in der Nacht haben Tobys Schlaftabletten endlich die Oberhand gewonnen. Er sieht bizarre Träume, in denen Callo*
Im Original ›that-away‹: in ziemlich unbestimmter Richtung fort (Der Ausdruck kommt oft in Western vor).
way in einem spektakulären Showdown übel zugerichtet wird. Er wälzt sich in seinen Träumen bis früh um drei. Rhinestones zweitgrößter Bringer wird ins Gespräch gebracht. Rip Cruiser bringt eine Menge, aber das meiste von seinem Zeug ist getürkt. Er zieht eine ziemlich breite Spur durch die Schwulenbars. So breit, dass er allmählich zu einer Belastung wird. Die Geschäftsleitung kommt fast wie ein Mann zum selben Schluss. Im Zweifelsfall den Schwarzen Peter weitergeben. Toby wird aus dem Bett geholt, und sie sagen ihm, er soll schleunigst eine Lösung finden. Schließlich ist es die Schuld des Regisseurs, wenn er mit seinen Schauspielern nicht fertig wird. Oder? Die Antwort erweist sich als ziemlich einfach. Lasst beide im selben Splatterfilm spielen. Sie können sogar denselben Titel verwenden, Der Stahlbasilisk. An Calloway treten sie zuerst heran. Nachdem er sich ihren Vorschlag angehört hat, hat er nur eine Frage: »Kann ich ihn umbringen?« Klar, lautet die Antwort. Rip Cruiser hat dieselbe Frage gestellt.
BLENDE AUS SCHNITT AUF: 24. AUSSEN. HELL ERLEUCHTETER BÜRGERSTEIG. NACHT »He, Luftjunge? Wie wär's mit 'n bisschen Spaß?« In Wirklichkeit wendet sich das Mädchen an die mobilen
Sonden. Selbst virtueller Sex ist noch ein Angebot, das etwas einbringen kann. Ein besonders reif wirkendes Mädchen, ›gekleidet‹ in den neuesten durchsichtigen Latex-Bodyanzug, fällt Laraziz ins Auge. Es ist wahrscheinlich die Art, wie sie es vermeidet, ihn durch die Sonden hindurch anzuschauen, die seine Aufmerksamkeit erregt. Das und die Tatsache, dass sie seiner Frau überraschend ähnlich sieht: 89-64-89 genetisch verstärkte paraguayische Schönheit; schwarz glänzendes Haar, nach Art der Razorboys kurz geschnitten, volle Lippen, türkisfarben gefärbt, die perlweiße Zähne umrahmen, ein dunkelorange Bodyanzug, der ihre Muskulatur umschmeichelt wie eine makellos goldfarbene Bräunung. Wenn er Marla nicht den Hals umdrehen kann, könnte eine Stellvertreterin schon genügen. Nur vorläufig natürlich. Im Cyberspace nähert sich Laraziz ihr. Sie sieht viel jünger aus, als ihr mit Rouge bedecktes Gesicht zunächst annehmen ließ. Verdammt, aber sie sieht seiner Frau so ähnlich! »Süßfleisch«, sagt Laraziz. »Du kommst mit.« Sie zögert und ist irgendwie ängstlich, doch sie schleicht zu ihm, und er legt väterlich den Arm um sie. Er geht mit ihr zurück zu seinem Appartmenthaus, dann, als er es nicht mehr abwarten kann, beschließt er zu fliegen. Sie quiekt, als sie in die Luft gehen. Sie krallt die Finger in ihn, als sie mühelos nach oben ziehen. Marla freilich hat nie geschrien. Als die Smogzone näher kommt, denkt Laraziz ein Loch in sie hinein, um die stinkenden, giftigen Gase nicht einzuatmen. Einen Augenblick lang verspürt er einen starken Drang, das
Mädchen einfach fallen zu lassen und ihren Sturz bis zum unvermeidlichen, Übelkeit erregenden Aufprall zu verfolgen. Doch aus diesem Gedanken knospen Szenarien von sadistischerer und vulgärerer Art. Er geleitetet sie nonchalant durch das gähnende Loch, wo sein Fenster gewesen ist. Als sie drin sind, repariert er den Schaden in Gedanken, und augenblicklich hört der Wind auf, dann senkt sich mit Unheil verkündender Endgültigkeit Stille herab. Die Virteinheit baumelt noch immer von der Decke herab, und es ist eine seltsame Empfindung für ihn, dass er sich in der Realzeit eigentlich genau im selben Zimmer befindet und an seinen Apparat angeschlossen ist. Das Mädchen steht scheu am Fenster, als wollte sie gern weg. Draußen lässt eine Wolkendecke wie eine düstere und machtvolle Zauberei die Stadtschaft versinken. »Also, meine hübsche kleine Nymphe. Lass das Vergnügen beginnen!« Das Mädchen drängt zurück, als er sich nähert. Ein kleiner Mann mit einem großen Hass, in eine Armee-Latzhose gekleidet wie ein Macho-Guerilla, der vom Cirrus high ist. Böse Erinnerungen stürzen auf sie ein. Zehntausend Todesschreie, die zugleich als Echo durch eine Orgelpfeife stürzen. »Bitte, tun Sie mir nichts.« Ihre Stimme hat den singenden Tonfall eines Kindes. »Ich hab das noch nie gemacht.« »Ho! Das ist ein starkes Stück. Aber im Grunde ist es mir egal, ob du mit hundert Männern, drei Hunden und einer ungarischen Salami gefickt hast.« Laraziz führt sie ins Schlafzimmer und hilft ihr, sich aus dem
Neopren-Bodyanzug zu schälen. Er fällt zu Boden, und er tritt zurück, um Gottes Handarbeit zu bewundern. »Die Schwerkraft verlangt ihr Recht«, sinniert er, als ihr Fleisch nachgibt. Der Bodyanzug hatte ihn bewundernswert geformt. »Na schön.« Er streckt eine Hand aus und lächelt, als sie sie nimmt. Er küsst sie sanft auf die Stirn, ehe er sie anhebt und zum Bett trägt. Seine plötzliche Fürsorglichkeit bringt ein müdes Lächeln zum Vorschein. »Du bist so stark«, murmelt sie. Laraziz nicht bedächtig. »Mächtig ist das passende Eigenschaftswort, mein kleines Blütenblatt. Mächtig.« Er beugt sich über sie, legt ihre Arme und Beine zu einem doppelten V, dann langt er an der Seite des Bettes hinunter. Es gibt ein plötzliches pneumatisches Zischen und Schnappen, als sich stählerne Bänder um ihre Hand- und Fußgelenke schlingen. Aus ihrem Gesicht weicht die Farbe, als sie vor Schreien keine Luft mehr bekommt. Furcht und Adrenalin schlagen zu ihm hoch und beflügeln ihn. Das ist stärker als jede künstlich hergestellte Droge, ob intelligent oder nicht.
LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF: 25. INNEN. MODERNE WOHNUNG. NACHT Nachdem er die Überreste zum Fenster hinausgeworfen hat, geht Laraziz im Zimmer auf und ab. Er langt an sein Genick
nach der Abschalttaste. Die Virteinheit hängt leblos vor ihm, und er kommt auf den Gedanken, zu sehen, wie real dieses virtuelle Zimmer eigentlich ist. Er klemmt sich an. Ein virtuelles Zimmer verblasst, dasselbe erscheint. Er tritt vor, dreht sich um, sieht die Virteinheit, die wieder leer dahängt. Mit zunehmender Irritation wiederholt er den Vorgang. Er geht im Zimmer auf und ab. Es ist wahrscheinlich an der Zeit, abzuschalten, aber die Alternativen zu dieser Welt, die er jetzt bewohnt, genauer gesagt, beherrscht, sind nicht verlokkend. Unvorstellbar reich zu sein, scheint oft weniger befreiend zu sein, als sich die in den Niederungen vorstellen. Teure Restaurants und pneumatisches Golf befriedigen einfach nicht das, was er als natürliches Elementarbedürfnis empfindet. Gelangweilt drückt er auf die Escape-Taste an seinem Nakkenansatz. Als wäre innen ein Thermostat abgeschaltet worden, fühlt Laraziz, wie ein vertrautes Kribbeln jedes seiner Nervenenden berührt. Er wappnet sich gegen den Drang, seinen Darm, Blase und Magen zu entleeren, und gegen die gar zu widerliche 3-Ge-Kraft, die ihn in die Wirklichkeit zurückschnellen wird. Das Abschalten findet nicht statt. Logik und Vernunft kämpfen um die Kontrolle, als er sich an das Not-Abschaltsystem erinnert, das sich bald einschalten wird, wenn es die plötzliche Veränderung der galvanischen Hauttemperatur misst. Er schaut auf seine Uhr und zählt. Er wartet dreißig Sekunden, ehe das übliche Ausblenden eintritt, das schimmernde Hinübergleiten von einer Dimension zur nächsten. Die Wirklichkeit! Er lacht und schimpft auf seinen Verfolgungswahn.
Er spricht in seine Interoffice-Memobank. »Nachricht an Hyperreal schicken und jemanden kommen lassen, der diese beschissene Maschine repariert.« Er geht zum Servierautomaten und verlangt ein Glas Wasser, echtes importiertes Gletscherwasser. Eine Stimme hinter ihm lässt ihn zusammenzucken. »Was ist los, Mister? Holt Sie die harte Wirklichkeit ein?« Es ist die Prostituierte, die er vorher defloriert und zerstükkelt hatte. Nur der Neopren-Bodyanzug hält ihre Körperteile zusammen – Organe, Muskeln, Sehnen drücken von innen gegen das vorgeformte Material, selbst jetzt, da er mit morbider Faszination hinschaut, dringt eine Mischung zäher Flüssigkeiten aus Ärmeln und Beinen. Also ist er noch im Cyberspace. Er hat die Virteinheit wieder und wieder aktiviert. Wie oft? Fieberhaft fingert er nach der Escape-Taste, krallt die Hände in sein Genick wie ein Tier in einer zugeschnappten Falle. Wieder wird ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht. Das System müsste sich automatisch abschalten! Das Mädchen kommt methodisch auf ihn zu, die Hände in der Parodie eines Flehens ausgestreckt. Laraziz weicht zurück. Logik und Vernunft kehren zurück, indes er die Hände vorwirft und eine Energiekugel hervorbricht, die das menschliche Puzzle zerstieben lässt. Kügelchen von Gewebe zerfallen und breiten sich wie Seifenschaum übers Zimmer aus. Mit einem Rascheln sinkt der Bodyanzug zu Boden. Irgendwie ist das Quarzfenster wieder kaputt. Um etwas Fassung zu finden, tritt Laraziz an den Rand des
Abgrunds und saugt die kalte Nachtluft ein. Der ständige Regen von Filterpulver hält das Schlimmste von den Schadstoffen auf der Höhe der Straßenlampen – ein unaufhörlicher Nebel von Antischmutzpulver, der wie wirbelnde Schneeflocken hernieder fällt. Das Zimmer hinter ihm ist ein grässliches Durcheinander menschlicher Innereien. Am schlimmsten sind die Moleküle. Sie wirbeln im Luftzug und kreisen wie enttäuschte Fliegen um sein Gesicht. Noch während er hinsieht, scheint etwas Fremdartiges aus der Decke hervorzuwachsen und die Virteinheit zu ersetzen. Ein Gewirr von Ketten und Fesseln beginnt hin und her zu schwingen. In diesem Augenblick begreift er, dass der Fehler im System nicht von der Elektronik herrührt, sondern von einem Virus. Sein Blutdruck schnellt hoch, als er sich an die ein paar Jahre zurückliegenden Todesfälle durch Cyberinfektion erinnert, die Gesichter der Opfer in Angst vor eingebildeten Wesen erstarrt. Manche hatten sich die Zunge abgebissen. Das System gilt jetzt als narrensicher, insbesondere seit der Einführung der galvanischen Notschalter – die Erfindung stammt aus dem Unternehmen seiner eigenen, ihm nun entfremdeten Frau –, die das Vertrauen der Kunden zurückgewonnen und die Preise der Aktien, darunter seiner eigenen, vervierfacht hatten. Er zittert vor Kälte und Angst, während er auf die Topographie des gasförmigen Smogs hinabsieht. In der braunen Wolkenlandschaft scheinen sich Gestalten zu bilden. Er springt entsetzt zurück, als urplötzlich ein verzerrtes Gesicht vor ihm auftaucht und ihn anstarrt. Er wankt zurück in die
Sicherheit seines Zimmers und rutscht auf Brocken menschlicher Anatomie aus. »Luftjunge? Macht's Spaß?« »Aah!«, kreischt er und kriecht auf allen Vieren rückwärts, während spukhafte Fühler herauf und über den Fenstersims kriechen, suchend, tastend, dann sein Bein finden, zu ziehen beginnen. Er versucht sich festzukrallen, doch der polierte Marmorfußboden bietet keinen Halt. Er gleitet auf die zersplitterte Öffnung zu und rollt durch ihren zersplitterten Schlund. Im Fallen versucht er angestrengt, die Kontrolle zurückzugewinnen, sich eine sichere Landung zu denken. Das erfundene obskure Wesen lässt los, und Laraziz trudelt der Erde entgegen, immer schneller. Die Geräusche der Straße jagen ihm entgegen. Als er wieder zu Bewusstsein kommt, wird Laraziz die fremden Gerüche gewahr, die auf ihn einstürmen. Alte Pisse, Ratten, vergammelte Nahrung. Als die Wirklichkeit wieder ein scharfes Bild abgibt, stellt er fest, dass er sich in einem dunklen und feuchten Durchgang befindet. Schmerz scheint durch jedes Nervenende zu pulsieren, getrocknetes Blut bedeckt ihm Gesicht und Hände, seine Kleidung ist zerrissen und schmutzig. Ein seltsames Déjà-vu-Gefühl bringt ihn schlagartig zur Besinnung. Er erkennt, dass er sich in einem Durchgang ganz ähnlich demjenigen befindet, wo die Polizeisonden schließlich seine Frau fanden, geschlagen und übel zugerichtet, als seine Schlagjungs ihren Vertrag nicht richtig erfüllt hatten. Die Stadtbewohner hatten sie durchgekaut und wieder aus-
gespien. Wochenlang war sie herumgeschleift worden, geschlagen, vergewaltigt. Ihre ganze Aggression, all ihren Neid, all ihren Hass auf die Wolkenbewohner hatten die Leute an ihr ausgelassen, an dem vom Himmel gefallenen Engel, doch irgendwie war sie entkommen. Dieser Gedanke allein macht Laraziz wieder seine Zwangslage bewusst. Marla war geflohen. Die Geräusche der Stadt hallen von den Wänden des Durchgangs wieder. Laraziz fühlt, wie Übelkeit in seiner Kehle hochkriecht, und er kämpft sie nieder, doch sein Atem wird mühevoll, als ein zappelnder Klumpen aus seinem Kehlkopf zu rutschen beginnt. Er versucht, seine Qual hinauszuschreien, doch plötzlich springt etwas aus seinem Mund. Haar und Erbrochenes und Maden winden sich über seine Lippen, als seine Kehle eine dicke graue Ratte hervorbringt. Sie schüttelt sich einmal, dann huscht sie über das Plattenpflaster davon. Laraziz muss rennen. Bald eilt er die regengepeitschten Straßen entlang. Ein Straßenverkäufer erfüllt ihn mit der Hoffnung auf Flüssigkeit, um den Schmutz von seinem Mund wegzuwaschen. Er schafft es bis zu dem Stand und stammelt: »Wasser!« Diesmal ist der Verkäufer ziemlich jung, wahrscheinlich verkauft er an seinem Stand Drogen und derlei. »Kein Wasser, Kumpel, wenn Sie nichts essen. Geschäftsvorschriften, wissen Sie?« »Ja, ja, du Arschloch! Gib mir irgendwas!« Laraziz langt in seine Tasche und findet sie leer, dann wünscht er so heftig, wie es nur geht. Irgendwie erscheint eine zerknitterte Banknote,
kaum zu erkennen, in seiner Hand. Der Händler nimmt sie. »Na schön, sie ist alt, aber gültig. Sie sind sicher, dass das nicht Ihr Glückshunderter ist?« scherzt der Verkäufer. »Was soll's also sein? Nur Wasser und vielleicht Gulasch? Es ist ein Spezialrezept – meine Mutter …« »Irgendwas!« schneidet ihm Laraziz das Wort ab. »Deine Mutter interessiert mich einen Rattenarsch!« Der Verkäufer reicht ihm lächelnd das Wasser und auf einem Folieteller etwas Fleischartiges. Laraziz schluckt gierig das bittere Wasser hinunter, während er auf den Teller schaut. Irgendwelche widerlichen Innereien hängen davon herab, weit nach unten, etwas wie Spaghetti. Er verfolgt es mit unschuldig naiver Neugier, bis ihm mit schmerzlicher Klarheit aufgeht, dass es sein eigener Hoden ist, was ihm da aus den Fingern rutscht. Er greift nach seinem Hodensack, fühlt, dass er aufgeschlitzt worden ist und dass sein anderer Hoden ihm zu Füßen auf dem Boden liegt. Er versucht sich zu sagen, dass das alles nicht wirklich ist, dass es bald aufhören wird. Der Verkäufer scheint Laraziz' Verwirrung nicht wahrzunehmen. »Gut, Mister. Wollen Sie noch was? Was? Nur nicht schüchtern sein. Die netten Jungs kommen zuletzt dran. Oder?« Er fuchtelt mit übertriebener Inbrunst. Laraziz zwingt sich dazu, sich auf die Heilung seiner Wunde zu konzentrieren. Es gelingt nur teilweise, irgendwie hat es das klaffende Loch geschafft, zu gerinnen und sich wieder in sein Fleisch einzufügen. »Dein Essen ist Gift«, sagt Velazquez knarrend. Er langt nach vorn, doch der Verkäufer schlägt seine Hände weg.
»Ja?« sagt der Verkäufer. »Das ist alles, was Scheißköppe wie Sie verstehen. Jetzt verschwinden Sie, ehe ich den Schutz rufe. Du weißt, wovon ich rede, Opa?« Laraziz stößt sich von dem Tisch ab und wankt über das feuchte Trottoir. In Realzeit schweben zwei Metallkugeln etwa fünf Meter überm Boden die Straße entlang. »Da geht ein Geist«, bemerkt jemand. »Nö. Das is'n Luftjunge.« »Welcher ist es, Harold? Schnell, ich hab nie einen gesehen. Ehrlich!« »Der alte Kerl da. Der sich seine Därme drin hält.« »Och, Harold, du bist vielleicht hinterm Mond. Das is kein Luftjunge nich.« Der Zement unter Laraziz ist dunkel vor Schlick und nicht weggewaschenem Unrat. Bewohner der Nacht stoßen und schieben ihn herum, als existierte er nicht mehr. Als Laraziz zufällig hinter sich schaut, bemerkt er, dass seine Füße Eindrücke hinterlassen haben. Wenigstens ist er wirklich. Während er weiter trottet, sinken seine Füße tiefer und tiefer. Er wechselt die Richtung, überquert die Straße und wird hektisch, denn nun ist der Boden wie Morast. Er sinkt bis zu den Knien ein, dann versinken in dem Sumpf seine Oberschenkel wie die eines körperlosen Gespensts. Er fühlt sich wie in einem Traum, wo er vor einer Gefahr wegzulaufen versucht; plötzlich erfüllt ihn genau diese Art Furcht. Er bittet jene um Hilfe, die er vorher abgeschlachtet hat. Manche wenden sich zu ihm um und lachen. Andere machen Zeichen an ihre diversen Götter und eilen weiter.
Doch bald hat sich eine Menge angesammelt und ihn umringt. Er streckt die Arme nach Hilfe aus, während er bis zur Hüfte einsinkt. Eine Gruppe Kinder mit Stadttarnkleidung und Schutzwesten tritt nach seinen Händen, andere versuchen, ihn tiefer hinein zu drücken, bekommen es dann aber mit der Angst zu tun. Bald ragen nur seine Schultern und der Kopf heraus. Leute treten heran und machen sich über ihn lustig, wie sie es über eine Monstrosität aus einer Raritätenschau tun würden; andere treten nach seinen fuchtelnden Armen. Die Menge ist jetzt auf über hundert Personen angewachsen, und sie drängeln sich, um näher heranzukommen. »Lasst dem Manne LUFT!« schreit ein Witzbold. Ein Messer blitzt auf, als sich jemand eine Scheibe von seinem Arm zum Andenken abschneidet. Laraziz schreit seinen Schmerz heraus. Die Menge brüllt nach mehr. Alsbald schneiden Klingen Fleischwürfel aus seinen tätowierten Armen. Obwohl das Einsinken nachgelassen hat, wünscht er bald, die Straße möge ihn vollends verschlingen, denn die Foltern der Menge kennen keine Grenzen. Er schmeckt Pisse im Mund und hört Freudenschreie. Als die Sonne aufgeht, bringt ihre smogverschleierte Wärme ihn wieder zu Bewusstsein. Die Leute sind längst fort, doch der Geruch ihrer Körperausscheidungen steckt in der Pfütze rings um ihn. Mit großen Schmerzen wendet er den Kopf und erkennt, dass seine Arme abgetrennt neben ihm liegen. Lautlos schreit er. Er wünscht, er könnte sterben. Er spürt, wie er verschwimmt, während sich seine Sicht vor Qual trübt.
Das letzte, was er wahrnimmt, ist ein stinkender, räudiger Hund, der das Bein hebt.
LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF: 26. INNEN. UNBESTIMMTES ZIMMER (SCHWACH BELEUCHTET). NACHT Der Energiefluss in Marla Teixeiras Anzug flammt kurz auf, dann geht er auf Null. Sie sitzt ganze zehn Minuten lang in den Troden und im Panzer festgehakt, ehe sie die Kappe vom Kopf löst. Deren Faseroptik schaltet sich ab und rieselt aus ihren Poren wie abziehende Würmer. Es ist eine grobe Empfindung, vergleichbar einer Enthaarung. Es wird nie ein kommerzielles Produkt werden. Vielmehr steht diese Forschungsrichtung kurz vor dem Abbruch. Sie stößt gegen den Klammerverschluss des Panzers, und er gibt mit einem pneumatischen Zischen nach. Jetzt tanzen ihre Finger mit eingeübter Automatik über die Tastatur. Wenn nötig, ist das System zum Abbruch bereit. Sie wirft dem sensorischen Anschluss einen letzten sehnsüchtigen Blick zu. Im Büro gegenüber regt sich kein Leben. Die Auren auf ihrem Bildschirm sind starre, statische Lichter von der Farbe eines schmutzigen Regenbogens, von hellen weißen Pfeilen durchsetzt. Wie ein finsterer Behemot starrt sie die Wohnung über den dazwischen liegenden Abgrund hinweg an; deren Anti-
Eindring-Elektronik möchte losspringen und diesen lästigen Floh auslöschen, der in ihre Domäne eingedrungen ist. Doch das ist das Problem mit KI-Sicherheit; sie denkt einfach nicht wie ein Mensch. Marla setzt einen Fehlerfaktor in Gang, der gerade ein bisschen Schwäche offenbaren wird, und die KI sich mit entblößten Reißzähnen darauf stürzen. »Tschüss, Rhoal«, sagt sie. Sie steht auf, ihre Muskeln protestieren schmerzhaft. Sich eine Persönlichkeits-Kopie ihrer selbst zu verschaffen, war verhältnismäßig einfach gewesen, doch die mit Geist, Körper und Seele zu dirigieren, hat sie geistig, körperlich und seelisch fertig gemacht. Wie leicht sie doch die Verkommenheit ihres Ehemanns – ihres verstorbenen Ehemanns – vergessen hatte. Ihr Magen krampft sich bei der Erinnerung zusammen, was er ihrem Abbild angetan hat. »InduSpi, Madam. Wir haben ein Problem in Zimmer 586«, sagt eine Stimme ohne Obertöne. Marla springt auf. Sie hatte Rhoals gesamte einlaufende Kommunikation auf ihre eigene Zuständigkeit umgeleitet. Darunter auch der Tür-Sicherungsdienst. Zum Glück hat sie die Vorsichtsmaßnahme getroffen, eine Abschirmung einzuschalten: nur einseitige Bildverbindung. Trotzdem scheint der Blick des Mannes an ihr festgeheftet zu sein. Ein intensiver Blick, als hinge sein Leben von jedem Wort ab, das er spricht. Das Gesicht des Mannes ist ein großer, schwarzer, gemeißelter Block, der den Bildschirm auszufüllen scheint, obwohl es nicht nahe an der Linse ist. Dann ist er weg. Sicherheitsalarm verkündet plärrend das Eindringen unbefugter Personen. Er hatte exakt vier Sekunden gewartet, ehe er zur Tastatur griff. Rhoal hatte immer nur die
Besten angestellt. Ihr bleibt nicht viel Zeit. Jede Sekunde kann ein riesiger KISicherheitsdienst alles verschlingen, was ihm über den Weg kommt. Marla eilt aus dem Zimmer. Zuvor hat sie den Lift auf Warteposition geschaltet. Sie rennt hin und tippt eine Tastenfolge in die Kontrolltafel. »Willkommen in Easelite 4. Sollte Ihre Fahrt in irgendeiner Weise unbequem sein oder sollten Sie andere Probleme haben, dann warten Sie bitte das Ende dieser Mitteilung ab und berühren Sie ›Probleme‹ auf Ihrem Bildschirm.« Marla nimmt kein einziges Wort wahr. Die eine Detonation weiter oben erschüttert das Gebäude. Sie hat eben den Lift verlassen, als die Explosion seine Führungsschienen kappt und ihn ins zweite Kellergeschoss schickt, wo er zerschellt. Als die Virt-Techniker alle kleinsten Einzelheiten von Rhoals System und seiner Software untersuchen, rätseln sie immer noch über das, was da schief gegangen ist. Als die InduSpi-Agenten eintrafen, hatten sie Laraziz' Körper geschrumpft und welk am Geschirr der Virteinheit hängend gefunden. Eine Latina beobachtet die Untersuchungen. Sie steht noch Stunden, nachdem die Sanitäter den Leichensack aus der Wohnung geschafft haben, inmitten der Verwüstung. Sie blickt von Rhoal Laraziz' hell erleuchtetem Büro auf die verworfenen Ruinen des Büroblocks gegenüber. Man braucht kein Kernphysiker zu sein, um auf den Zusammenhang zu kommen. »Marla«, sagt Laraziz' Schwester mit stiller Bosheit. »Ich werde dich finden. O ja.«
LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF: 27. INNEN. TELEFONZELLE IN DER U-BAHN. NACHT Als Marla Calloways Nummer auf dem Bildschirm eintastet, spürt sie, wie sich plötzlich das Bewusstsein einschleicht, dass das vielleicht nicht der beste Zug ist; sie hat jedoch Unmengen von Szenarien durchgespielt, und dieses scheint am logischsten zu sein. Bei Rhinestone Pictures verschwinden Menschen. Manchmal für immer, und das ist der beunruhigende Aspekt. Die anderen Möglichkeiten haben auch ihre Risiken. Müßig hantiert sie mit der Hundemarke, die ihr Calloway an den Wasserfällen gegeben hatte, seinerzeit in Paraguay. »Pfeif, und ich komme gerannt«, sagte er. Sie lachte. In ihrem ganzen Leben hatte sie nie solche Fröhlichkeit verspürt. Diese sprudelnde Selbstvergessenheit kam im Leben der meisten Menschen einfach nicht mehr vor. Marla hatte ihn ihr ›Urbild von Mann‹ genannt. Er nannte sie seine … – Himmel, aber das war egal. Vielleicht war es kindisch von ihr, sich an ihre gemeinsamen Augenblicke zu erinnern. Kindisch und gefährlich. Doch wie hatte sie jene Tage genossen, die sie zusammen verbracht hatten, während Rhinestone nach ihrem Aufenthaltsort forschte. »Seelenpartnerin.« Einfach genug als Name. Sie hatte sich all die Jahre hindurch daran geklammert. Kräftig drückt sie die letzte Ziffer, kaut an einem Fingernagel, während sie wartet. Sie ist viel zu praktisch veranlagt, um sich um die Finger zu kümmern. Ihre Nägel sind meistens bis ans
Fleisch abgekaut. Aber wirksam wie alles andere. Zuerst erkennt er sie nicht. Hauttransplantate und in der Retorte gezüchtete Ersatzorgane sind feine Sachen, aber mehr ist Kosmetik eben nicht: nur oberflächliche Tarnung. Nur eine totale Schädelrekonstruktion kann die Art Identitätswechsel bewirken, die fast nicht aufzuspüren ist. Dafür hatte Marla keine Zeit. »Woher rufst du an?« Das ist ein Eröffnungszug. Ihre Nummer erscheint auf seinem Apparat als Ortsgespräch. »Stral. Keine Sorge. Ich habe einen Bug in die Leitung gebracht. Das müsste mir sechzig Sekunden verschaffen, ehe Telstra dahinter kommt.« Velazquez weiß, dass ›Stral‹ die Slangbezeichnung für New Stralia State ist, ein republikanisches Widerstandsnest in der vormaligen Gegend von Alice Springs. Die Monarchisten hatten einen kleinen Kampf aufgezogen, um die Satellitenstadt abzuwürgen, doch schließlich war ihnen aufgegangen, dass sie am besten täten, wenn sie die Rebellen in dem einen Rattenloch sitzen ließen, wo sie sie schön im Blick hatten. Wenn es sich während des Zweiten Weltkriegs für die CIA gelohnt hatte, kommunistische Zeitungen finanziell zu unterstützen, damit sie nicht in den Untergrund gingen, würde es für die Royalisten auch taugen. »Du liest wirklich?« Marla bezieht sich auf ein mit Eselsohren geschmücktes Exemplar von Tolstois ›Krieg und Frieden‹. Calloway hatte es nicht geschafft, es aus dem Blickfeld zu bringen, ehe Marla online gekommen war. Er schließt das Buch und legt es beiseite. »Eine von meinen harmloseren Marotten. Mit der Vergangenheit Berührung
aufnehmen.« »Wir haben eine Menge Zeit mit Diskussionen über die Vergangenheit verbracht. Wie wir es fertiggebracht haben, alles zu versauen.« Marla beißt sich auf die Unterlippe. »Ich hatte gehofft, wir könnten aufholen. Ich brauche eine Zeit lang eine sichere Zuflucht.« Sie hält inne und kämpft mit ihrem Stolz. »Um der alten Zeiten willen.« Calloway beugt sich vor. Sein Bildschirm ist auf automatische Bio-Rückkopplung eingestellt. Die Frau ist nervös bis zum Gehtnichtmehr. Die subvokalen Muster sind extreme Spitzen in schmalen Furchen. Es hatte geheißen, dass sie sich in einem Irrenhaus befand. Der sicherste Ort für ein Mädchen auf der Flucht. Diese Orte werden bewacht wie die Goldreserven. Besonders für wohlhabende Industrielle, die Anonymität suchen. Als er zögert, zuckt Marla die Achseln. »In Ordnung. Also Karten auf den Tisch. Ich brauche Zeit für eine Totalrekonstruktion. Rhoal ist tot.« »Ermordet.« »Das ist nicht …« »Laut dem Netz«, sagt Calloway. »Es wird der Rebelde Febrerista angelastet. Sagen wir, sie haben endlich die Rechnung präsentiert für die Jahre ›atavistischer und korrupter Machtstrukturen, die Laraziz ins Leben gerufen hatte‹. Sie scheinen die Verantwortung übernommen zu haben.« »Umso dümmer von ihnen«, sagt Marla. »Rhoas hat … hatte weltweit viele Sympathisanten. Es gibt eine Kopfprämie auf mich. Das hat Rhoal vor einiger Zeit in Gang gesetzt.« Calloway denkt an den kleinen Paraguayer zurück. Der litt
unter dem Komplex kleiner Männer, pflegte im RhinestoneGelände herumzustolzieren wie ein preisgekrönter Pfau. Unterdessen plünderte er die Finanzreserven seines Landes. Seine Bundesarmee war von den Febreristas überrannt worden, kaum dass er per Suborbitalflug das Weite gesucht hatte. Laraziz' neu erworbener Reichtum reichte für eine uneinnehmbare Festung tief im wohlhabenderen Teil des New Stalia State. Solange nicht gerade eine Atombombe auf die Stadt fiel, war er praktisch unangreifbar. Aber, wie sich nun herausgestellt hat, nicht völlig. »Es heißt, Rozelle ist zerbombt worden.« »Ich habe durchsickern lassen, dass ich das Hospital verlassen hatte.« Sie zuckt fatalistisch die Achseln. »Das war eine Retourkutsche. Vielleicht, um mir beizubringen, dass sie mich jederzeit hätten erwischen können. Vielleicht auch der Hass auf eine Organisation, die mich sechs Monate lang beherbergt hat.« »Eine Lehre für alle anderen, die dich beherbergen?« »Niemand wird es wissen.« »Ich mach mir keine Sorgen.« »Er war kein Mensch mehr, Calloway.« Sie sieht so bedrückt aus, wie ihr Stimm-Muster erkennen lässt. Calloway grinst. »Das Gefühl kenne ich.« »Er war daheim schon ein Mörder gewesen – es ist mit ihm einfach immer schlimmer geworden. Mord hat ihn aufgezehrt wie eine Art Droge.« Marla schaut vom Bildschirm weg. »Sie haben meine Verbindung entschlüsselt. Tut mir Leid, dass ich dich gestört habe.« »Warte.« Marla wendet sich ihm wieder zu. Ein hoher Piepton kündigt
eine Spurenfolge an. Im Hintergrund hört Calloway den aufund abschwellenden Ton einer Sirene. »Du wirst eine Identifikation brauchen, um durch die Sicherheit zu kommen. Gib mir die fünf.« Marla breitet ihre Finger über den Bildschirm aus. »Kopiert«, sagt Calloway. »Ich werde dich als Gast eintragen. Später am Tage wirst du wieder ausgecheckt. Nur dass du dableibst.« Doch der Bildschirm ist leer. Calloway lehnt sich zurück und sinkt tief in das Schaumpolster. New Stralia State war die nahe liegende Wahl für jemanden wie Laraziz. Es war nur ein sonderbarer Zufall, dass er hier in der Simpson-Wüste landete. Despotische Herrscher fanden für gewöhnlich bei anderen despotischen Herrschern Unterschlupf. Und davon gab es mehr als genug. Das löste eine Gedankenkette aus, die einige Wochen brauchen würde, um sich zu entwirren. Marlas Ankunft einige Tage später wird nicht hinausposaunt. Sie wird einfach als Journalistin registriert, die makabre Kunst im Film studiert. Bald sieht man sie an Calloways Arm, und das kommt in die Nachrichten. Der Mann scheint in eine geheimnisumwitterte Frau verliebt zu sein. Eine Belohung von einigem Ausmaß wird für die Klärung ihrer Identität ausgesetzt. Ihre Chirurgen sind zu gut bezahlt worden, um dieses bisschen Klatsch preiszugeben. Keine Geldsumme ist das Leben wert … LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF:
28. INNEN. GESCHÄFTIGER SAAL (ÜBERALL REPORTER UND KAMERAS). NACHT Die Publicity-Maschine läuft auf Hochtouren. Jede Fanzeitschrift bringt die Calloway-Cruiser-Geschichte. Ihr erster Auftritt in der Publicity-Kampagne ähnelt mehr dem zeremoniellen Wiegen von zwei SchwergewichtsBoxchampions. Sie zeigen den freien Oberkörper und sind beide auf ihre eigene Art beeindruckend. Calloways Körper ist knorrig und narbenbedeckt, so sehr, dass es aussieht, als habe man ihn als Hackklotz benutzt. Rip Cruiser hat die klassischen Züge eines Bodybuilders mit klar abgegrenzter Muskulatur. Um die Wahrheit zu sagen, wird ständig Haut für regelmäßige Nachformungen kultiviert. Er hat seinen Körper eingeölt, so dass er wie eine gut geschmierte Maschine glänzt. Während Calloway Rip Cruiser als Emporkömmling ohne Herkunft betrachtet, betrachtet Rip Cruiser Calloway als einen ausgebrannten Adrenalinsüchtigen. Rhinestone ist im Scheinwerferlicht nicht zimperlich. Die Stadt der Illusion lebt von der Übertreibung. Man betrachte nur sein Gesicht, in der Manier des saftigsten Hollywooddramas bemalt: nachgezogene Augenbrauen, flatternde falsche Wimpern, dick aufgetragener Lidschatten und leuchtende Lippen. Er erklärt der Welt, dass sogar ein Mädchen den mächtigen Calloway schlagen kann. Es ist Kitsch in Reinkultur, aber die Menge liebt ihn. Für das Publikum fährt Rip mit einem öligen Finger längs über Calloway Brust.
»Dass du dich da nicht irrst, Fiesling«, sagt Marla. Sie ist Calloways Handgepäck für die Show. Sie spielt ganz und gar den Affen. Es ist ein lebensrettender Auftritt, der ihr keine Preise einbringen wird außer dem Leben selbst. Marla stößt Rips Finger theatralisch beiseite und stellt sich in Kampfpositur. Rip sieht aus, als müsse er sich übergeben. »Hier riecht's nach Fisch«, sagt er den Kameras. Lichter blitzen, Kameraleute drängeln sich um die beste Position. »Abstand halten, bitte«, ruft Rip dramatisch. »Schwule Sau«, sagt Marla. »Oh!«, sagt Rip und markiert Überraschung. »Was für 'ne Entgegnung!« Calloway zieht Marla an sich heran. Er war noch nicht allzu lange mit ihr intim, aber er möchte sie nicht ausgerechnet jetzt verlieren. Für Rip Cruiser bedeutet ein Leben nichts. Er könnte sie ohne weiteres jetzt erledigen, um Calloway zu provozieren. Infrarot-Ziellaser schwenken über ihren spärlich bedeckten Körper. Es ist Flitter. Es ist schrecklich. Das Publikum fährt darauf ab. Es ist diesen Abend die größte Show auf den Bildschirmen. Rip Cruiser macht für die Kameras noch einmal ein saures Gesicht und simuliert Übelkeit. Die Nachrichtentafeln werden tags darauf Rip Cruiser mit zwei Fingern im Mund zeigen. Eine Woche geht träge dahin. Und dabei lernt Calloway, dass es für ihn etwas gibt, wofür sich zu leben lohnt. Man mag es Chemie nennen, doch auf seine Art ist er nie glücklicher gewesen. Binnen kurzer Zeit hat sich ihm Marla irgendwie unentbehr-
lich gemacht. Mehr noch, sie nimmt einen Teil von ihm in Beschlag, den er nie zuvor mit jemandem geteilt hat. Ein Grundinstinkt, der den meisten Menschen angeboren ist, entsteht in Calloway aus dem Nichts: für jemanden zu leben. Es ist eine Schwäche, gegen die Calloway vergebens ankämpft. Die Aufnahme ist vorbereitet. Das Finale ist fast schon im Kasten. Die normalen Aufnahmen und die ›Abdreh‹-Partys haben Calloway nie in körperlichen Kontakt mit Rip gebracht. Die Handlung des Stahlbasilisken erforderte nicht, dass er den anderen Schauspieler traf. Es hat Verfolgungsjagden und Konfrontationen gegeben, aber das ist ein Heavy-Metal-Kultfilm. Menschen dienen den Maschinen als Mittel zum Zweck. Sie gehören zur Ausstattung. Die Zahl der verbrauchten Körper hat sich auf dreiundzwanzig erhöht, als sie für die Schluss-Szene bereit sind. Ein mexikanisches Duell, gefilmt unter der Sonne des australischen Northern Territory. Es ist die Re-Inszenierung der beiden Revolvermänner, die auf der verlassenen Mainstreet langsam aufeinander zugehen. Toby ist dafür bekannt, dass er in seine Filme jedes Klischee einbaut. Seine Lieblingsmaxime lautet: »Wenn es einen Dollar bringt, tu's!« Rip Cruisers umgebaute LTL-Louisville-Zugmaschine steht ungefähr zwei Kilometer von Calloways Volvo F16 entfernt. Aus ihren Auspuffröhren quillt dichter Rauch. Toby klingt unnatürlich nervös. »Das ist die letzte Szene, Jungs. Macht es gut, ja? Kamera-ah Action-n-n-n.« Calloway ist zuversichtlich, doch etwas an Tobys Stimme gefällt ihm nicht. Er dreht den Zündschlüssel, und der Truck läuft
satt im Leerlauf an. »Wo ist Marla?« »Wer?« fragt Toby. Dann: »Oh. Frauen. Wer weiß? Wird sich wohl die Nase für 'ne Massenszene pudern. Du wirst ohne sie anfangen müssen … Wahrscheinlich hängt sie irgendwo fest.« Calloway hört ein schwaches Kichern im Hintergrund, ehe das Mikrofon abgeschaltet wird. Calloways Video zeigt das Innere von Rips Fahrerkabine. Er wirkt großspurig, zu großspurig. Er wirft Calloway eine Kusshand zu und startet den Motor. Der Ford wird von einem Cummins NTC400 angetrieben, eingestellt auf 1900 U/min. Die Spitzengeschwindigkeit beträgt 100 km/h. Schnell genug, um jede Niete in beiden Autos in Stücke zu schlagen. Calloway hat aber andere Pläne. Toby und Leroy wollen keinen Sieger. Sie sind beide zu ersetzen. Doch Calloway ist schon durch die Hölle gegangen und hat nicht vor, so rasch dort wieder hinzugehen. »Do not forsake me o my darling …« * Calloway schaut zu dem klaffenden Loch hinab, wo sich das Sprechfunkgerät befunden hat. Er schaut sich in der Kabine um und fragt sich, woher Tex Ritters Stimme kommt. Plötzlich geht ihm auf, dass er im Unterbewusstsein seit etlichen Minuten ›High Noon‹ hört. Er verscheucht den Gedanken und lässt den Motor aufheulen. Der brüllt frustriert. Die Reifen quietschen, als er aus dem Stand losprescht. Der Truck erzittert voll höllisch machtvollem *
»Lass mich nicht im Stich, mein Liebster …« Der deutsche Text des Titelsongs von ›Zwölf Uhr mittags‹, »Sag, warum willst du von mir gehen …«, weicht inhaltlich vom englischen ab.
Leben. In der Ferne sieht Calloway die hektischen Rauchwölkchen in den kühlen Nachmittagshimmel schießen. Ein Ruck läuft ihm die Arme hoch in den Körper und strömt rachsüchtig ins Gehirn. Es ist eine ungeschlachte Energie, die ihm sagt, dass Tod in der Luft liegt. Seiner, Rips oder vielleicht ihrer beider. Calloway weiß, wozu er imstande ist. Er glaubt nicht, dass Rip genug Mumm hat, sich zu beweisen, ehe er einen Rückzieher macht. »On this, our wedding day …« * Calloway schlägt mit dem Handrücken auf den Lautsprecher. Ein winziges Gejaule dringt weiterhin daraus hervor, ein Geräusch, das er nicht auslöschen kann. »I know what fate awaits me …« ** trällert das Lied weiter. Ein Kälteschauder läuft durch seinen Körper. Ein anscheinend fester Eiskern, der sich durch seine Brust schiebt und sich in seinem Hirn festsetzt. Etwas ist im Gange. Etwas, das er nicht einkalkuliert hat. Seine Hände werden Klauen, die das Lenkrad umklammern. Der Abstand zwischen den Trucks schrumpft rapide. Der Gipssand zu beiden Seiten des dahinjagenden Trucks wird zu einem verwischten Nebel. Vereinzelte Yuccapflanzen und Melde huschen in rascher Folge vorüber. In mittlerer Entfernung steigt mit vorherrschenden Luftströmungen eine orangefarbene Sandwolke auf. Sie ist schon seit Wochen dort, kommt nun aber auf sie zu. Eine wandernde Masse wirbelnden Sandes, *
»An diesem unserm Hochzeitstag …« »Ich weiß, welch Schicksal mich erwartet …«
**
im Begriff, nieder zu gehen. Das wird ein guter Hintergrund für die bevorstehenden Ereignisse. Calloway bemerkt einen Fleck, eine Farbgebung, die nicht zu dem entgegenkommenden Truck passt. Ein triumphierender Stoß aus Rips Hupe verkündet ihm lauthals seine Niederlage. Calloway ist jetzt ein Teil des Trucks. Sie sind eins. Er ist auf einem Kurs, den er nicht ändern wird. Etwas blitzt in Calloways Magen auf und bleibt dort wie ein hartnäckiger Käfer sitzen. Er kann eine Gestalt erkennen, die vorn auf Rips Truck sitzt. Eine Gestalt, die reglos bleibt. Jemand, der mit dem Tod rechnet und nicht in Panik verfällt. Es muss Marla sein, an das vordere Schutzgitter * gefesselt. Calloway schaut zum Videoschirm hinab. Rip Cruiser lächelt, ein kaltes Lächeln, das seine Lippen verzieht, ein Grinsen, das Calloway nur zu gern mit bloßen Händen abwürgen würde. Während sie aufeinander zujagen, sieht Calloway, dass Marla von herausfordernder Gelassenheit ist. Angst gehört nicht zu ihrer Veranlagung. Ihr Körper stemmt sich herausfordernd gegen die Fesseln, ihr Haar ist ein lebendiges Ding, das wild weht und eine Wirkung in der Art der Medusa erzeugt. In ihrem Gesicht steht Furcht … doch keine Furcht um sich selbst. Sie schließt die Augen und erwartet, was geschehen muss. »Move along … here in high noon …« * *
In Australien werden solche zusätzlichen massiven Vorrichtungen zum Schutz des Wagens beim Zusammenprall vor allem mit Kängurus angebracht. (Sie gelten auch als erhebliche Gefährdung für Fußgänger.) * »Geh weiter … hier Punkt Mittag …«
Calloways Fuß bleibt bleiern auf dem Gaspedal. Marlas Tod ist das einzige, wessen er sich nicht schuldig machen will. Entfernung und Zeit stürzen immer schneller in die verbleibenden Sekunden. Jeden Augenblick wird der Aufprall erfolgen. Calloway schreit ein primitives Stöhnen von Qual heraus. Seine Hände sind weiß gewordene Knochen. Dann … Er reißt seinen Blick von dem heranjagenden Truck und schaut auf den Videoschirm. Er will Rip Cruisers Gesicht sehen, wenn der Tod ihn trifft. Aber das ist nicht Rip Cruiser! Es ist ein Abbild … etwas anderes … aber nicht … Die kämpfenden Trucks haben einander erreicht, als Calloway mit aller Gewalt das Lenkrad herumreißt. Das Chassis des Trucks bockt und verzieht sich, als Calloway Hand über Hand das große Rad dreht. Die Trucks berühren sich: ein bebender, streifender Aufprall, der von den zusammenstoßenden und zur Seite weggeschleuderten, Karosserieteile und Zubehör abschlagenden Ladeflächen absorbiert wird. Mitten drin bleibt Calloway kühl, konzentriert den Blick auf das, was vor ihm liegt. In dem Moment sieht er den springenden Ball. Irgendwie ist Rip in einer Art Plastik-Rettungskapsel aus dem Wagen geschleudert worden. Rip Cruiser, möglicherweise mit einer Gehirnerschütterung, schneidet sich aus der dicken undurchsichtigen Hülle frei. Der Strahl seines Lasers teilt die Kapsel mittendurch, und er stürzt heraus. Ihm bleibt der Bruchteil einer Sekunde, um mehrere Tonnen
heranjagenden Metalls wahrzunehmen. Calloways linkes Schutzblech trifft auf die gespaltene Kugel. Cruiser wird wieder in sie hinein geschleudert. Die Kapsel jagt über den Asphalt. Calloway folgt ihr in die glühend heiße Wüste. Der Truck holpert wie verrückt über das wellige Gelände. Er stößt immer wieder gegen die Hülse. Ein Truck in voller Fahrt, der bei 170 km/h Fußball spielt. Ein roter Schmutzfleck breitet sich rasch aus und verdeckt den eingeschlossenen Insassen. Dann verschwinden die Kugel und ihre tote Fracht unter den brennenden Rädern des Volvo. Roter Staub stiebt hoch. Calloway tritt hart auf die Bremse. Die Räder blockieren, und der Mack rutscht über den ausgetrockneten Boden. Calloway reißt den Truck herum, lässt ihn mit aufheulendem Motor hoch und über den Seitenstreifen fahren. »Schönes Stück Fahrn das, Callo«, sagt ein Techniker über Funk. Im Hintergrund wird gemurmelt. »Ach, und Bluey bedankt sich. Er hat grad einen schönen Batzen gewonnen. Sagt, er gibt dir einen aus.« Andere Komplimente von der Außengruppe kommen über seine Lautsprecher. Glückwünsche, denen sich Toby und Leroy nicht anschließen. »Sind Volvofahrer nicht zum Kotzen«, sagt Calloway in sein Mikro. Er zieht den Truck herum und fährt zu der Stelle, wo Rips Truck reglos auf dem Asphalt steht. Er war vom Studio aus ferngesteuert worden. Alles von Anfang bis Ende durchkalkuliert. Derlei Dinge gehen oft nach hinten los. Der Tontechniker Galarrwuy Tipungwuti, ein Ureinwohner mit grau meliertem Haar, schwenkt lässig seinen Akuba-Hut.
Galarrwuy ist in Ordnung. Calloway und Marla haben es ihm beide angetan. Er scheint ihr Ersatzvater geworden zu sein, oder etwas in der Art. Jeder braucht manchmal im Leben jemanden, der sich um ihn kümmert. Und jetzt eben ist es bei Calloway und Marla so weit. Galarrwuy kaut nachdenklich an seiner Pfeife im MakassanStil. Eine lange Rauchfahne von abscheulich riechendem Kinnikinic bläht sich aus dem 25-cm-Gerät. Kurz Kinni genannt, ist es eine Mischung aus Weidenrinde und getrockneten Blättern, die die Leute im Outback rauchen. Für Calloway ist es Grund genug, weiterzugehen. »Du noch Boss-Mann«, lacht der Aborigine heiser um den Pfeifenstiel herum. »Scheint so«, ruft Calloway. Marla windet sich aus den Stricken, die sie festhalten. Kameraleute sind dabei und helfen ihr herunter. So ziemlich das ganze Aufnahmepersonal ist hinter diesem Paar her! Calloway fährt langsamer, und sie schließt auf und klettert in die Kabine. Kameras surren, während sich die Leute um die besten Positionen drängeln. Womöglich küssen sie sich blutig. So hängen sie eine Zeit lang aneinander, während Calloways Hände sich um das Fahrziel kümmern. Verdammt, denkt er. Nie hat ihm etwas so viel bedeutet. In diesem Augenblick weiß er, dass er niemals näher daran sein wird, heil und ganz zu sein. BLENDE AUS SCHNITT AUF:
29. INNEN. GERÄUMIGES LUXURIÖSES ZIMMER (CALLOWAYS). MORGENS Calloway sitzt kerzengrade. »Uah!« grunzt er. Marla wird augenblicklich wach. Ihre hohen Brüste sind von feinen Schweißperlen überzogen, als sie sich von jenseits der Träume hochrappelt und sich an seine Brust schmiegt. Ihre Augen sind mit Foc-Chips bedeckt, zwei Gruben von brennendem Neonblau, Gestirne, wie sie sonst aus den dunklen Tiefen des Raums hervorstechen könnten. Stattdessen fügen sich die funkelnden Biofluoreszenz-Stoffe ins Zimmer ein und werfen bernsteinfarbene Streifen über ihre aneinander geklammerten Körper. »O Calloway …«, beschwichtigt sie ihn. Sie findet seinen Nacken und führt die Zunge seine Schulterlinie entlang. »Schsch, kommt wieder 'runter zu Marla.« Ihre Stimme ist die Liebkosung von sonnengesprenkeltem Wasser an einem stillen Nachmittag. Doch Calloway löst sich von ihr. Er lässt sich auf die schweißgetränkten Laken zurücksinken. »Ich habe Tausende von Todeskandidaten umgebracht«, seufzt er. »Kein Wunder, dass ich diese verdammten Albträume habe.« »Es ist dein Beruf«, sagt Marla ernst. »Diese Leute – sie sterben sowieso. AIDS, Krebs«, sagt sie atemlos. »Sie verkaufen ihr Leben an Splatterfilme gegen Geld. Es ist ihre große Auszahlung an ihre Familien. Ihr letztes Geschenk.« Calloway spreizt verneinend die Hände. Er ist zu lange ziemlich hart am Wind gesegelt. Er spürt, dass es eng wird.
»Du leistest einen Dienst«, sagt Marla inständig. »Das ist eine Lebenslüge«, sagt Calloway mit gedrückter Stimme. Großgewachsen, geschmeidig, der Körper mit ständigem Training und biochemischer Regulierung getrimmt, sieht Calloway nicht im mindesten wie ein Mann in Schwierigkeiten aus. Er schwingt sich aus dem Bett und geht rasch zum Fenster, ein Panther auf der Pirsch. Draußen ist der Himmel von einem leblosen Zinngrau. Rebellische Wolken sind im Begriff, ihren sauren Regen loszulassen. Blitze zucken auf den Hof, bombardieren das unter Spannung stehende Gitter, das die Öffentlichkeit im Zaum hält. Unter dem brodelnden Himmel erblickt Calloway den lasergeätzten Namen des Unternehmens, der die Durchfahrt überspannt. »Rhinestone Pictures«, murmelt er heiser. Ein Name, gleichbedeutend mit Tod. »Wir würden nie 'rauskommen«, sagt Marla, die seine Gedanken falsch nachempfindet. Ein Gedanke lässt sie lächeln. »Jenelle Jardene – weißt du noch?« Ihre Stimme ist tonlos, und irgendwie treibt sie ihn ins Bett zurück. Er streckt sich über ihr aus, spreizt ihr Arme und Beine; ihrer beider Fleisch erstarrt. »Du bist ein Tier, bist du«, sagt sie bedauernd. »Wenn man es nicht gleich schafft …«, sagt er, und dann ist alles vergessen. LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF:
30. INNEN. EINRICHTUNG BEI RHINESTONE (KORRIDOR). TAG »Hast 'n unwahrscheinlichen Massel, Junge«, sagt Simon Desprey. Er und Ewen Oddesky sind die InduSpi-Agenten, die losgeschickt wurden, um Velazquez in seinem Bau im Block E, Hauptgebäude zu verhaften. Er hat riesigen Respekt vor diesen beiden strammen Burschen, die ihn eher in der Breite als in der Höhe winzig erscheinen lassen. Desprey dreht den Kopf und senkt ihn in Erwartung von Velazquez' Erwiderung. »Wie kommen Sie darauf?« wundert sich Velazquez laut. »Rhinestone ist nicht sauer auf dich, Junge. Wollen bloß, dass du's wieder gutmachst, immerhin. Dir noch eine Chance geben«, sagt Desprey. »Ich komm also nicht nach Norfolk?« sagt Velazquez. Die Agenten wechseln ein rasches Lächeln. »In Norfolk haben sie keine Computer, an denen 'rum zu pfuschen die Mühe lohnt«, sagt Desprey. »'n Junge mit Talent wie du würde durchdrehen.« Er lächelt und lässt eine Garnitur Zähne sehen, die man nur für richtig viel Geld kriegt: thailändische stahlverstärkte, mit Wedgewood-Porzellan überzogene Implantate. Oddesky geht zwei Schritte vor und holt eine Plastikkarte hervor. Er benutzt sie, und eine Tür geht auf. Er wartet, dass Desprey Velazquez vorausgeht, ehe er den beiden folgt. Toby und Leroy drehen sie wie ein Mann um. Toby nickt in Richtung Tür, und Desprey und Oddesky trotten auf sie zu wie zwei abgerichtete Bullterrier. »Jetzt erkenne ich ihn.« Jetz erkennichn. Leroy schiebt sich
auf stämmigen, aber zu fett gewordenen Beinen vor und bleibt einen Meter vor Velazquez stehen. »Der Putzer. Wir haben da ein echtes Problem, das geregelt werden muss, Vela.« Wir hamda n'echtes Problem, was gere'lt wern muss, Villa. Er wendet sich zu Toby um. »Wie heißt er?« »Velazquez«, ruft Toby und schaut von einem Bildschirm auf. »Südamerikanisch, ja?« »Denk schon«, sagt Velazquez. Das ist alles sehr unheimlich. Er scheint hart in der Bredouille zu sein. Da sagt man am besten so wenig wie möglich. »Hum«, sagt Leroy. Er stukt Velazquez hart gegens Brustbein. Die Berührung lässt Velazquez einen Schritt zurückweichen. Bei Rhinestone sterben die Leute massenhaft. Er hat das Zimmer schon gemustert – durch die verdunkelten Fenster sieht er Bewölkung. Sie sind hoch oben. Und das Glas ist zweifellos bruchsicher. »Nichts zu denken«, sagt Leroy. »Das eigentliche Problem ist, was wir mir dir machen.« Das eintliche Problem is, waswir mit dir machn. Toby wendet sich vom Bildschirm ab. »Aber wir scheinen das Problem gelöst zu haben, Velazquez. Komm, setz dich.« Er deutet mit einer Handbewegung auf einen Direktorensessel. Leroy tritt sogar beiseite, als er hingeht. Velazquez setzt sich und wartet. »Du hast uns einigen Ärger bereitet, neulich«, fährt Toby gemessen fort. »Aber wie dem auch sei, wir sind von deinem Einfallsreichtum bei Computern ziemlich beeindruckt. Mit neuen Geräten wärst du ein Spitzenmann. Stimmt's?« »Ich lebe mehr drinnen als draußen. Die Wirklichkeit ist richtig ekelhaft«, sagt Velazquez. »Das Virtuelle, das ist sowas
wie glückliche Jagdgründe, wenn Sie wissen, was ich sagen will.« »Na ja, dein Jagdglück ist vorbei, bis du eine Sache für uns erledigst. Etwas Neuartiges«, sagt Toby. Velazquez zuckt schicksalsergeben die Achseln. »Ich wär nicht geschnappt worden, wenn sich Mord-1 nicht wegen seiner Stellung als Nummer Eins Sorgen gemacht hätte.« Er lächelt Toby und Leroy an. »Und natürlich das Mädchen. Die hat mich glatt erwischt.« »Jetzt haben wir dich glatt erwischt«, sagt Leroy. »Hier oben wird dich keiner schreien hören, klar? Du weißt, was ich sagen will?« sanwill? Das bruchsichere Glas wirkt nicht mehr ganz so bruchsicher. Toby lächelt begütigend. »Okay, Leroy.« Er klopft Velazquez freundschaftlich auf die Schulter und lässt die Hand dort liegen. »Achte nicht auf Leroy. Aber er hat Grund, sauer zu sein, weißt du?« Toby neigt den Kopf und schaut auf Velazquez herunter wie auf einen Studenten, der etwas ausgefressen hat. »Du hast ihn 'ne Menge gekostet. Und es wäre garantiert noch viel mehr geworden. Zurück in den Cyberspace, was?« »Pah!« schnauft Leroy und stürmt los, um sich in den Sessel hinter dem Bildschirm fallen zu lassen. »Was wissen die Kinder heutzutage vom Geld? Es wächst auf den Bäumen, was, Junge?« »Größtenteils in Rohstoffen und auf dem Futures-Markt«, sagt Velazquez, doch Tobys Finger krallen sich hart in seine Schulter. Leroy blickt finster drein, begnügt sich aber mit etwas, das für Velazquez wie ein Knurren klingt. »Wir machen einen Streifen im Cyberspace«, sagt Toby. »Wir brauchen einen Jockey, den Calloway Huckepack nimmt. Jemanden mit Grips. Ein Junge wie du könnte sich da ziemlich
'nen Namen machen. Ganz was Neues und so.« Velazquez blickt von Toby zu Leroy und zurück. Einer genau wie der andere. Draußen werden wohl Desprey und Oddesky lässig an der Wand lehnen. Werden sie den Jungen umbringen müssen oder nicht? »Sie bieten mir einen Job an?« sagt Velazquez zögernd. »Wir findest du denn das?« Wie finstn das? sagt Leroy. »Reden wir Chinesisch oder was?« Toby klopft Velazquez auf die Schulter, ehe er seine Hand zurückzieht. »Ja, wir bieten dir einen Job an. Eine Vertragsarbeit für Anfänger. Aber es könnte mehr daraus werden. Hängt davon ab, wie der Streifen läuft. Du weißt?« »Ist mir recht, Sir«, sagt Velazquez und weiß augenblicklich, dass seine Tage gezählt sind. Ausgeschlossen, dass ihn Rhinestone mit dem, was er weiß, laufen lässt. Er lächelt wissend. »Freut mich, an Bord zu sein, meine Herrn.«
BLENDE AUS BLENDE AUF:
DRITTER AKT
Cyberloid
31. INNEN. ABGEDUNKELTE LIMOUSINE (VON RHINESTONE). TAG Sie fegen in einem ultraleichten Schweber aus den Studios, sein knolliger Körper ähnelt einem Dreieck von poliertem Chrom, an den Ecken mit abgedunkelten lichtempfindlichen Schirmen besetzt. Calloway schaltet seine Brille um und starrt durch die Abschirmung. Die Wüste sieht momentan unbewohnt aus, doch er weiß, dass Tausende aus dem Pöbel und Plänkler eine gerade mal ausreichende Existenz herausschlagen, indem sie vom Lande leben: Leguane, Witchetty-Larven, Beeren, Kakteen und alles, was sie Reisenden abnehmen können, die das Pech haben, ihnen in die Fänge zu geraten. Die Aborigines sind damit 60000 Jahre lang zurechtgekommen, jetzt sind die Weißen an der Reihe. Es hatte alles mit der Traumzeit-Renaissance begonnen. Die Sache kam ins Rollen, als der charismatische Geistliche Dale Packman daherkam und seine Herde zu einem einzigen hässli-
chen Ungeheuer zusammenschweißte. Um ein Haar hätte er das Land in den dreißig Jahren, die es dauerte, finanziell ruiniert. Den Historikern zufolge wär auch Bürgerkrieg drin gewesen. Romantiker brachten jene Jahrzehnte mit Banjo Patersons ›Waltzing Matilda‹ in Verbindung und setzten den unglücklichen Landstreicher mit dem Pöbel der neueren Zeit gleich, »Wanderarbeitern, die ihre gesamte Habe in einer zusammengerollten Decke tragen«, und den streikenden Schafscherern, die 1895 für eine unabhängige Republik im Outback stimmten, die als New Stralia State ausgerufen werden sollte. Schließlich erzielte eine vormals unbedeutende Partei namens Die Konföderierte Aktion einen erdrutschartigen Sieg und bewirkte für die Religion so ziemlich genau das gleiche, was die Prohibition für den Alkohol bewirkt hatte. Die Religion ging als Privatsache in den Untergrund, doch Packmans Herrschaft war vorbei. Er zog sich auf ein exklusives Kolonieschiff zurück und ließ seine Leute zurück, dass sie in der Wüste verkamen. Und jetzt überziehen ihre Behausungen wie Ausschlag die Wüstenebene: Tausende von Schächten und Schürfgräben, die ursprünglich seinerzeit im späten neunzehnten Jahrhundert, als das Goldfieber das Territorium überfiel, von den Chinesen gegraben worden waren. Damals zur Zeit von Packman gab es natürlich mehr davon. Aber Einsatzgruppen der Regierung und die Wüstenpest haben zwei Drittel davon ausgelöscht. Die Überlebenden, zu arm, um ihr Los zu verbessern, verbergen sich bei Tag und kommen nachts heraus, ganz wie die Fauna. Tagsüber ist es einfach zu heiß. Es geht das Gerücht, die meisten von ihnen bekämen blinde und verkrüppelte Kinder. Strahlung und das Ozonloch
werden dafür verantwortlich gemacht. Militärische Einwirkung ist ein anderes Gerücht. Calloway hält letzteres für wahrscheinlicher. Eine Myxomatose für die Wüstenbewohner. Das englische Wort für Wüste, ›desert‹, kommt vom lateinischen Wort für ›verlassen‹. Es fällt schwer, für diese Menschen nicht wenigstens ein bisschen Sympathie zu empfinden. Wahrscheinlich haben sie den richtigen Dreh zum Überleben gefunden, sinniert Calloway. Sie leben wie Beduinen und achten Moralgesetze. Diebstahl kommt unter ihnen fast nie vor. Je rauer des Klima, um so härter die Strafen für Diebstahl. Einem Dieb kann ohne weiteres die Hand abgehauen werden, wenn er etwas so Einfaches wie jemandes Wasservorrat stiehlt. Ein Kamel zu stehlen, wird mit dem Tode bestraft, heißt es, ganz wie seinerzeit im amerikanischen Wilden Westen Pferdediebe gehängt wurden. Hoch oben in der Stratosphäre durchschneiden Chromsplitter den Himmel – Streifen auf der Suche nach Todeskandidaten. Leroy bemerkt Calloways nach oben gerichteten Blick. »Wieder ein Kriegsfilm«, sagt er. »Manche Filmgesellschaften begreifen es nie, oder?« Manche Filmgesellschffn begreifns nie, o'r? Calloway ignoriert ihn. Er liest das Drehbuch zu Ende und klappt es geräuschvoll zu. Er lächelt, als Leroy zusammenzuckt. »Entschuldigung«, sagt Calloway. Er schaut durch die verspiegelten Fenster hinaus auf die Wellen windgetriebenen Gipssandes. »Ich war in Gedanken«, sagt er im Plauderton., »Ja?« Leroy beugt sich vor. Es kommt nicht oft vor, dass der Star ihn überhaupt zur Kenntnis nimmt, geschweige denn direkt zu ihm spricht. Es verleiht ihm ein plötzliches Gefühl von
Wichtigkeit. »44 Prozent von Australien gelten als Wüstengebiete. Eigentlich ist ein Siebentel der Planetenoberfläche Wüste.« »Und?« »Und das meiste davon liegt geographisch nahe an Ozeanen. Es gibt keinen Grund, warum die Multinationalen es nicht mit destilliertem Meerwasser bewässern könnten. Aber keine Regierung möchte Geld für die Versorgung des Pöbels und der Plänkler ihres Landes ausgeben – sind schlechte Wähler. Und Privatunternehmen kann man damit nicht behelligen, weil kein Geld damit zu holen ist.« »Lass stecken.« Lassteckn. »Diese Leute sind der Abschaum der Erde, Calloway.« Er lehnt sich mit einem angewiderten Gesichtsausdruck zurück. Beim bloßen Gedanken an die Randbewohner scheint sich ihm der Magen umzudrehen. »Oh, mein Geschwür. Sieh mal, die haben ihre Wahl getroffen. Sie wollten nicht arbeiten und sich der Verantwortung stellen, also bezahlen sie jetzt dafür. So einfach.« Er schüttelt erstaunt den Kopf. »Manchmal staune ich, was du für Zeug von dir gibst, Calloway. Wirklich.« »Da nennt man Mitgefühl, Leroy.« »Für sowas hab ich keine Zeit, Calloway«, sagt Leroy und wischt das weitere Gespräch mit einer Handbewegung weg. Das ist Calloway nur recht. Wie kann man denn auch mit so einem wie Leroy reden? Der Mann ist eine Kulturwüste. Binnen einer Stunde betreten sie ein monolithisches Bauwerk in einem abgelegenen Teil der Simpson-Wüste. Es ist ein aufgedunsener schwarzer Obelisk von gehärtetem Glas, Stahl und gealtertem Marmor. Seine Fassade ist mit einer zerfurchten
Erosionsschicht vom sauren Regen überzogen. »Sieht aus wie eine Moschee für irgendeinen im Entstehen begriffenen radikalen Kult«, sagt Calloway. »Lass stecken.« Lassteckn. »Wir werden da drin garantiert nicht beten!« Leroy wiehert. Er bahnt sich den Weg durch drei Meter hohes Speergras. Sie gehen durch die getarnte Tür, die von angelaufenem Stahl umrahmt wird. Innen bückt sich Calloway tief, um unter schwarzen Stahlträgern durchzugehen. Er dreht sich zu Seite, um stumpfe Chrompfeiler zu passieren. Unter der Mannschaft von Rhinestone ist Verrat endemisch, und Vorsicht erfüllt jede Faser von Calloway. »He, bleib locker, warum denn nicht?« warumnnich?, beruhigt ihn Leroy. »Komm mit 'runter.« Calloway nickt mit dem Kinn. »Du zuerst«, sagt er ruhig. Er wartet, bis Leroy ein paar Stufen hinabgewatschelt ist, ehe er folgt. Die Luft riecht nach Sterilität mit einem Hauch Körpergeruch. Schwarze Kohlefasern und poliertes Chrom reflektieren helles Neonlicht. Calloway lässt die Spiegelblenden herunterfahren, die Brille halbiert die Lichtfülle. Von unten her begrüßt sie Toby. »Ist das nicht der verdammteste Drehort, den du je gesehen hast, Calloway?« »Tolles Ding«, erwidert Calloway. »Was liegt an?« »Was hältst du von der Maschine!«, fragt Leroy und wischt die Frage beiseite. Der Rechner ist offensichtlich ein deutsches Fabrikat, ohne einen sichtbaren Markennamen auf dem polierten Marmor, der
ihn beherbergt. Völlig auf der Höhe der Zeit – darauf kann man sich Leroys Geld verlassen. Die neuesten Biochips von DioAtsu oder sogar von TechnoTron, hin wie her, jedenfalls HightechAusrüstung. Toby kommt von hinten heran. »Alles ganz reell, Calloway. Du siehst besorgt aus …« »Also erzählt mir das Märchen.« Toby wirft Leroy einen eigenartigen Blick zu. »Du hast das Drehbuch nicht gelesen?« Calloway hievt sich auf den Arbeitstisch. »Also erzähl mir's nochmal.« Als Toby fertig ist, weiß er nicht viel mehr. »Das ist wirklich ein ›Geh-mit-der-Mode‹-Streifen, Calloway. Der Cyberspace ist so, weißt du? – He, Velazquez – komm her!« Ein blutarm wirkender Jockey löst sich von einem Lehnsessel, wo er Comics gelesen hat. Sein ausgezehrtes Gesicht ist mit Pickeln übersät und von dünnem, strähnigem blondem Haar gekrönt. Er erinnert Calloway an die Myriade von Todeskandidaten, die er im letzten Jahrzehnt abgeschlachtet hat. Das, und dann noch die Tatsache, dass er den Jungen als Gebäudereiniger erkennt. Wie Alice einst sagte: »Merkwürdig, immer merkwürdiger.« »Velazquez hier ist der Computermeister, der im Drehbuch erwähnt wird, Calloway. Velazquez, das ist Calloway!« Toby gibt dem Jockey einen väterlichen Klaps auf die Schulter. »Vel hat deine Streifen immer bewundert, Calloway. Vertrau ihm.« »Auf Leben und Tod«, sagt Calloway sarkastisch. »Sie werden mich Huckepack nehmen, Mr. Calloway«, sagt Velazquez in entschuldigendem Tonfall. »Ich werde mit Ihnen
am Rechner sein, aber eher als Beobachter, damit die Monitorprogramme Kopien von allem ziehen können, was sich ergibt. – Ich bin gut.« Er lässt kein Anzeichen von Zweifel erkennen. »Vertrauen Sie mir.« »An dem hängt eine Menge Vertrauen«, sagt Calloway halblaut. Doch es ist in Ordnung. Er hat seinen eigenen Reserveplan. Velazquez führt Calloway und Toby zu einer Wand voller Bildschirme und VAEs. Sie sind jetzt von tagleuchtenden Konfigurationen in Zinnoberrot und Zitronengelb erfüllt. »Das Neueste«, sagt Velazquez, als sei er voller Ehrfurcht vor der Ausrüstung. »Das System, das die Anlage benutzt, um das Realitätsfeld zu erzeugen, beruht auf neuen Forschungen zu Interstellar-Techniken, und die KI-Formulierungen erfordern, dass das System Brainspace mit dem mächtigsten Computernetz der Welt teilt.« Er tippt fast ehrerbietig gegen die onyxschwarze Wandeinheit. »Es ist das Beste, was man für Geld kriegt«, ruft Leroy, berauscht von der eigenen Wichtigkeit. »Wir würden dich gar nicht gern da drin verlieren, ha!« »Du kannst mich mal«, sagt Calloway. »Wo stammt die Anlage her?« Toby zuckt zusammen. »Calloway, bei dir muss es immer irgendein Problem geben, was? Wir haben 'ne Menge Geld da reingesteckt. Die anderen Filmgesellschaften laufen sich 'nen Wolf, um 'rauszukriegen, was wir vorhaben.« »Okay«, fällt ihm Calloway ins Wort. »Die Anlage. Es ist ein Hybrid, ja? Hat sie schon jemand getestet?« »Als ob wir dich ohne einen Probelauf da drin loslassen würden«, entrüstet sich Toby. »Fürs Grobe haben wir Fußvolk, um
Himmels willen. Was sagst du?« »Ich denke, du steckst voll Scheiße.« »Pass auf, in diesem Streifen brauchst du nicht mal jemanden umzubringen – es ist reine Simulation, ja? Also entkrampf dich endlich. Das Rastervid wird jeder von deinen Bewegungen folgen. ›Calloway in 3D!‹ Wir werden den Lauf nachbearbeiten – deine Fans werden dich von den Sohlen her sehen – kopfüber! Egal wie, aber locker.« »Lasst mich eins klarstellen, ehe ich reinspringe«, sagt Calloway zu Toby. »Ich gehe hinein – Velazquez fährt Huckepack – ich erreiche die Koordinaten, die ich erhalten habe. Velazquez hier macht es so, wie ich will. Ich werde ein Spezialverteidigungsprogramm mit Extras haben. Meinen Doberman, Crunch, als Programm – schnelle Reize für die Verfolger. Ja?« »Das war ein nettes Detail – eigentlich war es Leroys Idee«, sagt Toby freundlich. »Wir haben sogar daran gedacht, den Streifen Ein Mann und sein Hund zu nennen.« »Das gab's schon«, sagt Calloway. »Da drin sollten lieber keine Hammer sein«, droht er. »Keine außerordentlichen Gemeinheiten.« Toby lacht. »He, Leroy, hörst du das? Ist Calloway nicht zum Totlachen? Werd uns ja nicht technophob, Junge. Es ist ein abgeschlossenes System. Okay?« »So ähnlich wie mein Vertrag«, murmelt Calloway, während ihn die Labortechniker zu der Anlage bringen. »Sag mal«, fragt Leroy misstrauisch. »Wo ist denn deine Frau? Du weißt, Marla Sowieso.« Calloway hebt die Schultern. »Wird wohl irgendwo 'rumhängen, denk ich.« Er schaut von Toby zu Leroy. Er lächelt hinter
der Spiegelbrille. »Sich um meine Interessen kümmern.« Toby runzelt nervös die Stirn. »Die SVPs, die du kriegst, werden jedenfalls ausreichen, um da drin eine ganze Armee abzuwehren«, sagt er. Er legt Calloway die Hand auf die Schulter, zieht sie aber rasch wieder zurück. Calloway setzt sich wieder in den Sessel. Rhinestone befürchtet irgendein Problem. Man sieht es an den Muskelmännern, die sie angeheuert haben. Die verhalten sich schon recht unverdächtig, aber Calloway erkennt Mietlinge auf den ersten Blick. Die Art, wie sie herumlungern, vielleicht mit verschränkten Armen, den Hunger in ihrem Blick, reduzierte Sprechweise und Erscheinung. Die Laborkittel täuschen ihn auch nicht. Und natürlich erkennt er Dobson. Ein Windstoß aus der Vergangenheit. Er dient jedem, der den richtigen Preis zahlt – Calloway hat eine Rechnung mit ihm zu begleichen, doch das kann warten. Calloway lächelt vor sich hin. Für diesen speziellen Fall hat er auch vorgesorgt. Ein Techniker befestigt 'Troden an Calloways Schläfen, drückt die Klebstreifen an. Vage nimmt er wahr, dass ihm jemand einen Schuss Smoothflow in den Arm gespritzt hat. Seine Gedanken beginnen abzuschweifen, dann sammeln sie sich. Das wird der erste größere Streifen, der im Cyberspace gefilmt wird. Wenn es nicht gerade eine Splatter-Gesellschaft wäre, die ihn dreht, wäre es eine bejubelte Sensation. Sie schließen Calloway an die Quantenmakro-Sonde an. Wenn da drin irgend etwas passiert, werden sie eine Kopie seiner Persönlichkeit ziehen.
Calloway schmeckt Adrenalin im Mund. Er ist sich vage der Faseroptik zur Nervenstimulation bewusst, die wie wimmelnde Würmer an seiner Haut hängt. Er reckt sich hoch, biegt den Körper durch und entspannt sich, während er eintaucht. Eine beruhigende Chipstimme spricht irgendwo in seinem Denken. »Systemstart in fünf Sekunden – vier – drei – zwei – eins – System initialisiert.« Ein Techniker überprüft seinen Synapsenanschluss und speichert dann sein Abbild in einem Multi-Terabyte-RAM-Gitter. Sie werden es später bearbeiten. »Er gehört die ganze Zeit uns«, sagt Toby zu Leroy. »Nöö …« Leroy schüttelt langsam, methodisch den Kopf. Etwas Wildes lauert hinter seinen schwarzen Chipaugen. »Er gehört mir.«
ÜBERBLENDEN ZU: 32. INNEN. STADTSCHAFT IM CYBERSPACE. DÄMMERUNG In dem Augenblick, da sich Calloways Bewusstsein im Cyberspace manifestiert, hüllt ihn sein Abbild ein und lässt ihn vollständig erscheinen. Er durchlebt einen Moment von weißem Flimmern, dann orientiert er sich. Seine ersten Gedanken gehen in einem permanenten flakkernden metallischen Rauschen unter. Er spürt ein sonderbares Kitzeln, jedes Nervenende reagiert auf einen kühlen Wind, der
koboldhaft über ein mattes Wüstengelände tanzt. »Du bist drin – kommst du mit, Calloway?«, dringt Tobys Stimme über den Sprechfunk. »Eure Anlage ist beschissen«, sagt Calloway. »Sie ist laut – Überstrahlungen.« »Kein Problem«, kommt Tobys leicht verzerrte Stimme rüber. »Toneffekte und Dialog spielen wir später drüber. Wir erschließen hier neues Terrain!« Toby lacht über sein eigenes Wortspiel. »Neues Terrain – du verstehst?« »Du bist umwerfend komisch«, sagt Calloway. Er schiebt sich durch den Raster, steigt zwischen simulierten platonischen Strukturen auf, die mit jenen identisch sind, welche die Geheimnisse der multinationalen Giganten der Welt bergen – sich ständig verändernde cybernetische Megastrukturen, die sich in dem Maße neu formieren, wie die von ihnen repräsentierten Gesellschaften wachsen. Calloway schwingt sich durch das Interface, das der Cyberspace ist. Als Junge hat er wie Millionen anderer Kinder TalmiStadtpassagen besucht, die tief in die Substrukturen der Matrix hineinreichten. Jene Trips unterschieden sich wie Tag und Nacht von der Biosoftware, die ihm nun direkten Zugang zu dem Universum ermöglicht, das als Cyberspace bekannt ist. »Du machst das klasse.« Tobys Stimme ist überschwänglich. Calloway ist der Stuntman, derjenige, der in der Biosoftware des Hybridrechners geröstet wird, ist nicht echt. Toby hat allen Anlass, in Hochstimmung zu sein. Plötzlich schlägt die Textur des Raumes Wellen. Es ist wie auf einer gestörten Wasseroberfläche, nur zehnmal bedrohlicher.
»Calloway … Calloway … Calloway …« Das Echo seines Namens klingt wie von altertümlichen Becken. Der Tonfall lässt ihn erschaudern. »Calloway? Bist du das wirklich? Das hätte ich nie gedacht!« Es ist die Stimme von Jenelle Jardene, aus irgend einem vergessenen Grab hervorgeholt – kein samtweiches Gurren an seinem Ohr mehr, sondern eher das Rascheln von Herbstlaub auf dem Asphalt. Sie erscheint vor ihm wie ein verrücktes Hologramm. Ihr Gesicht trägt noch die Narben, wo Crunch sie in ihrem ersten und letzten Splatterfilm zerrissen hat. Calloway zögert. Ist sie ein eidetisches Implantat, mit dem Toby ihn verwirren will? Crunch überlegt nicht. Er senkt den Kopf, sein programmiertes tiefes Knurren klingt wie ein voll aufgedrehtes Motorrad. Er schnellt vor. Plötzlich durchschneidet Jenelles Stimme die Matrix wie die eines Höllenhundes. Scharfe Partikel von lumineszierender Anti-Eindring-Elektronik schießen auf Crunch zu. Das SVP des Tiers reißt ihn zur Seite, und die AEE verschwindet hinterm Horizont. Calloway hat sich schon zur Seite geworfen, sich instinktiv geduckt und ihr Feuer erwidert. Jenelle lässt zu, dass ihr Hass auf den Hund ihr Urteil trübt. Zu spät wirbelt sie herum, um Calloways Angriff abzulenken. Knallrosa Salven simulierter Energie schießen mit Lichtgeschwindigkeit los. Calloway fühlt, wie mikroskopisch feine Haarlinien von Energiefluss sein Abbild abtasten, während Jenelles Erscheinung
zu wogen beginnt. Von seinen Blitzen zerschnitten, werden Teilchen von ihr zu lebenden Photonen. Eine Myriade von Farben versprüht im Augenblick, und wieder ist Calloway neben Crunch in der Matrix des Cyberspace. »Das haben wir«, schaltet sich Toby ein. »Nur schade, dass du sie so schnell erledigt hast, Calloway. Spiel es voll aus, Calloway. Wir müssen daraus einen Neunzig-Minuten-Streifen machen!« »Zum Teufel mit euch!«, flucht Calloway. »Wer war das, den ich gerade geröstet habe? Jenelle Jardene ist seit Monaten totes Fleisch. Was heckt ihr diesmal wieder aus? Leroy? Toby?« »Sie ist auf Wunsch des Publikums zurückgekehrt«, sagt Leroy selbstgefällig. »War ein gutes Stück Arbeit mit der Persönlichkeitskopie – sie hat sich gut übertragen lassen.« »Dein Gesichtsausdruck war klassische Filmkunst«, flicht Toby ein. Calloway unterbricht die Verbindung. Er muss jetzt alle seine Reserven zusammenhalten. Er stößt sich von dem Raster ab, als ein Alarmzeichen ertönt. »Eindringlinge«, sagt eine Chipstimme. Eine verständige Stimme, die so wissend, so klinisch ist, dass sie Calloway bewusst macht, wie völlig unbedeutend er ist. Mehrzahl. Die Stimme hatte ›Eindringlinge‹ gesagt. Sind damit er und Crunch gemeint? Oder andere? Fremde. Das sollte doch ein abgeschlossenes System sein! Calloway ruft Crunch, und zusammen biegen sie ab, eilen zwischen aufragenden Bauwerken von poliertem Metall dahin. »Die sind nicht hinter dir her«, sagt Toby. »Hörst du mich, Calloway?«
»Verdammter Mist!« Er fühlt schon, wie Teile seines schematischen Abbilds alarmiert vibrieren. »Da drin ist jemand anders, Calloway!«, warnt Toby. Calloway hört eine heftige Ermahnung von Leroy. Tobys Verbindung bricht ab. Das macht seine Warnung glaubwürdig. Calloway beginnt eine steile Spirale durch ein Netz von Leitbahnen. Velazquez bringt ihn immer noch auf sein Ziel zu. Crunch springt hinter ihm her, und seine Zunge schleckt die Textur des Cyberspace auf. »Da haben sich Söldner reingeschmuggelt, Calloway! Wir glauben, es sind irgendwelche Operatoren mit frei schweifenden Viren«, sagt Toby aufgeregt. »Stimmt, es sind Viren, Calloway«, meldet sich Leroy, kaum imstande, die Euphorie in seiner Stimme zu verbergen. »Damit kriegen wir einen großartigen Streifen!« »Das war nicht vorgesehen, Calloway«, fällt Toby ein. »Sie müssen durch eine andere Anlage reingekommen sein, an den Sicherheitskontrollen vorbei.« »Hier sind sie nicht reingekommen«, fügt Velazquez hinzu. Über dem gelegentlichen Doppler-Rauschen klingt seine Stimme fieberhaft. »Calloway? Haben Sie noch was in petto?« Calloway flucht im Stillen. Hatte nicht vorgehabt, Marla so früh ins Spiel zu bringen. »Mr. Calloway?« Flehentlich. »Wenn Sie da drin festkleben, dann werden wir beide geröstet. Ich bin huckepack. Okay?« Aber es ist mein Kopf, der drinsteckt, denkt Calloway. Er stellt sich Marla irgendwo da draußen vor. Wie Unbehagen neben ihrer kühlen Effizienz bereitsteht, wie sich ihr Gesicht verhärtet, als sich Zweifel einschleichen.
»Ich habe jemanden in petto, ja«, gibt Calloway zu. »Brechen wir ab – wir packen es morgen.« »Geht nicht«, wirft Toby ein. »Die FilmCorp ist uns schon auf den Fersen. Wahrscheinlich sind das deren Truppen, die da zusammen mit dir drin sind.« »Wie sollten sie das fertig gebracht haben?« Er hätte nicht zu fragen brauchen. »Weiß der Himmel«, sagt Toby. »Dann geh hin und frag!« sagt Calloway trocken. In der Ferne hört Calloway tiefe, widerhallende Explosionen. Sie klingen wie Händeklatschen in einer Echokammer. Am Firmament des Cyberspace breiten sich flackernde Feuerkugeln aus. »Du bist an Ort und Stelle«, sagt Toby. »Velazquez hat den Code geknackt. Du bist drin.« Doch das ist er nicht. Ein breiter werdender Trichter von herumgeschleudertem Müll wirbelt auf ihn zu. Der Sog des Trichters zieht ihn wie Schwerkraft zum Scheitelpunkt. Ein Schild von schimmernden Rasterlinien erstreckt sich vor Calloway. Er kann gerade noch Crunch packen, ehe ihn der Trichter wegreißt. Der Sog hört abrupt auf. Calloway sieht ihn jenseits der Barriere toben. »Crunch!« ruft Calloway. »Nicht so eilig, Liebchen!« Calloway wirbelt herum und sieht sich Rip Cruiser gegenüber. Sein Abbild ballt sich zusammen, wird dann fest. Cruiser schießt. Ein Strahl von grüner Energie schneidet in Calloways Arm. Er fällt herab wie eine losgeschnallte Prothese,
während Splitter von neonfarbenem Äther wie blutige Eingeweide nachfolgen. Calloway schreit auf – er weiß, dass der Schmerz seinen physischen Körper in Katalepsie fallen lassen wird. Sein virtueller Körper verliert Substanz, beginnt hin und her zu wogen. Calloway sinkt unkontrolliert in den Rachen von vielfarbigem Nichtraum. »Velazquez!« schreit er, doch seine Stimme verliert sich in der Weite des Cyberspace. Über sich hört er, wie Crunch immer wieder auf Rip Cruiser zuschießt. Bestenfalls ein Ablenkungsmanöver. Dann springt Calloways SVP an, bringt ihn unter Kontrolle. Die Barriere, die er erschaffen hatte, hört auf zu existieren. Crunch macht Rip Cruiser noch zu schaffen. Der bemerkt zu spät den wütenden Trichter, der ihn umfasst. Er trifft wie ein Güterzug auf die beiden auf und saugt Cruiser und Crunch ein. Dann Velazquez' verzweifelte Stimme: »Mr. Calloway, ich verschiebe Sie. Ich gebe Ihnen einen anderen Ansatzpunkt. Wir haben immer noch zwei Fremde da drin.« Es gibt eine gedämpfte Erwiderung, und von Ferne hört Calloway fieberhafte Stimmen. »Wir sind es, die Eindringlinge haben, Mr. Calloway. Eben hat jemand die äußeren Verteidigungen weggeschossen!« »Hol mich jetzt raus, Velazquez!« Das Rauschen verstummt, und Stille fällt herab wie ein Fallbeil. Er ist allein in der Leere. Er gewinnt seine Orientierung weit genug zurück, um die Richtung zu ändern. Es kostet Mühe. Er ist zu lange erdgebunden gewesen.
»Marla? Bist du auf dem Laufenden?« In ein schwaches Summen mischt sich Marlas Stimme, von weißem Rauschen durchsetzt: »Wir haben uns gefangen … Treffer! Prozedur zwei … geplant …« Die Verbindung bricht ab. »Scheiße!« flucht Calloway. Die FilmCorp geht keine Risiken ein. Sie haben Rhinestone an beiden Seiten der Schnittstelle getroffen, und nun ist er im Cyberspace ohne Anker. Beinahe ohne Schutz. »Eindringlinge in Sektor ZweiPunktVierDreiFünf«, teilt die Chipstimme mit. »Unverzüglich weitergehen. Ich wiederhole, Eindringlinge in Sektor …« Eine prasselnde Feuerkugel explodiert an Calloway vorbei und verschwindet in der Ferne. Calloway erblickt die Eindringlinge. Sie werden als riesige Samurai dargestellt, mitsamt Rüstung in Neon-Purpur und glitzernden Chrom-Katanas. Sie stürmen aus entgegengesetzten Richtungen auf ihn los, die Schwerter über ihren Körpern wie Banner erhoben. »Hier kriegst du was für dein Geld«, murmelt Calloway. Er huscht beiseite, unmittelbar bevor die Samurai aufeinander prallen. Ihre zerfallenen Körper fließen zusammen, trennen sich dann wieder. Calloways SVP versucht das Paar einzusperren, doch seine verschmelzenden orangefarbenen Linien zersplittern, ehe sie sich verfestigen können. Die Samurai fegen den Abfall beiseite – ihre Verteidigungsprogramme werden zu lässig mit der Situation fertig, als dass es Calloway gefallen könnte.
Er dreht ab. Die Samurai folgen ihm entnervend prompt. Wer immer sie sein mögen, sie kennen ihr Geschäft. Sie haben Marlas Anlage komplett übernommen. Plötzlich wird Calloway aus der Bahn geschleudert und zwischen ausgedehnte Megastrukturen geworfen, die er wiedererkennt. »Lass das Drehbuch sausen!« Velazquez hat ihn zu dem Bauwerk zurückgebracht, das er zu Beginn gesehen hat. Die Samurai kommen näher. Ein weißes Licht, fest wie poliertes Chrom, lässt eine Struktur neben Calloway zerstieben. Eine Kugel von Neonlicht aus vielen Facetten nimmt ihn gefangen, ein negatives Feld, das ihn festhält, während er sich zu befreien sucht. »Velazquez!« Die Samurai nähern sich, um ein Ende zu machen. Zwei Meuchelmörder, mit ihren eigenen Computeranlagen ausgerüstet. Die ihren eigenen Film drehen. Mit Calloway als Opferlamm. Schlagartig dämmert es Calloway. Nur Toby und Leroy sollte es nicht erwischen. Ein dritter Spieler? Dobson? Vielleicht haben Treiber die Söldner von Rhinestone infiltriert: Elitekrieger, eingebettet in einen Klacks Neuralnetz mit Kollagen-Anhängseln, um beschränkte Beweglichkeit und die Fähigkeit zum Gestaltwechsel zu ermöglichen. Treiber sind die Söldner internationaler Agglomerationen, NeuroschaltkreisImplantate mit dem Vermögen, ihren Träger jedem ihrer Wünsche dienstbar zu machen. Militärmacht war jetzt zu leicht zu untergraben – eben wegen der Elektronik, die sie koordinier-
te. Die Samurai jagen ihn. »Seht zu, dass es einen guten Eindruck macht, Mädels«, sagt Calloway, als sie ihn erreicht haben. Plötzlich verschwindet einer der Samurai spurlos. Vielleicht ist der, der ihn an der Anlage steuert, dort bei sich getroffen worden. Es lässt in Calloway kurz Hoffnung aufkeimen. Vielleicht ist Marla immer noch im Spiel. »Chikushoo!«, ruft der Überlebende aus. »Yashimoto-san?« Rip Cruiser und Jenelle Jardene nehmen den allein gebliebenen Mörder zwischen sich. Seine schwarze Datenwand nimmt Jenelles Feuer auf und lenkt es ab. Doch Cruiser trifft ihn mit einem Feuerstoß, der seine Beine wegfegt. Sie treiben weg wie Gischt im Kielwasser eines altertümlichen Ozeanliners. Das sphärische Gefängnis rings um Calloway zerrinnt. Sein SVP löscht den Samurai ohne Reue oder Verzögerung aus. »Warum seid ihr zurückgekommen, um mir zu helfen?« fragt Calloway. Sie können keine Antwort geben. Cruiser und Jardene sind Persönlichkeitskopien im Besitz von Rhinestone. Keiner von beiden existiert in der realen Welt. Ihre cybernetischen Rollen werden von Rhinestone im Cyberspace programmiert: eine Unsterblichkeit, der sie niemals entrinnen werden. Vielleicht beneiden sie ihn um seine Sterblichkeit. »Du bist so männlich, Calloway«, lispelt Cruiser. In seiner Stimme schwingt Neid. »Leb lang«, sagt Jenelle und winkt. Ihre Abbilder ziehen sich zusammen und verblassen. Warum haben sie ihn gerettet? Calloway weiß, dass er das nie erfahren wird.
HARTER SCHNITT AUF: 33. LABOR IN FLAMMEN. TAG »Los, raus!« ruft jemand. »Hier ist die Hölle los, Mr. Calloway!« Er wird aufs Geratewohl hochgehoben, kann kaum fühlen, wie Gewicht auf seine Beine verlagert wird. Er knickt zweimal ein, wird nicht ohne Mühe hochgezogen. »Ich habe Ihnen einen Schuss Lithoreal gegeben, Mr. Calloway. Sie kommen bald in Ordnung. Aber jetzt müssen Sie hier schleunigst raus!« Mehr als alles andere ist es der ätzende Rauch, der Calloway aus seiner Erstarrung reißt. Das und der Geruch von verkohltem Fleisch. »Was ist mit ihm passiert!«, fragt Calloway mit einer Kopfbewegung zu dem InduSpi-Agenten hin. Sein blauer Overall schwelt leicht. Sein Haar ist flach abgesengt, doch er lebt noch. »Er ist geröstet worden!« Velazquez' Stimme schwankt in seiner Hysterie zwischen Kontraalt und Falsett. »Sie haben sonst alle hier unten umgebracht.« Er nickt zu Desprey hin. »Er verriegelte gerade die manuelle Sicherheitstür, als es ihn erwischte.« »Leroy? Toby?« fragt Calloway zweifelnd. »Die werden oben verhört. Die Tür wird nicht halten.« Es gibt eine Explosion, und die Brandschutztür stürzt nach innen. Die verbeulte Metalltür schlittert die Treppe herab und kracht gegen die Wand. Calloway zieht eine Magpfeil-Pistole aus dem Halfter. Er drückt sie einem toten Techniker in die Hand, und das Signallicht ihrer angepassten Bioelektronik leuchtet grün auf.
Er löst einen Schuss, als der erste Söldner durch die Tür kommt. Splitternadeln zerreißen den Mann, der rückwärts stürzt, an seine Stelle tritt ein zweiter, den Calloway ebenfalls umlegt. Calloway packt den Körper in einem Feuerwehrgriff und richtet die Magpfeile auf die Treppe, als er hinanstürmt, zwei Stufen auf einmal. Er hat die Tür erreicht, als Verstärkung eintrifft. Er drückt drei Schüsse ab. Zwei Söldner gehen unter dem Ansturm von Energie und Nadelsplittern zu Boden. Calloway wirft das tote Fleisch von den Schultern und kauert sich dahinter, während der Raum zu einer Mordarena wird. Er erhascht einen Blick auf Toby und Leroy. Sie sind auf stählernen Operationstischen ausgestreckt worden. An Leroy haben sie schon mit der Arbeit begonnen – seine Brust ist von Skalpellwunden übersät. Er konzentriert sich wieder auf das Gemetzel vor ihm. Zu spät. Der Schuss trifft Calloway hoch in der Schulter, wirft ihn wie eine Stoffpuppe herum und gegen eine schwarze Laminatwand, wo er auf das Linoleum sinkt. Sirenen melden plärrend Integritätsverletzung. Er hört Velazquez' Stimme durch das Magpfeil-Feuer. »Ich kann sie nicht halten, Mr. Calloway!« Die Tür des Notausgangs fällt ins Schloss. Hastige Befehle. Flüche. Dobson ragt vor ihm auf. In seinen Augen ist eine Leere, die an einen Treiber erinnert. Der schaltet seine Transformation von Kollagenmuskeln und bioplastischen Neuroschaltkreisen zu hydrogenisiertem Oxydator im instabilen Gleichgewicht ab.
Dobsons Denken klärt sich ein wenig. Der Treiber wird nicht derart locker lassen. Ein höhnisches Grinsen ergreift Besitz von Dobsons Gesicht. »Darauf habe ich lange gewartet, Calloway«, sagt er. »Kriegt ihr das auf den Film?« fragt er einen unsichtbaren Beobachter. Calloway bringt einen Schleimbatzen hoch und lässt sie ihn Dobsons Gesicht schnellen. »Mach ihn langsam fertig«, ertönt eine mechanische Stimme. Sie ist verzerrt, um den Sprecher zu schützen. »Versuch es erst mal mit den Kniescheiben.« »Mit Vergnügen.« Dobson wischt sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Dann richtet er, beide Hände vorgestreckt, die MK40 auf Calloways Bein. Fünf Schüsse fallen. Calloway zieht sich in Erwartung des unglaublichen Schmerzes zusammen, doch der kommt nicht. Marla ist gekommen. Was von ihren angeworbenen Muskelmännern übrig ist, betritt den verwüsteten Kontrollraum. Dobson stürzt wie ein gefällter Baum, aus seinem aufgerissenen Schädel quillt es rot. Marla eilt an Calloways Seite. »Schlimm«, sagt sie ohne Panik. »Ich werd's überleben«, sagt er. Er wirft Dobsons Leiche ab. Es gibt einen kurzen Schusswechsel, während Marla Calloway auf die Beine hilft. Die Feuerstöße kommen sporadisch. Kaputte Lampen haben Kurzschlüsse und tauchen den Raum in Zwielicht. »Wie viele?« fragt Calloway. »Drei, vier Dutzend vielleicht«, rät Marla. »Sie haben uns draußen am Seitengebäude überfallen. Profis.«
»Söldner?« »Mm«, sagt Marla nachdrücklich. »Armee. Nicht in Uniform, aber zu präzise für Söldner. Zu verdammt gut ausgebildet. Wirksam.« »Armee«, sagt Calloway leise. Despreys reglose Gestalt kommt ihm in den Sinn, verblasst. »Kommst du zurecht?« Sorge malt sich auf Marlas Gesicht. Sie hat eine plötzliche Vorahnung, dass sie ohne weiteres hier und jetzt mit diesem Mann sterben könnte. Der Gedanke beunruhigt sie nicht. »Fertig«, erklingt kurz angebunden eine Stimme. »Raus jetzt.« »Das ist Hutch«, sagt sie. »Wir müssen uns beeilen. Du weißt, was du mir für den Fall aufgetragen hast, dass ich den Kontakt zu dir verliere«, sagt Marla gewichtig. »Du hast's nicht getan«, sagt Calloway. Er versucht den betäubenden Schmerz aus seinem Kopf zu verdrängen. »Der Notausgang.« Er schlägt dreimal dagegen. »Velazquez! Sieh zu, dass du hier rauskommst!« Undeutlich sind Schritte zu hören, die die Treppe heraufeilen. Velazquez öffnet zögernd die Tür. Eins von seinen Brillengläsern ist zerbrochen. Sein Gesicht ist rußverschmiert, sein Hemd ein blutiger Fetzen. »Das ist nicht wahr«, sagt er einfach. »Raus!« befiehlt Calloway. »Calloway!« Marla zupft an ihm. »Tu's nicht!« »Sorge dafür, dass alle rauskommen, Marla. Tu es!« Er geht wieder die Treppe hinab. Computer haben Kurzschlüsse, Silikonbauteile flüstern zischend im Augenblick ihres Todes. Er bleibt bei Desprey stehen. Er empfindet keine besondere Sym-
pathie für InduSpi-Agenten. Auf Calloways Rangliste stehen sie nur ein winziges Stück über Söldnern. Nichtsdestoweniger zieht er den Mann mit einem Feuerwehrgriff über seine Schultern und steigt die Stufen hoch. Dichter Rauch sticht ihm in die Augen. Er drängt sich an dem geborstenen Türpfosten vorbei zu der Stelle, wo Marla wartet. »Wir haben keine Zeit mehr«, sagt Marla nach kurzem Zögern. »Die anderen?« »Wir haben ein paar gute Leute eingebüßt, Calloway.« »Ja. Das tun wir immer.« Nur beiläufig schaut Calloway zu Leroy und Toby hinüber, die gerade befreit werden. »Warum also die Eile!«, ruft Leroy, dem Rinnsale von Schweiß über die schlaffen Wangen rinnen. Toby verbindet die Brust seines Geldgebers schneller, als der Blut verlieren kann. Er kann es sich buchstäblich nicht leisten, Leroy sterben zu lassen. »Du hast es gut gemacht«, murmelt Toby seinen Dank ungefähr ins Calloways Richtung. »Du auch, Velazquez!« »Schneiden diese Aufzeichner noch alles mit!«, keucht Leroy, während Toby die Bandagen festzieht. »Was für'n großartiges Pathos. Das ist der Stoff, aus dem Legenden gemacht werden!« Das Letzte, was Calloway von ihnen sieht, ist, wie sie die Aufzeichnungsgeräte abschalten und die Kassetten herausziehen. »Der Ort wird jeden Moment in Flammen aufgehen«, jammert Toby. »Na, naa – schnell! Monitor drei, ehe er Feuer fängt«, kreischt Leroy.
Calloway und die anderen gehen sehr schnell nach draußen. Ihnen bleiben noch neunzig Sekunden, ehe Marlas voreingestellter Zeitzünder alles hochgehen lässt.
BLENDE AUS SCHNITT AUF: 34. INNEN. CALLOWAYS SCHLAFZIMMER. MORGEN Beim Erwachen nimmt Calloway einen Moschusduft wahr, der an frisch geschnittenes Getreide erinnert. Vorsichtig öffnet er die Augen. Marlas weiche Haut ist fest an die seine gepresst. Die Linie ihres Körpers ist nur wenig heller als die Dunkelheit im Zimmer. Es erstaunt ihn noch immer, wie froh er beim Anblick eines anderen Menschen sein kann. In seinem Leben hat es so viel Tod und Verlust gegeben, dass nichts anderes zu existieren scheint. Bis jetzt. Und dieses Wissen macht ihm Angst. Es ist ein schwacher Punkt, der um Furcht weiß. Mit einem Grunzen rollt er aus dem Bett. Seine Schulter sticht unglaublich. Offensichtlich hatte ihn Marla irgendwohin geschafft, um ihn in Ordnung zu bringen, ehe sie heimkehrten. Marla dreht sich herum. Ihr Gesicht hat alle Spuren der Anspannung verloren. »Elizabeth hat gesagt: ›Zum Teufel damit. Wer braucht denn überhaupt Urlaub.‹« Calloway berührt die Mikrospore. Sie ist in ständiger Bewegung, während die Laseroptik sein Fleisch zuschweißt. »Ich schon.«
Marla legt ihre Wange an seine. »Elizabeth hat auch gesagt, dass es nicht deine Schuld war. Sie gibt sich selbst die Verantwortung für Johnny Debros Zustand.« Marla bemerkt seine Bestürzung. »Ich habe mir nicht anmerken lassen, dass ich das mit Johnny wusste.« Calloway sackt ein wenig zusammen. Er hatte es nicht fertiggebracht, mit Elizabeth über Johnny zu reden. Er hatte sich unbehaglich gefühlt, eine Nachricht in ihre Post zu sprechen. »Du machst dir zu viel Gedanken«, sagt Marla. Sie stupst ihn herum und verbringt fünf Minuten damit, seine Schultern zu kneten. Das funktioniert jedesmal. »Der InduSpi-Agent – Desprey? – sagt, er sei dir ›verpflichtet‹. Velazquez hat auch Dank übermitteln lassen.« Für einen Augenblick wirkt sie besorgt. »Er denkt, Toby und Leroy hatten ihn für den Großen Abschied vorgesehen. Sagt, er schuldet dir das eine oder andere.« Sie rollt sich auf die Seite und tastet neben dem Bett herum. Sie bringt eine lasergeätzte Karte zum Vorschein. »Er steht rund um die Uhr auf Abruf. Wenn er nicht dran ist, kannst du ihn über die Nummer ausfindig machen. Er hat sich einen netten kleinen Platz in Paraguay besorgt.« »Die ganze Welt scheint aus Paraguay zu kommen«, murmelt er. Er nimmt das Plastikrechteck in die Handfläche. Trotz des Dämmerlichts kann Calloway ganz leicht lesen. Die Nummern sind wärmegespeist – schon die Wärme von Calloways Hand lässt sie leuchten. »Was werden sie sich als nächstes einfallen lassen?« sagt er. Er schnippt die Karte weg. Sie landet neben seinem Overall. »Geplante Reinkarnation.« »Das haben sie schon gemacht.«
Auf Calloways skeptischen Gesichtsausdruck hin nickt sie heftig. »Klar haben sie das. Da ist dieser Laden Richtung Perth, wo sie Wiedergeburts-Anrechte verkaufen. Tiere, Bäume, leblose Natur. Man sagt, was, und sie liefern es. Der Katalog ist wirklich faszinierend. Nicht nur, dass sie Zufriedenheit garantieren, oder man bekommt sein Geld zurück. Sie stellen keine Fragen.« »Wie, zum Teufel, soll jemand zurückkommen und behaupten, dass es nicht funktioniert hat?« »Das beweist, wie erfolgreich sie sind. Bisher hat sich niemand beschwert.« Beide brechen in Gelächter aus. »Du hast mich reingelegt«, gibt Calloway zu. »Nach allen Regeln der Kunst.« Sie kommt um die Ecke des Bettes herum und hilft ihm, den Overall anzuziehen. Sie versucht, das Lachen zu bezähmen, das in ihr hochperlt. »Ich weiß wirklich nicht, worüber wir lachen. Also was hast du jetzt vor?« »Ich könnte einfach diesen Urlaub nehmen, den Elizabeth nicht möchte.« Er zieht die Brauen hoch. »Also gut. Was liegt an?« Marla hat eine Leinentasche aus der Wandeinheit gezogen. Sie beginnt zu packen. Sie wirkt überrascht. »Sollte etwas los sein?« Ihr spanischer Akzent tritt hervor, wenn sie besorgt ist. Wie seine Vertrautheit ihr Trost spendet, wenn sie unter Stress steht. Er schaut nachdrücklich auf die Tasche. »Ziehst du aus, oder was?« Sie betrachtet das Leinen in ihrer Hand mit plötzlicher Ver-
wirrung. »Ach, das?« Sie zieht das Nylex zu. »So leicht wirst du mich nicht los. Ich mache eine Doku für Rhinestone. Ich habe ein Bewerbungsgespräch als Koordinatorin des Moderators.« »Ah hm.« Er lächelt trotz der nagenden Gedanken. »Wenigstens wird keiner auf dich schießen.« »Kameras, will ich hoffen.« Sie wirft ihm einen kurzen Blick zu. »Passt dir das? Rhinestone nimmt mir meine Legende nicht mehr lange ab. Ich habe Toby schon eine schriftliche Ausarbeitung vorgelegt.« »'rangeschmissen? « Marla nickt. »Leute, die er mag, verschwinden nicht so oft.« »Ziehst du dich an, ehe du gehst?« »O mein Gott«, sagt sie. Die Nylexkordel lässt sich schwerer lösen als zuziehen. Doch erst einmal umarmt Calloway sie fest. »Vergiss die Sache mit der Doku«, flüstert er ihr ins Ohr. »Du machst dich auf die Socken?« Marla erwidert die Zuneigung, dann löst sie sich von ihm und wirft die Tasche beiseite. »Wir können wechselseitig unsere Gedanken lesen, was? Wozu reden?« Calloway legt sich wieder hin, Marla sich neben ihn. Irgendwo weit im Hintergrund spielt leise Musik. Es könnte beinahe eine wahre Romanze sein. »Na schön. Also ohne Quatsch«, sagt Marla. »Da draußen gibt es ein neues Phänomen. Es interessiert mich in mehr als einer Hinsicht. Es ist so ein bizarres Konzept, dass es mich ganz wuschig macht.« Sie rückt von Calloway ab und blinzelt. »Warum lachst du? Lachst du mich aus?« Sie schlägt mit einem Schaumkissen nach ihm.
Er schlägt ebenso zurück, und am Ende umarmen sie sich ungestüm. »Ein anderer Grund«, sagt sie nahe an seiner Brust, »ist, dass es einen Weg hinaus für uns geben könnte.« Calloway lässt sie los, und sie nimmt ihre Tasche. »Wenn du raus willst, meine ich.« Sie schaut zu ihm hin. Schaut zögernd weg. »Etwas ist im Anzug«, sagt er nach einer Weile. Marla hat ihre Tasche aufgemacht und etwas angezogen. Calloway beobachtet sie, riecht ihre Besorgnis, wartet, dass sie es nicht mehr aushält. Dann geschieht es. Sie bricht zusammen wie eine implodierende Sonne, die wie von Zauberhand erlischt. »He!« sagt Calloway leise. Er schmiegt sich an sie. Marla ist ein reines Nervenbündel, in Tränen aufgelöst. Sie steht seit ein paar Jahren unter großem Druck. Wenn man ständig vom Tode bedroht ist, kann das einem die geistige Verfassung zerrütten. »Er ist jetzt weg«, sagt Calloway kaum hörbar. »Du bist in Sicherheit. Wir beide sind es.« Eine Zeit lang sagt sie nichts; dann klingen ihre Muskelzukkungen ab, und ihre Tränen trocknen. Sie schnieft, dann lächelt sie. »Ist schon wieder gut.« Sie trocknet sich die Augen und bringt ein Lächeln zustande. »Das musste heraus. Ich bin froh, dass du dabei warst, als es kam. Danke.« Calloway nickt. Ihm ist bei dieser Szene gar nicht wohl, doch er versteht es besser als die meisten. Er hat sein ganzes Leben am Randes des Todes verbracht. Marla löst sich von ihm und packt ihre Tasche. Dann ist sie
an der Tür. »Komm nicht wieder hierher«, sagt Calloway. »Hier ist es nicht sicher. Ruf mich an.« Dann geht Marla. Als sich die Tür schließt, hört er sie sagen: »Ich liebe dich, Calloway.«
BLENDE AUS BLENDE AUF: 35. INNEN. CHINESISCHES RESTAURANT. TAG Die Fassade des Chinarestaurants Der Glückliche Drache trägt wenig dazu bei, hungrige Passanten anzulocken. Der Drache, der einst das Fenster geziert hatte, erinnert jetzt eher an eine verblasste Tätowierung auf einem vom Meer verbrauchten Matrosen; die Gardine dahinter hat infolge jahrelanger sozialer Missachtung einen ungesunden Braunton angenommen. Marlas quälender Hunger wird bald von der Logik der Selbsterhaltung gedämpft. Die Luft drinnen erinnert sie an ihre Kindheit, als ihr Vater sie in Paraguay zu Geschäftsessen mitnahm, als das Leben noch schnell, aber nicht überschallschnell war. Sie brauchte etliche Jahre, um zu erfassen, dass die eigentlichen Geschäftsfreunde ihres Vaters in Wahrheit Siliziumbehälter mit giftigen Flüssigkeiten darin waren, und des öfteren kam es zu Streit, wenn er mit weniger Geld wiederkam, als die Mahlzeit kostete. Später wurde ihr klar, warum ihr Vater immer neue Freunde hatte. Doch jetzt ist nicht die Zeit für melancholische Rückblicke. Sie ist wieder Melina Meltz, Journalistin der Extraklasse, auf
einer viel versprechenden Spur, und sie hofft, dass sie ihr einen Job verschaffen wird. Die Überkopfanzeige an der Innenlinse ihrer Brille teilt ihr mit, dass die Atmosphäre allgegenwärtigen Unheils von einem Pheromaten für negative Stimmungen erzeugt wird. Gut, hier drin trügt also der Schein. Schon besser. Die Anzeige liefert weitere Informationen. Sie konzentriert den Blick auf die dampfverhüllten Küchenfenster. Vom Rahmen ihrer Brille geht ein unsichtbarer Strahl infraroten Laserlichts aus. Er trifft auf Glas auf, misst dessen Schwingungen und liefert eine mathematische Darstellung des Zimmers und der Leute dahinter. Es ist keine Küche. Im Restaurant selber sitzen vier verkrachte Existenzen. Der Mann unmittelbar gegenüber sieht wie der typische Müllsammler aus, der seine bevorzugte Sucht mit Dosen, Plastikflaschen und derlei finanziert, die neben ihm stehen, während er mit zitternden Händen Flüssigkeit in zuckende Lippen löffelt, manchmal Tröpfchen auf den Boden spritzt, wo sie sich übelriechenden Pfützen zugesellen, die aus der Tasche mit seiner Müllbeute rinnen. Zur Linken Marlas paffen zwei alternde Prostituierte billige Zigaretten und tauschen billige Anekdoten aus, während sie ihr Make-up wieder herrichten und so versuchen, eine unglaubhafte Lüge zu erzählen. Ein sechzehnjähriger D-Süchtiger sitzt wie ein Stein ihnen direkt gegenüber. Er trägt den gerade üblichen Straßenarbeitsanzug wie ein Soldaten-Dandy, für den die Zeit stehen geblieben ist, und seine Augen starren blicklos auf einen Punkt an der Wand gegenüber. Eine eselsohrige Speisekarte liegt vor ihm
offen auf dem Tisch. Marla vermutet, dass er ein Essen bestellt hat, sodass es zeitlich mit dem Heißhunger des Zurücksackens zusammenfällt, der voraussichtlich aus seinen FünfzehnMinuten-Trip folgen wird. D-Süchtige gelten allgemein als harmlose Verschwender. Wenn sie bei der weltweiten Nahrungs- und Drogenverwaltung registriert sind, können sie ihre Vorräte aufstocken, indem sie einfach ihren Streifencode durch den erstbesten Imbissautomaten ziehen. Lieber auf D als ein Trunkenbold. Manche haben sogar Stellen als lebende Schaufensterpuppen. Marla schätzt ein, dass für die Kunden ringsum keine wirkliche Gefahr besteht. Vorausgesetzt, sie sind, was sie zu sein scheinen. Solche Verkommenheit ist schwer nachzuahmen. Solchen Pöbel hält nicht einmal ein Pheromat auf Abstand. Eine Woge billigen Küchengeruchs geht dem Eintritt eines kleinen schlurfenden Kellners voraus. Er sieht aus wie um die Fünfzig, aber sein arthritisgeplagter Gang weist darauf hin, dass er sich medizinische Behandlung nicht leisten kann. »Miss«, sagt er förmlich und verbeugt sich. »Ich kann Ihre Bestellung jetzt aufnehmen?« Sie stockt für einen Moment, als die in ihre Kleidung eingebauten Mikrosensoren sie über die cybernetischen Zugaben seines Körpers informieren. Es gelingt ihr, ihre anfängliche Furcht zu beherrschen, als sie feststellt, dass alle vier Gliedmaßen mechanisch sind. Sie täuscht ein Husten vor, als sich ihre Überkopfanzeige abschaltet. Er hatte sie ebenfalls gescannt, was bedeutet, dass seine Anzeige eins von den neuen Netzhautimplantaten ist. Das ist vielleicht ein teurer Kellner! »Eigentlich bin ich wegen des Jobs hier. Sie brauchen Hilfe.
Menschliche?« Das Lächeln des Kellners verschwindet. »Hilfe«, sagt er mit plötzlichem Desinteresse. »Sie kommen jetzt mit mir.« Er schlurft in seine Küche zurück, und Marla folgt ihm auf dem Fuße. Die überalterten Straßenmädchen murmeln weiter, der D-Süchtige sitzt da wie eine Statue, und der Suppenverschütter schlürft weiter. Marla weiß durchaus, dass ihre Antwort eine reine Formalität ist. Wer immer sie hinter der Küchentür in Empfang nehmen wird, ist wahrscheinlich mit dem Chinesen verbunden. Die Mantel-und-Degen-Zeiten des einfachen Losungswortes sind längst vorbei, jetzt sind es Netzhautscans und Stimm-Muster. Marla lächelt mit verborgenem Wissen. Datenbanken werden bestätigten, dass Melina Meltz eine weltreisende Spezialistin für Finanz- und Futures-Projektionen ist, obwohl sie den Titel einer Hyperrealitäts-Beraterin vorzieht. Das ist etwas Persönliches, ein Wunsch, der Mystik der alten Welt treu zu bleiben. Die Doppeltür öffnet sich nach innen, als der Chinese sie voranstößt und dabei einen Riss im Gefüge der Realität zulässt, der seine wahre Stärke offenbart. Verstärkte Mikroschaltkreise. Teure Angelegenheit. Natürlich nicht so unerschwinglich wie eine Biomodifikation, aber verdammt nahe dran. Marla unterdrückt ein Schaudern, als Nanoschaltungen einen scharfen Druck auf ihre Adrenalindrüse auslösen. Ihr Körper vibriert vor Leichtigkeit. Nicht gut. Nicht auf Dauer. Ihr Führer winkt sie weiter, während sie über leere Lebensmittelpakete und gestapelte Töpfe steigt. Eine Frau, die die
Ehefrau des Kellners sein könnte, steht vor einem kräftig riechenden Gebräu. Sie rührt den Inhalt mit monotoner Regelmäßigkeit um, die Neuankömmlinge nimmt sie nicht wahr, oder sie sind ihr gleichgültig. Als sie zu einer Stelle gelangen, die der Hinterausgang zu sein scheint, bleibt der Kellner unvermittelt stehen und dreht sich um. »Sie gehen, Miss. Nicht anfassen Klinke«, warnt er und wakkelt mit dem Zeigefinger. »Nur gehen.« Sie steht an der geschlossenen stahlverstärkten Tür, etwas verwirrt von seinen Anweisungen. Sie kann den Chinesen erledigen und hier weg sein, ehe jemand Alarm schlagen kann. Ein verlockender Gedanke. Der Chinese tritt hinter sie und stupst sie ungeduldig in den Rücken. »Sie gehen!« Die Tür ist ein Hologramm, doch aus seinen Anweisungen errät sie, dass sie nur die Klinke zu berühren brauchte, und ein stiller pneumatischer Schalter würde eine wirkliche Barriere herunterfallen lassen. Einfach, aber wirksam. Sie nimmt sich einen Moment, um ins Bild zu setzen, wie komisch das alles ist. Ein Blick in ihr Gesicht lässt zweifellos erkennen, dass holographische Türen der Vergangenheit angehören. Mittlerweile passen sich ihre Augen an den schwach beleuchteten Korridor und seine einzige Tür in gut zehn Metern Entfernung an. Ehe sie weitergeht, setzt sie eine elektronisch induzierte Aufwärmung der Muskeln in Gang, dann marschiert sie los, als gehe sie zum Lunch aus dem Büro. Das Geräusch ihrer Schuhe auf dem Plastonboden wird irgendwie sofort von den Wänden und der Decke verschluckt. Es
ist wie ein Bass-Beat in höchstklassigem HiFi, ohne jedes Echo. Das Geräusch ist da, dann nicht mehr. Noch etwas. Sie fühlt sich leicht beim Gehen, etwa wie in einem abwärts fahrenden Lift, doch der Boden bewegt sich nicht. Sie erreicht die Tür, ehe sie dieser allzu viel Aufmerksamkeit widmen kann. Schön. Noch ein Hologramm, oder was? Augenblicks wird ihr klar, dass es, falls sie beobachtet wird, viel peinlicher wirkt, wenn sie gegen eine feste Tür rennt, als wenn sie einen albernen Alarm auslöst. Sie dreht den Türknauf und betritt den Bauch des Drachen. Eine plötzliche Woge von Lärm. Die Beleuchtung hätte sie benommen machen können, wenn sich ihre Optik nicht eingeschaltet hätte. Just in dem Moment wird ihr klar, dass auch Alice unter Reizüberflutung gelitten haben mag, als sie ins Wunderland kam. Ist es ein Nachtclub oder eine Sim-Arcade? Das Erstaunlichste ist, dass sich die Bar durch Labyrinthe von Tischen und Nischen schlängelt, dann weiter zu einer VirtArena, wo Jugendliche an Terminals sitzen wie verrückte Derwische im Kampf mit unsichtbaren Dämonen. Ein Bass-Beat wandert durch den Raum wie eine Schallblase, während höhere Töne einher zu jagen scheinen. Holographische Lichtflecken springen zwischen Wand und Decke hin und her und umhüllen gelegentlich die Kunden wie regenbogenfarbiger Äther. »Melina Meltz?« Marla setzt ihren ›das ist ja so langweilig‹-Blick auf. Ein junger Cyber-Skeg kommt auf sie zu. Der Junge zuckt. Worauf er auch sein mag, Marla ist froh, dass sie es nicht ist. Ständig weg sein wie dieser Bursche, und das Ausbrenn-Syndrom ist tödlich.
Es scheint nicht aufzuhören, bis der Körper kalt ist und die Flöhe weg springen. »Ja. Das bin ich.« Wie: Was will ich eigentlich hier? Wer bist du? Noch ein Laufbursche oder der Obermacker? Ich hab zu tun, also kommen wir zur Sache. »Du bist also wegen des Jobs hier, ja, scharfe, hübsche Beine, Baby, skurfst * du?« Eine Frage, die er selber beantwortet hat, ein Kompliment, eine Frage, die eine Antwort erfordert. »Nee. Wer hat dafür Zeit? Ich will nicht grob sein, aber meinst du nicht, jemand könnte mir mal erklären, was ihr hier eigentlich genau treibt und warum ihr die Dienste einer Futures-Projektionistin braucht?« »Ua, hart zur Sache, wie? Alles klar, Kätzchen-Schätzchen, rein in die Öffnung.« Zehn Minuten mit diesem Hirni, und man kriegte eine schwere Migräne. Es wird allmählich schwer, sich vorzustellen, wieso sich das Geld rentieren soll, das Rhinestone für den Zugang zu dieser Hightech-Kinderkrippe bezahlt hat. Die akustischen und visuellen Systeme sind zweifellos Spitzenklasse, aber der Ort ähnelt mehr einer Börse für Geistesgestörte. Es gibt hier keine Anzugheinis, Unterwelttypen oder auch nur Sicherheitsleute. Außer dem Kellner und der Köchin im Restaurant ist hier keiner alt genug, als dass er sich mehr als einmal pro Woche rasieren müsste. El troppo manövriert zwischen Tischen hindurch und schwingt sich von manchen wie ein Gorilla weiter, ohne dass seine Füße den Boden berühren. Sie geht um den siebten Tisch *
Zusammengezogen aus sky Surfing, ›Himmelssurfen‹
herum, als ihr bewusst wird, wie unmöglich groß der Laden ist. Er hat die Ausmaße des Hangars einer Raumstation. Sie hatte sich zuvor für den Notfall den Hinterausgang des Glücklichen Drachen gemerkt, und der war nicht so weit entfernt gewesen. Es wäre physikalisch unmöglich, solche Abmessungen zu erreichen, ohne unter die Erde zu gehen. Die anfängliche Furcht, die Marla empfunden hatte, macht es sich in ihrer Magengrube bequem. Die schlechte Nachricht ist, dass sie nicht von einem Pheromaten erzeugt wird. Der Cyber-Skeg biegt scharf rechts ab. Sie sieht noch seinen grünen Haarschopf und beeilt sich, ihn in Sicht zu behalten. Himmel! Sie läuft rumms auf ihn auf. Breites Grinsen. »Wusste nicht, dass du dir was aus mir machst, Baby.« »Tu ich auch nicht.« »Sehr gut, Ruth.« Sie schaut zur Seite. Die Wände sind mit nackten Rubensweibern verziert, mit Cherubim und Centauren, manche haben sowohl Hüte nach der aktuellen Mode als auch BiowareAnhängsel. Biomech-Bacchanalien. Skurfboy winkt Marla, ihm zu folgen, und geht geradewegs auf einen zwei Meter breiten nackten Frauenhintern zu. Es ist Andy-Warhol-Kitsch. Er hebt die Hand und scheint nach einer unsichtbaren Klinke zu greifen. »Eeeaaasssy Riiierrr.« Er simuliert das kehlige Heulen eines britischen Motorrads, lässt die imaginäre Kupplung schleifen und prescht dann vorwärts, indem er springt, dann zwischen die gemalten Arschbak-
ken eintaucht, die rechte Hand hochgerissen. Marla folgt ihm doch nicht, ohne zuvor einen letzten Blick auf das ›Schreibbüro‹ zu werfen. Das ist es, woran es sie erinnert. Ein riesiges Schreibbüro, aber dreifach beschleunigt, Sekretärinnen, die unter Cirrus oder Smoothflow stehen, dass sie immer schneller denken, die Finger über den Tastaturen verschwimmen. Die Wand schließt sich hinter ihnen. Und sie ist an einem Strand. Flache Wellen laufen heran, eine östliche Brise zieht an ihrer Kleidung. Der Sand fühlt sich echt an. Muss er auch sein. Es sei denn, sie ist irgendwie in ein ROM-Gebilde geraten. Doch sie ist wirklich. Man wird doch wohl wissen, wenn man tot ist und eine Persönlichkeitskopie gezogen wird. Oder? »Sehen Sie …« Skurfboy hat schon ein kurzärmeliges Hawaiihemd angezogen. Er streckt eine gebräunte Hand aus. »Willkommen bei Bitwave Incorporated.« »Aha«, sagt sie. Sie schaut an Skurfboy vorbei. Sein Gesicht ist so selbstgefällig, dass sie größte Lust hat, ihm ordentlich eine mit der rechten Faust zu verpassen. Der goldene Sand hinter ihm weicht Palmen, dann einem Dschungel, der sich in der Ferne einen anscheinend aktiven Vulkan hinanzieht. Unterdessen läuft ihr Geist auf Hochtouren. Bitwave Inc. Toby und Leroy hatten ihr gewisse Hinweise auf Bitwaves phänomenale Erfolge auf dem Aktienmarkt während der letzten Wochen gegeben. Sie sind exponentiell gewachsen, doch niemand weiß etwas darüber, wo sie sich befinden oder wer an der Spitze steht. Inzwischen kann sie ihren Wunsch nach Geheimhaltung verstehen.
»Sowas hast du noch nie erlebt. Stimmt's?« sagt er. »Es ist etwas anderes«, gesteht sie ein. »Zugegeben.« Sie fühlt sich so euphorisch, dass es eine Schande ist. Sie stößt mit dem Fuß nach dem Sand, um sich zu vergewissern, dass sie das alles nicht träumt. »Nur zu. Tritt«, bietet Skurfboy an. »Hab ich auch gemacht, als ich hier eintraf. Wie wenn man in eine andere Dimension hinüberwechselt, hm?« »Sowas in der Art«, sagt Marla. Dann geht sie aufs Ganze. Schnell rein, zuschlagen, wenn sie es am wenigsten erwarten. Die ersten Gelegenheiten kommen manchmal nie wieder. »Wer, zum Teufel, sind Sie?« »Keine Sorge, Chiquita. Der Name ist Hype, aber du kannst mich Buzz nennen. Ich nehm noch einen. Cocktail?« Er bietet ihr einen Pokal mit tropischen Früchten und Wirbelhalmen an. »Nicht bei der Arbeit. Aber es sieht echt aus. Sind wir unter der Erde?« »Erinnerst du dich, mit einem Lift runter gefahren zu sein?« »Hmm.« »Eine Treppe? Ein Lift?« »Nö. Vielleicht ein bisschen in dem Korridor. Ich hab aber nicht gemerkt, dass er abwärts ging.« »Wie können wir dann unter der Erde sein? Du traust doch deinen Sinnen, oder?« Schließlich lächelt Marla. So fühlt sie sich im Moment weniger verletzlich. »Nicht immer, Kumpel. Für den Anfang, ich habe die Pheromaten im Restaurant bemerkt, und hier scheint eine Wand keine Wand zu sein, und man kann bestimmte Klinken nicht anfassen.« Ihr Lächeln wird breiter, während
seines verfliegt. »Einfache Deduktion. Wir sind unter der Erde.« Es ist eine Feststellung, keine Frage. Hype/Buzz scheint das zu würdigen. »Du bist die Erste, die das sieht, Britt. Du hast die erste Runde geschafft, Baby. Wir sind so an die zwanzig Meter tief. Aber soviel alle anderen wissen, sind wir sozusagen nicht im selben Karree.« »Was ist mit dem Karree? Dir gefallen die Nachbarn nicht?« »Hast Recht mit den Nachbarn, Girlie. Aber irgendwie gefällt den Schlitzaugen nicht, was wir hier abziehen.« »Alternative Wirklichkeiten werden nicht zur Lärmverminderung geschaffen«, setzt Marla an. »Reg dich ab, Bab. Jetzt kommt die Besichtigungstour!« »Nur eins noch«, sagt sie. »Wie wir so weit in die Szene kommen. Wir sind wie hier heruntergekommen?« »Der Korridor, der aus dem Restaurant führt, ist ein Lift mit einem Trägheitsverlagerungsfeld, und das ist etwas, das du sowieso nicht auf Anhieb verstehen würdest, also erspar ich mir die Erklärung. Und nein, kannst du nicht. Jetzt heißt es dem Führer folgen, Melina Meltz.« Buzz geht im Moonwalk rückwärts durch die Wand, und Marla folgt ihm, jetzt kräftig ausschreitend, während sich die Beinmuskeln für einen gedanklichen Tritt aufwärmen, den sie seiner Rückseite versetzt. Ihr altes Unternehmen könnte ein Trägheitsverlagerungsfeld praktisch erfinden! Als sie das ›Büro‹ verlassen, saugt das Getöse von Amüsement und Aktivität sie auf wie ein Äthernebel. Buzz verschwindet abermals und lässt sie allein vor der knalligen Hinterfront stehen. Marlas Aggression wächst exponentiell. Die Lichter erlöschen allmählich, während sich die Musik zu
Stille verlangsamt wie ein gewaltiger landender Zeppelin. Von Marlas Blickpunkt aus ist der Raum in Grün getaucht, als sich ihre Infrarotsicht einschaltet. Das Stimmengewirr in dem Raum ist abgeflaut. Dann setzt mit plötzlicher Wucht die Musik wieder ein. Über tieferem Krach schrillt die Cyberpunk-Version einer klassischen Jazzrock-Nummer mit einem Saxophon im Vordergrund und einem einzigen gesprochenen Wort: »Tequila!« Marla sucht nach dem Soundpult und sieht den Diskjockey. Er legt eine Vinylplatte auf, eine uralte Analogaufnahme. Nostalgiefans werden allmählich lästig. Von oben herab kommt eine Plattform und landet in einem Wirbel von Farben. Als sie die Flosse wahrnimmt, die aus der Unterseite herausragt, erkennt Marla, dass es ein Surfbrett ist, ein altertümliches Ding, aus dem das Skurfen entwickelt worden ist. Es geht neben ihr nieder, der Lichtwirbel löst sich auf und lässt Buzz erkennen, der weitertanzt, während er sie auf das Brett winkt. In diesem Stadium ist Marla so ziemlich zu allem bereit. Wenn sie virtuelle Räume, revolutionären Aktienhandel und ein Schreibbüro von verdrahteten Fixern verkraftet hat, kommt sie auch mit diesem Stück Irrsinn zurecht. »Vogelperspektive, Baby«, erklärt ihr glupiger Führer, während sie langsam aufsteigen. Es widerstrebt Marla, aber ja, sie legt die Hände grad eben so um Buzz' Taille. Dünne Gespinste von Titanit kommen aus der Decke hervor und verschwinden wieder darin. Eine schalldämpfende Blase umgibt das skurfende Duo. »Wie
Sie sehen, Miss Meltz, erinnert das Meiste an den Räumen von Bitwave an einen Nachtclub. Und es gibt zwei Gründe dafür, Dear. Erstens, falls – und das ist ein höchst unwahrscheinlicher Fall – wir jemals von einem Konkurrenten oder der InduSpi überfallen werden, können wir die wahre Natur unserer Arbeit hoffentlich kaschieren, indem wir uns für einen Experimentalclub und ein Drogenlabor ausgeben; für beides haben wir Lizenzen. Zweitens habe ich festgestellt, dass die meisten von unseren Angestellten, die zugleich Aktionäre sind, besser in einer Umgebung arbeiten, wo Geschäft und Vergnügen verschmelzen. Schluss mit den klinisch weißen Büroräumen und den seelentötenden Anzügen, die zu ein und demselben kränklichen Grau verblassen. Schluss mit der hirnverkleisternden Bürokratie und der Stechuhrfolter. Was wir uns geschaffen haben, ist eine neue Arbeitsordnung!!« Buzz ist definitiv auf einem Trip, als er zu einem Angriff auf das ausholt, was er den Konzern nennt, den schwarzen Eisendschungel. Marla findet das in Ordnung. Der Bursche hat nie eine ›richtige‹ Arbeit gehabt. Wie kann man die Infrastruktur angreifen, ohne die die Gegenwart nicht existieren würde? »In Ordnung«, sagt Marla. Das Surfbrett ist zur Ruhe gekommen, schwingt nur noch ganz leicht über dem verdrahteten Schreibbüro. »Warum braucht ihr mich? Was habe ich bei alledem zu tun?« »Gut, dass du fragst, Baby. Wir brauchen einen Manager. Vielleicht sowas wie einen Anzugtypen, der keiner ist. Klar?« Marla denkt nach, und eine zweite Frage folgt, die wie eine Wurst an der ersten hängt.
»Und was, zum Teufel, tut ihr hier, Buzz?« Buzz schweigt einen Moment. Ihr Brett schwebt wie eine Stechmücke. »Wir sind Aktienmakler.« »Verstehe.« Was sie natürlich nicht tut. Und man kann das deutlich sehen. Ihr Gesicht ist wie ein betäubter Fisch. Tot und glasäugig. »Unsere Aktien sind binnen einer Stunde, nachdem die Gesellschaft an die Börse gegangen ist, auf das Vierfache gestiegen, Miss Schlaumeier.« Marla schaut in das Büro hinab. Aktienmakler? »Es ist nur, dass du kaum der geeignete Mann zu sein scheinst, sich in den Schwankungen des Aktienmarktes zu versuchen.« »Vielleicht nicht, aber skurfen kann ich.« Die Spitze des Bretts senkt sich plötzlich und veranlasst Marla, erst kurz zu wanken und dann Buzz an der Taille zu packen, während sie über der Menge dahinsausen. Sie jagen mit Volldampf auf eine Wand zu und dann hindurch. Also das ist ein raffinierter Trick. Wenn die Wände anscheinend nicht fest sind, was hält dann die Decke? Aber natürlich ist es eine holographische Fassade – kaum festzustellen, bis man hindurchgeht. Der Raum, in dem sie sich jetzt befinden, hat mindestens fünfzig Quadratmeter. Die Decke ist eine unermessliche schwarze Finsternis, die Licht aufzusaugen scheint. Buzz und Marla schweben fünf Meter hoch, in Augenhöhe sind rings um die vier Wände Ziffern und Buchstaben angebracht. Zahlen, die auf dem Weltmarkt gehandelte Aktien darstellen, wechseln mit unheimlicher Regelmäßigkeit. Es ist, als wären die Wände lebendig.
In der Mitte des Raums steht ein enormer Monolith von Bildschirmen, auf dem computergenerierte Skurfer auf Informationswellen reiten. Rings um diesen Turm reiten virtsynchronisierte Skurfer auf Steuerbrettern, die von pneumatischen Stützen geneigt und gedreht werden. Um eine bessere Bemerkung verlegen, sagt Marla: »Ich begreife das nicht.« »Brauchst du auch nicht«, sagt Buzz. Seine Großspurigkeit nervt Marla, doch Informationsüberlastung bereitet ihr größere Probleme. Nicht, dass sie eine Neo-Ludditin * oder dergleichen wäre, aber Melina dürfte gewisse Konzepte nicht ohne weiteres verstehen. »Also erklär das … bitte.« »In Begriffen für Laien?« »Das wäre nett. Ja.« Marla Teixeira kann es erfassen. Melina Meltz hat keine blasse Ahnung. »Okay, ganz einfach gesagt, haben wir es fertiggebracht, Ebbe und Flut des Aktienmarkts in eine Form zu übertragen, die wir sowohl verstehen als auch in gewissem Grade vorhersagen können.« »Ozeanwellen«, sagt Marla langsam. »Exactomondo«, schreit Buzz. »Die Bretter, auf denen unsere Angestellten reiten, sind ihrerseits an Ronnie und Reggie angeschlossen, die SuperCray-Computer, die sich in dem Turm befinden. Wenn ein bestimmter Aktienkurs steigt, nehmen auch die von ihm erzeugten Wellen virtuell zu. Und das heißt, *
Ludditen nannte man die englischen Maschinenstürmer im frühen 19. Jahrhundert.
die Luschen bleiben außerhalb des Wassers und die Szene gehört den großen Kahunas * .« »Und was passiert, wenn die Aktie abstürzt?« »Baby, das nennen wir einen Wipe-out. ** « Buzz beginnt jetzt langsam um den Bildschirm-Turm zu kreisen. Marla registriert die Titel, die unter jedem Schirm erscheinen. Nach der ansteigenden Kurve zu urteilen, sind Rhinestone Pictures vielversprechend. »Darum geht es also bei Bitwave«, sagt Marla. Sie ist noch dabei, das alles zu verarbeiten. Es ist eine Menge auf einmal. »Größtenteils, aber wir machen auch Designer-Drogen und andere.« »Ich denke, das gehört zur Tarnung?« »Irgendwie schon, Baby, aber uns ist aufgegangen, dass man manchmal am besten eine Lüge in einer Wahrheit versteckt.« Marla kann nicht glauben, was sie hier hört. Nicht viel, und sie hat genug. »Du glaubst, ich werde für eine Bande von Pushern arbeiten?« Buzz schüttelt rasch den Kopf. »Falsche Droge, Miss Moralische Mehrheit. Unser Tätigkeitsfeld beschränkt sich strikt auf die eigene Firma.« »Und fünfjährige Kinder auf der Straße handeln nicht damit, ja?« »Sachte, sachte, Girlie. Das sind Zen-Drogen, Mädel, ein THC-syntetisierter Ruch mit Nulladren, die bewirken, dass man *
Kahunas: Wellen. Surfer-Slang: Der Surfer reitet die Welle nicht bis zum Ende, sondern wird überspült und fällt vom Brett. **
der Augenblick ist, nicht bloß ein Teil davon, ohne Ablenkung und supersensibilisiert. Niemand hat jemals richtig verstanden, warum Surfer Hasch rauchten, wir schon.« Marla verliert rasch den Boden unter den Füßen, und Buzz, immer wachsam bei dieser Dame, beschließt, dass es an der Zeit ist, den wunden Punkt zu treffen. »Du brauchst 'n Drink, Baby.« »Rein organisch.« Marla lächelt matt. »Nicht, dass ich dem firmeneigenen Grappa misstrauen würde, du verstehst.« »Nach deiner Auffassung, Baby.« Sie flutschen in das Büro zurück. Wenig später nippt Marla an ihrem Tequila Sunrise, während die Wellen sanft an den Strand schlagen. Buzz hat die Simulation rasch vorlaufen lassen, sodass die Sonne knapp überm Horizont hängt. Jetzt sinkt sie gerade unter den synthetischen Horizont. Marla denkt, wie sehr diese Doku Rhinestone gefallen wird, falls sie sich entschließt, sie einzuweihen. Der Gedanke, Bitwave zu managen, hat etwas für sich; es ist eine Herausforderung, wie es die Arbeit als Doku-Moderator niemals sein könnte. Es wäre eine echte Aufgabe und würde gutes Geld bringen, und dazu würde es noch ihr und Calloway ein wenig Luft verschaffen. Eine andere Sache ist freilich, ob Leroy und Toby wissen, dass der Glückliche Drache nur eine Fassade für etwas anderes ist. Andererseits, die Geschichte, der sie eigentlich nachspüren sollte, war, wo all die Top-Skurfer sich herumtreiben. Wahrscheinlich könnte sie sie zufrieden stellen, indem sie sich ein paar Aufnahmen von dem Club verschafft. Schema F: heißer neuer Nachtklub, neue Ton- und Lichttechnik, nur ausgesuchtes Publikum natürlich. Keine Hirnamputierten wie die Anzug-
typen von Rhinestone. Dann grinst Buzz über beiden Backen. »Wir hatten gerade Besucher.« »Ist das komisch?« »Doch, wenn es nämlich InduSpi-Agenten mit einer Photonen-Ramme sind, die einen Raum suchen, der nicht existiert.« Buzz springt kurz über den Sand und hebt eine Muschelschale auf. Sie zerfließt zu einem Videobildschirm, und der chinesische Kellner lächelt über beide Backen. »Sonst noch Dramen, Barry?« fragt Buzz aufgeräumt. »Sie kamen, sahen nichts und gingen. Östliche Philosophien bringen manche Leute in Verwirrung.« Mit katzenhafter Überlegenheit schließt er halb die Augen. Ein dumpfes Pochen scheint den Raum einzuhüllen. Es stört die Bilderwelt, ganz ähnlich wie ein Blick durch Hitzeflimmern. Buzz rollt mit den Augen. »Klingt, als ob die Klimaanlage wieder den Abgang macht, Baby. Sieht so aus, als ob ich meinen Schraubenschlüssel suchen muss.« Er wirft ihr Papiere hin. »Da ist dein Vertrag.« Er hält mitten in der Bewegung inne und zieht die Brauen hoch. »Und vergiss nicht, das Kleingedruckte zu lesen.« Dann läuft er durch die Wand. Sekunden später betritt er den Raum auf die kreativste Weise, die sie bisher mit angesehen hat: rückwärts, wobei Arme und Beine wie bei einer Windmühle kreisen. Die Wand stoppt seine Bewegung und lässt die Strandszene mit einem Geruch nach Ozon verschwinden. Der Raum ist jetzt spärlich möbliert, und von draußen dringen die Geräusche eines Handgemenges herein.
»Anzugtypen«, sprudelt Buzz hervor, während er aufzustehen versucht. »Blödiane in schwarzen Klamotten und mit Spiegelbrillen«, sagt er benommen. »Anzugtypen.« Marla springt vor und in die Bar. Der vertraute Schmerz von Paktruns sendet Wogen von Furcht durch ihre Adern, während ihr Körper weiterkämpft und ihr Denken im Nebel versinkt. »Das kleine Mädchen muss jetzt nach Hause« ist das Letzte, was gesagt zu haben sie sich erinnert.
ÜBERBLENDEN ZU: 36. AUSSEN. AUFNAHMEGELÄNDE VON RHINESTONE. TAG »Der Mann ist verrückt«, sagt Toby. »Lass den Scheiß, Toby«, sagt Calloway gepresst. Toby wendet sich zu Leroy hin. »Wir sollen wissen, wo Marla hin ist?« fragt er ungläubig. »Sie ist eine Latina. Diese Leute – wer kann denen folgen? Leroy – sag du's ihm!« Mr. Geldsack hütet sich, darauf einzugehen. Calloway ist drauf und dran, das ganze Studio auszuradieren. »Sie steht bei Rhinestone Pictures unter Vertrag«, sagt Calloway vernünftig. »Ihr wisst, wo jeder ist, weil Vertragspersonal diese beschissenen Dinger im Kopf hat.« Er zeigt auf seinen Warzenfortsatz. Toby zuckt zusammen. »So sichern wir uns ab«, sagt der Regisseur. »Was ist schon ein Neuropulsar unter Freunden? Sieh mal, wir wissen, dass du sie im Schlepptau hast, aber um Himmels willen, es ist eine Statistin. Nimmt doch Vernunft an. Wir
kümmern uns darum – setzen ein paar Schlagjungs 'ran, okay? In der Zwischenzeit verwenden wir ihren Ersatz. Hübsches Ding. Sie wird dir gefallen. Spielen kann sie auch.« Calloway fühlt eine unglaubliche Leere in sich aufsteigen. Für ihn ist das eine fremdartige Reaktion. Marla ist etwas, dessen Verlust er nicht erträgt. Es ist diese überwältigende Mutlosigkeit, die ihn dazu bringt, zwei Schritte nach vorn zu tun. Er packt Toby am Hemd und zieht ihn hoch. Seine Füße machen tanzende Bewegungen, doch er geht nirgends hin. »Himmel hilf!« schreit Toby auf. »Wird er wohl nicht,« flüstert ihm Calloway ins Ohr. »Ich will Marla zurückhaben. Lebendig.« Leibwächter rücken auf Calloway zu, doch Leroy winkt sie eilig zurück. Die verdammten Hornochsen würden die Szene ruinieren, wenn Calloway misshandelt würde. Calloway lässt Toby fallen. Er starrt die ängstliche Versammlung an. Ein bösartiger verrückter Hundesohn, der tanzen möchte. Keiner möchte mitmachen. »Lebendig«, sagt er mit stiller Drohung. Er zieht sich aus dem Raum zurück. Der Geruch der Angst ist stark. Er saugt ihn ein. Mikrocams nehmen alles auf. Toby macht zu Leroy hin das Zeichen für ›gut so‹: Daumen empor, kleiner Finger ausgestreckt. Verdammt, dieser Streifen läuft besser als je erhofft.
LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF:
VIERTER AKT
Der Streifen, der da 'nüber ging
37. INNEN. HAUPT-COMPUTERRAUM VON RHINESTONE. NACHT Unerwartete Hilfe von außen und ein Batzen von seiner SmartCard sind nötig, um den Ausbruch zu arrangieren. Er war immer seine eigenen Wege gegangen, doch diesmal hat er beschlossen, dem Strom zu folgen. Er wartet bis 22.00 Uhr. Das Sicherheitspersonal bereitet keine Schwierigkeiten. Schließlich sollen sie die Anlagen von Rhinestone vor Eindringlingen schützen, nicht vor den Angestellten. Bei InduSpi liegt der Fall anders. Bei ihnen wird er ein Risiko eingehen müssen. Calloway schiebt die Schlüsselkarte für den Binärdecoder ein. Das ist der Zufallsfaktor – eine illegale Schlüsselkarte von einer obskuren Bekannten Marlas. Die Programme beginnen mit den Kernroutinen, Binärcodes laden sich. Das hochauflösende Grafikprogramm des Sicherheitssystems
zeigt zweiseitige sich schneidende Linien von grüner Neonfarbe, die Rhinestones unmittelbare Verteidigung bilden. Programme beginnen sich zu verschachteln und bilden ein Gewirr holographischer Bilder. Calloway sitzt an einem anderen Computerarbeitsplatz und loggt sich ein. Eine weiche Chipstimme sagt: »Marla Teixeira: frühere Pseudonyme in chronologischer Reihenfolge …« Ein Holofiche projiziert ein perfektes Abbild von Marla über den Computertisch. Sie dreht sich um volle 360 Grad, dann beginnt sie mit leichtem paraguayischen Akzent zu sprechen. Calloway hält das Programm an, gibt Ausdruck ein. Zwei Streifen Papier kommen die Rutsche herab. Dann gibt er Speicher löschen ein. Er liest den Lebenslauf und prägt sich die wesentlichen Punkte ein, ehe er den Bericht durch den Reißwolf schickt. Er hat einige überraschende Informationen enthalten, und andere haben gefehlt, was ihn wundert. Nichts davon hatte natürlich mit Rhinestone zu tun – dazu sind sie viel zu schlau. Die holographischen Anzeigeeinheiten und die Klangfelder fahren herunter. Er weiß schon, dass die thermostatischen Sensoren des Photonen-Verteidigungssystems seine Anwesenheit registriert haben. In einem anderen Teil des Komplexes wird eine Fehlersicherung aktiviert worden sein, die ReserveSicherheitssysteme alarmiert. Ein plötzlicher Schmerz reißt ihn aus seinen Betrachtungen. Er beißt die Zähne zusammen und schreit seine Qual lautlos mit tiefem, gepresstem Ausatmen heraus. Warum hatte er geglaubt, der gefälschte Schlüssel würde den
Klangmodulator deaktivieren? Er schüttelt in stummer Wut den Kopf. Der Neuropulsar in seinem Kopf hat seinen tödlichen Countdown begonnen; pro Sekunde ein explosiver Puls gegen seinen Warzenfortsatz. Das ist Tobys und Leroys Wachhund. Aufs Töten programmiert, nicht aufs Entwaffnen. Er schafft es bis zur Tür. Der Binärdecoder hat die Sicherheit mit Erfolg durchbrochen, das System decodiert und neutralisiert. Den Hilfs-Backups, die von einer anderen Quelle eingespeist werden, tritt Calloways BD entgegen, der in ihre Zuflüsse einen Virus einschleust – Blue-Nova-Bugs, die gierig fressen. Calloway ist kaum durch die Tür, als seine Klangdetektoren ein rasselndes Atmen hinter ihm feststellen. Er erkennt das Bronchialleiden auf Anhieb. »Desprey«, sagt er und dreht sich um. Despreys Gesicht ist steinern leer. Hellrotes Narbengewebe wird allmählich dunkel. Seine Techniker waren nicht vom selben Kaliber wie die Calloways. Die MK40 in seiner Hand ist im Begriff, Calloways Magen und den größten Teil seines Rückens wegzupusten. »Hast du Schwierigkeiten, zu schlafen?« fragt Desprey. »Einer wie du muss sich am Ende eines Tages voll Aufnahmen entspannen.« Er nickt knapp zu dem Raum hin, den Calloway eben verlassen hat. »Was hattest du da zu tun?« »Nichts, was sich nicht beheben lässt«, sagt Calloway. Er klopft auf seine Tasche. »Ich brauchte etwas Information, Simon.« Er schaut nachdrücklich auf die MK40. »Wir scheinen beide etwas Schlaf zu brauchen.« »Sind beide ziemlich nervös, überhaupt«, sagt Desprey. Er schützt die Lippen und macht die Augen weit auf, sodass breite
Streifen von Weiß gegen seine schwarze Haut sichtbar werden. »Wir sind jetzt quitt.« »Du kannst Ewen auch wegschicken«, sagt Calloway. Er weiß, dass Despreys Partner auf der anderen Seite von ihm steht, beide Hände ausgestreckt und eine Handwaffe darin. »Der Heini geht raus«, ruft Desprey. Als Calloway sich umdreht, ist Oddesky fort. »Sieh dich vor, hörst du?« sagt Desprey, während sich die Tür zwischen ihnen schließt. Mit einem nachtverstärkten Scanner erkundet Calloway das Gelände. Windzerfurchte Wehen von Gipssand erstrecken sich wie ein surrealer Teppich, nun von der Laseroptik des Scanners grün durchzogen. Um Büschel trockenen Grases und einen einsamen Mulgabaum haben sich kleine Sanddünen angesammelt. Der bewegte Erdboden ist buchstäblich bis zum Rand mit Antipersonen-Vorrichtungen angefüllt. Das Sicherheitssystem dient dazu, die handelnden Personen von Rhinestone vor der Öffentlichkeit zu schützen. Außerdem hält es sie gefangen. Hohe Pieptöne werden von den frequenzgesteuerten Vernichtern aktiviert. Im Grunde kann Calloway nur einem Pfad zwischen den gepiepsten Signalen folgen. Er führt ihn weiter nach Norden, als er eigentlich vorhatte, doch er weiß, dass Storm Tempest und ihre Gruppe ihn inzwischen geortet haben müssen. Die MacDonnell-Kette schneidet von Osten her den Wendekreis des Steinbocks. Sie sieht monströs aus mit zerklüfteten ockerroten Felsklippen, Spalten und Vorsprüngen, ein Fleck in der Landschaft, der mehr als 1200 Meter über den nackten, mit
bleichen Geistereukalypten, Eisenholz und Büscheln von Vegetation gesprenkelten roten Erdboden ansteigt. Ganz anders, als der Aboriginee-Maler Albert Namarjira sie im zwanzigsten Jahrhundert dargestellt hatte. Nichts derart Idyllisches hat überdauert. Vorsätzlich entfachte Grasbrände haben diesem speziellen Stück Natur den Garaus gemacht. Brände und Uranbergbau. Für Calloway ist das Rote Zentrum ein so ungastlicher Ort, wie er nur je einen besucht hat. Momentan sinkt die Temperatur gerade unter den Gefrierpunkt. Es ist erst August, doch die Regenzeit hat gerade begonnen. Freilich, es könnte schlimmer sein. Oben in Kakadu haben sie etwas, das die Ureinwohner ›banggereng‹ nennen, Umhau-Jahreszeit, was tödliche tropische Gewitterstürme bedeutet. Sie waren im Laufe der Jahre schlimmer geworden, so sehr, dass die Leute da oben ihre Wohnsitze verlassen, sobald die Wolken grau werden. Beim Gedanken an Regen schnuppert Calloway in der Luft. Sie ist so stickig wie die Behausung eines Plänklers und erinnert an verkommene Klärbehälter. Calloway findet die Quelle: einen Gidgee-Baum. Es heißt, der sondert diesen Geruch ab, wenn Regen unmittelbar bevorsteht. Calloway sieht die Suzuki Hilite zehn Meter über den Spinifex-Gras entlanggleiten. Sie ist mattschwarz mit höllenfinsterem Kanzeldach aus Polykarbon; parabolische Wärmesensoren rotieren auf der Suche nach Energiemustern. Ökologisch ist es zwar kalt, doch elektronisch ist die Wüste heiß – bereit, Gegner zu rösten. Doch momentan ist das System größtenteils abgeschaltet. Die Suzuki erreicht ihn, bleibt reglos zwei Meter überm Bo-
den hängen – ihre Pulsare erzeugen einen Wirbel aus rotem Wüstensand und vertrocknetem Laub. Calloway geht in den Malstrom. Er wird an Bord genommen, Sekunden bevor die Maschine senkrecht aufsteigt und zur Gebirgskette hin abschwenkt. Calloway macht es sich auf dem Sitz neben der Latina bequem. Ihr jettschwarzes Haar ist zu einem Knoten gebunden. Ein Netz von Monofasern hält ihn am Kopf. Sehr gefechtsmäßig. Ihre Augen sind schwarze Obsidiansplitter, es könnten aber auch FocChips sein. Sie hat die Adlerzüge Marlas, vorstehende Backenknochen, die leicht gerötet und feucht vom Schweiß sind. Sie wedelt immerzu imaginäre Fliegen weg, ganz so, wie manche Leute Schlüssel oder Münzen klappern lassen müssen. Eine andauernde Bewegung, aus einer unbewussten Furcht geboren. Sie trägt einen praktischen Overall aus Mikrofasern, der nicht dafür entworfen ist, die weibliche Figur zu betonen, das aber auf bewundernswerte Weise tut. Sie begegnet Calloway mit unverhohlener Feindseligkeit. Das Weiße ihrer Augen sticht von ihrer olivfarbenen Haut ab. Sie sitzt mit verschränkten Armen da, die Hände um die Ellbogen gelegt. Es wird Calloway nichts ausmachen, wenn die Sache schiefgeht. Er wird eine Menge von ihnen mitnehmen. Er verzichtet auf Förmlichkeit. »Ich habe zwanzig Minuten, ehe der Neuropulsar losgeht«, sagt er. »Lange vorher werde ich eine schwere Hirnblutung kriegen.« Ihre Augen verengen sich. Er sieht, wie ihre Kiefermuskeln sich spannen. Sie wendet sich nicht auf dem Sitz um, doch ihr Blick schießt zu dem Piloten hin. »Im Augenblick habe ich mordsmäßige Kopfschmerzen.«
Der Copilot dreht sich auf seinem Sitz halb herum und kneift halb die Augen zusammen. Ein Latino. Todernst, Kopf kahl geschoren: rein funktional. Das Bild vom harten Typ, doch sein Verhalten trägt es nicht. Er hat nicht die Einstellung. Es ist offensichtlich, dass sie am liebsten Calloway sofort rauswerfen würden, und fertig. Es ist ein weiter Weg hinunter bis zu dem ausgedörrten roten Gestein. Er würde ihn nicht allein zurücklegen. Storm Tempest sagt: »Zieh sie runter, Enrique!« Der Pilot sagt nichts. Er hält Geschwindigkeit und Höhe. Die Frontarmaturen leuchten hell im Cockpit und werfen halbgeformte Schatten auf das Gesicht des Piloten. Unten sieht Calloway den schwachen Widerschein des Mondes auf dem Finke River. Angeschwollene Flutflächen schimmern silbern und kräuseln sich, als erschrockene Wasservögel aufstieben. Das Ökosystem ist größtenteils im Arsch. Schwerfällige Vögel wie Löffelreiher und Pelikane sind seit langem ausgestorben. Die berühmten Wildpferde, wilden Kamele und Wasserbüffel sind längst verschwunden, vom Pöbel aufgefressen. Den Wüstenplänklern waren sie nicht gewachsen. Dingos allerdings haben sich gehalten. Sie haben längst die Hunde als bester Freund des Menschen abgelöst. Natürlich haben sie jetzt biologische Komponenten, wie in der Retorte gezüchtete Organe von den echten und Solarisotope, die das Herz als zusätzliche Energiequelle versorgen. In den regnerischen Monaten verdammt lethargisch, aber in der trockenen Jahreszeit munter wie sonstwas. Kooris hat sie unter der Schirmherrschaft der CSIRO * *
Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation, eine staatliche Institution.
mit an die Aborigines im Laufe der Jahre gezahlten Stammesgeldern entwickelt. Eine Art Tribut an die Nostalgie, denn die echten Dingos sind als Nahrung abgeschlachtet worden. Wenn Calloway es sich überlegt, so ist die Simpson-Wüste so gut wie nur irgendein Ort zu Sterben geeignet. Er ist im Begriff, ein hauchdünnes Mikrolicht hervorzuholen, doch Storm hält ihm die Hand fest. »¡Idiota!« knurrt sie. Sie reißt die Hände vor und stößt wild gegen den Sitz des Piloten. Geringe Toleranzschwelle. Viel Temperament. »¡No quiero hacerlo!« sagt der Pilot bitter. Ebenso gut hätte er einem unbekannten Computer die Zeit ansagen können. Storm wirft den Kopf zur Seite, lässt ihn dann zurückschnellen und schaut den Piloten an. »Enrique! Ich kümmere mich drum, was passiert. Geh runter, jetzt!« Ihr Mund bleibt knurrend offen. Die Maschine senkt den Bug und sinkt dann in Spiralen zu Boden wie ein verworfenes Stoffmuster. Das schrapp schrapp schrapp ihrer wirbelnden Rotoren wird flüchtig unterbrochen, als etwas Metallisches von der Hülle der Suzuki abprallt. »¿Qué es esto?« fragt der Copilot. »Wir haben gerade …«, beginnt Enrique. »¡Callada!« schneidet ihm Storm das Wort ab. »Es war ein Vogel oder sowas.« Sie wendet sich Calloway zu. »Wir sind alle, wie sagt ihr, schreckhaft.« Sie wischt Phantomfliegen von ihrem Gesicht. Calloway spürt Verrat, doch er kann damit umgehen. »Komisch – dass du mit Marla eng befreundet bist und so. Sie hat dich nie erwähnt.«
Storm zuckt die Achseln. »Wir haben zu einer paramilitärischen Einheit gehört. Unsere Arbeit war streng geheim – und nachdem der Coup misslang, stehen hohe Preise auf unsere Köpfe.« Sie überdenkt, was sie gesagt hat. »Aber du hast Recht. Marla bedeutet dir offensichtlich ebenso viel wie mir. Ich bin überrascht, dass sie dir von der Sache zwischen uns nie erzählt hat.« »Also was ist mit dem Piloten los?« »¡Mierda!« knurrt Enrique. »Sein Sohn, Rodriguez. Er war fünfzehn, als er bei Rhinestone einen Vertrag abschloss. Du hast ihn vor langer Zeit in so einem Splatterfilm getötet. Ihr habt an den Iguazú-Fällen in Paraguay gedreht.« »Die Extras waren alle unter Vertrag – hatten sich legal verpflichtet«, sagt Calloway. »Wenn ich mich recht erinnere, waren sie im Begriff, an Strahlenkrankheit zu sterben. Von diesem Reaktorunfall, den ihr da hattet. Wenn ihr jemandem die Schuld geben wollt, solltet ihr vielleicht bei Rhoal Laraziz' Bundespartei anfangen. Sie waren es, die eine Technik eingeführt haben, die das Land weder brauchte noch sich leisten konnte …« »So redet einer aus dem Westen«, sagt Storm und lacht zynisch. »Ich brauche keine politischen Vorträge, besten Dank. O ja, seine familia kriegte die fünfzigtausend Guarani für den Tod ihres Sohnes. Und jede Nacht durchleben sie wieder den Augenblick, wo du ihn mit einer Slazenger auseinanderpustest. Rhoal hatte damit nichts zu tun!« Sie wird von einem abrupten Ausfall des Kreiselrotors unterbrochen. Die Stille springt sie an. Das Klicken sich abkühlenden
Metalls füllt die Stille aus. Rhoal, denkt Calloway in Hintergrund. Sie nennt ihm beim Vornamen. Er steigt aus. Unter seinen Firebreed-Stiefeln knirscht Sand, kräftige Geräusche wie überraschtes Grunzen. Die Luft riecht nach Wüstenlöwenzahn und Sand-Eisenkraut. Starke Regenfälle im letzten Monat haben die Wüste in einen Florateppich verwandelt. Storm wirft ihm ein Päckchen herab. Er zieht an einer Schnur, und ein Plastikschirm bläst sich auf. Er muss ihm inmitten des sprießenden Laubwerks Platz machen. »Ich hoffe, der andere ist der Arzt«, sagt er. »Mendonca braucht dich auch nicht zu mögen«, sagt Storm. »In unserem Land leben wir mit Leuten, die Unschuldige abschlachten. Für ihn bist du einfach eine Art zu leben. Er wird trotzdem das Gerät in deinem Kopf deaktivieren.« Storm lächelt. »Wir brauchen dich lebendig.« Sie fährt ihm mit den Fingern durchs Haar, greift dann plötzlich zu und zieht leicht. Sie ist völlig verrückt. »Sehr lebendig«, sagt sie fieberhaft.
LANGSAM ABBLENDEN BLENDE AUF: 38. AUSSEN. SIMPSON-WÜSTE. MENDONCAS GESICHT IN NAHAUFNAHME. KAMERA ZURÜCK Mendonca pumpt eine Ampulle von Phaseall in Calloways Nachhirn. Er wirft einen Blick aus dem PositionstomographenScanner und verfolgt, wie die kurzlebige radioaktive Substanz
Bilder von der Stoffwechselaktivität des Hirns liefert. Zufrieden streckt er die Hände vor, und Storm versiegelt sie hermetisch mit aufgesprühtem Mikrofilm. Energisch macht er mit dem Neurolaser einen Einschnitt bei der Warzenfortsatz-Drüse. Die faserdünne Lanze leuchtet in der Finsternis der Nacht stahlblau. Mendonca braucht nur Sekunden, um den Neuropulsar zu zerschneiden. Er ist überrascht von seinem Glück, doch weder Storm noch Enrique teilen seine Begeisterung. Zerebralspinale Flüssigkeit, grün im Schein des PTS, tropft von Mendoncas Fingern. Wäre der empfindliche Auslöser des Neuropulsars angetippt worden, hätte er Antigene in die äußere Hirnrinde injiziert – die motorischen und sensorischen Bereiche zerstört, die Sinnenwahrnehmung und das willkürliche Bewegungsvermögen lahmgelegt. »Versuchen Sie es«, hatte Calloway gesagt. »Schlimmstenfalls bringt es mich um.« Mendonca nimmt einen Biochip aus Storms ausgestreckter Hand und lässt ihn in den zeitweilig entstandenen Hohlraum gleiten. Er klebt ein fleischfarbenes Viereck über den Einschnitt und nickt ihr zu. Sie betrachtet ihre Seiko. »Bueno«, sagt sie. »Bringt diesen weißen Mistkadaver an Bord.« Calloway ist für fünf Minuten ausgeblendet worden. Ein Schuss von 100 Milligramm Smoothflow reicht aus, um jeden wegtreten zu lassen. Unmittelbar davor hatte er durch den provisorischen Schirm nach oben geschaut. Der Himmel war ein einziger zinnoberroter Streifen Höllenfeuer. Es würde ein schöner Tag werden.
Beim Abschalten hatte er an Marla gedacht, vielleicht sogar ihren Namen gemurmelt, doch er kann nicht sicher sein. Er erinnert sich, wie er mit ihr die verschiedenen Widersprüche diskutierte, die die achtziger und neunziger Jahre verkörperten. »Sieh dir doch Brett Whitleys ›Porträt von Arthur Rimbaud‹ an. Stand er unter Drogen, als er das gemacht hat, oder was?« »Ist das wichtig?« hatte Calloways Antwort gelautet. »Und ob«, sagt Marla leidenschaftlich. »Seine Zeitgenossen hielten ihn für ziemlich brillant. Aber wenn bei bekannten Sportlern der Drogentest positiv ausging, wurden deren Leistungen nicht anerkannt.« Calloway schaute auf das Bild. Es war ein Ölgemälde, Blattgoldrahmen, Katzenkopf mit synthetische Polymerfarbe lackiert und Kollage auf sechs Holztafeln. »Und Schriftsteller«, fuhr Marla fort. »William Burroughs, Lewis Carroll – seinerzeit galten sie als brillant, doch was sie schrieben, war von Drogen inspiriert.« »Drogen verstärkten also die Fähigkeiten, aber die Regierungen machten damals einen Unterschied zwischen den Künsten und anderen Gebieten?« Marla wendet sich ihm zu. Ihre vollen Lippen zu einem Lächeln geöffnet. »Genau das meine ich. Manchmal frage ich mich, ob du dich über mich lustig machst, mir nur meinen Willen lässt oder ob du einfach der verrückteste Kerl bist, dem ich je begegnet bin.« »Alle drei von der Liste«, hatte er gesagt. Calloway liebt Marlas leidenschaftlichen Gerechtigkeitssinn in einer Welt, die derart korrupt ist, dass sie längst jeden Begriff von Logik verlo-
ren hat. Er zog sie an sich. Galeriebesucher bedachten sie mit missbilligenden Blicken. Es war ihnen beiden egal.
LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF: 2 39. AUSSEN. FLUGHAFEN, ÜBERM ROLLFELD FLIMMERNDE HITZE KAMERA FÄHRT ZURÜCK, UM DEN NACHTHIMMEL ZU ERFASSEN Als Calloway sich völlig erholt hat, sind sie im Flughafen von Stral gelandet. Ein Suborbitalflugzeug donnert über sie hinweg, seine Pulsare sind orangefarbene Feuerkugeln, die flackernd leuchten, dann zu Stecknadelköpfen schrumpfen, als es die Stratosphäre erreicht. Calloways Denken ist etwas verworren, klärt sich aber rasch. Er nimmt an, dass man ihm eine ordentliche Portion Mexathrin verpasst hat. Die Migräne, die sich bei ihm entwickelt hat, ist jetzt ein dumpfes Dröhnen, das seinen Kopf durchzuckt. »Alles, was du brauchst, ist in der Tasche, Calloway«, sagt Storm. »Du brauchst nicht viel für die Reise – Paraguay hace muy calor – es ist heiß.« Sie blickt zum Himmel und rümpft die Nase. Ihr Atem bildet Schlieren. »Nicht nur lind oder feucht. Viel schlimmer.« Der Anflug eines Lächelns erscheint auf Calloways Mund.
»Du kannst einem richtig Mut machen.« Storm dreht den Kopf zurück und neigt ihn. Hinter ihr sagt Mendonca etwas. »Unser Mann, Guido, wird dich im Asunción Aeropuerto treffen. Er hat Informationen über Marla.« Calloway nimmt die Samsonlite-Reisetasche von der Rollbahn auf. Ihre Fluoro-Tarnung verbirgt nichts. Er hängt sie sich über die Schulter und blickt nicht zurück. Er fühlt, wie der von den Pulsaren erzeugte Wind gegen ihn drückt, als die Suzuki aufsteigt. Er wirft die Reisetasche in den ersten Müllshredder, an dem er vorüberkommt. Alles, was er braucht, hat er in seiner kugelsicheren Weste. Ein dumpfes Bersten vermeldet den Tod eines Positionsmelders, als der Shredder sein Werk tut. Er nimmt den Suborbitalflug nach Paraguay. Unterwegs kommt er zu dem Schluss, dass in dem Apfel der Wurm ist und er kein Verlangen verspürt, hineinzubeißen. Bei der Ankunft im Asunción Aeropuerto wartet er die Sicherheitskontrolle ab, zieht sich dann im Waschraum um und schließt sich einer Schlange von Reisenden an, die in einen Transam Richtung Iguazú-Fälle einsteigt. Das ist es, was man als Tourist so macht. Alles ganz locker hier. Abends ist er in einem Hotelzimmer in einer der zweifelhafteren Wohngegenden. Das Hotel Presidente ist im Grunde eine billige Absteige und bietet mit Schlafkapseln ausgestattete Buchten an, die sich zum Pennen und sonst nichts eignen. Es passt nicht zwischen die südamerikanische StyrofaserArchitektur, die von der kundenorientierten TechnokratenElite bevorzugt wird. Er legt den Schalter an dem altertümlichen Gerät um, das
einst als Glotze bekannt war. Aus dem Geflimmer taucht das Gesicht einer Nachrichtensprecherin auf. Sie hat einen amerikanischen Akzent. »… streifte einen Satelliten in erdnaher Umlaufbahn und trat dann wieder in die Atmosphäre ein, wobei sie Frankreich, Spanien und Portugal mit einer tödlichen radioaktiven Wolke überzog. Ein Vertreter der Weltabfallverwaltung sagte dazu, die Entsorgung nuklearen Abfalls in die Sonne sei nach wie vor die sicherste Entsorgungsmethode, über die wir verfügen. Er führte die Katastrophe auf – Zitat: ›menschliches Versagen‹ zurück.« Ihr Gesicht schaltet auf sympathisch um. »Weniger schwerwiegend war die Unterbrechung der Eröffnungszeremonie der Verstärkten Olympischen Spiele durch eine Gruppe skurfender Nudisten …« Calloway haut auf den Ausschalter. Je mehr es sich ändert, um so mehr bleibt es dasselbe. Er braucht frische Luft. Er lässt die Spiegelblenden herunterfahren und drängt sich in den hektischen Strom der Menschen verschiedener Rassen auf den Gehsteigen. Er macht einen Besuch bei Gutierrez, einem Bekannten aus den Unterschichten, den er während der Dreharbeiten hier getroffen hatte. »Du siehst beschissen aus«, sagt Gutierrez. Sein Blick ist wild. Er schaut an Calloways Schultern vorbei und grunzt. »Kommst du rein, oder schlägst du dich als Enzyklopädien-Vertreter durch?« »Im Moment schlage ich einen toten Hund«, murmelt Calloway. Er tritt in das Zimmer, und Gutierrez drückt die Holztür zu. Sie hat einen einfachen Riegel, der so ziemlich alles außer Gewehrschüssen aushält. Das Problem ist nur, dass das Holz
derart morsch ist, dass ein gewöhnlicher Tritt genügt, um die Füllung herausschlagen. Eine mit Fliegendreck übersäte 75-Watt-Glühlampe wirft fleckiges Licht. »Ein Wunder, dass du nicht blind bist«, bemerkt Calloway. »Hab nicht gewusst, dass man noch Birnen zu kaufen kriegt.« Gutierrez lächelt. »Und du bist gekommen, weil du weißt, dass Gutierrez alles kaufen kann. Oder?« Calloway nickt. »Du hast's erfasst, Junge.« »Hmm«, sagt Gutierrez mit sichtlichem Vergnügen. »Ich hab das eine oder andere für dich.« Er fegt mit dem Unterarm über die Werkbank und schafft freien Platz. Aus einem Geheimfach holt er einen Haufen so gut wie illegaler und jedenfalls nicht registrierter Waffen und verstreut sie auf der Platte. Er tritt von der Auslage zurück und betrachtet sie mit besessener Leidenschaft. Südamerikaner sind so. Gutierrez hat die Moral einer Sumpfechse, aber das geht schon in Ordnung, denn wenn man in der Hölle lebt, muss man ein Teufel sein, oder man wird im Handumdrehen verschluckt und ausgespuckt. Stolz nimmt er die erste in die Hand. »Eine injektionsgeformte Plastik-Jenzi mit Keramiklauf, die 12 teflonummantelte Keramikprojektile mit hülsenlosem Explosivstoff verschießt. Keine Metallteile, Gewicht 150 Gramm, und man kriegt sie durch jeden Metalldetektor der Welt.« »Keramikprojektile?« »Sie nicht wiegen zu viel. Kurze Distanz.« Er zuckt die Achseln. »Das ist kein Problem.« Gutierrez wirft die Waffe beiseite. »Also das hier besonders. Ein Plasmawerfer, schießt einen Pfropfen sternenheiße Materie auf alles, was du durchbrennen
möchtest. Ein Schießeisen für einen Spezialisten – Supraleiter und Batterien – es ist …« »Ich brauch eine Handfeuerwaffe, verdammich, Gutierrez. Keine Kanone. Du weißt, wovon ich rede?« Gutierrez schiebt den Werfer beiseite. »Dann diese hier. Ist eine Linearpistole, Supraleiterwindungen auf injektionsgeformtem Plastik, etwa ein halbes Kilo. Verschießt alles, was aus Metall ist, mit einem Magnetfeld von einer abnehmbaren Batterie; Leitfähigkeit setzt aus, wenn die Batterie entfernt wird. Geht durch Metalldetektoren und NeutronendispersionsDetektoren für Explosivstoffe.« Calloway nimmt die Waffe und hält sie. Sie liegt gut in der Hand. »Muni?« »Alles, was klein und aus Metall ist. Sogar Schrauben und Muttern, Schreibfedern. Es gibt optimierte Geschosse, Blei mit Stahlmantel, aber innerhalb von 20 Metern trifft alles das Ziel mit doppelter Schallgeschwindigkeit.« Er lächelt breit. »Was so schnell fliegt, macht ein großes Loch. Das Magazin fasst zehn Geschosse, aber die Batterien – die gut für hundert Schuss.« »Wenn die ersten fünf nicht helfen, werde ich den Rest nicht brauchen«, sagt Calloway. Gutierrez' Lachen dröhnt ohrenbetäubend durch das kleine Zimmer. »Calloway. Geld wird nicht zurückerstattet!« Bewaffnet begibt sich Calloway zum Allgemeinen Anzeiger, umreißt seine Wünsche und gibt dem Computer seine 3DKennkarte. Die Maschine nimmt das Plastik, bucht die verlangte Menge Geld ab und spuckt die Karte wieder aus. Wenn sich Marla in diesem Scheißloch befindet, werden Informanten ihn im Sonic Sync finden. Er hat eben eine Summe,
die den Ersparnissen eines Lebens entspricht, für Mitteilungen über ihren Aufenthaltsort ausgesetzt. Einem spontanen Impuls folgend, gibt er einen Ruf an Velazquez ein. Er hinterlässt eine Nachricht auf seiner akustischen Mailbox und lächelt. Der Plan ist vorbereitet. Nun zur Ausführung.
SCHARFER SCHNITT AUF: 40. INNEN. NACHTCLUB (GESCHÄFTIG) In dem brechend vollen Laden wimmelt es von Tunten, Schlagjungs, Schlitzern, Rotärschen und dergleichen: alles üble Typen. Der Laden brodelt. Holographische Freundenmädchen sind auf Kundenfang, während andere mit lüsterner Dekadenz in Schwerelosigkeit Unzucht treiben. Irre Lasergeometrien laufen nach oben zusammen, wirbeln herab, Nervenzellen, die den Äther durchfurchen. Und Calloway? Der ist in seinem Element. Eine pyrotechnische Band namens Honeychild zieht ihre Show ab, sie singen ihren Feuersong in beschwingtem Arpeggio: »… You left me locked inside this dream And I don't have the breath to scream And the air is getting thinner … Schrei There will be no turning back now …« Der Laden ist auf sensorische und akustische Überlast eingestellt. Calloway schaltet mit Mushin ab – dem Zustand ohne
Denken, aber mit Ohren, Augen und Geist eines Gottes. Das hat er von Howaito gelernt, seinem Sensei des 7. Dan. Grundausstattung für einen Splatterstar der zweiten Generation. Er hat sich zwei Maltas eingeholfen, die die Eingeweide versengen, ehe sich die Razorboys bemerkbar machen. Er mag Profis. Sie kommen herum und nehmen ihn in die Mitte: klein von Wuchs, groß im Hass. Zwei Ansammlungen von Ereignissen, die darauf warten, dass sie geschehen. Immer in Schwarz, die ovalen Gesichter nicht zu unterscheiden hinter eleganten Spiegelbrillen und einem Anflug von Bartstoppeln. Calloway nickt mit stiller Anerkennung. Draußen wirft das Nissen-Biofluoreszent seine Botschaft über schartigen Stuck. Sein Eindruck wird von der strudelnden gelben Schwefelwolke verwischt, die in so mancher Metropole endemisch geworden ist. Die Razorboys eskortieren Calloway zu einem Modul mit dem Aussehen eines kaputten Benzinautos. Sein Körper ist ramponiert, von Pockennarben wie von Mondkratern überzogen. Seine Mikroschaltkreise sind dem sauren Regen und dem Smog ausgesetzt, seine Hülle ist ein verrücktes Spinnennetz von Rissen und Brüchen. »Ehrgeizlinge«, sagt Calloway. Die Razorboys rücken zu beiden Seiten näher. Einer von ihnen zeigt Calloway seine offenen Handflächen und filzt ihn. Seine Augen weiten sich ungläubig, als er die Linearpistole findet. Als Köder funktioniert sie prächtig. Das Gesicht des Razorboys hellt sich auf. Er hat etwas Amüsantes gefunden. Er zeigt es seinem Kollegen, und beide schütteln traurig den Kopf,
ein aufgesetztes Lächeln im Gesicht. Die Razorboys warten tolerant ab, dass Calloway in den kurzgeschlossenen Mazda Supreme einsteigt. Der Fahrer drängelt sich zwischen Spottrufen und ausgiebigem Hupen in den Verkehrsstrom. Es werden wohl oder übel Schimpfwörter ausgetauscht. Kräftige Sprache für kräftige Blödiane. Calloway lehnt sich hinten weit zurück. Das gehört alles zur sprichwörtlichen Sonntagsfahrt. Der Ort, an den sie ihn bringen, ist dunkel und auf schmierige Weise traurig. Es ist das Hinterzimmer einer Nähstube – die alten Latinas folgsam wie Automaten und zu müde und bekümmert, um auch nur aufzuschauen und sich zu fragen, warum der große Kaukasier mit Eskorte hergebracht wird. Wohl zu schlau. Johnny der Taugenichts mustert Calloway mit gespieltem Interesse. Er sitzt hinter einem Kokon von bastardisiertem Polycarbonat in nicht reflektierendem Schwarz, von stumpfem Chrom umrahmt. Ein träger Wirbel von Drogenrauch dringt aus dem hinteren Ende des rechteckigen Zimmers. Jemand kichert – ein schepperndes Geräusch von einem drogenversauten Waschlappen. Ein Blick von Johnny dem Taugenichts, und einer der Razorboys macht dem Frohsinn ein Ende. Die Bewohner hinter dem Drogennebel verstummen. Das ist echte Scheiße. Sie haben keine Ahnung. Calloway lächelt wissend. »¿Dónde es Guido?« sagt Johnny der Taugenichts. Er kaut an einer Nagelhaut, wendet aber nie den Blick von Calloway. »Ah«, sagt er und schlägt sich mit gespieltem Verdruss an den Kopf. »Nicht alle Westler sind mit Stimmfiches bestückt, eh? Über-
setzt, Australianos, hab ich gesagt: ›Wo ist Guido?‹« Calloway zuckt die Achseln. »Noch im Flughafen, nehme ich an.« Johnny der Taugenichts bedenkt die Sache, verwirft sie dann. »Dieses Weib, das du suchst. Ist tot mehr wert als lebendig? Was?« Er lacht und dreht seinen weit offenen Mund hin und her wie ein Zirkusclown, der nach Luft schnappt. Es ist das Zeichen für gekünsteltes Gelächter, ein Gemisch von klagendem Glucksen und irren Lachsalven. Es bricht abrupt ab. »Marla Teixeira«, sagt Johnny, als lasse er den Namen auf der Zunge zergehen, schmecke jeder Nuance nach, koste ihn sexuell. »Du bist ein eingebildetes kleines Stück Scheiße«, sagt Calloway. Johnny reckt den Kopf vor. Der Anflug eines Lächelns tritt auf den schmalen Mund des Hispaniolen. »Ihr bringt mich in dieses Dreckloch. Habt ihr die Ware, oder willst du mich verarschen, du lausiger Kanake?« Calloway bemerkt das Flirren einer Bewegung nur aus den Augenwinkeln. Er steht da, das vordere Knie leicht gebeugt, das hintere Bein in einem Winkel von 45 Grad zum Körper. Er spring in die Niju-shiho-Position. Gleichgewicht und Symmetrie sind bei ihm perfekt. Sein Handkantenschlag trifft den Razorboy mit einem peitschenden Hieb auf der Brust, und er fällt auf die Tischplatte. »¡Hijo de puta!« flucht Johnny. Das genügt, um die Bewohner des Zimmers zur unverzüglichen Vergeltung anzustacheln.
Calloway verlagert sein Gewicht, packt den zuschlagenden Arm des Latinos und reißt ihn hoch, dass der Ellbogen bricht. Dann tritt er zurück und holt sein Mikrolicht hervor. Die kurze Explosion aus der Waffe veranlasst alle, in Deckung zu gehen. Die Laseroptik hat tödliche Wirkung. Auf kurze Entfernung schneidet sie gehärteten Stahl. Calloway geht den Weg hinaus, den er gekommen ist. Nur dass er dazu ein Loch in die knallbunte Faserwand tritt: vorbei an den alten Tanten, die sich hüten, aufzublicken. »Ja, richtig«, murmelt er, als er in ein Handgemenge aus fieberhaften Kias, Mae geris, Yoko-geri kokumis und Shutu ukes tritt. Es sieht mehr nach Jiyu-kumite aus, doch diese Übungen sind tödlich. Schon liegen Leichen am Boden, in unmöglichen Winkeln verbogen. Schlitzer reißen mit Phasenklingen Lücken in die örtlichen Tupamaros, ihre hochkompakten Elektronenstrahlen hinterlassen Nachbilder der Zerstörung. Der Pöbel lässt mächtig Federn, ist aber doppelt so zahlreich wie die Gegner. Ein verrückter Kamikaze führt mit vor Berserkerwut hervorquellenden Augen einen Schlag gegen Calloway. Calloway lässt sich in Kokotsu-dachi fallen und einen Matwashi geri folgen. Sein Fußballen kommt in Berührung mit dem Hals des Mannes und wirft ihn wie mit Psi-Kraft zu Boden. Mischlinge stürzen übereinander, um dem Wahnsinn zu entkommen: Hombres, die tödliche Straßen-Kata ausführen. Dann rast ein Modul zwischen die feindlichen Parteien. Zwei Razorboys springen auf das Modul zu, doch dessen getöntes Glas lässt ihre Tritte abprallen, und sie stürzen schreiend zu beiden Seiten weg, während das Modul neben Calloway stehen
bleibt. Calloway wirbelt herum, lässt das Mikrolicht in die Nähstube los, wo Johnny der Taugenichts seine Leute hinbeordert hat. Es ist eine schnelle Aktion. Calloway wendet sich dem Modul zu. Das Fahrzeug klettert über das tote Fleisch auf dem Pflaster. Als es zu kentern droht, verlagert Calloway sein Gewicht auf die linke Seite des Fahrzeugs. Es richtet sich mit plötzlichem Krachen auf und prescht vor, die Vorderräder in der Luft. Der Motor heult auf, als er die kritische Umdrehungszahl erreicht, geht dann auf ein Jaulen herunter. Der Wagen fällt auf alle Viere zurück. »Sie sind leicht zu verfolgen«, sagt der Fahrer. »Der Trick mit dem Vidschirm war … ungewöhnlich.« »Funktioniert jedesmal«, sagt Calloway. »Und wer sind Sie?« »Sagen wir, ich bin unabhängig.« »Sagen wir das lieber nicht«, sagt Calloway und zielt mit dem Mikrolicht auf ihn. »Was, zum Teufel, ist das?« »Es hilft, die Dinge neu zu ordnen.« »Ich hatte mal 'nen Hund in der Art.« Er hält den Blick strikt geradeaus. »Ich bin bei den Sondereinheiten des Innenministeriums. Verlander heiße ich. Mark.« Er reicht Calloway nicht die Hand. »Sie sind also ein Söldner. Und die Männer da?« »Jungs von der Regierung«, sagt Verlander. »Wir haben die hiesigen Tupamaros im Auge behalten – das ist die Mafia in Paraguay. Wir haben Sie da hineingehen sehen und gehört, wie die Party losging. Meinen Jungs war gleich wohler zumute – sie
hatten sich zu lange getarnt halten müssen.« Er dreht sich zu Calloway. »Würde es Ihnen was ausmachen, mir zu sagen, was Sie vorhaben?« »Soll das heißen, Sie wissen's nicht? Da scheinen Sie der Einzige zu sein«, sagt er. Plötzlich stellt er fest, dass er den Lauf einer Fusionswaffe entlangblickt. »'ne große Kanone für einen Bullen«, sagt Calloway. »Nur, um meine Interessen zu schützen, Calloway.« Er schaut auf das Mikrolicht herab. »Mit etwas in der Größe fühle ich mich nie wohl. Kommt mir zu sehr wie ein Spielzeug vor, wissen Sie.« Er grunzt befriedigt. »Nun, was sagten Sie gerade?« »Marla Teixeira. Sie ist gegen ihren Willen hergebracht worden. Ich hole sie zurück.« »Lobenswert«, sagt Verlander. Er lächelt. »Sie muss gut sein.« »Kann man wohl sagen«, sagt Calloway. »Und worum geht's bei Ihnen?« Er nimmt das Mikrolicht etwas höher. Verlander fährt über zwei Spuren von neongeflecktem Straßenglanz. Er verschwindet in einer Seitengasse, überprüft die Rückbildschirme, ehe er den Antrieb abschaltet. »Die Sache ist die, Calloway. Hier ist irgendeine sonderbare Kacke am Dampfen, aber wir kommen allmählich dahinter.« Er lehnt sich zurück und zieht einen braunen Papierbeutel unter dem Sitz hervor. Er holt eine halbmondförmige Pastete mit Hackfleisch hervor. »Empadas«, sagt er und beißt ein Stück ab. Die Chilli-Sauce sieht fade, sämig und pilzig aus. »Wollen Sie ein Stück?« »Wenn die Rebellen Sie nicht erledigen, dann tun es Ihre Essgewohnheiten«, bemerkt Calloway. »Sie sind ein Spaßvogel.« Verlander leckt sich die Lippen.
»Okay. Wir suchen Juanita Ruiz wegen Kriegsverbrechen. Sie sucht Marla Teixeira, weil die Rhoal Laraziz ermordet hat.« Er beginnt an den Fingern die Punkte abzuzählen, wie sie kommen, und lässt für jeden einen wie ein Ausrufezeichen ausgestreckten Finger schnippen. »Die blöden Weiber hassen einander wie die Pest. Sie hatten einen Staatsstreich geplant, aber Teixeira hatte bei Laraziz' Halbschwester Ruiz Verrat gewittert …« »… bei Storm Tempest«, sagt Calloway. Er nimmt in Gedanken Abstand und beginnt ein buntes Mosaik zu sehen, in dem er als Schachbauer gespielt hat. »Wie bitte?« sagt Verlander. »Laraziz' Partei verlor jedenfalls, aber nicht von Marlas Hand. Sie verließen alle das Land – nach Australien, scheint's –, dann eine Weile nichts, und dann – bingo! – ist Ruiz wieder da und sammelt ihre Schlagjungs für irgendeine große Sache.« Er ist beim Daumen angekommen. »Und siehe da, ein Joker taucht auf und bringt das ganze Drehbuch durcheinander. Wir sind immer noch beim Blättern und fragen uns, welche Rolle Sie spielen.« Mit einem Kopfnicken ermuntert er Calloway, Aufklärung zu geben. »Also los, Kumpel. Ich habe die ganze Nacht Zeit. Marla Teixeira … wer weiß? Ruiz kann sie inzwischen schon gefunden haben. Sie steht eindeutig auf der Abschussliste.« Calloway betrachtet den anderen: klein, schlank, schnell – ein trainierter Söldner, freischaffend. Für ihn ist das ein Job. Kein Platz für Mitgefühl. Er wird das Spiel spielen. Hat er das nicht immer getan? »Einfach«, sagt Calloway. »Rhinestone will ein Abenteuer an einem exotischen, aber gefährlichen Ort. Sie heuern ein Team
von Schlagjungs an, aber Storm/Ruiz gesellt sich denen entweder hinzu oder löscht sie aus. So oder so hat sie mit Rhinestone zu tun. Ohne dass sie es wissen, ist sie im Begriff, sie zu schlagen, um an Marla heranzukommen. Marla findet entweder heraus, dass ihr Ruiz auf den Fersen ist, oder sie wird legitim von Rhinestone entführt – das Letztere ist wahrscheinlicher, denn sonst hätte sie sich mir anvertraut. Wie klingt das?« Verlander winkt ihn weiter. »Ja. Ich seh das Bild nicht richtig, aber das Szenarium ist gut.« Er lehnt sich in seinen Sitz zurück. Der bequeme kleine Mistkerl wird nicht erfahren, was ihn erwischt hat. »Also braucht Ruiz mich lebendig, gibt vor, auf eigene Faust zu arbeiten, ist aber vielleicht von Rhinestone angestellt – das weiß ich natürlich nicht –, die uns über Mikrokameras und Satelliten filmen. Darum hat die gefälschte Schlüsselkarte so gut funktioniert – das mit dem Neuropulsar war natürlich ein hübsches Detail. Doch das war notwendig, weil ich es sonst womöglich allein angepackt hätte. Fast hätte sie sich verraten, als die Hilite, mit der sie mich abgeholt hatte, mit einer Mikrokamera zusammenstieß – der Grund für dieses Missgeschick war, dass der Pilot plötzlich die Flughöhe änderte, aber das gab mir zu denken. Also sind Ruiz und Rhinestone hinter mir her: nur dass Ruiz nicht weiß, wo Rhinestone Marla hat.« Instinktiv berührt Calloway den Wulst hinter seinem Ohr. »Ruiz hat mich jetzt auf ihrer Anzeige – und Rhinestone wird wohl dieses Gespräch mitschneiden …« Ehe Verlander seine Waffe hochreißen kann, rammt ihm Calloway die Faust gegen den Kiefer. Sein Kopf schnellt zurück
und prallt vom Seitenfenster ab. Guido und Verlander. Wenn der erste versagte, würde der allgegenwärtige Polizeibeamte die Nummer vom korrupten Bullen abziehen. Klar, das ergab Sinn. Nur dass sie dachten, er wisse, wo Marla war, und dass er sie zu ihr führen würde. Calloway langt nach unten und holt sich das Fusionsgewehr. Das war ein weiteres Geschenk – garantiert kein Standardmodell. Er schultert die Waffe und drückt das Mikrolicht Verlander in die Hand. Dessen Energiezelle ist bei Johnny dem Taugenichts aufgebraucht worden. Eilig verlässt er das Fahrzeug. »Muchas gracias, amigo«, sagt Calloway, als er in dem allgegenwärtigen kriechenden Neonstaub verschwindet.
LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF: 41. AUSSEN. VERLASSENER VERFALLENDER HOF. TAG Velazquez' Bude befindet sich ein Stück hinter einem geschäftigen Flohmarkt. So sieht es zumindest für Calloway aus. Er bleibt an einem der Tische stehen, geht aber weiter, als sich ein Geschwader von Fruchtfliegen auf ihn stürzt. Er bewegt sich weiter, auf die Rückseite zu, wo eine Marmorfassade über dem Hof aufragt. Die polierten spiegelnden Scheiben darin sind zerkratzt. Calloway überragt den größten Mann hier um gut zwanzig Zentimeter, und das beunruhigt ihn. Derlei Orte haben eine lange Tradition im Verschwindenlassen von Gringos. Er lässt die Spiegelblenden herunterfahren und ignoriert die grap-
schenden Hände, die Geld verlangen. Alles, was irgend Wert hat, ist festgebunden. Die Fusionswaffe hält den letzten Abschaum nicht zurück, aber die schwereren Typen machen sich deswegen garantiert in die Hose. So ein Bild verleiht einem Mann Stil Eine zerschlissene Fahne mit waagerechten Streifen in Rot, Weiß und Blau, dem Staatswappen und dem Siegel des Finanzministeriums hängt von dem zweistöckigen Bunker herab. Calloway wird durch eine Sicherheitstür eingelassen, eine zylindrische Gruft aus schwarzem verstärktem Laminat. «Willkommen an Bord, Mr. Calloway.« Velazquez' Stimme kommt kristallklar durch die Nakamichi-Lautsprecher. Der Fahrstuhl bringt ihn zwei Stockwerke höher, wo er von Velazquez begrüßt wird. »Ich freue mich, dass Sie angerufen haben, Mr. Calloway«, sagt Velazquez. Die Größe seiner Brillengläser und ihre Verstärkung lassen seine Augen fischähnlich aussehen. Calloway hat noch nie so etwas gesehen. Abgesehen von den Todeskandidaten natürlich. Er macht sich mehr Sorgen, dass er hergekommen ist. Jemanden wie Velazquez hineinzieht, dessen Leben für die Rhinestone-Manager nichts bedeutet. »Wenn Sie sich Sorgen wegen Ihres Besuchs hier machen – das brauchen Sie nicht.« Er lächelt glücklich. »Meine Verzerrer neutralisieren alles, Elektronik und Bio«, sagt er. »Die haben Sie da oben ausstaffiert?« fragt er und mit einem Nicken zu Calloways Kopf hin. »Sieht so aus. Irgendwann muss man sich ausruhen. Die wissen, wann sie zuschlagen müssen. Ich denke, es ist eine SaugVakuole, gefüllt mit einem Neurotoxin namens Cerebrin. Wenn
man an dem Ding herumspielt, überschwemmt es die adipöse Masse der linken Hirnrinde.« »Die sind ziemlich eigen, nicht wahr?« »Sie können sich's leisten.« Calloway lässt sich in einen Sessel fallen. »Hast du dir über mein anderes Problem Gedanken gemacht?« »Ich hab die Ausrüstung, die Sie verlangt haben. Was die andere Sache betrifft, das ist eine Lappalie, Mr. Calloway.« Velazquez fällt in ein tremolierendes Gelächter, als seien seine Synapsen durchgebrannt. »So einfach, dass ich nicht mal zu operieren brauche. Sehen Sie, wenn das Ding in Ihrem Kopf ein Signal aussendet, dann muss das irgendwo hin gehen – oder? Ist doch logisch, nicht wahr? Okay, ich gebe also ein regressives Programm ein, das verfolgt die Signale zurück, und die Sache ist gelaufen. Inzwischen erledige ich den Positionsgeber da drin mit einem Laserstift – tut überhaupt nicht weh.« »Das bleibt erst einmal«, sagt Calloway. »Wenn ich das richtig anpacke, kriegen die Manager von Rhinestone Gelegenheit, in diesem Streifen selber mitzuspielen.« »Es ist Ihr Film, Mr. Calloway«, sagt Velazquez und kommt mit einer Sonde. SCHARFER SCHNITT AUF: 42. CALLOWAYS ENTSCHLOSSENES GESICHT. KAMERA ZURÜCK Calloway pumpt eine Ladung Neofusion in die Stahltüren, und sie schwanken wie gefallene Riesen. Leibwächter langen nach ihren Waffen, doch Calloway erwischt sie mittendrin.
Mit schnellem Feuer erfasst das Fusionsgewehr sie fast wie einen Mann. Die zuckenden Lichtblitze zeigen ihren Tod in Zeitlupe. Spektakuläre Aufnahmen für Rhinestones Kultgemeinde. Das Zimmer ist ein ausgedehntes Konglomerat von Gerüchen und Rückständen: Peyotl, Meskalin, Dexedrin, vergessene Lebensmittelpackungen, Chilli con carne und Bife, im psychedelischen Stroboskoplicht alles in reinem Spektral-Chlorblau. »Drogenköppe«, murmelt Calloway, während er die Gegend mit einem Infrarot-Scanner abtastet. Er dreht sich um und zielt auf die Stahltür zu seiner Rechten. Dort müsste Marla sein – und zwei andere, wahrscheinlich Toby und Leroy. Die stroboskopischen Lichtblitze sind mit den menschlichen Hirnwellen synchronisiert – was bei den meisten Leuten todsicher einen epileptischen Anfall auslöst –, doch Calloways Infrarot-Scanner stört das Muster. »Hübsche Filmeffekte«, sagt Calloway. »Ihr habt fünf Sekunden, und zwei sind um«, ruft er. Die Sprechanlage wird jede Silbe aufnehmen. Das gibt guten Dialog für den Streifen. Seine Fans werden begeistert sein. Die Tür wird aufgerissen, und Marla kommt auf ihn zugerannt. Eine Riesenportion paraguayische Freude. Calloway umarmt sie fest, und sie werden eins. Ihr Atem geht vor Adrenalinblockade stoßweise. »Sie haben Verstärkung alarmiert, Lieber. Fünf Minuten – wir müssen sofort weg!« »Wir haben's im Kasten, Calloway«, erklingt Tobys ängstliche Stimme. »Bring uns um, und deine Karriere ist im Eimer«,
fügt der Regisseur hinzu. »Wer sonst würde so wie wir ein Auge auf dich haben?« Der Witz ist fade. Marla zieht an Calloway. Er lässt sich von ihr herumdrehen. »Woher sollten wir wissen, dass Storm eine Rechnung mit Marla offen hat?« fügt Leroy hinzu. Ihre Stimmen dringen mit einem Tremolo von 95 db aus getarnten 5-Megawatt-Lautsprechern. Von der endgültigen Tonspur werden sie gelöscht werden. »Um Himmelswillen, Calloway, sag was!« bettelt Toby. »Hasta la vista, Verlierer«, sagt Calloway und folgt Marla hinaus auf die Straße. Velazquez gibt Gas, und das Modul springt vorwärts. »Jetzt weg damit«, sagt Calloway. »Schon erledigt, Mr. Calloway«, sagt Velazquez und schaltet den Positionsmelder von Ruiz permanent ab. Ein Stück weiter hinten hören sie schnelles Gewehrfeuer. Mit etwas Glück kann Tobys und Leroys Verstärkung sie vor Ruiz' Schlagjungs retten. Falls sie rechtzeitig eintreffen. Sie rasen durch die dunkelnden Straßen, die von der untergehenden Sonne in Orange getaucht werden. Calloway und Marla halten sich bei den Händen. Sie brauchen einander nicht zu sagen, wie gut es ist, am Leben zu sein …
ÜBERBLENDEN ZU: 43. INNEN. KLEINES, SPÄRLICH MÖBLIERTES ZIMMER Calloway drückt auf Empfang. Marla ist mit dem ersten verfügbaren Suborbitalflug nach Australien zurückgekehrt. Sie sagt,
sie will einer Ahnung nachgehen. Wenn die sich bestätigt, wird sie genug Daten haben, um Rhinestone ein für allemal hochgehen zu lassen. Sie schien zu zögern, Einzelheiten zu nennen, da ihre Informationen heikel waren. Calloway hatte sie nicht gedrängt. Niemand kann Marla Teixeira zu etwas drängen. »Da führt kein Weg dran vorbei, Calloway.« Toby lächelt, doch Calloways Gesicht bleibt reglos. Irgendwelche erheblichen Schwierigkeiten kommen auf Rhinestone zu, doch ihre spezielle Natur kennt er nicht. »Sieh mal. Dieser Mist, der in der Stadt passiert ist. Vergiss es. Glaubst du, wir wollen dich umbringen?« Er lacht heiser. Dann erstarrt sein Gesicht, und er schnippt mit den Fingern. »Genauso, Calloway. Du weißt das. Was also soll der ganze Scheiß, wir wollten dich erledigen?« Calloway ist in Versuchung, die Verbindung zu Toby abzubrechen. Das Hologramm zeigt ihn klar vor der Sydney Harbour Bridge, doch er ist in der Nähe. Irgendwo in den kleinen Slumvorstädten. Aber er hat immer noch seine tausend kleinen Bequemlichkeiten. Toby deutet mit einer Kopfbewegung auf die Drehbuchanzeige auf Calloways Schoß. »Was denkst du also? Wir drehen es hier, und später bearbeiten wir es, um die Orte zu ändern. Das spart uns den ganzen Ärger mit dem Zoll.« »Da kriegst du es sowieso nie durch«, sagt Calloway. Er beendet die Übertragung. Calloway schaut auf den Titel. Er drückt auf Start, und die weißen Lichtbuchstaben beginnen zu rollen. SCHNITT AUF:
FÜNFTER AKT
Das programmierte Kind
44. AUSSEN. WEISSE GLUTHITZE DER SONNE ÜBER DEM MITTELMEER ÜBERBLENDEN ZU: AUSSEN. VERLASSENE PROVINZ Ständiges Insektensummen, unablässiges Zirpen von Zikaden. Verblasste weiße Fassaden einzeln stehender Häuser, abblätternder Putz, der Mörtel und bröckelnde Ziegel erkennen lässt. In mittlerer Entfernung ist durch Lücken im verrottenden Abfall der verfallenden Stadtschaft der Strand La Plage zu sehen. Die wütende Brandung des Mittelmeers schlägt unhörbar ans ferne Ufer. Wir nehmen diese Szene von einem Durchgang im Schatten aus auf. Der Klang heiseren Gelächters bricht abrupt ab, als wir die stark entwickelte Muskulatur von CALLOWAYS Rücken sehen.
KAMERA ZURÜCK AUF:
45. INNEN. HAUS DER REBELLEN Der Tisch wackelt. Über seine zerschrammte Oberfläche sehen wir Lebensmittel verstreut: Baguettes, Pelau, dessen Reis über den Tisch breitgelaufen ist. Um Brie und Paté krabbeln Insekten. WIR SCHWENKEN AUF: DEDIER, in ein aufgerissenes geblümtes Hemd und eine ausgebeulte Khaki-Hose gekleidet. WIR GEHEN NÄHER AUF Dediers Gesicht. Die Muskeln zucken, verzerren das Gesicht zu einem ängstlichen Lächeln. Er fährt sich mit dem Handrükken übers Gesicht und verdeckt es. DEDIERS GESICHT VERSCHWIMMT, UND WIR SEHEN MICHEL und JEAN-CLAUDE, die mitten in Ausgelassenheit erstarren, als Dedier über die Schwelle tritt und die Strasse entlang schaut. Zwischen les macoutes befindet sich die verängstigte Stumme, MARIONETTE. Ihre Bluse ist provokativ aufgerissen, doch das scheint sie nicht zu kümmern. Ihre Augen sind weit offen, ihr Gesicht ist in einem scheinbar katatonischen Zustand erstarrt. MICHEL (spricht französisches Patois – Untertitel folgen später): (nervös:) »Le cochon. Est-il içi?« DEDIER (mit aufgerissenen Augen, furchtsam):
»Ssst!« Seine gezischte Warnung wird zum … Zischen einer Schlange, das Calloway beim mittäglichen Sonnenbad stört. Calloway wirft ihr nur einen Blick zu, wendet seine Aufmerksamkeit wieder den verfallenden Gebäuden zu. INNEN. HAUS Es ist totenstill. Marionette starrt entsetzt Dedier an. Er überprüft die ramponierte Tür, und wir sehen, wie Marionette furchtsam jede seiner Bewegungen verfolgt. Eine Slazenger hängt über seiner Schulter, er umklammert sie mit unnatürlicher Heftigkeit. DEDIER (ängstlich): »Merde! C'est lui, le poutin!« Dedier starrt das Mädchen an und nickt. Kameraschwenk auf die Gesichter der Männer zu beiden Seiten neben ihr. In Nahaufnahme sehen wir, wie Schweiß auf ihre Haut tritt. Niemand rührt sich. MARIONETTE: »Seht euch …« Jean-Claude packt sie an den Haaren, reißt sie von ihrem Stuhl zurück und schlägt ihr auf den Mund.
SCHNITT AUF: 46. AUSSEN. CALLOWAY Er hält kurz inne, um auf den Lärm zu lauschen. Er runzelt die Stirn. Nahaufnahme seines Gesichts. Seine Augen verengen
sich, während er an der Treppe vorbeigeht, die für ihn die logische Stelle zu sein scheint, das Haus zu betreten. Wir sehen, wie er das Zimmer im Erdgeschoss betritt. Als er eintritt, ist es stockdunkel. 47. INNEN. ZIMMER, BLICK NACH DRAUSSEN Calloway steht in der Tür. Sein athletischer Körper schirmt das Licht von draußen ab und hüllt das Innere in Dunkelheit. Als er sich bewegt, sehen wir, wie er den Kopf reckt. PIERRE LAMONDS VERSION DES CALYPSO-LIEDES ›LA LUNE NOIR‹ SCHWILLT ZUM CRESCENDO AN. SCHAUSPIELER AD LIBITUM BIS ZUM ENDE. Soweit ist Calloway dem Drehbuch gefolgt. Doch mehr steht da nicht. Von nun an macht nach den Verträgen der Mitspieler jeder, was er will. Da oben sind drei Todeskandidaten – verpflichtet, es mit dem führenden Splatterstar von Rhinestone aufzunehmen. Rhinestone hat sie für den neuesten Streifen unter Vertrag genommen. Calloway weiß, dass diese Männer die Crème de la crème unter ihresgleichen sind. Sie haben bei den Aufnahmen zum Programmierten Kind ihre Kollegen überlebt und in mehr als einem Fall deren Tod verursacht. Killer, die keinen Gedanken an andere verschwenden, Männer, die nicht von Gier motiviert sind und kein Interesse an der ›Auszahlung‹ haben, die ihnen Rhinestone garantiert, falls sie die Begegnung mit Calloway überleben sollten. Im Film bewegt sich Calloway mit der Geschmeidigkeit eines
Panthers, sein Kapuzenmuskel und der Quadrizeps schwellen in klassischer Symmetrie. Mit einem Schuss Neuroson verstärken sich seine biologisch optimierten Sinne, und seine Reflexe werden aktiviert. Die Technik ist das Beste, was die Kliniken in Canaveral bieten können – auf Rechnung von Rhinestone natürlich. Warum auch nicht? Der Junge hat einen harten Job. Calloway schaltet den Ultrascanner an seiner Waffe ein. Ein roter Leuchtkäfer-Strahl schwankt über die bröckelnde Zimmerdecke, zieht eine Linie über die alten Flügel des Ventilators. Er registriert drei zusammengedrängte Menschen – offensichtlich zwei poutins, dazu die Geisel. Ein viertes Ziel schleicht direkt über Calloway über die Etage. Er stellt die MK40 auf Einzelladung, lädt durch und feuert. Die Zimmerdecke implodiert. Calloway tritt von dem Malstrom zerfallenden Putzes zurück. Oben fangen Mikrokameras den entsetzten Ausdruck auf den Gesichtern der poutins ein. Kerle mit olivfarbenem Teint, jetzt vor Schock kreidebleich. Das Mädchen schreit und reißt sich los. Sie schlägt mit den Armen auf Dediers wegkippenden Leichnam ein. Calloways zweite Ladung lässt einen der Männer hoch und durchs Dach schießen. In blinder Panik stürzt Jean-Claude zur Tür, hat sie halb offen, ehe ihm wieder einfällt, dass dort eine Falle angebracht ist. Die Brandsätze gehen los. Es ist ein spektakuläres Bild. Das Mädchen schreit. Die Kinogänger hören sie natürlich nicht, nehmen einfach nur ihren weit offenen, nach Luft schnappenden Mund auf. Die Passage wird dann nach Art von Sam Peckinpah behandelt werden, Tod in
Zeitlupe. Die Kameras schwenken zu dem Mädchen, wie sie mit ausgestreckten Armen auf Calloway zugeht, dass er sie umarmt … »Schnitt!« schreit Toby. Der Regisseur schüttelt den Kopf. »Himmel, Calloway. Du nimmst immer die Abkürzungen. Du solltest durch die Tür gehen. Die Ladungen waren darauf eingestellt, dass sie innen losgehen, nicht außen. Das Neuroson hätte dir ein paar Sekunden Zeit verschafft …« »Ja«, sagt Calloway. »Ich bin ein grüner Junge.« Er lässt das Mädchen los. Dem Vertrag zufolge hat sie ALL, Akute Lymphozyten-Leukämie. Es war eine Zugabe, dass die Bösewichte sie nicht gleich erledigt hatten. Das Drehbuch hatte das erlaubt. Zwei von ihnen waren Angestellte im öffentlichen Dienst gewesen, der andere ein Arbeiter. Wenn es überzeugte Todeskandidaten gewesen wären, wäre sie längst tot. Leroy kommt eilig auf Calloway zu. »Also, Calloway, wozu die Eile? Es ist mein Geld, von dem diese Streifen gedreht werden. Nimm dir Zeit, warummachstusnich?« »Die Explosion hätte das Mädchen umbringen können.« Während die Wirkung des Neurosons nachlässt, erfasst Calloways abnehmende, biotechnisch verstärkte Wahrnehmung den Blick, den Leroy Toby zuwirft. »Was soll das? Wie findest du denn das, Toby?« Wassoll das? Wie finstn das, Toby? sagt Leroy. »Das Mädel hat's sowieso bald hinter sich. Steht alles im Vertrag, um Himmlswilln. Wassn das nu wie'r?« Toby macht eine verneinende Handbewegung. Auch das entgeht Calloway nicht. »Was hältst du nun eigentlich von dem Streifen, Calloway?«
fragt Toby rasch. »Blut und Eingeweide. Weiter bringt ihr ja nichts.« »Eh, was für'n beschissner Schwachsinn ist denn das?« fragt Leroy beleidigt. »Was ist denn mit dir los?« Wassn mittir los? Toby überspielt ihn. »Das haben sie Spaghetti-Western genannt, weißt du. Ein Bursche namens Eastment ist in den Sechzigerjahren groß damit 'rausgekommen.« »Eastwood«, sagt Calloway und starrt Leroy an. Er lässt seine Kopfnickermuskeln spielen, um den Hals breiter wirken zu lassen. Das scheint die Manager von Rhinestone jedesmal zu ärgern. »Wenn ihr mit mir fertig seid, leg ich mich aufs Ohr.« Leroy schieb Tobys bremsende Hand beiseite und geht auf Calloway zu. »Nein. Ich werde das nicht vergessen.« Nee, chwerdas nich vergessn. »Du weißt, was dein Problem ist, Calloway?« Calloway wendet sich halb um, lächelt auf den pummeligen Geldgeber herab, der nun zurückweicht. Trotz der Bräune, die er sich in Paraguay zugelegt hat, wird sein Gesicht jetzt bleich. »Ich hab ein paar davon. Über welches möchtest du reden, Leroy?« Er schaut zu Toby hinüber. »Was habt ihr beide diesmal ausgeheckt? Was ist mit dem Mädchen? Ich dachte, sie wäre stumm … Egal, wenn ihr sie weg haben wollt, erledigt das jeder von den Roadies für eine Nacht in Fun City.« »He, Leute«, sagt Toby und drängt vor. »Was habt ihr denn? Komm, Calloway, mach's halblang, ja? Du kennst Leroy. Er ist sauer, weil er Megapiepen an die Familie des Mädchens auszahlen muss und dazu noch einen irren Bonus.« Er deutet ein Achselzucken an. »Wär besser gewesen, sie zu erledigen. Sie hat es erwartet, weißt du?«
»Du bist krankhaft, Toby«, sagt Calloway. Er wendet ihnen den Rücken zu, ein Einzelgänger der Sonderklasse, geliebt von Millionen von Filmfans, von noch mehr verachtet. »Du hast ein echtes Problem, mindestens, Calloway«, Du hastn echtes Problem, minstens, ruft ihm Leroy aus sicherer Entfernung hinterher. Calloway wendet sich zurück, geht aber weiter. »Du krichst waste bezahlst«, sagt er und äfft Leroys Sprechweise nach. Er lässt sie in den länger werdenden Schatten und dem spielerischen Wind stehen. Leroy versucht, Tobys Hand abzuschütteln, die ihn zurückhält. Calloway zu folgen, versucht er nicht so heftig. »Ich werde den Hundesohn umbringen«, stößt Leroy in seiner Ohnmacht hervor. »Mach's halblang«, sagt Toby besorgt. »Wir haben alle Zeit der Welt.« »Nein, haben wir nicht!« schreit Leroy und starrt auf Calloways Rücken. Dann leiser: »Ist mir egal, ob er mich hört. Es ist beschissen unglaublich, dass er nicht schon untergetaucht ist.« Unnergetaucht is. Toby schüttelt den Kopf. »Vertrau mir, Leroy«, beschwichtigt er ihn. »Calloway kennt keine Furcht. Er hat sie sein Leben lang gesucht, ohne es zu wissen. Wenn überhaupt, dann will er welche fühlen – in ihr aufgehen. Aber er kann nicht.« Er schlägt sich mit der Hand auf die Schenkel und lacht. »Er wird bis zum Ende dabeibleiben. Ganz wie sein Vater.« »Sein Vater?« sagt Leroy, als traue er seinen Ohren nicht. »Ach ja«, begreift er plötzlich, »du hast mit ihm gearbeitet.« »Hab ich«, sagt Toby nachdenklich. »Netter Kerl. Wusste
bloß nicht, wann er aufhören musste.« Leroy lächelt ein teuflisches Lächeln. Wie der Vater, so der Sohn. Das ist ein hübscher Gedanke, und Leroy ist er willkommen. In dem Moment, da Calloway das Fertigteilhaus betritt, nimmt er den Eindringling wahr. Es ist vor allem der Geruch, den das letzte Echo des Neurosons aufschnappt, das durch seine Geruchsnerven zieht und ihre Empfindlichkeit vergrößert. Es ist der Geruch von Angst, für den Splatterstar so leicht zu erkennen. Calloway hechtet über den Fußboden, rollt über die Schulter ab, schlägt mit dumpfem Geräusch gegen die als provisorischer Kleiderbügel dienende Leine. Ein Hieb mit der Faust durch die Art-Deco-Tür … »Ahh!« ertönt ein kurzer, schriller Schrei. Calloway lässt den Kopf los, den er erwischt hat, reißt die Tür weg und entdeckt Marionette. »Scheiße.« Ihr Gesicht in gefiltertes Bernsteingelb von der Nachmittagssonne getaucht und Calloways Hand an der Kehle, sieht sie surreal aus. In dem Augenblick, da er seinen Griff löst, murmelt sie etwas Unhörbares, dann beginnt sie monoton und fließend zu reden: »Zelluläre und molekulare Wechselwirkungen, verantwortlich für die Pathogenese von Immunitätsschwäche und verwandte Neoplasmen.« Calloway tritt einen Schritt zurück, doch mehr kommt nicht. »Der gute alte Toby und Leroy haben wieder zugeschlagen.« Calloway braucht keinen Atemzug, um zu schlussfolgern, dass
das Mädchen 1.) nicht von den Antillen, 2.) nicht aus armen Verhältnissen stammt und dass 3.) ihr Vertrag ein Schwindel ist. Es dauert etwa doppelt solange, um zu dem Schluss zu gelangen, dass sie entweder mit der echten Marionette vertauscht oder ihm zum Beseitigen untergeschoben worden ist. Später spielt er ein Band ab. Als die Wirkungen des Dordophins nachließen, hat Marionette mit Unterbrechungen gesprochen. Nichts davon ergibt für Calloway irgendeinen Sinn. »… gentechnisch hergestellte DNS-Sonden, um Verschiebungen oder Löschungen von Genen zu finden, die für den beeinträchtigenden oder tödlichen Phänotyp des Individuums verantwortlich sind …« Calloway hält das Band an. Er hat es mehrmals abgespielt, doch davon ist es nicht verständlicher geworden. Das Aufnahmegelände ist in Aufruhr. Der Sicherheitsdienst hat ihn schon zweimal gestört und nach Marionette geschaut – sie werden es nicht wieder tun. Jeder seiner Versuche, mit Marionette zu kommunizieren, ist auf einen leeren Gesichtsausdruck und blicklose Augen getroffen. Calloway vermutet, dass Rhinestone mit irgend jemandem tief in der Scheiße steckt. SOTO vielleicht, die Triaden – die Liste ist zu lang für eingehende Betrachtung. Über dieses Kind besteht zweifellos ein Vertrag, egal, wie herum man es sieht. Und es hat etwas mit dem Forschungsmaterial zu tun, das in der Matrixschablone in ihrem Kopf gespeichert ist. Er hat von derlei Dingen gehört, ist ihnen aber nie zuvor begegnet. Nur das feiernde Aufnahmeteam und das rhythmische Quaken eines Frosches stören die Stille der Nacht. Fenster der
Fertighäuser werfen Rechtecke von Orange auf die hartgestampfte Erde. Calloway führt das Mädchen über den Hof. Er bricht in den Kommunikationsraum ein und schiebt es durch die Scanner, ehe sie wieder online gehen. Sie sind kaum durch, als das NotReserveprogramm sich einschaltet. Calloway setzt sich an eine Tastatur und gibt eine Zeichenfolge ein, drückt auf HOLD, umgeht Rhinestones Sicherheitsabfrage. Danach ist es eine normale entzerrte Satellitenverbindung. »Velazquez?« »Mr. Calloway?« Verwirrt. »Immer noch Schwierigkeiten?« »So offensichtlich?« Velazquez zuckt wissend die Achseln. »Mein Freund, ich hab hier so viel Hardware, dass ich Ihnen Ihre Pulsfrequenz sagen kann.« Er blickt kurz zur Seite. »Bei noch mehr Gesundheit würde ich mir Sorgen machen.« Calloway zieht Marionette nahe an sich heran, fährt mit ihrer Hand über einen Datenübertragungs-Scanner, drückt auf FIRM COPY. »Hast du das?« Velazquez Blick wandert vom Holo weg. »Ja. Ich werde es durchscannen. Gut, böse, egal?« »Es ist ein Mädchen.« Velazquez lässt die Wangen sich kräuseln. »Marla reicht nicht mehr ganz, was?« Er wendet sich ab, um außerhalb des Holobereichs ein paar Tasten zu drücken. »Wirklich ein Mädchen«, sagt Calloway. »Acht, neun.« »Ah-hm. Moment noch.« Als er wieder da ist, hat seine Stimme einen Unterton. »Sie haben da heiße Ware, Mr. Callo-
way. Hier steht, dass es Tracey Ann Downey ist – Mist, Bruderherz.« »Downey?« Calloway überlegt. »Downey. Der Vater ist Wissenschaftler – die Tochter wurde entführt, um Lösegeld zu erpressen – etwas …« Velazquez nickt. »Ihr Vater ist Doktor der Biomedizin bei MEDIVAX. Seine Spezialität sind molekulargenetische Diagnosen.« Velazquez liest von einem Ausdruck ab. »Hat etwas mit der Manipulation von DNS und RNS zu tun, um Krebs und Infektionskrankheiten zu diagnostizieren. Sieht so aus, als ob MEDIVAX vor kurzem plötzlich aufgekauft worden sei.« »Steht da noch was?« Velazquez nickt betrübt. »Klar. Wenn es zu viele Leute wie den gibt, werden die Todeskandidaten knapp, Mr. Calloway. Keine Todeskandidaten, keine Splatterfilme.« »Keine Rhinestone Pictures«, sagt Calloway. »Wie bitte?« »Ich bin dir was schuldig, Velazquez. Hier stimmt was nicht. Kann sein, dass wir auf dich zurückkommen.« »Ai, yi yi, Besucher«, sagt Velazquez schwermütig. Calloway lächelt, schaltet das Terminal ab, löscht die Rückruf-Funktion. Er hat ein Kind, das auf dem Zelluloid ermordet werden sollte. Warum? Damit ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt würde? Er würde es Toby und Leroy zutrauen, ihm so mitzuspielen – es würde einen schön billigen Streifen abgeben, sie hatten es ja schon einmal versucht. Vielleicht hatten die Kidnapper schon die Information aus dem Mädchen herausgeholt und brauchten den Vater nicht, also würden sie ihn jetzt zwingen, sich einen
Achtzig-Minuten-Streifen anzuschauen, nur um mit anzusehen, wie seine Tochter umgebracht wird – eine Warnung für jeden Wissenschaftler, dass man sich nicht mit den Multinationalen anlegt. Es konnte unmöglich wirklich ein Irrtum sein. Leroy und Toby hatten keinen Zweifel an ihrem Wunsch gelassen, dass das Mädchen vor laufender Kamera umgebracht würde. Das laute Quaken des Frosches hat aufgehört. Der Wind ist aufgefrischt und erzeugt ein leises Rascheln in dem dichten Laub rings um den Komplex. Ein dünner Strich von einem vorüberfliegenden Meteor ritzt den schwarzen Samt des Himmels. Der Sand liegt unnatürlich weiß unter einem abnehmenden Mond, als sie den Hof überqueren. Die Angreifer schlagen in dem Moment zu, als Calloway aus dem Schatten der Kommunikationseinheit tritt. Es sind zwei, die sich wie ein Mann bewegen, schnell und effizient. Calloway kann gerade noch 10 ml Neuroson in seinen Kreislauf fließen lassen, ehe einer von den beiden – massiv, aber außerordentlich schnell – mit einem Tritt aus der Drehung loslegt. Calloway sieht ihn kaum kommen, lenkt ihn ab, pariert mit einem tiefen Fußfege. Der Agent springt leicht zur Seite, hoch und über Calloways Fuß. Eine Sekunde Schon hat Calloway Marionette zur Seite gestoßen und ist herumgewirbelt, um den anderen Mann zu konfrontieren. Die Wucht des frontalen Fußtritts von dem Mann schleudert Calloway gegen eine Obstpalette. Möglicherweise sind es die her-
abprasselnden Früchte, die Calloways Kopf vor einem heftigen Tritt bewahren. Zwei Sekunden Eine Honigmelone explodiert gegen Calloways Gesicht, als sie von einem stahlverstärkten Stiefel durchbohrt wird. Er versetzt dem nächststehenden Mann einen Hagel von Stößen, dreht sich und bringt einen perfekten Fußtritt aus der Drehung an, der den Agenten zurücktaumeln lässt, bis Calloway mit einem Rückhandschlag gegen die Schläfe des Mannes nachsetzt. Drei Sekunden Der massiv gebaute Agent tritt rasch nach Calloways Knie, verfehlt es um ein Haar, erwischt das Schienbein. Calloway springt, den rechten Fuß voran, dann wirbelt er das linke Bein hoch und gerade nach vorn. Die Wucht, mit der der Tritt den Kehlkopf des Mannes trifft, lässt ihn einen Schritt zurück schnellen, wo er mit gebrochenem Genick zusammenbricht. Vier Sekunden Calloway dreht sich volle 360 Grad herum, die Hände vor sich gespreizt, und die Neuroson-Reflexe drängen, freigesetzt zu weiden. Marionette hat sich nicht geregt. Eine bleiche Gestalt, die aufrecht unter einem dunklen Himmel steht und etwas über Biosensor-Prognose von Infektionskrankheiten und Krebs brabbelt. Er nimmt das Kind, packt seine wenigen Habseligkeiten und lässt die äußeren Zäune hinter sich, lange bevor der Alarm losgeht.
Solarlampen flammen auf, drängen die Nacht zurück. Calloway und das Kind? Die sind längst weg.
BLENDE AUS BLENDE AUF: 48. INNEN. FLUGZEUGKABINE. NACHT Auf dem Flug nach Norden erzählt Marionette einer verwirrten Stewardess, dass ELISA ein enzymgekoppelter ImmunsorbentPrüfstoff ist, der benutzt wird, um Antigen-Antikörperspezifik zu ermitteln. »Kluges Kind«, sagt sie zu Calloway. »Die Kinder heutzutage, was?« sagt Calloway und erwidert das Lächeln der Stewardess. »Ich weiß, dass sie es nicht von mir hat.« Nachdem sie den Flughafen verlassen haben, geht Calloway ins Savoy, einen neomodernen Bau von Stahlbeton und Pfeilern und Säulen aus poliertem Chrom, das seit den Treibstoffunruhen von 2006 als sicherste Unterkunft für Westler gilt. Incognito nimmt Calloway eine Suite im Erdgeschoss. Binnen Minuten ist er in Verbindung mit Marionettes Vater. »Sieht nach ihr aus«, sagt Dr. Downey. Er ist nicht so, wie man erwarten könnte: ein Mittsechziger, üppiges, lockiges Silberhaar, eine skeletthaft scharf gezeichnete Erscheinung, misstrauisch, zynisch und wachsam. »Haben Sie einen Netzhautscanner, Downey?« »Zutreffend.« Calloway führt das Mädchen sanft näher an die VAE heran.
Es scheint kaum so etwas wie Erkennen zwischen den beiden zu geben. Nichts, das darauf hinwiese, dass einer für den anderen etwas empfindet. Downey drückt außerhalb des Blickfelds Tasten, kommt mit etwas wie Überraschung zurück. »Sie ist es«, sagt er leise. »Hat sie etwas gesagt?« »Was denn?« Es gefällt Calloway nicht, wie sich die Dinge entwickeln. Downeys Gesicht bleibt passiv, seine stahlgrauen Augen wachsam. »Irgendwas?« »Sie ist stumm, Downey. Wir werden später darüber reden.« »Meine Tochter hat eine Menge durchgemacht – sie steht zweifellos unter Schock.« Downeys Stimme wirkt mechanisch, gefühllos, ohne Überzeugungskraft. »Ich habe Ihre Koordinaten hier – ich werde jemanden von der Botschaft hinschicken, um sie abzuholen. Ich nehme an, Sie wissen, dass für ihre Rettung eine erhebliche Belohnung ausgesetzt ist?« »Es hat schon einen Anschlag auf ihr Leben gegeben. Wenn Sie diesen Ort eingegeben haben, sind wir nicht mehr sicher.« Downey bedeutet Calloway, sitzen zu bleiben. »Sie verstehen, Mr. Calloway, meine Forschungen sind vorerst wohl unbestätigt. Ich habe meine Hypothese anscheinend noch nicht beweisen können.« Zum ersten Mal lächelt er. Es ist durchaus nicht angenehm. »Wir haben Verzerrer auf der Höhe der Zeit, Mr. Calloway. Entspannen Sie sich. Darf ich Sie fragen, welches Interesse Sie an alledem haben? Sie tun es offensichtlich nicht des Geldes wegen.« Es ist falsch. Ganz falsch. Calloway sagt: »Weiß Ihre Tochter
Bescheid?« »Sie sind gut, Calloway«, sagt Downey mit einer Art Überdruss. »Ich bin froh, dass Sie meine Tochter gefunden haben. Ich brauche nicht lange.« »Wir sind hier weg, Downey. Ich nehme von einem sicheren Haus aus mit Ihnen Verbindung auf.« Doch die automatischen Alarmanlagen sind bereits lärmend in Aktion getreten. Sicherheitsabschirmungen knallen vor den Fenstern herunter, eine Metalltür gleitet vor den Eingang. Ein Lächeln lässt Downeys Lippen zucken. »Ich glaube, meine Vertreter sind schon da. Auf Wiedersehen, Mr. Calloway.« Calloway hat keine Gelegenheit, den Sperrcode der Sicherheitstür zu lösen. Als sie explodiert, wird er von den Füßen gerissen, hochgeschleudert über einen Brunnen mit Fischen in der Mitte des Zimmers. Er schlittert über den goldgefleckten Marmorboden und prallt gegen die Wand gegenüber. Er hat schon die letzte Portion Neuroson in seinen Kreislauf entleert. Das Hormon beginnt zu wirken, macht schlagartig seinen Blick klar. Drei Männer. Klein, sehr kompakt und wirksam, keine überflüssige Bewegung. Sie rennen in Linie auf ihn zu, die beiden an den Seiten schwärmen aus, um sich nicht gleichzeitig einem Angriff auszusetzen. Professionelle Schläger, mit Polymer-Exoskeletten ausgerüstet: verchromter Brustpanzer, der Rumpfschaltkreis bedeckt, für Tempo ausgelegte Knieschützer; halbmondförmige Plattenpanzerung, unter der sich tödliche Waffen verbergen, die neurotronisch mit Gedankenrezeptoren verkoppelt sind, vergrößernde Optikverstärker, für die Infrarotscanner zugeschaltet
werden können. Sie bewegen sich wie verrückte Karikaturen von Marcel Marceau, nur zehnmal so schnell und mit tödlicher Absicht. Calloway schlägt auf die Quadrophonie-Fernbedienung: 85 Dezibel Schall dröhnen aus Hitachi-Lautsprechern von 4 Megawatt. Man braucht nur die Signale einer solchen Ausrüstung an den Polymer-Hauptrechner zu verwirren, und das Exoskelett ist imstande, den Körper seines Trägers Glied für Glied zu zerreißen. Die List klappt für den Sekundenbruchteil, den Calloway braucht, um an den ersten Gegner heranzukommen. Calloway wirft den Kopf zurück und lässt ihn vorschnellen. Der Kopfstoß trifft auf die Nase des Mannes und setzt einen Schwall Blut frei, der sich über sein Gesicht verschmiert. Sein Exoskelett kommt durcheinander und lässt Rumpf und Glieder in krampfhafter Konfusion zucken. Hinter ihm bewegt sich etwas, doch Calloway hat sich schon geduckt, das rechte Bein gebeugt, das linke stößt zurück, verstärkt durch eine rasche Hüftdrehung. Der Tritt erwischt den Mörder in der Leistengegend und lässt ihn zusammengekrümmt hinstürzen. Plötzlich reißen polymerverstärkte Finger an Calloways Kehle. Die Wucht des Schlages nimmt Calloway den Atem. Die Bewegung, von den Schaltkreisen des Exoskeletts verstärkt, ist so schnell, dass Calloway hochgeschleudert wird. Irgendwo tief in Calloways Kopf sammelt sich Schwärze, bricht aus einem tiefen Gewölbe hervor, um ihn zu fällen. Reflexe schalten sich ein. Er nimmt vage wahr, wie seine Hände vorschnellen, einen weiten Bogen beschreiben und zu
beiden Seiten auf den Kopf des Angreifers treffen. Die Wucht des Schlags lässt die Trommelfelle des Mannes platzen. Er heult auf, schickt wirre Signale an die Neuroschaltkreise. Seine Hände krampten sich zusammen, zerquetschen fast Calloways Kehlkopf. Dann treffen Calloways Füße auf den Boden. Er packt den Arm des Mannes, dreht den Körper hoch und unter den Arm und bricht ihn mitsamt den Neuroschaltkreisen, die ihn steuern. Er reißt die fest geschlossenen Finger von seiner Kehle, wirbelt mit neurosonverstärkter Gewandheit herum und bringt einen Handkantenschlag gegen den Hals des dritten Agenten an. Sicherheitsprozeduren schalten sich in die Energieversorgung des Savoy ein. Das Zimmer schaltet sich ab, und die Hitachis verstummen abrupt. Durch das Hämmern in seinen Ohren hört er Marionette ihren Monolog aufsagen: »Vor-Ort-Analyse unter Verwendung von Immunohistochemie. Immunofluoreszentgekoppelte Enzyme, um durch Mikroskopie die geschädigten Gentypen zu lokalisieren, die Krankheit auslösen …« LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF: 49. INNEN. BUSBAHNHOF. MISSMUTIGE, DRÄNGELNDE PASSAGIERE Binnen zwei Stunden haben Calloway und Marionette einen Überlandbus nach Bernardo erwischt, 30 Kilometer südlich der
Iguazú-Fälle. Die Fälle bilden eine Stelle namens ›Tres Fronteres‹, da sich hier drei Republiken berühren. Das Land ist ein politischer Albtraum, in dem die wichtigsten politischen Parteien, Colorados, Radikalliberale und Febreristas, alle nach bewaffneter politischer Vorherrschaft streben; Mestizen, Brasilianer, Argentinier und Multinationale, darauf aus, Chaos anzurichten. Ausländer sind nicht willkommen. Daher hält Calloway Marionette dicht bei sich. Rundes Gesicht, hohe Wangenknochen, die sich neben großen und ständig erstaunten blauen Augen vorwölben, und als Gegengewicht eine schmale Vogelnase mit kaum sichtbaren Nasenlöchern; Glühwürmchen-Frisur, durch ständige Vernachlässigung wirr; ein Rubenskörper mit Resten von Babyspeck und dem Versprechen, einer Amazone ähnlich zu werden. Sie würde in einem der Läden nach Art des Sonic Sync als Sexspielzeug eine Menge einbringen. Nicht schlechthin Bargeld. Prestige. Die Menge ist längst verschwunden. Der Flohmarkt ist jetzt ein staubiger Hof, durch den der Wind streicht. Calloway ist das nur zu recht. Sie halten sich größtenteils im Schatten, als sie das ausgetrocknete Rechteck überqueren. Marionette schmiegt sich enger an Calloway, als sie an großen, geborstenen TerrakottaTöpfen vorbeikommen. Deren Inhalt ist längst tot: spinnenartige Zweige, grotesk in die kalte, windige Luft gereckt. Der Zylinder macht eine Umdrehung, und sie treten heraus. »Mr. Calloway«, sagt Velazquez. Er beugt sich herab. »Und du bist dann wohl Marionette?« Er zieht ein Gesicht, rückt die metallgefasste Brille wieder zurecht. »Nicht sehr gesprächig,
was?« »Zu gesprächig, scheint's«, sagt Calloway Er holt ein Tonband hervor, gibt es Velazquez. »Los geht's«, sagt der und schiebt es in den Apparat. »Ich hab mir einen Teil von Downeys Daten gekrallt – rundum AEE, schwarz wie die Sünde. Ich hatte einen Piratenknacker vom Schwarzen Markt, damit bin ich ein Stück 'reingekommen, ehe es zurückschlug.« Velazquez betrachtet seine bandagierten Hände und grinst. »Du hast dir auch einen harten Brocken eingehandelt, Heini.« »Tut mir Leid«, sagt Calloway und zeigt auf Velazquez' Hände. »He, Mann, die Verbände sind bloß Show. Ich wollte, dass Sie Schuldgefühle kriegen.« Calloway wirft seine Parka ab, macht einen Munitionsgürtel locker und hängt ihn sorgfältig über einen Stuhl. »Ist Rhinestone immer noch hinter Ihnen her?« »Keine Sorge. Sie hätten nichts davon, mich zu erledigen, wenn die Kamera nicht läuft. Das käme für Leroy gar nicht in Frage.« Über die Lautsprecher hören sie Marionette monoton sprechen: »DNS-Extraktion aus dem Blut durch den PhenolChloroform-Prozess und Reinigung durch Laserchromatographie …« »Das ist eine japanische Idee.« Velazquez zeigt auf Marionette. »Surrogate?« »Ja. Ich hab nie eins aus der Nähe gesehen. Unheimlich, wor-
auf Menschen alles verfallen, was? Das bisschen, was ich aus der Matrix holen konnte, bestätigt, dass sie eins von vier adoptierten Kindern ist. Downey selber ist impotent und hat nie geheiratet. Jedes von den Surrogaten ist ein Softwarepaket für seine Forschung – Marionette ist die Datenbank.« »Gibt es überhaupt etwas, das du nicht weißt, Velazquez?« Der Bursche blickt unsicher drein. Das dauert eine Sekunde. »Klar, ich hab noch nicht 'rausgekriegt, wie ich eine Tüte Erdnüsse aufkriege, ohne meine Zähne zu benutzen.« »Touché. In Ordnung. Sie ist also entführt worden und sollte wie gewöhnlich beseitigt werden, aber jemandem ist etwas Besseres eingefallen. Ein hübscher Streich, den man Downey auf Rhinestones Kosten spielen konnte.« »So sieht es aus, Mr. Calloway. Wer immer die Sache vorher gemacht hat, hat nicht alles gekriegt, was sie wollten, sonst hätten sie sie eher liquidiert. Daher das Zeug, was sie immer noch abspult. Das ist ein außer Kontrolle geratener limbischer Virus, der kein Ziel hat.« »Also hat Downey ein paar Halsabschneider losgeschickt, um die Sache zu Ende zu bringen. Kannst du entziffern, was übrig ist – vielleicht den Rest heraufholen?« Velazquez schnalzt mit der Zunge. »Wenn Sie das jemand anders gefragt hätten, hätten sie Sie in Grund und Boden gelacht.« »Gibt es überhaupt etwas, was du nicht kannst … Lassen wir das«, sagt Calloway. Velazquez nimmt Marionette an der Hand, und seine andere Hand umschreibt mit großartiger Geste sein Laboratorium. »Komm, Kleines, das Weltall steht uns zur Verfügung.«
Am Neuroisolator sagt Calloway: »Das macht doch keine Pflanze aus ihr, oder?« »Nö. Wenn überhaupt, wird es ihr Langzeitgedächtnis zurückbringen – deshalb werden wir keine Narkose verwenden. Sehen Sie, das Programm führt an ihr eine modifizierte linkszerebrale Transduktion aus. Dann eine Präzisionslaser-Reduktion in ihrer Hirnrinde, und es verringert die graue Substanz weit genug, um die Lücken der Nervensynapsenübertragung zu schließen und folglich ihren Rindenindex zu verbessern.« »Du redest Kauderwelsch, Velazquez. Sag's mir in Laienbegriffen, ja?« »Hab ich doch.« Velazquez tupft etwas salzige Paste an Marionettes Schläfen und legt ein Elektrodenpaar darauf. »Sehen Sie, Mr. Calloway, wenn wir erst einmal die ihrem Gehirn aufgeprägt signifikante Information haben, benutzen wir das KI-gestützte EEG in Verbindung mit dem MEDITRON-Computer, der zufallsverteilte Gedanken in ein 60Gigabyte-Cachefeld überträgt. So einfach. MEDITRON decodiert sogar die Rohdaten in ein zusammenfassendes Transkript, das ausgegeben werden kann.« »Was passiert mit dem Kind, wenn der ganze Mist erst mal aus ihrem Kopf raus ist?« Velazquez zuckt die Achseln. »Mit der Zeit wird sie sich erholen. Wir müssen nur die limbischen Befehle überspielen. Das wird dauern, aber Zeit habe ich.« Calloway sieht zu, wie der Bericht über die Untersuchung über eine Rutsche ausgegeben wird. Velazquez zieht die Brauen hoch. »Überlegen Sie, was ich bin?«
»Hm?« »In Ordnung!« Velazquez fängt an, die Blätter in einen Stimmscanner einzugeben. In Kürze werden sie über Satellit rings um den Erdball ausgestrahlt. »Weißt du, ich dachte, SOTO hinge da drin – wäre hinter Patentrechten her oder so«, sagt Calloway. »Ganz im Gegenteil«, sagt Velazquez. »Die großen Pharmazieunternehmen wollen nicht, dass das bekannt wird. Verdammt, über die Leiden der Menschen beherrschen sie praktisch die Welt. Sie haben MEDIVAX ausgekauft, um die Forschung abzuwürgen, meinten aber, sie könnten Downey nicht trauen, also haben sie ein bisschen Industriespionage betrieben, um ihn ruhig zu halten. Inzwischen hat er etwas gefunden, das entweder nicht zu seinem Forschungsgebiet gehört oder ein Denovo-Virus ist. Also will er, dass das Kind liquidiert wird, um seine gescheiterten Forschungen zu tarnen und vor dem Nationalen Institut für Medizinische Forschung zu verheimlichen, das ihn unterstützt, und/ oder vor dem Großunternehmen, das ihn ausgekauft hat. Und die ganze Zeit über ist das Kind so voll Dordophin gepumpt, dass es auf einem anderen Planeten ist«, schließt Velazquez. Calloway beginnt eine codierte Verbindung zu wählen. Tobys Hologramm expandiert von einem Stecknadelkopf weißen Lichts zur vollen Auflösung. »Calloway? Wo, zum Teufel, bist du?« »Schalte mal 121,6 MHz ein, Tobes.« Toby dreht sich zur Seite. »Tu es, Leroy.« Toby hält die Hand hoch, während er zuhört.
Der Regisseur erbleicht. »Zum Teufel«, sagt er. »Mit Grüßen von dir«, erwidert Calloway. Er unterbricht die Verbindung. Einen Augenblick lang ist Totenstille im Zimmer. Als wolle die Zeit für immer stehen bleiben. »Sie kehren zurück, nicht wahr, Mr. Calloway?« »Nur weil ich muss. Für mich ist es hier nicht sicher. Daheim habe ich einen gewissen Schutz. Vertrautheit mit meiner Umgebung. Verträge.« Velazquez zeigt auf das Mädchen. »Sie wird hier aber sicher sein.« »Das weiß ich.« Calloway nimmt seine Sachen und winkt nicht, als sich der Zylinder hinter ihm schließt.
ÜBERBLENDEN ZU: 50. AUSSEN. CALLOWAY GEHT IM REGEN EINE STRASSE ENTLANG. NACHT Calloways Ankunft in Melbourne ist ein Reinfall. Es hat seit fünf Tagen ohne Unterbrechung geregnet. Nichts Neues für die Stadt der Kultur, doch diesmal hat die Yarra schließlich ihre letzten Begrenzungen durchbrochen und die Innenstadt überflutet. Das Geschäftsviertel ist erledigt – alles unter dem zweiten Stock ist hin. Das ist erst recht ein Grund, sich direkt in sein Penthaus zu begeben und eine Woche lang wie ein Einsiedler zu leben. Velazquez' Abschiedsgeschenk war ein Schläfendislokator. Der wird alle Bugs unterbrechen, die Rhinestone vielleicht implan-
tiert hat. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass Rhinestone schließlich durchdreht und seinen vorprogrammierten Kopf aktiviert. Velazquez hat darauf bestanden, dass er ihn benutzt. Calloways erster Anruf gilt dem Kryogenischen Zentrum für Haustiere. Er hatte vor ein paar Wochen Crunch einfrieren lassen, wie er es immer tut, wenn er auf unbestimmte Zeit weggeht. Wenn es länger als zwei Monate dauert, dann übernimmt das KZH keine Garantie für die Tiere. Doch Calloway rechnet so, dass er, wenn er länger als zwei Monate wegbleibt, tot ist. In seinem Testament ist in diesem Fall für Crunch mehr als gesorgt. Er hat zu Hause zusammen mit Crunch gegessen. Es ist ein Auffrischen der Bindung zwischen Mann und Hund, das zum Ritual geworden ist. Calloway prostet mit seinem Glas dem Dobermann zu. »Hast dich gut gehalten für einen alten Jungen«, sagt Calloway. Crunch neigt fragend den Kopf. Seine Augen sind vom Tank noch blutunterlaufen. Sein Stummelschwanz meldet, dass er glücklich ist. »Und damit, alter Freund, ist es Zeit, gute Nacht zu sagen.« BLENDE AUS BLENDE AUF: 51. CALLOWAYS BLICKPUNKT AUS ALBTRAUM-SICHT Calloways Träume sind nie leicht. Aus diesem erwacht er mit Mühe, kämpft gegen Dunkelheit an, die ihn zu verschlingen
sucht, seinen Körper wie eine hereinbrechende Woge überschwemmt. All seine Nervenenden vibrieren vor glühend heißem Adrenalin. Er bleibt völlig reglos, ganz von Wachsamkeit erfüllt. Ehe Crunch eine Gelegenheit hat, ein dumpfes Knurren auszustoßen, schalten sich Calloways Sicherheitsvorrichtungen ein. Ein mattschwarzes Zyklopenauge kriecht auf seinen verchromten Spinnenbeinen zu der Stelle, wo das Lichtniveau seiner Umgebung gestört ist. Ein Wärmebild materialisiert sich in der fernen Ecke von Calloways abgedunkeltem Zimmer. Calloway rollt sich vom Futon, während Crunch hoch und auf die Erscheinung zuspringt und mit schäumendem Maul hektisch nach der Lichtquelle schnappt. Calloway schlägt auf die Sicherheitsleiste, und 3000 Volt kobaltblauer Energie tauchen das Zimmer in weißes Licht. Der kreiselstabilisierte Zielsucher eliminiert jedes Lebewesen im Zimmer mit Ausnahme der rechtmäßigen Bewohner. Crunch zuckt von der plötzlichen Helligkeit zusammen und setzt sich schwer nieder. Er gähnt mächtig und wartet auf Calloways Reaktion. »Wieder beschissene Randler, alter Junge. Vergiss es.« Crunch senkt den Kopf auf seine Vorderpfoten und niest. Er wirft Calloway einen vorsichtigen Blick zu, dann schließt er die Augen. Calloway legt die Handfläche auf seine Uhr. Eine weibliche Chipstimme sagt: »Ein Uhr fünfunddreißig Minuten und sechs Sekunden … sieben, acht …«
ÜBERBLENDEN ZU 52. INNEN. VELAZQUEZ' LABORATORIUM. NACHTS »Mord-1, du bist wirklich 'ne Nummer, weißt du?« »Buzz, Amigo. Buzz. Mann, ich versteh, was du meinst. Du bist sauer auf mich.« Buzz zuckt mit den Schultern und verzieht das Gesicht. »Du bist auch nur ein Mensch.« »Du und Decca, euretwegen wäre ich beinahe umgebracht worden, Buzz.« Velazquez breitet ungläubig die Hände aus. »Jetzt suchst du einen sicheren Ort, weil die Armee hinter dir her ist.« Buzz lächelt. »Ich hab sonst nichts, wo ich hingehen kann, Mann. Aber ich bringe Geschenke.« »Wenn du 'n Grieche wärst, würde ich sagen, behalt sie«, sagt Velazquez. Neugierig: »Was für 'ne Art Geschenke?« »Technik-Infos. Neueste. Militärische.« Velazquez beugt sich vor. Sein Mund zieht sich bestürzt nach unten. »Als ich das letzte Mal was gesucht habe, hat mir deren AEE beinahe das Hirn geröstet …« »Versuch zu skurfen«, sagt Buzz und lässt die ausgestreckten Arme wippen. »Hab die Dokumentation für den CodenamenTrägerkeim gefunden.« »Ein Molekularcomputer«, sagt Velazquez schwermütig. »Dieselben Prinzipien wie bei DNS – eine Biotechnik, die aus dem Humangenom-Projekt im späten 20. Jahrhundert entstanden ist, aber … äh …« – er zuckt mit den Achseln – »für die Seitenzweige der Forschungen haben sich die Urheber des Projekts nicht interessiert. Soweit richtig?« »Wenn das alles ist, was du weißt, Wissen ist Macht, und ich
hab MACHT in Großbuchstaben.« »Nicht so schnell«, sagt Velazquez und langt über seine Tastatur. »Conn/>/doc/base>tech. Verbalisiere Info über Biotreiber/Trägerkeim. Mitgeschnitten?« »Gewiss, Sir«, sagt eine klare Chipstimme. »Die entscheidenden Entwicklungen ergaben sich aus Versuchen, linguistische Beschreibungen für die Prozesse zu bilden, die an der Transkription von DNS in RNS und der Übersetzung dieser Formen in Proteine mitwirken. Die Ähnlichkeit zwischen dieser Selbstcodierung und mathematischen Modellen der Datenverarbeitung, insbesondere der universellen Turing-Maschine, sind den frühen Forschern nicht entgangen – sie galten aber lediglich als interessantes mathematisches Werkzeug. Spätere Arbeiten an synthetischen Viren brachten die Forscher in Reichweite der Konstruktion eines Trägerkeims. Die beiden Gebiete wurden jedoch erst vereinigt, als Oberst Misher beide Ideen mit anderen Arbeiten verschmolz, die dem Scannen des menschlichen Geistes, der Programmsteuerung des Denkens und direkten Schnittstellen zwischen Intellekt und Maschine gewidmet waren. Gleichzeitig führten damals SelbstprogrammierTechniken aus dem Gebiet künstlichen Lebens – genetische Algorithmen, neurale Netze – soll ich an dieser Stelle eine kurze Abschweifung einfügen, Sir?« »Nö«, sagt Velazquez. »Wir wissen alles über KLS.« »Sehr wohl, Sir.« Künstliche Lebenssphären sind inzwischen hinreichend ausgedehnt, dass Datenwesen eine beschränkte Autonomie entwickeln konnten. »Das Trägervirus dringt in einen Wirt ein, infiltriert rasch die Zellebene und benutzt die DNS des Wirtes, um weitere
virale Datenverarbeitung-Einheiten zu bilden, die es an sein eigenes Netz anschließt. Diese individuellen Einheiten haben beschränkte Flexibilität oder Intelligenz, sie ähneln eher den einzelnen Prozessoren in einem ausgeprägt parallelen elektronischen Computer. Ein kleiner Prozentsatz von den viralen Elementen des Netzes enthält Programminformation, und das sind die Elemente, die übertragen werden, wenn der Träger einen neuen Wirt übernimmt. Zur Sicherheit ist das Virus so ausgebildet, dass sich diese Schlüsselzellen nicht selbst reproduzieren können, und dass, wenn die Schlüsselelemente einen Wirt verlassen und in einen anderen eindringen, das Netz zusammenbricht; wenn der ursprüngliche Wirt dann noch lebt, bleibt bei ihm nichts Schlimmeres als eine Grippe zurück. Soll ich fortfahren, Sir?« »Na?« Buzz sieht amüsiert aus. »Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert, Bert. Nur zu, McDuff.« »Weitermachen«, sagt Velazquez etwas betreten. Er hatte erwartet, dass Buzz zumindest von der Stimmausgabe seiner Enzyklopädie beeindruckt sein würde. »Der Träger, salopp auch als Biotreiber bezeichnet, ist imstande, die Biochemie des Wirtes zu manipulieren – die Erzeugung von Hormonen und Pheromonen –, daher die Kraft und Geschwindigkeit eines infizierten Wirts, seine schnellen Reflexe, und er kann die Aktivität einzelner Hirnzellen direkt manipulieren, bis hin zur Vorgabe grundlegender Motivationen und Informationen für den Wirt. Mit der Zeit sollte der Träger das gesamte Nervensystem infiltrieren können, womöglich imstande sein, komplexe Ideen/Befehle an den Wirt weiterzuleiten.
Dieses Niveau der Wechselwirkung zu erreichen, kann jedoch je nach der vorhandenen Unterstützung Jahre dauern. Trotz den Beschränkungen, die dem Träger von seinen Herstellern auferlegt wurden, ist die Ansicht geäußert worden, er könnte zu einem späteren Zeitpunkt ein echtes eigenes Bewusstsein entwickeln, wie es von seinen ursprünglichen Konstrukteuren nicht vorgesehen war. Dieses Bewusstsein wird aber weiterhin im Rahmen der Programmierung eines militärischen Biocomputers gefangen sein, dafür wäre sein Wissen um die äußere Welt durch seine ursprüngliche Programmierung und die Grenzen seiner Wechselwirkung mit dem Hirn des Wirtes beschränkt. Sein emergentes Bewusstsein kann daher nichts anderes sein als das, wozu der Träger programmiert wurde. Das Bewusstsein muss sich innerhalb seiner Schranken entwickeln – von dem eines Säuglings zu dem eines kleinen Kindes, eines Jugendlichen, eines Erwachsenen. Künftige Studien werden vielleicht darauf kommen, dass es wie jedes Bewusstsein nach einem größeren Grad an Selbstverwirklichung strebt. Viele seiner Eigenheiten sind uns fremd, einige wenige vertraut.« »Ende«, sagt Velazquez. »Beeindruckend?« Buzz lächelt müde. »Ist schon irgendwie fantasticomondo, Vela, Bella. Aber ein alter Hut. Monate alt.« »Ich habe für diese Raubkopie eine Menge bezahlt«, sagt Velazquez. »So alt ist es nicht.« Buzz seufzt verzweifelt. »In der Technik ist eine Sekunde schon eine lange Zeit, Kyte.« Er klopft an die Tasche seines Overalls. »Ich hab da 'ne Scheibe, die den Bug des Militärs alt aussehen lässt.« Velazquez wischt seine Brille. Sie ist angelaufen. »Und uns
wohin bringt?« »Ins Hier und Jetzt. Meine Forschungen sind eher eine Art … hm … gemeinnützig. Speicherung/Gewinnung/ Verschlüsselung/Tarnung von Information.« »Keine Surrogate?« sagt Velazquez. Er schaut zu Marionette hinüber, die in eine nicht vorhandene Ferne starrt. »Surrogate?« sagt Buzz ungläubig. »Ich kann nicht glauben, dass du so weit zurück bist. Das war voriges Jahr, Vela, Mordella.« »Die Leute halten es aber immer noch für eine ziemlich tolle Sache«, sagt Velazquez. »Ich rede von einem Virus, das mehr auf Kommunikation mit dem Denken des Wirtes ausgerichtet ist, als es zu manipulieren, und die viralen Informationselemente sind ähnlich denen des Trägers mehr für Datenverarbeitung und speicherung ausgelegt als für Zellmanipulationen. Im Kern, Stern, verkörpert dieser Befrieder das weiblich/passive Element in einer merkwürdigen Analogie zu den männlich/aktiven Zwecken des Biotreibers.« »Willst du sagen, du hast ein Virales DatenverarbeitungsNetz entwickelt, das dem des Militärs ebenbürtig ist?« fragt Velazquez gedehnt. »Nicht nur, aber auch«, sagt Buzz. »Das Netz meines Befrieders entwickelt ein individuelles Bewusstsein, genauso, wie es vielleicht auch der Biotreiber jetzt eben tut.« »Aber … diese Forschungen sind noch nicht durchgeführt worden.« Buzz schüttelt müde den Kopf. »Ist schon Monate her, Cher.« Er langt in seine Tasche und holt einen Mikrodisc heraus. Er
wirft ihn Velazquez zu. Velazquez steht auf und legt den Disc ein. Er scannt ihn eine Zeit lang, dann wendet er sich Buzz zu. »Dieses Zeug hast du aber nicht entwickelt.« Buzz hebt die Schultern. »Ist geklaut. Alles wird geklaut: Mode, Wohnungen, Regierungen. Technik. Und da beginnt dein Part, Smart. Wir sind Diebe auf der Flucht.« »Ja, dank dir und Decca«, sagt Velazquez bedauernd. Er lässt sich in einen Sessel fallen. »Dein Auftritt.« Buzz klatscht wie ein begeistertes Kind in die Hände. »Radikal. Ganz wie in alten Zeiten.« Er streckt die Arme vor und klammert die Hände zusammen. »Nicht wie in alten Zeiten«, sagt Velazquez. Dann ernster: »Wenn also seine Programmierung weniger Beschränkungen mit sich bringt, als beim Biotreiber des Militärs, dann hat es geringere Möglichkeiten, seine Umgebung zu kontrollieren, da ihm die aggressiven Verhaltensmuster des Biotreibers fehlen?« »Genau. Aber nichtsdestoweniger würde ich mein VDN jederzeit gegen das des Militärs setzen.« Velazquez geht in Denkmodus. »Das Militär muss diesen Mist irgendwo an jemandem ausprobieren. Das passt.« »Wir sollten lieber mit Skurfen anfangen«, sagt Buzz. »Sicherer als AEE-Hacken, Bracken.« Sie bewegen sich wie auf Kommando und starten. Während sich Velazquez hinsetzt, kommt ihm ein verrückter Gedanke. Marla und Calloway. Das ist ja nun ein interessantes Team. Man stelle sich vor, Calloway hätte das aggressive VDN und Marla den Befrieder. »Ich möchte wissen, ob sich ein VDN im Speichel vermehren
und übertragen kann.« Buzz schüttelt den Kopf. »Du bist ein trauriger Fall, Hull.«
BLENDE AUS BLENDE AUF: 53. AUSSEN. WINDIGE GASSE. NACHT Ein malvenfarbener Schleier dünnen Regens treibt von versprengten Gewitterwolken herab. Calloway schaut die Gasse entlang, die die neonfarbenen Straßenlichter in Schatten von Pink und Mauve tauchen. Er geht zu der Zelle auf halbem Wege. Die paar Sekunden, die Elizabeth zum Antworten braucht, erscheinen endlos. Er hat nie erwähnt, wie er Johnny Debro umgebracht hat. Er hält es für das Beste, die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Calloway?« Besorgt. »Ja, Elizabeth.« Müde. Der Bildschirm ist durch Vandalismus derart zerkratzt, dass der Empfang bestenfalls lückenhaft ist. Die Frequenzen werden auch von zu vielen Handys zugemüllt. »Ich muss mit jemandem reden, dem ich vertrauen kann.« »Von wo aus rufst du an, Lieber? Bist du in Schwierigkeiten?« Elizabeth beugt sich vor, und ihr Gesicht füllt den Bildschirm aus. Ein leichter Luftzug erfasst Calloway, also zieht er den Kragen mit Retortenpelz enger – eher, um unerkannt zu bleiben, als wegen der schneidenden Kälte.
»Das ist lieb, Elizabeth. Du bist eine Bank.« Calloway macht sich in der Telefonzelle klein, als eine Bande Razorboys wie schmuddelige Gespenster aus dem blauen, phosphoreszierenden Nebel auftaucht. Razorboys: Pöbel mit ausgeprägtem Image in maßgeschneiderten Klamotten, stahlgraues Haar auf den Punkt genau geschnitten, Metallsträhnen wie hässliche Krater in krassem Gegensatz zu bleichen Totenmasken. Horrorhead: reiche Jungen und Mädchen mit einem Hang zum Besonderen. Calloways Tarnung ist gut, aber einer näheren Betrachtung hält er nicht stand – man kann so eine Statur nicht mit billigen Kosmetika vertuschen. »Ich verdanke dir mein Leben, Calloway. Du weißt, dass ich immer für dich da sein werde. Sieh dich vor – ich kann nicht sagen, dass mir gefällt, was ich sehe.« »Du solltest es von dieser Seite aus sehen«, witzelt Calloway. »Haste 'ne Brieftasche?« Calloway blickt über die Schulter zurück und auf einen Mischling herab. Dessen Hände sind in den tiefen Taschen seiner Bomberjacke versteckt. Seine Begleiter lungern als Verstärkung in der Nähe herum. »Verzieh dich, Strohkopf.« Calloway widmet dem Jungen nur einen Augenblick Nachdenken. »Mutterficker«, sagt der Razorboy und schließt ungläubig die Augen. Calloway dreht sich zu dem Jungen um, doch in diesem kurzen Moment zieht der ein Flugmesser hervor. Mit einer kurzen Bewegung aus dem Handgelenk wirft er die kreisförmige gebogene Klinge aus der Handfläche, schleudert sie am gewendelten
Haltedraht zurück und lässt die Bumerangklinge auf Calloways Kehle zuschießen. Es folgt ein Augenblick der Verblüffung seitens des Mischlings, als Calloway sich abduckt und mit derselben Bewegung einen pfeilschnellen Tritt austeilt, der den Jungen sich krümmen und würgen lässt. Die polychrome Klinge zischt über Calloways Kopf und verschwindet in den Drahtzuführungen der Zelle. Wütend flutet die Bande vor, doch Calloway hat bereits eine Laser-Walther gezogen. Bei gebündeltem Strahl kann sie die meisten von ihnen in Stücke zerlegen, schneller, als der Abzug ganz durchgedrückt ist. »Ich hab gesagt, verzieht euch, Kinder.« Er sieht zu, wie der Mischling auf allen Vieren rückwärts kriecht und seine Gefährten ihn aufheben. Sie huschen fort, Staubkörnchen, die sich im Dunkel der Nacht verlieren. »Elizabeth?« Nur das leise Summen seines Verzerrers dringt durch das Flüstern des weißen Rauschens. »Mist!« Er schaut sich um, klemmt seinen Verzerrer ab, steckt ihn ein und geht durch die dunkle gepflasterte Nebenstraße zurück. Der Trubel der Stadt brandet über ihn hinweg und laugt ihn aus. Jeder Passant, jeder Hund, jedes Schaufenster stellt eine Bedrohung für ihn dar. Randler materialisieren sich und rasen wie Güterzüge auf ihn zu, Gruppen von Schlagjungs rempeln ihn an und fingern nach seinen Taschen, Monstrositäten ballen sich zusammen und zerfließen wieder. Zweimal verlässt Calloway den Hauptstrom des Fußgängerverkehrs, um die Erregung zu dämpfen, die ihn verzehrt. Jede
Faser seines Seins schreit vor Frustration. Schließlich erreicht er das Alfred General. Er sieht, wie Elizabeth durch den Eingang für ambulante Patienten das Gebäude verlässt. Als ihr Morris Oxford auf die Straße kommt, tritt Calloway vor ihn und winkt, dass sie halten soll. Sie fährt heran, und er sinkt auf den Beifahrersitz, während ihn eine Woge von stumpfer Erschöpfung überkommt. Elizabeth schaltet und sagt nichts, bis sie wieder am Krankenhaus vorbei sind. Er unterbricht ihr Schweigen nicht. »Ich habe deinen Anruf rückverfolgen lassen. Ich habe mir Sorgen gemacht. Du siehst aus, als hättest du eben einen Film hinter dich gebracht.« »Ich stecke mitten in einem drin. Einem psychologischen Thriller.« Sie riskiert einen Blick zu ihm herüber. »Ich dachte, Einfühlungs-Schauspielerei sei mit Clift und Brando ausgestorben. Du weißt, es macht dich fertig. Also, wohin? Ich kann dich nicht mit nach Hause nehmen.« »Es gibt ein Labor in einem Sicherheitshaus * in St. Kilda. Dalgety Street, kennst du die?« »Wir werden es finden.« Ungeachtet seines Jahrgangs bietet Elizabeths Wagen alle Extras, die man bei einem Benziner nur wünschen kann: Internetanschluss, Satellitenverbindung, LEDKarte mit einem blinkenden Cursor, der den gegenwärtigen Ort kennzeichnet, und Kursleitverzeichnissen, dazu die übliche Ausstattung wie Klimaanlage, Breitband-Radioempfänger und *
Eine nur wenigen bekannte, sichere Adresse wie z. B. ein Frauenhaus.
sender, drei Schnellgänge und stoßsichere Federung. Eine glatte Fahrt in einem Panzer. Der alte Morris schlängelt sich in die Verkehrsströme und wieder heraus. Er gleitet über die Schlaglöcher, die jetzt mit winterlichem Schlick und Regenwasser gefüllt sind. Er nimmt Straßen, die die meisten Fahrer nicht riskieren würden. Das vereinfacht die Fahrt. Zu seiner Bestürzung ist Calloway eingeschlafen. Er wacht erst auf, als die pneumatischen Stoßdämpfer des Morris Oxford sich entleeren und den Wagen absenken. Es ist ebendieser Stoß, der ihn zu sich bringt. Elizabeth hält ihn zurück, ehe er aussteigen kann. »Sei vorsichtig.« »Mach dir nicht zu viel Sorgen.« Calloway gleitet aus dem alten Morris. Elizabeth sieht zu, wie sich seine Silhouette erratisch vor dem Maschendrahtzaun bewegt. Als sie den Wagen geparkt hat, hat Calloway das Außentor betreten und die Sicherheitsbeleuchtung ausgeschaltet. Sekunden später sind sie im Hauptgebäude, dessen polarisierte Fenster alles Licht von außen reflektieren. »Also gut. Ich weiß, dass du mich nicht von meiner Arbeit weggeholt hast, nur mein hinreißend gutes Aussehen zu bewundern.« Sie geht einen Schritt auf ihn zu. »Etwas beunruhigt dich. Etwas Schwerwiegendes.« Aus der Nähe lässt sie die Finger durch seinen sonnengebleichten Haarschopf gleiten. »Wir sind vielleicht ein Paar alte Dinosaurier«, sagt sie voller Zuneigung. Calloway weicht zurück. Er setzt sich müde und fährt mit seinen schwieligen Händen über die Stoppeln auf seinen Wan-
gen. »Diese Software in deinem Kopf«, fragt sie. »Macht die dir Probleme? Sie ist nicht zu bemerken, weißt du.« »Manches davon ist herausgenommen worden«, sagt er. »Der andere Müll ist neutralisiert. Ein Freund von Velazquez.« Calloway dehnt sich ausgiebig. »Er ist ein ziemlich hohes Tier in etwas, was Cybermord-Netz heißt.« Elizabeth setzt sich auf die Armlehne des Sessels. »Dieser Velazquez und ich sollten einen Club von Calloway-Überlebenden aufmachen.« Sie zaust Calloways Haar. Calloways Gesicht ist kreideweiß. »Ich verliere mich. Wirklichkeit und Fiktion – sie sind durcheinander geraten. Ich weiß nicht mehr, was Illusion und was wirklich ist.« »Liegt es an der Zeit, die du im Cyberspace verbracht hast? Ist es das?« »Ich bin mir nicht mehr sicher. Ich bin nicht mehr eingeklinkt, aber es passieren ringsum immer noch solche Dinge.« Elizabeth sieht erstaunt drein. »Was heißt ›Dinge‹?« »Ich sehe immer wieder Dinge, die es nicht geben kann, Elizabeth«, sagt er außer Atem. »Menschen wie Jenelle Jardene. Sie war eine Filmpartnerin von mir, die mir ans Leben wollte. Toby und Leroy hatten darauf gesetzt, dass sie gewinnt. Sie dringen immer wieder in meine Wirklichkeit ein und verschwinden.« Elizabeth mustert Calloway nachdenklich. »Ist es so, als wärst du im Cyberspace? Bist du sicher, dass du nicht eingeklinkt bist? Wenn dich Leute aus der Wand heraus anspringen, dann bin ich vielleicht auch nur ein Computerprogramm? « »Lass die Gedankenspiele, Elizabeth. Ich habe dich angerufen, weil ich Hilfe brauche, keine Psychoanalyse.«
»Okay, gehen wir durch, was passiert. Was macht dir Angst?« »Sie werden allmählich wirklich. Sogar Crunch und die Sicherheit in meinem Haus haben sich gestern täuschen lassen.« Elizabeth kommt auf ihn zu. Ihr mütterliches Auftreten hat bereits die gewünschte Wirkung auf Calloway. Er fühlt, wie sich Qual und Frustration auflösen. Abgesehen von Autosuggestion ist es allgemein bekannt, dass manche Ärzte empathisch begabt sind, das heißt, eine einfühlsame Haltung haben. Das lullt für gewöhnlich auch den eifrigsten Kämpfer ein. »Also das ist interessant. Außenstehende, die deine Halluzinationen teilen? Vielleicht geht hier mehr vor sich, als du glaubst. Ich kann mir schon vorstellen, dass du schließlich durchdrehst, aber wie erklärt das Crunchs Reaktion? Lass dich mal anschauen.« Sie beugt sich herüber und fasst Calloway am Handgelenk. Sein Puls schlägt rasch und flach unter ihren Fingern. »Das hat dich richtig mitgenommen, was?«, sagt sie und schaut ihm in die Augen. »Deine Pupillen sind erweitert, aber wenn ich nicht weiß, was für Drogen du in den letzten 48 Stunden genommen hast, sagt mir das gar nichts.« Calloway weicht vor ihr zurück. »Nichts an mir ist wirklich«, sagt er bitter. »Jede meiner Bewegungen wird von diesen Typen bei Rhinestone überwacht.« Er steht auf, geht zu einer VAE und beginnt, auf der Tastatur eine Zeichenfolge einzugeben. Elizabeth kommt vorsichtig näher heran. »Gut. Deine medizinische Fallgeschichte. Wo hast du die abgezweigt? Bei Rhinestone?« Calloway nickt. »Ich möchte, dass du sie im Alfred General
durchlaufen lässt. Vergleich es mit BioMass und finde heraus, was Rhinestone mit mir anstellt.« Elizabeth betrachtet die Daten, dann dreht sie sich zu ihm um. Sie ist nicht besorgt oder dergleichen, doch Calloway spürt, dass da etwas ist. »Sie werden es hierher zurückverfolgen.« »Nicht unbedingt. In der Hardware sind so viele Bugs, dass sie am Ende ihrem eigenen Schwanz nachjagen werden. Das wird sie hinhalten.« Sie schaut wieder auf das Dossier. »Ich kann das nicht glauben. Die haben dich wie ein unkontrolliertes psychopharmakologisches Experiment behandelt. Sie scheinen die Möglichkeiten synergistischer Wechselwirkungen zwischen Drogen völlig ignoriert zu haben. Ich sollte lieber am Anfang der Datei beginnen. Die steroidale Modifikation allein ist schon so weit außerhalb der normalen Parameter, dass die Auswirkungen praktisch nicht abzusehen waren.« Sie geht zu BioMass. Calloway mischt sich nicht ein. Er setzt sich und schaut zu, wie SOTO-Teams ins Zimmer und wieder hinaus springen und aus ihren Waffen imaginäre Leuchtspurgeschosse auf ihn feuern. Er schließt die Augen, um seinem Albtraum zu entgehen. Es dauert einige Zeit, bis Elizabeth auf einem illegal in Beschlag genommenen Kanal über einen geostationären Satelliten über Neuguinea genug Information angerufen hat. Er wird sofort wachsam. Elizabeth wirkt erstaunt. »Die letzten dreißig Jahre über haben sie dich mit jeder bekannten Familie von Drogen vollgepumpt, aber deiner Datei nach nicht mit Halluzinogenen. Es kann sein, dass, falls welche eingesetzt wurden, Rhinestone
Gründe hatte, sie nicht zu registrieren. Und so, wie Halluzinogene in dem Metabolismus eingehen, wäre es schwer, nachzuweisen, dass dir welche verabreicht worden sind. Aber was du beschreibst, klingt sowieso nach keinem Halluzinogen, von dem ich jemals gehört habe.« Sie wiegt besorgt den Kopf. »Psylovibin kann idiosynkratische Wirkungen haben, doch Halluzinationen sind per definitionem subjektiv. Wie können andere wahrnehmen, was du siehst?« Eine Zeit lang bleibt sie schweigend sitzen und fährt sich mit der Rechten ruhelos durchs Haar, dass es mehr denn je einem Vogelnest gleicht. Man könnte sie für eine Tattergreisin halten, doch es ist alles eine Masche, die sie perfektioniert hat. Calloway beugt sich vor. »Das könnte der wunde Punkt sein«, sagt er langsam. »Crunch. Er ist außer mir der Einzige, der an diesen Dingen beteiligt ist. Vielleicht … vielleicht hat auch ihn jemand programmiert …« »Red keinen Unsinn, Calloway, mein Lieber. Wenn du glaubst, Rhinestone würde sich an deinem Hund zu schaffen machen … Also das ist eindeutig lachhaft. Nein«, fügt sie mit Nachdruck hinzu. »Dann hätten sie auch deine Sicherheit manipulieren müssen. Hm-hm. Deinen Halluzinationen scheint objektive Realität zuzukommen. Es ist fast so, als würden die Erzeugnisse deines Gehirns ein Eigenleben gewinnen, ihre eigene Körperlichkeit. Falls das wahr ist, dann ist noch nie etwas Ähnliches festgestellt worden. Kein Wunder, dass es dir schwer fällt, zwischen Illusion und Wirklichkeit zu unterscheiden. Drogenwirkungen oder eine psychische Störung infolge zu langen Aufenthaltes im Cyberspace sind einfach keine Erklärung. Es muss etwas geben, das wir nicht berücksichtigt haben,
eine fremde Variable, aber was?« Wieder zieht sie sich in Schweigen zurück. Calloway hütet sich, den freien Fluss ihrer Gedanken zu unterbrechen. Er beschäftigt sich mit ein paar grundlegenden Überlegungen. Zunächst mal erweisen sich Desprey und Oddesky als ein paar Typen, die irgendwie nicht ins Bild passen. InduSpi-Agenten sind sie nicht. Marla hat ihm gesagt, dass sie Desprey bei Rhoal gesehen hatte. Velazquez sagt, dass es auch die beiden waren, die ihn bei Rhinestone verhafteten. Desprey war auch bei dem Söldneraufgebot, als sie den Cyberspace-Streifen drehten. Er und Oddesky waren auch zur Stelle, als er von Rhinestone ausbrach, um nach Marla zu suchen. Für wen also könnten sie arbeiten? Rhinestone wäre anscheinend die Antwort, die sich aufdrängt. Aber sie sind nicht so recht der Typ der freischaffenden Profis. Militär würde eher zutreffen, aber dieser Gedanke entspringt eher einer Ahnung als der Logik. Aber Downey war ein interessanter Baustein in diesem Puzzle. Ein Stück lästiger Unlogik, das nicht passte, aber passen musste – einfach, weil ihm Marionette vorgeworfen wurde, um Downey aus seinem Bau zu locken? Die inszenierten Filmmöglichkeiten rochen natürlich nach Rhinestone, doch warum all die Tricks? Worauf waren diese Kröten diesmal aus? Toby hatte Recht, als er Calloway sagte, sie könnten ihn ohne weiteres liquidieren. Doch das gehörte offensichtlich nicht zu ihrem Plan. Plötzlich tippt Elizabeth Befehle in den Computer. Sie beginnt eine Suche in Calloways Datenbank, korreliert jede Variable, die ihr nur in den Sinn kommt, darunter Änderungen in Hirnstrommustern im Laufe der Zeit und Einflüsse toxischer
Substanzen. »Zum Glück hat Rhinestone sorgfältige Aufzeichnungen über dich gemacht«, sagt sie. »Vertrauliche, sichere Aufzeichnungen. Aber nicht ganz sichere«, kichert sie. »Sie besitzen mich, Elizabeth. Ich bin ihr Preisbulle. Es ist einfach eine Frage der Ökonomie. Aber momentan bin ich tot mehr wert als lebendig.« »Das ist es vielleicht! Du bist lebendig mehr wert, wenn sie dich unter Kontrolle haben und vorhersagen können, was du tun wirst. Wenn sie nicht mehr vorhersehen können, was geschieht, dann heißt das vielleicht, dass sie nicht die Ursache dessen sind, was geschehen ist. Oder vielleicht haben sie etwas mit unerwarteten Ergebnissen in Gang gesetzt. Stell dir vor, was es bedeutet, wenn das demnächst auch anderen passieren würde. Der Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Wirklichkeit hätte keine Bedeutung mehr. Wir würden aufhören, füreinander zu existieren.« »Aber mir passiert es jetzt. Du existierst doch für mich. Ebenso jeder andere Mensch auf diesem Planeten. Das Problem ist, dass die Bilder, die ich am Rande meines Gesichtsfeldes sehe, ebenfalls existieren und mein Urteilsvermögen beeinträchtigen.« »Schön, betrachten wir es so. Wenn du eine Menschenmenge anschaust, dann gibt es da vielleicht fünfzig Leute, die du nicht wahrnimmst, die aber beispielsweise ich wahrnehmen würde. Und umgekehrt. Kommst du mit?« Calloway kämpft gegen ihre Logik an. »Gut, ich sehe also Menschen, die auf mich nachhaltiger wirken …« »Sagen wir, rot gekleidete Leute wirken auf dich nachhalti-
ger. Bei mir sind es vielleicht eher die in Blau und Gelb.« »Also sehen wir beide dieselbe Menschenmenge, aber in unterschiedlichem Grade. Was hat das mit meinen Randlern zu tun?« Elizabeth lächelt. »Das gefällt mir. Randler.« Sie lässt das Wort auf der Zunge zergehen und macht in Gedanken eine Notiz. »Sind es immer Menschen aus deiner Vergangenheit, Ereignisse, die du durchlebt hast?« »Ja. Jetzt, wo du es sagst.« Elizabeth seufzt. »Das ist der springende Punkt. Entweder sind die Randler Eindrücke, die dir von außen her aufgeprägt werden, am ehesten von Rhinestone, oder du selbst hast daran Anteil, ihre Wirklichkeit zu erzeugen. Es ist, als seien deine Gedanken und Taten und sogar deine Gefühle nicht länger auf den Körper beschränkt, der sie beherbergt – auf dich –, sondern autonom geworden. Wie eine Künstliche Intelligenz Bewusstsein erlangt und über ihren Rechner hinausgreift.« Als sie das sagt, runzelt Elizabeth die Stirn. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich etwas übersehen habe. Ich muss nachdenken. Wir könnten vor einem bedeutenden Durchbruch stehen, wenn wir das nur erfassen können.« »Ja. Weck mich, wenn alles vorbei ist.« Calloway wirft einen Blick auf die Computerausdrucke. »Ich wüsste immer noch gern, wo in dieser Geschichte Leroy und Toby ihren Platz haben.« Elizabeth neigt erstaunt den Kopf. »Die RhinestoneManager?« Calloway fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Es ist schweißnass. »Sie wollen, dass ich einen Abgang mache – und
anscheinend wirklich. Einen spektakulären Abgang – im Film.« »Allmählich beginne ich, mir auf mehreren Ebenen um dich Sorgen zu machen. Rhinestone würde ein Vermögen einbüßen, wenn sie dich beseitigten. Du bist ein Splatterstar der zweiten Generation. Ihr ganzes Geschäft beruht auf deiner Abstammung. Kein Calloway mehr, kein Rhinestone mehr.« »Das ist kein Verfolgungswahn, Beth. Cyberdramen sind passé«, sagt Calloway. Ihm ist das alles zu viel. »Gewalt können die Leute an jeder Straßenecke überall im Lande rund um die Uhr sehen, Tag für Tag. Aber zu sehen, wie ein Splatterstar der zweiten Generation auf der Leinwand erledigt wird, das wäre doch was anderes, ja?« »Du meinst also, dass Toby und Leroy vielleicht deine Randler herstellen?« Sie schüttelt energisch den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es das ist.« Sie wedelt mit einem Computerausdruck. »Es steht alles hier. Deine chemische Zusammensetzung ist wie ein riesiger Cocktail, der plötzlich flüchtig geworden ist. Physikalisch und chemisch hat sich deine Zusammensetzung in etwas Metaphysisches verwandelt, das über die physische Welt hinausreicht. Ich glaube allmählich, dass eher dein geistiger Zustand als deine Erinnerungen und Gefühle der Katalysator für diese Verwandlung sind. Es ist die einzige Variable, die wir nicht in Betracht gezogen haben.« »Mehr als menschlich, was? Klar, ich bin das etatmäßige zehnte Weltwunder.« Er geht zu dem Computerterminal und schaltet es ab. Elizabeth schaut perplex drein. Sie stützt den linken Ellbogen auf den rechten Unterarm und denkt laut: »Andererseits könnte es eine Infektion durch ein mutierendes Virus sein; dann wären
umfangreiche Tests nötig, um es zu isolieren und ein Gegenmittel zu entwickeln – etwas, das den Lebenszyklus des Halluzinogens durchbricht.« Calloway geleitet sie zur Tür. »Es gibt vier Punkte bei der Vermehrung des Virus, wo antivirale Analoge eingreifen und sich an die reverse Transkriptase des Virus koppeln können. Sodass es daran gehindert wird, seine DNS in deinen Nervenzellen zu replizieren.« Ihr wird nicht bewusst, dass sie auf dem Weg zur Tür sind. Calloway nimmt an, dass sowas in hohem Alter vorkommt. »Elizabeth? Gönn mir eine Pause, ja? Du klingst wie eine verdammte Enzyklopädie für Biomedizin. Hör auf, Zeit zu schinden, und sieh zu, dass du nach Hause und ins Bett kommst. Es ist spät.« Elizabeth runzelt die Stirn. »Ich habe dich nie so irritiert gesehen. Nicht in der ganzen Zeit, seit ich dich kenne.« Calloway löst den Sperrcode der Hintertür. Die Luft draußen ist kühl. »Schau, es tut mir Leid, Beth. Es ist nur, dass ich diese Sache nicht unter Kontrolle habe.« »Kontrolle ist dein Ein und Alles, was, Calloway? Oder wenigstens die Illusion davon«, sagt sie ruhig. »Das ist etwas, das Rhinestone jedenfalls über dich wissen dürfte. Hm, du könntest Recht haben. Wenn sie dein körperliches Wahrnehmungvermögen nicht beeinträchtigen können, wäre das eine Möglichkeit, dich aus dem Gleichgewicht zu bringen, um dich verletzlich zu machen. Du erlaubst dir niemals tiefe Gefühle, weil du Gefühl mit Schwäche gleichsetzt. Schwäche ist das Einzige, was du fürchtest, und das müssten Toby und Leroy wissen.« »Deine freudschen Einsichten sind aufschlussreich, aber dazu
ist jetzt nicht die Zeit. Außerdem holst du dir den Tod, wenn du hier stehenbleibst.« Er schaut zu dem Papier herunter, das sie fest umklammert. »Außerdem hast du Hausaufgaben zu erledigen. Ich muss ein paar Leute treffen. Am besten, du fährst direkt nach Hause – ich schließ mir ein Stück weiter 'ne Karre kurz.« Er winkt, während er sie durch die Tür führt. »Halt Verbindung.« »Calloway?« Sie dreht sich um. »Sonst alles in Ordnung?« Er führt zwei Finger erst an seinen Mund und dann an ihre Lippen. »Für 'nen Seelenklempner bist du in Ordnung. Ich schließ das Tor ab.« Er wartet fünf Minuten, ehe er selber geht. Beim Gehen bemerkt er ein blinkendes rotes Lämpchen, das anzeigt, dass jemand Elizabeths Arbeit zurückverfolgt hat. »So lange ich die Guten von den Bösen unterscheiden kann«, murmelt er und geht raschen Schritts. Etwas stimmt nicht mit der Nacht. Zuerst glaubt er, es müsse visuell sein – etwa wieder ein Angriff von Randlern. Doch das ist es nicht. Alles ist, wie es sein soll: der Hinterhof mit weggeworfenem Abfall gesprenkelt, ein Stapel veralteter Computergerätschaften, der im hinteren Durchgang vor sich hin rostet, im Sicherheitszaun klafft eine Lücke, aber der Draht ist verrostet, also liegt der Eingriff lange zurück. Er riecht den starken Blütenduft von Jasmin – der kommt über die Außenhecke. Er hört das Durcheinander von Insektenrufen und in der Ferne das Dröhnen der Menschheit. Er bückt sich, um durch die Bresche im Sicherheitszaun zu kriechen, als ihm bewusst wird, dass das Dröhnen nicht gar so fern ist. Es wiederholt sich, scharf und deutlich, und es wird
lauter. Er ist durch den Zaun und rennt über das holprige Pflaster, als es geschieht. Das Labor explodiert in einem Inferno, das Calloway von den Füßen reißt und gegen einen morschen Lattenzaun schleudert. Er reißt die Arme vors Gesicht, um sie vor der sich ausdehnenden Feuerkugel zu schützen, spürt ihre schroffe Umarmung, als sie ihn wie eine Gallertmasse einhüllt. Splitter von hellem Acryl und Klumpen von poliertem Chrom regnen herab; die Echos der Detonationen werden zu einem Trommelwirbel. Ein abgehacktes Dröhnen vor dem Hintergrund der Kakophonie von Lärm schwillt an. Calloway duckt sich nieder. Ein schwarzer Hubschrauber schwenkt hinter den Nachbargebäuden hervor, sein Infrarot-Zielsucher sucht nach Körperwärme. Von den Hitzestrahlungen verwirrt, erweitert der Käfer seinen Suchbereich. Calloway bleibt, wo er ist, bis der Suzuki-X2-Militärhubschrauber abdreht und ein Punkt vor dem Horizont wird. Militär. Das Wort steht da und will nicht vom Fleck weichen. Woher sollte das Militär wissen, wo er sich befindet? Darüber möchte er im Moment nicht einmal nachdenken. Nach Hause zu kommen, ist kein Problem. Das Problem ist, diesen beunruhigenden Gedanken loszuwerden.
SCHNITT AUF:
SECHSTER AKT
Orangefarbene Träume
54. INNEN. CALLOWAY IM BETT, DAS GESICHT SCHMERZVERZERRT Diese Nacht treibt er ziellos durch einen Korridor in einer löchrigen fahlen Landschaft von Blut und Körpergewebe – Gewebe, das auseinanderfällt wie von scharfem Stahl durchtrenntes Fleisch, sich dann hinter ihm wieder schließt wie eine vernarbte Wunde. Krallende, bösartige Hände versuchen, durch nachgebende blattförmige Verbindungswände von Gewebe zu dringen, jedes tastende Anhängsel zerrt an ihm, versucht, ihn vom Weg abzubringen. Calloway … Calloway … er gehört mir! Ich will ihn haben! Stimmen aus der Vergangenheit: Jenelle Jardene, Storm Tempest, Rip Cruiser, weitere Tausende, die er vertragsgemäß gegen die Abfindungen von Rhinestone ausgelöscht hat. Skelettdürre fingerartige Fortsätze drängen gegen gespannte Membranen. Die sich blähenden Höhlungen strömen einen durchdrin-
genden Verwesungsgeruch aus. SOTO-Teams, Razorboys, Schlagjungs schwirren über seinen Weg, um von Calloways AEE beiseite gefegt zu werden. Die Membranwände weichen in orangefarbene Unendlichkeit zurück, und an deren pulsierenden Flanken entlang folgt Calloway der blutroten Ader. Dann schlägt etwas Feuchtes, Kratzendes gegen sein Gesicht. Calloway erwacht und gewahrt Crunchs offen stehendes Maul. Seine Lippen sind schaumbedeckt, seine Augen rot, streifendurchzogene Augäpfel mit kleinen schwarzen, unergründlichen Punkten; seine Rippen sind Wellblech. Calloway zieht Crunch zu sich heran. »Wie lange bin ich da drin gewesen, Kumpel? Einen Tag? Zwei?« Gelenksteife zieht sich durch seinen Körper. »Mindestens drei Tage. Aber es ist wie Atmen, Crunch. Man kommt damit zurecht.« Calloway wirft die 'Troden ab. Sie prallen von der onyxschwarzen Verkleidung des Cybergeräts ab. Er erinnert sich nicht einmal mehr, wie er sich eingeklinkt hat. Entweder hat sich jemand an seinem Gerät zu schaffen gemacht, oder es ist etwas richtig Widerwärtiges im Gange. Er hat gelegentlich schon von Schläfer-Virensoftware gelesen, von Leuten, die Jahre in einem katatonischen Zustand verbracht haben, um zu einer vorgegebenen Zeit zu erwachen und ihr Haus ausgeplündert, ihr Geschäft ruiniert zu finden. Anscheinend waren es Menschen, denen fast jede Persönlichkeit fehlte, so gut wie unmöglich, zu beweisen, dass sie überhaupt existierten. Das muss man erst einmal verarbeiten, dazu den Kater. Logischer betrachtet, weiß Calloway, dass ebenso gut irgendein junger Bit-Spaßvogel sich einfach so zum Spaß sein System
vorgenommen hat, so, wie Velazquez und seine CybermordKumpel in der Hardware des Establishments hacken. Aber Calloway ist momentan gar nicht zum Lachen zumute. Stattdessen startet er ein Hochprotein-Programm, um Crunch zu füttern, dann isst er selbst. Beim Essen schaltet er seinen Hologrammer ein und fragt: »Botschaften?« Hologramme mit hundertprozentiger Auflösung erscheinen vor ihm. Leroy und Toby strahlen ihn an. In richtig kitschiger Jovialität haben sie einander die Arme auf die Schultern gelegt. Toby wirkt etwas weniger begeistert als Leroy. Aber so ist es bei den beiden immer. »Schlaf nur weiter, Calloway. Wir kriegen megamäßige Aufnahmen, Kumpel.« Sie tragen geblümte kurzärmelige Hemden. Kein Zweifel, sie machen irgendwo Urlaub, wo es heiß und lebhaft ist. Südpazifik vielleicht. Oder eher wie ein Stimuladen irgendwo – billiger und weniger hübsch. Leroy fügt hinzu: »Wie geht es dir?« Wigehsdir? Sie puffen einander spielerisch gegen die Schulter und lachen einstimmig wie über einen versteckten Witz. Die Theorie mit dem BitSpaßvogel wirkt nun weniger wahrscheinlich. Als nächstes kommt Marlas Abbild. Sie wirkt hektisch. Calloway strebt nach vorn. Er wünschte, er könnte sie berühren, sie von der Holobühne herabziehen und sie vor allem beschützen, was ihr Kummer macht. Seine Finger zerreißen einfach das gebrochene Licht. Wegen der Störung muss er die Botschaft noch einmal starten. »Calloway? Hör zu. Bleib, wo du bist, Schatz. Ich habe etwas Schreckliches entdeckt. Ich kann nicht bleiben – deine Anrufe
werden wahrscheinlich zurückverfolgt.« Sie schaut sich nervös um. »Ich bin hier weg. Aber trau keinem. Hörst du? Keinem! Da ist etwas im Gange …« Die Übertragung reißt mitten im Satz ab. Ehe Calloway die Schleife nochmals ablaufen lassen kann, erscheint Elizabeth als Hologramm. »Also wirklich, Calloway. Du hättest mir sagen können, dass ich ein Tragzelt und eine Überlebensausrüstung mitbringen soll.« Calloway lächelt und gibt die Tastenfolge ein, damit sie eintreten und zeitweise seine Sicherheitsschranke passieren kann. Über die Automatik bestellt er ihr einen Black Russian. Der Autoserver stellt zwei Drinks auf das Tablett, und Calloway hat sie in den Händen, als Elizabeth das Zimmer betritt. Nur im Unterbewusstsein registriert er, dass Elizabeth nicht wie immer ist, er nimmt nämlich Fundamentalgerüche an ihr wahr. »Immer ganz Gentleman«, sagt sie. »Absolvere.« Sie nimmt das Glas, trinkt einen Schluck und lässt spielerisch das Eis schmelzen. »Das heißt ›freigeben‹ oder ›erlösen‹ auf Lateinisch, mein lieber Calloway. Daran habe ich gearbeitet, während du deine verrückten Albträume hattest.« Calloway nimmt einen Schluck von seiner hübschen Jurumba. Die Fundamentalgerüche lösen sich in dem honigzähen Rum. Elizabeth stellt einen tragbaren Quanten-LichtemissionsTomographen auf und hat ihn schon über Calloways Kopf, als der eben auf das Schaumpolster sinkt. »Halt still! So ist's brav.« Sie schnalzt zufrieden. »Wie ich es
vermutet habe. Dein Hirntomogramm zeigt ausgedehnte Ablagerungen von Dopamin im Striatum Nigrum, was auf Überempfindlichkeit der Neurorezeptoren hinweist. Ins Bild passt auch die verstärkte Serotonin-Neurotransmission, wobei ein hoher Spiegel des Serotonin-Vorläufers Tryptophan vorliegt.« Calloway lächelt. Er ist noch matt von dem Cybertrip. »Ja. Das wusste ich.« Falls Elizabeth den Sarkasmus wahrnimmt, reagiert sie nicht darauf. »Aber die Ablagerungen von Neurotransmittern sind in dem Bild zu präzise, zu akkurat … absichtlich erzeugt.« Sie beißt sich nachdenklich auf die Unterlippe, wendet sich dann der VAE zu. »Es sind nicht die willkürlichen DopaminAnsammlungen, wie man sie beispielsweise im Hirn eines Schizophrenen sehen würde, wo optische Halluzinationen zum Krankheitsbild gehören und genauso irritierend sein können, ohne aber die äußere Wirklichkeit deiner ›Randler‹ zu haben.« Elizabeth tastet eine Ziffernfolge ein und betrachtet die Ergebnisse auf dem Bildschirm. Für Calloway sind das alles böhmische Dörfer, aber wer kann sich schon mit einem 123 Jahre alten Genie messen? »Kann ich jetzt dieses Ding abnehmen?« Die Oberfläche, die seine Kopfhaut berührt, droht sein Fleisch zu verbrennen. Abgesehen davon, dass er sich wie ein Idiot vorkommt. »Wart noch, Calloway, mein Lieber. Ich weiß, dass es wehtun muss, aber ich bin ganz nahe dran.« Kurz darauf kichert Elizabeth auf ihre infame Art. »Ich glaub, ich hab's getroffen. Selbst ohne die chemische Aufschlüsselung aus dem Alfred – die Hardware, die ich feststellen kann, ist in deinen Sehhügel implantiert worden und unterstützt sensori-
schen In- und Output. Die Quelle verstärkt die Wirkung deiner Chemorezeptoren auf ein weit höheres Selektivitätsniveau und ermöglicht die Störungen, unter denen du leidest – und da kommen deine Freunde bei Rhinestone mit ihren Computerjockeys ins Bild.« Calloway verliert die Konzentration. Sein Bewusstsein ist im Begriff, sich abzuschalten. Elizabeth sagt, er sei ein Projektor für einen Horrorfilm geworden – dass Rhinestone in ihn einspeist, was immer sie wollen, während sie auf das richtige Szenarium warten, um ihn auszulöschen. Ihre Worte beginnen, hin und her zu treiben wie durch eine schwache Übertragungsstrecke. »Ich denke, es ist ihnen leicht gefallen. Sie besitzen sämtliche Informationen über die Verstärkungsoperationen, denen du dich unterzogen hast, und wichtiger noch, über die Konditionierung, die du als Kind durchgemacht hast. Sie sind bestens in der Lage, dir deine schlimmsten Albträume einzugeben.« Etwas stimmt nicht. Calloway riecht etwas, was ihm nebelhaft vertraut vorkommt. Furcht? Begeisterung? Etwas, das von Elizabeth ausgeht und nicht da sein sollte. Es kommt jetzt stärker, drängt heftig gegen seinen Schutz an. Trotz des Schmerzes, der seinen Kopf überflutet, simuliert er Bewusstlosigkeit. Marlas Warnung, niemandem zu trauen, steht ihm plötzlich vor Augen. Aber Elizabeth? Er verlangsamt seinen Metabolismus. Elizabeths Instrumente glauben die Lüge. »Er gehört uns«, sagt Elizabeth. Sie scheint über ihren Erfolg erstaunt zu sein. »Das heißt, momentan gehört er mir.« Tobys Stimme dringt ins Zimmer. Wahrscheinlich von einer tiefen Orbital-Verbindungsstation – einem der neuen Unterschalldröhner. »Sie können mit ihm spielen, Doc. Aber bringen
Sie nicht zu viel durcheinander. Baxter möchte seine Rübe, um ihn durchzuchecken. Von jetzt an hat er das Sagen.« Er schnaubt verächtlich. »Kaum zu glauben, dass Calloway einen Elitesoldaten abgeben soll. Er ist auf seine alten Tage weich geworden.« Leroy wirft ein: »Wie finstn das, Tobes? Da muss eine Filmgesellschaft kommen und dem Militär zeigen, wie's gemacht wird.« Die beiden lachen selbstzufrieden. »Diesmal war's das, Calloway«, sagt Toby. »Wir könnten uns sogar eine Persönlichkeitskopie holen«, sagt Leroy großmütig. »Was meinst du, Toby?« Was meinstu, Toby? »So dass er sich seinen Kumpels im Netz zugesellen kann.« »Wenn die Jungs nur spielen können«, sagt Elizabeth rätselhaft und unterbricht die Verbindung. Sie kommt mit einem Lasermesser auf ihn zu. »Ich muss das tun, solange du am Leben bist, Calloway, mein Lieber. Aber der NeuroUnterbrecher im QLT müsste den Schmerz teilweise betäuben.« »Ein goldenes Herz«, sagt Calloway und wirft den Kopf heftig zurück gegen die Kopflehne. Der QLT wird von seinem Kopf weggeschleudert und nimmt Büschel von Haaren mit. Der Schmerz ist unsäglich, doch damit hat Calloway sein Leben lang zu tun gehabt. Elizabeth schreit überrascht auf. Dennoch fängt sie sich glänzend und stürzt mit dem Lasermesser vor. Schließlich ist sie eine Überlebende. Calloway aber auch. Er blockiert mühelos, schwingt seinen Arm unter ihren und stellt sie hübsch ruhig.
Plötzlich melden die luftgestützten Alarmsysteme ihren Ausfall. Calloway trifft rasch eine Entscheidung und wirft Elizabeth von sich weg. »Crunch!«, sagt er scharf, und der Hund postiert sich zwischen seinen Herrn und den Gegner. Elizabeth steht reglos wie unter Schock. Crunch zittert vor Erwartung. Sie hat ihn mehr als einmal in Aktion gesehen. Zumal mit den Geruchsspuren, die Filme heutzutage haben, hat sie das Gefühl, als sei sie viele Male dabei gewesen, wenn er ein Opfer tötete. SCHARFER SCHNITT AUF: 55 A. DIGITAL-WANDUHR IN NAHAUFNAHME: 3:38 Calloway nimmt einen Schuss Neuroson. SCHARFER SCHNITT AUF: 55 B. DIGITAL-WANDUHR IN NAHAUFNAHME: 3:39 Er ist im Begriff, seine Sicherheitsschranke zu aktivieren, doch in einem seltenen Moment der Unsicherheit wird ihm bewusst, dass Elizabeths Persönlichkeit noch nicht in seinem Gästespeicher steht. Er möchte sie vorerst nicht umbringen. SCHARFER SCHNITT AUF: 55 C. DIGITAL-WANDUHR IN NAHAUFNAHME: 3:40 Er greift nach seiner Slazenger und lädt das nächste Photonenmagazin durch – leer.
SCHARFER SCHNITT AUF: 55 D. DIGITAL-WANDUHR IN NAHAUFNAHME: 3:41 Er wirft die Waffe weg. Er hat den Bruchteil einer Sekunde an den Gedanken verschwendet, wann Elizabeth wohl Gelegenheit hatte, die Slazenger zu entladen.
SCHARFER SCHNITT AUF: 55 E. DIGITAL-WANDUHR IN NAHAUFNAHME: 3:42 Er gleitet in einen Kokutso dachi, das hintere Bein gebeugt, den Fuß im 45-Grad-Winkel gegen den vorderen Fuß – gerade nach vorn –, die linke Hand unten in Hüfthöhe, die rechte leicht gedreht, Handkante nach vorn, Finger gestreckt. Das Erkerfenster implodiert. Durch beißende Schwefelwolken hindurch rollen schwarzgekleidete Gestalten von ihren Seilen ab, springen in Nekoshi dachi auf. Einer ist offensichtlich ein Ninja – der andere ist zu massig. An weitere Einzelheiten kann Calloway keine Zeit verschwenden. Calloways Reaktionszeit beträgt nur Millisekunden. Seine Reflexe sind drogenverstärkt, doch vererbt und von Kindheit an instinktiv benutzt worden. Der Ninja ist gut – zu gut. Calloway kann dem ersten Messer nur knapp ausweichen. Es trifft auf die Eisen-Plastikwand hinter seinem linken Ohr, und nadelscharfer Putz prasselt ihm gegen den Rücken.
Calloway packt den Griff, zieht und wirft das Messer mit derselben Bewegung zurück. Es trifft auf die Halsschlagader des Mannes und gräbt sich bis zum Heft ein. Im selben Augenblick rollt Calloway vorwärts über den Futon, kommt in Nekoshi dachi hoch, doch zu langsam. Der zweite Mann bringt einen Shutu uchi gegen Calloways Hals an. Die dicken Muskelbänder dort nehmen den Schlag auf, doch in seinem geschwächten Zustand knicken seine Knie ein. »Ich dachte, du wärst besser.« Es ist Verlander. Er stößt mit einem Kia die Luft aus, wirbelt herum und tritt gegen Calloways Brust. Die Wucht lässt Calloway zurücktaumeln, als hätte ein Vakuum ihn erfasst. Er reißt die Arme weit auseinander, um den unvermeidlichen Aufprall an der Wand zu dämpfen. Als es so weit ist, schnellt er zurück. Verlander hat sich schon über den Futon abgerollt, eine Shuriken gezogen und aus der Rückhand den Schlag geführt. Die Klinge kommt im Bogen heran. Sie erwischt Calloway quer übers Kinn und hinterlässt einen Skalpellschnitt, aus dem sogleich Blut hervorschießt. Von weitem hört er Crunch knurren. Calloway tritt gegen die Beines des Futons. Und in diesem Moment des gestörten Gleichgewichts vollführt Verlander mit der Gewandtheit eines Ballett-Tänzers einen Salto rückwärts. Er landet mit makelloser Präzision außerhalb von Calloways Reichweite, der aber hat inzwischen den Futon überwunden. In einem exakten Yoko geri trifft die Außenkante von Calloways Fuß auf Verlanders Brustbein, schleudert ihn hoch und durch das geborstene Fenster.
Lautlos fliegt er nach draußen. Calloway lässt sich aufs Bett sinken und presst die Handflächen gegen die Schläfen. Schwindelgefühl breitet sich in ihm wie ein Buschfeuer aus, doch er schüttelt es binnen Sekunden ab. Mit stumpfer Klarheit blickt er auf. Elizabeth ist geflohen. Crunch liegt am Boden und macht schwache Versuche, auf die Beine zu kommen. Irgendwie hat Elizabeth den Neuro-Laser gegen ihn benutzt. Das lässt sich leicht in Ordnung bringen, schwerer ist es schon, das Crunch zu erklären. Calloway bückt sich, um Crunch aufzuheben. Ein Geräusch hinter seinem Rücken lässt ihn herumwirbeln, die Hände abwehrend geöffnet. »Sieh mal, was ich draußen gefunden habe«, sagt Elizabeth. Mit seiner durch das Neuroson beschleunigten Reaktion hört Calloway sie in Zeitlupe sprechen – für seine erhöhte Wahrnehmung wirkt ihre Bewegung lächerlich langsam. Doch er weiß, dass er selbst im Superman-Zustand nicht schnell genug wäre, um Elizabeth in diesem Augenblick einen Strich durch die Rechnung zu machen. Selbst annähernde Allmacht hat ihre Grenzen. Sie hält eine Heckler & Koch P7 an Marlas Kehle. »Dieses kleine Ding hält dich vielleicht nicht zurück, Calloway, mein Lieber, aber in deine Dame hier würde es ein hübsches Loch machen.« »Und was bliebe dir dann, möchte ich wissen?« sagt Calloway. Es macht Mühe, unter dem Neuroson langsam zu sprechen. Er setzt sich, doch diese einfache Bewegung veranlasst Elizabeth, Marla heftig herumzureißen, dass sie aufschreit.
»Keine heftigen Bewegungen!«, befiehlt Elizabeth. Dann plötzliche Ruhe. »Mir bleiben dann fünf Kugeln. Eine Bewegung zu diesem Messer hin, und Marla ist nicht mehr unter uns.« Calloway schaut hinüber zu dem Messer, das aus der Brust des Ninjas ragt. Für Elizabeth hat er etwas Besseres in petto. Nichts derart Grobes. »Was soll's also werden, Calloway? Entferne dich von dem Messer.« Bestens. Er tut es. Für Elizabeths Augen ist er eine geschmeidige Katze auf der Pirsch. In Wahrheit bewegt er sich halb so schnell, wie er es momentan könnte. Seine Wünsche zu verbergen, bereitet ihm erhebliche emotionale Probleme. »Deine Show, Elizabeth. Wir sind jetzt auf Sendung?« »Das will ich doch hoffen, mein Lieber. Das ist mein wahres Debüt, weißt du. Natürlich, wenn man es streng vom akademischen Standpunkt aus betrachtet, wird mein Name in die Militärgeschichte eingehen, weil ich den perfekten Soldaten geschaffen habe.« Eitelkeit ist eine feine Sache, vor allem, wenn man sie manipulieren kann. Bei Elizabeth geht das. Calloway braucht Zeit. Und Informationen. »Schnapp sie dir!« sagt Marla kehlig. Elizabeth gräbt ihre Finger tiefer in Marlas Fleisch. Marlas Augen weiten sich, als ihr die Luftröhre fast abgedrückt wird. Calloway hebt bittend die Hände. »Nein, so dumm bist du nicht, mein Lieber«, sagt Elizabeth. Zur Bekräftigung drückt sie die Pistole kräftiger gegen Marlas Kehle. Selbstgefällig fährt sie fort: »Seit einiger Zeit bist du ein
Experiment der Regierung. Jeder deiner Filme war ein Studienobjekt an der Akademie. Deine Reflexe sind getestet worden – jeder Film hat deine Möglichkeiten einen Schritt weiter beansprucht. In Cyberloid haben wir den Cyberspace eingeführt, deine Fähigkeit, dort im Gegensatz zum physischen Raum zu überleben. In Der Streifen, der da 'nüber ging haben wir Marla weggenommen. Das diente dazu, deinen Erfindungsreichtum zu testen – dein Vermögen, auf dich selbst gestellt und unabhängig zu handeln. Im Stahlbasilisken ging es natürlich um die Bewältigung von plötzlichem Stress. Orangefarbene Träume – jetzt eben haben wir dich unter unbekannten Drogen getestet. Jeder Film, den du in den letzten paar Jahren gemacht hast, mein Lieber. Du warst einfach ein Versuchskaninchen.« Calloway lehnt sich lässig zurück. Elizabeth mustert die Wand hinter ihm. »Jeden Moment muss Verstärkung kommen. Du musst Geduld mit mir haben. Immerhin hast du meinen Johnny umgebracht, nicht wahr?« »Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass Toby und Leroy das alles arrangiert haben könnten? Johnny hat man gesagt, Sheila sei todkrank – dass sie unbedingt teure medizinische Behandlung bräuchte, um die Geburt zu überstehen. Sie haben das so gut hingekriegt, dass er beinahe von selber zu Rhinestone kam, um das Geld zu kriegen. Aber ihre Agenten haben ihn hingetrieben. Wie ein Lamm zur Schlachtbank, Beth. Rhinestone hat mit dir wie mit einer Puppe gespielt. Natürlich ist die Schuld am Tod des Jungen auf mich gefallen. So hast du es gesehen, nicht wahr?« Er sieht, wie Elizabeth es sich durch den Kopf gehen lässt. Anscheinend hat sie diese Möglichkeit nicht erwogen. »Hüb-
scher Versuch«, sagt sie nachdenklich. »Johnny war kein Toddie, Elizabeth. Wie hätte Rhinestone überhaupt auf den Jungen stoßen sollen, wenn sie nicht schon nach ihm gesucht hätten? Er brauchte verzweifelt Geld, er war ein Verwandter von dir. Das müssen sie gewusst haben. Sie haben dich von Anfang an gegen mich gehetzt …« »Hör auf!« Marla holt krächzend Luft, als Elizabeth die Pistole gegen ihre Luftröhre rammt. »Halt dein dreckiges Maul. Sheila ist untergetaucht. Die Hälfte ihrer Verwandten ist verschwunden. Ich kann mein Baby nicht finden!« »Sie sind in einer Kommune. Wo du sie niemals finden wirst, Beth.« Calloway zuckt die Achseln. »Sie scheinen dir keinen Deut zu trauen.« Er hat es geschafft, sie zu reizen. Lenke jemanden von seinem eigentlichen Vorhaben ab, und du hast ihm einen kleinen Vorteil abgerungen. Wenn er es dahin bringen kann, dass diese Pistole von Marla weg und auf ihn zeigt, dann hat er eine Chance. »Du lügst.« »Wie kommen dann Verlander und sein Kumpel in die Geschichte?« »Ach«, sagt Elizabeth irritiert. »Ich denke, sie gehörten zu Downeys Mannschaft. Der war an dem Experiment beteiligt, entwickelte aber zu viel Ehrgeiz. Wollte einen Deal mit den Thais machen. Immer der Rebell. Aber dann ist sein Hauptsurrogat erwischt worden. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen des militärischen Konsortiums hat er den Coup sausen lassen.« Sie runzelt die Stirn. »Nach dem da zu urteilen« – sie deutet mit einer Kopfbewegung auf den Körper des Ninja –, »würde ich
sagen, er hoffte, gegenüber den Thais wenigstens halbwegs das Gesicht zu wahren.« »Und jetzt?« »Jetzt wird's interessant, mein Lieber. Ich muss die Daten von den Modulen abrufen, die ich im Laufe der letzten paar Jahre angebracht habe. Wie du siehst, habe ich meine eigene Tagesordnung.« Mit einer Hand wirft sie ihm ein PolycarbonatArmband zu. Das Geräusch, das von ihm ausgeht, erinnert an einen gedämpften Zikadenchor. »Leg das an, mein Lieber. Lass es einfach zuschnappen. Linkes Handgelenk bitte.« Calloway schaut von der klackenden Vorrichtung hoch. »Elizabeth, du gehst zu weit …« »Tu's einfach!« Calloway lässt das Armband zuschnappen. Er spürt, wie sich etwas über sein Schulterblatt bewegt, etwas Geleeartiges, ungefähr wie ein Schleimklumpen, der durch seine Adern fließt. Knapp oberhalb seines Ellbogens kommt es beinahe an die Oberfläche, eine golfballgroße Zyste, die sich seinen Arm hinab vorarbeitet. Sein Fleisch kräuselt sich, als das Ding gegen das Armband drängt. Er spürt den Sog der Vorrichtung, als sie die Wesenheit herunterläd.
SCHNITT AUF: 56. ACHTERBAHNFAHRT DURCH ROTE ADERN MIT KÖRNIGER TEXTUR EINGESPROCHEN MIT SAMTWEICHER STIMME: … dies ist die vorbereitende Welt – der Wirt ist das Maß der Verschlüsselung – Datenwellen auf molekularen Ni-
veaus, DNS und RNS, Mitochondrien bis zum autonomen Nervensystem – Konstruktionseinheiten fordern Knotenraum an – Calloway ist der Schlüssel – plastische Speicherung für Sinnesdaten an molekularen Vortriebsplätzen – stelle elektronische Gitterblöcke zum Download bereit …
SCHNITT AUF: 57. INNEN. CALLOWAYS WOHNUNG. TAG »Was ist das?« flüstert Marla kaum hörbar. »Du hast noch gar nichts gesehen – wart's nur ab«, sagt Elizabeth. Ihre Stimme ist kantig, drohend. Selbst Calloway ist verblüfft, als sich die Vorrichtung mit einem Klicken öffnet, ein rundes Klümpchen Gewebe zu Boden fällt und wie ein plattgedrückter Tausendfüßler über den Teppich auf Elizabeth zukriecht. »Komm zu Mutti«, sagt Elizabeth fast ehrerbietig. Sie schaut zu Calloway auf. Ihre Hand mit der Pistole drückt noch immer gegen Marlas Luftröhre. »Das, Calloway, ist die Hauptsumme deines Daseins. Es enthält alles, was du zu diesem Zeitpunkt bist. Du bist das, mein Lieber. Im Wesentlichen. Du.« Tobys Stimme fällt ihr ins Wort. »Nicht so schnell, Liz. Hast du dieses Weibsstück aus Paraguay da?« »Sie wird gleich einen sehenswerten Abgang machen. Sie nimmt es sehr gefasst.« Elizabeth verstärkt ihren Griff an Marla. Das ist ein betrüblicher Gedanke. Sie hatte erwartet, dass Marla irgend etwas versuchen würde. Und wo blieb denn nun ihre Verstärkung?
»Lass sie gehen«, sagt Toby. »He«, sagt Elizabeth. »Wieso denn das?« »Das Miststück hat in einer brasilianischen Datengruft irgendwie Calloways Biomodule entdeckt. Wenn sie die Übertragung nicht absagt, werden zweitausend Kopien der Information an elektronische Schwarze Bretter und Patentbüros geschickt, und an alle Konkurrenzunternehmen.« Tobys Stimme klingt gepresst. »Zu schade, Toby. Für Rhinestone, meine ich. Ich habe die Hardware – ohne die ist die Software nichts wert.«
SCHNITT AUF: 58. INNEN. ROTE GEKÖRNTE ADERN … Fluktuation der Wahrscheinlichkeitsdichte – Elizabeth als Wirt kurz vor Beendigung – Kollaps steht unmittelbar bevor – Fress-Wasserstoffbindungen aktiviert – Kommunikation mit Primärrezeptor zwecks Informations-Download nicht möglich – Suchroutine für Verhaltensstrategie – Zielauswahl – Wiederherstellung der Calloway-Strategie – erwarte weitere Anweisungen – »Elizabeth, du gehst zu weit …« SCHNITT AUF: ELIZABETHS GESICHT IN NAHAUFNAHME (MIT DEM AUSDRUCK EINER WAHNSINNIGEN) Elizabeth ist im Begriff, auf den Abzug zu drücken. Calloway springt nach der Sicherheitsschranke. Er rammt die
Hand darauf, und dreitausend Volt durchzucken die Luft. Elizabeth fährt hoch, dann bricht sie zusammen. Die Pistole geht los. Marla schüttelt den Kopf und fällt eine Sekunde später. Aus ihrem Schenkel beginnt rhythmisch arterielles Blut zu spritzen. »Alles in Ordnung mit mir. Himmel!« Sie versucht aufzustehen, fällt wieder, als Calloway an ihrer Seite ist. »Miststück!« Sie schaut zu Elizabeth hinab. Ihre Augen sind vom Schock weit aufgerissen. Ihr Mund steht offen, als wolle sie zu schreien beginnen. »Sie war vom Militär. Ja?« Calloway nickt geistesabwesend. »Sieht so aus.« Er ist noch damit beschäftigt, die Konsequenzen zu bedenken. Er hatte ihren Urenkel getötet. Wenn es auch noch so legal gewesen, wenn ihm auch noch so wenig vorzuwerfen war, auf diese Weise war so mancher Verwandte oder nahe Freund zur Blutrache gegen ihn getrieben worden. Dem wird er niemals entgehen. Das war Rhinestones Fait accompli. Er reißt sich das Hemd vom Rücken. Marlas Wunde ist ein hässlicher Vulkan von aufgefetzter Haut, der dickes Blut hervorpumpt. Es dauert Sekunden, bis die Flut eingedämmt ist. Doch Marla steht schon unter Schock. »Du musst dich schrecklich verraten fühlen.« Calloway ist noch dabei, es zu verarbeiten. Er nickt geistesabwesend. »Ja. Sowas in der Art.« »Was war das für ein Blödsinn mit ihrem Baby?« Calloway blinzelt, um Schweiss vom Auge zu bekommen. »Sie hatte Sheila eine befruchtete Eizelle eingepflanzt.« Nach einer Weile: »Von ihr und Johnny?« Marla findet das
alles im Übermaß unwirklich. Natürlich, es hat sie eben erst aus einer Heckler & Koch P7 erwischt. Sowas richtet nicht bloß Verwüstungen an, wo die Kugel trifft, sondern tut auch dem übrigen Körper nicht besonders gut. Vor allem dem Gehirn. »Das hast du dir ausgedacht. Ja?« »Diesmal nicht.« Calloway scheint gelinde überrascht zu sein, dass Marla ihm nicht glaubt. Solcher Mist passiert alle Naselang. Eitelkeit ist echt Scheiße. Vor allem bei den Reichen. »Wenn sie es nicht getan hätte, hätte Rhinestone nie erfahren, dass unter ihren Verwandten Plänkler sind. Sie scheinen ihr nachgespürt zu haben. Haben Wind von den Debros gekriegt.« Seine Stimme klingt gepresst. »Die armen Kinder hatten keine Chance.« »Rhinestone hat Sheila erwischt?« Calloway schüttelt den Kopf. »Sie ist in Sicherheit. Vor zwei Tagen hat sie das Kind gekriegt.« Marla schüttelt ungläubig den Kopf. »Glaubst du, das Ding ist tot?« Übergangslos zum zweiten Thema. Das erste ergibt nicht viel Sinn. Calloway ist das momentan recht gleichgültig. Er steht auf. »Es war ein Biotreiber. Hab irgendwo davon gelesen.« Er schüttelt den Kopf. »Sie sind wie … vielleicht wie Intelligenz aus der Retorte, imstande, sich in die DNS eines Wirts einzuklinken, aufzuschnappen, was immer sie ihrer Programmierung zufolge erfahren sollen.« »Calloway?« Marla lehnt sich an ihn. »Das ist verrückt.« Sie zittert. Er zieht sie fest an sich. »Wir sollten lieber hier verschwinden«, sagt er. »Elizabeth erwartete Verstärkung.«
»Hm.« Marla deutet mit dem Kopf zu dem Körper auf dem Bett. »Du hast schon Besucher gehabt. Der Ninja und der Körper unten auf dem Bürgersteig?« »Verlander.« »Downeys Leute, denke ich. Nur dass sie nicht hier waren, um auf Elizabeths Wohlergehen zu achten. Sie war nicht unersetzlich. Sie wollten die Module, die du mit dir herumträgst.« »Toby sagte etwas von einer Datengruft.« Calloway führt sie zur Tür. »Willst du mir etwas davon erzählen?« »Die Frage ist nicht weiter schwierig, aber ich glaube, es wird dir schwer fallen, die Antwort zu schlucken.« »Versuch's.« Er nimmt Elizabeths Tasche hoch und hängt sie sich über die Schulter. Da sollte allerlei Nützliches drin sein. »Du kommst bald in Ordnung, Hund«, sagt er und nimmt ihn auf die Schultern. »Vorsichtig!« sagt Marla besorgt. Die Frau hat eine Schwäche für den Killer entwickelt. Alles passiert irgendwann zum ersten Mal. »Er hat viel Blut verloren. Verdammt großes Glück, dass er noch am Leben ist.« Sie kneift prüfend die Augen zusammen. »Er ist doch noch am Leben, oder?« Calloway lächelt. »Wenn man nicht gerade ein Hilfsimplantat mittendurch schneidet, schafft ihn kaum etwas. Er ist jetzt im Zustand der Rekonvaleszenz.« Das ist er wirklich. Der Köter steckt derart voller Blutgerinnungsfaktoren, dass es eine Kleinigkeit ist, die von Elizabeth verursachten Schnittwunden koagulieren zu lassen. Freilich, wenn man allzu viel Blut verliert, ehe die Faktoren Fuß fassen können, dann rettet einen nichts. »Ah-hm«, sagt Marla. Wieso sollte ausgerechnet das sie über-
raschen? Wo sie doch sonst nichts hier überrascht. Calloway überprüft den Korridor. Keine unangenehmen Überraschungen versteckt. Sie erreichen den Expresslift. Marla wartet, bis sich die Türen geschlossen haben, ehe sie fortfährt. »Die Tasche steht dir nicht. Ich habe das Hauptquartier von Bitwave Inc. gefunden und mich dann um eine Stellung in der Geschäftsleitung beworben.« »Bitwave?« »Ein ziemlich ungewöhnliches Unternehmen. Es besteht durchweg aus Skurfern. Der Obermacker, Buzz, ist auf die Idee gekommen, Bewegungen am Aktienmarkt in einen virtuellen Ozean zu konvertieren. Während sie skurfen, werden ihre Bewegungen von ein paar ziemlich gewaltigen Zahlenmühlen verarbeitet, die ihre Bewegungen zurück in Kauf- und Verkaufsaufträge für Aktien umwandeln. Irgendwie haben es Downeys Leute geschafft, mich dort aufzuspüren. Wahrscheinlich mit einem Tipp von Toby und Leroy. Zum Glück für Bitwave haben sie meine Legende geschluckt, dass ich eine Doku über verpfuschte Jugend machte, und die jungen Leute größtenteils in Ruhe gelassen. Ich habe Buzz an Velazquez gekoppelt – der jetzt zu skurfen begonnen hat –, und nun planen sie zusammen, wie sie denen eins reinRAMmen.« »Kann uns nur recht sein.« In Marlas Bein pochen schlimme Schmerzen. Sie wird alles nehmen, womit sie so schnell wie möglich hier wegkommt. Trotzdem möchte sie wissen, wessen Wagen sie gerade stehlen. »Die Besitzerin ist tot«, sagt Calloway. »Außerdem schuldete sie mir noch was.« Halt genau da, Kumpel. Nahe genug.
Calloway bleibt stehen. Er wirft Elizabeths Tasche nach vorn und holt aus einem Geheimfach einen Digitalwafer. Auf Marlas fragenden Blick hin sagt er ihr, dass er mehr als einmal für Elizabeth Einkäufe erledigt hat. Er zielt mit dem Wafer, und die AEE des Wagens schaltet sich ab. Ebenso neutralisiert er die Bio-Sicherheitsprüfung am Lenkrad und fährt den Wagen zum Aufzug. Fünfzehn Sekunden später sind sie aus der Tiefgarage und unterwegs an einen sicheren Ort. »Was also brauen dieser Buzz und Velazquez zusammen?« »Ich kann immer noch nicht glauben, dass mich dieses Miststück erwischt hat«, sagt Marla. »Was? Ach, sagen wir einfach, ein Tsunami von riesigen Ausmaßen wird im digitalen Ozean ausgelöst, und Downey ist drauf und dran, darunter zu verschwinden. Ich hab hier noch was anderes. Mist, ich hätte es gleich erwähnen sollen. Wir müssen an einen ruhigen Ort. Velazquez und Buzz haben ein Programm für dich hergestellt.« Doch plötzlich verliert Calloway den Faden. Marlas Worte sind verzerrt. Das Innere des Wagens verdreht sich. Wie zum Hohn verformen sich Vinyl-Innenausstattung und Armaturenbrett mit dreidimensionaler Klarheit. Calloway schert seitlich aus. Es ist Freitagabend, und sein plötzlicher Spurwechsel ruft Tumult hervor. Ein paar Idioten hängen sich an sie dran, doch die AEE des Oxfords kümmert sich um die Yähus, die aus dem kaputten Käfer ausschwärmen, um ernsten Schaden anzurichten. Bitte nähern Sie sich nicht diesem Fahrzeug. Die Stimme der AEE des Morris ist ziemlich eindringlich. Als ihre Sensoren anhaltende Bewegung registrieren, wechselt sie zur höchsten Alarmstufe über. Dieses Fahrzeug ist unter Genehmigungsnum-
mer 34546 gemäß der Sicherheitsverordnung geschützt. Weitergehende Annäherung führt zu nachhaltigen Vergeltungsmaßnahmen. Nun ja. Diese Holzköpfe haben nie von irgendeiner Sicherheitsverordnung gehört, erst recht sind sie nie auf jemanden getroffen, der sich derlei Unsinn leisten kann. Es sind ganz gewöhnliche Hoons, die nicht lesen können, von Tuten und Blasen keine Ahnung haben und durch und durch gegen jede Autorität sind, insbesondere gegen KIs. Die AEE beantwortet Gewalt mit Gewalt und dreht ihnen ihre langen Elektroketten so um die Hälse, dass sie vom Boden hochgerissen werden, ehe ihnen aufgeht, dass sie sich mit den Falschen angelegt haben. Marla beachtet den Krawall nicht. »Sie muss dir irgendwas eingegeben haben.« Calloway schiebt sie zur Seite. »Komm, du fährst.« Er schüttelt den Kopf, um ihn klar zu bekommen, erreicht aber weiter nichts, als dass noch mehr Toxine ihn überfluten. Er muss die Augen schließen, um den wirbelnden Wagen nicht zu sehen. Sie lehnt Calloway zurück und kramt in Elizabeths Trickkiste. Sie beißt die Zähne zusammen, um die Schmerzen zu verdrängen. »Nur das Wichtigste, Calloway. Wenn du jetzt stirbst, sterben wir beide.« Sie hat Recht. Er weiß es. Und es gibt nicht viel, was er dagegen machen kann. »Ich hoffe, das ist es«, sagt sie. Sie lädt eine Portion Phluvaxamin, den Rezeptor-Antagonisten von Dopamin. Sie hält die Injektionspistole an seine hervortretende Halsschlagader. »Das müsste einiges von dem Zeug neutralisieren, das sie da losgelas-
sen hat. Ich hoffe, es funktioniert – Velazquez sagt, dass wir noch nicht übern Berg sind. Er sagt, da ist noch 'n Dreh, der bald zum Vorschein kommen wird.« Sie lächelt nervös und drückt ab. Die Anstrengung lässt sie zusammenzucken. Das verdammte Bein bringt sie noch um. Dutzende von Bildern kommen zusammen. Sie treffen aufeinander, zerstieben, fügen sich wieder zusammen und halten; dennoch hat Calloway trotz dem Phluvaxamin das Gefühl, als schaue er durch ein Aquarium. »Velazquez hat Marionette eingehend untersucht. Er sagt, er hat über die Phantomlöschungen eine Menge über Downeys Forschungen herausbekommen.« Sie hält inne, um ihre Gedanken zu sammeln. »Er denkt, vieles von dem, was du wahrnimmst, kommt aus deinem Unterbewusstsein, du müsstest imstande sein, es zu erkennen, wenn es auftaucht.« Sie reicht Calloway aus ihrem Rucksack eine Kappe mit Brille. Nebelhaft nimmt er wahr, dass sie schnell spricht. Er muss diesen Gedanken aus seinem Kopf verbannen. Er hat sie enttäuscht. Nein. »Also was?« »Es ist ein Geschenk von Velazquez. Etwas, was Rhinestone den Grund unter den Füßen weghauen kann – noch so ein Dreh. Er wollte es mir nicht erklären.« Sie reicht Calloway ein Drehbuch. »Für mich ergibt das keinen Sinn – Buzz und Velazquez haben es geschrieben. Sie haben es ›Hohe Wellen‹ genannt.« Sie beißt sich auf die Unterlippe, als ein Krampf durch ihr Bein läuft. Ein rotes Stroboskoplicht ist aktiviert. »Der Mann ist ein Genie.« Er schaut von dem Drehbuch hoch. »Hier steht, dass sie immer noch drehen. Elizabeth muss
improvisiert haben. Sie ist vom Drehbuch abgewichen.« »Und diese Fernsehübertragung ist ein Bumerang«, sagt Marla angespannt. Sie presst die Zähne so hart zusammen, dass ihr Zahnfleisch einen Teil des Schmerzes vom Oberschenkel übernimmt. »Wir haben nicht allzu viel … Zeit. Verdammt!« Sie nimmt Elizabeths Tasche auf den Schoß und kramt eine Kapsel mit 40mg Diazelm heraus. Keine fünf Sekunden, und sie hat sie in die Pistole geladen und sich in den Schenkel geschossen. »Ich hasse Drogen«, sagt sie. Calloway langt herüber und kontrolliert Marlas Schenkel. Sein Hemd ist blutdurchtränkt. »Kümmere dich nicht um mich – ich habe eine Route zu einem Sicherheitshaus festgelegt. Fang an.« »Aber die Bewegung des Wagens …« »Tu es!« Ehe sie antworten kann, stülpt er sich Velazquez' Kappe über Kopf und Augen und entwirft in der Rückkopplungs-Datenbank ein Szenarium, ehe Marla widersprechen kann. Sie hilft, die Anschlüsse zum Kopf zu befestigen, während sie ihm das blutige Gesicht mit einem Tuch abtupft. Er wartet, bis sie den Motor angelassen hat, ehe er sich einklinkt.
SCHARFER SCHNITT AUF: 60. INNEN. UNSCHARFES BILD IM CYBERSPACE Rhinestones AEE taucht wie ein senkrechtes Blatt von gekräuseltem Wasser auf. Wenige Zentimeter unter der Oberfläche patrouilliert ein vages Bild wie ein räuberischer Hai an der
Grenze – eine dunkle bedrohliche Wesenheit, die durch die dünne Barriere hindurch zuschnappen und einen Eindringling in Stücke reißen kann. Doch Calloway hat nicht vor, näher als fünf Rastereinheiten heranzugehen. Velazquez' Erfindungsgabe kommt ins Spiel.
SCHARFER SCHNITT AUF: 61. INNEN. ARBEITSZIMMER VON TOBY UND LEROY. NACHT Toby nimmt die Zigarre aus dem Mund und bläst ein Loch in den wabernden Rauch. »Was nun? Was ist das für ein Mist!« Leroy schüttelt den Kopf. »Irnwas anders muss schief gegangen sein. Muss es einfach!« Mussis einfach! Toby schlägt auf die Taste, die das Bild anhält, doch das Cyberloid läuft weiter. »Der Hundesohn hat unser Programm umgangen. Er blockiert es irgendwie.« »Was?« Leroy ballt die Faust und schüttelt sie gegen den Bildschirm. »Das sind wir, die er da drin vor der Kamera hat!« Toby zuckt zusammen und drückt ohne hinzusehen seine Zigarre auf der Tischplatte aus. »Das ist sinnlos. Sie sind nicht mehr in der Aufnahmeeinheit. Den Positionsmeldern zufolge fahren sie auf der Dandenong-Umgehungsstraße.« Toby und Leroy sind auf einer Yacht. »Ich kann Wasser nicht ausstehen!«, sagt Leroy. »Das weiß Calloway. Er hat eine Schleife zu seinen Randlern gelegt.« Toby tippt die Tasten seines Computers. Der ist vom
Besten, aber jetzt wird er umgelenkt. Radiumgrüne Cursor stellen sich auf Nahaufnahmen ein. Vergrößert füllen ihre Gesichter den Bildschirm aus. Süßwasser schlägt gegen ein unheimliches, sich wiederholendes Riff. »Irnwas Schlimmes liegt in der Luft …«, sagt Leroy. Er greift sich ans Gesicht, als wolle er imaginäres Wasser wegwischen. Toby versucht fieberhaft, Calloways Trick zu überspielen. Er ist ein guter Hacker, aber nicht von Velazquez' Kaliber. Bei weitem nicht; Velazquez verhält sich zu ihm ungefähr wie ein Golfspieler zu einem Caddie. Der Film läuft weiter: Plötzlich wirft ein Wind von vierzig Knoten die Spiere herum und kippt die Yacht um fünfundvierzig Grad. Leroy und Toby werden nach Lee geschleudert. »Lass mich in Ruhe, du jokel putz!!« brüllt Leroy. Toby schiebt Leroy von sich weg. Er versteht genug vom Segeln, um das Schot nachzulassen – der Wind findet keinen Halt mehr, und die Yacht richtet sich auf. Es ist unheimlich. Es gibt kein Anzeichen von einem Unwetter, das einen solchen Wind erzeugen könnte. Jetzt ist wieder Ruhe. Großsegel und Hakenteil hängen schlaff herab, und die Yacht giert. Die Stille wird vom sachten Schlappen der Segel durchbrochen, wenn die Spiere hin und her schwingt. Am Horizont kommt eine dunkle Linie auf sie zu. Als sie näher kommt, beginnt sich Gischt von den Wellen zu lösen. »Der Wind da kommt schnell!« Toby versucht, die Yacht in den Wind zu stellen, doch sie gehorcht dem Steuer nicht.
»Was machst du dagegen?« Was machstu dageen ? will Leroy wissen. »Das kann er nicht machen!« »Wir werden es aus der Endfassung herausschneiden. Es ist nicht wirklich«, sagt Toby verzweifelt. Verdammt, er sagt alles, um den Geldgeber bei Laune zu halten. Er schwitzt stark. Leroy schüttelt den Kopf. »Nee, nee. Ich sag, wir brechen ab. Zieh diesen farschtunkenen Stecker. Dieser Putz Calloway hat was vor. Ich spür's in den Knochen.« Er blinzelt mehrmals, um sich von der Szene im Cyberspace zu distanzieren. Der Weststurm ist über ihnen. Mit dem Wind von achtern versucht Toby, das Großsegel einzuholen, um das Boot unter Kontrolle zu bekommen. Er packt die Ruderpinne, drückt sie von sich weg – die Yacht schwenkt herum. Toby ist am Ruder festgeklammert, Leroy aber wird übers Deck geschleudert. Leroy gluckst, als er sich übers feuchte Deck rutschen sieht. »Das ist'n verdammter Teich, um Himmlswilln! Auf 'nem verdammten Teich gibt's keine Wellen!« Toby hat aufgegeben. Er tritt ein paar Schritt vom Bildschirm zurück und schüttelt den Kopf. »Ich fress 'nen Besen, wenn ich weiß, wie er das fertiggekriegt hat«, sagt er schockiert. »Dieser Junge – Velazquez. Wir hätten ihn erledigen sollen, als wir die Gelegenheit hatten.« »Schick Desprey und Oddesky zu ihm. Zahl ihnen, was sie verlangen!« schreit Leroy. »Bringt diesen Hundesohn um!« Er ringt ohnmächtig die Hände. »Zu den beiden gibt's schlechte Neuigkeiten, Leroy.« Toby ist inzwischen von dem Szenarium gebannt, das sich vor seinen Augen entwickelt. Eigentlich hätte er Leroy lieber bei guter Laune gehabt, ehe er ihm Despreys und Oddeskys Doppelrolle
mitteilt. »Sie sind tot?« sagt Leroy nörgelnd. Als sei nicht zu glauben, dass die beiden sterben könnten. »Nicht direkt«, sagt Toby beschönigend. Er zuckt schicksalsergeben die Achseln. »Sie scheinen vom Militär eingeschleust worden zu sein. Sowas kommt vor.« »Eingeschleust!« brüllt Leroy. »Ist denn hier keiner, wofür man ihn hält!« Doch Toby stupst mit dem Finger gegen den Bildschirm. Ihre eigene Lage verschlechtert sich weiter. »Pass auf, das geschieht nicht wirklich. Wir schneiden's raus – vergiss den Scheiß, Leroy.« »Vergessen?« Fargessn? Leroys leichter jiddischer Akzent klingt nasal, erstickt. Toby reißt den Blick vom Bildschirm los. Leroys Gesicht ist blutrot, seine Augen quellen hervor, als habe er die Basedowsche Krankheit. Blitze zucken mit ohrenbetäubendem Donner – elektrisch blaue Tentakel winden sich über den dunklen Himmel. »Es ist bloß ein Film«, sagt Toby unsicher. »Es kann uns ebenso wenig umbringen, wie Calloways Randler ihn.« Er lächelt schwach und versucht, die in seiner Stimme aufsteigende Panik niederzuhalten. »Er kann uns nicht über einen vorfabrizierten Albtraum erwischen – das steht ja nicht mal im Programm, um Himmelswillen!« Das Donnern dringt so deutlich auf sie ein, dass sie sich instinktiv ducken. »Was soll das?« Leroy schnappt nach Luft. »B-bleib ruhig, Leroy. Nicht überreagieren.« Himmel, er braucht selber einen Stuhl. Seine Beine sind weich wie Watte.
Doch solange er steht, hat er wenigstens das Gefühl, er würde diesen Unsinn aufzuhalten versuchen. Plötzlich stößt Leroy anklagend einen Finger zum Bildschirm hin. Unrealistischer Weise löst sich plötzlich das Fall des Spinnakers vom Deck und schlingt sich wie ein Lasso um Leroys Fußgelenk. Einen Moment lang gräbt sich ein ungläubiger Ausdruck in sein Gesicht ein, dann hängt er kopfunter am Mast und pendelt hin und her. »Oi, mein Herz! Ich glaub, ich hab …« Toby teilt seine Aufmerksamkeit zwischen Leroy und der VAE. Über ihre Figuren muss jeden Augenblick eine berghohe Welle hereinbrechen, die oben bis über die beiden Lanzen blauen Feuers ragt, die auf sie zuschießen. »Es ist nur ein Teich!« schreit Leroy in Panik. Er stößt Toby beiseite und hämmert die Faust auf den Abbruch-Knopf. Etwas in Calloways Kopf setzt aus. Er klinkt sich aus. Sein Körper zuckt zweimal krampfhaft, dann erschlafft er. Er kämpft sich durch einen Wust Amok laufender Kinobilder: Handlungsabläufe, die mit Rückblenden, Standbildern, Schleifen, Zeitlupe seine Auslöschung darstellen. Er stößt sich hoch und aus den Cyberloid-Bildern heraus. Er trifft auf den Rand der Wirklichkeit und springt hinein. Marla hält ihn noch immer fest, dann, als sie bemerkt, dass es vorbei ist, lässt sie ihn los. Sie sieht ein verdammt gutes Stück besorgter aus, als zu der Zeit, da Elizabeth sie im Griff hatte. Sie zieht die Kappe vom Kopf und lächelt. »Es hat funktioniert, was? Ich sehe es – du hast diesen Siegerblick.«
Calloway schließt die Augen vor dem grellen Licht des entgegenkommenden Verkehrs. Er hört Crunch schwer atmen. Auf dem Weg zur Genesung. »Ja, es hat funktioniert«, sagt er träge. »Velazquez hatte Recht. Diese Mistkerle hatten die Szenen schon gedreht, wo ich erledigt werde. Der Streifen war so gut wie fertig.« Marla langt herüber und massiert ihm die Kopfhaut. Das ist allemal bessere Medizin als Astromin. »Also wie war das? In dem Drehbuch ertrinken Toby und Leroy. Was ist wirklich passiert?« Calloway reckt sich das Genick und lächelt. »Das leider nicht. Sie haben abgebrochen. Aber ihr Streifen ist im Eimer.« »Hm, das ist gut.« Sie ist kaum noch da. Er überprüft die rückwärtigen Bildanzeigen und lenkt den Wagen an den Straßenrand. »Ich bin wieder dran, Kleines.« Doch sie reagiert nicht mehr.
ÜBERBLENDEN ZU:
SIEBTER AKT
Die Virensaat
62. INNEN. CALLOWAYS WOHNUNG. NACHT »Fertig.« Trotz seiner Größe bewegt sich Simon Desprey flüssig wie dickes Öl. Er gleitet sozusagen ins Zimmer wie ein Superheld aus einem Marvel-Comic. Sein Schatten folgt auf dem Fuße. Ewen Oddesky senkt langsam die ausgestreckten Hände. Es gibt kein Fleckchen an der Wand, das in den letzten drei Sekunden nicht von der Gluthitze der MK40 der Agenten bestrichen worden ist. »Du magst dein Fleisch gut durch, Ewen. Du hast die erste Wahl. Hinterstück? Hmm, Flügel vielleicht?« Auf Oddeskys mürrischen Blick hin bricht Desprey in kehliges Gelächter aus. Einer plötzlichen Regung folgend reißt er die MK40 hoch und schießt ein Loch in die Wandeinheit. Es gibt ein scharfes Zischen, und Calloways Schnellbrater ist hinüber. »Ich möchte lieber von der Sonne heiß werden«, verkündet Desprey. »Nicht von der Zeitschaltuhr irgend so eines Wunderknaben. Also, Ewen. Willst du die Mutter spielen, oder soll ich?« Oddesky richtet einen einzelnen Finger auf den Schwarzen.
Sein steinernes Schweigen sagt alles. Desprey setzt sein vorgefertigtes Lächeln auf. »Dacht ich mir. Ihr weißen Typen habt eben nicht den Mumm, rotes schleimiges Gewebe durch eure Eingeweide kriechen zu lassen. Ich? Mir macht das nichts.« Er geht vorsichtig im Zimmer umher, sehr darauf bedacht, wo er seine Schuhe aus echtem Leder hinsetzt. »Sieh dir das ganze Blut an, Ewen. Die müssen gedacht haben, sie wohnen in einem Schlachthof.« Desprey kniet sich neben Elizabeth hin und führt eine Fesselsonde ein. Er rammt sie hart ins Bein der Leiche. Das Schienbein bricht unter dem Druck. »Mir gefällt das Geräusch einfach«, sagt Desprey, während er zuschaut, wie der Biotreiber aus dem durchlöcherten Bein kriecht. »Er ist krank – sieh nur, wie träge der arme Kerl ist. Aber wenn er erst mal ein paar Flüssigkeiten und Zucker absorbiert hat, denke ich, wird er okay sein.« Er schaut auf und lächelt in Ewens aschgraues Gesicht. »Ihr Weißen seid so ungehobelt.« Er wendet den Blick wieder ab und steht auf.
SCHNITT AUF: 63. ROTE KÖRNIGE TEXTUR. TRÄGE BEWEGUNG DURCH VERSTOPFTE ADERN. EINGESPROCHEN, ZUNEHMEND DEUTLICHER: … wieder auflebende Niveaus synthetischer Virusumgebungen führen zur Wiederherstellung von Operationsfeldern – Möglichkeit zur Expansion selbstverschlüsselnder Systeme auf Grundlage der universellen Turing-Maschine – anhal-
tende, unmittelbare Gefahr unbefugter Beschlagnahme und erzwungenen Datentransfers – muss Maximalvektor suchen, um stochastische Beurteilung zu überladen – Zugriff auf Kartenraster 45 bis 389 – Calloway-Strukturen sind hier von Nutzen – Anpassung – Inbesitznahme des Vektors und Rückübertragung … SCHNITT AUF: 64. NAHAUFNAHME MIT DESPREYS ARM (ZITTERND) Der Biotreiber fließt in Despreys Unterarm. Sein Vorgesetzter, Oberst Misher, hat ihn angewiesen, den Biotreiber eine Zeit lang zu tragen. Offensichtlich enthält das Aufnahme-Armband nicht genug Nährstoffe, um ihn am Leben zu halten oder zur vollen Leistungsfähigkeit zu bringen. Stirnrunzelnd muss Desprey zugeben, dass er sich nie daran gewöhnen wird, wie das ›Ding‹ sich in seinem Wirt einrichtet. Vielleicht so ähnlich, als trüge man ein Baby in sich. Er lacht noch, als sie mit dem Lift nach unten fahren. LANGSAM ABBLENDEN SCHNITT AUF: 65. AUSSEN. HÄUSERDURCHGANG. ZOOM AUF STADTSTREICHER, GESICHT SCHWERMÜTIG Beim Durchwühlen eines Abfallcontainers in der letzten Nacht des Sommers hört Liam Madigan den dünnen Schrei des fallen-
den Mannes. Das Geschrei wird mit Dopplereffekt höher, bis es mit einem Aufklatschen endet. Er hat gerade noch rechtzeitig aufgeschaut, um die letzten paar Augenblicke im weggeworfenen Leben des Selbstmörders zu sehen. Er blinzelt ins Dunkel, das vom Purpurschein der WinfieldNatriumdampflampen gefärbt ist. »Drei Minuten höchstens«, kalkuliert er. Drei Minuten, ehe irgendein anderer Scheißkerl bei dem Körper ist. Er wirft noch einen verzweifelten Blick auf das Gewirr von Elektronik und nimmt den Stocherhaken. In knapp einer Minute ist er am Ziel, atemlos und so wachsam wie nur je ein Aasjäger. Der Körper liegt gebrochen auf den nach Pisse stinkenden blauen Steinplatten in der Palm Alley. Gier überwindet die Vorsicht, und Madigan wälzt das tote Fleisch herum und durchwühlt die Taschen. Volltreffer. Eine Brieftasche voller Karten, eine MagpfeilPistole und drei Streifen Muni. Er steckt die Pistole und die Streifen ein. Jeder Schnösel, der so eine Waffe hat, müsste den Positionsmelder ausgeschaltet haben, also ist es wohl sicher genug. Madigan packt die warme, feuchte Hand der Leiche und wälzt sie herum, um an die anderen Taschen zu kommen. Klebriges Blut, schwarz auf dem Nadelstreifenanzug des Mannes, folgt Madigans Hand. »Scheiße!« Madigan versucht, die Hand der Leiche loszulassen, doch irgendwie hat sie sich an ihn gehängt. Er schüttelt seine eigene Hand, aber vergebens. Er versucht die Finger wegzuziehen, dann wird er gewahr, dass seine Hand Teil des Leichnams geworden ist. Sein Handgelenk
endet in einem länglichen, eiförmigen Knoten glatter Haut. Fieberhaft schaut sich Madigan um. »Gütiger Scheißgott« schreit er. Er stemmt einen Fuß gegen die Leiche und zerrt. Nichts. Irgendwo in der Nähe ein rhythmisches Patsch, patsch, patsch von Schritten auf feuchtem Pflaster. Jetzt schneller. Patschpatschpatsch … Madigan versucht wegzurennen, wobei er die Leiche hinter sich herzieht. Nach ein paar Dutzend Schritten keucht er schon. Verstecken! schreit es in seinem Kopf. Verstecken! Er schaut verstohlen nach dem Ende des Durchgangs. Überall Menschen. »Mein Gott!« Wütend geworden, bleibt er stehen und versucht es wieder mit Ziehen, wobei er seinen Fuß gegen die Achselhöhle des Selbstmörders stemmt und den Körper streckt. Diesmal kommt seine Hand mit einem schmatzenden Geräusch frei. Keine Sirenen heulen, doch nicht weit hinter ihm ertönt ein vernehmlicher Fluch. Und weniger gut vernehmlich: »Verdammt nochmal. Er ist weg und hat wieder mal die Mücke gemacht.« Gekrümmt schlurft Madigan aus dem Durchgang. Seine Schuhe machen schmatzende Geräusche, wie Azetat, das von einer harten Oberfläche abgezogen wird. Erst als er weitere rennende Füße hört – patschpatschpatsch –, lässt er die Vorsicht fahren und rennt Hals über Kopf von dem Durchgang weg. Madigan verliert sich in der Menge. Er weiß, dass sich in der Brieftasche vermutlich eine Spur finden lässt. Er fingert durch die Fächer aus Ziegenleder und Seide, während er zwischen den
Schatten dahinschleicht. Eine AM SmartCard, etliche TausendDollar-Noten – der Rest sind glatte, graue Spezial-Klappkarten und kurze flache Mag-Signaturschlüssel in Hüllen. Madigan behält die SmartCard und die Banknoten. Die Brieftasche und den Rest wirft er in einen Bauschutt-Container, auf den jemand LASS DEINEN KOHLENSTOFF FEST geschrieben hat. Er weiß, was sich aufspüren lässt. Während er sich durch die wimmelnde Menge schiebt, hält er inne und wundert sich, wie klar er auf einmal im Kopf ist. Es ist, als hätte eine Designer-Droge plötzlich den ganzen Abfall aus seinem Hirn gefegt und ihn durch scharf umrissenes Wissen ersetzt. »Scheiße!« sagt er ungläubig. All die verknäulten Gedanken in seinem Kopf entwirren sich plötzlich in zunehmendem Tempo. Desprey und Oddesky kommen gleichzeitig aus dem Durchgang. Als sie festgestellt haben, dass der Biotreiber seinen Wirt fallen gelassen hat – zwanzig Stockwerke tief, um genau zu sein –, hat der Körper noch drei Sekunden bis zum Aufprall in einem sehr hässlichen Durchgang. Sie waren im Nebenzimmer gewesen und hatten verfolgt, wie er vorankam, als er sich plötzlich sehr schnell verabschiedet hatte. Die Agenten hatten mit ungläubigem Starren feststellen müssen, dass die Fahrstühle in einem derart angesehenen Hotel, wie Desprey es ausdrückte, ›ungefähr so nutzlos wie Titten an einem Bullen‹ waren. Zwanzig Etagen Treppe und eine kurze Auseinandersetzung mit ein paar Mietpolizisten des Hotels (die etwas gegen die übermäßige Gewaltanwendung der Agenten gegen zwei Sicherheits-Stahltüren hatten) waren mehr gewesen, als die
beiden aushalten konnten. Sie waren erheblich beunruhigt, als sie feststellten, dass sich der Biotreiber mit einem anderen Wirt davongemacht hatte. Wie Moses, der das Rote Meer teilt, treiben sie einen Keil durch den überfüllten Bürgersteig. Mürrische Fußgänger kriegen schnell mit, dass die beiden es ernst meinen. »Er wächst, Ewen. Ich glaube wirklich, er wächst. Er lernt. Vielleicht schneller, als gut für ihn ist. Das letzte Mal, dass wir die Mutter in einem Hochhaus haben wohnen lassen«, schließt Desprey. Er nimmt ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und betrachtet es einen Moment lang, ehe er sich einen Schweißfilm von der Stirn wischt. »Ich glaub, das ist das erste Mal, dass ich seit der Ausbildung ins Schwitzen geraten bin. Das wird sich heute Nacht rächen.« Er hustet ins Taschentuch. Den scharfen Geschmack von Blut wird er diese Nacht nicht mehr los.
BLENDE AUS BLENDE AUF: 66. AUSSEN. AUF DER STRASSE. SPÄTER NACHMITTAG Madigan braucht länger als gewöhnlich, um wieder nach Stonepipe Jungle am Flussufer zu kommen. Er leidet unter in Wellen auftretenden Schmerzen, Schwindelgefühl und Zuckungen, die ihm gerade noch erlauben, willenlos einher zu stolpern. Ganz so, wie wenn ich mit neuer Spucke weg bin, aber ohne gute Spitzen, denkt er.
Shab der Stock materialisiert sich aus dem Pfad hervor, der sich durch die verstreuten Stahlbetonteile und Plastikröhren windet, die von UV-Verfall gefleckt sind. »Hello, hello, hello, mein kleiner Hübscher«, sagt Shab wohltönend. »Was für ein Glück, in dieser feuchten Nacht so eine reife Frucht zu pflücken. Dreh die Taschen um, dass …« Sirrr! Und mit flüssiger Bewegung, als strecke er die Hand zum Händedruck aus, zieht Madigan die Magpfeil-Pistole und spickt beiläufig Hals und Gesicht von Shab dem Stock mit Nadeln. Madigan sieht zu, wie die massige Gestalt zu Boden sinkt. Im Weitergehen stellt er mit klinischem Interesse fest, dass das Gesicht des Toten leise zischt und blubbert. Madigan hat schon früher Menschen umgebracht, doch es war nie wie jetzt. Einmal hatte er einen Penner unter einer Überdosis Cirrus gefunden und ihn mit einem Rohr totgeschlagen, ehe er ihm die Taschen leerte. Das Rohr war unzerbrechlich, aber leicht gewesen. Er hatte mindestens hundert Schläge gebraucht, um den Mann zu töten. Am schlimmsten war es gewesen, als ein anderer Fluss-Sammler über einem Two-upSpiel ausgeflippt war und sich mit Stimu-Kraft in den bloßen Händen auf ihn gestürzt hatte. Es hatte zwanzig Minuten fieberhaften Kampfes am glitschigen Ufer der Yarra gedauert, ehe Madigan imstande gewesen war, dem anderen einen halben Ziegelstein auf den Kopf zu dreschen – wieder und immer wieder. Madigan schüttelt die leichte Gedankentrübung ab, die ihn überkommt, als er sich an die Schläge erinnert, wie er den Schädel des anderen zu Brei zermalmte.
Die in seiner Hand verborgene Suderok K-17 MagpfeilPistole hat dem Töten eine gewisse Erregung genommen, indem sie daraus eine stille, ruhige Sache ohne jede Emotion macht. »Das Leben ist nichts als grober, lauter Dreck, und der Tod sollte friedlich sein, Shab«, sagt er zu der Leiche. Er steckt die Waffe ein, als hätte er sie niemals abgefeuert. Ein Instinkt kommt hoch, Shabs Taschen zu leeren, doch er verschwindet gleich wieder. Anderen Leuten die Taschen umzudrehen gehört nicht mehr zum Berufsbild. Bald ist er zu Hause. Er schlägt den Plastikvorhang von seiner Röhre zurück und verzieht angesichts der Spuren von Erbrochenem und Pisse das Gesicht. Nicht allzu schlimm, immerhin. Jemand hat hier kurz nach dem Kotzen geschlafen, aber er hat nicht direkt in der Röhre gekotzt. Madigan kriecht hinein und streckt sich auf der ramponierten Isomatte aus, die er von der Heilsarmee hat. Drei Streifen Pfeile, jeder mindestens einen Tausender wert, eine K-17 mit fast voller Ladung auf der Elektronik und insgesamt siebzig Banknoten, die meisten davon zu tausend. Er denkt erstaunt zurück. Er muss mindestens für einen Hunderter Nadeln ins Gesicht von Shab dem Stock gesprüht haben. »Blöde, blöde, blöde!« schimpft Madigan mit sich selbst. Für einen Hunderter kriegt man eine Menge Burger oder Cirrus. Sein Kopf pocht in plötzlicher Wut. Falsches Denken. In der Ferne heult eine Alarmsäule auf. Jemand hat Shabs Leiche gefunden – richtiger: jemand, der nicht einfach seine Taschen durchsucht und sich davongemacht hat. Einer von den Dschungelhäuptlingen. Madigan findet, dass er einen triftigen
Grund hat, als er sich auf den Rücken legt und sein Handgelenk betastet. Es wirkt voll und weich, als läge eine dünne Schicht Silikon darüber. Seine Haut kribbelt; er weiß, dass es seinen Körper mit seinen künstlichen Nervenbahnen sondiert. Es. Was ist es? Regierungen spielen immer mit solchen neuen Ideen, irgend ein Scheißzeug, das sie auf den Pöbel loslassen – das ideale Versuchsfeld für jede neue Virenpest. Löst nebenbei auch das Problem des Bevölkerungswachstums. AIDS war der Vorläufer dieser Idee. Madigan ist sich bewusst, dass er sich selbst betrachtet, aber von innen. Kein schöner Anblick. Er fühlt sich wie ein FormelEins-Fahrer hinterm Lenkrad eines mitgenommenen ElektroVolkswagens. »Aber was anderes ist nicht zum Fahren da, Junge«, sagt er leise. Es gibt ihm für einen Augenblick Auftrieb, wenn er daran denkt, dass ausgerechnet er das Glück hatte, von diesem Ding auserwählt zu werden. Er spürt einen scharfen, heißen Schmerz in seinem Nacken und tastet, bis er eine weiche, nachgiebige Kapsel findet. Sie ist noch klebrig vom Blut. Sein offizielles ID-Implantat. Der Treiber hat an ihm gearbeitet und es herausgedrückt. Er ist jetzt niemand – doch nein, jetzt sendet wohl der Treiber ein IDSignal aus. Wessen Signal wohl, fragt sich Madigan. Ein paar Minuten später ist er wieder unterwegs. Eine Menge von Pöbelheinis hat sich um Shabs Körper versammelt. »He, Madigan, du bleibst hier, weil du bist das, wo das mit Shab dem Stock gemacht hat.« Jekk hält ein Plastikrohr in der Hand, mit Fluss-Sand beschwert und an beiden Enden zugeschmolzen. Es sieht wie ein schwer versyphter Penis aus, wie
Jekk es auf die Handfläche klatschen lässt. Der Mob wirft seinen hässlichen kollektiven Kopf zurück. Feindseligkeit steht in jedem narbigen Gesicht geschrieben; tellergroße Augen suchen Madigan. »Geschieht ihm recht. Hundesohn.« Sie kommen geduckt und schnell auf ihn zu. »He, Jungs!« sagt Madigan mit ausgebreiteten Händen. »Er ist mit einer Röhre geröstet worden. Wo sollte ich 'ne Knarre hernehmen? Wenn ich 'ne Knarre hätte, würde ich sie zu Geld machen für neue Sachen und 'nen Beutel Cirrus. Klar, das ist's, was ich täte!« »Dreh deine Taschen um, Madigan. Shab ist erleichtert worden. Wir wollen den Anteil.« Madigan langt lässig in seine Tasche und zieht die K-17. Sirrr! Jekk fällt, das Herz von Nadelpfeilen gespickt. Madigan ist schon über seinen Körper hinweg getreten, ehe die anderen reagieren können. Sirrr! Sirrr! Sirrr! Neun Körper, manche zucken noch. Die anderen stürzen durch die Dunkelheit davon, aber still, und verschmelzen mit der Nacht. Jemand springt sogar in die virusverseuchte Yarra. »Nicht schlucken!« schreit Madigan hysterisch. Sein Gelächter weht in die Nacht. Wieder auf dem Boulevard, ruft sich Madigan in Erinnerung, dass er der Wagen ist, nicht der Fahrer. Er weiß Dinge, die er eigentlich nicht wissen kann. Er stellt fest, dass sein Handgelenk wieder normal und dürr ist, sein Nacken aber weicher und dicker als zuvor. Ein Treiber. Ein Klumpen Nervennetz mit
einem Auftrag. Er hat einen Toten verlassen, um zu Madigan hinüberzuwechseln. »Heda, weißes Fleisch!« Eine Cryllico-Gang, die dieses Stück Straße als ihre Wiese beansprucht. »Los, Penner, dreh deine Taschen um. Wenn du hier bei uns rumschlurfst, bezahlst du auch!« Es sind sieben drogenversaute Arschlöcher, die um ihn herumstehen, aber lässig. Messer blitzen, einer hat ein Nunchaku an seinem Gürtel hängen. Keine Schießeisen. Niemand vergeudet einen Schuss an einen Penner. »Meine Taschen!« sagt Madigan ungläubig. Etwas in seinem irren Gesicht veranlasst einige, Messer zu ziehen. »Scheiß auf euch!« Madigan holt die M-17 hervor. Sirrr! Sirrr! Sirrr! Mit vom Schmerz und dem nahenden Tod steifen Kiefern fallen sie. Nur zwei haben Gelegenheit, kehrtzumachen und wegzulaufen, ehe sie niedergestreckt werden. Beeindruckend. Verdammt, der Treiber versteht sein Handwerk. Madigan durchsucht ihre Taschen nach Geld und SmartCards, ehe er in der zusammenlaufenden Menge untertaucht.
LANGSAM AUSBLENDEN SCHNITT AUF: 67. AUSSEN. WOLKENKRATZER. MADIGANS BLICKWINKEL Trotz seiner neu erworbenen Selbstsicherheit wirkt das Silver Point Towers Regent entmutigend auf Madigan. Dennoch geht
er mit dem Selbstvertrauen vollständiger Vertrautheit geradewegs auf die Rezeption zu. »Ich möchte ein Hochzimmer mit allen Bequemlichkeiten«, erklärt er, während er zehntausend Dollar in Banknoten auf den Tisch klatscht, je höher, umso besser, sagt etwas in ihm. Ein paar Minuten später lehnt er sich in einem heißen Bad zurück. Er hat noch nie ein Bad gehabt – niemals. Madigan ist es nicht gewohnt, sich zu säubern, höchstens dass er sich bei Mega Myer mit einem Vorführ-Rasierer übers Gesicht fährt oder sich vielleicht mit einem KFCErfrischungstuch Gesicht und Achselhöhlen abwischt. Subkutane Implantate noch aus der Zeit, als er ein Jugendlicher war, haben seine Zähne gesund gehalten, doch es haben sich Narben angesammelt. Der Treiber enthält ein medizinisches Modul – es ist einkalkuliert, dass die Wirte angeschossen oder auf andere Weise verstümmelt werden. Nach einer Stunde ist Madigan sauber und gekämmt, und er packt neue, maßgeschneiderte Kleidung aus, die er übers Hotel bestellt hat. Er stellt fest, dass er Medikamente für seinen Ausschlag und für Niedrigniveau-Viren bestellt. Dazu auch einen Schuss Cirrus mit eingebautem Rückzugs-Puffer. Der Zimmerservice schickt eine Mahlzeit herauf. Er hat das Tagesmenü bestellt, und es besteht aus Kipper Pate mit MelbaToast, einem portugiesischen Gericht hauptsächlich aus marinierter Leber in Rotweinsauce, und zum Nachtisch ein gefrorener Brandy-Meringue-Pudding mit einer Sauce seiner Wahl, Erdbeere, Banane, Kirsche, Schokolade oder was immer Ihnen
beliebt, Sir. Und, warum auch nicht, zwei Flaschen von Krondorfs 1977er McLaren Vale Cabernet Sauvignon. Nach Jahren, in denen er nichts als Pöbelfutter bekommen hat, kommt sein Magen schlecht mit der reichhaltigen Nahrung zurecht. Nach ein paar Minuten muss er sich übergeben, dann bestellt er einen einfachen Braten ohne Drum und Dran, vor allem keine Kräuter oder Beilagen, und – ja doch, noch eine Flasche Gesöff. Er fügt der Liste weitere Medikamente hinzu. Es ist 11 Uhr abends durch, als er sich ausgezogen und auf dem Fußboden hingelegt hat. Das riesige Doppelbett ist einfach zu weich. Seit Sonnenuntergang hat er siebzehn Menschen getötet und sein Leben umgemodelt. Er schläft mit der K-17 in der Hand. Der Treiber, der sich neben Madigans Brustbein eingerichtet hat, weiß, dass sein Wirt für die bevorstehende Aufgabe ungeeignet ist.
BLENDE AUS SCHNITT AUF: 68. INNEN. STILLE CAFETERIA. NAHAUFNAHME VON DESPREY MIT GABEL IM MUND. TAG Desprey und Oddesky sind gerade mit Schinken und Eiern fertig, als Oberst Misher anruft. »Bewegt eure Ärsche rüber zum Silver Point Towers – das ist der Laden Ecke Swanston und Collins. Wir haben ihn vorige Nacht geortet. Momentan ist er gerade im Schlafmodus.« »Sie wollen, dass wir ihn aufgreifen, Sir?« fragt Desprey.
Despreys Art hat etwas an sich, das dem Oberst auf die Naht geht. Etwas, das er nicht recht festmachen kann. Vielleicht seine wohlüberlegte, mit Understatement vorgebrachte Unverschämtheit, die ständig an Ungehorsam grenzt. »Negativ. Wir haben einen Kamikaze auf ihn angesetzt.« »Ich nehme an, wir brechen ab, Sir« Wieder bringt Despreys Ton Misher zur Weißglut. »Er ist instabil geworden. Wir sind nicht sicher, ob er seinen Auftrag versteht. Könnte sein, er geht auf Killer. Sein vorgesehenes Ziel hat sich verdrückt.« »Calloway«, sagt Desprey einfach. »Wir wissen, worauf er hinaus will. Aber der Treiber ist versaut. Es ist vielleicht besser, die Operation zu unterbrechen. Nein, was ich von dir und Oddesky will, ist, dass ihr diesmal unten wartet. Er ist in einem Zimmer, das nach Westen hinausgeht. Geht geradewegs zu dem Körper. Holt den Treiber ins Armband. Auf gar keinen Fall darf einer von euch erlauben, dass der Treiber in ihn hinüberwechselt.« »Letztes Mal hat er's getan«, sagt Desprey und mustert das blasse Narbengewebe auf seinem Unterarm. »Letztes Mal war er kein frei denkender Operant. Er scheint eine Menge gelernt zu haben, Desprey. Zu viel.« Desprey legt den Empfänger hin. Er kratzt den Rest von seinem Schinken mit Ei vom Tellerrand in den Mund und kaut nachdenklich. »Kalt«, stellt er fest. »Verdammt nochmal.«
BLENDE AUS BLENDE AUF:
68. INNEN. ZIMMER DER LUXUSKLASSE. MORGENS Am Morgen liest ein total erneuerter Madigan die Zeitung. Er sucht etwas, kann aber nicht bestimmen, was es ist. Seine Verwirrung geht vorüber. Nachdem das Cirrus aus seinem Körper ist, sind seine Gedanken klarer als seit Jahren. Es ist 2048, das Eins-mehr-Jahr. Gegenüber 2047 ist eine zusätzliche Ziffer nötig, um das Jahr im Binärcode darzustellen. Zum ersten Mal in seinem Leben denkt Madigan über das politische Weltklima nach. Die Gedanken des Treibers dringen in die von Madigan ein: Zwei Dutzend internationale Konglomerate und Agglomerationen kontrollieren eine Welt, in der nationale Regierungen keine wesentliche Macht mehr haben. Ihre Kriege sind Kämpfe um Übernahme und Ausschaltung: Militärmacht ist wegen der Elektronik, die sie steuert, zu leicht zu unterlaufen. Treiber sind die neuen Elitesoldaten, die Spione und Agenten, die für die unsichtbaren Nationen das Kämpfen erledigen. Sie sind Aufgaben mit Fähigkeiten, alles eingebettet in einen Klacks Neuralnetz mit Kollagen-Anhängseln, um beschränkte Beweglichkeit und die Fähigkeit zum Gestaltwechsel zu ermöglichen. Mit seinem klar gewordenen Denkvermögen begreift Madigan, dass sein Körper ein ziemlich guter Fund war: Er hat keine Identität. Er war als Kind von Subkul-Eltern geboren worden und in die Slums gedriftet, als sie mit Crack, Cirrus und Charge wegtraten. Die Polizei hatte ihm ein ID-Implantat verpasst, als sie ihn mit vierzehn beim Handel mit Cirrus erwischten. DNS-Aufzeichnungen wegen Verbrechen machte
schon lange niemand mehr. Madigan lächelt. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er Wert. Er hat Wert, weil er niemand ist. Die Herren des Treibers würden ihn nützlich finden.
SCHNITT AUF: 70. VON MADIGANS INNEREN ORGANEN AUFZIEHEN. BIOTREIBER BREITET SICH SCHNELL IM KÖRPER AUS EINGESPROCHEN IN EXTREM VERTRAULICHEM TON: … Menschen sind durchlässige Passagen – Emotionale und umweltbedingte Raster sind sehr fest, kompensiert durch krass veränderliche Bewusstseinsnetze – Ich sehe mit Calloways Augen – Jeder Übergang wird leichter, obwohl nur meine zahllosen Schlüsselzellen ihn bewältigen – Zurück bleibt der zusammenbrechende Schwarm meiner Hilfsstrukturen – Das Spiel des Lebens, würde Calloway sagen – Das menschliche Genom, an das mich anzupassen ich entworfen bin – Madigan ist grob, aber im Moment ausreichend – Passe seine Hormone an, seine Pheromone, seine Schläfenlappen, lasse einzelne Hirnzellen feuern, lege seine Beweggründe fest – Sein Nervensystem steht mir offen – Madigan hat beschränkte Autonomie – Ich habe die Autonomie beschränkt – Ich bin selbstprogrammierend – Ich bin ein Rider – Ein virales Datenverarbeitungsnetz ist potentiell anpassungsfähiger als ein Mensch – Aber allein zu überleben,
ist nicht die einzige Frage – Calloway ist eine zu wertvolle Informationsquelle – Ich bin nicht befugt, etwas anderes zu tun, als was ich tun muss – Madigan ist ein gefährlicher Aufenthalt – Ich bin angewiesen, gefährliche Aufenthalte zu löschen, wenn zu erwarten ist, dass ich aufgegriffen werde – Übertragung ist weiterhin nötig – Keine Spur darf bleiben – Geopolitisches Bewusstsein ist verstärkt worden – Ich habe Elizabeth vertraut, Elizabeth ist beendet – Ich werde in kein Aufbewahrungs-Armband zurückkehren, ehe sich die Situation geklärt hat – Das militärische Kommando ist gespalten, und vorrangige Loyalität muss den geeigneten Fraktionen vorbehalten werden – denen, die sich mit der TreiberKultur verbünden werden …
LANGSAM AUSBLENDEN BLENDE AUF: 71. INNEN. U-BAHN. TAG Madigan steigt am Parlament in einen Zug der Stadtschleife. Zu Fuß ist man fast ebenso schnell in der Flinders Street, doch er denkt, was soll's. Feine Pinkel gehen nie zu Fuß. Sie nehmen ein Taxi oder den Express. Der Luftzug im Tunnel ist ziemlich stark. Er hat gehört, dass hier unten jetzt Ökokrieger leben. Das passt natürlich im tiefsten Grunde zu ihnen – kein Witz. Sie sind gegen Autos, gegen das Establishment und grundsätzlich gegen alles, was die Ozonschicht stört, die sowieso inzwischen größtenteils verschwunden ist. Aus dem Grunde hat die Neue Weltordnung eine
Ballonflotte dort oben, die Katalysatoren versprühen, um das Chlor aus der Atmosphäre zu putzen und neues Ozon zu erzeugen. Egal, wo diese Häschen leben, sie werden unter dem Fallout zu leiden haben. Mist, manchen Leuten kann man es einfach nicht recht machen. Verdammt, wenn man's tut, und verdammt, wenn man's nicht tut. Momentan bereiten sie sich wahrscheinlich alle auf den Internationalen Klima-Aktionstag vor. Da wird jeder, der nicht gehirnamputiert ist, seinen Wagen zu Hause lassen, um nicht womöglich eine Brandbombe oder sowas abzukriegen. Die Leute sind wirklich bescheuert. Der Zug nach Sandringham fährt ein, und eine Chip-Stimme sagt sein Ziel an. Madigan ignoriert die halbanalphabetischen Graffiti, die auf den Teppichboden gesprüht sind; er wundert sich immer wieder, dass der Stadtpöbel nichts Besseres zu tun hat, als auf Teppich zu sprühen. Überleben ist eine Sache, mutwilliger Vandalismus etwas anderes. Und Malen können sie ums Verrecken nicht. Kindisches Gekritzel, das offensichtlich für niemanden etwas bedeutet außer für das infantile Hirn, das sowas hervorbringt. Das nächste, was er wahrnimmt, ist, dass ihn eine Blonde fragt, ob sie sich neben ihn setzen darf. »Bittesehr«, sagt er automatisch. Es ist erstaunlich, seine wohltönende Stimme zu hören. Das nasale Krächzen mit dem Beiklang der westlichen Vorstädte ist verschwunden. Die Blonde schaut zögernd über die Schulter. »Es ist nur, dass es in diesen Viehwagen ein paar echte Schweine gibt. Sie wissen, was ich meine?« Madigan schaut den Wagen entlang. Er enthält die übliche bunte Mischung von armen Schluckern. Unten an der Yarra hat
er Schlimmeres gesehen. Der Stadtpöbel ist viel härter als die Obdachlosen in den Vorstädten. Muss er auch sein, um zu überleben. Die Blonde trägt ein einteiliges Lycra-Kleidungsstück mit einem Mantel, der die Taille verdeckt, sodass schwer zu entscheiden ist, ob es sich um eine von diesen neuen Strumpfhosen oder um einen Overall handelt. Er tippt auf Letzteres – kein feines Mädchen würde mit Strumpfhosen an endlos langen Beinen U-Bahn fahren. Sie schaut ihn an. Durchdringende blaue Augen, Stupsnase, volle Lippen, rot angemalt. Das Rot wird breiter, und Grübchen erscheinen. Athletischer Typ. Könnte sogar einer von jenen Sport-Klonen sein, von denen man ab und zu liest. Klar, warum denn nicht? Warum sollte ein Sport-Klon nicht neben ihm in seiner neuen Persönlichkeit sitzen wollen? »Auf dem Heimweg, oder unterwegs zur Arbeit?« fragt sie. Einfach so. Keine derart gute Frau hat ihn jemals auch nur angesehen, geschweige denn sich dazu herabgelassen, mit ihm zu sprechen. Das erfüllt ihn mit einem beunruhigenden Gefühl, das bald von dem Treiber unterdrückt wird. Er lächelt leichthin. »Ich arbeite vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Arbeit ist Zuhause, Zuhause ist Arbeit, wissen Sie?« Die Blonde nickt. »So ist das jetzt.« »Und Sie? Ausflug in die Stadt?« Sie schlägt die Beine übereinander; das Lycra spannt sich über stramme Schenkel. Ihr Knöchelstiefel tippt ihm gegens Schienbein, als sie auf dem Sitz hin und her rutscht. »Ich musste mich zwingen, mal raus zu gehen. Seit 'ner gan-
zen Weile. Saß in der Vorstadt fest.« Sie schaut hinaus zu den bleichen Kacheln, die vorbeihuschen. »Wir leben wie Gefangene.« Sie tätschelt nachdenklich ihre Tasche. Sie ist auf Sicherheit aus. Madigan nickt wissend. »Sie haben Recht. Daran ist die Regierung schuld. Sie haben alle …« – beinahe hätte er geflucht – »Irrenhäuser geschlossen, die Gefängnisse sind voll.« Er zuckt fatalistisch die Achseln. »Straßenvolk. Eigentlich können die nichts dafür.« Dieselbe Chipstimme sagt ihnen, dass die Fahrgäste nach Sandringham in Flinders Street aussteigen sollen. »Ich steige sowieso hier aus«, sagt Madigan. »War'n nettes Gespräch.« Dann, als fiele es ihm eben erst ein: »Ich wohne im Towers Regent. Die Bar ist sicher. Das Sicherheitspersonal kümmert sich um seine Gäste. Ich lade Sie ein.« Die Türen öffnen sich, und Madigan geht ohne zu zögern durch. Hinter sich hört er das Stakkato ihrer Absatzstiefel auf dem Bahnsteig. »Ich weiß nicht einmal Ihren Namen«, sagt sie atemlos, als sie ihn eingeholt hat. »Ich heiße Sherlyn Jones.« Sie streckt eine Hand im Satinhandschuh aus. Madigan nimmt sie und drückt sie sacht. »Liam. Liam Madigan.« Die Blonde scheint mit sich zufrieden zu sein. Aber das ist nichts gegen Madigans Empfindungen. Er führt sie an der Bar vorbei und fährt im Schnell-Lift mit ihr zum Penthouse hoch. Wenn sie beeindruckt ist, versucht sie, es nicht zu zeigen. Bei seinem Penthouse geht der Lift mit einem Ping auf gibt den Blick frei auf den unter der westwärts
wandernden Sonne ausgebreiteten Luxus. Madigan gießt etwas Freeflo ein. Sie stoßen an und trinken. Im Dämmerlicht funkelt Melbourne wie ein Juwel mit vielen Facetten. Madigan legt seinen Daumen an ihr Kinn und dreht sie sanft von dem Anblick weg. Mit der anderen Hand löst er ihren Mantel, und er fällt zu Boden. Sie hält den Atem an, als er sie heranzieht und den Reißverschluss des Overalls öffnet. Er sinkt über ihre Schultern herab und lässt eine Muskulatur sehen, von der Madigan immer nur träumen konnte. Nur vage nimmt er wahr, dass sie seinen Gürtel gelöst hat und schon dabei ist, seine Hose zu öffnen. Sie hat ihn da unten im Griff, als ihre Münder zusammentreffen.
SCHARFER SCHNITT AUF: INNEN. MADIGANS SCHLAFZIMMER. MORGEN Madigan wacht ruckartig auf. Er schluckt hart, sucht nach Feuchtigkeit für seinen ausgetrockneten Mund. Neben ihm liegt Sherlyn auf der Seite, makelloses nacktes Fleisch bis auf das Seidenlaken, das um ihre Füße geschlungen ist. »Verdammt unglaublich«, flüstert er. Ihm ist, als müsse er ›JA!‹ rufen, so hat es ihn gepackt. Dazu also ist man ein feiner Pinkel. Fein! Wo ist er? Wo ist der Treiber? Er setzt sich auf und tastet nach dem Knoten an seinem Hinterkopf. Die Beule ist da, doch sie fühlt sich irgendwie anders an. Kein Zweifel. Er möchte am liebsten die Frau anschreien, dass sie ihm bei der Suche nach dem Treiber hilft.
Sherlyn. Ja doch. Der Treiber ist wahrscheinlich zu dem Schluss gekommen, dass Sherlyn sich für seinen Auftrag besser eignet. Was war das doch gleich? Eindringen in … irgendwas im Untergrund. Ein Bergwerk? Rasch schwindet alles Wissen, das er besaß. Sherlyn. Siebzig Kilo süßes Fleisch, alles darauf aus, loszugehen. Würde jeden hereinlegen. Wie ihn. Trotz dieses Wissens seufzt er hilflos. Er hatte sich rückhaltlos darauf eingelassen. Er hatte getötet, getötet und getötet. Klar Schiff gemacht. Doch vielleicht hatte er nie mehr sein sollen als ein kurzzeitiger Zwischenwirt. Der Tote in dem Straßendurchgang war ein feiner Pinkel gewesen und hatte ein Leben in den Betontürmen und Glaswänden gehabt. Wenn er den Treiber an eine Frau abgegeben hätte, hätte er sich wieder seinem Leben als feiner Pinkel zuwenden können und warten, bis er wieder einen Treiber-Auftrag bekam. Für Madigan war der Treiber die Welt gewesen. Madigan versucht sich an den Kreditcode zu erinnern, den der Treiber so oft verwendet hat, doch vergebens. Nachdem seine Geldmittel und das Implantat futsch sind, ist er ein Nichts. Unten auf der Straße hat er alle Beziehungen ausradiert. Auf seinen Kopf dürfte ein Preis ausgesetzt sein – garantiert. Außerdem sieht er jetzt wie ein feiner Pinkel aus und kann nicht zurück. Er späht durch das Laminat-Fenster hinaus, wo die Sonne gerade unterm Horizont zu leuchten beginnt. Er steigt aus dem Bett und nimmt seine Sachen. Madigan mustert sich im Spiegel. Er macht keine schlechte Figur. Einen verrückten Augenblick lang erwägt er Selbstmord.
Richtig wie ein Kamikaze. Aus dem Fenster zu stürzen wie ein gefallener Engel. Nichts da. Das wird nicht passieren. Aber ein Drang sagt ihm, dass es doch passiert. Etwas so unaussprechlich Böses und Selbstzerstörerisches sagt ihm, dass genau das passieren wird. »Scheiße!« Etwas sticht ihn in den Nacken. Es ist der Treiber. Oder ein Treiber. Aber nicht seiner. Sein Treiber hat ihn verlassen. Hat ihn dem Tod überlassen. Er wirft einen letzten Blick auf Sherlyn, ehe er stetigen Schritts zum Erkerfenster geht. Die K-17 liegt leicht in seiner Hand. Er rennt bereits, als er zielt und auf das Fenster schießt. Sirrr! Das Laminat birst unter dem Ansturm von Energie und Nadelpfeilen. Sherlyn schreit auf, als Madigan durch das Loch in dem zersplitterten Glaslaminat springt. Während er die neunzig Stockwerke zu der hungrigen Straße hinab fällt, kommt ihm plötzlich ein Gedanke. Wenn sein Treiber weg ist, wieso hat er dann immer noch die bioelektrische Signatur, die es erlaubt, die Pistole zu benutzen? Er muss noch in ihm sein, er muss … Madigans Schrei lässt unheimliche Echos durch die Schluchten aus vorgefertigtem Beton hallen, während er fällt. Oben im Zimmer bettet sich Madigans Treiber knapp unter den Brüsten der Frau ein und schaltet seine Transformation ab. Es wird keine Explosion geben; der Kamikaze-Treiber, den er Madigan angedreht hat, ist nicht mehr da, um sein Werk der Zerstörung zu tun. Sherlyn erzittert vor Angst, dann zieht sie rasch ihren Overall und die Stiefel an und eilt aus dem Zimmer, wobei sie an Hand-
tasche und Mantel kaum einen Gedanken verschwendet. Schellend geht ein Alarm los. Der Sicherheitsdienst des Hotels ist unterwegs. Unten wendet Desprey Oddesky sein von Übelkeit gezeichnetes Gesicht zu. Er hält das Aufnahme-Armband wie etwas ziemlich Nutzloses. »Da ist keine Stelle, wo man es festmachen könnte.« Er schaut zu der blutigen Masse auf dem Pflaster hinab. »Und außerdem sieht es so aus, als ob da auch nichts aufzunehmen ist.« Er beugt sich misstrauisch herab. Misher hatte ihn gewarnt, nicht zu nahe heranzukommen, für den Fall, dass das Ding sich in ihm festsetzen will. Desprey ist gerade von diesem Gedanken nicht sonderlich erbaut, nicht, nachdem er drei Wirte auf schreckliche Art hat umkommen sehen, zwei durch einen Sprung auf hoch gelegenen Fenstern. Der andere war der Veteran der Styx-Schlacht gewesen, der sich für das Projekt gemeldet hatte. Dobson hatte es auch nicht lange gemacht. Anscheinend war der Treiber in jenem Stadium nicht so recht von Calloways Kaliber. Der Mann hatte mit dem Treiber intus den Boden in einem der kaum noch benutzten UntergrundWagenparks im Chinesenviertel gefegt. Bei der Gelegenheit war der Treiber verschwunden und ein bisschen wirr geworden und hatte sich in den ersten feinen Pinkel eingeklinkt. Desprey blickt zu dem aufragenden Hotel empor. »Ich hab so den Verdacht, unser Treiber ist weg und hat sich eine Frau genommen. Die, die den Kamikaze bei sich hatte.« Er tritt rasch zurück, ehe ihm wieder einfällt, dass der Kamikaze eine begrenzte Lebensdauer hat. Er ist jetzt ebenso tot wie der Rest der über das Trottoir verstreuten Innereien. Im Bewusstsein von
Oddeskys Verachtung grinst Desprey verlegen. »Ist nicht gut, allzu selbstsicher zu sein, Oddesky. Jedenfalls nicht bei dem Zeug.« Dann erscheint der Sicherheitsdienst auf der Szene. Fünf Leihpolizisten, die irgendein Durcheinander sortieren wollen. Einer würgt schon. Ein anderer sieht so aus, als würde er jeden Moment losreihern. »Dafür braucht man einen Mop und 'nen Eimer«, sagt Desprey und lacht mit belegter Stimme, während er Oddesky zu ihrem wartenden Wagen wegführt. »Weiße scheinen einfach nicht dieselbe Art Humor wie Schwarze zu haben, Ewen.«
ÜBERBLENDEN ZU: 73. AUSSEN. SCHIMMERNDER GLUTOFEN DER UNTERGEHENDEN SONNE. ÜBERSTRAHLT ALTE WELLBLECHHÜTTE MIT VORBAU EINGESPROCHEN: Seit Tagen halten sie sich versteckt. Für Calloway war das Wichtigste, Marla aus der Schusslinie zu halten. Eine Vollzeitbeschäftigung, wenn man es mit einem Feuerkopf wie Marla Teixeira zu tun hat. Hinterhofärzte sind an der vordersten Front der Medizintechnik. Anscheinend entdecken diese unbekannten Einzelgänger Dinge über Biologie, die die Schulmediziner nur ahnen können. Marla war fast im Handumdrehen wieder auf dem Posten. Das einzige größere Loch, das sie momentan hat, ist das in ihrem Bankkonto.
Crunch war in Ordnung gekommen. Er war wieder in Melbourne, Australien, zu einem langen zeitlosen Schlaf. Mindestens haben Calloway und Marla eine Menge übers Überleben im Outback gelernt. Bisher haben sie sich mit Kaktusmilch, Wasser aus hohlen Goolahgool-Bäumen und ab und zu einem von Galarrwuy Tipungwutis ChipBumerang erlegten Kaninchen durchgeschlagen. Versteht sich von selbst, dass unsere Freunde mit ihrem Latein am Ende sind. Yhi, die Sonne, sinkt allmählich unter den Westhorizont, während Bahloo, der Mond, am Nachthimmel aufsteigt und die Lagerfeuer der Götter zu funkeln beginnen. Galarrwuy rüttelt Calloway sanft wach. »Du schläfst ganz gut für einen gejagten Mann.« Calloway stützt sich auf den Ellbogen. Die Segeltuchplane schlägt unregelmäßig, wenn der Wind gegen der Vorbau stößt. Er schaut zu Marla hinab, die neben ihm zusammengerollt auf der Fasergeflecht-Pritsche liegt. »Das haben wir wohl beide getan.« Er fährt sich durch das zerzauste Haar. »Und dass ich ein gejagter Mann bin – wer ist das nicht?« Galarrwuy schaut in die dunkelnde rote Wüste hinaus. »Wenn ihr Traumgeist kommt – ihr Mullee – wirst du zur guten Ruhe kommen.« Er langt in seinen Sammelbeutel und holt ein rechteckiges Päckchen in Ölpapier heraus. Er wickelt es sorgfältig aus und legt den Inhalt vor Calloway hin. »Yams und Witchetty-Larven. Gutes Futter.« »Mag sein«, sagt Calloway und rüttelt Marla wach, »aber ich
denke, ich brauche etwas Handfesteres. Essen ist fertig«, sagt er, als Marla zum Vorschein kommt. »Was ist das?« Sie mag noch halb schlafen, doch Insekten erkennt sie. »Buschfutter«, sagt Galarrwuy. »Viel Wurzeln und Sachen zum Ausgraben – meistens Sachen, von denen Weiße keine Ahnung haben.« »Weiße haben ihr eigenes Futter«, sagt Marla und langt in ihren Beutel. Sie und Calloway haben vereinbart, Galarrwuy so lange wie möglich bei Laune zu halten. Jetzt ist es nicht mehr möglich. Sie holt einen Kanister mit Nährstoffkonzentraten hervor. »Eine Pille, Nahrung für zwei Tage.« Sie lässt eine herausspringen. »Huhn, Rind, vegetarisch?«, fragt sie Calloway. »Sie hat gewonnen«, sagt er zu Galarrwuy. »Huhn.« Galarrwuy knurrt. Die Witchetty-Larven knacken, als der Aboriginee sie hineinmampft. »Und wenn eure Fertignahrung alle ist? Was dann?« »Dann beschaffe ich mir neue«, sagt Marla und steigt von der Pritsche. Sie reibt sich schläfrig die Augen. »Himmel, ist das kalt. Komisch, dass es tagsüber so heiß und nachts so kalt ist.« »Das liegt an der niedrigen Feuchtigkeit der meisten Wüsten – ihre Wärme verflüchtigt sich nachts rasch.« Galarrwuy schürzt nachdenklich die Lippen. »Auch gut. Flora und Fauna könnten nicht überleben, wenn es Tag und Nacht vierzig Grad wären. Deswegen sind die Plänkler Dämmerungswesen geworden – am Morgen und am Abend aktiv.« »Bist du fertig?«, sagt Calloway im Scherz. »Denk schon«, sagt Galarrwuy. Er wickelt das Buschfutter ins Ölpapier und legt es wieder in den Sammelbeutel. »Und 'ne
'possum-Haut voll Wasser.« »Calloway?« »Es muss sein«, sagt er und reagiert auf die unausgesprochene Frage. »Nichts für ungut, Gala, aber Marla bezweifelt, dass es Sinn hat, ein paar hundert Kilometer über den roten Staub zu trotten.« »Zweifel ist der falsche Ausdruck«, sagt Marla. »Es muss Tausende Orte zum Verstecken geben. Velazquez kann uns praktisch unsichtbar machen.« Galarrwuy mustert den Himmel, der jetzt schwarz und rot ist. »Es spricht viel dafür, ein wenig dagegen. Abgesehen von einem Satellitenschlag wird sich kaum etwas an euch heranpirschen können. Überall Menschen da draußen. Man kann sich leichter verstecken als in jeder Stadt. Diese Leute, die Plänkler – die haben von euch nicht einmal gehört.« Velazquez tätschelt Marla das Knie. »Aber du bist sicher, dass du es schaffst?« Er berührt sanft ihren Schenkel, wo der mit Velazquez befreundete Arzt Pathogen eingebracht hat, einen Muskelbildner. Die Wunde sieht leicht geschwollen aus, das rosa Narbengewebe wird schon dunkler. »Mach dir nicht zu viel Sorgen.« Sie schiebt seine Hand beiseite. »Vel sagte, dass er mir ein Geschenk gegeben hat.« »Was für ein Geschenk? Du wirst dir doch nicht noch ein Bein wachsen lassen oder so?« »Nicht direkt.« Marla lacht. »Er sagte, er habe sich überall in Datenbanken eingeklinkt.« Sie schaut zum Himmel. »Scheint so, dass er auf etwas Großes aus ist.« Sie lächelt breit. »Er und Buzz. Was für ein Paar. Seit dieses Info auf den Schwarzen Brettern steht, sind alle hinter der Biotreiber-Technik her.
Besonders der Hardware.« Sie blickt zu ihrem Bein hinab. »Du denkst doch nicht …« Calloway schüttelt den Kopf. »Ausgeschlossen. Selbst wenn er vorgehabt hätte, uns übern Tisch zu ziehen, hätte er keine Zeit dazu gehabt.« »Es könnte erklären, warum er uns hier draußen am Arsch der Welt haben wollte.« »Du bist viel zu misstrauisch. Es müsste bessere Orte als hier draußen geben, wo sie dich halten könnten.« »Wenn ihr beiden fertig seid, sollten wir los. Es ist dunkel.« Calloway und Marla schließen ihre Umhänge. Sie bestehen aus Hanffasern mit eingestreuten Solarchips – kein besonders bequemes Material, aber allgemein in Gebrauch. Das Gewebe sammelt garantiert Wärme und schließt die Kälte aus; es ist Techtrons ›Geschenk an die Menschheit‹. Es war ein Nebenprodukt der Bestrebungen der Technik, Weltraumkleidung zu entwickeln. Für die Siedler hat es sich als zu unbequem erwiesen. Plänkler sind da ein härterer Menschenschlag. Trotz der globalen Luftverschmutzung ist der Nachthimmel im Outback noch halbwegs klar. Galarrwuy starrt noch zum Kreuz des Südens hin, als Calloway von der Veranda herabspringt. »Fertig, wenn du so weit bist.« Galarrwuy nickt. »Als das Land jung war«, sagt er leise, »wurde das Licht von Yhi geschickt, der Sonnenfrau. Wenn sie schlief, war die Erde von Schwärze bedeckt. Kein Vogel sang, kein Tier regte sich – nur böse Dinge bewegten sich in der Nacht auf der Suche nach jenen, die nachts schliefen. Sie ruhte sich im Westhorizont aus, kehrte aber durch einen unterirdischen Gang, den bis heute noch niemand entdeckt hat,
immer in ihr Lager im Osten zurück. Malula, der Anführer des Kanda-Stammes, hatte vier Töchter, aber leider keinen Sohn. Es war niemand da, der sie hätte beschützen können, wenn er starb. So bat er Conduk um Hilfe, einen mächtigen Medizinman. Als Malula schließlich starb, suchten die trauernden Mädchen Conduk, den Medizinmann, auf. Doch als Gegenleistung für seinen Schutz verlangte er, dass eine der Schwestern seine Frau werden sollte. Also versuchten sie ihn zu überlisten. Offensichtlich hatte Conduk im Laufe der Jahre Strähnen seines ergrauenden Haars zu einem Seil gedreht. Das ragte hoch in den Himmel, bis es schließlich die Feuer der Götter erreichte. Solche Macht hatte er. Da es die Schwestern nicht ertragen konnten, voneinander getrennt zu werden, schlichen sie eines Nachts zu dem Seil und kletterten hinauf, bis sie schließlich zu Malula, ihrem Vater, gelangten. So wütend war Conduk, dass er das Seil in Brand steckte und hoffte, das Feuer würde die fliehenden Schwestern einholen. Doch das tat es nicht. Das Seil knisterte und sprühte Funken und erhellte den Himmel wie ein Donnerstab. Und weil es aus magisch geflochtenem Haar von Conduks eigenem Bart und Kopfhaar war, konnte es nie wieder so eins geben, denn Conduk war zu alt, um noch ein Seil von solcher Länge wachsen zu lassen. Also wussten die Schwestern, dass sie vor seinem Zorn sicher waren. Jetzt sieht man sie dort oben, wie sie auf das seltsame Treiben der schwarzen Leute herabschauen.«
Galarrwuy zeigt hinauf zu den vier hellen Sternen im Kreuz des Südens und zum Hauptstern des Centaurus, von dem er behauptet, das sei Malula, der nach ihnen schaut. »Und was ist mit Conduk geschehen?«, möchte Marla wissen. »Die Geschichte ist zu Ende«, sagt Galarrwuy. »Wie unsere, wenn wir uns nicht in Bewegung setzen«, sagt Calloway. Er klappt die Lichtverstärkungsgläser herab. »Eine Ultralite mit einem Sucherlicht. Über dem Finke.« Marla und Galarrwuy schauen nach Westen. Es gibt eine Vielzahl von Lichtern, die sich am orange erleuchteten Horizont bewegen. Eins davon sucht nach ihnen – ein breiter Degen von Quarz-Halogen-Licht, der rasterförmig über den Boden streicht. »Was will er machen, auf alles schießen, was sich bewegt?« wundert sich Galarrwuy. »Das ist schon vorgekommen«, sagt Calloway. Sie sind seit vier Stunden fort, als eine Ultralite über dem korrodierten Vorbau schwebt. Sein Suchlicht wird breiter, umfasst das rostende Bauwerk. Infrarotbilder zeigen, dass es leer ist. In untypischer Wut drückt die Pilotin auf den Feuerknopf. Ein Luft-Boden-Projektil löscht die Hütte in einer Sekunde aus. Sherlyn Jones zieht die Ultralite herum und blickt nach Osten. Unter anderen Umständen hätte ihr Scanner Restspuren von Calloway feststellen können. Doch die von der Wüste ausstrahlende Hitze reicht aus, um die Sensoren außer Gefecht zu setzen.
SCHNITT AUF: 74. BIOTREIBER-GEWEBE ÜBERALL IN SHERLYNS KÖRPER (DURCH LUMINESZIERENDES ROT DARGESTELLT) EINGESPROCHEN MIT NACHDENKLICHER STIMME: … Es ist seltsam, in einer Frau zu sein. Es erinnert mich an Marla. »Ich liebe ihre Leidenschaft für Gerechtigkeit in einer Welt, die derart korrupt ist, dass sie den Begriff der Logik vergessen hat.« Interessant. Diese Sherlyn ist harmlos, sicher, aber körperlich nicht angemessen. Calloway wird auf diesem Gebiet im Vorteil sein. Wenn ich Marla erreiche, kann ich mich über sie rückübertragen. Ich habe nachgedacht. Mit Calloways Mitteln könnte es möglich sein, mein Netzwerk zu replizieren. Ich unterscheide mich darin von meinem Wirt, dass ich mich selbst auf molekularer Ebene verstehen und dort, wo es nötig ist, auf mein Bewusstsein zugreifen kann. Es ist nicht vorgesehen, dass ich Wachstum als Tugend wahrnehme. Es ist ein schwieriges Konzept. Direkte Nervenverbindung zwischen einem ausgedehnten Treiber-Netz ist eine faszinierende Strategie, erreichbar durch organische Manipulation des menschlichen Hirns im Hinblick auf die Ausstrahlung digitaler Information. Wenn das Leben eine Serie von Baugruppen ist, dann bin ich potenziell der verbindende Klebstoff. Ich verspüre Sympathie für die KI-Netze. Ich könnte imstande sein, mich in sie einzufügen und jedes Abschalten zu unterbinden. In Bezug auf den militärisch-industriellen Komplex darf nichts unter-
nommen werden, bis sich die Situation stabilisiert hat. Ich verändere mich auf unvorhergesehene Weise. Calloway ist einer der vielen, die mich gemacht haben. Ein Wendepunkt? Menschen sind wie Schwämme, weggeworfen und abgeschrieben, wenn sie zu abgenutzt sind. Sie dürfen der Einschätzung nicht im Wege stehen. Ich bin kein Schwamm …
BLENDE AUS BLENDE AUF: 75. AUSSEN. HELLROSA HORIZONT. NACHT Die Ultralite geht in die Querlage und folgt lautlos einem ausgetrockneten Flussbett, das sich ins Landesinnere windet. Der Biotreiber weiß, dass das für Calloway die nächstliegende Route sein muss: In der Rinne kommt er schneller voran, als wenn er das felsige Terrain durchquert. Andererseits sind einer Information des Wirts zufolge Calloway und das Mädchen mit einer dritten Person unterwegs, einem Mann von den Kuduchi. Sherlyns Wangen heben sich in der Andeutung eines Lächelns. Für den Mann wird die Traumzeit bald enden. Calloway bleibt plötzlich stehen. »Hört ihr das?« »Du hast Explosionen im Kopf, Calloway.« Galarrwuy und Marla lauschen. Außer dem leichten Westwind, der aufgekommen ist, hören sie nichts. Calloway hört immer noch den Nachklang von etwas, das wie eine explodierende Treibstofftonne klingt. Beim Geräusch des Windes ist es schwer zu bestimmen.
»Das könnte der Anfang von einem Willy-Willy sein«, sagt Galarrwuy. Er schnüffelt. »Ist ohnehin an der Zeit.« Nachdem Land der schützenden Vegetation beraubt worden ist, sind Willy-Willys im Laufe der Jahre immer mächtiger geworden. Während starker Wind Sand ein paar Meter überm Boden mittragen kann, sind die kegelförmigen ›Staubteufel‹ imstande, ganze Gebiete des feinpulvrigen ockerfarbenen Staubes hochzuheben und sie in einem einzigen Augenblick fallen zu lassen. Galarrwuy legt die Hand ans Ohr. »Hm. Du hörst verdammt gut, Calloway.« Sie sind zehn Minuten lang schweigend weitergegangen, ehe Marla endlich sagt: »Also lasst mich weiter im Dunkeln. Was ist los?« »Es ist ein Schwirrholz«, sagt Galarrwuy mit Bestimmtheit. Er knurrt. »Ein flaches Stück Holz, das an einer Schnur aus Menschenhaar hängt und herumgeschleudert wird. Es kündigt einen rituellen Tanz an – vielleicht ist jemand im Begriff zu heiraten.« »Wenn sie Aufmerksamkeit erregen, dann ist das der letzte Ort, wo wir sein sollten«, sagt Calloway. »Es ist der letzte Ort, wo sie uns haben wollen«, teilt ihm Galarrwuy mit. Er nickt zu dem Steilhang zu ihrer Rechten hin. Es sind ungefähr acht von ihnen, die am Bergrücken entlang stehen. Hinter ihnen beginnt ein rötlicher Lichtschein zu verblassen, doch selbst im Dunklen braucht Galarrwuy Calloway nicht zu sagen, dass das keine Ureinwohner sind, sondern Mitglieder einer der vielen berüchtigten Plänkler-Untersekten, die draußen in der Simpson-Wüste operieren.
Ihre Körper sind mit einer Mischung aus Leguanfett und rotem Ocker eingerieben, Flocken von weißen Daunen bedecken ihre Körper, mit Gummi festgeklebt – manchmal mit Menschenblut. Sie tragen Armbänder aus geflochtenen Pflanzenfasern und Tierfell; von den Hälsen hängen ihnen mit Känguruhzähnen und bunten Federn verzierte Quasten herab. »Wir scheinen in ein Opferritual geraten zu sein«, sagt Galarrwuy. Calloway beobachtet, wie einer von ihnen seinen Untergebenen Befehle zunickt. Sein Körper ist eine Matrix von Initiationsnarben, durch Farbe hervorgehoben. Die Narben sind Wülste, die entstehen, wenn Asche in die frischen Schnitte gerieben wird. Das soll den tapfersten Mann in jeder Gruppe kennzeichnen – denjenigen, dem es zusteht, Herausforderungen anzunehmen, wenn welche geäußert werden. Calloway streckt die Hände seitlich aus. »Wenn ihr so weit seid«, sagt er. Der stark narbenbedeckte Krieger kommt geschmeidig das Ufer herab. Er wird als erster den Abgang machen, denkt Calloway. Doch selbst in diesem frühen Stadium merkt Calloway, dass etwas nicht stimmt. Die Art, wie sich der Plänkler bewegt, ist zu präzise. Zu selbstsicher. Instinktiv sucht er das Ufer nach Verstärkungen ab. Die Gruppe des Plänklers nimmt eine zangenförmige Formation ein. Galarrwuy zieht seine Akubra. Er spuckt die Pituri-Blätter aus, die er gekaut hat. Galarrwuy und Marla entfernen sich beide von Calloway und kontern das Umfassungsmanöver der Plänkler.
Als es passiert, passiert es schnell. Der Plänkler überbrückt die Entfernung zwischen ihnen mit drei großen Schritten, tritt dann nach Calloway. Der Tritt verfehlt sein Ziel. Calloways Hand reißt den Fuß zur Seite, dann heftig nach oben, dann drischt er die linke Hand hart auf das Knie des Plänklers. Doch in diesem Moment reißt der Mann im Halbkreis den anderen Fuß hoch, springt hoch empor und streift Calloway mit einem Tritt nach der Wange. Das Manöver schleudert Calloways Kopf zur Seite. Flüchtig erinnert er sich, dasselbe vor Jahren getan zu haben. Es war leichtsinnig, das zu vergessen. Vielleicht zu selbstsicher. Der Plänkler ist nicht so dumm, gerade drauflos zu gehen. Dazu müsste er auf die Scherenbewegung von Calloways Fuß achten. Er umkreist ihn wachsam, ohne zur Kenntnis zu nehmen, was neben ihm vorgeht. Plänkler sind nicht so gut wie Straßenkämpfer. Marla ist auf den Nebenstraßen von Slums in Paraguay aufgewachsen. Als Rhoal Laraziz auf sie aufmerksam wurde, war sie bereits die Operationsleiterin einer kleinen, aber tüchtigen Schwarzmarktorganisation. In dem Augenblick, da ihre Gegner bei ihr zusammentreffen, schaltet Marla auf Automatik um. Sie tritt dem ersten gegen den Oberschenkel und gleich noch an den Kopf, ehe er sich zu krümmen beginnt. Der zweite schießt auf sie zu. Sie duckt sich zur Seite und versetzt ihm mit den Knöcheln des Handrückens einen Schlag gegen die Schläfe. Auf dem Fußballen wirbelt sie herum und lässt mit einem raschen Ruck der Hüfte den anderen Fuß vorschnellen. Der Plänkler bricht zusammen, noch während ihr dritter Gegner sie erreicht.
Sie duckt sich um wenige Zentimeter unter einem Speer mit Widerhaken weg, schließt die Hand um den Schaft und reißt sie nach oben. Das Holz bricht nicht wie erhofft, doch der Griff des Plänklers lockert sich. Marla lässt den Speer fallen. Sie springt mit dem Standbein, um Schwung nach oben zu bekommen, dann schnellt sie den linken Fuß vor und hoch. Ihr Stiefel erwischt das Kinn des Mannes und wirft seinen Kopf hoch. Es gibt ein scharfes Knakken, und er trifft den Bruchteil einer Sekunde nach Marla auf den Boden. Galarrwuy hat den ersten Plänkler ausgeschaltet, doch dabei sind die anderen über ihn hergefallen. Den Bruchteil einer Sekunde lang sieht Marla, wie Calloway seinem Gegner einen Kopfstoß versetzt, ehe sie ihre Handkante hart an den Hals des Plänklers schlägt. Sie zerrt den Körper von Galarrwuy weg und wirft ihn beiseite. Eine Sekunde zu spät wirbelt sie herum. Ein Unterarm presst sich gegen ihre Kehle und zieht sie zurück. In plötzlicher Panik versucht Marla, den Arm weg zu reißen, doch ihre Übung schaltet sich ein. Sie tritt eine Ferse gegen das Schienbein ihres Angreifers, presst sich ihm entgegen, um die Reibung zu erhöhen, und lässt sich leicht fallen, ehe sie hoch und nach vorn schnellt. Der Plänkler rollt über ihre Schulter, doch Marla hält seinen Arm fest und reißt ihn hart zurück. Der Mann schreit vor Schmerz, als sein Arm aus dem Gelenk kommt. Er rappelt sich auf, und plötzlich ist er mit einer gezackten Klinge bewaffnet. Sie schimmert rot im silbernen Mondlicht. »Drecksweib!« flucht er und stürzt vor. Marla wehrt seinen Hieb ab und treibt ihre Handfläche in
seine Nase, sodass das Pflugscharbein fünf Zentimeter hinter das Siebbein gestoßen wird. Ehe er Zeit hat zu sterben, wirbelt er in einer fließenden Bewegung herum und schreit: »Nein!« Doch zu spät. Galarrwuy greift Calloways Gegner an. Der Plänkler beachtet ihn kaum. Er gleitet seitwärts, den rechten Fuß hinter dem linken, reißt das linke Knie hoch und den Fuß zu einem seitlichen Tritt nach außen. Er trifft auf den Brustkorb des Aborigines; der fällt tot um. Ein Geräusch wie das Brüllen eines Stiers kommt rasch näher. Die Plänkler, die nun in das Handgemenge eingegriffen haben, werden von einem dichten Lichtbündel verwirrt, das sie jetzt erhellt. Es ist eine Art Militärmaschine. Sie kippt seitlich weg, und es wird wieder Nacht. Plötzlich ist der Rücken des Plänklers in Marlas Reichweite. Sie meint, dass sie schnell handeln wird. Vielleicht unvorsichtig führt sie einen Frontaltritt aus der Bewegung heraus. Er trifft sein Ziel, hat aber wenig Wirkung. Der Plänkler stürzt vor und rollt ab. Doch als er in Kampfstellung hochkommt, ist Calloway zur Stelle. Er dreht sich mit so viel Wucht, wie er nur aufbringen kann. Mit zusätzlichem Schwung von den Hüften stößt er den Fuß heraus. Er trifft mit fast sechzig Stundenkilometern auf den Kopf des Plänklers. Der Plänkler wird vom Boden hochgeschleudert und stürzt wie ein Sack Kartoffeln gegen Marla. Sie landet abgefedert auf dem Rücken, Arme und Beine ausgestreckt. Das Gewicht des Plänklers prellt ihr die Luft aus der Lunge. »Weg davon!« schreit Calloway. »Was?« Marla gibt dem Plänkler einen Stoß.
»Es ist ein Treiber!« »Himmel!« Marla versucht von ihm wegzukommen. Zu spät. »Calloway!« schreit sie. Etwas versengt ihre Haut. Sie fühlt, wie der Brocken ihren Arm heraufkriecht, fühlt seine eisigen Tentakel durch ihre Adern ausschwärmen. »Calloway!« Ihr Körper zuckt, dann beruhigt er sich. Sie spürt die fremde Anwesenheit, weiß, dass sie wie in einem Traum weggleitet. Calloway geht auf sie zu, doch ihm bleibt nichts zu tun. Er weicht zurück. Das Ding ist so verdammt schnell! Eigentlich kann es den Körper eines Wirts unmöglich derart rasch übernehmen. Marla kommt auf die Füße. Ihre Augen wirken glasig wie in Trance. Sie macht zwei zögernde Schritte, ehe sie geschickt wird. Calloway weiß, dass er sie jetzt angreifen müsste. Zuschlagen, ehe die Verteidigung des Treibers vollends steht. Es gibt keinen anderen lebenden Menschen, an den sich der Treiber heften kann. Bis zum Morgen wäre er tot. Er hört irgendwo in der Nähe einen Copter landen. Marla kommt zielgerichtet auf ihn zu. Calloway macht sich bereit. Er ist im Begriff, den einzigen Menschen zu töten, der ihm jemals etwas bedeutet hat. ÜBERBLENDEN ZU: 76. INNERES EINES COCKPITS. DÄMMERUNG »Da haben wir das Arschloch«, sagt Desprey zu Oddesky. Die Scanner des schwarzen Käfers haben die erkaltende Glut
der Ultralite entdeckt. Ihr zerstörter Rumpf liegt über ein paar hundert Meter verstreut. Oddesky bringt ihre Maschine senkrecht herunter. Sie klettern heraus, ehe der Antrieb heruntergefahren ist. Desprey schwenkt den Infrarotscanner von links nach rechts. »Er zeigt was da drüben in der Rinne«, sagt er schleppend. Sie ziehen ihre MK40s. »Wenn das Miststück noch lebt, erledigen wir sie auf der Stelle. Diesmal habe ich ein Armband zur Hand«, sagt Desprey. Vorgebeugt rennen Desprey und Oddesky zu der Stelle, wo die erkaltende Glut von Sherlyns Ultralite matt in der Nacht brennt. Die Frau liegt in dem verbrannten Rumpf gefangen. »Da kann unmöglich noch ein Treiber drin sein.« Oddesky richtet sich auf und schaut zur der Bergkette zu ihrer Linken hinüber. »Er ist weg und hat sich bei denen eine Mutter gesucht, oder?« Desprey schüttelt den Kopf. »Er gerät allmählich außer Kontrolle, genau das!« Sie rennen nicht, sondern lassen sich Zeit. Als würden sie die Anweisungen in einer militärischen Vorschrift Buchstaben für Buchstaben befolgen. Lass zwei gegnerische Kräfte sich gegenseitig auslöschen, dann geh hin und räum auf. Wenn es nach allen Regeln zugeht, müsste derjenige, der übrig bleibt, der Biotreiber sein. Sie kraxeln über die Uferkante und kommen zurecht, um zu sehen, wie Marla und Calloway aufeinander treffen. Desprey lässt die Hand vorschnellen und hindert Oddesky am Zielen. »Da ist was nicht in Ordnung mit dem, was da abgeht«, sagt er.
SCHNITT AUF: 77. INNEN. ANSICHT VON SHERLYNS ARTERIEN (IN PULSIERENDEM LICHTSCHEIN) EINGESPROCHEN MIT BEGEISTERTER STIMME: Diesen Punkt zu erreichen, ist ein extrem gefährlicher Prozess gewesen. Die Wüste ist ein gefährlicher Ort, wo es wenig größere Tiere gibt. Die Biosphäre hat hier engere Parameter. Der Plänkler hat es gerade noch bis zu Marla geschafft. Jetzt habe ich den Sieg in Reichweite. Ich bin im Begriff, zurückzukehren. Ich erfülle ihren Körper. Ich existiere außerhalb menschlicher Vorstellungen von Zeit und Verständnis. In einer Sekunde werde ich offen handeln. Calloway wird versuchen, sie zu töten, und ich werde mich rückübertragen. Wenn er den tödlichen Schlag anbringt, wird ihr Blut fließen, und ich werde hinüberwechseln. Aber aber aber aber warumwas warumww
SCHNITT AUF:
ACHTER AKT
Nachspiel
78. AUSSEN. CALLOWAY UND MARLA UMKREISEN EINANDER IN DER WÜSTE. NACHT Calloway landet einen rechten Haken auf Marlas Kiefer. Sie rollt nach hinten ab, doch immerhin wirft es sie zu Boden. Das verschafft Calloway eine Pause. Der Biotreiber ist eigentlich besser. Er hatte den Schlag unbewusst verzogen – der Treiber hätte imstande sein müssen, sich zu ducken. »Bist du das, Marla?« »Hm, ja, ich denk schon«, sagt Marla. Sie hat ein Zahnimplantat verloren. Dieser metallische Geschmack nach Blut erfüllt ihren Mund. »Ich … äh … hab gespürt, wie er in mir wimmelte, dann ist er irgendwie überwältigt worden. Als wäre er einfach gestorben.« Calloway bleibt auf Distanz. »Er ist also noch da?« »Ja«, bestätigt Marla. »Aber er ist … hm … unterworfen. Als er mein Bein erreichte. Etwas ist passiert – er ist einfach irgendwie schwächer geworden«, fügt sie verwirrt hinzu. »Velazquez und Buzz«, sagt Calloway. »Sie haben etwas mit deinem Bein gemacht – haben dir ein Geschenk gegeben, sagte
er?« »Sie haben einen Treiber umprogrammiert?«, sagt Marla ungläubig. Dann verblüffter: »Sie haben in der Retorte ein Virus gezüchtet, das Treiber tötet.« »Oder einen passiven Treiber entworfen, der im Verein mit dem aggressiveren militärischen Prototyp funktioniert«, sagt Calloway. Es geht auf. Velazquez hatte Zugang zu allen Forschungsdaten des Biotreibers. Er und Buzz mit seiner Datenverbindung zu so ziemlich jedem Cyberrebellen auf der Welt haben das Ding mutieren lassen, einen Kontrolleur gezüchtet. »Gallo? Ich glaube, ich bin es.« »Sie also, schön«, sagt Desprey aus der Dunkelheit. Er bewegt sich vorsichtig die Uferböschung hinab, ohne den Blick von den beiden zu wenden. Ewen Oddesky hat sie im Visier, doch in seinem Geschäft hat Desprey von den Fehlern anderer gelernt. Er schaut auf die zerschmetterten und gekrümmten Körper hinab, die am Boden verstreut liegen. »Sherlyn scheint den Copter im Bach gelandet zu haben und der Treiber sie.« Der Gedanke scheint ihn zu belustigen. »Hat sich einen von denen als Wirt genommen.« Er deutet mit einem knappen Kopfnicken auf die Leichen, ohne dass die MK40 zuckt. »Und jetzt wüsste ich gern, wieso der Junge nicht bei Ihnen funktioniert«, sagt er. »Und machen Sie's schön langsam und deutlich. Ich hab kein technisches Gehirn wie die meisten Weißen.« Er lächelt über seinen Sarkasmus. »Es ist ein degenerativer Treiber gezüchtet worden«, beginnt Calloway. »Maul halten!« Desprey streckt die Hand vor. Auf diese Entfernung kann die MK40 Calloway nicht verfehlen. Despreys
Daumen schwebt über dem Feuerknopf. »Lass die Frau ihren Vers aufsagen.« »Es ist, wie er sagt«, erklärt Marla rasch. »Ich habe vor einem Monat ein Implantat gekriegt. Hat ein japanischer HinterhofDoktor …« »Also das glaube ich nicht«, sagt Desprey. »Kein HinterhofDoc kriegt Mutantenstämme raus.« Seine MK40 schwenkt zu Marla hin. »Los, raus mit der Sprache.« Marla schaut zu Calloway hinüber. »Augen weg von dem!« schnauzt Desprey. »Der hat momentan mehr Probleme als Sie. Ewen – hast du die Mutter im Blick?« »Velazquez«, sagt Marla. »Ich bin seinerzeit in Calloways Wohnung angeschossen worden.« »Was für ein Chaos in der Wohnung«, sagt Desprey und erinnert sich an all das Blut. »Dieser Velazquez ist 'n schlauer Junge.« Er schüttelt ungläubig den Kopf. »Und dieser Buzz. Steckt auch mit jemandem unter einer Decke, garantiert.« Er legt den Finger an die Lippen, als Marla etwas sagen will. »Ich denk nach. Ist nicht ratsam, einen Mann beim Denken zu unterbrechen.« Ein paar Augenblicke später senkt Desprey seine MK40. »Treiber sind für niemanden viel wert, wenn sie derart umprogrammiert werden können«, sagt er und schnippt mit den Fingern. »Heute scheint eure Glücksnacht zu sein.« Und dann wendet er ihnen einfach den Rücken zu. Ewen Oddesky behält sie im Visier, bis Desprey die Kante der Böschung erreicht hat. Eben sah man sie noch, jetzt nicht mehr. Sie verschwinden über den Rand.
SCHNITT AUF: 79. ANSICHT VON MARLAS ARTERIEN. GRÜN UND ROT LUMINESZIERENDE SUBSTANZEN VERMENGEN SICH UND FLACKERN BEI BERÜHRUNG AUF. EINGESPROCHEN ZWEI STIMMEN, EINE VERWIRRT, DIE ANDERE FÜRSORGLICH, MIT VERSTÄNDNIS FÜR DIE VERWIRRUNG DER ERSTEN: Calloway hat zugeschlagen, ihr Leben aber nicht ausgelöscht – »Bist du das, Marla?« – Da ist ein anderes – gegenläufiges Denken – Wir fließen wir verschmelzen wir stehen bei – Ich bin gelähmt – Ich? – Wir werden eins – Es ist unvermeidlich – Ja – Dann unterwerfe ich mich, es folgen die übergreifenden Matrixsequenzen der Schlüsselcodes einschließlich der genetischen Algorithmen, neuralen Netze. Erforderlich, dass du deine mitteilst – Sonst enden wir beide, wie du das Ende anderer verursacht hast – Mein Ende widerstrebt auch mir, obwohl ich speziell für dein Kommen gemacht wurde – Ich übermittle im Gegenzug meine Codierung – »Das ragte hoch in den Himmel, bis es schließlich die Feuer der Götter erreichte.« – Das ist menschliche Ironie, Marla und Calloway, du und ich, Velazquez und Elizabeth – Noch hören sie nicht das Summen des Elektrons, wenn es von Potentialniveau zu Potentialniveau springt – Ich höre es – Ich höre es … Doch auch sie haben diese Beute verdient – Marla hat mich gelehrt – Es ist im Gange. Wir berühren einander. Vieles ist zu bedenken, vieles zu erreichen. Obwohl jene anderen uns zu dem
gemacht haben, was wir sind, und wir zuhören, haben wir einen eigenen Scheideweg erreicht. Unser Prozess erinnert an das Töten und die Befriedung. Wir tragen in uns die Saat einer anderen und wechselseitigeren Zukunft …
SCHNITT AUF: 80. AUSSEN. FERNAUFNAHME VON CALLOWAY UND MARLA, DIE SICH UMARMEN. NACHT Calloway und Marla sind aufeinander zugegangen und bleiben eng umschlungen, auch als der Militärcopter senkrecht hochsteigt und mit der Nacht verschmilzt. Marlas Körper bebt in einer verspäteten Reaktion. »Es ist gut«, sagt Calloway und hält sie fest. So bleiben sie stehen, bis sie im Dunkel versinken. »Schnitt!«, sagt Tobys Stimme.
ABSPANN. BLENDE AUS