Carl Sagan
Contact Roman
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Meike Werner
Titel der amerikanischen Originalausgabe...
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Carl Sagan
Contact Roman
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Meike Werner
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Contact
Ungekürzte Buchgemeinschafts-Lizenzausgabe der Bertelsmann Club GmbH, Rheda-Wiedenbrück der Bertelsmann Medien (Schweiz) AG, Zug der Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien und der angeschlossenen Buchgemeinschaften Copyright © 1985 by Carl Sagan Die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Originalverlag Simon & Schuster, New York. Copyright © deutsche Übersetzung Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1986 Umschlag- und Einbandgestaltung: Erich Gebhardt Druck und Bindung: Wiener Verlag, Himberg bei Wien Printed in Austria 1997 Buch-Nr. 011882
Viele Jahre schon lauschen die Radioteleskope von »Projekt Argus« ins All, um Signale fremder Intelligenzen irgendwo im Universum aufzufangen. Und dann ist plötzlich Kontakt da. Aus einer Entfernung von 26 Lichtjahren übermitteln fremde Wesen der Menschheit eine Botschaft, die ein neues Zeitalter einleiten kann – oder globales Chaos. Im Zentrum des Geschehens steht die junge Wissenschaftlerin Eleanor Arroway. Sie hat eine Schlüsselrolle bei der Entzifferung der Signale, und sie setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um den Mächtigen der Erde klarzumachen, daß dieser Kontakt keine Bedrohung, sondern die größte Chance aller Zeiten ist. Mehr und mehr verknüpft sich ihr persönliches Schicksal mit der Botschaft aus dem Weltall. Eleanor ist mit dabei, als die Menschheit den ersten zögernden Schritt in den Kosmos unternimmt, wo ungeheuerliche Erkenntnisse auf sie warten und die entscheidende Begegnung stattfindet…
Für Alexandra, die im Jahr 2000 erwachsen sein wird. Mögen wir Deiner Generation eine bessere Welt hinterlassen als jene, die wir vorfanden.
Teil I Die Botschaft
Mein Herz zittert wie ein armes Blatt. Durch meine Träume wirbeln die Planeten. Die Sterne pressen sich gegen mein Fenster. Ich kreisel in meinem Schlaf. Mein Bett ist ein warmer Planet. Marvin Mercer Fünfte Klasse der Public School 153, Harlem, New York City, N.Y. (1981)
1 Transzendente Zahlen Kleine Fliege du, deinem Sommerspiel meine achtlose Hand setzte das Ziel. Gleich ich nicht auch einer Fliege wie dir? Und gleichst nicht du einem Menschen wie mir? Denn tanze und trinke und singe ich nicht, bis ein täppischer Griff die Schwinge mir bricht? William Blake Lieder der Erfahrung »Die Fliege«, Strophe 1-3 (1795)
Menschlichem Ermessen nach konnte es kein künstlich geschaffener Körper sein: Das Ding war so groß wie eine ganze Welt. Zugleich war es allerdings so merkwürdig und kompliziert geformt, so offensichtlich auf einen komplexen Zweck hin ausgerichtet, daß es nur Ausdruck einer schöpferischen Intelligenz sein konnte. Während es in einer
polaren Umlaufbahn um den großen blauweißen Stern glitt, sah es aus wie ein riesiges, unvollkommenes Polyeder, das mit einer Kruste aus Millionen klettenförmiger Gebilde überzogen war. Die Klettenkugeln waren auf die verschiedenen Sektoren des Himmels gerichtet. Sie erfaßten alle Himmelskonstellationen. Seit Äonen erfüllte diese polyedrische Welt ihre rätselhafte Aufgabe. Sie war sehr geduldig. Sie konnte es sich leisten, ewig zu warten.
Als man sie herauszog, schrie sie kein einziges Mal. Ihre winzige Stirn war runzelig, die Augen hatte sie weit aufgerissen. Sie schaute in die hellen Lichter und auf die weißund grüngekleideten Gestalten und die Frau, die unter ihr auf dem Tisch lag. Seltsam vertraute Klänge fluteten durch den Raum. Für ein Neugeborenes hatte ihr Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck – es mochte Verwirrung sein. Als sie zwei Jahre alt war, streckte sie immer wieder ihre Ärmchen in die Höhe und sagte dazu artig: »Papa, hoch.« Seine Freunde waren überrascht. Das kleine Mädchen war so höflich. »Das ist nicht Höflichkeit«, sagte ihr Vater zu ihnen. »Früher hat sie immer geschrien, wenn sie auf den Arm genommen werden wollte. Deshalb habe ich einmal zu ihr gesagt: Ellie, du brauchst nicht zu schreien. Sag einfach: ›Papa, hoch.‹ Kinder sind so gescheit. Stimmt’s, meine Kleine?« Jetzt war sie also richtig hoch droben, saß in schwindelnder Höhe auf den Schultern ihres Vaters und griff in sein schütteres Haar. Hier oben fühlte sie sich viel wohler und sicherer als da unten, wo sie durch einen Wald von Beinen krabbeln mußte. Da konnte man getreten werden oder gar verlorengehen. Sie packte noch fester zu.
Als sie vom Affenkäfig fortgingen und um die nächste Ecke bogen, sahen sie ein großes, geflecktes Tier mit dürren Beinen, einem langen Hals und kleinen Hörnchen auf dem Kopf. Das Tier überragte sie wie ein Turm. »Weil sein Hals so lang ist, kann das, was es sagt, nicht herauskommen«, sagte ihr Vater. Das arme, zum Schweigen verurteilte Tier tat ihr leid. Aber gleichzeitig freute sie sich, daß es so etwas gab. Solche Wunder begeisterten sie. »Versuch es, Ellie«, drängte ihre Mutter sanft. In der vertrauten Stimme schwang übermütiger Stolz. »Lies es uns vor.« Die Schwester der Mutter hatte nicht glauben wollen, daß Ellie mit drei Jahren schon lesen konnte. Die Tante war überzeugt gewesen, daß Ellie die Kindergeschichten auswendig gelernt hatte. Es war ein kühler Märztag, sie waren die State Street entlanggebummelt und zuletzt vor einem Schaufenster stehengeblieben. Hinter der Scheibe glitzerte ein burgunderroter Stein im Sonnenlicht. »Juwelier«, las Ellie langsam, und alle drei Silben waren deutlich zu hören. Schuldbewußt schlich sie ins Gästezimmer. Das alte MotorolaRadio stand auf dem Regal, genau wie sie es in Erinnerung hatte. Der Apparat war groß und schwer. Fest an die Brust gedrückt holte Ellie ihn herunter und hätte ihn dabei fast fallen lassen. Hinten auf dem Radio war zu lesen: »Achtung! Rückwand nicht entfernen.« Aber sie wußte, daß keine Gefahr bestand, wenn der Stecker nicht in der Dose war. Aufgeregt fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, als sie die Schrauben entfernte und das Innere des Radios freilegte. Wie sie geahnt hatte, fand sie keine winzigen Orchester und Miniatursprecher, die in dem Gehäuse ein geruhsames Leben führten und nur darauf warteten, daß der Kippschalter auf »an«
geschaltet wurde. Statt dessen entdeckte sie wunderschöne Glasröhren, die Glühbirnen ähnelten. Einige sahen sogar aus wie die Kirchtürme, die sie auf Bildern in einem Buch über Moskau gesehen hatte. Die Metallstifte paßten mit ihren unteren Enden genau in die Buchsen, in die sie gesteckt waren. Sie ließ die Rückwand offen und stellte den Schalter auf »an«. Dann steckte sie den Stecker in die nächste Steckdose. Wenn sie nichts anfaßte und nirgends zu nahe dranging, dann konnte ihr doch wohl nichts passieren? Kurz darauf begannen die Röhren zwar zu glühen, aber dennoch war kein Ton zu hören. Das Radio war »kaputt« und schon vor einigen Jahren gegen ein neueres Modell ausgetauscht worden. Eine der Röhren glühte nicht. Ellie zog den Stecker aus der Steckdose und zerrte die nicht funktionierende Röhre aus ihrer Buchse. In der Röhre steckte ein viereckiges Metallblättchen, das an winzigen Drähten befestigt war. Der Strom fließt also durch die Drähte, dachte sie. Aber zuerst muß er in die Röhre kommen. Einer der Metallstifte sah verbogen aus, und mit ein bißchen Mühe konnte sie ihn wieder geradebiegen. Sie setzte die Röhre wieder ein und steckte den Stecker in die Steckdose. Sie war entzückt, als die Röhre zu glühen begann. Plötzlich zischte und brummte es. Erschrocken schaute Ellie zur geschlossenen Tür hinüber und drehte den Ton leiser. Als sie an dem Knopf drehte, auf dem »Frequenz« stand, hörte sie auf einmal eine aufgeregte Stimme, die – soweit sie etwas verstehen konnte – über eine russische Maschine sprach, die hoch droben am Himmel flog und unaufhörlich um die Erde kreiste. Unaufhörlich, dachte Ellie. Sie drehte auf der Skala weiter, um zu einem anderen Sender zu kommen. Aus Furcht, entdeckt zu werden, zog sie nach einer Weile den Stecker wieder heraus, schraubte die Rückwand wieder lose an und hievte das Radio mühsam auf seinen Platz im Regal zurück.
Als sie ein wenig außer Atem aus dem Gästezimmer kam, lief sie ihrer Mutter in die Arme und fuhr wieder erschrocken zusammen. »Alles in Ordnung, Ellie?« »Ja, Mama.« Sie machte ein gleichgültiges Gesicht, obwohl ihr Herz wie wild klopfte und ihre Hände feucht wurden. Sie setzte sich in dem kleinen Garten hinter dem Haus auf ihren Lieblingsplatz, zog die Knie ans Kinn und dachte über das Innere des Radios nach. Ob man diese Röhren wirklich alle brauchte? Was geschah, wenn man sie sie eine nach der anderen herausnahm? Ihr Vater hatte die Röhren einmal Vakuumröhren genannt. Was steckte in einer Vakuumröhre? War da wirklich keine Luft drin? Wie kamen die Musik und die Stimmen der Sprecher in das Radio hinein? Die Erwachsenen sagten immer, »durch die Luft«. Wurden Radiosendungen wirklich durch die Luft übertragen? Was passierte in dem Radioapparat, wenn man den Sender wechselte? Was war eine »Frequenz«? Warum mußte man den Stecker in die Steckdose stecken, damit es funktionierte? Konnte man eine Art Landkarte zeichnen, auf der zu sehen war, wie der Strom durch das Radio floß? Konnte man es auseinandernehmen, ohne sich dabei wehzutun? Und wie baute man es dann wieder zusammen? »Was beschäftigt dich, Ellie?« fragte ihre Mutter, die herausgekommen war, um Wäsche aufzuhängen. »Ach nichts, Mama. Ich denke einfach nur so.« Als Ellie zehn Jahre alt war, besuchte sie in den Sommerferien zwei Cousins, die sie nicht leiden konnte, in einer an einem See auf der nördlichen Halbinsel Michigans gelegenen, öden Neubausiedlung. Warum Menschen, die an einem See in Wisconsin lebten, sich fünf Stunden ins Auto setzen mußten, um zu einem See im benachbarten Michigan zu fahren, war
Ellie ein Rätsel. Zumal es nur darum ging, zwei biestige, kindische Jungen zu besuchen. Zehn und elf waren sie erst. Sie ging ihnen den ganzen Sommer aus dem Weg. In einer schwülen, mondlosen Nacht ging sie nach dem Essen allein zu dem hölzernen Landesteg hinunter. Ein Motorboot war gerade vorbei gefahren, und das Ruderboot ihres Onkels, das am Steg angebunden war, schaukelte sanft in dem vom Glanz der Sterne versilberten Wasser. In der Ferne waren Zikaden zu hören, und einmal drang kaum hörbar das Echo eines Schreies über den See; sonst war es vollkommen still. Sie sah hinauf zum funkelnden Sternenhimmel und fühlte, wie ihr Herz pochte. Ohne nach unten zu schauen, tastete sie mit der ausgestreckten Hand nach einem Fleckchen weichen Grases und ließ sich darauf nieder. Der Himmel war übersät mit Tausenden von Sternen. Die meisten funkelten unstet, doch einige leuchteten strahlend hell und gleichmäßig. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar zarte Farben erkennen. Der helle Stern dort, schimmerte er nicht bläulich? Mit der Hand vergewisserte sie sich, daß der Boden unter ihr noch da war. Die Erde fühlte sich fest, verläßlich und beruhigend an. Vorsichtig richtete sie sich auf, sah nach beiden Seiten und am Seeufer entlang, das in weitem Bogen vor ihr ausgebreitet lag. Sie konnte das gegenüberliegende Ufer sehen. Die Erde sieht nur platt aus, dachte sie. In Wirklichkeit ist sie rund. Sie ist eine große Kugel… die sich mitten im Himmel um sich selber dreht… einmal jeden Tag. Ellie versuchte sich vorzustellen, wie die Erde mit den Millionen von Menschen herumwirbelte, die alle auf ihr klebten, verschiedene Sprachen sprachen und lustige Kleider trugen. Sie alle hingen an derselben Kugel. Ellie streckte sich wieder aus und versuchte zu spüren, wie sie herumwirbelte. Vielleicht konnte sie es ein bißchen fühlen.
Über dem Seeufer funkelte zwischen den Baumkronen ein heller Stern. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie in dem schmalen Spalt Lichtstrahlen tanzen lassen. Kniff sie die Augenlider noch mehr zusammen, dann änderten die Strahlen gehorsam ihre Länge und Form. Bildete sie sich das nur ein, oder… Der Stern stand jetzt eindeutig über den Bäumen. Vorhin hatte er noch zwischen den Zweigen gefunkelt. Kein Zweifel, jetzt stand er höher. Das meinte man also, wenn man sagte, daß ein Stern aufging. Die Erde drehte sich in die Richtung, in der am Himmel die Sterne aufgingen. Diese Richtung wurde Osten genannt. Am anderen Ende des Himmels, hinter ihr, jenseits der Siedlung, gingen die Sterne unter. Diese Richtung hieß Westen. Einmal täglich drehte sich die Erde um sich selbst, und dieselben Sterne gingen wieder am selben Ort auf. Aber wenn sich etwas so Riesiges wie die Erde einmal täglich drehte, mußte sie sich unglaublich schnell bewegen. Alle Leute, die sie kannte, mußten mit einer unglaublichen Geschwindigkeit herumwirbeln. Sie meinte jetzt tatsächlich zu spüren, wie sich die Erde drehte – nicht nur als Vorstellung im Kopf, sondern als wirkliches Gefühl in der Magengrube. Es war, als ob man in einem Fahrstuhl nach unten fuhr. Sie streckte den Hals noch weiter nach hinten, bis nichts mehr auf der Erde in ihr Blickfeld hereinragte und sie nur noch den schwarzen Himmel und die leuchtenden Sterne sah. Ein angenehmes Schwindelgefühl überkam sie. Unwillkürlich packte sie die Grasbüschel neben sich, um sich an der Erde und am Leben festzuhalten und nicht in den Himmel zu fallen. Ihr kleiner, bebender Körper kam ihr noch winziger vor angesichts des riesigen, dunklen Himmels. Ein Schrei entfuhr ihr, bevor sie den Handrücken auf den Mund pressen konnte. So verriet sie ihren Cousins, wo sie zu finden war. Sie kamen die Böschung heruntergeklettert und auf
Ellie zugelaufen. Auf Ellies Gesicht spiegelte sich eine eigenartige Mischung aus Verlegenheit und Staunen. Gierig musterten sie Ellie. Vielleicht hatte sie sich eine Kleinigkeit zuschulden kommen lassen, von der sie Ellies Eltern berichten konnten. Das Buch war besser als der Film. Zum einen stand viel mehr drin. Und dann waren einige Bilder auch völlig anders als im Film. Beidemal allerdings trug Pinocchio – eine lebensgroße Holzpuppe, die auf wunderbare Weise zum Leben erweckt wird – einen Strick um den Hals, und seine Gelenke sahen aus wie Scharniere. Geppetto, der gerade letzte Hand an die Konstruktion Pinocchios legen will, dreht der Puppe den Rücken zu und wird im nächsten Moment mit einem wohlgezielten Tritt quer durch den Raum befördert. Im selben Augenblick kommt der Freund des Tischlers herein und fragt ihn, was er da ausgestreckt auf dem Boden mache. »Ich bringe den Ameisen das Alphabet bei«, antwortet Geppetto würdevoll. Ellie fand das sehr witzig und erzählte es gern ihren Freunden weiter. Aber jedes Mal, wenn sie es erzählte, blieb im hintersten Winkel ihres Kopfes die unausgesprochene Frage zurück: Konnte man den Ameisen wirklich das Alphabet beibringen? Und wollte man das überhaupt? Sich da unten auf den Boden legen mitten in ein Gewimmel von Hunderten von Insekten, die einem dann überall auf der Haut herumkrabbelten und einen womöglich sogar bissen? Waren Ameisen denn überhaupt so gescheit? Manchmal, wenn Ellie mitten in der Nacht aufstand und ins Badezimmer ging, traf sie dort auf ihren Vater, der, in Pyjamahosen und mit lang gestrecktem Hals, die Oberlippe in einer Art aristokratischer Herablassung unter der Rasiercreme
gekräuselt, in den Spiegel blickte. »Hallo, mein Mädchen«, sagte er dann. Sie liebte es, wenn er sie so nannte. Aber warum rasierte er sich mitten in der Nacht? Nachts merkte es doch niemand, wenn er unrasiert war. »Weil«, sagte er mit einem Lächeln, »es deine Mutter merken würde.« Erst Jahre später entdeckte sie, daß sie sein vergnügtes Lachen damals nicht ganz verstanden hatte. Ihre Eltern hatten sich geliebt. Nach der Schule war Ellie mit dem Fahrrad zu dem kleinen Park am Seeufer gefahren. Aus der Satteltasche holte sie das Handbuch für Radioamateure und Mark Twains Roman Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof. Sie überlegte kurz und entschied sich dann für letzteres. Der Held im Buch Mark Twains hatte einen Schlag auf den Schädel bekommen und war in König Artus’ England wiedererwacht. Vielleicht war das alles für ihn nur ein Traum oder eine Sinnestäuschung. Aber vielleicht war es auch Wirklichkeit. War es möglich, in die Vergangenheit zu reisen? Mit angezogenen Knien und aufgestütztem Kinn blätterte Ellie nach ihrer Lieblingsstelle. Es war die Passage gleich am Anfang der Geschichte, in der der Held des Buches von einem Mann mitgenommen wird, der eine Ritterrüstung trägt und den er deshalb für einen aus einer Irrenanstalt der Gegend entsprungenen Verrückten hält. Als die beiden oben auf dem Bergrücken ankommen, sehen sie eine Stadt unter sich ausgebreitet: ›»Bridgeport?‹ sagte ich…« »›Camelot‹, sagte er.« Ellie starrte auf den blauen See hinaus und versuchte, sich eine Stadt vorzustellen, die sowohl das Bridgeport des neunzehnten als auch das Camelot des sechsten Jahrhunderts hätte sein können. Plötzlich hörte sie ihre Mutter, die auf sie zugelaufen kam.
»Ich habe dich überall gesucht. Warum bist du nie da, wo ich dich finden kann? O Ellie«, flüsterte die Mutter, »etwas Furchtbares ist passiert.« In der siebten Klasse nahmen sie »Pi« durch. Das war ein griechischer Buchstabe, der aussah wie die Architektur von Stonehenge in England: zwei senkrechte Pfeiler mit einem Querbalken oben drauf – n. Wenn man den Umfang eines Kreises maß und durch den Durchmesser des Kreises teilte, dann erhielt man Pi. Zu Hause nahm Ellie den Deckel eines Mayonnaiseglases, wickelte eine Schnur darum, legte dann die Schnur der Länge nach hin und maß mit einem Lineal den Kreisumfang. Dasselbe machte sie mit dem Durchmesser, und ohne zu kürzen teilte sie die eine Zahl durch die andere. Sie bekam 3,21 heraus. Das schien ja recht einfach zu sein. Am nächsten Tag erklärte der Lehrer, Mr. Weisbrod, daß p ungefähr 3,1416 betrug. Aber wenn man ganz genau sein wollte, setzten sich die Dezimalen endlos fort, ohne daß sich eine bestimmte Zahlenkombination wiederholte. Endlos, dachte Ellie. Sie hob die Hand. Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen, und sie hatte bisher im Mathematikunterricht noch keine einzige Frage gestellt. »Woher weiß man, daß die Zahlen hinter dem Komma endlos weitergehen?« »Das ist einfach so«, erwiderte der Lehrer streng. »Aber warum? Woher weiß man das? Wie kann man denn die Zahlen hinter dem Komma ewig weiterzählen?« »Miß Arroway«, sagte er mit einem Blick auf den Klassenspiegel, »das ist eine dumme Frage. Sie vergeuden unsere Zeit.« Nie zuvor hatte jemand Ellie als dumm bezeichnet. Sie brach in Tränen aus. Billy Horstman, der neben ihr saß, streckte vorsichtig seine Hand aus und legte sie auf ihre. Sein Vater war erst vor kurzem angeklagt worden, die Kilometerzähler
der Gebrauchtwagen, die er verkaufte, zu frisieren, deshalb wußte Billy, was öffentliche Demütigung bedeutete. Ellie rannte schluchzend aus dem Klassenzimmer. Nach der Schule radelte sie zur Bibliothek des nahegelegenen College, um sich Bücher über Mathematik anzusehen. Soweit sie aus dem Gelesenen schließen konnte, war ihre Frage gar nicht so dumm gewesen. Die alten Hebräer hatten – so die Bibel – offensichtlich geglaubt, daß p exakt drei entsprach. Auch Griechen und Römer, die viel von Mathematik verstanden, hatten keine Ahnung, daß sich bei p die Zahlenstellen ewig fortsetzten, ohne sich zu wiederholen. Dieses Faktum war erst vor ungefähr 250 Jahren entdeckt worden. Wie konnte man von ihr erwarten, das zu wissen, wenn sie keine Fragen stellen durfte? Aber bei den ersten Stellen nach dem Komma hatte Mr. Weisbrod recht gehabt. Pi war nicht 3,21. Vielleicht war der Deckel des Mayonnaiseglases ein bißchen eingedrückt gewesen, so daß es kein vollkommener Kreis gewesen war. Oder sie hatte die Schnur ungenau gemessen. Aber selbst wenn sie noch viel sorgfältiger gewesen wäre, konnte man doch nicht von ihr erwarten, daß sie eine unendliche Anzahl von Dezimalstellen hinter dem Komma messen konnte. Man konnte Pi allerdings auch noch anders finden: Berechnen konnte man Pi so exakt, wie man wollte. Wenn man etwas von Infinitesimalrechnung verstand, konnte man Formeln für Pi entwickeln, mit denen man es bis auf so viele Dezimalstellen berechnen konnte, wie man Zeit darauf verwandte. In einem der Bücher standen Formeln für die Berechnung von Pi dividiert durch vier. Mit einem Teil dieser Formeln konnte Ellie überhaupt nichts anfangen. Von anderen wiederum war sie fasziniert. Eifrig probierte Ellie die Formeln aus, indem sie die Brüche im Wechsel addierte und subtrahierte. Exakt konnte man es nie berechnen, aber wenn man sehr geduldig war, kam man so nah daran heran, wie man
wollte. Es erschien Ellie wie ein Wunder, daß jeder Kreis auf der Welt mit dieser Reihe von Brüchen in Verbindung stand. Wie konnten Kreise nur wissen, daß es solche Brüche gab? Sie war entschlossen, sich die Infinitesimalrechnung beizubringen. In dem Buch stand noch etwas anderes: p wurde als »transzendente« Zahl bezeichnet. Es gab für p keine Gleichung aus gewöhnlichen Zahlen, die nicht unendlich lang war. Ellie hatte sich selbst schon etwas Algebra beigebracht und verstand deshalb, was das bedeutete. Und p war nicht die einzige transzendente Zahl. In Wirklichkeit gab es unendlich viele transzendente Zahlen, ja, sogar unendlich mehr transzendente als gewöhnliche Zahlen, selbst wenn p die einzige war, von der sie je gehört hatte. Damit war p in mehr als einer Hinsicht mit der Unendlichkeit verknüpft. Ellie hatte einen Blick auf ein Gebiet ehrfurchtgebietender Dimensionen geworfen. Versteckt zwischen all den gewöhnlichen Zahlen gab es unendlich viele transzendente Zahlen, deren Vorhandensein man niemals vermutet hätte, wenn man nicht einen tiefen Blick in die Mathematik tat. Hin und wieder tauchte eine von ihnen, wie p zum Beispiel, ganz unerwartet im alltäglichen Leben auf. Aber die meisten – unendlich viele, wie sie jetzt wußte – versteckten sich, kümmerten sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten und waren mit ziemlicher Sicherheit dem so leicht erregbaren Mr. Weisbrod völlig unbekannt. Ellie durchschaute John Staughton von Anfang an. Wie ihre Mutter auch nur hatte daran denken können, ihn zu heiraten, war ihr ein unergründliches Rätsel – was nichts damit zu tun hatte, daß ihr Vater erst zwei Jahre tot war. Zwar sah John Staughton ganz gut aus, und wenn er sich Mühe gab, konnte er auch so tun, als ob er sich etwas aus anderen Menschen machte. Aber er nützte die Menschen aus. Übers Wochenende ließ er seine Studenten kommen, damit sie im Garten des
neuen Hauses, in das sie gezogen waren, Unkraut jäteten und andere Arbeiten verrichteten. Und wenn sie gegangen waren, machte er sich über sie lustig. Ellie, die gerade auf die High School gekommen war, riet er, sich bloß ja von seinen gescheiten jungen Männern fernzuhalten. Er war ein aufgeblasener und eingebildeter Wichtigtuer. Ellie war überzeugt, daß er als Professor ihren verstorbenen Vater heimlich verachtete, weil der nur ein kleiner Ladenbesitzer gewesen war. Staughton hatte ihr ganz klar gesagt, daß es für ein Mädchen nicht in Frage komme, sich für Radios und Elektrotechnik zu interessieren, daß sie damit keinen Mann bekäme und daß es überhaupt dumm und abwegig von ihr sei, Physik verstehen zu wollen. »Anmaßend« nannte er das. Dazu fehlten ihr die Fähigkeiten. Das sei eine objektive Tatsache, mit der sie sich ebensogut abfinden könne. Er sage ihr das nur zu ihrem Besten. Sie werde ihm später noch dankbar dafür sein. Schließlich sei er Professor für Physik. Und er wisse, was dazu gehöre. Solche Moralpredigten machten Ellie wütend, obwohl sie bis zu dieser Zeit noch nie daran gedacht hatte, eine naturwissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, auch wenn ihr Staughton das nicht glauben wollte. Er war nicht sanft, wie ihr Vater gewesen war, und hatte auch überhaupt keinen Sinn für Humor. Wenn sie jemand für Staughtons Tochter hielt, wurde sie furchtbar wütend. Weder ihre Mutter noch ihr Stiefvater schlugen ihr je vor, den Namen Staughton anzunehmen. Sie wußten, was sie darauf geantwortet hätte. Nur gelegentlich zeigte der Mann ein wenig Wärme. Zum Beispiel, als er ihr nach ihrer Mandeloperation ein wunderschönes Kaleidoskop mit ins Krankenhaus brachte. »Wann werde ich operiert?«, hatte Ellie ihn ein wenig schläfrig gefragt.
»Es ist schon alles vorbei«, hatte Staughton geantwortet. »Bald bist du wieder gesund.« Ellie fand es sehr beunruhigend, daß man ihr ganze Zeitabschnitte rauben konnte, ohne daß sie es merkte, und sie gab ihm die Schuld daran. Schon damals war ihr klar, daß das eigentlich kindisch war. Daß ihre Mutter ihn wahrhaft lieben konnte, war ihr unbegreiflich. Sicher hatte sie sich aus Einsamkeit und Schwäche wieder verheiratet. Sie brauchte einfach jemand, der sich um sie kümmerte. Ellie schwor, sich niemals in eine solche Abhängigkeit zu begeben. Ihr Vater war tot, ihre Mutter war ihr fremd geworden, und sie selbst fühlte sich verbannt in das Haus eines Tyrannen. Da war niemand mehr, der sie sein Mädchen nannte. Ellie wünschte sich nichts sehnlicher, als dem allen zu entfliehen. »›Bridgeport?‹ sagte ich.« »›Camelot‹, sagte er.«
2 Kohärentes Licht
Seit ich denken kann, verspüre ich einen so starken und heftigen Drang nach Gelehrsamkeit in mir, daß weder die Ermahnungen anderer… noch meine eigenen Überlegungen mich davon abhalten konnten, dieser natürlichen Neigung nachzugehen, die mir Gott gegeben hat. Er allein weiß den Grund; er weiß auch, wie heiß und innig ich ihn darum gebeten habe, das helle Licht des Verstehens von mir zu nehmen und nur so viel davon zu lassen, wie ich brauche, um nach seinem Gebot zu leben. Denn es gibt Menschen, die sagen, daß alles andere Übermaß sei für eine Frau. Manche sagen auch, daß es schädlich sei. Juana Ines de la Cruz, Antwort an den Bischof von Puebla (1691), der die Schriften dieser gelehrten Frau angriff, weil er sie als ihrem Geschlecht unangemessen erachtete.
Ich möchte dem Leser zu wohlwollender Überlegung eine Doktrin empfehlen, die ihm vermutlich unerhört paradox und umstürzlerisch erscheinen wird. Die fragliche Doktrin ist die folgende: Es ist nicht wünschenswert, an eine
Behauptung zu glauben, wenn kein Grund vorliegt, sie für wahr zu halten. Ich gebe natürlich zu, daß eine solche Anschauung, wenn sie Gemeingut würde, unser Zusammenleben und unser politisches System von Grund auf verwandeln würde, und die Tatsache, daß beide zur Zeit nicht zu beanstanden sind, dürfte gegen jene Doktrin sprechen. Bertrand Russell, Skepsis, I (1928)
Um die Äquatorialebene des blauweißen Sterns kreiste ein riesiger Ring aus Schutt – Felsbrocken, Eis, Metalle und organische Substanzen. An seiner Peripherie schimmerte der Ring rötlich, näher zum Stern hin bläulich. Durch eine Lücke in den Schichten dieses Ringes stürzte das gigantische Polyeder hindurch, um dann auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Im Bereich des Ringes befand es sich zeitweilig im Schatten der dahinrasenden Eisblöcke und Felsgebirge, fetzt aber, auf seiner Flugbahn zu einem Punkt über dem entgegengesetzten Pol des Sterns fortgetragen, glänzten die Millionen kugelförmigen Gebilde im Sonnenlicht. Ein genauer Beobachter hätte womöglich sehen können, wie eines davon seine Ausrichtung leicht korrigierte. Was niemand sehen konnte, waren die Radiowellen, die aus dem Polyeder in die Tiefen des Weltalls drangen.
Seit es Menschen auf der Erde gibt, ist ihnen der Nachthimmel Gefährte und Quelle der Inspiration zugleich gewesen. Die Sterne spendeten Trost. Sie zeigten, so glaubte man, daß das Himmelsgewölbe zum Wohle und zur Belehrung der
Menschheit geschaffen worden war. Diese rührend menschliche Auslegung wurde auf der ganzen Welt zu einer anerkannten Wahrheit. Sie fehlte in keiner Kultur. Manche Menschen fanden über den Himmel Zugang zu religiösen Gefühlen. Viele wurden angesichts der Herrlichkeit und Größe des Kosmos von Ehrfurcht und Demut ergriffen. Andere wurden von ihm zu Höhenflügen der Phantasie angeregt. Genau zu dem Zeitpunkt, als die Menschen die wahren Ausmaße des Universums entdeckten und merkten, daß selbst ihre farbigsten Phantasien angesichts der Dimensionen auch nur der Milchstraße blasse Schatten blieben, taten sie Schritte, die zur sicheren Folge hatten, daß ihre Nachkommen die Sterne überhaupt nicht mehr sehen konnten. Eine Million Jahre lang waren die Menschen aufgewachsen mit einem aus direkter sinnlicher Wahrnehmung herrührenden, sich täglich erneuernden Wissen um das Himmelsgewölbe. In den letzten Jahrtausenden hatten sie angefangen, Städte zu bauen und dorthin zu ziehen. Und in den letzten Jahrzehnten hatte ein Großteil der menschlichen Bevölkerung sein ländliches Leben aufgegeben. Mit dem Fortschritt der Technik und der Verschmutzung der Städte wurden die Nächte sternenlos. Neue Generationen wuchsen in völliger Unkenntnis des Himmels heran, der ihre Vorfahren noch gefesselt und das moderne Zeitalter der Wissenschaft und Technologie in Gang gesetzt hatte. Ohne auch nur zu bemerken, daß gerade für die Astronomie ein goldenes Zeitalter anbrach, schnitten sich die meisten Menschen vom Himmel ab. Die Isolation vom Kosmos fand erst mit dem Beginn der Erforschung des Weltraums ein Ende. Immer, wenn Ellie zur Venus hinaufsah, stellte sie sich vor, daß es dort vielleicht eine Welt gab, die der Erde glich – besiedelt von Pflanzen, Tieren und Zivilisationen, allerdings
ganz anderen Arten als auf der Erde. Kurz nach Sonnenuntergang stand Ellie am Rande der Stadt und sah zum nächtlichen Himmel auf. Immer wieder starrte sie fasziniert auf den stetig brennenden, hellen Lichtpunkt der Venus. Im Vergleich zu den Wolken direkt über ihr, die noch von der Sonne erleuchtet wurden, schien er fast gelb zu sein. Sie versuchte sich auszumalen, was dort oben vor sich ging. Dazu stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um dem Planeten näher zu sein. Manchmal konnte sie sich fast selbst davon überzeugen, daß sie etwas sah. Der gelbe Nebelschleier lichtete sich dann plötzlich und gab für einen Moment den Blick auf eine große Stadt aus Edelsteinen frei. Luftautos sausten zwischen den kristallenen Turmspitzen hindurch. Manchmal stellte sie sich vor, daß sie in eines dieser Autos hineinsehen und einen von denen dort oben erspähen konnte. Oder sie stellte sich einen jungen Bewohner der Venus vor, der zu einem Punkt hellen, blauen Lichts an seinem Himmel hinaufsah und sich Gedanken über die Bewohner der Erde machte. Der Gedanke war unwiderstehlich: Ein tropisch schwüler Planet, überquellend vor intelligenten Lebewesen, und sozusagen direkt vor der eigenen Haustür. Ellie fand sich damit ab, bestimmte Dinge rein mechanisch auswendig lernen zu müssen, obwohl sie wußte, daß das bestenfalls ein Abklatsch wirklicher Bildung war. Sie lernte gerade soviel, wie notwendig war, um ihre Kurse gut zu bestehen. Ansonsten ging sie eigenen Interessen nach. Sie richtete es so ein, daß sie ihre unterrichtsfreien Stunden während des Schultags und manchmal auch eine Stunde nach der Schule in der schuleigenen Werkstatt verbringen konnte. Es war eine schmutzige, enge Werkstatt, die zu einer Zeit eingerichtet worden war, als die Schulen noch größeren Wert auf eine berufsorientierte Ausbildung legten. Heute galt das nicht mehr als modern. »Berufsorientierte Ausbildung«
bedeutete, vor allem mit den Händen zu arbeiten. In der Werkstatt gab es Drehbänke, Bohrer und andere Maschinen, die Ellie freilich nicht benutzen durfte, ganz egal, ob sie dazu imstande war oder nicht, denn sie war ja nur »ein Mädchen«. Nur widerstrebend gestattete man ihr, eigenen Projekten in der elektrotechnischen Abteilung der Werkstatt nachzugehen. Dort baute sie erst aus Einzelteilen Radios zusammen und wandte sich dann interessanteren Dingen zu. Zunächst baute sie ein Chiffrierungsgerät. Die Konstruktion war simpel, aber sie funktionierte. Man konnte eine beliebige englischsprachige Nachricht einlesen und mit Hilfe eines einfachen Schlüssels in einen Text transformieren, der wie Kauderwelsch aussah. Einen Apparat zu bauen, der genau das Umgekehrte tat, also eine chiffrierte Nachricht entschlüsselte, wobei man die Ersetzungsregeln nicht kannte, war allerdings viel schwieriger. Einen solchen Apparat konnte man alle Ersetzungsmöglichkeiten durchlaufen lassen (A steht für B, A steht für C, A steht für D…), oder sich daran orientieren, daß im Englischen einige Buchstaben häufiger vorkamen als andere. Von der Häufigkeit der Buchstaben konnte man eine Vorstellung bekommen, wenn man sich in der Druckerei nebenan die Größe der Behälter für jede Letter anschaute. »ETAOIN SHRDLU«, sagten die Jungs in der Druckerei, und damit war ziemlich genau die Reihenfolge der zwölf am häufigsten gebrauchten Buchstaben des Englischen angegeben. Beim Dechiffrieren einer langen Nachricht stand dann der Buchstabe, der am häufigsten auftauchte, für ein E. Außerdem entdeckte Ellie, daß bestimmte Konsonanten die Tendenz hatten zusammenzugehen. Vokale dagegen verteilten sich mehr oder weniger zufällig. Das gebräuchlichste Wort mit drei Buchstaben war in der englischen Sprache »the«. Wenn innerhalb eines Wortes ein Buchstabe zwischen einem T und einem E stand, handelte es sich größter Wahrscheinlichkeit um
ein H. Wenn nicht, dann konnte man auf ein R oder einen Vokal wetten. Ellie leitete noch andere Regeln ab und verbrachte viele Stunden damit, die Häufigkeit von Buchstaben in verschiedenen Schulbüchern zu ermitteln, bevor sie entdeckte, daß solche Häufigkeitstabellen bereits zusammengestellt und veröffentlicht worden waren. Das Chiffrierungsgerät hatte sie nur zum eigenen Vergnügen gebaut. Sie verwendete es nicht, um Freunden geheime Nachrichten zu schicken. Sie wußte ja nicht einmal, mit wem sie offen über ihr Interesse für Elektronik und Geheimschriften hätte sprechen sollen. Die Jungen reagierten gereizt oder überheblich, und die Mädchen sahen sie nur hilflos mit großen Augen an. In einem fernen Land, das Vietnam hieß, kämpften Soldaten der Vereinigten Staaten. Mit jedem Monat, so schien es, wurden mehr junge Männer von der Straße und von den Farmen geholt und nach Vietnam verfrachtet. Je mehr Ellie über die Hintergründe des Krieges erfuhr und je mehr sie den öffentlichen Erklärungen führender Staatsmänner zuhörte, desto wütender wurde sie. Der Präsident und der Kongreß logen und mordeten, dachte sie, und fast alle anderen billigten es stillschweigend. Und als sie sah, daß ihr Stiefvater sich der offiziellen Meinung von vertraglichen Verpflichtungen, Dominotheorie und unverhüllter kommunistischer Aggression anschloß, wurden ihre Zweifel nur noch stärker. Sie fing an, Versammlungen und Kundgebungen im benachbarten College zu besuchen. Die Menschen, die sie dort kennenlernte, fand sie viel intelligenter, freundlicher und lebendiger als ihre unbeholfenen und farblosen Mitschüler von der High School. John Staughton warnte Ellie vor ihren neuen Bekannten, und zuletzt verbot er ihr geradeheraus, ihre Zeit mit den Studenten vom College zu verbringen. Die Studenten würden sie nie als gleichberechtigt anerkennen, sagte er. Im Gegenteil, man
werde sie ausnützen. Und sie selbst erhebe Anspruch auf eine Intellektualität, die sie nicht habe und niemals haben werde. Und die Art, wie sie sich anziehe, lasse auch immer mehr zu wünschen übrig. Armeekleidung sei unpassend für ein Mädchen und verlogen bei jemand, der vorgebe, sich gegen die amerikanische Intervention in Südostasien aufzulehnen. Ellies Mutter beteiligte sich – von ein paar gutgemeinten Ermahnungen, sich nicht zu »zanken«, abgesehen – kaum an den Auseinandersetzungen zwischen Ellie und Staughton. Aber wenn sie mit Ellie allein war, bat sie sie inständig, ihrem Stiefvater doch zu gehorchen und »nett« zu ihm zu sein. Ellie hatte jetzt den Verdacht, daß Staughton ihre Mutter nur wegen der Lebensversicherung ihres Vaters geheiratet hatte. Was hätte er sonst für einen Grund haben können? Er zeigte in keiner Weise, daß er sie liebte – und er selber war ja auch überhaupt nicht »nett« zu ihr. Eines Tages bat ihre Mutter sie ganz aufgeregt um etwas, das für sie alle wichtig sei: Sie sollte in die Sonntagsschule gehen. Als Ellies Vater, der Offenbarungsreligionen gegenüber skeptisch war, noch lebte, war nie die Rede von der Sonntagsschule gewesen. Wie hatte ihre Mutter Staughton nur heiraten können? Zum tausendsten Mal stellte sie sich diese Frage. Die Sonntagsschule, fuhr ihre Mutter fort, würde ihr helfen zu verstehen, was gut und richtig war, aber was noch viel wichtiger sei, Staughton würde merken, daß Ellie sich alle Mühe gab, mit ihm auszukommen. Aus Liebe und Mitleid für ihre Mutter fügte Ellie sich stillschweigend. Fast ein ganzes Schuljahr ging Ellie also jeden Sonntag zu einem Gesprächskreis in eine nahegelegene Kirche. Veranstaltet wurde der Unterricht von einer protestantischen Gruppierung, deren Mitglieder nicht von rücksichtslosem Missionseifer besessen waren. Die Teilnehmer waren Schüler der High School, Erwachsene, darunter vor allem Frauen
mittleren Alters, und die Lehrerin, die Frau des Pfarrers. Ellie hatte nie zuvor ernsthaft die Bibel gelesen und neigte dazu, dem vielleicht zu strengen Urteil ihres Vaters zuzustimmen, die Bibel sei »eine Mischung aus barbarischer Geschichte und Märchen«. Deshalb las sie an dem Wochenende vor der ersten Unterrichtsstunde die Teile des Alten Testaments, die ihr wichtig erschienen, und versuchte, dabei unvoreingenommen zu sein. Sie merkte sofort, daß es in den ersten zwei Kapiteln der Genesis zwei einander widersprechende Schöpfungsgeschichten gab. Außerdem konnte sie nicht verstehen, wie es Licht und Tag hatte werden können, bevor die Sonne erschaffen war, und sie hatte Schwierigkeiten, genau herauszufinden, wen Kain nun geheiratet hatte. Die Geschichten über Lot und seine Töchter, Abraham und Sarah in Ägypten, die Verlobung Dinas sowie Jakob und Esau verblüfften sie. Daß es in der wirklichen Welt Feigheit gab, daß Söhne ihren betagten Vater hinters Licht führten und betrogen, daß ein Mann feige der Verführung seiner Ehefrau durch den König zustimmte oder gar die Vergewaltigung seiner Töchter unterstützte, konnte sie sich vorstellen. Aber in dieser heiligen Schrift stand nicht ein einziges Wort des Protestes gegen solche Freveltaten. Im Gegenteil, Ellie hatte den Eindruck, daß die Verbrechen gebilligt, ja sogar gepriesen wurden. Als die Bibelstunde begann, war Ellie begierig, über diese verwirrenden Ungereimtheiten zu sprechen und Gottes Absicht, die das alles rechtfertigte, erklärt zu bekommen. Zumindest wollte sie erfahren, warum die Verbrechen von den Autoren oder dem einen göttlichen Autor des Buches nicht verurteilt wurden. In diesem Punkt wurde sie freilich enttäuscht. Die Frau des Pfarrers reagierte ausweichend auf ihre Fragen. Und in den späteren Gesprächen kam man dann auch nicht mehr auf diese Geschichten zu sprechen. Als Ellie fragte, wie die Dienerin der Tochter des Pharaos nur durch
Hinsehen feststellen konnte, daß der Säugling in den Binsen Jude war, wurde die Lehrerin puterrot und bat Ellie, nicht mehr so unziemliche Fragen zu stellen. Im selben Moment dämmerte Ellie die Antwort. Als sie zum Neuen Testament übergingen, wurde Ellies Unbehagen noch größer. Matthäus und Lukas verfolgten die Linie der Vorfahren von Jesus bis auf König David zurück. Während bei Matthäus nur achtundzwanzig Generationen zwischen Jesus und David lagen, waren es bei Lukas dreiundvierzig. Und unter den Namen der beiden Stammbäume gab es kaum gemeinsame. Wie konnten also sowohl das Matthäusevangelium als auch das Lukasevangelium das Wort Gottes sein? Ellie sah in den widersprüchlichen Ahnenreihen den offenkundigen Versuch, die Prophezeiung Jesajas im nachhinein den Fakten anzugleichen – im Chemielabor nannte man das »Daten frisieren«. Tief ergriffen war sie von der Bergpredigt, zutiefst enttäuscht aber von der Ermahnung »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist«. Und als die Lehrerin zweimal ihrer Frage nach der Bedeutung von »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert« auswich, brach sie vor Wut und Enttäuschung in Tränen aus. Ihrer völlig ratlosen Mutter teilte sie mit, daß sie ihr Bestes getan habe, daß aber keine zehn Pferde sie noch einmal in die Sonntagsschule brächten. Ellie lag auf ihrem Bett. Es war eine heiße Sommernacht, und im Radio sang Elvis »One night with you, that’s what I’m beggin’ for«. Die Jungen von der High School waren so schrecklich albern, und Freundschaften mit den jungen Männern vom College aufzubauen, die sie bei Vorträgen und Kundgebungen kennenlernte, war schwierig und wurde zusätzlich erschwert durch das abendliche Ausgehverbot und alle anderen Verbote ihres Stiefvaters. Insgeheim mußte sie
zugeben, daß John Staughton zumindest in einem Punkt recht hatte: Die jungen Männer dachten auch ihr gegenüber fast immer zuerst an Sex. Gleichzeitig stellte Ellie aber fest, daß sie in ihren Gefühlen viel verletzlicher waren, als sie erwartet hatte. Vielleicht hing ja das eine mit dem anderen zusammen. Ellie hatte sich schon halbwegs damit abgefunden, nicht aufs College gehen zu können. Dennoch war sie fest entschlossen, von zu Hause auszuziehen. Staughton würde ihr dafür keinen Pfennig zahlen, und die schüchternen Fürbitten ihrer Mutter blieben fruchtlos. Aber Ellie hatte bei den landesweiten Aufnahmeprüfungen fürs College außerordentlich gut abgeschnitten, und ihre Lehrer teilten ihr zu ihrer Überraschung mit, daß ihr wahrscheinlich ein paar bekannte Universitäten ein Stipendium anbieten würden. Sie hatte bei vielen Multiple-choice-Fragen einfach geraten und hielt ihre Leistung deshalb für das Ergebnis eines glücklichen Zufalls. Wenn man sehr wenig wußte, hatte sie sich ausgerechnet, aber genug, um bei den Fragen alle Antworten bis auf die zwei wahrscheinlichsten ausschließen zu können, so war bei zehn Fragen die Chance eins zu tausend, daß man alle zehn richtig löste. Bei zwanzig Fragen lagen die Chancen bei eins zu einer Million. Aber ungefähr eine Million Schüler machten den Test. Einer unter ihnen mußte also der Glückliche sein. Cambridge in Massachusetts war weit genug weg, um John Staughtons Einfluß zu entkommen, und nah genug, um die Mutter in den Ferien besuchen zu können. Für die Mutter war es nicht leicht, aber sie brauchte so wenigstens nicht ganz auf die Tochter zu verzichten, und ihr Mann wurde durch die ständigen Auseinandersetzungen nicht noch mehr verärgert. Ellie war von sich selbst überrascht, als sie Harvard dem Massachusetts Institute of Technology vorzog. Wenig später traf sie zur Orientierungswoche in Harvard ein: Eine hübsche, dunkelhaarige junge Frau mittlerer Größe mit einem schiefen
Lächeln und dem festen Vorsatz, alles zu lernen, was es zu lernen gab. Um ihren Horizont zu erweitern, belegte Ellie neben ihren Hauptinteressengebieten Mathematik, Physik und Technik noch möglichst viele andere Seminare. Aber gerade in ihren Lieblingsgebieten hatte Ellie immer wieder dasselbe Problem: Es war schwierig, mit ihren überwiegend männlichen Kommilitonen über Physik zu diskutieren oder gar zu streiten. Am Anfang ignorierten sie einfach alle Äußerungen Ellies. Nach einer kurzen Pause machten sie dann weiter, als ob sie nichts gesagt hätte. Hin und wieder nahmen sie ihre Bemerkungen auch zur Kenntnis, lobten sie sogar, beachteten sie dann aber nicht weiter. Ellie war sich ziemlich sicher, daß ihre Äußerungen nicht so dumm waren, und sie wollte nicht übergangen werden, schon gar nicht abwechselnd übergangen und dann wieder gönnerhaft angehört werden. Sie wußte, daß es zum Teil – allerdings nur zum Teil – an ihrer sanften Stimme lag. Deshalb trainierte sie sich eine professionell klingende Naturwissenschaftlerstimme an: hart, kompetent und einige Dezibel über ihrer normalen Stimmlage. Mit dieser Stimme war es natürlich wichtig, daß man recht hatte. Sie mußte ihre Auftritte gezielt auswählen. Es fiel ihr allerdings schwer, lange so zu sprechen, weil sie manchmal das Lachen kaum unterdrücken konnte. Sie fand heraus, daß kurze, scharfe Einwürfe ihr am besten lagen und meist ausreichten, die Aufmerksamkeit der anderen Studenten auf sich zu lenken, um dann eine Weile in normaler Stimmlage weiterreden zu können. In jedem Seminar begann dieser Kampf von neuem, nur damit sie in der Diskussion dann auch gehört wurde. Keiner der Jungen hatte auch nur eine Ahnung davon, welchem Problem sie gegenüberstand. Manchmal sagte ein Dozent in einer Laborübung oder einem Seminar »Meine Herren, machen wir weiter«, und wenn er dann Ellies gerunzelte Stirn bemerkte, fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie,
Miß Arroway, aber Sie sind für mich wie ein Junge.« Das war das höchste Kompliment, zu dem die Männer fähig waren: Daß sie in ihren Augen keine typische Frau war. Ellie mußte sich immer wieder zusammenreißen, damit sie nicht ganz ihrer Kampfeslust erlag oder überhaupt zum Menschenfeind wurde. Manchmal wurde sie plötzlich nachdenklich. Ein Menschenfeind, ein »Misanthrop«, war jemand, der alle Menschen haßte, nicht nur Männer. Und natürlich gab es auch ein eigenes Wort für einen Frauenfeind: »Misogyn«. Aber die Lexikographen hatten versäumt, auch ein Wort für die Abneigung gegen Männer zu schaffen. Wahrscheinlich waren die Lexikographen fast alle selber Männer und konnten sich deshalb auch nicht vorstellen, daß es Bedarf für so ein Wort gab. Mehr als die meisten ihrer Kommilitonen war sie zu Hause durch Vorschriften und Verbote eingeengt worden. Die frisch errungene Freiheit fand sie deshalb aufregend. Zu einer Zeit, in der sich viele ihrer Altersgenossen bewußt nachlässig kleideten und so den Unterschied zwischen den Geschlechtern verwischten, bemühte sie sich um schlichte Eleganz in Kleidung und Make-up, was ihr begrenztes Budget ziemlich strapazierte. Freilich wußte sie, daß es wirkungsvollere Möglichkeiten gab, sich politisch zu äußern. Sie pflegte einige enge Freundschaften und machte sich ab und zu auch Feinde, die sie wegen ihrer Kleidung, ihrer politischen und religiösen Ansichten oder wegen des Nachdrucks, mit dem sie ihre Meinungen vertrat, nicht mochten. Ihr Sachverstand und ihre Begeisterung in den Naturwissenschaften waren in den Augen vieler durchaus intelligenter junger Frauen schwerwiegende Mängel. Nur einige wenige sahen in ihr das, was Mathematiker einen Existenzbeweis nennen, nämlich einen Beweis dafür, daß sich eine Frau tatsächlich in den Naturwissenschaften
auszeichnen konnte; und, für manche war sie sogar Vorbild für ein neues Rollenverständnis. Auf dem Höhepunkt der sexuellen Revolution nahm sie mit wachsendem Vergnügen die neuen Freiheiten für sich in Anspruch, spürte aber, daß sie auf ihre Liebhaber einschüchternd wirkte. Ihre Beziehungen dauerten meist nur ein paar Monate. Sie spürte, daß sie das nur ändern konnte, wenn sie ihre Interessen versteckte und ihre Meinungen unterdrückte. Und dagegen hatte sie sich schon in der High School entschieden gewehrt. Das Bild ihrer zu einem resignierten, nur noch auf Harmonisierung ausgerichteten Gefangenendasein verurteilten Mutter verfolgte sie. Sie fing an, auf Männer neugierig zu werden, die nichts mit dem akademischen bzw. naturwissenschaftlichen Betrieb zu tun hatten. Manche Frauen schienen völlig arglos zu sein und gaben sich den Männern hin, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken. Andere wiederum begaben sich auf einen mit aller erdenklichen Kriegslist und Strategie ausgeklügelten Feldzug, in dem alle Eventualitäten und Rückzugsmöglichkeiten einkalkuliert waren, mit dem einzigen Ziel, sich zuletzt einen begehrenswerten Mann zu angeln. Schon das Wort »begehrenswert« entlarvte sie. So ein armer Tropf wurde nicht wirklich begehrt, sondern er war nur »begehrenswert« – ein lohnendes Objekt gerade auch in den Augen der anderen, für die das ganze traurige Verstellungsspiel inszeniert wurde. Die meisten Frauen lagen für Ellie irgendwo zwischen diesen Extremen. Sie versuchten, ihre Leidenschaft mit den absehbaren langfristigen Vorteilen in Einklang zu bringen. Vielleicht gab es ja ab und zu Verbindungen zwischen Liebe und Vorteil, die der Aufmerksamkeit entgingen. Aber die Vorstellung, jemand nach einem berechneten Plan zu verführen, ließ Ellie frösteln.
In Sachen Liebe wollte sie sich bedingungslos zum Element des Spontanen bekennen. Damals lernte sie Jesse kennen. Ein Bekannter hatte sie zum ersten Mal in die Kellerbar beim Kenmore Square mitgenommen. Jesse sang Bluegrass und spielte Gitarre. Die Art, wie er sang und sich bewegte, machte Ellie bewußt, was sie bisher vermißt hatte. Am nächsten Abend kam sie allein. Sie setzte sich an den Tisch neben der Bühne und sah ihm bei beiden Auftritten die ganze Zeit in die Augen. Zwei Monate später zogen sie zusammen. Nur wenn Jesse zu Auftritten nach Hartford oder Bangor mußte, fand sie noch Zeit zur Arbeit. Dann verbrachte sie den ganzen Tag mit den anderen Studenten. Mit Studenten, denen die neuesten Rechenschiebermodelle wie Trophäen am Gürtel baumelten; denen Kulihalter aus Plastik in der Brusttasche steckten; die überkorrekt und eingebildet waren, nervös lachten und jede Minute hart daran arbeiteten, Wissenschaftler zu werden. Sie waren so sehr davon in Anspruch genommen, die letzten Tiefen der Natur zu ergründen, daß sie bei all ihrem Wissen alltäglichen menschlichen Angelegenheiten fast hilflos ausgeliefert waren und dabei einen bemitleidenswerten und naiven Eindruck machten. Vielleicht forderten der Dienst an der Wissenschaft und der Konkurrenzdruck so viel Kraft, daß ihnen keine Zeit blieb, zu einer abgerundeten Persönlichkeit zu wachsen. Oder vielleicht hatten diese Studenten sich gerade wegen ihrer Unfähigkeit zu zwischenmenschlichen Kontakten Gebieten zugewandt, wo dieser Mangel nicht so auffiel. Außer für wissenschaftliche Diskussionen, fand Ellie, waren sie keine gute Gesellschaft. Aber in der Nacht war Jesse da, stürmisch und übersprudelnd, eine Naturgewalt, die von Ellies Leben Besitz ergriffen hatte. In dem Jahr, das sie zusammen verbrachten, konnte sie sich an keine Nacht erinnern, in der er vorgeschlagen hatte, schlafen zu gehen. Er verstand nichts von Mathematik und Physik, aber
die Welt, in der er lebte, sah er mit hellwachen Augen. Und eine Zeitlang konnte er Ellie dabei mitreißen. Ellie träumte davon, diese zwei Welten in Einklang zu bringen. Sie träumte von Musikern und Physikern, die in menschlich harmonischem Einverständnis zusammenlebten. Aber auf den Einladungen, die sie manchmal abends organisierte, war die Stimmung steif, und die Gäste gingen früh. Eines Tages sagte Jesse ihr, daß er sich ein Baby wünsche. Er wolle ernsthaft darangehen, eine geregelte Arbeit zu finden. Er könne sich sogar vorstellen zu heiraten. »Ein Baby?« wiederholte sie. »Aber dann muß ich ja die Universität aufgeben. Es dauert noch Jahre, bis ich fertig bin. Und wenn ich ein Kind habe, bin ich vielleicht für immer draußen.« »Das mag schon sein, aber wir hätten ein Kind. Du hättest zwar nicht mehr deine Seminare, aber dafür etwas anderes.« »Jesse, ich brauche die Seminare«, erwiderte sie. Er zuckte die Achseln, und Ellie konnte fast sehen, wie ihr gemeinsames Leben von ihm abfiel und sich in Nichts auflöste. Ihr Beziehung hielt noch ein paar Monate, aber in dem kurzen Wortwechsel war bereits alles gesagt worden. Zum Abschied küßten sie sich, dann ging er nach Kalifornien. Sie hörte seine Stimme nie wieder. Ende der 60er Jahre gelang es der Sowjetunion, Raumsonden auf der Oberfläche der Venus zu landen. Es waren die ersten Raumfahrzeuge der Menschheit, die in betriebsfähigem Zustand auf einem anderen Planeten aufsetzten. Bereits ein Jahrzehnt zuvor hatten amerikanische Radioastronomen von ihrem Standort auf der Erde aus entdeckt, daß die Venus eine Quelle intensiver Radiostrahlung war. Die verbreitetste Erklärung dafür war, daß die dichte Atmosphäre der Venus durch einen planetarischen Treibhauseffekt die Hitze festhielt. Nach dieser Theorie mußte die Planetenoberfläche stickig heiß
sein, viel zu heiß für kristallene Städte und herumspazierende Venusianer. Ellie wäre eine andere Erklärung viel lieber gewesen, sie versuchte sich deshalb vorzustellen, wie die Radiostrahlung von irgendwo anders hoch über einer klimatisch milden Oberfläche herkommen könnte, jedoch ohne Erfolg. Einige Astronomen in Harvard und am Massachusetts Institute of Technology waren der Überzeugung, daß keine der Alternativen zur Theorie von der glühendheißen Venus die intensive Radiostrahlung erklären konnte. Ellie erschien die Vorstellung eines so massiven Treibhauseffekts unwahrscheinlich und irgendwie abstoßend, als ob die Venus ein Planet wäre, der sich hemmungslos gehen ließ. Als aber die Raumsonde Venera dort landete und ein Thermometer ausfuhr, war die gemessene Temperatur so hoch, daß sie Zinn und Blei zum Schmelzen gebracht hätte. Ellie malte sich aus, wie sich die kristallenen Städte verflüssigten (obwohl es auf der Venus so heiß wiederum auch nicht war) und wie die Oberfläche von Silikattränen überflutet wurde. Sie war eine romantische Natur. Das wußte sie schon lange. Aber zugleich mußte sie die Leistungsfähigkeit der Radioastronomie bewundern. Die Astronomen hatten zu Hause gesessen, ihre Radioteleskope auf die Venus gerichtet und die Oberflächentemperatur fast genauso exakt gemessen wie dreizehn Jahre später die Venera-Sonden. Ellie war, seit sie denken konnte, von Elektrizität und Elektronik fasziniert gewesen. Jetzt war sie zum ersten Mal tief beeindruckt von der Radioastronomie. Man konnte in aller Ruhe und Sicherheit auf dem eigenen Planeten stehen und das Teleskop mit den damit verbundenen elektronischen Geräten auf ein Ziel richten. Und dann kam Leben in die Empfänger, wenn die Informationen aus anderen Welten eintrafen. Von da an besuchte Ellie oft das kleine Radioteleskop der Universität im nahegelegenen Harvard in Massachusetts, in der, Hoffnung, vielleicht eine
Einladung zu bekommen, bei den Beobachtungen und den Datenanalysen mitzuhelfen. Dann stellte das National Radio Observatory in Green Bank, West Virginia, sie für einen Sommer als bezahlte Assistentin an. Bei ihrer Ankunft dort besichtigte sie voller Begeisterung das Radioteleskop von Grote Reber, das er 1938 in seinem Garten in Wheaton in Illinois aufgebaut hatte. Jetzt sollte es daran erinnern, was ein engagierter Amateur alles zuwege bringen konnte. Reber hatte mit seiner Konstruktion die Radiostrahlung aus dem Zentrum der Galaxis nachweisen können, allerdings zu einer Zeit, als in dieser Gegend noch kein Auto gefahren und die diathermische Apparatur im Labor ein paar Häuser weiter noch nicht in Betrieb war. Das Zentrum der Galaxis war zwar viel leistungsfähiger, der mit hohen Frequenzen arbeitende Apparat aber viel näher. Die Atmosphäre ernsthafter und geduldiger Forschung am Observatorium und die gelegentliche Belohnung durch eine kleine Entdeckung sagten Ellie zu. Das Forscherteam war gerade damit beschäftigt zu messen, wie sich die Anzahl entfernter außergalaktischer Radioquellen erhöhte, wenn man tiefer in das Weltall schaute. Ellie begann darüber nachzudenken, wie man schwache Radioquellen leichter ausfindig machen könnte. Zur gegebenen Zeit machte sie in Harvard ihren Collegeabschluß, cum laude, und ging dann zur Fortsetzung ihres Studiums der Radioastronomie ans andere Ende des Landes, zum California Institute of Technology. Ein Jahr lang ging Ellie bei David Drumlin in die Lehre. Er genoß weltweit den Ruf, ein brillanter Kopf zu sein und keinen Dummkopf in seiner Umgebung leiden zu können. Im Gründe unterschied er sich freilich nicht von anderen Männern in Spitzenpositionen, die in der ständigen Angst leben, daß irgendwo irgend jemand noch intelligenter sein könnte als sie selbst. Drumlin machte Ellie mit den Kernfragen der Materie
bekannt und vermittelte ihr ein theoretisches Fundament. Obwohl es Gerüchte gab, denen zufolge Frauen ihn charmant fanden, erlebte Ellie ihn meist aggressiv und egozentrisch. Sie sei zu romantisch, sagte er oft. Das Universum sei streng nach eigenen Gesetzen geordnet. Das Ziel sei, so zu denken wie das Universum und nicht eigene romantische Vorstellungen – oder mädchenhafte Sehnsüchte, wie er einmal sagte – in das Universum zu projizieren. Alles, was nicht durch die Naturgesetze verboten ist, versicherte er Ellie – und zitierte damit einen Kollegen vom selben Institut –, sei verbindlich. Aber, fuhr er fort, fast alles sei verboten. Sie schaute ihn an, während er ihr diesen Vortrag hielt, und versuchte dabei, ihre disparaten Eindrücke von ihm zum Gesamtbild seiner Persönlichkeit zusammenzusetzen. Sie hatte einen Mann vor sich, der blendend aussah mit seinem vorzeitig ergrauten Haar, dem zynischen Lächeln, der Lesebrille auf der Nasenspitze, der Fliege, dem kantigen Kinn und einer Aussprache, in der noch Reste des näselnden Akzents der Bevölkerung von Montana zu hören waren. Drumlins Vorstellung von Geselligkeit entsprach es, die fortgeschrittenen Studenten und jüngeren Fakultätsmitglieder zu sich nach Hause zum Abendessen einzuladen (anders als Ellies Stiefvater, der sich zwar gern von Studenten hofieren ließ, es aber für völlig übertrieben hielt, sie zum Abendessen zu bitten). Drumlin zeigte dabei das extreme Bedürfnis, sich auf den Gebieten seiner eigenen Forschung zu produzieren, indem er das Gespräch ständig auf Themen lenkte, in denen er der anerkannte Fachmann war, um dann widersprechende Ansichten schnell vom Tisch zu fegen. Nach dem Abendessen mußte man oft einen Diavortrag über Dr. D. als Sporttaucher auf Cozumel, Tobago oder dem Großen Barrier-Riff über sich ergehen lassen. Meist lachte und winkte er auf den Bildern in die Kamera, auch auf den Unterwasserbildern. Manchmal war auch eine
Unterwasseransicht seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Dr. Helga Bork dabei. Gegen diese letzteren Dias protestierte Drumlins Frau immer mit dem den Tatsachen entsprechenden Argument, daß die meisten Gäste sie schon bei früheren Abendessen gesehen hätten. In Wirklichkeit hatten die Gäste nicht nur diese, sondern überhaupt alle Dias schon einmal gesehen. Drumlin antwortete darauf stets mit einem Lobpreis der sportlichen Vorzüge von Dr. Bork, was die Demütigung seiner Frau noch vergrößerte. Die meisten Studenten versuchten, sich trotzdem zu amüsieren, und suchten nach Details, die bei früheren Vorführungen zwischen Steinkorallen und stachligen Seeigeln verlorengegangen waren. Einige wenige wandten sich vor Verlegenheit ab oder konzentrierten sich ganz auf die Avocadosoße auf dem Tisch. Ein anregender Nachmittag war es für die Studenten, wenn Drumlin sie zu zweit oder dritt einlud, ihn hinaus zu seinem Lieblingsfelsen in der Nähe von Pacific Palisades zu fahren. Lässig an seinen Drachen geschnallt, sprang er dort von den Klippen auf den ruhigen Ozean hinaus, der einige hundert Meter tiefer lag. Aufgabe der Studenten war es, mit dem Wagen die Küstenstraße hinunterzufahren und ihn am Fuß der Klippen abzuholen. Von oben stürzte er auf sie herab und strahlte dabei vor Vergnügen. Er forderte die Studenten auf, sich ihm anzuschließen, aber nur wenige nahmen die Einladung an. Er war im Vorteil und genoß es in vollen Zügen. Es war ein richtiges Schauspiel. Es gab Professoren, die in den Studenten den wissenschaftlichen Nachwuchs und ihre intellektuellen Fackelträger zur nächsten Forschergeneration sahen. Drumlin, das fühlte Ellie, war da ganz anderer Ansicht. Für ihn waren die älteren Studenten Gegner in einem Duell mit Revolvern. Und man konnte nie wissen, welcher von ihnen ihn vielleicht schon im nächsten Moment zum Kampf um den Titel des »schnellsten Revolvers im Westen« herausforderte. Die
Studenten mußten an ihrem Platz gehalten werden. Ellie gegenüber war er noch nie zudringlich geworden, aber früher oder später würde er es sicher versuchen. In Ellies zweitem Jahr am Institut kehrte Peter Valerian, der ein Forschungsjahr im Ausland verbracht hatte, auf den Campus zurück. Er war ein stiller, dabei wenig attraktiver Mann. Niemand hielt ihn für besonders brillant, und er selbst hätte das auch nie von sich behauptet. Dennoch hatte er in der Radioastronomie immer wieder bedeutende Erfolge zu verbuchen gehabt. Den Grund dafür sah er, wenn man ihn darauf festnagelte, darin, daß er »nie locker ließ«. In seiner wissenschaftlichen Karriere gab es einen leicht anrüchigen Punkt: Er war fasziniert von der möglichen Existenz extraterrestrischer Intelligenzen. Jedem Fakultätsmitglied wurde anscheinend sein Spleen zugestanden: Drumlin hatte das Drachenfliegen, Valerian sein Leben auf anderen Planeten, andere hatten ihre Bars mit oben ohne, fleischfressende Pflanzen und transzendentale Meditation. Valerian hatte über extraterrestrische Intelligenzen, abgekürzt ETI, schon länger und mit größerer Anstrengung und Sorgfalt als sonst irgend jemand nachgedacht, je besser Ellie ihn kennenlernte, desto deutlicher sah sie die Faszination und die romantischen Vorstellungen, die ETI in ihm weckten – und die in so krassem Gegensatz zu seinem äußerlich ereignislosen Leben standen. Das Nachdenken über extraterrestrische Intelligenzen war keine Arbeit für ihn, sondern Spiel. Seine Phantasie schwang sich dabei zu wahren Höhenflügen auf. Ellie hörte ihm begeistert zu. Es war, als beträte man ein verzaubertes Land mit Städten aus Edelsteinen. Nein, es war noch viel besser, weil am Ende all seiner Überlegungen immer der Gedanke stand, daß vielleicht doch alles wahr war und sich wirklich ereignete. Eines Tages, überlegte sie gedankenverloren,
erreicht uns vielleicht tatsächlich und nicht nur in der Phantasie eine Botschaft über eines dieser riesigen Radioteleskope. Auf der anderen Seite allerdings waren Valeriens Gedankengänge doch nicht so schön wie ein verzaubertes Land, denn wie auch Drumlin auf seinen Gebieten betonte er immer wieder, daß Spekulationen mit nüchterner physikalischer Realität konfrontiert werden müssen. Die Realität war eine Art Sieb, das die wenigen brauchbaren Spekulationen von dem massenweise produzierten Unsinn schied. Die extraterrestrischen Wesen und ihre Technologien mußten sich streng in die Naturgesetze fügen, eine Tatsache, die den Zauber vieler Spekulationen empfindlich störte. Aber was in dem Sieb hängenblieb und der kritischsten physikalischen und astronomischen Analyse standhielt, das war vielleicht wahr. Sicher konnte man natürlich nie sein. Es gab bestimmt noch Möglichkeiten, an die man nicht gedacht hatte und die vielleicht eines Tages klügere Leute als man selbst herausfinden würden. Valerian wies immer wieder darauf hin, daß die Menschen Gefangene ihrer Zeit, ihrer Kultur und ihrer biologischen Beschaffenheit seien, und wie begrenzt dementsprechend ihre Möglichkeiten seien, sich grundsätzlich andersartige Lebewesen und Zivilisationen vorzustellen. Solches Leben, das sich gesondert auf anderen Planeten entwickelt hätte, mußte dann ja völlig verschieden vom Leben auf der Erde sein. Möglicherweise gab es Lebewesen, die viel weiter entwickelt waren als wir und über unvorstellbare Technologien verfügten – davon mußte man fast sicher ausgehen – und die vielleicht sogar neue physikalische Gesetze kannten. Während sie an einer Reihe mit Stuck verzierter Bögen entlangspazierten, die an ein Gemälde De Chiricos erinnerten, erklärte Valerian, daß es hoffnungslos engstirnig sei zu glauben, alle bedeutenden physikalischen Gesetze seien bereits zu dem Zeitpunkt
entdeckt gewesen, als unsere Generation anfing, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Es werde ebenso eine Physik des 21. Jahrhunderts, des 22. Jahrhunderts und sogar eine des 4. Jahrtausends geben. Vielleicht waren wir lächerlich weit entfernt davon, auch nur zu erahnen, wie die Kommunikation einer ganz anders gearteten technischen Zivilisation aussah. Aber, beruhigte er sich dann immer selbst, extraterrestrische Wesen müßten eigentlich wissen, wie rückständig wir sind. Wenn wir etwas fortgeschrittener wären, dann wüßten sie bereits über uns Bescheid. Aber wir fangen gerade erst an, auf zwei Beinen zu stehen, haben letzten Mittwoch das Feuer entdeckt und sind erst gestern über die Newtonsche Mechanik, die Maxwellschen Gleichungen, Radioteleskope und Hinweise auf eine Weltformel der Physik gestolpert. Valerian war davon überzeugt, daß sie es uns nicht schwermachen würden. Sie würden versuchen, es einfach für uns zu machen, denn wenn sie mit Dummköpfen in Verbindung treten wollten, dann mußten sie diesen eben Zugeständnisse machen. Darum sah Valerian auch eine Chance auf Erfolg, sollte je eine Botschaft kommen. Sein Mangel an Brillanz war in Wirklichkeit seine Stärke. Er wußte, davon war er überzeugt, was Dummköpfe wußten. Als Thema für ihre Doktorarbeit setzte Ellie sich im Einverständnis mit der Fakultät die Aufgabe, an einer Verbesserung der empfindlichen Empfänger, die bei Radioteleskopen verwendet wurden, zu arbeiten. Dabei konnte sie ihre Kenntnisse in der Elektronik einsetzen, außerdem war sie so den vorwiegend auf theoretischem Gebiet arbeitenden Drumlin los und konnte ihre Diskussionen mit Valerian fortsetzen, jedoch ohne den ihre späteren Berufschancen gefährdenden Schritt zu tun, bei ihm über extraterrestrische
Intelligenz zu arbeiten. Das war ein zu spekulatives Gebiet für eine Dissertation. Ihr Stiefvater hatte ihre verschiedenen Unternehmungen bisher als unrealistisch und zu ehrgeizig, gelegentlich auch völlig langweilig abqualifiziert. Als er über Dritte von dem Thema ihrer Doktorarbeit hörte – Ellie sprach jetzt überhaupt nicht mehr mit ihm – tat er es als belanglos ab. Ellie arbeitete mit einem Rubinmaser. Ein Rubin besteht hauptsächlich aus fast völlig durchsichtigem Aluminium. Die rote Farbe rührt von einer Verunreinigung durch Chrom her, das dem Alumimumkristall eingelagert ist. Wenn man auf den Rubin ein starkes Magnetfeld aufprägt, dann absorbieren die Chromatome mehr Energie oder, wie die Physiker sagen, sie geraten in einen angeregten Zustand. Ellie liebte die Vorstellung von all den kleinen Atomen, die in jedem Verstärker zu fieberhafter Tätigkeit aufgerufen wurden und damit dem guten und praktischen Zweck dienten, ein schwaches Radiosignal zu verstärken. Je stärker das Magnetfeld war, desto aufgeregter bewegten sich die Atome. Man konnte den Maser auf eine bestimmte Radiofrequenz einstellen. Ellie fand einen Weg, Rubine mit Lanthanidverunreinigungen zusätzlich zu den Chromatomen herzustellen, so daß der Maser auf einen noch kleineren Frequenzbereich abgestimmt werden und damit ein noch schwächeres Signal als die bisherigen Maser aufspüren konnte. Ellies Detektor mußte in flüssiges Helium getaucht werden. Dann montierte sie ihr neues Instrument an eines der Radioteleskope des Instituts in Owens Valley und entdeckte auf völlig neuen Frequenzen, was Astronomen die Drei-GradHintergrundstrahlung nennen – die Reststrahlung im Radiospektrum von der gewaltigen Explosion, mit der das Universum seinen Anfang nahm, vom Urknall. »Also noch einmal alles von vorn«, überlegte Ellie laut. »Ich habe ein Edelgas genommen, das in der Luft vorkommt, ich
habe es verflüssigt, ein paar Verunreinigungen in einen Rubin eingelagert, einen Magneten drangemacht und das Feuer der Schöpfung entdeckt.« Verwundert schüttelte Ellie den Kopf. Jemandem, der nichts von der zugrundeliegenden Physik verstand, mußte das ganze als die reine schwarze Magie erscheinen. Wie hätte man das den besten Wissenschaftlern von vor tausend Jahren erklären sollen, die zwar Kenntnisse über Luft, Rubine und Magneten hatten, aber nichts von flüssigem Helium, stimulierter Emission und supraleitenden Flüssigkeiten wußten? Wenn sie sich recht erinnerte, hatten sie nicht einmal die leiseste Ahnung vom Radiospektrum. Oder auch nur eine Vorstellung von einem Spektrum überhaupt – außer vielleicht einer vagen Idee durch die Anschauung des Regenbogens. Sie wußten nicht, daß Licht aus Wellen besteht. Wie konnten wir dann hoffen, eine Zivilisation zu verstehen, die uns vielleicht tausend Jahre voraus war? Künstliche Rubine mußten in großen Mengen hergestellt werden, da immer nur wenige die erforderlichen Eigenschaften aufwiesen. Keiner hatte ganz die Qualität eines Edelsteins, und die meisten waren sehr klein. Aber Ellie fand Gefallen daran, ein paar der größeren Steine, die nicht verwendet werden konnten, als Schmuck zu tragen. Sie paßten ausnehmend gut zu ihrer dunklen Haar- und Gesichtsfarbe. Auch wenn solche Steine in Ringen oder Broschen sorgfältig geschliffen waren, konnte man an ihnen noch seltsame Unregelmäßigkeiten erkennen: Die merkwürdige Art beispielsweise, in der das Licht plötzlich in einem bestimmten Winkel aus dem Inneren eines Steins aufleuchtete, oder die pfirsichfarbenen Flecken im Rubinrot. Freunden gegenüber, die keine Naturwissenschaftler waren, behauptete Ellie, daß ihr Rubine gefielen, sie sich aber keine echten leisten könne. Es war fast so wie bei jenem Naturwissenschaftler, der als erster den biochemischen Vorgang der Photosynthese bei grünen
Pflanzen entdeckt hatte und danach immer eine Tannennadel oder ein Petersiliensträußchen am Revers trug. Ellies Kollegen, die sie mit zunehmendem Respekt behandelten, ließen es ihr als kleine Schrulle durchgehen. Die großen Radioteleskope der Welt sind aus demselben Grund in abgelegenen Gegenden installiert, aus dem Paul Gauguin nach Tahiti fuhr: Um gut zu funktionieren, mußten sie weit weg von jeder Zivilisation sein. Als der zivile und militärische Funkverkehr immer umfangreicher wurde, mußten die Radioteleskope versteckt werden – in einem abgelegenen Tal in Puerto Rico beispielsweise oder weit entfernt von jeder menschlichen Behausung in den endlosen Steppen New Mexicos oder Kasachstans. Und je mehr Radiostörgeräusche es gibt, desto sinnvoller erscheint es, die Teleskope überhaupt von der Erde wegzuverlegen. Wissenschaftler, die in solchen weltabgeschiedenen Sternwarten arbeiten, leben oft mit verbissenem Ernst ausschließlich ihrer Arbeit. Von ihren Frauen werden sie verlassen, und ihre Kinder ergreifen die erstbeste Gelegenheit, von zu Hause fortzukommen, aber sie selbst harren aus. In den seltensten Fällen halten sie sich für Träumer. Der ständige wissenschaftliche Mitarbeiterstab in diesen abgelegenen Observatorien besteht eher aus Männern der Praxis, aus Experten und Experimentatoren, die Antennen aufstellen und komplizierte Datenanalysen durchführen können, aber wenig über Quasare und Pulsare wissen. Auch in ihrer Kindheit haben diese Leute eigentlich nie versucht, nach den Sternen zu greifen. Meist sind sie viel zu heftig damit beschäftigt gewesen, den Vergaser des Familienautos zu reparieren. Nach ihrer Promotion nahm Ellie eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Observatorium in Arecibo an. Den riesigen Parabolspiegel von 305 Meter Durchmesser hatte man in einer karstigen Bergmulde der Gebirgsausläufer im nordwestlichen Puerto Rico errichtet. Da die Station das
größte Radioteleskop der Erde besaß, sah Ellie gespannt dem Tag entgegen, an dem sie ihren Maserdetektor einsetzen konnte, um damit möglichst viele verschiedene astronomische Objekte zu erkunden – benachbarte Planeten und Sterne, das Zentrum der Milchstraße, Pulsare und Quasare. Als vollgültiges Mitglied der Observatoriumsbelegschaft räumte man ihr beträchtliche Beobachtungszeiten ein. Der Zugang zu den großen Radioteleskopen war heiß umkämpft, da es mehr lohnende Forschungsvorhaben gab, als man unterbringen konnte. Deshalb war die reservierte Zeit am Teleskop für die dort wohnende Belegschaft eine Sondervergütung von unschätzbarem Wert. Für viele Astronomen war das der einzige Grund, warum sie sich überhaupt bereit erklärten, an diesen gottverlassenen Orten zu leben. Ellie hoffte auch, ein paar der nähergelegenen Sterne auf mögliche Signale intelligenten Ursprungs hin untersuchen zu können. Mit ihrem Detektorsystem konnte man die Radiostrahlung eines Planeten wie der Erde sogar dann noch hören, wenn er einige Lichtjahre entfernt war. Und eine höherentwickelte Gesellschaft, die mit uns in Verbindung treten wollte, würde zweifellos zu viel größeren Energieübertragungen in der Lage sein als wir. Wenn das Radarteleskop von Arecibo ein Megawatt Energie an einen bestimmten Ort im All senden konnte, dann – so malte Ellie sich aus -mußte eine Zivilisation, die der unseren nur ein wenig voraus war, schon in der Lage sein, hundert oder mehr Megawatt auszusenden. Wenn sie tatsächlich mit einem Teleskop arbeiteten, das so groß wie dieses in Arecibo war, aber vielleicht einen Hundert-Megawatt-Sender besaß, dann mußte Arecibo sie eigentlich überall in der Galaxis ausfindig machen können. Ellie dachte gründlich darüber nach und war überrascht, wie klein sich die bisherigen tatsächlichen Unternehmungen auf der Suche nach extraterrestrischen Intelligenzen ausnahmen im Vergleich zu dem, was bereits
möglich war. Die Geldmittel, die man bisher für solche Fragen bereitgestellt hatte, waren unbedeutend. Dabei hätte Ellie kaum sagen können, ob es ein wissenschaftliches Problem gab, das ihr noch wichtiger erschien. Die Anlage in Arecibo wurde von den Einheimischen »El Radar« genannt. Über ihren Zweck wußten sie wenig, aber sie garantierte mehr als hundert dringend benötigte Arbeitsplätze. Die einheimischen jungen Frauen allerdings hielt man streng getrennt von den männlichen Wissenschaftlern, von denen man zu fast jeder Tages- und Nachtzeit einige voll nervöser Energie auf dem Weg, der die muldenartige Vertiefung umgab, joggen sehen konnte. Die Aufmerksamkeit, die man Ellie deshalb bei ihrer Ankunft entgegenbrachte, war ihr zwar nicht ganz unwillkommen, störte sie allerdings schon bald in ihrer Forschungsarbeit. Die Landschaft war wunderschön. Oft schaute Ellie in der Abenddämmerung aus einem der Kontrollfenster und sah, wie sich über dem gegenüberliegenden Rand der Bergmulde Gewitterwolken zusammenzogen, genau über einem der drei riesigen Masten, an denen die Hornantennen und Ellies kürzlich installiertes Masersystem angebracht waren. An der Spitze eines jeden Mastes blinkte ein rotes Warnlicht, für den unwahrscheinlichen Fall, daß sich ein Flugzeug in diese abgelegene Gegend verirrte. Um vier Uhr früh ging Ellie auf einen Sprung hinaus, um frische Luft zu schnappen und fasziniert dem rätselhaften Chor Tausender von Fröschen zu lauschen, die es hier gab und die bei den Einheimischen in Nachahmung ihres klagenden Quakens »coquis« hießen. Einige der Wissenschaftler lebten ganz in der Nähe des Observatoriums, aber die Isolation, die noch dadurch verstärkt wurde, daß sie kein Spanisch sprachen und im Umgang mit einer anderen Kultur völlig unerfahren waren, ließ sie und ihre Frauen zunehmend vereinsamen und entfremdete sie
menschlichen Kontakten. Einige hatten sich entschlossen, in der Ramey-Air-Force-Basis zu wohnen, die sich rühmte, die einzige englischsprachige Schule der ganzen Gegend zu besitzen. Aber die anderthalbstündige Autofahrt von dort zum Observatorium unterstützte nur noch das Gefühl der Einsamkeit. Wiederholte Drohungen puertorikanischer Separatisten, die aufgrund von Fehlinformationen glaubten, daß das Observatorium einem wichtigen militärische Zweck diene, verstärkten das Gefühl unterschwelliger Hysterie und aus den Fugen geratender Lebensumstände. Einige Monate später kam Valerian zu Besuch. Offizieller Anlaß war ein Vortrag, den er halten wollte, aber Ellie wußte, daß er auch nach ihr sehen und sie psychisch etwas aufmuntern wollte. Mit ihren Forschungsarbeiten war sie sehr gut vorangekommen. Sie hatte wahrscheinlich einen neuen interstellaren Molekülwolkenkomplex entdeckt und sehr genaue Werte in der Zeitauflösung über den Pulsar im Zentrum des Crab Nebula erarbeitet. Auch hatte sie die Suche nach Signalen extraterrestrischer Intelligenzen auf einigen Dutzend nahegelegener Sterne abgeschlossen. Sie hatte dabei mit den empfindlichsten Geräten gearbeitet, die jemals zu diesem Zweck eingesetzt worden waren, jedoch ohne positive Ergebnisse. Ein oder zwei auffallende Regelmäßigkeiten waren aufgetaucht. Sie beobachtete die fraglichen Sterne nochmals, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Schaute man nur genügend viele Sterne an, so produzierten früher oder später Störgeräusche auf der Erde oder eine Kette zufälliger Nebengeräusche eine Gesetzmäßigkeit, die einem für einen Augenblick das Herz höher schlagen ließ. Dann beruhigte man sich und überprüfte die Daten noch einmal. Wenn sich die Gesetzmäßigkeit nicht wiederholte, war alles eine Fehlanzeige gewesen. Diese Arbeitsdisziplin war für Ellie sehr wichtig, wenn sie angesichts dessen, was sie suchte,
gefühlsmäßig einigermaßen im Gleichgewicht bleiben wollte. Ellie war entschlossen, so realistisch wie möglich zu sein, jedoch ohne ihren Sinn für das Wunderbare aufzugeben, der ihr eigentlicher Antriebsmotor war. Aus ihren kargen Vorräten im gemeinschaftlich benutzten Kühlschrank hatte Ellie ein kleines Picknick fürs Mittagessen zusammengepackt, und nun saß sie mit Valerian am Rand der Talmulde, in der das Observatorium lag. In der Ferne konnte man die Arbeiter sehen, die Streifen in der Bespannung reparierten oder auswechselten. Sie trugen besondere Schneeschuhe, damit sie die Aluminiumplatten nicht einrissen und durch sie hindurch in die Tiefe stürzten. Valerian war begeistert von ihren Fortschritten. Zuerst unterhielten sie sich über den neuesten Klatsch und die letzten Erkenntnisse der Wissenschaft. Dann gingen sie zu SETI über, wie man die Suche nach extraterrestrischen Intelligenzen damals zu bezeichnen begann. »Haben Sie je darüber nachgedacht, sich ganz dieser Sache zu widmen, Ellie?« »Ich habe darüber nie viel nachgedacht. Und es ist nicht besonders realistisch, oder? Soweit ich weiß, gibt es auf der ganzen Welt keine einzige größere Anlage, die ausschließlich an SETI arbeitet.« »Nein, bis jetzt noch nicht. Aber es besteht die Möglichkeit, daß der Very Large Array um mehrere Dutzend zusätzlicher Reflektoren erweitert und dann zu einem ausschließlich der Forschung an SETI dienenden Observatorium gemacht wird. Natürlich müßte auch die konventionelle Radioastronomie dazukommen. Es wäre ein großartiges Interferometer. – Ist ja nur eine Möglichkeit. Sie ist kostspielig, und ohne handfeste politische Unterstützung geht dabei nichts. Und selbst im günstigsten Fall würde es noch Jahre dauern, bis es soweit ist. Aber man kann ja mal darüber nachdenken.«
»Peter, ich habe gerade über vierzig benachbarte Sterne untersucht, alle ungefähr vom Typ des Sonnenspektrums. Ich habe mir die 21-Zentimeter-Wasserstofflinie angeschaut, von der alle sagen, daß sie die geeignetste Trägerfrequenz ist, weil Wasserstoff das am häufigsten vorkommende Atom im Universum ist, und so weiter. Und ich habe die Beobachtung mit der höchsten Empfindlichkeit durchgeführt, die man je eingesetzt hat. Nicht das kleinste Signal habe ich gefunden. Vielleicht gibt es überhaupt niemanden da draußen. Vielleicht ist die ganze Sache nur Zeitverschwendung.« »Genauso wie das Leben auf der Venus? Sie sagen das nur, weil Sie enttäuscht sind. Die Venus ist eine Hölle. Aber sie ist nur ein Planet neben den vielen hundert Milliarden anderer Sterne der Galaxis. Sie haben davon nur eine Handvoll untersucht. Glauben Sie nicht auch, daß es etwas verfrüht ist, jetzt schon aufzugeben? Sie haben gerade ein Milliardstel des Problems bewältigt. Wahrscheinlich sogar noch viel weniger, wenn man noch andere Frequenzen einbezieht.« »Das weiß ich schon. Aber glauben Sie nicht auch, daß es solche Intelligenzen, wenn es sie gibt, überall geben muß? Wenn wirklich höherentwickelte Burschen tausend Lichtjahre von uns entfernt leben, warum sollten sie dann nicht auch bei uns hinter dem Haus einen Vertreter haben? Die Sache mit SETI könnte man ewig weitertreiben, ohne je die Überzeugung zu erlangen, zum Ende gekommen zu sein.« »Jetzt reden Sie fast wie Dave Drumlin. Was er nicht zu seinen Lebzeiten finden kann, interessiert ihn nicht. Wir haben mit SETI gerade erst angefangen. Sie wissen, wie viele Möglichkeiten es gibt. Gerade jetzt sollte man sich jede offenhalten. Jetzt sollte man optimistisch sein. In jeder anderen Epoche der Menschheitsgeschichte hätten wir uns das ganze Leben lang über dieses Problem den Kopf zerbrochen, ohne einen Schritt auf seine Lösung hin tun zu können. Unsere Zeit
gibt uns eine einmalige Chance. Zum ersten Mal kann buchstäblich jeder nach extraterrestrischen Intelligenzen suchen. Sie haben den Detektor entwickelt, mit dem man nach Zivilisationen auf Millionen anderer Sterne forschen kann. Den Erfolg kann Ihnen niemand garantieren. Aber können Sie sich eine wichtigere Aufgabe denken? Stellen Sie sich vor, sie schicken uns von da draußen Signale, und niemand auf der Erde hört sie. Das wäre ein Witz, ein schlechter Witz. Würden Sie sich nicht für unsere Zivilisation schämen, wenn wir in der Lage sein könnten, es zu hören, aber nicht die Geduld dazu aufbrächten?« Links zogen zweihundertsechsundfünfzig Bilder der linksseitigen Welt vorbei. Rechts glitten zweihundertsechsundfünfzig Bilder der rechtsseitigen Welt vorbei. Er fügte sämtliche 512 Bilder zu einer Rundumansicht seiner Umgebung zusammen. Er steckte tief in einem Wald riesiger wogender Halme, einige grün, andere von einem bleichen Gelb, und fast alle höher als er. Ohne Schwierigkeiten bahnte er sich seinen Weg, balancierte über einen schwankenden Halm, der abgeknickt war, fiel auf das weiche Kissen aus am Boden liegenden Halmen, stand unbeirrt wieder auf und setzte seine Reise fort. Er wußte, daß er auf dem richtigen Weg war. Frisch und scharf stach die Luft in seinen Lungen. Es war ihm egal, wenn er auf seinem Weg ein Hindernis erklettern mußte, das hundert oder tausend Mal größer war als er selbst. Er brauchte keine Seile und Stangen dazu, er war bereits vollständig ausgerüstet. Der Boden unmittelbar vor ihm roch nach einem Markierungsduft, der noch frisch war und von einem anderen Kundschafter seiner Sippe stammen mußte. Das bedeutete fast immer Futter. Das Futter tauchte wie aus heiterem Himmel auf. Kundschafter machten es ausfindig und markierten den Weg. Er und seine Kameraden schleppten es dann zurück. Manchmal war das
Futter ein Wesen, das so aussah wie er. Dann wieder war es nur ein unförmiger oder kristallartiger Brocken, der so groß sein konnte, daß man viele aus seiner Sippe brauchte, die ihn in gemeinsamer Anstrengung über abgeknickte Blätter nach Hause schleppten. Genußvoll schmatzend bewegte er schon im voraus den Unterkiefer. »Was mich viel mehr beschäftigt«, sagte Ellie, »ist im Gegenteil die Möglichkeit, daß sie es gar nicht erst versuchen. Sie könnten mit uns in Verbindung treten, gut, aber sie tun es nicht, weil sie sich nichts davon versprechen. Also wie…« – sie schaute auf einen Zipfel des Tischtuches, das sie über das Gras gebreitet hatten – »… wie die Ameisen. Ameisen leben in derselben Welt wie wir. Sie haben eine Menge zu tun, alles Dinge, die sie in Anspruch nehmen. Auf eine bestimmte Art wissen sie über ihre Umgebung sehr gut Bescheid. Aber wir versuchen nicht, mit ihnen in Verbindung zu treten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß sie irgend eine Ahnung haben, daß es uns gibt.« Eine große Ameise, die unternehmungslustiger als ihre Kameraden war, hatte sich auf das Tischtuch gewagt und marschierte jetzt munter diagonal über die roten und weißen Quadrate. Ellie unterdrückte eine heftigere Reaktion und schnippte die Ameise vorsichtig zurück aufs Gras – wohin sie gehörte.
3 Weißes Rauschen
Erlauschter Klang ist süß; noch Süßeres sagt Der Stumme. John Keats Ode auf eine griechische Urne (1820)
Die grausamsten Lügen brauchen oft keine Worte. Robert Louis Stevenson Virginibus Puerisque (1881)
Schon seit Jahren wanderten die Pulse durch die unendliche Finsternis zwischen den Sternen. Hin und wieder drangen sie durch eine unförmige Wolke aus Gas und Staub, die einen kleinen Teil der Energie absorbierte. Der Rest bewegte sich in der ursprünglichen Richtung weiter. Ein schwaches gelbes Leuchten eilte ihnen voraus, das im Gegensatz zu den stetig leuchtenden Sternen des Alls immer heller wurde. Obwohl für das menschliche Auge noch immer ein Punkt, war es jetzt bereits das bei weitem hellste Objekt am schwarzen Himmel. Und dann trafen die Pulse auf einen Haufen gigantischer Schneebälle.
Eine gertenschlanke Frau Ende Dreißig betrat das Verwaltungsgebäude der Argus. Die großen, weit auseinanderstehenden Augen verliehen ihren kantigen Gesichtszügen eine gewisse Weichheit. Das lange, dunkle Haar wurde von einer Schildpattspange im Nacken lose zusammengehalten. Lässig in Strickpullover und Khakirock gekleidet, schlenderte sie den Flur im ersten Stock entlang, hielt vor einer Tür, auf der »Direktor E. Arroway« stand, und öffnete das Spezialschloß mit einem Druck ihres Daumens. Einem Beobachter wäre dabei vielleicht der Ring an ihrer rechten Hand aufgefallen, in den ungeschickt ein merkwürdig milchig-roter Stein eingesetzt war. Drinnen machte sie die Schreibtischlampe an, durchstöberte eine Schublade und kramte schließlich einen Kopfhörer heraus. An der Wand neben ihrem Schreibtisch leuchtete für einen Moment ein Zitat aus Franz Kafkas Parabeln auf: Nun haben die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist… vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Mit einer Handbewegung löschte sie das Licht und ging im Halbdunkel zur Tür. Im Kontrollraum überzeugte sie sich mit einem Blick, daß alles in Ordnung war. Durch das Fenster konnte sie einige der 131 Radioteleskope sehen. Sie waren auf einem Gelände von über zehn Kilometer Länge in der Wüste New Mexicos verteilt und sahen wie exotische Metallblumen aus, die in den Himmel wuchsen. Es war früh am Nachmittag, und letzte Nacht war sie lange aufgeblieben. Radioastronomie konnte man freilich auch
bei Tageslicht betreiben, weil die Atmosphäre zwar das sichtbare Licht der Sonne, nicht aber Radiowellen streute. Für ein Radioteleskop, das nicht auf die Sonne gerichtet war, war der Himmel pechschwarz, von den Radioquellen abgesehen. Jenseits der Erdatmosphäre, auf der anderen Seite des Himmels, gab es ein Universum, das voll von Radiostrahlung war. Wenn man diese Radiowellen genau untersuchte, konnte man eine Menge über Planeten, Sterne und Galaxien, die Zusammensetzung der riesigen organischen Molekülwolken, die zwischen den Sternen trieben, und den Ursprung, die Entwicklung und das Schicksal des Universums erfahren. Dabei handelte es sich allerdings um natürliche Radiostrahlung – verursacht durch physikalische Prozesse, durch Elektronen, die sich spiralförmig im galaktischen Magnetfeld bewegten, interstellare Moleküle, die aufeinander stießen, oder die fernen Echos des Urknalls, dessen Strahlung von den Gammastrahlen am Anfang des Universums zu den friedlicheren, kalten Radiowellen, die jetzt den gesamten Weltraum erfüllten, rotverschoben war. In den wenigen Jahrzehnten, seit die Menschen Radioastronomie betrieben, hatte es nie ein wirkliches Signal aus den Tiefen des Weltalls gegeben, das Produkt einer außerirdischen künstlichen Intelligenz gewesen war. Falschen Alarm hatte es häufiger gegeben. So hatte man die regelmäßigen Zeitabweichungen der Radiostrahlung von Quasaren und besonders Pulsaren anfänglich voller Aufregung für eine Art außerirdisches Signal gehalten oder sogar eine Art Radioleuchtturm zu Navigationszwecken für exotische Raumschiffe, die zwischen den Sternen im Weltall kreuzten, in ihnen vermutet. Aber alles hatte sich schließlich als etwas ganz anderes entpuppt – als etwas, das vielleicht genauso exotisch war wie ein Signal von Wesen im Weltall. Quasare waren allem Anschein nach gewaltige Energiequellen, die irgend etwas mit den kompakten Schwarzen Löchern in den Zentren
der Galaxien zu tun hatten. Viele von denen, die man beobachtet hatte, reichten in ihrer Entstehung weit in die Geschichte des Universums zurück. Pulsare waren Atomkerne, die sich mit rasender Geschwindigkeit drehten und die Ausmaße einer Stadt besaßen. Es hatte noch andere geheimnisvolle Botschaften gegeben, die sich zwar als durchaus intelligent herausstellten, mit extraterrestrischen Wesen jedoch wenig zu tun hatten. Inzwischen war der Himmel trotz der flehentlichen Bitten einiger Radioastronomen mit geheimen militärischen Radarsystemen und Nachrichtensatelliten vollgestopft worden. Es gab regelrechte Banditen, die die internationalen Abkommen im Nachrichtenwesen ignorierten. Eine Regreßpflicht oder Strafen dafür gab es nicht. In einigen Fällen wollte keine Nation die Verantwortung übernehmen. Aber nie war ein eindeutig als solches identifizierbares außerirdisches Signal gekommen. Aber der Ursprung des Lebens schien jetzt so einfach zu erklären zu sein – es gab so und so viele Planetensysteme und Welten und so und so viele Milliarden Jahre der Evolution –, daß man kaum glauben konnte, daß die Galaxis nicht vor Leben und Intelligenz überquoll. Das Projekt Argus war das größte der Welt, das der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz mit Hilfe von Radiostrahlung gewidmet war. Radiowellen bewegten sich mit Lichtgeschwindigkeit, also schneller als alles andere. Sie waren leicht zu erzeugen und leicht zu entdecken. Selbst technisch so rückständige Zivilisationen wie die der Erde mußten bei der Erforschung der physikalischen Welt frühzeitig über die Radiostrahlung stolpern. Sogar mit der zur Verfügung stehenden rudimentären Radiotechnologie – seit der Erfindung des Radioteleskops waren nur wenige Jahrzehnte vergangen – konnte man wahrscheinlich mit einer identischen Zivilisation im Zentrum der Galaxis Kontakt aufnehmen. Dabei waren allerdings so
viele Stellen am Himmel und so viele Frequenzen, auf denen eine unbekannte Zivilisation senden konnte, zu untersuchen, daß ein systematisches und langfristiges Beobachtungsprogramm erforderlich war. Argus war seit vier Jahren in Betrieb. Bisher hatte es zwar immer wieder Hoffnung und den nächsten falschen Alarm gegeben, aber keine Botschaft. »Tag, Frau Dr. Arroway.« Der Ingenieur, der sich allein in dem Raum befand, lächelte Ellie freundlich zu. Sie nickte. Die 131 Teleskope des Projekts Argus waren computergesteuert. Die Anlage tastete den Himmel selbsttätig ab. Der Computer überwachte die Teleskope auf mechanische und elektronische Pannen und verglich die Daten verschiedener Einzelteleskope. Ellie warf einen Blick auf den Frequenzanalysator, der mit einer Milliarde Kanälen ausgestattet war und mit seiner Elektronik eine ganze Wand einnahm, dann sah sie nach der optischen Anzeige des Spektrometers. Für die Astronomen und Techniker gab es nicht viel zu tun, während die Teleskope in jahrelanger Arbeit langsam den Himmel absuchten. Wenn die Teleskope etwas Interessantes entdeckten, ertönte automatisch eine Alarmanlage, die die Wissenschaftler des Projekts nötigenfalls auch aus den Betten holte. Dann entfaltete sich hektische Aktivität, bis man herausgefunden hatte, ob es sich um einen technischen Fehler oder um einen amerikanischen oder sowjetischen Flugkörper im All handelte. In Zusammenarbeit mit den Ingenieuren des Teams überlegte Ellie immer wieder, wie man die Empfindlichkeit der Geräte weiter verbessern konnte. War in der Strahlung ein bestimmtes Muster, eine Regelmäßigkeit zu erkennen? Sie stellte einige Radioteleskope für die Untersuchung exotischer astronomischer Objekte frei, die vor
kurzem von anderen Observatorien entdeckt worden waren. Sie half Mitgliedern des Teams und Wissenschaftlern, die nur als Gäste hier waren, bei ihren Projekten, die mit SETI nichts zu tun hatten. Regelmäßig flog sie nach Washington, um das Interesse ihres Geldgebers, der National Science Foundation, wachzuhalten. Beim Rotary Club in Socorro und an der Universität von New Mexico in Albuquerque hielt sie öffentliche Vorträge über Argus, und ab und zu konnte sie einen unternehmungslustigen Reporter begrüßen, der überraschend hier im hintersten Winkel New Mexicos auftauchte. Ellie mußte aufpassen, nicht der Langeweile zu erliegen. Ihre Mitarbeiter waren zwar angenehm und freundlich, aber abgesehen davon, daß es sich nicht schickte, eine enge persönliche Beziehung mit einem Untergebenen einzugehen, verspürte sie auch gar keine Neigung zu so etwas. Sie hatte einige kurze, leidenschaftliche, im Grunde genommen aber flüchtige Liebschaften mit einheimischen Männern, die nichts mit dem Projekt zu tun hatten. Auch in diesem Bereich ihres Lebens hatten sich Langeweile und Überdruß breitgemacht. Sie setzte sich an eines der Schaltpulte und stöpselte den Kopfhörer ein. Natürlich wußte sie, daß es absurd war zu glauben, daß sie, wenn sie auf einem oder zwei Kanälen mithorchte, eine Gesetzmäßigkeit entdecken würde, die der riesigen Computeranlage, die eine Milliarde Kanäle abhörte, entgangen sein könnte. Aber es gab ihr ein Gefühl von Nützlichkeit. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Ein träumerischer Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. Sie ist wirklich sehr hübsch, erlaubte sich der Ingenieur zu denken. Ellie hörte die normalen atmosphärischen Störungen, ein stetiges Rauschen. Einmal, als sie die Region des Himmels abhorchte, in die der Stern AC + 793888 in Cassiopeia gehörte, hatte sie wiederholt gemeint, ein Singen zu hören, ohne
allerdings ganz sicher zu sein, ob ihr nicht die Einbildung einen Streich spielte. Bis zu diesem Stern als äußerstem Punkt würde Voyager 1 gelangen, der sich jetzt in der Nähe der Umlaufbahn von Neptun befand. Die Raumkapsel führte eine goldene Schallplatte mit sich, auf die Grüße, Bilder und Lieder von der Erde eingepreßt waren. Konnten außerirdische Wesen uns ihre Musik mit Lichtgeschwindigkeit senden, während wir ihnen unsere nur ein Zehntausendstel so schnell sandten? Wenn die atmosphärischen Störungen so offensichtlich strukturlos waren wie jetzt, mußte sie an Shannons berühmten Kommentar zur Informationstheorie denken, daß nämlich selbst die schönste verschlüsselte Botschaft nicht vom Rauschen zu unterscheiden war, wenn man den Code nicht kannte. Rasch drückte Ellie ein paar Tasten auf dem Pult vor sich und spielte zwei enge Frequenzbänder gegeneinander aus, in jeder Muschel des Kopfhörers eines. Nichts. Sie hörte sich die zwei Polarisationsebenen der Radiowellen an und dann den Kontrast zwischen der linearen und der zirkularen Polarisation. Man hatte die Wahl zwischen einer Milliarde Kanäle. Ein ganzes Leben lang konnte man versuchen, dem Computer zuvorzukommen, indem man mit den so jämmerlich unzureichenden menschlichen Ohren und dem Gehirn horchte und nach einem Muster suchte. Menschen, wußte Ellie, waren gut im Unterscheiden komplizierter Muster, die es tatsächlich gab, aber genauso gut konnten sie sich Muster vorstellen, wo überhaupt keine waren. Eine bestimmte Pulssequenz, eine Konfiguration atmosphärischer Störungen würde für einen kurzen Augenblick einen synkopischen Takt oder eine kurze Melodie ergeben. Sie schaltete auf zwei Radioteleskope um, die eine bereits bekannte Radioquelle in der Galaxis abhörten. Sie hörte ein Glissando über den Radiofrequenzen, das auf die Streuung der Radiowellen durch die Elektronen in dem dünnen interstellaren
Gas zwischen der Radioquelle und der Erde zurückzuführen war. Je ausgeprägter das Glissando, desto mehr Elektronen waren im Weg und desto weiter war die Quelle von der Erde entfernt. Ellie hatte das oft gemacht und konnte die Entfernung nach einmaligem Hören exakt bestimmen. Dieses Glissando hier war nach ihrer Schätzung ungefähr eintausend Lichtjahre entfernt – viel weiter weg als die nächsten Sterne, aber immer noch innerhalb unserer gigantischen Galaxis. Ellie kehrte in den Himmelsinspektionsmodus von Argus zurück. Wieder kein Muster. Sie kam sich wie ein Musiker vor, der dem Grollen eines fernen Gewitters zuhört. Kleine Regelmäßigkeiten, die sich zufällig ergeben hatten, verfolgten sie und setzten sich so nachhaltig in ihrem Gedächtnis fest, daß sie manchmal auf die Bänder eines bestimmten Beobachtungslaufes zurückgreifen mußte, um sich zu vergewissern, daß ihre Ohren nichts gehört hatten, was dem Computer entgangen war. Ihr ganzes Leben waren Träume ihre Freunde gewesen. Diese Träume waren außergewöhnlich genau, gut strukturiert und abwechslungsreich. Ellie hatte das Gesicht ihres Vaters oder die Rückwand eines alten Radioapparates wie im Film in allen Einzelheiten vor sich gesehen. Sie hatte sich immer bis in die kleinsten Einzelheiten an ihre Träume erinnern können – außer wenn sie unter extremem Druck stand wie vor ihrer mündlichen Doktorprüfung oder damals, als sie sich von Jesse getrennt hatte. Aber neuerdings tat sie sich schwer, sich die Bilder ihrer Träume in Erinnerung zu rufen. Und zu ihrer eigenen Bestürzung fing sie an, Töne zu träumen – wie Menschen, die blind geboren worden waren. In den frühen Morgenstunden erzeugte ihr Unterbewußtsein eine Melodie oder ein Liedchen, das sie nie zuvor gehört hatte. Sie wachte auf, machte mit einem akustischen Befehl das Licht auf ihrem Nachttisch an, nahm den Stift zur Hand, den sie für diesen
Zweck bereit gelegt hatte, zeichnete Notenlinien und übertrug die Musik auf Papier. Manchmal spielte sie die Musik nach einem langen Arbeitstag mit ihrer Blockflöte und versuchte, sich daran zu erinnern, ob sie sie im Ophiuchus oder im Capricornus gehört hatte. Beunruhigt gestand sie sich ein, daß das natürliche Eigenrauschen der Empfänger und Verstärker und die Geräusche der geladenen Teilchen und magnetischen Felder des kalten dünnen Gases zwischen den fernen funkelnden Sternen sie wie ein Spuk verfolgten. Immer wieder tauchte ein einzelner, hoher und spitzer Ton auf. Sie brauchte einen Augenblick, um ihn wiederzuerkennen. Er klang wie das Geräusch der Metallrolle an der Wäscheleine ihrer Mutter, die jedes Mal laut gequietscht hatte, wenn man an der Leine zog, um einen weiteren frisch gewaschenen Kittel zum Trocknen in die Sonne zu hängen. Ellie war sicher, daß sie diesen Ton in den fünfunddreißig Jahren, die seitdem vergangen waren, nicht mehr gehört hatte. Als kleines Mädchen hatte sie die Armee im Kreise marschierender Kleidungsstücke geliebt. Und wenn niemand in der Nähe war, hatte sie ihr Gesicht in den frisch getrockneten Leintüchern vergraben. Der Geruch, süß und stechend zugleich, hatte sie berauscht. War das hier womöglich ein Hauch davon? Sie erinnerte sich, wie sie lachend von den Leintüchern weggerannt war und ihre Mutter sie mit einer anmutigen Bewegung aufgefangen und in die Luft geschwungen – in den Himmel, so war es ihr vorgekommen – und dann unterm Arm davongetragen hatte wie ein kleines Bündel Wäsche, das man hübsch gefaltet in die Kommode im Elternschlafzimmer packt. »Frau Dr. Arroway? Hören Sie mich?« Der Ingenieur beugte sich über sie und sah, daß ihre Lider unruhig zuckten und sie flach atmete. Ellie blinzelte zweimal, nahm die Kopfhörer ab und lächelte ihn entschuldigend an. Manchmal mußten ihre Kollegen sehr laut sprechen, wenn sie das verstärkte
kosmische Radiorauschen übertönen wollten. Sie schrie dann zurück – bei kurzen Gesprächen hatte sie keine Lust, die Kopfhörer abzunehmen –, um die Lautstärke des Rauschens zu übertönen. Wenn sie mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen war und dann plötzlich eine zwanglos oder gar lustig gemeinte Bemerkung machte, wirkte das auf einen Außenstehenden inmitten der Stille der weitläufigen Radiostation manchmal wie ein Teil eines hitzigen, grundlosen Streites. Aber jetzt sagte sie nur: »Tut mir leid. Ich war gerade ganz woanders.« »Dr. Drumlin ist am Telephon. Er sitzt in Jacks Büro und sagt, daß er mit Ihnen verabredet sei.« »Ach du liebe Güte, das hab ich völlig vergessen.« Drumlin war noch immer ein brillanter Kopf, aber er hatte jetzt noch mehr Spleens, die damals, als Ellie kurze Zeit bei ihm studiert hatte, noch nicht so deutlich gewesen waren. Zum Beispiel hatte er die peinliche Angewohnheit, immer, wenn er sich unbeobachtet glaubte, nachzusehen, ob er seine Hose wirklich ordentlich zugemacht hatte. Auch war er mit den Jahren immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß es keine extraterrestrischen Lebewesen gab oder sie zumindest zu selten und zu weit entfernt waren, um von den Menschen entdeckt zu werden. Er war nach Argus gekommen, um das wissenschaftliche Kolloquium abzuhalten, das einmal die Woche stattfand. Aber Ellie stellte fest, daß er noch aus einem anderen Grund gekommen war. Drumlin hatte einen Brief an die National Science Foundation geschrieben, in dem er darauf drängte, daß Argus seine Suche nach extraterrestrischen Intelligenzen einstellte und sich ganz der konventionellen Radioastronomie widmete. Er zog den Brief aus seiner Jackettasche und bestand darauf, daß Ellie ihn las. »Aber wir sind doch erst viereinhalb Jahre dabei. Wir haben uns noch nicht einmal ein Drittel der nördlichen Hemisphäre
angesehen. Es ist der erste Durchgang, der das Radiorauschen auf einer Milliarde Kanälen untersucht. Warum sollen wir jetzt damit aufhören?« »Es wird immer so bleiben wie jetzt, Ellie. Auch nach Jahren wird man überhaupt nichts entdeckt haben. Dann werden Sie vorschlagen, daß man eine Argus-Station für einige hundert Millionen Dollar in Australien oder Argentinien baut, um die südliche Hemisphäre abzuhorchen. Und wenn das auch nichts bringt, werden Sie davon reden, ein Paraboloid mit frei schwebender Antenne in die Erdumlaufbahn zu schicken, damit man auch Millimeterwellen empfangen kann. Es wird immer noch eine Art der Beobachtung geben, die man noch nicht ausprobiert hat. Und Sie werden immer eine Erklärung zur Hand haben, warum die extraterrestrischen Wesen gerade dort senden könnten, wo wir noch nicht hingesehen haben.« »Ach, Dave, wir haben doch schon hundertmal darüber gesprochen. Wenn wir keinen Erfolg haben, dann wissen wir zumindest, wie selten intelligente Wesen sind – zumindest intelligente Wesen, die so denken wie wir und die mit rückständigen Zivilisationen wie der unseren in Verbindung treten könnten. Und wenn wir Erfolg haben, wird es die Sensation der Astronomie. Ich kann mir keine großartigere Entdeckung vorstellen.« »Es gibt erstklassige Projekte, für die kein Teleskop zur Verfügung steht. Es gibt Forschungsarbeiten über die Evolution der Quasare, über binäre Pulsare, über die Chromosphäre benachbarter Sterne und über diese merkwürdigen interstellaren Proteine. Solche Projekte müssen warten, nur weil diese Anlage, die die beste ihrer Art auf der Welt ist, fast ausschließlich für SETI genutzt wird.« »Zu fünfundsiebzig Prozent, Dave. Fünfundzwanzig Prozent gehen an Routineversuche.«
»Sprechen Sie nicht von Routine, Ellie. Wir können bis in die Zeit der Entstehung der Galaxien und vielleicht sogar noch weiter zurückschauen. Wir können die Kerne gigantischer Molekülwolken und die Schwarzen Löcher in den Zentren der Galaxien untersuchen. Da ist eine Revolution in der Astronomie im Gange, und Sie stehen ihr im Weg.« »Dave, versuchen Sie nicht, das ganze nur auf mich zu schieben. Argus wäre niemals gebaut worden, wenn die Öffentlichkeit SETI nicht unterstützt hätte. Argus war nicht meine Idee. Sie wissen ganz genau, daß man mich zum Direktor gemacht hat, als die letzten vierzig Reflektoren noch im Bau waren. Die NSF steht geschlossen – « »Nicht ganz, und überhaupt nicht, wenn ich etwas zu sagen hätte. Das Ganze ist doch Effekthascherei und Stoff für billige UFO-Geschichten in den Comic Strips, für die die jungen Leute so anfällig sind.« Jetzt brüllte Drumlin geradezu, und Ellie fühlte den unwiderstehlichen Drang, ihm einfach das Wort abzudrehen. Es lag an der Art ihrer Arbeit und ihrer vergleichsweise hohen Stellung, daß sie immer wieder Situationen ausgesetzt war, in denen sie, von den Serviererinnen und den Stenotypistinnen einmal abgesehen, die einzige Frau unter lauter Männern war. Trotz ihrer Bemühungen würde es wohl immer zahllose männliche Wissenschaftler geben, die sich nur mit männlichen Kollegen unterhielten und Ellie in Gesprächen hartnäckig unterbrachen oder einfach ignorierten, was sie zu sagen hatte. Ab und zu gab es auch solche wie Drumlin, die geradezu eine persönliche Antipathie zeigten. Aber Drumlin behandelte sie immerhin wie viele andere Männer auch. In seinen Wutausbrüchen war er unparteiisch und suchte beide Geschlechter gleichermaßen heim. Nur ganz wenige ihrer männlichen Kollegen blieben in ihrer Gegenwart natürlich. Mit ihnen sollte sie eigentlich mehr Zeit verbringen. Mit Menschen
wie Kenneth Der Heer, dem Molekularbiologen vom SalkInstitut, der erst vor kurzem zum Wissenschaftsberater im Weißen Haus ernannt worden war. Und natürlich mit Peter Valerian. Ellie wußte, daß viele Astronomen Drumlins ablehnende Haltung Argus gegenüber teilten. Auch auf der Station hatte sich nach den ersten zwei Jahren eine gewisse Ermüdung eingeschlichen. Es gab leidenschaftliche Diskussionen bei der Essensausgabe oder während der langen, ereignislosen Stunden, in denen man vor den Apparaten auf Zeichen außerirdischer Wesen wartete. Vielleicht waren die da draußen völlig anders als die Menschen. Es war schon schwierig genug, die Gedanken der Abgeordneten in Washington zu durchschauen; wie mochten da erst die Gedanken grundsätzlich anders gearteter Wesen aussehen, die auf physikalisch anders zusammengesetzten Welten Hunderte oder Tausende von Lichtjahren entfernt lebten? Einige glaubten, daß ihre Signale überhaupt nicht im Radiospektrum, sondern im Infrarotbereich, im sichtbaren Bereich oder sonst irgendwo zwischen den Gammastrahlen übermittelt werden würden. Oder vielleicht schickten die Außerirdischen schon die ganze Zeit wie verrückt Signale, aber mit einer Technik, die wir in tausend Jahren noch nicht erfunden haben würden. Astronomen an anderen Instituten machten aufregende Entdeckungen in der Sternenwelt und den Galaxien, wenn sie Objekte untersuchten, die aufgrund welchen Mechanismus auch immer intensive Radiowellen erzeugten. Andere Astronomen veröffentlichten wissenschaftliche Abhandlungen, nahmen an Konferenzen teil und machten Karriere, weil sie ein Ziel und eine gute Nase hatten. Die Astronomen von Argus dagegen publizierten wenig. Und wenn die Einladungen zu Vorträgen für die Jahresversammlung der American Astronomical Society oder den alle drei Jahre stattfindenden
Symposien und Plenarsitzungen der International Astronomical Union verschickt wurden, wurden sie in der Regel übergangen. Deshalb hatte die Leitung von Argus nach Rücksprache mit der National Science Foundation 25 Prozent der Beobachtungszeit für Projekte reserviert, die nichts mit der Suche nach außerirdischem Leben zu tun hatten. Einige bedeutende Entdeckungen waren gemacht worden – bei extragalaktischen Objekten, die sich paradoxerweise schneller als Licht fortzubewegen schienen, bei der Oberflächentemperatur von Neptuns großem Mond Triton und bei der dunklen Materie in den äußeren Sphären benachbarter Galaxien, in der keine Sterne zu sehen waren. Die Stimmung wurde besser. Die Argus-Mannschaft hatte wenigstens ab und zu das Gefühl, wichtige Beiträge zur astronomischen Forschung zu leisten. Zwar verlängerte sich so die Zeit, die man brauchte, um den Himmel vollständig abzusuchen, aber die beruflichen Karrieren der Mitarbeiter waren abgesichert. Vielleicht hatten sie keinen Erfolg, Signale anderer intelligenter Lebewesen aufzuspüren, aber dafür entrissen sie der unerschöpflichen Natur andere Geheimnisse. Von diesen 25 Prozent abgesehen, bestand die Suche nach extraterrestrischer Intelligenz (SETI) – einige Wissenschaftler sprachen sogar optimistisch von der Kommunikation mit extraterrestrischer Intelligenz (KETI) – im wesentlichen aus ziemlich stumpfsinniger Beobachtungsroutine. Daneben hatte man einige Stunden für Astronomen von anderen Institutionen reserviert. Obwohl sich die Stimmung gebessert hatte, teilten viele Drumlins Meinung. Sehnsüchtig malten sie sich aus, wie sie die 131 Radioteleskope, ein Wunder der Technik, für ihre eigenen, ebenfalls wichtigen Programme verwenden könnten. Heute hatte Ellie Drumlin gegenüber weder mit Entgegenkommen noch mit streitbaren Argumenten Erfolg. Er war alles andere als liebenswürdiger Laune und versuchte in
seinem Kolloquium zu zeigen, daß es keine extraterrestrischen Wesen geben konnte. Wenn man es in nur wenigen tausend Jahren zu einer so hoch entwickelten Technologie gebracht hatte wie wir, was, so fragte er, mußte dann eine wirklich fortgeschrittene Spezies erst können? Wahrscheinlich konnte sie Sterne versetzen und Galaxien umbilden. Und dennoch gebe es in der gesamten Astronomie nichts, für dessen Erklärung man sich auf extraterrestrische Intelligenz anstelle natürlicher Vorgänge berufen müsse. Warum hatte Argus bis heute noch kein Signal entdeckt? Bildete man sich denn ein, daß es am ganzen Himmel nur einen Radiosender gebe? Hatte man sich schon einmal überlegt, wie viele Milliarden Sterne man bereits untersucht hatte? Das Experiment habe seinen Zweck erfüllt. Den restlichen Himmel brauche man nicht mehr zu untersuchen. Die Antwort liege auf dem Tisch: Weder im hintersten Winkel des Universums noch in der Nähe der Erde gab es Anzeichen für extraterrestrische Intelligenz. Sie existierte nicht. In der anschließenden Diskussion stellte einer der ArgusAstronomen eine Frage zur Zoohypothese, die davon ausging, daß es sehr wohl außerirdische Wesen gebe, diese sich aber nicht zu erkennen geben wollten, um vor den Menschen zu verbergen, daß im Kosmos noch andere intelligente Wesen existierten – vielleicht aus demselben Empfinden heraus, aus dem sich ein Spezialist für das Verhalten der Primaten wünschte, eine Schar Schimpansen im Busch zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Als Antwort stellte Drumlin eine Gegenfrage: War es wahrscheinlich, daß bei einer Million Zivilisationen in der Galaxis – diese Zahl kursierte in Argus – jede Zivilisation an der Praxis der Nichteinmischung festhielt, daß es keine Ausnahme, keinen Wilderer gab? Konnte man sich glaubhaft vorstellen, daß keine dieser Zivilisationen auf der Erde spionierte? »Aber auf der Erde«, antwortete Ellie,
»stehen Wilderer und Wildhüter auf der annähernd gleichen technologischen Entwicklungsstufe. Wenn der Wildhüter einen bedeutenden Vorsprung hat – sagen wir mal, mit Radar und Hubschraubern – dann sind die Wilderer erledigt.« Einige Wissenschaftler des Argus-Projektes klatschten bei dieser Bemerkung Beifall, aber Drumlin schüttelte nur den Kopf und sagte: »Auch Sie werden mir noch recht geben, Ellie. Irgendwann.« Wenn sie sich den Kopf lüften wollte, hatte Ellie es sich zur Gewohnheit gemacht, in ihrem liebevoll gepflegten Thunderbird Baujahr 1958 lange, einsame Fahrten zu unternehmen. Der Wagen hatte ein abnehmbares Verdeck und kleine runde Fenster neben den Rücksitzen, die wie Bullaugen aussahen. Er war die einzige Extravaganz, die Ellie sich leistete. Oft ließ sie das Verdeck zu Hause und raste nachts mit heruntergedrehten Fensterscheiben und wehenden schwarzen Haaren durch die Wüste. Im Lauf der Jahre hatte sie jede der ärmlichen kleinen Städte, jeden Berg, jede Bergkuppe und jede Polizeistreife der Highways im südwestlichen New Mexico kennengelernt. Nach einem nächtlichen Beobachtungslauf im Observatorium liebte sie es, mit ihrem Wagen an der Wachstation und der Schranke der Argus-Anlage vorbeizurauschen, schnell in den nächsten Gang zu schalten und in Richtung Norden davonzubrausen. In der Umgebung von Santa Fe konnte man dann über den Sangre-de-CristoBergen oft schon den zarten Schimmer der Morgendämmerung sehen. (Warum benannte eine Religion, fragte sie sich, ihre Orte nach Blut, Körper, Herz und Pankreas ihrer am höchsten verehrten Gottheit? Warum nicht nach dem Gehirn oder anderen wichtigen, aber nie dementsprechend gewürdigten Organen?) An diesem Abend fuhr sie Richtung Südosten in die Sacramento Mountains. Hatte Dave vielleicht recht? Waren
SETI und Argus nur das Hirngespinst von ein paar verschrobenen Astronomen? Stimmte es, daß das Projekt auch ohne Erfolg jahrelang weitergeführt werden würde und daß man immer neue Strategien entwickeln und sich noch ausgefallenere und teurere Instrumente ausdenken würde? Was wäre denn ein überzeugendes Zeichen dafür, daß sie gescheitert waren? Wann wäre sie bereit, aufzugeben und sich etwas Sichererem zuzuwenden, das mehr Erfolg versprach? Das Nobeyama-Observatorium in Japan hatte eben die Entdeckung von Adenosin, einem komplexen organischen Molekül und Baustein der DNS, in einer dichten Molekülwolke im All bekanntgegeben. Auch sie konnte bestimmt, wenn sie die Suche nach außerirdischen Intelligenzen aufgab, erfolgreich nach solchen mit Leben in Beziehung stehenden Molekülen im Weltall suchen. In den Bergen stoppte Ellie den Wagen, stieg aus und betrachtete den südlichen Horizont. Ganz schwach konnte sie das Sternbild des Centaurus erkennen. In ihm hatten die alten Griechen ein schimärenhaftes Wesen, halb Mensch, halb Pferd, gesehen, das Zeus weise Dinge gelehrt hatte. Aber Ellie war von der Anordnung der Sterne noch nie auch nur entfernt an einen Zentauren erinnert worden. Der Alpha Centauri, der hellste Stern der Gruppe, gefiel ihr am besten. Von allen Sternen war er mit viereinviertel Lichtjahren der Erde am nächsten. In Wirklichkeit handelte es sich bei dem hellen Gebilde um ein Dreifachsternsystem. Zwei dicht beieinanderliegende Sonnen kreisten umeinander, und eine dritte, weiter entfernt liegende, kreiste um diese beiden. Von der Erde aus erschienen die drei Sterne als ein einziger Lichtpunkt. In besonders klaren Nächten wie dieser sah sie ihn hin und wieder über Mexiko stehen. Möglicherweise gab es Planeten dort, die man nur schwer ausfindig machen konnte. Einige kreisten vielleicht ganz dicht um eine der drei Sonnen.
Eine besonders interessante Umlaufbahn von einer gewissen Stabilität wäre die Acht, die sich um die zwei inneren Sonnen legte. Wie es wohl war, auf einer Welt mit drei Sonnen am Himmel zu leben? Wahrscheinlich wäre es dort noch heißer als in New Mexico. Mit leichtem Schaudern entdeckte Ellie zu beiden Seiten des zweispurigen Highways Unmengen von Hasen. Sie hatte die Tiere früher schon gesehen, wenn sie auf ihren Fahrten bis ins westliche Texas kam. Seite an Seite saßen sie auf allen vieren am Straßenrand, doch wenn einer für einen kurzen Augenblick von den neuen Halogenscheinwerfern des Thunderbird angestrahlt wurde, stellte er sich auf die Hinterbeine, ließ die Vorderpfoten schlaff herunterhängen und bewegte sich nicht mehr. Meilenweit salutierte so eine Ehrenwache von Wüstenhasen vor ihr. Zumindest hatte sie diesen Eindruck, während sie durch die Nacht brauste. Die Tiere schauten auf, tausend rosafarbene Näschen schnupperten und zweitausend glänzende Augen leuchteten in der Nacht und starrten auf die Erscheinung, die auf sie zuraste. Vielleicht war es für sie eine Art religiöser Erfahrung, dachte Ellie. Es schienen in der Mehrzahl junge Hasen zu sein. Vielleicht hatten sie noch nie Autoscheinwerfer gesehen. Die zwei hellen Lichtstrahlen, die mit 130 km/h vorbeirasten, mußten ein verblüffender Anblick sein. Obwohl Tausende von Tieren die Straße säumten, sah Ellie nie eines, das etwa in der Mitte der Straße auf dem Markierungsstreifen gesessen hätte oder aufgescheucht im Dunkel verschwunden wäre. Auch einen toten Hasen sah sie nie. Aber warum saßen die Tiere überhaupt am Straßenrand? Vielleicht hing es mit der Temperatur des Asphalts zusammen. Oder sie waren auf Nahrungssuche in den Büschen neben der Straße und wollten vielleicht nur wissen, was die herankommenden hellen Lichter bedeuteten. Doch wie sollte man sich erklären, daß nie eines über die Straße hoppelte, um
seine Cousins auf der anderen Seite zu besuchen? Was war der Highway für die Hasen? Ein Fremdkörper inmitten ihrer Welt, unergründlich in seiner Funktion und gebaut von Wesen, die die meisten von ihnen nie zu Gesicht bekommen hatten? Aber wahrscheinlich dachten die Tiere überhaupt nicht darüber nach. Das Summen der Reifen auf dem Highway klang wie weißes Rauschen, und sie wurde sich bewußt, daß sie auch jetzt unwillkürlich auf bestimmte Gesetzmäßigkeiten achtete. Sie hatte sich angewöhnt, auf alle möglichen Quellen weißen Rauschens zu hören: Den Motor des Kühlschranks, der mitten in der Nacht ansprang; das Wasser, das in die Badewanne floß; die Waschmaschine, die in der kleinen Kammer neben der Küche die Wäsche wusch; das Donnern des Ozeans während des kurzen Ausflugs zum Sporttauchen nach Cozumel, einer Yukatan vorgelagerten Insel, den sie aus Ungeduld, wieder an die Arbeit zu kommen, vorzeitig abgebrochen hatte. Immer achtete sie auf solche Geräusche des Alltags und versuchte herauszufinden, ob es dort weniger deutlich hörbare Gesetzmäßigkeiten gab als bei dem Rauschen im interstellaren Raum. Im vergangenen August war Ellie in New York City auf einem Kongreß der URSI (die französische Abkürzung für die International Scientific Radio Union) gewesen. Die U-Bahnen seien gefährlich, hatte man sie gewarnt, aber ihr weißes Rauschen war unwiderstehlich. In dem klack-klack, klackklack der Untergrundbahn meinte sie eine wichtige Gesetzmäßigkeit zu hören. Kurz entschlossen nahm sie sich einen halben Tag frei und fuhr von der 34. Straße nach Coney Island und von dort wieder nach Manhattan. Dann fuhr sie mit einer anderen Linie bis ins hinterste Queens. In Jamaica stieg sie aus und machte sich erhitzt und außer Atem – immerhin war es ein heißer Augusttag – auf den Rückweg ins
Kongreßhotel. Manchmal, wenn sich die Untergrundbahn in eine steile Kurve legte, ging die Innenbeleuchtung aus und Ellie konnte eine gleichmäßige Abfolge blauer Lichter sehen, die draußen in einem Tempo vorbeirasten, als säße sie in einem interstellaren Raumschiff, das schneller als Licht war und durch einen Haufen junger blauer Überriesen schoß. Wenn der Zug dann auf eine gerade Strecke kam und die Lichter wieder aufflammten, war sie mit einem Schlag wieder auf der Erde mit ihren stoßenden und drängelnden Menschen, die sich an den Halteschlaufen festhielten, mit den beißenden Gerüchen, den kleinen, in Schutzkäfige eingeschlossenen Überwachungskameras, die ein Sprayer mit Farbe übersprüht hatte, mit der mehrfarbigen Übersichtskarte, auf der das gesamte U-Bahnnetz New Yorks abgebildet war, und dem hochfrequenten Kreischen der Bremsen, wenn der Zug in den nächsten Bahnhof einfuhr. Daß sie übertrieb, war Ellie klar. Aber sie hatte schon immer eine lebhafte Phantasie gehabt. Na schön, dann reagierte sie eben zwanghaft, wenn sie Rauschen hörte. Schaden richtete sie damit ja wohl keinen an. Auf jeden Fall hing es mit ihrer Arbeit zusammen. Eigentlich hätte sie sogar ihren Ausflug nach Cozumel wegen des Rauschens der Ozeanbrecher von der Einkommenssteuer absetzen müssen. Na, vielleicht wurde es bei ihr allmählich wirklich zur fixen Idee. Erschrocken hatte sie festgestellt, daß sie schon am Rockefeller Center war. Hastig war sie über die auf dem Boden verstreuten Zeitungen gestiegen und aus dem U-Bahn-Wagen gesprungen. Dabei war ihr Blick auf die Schlagzeile der News-Post gefallen: RADIO JOBURG VON GUERILLAS EROBERT. Wenn wir mit ihnen sympathisieren, sind es Freiheitskämpfer, dachte Ellie. Mögen wir sie nicht, sind es Terroristen. In dem seltenen Fall, daß wir uns keine eigene Meinung bilden können, sind es zunächst einmal nur Guerillas. Auf einem Zeitungsfetzen
daneben war das Photo eines selbstbewußten Mannes in den besten Jahren zu sehen, mit der Schlagzeile: DER UNTERGANG DER WELT: AUSZÜGE AUS DEM NEUEN BUCH VON REVEREND JO RANKINS. DIESE WOCHE EXKLUSIV IN DER NEWS-POST. Ellie hatte nur einen kurzen Blick auf die Schlagzeilen geworfen und dann versucht, sie schnell wieder zu vergessen. Durch die lärmende Menge hatte sie sich Richtung Kongreßhotel geschoben und gehofft, noch rechtzeitig zu Fujitas Vortrag über homomorphe Konstruktionspläne für Radioteleskope zu kommen. Das Summen der Reifen wurde periodisch überlagert von dumpfen Schlägen an den Nahtstellen des Straßenbelags, der von verschiedenen Straßenbaukolonnen immer wieder erneuert worden war. Und wenn Argus nun eine interstellare Botschaft empfing, die aber sehr langsam gesendet wurde – ein Informationsbit pro Stunde oder Woche oder Jahrzehnt? Was, wenn es ein solches uraltes, sehr geduldiges Murmeln einer Zivilisation gab, das nicht erkannt werden konnte, weil wir bereits nach Sekunden oder Minuten erlahmten, wenn es um das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten ging? Angenommen, sie lebten schon Zehntausende von Jahren und spraaaaaachen seeeeeehr laaaaaangsaaam. Argus würde das niemals entschlüsseln. Konnten solch langlebige Wesen existieren? Gab es genug Zeit in der Geschichte des Universums für Wesen, die sich ganz langsam fortpflanzten und eine höhere Intelligenz entwickelten? Würde nicht der statistische Zerfall chemischer Verbindungen, der Verschleiß ihrer Körper nach dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik sie zwingen, sich genauso schnell fortzupflanzen, wie es die Menschen taten? Und sich mit genauso langen Lebensspannen zu begnügen wie wir? Oder wohnten sie auf einem alten, kalten Planeten, auf dem selbst molekulare Zusammenstöße in extrem langsamen
Bewegungen mit vielleicht nur einem Stoß pro Tag abliefen? Vergeblich versuchte Ellie, sich einen der gebräuchlichen Radiosender auf einem Felsen aus Methaneis vorzustellen, schwach beleuchtet von einer fernen röten Zwergsonne, während weit unten unaufhörlich die Wellen eines Ammoniakozeans an die Küste schlugen -und dabei ganz zufällig ein weißes Rauschen erzeugten, das vom dem der Brandung auf Cozumel nicht zu unterscheiden war. Ebenso war das Gegenteil möglich: Schnellsprecher, manische kleine Wesen, die sich hastig und ruckartig bewegten und eine vollständige Radiobotschaft – etwa von der Länge einiger hundert Seiten Textes – in einer Nanosekunde funkten. Wenn man ein sehr enges Frequenzband im Empfänger hatte, hörte man nur einen winzigen Frequenzbereich und die Übermittlung dauerte damit viel länger. Man würde niemals in der Lage sein, eine schnelle Modulation zu entdecken. Das war eine Konsequenz aus der Theorie der Fourierintregrale, und stand in enger Beziehung zur Heisenbergschen Unschärferelation. Wenn man beispielsweise eine Frequenz von einem Kilohertz hatte, konnte man ein Signal, das schneller als eine Millisekunde modulierte, nicht finden. Es wäre eine Art verschwommener akustischer Eindruck. Die Bandbreiten bei Argus waren schmäler als ein Hertz, deshalb mußten eventuelle Sender langsamer modulieren als ein Bit pro Sekunde, damit man sie entdecken konnte. Noch längere Modulationen, die ganze Stunden dauerten, konnten leicht entdeckt werden, vorausgesetzt, man war außergewöhnlich geduldig und obendrein willens, ein Teleskop so lange auf einen Sender zu richten. Es gab so viele Himmelsregionen und Hunderte Milliarden Sterne zu beobachten. Man konnte nicht seine gesamte Zeit nur mit einigen wenigen davon verbringen. Ellie befürchtete, daß man in der Eile, mit der man einen Gesamtüberblick über den Himmel in weniger als einem
Menschenleben gewinnen und alles am Himmel in Milliarden Frequenzen abhören wollte, die Möglichkeit rasend schnell oder unheimlich langsam sendender Wesen nicht genügend berücksichtigte. Aber sicher wußten außerirdische Wesen besser als wir, welche Frequenzmodulationen akzeptabel waren. Vielleicht hatten sie aus einer früheren Zeit Erfahrung mit interstellarer Kommunikation und neu in Erscheinung tretenden Zivilisationen. Wenn es einen Bereich für diese Pulsraten gab, den eine empfangende Zivilisation mit größter Wahrscheinlichkeit abhören konnte, dann würde die sendende Zivilisation in diesem Bereich funken. Ob sie in Mikrosekunden oder in Stunden modulierte, was machte ihr das aus? Im Verhältnis zur Erde würde sie über überlegene Techniken und gewaltige Energiequellen verfügen. Wenn sie mit uns Kontakt aufnehmen wollte, würde sie es uns einfach machen. Sie würde Signale auf verschiedenen Frequenzen schicken. Sie würde verschiedene Modulationsgeschwindigkeiten benutzen. Sie würde von unserer Rückständigkeit wissen und Mitleid haben. Aber warum hatte man noch nie ein Signal empfangen? Hatte Dave vielleicht doch recht? Gab es keine außerirdischen Zivilisationen? Lagen all die Milliarden Welten ohne Leben unfruchtbar brach? Gab es intelligente Wesen nur in dieser einen dunklen Ecke des unfaßbar weiten Universums? Ellie brachte es einfach nicht übers Herz, an diese Möglichkeit zu glauben. Sie entsprach so perfekt den menschlichen Ängsten und Sehnsüchten, den nicht bewiesenen Lehren über das Leben nach dem Tod und Pseudo-Wissenschaften wie Astrologie. Es war die moderne Inkarnation des geozentrischen Solipsismus, der Vorstellung unserer Vorfahren, daß wir das Zentrum des Universums waren. Drumlins Argumentation war schon deswegen zweifelhaft, weil wir nur zu gern bereit waren, sie zu
glauben. Also immer mit der Ruhe, dachte Ellie. Wir haben noch nicht einmal die nördliche Hemisphäre vollständig untersucht. Wenn wir in den nächsten sieben oder acht Jahren nichts hören, dann kann man sich immer noch Sorgen machen. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte sind wir in der Lage, nach Bewohnern anderer Welten zu suchen. Wenn wir scheitern, haben wir die Seltenheit und Kostbarkeit des Lebens auf unserem Planeten bestätigt, eine Tatsache – wenn es eine ist –, die zu kennen sich lohnt. Und wenn wir Erfolg haben, werden wir die Geschichte der Menschheit verändern und die Fesseln unseres Provinzialismus abstreifen. Bei einem so hohen Einsatz mußte man bereit sein, ein kleines berufliches Risiko auf sich zu nehmen. Ellie riß das Steuer herum, schaltete in den höchsten Gang und raste mit quietschenden Reifen zurück zur Argus-Anlage. Die Hasen, die immer noch am Straßenrand saßen und jetzt von der Morgendämmerung in rosiges Licht getaucht wurden, reckten die Hälse.
4 Primzahlen
Gibt es denn keine Mährischen Brüder auf dem Monde, daß noch kein Missionar diesen unseren armen Heidenplaneten besucht hat, um die Zivilisationen zu zivilisieren und die Christenheit zum Christentum zu bekehren? Herman Melville Weißjacke(1850)
Schweigen allein ist groß; alles andere Schwäche. Alfred De Vigny La Mort du Loup (1864)
Das kalte, schwarze Vakuum lag hinter ihnen. Die Pulse näherten sich jetzt einem gewöhnlichen gelben Zwergstern und ergossen sich über die Welten, die um diesen Stern kreisten. Die Pulse waren an Planeten aus Wasserstoffgas vorbeigeströmt, in Monde aus Eis eingedrungen, hatten die organischen Wolken einer Welt passiert, in der sich Vorläufer von Leben regten, und waren über einen Planeten hinweggefegt, dessen Blüte bereits eine Milliarde Jahre zurücklag, jetzt schlugen sie gegen eine warme Welt, die sich blauweiß im Sternenhimmel drehte.
Diese Welt war verschwenderisch mit vielfältigem und formenreichem Leben ausgestattet. Da gab es springende Spinnen auf den eisigen Gipfeln hoher Berge und schwefelfressende Würmer in heißen Vulkanen auf dem Grund des Ozeans. Es gab Lebewesen, die nur in konzentrierter Schwefelsäure leben konnten, und andere, die von eben dieser konzentrierten Schwefelsäure vernichtet wurden, so wie es Organismen gab, die durch Sauerstoff vergiftet wurden, während andere nur überleben konnten, wenn sie Sauerstoff atmeten. Sonderbare Wesen mit ein wenig Intelligenz hatten sich neuerdings über den Planeten ausgebreitet. Sie waren auf den Grund des Ozeans und in eine Umlaufbahn von geringer Höhe um ihren Planeten vorgedrungen. Es wimmelte von ihnen in allen Winkeln und Ritzen ihrer kleinen Welt. Der Übergang von der Nacht zum Tag verschob sich, je weiter westwärts man auf dieser Welt kam, und entsprechend dieser Bewegung vollführten Millionen dieser Wesen rituelle Morgenwaschungen. Dann legten sie sich Mäntel oder Lendentücher um, tranken ein Gebräu aus Kaffeebohnen, Teeblättern oder Löwenzahn, fuhren auf Fahrrädern, mit Automobilen oder mit Ochsengespannen und dachten dazwischen immer wieder für eine kurze Zeit über Schulaufgaben, die Aussichten für die Frühjahrssaat oder das Schicksal der Welt nach. Unbemerkt drangen die ersten Pulse der Radiowellen durch die Atmosphäre und die Wolken, schlugen auf der Erde auf und wurden zu einem Teil zurück ins All
reflektiert. Immer wieder spülten die Pulse in Wellen um die sich drehende Erde und überschwemmten das ganze Sonnensystem. Nur geringe Energiemengen wurden dabei von dem System aufgefangen. Der größte Teil der Pulse strömte an ihm vorbei – und der gelbe Stern und sein System blieben hinter ihnen in der pechschwarzen Finsternis zurück.
Ein Mann betrat das Kontrollgebäude, um seine Nachtschicht anzutreten. Er trug eine Jacke, auf der über einem stilisierten Volleyball aus Filz das Wort »Marodeure« stand. Eine Gruppe von Radioastronomen kam gerade heraus, um zum Abendessen zu gehen. »Na, wie lange sucht ihr denn schon nach den kleinen grünen Männchen? Doch schon mehr als fünf Jahre, oder, Willie?« Obwohl die Neckereien nicht böse gemeint waren, spürte Wiliie die Spitze. »Gib uns doch auch einmal eine Chance, Willie«, sagte ein anderer. »Unser Quasar-Leuchtkraft-Programm sieht wirklich vielversprechend aus. Aber es wird noch ewig dauern, wenn wir nur zwei Prozent der Teleskopzeit kriegen.« »Ja, Jack, ist ja gut.« »Willie, wir schauen bis zum Ursprung des Universums zurück. Auch unser Programm hat seine Risiken – aber wenigstens wissen wir, daß es da draußen ein Universum gibt. Ihr wißt nicht einmal, ob es ein einziges grünes Männchen gibt.« »Erzählen Sie das lieber Frau Dr. Arroway. Die ist sicher glücklich, Ihre Meinung zu hören«, antwortete Willie mürrisch.
Er betrat den Kontrollraum. Mit einem Blick überflog er ein paar Dutzend Bildschirme, die die Fortschritte der Suche im Radiowellenbereich aufzeichneten. Gerade hatten sie die Untersuchung des Sternbilds Herkules abgeschlossen. Sie hatten sich das Zentrum dieses riesigen Galaxienhaufens jenseits der Milchstraße, der hundert Millionen Lichtjahre entfernt war, genau angesehen. Sie hatten M 113 untersucht, einen Kugelsternhaufen von etwa 300000 Sternen, der durch die Schwerkraft zusammengehalten wurde und sich in einer Entfernung von 26000 Lichtjahren um unsere Galaxis bewegte. Sie hatten den Ras Algethi, einen Doppelstern, und Zeta und Lambda Herculis untersucht – einige Sterne waren von der Sonne völlig verschieden, andere ähnelten ihr. Fast alle, die man mit bloßem Auge sehen konnte, waren nur wenige hundert Lichtjahre entfernt. Die Wissenschaftler hatten Hunderte kleiner Sektoren der Himmelsregion, in der Herkules lag, mit einer Milliarde verschiedener Frequenzen sorgfältig abgehorcht, aber nichts gefunden. In den Jahren davor hatten sie die Sternbilder unmittelbar westlich von Herkules abgesucht – Serpens, Corona borealis, Bootes, Canes venatici… aber auch dort hatten sie nichts gefunden. Einige der Teleskope waren noch dazu abgestellt, fehlende Daten zu Herkules zusammenzutragen. Der Rest zielte bereits stumpfsinnig auf das im Osten an Herkules angrenzende Sternbild. Für die Menschen des östlichen Mittelmeerraumes hatte es vor ein paar tausend Jahren Ähnlichkeit mit einem Saiteninstrument gehabt und war deshalb mit dem griechischen Helden Orpheus in Verbindung gebracht worden. Das Sternbild hieß Lyra oder Leier. Computergesteuert drehten sich die Teleskope, um den Sternen der Lyra von ihrem Aufgang bis zu ihrem Untergang folgen zu können. Selbsttätig speicherten die Computer die Radiophotonen, überwachten die Funktion der Teleskope und verarbeiteten die Daten in ein für
ihr menschliches Bedienungspersonal handliches Format. Willie durchquerte den Raum, vorbei an der Büchse mit Süßigkeiten, an der Kaffeemaschine, dem in Elfenrunen geschriebenen Satz Tolkiens vom Artificial Intelligence Laboratory der Universität Stanford und dem Anstecker, auf dem zu lesen war: SCHWARZE LÖCHER KANN MANN NICHT SEHEN. Er trat an das Kommandoschaltpult und nickte dem Diensthabenden vom Nachmittag freundlich zu, der gerade seine Aufzeichnungen zusammenpackte und sich für das Abendessen fertigmachte. Da die Daten übersichtlich auf dem bernsteinfarbenen Hauptbildschirm aufgelistet waren, brauchte Willie gar nicht nach den Fortschritten der letzten Stunden zu fragen. »Sie sehen, nichts Besonderes. Es gab einen deutlichen Glitch – es sah zumindest so aus – auf Kanal Neunundvierzig«, sagte der Physiker mit einer vagen Handbewegung in Richtung Fenster. »In der Anhäufung von Quasaren stieg der Energieausstoß vor ungefähr einer Stunde um das Zehn- bis Zwanzigfache. Die scheinen ja sehr gute Daten zu kriegen.« »Ja, ja, habe ich schon gehört. Die verstehen sowieso nicht…« Er verstummte, als ein Alarmlicht auf dem Pult vor ihnen aufleuchtete. Auf der Anzeige, auf der die Intensität gegen die Frequenz aufgetragen war, zeigte sich eine steile Spitze. »Schau mal an, ein monochromatisches Signal.« Auf einer anderen Anzeige, auf der die Intensität gegen die Zeit aufgetragen war, konnte man eine Serie von Pulsen sehen, die sich von links nach rechts über den Schirm bewegten und dann verschwanden. »Das sind Zahlen«, sagte Willie zögernd. »Sie geben die Wellenlänge eines Senders an.« »Wahrscheinlich eine Störung durch die Air Force. So etwas habe ich einmal mit dem AWACS-Frühwarnsystem von
Kirtland erlebt. Vielleicht will uns hier jemand auf den Arm nehmen.« Es gab vertragliche Vereinbarungen, nach denen wenigstens einige Funkfrequenzen für die Astronomie freigehalten werden sollten. Aber gerade weil diese Frequenzen störungsfrei waren, konnten die Militärs manchmal der Versuchung nicht widerstehen, sie zu benutzen. Sollte ein Weltkrieg ausbrechen, würden vielleicht die Radioastronomen als erste davon erfahren, da ihre Fenster zum Kosmos dann mit strategischen Befehlen, den Daten der Überwachungssatelliten im geostationären Orbit und der Übermittlung verschlüsselter Abschußkommandos an weit entfernte strategische Stützpunkte überflutet sein würden. Aber auch ohne den militärischen Nachrichtenverkehr mußten die Astronomen beim gleichzeitigen Abhören von einer Milliarde Frequenzen mit Unterbrechungen rechnen. Blitze, startende Autos, Direktübertragungen des Rundfunks und Fernsehens über Satelliten verursachten Störgeräusche. Aber die Computer konnten solche Signale identifizieren und ignorierten sie systematisch. Auf zweideutigere Signale hörten die Computer genauer, bis sichergestellt war, daß es sich um keinen der Datensätze handelte, die sie gespeichert hatten. Immer wieder passierte es auch, daß ein elektronisch gesteuerter Flugkörper während eines Tests vorbeiflog – manchmal mit einem als fliegende Untertasse getarnten Radarschirm. Argus entdeckte dann plötzlich unverkennbare Zeichen intelligenten Lebens. Aber jedesmal entpuppten sich solche Zeichen als Leben einer ganz bestimmten Art, intelligent bis zu einem gewissen Grad, jedoch kaum außerirdisch. Vor einigen Monaten war in 260 km Höhe eine F-29E mit einer elektronischen Abwehranlage vorbeigeflogen und hatte sämtliche 131 Teleskope in Alarmzustand versetzt. Für die nicht militärisch geschulten Augen der Astronomen hätten die komplexen Radiosignale
genausogut die Botschaft einer außerirdischen Zivilisation sein können. Aber dann hatten sie festgestellt, daß das westlichste Radioteleskop das Signal eine ganze Minute vor dem östlichsten empfangen hatte. Damit war klar gewesen, daß es sich um ein Objekt handelte, das in der Atmosphäre der Erde flog, und nicht um den Funkspruch einer geheimnisvollen Zivilisation aus den Tiefen des Alls. Auch diesmal würde es sich mit ziemlicher Sicherheit um etwas Ähnliches handeln. Die Finger ihrer rechten Hand hatte sie in die fünf genau passenden Löcher eines flachen Kästchens auf ihrem Schreibtisch gesteckt. Seit es diese Erfindung gab, sparte sie jede Woche eine halbe Stunde. Viel anfangen konnte sie mit dieser halben Stunde allerdings auch nicht. »Ich habe Mrs. Yarborough alles erzählt. Sie liegt jetzt im Bett neben mir, seit Mrs. Wertheimer gestorben ist. Ich will ja nicht mein eigenes Loblied singen, aber ich rechne mir das, was du gemacht hast, als großes Verdienst an.« »Ja, Mutter.« Ellie prüfte den Glanz ihrer Fingernägel und fand, daß sie noch eine, vielleicht auch anderthalb Minuten brauchten. »Manchmal denke ich an die Zeit zurück, als du in der vierten Klasse warst – weißt du noch? Als es in Strömen goß und du nicht zur Schule wolltest? Ich sollte dir für den nächsten Tag eine Entschuldigung schreiben. Aber ich wollte nicht. Ich habe zu dir gesagt: Ellie, habe ich gesagt, eine gute Schulbildung ist neben der Schönheit das Wichtigste auf der Welt. Schönheit hat man oder man hat sie nicht, aber für die Bildung kann man etwas tun. Geh zur Schule. Du weißt nie, was du heute versäumst. Stimmts?« »Ja, Mutter.« »Das habe ich damals gesagt.«
»Ja, ich erinnere mich, Mama.« Die Finger waren fertig, nur der Daumen hatte noch eine matte Stelle. »Dann hab ich deine Überschuhe und deinen Regenmantel geholt – eine gelbe Regenjacke, du hast darin richtig niedlich ausgesehen, klein wie du warst – und dich in die Schule gescheucht. Und war nicht das der Tag, an dem du in Mathematik bei Mr. Weisbrod eine Frage nicht beantworten konntest? Du warst so wütend, daß du zur Collegebibliothek marschiert bist und soviel darüber nachgelesen hast, bis du mehr wußtest als Mr. Weisbrod. Er war sehr beeindruckt. Das hat er mir hinterher erzählt.« »Wirklich? Das wußte ich gar nicht. Wann hast du denn mit ihm gesprochen?« »An einem Elternabend. Er hat zu mir gesagt: Ihre Tochter ist ein Hitzkopf. Sie war so wütend auf mich, daß sie gelernt hat, bis sie eine Expertin auf diesem Gebiet war. Eine Expertin, hat er gesagt. Aber das habe ich dir ganz sicher schon einmal erzählt.« Ellie legte die Füße auf eine Schreibtischschublade und lehnte sich in ihrem Drehstuhl zurück. Halt gaben ihr jetzt nur noch die Finger in der Nagellackmaschine. Den Summton spürte sie fast eher, als sie ihn hörte. Mit einem Ruck saß sie aufrecht. »Mama, ich muß aufhören.« »Ich bin mir sicher, daß ich dir die Geschichte früher schon mal erzählt habe. Aber du hörst mir ja nie zu, wenn ich dir etwas sage. Mr. Weisbrod war so ein netter Mensch. Du hast seine guten Seiten nie sehen wollen.« »Mama, ich muß jetzt wirklich aufhören. Wir haben einen Bogey aufgefangen.« »Einen Bogey? Was ist denn das?«
»Das weißt du doch, Mama. Etwas, das ein Signal sein könnte. Wir haben doch darüber geredet.« »Da haben wir es wieder, wir denken beide, daß die andere nicht zuhört. Mutter wie Tochter.« »Tschüß, Mama.« »Ich laß dich erst gehen, wenn du mir versprichst, daß du mich gleich hinterher anrufst.« »Okay, Mama. Ist versprochen.« Die ganze Unterhaltung über waren Ellie das Elend und die Einsamkeit ihrer Mutter so deutlich vor Augen gestanden, daß sie das Gespräch am liebsten gleich beendet hätte und davongelaufen wäre. Dafür schämte sie sich. Mit energischen Schritten betrat sie den Kontrollraum und ging zum zentralen Kontrollpult. »Abend, Willie. Abend, Steve. Laßt mich mal die Daten sehen. Gut. Und wo habt ihr das Amplitudendiagramm versteckt? Gut. Habt ihr die interferometrische Positionsbestimmung? Okay. Mal sehen, ob es in dem Sichtbereich einen Stern gibt. Oha, da sehen wir die Wega. Die ist ja nicht weit weg.« Sie hämmerte mit den Fingern auf eine Tastatur ein, sprach dabei jedoch weiter. »Seht mal, sie ist nur 26 Lichtjahre entfernt. Man hat sie schon einmal beobachtet, aber immer mit negativen Ergebnissen. Ich habe sie mir bei meiner ersten Untersuchung in Arecibo selbst angesehen. Wie hoch ist die absolute Intensität? Großer Gott. Das sind ein paar hundert Jansky. Das kann man praktisch mit jedem Radio empfangen. Okay. Dann haben wir also einen Bogey ganz in der Nähe der Wega. Mit einer Frequenz von etwa 9,2 Gigahertz, nicht ausgesprochen monochromatisch: Die Bandbreite beträgt einige hundert Hertz. Unsere Quelle ist linear polarisiert und sendet eine Serie von Pulsen aus, die auf zwei Amplituden beschränkt sind.«
Als Antwort auf die Befehle, die Ellie in den Computer eingegeben hatte, zeigte der Bildschirm eine Aufstellung aller Radioteleskope. »116 Teleskope haben die Pulse empfangen. Also offensichtlich keine technische Störung bei einem einzelnen Teleskop. Okay, jetzt brauchen wir verschiedene Basislängen. Bewegt sich unsere Quelle mit den Sternen? Am Ende ist es wieder nur ein ELINT-Satellit oder ein Flugzeug.« »Ich kann eine siderische Bewegung bestätigen, Frau Dr. Arroway.« »Okay, das genügt. Das Signal kommt also nicht von der Erde, und wahrscheinlich stammt es auch nicht von einem künstlichen Satelliten in einer Umlaufbahn vom Typ Molnija, obwohl wir auch das überprüfen sollten. Willie, rufen Sie bitte NORAD an und fragen Sie, ob die Leute dort einen Satelliten für wahrscheinlich halten. Wenn wir Satelliten ausschließen können, dann bleiben nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder will man uns hereinlegen, oder jemand sendet uns endlich doch eine Botschaft. Steve, machen Sie noch einen manuellen Durchgang. Überprüfen Sie einige Teleskope – die Signalstärke ist auf jeden Fall groß genug – und schauen Sie nach, ob sich nicht doch jemand einen kleinen Scherz erlaubt hat, der uns zeigen möchte, wie falsch wir mit unserem ganzen Projekt liegen.« Einige Wissenschaftler und Ingenieure, die durch den Summer des Argus-Computers alarmiert worden waren, hatten sich um das Kommandopult versammelt. Sie konnten sich eines Lächelns nicht erwehren. Keiner von ihnen glaubte ernsthaft an eine Botschaft aus einer anderen Welt. Aber es war wie ein schulfreier Tag, eine Unterbrechung der stumpfsinnigen Routine, an die sie sich gewöhnt hatten, und in ihrem Unterbewußtsein regte sich ganz leise eine Hoffnung. »Wenn jemandem außer extraterrestrischer Intelligenz eine
andere Erklärung einfällt, soll er sie mir sagen«, wandte Ellie sich an die Wissenschaftler. »Die Wega kann es auf keinen Fall sein, Frau Dr. Arroway. Dieses System ist erst einige hundert Millionen Jahre alt. Seine Planeten sind noch in der Entstehung begriffen. Dort kann sich rein zeitlich noch kein intelligentes Leben entwickelt haben. Es muß ein Hintergrundstern sein; oder eine Galaxie.« »Aber dann müßte die Sendeenergie unwahrscheinlich groß sein«, antwortete ein Mitglied des Quasarforscherteams, der dazugekommen war, um zu sehen, was los war. »Wir müssen sofort die Eigenbewegung genau untersuchen, um festzustellen, ob sich die Radioquelle mit der Wega bewegt.« »Mit der Eigenbewegung haben Sie natürlich recht, Jack«, sagte Ellie. »Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Vielleicht kommen unsere Freunde gar nicht vom System der Wega. Vielleicht sind sie dort nur zu Besuch.« »Das ist schwer möglich. In dem System befinden sich große Mengen von Schutt. Es ist entweder ein erloschenes Sonnensystem oder ein Sonnensystem, das noch ganz am Anfang seiner Entwicklung steht. Wenn sie länger dortbleiben, wird ihr Raumschiff zu Kleinholz geschlagen.« »Also müssen sie gerade erst angekommen sein. Oder sie verdampfen die Meteoriten, die ihnen entgegenkommen. Oder sie machen Ausweichmanöver, wenn sich ein Stück Schutt auf Kollisionskurs befindet. Vielleicht befinden sie sich ja gar nicht auf der Ebene der Ringe, sondern in einer polaren Umlaufbahn, um dem Schutt auszuweichen. Es gibt Millionen Möglichkeiten. Aber Sie haben völlig recht, wir müssen ja gar nicht raten, ob das Sternsystem der Wega die Quelle ist. Das können wir herausfinden. Wie lang wird die Untersuchung der Eigenbewegung dauern? Überhaupt, Steve, das ist gar nicht Ihre Schicht. Sagen Sie wenigstens Consuela Bescheid, daß es mit dem Abendessen später wird.« Willie, der am Nachbarpult
telephoniert hatte, lächelte schwach: »Ich bin bei NORAD bis zu einem Major Braintree vorgedrungen. Er schwört hoch und heilig, daß sie für dieses Signal keinen Sender haben, schon gar nicht auf neun Gigahertz. Aber das erzählen sie uns jedes Mal, wenn wir anrufen. Jedenfalls sagt er, sie hätten in der Rektaszension und Deklination der Wega kein Raumschiff entdeckt.« »Und was ist mit den Schwarzen?« Zur Zeit gab es eine Menge »schwarzer« Satelliten mit geringem Abtastbereich, die dazu bestimmt waren, die Erde bis zu der Stunde, in der man sie brauchte, unentdeckt zu umkreisen. Dann würden sie als Verstärkung der Raketenaufklärung oder der Nachrichtenübermittlung im nuklearen Krieg eingesetzt werden, falls die eigentlich für diese Zwecke bestimmten militärischen Satelliten ausfielen. Hin und wieder wurde von einem der größeren astronomischen Radarsysteme ein schwarzer Satellit entdeckt. Dann wollte keine Nation sein Eigentümer sein, und es kam zu wilden Spekulationen über die Entdeckung eines extraterrestrischen Raumschiffes in der Erdumlaufbahn. Und mit der nahenden Jahrtausendwende erlebte auch der UFO-Kult eine neue Blütezeit. »Die Interferometrie schließt bereits eine Umlaufbahn vom Typ Molnija aus, Frau Dr. Arroway.« »Gut. Schauen wir uns diese Pulse genauer an. Angenommen, wir haben binäre Arithmetik vor uns – hat es jemand schon ins Dezimalsystem umgerechnet? Wie ist die Zahlenfolge? Okay, das können wir im Kopf machen… neunundfünfzig, einundsechzig, siebenundsechzig… einundsiebzig… sind das nicht alles Primzahlen?« Ein aufgeregtes Raunen ging durch den Kontrollraum. Auch Ellie schwieg einen Augenblick lang überrascht, faßte sich aber schnell wieder. Sie mußte jetzt einen klaren Kopf
behalten, denn sie wollte keinen unwissenschaftlichen und unbeherrschten Eindruck machen. »Okay, fassen wir nochmals kurz zusammen. In einfachen Worten. Passen Sie bitte auf, ob ich etwas vergessen habe. Wir haben ein äußerst starkes, nicht ausgesprochen monochromatisches Signal. Außerhalb dieses Frequenzbandes gibt es nur Rauschen. Das Signal ist linear polarisiert, als ob es von einem Radioteleskop gesendet würde. Das Signal kommt mit ungefähr neun Gigahertz und liegt damit in der Nähe des Minimums des galaktischen Hintergrundrauschens. Es ist die richtige Frequenz für jemanden, der über eine große Entfernung hinweg gehört werden will. Wir haben eine siderische Bewegung der Quelle, das heißt, sie bewegt sich, als ob sie sich im All zwischen den Sternen befindet und nicht von einem lokalen Sender kommt. NORAD behauptet, daß sie keine Satelliten entdecken können – weder eigene noch fremde –, die der Position der Quelle entsprechen würden. Die Interferometrie schließt eine Quelle in der Erdumlaufbahn auf jeden Fall aus. Steve hat inzwischen die Daten manuell überprüft. Es scheint sich nicht um ein Programm zu handeln, das ein Scherzbold in den Computer eingegeben hat. In die Himmelsregion, auf die unsere Teleskope gerichtet sind, gehört die Wega, die ein A-Null-Hauptreihen-Zwergstern ist. Sie ähnelt der Sonne, ist aber nur sechsundzwanzigtausend Lichtjahre entfernt und hat den prototypischen stellaren Schuttring. Planeten sind nicht bekannt, aber mit Sicherheit gibt es welche im Bereich der Wega, von denen wir nichts wissen. Wir machen eine Untersuchung der Eigenbewegung, um herauszufinden, ob sich die Quelle weit hinter der Wega befindet. Die Antwort bekommen wir in… in einigen Wochen, wenn wir auf unsere Möglichkeiten beschränkt bleiben, und in einigen Stunden, wenn wir eine Interferometrie mit sehr langen Basislängen machen. Und schließlich und endlich scheint das,
was gesendet wird, eine lange Sequenz von Primzahlen zu sein, also ganzen Zahlen, die nur durch sich selbst und eins teilbar sind. Es ist unwahrscheinlich, daß ein astrophysikalischer Vorgang Primzahlen erzeugt. Deshalb würde ich meinen – mit aller Vorsicht, natürlich – aber ich würde meinen, alles spricht dafür, daß wir auf einer heißen Spur sind. Aber es gibt noch ein Problem, wenn es sich hier um eine Botschaft von Wesen handelt, die sich auf einem Planeten in der Nähe der Wega entwickelt haben. Sie müßten sich sehr schnell entwickelt haben. Der Planet besteht erst seit ungefähr vierhundert Millionen Jahren. Er ist damit ein unwahrscheinlicher Ort für die nächstgelegene Zivilisation. Deshalb ist die Untersuchung der Eigenbewegung sehr wichtig. Aber ich würde auch die Möglichkeit, daß es sich um einen Scherz handelt, noch genauer überprüfen.« »Seht mal«, sagte einer der Quasarforscher, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Mit dem Kinn machte er eine Bewegung zum westlichen Horizont, wo ein zarter rosafarbener Schein die Stelle anzeigte, an der die Sonne untergegangen war. »Auch die Wega geht in ein paar Stunden unter. In Australien ist sie wahrscheinlich schon aufgegangen. Können wir nicht einfach in Sydney anrufen und die Leute dort bitten, sich das mal anzusehen, und zwar jetzt, wo wir die Wega auch noch sehen.« »Gute Idee. In Sydney ist es jetzt früher Nachmittag. Und mit Sydney haben wir eine Basislänge, die lang genug für eine Untersuchung der Eigenbewegung ist. Geben Sie mir mal den Computerausdruck aller Daten, und ich schicke sie von meinem Büro aus per Telefax nach Australien.« Bewußt gelassen verließ Ellie die Gruppe, die sich um das Schaltpult drängte, und ging in ihr Büro zurück. Sorgfältig schloß sie die Tür hinter sich. »Ich glaub, ich werd’ verrückt«, flüsterte sie.
»Ian Broderick, bitte. Hier spricht Eleanor Arroway vom Projekt Argus. Ja, es ist dringend. Danke, ich bleibe dran… Hallo, Ian? Vielleicht hat es nichts zu bedeuten, aber wir haben hier einen Bogey. Könntet ihr das für uns mal nachprüfen? Um neun Gigahertz mit einigen hundert Hertz Bandbreite. Ich gebe Ihnen jetzt die Daten mit Telefax rüber… Ihr habt eine Antenne im Spiegel, die neun Gigahertz gut empfängt? So ein Glück… Ja, die Wega liegt direkt in der Mitte des Blickfeldes. Und so, wie es aussieht, empfangen wir Pulse in Primzahlen… Wirklich? Okay, ich bleibe dran.« Ellie mußte wieder einmal daran denken, wie rückständig die astronomische Zusammenarbeit weltweit war. Ein gemeinschaftliches Datenbanksystem existierte immer noch nicht. Schon eine asynchrone Übertragung… »Hören Sie, Ian, würden Sie sich, solange sich das Teleskop dreht, einmal das Amplituden-ZeitDiagramm ansehen? Bezeichnen wir doch die Pulse mit niedriger Amplitude als Punkte und die mit hoher Amplitude als Striche. Dann kriegen wir… Ja genau, das ergibt das gleiche Bild, das wir seit einer halben Stunde sehen… Vielleicht. Es ist das Vielversprechendste in den letzten fünf Jahren, aber ich muß auch immer daran denken, wie furchtbar die Sowjets 1974 mit dem Big-Bird-Satelliten an der Nase herumgeführt worden sind. Soweit ich es mitbekommen habe, handelte es sich damals um eine amerikanische RadarHöhenmessung der Sowjetunion für die Flugbahn von Cruise Missiles… Sozusagen ein Satellit als Landvermesser. Und die Sowjets haben mit ihren Drehantennen Signale aufgefangen. Sie konnten nicht feststellen, woher aus dem All sie kamen. Alles, was sie herausfanden, war, daß sie immer um die gleiche Morgenstunde dieselbe Pulssequenz empfingen. Ihre eigenen Experten waren davon überzeugt, daß es sich nicht um militärische Funkübertragungen handelte; deshalb dachten sie natürlich, das alles sei außerirdisch… nein, wir haben eine
Satellitenübertragung bereits ausgeschlossen. Ian, können wir euch zumuten, die Signale so lange zu verfolgen, wie sie sich in eurem Bereich befinden? Über die Interferometrie mit langen Basislängen reden wir später noch. Ich versuche noch mit anderen Radioobservatorien Verbindung aufzunehmen, die gleichmäßig in geographischer Länge verteilt sind und dem Signal folgen können, bis es hier wieder auftaucht… Ich weiß allerdings nicht, ob man so einfach nach China telephonieren kann. Vielleicht sollte ich ein IAU-Telegramm schicken…. Gut. Vielen Dank, Ian.« Auf dem Flur zum Kontrollraum hielt Ellie inne – natürlich war es Ironie, den Raum Kontrollraum zu nennen; die Computer, die diese Arbeit leisteten, standen ganz woanders -und sah mit Sympathie auf die kleine Gruppe von Wissenschaftlern, die dort angeregt über die Daten diskutierte und humorvoll Mutmaßungen über die Beschaffenheit des Signals anstellte. Die Wissenschaftler waren nicht nach der Mode gekleidet und sie sahen auch nicht im herkömmlichen Sinn gut aus. Aber sie hatten etwas unwiderstehlich Anziehendes. Sie leisteten hervorragende Arbeit, und wenn es um eine neue Entdeckung ging, gingen sie ganz in ihrer Arbeit auf. Als Ellie zu ihnen trat, verstummten sie und schauten sie erwartungsvoll an. Die Zahlen wurden jetzt automatisch vom Binärsystem ins Dezimalsystem übertragen… 881, 883, 887, 907… es waren wirklich nur Primzahlen. »Willie, bringen Sie mir bitte eine Weltkarte. Und verbinden Sie mich mit Mark Auerbach in Cambridge, Massachusetts. Er müßte zu Hause sein. Geben Sie ihm diese Meldung für ein IAU-Telegramm an alle Observatorien durch, insbesondere die großen Radioobservatorien. Und lassen Sie sich die Telephonnummer von dem Observatorium in Peking geben. Und dann verbinden Sie mich mit dem Wissenschaftsberater der Präsidentin.« »Und die National Science Foundation wollen Sie übergehen?«
»Nach Auerbach verbinden Sie mich bitte mit dem Wissenschaftsberater der Präsidentin.« Ellie bildete sich ein, inmitten des lautstarken Protests der anderen einen Freudenschrei zu hören. Mit dem Fahrrad, kleinen Lieferwagen, von Postboten zu Fuß oder per Telephon wurde die Nachricht allen astronomischen Zentren der Welt zugestellt. Einige der größeren Radioobservatorien – zum Beispiel in China, Indien, der Sowjetunion oder Holland – bekamen sie per Fernschreiber. Wenn sie hereintickte, überflog sie ein Sicherheitsbeamter oder ein zufällig vorbeikommender Wissenschaftler, riß sie ab und trug das Papier ins Büro. Die Nachricht lautete: UNGEWÖHNLICHE PERIODISCHE RADIOQUELLE MIT DEN KOORDINATEN: REKTASZENSION 18h 34m, DEKLINATION PLUS 38 GRAD 41 MINUTEN, ENTDECKT VON SYSTEMATISCHER HIMMELSBEOBACHTUNGSSTATION ARGUS. FREQUENZ 9.24176684 GIGAHERTZ, BANDBREITE CIRCA 430 HERTZ. ZWEI VERSCHIEDENE AMPLITUDEN MIT CIRCA 174 UND 179 JANSKY. MIT DER AMPLITUDENMODULATION IST PRIMZAHLENSEQUENZ KODIERT. BEOBACHTUNGSSTANDORTE ÜBER DIE GANZE LÄNGE DRINGEND BENÖTIGT. BITTE UM RÜCKRUF FÜR WEITERE INFORMATIONEN ZUR KOORDINATION DER BEOBACHTUNGEN. E. ARROWAY, DIREKTORIN PROJEKT ARGUS, SOCORRO, NEW MEXICO, USA.
5 Entschlüsselungsalgorithmus
O sprich noch einmal, holder Engel! William Shakespeare Romeo und Julia
Die Gästezimmer waren bereits von den prominentesten Wissenschaftlern der SETI belegt. Als die offiziellen Delegationen aus Washington eintrafen, gab es für sie keine passende Unterbringung auf dem Argus-Gelände mehr, und man mußte sie in Motels im benachbarten Socorro einquartieren. Kenneth Der Heer, der Wissenschaftsberater der Präsidentin, war die einzige Ausnahme. Er kam einen Tag nach der Entdeckung der Zeichen auf den dringenden Anruf von Eleanor Arroway hin angereist. In den darauffolgenden Tagen kamen nacheinander die Delegierten der National Science Foundation, der NASA, des Verteidigungsministerium, des Wissenschaftsrates der Präsidentin, des Nationalen Sicherheitsrates und der Nationalen Sicherheitsbehörde. Am Abend zuvor hatten einige von ihnen am Sockel des Teleskops 101 gestanden und zum erstenmal die Wega gezeigt bekommen. Wie zum Gruß hatte deren blauweißes Licht besonders schön gefunkelt. »Ich habe sie schon früher gesehen, aber nicht gewußt, daß es die Wega ist«, hatte einer der Wissenschaftler bemerkt. Die
Wega schien heller zu sein als die anderen Sterne, aber das war auch schon alles, was sich an Besonderem sagen ließ: Sie war nur einer von den vielen tausend Sternen, die man mit bloßem Auge sehen konnte. Die Wissenschaftler waren Teilnehmer eines Forschungsseminars über die Beschaffenheit, den Ursprung und die mögliche Bedeutung der Radiopulse. Das Büro für Öffentlichkeitsarbeit des Projekts – aufgrund des weitverbreiteten Interesses an der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz war es größer als in den meisten anderen Observatorien – hatte die Aufgabe, die weniger bedeutenden Vertreter offizieller Stellen zu informieren. Jeder Neuankömmling bekam eine umfassende persönliche Einführung. Ellie selbst mußte die ranghöheren Delegierten einweisen, die laufenden Forschungsarbeiten überwachen und auf die nur zu verständlichen, mit Nachdruck vorgetragenen kritischen Fragen ihrer Kollegen eingehen. Sie war völlig erschöpft. Seit der Entdeckung hatte sie keine einzige Nacht mehr durchschlafen können. Zunächst hatte man versucht, das Ganze geheimzuhalten. Trotz allem war man sich noch nicht absolut sicher, daß es sich um eine extraterrestrische Botschaft handelte. Eine vorzeitige oder falsche Bekanntgabe konnte in der Öffentlichkeit katastrophale Folgen haben. Und, was noch schlimmer war: Die Datenauswertung würde empfindlich gestört werden. Wenn erst die Presse auftauchte, mußte das die Arbeit der Wissenschaftler beeinträchtigen. Sowohl Washington als auch Argus hatten deshalb großes Interesse an einer Geheimhaltung. Aber die Wissenschaftler hatten bereits ihren Familien davon erzählt, das Telegramm der International Astronomical Union (IAU) war in die ganze Welt geschickt worden, und die noch in den Anfängen steckenden astronomischen
Datenbanksysteme in Europa, Nordamerika und Japan hatten sämtliche Daten der Entdeckung gespeichert. Obwohl man sich schon vorher überlegt hatte, wie man sich im Fall einer Entdeckung der Öffentlichkeit gegenüber verhalten wollte, war man auf die gegenwärtige Situation so gut wie nicht vorbereitet. Also wurde eine harmlos klingende Erklärung verfaßt und erst veröffentlicht, als es nicht mehr anders ging. Natürlich war die Sensation perfekt. Sie hatten die Medien um Geduld gebeten, waren sich aber gleichzeitig klar darüber, daß die Presseleute in Kürze scharenweise bei ihnen einfallen würden. Sie hatten versucht, die Reporter von einem Besuch des Geländes abzuschrecken, indem sie bekanntgaben, daß es sich bei den Signalen nicht um wirkliche Informationen, sondern nur um stumpfsinnig sich wiederholende Primzahlen handelte. Die Presse war ungehalten über die Verweigerung näherer Erklärungen. »Über Primzahlen kann ich nur ein paar Zeilen schreiben«, erklärte ein Reporter Ellie am Telephon. Kamerateams in Lufttaxis und gecharterten Hubschraubern glitten im Tiefflug über die Anlage und verursachten oft starke Störgeräusche, die die Teleskope allerdings sofort identifizierten. Einige Reporter lauerten den Delegierten aus Washington auf, wenn sie abends in ihre Motels zurückkehrten. Wagemutigere hatten sogar versucht, heimlich mit Jeeps oder Motorrädern, in einem Fall sogar zu Pferd in das Gelände einzudringen. Ellie sah sich gezwungen, sich nach den Preisen für einen Sicherungszaun um das Observatorium zu erkundigen. Gleich nach Der Heers Ankunft hatte Ellie ihm eine erste Version ihrer späteren Standardeinführung gegeben: Auffallend seien die Intensität des Signals, die unmittelbare Nähe der Quelle zur Wega und die Beschaffenheit der Pulse. »Ich bin vielleicht der Wissenschaftsberater der Präsidentin«, sagte er, »aber von Haus aus doch in erster Linie Biologe.
Deshalb erklären Sie mir bitte alles der Reihe nach. Soviel ich bis jetzt verstanden habe, muß die Botschaft vor sechsundzwanzig Jahren losgeschickt worden sein, wenn die Radioquelle sechsundzwanzig Lichtjahre entfernt ist. Ein paar verrückte Typen mit spitzen Ohren haben sich also in den sechziger Jahren gedacht, wir würden gerne wissen, ob die da unten auf Primzahlen stehen. Aber Primzahlen sind doch keine aufregende Sache. Nach Angeberei sieht es also nicht aus. Eher, als wollten sie uns Nachhilfeunterricht in Arithmetik erteilen. Vielleicht wollen sie uns auch nur beleidigen.« »Nein, das müssen Sie anders sehen«, erwiderte Ellie mit einem Schmunzeln. »Das alles ist nur das Vorspiel, das unsere Aufmerksamkeit erregen soll. Wir empfangen von Quasaren, Pulsaren, Radiogalaxien und so weiter die seltsamsten Pulssequenzen. Aber Primzahlen sind etwas ganz Besonderes, etwas sehr Künstliches. Nicht jede ungerade Zahl ist zum Beispiel eine Primzahl. Und daß abstrahlendes Plasma oder eine explodierende Galaxie eine so regelmäßige Reihe mathematischer Signale sendet, ist einfach undenkbar. Die Primzahlen sind zweifellos dazu da, unsere Aufmerksamkeit zu erregen.« »Aber warum?« fragte Der Heer völlig durcheinander. »Ich weiß es nicht. Wir müssen jetzt viel Geduld haben. Vielleicht verschwinden die Primzahlen bald und etwas anderes, etwas Bedeutungsvolleres tritt an ihre Stelle. Die eigentliche Botschaft. Wir müssen einfach weiter hinhören.« . Am schwersten war der Presse zu erklären, daß die Signale keinen Inhalt hatten, keine Bedeutung – daß es sich nur um die ersten paar hundert Primzahlen handelte, die immer wieder von vorne anfingen und im Binärcode dargestellt waren: 1, 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31… Sie mußte erklären, daß die Neun keine Primzahl war, weil man sie durch drei teilen konnte (und natürlich auch durch neun und eins). Genauso die
Zehn, die durch fünf und zwei teilbar war (und durch zehn und eins). Die Elf war eine Primzahl, weil sie nur durch eins und sich selbst geteilt werden konnte. Aber warum wurden ausgerechnet Primzahlen gesendet? Sie mußte an jene verrückten Gelehrten denken, die zu keinem normalen Gespräch in der Lage waren, im Kopfrechnen aber unglaubliche Kunststücke vollbrachten – zum Beispiel konnten sie nach kurzem Nachdenken sagen, auf welchen Wochentag der erste Juni des Jahres 11977 fallen wird. Und das taten sie nicht mit einem bestimmten Ziel, sondern einfach, weil es ihnen Spaß machte und weil sie es konnten. Obwohl erst wenige Tage vergangen waren, seit sie die Botschaft empfangen hatten, fühlte sich Ellie euphorisch und zutiefst enttäuscht zugleich. Nach all den Jahren hatten sie endlich ein Signal empfangen – eine Art Signal zumindest. Aber sein Inhalt war hohl und leer. Eigentlich hatte sie sich vorgestellt, eine ganze Encyclopaedia Galactica gesendet zu bekommen. Erst in den letzten Jahrzehnten hatte man auf der Erde die Radioastronomie entwickelt. In der Galaxis um sie herum waren aber die Sterne im Durchschnitt einige Milliarden Jahre alt. Die Wahrscheinlichkeit, ein Signal von einer genauso fortgeschrittenen Zivilisation wie der der Erde zu empfangen, war verschwindend gering. Wenn die anderen auch nur ein wenig rückständiger waren als wir, würde es ihnen an den technischen Mitteln fehlen, mit uns in Verbindung zu treten. Deshalb kam das Signal höchstwahrscheinlich von einer weiter fortgeschrittenen Zivilisation. Vielleicht konnte die sogar melodienreiche Spiegelfugen schreiben: Der Kontrapunkt war dann das rückwärts geschriebene Thema. Nein, das konnte es nicht sein, entschied Ellie. Obwohl es zweifellos genial gewesen wäre und ihre Fähigkeiten bei weitem überschritten hätte, wäre es nur eine winzige Weiterführung dessen gewesen,
zu dem die Menschen fähig waren. (Bach und Mozart hatten immerhin beachtliche Versuche in der Richtung unternommen.) Ellie versuchte einen noch größeren Sprung. Sie versuchte, sich in den Kopf von jemand zu versetzen, der viel intelligenter war als sie und klüger als beispielsweise Drumlin oder Eda, der junge Physiker aus Nigeria, der den Nobelpreis bekommen hatte. Aber es funktionierte nicht. Sie konnte zwar darüber nachgrübeln, wie man den großen Fermatschen Satz oder die Goldbachsche Vermutung mit einigen wenigen Gleichungen beweisen konnte. Sie konnte sich Probleme ausmalen, die jenseits unseres Fassungsvermögens lagen und für aridere Wesen vielleicht bereits alte Hüte waren. Aber in ihre Köpfe konnte sie nicht schlüpfen, sie konnte sich nicht vorstellen, wie man dachte, wenn man viel mehr konnte als die Menschen. Natürlich. Das war keine Überraschung. Was hatte sie denn erwartet? Ebensogut konnte sie versuchen, sich eine neue Primärfarbe vorzustellen oder eine Welt, in der man einige hundert Bekannte nur aufgrund ihres individuellen Geruchs wiedererkennen konnte… Man konnte über so etwas reden, aber die Erfahrung selbst konnte man nicht machen. Zu sagen, daß jemand viel klüger war als man selbst, bedeutete ja, daß man ihn kaum noch verstehen konnte. Aber trotz alledem: Warum waren es nur Primzahlen? Die Argus-Astronomen hatten in den letzten Tagen einige Fortschritte gemacht. Die Bewegung der Wega war bekannt, man kannte ihre Geschwindigkeitskomponente. Die ArgusTeleskope, die mit den Radioobservatorien in West-Virginia und Australien zusammenarbeiteten, hatten festgestellt, daß sich die Quelle des Signals mit der Wega bewegte. Das Signal kam, soweit man es bei aller Sorgfalt messen konnte, nicht nur aus der Richtung der Wega, sondern es zeigte auch dieselben
eigentümlichen und charakteristischen Bewegungen der Wega. Wenn es sich bei der ganzen Sache nicht um einen üblen Streich handelte, befand sich die Quelle der Primzahlenpulse tatsächlich im System der Wega. Es gab auch keinen zusätzlichen Doppler-Effekt, der sich auf die Bewegung eines auf einem Planeten installierten Senders im Umkreis der Wega hätte zurückführen lassen. Die extraterrestrischen Wesen hatten die Bahnbewegung eliminiert. Vielleicht waren das ihre höflichen Umgangsformen im interstellaren Verkehr. »Es ist das Interessanteste, was ich je gehört habe. Aber mit unserer Abteilung hat es nichts zu tun«, sagte ein Abgeordneter der Forschungsabteilung des Verteidigungsministeriums, der sich anschickte, wieder nach Washington zurückzukehren. Gleich nach der Entdeckung hatte Ellie einige der Teleskope dazu abgestellt, die Wega auf anderen Frequenzbereichen abzuhören. Und tatsächlich hatten die Teleskope auf der 1420Megahertz-Wasserstoff-Linie, der 1667-Megahertz-HydroxylLinie und vielen anderen Frequenzen dasselbe Signal, dieselbe eintönige Abfolge von Primzahlen ausfindig gemacht. Im gesamten Radiospektrum plärrte die Wega mit einem elektromagnetischen Orchester Primzahlen aus. »Ich werde nicht schlau daraus«, sagte Drumlin und schob die Daumen unter den Gürtel. »Das kann uns früher doch nicht entgangen sein. Alle haben sich die Wega schon einmal angeschaut. Auch Arroway hat sie vor zehn Jahren von Arecibo aus beobachtet. Und letzten Dienstag fängt die Wega plötzlich an, Primzahlen zu senden! Warum gerade jetzt? Jetzt, nachdem Argus seit einigen Jahren das Weltall abhört?« »Vielleicht ist ihr Sender wegen Reparaturen einige Jahrhunderte lang ausgefallen«, schlug Valerian vor, »und sie haben ihn gerade wieder in Betrieb genommen. Oder vielleicht haben sie die dienstliche Vorschrift, an uns nur einmal alle Million Jahre eine Nachricht zu senden. Es gibt noch so viele
andere Planeten, auf denen vielleicht Leben existiert. Wir sind sicher nicht die einzigen Bewohner der Galaxis.« Aber Drumlin schüttelte nur völlig unbefriedigt den Kopf. Obwohl Valerian an das Gute im Menschen glaubte und nirgends Intrigen vermutete, ließ ihn der Unterton nicht los, den er aus Drumlins letzter Frage herausgehört hatte: War alles nur ein kühner und verzweifelter Versuch der Argus-Wissenschaftler, die vorzeitige Beendigung ihres Projekts zu verhindern? Valerian schüttelte den Kopf. Nein, er konnte nicht daran glauben. Als auch Der Heer noch zu ihm und Drumlin stieß, sah er sich zwei der bekanntesten Experten der SETI gegenüber, von denen jeder über den anderen schweigend den Kopf schüttelte. Zwischen den Wissenschaftlern und den Bürokraten herrschte wechselseitiges Unbehagen aufgrund fundamental entgegengesetzter Ausgangspositionen. Ein Elektroingenieur hatte es als die ständig drohende Gefahr eines Kurzschlusses bezeichnet. In den Augen der Bürokraten spekulierten die Wissenschaftler zu viel und zu leichtfertig. Für die Wissenschaftler dagegen waren die Bürokraten phantasielos und unkommunikativ. Ellie und besonders Der Heer taten ihr Bestes, die Kluft zu überbrücken, aber ihre Brücke wurde immer wieder weggeschwemmt. An diesem Abend standen überall überquellende Aschenbecher und leere Kaffeetassen herum. Salopp gekleidete Wissenschaftler, Delegierte aus Washington in leichten Anzügen und einige Offiziere bevölkerten den Kontrollraum, den Seminarraum und den kleinen Hörsaal und drängten nach Beendigung der Veranstaltungen durch die Türen nach draußen, wo die Diskussionen im Licht der Zigaretten und Sterne fortgeführt wurden. Die Stimmung war voller Kampflust. Die Anspannung der letzten Tage war deutlich zu spüren.
»Frau Dr. Arroway, darf ich vorstellen, Michael Kitz, Ressortleiter für C3 I im Verteidigungsministerium.« Der Heer stellte Kitz vor und trat selbst einen Schritt zurück. Ellie hatte den Eindruck, er wolle ihr einen Wink geben. Worauf wollte er hinaus? Sie wurde nicht schlau aus ihm. Wollte er sie zu Vernunft und Zurückhaltung mahnen? Aber hielt er sie für einen solchen Heißsporn? C3 I war eine wichtige Abteilung des Verteidigungsministeriums, der große Verantwortung zukam in einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion wirkliche Bereitschaft zum stufenweisen Abbau ihrer strategischen Atomwaffenarsenale zeigten. Es war eine Arbeit für überlegte Männer. Kitz setzte sich in einen der zwei Sessel gegenüber von Ellies Schreibtisch, beugte sich vor und las das Kafka-Zitat. Er schien nicht beeindruckt. »Frau Dr. Arroway, lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Wir machen uns Gedanken darüber, ob es im Interesse der Vereinigten Staaten ist, daß diese Entdeckung allgemein bekannt wird. Wir waren nicht gerade entzückt darüber, daß Sie ein Telegramm in alle Welt geschickt haben.« »Sie meinen nach China? Nach Rußland? Nach Indien?«, fragte sie, wobei der scharfe Klang in ihrer Stimme trotz ihrer Bemühungen nicht zu überhören war. »Sie wollten die ersten 261 Primzahlen geheimhalten? Glauben Sie wirklich, Mr. Kitz, daß die extraterrestrischen Wesen nur mit den Amerikanern Kontakt aufnehmen wollen? Glauben Sie nicht auch, daß eine Botschaft von einer anderen Zivilisation der ganzen Welt gehört?« »Sie hätten uns zu Rate ziehen sollen.« »Um zu riskieren, daß das Signal verloren geht? Unseres Wissens war es durchaus möglich, daß einzigartige Dinge gesendet wurden, nachdem die Wega hier in New Mexico untergegangen war und in Peking hoch am Himmel stand.
Solche Signale sind kein einfacher Telephonanruf nach den Vereinigten Staaten. Sie sind noch nicht einmal direkt an die Erde gerichtet. Sie gelten jedem Planeten im Sonnensystem. Wir hatten nur das Glück, gerade im richtigen Moment am Hörer zu sein.« Der Heer versuchte schon wieder, ihr etwas zu bedeuten. Was wollte er ihr sagen? Daß ihm ihr einfacher Vergleich gefiel, sie sich aber wegen Kitz nicht so aufregen sollte? »Jedenfalls«, fuhr Ellie fort, »ist es jetzt zu spät. Alle wissen, daß es irgendwelche intelligenten Lebewesen im System der Wega geben muß.« »Ich bin mir nicht so sicher, daß es schon zu spät ist, Frau Dr. Arroway. Sie scheinen davon auszugehen, daß eine genauere, entschlüsselbare Botschaft noch zu erwarten sei. Dr. Der Heer hier sagte mir, daß Sie diese Primzahlen für die Vorankündigung einer Botschaft halten, mit der unsere Aufmerksamkeit erregt werden soll. Wenn es tatsächlich eine solche Botschaft geben und diese kompliziert verschlüsselt sein sollte, so daß andere Länder sie nicht sofort mitbekommen« – hier machte er eine Pause, um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen – »sollte es also zu einer solchen Botschaft kommen, so wünsche ich, daß sie geheimgehalten wird, bis wir darüber gesprochen haben.« »Wir alle haben unsere Wünsche, Mr. Kitz«, sprach Ellie zu ihrer eigenen Überraschung honigsüß weiter und ignorierte Der Heers hochgezogene Augenbrauen einfach. Kitz’ Art hatte etwas Aufreizendes, fast Provokatives. Wahrscheinlich hatte er denselben Eindruck von ihr. »Ich zum Beispiel habe den Wunsch, zu verstehen, was das Signal bedeutet, was auf der Wega vor sich geht und was wir auf der Erde davon halten sollen. Möglicherweise können die Wissenschaftler der anderen Nationen uns entscheidend dabei helfen. Vielleicht brauchen wir ihre Daten. Vielleicht brauchen wir ihren
Verstand. Ich könnte mir vorstellen, daß dieses Problem über die Kräfte eines einzelnen Landes geht.« Der Heer wirkte jetzt fast erschrocken. »Aber Frau Dr. Arroway, der Vorschlag von Minister Kitz ist doch nicht so unsinnig. Die anderen Nationen können wir ja immer noch einbeziehen. Er bittet doch nur darum, daß wir zuerst mit ihm darüber sprechen. Und das auch nur, wenn es zu einer Botschaft kommen sollte.« Seine Stimme klang beruhigend und hatte kein falsches Pathos. Ellie sah ihn nochmals scharf an. Der Heer war kein besonders gutaussehender Mann, aber er hatte ein freundliches und intelligentes Gesicht. Er trug einen blauen Anzug und ein Baumwollhemd in bunten Farben. Sein ernstes und beherrschtes Auftreten wurde durch sein warmes Lächeln gemildert. Warum unterstützte er diesen Burschen vom Ministerium? Gehörte es zu seinem Job? Oder war es tatsächlich sinnvoll, was Kitz sagte? »Man könnte es ja wenigstens in seine Überlegungen einbeziehen«, sagte Kitz mit einem Seufzer und stand auf. »Der Verteidigungsminister würde Ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit begrüßen.« Er bemühte sich um ein gewinnendes Lächeln. »Einverstanden?« »Ich muß erst darüber nachdenken«, antwortete Ellie und nahm die dargebotene Hand, als ob sie ein toter Fisch wäre. »Ich komme gleich nach, Mike«, sagte Der Heer munter. Kitz war fast schon zur Tür draußen, als ihm noch etwas einfiel. Er zog ein Dokument aus der Brusttasche, kam zurück und legte es behutsam auf ihren Schreibtisch. »Oh, fast hätte ich es vergessen«, sagte er. »Das ist eine Kopie der Hadden Decision. Die kennen Sie wahrscheinlich. Es geht um das Recht der Regierung, Material, das für die Sicherheit der Vereinigten Staaten von Bedeutung ist, mit einer Geheimhaltungsstufe zu
versehen. Auch wenn es von einem nicht zur Geheimhaltung verpflichteten Observatorium kommt.« »Sie wollen die Primzahlen mit einer Geheimhaltungsstufe versehen?« fragte Ellie, die Augen vor ungläubigem Spott weit aufgerissen. »Wir sehen uns draußen, Ken.« Als Kitz das Büro verlassen hatte, konnte Ellie sich nicht mehr zurückhalten. »Hinter was ist der her? Hinter Todesstrahlen von der Wega? Oder hinter Weltzerstörern? Worum geht es hier eigentlich wirklich?« »Er ist nur vorsichtig, Ellie. Aber ich kann verstehen, wenn Sie glauben, daß noch mehr dahintersteckt. Okay, ich will versuchen, Ihnen eine Erklärung zu geben. Also, angenommen, es gibt tatsächlich eine Botschaft – Sie wissen, was ich meine, eine Botschaft mit einem verständlichen Inhalt – und diese Botschaft ist gegen, sagen wir mal, die Moslems oder Methodisten gerichtet. Sollten wir in einem solchen Fall nicht vorsichtig mit einer öffentlichen Bekanntgabe sein, damit sich die Vereinigten Staaten kein blaues Auge holen?« »Ken, nehmen Sie mich bloß nicht auf den Arm. Dieser Mann ist ein Stellvertreter des Verteidigungsministers. Wenn die sich wegen der Moslems oder Methodisten Sorgen machen würden, dann hätten sie mir einen Stellvertreter des Außenministers geschickt. Oder so einen religiösen Fanatiker, der bei den Gebetsfrühstücken im Weißen Haus den Vorsitz führt. Sie sind doch Wissenschaftsberater der Präsidentin. Was haben Sie ihr geraten?« »Gar nichts habe ich ihr geraten. Seit ich hier bin, habe ich erst einmal kurz am Telephon mit ihr gesprochen. Und ich will offen zu Ihnen sein: Bezüglich einer Geheimhaltungsstufe hat sie mir keine Anweisungen gegeben. Meiner Meinung nach hatte Kitz für das, was er sagte, keine Rückendeckung. Ich glaube, daß er eigenmächtig handelt.« »Was ist er eigentlich von Beruf?«
»Soviel ich weiß, Rechtsanwalt. Er war Topmanager in der Elektroindustrie, bevor er zur Regierung stieß. Über C3 I weiß er wirklich Bescheid, aber damit weiß er noch lange nicht alles.« »Ken, ich vertraue Ihnen. Ich glaube nicht, daß Sie die Hadden Decision als Drohung gegen mich ausspielen«, sagte Ellie mit einem Blick auf das Dokument auf ihrem Schreibtisch. Sie hielt inne und sah ihm in die Augen. »Wissen Sie, daß Drumlin noch eine andere Botschaft in der Polarisation vermutet?« »Wie, das verstehe ich nicht.« »Vor wenigen Stunden hat Dave eine erste statistische Untersuchung der Polarisation abgeschlossen. Dabei ist ein hübscher Film herausgekommen.« Der Heer schaute sie verständnislos an. Ellie war überrascht. Arbeiteten Biologen in ihren Mikroskopen denn nicht mit polarisiertem Licht? »Wenn eine Lichtwelle auf Sie trifft – sichtbares Licht, Radiolicht, jede Art Licht –, dann schwingt sie im rechten Winkel zu Ihrer Blickrichtung. Wenn sich diese Schwingung dreht, dann spricht man von einer elliptisch polarisierten Welle. Wenn sie sich im Uhrzeigersinn dreht, bezeichnet man sie als rechtsdrehend; gegen den Uhrzeigersinn ist sie linksdrehend. Wenn man nun zwischen diesen zwei Arten der Polarisation wechselt, kann man Informationen übermitteln. Eine Polarisation nach rechts bedeutet eine Null, und eine Linkspolarisation eine Eins. Können Sie folgen? So etwas ist durchaus möglich. Wir arbeiten mit Amplitudenmodulation und Frequenzmodulation, aber unsere Zivilisation macht in stillschweigender Übereinkunft normalerweise keine Polarisationsmodulation. Das Wega-Signal sieht aber so aus, als ob es auf einer Polarisationsmodulation basiere. Wir sind gerade dabei, das zu
überprüfen. Dave hat außerdem festgestellt, daß die beiden Polarisationsarten nicht gleich oft vorkommen. Die Wellen sind häufiger rechts- als linkspolarisiert. Vielleicht steckt noch eine andere Botschaft in der Polarisation, die uns bisher entgangen ist. Deshalb traue ich Ihrem Freund auch nicht. Kitz gibt mir doch nicht ohne Anlaß einen gutgemeinten Rat. Vielleicht ahnt er, daß wir noch mehr entdecken könnten.« »Ellie, machen Sie sich nicht so viele Gedanken. Sie haben in den letzten vier Tagen kaum ein Auge zugetan. Sie mußten sich mit der Wissenschaft, der Verwaltung und der Presse auf einmal herumschlagen. Sie haben bereits eine der größten Entdeckungen unseres Jahrhunderts gemacht, und wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie vielleicht einer noch bedeutenderen auf der Spur. Ich verstehe vollkommen, daß Sie so gereizt reagiert haben. Und die Drohung, das Projekt in militärische Überlegungen einzubeziehen, war ungeschickt von Kitz. Ich kann Ihr Mißtrauen gegen ihn voll und ganz verstehen. Aber so abwegig ist es nicht, was er sagt.« »Wie genau kennen Sie ihn?« »Ich habe ihn auf einigen Konferenzen erlebt. Von wirklich kennen kann nicht die Rede sein. Ellie, was halten Sie von folgendem Vorschlag: Falls tatsächlich eine richtige Botschaft hereinkommt, soll nicht jeder gleich davon wissen.« »Gut. Helfen Sie mir, einige der Blindgänger aus Washington auf Abstand zu halten.« »Okay. Übrigens, wenn Sie dieses Dokument auf Ihrem Schreibtisch liegenlassen, wird jemand, der hier hereinkommt, die falschen Schlüsse ziehen. Wollen Sie es nicht forträumen?« »Sie werden mir also helfen?« »Solange die Situation so bleibt wie jetzt, werde ich zu Ihnen stehen. Wir werden nicht mehr gut arbeiten können, wenn die Sache mit einer Geheimhaltungsstufe versehen wird.« Mit einem Lächeln ließ Ellie sich vor ihrem kleinen Bürosafe auf
die Knie und tippte die sechsstellige Zahlenkombination ein: 314159. Sie warf einen letzten Blick auf das Dokument, auf dem in großen schwarzen Buchstaben THE UNITED STATES VS. HADDEN CYBERNETICS stand. Dann schloß sie es weg. Alles in allem waren es ungefähr dreißig Leute – die Techniker und Wissenschaftler, die zum Projekt Argus gehörten, und einige hochgestellte Regierungsbeamte, darunter in Zivil der stellvertretende Direktor der Spionageabwehr. Weiter waren Valerian, Drumlin, Kitz und Der Heer anwesend. Ellie war die einzige Frau. Man hatte eine riesige Fernsehanlage aufgebaut, die auf einen Bildschirm von zwei Quadratmetern an der gegenüberliegenden Wand gerichtet war. Während Ellie zu der Gruppe sprach, bewegten sich ihre Finger über die Tastatur vor ihr. »In den letzten Jahren haben wir uns mit Hilfe von Computern auf die Entschlüsselung eventueller Botschaften verschiedenster Art vorbereitet. Jetzt haben wir durch Dr. Drumlins Analyse herausgefunden, daß in der vorliegenden Polarisationsmodulation Information steckt, daß also, mit anderen Worten, der rasende Wechsel zwischen links und rechts eine Bedeutung hat. Es handelt sich nicht um ein zufälliges Rauschen. Stellen Sie sich vor, Sie werfen eine Münze. Natürlich erwarten Sie, daß Kopf und Zahl mit gleicher Häufigkeit oben liegen werden. Aber dann merken Sie, daß statt dessen eine Seite doppelt so oft erscheint wie die andere. Sie schließen daraus, daß die Münze nicht echt ist oder, wie in unserem Fall, daß die Polarisation nicht zufällig ist, sondern einen Inhalt… Oh, schauen Sie sich das an. Was uns der Computer gerade mitteilt, ist sogar noch viel interessanter. Die Folge von Kopf und Zahl wiederholt sich sozusagen exakt. Die Sequenz ist lang, also handelt es sich um
eine komplexe Botschaft, und die sendende Zivilisation will wahrscheinlich sicherstellen, daß wir sie richtig empfangen. Hier, sehen Sie das? Da wiederholt sich die Botschaft. Wir befinden uns jetzt in der ersten Wiederholung. Jedes Bit an Information, jeder Punkt und jeder Strich – wenn Sie es sich so vorstellen wollen – ist identisch mit dem vorherigen Datenblock. Jetzt analysieren wir die Gesamtzahl der Bits. Dabei handelt es sich um mehrere Milliarden. Aha! Sie ist das Produkt dreier Primzahlen.« Obwohl Drumlin und Valerian beide strahlten, kam es Ellie so vor, als ob sie dabei völlig verschiedene Gefühle durchlebten. »Und jetzt? Was bedeuten ein paar Primzahlen mehr?« fragte ein Besucher aus Washington. »Es könnte bedeuten, daß man uns ein Bild schickt. Sehen Sie, die Botschaft besteht aus einer großen Zahl an Bits. Nehmen wir einmal an, daß diese große Zahl das Produkt dreier kleinerer Zahlen ist, Zahlen also, die miteinander multipliziert diese Zahl ergeben. Dann haben wir drei Dimensionen in der Botschaft. Ich vermute, daß es entweder ein statisches dreidimensionales Bild in der Art eines Hologramms ist oder ein zweidimensionales Bild, das sich in der Zeit verändert, also ein Film. Nehmen wir einfach einmal an, daß es sich um einen Film handelt. Wenn es ein Hologramm ist, brauchen wir jedenfalls länger, um das zu zeigen. Für den Film haben wir einen idealen Entschlüsselungs-Algorithmus.« Auf dem Bildschirm war undeutlich ein sich bewegendes Muster aus Schwarz und Weiß zu sehen. »Willie, würden Sie bitte ein Interpolationsprogramm dazu schalten? Egal welches. Und versuchen Sie, es ungefähr neunzig Grad gegen den Uhrzeigersinn zu drehen.«
»Frau Dr. Arroway, es gibt hier offensichtlich noch einen Nebenkanal. Vielleicht ist es der Ton zum Film.« »Schalten Sie ihn ein.« Die einzige praktische Anwendung von Primzahlen, die Ellie einfiel, war ein Code, der gegenwärtig bei vielen geschäftlichen und nationalen Sicherheitsangelegenheiten Verwendung fand. Man konnte mit Primzahlen eine Botschaft verschlüsseln, die auch der Dümmste verstand; man konnte sie aber genauso gut dazu verwenden, um eine Botschaft vor intelligenteren Geistern zu verbergen. Ellie blickte forschend in die auf sie gerichteten Gesichter. Kitz sah beunruhigt aus. Vielleicht sah er schon einen fremden Eindringling vor sich, oder, noch schlimmer, den Bauplan einer Waffe, die so geheim war, daß Ellie und ihr Team sie gar nicht sehen durften. Willie blickte ernsthaft drein und mußte vor lauter Aufregung immer wieder schlucken. Ein Bild ist etwas ganz anderes als bloße Zahlen. Die Möglichkeit einer sichtbaren Botschaft weckte in den Zuschauern unbewußte Ängste und Phantasien. Nur Der Heers Gesicht strahlte eine wunderbare Gelassenheit aus. Er war jetzt nicht mehr der Funktionär und Bürokrat, der Berater der Präsidentin, sondern ganz Wissenschaftler. Das immer noch unkenntliche Bild wurde von einem tiefen, rumpelnden Glissando begleitet. Die Töne glitten das akustische Spektrum erst hinauf und dann wieder hinunter, bis sie sich etwa eine Oktave unter dem mittleren C einpendelten. Ganz allmählich konnte die Gruppe ein zarte, aber anschwellende Musik vernehmen. Das Bild drehte sich, stellte sich auf und wurde scharf. Ellie starrte auf das grobkörnige Schwarzweißbild einer massigen Tribüne, die mit einem riesigen Jugendstil-Adler geschmückt war. Die Betonkrallen des Adlers schlossen sich um…
»Ein Scherz. Jemand hat sich einen Scherz erlaubt!« Überall waren erstaunte und ungläubige Ausrufe, Gelächter und erregte Wortwechsel zu hören. »Sehen Sie? Sie haben sich hinters Licht führen lassen«, sagte Drumlin fast leutselig zu Ellie. Er grinste. »Ein raffiniert inszenierter Schabernack. Und damit haben Sie die Zeit von uns allen verschwendet.« In den Betonkrallen des Adlers konnte sie jetzt ganz deutlich ein Hakenkreuz erkennen. Die Kamera fuhr langsam an dem Adler nach oben und bekam das lächelnde Gesicht von Adolf Hitler vor die Linse, der einer zu Marschmusik singenden Menge zuwinkte. Seine Uniform ohne einen einzigen Orden vermittelte bescheidene Einfachheit. Der tiefe Bariton eines Ansagers, der kratzend, aber unverkennbar Deutsch sprach, füllte den Raum. Der Heer trat zu Ellie. »Können Sie Deutsch?« flüsterte sie ihm zu. »Was sagt er?« »Der Führer«, übersetzte er langsam, »heißt die ganze Welt willkommen im deutschen Vaterland zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936.«
6 Palimpsest
Wenn aber die Wächter nicht glückselig sind, wer soll es dann sonst sein? Aristoteles Politik, Zweites Buch, Kapitel 5
Als die Maschine ihre Flughöhe erreicht hatte und Albuquerque bereits mehr als hundert Meilen hinter ihnen lag, warf Ellie träge einen Blick auf das kleine weiße, mit blauen Buchstaben bedruckte Pappschild, das an ihr Flugticket geheftet war. Der Wortlaut hatte sich seit ihrem ersten Flug nicht verändert: »Dies ist kein Gepäckschein im Sinn von Artikel 4 des Warschauer Abkommens.« Warum machten sich die Fluggesellschaften bloß solche Sorgen, daß die Passagiere dieses Stück Pappe mit einem Gepäckschein des Warschauer Abkommens verwechseln könnten? Was war überhaupt ein solcher Schein? Warum hatte sie bisher noch nie einen zu Gesicht bekommen? Wo kam er her? Es mußte in der Geschichte der Luftfahrt einmal eine Katastrophe gegeben haben: Eine unachtsame Fluggesellschaft mußte vergessen haben, diese Warnung auf rechteckige Pappschilder zu drucken. Daraufhin wurde sie von zornigen Passagieren in den Bankrott getrieben, weil den Passagieren daraus ein Schaden entstanden war, daß sie ihren Gepäckschein für einen Warschauer Gepäckschein gehalten hatten. Sicher gab es
handfeste finanzielle Gründe dafür, daß auf der ganzen Welt so sorgfältig unterschieden wurde, welche Pappschilder nicht durch das Warschauer Abkommen beschrieben waren. Man stelle sich vor, dachte Ellie, daß der gesamte Text dieser Karten etwas Sinnvollem gewidmet wäre – wie beispielsweise der Geschichte der Entdeckung der Welt, oder weniger beachteten Entdeckungen der Wissenschaft, oder vielleicht sogar der Ermittlung, wie viele Meilen ein Flugzeug im Durchschnitt zurücklegte, bevor es abstürzte. Wenn sie Kitz’ Angebot, ein Militärflugzeug zu nehmen, akzeptiert hätte, wäre sie wahrscheinlich auf andere Gedanken gekommen. Aber sie hatte es sich nicht zu bequem machen wollen, zumal sie sich selbst und das Projekt nicht in Abhängigkeit von den Militärs bringen wollte. Lieber flogen Valerian und sie mit einem regulären Linienflug. Valerian waren die Augen gleich zugefallen, nachdem er es sich neben ihr bequem gemacht hatte. Sie hatten vor ihrem Abflug keine Eile gehabt und sich noch über den neuesten Stand der Datenanalyse informieren können. Sie hatten einen Linienflug nach Washington gebucht, mit dem sie rechtzeitig zur morgigen Konferenz eintreffen würden. Es blieb sogar noch Zeit, sich auszuschlafen. Ellie warf einen Blick auf den Telefax, der sicher verpackt in einer Ledertasche unter ihrem Sitz stand. Er war um einige hundert Kilobit pro Sekunde schneller als Peters altes Modell, und seine graphischen Darstellungen waren viel besser. Vielleicht brauchte sie ihn morgen, um der Präsidentin der Vereinigten Staaten anhand eines Telefax zu erklären, was Adolf Hitler auf der Wega machte. Ellie war, das mußte sie sich eingestehen, ein bißchen nervös wegen der Konferenz. Sie hatte noch nie zuvor einen Präsidenten persönlich kennengelernt. Gemessen an dem, was die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu bieten gehabt hatte, war die amtierende Präsidentin gar nicht so übel. Nicht einmal für den Friseur hatte Ellie die Zeit gereicht,
geschweige denn für die Kosmetikerin. Aber es war egal, sie ging ja nicht ins Weiße Haus, um wegen ihres Aussehens bewundert zu werden. Was ihr Stiefvater jetzt wohl dachte? Ob er sie immer noch für untauglich für die Wissenschaft hielt? Oder ihre Mutter, die jetzt an den Rollstuhl gefesselt in einem Pflegeheim lebte? Ellie hatte sie seit der Entdeckung vor mehr als einer Woche erst einmal kurz angerufen. Sie nahm sich fest vor, es morgen wieder zu tun. Zum hundertsten Mal starrte Ellie aus dem Fenster und malte sich aus, wie die Erde auf einen außerirdischen Beobachter aus einer Flughöhe von zwölf bis vierzehn Kilometern wirken mochte, vorausgesetzt, der Fremdling hatte Augen wie die Menschen. Im Mittleren Westen gab es riesige Flächen, die in verschiedene Quadrate, Rechtecke und Kreise eingeteilt waren, je nachdem, ob sie für landwirtschaftliche oder städtebauliche Zwecke gedacht waren. Dann gab es ausgedehnte Flächen im Südwesten, wo nur der gelegentliche gerade Strich einer Straße durch die Berge und Wüsten von intelligentem Leben zeugte. Waren die Welten fortgeschrittenerer Zivilisationen bis in den letzten Winkel durchkonstruiert und umgebaut? Oder war es Kennzeichen einer wirklich fortgeschrittenen Zivilisation, überhaupt keine Spuren in ihrer Umwelt zu hinterlassen? Konnten extraterrestrische Wesen nach einem kurzen Blick auf die Erde genau sagen, in welchem Stadium innerhalb der großen kosmischen Evolution intelligenter Lebewesen wir uns befanden? Was konnten sie sonst noch sagen? Aufgrund des Blaus des Himmels konnten sie die Loschmidtsche Zahl ungefähr errechnen, die angab, wie viele Moleküle sich in einem Kubikzentimeter Luft in Meereshöhe befanden. Es waren ungefähr 3 x 1019 Teilchen. Die Höhe der Wolken konnten sie ganz leicht aus der Länge ihrer Schatten auf dem Erdboden ablesen. Wenn sie wußten, daß die Wolken
kondensiertes Wasser waren, dann konnten sie den vertikalen Temperaturgradienten der Atmosphäre grob errechnen, weil die Temperatur bis zur Höhe der höchsten Wolke, die Ellie noch sehen konnte, bis auf ungefähr minus 40 Grad Celsius abfallen mußte. Die Erosion der Erdoberfläche, die Verästelungen und U-förmigen Schleifen der Flüsse, die Seen und verwitterten Vulkane, all das bezeugte den uralten Kampf der Erde mit Erosionsprozessen. Man konnte wirklich mit einem Blick sehen, daß es sich um einen alten Planeten mit einer ganz neuen Zivilisation handelte. Die meisten Planeten der Galaxis hatten wahrscheinlich ein ehrwürdiges Alter, aber keine fortgeschrittenen Technologien, vielleicht sogar nicht einmal organisches Leben. Einige wenige beherbergten vielleicht Zivilisationen, die viel älter waren als unsere. Welten mit Zivilisationen, die gerade erst dabei waren, Technologien zu entwickeln, gab es wahrscheinlich nur ganz, ganz wenige. Vielleicht war im Grunde auch dies das Einzigartige an der Erde. Als der Lunch serviert wurde, überflogen sie gerade das Delta des Mississippi. Die Landschaft unter ihnen wurde grün. Kaum zu glauben, daß sie in einem Flugzeug saßen, so ruhig flog es. Ellie sah auf Peter, der immer noch schlief. Beinahe beleidigt hatte er bei der Aussicht auf ein Mittagessen von der Fluggesellschaft abgewunken. Neben ihm, auf der anderen Seite des Gangs, lag ein kleines Baby, das kaum älter als drei Monate sein konnte, in den Armen seines Vaters. Wie wohl ein Kind so einen Flug erlebte? Da kam man plötzlich in einen großen Raum mit Sitzen, auf denen man Platz nahm. Der Raum rüttelte und schüttelte sich vier Stunden lang. Dann stand man wieder auf und ging hinaus. Und wie durch ein Wunder war man woanders. Aber auch wenn man nicht begriff, wie das Transportmittel funktionierte, war doch die Grundidee einfach
zu begreifen. Man brauchte also nicht schon als Kind die Navier-Stokesschen Gleichungen auswendig zu wissen. Es war später Nachmittag, als sie über Washington kreisten und auf die Landeerlaubnis warteten. Zwischen dem Washington Monument und dem Lincoln Memorial sah Ellie eine riesige Menschenmenge. Erst vor einer Stunde hatte sie in einem Telefax der Times gelesen, daß eine Protestkundgebung schwarzer Amerikaner gegen wirtschaftliche Benachteiligung und ungleiche Behandlung im Ausbildungssektor stattfand. Die Beschwerden waren nur zu berechtigt, dachte Ellie, und die Schwarzen waren bisher wirklich sehr geduldig gewesen. Sie fragte sich, wie die Präsidentin wohl auf die Kundgebung und die Übertragung von der Wega reagieren würde. Für morgen erwartete man zu beiden Ereignissen einen Kommentar von offizieller Seite. »Was meinen Sie mit ›sie entweichen‹ Ken?« »Ich will damit sagen, Frau Präsidentin, daß die Fernsehsignale unseren Planeten verlassen und ins Weltall entweichen.« »Und wie weit kommen sie da genau?« »Bei allem Respekt, verehrte Frau Präsidentin, aber es ist nicht ganz so einfach.« »Wie ist es dann?« »Die Signale breiten sich in Kugelwellen von der Erde aus, etwa so wie Wellen in einem Teich. Sie bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit, also 299792 Kilometern pro Sekunde, und pflanzen sich unendlich fort. Je besser die Empfänger sind, die andere Zivilisationen haben, aus desto größerer Entfernung können sie noch unsere TV-Signale empfangen. Sogar wir wären in der Lage, eine Fernsehübertragung von einem Planeten zu empfangen, der um den erdnächsten Stern kreist.« Einen Moment lang stand die Präsidentin da wie vom Donner gerührt und starrte durch die Glastür in den Rosengarten. Dann
drehte sie sich zu Der Heer um und sagte: »Man kann dort… alle unsere Signale empfangen?« »Jawohl.« »Also auch all den Quatsch im Fernsehen? Die Autounfälle? Sport? Pornos? Nachrichten?« »Alles, Frau Präsidentin«, antwortete Der Heer und schüttelte jetzt, wo er selbst daran dachte, betreten den Kopf. »Der Heer, verstehe ich Sie wirklich richtig? Heißt das auch, daß alle meine Pressekonferenzen, meine Berichte und meine Antrittsrede da hinausgegangen sind?« »Das sind die guten Nachrichten, Frau Präsidentin. Die schlechten sind, daß die Fernsehauftritte Ihres Vorgängers genauso hinausgingen wie die von Nixon oder der sowjetischen Führung. Und all die gemeinen Dinge, die Ihre Gegner über Sie gesagt haben. Ein sehr gemischter Segen!« »O mein Gott. Aber sprechen Sie weiter«, forderte die Präsidentin Der Heer auf. Sie hatte sich von der Glastür abgewandt und studierte scheinbar interessiert eine Marmorbüste von Thomas Paine, die erst vor kurzem aus dem Keller der Smithsonian Institution hervorgeholt worden war, wo ihr Amtsvorgänger sie hatte deponieren lassen. »Sie müssen sich das so vorstellen: Der kurze Film von der Wega wurde erstmals 1936 bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin gesendet. Obwohl er nur in Deutschland ausgestrahlt wurde, war es die erste Fernsehübertragung auf der Erde mit einer gewissen Sendestärke. Anders als bei den anderen Radioübertragungen der dreißiger Jahre drangen diese Signale durch unsere Ionosphäre in den Weltraum. Wir versuchen gerade herauszufinden, was genau damals eigentlich gesendet wurde, aber dazu brauchen wir wahrscheinlich noch etwas Zeit. Vielleicht ist die Begrüßung durch Hitler der einzige Teil der gesamten Übertragung, den sie auf der Wega auffangen konnten. Also ist von deren Standpunkt aus Hitler
das erste Anzeichen intelligenten Lebens auf der Erde. Ich meine das nicht ironisch. Sie wissen dort ja nicht, was die Übertragung bedeutet. Sie zeichnen es nur auf und senden es an uns zurück. Als wenn sie uns sagen wollten: Hallo, wir haben euch gehört. Eigentlich eine recht freundliche Geste.« »Und Sie sind der Ansicht, daß es dann bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs keine Fernsehübertragungen mehr gab?« fragte die Präsidentin. »Nichts, was der Rede wert gewesen wäre. In England gab es eine Sendung über die Krönung Georgs VI. und noch ein paar andere kleinere Übertragungen. Die große Zeit der Fernsehübertragungen setzte erst Ende der vierziger Jahre ein. All diese Programme verließen die Erde mit Lichtgeschwindigkeit. Stellen Sie sich vor, hier ist die Erde« – Der Heer versuchte, seine Argumente mit Gesten zu veranschaulichen – »und hier eine Kugelwelle, die mit Lichtgeschwindigkeit von ihr wegläuft. Sie startet 1936 und entfernt sich immer weiter von der Erde. Früher oder später erreicht sie die nächste Zivilisation. Die ist überraschend nah, nur sechsundzwanzig Lichtjahre entfernt, auf einem Planeten der Wega. Die Bewohner dort zeichnen sie auf und schicken sie zu uns zurück. Aber es dauert nochmals sechsundzwanzig Jahre, bis die Olympischen Spiele wieder zur Erde zurückkehren. Daraus läßt sich schließen, daß die Wegianer unsere Signale schnell verstanden haben. Sie müssen damals geradezu eine fertig aufgebaute und genau eingestellte Empfängeranlage gehabt haben, die nur noch auf unsere ersten Fernsehsignale gewartet hat. Sie haben die Signale also entdeckt, aufgezeichnet und nach einer Weile an uns zurückgeschickt. Wenn sie nicht schon einmal hier gewesen sind – auf einer Beobachtungsmission vor ein paar hundert Jahren etwa – können sie nicht gewußt haben, daß wir das Fernsehen gerade erst erfunden hatten. Deshalb ist Frau Dr.
Arroway der Ansicht, daß diese Zivilisation alle benachbarten Planetensysteme überwacht, um festzustellen, ob ihre Nachbarn hochentwickelte Technologien besitzen.« »Ken, vieles von dem, was Sie sagen, ist hochinteressant. Sind Sie sicher, daß diese – wie nennen Sie sie, Wegianer? – also, daß diese Wegianer nicht verstehen, worum es in dem Fernsehprogramm ging?« »Frau Präsidentin, ganz ohne Zweifel sind die Wesen auf der Wega sehr gescheit. Das Signal von 1936 war sehr schwach. Ihre Detektoren müssen ungeheuer empfindlich sein, wenn sie es auffangen konnten. Aber ich kann mir nicht denken, daß sie seinen Inhalt verstanden haben. Wahrscheinlich sehen diese Wesen ganz anders aus als wir und haben eine andere Geschichte und auch andere Sitten. Sie können gar nicht wissen, was ein Hakenkreuz ist oder wer Adolf Hitler war.« »Ausgerechnet Adolf Hitler! Ken, das macht mich rasend. Vierzig Millionen Menschen mußten sterben, um seinen Größenwahnsinn zu besiegen. Und jetzt ist er der Star der ersten Fernsehübertragung zu einer anderen Zivilisation? Er vertritt die ganze Erde. Damit sind die kühnsten Träume dieses Verrückten wahr geworden.« Sie hielt inne und fuhr mit ruhigerer Stimme fort: »Sie wissen, daß ich schon immer der Ansicht war, daß Hitler den Hitlergruß nie richtig zustande gebracht hat. Er hat den Arm nie gerade ausgestreckt, immer hing er schief in der Luft. Das ergab dann diesen markigen Gruß mit gekrümmtem Ellbogen. Wenn jemand anders sein Heil Hitler so schlecht ausgeführt hätte, wäre er sicher an die russische Front geschickt worden.« »Aber Hitler erwiderte ja nur den Gruß der anderen. Er wünschte sich nicht selber Heil Hitler.« »O doch, das tat er«, widersprach die Präsidentin. Mit einer Geste geleitete sie Der Heer aus dem Rosenzimmer hinaus und einen Flur entlang. Plötzlich blieb sie stehen und sah ihn an.
»Was wäre gewesen, wenn die Nazis 1936 kein Fernsehen gehabt hätten?« fragte sie. »Dann hätten die Wegianer vermutlich die Krönung Georgs VI. oder eine Sendung über die Weltausstellung in New York 1939 empfangen, wenn die Sendestärke stark genug gewesen sein sollte. Oder irgendwelche Fernsehsendungen Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre. Zum Beispiel Howdy Doody, Milton Berle oder die antikommunistischen Hetzkampagnen McCarthys – alles wahrhaft erlesene Früchte intelligenten Lebens der Erde.« »Und solche Sendungen sind unsere Botschafter im Weltraum… die Abgesandten der Erde.« Nachdenklich hielt die Präsidentin einen Moment inne. »Mit seinen Botschaftern sollte man sich von der besten Seite zeigen. Und wir haben in den letzten vierzig Jahren vor allem Mist in den Weltraum geschickt. Ich würde zu gerne wissen, was die Rundfunk- und Fernsehintendanten dazu sagen würden. Und dann dieser Wahnsinnige, Hitler. Das sind also die ersten Nachrichten von der und über die Erde? Was werden sie nur von uns denken?« Als Der Heer und die Präsidentin den Kabinettsaal betraten, verstummten die dort versammelten Politiker und Wissenschaftler, und einige, die bereits saßen, machten Anstalten, sich zu erheben. Mit einer kurzen Handbewegung bedeutete die Präsidentin ihnen, sitzen zu bleiben, und begrüßte dann mit einem kurzen Händedruck den Außenminister und einen Vertreter des Verteidigungsministeriums. Dann musterte sie bedächtig den Kreis der Anwesenden. Einige erwiderten ihren Blick erwartungsvoll. Andere, die eine gewisse Verdrossenheit im Gesicht der Präsidentin entdeckten, schlugen die Augen nieder. »Ken, ist Ihre Astronomin denn nicht hier? Frau Arrowsmith? Oder Arrowroot?«
»Arroway, Frau Präsidentin. Sie und Dr. Valerian sind bereits gestern abend angekommen. Vielleicht sind sie durch den Verkehr aufgehalten worden.« »Frau Dr. Arroway hat aus ihrem Hotel angerufen, Frau Präsidentin«, meldete sich unaufgefordert ein gepflegter junger Mann zu Wort. »Sie sagte, sie bekomme gerade neue Daten per Telefax mitgeteilt, die sie gleich zur Sitzung mitbringen wolle. Wir sollten ruhig ohne sie anfangen.« Entsetzt beugte sich Michael Kitz vor und fragte ungläubig: »Man schickt diese neuen Daten über eine normale, nicht gesicherte öffentliche Telephonleitung in ein Hotelzimmer in Washington?« Der Heer antwortete so leise, daß Kitz sich noch weiter vorbeugen mußte, um ihn zu verstehen: »Mike, das Telefax ist ganz sicher zumindest mit einem der gängigen Codes verschlüsselt. Außerdem gibt es, wie Sie selbst wissen, keine Sicherheitsvorschriften in dieser Angelegenheit. Aber ich bin davon überzeugt, daß Frau Dr. Arroway zur Zusammenarbeit bereit ist, wenn es zu solchen Vorschriften kommen sollte.« »Also, lassen Sie uns jetzt anfangen«, sagte die Präsidentin. »Es handelt sich hier um ein informelles Treffen des Nationalen Sicherheitsrates und der eigens zu diesem Anlaß gebildeten Sonderkommission. Ich möchte Sie alle nachdrücklich darauf hinweisen, daß nichts, absolut nichts von dem, worüber in diesem Raum gesprochen wird, an hier nicht anwesende Personen weitergegeben werden darf. Davon ausgenommen sind natürlich der Verteidigungsminister und der Vizepräsident, die sich in Übersee befinden. Gestern hat Dr. Der Heer den meisten von Ihnen schon eine kurze Einführung über die unglaubliche Fernsehsendung von der Wega gegeben. Dr. Der Heer und andere sind der Ansicht« – die Präsidentin hielt inne und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen – »daß es reiner Zufall ist, daß in der
ersten Sendung, die zur Wega gelangte, gerade Adolf Hitler die Hauptrolle spielt. Trotzdem bringt es uns in… na ja, Verlegenheit. Ich habe den Direktor des CIA gebeten, eine Einschätzung möglicher Folgen für die nationale Sicherheit auszuarbeiten. Besteht die Möglichkeit einer direkten Bedrohung von uns durch die Sender dieser Botschaft, wer auch immer sie sein mögen? Bekommen wir Schwierigkeiten, wenn eine neue Botschaft gefunkt wird, die ein anderes Land zuerst entschlüsselt? Aber zunächst einmal möchte ich Marvin fragen, ob hier irgendein Zusammenhang mit fliegenden Untertassen besteht?« Der Direktor des CIA, ein gebieterisch wirkender Mann Anfang Fünfzig, der eine Brille mit Metallfassung trug, faßte seine Ergebnisse zusammen. Nicht identifizierte fliegende Objekte, UFOs genannt, waren seit jeher eine Sorge des CIA und der Air Force. Besonders kritisch waren die fünfziger und sechziger Jahre gewesen. Man hatte gefürchtet, daß die UFOHysterie von einer feindlichen Macht ausgenützt werden könnte, Verwirrung zu stiften und Nachrichtenkanäle mit Falschmeldungen zu füllen. Bei einigen der gemeldeten Vorfälle hatte sich herausgestellt, daß Hochleistungsflugzeuge Kubas und der Sowjetunion in den amerikanischen Luftraum eingedrungen waren oder amerikanische Stützpunkte in Übersee überflogen hatten. Solches Überfliegen war eine gängige Methode, die potentielle Abwehrbereitschaft des Gegners zu testen. Die Vereinigten Staaten wiederum hatten ihrerseits beträchtlichen Anteil an ähnlichen tatsächlichen und vorgetäuschten Verstößen im sowjetischen Luftraum. Eine kubanische MiG, die 200 Meilen in das Mündungsgebiet des Mississippi eingedrungen war, bevor sie entdeckt wurde, hatte nach Ansicht der NORAD unerwünscht viel öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Die übliche Reaktion der Air Force war gewesen, abzustreiten, daß sich eines ihrer
Flugzeuge in der Nähe des gesichteten UFO befunden hatte, und nichts über das unbefugte Eindringen fremder Flugzeuge zu sagen, weil das die öffentliche Phantasie nur noch mehr angeregt hätte. Als Marvin zu diesem Punkt kam, schaute der Generalstabschef der Air Force sichtlich unangenehm berührt drein, sagte aber nichts. Die meisten der gemeldeten UFOs, fuhr der Direktor des CIA fort, gingen auf falsche Beobachtungen der angeblichen Zeugen zurück. Dabei gab es für sie eine völlig natürliche Erklärung. Teils handelte es sich um neuartige Versuchsflugzeuge, teils um von den Wolken reflektierte Autoscheinwerfer oder um Ballone, Vögel und luminiszierende Insekten. Auch Planeten und Sterne unter ungewöhnlichen atmosphärischen Bedingungen waren schon als UFOs gemeldet worden. Einige der Meldungen waren geradezu aus Halluzinationen hervorgegangen. Seit der Begriff »fliegende Untertasse« Ende der vierziger Jahre geprägt worden war, waren auf der ganzen Welt über eine Million UFOs gesichtet worden. Aber keine einzige Meldung gab Grund zu der Annahme, daß ein Zusammenhang mit einem außerirdischen Besuch bestand. Doch allein die Vorstellung davon weckte heftige Emotionen. Es gab eigene Vereine, Veröffentlichungen und sogar eine Reihe von Wissenschaftlern, die an dem Zusammenhang zwischen UFOs und dem Leben auf anderen Planeten festhielten. Viele der neuesten Prophezeiungen zur Jahrtausend wende sprachen von Untertassen entsteigenden außerirdischen Erlösern. Die offiziellen Nachforschungen der Air Force – eines der letzten Projekte hatte Blue Book geheißen – waren Ende der sechziger Jahre mangels verwertbarer Ergebnisse eingestellt worden, obwohl sowohl die Air Force als auch der CIA weiterhin ein gewisses Interesse daran hatten. In wissenschaftlichen Kreisen war man jedoch so sehr davon überzeugt, daß an der ganzen Sache nichts dran war, daß die NASA den Auftrag Jimmy
Carters, eine umfassende Studie über UFOs anzufertigen, ganz gegen ihre sonstigen Gewohnheiten abgelehnt hatte. »Tatsache ist«, warf ein Wissenschaftler ein, der mit dem Protokoll solcher Treffen nicht vertraut war, »daß dieses ganze UFOZeug die ernsthafte SETI-Forschung erheblich erschwert hat.« »Ja, gut«, erwiderte die Präsidentin mit einem Seufzer. »Ist jemand an diesem Tisch der Ansicht, daß ein Zusammenhang zwischen UFOs und dem Signal von der Wega besteht?« Der Heer betrachtete seine Fingernägel. Keiner sagte etwas. »Trotzdem werden wir sicher von vielen eingeschworenen UFO-Fans zu hören bekommen, daß sie es ja schon immer gesagt hätten. Marvin, bitte fahren Sie fort.« »Frau Präsidentin, 1936 übertrug ein schwaches Fernsehsignal die Eröffnungsfeierlichkeiten der Olympischen Spiele für einige wenige Fernsehempfänger in Berlin und Umgebung. Es war ein Versuch, in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen. Dadurch sollte die Fortschrittlichkeit und Überlegenheit der deutschen Technologie demonstriert werden. Es gab schon vorher Fernsehübertragungen, die aber alle eine noch viel geringere Sendestärke hatten. Eigentlich waren dabei die Amerikaner die ersten. Herbert Hoover hatte als Handelsminister einen kurzen Fernsehauftritt am… 27. April 1927. Aber egal, das deutsche Signal verließ die Erde mit Lichtgeschwindigkeit und kam sechsundzwanzig Jahre später auf der Wega an. Dort – wer immer damit gemeint sein mag – entschloß man sich einige Jahre später, das Signal um ein Vielfaches verstärkt an uns zurückzusenden. Die Fähigkeit, ein so schwaches Signal zu empfangen, ist wirklich beeindruckend, und ebenso die Fähigkeit, es mit dieser Sendestärke zurückzuschicken. Natürlich stellt das unsere Sicherheit vor Probleme. Der Sicherheitsdienst würde beispielsweise gerne wissen, wie man so schwache Signale entdecken kann. Die Menschen auf der Wega, oder was sie
eben sind, sind mit Sicherheit technisch bereits weiter als wir – vielleicht nur wenige Jahrzehnte, vielleicht aber auch viel mehr. Sie haben uns keine weiteren Informationen über sich selbst zukommen lassen – außer, daß das gefunkte Signal auf einigen Frequenzen nicht den Doppler-Effekt der Bewegung ihres Planeten um die Wega zeigt. Damit haben sie uns eine zusätzliche Datenreduktion abgenommen. Sie sind… hilfsbereit. Bisher haben wir nichts empfangen, was militärisch oder sonstwie interessant gewesen wäre. Alles, was sie uns mitgeteilt haben, ist, daß sie gut in Radioastronomie sind, daß sie Primzahlen mögen und daß sie unsere erste Fernsehsendung an uns zurückfunken können. Es kann uns nicht wehtun, wenn die anderen Nationen das auch wissen. Und bedenken Sie: Auch die anderen Länder empfangen in ständiger Wiederholung denselben Drei-Minuten-Clip über Hitler. Sie haben nur noch nicht herausgefunden, wie er zu lesen ist. Wahrscheinlich werden die Russen oder die Deutschen früher oder später auch über die Polarisationsmodulation stolpern. Meiner persönlichen Meinung nach, verehrte Frau Präsidentin – ich weiß nicht, ob die Regierung mir hierin zustimmt –, sollten wir unsere Entdeckung weltweit bekanntgeben, bevor man uns der Geheimhaltung bezichtigt. Wenn die Situation im wesentlichen so bleibt, wie sie ist, ist eine solche Veröffentlichung unbedenklich. Selbst an die Freigabe des Drei-Minuten-Films wäre zu denken. Übrigens konnten wir in deutschen Archiven keine Aufzeichnung der Originalsendung finden. Wir können also nicht hundertprozentig sicher sein, daß die Wega-Leute nichts am Inhalt verändert haben, bevor sie den Film zurückschickten. Wir können zwar Hitler erkennen, und der Teil des Olympischen Stadions, den wir sehen, entspricht exakt dem von Berlin 1936. Aber ob sich Hitler in diesem
Augenblick nicht vielleicht gerade am Schnurrbart kratzte, statt zu lächeln wie in der Übertragung, können wir einfach nicht mehr feststellen.« Außer Atem trat Ellie ein, gefolgt von Valerian. Die beiden versuchten, sich unbemerkt auf die hintersten Stühle an der Wand zu verdrücken, aber Der Heer entdeckte sie und machte die Präsidentin auf sie aufmerksam. »Frau Dr. Arrow-äh-way? Ich freue mich, Sie wohlbehalten hier zu sehen. Lassen Sie mich Ihnen erst einmal meinen Glückwunsch zu dieser großartigen Entdeckung aussprechen. Einfach großartig. Hm, Marvin…« »Ich kann hier ohne weiteres abbrechen, Frau Präsidentin.« »Danke. Frau Dr. Arroway, wenn wir es richtig verstanden haben, haben Sie uns etwas Neues mitgebracht. Würden Sie uns bitte darüber berichten?« »Frau Präsidentin, entschuldigen Sie meine Verspätung, aber ich glaube, wir haben gerade einen Volltreffer gelandet. Wir haben… Es ist… Lassen Sie es mich folgendermaßen erklären: Als im Altertum, vor vielen tausend Jahren, Pergament sehr knapp war, überschrieb man einfach das alte Pergament. So kam es zu sogenannten Palimpsesten, auf denen mehrere Schriftschichten übereinanderlagen. Das Signal von der Wega ist natürlich sehr stark. Wie Sie bereits wissen, gibt es Primzahlen und, sozusagen darunter, in der Polarisationsmodulation, diese unheimliche Geschichte mit Hitler. Aber unter der Primzahlensequenz und unter der Sendung von der Olympiade haben wir gerade eine weitere, sehr komplexe Schicht entdeckt – und wir sind ziemlich sicher, daß es sich dabei um eine Botschaft an uns handelt. Soweit wir es sagen können, war sie schon die ganze Zeit über da. Aber erst jetzt haben wir sie entdeckt. Sie ist schwächer als das Ankündigungssignal, aber trotzdem hätten wir sie eigentlich schon früher entdecken müssen.«
»Und wie lautet die Botschaft?« fragte die Präsidentin. »Wir haben im Moment noch nicht die leiseste Ahnung, Frau Präsidentin. Erst heute früh nach hiesiger Zeit sind einige meiner Mitarbeiter vom Projekt Argus darüber gestolpert. Wir haben die ganze Nacht daran gearbeitet.« »Und Sie haben dafür eine öffentliche Telephonverbindung benutzt?« unterbrach Kitz. »Wir haben unsere Daten natürlich verschlüsselt.« Ellies Wangen röteten sich. Sie öffnete die Tasche mit dem Fernkopierer, ließ ihre Daten auf Klarsichtfolie ausdrucken, und warf das Ergebnis mit Hilfe eines Overheadprojektors auf eine Leinwand. »Hier sehen Sie alles, was wir bis jetzt wissen: Wir empfangen einen Informationsblock, der aus zirka eintausend Bit besteht. Dann kommt hier an dieser Stelle eine Pause, und derselbe Block wird wiederholt, Bit für Bit. Dann haben wir wieder eine Pause, und ein neuer Block fängt an, der seinerseits wiederholt wird. Wahrscheinlich soll die Wiederholung jedes Blocks die Übertragungsfehler möglichst gering halten. Es ist dem Sender anscheinend sehr wichtig, daß wir alles, was immer es sein mag, auch ganz genau empfangen. Lassen Sie uns jeden Informationsblock als eine Seite bezeichnen. Argus fängt täglich ein paar Dutzend solcher Seiten auf. Aber wir wissen nicht, wovon sie handeln. Es gibt keinen einfachen Bildcode wie bei der Sendung von der Olympiade. Es muß sich um eine tiefere und kompliziertere Botschaft handeln. Zum ersten Mal sieht es so aus, als ob diese Informationen von ihnen selbst stammen. Der einzige Anhaltspunkt, den wir bisher haben, ist, daß die Seiten wahrscheinlich numeriert sind. Am Anfang jeder Seite steht eine binär kodierte Zahl. Sehen Sie das hier? Und jedes Mal, wenn das nächste Paar identischer Seiten auftaucht, wird es mit der nächst höheren Zahl versehen. Jetzt sind wir gerade auf
Seite… 10413. Ein dickes Buch! Wenn man zurückrechnet, hat die Botschaft etwa vor drei Monaten angefangen. Wir können uns glücklich schätzen, daß wir sie so früh aufgefangen haben.« »Also habe ich doch recht gehabt, nicht wahr?« sagte Kitz und beugte sich über den Tisch zu Der Heer. »Diese Botschaft wollen Sie doch nicht an die Japaner, Chinesen oder Russen weitergeben, oder?« »Ist es schwierig, sie zu entschlüsseln?« fragte die Präsidentin über den flüsternden Kitz weg. »Wir tun unser Bestes. Es wäre wahrscheinlich hilfreich, wenn die Nationale Sicherheitsbehörde mit uns zusammenarbeiten würde. Aber ohne eine Erklärung von der Wega, ohne eine Anleitung, glaube ich nicht, daß wir große Fortschritte machen werden. Die Botschaft ist sicher nicht in Englisch, Deutsch oder sonst einer irdischen Sprache abgefaßt. Wir hoffen, daß die Botschaft, wenn sie auf Seite 20000 oder 30000 zu Ende ist, wieder von vorne anfängt, damit wir die Lücken füllen können. Vielleicht bekommen wir ja, bevor die ganze Botschaft noch einmal wiederholt wird, einen Code, eine Art Reader, mit dessen Hilfe wir sie verstehen könnten.« »Vielleicht kann ich – « »Frau Präsidentin, darf ich vorstellen: Dr. Peter Valerian vom California Institute of Technology, einer der Pioniere auf diesem Gebiet.« »Bitte fahren Sie fort, Dr. Valerian.« »Es handelt sich hier um eine Sendung, hinter der eine bestimmte Absicht steht. Die Absender wissen, daß es uns gibt. Sie haben aufgrund der aufgefangenen Fernsehsendung von 1936 auch eine Vorstellung vom Stand unserer Technologie und unserer Intelligenz. Sie würden sich nicht solche Mühe geben, wenn sie nicht wollten, daß wir ihre Botschaft verstehen. Also muß auch der Schlüssel zur Botschaft
irgendwo zu finden sein. Man muß nur alle Daten sammeln und sehr sorgfältig analysieren.« »Worum handelt es sich Ihrer Meinung nach bei der Botschaft?« »Das weiß ich leider auch nicht, Frau Präsidentin. Ich kann nur wiederholen, was Frau Dr. Arroway bereits gesagt hat. Es handelt sich um eine komplexe Botschaft. Die sendende Zivilisation muß sehr viel Wert darauf legen, daß wir die Botschaft empfangen. Vielleicht handelt es sich dabei ja nur um einen schmalen Band einer vielbändigen Encyclopaedia Galactica. Die Wega hatte einmal den dreifachen Durchmesser der Sonne und war ungefähr fünfzigmal heller. Und weil sie ihren nuklearen Brennstoff rasend schnell verbrennt, ist ihre Lebensdauer viel kürzer als die der Sonne – « »Jawohl. Vielleicht ist man auf der Wega in Not«, unterbrach ihn der Direktor des CIA. »Vielleicht fürchten sie, daß ihr Planet zerstört wird, und wollen, daß jemand von ihrer Zivilisation erfährt, bevor sie ausgelöscht werden.« »Oder«, mischte sich Kitz ein, »sie halten nach neuen Siedlungsräumen Ausschau, und die Erde sagt ihnen zu. Vielleicht ist es gar kein Zufall, daß sie uns ein Bild von Adolf Hitler geschickt haben.« »Nun aber langsam«, sagte Ellie, »es gibt viele Möglichkeiten, aber alles ist nicht möglich. So kann die sendende Zivilisation überhaupt nicht feststellen, ob wir ihre Botschaft empfangen haben, und noch viel weniger, ob wir sie entschlüsseln konnten. Wenn sie uns drohen wollen, dann brauchen wir ja nicht zu antworten. Und selbst wenn wir antworten, dauert es sechsundzwanzig Jahre, bis die Antwort ankommt, und weitere sechsundzwanzig Jahre, bevor sie uns wieder antworten können. Die Geschwindigkeit des Lichts ist schnell, aber nicht unendlich schnell. Zwischen uns und der Wega liegt eine sichere Entfernung. Und wenn uns die
Botschaft beunruhigt, dann können wir uns Jahrzehnte Zeit lassen, bis wir entscheiden, was wir damit machen. Wir brauchen jetzt noch nicht in Panik auszubrechen.« Die letzten Worte betonte sie besonders und lächelte dabei Kitz freundlich an. »Mir gefällt, was Sie sagen, Frau Dr. Arroway«, sagte die Präsidentin. »Aber es geht alles recht schnell. Viel zu schnell sogar. Und es gibt zu viele Vielleichts dabei. Ich habe noch nicht einmal eine Presseerklärung abgegeben, weder zu den Primzahlen noch zu diesem Quatsch mit Hitler. Und jetzt sollen wir schon über ein Buch nachdenken, das die anderen uns Ihrer Ansicht nach schicken. Nur weil ihr Wissenschaftler nichts von offenen Gesprächen haltet, jagen sich die Gerüchte. Phyllis, wo ist die Mappe? Hier, schauen Sie sich diese Schlagzeilen an.« Mit ausgestrecktem Arm präsentierte die Präsidentin ihnen eine Sammlung von Zeitungsausschnitten. Abgesehen von kleineren Varianten journalistischer Kunst hatten alle Schlagzeilen ungefähr den gleichen Inhalt: »Insektenäugige Monster im Fernsehen: Wissenschaftler waren dabei«, »Astronomisches Telegramm spricht von außerirdischer Intelligenz«, »Die Stimme vom Himmel« und »Überfall aus dem Weltraum?« Sie ließ die Zeitungsausschnitte auf den Tisch flattern. »Wenigstens ist von der Geschichte mit Hitler noch nichts bekannt geworden. Auf die Schlagzeile warte ich ja noch: ›Hitler nach Meinung amerikanischer Forscher gesund und wohlauf im Weltraum.‹ Und dann wird es auch noch Schlimmeres geben. Ich bin der Meinung, wir sollten unsere Konferenz hier abbrechen und später wieder zusammenkommen.« »Frau Präsidentin, dürfte ich – « Der Heer unterbrach sie zögernd und mit offensichtlichem Unbehagen. »Ich bitte Sie um Verzeihung, aber es gibt einige Probleme von
internationaler Reichweite, die meiner Ansicht nach jetzt gleich noch auf den Tisch gebracht werden sollten.« Die Präsidentin seufzte kurz, willigte aber ein. Der Heer fuhr fort: »Sie korrigieren mich bitte, wenn ich etwas Falsches sage, Frau Dr. Arroway. Gut. Die Wega geht jeden Tag über der Wüste von New Mexico auf, und dann bekommen wir einige Seiten unserer komplexen Übertragung gesendet. Worum genau es sich handelt, wissen wir noch nicht. Nach etwa acht Stunden geht die Wega unter. Ist das soweit richtig? Okay. Am nächsten Tag geht sie im Osten wieder auf, aber ein paar Seiten sind uns in der Zwischenzeit entgangen. Richtig? Dann bekommen wir also sozusagen nur die Seiten dreißig bis fünfzig und dann die Seiten achtzig bis hundert, und so weiter. So sehr wir uns auch anstrengen, immer entgeht uns eine große Menge an Information. Lücken. Selbst wenn die Botschaft wiederholt werden sollte, werden wir Lücken haben.« »Das ist vollkommen richtig.« Ellie stand auf und ging zu der großen Weltkugel an der Stirnseite des Saales. Im Weißen Haus schien noch nicht bekannt zu sein, daß die Erdachse geneigt war. Die Achse des Globus stand keck senkrecht. Zögernd gab Ellie dem Globus einen Schubs und sagte: » Die Erde dreht sich. Wenn man Lücken vermeiden will, braucht man Radioteleskope, die gleichmäßig über lange Strecken verteilt sind. Jede Nation, die nur von ihrem eigenen Territorium aus beobachtet, kann einen Teil der Botschaft empfangen und muß dann wieder aussetzen – und das vielleicht gerade dann, wenn es besonders interessant wird. Vor dem gleichen Problem stehen wir auch mit einer interplanetarischen Weltraumsonde. Wenn sie an einem Planeten vorbeikommt, sendet sie ihre Beobachtungen an die Erde zurück, aber vielleicht befinden sich die Vereinigten Staaten gerade zu diesem Zeitpunkt auf der anderen Seite. Deshalb hat die NASA für die Einrichtung von drei
Radiobeobachtungsstationen gesorgt, die in etwa gleichen Abständen auf dem Erdball verteilt sind. Sie haben in den letzten Jahrzehnten auch prima funktioniert. Aber…« Ihre Stimme verlor sich, und sie sah P. L. Garrison, den Leiter der NASA, hilfesuchend an. Er war ein dünner, blasser Mann mit freundlichen Augen. Jetzt zwinkerte er ihr zu. »Ach ja, vielen Dank. Deep Space Network heißt es, und es ist unser ganzer Stolz. Wir haben Stationen in der MojaveWüste, in Spanien und in Australien. Natürlich reichen unsere finanziellen Mittel nicht, aber mit ein wenig Unterstützung könnten wir die Anlage weiter ausbauen.« »In Spanien und Australien?« fragte die Präsidentin. »Wenn es nur wissenschaftlichen Zwecken dient«, meinte der Außenminister, »gibt es sicher keine Probleme. Aber wenn bei diesem Forschungsprogramm noch Politik mitspielt, könnte es schwierig werden.« Die Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern und den Vereinigten Staaten waren in letzter Zeit etwas abgekühlt. »Natürlich hat die Sache eine politische Komponente«, entgegnete die Präsidentin mit scharfer Stimme. »Aber wir sind doch gar nicht an die Erdoberfläche gebunden«, warf ein General der Air Force ein. »Wir können uns doch von der Erdrotation abkoppeln. Dazu brauchen wir nur ein großes Radioteleskop in der Erdumlaufbahn.« »Gut«, sagte die Präsidentin und blickte in die Runde. »Haben wir ein Weltraumradioteleskop? Und wie lange würde es dauern, es startbereit zu machen? Wer weiß da Bescheid? Sie, Dr. Garrison?« »Leider nein, Frau Präsidentin. Die NASA hat in den vergangenen drei Haushaltsjahren jedesmal ein solches Teleskop für das Maxwell-Observatorium beantragt, aber das OMB hat es jedes Mal abgelehnt. Wir haben natürlich detaillierte Konstruktionspläne, aber es würde mindestens drei
Jahre dauern, bevor es startbereit wäre. Ich möchte auch nochmals daran erinnern, daß die Russen bis letzten Herbst ein funktionierendes Teleskop für den Millimeter- und Submillimeterwellenbereich in der Erdumlaufbahn hatten. Wir wissen nicht, warum es kaputtging. Aber es ist immer noch einfacher für sie, ein paar Kosmonauten zur Reparatur hinaufzuschicken, als für uns, von Grund auf ein neues zu bauen und zu starten.« »Damit müssen wir uns also abfinden«, sagte die Präsidentin. »Die NASA hat ein einfaches Teleskop im Weltraum, aber kein großes Radioteleskop. Hat keiner eine andere Idee? Was ist mit den Leuten von der Abwehr? Der Nationalen Sicherheitsbehörde? Niemand? Nichts?« »Ich möchte noch einmal auf unsere grundsätzlichen Probleme zurückkommen«, sagte Der Heer. »Wir haben ein starkes Signal, das auf vielen Frequenzen zu hören ist. Wenn die Wega in den Vereinigten Staaten untergeht, gibt es Radioteleskope in einem halben Dutzend anderer Länder, die das Signal empfangen können. Sie haben technisch vielleicht nicht das hohe Niveau von Argus und sind vielleicht noch nicht auf die Polarisationsmodulation gekommen. Aber wenn wir warten, bis wir ein Weltraumradioteleskop gebaut haben, verpassen wir die Botschaft vielleicht für immer. Das heißt, daß die einzige Lösung die sofortige Zusammenarbeit mit anderen Nationen ist. Oder sehen Sie das anders, Frau Dr. Arroway?« »Ich glaube nicht, daß eine einzelne Nation in der Lage ist, mit diesem Projekt allein fertigzuwerden. Wir brauchen verschiedene Länder, die über die ganze Beobachtungsstrecke rund um die Erde verteilt sind. Wir müssen auf der Stelle alle großen radioastronomischen Stationen verständigen – die großen Radioteleskope in Australien, China, Indien, der Sowjetunion, im Nahen Osten und in Westeuropa. Es wäre
unverantwortlich, Lücken zu riskieren und in Kauf zu nehmen, daß ein besonders kritischer Teil der Botschaft gerade dann gesendet wird, wenn kein Teleskop hinschaut. Und wir brauchen eine Station im östlichen Pazifik zwischen Hawaii und Australien und vielleicht auch im mittleren Atlantik.« »Wenn ich dazu etwas sagen darf«, warf der Direktor des CIA trocken ein. »Die Sowjets haben mehrere Schiffe mit Radioteleskopen an Bord, die das S- und das X-Band abhören, die Akademik Keldysch beispielsweise oder die Marschall Nedelin. Wir könnten mit ihnen Vereinbarungen treffen, daß sie ihre Schiffe im Atlantik und Pazifik stationieren und damit unsere Lücken überbrücken.« Ellie wollte antworten, aber die Präsidentin kam ihr zuvor. »Das ist alles schön und gut, Ken. Und vielleicht haben Sie ja recht. Aber ich kann nur wiederholen, was ich schon einmal gesagt habe. Das geht alles so verdammt schnell. Es gibt noch andere Dinge, um die ich mich kümmern muß. Deshalb möchte ich den Direktor des CIA und die Leute von der Sicherheitsbehörde bitten, bis morgen zu überprüfen, ob es noch andere Alternativen gibt außer der Zusammenarbeit mit anderen Ländern – besonders Ländern, die nicht unsere Verbündeten sind. Den Außenminister möchte ich bitten, in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern eine Liste der Länder und Personen zu erstellen, an die man herantreten könnte, wenn wir kooperieren müssen – mit einer Einschätzung der Konsequenzen. Ob es unsere Beziehungen zu diesen Ländern belasten könnte, wenn wir sie nicht um ihre Mitarbeit bitten. Oder ob uns jemand damit erpressen könnte, daß er Daten für sich behält, die er uns versprochen hat. Vielleicht sollten wir versuchen, mehr als ein Land pro Abschnitt zur Mitarbeit zu gewinnen. Spielen Sie alle Möglichkeiten durch, und machen Sie sich über die Folgen Gedanken. Und verlieren Sie um Gottes willen kein Wort darüber.« Noch einmal sah die Präsidentin jedem einzelnen in
die Augen. »Auch Sie nicht, Frau Arroway. Wir haben schon genug Probleme.«
7 Das Äthanol in W 3
Bleibt nur übrig, es für völlig unglaubhaft zu erklären… daß nämlich die Dämonen als Zwischenträger und Dolmetscher zwischen Göttern und Menschen eine Mittelstellung einnehmen und von hier unsere Bitten zu den Göttern emportragen, von da ihre Hilfe zurückbringen sollen. Man muß vielmehr annehmen, daß es Geister sind voll Schadenfreude, gänzlich bar aller Gerechtigkeit, geschwollen von Hochmut, blaß vor Neid, listig zu betrügen… Augustinus Vom Gottesstaat, VIII, 22
Daß sich Irrlehren erheben würden, hat schon Christus vorausgesagt, doch daß die alten wieder vergehen sollen, ist uns nicht verkündet. Thomas Browne Religio Medici, I, 8 (1642)
Ellie hatte eigentlich vorgehabt, Waygay am Flughafen von Albuquerque abzuholen und ihn in ihrem Thunderbird zur Argus-Station zu fahren. Der Rest der sowjetischen Delegation sollte in den Dienstfahrzeugen des Observatoriums
transportiert werden. Sie wäre so gern in der kühlen Abendluft zum Flughafen gebraust, vielleicht wieder vorbei an einer Ehrenwache aufgerichteter Hasen. Und sie hatte sich schon auf ein langes privates Gespräch mit Waygay während der Rückfahrt gefreut. Aber die Beamten vom Allgemeinen Sicherheitsdienst hatten ihren Vorschlag abgelehnt. Die Meldüngen der Medien und der nüchterne Kommentar der Präsidentin am Ende ihrer Pressekonferenz vor zwei Wochen hatten Menschenmassen in die verlassene Wüstengegend geführt. Das konnte eine Gefahr bedeuten, hatte Ellie sich sagen lassen müssen. In Zukunft dürfe sie nur noch in Wagen der Regierung fahren und auch das nur in Begleitung einer bewaffneten Eskorte. Der kleine Konvoi fuhr jetzt so langsam und vorsichtig nach Albuquerque, daß Ellie unwillkürlich mit dem rechten Fuß auf das nicht vorhandene Gaspedal trat. Ellie freute sich auf die Zeit mit Waygay. Sie hatte ihn das letzte Mal vor drei Jahren in Moskau gesehen. Damals hatte er keine Ausreisegenehmigung für den Westen erhalten. Ob man eine Genehmigung erhielt oder nicht, hing von dem wechselnden politischen Kurs und Waygays eigenem unberechenbaren Verhalten ab. Manchmal konnte er offensichtlich seine scharfe Zunge einfach nicht im Zaum halten. Dann fühlten die Politiker sich provoziert, und er verlor seine Genehmigung. Er bekam sie wieder, wenn man für die eine oder andere wissenschaftliche Delegation keinen anderen so fähigen Mann finden konnte. Waygay bekam aus der ganzen Welt Einladungen zu Vorträgen, Seminaren, Kolloquien, Konferenzen, interdisziplinären Symposien und internationalen Kommissionen. Als Nobelpreisträger und Vollmitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften konnte er sich mehr Selbstbewußtsein und Unabhängigkeit leisten als die meisten anderen. Oft ging er bis hart an die Grenze dessen, was die Parteilinie noch zugestehen konnte.
Mit vollem Namen hieß er Wassili Gregorowitsch Lunatscharski, aber in Physikerkreisen rund um den Globus kannte man ihn nur als Waygay, gebildet aus den Initialen seiner beiden Vornamen. Eigentlich war nur schwer zu verstehen, warum seine Beziehung zum sowjetischen Regime so zwiespältig war. Schließlich war er ein entfernter Verwandter von Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski, einem alten Bolschewisten und Kampfgenossen von Gorki, Lenin und Trotzki. Der ältere Lunatscharski war später Volkskommissar für das Bildungswesen geworden und dann sowjetischer Botschafter in Spanien bis zu seinem Tod 1933. Waygays Mutter war Jüdin. Und ihm wurde nachgesagt, daß er an der Entwicklung der sowjetischen Atomwaffen mitgearbeitet hatte, obwohl er damals noch viel zu jung gewesen war, als daß er bei der Explosion der ersten sowjetischen Wasserstoffbombe eine große Rolle hätte spielen können. Waygays Institut war personell und technisch gut ausgerüstet, und seine wissenschaftliche Produktivität war enorm, ein deutliches Zeichen, daß sich der Staatssicherheitsdienst selten einmischte. Auch wenn er nicht immer eine Ausreisegenehmigung erhielt, war er häufig bei den großen internationalen Konferenzen anwesend, darunter den »Rochester-Symposien« über Hochenergiephysik, den »Texas-Konferenzen« über relativistische Astrophysik und den inoffiziellen, aber hin und wieder wissenschaftlich einflußreichen »PugwashKonferenzen« über Wege zum Abbau internationaler Spannungen. Als Waygay in den sechziger Jahren Berkeley besuchte, war er begeistert von den respektlosen, oft obszönen oder politisch aufrührerischen Slogans, die man wie Sand am Meer als billige Anstecker kaufen konnte. Ellie dachte wehmütig an die Zeiten, in denen jeder offen über seine Probleme mit der Gesellschaft diskutiert hatte. Anstecker waren auch in der Sowjetunion sehr
beliebt und weit verbreitet, aber meist war darauf die Fußballmannschaft »Dynamo« oder eine erfolgreiche Raumkapsel zu sehen, zu der auch die erste Raumsonde zählte, die auf dem Mond gelandet war. Die Anstecker in Berkely waren ganz anders. Waygay hatte sie haufenweise gekauft, aber einen besonders gern angesteckt. Auf der fast handtellergroßen Fläche stand zu lesen: »Bete für Sex.« Waygay trug ihn sogar auf wissenschaftlichen Konferenzen. Wenn er gefragt wurde, was diesen Anstecker so anziehend mache, antwortete er: »In Ihrem Land ist er nur in einer Hinsicht anstößig. In meinem Land dagegen in zweierlei Hinsicht.« Wenn man weiter nachhakte, fügte er erklärend hinzu, daß sein berühmter bolschewistischer Verwandter ein Buch über die Stellung der Religion in der sozialistischen Gesellschaft geschrieben hatte. Seit jener Zeit hatte er mächtige Fortschritte im Englischen gemacht – weit mehr als Ellie im Russischen –, aber seine Liebe zu Ansteckern mit anstößigen Aufschriften hatte leider nachgelassen. In einer heftigen Diskussion über die jeweiligen Vorzüge der beiden politischen Systeme hatte Ellie sich einmal damit gebrüstet, daß sie die Freiheit gehabt hatte, vor dem Weißen Haus gegen die amerikanische Einmischung in Vietnam zu demonstrieren. Darauf hatte Waygay geantwortet, daß er damals ebenfalls die Freiheit gehabt hatte, vor dem Kreml gegen die amerikanische Einmischung in Vietnam zu demonstrieren. Waygay hatte nie die Müllfrachter, die mit stinkenden Abfällen und begleitet von kreischenden Möwen an der Freiheitsstatue vorbeizogen, photographieren wollen wie ein anderer sowjetischer Wissenschaftler, den Ellie spaßeshalber während einer Pause auf einer Konferenz in New York City auf der Fähre nach Staten Island begleitet hatte. Auch hatte er nie wie andere seiner Kollegen leidenschaftlich die baufälligen Wellblechhütten der armen Puertorikaner abgelichtet, wenn sie
von ihrem Luxushotel am Strand mit dem Bus einen Ausflug zum Observatorium in Arecibo gemacht hatten. Ellie hatte nie verstehen können, für wen die Bilder gemacht wurden. In ihrer Phantasie stellte sie sich eine riesige Bibliothek des KGB vor, in der ausschließlich Dokumente des Elends und der Ungerechtigkeiten und Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft gesammelt wurden. Vielleicht konnten sich ja die Funktionäre des KGB, wenn sie an ihren eigenen Mißerfolgen zu verzweifeln drohten, an den verblassenden Schnappschüssen von ihren amerikanischen Kollegen, die zeigten, daß auch in Amerika nicht alles vollkommen war, wieder aufrichten. In der Sowjetunion gab es viele glänzende Wissenschaftler, die aus unbekannten Gründen über lange Zeiträume hinweg den Ostblock nicht verlassen durften. Konstantinow zum Beispiel war bis Mitte der sechziger Jahre nie im Westen gewesen. Als er auf einer internationalen Konferenz in Warschau vor einer Batterie leerer Gläser, die mit Branntwein aus Aserbaidschan gefüllt gewesen waren, nach dem Grund gefragt wurde, antwortete er: »Weil die Burschen genau wissen, daß ich nicht mehr zurückkommen würde, wenn ich erst einmal draußen bin.« Trotzdem hatten sie ihn herausgelassen. Es war Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre gewesen, als in den wissenschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern eine Tauwetterperiode einsetzte. Und jedes Mal war er zurückgekommen. Jetzt durfte er allerdings nicht mehr ins Ausland, und er konnte seinen Kollegen im Westen nur noch Postkarten mit Bildern von sich selbst schicken. Auf den Bildern saß er mit gekreuzten Beinen und gebeugtem Kopf einsam auf einer Himmelskugel, unter der die Schwarzschildsche Gleichung für den Radius eines Schwarzen Lochs stand. Er befand sich jetzt in einem tiefen Potentialtopf,
erklärte er Besuchern in Moskau unter Verwendung dieses physikalischen Bildes. Man würde ihn nie wieder herauslassen. Wenn Waygay nach seiner politischen Meinung gefragt wurde, antwortete er, daß es in der Sowjetunion offiziell hieß, der Ungarnaufstand von 1956 sei von Kryptofaschisten organisiert und der Prager Frühling 1968 von einer unrepräsentativen antisozialistischen Gruppe inszeniert worden. Aber, pflegte er hinzuzufügen, wenn das, was man ihm gesagt hatte, falsch sei, wenn es tatsächlich Volksaufstände gewesen seien, dann hätte sich sein Land ins Unrecht gesetzt, als es sie unterdrückte. Im Falle Afghanistans machte er sich nicht einmal die Mühe, die offiziellen Rechtfertigungen zu wiederholen. Als Ellie ihn einmal in seinem Büro besucht hatte, hatte er darauf bestanden, ihr sein Kurzwellenradio zu zeigen, auf dem über bestimmten Frequenzen sauber und ordentlich in kyrillischen Buchstaben die Namen der Städte London, Paris und Washington geschrieben waren. Voller Stolz hatte er ihr gesagt, daß er die Propaganda aller westlichen Länder hören könnte. Es gab eine Zeit, in der viele seiner Genossen der nationalen Propaganda von der gelben Gefahr erlegen waren. »Stellen Sie sich die sowjetisch-chinesische Grenze vor, jeder Meter besetzt von chinesischen Soldaten, Schulter an Schulter, ein Heer, das nur noch auf das Zeichen zum Angriff wartet.« Immer wieder bekam Ellie solche eindringlichen Schilderungen zu hören. Einmal standen sie im Büro des Institutsdirektors um den Samowar. »Wann werden die Chinesen bei ihrer gegenwärtigen Geburtenrate über die Grenze drängen?« Einige rechneten begeistert, andere machten besorgte Mienen. »Nie«, sagte einer der Rechner. William Randolph Hearst hätte sich hier zu Hause gefühlt. Nicht aber Lunatscharski. Wenn man so viele Soldaten an der Grenze stationiere, senke sich die Geburtenrate automatisch,
argumentierte er. Deshalb sei die Rechnung falsch. Er formulierte es so, als ob die falsche Rechnung Gegenstand seiner Mißbilligung sei, und ein paar merkten überhaupt nicht, was er eigentlich damit meinte. Selbst in den schlimmsten Zeiten der chinesisch-sowjetischen Spannungen ließ er sich – soweit sich Ellie erinnern konnte – niemals zu überängstlichen oder rassistischen Äußerungen hinreißen. Ellie liebte Samoware, und sie verstand, daß auch die Russen sie liebten. Lunochod, das erfolgreiche unbemannte Mondfahrzeug der Russen, das wie eine Badewanne auf Rädern aussah, war in Ellies Augen mit einem Samowar verwandt. Zusammen mit Waygay hatte sie einmal an einem strahlenden Vormittag im Juni ein Modell des Lunochod in einem riesigen Ausstellungspark außerhalb Moskaus besichtigt. Dort stand neben einem Pavillon mit Töpferwaren und Amuletten aus der Unionsrepubik Tadschikistan eine riesige Halle, die bis unters Dach mit Modellen der sowjetischen Zivilraumfahrt in Originalgröße ausgefüllt wurde: Sputnik 1, die erste Raumkapsel in der Erdumlaufbahn; Sputnik 2, die erste Raumkapsel mit einem Tier an Bord, dem Hund Laika, der im Weltraum gestorben war; Luna 2, die erste Raumsonde, die einen anderen Himmelskörper erreicht hatte; Luna 3, die erste Raumkapsel, die Bilder von der Rückseite des Mondes gemacht hatte; Venera 7, das erste Raumschiff, das unbeschadet auf einem anderen Planeten gelandet war; Wostok 1, das erste bemannte Raumschiff, das den Helden der Sowjetunion, den Kosmonauten Juri A. Gagarin, einmal um die Erde getragen hatte. Draußen vor der Halle rutschten Kinder mit wehenden blonden Haaren und flatternden roten Komsomol-Halstuchern die Seitenflossen des WostokRaketenboosters hinunter. Sie quietschten vor Vergnügen, wenn sie unten landeten. Land hieß auf russisch Semlja. Die große sowjetische Inselgruppe im Nördlichen Eismeer hieß
Novaja Semlja, Neues Land. Dort war 1961 eine 58 Megatonnen schwere Wasserstoffbombe detoniert, bis heute die größte Explosion in der Geschichte der Menschheit. Aber an jenem Frühlingstag mit seinen Eisverkäufern, den Familien, die einen Ausflug machten und jenem zahnlosen alten Mann, der Ellie und Lunatscharski angegrinst hatte, als seien sie ein Liebespaar, war das alte Land wunderschön gewesen. Während Ellies seltenen Besuchen in Moskau und Leningrad kümmerte sich fast immer Waygay um das Abendprogramm. Zu sechst oder acht gingen sie ins Bolschoi- oder KirowBallett, wofür Lunatscharski über dunkle Kanäle Karten besorgt hatte. Ellie bedankte sich bei ihren Gastgebern für den Abend, und ihre Gastgeber bedankten sich umgekehrt bei ihr, denn – so erklärten sie ihr – nur in Begleitung ausländischer Besucher kämen sie in den Genuß solcher Aufführungen. Waygay lächelte nur. Seine Frau brachte er nie mit, und Ellie lernte sie nie kennen. Sie war Ärztin, sagte er, und mit ihren Patienten verheiratet. Ellie hatte ihn einmal gefragt, was er am meisten in seinem Leben bedauere, nachdem seine Eltern nicht, wie ursprünglich geplant, nach Amerika ausgewandert waren. »Ich bedauere nur das eine«, hatte er mit seiner kratzenden Stimme gesagt, »daß meine Tochter einen Bulgaren geheiratet hat.« Einmal reservierte er für das Abendessen einen Tisch in einem kaukasischen Restaurant in Moskau. Dazu engagierte er einen professionellen »Toastmeister«, einen tamada, der Chaladse hieß. Chaladse beherrschte seine Kunst, aber Ellie sprach leider so schlecht Russisch, daß sie sich die meisten Trinksprüche übersetzen lassen mußte. Gleich zu Beginn des Abends wandte er sich an sie und sagte: »Für uns ist ein Mann, der ohne einen Toast trinkt, ein Alkoholiker.« Ein anderer, eher mäßiger Spruch endete mit den Worten: »Auf den Frieden aller Planeten.« Waygay mußte ihr erklären, daß mir im
Russischen sowohl Frieden als auch Welt oder eine selbstverwaltete Gemeinschaft bäuerlicher Haushalte bedeutete, die auf eine graue Vorzeit zurückging. Sie hatten sich darüber unterhalten, ob es auf der Welt friedlicher zugehen würde, wenn die größte politische Einheit ein Dorf wäre. »Jedes Dorf ist ein Planet«, hatte Lunatscharski mit erhobenem Glas gesagt. »Und jeder Planet ein Dorf«, hatte Ellie erwidert. Bei solchen Zusammenkünften schlug die Stimmung hohe Wellen. Aber trotz riesiger Mengen Branntwein und Wodka war nie einer ernsthaft betrunken. Meist verließen sie nach Mitternacht lärmend das Restaurant und versuchten, oft vergeblich, ein Taxi aufzutreiben. Einige Male hatte Waygay Ellie fünf, sechs Kilometer zu Fuß zurück in ihr Hotel begleitet. Er war aufmerksam, manchmal onkelhaft, tolerant in seinen politischen Urteilen und leidenschaftlich in seinen wissenschaftlichen Überzeugungen. Obwohl er unter seinen Kollegen für seine Liebesabenteuer berühmt war, gestattete er sich Ellie gegenüber nicht einmal einen Gutenachtkuß. Darüber war Ellie immer etwas unglücklich gewesen, obwohl seine Zuneigung für sie offenkundig war. Unter den sowjetischen Wissenschaftlern gab es einen größeren Anteil an Frauen als in den Vereinigten Staaten. Aber sie hatten eher untergeordnete Positionen, und die sowjetischen Wissenschaftler reagierten wie ihre amerikanischen Kollegen verwirrt auf eine hübsche Frau, die offensichtlich auch wissenschaftlich qualifiziert war und ihren Standpunkt mit Nachdruck vertrat. Einige fielen ihr ins Wort oder taten so, als verstünden sie nicht, was sie sagte. Dann beugte sich Lunatscharski vor und fragte lauter als sonst: »Was haben Sie gesagt, Frau Dr. Arroway? Ich konnte sie leider nicht ganz verstehen.« Die anderen verstummten, und Ellie konnte in Ruhe ihren Vortag über Galliumarseniddetektoren oder den
Äthanolgehalt der galaktischen Wolke W 3 beenden. Die Menge an 200%igem Alkohol allein dieser interstellaren Wolke reichte aus, um die gesamte Bevölkerung der Erde, auch wenn jeder Erwachsene ein überzeugter Alkoholiker wäre, bis an das Ende dieses Sonnensystems zu versorgen. Der tamada war von diesem Gedanken sehr angetan gewesen. In den folgenden Toasts kam es zu Spekulationen darüber, ob Äthanol für andere Lebensformen Gift war, ob Trunkenheit in der Öffentlichkeit ein Problem der gesamten Galaxis war und ob es auf einem anderen Planeten einen ebenso geschickten Toastmeister wie ihn, Trofim Sergejewitsch Chaladse, gab. Als sie am Flughafen von Albuquerque ankamen, mußten sie zu ihrer Verwunderung feststellen, daß das Linienflugzeug aus New York mit der sowjetischen Delegation an Bord bereits vor einer halben Stunde gelandet war. Ellie fand Waygay in einem Souvenirladen auf dem Flughafengelände, in dem er gerade temperamentvoll gestikulierend um den Preis eines Souvenirs feilschte. Er mußte sie aus den Augenwinkeln gesehen haben. Ohne sie anzuschauen, hob er den Finger und sagte: »Eine Sekunde, Ellie. Neunzehn fünfundneunzig?« Der Verkäufer rührte sich nicht. »Genau das gleiche Set habe ich gestern in New York für siebzehn fünfzig gesehen.« Ellie kam näher und sah zu, wie Waygay einen ganzen Satz holographischer Spielkarten ausbreitete, auf denen nackte Frauen und Männer in Posen zu sehen waren, die man heute höchstens noch geschmacklos fand, die aber die ältere Generation schockiert hätten. Der Verkäufer wollte die Karten immer wieder zusammenschieben, aber Waygay breitete sie beharrlich von neuem auf dem Ladentisch aus. »Tut mir leid, Sir«, sagte der Verkäufer, »aber ich mache die Preise nicht. Ich bin hier nur angestellt.«
»Sehen Sie, das sind die Schwächen der Planwirtschaft«, sagte Waygay zu Ellie, während er dem Verkäufer einen Zwanzig-Dollar-Schein gab. »In einem System mit wirklich freier Wirtschaft hätte ich die Karten wahrscheinlich für fünfzehn Dollar kriegen können. Vielleicht sogar für zwölf fünfundneunzig. Schauen Sie mich nicht so an, Ellie. Die sind nicht für mich. Mit den Jokern sind es ganze vierundfünfzig Karten. Damit kann ich einer Menge Leute an meinem Institut ein schönes Geschenk machen.« Ellie lachte und hakte ihn unter. »Es ist schön, Sie wieder zu sehen.« »Ein zu seltenes Vergnügen, meine Liebe.« Auf der Fahrt nach Socorro plauderten und scherzten sie in unausgesprochenem gegenseitigen Einverständnis. Valerian saß neben dem Fahrer, der einer der neuen Sicherheitsbeamten war. Peter war auch sonst nicht besonders redselig. Jetzt lehnte er sich zufrieden zurück und hörte zu. Das Gespräch streifte nur am Rande das Problem, dessentwegen die Russen gekommen waren: die dritte Schicht des Palimpsests, jene komplexe und immer noch nicht entschlüsselte Botschaft, die man gemeinsam empfangen hatte. Die US-Regierung war mehr oder weniger unfreiwillig zu dem Schluß gekommen, daß die Beteiligung der Russen unbedingt erforderlich war. Außerdem war das Signal von der Wega so stark, daß selbst kleinere Radioteleskope es entdecken konnten. Vor Jahren hatten die Sowjets in weitsichtiger Planung eine Reihe kleiner Teleskope über den gesamten eurasischen Raum verteilt, der sich über 9000 Kilometer der Erdoberfläche erstreckte. Und erst vor kurzem hatten sie ein großes Radioobservatorium in der Nähe von Samarkand fertiggestellt. Außerdem patrouillierten sowjetische Schiffe mit Beobachtungsstationen sowohl im Atlantik als auch im Pazifik.
Einige der sowjetischen Daten konnten von Observatorien in Japan, China, Indien und im Irak bestätigt werden. Alle wichtigen Radioteleskope der Welt, die die Wega im Sichtfeld hatten, hörten diesen Teil des Himmels ab. Astronomen in England, Frankreich, den Niederlanden, Schweden, Deutschland, der Tschechoslowakei, Kanada, Venezuela und Australien folgten der Wega von ihrem Aufgang bis zu ihrem Untergang, und alle zeichneten sie ein kleines Stück der Botschaft auf. In einigen Observatorien waren die Detektoren nicht empfindlich genug, um die einzelnen Pulse unterscheiden zu können. Trotzdem hörte man auch dort das verschwommene Rauschen ab. Jedes Land besaß ein kleines Mosaiksteinchen zu diesem Puzzle, weil, wie Ellie Kitz in Erinnerung gerufen hatte, die Erde sich drehte. Jedes Land versuchte, sich einen Reim auf die Pulse zu machen. Aber es war schwierig. Man wußte noch nicht einmal, ob die Botschaft in Symbolen oder Bildern geschrieben war. Es war durchaus denkbar, daß man die Botschaft erst entschlüsseln konnte, wenn sie wieder von vorn gesendet würde – wenn es überhaupt je dazu kam. Vielleicht begann sie mit einer Anleitung, wie der Code zu entschlüsseln war. Vielleicht war die Botschaft sehr lang, dachte Ellie gerade, als Waygay die Wüste mit der Taiga verglich. Es konnte hundert Jahre dauern, bis sie von neuem anfing. Und vielleicht gab es auch gar keine Anleitung. Vielleicht war die BOTSCHAFT (auf der ganzen Welt hatte man begonnen, sie mit großen Buchstaben zu schreiben) ein Intelligenztest, damit Zivilisationen, die zu dumm waren, sie zu entschlüsseln, ihren Inhalt nicht mißbrauchen konnten. Mit einem Schlag wurde Ellie bewußt, welche Demütigung es für die Menschheit wäre, wenn es ihr nicht gelang, die BOTSCHAFT zu verstehen. In dem Augenblick, als die Amerikaner und die Russen den Entschluß zur Zusammenarbeit gefaßt und den Vertrag feierlich
unterzeichnet hatten, hatten sich auch alle anderen Nationen, die Radioteleskope besaßen, der Zusammenarbeit angeschlossen. Alle Welt sprach jetzt von der BOTSCHAFT. Ein internationales Konsortium wurde gegründet. Wollte man die BOTSCHAFT entschlüsseln, war man auf die Daten und Ideen der anderen angewiesen. Die Zeitungen waren voll davon. Die wenigen kümmerlichen Fakten, die bekannt waren – die Primzahlen, die Sendung der Olympiade, die Existenz einer komplexen Botschaft –, wurden in immer neuen Variationen aufgelegt. Es gab niemanden auf der Welt, der nicht irgend etwas von der BOTSCHAFT von der Wega gehört hatte. Die religiösen Sekten, darunter neben kleinen Splittergruppen auch etablierte und eigens zu diesem Zweck gegründete Bewegungen, beschäftigten sich mit dem theologischen Gehalt der BOTSCHAFT. Für die einen kam sie von Gott, für die anderen vom Teufel. Andere hatten ihre Entscheidung noch nicht getroffen. Bedenklich war das wiedererwachte, lebhafte Interesse an Hitler und dem Naziregime. Waygay berichtete Ellie, daß er allein im Anzeigenteil der Sonntagsausgabe der New York Times Book Review acht Hakenkreuze gefunden hatte. Acht seien nichts Außergewöhnliches, erwiderte Ellie, obwohl sie wußte, daß sie übertrieb. Vor ein paar Wochen waren es nur zwei oder drei gewesen. Eine Gruppe, die sich »Weltraumarier« nannte, kam mit dem eindeutigen Beweis, daß fliegende Untertassen in Hitler-Deutschland erfunden worden seien. Neue »reinrassige« Nazis waren auf der Wega gezüchtet worden und jetzt soweit, die Dinge auf der Erde wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Andere betrachteten die Signale mit Abscheu und drängten die Observatorien, den Empfang einzustellen. Wieder andere hielten sie für die Verkündigung der Ankunft Christi und wollten deshalb den Bau noch größerer Radioteleskope auch im Weltraum durchsetzen. Manche warnten davor, mit
den sowjetischen Daten zu arbeiten, weil diese vielleicht arglistig gefälscht waren, obwohl sie bei Überschneidungen mit irakischen, indischen, chinesischen und japanischen Stationen mit den dort aufgefangenen Daten übereinstimmten. Wieder andere meinten, Veränderungen im politischen Klima zu spüren. Sie behaupteten, daß allein die Existenz der BOTSCHAFT, selbst wenn man sie nie entschlüsseln würde, einen stabilisierenden Einfluß auf das gespannte Verhältnis der Staaten zueinander ausübe. Da die funkende Zivilisation eindeutig fortgeschrittener war als die der Erde und sich offensichtlich – wenigstens bis vor sechsundzwanzig Jahren – nicht selbst zerstört hatte, folgerten manche, daß technologisierte Zivilisationen nicht notwendigerweise an sich selbst zugrunde gingen. In einer Welt, in der erste behutsame Schritte zum Abbau atomarer Waffen unternommen wurden, war die BOTSCHAFT für weite Teile der Bevölkerung ein Silberstreif am Horizont. Für viele war die BOTSCHAFT die beste Nachricht, die sie seit langem erhalten hatten. Jahrzehntelang hatten die jungen Menschen versucht, die Zukunft aus ihren Gedanken zu verdrängen. Jetzt schien plötzlich eine freundliche Zukunft zu winken. Diejenigen, die zu solchen optimistischen Prognosen neigten, sahen sich manchmal unangenehmerweise als Chiliasten abgestempelt. Ein Teil der Chiliasten behauptete, daß anläßlich der bevorstehenden dritten Jahrtausendwende Jesus, Buddha, Krischna oder einfach der Prophet zurückkehren würde, um ein gütiges, aber strenges Reich Gottes auf Erden zu errichten. Die Botschaft kündige die massenweise Himmelfahrt der Auserwählten an. Der bei weitem größere Teil der Chiliasten behauptete allerdings, daß die Zerstörung der Welt die unabdingbare Vorstufe für die Ankunft Christi sei, wie es ja schon in verschiedenen und teilweise widersprüchlichen alten Prophezeiungen vorhergesagt worden sei. Diese
Weltuntergangschiliasten waren über die Ansätze zu einer Weltverständigung im Raum ebenso beunruhigt wie über die Tatsache, daß die Waffenarsenale der Welt von Jahr zu Jahr kleiner wurden. Jeden Tag wurde die Aussicht geringer, daß sich das zentrale Dogma ihres Glaubens verwirklichen würde. Die anderen denkbaren Katastrophen – Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Erwärmung der Atmosphäre, Eiszeiten oder der Zusammenprall der Erde mit einem Kometen – gingen entweder zu langsam vonstatten, oder sie waren zu unwahrscheinlich, oder sie hatten nicht die erforderliche apokalyptische Dimension für ihre Religion. Die Führer der Chiliasten hatten ihren fanatischen Anhängern auf Massendemonstrationen versichert, daß Lebensversicherungen, die über eine Unfallversicherung hinausgingen, von wankelmütigem Glauben zeugten und daß der vorzeitige Kauf eines Grabes oder Vorkehrungen für das spätere Begräbnis, wenn es sich nicht um alte Menschen handelte, eine gottlose Handlung seien. In wenigen Jahren würden alle wahrhaft Gläubigen leibhaftig gen Himmel fahren und vor dem Thron Gottes stehen. Ellie wußte, daß Lunatscharskis berühmter Verwandter einer der wenigen bolschewistischen Revolutionäre mit einem wissenschaftlichen Interesse für die Weltreligionen gewesen war. Dagegen war die Aufmerksamkeit, die Waygay der weltweit wachsenden religiösen Unruhe entgegenbrachte, gedämpft. »Das wichtigste religiöse Problem in meinem Land«, sagte er, »wird sein, ob die Wegianer die Irrlehre Leo Trotzkis auch nachdrücklich genug angeprangert haben.« Je näher sie dem Argus-Gelände kamen, desto mehr parkende Autos, Campingbusse und Zelte säumten den Straßenrand. Nachts erleuchteten Lagerfeuer die einst so friedliche
Hochebene von San Augustin. Es waren durchaus nicht nur wohlhabende Leute, die am Highway campierten. Ellie beobachtete zwei junge Ehepaare. Die Männer trugen T-Shirts und alte Jeans mit Gürteln. Selbstbewußt und lässig, wie sie es von ihren älteren Schulkameraden beim Eintritt in die High School gelernt hatten, schlenderten sie am Straßenrand entlang und unterhielten sich angeregt. Der eine schob einen klapprigen Kinderwagen, in dem fröhlich ein Baby krähte. Die Frauen folgten ein paar Schritte hinter ihnen. Eine hielt ein kleines Kind an der Hand, das anscheinend gerade erst Laufen gelernt hatte, und die andere schleppte sich mit einem dicken Bauch ab, aus dem in einem oder zwei Monaten ein neues Leben das Licht dieser rätselhaften Welt erblicken würde. Sie sahen Schwärmer weltabgeschiedener Gemeinden aus der Gegend von Taos, die das Rauschmittel Psilocybin für die Kommunion benutzten, und Nonnen aus einem Kloster in der Nähe von Albuquerque, die für denselben Zweck Äthanol nahmen. Männer mit wettergegerbter Haut und vielen Falten im Gesicht, die ihr ganzes Leben unter freiem Himmel verbracht hatten, und blasse, belesene Studenten von der Universität in Tucson. Navajoindianer verkauften seidene Halstücher und Halsketten aus polierten Silberschnüren zu Wucherpreisen, einmal eine Umkehrung der bisherigen Handelsbeziehungen zwischen den weißen und den eingeborenen Amerikanern. Beurlaubte Soldaten vom Luftwaffenstützpunkt Davis-Monthan kauten heftig auf Kaugummis und Kautabak. Der elegant gekleidete, weißhaarige Mann mit dem farblich passenden Cowboyhut, der neben den Soldaten stand, war wahrscheinlich ein Viehzüchter. Hier waren die unterschiedlichsten Leute versammelt, Menschen, die sonst in Baracken, Wolkenkratzern, Lehmhütten, Studentenwohnheimen oder Wohnwagenkolonien lebten. Einige waren gekommen, weil sie
nichts Besseres zu tun hatten, andere, weil sie ihren Enkeln erzählen wollten, daß sie dabeigewesen waren. Einige hofften auf das Scheitern der Aktion, andere waren davon überzeugt, daß sie Zeugen eines Wunders werden würden. Stille Hingabe, lärmende Fröhlichkeit, mystische Verzückung und gedämpfte Erwartung lagen an diesem strahlenden Nachmittag über der Menge. Nur wenige drehten die Köpfe, um einen Blick auf die vorbeifahrenden Wagen zu werfen, die die Aufschrift der Fahrbereitschaft der amerikanischen Regierung trugen. Einige Leute aßen auf der Ladefläche ihrer Kleinlaster zu Mittag, andere standen bei den Verkaufswagen, auf denen mit großen Buchstaben SNACKMOBIL oder WELTRAUMSOUVENIRS stand. Vor den kleinen, stabilen Toilettenkabinen, für die Argus vorausblickend gesorgt hatte, standen lange Schlangen. Kinder tollten zwischen den Autos, Schlafsäcken, Decken und tragbaren Campingtischen herum. Fast nie wurden sie von den Erwachsenen gescholten – außer, wenn sie dem Highway zu nahe oder in die Nähe des Zauns am Teleskop 61 kamen, wo ein paar kahlrasierte, safrangelb gekleidete junge Leute im Kotau feierlich das heilige »Om« intonierten. Überall hingen Poster mit phantasievollen außerirdischen Wesen, einige davon kannte man aus Comics oder Filmen. Auf einem stand: »Marsmenschen auf der Erde«. Ein Mann mit goldenen Ohrringen rasierte sich unter Zuhilfenahme des Außenspiegels eines kleinen Lieferwagens, und eine schwarzhaarige Frau in einem Poncho hob eine Kaffeetasse zum Gruß, als die Eskorte vorbeibrauste. Als sie auf das neue Haupttor neben dem Teleskop 101 zufuhren, sah Ellie auf einem provisorisch errichteten Podium einen jungen Mann auf eine Menschenmenge einreden, die sich vor ihm versammelt hatte. Er trug ein T-Shirt mit einem Bild von der Erde, auf die ein Blitz niederfuhr. Andere in der Menge trugen dasselbe rätselhafte Emblem. Auf Ellies Drängen hielt der Fahrer hinter
dem Tor an. Sie kurbelte die Fensterscheibe herunter und hörte zu. Der Sprecher stand mit dem Rücken zu ihnen, so daß sie die Gesichter der Zuhörer sehen konnte. Ellie sah, daß sie von seinen Worten tief ergriffen waren. Der Redner war mitten im Satz: »… und andere sagen, daß es ein Pakt mit dem Teufel ist, daß die Wissenschaftler ihre Seelen verkauft haben. In jedem dieser Teleskope befinden sich wertvolle Edelsteine.« Er zeigte mit der Hand auf das Teleskop 101. »Das geben sogar die Wissenschaftler zu. Einige behaupten, daß das der Lohn des Teufels ist, dem die Wissenschaftler sich verkauft haben.« »Religiöse Fanatiker«, brummte Lunatscharski finster. Sehnsüchtig blickte er auf die freie Straße vor ihnen. »Noch einen Augenblick bitte«, sagte Ellie. Auf ihren Lippen spielte ein verwundertes Lächeln. »Einige Menschen, religiöse, gottesfürchtige Menschen glauben, daß diese BOTSCHAFT von Wesen aus dem Weltall stammt, von feindlichen Kreaturen, Monstern, die uns Übles wollen.« Diesen Satz schrie er und hielt dann inne, um seine Worte einwirken zu lassen. »Aber ihr alle seid angewidert von der Verderbtheit und Bestechlichkeit, von den Lastern, dem Modergeruch der Gesellschaft. Wem verdanken wir das? Der gedankenlosen, hemmungslosen und gottlosen Technologie. Ich weiß nicht, wer hier recht hat. Ich kann euch nicht sagen, was die BOTSCHAFT bedeutet oder wer sie schickt. Ich habe da meine Zweifel. Aber das werden wir noch früh genug erfahren. Was ich aber sicher weiß, ist, daß die Wissenschaftler, Politiker und Bürokraten uns etwas verheimlichen. Sie haben uns nicht alles gesagt, was sie wissen. Sie betrügen uns, wie immer. Aber schon zu lange. Bei Gott, wir haben die Lügen geschluckt, die sie uns aufgetischt haben, und sie führen uns ins Verderben.« Zu Ellies Erstaunen
ging ein zustimmendes Raunen durch die Menge. Er hat einen wunden Punkt getroffen, soviel hatte sie verstanden. »Die Wissenschaftler glauben nicht, daß wir die Kinder Gottes sind. Sie denken, wir stammen von den Affen ab. Es sind bekannte Kommunisten dabei. Wollt ihr, daß solche Leute über das Schicksal der Welt entscheiden?« Die Menge antwortete mit einem donnernden »Nein!« »Wollt ihr, daß eine Horde Ungläubiger mit Gott spricht?« »Nein«, brüllten sie wieder. »Oder mit dem Teufel? Sie verschachern unsere Zukunft an die Monster einer fremden Welt. Meine Brüder und Schwestern, über diesem Ort liegt ein Fluch.« Ellie hatte geglaubt, der Redner habe gar nicht bemerkt, daß sie angehalten hatten. Aber jetzt drehte er sich um und zeigte mit dem Finger auf die Absperrung und die wartende Eskorte. »Die sprechen nicht für uns! Die vertreten uns nicht! Sie haben nicht das Recht, in unserem Namen zu verhandeln!« Einige Leute, die an der Absperrung standen, begannen daran zu rütteln. Valerian und der Fahrer sahen sich erschrocken um. Der Motor lief noch, der Fahrer gab sofort Gas, und im nächsten Moment rasten sie in Richtung des ArgusVerwaltungsgebäudes davon. Bis dahin waren es noch einige Meilen durch die Wüste. Noch im Losfahren hörte Ellie den Redner mit lauter Stimme zu der unruhig gewordenen Menge sagen: »Das Unheil an diesem Ort wird ein Ende nehmen. Das schwöre ich euch.«
8 Zufallsnäherung
Der Theolog mag dem angenehmen Berufe folgen, die Religion zu beschreiben, wie sie vom Himmel niederstieg, im Gewande ihrer ursprünglichen Reinheit. Eine traurigere Pflicht ist dem Historiker auferlegt. Er hat die unvermeidliche Mischung von Irrtum und Verderbtheit zu entdecken, welche sie während eines langen Aufenthaltes auf Erden unter einer schwachen und entarteten Gattung von Wesen annahm. Edward Gibbon Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches, XV
Ellie ging nicht nach dem Zufallsprinzip vor, sondern machte einen systematischen Durchgang durch die einzelnen Fernsehprogramme. Die Sendungen Über das Leben von Massenmördern und Die Wette gilt lagen auf benachbarten Kanälen. Dann gab es ein temperamentvolles Basketballspiel zwischen den Johnson City Wildcats und den Union-Endicott Tigers. Die jungen Spieler und Spielerinnen waren mit ganzem Einsatz dabei. Auf dem nächsten Kanal wurde man feierlich in Parsi ermahnt, die vorgeschriebenen Riten während des Ramadan einzuhalten. Daneben lag ein Kanal, auf dem abnorme Sexualpraktiken gezeigt wurden. Ellie schaltete weiter. Sie kam zu einer der ersten Sendungen für Computerspiele, einer Branche, die jetzt einen schweren Stand
hatte. Wenn man sich zu Hause mit dem eigenen Computer anschloß, wurde einem hier die Möglichkeit angeboten, in eine neue Welt des Abenteuers vorzudringen. Die heutige Sendung hieß Gilgamesch der Galaxis. Natürlich hoffte man, daß die Sendung so attraktiv war, daß die Zuschauer die entsprechende Diskette über einen der Verkaufskanäle bestellen würden. Ein elektronischer Kopierschutz verhinderte, daß man das Programm während der Sendung aufzeichnete. In Ellie stieg Ärger auf. Die meisten Videospiele waren voll von Klischees und keineswegs dafür geeignet, Heranwachsende auf eine unbekannte Zukunft vorzubereiten. Sie kam zu einem der älteren Sender, in dem ein Sprecher mit ernster und besorgter Miene zu dem noch ungeklärten Angriff eines nordvietnamesischen Torpedoboots auf zwei Zerstörer der Siebten US-Flotte im Golf von Tongking Stellung nahm und die Bitte des Präsidenten an den Kongreß zitierte, ihn zu ermächtigen, »die notwendigen Vergeltungsschritte einzuleiten«. Es war eine ihrer Lieblingssendungen, in der die Nachrichten früherer Jahre wiederholt wurden. In der zweiten Hälfte der Sendung wurden die Nachrichten dann Punkt für Punkt analysiert, Fehlinformationen festgestellt und die unverbesserliche Leichtgläubigkeit der Nachrichtenorganisationen gegenüber den oft unbestätigten und eigennützigen Angaben der Behörden kritisiert. Die Sendung wurde von einer Gesellschaft produziert, die sich REALI-TV nannte. Weitere Sendungen dieser Gesellschaft waren Promises, Promises, in der unerfüllt gebliebene Wahlversprechen auf lokaler, Bundes- und nationaler Ebene untersucht wurden, und Bamboozles and Baloney, eine Serie, in der jede Woche aufs neue der Kampf gegen verbreitete Vorurteile, Propaganda und Märchen aufgenommen wurde. Das Datum auf dem Bildschirm zeigte den 15. August 1964.
Erinnerungen an ihre Schulzeit stiegen in Ellie auf. Sie drückte auf den nächsten Knopf. Beim weiteren Durchgang durch die einzelnen Kanäle gelangte sie noch zu einem orientalischen Kochkurs, bei dem diese Woche Hibachi dran war, zu einer ausführlichen Werbung für die erste Generation von Haushaltsrobotern von Hadden Cybernetics, zu den russischen Nachrichten und den Kommentaren der sowjetischen Botschaft, zu mehreren Sendungen für Kinder, Nachrichtensendungen, dem Mathematikprogramm, das die bestechend schönen Computergraphiken des neu eingerichteten Kurses für analytische Geometrie an der Cornell-Universität vorführte, dem lokalen Wohnungs- und Immobilienkanal und einer Unmenge fürchterlicher Fortsetzungsserien. Schließlich kam sie zu den religiösen Sendern, auf denen immer noch aufgeregt und heftig über die BOTSCHAFT diskutiert wurde. Der Besuch der Gottesdienste war in ganz Amerika sprunghaft angestiegen. Ellie vermutete, daß die BOTSCHAFT eine Art Spiegel war, in dem jeder einzelne seine Überzeugungen bestätigt oder in Frage gestellt sah. Von sich gegenseitig ausschließenden apokalyptischen und eschatologischen Doktrinen wurde die BOTSCHAFT zur pauschalen Rechtfertigung der jeweiligen Lehre herangezogen. In den Ländern Peru, Algerien, Mexiko, Zimbabwe, Ekuador und bei den Hopi-Indianern wurde öffentlich darüber diskutiert, ob die Vorfahren aus dem All zurückgekehrt waren. Wer nicht dieser Meinung war, wurde als Kolonialist beschimpft. Katholiken sprachen vom außerirdischen Gnadenstaat. Protestanten diskutierten über frühere mögliche Missionen von Jesus zu benachbarten Planeten und natürlich über seine eventuelle Rückkehr zur Erde. Moslems befürchteten, daß die BOTSCHAFT gegen das Verbot von Götzenbildern verstoßen könnte. In Kuwait war ein Mann aufgetaucht, der den
Anspruch erhob, der Irnam der Schiiten zu sein. Messianischer Eifer war unter den Sossafer Chassidim ausgebrochen. In anderen jüdisch-orthodoxen Gemeinden interessierte man sich plötzlich wieder für Astruk, einen religiösen Fanatiker, der gefürchtet hatte, daß Wissen den Glauben untergrabe. Dieser Mann hatte 1305 den Rabbi von Barcelona, den führenden jüdischen Geistlichen der damaligen Zeit, dazu veranlaßt, allen jungen Männern unter fünfundzwanzig das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie unter Androhung der Exkommunikation zu verbieten. Ähnliche Strömungen zeigten sich auch zunehmend im Islam. In Thessalien erregte ein Philosoph mit dem verheißungsvollen Namen Nikolas Polydemos große Aufmerksamkeit mit leidenschaftlichen Reden für eine – wie er es nannte – »Wiedervereinigung« aller Religionen, Regierungen und Völker der Welt. Seine Kritiker stellten als erstes einmal das »Wieder« in Frage. UFO-Clubs organisierten rund um die Uhr Wachen beim Brooks-Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von San Antonio, da dort angeblich die vollkommen erhaltenen Körper von vier Passagieren einer fliegenden Untertasse, die hier 1947 angeblich eine Bruchlandung gebaut hatte, in Kühlschränken schmachteten; angeblich waren die Außerirdischen einen Meter groß und hatten kleine, makellose Zähne. In Indien berichtete man von Erscheinungen Vischnus, in Japan war Amida Buddha erschienen. In Lourdes war von Hunderten von Wunderheilungen die Rede. In Tibet rief sich ein neuer Bodhisattva aus. In Australien wurde ein neuartiger, aus Neuguinea stammender Kult eingeführt, der den Nachbau primitiver Fetische in Form von Radioteleskopen predigte, die reiche außerirdische Geschenke anziehen sollten. Für die weltweite Vereinigung der Freidenker war die BOTSCHAFT die Widerlegung der Existenz Gottes. Die Mormonen erklärten sie zur zweiten Offenbarung des Engels Moroni.
Die BOTSCHAFT wurde von den verschiedensten Gruppierungen als Beweis für eine Vielzahl von Göttern, für einen Gott oder für überhaupt keinen Gott interpretiert. Chiliasmus war weitverbreitet. Einige prophezeiten das Ende der Welt für das Jahr 1999 – als kabbalistische Umkehrung des Jahres 1666, für das Sabbatai Zevi das Ende der Welt angenommen hatte. Andere wählten die Jahre 1996 oder 2033, in die vermutlich die zweitausendste Wiederkehr der Geburt und des Todes Jesu fielen. Der berühmte Kalender der alten Mayas sollte mit dem Jahr 2011 enden, in dem nach der Überlieferung dieser eigenständigen Kultur der Kosmos unterging. Das Zusammentreffen der Prophezeiung der Mayas und der christlichen Endzeitvorstellungen führte zu einer Art apokalyptischer Hysterie in Mexiko und Zentralamerika. Einige Chiliasten, die an den früheren Zeitpunkt glaubten, verschenkten ihren Reichtum an die Armen, weil Geld bald sowieso nichts mehr wert sein würde und weil sie sich für das Jüngste Gericht eine gute Ausgangsposition verschaffen wollten. Fanatismus, Angst, Hoffnung, leidenschaftliche Diskussionen, stille Gebete, ekstatische Bekehrungsszenen, beispiellose Selbstlosigkeit, engstirnige Bigotterie und eine Begeisterung für neue Ideen breiteten sich wie eine Epidemie in fiebernder Hast über den winzigen Planeten Erde aus. Ellie glaubte zu erkennen, daß aus dieser gärenden Unruhe langsam die Erkenntnis der Welt als eines Fadens in dem riesigen kosmischen Teppich aufdämmerte. Unterdessen widersetzte sich die BOTSCHAFT noch immer allen Entschlüsselungsversuchen. Auf einem jener üblen Propagandakanäle, die durch den ersten Zusatz zur amerikanischen Verfassung geschützt waren, beschuldigte ein geifernder Sprecher sie, Waygay, Der Heer und in geringerem Maß auch Peter Valerian verschiedener
Vergehen, unter anderem des Atheismus, des Kommunismus und des Egoismus, weil sie angeblich den Inhalt der BOTSCHAFT geheimhielten. Ellie wußte, daß Waygay gar kein überzeugter Kommunist war und daß Valerian einen tiefen, gefestigten und weltoffenen christlichen Glauben besaß. Wenn sie jemals das Glück haben sollte, die BOTSCHAFT zu entschlüsseln, würde sie sie diesem scheinheiligen, verlogenen Fernsehkommentator persönlich übergeben. Der Held der Sendung dagegen war David Drumlin als der Mann, der den Primzahlen und der Olympiasendung auf die Spur gekommen war. Von solchen Wissenschaftlern bräuchten wir mehr, behauptete der Sprecher. Ellie seufzte und schaltete zum nächsten Programm um. Jetzt war sie bei TABS, dem Turner American Broadcasting System angelangt. Diese Gesellschaft hatte als einzige der großen kommerziellen Sendeanstalten, die früher das Fernsehen in den Vereinigten Staaten dominiert hatten, überlebt. Die anderen waren durch Fernsehübertragungen über direktstrahlende Satelliten und ein Kabelnetz von 180 Kanälen abgelöst worden. Gerade hatte Palmer Joss einen seiner seltenen Fernsehauftritte. Wie fast alle Amerikaner erkannte Ellie sofort seine volltönende Stimme, sein leicht ungepflegtes, aber attraktives Aussehen und die schwarzen Ränder unter den Augen, die einem den Eindruck machten, daß er vor lauter Sorgen um den Rest der Welt keinen Schlaf fand. »Was hat die Wissenschaft denn wirklich für uns getan?« ereiferte er sich. »Sind wir glücklicher geworden? Ich meine damit nicht dreidimensionales Fernsehen oder Weintrauben ohne Kerne. Bestechen uns die Wissenschaftler denn nicht mit Spielzeug, mit technischen Spielereien, während sie zugleich unseren Glauben untergraben?« Er war ein Mann, dem die Welt zu kompliziert geworden war, dachte Ellie, ein Mann, der sein ganzes Leben lang versucht hatte, krasse Gegensätze miteinander in Einklang
zu bringen. Er hatte die Exzesse der religiösen Sekten verurteilt und glaubte, daß man jetzt konsequenterweise auch Evolution und Relativität bekämpfen mußte. Warum griff er nicht die Existenz des Elektrons an? Palmer Joss hatte nie eines gesehen, und in der Bibel kam Elektromagnetismus nicht vor. Warum also an Elektronen glauben? Obwohl Ellie ihn bisher noch nie über dieses Thema hatte sprechen hören, war sie sicher, daß er früher oder später auf die BOTSCHAFT kommen würde. Sie behielt recht. »Die Naturwissenschaftler behalten ihre Erkenntnisse für sich. Sie geben uns nur wenige Krumen ab, gerade soviel, daß wir stillhalten. Sie denken, daß wir zu dumm sind, sie zu verstehen. Und sie teilen uns nur die Ergebnisse mit, ohne sie zu beweisen. Sie verkünden ihre Erkenntnisse, als ob sie die Heilige Schrift und nicht Spekulationen, Theorien und Hypothesen wären – wie normale Menschen es nennen würden. Sie fragen nie danach, ob die neue Theorie genauso gut für die Menschen ist wie der Glaube, den sie zu ersetzen versucht. Sie überschätzen, was sie wissen, und unterschätzen, was wir wissen. Wenn wir sie um Erklärungen bitten, antworten sie, daß wir Jahre brauchten, bis wir ihre Theorien verstünden. Ich kenne das. Auch in der Religion gibt es Dinge, für die man Jahre braucht, um sie zu verstehen. Man kann sein ganzes Leben damit verbringen, das Wesen des allmächtigen Gottes verstehen zu wollen, ohne je ans Ziel zu gelangen. Aber es ist noch nie vorgekommen, daß Naturwissenschaftler religiöse Führer nach deren jahrelangem Studium im Dienste der Erkenntnis und des Gebetes gefragt haben. Sie denken nie ernstlich über uns nach, außer wenn sie uns irreführen und betrügen. Und jetzt behaupten sie, sie hätten eine BOTSCHAFT von der Wega empfangen. Aber ein Stern kann keine Botschaft senden. Irgend jemand schickt sie. Wer? Kommt die
BOTSCHAFT von Gott oder vom Satan? Wird es am Ende der BOTSCHAFT heißen: ›Herzliche Grüße, Gott‹… oder: ›Mit freundlichen Grüßen, der Teufel‹? Und wenn die Wissenschaftler uns berichten, was in der BOTSCHAFT steht, werden sie uns dann auch die ganze Wahrheit sagen? Oder werden sie etwas zurückhalten, weil sie der Meinung sind, daß wir es nicht verstehen, oder weil es nicht zu dem paßt, was sie glauben? Sind das nicht dieselben Leute, die uns beigebracht haben, wie wir uns selbst vernichten können? Ich sage euch, meine Freunde, die Naturwissenschaft ist zu wichtig, um sie nur den Wissenschaftlern zu überlassen. Vertreter aller Weltreligionen sollten von Anfang an bei der Entschlüsselung dabei sein. Wir müssen auch die grundlegenden Daten kennen. Sonst… wo kommen wir sonst hin? Man wird uns irgend etwas über die BOTSCHAFT erzählen. Vielleicht das, was die Wissenschaftler wirklich glauben. Vielleicht auch nicht. Wir müssen akzeptieren, was sie uns erzählen. Über bestimmte Dinge wissen die Wissenschaftler Bescheid. Aber es gibt fürwahr andere Dinge, wovon sie keine Ahnung haben. Vielleicht haben sie tatsächlich eine Botschaft von anderen Wesen des Himmels bekommen. Vielleicht auch nicht. Wie können sie sicher sein, daß die BOTSCHAFT kein Goldenes Kalb ist? Ich glaube nicht, daß sie ein Goldenes Kalb erkennen würden, wenn sie eines sähen. Diese Menschen haben die Wasserstoffbombe entwickelt. Vergib mir, Herr, daß ich ihnen dafür nicht dankbarer bin. Ich habe Gott gesehen, von Angesicht zu Angesicht. Ich bete zu Gott, ich vertraue ihm, ich liebe ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Ich glaube nicht, daß man einen festeren Glauben haben kann als ich. Kein Wissenschaftler kann so an seine Wissenschaft glauben wie ich an Gott. Sie sind bereit, ihre ›Wahrheiten‹ über Bord zu werfen, wenn eine neue Idee auftaucht. Sie sind sogar stolz darauf. Sie bilden
sich ein, daß wir Menschen bis in alle Ewigkeit mit Unwissenheit geschlagen sein werden und es nirgendwo in der Natur Gewißheit gibt. Newton hat Aristoteles gestürzt, Einstein stürzte Newton. Und morgen wird der nächste Einstein stürzen. Sobald wir die eine Theorie verstehen, tritt schon die nächste an ihre Stelle. Vielleicht wäre das ja nicht so schlimm, wenn man uns vorher gesagt hätte, daß die alten Ideen nur Hypothesen waren. Aber man sprach immer nur von Newtons Gravitationsgesetzen. Und sie heißen immer noch so. Aber wenn etwas ein Naturgesetz ist, wie kann es dann falsch sein? Wie kann es plötzlich überholt sein? Nur Gott kann Naturgesetze aufheben, nicht die Wissenschaftler. Hier liegt ihr grundsätzlicher Fehler. Wenn Albert Einstein recht hat, dann war Isaac Newton ein Amateur und Stümper. Bedenkt, auch Naturwissenschaftler sind nicht unfehlbar. Sie wollen uns unseren Glauben, unsere Überzeugungen nehmen, ohne uns dafür neue geistige Werte anzubieten. Ich habe keineswegs vor, von Gott abzulassen, nur weil ein paar Wissenschaftler ein Buch schreiben und dann behaupten, es sei eine Botschaft von der Wega. Ich will nicht die Wissenschaft anbeten. Ich will nicht gegen das Erste Gebot sündigen. Ich will nicht ein Goldenes Kalb verehren.« Bevor Palmer Joss überall zu Ruhm und Ehre gekommen war, hatte er als junger Mann auf einem Rummelplatz gearbeitet. Das war in einer Kurzbiographie in der Timesweek nachzulesen gewesen; es war kein Geheimnis. Um seinem Glück nachzuhelfen, hatte er sich eine Weltkarte besorgt und sie mit allen Details auf seinen Oberkörper tätowieren lassen. Damit ließ er sich dann auf Jahrmärkten und Rummelplätzen von Oklahoma bis Mississippi bewundern, einer der letzten einer längst vergangenen Zeit umherziehender Schausteller. In den blauen Ozeanen waren die vier Windgötter zu sehen, die mit aufgeblähten Backen West- und Nordostwinde bliesen.
Wenn er seine Brust bewegte, stürmte Boreas, der Gott des Nordwinds, über den Atlantik. Dazu deklamierte er für die verblüfften Zuschauer aus dem 6, Buch von Ovids Metamorphosen: Mir geziemt nur Gewalt: gewaltsam verjage ich düstre Wolken, gewaltsam peitsch ich das Meer, und knorrige Eichen Stürz ich… So auch, wenn ich mich stürze hinab in die Klüfte der Erde Und mit dem Rücken mich wild in die untersten Höhlungen stemme, Mach ich die Manen erbeben, und weithin zittert der Erdkreis. Feuer und Schwefel aus dem alten Rom. Wenn er mit den Händen etwas nachhalf, konnte er sogar die Kontinentalbewegung vorführen. Er drückte Westafrika gegen Südamerika, so daß sie auf dem Längengrad, der durch seinen Bauchnabel lief, wie Teile eines Puzzles zusammenpaßten. Auf Plakaten wurde er als »Geos, der Erdmann« angekündigt. Joss war sehr belesen. Da er nach der Grundschule von höherer Bildung unbelastet geblieben war, war ihm nicht gesagt worden, daß Wissenschaft und klassische Literatur sich nicht für das einfache Volk schickten. Dank seines guten Aussehens und seiner sympathisch wirkenden Haarmähne konnte er sich bei den Bibliothekaren der Städte, in denen seine Truppe Station machte, einschmeicheln. Wenn er ihnen erzählte, daß er sich weiterbilden wollte, halfen sie ihm mit Titeln von Büchern aus, die er ihrer Meinung nach lesen müsse. Gehorsam las er, wie man Freunde gewann, in Immobilien investierte und seine Bekannten einschüchterte, ohne daß sie es merkten. Aber diese Bücher befriedigten ihn
nicht. Dagegen meinte er, in der Literatur der alten Griechen und Römer und der modernen Naturwissenschaft das zu finden, was er suchte. In jeder freien Minute eilte er in die Gemeinde- oder Stadtbüchereien. Er brachte sich Geographie und Geschichte bei. Das hätte mit seinem Job zu tun, sagte er zu Elvira, dem Elefantenmädchen, die ihn eingehend darüber ausfragte, was er trieb, wenn er weg war. Sie hatte den Verdacht, daß er hinter Mädchen her war – eine Bibliothekarin in jeder Stadt, hatte sie einmal gesagt –, aber sie mußte zugeben, daß seine gelehrten Reden immer besser wurden. Vom Inhalt verstand sie zwar nichts, aber die Art des Vortrags und die Wahl seiner Worte taten ihre Wirkung. Als er eines Tages mit dem Rücken zum Publikum den Zusammenstoß Indiens mit Asien und die daraus entstehende Auffaltung des Himalayagebirges vorführte, fuhr plötzlich aus dem grauen, trockenen Himmel ein Blitzstrahl nieder und erschlug ihn. Im Südosten von Oklahoma hatte es Wirbelstürme gegeben, und überhaupt war das Wetter überall im Süden ungewöhnlich. Er merkte deutlich, wie er seinen Körper verließ, der jämmerlich zusammengekrümmt auf den mit Sägemehl bedeckten Holzplanken lag und von der kleinen Menge der Zuschauer aus sicherer Entfernung und mit einer Art heiliger Scheu betrachtet wurde, und wie er durch einen langen, schwarzen Tunnel nach oben stieg und sich langsam einem hellen Licht näherte. In dessen strahlendem Glanz konnte er immer deutlicher eine heldenhafte, ja göttliche Gestalt erkennen. Als er aufwachte, war er fast etwas enttäuscht, daß er noch lebte. Er lag auf einem Feldbett in einem bescheiden eingerichteten Schlafzimmer. Über ihn beugte sich Reverend Billy Jo Rankin, nicht der gegenwärtige Namensträger, sondern dessen Vater, ein würdiger Stellvertreter Gottes in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Hintergrund meinte Joss ein Dutzend verhüllter Gestalten zu erkennen, die
das Kyrieeleison sangen. Aber er war sich nicht sicher. »Werde ich leben oder sterben?« fragte der junge Mann flüsternd. »Beides, mein Junge, beides«, antwortete Reverend Rankin. Joss wurde übermannt von dem Gefühl, daß sich ihm das irdische Leben neu geoffenbart hätte. Aber auf schwer zu beschreibende Weise stand dieses Gefühl im Widerstreit mit jener beseligenden Vision, die ihm so unermeßliche Freude verkündet hatte. Zutiefst spürte er den Konflikt der beiden widerstreitenden Gefühle in seiner Brust. Manchmal kam es ihm mitten in einem Satz zu Bewußtsein und drängte nach Ausdruck durch Worte oder Taten. Nach einer Weile fand er sich damit ab, mit dem Konflikt leben zu müssen. Er war wirklich tot gewesen, erzählten ihm hinterher die, die dabeigewesen waren. Ein Arzt hätte seinen Tod festgestellt. Aber sie hätten Gebete gesprochen und Lieder zum Lobe Gottes gesungen. Sie hätten auch versucht, ihn mit Massagen wiederzubeleben. Und sie hatten ihn wieder ins Leben zurückgebracht. Er war wahrhaftig und buchstäblich wiedergeboren. Da diese Geschichte so gut zu seiner eigenen Erfahrung paßte, akzeptierte er sie mit Freuden. Obwohl er fast nie darüber sprach, war er von der großen Bedeutung seines Erlebnisses überzeugt. Er war nicht umsonst erschlagen worden. Er war nicht ohne Grund ins Leben zurückgerufen worden. Unter Anleitung seines Förderers stürzte er sich in das Studium der Heiligen Schrift. Er war tief bewegt von der Idee der Auferstehung und der Heilslehre. Am Anfang half er Reverend Rankin nur im kleinen aus, indem er hin und wieder in weiter entfernten Gebieten Predigten für ihn übernahm – besonders seit der jüngere Billy Jo Rankin dem Ruf Gottes nach Odessa, Texas, gefolgt war. Joss fand sehr bald einen eigenen Predigtstil, der weniger ermahnend als erklärend war. In einfachen Worten und vertrauten Bildern erklärte er die
Taufe, das Leben nach dem Tode, die Verbindung zwischen der christlichen Offenbarung und den Sagen des klassischen Altertums, die göttliche Weltordnung und die Übereinstimmung von Wissenschaft und Religion, wenn beide richtig verstanden wurden. Es war nicht die herkömmliche Art zu predigen, und viele nahmen Anstoß an seiner ökumenischen Einstellung. Aber aus unerklärlichen Gründen wuchs die Zahl seiner Anhänger rapide. »Du bist wiedergeboren worden, Joss«, sagte der ältere Rankin zu ihm. »Eigentlich solltest du einen neuen Namen bekommen. Aber Palmer Joss ist so ein schöner Name, daß du ein Narr wärst, ihn nicht zu behalten.« Wie Ärzte und Rechtsanwälte kritisierten auch die Religionsverkäufer selten ihre Ware gegenseitig, stellte Joss fest. Aber eines Abends besuchte er den Gottesdienst in der neuen Kreuzfahrerkirche, um den jüngeren Billy Jo Rankin predigen zu hören, der gerade siegreich aus Odessa zurückgekehrt war. Billy Jo predigte von Strafe, Belohnung und Verklärung. Aber die heutige Nacht, verkündete er der Gemeinde, sei eine heilbringende Nacht. Werkzeug des Heils war die heiligste aller Reliquien – heiliger als ein Holzsplitter vom heiligen Kreuz, sogar heiliger als der Oberschenkelknochen der heiligen Theresa von Avila, den General Franco in seinem Büro aufbewahrt hatte, um die Frommen einzuschüchtern. Was Billy Jo Rankin in der Hand hielt, war nichts Geringeres als das Fruchtwasser, das unseren Herrn schützend umgeben hatte. Die Flüssigkeit war in einem alten irdenen Gefäß sorgsam verwahrt worden, das einstmals der heiligen Anna gehört habe. Schon der kleinste Tropfen davon, versicherte Rankin, heile durch einen besonderen Akt göttlicher Gnade von allen Schmerzen. Und dieses allerheiligste Wasser war heute abend unter ihnen. Joss war entsetzt, allerdings weniger über den offensichtlichen Schwindel Rankins als über die Gläubigkeit, mit der die
Gemeindemitglieder auf ihn hereinfielen. In seinem früheren Leben war Joss oft Zeuge geworden, wie man versucht hatte, die Leute übers Ohr zu hauen. Aber das hatte mit zum Jahrmarkt gehört. Hier war es etwas ganz anderes. Es ging um Religion. In der Religion war es nicht erlaubt, die Wahrheit falsch auszulegen oder gar künstlich Wunder zu erzeugen. Er nahm sich fest vor, diesen Betrug von der Kanzel herab anzuprangern. Mit wachsendem Eifer schimpfte er gegen verderbte Formen eines bigotten Fundamentalismus, gegen die übereifrigen Herpetologen, die ihren Glauben prüften, indem sie giftige Schlangen anfaßten, da in der Bibel geschrieben stand, daß die, die ein reines Herz hatten, das Gift der Schlange nicht zu fürchten brauchten. In einer später oft zitierten Predigt nahm er Bezug auf Voltaire. Er hätte nie gedacht, sagte er, daß die Männer der Kirche so käuflich waren, daß sie jene gotteslästerlichen Zungen bestätigten, die behaupteten, Priester gebe es seit der Zeit, als zum erstenmal ein Spitzbube einen Narren getroffen hätte. Solche Irrlehren zerstörten die Religion. Mahnend hob er seinen Finger. Joss erklärte, jede Religion müsse in ihrer Lehre eine Grenze beachten, bei deren Überschreiten der Verstand ihrer Anhänger provoziert werde. Vernünftige Menschen stritten sich vielleicht darüber, wo die Grenze gezogen werden sollte, aber Religionen überschritten sie oft weit und gefährdeten sich so selbst. Die Menschen waren keine Narren. Der ältere Rankin ließ Joss am Tag vor seinem Tod, als er seine letzten Angelegenheiten ordnete, die Nachricht zukommen, er solle ihm niemals mehr unter die Augen kommen. Zu dieser Zeit begann Joss zu predigen, daß auch die Naturwissenschaften nicht alle Fragen beantworten könnten. Er fand Ungereimtheiten in der Evolutionstheorie. Erkenntnisse, die störten, Tatsachen, die nicht ins Bild paßten, würden von den
Wissenschaftlern einfach unter den Teppich gekehrt. Sie wüßten gar nicht sicher, daß die Erde 4,6 Milliarden Jahre alt ist, genausowenig wie Erzbischof Usher sicher wußte, daß sie 6000 Jahre alt war. Hatte doch niemand bei der Evolution zugesehen und die Zeit seit der Schöpfung gemessen. (»Zweihundertquadrillionen, zweihundertquadrillionenundeins…«, so malte er einmal aus, wie ein solcher Zeitnehmer geduldig die Sekunden seit dem Ursprung der Welt zählte.) Und Einsteins Relativitätstheorie war auch nicht bewiesen. Man konnte sich nicht schneller als Licht fortbewegen, hatte Einstein gesagt. Woher wußte er das? Wie nahe war er an die Lichtgeschwindigkeit herangekommen? Die Relativität war nur eine Hilfe, die Welt zu verstehen. Einstein konnte doch nicht ein für allemal festlegen, wozu die Menschen in der fernen Zukunft imstande sein mochten. Und ganz sicher konnte Einstein Gott keine Grenzen setzen. Vielleicht konnte sich Gott, wenn er wollte, schneller als Licht fortbewegen? Vielleicht konnten auch wir uns schneller als Licht fortbewegen, wenn Gott es wollte! Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Religion gab es Übertreibungen. Ein vernünftiger Mensch ließ sich weder hier noch dort überrumpeln. Es gab viele verschiedene Interpretationen der Heiligen Schrift und viele verschiedene Interpretationen der natürlichen Welt. Beide waren von Gott geschaffen, deshalb mußten beide in Einklang miteinander stehen. Wenn es einen Widerspruch gab, dann hatten entweder der Wissenschaftler oder der Theologe oder beide zusammen ihre Aufgabe nicht richtig erfüllt. Palmer Joss verband seine unparteiische Kritik an Wissenschaft und Religion mit einer leidenschaftlichen Aufforderung zu moralischer Rechtschaffenheit, und er nahm eigene Gedanken seiner Gemeinde ernst. Bald hatte er im ganzen Land einen Namen. In Diskussionen über eine
»wissenschaftliche Schöpfungslehre« als Unterrichtsfach an den Schulen, über die ethischen Implikationen der Abtreibung und eingefrorener Embryos und über die Zulässigkeit der Gentechnik versuchte er auf seine Weise, einen vermittelnden Kurs zu steuern. So hoffte er, Wissenschaft und Religion über den Abbau gegenseitiger Vorurteile miteinander zu versöhnen. Die beiden streitenden Lager beschimpften ihn dafür, aber seine Popularität wuchs. Er wurde Vertrauensmann der Präsidenten. Teile seiner Predigten wurden als Leitartikel in den großen weltlichen Zeitungen nachgedruckt. Aber er widerstand vielen Angeboten und Lockungen, darunter auch der, eine Fernsehkirche zu gründen. Er lebte weiterhin einfach, und nur selten – außer bei Einladungen ins Weiße Haus und zu ökumenischen Kongressen – verließ er den ländlichen Süden. Abgesehen von einem durchschnittlichen Maß an Patriotismus, machte er sich zur Regel, sich nicht in die Politik einzumischen. So wurde Palmer Joss auf einem Gebiet, wo so viele Lehren von oft zweifelhafter Redlichkeit miteinander in Konkurrenz standen, der an Gelehrsamkeit und moralischer Autorität alle anderen christlichen Fundamentalisten überragende Prediger seiner Zeit. Der Heer fragte Ellie, wo sie in Ruhe zu Abend essen könnten. Er war mit dem Flugzeug zu einer Kurzbesprechung mit Waygay und der sowjetischen Delegation über die neuesten Interpretationsergebnisse gekommen. Aber es wimmelte in diesem Teil New Mexicos nur so von Reportern aus der ganzen Welt, und man hätte im Umkreis von mehr als hundert Kilometern kein Restaurant finden können, in dem man unbeobachtet und ungestört essen konnte. Deshalb kochte Ellie selbst in ihrer kleinen Wohnung, die direkt an das Gästehaus anschloß. Während des Essens hatten sie eine Menge zu besprechen; manchmal sah es so aus, als liege das Schicksal des ganzen Projekts allein in den Händen der
Präsidentin. Aber Ellie fühlte dunkel, daß die aufgeregte Erwartung, die plötzlich in ihr aufgestiegen war, bevor Ken kam, noch andere Gründe hatte. Joss gehörte nicht direkt zum offiziellen Teil ihrer Besprechung, deshalb sprachen sie erst über ihn, als sie gemeinsam das Geschirr in die Spülmaschine füllten. »Der Mann ist völlig gelähmt vor Angst«, sagte Ellie. »Und er ist engstirnig. Er befürchtet, daß die BOTSCHAFT entweder zu einer unannehmbaren Interpretation der Bibel führt oder seinen Glauben erschüttern könnte. Er hat überhaupt keine Ahnung, wie sich ein neues wissenschaftliches Paradigma in ein altes einfügt. Er will wissen, was die Naturwissenschaft in letzter Zeit an Gutem gebracht hat. Und er will die Stimme der Vernunft sein.« »Verglichen mit Weltuntergangschiliasten und Erdpatrioten ist Palmer Joss noch gemäßigt«, antwortete Der Heer. »Vielleicht hätten wir die naturwissenschaftlichen Vorgehensweisen besser erklären sollen. Darüber habe ich mir in letzter Zeit viele Gedanken gemacht. Und, Ellie, weiß man denn sicher, daß die Botschaft nicht von – « »Von Gott oder vom Teufel ist? Ken, das fragen Sie mich doch nicht im Ernst?« »Aber wie steht es mit fortgeschrittenen Wesen, die ein unseren Vorstellungen von Gut und Böse entsprechendes Verhalten kennen, sich also nach Ideen richten, die für jemand wie Joss von Gott oder vom Teufel kommen?« »Ken, wer diese Wesen im Wega-System auch immer sein mögen, ich garantiere Ihnen, daß sie das Universum nicht erschaffen haben. Und sie sind auch nicht so etwas wie der Gott des Alten Testaments. Überlegen Sie doch. Die Wega, die Sonne und alle anderen Sterne unseres Sonnensystems befinden sich irgendwo ganz am Rand einer absolut langweiligen Galaxis. Warum soll der ›Ich bin, der ich bin‹
sich hier bei uns herumtreiben? Er hat doch sicher Dringenderes zu tun.« »Ellie, wir sind nicht frei in unseren Entscheidungen. Sie wissen, daß Joss großen Einfluß besitzt. Er stand zwei Präsidenten sehr nahe und jetzt der gegenwärtigen Amtsinhaberin. Die Präsidentin ist geneigt, Konzessionen an Joss zu machen, obwohl ich nicht glaube, daß sie ihn und einige andere Prediger in den geplanten Ausschuß zur Entschlüsselung der BOTSCHAFT berufen wird, in dem Sie, Valerian und Drumlin sein werden – von Waygay und seinen Kollegen ganz zu schweigen. Ich kann mir kaum vorstellen, daß die Russen mit fundamentalistischen Geistlichen in einem Ausschuß zusammenarbeiten. Das ganze Unternehmen könnte daran scheitern. Aber vielleicht sollten wir mit Joss reden. Die Präsidentin hat mir erzählt, daß er von den Naturwissenschaften wirklich fasziniert ist. Vielleicht könnten wir ihn für uns gewinnen.« »Wir sollen Palmer Joss bekehren!« »Ich meine nicht, daß wir ihn dazu bringen sollten, einen anderen Glauben anzunehmen – nur, daß wir ihm begreiflich machen, worum es bei Argus geht, daß wir die BOTSCHAFT nicht zu beantworten brauchen, wenn wir nicht wollen, und daß für uns schon die Entfernung von der Wega ein Schutz ist.« »Ken, er glaubt ja noch nicht einmal, daß die Lichtgeschwindigkeit die größtmögliche Geschwindigkeit im Kosmos ist. Wir werden aneinander vorbeireden. Außerdem bin ich nie mit den konventionellen Religionen zurechtgekommen. Und ich verliere schnell die Geduld, wenn ich es mit ihren Ungereimtheiten und ihrer Verlogenheit zu tun bekomme. Ich bin nicht so sicher, daß eine Begegnung zwischen Joss und mir so abliefe, wie Sie es sich wünschen. Oder wie die Präsidentin es wünscht.«
»Ellie«, erwiderte er, »ich weiß nicht, auf wen ich mein Geld setzen würde. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Zusammentreffen zwischen Ihnen und Joss die Sache noch verschlimmern könnte.« Ellie erwiderte sein Lächeln. Die Beobachtungsschiffe waren jetzt am Einsatzort, und einige kleinere, aber ausreichend starke Radioteleskope waren an Orten wie Reykjavik und Djakarta aufgestellt worden. Damit war der Empfang des Signals von der Wega über die gesamte Länge mehr als ausreichend gesichert. In Paris sollte nun eine große Konferenz des eigens für dieses Unternehmen gegründeten Weltkonsortiums stattfinden. Die Länder mit dem größten Datenanteil veranstalteten eine viertägige wissenschaftliche Vorbereitungsrunde. Diese Kurzkonferenz sollte vor allem Leute wie Der Heer, der zwischen Wissenschaftlern und Politikern vermitteln mußte, auf den neuesten Stand der Untersuchungen bringen. Zur sowjetischen Abordnung gehörten neben Lunatscharski als nominellem Leiter noch mehrere Wissenschaftler und Techniker, die ihm an Können nicht nachstanden. Unter ihnen waren Henrich Archangelski, der gerade erst zum Chef der sowjetisch geführten internationalen Weltraumbehörde Interkosmos ernannt worden war, Timotei Gotsridse als Minister der mittleren Schwerindustrie und ein Mitglied des Zentralkomitees. Man sah es Waygay an, daß er unter Druck stand. Er war wieder zum Kettenraucher geworden. Noch während er sprach, hielt er eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger. »Es stimmt ja, daß es auf der ganzen Strecke viele Überlappungen gibt. Aber trotzdem mache ich mir deswegen Sorgen. Es braucht nur der Heliumverflüssiger an Bord der Marschal Nedelin zu versagen oder der Strom in Reykjavik auszufallen, und der kontinuierliche Empfang der
BOTSCHAFT ist gefährdet. Angenommen, die BOTSCHAFT braucht zwei Jahre, bis sie wieder von vorn beginnt. Wenn wir ein Stück verpassen, müssen wir also zwei Jahre warten, um die Lücke zu füllen. Und nicht zu vergessen, wir wissen noch nicht einmal, ob die BOTSCHAFT wiederholt wird. Wenn es keine Wiederholung gibt, werden die Lücken nie geschlossen werden können. Ich meine, daß wir alle Eventualitäten in unseren Plan mit einbeziehen müssen.« »Woran denken Sie also?« fragte Der Heer. »An Notgeneratoren für jedes Observatorium des Konsortiums?« »An Notgeneratoren und an von der Hauptversorgung unabhängige Verstärker, Spektrometer, Autokorrelatoren, Plattenlaufwerke und so weiter. Und an Vorkehrungen für den schnellen Lufttransport von flüssigem Helium an abgelegene Observatorien in Notfällen.« »Sind Sie auch dieser Meinung, Ellie?« »Absolut.« »Noch etwas?« »Ich bin der Auffassung, daß wir die Wega weiterhin in einem breiten Frequenzbereich beobachten sollten. Wir sollten auch andere Himmelsregionen abhören. Vielleicht kommt der Schlüssel für unsere BOTSCHAFT gar nicht von der Wega, sondern von ganz woanders her – « »Auch ich halte Waygays Vorschlag für wichtig und kann ihn nur bekräftigen«, warf Valerian ein. »Wir sind in der ungewöhnlichen Lage, daß wir eine BOTSCHAFT empfangen, aber keinerlei Fortschritte bei ihrer Entschlüsselung machen. Wir haben überhaupt keine Erfahrungen auf diesem Gebiet, wir müssen ganz unten anfangen. Und wir wollen nicht ein oder zwei Jahre verlieren, nur weil wir eine einfache Vorsichtsmaßnahme nicht getroffen oder eine simple Messung übersehen haben. Daß die BOTSCHAFT wieder von vorn anfängt, ist ja nur eine reine Vermutung. Die BOTSCHAFT
selbst gibt uns dafür keinen Anhaltspunkt. Jede Möglichkeit, die wir jetzt verpassen, ist vielleicht für immer verpaßt. Ich stimme auch damit überein, daß wir noch viel für die Entwicklung besserer Instrumente tun müssen. Soviel wir wissen, gibt es noch eine vierte Schicht des Palimpsests.« »Auch Personalfragen müssen wir klären«, fuhr Waygay fort. »Nehmen wir einmal an, daß die Übermittlung der Botschaft nicht nur ein oder zwei Jahre dauert, sondern noch Jahrzehnte. Oder, daß es sich hier nur um den ersten Teil einer ganzen Serie von Botschaften von überallher aus dem Weltraum handelt. Es gibt auf der ganzen Welt nur ein paar hundert wirklich qualifizierte Radioastronomen. Gemessen an dem Einsatz, um den es geht, ist das sehr wenig. Die Industrieländer müssen unbedingt mehr erstklassige Radioastronomen und Radioingenieure ausbilden.« Ellie sah, daß sich Gotsridse, der bisher wenig gesagt hatte, Notizen machte. Und wieder wurde ihr deutlich, wieviel besser die Russen Englisch lesen und schreiben konnten als die Amerikaner Russisch. Um die Jahrhundertwende hatten fast alle Wissenschaftler der Welt Deutsch sprechen oder zumindest lesen können. Davor war es Französisch gewesen und davor Latein. In einem Jahrhundert würde es vielleicht wieder eine andere Wissenschaftssprache geben – vielleicht Chinesisch. Zur Zeit war es Englisch. Und alle Wissenschaftler unseres Planeten mußten sich plagen, die Feinheiten und Ausnahmen des Englischen zu erlernen. Waygay sprach weiter, während er sich mit dem Ende der alten Zigarette ein neue anzündete: »Noch etwas sollte hier zur Sprache kommen. Es ist reine Spekulation, die noch nicht einmal so plausibel ist wie der Gedanke, daß die BOTSCHAFT wieder von vorn beginnen könnte – was, wie Professor Valerian richtig betonte, ebenfalls nur eine Vermutung ist. Normalerweise würde ich eine so spekulative Idee nicht in einem so frühen Stadium erwähnen. Aber wenn
etwas an der Spekulation dran ist, dann müssen wir uns sofort noch über weitere Maßnahmen Gedanken machen. Ich würde kaum den Mut haben, von meiner Spekulation zu sprechen, wenn nicht das Akademiemitglied Archangelski zu demselben Schluß gekommen wäre. Über die Rotverschiebungen von Quasaren, die Erklärung der extrem hellen Lichtquellen, die Restmasse des Neutrino, die Physik der Quarks in Neutronensternen waren wir nicht einer Meinung… Wir hatten immer viele Meinungsverschiedenheiten. Und ich muß zugeben, daß manchmal er und manchmal ich recht hatte. So gut wie nie waren wir im spekulativen Anfangsstadium einer Idee einer Meinung. Aber dieses Mal sind wir uns einig.« »Henrich, würden Sie uns das bitte genauer erklären?« Archangelski wirkte fast belustigt. Seit Jahren war er in heißen wissenschaftlichen Diskussionen und der berühmtberüchtigten Kontroverse, wie weit man sowjetische Projekte in der Kernforschung fördern sollte, der Kontrahent Lunatscharskis. »Wir vermuten«, fuhr Waygay fort, »daß die BOTSCHAFT die Anleitung zum Bau einer Maschine ist. Wir haben natürlich keine Ahnung, wie man die BOTSCHAFT entschlüsseln könnte. Unsere Vermutung leitet sich vielmehr aus Hinweisen ab, die in der Struktur der BOTSCHAFT enthalten sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Hier auf Seite 15441 ist ein klarer Verweis auf eine frühere Seite, nämlich die Seite 13097, die wir glücklicherweise auch haben. Die spätere Seite wurde hier in New Mexico empfangen, die frühere an unserem Observatorium in der Nähe von Taschkent. Auf Seite 13097 findet sich ein weiterer Verweis. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch nicht die gesamte Länge abgedeckt. Man könnte noch viele andere Beispiele für solche Rückverweise anführen. Im allgemeinen gilt, und das ist das Entscheidende, daß die Anweisungen auf späteren Seiten viel komplexer, die Anweisungen auf früheren Seiten dagegen einfacher sind. In
einem Fall wird auf einer einzigen Seite achtmal auf frühere Ausführungen verwiesen.« »Das ist allerdings kein besonders zwingendes Argument«, erwiderte Ellie. »Vielleicht handelt es sich nur um eine Reihe mathematischer Übungen, bei denen die späteren auf den früheren aufbauen. Es könnte auch ein langer Roman sein – vielleicht leben diese Menschen länger als wir und können längere Bücher lesen –, in dem bestimmte Ereignisse an Erlebnisse der Kindheit anknüpfen, oder wie man es eben auf der Wega nennt, wenn man jung ist. Oder vielleicht ist es ein religiöses Handbuch mit vielen Querverweisen.« »Und zehn Milliarden Geboten«, sagte Der Heer lachend. »Vielleicht«, sagte Lunatscharski, der durch eine Wolke von Zigarettenrauch zum Fenster hinaus auf die Teleskope starrte, die sehnsüchtig zum Himmel gerichtet waren. »Aber wenn Sie sich die Muster der Querverweise genauer ansehen, dann werden Sie wahrscheinlich auch zu dem Schluß kommen, daß es sich eher um die Anleitung zum Bau einer Maschine handelt. Gott allein weiß, was für einen Zweck die Maschine haben könnte.«
9 Das Numinose Bewunderung ist die Basis der Anbetung Thomas Carlyle Sartor Resartus (1833-34)
Das kosmische Erlebnis der Religion ist das stärkste und edelste Motiv naturwissenschaftlicher Forschung. Albert Einstein Ideas and Opinions (1954)
Sie konnte sich später noch genau daran erinnern, auf welcher ihrer vielen Reisen nach Washington sie gemerkt hatte, daß sie sich in Ken Der Heer verliebt hatte. Die Vorbereitungen für das Treffen mit Palmer Joss schienen sich endlos hinzuziehen. Joss weigerte sich, die Argus-Station zu besuchen. Die Gottlosigkeit der Wissenschaftler und nicht ihre Entschlüsselung der BOTSCHAFT interessiere ihn, sagte er jetzt. Und um den Charakter der Wissenschaftler auf die Probe zu stellen, müsse ein neutraler Boden gefunden werden. Ellie war bereit, überall hinzukommen. Ein Sonderbeauftragter der Präsidentin führte die Verhandlungen. Andere Radioastronomen kamen nicht in Frage, da die Präsidentin
wünschte, daß Palmer sich mit Ellie traf. Zugleich fieberte Ellie dem Tag entgegen, an dem sie zu der ersten Konferenz des Weltkonsortiums nach Paris fliegen würde. Bis dahin würden allerdings noch einige Wochen vergehen. Zusammen mit Waygay war sie für die Koordination des weltweiten Datenerfassungsprogramms zuständig. Die Signalerfassung war fast schon zur Routine geworden. Und während der letzten Monate hatte es keine einzige Lücke gegeben. So stellte Ellie zu ihrer eigenen Überraschung fest, daß sie plötzlich auch ein bißchen Zeit für sich selbst hatte. Sie nahm sich fest vor, ausführlich mit ihrer Mutter zu telephonieren und dabei nett und freundlich zu sein und sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Auf ihrem Schreibtisch hatten sich Berge von Briefen und Telegrammen angesammelt, die sie jetzt durchgehen wollte. Darunter waren nicht nur Glückwünsche und Kritik von Kollegen, sondern auch Ermahnungen religiöser Sekten, im Brustton der Überzeugung vorgetragene pseudowissenschaftliche Spekulationen und Post ihrer Fans aus der ganzen Welt. Monatelang hatte sie das Astrophysical Journal nicht mehr gelesen, obwohl sie für eine der letzten Nummern selbst einen Artikel geschrieben hatte, der sicher das Außergewöhnlichste war, was diese Zeitschrift je veröffentlicht hatte. Das Signal von der Wega war so stark, daß viele Amateure, die vom Amateurfunken die Nase voll hatten, angefangen hatten, sich ihre eigenen kleinen Radioteleskope und Empfangsgeräte zu bauen. Als man mit der Erfassung der Botschaft noch ganz am Anfang gewesen war, hatten sie einige nützliche Daten geliefert, und auch jetzt noch wurde Ellie von Amateuren belagert, die meinten, daß sie etwas herausbekommen hätten, was die Profis von SETI noch nicht wußten. Ellie fühlte sich verpflichtet, ermutigende Antwortbriefe zu schreiben. Und zu guter Letzt gab es auf der Station selber auch noch andere wichtige radioastronomische
Programme wie die Quasaruntersuchungen, die betreut werden mußten. Aber statt all diese Dinge zu erledigen, verbrachte sie fast ihre ganze Zeit mit Ken. Natürlich gehörte es zu ihren Aufgaben, den Wissenschaftsberater der Präsidentin so weit in das Projekt Argus einzuführen, wie er es wünschte. Es war sehr wichtig, daß die Präsidentin umfassend und fachkundig informiert wurde. Ellie hoffte, daß die Regierungschefs der anderen Länder genauso sorgfältig über den neuesten Stand unterrichtet wurden wie die Präsidentin der Vereinigten Staaten. Die Präsidentin, die keine naturwissenschaftliche Ausbildung hatte, war dennoch von den Naturwissenschaften fasziniert und bereit, sie nicht nur wegen ihres praktischen Nutzens, sondern auch ein wenig aus Freude am Wissen zu unterstützen. Das waren seit James Madison und John Quincy Adams nur ganz wenige der früheren amerikanischen Präsidenten gewesen. Trotzdem war es erstaunlich, wieviel Zeit Der Heer an der Station verbringen konnte. Eine Stunde oder länger widmete er täglich dem chiffrierten Informationsaustausch mit seinem Büro für Wissenschaft und Technologie im Old Executive Office Building in Washington. Den Rest der Zeit war er, soweit Ellie feststellen konnte, einfach da. Er arbeitete sich in die Geheimnisse des Computersystems ein oder besuchte einzelne Radioteleskope. Manchmal begleitete ihn ein Mitarbeiter aus Washington, meistens war er jedoch allein. Durch die offene Tür des Büros, das man ihm zugewiesen hatte, konnte sie sehen, wie er mit den Füßen auf dem Tisch einen Bericht las oder telephonierte. Er winkte ihr fröhlich zu und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Sie traf ihn im zwanglosen Gespräch mit Drumlin oder Valerian, mit jüngeren Technikern oder Sekretärinnen, die ihn öfters in Ellies Gegenwart als charmant bezeichneten. Auch an Ellie hatte Der Heer viele Fragen. Anfangs waren sie rein technischer Natur,
aber bald wurden daraus Spekulationen über alle möglichen zukünftigen Ereignisse, die sich immer ungehemmter entfalteten. Es sah fast so aus, als ob die Diskussionen über das Projekt nur ein Vorwand waren, um ein bißchen Zeit miteinander zu verbringen. Eines schönen Herbstnachmittags in Washington mußte die Präsidentin das geplante Treffen der Sonderkommission von Wissenschaftlern und Politikern wegen einer akuten Krise in Nordirland verschieben. So hatten Ellie und Der Heer, die mit dem Nachtflug von New Mexico gekommen waren, unvermutet ein paar freie Stunden. Sie beschlossen, das Vietnam Memorial zu besuchen, das Maya Ying Lin entworfen hatte, als sie noch an der Yale-Universität Architektur studiert hatte. In der bedrückenden Atmosphäre dieser an den leichtfertig vom Zaun gebrochenen Krieg erinnernden Gedenkstätte wirkte Der Heers Fröhlichkeit fehl am Platz, und wieder begann sich Ellie Gedanken über solche offensichtlichen Mängel seines Charakters zu machen. Zwei Beamte in Zivil vom Allgemeinen Sicherheitsdienst mit spezialgefertigten fleischfarbenen Hörmuscheln folgten ihnen unauffällig. Der Heer hatte soeben eine wunderschöne blaue Raupe dazu gebracht, auf einen Ast zu klettern. Sie kroch zügig voran, wobei die Bewegungen der vierzehn Beinpaare wie Wellen durch ihren schillernden Körper liefen. Am Ende des Asts hielt sie sich mit ihren fünf hinteren Segmenten fest und streckte das Vorderteil wagemutig nach allen Seiten aus, um einen neuen Stengel zu finden. Doch ohne Erfolg. Sie drehte sich geschickt um und kroch wieder zurück. Der Heer faßte den Ast jetzt am anderen Ende, so daß die Raupe, als sie an ihren Ausgangspunkt zurückkam, wieder ins Leere stieß. Wie ein Raubtier im Käfig bewegte sie sich viele Male hin und her, zuletzt, wie es Ellie schien, mit wachsender Resignation. Ellie bekam Mitleid mit dem armen Tier, auch wenn später kein
schöner Schmetterling daraus werden sollte. »Was für ein wundervolles Programm das kleine Ding im Kopf hat«, rief Der Heer aus. »Und es funktioniert immer – ein optimal programmiertes Fluchtprogramm. Und sie weiß genau, was sie tun muß, um nicht herunterzufallen. Immerhin hängt der Ast ja frei in der Luft. Das hat die Raupe in ihrer natürlichen Umgebung nie kennengelernt. Dort ist ein Ast immer mit irgend etwas verbunden. Ellie, hast du dir schon mal überlegt, was du mit diesem Programm in deinem Kopf tun würdest? Ich meine, würdest du wissen, was du tun mußt, wenn du am Ende des Asts ankommst? Oder würdest du denken, daß du bewußt einen Gedankenschritt nach dem anderen vollziehen mußt? Würdest du dich darüber wundem, wie du es fertigbringst, die vorderen zehn Füße in die Luft zu strecken und dich gleichzeitig mit den anderen achtzehn am Ast festzuhalten?« Ellie legte ihren Kopf leicht auf die Seite und sah Der Heer an. Anscheinend hatte er Schwierigkeiten, sie sich als Insekt vorzustellen. Sie versuchte, ihm in neutralem Ton zu antworten. Sie wußte ja, daß er solche Fragen aus rein beruflichem Interesse stellte. »Was willst du jetzt mit ihr machen?« »Ich setze sie wieder ins Gras. Oder was würdest du machen?« »Manche Leute würden sie töten.« »Es fällt schwer, ein Lebewesen zu töten, wenn es dir einmal sein Bewußtsein gezeigt hat«, sagte er. Er hielt den Ast mit der Raupe immer noch in der Hand. Schweigend gingen sie weiter, vorbei an 55000 Namen, die in den spiegelnden schwarzen Granit eingraviert waren. »Jede Regierung, die sich auf einen Krieg vorbereitet, malt ihre Feinde in den schrecklichsten Farben als Monster«, sagte sie. »Man will sich die Gegenseite nicht menschlich vorstellen. Wenn der Feind denken und fühlen könnte, dann würde man
vielleicht zögern, ihn zu töten. Und das Töten ist wichtig. Deshalb ist es besser, in den Feinden Monster zu sehen.« »Sieh, wie schön die Raupe ist«, antwortete Der Heer nach einem kurzen Augenblick. »Schau sie dir genau an.« Ellie tat es. Sie bezwang ihren Widerwillen und versuchte, die Raupe mit seinen Augen zu sehen. »Sieh mal, was sie tut«, fuhr er fort. »Wenn sie genauso groß wäre wie du oder ich, würde sie jeden zu Tode erschrecken. Die Raupe wäre dann ein richtiges Monster, nicht? Aber sie ist klein. Sie frißt Blätter, kümmert sich nur um ihre Sachen und verschönert die Welt ein bißchen.« Ellie ergriff seine freie Hand, und wortlos gingen sie an den Namenskolonnen vorbei, die chronologisch nach dem Todesdatum aufeinander folgten. Natürlich waren hier nur die amerikanischen Gefallenen aufgeführt. Außer in den Herzen der Angehörigen und Freunde gab es nirgendwo auf der ganzen Welt ein entsprechendes Denkmal für die zwei Millionen Menschen aus Südostasien, die ebenfalls in diesem Krieg umgekommen waren. In Amerika war die allgemeine Erklärung für das Scheitern dieses Krieges die, daß die Politiker den erfolgreichen Militärs in den Rücken gefallen wären, eine Erklärung, die stark an die Dolchstoßlegende erinnerte, die unter den deutschen Militärs nach ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg aufgekommen war. Der Vietnamkrieg war eine Eiterbeule im Bewußtsein der Nation, die anzustechen bisher kein Präsident gewagt hatte. (Die spätere Politik der Demokratischen Republik von Vietnam hatte diese Aufgabe keineswegs leichter gemacht.) Ellie dachte daran, wie normal es für die amerikanischen Soldaten gewesen war, ihre vietnamesischen Gegner als »Dreckschweine«, »Flachköpfe«, »Schlitzaugen« zu beschimpfen oder mit noch übleren Namen zu belegen. Mußte man nicht, ehe wir die nächste Etappe der Menschheitsgeschichte bewältigen
konnten, zuerst das Bedürfnis ausrotten, den Feind zu entmenschlichen? Im Alltag sprach Der Heer nicht wie ein Akademiker. Hätte man ihn an dem Kiosk getroffen, wo er sich seine Zeitung kaufte, wäre man nie darauf gekommen, daß er Wissenschaftler war. Er hatte seinen New Yorker Straßenakzent nie ganz abgelegt. Am Anfang hatte dieses offenkundige Mißverhältnis zwischen seiner Sprache und der Qualität seiner wissenschaftlichen Arbeit seine Kollegen belustigt. Aber wenn man seine Arbeiten und ihn selbst besser kennenlernte, dann war der Akzent nur noch ein kleiner, unbedeutender Spleen. Aber wenn Der Heer das Wort Guanosintriphosphat aussprach, dann bekam dieses harmlose Molekül plötzlich explosive Sprengkraft. Beide merkten es erst spät, daß sie sich ineinander verliebt hatten. Den anderen mußte es schon längst aufgefallen sein. Vor einigen Wochen hatte Lunatscharski, damals noch im Argus-Observatorium, wieder eine seiner gelegentlichen Tiraden über die Irrationalität der Sprache losgelassen. Diesmal war das amerikanische Englisch an der Reihe gewesen. »Ellie, warum sagt man: ›wieder denselben Fehler machen‹? Welche zusätzliche Information kommt durch ›wieder‹ dazu? Und stimmt es, daß ›abbrennen‹ und ›niederbrennen‹ dasselbe bedeuten? Wenn man ›abschrauben‹ sagen kann, warum kann man dann nicht genauso ›niederschrauben‹ sagen?« Ellie nickte müde. Schon mehr als einmal hatte sie gehört, wie er sich bei seinen sowjetischen Kollegen über die Ungereimtheiten der russischen Sprache beklagt hatte, und sie war überzeugt, daß sie auf der Konferenz in Paris die französische Version davon zu hören bekommen würde. Sie gab bereitwillig zu, daß Sprachen unglückliche
Ausdrucksweisen besäßen, die aber aus so vielen verschiedenen Quellen herrührten und sich aufgrund so vieler Sachzwänge entwickelt hätten, daß es geradezu erstaunlich wäre, wenn sie alle völlig logisch und ohne innere Widersprüche wären. Waygay hatte so viel Spaß mit seinen Klageliedern, daß sie es nicht übers Herz brachte, dagegen zu protestieren. »Aber nehmen Sie den Ausdruck ›Hals über Kopf verliebt‹«, redete er weiter. »Da stimmt es wenigstens einmal, habe ich recht? Normalerweise hat man den Kopf auf dem Hals. Aber wenn man verliebt ist, ist alles genau umgekehrt. Sie wissen doch, wie es mit dem Verlieben ist. Da sitzt der Kopf nicht mehr an seiner gewohnten Stelle, sondern man schwebt mit dem Kopf nach unten durch die Luft, wie auf den Bildern dieses französischen Malers – wie war doch sein Name?« »Er war Russe«, erwiderte Ellie. Marc Chagall hatte dem Gespräch eine Wende gegeben und war so zu ihrer Rettung geworden. Hinterher fragte sie sich, ob Waygay sie aufziehen oder einfach zu einer Antwort hatte provozieren wollen. Vielleicht hatte er nur intuitiv das wachsende Band zwischen Ellie und Der Heer erfaßt. Der Heers Zögern war zumindest teilweise verständlich. Er, der Wissenschaftsberater der Präsidentin, hatte hier in Argus eine noch nie dagewesene, äußerst heikle und unberechenbare Aufgabe zu bewältigen. Sich dabei emotional mit einer der Hauptpersonen einzulassen, war riskant. Die Präsidentin wünschte mit Sicherheit, daß sein Urteil frei von allen persönlichen Beeinflussungen blieb. Er mußte in der Lage sein, unabhängig von der Meinung Ellies zu entscheiden, welche Maßnahmen getroffen werden sollten. Sich in Ellie zu verlieben würde Der Heers Eignung für diese Aufgabe auf jeden Fall in Frage stellen.
Für Ellie war es noch schwieriger. Bevor sie die allerseits geachtete Direktorin eines großen Radioobservatoriums geworden war, hatte sie viele Beziehungen gehabt. Und wenn sie auch verliebt gewesen war und das ganz offen zugab, hatte sie der Gedanke an eine Heirat doch nie verlockt. Dunkel erinnerte sie sich an einen Vierzeiler – war er von William Butler Yeats? –, mit dem sie ihre ersten Liebhaber zu trösten versucht hatte, deren Herzen gebrochen waren, weil sie wieder einmal beschlossen hatte, daß es vorbei war: Du sagst, daß Liebe ewig sei, Sind’s Tage nur, so sei’s nicht viel – O Narrheit, gibt es Tage doch, Die mehr sind als nur ewiges Spiel. Ihr fiel ein, wie reizend John Staughton zu ihr gewesen war, als er ihrer Mutter den Hof machte, und wie schnell er sich verändert hatte, nachdem er ihr Stiefvater geworden war. Offenbar konnten sich Männer nach der Hochzeit verändern und zu Monstern werden. Ihre romantische Veranlagung machte sie verwundbar. Sie wollte nicht den gleichen Fehler machen wie ihre Mutter. Und noch tiefer saß die Angst, sich rückhaltlos zu verlieben, sich ganz jemandem anzuvertrauen, der ihr dann entrissen wurde. Oder sie einfach verließ. Wenn man sich nie richtig verliebte, entbehrte man die Liebe auch nicht. (Darüber dachte sie allerdings nie genauer nach, weil sie dunkel ahnte, daß ihre Schlußfolgerung nicht ganz stimmte.) Aber wenn sie sich nie richtig verliebte, konnte sie auch niemanden verraten. Tief in ihrem Herzen glaubte sie nämlich, daß ihre Mutter ihren schon lange verstorbenen Vater verraten hatte. Ellie vermißte ihn noch immer schmerzlich. Mit Ken schien alles ganz anders zu sein. Oder waren nur ihre Erwartungen in den letzten Jahren allmählich niedriger
geworden? Anders als andere Männer, die sie kannte, war Ken, wenn er gereizt oder gestreßt war, besonders liebenswürdig und einfühlsam. Seine Kompromißbereitschaft und Gewandtheit in wissenschaftspolitischen Fragen gehörten zu seiner Arbeit, aber darunter spürte Ellie eine andere Art von Zuverlässigkeit. Sie schätzte ihn wegen seiner Art, die Wissenschaft in sein Leben einzubeziehen, und wegen seines mutigen Eintretens für die Naturwissenschaften den Behörden und Ministerien zweier Präsidenten gegenüber. Sie wohnten jetzt, ohne viel Aufhebens davon zu machen, zusammen in Ellies kleiner Wohnung auf der Argus-Station. Wenn sie sich unterhielten, flogen ihre Gedanken wie Federbälle hin und her, und oft beendete der eine den Gedanken des anderen, noch ehe er ganz ausgesprochen war. Und Der Heer war ein zärtlicher und erfinderischer Liebhaber. Ganz besonders mochte Ellie den warmen Geruch seiner Haut. Manchmal war sie ganz verblüfft, was sie in seiner Gegenwart alles sagen und tun konnte. Sie bewunderte ihn so sehr, daß seine Liebe zu ihr ihr eigenes Selbstwertgefühl steigerte: Sie mochte sich selbst besser leiden wegen ihm. Und da es ihm genauso ging, wurden ihre Liebe und Achtung füreinander täglich stärker. Mit so vielen ihrer Freunde hatte sie sich insgeheim einsam gefühlt. Doch sobald sie mit Ken zusammen war, war dieses Gefühl wie weggeblasen. Sie konnte ihm von ihren Träumen erzählen, von bruchstückhaften Erinnerungen und Kindheitsängsten. Er hörte nicht nur interessiert zu, sondern war fasziniert. Stundenlang fragte er sie nach ihrer Kindheit aus. Seine Fragen waren immer direkt, manchmal provozierend, aber nie verletzend. Sie begann zu verstehen, warum Verliebte oft wie Kinder miteinander redeten. Es gab keinen anderen gesellschaftlich akzeptierten Zustand, in dem das Kind in ihr zum Vorschein kommen durfte. Wenn die einjährige, die fünfjährige, die zwölfjährige
und die zwanzigjährige Ellie sich alle in dem Geliebten wiederfinden konnten, dann war es vielleicht möglich, vollkommen glücklich zu sein. Die Liebe machte Ellies langer Einsamkeit ein Ende. Vielleicht konnte man die Tiefe einer Liebe daran messen, wie viele der verschiedenen Selbsts in der Beziehung aufgehoben waren. Bei ihren früheren Partnern hatte meist nur eines dieser Selbsts eine Entsprechung in dem Partner gefunden, die anderen waren verdrängt worden. Am Wochenende vor dem geplanten Treffen mit Joss lagen sie zusammen im Bett. Die späte Nachmittagssonne, die durch die Jalousien drang, zeichnete Muster auf ihre ineinander verschlungenen Körper. »In einer normalen Unterhaltung«, sagte Ellie, »kann ich über meinen Vater sprechen, ohne mehr zu spüren als… einen leichten Stich. Aber wenn ich mich ganz der Erinnerung an ihn hingebe, wenn ich mich an seinen Humor erinnere oder an seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, dann bricht die Fassade zusammen, und ich fange an zu heulen, weil er nicht mehr da ist.« »Es kann befreiend sein, über seine Gefühle zu sprechen«, antwortete Der Heer und strich leicht mit der Hand über ihre Schulter. »Vielleicht ist dazu die Sprache da – daß wir die Welt verstehen können, ohne völlig von ihr überwältigt zu werden.« »Wenn das so ist, dann ist die Erfindung der Sprache nicht nur ein Segen. Du weißt, Ken, daß ich alles – wirklich alles, was ich habe – darum gäbe, wenn ich meinen Vater nur für ein paar Minuten noch einmal wiederhaben könnte.« Sie stellte sich vor, wie all die lieben Papas und Mamas über den Himmel schwebten und auf einer vorüberziehenden Wolke Platz nahmen. Sicher gab es genug Platz für all die Abermilliarden von Menschen, die schon gestorben waren, seit es Menschen gab; vielleicht war es dort oben aber auch schon überfüllt.
Doch wenn der Himmel Gottes so groß war wie der Himmel der Astronomen, dann gab es mehr als genug Platz. »Man müßte doch sagen können«, sagte Ellie laut, »wie viele intelligente Wesen insgesamt in unserer Milchstraße leben. Wie viele, glaubst du, sind es? Wenn es eine Million Zivilisationen gibt, jede mit einer Milliarde Individuen, so ergibt das, hm, zehn hoch fünfzehn intelligente Wesen. Aber die meisten sind fortgeschrittener als wir, vielleicht ist ja die Vorstellung von Individuen gar nicht angemessen, das gibt es vielleicht nur auf der Erde.« »Sicher. Und dann kann man noch die galaktische Produktion an Gauloises, Chips, Volkswagen und Sony-Plattenspielern berechnen. Und dann rechnen wir das Bruttosozialprodukt unserer Galaxis aus. Und wenn wir das haben, können wir das Bruttosozialprodukt des Kosmos…« »Du machst dich nur lustig über mich«, sagte Ellie lachend und sah ihn zärtlich an. »Aber stell dir diese Zahlen mal vor. Ganz im Ernst, meine ich. All diese Planeten mit Wesen, die uns weit voraus sind. Schwindelt dir nicht allein beim Gedanken daran?« Sie wußte, was er dachte, aber sie sprach schnell weiter: »Hier, schau mal her. Das habe ich für das Treffen mit Joss gelesen.« Sie nahm einen Band ihrer alten Encyclopaedia Britannica vom Nachttisch und schlug die Seite auf, in die ein kleiner Fetzen Computerpapier als Lesezeichen eingelegt war. Sie zeigte auf einen Artikel, der über das Heilige ging. »Hier steht, daß es für Theologen eine besondere, nicht rationale – aber auch nicht irrationale – Art heiliger Scheu gibt, die sie ›numinos‹ nennen. Das Wort taucht zum ersten Mal auf bei… bei einem Rudolf Otto in einem Buch aus dem Jahr 1917 mit dem Titel Das Heilige. Otto glaubte, daß die Menschen empfänglich für das Numinose und seine Verehrung sind. Er
nannte es das mysterium tremendum. Selbst mein Latein reicht dafür noch aus. In Gegenwart des mysterium tremendum fühle sich der Mensch völlig unbedeutend. Aber wenn ich es richtig verstehe, ist damit nicht gemeint, daß der Mensch sich dabei entfremdet ist. Otto glaubt, daß das Numinose etwas ›vollkommen anderes ist und daß die menschliche Reaktion darauf grenzenloses Staunen‹ sei. Wenn religiöse Menschen so etwas meinen, wenn sie Worte wie heilige Scheu gebrauchen, dann gehöre ich zu ihnen. So ging es mir, als ich nach Signalen horchte. Dabei war es mir gar nicht so wichtig, ob tatsächlich eines kam. Ich glaube, daß jede Wissenschaft dieses Gefühl von Ehrfurcht auslöst. Ich lese dir eine Stelle vor.« Ellie stützte sich auf und begann zu lesen: In den letzten hundert Jahren haben Philosophen und Soziologen der verschiedensten Schulen vom Verschwinden des Heiligen geredet und den Tod der Religion vorhergesagt. Eine Untersuchung der Geschichte der Religionen zeigt, daß sich religiöse Formen ändern und es zu keiner Zeit Einstimmigkeit darüber gab, was Religion ist und wie sie sich äußert. Ob man… Ellie brach ab. »Oder ›ob frau‹. Auch bei religiösen Artikeln scheinen noch immer ausschließlich Männer am Werk zu sein.« Sie fuhr fort: Ob man heute von einer neuen Situation sprechen muß, die die Entwicklung eines Wertesystems erfordert, das sich radikal von dem bisherigen, aus dem Bewußtsein heiliger Scheu geborenen unterscheidet, ist eine Frage von lebenswichtiger Bedeutung. »Und weiter?« »Ich glaube, daß die institutionalisierten Religionen dem Menschen eine bestimmte Wahrnehmungsart des Numinosen vorschreiben wollen, statt ihm direkten Zugang zur Erfahrung
des Numinosen zu verschaffen – wie etwa durch ein 15Zentimeter-Teleskop. Wenn die Erfahrung des Numinosen im Mittelpunkt einer Religion steht, wer ist dann deiner Meinung nach religiöser – die Menschen, die den institutionalisierten Religionen folgen, oder die Menschen, die sich selbst die Naturwissenschaften beibringen?« »Laß mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe«, entgegnete er. Diesen Satz hatte er von ihr übernommen. »Heute ist ein fauler Samstagnachmittag, und da liegen zwei nackt im Bett und lesen sich gegenseitig aus der Encyclopaedia Britannica vor. Dann streiten sie darüber, ob der Andromedanebel ›numinoser‹ als die Auferstehung ist. Wissen die denn überhaupt, wie man sich sonst noch zusammen vergnügen kann?«
Teil II Die Maschine
Der allmächtige Lehrer, durch Entfaltung der Prinzipien der Wissenschaft im Gebäude der Welt, hat den Menschen zum Studieren und zum Nachahmen eingeladen. Es ist, als habe er zu den Bewohnern dieser Erdkugel, die wir die unsrige nennen, gesagt: »Ich habe eine Erde gemacht für den Menschen zu seinem Wohnort, und ich habe den Sternenhimmel sichtbar gemacht, um ihn Wissenschaft und Künste zu lehren. Der Mensch kann jetzt für seine eigene Bequemlichkeit sorgen, und aus meiner Freigebigkeit an alle lernen, gegenseitig wohltuend unter sich zu sein.« Thomas Paine Zeitalter der Vernunft (1794)
10 Die Präzession der Äquinoktien
O Zeus, ist’s wahr, daß du die Welt regierst? Wie? oder ist es nur ein eitler Wahn, Daß droben ein Geschlecht von Göttern lebt? Ist’s nur der Zufall, der im Leben waltet? Euripides Hekabe
Es war alles ganz anders gekommen. Ellie hatte sich vorgestellt, daß Palmer Joss zur Argus-Station kommen würde und dann die Radioteleskope bei der Arbeit beobachten und die riesige Halle besichtigen könnte, in der die Magnetbänder und Disketten mit den Daten der vergangenen Monate aufbewahrt wurden. Er konnte einige wissenschaftliche Fragen stellen und die vielen Nullen und Einser auf einigen der Computerbögen gezeigt bekommen, auf denen die immer noch nicht verständliche BOTSCHAFT ausgedruckt wurde. Ellie hatte nicht damit gerechnet, daß sie stundenlang über Philosophie und Theologie diskutieren würden. Joss hatte sich geweigert, nach Argus zu kommen. Nicht die Magnetbänder interessierten ihn, sagte er, sondern der menschliche Charakter. Peter Valerian wäre der geeignete Gesprächspartner für ihn gewesen: bescheiden, klar im Ausdruck und von einem tiefen und gefestigten christlichen Glauben, der sein tägliches Leben bestimmte. Aber die Präsidentin war dagegen gewesen. Sie
wünschte ein Treffen im engen Kreis und hatte ausdrücklich darum gebeten, daß Ellie dabei war. Joss hatte darauf bestanden, daß das Gespräch hier in Modesto, Kalifornien, im Wissenschaftlichen Institut und Museum für Bibelforschung stattfand. Ellie sah Der Heer kurz an und schaute dann durch die Glaswand, die die Bibliothek vom Museum trennte, hinaus. Draußen stand der Gipsabguß einer Dinosaurierfußspur. Das Original aus Sandstein war am Red River gefunden worden. Neben der Spur war deutlich der Abdruck eines Menschen zu erkennen, der Sandalen getragen haben mußte. Dadurch war, so die erklärende Bildunterschrift, bewiesen, daß Mensch und Dinosaurier Zeitgenossen gewesen waren, zumindest in Texas. Die Schuhmacher des Mesozoikums waren dabei anscheinend stillschweigend inbegriffen. Die Schlußfolgerung, die in der Bildunterschrift gezogen wurde, besagte, daß die Evolutionstheorie Betrug sei. Daß Paläontologen den Stein für Betrug hielten, wurde, wie Ellie schon vor zwei Stunden bemerkt hatte, mit keinem Wort erwähnt. Die beiden Fußabdrücke waren Teil einer riesigen Ausstellung mit dem Titel »Darwins Versäumnisse«. Auf der linken Seite des Saals veranschaulichte ein Foucault-Pendel eine wissenschaftliche Behauptung, die offenbar unangefochten blieb, nämlich, daß die Erde sich drehte. Rechts davon sah Ellie eine reich ausgestattete Anlage mit Holographien von Matsushita auf der Bühne eines kleinen Theaters, von wo aus die dreidimensionalen Bilder aller bedeutenden Heiligen direkt zu den Gläubigen sprechen konnten. Noch direkter sprach zu Ellie in diesem Augenblick Reverend Billy Jo Rankin. Sie hatte erst in allerletzter Minute erfahren, daß Joss auch Rankin eingeladen hatte, und war überrascht gewesen. Zwischen den beiden hatte es ständig theologische Streitgespräche gegeben, unter anderem darüber, ob die Wiederkunft Christi nahe bevorstünde, ob das Jüngste
Gericht notwendigerweise mit dem Kommen Christi einhergehe und welche Bedeutung Wundern an Geistlichen zukäme. Vor kurzem allerdings hatten sie sich unter großem öffentlichen Aufsehen versöhnt, angeblich zum Wohle der fundamentalistischen Kirche Amerikas. Die Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wirkte sich offensichtlich in der ganzen Welt günstig auf Meinungsverschiedenheiten aus. Daß das Treffen gerade hier stattfand, war vielleicht ein Teil des Preises, den Joss für die Versöhnung zahlen mußte. Denn für Rankin lag nahe, die Ausstellung als sachliche Untermauerung seiner Position zu betrachten, falls es in der Diskussion um wissenschaftlich strittige Fragen gehen sollte. Sie saßen jetzt schon zwei Stunden zusammen, und noch immer redete Rankin von den Sünden der Wissenschaft und der noch nicht versäumten Möglichkeit zur Umkehr. Sein Anzug saß einwandfrei, seine Fingernägel waren frisch manikürt, und sein strahlendes Lächeln stand in merkwürdigem Gegensatz zu Joss’ zerknitterten, ausgemergelten und von tiefer Leidenschaft gezeichneten Zügen. Joss, auf dessen Gesicht ein kaum wahrzunehmendes Lächeln lag, hielt die Augen halb geschlossen und hatte den Kopf nach vorn geneigt, so daß er fast die Haltung eines Predigers einnahm. Er brauchte nicht viel zu sagen. Rankins Äußerungen unterschieden sich soweitabgesehen von seiner glatteren Vortragsweise – in nichts von Joss’ Fernsehansprachen. »Ihr Wissenschaftler seid ja so zurückhaltend«, sagte Rankin. »Ihr liebt es, euer Licht unter den Scheffel zu stellen. Wenn man nur die Titel eurer Artikel liest, kommt man nie darauf, was sich dahinter verbirgt. Einsteins erstes Werk über die Relativitätstheorie hieß ›Zur Elektrodynamik bewegter Körper‹. Von E = mc 2 auf dem Titelblatt keine Spur. ›Zur Elektrodynamik bewegter Körper‹. Das war alles.
Angenommen, Gott erschiene einer Versammlung von Wissenschaftlern, zum Beispiel auf einer dieser großen amerikanischen Konferenzen, dann würden alle etwas darüber schreiben. Vielleicht unter dem Titel: ›Über dendritoforme Verbrennungen in der Atmosphäre‹. Man würde eine Menge Gleichungen dafür aufstellen und viel über die Aussagekraft der neuen Hypothese reden, aber von Gott würde mit keinem Wort die Rede sein.« Rankin holte tief Luft. »Ihr Wissenschaftler seid zu mißtrauisch«, fuhr er fort, und aus seiner Kopfbewegung zur Seite konnte Ellie schließen, daß er mit dieser Behauptung auch Der Heer meinte. »Ihr stellt alles in Frage, oder versucht es zumindest. Nie fällt es euch ein, daß es auch Dinge gibt, die man besser in Ruhe läßt. Immer wollt ihr genau überprüfen, ob etwas, wie man so schön sagt, ›wahr‹ ist. Ihr meint damit natürlich nur empirisch wahr, wahr im Sinn von Daten, Dingen, die man sehen und anfassen kann. Für Eingebungen oder Offenbarungen ist in eurer Welt kein Platz. Schon von Anfang an schließt ihr fast alles aus, was zur Religion gehört. Ich mißtraue den Wissenschaftlern, weil die Wissenschaftler allem mißtrauen.« Gegen ihren Willen mußte Ellie zugeben, daß Rankin seine Sache gut vorgetragen hatte. Dabei war er angeblich einer der einfältigsten der gegenwärtigen Fernsehprediger. Nein, nicht er war der Dumme, korrigierte sie sich, sondern er war derjenige, der seine Gemeindemitglieder für dumm hielt. Er selbst konnte, soweit sie es beurteilen konnte, wirklich sehr geschickt sein. Sollte sie jetzt offen auf seine Argumente eingehen? Sowohl Der Heer als auch das Personal vom Museum zeichneten die Diskussion auf. Und obwohl beide Seiten sich darauf geeinigt hatten, daß die Aufzeichnungen nicht für den öffentlichen Gebrauch waren, hatte Ellie Angst, das Projekt oder die Präsidentin zu kompromittieren, wenn sie offen ihre
Meinung sagte. Aber Rankins Äußerungen wurden zunehmend unerhörter, und weder Der Heer noch Joss griffen ein. »Sie wollen vermutlich eine Antwort auf Ihre Thesen«, hörte Ellie sich sagen. »Es gibt allerdings keine ›offizielle‹ Meinung seitens der Wissenschaft zu den Problemen, die Sie aufgeworfen haben. Ich kann deshalb nicht im Namen aller Wissenschaftler, ja noch nicht einmal für die des Projekts Argus sprechen. Aber ich kann für mich eine Antwort versuchen, wenn Sie wollen.« Rankin nickte heftig mit dem Kopf und lächelte sie ermutigend an. Joss ließ keine Reaktion erkennen. Er wartete ab. »Ich möchte vorausschicken, daß ich niemanden in seinem Glauben angreife. Von mir aus können Sie jede Lehrmeinung vertreten, die sie wollen, auch wenn sie nachweislich falsch ist. Und vieles, was Sie sagen und was Reverend Joss gesagt hat – ich habe vor ein paar Wochen Ihre Rede im Fernsehen gehört – kann man nicht einfach abtun. Ich werde also keine leichte Aufgabe haben. Trotzdem will ich versuchen zu erklären, warum ich glaube, daß Sie insgesamt nicht recht haben.« Bis jetzt, ging es Ellie durch den Kopf, bin ich die Zurückhaltung in Person gewesen. »Ihnen bereitet der naturwissenschaftliche Skeptizismus Unbehagen. Aber es gibt diesen Skeptizismus, weil unsere Welt komplex ist. Sogar äußerst komplex. Nicht jede Idee ist schon bei ihrem ersten Auftauchen notwendigerweise richtig. Menschen können sich täuschen. Auch Naturwissenschaftler. Alle möglichen Doktrinen mit schrecklichen Folgen für die Gesellschaft wurden zeitweise von Wissenschaftlern unterstützt, darunter bekannten Wissenschaftlern, berühmten, erstklassigen Wissenschaftlern. Und natürlich Politikern. Und angesehenen Führern religiöser Gruppen. Die Sklaverei zum Beispiel oder der Rassismus der Nationalsozialisten. Wissenschaftler machen Fehler, Theologen machen Fehler,
jeder macht Fehler. Das ist bei uns Menschen eben so. Auch bei Ihnen heißt es doch: ›Irren ist menschlich‹. Fehler vermeiden oder zumindest die Fehlerquote verringern kann man durch kritische Prüfung. Man überprüft seine Ideen nach strengen Wahrheitskriterien. Ich glaube nicht, daß es so etwas wie eine endgültige Wahrheit gibt. Aber wenn man die verschiedensten Meinungen zu Wort kommen läßt, wenn jeder Skeptiker seine Experimente durchführen kann, um eine Behauptung zu überprüfen, dann hat die Wahrheit eine Chance. Das ist die Erfahrung der ganzen Geschichte der Wissenschaft. Es ist kein perfekter Ansatz, aber der einzige, der zu funktionieren scheint. Wenn ich mir jetzt die Religion anschaue, dann sehe ich auch dort viele widerstreitende Meinungen. Zum Beispiel glauben die Christen, daß das Universum eine begrenzte Zahl von Jahren alt ist. Aus der Ausstellung in Ihrem Museum wird deutlich, daß einige Christen und Juden und Moslems glauben, daß das Universum nur sechstausend Jahre alt ist. Die Hindus glauben dagegen – und es gibt viele Hindus auf der Welt –, daß das Universum unendlich alt ist und im Laufe seiner Geschichte immer wieder neu entsteht und von neuem zerstört wird. Aber es können doch nicht beide recht haben. Entweder hat das Universum einen Anfang oder es ist ohne einen solchen. Ihre Freunde da draußen« – Ellie deutete auf die Glastür, hinter der einige Mitarbeiter des Museums an »Darwins Versäumnissen« vorbeischlenderten – »sollten mit den Hindus diskutieren. Gott scheint den Hindus etwas anderes erzählt zu haben als ihnen. Aber sie sprechen in der Regel ja nur mit ihresgleichen.« War sie jetzt zu weit gegangen? Sie gestattete sich keine Pause. »Die Weltreligionen widersprechen sich auf allen Ebenen. Sie können nicht alle Recht haben. Was wäre, wenn keine recht hat? Die Möglichkeit zumindest besteht doch. Ihnen muß an der Wahrheit gelegen sein. Nun, um die Spreu
vom Weizen zu trennen, muß man mißtrauisch sein. Ich stehe Ihrem religiösen Glauben nicht mißtrauischer gegenüber als jeder neuen wissenschaftlichen Idee, von der ich erfahre. Aber bei meiner Arbeitsmethode heißen sie Hypothesen und nicht Eingebung oder Offenbarung.« Joss machte eine Handbewegung, aber es war Rankin, der antwortete: »Im Alten und Neuen Testament gibt es unzählige Offenbarungen und Prophezeiungen von Gott. Das Kommen des Erlösers wird in Jesaja 53, in Sacharja 14 und in der Chronik I, 17 vorhergesagt. Daß er in Bethlehem geboren würde, wird in Micha 5 prophezeit. Daß er aus dem Geschlecht Davids kommen würde, steht bei Matthäus 1 und – « »Bei Lukas. Aber das sollte Sie eigentlich in Verlegenheit bringen. Wie erfüllt sich die Prophezeiung denn? Matthäus und Lukas schreiben Jesus zwei völlig verschiedene Abstammungen zu. Und noch schlimmer, sie ziehen eine Linie von David zu Joseph und nicht von David zu Maria. Oder glauben Sie nicht an Gott als den Vater?« Rankin sprach ruhig weiter. Vielleicht hatte er sie gar nicht richtig verstanden. »… Amt und Leiden Jesu werden in Jesaja 52 und 53 und im 22. Psalm prophezeit. Daß er für dreißig Silberstücke verraten würde, steht ausdrücklich in Sacharja 11. Und wenn Sie ehrlich sind, können Sie die Erfüllung dieser Prophezeiung nicht leugnen. Und die Bibel spricht auch von unserer heutigen Zeit. Israel und die Araber, Gog und sein Land Magog, Amerika und Rußland, der Atomkrieg – das steht alles in der Bibel. Mit ein wenig Verstand kann es jeder erkennen. Dazu braucht man kein Universitätsprofessor zu sein.« »Ihre Schwierigkeit«, entgegnete Ellie, »ist mangelnde Einbildungskraft. Die Prophezeiungen sind fast alle vage, zweideutig, ungenau und offen für Betrug. Sie lassen viele verschiedene Interpretationen zu. Selbst die direkten
Prophezeiungen von ganz oben interpretieren Sie nach Belieben – wie zum Beispiel das Versprechen Jesu, daß das Reich Gottes noch zu Lebzeiten einiger seiner Zuhörer kommen würde. Und jetzt erzählen Sie mir bloß nicht, daß das Reich Gottes in mir ist. Seine Zuhörer haben ihn ganz im wörtlichen Sinne verstanden. Sie zitieren nur die Prophezeiungen, die Ihnen erfüllt zu sein scheinen, und übergehen den Rest einfach. Und man darf auch nie vergessen, was für ein Bedürfnis nach Erfüllung der Prophezeiungen es gab. Aber stellen Sie sich einmal vor, Ihr Gott, der allmächtig, allwissend und barmherzig ist, wollte den zukünftigen Generationen einen Bericht hinterlassen, der seine Existenz den, nun, entfernteren Nachkommen Mose unmißverständlich machen sollte. Das ist einfach, beinahe trivial. Einige wenige rätselhafte Sätze und das strenge Gebot, sie unverändert weiterzugeben…« Joss beugte sich fast unmerklich nach vorne. »Wie zum Beispiel…?« »Zum Beispiel Sätze wie: ›Die Sonne ist ein Stern‹. Oder: ›Der Mars ist ein rostfarbener Ort mit Wüsten und Vulkanen wie der Sinai‹. Oder: ›Ein Körper in Bewegung neigt dazu, in Bewegung zu bleiben‹. Oder, einen Moment bitte« – Ellie kritzelte einige Zahlen auf einen kleinen Block – »›Die Erde wiegt eine Million mal eine Million mal eine Million mal eine Million soviel wie ein Kind‹. Oder – mir ist aufgefallen, daß Sie beide Schwierigkeiten mit der speziellen Relativität haben, aber sie wird wirklich täglich von Teilchenbeschleunigern und kosmischen Strahlen bestätigt – also wie wäre es mit einem Satz wie: ›Es gibt keine privilegierten Bezugssysteme‹. Oder: ›Du sollst dich nicht schneller bewegen als das Licht‹. Das alles kann man vor dreitausend Jahren unmöglich gewußt haben.« »Noch mehr?« fragte Joss.
»Es gibt noch unendlich viele – mindestens einen für jedes physikalische Prinzip. Lassen Sie mich überlegen… ›In dem kleinsten Kieselstein verbergen sich Wärme und Licht‹. Oder: ›Der Weg der Erde ist wie zwei, aber der Weg des Magneten ist wie drei‹. Damit meine ich, daß der Schwerkraft ein Gesetz zugrunde liegt, das dem reziproken Wert des Abstandsquadrates proportional ist, während die Kraftwirkung eines magnetischen Dipols einem Gesetz folgt, das dem reziproken Wert des Abstandes hoch drei proportional ist. Oder in der Biologie – « sie nickte Der Heer zu, der ein Schweigegelübde abgelegt zu haben schien – »wie wäre es mit ›Zwei verschlungene Stränge sind das Geheimnis des Lebens‹?« »Da ist ein interessanter Satz«, sagte Joss. »Sie meinen doch gewiß die DNS. Aber Sie kennen als Physikerin doch sicher das Symbol der Medizin? Die Ärzte unserer Armee tragen es am Revers. Es heißt Merkurstab und wird aus zwei ineinander verschlungenen Schlangen gebildet. Es ist eine perfekte Doppelhelix. Seit alters symbolisiert sie das Bewahren von Leben. Das ist doch genau die Art von Verbindung, die Sie vorschlagen, oder?« »Eigentlich dachte ich, es sei eine Spirale und nicht eine Helix. Nun gut. Da es so viele Symbole, Prophezeiungen, Mythen und Volksglauben gibt, könnten einige durch Zufall zu einem Satz der modernen Naturwissenschaft passen. Aber sicher bin ich mir da nicht. Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht ist der Merkurstab eine Botschaft Gottes. Natürlich ist es kein christliches Symbol oder eines der heutigen Weltreligionen. Ich nehme nicht an, daß Sie behaupten wollen, daß die Götter nur zu den alten Griechen gesprochen haben. Was ich eigentlich sagen wollte: Wenn Gott uns eine Botschaft senden wollte, so hätte er es, auch wenn die alten Schriften dabei der einzige für ihn denkbare Weg waren, besser machen
können. Und warum hätte er sich auf schriftliche Aufzeichnungen beschränken sollen? Warum kreist nicht ein riesiges Kruzifix um die Erde? Warum ist die Mondoberfläche nicht mit den Zehn Geboten übersät? Warum soll Gott sich in der Bibel so klar und eindeutig ausgedrückt haben und in der Welt so schwer zu erkennen sein?« Joss wollte zu einer Antwort ansetzen. Sein Gesicht hatte sich plötzlich erwartungsvoll belebt. Aber Ellie kam gerade richtig in Fahrt, und vielleicht fand er es unhöflich, ihr ins Wort zu fallen. »Warum hat uns Gott denn verlassen? Wenn man Ihnen glauben darf, redete er doch jeden zweiten Dienstag mit Kirchenvätern und Propheten. Er ist allmächtig, behaupten Sie, und allwissend. Dann kann es doch keine besondere Anstrengung für ihn sein, uns direkt und unzweideutig an seine Wünsche zu erinnern, wenigstens ein paar Mal in jeder Generation. Also wie kommt das? Warum kennen wir ihn nicht bis aufs I-Tüpfelchen?« »Aber wir kennen ihn!«, unterbrach Rankin und ließ sich von dem feierlichen Klang seiner Stimme mitreißen. »Er ist überall unter uns. Unsere Gebete werden erhört. In diesem Land sind Millionen von Menschen wiedergeboren worden und können Gottes herrliche Gnade bezeugen. Die Bibel spricht heute noch genauso klar zu uns wie zu Mose und Jesu Zeiten.« »Ach, hören Sie damit auf. Sie wissen genau, was ich meine. Wo sind die brennenden Büsche, die Feuersäulen, die mächtige Stimme, die vom Himmel auf uns niederdonnert: ›Ich bin, der ich bin‹? Warum sollte sich Gott auf so versteckte und vieldeutige Art und Weise offenbaren, wenn er seine Anwesenheit völlig eindeutig machen könnte?« »Aber Sie sagen doch selbst, daß Sie eine Stimme vom Himmel hören?« Joss sagte es, ohne die Stimme zu erheben, während Ellie einhielt, um Luft zu holen. Er blickte ihr direkt in die Augen.
Rankin nahm den Gedanken schnell auf. »Genau. Das wollte ich gerade sagen. Abraham und Moses hatten keine Radios oder Teleskope. Sie konnten den Allmächtigen nicht auf UKW hören. Vielleicht spricht Gott heutzutage auf andere, neue Art zu uns und eröffnet uns ein neues Verständnis. Oder vielleicht ist es nicht Gott – « »Sondern der Teufel. Das habe ich auch schon gehört. Es klingt geradezu verrückt. Vielleicht können wir das noch für einen Augenblick beiseite lassen. Vielleicht glauben Sie, daß die BOTSCHAFT die Stimme Gottes, Ihres Gottes ist. Aber wo in Ihrer Religion kommt es vor, daß ein Gebet erhört wird, indem das Gebet wiederholt und zurückgeschickt wird?« »Ich würde eine Wochenschau der Nazis nicht als Gebet bezeichnen«, warf Joss ein. »Sie sagen doch, daß man damit nur unsere Aufmerksamkeit erregen will.« »Aber warum glauben Sie denn, daß Gott ausgerechnet zu den Wissenschaftlern spricht? Warum denn nicht mit Priestern wie Ihnen?« »Gott spricht die ganze Zeit zu mir.« Deutlich hörbar hämmerte Rankin sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Und zu Reverend Joss. Gott hat mir gesagt, daß eine Offenbarung bevorsteht. Und wenn das Ende der Welt naht, werden die himmlischen Freuden über uns kommen. Die Sünder werden bestraft werden und die Auserwählten zum Himmel auffahren – « »Hat er Ihnen auch gesagt, daß er diese Ankündigung im Radiospektrum machen wird? Sind Ihre Gespräche mit Gott irgendwo aufgezeichnet, damit wir nachprüfen können, ob sie tatsächlich stattgefunden haben? Oder sind wir auf Ihre bloße Behauptung angewiesen? Warum kündigt sich Gott ausgerechnet den Radioastronomen an und nicht den Männern und Frauen des geistlichen Standes? Finden Sie es nicht auch merkwürdig, daß die erste Botschaft von Gott nach
zweitausend Jahren aus Primzahlen… und aus ein paar Bildern Adolf Hitlers bei den Olympischen Spielen 1936 bestehen soll? Ihr Gott hat einen eigenartigen Humor.« »Mein Gott hat das, was ihm richtig erscheint.« Sichtlich erschrocken über die Verschärfung der Diskussion schaltete sich Der Heer ein: »Vielleicht darf ich uns alle an den Zweck unseres Zusammentreffens erinnern.« Typisch Ken, dachte Ellie, immer darauf bedacht zu beschwichtigen. Manchmal zeigte er Mut, aber eigentlich nur dann, wenn er keine Verantwortung zu übernehmen hatte. Er war ein unerschrockener Redner… aber nur privat. In wissenschaftspolitischen Angelegenheiten, zumal wenn er die Präsidentin zu vertreten hatte, zeigte er immer Entgegenkommen, sogar die Bereitschaft, mit dem Teufel selbst einen Kompromiß zu schließen. Ellie mußte innerlich lachen. Die Sprache der Theologen schien jetzt schon auf sie abzufärben. Ellie brach ihre Gedanken ab und fiel Der Heer ins Wort: »Das ist etwas anderes. Wenn das Signal von Gott kommt, warum kommt es dann von einem einzigen Stern – aus der Nähe eines besonders hellen Sterns in nicht allzuweiter Entfernung? Warum kommt es nicht von überall aus dem All wie die kosmische Hintergrundstrahlung? Da das Signal nur von einem Stern kömmt, liegt die Vermutung nahe, daß es von einer anderen Zivilisation gesendet wird. Wenn es von überall her käme, würde es nach einem Signal Ihres Gottes aussehen.« »Gott kann das Signal aus dem Spundloch des Kleinen Bären kommen lassen, wenn er will.« Rankin wurde feuerrot im Gesicht. »Entschuldigen Sie, aber Sie haben mich wirklich aufgebracht. Gott ist allmächtig.« »Alles, was Sie nicht verstehen, schreiben Sie Gott zu. Gott ist für Sie das, womit Sie alle Geheimnisse der Welt, alle Herausforderungen an unsere Intelligenz beiseitefegen. Sie
stellen einfach Ihren Verstand ab und sagen, Gott hat es getan.« »Gnädige Frau, ich bin nicht hierhergekommen, um mich beleidigen zu…« ›»Hierhergekommen‹? Ich dachte, Sie wohnen hier.« »Gnädige Frau – « Rankin wollte etwas sagen, besann sich dann aber eines Besseren. Er holte tief Luft und fuhr fort: »Dies ist ein christliches Land, und Christen wissen die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden, sie tragen die heilige Verantwortung dafür, daß das geheiligte Wort Gottes verstanden…« »Ich bin Christin, aber Sie sprechen nicht für mich. Sie sind Gefangener Ihres eigenen religiösen Wahnes. Es kommt mir vor, als lebten Sie im fünften Jahrhundert. Aber wir haben die Renaissance hinter uns, und die Aufklärung hat stattgefunden. Ist Ihnen das entgangen?« Joss und Der Heer hielt es kaum noch in ihren Sesseln. »Bitte«, bat Ken und sah Ellie eindringlich an. »Wenn wir uns nicht an unser Programm halten, weiß ich nicht, wie wir den Wunsch der Präsidentin erfüllen können.« »Aber Sie wünschten doch einen ›offenen Meinungsaustausch‹«. »Es ist kurz vor zwölf«, bemerkte Joss. »Machen wir doch eine kleine Mittagspause.« Draußen vor dem Konferenzraum lehnte Ellie sich an das Geländer, das das Foucault-Pendel umgab, und flüsterte erregt auf Der Heer ein. »Ich könnte ihn zusammenschlagen, diesen selbstsicheren Alleswisser und Oberheiligen…« »Warum, Ellie? Sind denn Unwissen und irrige Ansichten nicht schmerzlich genug?«
»Ja, wenn er nur das Maul hielte. Aber er korrumpiert Millionen.« »Liebste, genauso denkt er über dich.«
Als Ellie und Der Heer vom Mittagessen zurückkamen, merkte Ellie sofort, daß Rankin eher gedämpft wirkte, während Joss, der als erster sprach, nicht nur höflich, sondern ausnehmend freundlich war. »Frau Dr. Arroway«, begann er, »ich kann verstehen, daß Sie darauf brennen, uns Ihre Entdeckungen vorzuführen, und daß Sie nicht hierher gekommen sind, um theologische Fragen zu erörtern. Aber ich bitte Sie um noch ein wenig Geduld mit uns. Sie haben eine scharfe Zunge. Ich kann mich nicht erinnern, wann sich Bruder Rankin das letzte Mal so über Fragen des Glaubens ereifert hat. Es muß schon Jahre her sein.« Er warf einen kurzen Blick auf seinen Kollegen, der äußerlich gleichgültig auf einem gelben, linierten Block herumkritzelte und den obersten Kragenknopf aufgemacht und seine Krawatte gelockert hatte. »Ein, zwei Dinge, die Sie heute morgen gesagt haben, beschäftigen mich. Sie bezeichnen sich selbst als Christin. Darf ich Sie fragen, in welchem Sinn Sie das meinen?« »Sie wissen, daß das keine Voraussetzung meiner Arbeit war, als ich den Direktorposten des Projekts Argus annahm.« Ellie klang gelassen. »Ich bin Christin in dem Sinn, daß ich Jesus Christus als eine historische Figur bewundere. Ich halte die Bergpredigt für eines der großartigsten Dokumente der Ethik und eine der besten Reden der Geschichte. Ich glaube, daß der Satz ›Liebet eure Feinde‹ vielleicht auf lange Sicht selbst das Problem des Atomkriegs lösen könnte. Ich wünschte, Jesus würde heute leben. Ein großer Mann, ein mutiger Mann, ein Mann mit Einsichten in Wahrheiten, die nicht populär waren.
Aber ich glaube nicht, daß er Gott oder der Sohn Gottes oder etwa der Großneffe Gottes war.« »Sie wollen nicht an Gott glauben«, entgegnete Joss einfach. »Sie meinen, Sie können gleichzeitig Christin sein und nicht an Gott glauben. Lassen Sie mich ganz direkt fragen: Glauben Sie an Gott?« »Die Frage ist nicht ganz eindeutig. Wenn ich mit Nein antworte, habe ich dann gesagt, ich bin davon überzeugt, daß es Gott nicht gibt, oder sage ich, daß ich nicht sicher weiß, ob es ihn gibt? Das sind zwei verschiedene Aussagen.« »Sind sie wirklich so verschieden, Frau Dr. Arroway? Sie glauben doch an Ockhams Rasiermesser, nicht? Wenn Sie zwei verschiedene, aber gleich gute Erklärungen für dasselbe Erlebnis haben, dann entscheiden Sie sich doch für die einfachere. Die ganze Geschichte der Wissenschaft spricht Ihrer Meinung nach für dieses Vorgehen. Wenn Sie nun ernsthafte Zweifel hegen, ob es Gott gibt – soviel Zweifel, daß Sie sich nicht diesem Glauben anvertrauen wollen –, dann müssen Sie sich auch eine Welt ohne Gott vorstellen können: Eine Welt, die ohne Gott entstanden ist, eine Welt, die in ihrem Alltag keinen Gott kennt, eine Welt, in der die Menschen ohne Gott sterben. Keine göttlichen Strafen. Keine Belohnungen. Die Heiligen, die Propheten und all die Gläubigen, die jemals gelebt haben – Sie müssen glauben, daß sie alle Narren gewesen sind. Sie haben sich selbst betrogen, würden Sie wahrscheinlich sagen. Es wäre eine Welt ohne Sinn und ohne Ziel, in der wir lebten. Alles bestünde nur aus den unberechenbaren Zusammenstößen von Atomen – das stimmt doch? Einschließlich der Atome, aus denen der Mensch besteht. Für mich wäre es eine hassenswerte und unmenschliche Welt. Ich wollte nicht in ihr leben. Aber wenn Sie sich so eine Welt vorstellen können, warum schwanken Sie dann noch? Warum
halten Sie sich irgendwo zwischen den beiden Welten auf? Wenn Sie sich eine Welt ohne Gott vorstellen können, wäre es dann nicht viel einfacher, sich offen einzugestehen, daß es keinen Gott gibt? Sie verhalten sich nicht wie Ockhams Messer. Ich glaube, daß Sie inkonsequent sind. Wie kann eine überzeugte Wissenschaftlerin die Frage offenlassen, ob es einen Gott gibt, wenn sie sich eine Welt ohne Gott vorstellen kann? Müßten Sie dann nicht Atheistin sein?« »Ich dachte, Sie wollten darauf hinaus, daß Gott die einfachere Hypothese ist«, sagte Ellie, »aber Ihr Argument ist viel interessanter. Wenn es nur eine Frage innerhalb der Naturwissenschaften wäre, würde ich Ihnen zustimmen, Reverend Joss. Die Naturwissenschaft beschäftigt sich in der Hauptsache mit dem Aufstellen und Verbessern von Hypothesen. Wenn die Naturgesetze alle Tatsachen ohne übernatürliche Eingriffe erklären könnten oder auch nur so gut wie die Hypothese eines Gottes funktionieren würden, dann würde ich mich von jetzt ab als Atheistin bezeichnen. Wenn dann ein einziges Beweisstück entdeckt würde, das nicht paßte, würde ich vom Atheismus ablassen. Und wir entdecken tatsächlich immer wieder Lücken und Unstimmigkeiten in den Naturgesetzen. Aber der Grund, warum ich mich selbst nicht als Atheistin bezeichne, ist, daß es hier nicht nur um ein wissenschaftliches Problem geht. Es ist vor allem ein religiöses und ein politisches Problem. Es liegt am Versuchscharakter einer wissenschaftlichen Hypothese, daß sie sich nicht auf diese Gebiete erstrecken kann. Sie sprechen von Gott nicht als von einer Hypothese. Sie glauben, daß Sie im Alleinbesitz der Wahrheit sind, deshalb weise ich mit aller Deutlichkeit darauf hin, daß Sie ein, zwei Dinge übersehen haben. Aber wenn Sie mich fragen, dann kann ich Ihnen gern sagen: Ich kann nicht sicher sagen, ob ich recht habe oder nicht.«
»Ich dachte immer, daß ein Agnostiker ein Atheist ist, der nicht den Mut hat, sich zu seiner Überzeugung zu bekennen.« »Sie können genausogut sagen, daß ein Agnostiker eine tief religiöse Person ist, die dennoch nicht ganz vergessen hat, daß wir Menschen irren können. Wenn ich sage, daß ich Agnostikerin bin, dann meine ich damit nur, daß Gott nicht bewiesen ist. Es gibt keinen zwingenden Beweis, daß Gott existiert – zumindest Ihre Art Gott –, und es gibt keinen zwingenden Beweis, daß es ihn nicht gibt. Da mehr als die Hälfte der Menschen auf der Erde keine Juden, Christen oder Moslems sind, müßte ich eigentlich sagen, daß es keine zwingenden Argumente für Ihre Art Gott gibt. Sonst müßte die ganze Welt sich zum Christentum bekehren. Ich kann nur immer wieder sagen, wenn Ihr Gott uns wirklich von seiner Existenz hätte überzeugen wollen, dann hätte er es viel besser machen können. Sehen Sie, etwas wie die BOTSCHAFT ist nachweisbar authentisch. Sie wird überall auf der Welt empfangen. Radioteleskope in Ländern mit der verschiedensten Vergangenheit und den verschiedensten Sprachen und Religionen verfolgen das Signal. Und alle bekommen dieselben Daten von demselben Ort am Himmel auf denselben Frequenzen mit derselben Polarisationsmodulation. Moslems, Hindus, Christen und Atheisten – alle empfangen sie dieselbe Botschaft. Jeder Skeptiker kann sich ein Radioteleskop hinstellen – es muß gar nicht besonders groß sein – und diese Daten empfangen.« »Sie sind also nicht der Meinung, daß Ihre Radiobotschaft von Gott kommt?« schaltete sich Rankin ein. »Nein, auf keinen Fall. Ich glaube nur, daß die Zivilisation auf der Wega, die über weit weniger Energien verfügt, als Sie Ihrem Gott zuschreiben, sich viel klarer ausdrückt als Ihr Gott. Wenn Ihr Gott tatsächlich auf dem eher unwahrscheinlichen Weg der
mündlichen Überlieferung und der alten Schriften über die Jahrtausende zu uns sprechen wollte, dann hätte er sich so ausdrücken können, daß seine Existenz ein für alle Mal erwiesen gewesen wäre.« Ellie machte eine Pause, aber weder Joss noch Rankin sagten ein Wort. Sie versuchte, das Gespräch nochmals auf die Daten zu lenken. »Warum halten wir uns mit Urteilen nicht noch eine Weile zurück, bis wir mit der Entschlüsselung der BOTSCHAFT weiter vorangekommen sind? Möchten Sie sich vielleicht einmal einige Daten ansehen?« Beide stimmten bereitwillig zu. Aber sie konnte ihnen nur endlose Reihen von Nullen und Einsen vorführen, die weder besonders erbaulich noch anregend waren. Ausführlich erklärte sie, daß man vermutete, die einzelnen Seiten seien numeriert, und daß man hoffe, noch einen Code zur Entschlüsselung der BOTSCHAFT zu erhalten. In stillschweigender Übereinkunft erwähnten weder Ellie noch Der Heer die sowjetische Vermutung, daß es sich womöglich um den Plan für eine Maschine handelte. Die Vermutung war zu unsicher und von den Sowjets bisher auch noch nicht in der Öffentlichkeit zur Sprache gebracht worden. Abschließend beschrieb sie noch die Wega selbst – ihre Masse, Oberflächentemperatur, Farbe, Entfernung von der Erde, ihr Alter und den Ring aus rotierendem Schutt, der sie umgab und der 1983 von einem Infrarotsatelliten entdeckt worden war. »Aber gibt es außer der Tatsache, daß sie der hellste Stern am Himmel ist, noch etwas Besonderes an der Wega?« wollte Joss wissen. »Oder etwas, das auf besondere Art mit der Erde verbunden wäre?« »Hinsichtlich ihrer Eigenschaften als Stern fällt mir im Moment nichts ein. Außer vielleicht, daß die Wega vor zirka zwölftausend Jahren der Polarstern war und es auch in zirka vierzehntausend Jahren wieder sein wird.«
»Ich dachte immer, daß der Polarstern der Nordstern ist«, sagte Rankin, der immer noch auf seinen Notizblock kritzelte. »Das ist er auch für ein paar tausend Jahre, aber nicht in alle Ewigkeit. Die Erde ist wie ein sich drehender Kreisel. Ihre Rotationsachse bewegt sich langsam in einer kreisförmigen Bahn.« Ellie nahm ihren Bleistift, um die Bewegung der Erdachse vorzuführen. »Man bezeichnet das als das Vorrücken der Tagundnachtgleichen oder Präzession der Äquinoktien.« »Entdeckt von Hipparch von Nizäa«, fügte Joss hinzu, »im zweiten Jahrhundert vor Christi Geburt.« Ellie war überrascht, daß er so etwas auswendig wußte. »Genau«, erwiderte sie und fuhr fort: »Jetzt deutet die Linie vom Zentrum der Erde zum Nordpol in ihrer Verlängerung auf einen Stern, den wir Polaris nennen und der zum Sternbild des Kleinen Wagen bzw. des Kleinen Bären gehört. Auf dieses Sternbild haben Sie doch vorhin vor dem Mittagessen angespielt, Mr. Rankin. In dem Maß, in dem die Erdachse sich langsam dreht, verschiebt sich auch die Richtung, in die sie zeigt, vom Polarstern weg. Im Verlauf von 26000 Jahren beschreibt die Achse einen geschlossenen Kreis, und die Richtung, in die der Nordpol zeigt, durchwandert mehrere Sternbilder. In der Gegenwart deutet der Nordpol fast exakt auf den Polaris, exakt genug, um nützlich für die Navigation zu sein. Vor 12000 Jahren deutete er auf die Wega. Aber eine physikalische Verbindung gibt es nicht. Die Verteilung der Sterne in unserer Milchstraße hat nichts mit der Rotation der Erdachse zu tun, die um einen Winkel von dreiundzwanzigeinhalb Grad geneigt ist.« »Hm. Vor zwölftausend Jahren war es 10000 vor Christi Geburt, also die Zeit, in der unsere Zivilisation im Entstehen begriffen war. Das ist doch richtig?« fragte Joss. »Wenn Sie nicht daran glauben, daß die Erde 4004 vor Christi Geburt erschaffen wurde.«
»Nein, daran glauben wir nicht, nicht wahr, Bruder Rankin? Nur glauben wir auch nicht, daß das Alter der Erde so genau zu bestimmen ist, wie ihr Wissenschaftler es tut. In der Frage des Erdalters sind wir vielleicht das, was Sie als Agnostiker bezeichnen würden.« Sein Lächeln war wirklich überaus sympathisch. »Wenn also vor zehntausend Jahren Seeleute das Mittelmeer oder den Persischen Golf mit ihren Schiffen berühren, dann war die Wega der Stern, nach dem sie sich richteten?« »Damals herrschte noch die letzte Eiszeit. Es war also wohl noch ein bißchen zu früh für die Seefahrt. Aber die Jäger, die die Landbrücke der heutigen Bering-Straße nach Nordamerika überquerten, lebten damals. Für sie muß es ein wunderbares Geschenk gewesen sein – wie durch göttliche Vorsehung bestimmt, wenn Sie wollen –, daß ein so heller Stern genau im Norden stand. Ich bin überzeugt, daß viele Menschen diesem glücklichen Zufall ihr Leben verdanken.« »Das ist ja ungeheuer interessant.« »Die ›göttliche Vorsehung‹ habe ich nur als Metapher gebraucht. Das dürfen Sie nicht falsch verstehen.« »Ganz bestimmt nicht, liebe Frau Dr. Arroway.« Es sah so aus, als wolle Joss jetzt das Gespräch beschließen. Er wirkte nicht unzufrieden. Aber Rankin hatte noch einige Punkte auf seiner Tagesordnung. »Es erstaunt mich, daß Sie hier nicht von göttlicher Vorsehung sprechen. Mein Glaube ist so stark, daß ich keine Beweise brauche. Aber jeder neue Beweis bestärkt mich in meinem Glauben.« »Dann glaube ich, daß Sie mir heute morgen nicht richtig zugehört haben. Ihre Vorstellung von einer Art Glaubenswettkampf, den Sie überlegen gewinnen, ärgert mich. Soweit ich weiß, haben Sie Ihren Glauben nie auf die Probe gestellt. Sind Sie bereit. Ihr Leben für Ihren Glauben aufs Spiel
zu setzen? Ich bin bereit, es für meinen zu tun. Schauen Sie mal aus dem Fenster. Dort hängt ein riesiges Foucault-Pendel. Das Gewicht des Pendels dürfte um die fünfhundert Pfund wiegen. Mein Glaube sagt mir, daß die Amplitude eines frei schwingenden Pendels – egal wie weit es aus seiner senkrechten Position ausschwingt – nie größer wird. Sie kann nur kleiner werden. Ich bin bereit hinauszugehen, das Pendel bis vor mein Gesicht zu ziehen, es loszulassen und auf mich zurückschwingen zu lassen. Wenn mein Glaube falsch war, dann bekomme ich einen Schlag mit der Wucht von fünfhundert Pfund ins Gesicht. Also. Wollen Sie meinen Glauben auf die Probe stellen?« »Das ist wirklich nicht nötig. Ich glaube Ihnen«, erwiderte Joss. Rankin dagegen schien interessiert. Vermutlich malte er sich aus, wie sie hinterher vielleicht aussehen würde. »Aber wären Sie bereit«, fuhr Ellie fort, »einen Schritt näher an das Pendel heranzutreten und zu Gott zu beten, er möge den Ausschlag um genau den Schritt verkürzen? Was, wenn sich herausstellt, daß Sie sich geirrt haben, daß das, was Sie lehren, gar nicht Gottes Wille ist? Vielleicht ist es ja das Werk des Teufels? Vielleicht ist es auch nur pure menschliche Erfindung. Wie können Sie wirklich sicher sein?« »Glaube, Eingebung, Offenbarung, Ehrfurcht«, antwortete Rankin. »Beurteilen Sie nicht jeden mit dem Maßstab Ihrer eigenen beschränkten Erfahrung. Daß Sie den Herrn verleugnen, verhindert noch lange nicht, daß andere Menschen seine Herrlichkeit erkennen.« »Sehen Sie, wir alle sehnen uns nach Wundern. Das ist eine tief menschliche Eigenschaft. Wissenschaft und Religion hängen beide eng damit zusammen. Was ich sagen will, ist, daß man keine eigenen Wundergeschichten zu erfinden braucht. Man braucht nicht zu übertreiben. Es gibt genügend
Wunder und Geheimnisse in der Welt um uns. Die Natur ist viel besser im Erfinden von Geschichten als wir.« »Vielleicht sind wir alle Wanderer auf der Straße zur Wahrheit«, erwiderte Joss. Nach diesem versöhnlichen Satz unterbrach Der Heer geschickt und sprach einige Schlußworte. Förmlich verabschiedete man sich. Ellie fragte sich, ob das Ganze etwas genützt hatte. Valerian hätte sicher mehr erreicht und wäre dabei weniger provozierend gewesen. »Es war wirklich ein sehr interessanter Tag, Frau Dr. Arroway. Ich danke Ihnen.« Joss war wieder distanziert und höflich und wirkte zerstreut. Trotzdem schüttelte er ihr warm die Hand. Auf dem Weg zu ihrem von der Regierung gestellten Wagen, der draußen wartete, kamen sie an einem malerisch gestalteten Schaukasten vorbei. ›Die Expansion des Universums: Ein Irrtum‹ stand darauf, und dahinter war auf einem Schild zu lesen: ›Unser Gott lebt. Es tut uns leid um Euren.‹ Ellie flüsterte Der Heer zu: »Es tut mir leid, daß ich dir deine Arbeit erschwert habe.« »Aber nein, Ellie. Du warst großartig.« »Dieser Palmer Joss ist ein attraktiver Mann. Ich glaube nicht, daß ich ihn bekehrt habe. Aber dafür hat er mich fast bekehrt.« Natürlich sagte sie das nur im Spaß.
11 Das Weltkonsortium Die Welt ist fast ganz aufgeteilt, und was noch übrig ist, wird jetzt verteilt, erobert und kolonisiert. Man denke an die Sterne, die man des Nachts am Himmel sieht, diese unermeßlichen Welten, die wir niemals erreichen werden. Ich würde die Planeten annektieren, wenn ich könnte. Daran muß ich oft denken. Es erfüllt mich mit Trauer, sie so klar und deutlich und doch so fern vor mir zu sehen. Cecil Rhodes Letzter Wille und Testament (1902)
Von ihrem Tisch am Fenster konnte Ellie den Regen auf die Straße niederprasseln sehen. Unverdrossen eilte ein völlig durchnäßter Fußgänger mit hochgeschlagenem Kragen vorbei. Der Besitzer des Restaurants, des berühmten Theatertreffpunkts Chez Dieux, hatte die gestreifte Markise über die Austernkübel gekurbelt, die draußen auf der Straße, getrennt nach Größe und Qualität, für die Spezialität des Hauses warben. Drinnen war es warm und gemütlich. Da schönes Wetter angekündigt worden war, war Ellie ohne Regenmantel und Schirm unterwegs. Waygay, der ähnlich gut gelaunt war, schnitt gerade ein neues Thema an. »Meine Freundin Meera«, begann er, »ist Stripteasetänzerin – das ist doch das richtige Wort? Wenn Sie in Ihrem Land arbeitet, gibt sie Vorstellungen für Akademiker
auf Versammlungen und Konferenzen. Meera behauptet, wenn sie sich vor Arbeitern auszieht – auf Gewerkschaftsversammlungen zum Beispiel –, werden die ganz wild, machen anzügliche Bemerkungen und wollen auf die Bühne kommen. Zieht sie aber genau die gleiche Schau für Ärzte und Rechtsanwälte ab, bleiben die bewegungslos sitzen. Ein paar lecken sich die Lippen, sagt Meera. Da frage ich mich: Sind Rechtsanwälte normaler als Stahlarbeiter?« Daß Waygay verschiedene weibliche Bekanntschaften pflegte, war noch nie ein Geheimnis gewesen. Seine Annäherungsversuche an Frauen waren so direkt und extravagant – Ellie selbst blieb aus unerfindlichen Gründen davon ausgeschlossen, was sie gleichzeitig freute und ärgerte –, daß sie immer ohne Schwierigkeiten nein sagen konnten. Viele sagten ja. Was Waygay von Meera erzählte, überraschte Ellie allerdings doch etwas. Sie hatten den Morgen damit verbracht, in einem letzten Durchgang die Notizen und Interpretationen zu den neuesten Daten noch einmal zu vergleichen. Die weiterhin kontinuierliche Übertragung der BOTSCHAFT hatte ein neues, bedeutendes Stadium erreicht. Jetzt wurden Diagramme von der Wega gesendet, so wie für Zeitungen Bilder über Funk übertragen wurden. Jedes Bild stellte ein gerastertes Feld dar. Die Anzahl der winzigen schwarzen und weißen Punkte, aus denen das Bild bestand, war das Produkt zweier Primzahlen. Wieder spielten also Primzahlen eine Rolle bei der Übertragung. Es gab eine ganze Reihe solcher Diagramme, die aber nicht auf bestimmte Buchseiten bezogen zu sein schienen. Es sah mehr nach einem aufwendigen Bildteil aus, der dem Text folgte. Nach der Übertragung der langen Sequenz von Diagrammen ging es weiter mit dem noch immer unverständlichen Text. Aus einigen Diagrammen war klar zu ersehen, daß Waygay und Archangelski mit ihrer Vermutung
recht gehabt hatten, daß die BOTSCHAFT zumindest in Teilen Anweisungen und Konstruktionszeichnungen für den Bau einer Maschine enthielt. Vom Zweck der Maschine hatte man keine Vorstellung. In der Plenarsitzung des Weltkonsortiums, die am folgenden Tag im Elysée-Palast stattfinden würde, sollten Ellie und Waygay zum ersten Mal den Abgeordneten der anderen Mitgliedsnationen des Konsortiums über Einzelheiten berichten. Über die »Maschinen-Hypothese« waren bereits Gerüchte im Umlauf. Beim Mittagessen hatte Ellie kurz über ihre Begegnung mit Rankin und Joss berichtet. Waygay hatte aufmerksam zugehört, aber keinen Kommentar geäußert. Sie kam sich vor, als hätte sie etwas gesagt, was sich nicht gehörte, und vielleicht hatte das in Waygay die Assoziation mit Meera ausgelöst. »Sie haben also eine Freundin namens Meera, die Stripteasetänzerin ist und auf allen internationalen Showplätzen anzutreffen ist?« »Seit Wolfgang Pauli das Ausschließungsprinzip entdeckt hat, während er im Folies-Bergère saß, empfinde ich als Physiker es als meine Pflicht, so oft wie möglich nach Paris zu kommen. Für mich ist es eine Hommage an Pauli. Leider kann ich die offiziellen Stellen in meinen Land nicht davon überzeugen, daß Reisen allein aus diesem Grund genehmigt werden müssen. Ich muß daneben immer noch etwas langweilige Physik betreiben. Aber in diesen Etablissements – wo ich auch Meera kennengelernt habe – bin ich Student der Natur, der auf die Inspiration wartet.« Plötzlich änderte sich sein Tonfall von überschwenglich zu sachlich. »Meera sagt, daß die amerikanischen Akademiker männlichen Geschlechts sexuell verklemmt sind und quälende Selbstzweifel und Schuldgefühle haben.« »Tatsächlich? Und was sagt Meera über die russischen Akademiker?«
»In dieser Kategorie kennt sie nur mich. Da hat sie natürlich eine gute Meinung. Ich wäre morgen lieber mit Meera zusammen.« »Aber Sie werden auf der Versammlung des Konsortiums all Ihre Freunde treffen«, erwiderte Ellie lachend. »Das schon. Ich bin froh, daß wenigstens Sie mit dabei sind«, sagte er mürrisch. »Was bedrückt Sie, Waygay?« Er zögerte lange, bevor er antwortete, was ganz untypisch für ihn war. »Bedrücken ist vielleicht zu viel gesagt, aber zu denken gibt es mir… Was ist, wenn die BOTSCHAFT wirklich Konstruktionspläne für eine Maschine enthält? Werden wir die Maschine dann bauen? Wer wird sie bauen? Alle zusammen? Das Konsortium? Die Vereinten Nationen? Oder einige Länder um die Wette? Und wenn es wahnsinnig teuer ist, das Ding zu bauen? Wer wird es bezahlen? Und warum? Und wenn die Maschine dann nicht funktioniert? Werden alle Nationen den Bau der Maschine wirtschaftlich verkraften? Gibt es möglicherweise noch andere negative Auswirkungen?« Ohne die Flut seiner Fragen zu unterbrechen, goß Lunatscharski den letzten Wein in die Gläser. »Selbst wenn die Übertragung der Botschaft wieder von vorn anfängt und wir sie vollständig entschlüsseln können, wie gut würde die Übersetzung sein? Kennen Sie jene Äußerung von Cervantes? Er sagt, daß das Lesen einer Übersetzung der Untersuchung der Rückseite eines Gobelins entspreche. Vielleicht läßt sich die BOTSCHAFT nicht perfekt übersetzen. Dann könnten wir die Maschine auch nicht vollkommen richtig bauen. Sind wir außerdem wirklich sicher, daß wir alle Daten haben? Vielleicht gibt es noch wichtige Informationen auf anderen Frequenzen, die wir gar nicht entdeckt haben. Wissen Sie, Ellie, bisher habe ich wie selbstverständlich angenommen, man würde beim Bau dieser Maschine sehr vorsichtig und zurückhaltend ans Werk
gehen. Aber vielleicht kommt schon morgen jemand, der auf den sofortigen Bau drängt – vorausgesetzt natürlich, wir bekämen den Code und könnten die BOTSCHAFT entschlüsseln. Was wird die amerikanische Delegation vorschlagen?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Ellie langsam. Aber sie erinnerte sich, daß Der Heer sofort nach dem Empfang der Diagramme gefragt hatte, ob ein Bau der Maschine innerhalb der ökonomischen und technologischen Möglichkeiten der Menschen lag. Weder das eine noch das andere hatte sie ihm zusichern können. Ihr fiel wieder ein, wie zerstreut und nervös Ken in den letzten Wochen gewesen war. Manchmal schien er nahe daran, die Nerven zu verlieren. Natürlich war seine Verantwortung in dieser Sache -»Wohnen Dr. Der Heer und Mr. Kitz in demselben Hotel wie Sie?« »Nein, sie wohnen in der Botschaft.« Es war immer das gleiche. Aufgrund des Zustands der sowjetischen Wirtschaft und der Notwendigkeit, mit ihren begrenzten Devisen Waffen statt Konsumgüter zu kaufen, verfügten die Russen bei ihren Besuchen im Westen nur über wenig frei verfügbare Devisen. Sie mußten in zweit- oder drittklassigen Hotels oder noch billigeren Absteigen wohnen, während ihre westlichen Kollegen sich einen vergleichsweise luxuriösen Lebensstil erlauben konnten. Das war für beide Seiten immer peinlich. Die Rechnung für die relativ einfache Mahlzeit zu bezahlen, die sie zu sich genommen hatten, war für Ellie kein Problem, für Waygay aber bedeutete es trotz seiner bevorzugten Position in der Hierarchie der sowjetischen Wissenschaftler eine Belastung. Aber was wollte Waygay… »Waygay, Sie können offen mit mir reden. Was wollen Sie sagen? Befürchten Sie, daß Ken und Mike Kitz vorschnell handeln?«
»Richtig. Ich mache mir Sorgen, daß in den nächsten Tagen verfrühte Diskussionen über den Bau einer Maschine geführt werden, dessen Konsequenzen wir noch gar nicht absehen können. Die Politiker glauben, wir wüßten alles. Tatsache ist, daß wir fast nichts wissen. Solch eine Situation kann sehr gefährlich werden.« Erst jetzt wurde Ellie klar, daß Waygay sich persönlich für den Inhalt der BOTSCHAFT verantwortlich fühlte. Wenn es zu einer Katastrophe kam, hatte er Angst, daß er daran schuld sein könnte. Natürlich hatte er daneben auch weniger persönliche Motive. »Wollen Sie, daß ich mit Ken spreche?« »Wenn Sie es für richtig halten. Sie haben häufig Gelegenheit, mit ihm zu reden, nicht?« Er sagte das ganz beiläufig. »Waygay, Sie sind doch nicht eifersüchtig? Ich glaube, Sie haben meine Gefühle für Ken früher durchschaut als ich. Als Sie nach Argus zurückkamen, waren Ken und ich mehr oder weniger schon zwei Monate zusammen. Halten Sie das für falsch?« »Ach nein, Ellie. Ich bin nicht Ihr Vater und auch nicht ein eifersüchtiger Liebhaber. Ich wünsche Ihnen nur, daß Sie glücklich sind. Nur, daß es so viele unerfreuliche Möglichkeiten gibt.« Aber er erläuterte nicht näher, was er damit meinte. Sie machten sich wieder an die Interpretationsversuche der Diagramme, die über den ganzen Tisch verstreut lagen. Zur Abwechslung diskutierten sie dann auch noch ein bißchen über Politik – über die Debatte, die in Amerika über die MandelaPrinzipien zur Lösung des Rassenkonflikts in Südafrika geführt wurde, und über den sich verschärfenden Ton in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik. Wie immer hatten Ellie und Waygay ihre Freude daran, die Außenpolitik des eigenen
Landes vor dem anderen schlecht zu machen. Das war viel interessanter, als die Außenpolitik des anderen Landes zu verurteilen, was genauso leicht möglich gewesen wäre. Als sie bei ihrem rituellen Streit darüber angelangt waren, ob sie sich die Rechnung teilen sollten, bemerkte Ellie, daß der strömende Regen in leichtes Nieseln übergegangen war. Inzwischen war die Neuigkeit der BOTSCHAFT von der Wega bis in den hintersten Winkel des Planeten Erde gedrungen. Den Menschen, die weder wußten, daß es Radioteleskope gab, noch je etwas von Primzahlen gehört hatten, erzählte man eine abenteuerliche Geschichte von einer Stimme, die von den Sternen kam, und von merkwürdigen Wesen – nicht ganz Mensch, aber auch nicht ganz Gott –, die man am Nachthimmel entdeckt hatte. Den Heimatstern dieser Wesen konnte man sehen, sogar bei Vollmond. Neben den Kommentaren mehr oder weniger verrückter Sektierer war jetzt auf der ganzen Welt das Gefühl aufgekommen, daß sich etwas Einmaliges, ja Wunderbares ereignet hatte. Aufbruchstimmung lag in der Luft, das Gefühl, daß eine neue Ära angefangen hatte. Es gab andere intelligente Wesen im Universum. Man konnte mit ihnen Verbindung aufnehmen. Wahrscheinlich waren sie älter als die Menschen und gescheiter. Sie schickten ganze Bibliotheken mit schwierigen Informationen. Auf allen Gebieten erwartete man epochemachende Offenbarungen. Die Mathematiker grübelten darüber, welche grundlegenden Entdeckungen sie versäumt haben könnten. Religiöse Führer hatten Angst, daß die wegianischen Werte, obgleich fremd, schnell Anhänger vor allem unter den ungebildeten Jugendlichen finden könnten. Die Astronomen sorgten sich, daß sie mit bestimmten Grundprinzipien über benachbarte Sterne falsch lagen. Politiker und Präsidenten waren darüber beunruhigt, daß eine
überlegene Zivilisation vielleicht ganz anderen Regierungssystemen anhing als denen, die auf der Erde gang und gäbe waren. Alles, was die Wegianer wußten, war von spezifisch menschlichen Institutionen und von der menschlichen Geschichte und Biologie völlig unbeeinflußt. Wenn nun alles, was wir für wahr hielten, ein Mißverständnis, ein Sonderfall oder ein logischer Fehlschluß gewesen war? Besorgt begannen die Fachleute, die Grundlagen ihrer Forschung neu zu überprüfen. Neben diesen auf Spezialisten beschränkten Sorgen machte sich eine Stimmung breit, die die Menschheit im Aufbruch zu Abenteuern einer neuen Dimension sah, am Wendepunkt zu einem neuen Zeitalter, dessen symbolische Bedeutung die nahende dritte Jahrtausendwende gewaltig verstärkte. Noch immer gab es politische Konflikte, von denen einige – wie das Rassenproblem in Südafrika – sehr ernst waren. Aber in vielen Teilen der Welt ließen patriotische Reden und kindisches Nationalbewußtsein merklich nach. Das Gefühl eines an die ganze Erde gerichteten Geschenks oder aber einer der ganzen Erde drohenden Gefahr ließ erstmals ein gemeinsames Selbstbewußtsein der menschlichen Rasse entstehen, dieser Milliarden kleiner Lebewesen, die über verschiedene Kontinente verteilt waren. Vielen kam es absurd vor, daß verfeindete Nationen weiterhin ihre todbringenden Konflikte auskämpften angesichts einer nichtmenschlichen Zivilisation mit unendlich größeren Fähigkeiten. Neue Hoffnung lag in der Luft. Manche Menschen hatten schon vergessen, was Hoffnung war, und verstanden sie falsch – als geistige Verwirrung oder gar Feigheit. In den Jahrzehnten nach 1945 waren die Atomwaffenarsenale der ganzen Welt stetig gewachsen. Die politischen Führungskräfte wechselten, die Waffensysteme und Strategien änderten sich, aber die Zahl der strategischen Waffen wurde nur größer. Es kam der Zeitpunkt,
wo man über 25 000 davon auf dem Planeten hatte, zehn für jede große Stadt. Neue Technologien verkürzten die Flugzeiten, ermöglichten den Erstschlag auf jedes Ziel und einen Launch-on-warning. Nur eine Gefahr wie die, die möglicherweise von der BOTSCHAFT drohte, konnte einen solchen Wahnsinn aufbrechen, dem die Regierungschefs so vieler Länder schon seit so langer Zeit huldigten. Endlich kam die Welt zur Vernunft, wenigstens in diesem Punkt, und von den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China wurde ein Abkommen unterzeichnet. Man hatte nicht vor, sämtliche Atomwaffen aus der Welt zu schaffen. Nur wenige erhofften sich ein solches Wunder von dem Abkommen. Aber die Amerikaner und Russen verpflichteten sich, ihre strategischen Waffenarsenale auf tausend Atomwaffen zu verringern. Die einzelnen Schritte wurden sorgfältig geplant, damit keine der Supermächte in einem Stadium des Abbaus deutlich im Nachteil war. Großbritannien, Frankreich und China erklärten sich bereit, mit der Reduzierung ihrer Waffenarsenale zu beginnen, wenn die Supermächte bei 3200 Raketen angekommen waren. Die Unterzeichnung des Hiroshima-Abkommens erfolgte zur Freude der ganzen Welt unter der berühmten Gedenktafel für die Opfer der ersten Stadt, die von einer Atombombe ausradiert worden war: »Ruhet in Frieden, denn es soll nie wieder geschehen«. Jeden Tag wurden gleich viele amerikanische und sowjetische atomare Sprengköpfe an ein neugeschaffenes Unternehmen abgeliefert, in dem sowohl amerikanische als auch sowjetische Ingenieure arbeiteten. Das Plutonium wurde extrahiert, in einer Liste verzeichnet, versiegelt und von einem bilateralen Team zu Kernkraftwerken transportiert, wo es zu Elektrizität verarbeitet werden sollte. Dieses Konzept, nach einem amerikanischen Admiral GaylerPlan genannt, wurde weit und breit als Erfüllung der
Forderung ›Schwerter zu Pflugscharen‹ gefeiert. Da die Nationen auch weiterhin über verheerende Vergeltungsmöglichkeiten verfügten, konnten sich selbst die Militärs schließlich damit abfinden. Auch Generäle wünschten ihren Kindern nicht den Tod, und der Atomkrieg bedeutete die Negation der traditionellen soldatischen Tugenden; zum Drücken eines Knopfes gehörte nicht viel Mut. Die Auslieferung der ersten Atomwaffen wurde live im Fernsehen übertragen und immer wieder gezeigt. Man sah weißgekleidete amerikanische und sowjetische Ingenieure, die zwei der metallenen Objekte von stumpfem Grau und der Größe einer Sitzbank hereinrollten. Sie waren mit amerikanischen und russischen Flaggen geschmückt. Millionen wurden Zeugen dieser Szene. Die Abendnachrichten berichteten regelmäßig, wie viele strategische Waffen inzwischen auf beiden Seiten vernichtet worden waren und wie viele noch abgebaut werden mußten. In gut zwei Jahrzehnten würde auch diese Nachricht die Wega erreichen. In den folgenden Jahren ging die Abrüstung ohne ernsthafte Hindernisse weiter. Zuerst waren die Paradestücke der Arsenale übergeben worden, während sich an den strategischen Grundsätzen noch kaum etwas geändert hatte. Jetzt aber spürte man allmählich die Folgen des Abbaus, und die Waffensysteme, die das Gleichgewicht am meisten gefährdet hatte, wurden ebenfalls abgebaut. Experten hatten das nicht für möglich gehalten und erklärt, so etwas sei »gegen die menschliche Natur«. Aber wie schon Samuel Johnson bemerkt hatte, führt ein Todesurteil auf wunderbare Weise zu einer letzten Konzentration der geistigen Kräfte. Im letzten halben Jahr hatte der Atomwaffenabbau auf Seiten der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion neue Erfolge erzielt. In Kürze sollten in beiden Ländern Untersuchungskommissionen des jeweils anderen Landes installiert werden, denen voller Zutritt
zu allen Waffenarsenalen gewährt werden mußte – trotz der öffentlich geäußerten Mißbilligung und Sorge der Militärs beider Nationen. Die Vereinten Nationen erwiesen sich als unerwartet erfolgreich bei der Vermittlung in internationalen Streitigkeiten. Auf diese Weise konnten die Grenzkriege im Westiran und an der chilenischargentinischen Grenze beigelegt werden. Es war sogar ein Nichtangriffspakt zwischen der Nato und dem Warschauer Pakt im Gespräch. Die Delegierten, die zu der ersten Plenarsitzung des Weltkonsortiums kamen, hatten von Anfang an einen viel herzlicheren Umgangston miteinander, als es in den letzten Jahrzehnten je der Fall gewesen war. Jede Nation, die auch nur wenige Bit der BOTSCHAFT empfing, war sowohl mit wissenschaftlichen als auch politischen Delegierten vertreten. Überraschend viele schickten auch militärische Vertreter. In einigen wenigen Fällen wurden die Delegationen sogar von den Außenministern oder Staatsoberhäuptern angeführt. Zur Abordnung Großbritanniens gehörte Viscount Boxforth, seines Zeichens Lordsiegelbewahrer – Ellie fand diesen Ehrentitel überaus komisch. An der Spitze der Delegation der UdSSR, in der der Minister für die mittlere Schwerindustrie, Gotsridse, und Archangelski eine wichtige Rolle spielten, stand B. J. Abuchimow, der Präsident der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Die Präsidentin der Vereinigten Staaten hatte darauf bestanden, daß Der Heer der amerikanischen Delegation vorstand, obwohl auch Staatssekretär Elmo Honicutt und Michael Kitz nebst weiteren Vertretern des Verteidigungsministeriums dazugehörten. Eine große, sorgfältig ausgearbeitete Landkarte in flächentreuer Projektion veranschaulichte die Verteilung der Radioteleskope über den Planeten unter Einschluß der
sowjetischen Beobachtungsschiffe. Neugierig sah Ellie sich in dem erst vor kurzem fertiggestellten Konferenzsaal um, der direkt neben den Büroräumen und der Residenz des französischen Präsidenten lag. Obwohl der Präsident erst das zweite Jahr seiner siebenjährigen Amtszeit regierte, scheute er keine Mühe, den Erfolg des Treffens zu garantieren. Eine Vielzahl von Gesichtern, Flaggen und Landestrachten spiegelte sich in den langen, in einem Bogen aufgestellten Mahagonitischen und den mit Spiegeln verkleideten Wänden. Von den Politikern und Militärs kannte sie nur wenige, dafür aber mindestens einen Wissenschaftler oder Ingenieur aus jeder Delegation: Annunziata und Ian Broderick aus Australien, Fedirka aus der Tschechoslowakei, Braude, Crebillion und Boileau aus Frankreich, Kumar Chandrapurana und Devi Sukhavati aus Indien, Hironaga und Matsui aus Japan… Ellie fiel auf, daß viele der Delegierten, besonders aber die Japaner, eher Technologieexperten waren als Radioastronomen. Der Gedanke, daß vielleicht der Bau einer riesigen Maschine auf dieser Konferenz zur Sprache kommen könnte, hatte viele Länder veranlaßt, die Zusammensetzung ihrer Delegationen in letzter Minute noch zu verändern. Ellie kannte auch Malatesta aus Italien, Bedenbaugh, einen Physiker, der in die Politik gegangen war, Clegg und den ehrwürdigen Sir Arthur Chatos, die hinter einem Union Jack der Art, wie man ihn auf den Tischen europäischer Restaurants finden konnte, miteinander plauderten. Außerdem Jaime Ortiz aus Spanien, Prebula aus der Schweiz, worüber Ellie sich wunderte, da die Schweiz ihres Wissens bislang noch gar kein Radioteleskop besaß, Bao, der Hervorragendes im Aufbau der chinesischen Radioteleskopanlage geleistet hatte, und Wintergaden aus Schweden. Die Abordnungen aus SaudiArabien, Pakistan und dem Irak waren erstaunlich groß; und da
drüben standen natürlich die Russen. Nadja Roshdestwenskaja und Henrich Archangelski lachten gerade über irgend etwas. Ellie hielt nach Lunatscharski Ausschau und erspähte ihn schließlich bei der chinesischen Delegation. Er begrüßte gerade Yu Renqiong, den Direktor des Radioobservatoriums in Peking. Ellie erinnerte sich, daß die beiden während der Jahre chinesisch-sowjetischer Zusammenarbeit Freunde und Kollegen gewesen waren. Aber die Feindseligkeiten zwischen den beiden Staaten hatten jeden Kontakt zwischen ihnen beendet, und die chinesischen Beschränkungen der Auslandsreisen für Spitzenwissenschaftler waren fast noch schärfer als die sowjetischen. Ellie war sich bewußt, daß sie Zeugin der ersten Begegnung dieser Männer seit vielleicht einem Vierteljahrhundert war. »Wer ist der alte China-Mann, dem Waygay gerade die Hand schüttelt?« Das war Kitz’ Art, herzlich zu sein. In den letzten Tagen hatte er Ellie gegenüber schon mehrere solche Vorstöße unternommen – eine Entwicklung, der sie im stillen keine Chance gab. »Yu, der Direktor des Observatoriums in Peking.« »Ich dachte, die hassen sich wie die Pest.« »Michael«, sagte Ellie, »die Welt ist sowohl besser als auch schlechter, als Sie sich vorstellen.« »Was ›besser‹ betrifft, sind Sie mir wahrscheinlich voraus«, erwiderte er, »aber was ›schlechter‹ betrifft, können Sie mir nicht das Wasser reichen.« Nach der Begrüßung durch den Präsidenten von Frankreich (der zum Erstaunen aller blieb, um die Eröffnungsvorträge anzuhören) und der Diskussion über Verfahren und Tagesordnung durch Der Heer und Abuchimow, die gemeinsam als Vorsitzende der Konferenz fungierten, gaben Ellie und Waygay eine kurze Zusammenfassung der bisher
bekannten Daten. Sie begannen mit einer allgemeinen Einführung – allzu technische Begriffe vermieden sie mit Rücksicht auf Politiker und Militärs – in die Funktionsweise von Radioteleskopen, die Verteilung der erdnächsten Sterne im Weltall und die Geschichte der BOTSCHAFT als eines Palimpsests. Der gemeinsame Vortrag schloß mit einem Kommentar zu den erst vor kurzem empfangenen Diagrammen, die jede Delegation auf einem eigenen Monitor vor sich hatte. Ellie erklärte, wie die Polarisationsmodulation in eine Abfolge von Nullen und Einsen umgewandelt wurde, wie die Nullen und Einsen zusammen ein Bild ergaben, daß sie aber in den meisten Fällen nicht die leiseste Ahnung hatten, was das Bild bedeutete. Die einzelnen Daten setzten sich auf den Computerbildschirmen zu Bildern zusammen. Ellie sah, wie die Gesichter der Delegierten sich aufmerksam über die Bildschirme beugten, von denen sie in dem jetzt halb verdunkelten Saal weiß, bernsteinfarben und grün angestrahlt wurden. Auf den Diagrammen waren fein verästelte Netze zu erkennen, daneben plumpe, fast schon unanständige biologische Formen und ein vollkommen geformtes, regelmäßiges Dodekaeder. Eine Folge mehrerer Seiten war zu einer aus zahllosen Details bestehenden Konstruktion zusammengebaut worden, die sich langsam drehte. Zu jedem der geheimnisvollen Teile gehörte eine unverständliche Bildunterschrift. Waygay betonte noch stärker als Ellie die Ungewißheit ihrer Deutung. Trotzdem stand es auch für ihn außer Zweifel, daß die BOTSCHAFT das Handbuch für die Konstruktion einer Maschine war. Bescheiden unterließ er es, darauf hinzuweisen, daß diese Idee ursprünglich von ihm und Archangelski stammte, aber Ellie ergriff die nächste Gelegenheit, es deutlich auszusprechen.
Aus der Erfahrung der letzten Monate wußte Ellie, die schon oft über dieses Thema diskutiert hatte, daß Wissenschaftler wie Laien von einzelnen Daten der BOTSCHAFT völlig fasziniert waren, daß sie sich aber ebenso wie sie selbst mit der Frage abquälten, ob auch eine Anleitung zur Entschlüsselung der BOTSCHAFT mitgeliefert worden war. Die Reaktion dieses Publikums von, wie man meinen sollte, erfahrenen Fachleuten traf sie jedoch völlig unvorbereitet. Als sie und Waygay fertig waren, brach stürmischer Applaus los. Die sowjetischen und osteuropäischen Delegationen applaudierten unisono mit einer Frequenz von zwei bis drei Mal pro Herzschlag. Die Amerikaner und viele andere klatschten wild durcheinander wie ein Meer von weißem Rauschen. Ellie verspürte eine ihr bisher unbekannte Freude, aber trotzdem mußte sie unwillkürlich an die Unterschiede der Nationalcharaktere denken – die Amerikaner waren die Individualisten, und die Russen hatten sich zu einer kollektiven Aktion zusammengeschlossen. Ellie erinnerte sich, daß die Amerikaner auch in Massenversammlungen versuchten, möglichst Distanz zu den anderen zu wahren, während die Sowjets sich gern aneinander anlehnten. Ihr gefielen beide Arten zu applaudieren, obwohl die amerikanische hörbar dominierte. Für einen kurzen Moment erlaubte sie sich, an ihren Stiefvater zu denken. Und an ihren Vater. Nach dem Mittagessen wurden in weiteren Vorträgen Interpretationen zu der Datensammlung vorgestellt. David Drumlin hielt einen hochinteressanten Vortrag über die statistische Analyse, die er gerade mit jenen Seiten der BOTSCHAFT durchgeführt hatte, die in Beziehung zu den neuen, numerierten Diagrammen standen. Er behauptete, daß die BOTSCHAFT nicht nur Konstruktionspläne für den Bau einer Maschine enthielte, sondern auch detaillierte Beschreibungen zu Design und Herstellung einzelner Komponenten. In einigen Fällen, glaubte
er, handelte es sich um die Beschreibung völlig neuer Industriezweige, die man auf der Erde bisher nicht kannte. Auf Ellies Gesicht malte sich Staunen. Fragend sah sie Valerian an und zeigte mit dem Finger auf Drumlin: Hatte Valerian das schon gewußt? Valerian hob nur verneinend die Hände. Ellie schaute sich unter den anderen Delegierten um, aber außer Ermüdung konnte sie keine besonderen Reaktionen feststellen. Der technische Aufwand und die Notwendigkeit, früher oder später politische Entscheidungen treffen zu müssen, sorgten schon jetzt für erste Spannungen. Nach der Sitzung gratulierte sie Drumlin zu seiner Entdeckung und fragte ihn, warum sie bis jetzt nichts davon erfahren hatte. Schon im Weggehen, antwortete er: »Oh, ich hielt es nicht für wichtig genug, Sie damit zu belasten. Es war nur eine kleine Spielerei, an der ich herumgebastelt habe, als Sie weg waren, um mit diesen religiösen Fanatikern zu reden.« Wenn Drumlin ihr Doktorvater gewesen wäre, würde sie immer noch an ihrer Doktorarbeit sitzen, dachte Ellie grimmig. Er hatte sie nie wirklich akzeptiert. Sie würden nie eine unkomplizierte, kollegiale Beziehung zueinander haben. Sie seufzte. Hatte Ken von Drumlins neuen Erkenntnissen gewußt? Als einer der Präsidenten der Konferenz saß Der Heer zusammen mit seinem sowjetischen Kollegen vorn auf einem erhöhten Podium, von wo aus man die im Hufeisen angeordneten Tische der Delegierten überblicken konnte. Er war, wie schon die ganzen letzten Wochen, fast nie erreichbar. Und Drumlin war natürlich nicht verpflichtet, neugewonnene Erkenntnisse mit ihr zu diskutieren. Sie wußte, daß beide Männer in letzter Zeit sehr beschäftigt gewesen waren. Aber warum war sie in Gesprächen mit Drumlin immer entweder extrem entgegenkommend oder extrem streitlustig? Etwas in ihr spürte deutlich, daß die Möglichkeit, ihren
wissenschaftlichen Interessen nachzugehen, auch in Zukunft entscheidend von Drumlin abhängen würde. Am Vormittag des zweiten Tages wurde einem sowjetischen Delegierten das Wort erteilt. Ellie kannte ihn nicht. »Stefan Alexejewitsch Baruda«, tauchte auf dem Bildschirm vor ihr auf, »Direktor des Instituts für Friedensforschung, Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, Moskau, Mitglied des Zentralkomitees der KP der UdSSR«. »Na, jetzt geht es hart auf hart«, hörte Ellie Michael Kitz zu Elmo Honicutt vom Außenministerium sagen. Baruda war eine elegante Erscheinung. Er trug einen modisch geschnittenen Straßenanzug, mit Sicherheit ein Produkt des Westens, möglicherweise aus Italien. Sein Englisch war fließend und fast akzentfrei. Geboren in einer der baltischen Republiken, war er noch sehr jung dafür, daß er bereits Direktor einer so bedeutenden Organisation war, die man gegründet hatte, um die langfristigen strategischen Folgen der nuklearen Abrüstung zu untersuchen. Gleichzeitig war er ein besonders typischer Vertreter der neuen Politik der sowjetischen Führung. »Fangen wir noch einmal von Anfang an«, sagte Baruda. »Wir bekommen also eine BOTSCHAFT aus den Tiefen des Alls. Die meisten Informationen haben die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten zusammengetragen. Wesentliche Teile haben aber auch andere Länder beigesteuert. Und alle diese Länder sind hier auf dieser Konferenz vertreten. Jede einzelne Nation – wie zum Beispiel die Sowjetunion – hätte warten können, bis sich die BOTSCHAFT mehrere Male wiederholt hat. Auch so hoffen wir ja darauf, daß sie wiederholt wird und wir die vielen fehlenden Teile ergänzen können. Aber ohne Kooperation hätte es Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte gedauert, bis wir die ganze BOTSCHAFT zusammengehabt
hätten, und wir sind doch alle ein bißchen ungeduldig. Deshalb haben wir die Daten ausgetauscht. Jede einzelne Nation – wie zum Beispiel die Sowjetunion – könnte riesige Radioteleskope mit hochempfindlichen Empfängern für den Frequenzbereich der BOTSCHAFT in die Erdumlaufbahn schicken. Die Amerikaner könnten das ebenso wie wir. Vielleicht auch die Japaner, die Franzosen oder die Europäische Weltraumbehörde. Dann könnte jede Nation für sich selbst alle Daten bekommen, weil Radioteleskope im Weltraum die Wega die ganze Zeit über anpeilen könnten. Aber man könnte das als feindselige Handlung auslegen. Und es ist kein Geheimnis, daß die Vereinigten Staaten oder die Sowjetunion in der Lage wären, solche Satelliten einfach abzuschießen. Vielleicht auch deshalb haben wir die Daten ausgetauscht. Es ist besser, zusammenzuarbeiten. Unsere Wissenschaftler wollen nicht nur die Daten, die sie angehäuft haben, austauschen, sondern auch ihre Spekulationen, ihre Vermutungen, ihre… Träume. Darin seid ihr Wissenschaftler euch alle gleich. Ich bin kein Wissenschaftler. Ich bin ein Fachmann der Regierung. Deshalb weiß ich, daß auch die Regierungen aller Nationen in vielem gleich sind. Jede Nation ist vorsichtig. Jede Nation ist mißtrauisch. Keiner von uns wird einem potentiellen Gegner einen Vorteil einräumen, wenn er es verhindern kann. Und deshalb gibt es auch zwei verschiedene Meinungen zu unserem Thema – vielleicht auch mehr, aber mindestens zwei: eine Partei, die zum Austausch aller Daten rät, und eine andere, die rät, zuerst an den eigenen Vorteil zu denken. Mitglieder der letzteren sagen, daß man mit Sicherheit davon ausgehen kann, daß die Gegenseite auch auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist. Das ist in den meisten Ländern so. Die Wissenschaftler haben hier für die Politiker entschieden. So wurden beispielsweise fast alle Daten – ich möchte
ausdrücklich darauf hinweisen: nicht alle –, die die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion bekommen haben, ausgetauscht. Die meisten Daten der anderen Länder wurden weltweit ausgetauscht. Wir sind glücklich, diese Entscheidung getroffen zu haben.« Ellie flüsterte Kitz zu: »Meinen Sie das mit ›hart auf hart‹?« »Warten Sie ab«, flüsterte er zurück. »Aber es gibt noch andere Gefahren. Wir möchten dem Konsortium gern die eine oder andere zu bedenken geben.« Barudas Tonfall erinnerte Ellie an Waygay gestern beim Mittagessen. Was war es eigentlich, das der russischen Delegation so auf dem Herzen lag? »Wir haben gehört, daß das Akademiemitglied Lunatscharski, Dr. Arroway und einige andere Wissenschaftler der Auffassung sind, daß wir die Anleitung für den Bau einer komplizierten Maschine erhalten haben. Nehmen wir einmal an – und davon geht ja wohl jeder aus –, die BOTSCHAFT kommt zu einem Ende, fängt wieder von vorn an und wir bekommen ihren Anfang, den Code, mit dem wir die BOTSCHAFT lesen können. Vorausgesetzt, wir arbeiten auch weiterhin alle zusammen und tauschen alle Daten, Spekulationen und Träume aus. Nun schicken uns die Wesen auf der Wega diese Anweisungen nicht nur zum Spaß. Sie wollen, daß wir die Maschine bauen. Vielleicht sagen sie uns auch, was die Maschine tun soll. Vielleicht auch nicht. Aber selbst wenn sie es tun, warum sollten wir ihnen glauben? Gestatten Sie mir eine eigene Spekulation, einen eigenen Traum. Es ist kein glücklicher Traum. Was, wenn die Maschine ein Trojanisches Pferd ist? Wir bauen die Maschine für teures Geld, schalten sie an, und wie aus heiterem Himmel ergießt sich eine feindliche Armee über uns. Und wenn die Maschine den Untergang der Erde herbeiführt? Wir bauen sie, schalten sie an, und die Erde
geht in die Luft. Vielleicht halten die Wegianer auf diese Weise Zivilisationen in Schach, die gerade in den Kosmos vorstoßen. Es kostet nicht viel, sie bezahlen nur das Telegramm, und die aufstrebende Zivilisation löscht sich selbst aus. Was ich Sie gleich fragen will, läuft nur auf einen Vorschlag hinaus, auf eine Anregung für unsere Diskussion. Ich möchte es als konstruktiven Beitrag verstanden wissen. Was die möglicherweise von dieser Maschine drohende Gefahr angeht, so haben wir, die wir auf der Erde leben, alle ein gemeinsames Sicherheitsinteresse. Sicher ist meine Frage für Sie zu wenig diplomatisch formuliert. Hier ist sie: Wäre es nicht klüger, alle Daten zu verbrennen und unsere Radioteleskope zu zerstören?« Im Saal entstand Unruhe. Viele Delegationen baten gleichzeitig um das Wort. Statt dessen schien für die beiden Vorsitzenden der Konferenz das wichtigste zu sein, die Abgeordneten daran zu erinnern, daß die einzelnen Sitzungen weder auf Band noch mit Video mitgeschnitten werden durften. Auch der Presse durften keine Interviews gegeben werden. Es gab tägliche Presseerklärungen in Absprache mit den beiden Vorsitzenden und den Sprechern der einzelnen Delegationen. Sogar über die Tagesordnung der Konferenz mußte strengstes Stillschweigen gewahrt werden. Mehrere Delegierte forderten die Vorsitzenden auf, Stellungnahmen zum letzten Vortrag das Wort zu erteilen. »Wenn Baruda mit dem Trojanischen Pferd oder der Weltuntergangsmaschine recht hat «, schrie ein holländischer Abgeordneter, »ist es dann nicht unsere Pflicht, die Öffentlichkeit darüber zu informieren?« Aber das Wort war ihm nicht erteilt worden, und sein Mikrophon war nicht eingeschaltet worden. Man wandte sich anderen, drängenderen Problemen zu.
Ellie hatte schnell einen Knopf des Computerterminals vor ihr gedrückt, um möglichst weit vorn auf der Rednerliste zu stehen. Sie entdeckte, daß sie auf Platz zwei stand, nach Sukhavati und noch vor einem Delegierten aus China. Ellie kannte Devi Sukhavati kaum. Sie war eine stattliche Frau Mitte vierzig, frisierte sich europäisch und trug hochhackige Pumps und einen wunderschönen Seidensari. Früher hatte sie einmal Physik studiert, war dann aber die führende Expertin Indiens auf dem Gebiet der Molekularbiologie geworden. Jetzt lehrte sie am King’s College in Cambridge und am Tata-Institut in Bombay. Sie war eine der wenigen indischen Mitglieder der Royal Society in London und hatte angeblich auch einigen politischen Einfluß. Ellie hatte sie vor einigen Jahren auf einem internationalen Symposium in Tokio zum letztenmal gesehen, also noch bevor der Empfang der BOTSCHAFT die obligatorischen Fragezeichen der Titel der damals diskutierten wissenschaftlichen Vorträge überflüssig gemacht hatte. Ellie hatte das Gefühl einer geistigen Verwandtschaft gehabt, die nur zum Teil damit zu erklären war, daß sie beide zu den wenigen Frauen gehörten, die an wissenschaftlichen Konferenzen über extraterrestrisches Leben teilnahmen. »Das Akademiemitglied Barada hat ein wichtiges und heikles Problem aufgeworfen«, begann Devi Sukhavati, »und es wäre töricht, die Möglichkeit eines Trojanischen Pferdes sorglos vom Tisch wischen. In Anbetracht der jüngsten Geschichte ist der Gedanke naheliegend, und ich finde es erstaunlich, daß er erst jetzt angesprochen wurde. Dennoch möchte ich vor solchen Ängsten warnen. Es ist unwahrscheinlich, daß diese Wesen von einem Planeten der Wega sich technologisch auf genau demselben Niveau befinden wie wir. Selbst auf unserem Planeten entwickeln sich die einzelnen Kulturen nicht gleichmäßig. Manche entwickeln sich früher, andere später. Natürlich holen einige Kulturen zumindest technologisch auf.
Als die Hochkulturen in Indien, in China, im Irak und in Ägypten ihre Blütezeit hatten, gab es in Europa und Rußland höchstens eisenzeitliche Nomaden und in Amerika nur steinzeitliche Kulturen. In unserem Fall werden die Unterschiede der technologischen Entwicklung noch viel krasser sein. Die Außerirdischen sind uns wahrscheinlich weit voraus, mit Sicherheit mehr als hundert Jahre, vielleicht sogar einige tausend oder Millionen Jahre. Ich bitte Sie, das einmal mit dem Tempo des technischen Fortschritts der Menschen im letzten Jahrhundert in Beziehung zu setzen. Ich bin in einem kleinen Dorf im Süden Indiens aufgewachsen. Für meine Großmutter war eine mit dem Fuß angetriebene Nähmaschine noch ein Wunder der Technik. Was müssen dann Wesen können, die uns einige tausend Jahre voraus sind? Oder Millionen Jahre? Einer unserer Philosophen hat einmal gesagt: ›Die Produkte der Technik einer fortgeschrittenen außerirdischen Zivilisation könnten wir Menschen nicht von Zauberei unterscheiden‹. Wir können jene Wesen nicht bedrohen. Sie haben nichts von uns zu befürchten, und das wird noch lange so bleiben. Es ist nicht mit der Auseinandersetzung zwischen Griechen und Trojanern zu vergleichen, die sich ebenbürtig waren. Es ist kein Science-fiction-Film, in dem Wesen von verschiedenen Planeten mit denselben Waffen kämpfen. Wenn sie uns vernichten wollen, dann können sie das, ob wir ihnen dabei helfen oder – « »Aber zu welchem Preis?« rief einer der Delegierten dazwischen. »Begreifen Sie denn nicht? Das ist doch der Punkt. Baruda sagt, daß unsere Fernsehübertragungen ins All für sie das Zeichen sein könnten, daß es Zeit ist, uns zu vernichten, und daß die BOTSCHAFT vielleicht das Mittel dazu ist. Strafexpeditionen sind teuer. Die BOTSCHAFT ist billig.« Ellie konnte nicht feststellen, wer diese Bemerkung in
den Saal geschrien hatte. Es schien jemand aus der britischen Delegation zu sein. Seine Äußerung war nicht über Mikrophon verstärkt worden. Aber die Akustik in dem Konferenzsaal war so gut, daß der Rufer sehr wohl gehört worden war. Wieder versuchte Der Heer als Vorsitzender, Ordnung herzustellen. Abuchimow beugte sich vor und flüsterte einem Assistenten etwas zu. »Sie glauben, daß es eine Gefahr bedeutet, wenn man die Maschine baut«, erwiderte Sukhavati. »Ich glaube, daß es gefährlich wäre, die Maschine nicht zu bauen. Ich würde mich für unseren Planeten schämen, wenn wir der Zukunft den Rücken kehrten. Ihre Vorfahren« – sie zeigte mit dem Finger auf den Mann, der sie unterbrochen hatte – »haben keine Angst gehabt, als sie zum ersten Mal die Segel setzten, um nach Indien oder Amerika zu fahren.« Diese Konferenz steckte ja voller Überraschungen, dachte Ellie, obwohl sie bezweifelte, daß Vorbilder wie die Entdeckungsreisenden Clive und Raleigh wesentlich zur momentanen Entscheidungsfindung beitragen konnten. Vielleicht war es auch nur eine Spitze Sukhavatis gegen die Briten als die früheren Kolonialherren Indiens gewesen. Ellie wartete darauf, daß das grüne Licht auf ihrem Pult aufleuchtete, das anzeigte, daß ihr Mikrophon eingeschaltet war. »Herr Präsident.« Unversehens hatte sie diese förmliche und offizielle Anrede Der Heers gewählt, den sie in den letzten Tagen kaum gesehen hatte. Sie hatten sich für morgen nachmittag in der Pause zwischen zwei Sitzungen verabredet, und Ellie war beklommen zumute bei dem Gedanken, was sie sich zu sagen haben würden. Entschlossen verdrängte sie diesen Gedanken. Sie mußte sich jetzt konzentrieren. »Herr Präsident, ich glaube, wir können Licht in zwei der Fragen bringen – die des Trojanischen Pferdes und die der Weltuntergangsmaschine. Ich hatte eigentlich vor, das erst morgen zur Sprache zu bringen, aber es scheint jetzt
wichtig zu sein.« Ellie tippte die Codezahlen für einige ihrer Dias in den Computer ein. Der große Saal mit den Spiegelwänden wurde verdunkelt. »Dr. Lunatscharski und ich sind der Überzeugung, daß das, was Sie hier sehen, verschiedene Ansichten derselben dreidimensionalen Struktur sind. Gestern haben wir die Figur in einer vom Computer simulierten Drehung vorgeführt. Wir glauben, obwohl wir nicht hundertprozentig sicher sind, daß sie das Innere der Maschine zeigt. Bis jetzt haben wir noch keinen eindeutigen Maßstab. Vielleicht beträgt der Durchmesser einen Kilometer, vielleicht ist das Ganze auch submikroskopisch. Aber sehen Sie sich einmal diese fünf Gegenstände an, die gleichmäßig in der Hauptkammer innerhalb des Dodekaeders verteilt sind. Hier eine Nahaufnahme. Es sind die einzigen Dinge in dem Raum, die man erkennen kann. Das hier sieht wie ein ganz normaler, dick gepolsterter Sessel aus, wie gemacht für ein menschliches Wesen. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß außerirdische Wesen, die sich in einer ganz anderen Welt entwickelt haben, uns so sehr ähneln, daß sie unseren Geschmack für Wohnzimmermöbel teilen. Schauen Sie sich diese Nahaufnahme mal etwas genauer an. Das kenne ich noch aus dem Gästezimmer meiner Mutter, als ich ein kleines Mädchen war.« Tatsächlich sahen die Sessel aus, als hätten sie geblümte Schonbezüge. Ellie fühlte sich plötzlich schuldig. Sie hatte versäumt, ihre Mutter anzurufen, bevor sie nach Europa geflogen war. Und überhaupt, sie hatte ihre Mutter seit der Entdeckung der BOTSCHAFT erst einoder zweimal angerufen. Ellie, wie konntest du nur? Jetzt machte sie sich Vorwürfe. Sie wandte sich wieder den Computergraphiken zu. Die Symmetrie des Pentagondodekaeders setzte sich in den fünf Sesseln im Innern fort, die jeweils einer der fünfeckigen
Flächen gegenüberstanden. »Wir, also Dr. Lunatscharski und ich, behaupten deshalb, daß die fünf Sessel für uns gedacht sind. Für Menschen. Das würde bedeuten, daß der Innenraum nur wenige Meter Durchmesser hat, und das Äußere vielleicht zehn bis zwanzig Meter lang ist. Zweifellos ist das Niveau der dabei angewandten Technologie ungeheuerlich, aber es kann unserer Ansicht nach keine Rede davon sein, daß wir etwas von der Größe einer Stadt bauen müssen. Oder etwas so Kompliziertes wie einen Flugzeugträger. Wir wären sehr wohl in der Lage, dies hier, was es auch sein mag, zu bauen, wenn wir alle zusammenarbeiten. Was ich eigentlich sagen will, ist, daß man in eine Bombe keine Sessel stellt. Ich glaube nicht, daß es sich hier um eine Weltuntergangsmaschine oder ein Trojanisches Pferd handelt. Ich bin völlig einig mit dem, was Frau Sakhavati gesagt oder vielleicht nur angedeutet hat; die Idee, daß dies ein Trojanisches Pferd sein könnte, zeigt nur, wie sehr wir noch umdenken müssen.« Wieder brach unter den Delegierten ein Sturm los. Aber dieses Mal unternahm Der Heer keine Anstrengungen, ihn zu besänftigen. Im Gegenteil, er schaltete das Mikrophon eines der protestierenden Delegierten ein. Es war derselbe Abgeordnete, der Frau Sukhavati vorhin ins Wort gefallen war: Philip Bedenbaugh aus Großbritannien, Minister der Labour Party in einer wackeligen Koalitionsregierung. »… Sie einfach nicht begreifen, was unsere Sorge ist. Wenn diese Maschine von einem fremden Stern im buchstäblichen Sinn ein hölzernes Pferd wäre, dann würden wir nie auf die Idee kommen, sie in die Stadt hereinzulassen. Unseren Homer haben wir gelesen. Aber sie ist mit ein paar Möbeln verziert, und schon schwindet unser Mißtrauen. Und warum? Weil man uns schmeichelt. Uns in Sicherheit wiegen will. Wir stehen vor einem Wagnis von historischer Bedeutung. Vor der Verheißung neuer Technologien. Möglicherweise vor der Anerkennung durch –
wie soll ich mich ausdrücken – höhere Wesen. Aber ich sage, ganz egal welche hochfliegenden Phantasien die Radioastronomen auch immer vorbringen mögen, solange auch nur eine winzige Möglichkeit besteht, daß die Maschine ein Werkzeug der Zerstörung ist, sollte sie nicht gebaut werden. Noch besser wäre es, wie der sowjetische Kollege bereits vorgeschlagen hat, alle Datenbänder zu verbrennen und den Bau von Radioteleskopen zum Kapitalverbrechen zu erklären.« Die Versammlung geriet allmählich außer Kontrolle. Massenweise hatten die Delegierten ihre Knöpfe gedrückt, um das Wort erteilt zu bekommen. Der Lärm schwoll zu einem solchen Tumult an, das Ellie sich an die Jahre erinnert fühlte, als sie das radioastronomische Rauschen in der Atmosphäre untersucht hatte. Eine Wiederherstellung der Ordnung schien in der nächsten Zeit nicht möglich zu sein, und die beiden Präsidenten waren offensichtlich nicht imstande, die Delegierten zu bändigen. Als ein chinesischer Delegierter aufstand, um zu sprechen, erschienen die Angaben zu seiner Person nicht auf Ellies Bildschirm, und sie schaute sich hilfesuchend um. Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war. Nguyen »Bobby« Bui, ein Angehöriger des Nationalen Sicherheitsrates, der jetzt Der Heer unterstellt war, beugte sich zu ihr und sagte: »Er heißt Xi Qiaomu. Großes Kaliber. Auf dem Langen Marsch geboren. Ging als Teenager freiwillig nach Korea. Regierungsfunktionär, Politik. Während der Kulturrevolution kurzfristig kaltgestellt. Jetzt Mitglied des Zentralkomitees. Sehr einflußreich. Erst neulich in den Nachrichten gewesen. Außerdem leitet er die archäologischen Ausgrabungen in China.« Xi Qiaomu war ein großer und breitschultriger Mann um die sechzig. Die Falten in seinem Gesicht machten ihn älter, aber Haltung und Figur gaben ihm ein jugendliches Aussehen. Er
trug seine Jacke zugeknöpft bis zum Kragen, eine Mode, die für politische Funktionäre in China so obligatorisch war wie der Dreiteiler für Angehörige der amerikanischen Regierung, die Präsidentin natürlich ausgenommen. Ellie erinnerte sich, daß sie einen langen Artikel über Xi Qiaomu in einem der Videonachrichtenmagazine gelesen hatte. »Wenn wir Angst haben«, sagte er, »werden wir nichts tun. Das wird sie vielleicht aufhalten. Aber Sie dürfen nicht vergessen, sie wissen, daß wir hier sind. Unser Fernsehen reicht bis zu ihrem Planeten. Sie werden jeden Tag an uns erinnert. Haben Sie unser Fernsehprogramm schon einmal genau angesehen? Sie werden uns nicht vergessen. Wenn wir nichts unternehmen, dann werden sie sich schließlich fragen, ob wir überhaupt noch da sind, und zu uns kommen, Maschine hin oder her. Wir können uns nicht vor ihnen verstecken. Wenn wir uns still verhalten hätten, dann hätten wir dieses Problem nicht. Wenn wir nur Kabelfernsehen und keine großen militärischen Radargeräte hätten, dann wüßten sie vielleicht nichts von uns. Aber jetzt ist es zu spät. Wir können nicht mehr zurück. Die Entscheidung ist gefallen. Wenn Sie ernsthaft befürchten, daß diese Maschine unsere Erde zerstört, dann bauen Sie sie nicht auf der Erde. Bauen Sie sie woanders. Wenn sich dann herausstellt, daß sie die Erde zerstören sollte, weil sie explodiert und eine ganze Welt in die Luft jagt… dann wird das nicht unsere Welt sein. Freilich wird das sehr viel Geld kosten. Wahrscheinlich zuviel. Und wenn wir nicht soviel Angst haben, warum bauen wir sie nicht in einer menschenleeren Wüste? Eine Explosion in der Takopi-Wüste in der Provinz Xinjing gefährdet keinen Menschen. Und wenn wir gar keine Angst haben, dann können wir die Maschine in Washington bauen. Oder Moskau. Oder Peking. Oder hier in dieser wunderbaren Stadt.
Im alten China hießen die Wega und zwei benachbarte Sterne Chih Neu. So nannte man eine junge Frau mit einem Spinnrad. Das ist ein gutes Omen: eine Maschine, die neue Kleider für die Menschen auf der Erde macht. Wir haben eine Einladung bekommen. Eine sehr ungewöhnliche Einladung. Vielleicht zu einem großen Bankett. Die Erde ist noch nie zu einem Bankett eingeladen worden. Es wäre unhöflich, abzulehnen.«
12 Das Delta-1-Isomer Beim Anblick der Sterne verfalle ich ins Träumen, genauso wie ich bei den schwarzen Punkten ins Träumen komme, die auf einer Landkarte Städte und Dörfer markieren. Warum, frage ich mich, sollten die leuchtenden Punkte am Himmel nicht genauso erreichbar sein wie die schwarzen Punkte auf der Landkarte von Frankreich. Vincent van Gogh
Es war ein strahlender Herbstnachmittag und so ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, daß Devi Sukhavati ihren Mantel im Hotel gelassen hatte. Ellie und Devi Sukhavati schlenderten auf den bevölkerten Champs-Elysées in Richtung Place de la Concorde. Ein solch buntes Völkergemisch sah man sonst nur noch in London, Manhattan und wenigen anderen Großstädten der Erde. Zwei Frauen, die Arm in Arm gingen und von denen die eine Rock und Pullover und die andere einen Sari trug, fielen hier überhaupt nicht auf. Vor einem Tabakladen standen in einer langen, ordentlichen Schlange Menschen, die in allen möglichen Sprachen durcheinander redeten; seit einer Woche war der Verkauf von Haschischzigaretten aus den Vereinigten Staaten legalisiert. Das französische Gesetz verbot nur den Verkauf an Jugendliche unter achtzehn. Die meisten in der Schlange waren deshalb mittleren Alters oder älter. Einige waren wahrscheinlich naturalisierte Algerier oder Marokkaner.
Besonders starke Hanfsorten für den Export wurden hauptsächlich in Kalifornien und Oregon angebaut. In dem Tabakladen wurde eine neue Sorte angepriesen, die mit ultraviolettem Licht bestrahlt worden war, wodurch sich die inaktiven Cannabinoide in Delta-1 Isomere verwandelt hatten. Die Sorte hieß »Sonnenkuß«. Auf der anderthalb Meter großen Riesenpackung im Schaufenster stand in Französisch der Slogan: »Das wird Ihnen im Paradies abgezogen«. Die Schaufenster auf dem Boulevard prangten in den schreiendsten Farben, Die zwei Frauen kauften bei einem Straßenhändler eine Tüte Kastanien und schwelgten in deren Duft und Geschmack. Immer wenn Ellie eine Reklame für die BNP, die Banque Nationale de Paris, sah, las sie aus einem unerfindlichen Grund das russische Wort für Bier, in dem nur der mittlere Buchstabe von links nach rechts gedreht war. Hier gibt es Bier, schienen die Buchstaben zu sagen, die bis vor kurzem noch für eine seriöse Bank geworben hatten, russisches Bier. Der Kontrast amüsierte sie, und nur mit Mühe konnte sie den für das Lesen zuständigen Teil ihres Gehirns davon überzeugen, daß es sich um das lateinische, nicht das kyrillische Alphabet handelte. Ein Stück weiter bewunderten sie den Obelisken – eine antike militärische Gedenksäule, deren Diebstahl teuer bezahlt worden war, damit eine moderne militärische Gedenksäule daraus hatte werden können. Sie gingen weiter. Der Heer hatte die Verabredung mit Ellie abgesagt, zumindest war es darauf hinausgelaufen. Er hatte sie am Morgen angerufen und sich entschuldigt, aber keinen besonders niedergeschlagenen Eindruck gemacht. Die Plenarsitzung habe so viele politische Probleme aufgeworfen, die vordringlich besprochen werden müßten. Der Außenminister würde seinen Aufenthalt auf Kuba unterbrechen und morgen nach Paris kommen. Er habe alle
Hände voll zu tun, und er hoffe, Ellie habe dafür Verständnis. Sie hatte. Und sie haßte sich dafür, daß sie immer noch mit ihm schlief. Um den Nachmittag nicht allein verbringen zu müssen, hatte sie Devi Sukhavati angerufen. »Eines der Wörter für siegreich in Sanskrit ist abhijit. So hieß im alten Indien auch die Wega. Abhijit. Unter dem Einfluß der Wega bezwangen die Hindugötter, die Helden unserer Kultur, die Asuras, die Götter des Bösen. Ellie, hören Sie mir überhaupt zu?… Kurioserweise gibt es auch in Persien Asuras. Aber in Persien sind sie die Götter des Guten. Dann entwickelten sich Religionen, in denen der höchste Gott, der Gott des Lichtes oder Sonnengott, Ahura-Masda hieß. Zum Beispiel der Zoroastrismus und der Mithraskult. Ahura und Asura bedeuten dasselbe. Anhänger des Zoroastrismus gibt es heute noch, und die Anhänger des Mithraskultes haben den frühen Christen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Aber in jener Geschichte werden die Hindugötter, die übrigens vornehmlich weiblich sind, Devis genannt. Daher kommt auch mein eigener Name. In Indien sind die Devis Götter des Guten. In Persien wurden sie zu Göttern des Bösen. Einige Gelehrte glauben, daß das englische Wort devil hier seinen Ursprung hat. Die Entsprechungen gehen quer durch die Sprachen. Wahrscheinlich liegt dem allen eine vage Erinnerung an die Invasion der Arier zugrunde, die die Drawiden, meine Vorfahren, in den Süden verdrängten. Also, je nachdem, auf welcher Seite der Kirthar-Kette man lebt, unterstützt die Wega entweder Gott oder den Teufel.« Offenbar hatte Devi von Ellies religiösen Abenteuern in Kalifornien gehört und wollte sie jetzt mit dieser lustigen Geschichte unterhalten. Ellie war ihr dafür dankbar. Aber es erinnerte sie auch daran, daß sie Joss gegenüber die Möglichkeit, daß die BOTSCHAFT der Konstruktionsplan für eine Maschine mit unbekanntem Zweck sein könnte, nicht einmal erwähnt hatte. Jetzt würde er es
durch die Medien erfahren. Eigentlich hätte sie ihn anrufen und ihm die neuesten Entwicklungen erklären müssen. Aber Joss hatte sich laut Presseberichten an einen abgeschiedenen Ort zurückgezogen. Er hatte nach ihrer Zusammenkunft in Modesto keine öffentliche Erklärung abgegeben. Rankin hatte in einer Pressekonferenz verkündet, daß er trotz aller Gefahren nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn Wissenschaftler die BOTSCHAFT empfingen. Mit der Übersetzung sei es allerdings etwas anderes. Hier sei seiner Meinung nach die regelmäßige Überwachung durch alle Schichten der Gesellschaft erforderlich, vor allem durch jene, die mit der Wahrung der geistigen und moralischen Werte betraut seien, Sie kamen jetzt in die Tuilerien, die in herbstlichen Farben leuchteten. Drei alte, gebrechliche Männer – dem Aussehen nach zu schließen Südostasier – führten einen erregten Wortwechsel. Die alten schmiedeeisernen Tore waren geschmückt mit bunten, zum Verkauf angebotenen Luftballons. In der Mitte eines Wasserbeckens stand eine marmorne Statue der Amphitrite. Um sie herum schaukelten kleine Segelschiffe im Wasser, mit denen eine ausgelassene Schar kleiner Jungen und Mädchen die Erdumsegelung Magellans probte. Plötzlich schoß ein dicker Wels aus dem Wasser und brachte die Boote zum Kentern. Die Kinder erschraken über die völlig unerwartete Erscheinung und verstummten. Die Sonne stand schon tief im Westen, und Ellie fröstelte leicht. Sie gingen weiter zur Orangerie, in deren Nebengebäude eine Sonderausstellung stattfand. »Bilder vom Mars« verkündete das Plakat. Die auf den Mars gebrachten Fahrzeuge, ein Gemeinschaftsprojekt der Vereinigten Staaten, Frankreichs und der Sowjetunion, hatten völlig unerwartet spektakuläre Farbaufnahmen zur Erde gefunkt. Einige davon waren wie die 1980 gesendeten Bilder des Voyager vom äußeren Sonnensystem nicht nur von wissenschaftlichem
Nutzen, sondern darüber hinaus von solcher Schönheit, daß sie Kunstwerken gleichkamen. Das Ausstellungsplakat zeigte eine Landschaft, die auf dem riesigen Elysium-Plateau photographiert worden war. Im Vordergrund sah man eine dreiseitige Pyramide. Sie war alt und verwittert und zeigte dicht über dem Boden einen Einschlagkrater. Nach Ansicht der Experten war sie in Jahrmillionen von den Marswinden wie durch ein Sandstrahlgebläse geformt worden. Ein zweites Fahrzeug war im Bereich Cydonia auf der anderen Seite des Mars in einer Wanderdüne steckengeblieben, und das Kontrollzentrum in Pasadena war bisher nicht in der Lage gewesen, auf die verzweifelten Hilferufe zu reagieren. Ellie war von Devis Erscheinung, von ihren großen schwarzen Augen, ihrer geraden Haltung und dem prächtigen Sari fasziniert. So gut sah sie selbst nicht aus, mußte sie sich gestehen. Sonst konnte sie immer ihren Teil zu einer Unterhaltung beitragen, auch wenn sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Aber heute tat sie sich schwer, auch nur einem Gedanken zu folgen, von zweien ganz zu schweigen. Während sie über den Streit diskutierten, der um den Bau der Maschine entbrannt war, mußte sie immer wieder an die Invasion der Arier in Indien vor 3500 Jahren denken, von der Devi gesprochen hatte: ein Krieg zweier Völker, die beide den Sieg für sich beansprucht und ihre historischen Berichte dementsprechend patriotisch zurechtgebogen hatten. Zuletzt wurde die Geschichte dann zu einem Krieg der Götter umgestaltet. »Unsere« Seite war natürlich die gute. Die andere Seite die böse. Ellie malte sich aus, wie der spitzbärtige Teufel des Westens mit Schwanz und Pferdefuß sich langsam aus seinem hinduistischen Vorfahren entwickelt hatte, der, soweit sie wußte, den Kopf eines Elefanten hatte und blau angemalt war.
»Vielleicht ist Barudas Idee vom Trojanischen Pferd gar nicht so abwegig«, sagte sie. »Aber, wie Xi gesagt hat, wir haben keine Wahl. Wenn sie wollen, können sie tatsächlich in gut zwanzig Jahren hiersein.« Sie waren bei dem monumentalen Bogen im römischen Stil angekommen, den die heroisch verklärte Statue Napoleons krönte, der einen Triumphwagen lenkte. Wie kläglich mußte diese Pose aus der Ferne, also aus extraterrestrischer Sicht, wirken. Sie setzten sich auf eine Bank, und ihre langen Schatten fielen auf ein Blumenbeet, das in den Farben der französischen Republik bepflanzt war. Ellie hätte zu gern über ihre privaten Probleme gesprochen, aber sie fürchtete politische Folgen und wollte nicht indiskret sein. Sie kannte Devi Sukhavati nicht besonders gut. Deshalb ermutigte sie ihre Begleiterin, von sich zu erzählen. Devi ging bereitwillig darauf ein. Sie war in eine brahmanische, allerdings nicht sehr wohlhabende Familie mit matriarchalischen Strukturen hineingeboren worden. In dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu waren matriarchalische Haushalte noch immer verbreitet. Dann hatte sie an der Hinduuniversität von Benares Medizin studiert. In England lernte sie Surindar Ghosh kennen, einen Kommilitonen, in den sie sich über alles verliebte. Aber Surindar war ein Unberührbarer. Er gehörte zu einer Kaste, vor der man sich so sehr ekelte, daß der bloße Anblick eines zu ihr gehörenden Menschen für einen orthodoxen Brahmanen als Beschmutzung galt. Surindars Vorfahren waren gezwungen gewesen, ihr Leben während der Nacht zu führen, wie die Fledermäuse und Eulen. Devis Familie drohte, sie zu enterben, wenn sie ihn heiratete. Ihr Vater erklärte, daß er keine Tochter habe, die solch eine Verbindung in Erwägung ziehe. Wenn sie Ghosh heirate, würde er um sie wie um eine Tote trauern. Sie heiratete ihn trotzdem. »Wir liebten uns zu sehr«, sagte sie.
»Ich konnte nicht anders.« Ein Jahr später war er an einer Blutvergiftung gestorben, die er sich bei einer unzureichend beaufsichtigten Autopsie zugezogen hatte. Statt sich mit ihrer Familie zu versöhnen, kam es nach Surindars Tod zum endgültigen Bruch. Nach Abschluß ihres Medizinstudiums beschloß Devi, in England zu bleiben. Ihr Studium führte sie wie von selbst zur Molekularbiologie, für die sie ein besonderes Interesse hatte. Bald stellte sich heraus, daß sie eine wirkliche Begabung für diese Disziplin, in der es auf größte Genauigkeit ankam, besaß. Die Kenntnis der Nukleinsäurereplikation führte sie zu Forschungen über den Ursprung des Lebens, und das wiederum brachte sie darauf, Leben auch auf anderen Planeten zu vermuten. »Man könnte sagen, daß sich meine wissenschaftliche Karriere ganz zwanglos ergeben hat. Eines ergab sich aus dem anderen.« In letzter Zeit hatte sie an der Erforschung organischer Substanzen vom Mars gearbeitet, zu denen Messungen jener Fahrzeuge vorlagen, von denen auch das überwältigende Bildmaterial der Ausstellung stammte. Devi hatte nicht wieder geheiratet, obwohl ihr, wie sie durchblicken ließ, einige Männer den Hof machten. In letzter Zeit war sie mit einem Wissenschaftler aus Bombay befreundet gewesen, den sie einen »Computerwallach« nannte. Sie standen auf und schlenderten weiter in den Cour Napoleon, den Innenhof des Louvre. In der Mitte war der gerade erst vollendete, heftig umstrittene pyramidenförmige Eingang zum Museum zu sehen, und rund um den Hof waren in hochgelegenen Nischen Skulpturen der Helden Frankreichs aufgestellt. Unter jeder Statue stand der Name des geehrten Mannes – Frauen waren kaum darunter. In dem einen oder anderen Fall waren die Buchstaben verwittert, oder vielleicht von Passanten, die sich darüber aufgeregt hatten, weggekratzt worden. Bei einigen Statuen war es fast unmöglich, den
Namen zu rekonstruieren, um herauszufinden, wer der große Gelehrte war. Bei einer, die offensichtlich am meisten Unmut in der Öffentlichkeit hervorgerufen hatte, waren nur noch die Buchstaben LTA übriggeblieben. Die Sonne ging unter, und es wurde kühl. Obwohl der Louvre noch geöffnet hatte, gingen sie nicht hinein, sondern spazierten am Quai d’Orsay das Seineufer entlang. An den Bücherständen wurden die Rolläden heruntergelassen und das Geschäft für den Tag geschlossen. Sie schlenderten weiter, nach europäischer Manier untergehakt. Nur wenige Schritte vor ihnen ging ein französisches Ehepaar mit seiner kleinen Tochter. Vater und Mutter hielten die Kleine an den Händen und schwangen sie immer wieder hoch in die Luft. Und das Kind jauchzte jedesmal vor Vergnügen, wenn es den Boden unter den Füßen verlor. Die Eltern unterhielten sich währenddessen über das Weltkonsortium. Das war sicher kein Zufall, da in den Zeitungen über fast nichts anderes mehr berichtet wurde. Der Vater war für den Bau der Maschine, denn vielleicht wurden dabei neue Technologien entwickelt und in Frankreich neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Mutter war vorsichtiger, konnte ihre Gründe aber nur schwer in Worte fassen. Der kleinen Tochter mit ihren fliegenden Zöpfen dagegen war es völlig egal, was die Erwachsenen mit den Konstruktionsplänen von einem anderen Stern anfingen. Der Heer, Kitz und Honicutt hatten für den nächsten Tag frühmorgens eine Sitzung in der amerikanischen Botschaft anberaumt, um sich auf die Ankunft des amerikanischen Außenministers am gleichen Tag vorzubereiten. Die Sitzung war geheim und wurde im »Schwarzen Zimmer« der Botschaft abgehalten, das elektromagnetisch von der Außenweit abgeschirmt war, eine Vorsichtsmaßnahme, die selbst die raffiniertesten elektronischen Abhörgeräte wirkungslos
machte. Zumindest behauptete man das. Aber vielleicht, dachte Ellie, entwickelte man einmal Instrumente, die diesem Hin und Her von Vorsichtsmaßnahmen ein Ende setzten. Sie hatte die Nachricht am Abend nach ihrem Treffen mit Devi Sukhavati in ihrem Hotel vorgefunden. Sie hatte versucht, Der Heer anzurufen, hatte aber nur Michael Kitz erreichen können. Sie lehne eine geheime Sitzung über dieses Thema ab, hatte sie ihm gesagt, und zwar prinzipiell. Die BOTSCHAFT richte sich eindeutig an alle Bewohner des Planeten. Kitz hielt ihr entgegen, daß dem Rest der Welt keinerlei Datenmaterial vorenthalten werde, zumindest nicht von den Amerikanern. Das Treffen habe nur beratende Funktion, um die Vereinigten Staaten bei den bevorstehenden Verhandlungen über das weitere Verfahren zu unterstützen. Er appellierte an ihren Patriotismus und ihr Eigeninteresse, und zu guter Letzt führte er die Hadden Decision ins Feld. »Soviel ich weiß, liegt dieses Ding noch immer ungelesen in Ihrem Safe«, sagte er mit Nachdruck. Wieder versuchte Ellie, Der Heer zu erreichen, und wieder hatte sie keinen Erfolg. Zuerst lief einem dieser Mann wie ein falscher Fünfziger überall in Argus über den Weg. Dann zog er bei einem in die Wohnung ein. Man glaubte, daß man zum ersten Mal richtig verliebt war. Und im nächsten Augenblick konnte man ihn noch nicht einmal mehr ans Telephon bekommen. Sie beschloß, zu dem Treffen zu gehen, und wenn deshalb, um Ken von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Kitz setzte sich begeistert für den Bau der Maschine ein, Drumlin befürwortete ihn vorsichtig, Der Heer und Honicutt gaben sich zumindest nach außen neutral und Valerian kämpfte noch um eine Entscheidung. Kitz und Drumlin sprachen sogar schon darüber, wo man das Ding bauen könnte. Allein die Frachtkosten machten die Herstellung oder auch nur die
Montage auf der Rückseite des Mondes untragbar teuer, wie Xi bereits vermutet hatte. »Wenn wir mit einer aerodynamischen Bremse arbeiten, ist es billiger, ein Kilo zum Phobos oder Demos zu schicken als auf die Rückseite des Mondes«, meinte Bobby Bui. »Wer zum Teufel sind Phobos und Demos?« wollte Kitz wissen. »Die Monde des Mars. Ich sprach über eine aerodynamische Bremse unter den atmosphärischen Bedingungen des Mars.« »Und wie lange braucht man, um bis zum Phobos oder Demos zu kommen?« fragte Drumlin und rührte heftig in seiner Kaffeetasse. »Vielleicht ein Jahr, aber sobald wir eine Flotte interplanetarer Transportfahrzeuge haben und die Pipeline gefüllt ist – « »Verglichen mit drei Tagen zum Mond?« Drumlins Kaffee schwappte über. »Hören Sie auf, unsere kostbare Zeit zu verschwenden.« »Das war doch nur ein Vorschlag«, wehrte er sich. »Zum Nachdenken.« Der Heer war ungeduldig und nicht richtig bei der Sache. Er stand deutlich unter großem Druck – immer wieder wich er ihren Augen aus, und dann sah er sie wieder flehentlich an. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung. »Wenn Sie befürchten, daß die Maschine die Erde zerstören könnte«, sagte Drumlin, »dann müssen Sie sich auch überlegen, wo die Energie dafür herkommen soll. Wenn eine solche Maschine nicht über riesige Energien verfügt, kann sie die Erde nicht zerstören. Solange also die Anweisungen nicht einen Atomreaktor im Gigawattbereich vorschreiben, glaube ich nicht, daß wir uns deswegen Sorgen zu machen brauchen.« »Warum sind Sie eigentlich so schnell bereit, die Maschine zu bauen?« fragte Ellie. Die Frage war an Kitz und Drumlin
gerichtet, die mit einem Teller Croissants zwischen sich nebeneinandersaßen. Kitz schaute zuerst Honicutt und dann Der Heer an, bevor er antwortete. »Dies ist eine geheime Sitzung«, begann er. »Wir wissen, daß Sie Ihren russischen Freunden nichts von dem weitergeben, was hier besprochen wird. Die Sache ist die: Wir wissen noch nichts über den Zweck der Maschine, aber aus Dave Drumlins Analysen geht eindeutig hervor, daß neue Technologien in ihr stecken, vielleicht sogar ganze neue Industrien. Der Bau der Maschine ist daher von großem wirtschaftlichen Interesse – ich meine, wir können sicher viel daraus lernen. Vielleicht auch in militärischer Hinsicht. Davon sind zumindest die Russen überzeugt. Sehen Sie, die Russen sitzen in der Klemme. Hier eröffnet sich ein völlig neues Gebiet der technologischen Entwicklung, auf dem sie mit den USA mithalten müßten. Die BOTSCHAFT könnte ja Anweisungen für eine Waffe enthalten, die dem, der sie hat, einen entscheidenden Vorteil sichert. Oder aber sie verhilft zu einem bedeutenden wirtschaftlichen Vorsprung. Die Russen wissen es nicht. Der Bau der Maschine würde ihre Wirtschaft ruinieren. Haben Sie nicht bemerkt, wie Baruda immer wieder auf die Kosten-Nutzen-Relation hinwies? Wenn es die BOTSCHAFT überhaupt nicht gäbe, wenn die Daten verbrannt und die Teleskope zerstört würden, dann könnten die Russen das militärische Gleichgewicht aufrechterhalten. Deshalb sind sie so vorsichtig. Und deshalb sind wir natürlich so dahinter her.« Kitz lächelte. Kitz war ein farbloses Temperament, dachte Ellie, aber er war alles andere als dumm. Wenn er sich kühl und verschlossen gab, schreckte er die Menschen ab. Deshalb hatte er sich im Laufe der Zeit eine Fassade weltmännischer Gewandtheit zugelegt. Ellie ließ sich davon nicht täuschen. »Jetzt möchte ich Ihnen eine Frage stellen«, fuhr er fort. »Haben Sie Barudas Bemerkung mitbekommen,
daß einige Daten zurückgehalten werden? Fehlen tatsächlich Daten?« »Nur einige vom Anfang«, erwiderte sie. »Ich glaube, nur ein paar aus den allerersten Wochen. Bei den Chinesen gab es kurz danach noch einige Lücken. Und alle Länder haben noch ein paar Daten, die noch nicht ausgetauscht worden sind. Aber ich sehe keine Anzeichen dafür, daß jemand Daten für sich behält. Wir werden sowieso alle fehlenden Teile auffangen, wenn die BOTSCHAFT wiederholt wird.« »Wenn sie wiederholt wird«, brummte Drumlin. Der Heer brachte die Diskussion darauf, wie man sich verhalten solle, wenn der Fall eine unvorhergesehene Wendung nahm. Was wollte man tun, wenn tatsächlich der Schlüssel zum Code gesendet wurde? Welche amerikanischen, deutschen und japanischen Industrien waren frühzeitig über größere Entwicklungsvorhaben zu verständigen? Wie sollte man feststellen, welche Wissenschaftler und Ingenieure die richtigen für den Bau der Maschine waren, wenn man sich erst einmal dazu entschlossen hatte? Und nicht zuletzt ging es auch darum, den Kongreß und die amerikanische Öffentlichkeit für das Projekt zu begeistern. Der Heer fügte hastig hinzu, daß dies alles nur Möglichkeiten waren, die es durchzuspielen galt, daß noch keine endgültige Entscheidung getroffen sei und daß die sowjetischen Sorgen, es könne sich um eine Art Trojanisches Pferd handeln, zumindest teilweise durchaus begründet seien. Kitz fragte nach der Zusammensetzung der Besatzung für die Maschine. »Der Plan sieht vor, daß wir Menschen in die fünf Sessel setzen. Wer kommt dafür in Frage? Und wie soll man das entscheiden? Es müßte eine internationale Crew sein. Wie viele Amerikaner? Wie viele Russen? Wer noch? Wir wissen nicht, was mit diesen fünf Menschen passiert, wenn sie sich in
die Sessel setzen, aber wir wollen nur die besten Männer für diesen Auftrag.« Ellie reagierte nicht auf Kitz’ Provokation, und er sprach weiter: »Im Moment ist eine wichtige Frage, wer wofür bezahlt, wer was baut und wer sich um die Systemintegration kümmert. Ich glaube, wir können hier einen Kuhhandel machen im Austausch gegen eine größere amerikanische Vertretung in der Besatzung.« »Aber wir wollen nur die Besten schicken«, protestierte Der Heer etwas zu auffällig. »Sicher«, erwiderte Kitz, »aber was heißt ›die Besten‹? Wissenschaftler? Spezialisten der militärischen Spionageabwehr? Brauchen wir Körperkraft und Durchhaltevermögen? Patriotismus? Übrigens kein anrüchiges Wort. Und dann « – er deutete mit dem Messer, mit dem er sich gerade ein Croissant mit Butter bestrich, auf Ellie – »stellt sich noch die Frage des Geschlechts. Der Geschlechter, meine ich. Schicken wir nur Männer? Wenn wir Männer und Frauen schicken, dann sind die einen in der Überzahl. Es gibt fünf Plätze, eine ungerade Zahl. Kommen alle Mitglieder der Crew gut miteinander aus? Wenn wir unser Projekt weiterverfolgen, stehen uns eine ganze Reihe harter Verhandlungen bevor.« »Was Sie sagen, finde ich nicht richtig«, sagte Ellie. »Hier geht es nicht um einen politischen Posten, den man sich mit einer Wahlspende erkaufen kann. Das hier ist eine ernste Angelegenheit. Oder wollen Sie einen Muskelprotz da hinaufschicken? Oder Kinder von zwanzig Jahren, die keine Ahnung vom Leben haben – die nur wissen, wie man einen anständigen Hundertmetersprint hinlegt und Befehlen gehorcht? Oder einen politischen Ehrgeizling? Darum kann es bei einer solchen Reise nicht gehen.«
»Sie haben recht«, antwortete Kitz lächelnd. »Aber ich glaube, wir finden schon die Leute, die alle unsere Kriterien erfüllen.« Der Heer, der mit seinen dunklen Rändern unter den Augen fast abgehärmt aussah, beendete die Sitzung. Als er an Ellie vorbeikam, lächelte er ihr kurz zu, aber es waren nur seine Lippen, die lächelten, der Mund öffnete sich nicht. Draußen warteten schon die Limousinen der Botschaft, die sie in den Elysée-Palast zurückbringen sollten. »Ich werde Ihnen sagen, warum es besser ist, nur Russen zu schicken« erklärte Waygay. »Als eure Vorfahren, die Pioniere, die Trapper, die indianischen Scouts usw. den amerikanischen Kontinent erschlossen haben, hat euch keiner Widerstand geleistet, zumindest niemand, der über den gleichen Stand der Technik verfügt hätte. Im Sturmschritt habt ihr euren Kontinent vom Atlantik bis zum Pazifik in Besitz genommen. Und nach einer gewissen Zeit seid ihr fest davon ausgegangen, daß alles so einfach ist. Bei uns war das ganz anders. Wir wurden von den Mongolen besiegt. Ihre Reitertechnik war der unseren weit überlegen. Und als wir uns Richtung Osten ausbreiteten, waren wir sehr vorsichtig. Wenn wir unbekanntes Land durchquerten, erwarteten wir nie, daß es einfach war. Wir sind auf Feindseligkeiten viel mehr eingestellt als ihr. Außerdem haben die Amerikaner sich daran gewöhnt, technisch einen Vorsprung zu haben. Und wir sind es gewöhnt, technisch ständig aufholen zu müssen. Aber vor der BOTSCHAFT ist jeder auf der Erde ein Russe – Sie verstehen, ich meine, angesichts des jetzigen Standes der technischen Entwicklung auf der Erde. Deshalb braucht diese Mission die Russen mehr als die Amerikaner.« Wenn sich Waygay mit Ellie allein traf, bedeutete das immer ein gewisses Risiko für ihn – und für Ellie auch, wie Kitz ihr überdeutlich zu verstehen
gegeben hatte. Hin und wieder bekam Waygay auf einer wissenschaftlichen Tagung in Amerika oder Europa die Erlaubnis, einen Nachmittag mit ihr zu verbringen. Meistens begleitete ihn ein Babysitter vom KGB, der als Übersetzer vorgestellt wurde, auch wenn sein Englisch viel schlechter war als Waygays, oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter irgendeines Ausschusses der Akademie, obwohl sich seine wissenschaftlichen Kenntnisse oft als sehr oberflächlich entpuppten. Waygay schüttelte nur den Kopf, wenn sie ihn über diese Leute ausfragte. Aber im großen und ganzen betrachtete er die Babysitter als einen Teil des Spiels, als den Preis, den man dafür bezahlen mußte, daß man in den Westen ausreisen durfte. Und mehr als einmal glaubte Ellie, einen liebevollen Klang in Waygays Stimme zu hören, wenn er mit dem Babysitter sprach. In ein fremdes Land zu kommen und so zu tun, als sei man Experte auf einem Gebiet, von dem man fast keine Ahnung hatte, mußte Angst machen. Vielleicht war den Babysittern ihre Aufgabe in ihrem innersten Herzen genauso zuwider wie Waygay. Sie saßen am selben Fenstertisch im Chez Dieux wie das letzte Mal. Draußen wehte ein kühler Wind, der Winter schickte seine Vorboten. Der junge Mann, der an den Fässern mit den eisgekühlten Austern vor dem Fenster vorbeischritt, trug als einziges Zugeständnis an den kalten Spaziergang einen langen blauen Schal. Aus Lunatscharskis wiederholten und für ihn gar nicht typischen vorsichtigen Bemerkungen schloß Ellie auf Verwirrung in der sowjetischen Delegation. Die Russen befürchteten, daß die Maschine in dem seit fünf Jahrzehnten anhaltenden Wettstreit zum strategischen Vorteil der Vereinigten Staaten ausschlagen könnte. Freilich war Waygay schockiert gewesen, als Baruda von der Möglichkeit gesprochen hatte, die Daten zu verbrennen und die Radioteleskope zu vernichten. Er war vorher nicht über Barudas Position informiert gewesen. Die
Russen hatten beim Zusammentragen der einzelnen Seiten der BOTSCHAFT eine entscheidende Rolle gespielt, da sie von allen Nationen die längsten Empfangsstrecken abdeckten, wie Waygay betonte, und sie verfügten über die einzigen wirklich brauchbaren Hochseeradioteleskope. Sie erwarteten deshalb, daß sie auch beim nächsten Schritt eine größere Rolle spielen würden. Ellie versicherte ihm, daß sie, soweit es nach ihr ging, diese Rolle auch spielen sollten. »Hören Sie mal, Waygay, auf der Wega weiß man durch unsere Fernsehübertragungen, daß sich die Erde dreht und daß es viele verschiedene Nationen gibt. Das konnten sie allein aus der Olympia-Sendung schließen. Spätere Fernsehsendungen von anderen Nationen haben das noch bestätigt. Wenn sie also so gut sind, wie wir glauben, dann hätten sie ihre Übertragung so mit der Erdrotation abstimmen können, daß nur eine Nation die BOTSCHAFT empfangen hätte. Sie haben es nicht getan. Sie wollten, daß alle auf dem Planeten sie bekommen. Sie erwarten, daß wir alle zusammen die Maschine bauen. Es kann überhaupt kein ausschließlich amerikanisches oder russisches Unternehmen sein. Das entspräche nicht der Absicht unserer… Auftraggeber.« Aber sie sei sich nicht sicher, fuhr Ellie fort, ob sie selbst überhaupt eine Rolle bei der Entscheidung über den Bau der Maschine oder die Auswahl der Besatzung spielen würde. Sie flog am nächsten Tag in die Vereinigten Staaten zurück, hauptsächlich, um sich über die neuesten Radiodaten der letzten Wochen zu informieren. Ein Ende der Plenarsitzungen des Konsortiums war nicht abzusehen. Waygay war von seiner Regierung ersucht worden, noch länger zu bleiben. Der sowjetische Außenminister war gerade eingetroffen und hatte die Führung der sowjetischen Delegation übernommen. »Ich fürchte, daß das alles ein schlimmes Ende nimmt«, sagte er. »So vieles kann schiefgehen. Technisches Versagen.
Politisches Versagen. Menschliches Versagen. Und selbst wenn wir das alles durchstehen, wenn es zu keinem Krieg wegen der Maschine kommt und wenn wir sie richtig zusammenbauen und uns dabei nicht selbst in die Luft jagen, mache ich mir immer noch Sorgen.« »Aber worüber? Was meinen Sie denn?« »Im besten Fall wird man uns fürchterlich zum Narren gehalten haben.« »Wer denn?« »Ellie, können Sie sich das nicht denken?« Eine Ader trat an Lunatscharskis Hals hervor. »Ich bin wirklich erstaunt, daß Sie das nicht sehen. Die Erde ist ein… Ghetto. Ja, ein Ghetto. Wir sind alle hier eingesperrt. Nur vage haben wir davon gehört, daß es außerhalb des Ghettos große Städte geben soll mit breiten Boulevards voller Droschken und schöner parfümierter Frauen in Pelzen. Aber die Städte sind viel zu weit weg und wir viel zu arm, um jemals dorthin fahren zu können, selbst die Reichsten von uns. Ohnehin will man uns dort nicht. Deshalb haben sie uns von vorneherein auch in diesem kläglichen kleinen Dorf zurückgelassen. Und jetzt kommt diese Einladung, wie Xi sich ausdrückte. Eine exquisite Einladung. Man schickt sie uns auf handgeschöpftem Bütten mit Goldprägung, und dazu kommt eine leere Droschke. Wir sollen fünf Dorfbewohner schicken, und die Droschke wird sie nach – wer weiß wohin? – nach Warschau bringen. Oder Moskau. Vielleicht sogar Paris. Natürlich ist für einige die Versuchung groß, darauf einzugehen. Es wird immer Menschen geben, die sich von der Einladung geschmeichelt fühlen oder die glauben, daß sie auf diese Weise unserem schäbigen Dorf entfliehen können. Und was denken Sie, was passieren wird, wenn wir dort ankommen? Glauben Sie, daß uns der Großherzog zum Dinner einlädt? Wird uns der Präsident der Akademie interessierte Fragen über den Alltag in der Provinz stellen?
Oder glauben Sie, daß sich der Metropolit der russischorthodoxen Kirche für eine gelehrte Unterhaltung über vergleichende Religionswissenschaften erwärmen läßt? Nein, Ellie. Wir werden in der riesigen Stadt mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen dastehen, und sie werden mit vorgehaltener Hand über uns lachen. Sie werden uns für Neugierige zur Schau stellen. Und je rückständiger wir sind, desto besser und beruhigter werden sie sich fühlen. Und alle paar Jahrhunderte sind wieder fünf von uns an der Reihe, ein Wochenende auf der Wega verbringen. Man wird die Provinzler bedauern, aber zugleich klarstellen, wer hier der Überlegene ist.«
13 Babylon Siehe, mit solchen Leuten ging ich meines Weges auf den Straßen Babylons… Augustinus Bekenntnisse, II, 3
Der-CRAY-21-Mainframe-Computer auf Argus hatte die Aufgabe, die tägliche Ausbeute an Daten von der Wega mit den zuerst gespeicherten Aufzeichnungen der dritten Schicht des Palimpsests zu vergleichen. Das sah so aus, daß jede neue lange und unverständliche Sequenz von Nullen und Einsen automatisch mit anderen, früheren solcher Sequenzen verglichen wurde. Es war Teil einer umfassenden statistischen Vergleichsstudie verschiedener Segmente des noch immer nicht entschlüsselten Textes. Einige kürzere solcher Folgen – »Wörter« nannten die Experten sie erwartungsvoll – wurden ständig wiederholt. Andere Sequenzen tauchten nur einmal auf Tausenden von Textseiten auf. Diese statistische Methode zur Entschlüsselung von Texten war Ellie seit ihrer Zeit an der Highschool vertraut. Die Programme, die von den Experten der Nationalen Sicherheitsbehörde zur Verfügung gestellt worden waren – nur auf direkte Anordnung der Präsidentin und zusätzlich mit einer Sicherheitssperre, aufgrund derer das Programm gelöscht wurde, wenn es jemand genauer untersuchte –, waren phantastisch.
Ellie staunte immer wieder, wieviel Energie und Erfindungsgabe die Supermächte darauf verwendeten, um jeweils die Post des anderen lesen zu können. Der tiefe Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion verschlang trotz seiner allmählichen Lockerung immer noch riesige Mengen an Kraft und Mitteln. Das betraf nicht nur die Unsummen von Geld, die die Nationen für ihre Armeen ausgaben. Die beliefen sich bereits auf fast zwei Billionen Dollar jährlich, was angesichts des in vielen Ländern herrschenden Elends heller Wahnsinn war. Noch viel größer war die geistige Energie, die in das Wettrüsten investiert wurde. Schätzungsweise war fast die Hälfte der Wissenschaftler auf dem Planeten in der einen oder anderen der fast zweihundert militärischen Einrichtungen der Welt angestellt. Und sie waren nicht der Bodensatz der Doktorandenprogramme in Physik und Mathematik. Mit diesem Gedanken trösteten sich nur einige ihrer Kollegen, wenn sie in die unangenehme Situation kamen, einem frischgebackenen Doktor einen Rat geben zu müssen, der von einem militärischen Labor umworben wurde. »Wenn er wirklich gut wäre, hätte man ihm eine Assistentenstelle in Stanford angeboten, wenn nicht noch mehr«, hatte Ellie Drumlin einmal sagen hören. Nein, es war ein ganz bestimmter Charaktertyp mit einer ganz bestimmten Mentalität, der sich von der militärischen Anwendung physikalischer und mathematischer Erkenntnisse angezogen fühlte – Menschen, die beispielsweise große Explosionen liebten; oder Menschen, die den physischen Zweikampf scheuten, die aber, um sich für ein während ihrer Schulzeit erlittenes Unrecht zu rächen, nach militärischer Macht strebten; oder unverbesserliche Tüftler, die einfach möglichst kompliziert verschlüsselte Nachrichten entschlüsseln wollten. Manchmal war das Motiv auch eher politischer Natur und ließ sich auf internationale Streitigkeiten,
Einwanderungspolitik, schreckliche Kriegserlebnisse, Ausschreitungen der Polizei oder bereits Jahrzehnte zurückliegende internationale Propaganda einer Nation zurückführen. Viele dieser Wissenschaftler waren wirklich befähigt. Das mußte Ellie bei all ihren Vorbehalten gegen deren persönliche Motivation zugeben. Sie versuchte, sich vorzustellen, was wäre, wenn all diese Begabungen nur zum Wohlergehen der Menschheit und unseres Planeten eingesetzt würden. Sie brütete über den Untersuchungen, die sich während ihrer Abwesenheit angesammelt hatten. Sie kamen einfach nicht mit dem Entschlüsseln der BOTSCHAFT voran, obwohl die statistischen Analysen bereits zu einem riesigen Papierberg angewachsen waren. Es war zum Verzweifeln. Ellie wünschte, sie hätte eine enge Freundin auf Argus gehabt, der sie ihren Kummer und ihre ganze Empörung über Kens Verhalten hätte anvertrauen können. Aber da war niemand, und sie wollte in diesem Fall nicht zum Telephon greifen. Einmal konnte sie es einrichten, ihre Studienfreundin Becky Ellenbogen an einem Wochenende in Austin zu besuchen. Aber Becky, deren Wertschätzung von Männern in der Regel von sarkastisch bis vernichtend reichte, urteilte diesmal überraschend mild. »Er ist der Wissenschaftsberater der Präsidentin, und hier geht es um die aufregendste Entdeckung, die jemals in der Geschichte der Menschheit gemacht wurde. Du darfst nicht so streng mit ihm sein«, beschwichtigte Becky sie. »Er wird schon wieder zu dir zurückkommen.« Becky gehörte auch zu denen, die Ken »charmant« fanden. Sie war ihm einmal bei der Einweihung des National Neutrino Observatory begegnet. Und vielleicht machte sie Menschen mit Machtpositionen schon deswegen Zugeständnisse. Hätte Der Heer Ellie so schäbig behandelt, wenn er nur ein kleiner Professor für Molekularbiologie an irgendeiner unbekannten Universität
gewesen wäre, dann hätte Becky jetzt kein gutes Haar an ihm gelassen. Nach seiner Rückkehr aus Paris startete Der Heer eine regelrechte Entschuldigungskampagne. Er sei überanstrengt gewesen, sagte er, die schwierigen und ungewohnten Probleme, die er zu verantworten hatte, hätten ihn einfach erdrückt. In seiner Position als Haupt der amerikanischen Delegation und einer der Vorsitzenden der Konsortiumssitzungen hätte es ihm vielleicht abträglich sein können, wenn sein Verhältnis mit Ellie öffentlich bekannt geworden wäre. Kitz sei unausstehlich gewesen. Er habe viele Nächte hintereinander nur vier Stunden Schlaf gehabt. Alles in allem fand Ellie, daß er viel zu viele Entschuldigungen hatte. Dennoch ließ sie die Beziehung weiterlaufen wie bisher. Als es passierte, war es wieder Willie, der Nachtschicht hatte und es als erster bemerkte. Später schrieb es Willie weniger dem Echtzeitrechner und den Programmen der NASA als vielmehr den neuen Hadden-Kontexterkennungschips zu, daß man die neue Entdeckung so schnell hatte machen können. Jedenfalls stand die Wega ungefähr eine Stunde vor Tagesanbruch tief am Himmel, als der Computer ein kurzes Alarmsignal auslöste. Ärgerlich legte Willie das Buch, im dem er gerade las, zur Seite – es handelte sich um ein neues Lehrbuch über die Spektroskopie mit Hilfe der schnellen Fourier-Transformation – und sah folgenden Text auf dem Bildschirm erscheinen: RPT. TEXT PP. 41617-41619: BIT MISMATCH 0/2271. CORRELATION COEFFICIENT 0.99+ Als er genauer hinsah, wurde aus 41619 41620 und dann 41621. Die Zahlen nach dem Bindestrich gingen schnell und stetig in die nächsthöhere über. Sowohl die Seitenzahl als auch der Korrelationskoeffizient, der eine zufällige Korrelation
ausschloß, stiegen ständig. Er wartete noch zwei weitere Seiten ab, bevor er sich telephonisch mit Ellie in Verbindung setzte. Ellie hatte tief geschlafen. Schlaftrunken schaltete sie ihre Nachttischlampe an. Nach kurzer Besinnung ordnete sie an, das gesamte Team von Argus zusammenzutrommeln. Der Heer, der sich irgendwo auf der Anlage aufhalte, werde sie selbst verständigen, sagte sie zu Willie. Das war nicht schwierig. Sie rüttelte ihn wach. »Ken, wach auf. Es werden Wörter wiederholt.« »Was ist los?« »Die BOTSCHAFT fängt wieder von vorn an. Zumindest behauptet das Willie. Ich gehe schon voraus. Warte noch zehn Minuten, dann sieht es so aus, als hättest du die Nacht in deinem Zimmer im Gästehaus verbracht.« Ellie war schon fast zur Tür hinaus, als er hinter ihr herrief: »Wie können wir wieder am Anfang sein? Wir haben doch den Schlüssel zum Code noch gar nicht bekommen.« Über die Bildschirme rasten jeweils zwei Sequenzen von Nullen und Einsen, ein Datenvergleich in Echtzeit, also ein Vergleich der Daten, die gerade hereinkamen, mit den Daten einer früheren Textseite, die man vor einem Jahr auf Argus empfangen hatte. Das Computerprogramm würde alle Abweichungen aussortieren. Bis jetzt gab es freilich keine. Damit war klar, daß sie richtig transkribiert hatten, daß es offensichtlich keine Fehler bei der Übertragung gegeben hatte und daß es selten oder gar nicht vorgekommen war, daß eine dichte interstellare Wolke zwischen der Wega und der Erde eine Null oder Eins gelöscht hatte. Argus stand jetzt in gleichzeitiger Verbindung mit Dutzenden anderer Teleskope, die dem Weltkonsortium angehörten, und die Nachricht von dem Neuanfang der Botschaft wurde an die nächsten Beobachtungsstationen im Westen weitergegeben, also nach Kalifornien, Hawaii, auf die Marschall Nedelin, die jetzt im
Südpazifik lag, und weiter nach Sydney. Wäre die Entdeckung gemacht worden, während die Wega über einem der anderen Teleskope des Verbundsystems stand, hätte man Argus in gleicher Weise sofort verständigt. Daß nach wie vor der Schlüssel zur BOTSCHAFT fehlte, löste natürlich tiefe Enttäuschung aus, aber es war nicht die einzige Überraschung. Die Seitenzahlen der BOTSCHAFT waren von Zahlen um 40000 auf Zahlen um 10000 gesprungen, wo allerdings noch Vergleichsdaten fehlten. Immerhin hatte Argus die Sendung von der Wega anscheinend fast von ihrem ersten Eintreffen auf der Erde an empfangen. Das Signal war auffallend stark, so daß es selbst von rundumstrahlenden Teleskopen hätte aufgefangen werden können. Aber es war wirklich ein verblüffendes Zusammentreffen, daß die Botschaft gerade in dem Moment die Erde erreicht hatte, als Argus die Wega beobachtet hatte. Was konnte es bedeuten, daß der Text erst auf ungefähr Seite 10000 anfing? War es nur die reichlich rückständige Angewohnheit der provinzlerischen Erde, die Seitennumerierung von Büchern mit 1 zu beginnen? Oder waren diese fortlaufenden Zahlen gar keine Seitenzahlen, sondern etwas ganz anderes? Oder – und das beunruhigte Ellie am meisten – gab es grundlegende und unvermutete Unterschiede zwischen der Denkweise der Menschen und der Wegianer? Wenn dem so war, stellte das alle Versuche des Konsortiums, die BOTSCHAFT zu verstehen, ernsthaft in Frage, Schlüssel hin oder her. Die BOTSCHAFT wiederholte sich exakt, die Lücken wurden geschlossen, aber niemand konnte ein Wort davon lesen. Dabei war kaum anzunehmen, daß die sendende Zivilisation, die sonst so penibel war, die Notwendigkeit eines Schlüssels einfach übersehen hatte. Zumindest die OlympiaSendung und die Gestaltung des Innenraums der Maschine schienen speziell auf die Menschen zugeschnitten zu sein. Man
würde sich doch wohl kaum die Mühe machen, sich eine Botschaft auszudenken und zu senden, ohne irgendwelche Vorkehrungen zu treffen, daß die Menschen sie auch lesen konnten. Deshalb mußte etwas übersehen worden sein. Sehr bald gelangte man zu der allgemeinen Überzeugung, daß der Palimpsest noch eine vierte Schicht haben mußte. Aber wo? Die Diagramme waren in einer achtbändigen Prachtausgabe veröffentlicht worden, die bald auf der ganzen Welt nachgedruckt wurde. Überall auf der Erde versuchten Menschen, den Bildern auf die Spur zu kommen. Das Dodekaeder und die quasibiologischen Formen wirkten besonders anregend. Aus der Öffentlichkeit kamen viele kluge Anregungen, die das Argus-Team sorgfältig prüfte. Daneben kam es freilich vor allem in den Wochenzeitungen zu ebenso vielen haarsträubenden und oberflächlichen Interpretationen. Völlig neue Industrien schossen aus dem Boden – sicher nicht im Sinne der Erfinder der BOTSCHAFT –, die nur darauf aus waren, die Öffentlichkeit zu betrügen. In einer feierlichen Zeremonie kam es zur Gründung des Ordens vom Heiligen Dodekaeder. Für andere war die Maschine ein UFO oder das Rad des Ezechiel. In Brasilien offenbarte ein Engel die Bedeutung der BOTSCHAFT und der Diagramme einem Geschäftsmann, der seine Interpretation – am Anfang noch auf eigene Kosten – in der ganzen Welt vertrieb. Bei soviel geheimnisvollem Bildmaterial ließ es sich nicht vermeiden, daß viele Religionen in der BOTSCHAFT von den Sternen ihre eigene Ikonographie zu erkennen glaubten. Eine Querschnittzeichnung der Maschine sah wie eine Chrysantheme aus, was besonders in Japan viel Begeisterung hervorrief. Wenn auch noch ein menschliches Gesicht unter den Diagrammen aufgetaucht wäre, wäre der messianische Eifer in Massenhysterie umgeschlagen.
Tatsächlich liquidierten erstaunlich viele Geschäftsleute ihre Unternehmen in Erwartung der Wiederkunft Christi. Weltweit sank die Produktivität der Industrie. Viele hatten ihr Hab und Gut an die Armen verschenkt und mußten, als sich das Ende der Welt verzögerte, bei wohltätigen Einrichtungen oder dem Staat Hilfe suchen. Da diese Art Schenkungen häufig an solche Wohltätigkeitseinrichtungen ging, konnte es manchen dieser Philanthropen passieren, daß sie von ihrer eigenen Schenkung am Leben erhalten wurden. Delegationen drängten Staatsoberhäupter, die Spaltung der Kirche oder den Welthunger bis zum Erscheinen Christi auf Erden zu beenden, da man andernfalls für nichts garantieren könne. Andere kamen mehr im stillen zu dem Schluß, daß sich, wenn die ganze Welt tatsächlich für ein Jahrzehnt verrückt spielen wollte, daraus ein beachtlicher finanzieller oder nationaler Gewinn ziehen ließ. Einige Leute behaupteten, daß es gar keinen Schlüssel gebe und alles nur dazu da sei, die Menschen Demut und Bescheidenheit zu lehren oder sie in den Wahnsinn zu treiben. In Leitartikeln von Zeitungen wurden Überlegungen angestellt, daß die Menschen doch nicht so klug waren, wie sie glaubten, und ein gewisser Unmut gegen die Wissenschaftler wurde laut, die die Welt trotz der großzügigen Unterstützung seitens der Regierungen in dieser Notsituation im Stich ließen. Oder vielleicht waren die Menschen noch dümmer, als die Wegianer schon einkalkuliert hatten. Vielleicht gab es einen entscheidenden Punkt, der allen anderen, noch in der Entstehung begriffenen Zivilisationen, die so kontaktiert worden waren, völlig klar gewesen war, etwas, das bisher noch keiner anderen Welt der ganzen Geschichte der Galaxis entgangen war. Einige Kommentatoren vertraten diese Ansicht einer Demütigung der Erde vor dem ganzen Kosmos mit regelrechter Begeisterung. Sie sagten dabei nur offen, was sie
in versteckterer Form schon immer über die Menschen gesagt und gedacht hatten. Nach einiger Zeit beschloß Ellie, sich nach Hilfe umzusehen. Heimlich stahlen sie sich durch das Enlil-Tor. Begleitet wurden sie von einer Eskorte, die der Besitzer geschickt hatte. Der Beamte vom Allgemeinen Sicherheitsdienst war gereizt trotz oder gerade wegen der zusätzlichen Eskorte. Obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, waren die schmutzigen Straßen bereits von Öllampen und tropfenden Fackeln erleuchtet. Zwei Amphoren, von denen jede so groß war, daß ein ausgewachsener Mensch hineinpaßte, flankierten den Eingang zu einem Geschäft, in dem Olivenöl verkauft wurde. Die Reklame war in Keilschrift geschrieben. Das benachbarte öffentliche Gebäude war mit einem herrlichen Basrelief einer Löwenjagd aus der Regierungszeit König Assurbanipals geschmückt. Als sie sich dem Tempel von Assur näherten, war auf dem Platz davor gerade eine Schlägerei im Gange, und sie mußten mit ihrer Eskorte einen großen Bogen machen. Ellie hatte jetzt einen ungehinderten Blick auf die Zikkurat am Ende einer breiten, von Fackeln erleuchteten Prachtstraße. Es war noch atemberaubender als auf den Bildern. Ein kriegerischer Fanfarenstoß tönte aus einem Ellie unbekannten Blasinstrument. Dann rumpelte ein von einem Pferd gezogener Wagen vorbei, auf dem drei Männer standen. Der Wagenlenker trug eine phrygische Kopfbedeckung. Wie auf mittelalterlichen Darstellungen des Buches Genesis, auf denen Gott mahnend zu den Menschen sprach, war die Spitze der Zikkurat in dunkle Wolken gehüllt. Sie verließen die Straße von Ischtar und betraten die Zikkurat durch einen Seiteneingang. In dem Privataufzug drückte ihre Eskorte den Knopf für das oberste Stockwerk: Das Wort »Vierzig« leuchtete auf. Keine Zahlen. Nur das Wort. Und
dann leuchtete, um jeden Zweifel auszuschließen, auf einer Tafel auf: »Die Götter«. Mr. Hadden würde gleich kommen. Ob sie etwas zu trinken wünschte, während sie auf ihn wartete? In Anbetracht des Rufes, den dieser Platz genoß, lehnte Ellie ab. Zu ihren Füßen lag Babylon – die, wie jedermann bestätigen konnte, der hier gewesen war, wirklich hervorragend gelungene Nachschöpfung des seit langem untergegangenen Ortes. Tagsüber kamen ganze Busladungen von Museumsbesuchern, Schülern und Touristen am Ischtartor an, wo die Besucher zeitgemäß eingekleidet und dann auf eine Reise in die Vergangenheit geschickt wurden. Hadden spendete in weiser Voraussicht alle Einnahmen seiner Tageskundschaft an Wohltätigkeitseinrichtungen in New York City und Long Island. Die Tagestouren erfreuten sich größter Beliebtheit, boten sie doch unter anderem auch jenen Leuten die Möglichkeit, den Ort zu besuchen, die nicht im Traum darauf gekommen wären, sich nachts nach Babylon zu wagen. Nach Einbruch der Dunkelheit verwandelte sich Babylon in einen Vergnügungspark für Erwachsene. Hier gab es alles, was das Herz begehrte. Der Park stellte selbst die Reeperbahn in Hamburg an Größe, Üppigkeit und Einfallsreichtum in den Schatten. Er war mit Abstand die größte Touristenattraktion im Stadtgebiet von New York und zahlte die mit Abstand höchste Gewerbesteuer. Wie Hadden die Stadtväter New Yorks für Babylon gewonnen und sich eine Lobby für eine »Lockerung« der regionalen und staatlichen Prostitutionsgesetze verschafft hatte, war allgemein bekannt. Die Fahrt vom Zentrum Manhattans zum Ischtartor dauerte mit dem Zug eine halbe Stunde. Ellie hatte trotz der flehentlichen Bitten des Sicherheitsbeamten darauf bestanden, den Zug zu nehmen. Auf der Fahrt stellte sie fest, daß ein Drittel der Besucher Frauen waren. Die Züge waren nicht mit Graffiti verziert, und es bestand kaum die Gefahr, überfallen zu werden, aber dafür gab
es auch nur ein wirklich zweitklassiges weißes Rauschen verglichen mit den Zügen der New Yorker U-Bahn. Obwohl Hadden Mitglied der Nationalen Akademie der Ingenieurwissenschaften war, hatte er, soweit Ellie wußte, noch nie an einer Konferenz teilgenommen. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Trotzdem kannten Millionen Amerikaner sein Gesicht. Das war das Resultat einer vor Jahren gegen ihn gestarteten Kampagne des Berufsverbands der Werbung gewesen: »Der Unamerikaner« hatte unter einem wenig schmeichelhaften Photo von ihm gestanden. Dennoch fuhr Ellie erschrocken zusammen, als sie in ihren Träumereien vor der abgeschrägten Glaswand von einer kleinen, dicken Gestalt unterbrochen wurde, die sie mit einer Kopfbewegung zu sich winkte. »Oh, Entschuldigung. Ich kann immer noch nicht verstehen, daß sich jemand vor mir fürchtet.« Seine Stimme klang erstaunlich melodisch. Sie schien sich in Quinten auf und ab zu bewegen. Sich vorzustellen hielt er offensichtlich nicht für nötig. Wieder nickte er mit dem Kopf in Richtung der Tür, die hinter ihm offen stand. Da kaum anzunehmen war, daß ein Sexualverbrechen an ihr verübt werden sollte, folgte sie ihm wortlos in den nächsten Raum. Er führte sie zu dem liebevoll mit allen Details ausgestatteten Tischmodell einer antiken Stadt, die allerdings weniger prachtvoll war als Babylon. »Pompeji«, sagte er erklärend. »Es geht um das Stadion. Seit der Boxsport eingeschränkt wurde, gibt es in Amerika keinen gesunden blutigen Sport mehr. Aber das ist ungeheuer wichtig. Ein solcher Sport zieht die Gifte aus dem amerikanischen Blut. Die ganze Anlage ist schon geplant, die Genehmigung erteilt, und jetzt dies.« »Was heißt ›dies‹?«
»Keine Gladiatorenspiele. Ich habe soeben Nachricht aus Sacramento bekommen. Der Legislative liegt ein Antrag vor, Gladiatorenkämpfe in Kalifornien zu verbieten. Zu gewalttätig, behaupten sie. Den Bau neuer Wolkenkratzer genehmigen sie, obwohl sie wissen, daß zwei oder drei Bauarbeiter dabei drauf gehen. Die Gewerkschaft weiß das, die Bauunternehmer wissen es, aber man baut Büros für Ölgesellschaften oder Rechtsanwälte aus Beverly Hills. Natürlich würden bei uns auch ein paar drauf gehen. Aber wir würden mehr mit Dreizack und Netz kämpfen lassen als mit dem Kurzschwert. Die Gesetzgeber setzen die Prioritäten nicht richtig.« Hadden strahlte sie mit großen Eulenaugen an und fragte, ob sie einen Drink wolle. Sie lehnte auch diesmal ab. »Also, Sie wollen mit mir über Ihre Maschine reden, und auch ich will mit Ihnen über die Maschine reden. Aber Sie sind zuerst dran. Sie wollen also wissen, wie sie den Schlüssel zum Code finden können, richtig?« »Wir haben beschlossen, einige maßgebende Leute um Unterstützung zu bitten, die etwas von der Sache verstehen. Wir dachten, daß Sie sich als Erfinder von einigem Ruf – Ihr Kontexterkennungschip beispielsweise war ja maßgeblich an der Entdeckung beteiligt, daß die BOTSCHAFT sich wiederholte – daß Sie sich also als Erfinder von einigem Ruf vielleicht in einen Wegianer hineinversetzen und dadurch herausfinden könnten, wo der Schlüssel verborgen ist. Wir wissen, daß Sie ein vielbeschäftigter Mann sind, und es tut mir leid, wenn – « »Das ist völlig in Ordnung. Natürlich stimmt es, daß ich viel zu tun habe. Ich versuche gerade, Ordnung in meine Angelegenheiten zu bringen, denn es bahnt sich ein große Wende in meinem Leben an…« »Sie meinen wegen der nahenden Jahrtausendwende?« Ellie versuchte, sich vorzustellen, daß er S. R. Hadden & Co. das
Börsenmaklerbüro in Wall Street, die Gentechnik-GmbH, die Firma Hadden Cybernetics und Babylon an die Armen verschenkte. »Nein, das nicht. Aber das ist ein anderes Thema. Es hat mich gefreut, daß Sie mich um Rat gefragt haben. Außerdem hat es Spaß gemacht, die Diagramme anzuschauen.« Er deutete auf die achtbändige Ausgabe, die auf seinem Schreibtisch aufgestapelt war. »Die Bilder sind wundervoll, aber ich glaube nicht, daß der Schlüssel in ihnen versteckt ist. Nicht in den Bildern. Mir ist auch gar nicht klar, warum Sie davon ausgehen, daß der Schlüssel in der BOTSCHAFT steckt. Vielleicht haben sie ihn auf dem Mars oder Pluto oder in der Oortschen Kometenwolke deponiert, und wir werden ihn erst in ein paar hundert Jahren entdecken. Im Augenblick wissen wir nur, daß es diese wunderbare Maschine gibt. Wir haben die Konstruktionspläne und 30000 Seiten mit Erklärungen. Aber wir wissen noch nicht einmal, ob wir überhaupt in der Lage wären, das Ding zu bauen, wenn wir den Text lesen könnten. Also warten wir noch ein paar hundert Jahre, verbessern unsere Technologien in dem Wissen, daß wir früher oder später in der Lage sein müssen, die Maschine zu bauen. Daß wir den Schlüssel nicht haben, verweist uns auf zukünftige Generationen. Den Menschen ist ein Problem aufgegeben worden, das nur über mehrere Generationen zu lösen ist. Ich finde das gar nicht so übel. Könnte ganz gesund sein. Vielleicht machen Sie einen Fehler, wenn Sie nach einem Schlüssel suchen. Vielleicht ist es besser, ihn gar nicht zu finden.« »Ich möchte den Schlüssel so früh wie möglich finden. Wir wissen nicht, ob man dort ewig auf uns wartet. Wenn sie auf der Wega den Hörer einhängen, weil sie keine Antwort bekommen, ist das viel schlimmer, als wenn sie uns niemals angerufen hätten.«
»Damit mögen Sie recht haben. Ich habe mir jedenfalls alles mögliche überlegt. Ich gebe Ihnen erst einmal ein paar ganz banale Möglichkeiten zu bedenken und dann noch eine weniger banale. Aber zuerst die banalen: Der Schlüssel ist in der BOTSCHAFT verborgen, aber mit einer ganz anderen Datenrate. Angenommen, es wurde noch eine zweite Botschaft mit einem Bit pro Stunde gesendet – wäre man darauf gestoßen?« »Hundertprozentig. Wir prüfen regelmäßig die Drift des Empfängers. Aber ein Bit pro Stunde brächte nur – lassen Sie mich kurz überschlagen – zehn, zwanzig Bit, bevor sich die BOTSCHAFT wiederholt.« »Das wäre also nur sinnvoll, wenn der Schlüssel viel einfacher und kürzer ist als die BOTSCHAFT. Sie glauben nicht daran. Ich auch nicht. Und wie steht es mit viel schnelleren Bitraten? Woher wissen Sie denn, daß nicht unter jedem Bit ihrer Maschinenbotschaft eine Million Bit des Schlüssels sitzen?« »Weil das ungeheure Bandbreiten schaffen würde. Wir würden es also sofort merken.« »Okay, aber vielleicht gibt es hin und wieder einen Datenberg. Stellen Sie sich das wie einen Mikrofilm vor. Ein winziger Mikrofilm, so klein wie ein Punkt, wiederholt sich an verschiedenen Stellen der Botschaft. Ich stelle mir so etwas wie ein kleines Signal vor, das, in menschliche Sprache übersetzt, sagt: ›Ich bin der Schlüssel‹. Und dann kommt auch schon der Punkt, der aus hundert Millionen ganz schnell aufeinanderfolgender Bits besteht. Sie könnten mal nachschauen, ob Sie solche kleinen Signale finden.« »Das wäre uns bestimmt aufgefallen, glauben Sie mir.« »Gut. Und wie steht es mit Phasenmodulation? Wir benutzen sie bei Radar und in der Telemetrie. Sie verursacht fast keine
Störungen im Spektrum. Haben Sie einen Phasenkorrelator angeschlossen?« »Nein. Aber das ist eine gute Idee. Ich werde mir das überlegen.« »So, und jetzt kommen wir zu der nicht banalen Idee: Nehmen wir an, die Maschine wurde gebaut. Es sitzen also fünf Mann startbereit in ihr, einer drückt auf einen Knopf, und schon sind sie irgendwohin unterwegs. Wohin, ist jetzt egal. Jetzt stellt sich die interessante Frage, ob diese fünf Leute wieder zurückkommen werden. Vielleicht nicht. Mir gefällt die Idee, daß sich wegianische Leichenräuber diese Maschine ausgeheckt haben. Vielleicht Medizinstudenten von der Wega, oder Anthropologen. Sie brauchen einfach ein paar menschliche Körper. Es wäre ein Riesenaufwand, persönlich zu Erde zu kommen – man brauchte eine Einreisegenehmigung, Ausweise von der Einwanderungsbehörde –, nein, nein, der Ärger lohnte sich nicht. Aber eine Botschaft kann man ohne große Anstrengung an die Erde schicken, und dann haben die Erdlinge die Mühe, fünf Körper zur Wega hinaufzuschicken. Es ist wie Briefmarkensammeln. Als kleiner Junge habe ich Briefmarken gesammelt. Man konnte jemand in einem fremden Land einen Brief schreiben, und meistens bekam man eine Antwort. Der Inhalt des Briefes spielte keine Rolle. Die Briefmarke war es, was man wollte. So stelle ich mir das bildlich vor: Auch auf der Wega gibt es Briefmarkensammler. Sie verschicken Briefe, wenn sie in der Stimmung dazu sind, und schon kommen Körper aus dem gesamten Weltall zu ihnen zurückgeflogen. Hätten Sie nicht auch Lust, so eine Sammlung anzusehen?« Er lächelte Ellie an und fuhr fort: »Schön und gut, aber was hat das mit dem Finden des Schlüssels zu tun? Nichts. Es ist nur wichtig, wenn ich unrecht habe. Wenn mein Bild von den
Briefmarkensammlern falsch ist, wenn also die Besatzung wieder zur Erde zurückkehren will, dann müssen wir den Raumflug mit allen Raffinessen beherrschen. Wie pfiffig die Wegianer auch sein mögen, es wird schwierig sein, die Maschine sicher zu landen. Es gibt zu viele Unsicherheitsfaktoren. Und Gott allein weiß, woraus das Antriebssystem besteht. Wenn man nur ein paar Meter unter der Erde aus dem All auftaucht, dann war’s das auch schon. Und was sind ein paar Meter bei 26000 Lichtjahren? Das ist zu riskant. Wenn die Maschine tatsächlich zurückkommt, dann taucht sie – oder was auch immer – womöglich ganz in der Nähe der Erde im All auf, trifft aber kaum direkt auf die Erde. Deshalb müssen sie sicher sein, daß wir den Raumflug kennen, damit wir die fünf Menschen sicher wieder aus dem Weltraum zurückholen können. Die Wegianer haben es eilig und können nicht einmal stillsitzen, bis die Abendnachrichten von 1957 auf der Wega ankommen. Was machen sie also? Sie richten es so ein, daß ein Teil der Botschaft nur vom All aus entdeckt werden kann. Und welcher Teil? Natürlich der Schlüssel. Wer den Schlüssel im Weltraum ausfindig machen kann, der kennt auch den Raumflug und kann sicher aus dem All zurückkehren. Ich könnte mir also denken, daß der Schlüssel im Frequenzbereich der Absorption des Sauerstoffs im nahen Infrarot- und Mikrowellenbereich gesendet wird, einem Teil des Spektrums also, den man erst dann überprüfen kann, wenn man sich außerhalb der Erdatmosphäre befindet…« »Wir haben bereits mit dem Hubble-Teleskop die Wega im gesamten ultravioletten, sichtbaren und nahen infraroten Bereich abgesucht. Nicht der kleinste Hinweis. Die Russen haben ihr Millimeterwellenteleskop wieder instandgesetzt. Sie haben sich so gut wie alles neben der Wega angeschaut und nichts gefunden. Noch andere Alternativen?«
»Möchten Sie wirklich nichts trinken? Ich trinke selbst keinen Alkohol, aber viele tun es.« Wieder lehnte Ellie dankend ab. »Nein, das war alles. Keine weiteren Alternativen. Bin ich jetzt an der Reihe? Also, ich habe eine Bitte an Sie. Es fällt mir nicht leicht, um etwas zu bitten. Ich habe es noch nie getan. In der Öffentlichkeit glaubt man, daß ich komisch aussehe und reich und skrupellos bin – jemand, der nach Schwachstellen im System sucht, die er in klingende Münze umwandeln kann. Erzählen Sie mir jetzt nicht, daß Sie das alles nicht glauben. Jeder glaubt ein bißchen davon. Wahrscheinlich kennen Sie die eine oder andere Geschichte schon, die ich Ihnen gleich erzählen werde, aber hören Sie mir bitte trotzdem zehn Minuten zu. Ich möchte Ihnen erzählen, wie alles anfing. Kurz gesagt, ich möchte, daß Sie mich kennenlernen.« Ellie lehnte sich zurück. Sie hatte keine Ahnung, auf was er hinauswollte. Sie versuchte, die wilden Phantasien zu verdrängen, die durch ihren Kopf geisterten und in denen immer wieder der Tempel von Ischtar, Hadden und ein oder zwei Wagenlenker auftauchten. Vor Jahren hatte Hadden ein Modul erfunden, das, sobald im Fernsehen Werbung kam, automatisch den Ton abschaltete. Die Erfindung wurde zunächst noch nicht in der Kontexterkennung eingesetzt, sondern regulierte die Amplitude der Trägerwelle. TV-Werbefachleute hatten angefangen, ihre Reklame lauter und mit weniger Störgeräuschen laufen zu lassen als die eigentlichen Programme. Die Neuigkeit von Haddens Modul breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Für viele bedeutete es eine große Erleichterung und die Befreiung von einer schrecklichen Plage, wenn sie die endlose Werbung während der sechs bis acht Stunden, die der Durchschnittsamerikaner täglich vor dem Fernseher verbrachte, nicht mehr hören mußten. Noch bevor
die Industrie des Werbefernsehens geschlossen reagieren konnte, erfreute sich Werbnix schon weit und breit größter Beliebtheit. Werbefachleute und Sendeanstalten waren gezwungen, auf andere Trägerwellen umzusteigen, worauf Hadden jedesmal mit einer neuen Erfindung reagierte. Manchmal erfand er Schaltkreise, die Strategien wirkungslos machten, die die Werbeagenturen und Sender noch gar nicht erfunden hatten. Hadden begründete das damit, daß er ihnen den Ärger ersparen wolle, neue und teure Erfindungen zu Lasten ihrer Aktionäre in Auftrag zu geben, die von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Je mehr er verkaufte, desto billiger wurden seine Produkte. Es war eine Art Krieg der Elektronik. Und Hadden war der Gewinner. Man versuchte, ihn gerichtlich zu belangen – man warf ihm vor, er unterwandere den freien Handel. Seine Gegner hatten genug politischen Einfluß, daß Haddens Antrag auf sofortige Niederschlagung der Anklage abgelehnt wurde, aber nicht genug Einfluß, um den Fall für sich entscheiden zu können. Der Prozeß hatte Hadden zu einer eingehenden Beschäftigung mit den einschlägigen Gesetzen gezwungen. Kurz darauf hatte er über eine bekannte New Yorker Agentur, bei der er inzwischen stiller Teilhaber war, beantragt, für sein eigenes Produkt im Werbefernsehen Reklame machen zu dürfen. Nach einigen Wochen erbitterten Streits waren seine Werbespots abgelehnt worden. Hadden zog gegen alle drei Sender vor Gericht und diesmal konnte er den anderen Verstöße gegen die Freihandelsbestimmungen nachweisen. Er bekam eine riesige Abfindung gezahlt, die zu der Zeit einen Rekord für Fälle dieser Art aufstellte und auf ihre bescheidene Weise zum Ende der früheren Sendeanstalten beitrug. Natürlich gab es immer auch Menschen, die sich gerne Werbespots ansahen und kein Interesse an Werbnix hatten. Aber das war eine verschwindende Minderheit. Hadden
gewann ein Vermögen durch die weitgehende Ausschaltung des Werbefernsehens. Aber er machte sich auch Feinde. Als die Kontexterkennungschips auf dem Markt waren, hatte er Prednix entwickelt, ein Submodul, das man auf Werbnix aufstecken konnte. Es wechselte einfach den Kanal, wenn man zufällig ein religiöses Programm eingeschaltet hatte. Man konnte vorher Stichwörter wie »Wiederkunft Christi« oder »Jüngstes Gericht« eingeben und damit breite Schneisen durch die vielfältigen Programme schlagen. Prednix war heiß begehrt bei einer schon seit langem unter solchen Sendungen leidenden und nicht unbedeutenden Minderheit von Fernsehzuschauern. Außerdem munkelte man, daß Haddens nächstes Submodul Quatschnix heißen und nur auf öffentliche Ansprachen von Präsidenten und Premierministern reagieren sollte. Je weiter Hadden seine Kontexterkennungschips entwickelte, desto bewußter wurde ihm, wie viele Anwendungsbereiche es dafür gab – vom Ausbildungssektor, der Wissenschaft und der Medizin bis hin zur militärischen Abwehr und zur Industriespionage. Letzteres lieferte dann den Anlaß für den berühmt gewordenen Prozeß United States gegen Hadden Cybernetics. Man hielt einen der Hadden-Chips für zu gut für den Zivilbereich, und auf Empfehlung der Nationalen Sicherheitsbehörde wurden die Anlage und das wichtigste Personal für die Produktion dieses am weitesten entwickelten Kontexterkennungschips kurzerhand von der Regierung übernommen. Es war einfach von überragender Wichtigkeit, die Post der Russen lesen zu können. Gott weiß, was geschehen würde, wenn die Russen zuerst die amerikanische Post lesen konnten, bekam Hadden gesagt. Hadden weigerte sich, bei der Übernahme mitzumachen, und beteuerte, er werde sich künftig auf Gebiete verlegen, die mit nationaler Sicherheit nichts zu tun hätten. Die Regierung verstaatliche die Industrie, sagte er; die Politiker behaupteten, Kapitalisten zu sein, aber
wenn es hart auf hart gehe, zeigten sie ihr wahres sozialistisches Gesicht. Er habe ein noch unbefriedigtes Bedürfnis einer breiten Öffentlichkeit entdeckt und daraufhin eine bereits bestehende und völlig legale neue Technologie dazu eingesetzt, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Das war klassischer Kapitalismus. Aber es gab viele nüchterne Kapitalisten, die erklärten, daß Hadden bereits mit Werbnix zu weit gegangen sei und damit gegen amerikanische Gepflogenheiten verstoßen habe. In diesem Zusammenhang erschien in der Prawda der giftige Kommentar eines gewissen W. Petrow, der den Fall als konkretes Beispiel der Widersprüche des Kapitalismus hingestellte. Das Wall Street Journal konterte, indem es die Prawda, ein Wort, das im Russischen »Wahrheit« bedeutete, seinerseits als konkretes Beispiel der Widersprüche des Kommunismus bezeichnete. Hadden war der Verdacht gekommen, daß die Übernahme nur ein Vorwand und sein eigentliches Vergehen der Angriff auf die Werbung und die Fernsehprediger gewesen war. Werbnix und Prednix seien elementare Bestandteile des amerikanischen Unternehmertums, versicherte er wiederholt. Genau darin lag doch die Bedeutung des Kapitalismus: die Menschen mit verschiedenen Alternativen zu versorgen. »Ich habe ihnen erklärt, daß das Fehlen der Werbung insgesamt eine solche Alternative ist. Riesige Budgets für Werbekosten gibt es nur, wenn die Produkte alle gleich sind. Wenn die Produkte wirklich verschieden sind, dann kaufen die Leute nur das bessere. Die Werbung hat nur den Effekt, daß die Leute nicht mehr auf ihr eigenes Urteil vertrauen. Werbung macht dumm. Ein starkes Land braucht aber intelligente Menschen. Deshalb ist Werbnix von nationaler Bedeutung. Die Hersteller können jetzt einen Teil der Werbekosten darauf verwenden, ihre Produkte zu verbessern. Das käme dem Verbraucher zugute. Zeitschriften, Zeitungen und der direkte Postversand würden
florieren, und das wiederum würde den Verlust der Werbeagenturen ausgleichen. Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt.« Viel entscheidender als die unzähligen Verleumdungsklagen gegen die ursprünglichen kommerziellen Sendeanstalten hatte Werbnix zu deren Ende beigetragen. Dann hatte es eine Zeitlang ein ganzes Heer arbeitsloser Werbemanager, am Existenzminimum lebender ehemaliger Größen des Rundfunks und Fernsehens und mittelloser Fernsehprediger gegeben, die sich verbittert geschworen hatten, sich an Hadden zu rächen. Auch die Zahl noch gefährlicherer Feinde war seither ständig gewachsen. Kein Zweifel, dachte Ellie, Hadden war ein interessanter Mann. »Deshalb glaube ich, daß es Zeit ist zu gehen. Ich habe mehr Geld, als ich jemals ausgeben kann. Meine Frau kann mich nicht ausstehen, und überall habe ich Feinde. Ich will etwas wirklich Wichtiges und Bedeutendes tun. Es soll etwas sein, worauf die Menschen noch in ein paar hundert Jahren zurückblicken werden, und dann froh sind, daß es mich gegeben hat.« »Sie wollen – « »Ich will die Maschine bauen. Sehen Sie, diese Aufgabe ist mir auf den Leib geschrieben. Ich bin der beste Fachmann auf dem Gebiet der Kybernetik – besser noch als Carnegie-Mellon, MIT, Stanford und Santa Barbara. Und aus Ihren Plänen geht doch eindeutig hervor, daß es sich nicht um einen Job für altmodische Werkzeugmacher handelt. Und Sie werden jemand brauchen, der sich in der Gentechnik auskennt. Sie werden niemand finden, der mit mehr Engagement an die Sache geht als ich. Und ich würde es zum Selbstkostenpreis machen.« »Glauben Sie mir, Mr. Hadden, die Entscheidung, wer die Maschine baut, falls wir je zu dem Punkt kommen, liegt nicht bei mir. Da spielen viele politische Gesichtspunkte eine Rolle.
In Paris wird immer noch darüber debattiert, ob die Maschine überhaupt gebaut werden soll, falls wir die BOTSCHAFT entschlüsseln, und wenn ja, wann.« »Natürlich weiß ich darüber Bescheid. Und natürlich bewerbe ich mich wie die anderen auch über die üblichen Wege der Bestechung und Korruption. Ich möchte nur, daß ein gutes Wort für mich eingelegt wird von jemand, der eine weiße Weste hat und meine Gründe kennt. Verstehen Sie? Und wo wir gerade von weißen Westen reden: Sie haben Palmer Joss und Billy Jo Rankin ja ganz schön wachgerüttelt. Ich habe sie seit dem Ärger mit dem Fruchtwasser Marias nicht mehr so aus der Fassung gebracht gesehen. Rankin behauptet, daß man ihn fälschlicherweise als einen Befürworter der Maschine zitiert habe. Ja du meine Güte.« In gespielter Bestürzung schüttelte er den Kopf. Natürlich war klar, daß der Erfinder von Prednix nicht gut auf die Fernsehmissionare zu sprechen war, aber aus unerfindlichen Gründen hatte Ellie das Gefühl, sie verteidigen zu müssen. »Die beiden sind intelligenter, als Sie denken. Und Palmer Joss ist… nun, er hat etwas Aufrichtiges an sich. Er ist kein Schwindler.« »Sind Sie sicher, daß es nicht nur sein Charme ist? Entschuldigen Sie, aber es ist wichtig, daß man seine eigenen Gefühle versteht. Keiner kann es sich leisten, sie nicht zu verstehen. Ich kenne diese Clowns. Unter der Oberfläche sind es Geier, wenn es um die Wurst geht. Viele Menschen finden Religion attraktiv – Sie wissen schon, für ihre persönliche und sexuelle Entwicklung. Sie sollten mal sehen, wie es im Tempel von Ischtar zugeht.« Ellie unterdrückte den plötzlich in ihr aufsteigenden Ekel. »Ich glaube, jetzt brauche ich einen Drink«, sagte sie dann. Als sie vom Penthouse hinunterschaute, konnte sie die einzelnen Stufen der Zikkurat sehen, die je nach Jahreszeit mit unechten oder echten Blumen geschmückt waren. Es war eine
Rekonstruktion der Hängenden Gärten von Babylon, einem der Sieben Weltwunder des Altertums, und so gekonnt angeordnet, daß es nicht im mindesten kitschig wirkte. Ganz unten sah sie einen Fackelzug, der sich auf dem Weg von der Zikkurat zurück zum Enlil-Tor befand. An der Spitze des Zuges trugen vier stämmige Männer mit nackten Oberkörpern eine Sänfte. Wer oder was in ihr saß, konnte Ellie nicht erkennen. »Es ist eine Zeremonie zu Ehren von Gilgamesch, einem Helden der alten Sumerer.« »Er ist mir ein Begriff.« »Er suchte nach der Unsterblichkeit.« Hadden sagte das ganz prosaisch, zur Erklärung, und schaute dann auf seine Uhr. »Auf der obersten Spitze der Zikkurat pflegten die Könige die Anweisungen der Götter zu empfangen. Besonders von Anu, dem Himmelsgott. Ach, übrigens, ich habe nachgeschaut, wie damals die Wega hieß. Sie hieß Tiranna, Leben des Himmels. Ist das nicht lustig?« »Haben Sie denn Anweisungen von den Göttern bekommen?« »Nein, die sind zu Ihnen gekommen, nicht zu mir. Aber um neun gibt es noch einmal eine Gilgamesch-Prozession.« »Ich fürchte, so lange kann ich nicht mehr bleiben. Aber darf ich Sie noch etwas fragen?« Ellie sah Hadden an. »Warum Babylon? Und Pompeji? Sie sind einer der originellsten Menschen, die ich kenne. Sie haben mehrere große Industrieunternehmen begründet. Sie haben die Werbeindustrie mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Deshalb hat man versucht, Sie mit den Sicherheitsbestimmungen in bezug auf die Kontexterkennungschips aufs Kreuz zu legen. Aber es gab für Sie tausend andere Möglichkeiten. Warum… gerade das?« In weiter Ferne war der Fackelzug am Tempel von Assur angekommen.
»Warum nichts… Wichtigeres, meinen Sie?« fragte er. »Aber ich versuche doch nur, gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen, die die Regierung übersieht oder einfach ignoriert. Das ist Kapitalismus. Es ist völlig legal. Und es macht viele Menschen glücklich. Außerdem ist es ein Sicherheitsventil für die Verrücktheiten, die diese Gesellschaft immer von neuem erzeugt. So genau habe ich mir das damals allerdings gar nicht überlegt. Ich kann mich noch an den Moment erinnern, als mir die Idee mit Babylon kam. Ich war in Disney World und machte mit meinem Enkel Jason eine Dampferfahrt auf einem Mississippi-Raddampfer. Jason war damals vier oder fünf. Ich dachte darüber nach, wie clever es von den Disney-Leuten war, daß sie jetzt keine Tickets mehr für einzelne Fahrten verkauften, sondern statt dessen einen Tagespaß anboten, mit dem man alles machen konnte. So sparten sie Löhne – von den Kartenknipsern zum Beispiel. Aber noch viel wichtiger ist, daß Menschen dazu neigen, ihre Lust auf möglichst viele Fahrten zu überschätzen. Sie zahlen für eine Tageskarte, um alles ausprobieren zu können, aber am Ende wären sie auch mit viel weniger zufrieden gewesen. Neben mir und Jason saß ein Junge, er war acht, vielleicht auch zehn. Er schaute ganz verträumt. Sein Vater fragte ihn alles mögliche, aber er antwortete nur einsilbig. Der Junge streichelte den Lauf eines Spielzeuggewehres, das er auf seinen Deckstuhl aufgestützt hatte. Den Schaft hielt er zwischen den Beinen. Alles, was er wollte, war allein sein und das Gewehr streicheln. Hinter ihm glänzten die Türme und Spitzen von Magic Kingdom, und plötzlich paßte für mich alles zusammen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?« Er schenkte sich ein Glas Diät-Cola ein und stieß mit Ellie an. »Tod Ihren Feinden«, toastete er ihr herzlich zu. »Ich werde Sie durch das Ischtar-Tor hinausgeleiten lassen. Der Fackelzug verstopft den Weg durch
das Enlil-Tor.« Wie durch Zauberei erschienen die beiden Eskorten, und Ellie war entlassen. Sie spürte wenig Lust, noch länger in Babylon zu bleiben. »Denken Sie an die Phasenmodulation und schauen Sie sich die Sauerstofflinien an. Aber selbst wenn ich mit meinem Tip, wo der Schlüssel sein könnte, falsch liege, denken Sie daran: Ich bin der einzige, der die Maschine bauen kann.« Flutlichter strahlten das Ischtar-Tor an. Es war mit glasierten Fliesen verkleidet, auf denen blaue Tiere dargestellt waren. Archäologen hatten sie als Drachen gedeutet.
14 Harmonischer Oszillator Der Skeptizismus ist die Keuschheit des Intellekts, und es wäre schändlich, zu früh von ihm abzulassen oder ihn dem ersten besten zu opfern. Es spricht von Adel, ihn in stolzem Selbstvertrauen durch eine lange Jugend hindurch zu bewahren, bis er zuletzt vom gereiften Instinkt und welterfahrener Klugheit gefahrlos gegen das Glück eines gefestigten Charakters ausgetauscht werden kann. George Santayana Scepticism and Animal Faith, IX
Er befand sich auf einer subversiven Mission. Der Feind war viel größer und stärker. Aber er kannte die Schwächen ihres Körpers. Für eine Zeit konnte er die Herrschaft übernehmen und die feindlichen Waffen für die eigenen Ziele einsetzen. Jetzt, mit Millionen fanatischer Agenten an Ort und Stelle… Sie mußte niesen und suchte in den ausgebeulten Taschen ihres Bademantels aus Frottee verzweifelt nach einem sauberen Papiertaschentuch. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, und auf ihren aufgesprungenen Lippen waren Spuren von Mentholbalsam zu sehen. »Mein Arzt hat gesagt, ich müsse im Bett bleiben, sonst bekäme ich eine Viruslungenentzündung. Ich habe ihn um Antibiotika gebeten, aber er sagte, daß es gegen Viren keine
Antibiotika gebe. Wie kann er wissen, daß ich einen Virus habe?« Der Heer öffnete den Mund, um zu antworten, aber die Präsidentin winkte ab. »Nein, nein, ist schon gut. Sie werden mir nur etwas über die DNS und das Immunsystem erzählen, aber ich brauche die Energien, die ich noch habe, um mir Ihre Geschichte anzuhören. Wenn Sie vor meinen Viren keine Angst haben, dann holen Sie sich einen Stuhl und setzen Sie sich zu mir.« »Vielen Dank, Frau Präsidentin. Also, es geht um den Schlüssel für den Code. Hier habe ich den Bericht. Im Anhang enthält er einen langen technischen Teil. Ich dachte, das würde Sie vielleicht auch interessieren. Kurz gesagt, wir können ihn jetzt fast ohne Probleme lesen und verstehen. Es handelt sich um ein teuflisch raffiniert ausgedachtes Lernprogramm. ›Teuflisch‹ ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Wir haben jetzt schon ein Vokabular von dreitausend Wörtern.« »Wie ist das möglich? Ich könnte mir vorstellen, wie die Wegianer uns die Namen ihrer Zahlen beibringen. Man macht einen Punkt und schreibt die Buchstaben E, I, N, s darunter und so weiter. Ich könnte mir vorstellen, daß man ein Bild von einem Stern nimmt und STERN darunterschreibt. Aber ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das mit Verben, dem Imperfekt oder dem Konjunktiv gehen soll.« »Sie arbeiten zum Teil mit Filmen. Filme sind für Verben wunderbar. Und außerdem sind Zahlen eine große Hilfe. Sogar abstrakte Begriffe können sie mit Zahlen verschlüsseln. Das funktioniert ungefähr so: Zuerst zählen sie für uns die Zahlen aus, und dann führen sie einige neue Wörter ein – Wörter, die wir nicht verstehen. Hier, sehen Sie mal, ich werde ein Wort jetzt mit einem Buchstaben bezeichnen. Wir bekommen also beispielsweise folgende Zeilen, in denen Buchstaben für Symbole der Wegianer stehen.« Er schrieb auf ein Blatt:
1A1B2Z 1A2B3Z 1A7B8Z »Was, glauben Sie, ist das?« »Mein Abiturzeugnis? Sie meinen, es gibt eine bestimmte Kombination aus Punkten und Strichen, die für A steht, und eine andere Kombination aus Punkten und Strichen für B und so weiter?« »Genau. Sie wissen, was eins und zwei bedeuten, aber Sie wissen nicht, was A und B bedeuten. Was könnten Sie denn aus einer solchen Abfolge schließen?« »A bedeutet ›plus‹ und B bedeutet ›ist gleich‹. Wollten Sie darauf hinaus?« »Ja, gut. Aber wir verstehen noch nicht, was Z bedeutet. Jetzt taucht folgendes auf.« 1A2B4Y »Kommen Sie darauf?« »Vielleicht. Geben Sie mir noch ein Beispiel, das auf Y endet.« 2000A4000B0Y »Okay, ich glaube, ich habe es. Wenn ich die letzten drei Symbole nicht als ein Wort lese, bedeutet Z wahr und Y falsch.« »Richtig. So ist es. Nicht schlecht für eine Präsidentin mit einer Virusinfektion und einer Krise in Südafrika. Damit haben sie uns mit ein paar Zeilen vier Wörter beigebracht: plus, ist gleich, wahr und falsch. Vier recht nützliche Wörter.
Genauso bringen sie uns die Division bei. Dann teilen sie eins durch null, und schon haben wir das Wort für unendlich. Oder vielleicht ist es das Wort für unbestimmt. Oder sie sagen: ›Die Summe der inneren Winkel eines Dreiecks ergibt zwei rechte Winkel‹. Dann erläutern sie, daß diese Aussage wahr ist, wenn der gemeinte Raum gerade ist, aber falsch, wenn der Raum gekrümmt ist. Damit haben wir gelernt, wie man ›wenn‹ sagt und – « »Ich wußte gar nicht, daß Raum gekrümmt sein kann, Ken. Was soll das heißen? Wie kann der Raum gekrümmt sein? Ach nein, lassen Sie. Das bringt uns nur vom Thema ab.« »Eigentlich…« »Wie ich von Sol Hadden höre, stammt die Idee, wo man den Schlüssel suchen sollte, von ihm. Schauen Sie mich nicht so komisch an, Der Heer. Ich spreche mit allen möglichen Leuten.« »Ich wollte nicht… äh… Soweit ich im Bild bin, hat Mr. Hadden einige Vorschläge gemacht, die aber andere Wissenschaftler genauso machten. Frau Dr. Arroway hat sie überprüft und hatte mit einem davon Erfolg. Es handelt sich um die sogenannte Phasenmodulation oder Phasencodierung.« »Aha. Ken, stimmt es, daß der Schlüssel über die ganze BOTSCHAFT verteilt ist? Mit vielen Wiederholungen? Daß der Schlüssel also von Anfang an mit dabei war?« »Nicht ganz von Anfang an, aber kurz nachdem Frau Arroway die dritte Schicht des Palimpsests auffing, also die Konstruktionspläne für die Maschine.« »Und viele Länder haben die entsprechenden Technologien, um den Schlüssel zu lesen, nicht wahr?« »Man braucht dazu ein Instrument, das Phasenkorrelator heißt. Aber, ja. Die wichtigsten Länder haben so etwas.« »Dann hätten die Russen den Schlüssel also schon vor einem Jahr lesen können, richtig? Oder die Chinesen; oder die
Japaner? Woher wissen Sie denn, daß sie nicht schon längst dabei sind, die Maschine zu bauen?« »Daran habe ich auch schon gedacht, aber Marvin Yang behauptet, das sei unmöglich. Die Satellitenbilder, die elektronische Abwehr und die Spezialisten vor Ort, sie alle bestätigen, daß es nirgendwo Anzeichen eines größeren Bauprojekts gibt, das auf den Bau der Maschine schließen ließe. Nein, wir haben bisher alle an der entscheidenden Stelle geschlafen. Wir haben immer gedacht, der Schlüssel müsse am Anfang kommen und könne nicht in die BOTSCHAFT eingestreut sein. Erst als die BOTSCHAFT wieder von vorn begann und wir entdeckten, daß kein Schlüssel kam, fingen wir an, uns andere Möglichkeiten zu überlegen. Das ist alles in enger Zusammenarbeit mit den Russen und den anderen Nationen geschehen. Wir glauben nicht, daß uns jemand zuvorgekommen ist. Jetzt allerdings haben alle den Schlüssel. Aber ich glaube nicht, daß wir hier im Alleingang handeln könnten.« »Ich möchte nicht im Alleingang handeln. Ich möchte nur sicher sein, daß niemand anders auf eigene Faust handelt. Jetzt aber zurück zu Ihrem Schlüssel. Sie kennen die Bezeichnungen für wahr/falsch und wenn/dann und wissen, daß der Raum gekrümmt ist. Aber wie soll man damit eine Maschine bauen?« »Ich muß schon sagen, Sie lassen sich durch ihre Erkältung, oder was es sonst ist, nicht bremsen. Also, von da ab geht es erst richtig los. Wir bekommen zum Beispiel eine Tabelle des periodischen Systems der Elemente, damit wir alle chemischen Elemente benennen können und wissen, was Atom, Atomkern, Proton, Neutron und Elektron heißt. Dann exerzieren sie für uns etwas Quantenmechanik durch, um sich zu vergewissern, daß wir aufpassen – nebenbei springen aus diesen Nachhilfestunden auch einige neue Erkenntnisse für uns heraus. Dann fangen sie an, sich auf die Materialien zu
konzentrieren, die man für den Bau der Maschine braucht. Wir brauchen beispielsweise zwei Tonnen Erbium, deshalb führen sie uns geschwind eine raffinierte Technik vor, wie man Erbium aus ganz normalen Felsen gewinnen kann.« Beschwichtigend hob Der Heer die Hände. »Fragen Sie mich nicht, wofür wir die zwei Tonnen Erbium brauchen. Keiner hat auch nur eine blasse Ahnung davon.« »Das wollte ich Sie gar nicht fragen. Ich möchte nur wissen, wie sie Ihnen verständlich gemacht haben, wieviel eine Tonne ist.« »Sie haben es für uns in Plancksche Massen ausgerechnet. Eine Plancksche Masse ist – « »Ist schon gut. Das ist etwas, was alle Physiker im gesamten Universum wissen, habe ich recht? Nur ich habe nie etwas davon gehört. Aber zurück zu unserem Ausgangspunkt. Verstehen wir den Schlüssel so gut, daß wir anfangen können, die BOTSCHAFT zu lesen? Können wir das Ding bauen oder nicht?« »Die Antwort scheint ›Ja‹ zu sein. Wir haben den Schlüssel erst seit wenigen Wochen, aber ganze Kapitel der BOTSCHAFT können wir jetzt schon mühelos lesen. Dazu gehören sorgfältig ausgeführte Konstruktionspläne, ausführliche Erklärungen und, soweit es sich bisher abschätzen läßt, eine ungeheure Fülle von Beschreibungen einzelner Details. Ein dreidimensionales Modell der Maschine für Sie wird voraussichtlich rechtzeitig bis zur Sitzung am nächsten Donnerstag, auf der die Besatzung bestimmt werden soll, fertig sein, falls Sie sich bis dahin wieder besser fühlen. Bis jetzt haben wir noch keinen Anhaltspunkt, was die Maschine tut und wie sie funktioniert. Und es gibt einige merkwürdige Bestandteile aus der organischen Chemie, die als Teil der Maschine überhaupt keinen Sinn ergeben. Aber fast alle glauben, daß wir das Ding bauen können.«
»Wer glaubt es nicht?« »Lunatscharski, und die Russen überhaupt. Und Billy Jo Rankin natürlich. Einige Leute befürchten immer noch, daß die Maschine die Welt in die Luft jagt, die Erdachse verdreht oder sonst was. Aber die meisten Wissenschaftler sind von der Fülle der Anweisungen und den vielen alternativen Erklärungen ein und derselben Sache beeindruckt.« »Was sagt Eleanor Arroway?« »Sie meint, wenn die Außerirdischen uns den Garaus machen wollen, dann sind sie in spätestens fünfundzwanzig Jahren hier, und wir können nichts tun, um uns vor ihnen zu schützen. Sie sind uns viel zu weit voraus. Deshalb meint sie, man soll das Ding bauen, und wenn man vor Unfällen, die die Umwelt gefährden könnten, Angst hat, soll man dazu einen abgelegenen Ort wählen. Wenn es nach Professor Drumlin ginge, könnten wir die Maschine mitten in Pasadena bauen. Er sagt, er würde sowieso jede Minute dort verbringen, solange an der Maschine gebaut wird, deshalb ginge er auch als erster mit hoch, wenn sie explodiert.« »Drumlin?! War er nicht der, der herausgefunden hat, daß es sich um Pläne für eine Maschine handelt?« »Eigentlich nicht, er – « »Ich werde das Informationsmaterial bis zur Sitzung am Donnerstag gelesen haben. Gibt es sonst noch etwas?« »Erwägen Sie ernsthaft, Hadden die Maschine bauen zu lassen?« »Nun, das kann ich, wie Sie wissen, nicht allein entscheiden. Der Vertrag, der in Paris ausgehandelt wird, gesteht uns ungefähr ein Viertel zu. Die Russen haben ein Viertel, die Chinesen und Japaner haben zusammen ein Viertel, und der Rest der Welt ist ebenfalls mit ungefähr einem Viertel beteiligt. Viele Nationen wollen die Maschine oder zumindest Teile davon bauen. Sie versprechen sich Prestige davon, neue
Industrien und Erkenntnisse. Solange uns niemand den Rang abläuft, klingt das in meinen Ohren gut. Es ist möglich, daß Hadden beteiligt wird. Warum nicht? Halten Sie ihn nicht auch für einen Mann, der sich in der Technik auskennt?« »Ganz sicher. Nur – « »Wenn es sonst nichts mehr gibt, Ken, sehe ich Sie am Donnerstag – vorausgesetzt, die Viren erlauben es.« Als Der Herr sich verabschiedet hatte und die Tür hinter sich schließen wollte, ertönte ein explosionsartiges Niesen aus dem Zimmer der Präsidentin. Der diensttuende Stabsoffizier, der steif auf einer Couch im Vorzimmer saß, zuckte sichtlich erschrocken zusammen. Die Aktentasche zu seinen Füßen war vollgestopft mit den chiffrierten Kommandos für einen Atomkrieg. Der Heer machte eine beruhigende Geste. Der Offizier lächelte entschuldigend. »Das ist die Wega? Darum wird das ganze Theater gemacht?« Die Präsidentin war enttäuscht. Der Phototermin für die Presse war gerade vorüber, und ihre Augen hatten sich nach den Blitzen der Kameras und den hellen Scheinwerfern des Fernsehens schon fast wieder an das Dunkel gewöhnt. Die Bilder, auf denen die Präsidentin in heroischer Pose durch das Teleskop des Naval Observatory starrte, würden am nächsten Tag in den Zeitungen erscheinen und waren natürlich gestellt. Sie hatte durch das Teleskop überhaupt nichts sehen können, bis die Photographen gegangen waren und es wieder dunkel war. »Warum wackelt sie so?« »Das ist eine Turbulenz in der Atmosphäre, Frau Präsidentin«, erklärte Der Heer. »Warme Luftblasen fliegen vorbei und verzerren das Bild.« »Wenn ich Si am Frühstückstisch gegenübersitze und der Toaster steht zwischen uns, sieht es genauso aus. Einmal fiel ihm sogar das halbe Gesicht ab«, sagte sie zärtlich und etwas
lauter, damit es der Herr Gemahl auch hören konnte, der in der Nähe stand und sich mit dem Offizier unterhielt, der das Observatorium leitete. »Leider steht ja zur Zeit kein Toaster auf dem Frühstückstisch«, antwortete er lächelnd. Seymour Lasker war vor seinem Ruhestand ein hoher Funktionär der Internationalen Gewerkschaft der Arbeitnehmer in der Damenbekleidungsindustrie gewesen. Er hatte seine Frau vor vielen Jahren kennengelernt, als sie die Arbeitgeberseite der New York Girl Coat Company vertrat. Während der langwierigen Tarifverhandlungen hatten sie sich ineinander verliebt. In Anbetracht der gegenwärtig für beide recht neuen Positionen war es bemerkenswert, wie gut sie sich verstanden. »Ich komme auch ohne Toaster aus, aber die Frühstücke mit Si sind viel zu selten geworden.« Sie warf ihm einen Blick zu und wandte sich dann wieder dem Okular zu. »Sie sieht wie eine blaue Amöbe aus, so… matschig.« Die Präsidentin war erleichtert, daß die schwierige Sitzung, auf der die Nominierung der Besatzung verhandelt worden war, schließlich ein Ende gefunden hatte. Auch ihre Erkältung war fast verflogen. »Und wenn es keine Turbulenzen gäbe, Ken? Was würde ich dann sehen?« »Dann wäre unser Observatorium wie ein Weltraumteleskop über der Erdatmosphäre. Sie würden keinen flackernden, sondern einen gleichmäßig brennenden Lichtpunkt sehen.« »Nur den Stern? Nur die Wega? Keinen ihrer Planeten, keine Ringe, keine Laserkampfstationen?« »Nein, Frau Präsidentin. Das wäre alles viel zu klein und matt, auch für ein sehr großes Teleskop.« »Ich hoffe nur, daß Ihre Wissenschaftler wissen, was sie tun«, sagte sie leise. »Wir machen so viele Zugeständnisse an
eine Sache, die wir noch nicht einmal gesehen haben.« Der Heer war bestürzt. »Aber wir haben doch einunddreißigtausend Seiten Text vor uns – Bilder, Wörter, plus einen umfassenden Schlüssel.« »Was mich betrifft, ist es nicht das gleiche, wie wirklich etwas zu sehen. Für mich ist das wie… aus zweiter Hand. Kommen Sie mir jetzt nicht damit, daß Wissenschaftler auf der ganzen Welt dieselben Daten empfangen. Das weiß ich. Und erzählen Sie mir auch nicht, wie klar und eindeutig die Pläne für die Maschine sind. Das weiß ich auch. Und wenn wir aus dem Projekt aussteigen, wird sicher jemand anders die Maschine bauen. Das weiß ich alles. Trotzdem bin ich nervös.« Gemächlich schlenderte die kleine Gesellschaft durch das Gelände des Naval Observatory zurück zur Residenz des Vizepräsidenten. In Paris waren in den letzten Wochen nach langen Verhandlungen erste Absprachen über die Zusammenstellung der Besatzung getroffen worden. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion waren beide dafür eingetreten, daß sie jeder zwei Teilnehmer stellten. In solchen Angelegenheiten waren sie verläßliche Verbündete. Aber es war schwierig, diesen Anspruch vor den anderen Mitgliedstaaten des Weltkonsortiums zu rechtfertigen. Im Vergleich zu früher konnten sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion – selbst bei Problemen, wo sie einer Meinung waren – nicht mehr so leicht bei den anderen Ländern der Welt durchsetzen. Überall war das Projekt jetzt als das Unternehmen der ganzen Menschheit bekannt. Auch Nationen, die nur einen kleinen Teil der BOTSCHAFT empfangen hatten, versuchten, damit durchzusetzen, daß einer ihrer Landsleute in die Besatzung aufgenommen werde. Die Chinesen hatten in aller Ruhe darauf hingewiesen, daß es Mitte des nächsten Jahrhunderts eineinhalb Milliarden von ihnen auf der Welt geben werde,
von denen die meisten infolge der staatlich geförderten Geburtenkontrolle als Einzelkinder geboren werden würden. Diese Kinder würden, wenn sie einmal groß waren, so prophezeiten die Funktionäre weiter, intelligenter und emotional stabiler sein als Kinder in anderen Ländern mit weniger strengen Bestimmungen zur Größe einer Familie. Da die Chinesen auf diese Weise in den nächsten fünfzig Jahren eine führende Rolle in der Weltpolitik spielen würden, stand ihnen zumindest einer der fünf Sitze in der Maschine zu. Die chinesischen Argumente wurden zur Zeit sogar in den Regierungskreisen von Ländern diskutiert, die weder mit der BOTSCHAFT noch der Maschine etwas zu tun hatten. Europa und Japan verzichteten auf ihre Ansprüche, in der Besatzung vertreten zu sein, zugunsten einer größeren Beteiligung am Bau der Maschine, wovon sie sich wirtschaftlichen Nutzen versprachen. Schließlich erhielten die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, China und Indien je einen Sitz, über die Besetzung des fünften Sitzes konnte noch keine Einigung erzielt werden. Das war das Ergebnis langer, schwieriger multilateraler Verhandlungen, bei denen Bevölkerungsdichte, Einwohnerzahl, wirtschaftliche, industrielle und militärische Stärke, der gegenwärtige politische Kurs und sogar ein wenig die Geschichte der Länder eine Rolle gespielt hatten. Auf den fünften Sitz erhoben Brasilien und Indonesien aufgrund ihrer Bevölkerungszahl und als Länder der südlichen Hemisphäre Anspruch. Schweden bot sich als Vermittler im Falle politischer Streitigkeiten an. Ägypten, der Irak, Pakistan und Saudi-Arabien argumentierten, daß der Gerechtigkeit halber auch ihre Religionen vertreten sein müßten. Andere schlugen vor, daß wenigstens der fünfte Sitz für persönliche Verdienste und nicht aufgrund nationaler Zugehörigkeit
vergeben werden sollte. Im Augenblick war die Entscheidung noch völlig ungewiß. In den vier ausgewählten Nationen mußten jetzt Wissenschaftler, Regierungshäupter und andere in einer langwierigen Prozedur ihre Kandidaten aufstellen. In den Vereinigten Staaten war eine heiße Debatte entbrannt. In statistischen Erhebungen und Meinungsumfragen wurden mit unterschiedlichem Nachdruck religiöse Führer, Sportidole, Astronauten, Träger der Ehrenmedaille des Kongresses, Wissenschaftler, Filmstars, eine ehemalige Präsidentengattin, Moderatoren von Talkshows, Nachrichtensprecher, Kongreßabgeordnete, Millionäre mit politischen Ambitionen, Manager einer Stiftung, Popsänger, Universitätspräsidenten und die Miß America vorgeschlagen. Seit der Wohnsitz des Vizepräsidenten vor langer Zeit auf das Gelände des Naval Observatory verlegt worden war, bestand das Personal traditionsgemäß aus philippinischen Unteroffizieren im Dienst der amerikanischen Marine. Jetzt servierten sie in ihren blauen Blazern, auf denen »Vizepräsident der Vereinigten Staaten« eingestickt war, Kaffee. Nur wenige Teilnehmer der ganztägig stattfindenden Sitzung waren zu diesem inoffiziellen Teil des Abends gebeten worden. Seymour Lasker war das einzigartige Schicksal zuteil geworden, Amerikas erster First Gentleman zu sein. Er trug diese Bürde – und mit ihr die vielen Karikaturen in den Zeitungen und die Witze über eine solche Karriere – mit soviel Charme und Freundlichkeit, daß ihm Amerika schließlich verzieh, daß er eine Frau geheiratet hatte, die die Unverfrorenheit besaß, die halbe Welt führen zu wollen. Lasker stand gerade mit der Frau des Vizepräsidenten und deren halbwüchsigem Sohn zusammen, die sich in seiner
Gesellschaft glänzend amüsierten. Die Präsidentin führte Der Heer in die Bibliothek nebenan. »Also«, begann sie, »heute wird noch keine offizielle Entscheidung getroffen und keine Presseerklärung über unsere Beratungen abgegeben. Aber vielleicht sollten wir unsere bisherigen Ergebnisse einmal zusammenfassen. Wir wissen nicht, was die verdammte Maschine tun wird, aber die Vermutung liegt nahe, daß sie zur Wega fliegt. Niemand hat auch nur die leiseste Ahnung, wie das funktionieren oder wie lange es dauern soll. Wie weit war die Wega entfernt?« »Sechsundzwanzig Lichtjahre, Frau Präsidentin.« »Wenn also die Maschine eine Art Raumschiff ist und sich so schnell wie das Licht fortbewegt – ich weiß, daß man nur annähernd so schnell wie das Licht sein kann, also unterbrechen Sie mich nicht –, dann braucht sie nach unserer Zeitrechnung sechsundzwanzig Jahre, um dort anzukommen. Ist das korrekt, Der Heer?« »Ja, völlig. Plus vielleicht ein Jahr, um auf Lichtgeschwindigkeit zu kommen, und ein weiteres Jahr, um die Geschwindigkeit beim Eindringen ins System der Wega zu verringern. Für die Besatzung dauert es viel weniger lang. Vielleicht nur ein paar Jahre, je nachdem, wie nahe wir an die Lichtgeschwindigkeit herankommen.« »Für einen Biologen, Der Heer, haben Sie eine Menge Astronomie gelernt.« »Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich habe versucht, mich gründlich in das Gebiet einzuarbeiten.« Sie schaute ihn kurz an und fuhr dann fort: »Solange die Maschine also annähernd mit Lichtgeschwindigkeit fliegt, dürfte das Alter der einzelnen Teilnehmer keine Rolle spielen. Aber wenn die Reise zehn, zwanzig oder mehr Jahre dauert – und Sie behaupten, daß das durchaus möglich ist –, dann sollten wir einen jungen Mann oder eine junge Frau auswählen. Für die Russen hat dieses
Argument kein Gewicht. Natürlich wird die Wahl zwischen Archangelski und Lunatscharski getroffen, die beide um die sechzig sind.« Etwas stockend hatte sie die Namen von einer Karteikarte abgelesen. »Die Chinesen werden mit ziemlicher Sicherheit Xi schicken. Er ist auch um die sechzig. Wenn ich also davon ausgehe, daß sie wissen, was sie tun, dann bin ich fast versucht, zu sagen: ›Ist ganz egal, wir nehmen auch einen Sechzigjährigen‹.« Drumlin, das wußte Der Heer, war genau sechzig Jahre alt. »Andererseits…«, setzte er zum Widerspruch an. »Ich weiß, ich weiß. Die indische Molekularbiologin, sie ist erst vierzig… Irgendwie finde ich das verrückt. Wir wählen jemand aus, der an den Olympischen Spielen teilnehmen soll, aber wir kennen die Disziplinen gar nicht. Warum ziehen wir eigentlich immer nur Wissenschaftler in Betracht? Mahatma Gandhi sollten wir schicken. Oder wenn wir schon dabei sind, Jesus Christus. Erzählen Sie mir nicht, daß die nicht zur Verfügung stehen, Der Heer. Das weiß ich.« »Wenn man die Disziplinen nicht kennt, sollte man einen Zehnkampfchampion schicken.« »Und dann stellen Sie fest, daß Schach, Rhetorik oder Bildhauerei gefragt sind, und Ihr Athlet kommt als letzter an. Okay, Sie sagen, es sollte jemand sein, der sich schon mit extraterrestrischem Leben beschäftigt hat und der ganz persönlich am Empfang und der Entschlüsselung der BOTSCHAFT beteiligt war.« »Nur so jemand kann sich vielleicht vorstellen, wie die Wegianer denken. Oder wenigstens, wie sie glauben, daß wir denken.« »Und wirkliche Topleute gibt es Ihrer Ansicht nach nur drei.« Wieder warf sie einen Blick auf ihre Notizen. »Arroway, Drumlin und… der, der sich für einen römischen Feldherrn hält.«
»Dr. Valerian, Frau Präsidentin. Ich wüßte nicht, daß er sich für einen römischen Feldherrn hält, er heißt einfach so.« »Valerian wollte nicht einmal auf die Fragen des Auswahlkomitees antworten. Er zieht eine Kandidatur nicht in Erwägung, weil er seine Frau nicht allein lassen will. Stimmt das? Ich verurteile ihn nicht deswegen. Er ist nicht dumm. Er weiß, was eine Beziehung ausmacht. Seine Frau ist doch nicht krank, oder?« »Nein, soweit ich weiß, erfreut sie sich bester Gesundheit.« »Schön. Schön für sie. Schicken Sie ihr einen kleinen persönlichen Brief von mir – schreiben Sie, was sie für eine Frau sein muß, daß ein Astronom für sie das Universum aufgibt. Aber formulieren Sie es etwas romantischer, Der Heer. Sie wissen schon. Und fügen Sie ein paar Zitate ein. Vielleicht ein Gedicht. Aber auch wieder nicht zu viel.« Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. »Von diesem Valerian können wir alle etwas lernen. Wir sollten die beiden zu einem Staatsempfang einladen. In zwei Wochen kommt der König von Nepal. Das wäre eine gute Gelegenheit.« Der Heer schrieb wie verrückt mit. Er mußte den für Termine zuständigen Sekretär des Weißen Hauses anrufen, und er hatte noch einen viel dringenderen Anruf zu tätigen. Schon seit Stunden war es ihm unmöglich, an ein Telephon zu kommen. »Also bleiben noch Ellie Arroway und Drumlin. Sie ist ungefähr zwanzig Jahre jünger als er, aber er ist in großartiger körperlicher Form. Er ist Drachenflieger, Hobbyfallschirmspringer und Sporttaucher… und er ist ein brillanter Wissenschaftler. Er hat wesentlich dazu beigetragen, die BOTSCHAFT zu entschlüsseln, und er würde sich im Kreis der anderen Alten gut amüsieren. Er hat doch nicht an der Entwicklung von Atomwaffen mitgearbeitet? Ich will niemand mitschicken, der mit Atomwaffen zu tun hatte. Ellie Arroway ist ebenfalls eine brillante Wissenschaftlerin. Sie
leitet das Argus-Projekt, sie kennt die BOTSCHAFT in- und auswendig, und sie ist wißbegierig. Alle sagen, daß sie breitgefächerte Interessen hat. Und sie würde ein jüngeres Amerika repräsentieren.« Die Präsidentin hielt inne. »Und Sie mögen sie, Ken. Da ist doch nichts dabei. Ich mag sie auch. Aber manchmal hat sie ein loses Mundwerk. Haben Sie bei Ihrer Befragung gut zugehört?« »Ich glaube, ich weiß schon, welche Fragen Sie meinen, Frau Präsidentin. Aber das Auswahlkomitee hat sie fast acht Stunden befragt, und manchmal hat sie sich einfach über in ihren Augen dumme Fragen geärgert. Drumlin war nicht besser. Vielleicht hat sie das sogar von ihm. Sie hat eine Zeitlang bei ihm studiert, müssen Sie wissen.« »Natürlich, auch er hat ein paar dumme Bemerkungen gemacht. Hier, angeblich wurde alles für uns auf Video aufgezeichnet. Zuerst Ellie Arroway und dann Drumlin. Drücken Sie die Play-Taste, Ken.« Auf dem Bildschirm erschien Ellie, wie sie in ihrem Büro in Argus interviewt wurde. Der Heer konnte sogar den vergilbten Zettel mit dem Kafka-Zitat erkennen. Vielleicht wäre Ellie alles in allem glücklicher, wenn die Sterne geschwiegen hätten. Ein scharfer Zug lag um ihren Mund, und sie hatte Ringe unter den Augen. Eine neue senkrechte Falte zog sich von der Nasenwurzel zur Stirn. Auf der Videoaufzeichnung sah Ellie furchtbar müde aus, und Der Heer fühlte sich plötzlich schuldig. »Was ich von der Weltbevölkerungskrise halte?« fragte Ellie gerade. »Sie meinen, ob ich dafür oder dagegen bin? Sie halten das für eine der zentralen Fragen, die mir auf der Wega gestellt werden könnten, und wollen sich vergewissern, daß ich die richtige Antwort gebe? Also gut. Die Überbevölkerung ist der Grund, warum ich für Homosexualität und das Zölibat eintrete. Das Zölibat ist eine besonders gute Idee, weil dadurch eine
erbliche Veranlagung der Priester zum Fanatismus ausgeschaltet wird.« Ellies Gesicht erstarrte. Die Präsidentin hatte die Pause-Taste gedrückt. »Ich gebe ja zu, daß manche Fragen nicht die intelligentesten waren«, sagte sie. »Aber in einem Projekt, das so positive Auswirkungen auf internationaler Ebene hat, wollen wir niemand an so exponierter Stelle, der sich als Rassist entpuppen könnte. In diesem Projekt wollen wir die Entwicklungsländer auf unserer Seite haben. Wir hatten guten Grund, die Frage zu stellen. Finden Sie nicht, daß Frau Arroways Antwort eine gewisse… Taktlosigkeit offenbart? Sie spielt ein bißchen die Neunmalkluge, Ihre Frau Dr. Arroway. Jetzt sehen Sie sich mal Drumlin an.« Drumlin trug eine gepunktete Krawatte, war braun gebrannt und sah fit aus. »Ja, ich weiß, wir haben alle Gefühle«, sagte er, »aber wir müssen uns klar darüber sein, was Gefühle eigentlich sind. Sie waren der Motor für ein anpassungsfähiges Verhalten in einer Zeit, als wir noch zu dumm waren, bestimmte Dinge mit dem Verstand zu kapieren. Aber ich weiß sehr wohl, daß Gefahr im Verzug ist, wenn eine Meute von Hyänen mit gefletschten Zähnen auf mich zustürzt. Dazu brauche ich nicht erst einen Adrenalinstoß. Ich bin sogar imstande zu kapieren, daß es vielleicht wichtig ist, einige meiner genetischen Daten an die nächste Generation zu vererben. Ich brauche wirklich kein Testosteron im Blut, um zurechtzukommen. Glauben Sie denn ernsthaft, daß ein außerirdisches Wesen, das uns himmelweit voraus ist, mit Gefühlen belastet ist? Ich weiß, manche Leute halten mich für unterkühlt und gefühllos. Aber wenn Sie die Außerirdischen wirklich verstehen wollen, dann sollten Sie mich schicken. Sie werden niemand finden, der ihnen so sehr ähnelt wie ich.«
»Eine schöne Alternative«, sagte die Präsidentin. »Die eine ist Atheistin, und der andere hält sich jetzt schon für einen halben Wegianer. Warum kommen eigentlich nur Wissenschaftler in Frage? Können wir nicht jemand… ganz Normalen nehmen? Das ist nur eine rhetorische Frage«, fügte sie schnell hinzu. »Ich weiß natürlich, daß wir Wissenschaftler schicken müssen. Die BOTSCHAFT hat Wissenschaft zum Inhalt und ist in wissenschaftlicher Sprache geschrieben. Die Wissenschaft, das wissen wir, haben wir mit den Wesen auf der Wega gemein. Nein, das sind schon gute Gründe, Ken. Ich weiß das.« »Frau Arroway ist keine Atheistin, sie ist Agnostikerin. Sie ist aufgeschlossen und nicht einem Dogma verhaftet. Sie ist intelligent, zäh und sehr routiniert. Sie verfügt über umfassende Kenntnisse. Sie ist genau die richtige in dieser Situation.« »Ken, ich freue mich wirklich über Ihr Engagement, mit der sie auf ein gutes Ende dieses Projektes hinarbeiten. Aber ein Großteil der Erdbevölkerung hat große Angst. Und ich weiß ganz genau, wieviel diese Leute schon schlucken mußten. Mehr als die Hälfte von denen, mit denen ich gesprochen habe, glauben nicht, daß wir das Recht haben, dieses Ding zu bauen. Und wenn man schon nicht mehr zurück kann, dann wollen sie wenigstens jemand absolut Zuverlässigen schicken. Ellie Arroway mag all das sein, was Sie sagen, aber absolut zuverlässig ist sie nicht. Ich bekomme eine ganze Menge Druck vom Kongreß, den Erdpatrioten, meiner Partei und den Kirchen. Bei dem Treffen in Kalifornien hat sie zwar Palmer Joss beeindruckt, aber sie hat es auch fertig gebracht, Billy Jo Rankin total zu verärgern. Er hat mich gestern angerufen und gesagt: ›Frau Präsidentin‹ – er kann seinen Widerwillen, mich mit ›Frau Präsidentin‹ ansprechen zu müssen, kaum verbergen – ›Frau Präsidentin‹, sagte er also, ›diese Maschine fliegt
entweder direkt zu Gott oder zum Teufel. Und egal, zu wem von den beiden die Reise geht, Sie sollten auf jeden Fall einen aufrechten Christen erwählen.‹ Er versuchte, seine Beziehung zu Palmer Joss auszuspielen, um mich im Namen Gottes unter Druck zu setzen. Aber er dachte ganz offensichtlich an sich selbst als möglichen Kandidaten. Drumlin wird für jemand wie Rankin wesentlich akzeptabler sein als Ellie Arroway. Natürlich weiß ich genau, daß Drumlin ein kalter Fisch ist. Aber er ist verläßlich, patriotisch und gesund. Er hat einwandfreie Referenzen als Wissenschaftler. Und er möchte gerne gehen. Nein, es muß Drumlin sein. Ich kann Ellie Arroway höchstens als Ersatzperson nominieren.« »Darf ich ihr die Nachricht überbringen?« »Aber wir wollen Frau Arroway nicht vor Drumlin informieren, einverstanden? Ich werde es Sie wissen lassen, wenn die endgültige Entscheidung gefallen ist und Drumlin benachrichtigt ist… Ken, bitte seien Sie nicht traurig. Sie müßten sich doch wünschen, daß sie hier auf der Erde bleibt, oder?« Es war schon nach sechs, als Ellie mit der Instruierung des »Tiger Team« vom Außenministerium fertig war, das die Aufgabe hatte, den amerikanischen Unterhändlern in Paris den Rücken zu stärken. Der Heer hatte versprochen, sie anzurufen, sobald die Sitzung vorbei war. Er wollte, daß sie von ihm und niemand anderem erfuhr, ob die Wahl auf sie gefallen war. Den Leuten der Untersuchungskommission war sie nicht respektvoll genug gewesen, das wußte Ellie, und das war vielleicht auch der Grund, wenn sie unter einem Dutzend weiterer Bewerber unterlag. Trotzdem hatte sie vielleicht eine Chance. Im Hotel fand sie eine Nachricht vor – nicht auf einem der rosafarbenen Formulare des Portiers für Anrufe, die während
ihrer Abwesenheit gekommen waren, sondern ein versiegeltes, ungestempeltes, persönlich abgegebenes Kuvert. In dem Brief stand: »Treffen Sie mich heute abend um acht im Nationalmuseum für Wissenschaft und Technik. Palmer Joss.« Keine Anrede, keine Erklärungen, keine weiteren Details, kein Gruß… Palmer war wirklich ein Mann des Glaubens. Er hatte das Briefpapier des Hotels benutzt und keinen Absender darauf vermerkt. Wahrscheinlich war er am Nachmittag vorbeigekommen, in der Erwartung, sie hier anzutreffen. Die Adresse hatte er wohl vom Außenminister persönlich erfahren. Heute war ein anstrengender Tag gewesen, und sie ärgerte sich über jeden Tag, an dem sie nicht an der Entschlüsselung der BOTSCHAFT weiterarbeiten konnte. Obwohl sie eigentlich nicht in der richtigen Stimmung war zu gehen, duschte sie, kaufte sich eine Tüte mit Cashewnüssen und saß eine dreiviertel Stunde später im Taxi. Es war eine Stunde vor Schließung, und das Museum war fast leer. In jeder Ecke der weiträumigen Eingangshalle standen riesige schwarze Maschinen, der Stolz der Schuhfabriken und der Textil- und Kohlenindustrie des 19. Jahrhunderts. Eine Dampfpfeifenorgel der Ausstellung von 1876 spielte für eine Touristengruppe aus Westafrika eine flotte Melodie, die ursprünglich wohl für Blasinstrumente komponiert worden war. Ellie konnte Joss nirgends entdecken. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Wenn man mit Palmer Joss in diesem Museum verabredet war, überlegte sie, und das einzige, worüber man sich je unterhalten hatte, die Religion und die BOTSCHAFT waren, wo würde man ihn antreffen? Sie fühlte sich an das Problem der Frequenzwahl in der SETI-Forschung erinnert: Noch hatte man keine Botschaft von einer fortgeschrittenen Zivilisation empfangen, aber man mußte entscheiden, auf welchen Frequenzen diese Wesen – von denen man praktisch nichts wußte, nicht einmal, ob es sie überhaupt gab – senden
würden. Das setzte gewisse Kenntnisse voraus, über die man auf beiden Seiten verfügen mußte. Beide kannten sicher das am häufigsten im Universum vorkommende Atom und die charakteristische Radiofrequenz, bei der es absorbierte und abstrahlte. Aufgrund dieser Logik hatte man die 1420Megahertz-Wasserstoff-Linie von Anfang an in die SETIForschung mit einbezogen. Und was war in diesem Fall die Entsprechung? Alexander Graham Beils Telephon? Der Telegraph Marconis? – Natürlich. »Gibt es in diesem Museum ein Foucault-Pendel?« fragte Ellie einen Aufseher. Ihre Absätze hallten laut auf dem Marmorboden, als sie auf die Rotunde zuging. Joss lehnte über dem Geländer und schaute sich die Mosaikdarstellung der vier Himmelsrichtungen an. Kleine senkrechte Markierungen bezeichneten die Stunden. Einige standen noch aufrecht, während die anderen offenbar von dem Pendelgewicht im Laufe des Tages umgeworfen worden waren. Gegen sieben hatte jemand das Pendel angehalten. Es hing jetzt bewegungslos nach unten. Palmer Joss hatte sie schon mindestens seit einer Minute kommen hören, aber nichts gesagt. »Sind Sie zu dem Schluß gekommen, daß Gebete das Pendel stoppen können?« fragte sie ihn mit einem Lächeln. »Das hieße den Glauben mißbrauchen«, erwiderte er. »Warum denn? Sie würden viele damit bekehren. Für Gott wäre es ein Leichtes, und wenn ich mich recht entsinne, sprechen Sie doch regelmäßig mit ihm… Nein, Sie wollen etwas anderes. Sie wollen bestimmt meinen Glauben an die Physik der harmonischen Oszillatoren auf die Probe stellen? Einverstanden.« Ellie wunderte sich, daß Joss diesen Test mit ihr machen wollte, aber sie war entschlossen, mitzuspielen. Sie streifte
Handtasche und Schuhe ab. Er setzte mit einem eleganten Sprung über die Sicherheitskette und half ihr, darüberzuklettern. Halb gingen, halb schlitterten sie die Schräge hinunter, bis sie neben dem Pendel standen. Es hatte eine matte, schwarze Oberfläche, und Ellie fragte sich, ob es aus Stahl oder Blei bestand. »Sie müssen mir helfen«, sagte sie. Sie legte ihre Arme um das Pendel, und gemeinsam zerrten sie daran, bis es die Höhe von Ellies Gesicht erreicht hatte. Joss blickte sie prüfend an. Er fragte sie nicht, ob sie sich auch sicher war, er ermahnte sie nicht, ja nicht nach vorn zu fallen, und er belehrte sie nicht darüber, dem Pendel beim Loslassen eine horizontale Geschwindigkeitskomponente zu geben. Hinter ihr waren noch gut ein bis eineinhalb Meter ebener Boden, bevor sich die umgebende Wand sanft nach oben wölbte. Wenn sie einen klaren Kopf behielt, war es eine todsichere Sache. Sie ließ los. Das Pendel schwang von ihr weg. Die Schwingungsdauer eines einfachen Pendels, dachte Ellie benommen, betrug 2 , die Quadratwurzel aus L mal g, wobei L die Länge des Pendels und g die Beschleunigung entsprechend der Schwerkraft waren. Wegen der Reibungsverluste konnte das Pendel nie weiter als bis zu seinem Ausgangspunkt zurückschwingen. Ich darf mich nur nicht nach vorn neigen, schärfte sie sich ein, Nahe dem Geländer auf der anderen Seite verlangsamte das Pendel seinen Schwung und erreichte einen toten Punkt. Auf dem Weg zurück bewegte es sich viel schneller, als Ellie erwartet hatte. Je näher es auf sie zuschwang, desto größer wurde es. Riesig stand es plötzlich vor ihrem Gesicht. Sie zuckte zusammen. »Ich habe mich bewegt«, sagte sie enttäuscht, als das Pendel wieder von ihr wegschwang. »Nur ein kleines bißchen.« »Nein, ich habe mich bewegt.«
»Sie glauben wirklich. Sie glauben an die Wissenschaft. Sie haben nur einen ganz leisen Zweifel.« »Nein, es ist etwas anderes. Hier haben eine Million Jahre Intellekt gegen eine Milliarde Jahre Instinkt angekämpft. Deshalb haben Sie es auch viel leichter als ich.« »In dem Punkt haben wir es gleich schwer. Aber jetzt bin ich dran«, sagte er und zog das Pendel rasselnd bis zum höchsten Punkt der Bahn, die es durchmessen würde. »Aber Ihren Glauben an die Erhaltung der Energie testen wir nicht.« Er lächelte und suchte mit seinen Füßen nach einem festen Halt. »Was machen Sie denn da?« fragte eine entrüstete Stimme über ihnen. »Sind Sie verrückt?« Ein Museumswärter, der auf seinem Rundgang pflichtbewußt nachschaute, ob auch alle Besucher rechtzeitig das Museum verließen, stand vor dem ungewohnten Anblick eines Mannes und einer Frau, die in der Vertiefung vor dem Pendel in dem ansonsten völlig verlassenen Trakt des Gebäudes standen. »Oh, es ist alles in bester Ordnung«, entgegnete ihm Joss fröhlich. »Wir stellen nur unseren Glauben auf die Probe.« »Das ist hier nicht erlaubt«, erwiderte der Wärter. »Es handelt sich hier um ein Museum.« Joss und Ellie hielten das Pendel an und kletterten die schräge Steinwand hinauf. »So etwas muß doch durch das Gesetz erlaubt sein«, sagte Ellie. »Oder durch das erste Gebot«, meinte Joss. Ellie schlüpfte wieder in ihre Schuhe, hängte ihre Handtasche um und folgte mit hocherhobenem Kopf Joss und dem Wärter aus der Rotunde. Ohne sich zu erkennen zu geben oder erkannt zu werden, konnten sie ihm ausreden, sie beide unter Arrest zu stellen. Aber sie wurden von einer Phalanx uniformierter Museumsangestellter bis zur Tür geleitet, die fürchteten, Ellie
und Joss könnten ihren seltsamen Gott als nächstes in der Dampfpfeifenorgel suchen. Die Straße war menschenleer. Wortlos spazierten sie die Promenade entlang. Es war eine klare Nacht, und Ellie konnte die Leier ausfindig machen. »Der leuchtende Stern dort, das ist die Wega«, sagte sie. Joss betrachtete sie lange. »Die Entschlüsselung war eine brillante Leistung«, sagte er schließlich. »Ach, Unsinn. Es war geradezu trivial. Es war die einfachste Botschaft, die sich eine fortgeschrittene Zivilisation ausdenken konnte. Es wäre wirklich eine Schande gewesen, wenn wir nicht imstande gewesen wären, ihr auf die Spur zu kommen.« »Mit Komplimenten werden Sie nicht besonders gut fertig, das habe ich schon gemerkt. Nein, das ist eine der Entdeckungen, die die Zukunft verändern. Zumindest unsere Erwartungen an die Zukunft. Wie die Entdeckung des Feuers, der Schrift oder des Ackerbaus. Oder Maria Verkündigung.« Er schaute wieder hinauf zur Wega. »Wenn Sie einen Sitz in der Maschine bekämen und mit ihr zum Sender der BOTSCHAFT fliegen könnten, was glauben Sie, was Sie dort sehen würden?« »Die Evolution ist ein stochastischer Prozeß. Es gibt zu viele Möglichkeiten, vernünftige Voraussagen über das Leben auf anderen Planeten zu machen. Wenn Sie die Erde vor dem Ursprung des Lebens gesehen hätten, hätten Sie dann eine Heuschrecke oder eine Giraffe vorhersehen können?« »Aber ich kenne die Antwort auf diese Frage. Jetzt glauben Sie vermutlich, daß wir das alles erfinden, daß wir es in irgendwelchen Büchern gelesen oder an einer Gebetsstätte aufgeschnappt haben. Aber das stimmt nicht. Ich weiß die Antwort aus eigener Erfahrung, aus eigenem Erleben.
Deutlicher kann ich es nicht sagen. Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen.« An der Aufrichtigkeit seines Geständnisses gab es keine Zweifel. »Erzählen Sie mir davon.« Da erzählte er ihr seine Geschichte. »Gut«, sagte Ellie schließlich, »Sie waren klinisch tot, erwachten dann wieder zum Leben und erinnern sich, daß Sie durch die Finsternis nach oben zu einem hellen Licht aufstiegen. Sie sahen ein helles Strahlen, das die Form einer menschlichen Gestalt hatte und das Sie für Gott hielten. Aber nichts in Ihrem Erlebnis hat Ihnen gesagt, daß dieses Strahlen das Universum erschaffen oder die Gesetze der Moral geschrieben hat. Ein Erlebnis ist ein Erlebnis. Sie waren ohne Frage zutiefst davon erschüttert. Aber es gibt noch andere mögliche Erklärungen.« »Zum Beispiel?« »Vielleicht könnte man es mit der Geburt vergleichen. Bei der Geburt bahnt sich der Säugling einen Weg durch einen langen, dunklen Tunnel einem strahlend hellen Licht entgegen. Sie dürfen nicht vergessen, wie strahlend hell es ist – das Baby hat neun Monate im Dunkeln verbracht. Die Geburt bedeutet die erste Begegnung mit dem Licht. Stellen Sie sich nur vor, wie erstaunt und ehrfürchtig Sie sein würden, wenn Sie jetzt zum ersten Mal Farben, Licht, Schatten oder ein menschliches Gesicht sähen – das zu erkennen wir wahrscheinlich von Anfang an programmiert sind. Vielleicht springt der Kilometerzähler für einen kurzen Augenblick zurück auf Null, wenn man auf der Schwelle des Todes steht. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich bestehe keinesfalls auf dieser Erklärung. Es ist nur eine unter vielen Möglichkeiten. Ich
möchte damit nur darauf hinweisen, daß Sie Ihr Erlebnis vielleicht falsch interpretiert haben.« »Sie haben nicht gesehen, was ich gesehen habe.« Wieder schaute er das kalte, blauweiß flackernde Licht der Wega an und dann Ellie. »Fühlen Sie sich nicht manchmal… verloren in Ihrem Universum? Woher wissen Sie denn, was Sie tun sollen, wie Sie sich verhalten sollen, wenn es keinen Gott gibt? Einfach den Gesetzen gehorchen, weil man sonst eingesperrt wird?« »Nicht diese Verlorenheit beunruhigt Sie, Palmer. Ihre größte Sorge ist, als Mensch nicht im Zentrum zu stehen und nicht der Grund zu sein, warum das Universum erschaffen wurde. In meinem Universum gibt es viele Ordnungssysteme. Die Gravitation, den Elektromagnetismus, die Quantenmechanik, die Weltformel, allem liegen Gesetze zugrunde. Und könnten wir nicht auch in Fragen der Ethik durch Nachdenken darauf kommen, was für uns als Menschen das Beste ist?« »Das ist zweifellos eine warmherzige und noble Sicht der Welt, und ich bin der letzte, der abstreitet, daß die Menschen auch gut sein können. Aber wieviel Grausamkeit hat es in der Welt gegeben, als es die Liebe zu Gott nicht gab?« »Und wieviel Grausamkeit, als es sie gab? Savonarola und Torquemada liebten Gott, haben sie zumindest behauptet. Ihre Religion geht davon aus, daß die Menschen Kinder sind und einen Schwarzen Mann brauchen, um im Zaum gehalten zu werden. Sie wollen, daß die Menschen an Gott glauben, damit sie den Gesetzen gehorchen. Das sind die einzigen Mittel, die Ihnen zur Verfügung stehen: eine strenge weltliche Polizei und die Androhung einer Bestrafung durch den alles sehenden Gott für das, was der Polizei entgeht. Sie verkaufen die Menschen für dumm. Palmer, Sie glauben, weil ich Ihr religiöses Erweckungserlebnis nicht gehabt habe, könnte ich die Größe
und Herrlichkeit Ihres Gottes nicht würdigen. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Ich höre Ihnen zu und dann denke ich mir: Sein Gott ist zu klein! Ein armseliger Planet, ein paar tausend Jahre – das lohnt kaum die Aufmerksamkeit durch eine unbedeutendere Gottheit und schon gar nicht die des Schöpfers des Universums.« »Jetzt werfen Sie mich aber mit anderen Predigern in einen Topf. Das Museum in Modesto war Bruder Rankins Territorium. Ich bin bereit, ein Universum anzuerkennen, das Milliarden von Jahren alt ist. Ich behaupte nur, daß die Wissenschaftler es noch nicht bewiesen haben.« »Und ich behaupte, daß Sie den Beweis noch nicht verstanden haben. Worin liegt der Nutzen für die Menschen, wenn die traditionelle Gelehrsamkeit, die religiösen ›Wahrheiten‹ Lügen sind? Wenn Sie wirklich glauben, daß Sie es mit erwachsenen Menschen zu tun haben, dann müssen Sie anders predigen.« Beide schwiegen, und für eine Weile war nur das Geräusch ihrer Schritte auf dem Gehsteig zu vernehmen. »Entschuldigen Sie, daß ich so heftig war«, sagte Ellie. »Das passiert mir einfach von Zeit zu Zeit.« »Ich gebe Ihnen mein Wort, Frau Dr. Arroway, ich werde gründlich darüber nachdenken, was Sie heute abend gesagt haben. Sie haben einige Fragen in den Raum gestellt, auf die ich eigentlich eine Antwort haben sollte. Aber darf auch ich Ihnen noch einige Fragen stellen?« Sie nickte, und er fuhr fort: »Was bedeutet Ihnen Ihr Bewußtsein, jetzt gerade in dieser Minute? Fühlt es sich wie eine Milliarde winziger tanzender Atome an? Und von biologischen Gesetzmäßigkeiten einmal abgesehen, wo in der Wissenschaft kann ein Kind lernen, was Liebe ist? Da – « Ellies Piepser gab einen kurzen Summ ton. Es war wahrscheinlich die Nachricht von Ken, auf die sie schon die
ganze Zeit gewartet hatte. Dann mußte es eine sehr lange Sitzung für ihn gewesen sein. Vielleicht hatte er trotzdem gute Nachricht für sie. Sie schaute auf die Buchstaben und Zahlen, die auf der Digitalanzeige erschienen: Die Nummer von Kens Büro. Nirgends war eine öffentliche Telephonzelle zu sehen, aber schon nach wenigen Minuten konnten sie ein Taxi anhalten. »Es tut mir wirklich leid, daß ich so plötzlich aufbrechen muß«, entschuldigte sich Ellie. »Ich habe mich sehr über unser Gespräch gefreut und ich werde auch ernsthaft über Ihre Fragen nachdenken… Haben Sie noch eine?« »Ja. Inwiefern hält die Wissenschaft Wissenschaftler davon ab, Böses zu tun?«
15 Erbiumdübel Die Erde: und das ist genug. Ich brauche die Sternenbilder nicht näher. Ich weiß, sie sind, wo sie sind, an guter Stelle. Ich weiß, sie genügen denen, die ihnen angehören. Walt Whitman Grashalme »Gesang von der freien Straße« (1855)
Die Jahre gingen ins Land. Es war ein technologischer Traum und ein diplomatischer Alptraum, aber zuletzt wurde die Maschine doch gebaut. Man überlegte sich Wortneuschöpfungen oder suchte in alten Mythen, um dem Projekt einen Namen zu geben. Aber von Anfang an sprachen alle nur von der Maschine, was dann auch die offizielle Bezeichnung wurde. Wenn die westlichen Zeitungen in Leitartikeln über die pausenlosen komplizierten und heiklen internationalen Verhandlungen berichteten, sprachen sie nur noch von »Maschinenpolitik«. Als der erste verläßliche Kostenvoranschlag für das gesamte Unternehmen vorlag, mußten selbst die Titanen der Weltraumindustrie erst einmal tief Luft holen. Die Kosten für das voraussichtlich mehrere Jahre dauernde Projekt beliefen sich auf eine halbe Billion Dollar pro Jahr. Das entsprach ungefähr einem Drittel sämtlicher Militäretats der Erde, nukleare und konventionelle
Waffensysteme zusammengenommen. Manche befürchteten, daß der Bau der Maschine die Weltwirtschaft ruinieren würde. »Wirtschaftskrieg von der Wega?« fragte der Londoner Economist. Die täglichen Schlagzeilen in der New York Times waren sogar noch phantastischer als die des nicht mehr existierenden National Enquirer zehn Jahren zuvor. Fest stand jedenfalls, daß weder Hellseher noch sonstige Propheten oder Menschen mit angeblich hellseherischen Fähigkeiten oder Astrologen, Esoteriker und Verfasser von Jahreshoroskopen die BOTSCHAFT oder die Maschine vorausgesagt hatten – ganz zu schweigen von der Wega, den Primzahlen, Adolf Hitler, den Olympischen Spielen und allem anderen. Viele behaupteten, daß sie die Ereignisse deutlich vorhergesehen, sich aber nicht darum gekümmert hätten, sie aufzuschreiben. Vorhersagen über überraschende Ereignisse, die man nicht vorher schriftlich niedergelegt hatte, trafen immer viel genauer zu. Das war schon immer so gewesen. Die meisten Religionen reagierten im Grunde nicht anders: Wenn man die jeweiligen heiligen Schriften sorgfältig durchlas, so bekam man immer wieder zu hören, dann wurde einem schnell klar, daß die wunderbaren Ereignisse dort bereits prophezeit waren. Andere sahen in der Maschine eine mögliche Goldgrube für die Raumfahrtindustrie, die sich, seit das Hiroshima-Abkommen in Kraft getreten waren, auf dem absteigenden Ast befand. Nur vereinzelt wurden noch strategische Waffensysteme entwickelt. Aus der Bereitstellung von Wohnraum im All war zwar eine aufsteigende Industrie entstanden, der Verlust an Aufträgen für Laserkampfstationen und andere Ausrüstungsgegenstände der strategischen Verteidigung, die frühere Regierungen in Aussicht gestellt hatten, war dadurch allerdings nicht ausgeglichen worden. Deshalb vergaßen einige, die sich aufgrund des Baues der Maschine Sorgen um die Sicherheit des Planeten gemacht
hatten, ihre Skrupel in Anbetracht der zu erwartenden neuen Arbeitsplätze, finanziellen Gewinne und beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten. Einige wenige, aber einflußreiche Leute waren der Ansicht, daß der hochtechnologischen Industrie nichts Besseres passieren konnte als eine Bedrohung aus dem All. Man würde Verteidigungssysteme brauchen, ungeheuer leistungsfähigen Überwachungsradar, vielleicht sogar Stützpunkte auf dem Pluto oder der Oortschen Kometenwolke. Weder sachliche Abhandlungen noch Diskussionen über die militärischen Unterschiede zwischen den Erdbewohnern und den Außerirdischen konnten solche Phantasten einschüchtern. »Selbst wenn wir uns nicht gegen die Außerirdischen wehren können«, sagten sie, »ist es nicht in aller Interesse, wenigsten zu wissen, wann sie kommen?« Sie rochen Profite, Natürlich würden sie die Maschine bauen, selbst wenn sie mehrere Billionen Dollar kostete. Denn die Maschine war, wenn man es richtig anpackte, nur der Anfang. Ein ungewöhnliches politisches Bündnis stand hinter der Wiederwahl von Präsidentin Lasker, die geradezu zu einem nationalen Volksentscheid darüber wurde, ob die Maschine nun gebaut werden sollte oder nicht. Der Gegenkandidat warnte vor Trojanischen Pferden, Weltuntergangsmaschinen und der möglichen Demoralisierung des amerikanischen Erfindergeistes angesichts von Wesen eines anderen Sterns, die bereits »alles erfunden« hatten. Die Präsidentin dagegen war zuversichtlich, daß die amerikanische Technologie mit der Herausforderung wachsen würde. Sie schloß auch die Möglichkeit nicht aus, daß die amerikanische Genialität dem, was es auf der Wega gab, gewachsen sein würde. Das sagte sie freilich nicht öffentlich. Sie wurde mit einer beachtlichen, aber nicht überwältigenden Mehrheit wiedergewählt. Die Genauigkeit der Instruktionen der BOTSCHAFT war ein
entscheidender Faktor. Nach Auffindung des Schlüssels gab es weder in bezug auf die Sprache noch in bezug auf die technologischen Grundlagen und Anweisungen zur Konstruktion der Maschine noch Unklarheiten. Auch Zwischenschritte, die an sich völlig eindeutig waren, wurden bis ins kleinste Detail ausgeführt und erklärt – so, als ob man in der Arithmetik zusätzlich zu der Demonstration, daß zwei mal drei sechs war, auch noch zeigen würde, daß drei mal zwei ebenfalls sechs ergab. Für jeden Bauabschnitt gab es Kontrollpunkte: Das nach Anweisung gewonnene Erbium sollte zu % Prozent rein sein und weniger als ein Prozent Verunreinigungen an anderen seltenen Erden enthalten. Wenn die Komponente 31 fertiggestellt und in eine 6-Mol-Lösung aus Flußsäure getaucht worden war, mußte das, was nach der Ätzung übrigblieb, so aussehen wie auf der beiliegenden Zeichnung. Wenn die Komponente 408 zusammengebaut war, mußte ein zwei Megagauss quer verlaufendes Magnetfeld den Propeller auf soundsoviel Umdrehungen pro Sekunde bringen, bevor er wieder in den Ruhezustand zurückkehrte. Wenn ein Test nicht funktionierte, mußte man wieder ganz von vorne anfangen. Nach einer gewissen Zeit gewöhnte man sich an die Tests und rechnete damit, sie alle problemlos absolvieren zu können. Man brauchte sich nur mechanisch an die Vorschriften zu halten. Viele der Hauptkomponenten, die in Fabrikanlagen gefertigt wurden, die eigens dafür, entsprechend den Anweisungen der BOTSCHAFT, aus dem Boden gestampft worden waren, überstiegen das menschliche Verständnis. Es war nicht einsichtig, warum sie funktionieren sollten. Aber sie funktionierten. Trotzdem konnte man auch in solchen Fällen eine praktische Anwendung ins Auge fassen. Hin und wieder eröffneten sich neue Perspektiven in einzelnen Wissenschaften – in der Metallurgie zum Beispiel oder im Bereich organischer
Halbleiter. In manchen Fällen wurden alternativ verschiedene Herstellungsverfahren für ein und dieselbe Komponente angeboten. Offenbar waren sich die Außerirdischen nicht sicher, welche Vorgehensweise auf der Erde die einfachste war. Als die ersten Fabrikanlagen gebaut und die ersten Modelle hergestellt worden waren, schwand auch der Pessimismus bezüglich der menschlichen Fähigkeit, eine fremde Technologie nach einer Botschaft zu rekonstruieren, die in einer unbekannten Sprache verfaßt war. Man hatte das prickelnde Gefühl, unvorbereitet in ein Examen zu gehen und festzustellen, daß die Aufgaben mit Allgemeinbildung und gesundem Menschenverstand zu lösen waren. Wie bei allen qualifizierten Prüfungen bedeutete schon das Absolvieren eine Lernerfahrung. Die ersten Tests waren überstanden: Das Erbium hatte die vorgeschriebene Reinheit, die auf der Zeichnung abgebildeten Überstrukturen blieben tatsächlich übrig, nachdem die anorganischen Substanzen mit Flußsäure weggeätzt worden waren, und der Propeller erreichte die gewünschte Drehzahl. Die BOTSCHAFT mache Wissenschaftler und Ingenieure selbstzufrieden, behaupteten kritische Stimmen. Sie würden sich von der Technologie gefangennehmen lassen und den Blick für die Gefahren verlieren. Für den Bau einer ganz bestimmten Komponente war eine besonders schwierig auszuführende Serie organischchemischer Reaktionen vorgeschrieben. Das daraus entstehende Produkt wurde einem Gemisch aus Formaldehyd und Ammoniakwasser zugeführt, das von der Menge her einen Swimmingpool hätte füllen können. Die Masse wuchs, differenzierte sich aus und lag dann einfach da – so fein und komplex, wie es Menschen nicht machen konnten. Sie war überzogen mit einem fein verästelten Netz dünner Röhrchen, durch die später vielleicht Flüssigkeit zirkulieren sollte. Sie
war gallertartig, breiig und dunkelrot. Sie reproduzierte sich nicht selbst, aber sie sah immerhin so lebendig aus, daß sie vielen Leuten einen Schrecken einjagte. Bei der Wiederholung des Verfahrens erhielt man genau dieselbe Substanz. Dennoch blieb es rätselhaft, wie das Endprodukt so viel komplexer sein konnte als die Anleitung zu seiner Herstellung. Die organische Masse lag platt und, soweit man feststellen konnte, völlig bewegungslos auf dem Boden. Sie sollte im Innern des Dodekaeders direkt über und unter dem Mannschaftsraum angebracht werden. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion bauten unabhängig voneinander an derselben Maschine. Beide Nationen hatten das Projekt in abgelegene Gegenden verlegt. Ausschlaggebend für die Wahl war weniger der Schutz der Bevölkerung gewesen für den Fall, daß es sich um eine Maschine mit zerstörerischem Potential handelte. Vielmehr wollte man sich neugierige Besucher, Demonstranten und die Medien so nachhaltig wie möglich vom Leibe halten. In den Vereinigten Staaten wurde die Maschine in Wyoming gebaut, in der Sowjetunion jenseits des Kaukasus in Usbekistan. Die neuen Fabrikanlagen hatte man in unmittelbarer Nachbarschaft der Montagegelände errichtet. Die Anfertigung der Bauelemente, die in bereits vorhandenen Industrien hergestellt werden konnten, war über die ganze Welt verteilt. So lieferte ein Hersteller der optischen Industrie in Jena Komponenten für die amerikanische und die sowjetische Maschine und nach Japan, wo jedes Bauteil systematisch untersucht wurde, um seine Funktionsweise wenigstens annähernd zu verstehen. Dazu brauchte man auf Hokkaido oft sehr lange. Man hatte Sorge, daß ein Bauteil, das einem Test unterzogen wurde, der in der BOTSCHAFT nicht vorgesehen war, das subtile Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten der Maschine zerstören könnte. Ein wichtiger Baustein der
Maschine bestand aus drei konzentrischen Kugelschalen. Sie drehten sich um Achsen, die im rechten Winkel zueinander standen und für eine sehr hohe Umdrehungsgeschwindigkeit ausgelegt waren. In die Kugelschalen mußten mit höchster Präzision komplizierte Schaltmuster geschnitten werden. Würde eine Schale, die einige Mal in einem nicht eigens vorgeschriebenen Test gedreht worden war, nicht mehr richtig funktionieren, wenn man sie in die Maschine einbaute? Würde dagegen eine ungeprüfte Schale perfekt arbeiten? Die Hadden-Werke waren Amerikas Hauptlieferant beim Bau der Maschine. Sol Hadden hatte darauf bestanden, daß weder Tests durchgeführt wurden, die nicht vorgesehen waren, noch Bauteile versuchsweise zusammenmontiert wurden, die später in die Maschine eingesetzt werden sollten. Die Anweisungen der BOTSCHAFT, so hatte er angeordnet, sollten bis auf das kleinste Detail befolgt werden. Die Botschaft enthalte keinen überflüssigen Buchstaben. Seine Angestellten sollten sich vorstellen, sie seien mittelalterliche Magier, die Wort für Wort eine Zauberformel ausführten. Sie sollten es nicht wagen, auch nur eine Silbe falsch auszusprechen. Das war, je nachdem, welchem Kalender oder Endzeitglauben man anhing, zwei Jahre vor der Jahrtausendwende. So viele Menschen hatten sich in glücklicher Erwartung des Jüngsten Tages oder der Ankunft Christi oder auch beidem von der Welt zurückgezogen, daß es in manchen Zweigen der Industrie an Fachkräften regelrecht mangelte. Haddens Bereitschaft, seine gesamten Industrieanlagen so zu reorganisieren, daß optimale Bedingungen für den Bau der Maschine geschaffen wurden, und für zusätzliche Anreize für Zulieferanten zu sorgen, hielt man bis dahin für den ausschlaggebenden Faktor des amerikanischen Erfolgs. Aber Hadden selbst hatte sich von der Welt zurückgezogen – eine Überraschung in Anbetracht der
allgemein bekannten Überzeugungen des Erfinders von Prednix. »Die Chiliasten haben einen Atheisten aus mir gemacht«, zitierte man ihn immer. Die wesentlichen Entscheidungen lagen aber den Worten seiner Untergebenen zufolge immer noch in seinen Händen. Die Kommunikation mit Hadden lief über ein schnelles asynchrones Telenetz: Seine Untergebenen deponierten die Berichte über den laufenden Fortschritt, Genehmigungsgesuche und andere Fragen an ihn in einer verschlossenen Kapsel, die einem bekannten wissenschaftlichen Telenetzdienst übergeben wurde. Seine Antworten kamen ebenfalls in einer verschlossenen Kapsel zurück. Es war eine etwas sonderbare Einrichtung, aber sie funktionierte. Als die ersten schwierigen Schritte geklärt waren und die Maschine allmählich Gestalt annahm, hörte man immer weniger von S. R. Hadden. Die Geschäftsführer des Weltkonsortiums begannen sich Sorgen zu machen. Nach einem, wie es hieß, längeren Besuch bei Mr. Hadden an einem geheimen Ort waren sie beruhigt. Außer ihnen kannte keiner seinen Aufenthaltsort. Die weltweiten Lagerbestände an strategischen Waffen sanken zum ersten Mal seit Mitte der fünfziger Jahre unter die 3200-Marke. Die multilateralen Gespräche über die weitere, weit schwierigere Abrüstung bis auf ein Minimum an nuklearen Abschreckungswaffen machten erstaunliche Fortschritte. Je weniger Waffen es auf der einen Seite gab, desto gefährlicher konnte es werden, wenn die andere Seite insgeheim Waffen zurückbehielt. Aber mit der gleichzeitigen enormen Reduzierung der Trägersysteme, die man wesentlich leichter kontrollieren konnte, den neu installierten automatischen Überwachungssystemen, die die Einhaltung der Verträge überwachten, und der Vereinbarung gegenseitiger Überprüfung vor Ort schienen alle Weichen für weitere Abrüstungsschritte gestellt. Diese Entwicklung hatte in den
Köpfen der Experten und der Öffentlichkeit einen Umdenkungsprozeß in Gang gesetzt. So wie die Supermächte früher um die Wette aufgerüstet hatten, so wetteiferten sie jetzt im Abrüsten miteinander. Konkret militärisch gesehen, hatten sie zwar noch nicht viel aufgegeben, denn beide besaßen noch immer genügend Bomben, um alles Leben auf dem Planeten zu zerstören. Aber diesem ersten Schritt waren bereits ein gewisser Optimismus in bezug auf die Zukunft und die hoffnungsvollere Perspektive der heranwachsenden Generation zu verdanken. Vielleicht trugen auch die bevorstehenden weltlichen wie kirchlichen Jahrtausendfeiern in der ganzen Welt dazu bei, die Zahl der bewaffneten Feindseligkeiten zwischen verschiedenen Ländern jährlich weiter zu verringern. Der Kardinalbischof von Mexico City hatte von einem »Gottesfrieden« gesprochen. In Wyoming und Usbekistan waren neue Industrien und ganze Städte aus dem Nichts entstanden. Natürlich trugen die Industrienationen die Hauptkosten des Unternehmens, umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung der Erde lagen die Kosten bei hundert Dollar pro Kopf jährlich. Für ein Viertel der Erdbevölkerung waren hundert Dollar fast das gesamte Jahreseinkommen. Das in die Maschine investierte Geld produzierte weder Konsumgüter noch verwertbare Dienstleistungen. Aber weil neue Technologien angeregt wurden, rechnete man sich auch dann Chancen auf Gewinn aus, wenn die Maschine selbst nie wirklich funktionieren sollte. Viele Leute fühlten sich vom Tempo der Entwicklung überrumpelt. Ihrer Meinung nach mußte man erst alles verstanden haben, bevor man den nächsten Schritt tat. Es schade doch nicht, wenn der Bau der Maschine sich über Generationen hinziehen würde, argumentierten sie. Auch die Weltwirtschaft wäre entlastet, wenn man die Entwicklungskosten über mehrere Jahrzehnte verteilte. Der Rat
war klug, aber schwer zu befolgen. Wie konnte man sich auf die Entwicklung nur eines Teils der Maschine beschränken, wenn auf der ganzen Welt Wissenschaftler und Ingenieure der verschiedensten Disziplinen nur darauf warteten, mit dem Teil der Arbeit anfangen zu können, der in ihr Spezialgebiet fiel? Einige befürchteten, daß, wenn es nicht sofort geschähe, die Maschine nie gebaut würde. Sowohl die Präsidentin der Vereinigten Staaten als auch das sowjetische Staatsoberhaupt hatten ihr Land darauf verpflichtet, die Maschine zu bauen. Für eventuelle Nachfolger war der Beschluß nicht bindend. Aus durchaus verständlichen persönlichen Gründen wollten auch die für das Projekt Verantwortlichen die Fertigstellung der Maschine erleben, solange sie noch die entscheidenden Positionen innehatten. Einige folgerten auch aus der Tatsache, daß die BOTSCHAFT auf so vielen Frequenzen und so laut gesendet wurde, daß es sich um eine wirklich dringende Angelegenheit handelte. Die Außerirdischen baten uns nicht, die Maschine dann zu bauen, wenn wir uns dazu bereit fühlten. Sie baten uns, sie jetzt zu bauen. Man begann, den Bau der Maschine weiter zu beschleunigen. Die zuerst entwickelten Subsysteme basierten alle auf den Grundtechniken, die im ersten Teil des Schlüssels beschrieben wurden. Sie passierten die vorgeschriebenen Tests reibungslos. Erst als man die folgenden, komplizierteren Systeme testete, kam es hin und wieder zu Fehlleistungen. Das kam offenbar in beiden Ländern vor, in der Sowjetunion jedoch häufiger. Da man keine Ahnung hatte, wie die Bausteine funktionierten, konnte man meist die Ursache des angezeigten Defektes im Herstellungsprozeß nicht mehr ausfindig machen. Manche Bausteine ließ man gleichzeitig bei zwei verschiedenen Herstellern anfertigen, die in Schnelligkeit und Präzision miteinander konkurrierten. Wenn beide die Tests bestanden, wurde meistens das im eigenen Land hergestellte Produkt
bevorzugt. Die zwei Maschinen, die in den beiden Ländern zusammengesetzt wurden, waren deshalb auch nicht völlig identisch. Es kam der Tag, als man in Wyoming mit der Systemintegration begann, das hieß mit der Montage der einzelnen Komponenten zur vollständigen Maschine. Das war der einfachere Teil des Bauvorgangs. Man rechnete noch mit ein bis zwei Jahren bis zur endgültigen Fertigstellung. Und noch immer glaubte ein Teil der Bevölkerung, daß der Start der Maschine der Welt einem höheren Plan gemäß ein Ende setzen würde. Die Hasen in Wyoming waren entweder viel schlauer als die in New Mexico oder furchtbar dumm. Die Entscheidung war nicht leicht. Hin und wieder hatte Ellie den einen oder anderen am Straßenrand im Scheinwerferlicht ihres Thunderbird gesehen. Aber die Sitte, sich zu Hunderten in Reih und Glied aufzustellen, war offenbar noch nicht von New Mexico nach Wyoming gedrungen. Ellies Leben in Wyoming unterschied sich kaum von dem in Argus. Das Montagegelände lag inmitten einer lieblichen, Zehntausende von Quadratkilometern großen und fast menschenleeren Landschaft. Ellie leitete das Projekt nicht, sondern war ein gewöhnliches Mitglied des Teams. Aber sie war hier und arbeitete an dem kühnsten Unternehmen der Menschheitsgeschichte mit. Was auch geschah, wenn die Maschine in Betrieb genommen wurde, die Entdeckung in Argus würde immer einen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte markieren. Genau in dem Moment, in dem die Menschheit eine einende Kraft brauchte, war sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen. Aus dem Universum, korrigierte Ellie sich. Aus einer Entfernung von 26 Lichtjahren oder 230 Billionen Kilometern. Man konnte schwerlich in nationalen Kategorien wie schottisch, slowenisch
oder szechwanesisch denken, wenn eine Zivilisation, die uns Äonen voraus war, sich unterschiedslos an alle Nationen wandte. Die Kluft zwischen der technologisch rückständigsten Nation und den Industrieländern der Erde war mit Sicherheit viel kleiner als die Kluft zwischen den Industrienationen und den Wesen auf der Wega. Auf einmal begannen Unterschiede wie rassisch, religiös, national, ethnisch, sprachlich, ökonomisch und kulturell, die bis dahin als unüberbrückbar gegolten hatten, aufzuweichen. »Wir sind alle Menschen.« Diesen Satz hörte man jetzt oft. Erst jetzt fiel auf, wie selten gerade in den Medien solche Regungen früher zum Ausdruck gebracht worden waren. Die Erde gehöre allen, sagte man, und alle seien Teil einer wenigstens annähernd weltumspannenden Zivilisation. Es sei kaum anzunehmen, daß die Außerirdischen allen Ernstes nur an Gesprächen mit Vertretern der einen oder anderen ideologischen Richtung der Erde interessiert waren. Allein die Existenz der BOTSCHAFT – von ihrer rätselhaften Funktion ganz abgesehen – schweißte die Welt zusammen. Das war für jedermann deutlich sichtbar. Als Ellie ihrer Mutter erzählte, daß man sie nicht als Besatzungsmitglied gewählt hatte, fragte sie nur: »Hast du geweint?« Ja, sie habe geweint. Das sei doch ganz natürlich. Selbstverständlich habe sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als an Bord der Maschine sein zu können. Aber Drumlin sei schon der richtige Mann, hatte sie ihrer Mutter gesagt. Die Sowjets hatten sich noch immer nicht zwischen Lunatscharski und Archangelski entschieden. Beide durchliefen das die Mission vorbereitende Trainingsprogramm. Dabei wußte man gar nicht, welche Vorbereitung überhaupt angemessen war, außer daß jeder einzelne, so gut er oder sie konnte, die Maschine verstehen lernte. Einige Amerikaner vermuteten böswillig, daß die Sowjets dadurch nur erreichen
wollten, zwei statt einem Vertreter in die Maschine zu bekommen. Aber Ellie fand solche Behauptungen gemein und niederträchtig. Sowohl Lunatscharski als auch Archangelski waren fähige Männer und für diese Aufgabe außerordentlich geeignet. Ellie hatte keine Ahnung, wie sich die Sowjets zuletzt entscheiden würden. Lunatscharski hielt sich zur Zeit in den Vereinigten Staaten auf, aber nicht in Wyoming. Er nahm in Washington an der Gesprächsrunde einer sowjetischen Delegation mit dem Außenminister und Michael Kitz teil, der inzwischen zum stellvertretenden Verteidigungsminister aufgerückt war. Archangelski war nach Usbekistan zurückgekehrt. Die neue Metropole, die in der Wildnis Wyomings aus dem Boden schoß, hieß Machine. Das sowjetische Gegenstück hieß dementsprechend auf russisch Maschina. In beiden Städten gab es Verwaltungen, Schul- und Krankenhäuser, Wohn- und Geschäftsbezirke, vor allem aber Fabriken. Einige sahen zumindest von außen völlig unscheinbar aus. Andere dagegen wirkten mit ihren Kuppeln, Minaretten und Röhren, die sich kilometerlang um die Anlagen schlangen, bereits auf den ersten Blick wie bizarre Phantasieschlösser. Nur die Fabriken, die gefährlich werden konnten -beispielsweise solche, die organische Komponenten fertigten – waren hier in die Wildnis Wyomings ausgelagert worden. Industrien, die mit Technologien arbeiteten, die man besser verstand, waren über die ganze Welt verteilt. Das Kernstück dieser Ansammlung neuer Industriezweige war die Systemintegrationsanlage, die in der Nähe des früheren Wagonwheel in Wyoming gebaut worden war. Dorthin wurden die fertigen Bausteine verfrachtet. Manchmal sah Ellie, wie ein solcher Baustein ankam. Dann wurde ihr plötzlich bewußt, daß sie das erste menschliche Wesen war, das dieses Teil als Konstruktionszeichnung gesehen hatte. Immer wenn ein neues
Teil aus der Kiste ausgepackt wurde, eilte sie herbei, um es zu inspizieren. Wenn die Bausteine zusammenmontiert wurden und die Subsysteme die vorgeschriebenen Tests bestanden, dann strahlte sie über das ganze Gesicht – wie eine Mutter, die vor Stolz platzte. Ellie, Drumlin und Valerian fanden sich zu einer seit langem geplanten Sitzung über das Wega-Signal ein, das jetzt auf der ganzen Welt in seinen Wiederholungen aufgezeichnet wurde. Bei ihrer Ankunft sprachen alle nur von dem Brand in Babylon. Es mußte in den frühen Morgenstunden passiert sein, als sich dort nur noch die dem Laster am tiefsten ergebenen Stammgäste herumtrieben. Mit Granatwerfern und Brandbomben ausgerüstete Banden waren gleichzeitig durch das Enlil- und das Ischtar-Tor eingefallen. Die Zikkurat war in eine riesige brennende Fackel verwandelt worden. Auf einem Photo sah man Menschen, die mit phantastischen Kostümen oder fast gar nichts bekleidet waren, aus dem Tempel von Assur stürzen. Glücklicherweise war niemand getötet worden, obwohl es viele Verletzte gab. Kurz vor dem Überfall hatte die New York Sun, eine Zeitung, die von den Erdpatrioten herausgegeben wurde und im Impressum eine vom Blitzschlag zertrümmerte Erdkugel führte, einen Telephonanruf erhalten, der den Anschlag ankündigte. Es handle sich um einen von Gott befohlenen Racheakt, sagte der Anrufer, der im Namen des Anstands und der guten amerikanischen Sitten ausgeführt werde, und zwar von jenen, die diese Schweinereien und Intrigen nicht länger mit ansehen wollten. Der Präsident der Aktiengesellschaft Babylon gab Presseerklärungen ab, in denen er den Anschlag verurteilte und als kriminelle Verschwörung verdammte, aber bis jetzt hatte man kein Wort von Hadden gehört, wo immer er stecken mochte. Da allgemein bekannt war, daß Ellie Hadden
in Babylon besucht hatte, fragten sie einige Projektmitglieder nach ihrer Meinung. Sogar Drumlin interessierte sich für ihre Meinung, obwohl aus seiner genauen Kenntnis der Geographie des Ortes zu schließen war, daß er selbst mehr als einmal dort gewesen war. Ellie konnte sich ihn ohne Schwierigkeiten als Wagenlenker vorstellen. Aber vielleicht hatte er auch nur über Babylon gelesen. In den Wochenzeitungen waren Luftbildaufnahmen veröffentlicht worden. Dann machten sie sich an die Arbeit. Im Grunde genommen wurde die BOTSCHAFT noch immer auf denselben Frequenzen und mit denselben Bandbreiten, Zeitkonstanten und Polarisations- und Phasenmodulationen gesendet. Die Konstruktionspläne der Maschine fanden sich nach wie vor unter den Primzahlen und der Olympiasendung. Die Zivilisation auf der Wega mußte sehr geduldig sein. Oder sie hatte einfach vergessen, den Sender abzuschalten. Valerian blickte geistesabwesend in die Gegend. »Peter, müssen Sie denn immer an die Decke starren, wenn Sie nachdenken?« Von Drumlin sagte man, daß er in den letzten Jahren gemäßigter geworden sei. Aber diese Bemerkung zeigte deutlich, daß es auch Rückfälle gab. Von der Präsidentin der Vereinigten Staaten auserkoren zu sein, die Nation bei den Außerirdischen zu vertreten, sei eine große Ehre, betonte er immer wieder. Diese Reise, gestand er Freunden, bedeute die Krönung seines Lebens. Seine Frau, die vorübergehend nach Wyoming umgezogen war, betete ihn noch immer an. Nun mußte sie hier dieselben Diavorführungen vor einem neuen Publikum über sich ergehen lassen, das aus den am Bau der Maschine beteiligten Wissenschaftlern und Technikern bestand. Da seine Heimat Montana nicht weit war, machte Drumlin dort hin und wieder Besuche. Einmal hatte Ellie ihn
nach Missoula gefahren. Damals war er zum ersten Mal, seit sie sich kannten, für ein paar Stunden herzlich zu ihr gewesen. »Schsch! Ich denke«, erwiderte Valerian. »Deswegen muß ich Störungen unterdrücken. Ich versuche, die Ablenkungen in meinem Gesichtsfeld zu minimieren, und jetzt stören Sie mich im akustischen Spektrum. Sie könnten mich fragen, warum ich nicht auf ein weißes Blatt Papier starre. Aber ein Blatt Papier ist einfach zu klein. Ich würde dann immer noch Dinge am Rande wahrnehmen. Na egal. Ich habe über folgendes nachgedacht: Warum senden die Wegianer noch immer ihre Botschaft? Inzwischen sind Jahre vergangen. Eigentlich müßten sie jetzt die britischen Krönungsfeierlichkeiten empfangen haben. Warum kriegen wir nicht ein paar Nahaufnahmen vom Reichsapfel, dem Zepter und dem Hermelin? Und eine Stimme, die sagt: ›… hiermit gekrönt als George VI, durch die Gnade Gottes König von England und Nordirland und Kaiser von Indien‹?« »Stand die Wega überhaupt über England, als die Krönung im Fernsehen übertragen wurde?« fragte Ellie. »Ja, wir haben das wenige Wochen, nachdem wir die Olympia-Übertragung erhalten hatten, nachgeprüft. Und die Sendestärke war viel größer als bei Hitler. Ich bin überzeugt, daß die Wega die Krönungsfeierlichkeiten auffangen konnte.« »Sie fürchten also, daß man dort nicht will, daß wir wissen, was sie alles wissen?« »Sie haben es sehr eilig«, antwortete Valerian. Manchmal sprach er in delphischen Orakeln. »Wahrscheinlicher ist«, überlegte Ellie, »daß sie uns immer wieder daran erinnern wollen, daß sie über Hitler Bescheid wissen.« »Das ist nichts wesentlich anderes, als ich eben gesagt habe«, entgegnete Valerian. »Ist ja gut. Aber vertun wir doch nicht soviel Zeit mit Spekulationen«, stöhnte Drumlin. Spekulationen über
extraterrestrische Motivationen machten ihn immer ungeduldig. Solche haltlosen Vermutungen seien reine Zeitverschwendung, behauptete er, man würde es sowieso in Kürze wissen. Statt dessen drang er darauf, sich auf die BOTSCHAFT zu konzentrieren. Das seien greifbare Daten, die sich wiederholten und eine exakte Bedeutung hatten . »Vielleicht bringt euch ein bißchen Realität wieder auf den Boden. Wie wäre es mit einem Gang über das Montagegelände? Ich glaube, man setzt gerade die Erbiumdübel ein.« Der geometrische Aufbau der Maschine war einfach. Die Details allerdings waren äußerst komplex. Die fünf Sessel für die Besatzung befanden sich in der Mitte des Dodekaeders, dort, wo der Durchmesser am größten war. Es waren keine Vorrichtungen für Essen, Schlafen oder andere menschliche Bedürfnisse vorgesehen. Die Besatzung durfte einschließlich ihrer Ausrüstung ein bestimmtes Höchstgewicht nicht überschreiten. Praktisch kam dieser Zwang den kleinen und leichteren Besatzungsmitgliedern zugute. Einige waren deshalb der Ansicht, daß die Maschine kurz nach dem Start in der Nähe der Erde mit einem interstellaren Raumschiff zusammentreffen würde. Das Problem dabei war nur, daß man selbst mit den am weitesten entwickelten optischen Suchgeräten und mit Radar keine Spur eines solchen Schiffes fand. Es war kaum anzunehmen, daß die Außerirdischen die menschlichen Grundbedürfnisse vergessen hatten. Vielleicht flog die Maschine überhaupt nirgendwo hin. Vielleicht tat sie etwas mit der Besatzung. Im Mannschaftsbereich gab es keinerlei Instrumente, kein Steuergerät, noch nicht einmal einen Zündmechanismus – nur die fünf Sessel, die nach innen gerichtet waren, so daß die Besatzungsmitglieder sich in die Augen sahen. Oberhalb und unterhalb des Aufenthaltsbereiches, dort, wo sich das Dodekaeder verjüngte, befanden sich die organischen Substanzen mit ihrer
verschlungenen und rätselhaften Struktur. Überall im Inneren dieses Teils des Dodekaeders waren scheinbar willkürlich Erbiumdübel eingesetzt. Umgeben war das Dodekaeder von den drei konzentrischen Kugelschalen, von denen jede eine der drei physikalischen Dimensionen verkörperte. Die Schalen waren offenbar magnetisch aufgehängt – zumindest sahen die Anweisungen einen leistungsstarken Magnetfeldgenerator vor, und der Zwischenraum zwischen den Kugelschalen und dem Dodekaeder sollte ein Hochvakuum sein. Die BOTSCHAFT gab keinem der Bausteine einen Namen. Erbium war als das Atom mit 68 Protonen und 99 Neutronen ausgewiesen. Die Teile der Maschine waren einfach durchnumeriert – also zum Beispiel Baustein 31. Ein tschechischer Ingenieur, der sich in der Geschichte der Technik auskannte, nannte die rotierenden konzentrischen Kugelschalen deshalb einfach »Benzel«. Gustav Benzel hatte 1870 das Karussell erfunden. Konstruktion und Funktion der Maschine blieben unergründlich. Man mußte dafür völlig neue, bislang unbekannte Technologien entwickeln. Aber die Maschine war aus greifbarem Material gemacht, und ihre Strukturen konnten graphisch dargestellt werden. Solche technischen Zeichnungen waren in den Medien der ganzen Welt gezeigt worden. Und die endgültige Form der Maschine war bereits zu erkennen. Überall herrschte Zuversicht, daß man es schaffen würde. Drumlin, Valerian und Ellie Arroway ließen die übliche Erkennungsprozedur über sich ergehen: Ausweispapiere, Fingerabdrücke und Stimmidentifizierung. Dann erhielten sie Zutritt zu dem riesigen Montagegelände. Dreistöckige Kräne setzten die Erbiumdübel in die organische Matrix ein. Mehrere fünfeckige Platten für den Außenteil des Dodekaeders hingen an den Schienen einer Hochbahn. Während es beim Bau der sowjetischen Maschine Komplikationen gegeben hatte, hatten
die amerikanischen Bausteine alle Tests erfolgreich bestanden. Die Maschine gewann immer mehr an Gestalt. Es paßt alles zusammen, dachte Ellie. Sie wandte ihren Blick dorthin, wo die Benzel zusammengebaut wurden. Wenn die Maschine fertig war, würde sie von außen wie eine der Armillarsphären der Renaissanceastronomen aussehen. Was hätte Johannes Kepler nur daraus gemacht? Auf dem Boden und den verschiedenen Etagen der Integrationshalle wimmelte es von Ingenieuren, Regierungsbeamten und Vertretern des Weltkonsortiums. Während sie dem Treiben zuschauten, erzählte Valerian, daß die Präsidentin manchmal seiner Frau schrieb, seine Frau ihm aber kein Wort von dem verriet, was in den Briefen stand. Sie sagte, es sei privat und ginge nur sie etwas an. Der Einbau der Dübel war fast abgeschlossen, und erstmals sollte ein umfassender Systemintegrationstest versucht werden. Einige Experten hielten das vorgeschriebene Kontrollgerät für ein Gravitationswellenteleskop. In dem Moment, in dem der Test gestartet wurde, gingen Ellie und ihre Begleiter gerade um einen Pfeiler herum, um einen besseren Blick zu haben. Plötzlich flog Drumlin über ihr durch die Luft. Alles schien zu fliegen. Es erinnerte Ellie an den Wirbelsturm, der Dorothy nach Oz getragen hatte. Wie in Zeitlupe nahm sie wahr, daß Drumlin mit ausgebreiteten Armen auf sie zusegelte und sie grob zu Boden schlug. Sollte das nach all den Jahren, die sie sich jetzt kannten, das Vorspiel zu einer Affäre mit ihr sein? Da mußte er aber noch viel lernen. Es konnte nie ermittelt werden, wer es getan hatte. Zahlreiche Organisationen erklärten sich öffentlich dafür verantwortlich, darunter die Erdpatrioten, die Rote Armee Fraktion, der islamische Dschihad, die jetzt im Untergrund arbeitende Fusionsenergiestiftung, die Sikhseparatisten, der Leuchtende
Pfad, die Grünen Khmer, die afghanische RenaissanceBewegung, der radikale Flügel der Initiative Mütter gegen die Maschine, die wiedervereinigte Wiedervereinigungskirche, Omega Sieben, die Endzeitchiliasten, zu denen Billy Jo Rankin allerdings jede Verbindung abstritt (seiner Meinung nach war das Ganze ein zum Scheitern verurteilter Versuch von Ungläubigen, Gott zu diskreditieren), der Broederbond, El Catorce de Febrero, die Geheimarmee der Kuomintang, die Zionistische Liga, die Partei Gottes und die erst kürzlich wiederbelebte Symbionesische Befreiungsfront. Die meisten dieser Organisationen hätten nicht einmal die nötigen Mittel gehabt, die Sabotage ins Werk zu setzen. Die Länge der Liste zeigte nur an, wie verbreitet die Opposition gegen die Maschine inzwischen war. Der Ku-Klux-Klan, die amerikanische Nazipartei, die Demokratisch Nationalsozialistische Partei und noch einige ähnlich orientierte Organisationen hielten sich zurück und beanspruchten auch nicht die Verantwortung für den Anschlag. Eine einflußreiche Minderheit ihrer Mitglieder glaubte, daß Hitler persönlich die BOTSCHAFT abgeschickt hatte. Ihrer Version zufolge war er im Mai 1945 mit Hilfe der deutschen Raketentechnik von der Erde verschwunden. Und in der Zwischenzeit hätten die Nazis eine Menge Fortschritte gemacht. »Ich weiß nicht, wohin die Maschine fliegen wird«, sagte die Präsidentin einige Monate später, »aber wenn es dort nur halb so schlimm zugeht wie bei uns, dann wird es die Reise nicht wert gewesen sein.« Nach Darstellung des Untersuchungsausschusses war ein Erbiumdübel durch eine Explosion gespalten worden. Die zwei dosenförmigen Fragmente waren dann aus einer Höhe von zwanzig Metern in die Tiefe gestürzt. Sie trafen auf eine tragende Wand im Inneren der Halle, die unter der Wucht
zusammenbrach. Elf Menschen wurden getötet und achtundvierzig verletzt. Eine Reihe größerer Bauelemente der Maschine wurde zertrümmert. Und da eine Explosion in den in der BOTSCHAFT vorgeschriebenen Tests nicht vorgesehen war, hatte sie vielleicht auch äußerlich unbeschädigte Bausteine zerstört. Wenn man überhaupt keine Ahnung hatte, wie so ein Ding funktionierte, mußte man beim Bau sehr sorgfältig und vorsichtig sein. Trotz der zahlreichen Organisationen, die sich der Tat rühmten, richtete sich in den Vereinigten Staaten sofort der Verdacht auf zwei der Gruppen, die sich nicht für verantwortlich erklärt hatten: die Außerirdischen und die Russen. Wieder war überall die Rede von der Weltuntergangsmaschine. Die Außerirdischen hätten sie so konstruiert, daß sie beim Zusammenbau eine katastrophale Explosion verursachen mußte. Aber glücklicherweise, meinten einige, hätte man bei der Montage geschlampt und nur eine kleine Ladung – vielleicht nur der Zünder der eigentlichen Weltuntergangsmaschine – sei in die Luft gegangen. Sie drängten darauf, den Bau zu stoppen, bevor es zu spät war, und die übrigen Bauteile in abgelegenen Salzbergwerken zu vergraben. Aber der Untersuchungsausschuß fand bei seinen Nachforschungen Material, aus dem eindeutig hervorging, daß das Maschinenunglück, wie es jetzt kurz in der Öffentlichkeit genannt wurde, weit irdischeren Ursprungs war. Die Dübel hatten in der Mitte ein elliptisches Loch, dessen Zweck unbekannt und das mit einem feinen Netz von Gadoliniumdrähten beschichtet war. In dieses Loch waren Sprengstoff und ein Zeitzünder gestopft worden, beides Materialien, die nicht auf der Inventarliste der BOTSCHAFT auftauchten. Der Dübel war in einer Fabrikanlage der Hadden Cybernetics in Terre Haute, Indiana, maschinell hergestellt, das Loch ausgeschnitten und das fertige Produkt getestet und
versiegelt worden. Das Netz aus Gadoliniumdrähten war viel zu kompliziert, als daß es von Hand gefertigt werden konnte. Man hatte dafür eigens eine große Fabrik bauen müssen. Die Kosten für den Bau der Anlage hatte Hadden Cybernetics in vollem Umfang übernommen. Freilich rechnete man dort schon jetzt mit weiteren, gewinnbringenderen Märkten für die Produkte der Fabrik. Man untersuchte die drei anderen Erbiumdübel derselben Serie, aber sie enthielten keinen Sprengstoff. In der Sowjetunion und in Japan war erst eine Reihe vorsichtiger Abtastexperimente durchgeführt worden, bevor man gewagt hatte, die Dübel aufzuspalten. Irgend jemand hatte gegen Ende des Produktionsprozesses in Terre Haute die Sprengladung mit dem Zeitzünder sorgfältig in das Loch eingeführt. Danach war dieser Dübel zusammen mit Dübeln anderer Serien in einem Sonderzug unter bewaffneter Bewachung nach Wyoming transportiert worden. Die zeitliche Abstimmung der Explosion und die Art der Sabotage legten nahe, daß es nur jemand gewesen sein konnte, der sich mit der Maschine genau auskannte. Es mußte ein Insider gewesen sein. Aber die Nachforschungen erbrachten wenig Neues. Einige Dutzend Ingenieure, Qualitätsprüfer und Aufsichtsbeamte, die die Bausteine für den Transport versiegelten, hätten die Möglichkeit gehabt, die Sabotage zu begehen, aber nicht die Mittel und die Motivation. Diejenigen, die am Lügendetektor scheiterten, hatten hieb- und stichfeste Alibis. Keine der verdächtigten Personen machte dann, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, eine verräterische Bemerkung. Keiner gab mehr Geld aus, als sein Einkommen erlaubte hätte. Nicht einer brach beim Verhör zusammen und gestand. Trotz angeblich intensivster Anstrengungen der Gesetzeshüter blieb das Rätsel ungelöst.
Die Fraktion, die die Sowjets für die Drahtzieher hielt, glaubte, daß diese damit verhindern wollten, daß die Vereinigten Staaten ihre Maschine als erste starteten. Die Russen hätten die technischen Voraussetzungen, eine Sabotage durchzuführen, und natürlich genaue Kenntnis vom Stand des Maschinenbaus auf der anderen Seite des Atlantiks. Als das Unglück passierte, rief Anatoli Goldmann, ein früherer Student Lunatscharskis, der jetzt als sowjetischer Verbindungsmann in Wyoming arbeitete, sofort in Moskau an, um den dortigen Technikern ausrichten zu lassen, daß sie alle Dübel vor dem Einbau zuerst auseinandernehmen sollten. Aus diesem Anruf, den die NSA routinemäßig aufgezeichnet hatte, mußte man eigentlich folgern, daß eine russische Beteiligung ausgeschlossen war. Dennoch behaupteten einige, daß der Telephonanruf nur ein Schachzug gewesen sei, um den Verdacht von sich abzulenken, oder daß man Goldmann über die Sabotage vorher nicht informiert hätte. Solche Argumente kamen vor allem von Amerikanern, die sich angesichts der jüngsten Entspannungspolitik zwischen den beiden nuklearen Supermächten unbehaglich fühlten. Verständlicherweise reagierte Moskau empört auf diese Unterstellung. Die Sowjets hatten tatsächlich mehr Schwierigkeiten beim Bau ihrer Maschine, als allgemein bekannt war. In Anwendung der Informationen der BOTSCHAFT machte das Ministerium für mittlere Schwerindustrie beachtliche Fortschritte in Bereichen wie der Erzgewinnung, der Metallurgie und dem Maschinenbau. Die neuen Technologien der Mikroelektronik und Kybernetik waren schwieriger, deshalb ließ die Sowjetunion die meisten Bauteile aus diesen Bereichen in Europa oder Japan anfertigen. Aber noch schwieriger gestaltete sich für die einheimische sowjetische Industrie alles, was mit organischer Chemie zu tun hatte, denn dafür benötigte man
Verfahrensweisen, die in der Molekularbiologie bereits hätten entwickelt sein müssen. Die sowjetische Genetik aber hatte schwer gelitten, als Stalin in den dreißiger Jahren verkündet hatte, daß die Mendelsche Vererbungslehre ideologisch nicht opportun sei. Stalin hatte statt dessen die verrückte Vererbungslehre eines linientreuen Landwirtschaftssachverständigen namens Trofim Lysenko zum wissenschaftlichen Dogma erklärt. Zwei Generationen intelligenter sowjetischer Studenten hatten in ihren Vorlesungen nichts über die Grundprinzipien der Vererbung erfahren. Jetzt, sechzig Jahre später, war die sowjetische Molekularbiologie und Gentechnik vergleichsweise rückständig. Die Sowjets hatte nur wenige bedeutende Entdeckungen auf diesem Gebiet gemacht. In den Vereinigten Staaten wäre beinahe etwas Ähnliches passiert, als man aus religiösen Gründen zu verhindern suchte, daß die Evolutionstheorie, die zentrale Idee der modernen Biologie, an öffentlichen Schulen im Unterricht behandelt wurde. Das Problem lag auf der Hand: Eine fundamentalistische Interpretation der Bibel ließ sich mit dem Prozeß der Evolution nicht vereinbaren. Zum Glück für die amerikanische Molekularbiologie waren die Fundamentalisten in den Vereinigten Staaten nicht so einflußreich wie Stalin in der Sowjetunion. Der Nachrichtendienst kam in seinem für die Präsidentin ausgearbeiteten Bericht zu dem Schluß, daß es keinerlei Beweise für eine sowjetische Beteiligung an der Sabotage gab. Vielmehr hatten die Sowjets, die wie die Amerikaner ein Besatzungsmitglied stellten, ein starkes Interesse daran, daß die amerikanische Maschine fertig wurde. »Wenn sich die technische Entwicklung eines Landes auf Stufe drei befindet«, erklärte der Direktor des CIA, »die Konkurrenz aber bereits Stufe vier erreicht hat, dann sind doch beide froh, wenn
plötzlich Stufe fünfzehn vom Himmel fällt. Vorausgesetzt, beide haben gleichermaßen Zugang dazu und die entsprechenden Mittel.« Nur wenige amerikanische Regierungsbeamte glaubten, daß die Sowjets für die Explosion verantwortlich waren, und das betonte die Präsidentin immer wieder in öffentlichen Ansprachen. Aber eingeschliffene Feindbilder sterben nur langsam. »Keine Gruppe von Verrückten wird, auch wenn sie noch so gut organisiert ist, die Menschheit von ihrem historischen Ziel abbringen«, erklärte die Präsidentin. Obwohl es jetzt wieder schwieriger geworden war, einen nationalen Konsens herzustellen. Die Sabotage hatte allen möglichen Einwänden und Befürchtungen Nahrung gegeben, die früher schon aufgetaucht waren. Nur die Tatsache, daß die Sowjets weiter an ihrer Maschine bauten, hielt das amerikanische Projekt am Laufen. Drumlins Frau wollte, daß das Begräbnis im Kreis der Familie stattfand. Aber ihr gutgemeinter Plan wurde wie so oft durchkreuzt. Physiker, Segelflieger, Drachenflieger, Regierungsbeamte, Sporttaucher, Radioastronomen, Fallschirmspringer, Wasserskienthusiasten und die gesamte SETI-Gemeinde wollten kommen. Man hatte sogar erwogen, die Trauerfeierlichkeiten in der Kathedrale St. John the Divine in New York City abzuhalten, die als einzige Kirche die angemessene Größe hatte. Aber hier konnte Drumlins Frau einen kleinen Sieg für sich verbuchen. Der Gottesdienst fand in Drumlins Heimatstadt Missoula in Montana unter freiem Himmel statt. Die Behörden hatten bereitwillig ihre Zustimmung gegeben, da es dort weniger Sicherheitsprobleme gab. Obwohl Valerian nicht schwer verletzt war, rieten ihm die Ärzte von der Teilnahme an dem Begräbnis ab. Dennoch hielt er seine Grabrede im Rollstuhl sitzend. David Drumlins besondere Gabe sei es gewesen, die richtigen Fragen zu
stellen, sagte Valerian. Er habe der SETI-Forschung immer skeptisch gegenübergestanden, denn für ihn war der Zweifel das Herz der Wissenschaft. Aber in dem Moment, als man eindeutig eine BOTSCHAFT empfing, habe es niemand gegeben, der so hingebungsvoll und mit so viel Einfallsreichtum an ihrer Entschlüsselung gearbeitet hätte. Der stellvertretende Verteidigungsminister Michael Kitz sprach im Namen der Präsidentin. Er hob besonders Drumlins menschliche Qualitäten hervor – seine Warmherzigkeit, seine Rücksicht auf die Gefühle anderer, seine wissenschaftliche Brillanz und sein außerordentliches sportliches Können. Wäre dieses tragische und heimtückische Unglück nicht passiert, so wäre David Drumlin in die Geschichte eingegangen als der erste Amerikaner, der einen anderen Stern besucht. Sie würde keine Rede halten, hatte Ellie Der Heer erklärt. Auch keine Interviews für die Presse geben. Vielleicht ein paar Bilder – sie wußte, wie wichtig Photos waren. Sie war sich einfach nicht sicher, ob sie die richtigen Worte finden würde. Jahrelang hatte sie als eine Art Sprecher in Sachen SETI, für das Projekt Argus und dann für die BOTSCHAFT und die Maschine fungiert. Aber jetzt handelte es sich um etwas anderes. Sie brauchte Zeit, um es zu verarbeiten. Sie war sich sicher, daß Drumlin versucht hatte, ihr Leben zu retten. Er hatte die Explosion gesehen, bevor die anderen sie hörten. Er hatte gesehen, wie die mehrere hundert Kilogramm schwere Erbiummasse auf sie niederstürzte. Instinktiv war er auf sie gesprungen und hatte sie hinter den Pfeiler zurückgestoßen. Ellie erzählte Der Heer davon. Er sagte nur: »Vermutlich hat Drumlin versucht, sich selbst zu retten, und du hast ihm dabei im Weg gestanden.« Ellie fand diese Äußerung höchst unpassend. Wollte er sich damit bei ihr einschmeicheln? Oder vielleicht, hatte Der Heer hinzugefügt, der ihr Mißfallen
gespürt zu haben schien, war Drumlin durch die Erschütterung des Erbiums, das in das Baugerüst eingeschlagen hatte, in die Luft gerissen worden. Aber Ellie war sich absolut sicher. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. Drumlin hatte ihr das Leben retten wollen. Es war ihm gelungen. Abgesehen von einigen Kratzern war Ellie unverletzt geblieben. Valerian, der geschützt hinter dem Pfeiler gestanden hatte, hatte sich beim Einsturz der Wand beide Beine gebrochen. Sie hatte mehr als Glück gehabt. Sie war noch nicht einmal bewußtlos gewesen. Als sie gesehen hatte, was passiert war, hatte ihr erster Gedanken nicht ihrem alten Lehrer David Drumlin gegolten, der vor ihren Augen auf furchtbare Weise zerquetscht wurde. Sie war auch nicht erstaunt gewesen, daß Drumlin sein Leben für sie geopfert hatte, und sie hatte nicht an den Rückschlag gedacht, den dies für das gesamte Projekt bedeutete. Nein, ihr erster Gedanke war – hell wie ein Glockenschlag – gewesen: Jetzt kann ich mitfliegen, sie müssen mich schicken, es gibt niemand anders, ich muß mitfliegen. Sie hatte sich sofort gebremst. Aber es war schon zu spät. Sie war entsetzt über ihre Selbstsucht und ihren gemeinen Egoismus, der ihr in diesem Moment klar wurde. Dabei war unwichtig, ob Drumlin vielleicht ähnliche Fehler gehabt hatte. Es erschreckte sie, diese Gefühle auch nur für Sekunden in sich gespürt zu haben – selbst in einer solchen Situation Schritte für die Zukunft zu planen und an nichts anderes zu denken als an sich selbst. Was sie am meisten verabscheute, war die Rücksichtslosigkeit ihres Ego. Oft hatte sie nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Ihr Ego kannte kein Pardon und setzte alles auf eine Karte. Es war geradezu unheimlich. Ellie wußte, daß man so etwas nicht einfach herausreißen, mit Stumpf und Stiel ausrotten konnte. Sie mußte geduldig an sich arbeiten, sich vernünftigen Argumenten offenhalten, sich von ihrem Egoismus ablenken und sich immer wieder zusammenreißen.
Als die Untersuchungsbeamten auf den Plan traten, hielt sich Ellie zurück: »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel dazu sagen. Wir hatten gerade die Integrationshalle betreten, als es plötzlich eine Explosion gab und alles in die Luft flog. Tut mir leid, daß ich nicht weiterhelfen kann. Ich wünschte, ich könnte es.« Ellie machte auch ihren Kollegen klar, daß sie nicht darüber sprechen wollte. Sie verschwand so lange in ihrer Wohnung, daß man sie schließlich sogar suchen ließ. Sie versuchte, sich jedes Detail des Unfalls zu vergegenwärtigen. Sie versuchte, das Gespräch zu rekonstruieren, das sie vor dem Betreten des Montagegeländes geführt hatten. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, worüber sie sich mit Drumlin auf der Fahrt nach Missoula unterhalten hatte, wie Drumlin bei ihrer ersten Begegnung auf sie gewirkt hatte, als sie mit ihrem Studium in Kalifornien angefangen hatte. Allmählich fand sie heraus, daß ein Teil in ihr Drumlin den Tod gewünscht hatte – sogar noch bevor sie Rivalen um den amerikanischen Sitz in der Maschine geworden waren. Sie hatte ihn gehaßt, weil er sie im Seminar vor den anderen Studenten fertiggemacht hatte, weil er Argus bekämpft hatte. Sie erinnerte sich an das, was er unmittelbar nach dem Film über Hitler zu ihr gesagt hatte. Sie hatte gewünscht, daß er tot wäre. Und jetzt war er tot. In gewisser Hinsicht hielt sie sich für schuldig. Aber sie wußte selbst nicht mehr, was sie von ihren Gefühlen halten sollte. Wäre Drumlin auch hier gewesen, wenn sie nicht gewesen wäre? Sicher, sagte Ellie sich, dann hätte jemand anderes die BOTSCHAFT entdeckt, und Drumlin hätte sich diesem anderen angeschlossen. Aber hatte nicht sie ihn in ihrer wissenschaftlichen Unbekümmertheit immer tiefer in das Maschinenprojekt hineingezogen? Schritt für Schritt ging sie alle Möglichkeiten durch. Gerade über die, die ihr besonders abstoßend erschienen, dachte sie besonders gründlich nach. Sie wollte ihren Gefühlen auf den Grund kommen. Sie dachte über
die Männer nach, die sie aus dem einen oder anderen Grund bewundert hatte. Drumlin, Valerian, Der Heer, Hadden… Joss. Jesse… Staughton?… ihr Vater. »Frau Dr. Arroway?« Dankbar ließ sich Ellie aus ihren Gedanken wachrütteln. Vor ihr stand eine korpulente blonde Frau mittleren Alters in einem blau gemusterten Kleid. Das Gesicht kam Ellie bekannt vor. Auf dem Namensschild an ihrem üppigen Busen stand: »H. Bork, Göteborg.« »Frau Dr. Arroway, mein herzliches Beileid zu Ihrem… unserem Verlust. David hat mir von Ihnen erzählt.« Natürlich! Die legendäre Helga Bork, Drumlins Begleiterin beim Sporttauchen, die sie von den zahlreichen langweiligen Diavorträgen aus ihrer Studentenzeit kannte. Wer, fragte sich Ellie jetzt zum ersten Mal, hatte die Bilder eigentlich gemacht? Ob sie wohl einen Photographen eingeladen hatten, sie auf ihrem Unterwasserrendezvous zu begleiten? »Er hat mir auch erzählt, wie nahe Sie sich standen.« Was wollte ihr diese Frau weismachen? Wollte Drumlin ihr zu verstehen geben… Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Entschuldigen Sie, Frau Dr. Bork, ich fühle mich gerade nicht besonders wohl.« Mit gesenktem Kopf eilte sie fort. Es gab so viele Menschen, die Ellie auf dem Begräbnis hatte sehen wollen: Waygay, Archangelski, Gotsridse, Baruda, Yu, Xi, Devi. Und Abonneba Eda, der mehr und mehr als der fünfte Teilnehmer im Gespräch war – wenn die Länder ein bißchen Verstand hatten, dachte sie, und wenn es je so etwas wie eine fertige Maschine geben würde. Aber sie fühlte sich angeschlagen und konnte jetzt keine langen Sitzungen ertragen. Sie traute sich selbst nicht mehr. Ging es ihr bei dem, was sie sagte, um das Gelingen des Projekts, oder ging es ihr letztlich immer nur um sich selbst? Aber die anderen waren mitfühlend und verständnisvoll. Schließlich hatte Ellie
Drumlin am nächsten gestanden, als der Erbiumdübel ihn getroffen und zermalmt hatte.
16 Die Alten von Ozon Der Gott, den die Naturwissenschaften anerkennen, muß ein Gott universaler Gesetze sein, ein Gott des Großhandels, nicht des Einzelhandels. Er kann sein Wirken nicht individuellen Bedürfnissen anpassen. William James Die Vielfalt der religiösen Erfahrung (1902)
Aus einer Entfernung von mehreren hundert Kilometern Höhe gesehen, füllte die Erde den halben Himmel aus, und das blaue Band, das sich von Mindanao bis Bombay erstreckte und das das Auge mit einem Blick erfaßte, brach einem fast das Herz vor Schönheit. Heimat, fuhr es einem durch den Kopf. Heimat. Das war die Erde. Von dort kamen die Menschen her. Alle Freunde und Bekannten waren dort unter diesem unbarmherzigen und zugleich köstlichen Blau großgeworden. Man raste Richtung Osten von Horizont zu Horizont, von Morgendämmerung zu Morgendämmerung, den Planeten in eineinhalb Stunden umkreisend. Nach einer gewissen Zeit begann man, seine Eigenarten und Schönheiten zu entdecken. Man konnte so viel mit bloßem Auge sehen. Gleich kam Florida wieder in den Blick. Hatte der Wirbelsturm, den man bei der letzten Umkreisung über die Karibik jagen sah, Fort Lauderdale erreicht? Gab es diesen Sommer im Hindukusch schneefreie Berge? Man bewunderte die aquamarinblauen
Riffe in der Korallensee. Man betrachtete das Packeis der westlichen Antarktis und fragte sich, ob tatsächlich alle Küstenstädte auf dem Planeten überflutet würden, wenn es schmolz. Am Tage konnte man kaum Spuren menschlicher Behausungen erkennen. Aber bei Nacht verwandelte die Erde sich in ein Lichtermeer, und vom Polarlicht abgesehen waren alle Lichter den Menschen zu verdanken. Jener Lichtstreifen im Osten Nordamerikas, der sich von Boston bis Washington hinzog, war praktisch, wenn auch nicht dem Namen nach, eine Megalopolis. Dort drüben in Libyen war eine Erdgasflamme zu erkennen. Die strahlenden Lichter der japanischen Krabbenfangflotte bewegten sich auf das ostchinesische Meer zu. Bei jeder neuen Umkreisung erzählte die Erde neue Geschichten. Man sah einen Vulkanausbruch auf Kamtschatka, einen Sandsturm in der Sahara, der sich Brasilien näherte, und für die Jahreszeit ungewöhnlich kaltes Wetter auf Neuseeland. Man fing an, die Erde als einen Organismus zu begreifen, als etwas Lebendiges. Man begann, sich ernstlich Sorgen um sie zu machen, weil man sie plötzlich sehr lieb gewann. Nationale Grenzen waren genauso unsichtbar wie die Längengrade oder die Wendekreise des Krebses und des Steinbocks. Die Grenzen waren willkürlich. Aber der Planet war wirklich. Deshalb war der Raumflug subversiv. Die meisten Menschen, die das Glück hatten, sich einmal in der Erdumlaufbahn zu befinden, kamen nach kurzer Zeit auf ähnliche Gedanken. Die Nationen, die den Raumflug zuerst ermöglicht hatten, hatten vor allem nationalistische Beweggründe gehabt. Aber die Ironie des Schicksals wollte, daß gerade die, die ins All flogen, plötzlich eine Ahnung davon bekamen, daß die Erde ein Ganzes war, das keine nationalen Grenzen kannte. Man konnte sich unschwer ausmalen, daß es einmal eine Zeit geben würde, in der man Loyalität zu diesem blauen Stern oder
vielleicht sogar einem ganzen Schwärm von Welten empfinden konnte, die um einen gelben Zwergstern kreisten, dem die Menschen, die einst nicht gewußt hatten, daß jeder Stern eine Sonne war, den bestimmten Artikel verliehen hatten: die Sonne. Bereits jetzt, wo sich viele Menschen über lange Zeiträume im All aufhielten und schon ein wenig nachgedacht hatten, war die Macht der planetarischen Perspektive zu spüren. Eine nicht geringe Anzahl dieser ehemaligen Bewohner des erdnahen Orbit hatte großen Einfluß da unten auf der Erde. Man hatte am Anfang, noch bevor die ersten Menschen in den Weltraum gestartet waren, Tiere dort hinaufgesandt. Amöben, Fruchtfliegen, Ratten, Hunde und Affen wurden zu kühnen Frontkämpfern des Weltalls. Als es möglich wurde, länger im All zu verweilen, machte man eine unerwartete Entdeckung. Auf Mikroorganismen hatte eine solche Reise keine, auf Fruchtfliegen fast keine Wirkung. Wohl aber auf die Säugetiere, denn man fand heraus, daß sich in der Schwerelosigkeit die Lebensdauer verlängerte. Um zehn bis zwanzig Prozent. Lebte man in der Schwerelosigkeit, verbrauchte der Körper weniger Energie im Kampf mit der Schwerkraft, die Zellen oxydierten langsamer, und man lebte länger. Einige Ärzte behaupteten, daß die Wirkung auf den Menschen noch durchschlagender sei als auf Ratten. Ein Hauch von Unsterblichkeit lag in der Luft. Die Rate der Neuerkrankungen an Krebs sank bei Tieren, die sich im Erdorbit befanden, verglichen mit der Kontrollgruppe auf der Erde um achtzig Prozent. Bei Leukämie und Lymphdrüsenkrebs waren es sogar neunzig. Man vermutete, obwohl das statistisch noch nicht signifikant nachgewiesen war, daß die Rate der Zellerkrankungen in der Schwerelosigkeit ebenfalls zurückging. Der deutsche Chemiker Otto Warburg hatte bereits vor einem halben
Jahrhundert die Hypothese aufgestellt, daß die Oxydation die Ursache vieler Krebsarten sei. Der niedrigere Sauerstoffverbrauch im Zustand der Schwerelosigkeit wurde auf einmal sehr attraktiv. Die Menschen, die in früheren Jahren wegen der Laetrile nach Mexiko gepilgert waren, verlangten jetzt lautstark nach einer Fahrkarte ins All. Aber die war schier unerschwinglich. Einen Weltraumflug, sei es aus Gründen der Vorsorge oder Krankheit, konnten sich nur die wenigsten leisten. Aber plötzlich standen Geldsummen für den Bau ziviler Raumstationen im Erdorbit zur Verfügung, von denen man noch nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Im ausgehenden zweiten Jahrtausend gab es die ersten Hotels für Pensionäre einige hundert Kilometer über der Erdoberfläche. Abgesehen von den Kosten gab es einen ernsthaften Nachteil: Die fortschreitende Auflösung des Knochengewebes und der Gefäße schlossen eine Rückkehr in das Gravitationsfeld der Erdoberfläche für immer aus. Aber für einige wohlhabende Senioren war das kein Hinderungsgrund. Für ein Lebensjahrzehnt mehr setzten sie sich gerne im Himmel zur Ruhe und nahmen es auch in Kauf, dort zu sterben. Andere hielten es angesichts des Elends und der Mißstände unter den Armen und Unterdrückten für unverantwortlich, soviel des nicht unbegrenzten Reichtums der Erde in das Wohlergehen der Reichen und Mächtigen zu investieren. Es sei geradezu wahnsinnig, sagten sie, zuzulassen, daß die Elite ins All auswandere, während die Massen auf der Erde zurückblieben – einem Planeten, der dann praktisch abwesenden Herren unterstand. Andere sahen darin ein Geschenk des Himmels: Die Besitzer des Planeten verließen ihn scharenweise. Dort oben, argumentierten sie, konnten sie weit weniger Schaden anrichten als hier unten auf der Erde. Aber keiner hatte vorausgesehen, daß diese Leute, die in verantwortlichen Positionen saßen, dort oben zu einer planetarischen
Perspektive finden würden. Nach einigen Jahren gab es nur noch wenige Nationalisten im Erdorbit. Für diese Menschen, die mit der Unsterblichkeit liebäugelten, stellte die weltweite nukleare Bedrohung ein wirkliches Problem dar. Dort oben lebten japanische Industrielle, griechische Großreeder, saudiarabische Kronprinzen, ein Expräsident, ein ehemaliger Generalsekretär, ein chinesischer Räuberbaron und ein Heroinkönig, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. Im Westen gab es abgesehen von einigen wenigen Einladungen zu Werbezwecken nur ein Kriterium für einen Wohnsitz im Erdorbit: Man mußte das Geld dazu haben. Im sowjetischen Weltraumhotel war das anders. Das Hotel war zur Forschungsstation deklariert worden. Und der frühere Generalsekretär hielt sich dort angeblich auf, um »gerontologische Forschungen« zu betreiben. Im großen und ganzen nahmen die Massen diese Zustände nicht weiter übel. Eines Tages, malten sie sich aus, würden auch sie dorthin reisen. Die Menschen im Erdorbit waren besonnen und vorsichtig und ließen wenig von sich hören. Dasselbe galt für ihre Familien und ihr Personal. Insgeheim wurde ihnen von anderen reichen und mächtigen Leuten, die noch auf der Erde lebten, der Hof gemacht. Sie traten nicht an die Öffentlichkeit, aber ihre Denkweise durchdrang allmählich das Bewußtsein führender Persönlichkeiten auf der ganzen Welt. Der weitere Abbau der Atomwaffen durch die fünf Nuklearmächte etwa wurde von den Herrschaften im Orbit befürwortet. In aller Stille hatten sie den Bau der Maschine finanziell unterstützt, da dieses Projekt die Einigung der Welt vorantrieb. Hin und wieder schrieben nationalistisch gesinnte Organisationen von einer großangelegten Verschwörung im Erdorbit, mit der die alten, gebrechlichen Weltverbesserer ihr Vaterland verrieten. Flugblätter wurden in Umlauf gebracht, die angeblich
Mitschriften eines Treffens auf der Methusalem waren, an dem Vertreter anderer privater Raumstationen teilgenommen hätten, die eigens dafür angereist wären. Eine Liste mit »Aktionsvorschlägen« wurde veröffentlicht, die darauf zielten, auch halbherzige Patrioten in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Flugblätter seien gefälscht, verkündete die Timesweek. Das Magazin gab ihnen den Namen »Protokolle der Alten von Ozon«. An den Tagen kurz vor ihrem Abflug versuchte Ellie, jeden Morgen etwas Zeit am Cocoa Beach zu verbringen. Sie wohnte in einem Appartement mit Blick auf den Strand und den Atlantischen Ozean. Sie nahm etwas Brot mit und warf den Möwen kleine Brocken davon zu. Die Möwen waren sehr geschickt und konnten die Bissen im Flug auffangen. Ihre Trefferquote hätte jedem Nationalspieler Ehre gemacht. Manchmal flatterten zwanzig bis dreißig Möwen ein oder zwei Meter über ihrem Kopf. Sie schlugen heftig mit den Flügeln, um auf der Stelle zu bleiben, die Schnäbel weit aufgerissen in Erwartung des auf so wunderbare Weise erscheinenden Futters. Manchmal streiften sie sich beinahe in dem scheinbaren Durcheinander, hinter dem aber eine feste Ordnung stand. Auf dem Rückweg sah Ellie einen in seiner einfachen Gestalt vollendeten Palmwedel am Rand des Strandes liegen. Sie hob ihn auf und wischte vorsichtig den Sand ab. Hadden hatte Ellie zu einem Besuch in seinem Heim weit weg von seiner irdischen Heimat eingeladen, auf sein Schloß im All. Er hatte es Methusalem getauft. Sie durfte mit niemandem außerhalb der Regierungskreise darüber sprechen, weil Hadden auf keinen Fall ins Licht der Öffentlichkeit geraten wollte. Tatsächlich war es bis jetzt noch nicht durchgedrungen, daß er seinen Wohnsitz in den Orbit verlegt hatte. All diejenigen von der Regierung, die Ellie um Rat
gefragt hatte, hatten ihr zugeraten. Der Heer hatte gesagt: »Ein Tapetenwechsel tut dir gut.« Die Präsidentin hatte sich auch eindeutig für den Besuch ausgesprochen. Außerdem war ganz plötzlich ein Platz in der nächsten Raumfähre frei geworden, der völlig veralteten STS Intrepid. Unter normalen Umständen bediente man sich bei der Überfahrt zu einem Altersheim im Orbit der Linientransportmittel. Ein viel größeres, nicht wiederverwendbares Raumfahrzeug wartete noch auf seine endgültige Zulassung. Noch immer stellte die veraltete Raumflotte den Fuhrpark für die militärischen wie zivilen Weltraumunternehmungen der US-Regierung. »Wir verlieren auf dem Hinflug Dutzende von Isolierplatten. Die kleben wir dann einfach vor dem nächsten Start wieder an«, erklärte ihr einer der Weltraumpiloten. Für den Flug mußte man nur bei guter Gesundheit sein, sonst nichts. Gewöhnlich flogen die Linienfähren voll belegt hoch und kehrten leer zurück. Die Shuttleflüge der Regierung dagegen waren auf dem Hin- und Rückweg überfüllt. Auf ihrem Rückflug zur Erde in der vergangenen Woche hatte die Intrepid an der Methusalem angelegt, um zwei Passagiere mit zur Erde zurückzunehmen. Ellie kannte sie dem Namen nach. Der eine entwarf Antriebssysteme, und der andere war Kryobiologe. Ellie fragte sich, was sie auf der Methusalem zu schaffen hatten. »Sie werden sehen«, fuhr der Pilot fort, »es wird Ihnen gefallen. Mir ist noch keiner über den Weg gelaufen, dem es nicht gefallen hat. Die meisten Leute finden es einfach überwältigend.« Auch Ellie fand es überwältigend. Sie saß dicht zusammengezwängt mit dem Piloten, zwei Sonderbeauftragten, einem schmallippigen Militäroffizier und einem Finanzbeamten in der Kabine. Nach einem tadellosen Start erlebte sie zum ersten Mal die Schwerelosigkeit länger als bei einer Fahrt im Aufzug des World Trade Center in New
York. Nach anderthalb Erdumkreisungen trafen sie mit der Methusalem zusammen. In zwei Tagen würde die Linienfähre Narnia Ellie wieder abholen und zur Erde zurückbringen. Das Schloß – Hadden bestand auf dieser Bezeichnung- drehte sich langsam. Es machte eine Umdrehung in neunzig Minuten, und immer zeigte dieselbe Seite zur Erde. Von Haddens Arbeitszimmer aus hatte man einen großartigen Blick auf die Erde – nicht über einen Bildschirm, sondern durch ein richtiges, durchsichtiges Fenster. Die Photonen, die Ellie sah, waren vor nur einem Bruchteil einer Sekunde von den verschneiten Anden reflektiert worden. Außer an den Rändern des Fensters, wo das schräg einfallende Licht durch das dicke Polymer länger brauchte, wurde nichts verzerrt. Ellie kannte viele Menschen, darunter auch Leute, die sich für religiös hielten, denen das Gefühl von Ehrfurcht peinlich war. Aber man mußte aus Holz geschnitzt sein, dachte sie, wenn es einen beim Blick aus diesem Fenster nicht überkam. Man sollte junge Dichter, Komponisten, Künstler, Filmemacher und religiöse Menschen, die den institutionellen Zwängen ihrer Glaubensgemeinschaft nicht blind glaubten, hier heraufschicken. Diese Erfahrung, dachte sie, könnte dem Durchschnittsmenschen auf der Erde leicht vermittelt werden. Schade, daß man noch keinen ernsthaften Versuch in dieser Richtung unternommen hatte. Dieses Gefühl war… einfach numinos. »Man gewöhnt sich daran«, sagte Hadden zu ihr, »aber man kann sich nicht satt daran sehen. Es ist immer wieder inspirierend.« Zwischen die Lippen hatte er den Strohhalm seiner Diät-Cola geklemmt. Ellie hatte einen Drink dankend abgelehnt. Der Preis für Alkohol war im Orbit sicher ziemlich hoch.
»Natürlich vermißt man bestimmte Dinge hier oben – die langen Spaziergänge, das Schwimmen im Meer, alte Freunde, die unangemeldet auf einen Sprung vorbeikommen. Aber das hat mir noch nie etwas bedeutet. Und wie Sie sehen, können Freunde ohne weiteres zu Besuch kommen.« »Aber es kostet eine Menge.« »Mein Nachbar Yamagishi, der im rechten Flügel des Schlosses wohnt, bekommt an jedem zweiten Dienstag des Monats Besuch von einer Dame. Egal, ob es regnet oder die Sonne scheint. Er ist ein Prachtkerl. Hochkarätiger Kriegsverbrecher – hat aber nur unter Anklage gestanden, verstehen Sie, er ist nie überführt worden.« »Warum sind Sie hier oben?« fragte Ellie. »Sie glauben nicht, daß die Welt bald untergeht. Was machen Sie also hier?« »Ich liebe die Aussicht. Und es gibt einige rechtliche Feinheiten.« Sie sah ihn streitlustig an. »Wissen Sie, jemand wie ich, der neue Erfindungen gemacht und ganze Industriezweige aus dem Boden gestampft hat, befindet sich immer am Rande der Legalität. In der Regel sind die alten Gesetze noch nicht an die neuen Technologien angepaßt. Deshalb kann es passieren, daß man ständig in Prozesse verwickelt wird. Das schadet aber der Effektivität. Das hier« – er machte eine ausladende Geste, die sowohl das Schloß als auch die Erde umschloß – »gehört zu keiner Nation und keinem Land. Das Schloß gehört mir, meinem Freund Yamagishi und noch ein paar anderen. Uns mit Lebensmitteln und anderen materiellen Gütern zu versorgen, kann nie ungesetzlich sein. Um aber ganz sicher zu gehen, arbeiten wir an geschlossenen ökologischen Systemen. Es gibt zwischen dem Schloß und anderen Nationen keinerlei Auslieferungsverträge. Für mich ist es… produktiver und einfacher, hier oben zu leben.
Nicht, daß Sie glauben, ich hätte tatsächlich gegen das Gesetz verstoßen. Nein, aber wir experimentieren viel mit neuen Dingen. Da ist es einfach klüger, auf Nummer Sicher zu gehen. Zum Beispiel gibt es tatsächlich Leute, die glauben, ich hätte die Maschine sabotiert. Dabei habe ich selbst ungeheuer viel Geld hineingesteckt, um sie überhaupt zu bauen. Und die Geschichte mit Babylon kennen Sie ja. Meine Versicherungsexperten schließen nicht aus, daß dieselben Leute, die Babylon in Brand gesteckt haben, die Sabotage in Terre Haute inszeniert haben. Ich scheine eine Menge Feinde zu haben. Jedenfalls ist es für mich alles in allem besser, hier oben zu leben. Aber ich würde jetzt gern mit Ihnen über die Maschine sprechen. Das war furchtbar – die Katastrophe mit den Erbiumdübeln in Wyoming. Es tut mir wirklich leid um Drumlin. Er war ein zäher Kerl. Und für Sie muß es ein großer Schock gewesen sein. Möchten Sie nicht doch einen Drink?« Aber Ellie war es zufrieden, aus dem Fenster zu schauen und ihm zuzuhören. »Wenn also ich nicht von dem Rückschlag entmutigt bin«, sprach er weiter, »dann sollten Sie es auch nicht sein. Wahrscheinlich machen Sie sich Sorgen, daß es nie eine amerikanische Maschine geben wird, daß es zu viele Menschen gibt, die wünschen, daß das ganze Projekt fehlschlägt. Die Präsidentin hat schon ganz ähnliche Befürchtungen. Und in den Fabriken, die wir gebaut haben, gibt es keine Serienproduktion. Wir haben mit Einzelanfertigungen gearbeitet. Es wird viel Geld kosten, die zerstörten Teile zu ersetzen. Aber Sie denken in erster Linie darüber nach, ob es überhaupt richtig war, das Unternehmen zu starten. Vielleicht war es verrückt von uns, die Sache so schnell voranzutreiben. Deshalb sollten wir das Ganze erst noch einmal gründlich in aller Ruhe überlegen. Auch wenn Sie
persönlich nicht so denken, so vertritt doch die Präsidentin diese Auffassung. Wenn wir es allerdings jetzt nicht zu Ende bringen, werden wir es nie schaffen. Und da ist noch etwas: Ich glaube nicht, daß die Einladung ewig gilt.« »Merkwürdig, daß Sie das sagen. Denn darüber sprachen wir, Valerian, Drumlin und ich, unmittelbar vor dem Unfall. Vor der Sabotage«, korrigierte sie sich. »Aber sprechen Sie bitte weiter.« »Wissen Sie, fast alle religiösen Menschen glauben, daß dieser Planet ein Experiment ist. Zumindest läuft ihr Glaube darauf hinaus. Irgendein Gott werkelt ständig daran herum, läßt sich mit den Frauen der Handwerker ein, verschenkt irgendwelche Tafeln auf irgendwelchen Bergen, befiehlt, Kinder zu verstümmeln, und schreibt vor, welche Wörter man sagen darf und welche nicht. Er macht den Menschen ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich vergnügen wollen, und vieles mehr. Warum können die Götter nicht alles so lassen, wie es ist? All diese Eingriffe verraten nur Inkompetenz. Wenn Gott nicht wollte, daß Lots Eheweib zurückschaute, warum machte er sie dann nicht gehorsam, damit sie befolgte, was ihr Mann sagte? Und hätte er Lot nicht zu so einem Ekel gemacht, dann hätte ihm seine Frau vielleicht gehorcht. Wenn Gott so allmächtig und allwissend ist, warum hat er dann das Universum nicht von Anfang an so geschaffen, wie er es sich wünschte? Warum bastelt er ständig daran herum und beklagt sich? Nein, eines gibt die Bibel deutlich zu verstehen: Der biblische Gott ist ein schlampiger Handwerker. Er ist weder in der Planung noch in der Ausführung gut. Wenn es Konkurrenz gäbe, wäre er sofort weg vom Fenster. Deshalb glaube ich, daß wir kein Experiment sind. Vielleicht gibt es ja eine Menge Versuchsplaneten im Universum, Planeten, auf denen Götterlehrlinge ihr Können erproben. Schade, daß Rankin und Joss nicht auf solch einem Planeten
geboren wurden. Aber auf diesem Planeten« – und wieder deutete er Richtung Fenster – »gibt es keine Mikrointervention. Die Götter kommen nicht vorbeigerauscht, um die Dinge zu reparieren, die wir verpfuscht haben. Schaut man sich unsere Geschichte an, dann wird eindeutig klar, daß wir auf uns allein gestellt sind.« »Bis jetzt«, sagte Ellie. »Aber glauben Sie an einen Deus ex machina? Glauben Sie, daß die Götter jetzt Erbarmen mit uns gehabt und uns deshalb die Maschine geschickt haben?« »Wenn schon, dann an eine Machina ex deo, oder wie das lateinisch heißt. Nein, nein, ich glaube nicht, daß wir ein Experiment sind. Ich denke viel mehr, daß wir der Vergleichsplanet sind. Ein Planet, an dem bisher niemand interessiert war. Ein Ort, auf dem keiner interveniert hat. Eine planetarische Meßeinheit, die ins Kraut geschossen ist. Genau das passiert, wenn niemand interveniert. Die Erde ist ein Studienobjekt für die Götterlehrlinge. ›Wenn ihr etwas wirklich vermasselt‹, wird ihnen gesagt, ›dann kommt so etwas wie die Erde dabei heraus.‹ Aber natürlich wäre es Verschwendung, einen ganz brauchbaren Planeten zu zerstören. Deshalb schauen sie von Zeit zu Zeit bei uns vorbei, nur zur Vorsicht. Vielleicht bringen sie jedes Mal die Götter mit, die Mist gebaut haben. Bei ihrem letzten Besuch sind wir noch übermütig durch die Savannen gerannt und haben versucht, dabei schneller zu sein als die Antilopen. ›Okay, das ist prima‹, sagen die Götter. ›Die werden uns keinen Ärger machen. Wir schauen in zehn Millionen Jahren wieder vorbei. Aber zur Sicherheit überwachen wir sie besser per Funk.‹ Dann kam eines Tages ein Alarmzeichen. Eine Botschaft von der Erde. ›Was? Die haben schon Fernsehen! Mal sehen, auf was sie abfahren.‹ Fahnen. Ein Raubvogel. Adolf Hitler. Tausende jubelnder Menschen. ›O je!‹ rufen die Götter. Sie kennen die Warnsignale. Blitzschnell befehlen sie uns: ›Hört
bloß mit dem Quatsch auf, Leute. Ihr habt doch einen ganz brauchbaren Planeten. Baut lieber diese Maschinen‹. Sie machen sich Sorgen um uns. Sie sehen, daß es mit uns bergab geht. Sie glauben, daß wir uns beeilen sollten, alles wieder in Ordnung zu bringen. Und das denke ich auch. Wir müssen die Maschine bauen.« Ellie wußte genau, was Drumlin zu dieser Argumentation gesagt hätte. Und obwohl vieles von dem, was Hadden gerade gesagt hatte, auf ihrer Wellenlänge lag, hatte auch sie diese betörenden, optimistischen Spekulationen über die Absichten der Wegianer satt. Sie wollte, daß das Projekt weitergeführt und die Maschine fertiggestellt und in Betrieb genommen wurde und daß das neue Zeitalter der Menschheitsgeschichte anbrach. Ellie mißtraute noch immer ihren eigenen Motiven. Sie hielt sich sogar dann zurück, wenn in einer Diskussion ihr Name als der eines möglichen Mitglieds der Besatzung der Maschine fiel. So kam ihr die Verzögerung sehr zugute. Sie gewann Zeit, um mit ihren Problemen fertigzuwerden. »Yamagishi wird mit uns zu Abend speisen. Er wird Ihnen gefallen. Aber wir machen uns etwas Sorgen um ihn. Er hält seine Sauerstoffversorgung nachts extrem niedrig.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Nun, je geringer der Sauerstoffgehalt der Luft ist, desto länger lebt man. Zumindest behaupten unsere Ärzte das. Deshalb kann hier jeder in seiner Wohnung den Sauerstoffgehalt der Luft nach Wunsch regulieren. Tagsüber können Sie kaum unter zwanzig Prozent kommen, sonst sind Sie ziemlich benebelt. Und es beeinträchtigt die Hirnfunktionen. Aber nachts, wenn man sowieso schläft, kann man den Sauerstoff ziemlich weit herunterdrehen. Obwohl es nicht ungefährlich ist. Man kann es auch übertreiben. Yamagishi ist jetzt bei vierzehn Prozent angekommen. Er will
ewig leben. Als Folge davon ist er erst beim Mittagessen wieder klar im Kopf.« »Ich war mein Leben lang auch bei zwanzig Prozent nicht klar im Kopf«, erwiderte Ellie lachend. »Jetzt experimentiert er mit nootropischen Drogen, um die Benebelung zu verhindern. Wie Piracetam, wissen Sie. Sie steigern auf jeden Fall das Erinnerungsvermögen. Ob Sie einen auch gescheiter machen, weiß ich nicht, obwohl man das behauptet. Deshalb nimmt Yamagishi furchtbar viele solcher Drogen und atmet nachts zu wenig Sauerstoff.« »Sie meinen, er ist nicht ganz normal?« »Normal? Das ist schwer zu sagen. Ich kenne nur wenige zweiundneunzigjährige hochkarätige Kriegsverbrecher.« »Deshalb braucht man auch für jedes Experiment einen Maßstab, mit dem man die Ergebnisse vergleichen kann«, sagte Ellie. Hadden lächelte. Trotz seines hohen Alters hatte Yamagishi noch immer die aufrechte Haltung, die er sich während seines langjährigen Dienstes bei der kaiserlichen Armee erworben hatte. Er war klein und hatte eine Glatze. Dazu einen auffallend weißen Schnurrbart, und auf seinem Gesicht lag ein scheinbar erstarrtes Lächeln. »Ich bin hier wegen meiner Hüften«, erklärte er. »Ich weiß, daß viele wegen Krebs oder auf der Suche nach dem ewigen Leben hierher kommen. Aber ich bin wegen meiner Hüften hier. In meinem Alter brechen die Knochen sehr leicht. Baron Tsukuma starb an den Folgen eines Sturzes von seinem Futon auf seine Tatami. Er fiel nur einen halben Meter. Einen halben Meter, stellen Sie sich das vor. Und er brach sich die Knochen. In der Schwerelosigkeit brechen Hüften nicht.« Das klang einleuchtend.
Trotz einiger gastronomischer Einschränkungen ging das Abendessen mit erstaunlicher Eleganz vor sich. Man hatte bestimmte Techniken entwickelt, die das Essen in der Schwerelosigkeit ermöglichten. Das Vorlegebesteck hatte klappbare Sperren und die Weingläser Deckel und Strohhalme. Nüsse und Cornflakes waren verboten. Yamagishi drängte Ellie den Kaviar regelrecht auf. Das sei eine der wenigen Speisen, erklärte er ihr, bei der die Einkaufskosten auf der Erde teurer waren als die Frachtkosten ins All. Daß einzelne Kaviareier zusammenhielten, war ein Glücksfall, dachte Ellie. Sie stellte sich vor, wie Tausende einzelner Eier im freien Fall die Gänge dieses erdumkreisenden Ruhesitzes verdunkeln würden. Plötzlich schoß ihr durch den Kopf, daß ihre Mutter ebenfalls in einem Altenheim lebte, aber natürlich in einem um Grade bescheideneren. Wenn sie sich an den Großen Seen orientierte, konnte sie jetzt von diesem Fenster aus auf den Ort deuten, wo ihre Mutter wohnte. Sie hatte Zeit, zwei Tage hier oben im Orbit mit dekadenten Milliardären zu verbringen, aber eine Viertelstunde für einen Telephonanruf bei ihrer Mutter hatte sie nicht erübrigen können. Sie nahm sich ganz fest vor, sofort nach der Landung in Cocoa Beach bei ihr anzurufen. Ein Anruf aus dem Orbit wäre für die Senioren des Altenheims in Janesville, Wisconsin, sicher zuviel auf einmal gewesen. Yamagishi unterbrach ihre Gedanken, um ihr mitzuteilen, daß er der älteste Mensch sei, der je im Weltraum gelebt hatte. Sogar der frühere chinesische stellvertretende Ministerpräsident war jünger. Er zog sein Jackett aus, krempelte den rechten Ärmel hoch, spannte seinen Bizeps und forderte Ellie auf, seine Muskeln zu fühlen. Dann erzählte er ihr ausführlich und lebendig von den guten Werken, an denen er maßgeblich beteiligt gewesen war. Ellie versuchte höflich, Konversation zu machen: »Es ist sehr gemütlich und ruhig hier oben. Sie genießen Ihren Ruhestand sicher sehr.«
Sie hatte diese verbindliche Bemerkung an Yamagishi gerichtet, aber Hadden antwortete ihr. »Es ist nicht immer so ruhig. Hin und wieder kommt es zu einer Krise, und dann müssen wir schnell in Aktion treten.« »Sonnenwind, zum Beipiel. Der ist ganz übel. Macht einen steril«, warf Yamagishi ein. »Jawohl. Wenn ein stärkerer Sonnenwind von unserem Teleskop registriert wird, dann haben wir noch drei Tage Zeit, bevor die geladenen Teilchen auf das Schloß treffen. Deshalb müssen Dauerbewohner wie Yamagishi-san und ich in den Sturmbunker. Der ist spartanisch und eng. Aber er hat ausreichend starke Schutzschilder gegen die Strahlung. Natürlich gibt es noch eine gewisse Sekundärstrahlung. Aber das Problem ist, daß alle Leute, die nur vorübergehend hier wohnen oder zu Besuch sind, innerhalb dieser drei Tage abreisen müssen. Solch ein Notfall kann die Linientransportgesellschaften auf eine harte Probe stellen. Manchmal müssen wir die NASA oder die Sowjets bitten, einzuspringen. Sie können sich nicht vorstellen, wen man hier alles bei so einem Sonnenwindalarm aufschreckt – Mafiabosse, Chefs von Nachrichtendiensten, schöne Männer und Frauen…« »Ich kann einfach das Gefühl nicht loswerden, daß Sex zu den beliebtesten Importartikeln von der Erde gehört. Ist das richtig?« fragte Ellie etwas widerstrebend. »O ja, das stimmt. Dafür gibt es viele Gründe. Die Kundschaft, die Lage. Aber der Hauptgrund ist die Schwerelosigkeit. In der Schwerelosigkeit kann man noch mit achtzig Sachen machen, die man nicht einmal mit zwanzig für möglich gehalten hätte. Sie sollten mal einen Urlaub hier oben verbringen – mit Ihrem Freund. Sie sind hiermit herzlich eingeladen.« »Mit neunzig«, sagte Yamagishi. »Wie bitte?«
»Man kann mit neunzig Jahren Sachen machen, von denen man mit zwanzig nicht geträumt hätte, pflegt Yamagishi-san zu sagen. Darum ist hier der Andrang auch so groß.« Hadden nahm einen Schluck Kaffee und kehrte zum Thema Maschine zurück. »Yamagishi-san, ich und noch einige weitere Leute sind Geschäftspartner. Er ist der Ehrenpräsident im Aufsichtsrat des Yamagishi-Konzerns. Wie Sie sicher wissen, ist dieser Konzern der Hauptvertragspartner für die Bauelementetests, die auf Hokkaido durchgeführt werden. Vergegenwärtigen Sie sich jetzt bitte unser Problem. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wir haben drei große Kugelschalen, die ineinander gefügt sind. Sie sind aus einer Niobiumlegierung hergestellt. Merkwürdige Muster sind in sie eingeritzt, und sie sollen sich offenbar in einem Vakuum um Achsen drehen, die jeweils im rechten Winkel zueinander stehen. Die Schalen heißen Benzel. Das wissen Sie natürlich alles. Was passiert, wenn Sie ein maßstabgetreues Modell der drei Benzel bauen und sie sehr schnell drehen? Was passiert? Alle klugen Physiker glauben, daß nichts passiert. Aber natürlich hat keiner den Versuch durchgeführt. Genau diesen Versuch. Deshalb kann es auch keiner wirklich wissen. Nehmen wir einmal an, es geschieht etwas, wenn die Maschine aktiviert wird. Hängt es von der Geschwindigkeit der Umdrehungen ab? Hängt es mit dem Aufbau der Benzel zusammen? Oder den darin eingeschnittenen Mustern? Ist es eine Frage der Größe? Aus diesem Grund sind wir dabei, die Benzel nachzubauen und auszuprobieren – sowohl bei maßstabgetreuen Kleinmodellen als auch bei Nachbildungen in Originalgröße. Wir wollen unsere Ausführungen der Benzel drehen lassen und sie später dann mit den anderen Bauteilen der beiden Maschinen zusammenmontieren. Angenommen, es passiert nichts. Dann bauen wir eines nach dem anderen die weiteren Bauelemente
ein. Wir schließen sie alle an, eine kleine Systemintegration in jedem Montageabschnitt. Und dann auf einmal, wenn wir gerade einen Baustein anschließen, der gar nicht mal der letzte zu sein braucht, tut die Maschine vielleicht etwas, womit wir überhaupt nicht gerechnet haben. Wir versuchen also herauszufinden, wie die Maschine funktioniert. Verstehen Sie, worauf ich hinaus will?« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie in Japan eine identische Kopie der Maschine zusammenbauen?« »Es ist ja nicht wirklich ein Geheimnis. Wir haben nur die einzelnen Bausteine analysiert. Keiner hat gesagt, daß wir immer nur einen auf einmal testen sollten. Yamagishi-san und ich schlagen also folgendes vor: Wir ändern den Zeitplan für die Experimente auf Hokkaido. Wir montieren die Maschine jetzt sofort zusammen. Und wenn alles gutgeht, dann verschieben wir die Einzelanalyse der Bauelemente auf später. Das Geld steht jedenfalls zur Verfügung. Es wird Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, bis die Amerikaner wieder soweit sind, wie sie waren. Und wir glauben nicht, daß die Russen bis dahin überhaupt fertig werden. Japan ist die einzige Alternative. Man muß es ja nicht groß an die Glocke hängen. Und man braucht auch nicht zu entscheiden, ob man die Maschine gleich aktivieren will. Wir testen nur die Komponenten.« »Können Sie beide so eine Entscheidung allein treffen?« »Selbstverständlich, das liegt durchaus in unserer Kompetenz. Wir brauchen ungefähr sechs Monate, um das Stadium zu erreichen, in dem sich die Konstruktion der Maschine in Wyoming befand. Wir müssen selbstverständlich noch mehr Sicherheitsmaßnahmen gegen Sabotage ergreifen. Aber wenn die Bauteile in Ordnung sind, dann wird auch die Maschine in Ordnung sein, meine ich. Außerdem ist Hokkaido von außen nicht ganz leicht zu erreichen. Wenn dann alles
überprüft und startbereit ist, können wir das Weltkonsortium fragen, ob sie dieser Maschine eine Chance geben wollen. Wenn die Besatzung damit einverstanden ist, dann garantiere ich Ihnen, daß das Konsortium mitzieht. Oder was glauben Sie, Yamagishi-san?« Yamagishi hatte die Frage nicht gehört. Er summte leise das Lied vom »Freien Fall« vor sich hin. Das war ein bekannter Schlager über die Freuden des Orbit. An die letzte Strophe könne er sich nur unvollständig erinnern, erklärte er, als Hadden die Frage wiederholte. Hadden fuhr in aller Ruhe fort: »Einige Bauteile werden also schon einmal gedreht worden sein, oder jemand hat sie fallen lassen oder sonst etwas. Aber auf jeden Fall müssen sie die vorgeschriebenen Tests bestehen. Ich nehme nicht an, daß Sie das abschreckt. Sie persönlich, meine ich.« »Mich persönlich? Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich mit dabei sein werde? Erstens hat mich bisher noch niemand gefragt, und dann gibt es da noch eine ganze Reihe anderer Faktoren.« »Aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, daß das Auswahlkomittee auf Sie zukommen wird. Und die Präsidentin wird zustimmen. Ganz begeistert sogar. Na, hören Sie mal«, sagte er mit einem Grinsen, »Sie wollen doch nicht Ihr ganzes Leben in der hintersten Provinz verbringen, oder?« Über Skandinavien und der Nordsee hingen Wolken. Und den Ärmelkanal bedeckte ein feiner, fast durchsichtiger Nebelschleier. »Ja, Sie fliegen«, sagte Yamagishi. Er war aufgestanden und hatte seine Hände steif an die Schenkel gelegt. Er verbeugte sich tief vor ihr. »Im Namen meiner zweiundzwanzig Millionen Angestellten möchte ich Ihnen sagen, daß es mich gefreut hat, Sie kennenzulernen.«
Ellie wälzte sich in der kleinen Kabine, die man ihr zugewiesen hatte, unruhig im Schlaf. Die Kabine war an zwei Wänden festgemacht, damit sie in der Schwerelosigkeit nicht mit anderen Gegenständen zusammenstieß. Ellie wachte auf, als die anderen noch alle zu schlafen schienen. Sie hangelte sich von Haltegriff zu Haltegriff, bis sie vor dem riesigen Fenster stand. Das Schloß befand sich über der Nachtseite der Erde, die, bis auf ein Meer aus künstlichem Licht, in Finsternis gehüllt war. Als zwanzig Minuten später die Sonne aufgegangen war, hatte Ellie entschieden, daß sie, wenn man sie fragen sollte, mit Ja antworten würde. Unbemerkt war Hadden hinter sie getreten, sie zuckte zusammen. »Es sieht wirklich großartig aus. Ich bin schon seit Jahren hier oben und finde die Aussicht immer noch großartig. Stört es Sie auch nicht, daß Sie sich in einem Raumschiff befinden? Wissen Sie, es gibt eine Erfahrung, die noch kein Mensch je gemacht hat. Stellen Sie sich vor, Sie stecken in einem Raumanzug. Es gibt weder ein Halteseil noch eine Raumfähre. Vielleicht liegt die Sonne gerade hinter Ihnen und Sie schwimmen in einem Meer aus Sternen. Vielleicht befindet sich die Erde oder ein anderer Planet gerade unter Ihnen. Saturn, von mir aus. Und Sie schweben durch das All, als wären Sie wirklich eins mit dem Kosmos. Die heutigen Raumanzüge sind so angenehm zu tragen, man kann Stunden darin im All verbringen. Das Raumschiff, dem Sie entstiegen sind, ist schon weit weg. Vielleicht trifft es in einer Stunde wieder mit Ihnen zusammen. Vielleicht auch nicht. Das Beste wäre, die Fähre käme gar nicht mehr zurück. Sie verbringen Ihre letzten Stunden in der Weite des Alls, umgeben von Sternen und anderen Welten. Wenn Sie eine unheilbare Krankheit hätten oder sich einfach zum Schluß noch einmal etwas Gutes tun wollen, was könnte das übertreffen?«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst? Sie wollen dieses… Programm vermarkten?« »Nun, für den Markt ist es noch zu früh. Vielleicht ist das auch nicht die richtige Vorgehensweise. Sagen wir so: Ich spiele erst mit dem Gedanken, ob man so etwas verwirklichen könnte.« Ellie beschloß, Hadden nichts von ihrem Entschluß zu erzählen. Und er fragte sie auch nicht danach. Später, als die Narnia bereits an der Methusalem angelegt hatte, nahm Hadden sie beiseite. »Sie haben doch gehört, daß Yamagishi der Älteste hier oben ist. Wenn man nur die Dauergäste zählt – nicht die Besatzung, Astronauten und kleinen Tänzerinnen –, dann bin ich der Jüngste. Vielleicht bin ich voreingenommen, aber es gibt im Ernst die medizinische Möglichkeit, daß die Schwerelosigkeit mich noch Jahrhunderte am Leben erhält. Sie müssen wissen, ich arbeite an einem Experiment, daß sich mit der Unsterblichkeit befaßt. Ich habe das nicht gesagt, um damit anzugeben. Ich habe es aus ganz praktischen Gründen angesprochen. Wenn bereits wir Mittel und Wege finden, unsere Lebensdauer zu verlängern, stellen Sie sich einmal vor, zu was dann die Wesen auf der Wega in der Lage sind. Sie sind wahrscheinlich unsterblich, oder kurz davor. Ich bin ein praktischer Mensch und habe mir schon viele Gedanken über die Unsterblichkeit gemacht. Ich habe sicher schon länger und ernsthafter darüber nachgedacht als alle anderen Menschen. Und eines kann ich Ihnen versichern: Die Unsterblichen sind sehr vorsichtig. Sie überlassen nichts dem Zufall. Es hat sie zuviel Kraft gekostet, unsterblich zu werden. Ich weiß nicht, wie sie aussehen oder was sie von uns wollen. Aber wenn Sie sie je zu Gesicht bekommen sollten, dann kann ich Ihnen nur das eine sagen: Etwas, was Sie für eine todsichere Sache halten, ist für die
Unsterblichen ein untragbares Risiko. Wenn es je zu Verhandlungen mit denen da oben kommt, denken Sie an meine Worte.«
17 Der Traum der Ameisen Menschen Wort ist wie eine gesprungene Pauke, auf der wir eine Melodie heraustrommeln, nach der kaum ein Bär tanzt, während wir die Sterne bewegen möchten. Gustave Flaubert Madame Bovary (1857)
Die Vorstellungen der großen Masse sind von größter Inkonsequenz, weil sie die Wahrheit nicht kennen… Die Götter existieren, weil die Natur selbst in den Seelen aller Menschen den Begriff davon eingeprägt hat. Cicero Vom Wesen der Götter, I, 43
Ellie packte gerade ihre Notizen, die Magnetbänder und den Palmwedel für die Verfrachtung nach Japan zusammen, als sie die Nachricht erhielt, daß ihre Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte. Kurz darauf überbrachte ihr der Eilbote des Projekts einen Brief. Er war von John Staughton. Er begann ohne große Vorreden:
Deine Mutter und ich haben oft über Deine Unzulänglichkeiten und Schwächen gesprochen. Das waren immer sehr schwierige Gespräche. Wenn ich Dich verteidigte (und das kam, auch wenn Du es Dir nicht vorstellen kannst, häufig vor), warf sie mir vor, ich sei Pudding in Deinen Händen. Und wenn ich an Dir herumnörgelte, dann sagte sie zu mir, ich solle mich, um meinen eigenen Kram kümmern. Aber ich will, daß Du weißt, wie sehr sie darunter gelitten hat und wie weh es ihr getan hat, daß Du sie in den letzten Jahren, seit dieses Wega-Projekt läuft, nie besucht hast. Sie hat ihren Freundinnen in diesem schrecklichen Pflegeheim, in das sie unbedingt wollte, immer wieder erzählt, daß Du sie bald besuchen würdest. Jahrelang hat sie zu ihnen gesagt: »Bald kommt sie.« Sie malte sich genau aus, wie sie ihre berühmte Tochter herumzeigen würde und in welcher Reihenfolge sie Dich ihrem Club von Altersschwachen vorstellen würde. Du willst davon vielleicht nichts hören, und es bekümmert mich selbst sehr, es Dir sagen zu müssen. Aber ich tue es um Deinetwillen. Dein Verhalten hat ihr mehr als alles andere in ihrem Leben weh getan, mehr sogar als der Tod Deines Vaters. Du bist jetzt vielleicht eine Berühmtheit, Dein Bild ist in den Zeitungen der ganzen Welt zu sehen, Du sitzt mit Politkern an einem Tisch und so weiter, aber als Mensch hast Du seit der High School nichts dazugelernt… Ellies Augen füllten sich mit Tränen, und sie zerknüllte Brief und Umschlag. Dabei fiel ein steifes Stück Papier heraus, ein Hologramm, das mit Hilfe eines Computerextrapolationsverfahrens von einem alten zweidimensionalen Photo gemacht worden war. Man hatte das Gefühl, um die Ecke sehen zu können. Das Photo hatte sie noch nie gesehen. Ihre Mutter lächelte ihr als junge, hübsche Frau aus dem Bild entgegen. Sie
hatte den Arm locker um die Schultern von Ellies Vaters gelegt, der stolz seinen einen Tag alten Bart zur Schau stellte. Beide strahlten vor Glück. Quälend, unter Schuldgefühlen, Selbstmitleid und Wut auf Staughton wurde Ellie die traurige Tatsache bewußt, daß sie keinen der beiden Menschen auf dem Bild je wiedersehen würde. Ihre Mutter lag unbeweglich im Bett. Ihr Gesicht war merkwürdig ausdruckslos, es zeigte weder Freude noch Schmerz, sondern nur… Warten. Hin und wieder zuckten die Lider, aber das war die einzige Bewegung. Ob sie Ellie hörte oder verstand, was Ellie ihr zuflüsterte, war aus ihrem Gesicht nicht abzulesen. Ellie dachte nach, wie unter diesen Umständen Kommunikation zustande kommen könnte. Ohne zu wollen, überfiel sie der Gedanke: Ein Lidschlag für ja, zwei für nein. Oder man konnte ein EEG-Meßgerät anschließen, dessen Bildschirm ihre Mutter sehen konnte, damit sie lernte, ihre Beta-Wellen zu modulieren. Aber hier ging es um ihre Mutter und nicht um Alpha Lyrae. Nicht Entschlüsselungsalgorithmen waren verlangt, sondern Gefühle. Sie hielt die Hand ihrer Mutter und redete stundenlang. Sie redete drauflos über ihren Vater, ihre Mutter und ihre Kindheit. Sie erinnerte sich, wie sie sich als kleines Kind zwischen den frisch gewaschenen Bettüchern versteckt hatte und wie sie einmal fast in den Himmel gefallen war. Sie sprach über John Staughton. Sie entschuldigte sich für vieles. Dann weinte sie ein wenig. Die Haare ihrer Mutter hingen wirr durcheinander. Ellie suchte eine Haarbürste und kämmte sie. Sie blickte tief in die zerfurchten Gesichtszüge ihrer Mutter und erkannte sich selbst darin. Die tiefliegenden, wäßrigen Augen ihrer Mutter starrten ins Leere, nur dann und wann kam ein Blinzeln aus weiter Ferne.
»Ich habe nicht vergessen, wo ich herkomme«, sagte Ellie leise. Fast unmerklich bewegte ihre Mutter den Kopf von der einen auf die andere Seite, als ob sie all den Jahren nachtrauerte, in denen sie sich voneinander entfremdet hatten. Ellie drückte ihr vorsichtig die Hand. Und sie hatte das Gefühl, ihre Mutter hatte sie verstanden. Es bestünde kein Anlaß zur Sorge, hatte man Ellie gesagt. Falls sich ihr Zustand änderte, würde man sie sofort in ihrem Büro in Wyoming anrufen. Schon in wenigen Tagen würde ihre Mutter aus dem Krankenhaus in das Pflegeheim zurückkehren können, wo sie, wie man Ellie versicherte, gut versorgt würde. Staughton wirkte niedergedrückt. Ellie hätte so tiefe Gefühle für ihre Mutter nie in ihm vermutet. Sie würde oft anrufen, versprach sie ihm. In der nüchternen, marmornen Eingangshalle stand, vielleicht nicht ganz passend, eine echte Statue, kein Hologramm, einer nackten Frau im Stile des Praxiteles. Sie fuhren in einem OtisHitachi-Aufzug nach oben. Ellie wurde durch einen riesigen Saal geführt, in dem viele Angestellte an Übersetzungscomputern arbeiteten. Ein Wort, das man in Hiragana, dem aus einundfünfzig Buchstaben bestehenden japanischen phonetischen Alphabet, eingetippt hatte, erschien auf dem Bildschirm in dem entsprechenden chinesischen Ideogramm des Kanji. In den Computern waren Hunderttausende solcher Ideogramme oder Schriftzeichen eingespeichert, obwohl man im allgemeinen nur drei- bis viertausend brauchte, um eine Zeitung zu lesen. Da im Kanji viele Schriftzeichen mit völlig verschiedenen Bedeutungen durch dasselbe gesprochene Wort ausgedrückt wurden, spuckte der Computer alle möglichen Übersetzungen in der Reihenfolge der Wahrscheinlichkeit aus. Der Computer hatte
zusätzlich ein Unterprogramm, das die in Frage kommenden Schriftzeichen entsprechend der Einschätzung der gewünschten Bedeutung auflistete. Die Vorschläge waren so gut wie immer richtig. In einer Sprache, die bis vor kurzem noch nicht einmal eine Schreibmaschine kannte, setzte der Übersetzungscomputer eine Revolution der Kommunikationsstrukturen in Gang, die bei den Traditionalisten nicht nur auf Zustimmung stieß. Im Konferenzraum setzten sie sich auf niedrige Sessel – offensichtlich ein Zugeständnis an den westlichen Geschmack –, die um einen ebenfalls niedrigen Lacktisch standen. Dazu wurde Tee serviert. Ellie konnte von ihrem Platz aus ganz Tokio überblicken. Ihr fiel ein, daß sie in letzter Zeit oft aus Fenstern geschaut hatte. Der Name der Zeitung war Asahi Shimbun , die Morgensonne-Zeitung. Ellie fand es interessant, daß unter den politischen Berichterstattern eine Frau war, eine große Ausnahme, wenn man an die amerikanischen und sowjetischen Medien dachte. Die traditionellen männlichen Privilegien wurden offenbar ohne viel Aufsehen in einer Art Kleinkrieg nach und nach erobert. Erst gestern hatte der Präsident einer Firma namens Nanoelektronik Ellie sein Leid geklagt, daß kein »Mädchen« in Tokio mehr wüßte, wie man den Obi um den Kimono schlingt. Wie im Fall der Fliege, die man auch nur noch mit einem Clip befestigte, hatte ein leicht zu bindendes Imitat den Markt erobert. Japanische Frauen hatten Wichtigeres zu tun, als täglich eine halbe Stunde mit dem Wickeln und Feststecken von Scherpen zu verbringen. Die Reporterin trug ein schlichtes, elegantes Kostüm mit wadenlangem Rock. Aus Gründen der Sicherheit durfte die Presse das Maschinengelände auf Hokkaido nicht betreten. Statt dessen wurden immer, wenn ein Mitglied der Besatzung oder ein Projektleiter auf die Hauptinsel Honshu kam, Fragestunden für die japanische und ausländische Presse
veranstaltet. Die Fragen waren Ellie vertraut. Denn abgesehen von einigen lokal bedingten Eigenheiten stellten die Journalisten auf der ganzen Welt die gleichen Fragen. Ob sie sich freue, daß nach den amerikanischen und sowjetischen »Enttäuschungen« doch noch eine Maschine in Japan gebaut wurde? Ob sie sich auf Hokkaido einsam fühle? Ob es ihr Sorgen bereite, daß die Maschinenteile, die man auf Hokkaido einbaute, mehr Tests unterzogen worden waren, als die BOTSCHAFT vorschrieb? Vor 1945 hatte der Stadtteil Tokios, in dem sie sich befanden, der kaiserlichen Flotte gehört. Und tatsächlich konnte Ellie in der unmittelbaren Nachbarschaft das Dach des Marineobservatoriums mit den zwei silbernen Kuppeln für die Teleskope sehen, die noch immer für Zeitmessungen und kalendarische Berechnungen eingesetzt wurden. Sie glänzten in der Mittagssonne. Warum hatte die Maschine ausgerechnet die Form eines Dodekaeders? Und warum hießen die Kugelschalen Benzel? Natürlich würden sie verstehen, daß auch Ellie das nicht wußte, erklärten die Reporter. Aber was war ihre persönliche Meinung? Ellie erklärte ihnen, daß bei solchen Problemen eine festgelegte Meinung unangebracht sei, weil keine Beweise für irgend etwas vorlagen. Die Reporter blieben hartnäckig, aber Ellie ließ sich nicht festnageln. Wenn es wirklich gefährlich war, sollte man dann nicht ernstlich überlegen, Roboter anstelle von Menschen zu schicken, wie ein japanischer Experte für künstliche Intelligenz empfohlen hatte? Ob sie irgend etwas ganz Persönliches mit sich nehme? Familienbilder? Einen Mikrocomputer? Oder ein Schweizer Offiziersmesser? Ellie beobachtete, wie zwei Gestalten durch eine Falltür auf dem Dach des Observatoriums auftauchten. Ihre Gesichter waren hinter Visieren verborgen. Sie trugen die blaugrauen, gepolsterten Schutzhemden aus der Zeit des mittelalterlichen
Japan. Drohend schwangen sie hölzerne Stöcke, die länger waren als sie selbst, verbeugten sich voreinander, hielten einen Herzschlag lang inne und schlugen und parierten dann die nächste halbe Stunde. Ellie gab den Reportern jetzt nur noch ihre Standardantworten. Wie hypnotisiert starrte sie auf das Schauspiel vor ihren Augen. Keiner sonst schien es zu bemerken. Die Stöcke mußten sehr schwer sein, weil der zeremonielle Kampf sehr langsam ablief und so aussah, als fände er auf dem Grund des Meeres statt. Ob sie Dr. Lunatscharski und Dr. Sukhavati schon gekannt habe, bevor die BOTSCHAFT kam? Auch Dr. Eda? Und Mr. Xi? Was sie von ihnen halte, von ihren Fähigkeiten? Wie gut sie miteinander auskämen? Wieder wurde Ellie sich voller Verwunderung bewußt, daß sie zu dieser auserwählten Gruppe gehörte. Welchen Eindruck hatte sie von der Qualität der japanischen Maschinenkomponenten? Ob sie etwas über die Begegnung der fünf mit Kaiser Akihito sagen könne? Waren die Gespräche mit den schintoistischen und buddhistischen Priestern Teil der Bemühung der Mitarbeiter des Projekts gewesen, sich eingehend über die bedeutenden Gestalten der Weltreligionen zu informieren, bevor die Maschine startete, oder war es nur eine Geste der Höflichkeit gegenüber Japan als Gastland gewesen? Hielt Ellie es für möglich, daß das Projekt sich als ein Trojanisches Pferd oder eine Weltuntergangsmaschine entpuppte? Ellie versuchte, höflich, kurz und prägnant und auf keinen Fall provozierend zu antworten. Der Pressesprecher des Maschinenprojekts, der sie begleitet hatte, war sichtlich erfreut. Plötzlich war das Interview vorüber. Sie alle wünschten ihr und ihren Kollegen viel Erfolg, sagte der Chefredakteur. Sie rechneten fest damit, daß sie, Ellie, ihnen nach ihrer Rückkehr ein Interview geben würde. Und sie hofften, sie würde auch
danach noch oft als Gast nach Japan kommen. Ihre Gastgeber verbeugten sich lächelnd. Die gewappneten Krieger hatten sich durch die Falltür zurückgezogen. Ellie sah, wie die Beamten ihrer Eskorte sich vor der offenen Tür des Konferenzraumes wachsam nach allen Seiten umschauten. Auf dem Weg nach draußen fragte sie die Reporterin nach den geisterhaften Erscheinungen aus dem mittelalterlichen Japan. »Ach ja, die«, erwiderte sie. »Das sind die Astronomen von der Küstenwache. Sie üben jeden Tag in der Mittagspause Kendo. Man kann die Uhr nach ihnen stellen.« Xi war auf dem Langen Marsch geboren. In der Revolutionszeit hatte er schon als junger Bursche gegen die Kuomintang gekämpft. Er hatte als Nachrichtenoffizier in Korea gedient, bis er schließlich in eine einflußreiche Stellung in der chinesischen Rüstungsindustrie aufgestiegen war. Aber während der Kulturrevolution war er öffentlich gedemütigt und unter Hausarrest gestellt worden. Später hatte man ihn in aller Öffentlichkeit rehabilitiert. Die Kulturrevolution hatte es Xi als Verbrechen angelastet, daß er einige der konfuzianischen Tugenden bewunderte, vor allem eine ganz bestimmte Textstelle aus dem Großen Lernen. Diese Textstelle kannte in früheren Jahrhunderten jeder Chinese, selbst der ungebildete, auswendig. Und auf eben diese Textstelle, hatte Sun Yat-sen gesagt, stütze sich seine eigene revolutionäre und nationale Bewegung: Wollten unsere Vorfahren eine besonders edle Tugend im gesamten Königreich zur Geltung kommen lassen, dann brachten sie zuerst ihr eigenes Fürstentum in Ordnung. Wollten sie ihr Fürstentum in Ordnung bringen, dann klärten sie zuerst die Belange ihrer Familie.
Wollten sie die Belange ihrer Familie klären, dann veredelten sie zuerst ihre eigene Person. Wollten sie ihre Person veredeln, dann reinigten sie zuerst ihre Herzen. Wollten sie ihre Herzen reinigen, dann trachteten sie zuerst danach, in ihren Gedanken aufrichtig zu sein. Wollten sie in ihren Gedanken aufrichtig sein, dann erweiterten sie zuerst ihr Wissen bis zum äußersten. Die Erweiterung ihres Wissens bestand in der Erforschung der Dinge. Deshalb, so glaubte Xi, sei der Erwerb von Wissen entscheidend für das Wohlergehen Chinas. Aber die Rotgardisten waren anderer Meinung. Im Zuge der Kulturrevolution wurde Xi als Arbeiter in ein ärmliches Bauernkollektiv in der Provinz Ningxia nahe der Großen Mauer geschickt. Diese Gegend hatte eine reiche moslemische Tradition. Dort entdeckte er beim Pflügen eines kargen Feldes einen reich verzierten Bronzehelm aus der HanDynastie. Als er wieder in die Führungsspitze aufgenommen worden war, verlagerte er sein Hauptinteresse von den Atomwaffen auf die Archäologie. Die Kulturrevolution hatte versucht, sich gewaltsam von der fünftausendjährigen Tradition der chinesischen Kultur loszusagen. Xis Antwort darauf war, dabei zu helfen, Brücken in die Vergangenheit seines Landes zu bauen. Mit wachsendem Engagement widmete er sich der Ausgrabung der unterirdischen Totenstadt von Xian. Dort wurde dann die großartige Entdeckung der tönernen Armee des Kaisers, nach dem China benannt war, gemacht. Sein offizieller Name lautete Qin Shi Huangdi, aber infolge wunderlicher Transkriptionen kannte man ihn im Westen überall nur als Ch’in. Im dritten Jahrhundert vor Christus hatte Qin das Land geeint, die Große Mauer gebaut und aus Mitgefühl verfügt, daß bei seinem Tod anstelle der Soldaten,
Diener und Adligen seines Hofstaates, die nach alter Tradition bei lebendigem Leib mit ihm begraben worden wären, naturgetreue Nachbildungen aus Terrakotta seinem Grab beigegeben werden sollten. Die tönerne Armee bestand aus 7500 Soldaten, also ungefähr einer Division. Kein Gesicht glich dem anderen. Menschen aus ganz China waren vertreten. Der Kaiser hatte viele verschiedene, sich bekriegende Provinzen zu einer Nation zusammengeschweißt. In einem benachbarten Grab fand man den fast vollkommen erhaltenen Leichnam einer Adeligen mit Namen Tai, die eine untergeordnete Stellung am kaiserlichen Hof innegehabt hatte. Die chinesische Technik der Einbalsamierung war der ägyptischen weit überlegen. Deutlich konnte man noch den strengen Gesichtsausdruck der Toten erkennen, der vielleicht daher rührte, daß sie Jahrzehnte lang ihre Diener traktiert hatte. Qin hatte die Schrift vereinfacht, die Gesetze kodifiziert, Straßen gebaut, die Große Mauer vollendet und das Land geeint. Außerdem hatte er das Tragen von Waffen verboten. Während seine Feinde ihn beschuldigten, er habe Gelehrte niedergemetzelt, die seine Politik kritisierten, und Bücher verbrannt, die potentiell Unruhe stiftende Elemente enthielten, behauptete er, daß er die Korruption ausgerottet und Frieden und Ordnung gestiftet habe. Xi fühlte sich an die Kulturrevolution erinnert. Sein Traum war, diese widerstreitenden Bestrebungen in einer einzigen Person in Einklang zu bringen. Qins Hochmut hatte sich ins Ungeheuerliche gesteigert. Um einen Berg zu bestrafen, der ihn beleidigt hatte, hatte er befohlen, ihn völlig kahlzuschlagen und rot zu streichen, in der Farbe, die verurteilte Verbrecher tragen mußten. Qin war genial und wahnsinnig zugleich. Wäre es, ohne einen Anflug von Wahnsinn, überhaupt möglich gewesen, so viele verschiedene, kriegerische Volksstämme zu
vereinen? Schon der Versuch allein war verrückt, sagte Xi lachend zu Ellie. Mit wachsender Begeisterung hatte Xi die Ausgrabungen in Xian vorangetrieben. Im Laufe der Zeit war er zu der Überzeugung gekommen, daß Kaiser Qin selbst bestens erhalten irgendwo in einer großen Gruft nahe der freigelegten Terracotta-Armee auf ihn wartete. Alten Berichten zufolge sollte in der Nähe ein detailgetreues Modell Chinas aus dem Jahre 210 v. Chr. vergraben sein, das jeden Tempel und jede Pagode bis in die kleinste Einzelheit zeigte. Die Flüsse waren angeblich aus Quecksilber gemacht, auf denen die Miniaturausgabe der kaiserlichen Barkasse immerwährend durch das unterirdische Reich segelte. Als man herausfand, daß die Erde in Xian mit Quecksilber verunreinigt war, steigerte sich Xis Aufregung ins Unermeßliche. Er hatte einen zeitgenössischen Bericht ausgegraben, in dem von einem riesigen Gewölbe die Rede war, das der Kaiser in Auftrag gegeben hatte und das sich über sein Miniaturreich wölben sollte, das wie das wirkliche Reich ›Reich des Himmels‹ hieß. Da sich das geschriebene Chinesisch in den letzten 2200 Jahren kaum verändert hatte, konnte Xi den Bericht ohne die Hilfe eines Sprachwissenschaftlers lesen. Ein Chronist aus der Zeit Kaiser Qins sprach direkt zu Xi. Nächtelang versuchte sich Xi beim Einschlafen die große Milchstraße vorzustellen, die das Himmelsgewölbe in der Grabkammer des großen Kaisers durchschnitt, und die Nacht mit den funkelnden Kometen, die bei seinem Dahinscheiden erschienen waren, um sein Andenken zu ehren. Die Suche nach Qins Grab und seinem Modell des Universums hatte Xi in den letzten Jahren völlig ausgefüllt. Bis jetzt hatte er es noch nicht gefunden, aber seine Bemühungen hatten die Phantasie ganz Chinas gefesselt. So kam es zu folgendem Ausspruch über ihn: »Es gibt eine Milliarde
Menschen in China, aber es gibt nur einen Xi.« In einem Land, das allmählich die Beschränkungen der individuellen Entfaltung lockerte, hielt man seinen Einfluß zweifellos für positiv. Qin war offenkundig von dem Wunsch nach Unsterblichkeit besessen gewesen. Der Mann, der dem volkreichsten Land der Erde seinen Namen gegeben hatte, der Mann, der das größte Bauwerk des Planeten geschaffen hatte, hatte, wie nicht anders zu erwarten, Angst gehabt, vergessen zu werden. Deshalb ließ er noch monumentalere Bauten errichten und die Körper und Gesichter seiner Höflinge für die Nachwelt einbalsamieren oder nachbilden. Er baute sich seine eigene, noch nicht wiedergefundene Grabstätte und ein Modell der Welt und schickte wiederholt Expeditionen zum Östlichen Meer, um nach dem Wasser des Lebens zu suchen. Er beklagte sich jedes Mal bitter über die Kosten, wenn er wieder eine neue Expedition ausschickte. Eine dieser Unternehmungen umfaßte zahlreiche hochseetaugliche Dschunken und 3000 junge Männer und Frauen. Sie waren nie zurückgekehrt. Ihr Schicksal war unbekannt. Das Wasser der Unsterblichkeit war nicht zu finden. Nur fünfzig Jahre später waren in Japan plötzlich der Reisanbau auf überwässerten Feldern und die Eisenverhüttung aufgetaucht – Entwicklungen, die das japanische Wirtschaftssystem tiefgreifend veränderten und eine Klasse adliger Krieger hervorbrachten. Xi behauptete, daß sich in dem japanischen Namen für Japan eindeutig der chinesische Ursprung der japanischen Kultur spiegelte: Das Land der Aufgehenden Sonne. Wo man denn stehen müsse, fragte Xi, damit die Sonne über Japan aufging? Deshalb erinnere auch der Name der Tageszeitung, bei der Ellie gerade zu Besuch gewesen war, an das Leben und die Zeit des großen Kaisers Qin. Ellie bekam den Eindruck, daß Alexander der
Große im Vergleich zu diesem Qin ein kleiner Dorftyrann gewesen sein mußte. Jedenfalls schien es so. Wenn Qin von dem Wunsch nach Unsterblichkeit besessen gewesen war, dann war Xi von Qin besessen. Ellie erzählte Xi von ihrem Abstecher zu Sol Hadden im Erdorbit. Und sie waren sich einig, daß Kaiser Qin, hätte er in den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt, ebenfalls im Orbit residiert hätte. Ellie stellte Xi Hadden per Bildtelephon vor und überließ sie dann ihrem Gespräch. Xi sprach exzellent Englisch, und da er vor kurzem an der Übergabe der britischen Kronkolonie Hongkong an die Chinesische Volksrepublik maßgeblich beteiligt gewesen war, hatte sich sein Akzent fast abgeschliffen. Die beiden unterhielten sich noch immer, als die Methusalem im Westen unterging. Sie mußten das Gespräch über einen Nachrichtensatelliten im geosynchronen Orbit fortsetzen. Sie verstanden sich glänzend. Kurz darauf bat Hadden, man möge die Aktivierung der Maschine so synchronisieren, daß er mit seiner Raumstation in diesem Augenblick darüberstünde. Er wollte, daß Hokkaido genau im Brennpunkt seines Teleskopes lag. »Glauben die Buddhisten an Gott oder nicht?« fragte Ellie, als sie unterwegs waren, um mit dem Klostervorstand zu Abend zu essen. »Sie stehen auf dem Standpunkt«, erwiderte Waygay trocken, »daß ihr Gott so groß ist, daß er gar nicht existieren muß.« Bei ihrer Fahrt durch die Landschaft unterhielten sie sich über Utsumi, den Vorstand des berühmtesten Klosters des ZenBuddhismus in Japan. Vor einigen Jahren hatte er bei den Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag der Zerstörung Hiroshimas eine Rede gehalten, die weltweit Aufmerksamkeit erregt hatte. Utsumi hatte gute Verbindungen zur Welt der Politik. In der regierenden Partei hatte er die Funktion eines
geistlichen Beraters, aber die meiste Zeit verbrachte er mit Meditationsübungen in der Abgeschiedenheit des Klosters. »Sein Vater ist ebenfalls Leiter eines buddhistischen Klosters gewesen«, bemerkte Devi Sukhavati. Ellie zog die Augenbrauen hoch. »Schau nicht so erstaunt. Buddhistische Mönche durften heiraten wie die russisch-orthodoxen Geistlichen auch. Habe ich recht, Waygay?« »Das war vor meiner Zeit«, erwiderte Waygay ein wenig ungehalten. Das Restaurant lag in einem Bambushain und hieß Ungetsu – Verhangener Mond. Und tatsächlich war der Mond am frühen Abendhimmel verhangen. Ihre japanischen Gastgeber hatten es so eingerichtet, daß sie die einzigen Gäste waren. Ellie und ihre Begleiter zogen die Schuhe aus und betraten in Strümpfen ein kleines Speisezimmer, von dem aus man auf den Bambushain blicken konnte. Der Kopf des Leiters des Klosters war kahlgeschoren, er trug ein Gewand in Schwarz und Silber. Er begrüßte sie in perfektem Englisch, und sein Chinesisch war, wie Xi Ellie später erzählte, auch ganz passabel. Die Umgebung war friedlich und die Unterhaltung heiter. Die Gänge der Mahlzeit waren kleine Kunstwerke, eßbare Juwelen. Ellie verstand jetzt, daß die Nouvelle Cuisine an die kulinarische Tradition Japans anknüpfte. Auch wenn es Sitte gewesen wäre, die Speisen mit verbundenen Augen zu sich zu nehmen, wäre sie zufrieden gewesen. Und wenn statt dessen die Delikatessen nur gebracht worden wären, um sie zu bewundern, und nicht zum Essen, wäre sie ebenfalls zufrieden gewesen. Sie zu betrachten und zu essen aber war der Himmel auf Erden. Ellie saß, an der Seite von Lunatscharski, dem Klostervorstand gegenüber. Die anderen fragten immer wieder nach den Namen der
Leckerbissen. Zwischen dem Sushi und den Ginkgonüssen kam das Gespräch wie zufällig auf die Mission der Maschine. »Warum sprechen wir miteinander?« fragte der Klostervorsteher. »Um Informationen auszutauschen«, erwiderte Lunatscharski, der mit den widerspenstigen Stäbchen sichtlich Mühe hatte. »Aber warum wollen wir überhaupt Informationen austauschen?« »Weil wir uns von Informationen ernähren. Informationen sind notwendig, um zu überleben. Ohne Informationen sterben wir.« Lunatscharski war ganz versessen auf eine Ginkgonuß, die bei jedem Versuch, sie mit den Stäbchen zum Mund zu führen, abglitt. Er senkte den Kopf, um den Stäbchen auf halbem Weg entgegenzukommen. »Ich glaube«, fuhr der oberste Mönch fort, »daß wir aus Mitleid und Liebe miteinander sprechen.« Er langte mit den Fingern nach einer Ginkgonuß und steckte sie in den Mund. »Dann glauben Sie also«, fragte Ellie, »daß die Maschine ein Instrument des Mitleids ist? Daß sie keine Gefahr bedeutet?« »Ich kann mit einer Blume sprechen«, entgegnete er anstelle einer Antwort. »Ich kann mit einem Stein sprechen. Sie werden keine Schwierigkeiten haben, diese Wesen – ist das das richtige Wort? – einer anderen Welt zu verstehen.« »Ich bin sofort bereit, zu glauben, daß der Stein zu Ihnen spricht«, sagte Lunatscharski und kaute an seiner Ginkgonuß. Er war einfach dem Beispiel des Mönchs gefolgt. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie mit einem Stein sprechen. Wie können Sie uns davon überzeugen, daß Sie mit einem Stein sprechen können? Die Welt ist voller Irrtümer. Woher wissen Sie denn, daß Sie nicht einer Täuschung erliegen?«
»Aha, der skeptische Wissenschaftler spricht.« Über das Gesicht des Buddhisten huschte ein Lächeln, das Ellie sehr einnehmend fand, ein unschuldiges, fast kindliches Lächeln. »Um mit einem Stein zu sprechen, darf man sich mit nichts anderem beschäftigen. Man darf nicht soviel nachdenken und nicht soviel reden. Wenn ich sage, ich spreche mit einem Stein, dann meine ich damit nicht Worte. Die Christen sagen: ›Am Anfang war das Wort. ‹ Aber ich spreche von einer viel früheren, viel elementareren Verständigung.« »Das mit dem Wort steht nur im Johannes-Evangelium«, bemerkte Ellie. Sie kam sich selbst pedantisch vor, aber da war es ihr schon herausgerutscht. »In den früheren synoptischen Evangelien findet man nichts dazu. Das rührt sicher von der griechischen Philosophie her. Aber was für eine präverbale Kommunikation meinen Sie denn? Sie fragen mit Worten und Sie wollen, daß ich etwas mit Worten beschreibe, was nichts mit Worten zu tun hat. Es gibt eine japanische Erzählung, die ›Der Traum der Ameisen‹ heißt. Sie spielt im Königreich der Ameisen. Es ist eine lange Geschichte. Ich will sie Ihnen jetzt nicht ganz erzählen. Aber die Essenz der Geschichte ist folgende: Um die Sprache der Ameisen zu verstehen, muß man selbst eine Ameise werden.« »Die Sprache der Ameisen ist eigentlich eine chemische Sprache«, sagte Lunatscharski, wobei er den Mönch scharf musterte. »Sie legen Duftspuren, um den Weg zu kennzeichnen, den sie auf der Suche nach Futter eingeschlagen haben. Um die Sprache der Ameisen zu verstehen, brauche ich einen Gaschromatometer oder einen Massenspektrometer. Dazu brauche ich keine Ameise zu werden.« »Vielleicht ist das der einzige Weg, wie Sie eine Ameise werden können«, entgegnete der Mönch und sah dabei von einem zum anderen. »Erklären Sie mir doch, warum die
Menschen die Spuren untersuchen, die die Ameisen hinterlassen.« »Nun«, meinte Ellie, »vermutlich würde ein Entomologe antworten: Um die Ameisen und ihre Gesellschaftsstruktur zu verstehen. Wissenschaftler finden Vergnügen daran, Dinge zu verstehen.« »Das ist nur eine andere Art, zu sagen, daß sie die Ameisen lieben.« Ellie lief ein leichter Schauder über den Rücken. »Aber die Geldgeber der Wissenschaftler sind da anderer Meinung. Sie behaupten, es geschieht, um das Verhalten der Ameisen kontrollieren zu können, um sie aus Häusern zu vertreiben, in die sie ihre Straßen gelegt haben, oder um beispielsweise eine Alternative zu den Pestiziden zu entwickeln. In letzterem könnte man auch eine gewisse Liebe zu den Ameisen vermuten«, sagte Ellie nachdenklich. »Aber es ist auch in unserem eigenen Interesse«, sagte Lunatscharski. »Denn Pestizide sind auch für uns giftig.« »Müßt ihr denn ausgerechnet bei so einem Essen über Pestizide reden?« fuhr Devi Sukhavati dazwischen, die am anderen Tischende saß. »Wir werden den Traum der Ameisen ein anderes Mal weiterträumen«, sagte der Mönch leise zu Ellie, und wieder huschte das unschuldige Lächeln über sein Gesicht. Mit Hilfe meterlanger Schuhlöffel zogen sie sich wieder ihre Schuhe an und gingen zum Wagen, begleitet vom Lächeln und den zeremoniellen Verbeugungen der Bediensteten und der Besitzerin des Restaurants. Ellie und Xi sahen zu, wie der Klostervorsteher mit einigen ihrer japanischen Gastgeber in eine große Limousine stieg. »Ich habe ihn gefragt: Wenn Sie mit einem Stein sprechen können, können Sie dann auch mit einem Toten sprechen?« sagte Xi zu Ellie. »Und was hat er geantwortet?«
»Er sagte, mit den Toten sei es leicht. Schwierigkeiten habe er mit den Lebenden.«
18 Die Weltformel Die wilde See Bei Sado überwölbt sogar Der Strom des Himmels. Matsuo Basho (1644-94)
Vielleicht hatte man sich für die Insel Hokkaido entschieden, weil sie abgeschieden war. Die klimatischen Bedingungen erforderten Konstruktionstechniken, die für japanische Verhältnisse ungewöhnlich waren. Außerdem war hier die Heimat der Ainu, der behaarten Ureinwohner, die noch immer von vielen Japanern verachtet wurden. Die Winter waren hier genauso streng wie in Minnesota oder Wyoming. Hokkaido hatte gewisse organisatorische Nachteile, aber für den Fall einer Katastrophe lag die Insel günstig, weil sie vom japanischen Festland getrennt war. Dennoch war man keineswegs isoliert, seit der einundfünfzig Kilometer lange Tunnel fertiggestellt worden war, der Hokkaido mit der Hauptinsel Honshu verband. Es war der längste Unterwassertunnel der Welt. Hokkaido hatte für die Tests der Bauelemente genügend Sicherheit geboten. Aber gegen den Zusammenbau der gesamten Maschine an diesem Ort hatte man Bedenken erhoben. In der Umgebung – davon legten die Berge rund um die Fabrikanlagen ein beredtes Zeugnis ab – gab es noch viele
aktive Vulkane. Einer der Vulkane wuchs täglich um etwa einen Meter. Selbst die Sowjetunion, deren Insel Sachalin nur dreiundvierzig Kilometer entfernt auf der anderen Seite der LaPerouse-Straße lag, hatte in diesem Punkt Vorbehalte angemeldet. Aber das Risiko blieb letztlich überall das gleiche. Denn allen war klar, daß auch eine Maschine, die auf der Rückseite des Mondes gebaut wurde, die Erde in die Luft jagen konnte, wenn sie in Gang gesetzt wurde. Die Entscheidung für den Bau der Maschine war der ausschlaggebende Punkt, der das Risiko bedeutete. Wo das Ding dann gebaut wurde, war dann bereits eine völlig nebensächliche Frage. Anfang Juli nahm die Maschine wieder konkrete Gestalt an. Amerika war nach wie vor in politische und religiöse Auseinandersetzungen verwickelt. Bei der sowjetischen Maschine hatte man offenbar mit ernsthaften technischen Problemen zu kämpfen. Aber hier in Hokkaido, wo nur eine im Vergleich zu Wyoming bescheidene Anlage zur Verfügung stand, waren die Dübel eingesetzt und das Dodekaeder fertiggestellt worden, obwohl dies nie an die Öffentlichkeit gedrungen war. Die alten Pythagoräer, die das Dodekaeder zuerst entdeckt hatten, hatten seine Existenz geheim gehalten. Für den Verrat des Geheimnisses wurden harte Strafen angedroht. Deshalb war es vielleicht auch nur angemessen, wenn von diesem Dodekaeder von der Größe eines Hauses, das 2600 Jahre später auf der anderen Seite der Erde gebaut wurde, ebenfalls fast niemand wußte. Der japanische Projektleiter hatte allen Mitarbeitern einige Tage Ruhe verordnet. Die nächste größere Stadt war Obihiro, ein schöner Ort am Zusammenfluß des Yubetsu und Tokachi. Einige fuhren in die Berge und rutschten mit ihren Skiern über den letzten Schnee auf dem Asahi. Andere stauten mit einem behelfsmäßigen Steinwall Thermalquellen auf und wärmten
sich am Zerfall der radioaktiven Elemente, die bei Supernovaexplosionen vor Millarden von Jahren entstanden waren. Wieder andere Mitarbeiter des Projekts gingen zu einem Bamba-Rennen, bei dem kräftige Zugpferde schwer beladene Schlitten über parallel verlaufende Ackerstreifen zogen. Um jedoch richtige Abwechslung zu haben, flogen Ellie und die anderen vier Mitglieder der Besatzung im Hubschrauber nach Sapporo, der größten Stadt auf Hokkaido, die weniger als 200 Kilometer entfernt lag. Sie hatten Glück, denn sie kamen gerade rechtzeitig zur Eröffnung des TanabataFestes. Ein persönliches Sicherheitsrisiko bestand nach allgemeiner Einschätzung nicht für die Gruppe der fünf Wissenschaftler, da nicht sie, sondern die Maschine für den Erfolg des Unternehmens entscheidend war. Sie waren keinem Spezialtraining unterzogen worden, wenn man einmal davon absah, daß sie die BOTSCHAFT, die Maschine und die auf Miniaturgröße verkleinerten Instrumente, die sie bei sich tragen würden, genauestens studiert hatten. In einer rational ausgerichteten Welt, dachte Ellie, war der einzelne Mensch leicht zu ersetzen. Obwohl die politischen Schwierigkeiten, fünf Leute auszuwählen, die allen Mitgliedern des Weltkonsortiums zusagten, erheblich gewesen waren. Xi und Waygay hatten noch, wie sie sich ausdrückten, »unerledigte Geschäfte«, die nur bei einigen Gläsern Reiswein aus der Welt geschafft werden konnten. So ließ sich Ellie zusammen mit Devi Sukhavati und Abonneba Eda von ihren japanischen Gastgebern durch die vom Boulevard Odori abzweigenden Nebenstraßen führen. Sie schlenderten an kunstvoll gefertigten Papierschlangen vorbei, an Laternen, Bildern aus Blättern, an Schildkröten, märchenhaften Ungeheuern und dekorativen Darstellungen junger Männer und Frauen in mittelalterlichen Kostümen. Zwischen zwei
Gebäuden war ein großes Segeltuch gespannt, auf das ein Pfau mit erhobener Klaue gemalt war. Ellie schaute Eda an, der ein wallendes, besticktes Leinengewand und eine hohe, steife Kappe trug, und Devi, die schon wieder einen neuen, wunderschönen Seidensari anhatte. Sie fühlte sich großartig in ihrer Begleitung. Die japanische Maschine hatte soweit alle vorgeschriebenen Tests bestanden. Und es hatte sich eine Mannschaft zusammengefunden, die nicht nur repräsentativ – wenn auch unvollkommen – für die gesamte Erdbevölkerung war, sondern auch aus wirklichen Persönlichkeiten bestand, die nicht dem Klischee offizieller Funktionäre entsprachen. Jeder von ihnen war in gewisser Hinsicht ein rebellischer Einzelgänger. Zum Beispiel Eda. Das war also der große Physiker, der Entdecker der sogenannten Weltformel, einer brillanten Theorie, die alle physikalischen Einzelphänomene von der Gravitation bis zu den Quarks einschloß. Diese wissenschaftliche Leistung war nur mit denen Isaac Newtons und Albert Einsteins vergleichbar. Und tatsächlich wurde Eda mit den beiden verglichen. Er war als Moslem in Nigeria geboren. Darin lag an sich nichts Ungewöhnliches, aber er war der Anhänger einer unorthodoxen islamischen Splittergruppe namens Ahmadiyah, die zu den Sufis gehörte. Die Sufis waren für den Islam das, was der Zen für den Buddhismus war, hatte Eda nach dem Abend mit dem buddhistischen Mönch erklärt. Ahmadiyah verkündete »das dschihad des Wortes, nicht des Schwertes«. Trotz seines ruhigen, ja bescheidenen Auftretens war Eda ein fanatischer Gegner der konventionellen moslemischen Idee des dschihad, des Heiligen Krieges. Er setzte sich für einen lebendigen und freien Austausch der Gedanken ein. In diesem Punkt war er für viele konservative Moslems ein Ärgernis. Deshalb hatten auch einige islamische Länder gegen seine Nominierung protestiert. Sie standen damit nicht allein. Ein
schwarzer Nobelpreisträger – der gelegentlich als der klügste Mensch auf der Erde bezeichnet wurde -war einfach zuviel für all jene, die ihren Rassismus nur den neuen sozialen Gepflogenheiten zuliebe verschleiert hatten. Als Eda vor vier Jahren Tyrone Free im Gefängnis besucht hatte, war das Selbstbewußtsein der schwarzen Amerikaner bemerkenswert gestiegen. Er wurde zum neuen Idol der Jugend. Eda brachte die schlimmsten Eigenschaften der Rassisten und die besten Eigenschaften der übrigen Menschen ans Licht. »Die Zeit, die man braucht, um Physik zu betreiben, ist ein Luxus«, sagte er zu Ellie. »Viele Menschen könnten genau dasselbe schaffen wie ich, wenn sie dieselben Möglichkeiten hätten. Aber wenn man die Mülltonnen auf den Straßen nach Eßbarem durchwühlen muß, dann hat man keine Zeit, physikalische Studien zu betreiben. Es ist meine Pflicht, die Bedingungen für die Wissenschaftler in meinem Land zu verbessern.« Als er in Nigeria allmählich zum Nationalhelden wurde, sprach er immer offener über Korruption, über ungerechte Ansprüche und Forderungen, über die Bedeutung der Rechtschaffenheit in den Wissenschaften und allen anderen Bereichen und darüber, wie bedeutend ein Land wie Nigeria sein könnte. Hier lebten genauso viele Menschen wie in den Vereinigten Staaten der zwanziger Jahre. Nigeria sei reich an Bodenschätzen und seine kulturelle Vielfalt sei seine Stärke. Wenn Nigeria seine Probleme lösen könne, so argumentierte er, dann würde es zum leuchtenden Vorbild für den Rest der Welt werden. Wenn er auch sonst Ruhe und Einsamkeit bevorzugte – bei diesem Thema nahm er kein Blatt vor den Mund. Viele nigerianische Männer und Frauen, darunter Moslems, Christen und Animisten, nahmen seine Zukunftsvision sehr ernst. Von Edas vielen bemerkenswerten Charaktereigenschaften war vielleicht seine Bescheidenheit die beeindruckendste.
Selten äußerte er seine eigene Meinung. Seine Antworten auf Fragen waren kurz und prägnant. Nur in seinen Büchern oder, wenn man ihn gut kannte, auch in seinen Reden leuchtete die wahre Tiefe seines Wesens auf. Während alle wild über die BOTSCHAFT, die Maschine und das, was nach ihrer Aktivierung passieren würde, spekulierten, hatte Eda immer nur eine kurze Geschichte parat: In Mozambique, so erzählte man sich, sagten die Affen deshalb nichts, weil sie genau wußten, daß, wenn sie auch nur ein einziges Wort von sich gäben, sofort Menschen kommen und sie zur Arbeit zwingen würden. Es war schon seltsam, in einer so redseligen Crew jemand zu haben, der so schweigsam war wie Eda. Wie viele andere hörte Ellie ihm deshalb besonders aufmerksam zu und achtete selbst auf beiläufig gemachte Bemerkungen. Seine erste, nur teilweise erfolgreiche Version der Weltformel bezeichnete er als »dummen Fehler«. Eda war Mitte dreißig und – darin stimmten Ellie und Devi im stillen überein – ungemein attraktiv. Darüber hinaus war er, wie sie wußten, glücklich verheiratet. Frau und Kinder lebten zur Zeit in Lagos. Ein Bambusgerüst, das man eigens zu diesem Anlaß aufgebaut hatte, war festlich geschmückt. Es bog sich geradezu unter dem Gewicht Tausender von Girlanden in allen Farben. Man sah vornehmlich junge Männer und Frauen, die immer noch mehr bunte Papierkraniche und Wunschzettel zu dem Wald aus Papier hinzufügten. Das Tanabata-Fest mit seinem Preis der Liebe ist einzigartig in Japan. Szenen der im Mittelpunkt stehenden Geschichte waren auf große, in mehrere Felder unterteilte Tafeln gemalt, und auf einer behelfsmäßigen Freilichtbühne wurde sie als Theaterstück aufgeführt: Zwei Sterne hatten sich ineinander verliebt, waren aber unglücklicherweise durch die Milchstraße getrennt. Nur einmal im Jahr, am siebten Tag des siebten Mondmonats, war es den
Liebenden vergönnt, sich zu treffen – vorausgesetzt, es regnete nicht. Ellie schaute in das klare Blau des Hochgebirgshimmels über Sapporo und wünschte dem Liebespaar alles Gute. Der junge männliche Stern war der Legende nach eine japanische Art von Cowboy und der A7 Zwergstern Altair. Die junge Frau war Weberin und wurde durch die Wega dargestellt. Es berührte Ellie seltsam, daß die Wega von so zentraler Bedeutung für ein japanisches Fest war, zumal der Start der Maschine in wenigen Monaten versucht werden sollte. Aber wenn man einen Gang durch die verschiedenen Kulturen machte, würde man wahrscheinlich über jeden hellen Stern am Firmament eine interessante Geschichte finden. Diese Geschichte war chinesichen Ursprungs. Xi hatte sie erwähnt, als Ellie ihn Vorjahren auf der ersten Konferenz des Weltkonsortiums in Paris gehört hatte. In den meisten großen Städten war das Tanabata-Fest im Aussterben begriffen. Von den Eltern arrangierte Hochzeiten waren nicht mehr die Regel, deshalb fand der Schmerz der voneinander getrennten Liebenden nicht mehr soviel Resonanz wie früher. An einigen Orten wie Sapporo und Sendai freilich wurde das Fest von Jahr zu Jahr beliebter. In Sapporo war es von besonderer Aktualität, da hier noch immer große Teile der Bevölkerung Heiraten zwischen Japanern und Ainu ablehnten. Viele private Detektivbüros waren nur damit beschäftigt, im Auftrag der Eltern die Verwandten und Vorfahren der zukünftigen Schwiegersöhne oder -töchter unter die Lupe zu nehmen. Die Abstammung von Ainus galt noch immer als Grund, jemanden grundsätzlich abzulehnen. Devi, die sich an ihr eigenes Schicksal erinnert fühlte, kritisierte das besonders heftig. Eda hatte auch von ähnlichen Geschichten gehört, aber er schwieg. Sendungen des japanischen Fernsehens über das Tanabata-Fest in Sendai auf Honshu waren jetzt besonders populär bei Leuten, die selten die Möglichkeit hatten, Altair
oder Wega in Wirklichkeit zu sehen. Ellie fragte sich, ob die Wegianer ewig dieselbe BOTSCHAFT zur Erde senden würden. Wohl zum Teil, weil die Maschine in Japan zusammengebaut wurde, schenkten ihr die Fernsehkommentatoren im Zusammenhang mit dem diesjährigen Tanabata-Fest viel Beachtung. Aber man hatte die Fünf, wie sie jetzt manchmal genannt wurden, nicht eingeladen, im japanischen Fernsehen aufzutreten. Und so war ihre Anwesenheit in Sapporo nicht allgemein bekannt. Trotzdem wurden Eda, Devi und Ellie immer wieder erkannt, so daß sie auf ihrem Weg zurück zum Boulevard Odori von vereinzeltem, höflichem Applaus der Passanten begleitet wurden. Viele verbeugten sich. In der Nachmittagssonne döste ein rheumatisch dreinblickender, alter Hund, der kraftlos mit dem Schwanz wedelte, als sie näher kamen. Die japanischen Berichterstatter sprachen vom Machindo, dem »Weg der Maschine« – es handelte sich um die immer populärer werdende Sichtweise, die den Planeten Erde und die Menschheit als ein Ganzes sah, für das es ein gemeinsames Interesse an der Zukunft gab. Etwas Ähnliches war von einigen, aber bei weitem nicht allen Religionen verkündet worden. Vertreter dieser Religionen wehrten sich verständlicherweise dagegen, die Ursache dieser Erkenntnis in einer außerirdischen Maschine zu sehen. Wenn die neue Sicht der Stellung des Menschen im Universum eine religiöse Wandlung bedeutete, überlegte Ellie, dann würde bald eine theologische Revolution die Welt erschüttern. Sogar die amerikanischen und europäischen Chiliasten waren vom Machindo beeinflußt worden. Aber wenn die Maschine nicht funktionierte und die BOTSCHAFT verlorenging, wie lange würde die neue Erkenntnis dann Bestand haben? Selbst wenn Fehler in der Interpretation oder der Konstruktion gemacht worden waren und selbst wenn man nichts weiter von den
Bewohnern der Wega erfahren würde, so hatte die BOTSCHAFT doch zweifelsfrei bewiesen, daß es noch andere Lebewesen im All gab, die weiter entwickelt waren als die Menschen. Das allein sollte genügen, hoffte Ellie, die Erde wenigstens für eine Weile zu einigen. Sie fragte Eda, ob er jemals eine Art religiöses Erweckungserlebnis gehabt hatte. »Ja«, antwortete er. »Wann war das?« Manchmal mußte man ihn zum Sprechen ermuntern. »Als ich zum ersten Mal auf Euklid gestoßen bin. Und als ich zum ersten Mal die Newtonsche Gravitationslehre, die Maxwellschen Gleichungen und die Allgemeine Relativitätstheorie verstand. Aber auch als ich an meiner Weltformel arbeitete. Ich hatte das große Glück, viele solcher religiösen Erfahrungen machen zu können.« »Nein, du weißt, was ich meine. Ich meine religiöse Erfahrungen außerhalb der Wissenschaft.« »Niemals«, erwiderte er, ohne zu zögern. »Solche Erfahrungen habe ich ausschließlich in der Wissenschaft gemacht.« Er erzählte ihr von der Religion, mit der er aufgewachsen war. Er selbst fühlte sich nicht an alle ihre Glaubenssätze gebunden, aber trotzdem, so meinte er, fühle er sich in ihr gut aufgehoben. Er war überzeugt, daß sie viel Gutes bewirkte. Es war eine vergleichsweise junge Glaubensrichtung. Sie war zur selben Zeit wie die Christliche Wissenschaft und die Zeugen Jehovas entstanden und von Mirza Ghulam Ahmad im Pandschab gegründet worden. Devi kannte die Ahmadiyah offensichtlich als eine proselytische Sekte. Sie hatte vor allem in Westafrika viele Anhänger gefunden. Der Ursprung der Religion lag in eschatologischen Lehren. Ahmad hatte von sich behauptet, der Mahdi zu sein, die Gestalt also, auf dessen Erscheinen am Ende der Welt die Moslems warteten. Er hatte außerdem behauptet, der
wiedergekommene Christus, eine Inkarnation von Krishna und ein »Buruz«, eine Wiedererscheinung Mohammeds, zu sein. Der christliche Chiliasmus hatte die Ahmadiyah inzwischen auch infiziert, und die Wiederkehr des Mahdi stand nach Ansicht einiger Gläubiger kurz bevor. Das Jahr 2008, in dem sich zum hundertsten Mal der Tod Ahmads jährte, war nun das bevorzugte Datum für seine letzte Rückkehr. Der messianische Eifer, der auf der ganzen Welt aufgeflammt war, schien immer weiter um sich zu greifen. Ellie war über den Hang der menschlichen Rasse zum Irrationalismus zutiefst beunruhigt. »An einem Fest der Liebe«, sagte Devi, »solltest du nicht so pessimistisch sein.« In Sapporo hatte es tagelang geschneit. Der alte Brauch der Gegend, aus Schnee und Eis Tier- und Märchenfiguren zu modellieren, wurde wiederbelebt. Unter anderem war ein riesiges, sorgfältig geformtes Dodekaeder entstanden, das wie eine Ikone regelmäßig in den Abendnachrichten gezeigt wurde. Nach einigen für die Jahreszeit unerwartet warmen Tagen konnte man beobachten, wie die Eiskünstler versuchten, die Schäden an der in sich zusammensinkenden Maschine zu reparieren. Immer häufiger wurde jetzt die Furcht geäußert, daß die Aktivierung der Maschine auf die eine oder andere Art eine weltweite Katastrophe auslösen könnte. Die Leitung des Projekts antwortete darauf mit Sicherheitserklärungen für die Öffentlichkeit und die verschiedenen Regierungen. Außerdem wurde bestimmt, daß der Zeitpunkt der Aktivierung geheimgehalten werden sollte. Einige Wissenschaftler schlugen den 17. November vor. Für diesen Abend war der spektakulärste Meteoritenregen des Jahrhunderts vorausgesagt worden. Ein verheißungsvolles Zeichen, meinte man. Valerian hielt dem allerdings entgegen, daß die Maschine, wenn sie
genau zu diesem Zeitpunkt von der Erde abheben würde, durch eine Wolke von Kometentrümmern fliegen mußte, was eine zusätzliche und unnötige Gefahr bedeutete. Aus diesem Grund wurde der Start der Maschine um einige Wochen auf das Ende des letzten Monats des Jahres 1999 verschoben. Wenn auch dieses Datum nicht genau die Wende zum dritten Jahrtausend markierte, sondern ein Jahr davor lag, so waren doch verschwenderische Festlichkeiten von Gruppen und Initiativen geplant, die sich um kalendarische Konventionen nicht scherten oder einfach in zwei aufeinanderfolgenden Dezembermonaten das kommende Jahrtausend feiern wollten. Obwohl die Außerirdischen nicht wissen konnten, wieviel jedes einzelne Besatzungsmitglied wiegen würde, gaben sie das Gewicht eines jeden Maschinenteils wie auch das zugelassene Gesamtgewicht ganz genau an. Das ließ nur wenig Spielraum für Ausrüstungsgegenstände, die auf der Erde entworfen worden waren. Dieser Umstand hatte einige Jahre zuvor zu der Forderung nach einem reinen Frauenteam geführt, weil dies den Anteil an irdischen Ausrüstungsgegenständen hätte erhöhen können. Das Ansinnen war jedoch als indiskutabel zurückgewiesen worden. Platz für Raumanzüge gab es nicht. Sie würden sich darauf verlassen müssen, daß die Wegianer sich der menschlichen Lust am Einatmen von Sauerstoff erinnerten. Angesichts des fehlenden persönlichen Gepäcks, der kulturellen Unterschiede und des unbekannten Ziels der Reise war klar, daß die Mission ein großes Risiko bedeutete. Die Weltpresse diskutierte es ständig. Ellie und ihre Gefährten sprachen dagegen nie davon. Man hatte der Besatzung verschiedene Miniaturkameras, -spektrometer und -echtzeitrechner aufgedrängt und obendrein noch eine kleine Bibliothek auf Mikrofilm. Aber es gab keine Schlaf-, Koch- oder Toiletteneinrichtungen an Bord der Maschine. Sie nahmen nur ein absolutes Minimum an Proviant
mit. Devi hatte eine kleine Reiseapotheke dabei. Ellie selbst wollte nur eine Zahnbürste und eine zweite Garnitur Unterwäsche mitnehmen. Wenn sie mich in einem Sessel zur Wega befördern, dachte sie, dann werden sie wohl auch in der Lage sein, für die entsprechenden anderen Annehmlichkeiten zu sorgen. Wenn sie eine Kamera brauchen sollte, erklärte sie den Projektleitern, dann werde sie einfach die Wegianer um eine bitten. Eine Gruppe von Leuten war offenbar ernsthaft der Ansicht, daß sie nackt auf Reisen gehen sollten. Da in der BOTSCHAFT von Kleidung nie die Rede gewesen sei, solle man auch keine mitnehmen, weil sonst vielleicht die Maschine nicht richtig funktionierte. Ellie und Devi waren wie viele andere darüber belustigt und antworteten auf solche Argumente, daß es ja auch kein Verbot des Tragens von Kleidern gebe, schließlich seien Kleider als eine verbreitete menschliche Sitte in der Sendung über die Olympischen Spiele deutlich geworden. Die Wegianer wüßten, daß die Menschen Kleider trugen, protestierten Xi und Waygay. Die einzige Beschränkung beträfe das Gesamtgewicht. Sollten sie sich vielleicht auch noch die Zähne ziehen lassen und ihre Brillen zurücklassen? In der Presse und bei den Technikern und der Besatzung selber wurde diese Debatte mit Humor kommentiert. »Und wenn wir schon am Diskutieren sind«, sagte Lunatscharski, »die BOTSCHAFT legt nicht einmal fest, ob nur Menschen die Reise antreten können. Vielleicht wären Schimpansen ja genauso akzeptabel.« Auch nur ein einziges, zweidimensionales Photo von einer außerirdischen Maschine wäre von unschätzbarem Wert, bekam Ellie zu hören. Und sie solle sich vorstellen, was ein Bild von den außerirdischen Wesen selbst bedeuten würde. Ob sie sich das bitte noch einmal durch den Kopf gehen lassen und
vielleicht doch eine Kamera mitnehmen wolle? Der Heer, der sich mit einer großen amerikanischen Delegation auf Hokkaido aufhielt, mahnte dazu, mit größerem Ernst bei der Sache zu sein. Es stünde zuviel auf dem Spiel für – aber hier brachte sie ihn mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen. Sie wußte genau, was er hatte sagen wollen: – für solche Kindereien. Und dann tat er auch noch so, als sei er derjenige von ihnen beiden, der verletzt worden sei. Ellie klagte Devi ihr Leid, die aber nicht eindeutig Partei für sie ergriff. Der Heer, sagte sie, sei doch so »süß«. Schließlich willigte Ellie ein, eine ultraverkleinerte Videokamera mitzunehmen. In das Gepäckverzeichnis, das der Projektleitung vorgelegt werden mußte, schrieb sie in die Rubrik »Persönliche Gegenstände« außerdem: »Palmwedel, 0,811 kg«. Der Heer wurde zu ihr geschickt, um sie zur Vernunft zu bringen. »Du weißt, daß es eine großartige Infrarotkamera gibt, die nur 750 Gramm wiegt und sehr leicht mitzunehmen ist. Warum mußt du statt dessen ausgerechnet einen Zweig von einem Baum mitnehmen?« »Einen Wedel. Es ist ein Palmwedel. Ich weiß, daß du in New York aufgewachsen bist. Aber du mußt doch wissen, was ein Palmwedel ist. Hast du in der Schule nicht Ivanhoe gelesen? Zur Zeit der Kreuzzüge nahmen die Pilger, die die lange Reise ins Heilige Land gemacht hatten, einen Palmwedel mit nach Hause, um zu beweisen, daß sie wirklich dort gewesen waren. Er gibt mir Zuversicht. Es kümmert mich wenig, wie fortgeschritten die Wegianer sind. Die Erde ist mein Heiliges Land. Ich bringe ihnen einen Palmwedel mit, um ihnen zu zeigen, woher ich komme.« Der Heer schüttelte nur den Kopf. Aber als sie Waygay ihre Gründe erläuterte, sagte er: »Das verstehe ich sehr gut.« Ellie erinnerte sich an Waygays Sorgen und die Geschichte, die er ihr in Paris von der Kutsche erzählt hatte, die man in ein ärmliches Dorf schickte. Aber das war nicht ihre Angst. Der
Palmwedel erfüllte einen anderen Zweck, wie ihr plötzlich bewußt wurde. Sie brauchte etwas, das sie an die Erde erinnerte. Sie hatte Angst, sie könnte in Versuchung kommen, dort zu bleiben. Einen Tag bevor die Maschine in Gang gesetzt werden sollte, erhielt sie ein kleines Päckchen, das persönlich in ihrer Wohnung in Wyoming abgegeben und dann per Eilboten nach Japan weitergeschickt worden war. Der Absender fehlte, und auch innen fand sich weder ein Brief noch sonst ein schriftlicher Vermerk. Das Päckchen enthielt ein goldenes Medaillon an einem Kettchen. Man konnte es offensichtlich auch als Pendel benutzen. Auf beiden Seiten war klein, aber lesbar eine Inschrift eingraviert. Auf der einen Seite stand: Hera, die strahlende Herrscherin, Angetan mit güldenen Gewändern, Gebot über den vieläugigen Argus, Dessen forschende Blicke Unstet durch die Welt jagen. Auf der Rückseite las sie: Dies ist die Antwort der Verteidiger Spartas an den Befehlshaber des römisches Heeres: »Wenn du ein Gott bist, dann wirst du nicht die bekämpfen, die dir nie ein Leid zugefügt haben. Wenn du aber ein Mensch bist, rücke vor – und du wirst auf Männer treffen, die dir gleich sind.« Und auf Frauen. Ellie wußte, wer ihr den Anhänger geschickt hatte.
Am nächsten Tag, dem Tag, an dem die Maschine gestartet werden sollte, machte man unter den leitenden Mitarbeitern eine Meinungsumfrage: Was würde geschehen, wenn man die Maschine aktivierte? Die meisten gingen davon aus, daß die Maschine einfach nicht funktionierte. Einige wenige der Befragten glaubten, daß die Besatzung sich in kürzester Zeit auf der Wega wiederfinden werde, ungeachtet der Relativitätstheorie. Andere vermuteten, daß die Maschine ein Fahrzeug zur Erforschung des Sonnensystems war; oder der teuerste in die Tat umgesetzte Witz der Geschichte; ein fliegendes Klassenzimmer; eine Zeitmaschine oder gar ein galaktisches Telephonhäuschen. Ein Wissenschaftler schrieb: »Wenn die fünf Mitglieder der Besatzung erst einmal in den Sesseln sitzen, werden sie die Gestalt von häßlichen kleinen Wesen mit grünen Schuppen und spitzen Zähnen annehmen.« Diese Antwort kam von allen Antworten der Geschichte mit dem Trojanischen Pferd am nächsten. Ein Wissenschaftler schließlich schrieb nur: »Weltuntergangsmaschine«. Es gab eine Feier. Reden wurden gehalten und Snacks und Drinks gereicht. Leute umarmten sich. Einige weinten sogar. Nur wenige zeigten offen ihre Sorgen. Aber man konnte spüren, daß die Begeisterung grenzenlos sein würde, wenn bei der Aktivierung überhaupt etwas passierte. Aus vielen Gesichtern konnte man erste Anzeichen einer Hochstimmung ablesen. Ellie schaffte es sogar, im Pflegeheim anzurufen und ihrer Mutter auf Wiedersehen zu sagen. Sie sprach die Worte in den Telephonhörer auf Hokkaido, und in Wisconsin wurden sie exakt wiedergegeben. Eine Antwort bekam sie nicht. Die Pflegerin erklärte ihr, daß ihre Mutter die durch den Schlaganfall gelähmte Körperseite inzwischen wieder etwas bewegen könne. Vielleicht werde sie schon bald in der Lage
sein, ein paar Worte zu sagen. Als Ellie den Hörer auflegte, fühlte sie sich beinahe erleichtert. Die japanischen Techniker trugen hachimaki. Das waren Stoffbänder, die man um den Kopf band. Traditionsgemäß trug man sie bei der Vorbereitung auf geistige, körperliche oder religiöse Anstrengungen oder kämpferische Auseinandersetzungen. Auf das Stirnband war eine Weltkarte aufgedruckt. Kein Staat nahm hier eine Sonderstellung ein. Es gab keine großen nationalen Einsatzbesprechungen. Soweit Ellie wußte, fühlte sich auch niemand zu patriotischer Propaganda gedrängt. Die Staatsoberhäupter sandten lediglich kurze Grußadressen auf Video. Besonders gefielen Ellie die Worte der Präsidentin ihres Landes: »Dies ist weder eine letzte Instruktion noch ein Abschiedsgruß. Ich sage nur: ›Auf bald!‹ Jeder von euch unternimmt diese Reise im Auftrag einer Milliarde Menschen. Ihr vertretet die Völker des Planeten Erde. Wo immer ihr heute hinreisen mögt – seht euch alles stellvertretend für uns genau an. Ich meine dies nicht nur in bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern ganz allgemein: Versucht, soviel wie möglich zu erfahren. Ihr vertretet die gesamte menschliche Spezies in ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft. Was auch immer geschieht – euch ist ein Platz in der Geschichte der Menschheit gewiß. Ihr seid die Helden unseres Planeten. Sprecht in unser aller Namen. Handelt besonnen. Und… kommt zurück.« Einige Stunden später bestiegen sie zum ersten Mal die Maschine – einer nach dem anderen kroch durch die schmale Luftschleuse. Die schwache, indirekte Raumbeleuchtung ging an. Selbst nachdem die fertige Maschine alle vorgeschriebenen Tests bestanden hatte, hatte man sich nicht getraut, die Sitze schon vorher einmal auszuprobieren. Einige Projektmitarbeiter fürchteten, daß die bloße Berührung der Sitze die Maschine in Gang setzen
könnte, selbst dann, wenn die Benzel noch völlig stillstanden. Aber hier saßen sie nun, und nichts Außergewöhnliches hatte sich bisher ereignet. Zum ersten Mal durfte Ellie es sich in dem körpergerecht geformten und gepolsterten Kunststoffsessel bequem machen. Sie tat es vorsichtig, um nichts zu riskieren. Sie hätte sich Chintzbezüge gewünscht. Chintz hätte großartig zu den Sesseln gepaßt. Aber sogar das war, wie sie feststellen mußte, eine Frage des Nationalstolzes. Man hatte Kunststoff moderner, wissenschaftlicher und seriöser gefunden. Da alle Waygays unbekümmerte Rauchgewohnheiten kannten, hatte man beschlossen, keine Zigaretten an Bord der Maschine zuzulassen. Lunatscharski hatte daraufhin ununterbrochen in zehn verschiedenen Sprachen geflucht. Nun bestieg er, nachdem er eine letzte Lucky Strike inhaliert hatte, als letzter die Maschine. Er schnaufte ein wenig, als er sich neben Ellie setzte. In den Plänen der BOTSCHAFT waren keine Sicherheitsgurte vorgesehen, und deshalb waren auch keine in die Maschine eingebaut worden. Einige Ingenieure hatten es für Wahnsinn gehalten, sie wegzulassen. Die Maschine würde ganz sicher funktionieren und sie irgendwohin bringen, schoß es Ellie durch den Kopf. Sie war ein Transportmittel, die Öffnung zu einem anderen Ort… oder in eine andere Zeit. Es war wie in einem durch die Nacht rumpelnden und pfeifenden Güterzug. Wenn man eingestiegen war, trugen die Züge einen aus den miefigen Provinznestern der Kindheit in die großen, wunderbaren Städte aus Edelsteinen. Das bedeutete neue Entdeckungen und zugleich Flucht und Ende der Einsamkeit. Jede organisatorische Verzögerung beim Bau der Maschine und jeder Streit über die richtige Interpretation nebensächlicher Anweisungen der BOTSCHAFT hatte Ellie immer wieder an den Rand der
Verzweiflung getrieben. Was sie suchte, war nicht der Ruhm. Jedenfalls nicht in erster Linie. Sie erhoffte sich Befreiung. Es ging ihr wie jemandem, der drogenabhängig war. In ihrer Phantasie war sie eine Bäuerin aus den Bergen, die mit offenem Mund vor dem Ischtar-Tor des antiken Babylon stand, dann wieder Dorothy, die zum ersten Mal die Zwiebeltürme von Emerald City im Lande Oz sah, oder ein kleiner Junge aus dem hintersten Brooklyn, der sich unversehens in die Halle der Nationen der Weltausstellung von 1939 versetzt fand, oder Pocahontas, die die Themse hinaufsegelte und vor ihrem Blick London von einem Ende des Horizonts bis zum anderen ausgebreitet sah. Ihr Herz klopfte in freudiger Erwartung. Sie würde, darin war sie sich ganz sicher, entdecken, was außerhalb der Erde möglich war, zu welchen Leistungen andere Lebewesen fähig waren. Diese Lebewesen waren vermutlich schon zu anderen Sternen gereist, als die Vorfahren der Menschen sich noch im Dämmerlicht des Urwalds von Ast zu Ast gehangelt hatten. Drumlin und viele andere Menschen, die Ellie im Laufe der Jahre kennengelernt hatte, hatten sie eine unverbesserliche Träumerin genannt. Und auch jetzt fragte sie sich wieder, warum so viele Menschen das für eine schlechte Eigenschaft hielten. Ihr Hang zum Träumen war eine treibende Kraft und Quelle der Freude in ihrem Leben gewesen. Sie liebte Märchen, und jetzt war sie unterwegs zum großen und schrecklichen Zauberer von Oz. Über Funk kam ein Lagebericht. Soweit es sich mit den außerhalb der Maschine aufgestellten Instrumenten ermitteln ließ, gab es bisher offenbar keine Fehlfunktionen. Das Hauptaugenmerk lag jetzt auf der Evakuierung des Raumes zwischen den Benzein. Ein außerordentlich leistungsfähiges System pumpte die Luft heraus, um das höchste je auf Erden
erreichte Vakuum zu erzeugen. Ellie überprüfte zweimal den Stauraum für ihre winzige Videokamera und strich über den Palmwedel. An der Außenwand des Dodekaeders waren starke Scheinwerfer eingeschaltet worden. Zwei der Kugelschalen hatten die in der BOTSCHAFT beschriebene kritische Umdrehungsgeschwindigkeit schon erreicht. Sie waren für die außenstehenden Beobachter nur noch ein schemenhafter Fleck. Der dritte Benzel würde in einer Minute ebenfalls soweit sein. Eine starke elektrische Ladung baute sich auf. Wenn alle drei Kugelschalen, die sich um rechtwinklig zueinander stehende Achsen drehten, auf vollen Touren sein würden, dann war die Maschine in Betrieb. So jedenfalls hatte es in der BOTSCHAFT gestanden. Auf Xis Gesicht war wilde Entschlossenheit zu lesen. Lunatscharski strahlte bedächtige Ruhe aus, während Devis Augen weit geöffnet waren. Eda schien ruhig und konzentriert. Devi begegnete Ellies Blick und lächelte. Sie wünschte, sie hätte ein Kind gehabt. Es war ihr letzter Gedanke, bevor die Wände anfingen zu flimmern und durchsichtig zu werden. Dann war es, als ob die Erde sich öffnete und sie verschluckte.
Teil III Die Galaxis Und ich wandere über ein weites Hochland und weiß, daß da Hoffnung ist für alle Wesen, die Du aus Staub geformt hast, mit ewigen Dingen zu verkehren. Aus den Schriftrollen von Qumran
19 Nackte Singularität … zum Himmelreich hinan in einem Sprunge dann. Ralph Waldo Emerson Merlin, Gedichte (1847)
Es ist nicht unmöglich, daß einem unendlich überlegenen Wesen das ganze Universum als eine Ebene erscheint, auf der die Entfernung zwischen zwei Planeten den Poren eines Sandkorns entspricht und der Abstand von System zu System nicht größer ist als der Zwischenraum zweier nebeneinanderliegender Sandkörner. Samuel Taylor Coleridge Omniania
Sie stürzten. Die fünfeckigen Flächen des Dodekaeders waren durchsichtig geworden. Ebenso das Dach und der Boden. Über und unter sich konnte Ellie das Filigran aus kohlenstoffgebundenem Silizium mit den darin eingelassenen Dübeln aus Erbium erkennen, die sich zu bewegen schienen. Alle drei Benzel waren verschwunden. Das Dodekaeder neigte sich nach vorn und raste durch einen langen, dunklen Tunnel, der eben breit genug war, um es hindurchzulassen. Die
Beschleunigung schien ungefähr bei einem g zu liegen. Das hatte zur Folge, daß Ellie, die mit dem Gesicht nach vorn saß, rückwärts in ihren Sessel gedrückt wurde, während Devi auf dem Platz ihr gegenüber in der Taille leicht nach vorn geknickt dasaß. Vielleicht hätten sie doch Sicherheitsgurte einbauen sollen. Fast automatisch drängte sich der Gedanke auf, sie hätten die Erdkruste durchstoßen und würden sich jetzt auf den Kern aus geschmolzenem Eisen zubewegen. Oder vielleicht flogen sie auch geradewegs in die… Ellie versuchte sich vorzustellen, dieses unbegreifliche Beförderungsmittel sei die Fähre über den Styx. Die Tunnelwände hatten eine Struktur, an der sie ihre Geschwindigkeit ermessen konnte. Sie trugen ein Muster aus unregelmäßigen, abgerundeten Flecken ohne genau bestimmbare Form. Das Aussehen der Wände war nicht bemerkenswert, wohl aber deren Eigenschaften. Schon wenige hundert Kilometer unter der Erdoberfläche hätte das Gestein rotglühend sein müssen. Dafür gab es jedoch nicht das kleinste Anzeichen. Keine Unterteufel regelten den Verkehr. Hin und wieder streifte eine vorstehende Ecke des Dodekaeders die Wand. Dadurch wurde ein unbekanntes Material in Flocken abgekratzt. Dem Dodekaeder selbst schien das nicht zu schaden. Schon bald flog eine ganze Wolke feiner Teilchen hinter ihm her. Jedesmal, wenn das Dodekaeder die Wand berührte, konnte Ellie eine Schwingung spüren, so als ob etwas Weiches nachgäbe, um den Aufprall zu mildern. Das schwache, gelbe Licht war diffus und gleichmäßig. Gelegentlich verlief der Tunnel in einer sanften Biegung. Dann folgte das Dodekaeder der Kurvenführung gehorsam. So weit sie sehen konnte, kam ihnen nichts entgegen. Bei dieser Geschwindigkeit hätte sogar der Zusammenstoß mit einem Spatzen zu einer verheerenden Explosion geführt. Und wenn
das nun ein endloser Sturz in einen bodenlosen Schacht war? Sie konnte die Furcht geradezu körperlich in der Magengrube spüren. Sie versuchte, an nichts zu denken. Schwarzes Loch, dachte sie. Schwarzes Loch. Ich falle durch den Ereignishorizont eines Schwarzen Loches in die gefürchtete Singularität. Oder vielleicht ist das gar kein Schwarzes Loch, und ich falle in eine nackte Singularität. So nannten es die Physiker, nackte Singularität. In der Nähe einer Singularität konnte die Kausalität vertauscht sein, Wirkungen konnten vor ihren Ursachen eintreten, die Zeit konnte rückwärts vergehen, und ein Überleben war unwahrscheinlich, ganz zu schweigen von einer Erinnerung an das Erlebte. Im Fall eines rotierenden Schwarzen Loches, kramte sie aus ihrer Erinnerung an Jahre zuvor Gelerntes hervor, galt es, nicht eine punkt-, sondern eine ringförmige Singularität zu vermeiden, oder sogar etwas noch Komplexeres. Schwarze Löcher waren garstig. Ihre von Gezeiten abhängige Schwerkraft war so stark, daß jeder, der unvorsichtig genug war hineinzufallen, zu einem langen, dünnen Faden gedehnt wurde. Zusätzlich wurde man von der Seite her zerdrückt. Glücklicherweise gab es dafür gegenwärtig keinerlei Anzeichen. Durch die grauen, durchsichtigen Flächen, zu denen Decke und Boden geworden waren, konnte sie einen Strudel von Aktivität und Bewegung sehen. Die Matrix aus kohlenstoffgebundenem Silizium fiel an einigen Stellen in sich zusammen und öffnete sich an anderen. Die darin eingelassenen Dübel aus Erbium ruckten und drehten sich. Aber im Innern des Dodekaeders – Ellie selbst und ihre Begleiter eingeschlossen – sah alles ganz gewöhnlich aus. Gut, vielleicht waren sie ein wenig aufgeregt. Aber noch waren sie keine langen, dünnen Fäden. Sie wußte, daß das sinnlose Grübeleien waren. Die Physik der Schwarzen Löcher war nicht ihr Gebiet. Aber trotzdem konnte sie nicht verstehen, wie das hier überhaupt etwas mit Schwarzen Löchern zu tun haben
konnte. Schwarze Löcher waren entweder primordial – sie hatten sich bei der Entstehung des Universums gebildet – oder sie waren zu einem späteren Zeitpunkt entstanden, wenn ein Stern in sich zusammenfiel, dessen Masse größer als die der Sonne war. Im letzteren Fall war die Schwerkraft des Sterns so stark, daß -von einzelnen Photonen abgesehen, die den Stern aufgrund des Quanteneffekts verlassen konnten – nicht einmal Licht von ihm abstrahlen konnte, obwohl sein Gravitationsfeld bestehen blieb. Daher »schwarz« und daher »Loch«. Aber sie hatten keinen Stern zum Kollabieren gebracht, und Ellie konnte sich nicht vorstellen, daß sie ein primordiales Schwarzes Loch erwischt hatten. Trotzdem, niemand wußte, wo das nächste primordiale Schwarze Loch versteckt sein mochte. Sie hatten nur die Maschine gebaut und die Benzel aufgedreht. Ellie warf einen Blick zu Eda hinüber, der auf einem kleinen Computer etwas ausrechnete. Durch die Resonanz in ihren Knochen konnte sie jedes Mal, wenn das Dodekaeder die Wand streifte, ein dumpfes Dröhnen gleichzeitig spüren und hören. Sie erhob die Stimme, damit er sie hörte. »Verstehst du, was hier vorgeht?« »Überhaupt nicht«, schrie er zurück, »Ich kann fast schon beweisen, daß das, was wir hier erleben, gar nicht sein kann. Kennst du die Boyer-Lindquist-Koordinaten?« »Leider nein.« »Ich erkläre sie dir später.« Sie war froh darüber, daß er offensichtlich glaubte, es würde ein »Später« geben. Ellie spürte die Verzögerung, bevor sie sie sehen konnte. Es war, als ob sie auf der Achterbahn die Schiene nach unten gerast wären, die Talsohle erreicht hätten und jetzt langsam nach oben stiegen. Unmittelbar bevor die Verzögerung einsetzte, war der Tunnel in einer komplexen Abfolge von plötzlichen Kehren und Windungen verlaufen. Es gab keine
wahrnehmbare Veränderung in der Farbe oder Helligkeit des sie umgebenden Lichts. Sie nahm die Kamera zur Hand, stellte das Teleobjektiv ein und blickte so weit nach vorn, wie es ihr möglich war. Sie konnte nur bis zur nächsten Krümmung des gewundenen Tunnels sehen. In der Vergrößerung wirkte die Struktur der Wand kompliziert und unregelmäßig. Einmal meinte Ellie, ein schwaches Leuchten der Wand wahrzunehmen. Das Dodekaeder hatte seinen Flug auf Kriechgeschwindigkeit verlangsamt, jedenfalls schien es so im Vergleich zu vorher. Ein Ende des Tunnels war nicht in Sicht. Ellie fragte sich, ob sie jemals ankommen würden, wo auch immer sie hinflogen. Vielleicht hatten sich die Konstrukteure verrechnet. Vielleicht hatte man beim Bau der Maschine einen Fehler gemacht, nur einen ganz kleinen Fehler. Vielleicht würde etwas, das in Hokkaido als kleine technische Unvollkommenheit galt, das Scheitern ihrer Mission bedeuten, hier in… wo auch immer. Oder, dachte sie mit einem Blick auf die Wolke kleiner Teilchen, die ihnen folgte und sie gelegentlich überholte, vielleicht waren sie einmal zu oft an die Wände gestoßen und hatten mehr an Impuls verloren, als der Plan vorsah. Der Zwischenraum zwischen dem Dodekaeder und den Wänden schien jetzt sehr gering. Vielleicht würden sie in diesem Nirgendwo steckenbleiben und so lange schmachten, bis ihnen der Sauerstoff ausging. War es möglich, daß sich die Wegianer all die Mühe gemacht und dabei vergessen hatten, daß Menschen atmen mußten? Hatten sie all die schreienden Nazis nicht bemerkt? Waygay und Eda hatten sich in das Mysterium der Gravitationsphysik vertieft – in zeitähnliche Killing-Vektoren, die Nicht-Abelschen-Eichfeld-Invarianzen, die geodätische Re-fokusierung und die elfdimensionaie Kaluza-KleinAbhandlung zur Supergravitation. Und natürlich Edas eigene,
davon völlig verschiedene Weltformel. Man konnte auf den ersten Blick sehen, daß die beiden Physiker mit ihrer Erklärung noch nicht weit gekommen waren. Aber Ellie war zuversichtlich, daß sie in den nächsten Stunden mit dem Problem ein gutes Stück weiterkommen würden. Die Weltformel umfaßte tatsächlich das ganze Spektrum und alle Aspekte der auf Erden bekannten Physik. Es war kaum anzunehmen, daß dieser… Tunnel nicht selbst eine bisher unbekannte Auflösung der Edaschen Feldgleichung war. Waygay fragte: »Hat jemand eine nackte Singularität gesehen?« »Ich weiß nicht, wie so etwas aussieht«, erwiderte Devi. »Entschuldigung. Wahrscheinlich wäre sie nicht nackt. Habt ihr irgendeine Umkehrung der Kausalität bemerkt, irgend etwas Phantastisches – etwas wirklich Verrücktes – vielleicht, daß ihr daran gedacht habt, wie etwas wie Rührei sich wieder zu Eiweiß und Dotter zusammensetzt…?« Devi schaute Waygay unter gesenkten Lidern hervor an. »Ist schon in Ordnung«, warf Ellie rasch ein. Waygay war ein bißchen aufgeregt, dachte sie bei sich. »Das sind ernstgemeinte Fragen, die sich auf Schwarze Löcher beziehen. Sie klingen nur verrückt.« »Nein«, antwortete Devi langsam, »es war nur die Formulierung der Frage.« Aber dann hellte sich ihre Miene auf. »Übrigens war es bisher eine wunderschöne Fahrt.« Alle stimmten zu. Waygay fühlte sich ermutigt. »Das ist ein recht starkes Beispiel für kosmische Zensur«, sagte er. »Singularitäten sind sogar in Schwarzen Löchern unsichtbar.« »Waygay macht nur Spaß«, fügte Eda hinzu. »Wenn man erst einmal innerhalb des Ereignishorizonts ist, gibt es keine Möglichkeit, der Singularität eines Schwarzen Loches zu entkommen.«
Trotz Ellies beruhigender Worte schaute Devi zweifelnd zu Waygay und Eda hinüber. Physiker mußten Worte und Ausdrücke für Vorstellungen erfinden, die weitab von der Alltagserfahrung lagen. Es war ihre Art, reine Neuschöpfungen zu vermeiden und sich statt dessen, wie schwach auch immer, an ein analoges Wort der Alltagssprache anzulehnen. Eine andere Möglichkeit war es, den Entdeckungen und Gleichungen die eigenen Namen zu geben. Das wurde auch getan. Aber wenn Devi jetzt nicht gewußt hätte, daß Waygay und Eda über Physik sprachen, hätte sie sich Sorgen gemacht. Ellie stand auf, um zu Devi hinüberzugehen, aber im gleichen Augenblick ließ Xi sie alle mit einem Schrei zusammenfahren. Die Wände des Tunnels bewegten sich wellenförmig. Sie umschlossen das Dodekaeder und preßten es vorwärts. Ein angenehmer Rhythmus kam zustande. Jedesmal, wenn das Dodekaeder fast zum Stillstand kam, bekam es erneut Druck von den Wänden. Ellie spürte eine leichte Übelkeit von der Bewegung in sich aufsteigen. An manchen Stellen ging es nur mühsam voran, die Wände arbeiteten schwer, Wellen von Kontraktionen und Expansionen liefen den Tunnel entlang. An anderen Stellen, vor allem in den Geraden, glitten sie leichter dahin. In weiter Entfernung konnte Ellie einen schwachen Lichtpunkt erkennen, der langsam stärker wurde. Ein bläulichweißer Schein begann das Innere des Dodekaeders zu durchfluten. Sie konnte sehen, wie er von den schwarzen Erbiumzylindern abstrahlte, die jetzt fast stillstanden. Obwohl die Reise nur zehn oder fünfzehn Minuten gedauert zu haben schien, war der Kontrast zwischen dem gedämpften, schwachen Licht ihrer Umgebung während des größten Teils der Reise und dem immer heller werdenden Leuchten vor ihnen auffallend. Sie rasten darauf zu, schossen den Tunnel hinauf und wurden dann, wie es schien, in den gewöhnlichen
Weltraum hinausgeschleudert. Vor ihnen stand, beunruhigend nahe, eine riesige, bläulichweiße Sonne. Ellie wußte sofort, daß es die Wega war. Sie zögerte, durch das Teleobjektiv direkt in die Wega hineinzuschauen. Sogar direkt in die Sonne zu schauen, wäre verwegen gewesen, die doch ein viel kühlerer und dunklerer Stern war. Aber sie holte ein Stück weißes Papier hervor und hielt es so, daß es sich auf der Ebene des Brennpunkts des Teleobjektivs befand und sich der Stern hell darauf abbildete. Sie meinte, zwei große Gruppen von Sonnenflecken zu erkennen und schwache Schatten, möglicherweise von den Gesteinsbrocken der Ringebene. Sie legte die Kamera weg und hielt die Hand mit gestrecktem Arm so von sich weg, daß sie die Scheibe der Wega gerade bedeckte. Auf diese Weise bekam sie eine hell über den Stern hinauslodernde Corona zu sehen. Zuvor war sie unsichtbar gewesen, vom Leuchten der Wega überstrahlt. Immer noch mit ausgestreckter Hand musterte sie den Schuttring, der den Stern umgab. Die Beschaffenheit des Wegasystems war der Gegenstand weltweiter Diskussionen gewesen, seit die Primzahlen-BOTSCHAFT empfangen worden war. Ellie hoffte, keinen schwerwiegenden Fehler zu begehen, wenn sie jetzt im Namen der astronomisch interessierten Bevölkerung des Planeten Erde handelte. Sie machte mit unterschiedlichen Einstellungen von Belichtung und Aufnahmegeschwindigkeit eine Reihe von Videoaufnahmen. Sie waren in einem trümmerfreien Raum fast auf der Ringebene aufgetaucht, der den gesamten Stern umgab. Im Vergleich zu seiner riesigen seitlichen Ausdehnung war der Ring extrem dünn. Innerhalb der einzelnen Ringe konnte sie kleine Farbabstufungen erkennen, jedoch keines der einzelnen Teilchen, aus denen sie bestanden. Wenn sie den
Ringen des Saturn überhaupt ähnelten, dann war ein Teilchen von einigen Metern Durchmesser bereits riesengroß. Vielleicht setzten sich die Ringe der Wega ausschließlich aus Staubkörnchen, Felsbrocken und Eissplittern zusammen. Ellie drehte sich um und schaute zu der Stelle zurück, an der sie aufgetaucht waren. Sie sah ein schwarzes Feld – ein schwarzes, rundes Loch, schwärzer als Samt und schwärzer als der Nachthimmel. Die Schwärze verdunkelte den vom Stern abgewandten Teil des Ringsystems der Wega, das dort, wo es nicht von dieser düsteren Erscheinung verdunkelt war, deutlich zu sehen war. Als sie durch das Objektiv genauer hinschaute, meinte sie, schwache, unregelmäßige Lichtblitze zu sehen, die genau vom Zentrum des Loches ausgingen. Hawkingsche Strahlung? Nein, ihre Wellenlänge wäre viel zu lang. Oder Licht vom Planeten Erde, das immer noch durch den Tunnel strömte? Auf der anderen Seite dieser Schwärze lag Hokkaido. Planeten. Wo waren die Planeten? Sie suchte die Ringebene mit dem Teleobjektiv ab, sie forschte nach darin liegenden Planeten – oder zumindest nach der Heimat der Wesen, die die BOTSCHAFT gesendet hatten. In jeder Lücke der Ringe suchte sie nach einer lenkenden Welt, deren Gravitationswirkung den Staub von den Schneisen entfernt hatte. Aber sie konnte nichts finden. »Du findest keine Planeten?« fragte Xi. »Nichts. Ganz in der Nähe sind ein paar große Kometen. Ich kann ihre Schweife sehen. Aber nichts, das wie ein Planet aussieht. Es müssen Tausende von einzelnen Ringen sein. Soweit ich sehen kann, bestehen sie alle aus Schutt. Das Schwarze Loch scheint eine große Lücke in die Ringe gerissen zu haben. Genau da sind wir jetzt, wir umkreisen langsam die Wega. Das System ist noch sehr jung, erst ein paar hundert Millionen Jahre alt, und einige Astronomen meinen, es sei zu jung, als daß es schon Planeten geben könnte. Aber woher kamen dann die Übertragungen?«
»Vielleicht ist es gar nicht die Wega«, schlug Waygay vor. »Vielleicht kommt unser Radiosignal von der Wega, aber der Tunnel führt zu einem anderen Sternensystem.« »Vielleicht, aber es ist ein komischer Zufall, daß dein anderer Stern die gleiche Farbtemperatur wie die Wega hat – schau hier, er ist bläulich – und ein gleichartiges Ringsystem aus Schutt. Es stimmt schon, ich kann das nicht an den anderen Sternbildern überprüfen, weil es zu hell ist. Aber ich würde trotzdem zehn zu eins wetten, daß dies die Wega ist.« »Aber wo sind dann die, die uns die BOTSCHAFT geschickt haben?« fragte Devi. Xi, der scharfe Augen hatte, starrte nach oben – durch die Matrix aus kohlenstoffgebundenem Silizium und die durchsichtigen fünfeckigen Scheiben starrte er in den Himmel über der Ringebene. Er sagte nichts, und Ellie folgte seinem Blick. Dort war tatsächlich etwas. Es glänzte im Sonnenlicht und hatte eine erkennbar eckige Form. Sie schaute durch das Teleobjektiv. Es handelte sich um ein riesiges, unregelmäßiges Polyeder, auf dessen Flächen sich jeweils… eine Art Kreis befand? Eine Scheibe? Oder Mulde? Eine Höhlung? »Hier, Qiaomu, schau da durch und sage uns, was du siehst.« »Aha! Wie auf der Erde… Radioteleskope! Tausende, nehme ich an, die in viele Richtungen zeigen. Aber es ist keine bewohnte Welt. Ich sehe nur technisches Gerät.« Sie benutzten das Teleobjektiv abwechselnd. Ellie konnte kaum ihre Ungeduld zügeln, bis sie wieder an der Reihe war. Die grundsätzliche Bauart eines Radioteleskops war mehr oder weniger durch die physikalische Beschaffenheit der Radiowellen festgelegt, aber sie war doch enttäuscht darüber, daß eine Zivilisation, die fähig war, für eine Art hyperrelativistischen Transport Schwarze Löcher herzustellen oder auch nur zu benutzen, immer noch an ihrem Aussehen erkennbare Radioteleskope benutzte, wie groß ihre Reichweite
auch sein mochte. Für Wegianer kam ihr das rückständig vor… phantasielos. Sie verstand, daß es von Vorteil war, die Teleskope auf einer polaren Umlaufbahn um den Stern zu halten. Hier waren sie nur zweimal pro Umdrehung der Gefahr einer Kollision mit Trümmern des Ringsystems ausgesetzt. Aber die Tausende von Radioteleskopen, die in alle Himmelsrichtungen wiesen, deuteten auf eine umfassende Überwachung des Himmels hin, auf einen gewissenhaften Argus. Unzählige in Frage kommende Welten wurden beobachtet, um Fernsehübertragungen, militärischen Radar und vielleicht andere Arten früher Radioübertragungen aufzufangen, die auf der Erde unbekannt waren. Fingen sie häufig solche Signale auf, oder war die Erde der erste Erfolg, den sie nach einer Million Jahre des Suchens gehabt hatten? Es gab keine Spur eines Empfangskomitees. War eine Abordnung aus der Provinz etwas so Unbedeutendes, daß niemand abgestellt worden war, ihre Ankunft auch nur zur Kenntnis zu nehmen? Als sie das Objektiv wieder zurückbekam, stellte sie Schärfe, Belichtung und Belichtungsdauer sorgfältig neu ein. Sie wollte ein dauerhaftes Dokument, um der National Science Foundation zu zeigen, was wirklich ernsthafte Radioastronomie war. Sie wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, die Größe der polyedrischen Welt über ihnen zu bestimmen. Die Teleskope bedeckten die Welt wie Entenmuscheln einen Wal. In der Schwerelosigkeit konnte ein Radioteleskop im Grunde genommen jede beliebige Größe haben. Wenn die Bilder entwickelt waren, würde sie die Winkelgröße bestimmen können (vielleicht ein paar Bogenminuten), aber die lineare Größe, die wahren Abmessungen konnten nicht berechnet werden, wenn man nicht wußte, wie weit das Ding entfernt war. Trotzdem hatte sie den Eindruck, daß seine Größe gewaltig war.
»Wenn es hier keine Welten gibt«, sagte Xi, »dann gibt es auch keine Wegianer. Niemand lebt hier. Die Wega ist nur eine Wachstube, ein Ort, an dem sich die Grenzpatrouille die Hände wärmen kann.« »Diese Radioteleskope« – er blickte in die Höhe – »sind die Wach türme der Großen Mauer. Wenn einem durch die Lichtgeschwindigkeit Grenzen gesetzt sind, ist es schwierig, ein galaktisches Imperium zusammenzuhalten. Man befiehlt einer Garnison, eine Rebellion niederzuschlagen. Zehntausend Jahre später findet man dann heraus, was passiert ist. Das reicht nicht. Zu langsam. Also gesteht man den Garnisonskommandanten Autonomie zu. Dann gibt es kein Imperium mehr. Aber das« – und nun deutete er auf den zurückbleibenden Fleck am Himmel hinter ihnen – »das sind die Straßen eines Imperiums, Rom hatte solche Straßen. China hatte sie auch. Damit sind die Grenzen der Lichtgeschwindigkeit aufgehoben. Mit Straßen kann man ein Imperium zusammenhalten.« Aber Eda schüttelte gedankenverloren den Kopf. Er hatte die physikalische Grundlage noch nicht verstanden. Man konnte jetzt sehen, daß das Schwarze Loch, wenn es denn wirklich eines war, die Wega auf einer breiten Bahn, die völlig frei von Schutt war, umkreiste. Zwischen den inneren und den äußeren Ringen hatte es weiten Spielraum. Es war kaum zu glauben, wie schwarz es war. Während Ellie eine kurze Schwenkaufnahme des Schuttrings vor sich machte, überlegte sie sich, ob sich aus ihm eines Tages ein eigenes Planetensystem bilden würde, ob die Teilchen zusammenstoßen würden, sich miteinander verbinden, immer weiterwachsen und sich unter dem Einfluß der Gravitation verdichten würden, bis schließlich nur einige wenige, große Welten den Stern umkreisten. Das entsprach ziemlich genau dem Bild, das sich die Astronomen von der Entstehung der
Planeten, die um die Sonne kreisten, machten. Ellie konnte jetzt auch Ungleichmäßigkeiten in den Ringen erkennen, Stellen mit sichtbaren Ausbuchtungen, wo sich offenbar Trümmerteile aneinander angelagert hatten. Die Bewegung des Schwarzen Lochs um die Wega rief sichtbare Wellenbewegungen in den unmittelbar benachbarten Ringen hervor. Das Dodekaeder zog zweifellos ein bescheideneres Kielwasser nach sich. Sie fragte sich, ob diese Störungen der Gravitation, diese sich ausbreitenden Verdünnungen und Verdichtungen, langzeitige Folgewirkungen hatten – und ob sie den Verlauf der folgenden Planetenbildung verändern würden. Wenn das der Fall war, könnte die bloße Existenz eines Planeten Milliarden von Jahren in der Zukunft eine Folge des Schwarzen Lochs und der Maschine sein… und damit der BOTSCHAFT und des Projekts Argus. Sie wußte, daß sie es zu persönlich sah. Wenn sie nie gelebt hätte, hätte sicherlich früher oder später ein anderer Radioastronom die BOTSCHAFT empfangen. Die Maschine wäre zu einem anderen Zeitpunkt in Betrieb gesetzt worden, und das Dodekaeder hätte seinen Weg hierher in einer anderen Zeit gefunden. Aber jetzt verdankte ein zukünftiger Planet dieses Systems seine Existenz trotzdem ihr. Zum Ausgleich hatte sie freilich die Existenz einer anderen Welt ausgelöscht, die sich gebildet hätte, wenn sie nie gelebt hätte. Sie fand es bedrückend, durch ihre unschuldigen Handlungen für das Schicksal unbekannter Welten verantwortlich zu sein. Sie versuchte einen Kameraschwenk, der im Innern des Dodekaeders begann, dann über die Streben hinwegglitt, die die durchsichtigen fünfeckigen Scheiben miteinander verbanden, und fortgesetzt wurde bis zu der Lücke in den Schuttringen, in der sie zusammen mit dem Schwarzen Loch kreisten. Mit der Kamera folgte sie dem Verlauf der Lücke, die von zwei bläulichen Ringen begrenzt war, immer weiter. Dort
oben war etwas Merkwürdiges, eine Art Biegung im benachbarten inneren Ring. »Qiaomu«, sagte sie und reichte ihm das Teleobjektiv. »Schau dort hinüber. Sag mir, was du siehst.« »Wo?« Sie deutete noch einmal hinaus. Einen Augenblick später hatte er es gefunden. Sie merkte es an seinem kaum hörbaren, doch unmißverständlichen Einatmen. »Noch ein Schwarzes Loch«, sagte er. »Nur viel größer.« Sie stürzten wieder. Diesmal war der Tunnel geräumiger, und sie kamen schneller voran. »Ist das alles?« hörte Ellie sich zu Devi hinüberrufen. »Die bringen uns zur Wega, um mit ihren Schwarzen Löchern anzugeben. Sie lassen uns aus tausend Kilometern Entfernung einen Blick auf ihre Radioteleskope werfen. Wir verbringen dort zehn Minuten, dann stecken sie uns in ein anderes Schwarzes Loch und schicken uns zurück zur Erde. Haben wir dafür zwei Billionen Dollar ausgegeben?« »Vielleicht liegen wir falsch«, sagte Lunatscharski. »Vielleicht wollten sie sich nur an die Erde anschließen.« Ellie stellte sich nächtliche Ausgrabungen unter den Toren Trojas vor. Mit gespreizten Fingern machte Eda eine beruhigende Handbewegung. »Abwarten«, sagte er. »Das ist ein anderer Tunnel. Woher wißt ihr, daß er zur Erde zurückführt?« »War die Wega etwa nicht unser Ziel?« fragte Devi. »Machen wir die Probe. Laßt uns abwarten, wo wir als nächstes herauskommen.« In diesem Tunnel stießen sie seltener an die Wände, und es gab weniger Wellenbewegungen. Eda und Waygay diskutierten über ein Raum-Zeit-Diagramm, daß sie in ein Kruskal-Szekeres-Koordinatenkreuz gezeichnet hatten. Ellie
hatte keine Ahnung, wovon sie redeten. Das Stadium der Verzögerung, also der Teil ihrer Vorwärtsbewegung, der einem das Gefühl gab, als ob es bergauf ginge, verursachte ihr immer noch ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Dieses Mal war das Licht am Ende des Tunnels orangefarben. Sie erschienen mit beträchtlicher Geschwindigkeit im System eines Kontaktdoppelsterns, zweier sich berührender Sonnen. Die äußeren Schichten eines aufgedunsenen, älteren roten Riesensterns ergossen sich in den Lichtkreis eines kraftvollen Zwerges mittleren Alters, der der Sonne ziemlich ähnlich war. Die Kontaktzone zwischen den beiden Sternen war strahlend hell. Ellie suchte nach Ringen aus Schutt, Planeten oder kreisenden Radioobservatorien, konnte aber nichts finden. Das hatte nichts zu bedeuten, sagte sie sich. Es konnte sein, daß solche Systeme eine ganze Menge Planeten hatten, sie aber wegen ihres kleinen Teleobjektivs nie davon erfahren würde. Sie projizierte den Doppelstern auf das Stück Papier und photographierte das Abbild mit einem Objektiv kurzer Brennweite. Weil keine Ringe vorhanden waren, gab es in diesem System weniger gestreutes Licht als im Bereich der Wega. Mit dem Weitwinkelobjektiv konnte sie nach einigem Suchen ein Sternbild erkennen, das dem Großen Wagen einigermaßen ähnlich sah. Aber es bereitete ihr Schwierigkeiten, die anderen Sternbilder zu erkennen. Weil die hellen Sterne im Großen Wagen mehrere hundert Lichtjahre von der Erde entfernt waren, schloß sie daraus, daß sie nur wenige hundert Lichtjahre weit gesprungen waren. Sie teilte ihren Schluß Eda mit und fragte ihn, was er dazu meine. »Was ich dazu meine? Ich glaube, wir sitzen in einer UBahn.« »Eine U-Bahn?«
Sie erinnerte sich an das Gefühl zu stürzen, wie in die Tiefen der Hölle. So war es ihr einen Moment lang vorgekommen, unmittelbar nachdem die Maschine in Betrieb gesetzt worden war. »Eine Metro. Eine Untergrundbahn. Das sind die Stationen. Die Haitestellen. Die Wega, dieses System hier und noch andere. An den Haltestellen steigen Passagiere ein und aus. Man steigt hier um.« Er wies zu dem Kontaktdoppelstern hinüber, und sie bemerkte, daß seine Hand zwei Schatten warf, einen antigelben und einen antiroten. Ihr fiel nur ein Bild dazu ein: wie in einer Diskothek. »Aber wir, wir können nicht aussteigen«, fuhr Eda fort. »Wir sitzen in einem verschlossenen Waggon. Wir fahren bis zur Endstation.« Drumlin hatte derartige Spekulationen ins Reich der Phantasie verwiesen. Es war das erste Mal – so weit sie wußte –, daß Eda dieser Versuchung erlegen war. Sie war die einzige an einem Observatorium angestellte Astronomin der Fünfergruppe, wenn auch die Optik nicht ihr Spezialgebiet war. Sie fühlte sich dafür verantwortlich, so viele Daten wie möglich zu sammeln – in den Tunneln und den gewöhnlichen vierdimensionalen Raum-Zeit-Gefügen, in denen sie in regelmäßigen Abständen auftauchten. Die mutmaßlichen Schwarzen Löcher, aus denen sie herauskamen, befanden sich immer in der Umlaufbahn um einen Stern oder ein Sternsystem. Die Löcher kamen immer paarweise vor, jeweils zwei von ihnen hatten eine ähnliche Umlaufbahn: dasjenige, aus dem sie herausgeschleudert wurden, und ein anderes, in das sie hineinfielen. Nicht zwei der Systeme ähnelten einander. Keines war dem Sonnensystem besonders ähnlich. Alle hielten aufschlußreiche astronomische
Erkenntnisse bereit. In keinem einzigen gab es so etwas wie einen künstlich hergestellten Gegenstand zu sehen, kein zweites Dodekaeder und kein technisches Großprojekt, bei dem Welten auseinandergenommen und wieder zu etwas zusammengesetzt wurden, das Xi Produkt technischer Intelligenz nennen würde. Gerade tauchten sie in der Nähe eines Sterns auf, der seine Helligkeit sichtbar veränderte (sie konnte das an der Veränderung der erforderlichen Belichtungseinstellung erkennen). Vielleicht handelte es sich um einen der Sterne aus dem Sternbild der Leier. Als nächstes kamen sie in ein Fünffachsystem. Dann zu einem schwach leuchtenden Braunen Zwerg. Manche Sterne befanden sich frei im Weltraum, andere waren von Nebelhüllen und glühenden Molekülwolken umgeben. Sie erinnerte sich an die Warnung: »Das wird Ihnen im Paradies abgezogen.« Von ihrem Anteil im Paradies gab es bisher noch nichts abzuziehen. Trotz ihrer bewußten Anstrengung, professionell die Ruhe zu bewahren, begann ihr Herz angesichts dieser Fülle von Sonnen schneller zu schlagen. Sie hoffte, daß jede einzelne davon die Heimat irgendwelcher Wesen war oder eines Tages sein würde. Aber nach dem vierten Sprung begann sie sich Sorgen zu machen. Ihrem Gefühl und ihrer Armbanduhr nach zu schließen, war etwa eine Stunde vergangen, seit sie Hokkaido verlassen hatten. Wenn ihre Reise noch viel länger dauerte, würde sich das Fehlen gewisser Annehmlichkeiten bemerkbar machen. Es gab wohl Aspekte der menschlichen Physiologie, die auch die fortgeschrittenste Zivilisation durch aufmerksames Fernsehen nicht erschließen konnte. Und Wenn die Außerirdischen so klug waren, warum ließen sie die Menschen dann so kleine Sprünge vollführen? Zugegeben, vielleicht mußte man für den Sprung von der Erde weg ein primitives Gerät benutzen, weil
auf der der Erde zugewandten Seite des Tunnels die primitiven Bewohner der Erde arbeiteten. Aber hinter der Wega? Warum konnten sie das Dodekaeder nicht direkt dorthin springen lassen, wohin es unterwegs war? Jedesmal, wenn sie aus einem Tunnel herausrasten, war sie voller Erwartung. Welches Wunder wartete als nächstes auf sie? Sie fühlte sich an einen raffinierten Vergnügungspark erinnert und stellte sich unwillkürlich vor, wie Hadden in dem Augenblick, in dem die Maschine gestartet war, mit seinem Teleskop auf Hokkaido heruntergeschaut hatte. So großartig die Panoramen auch waren, die ihnen die Absender der BOTSCHAFT boten, und so sehr sie es auch genoß, den anderen im Hochgefühl ihrer Kompetenz Aspekte der stellaren Entwicklung zu erklären, nach einiger Zeit war sie doch enttäuscht. Bald hatte sie den Grund für ihr Gefühl gefunden: Die Außerirdischen protzten. Das gehörte sich nicht. Es verriet Charakterschwäche. Als sie in einen weiteren Tunnel eintauchten, der diesmal breiter und gewundener als die anderen war, fragte Luna-tscharski Eda, warum seiner Meinung nach die U-Bahn-Haltestellen in so wenig vielversprechende Sternsysteme gelegt worden waren. »Warum nicht in die Nähe eines einzelnen Sterns, eines jungen, gesunden Sterns ohne Schuttringe?« »Weil«, erwiderte Eda, » – aber ich rate jetzt nur, weil du mich danach fragst – weil all diese Systeme bewohnt sind…« »Und sie nicht wollen, daß Touristen die Eingeborenen verschrecken«, vollendete Sukhavati den Satz lachend. Auch Eda mußte lachen. »Oder andersherum.« »Aber das ist es doch, was du glaubst, oder? Daß es eine Art Ethik der Nichteinmischung gibt, was primitive Planeten betrifft. Sie wissen, daß manche der Primitiven hin und wieder die U-Bahn benützen könnten…«
»Und sie sind sich der Primitiven ziemlich sicher«, spann Ellie den Gedanken weiter. »Aber sie können nicht absolut sicher sein. Schließlich sind Primitive primitiv. Deshalb läßt man sie nur auf Strecken fahren, die in die hinterste Provinz führen. Die Erbauer müssen ein sehr vorsichtiges Volk sein. Aber warum haben sie uns dann einen Bummelzug geschickt und keinen Schnellzug?« »Wahrscheinlich ist es zu schwierig, einen Schnellzugtunnel zu bauen«, sagte Xi, der jahrelange Erfahrung beim Graben von Tunneln hatte. Ellie dachte an den Tunnel zwischen Honshu und Hokkaido, der als ein Meisterstück der zivilen Ingenieurkunst galt mit seinen insgesamt einundfünfzig Kilometern Länge. Es ging immer steiler auf und ab. Sie dachte an ihren Thunderbird, und dann hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie beschloß, es so lange zu unterdrücken, wie sie nur konnte. Das Dodekaeder war nicht mit Spucktüten ausgerüstet. Ganz plötzlich befanden sie sich auf einer Geraden, und dann war der Himmel voller Sterne. Überall, wohin sie auch schauten, waren Sterne. Nicht das armselige Gesprenkel der paar tausend Sterne, die die Beobachter auf der Erde gelegentlich immer noch mit bloßem Auge erkannten, sondern ein riesiges Meer von Sternen umgab sie auf allen Seiten. Oft schien es, als ob ein Stern den anderen berührte. Die meisten von ihnen waren gelb oder blau oder rot gefärbt, vor allem rot. Der Himmel strahlte vor in der Nähe liegenden Sonnen. Ellie konnte eine gewaltige Spiralwolke aus Staub erkennen, eine wachsende Scheibe, die anscheinend in ein Schwarzes Loch von schwindelerregenden Ausmaßen floß und aus der Strahlungsblitze schössen wie Wetterleuchten in einer Sommernacht. Wenn dies das Zentrum der Galaxis war, wie sie vermutete, mußte es von Synchrotronstrahlung überflutet sein. Sie hoffte, daß die Außerirdischen daran gedacht hatten,
wie empfindlich Menschen waren. Und als sich das Dodekaeder drehte, schwamm etwas in ihr Blickfeld… etwas Erstaunliches, Unerhörtes, ein Wunder. Fast im gleichen Moment waren sie über ihm. Es bedeckte die Hälfte des Himmels. Jetzt flogen sie darüber hinweg. Auf seiner Oberfläche befanden sich Hunderte, vielleicht Tausende beleuchteter Eingänge, jeder von einer anderen Form. Die meisten waren vieleckig oder kreisförmig oder hatten einen elliptischen Querschnitt, manche hatten vorstehende Teile oder eine Reihe sich teilweise überlappender Kreise ohne gemeinsamen Mittelpunkt. Ihr wurde klar, daß es sich um Anlegestellen handelte, um Tausende verschiedener Landebuchten. Manche maßen nur wenige Meter im Durchmesser, andere sicherlich mehrere Kilometer oder sogar noch mehr. Ellie vermutete, daß jede einzelne von ihnen einer interstellaren Maschine wie der ihren genau entsprach. Große Wesen in bedeutenden Maschinen hatten eindrucksvolle Ankunftshäfen. Kleine Wesen wie sie hatten winzige Landebuchten. Es war eine demokratische Einrichtung, bei der nichts auf besonders privilegierte Zivilisationen deutete. Die Verschiedenheit der Landestellen ließ kaum auf soziale Unterschiede zwischen den verschiedenen Zivilisationen schließen, aber sie ließ eine atemberaubende Vielgestaltigkeit von Wesen und Kulturen vermuten. Wie die Grand Central Station in Manhattan, dachte Ellie. Bei der Vorstellung von einer bevölkerten Galaxis, von einem Universum, das vor Leben und Intelligenz übersprudelte, kamen ihr fast vor Freude die Tränen. Sie näherten sich einer gelb erleuchteten Bucht, die, wie Ellie sehen konnte, genau zu dem Dodekaeder paßte, in dem sie flogen. Sie beobachtete, wie sich in der Landestelle daneben etwas, das die Größe des Dodekaeders und die Form eines Seesterns hatte, langsam in eine dazu passende Eingangsöffnung senkte. Sie schaute nach links und rechts,
nach oben und unten auf die kaum sichtbare Krümmung dieses großen Bahnhofs, der ihrer Schätzung nach in der Mitte der Milchstraße lag. Was war es doch für eine Bestätigung für die menschliche Rasse, endlich hierher eingeladen zu werden! Es gibt noch Hoffnung für uns, dachte sie. Es gibt Hoffnung! »Na, Bridgeport ist es jedenfalls nicht.« Sie sagte das laut, während das Landemanöver in völliger Lautlosigkeit zu Ende ging.
20 Grand Central Station Es sind alle Dinge künstlich, denn Natur ist nichts anderes als die Kunst Gottes. Thomas Browne Religio Medici, I,16 (1642)
Nehmen die Engel, wie sich aus der Schrift ergibt, Leiber an, so können solcherweise Lebenstätigkeiten durch sie geschehen, aber nicht als wesenseigene von ihnen hervorgebracht werden. Thomas von Aquin Summa Theologica, I, 51,2
Der Teufel hat Gewalt, sich zu verkleiden In lockende Gestalt! William Shakespeare Hamlet, II, 2
Die Luftschleuse war so konstruiert, daß immer nur eine Person in ihr Platz hatte. Als auf der Erde Fragen der Priorität aufgetaucht waren – welche Nation als erste den Planeten eines anderen Sterns betreten sollte –, hatten die fünf entsetzt die Hände gehoben und den Direktoren des Projekts gesagt –, um so eine Mission handle es sich nicht. Auch untereinander hatten sie bewußt vermieden, über dieses Thema zu sprechen. Die innere und die äußere Tür der Luftschleuse öffneten sich gleichzeitig. Sie hatten kein Kommando gegeben. Offenbar hatte dieser Sektor der Grand Central Station den richtigen Luftdruck und Sauerstoffgehalt. »Also, wer will vorgehen?« fragte Devi. Mit der Videokamera in der Hand wartete Ellie, bis sie an der Reihe war, auszusteigen. Im letzten Moment kam es ihr in den Sinn, den Palmwedel dabei haben zu wollen, wenn sie den Fuß auf diese neue Welt setzte. Als sie ging, ihn zu holen, hörte sie von draußen einen Schrei begeisterter Überraschung, aller Wahrscheinlichkeit nach von Waygay. Ellie eilte in den hellen Sonnenschein hinaus. Die Schwelle der äußeren Tür der Luftschleuse lag mit dem Sand auf gleicher Ebene. Devi stand bereits knöcheltief im Wasser und spritzte lachend Xi naß. Eda lächelte strahlend. Es war ein Strand. Wellen leckten am Ufersaum. Über den blauen Himmel zogen träge ein paar Haufenwölkchen. Ein Stück vom Wasser entfernt stand ein kleines Palmenwäldchen. Am Himmel war eine Sonne zu sehen. Eine Sonne. Eine gelbe Sonne. Genau wie auf der Erde. Ein schwacher Duft lag in der Luft. Nach Nelken vielleicht, und nach Zimt. Es hätte sich um einen Strand auf Sansibar handeln können. Also waren sie 30000 Lichtjahre weit gereist, um an einem Strand spazierenzugehen. Es hätte schlimmer kommen können, dachte Ellie. Eine schwache Brise kam auf, und vor ihr bildete sich ein kleiner Sandwirbel. War das alles
nur eine ausgeklügelte Simulation der Erde, vielleicht nach den Daten rekonstruiert, die eine Erkundungsexpedition vor Millionen von Jahren mitgebracht hatte? Oder war das einzige Ergebnis ihrer langen Reise eine Erweiterung ihrer Kenntnisse in beschreibender Astronomie, wonach sie dann ohne weitere Umstände auf einem schönen Fleckchen der Erde wieder abgesetzt worden waren? Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, daß das Dodekaeder verschwunden war. Sie hatten den Echtzeitrechner und die dazugehörige Handbibliothek, desgleichen einige andere Instrumente an Bord zurückgelassen, machten sich darüber jetzt allerdings keine großen Sorgen. Sie waren sicher und wohlauf und hatten eine Reise überlebt, die es wert war, daß man zu Hause über sie berichtete. Waygay sah von dem Wedel, den Ellie mit so viel Mühe hierher mitgebracht hatte, zu dem Palmenwäldchen am Rande des Strandes und lachte. »Eulen nach Athen«, bemerkte Devi. Liebevoll sah Ellie auf ihren Palmwedel. Vielleicht gab es hier ja andere Arten. Oder vielleicht waren die hiesigen von jemandem erschaffen worden, der nicht alle Details berücksichtigt hatte. Sie schaute auf das Meer hinaus. Unwillkürlich versuchte sie, sich die erste Besiedelung der Erde vor 400 Millionen Jahren vorzustellen. Wo auch immer sie waren – ob im Indischen Ozean oder im Zentrum der Galaxis –, sie hatten etwas noch nie Dagewesenes vollbracht. Sicher, die Bestimmung der Reiseroute und des Ziels lag nicht in ihrer Hand. Aber sie hatten den Ozean des interstellaren Raums überquert und etwas eingeleitet, was mit Sicherheit ein neues Zeitalter der menschlichen Geschichte genannt werden durfte. Sie war sehr stolz. Xi zog sich die Schuhe aus und krempelte die Hosenbeine des sackartigen, mit Abzeichen übersäten Overalls, den sie auf Geheiß der Regierungen alle tragen mußten, bis zu den Knien
hoch. Er watete durch die seichte Brandung. Devi verschwand hinter einer Palme und tauchte in einen Sari gekleidet wieder auf. Den Overall hatte sie sich über den Arm gelegt. Eda holte einen der Leinenhüte hervor, die auf der ganzen Welt als typisch für ihn galten. Ellie nahm die anderen in kurzen Einstellungen auf Video auf. Wenn sie zu Hause waren, würde es wahrscheinlich wie ein Amateurfilm aussehen. Sie stellte sich zu Xi und Waygay in die Brandung. Das Wasser war warm. Es war ein schöner Nachmittag, der alles in allem eine willkommene Abwechslung war vom Winter in Hokkaido, den sie vor wenig mehr als einer Stunde hinter sich gelassen hatten. »Alle haben etwas Symbolisches mitgebracht«, sagte Waygay, »nur ich nicht.« »Was meinst du damit?« »Sukhavati und Eda bringen ihre Nationaltracht mit. Xi hat ein Reiskorn.« Tatsächlich, Xi hielt das Korn in einem Plastikbeutel zwischen Daumen und Zeigefinger. »Du hast deinen Palmwedel«, fuhr Waygay fort. »Nur ich habe kein Symbol und kein Erinnerungsstück von der Erde mitgebracht. Ich bin der einzige echte Materialist der Gruppe, ich habe nur das mitgebracht, was ich im Kopf habe.« Ellie trug unter ihrem Overall das Medaillon. Jetzt knöpfte sie den Kragen auf und zog den Anhänger heraus. Waygay sah ihn, und sie gab ihn ihm zum Lesen. »Ich glaube, das ist Plutarch«, sagte er, als er die Inschrift gelesen hatte. »Die Spartaner haben tapfere Worte gesprochen. Aber vielleicht erinnerst du dich, daß die Römer die Schlacht gewonnen haben.« Dem Ton seiner Belehrung nach zu schließen, hielt Waygay das Medaillon für ein Geschenk Der Heers. Sein Mißfallen an Ken – für das es sicherlich Gründe gab – und seine unentwegte Sorge für sie lösten in ihr ein Gefühl wohliger Wärme aus. Sie griff nach seinem Arm.
»Für eine Zigarette würde ich jetzt jemanden umbringen«, sagte er liebenswürdig und preßte ihre Hand an seinen Körper. Zu fünft saßen sie an einem kleinen Wassertümpel, den die Ebbe zurückgelassen hatte. Die Brandung erzeugte ein sanftes weißes Rauschen, das sie an Argus erinnerte und an all die Jahre, in denen sie dem kosmischen Rauschen zugehört hatte. Die Sonne hatte den Zenit schon lang durchschritten und stand über dem Ozean. Ein Krebs eilte vorbei. Er hatte schielende Stielaugen. Von Krebsen, Kokosnüssen und dem beschränkten Proviant, den sie in der Tasche hatten, konnten sie sich eine Zeitlang ganz gut ernähren. Abgesehen von ihren eigenen, gab es am Strand keine Fußspuren. »Wir meinen, daß die Außerirdischen fast die ganze Arbeit getan haben.« Waygay führte seine und Edas Gedanken über das aus, was sie alle fünf erlebt hatten. »Das Projekt hat lediglich eine kleine Falte im Raum-Zeit-Gefüge hergestellt, damit sie ihren Tunnel irgendwo festmachen konnten. In dieser ganzen multidimensionalen Geometrie muß es sehr schwierig sein, eine winzige Falte im Raum-Zeit-Gefüge zu finden. Und noch schwieriger ist es sicherlich, ein Mündungstück daran anzubringen.« »Was wollt ihr damit sagen? Haben sie die Geometrie des Raums verändert?« »Ja. Wir meinen, daß es in der Topologie des Weltraums nicht-einfache Verbindungen gibt. Der Raum ist – ich weiß, daß Abonneba diese Analogie nicht mag –, er ist wie eine flache, zweidimensionale Oberfläche, die kluge Seite, die durch ein Netzwerk von Röhren mit einer anderen flachen, zweidimensionalen Oberfläche, der dummen Seite, verbunden ist. Die einzige Art, wie man in annehmbarer Zeit von der klugen auf die dumme Seite gelangen kann, ist durch diese Röhren. Stellt euch jetzt vor, daß die Leute von der klugen
Oberfläche eine Röhre mit einem Mündungsstück daran herunterlassen. Sie wollen einen Tunnel zwischen den beiden Oberflächen bauen, vorausgesetzt, die Dummen kooperieren und machen auf ihrer Oberfläche eine kleine Falte, damit man die Mündung verankern kann.« »Also schicken die klugen Kerle eine Radiobotschaft los und sagen den Dummen, wie man eine Falte macht. Wenn sie aber wirklich zweidimensionale Wesen sind, wie konnten sie dann auf ihrer Oberfläche eine Falte bilden?« »Indem sie sehr viel Masse an einer Stelle zusammenbrachten.« Aber Waygay war sich selbst nicht ganz sicher. »Aber wir haben das auf der Erde nicht gemacht.« »Ich weiß, ich weiß. Irgendwie sind die Benzel dafür verantwortlich.« »Schau«, erklärte Eda leise, »wenn die Tunnel Schwarze Löcher sind, spielen dabei unauflösbare Widersprüche eine Rolle. In der genauen Kerr-Lösung der Einsteinschen Feldgleichung gibt es einen inneren Tunnel, aber er ist instabil. Durch die kleinste Störung würde er abgeriegelt und in eine physikalische Singularität verwandelt werden, durch die nichts hindurchkann. Ich habe mir eine überlegene Zivilisation vorzustellen versucht, die die innere Struktur eines kollabierenden Sterns unter Kontrolle halten könnte, damit der innere Tunnel stabil bleibt. Es ist sehr schwierig. Diese Zivilisation müßte den Tunnel für alle Zeit überwachen und stabilisieren. Besonders schwierig wäre das, wenn etwas so Großes wie das Dodekaeder hindurchfällt.« »Auch wenn Abonneba herausfinden kann, wie man den Tunnel offenhält, gibt es noch viele Probleme«, sagte Waygay. »Viel zu viele sogar. Schwarze Löcher ziehen Probleme noch schneller an als Materie. Da sind die Gezeiten. Im Gravitationsfeld eines Schwarzen Lochs hätten wir zerrissen werden müssen. Wir hätten auseinandergezogen werden
müssen wie die Leute auf den Bildern von El Greco oder die Skulpturen von diesem Italiener…?« Hilfesuchend sah er Ellie an. »Giacometti«, schlug sie vor. »Aber er war Schweizer.« »Ja, wie Giacometti. Dann weitere Probleme: Wie man von der Erde aus gemessen hat, würde es endlos dauern, durch ein Schwarzes Loch zu fallen, und wir könnten niemals wieder zur Erde zurückkehren. Vielleicht ist das geschehen. Vielleicht kommen wir nie wieder nach Hause. Außerdem müßte die Strahlung in der Nähe der Singularität höllisch stark sein. Das ist eine Instabilität der Quantenmechanik…« »Und schließlich«, fuhr Eda fort, »kann ein Tunnel vom Typ Kerrs zu grotesken Veränderungen der Kausalität führen. Durch eine unbedeutende Veränderung der Flugbahn innerhalb des Tunnels könnte man am anderen Ende des Tunnels beliebig früh in der Geschichte des Universums auftauchen – zum Beispiel eine Pikosekunde nach dem Urknall. Da würde man sehen, was für ein Chaos damals im Universum geherrscht hat.« »Hört zu, Freunde«, sagte Ellie, »ich bin keine Expertin der Allgemeinen Relativitätstheorie. Aber haben wir denn nicht Schwarze Löcher gesehen? Sind wir denn nicht in sie hineingefallen? Und sind wir nicht wieder aus ihnen herausgekommen? Wiegt ein Gramm Beobachtung denn nicht schwerer als eine Tonne Theorie?« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Waygay etwas gequält. »Wir haben die Lösung noch nicht gefunden. Aber unser Verständnis der Physik kann doch nicht derartig falsch sein. Oder?« Er hatte die letzte Frage in kläglichem Ton an Eda gerichtet, der nur erwiderte: »Ein natürlich vorhandenes Schwarzes Loch kann kein Tunnel sein. Es hat eine undurchdringliche Singularität in der Mitte.«
Mit einem provisorisch zusammengebastelten Sextanten und ihren Armbanduhren bestimmten sie die Winkelgeschwindigkeit der sinkenden Sonne. Sie betrug 360 Grad in 24 Stunden, wie auf der Erde. Bevor das Licht der sinkenden Sonne dazu zu schwach sein würde, schraubten sie Ellies Kamera auseinander und benutzten die durch das Objektiv gebündelten Strahlen, um ein Feuer zu entfachen. Ellie legte den Palmwedel neben sich, weil sie fürchtete, jemand könnte ihn aus Versehen nach Einbruch der Dunkelheit in die Flammen werfen. Es stellte sich heraus, daß Xi Experte im Feuermachen war. Er ordnete an, daß sich alle auf die Seite des Feuers setzen sollten, aus der der Wind kam, und hielt es so in Gang. Nach und nach erschienen die Sterne. Alle waren sie da, die vertrauten Sternbilder der Erde. Ellie meldete sich freiwillig dazu, eine Weile wachzubleiben und auf das Feuer aufzupassen, während die anderen schliefen. Sie wollte die Leier aufsteigen sehen. Nach ein paar Stunden war es so weit. Es war eine außergewöhnlich klare Nacht, und die Wega leuchtete gleichmäßig und hell. Aus der scheinbaren Bewegung der Sternbilder über den Himmel, aus den Konstellationen der südlichen Hemisphäre, die sie erkennen konnte, und aus der Position des Großen Wagens nahe des nördlichen Horizonts schloß sie, daß sie sich eigentlich in tropischen Breiten befinden mußten. Wenn das alles nur eine Simulation ist, ging es ihr vor dem Einschlafen durch den Kopf, dann haben sie sich ganz schön viel Mühe gemacht. Sie hatte einen merkwürdigen kleinen Traum. Alle fünf schwammen sie nackt und unbefangen unter Wasser. Träge schwebten sie an einer Dornkoralle vorbei, dann glitten sie in Spalten, die im nächsten Moment schon von vorbeitreibendem Seetang verdeckt wurden. Einmal stieg sie zur Oberfläche auf. Ein Schiff in Form eines Dodekaeders flog dicht über der
Wasseroberfläche vorbei. Seine Wände waren durchsichtig, und im Innern konnte sie Leute in Lendentüchern und Sarongs sehen. Sie lasen Zeitung und plauderten miteinander. Ellie tauchte wieder unter. Dorthin, wo sie hingehörte. Obwohl der Traum lange Zeit zu dauern schien, hatte keiner von ihnen Schwierigkeiten zu atmen. Sie atmeten Wasser ein und aus. Sie verspürten keine Erschöpfung – sie bewegten sich so natürlich wie die Fische im Wasser. Waygay sah sogar ein wenig wie ein Fisch aus – vielleicht wie ein Barsch. Das Wasser mußte ungeheuer viel Sauerstoff enthalten. Mitten im Traum erinnerte Ellie sich an die Maus, die sie einmal in einem physiologischen Labor gesehen hatte. Die Maus hatte in ihrem Gefäß voll Wasser, das mit Sauerstoff angereichert worden war, einen vollkommen zufriedenen Eindruck gemacht und sogar hoffnungsvoll mit ihren kleinen Vorderpfoten gerudert. Ein wurmförmiger Schwanz schwamm hinter ihr. Ellie versuchte, sich daran zu erinnern, wieviel Sauerstoff ein Mensch eigentlich brauchte, aber es war zu anstrengend. Es kam ihr vor, als ob sie immer langsamer dächte. Aber auch das schien seine Ordnung zu haben. Die anderen sahen jetzt eindeutig wie Fische aus. Devi hatte durchscheinende Flossen. Ellie spürte ein vages sinnliches Interesse in sich aufsteigen. Sie hoffte, es würde so weitergehen, damit sie die Frage beantworten konnte. Aber selbst die Frage, die sie beantworten wollte, hatte sie vergessen. Wie konnte man nur warmes Wasser atmen, dachte sie. Was wird ihnen als nächstes einfallen? Ellie erwachte mit einem so starken Gefühl der Orientierungslosigkeit, daß es sie fast schwindlig machte. Wo war sie? In Wisconsin, Puerto Rico, New Mexico, Wyoming oder Hokkaido? Oder an der Malakka-Straße? Dann erinnerte sie sich. Es war bis auf 30000 Lichtjahre ungeklärt, wo in der
Milchstraße sie sich befand. Wahrscheinlich ist das der Weltrekord an Orientierungslosigkeit, dachte sie. Trotz ihrer Kopfschmerzen lachte sie. Devi, die neben ihr schlief, bewegte sich. Weil der Strand leicht anstieg – sie hatten ihn am Nachmittag zuvor etwa einen Kilometer weit erkundet und nicht die Spur eines bewohnten Ansiedlung entdeckt –, hatte die direkte Sonneneinstrahlung sie noch nicht erreicht. Ellie ruhte auf einem Kopfkissen aus Sand. Devi, die gerade aufwachte, hatte den Kopf beim Einschlafen am Abend zuvor auf ihren zusammengerollten Overall gelegt gehabt. »Findest du nicht, daß eine Kultur, in der man weiche Kopfkissen braucht, etwas Verweichlichtes an sich hat?« fragte Ellie. Devi lachte und wünschte ihr einen guten Morgen. Von weiter oben am Strand hörten sie Geschrei. Die drei Männer winkten und gaben Zeichen. Ellie und Devi standen auf und gingen zu ihnen. Aufrecht im Sand stand eine Tür. Eine hölzerne Tür – mit Türfüllung und einer Klinke aus Messing. Die Tür war mit schwarzgestrichenen Angeln an zwei Pfosten befestigt, die durch Sturz und Schwelle miteinander verbunden waren. Ein Namensschild war nicht zu sehen. Was in keiner Weise ungewöhnlich war. Für die Erde. »Jetzt geh mal auf die andere Seite«, forderte Xi sie auf. Von der Rückseite aus gesehen, war die Tür überhaupt nicht vorhanden. Sie konnte Eda, Waygay und Xi sehen und Devi, die etwas weiter weg stand. Zwischen den vier anderen und ihr selbst lag überall Sand. Sie bewegte sich seitwärts und dabei wurden ihre Fersen von der Brandung feucht. Von der Seite sah sie eine einzige, dunkle und rasiermesserdünne senkrechte Linie. Sie zögerte, sie zu berühren. Sie kehrte wieder auf die Rückseite zurück und versicherte sich, daß es in der Luft vor ihr weder Schatten noch Spiegelungen gab. Dann trat sie hindurch.
»Bravo«, lachte Eda. Sie drehte sich um und sah die geschlossene Tür vor sich. »Was habt ihr gesehen?«, fragte sie. »Eine reizende Frau, die durch eine zwei Zentimeter dicke geschlossene Tür schlenderte.« Waygay schien es trotz des Mangels an Zigaretten gut zu gehen. »Habt ihr versucht, die Tür zu öffnen?« fragte sie. »Noch nicht«, antwortete Xi. Sie trat zurück und bewunderte die Erscheinung der Tür. »Das sieht aus wie etwas von – wie hieß doch dieser französische Surrealist?« fragte Waygay. »René Magritte«, antwortete sie. »Er war Belgier.« »Wenn ich recht verstehe, sind wir alle der Ansicht, daß dies hier nicht wirklich die Erde ist«, sagte Devi. Ihre Handbewegung schloß den Ozean, den Strand und den Himmel mit ein. »Es sei denn, wir sind dreitausend Jahre vor unserer Zeit im Persischen Golf und hier treiben sich Jins herum.« Ellie lachte. »Beeindruckt es dich nicht, wie sorgfältig die Konstruktion ausgeführt ist?« »Doch«, erwiderte Ellie. »Diese Leute sind sehr gut, das gestehe ich ihnen zu. Aber wozu das Ganze? Wofür die Mühe mit all den Details?« »Vielleicht haben sie einfach eine Leidenschaft dafür, alles richtig zu machen.« »Oder sie wollen uns beeindrucken.« »Ich verstehe nicht«, fuhr Devi fort, »woher sie unsere Türen so gut kennen. Überlegt nur mal, wie viele unterschiedliche Möglichkeiten es gibt, eine Tür zu bauen. Wie konnten sie das wissen?« »Es könnte das Fernsehen sein«, gab Ellie zur Antwort. »Auf der Wega hat man die Fernsehsignale von der Erde bis zu den
Programmen von, sagen wir, 1974 empfangen. Offensichtlich können sie die interessanten Aufzeichnungen per Spezialversand in Null Komma Nichts hierher schicken. Wahrscheinlich waren zwischen 1936 und 1974 eine Menge Türen im Fernsehen zu sehen. Gut«, fuhr sie fort, ohne die Stimme zu heben, »was, meint ihr, passiert, wenn wir die Tür öffnen und hindurchgehen?« »Wenn wir hier sind, um geprüft zu werden«, sagte Xi, »dann findet wahrscheinlich auf der anderen Seite der Tür die Prüfung statt, vielleicht eine für jeden von uns.« Er war bereit. Ellie wünschte sich, es auch zu sein. Die Schatten der nächsten Palmen erreichten nun den Strand. Wortlos sahen sie einander an. Alle vier schienen darauf erpicht zu sein, die Tür zu öffnen und hindurchzutre-ten. Nur sie spürte eine gewisse… Zurückhaltung. Sie fragte Eda, ob er vorangehen wolle. Am besten stellen wir gleich unseren repräsentativsten Fuß in die Tür, dachte sie. Eda zog seinen Hut, machte eine leichte, anmutige Verbeugung, drehte sich um und ging auf die Tür zu. Ellie lief ihm nach und küßte ihn auf beide Wangen. Die anderen umarmten ihn auch. Dann drehte er sich wieder um, öffnete die Tür und löste sich in Luft auf: zuerst verschwand der rechte Fuß, zuletzt die Hand auf der Klinke. Während die Tür offenstand, schien es hinter ihm nur die Fortsetzung des Strandes und die Brandung zu geben. Die Tür schloß sich. Ellie lief um sie herum, aber von Eda war keine Spur zu sehen. Xi war der Nächste. Ellie fiel auf, wie erstaunlich fügsam sie alle sich bisher verhalten hatten. Sie waren jeder anonymen Einladung bereitwilligst gefolgt. Man hätte ihnen ja auch sagen können, wohin sie gebracht wurden und wozu das alles gut war, dachte sie. Es hätte ein Teil der BOTSCHAFT sein können, oder man hätte ihnen Informationen zukommen lassen können, nachdem die Maschine gestartet war. Man hätte ihnen sagen können, daß sie auf einem Strand landen würden, der
wie ein Strand der Erde aussah. Man hätte ihnen sagen können, daß eine Tür sie erwartete. Gut, die Außerirdischen waren zwar gebildet, aber vielleicht konnten sie trotzdem nicht genügend Englisch, schließlich war ihr einziger Lehrmeister ja das Fernsehen. Ellies Kenntnisse des Russischen, des Mandarin, des Tamil und des Haussa war vermutlich noch lückenhafter. Aber die Außerirdischen hatten die Sprache erfunden, die sie in dem Schlüssel für die BOTSCHAFT eingeführt hatten. Warum benutzten sie nicht die? Um sie zu überraschen? Waygay sah, wie sie die geschlossene Tür anstarrte, und fragte, ob sie als Nächste eintreten wolle. »Danke, Waygay. Ich war in Gedanken. Ich weiß, es ist ein bißchen verrückt, aber ich habe gerade gedacht: Warum müssen wir durch jeden Reifen springen, den sie für uns hochhalten? Was ist, wenn wir nicht tun, worum sie uns bitten?« » Du bist typisch amerikanisch, Ellie. Für mich ist das genau wie zu Hause. Ich bin es gewöhnt zu tun, was die Obrigkeit verlangt – vor allem, wenn mir nichts anderes übrigbleibt.« Er lächelte und drehte sich schwungvoll auf dem Absatz um. »Glaube dem Großen Führer nicht jeden Mist«, rief sie ihm nach. Hoch oben schrie eine Möwe. Waygay hatte die Tür offengelassen. Dahinter war noch immer nur Strand zu sehen. »Bist du in Ordnung?« fragte Devi sie. »Ich bin okay. Wirklich. Ich möchte nur einen Augenblick allein sein. Ich komme gleich nach.« »Im Ernst, ich frage als Ärztin. Du fühlst dich wie sonst?« »Ich bin mit Kopfschmerzen aufgewacht, und ich glaube, ich habe ziemlich phantastische Sachen geträumt. Ich habe mir weder die Zähne geputzt noch meinen schwarzen Kaffee getrunken. Außerdem hätte ich nichts dagegen, die Zeitung zu lesen. Von all dem abgesehen, geht es mir gut.«
»Gut, das klingt normal. Schließlich habe ich auch ein wenig Kopfschmerzen. Paß auf dich auf, Ellie. Merk dir alles, was du erlebst, damit du es mir erzählen kannst… wenn wir uns das nächste Mal sehen.« »Bestimmt«, versprach Ellie. Sie küßten sich und wünschten sich alles Gute. Devi trat über die Schwelle und verschwand. Die Tür schloß sich hinter ihr. Später meinte Ellie sich zu erinnern, daß sie einen Hauch von Curry gerochen hätte. Sie putzte sich die Zähne mit Salzwasser. In gewissen Dingen war sie schon immer ein wenig eigen gewesen. Zum Frühstück trank sie Kokosmilch. Sorgfältig wischte sie dann den Sand ab, der sich auf dem Gehäuse der Mikrokamera und auf ihrem winzigen Vorrat an Videokassetten, auf denen die Wunder aufgezeichnet waren, angesammelt hatte. Sie spülte den Palmwedel in der Brandung ab, wie sie es an dem Tag getan hatte, als sie ihn am Strand von Cocoa fand, kurz vor ihrem Aufbruch nach Methusalem. Der Morgen war schon warm, und sie beschloß, ein wenig zu schwimmen. Sie ließ ihre Kleider sorgfältig zusammengelegt auf dem Palmwedel zurück und lief mutig in die Brandung. Was immer eintreten mochte, es war unwahrscheinlich, daß die Außerirdischen sich vom Anblick einer nackten Frau erregen lassen würden, auch wenn sie noch ganz gut erhalten war. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie ein Mikrobiologe zum Sexualverbrecher wurde, nachdem er ein Pantoffeltierchen bei der Zellteilung ertappt und beobachtet hatte. Träge ließ sie sich auf dem Rücken treiben und im langsamen Rhythmus der anrollenden Wellenkämme auf und ab schaukeln. Sie versuchte, sich Tausende von vergleichbaren… Kammern vorzustellen, simulierte Welten, welchen Ursprungs auch immer – von denen jede eine peinlich genaue Kopie des schönsten Fleckchens auf dem Heimatplaneten irgendeiner
Spezies war. Tausende davon, jede mit Himmel und Wetter, Meer, Geologie und einheimischen Lebensformen ausgestattet, daß sie vom Original nicht zu unterscheiden war. Die Landschaft hier wirkte wie Verschwendung, aber zugleich weckte sie in Ellie Hoffnung auf einen befriedigenden Ausgang ihrer Reise. Auch wenn man noch so viel konnte, stellte man eine Landschaft dieser Größenordnung nicht für fünf Exemplare einer zum Untergang bestimmten Welt her. Andererseits… Die Vorstellung von Außerirdischen, die sich einen Zoo hielten, war zwar schon zu einer Art Klischee geworden. Was aber, wenn dieser große Bahnhof mit seiner Fülle von Anlegestellen und Abteilungen tatsächlich ein Zoo war? Sie stellte sich einen schneckenköpfigen Anreißer vor, der schrie: »Erleben Sie die exotischsten Tiere in ihrer natürlichen Umgebung!« Touristen kamen von überallher aus der Galaxis, vor allem während der Schulferien. Und wenn eine Prüfung anstand, sperrten die Wärter für eine Weile Viecher und Touristen aus, fegten die Fußspuren vom Sandstrand und gönnten den neuangekommenen Primitiven einen halben Tag Ruhe und Erholung, bevor die Quälerei begann. Oder vielleicht füllten sie ihren Zoo auf diese Weise auf. Ellie dachte an die Tiere, die in irdischen Zoos eingesperrt waren und von denen es hieß, daß es mit der Nachzucht in Gefangenschaft Probleme gab. Sie drehte einen Salto im Wasser und tauchte unter die Oberfläche. Sie schwamm ein paar Züge auf den Strand zu und wünschte sich zum zweitenmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden, ein Kind zu haben. Es war niemand in der Nähe, und man sah kein Segel am Horizont. Einige Möwen stelzten am Strand entlang. Offenbar suchten sie Krebse. Ellie wünschte sich Brot, um sie zu füttern. Sie trocknete sich ab, zog sich an und untersuchte den Eingang
noch einmal. Die Tür stand genauso da wie vorher und wartete. Aber irgend etwas hielt Ellie immer noch davon ab, hineinzugehen. Es war mehr als ein Zögern. Vielleicht war es Furcht. Sie entfernte sich ein paar Schritte, behielt aber die Tür im Auge. Sie setzte sich unter eine Palme, zog die Knie zum Kinn und schaute über die ausgedehnte Fläche des weißen Sandstrandes. Nach einiger Zeit stand sie auf und streckte sich. Sie hielt Palmwedel und Mikrokamera in einer Hand, als sie auf die Tür zuging und die Klinke drückte. Die Tür öffnete sich ein Stück weit. Durch den Türspalt konnte sie die Schaumkronen vor der Küste sehen. Sie stieß noch einmal gegen die Tür, die ohne zu quietschen aufschwang. Der Strand begegnete ihrem Blick höflich und desinteressiert. Sie schüttelte den Kopf, kehrte zu ihrer Palme zurück und nahm wieder ihre nachdenkliche Haltung ein. Sie überlegte, was mit den anderen geschehen sein mochte. Befanden sie sich jetzt in einer exotischen Testeinrichtung und kreuzten eifrig MuItiple-choice-Fragebogen an? Oder handelte es sich um eine mündliche Prüfung? Und wer waren die Prüfer? Wieder fühlte sie die Unruhe in sich aufsteigen. Ein anderes intelligentes Wesen – eines, das sich unabhängig auf einer fernen Welt unter unirdischen physikalischen Bedingungen entwickelt hatte und Produkt einer ganz anderen Folge zufälliger genetischer Mutationen war – ein solches Wesen würde in nichts den Wesen ähnlich sein, die sie kannte. Oder sich überhaupt vorstellen konnte. Wenn das hier eine Teststation war, gab es auch Aufsichtspersonal. Und dieses Personal war durch und durch, auf ganz phantastische Weise, nichtmenschlich. Tief in ihrem Innern hatte sie etwas gegen Insekten, Schlangen und Maulwürfe. Sie gehörte zu denen, die
ein wenig schauderte, ja denen es, offen gestanden, kalt über den Rücken lief, wenn sie mit auch nur geringfügig mißgestalteten Menschen zusammentrafen. Krüppel, mongoloide Kinder, ja sogar die Parkinsonsche Krankheit riefen in ihr – trotz ihrer Anstrengungen, das Gefühl zu unterdrücken – Abscheu hervor und den Wunsch zu fliehen. Im allgemeinen hatte sie ihre Furcht immer beherrschen können, obwohl sie nicht sicher war, ob sie nicht doch schon einmal jemanden verletzt hatte. Sie dachte nicht oft darüber nach. Sobald sie ihre eigene Hilflosigkeit merkte, konzentrierte sie sich auf ein anderes Thema. Jetzt aber machte sie sich Sorgen, daß sie vielleicht nicht in der Lage sein würde, einem außerirdischen Wesen angemessen zu begegnen – geschweige denn, es für die menschliche Rasse einzunehmen. Auf der Erde hatte man nicht daran gedacht, die fünf Wissenschaftler daraufhin zu überprüfen. Man hatte nicht versucht herauszufinden, ob sie sich vor Mäusen oder Zwergen oder Marsmenschen fürchteten. Das war den Prüfungskomitees einfach nicht eingefallen. Ellie fragte sich, warum ihnen das entgangen war. Jetzt erschien es ihr recht naheliegend. Es war ein Fehler gewesen, sie hierher zu schicken. Wenn sie einem schlangenhaarigen galaktischen Beamten gegenüberstand, würde sie sich blamieren – oder noch schlimmer, sie würde schuld daran sein, wenn die Note, mit der die menschliche Rasse in dem geheimnisvollen Test beurteilt wurde, von »bestanden« zu »durchgefallen« kippte. Besorgt und sehnsüchtig zugleich schaute sie die rätselhafte Tür an, deren unterer Rand jetzt unter Wasser lag. Die Flut stieg. Ein paar hundert Meter entfernt stand eine Gestalt am Strand. Zuerst dachte sie, es sei Waygay, der vielleicht früher aus dem Prüfungsraum gekommen war, um ihr die gute Nachricht zu überbringen. Aber wer auch immer es war, er trug nicht den Overall der Besatzung der Maschine. Er schien
auch jünger und kräftiger zu sein. Sie griff nach dem Teleobjektiv und zögerte dann. Sie stand auf und beschattete die Augen mit der Hand. Nur einen Moment lang hatte es so ausgesehen… Das war natürlich unmöglich. So schamlos würden sie sie nicht ausnutzen. Dann konnte sie einfach nicht anders. Mit fliegenden Haaren rannte sie über den harten Sand am Wassersaum auf ihn zu. Er sah aus wie auf dem letzten Bild, das sie von ihm hatte, kräftig und glücklich. Er hatte einen Tag alte Bartstoppeln. Schluchzend warf sie sich in seine Arme. »Hallo, mein Mädchen«, sagte er und strich ihr mit der rechten Hand über den Kopf. Es war seine Stimme. Sie erinnerte sich sofort. Und an seinen Geruch, seine Haltung, sein Lachen. Die Art, wie sein Bart an ihrer Wange kratzte. Das alles brachte ihre Selbstbeherrschung ins Wanken. Sie fühlte, wie eine massive Steinplatte aufgestemmt wurde und die ersten Lichtstrahlen in ein altes, fast vergessenes Grab fielen. Sie schluckte und versuchte, die Kontrolle über sich wiederzugewinnen. Aber in endlos scheinenden Wellen strömte der Schmerz durch sie, und sie mußte wieder weinen. Er stand da und beruhigte sie mit dem gleichen Blick, den er ihr damals vom Fuß der Stufen her zugeworfen hatte, als sie die Reise die große Treppe hinab zum ersten Mal allein gewagt hatte. Nach nichts hatte sie sich so sehr gesehnt wie danach, ihn wiederzusehen, aber sie hatte das Gefühl unterdrückt, sie war darüber ungehalten gewesen, weil der Wunsch so offensichtlich unerfüllbar war. Sie weinte um all die Jahre, die zwischen ihr und ihm standen. Als sie noch ein Mädchen und dann eine junge Frau gewesen war, hatte sie oft geträumt, er käme zu ihr, um ihr zu sagen, daß sein Tod ein Irrtum gewesen sei. In Wirklichkeit ginge es ihm gut. Dann nahm er sie stürmisch in die Arme. Aber stets
bezahlte sie diese kurzen Ruhepausen mit einem bitteren Erwachen in einer Welt, in der es ihn nicht mehr gab. Trotzdem hatte sie diese Träume genährt und bereitwillig den übergroßen Preis dafür bezahlt, wenn sie am nächsten Morgen gezwungen war, den Verlust wieder neu zu entdecken und den Schmerz noch einmal zu durchleben. Diese Augenblicke mit einem Trugbild waren alles, was ihr von ihm geblieben war. Und nun stand er hier – nicht als Traum oder Geist, sondern in Fleisch und Blut. Leibhaftig stand er vor ihr. Er hatte sie von den Sternen aus gerufen, und sie war gekommen. Sie drückte ihn an sich, so fest sie konnte. Sie wußte, daß es ein Trick war, eine Nachbildung, eine Simulation, aber die war fehlerlos. Einen Augenblick lang hielt sie ihn an den Schultern von sich weg. Er war vollkommen. Es war, als ob ihr Vater vor all den vielen Jahren gestorben und in den Himmel gekommen wäre. Und als ob sie es schließlich – auf diesem ungewöhnlichen Weg – geschafft hätte, wieder zu ihm zu kommen. Sie schluchzte und umarmte ihn von neuem. Es dauerte noch eine Weile, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte. Wenn es zum Beispiel Ken gewesen wäre, hätte sie zumindest mit dem Gedanken gespielt, daß ein weiteres Dodekaeder – möglicherweise die reparierte sowjetische Maschine – ihnen von der Erde zum Zentrum der Galaxis gefolgt wäre. Aber in diesem Fall kam die Möglichkeit nicht eine Sekunde in Betracht. Die sterblichen Überreste ihres Vaters ruhten auf einem an einem See gelegenen Friedhof. Sie rieb sich die Augen und weinte und lachte gleichzeitig. »Also, wem verdanke ich diese Erscheinung – den Fortschritten im Roboterbau oder der Hypnose?« »Künstlich geschaffen oder einem Traum entstiegen? Das kannst du bei allem fragen.«
»Auch heute noch vergeht keine Woche, in der ich nicht denke, daß ich alles dafür geben würde – alles, was ich habe –, nur um wieder ein paar Minuten mit meinem Vater zu verbringen.« »Nun, hier bin ich«, sagte er fröhlich. Mit erhobenen Händen drehte er sich um, damit sie sich überzeugen konnte, daß auch sein Rücken vorhanden war. Aber er war so jung, sicherlich jünger als sie. Er war erst sechsunddreißig gewesen, als er starb. Vielleicht war das die Art der Außerirdischen, ihre Ängste zu beruhigen. Wenn das zutraf, dann waren sie wirklich… aufmerksam. Ellie legte den Arm um ihren Vater und ging mit ihm zu ihren wenigen Habseligkeiten zurück. Zumindest fühlte er sich so an, als ob er körperlich vorhanden wäre. Wenn unter seiner Haut Kabelstränge und integrierte Schaltkreise lagen, waren sie gut versteckt. »Wie geht es?« fragte sie. Die Frage war mißverständlich. »Ich meine, sind wir…« »Ich verstehe schon. Vom Empfang der BOTSCHAFT bis zu eurer Ankunft hier hat es lange gedauert.« »Beurteilst du damit unsere Geschwindigkeit oder unsere Genauigkeit?« »Weder noch.« »Willst du damit sagen, wir sind mit dem Test noch gar nicht fertig?« Er antwortete nicht. »Kannst du mir nicht alles erklären?« Ihre Stimme klang unglücklich. »Manche von uns haben Jahre damit verbracht, die BOTSCHAFT zu entziffern und die Maschine zu bauen. Willst du mir nicht sagen, was das alles soll?« »Du bist richtig streitlustig geworden«, sagte er, als ob er wirklich ihr Vater wäre und seine letzten Erinnerungen an sie
mit ihrem jetzigen, immer noch unvollkommen entwickelten Selbst vergleichen würde. Liebevoll zauste er ihr das Haar. Auch daran erinnerte sie sich noch von ihrer Kindheit her. Aber wie konnten die Außerirdischen in 30000 Lichtjahren Entfernung von der Erde die liebevollen Gesten ihres Vaters kennen, wie sie vor langer Zeit im fernen Wisconsin seine Eigenart gewesen waren? Plötzlich wußte sie es. »Träume«, sagte sie. »Als wir heute nacht alle geträumt haben, wart ihr in unseren Köpfen, nicht wahr? Ihr habt alles aus uns herausgesaugt, was wir wissen.« »Wir haben nur Kopien gemacht. Ich glaube, alles, was sonst in deinem Kopf ist, ist auch jetzt noch dort. Sieh mal nach. Sag mir, wenn etwas fehlt.« Er grinste und fuhr fort: »Eure Fernsehsendungen haben uns so vieles nicht gezeigt. Wir konnten zwar eure technologische Entwicklungsstufe sehr gut abschätzen und auch sonst viel über euch erfahren. Aber in eurer Rasse steckt noch sehr viel mehr, Dinge, die wir keinesfalls auf so indirekte Weise herausfinden konnten. Wahrscheinlich wirst du das als Einbruch in deine Privatsphäre empfinden…« »Du machst Witze.« »… aber wir haben nur wenig Zeit.« »Soll das heißen, daß die Prüfung vorbei ist? Haben wir all eure Fragen beantwortet, während wir nachts schliefen? Also? Haben wir bestanden oder sind wir durchgefallen?« »So ist das nicht«, sagte er. »Es ist keine Aufnahmeprüfung.« In dem Jahr, in dem er starb, hatte sie vor dem Übergang in die High School gestanden. »Du darfst dir uns nicht wie interstellare Sheriffs vorstellen, die vogelfreie Zivilisationen abknallen. Nimm uns eher als eine Art Institut für Galaktische Volkszählung. Wir sammeln Informationen. Ich weiß, daß ihr denkt, niemand könne von
euch etwas lernen, weil ihr technologisch so rückständig seid. Aber eine Zivilisation kann auch andere Vorzüge haben.« »Zum Beispiel?« »Oh, Musik. Herzensgüte – übrigens ein Wort, das mir besonders gut gefällt. Träume. Die Menschen sind sehr gut im Träumen, obwohl man das aus euren Fernsehprogrammen nie schließen würde. Überall in der Galaxis gibt es Kulturen, die mit Träumen Handel treiben.« »Ihr betreibt einen interstellaren Kulturaustausch? Ist es das? Ist es euch egal, wenn eine raubgierige, blutrünstige Zivilisation interstellare Raumfahrt betreibt?« »Ich sagte, wir bewundern Herzensgüte.« »Wenn die Nazis die Herrschaft über unsere Welt übernommen und die interstellare Raumfahrt entwickelt hätten, wärt ihr dann nicht eingeschritten?« »Du wärst überrascht, wenn du wüßtest, wie selten so etwas vorkommt. Auf lange Sicht zerstören sich die aggressiven Zivilisationen fast immer selbst. Es liegt in ihrer Natur. Sie können nicht anders. In einem solchen Fall wäre es unsere Aufgabe, sie in Ruhe zu lassen. Dafür zu sorgen, daß niemand sie belästigt. Damit sie ihr Schicksal erfüllen können.« »Warum habt ihr dann uns nicht in Ruhe gelassen? Ich beschwere mich nicht, verstehe mich nicht falsch. Ich bin nur neugierig, wie das Institut für Galaktische Volkszählung arbeitet. Das erste, was ihr von uns aufgefangen habt, war die Sendung mit Hitler. Warum habt ihr dann doch noch Kontakt aufgenommen?« »Die Bilder waren natürlich beunruhigend. Wir konnten sehen, daß ihr in großen Schwierigkeiten steckt. Aber die Musik hat uns etwas anderes gesagt. Dieser Beethoven sagte uns, daß es Hoffnung gibt. Grenzfälle sind unsere Spezialität. Wir dachten, ihr könntet ein wenig Hilfe gebrauchen. Freilich
können wir euch nur wenig anbieten. Du verstehst schon. Es gibt gewisse Grenzen, die uns von der Kausalität gesetzt sind.« Er hatte sich hingehockt und die Hände ins Wasser getaucht. Jetzt trocknete er sie an seiner Hose ab. »Letzte Nacht haben wir in euch hineingeschaut. In alle fünf. Es steckt viel in euch: Gefühle, Erinnerungen, Instinkte, angelerntes Verhalten, Einsichten, Verrücktheit, Träume, Liebe. Liebe ist sehr wichtig. Ihr seid eine interessante Mischung.« »Und das alles in einer Nacht?« zog sie ihn ein wenig auf. »Wir mußten uns beeilen. Unser Zeitplan ist ziemlich eng.« »Warum, soll etwas…« »Nein, es ist nur so: Wenn nicht wir eine konsistente Kausalität konstruieren, entwickelt sie sich von selbst. Das ist fast immer schlechter.« Sie hatte keine Ahnung, was er meinte. » ›Eine konsistente Kausalität konstruieren.‹ So hat mein Papa nie geredet.« »Aber sicher. Kannst du dich nicht erinnern? Er war ein belesener Mann, und seit du ein kleines Mädchen warst, hat er – habe ich – mit dir wie mit seinesgleichen geredet. Erinnerst du dich nicht?« Sie erinnerte sich. Ja, sie erinnerte sich. Und sie mußte an ihre Mutter im Pflegeheim denken. »Was für ein hübscher Anhänger«, sagte er in genau dem Tonfall väterlicher Anteilnahme, den sie sich als Heranwachsende immer sehnsüchtig ausgemalt hatte, als er schon tot war. »Von wem hast du ihn?« »Ach das«, sagte sie und nestelte an dem Medaillon herum. »Eigentlich ist es von jemandem, den ich gar nicht so gut kenne. Er wollte meinen Glauben auf die Probe stellen… Er… Aber das mußt du eigentlich schon alles wissen.« Wieder das breite Lächeln. »Ich möchte wissen, was du von uns hältst«, sagte sie kurz angebunden, »was du wirklich von uns hältst.« Er zögerte
keinen Augenblick. »Gut. Ich finde es erstaunlich, daß ihr euch so gut gehalten habt. Ihr habt so gut wie keine soziologische Theorie, erstaunlich rückständige Wirtschaftssysteme, keine Vorstellung von der Funktionsweise historischer Voraussage und sehr wenig Wissen über euch selbst. Wenn man in Betracht zieht, wie schnell sich eure Welt verändert, ist es verwunderlich, daß ihr euch bis jetzt noch nicht in die Luft gejagt habt. Deshalb wollten wir euch noch nicht abschreiben. Ihr Menschen habt ein gewisses Talent zur Anpassung – jedenfalls kurzfristig.« »Das ist der eigentliche Kernpunkt, nicht wahr?« »Das ist ein Kernpunkt. Man kann sehen, daß die Zivilisationen, die nur kurzfristige Perspektiven haben, nach einer Weile einfach nicht mehr da sind. Auch sie erfüllen ihr Geschick.« Sie wollte ihn fragen, was er für die Menschen wirklich empfand. Neugier? Mitleid? Oder überhaupt nichts? War es nur ein Job? Dachte er im Grunde seines Herzens – oder des entsprechenden inneren Organs, das er besaß – von ihr wie sie von einer… Ameise? Aber sie brachte es nicht über sich, die Frage zu stellen. Sie hatte zu viel Angst vor der Antwort. Aus dem Klang seiner Stimme und zwischen seinen Worten versuchte sie herauszuhören, wer sich hier als ihr Vater getarnt hatte. Sie hatte außerordentlich viel Erfahrung im Umgang mit Menschen. Die Beamten der Station hier hatten dagegen erst seit heute solche Erfahrungen sammeln können. Ob es ihr gelingen konnte, hinter dieser liebenswürdigen und so gesprächsbereiten Fassade etwas von ihrer wahren Natur zu erkennen? Sie konnte es nicht. Dem Inhalt seiner Worte nach war er natürlich nicht ihr Vater und gab auch gar nicht vor, es zu sein. Aber in jeder anderen Hinsicht war er Theodore F. Arroway, geboren 1924, gestorben 1960, Führer eines Haushaltswarengeschäfts und liebender Vater und Ehemann,
unheimlich ähnlich. Wenn sie sich nicht bewußt zusammennahm, würde sie für diese… Kopie bald kindisch schwärmen, das wußte sie. Ein Teil von ihr wollte ihn immer noch fragen, wie es ihm ergangen sei, seit er in den Himmel gekommen war. Was hielt er von Christi Wiederkunft und der Himmelfahrt der Gläubigen? Hatten die Vorbereitungen auf das Reich Gottes einen Sinn? Es gab menschliche Kulturen, in denen man sich für die Seligen ein Leben nach dem Tode auf Bergspitzen oder in Wolken vorstellte, oder in Höhlen oder Oasen, aber ihr fiel keine ein, die lehrte, daß man, wenn man vor dem Tode sehr, sehr brav war, ans Meer kam. »Haben wir noch Zeit für ein paar Fragen, bevor… wir tun, was wir als nächstes tun sollen?« »Sicher. Für ein oder zwei jedenfalls.« »Erzähle mir von eurem Verkehrssystem.« »Da weiß ich etwas Besseres«, sagte er. »Ich kann es dir zeigen. Erschrecke jetzt nicht.« Formlose Schwärze tropfte vom Zenit und verdunkelte die Sonne und den blauen Himmel. »Das ist ja ungeheuerlich«, stammelte sie. Unter ihren Füßen war noch derselbe sandige Strand. Sie grub die Zehen in den Sand. Über ihr… war der Kosmos. Sie befanden sich, wie es schien, hoch über der Galaxis, sahen auf ihre spiralförmige Beschaffenheit hinab und stürzten mit einer unmöglichen Geschwindigkeit auf sie zu. Sachlich erklärte er ihr, indem er die ihr vertraute wissenschaftliche Ausdrucksweise benutzte, die riesige, windmühlenartige Struktur. Er zeigte ihr den Spiralarm des Orion, in den die Sonne in dieser Epoche eingebettet war. In seinem Innern, in absteigender Reihenfolge gemäß ihrer mythologischen Bedeutung angeordnet, befanden sich der Sagittarius-Arm, der Norma/Scutum-Arm und der DreiKiloparsec-Arm. Ein Netz gerader Linien wurde sichtbar. Es stellte das Verkehrssystem dar, das sie benutzt hatten. Es sah
aus wie die beleuchteten Pläne in der Pariser Metro. Eda hatte recht gehabt. Die Stationen befanden sich in Sternensystemen mit einem doppelten Schwarzen Loch niedriger Masse. Sie wußte, daß die Schwarzen Löcher nicht aus kollabierenden Sternen, aus der normalen Evolution massiver Sternensysteme, entstanden sein konnten, denn dafür waren sie zu klein. Vielleicht gab es sie von allem Anfang an, vielleicht waren sie vom Urknall übriggeblieben und von irgendeinem unvorstellbaren Sternenschiff eingefangen und an den entsprechenden Stationen befestigt worden. Oder man hatte sie gebaut. Sie wollte ihn danach fragen, aber ihre Fahrt ging mit atemberaubender Geschwindigkeit weiter. Etwa im Zentrum der Galaxis drehte sich eine Scheibe aus glühendem Wasserstoff, und aus ihrem Innern stob ein Ring von Molekülwolken heraus, auf die Peripherie der Milchstraße zu. Ihr Vater zeigte ihr die geordneten Bewegungen in dem gigantischen Komplex der Molekülwolke Schütze B 2, die jahrzehntelang für ihre irdischen Kollegen in der Radioastronomie einer der beliebtesten Jagdgründe für komplexe organische Moleküle gewesen war. Näher beim Zentrum trafen sie eine weitere riesenhafte Molekülwolke an und dann Schütze A West, eine starke Quelle von Radiowellen, die Ellie selbst von Argus aus beobachtet hatte. Unmittelbar daran anschließend, im Zentrum der Galaxis und in einer leidenschaftlichen Schwerkraftumarmung verbunden, befand sich ein Paar gewaltiger Schwarzer Löcher. Jedes von ihnen hatte die Masse von fünf Millionen Sonnen. Gasströme von der Größe eines Sonnensystems ergossen sich in ihren Rachen. Zwei kolossale oder supermassive – Ellie konnte es gar nicht mit Hilfe einer irdischen Sprache ausdrücken – Schwarze Löcher umkreisten einander im Zentrum der Galaxis. Eines davon war bekannt, oder zumindest vermutete man, daß es existierte. Aber zwei? Hätte sich das nicht als
Doppler-Verschiebung der Spektrallinien bemerkbar machen müssen? Sie stellte sich vor, daß unter dem einen ein Schild mit der Aufschrift EINGANG hing und unter dem anderen eines mit AUSGANG. Im Augenblick war der Ausgang in Betrieb, während der Eingang einfach nur da war. Und sie waren also hier in diesem Bahnhof, der Grand Central Station – gerade in sicherer Entfernung von den Schwarzen Löchern im Zentrum der Galaxis. In der Nähe leuchtete der Himmel von Millionen junger Sterne. Aber die Sterne, das Gas und der Staub wurden im Laufe langer Zeitalter von dem Schwarzen Loch, das den Eingang bildete, verschluckt. »Das führt doch irgendwohin, oder?« fragte sie. »Natürlich.« »Kannst du mir sagen, wohin?« »Sicher. Das ganze Zeug landet in Cygnus A.« Cygnus A war etwas, womit sie sich auskannte. Mit Ausnahme des in der Nähe liegenden Supernovaüberrestes in der Kassiopeia war es die klarste Radioquelle am Himmel über der Erde. Ellie hatte errechnet, daß Cygnus A in einer Sekunde mehr Energie freisetzte als die Sonne in 40000 Jahren. Die Radioquelle lag 600 Millionen Lichtjahre weit entfernt, weit hinter der Milchstraße, draußen in der Sphäre der Galaxien. Wie das bei vielen außerhalb der Galaxis liegenden Radioquellen der Fall war, verursachten zwei gewaltige Gasströme, die sich fast mit Lichtgeschwindigkeit voneinander fortbewegten, zusammen mit dem dünnen, intergalaktischen Gas ein komplexes Geflecht von Rankine-Hugoniotschen Schockfronten. Dabei entstand ein Funksignal, das deutlich über den größten Teil des Universums hinweg zu erkennen war. Die gesamte Materie dieser riesenhaften Struktur von 50000 Lichtjahren Durchmesser floß aus einem winzigen, fast unsichtbaren Punkt im Raum genau in der Mitte zwischen den beiden Strömen. »Ihr stellt Cygnus A selber her?«
Sie erinnerte sich vage an eine Sommernacht in Michigan, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie hatte gefürchtet, in den Himmel zu stürzen. »Das sind nicht nur wir. Es ist ein… Gemeinschaftsprojekt vieler Galaxien. Damit beschäftigen wir uns hauptsächlich – mit fortgeschrittener Technik. Dagegen haben nur wenige von uns mit Zivilisationen zu tun, die sich erst noch entwickeln müssen.« Jedesmal, wenn er stockte, spürte sie eine Art Prickeln im Kopf, in der Gegend des linken Scheitellappens. »Es gibt also Gemeinschaftsprojekte mehrerer Galaxien?« fragte sie. »Vieler Galaxien, von denen jede ihre eigene Zentralverwaltung hat? Und jede Galaxie besteht aus hundert Milliarden Sternen. Und diese Verwaltungen arbeiten dann zusammen. Um Millionen von Sonnen in den Centaurus… Entschuldigung, in Cygnus A zu stürzen? Die… entschuldige bitte, ich bin von den Ausmaßen ganz durcheinander. Warum tut ihr das alles? Wofür denn?« »Du darfst dir das Universum nicht als Wildnis vorstellen. Das ist es seit Milliarden von Jahren nicht mehr«, sagte er. »Stelle es dir eher… kultiviert vor.« Wieder das Prickeln. »Aber wofür? Was gibt es da zu kultivieren?« »Das grundlegende Problem läßt sich leicht darlegen. Laß dich nicht von großen Zahlen abschrecken. Schließlich bist du doch Astronomin. Das Problem besteht darin, daß sich das Universum ausdehnt und nicht genügend Materie enthält, die das Auseinanderfallen aufhalten könnte. Nach einiger Zeit gibt es dann keine neuen Galaxien mehr, keine neuen Sterne, keine neuen Planeten, keine neu entstehenden Lebensformen – nur immer die alte Besetzung. Alles wird baufällig. Das wird langweilig. Deshalb erproben wir in Cygnus A eine Technologie, mit der man etwas Neues machen kann. Man könnte es ein Experiment in Stadtsanierung nennen. Es ist nicht unser einziger Testlauf. Irgendwann einmal möchten wir
einen Teil des Universums abriegeln, um zu verhindern, daß der Weltraum im Laufe der Äonen immer leerer wird. Dazu müssen wir natürlich die Dichte der Masse vor Ort erhöhen. Das ist eine harte, aber lohnende Arbeit.« Wie das Führen eines Haushaltswarengeschäfts in Wisconsin. Wenn Cygnus A 600 Millionen Lichtjahre entfernt war, dann sahen ihn die Astronomen auf der Erde – oder in diesem Fall auf der Milchstraße – so, wie er vor 600 Millionen Jahren gewesen war. Auf der Erde jedoch hatte es vor 600 Millionen Jahren, wie sie wußte, sogar in den Ozeanen kaum Lebewesen von nennenswerter Größe gegeben. Vor 600 Millionen Jahren an einem Strand wie diesem hier… nur ohne Krebse, Möwen und Palmen. Sie versuchte, sich eine mikroskopisch kleine Pflanze vorzustellen, die an Land gespült wurde und zitternd knapp oberhalb der Wasserlinie Fuß faßte, während sich diese Wesen mit experimenteller Galaktogenese und den Anfangsgründen kosmischer Technologie befaßten. »Ihr habt während der letzten 600 Millionen Jahre Materie in Cygnus A geschüttet?« »Na ja, was ihr mit Hilfe der Radioastronomie entdeckt habt, war nur einer unserer frühen Testläufe. Wir sind jetzt viel weiter.« Und in der entsprechenden Zeit von einigen weiteren hundert Millionen Jahre würden die Radioastronomen auf der Erde – wenn es dann noch welche gab – wesentliche Fortschritte im Wiederaufbau des Universums um Cygnus A entdecken. Sie wappnete sich für weitere Enthüllungen und nahm sich vor, sich nicht einschüchtern zu lassen. Es gab eine Hierarchie der Lebewesen von einem Umfang, wie sie es sich nicht vorgestellt hatte. Aber die Erde hatte ihren Platz, ihre Bedeutung in dieser Hierarchie. Sonst hätte man sich hier nicht so viel Mühe mit ihr gemacht. Die Schwärze zog sich wieder zum Zenit zurück und wurde aufgesogen. Wieder erschienen
die Sonne und der blaue Himmel. Um sie sah es aus wie zuvor: Brandung, Sand, Palmen, die Magritte-Tür, Mikrokamera und Palmwedel und ihr… ihr Vater. »Die sich bewegenden interstellaren Wolken und Ringe in der Nähe des Zentrums der Galaxis – die entstehen doch durch regelmäßige Explosionen hier in der Gegend? Ist es aber dann nicht gefährlich, die Station hier einzurichten?« »Ab und zu gibt es Explosionen, nicht regelmäßig. Relativ selten sogar. Es ist nicht das gleiche wie das, was wir bei Cygnus A machen. Mit den Explosionen hier werden wir leicht fertig. Wir wissen, wann es soweit ist, und im allgemeinen ziehen wir dann einfach den Kopf ein. Wenn es wirklich gefährlich wird, verlegen wir die Station für eine Weile. Das ist für uns Routinearbeit, verstehst du?« »Natürlich. Routine. Ihr habt das alles gebaut? Ich meine die U-Bahnen. Ihr und diese anderen… Ingenieure von anderen Galaxien?« »Nein, nein, wir haben nichts davon gebaut.« »Dann habe ich etwas nicht mitbekommen. Hilf mir, es zu verstehen.« »Es scheint überall das gleiche zu sein. In unserem Fall war es so: Wir tauchten vor langer Zeit auf verschiedenen Welten der Milchstraße auf. Zuerst entwickelten wir den interstellaren Raumflug, dann kamen wir schließlich durch Zufall zu einer der Durchgangsstationen. Natürlich wußten wir zunächst nicht, was das war. Wir waren nicht einmal sicher, ob es etwas Künstliches war, bis die ersten von uns mutig genug waren, hinunterzurutschen.« »Wer ist ›wir‹? Meinst du die Vorfahren deiner… Rasse, deiner Art?« »Nein, nein. Wir sind viele Arten aus vielen Welten. Schließlich fanden wir eine große Anzahl U-Bahnen – sie waren unterschiedlich alt, auf unterschiedliche Weise gestaltet
und alle verlassen. Die meisten waren noch in gutem Zustand. Wir haben sie nur repariert und ein paar Verbesserungen angebracht.« »Und es gab keine anderen solcher Artefakte? Keine toten Städte? War von den Erbauern der Untergrundbahn niemand übrig?« Er schüttelte den Kopf. »Keine industrialisierten, verlassenen Planeten?« Wieder schüttelte er den Kopf. »Es gab also eine über die gesamte Galaxis verbreitete Zivilisation, die ihre Sachen gepackt hat und weggegangen ist, ohne eine Spur zu hinterlassen – abgesehen von den Bahnhöfen?« »Das ist mehr oder weniger richtig. In anderen Galaxien war es das gleiche. Vor Milliarden von Jahren sind sie alle irgendwohin gegangen. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wohin.« »Aber wo hätten sie denn hingehen können?« Er schüttelte zum dritten Mal den Kopf, jetzt sehr langsam. »Ihr seid also nicht…« »Nein, wir sind nur die Verwalter«, sagte er. »Vielleicht werden sie eines Tages zurückkommen.« »Gut, noch eine Frage«, bat sie. Sie streckte den Zeigefinger bittend in die Höhe, wie sie es wahrscheinlich im Alter von zwei Jahren immer getan hatte. »Noch eine Frage.« »In Ordnung«, antwortete er geduldig. »Aber wir haben nur noch wenige Minuten Zeit.« Sie warf einen Blick auf die Tür und unterdrückte ein Schaudern, als ein kleiner, fast durchsichtiger Krebs vorbeikrabbelte. »Ich möchte etwas über eure Mythen wissen, über eure Religionen. Wovor habt ihr Ehrfurcht? Oder können die, die selbst das Numinose sind, keine Ehrfurcht davor empfinden?«
»Auch ihr seid ein Teil des Numinosen. Nein, ich weiß, wonach du fragst. Sicher empfinden wir es. Du merkst, daß ich dir manches davon nur schwer vermitteln kann. Ich will dir ein Beispiel dafür geben. Vielleicht trifft es nicht ganz exakt, aber es wird dir einen…« Er hielt kurz inne, und wieder spürte sie ein Prickeln, dieses Mal im linken hinteren Scheitellappen. Sie hatte den Eindruck, daß er zwischen ihren Neuronen herumsuchte. War ihm in der Nacht etwas entgangen? Wenn ja, war sie froh. Das bedeutete, daß auch diese Wesen nicht vollkommen waren. »…Eindruck von dem geben, was für uns das Numinose ist. Es geht um Pi, um das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser. Du kennst das natürlich genau und weißt auch, daß man das Ende von Pi nie erreicht. Es gibt kein Wesen im Universum, es mag auch noch so klug sein, das Pi bis auf die letzte Stelle errechnen könnte – weil es keine letzte Stelle gibt, sondern nur eine unendliche Anzahl von Stellen. Eure Mathematiker haben sich bemüht, das auszurechnen bis auf die…« Wieder spürte sie das Prickeln. »… keiner von euch scheint das so genau zu wissen… sagen wir, bis auf die zehnmilliardste Stelle genau. Es wird dich nicht überraschen zu hören, daß andere Mathematiker weiter gegangen sind. Nun, schließlich – nehmen wir an, bei der zehn hoch zwanzigsten Stelle – passiert etwas. Die zufällig wechselnden Ziffern verschwinden und eine unglaublich lange Zeit gibt es nur Einsen und Nullen.« Träge zeichnete er mit der Zehe einen Kreis in den Sand. Sie wartete einen Augenblick, bevor sie etwas sagte. »Und die Nullen und Einsen hören schließlich auf? Folgt dann wieder eine Zufallsfolge von Ziffern?« Als sie ein schwaches Zeichen der Zustimmung sah, fuhr sie schnell fort: »Und die Anzahl der Nullen und Einsen? Ist sie ein Produkt aus Primzahlen?« »Ja, aus elf Primzahlen.«
»Du willst sagen, tief im Innern der Zahl Pi sei eine elfdimensionale Botschaft verborgen? Jemand im Universum kommuniziere mittels… der Mathematik? Aber… hilf mir weiter, es fällt mir wirklich schwer, deine Ausführungen zu verstehen. Die Mathematik ist nicht willkürlich. Ich meine, Pi muß überall denselben Wert haben. Wie kann man im Innern von Pi eine Botschaft verstecken? Pi gehört zum Aufbau des Universums.« »Genau.« Sie starrte ihn an. »Es kommt noch besser«, fuhr er fort. »Angenommen, die Folge von Nullen und Einsen taucht nur beim Rechnen mit der Grundzahl Zehn auf, obwohl man auch bei jeder anderen Art zu rechnen merken würde, daß sich etwas Sonderbares tut. Nehmen wir auch an, daß die Wesen, die als erste diese Entdeckung gemacht haben, zehn Finger hatten. Verstehst du, was das heißt? Es ist, als ob Pi Milliarden von Jahren lang darauf gewartet hätte, daß zehnfingrige Mathematiker mit schnellen Computern daherkommen. Du verstehst, die BOTSCHAFT war in gewisser Weise an uns gerichtet.« »Aber das ist doch nur eine Metapher, oder? Es dreht sich nicht wirklich um Pi und die zehn hoch zwanzigste Stelle? In Wirklichkeit hast du nicht zehn Finger.« »Eigentlich nicht.« Er lächelte sie wieder an. »Also, in Gottes Namen, wie heißt die BOTSCHAFT?« Er hielt einen Moment inne, dann hob den Zeigefinger und deutete auf die Tür. Sie hatte sich geöffnet und aus ihr strömte eine kleine Gruppe von Leuten, die sich angeregt miteinander unterhielten. Sie waren vergnügter Stimmung, wie auf einem lange aufgeschobenen Picknickausflug. Eda war in Begleitung einer umwerfenden jungen Frau, die mit Rock und Bluse in leuchtenden Farben bekleidet war und das Haar ordentlich mit
einem gele bedeckt hatte, einem Spitzentuch, das die moslemischen Frauen im Land der Yoruba zu tragen pflegten. Offensichtlich war er überglücklich, sie zu sehen. Ellie erinnerte sich an Photos, die er ihr gezeigt hatte, und erkannte sie als Edas Frau. Devi Sukhavati hielt einen ernsten jungen Mann mit großen, melancholischen Augen bei der Hand. Sie nahm an, daß es Surindar Ghosh war, der vor langer Zeit verstorbene Medizinstudent, mit dem Devi verheiratet gewesen war. Xi unterhielt sich angeregt mit einem kleinen, kräftigen Mann von gebieterischem Auftreten. Er trug einen dünnen, herabhängenden Oberlippenbart und war in ein reich mit Brokat besetztes und mit Perlen besticktes Gewand gekleidet. Ellie stellte sich vor, wie er den Bau des Modells des Reichs der Mitte persönlich überwachte und den Männern, die das Quecksilber in die Flüsse gössen, Anweisungen erteilte. Waygay kam mit einem Mädchen von elf oder zwölf Jahren zu ihr, dessen blonde Zöpfe beim Gehen wippten. »Das ist meine Enkelin Nina… mehr oder weniger. Meine Große Führerin. Ich hätte sie euch schon früher vorstellen sollen. In Moskau.« Ellie umarmte das Mädchen. Sie war erleichtert, daß Waygay nicht mit Meera, der Striptänzerin, erschienen war. Ellie merkte, wie zärtlich er Nina gegenüber war, und entschied, daß sie ihn noch mehr als zuvor mochte. Während all der Jahre, die sie ihn kannte, hatte er diesen geheimen Platz in seinem Herzen gut verborgen gehalten. »Ich bin ihrer Mutter kein guter Vater gewesen«, vertraute er Ellie an. »In letzter Zeit sehe ich Nina kaum noch.« Sie sah sich um. Die Stationsbeamten hatten jedem der fünf das herbeigezaubert, was ihm das liebste war. Vielleicht war das ihre Methode, Kommunikationsbarrieren gegenüber anderen, so erschreckend andersartigen Rassen zu verringern. Ellie war zumindest froh darüber, daß keiner sich glücklich mit einer Kopie von sich selbst unterhielt. Was wäre, wenn man das auch auf der Erde
tun könnte? fragte sie sich. Was wäre, wenn man sich trotz aller Verstellungs- und Geheimhaltungsversuche in der Öffentlichkeit mit der Person zeigen müßte, die man am meisten liebte? Man stelle sich vor, es wäre eine Bedingung für den gesellschaftlichen Umgang auf der Erde! Das würde alles verändern. Sie stellte sich vor, wie eine Phalanx von Angehörigen eines Geschlechts ein einzelnes Mitglied des anderen Geschlechts umringte. Oder Ketten von Leuten. Kreise. Die Buchstaben »H« oder »Q«. Faule Achter. Man könnte Zuneigung mit einem Blick auf ihre Tiefe überprüfen, indem man einfach die geometrische Form anschaute – eine Art allgemeiner Relativität, angewandt auf die Sozialpsychologie. Die praktischen Schwierigkeiten einer solchen Konstruktion wären beträchtlich, aber niemand würde mehr in der Liebe lügen können. Die Stationsbeamten mahnten höflich, aber bestimmt zur Eile. Es war nicht mehr viel Zeit zum Reden. Der Eingang zur Luftschleuse des Dodekaeders war wieder sichtbar, ungefähr dort, wo er bei ihrer Ankunft gewesen war. Zum Ausgleich, oder vielleicht aufgrund eines interdimensionalen Erhaltungsgesetzes, war die Magritte-Tür verschwunden. Sie stellten sich einander vor. Ellie kam sich in mehr als einer Hinsicht albern vor, als sie Kaiser Qin auf englisch erklärte, wer ihr Vater war. Aber Xi übersetzte pflichtschuldigst, und die beiden gaben sich feierlich die Hand wie bei einer zufälligen ersten Begegnung, etwa bei einer Grillparty in der Vorstadt. Edas Frau war eine richtige Schönheit, und Surindar Ghosh sah sie nicht nur einmal kurz an. Devi schien das nichts auszumachen. Vielleicht war sie einfach zufrieden mit der Genauigkeit des Trugbilds. »Wo hast du dich wiedergefunden, als du durch die Tür getreten bist?« fragte Ellie sie leise.
»Maidenhall Way 416«, antwortete sie. Ellie sah sie verständnislos an. »London 1973. Mit Surindar.« Sie deutete mit dem Kopf zu ihm hinüber. »Vor seinem Tod.« Ellie fragte sich, was sie wohl vorgefunden hätte, wenn sie die Schwelle auf dem Strand überschritten hätte. Wahrscheinlich Wisconsin in den späten fünfziger Jahren. Sie war nicht planmäßig aufgetaucht, also war er gekommen, um sie abzuholen. In Wisconsin hatte er das mehr als einmal getan. Auch Eda hatte von einer Botschaft tief im Innern einer transzendenten Zahl erfahren, aber in seiner Geschichte handelte es sich weder um p noch um e, die Basis der natürlichen Logarithmen, sondern um eine Klasse von Zahlen, von der Ellie noch nie gehört hatte. Da es unendlich viele transzendente Zahlen gab, würden sie nie sicher wissen, welche Zahl sie nach ihrer Rückkehr zur Erde untersuchen sollten. »Ich wäre so wahnsinnig gerne geblieben, um daran zu arbeiten«, erzählte Eda ihr leise, »und ich habe gespürt, daß sie Hilfe brauchen – neue, unkonventionelle Methoden, über Lösungen nachzudenken. Aber ich glaube, ihnen bedeutet das etwas sehr Persönliches. Sie wollen es mit niemandem teilen. Und wenn ich es realistisch sehe, muß ich davon ausgehen, daß wir einfach nicht klug genug sind, um ihnen zu helfen.« Sie hatten die Botschaft in p nicht entziffert? Die Stationsbeamten, die Verwalter, die Planer neuer Galaxien hatten eine Botschaft noch nicht ausgerechnet, mit der sie schon seit ein oder zwei galaktischen Umdrehungen konfrontiert waren? War die Botschaft so schwierig, oder waren sie…? »Zeit zur Heimreise«, sagte ihr Vater freundlich. Es war schmerzlich. Sie wollte nicht gehen. Sie starrte den Palmwedel an. Sie versuchte, noch weitere Fragen zu stellen. »Was meinst du mit ›Heimreise‹? Werden wir irgendwo im
Sonnensystem auftauchen? Wie kommen wir auf die Erde zurück?« »Ihr werdet sehen«, antwortete er. »Es wird euch interessieren.« Er legte den Arm um ihre Taille und führte sie zur Tür der Luftschleuse, die offen stand. Es kam ihr vor, als ob es Zeit wäre, ins Bett zu gehen. Wenn man nett war und kluge Fragen stellte, ließen sie einen vielleicht noch ein bißchen aufbleiben. Es hatte immer gewirkt, wenigstens ein bißchen. »Die Erde ist jetzt an das Verkehrsnetz angeschlossen, nicht wahr? In beiden Richtungen. Wenn wir heimfahren können, könnt auch ihr ganz rasch zu uns herunterkommen. Weißt du, das macht mich schrecklich nervös. Warum löst ihr die Verbindung nicht einfach? Wir nehmen sie einfach von hier mit.« »Tut mir leid, mein Mädchen«, erwiderte er, als ob sie ihre Schlafenszeit von acht Uhr bereits unverschämt weit überzogen hätte. Tat es ihm leid wegen der Schlafenszeit oder weil er nicht bereit war, den Tunnel abzukoppeln? »Zumindest eine Zeitlang wird er nur für den ankommenden Verkehr geöffnet sein«, sagte er. »Aber wir haben nicht vor, ihn zu benutzen.« Über die Isolation der Erde von der Wega wäre sie froh gewesen. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn zwischen ungehörigem Betragen auf der Erde und der Ankunft einer Strafexpedition ein Spielraum von zweiundfünfzig Jahren gelegen hätte. Die Verbindung durch die Schwarzen Löcher war ihr unbehaglich. Sie konnten fast augenblicklich ankommen, vielleicht nur in Hokkaido, vielleicht überall auf der Erde. Es war ein Übergangsstadium zur Mikrointervention, wie Hadden sie genannt hatte. Was für Versicherungen sie ihnen auch gaben, sie würden die Menschen jetzt genauer
beobachten. Nicht mehr nur alle paar Millionen Jahre einmal kurz nachschauen. Sie dachte genauer über ihr Unbehagen nach. Die Umstände waren so… theologisch… geworden. Hier waren Wesen, die im Himmel lebten, ungeheuer viel wußten und mächtig waren, Wesen, die sich um das Überleben der Menschen sorgten, Wesen, die bestimmte Erwartungen hatten, wie die Menschen sich verhalten sollten. Sie stritten diese Rolle ab, aber es gab keinen Zweifel: Sie konnten Belohnung und Strafe, Leben und Tod über die kümmerlichen Bewohner der Erde verhängen. Wie unterschied sich das überhaupt von den Religionen früherer Zeiten? Die Antwort fiel ihr sofort ein: Es war eine Frage des Beweismaterials. Ihre Videobänder und die Daten, die die anderen gesammelt hatten, enthielten harte Beweise für die Existenz der Station und alles, was dort vorging. Beweise für das Verkehrssystem der Schwarzen Löcher. Es würde fünf voneinander unabhängige, sich gegenseitig bestätigende Geschichten geben, die von zwingenden, greifbaren Beweisen gestützt wurden. Das hier war Tatsache, kein Gerücht und erst recht kein Hokuspokus. Sie drehte sich zu ihm um und ließ den Palmwedel fallen. Wortlos bückte er sich und gab ihn ihr wieder. »Du hast mir alle meine Fragen sehr großzügig beantwortet. Kann ich dir jetzt vielleicht auch noch ein paar beantworten?« »Danke. Das hast du bereits gestern nacht getan.« »Und das ist alles? Keine Gebote? Keine Vorschriften für die Provinzler?« »So funktioniert das nicht, Liebes. Du bist jetzt erwachsen. Du mußt auf eigenen Füßen stehen.« Er legte den Kopf auf die Seite, grinste sie an, und sie warf sich in seine Arme. Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie umarmten sich lange. Schließlich spürte sie, wie er sich sanft aus ihren Armen löste. Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Sie dachte daran, den
Zeigefinger hochzustrecken, um noch um eine Minute Aufschub zu bitten. Aber sie wollte ihn nicht enttäuschen. »Leb wohl, mein Mädchen«, sagte er. »Grüß deine Mutter von mir.« »Paß auf dich auf«, antwortete sie leise. Sie warf einen letzten Blick auf die Küste im Zentrum der Galaxis. Ein Paar Seevögel, vielleicht Sturmvögel, schwebten mit ausgebreiteten Schwingen bewegungslos auf einer aufsteigenden Luftsäule. Vor dem Eingang zur Luftschleuse drehte sich Ellie noch einmal um und rief ihm zu: »Wie lautet eure BOTSCHAFT? Die in Pi!« »Wir wissen es nicht«, antwortete er ein wenig traurig und kam ein paar Schritte auf sie zu. »Vielleicht ist das Ganze ein statistischer Zufall. Wir arbeiten noch daran.« Ein Brise kam auf und zauste ihr Haar. »Ruft uns an, wenn ihr es ausgerechnet habt«, erwiderte sie.
21 Kausalität Was Fliegen sind den müß’gen Knaben, das sind wir den Göttern: Sie töten uns zum Spaß. William Shakespeare König Lear, IV, 1
Wer alles kann, muß alles fürchten. Pierre Corneille Cinna IV, 2 (1640)
Sie waren überglücklich, zurück zu sein. Sie redeten durcheinander, und es war ihnen schwindlig vor Aufregung. Sie stiegen über die Sessel, umarmten sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Alle waren den Tränen nahe. Sie hatten es geschafft – aber nicht nur das, sie waren zurückgekehrt, hatten alle Tunnel sicher überwunden. Plötzlich erwachte das Radio mit heftigem Zischen und Rauschen zum Leben. Laut dröhnten die Stimmen des technischen Überwachungsdienstes aus den Lautsprechern. Alle drei Benzel verlangsamten ihre Drehung. Die elektrische Ladung baute sich wieder ab. Aus den von draußen übertragenen Kommentaren wurde deutlich, daß die Leute vom Projekt
keine Ahnung hatten, was passiert war. Ellie fragte sich, wieviel Zeit wohl vergangen war. Sie schaute auf die Armbanduhr. Es war ungefähr ein Tag vergangen, das brachte sie mitten ins Jahr 2000. Durchaus angemessen. Wartet nur, bis ihr hört, was wir zu erzählen haben, dachte sie. Zu ihrer eigenen Beruhigung klopfte sie auf das Fach, in dem sie Dutzende von Mikro-Videokassetten aufbewahrte. Wie sich die Welt verändern würde, wenn diese Filme gezeigt wurden! Der Raum zwischen den Benzein stand wieder unter Druck. Die Türen der Luftschleuse wurden geöffnet. Jetzt kamen über Funk Fragen nach ihrem Wohlergehen. »Uns geht es gut«, rief sie in ihr Mikrophon. »Laßt uns raus. Ihr werdet nicht glauben, was wir erlebt haben.« Alle fünf marschierten sie strahlend aus der Luftschleuse und begrüßten überschwenglich ihre Kameraden, die geholfen hatten, die Maschine zu bauen und zu bedienen. Die japanischen Techniker empfingen sie. Die Funktionäre des Projekts drängelten sich durch die Menge. Ruhig sagte Devi zu Ellie: »So weit ich sehen kann, tragen alle genau die gleichen Kleider wie gestern. Sieh nur die scheußliche gelbe Krawatte, die Peter Valerian umhat.« »Ach, dieses alte Ding trägt er immer«, erwiderte Ellie. »Seine Frau hat sie gekauft. Es war 15.20 Uhr. Die Aktivierung hatte gegen drei Uhr am Nachmittag zuvor begonnen. Also waren sie knapp über vierundzwanzig…« »Welchen Tag haben wir?« fragte sie. Man sah sie verständnislos an. Etwas war nicht in Ordnung. »Peter, um Gottes willen, welchen Tag haben wir?« »Was soll das heißen?« antwortete Valerian. »Es ist heute. Freitag, der 31. Dezember 1999. Es ist Silvester. War es das, was du wissen wolltest? Ellie, geht es dir gut?« Waygay sagte zu Archangelski, er wolle alles von Anfang an erzählen, aber zuerst müßten seine Zigaretten hergeschafft werden. Um sie herum kam es zu einem Auflauf von Funktionären des Projekts
und Repräsentanten des Weltkonsortiums. Ellie sah, wie sich Der Heer den Weg zu ihr durch die Menge bahnte. »Was habt ihr von allem mitbekommen?« rief sie, als er in Hörweite war. »Überhaupt nichts. Das Vakuumsystem hat gearbeitet, die Benzel begannen, sich zu drehen, sie bauten elektrische Ladung auf, erreichten die vorgeschriebene Geschwindigkeit, und dann lief alles rückwärts ab.« »Was soll das heißen, ›alles lief rückwärts ab‹?« »Die Benzel wurden langsamer, und die elektrische Ladung baute sich wieder ab. Das System bekam wieder Druck, die Benzel kamen zum Stillstand, und ihr kamt alle heraus. Das Ganze hat vielleicht zwanzig Minuten gedauert, und wir konnten nicht mit euch reden, während sich die Benzel drehten. Habt ihr überhaupt etwas erlebt?« Sie lachte. »Junge«, sagte sie, »habe ich eine tolle Geschichte für dich.« Es wurde eine Party für die Mitarbeiter des Projekts gegeben, zur Feier der Aktivierung der Maschine und der Wende zum nächsten Jahrtausend. Ellie und ihre Reisegefährten nahmen nicht daran teil. Auf allen Fernsehkanälen sah man Feiern, Paraden, Ausstellungen, Rückblicke, Vorhersagen und optimistische Reden der Regierungschefs. Ellie hörte nur zufällig ein paar Sätze des buddhistischen Mönchs Utsumi, die so seligmachend waren wie schon immer. Aber sie hatte keine Zeit für so etwas. Das Direktorium des Projekts hatte aus den bisher erzählten Bruchstücken ihrer Abenteuer rasch geschlossen, daß die fünf über einen Zeitraum zu berichten hatten, der ganz und gar unmöglich erschien. Deshalb wurden sie mitten aus der feiernden Menge der Regierungsfunktionäre und Mitglieder des Konsortiums zu einer vorläufigen Befragung weggeholt. Sprecher der Projektleitung erklärten
weiter, daß man es für ratsam hielt, jeden der fünf einzeln zu befragen. Ellie wurde von Der Heer und Valerian in einem kleinen Konferenzraum verhört. Es waren noch weitere Funktionäre anwesend, darunter Waygays früherer Schüler Anatoli Goldmann. Sie schloß daraus, daß Bobby Bui, der Russisch sprach, bei Waygays Befragung für die Amerikaner dabei war. Man hörte ihr höflich zu, und hin und wieder ermutigte Peter sie. Aber es fiel ihnen schwer, die Abfolge der Ereignisse zu verstehen. Vieles von dem, was sie erzählte, beunruhigte sie. Ihre Begeisterung steckte die anderen nicht an. Keiner wollte glauben, daß das Dodekaeder zwanzig Minuten lang verschwunden gewesen war, von einem ganzen Tag ganz zu schweigen. Schließlich hatte eine ganzes Arsenal von Instrumenten außerhalb der Benzel das Ereignis gefilmt und aufgezeichnet, und dabei war nichts Außergewöhnliches bemerkt worden. Es war nichts anderes passiert, erklärte Valerian, als daß die Benzel ihre vorgesehene Geschwindigkeit erreicht hatten, sich in mehreren Instrumenten unbekannter Bestimmung die entsprechenden Zeiger bewegt hatten, die Benzel langsamer geworden und zum Stillstand gekommen waren, und die fünf in großer Aufregung wieder herausgekommen waren. Valerian fügte nicht hinzu »und Unsinn geredet hatten«, aber sie konnte seine Besorgnis spüren. Man behandelte sie mit Achtung, aber sie wußte, was die anderen dachten: Die einzige Funktion der Maschine bestand darin, in zwanzig Minuten eine Fata Morgana zu erzeugen oder – zumindest als Möglichkeit – die fünf Besatzungsmitglieder verrückt zu machen. Sie führte ihre Mikro-Videokassetten vor, die alle sorgfältig beschriftet waren: Etwa »Ringsystem der Wega«, oder »Radiostation (?) der Wega«, »Fünffachsystem«, »Sternenpanorama im Zentrum der Galaxis«. Auf einer der
Kassetten stand nur: »Strand«. Sie legte eine nach der anderen in den Projektor ein. Es war nichts zu sehen. Die Kassetten waren vollkommen leer. Ellie konnte nicht verstehen, was schiefgegangen war. Sie hatte sorgfältig gelernt, das Mikrokamerasystem zu bedienen, und sie hatte es in Tests vor der Aktivierung der Maschine erfolgreich benützt. Sie hatte sogar bei einigen Filmmetern Stichproben gemacht, nachdem sie das System der Wega verlassen hatten. Sie war am Boden zerstört, als sie später erfuhr, daß die Instrumente, die die anderen bei sich hatten, ebenfalls auf unerklärliche Weise versagt hatten. Peter Valerian hätte ihr gerne geglaubt, Der Heer ebenfalls. Aber bei allem guten Willen fiel es ihnen schwer. Die Geschichte, mit der die fünf zurückkamen, war, vorsichtig ausgedrückt, ein wenig ungewöhnlich und von keinerlei greifbaren Beweisen untermauert. Es war nicht einmal genügend Zeit für solche Erlebnisse gewesen. Sie waren ja nur zwanzig Minuten in der Maschine gewesen. Einen solchen Empfang hatte Ellie nicht erwartet. Aber sie war zuversichtlich, daß sich alles klären würde. Im Augenblick war sie damit zufrieden, sich das Erlebnis noch einmal vor Augen zu führen und sich ausführliche Aufzeichnungen zu machen. Sie wollte sicher sein, daß sie nichts vergaß. Obwohl sich eine Front extremer Kaltluft von Kamtschatka her näherte, war es immer noch ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, als am Abend des Neujahretages eine Reihe außerplanmäßiger Flugzeuge auf dem internationalen Flughafen von Sapporo landete. Der neue amerikanische Verteidigungsminister Michael Kitz kam mit einem in aller Eile zusammengestellten Expertenteam in einer Sondermaschine der Vereinigten Staaten. Die Reise des Ministers wurde von Washington erst kurz vor dessen Eintreffen in Hokkaido bestätigt. In der knappen
Pressemitteilung hieß es, der Besuch sei eine Routineangelegenheit, es gebe keine Krise und es bestünde keinerlei Gefahr: »Die Berichte aus der Integrationshalle der Maschine im Nordosten Sapporos bewegen sich vollkommen im Rahmen des Erwarteten.« Eine Tu-120 war über Nacht von Moskau gekommen und brachte neben anderen Stefan Barada und Timofei Gotsridse. Natürlich war man auf keiner Seite davon begeistert, den Neujahrstag von den Familien getrennt verbringen zu müssen. Aber das Wetter in Hokkaido war eine angenehme Überraschung. Es war so warm, daß die Schneeskulpturen in Sapporo schmolzen. Das Dodekaeder aus Eis war zu einem unförmigen kleinen Gletscher geworden, von den abgerundeten Oberflächen, die einst die Kanten der fünfeckigen Flächen gebildet hatten, tropfte das Wasser. Zwei Tage später machte sich der Winter mit einem heftigen Sturm bemerkbar, und der gesamte Verkehr zur Integrationshalle kam zum Erliegen. Nicht einmal Fahrzeuge mit Vierradantrieb kamen durch. Einige Radio- und alle Fernsehverbindungen waren unterbrochen, offenbar war ein Mikrowellenübertragungsturm umgeweht worden. Während des größten Teils der Verhöre bestand Verbindung zur Außenwelt nur über Telephon. Und vielleicht über das Dodekaeder, dachte Ellie. Sie war versucht, sich an Bord zu schleichen und die Benzel in Drehung zu versetzen. Sie spann diese Phantasie gern aus. Aber tatsächlich konnte man überhaupt nicht wissen, ob die Maschine je wieder funktionieren würde, jedenfalls von dieser Seite des Tunnels aus. Ihr Vater hatte nein gesagt. Sie schwelgte in Erinnerungen an die Küste. Und an ihn. Was auch geschehen mochte, eine Wunde tief in ihr war geheilt. Sie konnte spüren, daß sich eine Narbe gebildet hatte. Es war die teuerste Psychotherapie der Welt gewesen. Und das will viel heißen, dachte sie.
Die Einsatzbesprechungen mit Xi und Devi Sukhavati wurden von Vertretern ihrer Länder geleitet. Obwohl Nigeria keine bedeutende Rolle beim Erfassen der BOTSCHAFT oder bei der Konstruktion der Maschine gespielt hatte, stimmte Eda einem langen Interview mit nigerianischen Funktionären bereitwillig zu. Aber im Vergleich zu den Verhören durch die Mitarbeiter des Projekts war das von wenig Interesse. Waygay und Ellie mußten noch mehrere weitere ausführlichere Befragungen durchstehen. Sie wurden von den hochqualifizierten Teams geleitet, die eigens zu diesem Zweck aus der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten gekommen waren. Zunächst waren dritte Länder von den amerikanischen und sowjetischen Befragungen ausgeschlossen, aber nachdem das Weltkonsortium Beschwerde geführt hatte, gaben die USA und die Sowjetunion nach, und die Sitzungen wurden wieder international. Mit Ellies Einsatzbesprechung war Kitz betraut, und wenn man in Betracht zog, wie kurzfristig er von allem erfahren haben mußte, war er überraschend gut vorbereitet. Valerian und Der Heer legten gelegentlich ein gutes Wort für sie ein und stellten hin und wieder eine Zusatzfrage. Aber insgesamt war es Kitz’ Show. Er sagte, er stelle sich ihrer Geschichte skeptisch, aber konstruktiv, in bester wissenschaftlicher Tradition, wie er hoffe. Er vertraue darauf, daß sie die Direktheit seiner Fragen nicht als persönlich gemeint mißverstehen würde. Er habe allergrößten Respekt vor ihr. Er seinerseits wolle nicht zulassen, daß sein Urteil von der Tatsache getrübt werde, daß er von Anfang an gegen das Maschinenprojekt gewesen sei. Sie beschloß, seine rührende Selbsttäuschung unwidersprochen hinzunehmen, und begann mit ihrer Geschichte. Zuerst hörte er genau zu, hakte gelegentlich nach, entschuldigte sich aber, wenn er sie unterbrach. Ab dem zweiten Tag allerdings war von solchen Höflichkeiten nichts mehr übrig. »Also, der
Nigerianer wird von seiner Frau besucht, die Inderin von ihrem toten Mann, der Russe von seiner niedlichen Enkelin, der Chinese von einem mongolischen Kriegsherrn…« »Qin war kein Mongole…« »… und Sie, um Himmels willen, Sie werden von Ihrem teuren verstorbenen Herrn Vater besucht, der Ihnen erzählt, er und seine Freunde seien damit beschäftigt, das Universum wiederaufzubauen. Du meine Güte. ›Vater unser, der du bist im Himmel…‹? Das ist pure Religion. Das ist reinste Kulturanthropologie. Das ist Sigmund Freud. Merken Sie das nicht? Sie behaupten nicht nur, Ihr eigener Vater wäre von den Toten wiedergekehrt, sondern Sie erwarten tatsächlich von uns, daß wir glauben, daß er das Universum erschaffen hat…« »Sie verzerren, was…« »Ach hören Sie doch auf, Frau Arroway. Sie halten uns hier zum Narren. Sie legen uns nicht die Spur eines Beweises vor und erwarten, daß wir die größte Lügengeschichte aller Zeiten glauben? Sie wissen es doch besser. Sie sind doch eine kluge Frau. Wie können Sie nur glauben, daß Sie damit durchkommen?« Ellie protestierte. Valerian erhob ebenfalls Einspruch. Diese Art der Befragung, sagte er, sei Zeitverschwendung. Die Maschine würde im Augenblick umfangreichen physikalischen Tests unterzogen. Auf diese Weise könne der Wert ihrer Geschichte überprüft werden. Kitz gab zu, daß die physikalischen Beweise wichtig sein würden. Aber Frau Arroways Geschichte, fuhr er fort, sei auf jeden Fall aufschlußreich, sie sei ein Mittel, das zu verstehen, was tatsächlich vorgefallen sei. »Daß ausgerechnet Sie Ihren Vater im Himmel treffen und so weiter, Frau Dr. Arroway, ist bezeichnend. Sie sind in der jüdisch-christlichen Kultur aufgewachsen. Sie stammen als einziges Mitglied der Besatzung aus diesem Kulturkreis, und Sie sind die einzige,
die Ihren Vater trifft. Ihre Geschichte ist einfach zu platt. Sie ist nicht phantasievoll genug.« Es war schlimmer, als sie für möglich gehalten hätte. Sie erlebte einen Augenblick epistemologischer Panik – wie wenn das Auto nicht dort steht, wo man es geparkt hat, oder wenn die Tür, die man abends abgeschlossen hat, am Morgen angelehnt ist. »Sie glauben, ich habe mir das alles ausgedacht?« »Ich will Ihnen etwas sagen, Frau Dr. Arroway. Als sehr junger Mann arbeitete ich bei der Staatsanwaltschaft in Cook County. Wenn man sich dort überlegte, ob jemand angeklagt werden sollte, wurden drei Fragen gestellt.« Kitz zählte sie an den Fingern auf. »Hatte er die Gelegenheit? Hatte er die Möglichkeit? Hatte er ein Motiv?« »Wozu?« Er schaute sie verächtlich an. »Aber unsere Uhren zeigten an, daß wir länger als einen Tag fort waren«, protestierte sie. »Wie konnte ich nur so dumm sein«, sagte Kitz und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Sie haben mein Argument zunichte gemacht. Ich habe vergessen, daß es unmöglich ist, eine Armbanduhr einen Tag vorzustellen.« »Aber dann hätten wir uns alle gegen Sie verschworen. Glauben Sie, daß Xi gelogen hat? Glauben Sie, daß Eda gelogen hat? Sie…« »Was ich glaube, ist, daß wir zu etwas Wichtigerem übergehen sollten. Wissen Sie, Peter« – Kitz wandte sich an Valerian – »ich glaube, Sie haben recht. Eine erste Fassung des Berichts der Materialprüfung wird morgen früh hier sein. Wir sollten nicht noch mehr Zeit mit… Geschichten… vergeuden. Vertagen wir uns doch bis dahin.« Der Heer hatte während der gesamten Nachmittagssitzung kein Wort gesagt. Er lächelte Ellie unsicher an, und sie mußte sein Lächeln unwillkürlich mit dem ihres Vaters vergleichen. Manchmal schien Kens
Gesichtsausdruck sie zu etwas zu drängen, sie zu beschwören, etwas zu tun. Aber sie hatte keine Ahnung, was das war. Sollte sie ihre Geschichte verändern? Er erinnerte sich an ihre Kindheitserinnerungen und wußte, wie sehr sie um ihren Vater getrauert hatte. Offensichtlich zog auch er in Betracht, daß sie verrückt geworden war. Und vielleicht folgerte er daraus, daß auch die anderen verrückt geworden waren. Massenhysterie. Gemeinsame Halluzinationen. Folie à cinq. »Aha, da ist er ja«, sagte Kitz. Der Bericht war etwa einen Zentimeter dick. Kitz ließ ihn auf den Tisch fallen. Ein paar Stifte rollten auseinander. »Sie werden ihn sicher lesen wollen, Frau Dr. Arroway, aber ich darf Ihnen eine kurze Zusammenfassung geben, einverstanden?« Ellie nickte zustimmend. Sie hatte von Gerüchten gehört, denen zufolge der Bericht für die Geschichte, die die fünf erzählt hatten, sehr günstig sein sollte. Sie hoffte, er würde ihrer unsinnigen Behandlung ein Ende setzen. »Das Dodekaeder war anscheinend« – Kitz betonte das Wort besonders – »einer völlig anders gearteten Umgebung ausgesetzt als die Benzel und die Trägerstruktur. Es war anscheinend großen Belastungen durch Zug und Druck unterworfen. Es ist ein Wunder, daß das Ding nicht zu Bruch gegangen ist. Es ist also ebenfalls ein Wunder, daß Sie und ihre Gefährten nicht zu Schaden gekommen sind. Außerdem war das Dodekaeder anscheinend intensiver Strahlung ausgesetzt – es zeigt in geringer Stärke sekundäre Radioaktivität und Spuren kosmischer Strahlen und ähnliches. Ein zweites Wunder ist, daß Sie die Strahlung überlebt haben. Sonst hat sich nichts verändert. Es gibt keine Spur von Erosion oder Kratzern an den seitlichen Kanten, die ständig an die Wände der Tunnel gestoßen sind, wie Sie behaupten. Es gibt nicht einmal Kerben, wie sie entstanden sein müßten, wenn Sie
mit hoher Geschwindigkeit in die Erdatmosphäre eingetreten wären.« »Bestätigt das denn nicht unsere Geschichte? Michael, denken Sie doch nach. Zug- und Druckbelastung – Gezeitenkräfte – sind genau das, was man bei einem Sturz durch ein klassisches Schwarzes Loch erwartet. Das ist schon seit mindestens fünfzig Jahren bekannt. Ich weiß nicht, warum wir nichts davon gemerkt haben. Das Dodekaeder muß uns irgendwie davor geschützt haben. Und die hohen Strahlungsdosen stammen aus dem Innern des Schwarzen Loches und aus der Umgebung des Zentrums der Galaxis, das ja eine bekannte Quelle von Gammastrahlung ist. Es gibt eindeutige Beweise für das Vorhandensein von Schwarzen Löchern, und es gibt eindeutige Beweise für das Zentrum der Galaxis. Wir haben uns diese Dinge nicht ausgedacht. Ich verstehe nicht, warum keine Kratzer gefunden worden sind, aber es muß von den Eigenschaften der zwei Materialien abhängen, von denen wir eines kaum untersucht haben, während das andere vollkommen unbekannt ist. Kerben oder angekohlte Stellen würde ich nicht erwarten, denn wir behaupten nicht, daß wir durch die Erdatmosphäre gekommen sind. Insgesamt scheint mir, daß der Befund unsere Geschichte in nahezu allem bestätigt. Wo liegt also noch das Problem?« »Das Problem besteht darin, daß ihr so verdammt clever seid. Zu clever. Betrachten Sie es einmal vom Standpunkt eines Skeptikers. Treten Sie einen Schritt zurück und sehen Sie sich das Gesamtbild an. Da gibt es eine Reihe intelligenter Leute in verschiedenen Ländern, die meinen, daß die Erde vor die Hunde geht. Sie behaupten auf einmal, daß sie eine komplexe BOTSCHAFT aus dem Weltall empfangen hätten.« »Behaupten?« »Lassen Sie mich ausreden. Sie entziffern die BOTSCHAFT und verkünden, daß sie die Anleitung zum Bau einer sehr
komplizierten Maschine enthält, die Billionen Dollar kostet. Die Welt ist in einer merkwürdigen Verfassung, die Religionen sehen unsicher der kommenden Jahrtausendwende entgegen, und zu jedermanns Überraschung wird die Maschine gebaut. Es gibt ein oder zwei kleine personelle Veränderungen, dann ist es soweit: Im wesentlichen die gleichen Leute…« »Es sind nicht die gleichen. Es war nicht Devi Sukhavati, es war nicht Eda, es war nicht Xi, und es gab…« »Lassen Sie mich ausreden. Im wesentlichen die gleichen Leute sitzen in der Maschine. Aufgrund der Konstruktion des Dings kann niemand sie sehen oder mit ihnen sprechen, nachdem das Ding aktiviert ist. Also wird die Maschine eingeschaltet, und dann schaltet sie sich selbst wieder ab. Wenn sie erst einmal läuft, kann man sie nicht in weniger als zwanzig Minuten zum Halten bringen. Gut. Aber zwanzig Minuten später tauchen nun eben diese Leute aus der Maschine auf. Sie sind alle munter und fidel und erzählen irgendeine verrückte Geschichte, wie sie schneller als das Licht durch Schwarze Löcher zum Zentrum der Galaxis und wieder zurück gereist sind. Nehmen Sie jetzt an, Sie würden als normaler Bürger mit gesundem Menschenverstand diese Geschichte hören. Natürlich wollen sie Beweise sehen. Photos, Videobänder und alle sonstigen Daten. Und dann? Leider wurde alles gelöscht. Haben sie irgend etwas von der höheren Zivilisation im Zentrum der Galaxis mitgebracht? Nein. Erinnerungsstücke? Nein. Eine Steintafel? Nein. Haustiere? Nein. Nichts. Die einzigen physischen Beweise sind ein paar leichte Beschädigungen an der Maschine. Sagen Sie doch selbst, könnten so motivierte und clevere Leute wie Sie es nicht so aussehen lassen, als ob diese Schäden durch Zugbelastung und Strahlen entstanden wären? Vor allem, wenn sie zwei Billionen Dollar darauf verwenden konnten, das Beweismaterial zu fälschen?« Ellie schnappte nach Luft. Sie
erinnerte sich, wann sie das letzte Mal nach Luft geschnappt hatte. Das war eine wirklich gehässige Darstellung der Ereignisse. Sie fragte sich, was Kitz daran finden mochte. Er mußte wirklich in arger Not sein. »Ich glaube nicht, daß Ihnen irgend jemand die Geschichte glauben wird«, fuhr er fort. »Es ist die raffinierteste – und die teuerste – Fälschung, die je begangen wurde. Sie und Ihre Freunde haben versucht, die Präsidentin der Vereinigten Staaten und das amerikanische Volk zu hintergehen, ganz abgesehen von all den anderen Regierungen der Erde. Sie glauben offenbar, alle anderen wären dumm.« »Michael, sind Sie wahnsinnig? Zehntausende haben daran gearbeitet, die BOTSCHAFT zu empfangen, sie zu entschlüsseln und die Maschine zu bauen. Die BOTSCHAFT ist in Observatorien auf der ganzen Welt auf Magnetbändern, Laserdisketten und in Ausdrucken festgehalten. Glauben Sie, alle Radioastronomen, alle Raumfahrt- und kybernetischen Gesellschaften dieses Planeten hätten sich verschworen…« »Nein, die Verschwörung braucht gar nicht so groß zu sein. Man braucht nur eine Übertragungsstation im Weltraum, die so tut, als würde sie von der Wega aus funken. Ich werde Ihnen sagen, was Sie meiner Meinung nach getan haben. Sie bereiten eine BOTSCHAFT vor und veranlassen jemanden, der eine Abschußrampe für solche Zwecke hat, sie in den Weltraum zu schießen. Wahrscheinlich als kleines Beiprogramm einer ganz anderen Mission. Die BOTSCHAFT erreicht eine Umlaufbahn, die wie die Bewegung eines Sterns aussieht. Vielleicht haben Sie auch mehr als nur einen Satelliten benutzt. Dann wird der Sender eingeschaltet, und Sie sitzen in Ihrem Spielzeugobservatorium bereit, um die BOTSCHAFT zu empfangen, die große Entdeckung zu machen und uns armen Schluckern zu verkünden, was sie bedeutet.«
Das war sogar für Der Heer zuviel, der bisher bewegungslos dagesessen war. Er richtete sich in seinem Sessel auf. »Wirklich, Mike…« begann er, aber Ellie schnitt ihm das Wort ab. »Für den größten Teil der Entschlüsselung war ich nicht verantwortlich. Damit hatte eine Menge Leute zu tun. Drumlin vor allem. Am Anfang war er ein engagierter Skeptiker, wie Sie wissen. Aber als die Daten erst einmal hereinkamen, war Dave vollkommen überzeugt. Von ihm haben Sie keine Vorbehalte zu hören bekommen.« »Ach ja, der arme David Drumlin. Jetzt ist er tot und Sie beten ihn an. Den Professor, den Sie nie mochten.« Der Heer sank wieder in seinem Sessel zusammen, und Ellie stellte sich plötzlich vor, wie er Kitz mit aufgeregtem Flüstern Klatsch aus zweiter Hand mitteilte. Sie sah ihn genauer an. Sie war sich nicht mehr sicher, was sie von ihm halten sollte. »Beim Entziffern der BOTSCHAFT konnten Sie nicht alles selber machen. Sie hatten so viel zu tun. Sie hatten schon dies übersehen und jenes vergessen. Aber da war ja Drumlin, er wurde alt und fürchtete, daß ihn seine ehemalige Schülerin in den Schatten stellen und alles Lob für sich einheimsen könnte. Plötzlich merkt er, wie er auch dabei sein, ja sogar eine zentrale Rolle spielen kann. Sie haben an seine Eigenliebe appelliert und ihn damit gefangen. Und wenn er die Geheimschrift nicht herausbekommen hätte, hätten Sie ihm weitergeholfen. Wenn es ganz schlimm gekommen wäre, hätten Sie die verschiedenen Häute der Zwiebel selbst geschält.« »Sie sagen, daß wir fähig waren, eine solche Botschaft zu erfinden. Das ist wirklich ein tolles Kompliment an Waygay und mich. Leider entspricht es nicht der Wahrheit. So etwas ist unmöglich. Fragen Sie einen tüchtigen Ingenieur, ob diese Art von Maschine – die ganz neue Zulieferindustrien erfordert für Teile, die auf der Erde völlig unbekannt sind – fragen Sie so
jemanden doch einmal, ob das von ein paar Physikern und Radioastronomen am Feierabend hätte erfunden werden können. Wann sollen wir denn Ihrer Meinung nach eine solche BOTSCHAFT erfunden haben, auch wenn wir gewußt hätten, wie? Sehen Sie doch nur, wieviel Informationsbits in so etwas stecken. Es hätte Jahre gedauert.« »Sie hatten jahrelang Zeit. Argus machte keine Fortschritte, und das Projekt sollte eingestellt werden. Wie Sie sich erinnern, war das Drumlins Ziel. Also finden Sie genau im richtigen Moment die BOTSCHAFT. Da war dann keine Rede mehr davon, Ihr Lieblingsprojekt einzustellen. Ich glaube, daß Sie und dieser Russe sich die ganze Sache tatsächlich in Ihrer Freizeit ausgedacht haben. Sie hatten jahrelang Zeit.« »Sie sind wahnsinnig«, sagte Ellie leise. Valerian unterbrach die Anhörung. Er habe Frau Dr. Arroway während der in Frage kommenden Zeit gut gekannt. Sie habe produktive wissenschaftliche Arbeit geleistet. Nie hätte sie die Zeit gehabt, sich eine so raffinierte Täuschung auszudenken. Sosehr er sie auch bewundere, er sei wie sie der Meinung, daß der Entwurf der BOTSCHAFT und der Maschine ihre Fähigkeiten weit übersteige – wie sie die Fähigkeiten eines jeden Menschen übersteige. Eines jeden, auf der ganzen Erde. Aber Kitz nahm ihm das nicht ab. »Das ist ein persönliches Urteil, Dr. Valerian. Manchmal gibt es so viele Urteile wie Personen. Sie mögen Frau Dr. Arroway. Das verstehe ich. Ich mag sie auch. Es ist verständlich, daß Sie sie verteidigen. Ich verstehe das nicht falsch. Aber es gibt etwas, das Sie noch nicht wissen. Ich werde es Ihnen sagen.« Er beugte sich vor und beobachtete Ellie genau. Offensichtlich wollte er wissen, wie sie auf das reagieren würde, was er jetzt sagen wollte. »Die BOTSCHAFT brach in dem Augenblick ab, in dem wir die Maschine in Betrieb setzten. Auf die Sekunde genau in dem Moment, als die Benzel ihre Reisegeschwindigkeit
erreichten. Überall auf der Welt. Jedes Radioobservatorium mit Sichtverbindung zur Wega berichtete das gleiche. Wir haben Ihnen noch nichts davon erzählt, um Sie nicht in Ihrem Bericht zu stören. Die BOTSCHAFT hörte mitten im Wort auf. Das war kein sehr geschickter Einfall von Ihnen.« »Ich weiß davon überhaupt nichts, Michael. Na und, die BOTSCHAFT brach ab? Sie hatte Ihren Zweck erfüllt. Wir haben die Maschine gebaut und sind ins… sind dorthin geflogen, wohin die Sender uns haben wollten.« »Es wirft ein merkwürdiges Licht auf Sie«, fuhr Kitz fort. Plötzlich verstand sie, worauf er hinauswollte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Er war der Meinung, daß es sich hier um eine Verschwörung handelte. War er wahnsinnig? Und wenn Kitz nicht wahnsinnig war, war dann vielleicht sie es? Wenn schon die irdische Technologie Substanzen herstellen konnte, die Sinnestäuschungen verursachten, konnte dann eine viel fortgeschrittenere Technologie hochkomplexe, kollektive Halluzinationen bewirken? Einen Augenblick lang erwog sie die Möglichkeit ernsthaft. »Stellen wir uns vor, es wäre letzte Woche«, sagte er gerade. »Man glaubt, daß die Radiowellen, die auf der Erde ankommen, vor sechsundzwanzig Jahren von der Wega gesendet wurden. Es dauert sechsundzwanzig Jahre, bis sie durch den Weltraum zu uns kommen. Aber vor sechsundzwanzig Jahren, Frau Dr. Arroway, gab es Argus noch nicht, und Sie gingen damals mit LSD-Konsumenten ins Bett und jammerten über Vietnam und Watergate. Sie sind alle so klug, aber Sie haben die Lichtgeschwindigkeit vergessen. Es ist nicht möglich, daß durch die Aktivierung der Maschine die BOTSCHAFT abgeschnitten wird, bevor nicht sechsundzwanzig Jahre vergangen sind – es sei denn, im gewöhnlichen Weltraum könnte man eine Botschaft schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übermitteln. Wir wissen beide,
daß das unmöglich ist. Ich erinnere mich, wie Sie darüber geklagt haben, daß Rankin und Joss so dumm wären und nicht wüßten, daß man nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit reisen kann. Ich bin überrascht, daß Sie jetzt offenbar glauben, Sie könnten damit bei uns durchkommen.« »Michael, bitte hören Sie mir zu. Genauso war es ja auch möglich, in Null Komma Nichts von hier nach dort und wieder zurückzukommen. Jedenfalls in zwanzig Minuten. Um eine Singularität können Dinge sich akausal verhalten. Aber ich bin da keine Expertin. Sie sollten mit Eda oder Waygay darüber sprechen.« »Danke für den Vorschlag«, sagte er. »Das haben wir schon getan.« Ellie stellte sich vor, wie Waygay von seinem alten Gegner Archangelski oder von Baruda einem strengen Verhör unterzogen wurde. Baruda war der Mann gewesen, der vorgeschlagen hatte, die Radioteleskope zu zerstören und die Daten zu verbrennen. Wahrscheinlich stimmten er und Kitz in der Beurteilung der Lage überein. Sie hoffte, daß Waygay ihnen standhielt. »Ich bin sicher, daß Sie verstehen, was ich meine, Frau Dr. Arroway. Aber lassen Sie es mich noch einmal erklären. Vielleicht können Sie mir dann sagen, ob ich irgendwo einen Fehler mache. Vor sechsundzwanzig Jahren begannen diese Radiowellen, zur Erde zu strahlen. Stellen Sie sich die Wellen jetzt im Weltraum zwischen der Wega und hier vor. Niemand kann die Radiowellen empfangen, nachdem sie die Wega verlassen haben. Niemand kann sie aufhalten. Auch wenn der Sender sofort erfahren hätte, daß die Maschine aktiviert wurde – wenn Sie wollen, durch ein Schwarzes Loch –, hätte es noch sechsundzwanzig Jahre dauern müssen, bis keine Signale mehr die Erde erreichen. Ihre Wegianer konnten nicht sechsundzwanzig Jahre im voraus wissen, wann die Maschine
in Betrieb gesetzt werden würde. Noch dazu auf die Minute genau. Sie hätten einen Befehl rückwärts in die Zeit vor sechsundzwanzig Jahren senden müssen, daß die BOTSCHAFT am 31. Dezember 1999 abbrechen soll. Sie stimmen mir doch zu?« »Ja, ich stimme Ihnen zu. Das ist ein vollkommen unerforschtes Gebiet. Wissen Sie, man spricht nicht umsonst vom Raum-Zeit-Kontinuum. Wenn diese Fremden Tunnel durch den Raum bauen können, nehme ich an, daß sie auch eine Art Tunnel durch die Zeit schlagen können. Die Tatsache, daß wir einen Tag zu früh zurückgekommen sind, zeigt, daß sie zumindest über eine beschränkte Möglichkeit des Reisens in der Zeit verfügen. Vielleicht haben sie also, sobald wir die Station verließen, eine Botschaft sechsundzwanzig Jahre zurück in die Zeit gesendet, um die Übertragung abzubrechen. Ich weiß es nicht.« »Sie verstehen, wie günstig es für Sie ist, daß die BOTSCHAFT jetzt abbricht. Wenn sie immer noch gesendet würde, könnten wir Ihren kleinen Satelliten finden, einfangen und das Tonband mit der Übertragung auf die Erde bringen. Das wäre der endgültige Beweis für eine Fälschung. Aber das konnten Sie nicht riskieren. Also bleibt Ihnen nichts anderes als der faule Zauber mit den Schwarzen Löchern. Wahrscheinlich ist es Ihnen jetzt peinlich.« Er sah besorgt aus. Ellie kam das Ganze vor wie eine paranoide Phantasie, in der unschuldige Tatsachen zu einer heimtückischen Verschwörung verdreht wurden. In diesem Fall waren die Tatsachen kaum gewöhnlich zu nennen, und natürlich war es sinnvoll, daß die Behörden andere mögliche Erklärungen untersuchten. Aber Kitz’ Wiedergabe der Ereignisse war so böswillig, daß er wirklich zutiefst verwirrt und in seinen Grundüberzeugungen erschüttert sein mußte. Ellie war jetzt wieder mehr davon überzeugt, daß sie keiner kollektiven Sinnestäuschung zum
Opfer gefallen war. Aber daß die Übertragung der BOTSCHAFT abgebrochen war – wenn Kitz recht hatte –, konnte sie nicht verstehen. »Ich sage mir also, Frau Dr. Arroway, daß Sie als Wissenschaftlerin klug genug waren, all das auszurechnen, und Sie waren motiviert. Aber Sie selber hatten nicht die Mittel dazu. Wenn es nicht die Russen waren, die diesen Satelliten für Sie hochgeschickt haben, kann es genausogut ein halbes Dutzend anderer nationaler Satellitenbehörden gewesen sein. Aber das haben wir alles überprüft. Niemand hat einen freifliegenden Satelliten in eine entsprechende Umlaufbahn gebracht. Bleiben also Privatunternehmen. Und die interessanteste Möglichkeit, von der wir erfahren haben, ist ein Mr. S. R. Hadden. Kennen Sie ihn?« »Machen Sie sich nicht lächerlich, Michael. Ich habe mit Ihnen über Hadden gesprochen, bevor ich zur Methusalem hochgeflogen bin.« »Ich wollte nur sichergehen, daß wir im Grundsätzlichen einer Meinung sind. Was sagen Sie dazu: Sie und der Russe hecken den Plan aus. Sie bringen Hadden dazu, das Frühstadium zu finanzieren – die Planung des Satelliten, die Erfindung der Maschine, das Verschlüsseln der BOTSCHAFT, die Vortäuschung der Strahlenschäden, all das. Als Gegenleistung darf er, nachdem das Maschinenprojekt in Gang gekommen ist, mit einem Teil der zwei Billionen Dollar rechnen. Die Vorstellung sagt ihm zu. Die Sache könnte ihm einen riesigen Gewinn bringen, und aus Gründen seines persönlichen Werdegangs würde er die Regierung gern blamieren. Und als Sie beim Entziffern der BOTSCHAFT nicht vorwärtskamen und den Schlüssel zum Code nicht fanden, taten Sie so, als ob Sie ihn um Rat fragten. Er sagte Ihnen, wo Sie suchen mußten. Auch das war unvorsichtig. Es wäre besser gewesen, Sie hätten es selbst herausbekommen.«
»Es wäre so unvorsichtig gewesen, daß es gar nicht glaubhaft ist«, meinte Der Heer. »Würde jemand, der wirklich eine Fälschung begehen will…« »Ken, Sie überraschen mich. Sie waren immer sehr leichtgläubig, nicht wahr? Gerade durch diesen Einwand haben Sie uns demonstriert, warum Frau Arroway und ihre Mitarbeiter es für klug hielten, Hadden um Rat zu fragen und dafür zu sorgen, daß wir wußten, daß sie ihn besucht hatte.« Er konzentrierte sich wieder auf Ellie. »Frau Dr. Arroway, versuchen Sie es einmal vom Standpunkt eines neutralen Beobachters aus zu sehen…« Kitz ging immer weiter, zauberte vor ihr aus den Tatsachen neue Zusammenhänge von bestechender innerer Konsequenz, schrieb ganze Jahre ihres Lebens neu. Sie hatte Kitz nicht für dumm gehalten, aber sie hatte auch nicht gedacht, daß er so erfinderisch war. Vielleicht hatte er sich dabei helfen lassen. Aber der emotionale Antrieb dafür kam von ihm selbst. Er schwelgte in ausladenden Gesten und rhetorischen Figuren. Das war nicht nur ein Teil seiner Arbeit. Die Befragung und seine eigene Interpretation der Ereignisse hatten eine regelrechte Leidenschaft in ihm geweckt. Nach einer Weile meinte sie zu verstehen, worum es ging. Die fünf waren ohne direkt militärisch verwertbare Ergebnisse zurückgekommen, ohne Kapital, das sich unmittelbar für den politischen Vorteil ausnutzen ließ, sondern nur mit einer überaus merkwürdigen Geschichte. Und diese Geschichte hatte gewisse Implikationen. Kitz war Herr über das größte Waffenarsenal der Erde, während im Weltraum Galaxien gebaut wurden. Kitz stand in der Tradition der amerikanischen und sowjetischen Politiker, die die Strategie der nuklearen Abschreckung entwickelt hatten, während im Raum eine Mischung unterschiedlicher Rassen aus verschiedenen Welten vereint zusammenarbeitete. Deren bloße Existenz war für ihn
ein unausgesprochener Tadel. Dazu kam noch die Möglichkeit, daß der Tunnel vom anderen Ende aus aktiviert werden und daß Kitz vielleicht nichts dagegen unternehmen konnte. Die Außerirdischen konnten jeden Augenblick hier sein. Wie konnte Kitz unter diesen Umständen die Vereinigten Staaten verteidigen? Seine Rolle bei der Entscheidung, die Maschine zu bauen – deren Geschichte er jetzt anscheinend vertuschen wollte –, konnte von einem ihm nicht wohlgesinnten Gericht als Pflichtverletzung ausgelegt werden. Und wie konnten Kitz oder einer seiner Vorgänger vor den Außerirdischen bestehen, wenn sie für ihr Amt Rechenschaft ablegen mußten? Auch wenn kein Racheengel aus dem Tunnel stürmte: Wenn die Wahrheit über diese Reise herauskam, würde sich die Welt verändern. Sie veränderte sich bereits. Und sie würde sich noch viel mehr verändern. Wieder betrachtete sie ihn mitleidig. Mindestens hundert Generationen lang war die Welt von schlimmeren Leuten als ihm regiert worden. Es war sein Pech, daß er gerade dann zum Zug gekommen war, als die Spielregeln umgeschrieben wurden. »… und wenn Sie an jede Einzelheit Ihrer Geschichte glauben«, sagte er gerade, »haben Sie dann nicht den Eindruck, daß die Außerirdischen Sie schlecht behandelt haben? Sie nutzen Ihre zärtlichsten Gefühle aus, indem sie als Ihr lieber alter Papa auftreten. Sie sagen Ihnen nicht, was sie selber tun. Sie belichten all Ihre Filme, vernichten all Ihre Daten und erlauben noch nicht einmal, daß Sie diesen blöden Palmwedel dort oben lassen. Nichts von den Dingen, die Sie mitgenommen haben, fehlt, außer ein paar Lebensmitteln, und Sie haben keinerlei greifbare Beweise mitgebracht, abgesehen von ein wenig Sand. Also haben Sie in zwanzig Minuten das Essen verschlungen und ein wenig Sand aus Ihren Taschen geschüttelt. Sie kommen eine Nanosekunde nach Ihrer Abfahrt
zurück, also sind sie für jeden neutralen Beobachter nie fortgefahren. Wenn die Außerirdischen unmißverständlich klarmachen wollten, daß Sie wirklich irgendwo gewesen sind, hätten sie Sie einen Tag oder eine Woche später zurückgebracht. Habe ich recht? Wenn das Dodekaeder in den Benzein eine Zeitlang verschwunden gewesen wäre, wüßten wir todsicher, daß Sie irgendwohin gefahren sind. Wenn sie es Ihnen hätten leichtmachen wollen, hätten sie die BOTSCHAFT nicht abgebrochen. Habe ich recht? Deshalb klingt Ihre Geschichte so unwahrscheinlich, verstehen Sie. Darauf hätten sie kommen müssen. Warum sollten die dort oben es so schwierig für Sie machen? Und es gibt noch andere Möglichkeiten, wie sie Ihre Geschichte hätten stützen können. Sie hätten Ihnen ein Andenken mitgeben können. Sie hätten Ihre Filme nicht zu vernichten brauchen. Dann würde niemand behaupten, das sei nur eine geschickte Fälschung. Wie kommt es also, daß sie Ihnen das nicht gestattet haben? Wie kommt es, daß die Außerirdischen Ihre Geschichte nicht bestätigen? Sie selbst haben Jahre Ihres Lebens damit verbracht, sie zu finden. Ist das der Dank, den Sie ernten? Ellie, wie können Sie so sicher sein, daß Ihre Geschichte wirklich passiert ist? Wenn, wie Sie behaupten, all das keine Fälschung ist, könnte es dann nicht… eine Täuschung sein? Ich weiß, es tut weh, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Niemand denkt gern, er sei verrückt geworden. Aber wenn man den Druck, unter dem Sie gestanden haben, in Betracht zieht, ist es gar nichts so Besonderes mehr. Und wenn die Alternative dazu eine kriminelle Verschwörung ist… Vielleicht sollten Sie noch einmal sorgfältig darüber nachdenken.« Aber das hatte sie bereits getan.
Später am selben Tag traf sie sich allein mit Kitz. Man hatte ihr einen Kompromiß vorgeschlagen. Sie hatte nicht die Absicht, darauf einzugehen. Aber Kitz war auch auf diese Möglichkeit vorbereitet. »Sie mochten mich von Anfang an nicht«, sagte er. »Aber ich stehe über der Sache. Wir werden zu einem wirklich fairen Abschluß kommen. Wir haben bereits eine Pressemitteilung herausgegeben, in der es heißt, die Maschine habe einfach nicht funktioniert, als wir versuchten, sie in Gang zu setzen. Selbstverständlich versuchen wir herauszufinden, was schiefgelaufen ist. Angesichts der anderen Fehlschläge in Wyoming und Usbekistan wird niemand daran zweifeln. In ein paar Wochen werden wir dann mitteilen, daß wir immer noch nicht weitergekommen sind. Wir hätten unser Bestes getan. Es wäre zu teuer, weiter an der Maschine zu arbeiten. Wahrscheinlich wüßten wir einfach nicht genug, um sie richtig zu bauen. Außerdem bestünden immer noch gewisse Gefahren. Das hätten wir schon immer gewußt. Die Maschine könnte explodieren oder so etwas. Alles in allem wäre es also besser, das Projekt auf Eis zu legen – zumindest eine Weile lang. Wir hätten es immerhin versucht. Hadden und seine Freunde wären natürlich dagegen, aber da er von uns gegangen ist…« »Er ist nur dreihundert Kilometer über uns«, bemerkte Ellie. »Oh, Sie haben es noch nicht gehört? Sol ist ungefähr zur gleichen Zeit gestorben, wie die Maschine aktiviert wurde. Eigenartige Sache. Tut mir leid, ich hätte es Ihnen sagen sollen. Ich habe nicht daran gedacht, daß Sie ihm… nahestanden.« Sie wußte nicht, ob sie Kitz glauben sollte. Hadden war in den Fünfzigern und hatte einen körperlich gesunden Eindruck gemacht. Sie wollte später Nachforschungen darüber anstellen. »Und was machen wir in Ihrer Lügengeschichte?« fragte sie. »Wir? Wer ist ›wir‹?«
»Wir. Die fünf, die an Bord der Maschine gingen, die, wie Sie behaupten, nie funktioniert hat.« »Oh. Sie werden noch ein Weilchen verhört, dann können Sie gehen. Ich glaube nicht, daß einer von Ihnen so dumm sein wird, mit dieser Lügengeschichte an die Öffentlichkeit zu treten. Aber um sicherzugehen, werden wir psychiatrische Gutachten über Sie anfertigen lassen. Persönlichkeitsprofile. Kein Grund zur Aufregung. Sie waren schon immer ein wenig rebellisch, unzufrieden mit dem System – in welchem System Sie auch aufwuchsen. Das ist in Ordnung. Es ist gut, wenn Leute unabhängig sind. Wir fördern das, vor allem bei Wissenschaftlern. Aber der Streß der letzten Jahre hat Sie erschöpft – er hat Sie nicht gerade dienstuntauglich gemacht, aber eben erschöpft. Das gilt vor allem für Sie und Dr. Lunatscharski. Zuerst waren Sie daran beteiligt, die BOTSCHAFT zu finden, zu entschlüsseln und die Regierungen zu überzeugen, die Maschine bauen zu lassen. Dann gab es Probleme beim Bau, Industriesabotage, Sie erlebten einen Start, der zu nichts führte… Es war hart. Nur Arbeit und kein Vergnügen. Und Wissenschaftler sind sowieso überaus empfindlich. Daß die Maschine nicht funktionierte, hat Sie alle ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht. Jeder wird Ihnen das nachfühlen können. Verständnis haben. Aber niemand wird Ihre Geschichte glauben. Niemand. Wenn Sie sich anständig benehmen, gibt es keinen Grund, die Gutachten je zu veröffentlichen. Es wird deutlich werden, daß die Maschine noch hier ist. Sobald die Straßen wieder frei sind, werden wir ein paar Photographen vom Funkbilderdienst hereinlassen, die sie photographieren. Wir werden ihnen zeigen, daß die Maschine nirgends hingeflogen ist. Und die Besatzung? Die Besatzung ist natürlich enttäuscht. Vielleicht ein wenig entmutigt. Sie wollen jetzt noch nicht mit der Presse sprechen. Finden Sie
nicht, daß das ein schöner Plan ist?« Kitz lächelte. Er erwartete, daß sie seinen gelungenen Plan würdigen würde. Sie sagte nichts. »Finden Sie nicht, daß wir jetzt sehr vernünftig sind, nachdem wir zwei Billionen Dollar für diesen Dreckhaufen ausgegeben haben? Wir könnten Sie Ihr Leben lang aus dem Verkehr ziehen, Frau Arroway. Aber wir lassen Sie Saufen. Sie müssen nicht einmal eine Kaution hinterlegen. Ich finde, wir verhalten uns wie Gentlemen. Das ist der Geist der Jahrtausend wende. Das ist Machindo.«
22 Gilgamesch Und daß es niemals wiederkehrt, Das macht des Lebens Süße. Emily Dickinson Gedicht Nr. 1741
Zu dieser Zeit, die überschwenglich als Beginn eines neuen Zeitalters gepriesen wurde, war ein Begräbnis im Weltraum eine teure, doch auch schon alltägliche Angelegenheit. Es gab bereits eine lebhafte Konkurrenz von Unternehmen, bei denen man so etwas in Auftrag geben konnte. Besonders hoch war die Nachfrage bei den Leuten, die in früheren Zeiten darum gebeten hätten, daß ihre Asche über ihrer Heimat verstreut würde oder doch zumindest über der Industriestadt, in der sie ihr erstes Vermögen gemacht hatten. Jetzt konnte es jedermann arrangieren, daß seine Überreste die Erde auf ewig umkreisten – oder jedenfalls so lange, wie es für seine Nachkommen auf der Erde eine Rolle spielte. Man brauchte nur einen kurzen Nachtrag an sein Testament anfügen – vorausgesetzt natürlich, man hatte die nötigen Mittel. War man dann gestorben und eingeäschert, wurde die Asche in einen kleinen, fast spielzeugartigen Barren gepreßt. Darauf waren Name und Daten des Verstorbenen sowie ein kurzes Erinnerungsgedicht und ein religiöses Symbol nach Wahl (drei standen zur freien Auswahl) eingeprägt. Zusammen mit Hunderten ähnlicher
Miniatursärge wurde er dann in den Weltraum geschossen und in mittlerer Höhe ausgesetzt, wobei sowohl die vielbefahrenen Korridore des geostationären Orbits als auch die Turbulenzen der Atmosphäre in den erdnahen Umlaufbahnen sorgfältig umgangen wurden. So umkreiste die Asche den Geburtsplaneten des Betreffenden triumphierend in der Mitte der Van-Allen-Strahlungsgürtel in einem Protonensturm, in den sich kein Raumschiff je hineinwagen würde. Der Asche hingegen macht das nichts aus. In dieser Höhe war die Erde inzwischen von einer dichten Hülle sterblicher Überreste ihrer bedeutendsten Bewohner umgeben, und der ahnungslose Besucher einer fernen Welt hätte leicht glauben können, er sei auf eine düstere Totenstadt des Raumzeitalters gestoßen. Die gefährliche Lage der Totenstadt mochte das Fehlen von Gedenkbesuchen durch trauernde Anverwandte erklären. S. R. Hadden war bei dem Gedanken entsetzt gewesen, mit welch unbedeutender Unsterblichkeit sich diese werten Verblichenen zufriedengegeben hatten. All ihre organischen Teile – Hirn, Herz, eben alles, was sie als Person ausgezeichnet hatte – wurden bei der Verbrennung in Atome aufgelöst. Nach der Verbrennung war nichts mehr von ihnen übrig, außer pulverisierten Knochen. Auch für eine sehr fortgeschrittene Zivilisation war das kaum genug, um die Menschen aus ihren Überresten wieder zusammenbauen zu können. Wie viel besser wäre es doch gewesen, wenn ein paar Zellen bewahrt werden könnten. Lebende Zellen mit intakter DNS. Vor Haddens geistigem Auge entstand eine Aktiengesellschaft, die gegen eine kräftige Gebühr ein wenig Epithelgewebe einfrieren und in eine Umlaufbahn hoch über den Van-AllenGürteln schicken würde, vielleicht sogar über den geostationären Orbit hinaus. Dazu brauchte man gar nicht erst
zu sterben. Verschiebe nie auf morgen, was du heute kannst besorgen. Dann konnten außerirdische Molekularbiologen oder ihre irdischen Kollegen den Betreffenden in ferner Zukunft von Grund auf rekonstruieren oder klonen. Man würde sich die Augen reiben, sich strecken und im Jahre 10000000 erwachen. Und auch wenn sich keiner der Überreste annahm, so waren doch immerhin mehrere Kopien der genetischen Information vorhanden. Im Prinzip war man lebendig. In jedem Falle konnte man sagen, daß man ewig lebte. Aber als Hadden weiter über die Sache nachdachte, erschien ihm auch dieser Plan zu bescheiden. Weil ein paar von den Fußsohlen abgekratzte Zellen doch nicht wirklich man selbst waren. Bestenfalls konnte man daraus die physische Gestalt wiederherstellen. Aber das war nicht dasselbe wie man selbst. Wenn man es wirklich ernst meinte, mußte man Familienphotos beifügen, eine peinlich genaue Autobiographie, alle Bücher und Platten, an denen man Spaß gehabt hatte, und so viel Informationen über einen selbst wie möglich. Zum Beispiel das Lieblingsrasierwasser oder die Lieblingsdiätcola. Das war extrem egoistisch, er wußte es, und genau das gefiel ihm ungeheuer. Schließlich befand sich die Welt seit geraumer Zeit in einem Delirium eschatologischer Erwartungen. Es war nur natürlich, an das eigene Ende zu denken, wenn alles vom Tod der Art, vom Untergang des Planeten oder von der massenhaften Himmelfahrt der Auserwählten redete. Es war nicht zu erwarten, daß die Außerirdischen Englisch sprachen. Aber wenn sie einen wieder zusammensetzen sollten, mußten sie die Sprache des Betreffenden kennen. Also mußte man eine Art Übersetzung beilegen. Das war ein Problem nach Haddens Geschmack, das Gegenstück zu dem Problem, das einmal die Entschlüsselung der BOTSCHAFT aufgegeben hatte.
All das erforderte eine größere Raumkapsel. Sie mußte so geräumig sein, daß man sich nicht mehr auf bloße Gewebeproben zu beschränken brauchte. Ebensogut konnte man den Körper als Ganzes hochschicken. Wenn man sich nach dem Tod sozusagen schockgefrieren ließ, hatte das noch einen Nebenvorteil. Vielleicht funktionierte dann noch so viel an einem, daß diejenigen, die einen fanden, zu mehr als bloßer Rekonstruktion imstande waren. Vielleicht konnten sie einen wiederbeleben – natürlich nachdem sie zuerst in Ordnung gebracht hatten, woran man gestorben war. Wenn man eine Weile herumlag, bevor man eingefroren wurde – weil vielleicht die Verwandten noch nicht gemerkt hatten, daß man tot war –, schwanden natürlich die Aussichten auf eine Wiederbelebung. Hadden kam zu dem Schluß, daß es am sinnvollsten war, den Körper unmittelbar vor dem Tod einzufrieren. Das würde eine mögliche Auferstehung sehr viel wahrscheinlicher machen, obwohl die Nachfrage nach dieser Dienstleistung vermutlich beschränkt bleiben würde. Aber warum dann unmittelbar vor dem Tod? Angenommen, man wußte, daß man nur noch ein oder zwei Jahre zu leben hatte. War es dann nicht besser, sich auf der Stelle einfrieren zu lassen, bevor das Fleisch schlecht wurde? Hadden seufzte. Freilich konnte die Krankheit, die den Körper befallen hatte, immer noch unheilbar sein, wenn man wiederbelebt wurde. Man wäre ein Erdzeitalter lang eingefroren und würde nur wiedererweckt, um sofort einem Melanom oder Herzinfarkt zu erliegen, von dem die Außerirdischen nichts geahnt hatten. Nein, schloß er, es gab nur eine Art, seine Idee perfekt zu verwirklichen: Als Mensch, der sich bester Gesundheit erfreute, mußte man die Reise ohne Wiederkehr zu den Sternen antreten. Ein weiterer Nutzen davon war, daß einem das Entwürdigende von Krankheit und Alter erspart blieb. Fern dem inneren Sonnensystem würde die Körpertemperatur bis
auf wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt absinken. Eine weitere Kühlung war unnötig. Für ständige Wartung war gesorgt. Kostenlos. Mit dieser Logik gelangte er zum letzten Schritt dieses Gedankenganges: Wenn es mehrere Jahre dauerte, in die Kälte des interstellaren Raums zu gelangen, konnte man ebensogut wach bleiben, das Schauspiel genießen und sich erst schockgefrieren lassen, wenn man das Sonnensystem verließ. Das würde auch die Abhängigkeit von Kühlaggregaten vermindern. Hadden hatte alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen gegen unerwartete gesundheitliche Probleme in der Erdumlaufbahn getroffen, hieß es in dem offiziellen Bericht, bis hin zu einer vorsorglichen Zertrümmerung seiner Gallen- und Nierensteine durch Ultraschall, bevor er zum ersten Mal sein Raumschloß betrat. Und dann war er an einem anaphylaktischen Schock gestorben. Eine Biene war mit wütendem Summen aus einem Strauß Fresien herausgekommen, den eine Verehrerin mit der Narnia geschickt hatte. Leichtsinnigerweise hatte man vergessen, die umfangreiche Apotheke auf Methusalem mit dem entsprechenden Gegenserum auszustatten. Das Insekt war vermutlich durch die niedrigen Temperaturen im Laderaum der Narnia eine Zeitlang gelähmt worden und trug keine Schuld an dem Vorfall. Sein kleiner, zerrissener Körper war zur Untersuchung durch einen Gerichtsentomologen heruntergeschickt worden. Die Ironie im Schicksal des Milliardärs, der von einer Biene zu Fall gebracht worden war, war der Aufmerksamkeit der Journalisten und Sonntagsprediger nicht entgangen. In Wirklichkeit jedoch war das alles reine Irreführung gewesen. Es hatte keine Biene, keinen Stich und keinen Tod gegeben, Hadden erfreute sich bester Gesundheit. Schlag Neujahr, neun Stunden nachdem die
Maschine in Betrieb gesetzt worden war, zündeten die Raketentriebwerke eines geräumigen Hilfsfahrzeugs, das an der Methusalem angekoppelt gewesen war. Die kleine Rakete erreichte schnell die nötige Geschwindigkeit, um aus dem Anziehungsbereich von Erde und Mond zu entkommen. Hadden hatte sie Gilgamesch getauft. Er hatte sein Leben damit verbracht, Macht anzuhäufen und über die Zeit nachzudenken. Je mehr Macht man hatte, fand er heraus, desto mehr begehrte man. Zwischen Macht und Zeit bestand ein Zusammenhang, weil in bezug auf den Tod alle Menschen gleich waren. Deshalb hatten die alten Könige sich große Denkmäler erbauen lassen. Aber Denkmäler zerfielen, königliche Taten verblaßten, sogar die Namen der Könige wurden vergessen. Und, das war am wichtigsten, sie selbst waren mausetot. Nein, er hatte eine elegantere, schönere, befriedigendere Lösung für sich gefunden: eine kleine Tür in der Wand der Zeit. Hätte er seine Pläne der Welt verkündet, wären gewisse Komplikationen die Folge gewesen. Welchen genauen gesetzlichen Status hatte Hadden denn, wenn er in zehn Milliarden Kilometern Entfernung von der Erde bei vier Grad Kelvin tiefgefroren war? Wer würde seine Aktiengesellschaft leiten? Diese Lösung war viel sauberer. In einem kleinen Zusatz zu seinem sorgfältig ausgearbeiteten Testament hatte er seinen Erben und Rechtsnachfolgern eine neue Gesellschaft hinterlassen, die auf Raketentriebwerke und Kühltechnik spezialisiert war und eines Tages, wenn er längst aller Sorgen ledig sein würde, Immortality Industries heißen sollte. Die Gilgamesch war nicht mit einem Funkempfänger ausgerüstet. Hadden wollte nicht mehr wissen, was aus den fünf Wissenschaftlern geworden war. Er wollte keine Nachrichten mehr von der Erde empfangen – nichts Erheiterndes, nichts, was ihn traurig stimmen konnte, nichts
von dem sinnlosen Lärm, dessen er so überdrüssig war. Nur Einsamkeit, erhebende Gedanken… Stille. Sollte in den nächsten Jahren eine ungünstige Wende eintreten, konnte das Kühlsystem der Gilgamesch durch das Umlegen eines Schalters aktiviert werden. Bis dahin hatte er Zeit für eine ganze Bibliothek seiner Lieblingsmusik, Lieblingsliteratur und Lieblingsvideos. Er würde nicht einsam sein. Er war noch nie wirklich gesellig gewesen. Yamagishi hatte sich überlegt mitzukommen, war aber schließlich abtrünnig geworden. Er wäre ohne »Personal« verloren, sagte er. Und auf dieser Reise gab es weder einen Grund noch hinlänglich Platz für Personal. Die Eintönigkeit der Nahrung und das bescheidene Maß an Annehmlichkeiten hätten wohl so manchen abgeschreckt, aber Hadden wußte, daß er ein Mann mit einem großartigen Traum war. Annehmlichkeiten spielten dabei überhaupt keine Rolle. In zwei Jahren würde der fliegende Sarkophag in den Potentialtopf des Jupiter stürzen, knapp außerhalb des Strahlungsgürtels, würde um den Planeten herumgeschleudert und dann in den interstellaren Raum katapultiert werden. Einen Tag lang würde er eine noch großartigere Aussicht genießen als aus dem Fenster seines Arbeitszimmers auf der Methusalem – die vielfarbigen Wolkengebirge des Jupiter, des größten Planeten. Wenn es nur um die Aussicht gegangen wäre, hätte Hadden für den Saturn und seine Ringe plädiert. Er zog die Ringe vor. Aber der Saturn war mindestens vier Jahre von der Erde entfernt, und das war, alles in allem, ein Risiko. Wer sich an die Unsterblichkeit heranpirschte, mußte sehr vorsichtig sein. Mit seiner jetzigen Geschwindigkeit würde es zehntausend Jahre dauern, auch nur die Entfernung bis zum nächsten Stern zurückzulegen. Aber wenn man bei vier Grad über dem absoluten Nullpunkt eingefroren ist, hat man viel Zeit. Eines schönen Tages jedoch – er war sich da ganz sicher, obwohl es
eine Million Jahre dauern konnte – würde die Gilgamesch in das Sonnensystem einer anderen Zivilisation gelangen. Oder seine Begräbnisbarke würde in der Dunkelheit zwischen den Sternen abgefangen werden, und andere Wesen – fortgeschrittene und weitblickende Wesen – würden den Sarkophag an Bord nehmen und wissen, was zu tun war. Noch nie zuvor war das versucht worden. Niemand, der je auf Erden gelebt hatte, war der Unsterblichkeit so nahe gewesen. Im Vertrauen darauf, daß sein Ende auch sein Anfang sein würde, schloß Hadden die Augen und faltete die Arme probeweise über der Brust, als die Triebwerke noch einmal zündeten, diesmal kürzer, und der metallisch glänzende Flugkörper sich auf die lange Reise zu den Sternen machte. In Tausenden von Jahren, weiß Gott, was dann auf der Erde los sein würde, dachte er. Es war nicht sein Problem. Das war es nie wirklich gewesen. Er würde schlafen, tiefgekühlt, vollkommen erhalten. Sein Sarkophag würde durch die interstellare Leere schießen, und Hadden würde die Pharaonen übertreffen, Alexander den Großen ausstechen und Qin überglänzen. Er reiste seiner eigenen Auferstehung entgegen.
23 Neuprogrammierung Denn wir sind nicht klugen Fabeln gefolgt… sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen. 2. Petrus 1,16
Sieh und erinnere dich. Sieh diesen Himmel hier, Und tiefer noch, die helle, klare Weite, Die grenzenlose, zu der unsre Bitten steigen. Jetzt sprich, sprich in den Dom aus Licht. Dann höre. – Gibt er Antwort dir? Doch nein, nur Schweigen; Heimat ist dort nicht. Karl Jay Shapiro Travelogue for Exiles
Die Telefonleitungen waren repariert worden, die Straßen waren geräumt, und sorgfältig ausgewählten Vertretern der Weltpresse wurde ein kurzer Blick auf die Anlage gestattet. Einige Reporter und Photographen wurden durch die drei zueinander passenden Öffnungen der Benzel und die Luftschleuse in das Dodekaeder geführt. Fernsehkommentare wurden aufgezeichnet, bei denen die Reporter auf den Plätzen, die die Besatzung eingenommen hatte, saßen und der Welt vom Fehlschlag dieses ersten mutigen Versuchs berichteten,
die Maschine zu starten. Ellie und ihre Kollegen wurden aus der Entfernung photographiert, um zu zeigen, daß sie lebten und wohlauf waren, aber im Moment sollten noch keine Interviews gegeben werden. Das bisher Erreichte sollte überdacht und Zukunftsperspektiven sollten erwogen werden. Der Tunnel von Honshu nach Hokkaido war wieder geöffnet, aber die Durchfahrt von der Erde zur Wega war gesperrt. Letzteres war allerdings nie überprüft worden. Ellie fragte sich, ob man versuchen würde, die Benzel wieder in Drehung zu versetzen, sobald die Besatzung das Gelände verlassen hatte – aber sie glaubte, was man ihr gesagt hatte: Die Maschine würde nicht noch einmal funktionieren. Die Wesen von der Erde würden keinen Zutritt mehr zu den Tunneln haben. Die Menschen konnten so viele kleine Kerben in das Raum-Zeit-Gefüge schneiden, wie sie wollten. Es würde ihnen nichts nützen, solange sich von der anderen Seite her niemand anschloß. Man hatte ihnen einen Blick gegönnt, dachte Ellie, und es dann ihnen selbst überlassen, sich zu retten. Wenn sie konnten. Schließlich wurde den fünfen erlaubt, miteinander zu sprechen. Ellie verabschiedete sich von jedem ihrer Gefährten persönlich. Niemand gab ihr die Schuld an den leeren Kassetten. »Videobilder werden auf magnetischen Feldern auf Band aufgezeichnet«, erinnerte Waygay sie. »Auf den Benzein hatte sich ein starkes elektrisches Feld aufgebaut, und sie haben sich natürlich bewegt. Ein elektrisches Feld, das sich in der Zeit verändert, bildet ein magnetisches Feld. Maxwellsche Gleichungen. Das scheint mir der Grund dafür, daß deine Bänder gelöscht worden sind. Es war nicht deine Schuld.« Waygay war über seine Befragung verblüfft gewesen. Man hatte es ihm zwar nicht ausdrücklich vorgeworfen, aber doch
angedeutet, daß er Teil einer antisowjetischen Verschwörung westlicher Wissenschaftler sei. »Ich sage dir, Ellie, die einzige noch offene Frage ist die nach dem Vorhandensein intelligenten Lebens im Politbüro.« »Und im Weißen Haus. Ich kann es nicht glauben, daß die Präsidentin Kitz das durchgehen läßt. Sie hat sich doch selbst für das Projekt eingesetzt.« »Unser Planet wird von Verrückten gelenkt. Überleg dir nur einmal, was Politiker dafür tun müssen, daß sie dorthin kommen, wo sie sind. Ihr Blick ist so eingeschränkt, sie sind so… kurzsichtig. Ihr Blick reicht nur ein paar Jahre in die Zukunft. Bei den besten ein paar Jahrzehnte. Sie sind nur an der Zeit interessiert, während der sie an der Macht sind.« Ellie dachte an Cygnus A. »Aber sie sind nicht sicher, ob unsere Geschichte eine Lüge ist. Sie können es nicht beweisen. Deshalb müssen wir sie überzeugen. Tief im Herzen fragen sie sich: ›Könnte es wahr sein?‹ Einige wünschen sich sogar, daß es wahr sein möge. Aber es ist eine unsichere Wahrheit. Sie brauchen etwas, das an Sicherheit grenzt… Und vielleicht können wir ihnen das geben. Wir können die Gravitationstheorie verfeinern. Wir können neue astronomische Beobachtungen machen, die bestätigen, was man uns gesagt hat – vor allem, was das galaktische Zentrum und Cygnus A angeht. Die Politiker, werden die astronomische Forschung nicht aufhalten. Wir können auch das Dodekaeder untersuchen, wenn sie uns dranlassen. Ellie, wir werden sie überzeugen.« Schwer zu machen, wenn sie alle verrückt sind, dachte Ellie, aber das sagte sie nicht. »Ich verstehe nicht, wie die Regierungen den Leuten klarmachen wollen, daß alles eine Fälschung sein soll«, sagte sie laut.
»Wirklich nicht? Überlege doch nur, was sie den Leuten schon alles weisgemacht haben. Sie haben uns eingeredet, wir wären sicher, wenn wir unseren ganzen Reichtum dafür ausgeben, daß alle Menschen auf Erden innerhalb einer Sekunde getötet werden können – wenn die Regierungen entscheiden, daß die Zeit dafür reif ist. Ich würde meinen, es ist schwierig, Leute etwas so Dummes glauben zu machen. Nein, Ellie, im Überzeugen sind sie gut. Sie brauchen nur zu sagen, daß die Maschine nicht funktioniert und daß wir verrückt geworden sind.« »Ich glaube nicht, daß wir so verrückt erscheinen würden, wenn wir alle gemeinsam von unseren Erlebnissen berichten würden. Aber vielleicht hast du recht. Vielleicht sollten wir zuerst versuchen, Beweise zu finden. Waygay, wirst du in Sicherheit sein, wenn du… zurückgekehrt bist?« »Was können sie mir denn schon tun? Mich nach Gorki verbannen? Das würde ich überleben, ich habe meinen Tag am Strand gehabt… Nein, mir wird nichts passieren. Du und ich, wir haben einen Rückversicherungsvertrag. Solange du lebst, brauchen sie mich. Und natürlich umgekehrt. Wenn die Geschichte wahr ist, werden sie froh sein, einen sowjetischen Zeugen zu haben. Am Ende werden sie es überall ausposaunen. Und wie deine Leute werden sie nach militärischen und wirtschaftlichen Nutzanwendungen dessen fragen, was wir gesehen haben. Es ist gleichgültig, was sie uns befehlen. Es zählt nur, daß wir am Leben bleiben. Dann werden wir unsere Geschichte weitergeben – wir alle fünf. Natürlich vorsichtig. Zuerst nur den Menschen, denen wir vertrauen. Aber diese Leute werden es anderen erzählen. Die Geschichte wird sich herumsprechen. Es wird keine Möglichkeit geben, das zu unterbinden. Früher oder später werden die Regierungen bestätigen, was uns in dem Dodekaeder zugestoßen ist. Und bis dahin sind wir
gegenseitig unsere Versicherungspolicen. Ellie, ich bin sehr glücklich über all das. Es ist das Großartigste, was mir je passiert ist.« »Gib Nina einen Kuß von mir«, sagte sie noch, bevor er mit der Abendmaschine nach Moskau flog. Beim Frühstück fragte sie Xi, ob er enttäuscht sei. »Enttäuscht? Ich bin dorthin geflogen« – er hob die Augen zum Himmel – »und habe sie gesehen und da soll ich enttäuscht sein? Ich bin ein Waise des Langen Marsches. Ich habe die Kulturrevolution überlebt. Ich habe sechs Jahre lang versucht, im Schatten der Chinesischen Mauer Kartoffeln und Zuckerrüben anzubauen. Mein ganzes Leben ist Umwälzung gewesen. Ich kenne die Enttäuschung. Du bist bei einem Bankett dabeigewesen, und wenn du in dein hungerndes Dorf zurückkehrst, sollst du enttäuscht sein, daß man deine Rückkehr nicht feiert? Nein. Das ist keine Enttäuschung. Wir haben ein unwichtiges Scharmützel verloren. Was zählt, ist der strategische Einsatz der… zur Verfügung stehenden Kräfte.« Er sollte in Kürze nach China zurückkehren. Er hatte sich bereit erklärt, dort keine öffentlichen Erklärungen über das abzugeben, was in der Maschine geschehen war. Aber er würde wieder die Leitung der Ausgrabungen bei Xian übernehmen. Auf ihn wartete das Grab Qins. Er wollte wissen, wie stark der Kaiser dem Trugbild auf der anderen Seite des Tunnels ähnelte. »Entschuldige, ich weiß, daß es unverschämt ist«, sagte Ellie nach einer Weile, »aber die Tatsache, daß du als einziger von uns allen jemanden getroffen hast, der… Gab es in deinem ganzen Leben niemanden, den du geliebt hast?« Sie wünschte, sie hätte die Frage besser formuliert. »Alle, die ich je geliebt habe, wurden mir genommen. Ausradiert. Ich sah die Kaiser des zwanzigsten Jahrhunderts kommen und gehen«, antwortete
er. »Ich habe mich nach jemandem gesehnt, der nicht umgekehrt oder rehabilitiert werden konnte. Es gibt in der Geschichte nur wenige Menschen, die nicht ausgelöscht werden können.« Er schaute auf die Tischplatte und fingerte an seinem Teelöffel herum. »Ich habe mein Leben der Revolution gewidmet, und ich bedauere das nicht. Aber ich weiß fast nichts von meiner Mutter und meinem Vater. Ich habe keine Erinnerung an sie. Deine Mutter lebt noch. Du erinnerst dich an deinen Vater, du hast ihn wiedergefunden. Vergiß nicht, wie glücklich du bist.« An Devi spürte Ellie eine Trauer, die sie noch nie zuvor bemerkt hatte. Sie nahm an, daß es eine Reaktion auf die Skepsis war, mit der das Direktorium des Projekts und die Regierungen ihren Bericht aufgenommen hatten. Aber Devi schüttelte den Kopf. »Ob sie uns glauben, ist für mich nicht besonders wichtig. Die Erfahrung selbst ist zentral. Umwälzend. Ellie, das ist uns wirklich zugestoßen. Es war wirklich. Wußtest du, daß ich in der ersten Nacht nach unserer Rückkehr nach Hokkaido geträumt habe, unser Erlebnis wäre ein Traum gewesen? Aber es war kein Traum. Es war kein Traum. Traurig bin ich schon. Meine Traurigkeit ist… Du weißt, mir ist ein Lebenswunsch in Erfüllung gegangen, als ich Surindar nach all den Jahren wiedergesehen habe. Er war genau so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Aber als ich ihn sah, als ich das perfekte Trugbild sah, wußte ich: Diese Liebe war so wertvoll, weil sie mir entrissen wurde, weil ich so viel aufgegeben hatte, um ihn zu heiraten. Wegen nichts sonst. Der Mann war ein Dummkopf. Zehn Jahre mit ihm und wir wären geschieden gewesen. Vielleicht schon nach fünf. Ich war so jung und dumm.«
»Das tut mir wirklich leid«, sagte Ellie. »Ein bißchen kann ich mir vorstellen, wie es ist, wenn man um eine verlorene Liebe trauert.« »Du hast mich noch nicht verstanden, Ellie. Zum ersten Mal in meinem erwachsenen Leben trauere ich nicht um Surindar. Worum ich trauere, ist meine Familie, die ich seinetwegen aufgegeben habe.« Devi Sukhavati wollte in ein paar Tagen nach Bombay zurückkehren und von dort aus das Dorf ihrer Ahnen in Tamil Nadu besuchen. »Am Ende«, sagte sie, »wird es uns leichtfallen zu glauben, daß alles nur Einbildung war. Jeden Morgen beim Aufwachen wird unser Erlebnis weiter entfernt sein, noch mehr einem Traum ähneln. Es wäre besser für uns alle gewesen zusammenzubleiben, uns gegenseitig das Gedächtnis aufzufrischen. Sie haben diese Gefahr erkannt. Deshalb haben sie uns zu dem Strand gebracht, wo es wie auf unserem eigenen Planeten aussah, zu einer Realität, die wir verstehen konnten. Ich werde niemandem erlauben, mich wegen dieser Erfahrung auszulachen. Denke daran. Es ist wirklich passiert. Es war kein Traum, Ellie. Vergiß das nie.« Eda wirkte in Anbetracht der Umstände sehr entspannt. Ellie verstand bald, warum. Während sie und Waygay ausgedehnten Verhören unterzogen worden waren, hatte er gerechnet. »Ich glaube, es handelt sich bei den Tunneln um EinsteinRosen-Brücken«, sagte er. »Die Allgemeine Relativitätstheorie läßt eine Klasse von Lösungen zu, die Wurmlöcher genannt werden. Sie sind den Schwarzen Löchern ähnlich, haben aber keine vergleichbare Entstehungsgeschichte. Sie entstehen nicht wie Schwarze Löcher durch den Gravitationskollaps eines Sterns. Aber ein gewöhnliches Wurmloch, sofern es erst einmal entstanden ist, expandiert und kontrahiert so schnell,
daß nichts hindurchkommt. Es übt verheerende Gezeitenkräfte aus, und es dauert ebenfalls – zumindest in den Augen eines außenstehenden Zuschauers – unendlich lange, hindurchzugelangen.« Ellie verstand nicht, wo der besondere Wert dieser Erkenntnis liegen sollte, und bat ihn um eine Erklärung. Das Hauptproblem bestand darin, das Wurmloch offenzuhalten. Eda hatte für seine Feldgleichungen eine Klasse von Lösungen gefunden, die auf ein neues makroskopisches Feld hindeuteten, auf eine Art Spannung, die benutzt werden konnte, um zu verhindern, daß sich ein Wurmloch vollständig zusammenzog. Ein solches Wurmloch würde keines der anderen Probleme von Schwarzen Löchern haben. Es hätte sehr viel geringere Gezeitenkräfte, wäre von zwei Seiten zugänglich, von außen gemessen wären die Durchgangszeiten kurz, und es gäbe kein zerstörerisches inneres Strahlungsfeld. »Ich weiß nicht, ob der Tunnel kleinen Störungen gegenüber stabil ist«, sagte Eda. »Wenn nicht, müßte man ein ausgefeiltes Feedback-System einrichten, um die Schwankungen zu überwachen und zu korrigieren. Ich bin mir bis jetzt mit all dem noch nicht sicher. Aber wenn die Tunnel möglicherweise Einstein-Rosen-Brücken sind, können wir ihrer Behauptung, wir hätten Halluzinationen gehabt, wenigstens etwas entgegensetzen.« Eda freute sich darauf, nach Lagos zurückzukehren. Ellie sah das grüne Ticket der Nigerian Airlines aus seiner Jackentasche herausschauen. Er war nicht sicher, ob er die neuen physikalischen Perspektiven, auf die ihn die Reise aufmerksam gemacht hatte, vollständig würde durcharbeiten können und ob er der Aufgabe gewachsen sein würde. Hauptsächlich dachte er dabei an sein, wie er es nannte, für die theoretische Physik fortgeschrittenes Alter. Er war achtunddreißig. Vor allem, erzählte er Ellie, sehnte er sich schrecklich danach, wieder bei seiner Frau und den Kindern zu sein. Sie umarmte Eda und
sagte, sie sei stolz auf die Zeit, die sie mit ihm verbracht habe. »Warum die Vergangenheit?« fragte er. »Wir werden uns sicher wiedersehen. Und, Ellie«, setzte er fast wie einen nachträglichen Einfall hinzu, »würdest du mir einen Gefallen tun? Erinnere dich an alles, was passiert ist, an jede Einzelheit. Schreib es auf. Und schicke es mir. Unsere Erfahrungen stellen experimentelle Daten dar. Einer von uns hat vielleicht etwas gesehen, das den anderen entgangen ist, etwas, das für ein tiefgreifendes Verständnis des Vorgefallenen wesentlich ist. Schicke mir, was du aufschreibst. Ich habe die anderen gebeten, dasselbe zu tun.« Er winkte, nahm seinen abgestoßenen Aktenkoffer und wurde von einem Beamten zu dem wartenden Auto geleitet. Alle reisten sie in ihr Heimatland zurück, und Ellie schien es, als ob es ihre eigene Familie war, die getrennt und in alle Winde zerstreut wurde. Auch sie hatte die Erfahrung als umwälzend empfunden. Wie hätte es auch anders sein können? Ein Dämon war ihr ausgetrieben worden. Mehrere sogar. Und jetzt, da sie sich stärker zur Liebe fähig fühlte denn je zuvor, war sie allein. Mit einem Hubschrauber brachte man sie aus der Anlage. Während des langen Fluges in der Regierungsmaschine nach Washington schlief sie so fest, daß man sie wachrütteln mußte, als die Leute vom Weißen Haus an Bord kamen – unmittelbar nach einer Zwischenlandung auf einer abgeschotteten Landebahn in Hickam Field auf Hawaii. Sie hatten einen Kompromiß geschlossen. Sie durfte nach Argus zurückkehren – allerdings nicht mehr als Direktorin – und dort an selbstgewählten astrophysikalischen Problemen arbeiten. Sie hatte, wenn sie wollte, einen Vertrag auf Lebenszeit. »Wir lassen mit uns reden«, hatte Kitz schließlich gesagt, als er dem Kompromiß zugestimmt hatte. »Wenn Sie mit einem handfesten Beweis zu uns kommen, mit etwas wirklich
Überzeugendem, helfen wir Ihnen bei der Veröffentlichung. Wir sagen dann, daß wir Sie gebeten hatten, die Geschichte für sich zu behalten, bis wir absolut sicher sein konnten. Im vernünftigen Rahmen fördern wir jedes Forschungsvorhaben, das Sie wollen. Aber wenn wir die Geschichte jetzt verkünden, wird es zuerst eine Welle der Begeisterung geben, und dann werden die Skeptiker zu kritteln beginnen. Das wäre für Sie und für uns peinlich. Besser ist es, zuerst das Beweismaterial zu sammeln, wenn Sie das können.« Vielleicht hatte die Präsidentin diesen Sinneswandel in ihm bewirkt. Es war unwahrscheinlich, daß Kitz sich über diesen Kompromiß freute. Aber als Gegenleistung durfte sie nichts darüber sagen, was an Bord der Maschine geschehen war. Die fünf hätten sich in das Dodekaeder gesetzt, miteinander geredet und wären dann wieder herausgekommen. Wenn sie auch nur ein einziges anderes Wort ausplauderte, würde das gefälschte psychiatrische Persönlichkeitsprofil seinen Weg in die Medien finden, und man würde sie mit Bedauern entlassen müssen. Ellie überlegte, ob man auch versucht hatte, sich Peter Valerians, Waygays und Eda Abonnebas Schweigen zu erkaufen. Sie verstand nicht, wie man hoffen konnte, dieses Stillschweigen für immer zu bewahren – wenn man nicht die Wissenschaftler von fünf Nationen und vom Weltkonsortium erschießen wollte, die die Einsatzbesprechung durchgeführt hatten. Es war nur eine Frage der Zeit. Offensichtlich wollte man sich Zeit kaufen. Es überraschte sie, wie mild die Strafen waren, mit denen man ihr drohte. Aber Verletzungen der Übereinkunft würden, wenn überhaupt, nicht mehr während Kitz’ Dienstzeit vorkommen. Kitz würde in Kürze zurücktreten. In einem Jahr sollte die Lasker-Administration nach der verfassungsgemäßen Höchstzeit von zwei Legislaturperioden aus dem Amt
scheiden. Kitz hatte sich entschieden, Teilhaber einer Anwaltskanzlei in Washington zu werden, die für ihre Klienten aus der Rüstungsindustrie bekannt war. Aber Ellie vermutete, daß Kitz noch nicht mit der ganzen Sache fertig war. Über ihre Berichte von dem, was im Zentrum der Galaxis geschehen war, schien er sich zwar nicht weiter Gedanken zu machen. Sie war aber sicher, daß die Möglichkeit ihm Kopfzerbrechen bereitete, der Tunnel könne immer noch zur Erde hin, wenn schon nicht von ihr weg, offenstehen. Ellie glaubte, daß man die Anlage in Hokkaido bald abbauen würde. Die Ingenieure würden wieder in ihre Betriebe und Universitäten zurückkehren. Was würden sie dort erzählen? Vielleicht würde das Dodekaeder in der Wissenschaftsstadt von Tsukuba ausgestellt werden. Nach einiger Zeit, wenn sich die Aufmerksamkeit der Welt wieder anderen Dingen zugewandt hatte, würde es vielleicht auf dem Maschinengelände zu einer Explosion kommen – zu einer nuklearen Explosion, falls Kitz eine plausible Erklärung für so etwas einfiel. Wenn es sich um eine nukleare Explosion handelte, war die Verseuchung durch Strahlen ein ausgezeichneter Grund, das gesamte Gebiet zum Sperrgebiet zu erklären. Die Strahlung würde das Gelände zumindest vor unerwünschten Beobachtern abschirmen und vielleicht sogar die Mündung des Tunnels abschütteln. Aber wahrscheinlich würde die Empfindlichkeit der Japaner gegenüber Kernwaffen, auch wenn sie unterirdisch zur Explosion gebracht wurden, Kitz dazu zwingen, sich mit einer gewöhnlichen Explosion zufriedenzugeben. Vielleicht würde man sie als eines der vielen Grubenunglücke von Hokkaido tarnen. Aber Ellie bezweifelte, daß eine Explosion, ob nuklear oder konventionell, die Erde vom Tunnel lösen konnte. Aber vielleicht hatte Kitz nichts von alledem im Sinn. Vielleicht dachte sie schlechter von ihm, als er war. Schließlich mußte auch er von Machindo beeinflußt worden sein. Sicher hatte er
eine Familie, Freunde, jemanden, den er liebte. Irgendwann einmal mußte auch er Gefühle gehabt haben. Am nächsten Tag verlieh die Präsidentin ihr in einer öffentlichen Feierstunde im Weißen Haus den Freiheitsorden. In dem in eine weiße Marmorwand eingebauten Kamin brannten die Scheite. Die Präsidentin hatte viel politisches und finanzielles Kapital in das Maschinenprojekt gesteckt und war entschlossen, vor der Nation und der Welt das Gesicht zu wahren, so gut es ging. Die Investitionen, die die Vereinigten Staaten und andere Nationen für die Maschine geleistet hatten, so wurde immer wieder beteuert, hätten sich in vollem Umfang ausgezahlt. Neue Technologien und Industrien blühten, und das Volk würde davon mindestens ebenso viele Vorteile haben wie von den Erfindungen Thomas Edisons. Die Menschheit habe entdeckt, daß sie nicht allein sei, daß weit fortgeschrittenere Intelligenzen dort draußen im Weltraum existierten. Das, so die Worte der Präsidentin, hätte für alle Zeiten die Vorstellung des Menschen von sich selbst verändert. Von sich persönlich könne sie sagen – und sie glaube, daß sie damit für die meisten Amerikaner spreche –, daß die Entdeckung ihren Glauben an Gott gefestigt habe, von dem nun offenbar geworden sei, daß er auf vielen Welten Leben und Intelligenz erschaffen habe. Die Präsidentin war sicher, daß diese Schlußfolgerung sich harmonisch zu allen Religionen fügen würde. Der größte Erfolg des Projekts aber sei der Geist, den die Maschine auf die Erde gebracht habe – das zunehmende Verständnis der Menschen untereinander, das Gefühl, daß wir alle gemeinsam auf einer gefährlichen Reise durch Raum und Zeit seien, und das Ziel einer globalen Einheit der Zwecke, die auf dem ganzen Planeten als Machindo bekannt sei. Die Präsidentin stellte Ellie vor die Kameras der Leute von Presse und Fernsehen und sprach von ihrer
Beharrlichkeit während zwölf langer Jahre, von dem Genie, mit dem sie die BOTSCHAFT entdeckt und entschlüsselt habe, und von ihrem Mut, an Bord der Maschine zu gehen. Niemand habe gewußt, was die Maschine tun werde. Frau Dr. Arroway habe bereitwillig ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Es sei nicht Frau Dr. Arroways Schuld, daß nichts passierte, als die Maschine gestartet wurde. Sie habe das Menschenmögliche getan. Sie verdiene den Dank aller Amerikaner und der ganzen Menschheit. Ellie sei sehr bescheiden. Trotz ihrer natürlichen Zurückhaltung habe sie, als dazu die Notwendigkeit bestand, die Last auf ihre Schultern genommen, der Öffentlichkeit den Inhalt der BOTSCHAFT und die Konstruktion der Maschine zu erklären. Sie habe sogar eine Geduld im Umgang mit der Presse gezeigt, die sie, die Präsidentin, besonders bewundere. Man solle Frau Dr. Arroway jetzt wirklich ein wenig Ruhe gönnen, damit sie ihre wissenschaftliche Arbeit weiterverfolgen könne. Es habe Pressemitteilungen, Einsatzbesprechungen und Interviews mit Verteidigungsminister Kitz und dem wissenschaftlichen Berater des Weißen Hauses, Der Heer, gegeben. Die Präsidentin hoffte, daß die Presse Frau Dr. Arroways Wunsch respektieren werde, keine Pressekonferenz zu geben. Es gebe jedoch Gelegenheit zum Photographieren. Als Ellie Washington verließ, war sie sich immer noch nicht im klaren, wieviel die Präsidentin eigentlich wußte. In einer kleinen, schnittigen Düsenmaschine des Joint Military Airlift Command wurde Ellie zurückgeflogen. Mit einer Zwischenlandung in Janesville war man einverstanden gewesen. Ihre Mutter trug den alten gesteppten Morgenrock. Jemand hatte ihr etwas Rouge auf die Wangen gelegt. Ellie drückte das Gesicht neben ihre Mutter ins Kopfkissen. Die alte Frau konnte wieder sprechen, auch wenn es ihr Mühe bereitete,
und außerdem ihren rechten Arm soweit gebrauchen, daß sie Ellie ein paarmal sanft über die Schulter streichen konnte. »Mama, ich muß dir etwas erzählen. Du wirst staunen. Aber versuche, ruhig zu bleiben. Ich möchte dich nicht aufregen. Mama… ich habe Papa gesehen. Ich habe ihn gesehen. Er läßt dir viele Grüße sagen.« »Ja…« Die alte Frau nickte langsam. »War gestern hier.« Ellie wußte, daß John Staughton das Pflegeheim am Tag zuvor besucht hatte. Er hatte sich entschuldigt, daß er Ellie heute nicht begleiten könne. Er hatte es mit einem Übermaß an Arbeit begründet, aber vielleicht wollte er auch einfach in diesem Augenblick nicht stören. Dennoch hörte sie sich mit einiger Gereiztheit sagen: »Aber nein. Ich rede von Papa.« »Sag ihm…«, war die schleppende Stimme der alten Frau zu hören, »sag ihm, Chiffonkleid. Reinigung bringen… Heimweg vom Geschäft.« Im Universum ihrer Mutter hatte ihr Vater offensichtlich immer noch das Haushaltswarengeschäft. In Ellies auch. Der lange Bogen des Zauns schnitt von Horizont zu Horizont durch die Steppenwüste. Gebraucht wurde er nicht mehr. Ellie war froh, wieder zurück zu sein. Sie freute sich darauf, ein neues Forschungsprogramm entwickeln zu können, wenn auch in viel kleinerem Rahmen. Jack Hibbert war zum geschäftsführenden Direktor der Argus-Station ernannt worden, und sie fühlte sich von den Verwaltungsaufgaben entlastet. Weil sehr viel Teleskopzeit freigeworden war, seit das Signal von der Wega nicht mehr empfangen wurde, gab es einen ungestümen Fortschritt in einem Dutzend Unterdisziplinen der Radioastronomie, die lange Zeit dahingesiecht waren. Keiner ihrer Mitarbeiter glaubte wie Kitz, daß die BOTSCHAFT gefälscht war. Sie überlegte, was wohl Der Heer und Valerian ihren Freunden und Kollegen über die BOTSCHAFT und die Maschine erzählt hatten.
Ellie bezweifelte, daß Kitz außerhalb seines Verstecks im Labyrinth des Pentagon, das er bald räumen mußte, auch nur ein Wort davon verraten hatte. Sie war einmal dort gewesen. Ein Marinesoldat mit einer Waffe im ledernen Halfter und hinter dem Rücken gefalteten Händen bewachte steif das Portal für den Fall, daß ein Passant in dem Gewirr konzentrischer Gänge Geduld und Verstand verlieren sollte. Willie hatte selbst den Thunderbird von Wyoming geholt, er würde also für sie bereitstehen. Verabredungsgemäß durfte sie ihn nur auf dem Gelände fahren, das aber groß genug für Vergnügungsfahrten war. Die Landschaften des westlichen Texas konnte sie so freilich nicht mehr sehen. Sie hatte keine Hasen mehr als Ehrenwache und konnte keine Fahrten in die Berge unternehmen, um einen südlichen Stern zu beobachten. Das war das einzige, was sie an der Abgeschiedenheit bedauerte. In der folgenden Zeit belagerte eine größere Truppe Presseleute die Gegend in der Hoffnung, ihr eine Frage zurufen oder sie mit einem Teleobjektiv photographieren zu können. Aber Ellie ließ sich nicht blicken. Die neu eingestellten Mitarbeiter der Presseabteilung waren sehr erfolgreich und sogar ein wenig rücksichtslos, wenn es galt, Anfragen abzuwimmeln. Schließlich hatte die Präsidentin um Ruhe für Frau Dr. Arroway gebeten. Während der folgenden Wochen und Monate schrumpfte das Bataillon von Reportern auf eine Kompanie und schließlich auf die Größe eines Zugs zusammen. Jetzt war nur noch eine Gruppe der beharrlichsten übrig, von denen die meisten zum World Hologram und anderen Sensationsblättern und chiliastischen Zeitschriften gehörten, sowie der einsame Vertreter einer Publikation, die sich Wissenschaft und Gott nannte. Niemand wußte, zu welcher Sekte das Blatt gehörte, und der Reporter verriet es auch nicht.
Als die Artikel geschrieben waren, berichteten sie von zwölf Jahren engagierter Arbeit, die ihren Höhepunkt in der folgenschweren Entschlüsselung der BOTSCHAFT und dem Bau der Maschine gefunden hatte. Auf dem Gipfel der Erwartungen der ganzen Welt hatte sie leider versagt. Die Maschine war nirgendwohin geflogen. Natürlich war Frau Dr. Arroway enttäuscht, sie litt, so die Spekulation der Blätter, möglicherweise sogar an Depressionen. In vielen Leitartikeln wurde die Zwangspause positiv beurteilt. Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der die neuen Entdeckungen gemacht worden waren, und die offensichtliche Notwendigkeit einer religiösen und philosophischen Neuorientierung mache eine Zeit der Besinnung und des überlegten Neubeginns notwendig. Vielleicht sei die Erde noch nicht bereit für den Kontakt mit fremden Zivilisationen. Die Soziologen und einige Pädagogen behaupteten, es werde mehrere Generationen lang dauern, bis man das bloße Vorhandensein außerirdischer Intelligenzen, die weiter fortgeschritten waren als die Menschen, richtig verarbeitet habe. Das sei ein schwerer Schlag für die menschliche Selbstachtung, sagten sie. Es sei fürs erste genug. Ein paar Jahrzehnte später werde man die Prinzipien, die der Maschine zugrunde lagen, viel besser verstehen. Man werde sehen, welche Fehler man gemacht habe. Dann werde man darüber lachen, wie klein das Versehen gewesen sei, das damals 1999 den ersten Start der Maschine verhindert hatte. Religiöse Kommentatoren machten geltend, daß das Versagen der Maschine die Strafe für die Sünde des Stolzes, die Anmaßung des Menschen sei. Billy Joe Rankin behauptete in einer im ganzen Land ausgestrahlten Fernsehansprache, daß die BOTSCHAFT tatsächlich direkt aus einer Hölle namens Wega gekommen sei, was seinen früheren Standpunkt in der Angelegenheit maßgeblich bestätige. Die BOTSCHAFT und die Maschine seien ein moderner Turm zu Babel. Die
Menschen hätten auf dumme und tragische Weise danach getrachtet, den Thron Gottes zu erreichen. Vor Tausenden von Jahren sei eine Stadt der Unzucht und Gotteslästerung mit Namen Babylon erbaut worden, die Gott zerstört habe. In der heutigen Zeit gebe es wieder eine solche Stadt mit dem gleichen Namen. Diejenigen, die sich dem Wort Gottes verschrieben hatten, hätten seinen Willen auch dort erfüllt. Die BOTSCHAFT und die Maschine stellten einen neuen Angriff des Bösen auf die Gerechten und Gottesfürchtigen dar. Aber wieder sei das Wirken des Dämons im Ansatz vereitelt worden – in Wyoming durch einen gottgegebenen Unfall, im gottlosen Rußland durch die Verwirrung kommunistischer Wissenschaftler durch göttliche Gnade. Aber trotz dieser klaren Hinweise auf den Willen Gottes, fuhr Rankin fort, hätten die Menschen ein drittes Mal versucht, die Maschine zu bauen. Gott habe sie gewähren lassen. Dann habe er still und leise die Maschine versagen lassen, die Absicht des Dämons vereitelt und damit einmal mehr Fürsorge und Interesse für seine irregeleiteten und sündigen und, um die Wahrheit zu sagen, unwürdigen Kinder bewiesen. Es sei an der Zeit, daß die Menschen aus ihrer Sündhaftigkeit und den von ihnen begangenen Greueln die Lehre zogen. Noch vor der Jahrtausendwende, vor dem wirklichen Beginn des neuen Jahrtausends am 1. Januar 2001 sollten die Menschen sich und ihren Planeten wieder Gott weihen. Die Maschine sollte vernichtet werden mit all ihren Teilen. Der Vorstellung, die Menschen könnten eher durch den Bau einer Maschine als dadurch, daß sie ihre Herzen reinigten, ins Reich Gottes gelangen, müsse mit Stumpf und Stiel ausgemerzt werden, bevor es zu spät sei. In ihrer kleinen Wohnung ließ Ellie Rankin zu Ende reden. Dann schaltete sie den Fernseher ab und fuhr fort, ihren Computer zu programmieren.
Telefonanrufe nach außen waren ihr nur in das Pflegeheim in Janesville, Wisconsin, gestattet. Alle ankommenden Gespräche mit Ausnahme derer aus Janesville wurden abgefangen. Man entschuldigte sich dafür höflich bei ihr. Die Briefe von Der Heer, Valerian und ihrer alten Schulfreundin Becky Ellenbogen legte sie ungeöffnet ab. Als Eilpost und dann mit Kurier kamen Briefe von Palmer Joss aus South Carolina. Sie war versucht, sie zu lesen, aber dann tat sie es doch nicht. Sie schickte ihm eine Notiz, in der nur stand: »Lieber Palmer, jetzt nicht. Ellie«, und gab sie ohne Absender zur Post. Sie wußte nicht, ob sie ankommen würde. In einer Fernsehsendung über ihr Leben, die ohne ihr Einverständnis gedreht worden war, hieß es, daß sie ein noch weltabgeschiedeneres Leben führe als Neil Armstrong oder sogar Greta Garbo. Ellie nahm alles mit fröhlichem Gleichmut hin. Sie war anderweitig beschäftigt. Sie arbeitete Tag und Nacht. Das Kommunikationsverbot mit der Außenwelt erstreckte sich nicht auf rein wissenschaftliche Zusammenarbeit, und über asynchrone Telekommunikation organisierte sie mit Waygay zusammen ein langfristiges Forschungsprojekt. Zu den Untersuchungsgegenständen gehörten die unmittelbare Umgebung von Sagittarius A im Zentrum der Galaxis und die großartige außergalaktische Radioquelle Cygnus A. Die Teleskope von Argus wurden als Teil einer zeitlich aufeinander abgestimmten Anordnung in Verbindung mit den sowjetischen Teleskopen in Samarkand eingesetzt. Der Gesamteffekt der amerikanisch-sowjetischen Anordnung war der eines einzigen Radioteleskops von der Größe der Erde. Sie arbeiteten mit einer Wellenlänge von einigen Zentimetern und konnten Radioquellen, die so klein waren wie das innere Sonnensystem, noch in einer Entfernung, die der zum Zentrum der Galaxis entsprach, bestimmen. Ellie fürchtete, daß das nicht genug sein könnte und daß die beiden kreisenden
Schwarzen Löcher noch wesentlich kleiner waren. Trotzdem konnte ein ständiges Überwachungsprogramm etwas ergeben. Was sie wirklich brauchten, war ein Radioteleskop, das mit einem Raumfahrzeug auf die andere Seite der Sonne gebracht wurde und mit den Radioteleskopen auf der Erde in einer Reihe arbeitete. So konnten Menschen ein Teleskop schaffen, das effektiv die Größe der Erdumlaufbahn hatte. Damit, so rechnete sie, konnte man einen Körper von der Größe der Erde im Zentrum der Galaxis ausmachen. Oder vielleicht von der Größe der Grand Central Station. Die meiste Zeit schrieb sie an neuen Programmen für den Cray 21 und an einem Bericht über die wichtigsten Vorkommnisse, die sich in den zwanzig Minuten Erdzeit nach Aktivierung der Maschine ereignet hatten. Der Bericht sollte so genau wie möglich werden. Etwa nach der Hälfte wurde sie sich bewußt, daß sie ihren Bericht ja nie würde veröffentlichen dürfen. Sie schrieb sozusagen im Samisdat, im Selbstverlag, und ihre Technologien waren Schreibmaschine und Kohlepapier. Sie schloß das Original und zwei Kopien zu einem vergilbenden Exemplar der Hadden Decision in ihren Safe, versteckte den dritten Durchschlag hinter einem losen Brett in der Elektronikzelle des Teleskops 49 und verbrannte das Kohlepapier. Es verursachte einen schwarzen, beißenden Rauch. Sechs Wochen darauf war die Neufassung der Programme fertig, und als Ellie gerade wieder an Palmer Joss dachte, tauchte er persönlich am Tor von Argus auf. Der Weg war ihm durch einige Telephonanrufe eines Sonderbeauftragten der Präsidentin freigemacht worden, die Joss ja schon seit Jahren kannte. Sogar hier im Südwesten mit seinen lockeren Kleidungsvorschriften trug er, wie immer, Jackett, weißes Hemd und Krawatte. Ellie gab ihm den Palmwedel zurück, dankte ihm für den Anhänger und erzählte
ihm trotz Kitz’ Ermahnungen, ihre Halluzinationen für sich zu behalten, sofort alles. Sie übernahmen die Gepflogenheit von Ellies sowjetischen Kollegen, die jedesmal, wenn etwas politisch Unorthodoxes gesagt werden mußte, das dringende Bedürfnis für einen Spaziergang an der frischen Luft verspürten. Ein entfernter Beobachter hätte sehen können, wie Joss gelegentlich anhielt und mit lebhaften Gebärden auf Ellie einsprach. Jedesmal nahm sie dann seinen Arm, und sie gingen weiter. Er hörte mitfühlend und verständnisvoll zu und war ausnehmend tolerant – vor allem für jemanden, dessen Grundsätze von ihrem Bericht in den Grundfesten erschüttert werden mußten… wenn Joss ihm überhaupt Glauben schenkte. Nachdem er damals, als die BOTSCHAFT zum erstenmal empfangen worden war, nicht hatte kommen wollen, zeigte sie ihm jetzt endlich Argus. Er war umgänglich, und sie stellte fest, daß sie sich freute, ihn zu sehen. Sie wünschte, sie wäre nicht so beschäftigt gewesen, als sie ihn das letzte Mal in Washington getroffen hatte. Scheinbar ziellos kletterten sie die schmale metallene Außentreppe hinauf, die auf dem Sockel des Teleskops 49 aufsaß. Der Anblick von 130 Radioteleskopen, die auf eigenen Eisenbahnschienen bewegt werden konnten, war einzigartig auf der Welt. In der Elektronikzelle schob sie das Brett zurück und zog einen dicken Umschlag mit Joss’ Namen heraus. Er steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke, wo er deutlich als Ausbuchtung zu sehen war Ellie erzählte ihm von den Beobachtungsprotokollen über Sagittarius A und Cygnus A und von ihrem Computerprogramm. »Es ist sehr zeitraubend, Pi etwa bis zur zehn hoch zwanzigsten Stelle auszurechnen. Auch der Cray braucht dazu seine Zeit. Und wir wissen nicht, ob das, wonach wir suchen, in Pi zu finden ist. Die Außerirdischen haben eher angedeutet,
daß es dort nicht ist. Es könnte genausogut in e sein oder einer anderen Zahl aus der Familie der transzendenten Zahlen, von der sie Waygay erzählt haben. Es könnte eine völlig andere Zahl sein. Zu versuchen, ein Ergebnis zu erzwingen, indem man einfach bis in alle Ewigkeit transzendente Zahlen berechnet, wäre Zeitverschwendung. Aber hier in Argus gibt es sehr anspruchsvolle Entschlüsselungsalgorithmen. Sie wurden dafür entwickelt, Muster in einem Signal festzustellen, und sie zeigen alles an, was nicht nach Zufall aussieht. Also habe ich die Programme umgeschrieben…« Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, fürchtete sie, sich nicht klar ausgedrückt zu haben, und schloß deshalb eine weitere Erklärung an. »… aber nicht, um die Kommastellen einer Zahl wie Pi zu berechnen, sie auszudrucken und zur Begutachtung vorzulegen. Dazu ist nicht genug Zeit. Statt dessen rast das Programm über die Ziffern von Pi weg und auch zum Nachdenken hält es nur an, wenn eine anormale Folge von Nullen und Einsen auftritt. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Auf etwas nicht Zufälliges. Natürlich gibt es rein zufällig ein paar Nullen und Einsen. Zehn Prozent der Ziffern werden Nullen sein und weitere zehn Prozent Einsen. Im Durchschnitt. Je mehr Ziffern wir durchgehen, desto längere Folgen aus Nullen und Einsen werden wir durch Zufall bekommen. Das Programm weiß, wie viele statistisch zu erwarten sind, und berücksichtigt nur unerwartet lange Folgen. Und es sucht nicht nur im Dezimalsystem.« »Das verstehe ich nicht. Wenn man nur lange genug zufällige Zahlenfolgen untersucht, stößt man dann nicht schon durch Zufall auf jedes gewünschte Muster?« »Sicher. Aber man kann errechnen, wie wahrscheinlich das ist. Wenn man zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine sehr komplexe Botschaft erhält, weiß man, daß es kein Zufall sein kann. Der Computer arbeitet also jeden Tag in den frühen
Morgenstunden an diesem Problem. Es werden keine Daten von außen eingegeben. Und bis jetzt sind auch noch keine Daten herausgekommen. Das Programm durchläuft nur die optimale Reihenentwicklung für Pi und beobachtet, wie die Ziffern vorbeifliegen. Nichts sonst. Bis es etwas findet, spricht es nur, wenn es gefragt wird. Es hält eine Art Nabelschau.« »Ich bin weiß Gott kein Mathematiker. Können Sie mir ein Beispiel geben?« »Sicher.« Sie suchte in den Taschen ihres Overalls nach einem Stück Papier, fand aber keines. Sie überlegte, ob sie den Umschlag aus seiner Brusttasche holen sollte, den sie ihm gerade gegeben hatte, um darauf zu schreiben. Sie entschied aber, daß das hier im Freien zu riskant war. Als er merkte, was sie suchte, zog er einen kleinen Spiralblock heraus. »Danke. Pi beginnt mit 3,1415926… Sie sehen, die Ziffern wechseln ganz zufällig. Gut, unter den ersten vier Ziffern taucht zweimal die Eins auf, aber wenn man eine Weile weitermacht, gleicht sich das wieder aus. Jede Zahl von eins bis zehn erscheint fast genau an zehn Prozent der Stellen, wenn man genügend Ziffern zusammenkommen läßt. Gelegentlich bekommt man einige aufeinanderfolgende gleiche Ziffern, wie zum Beispiel 4444, aber nicht häufiger, als statistisch zu erwarten ist. Nehmen Sie jetzt einmal an, Sie gingen fröhlich diese Ziffern durch und fänden plötzlich nur noch Vieren. Hunderte von Vieren in einer Reihe. Das braucht zwar noch keine Information zu enthalten, aber ist auch kein statistischer Zufall mehr. Man könnte die Ziffern von Pi Äonen lang berechnen, aber wenn sie wirklich zufällig aufeinanderfolgen, würde man nie dahin kommen, daß man hundert aufeinanderfolgende Vieren findet.« »Es ist wie bei Ihrer Suche nach der BOTSCHAFT. Mit diesen Radioteleskopen.«
»Ja. In beiden Fällen haben wir nach einem Signal gesucht, das nicht nur ein statistischer Zufall ist.« »Es würde also um mehr gehen als nur hundert Vieren, ist das richtig? Es könnte auch zu uns sprechen?« »Ja. Stellen Sie sich vor, wir bekämen nach einiger Zeit eine lange Folge von Nullen und Einsen. Dann könnten wir genauso wie bei der BOTSCHAFT ein Bild herausziehen, falls eines darin ist. Sie verstehen, es könnte alles mögliche dabei herauskommen.« »Sie meinen, Sie könnten ein Bild entschlüsseln, das in Pi versteckt ist, und es könnte ein Text in hebräischen Buchstaben sein?« »Sicher. Große schwarze Buchstaben. In Stein gemeißelt.« Er musterte sie forschend. »Verzeihen Sie, Eleanor, aber meinen Sie nicht, daß Sie vielleicht eine Spur zu… indirekt sind? Sie gehören keinem buddhistischen Schweigeorden an. Warum gehen Sie nicht einfach mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit?« »Palmer, wenn ich sichere Beweise hätte, würde ich reden. Solange ich aber keine habe, werden Leute wie Kitz sagen, daß ich lüge. Oder Halluzinationen hätte. Deshalb dieses Manuskript in Ihrer Innentasche. Sie werden es versiegeln, datieren, notariell beglaubigen lassen und in einen Banksafe bringen. Wenn mir etwas zustößt, können Sie es der Welt zugänglich machen. Ich gebe Ihnen die Vollmacht, damit zu tun, was Sie wollen.« »Und wenn Ihnen nichts zustößt?« »Wenn mir nichts zustößt? Wenn wir finden, wonach wir suchen, wird dieses Manuskript unsere Geschichte bestätigen. Wenn wir einen Beweis für ein doppeltes Schwarzes Loch im galaktischen Zentrum finden oder eine riesige künstliche Konstruktion in Cygnus A, oder eine in Pi versteckte Botschaft, dann wird das da« – sie tippte ihm leicht auf die
Brust – »mein Beweis sein. Dann werde ich reden… Bis dahin, verlieren Sie es nicht.« »Ich verstehe immer noch nicht alles«, bekannte er. »Wir wissen, daß das Universum mathematisch geordnet ist. Das Gesetz der Schwerkraft und so weiter. Inwiefern soll das hier etwas Neues sein? Vielleicht gibt es eine Ordnung in den Ziffern von Pi. Na und?« »Aber verstehen Sie nicht? Das wäre etwas anderes als der Versuch, die dem Universum zugrundeliegenden mathematischen Gesetze zu finden, die dann wieder Physik und Chemie festlegen. Es wäre eine Botschaft. Wer auch immer das Universum gemacht hat, er hat Botschaften in transzendenten Zahlen versteckt, damit sie fünf Milliarden Jahre später gelesen werden können, wenn sich schließlich intelligentes Leben entwickelt hat. Als wir uns das erste Mal trafen, habe ich Sie und Rankin dafür kritisiert, daß Sie das nicht verstehen wollen. ›Wenn Gott will, daß wir von seiner Existenz wissen, warum schickt er uns dann nicht eine eindeutige Botschaft?‹ habe ich gefragt. Erinnern Sie sich?« »Ich erinnere mich sehr gut. Sie glauben, Gott ist ein Mathematiker.« »So etwas Ähnliches. Wenn es stimmt, was man uns dort oben erzählt hat. Wenn unser Unternehmen irgendeinen Sinn hat. Wenn sich eine Botschaft in Pi verbirgt und nicht in der Unendlichkeit der anderen transzendenten Zahlen. Das sind eine Menge Wenns.« »Sie suchen die Offenbarung in der Arithmetik. Ich kenne einen besseren Weg.« »Palmer, es ist der einzige Weg. Es ist das einzige, was einen Skeptiker überzeugen könnte. Stellen Sie sich vor, wir finden etwas. Es muß gar nicht so fürchterlich kompliziert sein. Nur irgendein Muster, das zu regelmäßig ist, als daß es sich zufällig aus den vielen Ziffern von Pi ergeben könnte. Das ist alles,
was wir brauchen. Dann können Mathematiker auf der ganzen Welt genau das gleiche Muster oder die gleiche Botschaft oder was immer es ist herausbekommen. Dann kann es keine sektiererischen Gruppen geben. Alle fangen dann an, dieselbe Schrift zu lesen. Niemand könnte dann mehr behaupten, daß das den Religionen zugrundeliegende Wunder ein Taschenspielertrick sei oder daß spätere Historiker die Aufzeichnungen gefälscht hätten oder daß das alles nur Einbildung oder Täuschung oder ein Ersatz für unsere Eltern sei, wenn wir erwachsen sind. Jeder könnte dann glauben.« »Sie sind nicht sicher, ob Sie überhaupt etwas finden. Sie können sich hier verstecken und ewig weiterrechnen. Oder aber Sie gehen an die Öffentlichkeit und berichten der Welt von dem, was Sie erlebt haben. Früher oder später werden Sie wählen müssen.« »Ich hoffe, ich werde nicht wählen müssen, Palmer. Zuerst materielle Beweise, dann die öffentliche Bekanntmachung. Andersherum… Sehen Sie nicht, wie angreifbar wir dann wären? Ich meine nicht mich selbst, sondern…« Er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er hatte die Ironie ihrer Lage entdeckt. »Warum sind Sie so heftig daran interessiert, daß ich meine Geschichte veröffentliche?« fragte sie. Vielleicht verstand er es als rhetorische Frage. Jedenfalls antwortete er nicht, und sie fuhr fort. »Finden Sie nicht, daß eine merkwürdige… Umkehrung unserer Positionen stattgefunden hat? Ich stehe hier als jemand, der ein tief religiöses Erlebnis hatte, das ich nicht beweisen kann – wirklich Palmer, ich kann es kaum selber verstehen. Und Sie stehen da als verhärteter Skeptiker, der -erfolgreicher als ich es je getan habe – versucht, freundlich zu den Gläubigen zu sein.« »O, nein, Eleanor«, sagte er, »ich bin kein Skeptiker. Ich glaube Ihnen.«
»Tatsächlich? Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, handelt aber nicht von Strafe und Belohnung. Es geht nicht um Wiederkunft und Himmelfahrt. Es kommt kein Wort von Jesus darin vor. Ein Teil meiner Botschaft ist, daß wir nicht der zentrale Zweck des Kosmos sind; Was mir zugestoßen ist, macht uns alle sehr klein.« »Das stimmt. Aber zugleich macht es Gott sehr groß.« Sie schaute ihn einen Moment lang an und fuhr dann rasch fort. »Wissen Sie, obwohl die Erde um die Sonne rast, haben die Mächte dieser Welt – die religiösen Machthaber und die weltlichen Machthaber – einst verkündet, die Erde bewege sich überhaupt nicht. Denn sie wollten mächtig sein. Oder zumindest so tun, als ob sie mächtig wären. Und angesichts der Wahrheit kamen sie sich allzu klein vor. Die Wahrheit ängstigte sie, sie untergrub ihre Macht. Also haben sie sie unterdrückt. Sie fanden die Wahrheit gefährlich. Sind Sie sicher, daß Sie wissen, was es heißt, mir zu glauben?« »Ich habe gesucht, Eleanor. Glauben Sie mir, nach all den Jahren erkenne ich, wenn etwas wahr ist. Jeder Glauben, der die Wahrheit liebt und danach strebt, Gott zu kennen, muß mutig versuchen, die Erscheinungen des Universums damit in Einklang zu bringen. Ich meine, des wirklichen Universums. All die vielen Lichtjahre. All die Welten. Wenn ich an das Ausmaß Ihres Universums denke, an die Möglichkeiten, die es dem Schöpfer bietet, stockt mir der Atem. Das ist viel besser, als ihn in unsere kleine Welt einzusperren. Mir hat die Vorstellung von der Erde als Gottes grünem Schemel nie gefallen. Sie war so besänftigend wie eine Kindergeschichte… ein Beruhigungsmittel. Aber Ihr Universum hat Raum und Zeit genug für den Gott, an den ich glaube. Ich sage, Sie brauchen keinen Beweis mehr. Es gibt schon genug Beweise. Cygnus A und all das ist doch nur für die Wissenschaftler. Sie glauben, es wird schwer sein, gewöhnliche Leute davon zu überzeugen,
daß Sie die Wahrheit sagen. Ich meine, es wird kinderleicht sein. Sie glauben, daß Ihre Geschichte zu sonderbar sei, zu exotisch. Aber ich habe schon einmal so eine Geschichte gehört. Ich kenne sie auswendig. Und ich wette, Sie kennen sie auch.« Er schloß die Augen und sagte dann auswendig her: Und ihm träumte; und siehe, eine Leiter stand auf der Erde, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder… Gewiß ist der Herr an diesem Ort, und ich wußte es nicht… Hier ist nichts anderes denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. Er hatte sich mitreißen lassen, als predigte er von der Kanzel einer großen Kathedrale zur Menge, und als er die Augen wieder öffnete, tat er es mit einem kleinen Lächeln über sich selbst. Sie gingen eine breite Allee entlang, die rechts und links von weißen, in den Himmel wachsenden Radioteleskopen gesäumt wurde. Nach einer kurzen Pause sagte er im Plauderton: »Ihre Geschichte wurde vorhergesagt. Sie ist schon einmal geschehen. Irgendwo tief in Ihnen müssen Sie das gewußt haben. Keines Ihrer Details steht im Buch Genesis. Natürlich nicht. Wie wäre das möglich? Der Bericht der Genesis war für die Zeit Jakobs richtig. Genauso, wie Ihr Zeugnis für diese Zeit richtig ist, für unsere Zeit. Die Leute werden Ihnen glauben, Eleanor. Millionen. Auf der ganzen Welt. Ich weiß es ganz sicher…« Sie schüttelte den Kopf, und beide gingen einen Moment schweigend weiter, bevor er fortfuhr: »Also gut. Ich verstehe. Sie lassen sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Aber wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, das zu beschleunigen, tun Sie es – um meinetwillen. Uns bleibt nicht einmal mehr ein ganzes Jahr bis zur Jahrtausendwende.«
»Ich verstehe Sie auch. Haben Sie noch ein paar Monate Geduld mit mir. Wenn wir bis dahin in Pi nichts gefunden haben, überlege ich mir, ob ich mit dem, was dort oben passiert ist, an die Öffentlichkeit gehe. Vor dem 1. Januar. Vielleicht werden auch Eda und die anderen bereit sein zu sprechen. Einverstanden?« Schweigend gingen sie zum Verwaltungsgebäude von Argus zurück. Rasensprenger bewässerten das dürre Gras, sie mußten einer Pfütze ausweichen, die auf der sonst ausgetrockneten Erde irgendwie unpassend wirkte. »Waren Sie je verheiratet?« fragte er. »Nein, nie. Ich glaube, ich hatte immer zu viel zu tun.« »Waren Sie jemals verliebt?« Es war eine direkte, sachliche Frage. »Halbwegs, ein halbes Dutzend Mal. Aber…« Sie schaute das nächststehende Teleskop an. »Es war immer zu viel Lärm darum herum. Das Signal war schwer zu finden. Und Sie?« »Nie«, antwortete er entschieden. Es entstand eine Pause, und dann fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu: »Aber ich habe den Glauben.« Ellie entschied, über diese Zweideutigkeit jetzt nicht weiter nachzudenken. Sie stiegen eine kurze Treppe hinauf, um sich den Hauptcomputer von Argus anzuschauen.
24 Die Signatur des Künstlers Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden. 1. Korinther 15, 51
Das Universum scheint… durch die weise Voraussicht des Schöpfers aller Dinge nach Zahlen geordnet und eingerichtet. Denn es liegt ihm ein Muster zugrunde, einer Skizze gleich, das durch Zahlen festgelegt ist, die vor allem Anfang im Geist des weltschaffenden Gottes existiert haben. Nikomachus von Gerasa Arithmetica I, 6 (ca. 100 n. Chr.)
Sie rannte die Stufen zum Pflegeheim hinauf und sah auf der frisch gestrichenen grünen Veranda, auf der in regelmäßigen Abständen leere Schaukelstühle standen, John Staughton stehen – vornübergebeugt, bewegungslos, die Arme wie tot herabhängend. Mit der rechten Hand umklammerte er eine Einkaufstasche, in der Ellie eine durchsichtige Duschhaube, einen geblümten Kosmetikkoffer und zwei mit rosa Bommeln geschmückte Hauspantoffeln sah. »Sie ist tot«, sagte er, als er Ellie sah. Mit bittender Stimme fuhr er fort: »Geh nicht hinein. Sieh sie dir nicht an. Sie hätte es nicht gewollt, daß du sie so
siehst. Du weißt, wieviel Wert sie auf ihr Aussehen legte. Überhaupt, sie ist gar nicht da drin.« Automatisch, aus langer Gewohnheit und noch immer unbezähmtem Groll heraus wollte Ellie sich umdrehen und trotzdem hineingehen. Aber sollte sie ihn auch jetzt, in dieser Situation, aus Grundsatz ablehnen? Was für Grundsätze waren das denn? Dem Schmerz nach zu schließen, der sich tief in sein Gesicht gegraben hatte, stand außer Frage, daß seine Trauer echt war. Er hatte ihre Mutter geliebt. Vielleicht, dachte Ellie, hatte er sie mehr geliebt als sie, und eine Welle von Selbstvorwürfen überschwemmte sie. Es war ihrer Mutter schon seit langer Zeit gesundheitlich sehr schlecht gegangen, und Ellie hatte sich oft überlegt, wie sie selbst reagieren würde, wenn das Ende da war. Sie erinnerte sich, wie schön ihre Mutter auf dem Bild gewesen war, das Staughton ihr geschickt hatte, und plötzlich wurde sie, obwohl sie sich auf diesen Moment vorbereitet hatte, von Tränen geschüttelt. Von ihrem Schmerz aufgerüttelt, ging Staughton zu ihr, um sie zu trösten. Aber sie hob abwehrend eine Hand und gewann mit sichtlicher Anstrengung die Fassung wieder. Sogar jetzt brachte sie es nicht über sich, ihn zu umarmen. Sie waren Fremde, zwischen denen eine Tote eine schwache Verbindung schuf. Aber es war falsch gewesen – das wußte sie in der Tiefe ihrer Seele –, daß sie Staughton für den Tod ihres Vaters verantwortlich gemacht hatte. »Ich habe etwas für dich«, sagte er und wühlte in der Einkaufstasche. Neue Gegenstände kamen zum Vorschein, während andere zum Boden der Tasche gedrückt wurden. Ellie konnte jetzt eine Brieftasche aus Kunstleder und den Plastikbehälter für das Gebiß sehen. Sie mußte wegschauen. Schließlich richtete Staughton sich wieder auf. In der Hand hielt er einen abgegriffenen Umschlag. »Für Eleanor«, stand darauf. Sie erkannte die Handschrift ihrer Mutter und wollte ihn an sich nehmen. Staughton trat erschreckt einen Schritt
zurück und hielt sich den Umschlag schützend vors Gesicht, als hätte sie ihn schlagen wollen. »Warte«, sagte er. »Warte. Ich weiß, wir sind nie miteinander ausgekommen. Aber tu mir diesen einen Gefallen: Lies den Brief erst heute abend. Einverstanden?« In seiner Trauer schien er zehn Jahre gealtert zu sein. »Warum?« fragte sie. »Deine Lieblingsfrage. Tu mir diesen einen Gefallen. Ist das zu viel verlangt?« »Nein«, erwiderte sie. »Es ist nicht zu viel verlangt. Es tut mir leid.« Er sah ihr in die Augen. »Was auch immer du in dieser Maschine erlebt hast«, sagte er, »vielleicht hat es dich verändert.« »Ich hoffe es, John.« Sie rief Joss an und fragte ihn, ob er den Trauergottesdienst halten würde. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich nicht religiös bin. Aber es gab Zeiten, in denen meine Mutter es war. Sie sind der einzige Mensch, von dem ich möchte, daß er die Trauerfeier leitet, und ich bin ziemlich sicher, daß mein Stiefvater damit einverstanden ist.« Er würde mit dem nächsten Flugzeug kommen, versicherte Joss ihr. Nach einem frühen Abendessen ging sie auf ihr Hotelzimmer und zog den Umschlag heraus. Mit den Händen fuhr sie sacht über ihn und streichelte jede Falte und jeden Knick. Er war alt. Ihre Mutter mußte den Brief vor Jahren geschrieben und ihn danach ständig in einem Fach ihrer Handtasche mit sich herumgetragen haben. Offensichtlich hatte sie sich nie entscheiden können, ob sie ihn Ellie geben sollte. Er schien nicht frisch zugeklebt worden zu sein, aber Ellie fragte sich dennoch, ob Staughton ihn gelesen haben mochte. Zum einen Teil war sie begierig, den Umschlag zu öffnen, aber ein anderer Teil in ihr sperrte sich in einer Art böser Vorahnung.
Lange Zeit saß sie in dem muffigen Lehnstuhl und dachte mit eng ans Kinn gezogenen Knien nach. Eine Glocke klingelte, und geräuschvoll erwachte der Wagen ihres Telefax-Apparats zum Leben. Er war mit dem Computer von Argus verbunden. Obwohl sie sich an früher erinnert fühlte, konnte es nicht wirklich dringend sein. Was auch immer der Computer gefunden hatte, es würde nicht verschwinden; würde nicht untergehen, wenn sich die Erde drehte. Wenn sich in p eine Botschaft verbarg, würde sie ewig auf Ellie warten. Wieder musterte sie den Umschlag, aber das Klingeln hatte sie gestört. Wenn es in einer transzendenten Zahl eine Botschaft gab, mußte sie von Anfang an in die Geometrie des Universums eingebaut worden sein. Ihr neues Projekt war experimentelle Theologie. Aber das war alle Wissenschaft, dachte sie. »BITTE WARTEN«, druckte der Computer auf den Telefaxschirm. Sie dachte an ihren Vater… oder vielmehr an das Trugbild ihres Vaters… an die Verwalter der Galaxis mit ihrem Netz von Tunneln durch den Sternenraum. Sie hatten den Ursprung und die Entwicklung des Lebens auf Millionen Welten beobachtet und vielleicht beeinflußt. Sie bauten Galaxien und riegelten Sektoren des Universums ab. Sie beherrschten zumindest eine begrenzte Form der Reise durch die Zeit. Sie waren Götter, die die frömmsten Vorstellungen fast aller Religionen übertrafen – jedenfalls aller westlichen Religionen. Aber sogar ihnen waren Grenzen gesetzt. Sie hatten die Tunnel nicht selbst gebaut und waren dazu auch nicht fähig. Sie hatten keine Botschaft in eine transzendente Zahl eingefügt und konnten die Botschaft, die sie in einer vermuteten, noch nicht einmal lesen. Die Erbauer der Tunnel und die, die vielleicht eine Botschaft in p hinterlassen hatten, waren andere. Sie lebten hier nicht mehr. Sie hatten keine Adresse hinterlassen. Als die Tunnelbauer abgereist waren,
waren die, die später die Verwalter der Galaxis werden sollten, zu verlassenen Kindern geworden. Wie Ellie selbst. Sie dachte über Edas Hypothese nach, daß die Tunnel Wurmlöcher seien, die in zweckmäßigen Abständen auf unzählige Sterne dieser und anderer Galaxien verteilt waren. Sie ähnelten den Schwarzen Löchern, aber sie hatten abweichende Eigenschaften und einen anderen Ursprung. Sie waren nicht ganz masselos, Ellie hatte gesehen, wie sie Gravitationsrinnen im kreisenden Schutt des Systems der Wega hinterlassen hatten. Durch sie hindurch reisten viele Arten von Wesen mit ihren Raumschiffen durch die Räume der Galaxis. Wurmlöcher. Im vielsagenden Jargon der theoretischen Physik war das Universum ein Apfel, und jemand hatte ihn durchbohrt, das Innere mit Tunneln durchlöchert, die das Kernhaus durchkreuzten. Für einen Bazillus, der an der Oberfläche lebte, war das ein Wunder. Aber ein Wesen, das außerhalb des Apfels stand, war davon weniger beeindruckt. Von seinem Standpunkt aus waren die Tunnelbauer nur ärgerlich. Aber wenn die Erbauer der Tunnel Würmer waren, wer waren dann die Menschen? Der Computer von Argus war tief in rt eingedrungen, tiefer als irgend jemand auf der Erde, ob Mensch oder Maschine, je eingedrungen war, jedoch nicht annähernd so tief, wie die Verwalter gekommen waren. Also konnte es noch nicht die seit langem unentschlüsselte Botschaft sein, von der ihr Theodore Arroway an den Ufern jenes nirgends verzeichneten Meeres erzählt hatte. Vielleicht war es nur ein Auftakt, eine Vorschau auf kommende Wunder, ein Zeichen, damit die Menschen nicht den Mut verlören. Was es auch sein mochte, es konnte unmöglich die Botschaft sein, die zu entschlüsseln sich die Verwalter bemühten. Vielleicht waren einfache Botschaften und schwierige Botschaften in den verschiedenen transzendenten Zahlen eingeschlossen, und der
Argus-Computer hatte die einfachste gefunden. Mit ihrer Hilfestellung. Auf der Station hatte sie Demut gelernt. Sie war daran gemahnt worden, wie wenig die Bewohner der Erde wirklich wußten. Vielleicht gab es so viele Stufen von fortgeschritteneren Wesen als den Menschen wie zwischen uns und den Ameisen, oder möglicherweise sogar wie zwischen uns und den Viren standen. Aber Ellie war deshalb nicht niedergeschlagen. Statt entmutigter Resignation hatte sie ein zunehmendes Gefühl der Verwunderung in sich gespürt. Es gab jetzt so viel mehr, wonach man streben konnte. Es war wie der Schritt von der High School zum College, von einer Situation, in der einem alles mühelos zuflog, zu der Notwendigkeit, ausdauernd und diszipliniert zu lernen, um den Stoff überhaupt zu verstehen. In der High School hatte sie den Unterrichtsstoff schneller begriffen als die anderen. Im College hatte sie gemerkt, daß es viele Leute gab, die schneller waren als sie. Sie hatte das gleiche Gefühl zunehmender Schwierigkeit gehabt, als sie auf die Universität kam und als sie Astronomin wurde. Auf jeder Stufe hatte sie Wissenschaftler getroffen, die mehr konnten als sie selbst, und jede Stufe war aufregender gewesen als die vorangegangene. Laß die Offenbarungen kommen, dachte sie, als sie auf den Telefax-Apparat schaute. Sie war bereit. ÜBERTRAGUNGSPROBLEM. S/N10. BITTE WARTEN. Sie war über einen Satelliten namens Defcom Alpha mit dem Argus-Computer verbunden. Vielleicht war ein Lagekontrollproblem entstanden, oder das Programm hatte einen Knoten. Bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, merkte sie, daß sie den Umschlag geöffnet hatte. HAUSHALTSWAREN ARROWAY, stand auf dem Briefkopf, und natürlich war es das Schriftbild der alten RoyalSchreibmaschine, die ihr Vater daheim stehen hatte, um
geschäftliche und private Rechnungen zu schreiben. »13. Juni 1964« war in die rechte obere Ecke getippt. Damals war sie fünfzehn gewesen. Ihr Vater konnte das nicht geschrieben haben, er war damals schon seit Jahren tot. Am unteren Ende der Seite erkannte sie in der Unterschrift die saubere Handschrift ihrer Mutter. Meine liebste Ellie, jetzt, wo ich tot bin, hoffe ich, daß Du mir verzeihen kannst. Ich weiß, daß ich Dir gegenüber eine Sünde begangen habe, und nicht nur Dir gegenüber. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, wie Du mich hassen würdest, wenn Du die Wahrheit wüßtest. Deshalb habe ich nie den Mut aufgebracht, es Dir zu sagen, während ich noch lebte. Ich weiß, wie sehr Du Ted Arroway geliebt hast, und ich möchte, daß Du weißt, daß auch ich ihn liebte. Und immer noch liebe. Aber er war nicht Dein richtiger Vater. Dein richtiger Vater ist John Staughton. Ich habe etwas sehr Falsches getan. Ich hätte es nicht tun sollen, ich war schwach, aber wenn ich es nicht getan hätte, wärst Du nicht auf der Welt. Sei also bitte nachsichtig, wenn Du an mich denkst. Ted wußte es, und er hat mir verziehen, und wir verabredeten, es Dir nie zu sagen. Aber jetzt schaue ich gerade aus dem Fenster und sehe Dich im Hof. Du sitzt da und denkst über Sterne und Dinge nach, die ich nie verstehen werde, und ich bin so stolz auf Dich. Dir ist die Wahrheit so wichtig, ich denke, es ist richtig, daß Du diese Wahrheit über Dich selbst erfährst. Über Deine Herkunft, meine ich. Wenn John noch lebt, hat er dir diesen Brief gegeben. Ich weiß, daß er es tun wird. Er ist ein besserer Mensch, als du denkst, Ellie. Ich hatte Glück, daß ich ihn wiedergefunden habe. Vielleicht haßt Du ihn so sehr, weil etwas in Dir die Wahrheit herausgefunden hat. Aber in
Wirklichkeit haßt du ihn, weil er nicht Theodore Arroway ist. Das weiß ich. Du sitzt immer noch dort draußen. Du hast Dich nicht gerührt, seit ich diesen Brief begonnen habe. Du denkst einfach nach. Ich hoffe und bete, daß Du finden wirst, was Du suchst. Vergib mir. Ich war nur ein Mensch. In Liebe, Mama Ellie hatte den Brief in einem Zug durchgelesen und las ihn sofort noch einmal. Sie hatte Schwierigkeiten zu atmen. Ihre Hände waren feucht. Der falsche Vater hatte sich als der richtige erwiesen. Fast ihr ganzes Leben lang hatte sie ihren eigenen Vater abgelehnt, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was sie tat. Welche Charakterstärke hatte er bei all den pubertären Ausbrüchen gezeigt, wenn sie ihm vorwarf, daß er nicht ihr Vater sei und also kein Recht habe, ihr etwas vorzuschreiben. Der Telefax-Apparat klingelte wieder, zweimal. Er forderte sie auf, jetzt die RETURN-Taste zu drücken. Aber sie hatte keine Gedanken frei. Er mußte warten. Sie dachte an ihren Va… an Theodore Arroway, an John Staughton und an ihre Mutter. Sie hatten ihr viel geopfert, und sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um es auch nur zu bemerken. Sie wünschte sich, daß Palmer bei ihr wäre. Der TelefaxApparat klingelte wieder, und der Wagen bewegte sich vorsichtig. Sie hatte den Computer darauf programmiert, beharrlich zu sein, sogar ein bißchen erfinderisch, wenn es galt, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und wenn er meinte, in p etwas gefunden zu haben. Aber jetzt war sie viel zu sehr damit beschäftigt, die Teile ihres Lebens neu zusammenzusetzen. Ihre Mutter mußte am Schreibtisch im
großen oberen Schlafzimmer gesessen und aus dem Fenster geschaut haben, als sie überlegt hatte, wie sie den Brief formulieren sollte. Ihr Blick hatte dabei auf der fünfzehn Jahre alten Ellie geruht, die linkisch und aufsässig gewesen war. Ihre Mutter hatte ihr ein letztes Geschenk gemacht. Durch diesen Brief war Ellie in die Vergangenheit zurückversetzt worden und auf ihr früheres Selbst gestoßen. Es gab noch so viel zu erfahren. Über dem Tisch, auf dem der ratternde Telefax-Apparat stand, hing ein Spiegel. In ihm sah sie eine Frau, die weder jung noch alt war, weder Mutter noch Tochter. Sie hatten recht gehabt, ihr die Wahrheit zu verheimlichen. Sie war noch nicht weit genug gewesen, um das Signal zu empfangen, geschweige denn, es zu entschlüsseln. Sie hatte ihr Leben mit dem Versuch zugebracht, mit den fernsten und fremdartigsten aller Fremden Kontakt aufzunehmen, während sie im eigenen Leben mit fast niemandem Kontakt aufgenommen hatte. Sie war fanatisch dabeigewesen, die Schöpfungsmythen anderer Leute zu entlarven, während sie der Lüge in ihrem eigenen Leben gegenüber blind gewesen war. Sie hatte ihr ganzes Leben lang das Universum erforscht, seine deutlichste Botschaft jedoch übersehen: Für kleine Geschöpfe wie die Menschen ist die Unendlichkeit nur durch die Liebe zu ertragen. Der Computer von Argus war so beharrlich und erfinderisch in seinen Versuchen, mit Eleanor Arroway in Verbindung zu treten, daß sich darin fast ein dringendes persönliches Bedürfnis ausdrückte, die Entdeckung mit jemandem zu teilen. Die Anomalie zeigte sich am reinsten beim Rechnen mit der Grundzahl 11, dort konnte sie vollständig als Folge von Nullen und Einsen ausgeschrieben werden. Verglichen mit der Botschaft, die sie von der Wega empfangen hatten, konnte das bestenfalls eine einfache Botschaft sein, aber ihr statistischer Signifikanzgrad war hoch. Das Programm stellte die Ziffern in
einer quadratischen Matrix zusammen, die in Höhe und Breite die gleiche Rasterzahl hatte. Die erste Zeile war eine ununterbrochene Reihe von Nullen, von links nach rechts. Die zweite Zeile zeigte genau in der Mitte eine Eins und rechts und links davon Nullen. Nach ein paar Zeilen hatte sich unmißverständlich ein Bogen gebildet, der aus Einsen bestand. Die einfache geometrische Figur war schnell konstruiert, Zeile für Zeile entstand das vielversprechende Bild. Die letzte Zahlenreihe tauchte auf, alles Nullen, außer einer einzelnen Eins in der Mitte. Die folgende Zeile würde nur aus Nullen bestehen und war ein Teil des abschließenden Rahmens. Versenkt in den wechselnden Mustern der Ziffern, tief im Innern der transzendenten Zahl, war ein vollkommener Kreis, dessen Form durch Einsen in einem Feld von Nullen gezeichnet wurde. Das Universum war absichtlich gemacht worden, sagte der Kreis. In welcher Galaxis man sich auch befand: Wenn man den Umfang eines Kreises nahm, ihn durch seinen Durchmesser teilte und genau genug maß, entdeckte man ein Wunder – einen weiteren Kreis, der Kilometer jenseits des Dezimalkommas gezeichnet war. Noch weiter innen würden reichhaltigere Botschaften stecken. Es spielte keine Rolle, wie man aussah, woraus man bestand oder woher man kam. Solange man in diesem Universum lebte und ein bescheidenes Talent für Mathematik hatte, stieß man früher oder später auf dieses Wunder. Es war von Anfang an da. Es war in allem. Man mußte seinen Planeten nicht verlassen, um es zu finden. Im Stoff des Weltraums und im Wesen der Materie fand sich, wie in einem großen Kunstwerk, ganz klein geschrieben die Signatur des Künstlers. Über den Menschen, Göttern und Dämonen, einschließlich der Verwalter und der Erbauer der Tunnel, stand eine Intelligenz, die dem Universum vorausging. Der Kreis hatte sich geschlossen. Ellie hatte gefunden, wonach sie suchte.
Nachwort des Autors Obwohl ich natürlich von den Menschen meiner Umgebung beeinflußt bin, handelt es sich bei keinem der Charaktere dieses Buchs um das Porträt einer lebenden Person. Dennoch verdankt das Buch der weltweiten SETI-Gemeinde viel – jener kleinen Gruppe von Wissenschaftlern aus allen Teilen unseres kleinen Planeten, die auch angesichts entmutigender Umstände unentwegt an dem gemeinsamen Ziel arbeiten, nach einem Signal vom Himmel zu suchen. Besonderen Dank schulde ich den SETI-Pionieren Frank Drake, Philip Morrison und dem verstorbenen I. S. Shklovskii. Die Suche nach außerirdischen Intelligenzen kommt jetzt in eine neue Phase. Zwei größere Vorhaben wurden begonnen – die 8-Millionen-FrequenzMETA/Sentinel-Untersuchung an der Harvard University, die von der Planetary Society in Pasadena gefördert wird, und ein noch komplexeres Programm unter der Schirmherrschaft der NASA. Meine schönste Hoffnung ist, daß dieses Buch durch den Fortschritt wirklicher wissenschaftlicher Entdeckungen überflüssig gemacht wird. Mehrere Freunde und Kollegen waren so freundlich, eine erste Fassung des Buches zu lesen und zu kritisieren und haben damit dem Buch zu seiner vorliegenden Form verholfen. Ich bin ihnen zutiefst dankbar, allen voran Frank Drake, Pearl Druyan, Lester Grinspoon, Irving Gruber, Jon Lomberg, Philip Morrison, Nancy Palmer, Will Provine, Stuart Shapiro, Steven Soter und Kip Thorne. Herr Professor Thorne machte sich die Mühe, über das hier beschriebene galaktische Verkehrssystem nachzudenken, und erstellte dabei fünfzig Zeilen mit Gleichungen aus der relevanten Gravitationsphysik. Hilfreiche Hinweise zu Inhalt und Stil erhielt ich von Scott Meredith, Michael Korda, John Herman, Gregory Weber, Clifton Fadiman und dem
verstorbenen Theodore Sturgeon. Während der vielen Entwicklungsstadien der Vorbereitung dieses Buches hat Shirley Arden ausdauernd und fehlerfrei gearbeitet. Ihr wie Kel Arden gebührt mein Dank. Ich danke Joshua Lederberg dafür, daß er mich, wohl ohne Absicht, vor Jahren als erster auf den Gedanken gebracht hat, im Zentrum der Milchstraßengalaxis könnte eine hohe Form der Intelligenz leben. Der Gedanke hat, wie alle Gedanken, Vorläufer, und etwas Ähnliches scheint um 1750 Thomas Wright im Sinn gehabt zu haben, der als erster ausdrücklich darauf hinwies, daß die Galaxis ein Zentrum haben könnte. Ein Holzschnitt von Wright, der das Zentrum der Galaxis darstellt, ist auf dem Titelblatt abgebildet. Das Buch entstand aus dem Drehbuchentwurf, den Ann Druyan und ich 1980-81 geschrieben haben. Lynda Obst und Gentry Lee waren dabei eine entscheidende Hilfe. In allen Stadien der Arbeit hatte ich Ann Druyan ungeheuer viel zu verdanken – vom frühesten Entwurf der Handlung und der Charaktere bis zur Korrektur der Druckfahnen. Was ich dabei von ihr gelernt habe, ist meine liebste Erinnerung an die Arbeit an diesem Buch.