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Jan J.Moreno
Blutiger Jahreswechsel
Seit dem frühen Morgen hallte das Dröhnen der Bambustrommeln durch...
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Seewölfe 719 1
Jan J.Moreno
Blutiger Jahreswechsel
Seit dem frühen Morgen hallte das Dröhnen der Bambustrommeln durch den Wald. Die Bewegungen der Tänzer wurden hektischer, ihre halbnackten Körper glänzten vom Schweiß. Die Sonne stand kurz vor dem Zenit, als der Bräutigam die Lichtung betrat. Nur Augenblicke später erschienen der weiße Gott und Jahuma. Sie hatten die Nacht und den Vormittag miteinander verbracht, wie es das Gesetz der ersten Nacht erforderte. Der weiße Gott wirkte sehr zufrieden. Aber dann verdunkelte sich die Sonne. Ein plötzlich losbrechender Sturm heulte durch die Baumwipfel. Vorübergehend wurde der Tag zur Nacht. Blitzschläge verwandelten zwei Baumriesen in lodernde Fackeln. Furchtsam warfen sich die Eingeborenen zu Boden. Das böse Omen war unverkennbar, obwohl schon Augenblicke später wieder die Sonne schien... Die Hauptpersonen des Romans: Jonathan William Elias O'Connor – fühlt sich zwar als weißer Gott über den Negritos der Andamanen-Insel, aber dafür hat sich sein Geist verwirrt. Don Juan de Alcazar – glaubt, der einzige Überlebende der Arwenacks zu sein, aber da entdeckt er den Admiral. Old Donegal O'Flynn – ist tatsächlich nicht unterzukriegen, auch nicht, als er schon am Pfahl steht und umgebracht werden soll. Mac Pellew – bastelt ein paar Flaschenbomben und setzt sie auch ein, obwohl er sonst als Zweitkoch für das Essen zuständig ist. Blacky – läßt ein Faß Pulver explodieren, was seinen Leuten eine Menge Luft verschafft.
1. Vage, konturlose Helligkeit flimmerte vor seinen Augen. Schweiß und Salzwasser verklebten die Lider. Ihm war, als tauche er langsam aus endloser Tiefe auf. Er fröstelte, obwohl die Sonne heiß vom Himmel brannte. Monoton leckte die Nässe an seinen Beinen hoch. Das hohle Glucksen und Gurgeln der zurückflutenden Wellen blieb das einzige Geräusch. Vielleicht war dies das Paradies. Wer wollte daran zweifeln? „Mache de dios!“ Die eigene Stimme, rauh und heiser, erschreckte ihn. Augenblicke später verdrängte die aufbrechende Erinnerung alle anderen Gedanken. Erneut glaubte er das Donnern der nahenden Riesenwelle zu hören, die mit ungestümer Gewalt über die Schebecke hereingebrochen war und das Schiff unter
Wasser gedrückt hatte. Er glaubte das Splittern der Masten zu vernehmen und die erstickten Schreie der Gefährten. Über ihm erklangen die heiseren Schreie von Seevögeln. Mühsam wälzte er sich herum und blinzelte in die schräg stehende Sonne. Der Himmel war von einem herrlichen Blau, nur wenige weiße Wolkenschleier zogen in großer Höhe ihre Bahn, halb aufgetakelten Schiffen gleich, deren Ziel an fernen Gestaden lag. Das Meer zeigte sich überraschend ruhig. Eine gleichmäßige Dünung rollte heran, und nur weit draußen zeichnete sich ein schmaler Schaumstreifen ab. Wahrscheinlich waren Korallenbänke oder Felsen der Insel vorgelagert. Die Schebecke war verschwunden und hatte irgendwo in ungewisser Tiefe ihr nasses Grab gefunden.
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Don Juan preßte die Lippen aufeinander, bis die Wangenknochen schmerzten, seine Hände verkrallten sich im feuchten, feinkörnigen Sand. Er kämpfte gegen seine Gefühle an. Wenn er zu fluchen oder zu schreien begonnen hätte, oder wenn er wie ein verwundetes Tier ohne Ziel den Strand entlang gerannt wäre, hätte das weder den Dreimaster zurückgebracht noch die ertrunkenen Gefährten wieder zum Leben erweckt. Die Tatsachen waren unumstößlich. „Verdammt“, sagte Don Juan inbrünstig. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte laut aufgeschrien oder wäre wie von Furien gehetzt über den Strand gerast – dann hätte er nicht alles in sich hineingefressen. Und dann wäre vielleicht dieses beklemmende Gefühl aus seiner Magengrube verschwunden, als wühle ein Heer von Ameisen in seinen Eingeweiden. Zu glauben, daß er der einzige sein sollte, der den Schiffbruch überlebt hatte, fiel schwer. Die See hatte ihn an den Strand einer unbekannten Insel gespült, warum also nicht auch andere aus der Crew? Don Juan entsann sich, daß der Seewolf nur wenige Schritte vor ihm gestanden hatte, als die Schebecke kenterte. Ebenso Carberry und Old Donegal. Die Andamanensee mit ihren vielen Inseln war den Seewölfen zum Verhängnis geworden. Er dachte an den bevorstehenden Jahreswechsel. Auf dem Rückweg in die Karibik hatten die Arwenacks das Jahr 1600 gebührend begrüßen wollen. Natürlich hatten sie sich schon in den Haaren gelegen, ob das neue Jahrhundert mit dem 1. Januar 1600 oder erst 1601 begann. Don Juans Ansicht, daß letzteres richtig sei, war teilweise auf heftigen Widerspruch gestoßen. So schnell wurden Probleme bedeutungslos. Wen von den Arwenacks interessierte jetzt noch, ob ein neues Jahrhundert anbrach? Zögernd stemmte sich Don Juan hoch. Eine ungewohnte Schwäche steckte in seinen Gliedern, und er verharrte kurz auf den Knien, bis die Übelkeit von ihm abfiel.
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Der helle, im Sonnenlicht golden schimmernde Sandstrand war gut fünf Yards breit und erstreckte sich, von hohen Klippen ausgehend, bis zu einem weit vorspringenden Kap. Wie groß die Insel war, konnte der Spanier von seinem Standort aus nicht abschätzen. Strandhafer und niedere Vegetation, von Kokospalmen und einigen exotisch wirkenden, weit verzweigten Bäumen durchsetzt, schlossen sich an den Strand an. Weiter entfernt erhob sich dichterer Wald, der aber nicht den Eindruck unwegsamen Dschungels erweckte. Einige Meilen entfernt, überragte ein bewachsener Höhenzug die Baumwipfel. Don Juan drehte sich langsam im Kreis. Bei den Klippen brüteten Scharen von Kormoranen. Ihr Kot hatte die schroffen Felsen mit einer grauweißen Schicht überzogen. Der Strand wirkte unberührt. Wo die Wellen ausliefen, lag angespülter Tang, den flinke Krabben durchwühlten. Die Spuren der Tiere bildeten ein verwirrendes Muster im Sand. Verhungern würde er vorerst nicht. Don Juan tastete nach dem Dolch, der in seinem Gürtel steckte. Mit der Klinge konnte er auch größere Tiere erlegen und aufbrechen. Flüssigkeit fand er vorerst in den Kokosnüssen, und wahrscheinlich stieß er über kurz oder lang auf eine Süßwasserquelle. Wenn nicht, dann hatte er immer noch die Möglichkeit, den Boden aufzugraben. Wo Bäume wurzelten, sammelte sich zumindest das Regenwasser. Sein Blick fiel auf ein Stück Holz, das unter Tang und Seegras verborgen lag. Eine Schiffsplanke. Ob sie von der Schebecke stammte, ließ sich nicht feststellen. Immerhin hatte sie lange Zeit im Wasser gelegen und auf einer Seite leichten Muschel- und Algenbewuchs angesetzt. Werg und Teer hingen noch unverrückbar fest und bewiesen, daß ein Meister seines Fachs die Naht kalfatert hatte. Don Juan versuchte, das Plankenstück über dem Knie zu zerbrechen, doch das Holz
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war kein bißchen morsch. Mit einer weit ausholenden Bewegung schleuderte er es ins Wasser zurück. Durch den mehr als knöcheltiefen, heißen Sand stapfte er den Strand hinauf. Eine leichte, zwischen Nord und West drehende Brise trocknete seine Kleidung. Die erbarmungslos stechende Sonne tat ein übriges. Er hatte sich entschlossen, das Kap zu umrunden. Möglicherweise fand er auf der anderen Seite der Landzunge Spuren menschlicher Besiedlung oder traf gar auf weitere überlebende. Vorerst schob er das Gefühl der Einsamkeit weit von sich, ja er begann sogar, die Wärme und die unberührte Natur zu genießen. Die Insel war wie viele ihrer Art –jedoch auf eine Weise anders, die er nicht in Worte zu kleiden vermochte. Vielleicht, dachte er, weil sie seine Insel war und ihn vor dem Ertrinken gerettet hatte. Ohne den flachen Strand hätte ihn die See womöglich längst in lichtlose Tiefe gezerrt, oder er wäre von Haien zerfleischt worden. Eidechsen flohen vor ihm ins Gebüsch. Die größten von ihnen, die sich zu Dutzenden in der Sonne räkelten, maßen gerade zwei Handspannen. Don Juan erreichte die Nordspitze des Kaps. Nackter Fels bestimmte das Bild. Die Landzunge ragte weit ins Meer hinaus, dessen Färbung nur zögernd von einem hellen Türkis zu tiefem Blau überging. Einzelne dunklere Flecken deuteten auf Pflanzenwuchs oder Korallen hin. Zehn, zwanzig Yards weit lief der Spanier ins Wasser, aber selbst dann reichte es ihm erst knapp bis zur Hüfte. Die Insel, die jetzt in einem weit geschwungenen Halbrund vor ihm lag, erwies sich als größer, als er angenommen hatte. * Die Schatten wurden länger, und die sinkende Sonne verwandelte das Meer in eine Ebene aus flüssigem Gold, deren Anblick den Augen schmerzte. Inmitten
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der blendenden Reflexe wäre ein Schiff erst aus größerer Nähe wahrzunehmen gewesen. Quälender Durst zwang Don Juan, den unmittelbaren Küstenbereich zu verlassen. Im Schatten mannshoher Pflanzen war die Hitze erträglicher, allerdings erfüllte nach einer Weile das Sirren winziger Mücken die Luft. Die geflügelten Plagegeister stürzten sich in beinahe selbstmörderischer Wut auf den Spanier, dessen Gesicht und Arme von den unzähligen Stichen bald höllisch juckten. Als der Boden schließlich morastig wurde und eine dunkle, ölige Brühe absonderte, kehrte er schleunigst ans Wasser zurück. Das Sumpfgebiet erstreckte sich noch ein Stück nach Südwesten. Wegen seiner monotonen Vegetation war es leicht einzugrenzen. Die meisten Bäume in dem Gebiet wirkten verkrüppelt. Nur noch vereinzelt ragten Kokospalmen auf. Sie trugen keine Früchte. Don Juan fragte sich, warum er nicht vorher, als Gelegenheit dazu gewesen war, einige Nüsse aufgebrochen hatte. Nun mußte er wohl oder übel dem weiteren Verlauf der Küste folgen, die voraus zu einem dicht bewaldeten Höhenzug anstieg. Umzukehren hätte bedeutet, daß er eine noch größere Strecke zurücklegen mußte und letztlich wieder da anfing, wo er aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht war. Der Strand wurde steiniger und bald – Don Juan hatte das andere Ende der Bucht fast erreicht – gab es kaum noch Sand. In diesem Bereich herrschte eine starke Strömung, die Unmengen von Tang anspülte. Ein Geruch nach Moder und Verwesung hing in der Luft, an Land eilten Krabben geschäftig herum, zwischen den Steinen lagen Muscheln, die ein Sturm angespült hatte. Don Juan mußte nicht lange suchen, bis er einige Tiere fand, deren Schalen noch geschlossen waren. Sie mit dem Messer aufzubrechen, fiel nicht schwer. Die Muscheln schmeckten nach gar nichts, besänftigten aber zumindest den rebellierenden Magen. Es war nicht das erstemal, daß er rohe Muscheln verzehrte,
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wenngleich sie ihm in einer Paella zusammen mit Hammelfleisch, Tintenfisch und Reis weitaus besser mundeten. Das Gefühl der Sättigung stellte sich zwar schnell ein, würde aber nicht sehr lange anhalten. Der Spanier brach noch einige Muscheln auf, ehe er sich für das andere Treibgut zu interessieren begann. Er fand einige Quadratyard eines brüchigen, ungelohten Segeltuchs, das sich zwischen seinen Fingern auflöste und keine Rückschlüsse auf seine Herkunft zuließ, außerdem zwei zersplitterte Riemenschäfte und zu guter Letzt eine Kiste mit rostigen Beschlägen. In den Deckel waren Initialen eingeritzt und die Jahreszahl 1583. Sicherlich stammte sie von einem Schiff aus der Alten Welt. Die Anfangsbuchstaben J.R. konnten alles mögliche bedeuten, Jan Ranse zum Beispiel, nur war Don Juan sicher, daß der Rudergänger der Arwenacks nie eine solche Kiste besessen hatte. Sie war schwer. Da das Schloß eingehängt war und ein Schlüssel fehlte, blieb ihm keine andere Wahl, als die Scharniere zu lösen. Mehrmals rutschte die Messerklinge ab, doch das Holz war vom langen Liegen im Wasser aufgequollen und mürbe, und nach einer Weile schaffte es Don Juan, das erste Scharnier auszubrechen. Mit dem zweiten hatte er weniger Mühe. Die mit Pech ausgestrichene Kiste war etwa halb voll mit brackigem, stinkendem Wasser. Außer den Scherben einer dickbauchigen Flasche lag eine wunderschön ziselierte doppelläufige Pistole darin. Da Pulver und Kugeln fehlten, konnte Don Juan wenig mit der Waffe anfangen. Trotzdem schob er sie hinter seinen Gürtel. Ein solches Stück warf man nicht achtlos beiseite. Ein verschnürtes, mit Leinentuch umwickeltes Päckchen enthielt Schiffszwieback und ein großes Stück Käse. Beides war längst ungenießbar. Außerdem lag da noch eine Zimmermannsaxt ohne Stiel. Abschätzend
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wog der Spanier die Klinge in den Händen, bis er sich entschloß, sie mitzunehmen. Der Himmel färbte sich dunkler. Im Westen stieg ein Streifen roter Färbung über die Kimm auf und dehnte sich rasch bis in den Zenit aus. Dazwischen geisterten Sonnenstrahlen in gespenstischer Färbung. Wiederholt ließ Don Juan den Blick über die Küste schweifen. Aber nichts veränderte sich. Also ging er weiter nach Süden. Wo ihn die Nacht einholte, wollte er rasten. Wahrscheinlich brauchte er Tage, die Insel zu umrunden. Wenn er es nicht tat, würde er sich irgendwann vorwerfen, nicht alles versucht zu haben. Entlang der Küste ließen sich am besten Spuren einer Besiedlung finden. Anderenfalls mußte er sich darauf vorbereiten, vorbeisegelnden Schiffen Signale zu geben. Denn sein Leben wollte er bestimmt nicht in Einsamkeit und fern der Heimat beschließen. Er dachte an Taina, seine Ehefrau, und an Spaniens Schönheiten. Viel zu lange mußte er schon beides entbehren. Wolken zogen auf. Ihre Schatten huschten über die Insel. Der Wind hatte wieder gedreht und weiter aufgefrischt. Er wehte jetzt aus nordöstlichen Richtungen. Urplötzlich zuckte Don Juan zusammen. Am Rand einer der Schattenzonen, wo sich die goldene Abendsonne und die Vorboten der heraufziehenden Nacht miteinander vermischten, stand eine Gestalt, als sei sie von einem Moment zum anderen erschienen. Der Spanier hätte nicht zu sagen vermocht, ob der Mann schon lange da stand und ihn womöglich beobachtet hatte, oder ob er eben erst hinter dem Baum hervorgetreten war, der ebenso knorrig und verwittert wirkte wie er selbst. Ein Blitzschlag hatte den Stamm gespalten und die Rinde einer Hälfte bis dicht über den Boden abgeschält. Das bloßliegende Holz wirkte ebenso geisterhaft bleich wie das Haar des Mannes, der sich haltsuchend anlehnte. Er hatte nur ein Bein. Das rechte wurde zumindest unterhalb des Knies — so genau war das auf die Distanz nicht zu erkennen
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— von einer armdicken hölzernen Prothese ersetzt. Gekleidet war der Mann in einen locker fallenden, verwaschenen Umhang, von dem der breite, mit einer großen Schnalle versehene Ledergürtel deutlich abstach. Obwohl er nichts sehnlicher erwartet hatte als ein solches Zusammentreffen, fuhr sich Don Juan irritiert mit einer Hand über die Augen. Er war nicht sicher, ob ihm sein Wunschdenken einen Streich spielte oder der sich schnell verändernde Schattenwurf. „Hallo, Senor!“ sagte der alte Mann ruhig, mit einem leicht spöttischen Unterton in der Stimme. „Du stehst da wie ein Schaf wenn's donnert und blitzt. Meine Güte, sag schon was, von mir aus irgendeinen gotteslästerlichen Fluch.“ „Donegal ...“, sagte der Spanier. Der Alte kicherte. „Sehr erfreut klingt das nicht gerade. Ich bin kein Geist, Mann, keiner von diesen grünen Gesellen, die aus der Tiefe des Meeres heraufsteigen, um normal Sterbliche zu ängstigen.“ „Donegal Daniel O'Flynn!“. Don Juan de Alcazar wußte nicht, ob er lachen oder weinen, ob er stehen bleiben oder den Alten spontan umarmen sollte. „Jetzt sind wir immerhin schon zwei.“ Donegal humpelte auf ihn zu. Allem Anschein nach tat er sich beim Laufen schwerer als sonst. „In dem Geröll am Ufer habe ich mir das verdammte Bein vertreten.“ „Den Knöchel?“ „Unsinn. Das rechte Bein.“ Der Spanier reagierte nicht darauf. Rechts trug Donegal die Prothese, und die war aus Holz, mit einem Eisenrohr in der Mitte und schmerzunempfindlich. Aber bei Old Donegal wunderte ihn schon gar nichts mehr. Der Alte blieb erst dicht vor ihm stehen. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er Juan umarmen, doch dann schlug er ihm nur kräftig auf die Schulter. „Keine Müdigkeit vorschützen, Senor, sonst holt uns die Nacht ein, während wir palavern.“
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Wenn zwei Männer das gleiche Ziel haben, muß einer das Kommando übernehmen. Das war natürlich er, Schwiegervater des Seewolfs, Grandad zweier hoffnungsvoller Enkel und „Admiral“ der Arwenacks in einer Person. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, drehte er auf dem Absatz um und stapfte vor dem Spanier her, dem bis zu gut hundert Yards aufragenden Höhenrücken zu. „Weißt du, wie groß die Insel ist, ob es wilde Tiere gibt oder Menschen?“ Interessant war nicht nur, daß Old Donegal ohne Punkt und Komma redete, was seine innere Erregung deutlich werden ließ, sondern auch, daß er wilde Tiere und Menschen in einem Atemzug nannte. Don Juan hüstelte verhalten. „Natürlich hast du keine Ahnung.“ Old O'Flynn wandte sich flüchtig um und wäre um ein Haar gestürzt. „Wir brauchen ein Dach über dem Kopf, ein Versteck, das Schutz bietet. Die erste Nacht in einer fremden Umgebung kannst du nie vorsichtig genug sein.“ Er redete viel, auch dummes Zeug, weil es ihn ablenkte. Nichts wäre unerträglicher gewesen, als in der augenblicklichen Situation ins Grübeln zu verfallen. Old Donegal hätte den Gedanken nicht ertragen, der Seewolf und die Zwillinge könnten ertrunken sein. Zwar würde irgendwann und unweigerlich der Katzenjammer beginnen, doch brachte jede Stunde, die bis dahin verstrich, ein wenig mehr Abstand. Old O'Flynn führte den Spanier durch dichter werdendes Unterholz zu einer Höhle am Fuß des aufsteigenden Hügels. Tatsächlich war der Ort, den er für die erste Nacht auserkoren hatte, nur ein Erdloch, durch raschere Verwitterung oder wie immer entstanden und nicht tiefer als zehn Schritte, doch das Gefühl der Geborgenheit stellte sich seltsamerweise sofort ein. Der üppige Efeu, der aus der Höhe wie ein Baldachin nach unten hing, mochte dazu beitragen, aber mindestens ebenso die Kokosnüsse, die Old Donegal zusammengesammelt hatte.
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„Unser Abendessen“, sagte er und fügte stockend hinzu: „Insgeheim habe ich mehr Backschafter erwartet Don Juan beeilte sich, die erste Nuß aufzuschlagen. Ihre Unterhaltung war an einem Punkt angelangt, der alles aufzuwühlen drohte, was sie bislang mühsam unterdrückt hatten. „Rum wäre mir lieber“, sagte der Alte. „Weißt du, ich möchte so richtig einen draufhauen, bis die Welt rosarot erscheint.“ „Morgen sieht alles anders aus“, widersprach Don Juan. „Morgen ist der dreißigste Dezember“, murmelte Old Donegal und starrte zu den Sternen hinauf. „Ich fürchte, auch in der Karibik gibt es diesmal kein Freudenfest zum Jahreswechsel.“ 2. Don Juan beeilte sich, die nächste Kokosnuß zu öffnen. Old Donegal schwieg, während er die frische Milch trank und danach das feste, fast weiße Fleisch aus den Schalen kratzte. Die mondlose Nacht war von bleierner Schwärze. Der Sternenschein reichte nicht aus, das Meer erkennen zu lassen. Vom Strand erklang das Rauschen einer stärker werdenden Brandung, und aus dem Inselinneren drangen vielfältige Tierstimmen zu ihnen. Das Zetern einer Affenhorde vermischte sich mit den Schreien erschreckt aufflatternder Vögel. „Ich kann nicht glauben, daß wir die einzigen sein sollen“, sagte Old Donegal irgendwann. „Was hast du erwartet?“ „Ein Wunder – vielleicht.“ Old O'Flynn hatte ein großes Stück Fruchtfleisch losgebrochen und biß so kräftig zu, daß es vernehmlich knackte. „Ich verstehe nicht, wie du das aushältst, Juan“, sagte er gleich darauf. „Kann ich etwas ändern?“ „Nein.“ „Du wahrscheinlich auch nicht, Donegal. Also hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen. Versuche zu schlafen! Wer weiß, vielleicht sind wir morgen froh, wenn wir wenigstens
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für ein paar Stunden die Klüsen dicht hatten.“ „Du hast das Gemüt eines Granitblocks.“ Old O'Flynn seufzte abgrundtief. Daß der Spanier darauf nicht antwortete, schien ihn wenig zu interessieren. Er redete munter weiter drauflos, sprach von den Zwillingen und von Hasard und wühlte Geschichten auf, die längst vergessen waren. „... auf Ascension hättest du die beiden sehen sollen, wie sie ihren Mann standen. Und zuvor, in der Jolle, als ich die giftige Fischleber gegessen hatte und mich nicht mehr bewegen konnte. Die Burschen hielten mich tatsächlich für tot. Wenn sie mich nur eine halbe Stunde eher über Bord gehoben hätten ...“ Mühsam verdrängte er alle Gedanken an den möglichen Tod der Zwillinge und des Seewolfs. Deshalb redete er wie ein Wasserfall – und fast ausschließlich vom Sensemann. Oft genug waren die Arwenacks Gevatter ' Tod von der Schippe gesprungen. Verdammt, warum nicht auch diesmal? Don Juan, obwohl er hundemüde war – und im Grunde sollte auch der Admiral mit seinen Kräften am Ende sein –, fand keinen Schlaf. Mehrmals war er nahe daran einzunicken, aber jedesmal schreckte ihn Old Donegals Palaver wieder hoch. „Bist du nicht müde?“ fragte er endlich. „Mann“, maulte Old Donegal, „wie könnte ich das, angesichts der Katastrophe, die über uns hereingebrochen ist?“ „Dein Geschwätz klingt wie die Grabrede auf alle Arwenacks. Du hättest Prediger werden sollen, nicht Seemann.“ „Keinen Ton sage ich mehr“, verkündete der Alte daraufhin beleidigt. Leider warf er alle guten Vorsätze sehr schnell wieder über Bord. Don Juan de Alcazar schreckte aus dem ersten leichten Schlaf auf, als Old O'Flynn urplötzlich von neuem loslegte. Das war ungefähr so, als hätte ein Orkan nur vorübergehend Atem geholt, um danach umso schlimmer zu wüten. „... weißt du, die Zwillinge sind hervorragende Seeleute, die machen sogar einem alten Mann wie mir noch was vor.
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Aber kein Wunder: die haben Seemannsblut in den Adern. He, was ist, Senor? Wo willst du hin? Du siehst doch kaum die Hand vor Augen.“ Trotz seiner nahezu ununterbrochenen Redeflut war ihm nicht entgangen, daß sich Don Juan erhoben hatte und ins Freie trat. Vorübergehend waren die Umrisse des Spaniers im Höhleneingang zu sehen. „Du brichst dir das Genick, wenn du jetzt zum Strand gehst“, sagte Old Donegal warnend. „In ein paar Stunden wird es schon wieder hell“, entgegnete Don Juan. „Wirklich?“ fragte der Alte ungläubig. „Wann ist Mitternacht?“ „Dem Stand der Sterne nach längst vorbei. Wirst du eigentlich nie müde?“ „Das hängt davon ab“, sagte Old Donegal. Wovon, ließ er in kluger Voraussicht offen. Rum war eines der besten Schlafmittel, wenn auch erst ab dem vierten Becher. Der erste stillte nämlich den größten Durst und weckte Appetit auf mehr, der zweite gehörte einfach dazu, weil niemand nur auf einem Bein stehen konnte, der dritte stimmte zufrieden, und der vierte verschaffte die nötige Ruhe und Bettschwere, vorausgesetzt, daß wirklich Schlafenszeit war. Kokosmilch hingegen putschte auf und hielt endlos lange wach. Die Erfahrung war für Old Donegal eindeutig. Die Milch zwickte und zwackte in den Eingeweiden, ein Seemannsmagen war eben kernige Sachen gewohnt. „In der Not frißt der Teufel manchmal sogar Fliegen.“ Old O'Flynn seufzte steinerweichend. Tatsächlich war er hundemüde. Er saß mit dem Rücken an der Wand, hatte die Knie angezogen und starrte in die Nacht hinaus. Unter anderen Umständen wäre er längst eingenickt. Er erinnerte sich an Nächte, in denen er Wache gegangen war, da war er schon nach der ersten halben Stunde dem Schlafen näher gewesen als dem Wachen. Aber vielleicht fehlte ihm das vertraute monotone Plätschern der See unter den Planken.
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Old Donegal verschränkte die Arme um die Knie und stützte die Stirn ab. Sobald er die Augen schloß, glaubte er die Schebecke zu sehen, wie sie unter vollen Segeln die Wogen durchschnitt. Ein wohliger Schauder rann über seinen Rücken. Diesmal sträubte er sich nicht dagegen. Und irgendwann mußte er wohl endlich eingenickt sein, denn als er wieder aufschreckte, wogten die Morgennebel vor der Höhle. Eine trübe Helligkeit verkündete den neuen Tag. * Offenbar hatte es während der letzten Stunden geregnet, wenn auch nicht sonderlich stark. Die Efeublätter vor dem Höhleneingang glitzerten vor Nässe, und der Geruch feuchten Erdreichs war unverkennbar. Das Aroma von Salzwasser und Seetang, von Teer und feuchtem Holz wäre Old Donegal jedoch bedeutend lieber gewesen. Jetzt, da er sie nicht mehr brauchte, spürte er die Müdigkeit in seinen Knochen. Der Nebel stieg langsam hoch und löste sich auf. Erste Sonnenstrahlen geisterten durch die Baumwipfel. Old Donegal gähnte herzhaft, versuchte vergeblich, sein wirres, weißes Haar zu bändigen, indem er es mit beiden Händen glattstrich, und stemmte sich danach umständlich hoch. Er humpelte ins Freie. Nässe rann ihm ins Gesicht und in den Nacken, aber er störte sich nicht daran. Der Tag versprach wieder heiß zu werden. Schon jetzt war es beinahe schwül. Schmetterlinge taumelten durchs Geäst, irgendwo sang ein Vogel eine einschmeichelnde Weise. Mancher knorrige Baum wirkte im wogenden Dunst, als erwache er zum Leben. Old Donegal konnte sich den Ruf nicht verkneifen: „Alle Mann an Deck! Backen und Banken!“ Er vermißte den Spanier, der vermutlich schon die erste Helligkeit ausgenutzt hatte und zum Strand gegangen war. Deshalb
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wiederholte er die Aufforderung auf spanisch. Rechterhand, von wo er es nicht vermutet hätte, erklang das Geräusch brechender Äste. Unwillkürlich blickte sich der Alte nach einem Knüppel oder etwas Ähnlichem um, was sich notfalls als Waffe verwenden ließ. Aber dann war es doch nur Don Juan, der auf ihn zueilte. „Du schreist Gott und die Welt zusammen, Donegal.“ „Na und?“ Old O'Flynn hatte für den Vorwurf nur ein Schulterzucken übrig. „Vielleicht sind ein paar von uns in der Nähe. Es wäre gut, wenn sie mich hören.“ „Sie – oder die Kannibalen, die auf der Insel leben.“ Der Alte wurde blaß. „Ich habe das hier entdeckt.“ Don Juan hielt ihm zwei Knochen hin, deren Größe und Form unverkennbar waren. Prompt wich der Alte einen Schritt zurück und bekreuzigte sich. „Das – das ist ein menschlicher Unterarm. Oder etwa nicht? Wo hast du ihn her?” „Ich hätte dir ebenso gut einen Schädel mitbringen können.“ „Bewahre!“ Old Donegal schüttelte sich entsetzt. „Laß die Toten, wo sie sind und störe sie nicht in ihrer Ruhe! Leg die Knochen wieder ins Grab und bete, daß dich der Fluch nicht trifft.“ „Ein Haufen Asche kann alles mögliche bedeuten, aber wohl kein Grab.“ Old Donegal hatte noch etwas sagen wollen, stockte aber und stammelte nur mehr. „Asche?“ fragte er. „Die Überreste eines Lagerfeuers“, sagte Don Juan. „Gerade fünfhundert Yards entfernt, auf einer Lichtung. Die Knochen, die dort liegen, stammen wahrscheinlich von zwei Menschen ...“ „Hör auf!“ „Es hilft nichts, den Kopf in den Sand zu stecken, Donegal.“ „Ich will nichts davon wissen! Schluß! Aus! Vorbei !“ Heftig gestikulierte der Alte mit den Händen. „Wir haben genug Probleme am Hals. Mit Wilden, die ihre Gefangenen verspeisen, will ich nichts zu tun haben. War die Asche noch warm?“
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Endlich fand er einen passenden Ast, der sich recht gut als Prügel verwenden ließ. Zwei kräftige Hiebe gegen einen imaginären Gegner überzeugten ihn von den Qualitäten des fast armlangen Knüppels. „Zwei oder drei Tage wird es her sein, daß die ...“ „... Kannibalen!“ „... daß sie auf der Lichtung ihre Toten ...“ „... gefressen haben!“ Don Juan de Alcazar seufzte ergeben. Er wußte zur Genüge, wie stur und dickköpfig Old Donegal mitunter sein konnte. „Wir haben keine Ahnung, was geschehen ist“, sagte er. „Die Knochen können vieles bedeuten, und ob tatsächlich Kannibalen auf uns lauern ...“ „Was denn sonst?“ Der Alte ereiferte sich. „Glaubst du, daß zwei Knochenkerle mutterseelenallein durch den Wald spazieren und sich mir nichts dir nichts in die Asche des nächstbesten Lagerfeuers legen? Womöglich weil ihnen zu kalt ist? Und dann frage ich dich, Senor, wer zündet auf dieser Insel ein Lagerfeuer an?“ „Negritos.“ „Wer?“ Wäre ihre Lage nicht so ernst gewesen, Don Juan hätte unweigerlich lachen müssen. Aber so bemühte er sich, ernst zu bleiben und Old Donegal das Wissen zu verklaren, das sich offenbar irgendwo in seinem Hinterkopf versteckt hatte und sich dort hartnäckig verborgen hielt. Dan O'Flynn, Old Donegals Sohn, hatte erst vor kurzem über die Bewohner der Andamanen und von Malakka gesprochen. „Negritos sind kleinwüchsig, haben eine dunkle Haut und krauses Haar wie Neger. Sie sind zumeist Sammler, Fischer, Jäger.“ „Menschenjäger.“ Old Donegal nickte eifrig. Lauernd, den Knüppel fest in beiden Händen, ließ er seinen Blick durch den Wald schweifen. Endlich gab er sich einen Ruck. „Wenn wir hier bleiben, versauern wir nur“, sagte er. „Wir müssen zum Strand gehen. Falls wirklich Fischerboote vor der Insel kreuzen, sehen wir sie von hier bestimmt nicht.“
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Ohne eine Miene zu verziehen, hielt er Don Juans bohrendem Blick stand. Natürlich wußte er, daß der Spanier ihn durchschaute, aber das war ihm ziemlich egal. Nichts war ihm mehr zuwider als Begegnungen mit Toten und Knochenkerlen, erinnerten sie ihn doch daran, daß auch er sterblich war und irgendwann dem Sensemann Auge in Auge gegenüberstehen würde. Das eine Mal so nahe am Tod, als ihn die Fischvergiftung gelähmt hatte, genügte ihm völlig. Er hatte nicht das geringste Bedürfnis nach weiteren Visionen vom Sterben, selbst wenn das Leben tatsächlich eine Kette von Wiedergeburten sein sollte, wie die Hindus glaubten. Vielleicht würde er in seinem nächsten Leben ein Spanier sein, einer jener Konquistadoren, die von den Seewölfen mit allen Mitteln bekämpft wurden. Don Juan lächelte wissend, als kenne er jeden von Old O'Flynns verschrobenen Gedanken. „Du erwartest hoffentlich nicht, daß wir zurückgehen und uns am Kap häuslich einrichten. Wir müssen weiter nach Süden.“ „Aber die anderen ...“ „Wer? Hasard, der Profos, die Zwillinge? Weißt du, wo die Schebecke gekentert ist? Möglicherweise wurden nur wir beide abgetrieben, und die anderen sind meilenweit entfernt an Land gegangen.“ Old Donegal Daniel O'Flynn stieß ein Schnauben aus, das fatal an das Blasen eines großen Wales erinnerte. Dann zuckte er mit den Schultern und deutete auf die Pistole, die hinter Juans Gürtel steckte. „Ich hoffe, du hast genügend Pulver und Munition bei dir.“ „Falls wir doch auf Kannibalen stoßen, meinst du?“ „Na ja, für alle Fälle. Woher hast du die Waffe überhaupt? Ich kann mich nicht erinnern, so ein schönes Stück schon mal gesehen zu haben. Außer Hasards Radschloßdrehling natürlich.“ „Die Pistole habe ich am Strand gefunden“, erwiderte Don Juan. Er ignorierte Donegals ungläubigen
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Gesichtsausdruck und fuhr ungerührt fort: „Kugeln habe ich nicht und Pulver schon gar nicht. In der Hinsicht müssen wir uns ganz auf deine Prothese verlassen. Ich nehme an, sie ist wenigstens schußbereit.“ „Klar doch.“ Beinahe liebkosend strich der Alte mit der rechten Hand über sein hölzernes Bein. Die Prothese war ein kleines Kunstwerk, die ihm schon beste Dienste geleistet hatte. Sie barg einen voll funktionsfähigen Musketenlauf in ihrem Inneren. Der Abzug war über ein geflochtenes „Zöpfchen“ zu betätigen, das er in seiner Hosentasche leicht erreichen konnte. Juan warf einen Blick zurück über die Bucht, die von der Höhle aus zumindest teilweise zu überblicken war. Nichts hatte sich verändert. Der Strand lag so ruhig und verlassen da wie am Tag zuvor, lediglich drüben bei den Klippen tauchten die Kormorane nach Fischen. Der Höhenrücken reichte bis weit ins Wasser hinaus. Dort draußen war die Färbung schon tiefblau, und die auflaufende Flut zeichnete Gischtstreifen. Wahrscheinlich existierten eine Reihe von Strudeln und unberechenbare Strömungen. „Ein kräftiger Fußmarsch, und wir sind in ein oder zwei Stunden auf der anderen Seite“, sagte Don Juan. „Keiner nimmt mehr Rücksicht auf einen alten Mann“, maulte Old Donegal. „Laß uns wenigstens vorher die letzten Kokosnüsse aufschlagen. Mit leerem Magen läuft es sich denkbar schlecht.“ * Obwohl der Aufstieg nicht allzu schwierig war, hatte Donegal Daniel O'Flynn doch Mühe, mit dem Spanier Schritt zu halten. Andererseits dachte er nicht daran, Don Juan zu einer langsameren Gangart aufzufordern. Sein Stolz ließ nicht zu, sich eine solche Blöße zu geben. Dabei hätte Juan de Alcazar sicherlich hin und wieder eine Rast eingelegt, nur wollte er von sich aus nicht darüber sprechen, denn Old Donegal sollte nicht glauben, daß er ihn für alt oder gar gebrechlich hielt. Es
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war auch die Frage, wie der Admiral eine solche – sicherlich gutgemeinte – Geste auffaßte. Old Donegal, der gewohnt war, sich ohne Krücken fortzubewegen, hatte mit dem stellenweise dicht verflochtenen Unterholz seine Mühe, und wenn sich der Wald lichtete, bestimmten geröllbedeckte Hangabschnitte das Bild. Schon zu so früher Stunde war die Hitze über den Geröllhalden schier unerträglich. Dem Alten klebte bald die Zunge am Gaumen, und jeder Atemzug dörrte seine Kehle mehr aus. Nur die Vorstellung, daß er nach Don Juans und seiner Rettung als erstes einen großen Humpen Bier leeren würde, trieb ihn unerbittlich vorwärts. „Bis zum Mittag möchte ich im Schatten eines Segels sitzen“, sagte der Spanier unerwartet. Old Donegal erwiderte irgendetwas Heiseres, was seine Zustimmung bedeutete. Ohne die Milch der Kokosnüsse wären sie mittlerweile völlig ausgelaugt gewesen. In der Höhe stießen die beiden Arwenacks auf einen Saumpfad, der sich zwischen Felsblöcken und windzerzauster Vegetation dahin zog. Zertrampeltes Gras zeigte deutlich, daß der Pfad oft benutzt wurde, zuletzt wohl während der vergangenen Nacht, denn der Pflanzensaft hatte sich mit dem Regen zu einem Brei vermischt, der, wenn auch inzwischen getrocknet, den Boden bedeckte. An einer schattigen Stelle, im noch halb feuchten Erdreich, entdeckte Old Donegal prompt den Abdruck eines nackten Fußes. „Ich sag's doch!“ begehrte er auf. „Wilde! Womöglich beobachten sie uns schon und warten nur auf einen günstigen Moment, uns zu überfallen.“ Unmißverständlich hob er seinen Knüppel. Wie er so dastand, das rechte Bein nach vorn angewinkelt, den knorrigen Ast in beiden Händen haltend und die Augen zusammengekniffen, als könne er auf diese Weise jeden verborgenen Gegner im Dickicht entdecken, erinnerte er an die Fleischwerdung einer exotischen Gottheit. Eines Rachegottes wohlgemerkt, der die
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Eingeborenen der Insel für den Verlust der Schebecke verantwortlich machte. Ein unmißverständlicher grimmiger Zug hatte sich um seine Mundwinkel eingegraben. „Da entlang!“ Don Juan deutete nach Westen, wo der Pfad zwischen hohen Bäumen und dichtem Buschwerk verschwand. Old Donegal zog ein Gesicht, als stünden sieben Tage Regenwetter bevor, widersprach aber nicht. Der Pfad endete vermutlich schon nach wenigen hundert Yards an einem Steilhang. Es stand demnach zu erwarten, daß die Wilden den Felsen lediglich als Ausguck oder für ihre mystischen Rituale benutzten und folglich nur zu bestimmten Zeiten anzutreffen waren. „An Mitternacht oder wenn die Sonne aus dem Meer steigt. Oder zur Abenddämmerung“, murmelte der Alte. „Was sagst du?“ Don Juan wandte flüchtig den Kopf. „Nichts“, erwiderte Old Donegal. „Ich habe nur laut gedacht.“ „Kannibalen pflegen ihre Opfer immer dann zu verspeisen, wenn sie Hunger haben“, sagte der Spanier spöttisch, „und nicht zu bestimmten Tageszeiten. Das hast du doch gemeint, nicht wahr?“ Old O'Flynn wurde einer Antwort enthoben, denn sie erreichten das Ende des Pfades. Eine aus Steinen ausgeschichtete Feuerstelle lag vor ihnen. Im Halbkreis waren roh zugehauene Quader in den Boden eingelassen. Wer auf ihnen Platz nahm, hatte einen ausgezeichneten Blick über die See. An der Kimm zeichnete sich Land ab. Eine Insel, deren Ausdehnung aber geringer zu sein schien als das Eiland, auf dem sie gestrandet waren. „Zur Not zimmern wir uns ein Floß und schippern hinüber“, sagte Old Donegal zuversichtlich. „Das sind ein paar Dutzend Meilen, mehr nicht. Die lassen sich zur Not mit provisorischen Riemen und einem aus Pflanzenfasern geflochtenen Segel überwinden.“ Aus der Höhe sahen sie auch die Landzunge mit der weitgestreckten
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Sandbucht. Sogar die Strömungsverhältnisse ließen sich aufgrund der Wasserfärbung und treibender Tangbüschel erkennen. Don Juan stellte fest, daß er wirklich Glück gehabt hatte. Die Flut teilte sich offenbar an irgendwelchen Unterwasserhindernissen. Sie hätte ihn ebenso gut aufs offene Meer hinausziehen können, wo er rettungslos verloren gewesen wäre. Vielleicht hätte er in dem Fall das Bewußtsein nie zurückerlangt. Wo Old Donegal an Land gegangen war, traf die Strömung in breiter Front auf die Insel. Der Alte schien die irgendwo hinter ihm lauernden Wilden vorübergehend vergessen zu haben. „Sieht nicht übel aus“, sagte er anerkennend. „Vielleicht wurden noch mehr von uns an Land gespült.“ Von der Feuerstätte aus war zwar ein ungehinderter Blick nach Norden und aufs Meer hinaus möglich, doch der südliche Küstenverlauf wurde von mannshohen, windgebeugten Bäumen verdeckt. Ehe es sich Don Juan versah, humpelte Old Donegal an ihm vorbei und begann den Abstieg durch nicht minder unwegsames Gelände. Der Admiral war plötzlich Feuer und Flamme. Er hatte wohl neue Hoffnung geschöpft, und die Illusion eines Wiedersehens mit den Zwillingen ließ ihn allen unnötigen Ballast über Bord werfen. Obwohl er über zwei gesunde Beine verfügte, hatte Don Juan Mühe, den Alten einzuholen. An manchen Stellen war der Boden ausgeschwemmt, hatten sich Vertiefungen gebildet, an deren Rändern Gras und Moose üppiger gediehen als anderswo. Trotzdem war kein Tropfen Wasser zu sehen. Wahrscheinlich füllten sich die kleinen Gräben nur nach wolkenbruchartigen Regenfällen. Don Juan schloß zu Old Donegal auf und hielt ihn an der Schulter zurück. „Warte!“ sagte er. „Vielleicht gibt es hier Wasser. Ob wir eine Viertelstunde eher oder später den Strand erreichen, spielt wohl keine Rolle.“
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„Vergebliche Mühe“, maulte der Alte. „Sieh dir den Boden an. Der speichert kein Wasser. Also gibt es hier keine Quellen. Jeder Regen fließt viel zu schnell ab.“ Don Juan begann bereits mit dem Messer zu graben. Unter einer dünnen Humusschicht stieß er auf Lehm und gleich darauf auf gewachsenen Fels, auf dem zwar die Pflanzen noch ausreichenden Halt fanden, der aber Donegals Behauptung bestätigte. „Wasser, das im Boden versickert, hinterläßt keine ausgewaschenen Rinnen“, erklärte der Alte. „Nur wenn es sehr schnell bergab fließt, sammelt es sich in Rinnsalen.“ In einem solchen Graben hastete er weiter. Das Buschwerk wurde von hohem Gras verdrängt, zugleich konnte er erkennen, daß sich vor ihm der Wald lichtete. Verkohlte, in halber Höhe zersplitterte Baumstümpfe ragten in den blauen Himmel. Feuer und Sturm hatten eine unübersehbare, nur langsam wieder verheilende Narbe in die Südflanke des Berges geschlagen. Urplötzlich rutschte Old Donegal auf glattgeschliffenen Steinen aus. Für die Dauer eines erschreckten Herzschlags kämpfte er um sein Gleichgewicht, im nächsten Moment schloß sein Achtersteven unsanft Bekanntschaft mit dem steinigen Waldboden, und ein stechender Schmerz raste durch seine rechte Hüfte, als er versuchte, wenigstens mit der Prothese Halt zu finden. Der Hang war zu steil. Zudem hatte Old Donegal seine eigene Geschicklichkeit überschätzt. An Bord eines Schiffes hielt er sich bei Wind und Wetter auf den Beinen, doch hier gab es keine Manntaue, die ihm im Notfall den nötigen Halt verschafften. Sich überschlagend rutschte er in die Tiefe, und sein überraschter Aufschrei wurde zu einem erstickten Gurgeln. Ein halb verkohltes Gebüsch dämpfte seinen Sturz, der gleich darauf zwischen den grotesk verzweigten Wurzeln eines umgestürzten Baumstumpfs endete. Old Donegal Daniel O'Flynn fand keine Zeit, sich aufzuraffen. Er schaffte es nicht,
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sich rechtzeitig aus dem Wurzelwerk zu befreien. Aus dem Schatten des Baumes starrten ihn zwei Augen an. Sie gehörten zu einem länglichen, verknittert wirkenden Gesicht und lagen tief in den Höhlen. Das Weiße in ihnen, so schien es Old Donegal, war blutunterlaufen – ebenso wie die dicken Ringe, die sich bis zu den kantig vorstehenden Wangenknochen hinzogen. Der Mund öffnete sich zu einem urwüchsigen Laut, den Old Donegal nicht verstand, weil er im selben Moment wie ein wilder Stier losbrüllte. Das Gesicht war immerhin nur zwei Ellen vor ihm. Er roch den stinkenden Atem, der von fauligen Zahnstummeln ausging, und versuchte vergeblich, den Knüppel hochzuwuchten, den er die ganze Zeit über festgehalten hatte, als hätte er geahnt, welche Begegnung ihm bevorstand. Wenn er wenigstens in der Lage gewesen wäre, sich herumzuwälzen. Dann hätte er dem bis auf einen Lendenschutz nackten Wilden gezeigt, daß ein Holzbein eine tödliche Waffe sein konnte. Aber so lange wartete der Kerl nicht. Er verschwand von einem Augenblick zum anderen und so spurlos, als hätte es ihn nie gegeben. „Hilf mir hoch!“ herrschte Old Donegal den Spanier an, der endlich erneut zu ihm aufschloß. Sein Tonfall fiel eine Spur schroffer aus als beabsichtigt, aber Don Juan schien sich nicht daran zu stoßen. „Was wollte der Bursche von dir?“ fragte er völlig unnötig. Old O'Flynn schnappte nach Luft. „Er hat es mir nicht gesagt. Wahrscheinlich wollte er mich für den nächstbesten Kochtopf.“ „Der Kerl hat immerhin das Weite gesucht. Ich denke, er war über das Zusammentreffen ebenso erschrocken wie du.“ „Er kommt wieder – mit einer ganzen Horde seinesgleichen.“ Endlich schaffte es Old Donegal, sich aufzurichten. Mit einer unwilligen Bewegung rückte er seine
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Prothese zurecht – und erstarrte zum zweitenmal. „Da!“ stieß er ungläubig hervor. „Sieh doch!“ Don Juan folgte seinem Blick mit den Augen. Dann mußte auch er an sich halten, um nicht in verfrühten Jubel auszubrechen. „Die Schebecke!“ triumphierte Old Donegal. „Ich wußte, daß unser Kahn nicht untergeht.“ Schätzungsweise eineinhalb Meilen trennten sie von dem Schiff, das zwischen schroffen Klippen hing. Da einige Baumwipfel die Sicht behinderten, war es Old O'Flynn nicht anzukreiden, daß er seinen Irrtum nicht sofort bemerkte. Erst als er die Lider zusammenkniff, erkannte er, daß das Wrack nicht die Schebecke war. Wahrscheinlich hatte ein Sturm die Zweimast-Galeone auf die Felsen geworfen. Der Vormast war gebrochen und offenbar samt Rahen über Bord gegangen. Die Mannschaft hatte wohl das Gewirr aus stehendem und laufendem Gut gekappt. Ebenso schien alles Tuch abgeschlagen worden zu sein. „Egal, was für ein Schiff das ist“, sagte Old Donegal, „wir müssen hin.“ Daß das Wrack nie wieder schwimmen würde, sah er auf den ersten Blick. Es lag wer weiß wie lange schon im flachen Küstengewässer, festgehalten von den Felsen, die sich in seinen Rumpf gebohrt hatten. Aber vielleicht barg es noch brauchbare Vorräte. Old Donegal dachte dabei gewiß nicht an Nahrungsmittel oder gar Süßwasser, die wohl schon verschimmelt, verfault oder von allem möglichen Ungeziefer angefressen waren, sondern eher an Waffen, Pulver, Munition und vielleicht auch an ein intaktes Beiboot, an stabile Riemen und Segeltuch. Notfalls würde sich das Wrack zu einer Festung gegen die Eingeborenen ausbauen lassen. Old Donegal humpelte stärker als zuvor, als er weiter den Hang hinunterlief. Doch er ignorierte alle Schmerzen. Immerhin hatte er jetzt ein lohnendes Ziel vor Augen.
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Der Strand war in diesem Abschnitt unübersichtlich. Natürlich gab es Stellen mit feinem Sand, doch erstreckten sich diese kaum noch über mehr als hundert Yards. Mangrovendickicht, das sich bis ins hüfttiefe Wasser hinzog, beherrschte das Bild. Die Galeone lag rund fünfhundert Yards weit draußen. Um sie zu erreichen, waren die beiden Männer gezwungen, gegen die Strömung zu schwimmen. Sie verzichteten darauf, sich durch Rufen bemerkbar zu machen. Falls, was zu erwarten war, niemand mehr an Bord des Wracks lebte, war ein solches Vorgehen ohnehin überflüssig –und für den Fall, daß überlebende der Mannschaft ihnen feindlich gesinnt waren, empfahl es sich, lautlos aufzuentern. Don Juan de Alcazar und Donegal Daniel O'Flynn wateten so weit hinaus, bis die auflaufenden Wellen ihnen den Grund unter den Füßen wegzogen. Das waren ungefähr achtzig, neunzig Yards. Danach mußten sie schwimmen. Nachdem sie den schwachen Brandungsgürtel hinter sich gelassen hatten, wurde der seewärts gerichtete Sog des zurückflutenden Wassers spürbar. Eine Tiefenströmung führte von den Klippen weg und erleichterte das Vorhaben der beiden nicht gerade. Auf dem Schiff blieb alles ruhig. Es schien wirklich verlassen zu sein. Vielleicht ein Totenschiff, dachte Old Donegal, ohne den Gedanken jedoch weiterzuverfolgen. Das Ächzen und Scharren der Planken auf den Felsen wurde deutlicher. Bald übertönte das hohle Platschen der Wellen unter dem Rumpf das Raunen des Windes und die Brandung. Don Juan erreichte das Wrack als erster. Bei höherem Seegang oder bei Sturm konnten die Klippen zur Todesfalle werden, im Moment hatte er jedoch wenig Mühe, dem Sog zu trotzen. Nur an wenigen Stellen konnte er bis auf den Grund sehen, wo sich Pflanzen wie bizarre
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Farnwedel in der sanften Dünung wiegten. Ein Schwarm bunter Fische floh vor ihm in den Schatten des Schiffes. Ein Moment der Unachtsamkeit war schuld daran, daß Don Juan gegen einen Felsen stieß und sich den Arm aufschürfte. Der Schmerz blieb zwar erträglich, doch die Wunde blutete. Don Juan wußte, daß Haie Blut im Wasser sogar über größere Entfernung hinweg witterten. Old Donegal schloß zu ihm auf. „Du bist verletzt, Juan?“ „Halb so schlimm.“ Der Spanier musterte das Wrack. Um zum Schanzkleid aufzuschauen, mußte er den Kopf weit in den Nakken legen. Keine Jakobsleiter hing außenbords. Nicht mal Taue reichten so weit nach unten, daß er an ihnen hätte hochklettern können. „Verdammt!“ sagte Donegal. „Du blutest!“ „Ich kann's nicht ändern.“ Der Spanier reagierte gereizt. Er schaffte es nicht, zu den Berghölzern hochzulangen. Das Wrack hing zwischen den Klippen fest und hatte sich gut eineinhalb Ellen aus dem Wasser gehoben. Schleimiger Algenbewuchs verwandelte das Unterwasserschiff in eine schmierige Fläche, die nirgends Halt bot. Auch die darüberliegenden Planken hatten mittlerweile eine graugrüne Schicht angesetzt. „Es da zu versuchen, wäre sinnlos“, sagte Old Donegal. „Wir würden uns den Hals brechen, falls wir abrutschen. Vielleicht schaffen wir es durch das Leck.“ Heftig mit den Armen rudernd, schwamm er nach vorn zum Bug. Noch zeigten sich keine Haie, doch mit dem Auftauchen der mörderischen Räuber mußten sie ständig rechnen. Auf mehrere Yards Länge hatten die Klippen die Außenplanken eingedrückt. Die zersplitterten Hölzer rings um das Leck erinnerten an das aufgerissene Maul eines gefräßigen Ungeheuers. Wassertretend hielt sich Old Donegal an den Planken fest. Viel konnte er nicht erkennen. Im Schiffsinnern herrschte ein trübes Halbdunkel.
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Nach einem flüchtigen Seitenblick zu Don Juan, der sich bemühte, seinen aufgeschürften Arm über Wasser zu halten, zog sich Old Donegal weiter. Der über der Bilge liegende Raum im Vorschiff hatte als Laderaum oder Proviantlast gedient. Mehrere festgezurrte Wasserfässer legten die Vermutung zumindest nahe. Unter der Decke war gerade noch eine Handbreite Luft. Bei höherem Wasserstand gab es folglich keine Möglichkeit, hier ins Schiff einzudringen. Old Donegal atmete mehrmals tief durch, ehe er die Luft anhielt und tauchte. Das Wasser war trüb und verwandelte die ohnehin nur spärlich einfallende Helligkeit in einen milchigen Schimmer. Weiter als zwei bis drei Schritte reichte die Sicht nicht. Old Donegal tastete sich an den Planken der Innenwand entlang in Richtung des Schotts, das er zu seiner Linken vermutete. Als ihm die Luft knapp wurde, tauchte er auf, vergaß aber, wie wenig Platz tatsächlich blieb und stieß sich prompt den Schädel an einem Decksbalken. Der Anprall war so heftig, daß ihm vorübergehend schwarz vor Augen wurde, doch er schaffte es, oben zu bleiben. Obwohl die Luft, die er gierig in sich hineinsog, schal war, ließ sie die Benommenheit verfliegen. Ein flüchtiger Blick zurück zeigte ihm, daß Don Juan am Rand des Lecks wartete. Den aufgeschürften Arm hielt er so, daß kein Blut ins Wasser gelangte. Old Donegal tauchte wieder. Augenblicke später fand er das Schott, das jedoch nach innen zu öffnen war und seinen Bemühungen hartnäckig widerstand. Nachdem er ein zweites Mal aufgetaucht war, gab er seine vergeblichen Bemühungen auf. Selbst wenn Don Juan ihm half, würden sie es nicht schaffen, das Schott gegen den Wasserdruck aufzuziehen. Dann entdeckte er den Toten, der, halb unter einem Faß begraben, in einer Ecke lag.
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Viel war von dem Mann nicht übrig. Fische hatten ihn angefressen und nur das Skelett verschont. Ein Auge hing noch an seinem Platz – es schien den Admiral der Arwenacks unverwandt anzustarren. Allerdings hätte Old Donegal nicht zu sagen vermocht, was ihn mehr entsetzte – die leere Augenhöhle oder die starre, verfärbte Pupille. Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder. Er starrte den Toten an – und der Tote ihn. Es war ein gegenseitiges, unheimliches Kräftemessen, das der Admiral zwangsläufig verlor. Das Schlimmste daran war, daß er nicht mal schreien konnte. Er mußte das Grauen wehrlos über sich ergehen lassen. Rasend hämmerte das Herz gegen seine Rippen, in seinen Schläfen dröhnte eine nicht enden wollende Breitseite schwerer Schiffsgeschütze. Während er sich herumwarf und mit aller Kraft abstieß, bekreuzigte er sich. Es konnte keinen Zweifel daran geben, daß der Tote das Wrack bewachte. Wahrscheinlich hatte ihn das Faß beim Auflaufen auf das Riff erschlagen oder zumindest so lange unter Wasser gedrückt, bis er ertrunken war. Wer immer seine Ruhe zu stören wagte, würde selbst das schlimmste Schicksal erfahren. Old Donegal dachte gar nicht daran, noch einmal innerhalb des Laderaums aufzutauchen. Der Zwang, einzuatmen, wurde unwiderstehlich, während er durch das Leck ins Freie schwamm. Er verlor die Orientierung. Begriffe wie oben und unten waren plötzlich bedeutungslos. Dann explodierte er geradezu und konnte nicht mehr anders, als keuchend einzuatmen. Nach Salz und Tang riechende Luft stach in seine gequälten Lungen. Ohne daß es ihm bewußt geworden war, hatte er die Wasseroberfläche durchbrochen. Für eine Weile war er wie benommen. Er hörte zwar, daß Don Juan auf ihn einredete, verstand aber herzlich wenig von alldem, was der Spanier sagte. Erst als
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ihn Juan hart anfaßte, klärten sich seine Sinne. Anschließend sprudelte es nur so aus ihm heraus. Er berichtete von dem verklemmten Schott, von dem Toten, seinen Befürchtungen und davon, daß es wohl besser sei, an Land zurückzuschwimmen. Der Spanier unterbrach ihn nicht. Nachdem sich Old Donegal die ganze Last von der Seele geredet hatte, schüttelte Don Juan entschieden den Kopf. „Jetzt erst recht, Admiral. Ich will mehr über die Galeone wissen. Du kannst natürlich wieder an Land gehen, wenn du dich mit den Kannibalen auseinandersetzen willst, aber ich für meinen Teil suche lieber einen Weg, wie ich doch noch an Deck gelangen kann.“ „Laß dir Flügel wachsen“, schlug Old Donegal vor. „Und das möglichst schnell.“ Er war gereizt und gab sich keine Mühe, das zu verbergen. * Die Idee für ihr weiteres Vorgehen stammte von Old Donegal. Sie hörte sich verrückt an, war aber gar nicht so dumm, nachdem auch ein Aufentern im Heckbereich nicht geklappt hatte. „Du wirst dir das Genick brechen“, sagte Don Juan warnend. „Unkraut vergeht nicht“, erwiderte der Alte grinsend. „Außerdem bin ich in Übung. In meiner Jugend habe ich mir noch ganz andere Stücke geleistet.“ Der Spanier verzichtete darauf, dem Admiral zu verklaren, daß das inzwischen einige Jahrzehnte zurücklag und seine Gelenke längst nicht mehr so geschmeidig waren wie damals. Es war zweifellos leichter, einem störrischen Maultier seinen Willen aufzuzwingen, als Old Donegal Daniel O'Flynn von etwas zu überzeugen, wovon er sich absolut nicht überzeugen lassen wollte. Der Alte deutete auf den Rand einer Klippe, gerade zweieinhalb Yards vom Wrack entfernt. Die Felsen, die sich in den
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Schiffsrumpf gebohrt hatten, waren zu schroff für sein Vorhaben. Don Juan hatte zweifellos recht, was die Gefahr schwerer Verletzungen betraf. Doch hatte er ihm auch die Wahl zwischen den Wilden an Land und dem Wrack aufgezwungen. Old Donegal hatte sich für das vermeintlich kleinere übel entschieden, und was er tat, tat er entweder richtig oder gar nicht. „Such dir einen festen Halt!“ forderte er den Spanier auf. Das war leichter gesagt als getan. Der Fels war glitschig, von Algen und Muscheln bedeckt. Ohne ihre Dolche wären sie aufgeschmissen gewesen. So aber hatten sie nach einer Weile das Gestein weitgehend von unerwünschtem Bewuchs befreit. Don Juan kletterte auf den Rand der nur wenig aus dem Wasser ragenden Klippe. Die Wellen schwappten an ihm hoch, und sein einziger wirklicher Halt war der Fels, an den er die Waden preßte. Ihm war klar, daß er diese Art, das Gleichgewicht zu halten, nicht sehr lange durchstehen würde. Als ihn dann auch noch Old Donegals Gewicht belastete, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen. Er verschränkte die Hände vor dem Bauch, um dem Admiral die Sache so einfach wie möglich zu machen. Trotzdem war es eine Tortur, bis der Alte aus dem Wasser hochkam, er klammerte sich an Don Juans Hals fest, als wolle er ihn erwürgen, und mit der Prothese stieß er ihn versehentlich schmerzhaft in die Seite. Beiden wurde klar, daß er es nicht schaffen konnte, auf Juans Schultern zu steigen. Dazu gehörte die Geschicklichkeit von Jahrmarktakrobaten, die keiner von ihnen hatte. „Das wird nichts“, keuchte der Spanier. Die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Du mußt mich hochstemmen!“ verlangte Old O'Flynn. „Wenn ich mich abstoße, erreiche ich wenigstens das untere Bergholz.“
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„Dann beeile dich. Ich kann mich kaum noch halten. Ein Fliegengewicht bist du nicht gerade.“ „Bei Drei wirfst du mich hoch!“ bestimmte Old Donegal und begann zu zählen. „Eins ...“ Seine Hände lösten sich von Don Juans Nacken. Er breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht besser zu halten. Daß er fast mit dem Rücken zum Schiff stand, konnte er nicht mehr ändern. Er sah es an Juans Miene, daß er sich jetzt nicht auch noch umdrehen durfte. „Zwei ...“ Die Anstrengung trieb dem Spanier den Schweiß aus allen Poren. Er begann zu zittern und raffte seine letzten Kräfte zusammen. „Drei!“ Donegal Daniel O'Flynn versuchte, sich möglichst leicht zu machen und zugleich selbst Schwung zu nehmen. Don Juan wuchtete ihn hoch, so gut es eben ging. Old Donegal riß die Arme nach oben. War er weit genug, um das Bergholz fassen zu können? Oder würde er abrutschen und sich beim Aufprall auf die unter der Oberfläche liegenden Felsen das Genick brechen? Mit der linken Schulter schlug er gegen die Planken. Er hatte es nicht mal geschafft, sich weit genug herumzudrehen. Instinktiv packte er zu, spürte tatsächlich verwittertes Holz unter den Fingern, und da war eine vorspringende Kante, breit genug, daß er nicht sofort abrutschte. Wie viele feindliche Schiffe hatte er schon geentert? Er wußte es nicht und hatte irgendwann aufgehört, sie zu zählen. Doch war es einfacher, sich mit Hilfe eines Enterhakens von Deck zu Deck zu schwingen als das, was er jetzt versuchte. Er glitt ab. Ganz langsam. Sein eigenes Gewicht zog ihn nach unten. Und warum das alles? Er war plötzlich überzeugt davon, daß wieder eine Hoffnung enttäuscht wurde. Bestimmt war das Wrack leer, ausgeplündert von den Wilden auf der Insel oder den Fischern, an die Don Juan glaubte.
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Vorübergehend hatte er die Vision, sich selbst zu sehen, wie er außenbords am untersten Bergholz hing und langsam, aber unaufhaltsam abrutschte. Mit den Füßen nach einer aufgeplatzten Plankennaht zu suchen, in der er sich abstützen konnte, hatte wohl ebenso wenig Sinn wie alles andere. Gleich würde er ins Wasser eintauchen und unsanft mit den Felsen Bekanntschaft schließen. Seltsamerweise berührte ihn der Gedanke kaum. Erneut hatte er das Empfinden, sich selbst zu beobachten. Zwei oder drei Yards betrug die Distanz – mehr nicht. Aber war der einbeinige, weißhaarige Mann mit dem verwitterten, jetzt vor Anstrengung verzerrten Gesicht überhaupt der Donegal Daniel O'Flynn, den er kannte? Gleichgültigkeit ergriff von ihm Besitz. Das Geschehen berührte ihn nicht. Warum strampelte der alte Zausel auch mit den Beinen, obwohl nur zwei Handbreiten rechts neben seiner Prothese Muscheln fest mit den Planken verwachsen waren? Schlagartig, als hätte es nur dieser Erkenntnis bedurft, war er wieder er selbst. Er spürte den Widerstand, als er zutrat, und stemmte sich in die Höhe. Tatsächlich schaffte er es, sich mit den Unterarmen auf dem Bergholz abzustützen. Der Rest war verhältnismäßig einfach. Als sich Old Donegal auf dem Balkengang aufrichtete, konnte er bequem die Püttingseisen erreichen. Augenblicke später stand er auf der Kuhl des Zweimasters. Der Himmel mochte wissen, wohin die vielen Taue verschwunden waren, die gewöhnlich an Klampen und Nagelbänken hingen oder aufgeschossen an Deck lagen. Überhaupt erweckte die Kuhl einen viel zu sauber aufgeklarten Eindruck, wären nicht die Exkremente der Vögel gewesen, die die Planken mit einer grauweißen Schicht überzogen. Old Donegal fand ein armdickes, brüchiges Tau vor dem achteren Steuerbordniedergang. Mit mehreren Schlägen belegte er es an einer Nagelbank und warf das Ende außenbords.
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„Na also!“ erklang es von unten. „Ich hätte nicht geglaubt, daß wir es schaffen würden.“ „Wer einen O'Flynn voreilig zum alten Eisen zählt, muß sich eben eines Besseren belehren lassen“, erklärte Old Donegal von oben herab. Er setzte sich auf die Kuhlgräting und wartete darauf, daß Don Juan endlich an Bord erschien. * Ob die Galeone in einen Sturm geraten war, bevor sie auf das Riff aufbrummte, ließ sich nicht eindeutig feststellen. Zwar war der Vormast zersplittert und hatte Teile der Backbordverschanzung zerschlagen, doch der Zustand des restlichen Schiffes ließ sich eher als noch gut bezeichnen. Während sich Don Juan die Geschütze auf der Kuhl ansah, eilte Old Donegal mit hochrotem Gesicht von der Kuhl auf die Back, aufs Achterdeck und zurück. Zwischendurch riskierte er schon mal einen Blick in die Luken oder die Niedergänge hinunter. „Wonach suchst du?“ fragte der Spanier endlich, dem die Lauferei auf die Nerven ging. „Knochenkerle“, gab Old O'Flynn zur Antwort. „Hier sind keine.“ „Das sehe ich selbst.“ „Hier gibt es auch keine Jolle mehr.“ „Hm.“ „Wahrscheinlich hat die Crew das Schiff frühzeitig verlassen“, meinte Don Juan. „Es ist nicht gesunken.“ „Wer weiß das schon vorher?“ Old Donegal kratzte sich am Hinterkopf. „Würdest du im Sturm ein Boot aussetzen und dazu noch alles mitnehmen, was nicht niet- und nagelfest ist?“ Ein wissendes Lächeln umspielte Don Juans Mundwinkel. „Engländer sind oftmals unberechenbar“, erwiderte er. „Wieso Engländer?“ Old Donegals Verblüffung war offensichtlich.
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Juan klopfte mit der flachen Hand auf das Geschütz, mit dem er sich bis eben befaßt hatte. Es war ein Vorderlader aus Bronze, eindeutig vom Culverinentyp, mit zehn Fuß langem Rohr. Das Kaliber, schätzte Old Donegal, betrug knapp vier Zoll. „Ein Saker. Geschoßgewicht fünf bis sieben Pfund. Geschützgewicht bis 1800 Pfund. Geschütze dieser Art finden nicht nur auf englischen Schiffen Verwendung.“ Don Juan nickte. Er deutete auf eine ausgebleichte Inschrift auf der Lafette, die irgendjemand mit einem Messer eingeritzt hatte. „ ,Proud of Nottingham“, las er vor. „Willst du behaupten, dies sei kein englisches Schiff?“ „Ein intakter Kahn wäre mir jedenfalls lieber. Das Trinkwasser an Bord ist sicher längst ungenießbar.“ „Wie lange liegt das Wrack schon hier? Ein Jahr? Oder länger?“ „Dem Vogeldreck nach zu urteilen mindestens ein Jahr.“ „Dann wundert mich, daß es noch zwischen den Klippen hängt. Ein Wrack wie dieses übersteht vielleicht eine Sturmflut, möglicherweise sogar zwei, aber dann bricht es unweigerlich auseinander.“ Donegal Daniel O'Flynn vollführte eine umfassende Handbewegung. „Wer in der Lage ist, die Schebecke mit einer Riesenwelle anzugreifen, der hält auch Stürme von der Insel fern.“ „Angreifen ...?“ Don Juan glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. „Genau das sagte ich“, bestätigte Old Donegal. „Die Wilden suchen nach neuen Opfern. Wir müssen uns vorsehen. Verstehst du nun, warum es auf dem Kahn offenbar nur den einen Toten im Laderaum gibt? Wir brauchen Waffen, Senor. Die sind für uns noch wichtiger als Nahrungsmittel.“ Sie durchsuchten die im Mittelschiff liegende Kombüse, fanden aber nur Schimmel, Staub und totes Ungeziefer. Die Kisten und Kochkessel waren bis auf eine dicke flaumige weiße Schicht leer. Vor dem Herd lag der mumifizierte Kadaver einer Ratte.
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Auch die Kapitänskammer enttäuschte in jeder Hinsicht. Es gab nichts, was noch des Anschauens wert gewesen wäre. Das Bettzeug war verschwunden, das Schapp leer. Auch hier bedeckte nur Staub die Fachböden. Vor dem bleiverglasten Fenster stand ein einfacher Tisch. Ein zerbrochener Federkiel und ein umgekipptes Tintenfaß waren die einzigen Utensilien, die darauf schließen ließen, daß die Kammer jemals bewohnt worden war. Die Tinte hatte sich quer über den Tisch und auf den Boden ergossen. Die Polsterung des einzigen Sessels war verblichen und brüchig. Seegras quoll aus den aufgeplatzten Nähten. Sogar die Deckenlampe war verschwunden – bis auf den rostigen, in einen Balken eingeschlagenen Haken. „Ich fürchte, wir werden nirgendwo mehr finden“, sagte Don Juan enttäuscht. „Jemand ist uns zuvorgekommen und hat gründlich aufgeklart.“ „Willst du wissen, wer dieser Jemand war?“ Don Juan seufzte. „Die Negritos hätten herzlich wenig Verwendung für das Logbuch oder die anderen Dinge.“ „Vielleicht hat sie der lederne Einband fasziniert – oder das Pergament oder die fremden Schriftzeichen.“ „... oder sie haben es als Suppengrün benutzt.“ „Mit solchen Dingen spaßt man nicht“, sagte Old Donegal gallig. 4. Ihr weiterer Erkundungsgang durch das Wrack bestätigte nur die Erkenntnis, daß alle brauchbaren Dinge verschwunden waren. Außer den fünf Geschützen auf der Kuhl gab es keine Waffen. Die Pulverkammer im Achterschiff war so leer wie die Kombüse oder die Kapitänskammer. Der Zahl der Stückpforten nach zu schließen, war sogar ein Saker samt Lafette verschwunden.
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„Ich kann's nicht ändern“, sagte Don Juan. „Ich weiß nur, daß kein Mensch ein solches Geschütz in eine Jolle abfieren würde, wenn mehr als leicht bewegte See ist.“ Old Donegal ließ sich dennoch nicht davon abbringen, jeden Winkel zu durchsuchen. Ungeziefer war alles, was er fand. Keine Knochenkerle, mit denen er ohnehin nicht mehr rechnete, aber auch keinen Rum. Die zweifellos vorhanden gewesenen Seekarten hatten sich wie das Logbuch in Luft aufgelöst. Ein noch halbvolles Faß mit Pökelfleisch hatte Beine bekommen, eklige, bleiche Beine, auf denen nicht minder unappetitliche fingerlange Würmer ausschwärmten, kaum dass das Faß geöffnet wurde. Zumindest der dem Deckel anhaftende salzige Geruch ließ vermuten, daß Pökelfleisch der ursprüngliche Inhalt gewesen war. „Wir sind um Monate zu spät dran“, sagte Don Juan. Prompt meldete sich Old Donegals Magen mit einem bedrohlichen Knurren. Das Fleisch der Kokosnüsse hatte nicht sehr lange vorgehalten. „Für nichts und wieder nichts haben wir uns angestrengt. Verdammt, ist das ein Affenkahn.“ Ein Poltern hallte durch den Schiffsrumpf. Zuerst glaubten die beiden, daß sich das Wrack bewegte. Die Planken arbeiteten und scheuerten an den Klippen. Aber gleich darauf wiederholte sich das Geräusch. Es erklang eindeutig von außen, jedoch aus einer Höhe, die die Felsen nicht erreichten. Fragend zog Old Donegal die Brauen hoch. Er lauschte mit angehaltenem Atem. Auch Don Juan hielt den Kopf schräg. Seine Rechte lag unmißverständlich auf dem Knauf des Messers. „Wir haben den Tampen außenbords hängen lassen“, raunte Old Donegal. Von der Kuhl her erklang das Tappen nackter Füße. Unwillkürlich blickte Old Donegal zur Decke hoch und folgte den Schritten mit den Augen.
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Der ungebetene Eindringling verharrte vor dem achteren Niedergang. Hatte er bemerkt, daß sich außer ihm noch zwei Menschen an Bord befanden? Unsinn! Mit einer unwilligen Kopfbewegung versuchte Old O'Flynn, diese Überlegung möglichst weit von sich zu schieben. Die Negritos, wie Don Juan die Eingeborenen nannte, waren keine Hellseher. „Mindestens vier Kerle sind an Deck“, flüsterte der Spanier. „Wir werden ihnen eine Überraschung bereiten, die sie so schnell nicht vergessen.“ Irgendwo stand eine Ladeschaufel herum. Old Donegal hatte sie unbeachtet gelassen, weil sie ihn nicht interessierte. Jetzt hatte er es plötzlich eilig, die Schaufel zu holen. Es war erstaunlich, wie lautlos und geschickt er sich trotz seines Holzbeins über die Decksplanken bewegte. Der Niedergang führte hinter einer geschlossenen Wand nach unten. Einen idealeren Platz konnten sich die Arwenacks kaum wünschen. Jeder Angreifer würde sie erst bemerken, wenn es für ihn bereits zu spät war. Vorerst sah es allerdings nicht so aus, als wollten die Wilden unter Deck gehen. Das Warten wurde zur Qual. Old Donegal stand auf der einen Seite des Durchgangs, Don Juan auf der anderen. Mit nur vier oder fünf Wilden würden sie wahrscheinlich leichtes Spiel haben. Die Frage war nur, ob sie auf die Insel zurückkehren konnten. Wahrscheinlich war der ganze Stamm am Strand versammelt. Als Old Donegal den Blick hob, fiel ihm auf, daß ihn der Spanier eindringlich musterte. Wußte Juan ebenfalls, daß ihnen keine Wahl mehr blieb? Die Schritte an Deck verstummten. Ein Schatten fiel den Niedergang hinunter. Dann knarrten die Stufen. Jemand tastete sich vorsichtig nach unten. Old Donegals Hände verkrampften sich um den Stiel der Ladeschaufel. Bleich traten seine Knöchel unter der rissigen Haut hervor.
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Lautlos bewegte er die Lippen und zählte die Schritte. Jetzt war der Unbekannte auf dem vorletzten Tritt angelangt. Er durfte keine Gelegenheit erhalten, seine Begleiter zu warnen. Old Donegal wagte kaum noch zu atmen aus Furcht, der andere könnte ihn hören. Hart und erbarmungslos schlug er zu, als die Gestalt den Raum betrat. Im selben Moment stieß Don Juan einen entsetzten Ausruf aus. Von seinem Standort hatte er einen besseren Überblick als Old O'Flynn. * „Hab ich dich, Mädchen mit den Rebhuhnaugen, was soll mir dann des Himmels Seligkeit? Hab ich dich nicht, Mädchen mit den Rebhuhnaugen, was soll mir dann des Himmels Seligkeit?“ Jahuma zögerte, als sie an die Worte ihres auserwählten Bräutigams dachte. Ihre Hände, in denen sie zwei Dutzend Knochensplitter barg, zitterten. Dabei war sie sich keiner Schuld bewußt. Sie hatte den Göttern nicht weniger geopfert als schon ihre Mutter und die Mutter ihrer Mutter und deren Mutter. Und sie hatte dem weißen Gott alles gewährt, was er von ihr verlangte. „Jäcärumwe, j ah äpke lije hä!“ rief sie die Worte aus der alten Sprache ihres Stammes. Magische, die Mächte des Himmels gnädig stimmende Symbole waren mit roter Erde und Schneckenblut auf ihren nackten Körper gemalt. Zum äußeren Zeichen der Demut hatten ihr die ältesten Frauen das Haar geschoren und den Kopf mit Asche bestreut, derselben Asche, in der sie nun kniete. Der weiße Gott erhob sich und scheuchte seine beiden neben ihm kauernden Frauen mit knappen Fußtritten zur Seite. Sein Blick wanderte über den wolkenlosen Himmel, ehe er auf dem Mädchen hängen blieb. Er hob die zur Faust geballte Rechte.
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„Staub der Götter“, murmelte die Menge, „kehre in die Welt zurück, aus der unsere Ahnen einst verstoßen wurden.“ Der weiße Gott vollführte eine knappe Bewegung. Aus seiner Faust rieselte Staub ins Feuer. Stichflammen zuckten in die Höhe, begleitet von hellem Qualm und einem kurzen Zischen und Knistern. „Jetzt, Jahuma!“ befahl der Schamane, der abwartend neben dem Feuer verharrte. „Offenbare uns das Schicksal.“ Das Mädchen warf die Knochensplitter in die Asche. Noch während sie fielen, erkannte sie, daß das Ergebnis bedrückend sein mußte. Ein Raunen ging durch die Menge. „Du bringst uns den Tod, Jahuma“, schnaubte der Schamane. „Die Knochen beweisen es. Sie reden von Fremden, die unsere Insel betreten haben.“ „Fremde?“ fragte der weiße Gott erregt. „Erzähle mehr!“ „Es sind viele, mehr kann ich nicht erkennen. Dämonen müssen sie sein, denn sie entsteigen dem Meer. Jemand hat sie gerufen.“ „Jahuma!“ Die Nennung ihres Namens bedeutete ihr Todesurteil. Jahuma war wie gelähmt. Kräftige Fäuste schlossen sich um ihre Arme. Zwei Männer zerrten sie hoch und schleppten sie mit sich. Erst in dem Moment wurde ihr richtig bewußt, was ihr bevorstand. Doch sie war zu schwach, sich loszureißen. Kösambi, ihr Bräutigam, starrte sie nur an. Er rührte keinen Finger, ihr beizustehen. Dabei konnte er mit dem Baumbusspeer besser umgehen als jeder andere. Sie begann zu schreien. Ihre Stimme überschlug sich. Während der vergangenen Nacht, in der Hütte des weißen Gottes, hatte sie gelernt, was Leben bedeutete. Es hatte ihr gefallen. Und nun sollte alles zu Ende sein, ehe es richtig anfing? „Ich habe nichts getan, für das mich die Götter strafen müßten! Kösambi, hilf mir! Erinnere dich, was du sagtest!“ Sein Kopfschütteln war schlimmer als alles, was ihr die Männer antun konnten.
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Haß brannte in seinen Augen. Haß auf die Frau, die Dämonen auf die Insel rief. Das Himmelsfeuer, das die Hochzeit unterbrochen hatte, war vielleicht nur der Anfang gewesen. Die Blitze hätten den weißen Gott vernichten sollen, nicht die beiden Baumriesen. Vorübergehend geriet die Zeremonie ins Stocken. Ein Jäger kehrte zurück. Aufgeregt berichtete er, daß er Fremde gesehen habe. Einer von ihnen hatte weißes Haar und nur ein Bein, das andere wirkte wie ein seltsam gerade gewachsener Ast. „Das sind die Dämonen!“ schrie der Schamane mit sich überschlagender Stimme. Der weiße Gott blieb weitaus ruhiger. Er bestimmte mehrere Männer, die die Dämonen beobachten sollten. „... aber haltet euch so weit zurück, daß sie euch nicht entdecken.“ Mehr hörte Jahuma nicht, weil sie wieder vorwärtsgestoßen wurde. Für einen Moment hatte sie geglaubt, das Erscheinen der Fremden könnte das ihr zugedachte Schicksal ändern. Doch sie hatte sich geirrt. * Old Donegal Daniel O'Flynns Triumph hatte einen sehr bitteren Beigeschmack. Der Admiral spürte plötzlich einen großen Kloß im Hals, der ihm die Luft nahm. Er schluckte schwer, versuchte sich zu räuspern, doch kein Laut drang über seine Lippen. Er hatte gut getroffen. Zu gut sogar, denn der hölzerne Schaft der Ladeschaufel war zersplittert. Mit dem Ende, das er noch in Händen hielt, konnte er nur mehr wenig anfangen. Die andere Hälfte war auf die Planken gefallen. Das Geräusch dröhnte überlaut in seinen Ohren, und er meinte, es müsse überall auf dem Wrack zu hören gewesen sein. Dabei war Juans halb erstickter Aufschrei sicherlich lauter gewesen. Der Mann, den er wie einen Baum gefällt hatte, war kein Wilder. Kannibalen trugen
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weder Hemden aus englischem Tuch, noch an den Beinen ausgefranste Hosen. Auch gab es bei ihnen keine Medizinmänner, die verlorene Gliedmaßen durch eiserne Prothesen ersetzten. Old Donegals Opfer trug an Stelle der linken Hand eine Hakenprothese. „Mein Gott“, stöhnte der Alte. „Das, das konnte ich doch nicht ahnen.“ Gemeinsam mit Don Juan drehte er den Mann auf den Rücken. Ein dünner Blutfaden sickerte aus Jeff Bowies Mundwinkel. Offenbar hatte er die Ladeschaufel mit voller Wucht zwischen die Rippen gekriegt, und das Holz war abgeglitten und hatte sein Kinn gestreift. Old Donegal war bleich wie ein ausgedörrtes Leinentuch. „Ich habe ihn getötet“, stammelte er. „Das wollte ich nicht. Glaube mir, Juan, das konnte ich nicht ahnen.“ Jeff Bowie war ein stämmiger, grauäugiger Mann. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, war tapfer, aber zugleich zurückhaltender als andere. Die linke Hand war ihm vor Jahren von Piranhas zerfleischt und vom Kutscher amputiert worden. Don Juan kniete neben ihm nieder und untersuchte ihn flüchtig. „Um Jeff das Lebenslicht auszublasen, müßtest du schon bedeutend härter zuschlagen“, sagte er. „Er ist nur vorübergehend weggetreten. Vielleicht träumt er von der Karibik und Great Abaco.“ „Na denn“, sagte Old Donegal. Die Erleichterung war ihm anzusehen. Trotzdem behielt er den zersplitterten Schaufelstiel in Händen. Ihm fiel ein, daß sie die Schritte von mehreren Männern an Deck vernommen hatten. Bevor er sich jedoch darüber klar werden konnte, ob das nun Wilde oder weitere Arwenacks waren, erklang von oben her eine wohlbekannte Stimme. „He, Jeff, was ist los da unten? Hast du was Brauchbares gefunden?“ „Nur zwei Rübenschweine“, erwiderte Old Donegal. „Ist das nichts?“ Die verblüfften
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Gesichter der Gefährten hätte er liebend gerne gesehen. „Heiliger Strohsack!“ Jemand hastete den Niedergang hinunter. „Ist das wirklich unser Admiral oder einer von diesen gräßlichen Wassergeistern ...?“ Blacky stürmte in den Raum. Er sah zuerst den Spanier und dann Old O'Flynn, der erst jetzt das Rundholz fallen ließ. Im nächsten Moment lagen sie sich in den Armen. „Mann“, sagte Blacky, „ich hatte schon jede Hoffnung aufgegeben. Wer ist noch an Bord?“ Hinter ihm erschienen Al Conroy, der Stückmeister der Arwenacks, und der Rudergänger Piet Straaten. „Nur wir beide: Donegal und ich.“ Don Juan schlug dem immer noch bewußtlosen Bowie mit der flachen Hand ins Gesicht. Endlich öffnete Jeff die Augen. Er wollte impulsiv aufspringen, doch dann erkannte er, was um ihn her vorging. Ein zufriedenes Lächeln legte sich um seine Mundwinkel und verdrängte den Ausdruck ungehaltenen Zorns. Mit dem Handrücken wischte er sich das Blut vom Kinn. „Hast du mich niedergeschlagen?“ „Das war der Admiral.“ Jeff wandte sich an Old O'Flynn: -Du hast eine Art, Freunde zu begrüßen, die man nicht so leicht vergißt, Sir. Aber vielleicht kann ich mich irgendwann dafür revanchieren. „ Alle lachten erleichtert. Nur Old Donegal lächelte säuerlich. „Wie viele seid ihr?“ wollte er wissen. „Neun“, antwortete Al Conroy. „Mac Pellew, Bill, Jan Ranse, Bob Grey und Higgy warten am Strand auf uns. Sie hoffen, daß wir auf dem Wrack Lebensmittel und vor allem Trinkwasser finden.“ „Seid ihr bewaffnet?“ „Wir haben unsere Messer – und wir leben noch. Das dürfte vorerst genügen. Alles Weitere wird sich zeigen.“ Old Donegal hatte vor den Kannibalen warnen wollen, schwieg dann aber doch. Nicht zuletzt, weil ihm Don Juan einen unmißverständlichen Blick zuwarf.
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„Das Wrack ist leer“, erklärte er stattdessen. „Ausgeplündert, schätze ich. Sogar die Ratten sind verhungert.“ Sie waren nicht mehr allein auf der Insel. Zumindest elf Mann hatten also den Untergang der Schebecke überlebt. Dennoch war das Gefühl der Freude nicht ungetrübt. Old Donegal Daniel O'Flynn empfand ein dumpfes Unbehagen. Gespannt hatte er darauf gewartet, daß der Stückmeister auch die Namen der Zwillinge, seines Sohnes Dan und des Seewolfs nannte. Aber entweder waren sie im Sog des sinkenden Schiffes mit in die Tiefe gerissen worden, oder die Strömung hatte sie auf einen anderen Teil der Insel verschlagen. Immerhin durfte er wieder hoffen. Ein Floß aus Ästen und Pflanzenfasern lag zwischen den Klippen. Old Donegal staunte nicht schlecht, als er das gut zweimal drei Yards messende Gebilde sah, das zwar zerbrechlich wirkte, aber doch mehrere Männer zu tragen vermochte. „Wie habt ihr das so schnell hingekriegt?“ fragte er. „Wir gar nicht“, erwiderte Blacky grinsend. „Wir haben uns das Floß lediglich ausgeborgt. Es lag etwa eine viertel Meile südlich von hier versteckt, und da weit und breit niemand zu sehen war, dachten wir ...“ „Ihr habt die Kannibalen beklaut“, sagte Old Donegal. „Hoffentlich sind die Männer am Strand auf der Hut.“ * Für sechs schwere Arwenacks war das Floß nicht gebaut. Etwa eine halbe Kabellänge vor dem Strand begann es sich in seine Bestandteile aufzulösen. Knisternd brachen die ersten Pflanzenfasern, Augenblicke später klaffte ein gut zwei Ellen messendes Loch an einer Seite. Das Geflecht jetzt noch zusammenzuhalten, war unmöglich. „Was soll's“, bemerkte Old Donegal. „Seetauglich war es ohnehin nicht.“ Sie schwammen die letzten paar Dutzend Yards und wateten danach zwischen
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Seeigelkolonien hindurch an Land, wo sie von den Zurückgebliebenen stürmisch begrüßt wurden. Für eine Weile redeten alle durcheinander. Sie hatten sich viel zu erzählen. Old Donegal sorgte dafür, daß erst mal Wachen aufgestellt wurden, die den nahen Wald im Auge behielten. Die Sonne trocknete die nassen Plünnen, die vom Salzwasser jedoch unangenehm rauh wurden und -wie Bimsstein auf der Haut kratzten. Außerdem stellte sich das quälende Durstgefühl wieder ein, das zumindest eine Zeitlang in Vergessenheit geraten war. Die Arwenacks zogen sich daraufhin in den Schatten der Bäume zurück. Es stellte sich heraus, daß Blacky und die anderen noch nicht weit ins Inselinnere vorgedrungen waren, sondern sich vornehmlich am Strand entlang nach Norden bewegt hatten. Die Strömung hatte sie drei bis vier Meilen südlich an Land getragen, wo überwiegend schroffe Felsen das Bild bestimmten. Es gab dort eine kleine, lediglich über einen schmalen Kanal mit dem Meer verbundene Bucht, die allem Anschein nach nur zu Sturmzeiten nicht trockenfiel. Felsen und Erde wiesen in dem Bereich dicke Salzablagerungen auf. Dort hatten die Arwenacks auch die ersten Spuren von Ein- geborenen entdeckt, die das Salz für ihren Bedarf abbauten. Kokospalmen waren offenbar rar gesät. Auch andere bekannte Pflanzen mit eßbaren Früchten hatten die Männer nicht gefunden. Strandhafer und Buschwerk mit lederartigen Blättern bestimmte im Süden das Bild. Den größten Hunger hatten die Arwenacks mit Muscheln gestillt. Auch einige Krabben hatten sie gefangen und roh verzehrt. Bills und Bob Greys Versuche, Vogelnester zu plündern, waren vergeblich gewesen. Bill wäre beim Hinaufklettern auf einen mehrfach mannshohen Felsen ums Haar abgestürzt. Die Nacht hatten die Männer am Strand zugebracht und sich in den wärmenden Sand eingegraben, als es zu
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fortgeschrittener Stunde doch merklich kühl geworden war. „Als wir das Wrack entdeckten, wart ihr offenbar schon an Bord“, sagte Blacky. „Wir hatten gehofft, irgendetwas Eßbares zu finden, Pökelfleisch, das über die Monate hinweg genießbar geblieben war, oder wenigstens ausgedörrten Zwieback. Und möglicherweise ein wenig Rum oder auch saures Bier.“ „Ich schlage vor, wir suchen das Dorf der Eingeborenen“, sagte Mac Pellew. „Die Negritos haben ihr Auskommen, und was die essen und trinken, schmeckt uns genauso.“ Old Donegal Daniel O'Flynn starrte den Zweitkoch entgeistert an. ,,Weißt du, was du da sagst?“ „Klar doch“, antwortete Jan Ranse an Macs Stelle. „Die Wilden fressen sich womöglich gegenseitig“, platzte Old Donegal heraus. „Ich habe auch gehört, daß das gar nicht so selten sein soll“, erklärte Higgy. „In manchen Hafenkneipen kursieren wahre Schauergeschichten über Kannibalen.“ „Wer alles für bare Münze nimmt, ist selbst schuld, wenn er nicht mehr ruhig schlafen kann“, sagte Bob Grey. Und Don Juan fügte gleichmütig hinzu: „Von irgendwas müssen wir schließlich leben.“ „Tut doch, was ihr wollt.“ Old Donegal schnaubte wütend. „Aber behauptet hinterher nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.“ 5. Die Sonne stand im Zenit, als die elf Arwenacks endlich in das Dickicht des Waldes eindrangen. Anfangs hatten sie noch Mühe, sich mit den Messern einen Weg freizuschlagen, aber dann wurde die Vegetation lichter. Nur am Rand, wo Wind und Wetter angreifen konnten, hatte sich dichtes Unterholz gebildet. In den Baumwipfeln wisperte der Wind. Das Laubdach war dicht, und auf dem Boden herrschte ein angenehmes Halbdunkel, verbunden mit durchaus
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erträglichen Temperaturen. Am Strand hätte die Sonne die Männer ausgedörrt, und es gab nichts Schlimmeres, als dem Verdursten nahe zu sein. Wenn erst Wahnvorstellungen einsetzten, die den ausgemergelten Körpern das Letzte abverlangten, war das Ende abzusehen. Hie und da fiel flirrende Helligkeit durch Lücken im Geäst. Schwärme von Insekten tanzten in solchen lichten Oasen. Allem Anschein nach regnete es nicht oft auf der Insel. Das Grün wirkte vertrocknet, und sogar das Moos, das für gewöhnlich wie ein Schwamm Feuchtigkeit aufsog, raschelte unter den Füßen der Männer. Unter anderen Umständen wäre die Idylle vollkommen gewesen. Vogelgezwitscher begleitete die Arwenacks. Aber zwischen den Baumkronen blieben die gefiederten Sänger unerreichbar. Die Vielfalt der übrigen Fauna erschöpfte sich vorerst in riesigen Ameisenheeren und handspannenlangen, überaus flinken Eidechsen. Nicht einmal Bob Grey hatte eine Chance, die Echsen mit gezielten Messerwürfen zu erlegen. An umgestürzten, vermodernden Bäumen wuchsen Stockschwämme. Aber noch war keiner der Arwenacks so ausgezehrt, daß er ohne zögern die violetten, schleimigen Pilze gegessen hätte. Mac Pellew bedachte die unterschiedlich großen Gewächse ohnehin mit skeptischen Blicken. Fast eine Stunde lang marschierten die Arwenacks stur geradeaus. Während dieser Zeit veränderte sich ihre Umgebung so gut wie nicht. Erst danach wurde das Gelände hügelig. In den Senken löste mannshohes Gras den Baumbestand ab, und erstmals waren höhere Berge zu sehen, die sich rechterhand nach Südosten erstreckten. Urplötzlich gab Don Juan das Zeichen zum Halten. Keine zweihundert Yards vor sich sahen die Männer eine friedlich grasende Herde rehähnlicher Tiere. Der Spanier zeigte auf Grey, Blacky und Bill. Sie verstanden sofort. Da der Wind gegen sie stand, hatten sie eine Möglichkeit, sich nahe genug an die Herde heranzupirschen, ehe die Rehe die
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Gefahr witterten. Vielleicht konnten sie eins der Jungtiere mit den Messern erlegen. Lautlos huschten sie weiter. Urplötzlich hörte der Leitbock auf zu äsen und hob den Kopf. Seine Lauscher spielten, und die Vorderläufe zuckten unruhig, aber er äugte in eine andere Richtung und schien dort etwas bemerkt zu haben, was ihn ängstigte. Die Arwenacks pirschten sich an. Bis auf vierzig Schritte näherten sie sich der Herde. Bob wollte gerade ein Messer werfen, da stoben die Tiere in panischem Erschrecken davon. Aber schon nach wenigen Sprüngen wechselten sie abrupt die Richtung. Grey fluchte unbeherrscht. Er hatte das Ziel um Haaresbreite verfehlt. „Da ist noch was!“ rief Don Juan. „Wo das Gras am höchsten ist!“ Die Halme bewegten sich, als Würden sie von einem eng begrenzten Windstoß geteilt. „Lauf nach rechts, Bill! Schneid ihm den Weg ab!“ erklang Blackys Stimme. „Er darf den Wald nicht vor uns erreichen.“ Sie jagten einen Eingeborenen. Jetzt sah ihn auch Juan. Der Kerl war höchstens fünf Fuß groß, aber unwahrscheinlich flink. Er trug lediglich einen knielangen Umhang um die Hüfte und war sonst nackt. Die Distanz zu seinen Verfolgern verringerte sich nicht. Schließlich verschwand er im Halbdunkel des Waldes. Die Arwenacks kehrten unverrichteter Dinge zurück. „Die Kannibalen wissen jetzt, wo wir sind“, sagte Old Donegal. „Wir müssen Wachen einteilen. Außerdem ...“ „Außerdem ist der Kerl gelaufen, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her.“ Herausfordernd verschränkte Blacky die Arme vor dem Brustkorb. „Was wollen wir mehr?“ Sie setzten ihren Weg fort. Die Sonne stand inzwischen weit im Nachmittag. Der Durst wurde immer quälender. Als sie endlich mehrere Sträucher mit kannenförmigen Blüten fanden, war der Jubel groß. Leider stellte sich heraus, daß
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die Blüten nur sehr wenig Wasser enthielten. Es reichte gerade, den elf Arwenacks die rauhen Kehlen anzufeuchten, und es schmeckte so abscheulich süß, daß sie freiwillig auf mehr verzichteten. Regnen würde es auf absehbare Zeit nicht. Der Himmel war und blieb wolkenlos, und es sah weiß Gott nicht so aus, als würde sich das Wetter noch ändern. Dabei wünschten sich die Arwenacks nichts sehnlicher als einen kühlen Platzregen. * Zwei ausgetrocknete flache Tümpel ließen die Stimmung der Männer noch weiter absinken. Sie begannen, in dem spröden, rissigen Lehmboden zu graben, förderten aber nur zähen Schlamm zutage. Das Wasser, das irgendwann die Mulden ausgefüllt hatte, war nicht versickert, sondern schlicht und einfach verdunstet. Mittlerweile waren die Ausläufer der Berge nur noch eine halbe Meile entfernt. Don Juan spielte mit dem Gedanken, die Nacht in der Region zu verbringen. Möglicherweise schlug sich in den Höhenlagen etwas Feuchtigkeit nieder. Die Schatten wurden länger. Erstmals tauchten an der Kimm Wolken auf, die jedoch nach kurzer Zeit wieder verwehten. Ein Trampelpfad zog sich durchs Gelände. Er stammte nicht von den Eingeborenen, sondern von größeren Tieren, die regelmäßig zwischen dem Wald und der freien Hügellandschaft wechselten. Einzelne zweizehige Abdrücke waren zu erkennen. „Wir folgen der Fährte!“ entschied Don Juan. Er sah den Gesichtern der Männer an, daß sie mittlerweile gierig jedes Wild aufbrechen und sogar das noch warme Blut trinken würden. Das schwül-warme Klima setzte ihnen ziemlich zu. „Nur mit den Messern werden wir kein einziges Tier erlegen“, sagte Mac Pellew sauertöpfisch.
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„Dann bauen wir eben Fallen“, erklärte Bill. „Ein paar Stricke, Bambusstangen und zugespitzte Äste genügen.“ „Was ist, wenn uns die Rehe wittern? Und womöglich erscheinen sie immer erst im Morgengrauen.“ „Unser Koch wird mal wieder ungenießbar“, sagte Higgy. „Mac ist sich selbst nicht gut, wenn er nichts hat, was er anbrennen lassen kann.“ „Mir ist nur der Spatz in der Hand lieber als die Möwe im Topp“, sagte Mac Pellew. „Ach!“ Bob Grey funkelte ihn herausfordernd an. „Und was, bitte, ist für dich der ,Spatz°?“ „Wir sollten uns mit den Negritos arrangieren. Das dürfte nicht allzu schwer sein.“ Old Donegal starrte den Koch an, als seien plötzlich Hörner aus dessen Stirn gewachsen. Er schien nicht zu wissen, ob er lauthals lachen oder doch lieber über soviel Dummheit weinen sollte. „Du mußt verrückt sein“, sagte er. „Dein Sohn Dan hat zwar von den Negritos gesprochen“, erinnerte der Stückmeister, „aber nicht davon, daß sie Kannibalen sind.“ „Na und?“ fragte Old Donegal. „Dan ist eben auch nicht allwissend.“ „Das hat er von seinem Vater“, stichelte Piet Straaten. Don Juan de Alcazar bereitete dem Streit ein schnelles Ende. Er ging einfach weiter und folgte dem Wildwechsel, der nunmehr fast genau nach Westen führte, dem nächsten. Waldstück entgegen. „Warte!“ sagte Blacky. „Das hier ist mir zu dumm. Ein Prediger würde unter diesen Umständen sagen: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Al Conroy, Jeff Bowie,. Higgy und Bill dachten ähnlich. Spontan schlossen sie sich den beiden an. Hinter ihnen folgten die Niederländer Straaten und Ranse. „Nun ja“, murmelte Bob Grey. „Wer weiß schon mit Sicherheit, ob die Eingeborenen einen Regenzauber beherrschen.“ Letztlich standen sich nur noch Old Donegal und Mac Pellew gegenüber.
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„Du kannst allein dein Glück versuchen, Mister“, knurrte der alte Zausel gereizt. „Möglicherweise verschonen dich die Kannibalen sogar.“ Der Zweitkoch kniff die Brauen zusammen. „Wieso?“ fragte er. „Wenn du so sauer schmeckst, wie du aus den Plünnen schaust, bist du ungenießbar.“ Old Donegal sprach's, drehte auf dem Absatz um und stapfte hinter den anderen drein. Mac Pellew blickte ihm kopfschüttelnd hinterher. Danach hatte er es plötzlich eilig, aufzuschließen. Die Männer begannen, Vorbereitungen für den Bau einer Falle zu treffen. Während sie weiterhin dem Wildwechsel folgten, schlugen sie dünne Bambusstangen ab, sammelten brauchbare Äste und vor allem Lianen, die sie zu Tauen zusammendrehen konnten. Das Gelände wurde steiniger. Wenig später verlor sich die Fährte zwischen nacktem Geröll. . „Wir sind schon zu weit gegangen“, maulte Mac Pellew. „Wir hätten die Falle am Waldrand aufstellen sollen.“ Don Juan deutete auf die letzten sichtbaren Hufabdrücke. „Genau da fangen wir an. Die Bäume stehen dicht genug.“ Sie arbeiteten Hand in Hand, rammten angespitzte Stangen in den festen Boden und schlugen Taue aus dem vorhandenen Material. Es war vorauszusehen gewesen, daß die Pflanzenfasern nicht ausreichten. Deshalb verließen Jeff Bowie, Bill und Mac O'Higgins die Gruppe und drangen auf der Suche nach weiteren Lianen tiefer in den Wald ein. Wenig später erklang ein Schrei. Bill hatte ihn in höchster Erregung ausgestoßen. Die anderen Arwenacks, inzwischen im Begriff, eine provisorische Bogensehne zu spannen und die Durchschlagskraft eines spitzen Bambusrohrs zu testen, ließen alles liegen und stehen und hasteten in die Richtung, in der die drei verschwunden waren. Sie brauchten nicht weit zu laufen.
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Die Negritos glaubten an Dämonen, ebenso wie an eine Vielzahl von Naturgöttern. Das Heulen des Windes, der über die Berggipfel strich, der Regen, der zu bestimmten Jahreszeiten fiel, das Wachsen der Pflanzen und ihre Früchte – all das war das Werk von Göttern, die es mit den Negritos gut meinten. Aber entwurzelte der Sturm Bäume und zerstörte ihre Hütten, oder blieb der ersehnte Regen einmal aus, dann war dies das Werk von Dämonen, die ebenso über den Wolken hausten wie in den Tiefen des Meeres vor der Küste. Nur einer wußte, daß dem nicht so war: der weiße Gott. Die Fremden aus dem Meer konnten nur Schiffbrüchige sein, doch er dachte nicht daran, ihnen Hilfe anzubieten. Egal, was mit ihnen war, auf der Insel gab es keinen Platz für sie. Mit einer herrischen Handbewegung verscheuchte der weiße Gott seine beiden Frauen. Sie waren gewohnt zu gehorchen und lasen ihm jeden Wunsch von den Lippen ab. Anders die fremden Seefahrer. Sie würden nur Unfrieden bringen. Vielleicht waren sie nicht mal Schiffbrüchige. Sogar das mußte er in Erwägung ziehen. Je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm. Die Fremden waren da, um Fragen zu stellen. Unangenehme Fragen. Sie mußten sterben. Das war die beste Lösung. Alle Dämonen mußten sterben. Der weiße Gott lachte. Er redete mit sich selbst. In der Sprache der Götter, die er lange nicht mehr gesprochen hatte. Das war zugleich die Sprache, der sich die Mächte der Finsternis bedienten. „Tötet sie!“ rief er: „Tötet alle Dämonen!“ Zum Zeichen seiner Macht warf er in das Feuer mehr als nur eine Handvoll des magischen Staubes, den er wie seinen Augapfel hütete. Diesmal opferte er ein ganzes Säckchen davon.
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Die Wirkung war verblüffend. Eine fast mannshohe Stichflamme schoß in die Höhe, schwerer Qualm breitete sich pilzförmig aus, Asche, Holz und Glut flogen nach allen Richtungen auseinander. Die Negritos warfen sich ehrfürchtig zu Boden. Ihr Gott war nicht nur gütig, sondern auch jähzornig. Wenn er lachte wie jetzt, schrill und abgehackt, wurde er unberechenbar. * Die Arwenacks waren wie vom Donner gerührt. Sie wollten nicht glauben, was sie sahen, und weigerten sich zu begreifen, daß alles so einfach sein sollte, aber dann winkte ihnen Higgy beidhändig zu und tauchte in dem kristallklaren Wasser bis auf den Grund. Als wäre dies die erlösende Handlung gewesen, die einen unsichtbaren Bann durchbrach, redeten plötzlich alle durcheinander. „Gebt Ruhe, verdammt!“ rief Don Juan de Alcazar so laut, daß ihn jeder hören mußte. „Bob, Al und du, Blacky, sperrt Augen und Ohren auf! Ich will nicht, daß uns die Eingeborenen überfallen, während jeder von uns im Wasser planscht.“ „Aye, aye.“ Bob Grey grinste breit und sichtlich zufrieden. Sein Blick pendelte zwischen der' Quelle und dem Spanier hin und her. „Wir werden aufpassen wie Luchse.“ Die Quelle entsprang am Rand einer langgestreckten Lichtung und ergoß sich in armdickem Rinnsal in einen kleinen Tümpel, dessen Abfluß offenbar unterirdisch lag. Das Ufer war von Schilf und Schlingpflanzen überwuchert, auf dem Wasser schwammen Seerosen. Mac O'Higgins tauchte zwischen geöffneten Blüten freudestrahlend wieder auf. „Das Paradies kann nicht schöner sein“, behauptete er. „Und das Wasser schmeckt köstlicher als der beste Rum.“ „Wir hatten unverschämtes Glück“, sagte Bill. „Wenn ich daran denke, daß wir
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beinahe an der Quelle vorbeigelaufen wären ...“ Triefend, von Pflanzenresten behangen, aber freudestrahlend, kletterte Higgy aus dem Teich. Hinter ihm sprang Piet Straaten mit einem mächtigen Bauchklatscher in das nur eineinhalb Yards tiefe Wasser. Die anderen Arwenacks stillten inzwischen ihren ärgsten Durst und säuberten sich von dem angetrockneten Salz. Dann wurden die Wachen abgelöst. „Wir brauchen Fässer“, erklärte Old Donegal. „Auf dem Wrack liegen einige herum, die wohl noch dicht sein dürften. Wenn wir sie gründlich auswaschen und voll zum Strand tragen, haben wir Vorräte für mehrere Tage und können in aller Ruhe auf vorbeisegelnde Schiffe warten.“ Mit der Ruhe, von der er sprach, war es zur Zeit noch nicht weit her. „Wahrschau!“ brüllte Bob Grey, der ungefähr zwanzig Schritte hinter der Quelle Wachtposten bezogen hatte. Urplötzlich waren sie da: dunkelhäutige, kleinwüchsige Gestalten, die mit den Schatten der Bäume zu verschmelzen schienen. Niemand hatte ihr Anschleichen bemerkt, und ohne Bobs warnenden Ruf wäre es ihnen wohl gelungen, die Arwenacks zu überraschen. Zumindest wären sie nahe genug an die Männer herangelangt, um mit ihren primitiven Waffen zu töten. Einige Bambusspeere schwirrten durch die Luft und bohrten sich, ohne Schaden anzurichten, in den Boden oder klatschten ins Wasser. Die Arwenacks hatten schnell genug reagiert, um dem ersten überhastet vorgetragenen Angriff auszuweichen. Allerdings verfügten sie über keine besseren Waffen als die Negritos, deren Überzahl sie mit ein paar Pistolen oder Musketen leicht ausgeglichen hätten. Old Donegal sah sich gleich von vier halbnackten Wilden attackiert. Zwei von den Kerlen hatten rostige Messer, die bewiesen, daß dies nicht ihr erster Kontakt mit zivilisierten Menschen war wahrscheinlich hatten sie schon früher Seeleute überfallen -, die beiden anderen trugen doppelt armlange Bambusspeere,
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mit denen sie nach dem Admiral stießen, als wollten sie ihn wie einen Fisch im seichten Wasser aufspießen. Old Donegal schnitt eine Grimasse zum Fürchten. „Grrr!“ knurrte er und drosch einem der Burschen seinen Knüppel auf den Arm, daß der nicht nur gellend aufschrie und das Messer fallen ließ, sondern einen wahren Veitstanz aufführte. Wahrscheinlich war der Arm gebrochen. Old Donegal wirbelte einmal um sich selbst. Daß er den Knüppel mitgenommen hatte, war also doch eine kluge Entscheidung gewesen. Ohne solcherart verlängerte Reichweite hätte er jetzt dumm dagestanden. Ringsum wurde erbittert gekämpft. Old Donegal hatte keinen Blick für die Gefährten, denn die verbliebenen drei Angreifer setzten ihm hart zu. Ein Schlag in die Hüfte ließ ihn taumeln und nach Luft ringen. Die Wilden ließen ihm keine Zeit zur Besinnung, sondern drangen hart auf ihn ein. Er stürzte, schrammte mit dem Rücken über steinigen Untergrund -und schaffte es gerade noch, das rechte Bein anzuwinkeln. Der Kerl, der sich mit dem Dolch auf ihn werfen wollte, rannte geradewegs in die Prothese hinein, die sich ihm härter als jeder Fausthieb in die Magengrube bohrte. Ein ersticktes Gurgeln war zu vernehmen, gefolgt vom Geräusch eines dumpfen Aufpralls. Bis der Admiral begriff, sackte sein Gegner leblos in sich zusammen. Der Schaft eines Speeres, der Old Donegal zugedacht gewesen war, ragte zwischen seinen Schulterblättern hervor. Triumphierend hob der zweite Speerträger mit beiden Händen seine Waffe. Old Donegal konnte sich nicht herumwälzen, weil der Tote halb über ihm lag. „Du hast gewonnen, Junge, ich gebe auf!“ stieß er hervor. Der Wilde lauschte dem Klang der Worte. In seinen Augen blitzte es tückisch. Um eine Handbreite änderte er die Richtung seines Speeres und zielte auf Old Donegals Brust. Dazu sagte er einige Worte in seiner kehligen Sprache.
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Der Admiral hatte den Knüppel fallen lassen. Aber obwohl er jetzt waffenlos war, wollte ihn sein Gegner töten. Im selben Moment, in dem der Wilde zustieß, fand Old Donegals suchende rechte Hand das „Zöpfchen“ in der Hosentasche. Er konnte nur hoffen und beten, daß das Pulver nicht unbrauchbar geworden war, aber soviel Zeit blieb ihm nicht mehr. Innerlich angespannt wartete er auf den tödlichen Stoß und fragte sich, ob er wohl viel spüren würde. Das dumpfe Krachen der Pulverexplosion erschreckte ihn. Irgendwie hatte er nicht mehr damit gerechnet. Seine Prothese spuckte Flammen und eine Bleikugel, und der harte Rückstoß riß sein Bein hoch. Mitten auf der Brust des Angreifers erschien ein dunkles Loch. Als wäre er von einer Titanenfaust getroffen worden, wurde der Kerl nach hinten geschleudert. Der vierte Wilde, der noch übrig war, starrte Old Donegal entgeistert an. Im nächsten Moment hetzte er laut brüllend davon, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Ringsum verstummte der Kampflärm. Die Negritos lösten sich von den Arwenacks und wandten sich ebenfalls zur Flucht. Im Nu war der ganze Spuk vorüber, und wären nicht mehrere tote Insulaner zurückgeblieben, die Seewölfe hätten an einen bösen Traum glauben können. „Das war wohl nichts mit dem Abendessen“, sagte Jeff Bowie respektlos. Er hatte eine Platzwunde an der Stirn und mehrere Kratzer im Gesicht und schöpfte, bereits mit der hohlen Hand Wasser, um sich das Blut abzuwaschen. „Die versuchen es wieder“, sagte Mac Pellew. „Dann aber mit Verstärkung.“ Don Juan nickte knapp und deutete auf den Teich. „Trinkt noch einmal, bevor wir uns zurückziehen. Wir sollten den Negritos keine Chance geben, uns hier zum zweitenmal zu überfallen.“ „Am Strand sind wir kaum sicherer“, widersprach Al Conroy. „Außerdem glaube ich nicht, daß wir vor Einbruch der Nacht mehr als die Hälfte der Strecke schaffen.“
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„Wir gehen Felsen“, bestimmte der Spanier. „In knapp einer halben Stunde können wir dort sein, und dann haben wir zumindest vorerst ausreichend Rückendeckung.“ 6. Die Männer sammelten die zurückgelassenen Waffen der Negritos ein. Die Toten wenigstens unter Steinen zu begraben, versuchten sie gar nicht erst. Sie hatten nicht genügend Zeit, und ob die Eingeborenen letztlich jeden Leichnam wieder ausgraben würden, wußten sie nicht. „Wir haben es mit Kannibalen zu tun“, erinnerte Old Donegal. „Vergeßt das nicht.“ Nachdem jeder noch einmal ausgiebig getrunken hatte, brachen sie auf. Von der Quelle aus gesehen, lagen die Berge ziemlich genau im Süden. Der Wald wurde dichter, aber nicht unwegsamer. Düsternis breitete sich aus, während der Himmel bis über den Zenit von einem kräftigen Rot-Violett überzogen wurde. Die Dämmerung war wie überall in den tropischen Regionen nur kurz. Vorher erreichten die Arwenacks jedoch die Ausläufer der Berge, die einige hundert Meter über den Meeresspiegel aufragten. Die Hänge waren überwiegend bewaldet. Größere Schluchten gab es nicht, dafür aber Höhlen, die düster und scharf umrissen aus dem üppigen Grün hervorstachen. Eine dieser Höhlen wählte Don Juan als Nachtquartier. Sie durchmaß rund fünf Yards und reichte mehr als dreißig Schritte weit in den Berg hinein, verengte sich jedoch rasch. Schon nach der Hälfte konnte keiner der Männer mehr aufrecht stehen. In der Nähe lag genug dürres Holz für ein kleines Feuer. Während Bob Grey und Higgy einen ausreichenden Vorrat zusammentrugen, kratzte Bill dürres Moos von den Bäumen. Mit einem aus Pflanzenfasern gedrehten Strick, einem
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fingerdicken Stock und zwei modrigen Ästen begann er, Glut herbeizuzaubern. Piet Straaten half ihm, indem er von oben den zweiten Ast über den Stock stülpte und unverrückbar festhielt. Das provisorische Kardeel einmal um das Holz geschlungen, versetzte Bill dieses in schnelle Rotation, indem er abwechselnd an beiden Enden anzog. Trotzdem brauchte er eine kleine Ewigkeit, bis endlich im Moder des unteren Astes ein winziger Funke zu glimmen begann. Die Glut leckte an dem dürren Moos hoch, das er vorsichtig dazulegte. Kurz darauf brannte unmittelbar hinter dem Höhleneingang ein kleines Feuer, das die aufgestellten Wachen nicht blendete, jedoch im Fall eines zweiten Angriffs der Negritos genügend Helligkeit verbreitete. Die Arwenacks redeten lange, über Gott und die Welt. Keiner von ihnen war wirklich müde, was vor allem daran lag, daß sie nicht an eine ruhige Nacht glaubten. Aus dem Wald erklangen vielfältige Tierstimmen. „Ist euch etwas aufgefallen?“ fragte Jan Ranse plötzlich. „Ziemlich nahe bei der Quelle.“ Keiner wußte, was er meinte. „Fürs Raten haben wir heute keine Nerven mehr“, sagte Blacky gereizt. „Ich habe es selbst erst entdeckt. als wir die Quelle schon verließen“, erklärte der Niederländer. „Aufgefallen ist mir zuerst die gleichmäßige Erhebung am Waldboden, ungefähr zehn Fuß lang und gerundet. Weil Laub darüber lag, konnte ich nicht erkennen, um was es sich handelte, aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, einen Farbton wie Bronze gesehen zu haben.“ „Vielleicht ein ausgewitterter Stein“, sagte Mac Pellew. „Irgendwelche Mineralien ...“ Der Rudergänger schüttelte den „Es mag verrückt klingen, aber im nachhinein halte ich das Ding für ein Geschützrohr.“ „Das klingt nicht nur verrückt, das ist es“, behauptete Higgy. „Woher sollen die Eingeborenen Kanonen haben?“
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„Das ist keine Frage“, erklärte Old Donegal. „Ihr beiden wart nicht auf dem Wrack, deshalb könnt ihr es nicht wissen.“ „Was?“ fragte Jan Ranse. „Heraus mit der Sprache!“ „Die Zweimastgaleone führte sechs Geschütze vom Typ Saker auf der Kuhl. Aber nur noch fünf sind an Bord.“ „Daß die Wilden das Wrack ausgeplündert haben, steht außer Frage. Doch was, um alles in der Welt, wollen sie mit einer Kanone? Und warum werfen sie ihre Beute achtlos in den Wald?“ „Was weiß ich?“ erwiderte der Admiral. „Weil sie wenig damit anzufangen wußten, vermutlich. Hätten sie das Rohr zurücktransportieren sollen? Die Lafette fehlt übrigens auch. Aber die haben sie vermutlich verbrannt.“ „Ein Glück, daß sie nicht damit umzugehen verstehen“, sagte Mac Pellew. Bei dieser Aussage beließen sie es. Warum sollten sie sich auch unnötig die Köpfe zerbrechen, auf welche Weise ein immerhin 1800 Pfund schweres Bronzegeschütz Meilen vom Ufer entfernt in den Wald gelangt war? Im Laufe der Nacht drehte der Wind auf nördliche Richtungen. Anfangs war nur ein dumpfes Dröhnen zu vernehmen, das aber gegen Mitternacht deutlicher wurde. Die Negritos trommelten und rüsteten sich womöglich zum Kampf gegen die fremden Eindringlinge. Wenig später flackerte im Norden Feuerschein auf. Das Feuer hielt gut eine halbe Stunde an, ehe es ohne Funkenflug in sich zusammenfiel. Während dieser Zeit steigerte sich der dumpfe Klang zum hektischen Stakkato. „Wenn Kannibalen feiern, habe ich immer so ein verdammt lausiges Gefühl“, sagte Old Donegal Daniel O'Flynn. „Dann wäre ich am liebsten meilenweit weg, möglichst auf hoher See.“ In dieser Nacht geschah jedoch nichts mehr, was von Bedeutung gewesen wäre. Die Arwenacks blieben unbehelligt und irgendwann während der frühen Morgenstunden fielen sie endlich in den Schlaf der Gerechten. Nur die Wachen
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kämpften gegen die stärker werdende Müdigkeit an, die ihnen allmählich die Lider zufallen ließ. * Der 31. Dezember des Jahres 1599 begann trist und grau in grau. Der Himmel zeigte sich wolkenverhangen, und die Sonne schien Mühe zu haben, den Dunst zu durchdringen. In gewisser Weise erinnerte die Stimmung an England, das zur selben Zeit wohl im Nebel ertrank. Ob zum Jahreswechsel Schnee lag, der das holprige Pflaster der Gassen Londons in eine tückische Rutschbahn verwandelte? „Ich hoffe doch, daß Ihre Majestät wenigstens heute an uns denkt“, sagte Old Donegal. „Die königliche Lissy?“ wollte Higgy wissen. „Wer sonst?“ schnaubte Old Donegal. „Dachtest du, der König von Spanien?“ „England ist eine halbe Weltumseglung von uns entfernt.“ „Das sollte die Lissy aber nicht daran hindern, uns wenigstens in Gedanken ein gutes neues Jahr zu wünschen.“ „Noch schreiben wir das alte Jahr“, erinnerte Don Juan. „Und bis Mitternacht kann viel geschehen.“ Auf Regen warteten die Arwenacks vergeblich. Es sah so aus, als würden die Wolken ihre Fracht über dem offenen Meer abladen. Eine Stunde später riß der Himmel auf. Die Sonne stand noch dicht über der Kimm und war zu einem riesigen Glutball angewachsen. Die Männer waren sich einig, daß sie zum Wrack zurückkehren und Fässer holen würden. Die gestrandete Galeone lag nordwestlich und mehr als zwei Stunden Fußmarsch entfernt, vorausgesetzt, die Seewölfe wählten ohne Rücksicht auf das zu durchquerende Gelände den direkten Weg. Wenn sie erst auf ihren Spuren wieder nach Norden gingen und später zur Küste abbogen, war die zurückzulegende Entfernung naturgemäß größer.
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Die Entscheidung, wenn man es so ausdrücken wollte, trafen nicht die Arwenacks, sondern ein ständig größer werdender Vogelschwarm, der wenig mehr als zwei Meilen entfernt über dem Wald kreiste. Die Tiere schienen auf irgendetwas zu warten, und in gewisser Weise erinnerten sie an beutehungrige Geier. „Wir sehen nach, was da los ist“, entschied Don Juan. „Die Richtung entspricht ohnehin dem kürzeren Weg.“ „Es könnte sich um eine Falle handeln“, sagte Blacky warnend. „Ich traue den Negritos nicht weiter, als ich sie sehen kann.“ „Ich auch nicht“, erwiderte der Spanier. „Aber ebenso gut könnte es sein, daß noch mehr von uns auf diese Insel verschlagen wurden und sie sich in Gefahr befinden.“ Damit war das Thema ohne jede weitere Diskussion erledigt. Die Arwenacks verließen die Höhle, in die sie nicht mehr zurückzukehren gedachten. Die Sonne hatte inzwischen die letzten Dunstschleier aufgelöst. Bald veränderte sich ihre Umgebung. Mac Pellew fiel als erstem auf, daß das bislang üppige Grün eine schmutzigbraune Färbung annahm. Die ersten Sträucher und auch kleinere Bäume wirkten wie abgestorben. An den Ästen hingen vertrocknete Blätter, und von den Stämmen platzte die Rinde großflächig ab. Wo Harz aus den Wunden austrat, ballten sich Trauben roter Ameisen. Die Zahl der Ameisenbauten stieg an. Die winzigen Tierchen hasteten auf breiten Straßen geschäftig hin und her. Sie schleppten weg, was ihnen im Weg lag. Bleiche Knochen weckten die Aufmerksamkeit der Arwenacks. Das Skelett stammte von einem der rehähnlichen Tiere. Wie lange es schon in der Nähe eines Ameisenhaufens lag, war nicht festzustellen. „Der Wald ist fast tot“, sagte Don Juan nach einer Weile. „Hier gibt es nur Ameisen und sterbende Bäume.“ Kein Vogel sang sein morgendliches Lied, als hätte sich bis auf die roten Ameisen
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alles Leben aus diesem Waldstück zurückgezogen. Häufiger waren nun Tierknochen zu sehen. Old Donegal behauptete, daß eine Aura des Bösen wie ein Fluch auf dem Land laste. Natürlich glaubte ihm keiner – bis Jeff Bowie eine Verwünschung ausstieß und eine Hundertschaft Ameisen erschlug, die von seinen Beinen Besitz ergriffen hatten. „Die Biester beißen“, schimpfte er. Tatsächlich verursachten die Bisse ein schmerzhaftes Brennen. Auf der Haut entstanden kreisförmige rote Flecke, die zu nässen begannen und sich zu größeren Pusteln verbanden. Die Ameisen verschonten keinen. „Wenigstens wissen wir nun, wovor alle anderen Tiere geflohen sind“, sagte Blacky. „Hier treffen wir bestimmt keinen aus der Crew.“ „Und die Vögel?“ fragte Bill. Blacky zuckte mit den Schultern. „Aasfresser, die den Ameisen einen Teil der Beute streitig machen.“ Sie hatten den Ort nahezu erreicht, über dem die Vögel kreisten. Zwischen den lichter werdenden Baumkronen hindurch sahen sie den Schwarm. Augenblicke später stieß Bob Grey einen entsetzten Ausruf aus: „Da vorn! Bei allen Heiligen, was ist das?“ Nicht die gefräßigen Ameisen, sondern Menschenhand hatte von einem Dutzend Bäume bis zur Höhe von zweieinhalb Yards die Rinde abgeschält. Bleich leuchtete das Holz durch den Wald. Aber nicht das zwang Bob und einige seiner Begleiter, sich zu bekreuzigen, sondern die Tatsache, daß an jedem der Bäume ein Knochenkerl hing. Von einigen war nur noch das zerfallende Skelett übrig, andere wirkten wie eingefallene Mumien, die von Tausenden Ameisen bedeckt wurden. „Du meine Güte”, stöhnte Old Donegal. „Geht nicht weiter, Leute!“ Er blieb wie angewurzelt stehen, während Don Juan, Bill, Blacky und Al Conroy zögernd zwischen die ersten Toten traten. „Das hier“, sagte der Spanier mit merklich schwerer Stimme, „widerlegt die
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Annahme, wir hätten es mit Kannibalen zu tun. Die Negritos werfen ihre Gefangenen vielmehr den Ameisen zum Fraß vor.“ „Beides ist nicht gerade verlockend“, murmelte Jeff Bowie. Die Messer in Händen, als müssten sie sich jeden Moment gegen die Geister der Toten zur Wehr setzen, gingen sie weiter. Niemandem fiel auf, daß Old Donegal langsam, Schritt für Schritt, zurückwich. Er hatte wahrlich genug gesehen, und ein Platz wie dieser erfüllte ihn mit Unbehagen. Er hielt nur kurz inne, als er Bill rufen hörte: „Da ist eine Frau! Ich glaube, sie lebt noch!“ Mit blitzschnellen Schnitten durchtrennte der Junge die Fesseln und fing den schlaff in sich zusammensinkenden Körper auf. Die Frau war gerade fünf Fuß groß und dunkelhäutig, wie alle Negritos. Der kahlgeschorene Kopf konnte nicht über ihre Schönheit hinwegtäuschen. Bis auf ein Hüfttuch war sie nackt. Es gab wohl keine Stelle an ihrem Körper, die nicht schon von Ameisenbissen übersät war. Bill hatte ohnehin alle Mühe, die winzigen Insekten abzuschütteln oder zu erschlagen, die in ihm ein neues Opfer sahen. Inzwischen waren auch Piet Straaten und Jan Ranse heran und halfen, die Frau ins Bewußtsein zurückzurufen. Endlich schlug sie die Augen auf –und stieß einen gellenden Schrei aus, als sie die Arwenacks sah. Sie gebärdete sich wie toll. Bill und Al Conroy hatten Mühe, sie daran zu hindern, daß sie ihnen die Fingernägel ins Fleisch grub. Erst als Al ihr mit der flachen Hand ins Gesicht schlug, wurde sie ruhiger, beobachtete die Männer aber dennoch mit brennendem Blick. „Wenn sie könnte, würde sie uns umbringen“, sagte Jeff Bowie. Bill sprach die Frau im Hindu-Dialekt an, erzielte aber keine Reaktion. Entweder verstand sie ihn wirklich nicht, oder, was ebenso wahrscheinlich war, sie dachte nicht daran, mit den Fremden zu reden.
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Schließlich hatten andere Negritos am Tag zuvor kompromißlos angegriffen. „Was wird nun?“ fragte Higgy. „Wir lassen sie laufen“, meinte der Stückmeister. „Damit sie uns die ganze Bande auf den Hals hetzt?“ „So schlimm wird es schon nicht werden. Außerdem glaube ich nicht, daß sie zu ihrem Stamm zurückkehrt. Die Eingeborenen wollen ihren Tod, sonst hätten sie sie nicht hier angebunden.“ „Du meinst, Mister Conroy, wir haben die Verantwortung für sie übernommen?“ „Ungefähr so.“ Der Stückmeister nickte. Er umfaßte das Kinn der Frau mit einer Hand und zwang sie, ihn anzusehen. Am liebsten hätte sie ihm die Augen ausgekratzt, aber sie konnte nicht, weil Bill sie festhielt. „Mein Name ist Al“, sagte der Stückmeister langsam und betont auf englisch. „Al Conroy.“ Dabei schlug er sich mit der flachen Hand an die Brust. Die Frau legte den Kopf schief und schien zu lauschen. „Wir wollen dir nichts Böses tun.“ Sie starrte ihn durchdringend an, und sein Lächeln schien sie zu irritieren. „Laß sie los, Bill!“ verlangte Al. „Aber ...“ „Wie soll sie sonst Vertrauen gewinnen?“ Bill war alles gefaßt, doch die dunkelhäutige Schönheit hatte erkannt, daß die Männer nichts Böses planten. Zögernd hob sie die Arme, strich über die Handgelenke, die Striemen von den Fesseln erkennen ließen, und betrachtete die zerschnittenen Stricke. Als sie den Blick wieder hob, wirkte sie ein wenig versöhnlicher. Was sie sagte, klang wie „Jahuma“. „Dein Name?“ fragte Bill. „Name“, erwiderte die Frau. Sie zuckte zusammen, als Mac Pellew, der sich zwischen den anderen nach vorn gezwängt hatte, ihre Wunden berührte, aber sie ließ ihn gewähren. „Du Schamane?“ fragte sie, zur Überraschung aller zwar in einem miserablen Englisch, aber immerhin verständlich.
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„He!“ rief Grey erstaunt aus. „Wieso kann sie das?“ „Frag sie, nicht mich“, erwiderte der Zweitkoch. „Ich bin schließlich kein Hellseher. Vielleicht weiß Donegal Bescheid.“ Aber Old O'Flynn war nicht da. „Das sieht ihm ähnlich“, sagte Mac Pellew. „Um Knochenkerle schlägt er einen weiten Bogen.“ Daß dem nicht so war, bemerkten sie ziemlich schnell. Old Donegal war schlicht und einfach verschwunden. Auch auf verhaltene Rufe der Gefährten reagierte er nicht. „Nie und nimmer ist er allein weitergegangen“, sagte Don Juan. „Das wäre nicht seine Art. Andererseits kann er sich auch nicht einfach in Luft aufgelöst haben.“ Die schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich, als Blacky und Jan Ranse Schleifspuren fanden. Von da an stand fest, daß die Negritos den Admiral überwältigt hatten. Die Frage nur, warum allein ihn und nicht alle. Die Gelegenheit wäre günstig gewesen. Kaum einer der Seewölfe hatte zuletzt noch auf die Umgebung geachtet. Ihnen war klar, daß sie einen sträflichen Leichtsinn begangen hatten. Alle waren sich einig, daß sie Old Donegal befreien würden. Sie konnten nur hoffen, daß ihn die Negritos lange genug am Leben ließen. * Er hatte geahnt, daß ihn die Vergangenheit irgendwann einholen würde. Aber er hatte den Gedanken daran immer weit von sich geschoben. Nun war es doch geschehen. Die Späher sprachen von einem alten Mann mit nur einem Bein. Sein Gesicht erinnerte an einen knorrigen, verwitterten Baum, und sein Haar sollte so weiß sein wie das des weißen Gottes. James Retieff, der Zahlmeister der „Proud of Nottingham“ hatte bei einem Gefecht sein rechtes Bein verloren, und es war ihm durch eine Prothese ersetzt worden. Helles
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Haar hatte er schon immer gehabt, und daß er mittlerweile verwittert aussah, war nicht weiter verwunderlich. „Bringt ihn mir! Ich will den Dämon mit eigenen Augen sehen und ihn in die Knie zwingen.“ Die Negritos gehorchten dem Willen ihres weißen Gottes, in dessen Augen plötzlich wieder jenes verheerende Feuer loderte, das seit vielen Monden erloschen gewesen war. Der weiße Gott hantierte mit den Feuerstöcken, die Flammen und Rauch verschleuderten und bewaffnete Männer ebenso schnell töteten wie leichtfüßiges Wild. Begierig darauf, das Geheimnis des Zaubers zu erfahren, beobachteten die Eingeborenen, wie ihr Gott jenen unersetzlichen Staub, den er wie seinen Augapfel hütete, in die Öffnung des Stockes schüttete und mit einem langen Stab nachstieß. Er lachte, richtete den seltsam geformten Stock auf einen nahen Baum und vollführte einen Freudentanz, als das Ding an seiner Schulter krachend Feuer spuckte und einer der Äste des Baumes wie von Geisterhand abgebrochen zu Boden fiel. Ehrfürchtig warfen sich die Negritos auf die Erde. Ihr Gott war ein mächtiger Zauberer, der sie vor allen Dämonen beschützte. 7. Old Donegal Daniel O'Flynn fühlte sich so unbehaglich wie lange nicht mehr. Ein eigenartiges Kribbeln mahlte von seinem Nacken bis unter 's Schulterblätter aus. Obwohl die Hitze unverändert drückend war, fröstelte er. Die Toten schienen ihn anzustarren. Selbst die Schädel, die nicht mehr auf den angestammten Schultern saßen, sondern ins Moos gerollt waren, grinsten ihn aus ihren leeren Augenhöhlen an. Old Donegal ertrug den Anblick nicht lange. Er dachte an Dan, an die Zwillinge und den Seewolf. Wenn sie nicht mit der Schebecke auf dem Grund der See lagen,
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würden ihre sterblichen Überreste vielleicht eines Tages irgendwo angeschwemmt werden und schon nach kurzer Zeit ebenso bis auf die Knochen zerfallen. Sein Rückzug artete beinahe schon zur Flucht aus. Und das war zumindest zum Teil eine Flucht vor sich selbst. Er nannte sich einen verdammten alten Idioten, der eigentlich wissen sollte, daß von Toten keine Gefahr drohte. War da ein Rascheln im Unterholz? Blitzschnell wirbelte er herum, doch er mußte sich getäuscht haben. Eine Verwünschung auf den Lippen, schlug er nach den Ameisen, die von seiner Prothese Besitz ergriffen. Gleichzeitig nahm er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahr. Bevor er jedoch reagierte, sprangen mehrere Negritos auf ihn zu. Er fand nicht mal mehr Zeit zu einem warnenden Aufschrei. Etwas Hartes krachte gegen seinen Hinterkopf und raubte ihm die Sinne. Er spürte nicht mehr, daß er schwer aufschlug und die Ameisen sofort über ihn herfielen. * Heiß brannte die Sonne aus dem Zenit. Der Wind brachte kaum Linderung, und die sanfte Dünung wirkte einschläfernd. Mit aller Kraft sträubte sich Old Donegal dagegen, erneut in eine Traumwelt zu versinken, in der es von Skeletten und Kannibalen wimmelte und ihn riesige Wellen in lichtlose Tiefen zerren wollten. Ein Hornissenscharm summte in seinem Kopf, und irgendwo im Nacken pochte und hämmerte es wie wild. Vergeblich versuchte er sich zu be- wegen. Er war gefesselt. Überhaupt war das stete Auf und Ab nicht der Meeresdünung zuzuschreiben - als er endlich die Augen aufschlug, sah er Gras unter sich -, sondern dem unregelmäßigen Gang der Negritos, die ihn als Gefangenen mit sich schleppten. Sie hatten ihn auf zwei starke Äste gebunden, und hasteten im Laufschritt über hügeliges Gelände.
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Die Erkenntnis, daß er seine Gefangennahme der eigenen Dummheit verdankte, ließ ihn gequält stöhnen. Aber keiner der Eingeborenen achtete darauf. Die Versuchung, einfach loszubrüllen, war groß. Doch Old Donegal wußte nicht, wie weit er inzwischen von den Gefährten getrennt war. Wahrscheinlich schadete er sich nur selbst, wenn er zu schreien begann. Immerhin hatte er eine Gnadenfrist erhalten. Die Negritos hätten ihn sofort töten können. Da sie es nicht getan hatten, folgerte er, daß sie mehr mit ihm vorhatten. Ihm blieb Zeit, Fluchtpläne zu schmieden, vorausgesetzt, die Gefährten befreiten ihn nicht schon bald. Oder -diese Überlegung ließ ihn erschaudern – hatten die Negritos auch die anderen gefangen? Er versuchte, mehr zu erkennen als nur den Boden unter sich, aber den Kopf zu heben, fiel ihm unsagbar schwer. Nach einer Weile gab er seine vergeblichen Versuche auf. Die Schatten fielen fast lotrecht. Dadurch wurde es ihm unmöglich, die Richtung zu bestimmen, in die ihn die Wilden verschleppten. Er entsann sich, daß während der Nacht im Norden Feuerschein zu erkennen gewesen war. Wahrscheinlich lag dort das Dorf der Negritos. Die Eingeborenen erreichten die Quelle mit dem kleinen Teich. Sie legten ihn auf den steinigen Boden, tranken selbst ausgiebig, gaben ihm jedoch keinen Tropfen ab. Zwei von ihnen verschwanden vorübergehend. Offenbar überzeugten sie sich davon, daß sie nicht verfolgt wurden. Mehr als das hatte Old Donegal gar nicht wissen wollen. Don Juan und die anderen würden ihn finden. Nach einer Weile ging es weiter. Ungefähr nach einer halben Stunde war das Dorf erreicht. Gut zwanzig aus Lehm und Bambus errichtete Hütten standen kreisförmig um einen Versammlungsplatz. Old O'Flynn sah aber nur wenige Männer und Frauen, die schnell aus seiner Nähe zurückwichen.
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Ihre Gesichter wirkten ausdruckslos und maskenhaft starr. Die vier Kerle, die ihn getragen hatten, ließen ihn einfach fallen. Für einen Moment war er wie benommen. Staub drang ihm in die Atemwege und reizte zum Husten. Er versuchte, sich aufzurichten, schaffte es aber nicht. Seine Fesseln wurden gelöst. Schmerzhaft tobte das angestaute Blut durch die Gelenke, die Pflanzenstricke hatten tief ins Fleisch eingeschnitten. Kräftige Fäuste stellten ihn auf die Beine. Was er sah, ließ den Admiral der Arwenacks an seinem Verstand zweifeln. Er blinzelte, wischte sich über die Augen und blinzelte wieder. Doch das Bild blieb. „Komm näher, James Retieff!“ sagte der weißhaarige und weißbärge Mann, der in einem hochlehnigen, geflochtenen Stuhl saß, etwas vornübergebeugt, als müsse er sich jeden Moment gegen einen Angriff verteidigen. Old Donegal blieb wie angewurzelt stehen. Der Mann hatte englisch gesprochen, und er war, obwohl die Sonne seine Haut verbrannt hatte und dunkel wirken ließ, offensichtlich ein Weißer. Die Wilden näherten sich ihm in demütiger Haltung. Ihm selbst brachten sie weitaus weniger Respekt entgegen. Als er der Aufforderung nicht sofort folgte, stießen sie ihn mit ihren Bambusspeeren, die im Feuer gehärtet waren oder sogar geschliffene Steinspitzen trugen, vorwärts. Für einen Moment war Old Donegal der wahnwitzigen Hoffnung erlegen, sein Gegenüber könnte ihn als Landsmann erkennen und alle Feindseligkeiten mit einem einzigen Wort wegwischen. Aber dem war nicht so. Er brüllte die Wilden an, die daraufhin noch härter zupackten und ihn auf die Knie zwangen. „Du bist Engländer?“ fragte Old Donegal, bemüht, das Vibrieren seiner Stimme zu verbergen. Der Mann musterte ihn unverwandt. Eine steile Falte hatte sich über seiner Nasenwurzel gebildet. Das Flackern in seinen Augen wußte sich Old Donegal im
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Moment noch nicht zu erklären, aber es beunruhigte ihn. „Wir sind Schiffbrüchige“, sagte er. „Ist es zuviel verlangt, um Hilfe zu bitten, bis ein anderes Schiff uns aufnimmt?“ Der Weißbart, wie ihn Old Donegal bei sich nannte, war undefinierbaren Alters, hatte seine besten Jahre mit Sicherheit aber schon überschritten. Der weiße, auf höchstens einen Inch Länge gestutzte Vollbart ließ nur Nase und Augen frei. Der Mund war nicht viel mehr als ein schmaler Strich, der den herrischen, unbeugsamen Ausdruck noch unterstrich. Old Donegal war der Mann auf Anhieb unsympathisch. Hinter ihm waren zwei Bambusstangen in den Boden gerammt, zwischen denen eine zerschlissene englische Fahne flatterte. „Gott beschütze Königin Elisabeth“, sagte Old Donegal. Der Weißhaarige spie aus. „Du hast dich nicht verändert, Retieff. Aber England ist weit, und seine Gesetze gelten auf dieser Insel nicht.“ „Ich bin nicht Retieff, Sir“, sagte Donegal. „Wer immer das sein mag, Sie verwechseln mich. Mein Name ist O'Flynn, Donegal Daniel O'Flynn.“ Ein knapper Wink, und einer der Wilden schlug mit dem Speerschaft zu. Donegal biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. Den Triumph gönnte er seinem Gegenüber nicht. Der Mann war besessen. „Ich kenne keinen James Retieff. Und Sie, Mister, haben sich mir auch noch nicht vorgestellt.“ Hatte Don Juan nicht die Initialen J.R. erwähnt? Sie waren auf dem Deckel der angeschwemmten Kiste eingeritzt gewesen. „Ich hin Jonathan William Elias O'Connor, Decksmann auf der ,Proud of Nottingham'. Erinnerst du dich wieder? Du warst immer ein Schinder, Retieff. Deswegen ist alles geschehen.“ O'Connor zog eine doppelläufige Pistole unter seinem Hemd hervor und zielte auf Old Donegal. Er grinste herausfordernd. „Ich habe gewußt, daß du kommen würdest. Seit dem Augenblick, als der
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Sturm dich über Bord geweht hat, wußte ich es. Meine Insel war friedlich ohne dich – und sie wird friedlich bleiben.“ Der Zeigefinger krümmte sich um den Abzug der Pistole. Der peitschende Knall erschreckte jedoch nur die Eingeborenen. Old Donegal kniete wie erstarrt nur etwa sieben Schritte vor O'Connor. Selbst als die Kugel unmittelbar vor ihm in den Boden schlug, unterdrückte er den Reflex, sich auf den Weißbärtigen zu werfen. Er wußte, daß er es nicht schaffen würde, ihn zu überwältigen. O'Connor lachte schrill. „Fürchtest du die zweite Kugel? Was ist? Mach ein Ende! Greif mich an!“ „Ich bin nicht James Retieff“, wiederholte Old Donegal. „Ganz egal, wer dieser Mann war und wer Sie sein mögen, es interessiert mich nicht. Ich suche nur nach einer Möglichkeit, diese verdammte Insel wieder zu verlassen.“ „Weißt du, daß die Negritos dich und deine Gefährten für Dämonen halten? Und weißt du auch, was sie liebend gern mit Dämonen tun?“ Old Donegal konnte es sich denken. Die eisige Kälte in O'Connors Stimme ließ ihn erschauern. Der Weißbart rief den Wilden einige Befehle zu. Sie fesselten ihn daraufhin erneut und banden ihn an zwei Pflöcke, die sie unter der Fahne Englands in den Boden trieben. Außerdem stellten sie Wachen auf. Allmählich belebte sich der Platz zwischen den Hütten. Immer mehr Frauen und Kinder erschienen und begafften ihn wie ein seltenes Tier. Drohend schwangen sie die Fäuste und spuckten in seine Richtung aus. Die Kinder trugen Brennholz zusammen und schichteten es zu einem Scheiterhaufen auf, die erwachsenen Männer platzierten vor den Behausungen furchterregende Skulpturen. Diese Figuren waren aus Holz geschnitzt und mit grellen Farben bemalt. Allem Anschein nach stellten sie die Götter der Negritos dar. Ein Volk, das solche Götter hat, muß tatsächlich Kannibalismus treiben, dachte Old Donegal.
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Allmählich begann er sich zu fragen, wo die Freunde blieben. Hatten sie seine Spur verloren? Die Sonne sank mit Riesenschritten der Nacht entgegen. Irgendwann erschien O'Connor vor ihm. „Gefällt dir das Schauspiel?“ fragte er mit vor Hohn triefender Stimme. „Die Negritos bereiten deine Opferung vor. Es wird nicht angenehm für dich werden, aber danach bin ich endlich frei von diesen Alpträumen, die mich verfolgen, seit ich auf der ,Proud of Nottingham' angeheuert habe. Du warst der letzte, Retieff. Du und das Schiff. Ich werde euch für immer auslöschen.“ Er versetzte dem Wehrlosen einen heftigen Fußtritt in die Seite und ging weiter. Dabei lachte er so Schrill, wie nur ein Verrückter lachen konnte. Old Donegal begann sich ernsthaft zu fragen, ob er den Jahreswechsel noch erleben würde. 8. Ob Jahuma dem Zwang der Notwendigkeit folgte oder tatsächlich ihre Scheu ablegte, blieb dahingestellt. Jedenfalls faßte sie Zutrauen zu den Arwenacks. Sie verstand, daß einer der ihren verschwunden war. „Dämon“, sagte sie immer wieder. „Dämon.“ Die Verständigung war schwierig, und die Ameisen konnten zum Wahnsinn treiben. Sie verließen schließlich nahezu fluchtartig den von den Insekten kahlgefressenen Bereich. Jahuma fand Früchte, die die Arwenacks schon ihres Aussehens wegen nicht zu essen gewagt hätten. Das Fruchtfleisch war wohlschmeckend und enthielt ausreichend Flüssigkeit. „Das ist alles gut und schön“, sagte Don Juan, „aber es bringt uns Old Donegal nicht zurück. Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.“ Die Frau verstand kein Indisch. Und von der englischen Sprache nur wenige Brocken, mit denen wenig anzufangen war. Schließlich versuchte es Mac Pellew mit Zeichensprache. Er kratzte elf
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Strichmännchen in den Boden und malte ein Schiff dazu. Jahuma blickte ihn aus weit aufgerissenen Augen überrascht an. „Gott?“ fragte sie und deutete auf das Schiff. „Weißer Gott?“ Keiner von den Arwenacks wußte momentan, was er darauf erwidern sollte. „Was soll's“, sagte Mac Pellew schließlich. „Wenn wir verneinen, hält sie uns wieder für Dämonen, und das hilft uns bestimmt nicht weiter.“ Jahuma wischte schließlich eins der elf Männchen weg, malte es an anderer Stelle neu und durchbohrte es mit einem dünnen Ast. „Das ist Donegal“, platzte Bill heraus. „Sie meinst, daß er sterben wird.“ Die Frau skizzierte andere Figuren drumherum, die wohl ihr Dorf darstellen sollten. Auf seine zeichnerische Frage nach der Tageszeit erhielt der Koch als Antwort die Sichel des zunehmenden Mondes. „Während der Nacht also“, murmelte Don Juan. „Dann bleibt uns noch Zeit. Frage Jahuma, ob sie uns zu ihrem Dorf führen wird.“ Nachdem sie verstanden hatte, was die Arwenacks von ihr verlangten, weigerte sich die Frau. Es war offensichtlich, daß sie Angst hatte. „Sie soll uns wenigstens die Richtung zeigen.“ Der Tag ging mit Riesenschritten zu Ende. Die Sonne stand noch eine Handbreit über dem Horizont, als die Seewölfe endlich wußten, wo das Dorf der Eingeborenen lag. Wenn sie die Entfernungsangaben richtig deuteten, waren rund vier Meilen zurückzulegen. Jahuma weigerte sich noch immer, sie zu begleiten. Sie gab zu verstehen, daß die Insel groß genug sei. Sie wollte sich verstecken und abwarten, was geschah. * Die Nacht holte die Seewölfe schneller ein, als sie angenommen hatten. Zu dem Zeitpunkt, als sich die Dunkelheit
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herabsenkte, hatten sie erst die Hälfte des Weges hinter sich gebracht. Für eine Weile sahen sie kaum noch die Hand vor Augen. Aber endlich schob sich der Mond über die Kimm herauf, und mit ihm funkelte ein Heer von Sternen am östlichen Firmament. Im Westen stand plötzlich heller Feuerschein. Innerhalb kürzester Zeit färbte die Glut den Himmel blutig rot. Anfangs fürchteten die Arwenacks, daß der Wald brannte, doch nach einer Weile erkannten sie, daß sich das Feuer nicht ausbreitete. „Das ist das Wrack“, behauptete Al Conroy. „Jemand hat es in Brand gesteckt. Vielleicht, um uns ein Zeichen zu geben.“ „Hasard?“ fragte Piet Straaten irritiert. „Das glaube ich nicht. Er steckt kein Schiff in Brand, das wir noch abwracken könnten.“ „Es sei denn“, sagte Grey gedehnt, „er hätte ein anderes Schiff aufgetrieben.“ „Das einfachste Mittel, auf sich aufmerksam zu machen, sind Salutschüsse“, erklärte Don Juan. „Ich habe nichts gehört.“ „Keiner hat etwas gehört“, bestätigte Blacky. „Und das Wrack können wir auch abschreiben. Ich frage mich, was als nächstes geschieht, mit dem wir nicht gerechnet haben.“ Seine Befürchtungen erwiesen sich als unnötig. Sie erreichten das Dorf der Negritos ohne Zwischenfälle. Trommelklang wies ihnen auf der letzten Meile den Weg. Das Dorf lag tatsächlich da, wo sie während der vergangenen Nacht von der Höhle aus den Feuerschein gesehen hatten. Don Juan bestand darauf, daß er sich zunächst allein anschlich, um die Lage zu peilen, während die anderen in sicherer Entfernung abwarteten. Er setzte sich gegen den Protest der Gefährten durch. Die Negritos rechneten offenbar nicht mit einem Überfall. Sie feierten. Eine andere Erklärung für das, was er sah, hatte Don Juan nicht. Zwei kleine Feuer brannten. Im flackernden Schein tanzten Tiermasken
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tragende Männer in ekstatischen Verrenkungen. Die Trommeln und ein Singsang der Zuschauer spornten sie zu halsbrecherischen Kunststücken an. Don Juan zählte etwas mehr als hundert Männer und Frauen. Es würde nicht leicht werden, Donegal aus ihrer Mitte zu befreien. Er hätte in der Situation viel für einige Flaschenbomben oder wenigstens einen chinesischen Brandsatz gegeben. Immerhin lebte der Admiral noch, und es sah nicht so aus, als hätten ihn die Wilden mißhandelt, abgesehen davon, daß sie ihm die Plünnen ausgezogen und seinen Körper mit unverständlichen Symbolen in verschiedenen Farben bemalt hatten. Zur Zeit befand er sich noch am Rand des Geschehens. Die übermannshohe hölzerne Skulptur, an die er gefesselt war, schien ihn mit einem halben Dutzend Armen festzuhalten. Juan hatte genug gesehen und hastete zu den ungeduldig wartenden Gefährten zurück. Es hatte wenig Sinn, einen großartigen Plan auszuarbeiten, die Arwenacks mußten zuschlagen, wie sich ihnen die Situation gerade darbot. Mit dem Überraschungsmoment auf ihrer Seite würde es gelingen, den Admiral zu befreien. Die Frage war nur, ob sie schnell genug in der Dunkelheit untertauchen konnten. Don Juan und die anderen erreichten gerade noch rechtzeitig die ersten Hütten, daß sie den Auftritt des weißen Gottes miterlebten. Bis dahin hatten sie keine Ahnung davon, daß sie nicht die einzigen Europäer auf der Insel waren. Als der Mann aus der Hütte hinter Old Donegal ins Freie trat und befehlend die Arme ausbreitete, herrschte sofort Grabesstille. Nur das Knistern der Feuer war noch zu vernehmen. Al Conroy stieß den Spanier an und deutete auf die englische Flagge, die außerhalb des Lichtkreises gehißt war. Aber auch ohne diese Entdeckung wäre ihnen klar gewesen, daß sie einen englischen Seemann vor sich hatten. Der Bärtige trug weiße, um seine Beine schlotternde Hosen, die sicherlich für einen
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Mann von größerer Statur genäht worden waren, dazu den typischen roten Waffenrock eines Seesoldaten mit überkreuztem Bandelier und einen dunklen Filzhut. Bei den Wilden rief seine Erscheinung den nötigen Respekt hervor, auf die Arwenacks wirkte er jedoch mehr wie die Karikatur eines Seeoffiziers. Daran änderte auch die Bootsmannspfeife nichts, der er. schrille Töne entlockte. Er stolzierte an den zu Boden sinkenden Negritos vorbei wie ein Gockel bei der Balz. „Der gehört zur Crew der Zweimastgaleone“, flüsterte Al Conroy. „Ich frage mich nur, was er beweisen will, indem er Old Donegal opfern läßt.“ Der Mann warf etwas ins Feuer, woraufhin die Flammen vorübergehend heller aufloderten. Es zischte und prasselte. „Pulver“, murmelte Don Juan. „Das ist genau das, was wir brauchen.“ „Wahrscheinlich besitzt er auch Waffen. Ein paar Musketen und Pistolen für uns und wir sind vorerst unsere drückendsten Probleme los.“ Sie mußten sich wieder auf das Geschehen konzentrieren. Zwei kräftige Negritos zerrten Old Donegal samt der schrecklichen Statue ins Rund. Ein anderer brachte einen lebenden Hühnervogel, dem er mit einer blitzschnellen Bewegung den Hals umdrehte. Das leblose Tier landete vor Old O'Flynns Füßen. „Es geht los“, sagte Don Juan halblaut. „Wir dürfen nicht länger warten.“ Die Negritos konnten ihn nicht hören, denn sie begannen erneut zu trommeln. Der dumpfe Klang ging durch und durch. Einer der Wilden trat vor Old Donegal hin. Abschätzend wog er einen Speer in der Rechten. Die Waffe würde den Admiral durchbohren. Aber Bob Grey war schneller. Zwei Messer schleuderte er, beide bohrten sich bis zum Heft in den Rücken des Speerträgers. Die Entfernung betrug gerade zwanzig Schritte. Der Negrito schwankte, sein Arm wurde schwer, die Waffe fiel zu Boden. Ohne
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einen Laut von sich zu geben, brach er zusammen. Die Menge heulte auf. Für die abergläubischen Wilden mußte das Geschehen geradezu unheimlich sein. Vermutlich glaubten sie, ihr Gefangener hätte den Mann getötet. Der Engländer bückte sich über den Toten und drehte ihn auf den Bauch. Als er die beiden Messer entdeckte, stürmten die Arwenacks los. Die Negritos brauchten einige Augenblicke, um ihrer Verwirrung Herr zu werden. Dann jedoch stellten sie sich den Angreifern entschlossen entgegen. Zu dem Zeitpunkt waren aber schon einige von ihnen unter den Hieben der Seewölfe zu Boden gegangen. Falsche Rücksichtnahme war fehl am Platz. Don Juans Männer griffen mit allem an, was sie hatten, auch wenn das nicht eben viel war. Al Conroy schwang einen Bambusspeer wie eine Spillspake. Mal rechts, mal links, schlug er zu und bahnte sich seinen Weg durch das dichter werdende Gewühl. Die Arwenacks gingen voll zur Sache, aber es fehlten eben doch ein Edwin Carberry und ein Big Old Shane. Al war plötzlich hoffnungslos eingekeilt zwischen dunkelhäutigen Leibern. Die Kerle zerrten ihm den Speer aus den Händen. Das Gefühl drängte sich auf, in die Fänge einer vielarmigen Medusa geraten zu sein. Blindlings drosch der Stückmeister um sich. Aber wenn er einen grell bemalten Wilden zu Boden streckte, schienen zwei andere seinen Platz einzunehmen. Wie Kletten hängten sie sich an seine Arme und an die Schultern und versuchten, ihn zu Fall zu bringen. „Ar-we-nack!“ erklang der Schlachtruf der Seewölfe. „Ar-we-nack!“ brüllte Al Conroy zurück. Piet Straaten und Jan Ranse, die beiden Niederländer, kämpften Rücken an Rücken. Ihre Fäuste bewiesen die Präzision von Schmiedehämmern, doch die Negritos waren flink und lernten schnell, unter den Schlägen wegzutauchen.
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Straaten benutzte einen der Kerle als lebenden Rammbock. Ungeachtet aller Gegenwehr stemmte er ihn hoch und warf ihn in die Menge. Fünf, sechs Angreifer wurden von den Beinen gerissen und verstrickten sich hoffnungslos ineinander. Die anderen, die nachdrängten und dabei behindert wurden, heulten wütend auf. Einer wollte den Rudergänger aufspießen, doch Piet wich dem Speer aus und zog ruckartig und mit aller Kraft an. Der Negrito wurde nach vorn gezerrt. Den eisenharten Fäusten des Arwenacks hatte er nichts entgegenzusetzen. Während die Seewölfe die Eingeborenen ablenkten, umrundete Mac Pellew das Dorf und drang von der entgegengesetzten Seite her vor. Ungehindert erreichte er die Hütten, doch dann stand plötzlich eine Frau vor ihm, die über das Zusammentreffen mindestens ebenso überrascht war wie er selbst. Ihren gellenden Aufschrei erstickte er noch im Ansatz, indem er ihr die Hand auf den Mund preßte. Die andere Hand brauchte er, um die sich sträubende Wildkatze davon abzuhalten, ihm an die Kehle zu gehen. Dann biß sie zu. Mac schmetterte ihr dafür die Faust an die Schläfe. Er hatte härter zugeschlagen als nötig und fing den schlaffen in sich zusammensackenden Körper auf. Immerhin war sie eine Frau, und Frauen begegnete er für gewöhnlich zuvorkommender. Sanft ließ er sie ins Moos gleiten und huschte weiter, hinein in den flackernden Lichtkreis der beiden Feuer. Noch achtete niemand auf ihn. Die Arwenacks hatten einen schweren Stand, aber wegen des dichten Getümmels konnten die Negritos weder ihre Speere noch die Steinschleudern richtig einsetzen, die einige von ihnen trugen. Mac Pellew hastete weiter. Er zog das Messer aus dem Gürtel, um Old Donegal loszuschneiden. Alles mußte blitzschnell gehen. Der wie ein Pfau aufgeputzte Kerl neben dem Admiral, der sich nicht an dem allgemeinen Kampf beteiligte, schien der Medizinmann des Stammes zu sein. Selbst jetzt hatte er noch Zeit für ein Ritual. Kurz reckte er die Arme in die
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Höhe, trat vor Old Donegal hin und legte ihm beide Hände um den Hals. Er wollte den Wehrlosen erwürgen. Zehn Schritte trennten Mac Pellew noch von dem Geschehen. Er sah, daß Old Donegal verzweifelt den Kopf zur Seite warf und den Medizinmann anspuckte. Im selben Moment sah O'Connor den heranstürmenden Mac Pellew und legte hämisch lachend eine doppelläufige Pistole auf ihn an. Mac ließ sich fallen und wälzte sich herum. Ein Schuß peitschte. Er spürte, daß die Kugel siedendheiß an seinem Gesicht vorbeifuhr. O'Connor fluchte unbeherrscht. Als er zum zweitenmal abdrückte, schleuderte Mac aus dem Liegen heraus sein Messer. Natürlich konnte er damit keinen Blumentopf gewinnen, aber er erreichte immerhin, daß sein Gegner die Waffe verrriß. Die tödliche Bleikugel pfiff schräg in den Nachthimmel. O'Connor warf ihm die leergeschossene Pistole entgegen und wandte sich zur Flucht. „Schnapp ihn dir, Mac!“ Jeff Bowie hatte sich als erster bis zum Admiral durchgeschlagen. Mit seiner Hakenprothese an Stelle der linken Hand verstand er es, sich überall Platz zu verschaffen. Entsprechend nachdrücklich, das sah Mac noch, während er kurz zögerte, hinderte Jeff den Schamanen daran, Old Donegal weiter die Luft abzudrücken. Er schlug dem Wilden den Haken in die Schulter, zerrte ihn herum, und seine Rechte landete punktgenau unter dem Kinn des Mannes. Mehr kriegte Mac Pellew nicht mit. Erleichtert warf er sich herum und folgte O'Connor, der soeben in einer der Hütten verschwand. Eine gegerbte Tierhaut ersetzte die Tür. Mac konnte trotzdem nicht erkennen, was ihn erwartete. Womöglich lauerte der Engländer hinter der Wand. Er kannte solche Tricks – sie waren uralt. Außerdem gab es bessere. Mac postierte sich neben dem Eingang und riß das Leder blitzschnell zur Seite.
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Er hatte sich nicht getäuscht, was die Annahme betraf, daß ihm O'Connor auflauerte, wohl aber in der Wahl dessen Mittel. Ein Musketenschuß krachte. Mac konnte sich vorstellen, daß der Engländer auf die Mitte des Eingangs gezielt hatte. Mit ein bißchen weniger Vorsicht wäre er jetzt tot. Lautlos warf er sich ins Innere der Hütte, die rechteckig und gut acht Yards lang war. Eine kleine Öllampe brannte. Sie hing von einem Deckenbalken herab. Ihr ruhiger Schein reichte aber nicht aus, alles erkennen zu lassen. O'Connor stand am anderen Ende der Hütte. Dort gab es noch einen zweiten Zugang. Neben ihm lehnten mehrere Musketen an der Wand. Er hatte die leergeschossene achtlos zur Seite geworfen und brachte soeben die nächste in Anschlag. Mac Pellew tauchte gerade noch rechtzeitig hinter einem Stapel Kisten ab, die zweifellos von der „Proud of Nottingham“ stammten. Der Schuß klatschte über ihm ins Holz. O'Connor lachte schrill. „Du sitzt in der Falle !“ schrie er. „Wie ein Karnickel werde ich dich abschießen.“ Er hatte die Mittel, die Drohung auszuführen. Wenn Mac wenigstens noch sein Messer gehabt hätte. Aber mit bloßen Fäusten gegen mehrere Musketen und einen Verrückten anzugehen, war ziemlich aussichtslos. Vier Yards entfernt, auf der anderen Seite der Hütte und ein Stück weiter vorn, standen Fässer. Mac mußte alles auf eine Karte setzen. „Warum kämpfst du gegen deine Landsleute? Was hat dir England getan?“ Er schnellte aus der Deckung hervor und warf sich nach zwei weit ausgreifenden Schritten hinter die Fässer. Wieder krachte ein Schuß, gefolgt von dem schon vertrauten Geräusch, das entstand, als O'Connor die Muskete zur Seite warf und nach der nächsten griff. In dem Moment stand Blacky in der Tür. Blut rann ihm von der Stirn über die rechte
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Gesichtshälfte. Er sagte nichts, holte nur mit einem Bambusspeer zum Wurf aus und schleuderte ihn mit aller Kraft. O'Connor schrie schrill auf. Bevor ihn der Speer erreichte, floh er in die Nacht hinaus. „Danke“, sagte Mac. Blacky grinste breit. „Ich bin nur den Schüssen nachgegangen. Von dir wußte ich nichts.“ „Wir müssen auf der Hut sein“, sagte der Zweitkoch warnend. „Unser Freund hat die Muskete mitgenommen. Er findet sich mit einer Niederlage bestimmt nicht ab.“ Er nahm die beiden Steinschloßmusketen, die noch an der Wand lehnten, überzeugte sich davon, daß sie tatsächlich geladen waren, und warf Blacky eine zu. „Tut gut, endlich wieder so ein Feuerrohr in Händen zu halten. Die Segnungen der Zivilisation müssen sich schließlich irgendwie auszahlen.“ Wie ernst er den Ausspruch meinte, war nicht zu erkennen. Blacky hatte sich inzwischen in der Hütte umgesehen und zwei kleine Fäßchen entdeckt. Als er die Spundlöcher entkorkte, stellte er fest, daß beide Fäßchen tatsächlich Pulver enthielten. „Das genügt für ein standesgemäßes Feuerwerk“, sagte er. Der Kampflärm war noch nicht abgeebt. Blacky schwang ein Fäßchen auf die linke Schulter und nahm die Muskete schußbereit unter den rechten Arm. „Was ist mit dir?“ fragte er den Koch, der keine Anstalten traf, das gleiche zu tun. Mac deutete auf einige offene Kisten. „Da sind Lunten und Blei, und da drüben liegen ein paar Flaschen, Eine bessere Gelegenheit kriegen wir nicht.“ „Vergiß nicht, abzuhauen“, mahnte Blacky, bevor er nach draußen stürmte. Ein Negrito stellte sich ihm entgegen. Der Bursche hatte einen Dolch erbeutet und wußte offenbar genau, wie er mit der Klinge umzugehen hatte. Blacky blieb keine andere Wahl, als ihn niederzuschießen. „Arwenacks, Wahrschau!“ brüllte er aus Leibeskräften, während er mit Riesenschritten zu einem der Feuer stürmte. „In Deckung!“
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Er wuchtete das Pulverfaß von der Schulter und versetzte ihm einen Tritt, daß es in die Glut rollte. Zwei Angreifer schlug er mit dem Kolben der Muskete nieder, dann gab er Fersengeld. Hinter ihm explodierte das Pulver mit einem Donnerschlag. Die Druckwelle riß ihn von den Beinen, aber er fing den Sturz geschickt ab und rappelte sich sofort wieder auf. Ringsum regneten brennende Holzscheite, Glut und Asche nieder. Die Explosion hatte außerdem einen kleinen Krater in den Boden gerissen. Nicht einer der Negritos war mehr zu sehen. Sie waren vor dem Höllenspuk in den Wald geflüchtet. Nur Tote und Bewußtlose lagen noch zwischen den Hütten. „Ar-we-nack!“ brüllten die Seewölfe. Eilig sammelten sie die noch brauchbaren Waffen ein. Obwohl es Zeit war, sich zurückzuziehen, durchstöberten Bill, Higgy und Jan Ranse noch zwei der kleineren Hütten. Sie fanden mehrere Tonkrüge mit frischem Wasser, die sie triumphierend mitschleppten. 9. Mac Pellew hantierte hastig, ohne dabei jedoch unkonzentriert zu wirken. Er stellte vier von den leeren, bauchigen Flaschen nebeneinander und füllte sie mit Pulver und Bleischrot. Die Flaschen hatten wahrscheinlich Rum enthalten, jedoch war inzwischen jedes Aroma verflogen. Sorgfältig verkorkt und mit Lunten versehen, gaben sie prächtige Wurfgeschosse ab. Flüchtig suchte er nach weiteren Utensilien, fand aber nur das Logbuch. Zuerst wollte er es achtlos beiseite legen, dann interessierte ihn doch das Schicksal der „Proud of Nottingham“. Vor der Hütte war es inzwischen still geworden. Mac hörte nur noch die Arwenacks reden. Blacky stürmte herein. „Wie weit bist du? Wir brechen auf und gehen direkt zum Strand.“ Er nahm die
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zweite Muskete, einen Ladestock und das Pulverfäßchen an sich. Mac Pellew hängte sich zwei Kugelbeutel um – mehr fand er in der Eile nicht –, nahm die Öllampe vom Haken und klemmte sich das Logbuch unter den Arm. Für die vier Flaschenbomben hatte er danach nur noch die linke Hand frei. Derart bepackt, trat er ins Freie. „Du solltest dich sehen können“, sagte Jeff Bowie grinsend. „Das ist ein Bild für Götter. Klatsche jetzt bloß nicht in die Hände, sonst sprengst du dich selbst in die Luft.“ Mac Pellew. setzte prompt die bei ihm übliche sauertöpfische Miene auf. „Paß auf, daß ich dir die Dinger nicht mit glimmender Lunte auf die Füße fallen lasse“, entgegnete er, woraufhin sich Jeff anbot, behilflich zu sein. Die eine Muskete war noch geladen, bei der anderen holte Blacky dies nach. Anschließend brachen sie auf. Der Weg führte ziemlich genau nach Westen. Inzwischen war es egal geworden, wo sie die Küste erreichten. Der Feuerschein des brennenden Wracks war erloschen. Es gab nichts mehr, was sie für ihre Zwecke hätten verwenden können. In der sternenklaren Nacht gelangten sie gut voran. Andererseits hatten die Negritos keine Mühe, ihre Spuren zu finden. Der überfall erfolgte, als eigentlich schon keiner der Arwenacks mehr damit rechnete. Die Wilden griffen in offenem Gelände von zwei Seiten an. Sie hatten den Trupp irgendwann überholt und sich in dem halb mannshohen Gras verborgen. Piet Straaten, der gemeinsam mit Bill die Rückendeckung der Gruppe übernommen hatte, brach lautlos zusammen. Später stellte sich heraus, daß ihn der Stein aus einer Schleuder nur gestreift hatte. Andernfalls hätte er das neue Jahr wohl nicht mehr erlebt. Bill blieb instinktiv stehen. Hinterher vermochte er nicht zu sagen, ob er irgendein Geräusch vernommen oder bemerkt hatte, wie Piet umkippte.
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Jedenfalls entging er dadurch dem ihm zugedachten kantigen Stein. „Wahrschau!“ brüllte er, rannte los, sprang einen der beiden heimtückischen Schützen an und riß ihn mit sich zu Boden. Den auf ihn herabprasselnden Fäusten hatte der Negrito nichts entgegenzusetzen. Der Schrei hatte die anderen aufgeschreckt. Blacky riß die Muskete hoch und drückte ab. Ein Speerträger wurde wie von einer unsichtbaren Faust eines Riesen gestoppt, einen anderen streckte Don Juan nieder, der die zweite Muskete trug. „Zieht die Köpfe ein!“ schrie Mac Pellew. Er schleuderte die erste Flaschenbombe mitten hinein in die ins Stocken geratene Reihe der Angreifer. Die Wirkung war schlichtweg verheerend, wobei Glassplitter und Bleischrot, von denen zwei Negritos getötet und etliche verletzt wurden, vielleicht nicht mal so demoralisierend wirkten wie der Pulverblitz und der Donner der Explosion. Die zweite Flaschenbombe sorgte endgültig für Panik unter den Wilden, die nun blindlings davonstoben. Mitternacht war inzwischen vorüber. Keinem war es aufgefallen. Erst als das Rauschen der Brandung zu hören war, blieb Al Conroy plötzlich stehen. „Wir haben es geschafft“, sagte er. „Wenigstens vorerst. Das neue Jahr gibt Grund zur Hoffnung. Möge es dafür sorgen, daß wir die Freunde wiederfinden.“ „... oder sie uns“, fügte Don Juan hinzu. Old Donegal Daniel O'Flynn, dem die Erleichterung über das Eingreifen der Arwenacks noch anzusehen war, sagte: „Herr, führe meine Sache wider meine Widersacher, bekämpfe, die mich bekämpfen! Ergreife Schild und Waffen und mache dich auf, mir zu helfen! – So steht es in der Bibel, im fünfunddreißigsten Psalm. Ich glaube, Gott hat uns nicht verlassen.“ *
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Der Vormittag des 1. Januar 1600 brachte völlig überraschend schwere Regenwolken. Während eines kurzen, aber heftigen Gewitters öffnete der Himmel seine Schleusen, daß die Sicht kaum noch weiter als zwei Dutzend Schritte reichte. Danach zog Dunst auf. Die Nässe trocknete sehr schnell ab. Tosend schlug die Brandung gegen bewachsene Seilhänge. Die Arwenacks hatten das Meer drei bis vier Meilen südlich der Riffe erreicht, und hier bot sich die Küste völlig verändert dar. Steile Hänge und felsige Einschnitte bestimmten das Bild ebenso wie ein breiter Mangrovengürtel. Nach Süden schloß sich eine sanft geschwungene Bucht an. Der Sandstrand mit seinen teilweise bizarr gewachsenen Palmen, deren Stämme oftmals flach über den Sand ragten und erst in der zweiten Hälfte in die Höhe zeigten, gefiel den Seewölfen besser als das rauhe, zerklüftete oder sogar brüchige Gestein. Also richteten sie sich am Strand häuslich ein, trugen Holz für ein Signalfeuer zusammen und errichteten einen provisorischen Wall für den Fall eines erneuten Angriffs der Negritos. Die beiden letzten Flaschenbomben standen griffbereit, die Musketen und Don Juans Pistole waren neu geladen. Doch an diesem Tag blieb alles ruhig. Die Negritos schienen, nachdem sie sich blutige Köpfe geholt hatten, ihre Wunden zu pflegen. Jonathan William Elias O'Connor, ehemals Decksmann auf der „Proud of Nottingham“, ließ sich ebenfalls nicht blicken. Die Arwenacks hatten Zeit und Muße, das Logbuch der Zweimastgaleone zu studieren. Die ersten Seiten waren verdorben, weil jemand Tinte darüber ausgegossen hatte, einige andere Blätter fehlten. Sie waren herausgerissen worden. Die erste vollständig leserliche Eintragung datierte vom 17. September 1598: Nach acht endlos langen Sturmtagen scheint heute erstmals wieder die Sonne. Unsere Gebete haben wirklich geholfen –
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es sieht so aus, als wären wir noch, einmal davongekommen. Die Männer an den Lenzpumpen schuften wie die Besessenen. Trotzdem liegt das Schiff schwer im Wasser. Die Laderäume sind überflutet, aus der Bilge steigen Dreck und die Kadaver von Ratten hoch. Trotz aller Schäden sieht es nicht so aus, als sei die „Proud“ leckgeschlagen. Gott ist mit uns. Es folgten zwei Seiten Schadenaufstellung, die erkennen ließen, wie übel der Sturm dem Schiff und seiner Mannschaft mitgespielt hatte. Stehendes und laufendes Gut waren abgewrackt, der Vormast samt Rahen über Bord gegangen und in der tobenden See verschwunden. Reling und Lukenabdeckungen waren zerschlagen, eine der beiden Jollen spurlos verschwunden, und der größte Teil der Nahrungsmittel vom Salzwasser verdorben. 20. September. Unsere Position ist nach wie vor unbekannt. Offenbar wurden wir in eine Region verschlagen, von der uns keine brauchbaren Karten vorliegen. Unter halbem Tuch laufen wir Kurs Nordnordost. Eine endlose Wasserwüste umgibt uns. Land ist nicht in Sicht. Die Eintragungen wiederholten sich im Wortlaut. Kein Land. Aus den knappen Formulierungen sprach die beklemmende Atmosphäre an Bord der „Proud of Nottingham“. Das wenige noch nicht verdorbene Trinkwasser mußte streng rationiert werden. Zu essen gab es nur gesalzenen Fisch. Der Durst wurde in der Folge unerträglich. 30. September. Zwei Tote. Jeremia Wingrave und Hank Mills, beide Decksleute. Sie sind einfach eingeschlafen, ohne erkennbare Anzeichen einer Erkrankung. Sie erhielten ein ordentliches Seebegräbnis. Im Anschluß daran fehlten wieder zwei Blätter. Die nächste Eintragung datierte vom 13. Oktober 1598: Unsere Lage wird unerträglich. Die halbe Crew ist dienstunfähig. Zahlmeister Retieff
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übernimmt die Aufgabe des Kochs. Er ist ab sofort für die Rationierung verantwortlich. Zwei Tage später war eine Notiz erfolgt, die die Arwenacks aufmerken ließ. Decksmann Jonathan William Elias O'Connor wurde vom Zahlmeister beim Wasserdiebstahl ertappt. Wahrscheinlich ist O'Connor auch für die Fehlmengen der letzten Tage, die im Logbuch verzeichnet wurden, verantwortlich, obwohl er hartnäckig leugnet. Das Urteil wurde von Mister Retieff und meiner Person gesprochen und wird nach den üblichen Gepflogenheiten vollzogen. Ein ertappter Dieb wurde mit gebundenen Händen dreimal vom Bugspriet ins Wasser gestoßen. Danach ließ man ihn zwar vorerst am Leben, doch bei der nächsten Landberührung wurde er hinter einem Boot an Land gezogen und mit einem Stück Brot und einer Kanne Bier ausgesetzt. Häufig bedeutete diese Aussetzung den sicheren Tod. Die nächste Logbucheintragung war mit anderer, zittriger Handschrift erfolgt. Sie haben es tatsächlich gewagt, mich dreimal ins Wasser zu stoßen. Beinahe wäre ich dabei unter den Kiel geraten. Aber ich habe sie verflucht, diese Schinder, die selbst wie die Made im Speck leben, während andere krepieren. Dann zog der Sturm auf. Ich habe dafür gesorgt, daß Retieff über Bord ging. Ein Manntau ist gebrochen – er hat es nicht besser verdient. Das Schiff ist aufgelaufen. Fünf Überlebende, mit mir. Und die Jolle ist noch da. Wir schaffen Waffen an Land und was noch brauchbar ist. Am Abend sind die Wilden plötzlich da. Noch verhalten sie sich ruhig, aber keiner weiß, was sie von uns wollen. Wir holen ein Saker von Bord. Das ist eine unheimliche Plackerei, aber wir schaffen es. Danach fühlen wir uns am Strand wesentlich sicherer. Benson und Red gehen in der ersten Nacht Wache. Wir haben sie nie wiedergesehen. Da waren nur noch Blut und Spuren der
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Wilden. Henricks meint, sie seien Kannibalen. Heute weiß ich es besser, weiß, daß sie ihre Toten auf Scheiterhaufen verbrennen und die Knochen auf vier kleine Feuer in die vier Himmelsrichtungen verteilen. Doch ich will meine Erfahrungen der Reihe nach niederschreiben. Ich muß es tun, weil ich anfange zu vergessen. Manchmal ist mein Kopf so leer, dann wieder könnte ich schreien vor Schmerzen. Ich weiß nicht, was mit mir geschieht – ich wache nachts schweißgebadet auf und sehe sie überall: Retieff, den Kapitän und Henricks, den ich erschossen habe. Wie viele Tage sind seit der Strandung vergangen? Neunzig? Hundert? Ich weiß es nicht mehr genau, aber es ist auch unwichtig. Das Wrack hängt noch immer in den Klippen. Es hat die letzten Stürme heil überstanden. Ich frage mich, warum. Vielleicht ist Retieff doch nicht tot, wie ich glaubte. Vielleicht kehrt er eines Tages zurück, um Rache zu nehmen... Damals waren wir noch drei. Am dritten Tag starb Oldford an derselben mysteriösen Krankheit wie viele vor ihm. Wieder griffen die Wilden an. Wir wehrten uns mit allem, was wir hatten. Aber erst vor dem Saker zeigten sie Respekt. Blindlings feuerten wir in den Wald – einen Schuß nach dem anderen, bis die Kerle mit Geschenken anrückten. Es klingt unglaublich, aber sie behandelten uns wie Götter. Deshalb mußte ich Henricks erschießen. Auf einer so kleinen Insel kann es keine zwei Götter nebeneinander geben. Das Leben ist schön. Hier bin ich ein Gott. Wenn nur nicht die Angst wäre, daß Retieff zurückkehrt. Nach jedem Besuch auf dem Wrack werden meine Befürchtungen schlimmer. Hier wurde die Schrift völlig unleserlich. Immerhin hatten die Arwenacks genug erfahren, daß sie sich die Geschichte zusammenreimen konnten. Im Grunde genommen war O'Connor trotz seiner Macht über die Negritos einsam geblieben. Die Einsamkeit und seine Schuldgefühle hatten seinen Geist verwirrt.
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Auf der nächsten Seite wurde die Eintragung noch einmal deutlicher. Ich glaube, in England schreibt man inzwischen Sommer. Heute war ich zum letztenmal auf dem. Wrack –ich halte es nicht mehr aus. Retieff ist überall. Ich spüre seine Nähe. Die Jolle soll er nicht kriegen, ich verstecke sie. Westlich vom Dorf ist eine Bucht mit schrecklich krummen Palmen. Nicht dort, aber bei der felsigen Huk, südlich davon, zwischen den niedrigen Dünen und dem Gestrüpp... * Im Morgengrauen des zweiten Januar griffen die Negritos an. Sie nutzten den Nebel, der wie ein gieriger Moloch über der Küste hing, aber sie wurden rechtzeitig entdeckt und mit Hilfe der Flaschenbomben zurückgeschlagen. Während des ganzen Tages lauerten die Eingeborenen hinter den Palmen darauf, daß sich die Arwenacks eine Blöße gaben. Und irgendwo hinter der Huk lag eine Jolle verborgen, die vielleicht groß genug war, die elf Arwenacks von der Insel fortzubringen. Nur mußten sie, um die Huk zu erreichen, zwischen den Palmen hindurch. Das Trinkwasser wurde rationiert. Wenn die Männer sparsam damit umgingen, reichte es noch drei bis vier Tage. Am dritten Januar, mittags, stand O'Connor plötzlich da, eine Muskete im Anschlag. „Ich weiß, daß du mich hören kannst, Retieff!“ brüllte er über den Strand. „Komm her und kämpfe wie ein Mann! Oder fürchtest du dich vor einem Gott? Kämpfe, Retieff, ich fordere dich heraus!“ Donegal Daniel O'Flynn ließ ein unheilvolles Grollen vernehmen. „Den Großmaul schlage ich die Zähne ein“, schnaubte er und schickte sich an, den Schutz des provisorischen Walls zu verlassen. Wer ihn daran hindern wollte, empfing einen ziemlich schroffen Stoß zwischen die Rippen.
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„Ich bin waffenlos!“ rief er. „Tragen wir es mit den Fäusten aus, O'Connor?“ Langsam trat er hinter der Deckung hervor. Sein Gegner hatte die Muskete auf ihn angelegt. Aber er zitterte. „Der knallt dich ab, Donegal“, sagte Don Juan warnend. „Unsinn. In dem Zustand trifft er auf die Entfernung nicht mal ein Bramsegel.“ O'Connor drückte ab. Hell peitschte der Schuß über die Bucht und wurde in vielfachem Echo von den Steilhängen zurückgeworfen. Den Arwenacks stockte der Atem, als sich ihr Admiral an die Brust faßte und zu Boden stürzte. Aber schon im nächsten Moment rappelte er sich wieder hoch und ging entschlossen weiter den Strand hinauf. „Du kannst mich nicht töten, O'Connor!“ rief er. „Ich werde immer wieder aufstehen! Du wirst mich nicht los, du Mörder! Niemals!“ Ausgerechnet Old O'Flynn spielte einen Geist. Das konnte nicht gut gehen. Und das tat es auch nicht. O'Connor verlor jede Farbe. Er stammelte nur noch, faßte sich ans Herz und sank vornüber.
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Die Negritos standen wie erstarrt. Dann bemühten sie sich um ihren Gott und trugen ihn weg. Wenig später waren ihr Klagen und dumpfes Trommeln aus dem Wald zu vernehmen. An diesem Tag und am nächsten dröhnten die Trommeln unablässig. Sie verkündeten den Tod eines Gottes. Die Arwenacks blieben unbehelligt. Sie wechselten zu der Huk hinüber. Niedrige Dünen, dichtes, dorniges Gestrüpp und Unmengen von Strandhafer erwarteten sie. Außerdem einige spitz aufragende Felsen, die verfaulten Zähnen in einem Raubtierrachen glichen. Die Jolle war und blieb verschwunden. Erst als die Negritos wieder angriffen, entdeckte Bill zufällig ein Stück Holz, das aus einer Düne hervorlugte. Die Wilden waren diesmal nicht zu stoppen. Ungestüm und ohne Rücksicht auf das eigene Leben griffen sie an. Das letzte Pulver und die Kugeln reichten gerade solange, bis die Jolle freigelegt war. Schonung hatten die Arwenacks nicht zu erwarten...
ENDE