Lars Schmitt Bestellt und nicht abgeholt
Lars Schmitt
Bestellt und nicht abgeholt Soziale Ungleichheit und Habitus-S...
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Lars Schmitt Bestellt und nicht abgeholt
Lars Schmitt
Bestellt und nicht abgeholt Soziale Ungleichheit und Habitus-Struktur-Konflikte im Studium
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugleich Dissertation der Universität Marburg, 2009 Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17188-3
Vorbemerkung
Eine Untersuchung über Habitus-Struktur-Konflikte im Studium durchzuführen und zu dokumentieren, ist ein konfliktreicher Prozess und dies nicht nur, weil das Verfassen einer solchen Arbeit generell einige Entbehrungen mit sich bringt. Vielmehr werden in der Auseinandersetzung mit dem Thema sowohl eigene Erfahrungen mit dem Studium in unterschiedlichen Fachkulturen aktualisiert als auch die persönliche Zukunft im akademischen Feld nicht zuletzt unter dem Aspekt der Passung kultureller Muster zum Gegenstand gemacht. Dieser stellenweise konfliktträchtigen Seite stehen positive Aspekte gegenüber bzw. sind untrennbar mit ihr verbunden. Zum einen ist dadurch eine Art Hermeneutik in Gang gesetzt, in der die eigenen Erfahrungen und die wissenschaftlichen Beobachtungen sich wechselseitig beeinflussen und so ein tieferes Verständnis von Habitus-Struktur-Konflikten möglich wird, was in erster Linie die wissenschaftliche Explikation der Thematik befruchtet, in zweiter Linie aber auch den eigenen Habitus erweitert und neue Anknüpfungsmöglichkeiten eröffnet. Zum anderen darf ich selbst die Erfahrung machen, dass das Erleben von und der Umgang mit Habitus-Struktur-Konflikten – dies zeigt auch die Untersuchung – sehr stark durch den Kontakt zu anderen Menschen gerahmt sind. Deshalb möchte ich mich ganz herzlich bei meinen Betreuern Prof. Dr. Mathias Bös und Prof. Dr. Thorsten Bonacker für ihren freundschaftlichen Umgang und fachlichen Rat bedanken sowie bei den anderen Kolleginnen und Kollegen im Zentrum für Konfliktforschung und Institut für Soziologie der Universität Marburg. Eine wichtige Unterstützung, die in mehr als einem Bourdieu kundigen ‚Korrektiv’ bestand, habe ich über viele Jahre durch Prof. Dr. Beate Krais erhalten. Besonderer Dank gilt den Hauptdarstellern, den Studierenden, die mit ihren offenherzigen Auskünften über ihr Studium diese Untersuchung überhaupt erst möglich gemacht haben. Ebenso danke ich Günter Kohlhaas, dem leitenden Berater der Zentralen Allgemeinen Studienberatung, der mich nicht nur bei Studienberatungsgesprächen hospitieren hat lassen, sondern sich mit viel Verständnis auf mein Thema einließ. Wibke, Tina und Kathrin möchte ich für das kritische Korrekturlesen danken sowie Gunnar für die prolongierte Endredaktion. Ein herzliches Dankeschön geht an meine Freundinnen und Freunde sowie an meine Familie, die mir nicht nur einen liebevollen Rückhalt bieten, sondern auch über manch habituellen Schatten springen konnten.
Inhalt
Vorbemerkung .................................................................................................. 5 Einleitung .......................................................................................................... 9 Zur Methodologie und zum Aufbau der Untersuchung ................................ 13 1 Begegnungen von inneren und äußeren Strukturen .............................. 17 1.1
Die Sozioanalyse Pierre Bourdieus – Ein erkenntnissoziologischemanzipatorischer Zirkel ..................................................................... 17
1.1.1
Start: Erste Zirkelstation: Leibhaftige Akteure ............................ 18
1.1.2
Zweite Zirkelstation: Strukturen und Machtverhältnisse – der Sozialraum ................................................................................... 20
1.1.3
Dritte Zirkelstation: Innere Strukturen – der Habitus .................. 25
1.1.4
Vierte Zirkelstation: Direkte Umgebungsstrukturen – die Felder als Orte von Konkurrenzkämpfen ................................................ 30
1.1.5
Fünfte Zirkelstation: Die Erkenntnissoziologie – Wissenschaft jenseits von Objektivismus und Subjektivismus .......................... 34
1.1.6
Sechste Zirkelstation und Ziel / Start: Die Sozioanalyse als Emanzipationsgrundlage von leibhaftigen Akteuren ................... 37
1.2
Symbolische Gewalt und Habitus-Struktur-Konflikte ......................... 46
1.3
Zusammenfassung ............................................................................... 58
2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen ............. 63 2.1
Stand der Forschung ............................................................................ 63
8
Inhalt 2.2
Studium und soziale Herkunft – statistische Zusammenhänge ........... 70
2.3
Krisen und Probleme im Studium ....................................................... 97
2.4
Identitätskrisen von Arbeiterkindern an der Universität ................... 116
2.5
Von der Identität und der Sozialisation zum Habitus ........................ 129
2.6
Studium und Habitus-Struktur-Konflikte – zusammenfassende Bemerkungen .................................................................................... 139
3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen ............... 147 3.1
Zur Methodologie II – Methoden und Ablauf des empirischen Teils 147
3.2
Ergebnisse ......................................................................................... 155
3.2.1
Studienberatungsgespräche ........................................................ 155
3.2.2 Wochenbücher ........................................................................... 173 Geschichten der Einzelfälle ................................................................ 176 Die Geschichte der Kategorien ........................................................... 204 Dimensionen der Anforderung .................................................... 205 Dimensionen des Umgangs ......................................................... 223 Zusammenfassung der Analyse .......................................................... 236 3.2.3 Interviews ................................................................................... 239 Die Anerkennungs-Problematik der ‚Allrounder’ .............................. 242 ‚Auf dem Boden bleiben’ und Herkunfts-Konflikt ............................ 252 4 Studium und Habitus-Struktur-Konflikte – Zusammenfassung und Ausblick ................................................................................................... 265 Literaturverzeichnis ..................................................................................... 273
Einleitung
„Also ich fühl mich schon, ich komm ja aus einer bildungsfernen Schicht, also ich bin der einzige Akademiker in der Familie und da fehlt einem natürlich so’n bisschen der Bezug und auch 'n gewisser Bildungshintergrund, das ist es, was ich ab und zu spüre und was ich eigentlich nacharbeiten muss, was aber natürlich schwierig ist. Also siebzehn Jahre mit Adorno aufwachsen, kann ich nicht in vier Jahren nachholen und das ist so was, wo man manchmal denkt, gehör ich überhaupt hierher? […] Also, wenn man damit keinen Kontakt hatte und ich hatte vorher wie gesagt keinen. Für mich is'n Professor das, was in der Sesamstraße war, jemand, der zerstreut ist, weiße Haare hat und ein Plüschgesicht […] und das is natürlich, sich da einzufinden ist schwierig“ (Christian, Student, 8. Semester Medienwissenschaften). „Die Rekrutierungspotentiale aus den hochschulnahen Bildungsmilieus sind weitgehend ausgeschöpft; eine arbeitsmarktpolitische Erschließung neuer Nachfragepotentiale für ein Hochschulstudium kann nur über eine soziale Öffnung der Hochschule erfolgen. Die Ergebnisse der 18. Sozialerhebung zeigen eher eine Entwicklung, wonach die Hochschule tendenziell immer mehr zu einer Institution wird, die nicht mehr primär dem Bildungsaufstieg, sondern eher dem Erhalt bzw. der ‚Vererbung’ eines bereits erreichten akademischen Status in der jeweils nachfolgenden Generation dient“ (BMBF 2007, 11f.).
Was bedeutet hier soziale Öffnung der Hochschule? Wo liegen die sozialen Verschließungen? Sind ausschließende Elemente nur von statistischer Relevanz, das heißt, hat sich das Problem für die betreffende Person erledigt, sobald sie den Sprung an die Hochschule geschafft hat? Das Zitat aus dem Interview mit Christian verweist bereits darauf, dass dem nicht so ist. Wie ist also die statistische Verbindung zwischen Studium und sozialer Herkunft, wie sie hier durch einen Ausschnitt aus der 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks zum Ausdruck gebracht wird, mit dem individuellen Erleben des Studierens vermittelt? Wie kann die dort geforderte Öffnung der Hochschule – im Sinne von Anschlussfähigkeit an mehr soziale Gruppen – hergestellt werden, wenn wenig darüber bekannt ist, wo die Reibungspunkte liegen? Das ‚Ungleichheits-Problem’ scheint offenbar nicht nur in der geringeren Studierneigung bestimmbarer sozialer Gruppen zu liegen, sondern sich an der Hochschule fortzusetzen. An Christians Beschreibung wird erkennbar, dass soziale Ungleichheit auch im Studium lebensweltlich erfahren wird. Deshalb
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Einleitung
soll mit der vorliegenden Untersuchung nach Erfahrungen im und mit dem Studienleben gesucht werden, die auf Verbindungen mit sozialer Ungleichheit verweisen. Lässt sich die politische Forderung nach mehr Studierenden aus hochschulfernen Bildungsmilieus mit dem Vorgang einer ‚Bestellung’ skizzieren, so soll mit diesem Projekt geschaut werden, ob und wie die ‚bestellte Ware’ auch lebensweltlich im Studium ‚abgeholt’ wird. Die Arbeit ist damit gewissermaßen in dreifachem Sinne als BrückenbauProjekt zu verstehen. Es wird erstens auf theoretischer Ebene nach der Vermittlung von sozialer Ungleichheit und individuellem Erleben, also von Wahrscheinlichkeit und Handlung gefragt. Dies mündet in die Konstruktion eines analytischen Werkzeugs, das im Folgenden als ‚Brille von Habitus-StrukturKonflikten’ vorgestellt wird. Zweitens wird diese theoretische Vermittlung auch auf der empirischen Ebene, in Studienberatungsgesprächen, in Wochenberichten von und in Interviews mit Studierenden gesucht. Und drittens sollen die daraus gewonnen Erkenntnisse selbst dazu verwendet werden können, Brückenbaupläne zu entwickeln, also Anhaltspunkte dafür zu liefern, wie die gewünschte größere soziale Anschlussfähigkeit von Strukturen des Studiums an verinnerlichte kulturelle Muster, welche die Studierenden mitbringen, hergestellt werden könnte. Methodologisch bedeutet dies, dass die Sichtweisen und Erlebnisse der Studierenden mit theoretischem Wissen zu vermitteln sind. Damit ist bereits ein Erkenntnisproblem angesprochen, nämlich, wann eine Studiererfahrung mit der sozialen Herkunft bzw. mit sozialer Ungleichheit zu tun hat und wann nicht. Der Fall scheint relativ klar, wenn die betroffenen Personen die Verbindung selbst thematisieren, wie hier Christian im Eingangszitat. Wie ist aber mit Erlebnisschilderungen umzugehen, die zunächst nicht über die entsprechende Situation hinausweisen? Dann ist zu fragen, inwieweit diese Erfahrungen typisch für die betreffende Person sind und ob sie sich darüber hinaus auch bei anderen Studierenden vorfinden lassen. Dadurch können aus dem empirischen Material Muster herauskristallisiert werden. Diese Muster lassen sich dann mit der besagten Brille von Habitus-Struktur-Konflikten auf soziale Ungleichheit hin betrachten. Das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung zu Studium und sozialer Ungleichheit ergibt sich weder bloß aus einer Forschungslücke noch aus einer vermeintlich volkswirtschaftlich orientierten Motivation, wie sie in dem Zitat aus der Sozialerhebung mitschwingt. Vielmehr waren Beobachtungen leidvoller Erfahrungen von Studierenden der Ausgangspunkt für das Projekt Studium und Habitus-Struktur-Konflikte. Zwar ist vielfach beschrieben, dass die Zeit des Studierens eine besonders krisenanfällige Phase darstellt. Dies wird jedoch eher unter den Aspekten der psychologischen Besonderheit der Adoleszenz einerseits sowie widersprüchlicher Anforderungen des Studiums und erhöhter gesell-
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schaftlicher Individualisierungsanforderungen andererseits diskutiert. Auf welche Weise soziale Ungleichheitserfahrungen eine Rolle für das Erleben des und den Umgang mit dem Studium spielen, bleibt unterbelichtet, trotz zahlreicher Untersuchungen, die sich vor allen Dingen den ‚Arbeiterkindern’ an der Universität gewidmet haben. Es ist zu vermuten, dass Probleme mit dem Studium unter anderem darauf zurückzuführen sind, dass die kulturellen Erfordernisse des Studiums nicht ausreichend vor allem von denjenigen bedient werden können (sowohl objektiv als auch im Erleben der Betroffenen), die aus ‚hochschulbildungsfernen’ Milieus stammen und deren verinnerlichte kulturelle Muster sich zu sehr in Diskrepanz zu diesen Erfordernissen bewegen. Mit der vorliegenden Arbeit wird also auf der analytischen Ebene ein doppeltes Ziel verfolgt. Zum einen soll exploriert werden, wie Studierende mit den wahrgenommenen Ansprüchen ihres Studienlebens umgehen. Es soll untersucht werden, mit welchen Strategien und Ressourcen sie welchen Anforderungen wie begegnen. Zum anderen soll diese Exploration nicht aus dem Nichts heraus erfolgen. Vielmehr liegt der konkreten Frage nach Umgangsweisen mit dem Studium die sowohl auf der Mikroebene studentischen Erlebens als auch auf der Makroebene statistischer Wahrscheinlichkeiten vielfach als relevant ausgewiesene Variable ‚soziale Herkunft’ zugrunde. Deshalb lautet das Ziel der Untersuchung, nicht nur undifferenziert danach zu fragen, wo sich im Studium Reibungspunkte auftun, sondern wie dies mit sozialer Ungleichheit vermittelt ist. Es bedarf also einer Begrifflichkeit, die in der Lage ist, Individuelles und Kollektives zusammen zu betrachten. Hierzu wird die Sozioanalyse Pierre Bourdieus als ‚heuristisch-analytischer Rahmen’ (Kelle/Kluge 1999, 25-37) gewählt, gleichsam als die besagte Brille, mit der Empirie betrachtet, geordnet und somit erst zu einer Soziologie werden kann. Diese Vorgehensweise verspricht eine Reihe von Vorteilen gegenüber anderen Ansätzen, die in den ersten beiden Kapiteln deutlich werden sollten. Nach einer kurzen methodologischen Vorbemerkung wird die Sozioanalyse Bourdieus vorgestellt. Sie ist nicht bloß deshalb sehr spannend, weil sie die verschiedenen sozialen Aggregationsniveaus zu verbinden trachtet oder besser: ihre Trennung als bloß analytisch ausweist, sondern weil mit dem Ansatz – wie die Begriffsähnlichkeit zu Psychoanalyse schon nahe legt – Analyse und Bearbeitung bzw. Emanzipation zusammengedacht werden können und müssen. Die verborgenen Mechanismen der Macht (Bourdieu 1992) aufzudecken, welches ein zentrales Anliegen der Arbeiten Bourdieus ist, stellt sich gleichzeitig als wissenschaftlich-analytisches und potenziell emanzipatorisches Unterfangen dar. Die Sozioanalyse erlaubt es, eine Heuristik von Habitus-StrukturKonflikten, also von Konflikten zwischen verinnerlichten kulturellen Mustern
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und solchen der jeweiligen Umgebung von Akteuren, zu entwickeln. Dies soll im ersten Kapitel geschehen. Dabei wird auf eine umfangreiche theoretische Einbettung der Bourdieuschen Begrifflichkeiten bei der Herleitung der analytischen Heuristik verzichtet und nur auf einzelne Bezüge verwiesen. Dies mag für eine Dissertation, die mit Bourdieu arbeitet, ungewöhnlich sein, finden sich doch sonst üblicherweise Verortungen in der soziologischen Theorielandschaft und im Feld der sozialen Ungleichheitsforschung zwischen ökonomischem Determinismus und Individualisierungsthese. Ich habe mich intensiv mit Bourdieu und den vorgenommenen Positionierungen auseinandergesetzt, werde die betreffenden Bezüge aber nur schildern, wenn sie für den hier zu entwickelnden Argumentationszusammenhang bedeutsam sind und dies nicht vorab, sondern an den entsprechenden Stellen tun. Aus ähnlichen Gründen verzichte ich auch auf eine umfangreiche Sammlung von Bourdieu-Zitaten, wie sie vor allem zur Schilderung des Habitus etwa als ‚strukturierende, strukturierte Struktur’ (vgl. Bourdieu 1982, 279) üblich ist. Wichtig ist mir bei dem ersten Kapitel vielmehr, dass mit der Lektüre nicht nur Bourdieus Instrumentarium und seine Art zu Denken nachvollzogen werden können, sondern dass am Ende dieses Kapitels die Habitus-Struktur-Konflikt-Heuristik zur Anwendung bereit steht. Ihre Sinnhaftigkeit wird dann im zweiten Kapitel am Untersuchungsgegenstand – also den Umgangsweisen mit Anforderungen des Studiums – deutlich werden, wenn andere Untersuchungen zu Studium und sozialer Ungleichheit bzw. Studium und Identität diskutiert werden. Ihre Tragfähigkeit kann sich dann im dritten Kapitel, in der Konfrontation mit der Empirie erweisen. Damit wird der zunächst empirisch gehaltlose Rahmen von HabitusStruktur-Konflikten mit einem konkreten Gegenstand konfrontiert. Das Individuum-Gesellschaft-Verhältnis, das hier empirisch untersucht werden soll, nämlich das häufig problembehaftete zwischen Studierenden und ihren mitgebrachten Identitäten auf der einen Seite und dem akademischen Milieu mit seinen Identitätsanforderungen auf der anderen Seite, ist bereits durch die Brille verschiedenster anderer Ansätze betrachtet worden, die sich vorwiegend um die Begriffe Rolle, Identität und Sozialisation ranken. Diese Ansätze lassen sich ganz grob in objektivistische und subjektivistische aufteilen. Ich werde aber im zweiten Kapitel anhand der Diskussion von Untersuchungen und Überlegungen, die bereits zu den Komplexen ‚Studium und soziale Herkunft’ bzw. ‚Studium und Identität’ durchgeführt bzw. angestellt wurden, demonstrieren, warum es sowohl für die analytische Beschreibung dessen, was beim Studieren passiert, als auch für das Ausloten von möglichen Interventionen, wichtig ist, mit dem im ersten Kapitel entwickelten Rahmen zu arbeiten. Es wird sich dann besonders im dritten Kapitel zeigen, wenn die ‚leibhaftigen Akteure’ (Bourdieu) zu Wort
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kommen, dass die auf Bourdieu aufbauende Konzeption als Betrachtungsrahmen geeigneter scheint. Zur Methodologie und zum Aufbau der Untersuchung „Der General steht oben, auf einem Hügel, er hat den Überblick, er sieht alles – das ist der Philosoph, der Sozialphilosoph; er denkt sich Schlachten aus, er beschreibt den Klassenkampf und taucht natürlich nicht in Waterloo auf. Meine Perspektive ist dagegen die von Fabrizio, dem Helden Stendhals aus der »Kartause von Parma«, der nichts sieht, nichts versteht, dem die Kugeln nur so um die Ohren fliegen. Es genügt, sich einmal in die vordersten Linien zu begeben, damit der Blick auf die gesellschaftliche Welt ein grundlegend anderer wird. Natürlich ist die Sicht der Generäle nützlich; ideal wäre es, könnte man beides verbinden: den Überblick des Generals und die einzelne Wahrnehmung des Soldaten im Getümmel” (Bourdieu 1993, 42f.).
Bourdieu verwendet diese Metapher, um das Verhältnis von Theorie und Empirie zu beschreiben bzw. um auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass beide ihren Beitrag zur Wirklichkeitsrekonstruktion leisten und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Mit diesem Bild des Schlachtfeldes ließe sich – neben der falschen Gegensatzpaarbildung von Theorie und Empirie – noch vieles mehr veranschaulichen, wie zum Beispiel die je eigenen Blindheiten objektivistischer und subjektivistischer Gegenstandsbetrachtungen. Eine tiefere Aufschlüsselung kann jedoch erst gegen Ende der Rundreise durch Bourdieus Sozioanalyse erfolgen, die im ersten Kapitel unternommen werden soll. Als methodologische Fundierung der vorliegenden Untersuchung sollen folgende Bemerkungen genügen: Menschen haben ihre eigenen Handlungswirklichkeiten. Dem Soldaten im Getümmel würde der Überblick des Generals gar nichts nützen. Er muss vielmehr in den Eins-zueins-Situationen bestehen und versuchen, den Kugeln der Gegner zu entgehen. Selbst wenn die soziologische Hügelperspektive nach Handlungsvollzug ergibt, dass die Soldaten nach einem bestimmten Muster gekämpft haben, ihr Kampfverhalten einer gewissen Regelhaftigkeit entspricht und künftiges Verhalten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagbar scheint, so folgen die Akteure doch in Unkenntnis des übergreifenden Musters ihren je eigenen Strategien. Um soziale Wirklichkeit adäquat abzubilden, ist es also vonnöten, die leibhaftigen Akteure zu Wort kommen zu lassen, zumal ihr Handeln die – dann möglicherweise strukturierten – Beziehungen erst konstituiert. Allerdings kommen die spezifischen individuellen Handlungskonstellationen umgekehrt erst durch das übergreifende Beziehungsgeflecht zustande. Dem Soldaten würde der Überblick des Generals für das Meistern seiner aktuellen Handlungswirklichkeit zwar
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kaum etwas nützen, aber um zu verstehen, wie es zu dieser Handlungskonstellation kommt, wie sie in das gesamte Kampfgeschehen eingebettet ist, müsste er sehr wohl auf die Hügelperspektive zurückgreifen – und das, obwohl er selbst zusammen mit den anderen Akteuren das Geflecht erzeugt hat. Dies ist allerdings nicht in völliger Unabhängigkeit geschehen, sondern erstens durch die vor Eintritt des Akteurs bereits vorhandene Struktur sowie zweitens durch die von den Akteuren verinnerlichten früheren Beziehungsgeflechte beeinflusst. Mit der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, sich auf beide Perspektiven einzulassen und dies nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Position auf dem Hügel freilich keine absolute ist, sondern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich dieser immer nur annähern können. Gerade Bourdieu hat mit seiner Forderung nach Selbstreflexivität in den Sozialwissenschaften mit der praktischen Konsequenz einer Sozioanalyse bzw. teilnehmenden Objektivierung (Bourdieu 1988, 9-59; 1987, 57-78; Bourdieu/Wacquant 1996, 95-249; Krais 2004) immer wieder darauf hingewiesen, dass erstens Wissenschaftstreibende selbst Teil der Gesellschaft sind, die sie untersuchen. Zweitens bringen sie einen Habitus, eine eigene, Körper gewordene Geschichte mit ins Spiel. Und drittens ist dieses Spiel und sind sie in diesem Spiel nicht neutral, sondern mit eigenen Interessen versehen. In diesem Spiel, dem akademischen Feld, wird um Anerkennung, Deutungsmacht und ‚Wahrheit’ gerungen. Eine Hügelposition lässt sich näherungsweise also nur dann einnehmen, wenn ihre Relativität in Form einer derartigen Sozioanalyse Berücksichtigung findet. In einem ersten Schritt soll also diese Hügelposition konstruiert werden bzw. die Brille explizit gemacht werden, mit der ‚unser General’ dann auf das Geschehen ‚Studium’ blickt. Für die hiesige Arbeit bedeutet dies, dass – unabhängig vom Erleben der Betroffenen – ein Modell von Habitus-StrukturKonflikten entworfen wird. Im ersten Kapitel geschieht dies zunächst ohne Berücksichtigung des empirischen Betrachtungsfeldes durch eine Rekonstruktion der Bourdieuschen Konzepte. Diese werden in Form eines erkenntnissoziologischen Zirkels dargestellt, der bereits auf eine mögliche Emanzipatorik verweist. Dieses Modell ist ein „heuristisch-analytischer Rahmen“, wie Kelle und Kluge ihn am Beginn jeder qualitativ-empirischen Arbeit sehen. Er stellt ein Vorwissen im Sinne eines „sensitizing concepts“ (Blumer 1954, 7, nach Kelle/Kluge 1999, 26f.) dar, mit dem die empirischen Daten erst zu einer soziologischen Aussage werden (Kelle/Kluge 1999, 16-37). Auch wenn dieser Rahmen kein differenzial-diagnostischer ist, weil mit ihm ‚alles’ betrachtet werden kann, bedeutet dies nicht, dass er nicht analytisch ist. Ganz im Gegenteil handelt es sich hierbei um eine Brille, mit der empirische Phänomene vor einem explizierten Hintergrund sichtbar gemacht werden können. Eine solche Vorgehensweise offenbart, wie die Dinge betrachtet werden,
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anstatt – scheinbar wissenschaftlich – so zu tun, als hätte man keine Brille auf und observiere die Gegenstände gleichsam objektiv und neutral. Inwieweit diese Perspektive dann welche konkreten Erkenntnisse mit sich bringt, obliegt nicht (nur) der Brille, sondern vor allem dem Gegenstand, der durch sie betrachtet wird. Dessen soziale Wirklichkeit geht durch die Perspektive nicht verloren, sondern kann so überhaupt erst sichtbar gemacht werden. Analytische, sozialwissenschaftliche Kategorien emergieren nicht aus dem empirischen Material, sondern sind immer eine Konstruktionsleistung der Forschenden, die aber freilich nicht willkürlich und unbewusst erfolgen und auch nicht gegen das Material gebürstet werden darf bzw. kann. Diese Kategorien werden vielmehr durch die Empirie mit Leben gefüllt, modifiziert, ergänzt und möglicherweise auch revidiert (vgl. ebd.). Dieser Rahmen von Habitus-Struktur-Konflikten ist als solcher ein empirisch gehaltloses Konstrukt, insofern er ganz allgemein aussagt, dass Menschen einen Habitus haben und in bestimmten Strukturen agieren, die mehr oder weniger gut zu ihrem Habitus passen und dass dieses Passungsverhältnis in Verbindung steht mit einem übergeordneten gesellschaftlichen Funktionsprinzip, das Bourdieu als symbolische Gewalt bezeichnet. Damit ist zunächst die relativ reibungslose Reproduktion von Machtverhältnissen gemeint, die vor allem darauf fußt, dass diese Machtverhältnisse durch Symbole unkenntlich gemacht werden. Sie erscheinen als natürlich, normal, gerecht, verdient usw. Mit Habitus-Struktur-Konflikten sind dann Zustände angesprochen, in denen eben doch Reibung sichtbar, d.h. empirisch erfassbar wird. Es sind Konflikte zwischen von Akteuren verinnerlichten kulturellen Mustern und solchen der Umgebung. Letzteres meint hier die entäußerten Muster anderer Akteure, aber auch Orte, Zeiten, Rhythmen, Rituale und deren jeweilige kulturelle Bedeutung, also Symbolik. Diese Reibungen bzw. Konflikte können etwa als Konkurrenzkämpfe sichtbar werden, welche die Funktion von symbolischer Gewalt kaum stören, da sie eben nicht auf Machtverhältnisse rekurrieren, sondern das vermeintlich faire Ringen um Anerkennung, Kapital etc. auf die Bühne bringen. Sie können aber auch – bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt – erkennbare Bezüge zu den verschleierten Machtverhältnissen aufweisen und damit potenziell die Reproduktion symbolischer Gewalt in Frage stellen, weil eben auf ‚Macht’ aufmerksam gemacht wird. Dieser analytisch-heuristische Rahmen ‚Symbolische Gewalt und HabitusStruktur-Konflikte’ enthält damit keine empirisch gehaltvollen Elemente, die sich falsifizieren ließen. Im zweiten Kapitel wird dieses allgemeine Modell mit dem Untersuchungsgegenstand ‚Studium’ konfrontiert, indem bereits vorhandenes theoretisches, quantitativ- und qualitativ-empirisches Material zu ‚Studium und sozialer Herkunft’ sowie zu ‚Studium und Identität’, zusammengetragen
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wird. Bei dieser Synthese vom Allgemeinen hin zu einem Modell von HabitusStruktur-Konflikten im Studium handelt es sich also um einen konkreteren heuristisch-analytischen Rahmen, der aber nach wie vor die ‚FeldherrenhügelPerspektive’ beschreibt, d.h. empirielos bleibt. Nur betrachtet der ‚General’ jetzt nicht mehr die Gesamtgesellschaft, sondern das konkrete Handlungsfeld ‚Studieren’. Es geht also in den ersten beiden Kapiteln darum, eine Abbildungsfolie zu entwickeln, anhand derer die Empirie ‚soziologisch’ sichtbar gemacht wird und ihre eigene soziale Wirklichkeit entfalten kann. Damit ist dann der Hügel bestimmt, auf dem der ‚General’ steht und die Brille explizit gemacht, mit der er die ‚objektive Sicht’ des Feldes konstruiert. Selbst wenn es – wie im zweiten Kapitel gezeigt wird – gute Gründe dafür gibt, anzunehmen, dass sich Umgangsweisen von Studierenden und vor allen Dingen auch Probleme im Studium mit diesem Raster abbilden lassen, ist es nicht das Schema, mit dem etwa Studierende, Lehrende und Beratende die Studienwelt betrachten. Studierende werden Erfolgserlebnisse, Enttäuschungen, Probleme in ihre eigenen Strategien einbetten. Wichtig ist es deshalb, Studierende selbst aus ihrer Welt berichten zu lassen. Dazu wurden Beratungsgespräche der Zentralen Allgemeinen Studienberatung (ZAS) beobachtet und protokolliert, Wochenberichte von Studierenden erhoben sowie Interviews mit Studierenden geführt. Die Auswertung dieser qualitativen Empirie – der Sicht der ‚Soldaten’ – wird in einem letzten Schritt dann mit dem entwickelten Modell konfrontiert. Dieses wird auf seine Tauglichkeit hin überprüft, ggf. verändert, revidiert und erweitert und so mit den Akteurswirklichkeiten vermittelt. Die ersten beiden Kapitel sind also der ‚Generalsperspektive’ gewidmet, das dritte dann der Wirklichkeit der ‚Soldaten’ und der Vermittlung beider Blickwinkel hin zu einer praxeologischen Wirklichkeitsdarstellung. Im vierten Kapitel sollen die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst und der Bedarf für die Bearbeitung von Konflikten sowohl auf der Habitusseite der Betroffenen als auch auf der Strukturseite des akademischen Feldes, d.h. vor allem auf der Seite der Hochschullehrenden, -entwickelnden und Studienberatenden angemeldet werden.
1 Begegnungen von inneren und äußeren Strukturen
1.1 Die Sozioanalyse Pierre Bourdieus – Ein erkenntnissoziologischemanzipatorischer Zirkel Ein großer Vorteil der Bourdieuschen Soziologie liegt darin, dass sie nicht nur versucht, die Gegenüberstellungen von Objektivismus und Subjektivismus, Struktur und Handlung, Struktur und Kultur, Theorie und Empirie zu hinterfragen, sondern darüber hinaus auch Werturteilsfreiheit und Emanzipatorik nicht als sich wechselseitig ausschließend begreift. Die verborgenen Mechanismen der Macht (Bourdieu 1992) aufzudecken, ist Aufgabe der Soziologie, was für Bourdieu in erster Linie die Erfüllung eines hohen wissenschaftlichen Anspruches ist, aber in zweiter Linie automatisch befreiende Züge hat, weil sie die unhinterfragte und weitestgehend unbewusste Reproduktion der Machtverhältnisse stört. In diesem Sinne soll hier Bourdieus Sozioanalyse in dreifacher Hinsicht als Zirkel präsentiert werden. Erstens betrifft dies die Art der Darstellung, welche die Form einer kleinen Rundreise annehmen soll. Ich werde bei den leibhaftigen Akteuren und ihren Lebenswelten starten und auch wieder landen. Da aber Menschen äußeren Grenzen unterliegen, werde ich an einer Station anhalten, die sich mit dem Sozialraum und gesellschaftlichen Machtverhältnissen als Barrieren bzw. statistischen Möglichkeitsräumen beschäftigt. Diese Räume sind nun nicht nur den Menschen etwas Äußerliches, sondern sie werden von den Akteuren verinnerlicht. Deshalb gilt es an einer weiteren Station, den verinnerlichten Grenzen und Möglichkeiten – Habitus genannt –, Halt zu machen. Da Menschen nicht abstrakt in irgendwelchen Machtverhältnissen agieren, sondern in bestimmten Situationen in bestimmten Aktionsräumen tätig sind, werde ich sodann bei den Feldern einkehren. Weil Wissenschaftsproduktion nie neutral erfolgt, sondern selbst in einem solchen Feld stattfindet, wird auch an dieser Station ein kurzer Stopp vonnöten sein. Mit der Frage, wie das Wissen um diese Beziehungen nun den leibhaftigen Akteuren nutzen könnte, bin ich dann am Ende wieder bei ebendiesen angelangt. Die Rundreise wird mich sodann in die Lage versetzen, die einzelnen Haltestellen in Beziehung zueinander zu sehen und ein Modell von Habitus-Struktur-Konflikten im Verhältnis zu symbolischer
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1 Begegnungen von inneren und äußeren Strukturen
Gewalt vorzuschlagen. Damit ist auch der zweite Zirkel benannt, nämlich die Idee eines (gedachten) hermeneutischen Prozesses, in dem Akteure zunächst über ihre Erfahrungen berichten, dieses mit der Hügelperspektive konfrontiert und schlussendlich den Akteuren in der modifizierten Form wieder zur Verfügung gestellt wird, in der Hoffnung, über diese dann ‚neue Perspektive des Soldaten’ und eine individuelle Emanzipatorik zu einem veränderten Größeren, einem ‚friedlicheren Schlachtfeld’ bzw. einem solchen, in dem mit gleicheren Chancen gekämpft wird, beizutragen. Der dritte Grund, weshalb von einem Zirkel gesprochen werden kann, ist ein epistemologischer. Bourdieus Konzepte verweisen teilweise wechselseitig, d.h. zirkulär aufeinander. So setzt die Erkenntnis, dass ‚Wissen’ über den jeweiligen Habitus und das jeweilige Feld sozial gebunden ist, eben jene Komponenten als Wissen voraus. 1.1.1 Start: Erste Zirkelstation: Leibhaftige Akteure Ich habe bereits die Metapher des Kriegsschauplatzes vorgestellt, mit der Bourdieu seine erkenntnistheoretische Position beschreibt. Wichtig für den Reisestart ist hier zunächst, dass Akteure in ihren eigenen Lebenswelten leben, ihre eigenen Situationen meistern müssen. Sie besitzen dafür also selbst den relevantesten Blick. Der Überblick des Generals wäre nicht zu gebrauchen, um ihr konkretes Leben mit seinen konkreten Problemen, Anforderungen, Glücksmomenten etc. zu meistern. Eine Folge daraus ist, dass es gilt, die leibhaftigen Akteure wieder zu Wort kommen zu lassen (Bourdieu 1992a, 28), weil nur sie TrägerInnen ihrer Handlungswirklichkeiten sind. In einem kaum bekannten Interview meint Bourdieu: „Habermas spricht nie vom Fußball“ (Bourdieu 1998). Damit will er zum Ausdruck bringen, dass man, wenn man Gesellschaft verstehen möchte, ihre Menschen zu Wort kommen lassen und sich mit den alltäglichen ‚kleinen Dingen’ befassen muss. Die Leute von ihren alltäglichen Problemen erzählen zu lassen, ist das zentrale Anliegen von Bourdieus Studie Das Elend der Welt (Bourdieu u.a. 1997). Der Titel sowie der Untertitel – Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft – zeigen jedoch bereits, dass Bourdieu weit davon entfernt ist, Menschen als unabhängige Subjekte zu konzipieren, die ihr Leben vollkommen frei gestalten können. Diejenigen Diskurse in Politik und Wissenschaft, die das autonome Subjekt postulieren und dabei gesellschaftliche Zusammenhänge wie ungleiche Verteilung von Lebenschancen ignorieren oder bewusst verdecken, tragen somit eher zur Aufrechterhaltung unfreier Akteure bei, weil sie diesen ja bereits Freiheiten unterstellen, wo in Wirklichkeit Zwänge sind. Als prominentester und wohl auch wirkungsmächtigster politischer Diskurs ist in diesem Zusammen-
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hang alles zu nennen, was unter dem Stichwort ‚Neoliberalismus’ kursiert. Hier wird die Eigenverantwortlichkeit und liberale Gestaltungsmöglichkeit des Subjekts gepredigt, so als würden bei diesem Spiel alle voraussetzungslos bei Null starten und die gleichen Mittel zur Verfügung haben. In der soziologischen Ungleichheitsforschung finden sich zu dieser Vorstellung von ‚sich selbst bestimmenden Subjekten’ Entsprechungen vor allem in Teilen der Lebensstilforschung. Hier wird häufig aus der Individualisierungsthese von Ulrich Beck geschlossen, dass Lebensstile sich pluralisieren und Subjekte ihr Leben präferenzgesteuert patchworkartig zusammenstellen können, bzw. dies tun.1 Auch neuere Argumentationen, die sich als Bourdieu-Kritik begreifen, werfen dem Strukturmodell Bourdieus Determinismus vor, vor allem weil sie den relationalen Ansatz als statische Momentaufnahme interpretieren und somit auf die ‚inhaltlichen Ergebnisse’, d.h. auf diese oder jene kulturelle Äußerung dieser oder jener Klasse (Lebensstile) fokussieren und dabei zurecht unterstellen, sie seien nicht mehr zeitgemäß.2 Aber genau diese Wandlung der Inhalte der kulturellen Äußerungen würde Bourdieu gar nicht bestreiten. Er weist auf diesen Punkt sogar mehrfach hin und führt aus, dass diese inhaltlichen Veränderungen ein Mittel sind, die Perpetuierung der klassenspezifischen Relationensysteme zu verschleiern. In der deutschen Bourdieurezeption durch Teile der Lebensstilsoziologie wurden also die ‚spektakulären’ Ergebnisse der Feinen Unterschiede (Bourdieu 1982) wahrgenommen, weniger die sozioanalytischen und erkenntnissoziologischen Instrumente, die dahinterstehen. Bezüglich der erziehungswissenschaftlichen Forschung ist etwa die jüngere Sozialisationsforschung, allem voran das Konzept der Selbstsozialisation zu nennen, das Kinder als frei gestaltende Subjekte postuliert, die sich ihre Sozialisationsagenten frei und selbst suchen.3 Dagegen wäre aus Bourdieus Sicht auch nichts einzuwenden, wenn man dabei berücksichtigte, dass es sich sozialstrukturell um strukturiert unterschiedliche ‚Selbste’ handelt. Auch bei Bourdieu sind Akteure durchaus in der Lage, als rationale Entscheider in eigener Sache zu fungieren, aber sie tun dies eben nach Maßgabe dessen, was sie bisher verinnerlicht haben. Helmut Bremer (2004) hat darauf hingewiesen, dass bei pädagogischen Anstrengungen daher von unterschiedlichen Selbsten ausgegangen werden muss und bei einer ‚rationalen Pädagogik’ im Sinne Bourdieus gerade diese ungleichen Habitus wahrgenommen werden müssten und nicht im Sinne einer 1 Zur Individualisierungsthese vgl. Beck (1983, 1986), sowie zu ihrer bedenklichen Umdeutung seitens Teilen der Lebensstilforschung vgl. Konietzka (1994). 2 Eine solche ‚inhaltsorientierte’ Bourdieu-Kritik stellt etwa Gebesmair (2001, 150ff.) dar. 3 Zum Konzept der Selbstsozialisation vgl. Zinnecker (2000), sowie zu einer von Bourdieu inspirierten Kritik Bauer (2002). „Ulrich Becks populäre strukturtheoretische Auflösungsannahmen haben ihr handlungstheoretisches Äquivalent“ (Bauer 2004, 70).
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scheinbar demokratischen jakobinischen Ideologie und der Pädagogik eines aktivierenden Selbstlernens Ungleiches gleich behandelt werden dürfte. Diskurse um die Wissensgesellschaft reihen sich in diese Problematik der Ungleichheitsvergessenheit und damit -fortschreibungstendenz ein (vgl. Bittlingmayer 2005; Bittlingmayer/Bauer 2006, 2004). Auch wenn diese Ansätze sich wohlwollend freie Menschen ‚wünschen’, so verhindern sie mit ihrer impliziten Unterstellung, dieser Zustand sei bereits gegeben, eine wirkliche Subjektemanzipation bzw. sie verallgemeinern diese für eine bestimmte privilegierte Gruppe von Menschen in Maßen zutreffende Freiheit.4 Die beiden wesentlichen Punkte, die Bourdieu im Zusammenhang mit Akteuren für bedeutsam hält, sind also: erstens, dass man diese wieder zu Wort kommen lassen muss, will man Gesellschaft verstehen und zweitens, dass diese jedoch gesellschaftlich bestimmten Zwängen unterliegen (vgl. etwa Bourdieu 1976, 1987, Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991). So sind seine Studien einerseits davon inspiriert, sich mit den Menschen und ihren Lebenswelten auseinander zu setzen. Trotz ihrer Handlungs- und Gestaltungsmächtigkeit werden Akteure dabei andererseits in ihren Abhängigkeiten von gesellschaftlichen Machtverhältnissen gesehen. Dies leitet über zu der zweiten Zirkelstation, nämlich den gesellschaftlichen Machtverhältnissen bzw. Strukturen, die den Akteuren als Handlungsbarrieren im Weg stehen bzw. Möglichkeitsräume markieren. 1.1.2 Zweite Zirkelstation: Strukturen und Machtverhältnisse – der Sozialraum Es gibt mehrere Gründe dafür, warum Menschen ihr Leben nicht vollkommen frei gestalten können. Neben innerlichen Schranken (vgl. 1.1.3) und bestimmten Situationen bzw. Handlungsfeldern (vgl. 1.1.4), die es ‚verbieten’, bestimmte Dinge wahrzunehmen, zu denken, zu empfinden, zu tun, zu bewerten etc., sind vor allen Dingen gesellschaftliche Machtverhältnisse zu nennen. Zunächst sehr grob gesprochen: Chancen auf Lebensqualität (Bildung, Einkommen, Anerkennung etc.) sind sowohl weltweit als auch innerhalb sogenannter fortgeschrittener Staaten ungleich verteilt: In der BRD haben etwa Frauen geringere als Männer, Kinder aus bildungsfernen Familien geringere als Akademikerkinder, AusländerInnen geringere als Deutsche etc. Die PISAStudie (Baumert u.a. 2001) war in den letzten Jahren das prominenteste Beispiel, das über die geringe Chance auf Bildungsaufstieg Zeugnis ablegt. Selbst 4 Zu jener Freiheit sei an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass auch Menschen mit einem privilegierten Habitus den Grenzen eben dieses Habitus unterliegen. Jedoch sind ihre Spielräume erstens größer und zweitens passender zum Feld der Macht, weil sie aus diesem hervorgegangen sind.
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das Magazin Stern titelte im Juli 2003: Das Märchen von der Chancengleichheit. Diese ungleich verteilten Chancen und vor allem die Mechanismen ihrer Aufrechterhaltung sind zentral für das Wirken Bourdieus. So hat er bereits mit seinen Studien zum französischen Erziehungssystem Anfang der 1960er Jahre (Bourdieu/Passeron 1970, 1971) dieses als Ort der Weitergabe von Macht und der gleichzeitigen Verschleierung dieser Weitergabe enttarnt und damit den Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Herkunft offenbart. Sein berühmtestes, meist rezipiertes und wohl auch missverstandenstes Werk zu sozialer Ungleichheit sind Die Feinen Unterschiede (1982). Hier analysiert Bourdieu den Zusammenhang zwischen Kultur in ihrem weitesten, d.h. über klassische Bildung, Kunst, Literatur und Musik hinausgehenden Sinne und Sozialstruktur. Über die Wirkmechanismen dieses Zusammenhangs, für die der Habitus eine entscheidende Rolle spielt, können erst an der nächsten Zirkelstation Aussagen getroffen werden. Hier soll zunächst Bourdieus Abbildung der französischen Gesellschaft im sogenannten Sozialraum von Interesse sein. Mit seiner empirischen Untersuchung konnte Bourdieu herausfinden, dass die Geschmäcker, die Menschen präsentieren, nicht naturgegeben, sondern mit ihren sozialen Positionen, Herkünften und Laufbahnen verknüpft sind. Bourdieu ermittelt mit Hilfe des Verfahrens der Korrespondenzanalyse den Sozialraum, in dem sowohl alle sozialen Positionen – gemäß der klassischen meritokratischen Triade der sozialen Ungleichheitsforschung – nach Beruf, Einkommen und Bildung wiederzufinden sind, als auch verschiedenste Lebensstilelemente. Der Raum der sozialen Positionen und der Raum der Lebensstile werden gewissermaßen ineinander projiziert (vgl. Bourdieu 1982, 171ff.). So lassen sich Entsprechungen zwischen der Position, die Menschen einnehmen und kulturellen Präferenzen, die sie haben, verdeutlichen. Für den hiesigen Zusammenhang ist zunächst nur Folgendes wichtig: Gesellschaft ist hierarchisch nach Gruppenzugehörigkeiten gegliedert. Auch wenn es vor allem in der deutschen Ungleichheitssoziologie im Anschluss an die Individualisierungsthese Ulrich Becks zu vermeintlichen ‚Abschieden’ von der Klassengesellschaft kam, können auch neuere Untersuchungen ausweisen, dass diese eher einem Wunschdenken entsprechen und die Existenz von soziokulturellen Milieus und deren (horizontalen) Ungleichheitsverschiebungen dem vertikalen Aufbau einer Klassengesellschaft nicht widersprechen (vgl. Vester u.a. 2001).5 In Abgrenzung zu Marx macht Bourdieu erstens im Groben drei Klassen aus. Zweitens sind diese Klassen keine mobilisierten Klassen, weil die kulturel5 Zur Einordnung der Lebensstilforschung in der Sozialstrukturanalyse vgl. vor allem den Aufsatz von Hans-Peter Müller (1989), die Monographie von Peter H. Hartmann (1999) und den Sammelband von Jens. S. Dangschat und Jörg Blasius (1994) sowie zu einer speziell auf Bourdieu bezogenen Auseinandersetzung die Aufsatzsammlung von Klaus Eder (1989).
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len Gemeinsamkeiten innerhalb einer Klasse naturalisiert, d.h. auf natürlichen Geschmack, auf Begabung etc. zurückgeführt werden. Sie werden nicht mit einer gemeinsamen Klassenlage in Verbindung gebracht. Es handelt sich also um reale, aber als solche auf dem Papier konstruierte Klassen. Ein dritter Unterschied zu Marx besteht darin, dass neben ökonomischem Besitz auch kulturelles Kapital in unterschiedlichen Formen die Lage im Sozialraum bestimmt.6 Auch ein Intellektueller etwa, der sich aus Geld scheinbar nicht viel macht, aber dennoch ein ‚Wörtchen mitzureden’ hat, gehört der herrschenden Klasse an. Ein vierter und für Bourdieu charakteristischer Unterschied ist, dass die Positionen im Sozialraum sich nicht durch eine absolute Lage, einen absoluten Besitz an Kapital definieren, sondern immer in Relation zu anderen. Zum Verhältnis von Subjekt und sozialen Strukturen formulierte allerdings bereits Marx, dass „die Verhältnisse der Individuen [...] nichts anderes als ihr wechselseitiges Verhalten [sein] können“ (Engels/Marx 1983, 423). Der Sozialraum ist also nur eine statische Momentaufnahme eines raumzeitlichen Gefüges, bei dem die Relationen der Akteure von Bedeutung sind. Wenn etwa aufsteigende Akteure aus der Mittelklasse den einst prestigeträchtigen Tennissport entdecken, sind Angehörige der herrschenden Klasse schon längst beim Golfsport angelangt. Inhalte und Beziehungen des Sozialraumes ändern sich also, die Art, oder besser, die Beziehungen der Beziehungen hingegen bleiben bestehen. Um die konkreten und absoluten Lebensstil-Inhalte geht es Bourdieu ohnehin kaum – es sei denn um Machtreproduktionen empirisch zu versanschaulichen, wenn er etwa konkrete Felder zu einem konkreten Zeitpunkt, d.h. einem konkreten Stand der Kräfteverhältnisse explizit abzubilden versucht. Viel wichtiger sind die Relationalität und die dahinterstehenden methodologischen Konzepte. Entscheidend ist, dass es nicht nur eine ungleiche Chancenverteilung gibt, sondern vielmehr, dass diese als solche unkenntlich gemacht ist. Gesellschaftliche Hierarchien drücken sich nicht direkt in sozial gemachten Klassenlagen aus, sondern in Lebensstilen, Geschmäckern etc. Diese wiederum erscheinen als naturgegeben. Über die symbolische Verdopplung der sozialen Wirklichkeit werden also gesellschaftliche Hierarchien erkannt (sichtbar gemacht) und anerkannt, aber vor allen Dingen in ihrer Entstehung, nämlich der strukturierten Ungleichverteilung von Chancen, verkannt. Dabei stellt der Gedanke, dass Symbole eine vermeintliche Realität bloß abbilden, natürlich eine grobe Vereinfachung dar. Vielmehr sind Symbole eigenständige ‚Gegenstände’ der Betrachtung. Nach ihnen wird gestrebt, sie werden zu vermeiden versucht, sie weisen 6 Auf die Kapitalarten soll hier zunächst nicht näher eingegangen werden (vgl. hierzu etwa Bourdieu 1983; Schwingel 1995; Fröhlich 1994).
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eine Eigendynamik auf und unterliegen einer eigenen Ökonomie.7 Dennoch bilden sie gesellschaftliche Hierarchien ab und kaschieren diese als solche gleichzeitig. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass wir Symbole scheinbar frei auswählen können. Wir können uns selbst entscheiden, welches Hobby wir haben, wie wir uns kleiden etc., ob wir unser Erspartes eher in Reisen fließen lassen oder die Innenausstattung unseres Hauses ‚aufmöbeln’ und wie wir dies dann jeweils ausgestalten. Außerdem hat sich der Raum der Möglichkeiten der wählbaren Symbole im 20. Jahrhundert enorm vergrößert: zum einen auf der Angebotsseite – die Produktpalette hat sich ausgeweitet –, zum anderen auf der potenziellen Nachfrageseite durch den Fahrstuhleffekt (Beck) des absolut gestiegenen Wohlstands und der höheren Bildungsbeteiligung insgesamt. Dies alles suggeriert die freie Wählbarkeit und lässt das tatsächlich Realisierte eben als selbst und frei gewählt, gerecht, natürlich, verdient etc. erscheinen. Beim Kampf um Anerkennung, d.h. bei der symbolischen Entäußerung des Eigenen spürt man, dass dieses oder jenes Symbol für ‚etwas Besseres’ steht, hält dessen Verteilung aber gleichzeitig für legitim und wünscht sich, selbst im Besitz dieses ‚Besseren’ zu sein. Man kämpft also unter Umständen für etwas, das man nicht nur schlechter erreichen kann als andere, sondern das man noch nicht mal selbst als etwas ‚Besseres’ definiert hat. Erst dadurch, dass ‚gesellschaftliche Geltung’ über Symbole (z.B. Konsumgüter) sichtbar gemacht wird, sind Konkurrenzkämpfe in Gang gesetzt, die (mindestens) für die dominierten Gruppen tendenziell zu Unzufriedenheit führen und solidarische Klassenkämpfe verhindern. Nicht nur, dass Menschen Handlungsrestriktionen erfahren, weil sie eine bestimmte Position im Sozialraum innehaben, sondern sie werden darüber hinaus dazu ‚gezwungen’, an diesen ‚Konkurrenzspielchen’ teilzunehmen. Es besteht kaum ein Recht auf Mittelmaß (mehr). Nicht ohne Grund wurde etwa die Szene, in der der ehemalige Teamchef der deutschen Fußballnationalmannschaft, Rudi Völler, dem Sportreporter Waldemar Hartmann wütend sinngemäß entgegnete, dass die Deutschen überzogene Ansprüche hätten und andere doch auch Fußball spielen könnten, als ein allgemein geteilter Wunsch nach dem Recht auf Mittelmäßigkeit interpretiert (vgl. etwa Theweleit 2004). Im weiteren Textverlauf werde ich diese Szene aufgreifen, weil sie noch andere Zirkelstationen verdeutlichen helfen kann. 7 Das ist der Grund, weshalb Bourdieu an seiner Verwendung des Begriffs symbolisches Kapital gezweifelt hat, da es sich eben nicht um eine Kapitalsorte handelt, wie die anderen, also etwa ökonomisches, kulturelles usw. Vielmehr stellt symbolisches Kapital das sichtbare, erkannte und anerkannte Surrogat der anderen Kapitalien dar. „Jede Art Kapital (ökonomisches, kulturelles, soziales) tendiert (in unterschiedlichem Grade) dazu, als symbolisches Kapital zu funktionieren (so dass man vielleicht genauer von symbolischen Effekten des Kapitals sprechen sollte), wenn es explizite oder praktische Anerkennung erlangt [...]“ (Bourdieu 2001, 311; Hervorh. im Orig.).
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Akteure versuchen also eher, die Leiter nach oben zu klettern und dieses vermittels der Symbole, die sie präsentieren, auch bescheinigt zu bekommen, anstatt jenes Konkurrenzspiel als solches in Frage zu stellen. Da die Erfolgsaussichten bei diesen Konkurrenzkämpfen äußerlich und innerlich begrenzt sind, entstehen nicht nur objektive Ausgrenzungen, sondern auch subjektive Erwartungsenttäuschungen. Die Unzufriedenheiten, die aus diesem Prozess mindestens für die schlechter Ausgestatteten resultieren, können dann zu Selbsthass, Selbstzerstörung durch Sucht etc., aber auch zu Fremdenhass führen, ohne dass hier ein direkter mechanischer Zusammenhang in Ausschließlichkeit behauptet werden soll.8 In diesem alltäglichen Leiden der Menschen wird ihr VerstricktSein in reale Überlebens- und symbolische Konkurrenzkämpfe sichtbar. Dieses Leiden, wie es Bourdieu (Bourdieu u.a. 1997)9 herausgearbeitet hat, liefert ihm objektive Gründe zum Handeln (raisons d’agir)10 (Bourdieu 1998a). Wenn hier allgemein von Machtverhältnissen und Strukturen des Sozialraums gesprochen wird, muss später bezüglich des akademischen Milieus gefragt werden, wie sich diese Strukturen konkret für Studierende in deren Lebenswelten darstellen. Mit den bisherigen Ausführungen lassen sich bereits Aspekte symbolischer Gewalt verdeutlichen, ohne auf die Beteiligung der Akteure, ohne auf den Habitus zurückgreifen zu müssen. Ich nehme folgendes Bild zum Thema ‚Schule’ als Beispiel: Wenn Kinder eingeschult werden, sind diese Kinder bereits ‚in den Brunnen gefallen’, oder besser: in unterschiedlich tiefe Brunnen, je nachdem, wie weit die kulturellen Codes, die sie von zu Hause mitbringen, von denjenigen der Schule entfernt sind. Was die Schule nun macht, da sie ja gerecht sein will, ist Folgendes: sie hängt den Kindern je ein gleich langes Seil in den Brunnen. 8 Eine derartige Behauptung käme Ansätzen sehr nahe, die von Deprivationserfahrungen direkt auf Fremdenhass und/oder Gewaltneigungen schließen. Der Umgang von ‚Spitzenpolitikern’ mit dem Thema Rassismus offenbart dies. Wenn der ehemalige Kanzlerkandidat Edmund Stoiber dem damaligen Amtsinhaber Schröder vorwirft, dieser sei Schuld am Rechtsextremismus, weil er die Arbeitslosigkeit nicht bekämpfe, liegt genau eine solche Vereinfachung vor. Gerhard Schröder hingegen vereinfacht auf andere Weise, wenn er zum ‚Aufstand der Anständigen’ gegen Rechtsextremismus aufruft. So wünschenswert dieser Kampf sein mag, so falsch ist es, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in der die vermeintlich Anständigen leben, auszuklammern und so zu tun, als seien diese unbeteiligt und frei von Rassismus und wären nicht Bestandteil der symbolischen Gewalt, wie sie im Folgenden erläutert wird. 9 Eine Gruppe um Franz Schultheis hat für den deutschsprachigen Raum eine Replikationsstudie zu dieser Untersuchung durchgeführt (Schultheis/Schulz 2005). 10 Die Bezeichnung ‚Raisons d’agir’ hat im französischen Original eine doppelte Bedeutung. So steckt darin nicht nur ‚Gründe zum Handeln’, sondern auch ‚vernünftig handeln’. Der Vernunftbegriff ist für Bourdieu von besonderer Bedeutung. Er sieht sein soziologisches Projekt immer wieder als Fortsetzung der Aufklärung (Sieg der Vernunft gegenüber dem Gottesglauben). Man könnte dieses Projekt als soziologisch aufgeklärte Aufklärung bezeichnen (vgl. dazu auch 1.1.6).
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Für ein Kind, dessen Brunnen nicht so tief ist, reicht die Seillänge aus und es kann das Seil ergreifen und aus dem Brunnen herausklettern. Ein anderes Kind hingegen, dessen Brunnen tiefer ist, kann das Seil nicht erreichen. Den Kindern, die aus dem Brunnen herausklettern können, weil das Seil ausreichend lang ist, wird bescheinigt, dass sie gut klettern können. Den anderen werden im Gegenzug mangelnde Kletterfähigkeiten oder Bemühungen unterstellt. Es wird also das, was der Brunnentiefe – dem Abstand zu den kulturellen Codes der Schule – geschuldet ist, auf die Kinder zurückgeführt. Die soziale Ungleichheit bzw. die strukturelle Gewalt besteht in diesem Bild in den unterschiedlich tiefen Brunnen. Die symbolische, oder – nach Galtung (1998) – kulturelle Gewalt hingegen wird durch die gleichlangen Seile veranschaulicht und durch die daran anknüpfende Interpretation verwirklicht, dass die Unterschiede in den Kletterkünsten bestehen müssen, weil es an den Seilen ja nicht liegen könne. Hier wird soziale Ungleichheit in Begabungs- bzw. Leistungsunterschiede umgedeutet und dadurch verschleiert und gleichzeitig legitimiert (vgl. Bourdieu/Passeron 1970, 1971 sowie Bourdieu 2001a; 2003, 53ff.).11 Dies ist es, was Bourdieu unter symbolischer Gewalt versteht. Eine weitere Facette, die den Begriff von Galtungs Definition kultureller Gewalt unterscheidet – nämlich die Frage, wie benachteiligte Akteure selbst einen Teil dieses Gewaltzusammenhangs darstellen, – kann erst nach der folgenden Zirkelstation expliziert werden, an der es um die verinnerlichten Möglichkeiten und Grenzen geht. 1.1.3 Dritte Zirkelstation: Innere Strukturen – der Habitus Gesellschaft ist also nicht neutral, sondern hierarchisch strukturiert. Chancen sind nach Gruppenzugehörigkeiten ungleich verteilt. Wie funktioniert es aber, dass diese gesellschaftlichen Strukturen in der Regel als selbstverständlich und normal hingenommen werden? Das alltägliche Leiden an der Gesellschaft mündet selten in emanzipatorisch-politische Aktivitäten, also in das, was Bourdieu als Klassenkämpfe bezeichnet (Bourdieu 1987, 205-258; Schwingel 1993, 140166). Aus der Protestforschung ist vielmehr bekannt, dass – zumindest in Deutschland – eher bildungsprivilegierte Akteure ihren Unmut äußern (Brand/Büsser/Rucht 1986; Rucht 2004; Rucht/Yang 2004; Schmitt 2007).12 11 Dieses ‚Brunnengleichnis’ ist ein sehr drastisches Bild. Mit ihm soll ein Zusammenhang verdeutlicht werden. Damit wird weder behauptet, dass Bildungsinstitutionen diesbezüglich vollkommen blind sind, noch dass eine ‚rationale Pädagogik’, wie Bourdieu sie vorschlägt, nicht möglich sei. Einige institutionelle Beispiele sowie eigene Erfahrungen mit Seminaren zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, unterschiedliche Brunnentiefen auszugleichen bzw. diese sogar fruchtbar zu nutzen. 12 Dass eher überdurchschnittlich gebildete Menschen öffentlich das Wort ergreifen, lässt sich freilich auch mit Bourdieu erklären. Ein legitimer Habitus traut sich eher. Damit hängt das Dele-
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Unterstützt wird dieser ‚Umlenkungsprozess’ von dem wirkungsmächtigen neoliberalen Diskurs, der die Akteure dazu ‚einlädt’, Verantwortlichkeiten bei sich selber zu suchen. Ein Grund, weshalb Gesellschaft mehr oder weniger auch von den Benachteiligten reproduziert wird, wurde bereits genannt: die symbolische Verdopplung der Realität führt dazu, dass Hierarchien zwar sichtbar werden, aber die dahinterstehende Ungleichheit der Chancen verschleiert wird, was diese Hierarchien als quasi-natürlich bzw. gerecht erscheinen lässt. Damit steht ein zweiter Grund direkt in Verbindung. Gesellschaftliche Hierarchien sind – vermittelt über Symbole – an den Menschen ablesbar. Dies liegt daran, dass alle Akteure die Verhältnisse und Dinge verinnerlichen, die sie von ihrer Geburt an vorfinden und die eben nicht neutral, sondern gesellschaftlich bedeutungsvoll, d.h. Symbole, sind. Diese verinnerlichten, lebendigen Strukturen sind das, was Pierre Bourdieu Habitus nennt (vgl. etwa Bourdieu 1974, 1987 sowie Krais/Gebauer 2002). Wir wachsen in einer bestimmten Umgebung, mit bestimmten Eltern, in einem bestimmten Milieu, mit einer bestimmten Geschlechterzuweisung etc. auf. Wenn wir uns in unserer Umgebung bewegen und zurechtfinden, verinnerlichen wir sie. Dies ist nicht in erster Linie ein kognitiver Prozess, sondern geschieht vor allem auf der Basis von Erfahrungen (d.h. auch körperlich). Die Umgebung wird mit unserer Erkundung also ein Stück von uns selbst. Dennoch sind wir diejenigen, die diese Selbstwerdung aktiv produzieren, indem wir uns in bestimmten Umgebungen bewegen, diese aneignen und uns selbst aktiv weitere Umgebungen suchen. Dabei bevorzugen wir aber diejenigen, die nahe bei dem sind, was wir bisher verinnerlicht haben (Habitushomogamie). Mit diesem Habituskonzept lässt sich also erklären, warum Strukturen sich immer auch als Unterschiede in Menschen manifestieren und zu sichtbaren Unterscheidungen (Identitäten) werden (vgl. Papilloud 2003, 31). Dabei wird deutlich, dass Gesellschaft und Individuum sich nicht gegenüberstehen, sondern soziale und personale Identität zusammenfallen. Da nun aber das, was Menschen in ihrer Wirklichkeit vorfinden, sehr dem ähnelt, was ihre ‚Identitäten’ ausmacht – weil diese ja aus besagter Wirklichkeit hervorgegangen sind –, wird das soziale Gefüge in der Regel als stimmig, normal, selbstverständlich erlebt. Dies erklärt, warum selbst Menschen, die von der Ungleichverteilung von Chancen negativ betroffen sind, an der Reproduktion ihrer eigenen Benachteiligung mitwirken: „Der Begriff Habitus bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person versperrt ist. Wer z.B. über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt, der hat gationsprinzip zusammen (Bourdieu 1992, 174-192), d.h. dass es Menschen gibt, für die gesprochen wird (vgl. Bourdieu 1993a, 216, auch abgedruckt in: ders. 1998, 72-73).
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eben auch, wie Marx einmal sagt: Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann. Deshalb sind für ihn bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich, gibt es Sachen, die ihn aufbringen oder schockieren“ (Bourdieu 1993, 33f.). An dieser Stelle ist es angebracht, eine zweite Deutung des besagten ‚Ausbruchs’ Rudi Völlers abzugeben. In dieser emotionalen Situation konnte Rudi Völler, der nun wahrlich nicht zu den Ärmsten der Gesellschaft gehört, seine Herkunft, die sich in seinem Habitus niedergeschlagen hat, nicht verbergen. Diese Spuren des Unterschichthabitus sind neben dem ‚Recht auf Mittelmäßigkeit’ ein zweiter Grund für die erfahrene ‚Solidarität von Unten’. Eine weitere wesentliche Differenz zu Marx kann an dieser Station deutlich werden: „Im Unterschied zu Marx und Dahrendorf ist die Zugehörigkeit zu Gruppen nach Bourdieu nicht bloß über deren soziale Lage bzw. soziale Rollen geregelt, sondern findet ihre Entsprechung in ganz körperlicher Hinsicht in den Akteuren und ihren kulturellen Praktiken selbst" (Schmitt 2005, 31), nämlich in Form ihres Habitus. Dieser ist also eine Art Schaltstelle zwischen Individuum und Gesellschaft. Freilich ist dieses Konzept nicht der einzige soziologische Ansatz, der den Gegensatz zwischen Gesellschaft und Individuum oder Struktur und Handlung zu überwinden trachtet. Es bietet jedoch enorme Vorteile gegenüber anderen Versuchen, weil es eben erlaubt, das Individuelle an verschiedene Strukturen seiner Entstehung und Entwicklung zurückzubinden. Zu diesen Strukturen gehört unter anderem das Aufwachsen in einem bestimmten Milieu, mit einer geschlechtsspezifizierten und ggf. ethnisierenden Sozialisation etc. Habitus ist also ein mehrdimensionales Konzept. Da diese Strukturen im Sinne eines (körperlichen) Erfahrungs- und vor allem Nachahmungs- bzw. Mitahmungslernens angeeignet werden, muss bei der Analyse gar nicht auf ein Konzept des Bewusstseins zurückgegriffen werden. „Der Leib glaubt, was er spielt: er weint, wenn er Traurigkeit mimt. Er stellt sich nicht vor, was er spielt, er ruft sich nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus, [...] erlebt sie wieder. [...] Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (Bourdieu 1987, 135; Hervorh. im Orig.). Der Habitusansatz gestattet es, Gesellschaft im Individuum bereits auf einer vorreflexiven Stufe zu denken. Dies bedeutet umgekehrt nicht, dass bewusste Wahlhandlungen außerhalb des Habitus stattfinden. Man kann den Habitus vergleichen mit einer Leine, die man von Geburt an von der eigenen Umgebung in die Hände bekommt und die zu einem selbst dazu gehört. Da jeder Mensch in einer anderen Umgebungskonstellation startet, hat jeder seine eigene, einzigartige Leine. Mit dieser Leine kann man alle möglichen Wege gehen, wobei sich manche Wege leichter beschreiten lassen als an-
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dere, weil sie kürzer sind. Man wählt in der Regel eher diese leichteren Wege, weil man nicht weiß, wie lang die Leine ist. Man tendiert also dazu, sich nicht weit von seinem Startpunkt (im Sozialraum) weg zu bewegen. Beim Gehen modifiziert sich die Leine selbst. Neue Umgebungen werden in das Alte integriert. Bei Menschen, die in ähnlichen Umgebungen (z.B. Milieus) starten, die also eine ähnliche Leine haben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie auch ähnliche Wege gehen. Dennoch ist es möglich (aber unwahrscheinlich), dass Leute sich an einem Ort treffen, die von ganz unterschiedlichen Punkten gestartet sind. Über ihre Leinen sind sie aber mit ihren Startpunkten verbunden. Die Menschen unterscheiden sich in ihren Wegen, folglich auch in ihren Leinen, also Habitus. Wenn eine Person etwa aus einer Unternehmerfamilie mit obendrein hohem kulturellen Kapital stammt und in Abgrenzung zu den Eltern eher etwas ‚Soziales’ machen möchte und Grundschullehrer wird, ist sie etwas ganz anderes als der Grundschullehrer, der aus einer Arbeiterfamilie stammt, Maschinenbauer gelernt hat und dann über den zweiten Bildungsweg doch noch sein Abitur nachholt, weil er mehr aus sich machen will. Beide haben die gleiche Position im Sozialraum, den gleichen Status, aber höchst unterschiedliche Wege dorthin beschritten. Sie unterscheiden sich trotz der gleichen Berufskultur in ihrem Habitus. Der zweite Grundschullehrer (der erste auch) unterscheidet sich in seinem individuellen Habitus aber auch sehr stark von seinem kollektiven Herkunftshabitus, d.h. von anderen Akteuren aus Arbeiterfamilien, die eher kurze Wege gegangen sind, bzw. ‚gehen mussten’, nicht aufgestiegen sind und sich deshalb untereinander noch ähnlicher, vertrauter und evtl. sympathischer sind. Zum Verhältnis zwischen individuellem Habitus und Sozialraum stellt Ullrich Bauer fest: „Die Korrelation zwischen der Stellung im sozialen Raum und dem individuellen Habitus ist empirisch gut abgesichert. Dennoch verfügt Bourdieu – was in diesem Zusammenhang große Bedeutung hat – weder über eine eigenständige Theorie der Sozialisation noch hat er je Mechanismen der Habitusgenese systematisch untersucht. [...] Bei Bourdieu wird zur ‚black box’, was aus der Sicht der Sozialisationsforschung eigentlich im Mittelpunkt stehen sollte [...]“ (Bauer 2004, 77).
Weiter heißt es: „Die Habituskonzeption Bourdieus gibt ein gutes Beispiel für ein empirisches, sozialwissenschaftlich angeleitetes Subjektverständnis. Obwohl Bourdieu selbst keine Sozialisationstheorie entworfen hat, können die handlungs- und subjekttheoretischen Überlegungen der Sozialisationsforschung als erkenntnisleitende Heuristik zu Grunde gelegt werden. Das Habituskonzept beschreibt individuelle Eigenschaften, Kompetenz- und Fähigkeitsmuster, die sich im Lebensverlauf als eine klar um-
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grenzte Persönlichkeitsstruktur (in der englischsprachigen Diskussion als ‚trait’) abbilden lassen. Bourdieu verfährt damit nicht kausalistisch. Zwischen performanzbedingenden sozialen Strukturen (etwa der sozialen Herkunft), individuellen Habitus und dem tatsächlichen Handeln besteht kein deterministischer Zusammenhang. Das dem Habituskonzept inhärente erkenntnislogische Prinzip ist probabilistisch“ (Bauer 2004, 85).
Wenn eine Fließbandarbeiterin nach Feierabend gerne Freejazz hört oder Jelinek liest, widerspricht dieses für den Klassenhabitus untypische Verhalten Bourdieus Konzepten in keinster Weise. Festzuhalten ist, dass unser Habitus aus unserer Auseinandersetzung mit der strukturierten Umgebung entsteht und deshalb einerseits unser Leben dahingehend erleichtert bzw. entlastet, dass er eine Matrix darstellt, die jede weitere Wahrnehmung, jedes weitere Denken, Handeln, Fühlen und Bewerten strukturiert. Komplexität wird reduziert. Damit werden uns andererseits aber auch Grenzen gesteckt. Dies ist gemeint, wenn dem ‚Schuster’ empfohlen wird, ‚bei seinen Leisten zu bleiben’, bzw. die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er von sich aus – qua Habitus – bei seinen Leisten bleibt. Diese Kenntnis der wahrscheinlichen Lebenswege (d.h. der inneren und äußeren Grenzen) kann nach Bourdieu dazu verhelfen, unwahrscheinlichere einzuschlagen, zumindest ist sie als conditio sine qua non zu begreifen, wenn man mal von günstigen, d.h. schichtübergreifenden Gruppenkonstellationen absieht, durch die sich ein Milieuwechsel auch schleichend vollziehen kann. Das heißt, wenn der Schuster um diesen Zusammenhang weiß, wird er eher dazu in die Lage versetzt, seine Leisten zu verlassen und andere Dinge (erfolgreich) in Angriff zu nehmen. Dieser Aspekt ist für die emanzipatorische Vorstellung von Akteuren nach Bourdieu sehr bedeutsam. Ich komme an der letzten Zirkelstation darauf zurück. Durch den Habitusbegriff bricht Bourdieu in doppelter Hinsicht mit einem mechanistischen Bild von Praxis. Zum einen kann mit ihm erklärt werden, dass eine soziale Lage nicht direkt in eine bestimmte Praxis, in einen Lebensstil übersetzt wird. So ist kaum vorstellbar, dass ein Arbeiter, wenn er einen Millionen-Gewinn im Lotto einfährt, also auf der ökonomischen Seite des Sozialraums aufsteigt, postwendend eine kulturelle Praxis an den Tag legt, die der neuen Position mit größter Wahrscheinlichkeit entspricht. Er wird nicht sofort eine Vorliebe für klassische Musik entwickeln. Dies ist der Trägheit (hysteresis) des Habitus geschuldet. Zum anderen ist der Habitus an sich ein Erzeugungsschema von und nicht ein Repertoire an bestimmten Praxen. Ein Habitus kann unendlich viele Äußerungen hervorbringen, auch solche, die nie zuvor getätigt wurden. So kann eine Kindergeneration ganz anders performieren als ihre Elterngeneration, weil sich die betreffenden Symbole verändert haben. Dennoch wird mit großer Wahrscheinlichkeit (aber nicht zwingend!), sofern kein sozialer Auf- oder Ab-
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stieg stattgefunden hat (und selbst dann z.T. noch) die neue Performanz an ähnlicher Stelle im Sozialraum liegen, an der auch diejenige der Elterngeneration in der damaligen Konstellation lag. 1.1.4 Vierte Zirkelstation: Direkte Umgebungsstrukturen – die Felder als Orte von Konkurrenzkämpfen Der Habitus einer Person wird im Leben mit unterschiedlichen Situationen, Personen, Milieus, Orten, Rhythmen, kurz: Strukturen konfrontiert. Ein Mensch agiert nicht abstrakt im Sozialraum, d.h. in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft, sondern immer in bestimmten Teilräumen, die Bourdieu als Felder bezeichnet. Das Verhältnis zu und der Umgang mit anderen Personen, also die soziale Praxis, bestimmt sich demnach nicht ausschließlich über den Habitus und die Verhältnisse der einzelnen Akteure zueinander im gesamten Sozialraum, sondern auch durch die Konstitution des jeweiligen Feldes, in dem agiert wird, in Wechselwirkung mit dem Habitus einer Person. Für Bourdieu sind alle Felder – diese unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsräume – Orte von Konkurrenzkämpfen (vgl. Schwingel 1993). Wie der gesamte Sozialraum auch, konstituiert sich jedes Feld durch die Relationen der beteiligten Akteure. Auch hier gibt es immer dominierte Gruppen und solche, die das Feld beherrschen und auch hier handelt es sich oftmals weniger um reale, mobilisierte Gruppen, sondern um Menschen, die sich qua Lebensweg (Habitus) ähneln. Verschiedene Felder sind demnach ähnlich strukturiert nach Personen, die versuchen, die Gewinnverteilung und vor allem die -verteilungsregeln des Feldes beizubehalten – Bourdieu bezeichnet sie als Orthodoxe – und solchen, die auf deren Veränderung aus sind – Bourdieu nennt sie Heterodoxe oder Häretiker. Worum jedoch gekämpft wird, welche Voraussetzungen (Habitus und persönliche Kapitalstruktur) am aussichtsreichsten sind, variiert von Feld zu Feld. So kann ein Nicht-Besitz von ökonomischem Kapital im Feld der Kunstproduktion z.B. dadurch Gewinn bringend sein, dass man der betreffenden Künstlerin unterstellt, sie lebe nur für ihre Kunst. Dies wiederum kann ihr Prestige und Anerkennung verschaffen und dazu führen, dass sie in diesem Feld zu den Definitionsmächtigen zählt (vgl. zu diesem Beispiel auch Kris/Kurz 1980). Nicht nur, dass in unterschiedlichen Feldern mit unterschiedlichen Mitteln um unterschiedliche Gewinne gekämpft wird, darüber hinaus unterscheiden sich Felder im Grad ihrer Abhängigkeit etwa von wirtschaftlichen Verwertungsinteressen. Sie haben somit zwar eigene Regeln, sind aber keine völlig abgeschlossenen Universen, sondern empfänglich für gesamtgesellschaftlich wirksame Diskurse. Trotz all der Kritik, die Bourdieu (1988) an sich und seinen Kolleginnen und Kollegen des akademischen Feldes übt, das er neben anderen Feldern ausführ-
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lich empirisch untersucht (etwa Bourdieu 1998b, 1999, 2000 sowie Bourdieu/Passeron 1971), betont er, dass dieses Feld noch ein Restmaß an Autonomie besitzt, das es mit Mitteln der Vernunft zu verteidigen gilt. Dazu, wie eine rationale Sozialwissenschaft nach Bourdieu beschaffen sein muss, komme ich an der nächsten Zirkelstation. Zwei Punkte, die für alle Felder gelten, sind für den hiesigen Zusammenhang von Bedeutung: (1) Erstens, dass in allen sozialen Feldern zum einen um die Akkumulation von (kulturellem, ökonomischem) Kapital gekämpft wird und zum anderen um Anerkennung, d.h. auch um die Durchsetzung der eigenen Weltsicht als die legitime, also um die Definitionsmacht (symbolisches Kapital). Diese symbolische Macht ist dann vorhanden, wenn es gelingt, „Bedeutungen durchzusetzen und sie als legitim durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zugrunde liegen“ (Bourdieu/Passeron 1973, 12). Durch diese Verschleierung der Machtverhältnisse tragen Konkurrenzkämpfe zur Reproduktion der Felder wie des Sozialraums bei. Weil die Machtverhältnisse eben nicht als sozial gemachte Hierarchieverhältnisse entlarvt werden, sondern unterschiedliche Positionen symbolisch als ‚natürlich’, ‚gerecht’ oder ‚verdient’ legitimiert sind, finden eben kaum Klassenauseinandersetzungen statt. Es kämpfen also keine sozialen Gruppen um Werte oder Verteilung von materiellen oder ideellen Gütern, sondern es kämpfen Individuen um Status und Anerkennung in den für sie relevanten Feldern. Relevante Felder sind für sie in der Regel solche, die gut zu ihrem Habitus passen (so dass der Schuster bei seinen Leisten bleibt). Diese „Komplizenschaft zwischen Habitus und Feld“ (Bourdieu 1985, 75) sorgt auch dafür, dass Gesellschaft relativ reibungslos reproduziert wird und kaum Gegenstand von Klassenkämpfen ist. „Der Habitus ist jener Praxissinn, der einem sagt, was in einer bestimmten Situation zu tun ist – im Sport nennt man das ein Gespür für das Spiel, nämlich die Kunst, den zukünftigen Verlauf des Spiels, der sich im gegenwärtigen Stand des Spiels bereits abzeichnet, zu antizipieren“ (Bourdieu 1998c, 41f., Hervorh. im Orig.).
Pierre Bourdieu verwendet den Begriff des Spiels häufig als Metapher für sein Feldkonzept (etwa 1987, 122ff.; 1998c, 140ff., 203ff.). Die Frage der Passung von Habitus und Feld wird am Beispiel des akademischen Feldes oder besser des Feldes ‚Studium’ noch zum zentralen Thema werden. Mit besagter Komplizenschaft hängt der zweite Punkt zusammen, der für alle Felder gilt: (2) Alle Akteure glauben an die Sinnhaftigkeit des Spiels. Es wird innerhalb des Geschehens um Gewinne gekämpft, aber das Spiel an sich nicht in Frage gestellt.
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1 Begegnungen von inneren und äußeren Strukturen „Interesse heißt ‚dabeisein’, teilnehmen, also annehmen, dass das Spiel das Spielen lohnt und dass die Einsätze, die aus dem Mitspielen und durch das Mitspielen entstehen, erstrebenswert sind; es heißt, das Spiel anzuerkennen und die Einsätze anzuerkennen“ (Bourdieu 1998c, 141f., Hervorh. im Orig.).
Dieser Glaube an das Spiel – Bourdieu nennt ihn illusio – kann nur deshalb funktionieren, weil erstens Akteure eher in solchen Feldern agieren, für die sie einen geeigneten – wenn auch bei Eintritt in das Feld noch nicht fertigen – Habitus besitzen und zweitens die wahren sozialen Gründe für die Machtverteilung in einem Spiel symbolisch verschleiert, d.h. als solche unkenntlich gemacht sind. Wenn beispielsweise im akademischen Feld sich eine Frau auf eine Soziologieprofessur bewirbt, wird sie vielleicht mit der Begründung abgelehnt, sie sei nicht qualifiziert genug, weil sie nicht in namhaften Review-Zeitschriften veröffentlicht habe. Angenommen – unabhängig davon, ob dem empirisch so ist –, dass Frauen tendenziell schwerer Zugang zu solchen Zeitschriften bekommen, entpuppt sich das vermeintliche Qualitätsargument als Gruppenzugehörigkeitsgröße. Dennoch glauben alle Beteiligten – mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Bewerberin – nicht nur an die Sinnhaftigkeit und das Lohnenswerte des Feldes Wissenschaft, den materiell und symbolisch vergüteten Streit um Wahrheit, sondern auch an die Spielregeln, in diesem Falle an die Regel: Qualität wird unter anderem durch Veröffentlichungen in Review-Zeitschriften angezeigt. Anstatt die Regel oder gar das Feld als solches in Frage zu stellen, versucht die Bewerberin künftig, doch in den vermeintlichen Review-ZeitschriftenKreis einzutreten. Die Tatsache, dass in allen Feldern gekämpft wird und alle Akteure an die Güte des Spieles an sich und das Lohnende des Spielens glauben bzw. durch die Verschleierung der Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse glauben müssen, bedeutet – wie gesagt – nicht, dass alle Akteure mit gleichen Mitteln ausgestattet sind und die Passung von Habitus und Feld immer gegeben ist. „Die Wahrscheinlichkeit von [...] [Rupturen] erhöht sich demzufolge, wenn sich die verinnerlichten Strukturen (Habitus) und die umgebenden Strukturen von Akteuren in allzu großer Diskrepanz bewegen“ (Schmitt 2005, 33). So kann mit dem Eintreten einer neuen Rationalität in ein Feld nahezu das komplette Spektrum an Habitus sich als nicht mehr adäquat erweisen. Bereits Bourdieus frühe Untersuchungen in der Kabylei bezeugen dies. Hier entsprach der traditionelle kabylische Habitus in keinster Weise den mit der französischen Kolonialherrschaft eingeführten neuen kapitalistischen Bedingungen und dem zugehörigen ökonomischen Habitus, wie er für ‚moderne’ Gesellschaften selbstverständlich erscheint (Bourdieu 1976; 2000a). Der Habitus als System dauerhafter Dispositionen des Wahrnehmens, Denkens, Handelns, Fühlens und Bewertens erweist sich
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als veränderungsträge. Bourdieu bezeichnet dieses Phänomen des Hinterherhinkens hinter aktuellen Strukturen als hysteresis oder Trägheit des Habitus. Rupturen entstehen aber nicht nur, wenn sich komplette Rationalitäten von Feldern bzw. Handlungszusammenhängen ändern – dies wird mit zunehmender Ausdifferenzierung von Gesellschaften ohnehin immer unwahrscheinlicher. Vielmehr ist es zwangsläufig so, dass Habitus in unterschiedlicher Weise an die Strukturen, d.h. an Habitusansprüche eines Feldes, angepasst sind. Außerdem kann ein Habitus in einer Teildimension gut zu einem Feld passen, in einer anderen weniger. Die Professur-Bewerberin hat womöglich einen bildungsbürgerlichen Hintergrund, der sie an die Sinnhaftigkeit des akademischen Feldes glauben lässt. Dennoch ist sie aufgrund des weiblichen Habitus wahrscheinlichkeitstheoretisch nicht mit allen ‚Trümpfen’ ausgestattet. Die Tatsache, dass es immer auch passende Habitus gibt und weniger passende bereits im Vor-Feld (bezogen auf Schule und Universität im wahrsten Sinne des Wortes) – sei es über direkte Auslese, sei es über Selbstselektion – eliminiert werden, ist ein Grund, weshalb Felder selten komplett in eine Krise geraten. Dadurch, dass andere Auswahlkriterien als der Habitus hier als formal demokratische und damit oft ungleichheitsverschleiernde Instanz vorgeschoben werden – Schulabschlüsse und -noten sind hier zu nennen –, gelingt immer auch Habitus, die weniger den vom Milieu geforderten Codes entsprechen als andere, gleichsam als ‚Offenheitsbeweise’ des Systems der Zugang zum akademischen Feld. Dennoch finden aufgrund der generellen Passung von Habitus und der symbolischen Verschleierung von Macht hier kaum offene intergruppale Konflikte statt, sondern diese Rupturen manifestieren sich in der ‚Latenz’ der in Begabungsunterschiede uminterpretierten sozialen Unterschiede eher in intrapersonalen Konflikten. Die ungenügende Passung von einzelnen, bildungsferneren Habitus zu den Strukturen des akademischen Milieus wird also individualisiert und in ihrer Bearbeitung oft psychologisiert, so dass das große Ganze sich mehr oder weniger ungestört weiter reproduzieren kann. Dies wird für den hiesigen Zusammenhang noch von besonderer Bedeutung sein. Auch die Regeln eines Feldes – das ist logisch – bevorzugen immer die im Feld herrschenden Fraktionen, da sie das Produkt vorangegangener ‚Feldkämpfe’ sind. Wer also gegen die Regeln aufbegehrt, begehrt gegen das Normale, das faktisch Gegebene auf und verlässt zwangsläufig den Pfad des Konsenses, der Toleranz. Daher wirken diejenigen, welche die Doxa hinterfragen und anzweifeln – zumeist solche mit einem zumindest in einer Dimension dominierten Habitus – tendenziell aggressiv, affektbeladen etc. Die Gelassenheit und Coolness, das vernünftig Wirkende ist auf Seiten derer, die sich auf die Welt, ‚wie sie nun mal ist’, berufen können.
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Für Bourdieu ist die Verlagerung von Klasseninteressen auf individuelle Konkurrenzkämpfe innerhalb der Spiele sowie die Feldtheorie im Allgemeinen mindestens in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen liefert sie ein theoretisches Fundament für seine Hypothese, dass von gesellschaftlichen Verhältnissen negativ Betroffene sich nur selten mobilisieren, obwohl ausreichend Leid gegeben ist. Zum anderen bietet das Konzept die Möglichkeit, auch demokratisch und partizipatorisch organisierte Handlungszusammenhänge als Felder wahrzunehmen, in denen Konkurrenzkämpfe stattfinden. Dies hat vor allem für Akteure Bedeutung, die sich als politikgestaltend wahrnehmen, wie zum Beispiel soziale Bewegungen oder auch Parteien. Pierre Bourdieu zeigt hier auf, wie scheinbar uneigennütziges, gemeinnütziges Verhalten von habitus- bzw. feldspezifischen – d.h. selten bewussten – Interessen geleitet sein kann. 1.1.5 Fünfte Zirkelstation: Die Erkenntnissoziologie – Wissenschaft jenseits von Objektivismus und Subjektivismus Aus dem bisher Gesagten geht erstens hervor, dass Akteure weder völlig frei gestaltende Subjekte noch bloß ausführende, an gesellschaftlichen Strukturen hängende Marionetten sind. Sie haben vielmehr – um sie selbst zu werden – ihre relevanten Strukturen verinnerlicht, was ihr weiteres Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Handeln und Bewerten strukturiert. Zweitens agieren Menschen nicht in einem neutralen Raum, sondern in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft. Drittens tun sie dies in verschiedenen Feldern, die sowohl ihre eigenen Machtverhältnisse als auch Regeln haben und viertens begegnen Menschen ihren Lebenswelten, d.h. ihren spezifischen Feldern, in denen sie agieren, mit ihren eigenen Habitus. Das heißt, sie generieren soziale Praxis und besitzen den für diese ‚ihre’ Praxis relevantesten Blick, weil nur sie selbst in ihren Handlungssituationen stecken. Diese verschiedenen, sich wechselseitig bedingenden Komponenten sind zu berücksichtigen, wenn es darum geht, Sozialwissenschaft zu betreiben bzw. sozio-logisch zu erkennen. Bourdieu fasst diesen Bedingungskomplex vereinfachend in folgender erkenntnissoziologischer Formel zusammen: „[Habitus x Kapital(ien)] + Feld(er) = Praxis“ (vgl. Bourdieu 1982, 175). Ich möchte dies nun mit Bourdieus Metapher des Kriegsschauplatzes aus meiner methodologischen Vorbemerkung verdeutlichen. Der ‚General’, der auf dem Hügel steht und den Überblick über das Kampfgeschehen hat, nimmt eine Wirklichkeit wahr, die für die Praxis des einzelnen Kämpfers auf dem Schlachtfeld wenig relevant ist. Dieser hat vielmehr darauf zu achten, von einzelnen Gegenübern nicht getroffen zu werden. Es gilt also einerseits, wenn soziale Praxis beschrieben werden soll, die leibhaftigen Akteure wieder ins Spiel zu
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bringen. Andererseits entsteht die soziale Praxis – die Eins-zu-eins-Situation der ‚Soldaten’ – aus den Relationen aller Kämpfenden zueinander, also aus der dynamischen Gesamtsituation, so dass der Blick des ‚Generals’ bei der Beschreibung von Wirklichkeit ebenfalls zu berücksichtigen ist. Dies birgt allerdings das Problem, dass der ‚General’, d.h. der Forscher oder die Forscherin, in der Praxis nie eine neutrale ‚Hügelposition’ einnehmen kann. Wer forscht, ist erstens selbst Teil des Sozialraums und steht dabei in der gesellschaftlichen Hierarchie eher oben. Zweitens sind Forschende Teil des akademischen Feldes, in dem es auch um Prestige geht und darum, die jeweils eigene Sicht der Wirklichkeit als universelle durchzusetzen. Sie sind also selbst Soldaten in einem anderen Getümmel. Von Neutralität und Interesselosigkeit kann deshalb keine Rede sein. Drittens bringen Wissenschaftstreibende eine eigene, Körper gewordene Geschichte, einen Habitus mit ins Spiel. Ein adäquates sozialwissenschaftliches Vorgehen erfordert demgemäß die Objektivierung des objektivierenden Subjektes. Die Hügelposition ist demnach in all ihren Beschränkungen zu reflektieren. Die mangelnde Berücksichtigung der Besonderheiten dieser Position ist es auch, die Bourdieu (1987, 57ff.) sowohl objektivistischen als auch subjektivistischen Standorten vorwirft. Bei seiner Kritik unterscheidet Bourdieu zwar implizit zwischen drei Varianten des Subjektivismus, verwendet aber Sartres Subjektphilosophie häufig stellvertretend für alle. Gerade seine Kampfschauplatzmetapher macht hingegen deutlich, dass auch erkenntnistheoretisch zwischen subjektphilosophischen, interaktionistischen Ansätzen und Rationalen-Akteurs-Theorien zu unterscheiden wäre. Was Bourdieu zum Beispiel Sartre vorwirft, nämlich, dass dieser seine eigene Handlungsentlastetheit nicht reflektiert und damit unempirisch auf dem Hügel steht, trifft beispielsweise Goffman, den Bourdieu sehr geschätzt hat, gerade nicht, weil jener sich in das unendlich Kleine der Handlungspraxis hineinbegeben hat und als ‚Soldat im Getümmel’ aufgetaucht ist. In gewisser Weise ließe sich die subjektivistische Seite in einen theoretischen oder objektivistischen Subjektivismus (Subjektphilosophie), einen methodologischen oder empirischen Subjektivismus (Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie) und einen methodologischen Individualismus (Rationale-Akteurs-Theorien) unterteilen. Was Bourdieu hingegen auch all jenen methodologisch subjektzentrierten Ansätzen vorwirft, ist, dass diese den ersten wissenschaftlichen Bruch mit der Alltagswelt nicht ausreichend vollziehen und damit nicht in der Lage sind, das relationale Gesamtgeschehen zu beschreiben bzw. zu erklären, wie es zu diesem gekommen ist (vgl. Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991). Subjektzentrierte Ansätze vernachlässigen, dass es bereits eine den Akteuren vorgängige Ge-
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schichte des jeweiligen Feldes gibt und dass die Akteure selbst Träger von objektiven Vorgeschichten sind. Umgekehrt richtet sich seine Kritik an objektivistischen Ansätzen dagegen, dass der zweite wissenschaftliche Bruch nicht vollzogen wird, nämlich dass von einer objektiven Konstellation, seien es soziale Lagen, Relationen, Diskurse oder Regeln auf eine subjektive Strategie geschlossen wird, obwohl eben die Akteure mit ihrem je strategischen Praxissinn erst jene Konstellationen erzeugen (vgl. ebd.). Selbst wenn Menschen, im Nachhinein betrachtet, vermeintlich eine Regel befolgt haben, lag diese Regel nicht unbedingt ihrem Handeln zu Grunde. Handlungspraxis findet zudem in einer anderen raum-zeitlichen Konstellation statt, als die Rekonstruktion durch Wissenschaftstreibende. Stellvertretend kritisiert Bourdieu hier den Strukturalismus Claude Levi-Strauss’, dem er aber seine relationale Herangehensweise verdankt. Was er nämlich obendrein an marxistischen Ansätzen kritisiert, ist deren Substantialismus, d.h. deren Primat der absoluten Lagebedingungen gegenüber dem relationalen Beziehungsgeflecht. Hier lässt sich erneut das Beispiel des Lottogewinners anführen, dessen Bewusstsein eben nicht vollständig durch sein neues Sein bestimmt wird, sondern dessen Habitus vielmehr der neuen Lage hinterherhinkt. Auch wenn die Kritische Theorie in verschiedenen Punkten vom ökonomischen Paradigma abgewichen ist bzw. nicht mehr in den Produktionsverhältnissen transzendente Momente erblickt, die über das faktisch Gegebene hinausweisen, bleibt deren Ansatz aus Bourdieuscher Perspektive substantialistisch und dahingehend objektivistisch, dass der eigene, praxis-entbundene Produktionsort nicht reflektiert wird. In Kulturindustrie bzw. Kultur – anstelle der Produktionsverhältnisse – sowohl ein Mittel der Verblendung zu sehen, als auch den empirischen Anker einer Transzendenz zu erblicken (vgl. Bauer/Bittlingmayer 2000; Honneth 1994), bleibt ein wenig dem kantianischen, sozialstrukturell ungebundenen Ideal der reinen Ästhetik verhaftet. Auch Adorno, Horkheimer, Marcuse sowie später Habermas und Honneth würden aus Sicht Bourdieus auf dem Feldherrenhügel stehen. Bourdieu bezeichnet seinen Ansatz – der unter anderem mit dem Habituskonzept die Gegensätzlichkeit von Objektivismus und Subjektivismus ad absurdum führt – als Praxeologie und verortet ihn erkenntnistheoretisch in der Dialektik der beschriebenen Pole. Bourdieu spricht – „nicht ohne dialektische Schadenfreude“ (Hülst 1999, 268) – vom genetischen bzw. konstruktivistischen Strukturalismus oder umgekehrt vom strukturalistischen Konstruktivismus, um dies zum Ausdruck zu bringen (Bourdieu 1992a, 135).
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1.1.6 Sechste Zirkelstation und Ziel / Start: Die Sozioanalyse als Emanzipationsgrundlage von leibhaftigen Akteuren Es wird im Folgenden eine an Bourdieus Sozioanalyse angelehnte Heuristik vorgestellt, mit deren Hilfe Konflikte analysiert werden können. Wie sie ausgefüllt wird, muss die Empirie jeweils klären. Eine Heuristik kann nur dann vorliegen, wenn mit Kategorien gearbeitet wird, die das zu Beobachtende in einen größeren Zusammenhang stellen, gleichsam das empirische Material zu einem sozialwissenschaftlichen Material machen, das es nicht von sich aus ist. Hier wird das übergeordnete Funktionsprinzip symbolische Gewalt als grundlegende Kategorie verwandt, die auf verschiedene konflikthafte Erscheinungsformen heruntergebrochen werden kann. Machtverhältnisse sind verschleiert und als normal, selbstverständlich, gerecht etc. legitimiert. Dies hat Auswirkungen auf das Verhalten der Akteure. Da die Machtverhältnisse durch ihre symbolische Verdopplung und die Komplizenschaft von Habitus und Struktur verborgen bleiben, begehren Menschen kaum gegen diese auf, sondern die Konflikte werden in Konkurrenzkämpfen, in Kämpfen um Anerkennung ausgetragen oder die Akteure richten die Gewalt gegen sich selbst bzw. gegen ‚Sündenböcke’. Dass diese Folie als Heuristik, also als ‚Sichtgerät’ verwandt werden kann, verdankt sie nicht zuletzt den Bourdieuschen Konzepten, die verschiedene klassische Gegenüberstellungen ad absurdum führen: so ist Gesellschaft vermittelt über den Habitus immer Teil der persönlichen Identität. Mikro- und Makroanalysen lassen sich demzufolge kaum trennen. Auch Kultur, d.h. vereinfacht die Symbole, über die Gesellschaft abgebildet wird, ist Teil unserer selbst, aber gleichzeitig sehr unterschiedlich verteilt. Neben den zahlreichen Gegenüberstellungen wird damit also auch diejenige von Struktur, Kultur und Identität fragwürdig. Das betrifft auch die Unterscheidung zwischen Identitäts- oder Wertkonflikten und Verteilungskonflikten. Identitäten unterliegen – über die Verinnerlichung von verteilten und bewerteten Symbolen – Verteilungen und umgekehrt sind Verteilungen immer an Symbole und damit an Identitäten und Werte gekoppelt. Aber die Sozioanalyse zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie – indem sie diese Verteilungen wissenschaftlich aufzudecken vermag –, bereits vom Ansatz her eine befreiende, emanzipatorische Wirkung hat. Das heißt sie rüttelt an den Gegenüberstellungen von Analyse und Bearbeitung sowie von Wissenschaftlichkeit bzw. Werturteilsfreiheit und emanzipatorischer Wirkung. Nicht umsonst hat Bourdieu (etwa 1993, 64-74; Bourdieu/Wacquant 1996, 95-124) den Begriff Sozioanalyse in Anlehnung an die Psychoanalyse gewählt. Auch hier geht es um die Bewusstmachung von unbewussten Zusammenhängen. Doch verweilt die Psychoanalyse – selbst wenn sie auf ganze Gesellschaften angewandt wird – bei ihren Erklä-
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rungen auf der Ebene von Beziehungserfahrungen. Mit dem Habituskonzept besteht hingegen die Möglichkeit, eine ganz individuelle Konstellation, nämlich einen individuellen Habitus an die kollektiven Strukturen seiner Entstehung, d.h. an kollektive Teildimensionen (Geschlecht, Milieu etc.) zurückzubinden und damit adäquater abzubilden. „In der Tradition des Hippokrates beginnt die wirkliche Medizin mit der Kenntnis der unsichtbaren Krankheiten, also der Dinge, über die der Kranke nicht spricht, weil sie ihm nicht bewusst sind oder er vergisst, sie zu erwähnen. Das gilt auch für eine Sozialwissenschaft, die sich um Kenntnis und Verständnis der wirklichen Ursachen des Unbehagens bemüht, das nur durch schwierig zu interpretierende gesellschaftliche Anzeichen zutage tritt“ (Bourdieu 1996, 68-69).
Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: eine Psychologie-Studentin gibt einem Freund zu verstehen, dass sie eine ihrer Kommilitoninnen nicht mag, weil diese so unsicher, falsch, unauthentisch sei und „so affektiert rüberkomme“, wenn sie ihr Tutorium abhält. Sie solle doch mal eine Therapie machen. Angenommen, diese Tutorin kommt aus einem bildungsfernen Milieu, dann kann ihr Verhalten mit der Heuristik als Habitus-Struktur-Konflikt gedeutet werden. Die verinnerlichten kulturellen Muster passen nicht besonders gut zu den Mustern ihrer aktuellen Umgebung. Sie verhält sich nicht nur so, als sei sie ‚zwischen den Stühlen’, sie ist es tatsächlich. Das, was unauthentisch wirkt, ist das authentischste Abbild dieses Konfliktes. Es würde dieser Person, so sie denn überhaupt unzufrieden ist, möglicherweise kaum helfen, vergangene Beziehungsaspekte aufzuarbeiten. Es könnte aber zur Erleichterung beitragen, wenn sie mit der vorgestellten Heuristik eine Grundlage hätte, Verständnis für sich und ihre Situation aufzubringen. Damit bin ich wieder bei den leibhaftigen Akteuren, also am Ziel bzw. Start der Rundreise angelangt und mit der Frage konfrontiert, welchen Nutzen Konfliktakteure aus dem Wissen um die verinnerlichten und äußerlichen Grenzen im Zusammenspiel mit symbolischer Gewalt ziehen können. Liegt mit einer derartigen Habitus-Struktur-Bewusstwerdung ein hermeneutischer Zirkel vor, in dessen Verlauf Akteure sich zunehmend emanzipieren? Damit ist die ‚HabitusSeite’ als Adressat angesprochen. Es kann aber auch gefragt werden, welche Implikationen diese Bewusstmachung für intervenierende Dritte haben kann. Bourdieu misst der Lebenswelt der Akteure eine große Bedeutung bei, sieht aber gleichzeitig deren Abhängigkeit von Strukturen und Betroffenheit von Machtverhältnissen. Daraus folgt, dass es alles andere als gleich verteilt ist, eine eigene Meinung zu haben und diese auch kundzutun. Das bedeutet, dass denjenigen, die keine Stimme haben, einfach eine Meinung in den Mund gelegt wird, wenn sie in unreflektierter Weise von Forschenden befragt werden. Vor allem in
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der Meinungsforschung – dies kritisiert Bourdieu (1992a, 208ff.; 1998b, 70ff.) – werden Antworten auf Fragen produziert, die sich die betroffenen Akteure selbst nie stellen würden. Es wird also damit erstens unwissenschaftlich Wirklichkeit erzeugt, zweitens die Stimmlosigkeit beherrschter Akteure als solche ignoriert, obwohl sie eine sehr valide Aussage über Wirklichkeit macht. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass den Akteuren Fragen aufgedrängt, die dann zwangsläufig irgendwie beantwortet werden, sondern auch daran, dass Nicht-Antworten (Missing-Werte) ignoriert werden, anstatt sie als Indiz für das Stellen falscher Fragen wahrzunehmen. Drittens wird durch das Stellen falscher Fragen das Stellen richtiger Fragen verhindert. Richtige Fragen wären solche, die das Elend der Welt (Bourdieu u.a. 1997), wie es sich im Erleben Betroffener darstellt, zutage fördern. „Viele wissenschaftliche Arbeiten, vor allem die Analyse der Antwortverweigerungen in Meinungsumfragen haben gezeigt, wie ungleich die Möglichkeiten verteilt sind, eine ausdrückliche Meinung zu äußern. ‚Meinen heißt sprechen’, hat Platon gesagt. Nun ist aber nichts ungleicher verteilt als diese Fähigkeit, und natürlich stört eine solche Feststellung das gute demokratische Gewissen: alle Leute sind gleich, so lautet das Dogma. Doch zu behaupten, alle Leute seien vor der Meinung gleich, ist ein Irrtum, ein politischer Fehler. Nicht alle verfügen über die Mittel zur Produktion einer persönlichen Meinung. Die persönliche Meinung ist ein Luxus. Es gibt in der gesellschaftlichen Welt Leute, die ‚gesprochen werden’, für die man spricht, weil sie selbst nicht sprechen, für die man Fragen stellt, weil sie selbst sie nicht stellen können. Im großen Spiel der demokratischen Mystifikation geht man heute soweit, ihnen Gelegenheit zu geben, auf Fragen zu antworten, die sie selbst nicht hätten aufwerfen können. Man veranlasst sie damit zu falschen Antworten, die vergessen lassen, dass sie keine Fragen haben“ (Bourdieu 1993a, 216; 1998b, 72f.).
Mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit ist es aber nicht nur die Aufgabe einer sozialwissenschaftlichen Analyse, das Stellen ‚falscher’ Fragen zu verhindern und leibhaftige Akteure in ihren Lebenswelten, d.h. mit ihren eigenen Relevanzsetzungen zu Wort kommen zu lassen. Eine Sozioanalyse bietet vielmehr die Möglichkeit, verinnerlichte (Habitus) und äußere Grenzen (Felder, Sozialraum) dem Bewusstsein zugänglich zu machen: „Indem sie die Entdeckung der Äußerlichkeit im Herzen der Innerlichkeit, der Banalität in der Illusion der Seltenheit, des Gewöhnlichen im Streben nach dem Einzigartigen erzwingt, denunziert die Soziologie nicht nur alle Hochstapelei der narzißtischen Ichbezogenheit. Sie bietet auch das vielleicht einzige Mittel, und sei es auch nur über das Bewußtsein der Determiniertheiten, dazu beizutragen, etwas wie ein Subjekt zu konstituieren, eine Aufgabe, die sonst den Kräften der Welt anheimfällt“ (Bourdieu 1987, 44f.).
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Es ist demzufolge gerade nicht emanzipatorisch, subjektive Handlungsautonomie ohne die Analyse von Abhängigkeiten zu postulieren. „Eine kritisch-emanzipative Perspektive darf sich nicht darin erschöpfen, das Ideal der ‚Ich-Identität’ und damit subjektiver Handlungsautonomie unter den gegenwärtigen Verhältnissen bereits als vollständig erreichbar zu bezeichnen. Sie setzt vielmehr eine phänomenologische Betrachtung, die Analyse empirischer Abhängigkeitsbeziehungen, in denen sich das Subjekt befindet, erst voraus“ (Bauer 2004, 86; Hervorh. im Orig.).
Die zunächst völlig wertneutrale Aufgabe ist es also, die verborgenen Mechanismen der Macht (Bourdieu 1992) aufzudecken. Dies ist zwangsläufig emanzipatorisch, weil diese Enthüllungsarbeit potenziell denjenigen zu Gute kommt, die vom unhinterfragten, normalen, selbstverständlichen Gang der Dinge, von der Doxa, den Feldregeln benachteiligt werden und weil sie diejenigen stört, die bisher von der Verschleierung der Machtverhältnisse profitierten. Es wird deutlich, dass eine derartige Analyse von emanzipatorischer Praxis nicht zu trennen ist. Bourdieu gibt in nahezu allen seinen Arbeiten zu verstehen, „(...) daß diese Art Analyse eine klinische, ja therapeutische Funktion haben könnte: Die Soziologie ist ein höchst machtvolles Instrument der Selbstanalyse, die es einem ermöglicht, besser zu verstehen, was man ist, sowie die Stellung begreifen lässt, die man innerhalb der sozialen Welt innehat. Das ist sicherlich sehr ernüchternd und entspricht nicht der herkömmlichen Auffassung von Soziologie. Die Soziologie kann auch andere, darunter politische, Funktionen aufweisen. Aber über die oben genannte selbstanalytische bin ich mir am sichersten“ (Bourdieu 1992a, 223).
Wenn es – wie Adorno schreibt – „zum Mechanismus der Herrschaft [gehört], die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten“ (Adorno 1964, 75), dann geht es der Sozioanalyse umgekehrt darum, diese Erkenntnis zu ermöglichen. Da die Reproduktion von Machtverhältnissen von der Verschleierung ihrer sozialen Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen abhängig ist, erfährt sie durch diese Offenlegung einen Bruch. Das Selbstverständliche wird seiner Natürlichkeit beraubt. Die illusio, d.h. der Glaube an die Güte und Sinnhaftigkeit des jeweiligen Spiels, wird zerstört, Kontingenzen, d.h. Handlungsalternativen, werden sichtbar. Diese Vorstellung von Emanzipation teilen Urs Haeberlin und Eva Niklaus, die ihre Monographie über Identitätskrisen nicht zufällig am Beispiel des sozialen Aufstiegs durch Bildung entwickeln. Sie schreiben mit Bezug auf Adorno:
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„Aufgrund der bisherigen Erörterungen sehen wir einen Ansatzpunkt zur Emanzipation in der Reflexion des Subjektes über sich selbst und über die gesellschaftlichen Zwänge, in denen es steht. Es ist das Durchschaubarmachen dessen, was der Mensch sich selbst zufügt, indem er sich mit dem entfremdeten Dasein identifiziert. Laing (1973) spricht von einem Vorgang der Ent-Entfremdung, indem der Mensch zunächst diese 'Mechanismen' erkennt und sie dann als etwas erfährt, das er sich selbst zugefügt hat (ebd., S. 29). Nur aus diesem Vorgang kann wieder Handlung entstehen, in der der Mensch wieder selbst zum Agenten, statt Knecht wieder Herr seines Rollenverhaltens wird“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 55; Hervorh. im Orig.).
Weiter unten heißt es: „Dieser individuelle Ansatz ergibt sich notwendigerweise aus dem Identitätsbegriff selbst, der Identität gleichsam als privaten Besitz und individuelle Fähigkeit erklärt. Ansatzpunkte zu einer kollektiven Emanzipation können sich da entwickeln, wo z.B. festgestellt wird, daß Diskrepanzen, d.h. der Bruch zwischen Anpassung und Selbstbestimmung zu groß ist, um von einzelnen Individuen ausbalanciert werden zu können. Die Erfahrungen dieser Diskrepanzen und Konflikte können, wenn sie zur Sprache gebracht werden und nicht individueller Besitz bleiben, zu kollektivem Handeln führen. […] Erst dann [wenn Identitätskrisen zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden; L.S.] können individuelle und gesellschaftliche Bedingungen, die diese Störungen verursachen, erkannt und verändert werden“ (ebd., 56).
Auch für Haeberlin und Niklaus ist diese Bewusstmachung also conditio sine qua non. Sie führen weiter aus, wie Emanzipation auf der individuellen Ebene gelingen kann: „Eine derart blockierte Emanzipationsmöglichkeit könnte wieder hergestellt werden, wenn das Individuum lernen kann, verdrängte Bedürfnisse und Erfahrungen in die sprachliche Darstellung und damit ins Bewusstsein zurückzuholen. Gleichzeitig müsste es lernen, den unaufhebbaren [sic!] Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Determination und personaler Freiheit zur Basis seiner Emanzipationsbestrebungen zu machen. Darüber hinaus müsste es erkennen, dass Veränderungen der gesellschaftlichen Determination zugunsten personaler Freiheit kollektives Handeln voraussetzen“ (ebd., 58).
Hier wird genau das angesprochen, was als Habitus-Struktur-Konflikte zu bezeichnen sein wird. Die Strukturseite mit ihren entsprechenden Habitusanforderungen lässt sich nicht im individuellen Handeln ändern. Eine einzelne Person kann nicht dafür sorgen, dass das akademische Milieu rational pädagogisch verfährt, die eigenen Grenzen, Codes und damit einhergehend Bevorzugungen und Selektionen erkennt und sich auf unterschiedliche Habitus, ‚verschiedene Selbste’ hin sensibilisiert. Auf individueller Ebene kann es also – wie Haeberlin und Niklaus schreiben – zunächst ‚nur’ darum gehen, die Habitus-Struktur-
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Konstellation und die damit einhergehende Verdrängung von Erfahrungen und Bedürfnissen bewusst zu machen und darüber ein Verständnis für den erlebten und real existierenden Widerspruch zu schaffen. Allerdings weicht der Vorschlag von Haeberlin und Niklaus in mindestens zwei Punkten von der Sozioanalyse ab. Zum einen liegt der Konflikt eben nicht nur in dem, was die betreffende Person sich selbst zugefügt hat, sondern in der Interaktion mit den vorgefundenen Strukturen. Zum anderen ist das, was sie sich selbst zugefügt hat, gleichzeitig das, was ihr früher zugefügt wurde, nicht etwa etwas ihr Äußerliches, sondern ihre Identität oder treffender: ihr Habitus. Es gilt nicht bloß, sich einer Rolle, die etwas Äußerliches und damit ablegbar ist, bewusst zu werden. Dieser Ansatz würde einem Machbarkeitsmythos unterliegen, der Emanzipation durch das Verleugnen von Habitus gerade verhinderte. Die Diskrepanz zwischen Habitus und Struktur wird zudem nicht dadurch gelöst, dass man sich ihrer bewusst wird. Der manifeste Konflikt lässt sich eventuell jedoch mit entsprechender Reflexion vermeiden und auf die Diskrepanz reduzieren. Die Habituserfordernisse auf der Seite der Strukturen lassen es nicht zu, dass – wie oben beschrieben – man einfach nur seine bisherige Identität nicht verleugnen, sondern in die Interaktionssituationen einbringen müsse, um die Entfremdung zu entfremden. Das Problem entsteht genau dadurch, dass eben nicht jede Identität, jeder Habitus von den Strukturen gleichermaßen honoriert wird, bzw. gleichermaßen in diese eingebracht werden kann. Zwar ist der Habitus auch Identität, d.h. etwas Individuelles, Privatbesitz und Fähigkeitsgenerator, aber seine Komponenten sind an Kollektive seiner Entstehung rückbindbar. Hinter dem individuellen Habitus steht eine individuelle Kombination aus kollektiven Komponenten wie kleinbürgerlicher, weiblicher Habitus etc. Das macht dieses Konzept auch als Analyse- und Bearbeitungsinstrument kollektiver Konfliktlagen so interessant. Die Idee, die hinter einer Habitus-Struktur-Bewusstmachung steht, ist, „sich der Kenntnis des Wahrscheinlichen zu bedienen, um die Chancen des Möglichen zu vergrößern“ (Bourdieu 1993a, 45f.). Ein individueller Habitus (eine individuelle Lebenslinie) ist per definitionem immer im Bereich der Möglichkeiten anzusiedeln. Es geht also bei der Sozioanalyse darum, die Wahrscheinlichkeiten des Klassenhabitus in Konfrontation mit betreffenden Feldern, d.h. die für diese Felder inkorporierten Grenzen aufzudecken, um Handlungskontingenzen zu ermöglichen. ‚Der Schuster’ muss also erst wissen, dass es auch für ihn etwas anderes als ‚seine Leisten’ gibt, um diese verlassen zu können. Genau wie Orbitale von Elektronen um Atomkerne reale, d.h. empirisch zu verschiedenen Zeiten erfasste, Wahrscheinlichkeitsräume sind, die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten von Elektronen markieren, ist der Bourdieusche Sozialraum ein realer Wahrscheinlichkeitsraum, der Aufenthaltswahrscheinlichkeiten von Akteuren benennt. Genauso wenig wie
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ein Elektron sich an dem wahrscheinlichsten Punkt aufhalten muss, ist dies für einen sozialen Akteur der Fall. Das Verhältnis von Wahrscheinlichkeit (Struktur) und Determinierung bei Bourdieu umschreibt Bauer treffend: „Das Sozio-Logische der Sozialisationsforschung besteht in der Analyse sozialer Wahrscheinlichkeiten. Diese sind weder als kausale noch – und darum geht es hier – als zufällige misszuverstehen“ (Bauer 2004, 72f.).
Weiter unten heißt es: „Für den Vorwurf jedoch, mit dem Habituskonzept würden Persönlichkeitseigenschaften zwangsweise homogenisiert, beispielsweise im Sinne strukturdeterministischer Vorstellungen eines klassenspezifischen ‚Sozialcharakters’ (Riesman), findet sich in Bourdieus Arbeiten kein Ansatzpunkt. Der einzelne Habitus ist nach Bourdieu niemals identisch mit dem einer sozialen Gruppe (etwa der Herkunftsschicht oder -klasse). Es ist ‚ausgeschlossen, daß alle Mitglieder derselben Klasse (oder auch nur zwei davon) dieselben Erfahrungen gemacht haben, und noch dazu in derselben Reihenfolge’ (ebd., 112). Jeder Habitus ist aufgrund seiner Erzeugungsbedingungen individuell. Gruppenspezifische Habitus bezeichnen lediglich die Übereinstimmung grundlegender Merkmale der Lebensführung in einer bestimmten Struktur von Existenzbedingungen, die stets mit höherer Wahrscheinlichkeit dazu führen, die individuellen Ausdrucks- und Handlungsformen einander anzuähneln. Bourdieus Habituskonzept beinhaltet kein deterministisches Prinzip. Die Funktion des Habitus geht nicht in der bloßen Reproduktion einmal erworbener Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata auf. Der Habitus ist immer zugleich eine strukturbildende Kraft. Er ist Quelle emergenter Handlungsweisen“ (Bauer 2004, 75; mit Verweis auf Bourdieu 1987; Hervorh. im Orig.).
Es ist also möglich, im individuellen Habitus in Kenntnis der kollektivindividuellen Grenzen und damit in Kenntnis anderer möglicher Aufenthaltsorte, diese unwahrscheinlicheren Orte aufzusuchen, d.h. vom wahrscheinlichen Ort des kollektiven Habitus abzuweichen. Denn der Sozialraum reproduziert sich gerade dadurch, dass diese Handlungskontingenzen nicht bewusst sind, obwohl Akteure sich – im Gegensatz zu Elektronen in Orbitalen – dieser Handlungsalternativen bewusst sein können. Eine ‚rationale Subversion’ à la Bourdieu kann die Möglichkeit bieten, wenn nicht gleich Strukturen zu verändern, so doch auf der Akteursebene Strukturen bewusst zu machen, um ein aufgeklärteres Umgehen damit zu ermöglichen. Dies gilt vor allem für die Fälle, in denen Menschen einen weiten Weg vom Ausgangspunkt im Sozialraum zurückgelegt, also bereits einen unwahrscheinlichen Ort13 aufgesucht haben und dies als einen 13 Dies widerspricht nicht der Möglichkeit, dass Menschen diesen unwahrscheinlichen Ort als biographisch konsistent und selbstverständlich erleben bzw. konstruieren (vgl. Bourdieu 1990).
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Konflikt erleben. Hier bestünde die Konfliktbearbeitung genau darin, die Länge dieses Weges als Konfliktursache zu thematisieren. Dies könnte zu einer realistischeren Einschätzung der eigenen Person sowie der Situation führen: der Konflikt bekäme ein Gesicht. Die Person könnte ein größeres Verständnis für sich aufbringen. Es würde ihr schwerer fallen, die Probleme internal zu attribuieren. Dies könnte zu einer Handlungsentlastung führen, zu einer stärkeren Selbsthonorierung des bisher Geleisteten beitragen, vor unrealistischen Ansprüchen bewahren, Handlungskontingenzen aufzeigen etc. Der Konflikt würde also – selbst wenn er psychologisch/medizinisch als Neurose o.ä. diagnostizierbar wäre – als das behandelt, was er ist, nämlich als Konflikt zwischen kulturellen Mustern, als Habitus-Struktur-Konflikt. Der ‚affektierten Tutorin’ aus einem vorherigen Beispiel würde es – wie gesagt – möglicherweise gar nichts nützen, frühkindliche Beziehungsmuster aufzuarbeiten. Auch wenn in diese selbstverständlich gesellschaftliche Struktur/Kulturmuster eingegangen sind, so ist doch der aktuelle Widerpart, der den Konflikt auslöst, höchstens abgeleitet auf der Ebene von Beziehungen zu suchen. Die Tutorin sieht sich vielmehr einem fremden Milieu (etwa akademisch/männlich) ausgesetzt. Bourdieus Ansatz hat also den Vorteil, auf die individuelle Konstellation der Tutorin, ihren individuellen Habitus, eingehen zu können und diese an eine Ebene zurückzubinden, auf der der Konflikt angesiedelt ist. Der ‚Umweg’ über die Analyse von Beziehungsmustern neigt per definitionem dazu, die andere Seite dieses Konflikts, nämlich die neuen, fremden, ausschließenden Strukturen, auszublenden und damit weiter zu einer Individualisierung und Reproduktion des Konfliktes und der symbolischen Gewalt beizutragen. Die Desillusionierung14 durch Bewusstheit eigener (Habitus-) Grenzen kann jedoch auch entmutigend wirken, das Gefühl der Verantwortung für eigenes Fehlverhalten reduzieren oder aggressives Verhalten gegen ‚diese strukturelle Ungerechtigkeit’ induzieren. Auch als Konfliktbearbeitungsansatz ist also 14 Dieser Ansatz der Desillusionierung als emanzipatorisches Instrumentarium kann auch in Judith Butlers Dekonstruktionsgesuchen von Subjektkategorisierungen ausgemacht werden: „Während einige Theoretiker die Kritik der Souveränität als Zerstörung der Handlungsmacht missverstehen, setzt meiner Ansicht nach die Handlungsmacht gerade dort ein, wo die Souveränität schwindet“ (Butler 1998, 29). Handlungsmächtig sei das Subjekt dann – so Paula-Irene Villa (2003, 55) –, „wenn es zunächst anerkennt, dass es von diskursiven Strukturen hervorgebracht und mit diesen verstrickt ist.“ Dem fügt sie hinzu, dass diese Anerkennung keiner fatalistischen Resignation gleichkommen muss, sondern gerade dadurch Platz für subversive ‚Umwendungen’ bestünde (vgl. ebd., 55f.). Ausgangspunkt ist hierfür auch bei Butler, dass „der Prozeß der Subjektformierung (...) ein Prozeß der Unsichtbarmachung [ist]“ (Butler 2001, 177). Dementsprechend „arbeitet Butler gegen ein ‚Trugbild der Souveränität’ des Subjekts an“ (Villa 2003, 45 mit Verweis auf Butler 1998, 29). Die Unsichtbarmachung der sozialen Genese von Unterschieden und Unterscheidungen wurde hier als zentrales Thema der Arbeiten Bourdieus dargestellt.
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am empirischen Fall zu überlegen, inwieweit die im folgenden Unterkapitel systematisierte Heuristik befreiend wirken kann. Außerdem hilft es den Opfern direkter Gewalt – etwa rassistisch motivierter Übergriffe – wenig, wenn sie um die Zusammenhänge symbolischer Gewalt wissen. Welche Konsequenzen hat dieser emanzipatorisch-erkenntnissoziologische Ansatz also für die ‚leibhaftigen Akteure’? Klar ist, dass diese nicht nur zu Wort kommen, sondern auch von den sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen profitieren sollen. „Die Soziologie wäre keine Stunde der Mühe wert, sollte sie bloß ein Wissen von Experten für Experten sein“ (Bourdieu 1993a, 7). Hierbei stellt sich jedoch die Frage, wie diese Erkenntnisse genutzt werden bzw. wer die Trägerinnen und Träger von Veränderungen sein können. „Was die Sozialwelt hervorgebracht hat, kann die Sozialwelt mit Wissen ausgerüstet auch wieder abschaffen. Eines ist jedenfalls sicher: Nichts ist weniger unschuldig, als den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen“ (Bourdieu u.a. 1997, 826). Geht man mit Luhmann davon aus, dass „die Gesellschaft [...] keine Adresse [hat]“ (Luhmann 1997: 866), dann ist klar, dass die Veränderung bei den Akteuren ansetzen und die aufklärende Sozioanalyse ein Mittel dafür bereitstellen könnte. Bourdieu stellt heraus: „Ich denke, dass Politik etwas anderes wäre und politische Aktionen eine ganz andere Wirksamkeit gewännen, wenn jedermann davon überzeugt wäre, dass es an ihm selbst liegt, seine eigenen politischen Angelegenheiten in die Hände zu nehmen und dass niemand kompetenter ist als er selbst, um seine persönlichen Interessen wahrzunehmen [...]. Man sollte jede Mühe daran setzen, um allen fühlbar zu machen, wie sehr politische Angelegenheiten jeden einzeln persönlich angehen und daß es darum geht, in diesen scheinbar abstrakten politischen Angelegenheiten sich selbst mit allen lebenspraktischen Problemen wiederzuerkennen“ (Bourdieu 1992, 17).
Damit bleibt zunächst die Frage offen, wie Akteure zu dem Wissen über die Reproduktion ihrer Sozialwelt gelangen und wer konkret die Trägerinnen und Träger von Veränderungen sein können. Bourdieu nennt im Wesentlichen zwei Gruppen. Zum einen sieht er emanzipatorisches Potenzial in Akteuren mit dominierten Habitusanteilen, die den „Scharfblick der Ausgeschlossenen“ besitzen (Bourdieu 1997a). Zum anderen sind Intellektuelle, vor allem Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zu nennen, wobei diese Gruppe bei ihm eine gesonderte Stellung genießt: „Ich will hinzufügen, dass die Geschichte zeigt, daß die Leute, die sich im sozialen Raum in einer gewissen freischwebenden Stellung befinden, häufig Träger von Innovation und Freiheit sind. Das ist vielleicht der Gegenwert der Leiden, die mit dem Bastard-Status verbunden sind“ (Bourdieu 1992: 146).
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Anzumerken ist hierbei, dass diese Personen ja so frei schwebend nicht sind, sondern privilegierter Teil der Gesellschaft und selbst verstrickt in die Auseinandersetzungen um Anerkennung und Prestige. Dennoch können sie diese Position dazu nutzen – sofern eben nicht die falschen Fragen gestellt werden –, den Stimmlosen (d.h. den meisten der negativ Betroffenen) eine Stimme zu verleihen. So lässt sich bei Bourdieu sowohl eine Verachtung des ‚sozialweltfremden’ Intellektuellen ausmachen, als auch im Gegenzug das emanzipatorische Potenzial, das sich hinter dieser weitestgehend von Handlungszwängen entlasteten Position verbirgt. Außerdem nehmen Intellektuelle selbst eine dominierte Position im Feld der Macht ein, was eine strukturhomologe Solidarität mit anderen Dominierten erwarten lässt. Eine derartige Solidarität sei an einem Beispiel verdeutlicht: Bei einem Fernsehprogrammhinweis auf einen HeidiZeichentrickfilm lautete es neulich etwa wie folgt: „Heidi kommt nicht zurecht mit dem feinen Leben in der Stadt, sie vermisst ihre Berge. Der einzige Mensch, der ihr in dem bürgerlichen Hause in Frankfurt zu helfen versucht, ist der Diener.“ Diese Hilfe ließe sich mit der strukturellen Homologie des Dominierten erklären. Der Diener, der sich in dem bürgerlichen Hause in einer dominierten Stellung, eben jener als Diener, befindet, hilft Heidi, weil sie ihm wegen ihres ebenso dominierten Mädchen- und Landhabitus sympathisch ist. Ganz praktische Interventions-Hinweise für die Bearbeitung von interkulturellen Konflikten gibt Anja Weiß (2001). Sie verweist mit Bourdieu darauf, dass hinter solchen Konflikten immer auch eine kollektive Ungleichverteilung von Macht steht, d.h. dass es immer um dominante bzw. dominierte Gruppenzugehörigkeiten bzw. Habitusanteile geht. Auch andere Autorinnen (etwa Harders 2005; Reimann 2004) weisen darauf hin, dass eine adäquate Konfliktbearbeitung diese häufig verborgene Machtdimension des Konfliktes zu thematisieren hat, was die wechselseitige Verständnisbasis der Konfliktparteien erhöhen kann. Bourdieu selbst hat über diese Sozioanalyse hinaus – aber stets an diese anknüpfend – immer wieder öffentlich politisch Stellung genommen, zum Zusammenschluss verschiedener sozial ausgegrenzter Gruppen aufgefordert, und mit raisons d’agir ein Kollektiv europäischer Intellektueller ins Leben gerufen. Er hat sich dabei immer ‚nur’ als Wissenschaftler mit Aufklärungsanspruch verstanden. 1.2 Symbolische Gewalt und Habitus-Struktur-Konflikte In Kenntnis des emanzipatorischen Anspruchs, wie er soeben erläutert wurde, darf der Entwurf einer Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten (HSK) durchaus als „Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln“ (Bauer/Bittlingmayer 2000) interpretiert werden.
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Wird in den jeweiligen ‚Epochen’ der Kritischen Theorie – wie Honneth (1994) dies tut – ein je anderer empirischer Anker ausgemacht – damit ist der Bedarf an einer Kritischen Theorie gemeint, der sich bereits vorwissenschaftlich empirisch äußern muss –, dann kann trotzdem nicht von einer Reflexion der Hügelposition gesprochen werden. Waren es bei Marx die Produktionsverhältnisse, in denen Entfremdungstendenzen sichtbar würden, so hatte bei Adorno und Horkheimer Kultur diese Rolle inne. In der Kultur aber würden nicht nur die Verblendungszusammenhänge in Form der Kulturindustrie deutlich, sondern in ihr wurde auch eine emanzipatorische Möglichkeit zur Transzendenz der kapitalistischen Verhältnisse gesehen. Marcuse erblickte dann später in den Lebensformen von Protestbewegungen etwas, was über das faktisch Gegebene hinausweise. Gegenwärtig übernimmt diese ‚Funktion’ bei Habermas (1981) das Normativ einer idealen Kommunikationssituation und deren Bedrohung bzw. Auflösung durch die Kolonialisierung von Lebenswelt, die systemischen Imperativen folgt. Weniger Habermas selbst als vielmehr die sozialisationstheoretische Rezeption des Lebenswelt-Ansatzes hat – Ullrich Bauer zufolge – das normative Ideal der Handlungsautonomie in die Empirie hineinverlegt: „Demgegenüber setzen die Rezipienten der kritischen Rollentheorie die Erlangung der ‚Ich-Identität’ im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung immer schon implizit voraus. Habermas’ vorsichtiges Herantasten an die Bedingung der Möglichkeit individueller Handlungsautonomie wird in einen quasi notwendigen, universalen Entwicklungsmechanismus verkehrt“ (Bauer 2004, 68; Hervorh. im Orig.).
Weiter unten lautet es noch deutlicher: „Diese Verlagerung der Forderung nach Autonomie in eine theoretische Konzeption, die jegliches individuelles Handeln als autonomes Handeln ausgibt, erfüllt dann jedoch anstatt der kritischen eine erkenntnishemmende Funktion. Der epistemische Subjektbegriff, die Eventualität und Potenzialität menschlicher Entwicklung, mag für eine emanzipatorische Perspektive von Bedeutung sein. Er verliert jedoch seine Entsprechung in der empirischen Realität. […] Die informelle Sprachregelung, zumal der IndividualisierungstheoretikerInnen, setzt Struktur und Determination gleich. […] Der epistemische Subjektbegriff wird von der empirischen Realität abgekoppelt. Er ist einseitig normativ und visiert lediglich einen statistischen Sonderfall, die Eventualität und Potenzialität der individuellen Entwicklung an. Eine emanzipative Perspektive verkehrt sich damit in das genaue Gegenteil. Sie kann keine strukturellen Einschränkungen mehr benennen, die die Entwicklung individueller Handlungsautonomie der Wahrscheinlichkeit nach hemmen“ (ebd., 70f.; Hervorh. im Orig.).
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Honneths Kritik an Habermas, dass mit dem Ideal einer herrschaftsfreien Kommunikation keine empirische Basis einer Kritischen Theorie benannt sei, und seine Variante, nämlich in alltäglichen Kämpfen um Anerkennung jenen Anker zu suchen, verweilt indes selbst auf der Hügelposition. Zwar wird bei Habermas und Honneth in den Akteuren gleichsam eine Theorievoraussetzung in Form einer empirischen Verankerung gesehen, doch kommen diese Akteure mit ihren Handlungswirklichkeiten methodologisch nicht zu Wort: „Habermas spricht nie von Fußball“, meinte Bourdieu (1998). Die Einstufung des Habermas’schen Ansatzes als intermediäres Konzept, das zwischen Struktur und Handlung vermittelt, ist also nur auf der Theorieebene sinnvoll. Methodologisch findet sie keine Entsprechung. Über diesen methodologischen Vorteil hinaus erlaubt Bourdieus Ansatz jene Verbindungen zwischen Gesellschaft und Individuum bzw. Struktur und Handlung, die Habermas und Honneth benennen, sozialstrukturell zu differenzieren. Die Kritik Honneths, die Bourdieus Ansatz als utilitaristischen Reduktionismus ausweist, fällt – wie Wittpoth (1994, 90f.) feststellt – hinter Bourdieu zurück. „Während der ökonomische Verteilungskampf eine Auseinandersetzung zwischen auf ihren Nutzen bedachten Gegnern ist, stellt der moralisch-praktische Kampf eine Auseinandersetzung dar, in der die Gegner jeweils um die normative Zustimmung auf der anderen Seite ringen“ (Honneth 1984: 162).
Dieser moralisch-praktische Kampf kann hingegen nicht außerhalb des Habitus der Kämpfenden angesiedelt sein. Hier wird etwas getrennt, was Bourdieu umfassend integriert beschreibt. In gewisser Weise bleibt auch der von Bourdieu sehr geschätzte Michel Foucault der Hügelperspektive verhaftet, auch wenn er die Relationalität von Diskursen beschreibt: „Wie Foucault, der aus der selben Quelle geschöpft hat, betrachten sie [die russischen Formalisten; L.S.] nur das System der Werke, das Netz von Beziehungen zwischen den Texten, die Intertextualität. Desgleichen sind sie, wie Foucault, gezwungen, im System der Texte selbst das Prinzip ihrer Dynamik zu finden“ (Bourdieu 1991, 101ff.; auch abgedruckt in Bourdieu 2003a, 130ff.; hier 134).
Aber dass Wirklichkeitskonstruktion nicht ungebrochen von Diskursen abhängt, sondern über die – noch dazu unterschiedlichen – Habitus und sozialen Positionen von Akteuren vermittelt ist, liegt außerhalb dessen, was Foucault mitzuteilen beabsichtigte. „Das ist im Falle Foucaults ja gut zu sehen, der, um das zu errichten, was ich den ‚Raum der Möglichkeiten’ nenne, sich genötigt glaubt, den sozialen Raum auszu-
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schließen, dessen Ausdruck jener Raum doch ist. [...] Indem man die Errungenschaft des Intertextualitätsgedankens bewahrt, den Sachverhalt nämlich, dass der Raum der Werke sich zu jeder Zeit als ein Feld von Stellungnahmen präsentiert, die nur relational, in der Art eines Phonemsystems, d.h. eines Systems differenzieller Abstände verstanden werden können, kann man die Hypothese – durch die Analyse bestätigtes heuristisches Instrument – über eine Homologie zwischen dem Raum der Werke – dem Feld der Stellungnahmen – und dem Raum der Stellungen im Produktionsfeld aufstellen“ (Bourdieu 2003a, 137).
Demgegenüber lassen sich mit der Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten soziale Orte als Produktionsorte von Diskursen benennen. Es lässt sich überlegen bzw. ergründen, an welchen sozialen Orten sich Herrschaft wie versubjektiviert, wessen Lebenswelt in welchem Feld wie kolonialisiert wird bzw. welcher Habitus in welchem Feld wie um Anerkennung kämpft. Bourdieus Konzepte erlauben, die Kolonialisierung der Lebenswelt als Habitus-Struktur-Konflikte zu denken. Es liegen damit zusätzlich sowohl auf der Habitus- als auch auf der Strukturseite sozial differenzierbare Konzepte vor, so dass konkret erforsch- und benennbar wird, in welchen Konstellationen die von Habermas diagnostizierten Ansprüche des Verstanden-Werden-Wollens nicht erfüllt und Identitäten bedroht werden. Damit ist nicht nur Habermas’ Idee einer herrschaftsfreien Kommunikation – die der Tendenz nach habitusblind ist – angesprochen, sondern es liegt unter Berücksichtigung des vorgestellten Zirkels eine Heuristik zum Verhältnis von symbolischer Gewalt und Habitus-Struktur-Konflikten vor, die empirisch gefüllt und ausdifferenziert werden kann, weil sie sozialstrukturelle Bezüge aufweist. Die Habitus-Seite solcher Konflikte wurde beschrieben, die Struktur-Seite jedoch nicht. Dies liegt daran, dass unter Struktur hier alles verstanden werden kann, was der betreffenden Person äußerlich und ihrer Wahrnehmung und Bewertung zugänglich ist. Ich hätte auch von Habitus-Kultur-Konflikten oder von Habitus-Symbol-Konflikten sprechen können. Ich habe mich für die StrukturVariante entschieden, um zu verdeutlichen, dass die mit dem Habitus konfligierenden Elemente, etwa Orte, Rituale, Verhaltensmuster, Habitus anderer Menschen etc., Symbole darstellen, die ihrerseits auf soziale Strukturen verweisen. Der hier quasi als Leerstelle (für auf soziale Strukturen verweisende Symbole) verwandte Strukturbegriff geht damit über das hinaus, was etwa Lipietz als soziale Strukturen definiert, nämlich die „Konzeptualisierung der beobachteten Kompatibilität individueller Entwicklungslinien“ (Lipietz 1998, 110). Unabhängig vom Strukturbegriff kann symbolische Gewalt als Funktionsprinzip von Gesellschaften verstanden werden. Mit ihrer Hilfe werden Konflikte, die mit ungleichen Chancen von Gruppen zu tun haben, latent gehalten, in feldinterne Konkurrenzkämpfe überführt oder auf der individuellen Ebene aus-
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getragen, womit dann verständlicherweise eine Psychologisierung sowohl auf der Seite der Analyse als auch und vor allem auf der Seite der Konfliktbearbeitung einher geht. Die symbolische Gewalt ist vergleichbar mit dem, was Johan Galtung als kulturelle Gewalt bezeichnet: „Unter kultureller Gewalt verstehen wir jene Aspekte der Kultur, der symbolischen Sphäre unserer Welt – man denke an Religion und Ideologie, an Sprache und Kunst, an empirische und formale Wissenschaften (Logik, Mathematik) –, die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren“ (Galtung 1998, 341). Bourdieu geht allerdings mit seinem Konzept symbolischer Gewalt, das er mit seinen Ausführungen zum französischen Erziehungssystem entwickelt (Bourdieu/Passeron 1970, 1971) und später vor allem mit seinen Analysen zu den Geschlechterverhältnissen verdeutlicht (Bourdieu 2005, 1997, 1997a), über dieses Gewaltverständnis hinaus: Symbolische Gewalt ist dann vorhanden, wenn „es gelingt, Bedeutungen durchzusetzen [...], indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zugrunde liegen“ (Bourdieu/Passeron 1973, 12). Zum einen benennt er die Pfeiler, auf denen symbolische Gewalt fußt, zum anderen wird damit deutlich, wie die ‚Opfer’ symbolischer Gewalt an ihrer eigenen Benachteiligung mitwirken. Die Social Dominance Theory spricht in diesem Sinne von „oppression as a cooperative game“ (Sidanius/Pratto 1999). „Schließlich haben sich die Machtverhältnisse so weit in die Strukturen der Gesellschaft und in die normativen Orientierungen der Individuen hineinverlagert, daß sie über weite Strecken unsichtbar werden und über die Reproduktion von Normalität von allen mehr oder weniger bewußt mitgetragen werden“ (Rommelspacher 1995, 30).
Der eine Pfeiler ist die objektive Tatsache des Symbolischen. Gesellschaftliche Hierarchien bilden sich – wie gezeigt – immer vermittelt über Symbole ab. Durch Symbole erkennen wir sie, akzeptieren sie als frei gewählt, naturgegeben, verdient u.ä. und verkennen sie in ihrer sozialen Genese. Sozial gemachte (d.h. ‚ungerechte’) Hierarchien werden durch Symbole in selbstverständliche (d.h. ‚gerechte’) Hierarchien verwandelt. Dies korrespondiert mit dem Schuster, der es für gerecht hält, dass andere Menschen eine höhere Position im Sozialraum einnehmen, weil sie ‚Köpfchen haben’, studiert sind etc. Der zweite Pfeiler besteht in der Komplizenschaft von Habitus und Struktur bzw. Feld. Menschen, die in einer benachteiligten Umgebung aufwachsen bzw. die mit benachteiligten Gruppenzugehörigkeiten (etwa weiblich, kleinbürgerlich und/oder eine benachteiligte ethnische Zuschreibung) versehen sind, erleben spätere Situationen der Benachteiligung möglicherweise gar nicht als fremd, sondern als etwas zu ihrem Habitus, zu ihrer Identität, Passendes. Auch dies sorgt für eine relativ reibungs-
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freie Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Deshalb wird dem ‚Schuster’ geraten, er solle ‚bei seinen Leisten bleiben’, was davon absieht, dass der ‚Schuster’ mit großer Wahrscheinlichkeit von sich aus (d.h. von seinem Habitus aus) ‚bei seinen Leisten bleibt’, um einem Konflikt zwischen seinem Habitus und einem fremden Feld zu entgehen. Er verfügt, wie Bourdieu mit Goffman formuliert, über einen ‚sense of one's place’ (Bourdieu 1985, 17). Ähnlich argumentiert auch Rommelspacher: „Birgit Rommelspacher hat in ihrem Dominanzkulturansatz (1995) versucht, eine übergreifende Erklärung für die vorherrschenden Verhältnisse der Dominanz und Unterordnungskultur aus struktureller und (sozial-) psychologischer Perspektive zu entwerfen. Mit verblüffender Klarheit hält sie uns den Spiegel unserer Gesellschaft mit ihren ‚geheimen’ Funktionsmechanismen vor Augen, die auf der Grundebene eines fatalen Übereinkommens aller Beteiligten zustandekommt. Grundprinzipien [sic!] der Einhaltung des Ungleichheitsregulativs in unserer Gesellschaft ist die Anerkennung der bestehenden Dichotomien, die der eigenen Zuordnungsmöglichkeit dient, die subjektiv als zentral erlebt wird. Wir erleben uns in der Zugehörigkeit zu etwas und in der Abgrenzung von etwas. Vor allem bedroht uns Fremdes und wir werden alles dazu tun, um Fremdes zu bekämpfen. [...]. In der gelebten Realität teilen wir nach wie vor die Bilder vom Anderen in Kategorien der Über- und Unterordnung ein. Diese Alltagspraxis nennt Rommelspacher Dominanzkultur“ (Haas 1999, 65).
Die Dominanzkultur ist hierbei als „Geflecht verschiedener Machtdimensionen zu begreifen“ (ebd.), was auf die Mehrdimensionalität des Habitus verweist, wie sie hier vorgestellt wurde. Es bleibt zu berücksichtigen, dass die Habitus-FeldPassungsfrage keine binär (im Sinne von passt/passt nicht) zu beantwortende ist. Es handelt sich zum einen vielmehr um ein Spektrum des Passens und zum anderen besteht der individuelle Habitus aus verschiedenen Dimensionen bzw. Gruppenzugehörigkeiten, von denen die eine vielleicht besser zu einem Feld passt als die andere. Außerdem ist der feldadäquate Habitus in den seltensten Fällen schon bei Feldeintritt ‚fertig’. Dies alles sind Gründe dafür, warum in den Feldern gekämpft wird. Ich erinnere an das Beispiel der Bewerberin auf eine Soziologie-Professur, die mit einem vermeintlichen Qualitätsargument abgelehnt wurde, obwohl sie möglicherweise im Hearing die kollektive Angst eines dominierten Habitus überwunden und ‚feldadäquat’ performiert hat. Dieses Phänomen der symbolischen Gewalt hat Bourdieu als für alle Felder konstitutiv herausgestellt, was bedeutet, dass die Regeln eines Feldes immer auf Seiten der in diesem Feld Herrschenden stehen und sie trotz dieser ‚Parteilichkeit’ die Doxa darstellen, d.h. das Denkbare, Selbstverständliche, Unhinterfragte. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht nur bei der Professur-Bewerberin groß, dass sie die Spielregeln, hier:
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‚Peer-Review-Veröffentlichung = Qualität’ akzeptiert. Entweder dominierte Habitus glauben tatsächlich an die vermeintlich individuellen Mängel, weil sie die kollektive Benachteiligung nicht sehen. Oder sie sind sich dieser Dimension bewusst und werfen dennoch nicht das komplette Spiel über den Haufen, weil ihnen die Macht dazu fehlt und sie sich selbst mit vom Spielbrett kegeln würden. Hier ist also innerhalb des übergeordneten Prinzips symbolischer Gewalt eine erste Form von Habitus-Struktur-Konflikten angesprochen, nämlich das, was Bourdieu als Konkurrenzkämpfe in den Feldern beschreibt (Bourdieu 1982, 261-276; Schwingel 1993, 85-139). Felder haben ihre ‚Optimalkonstruktionen’ von feldadäquaten Habitus, die mehr oder weniger erfüllt sein können. Diese Vorstellung ist sehr nahe bei den im Feld Herrschenden angesiedelt, weil diese bzw. frühere Generationen das Feld mit den Regeln etabliert haben. Beobachtet man durch diese Brille beispielsweise, dass Krankenschwestern in einem Krankenhaus relativ zufrieden agieren, wohingegen Stationsärztinnen äußerst angespannt wirken, dann stellt sich folgende Überlegung ein: Bei den Krankenschwestern ist die Diskrepanz zwischen dem weiblichen Habitus und den so konstruierten weiblichen Habitusanforderungen des Berufes nicht sehr groß. Immer noch vorherrschende klassische weibliche Sozialisationsmuster, die stärker als männliche darauf ausgelegt sind, ein Dasein für Andere (im wahrsten Sinne des Wortes) zu pflegen, passen zu diesem Beruf. Vollkommen männlich dominiert, d.h. nicht nur von Männern besetzt, sondern vor allem mit männlichen Strukturen und Habitusanforderungen ausgestattet, ist der Arztberuf. Hier muss die Ärztin versuchen, männlich-pseudorational zu agieren. Ihre HabitusStruktur-Diskrepanz ist in dieser Deutung größer als die der Krankenschwester.15 Bei dieser Form von Habitus-Struktur-Konflikten ist jedoch anzumerken, dass Bourdieu die Kämpfe in einem Feld um Kapitalanhäufung, Anerkennung und Deutungsmacht als Kämpfe ansieht, die zwischen orthodoxen Positionen sowie ihren Trägern und heterodoxen Positionen sowie deren Träger stattfinden. Diese Positionen sind bei ihm nicht zwangsläufig dominierenden bzw. dominierten Habitus zuzuordnen. Es ist also vorstellbar, dass ein benachteiligter Habitus, der in ein Feld eintritt und die illusio, d.h. den Glauben an die Sinnhaftigkeit und den Wert des Spiels, teilt, dennoch beide Möglichkeiten wahrneh15 Natürlich lässt sich dieses Beispiel auch ganz anders deuten (‚die Beobachtung ist eine Ausnahme’, ‚die Ärztin hat eine viel größere Verantwortung’...). Es soll die praktische Anwendbarkeit dieser Heuristik demonstrieren. Außerdem bin ich mir der naturalisierenden Effekte bewusst, weil das Beispiel im Sinne des Konzeptes von ‚weiblichem Arbeitsvermögen’ (vgl. Ostner 1978; Beck-Gernsheim 1980) fehlgedeutet werden könnte. Dieses Konzept wurde von Erika Haas zu Recht kritisiert, weil auf der Seite der Männer in von Männern dominierten Bereichen eine ‚Habituskonsistenz’ unterstellt würde, und bei Frauen in nicht-frauentypischen Bereichen eine ‚Habitusambivalenz’ (vgl. Haas 1999, 32f.).
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men kann: die der Mimesis, d.h. des Nachahmens des Orthodoxen, sowie die Häretiker-Position. Neben dem Funktionsprinzip symbolischer Gewalt gibt es also HabitusStruktur-Konflikte in den Feldern, welche die Funktion von symbolischer Gewalt nicht weiter stören, weil sie nicht auf übergreifende Machtverhältnisse rekurrieren. Was ist aber nun mit den Fällen, in denen die unhinterfragten Regeln, die Reproduktionen eines Feldes über die immanenten Kämpfe doch selbst Gegenstand von Auseinandersetzungen werden. Bourdieu spricht hier nicht mehr von Konkurrenzkämpfen in Feldern, sondern von Klassenkämpfen (Bourdieu 1982, 261-276; 1987, 205-258; Schwingel 1993, 140-166). Diese Konflikte sollen hier als Habitus-Struktur-Konflikte (HSK) im Sozialraum bezeichnet werden, da sie nicht feldimmanent zu erklären sind, sondern das Feld mit seinen Prinzipien in Frage stellen, also gleichsam über dieses hinaus weisen. Hier geht es um die Ordnungskriterien der Gesamtgesellschaft. Der Pfad des ‚legitimen Kampfes’ im Konsens des Feldes wird verlassen. Dominierte Habitus oder Habitusanteile wirken in diesem Falle – darauf wurde bereits hingewiesen – aggressiv, affektiert, unvernünftig, weil sie sich nicht tolerant gegenüber den Regeln, also der Doxa, dem Normalen verhalten, sondern den geschätzten Rahmen des Konsens verlassen. An dieser Stelle sei eine dritte Schlussfolgerung aus der beschriebenen Rudi Völler-Szene gezogen. Indem der ehemalige Teamchef der deutschen Fußballnationalmannschaft mit seiner Wortwahl in besagtem Interview mit Waldemar Hartmann den Rahmen des friedlichen Konsenses verlassen hat, wurde dadurch – zwar indirekt und auch nur temporär – die sonst reibungslose, normale, selbstverständliche Reproduktion der gesellschaftlichen (Macht-) Verhältnisse in ihrem Ablauf gestört. Dies scheint mir neben den bereits genannten ein dritter Grund für die ‚Solidarität von Unten’ mit Völler zu sein. Anja Weiß (2001) weist bei dieser Art von Habitus-Struktur-Konflikten – ohne diese als solche zu benennen – darauf hin, dass Angehörige dominierter Gruppen dazu tendieren, die kollektive Dimension anzusprechen, wohingegen Angehörige dominanter Gruppen den Konflikt eher auf der Beziehungsebene ansiedeln und sich zu Unrecht in Kollektivhaft genommen fühlen. Sie schildert eine Szene aus ihrer qualitativen Untersuchung zu antirassistischen Gruppen: Ein Ehemann wird von seiner Frau angeklagt, weil er einige Stunden später als erwartet nach Hause kommt, ohne dies angekündigt zu haben. Der Mann stammt aus einem afrikanischen Staat und hat eine dunkle Hautfarbe. Er entgegnet seiner Frau, sie sei rassistisch. Er bringt also die kollektive Dimension, die Benachteiligung der Gruppe ‚Menschen mit dunkler Hautfarbe’ ins Spiel, wohingegen sie den Konflikt auf der Beziehungsebene ansiedelt und die kollektive Dimension anzweifelt. Paradoxerweise haben beide Recht: Zwar ist der Frau leicht abzunehmen,
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dass sie bei einem Mann mit heller Hautfarbe genauso reagiert hätte. Die Tatsache aber, dass der Mann die Gruppenzugehörigkeit verinnerlicht hat und diese Teil seines Habitus ist, zeigt dass diese Dimension nicht vom Sachverhalt loszulösen, sondern das Kollektive – vermittelt über den Habitus – Teil dieser Beziehung ist (vgl. Weiß 2001a). Ich nehme eine weitere Szene als Beispiel: um 7.30h in einem Studierendenwohnheim haut eine Reinigungskraft mit ihrem Schrubber gegen die Tür eines Studierenden-Appartements. Sie ist wütend, weil aus ihrer Sicht „diese Studenten lange schlafen können, später mehr Geld verdienen werden, von ihren Steuergeldern leben und ihre eigene Tochter nicht auf die Uni geht“. Der aufgewachte Student hingegen wundert sich und fragt sich, ob die Reinigungskraft etwas gegen ihn hat. Auch hier rekurriert die Reinigungskraft auf das Kollektive, wohingegen der Student an die Beziehungsebene denkt. Sehr instruktiv sind in diesem Zusammenhang Arbeiten von Sighard Neckel, der soziale Dimensionen von Gefühlen wie „blankem Neid und blinder Wut“ (Neckel 1999), aber auch Scham (ders. 1993, 1991) kultursoziologisch und gleichermaßen sozialstrukturanalytisch veranschaulicht und dabei Bourdieu und Kritische Theorie in ähnlicher Weise verbindet, wie es hier geschieht. Diese HSK im Sozialraum können von einzelnen Personen gegen andere Personen ausgetragen werden, ohne dass die Machtdimension bewusst ist. Man könnte sie als individuellinterpersonale HSK bezeichnen. Sie können aber auch im eigentlichen Sinne des Bourdieuschen Begriffs vom Klassenkampf kollektiv vorgetragen werden und sich bewusst auf die Machtdimension beziehen. Hier möchte ich von kollektivinterpersonalen HSK sprechen. Die geschilderten Beispiele ließen sich alle im Sinne von Anerkennungskämpfen bzw. Missachtungserfahrungen interpretieren, wie Axel Honneth (1992) sie versteht. Für ihn bestehen letztere jedoch in Erwartungsenttäuschungen. Das heißt, eine vom Akteur erwartete Anerkennung wird ihm verwehrt. Damit sind allerdings nicht alle denkbaren Konflikte abgebildet. Es ist gut vorstellbar, dass ein Akteur selbst nach seiner eigenen Einschätzung gar nicht in der Lage ist, in einem bestimmten Feld eine anerkennenswerte Leistung zu erbringen. Ein Student beispielsweise, der in einem bildungsfernen Milieu aufgewachsen ist, fühlt sich möglicherweise an der Uni so unwohl und ist so unmotiviert, dass er gar keine feldadäquaten Leistungen erbringen kann oder seine eigenen Anstrengungen gar nicht für anerkennenswert hält. Es wird hier vielleicht eine Hoffnung enttäuscht, aber möglicherweise liegt kein Ungerechtigkeitsempfinden im Sinne einer verweigerten, aber dennoch als berechtigt empfundenen Anerkennung vor. Ein derartiger intrapersonaler Konflikt ist nicht nur individualisiert, sondern er wird mit großer Wahrscheinlichkeit psychologisiert und noch nicht mal auf der interpersonalen Ebene von wechselseitiger Anerkennung
1.2 Symbolische Gewalt und Habitus-Struktur-Konflikte
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bzw. deren Verweigerung angesiedelt. In diesem Falle, wo die Kluft zwischen Habitus und Feld so groß ist, dass entweder erst gar keine Missachtungserfahrungen vorliegen oder der Konflikt nicht mehr auf die Beziehungsebene getragen wird, soll von intrapersonalen HSK gesprochen werden. Die Abgrenzung zu bloßen Habitus-Struktur-Diskrepanzen ist eine graduelle und kann nur empirisch am Einzelfall geklärt werden. Dass nämlich diese Diskrepanzen auf einer reflexiven Ebene synthetisiert werden können und nicht zu einem Konflikt werden müssen bzw. dass Konflikte wieder in bloße Diskrepanzen überführt werden können, ist für die Diskussion der Sozioanalyse als emanzipatorisches Medium wichtig und wird auch im empirischen Teil der Untersuchung von Bedeutung sein. Doch selbst der ‚gelungene’ Versuch, die mangelnde habituellautomatische Passung, durch bewusste Strategien zu ersetzten, birgt wiederum Konfliktpotenzial: „Sind die Praktiken den Bedingungen nicht objektiv angepaßt, weil sie auf ein Milieu treffen, zu dem sie nicht passen, oder weil die Dispositionen Wandlungen der Bedingungen nicht mitvollzogen haben, erscheinen die objektiven Strategien als nicht zweckmäßig und müssen durch bewußt verfolgte Strategien ersetzt werden. Der damit verbundene Mangel an ‚Natürlichkeit’ erscheint dann wiederum – zumindest in bestimmten Feldern – als Makel“ (Wittpoth 1994, 95).
Dieses Modell ist nicht als statisch zu verstehen, sondern es markiert Prozesse. Ob eine Diskrepanz zum schwer auflösbaren Konflikt wird oder integriert werden kann, obliegt der interaktiven Aushandlung durch die betroffenen Akteure sowie deren Interpretation. Richtet sich der Unmut individuell gegen andere dominierte Gruppen bzw. konkrete Angehörige einer solchen, dann soll dies als projizierte individuell-interpersonale HSK bezeichnet werden. Wird er kollektiv gegen Sündenböcke ausgetragen, ist von projizierten kollektiv-interpersonalen HSK die Rede. Ohne diese Form der Systematisierung zu wählen, argumentiert Rommelspacher mit dem bereits erwähnten Dominanzkulturansatz sehr ähnlich und bringt noch eine weitere Facette ins Spiel: „Das eigene Selbstverständnis ist entscheidend davon geprägt, welche Position der/die einzelne innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Machtverhältnisse einnimmt. Machtlosigkeit drückt sich auch darin aus, daß einem/einer eine Identität verweigert wird, in der die eigenen Erfahrungen und Lebenszusammenhänge adäquat zum Ausdruck kommen. Statt dessen wird den Angehörigen diskriminierter Gruppen eine Identifikation mit Klischees und Rollenvorgaben angeboten, die den Interessen der Dominanten entsprechen. Von daher ist die Verweigerung von Identität ein Merkmal kultureller Dominanz. [...]. Sich selbst als Norm zu setzen, aber genau diese Norm nicht erfüllen zu können, macht das Dilemma der dominanten Position aus. Der daraus resultierende Druck wird wiederum an die Schwächeren in
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1 Begegnungen von inneren und äußeren Strukturen Form von Mißachtung und Mißtrauen weitergegeben“ (Rommelspacher 1995, 186f.).
Die verschiedenen Formen von HSK schließen sich freilich nicht wechselseitig aus und sind zum Teil auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. Eine Protestbewegung kann etwa durch ihre soziale Zusammensetzung und ihr Engagement – selbst wenn dieses sich im Sinne eines Klassenkampfes gegen Dominanzstrukturen wendet – selbst wieder dazu beitragen, Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern (Schmitt 2007). Es ist also eine Frage des Betrachtungsgegenstands und der gewählten Brille. Außerdem liefert die Heuristik nicht die alleinigen Erklärungsvariablen für betreffende empirische Befunde. So ist selbstverständlich weder davon auszugehen, dass Rassismus ausschließlich auf eine dominierte Gruppenzugehörigkeit der Täter zurückzuführen ist, noch führt jede Deprivationsempfindung zu Rassismus. Die vorgelegte Heuristik bietet hingegen die Möglichkeit, gesellschaftliche Verhältnisse, Identitäten und Konflikte in ihrer Verwobenheit abzubilden. Sie sagt noch nichts darüber aus, unter welchen Bedingungen welche Konfliktaustragung gewählt wird bzw. wo die HabitusStruktur-Diskrepanzschwelle liegt. Es soll hier lediglich vermutet werden, dass die Höhe der Schwelle davon abhängig ist, welche biographische Relevanz der betreffende Akteur der fraglichen Umgebung zuschreibt. Dies ist unter anderem von der Dauer des Aufenthalts in dieser Umgebung abhängig. Es wird eine kleinbürgerliche Familie nur kurzfristig derangieren, wenn sie sich aus einem feierlichen Anlass in ein Sterne-Restaurant begibt und sich dort ob der Verhaltensunsicherheit unwohl fühlt.16 Ob ein Konflikt nun intra- oder interpersonal ausgetragen wird, hängt unter anderem dann davon ab, ob die mangelnde Passung eher der Habitusseite zugeschrieben, also internal attribuiert wird, oder der Strukturseite, was einer externalen Attribution gleichkäme. Es wurde bereits auf Mechanismen verwiesen, die es wahrscheinlicher machen, dass die betreffenden Akteure sich die Probleme eher selbst zuschreiben, zumal dominierte Habitus per se schon unsicherer sind und weniger Legitimität empfinden, die Verantwortlichkeiten in Umgebungsstrukturen zu sehen. Abbildung 1 soll die verschiedenen Erscheinungsformen unter und neben dem Prinzip ‚Symbolische Gewalt’ veranschaulichen: 16 An dieser Stelle sei auf die von Sighard Neckel ansprechend analysierte Restaurant-Szene verwiesen: Ein Kellner in einem hochwertigen Restaurant wird durch die dort gastierende Arbeiterfamilie auf seinen Status zurückgeworfen. War er zuvor Teil des gehobenen Milieus, so hat die Arbeiterfamilie durch das funktionale, pragmatische Zusammenstellen der gebrauchten Teller in helfender Absicht, eben um dem Kellner die Arbeit zu erleichtern, ihn gerade auf seine Funktion des Arbeitens verwiesen und damit aus dem gehobenen Milieu verbannt. Zusätzlich werden bei dem Kellner Gefühle der Fremdscham erzeugt, wobei das Schämen für jemand anderen immer auf die eigene Ähnlichkeit zu dieser Person verweist (vgl. Neckel 1993).
1.2 Symbolische Gewalt und Habitus-Struktur-Konflikte
Abbildung 1:
Symbolische Gewalt und Habitus-Struktur-Konflikte
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1 Begegnungen von inneren und äußeren Strukturen
1.3 Zusammenfassung Im ersten Kapitel wurden die für das hiesige Vorhaben bedeutsamen Konzepte Pierre Bourdieus in Form einer Rundreise vorgestellt. Start und Ziel waren dabei die ‚leibhaftigen Akteure’, da diese einerseits einen methodologischen Ausgangspunkt darstellen, weil sie ihre eigenen Handlungswirklichkeiten haben und deshalb ‚zu Wort’ kommen müssen. Andererseits sollen sie idealerweise von den Entdeckungen der Rundreise profitieren und sind insofern wenigstens imaginierte Adressaten. Trotz der eigenen Handlungswirklichkeiten und -strategien haben Akteure es mit Begrenzungen oder positiver formuliert mit Möglichkeitsräumen zu tun. Es gibt gesamtgesellschaftliche Wahrscheinlichkeitszusammenhänge, die sich statistisch als Chancen fassen lassen. Das Konzept des nach verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten gegliederten Sozialraums versucht dies abzubilden. Allerdings ist soziale Ungleichheit nur über Symbole vermittelt wahrnehmbar. Diese Symbole lassen nicht nur mehr oder weniger alle Akteure unterschiedlich hohe ‚Positionen’ in der Gesellschaft relativ direkt und schnell erkennen. Vielmehr lässt die scheinbare Wahlfreiheit an Symbolen, etwa in Form von Kleidung, Hobbys oder insgesamt des Lebensstils diese Positionen auch als gerecht, verdient, weil frei und selbst gewählt, anerkennen. Dadurch wird die soziale Genese sozialer Ungleichheit, nämlich die ungleiche Chancenverteilung etwa nach sozialer Herkunft oder Geschlecht, verkannt. Dies ist eine Stütze symbolischer Gewalt. Eine zweite Stütze wurde mit dem Habitusbegriff vorgestellt. Menschen verinnerlichen beim Aufwachsen die Symbole ihrer Umgebung. Diese werden Teil der eigenen Identität, des eigenen Habitus, der einerseits individuell ist, aber andererseits an die kollektiven Dimensionen der verinnerlichten Symbole rückgebunden werden kann. So gibt es Lebensstile, Ansichten, Haltungen, ja sogar Gefühle, die für eine Gruppe von Menschen mindestens in bestimmten Situationen typisch sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch kleinbürgerlicher Herkunft, auf die Frage des Kellners, ob es geschmeckt hat, sich nicht traut zu sagen: „die Nudeln waren nicht al dente“, ist größer als bei jemandem, der einem bildungsbürgerlichen Milieu entstammt. Wir suchen uns eher Situationen und Menschen, die zu unserem Habitus, also zu dem, was wir bereits verinnerlicht haben, passen. Der Habitus ist gewissermaßen ein verinnerlichtes System von Grenzen und Möglichkeiten. Damit ist die zweite Stütze symbolischer Gewalt benannt, nämlich die Komplizenschaft von Habitus und unseren (Handlungs-)Feldern. Felder sind mehr oder weniger funktional ausdifferenzierte Segmente der Gesellschaft, die ihre je eigenen Logiken und Regeln haben, etwa das akademische Feld, das Feld der Kunst, das ökonomische Feld etc. Diese Felder stellen bezogen auf konkrete Handlungssi-
1.3 Zusammenfassung
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tuationen auch ein Spektrum an Grenzen und Möglichkeiten dar. Bei einem Fußballspiel ist es nicht ‚möglich’, weil nicht denkbar und sanktioniert, den Ball mit der Hand ins Tor zu tragen, von Maradonnas Hand Gottes mal abgesehen. Es ist jedoch möglich einen Rückpass, einen Querpass oder steil nach vorne zu spielen. Wir unterliegen der illusio, dem Glauben an das Spielenswerte des Spieles bzw. Feldes, dessen Teil wir sind, selbst dann, wenn wir mit schlechteren Karten ausgestattet sind. Wir streben eher nach den Gewinnen, die das Spiel zu vergeben hat, als danach, das Spiel infrage zu stellen oder wenigstens die Regeln. Wir tun dies entweder, weil symbolische Gewalt wirksam ist, d.h. wir die Regeln für gerecht halten, obwohl sie nicht alle Spieler mit gleichen Chancen ausstatten, sondern diejenigen mit einem bestimmten, eben herrschenden Habitus mit besseren. Spielregeln naturalisieren insofern soziale Ungleichheit. Oder wir wissen um die Ungerechtigkeit, können aber nichts ändern und versuchen mangels Alternativen eben doch mit schlechteren Karten zu gewinnen bzw. auf Regeländerungen dahingehend hinzuarbeiten, dass unsere Karten als die guten gelten. All dies sorgt dafür, dass insgesamt selten aufbegehrt wird und kaum Klassenkämpfe stattfinden. Somit bin ich beim zweiten Teil der Zusammenfassung angelangt. Symbolische Gewalt kann als ein ubiquitäres Funktionsprinzip von sogenannten fortgeschrittenen, arbeitsteiligen und vermeintlich meritokratischen Gesellschaften betrachtet werden. Sie rahmt die Austragung von Konflikten. So verstanden lassen sich Konflikte als Habitus-Struktur-Konflikte (HSK) begreifen, nämlich als Konflikte zwischen verinnerlichten kulturellen Mustern und solchen der Umgebung. Diese können danach unterschieden werden, ob sie ihr zugrunde liegende Machtverhältnisse kommunizieren oder nicht. Letzteres ist der Fall, wenn in den Feldern individualisiert um die Vergütungen des Feldes gekämpft wird (Konkurrenzkämpfe oder HSK im Feld), oder wenn Konflikte zwischen Habitus und Umgebung individuell erduldet und möglicherweise psychologisch gedeutet und/oder bearbeitet werden (intrapersonale HSK). Macht kann aber auch indirekt oder direkt thematisiert werden, etwa wenn negativ Betroffene Unmut gegenüber Symbolen privilegierter Gruppen äußern oder doch den Konsensrahmen der Spielregeln verlassen, was sie dann als intolerant oder aggressiv erscheinen lässt (individuell-interpersonale HSK im Sozialraum). Oder es findet ein kollektives Aufbegehren statt, in dem Macht thematisiert wird (Klassenkampf, kollektiv-interpersonale HSK im Sozialraum). Außerdem können die Konflikte auf Sündenböcke – auf andere Menschen, die eine dominierte Gruppenzugehörigkeit aufweisen, projiziert werden (projizierte HSK). Damit wurde eine analytische Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten als ‚Brille’ entwickelt, mit der konkrete Prozesse in einer Gesellschaft in Verbindung mit ihrem Aufbau betrachtet werden können. Diese Brille wurde als
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eine solche skizziert, mit der der ‚General auf dem Feldherrenhügel’ die Dinge betrachtet. Das heißt, sie gibt nicht die Perspektiven wieder, mit denen die ‚Soldaten im Getümmel’, also betroffene Akteure, ihre konkreten Handlungssituationen wahrnehmen. Dennoch liegt mit dieser Heuristik eine Folie vor, die Individuelles und Gesellschaftliches zusammen zu denken vermag. Ein Habitus ist etwas Individuelles, dennoch sozial hervorgebracht und an verschiedene Entstehungskollektive seiner Teildimensionen rückbindbar. Damit unterscheidet sich dieses Konzept von Begriffen wie ‚Charakter’, ‚Persönlichkeit’ oder ‚Identität’. Es ist ein soziologisches Konzept. Dies verspricht nicht nur einen anderen analytischen Blick auf Handlungen und Handlungszusammenhänge werfen zu können, sondern auch Operationalisierungen etwa für pädagogische Interventionen oder Hochschulentwicklungsmaßnahmen zu erleichtern. Es kann nämlich zum einen am konkreten Fall geschaut werden, welche Strukturen des Habitus mit welchen Strukturen der Umgebung wie umgehen. Das heißt, individuelle Handlungen, Empfindungen etc. können soziologisch formuliert und vor allem sozial differenziert werden, was unter den Stichworten Persönlichkeits- bzw. Identitätsentwicklung oder -konflikt schwer möglich scheint. Die generellen Anforderungen und die Krisenhaftigkeit der Lebensphase ‚Studium’ können auf verschiedene Habitus heruntergebrochen werden. Nicht jede Studentin, nicht jeder Student ist gleich ‚anfällig’ für Identitätskrisen im Studium. Die für alle Studienanfängerinnen und -anfänger neue Situation an der Universität erlaubt es nicht allen gleichermaßen und auf die gleiche Art, ihre Biographie in diese unbekannte Umgebung einzubringen. Die Anfälligkeit, so die naheliegende Überlegung, variiert vielmehr mit dem Verhältnis von Strukturen des Studierens – etwa den Kulturen an einer Universität wie akademische Kultur, studentische Kultur, Fachkultur etc. – zu biographischen Strukturen – also dem Habitus. Zum anderen bietet eine Heuristik von HabitusStruktur-Konflikten die Möglichkeit, konkrete strukturelle Elemente zu benennen und einer Veränderung zugänglich zu machen, wohingegen Konzepte wie ‚Identität’ oder ‚Persönlichkeit’ per definitionem auf die Akteursseite rekurrieren und dort die Entwicklungen aber auch Probleme und Konflikte ansiedeln und zu bearbeiten trachten, was jedoch – wie gezeigt wurde – zwangsläufig dazu neigt, symbolische Gewalt zu reproduzieren, weil das Soziale am Konflikt dadurch verschleiert wird. Die Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten, die ich vorschlage, stellt freilich nicht den einzigen Versuch dar, Bourdieu konflikttheoretisch zu verorten. Im Vordergrund von Markus Schwingels (1993) Arbeit steht allerdings weniger eine Explikation der Anwendbarkeit von Bourdieus Ansatz auf die Analyse des Verhältnisses von sozialer Ungleichheit und Konflikten, sondern vielmehr deren Rolle als Ausgangspunkt bei Bourdieus Gesellschafts- und Feld-
1.3 Zusammenfassung
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analysen. Auch bei Frank Janning (2002) geht es einerseits um Bourdieus Diagnose der Omnipräsenz der Kämpfe um Kapital und Anerkennung in den jeweiligen Feldern, andererseits um den Habitus als Regulationsinstanz im Sinne der beschriebenen Komplizenschaft mit dem jeweiligen Feld und weniger um eine Systematisierung des Verhältnisses von symbolischer Gewalt, sozialer Ungleichheit und (manifesten) Konflikten als Konflikten zwischen Habitus und umgebender Struktur. Mit Bourdieu wird freilich jede Analyse eines konkreten Feldes sowie des gesamten Sozialraumes – weil diese sich durch Machtrelationen und Kämpfe konstituieren – zu einer Konfliktanalyse. Dennoch unterscheidet er – dies wird von Schwingel (1993) anschaulich herausgearbeitet – zwischen den Konkurrenzkämpfen im Feld (ebd., 85ff.) und Klassenkämpfen (ebd., 140ff.). Diese Unterscheidung wurde mit dem Konzept von Habitus-StrukturKonflikten aufgegriffen und systematisiert. Bourdieu selbst hat seine Grundlagen häufig auf die Analyse von Feldern angewandt. Die verborgenen Mechanismen der Macht waren dabei eher sein Thema als manifeste Konflikte etwa in Form von Klassenkämpfen. Eine Ausnahme bilden seine Ausführungen zum Mai 1968, die allerdings auch in eine Feldanalyse, nämlich die des akademischen Feldes, eingebettet sind (Bourdieu 1988).17 Welche Rolle Kämpfe in der Theorie Bourdieus spielen, ist damit klar umrissen. Ebenso deutlich gemacht wurde – sowohl von Bourdieu als auch von den genannten Autoren –, wie mit dieser Theorie verschiedene Felder als ‚Konfliktfelder im Konsens’ durchschaut werden können, was sowohl von Bourdieu selbst als auch von anderen vielfach zur Anwendung gebracht wurde. In diesem Buch geht es demgegenüber darum, konkrete Geschehnisse rund um das Studieren als Ausgangspunkt zu wählen und diese mit dem Instrumentarium Bourdieus in ihrer konfliktreichen Beziehung zu sozialer Ungleichheit zu explorieren. Dazu bedurfte es der Konstruktion einer Heuristik, die das Kollektive am Individuellen zu verdeutlichen vermag.
17 Bourdieu erklärt den Pariser Mai ’68 unter anderem damit, dass durch kritische Ereignisse (z.B. ‚die Nacht der Barrikaden’) die Geschichten unterschiedlicher Felder synchronisiert wurden und Personen mit strukturhomologen Positionen gemeinsam diese dominierten Positionen zum Ausdruck bringen konnten. Als Ausgangspunkt sieht Bourdieu die Erwartungsenttäuschung von Studierenden in den neu gegründeten, gegenüber den Grands Écoles zweitklassigen Universitäten. Diese führte dazu, das Spiel an sich in Frage zu stellen und nicht bloß innerhalb des Feldes eine heterodoxe Position einzunehmen. Vgl. hierzu auch Gilcher-Holtey (1995).
2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen
2.1 Stand der Forschung Es soll in diesem zweiten Kapitel also darum gehen, einen sozioanalytischen Blick auf ‚das Studieren’ zu werfen. ‚Der General’ blickt nun nicht mehr auf die Gesellschaft, sondern auf das akademische Milieu. Selbstverständlich ist die Tatsache, dass das Studium ein weiteres Element des sogenannten Bildungstrichters, d.h. der Selektion nach sozialer Herkunft, ist, keine Neuentdeckung. Es ist lange bekannt, dass die Möglichkeit und die ‚Fähigkeit’, erfolgreich zu studieren, unter anderem mit der sozialen Herkunft zusammenhängen: hatte Ralf Dahrendorf mit seiner kurzen Studie Arbeiterkinder an deutschen Universitäten dies bereits 1965 beschrieben, folgten in den 1970er Jahren eine Reihe von Untersuchungen zu diesem Thema. Das ändert zum einen nichts an der Tatsache, dass dieses Phänomen immer noch existiert und auch von verschiedenen Seiten moniert wird und zum anderen weisen vorhandene Untersuchungen verschiedenste Perspektiven auf, die einer Synthese bedürfen. Die einschlägige Literatur lässt sich für das hiesige Vorhaben grob in die folgenden fünf Kategorien einteilen, wobei diese Überschneidungen aufweisen: (1) Untersuchungen, die Identitätskrisen im Studium ausmachen und Persönlichkeitsentwicklungsmöglichkeiten in dieser Lebensphase ausloten. Hier dominiert logischerweise die psychologische Perspektive (etwa Schumann 2007; Graf/Krischke 2004; Bachmann u.a. 1999; Holm-Hadulla/Soeder 1997; Hirsch/Nerl 1981; Krüger u.a. 1986;18 Großmaß 1983). Auch wenn dort – soziologisch – auf die sozialen Besonderheiten des Studiums in der Biographie verwiesen wird, bleiben diese Aussagen sehr allgemein. Es wird die generelle Krisenhaftigkeit der Adoleszenzphase und die Verlängerung dieses Prozesses durch das Studium geschildert. Des Weiteren wird ein seit den 1980er Jahren erhöhter 18 Die Untersuchung von Krüger u.a. (1986) wurde zwar von SoziologInnen und PsychologInnen durchgeführt und hier spielt Soziologie nicht nur auf der Ebene einer allgemeinen gesellschaftlichen Zeit- und Wandeldiagnose eine Rolle, sondern auch soziologisch nachvollziehbare Variablen jenseits von Persönlichkeitseigenschaften, wie Erziehungsstile der Eltern, soziale und politische Einstellungen der Studierenden tragen diese Studie. Aber diese werden ausschließlich deskriptiv verwandt und nicht sozial differenzierend als unabhängige Variable aufgegriffen. Es wird also nicht soziologisch nach unterschiedlichen Krisenanfälligkeiten gefragt.
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen
Individualisierungsdruck diagnostiziert. Dieser wird allerdings ohne weitere Brückenbildung aus den Effekten des gesellschaftlichen Fahrstuhls, d.h. des absolut gestiegenen Wohlstandsniveaus und der Bildungsbeteiligung hergeleitet und mit Ulrich Becks Individualisierungsthese begründet. Es wurde bereits betont, dass diese jedoch auf der objektiven Ebene sozialer Lagen anzusiedeln ist und weder unmittelbar mit Selbstfindungsprozessen oder der Selbstgestaltung des eigenen Lebensstils noch insgesamt mit pluralistischen, frei gewählten Stilisierungen in Verbindung steht. Die Untersuchungen verweisen dennoch zu Recht auf die ambivalente und damit schwer zu integrierende strukturelle Situation von Studierenden. Die Adoleszenz wird einerseits dadurch prolongiert, dass die Studienphase ein Moratorium darstellt, d.h. in gewisser Weise von klassischen Anforderungen der ‚erwachsenen’ Teilhabe, wie Erwerbsarbeit und Familie und sonstigen Normativitäten ein stückweit entbindet. Damit sind Studierende allerdings umgekehrt auch in höherem Maße abhängig, etwa von der Studienfinanzierung durch die Eltern oder von Leistungen nach dem BAföG. Andererseits wird von Studierenden generell – in manchen Fächern stärker als in anderen – eine hohe Orientierungsund Strukturierungsleistung eingefordert, die ‚erwachsenes Agieren’ voraussetzt. Diese Arbeiten liefern insofern eine wichtige Grundlage, als dass sie deutlich machen, dass Studium generell eine krisen- oder konfliktanfällige Lebensphase darstellt und der Wechsel von der Schule an die Universität einen biographischen Einschnitt bedeutet.19 Dies ist auch als Legitimation für die Verortung der vorliegenden Untersuchung nicht nur im Feld der Bildungssoziologie, sondern auch in demjenigen der Konfliktforschung nicht ganz unerheblich. Allerdings verschleiert das Allgemeine den Blick auf konkrete Ausdifferenzierungen. Wenn die Autorinnen und Autoren ganz plausibel begründen, dass Studieren eine biographische Integrationsleistung darstellt – bisher Erlebtes muss in irgendeiner Form in die neue Situation eingebracht werden können und umgekehrt –, dann ist offensichtlich, dass diese Anforderungen in Intensität und Qualität sich sehr danach ausdifferenzieren dürften, wie groß die Distanz zwischen neuem Milieu und alten, verinnerlichten Mustern ausfällt. Studieren als Lebenswelt ist für alle neu, aber nicht für alle gleichermaßen fremd. Es ist plausibel anzunehmen, dass nicht nur die Brücke zwischen bisheriger Biographie und dem akademischen Milieu je nach sozialer Herkunft bzw. je nach Habitus unterschiedlich groß ausfallen muss. Vielmehr scheint die Kompetenz, Brücken bau19 Diese Übergangssituation wurde wiederum mit soziologischen Ansätzen, sogar mit dem HabitusKonzept in den Blick genommen. Dabei wurde auch auf kulturelle Konflikte rekurriert (Friebertshäuser 1992). Ziel dieser Studie war es aber nicht, über die Initiationsphase hinausgehende kulturelle Passungen und Diskrepanzen im Studium zu untersuchen.
2.1 Stand der Forschung
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en zu können, ihrerseits vom Habitus abzuhängen. Mit dem Konzept der Habitus-Struktur-Begegnungen liegt im Gegensatz zu den psychologischen Ansätzen ein Instrument vor, das ein Sensorium hierfür aufweist. Lautet die psychologische Fragestellung: „Wie interagieren Ressourcen und Handikaps auf Seiten der Studierenden mit Belastungen und Ressourcen des jeweiligen Studien-Kontextes [...]“ (Bachmann u.a. 1999),
heißt es sozioanalytisch: Wie interagieren Habitus und Strukturen? Es wird hier – im Unterschied zu den theoretischen Ausführungen des ersten Kapitels – zunächst von Interaktion und Begegnungen gesprochen, da der Aushandlungsprozess von Habitus und neuer Umgebung nicht unbedingt als Krise oder Konflikt erlebt werden muss. Eventuell werden aus der Empirie sogar Prozesse erkennbar, die eine Distanzüberbrückung erleichtern und etwa beratungstechnisch genutzt werden könnten. Selbstverständlich sollen damit weder Identitätsentwicklung und -konflikte einander gegenübergestellt werden, so als wäre das Eine ohne das Andere zu haben, noch sollen Konflikte normativ als negativ, vermeidbar, vermeidenswert betrachtet werden. Konflikte, auch wenn sie als Konflikte zwischen verinnerlichten kulturellen Mustern und solchen der Umgebung, also als Habitus-Struktur-Konflikte gefasst werden, sind immer und überall vorhanden, nicht nur bei Menschen mit bildungsferner Herkunft oder anderen dominierten Habitusanteilen. Es handelt sich vielmehr um eine Frage der Intensität und Folgen der Konflikte: immerhin besteht die Möglichkeit, dass ein Leiden, auch wenn es durch Dritte oder durch die Betroffenen selbst im nachhinein als emanzipatorisch gewertet werden sollte, dazu führen kann, dass beispielsweise ein Studium abgebrochen wird. Auch dies wiederum könnte im Sinne der psychischen Hygiene zwar als der ‚richtige Schritt’ gewertet werden, verweist dann aber wieder auf die Ebene der Chancengleichheit. (2) Eine zweite Kategorie von Untersuchungen legt die Problematik auf eben dieser Ebene dar.20 Es handelt sich um Studien, die statistische Zusam20 Aus Gründen der Übersichtlichkeit sind im Folgenden nur Studien referiert, die sich auf die Bundesrepublik Deutschland beziehen und die über einen Studienort bzw. über ein Studienfach hinausgehen. Vor allem zum Verbleib von HochschulabsolventInnen gibt es demgegenüber unzählige lokale und/oder studienfachbezogene Untersuchungen. Außerdem soll nicht der Eindruck entstehen, als sei soziale Herkunft die einzige einflussreiche sozialstrukturelle Variable. Selbstverständlich gibt es andere, einschlägige Variablen, die eine komplette Analyse von Chancengleichheit zu berücksichtigen hat, allen voran die Variablen Geschlecht und Migrationshintergrund. Anhand dieser Variablen werden sogar Verschiebungen in der Ungleichheit von Chancen abgebildet, etwa durch Aussagen wie: „Die Metamorphose der Arbeitertochter zum Migrantensohn“ (Geißler 2005, 71). Angemerkt sei: „Sie [Studierende mit Migrationshintergrund] kommen zum Beispiel deutlich häufiger aus eher niedrigen sozialen Herkunftsfamilien [...]“ (BMBF
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen
menhänge zwischen sozialer Herkunft und Studienangelegenheiten ausweisen. Dazu gehört unter anderem die Literatur zu Studierneigung, Studienfachwahl, Studienverlauf bzw. -erfolg und Studienabbruch sowie zum Werdegang Graduierter. Ertragreich sind hier zum einen die in regelmäßigen Abständen etwa vom Hochschul-Informations-System (HIS) durchgeführten Befragungen des Deutschen Studentenwerks (zuletzt BMBF 2007) und andere Untersuchungs-Reihen wie der Studierendensurvey der Konstanzer AG Hochschulforschung (zuletzt BMBF 2008) und die Studien des Internationalen Zentrums für Hochschulforschung (INCHER; zuletzt Teichler 2009; Janson/Schomburg/Teichler 2006). Zum anderen liegen viele einzelne Studien und Sammelbände vor bzw. Auszüge aus den Ergebnisdarstellungen der o.g. großen Befragungen, etwa zu sozialer Ungleichheit im Bildungssystem und im Studium im Quer- und Längsschnitt sowie im biographischen Verlauf (Becker/Lauterbach 2008; Blossfeld/Doll/Schneider 2008; Blossfeld/Shavit 1993; Blossfeld 1989; Liebau/Zirfas 2008; Bargel 2007; Georg 2006; Engel 2005; Krais 1996; Ditton 1992; Preißer 1988; Lewin 1986), zu Bildungsübergängen (Eckert 2007; Schmidt 2006; Bargel u.a. 1987; Bolder 1978), zur Studierneigung bzw. zur sozialgruppenspezifischen Bildungsbeteiligung (Becker/Hecken 2007; 2008; Becker 2000; Middendorff 2002, Müller/Pollak 2007; Watermann/Maaz 2006; Lischka 2003; Lewin/Heublein/Sommer 2000; Lewin 1997; Wolter/Lenz/Winter 2000; Stegmann 1986), zur Studienfachwahl (Asmussen 2006; Schölling 2005; Bathke/Schreiber/Sommer 2000; Bathke/Schreiber 1997; Apel 1993; Preißer 2003, 1990; Meulemann 1991), zu Schwierigkeiten und Belastungen Studierender (Funke 1986, darin v.a. Bargel/Höpfinger 1986), zur Studierzufriedenheit, zum Studienabbruch und Studienerfolg (Georg 2008; HIS 2008, Heublein/Spangenberg/Sommer 2003; Pohlenz/Tinsner/Seyfried 2007; Damrath 2006; Brandstätter/Grillich/Farthofer 2006; Schröder-Gronostay/Daniel 1999; Meulemann 1991a), zu sozialer Herkunft und den ‚neuen’, gestuften B.A./M.A.Studiengängen (Kretschmann 2008; Baumgart 2006), zum Verbleib von AbsolventInnen und postgraduierten (Spitzen-)Karrieren (Schomburg/Teichler 2006; Schomburg u.a. 2001; Burkhardt/Schomburg/Teichler 2000; Hartmann 2002; Minks/Briedis 2004, 200521) und zum gesellschaftlichen Engagement Studierender (Fischer 2006). Die meisten dieser Studien weisen den Faktor soziale
2007, 8). Dennoch bezieht sich die Untersuchung vorwiegend auf die soziale Ungleichheit nach sozialer Herkunft, was nicht bedeutet, dass sich etwa Konflikte zwischen verinnerlichten, vermeintlich weiblichen Mustern und vermeintlich männlichen Mustern der Umgebung nicht als Habitus-Struktur-Konflikte abbilden lassen. 21 Bei der Studie vom HIS (Minks/Briedis 2005) handelt es sich um die erste Untersuchung zum Verbleib von Bachelor-AbsolventInnen.
2.1 Stand der Forschung
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Herkunft als einschlägig aus und finden aufgrund ihrer vorwiegend quantitativen Ausrichtung22 wohl am ehesten Eingang in den bildungspolitischen Diskurs. Sie vermitteln jedoch kaum die konkreten Prozesse des Umgangs mit dem Studium, fragen also nicht nach dem ‚Wie’ bzw. nur auf der Ebene statistischer Aggregate. Des Weiteren wird hier stellenweise mit einer analytischen Trennung von subjektiven und objektiven Faktoren gearbeitet, die Zusammenhänge zwischen beiden werden kaum thematisiert. So kann beispielsweise hinter verschiedenen subjektiven Studienabbruchgründen wie der Studienmotivation, der erlebten Studienfinanzierungssituation oder psychischen Problemen doch wieder die objektive Variable soziale Herkunft stehen. Dies wird von den einschlägigen Studien gar nicht in Abrede gestellt, mag aber dennoch dazu führen, dass der qualitative Einfluss der sozialen Herkunft falsch eingeschätzt wird. Es bedarf hier also qualitativer Untersuchungen, um das vermutete Geflecht von Variablen in einem verstehbaren Zusammenhang zu sehen und um das ‚Wie’ in den Vordergrund zu rücken und dies nicht nur, um der Tatsache von Einzelschicksalen oder -erfolgen gerecht zu werden, sondern um Lösungswege für empfundene Missstände im Hochschulbildungswesen angeben zu können. (3) Solche Studien wurden und werden freilich durchgeführt. So sind viele Untersuchungen, die sich dem Studieren unter den Aspekten soziale Herkunft, Geschlecht23 und Fachkulturen bzw. dem Zusammenwirken dieser Variablen widmen, qualitativ-explorativ angelegt, wobei hier auch einige wichtige quantitative und theoretische Beiträge genannt sind (Lange-Vester 2007; LangeVester/Teiwes-Kügler 2006, 2004; Engler 2006, 1993; Engler/Krais 2004; Engler/Prümmer 1993; Engler/Friebertshäuser 1992; Krais 2000, Friebertshäuser 1992; Bülow-Schramm/Gerlof 2004; Bülow-Schramm/Gipser 1991; Huber 2004, 1983; Liebau/Huber 1985; Gapski/Köhler/Lähnemann 2000; Köhler/Gapski 1997; Haas 1999, 1993; Neusel/Wetterer 1999; Schlüter 1993, 1992; Rauch 1993; Barba u.a. 1988; Bublitz 1980). Fremdheitserfahrungen von Stu22 Ein Teil der hier erwähnten Texte zu sozialer Ungleichheit im Bildungswesen ist nicht quantitativ-empirisch, sondern rein theoretisch ausgerichtet oder stellt einen Überblick dar. Die Studie von Preißer (2003) arbeitet zusätzlich zur Analyse quantitativer Daten mit einer vertiefenden Exploration durch biographische Interviews. Rein qualitativ-empirische Untersuchungen zum Studium werden weiter unten referiert. 23 Dass hier von sozialer Herkunft und Geschlecht gesprochen wird, soll nicht bedeuten, dass Geschlecht nicht auch eine Form sozialer Herkunft ist, durch die die Kategorie des biologischen Geschlechts überhaupt erst zu ihrer Wirkungsmächtigkeit gelangt (Bourdieu 1997, 1997a, 2005). Der Verständlichkeit halber wird hier unter sozialer Herkunft das betreffende Milieu bzw. die klassische meritokratische Ungleichheitstriade ‚Bildung, Einkommen, Beruf’ der Eltern verstanden, wobei der elterlichen Bildung der höchste Stellenwert eingeräumt wird, weil sie zum einen als am bedeutsamsten – freilich übersetzt in konkrete Alltagspraxen – für die Habitusformierung der Kinder angenommen wird und es sich zum anderen bei der Untersuchung mit dem akademischen Milieu um ein Feld handelt, in dem kulturelles Kapital hoch gewichtet ist.
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dierenden aus der ehemaligen DDR in den westlichen Bundesländern konnte Schwibbe (1993) nachzeichnen. Weitere empirische Studien befassen sich mit der Konstitution des akademischen Feldes über die Analyse des Studierens hinaus – etwa über die Exploration fachkultureller Performanzen von Lehrenden bzw. Lehrkulturen oder die Genese sozialer/geschlechtsspezifizierter Ungleichheit akademischer Werdegänge und die Konstruktion der Persönlichkeit ‚des Wissenschaftlers’ (Krais/Beaufays 2005; Stegmann 2005; Engler 2004, 2002, 2001; Engler/Faulstich-Wieland 1995; Schaeper 1997; Wetterer 1986). In diesen Untersuchungen werden zwar zwangsläufig Problemlagen sichtbar, doch wird der Umgang mit dem Studium selten als unter Umständen konfliktbehafteter Prozess geschildert und erst recht nicht danach ausdifferenziert, welche Habitus- mit welchen Strukturelementen des akademischen Feldes in Berührung geraten, wie dies verhandelt wird und wie diese Verhandlungen in übergreifenden gesellschaftlichen (Ungleichheits-) Verhältnissen begriffen werden können. (4) Eine vierte Kategorie wird hier durch die Monographie von Haeberlin/Niklaus (1978) repräsentiert. Diese geht gewissermaßen umgekehrt vor: es handelt sich um einen Text über ‚Identitätskrisen’ – so lautet auch der Titel der Arbeit. Die Exploration des Themas erfolgt aber ausschließlich „am Beispiel des sozialen Aufstiegs durch Bildung“ – so ein Teil des Untertitels. Dieses Beispiel wird damit einerseits als geradezu paradigmatisch für ‚Identitätskrisen’ angenommen, andererseits wird dieser Gruppe damit gleichzeitig eine Sonderstellung zugeschrieben. Die Monographie befasst sich zwar mit Aushandlungsprozessen zwischen Biographie und akademischem Milieu und thematisiert jene auch unter der Perspektive von Konflikten. Erstens erfolgt dabei aber eine Konzentration auf ‚Arbeiterkinder’ mit der Konsequenz, dass nicht ein größeres sozialstrukturelles Spektrum an Integrationsleistungen abgebildet wird und deshalb möglicherweise Hinweise für eine erfolgreiche Vermittlung verloren gehen. Zweitens erfolgt die Darstellung der Prozesse anhand der Identitätsbegriffe Meads, Goffmans oder Krappmanns. Es findet keine begriffliche Verknüpfung zwischen sozialer Ungleichheit bzw. der sozialen Herkunft auf der einen und Identitätskrisen auf der anderen Seite statt. Es wurde bereits auf die Nachteile hingewiesen, dass zum einen dadurch der Konflikt, der zwischen Mustern besteht, auf die Akteursseite verlagert wird und dies zum anderen zu der Vorstellung führen kann, dass Betroffene lediglich ihre Biographie in die neue Situation einbringen müssten. Damit bleibt diese Untersuchung, obwohl sie sozialstrukturelle Unterschiede zum Ausgangspunkt nimmt, nämlich durch den Fokus auf ‚Arbeiterkinder an der Uni’, doch wieder sozialstrukturell undifferenziert. Die Struktur-Seite wird
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kaum danach befragt, welchen Akteuren sie in welcher Weise eher ein Einbringen ihrer Identitäten ermöglicht als anderen. Drittens wird die Identitäts-Seite mit der sozialen Herkunft gleichgesetzt. Es geht dort um ‚die’ Identität ‚des’ Arbeiterkindes und nicht um individuelle Habitus und deren Umgang mit dem akademischen Milieu bzw. mit den wahrgenommenen Anforderungen. Viertens geraten mit dem Fokus auf Identitätskonflikte, also auf individualisierte Habitus-Struktur-Konflikte, andere Austragungsformen aus dem Blickfeld. Es ist ja immerhin denkbar, dass ‚gefühlte’ kulturelle Nachteile von Betroffenen tatsächlich in ihrer Beziehung zu sozialer Ungleichheit wahrgenommen werden und sich etwa als interpersonale Habitus-Struktur-Konflikte gegen Repräsentanten des akademischen Feldes (etwa Kommilitonen oder Lehrende) richten. (5) Eine fünfte Art von Studien bzw. Texten befasst sich mit Sozialisationsprozessen an der Universität (Vosgerau 2005; Huber 2004, 1998; Huber u.a. 1983; Huber/Vogel 1984; Portele/Huber 1981; Frank 1990; Burkart 1982) und arbeitet damit in gewisser Weise auch mit der Idee von Habitus-StrukturBegegnungen. Sie tut dies aber weniger unter dem Aspekt sozialer Ungleichheit und operiert auch nicht mit dem Konzept von Habituskonflikten, sondern von Habitusmodifikationen (explizit etwa Vosgerau 2005). Der HochschulSozialisationsprozess wird bei Vosgerau mehr oder weniger als gelingend vorausgesetzt. Dennoch liefern diese Studien interessante Hinweise, da sie sich mit dem akademischen Milieu als Sozialisationsagentin auseinandersetzen und damit bereits etwas über die ‚Struktur-Seite’ verraten. Die getätigten Aussagen über verschiedene Kulturen der Universität scheinen – neben der eigenen Empirie und den statistischen Befunden etwa zum erlebten Grad der Strukturiertheit des Faches (vgl. BMBF 2008) – die einzige Quelle zu sein, aus der sich Aussagen über Strukturen des akademischen Milieus oder besser: des Studierens speisen können. Diese Texte sollen hier nicht systematisch referiert werden, da es ohnehin der Empirie überlassen bleiben muss, festzustellen, welche kulturellen Haltungen und Praxen, sich an welchen wahrgenommenen Vorgaben reiben. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es ohnehin nicht, offen zu legen, welche Strukturen die Hochschule allgemein oder konkret kennzeichnen, sondern, wo es Reibungspunkte gibt, Reflexivität einsetzt und wie diese Situationen bearbeitet werden. Ein Teil dieser verschiedenen Untersuchungen soll in diesem zweiten Kapitel für das Vorhaben der vorliegenden Arbeit fruchtbar gemacht werden. Dazu werden im folgenden Part Ergebnisse zu den statistischen Zusammenhängen von Studium und sozialer Herkunft gebündelt (2.2), bevor dann im dritten Teil das Thema Studienprobleme und Identitätskrisen anhand der Übersicht von Graf und Krischke (2004) diskutiert wird (2.3), wie es für die psychologische Literatur in sozial nicht ausdifferenzierender Weise üblich ist. Der darauf folgende
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Abschnitt (2.4) verdeutlicht dann am Beispiel der Systematisierung von Haeberlin und Niklaus (1978) zu Identitätskrisen von Arbeiterkindern an der Universität, dass hier eine konzeptionelle Verbindung von den Krisenerlebnissen dieser Gruppe zu ihrer sozialstrukturellen Verankerung fehlt, obwohl die Autoren genau mit dieser Absicht den Fokus auf die ‚Arbeiterkinder’ legen, um zu verdeutlichen, dass es sich im Hochschulkontext um eben für diese Gruppe – und nicht für andere – typische Identitätskrisen handelt. Der nötige Übersetzungsversuch wird im fünften Teil (2.5) geleistet, indem das Verhältnis von Identität, Sozialisation und Habitus anhand der vielversprechenden Arbeiten vor allem von Jürgen Wittpoth (1994) und ergänzend von Ullrich Bauer (2004) diskutiert wird. Der sechste Teil (2.6) fasst die Ergebnisse zusammen und bündelt sie zu der Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten im Studium, die dann als Brille bzw. Ordnungsraster für die Empirie, die im dritten Kapitel vorgestellt wird, dienen kann. 2.2 Studium und soziale Herkunft – statistische Zusammenhänge „In der Geschichte bildungspolitischer Diskurse der Bundesrepublik sind unterschiedliche Phasen zu identifizieren, in denen die Ungleichheit der Bildungsbeteiligung verschiedener sozialer Schichten ein breit diskutiertes Thema war bzw. aus der öffentlichen Debatte verschwand. Die erste Phase reicht von 1964 bis zum Beginn der 70er Jahre, begonnen von Beiträgen Pichts und Dahrendorfs. In den 70er und 80er Jahren, der nächsten Phase spielte das Thema keine Rolle. Seit Beginn der 90er Jahre erwacht das wissenschaftliche und öffentliche Interesse erneut und wird um die Wende zum 20. Jhd. [sic!] durch die Ergebnisse großer Bildungssurveys noch einmal kräftig gesteigert“ (Middendorff 2002, 140).
Diese Diagnose mag zutreffen, was quantitative Untersuchungen betrifft. Nimmt man jedoch qualitative Studien hinzu, die sich mit der Benachteiligung einer speziellen sozialstrukturellen Gruppe beschäftigen, so ist auch für die 1980er Jahre ein Interesse an ‚Arbeiterkindern’ an der Universität festzustellen, speziell an der doppelt marginalisierten Gruppe der ‚Arbeitertöchter’. Um aber die Verbindungen von sozialer Herkunft mit dem Hochschulbesuch als aktuell und quantitativ relevant auszuweisen, sollen im Folgenden die statistischen Zusammenhänge von Studium und sozialer Herkunft mehr oder weniger in der zeitlichen Abfolge des Studienverlaufs – also vom Zugang zur Hochschule bis hin zum Studienerfolg bzw. -abbruch und Verbleib – geschildert werden. Dies geschieht aus Gründen der Systematisierung. Damit sei nicht behauptet, dass es sich bei diesen Zusammenhängen um diachrone kausale Abhängigkeiten handelt, etwa dergestalt, dass die soziale Herkunft mit der Abiturnote korreliert und diese wiederum Studienerfolg beeinflusst usw. Vielmehr
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wäre hier etwa anzunehmen, dass Abiturnote und soziale Herkunft über ihren Zusammenhang hinaus beide Einfluss auf besagte abhängige Variable nehmen. Die Beschäftigung mit der Studienfachwahl erfolgt gesondert am Ende dieser statistischen Reise, weil sie bereits auf Aspekte verweist, die die Einführung der Habitus-Struktur-Konflikt-Begrifflichkeit zur Beschreibung des Gegenstands Studium als notwendig erscheinen lassen, was dann in den folgenden Unterkapiteln detailliert hergeleitet wird. Die Tatsache, dass bereits der Weg bis zum Erreichen der Hochschulreife erheblich von der sozialen Herkunft abhängt, soll nicht näher betrachtet werden. Auch macht es hier keinen Sinn, auf die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Effekten sozialer Herkunft näher einzugehen. Unter primären Effekten werden alle sozialen Faktoren verstanden, die dazu beitragen, dass Kinder mit verschiedenen (sozialen) Voraussetzungen die Anforderungen der jeweiligen Stufen des Bildungssystems unterschiedlich gut erfüllen. Sozial bedingte Entscheidungen an den Bildungsübergängen hingegen werden als sekundäre Effekte bezeichnet (vgl. Jackson u.a. 2007; Müller/Pollak 2007). „In den von der Sozialerhebung ermittelten Beteiligungsquoten schlägt sich die mehrfache Selektivität auf dem Wege zu einem Hochschulstudium nieder, wie sie im Konzept der Bildungsschwellen zum Ausdruck kommt […]: Zum einen verläuft die Selektivität in einem ganz entscheidenden Umfang bereits innerhalb des Schulsystems, insbesondere an der Übergangsstelle zwischen Grundschule und Sekundarstufe I, bis hin zum Abschluss der Schullaufbahn und zum Erwerb einer Studienberechtigung. Zum anderen manifestiert sich die Selektivität innerhalb dieses bereits stark vorgefilterten Potentials dann noch einmal an der Schwelle des Hochschulzugangs, wenn zum Beispiel die Entscheidung über die Aufnahme eines Studiums selbst bei gleicher Schulleistung mit der sozialen Herkunft variiert“ (BMBF 2007, 10).
Ich beginne die ‚statistische Reise’ durch das Studium eben an dieser Stelle mit der Frage des Zugangs zur Universität bzw. Fachhochschule in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft, mit der sogenannten Studierneigung oder Studierbereitschaft. Diese stellt im Bildungsschwellenmodell die vierte Schwelle dar. Zu diesem Zeitpunkt – also bis zum Erwerb des Abiturs oder der Fachhochschulreife – waren also bereits mehrere Stufen der Fremd- oder Selbstselektion wirksam.24 Eine interessante Beobachtung, was die vorherigen Selektions-Stufen im heute sogenannten Bildungstrichter betrifft, macht Erika Haas (1999, 136f.) bei ihren Interviews mit in naturwissenschaftlichen Fächern (Physik und Medizin) studierenden Arbeiterkindern. Diese haben also die verschiedenen Hürden for24 Die verschiedenen Mechanismen der Selektionen werden von Haeberlin/Niklaus (1978, 144 ff.) sehr plastisch geschildert.
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mal erfolgreich genommen und berichten retrospektiv relativ einhellig, dass sie schon früh eine Bildungskarriere anvisiert haben bzw. in der Grundschule bereits so gut waren, dass über eine Entscheidung, aufs Gymnasium zu gehen, weder im Elternhaus noch an der Schule diskutiert wurde. „Entgegen möglicher Erwartungen gibt es beim Übergang auf das Gymnasium für Arbeiterkinder keine Probleme. Im Gegenteil: Sie selbst sind sich sicher und denken bereits sehr früh über ein Studium und Karriere nach. Die zentrale Rolle des Vaters wurde bereits hervorgehoben, sie erklärt hingegen nicht die starke Koppelung zwischen dem Wunsch nach Anerkennung durch den Vater und Karriereorientierung: Es kann vermutet werden, daß sie in Anlehnung an eine herrschende Hierarchievorstellung gekoppelt ist: Es wird der Beruf gewünscht, der die höchste Anerkennung im – männlich geprägten – Hierarchiesystem besitzt“ (Haas 1999, 170).
Diese Aussage verleitet zu der Hypothese, dass die erfolgreichen Bildungskarrieren von Arbeiterkindern wenigstens in naturwissenschaftlichen Fächern schon früh in die Wege geleitet werden und wendet den Blick ab von der verbreiteten Vorstellung, dass studierende Arbeiterkinder sich gegen Eltern und Lehrerempfehlungen durchsetzen mussten. Das heißt umgekehrt nicht, dass diese beiden Hürden keine Rolle spielen. Es kann im Gegenteil angenommen werden, dass ohne diese Barrieren mehr Kinder aus hochschulfernen Bildungsmilieus den Weg an die Hochschulen einschlagen würden. Bei einem Teil derer, die studieren, scheint aber schon früh eine klare positive Selektion – überwiegend durch gute Grundschulleistungen – vorzuliegen. Einen qualitativen Einschnitt macht Erika Haas bei dem Übergang in die Kolleg- bzw. Oberstufe aus. Dort platzt bei Akademikerkindern, die sich zuvor in der Schule schwer taten, buchstäblich der Knoten und Arbeiterkinder erleben mit der Auflösung des Klassenverbandes einen ersten Knick (vgl. Haas 1999, 153ff.). Dies ist für die vorliegende Untersuchung insofern interessant, als dass die im Verhältnis zu unteren Schulstufen individualisiertere Oberstufe im wahrsten Sinne des Wortes als Vor-Feld des akademischen Feldes betrachtet werden kann. Im Anschluss daran lässt sich vermuten, dass eine Strukturkomponente, mit der hochschulbildungsferne Habitus in Konflikt geraten können, eben diese individualisierten, entkollektivierten Lernbedingungen sind. Es kann bereits mit Bourdieu angenommen werden, dass hochschulbildungsnahe Erfahrungen, also das Aneignen der Welt durch Akteure in den oberen Gefilden des Sozialraumes eher individuelle, und hochschulbildungsferne Erfahrungen eher kollektive Erfahrungen sind.25 25 Hiervon ausgehend kann vermutet werden, dass die Argumentation mit und vor allem die Umdeutung von Becks Individualisierungsthese in eine Individuierungsthese typisch sind für bildungsnahe Positionen bzw. Habitus und deren Diagnose für sie selbst wohl auch eher zutrifft.
2.2 Studium und soziale Herkunft – statistische Zusammenhänge
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Verschiedene Studien haben Bildungsübergänge insgesamt (Becker/Lauterbach 2008; Eckert 2007; Schmidt 2006; Bargel u.a. 1987; Bolder 1978) bzw. den Zugang zur Hochschule in Form der sogenannten Studierneigung bzw. Bildungsbeteiligung (Becker/Hecken 2007, 2008; Becker 2000; Middendorff 2002; Müller/Pollak 2007; Watermann/Maaz 2006; Lischka 2003; Lewin/Heublein/Sommer 2000; Lewin 1997; Wolter/Lenz/Winter 2000; Stegmann 1986) untersucht oder aus den besagten regelmäßigen Umfragen des Studienwerks referiert. Alle weisen die soziale Herkunft als einschlägig aus. Sie stellen unterschiedliche Überlegungen über die Wirkmechanismen und Ursachen an. An dieser Stelle soll lediglich der Faktor soziale Herkunft in seinem Ausmaß für den Hochschulzugang verdeutlicht werden. Bei der Studienfachwahl wird dann auch auf Wirkmechanismen eingegangen, weil diese auf die Notwendigkeit der Habitus-Struktur-Begrifflichkeit verweisen. Parallel zum Anstieg der Anzahl der Studierenden von 1995 bis 2003 ist auch die allgemeine Beteiligung an Hochschulbildung auf 39% gestiegen und 2006 wieder auf 36% gesunken. Das bedeutet, dass 2006 36% eines Altersjahrgangs ein Studium aufgenommen haben (BMBF 2007, 4f., 57ff.). Bei der Bruttostudierquote – die Bezugsbasis ist hier nicht der gesamte Jahrgang, sondern nur die Menge derjenigen daraus, die berechtigt sind, ein Studium aufzunehmen – ist von Anfang der 1990er Jahre bis 1999 ein starker Rückgang und seitdem ein leichter Anstieg zu verzeichnen, ohne die Werte von 1990 zu erreichen (ebd., 5). 2005 betrug sie 69% (ebd., 57). Die Beteiligung verschiedener sozialer Gruppen beim Hochschulzugang ist sehr unterschiedlich. Soziale Beteiligungsquoten stellen eine Relation zur Größe der jeweiligen Bezugsgruppe dar und sind demzufolge nicht mit der sozialen Zusammensetzung der Studierendenschaft insgesamt oder derjenigen einzelner Fächer zu verwechseln. Auch dort gibt es natürlich Unterschiede bezogen auf die soziale Herkunft, die im Unterkapitel zur Studienfachwahl referiert werden. Aussagen über die Chancenstrukturen machen aber nur die sozialen Beteiligungsquoten. Der folgende Auszug aus der Studentenwerk-Befragung macht zudem deutlich, dass für den Hochschulzugang der Kinder das institutionalisierte kulturelle Kapital der Eltern, vor allem in Form des Hochschulabschlusses ausschlaggebender ist als das ökonomische. Wenn man sich vor Augen führt,
Die polemische Formel wäre: für ‚Oben’ gilt Beck, für ‚Alle’ gilt Bourdieu, also gilt Bourdieu, weil Letzterer detailliert beschreibt, wie in den oberen Gefilden des Sozialraums das eigene Leben vermeintlich frei gestaltet werden kann, auch wenn diese Gestaltungsweisen und -produkte gerade durch Bourdieu dann wieder als klassentypische Distinktionen herausgestellt wurden (Bourdieu 1982, 31ff., 405ff.).
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wie Habitus geformt und Haltungen sozial vererbt werden, verwundert das allerdings nicht. „So ergibt die Differenzierung der traditionell für die Messung des sozioökonomischen Hintergrunds der Bildungsbeteiligung herangezogenen vier sozialversicherungsrechtlichen Kategorien nach solchen Elternhäusern, in denen mindestens ein Elternteil bereits über einen Hochschulabschluss verfügt, und solchen, für die das nicht gilt, zwei interessante Befunde. Erstens zeigt sich hier die enorme Spannweite in der Bildungsbeteiligung zwischen den betrachteten Teilgruppen, die noch weit größer ausfällt, als dies schon bei den vier sozialversicherungsrechtlichen Gruppen der Fall ist. Die eigentliche soziale Differenzierung der Studierchancen [...] verläuft dabei gar nicht entlang dieser Gruppen, sondern entlang des Merkmals ‚Hochschulabschluss der Eltern’ […]. Dies macht zweitens darauf aufmerksam, wie wichtig die Berücksichtigung der unterschiedlichen, quer zu den sozialen Gruppen verlaufenden Bildungsmilieus ist, die immer wieder, aber keineswegs befriedigend als ‚hochschulnah’ und ‚hochschulfern’ bezeichnet werden. Hier ist darauf hinzuweisen, dass inzwischen bei weit mehr als der Hälfte der Studierenden mindestens ein Elternteil selbst bereits über einen Hochschulabschluss verfügt, [...]. Vielmehr erweisen sich die grundlegenden sozialen Disparitäten als ziemlich stabil. Die Gruppe mit der höchsten Beteiligungsquote beim Hochschulzugang – Kinder aus Beamtenfamilien, in denen mindestens ein Elternteil ein Studium absolviert hat – weist eine fünfeinhalbmal so hohe Studierchance auf wie die Gruppe mit der niedrigsten Beteiligungsquote, den Kindern aus Arbeiterfamilien […]“ (ebd., 11; Hervorh. Im Orig.; vgl. auch 94ff.).
Die Bedeutung der Hochschulbildung der Eltern für den Hochschulzugang wird besonders dadurch dokumentiert, dass, „während 95% der Beamtenkinder mit einem Elternteil mit Hochschulabschluss ihrerseits wieder ein Studium aufnehmen (und 88 bzw. 76% der Kinder aus entsprechenden Selbständigen- bzw. Angestelltenfamilien), […] die Beteiligungsquote der Arbeiterkinder mit 17% am anderen Ende [liegt]. Die Quoten für die Studienanfänger/innen aus nicht-akademisch qualifizierten Angestellten-, Beamten- und Selbständigenfamilien variieren zwischen 27 und 38%; ihr Abstand zu den akademischen Bildungsschichten ist weit größer als zu den Arbeiterfamilien […]“ (ebd., 13, vgl. auch 94ff.).
Dies veranlasst die Autoren zu der folgenden bildungspolitisch adressierten Aussage, die bereits zur Einleitung dieses Buches zitiert wurde: „Die Rekrutierungspotentiale aus den hochschulnahen Bildungsmilieus sind weitgehend ausgeschöpft; eine arbeitsmarktpolitische Erschließung neuer Nachfragepotentiale für ein Hochschulstudium kann nur über eine soziale Öffnung der Hochschule erfolgen. Die Ergebnisse der 18. Sozialerhebung zeigen eher eine Entwick-
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lung, wonach die Hochschule tendenziell immer mehr zu einer Institution wird, die nicht mehr primär dem Bildungsaufstieg, sondern eher dem Erhalt bzw. der ‚Vererbung’ eines bereits erreichten akademischen Status in der jeweils nachfolgenden Generation dient“ (ebd., 11f.).
Zwar hat sich auch die Beteiligungsquote der Arbeiterkinder nach dem Jahr 2000 erhöht, die der anderen sozialen Gruppen allerdings noch stärker. Es entscheiden sich also Abiturientinnen und Abiturienten aus hochschulbildungsfernen Elternhäusern seltener für die Aufnahme eines Studiums als ihre Peers, die aus Familien mit akademischer Tradition stammen. Dass nicht zu vernachlässigen ist, dass diese Wahl aus mit der Herkunft zusammenhängenden ‚subjektiven Gründen’ getätigt wird, die ihrerseits eine Tiefenstruktur aufweisen, hat Preißer in seiner Untersuchung zur Studienfachwahl hingewiesen, in der er makro- und mikrostrukturelle Dimensionen zusammenführt (Preißer 2003, v.a. 434 ff.). Wenn wir also die Studienfachwahl betrachten, haben wir es bereits mit einer hochselektierten Gruppe zu tun, also mit denjenigen, die aus hochschulnahen Bildungsmilieus stammen, oder solchen, die trotz ungünstiger Chancenstruktur durch bestimmte Mechanismen in der Aufnahme einer Bildungskarriere bestärkt wurden, sei es durch die Erfahrung, in der Schule erfolgreich gewesen zu sein, oder nach der Absolvierung einer Lehre das Gefühl empfunden zu haben, ‚dass es das noch nicht gewesen sein könne’. Es gilt, dass „mit abnehmender sozialer Herkunft […] sich in allen Notenstufen [bei der Abiturnote; L.S.] die feste Studierabsicht [verringert]“ (BMBF 2008, 25). In diesem Studierendensurvey wurden – wie der Name schon sagt – nicht Abiturientinnen und Abiturienten befragt, sondern Studierende retrospektiv, also diejenigen, die trotz möglicher Zweifel dann doch ein Studium aufgenommen haben. Selbst bei dieser selektierten Gruppe lassen sich also gravierende Unterschiede bezüglich der Herkunft ausmachen (vgl. ebd., 25f.). Selbst wenn man diesen Selektions- nun als Anpassungsprozess deutet, halten Haeberlin und Niklaus eine Krisenanfälligkeit für Arbeiterkinder an der Hochschule fest: „Kinder aus der Arbeiterschaft, die sich in den oberen Klassen des Gymnasiums oder an der Universität befinden, haben den kontinuierlichen Ausleseprozess der höheren Schulen erfolgreich überstanden. Sie haben sich als anpassungsfähig an die kognitiven, sprachlichen und sozialen Erwartungen dieser Institutionen erwiesen. Sie haben sich von ihrer sozialen Herkunftsgruppe entfremdet. Zwar erfüllen sie nun die Voraussetzungen für die Anpassung an das Kommunikationssystem der
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen Hochschule, aber sie bleiben anfällig für Identitätskrisen von marginalen Personen“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 166).26
Es wurde bereits festgestellt, dass sich nicht nur der Zugang zur Hochschule, sondern auch die Zusammensetzung sowohl der Studierendenschaft insgesamt, als auch diejenige der einzelnen Fächer nach der sozialen Herkunft der Studierenden befragen lässt. Über alle Fächer gilt: „Während Beteiligungsquoten Informationen über die Entwicklung der Bildungsbzw. der Studierchancen liefern, sagen Daten zur Bildungsherkunft der Studierenden primär etwas über die spezifischen Selektions- und Sozialisationsprozesse im Vorfeld des Hochschulzugangs, insbesondere im Schulsystem, aus sowie über das sozio-kulturelle Milieu an der Hochschule (abgesehen davon, dass die soziale Herkunft eine zentrale differenzierende Variable für die Ergebnisse der Sozialerhebung ist). Danach zeichnet sich das Herkunftsmilieu der Studierenden über die letzten 15 Jahre durch einen kontinuierlich höheren Bildungs- und Ausbildungsstatus der Eltern aus […]. In beinahe 60% der Herkunftsfamilien verfügt mindestens ein Elternteil über das (Fach-)Abitur, in 51% auch bereits über einen Studienabschluss. Folgerichtig hat der Anteil der niedrigeren Abschlüsse über den ganzen Zeitraum ebenso kontinuierlich abgenommen. [...]. Ein ähnlicher Prozess verstärkter sozialer Reproduktion durch die Hochschule lässt sich bei der sozialen Herkunft der Studierenden beobachten. Auf der Grundlage der im Rahmen der Sozialerhebung entwickelten Klassifikation von vier sozialen Herkunftsgruppen27 hat sich der Anteil der Herkunftsgruppe ‚hoch’ seit 1982 auf inzwischen 38% mehr als verdoppelt, während die Anteile der beiden Herkunftsgruppen ‚mittel’ und ‚niedrig’ (hier von 34% bzw. 23% im Jahr 1982 auf 25% bzw. 13% im Jahr 2006) immer weiter gesunken sind […]. Die Universitäten sind von diesem Prozess der sozialen Verschiebung ‚nach oben’ deutlicher betroffen als die Fachhochschulen […]. Auch in der Wahl des Studienfaches sind die Effekte der sozialen Herkunft noch deutlich zu erkennen […]“ (BMBF 2007, 13, vgl. auch 94ff.).
Was die Zusammensetzung der Studierenden nach der sozialen Herkunft betrifft, ergibt sich folgendes Bild: nach Bildungsabschlüssen der Eltern gefragt, besitzen 58% der Eltern der Studierenden Hochschulreife, 28% einen Realschulund 14% einen Hauptschulabschluss. Anzumerken ist, dass der Hochschulabschluss nicht zu den Bildungsabschlüssen, sondern zu den beruflichen Ab26 Hier zeigt sich bereits, dass selbst die Autoren mit den von ihnen angeführten Rollenkonzepten analytisch zu kurz greifen. Ginge es nur um die Diskrepanz von sozialen Rollen, wäre der Konflikt gelöst, weil die betreffende Person nun ihre neue Rolle zu spielen weiß. Um die oben stehende Aussage treffen zu können, bedarf es eines Konzeptes, das Gruppenzugehörigkeiten nicht bloß als Rollen fasst, sondern deren Relevanz für Identitäts-, d.h. auch Körperbildungen berücksichtigt. Ein solches Konzept stellt der Habitus-Ansatz dar. 27 Die Herkunftsgruppen werden gebildet nach beruflicher Stellung und Bildungsniveau der Eltern (vgl. BMBF 2007, 492ff.).
2.2 Studium und soziale Herkunft – statistische Zusammenhänge
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schlüssen zählt, wonach sich folgende Verteilung ergibt: 52% der Eltern der Studierenden besitzen einen Hochschulabschluss; 20% einen Meister-, Techniker, oder Fachschulabschluss und 27% haben einen Facharbeiterbrief bzw. eine Lehre abgeschlossen. Nach den vier definierten sozialen Herkunftsgruppen ist für 2006 folgendes Bild zu zeichnen: 38% (26% in 1991) der Studierenden entstammen der Herkunftsgruppe ‚hoch’; 24% (31% in 1991) der Gruppe ‚gehoben’, 25% (28% in 1991) der Gruppe ‚mittel’, 13% (15% in 1991) der Gruppe ‚niedrig’ (vgl. ebd., 118ff.). In der anderen groß angelegten, vom BMBF herausgegebenen Untersuchung, dem Studierendensurvey, fassen Multrus, Bargel und Ramm Bildung und Berufsausbildung zusammen und ermitteln folgende Zahlen für Universitäten und Fachhochschulen zusammen genommen: Bei 56% der Studierenden besitzt mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss (inkl. FHAbschluss), 16% Abitur bzw. Fachschule; 5% Meisterprüfung; 15% Realschule und Lehre; 6% Volksschule und Lehre. Betrachtet man sich ausschließlich Universitäten, liegt der Anteil der Studierenden mit mindestens einem Elternteil mit Hochschulabschluss sogar bei 60% (vgl. BMBF 2008, 13). Dieser Anteil betrug dem Studierendensurvey zufolge 1985 nur 41% und auch innerhalb dieser Gruppe hat sich der Anteil der Eltern mit Uni-Abschluss erhöht und ist dementsprechend derjenige der Eltern mit FH-Abschluss zurückgegangen (ebd.). Die soziale Zusammensetzung variiert stark nach unterschiedlichen Studienfächern. Insgesamt ist die Verteilung nach Fächergruppen an Universitäten28 wie folgt: 9% aller Studierenden belegen ein ingenieurwissenschaftliches Fach, 27% ein sprach- oder kulturwissenschaftliches, 22% Mathematik oder Naturwissenschaften, 8% Medizin oder Gesundheitswissenschaften, 19% Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften und 15% aller Studierenden belegen ein im weiteren Sinne sozialwissenschaftliches Fach (Sozialwissenschaften, Sozialwesen, Pädagogik, Psychologie) (BMBF 2007, 147f.). Diese Angaben entsprechen in etwa den Zahlen des Statistischen Bundesamtes und des Studierendensurveys (vgl. BMBF 2008, 9). Was die Zahlen nach sozialer Herkunft betrifft, sind diese Fächergruppen nicht ganz unproblematisch, weil etwa Wirtschaftswissenschaften – im symbolischen Raum und was die soziale Herkunftsstruktur betrifft – weiter unten ange28 Da die Zahlen vor allem aufgrund der ingenieurswissenschaftlichen Fächer in den Fachhochschulen stark abweichen, sind hier zur Vereinfachung nur die Daten für Universitäten wiedergegeben. Ohnehin ist der Zugang zur Universität für Studierende der Herkunftsgruppe ‚niedrig’ nicht nur deutlich unwahrscheinlicher im Vergleich zur Herkunftsgruppe ‚hoch’, sondern auch im Vergleich zum Zugang zur Fachhochschule (vgl. BMBF 2007, 137f.). Außerdem wurde die eigene Empirie an einer Universität erhoben, so dass diese Vergleichzahlen ohne die Fachhochschulen hier sicherlich interessanter sind.
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siedelt sind als Rechtswissenschaften. Ähnliches gilt für Gesundheitswissenschaften im Vergleich zur Medizin oder für Pädagogik im Vergleich zur Psychologie. Das bedeutet, dass durch diese Zusammenfassungen die Unterschiede nach sozialer Herkunft etwas verwischt werden (vgl. BMBF 2007, 140). „Sehr anschaulich ist das am Beispiel der (neuen) amtlichen Fächergruppe Medizin/Gesundheitswissenschaften, wo auf der einen Seite in den gesundheitswissenschaftlichen Fächern Studierende der Herkunftsgruppe ‚niedrig’ überproportional vertreten sind, und auf der anderen Seite im Fach Humanmedizin Studierende der Herkunftsgruppe ‚hoch’ überdurchschnittlich häufig immatrikuliert sind […]“ (ebd., 140).
So belegen Studierende aus der Herkunftsgruppe ‚hoch’ zu 10% ein ingenieurwissenschaftliches Fach, zu 26% ein sprach- oder kulturwissenschaftliches, 20% wählen ein naturwissenschaftliches Fach oder Mathematik, 11% Medizin oder Gesundheitswissenschaften, 19% Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften und 14% etwas Sozialwissenschaftliches (nach der o.g. Zusammenfassung). Für die Herkunftsgruppe ‚niedrig’ ergeben sich folgende Zahlen: 9% Ingenieurswissenschaften, 24% Sprach- und Kulturwissenschaften, 23% Naturwissenschaften und Mathematik, 6% Medizin und Gesundheitswissenschaften, 21% Rechtsund Wirtschafts-, 17% Sozialwissenschaften. Diese Zahlen sind aus Sicht der Herkunftsgruppen zu betrachten, d.h. sie spiegeln nicht die unterschiedlichen Größen dieser Gruppen wider. Es wurden hier die Herkünfte nach ihrer Fächerstruktur befragt. Geht man umgekehrt vor und schaut, in welchem Studienfach welche Herkünfte wie stark vertreten sind, ergibt sich folgendes Bild: „Studiengänge, die mit Staatsexamen (nicht Lehramt) abschließen, weisen sowohl den höchsten Anteil an Studierenden der Herkunftsgruppe ‚hoch’ als auch den geringsten Prozentsatz Studierender aus der untersten Gruppe auf (51% vs 9% […])“ (ebd. 139).
Die Zahlen für die einzelnen Fächer sind Abbildung 2 zu entnehmen. Hier sind alle Hochschulformen zusammen genommen. Die Angaben sind relativiert auf die Anteile der beiden Herkunftsgruppen im Erststudium. So sind die Fächer Geschichte und Biologie diejenigen, die den erwarteten Häufigkeiten am ehesten entsprechen. In Medizin, Physik, Musik, Publizistik, bildender Kunst/ Graphik/ Design, Jura sind hohe Herkünfte stark über- und niedrige stark unterrepräsentiert. Umgekehrt ist es bei den Ingenieurs-, Gesundheits- und Wirtschaftswissenschaften. Beide Extremgruppen sind in der Sonderpädagogik über- und in den Ernährungswissenschaften sowie in Informatik unterrepräsentiert.
2.2 Studium und soziale Herkunft – statistische Zusammenhänge
Abbildung 2:
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Soziale Herkunft der Studierenden nach Studienfach29 (Quelle: BMBF 2007, 142) (Index bezogen auf Anteile der beiden Herkunftsgruppen im Erststudium insges. ( = 100) )
Im Gegensatz zu der HIS-Untersuchung gibt der Studierendensurvey sogar die Art der akademischen Bildung der Eltern an, so dass nach zumindest statistischen ‚Berufsvererbungen’ geschaut werden kann. Diese liegen über die verschiedenen Fächer – betrachtet man nur die Universitäten und die Universitätsabschlüsse der Väter – erstaunlich hoch zwischen 17% in den Sozialwissenschaften und je 35% in Medizin und Kulturwissenschaften (BMBF 2008, 21). Die Zahlen bedeuten, dass etwa die Kinder aller Ärzte, die studieren, zu 35% wieder Medizin studieren. Relativiert man diese Zahlen zur Häufigkeit der Fachwahl der Studierenden aus akademischen Familien insgesamt, entscheiden sich Studierende 3,2 mal so häufig für ein Medizinstudium, wenn der Vater 29 Nur Studienfächer ab 100 Fälle in der Stichprobe.
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auch Medizin studiert hat und 4 mal so häufig für ein rechtswissenschaftliches Studium, wenn der Vater Jurist ist. Weitere statistische Zusammenhänge seien referiert, bevor die Studienfachwahl als Prozess näher betrachtet wird: Studierende der Herkunftsgruppe ‚niedrig’ hatten 2000 bei der 16. Sozialerhebung des Studierendenwerks (BMBF 2001) in viel stärkerem Maße als ihre Kommilitonen der Herkunftsgruppe ‚hoch’ eine Fachober- oder Berufsfachschule besucht oder sind über den Zweiten Bildungsweg gegangen. Außerdem haben sie vorher deutlich häufiger eine Berufsausbildung absolviert und waren mit im Durchschnitt 26,3 Jahren entsprechend älter (23,4 bei der Gruppe ‚hoch’) und vermutlich auch deshalb häufiger verheiratet und schon Mutter bzw. Vater (Middendorff 2002, 187f.). Lassen die Zahlen von 2001 noch eine deutliche Abhängigkeit der Studiendauer von der sozialen Herkunft dergestalt vermuten, dass die Herkunftsgruppe ‚niedrig’ überdurchschnittlich bei den Langzeitstudierenden vorzufinden sind, was die Autoren mit der ebenfalls dort häufiger anzutreffenden Unterbrechung des Studiums in Verbindung bringen (ebd.), ist dies 2006 nicht mehr so (BMBF 2007, 141, 143), was auch mit der Einführung von Studiengebühren zu tun haben kann. Es haben deutlich mehr Studierende der Herkunftsgruppe ‚hoch’ einen Teil ihres Studiums im Ausland absolviert: „Von den Studierenden, die der sozialen Herkunftsgruppe ‚niedrig’ zuzuordnen sind, haben 17% einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt absolviert, von den Studierenden der höchsten Herkunftsgruppe sind es 37%. Die Chance für Studierende, deren Eltern einer höheren sozialen Gruppe zuzuordnen sind, einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt zu realisieren, ist damit mehr als doppelt so hoch im Vergleich zu Studierenden mit niedriger sozialer Herkunft“ (BMBF 2007, 167).
Mit Blick auf die Hochschulentwicklung im Zuge des Bologna-Prozesses hält Bargel (2007, 8) deshalb sogar fest: „Bedenkenswert ist ebenfalls: Studierende einfacher sozialer Herkunft werden aus dem europäischen Hochschulraum ausgeschlossen, bleiben im Bologna-Prozess zurück“. Auch die Höhe der monatlichen Einnahmen (Eltern, BAFöG, Erwerbsarbeit) variiert mit der sozialen Herkunft. „Erwartungsgemäß verfügen auch 2006 die Studierenden der oberen sozialen Herkunftsgruppe über die höchsten monatlichen Einnahmen […]. Verglichen mit den Studierenden der beiden unteren Herkunftsgruppen haben die Studierenden der Herkunftsgruppe „hoch“ um 6 % bzw. 5 % höhere Einnahmen. Mit 3 % ist der Abstand zwischen den beiden oberen Herkunftsgruppen geringer, dennoch ist der Unterschied zwischen den Durchschnittsbeträgen statistisch signifikant. Der Abstand zwischen den monatlichen Einnahmen der Studierenden der verschiedenen sozialen
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Herkunftsgruppen variiert seit 1991 zwischen 5 % und 10 % (1991: 5 %, 1994: 10 %, 1997: 8 %, 2000: 6 %, 2003: 5 %, 2006: 6 %)“ (BMBF 2007, 195f.).
Noch deutlicher ist selbstverständlich, dass die Art der Finanzierung mit der sozialen Herkunft zusammenhängt. „So sind Studierende der unteren Herkunftsgruppe bei der Bestreitung der Lebenshaltungskosten während des Studiums jeweils in ähnlicher Größenordnung sowohl auf die finanzielle Unterstützung durch die Eltern als auch das BAföG und den eigenen Verdienst angewiesen. Mit höherer sozialer Herkunft – damit der Leistungsfähigkeit der Elternhäuser – verringert sich die Abhängigkeit vom BAföG und eigenem Verdienst erheblich […].Erwartungsgemäß verringert sich der Anteil der BAföG-Empfänger und auch der durchschnittliche Förderungsbetrag bei steigender sozialer Herkunft. Komplementär dazu erhöht sich mit steigender sozialer Herkunft der Anteil, der von den Eltern finanziell unterstützt wird, und die von den Eltern bereitgestellten Beträge. Der eigene Verdienst hingegen folgt nicht diesem Muster. Der Anteil der Studierenden mit eigenem Verdienst, ausgenommen die Herkunftsgruppe ‚hoch’, liegt auf etwa einem Niveau. Die durchschnittliche Höhe des Verdienstes ist wiederum abhängig von der sozialen Herkunft: je höher der Verdienst um so niedriger die soziale Herkunft“ (BMBF 2007, 196ff.).30
Dementsprechend verhält es sich auch mit dem Zeitaufwand für Erwerbsarbeit. „Der Zeitaufwand, der in Studium und Erwerbstätigkeit investiert wird, hängt von zahlreichen sozialen und individuellen Faktoren ab. Von besonderer Bedeutung ist auch hier wieder die soziale Herkunft […]. So steigt der durchschnittliche Erwerbsaufwand im Studienverlauf bei Studierenden aus der Herkunftsgruppe ‚niedrig’ weit stärker an als bei denjenigen aus der Herkunftsgruppe ‚hoch’“ (ebd., 25; Hervorh. im Orig.).
Auch die Motive für die Erwerbsarbeit variieren: ‚zur Finanzierung des Lebensunterhaltes’ liegt näher bei der niedrigen Herkunftsgruppe, die Motivation ‚sich etwas mehr leisten zu können’ näher bei der hohen (ebd., 338f.). Ebenso weist die gewählte Wohnform einen statistischen Zusammenhang mit der sozialen Herkunft auf. 29% der Studierenden mit niedriger Herkunft wohnen bei den Eltern. Bei hoher sozialer Herkunft sind dies lediglich 19%. Der Wohnheimanteil liegt bei beiden Gruppen bei etwa 10%. Die Wohngemeinschaft wird von 18% der Studierenden mit niedriger Herkunft gewählt, bei hoher Herkunft ist der Anteil größer und liegt bei 28%. Auch das Alleine-Wohnen ist in der Herkunftsgruppe ‚hoch’ stärker verbreitet (22% vs. 17%), wohingegen das Wohnen 30 Mit höherem Verdienst ist hier die Höhe des Einkommens gemeint, das durch Erwerbsarbeit erzielt wird und nicht etwa der Stundenlohn.
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mit Partner/in dort weniger üblich ist (18% vs. 24%) (vgl. ebd., 361). Der Bedarf an Beratung während des Studiums variiert ebenso mit der Herkunft wie der Beratungsgegenstand: „Der deutlichste Unterschied besteht im Anteil derer, denen sich Fragen zur Finanzierung des Studiums stellten: Er ist unter Studierenden der Herkunftsgruppe ‚niedrig’ mit 35 % fast doppelt so groß wie unter jenen der Herkunftsgruppe ‚hoch’ (18 %). Finanzielle Fragen haben Letztere vor allem in Bezug auf einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt (23 % vs. 19 %). Für Studierende der Herkunftsgruppe ‚niedrig’ stehen dagegen Bereiche wie ‚Krankenversicherung’, ‚Zweifel an der Fortführung des Studiums’, ‚Prüfungsangst’ und ‚Vereinbarkeit von Studium und Erwerbstätigkeit’ stärker im Vordergrund als für ihre Kommiliton/innen“ (ebd., 426).
Zwar ergeben sich bei den Rubriken ‚depressive Verstimmungen’ und ‚mangelndes Selbstwertgefühl’ nur leichte Unterschiede dahingehend, dass diese von der Herkunftsgruppe ‚niedrig’ häufiger genannt werden. Allerdings wurde hier nach Informationsbedarf bezüglich verschiedener Themen gefragt. Es ist erstens denkbar, dass man keinen Informationsbedarf sieht, obwohl man von etwas betroffen ist und zweitens zeigt die Studienberatungspraxis, dass der genannte Beratungsanlass oft ‚harmloser’ ist, als sich die Belastung dann tatsächlich herausstellt (vgl. Lührmann 2002). Die Zahlen von 2001 weisen zudem einen markant höheren Bedarf an psychologischer bzw. psychotherapeutischer Beratung bei Studierenden der Herkunftsgruppe ‚niedrig’ aus (Middendorff 2002, 190). Die Herkunftsunterschiede bezüglich ‚Prüfungsangst’, ‚Lern-/Leistungsprobleme’, ‚Probleme im familiären Umfeld’, ‚Zweifel, das Studium fortzusetzen’, fallen auch 2006 deutlicher aus als die zu der Rubrik ‚depressive Verstimmungen’ (BMBF 2007, 426). Dies deckt sich mit Ergebnissen qualitativer Untersuchungen. Für Studierendenmilieus in den Sozialwissenschaften halten Lange-Vester und Teiwes-Kügler (2004) fest: „Die Befragten im unteren Drittel des sozialen Raums kommen aus Milieus ohne Bildungserfahrungen. Verunsicherungen, Orientierungsprobleme und Selbstzweifel sind bei ihnen am häufigsten und am stärksten ausgeprägt. Mehr als andere Studierende denken vor allem die ‚Bildungsunsicheren’ [...] daran, ihr Studium abzubrechen“ (ebd., 184).
Die Autorinnen erklären diese Abbruchneigung mit dem, was hier als HabitusStruktur-Konflikt bezeichnet wurde und verweisen dabei auf den Begriff der ‚Selbsteliminierung’, mit dem Bourdieu und Passeron (1971, 175) dieses Phänomen beschreiben.
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„Ohne durch eine Prüfung zu fallen, eliminieren sich diese Studierenden gewissermaßen selbst. Tatsächlich aber wird der Studienabbruch verursacht durch die Diskrepanz, die zwischen dem Habitus der Studierenden und den Erfordernissen des akademischen Feldes besteht; die Bedingungen, unter denen das Studium absolviert wird, sind also Teil der Eliminierung“ (ebd.).
Damit ist bereits angedeutet, worin der Vorteil der Habitus-Struktur-KonfliktBegrifflichkeit etwa im Vergleich zum Identitätsbegriff liegt, weil der Konflikt, selbst wenn er auf der Akteursseite ausgetragen wird, eben nicht ausschließlich dort beheimatet ist. Was den Zusammenhang von Studienabbruch und sozialer Herkunft unabhängig von der Selbsteinschätzung der Studierenden betrifft, ist die Befundlage nicht ganz so klar. An objektiven Bedingungsfaktoren, die das Abbruchrisiko ‚deutlich’ erhöhen, nennen die Autoren der bis dato prominentesten Ursachenstudie zum Studienabbruch neben anderen die „Herkunft aus bildungsfernen und einkommensschwachen Bevölkerungsschichten (...)“ (Heublein/Spangenberg/Sommer 2003, VIII). Dieser Zusammenhang ist für Middendorff, die sich auf Zwischenergebnisse dieser Abbruchstudie bezieht, allerdings nicht so hoch wie zu erwarten gewesen wäre. Sie fasst die Ergebnislage wie folgt zusammen: „Auch andere Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen elterlichem Background und Studienabbruch kommen zu dem Ergebnis, dass der Studienausstieg zwar mit der sozialen Herkunft korreliert, aber ein linearer Zusammenhang zwischen der Höhe des elterlichen Bildungsniveaus und der Abbruchneigung Studierender kaum nachzuweisen ist (Bargel, 1982, S. 13. f, Diem/Meyer, 1999, S. 43 f). Die deutlichsten Befunde ergaben sich auch hier lediglich [sic!] für das unterste Bildungsniveau, d.h. für Studierende, deren Eltern maximal eine Volks- bzw. Hauptschule besuchten“ (Middendorff 2002, 190).31
Eine an der Universität Potsdam durchgeführte Fragebogenstudie ermittelt bei Studienabbrechern im Vergleich zu anderen Exmatrikulierten (Absolventen und Hochschulwechslern) einen niedrigeren Anteil an Studierenden, deren Eltern über einen Hochschulabschluss verfügen (vgl. Pohlenz/Tinsner/Seyfried 2007, 73f.). Auch in dieser Studie werden die Ergebnisse des Forschungsstandes als widersprüchlich ausgewiesen. In der Ursachenstudie des HIS (Heublein/Span31 Diese Aussage verwundert insofern ein wenig, als dass Middendorff auch bei den anderen Punkten ihrer Präsentation zu Verbindungen zwischen Studium und sozialer Herkunft keine linearen Zusammenhänge präsentiert, sondern die beiden extremen sozialen Herkunftsgruppen ‚niedrig’ und ‚hoch’ vergleicht, was legitim ist. Deshalb bleibt etwas unverständlich, warum der Extremgruppenunterschied beim Abbruch, auch wenn es sich dort um Bildungsherkunfts- und nicht um die sozialen Herkunftsgruppen handelt, als von den anderen Ergebnissen abweichend dargestellt wird.
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genberg/Sommer 2003), die einen moderaten Einfluss der sozialen Herkunft sieht, werden nicht nur subjektive Abbruchmotivationen (v.a. berufliche Neuorientierung, finanzielle Gründe, mangelnde Studienmotivation) von objektiven Bedingungen getrennt, sondern letztere noch einmal in äußere Bedingungen (Studienbedingungen, soziale Herkunft, Arbeitsmarkt etc.) und innere (psychische Stabilität, Studienwahlmotive, Leistungsvermögen etc.) untergliedert. Verschiedene Bedingungskonstellationen führen dann – so die Autoren – zu verschiedenen Motivlagen, aus denen der Studienabbruch resultiert. Es ist aus dieser Untersuchung heraus wenig darüber auszusagen, wie Studienabbruch bzw. der Weg dorthin von den Betroffenen selbst erlebt und bearbeitet wird, zumal diese zwangsläufig erst nach ihrer Exmatrikulation gefragt wurden. Außerdem tendiert die Trennung in äußere und innere Bedingungen möglicherweise dazu, deren Zusammenwirken im Habitus zu unterschätzen, auch wenn sie jeweils für sich genommen, quantitativ als Einflussfaktoren erfasst sind. So kann hinter der (fehlenden) psychischen Stabilität ein Konflikt zwischen verinnerlichten Mustern und solchen der Umgebung, also ein Habitus-Struktur-Konflikt stehen. Außerdem machen Pohlenz, Tinsner und Seyfried (2007) als größten subjektiven Abbruchgrund Erwartungsenttäuschungen bezüglich Studium und Studienfach aus. Jenseits sozialstruktureller Überlegungen verweist auch dies auf eine Passungsfrage des Mitgebrachten (etwa in Form von Erwartungen) zu dem Erlebten. Ähnlich verhält es sich mit den Ergebnissen der Untersuchungen zur Studierzufriedenheit, die wiederum als wesentlich für den Studienerfolg eingeschätzt wird, bzw. für das Zurechtkommen mit dem Studium. In seiner Zusammenschau der Ergebnisse der Studierendensurveys hält Bargel (2007) für das Zurechtkommen im Studium meistens die Verhältnisse im jeweiligen Fach für ausschlaggebend. Die soziale Herkunft spiele bei einigen Problemen keine Rolle, wie etwa beim Kontakt zu Kommilitonen oder zu Lehrenden und bei Schwierigkeiten bezüglich der Leistungsanforderungen. Auch die Bilanz der Lehrsituation und Studienqualität sei kaum von der Herkunft beeinflusst. An ‚studieninternen’ Punkten, die für Arbeiterkinder eine größere Belastung darstellen als für Akademikerkinder, nennt Bargel die Orientierung im Studium, die Anonymität, die Planung des Studiums, die Prüfungsvorbereitung sowie die Konkurrenz unter Studierenden. Maßgeblich groß seien die Unterschiede vor allem bei zwei ‚studienexternen’ Belastungsfaktoren: die finanzielle Lage und die Berufsaussichten belasten Arbeiterkinder nämlich viel deutlicher. Was die Studierzufriedenheit betrifft, so untergliedert Damrath (2006) vorliegende Untersuchungen in Anlehnung an Apenburg (1980, 6) in personologistische Ansätze, die auf die Person der/des Studierenden rekurrieren, situationistische Ansätze, die auf die Situation bzw. Umwelt fokussieren sowie interak-
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tionistische Konzepte, welche die Zufriedenheit von Studierenden aus dem Zusammenspiel von personenbezogenen Faktoren und Umwelt erklären möchten. Letztere haben sich Damrath zufolge als am fruchtbarsten erwiesen, so dass sie ihre eigene Untersuchung daran orientiert. Die interaktionistischen Ansätze lassen sich auch wieder in zwei unterschiedliche Richtungen untergliedern: eine untersucht die Passung zwischen Person und Umwelt in Anlehnung an Hollands (1973) Kongruenzhypothese anhand zweier Dimensionen, nämlich der Passung zwischen Bedürfnissen auf der Personenseite und Angeboten auf der Umweltseite einerseits und jener zwischen Anforderungen der Umwelt und Fähigkeiten der Studierenden andererseits. Die zweite Richtung untersucht Ziele und deren Erreichung als eine Dimension sowie Wertorientierungen der Studierenden und deren Entsprechung in der universitären Umwelt als zweite Dimension. Damrath führt diese Ansätze für ihre Untersuchung zusammen und übernimmt die vier zentralen Kategorien: Fähigkeiten und Bedürfnisse; Anforderungen und Angebote; Ziele und antizipierte Erfüllungszustände sowie Wertorientierungen und deren Passung. Diese vier Kategorien – als vermutete Prädiktoren der Studienzufriedenheit – versucht sie anhand des AGIL-Schemas von Parsons (1964) zu integrieren und ordnen: Die Erwartungen hinsichtlich der Zielerreichung werden dem Goal-Attainment (G) zugeordnet, die Wertorientierungen der Latent Pattern Maintainance (L). Fähigkeiten und Bedürfnisse der Studierenden bzw. Angebote und Anforderungen des Faches interpretiert sie als Aspekte der adaptiven (A) bzw. integrativen (I) Dimension (vgl. Damrath 2006, 243ff.). Mithilfe einer Faktorenanalyse ermittelt sie aus diesem Geflecht heraus Komponenten, von denen sie einen Einfluss auf die Studienzufriedenheit vermutet. Diese werden dann jeweils zunächst korrelationsanalytisch auf ihren Zusammenhang mit der unabhängigen Variable überprüft und deren Einflussstärke dann in einer Regressionsanalyse ermittelt. Im Ergebnis hält Damrath fest: „Während für zwei der Prädiktoren – das Fach und Studienrelevante Wertorientierungen – regressionsanalytisch ein gewisser Einfluss auf die Studienzufriedenheit nachzuweisen war, erwiesen sich Kognitive Leistungsressourcen und Studienziele insgesamt als nicht geeignet zur Erklärung der Zufriedenheit mit dem Studium“ (ebd., 285; Hervorh. im Orig.).
Allerdings zweifelt die Autorin aufgrund der Tatsache, dass Einzelaspekte der Dimensionen doch Zusammenhänge mit der Zufriedenheit aufweisen, an ihrer Operationalisierung. Sie kommt schlussendlich zu der Empfehlung, dass divergierenden Fach- und Studienkulturen genauso Aufmerksamkeit geschenkt werden müsste wie etwa der sozialen Schichtzugehörigkeit und dass diese unterschiedlichen Studierendengruppen bestimmten Aspekten im Hinblick auf die
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Zufriedenheit unterschiedliches Gewicht beimessen würden. Auch diese Untersuchung legt – sich selbst damit ein Stückweit entkräftend – einen über andere Variablen vermittelten Einfluss der sozialen Herkunft auf die Studienzufriedenheit nahe. Was aber für den hiesigen Zusammenhang interessanter scheint, ist, dass auch ein Großteil der quantitativen Untersuchungen zur Studierzufriedenheit mit dem Argument arbeitet, dass eine hohe Passung – sei es zwischen mitgebrachten Bedürfnissen und vorgefundenen Angeboten, sei es zwischen mitgebrachten Werten und vorgefundenen Kulturen – zur Studierzufriedenheit beiträgt. All diese personenbezogenen Dimensionen laufen im Habitus zusammen, alle umweltbezogenen können als Strukturen des Studierens verstanden werden. Nun könnte anhand dieses Beispiels argumentiert werden, dass es gar kein Vorteil ist, mit dem Habitus-Begriff zu arbeiten, wenn dieser ‚alles’ integriert und man entweder von dessen Individualität ausgeht und dann jedes Passungsverhältnis als singuläres zu untersuchen wäre und die Aggregation dann doch wieder über einzelne Variablen, wie denjenigen, die hier zur Erklärung der Studierzufriedenheit vorgestellt wurden, zu erfolgen hätte. Oder man stellt die Aggregation auf der Ebene des Habitus her, indem man von einem kollektiven Phänomen ausgeht. Dann könnte man aber direkt nach den verschiedenen Kollektiv-Dimensionen fragen (soziale Herkunft, Geschlecht etc.). Diese grundlegende Problematik soll mit der vorliegenden Untersuchung nicht ausgeblendet werden. Die Idee ist vielmehr, im empirischen Material Muster der Passung bzw. des habituellen Umgangs zu identifizieren und diese auf die Folie von Habitus-Struktur-Konflikten zu projizieren, um damit die kollektive Dimension sozialer Ungleichheit ins Spiel zubringen, die ein Großteil der hier referierten Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Studium als einschlägig ausweist. Mir ist bewusst, dass die Verbindungen zwischen empirischen und theoretisch-heuristischen Mustern sich weder induktiv noch deduktiv ergeben, sondern eine wissenschaftliche Konstruktionsleistung darstellen, die vor dem Hintergrund der in diesem zweiten Kapitel diskutierten Untersuchungen aber als legitim erscheinen. Wenn man sich als letzte Stufe in der Statistik-Reise durchs Studium die Promotionsneigung anschaut, ist auch hier die Herkunftsgruppe ‚niedrig’ nicht nur gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, sondern auch gemessen an der Zahl der Promotionsberechtigten dieser Gruppe unterrepräsentiert. „In postgradualen Studiengängen sind Studierende der Herkunftsgruppe ‚hoch’ anteilig stärker vertreten als im Erststudium. Im Vergleich zu den anderen Sozialgruppen gehen Studierende der Herkunftsgruppe ‚niedrig’ eher den Weg eines weiterbildenden Studiengangs […] als den eines Zweitstudiums bzw. der Promotion […]“ (BMBF 2007, 138f.).
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Was die Promotionsabsichten während des Studiums betrifft, berichtet Bargel über gemittelte Werte der Studierendensurveys von 1998 bis 2004 und hält fest, dass 20% der Studierenden aus der Arbeiterschaft ab dem 5. Fachsemester eine Promotionsabsicht bekunden, wohingegen dies 36% der Akademikerkinder tun (Bargel 2007, 36). Zwar lassen sich leichte Leistungsunterschiede nach sozialer Herkunft im Studium ausmachen,32 die natürlich selbst wieder mit sozialen Faktoren zusammenhängen können, aber auch wenn diese kontrolliert werden, etwa indem nur diejenigen, die zur ‚Leistungselite’ (Noten zwischen 1,0 und 1,4) gezählt werden, Berücksichtigung finden, ergibt sich ein klares Bild: 25% dieser Studierenden aus der Arbeiterschaft beabsichtigen ‚sicher’ oder ‚wahrscheinlich’ eine Promotion, wohingegen dies bei 44% der Studierenden aus der Akademikerschaft der Fall ist. Dort sind sich auch verhältnismäßig deutlich mehr Studierende ‚sicher’ (Bargel 2007, 35ff.). Für Spitzenkarrieren nach der Promotion besteht der Unterschied bezüglich der sozialen Herkunft ohnehin, wie Michael Hartmann (2002) in seiner bekannten Studie Der Mythos von den Leistungseliten herausgestellt hat. Bargel charakterisiert die beiden sozialen Herkunftsgruppen in der Zusammenschau wie folgt: „Kennzeichnend für die Unterschicht ist besonders die staatliche Studienfinanzierung und die notwendige Erwerbsarbeit im Semester; zusätzlich der größere Stress wegen der aktuellen finanziellen Lage und wegen der Sorgen für die Zeit nach dem Studium. Kennzeichnend für Studierende aus der akademischen Oberschicht sind dagegen die hohe Studiensicherheit, häufigere Studienphasen im Ausland und die intensivere Promotionsabsicht – im Gegenzug sind bei diesen drei Faktoren größere Defizite bei den Studierenden aus der Unterschicht vorhanden“ (Bargel 2007, 9).
Er schlussfolgert zusammenfassend: „Aus diesen Befunden wird ersichtlich, dass […] eine Achse der sozialen Ungleichheit für die Studierenden besteht – eine Fortwirkung ihrer sozialen Herkunft im Studium. In besonderer Weise ist sie durch ökonomische Ressourcen bestimmt, vor allem in Baden-Württemberg; aber auch die Ausstattung mit sozialem Kapital ist bedeutungsvoll und schließlich haben Elemente des kulturellen Kapitals auffällige Bezüge zur Ungleichheit unter den Studierenden (vgl. Georg 2006)“ (ebd.).
Im Folgenden soll auf die Studienfachwahl näher eingegangen werden. Wurden Zahlen zur Herkunft und Studienfachwahl bereits angeführt, sollen hier noch alternative unabhängige Variablen benannt werden, sodann der Versuch der 32 Unter Kontrolle des Studienfachs, da die Noten mit den Fächern variieren.
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Integration in einem identitätstheoretischen Modell von Lührmann gezeigt werden, weil er bereits mit der Wahrung der eigenen Identität als entscheidendes Kriterium der Studienfachwahl argumentiert. Im Anschluss daran wird eine Studie referiert, die die Fachwahl habitustheoretisch verortet, dieses aber nicht prozessorientiert tut, sondern lediglich statistisch argumentiert. Die Defizite dieser beiden Ansätze verweisen auf das hier vorgelegte Modell von HabitusStruktur-Konflikten. Dessen Vorzüge werden dann in den anderen Unterkapiteln zu ‚Krisen und Problemen im Studium’, ‚Identitätskrisen von Arbeiterkindern’ und ‚Von der Identität und der Sozialisation zum Habitus’ systematisch hergeleitet. Wenn man – wie getan – sich die soziale Zusammensetzung der Studienfächer einerseits und die Studienfachentscheidung nach sozialer Herkunft andererseits betrachtet, sollte berücksichtigt werden, dass die Richtungsentscheidungen zu einem beträchtlichen Teil bereits mit der Wahl der Leistungskurse stattfinden (vgl. BMBF 2008, 30). An (subjektiven) Gründen für die Fachwahl, lassen sich diesem Survey zufolge die drei verschiedenen Dimensionen ‚ideelle Gründe’, ‚berufsbezogene Motive’ und ‚materielle Kriterien’ ausmachen. Allerdings wurden dazugehörige Kategorien vorgegeben und es wurde jeweils nach der Wichtigkeit gefragt. Die ideellen Gründe sind für die meisten Studierenden am bedeutsamsten. Im Jahr 2007 galt: 71% nennen das spezielle Fachinteresse, gefolgt von der eigenen Begabung (58%), etwas weniger nennen die berufsbezogenen Kategorien (49% ‚berufliche Möglichkeiten’, 29% ‚fester Berufswunsch’). Die materiellen Rubriken sind am seltensten wichtig (36% ‚sicherer Arbeitsplatz’, 24% ‚Einkommenschancen’; 17% ‚Führungsposition’). Im Zeitverlauf haben die materiellen Kategorien jedoch an Bedeutung gewonnen und interessanterweise auch die ‚eigene Begabung’33 (vgl. ebd., 32ff.). Die jeweiligen Fächergruppen haben bezüglich dieser Kategorien ihre eigenen Profile, die hier nicht näher referiert werden sollen (vgl. ebd., 34ff.). Was die Nutzen-Erwartung an ein Studienfach betrifft, so ergeben sich auch hier Unterschiede dergestalt, dass materielle Erwartungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften am geringsten, in den Wirtschafts-, Rechts- und Ingenieurswissenschaften am größten sind. Der erwartete fachlich-professionelle Nutzen ist bei allen Fächern gleichermaßen hoch. Hier ergeben sich Unterschiede in einzelnen Unterkategorien. So ist der Aspekt ‚interessante Arbeit’ in der Medizin wichtiger als in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Umgekehrt verhält es sich mit dem Aspekt der ‚gebildeten Persönlichkeit’. Der soziale Aspekt ist in der Medizin und in den Sozialwissenschaften bedeutsam, wobei dieser unter 33 Es wäre sicher gewagt, diesen Befund als ‚Erfolg’ neoliberaler Selbstverantwortungsdiskurse zu werten, auf die Möglichkeit sei dennoch hingewiesen.
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anderem mit der Aussage ‚anderen Leuten helfen’ abgefragt wurde, wo es bei angehenden Ärzten nahe liegt, diese Kategorie als wichtig einzustufen. Asmussen (2006) untergliedert die bis dato vorliegenden Untersuchungen zur Studienfachwahl in drei Gruppen mit unterschiedlichen unabhängigen Variablen: (1) Sozialstrukturelle Merkmale, (2) Studentische Orientierungen sowie (3) Sozialstrukturelle Merkmale und studentische Orientierungen (vgl. ebd., 97108). Sie selbst stellt in ihrem Überblick die Variable soziale Herkunft zwar als einschlägig für die Studienfachwahl heraus, untersucht diese aber aus forschungspragmatischen Gründen nicht weiter, sondern widmet sich dem Variablenkomplex der Orientierungen, die alternativ auch oft als Motivationen bzw. Interessen bezeichnet würden. Die soziale Herkunft wirke ohnehin nur vermittelt über die Kognitionen der Akteure auf eben jene Orientierungen (ebd., 108114). Diese ähneln den oben angeführten Dimensionen des Studierendensurvey. Es handelt sich um die Orientierungen: Leistungsmotivation, intrinsische Studienmotivation und Berufsorientierung, die die Autorin mittels Diskriminanzanalyse als Determinanten der Studienfachwahl bestätigt sieht (ebd., 132ff.). So konnte Asmussen die für die Differenzierung jeweils zweier Fächergruppen relevanten Orientierungen herauskristallisieren: beispielsweise grenzen sich Natur- von Wirtschaftswissenschaften durch eine hohe intrinsische Studienmotivation und Selbstverwirklichung sowie niedrige Status- und Belohnungswerte ab; Rechtswissenschaft von Sozialwissenschaften durch hohe Ausdauer- und niedrige Selbstverwirklichungswerte. Selbstverständlich ist mit den untersuchten Dimensionen nicht die komplette Varianz erklärt und die Verbindung zu der vermeintlich nur objektiven Variable der sozialen Herkunft nicht hergestellt. Demgegenüber legt Lührmann in seiner umfangreichen Arbeit Zwischen Studienfachwahl und Berufsperspektive, die er als sozialwissenschaftlichpädagogische Orientierung für die Beratung in der Hochschule (Lührmann 2002) verstanden wissen möchte, einen identitätstheoretischen Ansatz zur Erklärung der Studienfachwahl vor. Demnach werden Fächer – auch vermittelt über verschiedene Aspekte – so gewählt, dass sie bisher erworbene Identitätsmuster möglichst bestätigen bzw. sich nicht zu weit davon entfernen. Als entscheidend für diese ‚Identitäts-Wahl’ macht Lührmann wiederum die soziale Herkunft aus. „Es gibt eine deutliche Abhängigkeit der gewählten Studienfächer von der mittleren sozialen Herkunft der Studierenden. Die Hochschule scheint in dieser Perspektive als ein horizontal und vertikal strukturierter sozialer Raum mit den ‚sozialen’ Fächern Pädagogik, Soziologie, Geographie in der unteren Etage und den medizinischen Studiengängen in der oberen“ (Lührmann 2002, 103).
Lührmann bezieht sich bei dieser Aussage auf Zahlen einer Vorgängerstudie zu der oben referierten Befragung des Studierendenwerks, und dabei auf Daten, die
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die soziale Zusammensetzung der Studienfächer beleuchten. Aus diesen lässt sich aber nicht die Studienfachwahl nach sozialer Herkunft ableiten, da sie nicht auf die Größen der jeweiligen Gruppe relativiert sind. Dass sich im Medizinstudium ‚nur’ 4% Studierende aus bildungsfernen Schichten befinden, ist lediglich dann von Aussagekraft, wenn erstens der Anteil dieser Gruppe an der Gesamtbevölkerung als deutlich größer auszumachen ist (dem ist natürlich so). Zweitens muss der Anteil an dieser Gruppe, der überhaupt ein Studium auf sich nimmt, eingerechnet werden, um behaupten zu können, dass dort eher etwas anderes als Medizin gewählt wird. Es könnte ja sein, dass diese Gruppe gar nicht studiert und dann wäre ihr Anteil von 4% an der gesamten MedizinStudierendenschaft sogar hoch. Drittens erfasst diese Angabe Studierende und berücksichtigt nicht diejenigen, die das Studienfach angefangen haben zu studieren, dann aber das Fach gewechselt oder das Studium abgebrochen haben. Diese Personen hatten sich zunächst ja auch für ein Medizinstudium entschieden. Dennoch bleibt die getätigte natürlich Aussage richtig. Preißer (1989, 172) hatte bereits festgestellt: „Bemerkenswert […] ist die Übereinstimmung von sozialer Herkunft und zukünftigen Statusoptionen (Berufsaussichten, erzielbares Einkommen, gesellschaftliches Prestige) sowie die Übereinstimmung der hochschulinternen und gesellschaftlichen Wichtigkeit der Studienfächer.“
Lührmann formuliert mit Verweis auf Preißer: „Studienentscheidungen sind Statusentscheidungen. ‚Die Studierenden wählen aus dem Statusgefüge eine bestimmte Position und lernen mit dem entsprechenden Studiengang wiederum spezifische Statusgefüge kennen, die der Organisation der Statusdifferenzierung in der sozialen Wirklichkeit entspricht.’ [Preißer 1989, 172; L.S.] Auf diese Weise ist gewährleistet, dass auch ganz praktisch die Verknüpfung von Herkunft, Studium und Beruf und damit von Herkunftsstatus und zukünftigem Status gelingt. Dabei geht es immer um die relative Statushöhe. Der jeweils mehr oder minder hohe relative soziale Herkunftsstatus der Studienwählerinnen und wähler einerseits und die jeweilig aktuellen relativen Statusdifferenzen der Berufe werden einander zugeordnet“ (Lührmann 2002, 104).
Dabei ist zu bedenken, dass zwar sowohl Individuen, als auch soziale Gruppen und Familien danach trachten, ihre Position in der Sozialstruktur mindestens zu erhalten und möglichst zu verbessern (vgl. Preißer 1989, 160), dass aber etwa für Kinder aus einem hochschulfernen Bildungsmilieu die Wahl selbst des prestigeärmsten Studienfaches einen solchen Aufstieg bedeuten kann. Um die Problematik zu bebildern, greife ich an dieser Stelle der Auswertung der Studienberatungsgespräche vor. Dort hatte ein junger Mann aus einem hochschulfernen
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Bildungsmilieu seine Probleme im Umgang mit seinem politikwissenschaftlichen Studium geschildert. Seine Freundin, zu der Zeit noch Schülerin, tat sich im Gegensatz zu ihm schwer mit der Schule. Ihre Eltern sind beide Ärzte. Sie meinte zu ihrem Freund bezogen auf dessen Probleme, dass er aufgrund seines relativen Schulerfolgs doch ohnehin etwas ‚Besseres’ studieren könne als Politik. Dies zeigt nicht nur, dass für die Ärztetochter das Politik-Studium als unattraktiv erscheint, sondern dass sie sich offenbar gar nicht vorstellen kann, dass es (habituelle) Gründe gibt, etwas weniger Prestigeträchtiges zu studieren. Mit Blick auf seine langjährige Erfahrung in der allgemeinen Studienberatung hält Lührmann fest: „In der Praxis der Studien- und Berufswahl zeigt sich der Statusaspekt darin, dass dann, wenn sich für den einzelnen mehrere Alternativen ergeben, diese in der Regel auf dem gleichen Statusniveau liegen. Typische Beispiele sind solche Studieninteressenten, die in ihrer Entscheidung zwischen Jura und Medizin schwanken oder zwischen dem Grundschul- oder dem Haupt- und Realschullehramt. Die ersteren beziehen so gut wie nie statusniedrigere Studiengänge in ihre Überlegungen ein, schon die Betriebswirtschaftslehre wirkte hier wie ein Abstieg; die zweiten hegen in ihrer Situation kaum einmal den Wunsch, auch das gymnasiale Lehramt in ihre Überlegungen einzubeziehen“ (Lührmann 2002, 105).
Direkt im Anschluss stellt Lührmann die Verbindung zu dem von ihm favorisierten Identitätsansatz zur Erklärung der Studienfachwahl her: „Identität hat immer zu tun mit der eigenen Position im hierarchischen Aufbau der Gesellschaft; die zur Wahl stehenden Fächer erlauben jeweils spezifische Formen der sozialen Präsentation und Distinktion“ (ebd.). Lührmann (2002; 103ff.) diskutiert zwölf Dimensionen der Studienfachwahl, die für ihn also Elemente einer grundlegend identitätsbezogenen Wahl darstellen: „1. Die Studienwahl ist die Wahl eines Status im vertikalen Gefüge einer Gesellschaft (Statusaspekt); 2. sie ist eine geschlechtsspezifische Wahl (geschlechtsspezifischer Aspekt); 3. sie ist eine arbeitsmarktabhängige Angelegenheit (Verwertungsaspekt); 4. sie verarbeitet aktuelle gesellschaftliche Trends und Themen (Zeitgeistaspekt); 5. sie ist Ausdruck der persönlichen Präferenz eines bestimmten Beziehungsmodus bzw. einer bestimmten Beziehungsstruktur (Beziehungsaspekt); 6. sie ist das Ergebnis von Kompetenzerfahrungen (Kompetenzaspekt); 7. sie fußt auf Erfahrungen im sozialen Nahraum (Erfahrungsaspekt); 8. sie ist der Versuch zur Einlösung familiärer Erwartungen, Zuschreibungen und ‚Aufträge’ (familiendynamischer Aspekt); 9. sie führt in Bereiche, mit denen die Studienwähler selbst nicht unerhebliche Probleme haben (‚kontraphobischer’ Aspekt); 10. sie stellt in gewisser Weise einen Selbstheilungsversuch dar (Selbstheilungsaspekt); 11. sie ist ganz un-
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen mittelbar die Wahl der Lebensform ‚Studium’ (Lebensformaspekt); 12. sie ist eine moralische Entscheidung, insofern sie Wertempfindungen, -setzungen und -entscheidungen beinhalten kann für Gerechtigkeit (Jura), Umwelterhaltung (Biologie; Umwelttechnik), gute Bildung und Erziehung (Lehrer), den Erhalt körperlicher und psychischer Gesundheit anderer Menschen (Medizin, Psychologie), kulturelle und gesellschaftliche Aufklärung (Sozial- und Geisteswissenschaften) etc. (moralischer Aspekt)“ (Lührmann 2002, 103).
Alle Dimensionen werden bei der Studienfachwahl Lührmann zufolge dahingehend berücksichtigt, dass möglichst an die eigene Identität angeknüpft werden kann. Ich werde weiter unten begründen, warum es sinnvoller ist, von einem Anknüpfen an den eigenen Habitus zu sprechen, selbst wenn diejenigen Autoren, die das Studium unter der Identitätsbegrifflichkeit diskutieren, zum Teil möglicherweise das Gleiche zum Ausdruck bringen wollen, wie es hier durchscheint: „Wenn die Studienwahl in einem solchen begrifflichen Rahmen erörtert wird, lassen sich die für sie bedeutsamen Einzelaspekte von Identität herausarbeiten: Status und Geschlecht, Milieuerfahrung und Kompetenzerleben, Beziehungspräferenz und persönliches Wertempfinden u.a.m. […]. Ebenso können die diversen Probleme im Prozess der Studienwahl besser dargestellt und verstanden werden, wenn wir sie als Probleme der Identität, der Identitätsentwürfe, der Identitätsentwicklung und der Identitätsbehauptung begreifen“ (Lührmann 2002, 97).
Die Problematik des Identitätsbegriffes wird im folgenden Zitat deutlich, weil hier die soziale Identität offenbar abgelegt werden kann, was das Konzept der sozialen Identität tatsächlich auch vorsieht. Dass aber gruppenbezogene Zuschreibungen, Denk- Verhaltens- und Bewertungsmuster verinnerlicht und verkörperlicht werden und deshalb mit dem Wandel von Situationen nicht einfach abgelegt werden können, lässt sich so begrifflich nicht fassen. „Bisher an den einzelnen adressierte Erwartungen, insbesondere die in der Schülerrolle zusammengefassten organisationsbezogenen Erwartungen der Schule und die diesbezüglichen Erwartungen seines sozialen Umfeldes sowie ein erheblicher Teil der Identitätszuschreibungen seitens der Herkunftsfamilie und der relevanten Peergruppen – auch über die schulischen hinaus – werden zurückgenommen. Es erlischt ein ganz wesentlicher Teil der bisherigen sozialen Identität, während sich gleichzeitig eine neue Erwartung aufbaut […]. Der einzelne ist genötigt, einen Identitätsentwurf vorzulegen. […] Hier wie an kaum einer anderen Stelle unseres sozial durchstrukturierten Lebenslaufes, lässt sich Eriksons Diktum von der in der modernen Gesellschaft geforderten ‚selbstgemachten Identität’ als notwendiger Bedingung einer Normalbiographie nachvollziehen. Um psychologistischen Missverständnissen des infragestehenden Geschehens vorzubeugen, muss der sozialstrukturelle Hinter-
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grund der erforderlichen, weil gesellschaftlich geforderten, Identitätsarbeit betont werden: bei Strafe einer ansonsten weitreichenden Marginalisierung ist der Weg in einen bestimmten anderen Sektor der Sozialstruktur, in eine andere gesellschaftliche (Ausbildungs-) Situation vorgeschrieben. Auch im ganz pragmatischen Sinne ist dem einzelnen eine ‚Identitätspflicht’ (Marquard) auferlegt“ (Lührmann 2002, 98; mit Verweis auf Erikson 1973, 112).
Zwar wird vor psychologistischen Missverständnissen gewarnt, aber Identität und soziale Herkunft werden begrifflich getrennt, was in dieser Facette suggeriert, dass man die nötige Identitätsarbeit nur leisten müsse (und damit auch: leisten könne), um der drohenden Marginalisierung zu entgehen. Es wird damit eine Macht in den Akteur hineinverlagert, über die er so möglicherweise zumindest in dieser Form gar nicht verfügt. Den Prozess der Identitätsentwicklung zum Zeitpunkt der Studienfachwahl beschreibt Lührmann wie folgt: „Diese objektive soziale Lage verursacht beim einzelnen eine durchaus tiefgreifende Unsicherheit. Sie mobilisiert Hoffnungen und Ängste, weil sie alte Identität entzieht, eine neue ermöglicht und dadurch den einzelnen zwingt, sich neu zu definieren; sie bringt Verluste, ermöglicht neue Perspektiven, die sich, wie jeder Betroffene weiß und fürchtet, als trügerisch erweisen können, und sie setzt Anforderungen, denen man sich mehr oder weniger stellen muss oder kann. Wie bewältigt der Einzelne diese soziale Situation und wie kommt er zu seiner ganz persönlichen Studienwahl? Meine Hypothese […] ist: der einzelne versucht in dieser objektiv identitätsverändernden Situation seine Identität soweit wie möglich zu wahren. […] der einzelne verfolgt gerade in Entwicklungs- und Veränderungsprozessen eine Strategie der ‚Minimierung des Identitätswandels’. […] Aber wie gesagt: der Einzelne tut dies nicht aus freien Stücken oder einer entwicklungspsychologischen Logik entsprechend, sondern als Antwort auf die spezifische soziale Lage, in die er geraten ist. […] Studienwahl ist Situationsbewältigung im Dienste – subjektiv – der Identitätsbewahrung und der Identitätsentwicklung und – objektiv – im dienste der Sozialintegration. […] Schon bevor der einzelne in die Situation der Wahl gerät, sind die wichtigsten Vorentscheidungen gefallen; die Identitätsentwicklung ist zu großen Teilen abgeschlossen, das Spektrum der Möglichkeiten ist schon sehr eingegrenzt. Aus der Perspektive der Sozialisationsforschung übergreift der Prozess der beruflichen Sozialisation praktisch alle Etappen der Biographie. […] Subjektiviert heißt dies: wer wissen will, wohin er gehen kann, soll und wird, muss schauen, wo er schon war und ist; wer man werden kann, ist davon abhängig, wer man bereits geworden ist. Zukunft braucht Herkunft“ (Lührmann 2002, 101f.; mit Verweis auf Strauss 1974, 152).
Dies deutet bereits auf das in der vorliegenden Arbeit präsentierte Konzept des habituskonformen Verhaltens hin und auch der von Lührmann hier verwendete Strategie-Begriff („Strategie der ‚Minimierung des Identitätswandels’“) kommt
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der Bourdieuschen Vorstellung einer habituellen, vorbewussten Strategie sehr nahe: „Sozialer Herkunftsstatus und Geschlechterzugehörigkeit, Kompetenz- und Beziehungsaspekte, familiäre und milieuspezifische Hintergründe, persönlichkeitsspezifische Erwartungen und Befindlichkeiten, moralische Überzeugungen und pure Moden […] determinieren die Wahl bis zum Punkt, dass von Wahl und Entscheidung eigentlich weniger die Rede sein kann, als von folgerichtigen Fortsetzungen an neuer Wirkungsstätte. Aber auch sie erfordern eine erhöhte Aufmerksamkeit, eine gewisse Arbeit an sich selbst und die Erarbeitung konkreter Vorstellungen und eines umsetzbaren Situationsverständnisses. Denn die Studienwahl realisiert sich über eine geradezu intuitive, selbsttätige und selbstregulative Konzeptbildung für den Umgang mit der entstehenden Situation und die bedarf über alle grundlegenden Determinationen hinaus der konkreten Planungen, der genauen Informationen, der erweiterten Kenntnisse und der abgesicherten Realisierungsschritte“ (Lührmann 2002, 48).
Markus Schölling (2005) arbeitet zur Erklärung der Studienfachwahl bereits mit dem Habituskonzept. Ihm zufolge wurde diese bis dato hauptsächlich unter dem Stichwort der Studienmotivation – also der Unterstellung, es handele sich um ein rationales Wahlhandeln – analysiert. Dem entgegnet er: „Gehaltvoller für die Studienfachwahl ist deshalb das Habituskonzept von Pierre Bourdieu, weil es im Gegensatz zu den Motiven Verhaltens- und Denkmuster erklären kann. […] Auch die Wahl des Studienfaches, ebenso wie der Kleidungsstil oder die Wohnungseinrichtung sind Teile eines Gesamtkonzeptes. Ruft man sich nun noch deutlich ins Bewusstsein, dass die Studienfächer nicht gleichrangig sind, sondern derselben hierarchischen Strukturiertheit unterliegen, wie die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft, dann kann die Studienfachwahl nicht als ein allein durch rationale Motive bedingter Entscheidungsprozess erachtet werden, sondern muss gesehen werden als ein wahlverwandtschaftliches Verhältnis zwischen persönlichem Habitus und Fachhabitus, zwischen persönlicher Kultur und Fachkultur“ (ebd., 32f.).
Schölling verweist auf die Studie von Preißer (1988, 1990), in der zuvor schon die Habitustheorie zur Erklärung der Studienfachwahl herangezogen wurde. Diese werde als Ergebnis der Kongruenz zwischen den von den Studienfächern je eingeforderten Arten und Umfängen kultureller, sozialer und ökonomischer Ressourcen und den von den Studienanwärtern mitgebrachten Kapitalien gefasst. Diese Studie wurde von Preißer (2005) inzwischen um ein umfangreiches Werk ergänzt, das sich ausführlich mit dem Verhältnis von Sozialstruktur und individuellem Handeln auseinandersetzt und die Reproduktion sozialer Ungleichheit sowohl habitus- als auch entscheidungstheoretisch analysiert und
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damit gewissermaßen die Antipoden der neueren französischen Soziologie in einer Art Phasenmodell zusammenführt: zunächst bilden sich im Zuge der Sozialisation habituelle Muster heraus (Bourdieu), bei der Studienfachwahl sind dann Entscheidungsprozesse (Boudon) zu bewältigen, die situativ eingebettet sind. Diese Studie geht also weit darüber hinaus, die Studienfachwahl ohne den Link zu sozialstrukturellen Aspekten ausschließlich motivationstheoretisch zu sehen. Dennoch mag Schöllings Diagnose stimmen, dass es bis dahin kaum theoriegeleitete empirische Untersuchungen dazu gab, warum und wie die soziale Herkunft die Studienfachwahl beeinflusst. Die Tatsache, dass soziale Herkunft aber eine Rolle spielt, wurde, wie dokumentiert, schon vielfach nachgewiesen. Möglicherweise meint Schölling nicht ‚Soziale Herkunft’, sondern ‚Habitus’, aber genau dann stellt sich das folgende Problem: Schölling greift bei seiner Studie weniger auf den Habitus, sondern auf dessen (kollektive) Ausdrucksformen, die Lebensstile, zurück sowie auf soziale Herkunft. Er weist nach, dass Fächer gewählt werden, die besser zu den eigenen Lebensstilkomponenten passen als andere. Damit ist wenig darüber ausgesagt, inwieweit die Wahl die komplette Person, den individuellen Habitus, tangiert. Die Studienfachwahl sei Schölling zufolge doch weniger rational, als es das Erklärungskonzept der Studienmotivation suggeriere. Dies verweist auf weitere Probleme, die aufzugreifen sind. Erstens wird hier die Wahl nach Habitus einer rationalen Wahlhandlung gegenübergestellt. Ich habe jedoch darzulegen versucht, dass es keine Handlung eines Menschen gibt, die außerhalb des Habitus liegt. Sowohl quasi-automatisch ablaufende, vorbewusste Handlungen als auch bewusste (rationale) Entscheidungen sind habituell geformt. Dies scheint allerdings eine typische Schwierigkeit in der deutschen BourdieuRezeption zu sein. Auch die sehr gelungene Einführung zu Bourdieu, die kürzlich von Eva Barlösius vorgelegt wurde, unterscheidet vollkommen zu Recht zwischen theoretischem und praktischem Sinn. Ersterer könne verstehend nachvollzogen werden und komme Max Webers (51980; 1 ff.) Begriff von Sinn sehr nahe. Letzterer – der praktische Sinn – entspricht der praktischen Logik. Hier liege der Habitus zugrunde (vgl. Barlösius 2006, 30ff., v.a. 32). Es ist jedoch nicht plausibel, davon auszugehen, dass der Habitus dem theoretischen Sinn mit seinen rationalen Wahlhandlungen nicht zugrunde liegt. Ganz im Gegenteil ist Habitus so definiert, dass er hinter ‚allem’ steht. Es ist also anzunehmen, dass Menschen sich sehr wohl rational für den einen und gegen den anderen Studiengang entscheiden, etwa weil sie versuchen, sich habitusadäquat zu verhalten, um zu gravierende Habitus-Struktur-Konflikte zu vermeiden oder mit Lührmann gesprochen, um die eigene Identität zu wahren. Das Konzept der Studienmotivation wäre der Habituserklärung nicht gegenüberzu-
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stellen, sondern es ist vielmehr Teil derselben. Bei seiner Fokussierung auf Lebensstile lässt Schölling zweitens außer Acht, dass Habitusformation und -transformation durchaus individuell-körperliche Prozesse sind. Der Habitusbegriff erfährt bei Schölling also einerseits durch den Fokus auf Klassenhabitus eine kollektivistische, andererseits durch den Fokus auf Lebensstil eine expressionistische Beschränkung. Wenn bei Schölling drittens die Feststellung im Vordergrund steht, dass im akademischen Feld solche Felder, nämlich Studienfächer gewählt werden, die zum Habitus passen, wird damit nicht erklärt und beschrieben, wie diese Passung funktioniert und vor allem warum es an einigen Stellen doch zu Diskrepanzen kommt. Denn es gilt: selbst wenn angehende Studierende bewusst oder unbewusst einen Studiengang wählen, der weniger Diskrepanz zur bisherigen Biographie erzeugt, dann trifft dies zum einen nicht auf alle zu und zum anderen scheinen die Klüfte doch teilweise noch so groß zu sein, dass die Variable soziale Herkunft einen Anteil am Studienabbruch hat und möglicherweise einen großen Einfluss darauf ausübt, wie das akademische Milieu bewältigt wird. Schölling beschreibt also die Passungsverhältnisse aufgrund der herkunftsbestimmten Studienfachwahl, lässt dabei aber zwangsläufig die Möglichkeit im Dunkeln, dass ein bildungsbürgerlicher Habitus immer noch näher an einem typischen ‚Aufsteigerfach’ liegt, als ein kleinbürgerlicher Habitus. Selbst wenn also quantitativ festgehalten werden kann, dass sich etwa die Sozialwissenschaften überproportional aus bildungsfernen Herkünften speisen, ist damit noch nichts darüber ausgesagt, ob diese relativ große Zahl Studierender aus hochschulfernen Bildungsmilieus nicht doch die formalen und informellen Anforderungen dieses Faches weniger bedienen kann und entsprechend subjektives Leid und Studienschwierigkeiten vorliegen. Qualitative Untersuchungen wie die von LangeVester (vgl. Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004) deuten nämlich genau in diese Richtung, dass ‚Aufsteigerfächer’ nicht besser oder gleich gut von ‚Aufsteigern’ bewältigt werden können, sondern letztere viel stärker zu der Gruppe der unsicheren Studierenden mit einer größeren Studienabbruchneigung zählen. In der vorliegenden Untersuchung stehen auch nicht – wie bei Schölling – Klassenhabitus im Vordergrund, sondern individuelle Habitus bzw. Muster der Erfahrung bzw. der Rekonstruktion von Erfahrungen. Diese Muster werden erst dann auf der Folie von ‚Herkunftskollektiven’ und sozialer Ungleichheit abgebildet. Erika Haas vermutet im Rahmen ihrer geschlechts- uns schichtspezifischen Analyse zu Arbeiter- und Akademikerkindern an der Universität hinter der Studienfachwahl bereits die Vermeidung oder Begrenzung dessen, was hier als Habitus-Struktur-Konflikt vorgestellt wurde, auch wenn sich ihre Diagnose in diesem Fall auf den geschlechtsspezifischen Habitus bezieht: „Es scheint, als
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versuchten Frauen, mit Hilfe der Wahl eines ‚weiblichen’ Studienfachs, den sozialen Aufstieg abpuffern zu wollen“ (Haas 1999, 88). Dies wäre gewissermaßen ein Akt der Krisenprävention, der nicht von vornherein als gelingend angenommen werden kann. Vielmehr stellt Studieren eine problem- bzw. krisenbehaftete Phase dar, wie im Folgenden ausgeführt wird. 2.3 Krisen und Probleme im Studium Sowohl für die Soziologie als auch für die Psychologie ist das Verhältnis von Individuum zu der es umgebenden und eventuell einschließenden Gesellschaft zentral. Neben den benannten Disziplingrenzen, die Bourdieus Erkenntnissoziologie aufweicht, ist vor allen Dingen jene zu nennen, die kaum bei Bourdieu selbst und in der deutschen Rezeption erst durch Ullrich Bauer benannt wird: jene zwischen Soziologie und Psychologie. Bauer erörtert dies am Beispiel der Sozialisationsforschung: „Die Entgegensetzung von Subjektorientierung und Strukturorientierung in der Sozialisationsforschung erscheint aus dieser Perspektive [gemeint ist die Bourdieusche; L.S.] widersinnig. Sie entspricht einer disziplinären Aufgabenteilung zwischen Psychologie und Soziologie, die viel eher multidisziplinär anstatt – was zu fordern wäre – interdisziplinär ist“ (Bauer 2004, 85).
Der Habitusbegriff verweist – wie gezeigt wurde – zum einen auf die Dialektik individueller Praxis und sozial erworbener Dispositionen und zum anderen auf das Verhältnis zwischen individueller Praxis und kollektiver Handlungswahrscheinlichkeit. „Damit verbunden ist die Vermittlung zwischen der Perspektive der Individuation und der Vergesellschaftung, zwischen der Psychologie und der Soziologie als Bezugsdisziplinen“ (Bauer 2004, 69).
Besondere Bedeutung gewinnt dieses Verhältnis, wenn es um Identität und Identitätsbildung bzw. um Integration, Konflikte und Probleme geht. So beziehen sich Graf und Krischke bei ihrer Übersicht zum Thema Psychische Belastungen und Arbeitsstörungen im Studium sowohl auf psychologische Identitätskonzepte als auch auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen einerseits und soziale Bedingungen des Studierens andererseits. Sie unternehmen den Versuch, die spezifische Lebensphase ‚Studium’ unter dem Aspekt von Entwicklungskrisen näher zu beleuchten.
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen „Aus epidemologischen Studien ist bekannt, dass psychische Störungen mit einer deutlich erhöhten Wahrscheinlichkeit in der Adoleszenz und in Lebensphasen auftreten, die mit einem Wechsel der sozialen Bezüge und der gesellschaftlichen Rolle und Position einhergehen. Alle diese Aspekte treffen auf die Studienphase zu“ (Graf/Krischke 2004, 8).
Und sie treffen auf die Studienphase zu – dies führen Graf und Krischke detailliert aus – wie kaum auf eine andere Phase des Lebens, weil „besonders Studierende [sich] aufgrund ihrer verlängerten Ausbildungssituation in einer verlängerten Adoleszenz und damit häufig auch in einer widersprüchlichen Rollenund Verantwortungssituation [befinden]“ (ebd., 12). Einerseits erwartet ‚Uni’ ein hohes Maß an Selbstverantwortung und Eigeninitiative, andererseits sind Studierende mit „restriktiven institutionellen Regeln und Prüfungsordnungen konfrontiert“ (ebd.). Die ohnehin krisenanfällige Phase der Spätadoleszenz wird nicht nur durch die widersprüchliche Lage zwischen der studentischen Freiheit des psychosozialen Moratoriums einerseits und rechtlichem Status des Erwachsenen sowie „hierarchischen und unflexiblen Strukturen an den Universitäten“ (ebd., 7) andererseits in ihrer Problematik verstärkt. Vielmehr sehen Graf und Krischke auch in dem vermeintlichen gesellschaftlichen Wandel in Richtung Individualisierungsanforderungen und abnehmenden Sicherheiten sowie der Zunahme von Bastel- und Risikobiographien einen Faktor, der Studierende zum Umgang mit gesellschaftlichen, aber individualisierten Unsicherheiten zwingt. „Die Adoleszenz ist verbunden mit Wandel und Veränderungen und findet innerhalb einer Gesellschaft statt, die sich selbst im Wandel befindet. So kann man hier von der Möglichkeit eines doppelt krisenhaften Geschehens sprechen (vgl. Bürgin, 1998). Die spätadoleszente Individuation kann, verstärkt durch die erwähnte universitäre und gesellschaftliche Situation, von einem Gefühl der Isolierung, der Vereinsamung und Verwirrung begleitet sein. [...]. Bertrams (1993) spricht im Zusammenhang mit dem aktuellen gesellschaftlichen Wandel sogar von einem Strukturwandel bei heute auftretenden psychischen Störungen. Aus psychoanalytischer Sicht eignen sich die alten, teilweise reaktionären autoritären Universitätsstrukturen dazu, Konflikte auf der Basis von Anerkennung und Missachtung primärer Bedürfnisse zu reaktivieren. Die sog. ödipalen Konflikte manifestieren sich bevorzugt in evozieren [sic!] Autoritäts- und Prüfungsängsten. [...]. So können sich in manchen Fällen zunächst im Vordergrund stehende Prüfungsängste oder Arbeitsstörungen besonders bei Abschlussarbeiten als eine Problematik entpuppen, in der sich alte ‚Wünsche’ aus der Kindheit nach Anerkennung und Beachtung niederschlagen“ (Graf/Krischke 2004, 49).
In der Zusammenschau von Adoleszenz, gewandelter Gesellschaft und Universitätsstrukturen wundere es nicht, dass Studierende extrem anfällig für psychische Belastungen sind. Sie leiden deutlich stärker als der vergleichbare Bevölke-
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rungsdurchschnitt unter Arbeitsstörungen und depressiven Verstimmungen. In retrospektiver Betrachtung gaben 27% aller Studierenden an, im Studium mit psychischen Beeinträchtigungen konfrontiert worden zu sein (Hahne 1999). Von depressiven Stimmungen sprachen 18%. Die Prävalenzrate des Bevölkerungsdurchschnittes in Deutschland liegt im Vergleich dazu bei etwa 5%. Auch die im OECD-Vergleich niedrige Quote derjenigen, die aus einem Altersjahrgang ein Studium aufnehmen und die hohe Quote an Studienabbrechern werten Graf und Krischke als Indiz, dass ein Studium als krisenanfällig eingeschätzt bzw. erlebt wird. Sie weisen darauf hin, dass von den Betroffenen zwar die hohen Anforderungen auf der ‚Strukturseite’ der Universität gesehen werden, „Studierende mit psychischen Störungen sich selbst [aber] als unfähig [beschreiben], den Anforderungen ihrer Universität zu genügen. Dies führt Hahne (1999) auch auf die Ausbildungsstruktur der Hochschulen zurück, die häufig durch unzureichende Betreuung, Anleitung und Rückmeldung gekennzeichnet ist. [...]. Je nach dem Grad der sozialen Einbindung oder Isolierung und dem Stellenwert von Studienleistungen können mangelnde positive Rückmeldungen verhaltenstheoretisch auch als Verstärkerverlust aufgefasst werden. In der Verhaltenstherapie wird Verstärkerverlust ursächlich für die Entwicklung von Depressionen verantwortlich gemacht. [...] Unterstützt wird diese These dadurch, dass besonders die mit der Selbstwertproblematik in Zusammenhang stehenden psychischen Störungen mit dem Alter und der Semesterzahl während der Hochschulzeit auf mehr als das Doppelte ansteigen. Wittenberger (1992) interpretiert dies als einen negativen Sozialisationseffekt der Institution Universität“ (Graf/Krischke 2004, 9f.).
Es ist also keinesfalls bloß von einem einmaligen Bruch mit dem Wechsel an die Universität auszugehen, der freilich das Gefühl der Einmaligkeit erschüttert und zur Aufgabe sozialer Beziehung zwingt sowie das Erfordernis mit sich bringt, sich sozial neu zu positionieren. Dennoch betrachten die Autoren die krisenhafte gleichzeitig als chancenreiche Phase, was unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten im Sinne einer produktiven Krisenverarbeitung nachvollziehbar ist. „Adoleszenz ist kein Gebrechen im Sinne einer pathologischen Erscheinung, sondern eine ‚normale’ Entwicklungsphase mit dem Potenzial zur Konfliktverstärkung“ (ebd., 49). Was aber den Chancenreichtum bei der Schilderung des gesellschaftlichen Rahmens betrifft, bleiben die Autoren unempirisch der Individualisierungsthese verhaftet: „Es soll hier aber nicht unerwähnt bleiben, dass diese Entwicklungen auch neue Chancen beinhalten können, da sich die Personen immer weniger nach den Kriterien ihrer sozialen Herkunft oder ihrer geschlechtsspezifischen Rolle richten müssen [...]“ (ebd., 22). Auf die contra-empirische Normativität dieser vermeintlichen neuen Freiheiten habe ich bereits hingewiesen. Auch die Kehrseite dieser ‚neuen Freiheiten’ wird ohne sozialstrukturelle Brechung formuliert:
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen „Demnach schlagen gesellschaftliche Probleme unmittelbar in psychische Dispositionen um; in das Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit, in Schuldgefühle, Ängste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht eine neue ‚Unmittelbarkeit’ von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle wahrgenommen werden“ (ebd., 23).
Dass aber gesellschaftliche Krisen als individuelle wahrgenommen werden, heißt noch lange nicht, dass sich bei allen Akteuren gleichermaßen gesellschaftliche Krisen in persönlichen Krisen niederschlagen. Dadurch dass hier also Gesellschaft allgemein als Krisengenerator formuliert wird, wird sie von sozialer Ungleichheit geradezu ‚freigesprochen’. Es wird zwar anerkannt, dass beispielsweise das psychosoziale „Moratorium [der Adoleszenzphase; L.S.] bildungs-, schichten-, geschlechts-, regionsund religionsspezifisch ausgeprägt ist“ (ebd., 40). Doch diese Differenzierung bezieht sich auf sozialstrukturell unterschiedliche, in sich jedoch konsistente Biographien, d.h. auf die ‚Schuster, die bei ihren Leisten bleiben’, also etwa auf die unterschiedliche Ausprägung der Adoleszenz bei Arbeitern im Vergleich zu Studierenden. Sie bezeichnet nicht die Adoleszenzsituation der ‚Grenzgänger’, d.h. derjenigen, die ihr Herkunftsmilieu verlassen. Diese Diagnose hat zur Folge, dass das Moratorium undifferenziert als Spielwiese begriffen wird: „Das gesellschaftlich erzwungene Moratorium schafft Raum, um durch freies Rollenexperimentieren einen Platz in der Gesellschaft zu suchen. Erst dieser Platz, diese Verankerung in der gesellschaftlichen Realität, schafft das sichere Gefühl innerer und sozialer Kontinuität“ (ebd.).
Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass beim Studierendensurvey 2007 nur 7% der Befragten angaben, das Studium als Moratorium wahrzunehmen (im Vergleich zu 13% 1983; vgl. BMBF 2008, 37f.). Weiter heißt es bei Graf und Krischke: „An die Stelle des Kindheitsmilieus tritt im Laufe der Entwicklung zunehmend die ‚Gesellschaft’’’ (ebd.). Es wird also ‚das’ Kindheitsmilieu im Sinne von ‚die Kindheit’ verstanden und die Entwicklungskrise als ‚normaler’ Prozess des Erwachsenwerdens betrachtet. Verschiedene Kindheitsmilieus zu unterscheiden und darin Entwicklungsmöglichkeiten und -barrieren zu sehen, ist nicht Gegenstand ihrer Ausführungen. So wird die Aufnahme eines Studiums hier allgemein als Transitionsphase aufgefasst, als „Eintritt in ein neues Sozialisationsfeld und gleichzeitig ein Statusübergang vom Schüler zum Studierenden. Allein diese Übergänge können schon eine Krisensituation auslösen (Holm-Hadulla 2001). Die Studierenden sind mit neuen, bislang unvertrauten Anforderungen konfrontiert. Zu den entwicklungsspezifischen Aufgaben
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dieser Lebensphase kommt nun die Konfrontation mit der Hochschule als Institution und den entsprechenden fachlichen Anforderungen. Häufig ist ein Wohnortwechsel, der Auszug aus dem Elternhaus und eine Distanz zu bisherigen Freunden oder Bekannten zu bewältigen“ (Graf/Krischke 2004, 44).
Nicht nur diese Faktoren gelten mehr oder weniger für alle Studierenden, sondern auch die Ambivalenz der verlängerten Adoleszenz. „Die Ausdehnung von psychosozialen Entwicklungsphasen dient einerseits der Reifung spezifischer subjektiver Kompetenzen und hat andererseits den Charakter einer Infantilisierung. In dieser ambivalenten studentischen Situation ist ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz nötig“ (ebd.).
Konfrontiert man diese Diagnosen mit dem Habitus-Struktur-Konzept, muss nicht nur danach gefragt werden, wie unterschiedlich hart für verschiedene Habitus die Einschnitte sind, sondern auch danach, wie unterschiedlich ausgeprägt die Ambiguitätstoleranz je nach Habitus ist. Hat es etwa nicht mit der sozialen Herkunft bzw. dem individuellen Habitus zu tun, wie produktiv mit Widersprüchen umgegangen wird? Außerdem bedarf es, „um ein dauerhaftes und reifes seelisches ‚Funktionieren’ zu ermöglichen [...] realer Gratifikationen und der Einbindung in soziale Strukturen (vgl. Erikson, 1959). Diese Gratifikationen dienen als Ausgleich für die beschriebenen Trennungsprozesse [...]. Im Vergleich zu Gleichaltrigen fehlt Studierenden neben der materiellen Unabhängigkeit häufig die soziale Anerkennung, die mit der Übernahme der Berufsrolle verknüpft ist“ (Graf/Krischke 2004, 45).
Umso wichtiger scheint die Anerkennung zu sein, die die Universität zum Beispiel über ihre Lehrenden vergibt. Doch auch hier lässt sich neben der allgemeinen Diagnose der ‚Anerkennungsarmut’ fragen, ob und vor allem wie Studierende, deren Herkunftsmilieu weiter von dem akademischen Feld entfernt ist, sich diese notwendige Anerkennung verschaffen. Graf und Krischke verweisen mit Wittenberger (1992) auf die psychoanalytische Sicht, der zufolge „die Anonymisierung und die bürokratische Hochschulstruktur in einem engen Zusammenhang mit der Aktualisierung infantiler traumatischer Erfahrungen [steht]. [...] In ihren psychischen Auswirkungen verschmelzen die universitären Riten und Machtstrukturen mit vorhandenen frühen Strukturen und können so zu latenten oder manifesten psychischen Störungen führen“ (Graf/Krischke 2004, 46).
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Zur Erläuterung der generellen adoleszenten Krisenhaftigkeit greifen Graf und Krischke auf psychologische und interaktionistische Theorien zur Identitätsentwicklung zurück, bei denen das ‚Soziale’ aber immer eine Rolle spiele. „James (1980, zit. n. Haußer) bezog den sozialen Aspekt in die Identitätsfrage mit ein, indem er von den verschiedenen Seiten unserer Persönlichkeit, den ‚Selbsten’, spricht, die wir je nach Bedarf in der Begegnung mit anderen Menschen einsetzen oder auch unterdrücken. Er führte auch die konzeptionelle Unterscheidung zwischen einerseits dem Selbst als erkennendem Subjekt (englisch ‚I’) als Innenperspektive und andererseits dem Selbst als Objekt der Erkenntnis (englisch ‚Me’) als Außenperspektive ein. Er betont außerdem die Bedeutung der Anerkennung durch unsere Mitmenschen für das Selbst. Die Anerkennung von außen kann sich dann auch in Form von Gefühlen wie etwa Stolz, Eitelkeit, Bescheidenheit, Verwirrung, Scham, Schuld oder auch Selbstachtung im ‚Selbst’ ausdrücken. In der Psychologie von James wurde das ‚soziale Selbst’ als die Summe der Anerkennungen, die ein Individuum von anderen Individuen erfährt, eingeführt. Den ‚dauernden und innersten Teil des Selbst’ erklärte er als eine Kette von Zueignungsbeziehungen [sic!], in denen gegenwärtige Vorstellungszustände zu denen ihnen unmittelbar vorausgehenden stehen (vgl. Henrich, 1979, S. 134)“ (Graf/Krischke 2004, 13).
Das Selbst ist James zufolge also etwas genuin Soziales. Auch in der IchPsychologie Freuds ist das sozial bzw. kulturell Prägende vorgesehen: „Der Terminus Identität, wie er heute vielfach verwandt wird, hat einen Ursprung in der Entwicklung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud. Innerhalb der psychoanalytischen Ich-Psychologie, die in den zwanziger Jahren entstand, hat vor allem Hartmann (1972), der als Begründer der modernen Ich-Psychologie gilt, dieses Gebiet klar umrissen. Er spricht von einem ‚Selbst’ und empfiehlt den Ausdruck ‚Selbst-Repräsentation’. Identität steht für die Auswahl bisher wichtiger Vorbilder, Werte und Normen und deren allmähliche Integration in das zu entwickelnde Selbstbild. Das ‚Ich’, als eine der drei psychischen Instanzen nach Sigmund Freud, hat eine ordnende und vermittelnde Funktion zwischen dem ‚Über-Ich’ und dem ‚Es’. Dabei repräsentiert das ‚Über-Ich’ bereits akzeptierte und nicht mehr hinterfragte (internalisierte) Umwelteinflüsse und Traditionen. Die Verbote und Befehle des ‚Über-Ichs’ richten sich gegen die aus dem ‚Es’ kommenden triebhaften Wünsche und Handlungsoptionen. Das ‚Ich’ als Vermittler ermöglicht eine ‚SelbstRepräsentation’ und lässt ein zunehmend stabileres Selbst entstehen. [...] Erikson nennt diesen Vermittlungsprozess ‚Ich-Identität’. Die Ich-Identität bei Erikson, dieses Gefühl innerer Einheitlichkeit und Kontinuität, ist durch einen stabilen und einen dynamischen Anteil gekennzeichnet. Der stabile Anteil wird durch das tatsächlich Erreichte repräsentiert. Der dynamische Anteil der Identität überprüft regelmäßig die Realität und das Gefühl über die Realität innerhalb einer sich wandelnden sozialen Umwelt (vgl. Henrich, 1979, S. 135)“ (Graf/Krischke 2004, 14).
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Übersetzt man dies in die Bourdieusche Terminologie, ließe sich der Habitus als der stabile Anteil (‚überdauernde Dispositionen’) bezeichnen, der – vor allem in strukturell neuen Situationen – überprüft und modifiziert wird. Dabei entsteht dann ein neuer stabiler Anteil, bei dem die früh erworbenen Bausteine stärker wiegen als die neu hinzugekommenen. Die konfliktanalytischen Vorteile der Soziologie Bourdieus gegenüber psychoanalytischen Fundierungen können hier deutlich werden. Freud gesteht zu, dass die Formierung des Über-Ichs bei Kindern weniger nach Maßgabe der Eltern, sondern eher nach Maßgabe des ÜberIchs der Eltern vonstatten geht (vgl. Mies 1994, 7, mit Verweis auf Freud 1940, 73). Obwohl somit also Gruppenzugehörigkeiten und soziale Ungleichheit über die Beziehung zu den Eltern auch bei Freud Berücksichtigung finden, bleibt dieser gesellschaftliche Anteil auf das Über-Ich beschränkt. Dem gegenüber steht das von Gesellschaft unabhängige Es. Intrapersonale Konflikte sind hier also Kämpfe dieses triebhaften Es mit dem Gesellschaft repräsentierenden ÜberIch. Dass aber bereits das moderierende Ich gesellschaftlich geprägt ist, wird hier nicht betrachtet. Graf und Krischke greifen vor allem auf die Entwicklungspsychologie Eriksons (1988) zurück, der das Persönlichkeitswachstum „systematisch mit der Bewältigung von phasenspezifischen Entwicklungskrisen in Verbindung [brachte]“ (Graf/Krischke 2004, 11) und betonen auch hier die Bedeutung des Sozialen: „Erikson geht von der Annahme aus, dass die Existenz des Menschen in jedem Augenblick von drei sich ergänzenden Organisationsprozessen abhängt. Dabei handelt es sich um einen biologischen, einen psychischen und einen gesellschaftlichen Prozess. Der biologische Prozess besteht aus hierarchisch organisierten Organsystemen, die einen Körper bilden. Der psychische Prozess organisiert die individuellen Erfahrungen durch Ich-Synthese. Der gesellschaftliche Prozess umfasst die wechselseitigen Abhängigkeiten und die kulturelle Organisation einer Person“ (ebd., 25).
Hier wird deutlich, dass zwar eine interaktive Vorstellung von Wechselwirkungen zwischen Biologie, Psyche und Gesellschaft denkbar ist, dass jedoch das Konzept der Erfahrung organisierenden Psyche ‚gesellschaftsfrei’ bleibt. Demgegenüber kann angenommen werden, dass gemachte Erfahrungen nicht irgendwie integriert werden, sondern dies vor der Hintergrundfolie dessen passiert, was bereits an Erfahrungen vorliegt, d.h. was inkorporiert wurde. Das Erfahrung organisierende Prinzip bei Bourdieu ist der Habitus. Dieser hat eine soziale Genese und kann in seinen Teildimensionen an seine Entwicklungs- und vor allem Entstehungskollektive rückgebunden werden. Damit werden sozial generierte Unterschiede nicht erst bei dem zu integrierenden Neuen, sondern bereits bei den Voraussetzungen des Integrationsvorganges benennbar. „Erikson (1950) zufolge ist Identität und Identitätsentwicklung untrennbar mit dem sozia-
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len Zusammenleben, mit zwischenmenschlichen Interaktionsprozessen verbunden.“ (Graf/Krischke 2004, 15) „Sie [die Ich-Identität, L.S.] bildet sich durch die wechselseitige Beziehung eines inneren ‚Selbst’ mit einer äußeren gesellschaftsspezifischen Gruppenstruktur“ (ebd., 11). Auch hier ist ersichtlich, dass Gesellschaft und Individuum einander gegenübergestellt werden. Dass bereits das innere ‚Selbst’ Gesellschaft enthält, steht bei dem Überblick von Graf und Krischke nicht im Vordergrund. Daher können – trotz der Diagnose der doppelten potenziellen Adoleszenzkrise ‚für alle’ Studierenden – soziale Unterschiede diesbezüglich auch nicht benannt werden. Noch deutlicher: „Spätadoleszente Entwicklungskrisen bei Studierenden müssen sowohl im individuellen als auch im sozialen Kontext gesehen werden“ (ebd., 12). Dieser Aussage ist zwar nicht zu widersprechen, sie birgt aber die Gefahr, dass ‚Individuelles’ und ‚Soziales’ analytisch getrennt werden und somit das Soziale am Individuellen übersehen wird. Dies wäre kein Problem, wenn dieses ‚sozial unterschiedliche Individuelle’ im betrachteten Kontext nicht von Bedeutung wäre. Die Autoren selbst weisen jedoch mit dem entwicklungstheoretischen Ansatz von Erikson und dem salutogenetischen Konzept des Koheränzgefühls nach Antonovsky (1997) darauf hin, dass Menschen nach Konsistenz streben bzw. dass diejenigen, die ein starkes Erleben von Kohärenz haben, weniger krisenanfällig sind bzw. Krisen eher als Entwicklungschancen nutzen können. „Sowohl für Antonovsky (1997) als auch für Erikson (1968) [...] ist ein subjektives Gefühl von Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz von entscheidender Bedeutung für die Aufrechterhaltung psychischer und körperlicher Gesundheit“ (Graf/Krischke 2004, 51f.).
Da nun aber anzunehmen ist, dass die äußeren Begebenheiten der Universität bzw. ‚des Studierens’ näher bei den Habitus von bestimmten und bestimmbaren Studierenden liegen als bei den Habitus von anderen, für manche in diesem Kontext also logischerweise Konsistenz wegen ihres ‚sozialen Individuellen’ leichter zu erlangen ist als für andere, liegt eine Betrachtung dieser Unterschiedlichkeiten nahe. Dies soll die generelle Krisenhaftigkeit der Lebensphase ‚Studium’ keineswegs in Frage stellen. Die Zusammenfassung jedoch, „dass die erfolgreiche Bewältigung von Problemen von der Ausprägung des Kohärenzgefühls abhängig ist“ (ebd., 52), verlangt nach der logischen Fortsetzungsfrage, unter welchen Bedingungen von wem Kohärenz erlebt werden kann, gerade wenn die Identitätsentwicklung als Integrationsleistung von alten und neuen Erfahrungen verstanden wird: „Die Identitätsentwicklung wird vor allem als eine Syntheseleistung des Individuums gesehen. Neue Erfahrungen müssen in den Bestand der alten Erfahrungen
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integriert werden, ohne dass das Gefühl von persönlicher Kontinuität und Konsistenz verloren geht“ (ebd., 11).
Daraus kann abgeleitet werden, dass eine Konsistenz theoretisch dann schwieriger zu wahren ist, wenn die Kluft zwischen Alt und Neu größer ist. Genau dies ist die für die vorliegende Untersuchung theoretische Leitlinie: dass nämlich Studierende aufgrund ihres Habitus unterschiedlich weit entfernt von den Ansprüchen der Lebenssituation ‚Studium’ liegen, auch wenn diese für alle Studienanfänger neu ist. Außerdem könnte die größere Nähe nicht nur an sich ein Vorteil sein, sondern sie ermöglicht es, flexibler Strategien auszuwählen. „Dabei repräsentiert das Kohärenzgefühl keinen spezifischen Bewältigungsstil, sondern es wirkt durch die Mobilisierung von Widerstandsressourcen und hilft bei der flexiblen Auswahl von Strategien. [...] Dabei geht es darum, alltägliche Erfahrungen zu organisieren, effektiv zu bewältigen und sich in der sich wandelnden sozialen Welt zu behaupten, ohne eine innere Kontinuität zu verlieren“ (ebd., 53).
Auch der Habitus wurde als Praxiserzeugungsprinzip vorgestellt, das keine konkrete Handlung determiniert, keinen spezifischen Bewältigungsstil vorgibt, sondern eher ein Wahrscheinlichkeitsrepertoire zur Verfügung stellt. Es ist zum einen naheliegend anzunehmen, dass ein hochschulbildungsnaher Habitus mehr Praxiserzeugungsfreiheitsgrade aufweist und damit eher im Sinne eines Kohärenzgefühls bei der flexiblen Auswahl von Strategien helfen kann, als ein hochschulbildungsferner Habitus. Zum anderen scheint offensichtlich, dass eine innere Kontinuität leichter von den Studierenden erlebt werden kann, bei denen die Kluft zwischen Habitus und akademischen Feld nicht so groß ist, also zumindest strukturell mehr Kontinuität gegeben ist. Bereits die Wahl des Studienfachs hängt – wie gezeigt – mit der sozialen Herkunft zusammen und wurde von Lührmann (2002) unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz betrachtet. Bourdieu sprach mit Goffman von einem ‚sense of one’s place’ (Bourdieu 1985, 17). Dies kann als Wunsch nach oder Schritt in Richtung Aufbau bzw. Erhalt des Kohärenzgefühls gedeutet werden, noch bevor eine Begegnung mit der Universität überhaupt stattgefunden hat. Dies bedeutet freilich nicht, dass sich mit der Wahl des Faches die angestrebte Konsistenz auch realisiert. Was Graf und Krischke für Individuen mit einem hohen Kohärenzgefühl diagnostizieren, nämlich dass diese „Anforderungen eher als Herausforderung denn als Überforderung definieren“ (Graf/Krischke 2004, 54), zeigt sich auch bei meiner Analyse der Empirie: wo bei Studierenden mit hochschulbildungsnaher Herkunft Anforderungen des Studiums und die Situation ‚des Neuen’ mit ‚aktiver Neugierde’ beantwortet wurden, erzeugen sie bei hoch-
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schulbildungsfernen Studierenden tendenziell Angst, Unsicherheit und Fremdheitsgefühle. Was Graf und Krischke für alle Studierenden als zunehmend problematisch diagnostizieren, nämlich „dass die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer inneren Einheitlichkeit und Kontinuität unter den beschriebenen doppelt krisenhaften Umständen von individueller und gesellschaftlicher Entwicklung [...]“ (ebd., 14) zunehmend erschwert wird, müsste soziokulturell ausdifferenziert werden. Die Autoren sind zwar nicht blind gegenüber kulturellen Bedingungen des Aufwachsens. Diese sind bei ihnen aber nicht Gegenstand näherer Betrachtungen: „Im Fall von James [dem ‚Vater des modernen Identitätsbegriffes’; L.S.], dem Enkel eines Einwanderers, war die Identitätsbildung in hohem Maß von den kulturellen Bedingungen der frühen industriellen Mittelschicht bestimmt. So ist die Identitätsbildung ein Prozess, der sowohl im Kern des Individuums als auch im Kern seiner gemeinschaftlichen Kultur abläuft. Identitätsbildung ist ein Prozess gleichzeitiger Reflexion und Beobachtung“ (ebd.).
Auch hier wieder wird deutlich, dass erstens Identitätsbildung sowohl im Kern des Individuums als auch im Kern seiner gemeinschaftlichen Kultur angesiedelt wird und offenbar nicht beides in einem. Zweitens liegt hier – durch den Bezug auf Reflexion – ein kognitives Modell vor und mimetische, also nachahmende, präreflexive, ‚körperbezogene’ Identitätsbildung, bzw. die präreflexive Seite des ‚Me’ nach George Herbert Mead steht hier nicht im Fokus. Von daher wird ein wesentlicher Aspekt der Selbst-Entwicklung ausgeblendet. Eine soziale Ausdifferenzierung von individuellen Identitäten, wie sie mit dem Konzept unterschiedlicher Habitus und vor allem unterschiedlich zum akademischen Milieu passender Habitus vorliegt, ist somit hier per Blickwinkel nicht denkbar und wohl auch nicht beabsichtigt. Ziel der Autoren war es vielmehr, einen tiefen, aber generellen Einblick in die allgemeine krisen-, risikound chancenreiche Lebenssituation ‚Studium’ zu geben. Dass und wie sich die doppelte Adoleszenzkrise je nach sozialer Herkunft und deren Verinnerlichung, also je nach bislang erworbener Selbstkonzeption sehr unterschiedlich gestaltet, soll hier empirisch untersucht werden. In der Übersicht von Graf und Krischke wird das Soziale an der Identitätsentwicklung zwar nicht nur darin gesehen, dass Identität sich nur in der Auseinandersetzung mit der Umwelt herausbildet, sondern es werden dabei auch sozialpsychologische Aspekte, d.h. Gruppenzugehörigkeiten berücksichtigt. Sie zitieren (ebd., 15) De Levita (1971, 15): „[...] Jedenfalls wird Identität Gruppenmitgliedern nur von anderen Gruppenmitgliedern zugesprochen. Unter diesem Gesichtspunkt ist Identität eine Rolle.“ Was aber nicht erörtert wird, ist,
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dass mit dem Zugesprochenen etwas passiert, dass es verinnerlicht wird, sich in den Körper einschreibt. Damit ist die Gruppenzugehörigkeit und der soziale Identitätsaspekt nicht nur dann relevant, wenn die Gruppenzugehörigkeit salient wird, wie es auch die Theorie sozialer Identität beschreibt, sondern sie ist immer präsent. Tajfel und Turner postulieren bei ihrer Social Identity Theory (Tajfel/Turner 1979, 1986), dass für das Selbstkonzept eines Individuums neben der persönlichen Identität auch eine soziale Identität von Bedeutung ist. Diese ist definiert als „der Teil des Selbstkonzeptes eines Individuums, der sich ableitet aus dem Wissen, einer Gruppe (oder Gruppen) anzugehören, zusammen mit dem Wert und der emotionalen Bedeutung, die mit der Mitgliedschaft verbunden ist“ (Tajfel 1978, 63). Hier wird die kognitive Fundierung des Ansatzes deutlich. Es geht um das Wissen, einer Gruppe anzugehören. Dass Gruppenzugehörigkeiten auch dann, wenn sie nicht Gegenstand von Reflexionen sind, vorbewusst das Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Handeln und Bewerten einer Person beeinflussen, steht hier nicht im Fokus. Die Social Identity Theory wurde aus psychologischer Sicht unter anderem dahingehend kritisiert, dass hier ein Nebeneinander an soziologischen und psychologischen Variablen vorzufinden sei, die nicht integriert würden. Letzten Endes sei die Theorie soziologistisch (Schiffmann & Wicklund 1988). Im Konkreten sei es unklar, wie soziologische Variablen ihre individuelle Repräsentation erführen. „Wenn die soziale Identität eines Menschen aber als Summe der jeweiligen sozialen Identifikationen verstanden wird und wenn weiterhin nicht beschrieben wird, wie die behauptete Internalisierung der sozialen Kategorien geschieht, so kann Turner der Vorwurf des Soziologismus nicht erspart werden: Die soziale Identität eines Menschen ist dann nämlich reduzierbar auf Systeme sozialer Gruppen, speziell deren Statusrelationen. [...] Wie die Brücke zwischen Gruppenterminologie und Terminologie des Individuums geschlagen werden soll, bleibt dabei unklar. Vielleicht kann ja auch gar nicht diese Brücke zwischen soziologischen Variablen (Status, Statusrelationen, Prestige) und psychologischen Variablen (Selbsteinschätzung, Selbstkonzept, Wahrnehmen, Differenzieren) geschlagen werden“ (ebd., 165).
Diese psychologische Kritik an der Social Identity Theory lässt sich aus soziologischer Sicht teilen. Die beiden Variablenkomplexe bleiben unverbunden. Nun wurde hier mit dem Habituskonzept Pierre Bourdieus paradoxerweise ein soziologischer Ansatz vorgestellt, der diese Kritik aufzugreifen vermag und damit nicht nur Gesellschaft und Individuum, sondern auch Gesellschaft und Psyche wieder ‚zusammendenkt’. Das Konzept hat den Anspruch, genau diese Brücke zwischen soziologischen Variablen (Lage, Status, Statusrelationen, Prestige) und individuellem Wahrnehmen, Denken, Handeln, Fühlen und Bewerten zu thematisieren. Der Habitus ist definiert als Schaltstelle zwischen Individuum
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und Gesellschaft. Mit diesem Konzept lässt sich einerseits die Kritik des Nebeneinanders von Soziologie und Psychologie in der Social Identity Theory, wie sie von Schiffmann und Wicklund vorgebracht wurde, teilen. Andererseits zeigt es, dass diese Brücke sehr wohl geschlagen werden kann, auch wenn die Herausbildung eines Habitus im Zuge eines wie auch immer gearteten Sozialisationsprozesses34 in einer black box verborgen liegt (vgl. Bauer 2004, 77; Liebau 1987, 79).35 Mit dem Habitus-Konzept muss dann allerdings gefragt werden, inwieweit es sinnvoll ist, eine spezielle soziale Identität anzunehmen, die sich irgendwie von irgendeiner anderen Identität – und sei es nur analytisch – trennen ließe. Vielmehr wäre dann davon auszugehen, dass persönliche Identität eine individuelle, aber sozial hervorgebrachte und sozial rückbindbare Identität darstellt. Es kann demzufolge keine personale Identität jenseits des Sozialen geben. Gruppenzugehörigkeiten sind immer Teil des Selbst. Da nach Bourdieu soziale Ungleichheit in Form der Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen Gruppen also einerseits Teil der Persönlichkeit wird, die andererseits auf der symbolischen Ebene der Performanzen sichtbare Unterscheidungen darstellt (etwa der gute Geschmack, der sich in einem Lebensstil manifestiert), sind diese Gruppenzugehörigkeiten immer salient. Es gibt keine Situation, in der sie nicht mitspielen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Ein Mann und eine Frau, die sich nicht kennen, sitzen in einem Zugabteil und kommen ins Gespräch. Für diese Interaktion seien solange die personalen Identitäten der Personen relevant, bis der Mann eine frauenfeindliche Bemerkung macht. Dann werde die soziale Kategorie ‚Geschlecht’ ‚angeknipst’ und von nun an sei diese soziale Identität ausschlaggebend (Wagner/Stellmacher 2000, 2). Für diese Zugabteil-Szene muss mit dem Habituskonzept angenommen werden, dass auch vorher schon von beiden geschlechtsspezifischen Habitus die unausgesprochenen Regeln männlicher Dominanz verinnerlicht wurden und diese damit immer eine Rolle spielen. Dies widerspricht den empirischen Ergebnissen der Social-IdentityForschung insofern nicht, als dass durchaus in unterschiedlichen Situationen 34 Das Sprechen von einem Sozialisationsprozess ist insofern etwas irreführend, als dass Sozialisation die Existenz einer von Gesellschaft unabhängigen Identität voraussetzt, die dann in die Gesellschaft eingepasst, sozialisiert wird. Mit dem Habituskonzept soll aber genau das bezweifelt werden. Es gibt keine Identität außerhalb des Sozialen (vgl. Wittpoth 1994; Bauer 2004). 35 Eine Untersuchung von Peter Büchner und Anna Brake gibt Auskunft darüber, wie kulturelles Kapital im Mehrgenerationen-Familienverbund intergenerationell übertragen wird (Brake/Kunze 2004; Büchner/Brake 2006). Daraus lassen sich zwar einige Schlussfolgerungen über die Bildung eines Habitus ziehen, dessen Formierung im und als Körper muss letztendlich jedoch im Verborgenen bleiben. Ohnehin kann man den Habitusbegriff als Hilfskonstruktion verstehen, die nichts ‚real Existierendes’ benennen will, sondern strukturierte Einverleibungs- und Erzeugungsprozesse analytisch fassen möchte, also ein theoretisches Instrument darstellt (Barlösius 2006, 46f.; Bourdieu/Wacquant 1996, 262).
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verschiedene Dimensionen des Habitus (im Sinne von verinnerlichten Gruppenzugehörigkeiten) bedeutsam sein können.36 Denn es ist anzunehmen, dass die verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten, die sich in einem Habitus spiegeln, in unterschiedlichen Konstellationen von unterschiedlicher Relevanz sind. Konfliktpotenzial entsteht dann, wenn in einer Teildimension des Habitus eine zu große Diskrepanz zur Umgebung hergestellt wird. Eine Studentin kann beispielsweise ja auch Angehörige der dominierten Gruppe ‚kleinbürgerliche Herkunft’ und nicht nur der dominierten Gruppe ‚weibliche Herkunft’ sein. Letztere wird im akademischen Milieu möglicherweise mit den Ansprüchen ‚männlicher Habitus’ konfrontiert, genau wie die ‚kleinbürgerliche Herkunft’ mit den Ansprüchen ‚akademischer Habitus’.37 Die Situation etwa eines Studenten, der aus einer Arbeiterfamilie stammt und sich in einem Konflikt mit seinen Eltern befindet, weil diese seine Situation, sein Milieu nicht ausreichend kennen und verstehen und ihm Faulheit vorwerfen, lässt sich rollentheoretisch vielleicht noch erfassen. Die Rolle ‚Student’ verträgt sich nicht mit den Ansprüchen der Rolle ‚Arbeitersohn’. Aber versuchen wir nun die Probleme, die der Student mit der Ungezwungenheit des akademischen Milieus hat, z.B. wenn er seine lockeren KommilitonInnen wahrnimmt, die viel sicherer und ungezwungener agieren als er, oder wenn er die Sprechstunde eines Professors besucht und sich vorher ängstlich zurechtlegt, was er jetzt wie sagen wird, dann reicht es nicht aus, auf seine Studentenrolle etwa gegenüber der Professorenrolle als Erklärung des Problems zu verweisen. Immer ist das von Bedeutung, was zur verinnerlichten Vergangenheit des Studenten dazu gehört. Zwar ließe sich argumentieren, dass bei den Ängsten die Gruppenzugehörigkeit ‚Arbeitersohn’ wieder salient wird. Aber diese Spannung wäre hier nur situativ und der Student würde, sobald die Interaktion sich vollzogen hätte, wieder mit anderen Gruppenzugehörigkeiten kon36 Es scheint möglich, dass das, was die Theorie als soziale Identität bezeichnet, dem entspricht, was man mit Bourdieu einen kollektiven Habitus (Klassenhabitus, geschlechtsspezifizierter Habitus etc.) nennen könnte. Die Gruppenzugehörigkeit spiegelt sich jedoch auch im individuellen Habitus wider. Genau dies ist für das hiesige Vorhaben von Bedeutung, weil es ja empirisch um das Erleben der leibhaftigen Akteure von Habitus-Struktur-Konflikten geht. Zum Verhältnis von kollektivem und individuellem Habitus vgl. Bourdieu (1987, 97ff., v.a. 112f.) sowie Papilloud (2003, 40ff.). 37 Hier ist nicht der ‚offene Ausschluss’ von Frauen gemeint, sondern die, über die Ansprüche eines männlichen Habitus vermittelte, verdeckte Variante. Doch selbst wenn eine Frau – wie auch immer – sich männliche, phallo-narzisstische Habituselemente angeeignet hat – sie also die implizit-objektive Zugangsvoraussetzung besitzt, um an den männlichen Selbstbeweihräucherungsspielen teilzunehmen (vgl. Bourdieu 1997) – wird ihr dies aufgrund ihrer Zuordnung zur Gruppe der Frauen, d.h. der sozialen und am Körper ‚objektivierten’ Konstruktion von Geschlecht, nicht zugeschrieben. Zum Verhältnis von männlicher Dominanz und akademischem Feld vgl. vor allem Krais (2000).
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frontiert, z.B. mit der Gruppe ‚Männer’, wenn er auf der Straße einer Frau begegnet, die ihm gefällt. Beide Situationen werden ihn möglicherweise aber noch bewegen, wenn er abends alleine in der Küche sitzt und eigentlich kein sozialer Kategorisierungsdruck vorliegt. Das heißt die verschiedenen Rollen oder Gruppenzugehörigkeiten sind immer körperlich allgegenwärtig. Neben den speziellen sozialen Umständen (‚makro’), in denen Identitätsentwicklung stattfindet (gewandelte Gesellschaft, widersprüchliche Ansprüche des Studiums bzw. der Universität), werden in der Literatur zu Krisen im Studium also Interaktionsprozesse (‚mikro’) und Gruppenzugehörigkeiten (‚meso’) angesprochen. Dennoch bleibt es bei einer Trennung zwischen Individuellem und Sozialem, zwischen Innen und Außen. Der Rollenbegriff reiht sich in diese Problematik ein. Auch wenn er nicht in dem ‚objektivistischen’ Verständnis von Parsons und dann Merton verwendet wird, sondern in seiner interaktionistischen Ausdeutung, wie etwa bei Mead und später Goffman, bleibt die Rolle im Gegensatz zum Habitus nicht-körpergebunden, selbst wenn der Begriff die Möglichkeit des role-takings, also der Aneignung durch Körper und des rolemakings, der Ausgestaltung durch Körper, vorsieht. Eine Rolle kann tendenziell abgelegt werden. Sie ist immer nur dann identitätsrelevant, wenn sie salient ist, d.h. zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Interaktion aufgerufen wird.38 Dass das Soziale aber bereits bei dem Individuellen, dem ‚Innen’, von großer Bedeutung ist, liegt in der ‚Krisenliteratur’ also nicht im Fokus der Betrachtungen. Deshalb soll es genau hierum in der vorliegenden Untersuchung gehen, weil psychische Belastungen und Arbeitsstörungen im Studium (Graf/Krischke 2004) offenbar nicht ohne ein Konzept zu verstehen sind, welches das Soziale am Individuellen auszumachen vermag. Nur wenn dies hinreichend Berücksichtigung findet – so das Habitus-Struktur-Modell, mit dem hier gearbeitet wird –, kann verstanden werden, wie sich im Studium Diskrepanzen oder Modifikationsansprüche zwischen dem Individuum und dem ‚Mikrokosmos Studieren’ auftun. Mit dem Rückgriff auf interaktionistische Konzepte werden bei Graf und Krischke zwar Anknüpfungspunkte an dieses Modell geboten, die aber nicht weiter genutzt werden. Identität wird verstanden als „[...] notwendige Voraussetzung, um in der gegebenen Umwelt handlungsfähig zu sein, [und] entsteht aus dieser Sicht dynamisch im fortwährenden Austausch, in der ständigen Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt“ (ebd., 17). Wenn Umwelt schon als wesentlich bei der Herausbildung von Identität verstanden wird, liegt 38 Zu einer von Bourdieu inspirierten Kritik des Rollenbegriffs vgl. Krais/Gebauer (2002, 66ff.). Damit sei nicht die analytische Sinnhaftigkeit des Rollenbegriffs infrage gestellt, sondern lediglich festgehalten, dass viele seiner Verweisungszusammenhänge adäquater auf den Habitusbegriff zurückgreifen müssten.
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es nahe zu überlegen, dass strukturiert unterschiedliche Umwelten sich in strukturiert unterschiedlichen Identitäten niederschlagen. Gleichzeitig wäre damit aber auch die Chance benannt, in einer neuen ‚fremden’ Umwelt neue Identitätsaspekte hinzuzugewinnen und alte entsprechend zu modifizieren. „Der Mensch ist hier [beim Interaktionismus; L.S.] kein individuelles, autonomes, sondern ein soziales Wesen. Nur durch die Beziehungen zu anderen Menschen innerhalb einer sozialen Bezugsgruppe kann Identität entstehen. [...] Nach dieser Theorie entsteht Identität durch die Interaktion zwischen Menschen über die Interpretation von signifikanten Symbolen. [...] Identität ist die Fähigkeit des Menschen, reflexiv aus sich selbst herauszutreten und sich damit selbst zum eigenen Objekt zu machen. [...] Außerhalb der gesellschaftlichen Erfahrung kann sich demnach keine Identität entwickeln. [...]. Goffman (1972) unterscheidet zwei Dimensionen der Selbst-Repräsentation. In der ‚persönlichen Identität’ repräsentiert sich die Interpretation der Biografie, und innerhalb der ‚sozialen Identität’ findet die Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation in unterschiedlichen Gruppen- und Rollenstrukturen statt“ (Graf/Krischke 2004, 18).
In dieser Auslegung bleiben also auch bei Goffman die sozialen Anteile auf die situativen, temporären Aspekte, nämlich auf die soziale Identität begrenzt. Dass die sogenannte persönliche Identität, d.h. die Interpretation der Biographie, vor dem sozialen Hintergrund der prägenden Gruppenzugehörigkeiten stattfindet, wird zwar nicht bestritten, aber auch nicht näher thematisiert, obwohl diese vermeintlichen Identitätsanteile die Voraussetzung bzw. Grundlage für die Auseinandersetzung mit aktuellen Situationen bilden. „Überdies beinhaltet persönliche Identität die Einzigartigkeit eines Individuums, d.h. die Annahme, ‚daß das Individuum von allen anderen differenziert werden kann und dass rings um dies Mittel der Differenzierung eine einzige kontinuierliche Liste sozialer Faktoren festgemacht werden kann, herumgewickelt wie Zuckerwatte, was dann die klebrige Substanz ergibt, an der noch andere biographische Fakten festgemacht werden können’ (Goffman, 1972, 74). Die Ich-Identität ergibt sich nach Goffman aus der Balance von persönlicher und sozialer Identität. [...]. Während es auf der Ebene der sozialen Identität möglich ist, Stigmatisierung zu betrachten, geht es auf der Ebene der persönlichen Identität um Informationskontrolle im Stigma-Management. Auf der Ebene der Ich-Identität lassen sich die Empfindungen betrachten, die im Zusammenhang mit Stigma und Stigma-Management entstehen und entsprechende Verhaltensweisen erfordern“ (Graf/Krischke 2004, 19).
Diese analytische Dreiteilung in soziale, persönliche und Ich-Identität ist nachvollziehbar, birgt aber die Gefahr, dass der Anteil des Sozialen auf die Stigmatisierung reduziert und dabei übersehen wird, dass sowohl das StigmaManagement der betroffenen Person als auch die entsprechenden Empfindun-
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gen, die mit der Stigmatisierung sowie dem Umgang damit einhergehen, vor dem Hintergrund habitueller Prägungen stattfinden, also ihrerseits soziologisch zu formulieren wären. Zwar kann der interaktionistische Ansatz hier mit dem Begriff der Stigmatisierung allgemein genutzt werden, um Barrieren der Krisenbearbeitung zu benennen: „Die Bedeutung von Stigmatisierung im Zusammenhang mit der Etikettierung einer psychischen Krise als Krankheit stellt eines der größten Hindernisse bei der aktiven Suche nach Hilfe zur Bewältigung von situativen und in der Lebensphase begründeten Krisen dar“ (ebd.).
Hier wird aber zwangsläufig ausgeblendet, dass die Krise eben nicht nur in der Lebensphase begründet liegt, sondern in doppelter Hinsicht (auf der Seite des Habitus und auf der Seite des akademischen Feldes bzw. der ‚Welt des Studierens’) symbolvermittelte sozialstrukturelle Aspekte aufweist. Zwar wird bei der Warnung vor einer Pathologisierung der entwicklungsbedingten Konflikte auf ‚individuelle soziale Faktoren’ verwiesen. Diese werden jedoch nicht weiter erläutert, sondern das Gesellschaftliche auf den zeitdiagnostischen Aspekt begrenzt, der die Betroffenen ihre Probleme auf subjektives Versagen zurückführen lässt. „Es besteht immer die Gefahr, die subjektiven und sozialen Auswirkungen von entwicklungsbedingten Konflikten, die viele Studierende zu bewältigen haben, als Krankheit zu interpretieren – wobei die individuellen sozialen und die spezifischen universitären Gegebenheiten die Bewältigung regulärer Bewältigungsaufgaben im Einzelfall drastisch erschweren können [...]. Diese Störungen interpretieren die Betroffenen in der Regel als subjektives Versagen und versuchen, die auftauchenden Studienprobleme zunächst allein zu lösen – im Gegensatz zu Studierenden der ‚68er Studentenzeit’, die ihre persönlichen Probleme in einem sehr engen Zusammenhang zu gesellschaftlichen Problemen sahen. [...] Die Möglichkeit, dass sich gesellschaftliche Probleme in psychischen Dispositionen zu Krankheiten manifestieren, die individuell als persönliches Ungenügen, Schuldgefühle, Ängste und Neurosen wahrgenommen werden, spielt in der aktuellen Diskussion über die Studiensituation keine besondere Rolle mehr“ (ebd., 55).
Hier wird auf eine intergenerationelle bzw. historische Verschiebung angespielt von dem, was im ersten Kapitel als kollektiver Habitus-Struktur-Konflikt bezeichnet wurde, hin zu intrapersonalen Habitus-Struktur-Konflikten. Dem Allem ist nicht zu widersprechen, dennoch wird darüber hinweg die Frage verschleiert, welche soziologisch nachvollziehbaren Biographien sich mit welchen Elementen des studentischen Lebens wie schwer tun. Der Verweis auf die Individualisierungstendenzen der Zeit verschleiert strukturierte soziale Differenzierungen.
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Dies drückt sich dann auch in der Diagnose der Chance aus, die in einer individualisierten Sichtweise liege: „Es zeigt sich aber auch, dass das Bewusstsein für die eigene Situation nicht im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen gesehen wird. Individuelle Bedürfnisse und das individuelle Befinden werden nicht im Zusammenhang mit der Eingebundenheit in eine soziale und gesellschaftliche Struktur gesehen. [...]. Sie [die individualisierte Sichtweise persönlicher Probleme; L.S:] eröffnet in jedem Fall auch die Chance, entsprechend dieser ‚privaten’ Sicht persönlicher Probleme individuelle Hilfen für Studierende in einem vertrauten Kontext institutionsnah anzubieten“ (ebd., 57).
Soziale Strukturen werden also nur auf der Universitäts- und Gesellschaftsseite gesehen, nicht jedoch auf der Seite der Studierenden. Die Forderung, die eigene Situation im Zusammenhang mit der Eingebundenheit in soziale Strukturen zu sehen, scheint nicht ausreichend. Erst die Analyse der Eingebundenheit bzw. Diskrepanz des Habitus – also der Leib gewordenen Strukturen – in die bzw. zu den umgebenden Strukturen verspricht, die Konflikte adäquat zu erfassen und einer Bearbeitung zugänglich zu machen. Die kulturellen Einflüsse der Studienumgebung, der Universität werden gesehen. Diejenigen, die die studierende Person in Form ihres Habitus mit sich bringt bzw. deren Verhältnisse zur Studienumgebung, bleiben ausgeblendet: „Rott (2001) betont die Vielseitigkeit von Bewältigungsformen kritischer Situationen im Studium im Hinblick auf Fragen kultureller Einflüsse der Hochschulumwelten, der Studiengestaltung und ihrer Auswirkung auf die Behandlung von Studierenden mit psychischen Störungen“ (Graf/Krischke 2004, 58).
Möglicherweise haben Graf und Krischke zwar Recht mit ihrer Kritik an Krappmann, der die Identitätsbegriffe Goffmans und Meads weiterentwickelt: „Die Darstellungen zur Identitätsentwicklung von Krappmann gehen dabei von relativ stabilen Rollen und Normen in der Gesellschaft aus. Die Betrachtung der sozialen Wirklichkeit zeigt jedoch, dass wir von einem stetigen sozialen Wandel in unserer Gesellschaft ausgehen müssen. Die fortwährenden Veränderungen, die die arbeitsteilige Gesellschaft von ihren Individuen zur Existenzsicherung abverlangt, haben ebenfalls einen starken Einfluss auf die individuelle Identitätsentwicklung“ (ebd., 21).
Demgegenüber muss aber mit Bourdieu betont werden, dass dieser vermeintliche soziale Wandel eben sozialstrukturell gebrochen stattfindet und diese sozialstrukturelle Brechung sich ihrerseits kaum wandelt, so dass die Stabilitätsannahme Krappmanns doch nicht so einfach zu verwerfen ist. Dieses Problem der
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mangelnden Berücksichtigung sozialstruktureller Ausdifferenzierung können die Autoren auch nicht durch den Verweis auf die Habermas’sche Denkfigur der (gebrochenen) Intersubjektivität lösen, die versucht Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft konzeptionell zusammenzudenken: „So bildet sich das Ich als Subjekt gleichzeitig als typisches Mitglied sozialer Kollektive und als einzigartiges Individuum. Nach dieser These realisiert Identität das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als Intersubjektivität. Habermas (1983) geht von Problemen oder Konflikten als soziale Situation aus, die einen Verständigungsbedarf bzw. Kommunikation innerhalb einer Gesellschaft bedingen“ (Graf/Krischke 2004, 16).
Dass derartige Verständigungsprozesse oder wenigstens -bedürfnisse nie in einer idealen Sprechsituation stattfinden können bzw. empirisch zu erfassen sind, wird deutlich, wenn mit dem Habituskonzept davon ausgegangen wird, dass es dominante und dominierte Sprechende gibt und dass Verständigung je nach Habitus sozialstrukturell höchst Unterschiedliches und Unterschiedenes bedeutet. Graf und Krischke greifen zwar mit dem Kommunitarismusansatz auch auf ein sozialphilosophisches Konzept in Bezug auf Identitätsentwicklung zurück, führen die Konsequenzen aber nicht weiter aus. „Im kommunitaristischen Sinn gehört zur erfolgreichen Identitätsentwicklung vor allem die Fähigkeit, in unterschiedlichen Situationen eine angemessene und damit auch variierende Distanzierungsleistung von eigenen Vorstellungen zu vollbringen. Diese Abgrenzung, dieser Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, kann nur individuell angemessen gelingen, wenn das Individuum auf die Sicherheit einer authentischen Biografie zurückgreifen kann. Im Weiteren steht hier Identität als gelungene Synthese von Individuum, Gesellschaft und Gemeinschaft“ (ebd., 16).
Hier findet sich zwar ein Anknüpfungspunkt, indem auf die ‚Sicherheit der authentischen Biographie’ zurückgegriffen wird. Es ist nämlich sehr naheliegend, dass bestimmte soziokulturelle Lagen – so die Lage von Studierenden – für manche Biographien authentischer sind (im Sinne von ‚näher’ dran an bereits Verinnerlichtem) als für andere. Aber die Trennung von Individuum und Gesellschaft, die mit dem Verweis auf eine Syntheseleistung oder ‚Distanzierungsleistung von eigenen Vorstellungen’ erfolgt, versperrt den analytischen Blick dafür, dass diese aktiven Leistungen des Individuums vor dem Hintergrund von dessen Art zu denken, wahrzunehmen, zu fühlen, handeln, bewerten stattfinden, also vor einem Hintergrund, der sehr eng mit den sozialen Bedingungen des Aufwachsens und der Entwicklung verflochten ist. Diese Bedingungen gestalten sich – dies sollte aus dem ersten Kapitel deutlich geworden sein –
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strukturiert unterschiedlich. Graf und Krischke fassen ihre Ausführungen wie folgt zusammen: „Heutige Studierende müssen doppelt krisenhafte Entwicklungen bewältigen. Neben den ohnehin krisenbehafteten spätadoleszenten Entwicklungsaufgaben muss der aktuelle soziale Wandel beachtet werden. Offene und unsichere Zukunftsperspektiven, nur kurzfristig voraussehbare Anforderungen des Arbeitsmarktes und zunehmender Zwang zur Flexibilität erschweren die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit, da es bei der Zukunftsplanung um die Planung des Unplanbaren geht. Hier soll betont werden, dass der aktuelle soziale Wandel sowohl Risiken als aber auch Chancen beinhaltet, was für die Identitätsbildung in der Spätadoleszenz von eminenter Bedeutung ist. Auf der einen Seite erschwert die gesellschaftliche Wandlungsdynamik mit den daraus folgenden Brüchen innerhalb der Biografie, der Wandel der traditionellen Werte und die Bedeutungslosigkeit traditioneller Sinnmuster die Identitätsentwicklung, indem vorgegebene biografische Entwurfsschablonen ihre Gültigkeit verlieren und keine Orientierung mehr bieten. Auf der anderen Seite beinhaltet dieser Wandel aber auch Chancen, da sich vorgegebene soziale Lebensformen, auch im Zusammenhang mit sozialer Herkunft oder geschlechtsspezifischen Rolle, immer mehr auflösen und sich so Raum für neue Lebensentwürfe ergibt. Sowohl die Entwicklung von Kreativität als auch die Entwicklung eines starken Kohärenzgefühls haben hier einen großen Stellenwert“ (ebd., 89).
Auf die empirische Fragwürdigkeit des geschilderten gesellschaftlichen Rahmens und die soziokulturelle Undifferenziertheit der Analyse der studentischen Identitätsentwicklung wurde bereits eingegangen. Ein Blick auf die Literatur zur Studienberatung hingegen macht deutlich, dass schon kurz nach den Anfängen der professionellen Studienberatung in den 1970er Jahren soziale Ungleichheit nicht nur für sich ein Thema war, sondern auch mit psychischen Problemen in Verbindung gebracht wurde (vgl. Lührmann 2002; Krüger/Steinmann 1981). Doch wurde Ungleichheit kaum als eine direkt die Person des/der Studierenden betreffende Problematik gesehen, sondern die Unterschichtherkunft als der Hintergrund für „ein – in psychoanalytischer Terminologie – rigides Über-Ich und aggressives Leistungs-Ich-Ideal“ betrachtet (Krüger/Steinmann 1981, 29, mit Verweis auf Sperling/Jahnke 1974 und Bohleber u.a. 1976). Diese Übersetzung der Ungleichheitsproblematik in eine neurotische Symptomatik auf der individuellen Ebene, führt dazu, dass bereits auf der Ebene der Diagnose, spätestens jedoch auf der Ebene der Bearbeitung nur noch die Neurose betrachtet wird und damit der Ungleichheitsfaktor aus dem Blickfeld gerät, was diesen – folgt man Bourdieu – tendenziell wirksamer macht. Dabei ist kaum vorstellbar, wie soziale Ungleichheitskomponenten des Aufwachsens der Persönlichkeit äußerlich bleiben sollten. Es ist mit Bourdieu vielmehr anzunehmen, dass in der vermeintlich neurotischen Studierendenpersön-
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lichkeit direkt – qua Habitus – soziale Ungleichheit enthalten ist. Die Dringlichkeit einer derartigen Perspektive erhöht sich durch die verstärkte Tendenz zu Individualisierungsdiskursen in Wissenschaft und Gesellschaft. Nicht nur neoliberale politische Konzepte ‚laden dazu ein’, Erklärungen von Misserfolg und Verantwortlichkeiten auf der individuellen Ebene zu suchen.39 Individuelle Konflikte werden, wenn nicht gar individual-psychologisch analysiert, so doch auf dieser Erklärungsebene bearbeitet („Sei authentisch“, „Sei ganz Du selbst“).40 2.4 Identitätskrisen von Arbeiterkindern an der Universität Anders als bei Graf und Krischke sind soziokulturelle Unterschiede zwischen der Person des/der Studierenden und dem akademischen Feld bei Haeberlin und Niklaus (1978) nicht nur Gegenstand der Betrachtung, sondern sogar Ausgangspunkt ihrer Ausführungen zum Thema Identitätskrisen. Diese tragen den Untertitel Theorie und Anwendung am Beispiel des sozialen Aufstiegs durch Bildung. Hier geht es also speziell um die Identitätsprobleme, die bei dem Überblick von Graf und Krischke per Blickwinkel gar nicht Gegenstand der Betrachtung sein können. Das heißt, hier wird nicht die besondere Krisenhaftigkeit der Lebensphase Studium aus der für mehr oder weniger alle Studierenden geltenden Adoleszenzproblematik einerseits und den ebenso für alle geltenden vermeintlich gewandelten ‚individualisierten’ gesamtgesellschaftlichen Ansprüchen sowie den widersprüchlichen Erfordernissen, die die Universität abverlangt, andererseits, ins Visier genommen. Es werden vielmehr die Identitätsprobleme einer speziellen sozialstrukturellen Gruppe in einer speziellen Konstellation unter die Lupe genommen, nämlich der Arbeiterkinder an der Universität. Diese wurden ohnehin im Zuge bildungspolitischer und reformpädagogischer Anstrengungen in den 1970er Jahren vermehrt Gegenstand der Betrachtung. 39 Nebenbei bemerkt: Heublein/Spangenberg/Sommer (2003) entdecken, dass der Anteil derer, die ihren Studienabbruch auf die Bedingungen an der Uni zurückführen von Anfang der 90er Jahre gegenüber 2001 von 16% auf etwa die Hälfte gesunken ist. Eine Interpretationsmöglichkeit, der Hadjar/Becker (2004) folgen, ist, dass auch aus Sicht der Betroffenen selbst die Studienbedingungen gar nicht so problematisch seien. Man könnte aber auch annehmen, dass Studierende im Einklang mit Selbstverantwortungsdiskursen heute eher dazu neigen, die Probleme bei sich selbst zu suchen als in äußeren Umständen. 40 Bei der Forderung nach Authentizität wird die Groteske der Ungleichheitsvergessenheit sehr deutlich. Es sei an die Szene aus dem ersten Kapitel erinnert: von der Tutorin, die „Theater spielt, unauthentisch, unsicher wirkt, die nicht ‚echt’ ist“ zu verlangen, sie solle „zu sich kommen“, bedeutet zu leugnen, dass sie sich möglicherweise wirklich zwischen den Stühlen der Herkunft und ihres aktuellen Milieus bewegt und quasi Theater spielen muss, um „sie selbst“ zu sein.
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„Kinder aus der Landbevölkerung, aus Arbeiterfamilien, aus der Unterschicht verließen ihre vertraute Umgebung und wurden mit einer neuen Lebensart konfrontiert, die ihrer bisherigen in manchem oft entgegengesetzt war und an die sie sich anpassen mussten. Sie alle wurden mehr oder weniger zu marginalen Personen“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 77).
Hier bleiben die Ausführungen allerdings eben auf diese Gruppe beschränkt, es wird lediglich abgrenzend auf Studierende eingegangen, die nicht aus Arbeiterfamilien stammen. Außerdem wird auch hier an interaktionistischen Modellen der Identität festgehalten, die die Probleme der Konfrontation zweier Welten weder ausreichend erklären noch einer Bearbeitung zugänglich machen können, bzw. es wird möglicherweise eine Bearbeitbarkeit suggeriert, die so ohne Weiteres nicht gegeben ist. Haeberlin und Niklaus beziehen zwar Bourdieus und Passerons Illusion der Chancengleichheit in ihre Analyse mit ein – eine BourdieuRezeption, die zu diesem frühen Zeitpunkt durchaus bemerkenswert ist –, sie können aber kaum auf Bourdieus Habituskonzept zurückgreifen.41 Sie nutzen diesen Text vielmehr, um das pädagogische Missverständnis bzw. das studentische und professorale Einverständnis in diesem Missverständnis, wie Bourdieu und Passeron es präsentieren, als kennzeichnend für die akademische Kommunikationssituation zu schildern. „Die Studenten denken selbst nicht daran, den professoralen Monolog zu unterbrechen, weil jener Teil ihrer selbst, der der Logik der Situation gehorcht, sie immer daran erinnert, dass sie eigentlich gar nicht da sein dürften, wenn sie nicht verstehen“ (Bourdieu/Passeron 1971, 107).
Damit verdeutlichen Haeberlin und Niklaus, wie sehr die akademische Kommunikation darauf ausgerichtet ist, das Image der Beteiligten zu wahren und ‚Zwischenfälle’ im Sinne Goffmans zu vermeiden. „Strategien der Imagepflege sind die Anpassung und die Eindrucksmanipulation. Indem diese den Status als Student garantieren, kann sowohl von einer Identitätsbehauptung (Goffman) der Studenten als auch von protektiven und defensiven Techniken der Imagepflege gesprochen werden. Die Folge dieser Techniken aber ist eine gegenseitige Mystifikation und die ständige Angst, dass das Missverständnis ent41 Das Habituskonzept – obwohl von Bourdieu zuvor schon ‚mitgedacht’ – wurde von ihm erstmals 1967 expliziert in seiner Auseinandersetzung (Bourdieu 1967) mit Erwin Panofskys ikonologischer Untersuchung Gothic Architecture and Scholasticism. „Panofskys Ergebnis, dass es eine ‚grundlegende Haltung’ gibt, die den unterschiedlichen künstlerischen Produktionen einer bestimmten Epoche eine stilistische Einheit gibt, verhalf ihm zum Durchbruch bei der ‚Erfindung’ des Habitus“ (Krais/Gebauer 2002, 24). Die systematische Rezeption Bourdieus setzte in Deutschland aber erst Anfang der 1980er Jahre ein, vor allem nach 1982, dem Jahr des Erscheinens der deutschen Ausgabe von La Distinction, Die feinen Unterschiede.
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen deckt, der Bluff42 entlarvt werden könnte. Jeder Kommilitone glaubt daran, dass der neben ihm Sitzende und Unbekannte das studentische Sein-Sollen real verkörpert und erreicht“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 85).
Was Haeberlin und Niklaus an Identitätskrisen von Arbeiterkindern an der Universität erörternswert scheint, bilden sie mit den Identitätskonzepten von Mead und Goffman bzw. deren Weiterentwicklung durch Krappmann ab. Das Reden über Identität muss damit zwangsläufig situationsgebunden, auf Reflexivität konzentriert oder zumindest ‚körperlos’ bleiben. „Eine Person findet dann ihre Identität, wenn ihr eine der Situation angemessene Selbstrepräsentation gelingt, die Diskrepanzen und Konflikte nicht verleugnet“ (ebd., 42f.). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die akademische Situation möglicherweise nicht dazu einlädt, die Diskrepanzen, die für verschiedenste Habitus – und vor allem für jene, die ihren Ausgangspunkt in den unteren Milieus des Sozialraums nahmen – zu dem akademischen Milieu bestehen, spielerisch einzubringen. Der ‚Arbeiter-Student’ im Beispiel von Haeberlin und Niklaus bezeichnet „seinen durch die andauernde Konzentration auf das Image hervorgerufenen psychischen Stress [...] als ‚eine Verkrampfung gegen die man sich intellektuell nicht wehren kann’“ (ebd., 70f.). Es stellt sich "in Anlehnung an Goffmans Ich-Identität" (ebd., 50) die Frage nach der Diskrepanz zwischen der Auffassung der Person von sich selbst und dem Image, das sie haben oder implementieren zu müssen glaubt. Hier zeigt sich, dass das Empfinden, ‚zwischen den Stühlen’ zu stehen, selbst aus der Perspektive subjektivistischer Konzepte mit einem strukturellen Hintergrund in Verbindung gebracht werden müsste. Wenn sich der eigene Habitus in Diskrepanz zu wahrgenommenen Habitusansprüchen bewegt, entsteht zwangsläufig eine Krise, die ihre Genese eben nicht nur auf der HabitusSeite hat und deshalb auch nicht ausschließlich etwa als neurotisch auf dieser Seite zu bearbeiten ist. Haeberlin und Niklaus weisen bereits darauf hin, dass die Probleme, die mit dem Bildungsaufstieg einhergehen, individualisiert und psychologisiert werden: „Die mit dem sozialen Aufstieg und der marginalen Situation einhergehenden Konflikte und Probleme werden von den Kindern aus der Unterschicht nicht als sozial bedingt erkannt, sondern werden von ihnen auf eigenes Versagen zurückgeführt und aus dem Bewußtsein und damit aus der Verbalisierungsmöglichkeit durch die Sprache verdrängt“ (ebd.).
42 Der universitäre Bluff ist Gegenstand einer eigenen Monographie von Wolf Wagner (1977), die als Bestseller gelten darf und mittlerweile in einer völlig überarbeiteten, neuen Ausgabe erschienen ist (vgl. Wagner 1977, 2007).
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Außerdem sind die Autorin und der Autor nicht blind gegenüber Strukturmerkmalen in Interaktionssituationen: „Die aggressive Verwendung von Techniken der Imagepflege ist vermutlich oft mit der Anwesenheit von Statusunterschieden und von Macht verbunden. Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind oft ein wichtiges Strukturmerkmal von Interaktionssituationen“ (ebd., 49; Hervorh. im Orig.). Hier werden allerdings ausschließlich Machtgefälle in Form von Statusunterschieden benannt, die inkorporierte Variante, also Habitusunterschiede, bleibt außen vor. Damit erfolgt eine Aufteilung in Status (bzw. objektiv: Lage) und ‚Identitätswirren’ (subjektiv: Probleme). Dabei läuft beides auf der Ebene von Habitusunterschieden zusammen, zusätzlich zu den offensichtlichen Statusgefällen. Mit dem Rückgriff auf Mead, Goffman und Krappmann gehen Haeberlin und Niklaus zwar über die Vorstellung von situationsbezogenen Diskrepanzen hinaus und können Fragen wie die folgende formulieren: „Welche sozialschichtspezifischen Erwartungen und Normen sind im 'me' des Arbeiterkindes gegenwärtig und bestimmen dessen Verhalten“ (ebd., 69)? Hier wird also einerseits deutlich, dass die Idee von Identitäts-Milieukonfrontationen nicht bloß aus den Bemühungen Bourdieus herauszuarbeiten ist, sondern auch mit den Arbeiten Meads und Goffmans aufgezeigt werden kann. Andererseits wird aber ein entscheidender Vorteil der Bourdieuschen Konzeption ersichtlich: nämlich dass ein individueller Habitus an seine kollektiven ‚Wahrscheinlichkeitsteildimensionen’ zurückgebunden werden kann. Dadurch bekommt der vermeintlich psycho-logische Identitätskonflikt eine angemessen sozio-logische Note, weil eben die soziale und vor allem strukturiert soziale Genese des höchst Individuellen in den Blick genommen werden kann. Auf der Seite der Bearbeitung oder ‚Lösung’ eines solchen Identitätskonfliktes werden zwar die Strukturanteile als gesellschaftliche Zwänge benannt, die das gesellschaftliche Handeln beschränken, der Konflikt aber nicht in seiner doppelten Strukturiertheit, nämlich als Auseinandersetzung zwischen Leib gewordenen ‚inneren’ Strukturen und milieuspezifischen ‚äußeren’ Strukturen, gesehen: „Das Bewußtsein und die Fähigkeit zur Reflexion, die sich in Meads Identitätsbegriff finden, werden von Mollenhauer aufgenommen und angewandt auf die Reflexion des Subjekts über sich selbst und über die gesellschaftlichen Zwänge, in denen es steht, um diese erkennen und ändern zu können. Emanzipation heißt dann ‚die Befreiung der Subjekte (...) aus den Bedingungen, die ihre Rationalität und das mit ihr verbundene gesellschaftliche Handeln beschränken’ (Mollenhauer 1971, S. 11)“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 52; Hervorh. und Auslassung im Orig.).
Was ist es aber, das die objektive und subjektiv empfundene Marginalität von Arbeiterkindern an der Universität ausmacht? Haeberlin und Niklaus beschreiben den Marginalisierungsprozess wie folgt:
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen „Haben Mittelschicht-Studenten43 eventuelle Möglichkeiten, die Isolierung außerhalb der Universität in ihrer Familie und in ihrem Freundeskreis zu kompensieren, so trifft dies für die Arbeiterkinder in weitaus geringerem Maße zu, denn ihre marginale Situation kann durch eine zweifache Stigmatisierung und eine vierfache Isolierung gekennzeichnet werden. Zum ersten werden sie wegen ihres ‚Ausbruchs’ von Seiten der sozialen Herkunftsgruppe stigmatisiert und isoliert, zum zweiten lehnen die Mitglieder der neuen Bezugsgruppe die Unterschicht-Kinder ab, was ebenfalls eine Isolierung mit sich bringt, zum dritten finden sich [...] Kinder aus der Unterschicht nur noch vereinzelt in höheren Bildungsinstitutionen vor, was eine zusätzliche Isolierung von ihresgleichen bedeutet, und zum vierten isolieren sich die Arbeiterkinder selbst von den anderen Studenten und Dozenten aus Angst vor einer Kommunikation, die möglicherweise ihren Status und ihre Identität bedrohen könnte [...]. Die fatale Folge aber ist, dass der sozial bedingte Konflikt als individueller empfunden wird, die sich daraus ergebenden Probleme als individuelle aufgefasst und das Nicht-Lösen-Können derselben auf ein individuelles Versagen zurückgeführt wird. Durch den sozialen Aufstieg hat das Arbeiterkind Kontakte und Erfahrungen mit beiden sozialen Lebensfeldern, der Unterschicht und der Mittelschicht, gemacht und sich zuerst mit dem einen und dann mit dem andern identifiziert. Der Konflikt zwischen beiden Bezugsgruppen wird als eine akute persönliche Spannung empfunden (Stonequist 1961, S. 4)“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 94; Hervorh. im Orig.).
Es wird also sowohl auf die Individualisierung und Psychologisierung eines sozialen Phänomens verwiesen als auch auf den individuellen Intergruppenkonflikt, den Arbeiterkinder an der Universität auszutragen haben. Ihre alte Gruppenzugehörigkeit steht im Widerspruch zur neuen. Aber auch hier gilt wieder: Handelte es sich dabei ‚nur’ um einen Konflikt zwischen zwei sozialen Identitäten, wäre das insofern nicht relevant, als dass jeweils immer nur eine soziale Identität salient wäre. Das Arbeiterkind könnte an der Universität seine neue Gruppenzugehörigkeit ‚schalten und walten’ lassen und bei einem Besuch im Elternhaus wieder das Arbeiterkind sein. Genau das funktioniert aber nicht, wie die Autorin und der Autor sehr eindrücklich darlegen. Diese Gruppenzugehörigkeiten müssen sich also auch in der personalen Identität niederschlagen bzw. – soll die körperliche Dimension nicht davon abgespalten werden – im Habitus. Es handelt sich um einen Habitus-Struktur-Konflikt. Obwohl Haeberlin und Niklaus theoretisch auf der Ebene des Identitätsbegriffes verweilen, können sie sehr gut sowohl phänomenologisch den Konflikt 43 Wenn Haeberlin und Niklaus von Mittelschicht-Studierenden schreiben, meinen sie alle Studierenden, die nicht aus einem bildungsfernen Milieu stammen. Der Begriff Mittelschicht hatte zum Zeitpunkt des Verfassens jenes Textes eine andere Bedeutung als heute und wird zudem ohnehin sehr uneinheitlich verwandt. Er wurde in den 1970er Jahren oft als Gegenbegriff zu dem der Arbeiterklasse oder der Unterschicht gebraucht.
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des Arbeiterkindes nachzeichnen, als auch Erklärungen dafür anbieten, die diesen Konflikt bereits als Habitus-Struktur-Konflikt ausweisen. Ihre Beobachtungen und Beschreibungen sind in gewisser Weise den theoretischen Konzepten, die sie verwenden (müssen), voraus. Deshalb lassen sich viele ihrer Ausführungen für das hiesige Vorhaben direkt verwenden, wenn sie von dem Identitätsbegriff losgelöst und auf das hier vorgeschlagene Konzept übertragen werden. Eine besondere Bedeutung bei der Identitätsentwicklung scheint der Sprache zuzukommen. Identität bildet sich im Anschluss an bzw. durch Kommunikation (ebd., 23). Damit ist erstens offensichtlich, dass eine Identität, die sich in bestimmten Kommunikationskonstellationen herausgebildet hat, anders ist als eine solche, die in strukturiert anderen Konstellationen entstanden ist. Zweitens ist deutlich, dass eine Identität, wenn sie mit Kommunikationssituationen konfrontiert wird, die nicht denen ihrer Entstehung entsprechen, in Konfusion gerät. „Während der ersten vier Schuljahre steht das Arbeiterkind in der Konkurrenz mit den Kindern aus der Mittelschicht und muss diesen, aufgrund seiner anderen Sprache, seines anderen Erfahrungsschatzes, seiner problematischen Beziehung zum Lehrer und aufgrund seiner mangelnden Möglichkeit, von seiner Sprache entsprechenden Gebrauch machen zu können, unterliegen. Aus seiner Bezugsgruppe, aus der es Selbstvertrauen und Identität gewinnt, herausgerissen, macht das Arbeiterkind aus hilfloser Loyalität mit seiner sozialen Herkunftsgruppe den Mund nicht auf, es verweigert sich. [...] Die Arbeiterkinder werden mit Maßstäben gemessen, bei denen die anderen Kinder ihnen von vornherein voraus sind“ (ebd., 153).
Haeberlin und Niklaus verweisen dabei nicht nur darauf, dass das Arbeiterkind bereits für die Schule die ‚falsche’ Identität bzw. Sprache mitbringt, sondern dass zudem diese auch weniger Freiheitsgrade ermöglicht. Sie verweisen auf Bernsteins (Bernstein 1975, Bernstein/Brandis/Henderson 1973) Konzept des ‚restringierten Codes’, um die Art und Entstehung der Sprache des Arbeiterkindes zu kennzeichnen: „Der restringierte Code des Arbeiterkindes bindet es in der Darstellung seiner personalen und sozialen Identität eng an sein Lebensfeld, so dass von einer ‚kontextgebundenen Identitätsdarstellung’ gesprochen werden kann“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 132). Im Gegensatz dazu wird der Spracherwerb von Kindern aus bildungsnäheren Milieus als größere Spielräume gewährend skizziert. „Die Angehörigen der Mittelschicht sind, wie Schatzmann und Strauss zeigen, gewöhnt, dass ihre Erfahrungen von denen der Interaktionspartner abweichen können. Die Notwendigkeit, auch solche Interaktionen aufrecht zu erhalten, zwingt die Mittelschicht-Personen daher, viele ihrer Vorstellungen, Ideen und Bedürfnisse verbal zu erläutern, und zwar in abstrakten Begriffen, von denen angenommen wer-
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen den kann, dass sie dem zunächst fremden Kommunikationspartner auch bekannt sind“ (ebd., 132f.; Hervorh. im Orig.).
Dies korrespondiert mit der Vorstellung, dass für Menschen, die sich weiter oben im Bourdieuschen Sozialraum befinden, eine Identitätskrise unabhängig davon, ob sie für diese Gruppe unwahrscheinlicher ist oder nicht, eher durch ‚individuelle Leistung’ gelöst werden kann. Für diesen Teil des Sozialraums trifft möglicherweise das in seiner Verallgemeinerung zu kritisierende Uminterpretieren der Individualisierungs- zu einer Individuierungsthese dann doch zu, wie oben schon vermutet wurde. Hier sind „Erfahrungen [...] individuelle Erfahrungen und verwendete Symbole sind ebenfalls individuelle Symbole“ (ebd., 133). Dort (also unten im Sozialraum) hingegen sind Erfahrungen kollektive und Symbole ebenso, selbst wenn die große Auswahl an Symbolen Wahlfreiheit und Individualität suggeriert. Für das Arbeiterkind bedeutet dies: „Die soziale Umwelt, in welcher das Kind Erfahrungen macht, kann eine Sprache anbieten, die nur ein begrenztes Nachdenken über die sozialen Erfahrungen zulässt. Es kann unter Umständen sehr stark von der angebotenen Sprache abhängen, wie weit eine ‚Befreiung durch reflexive Selbstverständigung’ gelingen kann“ (ebd., 113; Hervorh. im Orig.).
Hier findet sich bereits ein Hinweis auf die Frage, inwieweit das, was Bourdieu kognitive Spielräume nennt und was Habitus-Struktur-Zusammenhänge einer Reflexion zu unterziehen ermöglicht, selbst ungleich verteilt ist und in Form von unterschiedlichen Habitus körperliche Niederschläge findet.44 Es wird also auf eine mehrfache Benachteiligung verwiesen: Arbeiterkinder sind weiter weg vom akademischen Milieu. Es besteht also ein größerer Bedarf, die eigenen Erfahrungen zu verbalisieren, aber genau dazu sind sie weniger in der Lage. Zur Verdeutlichung erlaube ich mir ein etwas militaristisches Bild: Arbeiterkinder müssen gewissermaßen nicht nur in unbekanntem Gelände kämpfen, sondern sind verpflichtet, ihre Waffen abzulegen, die aber zu ihrem Körper dazugehören und damit nicht so einfach abzulegen sind. Sie haben darüber hinaus weniger Ahnung, welche die passenden Waffen sind, wie man an diese herankommt – sie kommen objektiv auch schlechter heran – und sie bedient. Selbst wenn sie 44 An dieser Stelle möchte ich auf ein Gespräch mit einem Sozialtherapeuten verweisen, in dem dieser mir von seiner Arbeit mit Gefängnisinsassen berichtete. Er versuche mit diesen ein Gespräch zu führen, in dem die jeweiligen Habitus sowie die Felder, in denen die Betroffenen aktiv waren, zur Sprache kommen, um dann ausloten zu können, inwieweit Diskrepanzen bestanden. Dieses Vorhaben stoße – so der Sozialtherapeut – einige Male an die Verbalisierungsgrenzen der Betroffenen.
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dies könnten, wären diese ‚adäquaten Waffen’ bei ihnen weniger wirksam als bei Akteuren, die den Umgang mit diesen Waffen schon früher verinnerlicht haben. Demgegenüber ließe sich argumentieren, dass der Sprachcode, den Kinder aus bildungsfernen Milieus sich aneignen, für ihre Lebenssituationen adäquat ist. Er ist eng verbunden mit ihrem sens pratique, mit dem quasi-intuitiven Bewältigungswissen für ihre Praxen in ihren relevanten Handlungsfeldern. „Mit Recht kann man einwenden, dass die Kompetenz zur Identitätsdarstellung, die in einem Lebensfeld erlernt wurde, für dieses ausreichend ist. So gesehen ergeben sich auch für ein Arbeiterkind keine Identitätsprobleme, wenn es in seinem subkulturellen Milieu verbleibt. Sprach- und Identitätsprobleme stellen sich erst ein, wenn Kinder aus der Unterschicht in mittelschichtspezifischen Bildungsinstitutionen anhaltend mit Situationen konfrontiert werden, in denen elaboriertes Sprachverhalten und eine situationsunabhängige Darstellung von ‚Ich-Identität’ verlangt werden“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 134).
Bei dem ‚Aufeinandertreffen’ von Studierenden aus bildungsfernen Milieus mit der Universität geht es aber um eine angestrebte – und nicht nur temporäre – Teilhabe an einem fremden Milieu, also um den ‚Schuster, der nicht bei seinen Leisten bleibt’. Selbst wenn Studierende aus bildungsfernen Milieus erfolgreich sind, steht ihre Identität auf wackeligen, weil einseitig abhängigen und widersprüchlichen Beinen: „Der Verlust der Rollendistanz erklärt sich daraus, dass das studierende Arbeiterkind in der ‚marginalen’ Situation sein Selbstwertgefühl allein aus dem Erfolg seines sozialen Aufstiegs bezieht, der es in hohem Maß von der den Aufstieg allein ermöglichenden Bildungsinstitution abhängig macht.45 Das Begnügen mit Verstehen-/Anpassen-Wollen lässt auf eine Identifikation mit der Entfremdung von sich selbst schließen. Letztere ist aus der eigenen Stigmatisierung der Arbeiterkinder ersichtlich. Indem sie selbst ihre soziale Herkunftsgruppe ablehnen, übernehmen sie die sozial erfahrene Stigmatisierung der neuen Bezugsgruppe, führen sie selbst bei sich durch und lehnen ihre im frühkindlichen Sozialisationsprozess erworbene Identität und Sprache und einen Teil ihrer Erfahrungen der persönlichen Identität ab“ (ebd., 95).
Die empirischen Untersuchungen zu Arbeitertöchtern an der Universität rekurrieren nicht nur auf den restringierten Sprachcode, sondern auf eine komplette
45 Für den Aufsteiger ist Bourdieu zufolge nicht nur kennzeichnend, dass man ihm die Kletterei ansieht (Bourdieu 1985, 13), sondern, dass er auf die Bildungsinstitution schwört, der er ‚alles’ zu verdanken hat (vgl. Bourdieu 2003, 64), was eben auf diese Abhängigkeit zurückzuführen ist.
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‚proletarische Art der Theoriebildung’, die viel stärker auf persönliche, kollektive Erfahrungszusammenhänge angewiesen ist: „Jenseits dieser hier formulierten Aussichtslosigkeit von Arbeitertöchtern, an der Universität einen Ort zu finden, an dem sie sich wiederfinden können, fokussiert Bublitz in ihrer Forschungsarbeit die Unmöglichkeit des Gelingens aufgrund unterschiedlicher Prozesse der Theoriebildung. Arbeitertöchter würden durch die Unterschiedlichkeit zwischen bürgerlicher und proletarischer Theoriebildung zerrissen: Sie verlieren ihr Bewusstsein, den Kontakt zur Realität, zu ihrem Körper, Denken und Sprache: Ihre Theoriebildung sei anarchisch, direkt und aktuell“ (Haas 1999, 39).46
Bublitz charakterisiert proletarisches Denken als gemeinschaftliches und bürgerliches Denken als individualistisch. Auch dies korrespondiert mit meinen Beobachtungen und den hier bereits angestellten Überlegungen vor allem zur Anwendung, Deutung und zum ‚Zutreffen’ der Individualisierungsthese. Oben im Sozialraum geht es vermeintlich freiheitlicher und individualistischer zu als unten. „Die Überlagerung des proletarischen-gemeinschaftlichen Denkens durch das bürgerliche-individuelle Denken führt zu Reibungen, die Kräfte scheinbar für nichts, ohne sinnvolles Ergebnis verbrauchen. Dadurch können sie auch nichts festhalten, ihre Erfahrungen in feste, geordnete Begriffe und theoretische Aussagen fassen. Ihre Theoriebildung ist ‚anarchisch’, – sie verändert sich spontan mit jeder Veränderung der Situation und der eigenen Empfindung: sie ist überhaupt nicht in einen Begriff zu fassen oder auf eine einheitliche Logik zurückzuführen. Sie ist der direkte Ausdruck ihres Lebens, das ständigen Schwankungen und unberechenbar wechselnden Anforderungen unterliegt. Sie basiert auf zeitlich bedingten und zeitlich veränderbaren Assoziationen, die direkt aus ihrem Handeln und ihren Erfahrungen entstehen. Ihre Begriffe sind vorübergehende Verbindungen zwischen ihrem Tun und den Erfahrungen, die sie dabei mit Gegenständen und Menschen machen“ (Bublitz 1980, 308; zit. nach Haas 1999, 39).
Es wird also keinesfalls eine neue Beobachtung sein, dass Studierende aus hochschulbildungsfernen Milieus stärker auf persönliche Kontakte und personenbezogene Anerkennung angewiesen sind und ihre Lerntechniken stärker personenbezogen sind. „Erfahrungen mit Lebenssituationen und folglich mit Menschen zu verknüpfen, das nennt Bublitz das Charakteristikum von proletarischer Theoriebildung, die sie ‚assoziative Theoriebildung’ nennt“ (Haas 1999, 39). Haas zitiert Bublitz in diesem Sinne: 46 Die etwas altbacken und martialisch anmutende Rede von ‚Arbeiterkindern’ und ‚proletarischer Theoriebildung’ darf über die Aktualität der beschriebenen Befunde nicht hinwegtäuschen.
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„Ihr kognitiv-sinnlicher Ausdruck, die Assoziation von Erfahrung, Anschauung und Begriff, entspricht der Organisationsform proletarischer, kollektiver Erfahrung. ‚Proletarische Theoriebildung’ oder ‚Arbeiter-Theorie’ unterscheidet sich von der wissenschaftlichen Erkenntnis dadurch, daß sie die Ebene der konkreten Erfahrung nicht verläßt und daß Begriffliches in der Erfahrung entsteht und veranschaulicht wird. Die Produktion und Aneignung von Wissen bilden hier ein einheitliches Lernprinzip, in dem es keine Trennung von Erfahrung und Abstraktion gibt. Proletarische Theorie ist eingebettet in die soziale Praxis, in ein Geflecht von Beziehungen, die den proletarischen Lebenszusammenhang ausmachen“ (Bublitz 1992a, 12; zit. nach Haas 1999, 39f.).
Haas’ eigene empirische Untersuchung beschreibt dabei nicht nur HabitusStruktur-Konflikte: „Diese unerklärliche Schwäche wird sie [eine der befragten Arbeitertöchter; L.S.] allerdings auch weiterhin begleiten und zu weiteren Krisen auch an der Universität führen. Diese Krisen nehmen so dramatische Auswirkungen an, daß sie auch an den Abbruch des Studiums denkt und diese Krisen haben durchaus mit ihrer Herkunft zu tun: Sie hält nicht nur dem Leistungsdruck nicht stand, sie hält den verinnerlichten Hierarchiestandards nicht stand“ (Haas 1999, 157).
Darüber hinaus verweist sie bereits auf einen Begriff von Arbeit, über den Arbeiterkinder verfügen, der der zunächst ergebnisoffenen, nicht unbedingt auf einen direkten Zweck gerichteten Vorstellung von Arbeit im akademischen Feld entgegensteht. „Es ist kein Zufall, dass Albert mehrere Umwege gehen muss, bis er für sich eine Entscheidung treffen kann. Er thematisiert auch die grundsätzlich schwierige Beziehung, die er vor allem aufgrund seiner Herkunft zur Bildung aufgebaut hat. Er hat gelernt, daß nicht zielorientierte und zweckgerichtete Bildung keine Arbeit ist, und dieses Sozialisationsergebnis prägt auch heute seine Einstellung“ (Haas 1999, 161).
In diesem Zusammenhang werden die fehlenden Kulturtechniken als ein gravierendes Problem für Arbeiterkinder geschildert (vgl. Haas 1999, 157 ff.). Diese fehlenden oder besser je nach sozialer Herkunft unterschiedlichen Techniken des Lernens hat Helmut Bremer unter Rückgriff auf Bourdieu untersucht und dabei ausgewiesen, dass einige neuere didaktische Konzepte, wie jenes des ‚selbstgesteuerten Lernens’ nur für Habitus aus den oberen Milieus des Sozialraums geeignet sind und dass bei der Entwicklung und Umsetzung von Didaktiken nach (strukturiert) unterschiedlichen ‚Lernselbsten’ gefragt werden müsste – etwa weil Akteure aus bildungsfernen Milieus stärker auf erfahrungs- und personenbezogenes Lernen angewiesen sind (vgl. Bremer 2004).
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Umgekehrt kann eingewandt werden, dass auch Kinder aus hochschulbildungsnahen Milieus sowohl mit Eintritt in die Schule als auch in die Universität etwas Neues verarbeiten müssen und ihre Identität in die Krise gerät. „Natürlich haben auch die Kinder aus Mittelschichtfamilien beim Wechsel zwischen Familienwelt und Schule eine Identitätskrise zu verarbeiten. Aber es kann davon ausgegangen werden, dass in der Regel die Sozialisation in der Mittelschicht günstigere Voraussetzungen für eine Behauptung der Identität in der Bildungsinstitution Schule bietet als die Sozialisation in der Unterschicht. Zwar stehen schulische und familiäre Erfahrungen auch hier oft bruchstückhaft nebeneinander, aber diese Brüche befinden sich doch innerhalb eines gleichen kulturellen Milieus. Mit dem elaborierten Code verfügt das Mittelschicht-Kind über universalistische Bedeutungen und über die vermehrte Fähigkeit zur Abstraktion vom realen Kontext, was ihm bei der Bewältigung der Vermittlung von Schule und Familie nur von Nutzen sein kann“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 148).
Hier wird deutlich, dass der soziale Aufstieg noch einmal andere ‚Qualitäten’ hat als der soziale Abstieg. Nicht nur, dass die betreffende Person im letzten Fall einen sicheren, legitimeren Habitus aufweist, der das ‚Höhere’ an sich verkörpert, sondern dieser bietet auch mehr Handlungsfreiheitsgrade. An dieser Stelle sei der Vorgriff auf die empirischen Befunde wiederholt: es zeigt sich eine Unterscheidung zwischen ‚neu’ und ‚fremd’. Was für StudienanfängerInnen aus bildungsnahen Milieus an ihrem universitären Leben als neu empfunden wird und mit Unsicherheiten, Hoffnungen und vor allem aber mit Neugierde erwartet und als integrierbar, gestaltbar und potenziell bereichernd erlebt wird, stellt sich Studierenden aus bildungsfernen Milieus eher als etwas ‚Neues’ im Sinne von etwas ‚Fremdem’ dar. Hier dominiert dann nicht nur das Gefühl, abgelehnt zu sein, sondern darüber hinaus steht das ‚Neue’ mit extremer Unsicherheit und massiven Zukunftsängsten in Verbindung. Das Fremde scheint schwer integrierbar und Regression generierend. Freilich wird in dem Bild, das Haeberlin und Niklaus zeichnen, der elaborierte Code etwas euphemistisch dargestellt. Bourdieus Untersuchungen (1982, v.a. 405ff.) weisen aus, dass auch dieser Code in gewisser Weise ein restringierter ist, der alles andere als interessefrei, etwa um der reinen Wissenschaft, Kunst etc. Willen zur Anwendung kommt. Aber er wurde erstens in Milieus entwickelt, die in den entsprechenden oberen Feldern des Sozialraums definitionsmächtig sind, also dort das Doxische verkörpern, zweitens ist dieser Code näher an dem Feld dran, um das es hier geht, drittens hat er mehr Freiheitsgrade und ermöglicht von daher eher Bluff-Strategien, die gar nicht mal bewusst als solche empfunden werden müssen. Viertens geht dieser Code bzw. der durch ihn zum Ausdruck gebrachte Habitus einher mit einem größeren Legitimitätsempfinden, einer größeren Selbstsicherheit. Ein (Herkunfts-)Arbeiter fühlt sich in einem
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Sterne-Restaurant mit größerer Wahrscheinlichkeit deutlich unwohler als ein (Herkunfts-)Akademiker bei McDonald’s. Kulturelle Praxen, die weiter unten im Sozialraum angesiedelt sind, können vermutlich leichter von ‚oben’ angeeignet werden als umgekehrt. Sie verraten dann, in der Art und Weise, wie sie zur Anwendung gebracht werden, doch wieder den höheren Status der betreffenden Person. Umgekehrt – etwa, wenn ein kleinbürgerlicher Habitus eine hochkulturelle Praxis zu imitieren versucht – fällt er gerade durch die Ängstlichkeit, die fehlende Gelassenheit oder die Überzogenheit auf und verrät damit seinen niedrigeren Status. Freilich können Habitus-Struktur-Konflikte auch in der anderen Richtung auftreten, dürften sich dann aber nicht so extrem äußern bzw. leichter bearbeitet werden. Es ist beispielsweise denkbar, dass ein Studierender mit einem freiheitlich-legitimen Habitus, also etwa mit bildungsbürgerlicher Herkunft, in einem relativ verschulten, stark strukturierten Studienfach auch einen Habitus-Struktur-Konflikt erlebt, den er aber vermutlich leichter bearbeiten kann, indem er das Studienfach wechselt, seinen ‚Freiheitsdrang’ außerhalb des Studiums auslebt etc. Er hat mehr Möglichkeiten, auf den Konflikt zu reagieren und mit großer Wahrscheinlichkeit ein weniger rigides Über-Ich, das einen potenziellen Studienfachwechsel nicht so stark sanktioniert, wie dies bei Studierenden aus bildungsfernen Milieus häufiger zu vermuten ist.47 Zwischenfazit Als Zusammenfassung der bisher vorgestellten Literatur lässt sich festhalten, dass die allgemeine Problematik der ‚Lebensphase Studium’ bezüglich der Identitätsentwicklung unter psychologischen und soziologischen Gesichtspunkten gesehen wird. Es wird nicht bloß auf die zeitliche Überschneidung mit der Spätadoleszenz verwiesen, sondern sowohl die vermeintlich gewandelte Gesellschaft mit ihren zunehmenden Individualisierungen und (erwerbs-) biographischen Unsicherheiten berücksichtigt, als auch die Universität als Ort des Einschnitts und der Widersprüche gekennzeichnet. Einschnitt meint hier, dass Studienanfänger in der Regel den Familienverbund und den Heimatort verlassen, genauso wie den Anerkennung ermöglichenden Rahmen des schulischen Klassenverbundes. Dies ist gleichbedeutend mit der Anforderung, Verantwortung für Lebensplanung und Haushaltsführung zu übernehmen. Dieser Einschnitt wird dadurch verstärkt, dass Studierende nicht nur ein neues Leben lernen müssen, sondern aufgrund mangelnder Erfahrung noch gar nicht wissen, welche Art von sozialen 47 Damit sei nicht ausgesagt, dass nicht auch hier Gewissensbisse auftreten können und dass die bildungsnähere Herkunft quasi Konfliktfreiheit garantiert. Ganz im Gegenteil ist bekannt, dass beispielsweise die Macht der Väter die Krankheit der Söhne induzieren kann (Kreckel 1997).
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Kontakten und kulturellen Elementen ihnen wichtig sind und wie sie sich diese aufbauen können. Widersprüche heißt, dass das Studium als Lebensphase einerseits trotz der Volljährigkeit der Studierenden ein psycho-soziales Moratorium darstellt, eine Art Probe- oder Spielraum der Adoleszenz für ein späteres erwachsenes Dasein. Es werden von Studierenden keine weiteren Elemente gesellschaftlicher Teilhabe erwartet. Andererseits sind Studierende mit restriktiven Regeln und finanziellen Abhängigkeiten konfrontiert, die auf ein kindliches Dasein verweisen, jedoch gleichzeitig mit enormen Strukturierungsanforderungen, die erwachsenes Agieren voraussetzen. Zudem wird die Universität als Institution geschildert, die kaum als positiver Verstärker im verhaltenspsychologischen Sinne fungiert. Dass diese psychologischen und sozialen Faktoren sich sozialstrukturell – je nach Habitus der Studierenden – sehr unterschiedlich auswirken, also ihrerseits soziologisch zu betrachten sind, bleibt ausgeblendet. Es wird zwar gesehen, dass „psychische Störungen bei Studierenden aus einem Ungleichgewicht zwischen biografisch bedingten und gesellschaftlich vermittelten Anforderungen durch das Studium resultieren [können]“ (Graf/Krischke 2004, 8). Dass das biographisch Bedingte jedoch sozialstrukturell ausdifferenziert ist, wird nicht erörtert. Die Individualisierungstendenz bezieht sich konsequenterweise dann auch auf die Seite der Konfliktbearbeitung, also auf das, worin die Aufgabe der psychologischen Beratung gesehen wird. „Der individuellen psychologischen Beratung und Therapie kommt dabei die Aufgabe zu, die betroffenen Studierenden mit ihren persönlichen Ressourcen, Einstellungen und Zielen vertraut zu machen. Gemeinsam mit Psychotherapeuten wird eine individuelle Strategie erarbeitet, wie die Anforderungen aus der Studiensituation auf der Basis eines ursächlichen Verständnisses der bisherigen persönlichen Entwicklung und ggf. durch ein zusätzliches Training neuer Fähigkeiten bewältigt werden kann“ (ebd.).
Dort, wo unter dem Stichwort ‚Identitätskrisen’ doch explizit auf die sozialstrukturelle Gruppe der Arbeiterkinder an der Universität eingegangen wird, verweilt die Analyse bei Identitätsbegrifflichkeiten und damit in Verbindung stehenden Konzepten. Diese Aussage ist insofern tautologisch bzw. das skizzierte Vorgehen insofern verständlich, weil es dort ja um Identitätskonflikte gehen soll. Sowohl die Beschreibungen, wie diese Konflikte aussehen, als auch die Erklärungsangebote verweisen indes bereits auf die Notwendigkeit eines Konzeptes, das Identität weder von ihrer soziokulturellen Entstehung loslöst noch Körper, Geist und Psyche künstlich trennt. Deshalb können die Analysen und Beobachtungen Verwendung finden, wenn sie in ein Modell von HabitusStruktur-Begegnungen eingebettet werden.
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Das Problem lässt sich letzten Endes auf die Verwendung von Identitätskonzepten einerseits und prägenden Strukturen des Aufwachsens sowie Strukturen der Umgebung andererseits unter mangelnder Berücksichtigung der Tatsache, dass Identität bereits strukturiert ist, einkochen. Eine Synthese dieser beiden Untersuchungsgruppen, der Literatur zu Studium und sozialer Herkunft einerseits und derjenigen zu Studium und Identität andererseits unter der leitenden Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten scheint hier vielversprechend zu sein. 2.5 Von der Identität und der Sozialisation zum Habitus Eine derartige Übersetzungsleistung bzw. eine Brücke von Identitätskonzepten zu einem soziokulturellen Ansatz versucht Jürgen Wittpoth (1994) zu bauen. Er bezieht sich dabei zwar nicht auf vermeintliche Identitätskonflikte Studierender, sondern allgemein auf die Sozialisation Erwachsener, kann aber überzeugend die „Sozialisation als Entwicklung des Selbst“ im Anschluss an Mead um Aspekte der „Sozialisation als Habitualisierung“ unter Rückgriff auf Bourdieu erweitern und damit auf präreflexive Komponenten der Identitätsentwicklung bzw. Sozialisation verweisen, die sowohl bei Graf und Krischke (2004) als auch bei Haeberlin und Niklaus (1978) unterbelichtet bleiben. Dass nun von Sozialisation gesprochen wird und weniger von Identität, ist darauf zurückzuführen, dass Wittpoth erstens „Identität als Produkt von Sozialisation“ bestimmen kann (Wittpoth 1994, 31ff.) und zweitens die Verwendung von Identitätskonzepten dazu neigt, einen absoluten Hort des Subjektiven zu unterstellen. Wittpoth weist dabei jedoch selbst mit Rekurs auf Krappmann auf die schon angesprochene Problematik nicht nur des Identitäts-, sondern auch des Sozialisationsbegriffes bzw. auf eine verzerrte Mead-Rezeption hin. Selbst wenn das Konzept des role-taking – also die Vorstellung, dass Rollen zur Übernahme bereit stehen und einfach nur ergriffen werden – dazu verwendet würde, um ‚gesellschaftliche Übermacht’ in Form von Verhaltenserwartungen zum Ausdruck zu bringen, herrsche hier doch eine Vorstellung vor, Gesellschaft beeinflusse qua Sozialisation; das Individuum werde offenbar „als unabhängig von ihr existierend angenommen“ (Krappmann 1985, 158; nach Wittpoth 1994, 54). Noch offensichtlicher sei jedoch die verkürzte Rezeption, „die Mead als Kronzeugen gegen solche ‚gesellschaftliche Übermacht’ aufzubauen versucht, und gerade dieser Strang ist in der (Erwachsenen-) Pädagogik dominant“ (Wittpoth 1994, 54; Hervorh. im Orig.). Mit letzterem ist der subjektzentrierte Strang gemeint, der Akteure als freie Gestaltende ihrer Biographien konzipiert und damit gerade vorhandene Unfreiheiten reproduzieren hilft.
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Ullrich Bauer hat unlängst erneut auf die Dominanz subjektzentrierter Ansätze in der Sozialisationsforschung verwiesen (Bauer 2004). Diese haben sich zwar aus verständlichen Gründen von objektivistischen Ansätzen – wie strukturfunktionalistischen Konzepten und dem marxistisch orientierten Ansatz der schichtspezifischen Sozialisation – abgegrenzt. Das Pendel sei nun aber in das andere Extrem ausgeschlagen, welches Subjekte als freie, unabhängige Gestalter ihrer Lebenswelten begreift. Bauer (2002) kritisiert vor allem das Konzept der Selbstsozialisation, wie es Jürgen Zinnecker (2000) vorgelegt hat. „Die richtige Einsicht, dass keine einzige individuelle Handlung aus objektiven Strukturen abgeleitet werden kann, die Abkehr jener Annahme des übersozialisierten Subjekts, ist in ihr Gegenteil umgeschlagen. Die in der Sozialisationsforschung zu Recht unhintergehbare Prämisse einer dissipativen, d.h. entwicklungsoffenen Struktur der Persönlichkeitsentwicklung ist mittlerweile vollkommen exaltiert“ (Bauer 2004, 62).
Dieser Subjektzentrismus wurde schon von Wittpoth kritisiert: „Nennenswerte Spielräume des Subjektes (voraus-) zu setzen, gehört offensichtlich so sehr zur Doxa (auch des Wissenschaftsbetriebes), daß eine entsprechende Grundposition keiner weiteren Begründung zu bedürfen scheint. Dies überrascht, weil die Vorstellung vom Menschen als seiner Natur, seinem Wesen nach (zumindest relativ) unbedingt und frei eine zutiefst religiöse ist. Wie kann man ihn den innerweltlichen Verstrickungen enthoben denken, wenn nicht als transzendentales (göttliches) Gegenüber“ (Wittpoth 1994, 87f.)?
Wittpoth führt aus, dass das Festhalten an gängigen Identitätskonzepten problematisch sei. Mit der Meadschen Konzeption des Selbst und mit dem Bourdieuschen Habitus-Ansatz entwickelt er eine alternative Sichtweise auf Interkulturalität und den Umgang mit Fremdem, die auch für die Analyse und Bearbeitung der Interkulturalität der Habitus-Struktur-Begegnung beim Studieren genutzt werden kann. „Identitäts-Konzepte lenken den Blick in eine problematische Richtung. Sie konstruieren einen Kern unversehrter Subjektivität, weisen zumindest einen Weg, auf dem dieser Zustand erreichbar zu sein scheint. Leibliche Bindungen, gewohnheitsmäßige präreflexive Anteile der Interaktion werden definitorisch außer Kraft gesetzt. Die von Mead beschriebene Spaltung des Selbst wird lediglich überspielt, es werden Illusionen von Identität produziert“ (Wittpoth 1994, 132).
Auch wenn Mead den Fokus eher auf die reflexiven Anteile des Selbst gelegt hat, kann seine Konzeption mit Rekurs auf das ‚Me’ dazu verwendet werden, das Präreflexive, Verinnerlichte im Umgang mit dem Fremden zu thematisieren.
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Dies unternimmt Wittpoth dann unter Rückgriff auf das Habituskonzept. Es wird ausgeführt, dass die Entstehung des Selbst nach Mead bereits auf Gesellschaft angewiesen ist: „Wir müssen also ‚andere sein, um wir selbst sein zu können’ (GA1, 327), und das Selbst ‚ist nicht etwas, das zuerst existiert und dann in Beziehung zu anderen tritt. Es ist sozusagen ein Wirbel in der gesellschaftlichen Strömung und somit immer noch ein Teil dieser Strömung’ (GIG, 225). Es kann nur dort entstehen, ‚wo ein sozialer Prozeß vorliegt, in dem das Selbst seine Veranlassung findet’ (SP, 83)“48 (Wittpoth 1994, 59).
Es wird zudem verdeutlicht, dass von Individuen eingenommene ReaktionsHaltungen nicht völlig durch die betreffende Interaktionssituation bestimmt sind, sondern auf Erfahrungen verweisen: „Diese Reaktions-Haltungen werden von einer Vorstellung begleitet, ‚die aus vergangenen Erfahrungen stammt, in denen diese Reaktionen ausgeführt wurden und schließlich zu den Erfahrungen führten, die ein derartiger Reiz zwangsläufig am Ende nach sich zieht. Das heißt, eine Wahrnehmung involviert als solche also nicht nur die Haltung, auf einen Reiz zu reagieren, sondern auch die Vorstellung vom Resultat der Reaktion’ (PdS, 102)“49 (ebd., 60).
Damit aber wird deutlich, wie sehr das ‚Me’ bei der Entstehung und Entwicklung des Selbst eine Rolle spielt. Es ist also keine Interaktion vorstellbar, bei der allein das biologische Individuum zum Tragen kommt, bei der bereits gemachte Erfahrungen, die im ‚Me’ verankert sind, außen vor blieben. Das heißt, dass Identität keine unveränderbare, gesellschaftslose Kerngröße darstellt, sondern dass sie erstens immer erst in der Interaktion mit anderen entsteht und entwickelt wird. Zweitens emergieren diese Interaktionen und die damit verbundenen Haltungen nicht aus dem Nichts, sondern werden immer auch durch alte Erfahrungen, die sich im ‚Me’ niedergeschlagen haben, geprägt. Wittpoth (1994, 63) zitiert Mead: „Wir alle haben bestimmte Gewohnheiten, [...] derer man sich aber nicht bewusst wird. Sie bedeuten nichts für uns [...]. Es gibt ganze Bündel solcher Gewohnheiten, die nicht in das bewusste Selbst eindringen, die aber zur Bildung des sogenannten unbewußten Selbst beitragen“ (GIG, 205).
48 Die Literaturabkürzungen bei Wittpoth stehen für: GA1 = Mead 1987 (Gesammelte Aufsätze); GIG = Mead 1973 (Geist, Identität und Gesellschaft); SP = Mead 1969 (Sozialpsychologie). 49 PdS = Mead 1969a (Philosophie der Sozialität).
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Dies bedeutet umgekehrt nicht, dass die präreflexive Kommunikation sich auf das unmittelbare Verhalten beschränkt. „Sie ist maßgebliches Medium der sozialen Organisation unmittelbaren Verhaltens, ragt aber ebenso in den Bereich des intelligenten Handelns hinein, weil der Austausch signifikanter Symbole nicht von präreflexiver Gestik getrennt vonstatten gehen kann. Es lässt sich also mit Mead sagen, dass das zielgerichtete rationale Handeln sich aus einem diffusen Feld gewohnheitsmäßigen Verhaltens abhebt. Ein Anlaß ist dafür erst gegeben, wenn das gewohnheitsmäßige Verhalten durch das Auftauchen eines Problems gehemmt wird. [...] Der Handlungsablauf wird unterbrochen, ‚intelligente’ Lösungen müssen ausdrücklich gefunden werden. ‚Die Situation, aus der heraus sich die Schwierigkeit, das Problem ergibt, ist eine Situation mangelhafter Anpassung zwischen Individuum und seiner Welt. Die Reaktion befriedigt dann nicht die Bedürfnisse, die dem Reiz seine Macht über den Organismus gaben’ (PdS, 106)“ (Wittpoth 1994, 63).
Hier wird deutlich, dass bereits mit Mead festgehalten werden kann, dass im Selbst verankerte Erfahrungen für gewohnheitsmäßiges Verhalten, aber auch für intelligentes Handeln eine Rolle spielen. „Einerseits können wir also ‚sehr genau zwischen Selbst und Körper unterscheiden. Der Körper kann vorhanden und sehr intelligent tätig sein, ohne daß ein Selbst in der Erfahrung auftritt’ (GIG, 178). Gleichwohl spielen sich unmittelbares und reflexives Verhalten nicht auf verschiedenen Ebenen ab, ‚sondern wirken ständig aufeinander ein und stellen, in den meisten Fällen, eine Erfahrung dar, die keine deutlichen Trennungslinien aufzuweisen scheint’ (GIG, 397)“ (Wittpoth 1994, 64).
In die Bourdieusche Terminologie übersetzt und auf die Situation von Studierenden bezogen, bedeutet dies, dass die vergangenen Erfahrungen und Symbole, die sich im Habitus niedergeschlagen haben, in dem neuen Mikrokosmos des Studierens nicht einfach wegfallen, sondern präreflexiv Verwendung finden. Dabei dürfte bei allen StudienanfängerInnen der Anteil an Situationen groß sein, bei denen aufgrund der mangelnden Passung des Erworbenen zu den Ansprüchen des Gegebenen Reflexivität einsetzen muss. Aus dem Zitat wird aber auch deutlich, dass dieses dann zum Tragen kommende ‚intelligente’ Handeln nicht zu trennen ist von dem, was sich im ‚Me’ bzw. im Habitus bereits verankert hat. Es bleibt zu vermuten, dass trotz des für alle Studierenden großen Anteils an neuen Handlungssituationen, von Studierenden aus hochschulbildungsnäheren Milieus diese eher präreflexiv bedient werden können als von Studierenden aus anderen Milieus. Noch entscheidender sind aber möglicherweise die Unterschiede, die sich dann bei den bewussten Strategien auftun, also wenn die Automatismen versagen, weil eben auch diese rationalen Handlungen an den Habitus geknüpft sind und sie – weil sie auch als bewusst und vermeintlich ‚frei
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gewählt’ von den InteraktionspartnerInnen wie den Lehrenden und Prüfenden wahrgenommen werden – eventuell stärker sanktioniert werden. Aus dem Zitat wird aber auch ersichtlich, was Mead kaum expliziert, nämlich dass die Gewohnheiten, die zur Bildung des unbewussten Selbst beitragen, ihrerseits nicht neutral, sondern zwangsläufig sozial ausdifferenziert und ebenso bewertet sind. Dies widerspricht Meads Ausführungen nicht. „Mit dem Mechanismus der Übernahme der Haltungen anderer ist die Voraussetzung für die Selbst-Werdung des einzelnen genannt und zugleich die erste Phase des Sozialisierungsprozesses“ (Wittpoth 1994, 64). Wenn die Selbst-Werdung mit der Übernahme der Haltungen anderer startet, ist klar, dass sie zwar individuell verläuft, dennoch mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten milieuspezifische Ähnlichkeiten vorliegen. Da Meads Augenmerk aber eher den reflexiven Momenten der Identitätskonstruktion gilt, sieht Wittpoth im Habituskonzept eine anschlussfähige Erweiterung Meadscher Überlegungen, die aber selbst schon auf HabitusStruktur-Diskrepanzen verweisen und sogar darauf, dass Milieuüberschreitungen auf Anknüpfungspunkte im aktuellen bzw. Ziel-Milieu der Betroffenen angewiesen sind: „Und die Reaktion der Ablehnung von Konventionen eines bestimmten Milieus mag vom ‚I’ angestoßen sein, würde aber ins Leere laufen, wenn nicht andere Haltungen zur Übernahme bereit ständen. Konventionen zu überwinden, ist also nur möglich, ‚wo sich der Einzelne sozusagen von einer engen und begrenzten Gesellschaft an eine umfassendere wendet’ (GIG, 243). Eine Entwicklung des Selbst im Sinne der Grenzüberschreitung ist damit gewissermaßen auf potenzielle ‚Verbündete’ jenseits der Grenze angewiesen (vgl. dazu auch James 1909, 190 ff.). Insofern verdanken auch die von Mead gelegentlich angesprochenen Kreativen ihre Möglichkeiten den spezifischen Haltungen eines besonderen verallgemeinerten anderen, dessen Ansprüche Kreativität bereits wieder zur Pflicht gerinnen lassen“ (Wittpoth 1994: 70).
Wittpoth erörtert, dass Mead damit zwar eine ‚offen-begrenzte Struktur’ beschreibt – eine Titulierung, die sehr an die unendliche Erzeugungsvielfalt des Habitus in den Grenzen eines Wahrscheinlichkeitsraumes erinnert –, die aber „wegen seiner Konzentration auf intelligente Problemlösungsprozesse in beide Richtungen blinde Flecken aufweist“ (ebd.: 71). Die präreflexiven Anteile von Offenheit und Begrenztheit in Interaktionen sind also nicht ausreichend berücksichtigt. Unter der Überschrift Perspektivität und gemeinsamer Sinn verdeutlicht Wittpoth mit Mead, wie unterschiedlich Dinge durch verschiedene Wahrnehmungshorizonte konstruiert werden, wie strukturiert unterschiedlich also die sozialisierten Leiber sind. Ullrich Bauer stellt in diesem Sinne fest:
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen „Das interaktive Verhältnis zwischen Person und Umwelt meint nicht, dass immer ein bereits ‚ausgereiftes’, autonomes Subjekt zu einem frei gewählten Zeitpunkt in Beziehung zu seiner Umgebung tritt. Interaktion meint, dass sich bereits die entwickelte Persönlichkeit in einem unauflöslichen, dialektischen Beziehungsverhältnis zur gesellschaftlichen und sozialen Umwelt befindet (vgl. Hurrelmann 1983, 91). Hieraus geht die immense Bedeutung unterschiedlicher Erfahrungsräume für die Ausbildung individueller Fähigkeits- und Kompetenzmuster, etwa der Realitätswahrnehmung, -verarbeitung und -bearbeitung hervor“ (Bauer 2004, 71f.; Hervorh. im Orig.).
Dies verweist direkt auf die milieubezogene Perspektivität des Habitus und damit auf mögliche Diskrepanzen zwischen diesen Perspektiven und – auf die Situation von Studierenden übertragen – den vom Mikrokosmos des Studiums geforderten Perspektiven. „In den Erfahrungsbiografien bilden sich Kompetenzmuster heraus, die mit den strukturell, kulturell und symbolisch ungleichen Erfahrungskontexten in Wechselwirkung stehen. Es entstehen ‚Muster spezifischer und dennoch typischer Entwicklungsverläufe’ (Edelstein 1999, 46). Wie bereits in Bourdieus Habituskonzept wird innerhalb der konstruktivistischen Sozialisationsforschung die Betonung darauf gelegt, dass sich im Persönlichkeitssystem typische Kompetenzmuster herausbilden, die mit dem Anregungsgehalt der Sozialisationsumwelt korrespondieren. Das Subjekt erwirbt Dispositionen. Diese sind nicht unveränderbar. Sie programmieren einen späteren Handlungsvollzug nicht vor. Sie stellen keine eindeutigen Handlungsregeln dar. Und dennoch dienen sie dazu, einen Handlungsentwurf, d.h. die selektive Wahrnehmung, Ver- und Bearbeitung von Problemen und Bewältigungsstrategien vorzustrukturieren. Dispositionen grenzen – wiederum nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit – den individuellen Entscheidungs- und Handlungsspielraum ein. Dispositionen sind akkumuliertes Handlungswissen. Sie sind strukturiert durch frühere Erfahrungen und wirken ihrerseits strukturierend in jeder einzelnen Handlungssituation“ (Bauer 2004, 79; Hervorh. im Orig.).
Wittpoth greift in ganz ähnlicher Weise Mead auf: „Insofern unser Verhalten mit seinen Reizen und Reaktionen den Rahmen bildet, ‚innerhalb dessen die Gegenstände unserer Wahrnehmung entstehen’ (GA1, 233), ist dieses Verhalten verantwortlich für die Organisation unserer gegenständlichen Welt. In einer anderen Art von Verhalten würden demnach auch andere Objekte entstehen. Ein Wahrnehmungsakt ist ein Akt der Konstruktion, ‚in dem sinnliche Reize mit Vorstellungen verschmolzen werden, die aus vergangener Erfahrung herrühren’ (GA1, 232)“. [...]. Wenn die Handlung die für den einzelnen maßgebliche Umwelt schafft und für die Wahrnehmbarkeit von Objekten ein Erfahrungshorizont gegeben sein muß, in dem diese bzw. ähnliche Objekte schon einmal aus der selbstverständlich gegebenen Welt herausgehoben waren, hat dies für die Verständigung
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zwischen Subjekten weitreichende Konsequenzen. Zum einen bewegen sich die Menschen dann in sehr unterschiedlichen Umwelten: ‚Eine gemeinsame Welt besteht [...] nur insoweit, als es eine gemeinsame (Gruppen-) Erfahrung gibt’ (GIG, 129). Sie gehen durch Städte, Landschaften und Räume, die sie – je nach Erfahrungshintergrund – unterschiedlich ‚konstruieren’. [...]. Die gängige Vorstellung, man müsse Menschen nur ‚die Augen öffnen’, einen ‚Schleier entreißen’, um ihnen ein anderes Bild ihrer Umwelt zu vermitteln, dürfte naiv sein. Da die Perspektive auf ein Objekt an dessen Stellenwert und Funktion in Erfahrungen gebunden ist, die aus Handlungsvollzügen erwachsen, wird sie sich kaum anders als in variierten Handlungsvollzügen modifizieren lassen“ (Wittpoth 1994, 72f.).
Das bedeutet einerseits, dass Perspektivität nicht nur in den wahrnehmenden Akteuren selbst steckt, sondern auch in den Dingen, die wahrgenommen werden, da sie Gegenstände früherer, von Akteur zu Akteur oder Gruppe zu Gruppe höchst unterschiedlicher Wahrnehmungen waren. Dies bedeutet für die vorliegende Untersuchung, dass, wenn es um die Betrachtung von Habitus-SrukturBegegnungen geht, nicht die objektiven Strukturen des akademischen Feldes zählen, sondern die subjektive Wahrnehmung derselben. Andererseits wird hier deutlich, dass eine mögliche Bearbeitung von Habitus-Struktur-Konflikten über Bewusstwerdungsprozesse hinaus gehen und Handlungsvollzüge einbeziehen muss, die Verbindungspunkte von Habitus und ‚fremden’ Strukturelementen zur Voraussetzung haben. Das fremde Andere kann offenbar nur integriert werden, wenn es in etwas Umfassenderes eingebettet werden kann, das nicht als zu fremd erscheint und an das der Habitus angedockt werden kann bzw. das in diesem als Haltung bereits vorhanden sein muss. „Die Vergangenheit ist in diesem Sinne in der Gegenwart; [...]. Es gibt aus der Vergangenheit heraus wie im Ereignisablauf selbst notwendige Bedingungen für das, was geschieht. Diese notwendigen Bedingungen determinieren das neu Entstehende aber nicht völlig. ‚Alles, was aus einem Prozess der ‚emergence’ hervorgeht, verliert seinen systematischen Zusammenhang zu den Elementen des alten Systems nicht; vielmehr taucht das alte System, wenn auch in neuer und veränderter Form, in dem neuen System wieder auf. Das Alte wird in das Neue integriert, und das Neue ist, was es ist, nur auf Grund seiner Kontinuität und bleibenden systematischen Beziehung zum Alten’ (Raiser 1971, 164)“ (Wittpoth 1994,: 75f.).
Damit sind mit Mead zwar die ‚Funktionsprinzipien’ der Perspektivität und der Integration benannt. Es besteht aber noch kein Rahmen, der danach befragt werden könnte, welches Neue in welches Alte zu integrieren ist und umgekehrt. „So ist weder phylo- noch ontogenetisch nachvollziehbar, wie aus dem impliziten ein expliziter Sinn, aus einer Fülle partikulärer Reize eine allgemeine Reaktion erwächst, solange die Verweisungszusammenhänge (Waldenfels), in denen wir uns
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen bewegen, und das Regiment prärationalen Sinns unterbelichtet bleiben“ (Wittpoth 1994, 75).
Dieser Unterbelichtung versucht Wittpoth mit der Luzidität des Habituskonzeptes zu begegnen. Bereits mit Mead kann aber schon festgehalten werden, dass Altes und Neues sich in Diskrepanz bewegen können und dass die Notwendigkeit besteht, mit dieser Diskrepanz umzugehen. „Insofern sind alle permanent gezwungen, Unstimmigkeiten zu handhaben, um die Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität in Grenzen zu halten. Die biographische Dimension ist also in akuter Interaktion gegenwärtig – oder im Sinne einer ‚passage’: Die Vergangenheiten der Beteiligten strukturieren die Situation entscheidend vor und setzen damit die Grenzen für mögliches Neues, das allerdings deutliche Spuren des Vergangenen in sich trägt. Abweichung und Emergenz, die Mead dem ‚I’ überantwortet, lassen sich also zumindest teilweise auch aus einer differenzierten Fassung des ‚Me’ erklären. Goffman löst dies in seine biographischen und aktualen Anteile auf, verortet Unkalkulierbarkeiten und Brechungen in ihm. Damit öffnet sich tatsächlich ein ‚Spielraum des Verhaltens’ (Waldenfels) – allerdings in einem besonderen Sinne. Das Bild suggeriert eine kreative Komponente, der zunächst […] eine massive Zwangslage gegenüberzustellen ist, in der zwischen zugeschriebener und biographisch entwickelter Identität zu vermitteln ist. Dieser Spielraum ist damit nichts weniger als ein Freiheitsraum, vielmehr müssen in der Biographie aufgeschichtete und spezifisch verknüpfte Erfahrungen, die an sozialen Identitäten früherer Lebensphasen gewonnen wurden, mit aktuellen Erwartungen bzw. Verhaltens-Zumutungen in eine gewisse Deckung gebracht werden“ (Wittpoth 1994, 76; Hervorh. im Orig.).
Die soziale Strukturiertheit der beiden Seiten, also der biographisch entwickelten Identität und der aktuellen Erwartungen hatte Mead zwar schon im Blick: „So räumt er z.B. ein, Klassen in Feudalgesellschaften könnten so weit voneinander entfernt sein, ‚daß sie sich gegenseitig nicht verstehen […] können’ (GIG, 303). Und mindestens einmal sieht er auch für die Moderne: ‚Solange die Komplexität der menschlichen Gesellschaft die des Zentralnervensystems nicht übersteigt, besteht das Problem eines adäquaten sozialen Objektes […] darin, die räumlichen und zeitlichen Distanzen, die Barrieren der Sprache, der Konvention und des sozialen Status so zu überwinden, dass wir zu uns selbst in den Rollen derer sprechen können, die gemeinsam mit uns ihr Leben bewältigen. […] Diese Aufgabe jedoch ist gewaltig genug, denn sie erfordert […] den Abbau der verfestigten, überkommenen und statusabhängigen Haltungen, in welche unser Selbst eingebettet ist’ (GA1, 327f.)“ (Wittpoth 1994, 77).
Wie diese Strukturiertheiten sich konkret ausgestalten, kann aber mit dem Meadschen Ansatz konzeptuell nicht beantwortet werden. Um beschreiben zu
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können, welches Selbst in welchen Konstellation, welchen Gefährdungen und Modifikationsansprüchen ausgesetzt ist, bedarf es einer Begrifflichkeit, die individuelle Konstellationen widerzuspiegeln und dennoch an Strukturkomponenten zurückzubinden vermag. Was zuvor als möglicher Vorzug des Habituskonzeptes aufschimmerte, kann nun als entscheidender Vorteil festgehalten werden. Wittpoth fasst zusammen: „Die Übernahme der Haltung anderer – oft als ‚Fähigkeit im Sinne der Empathie’ mißverstanden – ist konstitutiv für die Entstehung und Entwicklung von Geist und Selbst. Das Selbst ist nicht der Erschließung von Welt und anderen vorausgesetzt, sondern entsteht in Auseinandersetzung mit ihnen, im sozialen Akt. Es ist auf die Existenz eines sozialen Prozesses angewiesen, in dem es ‚allererst seine Veranlassung findet’ (vgl. SP, 83). […]. Insofern die Entwicklung des Selbst an soziale Handlungsprozesse gebunden ist, endet sie grundsätzlich nicht, es entfaltet sich keine Substanz, sondern das Individuum entwickelt sich oder stagniert in und mit den Kontexten, in die es unauflöslich verwoben ist“ (Wittpoth 1994, 78).
Weiter unten heißt es: „Jeder Versuch, Milieugrenzen zu überwinden, wird daher so lange zum Scheitern verurteilt sein, wie sich das angestrebte Milieu, in dem man eine ‚höhere Instanz’ (James) sieht, diesen Versuchen nicht zumindest partiell öffnet – und sei es auch nur aufgrund eines Missverständnisses. [...] Die zur Überschreitung von Milieugrenzen erforderliche Brücke lässt sich daher kaum von einer Seite – also aus dem Milieu heraus – bauen, Anknüpfungspunkte und Öffnungen auf der anderen Seite sind unverzichtbar. [...] In gemeinsamen Welten leben Menschen nur insoweit sie über gemeinsame Erfahrungen verfügen“ (Wittpoth 1994, 79f.).
Die ‚Mead-Zusammenfassung’ beschließend leitet Wittpoth zu Bourdieu über: „Kognitive Vereinseitigungen blenden hochwirksame Regulative des sozialen Verkehrs aus und sind so außerstande, faktisch bestehende Entwicklungshemmnisse, die zumindest partiell gegebene Unmöglichkeit der Verständigung und ausschließende Barrieren zwischen verschiedenen sozialen Milieus (verallgemeinerten anderen) adäquat zu erklären“ (Wittpoth 1994: 83).
Da die Bourdieuschen Begrifflichkeiten bereits ausführlich vorgestellt wurden, soll hier nicht Wittpoths komplette Bourdieu-Diskussion wiedergegeben werden, sondern lediglich folgende, sehr aussagekräftige Passage: „Wie Mead verankert Bourdieu also die Entstehung und Entwicklung des Selbst in kooperativen Handlungsvollzügen. Im Begriff des Habitus zieht Bourdieu aber die beiden Dimensionen des Selbst zusammen, die Mead ausdrücklich trennt: ihre reflexive und präreflexive. Indem er sich dann weit überwiegend der präreflexiven
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2 Studium als Ort der Begegnung von Habitus und Strukturen Seite zuwendet, kann man seine Argumentation zunächst als Ergänzung des Interaktionismus Meadscher Prägung lesen, in der Bourdieu das ‚unbewußte Selbst’ ausarbeitet, das Mead vernachlässigt hat. Zwei Einsichten sind dabei entscheidend: daß das ‚Hier und Jetzt’, in dem wir uns bewegen, nicht undifferenziert ist, und daß die Interaktionssituation dadurch mit mehr Sinn aufgeladen ist als die Akteure wissen. Auf einer allgemeinen Ebene kann der erstgenannte Gesichtspunkt bereits mit Mead gewonnen werden, insofern er die Wahrnehmung an Erfahrungen in sozialen Akten bindet. Bourdieu arbeitet darüber hinaus die Strukturiertheit des Geschehens in zwei Hinsichten aus. Einmal ist die wahrgenommene Welt eine sozial strukturierte, die je nach Ort, an dem man an ihr teilhat, unterschiedliche, zugleich aber (klassen-) spezifische Gebrauchsanleitungen und Wegweiser bereitstellt. Ob und inwieweit Objekte ‚funktional identisch’ werden (können), entscheidet sich daher weit vor dem Einsetzen signifikanter Kommunikation. Zum anderen entwickeln sich gemäß der Struktur der sozialen Welt Wahrnehmungs- und Haltungsschemata, die das Handeln insgesamt präformieren. Die Strukturierung beschränkt sich nicht auf den Bereich der Wahrnehmung, sondern schlägt sich ebenso in Denk- und Motivationsschemata nieder. Unmittelbare Erfahrung ist also deutlich voraussetzungsund folgenreicher, als Mead es sieht. ‚Die [...] Einverleibung des Sozialen bildet die Grundlage jener Präsenz in der Sozialwelt, die Voraussetzung gelungenen sozialen Handelns wie der Alltagserfahrung von dieser Welt als fraglos gegebene ist’ (SRK, 69)50“ (Wittpoth 1994, 96).
Mit dieser äußerst instruktiven Vermittlung der Perspektiven Meads und Bourdieus, liefert Wittpoth in gewisser Weise eine Operationalisierung der analytischen Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten. Es kann damit nämlich die Diskrepanz von Habitus und umgebender Struktur auf die Ebene von Interaktionen heruntergebrochen werden. Strukturen müssen Anknüpfungspunkte an den Habitus bereitstellen, um Identitätsentwicklung zu ermöglichen, um sich selbst im Anderen wiederzuerkennen. Auch Ullrich Bauer (2004) konfrontiert den Habitusansatz mit Sozialisationskonzepten bzw. Subjektvorstellungen – in Form der konstruktivistischen Sozialisationsforschung und des Agency-Konzepts. Allerdings bleibt der Fokus hier kognitivistisch. Sowohl die reflexive als auch die präreflexive Seite menschlichen Handelns werden zunächst kaum in ihrem Körperbezug thematisiert. Bauer hat dieses Problem jedoch jüngst aufgegriffen (Bauer/Bittlingmayer 2008).
50 SRK ist das Kürzel für Bourdieu 1985 (Sozialer Raum und Klassen).
2.6 Studium und Habitus-Struktur-Konflikte – Zusammenfassung
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2.6 Studium und Habitus-Struktur-Konflikte – zusammenfassende Bemerkungen In diesem zweiten Kapitel wurde zunächst dargelegt, dass die Variable soziale Herkunft für alle Zeitabschnitte der Statuspassage ‚Studium’ eine statistisch relevante Größe darstellt. War sie im vorherigen Bildungsweg bis zum Eintritt in die Hochschule bereits bedeutsam, setzt sich dieser Einfluss mit der Frage, ob ein Studium aufgenommen wird oder nicht, fort und berührt dann verschiedene Ebenen des Studiums bis zum möglichen Verbleib im akademischen Feld. Die Zahlen weisen bis auf wenige Ausnahmen die soziale Herkunft nach Lagemerkmalen der klassischen Sozialstrukturanalyse aus und beziehen sich in diesem Sinne nicht auf ein Herkunftsmilieu, auf Einstellungsmuster oder Lebensstile bzw. zusammengefasst auf Kollektiv-Habitus. Dies ist erstens der Tatsache geschuldet, dass es auf statistischer Ebene nur wenige Untersuchungen gibt, die auf Lebensstilelemente verweisen. Zweitens sollte für das hiesige Vorhaben lediglich deutlich gemacht werden, dass auf statistischer Ebene soziale Herkunft eine Rolle spielt. Drittens operiert auch meine Untersuchung etwa bei der Wahl der zu interviewenden Studierenden mit der Variablen soziale Herkunft in dem Sinne, dass zwei Extremgruppen, hohe und niedrige soziale Herkunft, gebildet wurden. Die Milieuherkunft im engeren Sinne war kein Auswahlkriterium. Die Studierenden erzählen zwar von ihrem Herkunftsmilieu, ihre Eindrücke vom Studium, ihre Performanzen, d.h. ihre Umgangsweisen mit Anforderungen des studentischen Lebens werden aber ohnehin auf individueller Ebene – wie sollte es auch anders sein – erfasst. Muster ergeben sich dann erst aus dem Material. Diese Muster werden dann allerdings vor der Ungleichheitsfolie von HabitusStruktur-Konflikten interpretiert. Dieser erste Teil zur statistischen Zusammenschau wurde dort, wo entsprechende Untersuchungen vorliegen, etwa zur Studienfachwahl, bereits mit Anmerkungen gespickt, die auf die Notwendigkeit verweisen, mit dem HabitusStruktur-Konzept zu arbeiten. Dies sollte in den folgenden Unterkapiteln dann systematischer hergeleitet werden. So wurde im zweiten Teil dieses Kapitels die Studienphase als eine identitätskrisenanfällige herausgestellt. In der ‚Krisenliteratur’ zum Studium dominiert verständlicherweise die psychologische Perspektive. Diese liefert einen Einblick in die spezifischen Identitätsproblematiken und -entwicklungsperspektiven dieser ‚Lebensphase’. Hier wird auch soziologisch und sozialpsychologisch argumentiert. Es werden also alle Analyseebenen berücksichtigt: ‚makro’, indem die gewandelte Gesellschaft als Einflussgröße für prolongierte Identitätsentwicklungsprozesse gesehen wird, bei denen vermeintlich gestiegene Individualisierungsansprüche an den Einzelnen eine Rolle spielen – eine An-
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nahme, die nicht ganz unproblematisch ist; ‚meso’, indem Gruppenzugehörigkeiten als bedeutsam ausgewiesen werden, wobei diese nur auf der Seite sozialer Identitäten bzw. Rollen gesehen werden; und ‚mikro’, indem Identitätsentwicklung plausibel als sozialer Prozess herausgestellt wird, also als ein auf Interaktion angewiesener. Dass es hierbei jedoch strukturierte Unterschiede gibt, weil diese Prozesse der Identitätsbildung in bestimmten soziokulturellen Umgebungen stattfinden und diese Gruppenzugehörigkeiten nicht bloß auf der Ebene sozialer Identität angesiedelt sind, kann als ein Manko dieser ‚Krisenliteratur’ festgehalten werden. Im dritten Teil lag der Fokus deshalb auf der Frage der soziokulturellen Spezifizierung von Identitätskrisen. Die ‚Arbeiterkinder an der Universität’ erfuhren in der Bildungssoziologie ohnehin wohl mehr Aufmerksamkeit als anderen sozialen Herkunftsgruppen zuteil wurde und als ihnen die Universität beim Studieren gespendet hat. Bereits in den 1960er Jahren hatte Dahrendorf auf Schwierigkeiten von Arbeiterkindern jenseits materieller Barrieren und elterlicher Einwände hingewiesen. Ein Grund für eine niedrige Studierneigung liege in einer für sie typischen Haltung, auf raschen Verdienst aus zu sein, das Überschaubare zu bevorzugen und nicht auf eine aufgeschobene Bedürfnisbefriedigung warten zu wollen oder zu können (vgl. Dahrendorf 1965). Auch die in der vorliegenden Arbeit mit Habitus-Struktur-Konflikten bezeichneten Probleme werden bei Dahrendorf bereits thematisiert, indem auf die doppelte Benachteiligung ‚begabter’ Arbeiterkinder verwiesen wird, nämlich auf das direkte Leiden unter den häuslichen Verhältnissen einerseits und auf die herkunftsbezogene Stigmatisierung andererseits (ebd., 26f.). Selbst der ungleichheitsverschleiernde Aspekt des Rekurses auf ‚Begabung’ wird von Dahrendorf nicht nur benannt, sondern auch angeprangert. Diese, soziale Ungleichheit verschleiernde, Naturalisierung war zentraler Ausgangspunkt von Bourdieus Analysen des französischen Erziehungssystems und hatte zu der Entwicklung seiner Theorie der symbolischen Gewalt geführt. Die Defizite des deutschen Bildungswesens unter Aspekten der Chancengleichheit konnten durch die später mit dem Stichwort ‚Bildungsexpansion’ bezeichneten Maßnahmen bekanntlich nicht behoben werden (vgl. Weber 1973, 114; Geißler 1992, 226). Ganz im Gegenteil vermuteten Blossfeld und Shavit diese sogenannte Bildungsexpansion sogar als Motor für die Reproduktion der Chancenungleichheit nicht zuletzt auch aufgrund ihres ungleichheitsverschleiernden Charakters (Blossfeld/Shavit 1993). Um die Brücke von ‚Arbeiterkindern’ zu Identitätskrisen zu schlagen, wurde in diesem dritten Teil eine Arbeit diskutiert, die eben jene Gruppe und ihre Probleme an der Universität zum Ausgangspunkt der Ausführungen zu Identitätskrisen nimmt. Diese Studie kann sehr plastisch darstellen, wie sich jene Krisen vollziehen. Es wird also bereits eine Phänome-
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nologie von Habitus-Struktur-Konflikten deutlich, ohne dass diese jedoch als solche benannt würden. Darin kann auch die Schwäche dieser und ähnlicher Studien ausgemacht werden. Sie nehmen mit dem Fokus auf Arbeiterkinder zwar eine sozialstrukturelle Gruppe zum Ausgangspunkt, verweilen aber auf der Akteursseite, indem sie an Identitätsbegrifflichkeiten festhalten und können damit nicht einmal auf dieser Seite die Konfliktpartei des Identitätskonfliktes benennen, von der anderen, der Umgebungsseite ganz zu schweigen. Damit wird der Konflikt letztlich auf der Identitätsseite angesiedelt und dieser zur Bearbeitung aufgebürdet. Die notwendige Vermittlung zwischen Identität, Sozialisation und Habitus wurde im darauf folgenden vierten Teil vorgenommen, indem auf eine Arbeit zurückgegriffen wurde, der es im Anschluss an Mead gelingt, eine Brücke zwischen sich vermeintlich ausschließenden Milieus und Identitäts- bzw. Selbstbegrifflichkeiten zu bauen. Umgekehrt betrachtet kann die Idee von Habitusbildung und -entwicklung nun direkt dort eingesetzt werden, wo Haeberlin und Niklaus bei ihren Ausführungen zu Identitätskrisen bei Arbeiterkindern an der Universität auf Identitätsbegriffe zurückgreifen mussten. Für die mit dieser Untersuchung anstehende Exploration von HabitusStruktur-Begegnungen an der Universität bedeutet dies, dass einerseits kaum davon auszugehen ist, dass keinerlei Selbstentwicklung im Studium stattfinden kann. Dies wäre nur dann der Fall, wenn von der wahrgenommenen Welt des Studierens keinerlei Integrationsherausforderungen und Anknüpfungspunkte an die betreffenden Habitus der Studierenden bestünden. Dann wären diese studentischen Selbste bereits ‚fertig’. „Wenn also landläufig davon die Rede ist, der Erwachsene sei ‚fertig’, kann man nun präzisieren, daß er dies nur solange ist, wie ihm Partizipation verwehrt wird – sei es offenkundig durch objektive Beschränkungen, sei es subtil in der Interaktion“ (Wittpoth 1994, 89). Dies aber wäre im studentischen Falle tatsächlich gleichbedeutend mit ‚fertig’ im doppelten Sinne, nämlich mit dem Zwang zur Aufgabe des Studiums und mit ‚fertig’ im Sinne von ‚psychisch am Ende’. Andererseits ist nun kaum mehr davon auszugehen, dass die Sozialisation durch die Hochschulkulturen generell als gelingend vorausgesetzt werden kann, wie es die Literatur zur Sozialisation an der Hochschule gelegentlich tut. Dort wird zum Teil unter Rückgriff auf Bourdieu Hochschule als Sozialisationsagentin begriffen, die Selbstentwicklung mehr oder weniger gewährleistet. Hier wird dann konsequenterweise nicht von Habitus-Struktur-Konflikten gesprochen, sondern von Habitusmodifikationen (vgl. Vosgerau 2006). Aufgabe des empirischen Teils muss es also unter anderem sein, herauszufinden, wo die Trennlinie zwischen Modifikation und Entwicklung, also integrierbaren Konflikten auf der einen Seite und schwer auflösbaren Konflikten auf
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der anderen Seite verläuft. Es sind Reibungspunkte zu erwarten, die unterschiedliche Intensität aufweisen bzw. unterschiedlich intensiv erlebt werden. Wo bestehen Anknüpfungspunkte zwischen bereits Verinnerlichtem und zu integrierendem Neuen? Wie werden diese Anknüpfungspunkte genutzt, wie finden also Selbstentwicklung und Habituserweiterung bezogen auf die Studienwelt statt? Und auf der anderen Seite: Wie werden diese Prozesse blockiert? Welche Elemente der Studienwelt liefern für welche Habituselemente keinerlei Anknüpfungspunkte und verwehren damit Integrations- und Entwicklungsmöglichkeiten? Und zu guter Letzt: Wie lassen sich an diesen Rupturstellen, an denen vermutlich Reflexivität einsetzt, Übergänge gestalten? Diese Reflexivität aber – wie ich mit Wittpoth herausgearbeitet habe – ist mit der Übernahme der Haltung Anderer auch an präreflexive Komponenten des ‚Me’ geknüpft. Dies bedeutet, dass das Nachdenken in der und über die Ruptursituation nicht außerhalb des Habitus stattfinden kann. Wird also zu beobachten sein, dass Brückenelemente zwischen Habitus und Strukturen eingebaut werden können, die vom Habitus zunächst als signifikanter Anderer anerkannt werden? Kann diese Modifikation dann wiederum die ursprünglich anknüpfungslosen, ausschließenden Strukturelemente als signifikanten Anderen aufgreifen? Mit den Brückenteilen wären dann entweder Maßnahmen der Hochschulentwicklung benannt, wenn diese Bausteine künftig auf der ‚Strukturseite’ angesiedelt bzw. zunächst an bestehende Strukturen angeknüpft werden. Oder es wären Interventionen im Sinne einer sozioanalytischen Therapie benannt, wenn die Brückenteile an der ‚Habitus-Seite’ andocken sollen. Für den in diesem zweiten Kapitel behandelten Komplex Studium, soziale Herkunft und Identität ist jedoch zunächst nur wichtig, dass im Anschluss an die Ausführungen von Jürgen Wittpoth nun die Identitätsbegrifflichkeit durch das Habitus-Struktur-Konzept ersetzt werden und konzeptionell von Studium und Habitus-Struktur-Konflikten gesprochen werden kann. Es liegt damit ein Rahmen vor, der die verschiedenen Defizite der besprochenen Literatur aufzugreifen vermag. Schwierigkeiten der Lebensphase Studium, die sich in „psychische Belastungen und Arbeitsstörungen“ (Graf/Krischke 2004) übersetzen, können nun sozial differenziert betrachtet werden, ohne Einzigartigkeiten von Biographien zu ignorieren. Die in der Krisenhaftigkeit der Adoleszenz, in den gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, in dem zu schwachen positiven Verstärkereffekt der Universität, in den widersprüchlichen Anforderungen des universitären Lebens vermuteten Faktoren, werden damit nicht ausgeblendet, können nun aber empirisch mit Inhalten gefüllt werden. Wo die Ausführungen zu Identitätskrisen von Arbeiterkindern an der Universität substantialistisch bleiben, d.h. an einer Krise des Psychischen, bzw. einem vermeintlichen Kern des Ichs festhalten mussten, können nun präreflexive und reflexive Umgangsweisen mit
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dem Studium in ihrer sozialen Strukturierung betrachtet werden. Damit kann zum einen die Gefahr der Psychologisierung gemindert werden, d.h. die Konflikthaftigkeit und die Bearbeitungsansprüche zu stark auf der Seite eines vermeintlich unabhängigen Ichs anzusiedeln. Zum anderen kann vor vereinfachenden Ansätzen der Konfliktbearbeitung gewarnt werden, die vor allem mit der Verwendung von Rollen- und Identitätsbegriffen suggerieren, dass ein reflexives Ich sich irgendwie über Prägungen hinwegsetzen bzw. Rollenmuster ablegen kann oder muss. Jürgen Wittpoth veranschaulicht die Probleme und Barrieren des ‚Aufsteigers’ sehr deutlich und zeigt, wo die Analyse dessen, was hier als Habitus-Struktur-Konflikte bezeichnet wurde, mit Bourdieu über Mead hinausgehen muss: „Dabei wird deutlich, wie wenig plausibel die Vorstellung ist, der einzelne könne sich ohne größere Probleme von einem verallgemeinerten anderen zum nächsten und hin zu einem Selbst entwickeln, das sich an universalen Prinzipien ausrichtet. Es ist stets ein Weg durch den sozialen Raum, in dem die Differenz regiert. [...]. Die Überwindung von Milieugrenzen – als Übernahme allgemeinerer Haltungen – kann daher nicht allein als aktive Bewegung des einzelnen, sei es nach oben oder zur Seite, vonstatten gehen. Wie bereits im Anschluß an Mead gezeigt, muß sich derjenige, der sich auf den Weg macht, im anderen als jemand erkennen, der auf dem Wege ist und das Ziel grundsätzlich erreichen kann. Erfährt er sich selbst über den anderen als fest in seinem Milieu verankert, bleibt ihm der Weg versperrt. [...]. Der ‚Überläufer’, [...] der sich als ‚Aufsteiger’ in ein anderes Milieu begibt, braucht dort Resonanz, ‚Verbündete’, kann diesen Übergang nicht auf der Grundlage eines ‚einsamen Entschlusses’ realisieren. Mit Mead konnte man noch annehmen, es stünde dem einzelnen offen, sich an ein Milieu seiner (vernünftigen) Wahl zu wenden. Bei Bourdieu wird deutlich, daß dies angesichts der Hysteresis des Habitus nur denkbar ist, wenn die Frontlinien im Unterscheidungskampf porös sind. Andernfalls wird jeder Eindringling – mittels sensibelster Wahrnehmungsinstrumente – enttarnt und bleibt ausgeschlossen, schließt sich auch selbst aus, ohne daß es dazu ausdrücklicher Verbote bedürfte. Wo es kein objektives Erfordernis und keine Anlässe gibt, zwangsläufige habituelle Vorstöße des ‚Parvenüs’ – solange sie sich in Grenzen halten – zu tolerieren, entfällt diese Toleranz und mit ihr der ‚Verbündete’, schließen sich die Reihen. [...] Die Übernahme milieufremder Haltungen, die ihnen [den Aufsteigern; L.S.] vom verallgemeinerten anderen nahegelegt wurden, hat ihnen den sozialen Aufstieg bis zu einem gewissen Punkt ermöglicht. Die Hysteresis ihres Habitus setzt ihnen Grenzen, die allenfalls im Zuge eines ‚Projektes’ überwindbar sind, das auf Generationen angelegt ist“ (Wittpoth 1994, 110f.; Hervorh. im Orig.).
In diesem Sinne wäre die Schule für den sozialen Aufstieg solch ein verallgemeinerter Anderer, der Habitusmodifikationen ermöglicht. Inwieweit diese ‚ausreichend’ sind, die Anforderungen des Studiums objektiv und subjektiv zu erfüllen oder ob sie die für jenes neue Feld erforderlichen Modifikationen sogar
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blockieren, wird zu beobachten sein. Außer Frage steht jedenfalls, dass (erforderliche) Modifikationen des Habitus nicht ohne Habitus-Struktur-Konflikte zu haben sind: „Bourdieu konstatiert zwar Übergänge zu ‚Nebenmöglichkeiten’ und Restrukturierungen des Habitus auch abweichend von einer vorgegebenen ‚sozialen Laufbahn’, beschreibt sie aber vor allem als Ereignisse, die sich gewissermaßen aus ‚Passungs’-Problemen ergeben“ (Wittpoth 1994, 106; Hervorh. im Orig.).
Dass diese Probleme auf beiden Seiten strukturiert sind, also auf der Seite des Habitus und auf der Seite der verallgemeinerten anderen, macht deutlich, warum hier nicht bloß von Passungs-Problemen gesprochen wird, sondern von HabitusStruktur-Konflikten: „Bei aller Stabilität des einmal erworbenen Habitus bleibt aber das Verhältnis zwischen Dispositionen und Bedingungen entscheidend. Auch wenn der Habitus sich selbst vor Krisen schützt, fremde Milieus also meidet und dabei durch Ausschließungsmechanismen von diesen unterstützt wird, ist die weitgehende Übereinstimmung des Habitus mit den objektiven Bedingungen ein ‚Sonderfall des Möglichen’ (vgl. SS, 117)51. Im Unterschied zu Mead beschreibt Bourdieu allerdings den Möglichkeitsraum als einen strukturierten [...]. Insofern ist Entwicklung im Erwachsenenalter auch hier an Partizipation geknüpft, an Positionen und Bewegungsmöglichkeiten im sozialen Raum. Unterschiedliche verallgemeinerte andere bekommen dabei eine konkretere Gestalt, sie stellen Klassen in einer nach benennbaren Gesichtspunkten differenzierten Gesellschaft dar. Ist der Ort, an dem man mit der Geburt den sozialen Raum betritt, durch enge Konventionen bestimmt und wird er nicht mehr verlassen, stehen die Zeichen auf Stabilität. Werden nennenswerte Strecken innerhalb dieses Raumes zurückgelegt, bleibt Sozialisation als Restrukturierung eines früh erworbenen Habitus virulent. Im einen Fall ändern sich Praktiken, die man vor allem in der Kindheit einverleibt hat, beim Übergang ins Erwachsenenalter und danach nur unwesentlich, Rahmungen und Kompetenzen genügen einander. Im anderen Fall gibt es gerade in dieser Hinsicht anhaltende Passungsprobleme“ (Wittpoth 1994, 111f.).
Perspektiven der leibhaftigen Akteure, die im folgenden Kapitel vorgestellt werden, sind mit solchen Fragen der Passung zu konfrontieren, um eventuell auch gelungene Anpassung zu entdecken, eine Möglichkeit, die bei Bourdieu eher im Dunkeln bleibt: „Was aber geschieht, wenn die Laufbahn über das angestammte Milieu hinausweist? Nach Bourdieu kommt es dann zu einem Bruch, wird von dem einzelnen ei-
51 SS ist bei Wittpoth das Kürzel für Bourdieu 1987 (Sozialer Sinn).
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ne völlige ‚Umkehrung seiner Wertordnung (vgl. TuS, 189)52 verlangt, worauf er mit Auflehnung oder Resignation, aber offensichtlich auch mit Anpassung reagieren kann. Genau diese Anpassungsprozesse bleiben bei Bourdieu unterbelichtet“ (Wittpoth 1994, 112; Hervorh. im Orig.).
52 TuS ist das Kürzel für Bourdieu u.a. 1981 (Titel und Stelle).
3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen
3.1 Zur Methodologie II – Methoden und Ablauf des empirischen Teils Aus dem zweiten Kapitel kann festgehalten werden, dass die soziale Herkunft von Studierenden viele Aspekte des Studiums beeinflusst. Weiterhin ist bekannt, dass ein Studium, verglichen mit anderen Statuspassagen bzw. Lebensphasen, eine krisenanfällige Zeit darstellt. Außerdem ist bei einer bestimmten sozialstrukturellen Gruppe, nämlich bei Studierenden aus sogenannten bildungsfernen Milieus, die Gefahr besonders groß, dass diese zu ‚marginalen Personen’ werden. Das bedeutet, dass sie ihre eigene Identität nicht adäquat aufrechterhalten bzw. einbringen und modifizieren können. Wir wissen hingegen wenig darüber, wie sich dies für die Betroffenen darstellt, wie Sozialisationsprozesse an der Universität ablaufen, bzw. wie mitgebrachte Identitäten den Anforderungen des Studienlebens begegnen und wie dies erlebt und bearbeitet wird. Erst recht ist wenig darüber bekannt, wie diese Prozesse mit übergreifenden soziokulturellen Ungleichheitsverhältnissen vermittelt sind. Diese Bestandsaufnahme bezieht sich nicht nur auf Probleme der Sozialisation oder Identitätsentwicklung, sondern auch auf vermeintlich gelungene Behauptungs- und Anpassungsprozesse; dies auch und nicht zuletzt bei Studierenden, bei denen sich aufgrund der Angaben zur sozialen Herkunft eher solche Habitus-Struktur-Konflikte erwarten ließen, die schwer in einen erfolgreichen und als zufriedenstellend erlebten Studienablauf zu integrieren sind. Gerade bei diesen Studierenden kann exemplarisch geschaut werden, wo welche Elemente des individuellen Habitus die vorgefundenen Anforderungen wie bedienen bzw. in welcher Weise modifiziert werden können und wo es trotz des relativen Erfolges Reibungspunkte gibt. Dieses Forschungsdesiderat wurde bereits 1978 formuliert und bleibt dennoch bis heute weitestgehend unerfüllt: „Auch wäre der Frage, wie ein gelungener sozialer Aufstieg durch Bildung aussehen könnte, nachzugehen und zu prüfen, ob in der Realität Ansätze dazu vorfindbar sind“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 98). Mit den Ausführungen im zweiten Kapitel konnte verdeutlicht werden, dass, um diesen Fragen nachzuspüren, es nicht ausreicht bzw. sogar irreführend sein kann, von Identitäten und Identitätsentwicklung zu sprechen. Um erfassen
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen
zu können, dass soziale Ungleichheit nicht nur auf der Makroebene eine Rolle spielt und nicht nur in den sozialen Identitäten der Akteure mitschwingt, bedarf es der Habitus-Struktur-Begrifflichkeit. Wenn Reibungspunkte zwischen individuellem Habitus und den wahrgenommenen Anforderungen bestehen, setzt Reflexivität ein. Das heißt, wenn Situationen nicht mehr quasi-automatisch qua Habitus bedient werden können, wäre zu fragen, ob diese Passungsprobleme dann reflexiv zu gelungener Habitusmodifikation führen können. Wäre es dazu, um sich selbst im Anderen wiedererkennen zu können, nicht doch nötig, Anknüpfungspunkte an den eigenen Habitus zu entdecken, d.h. ein stückweit Vertrautes im fremden verallgemeinerten Anderen zu finden? Worin bestehen die Passungsprobleme und werden sie nur intrapersonal in Form von Leiden und/oder Habitusmodifikationen oder anderen Konfliktbearbeitungsvarianten verarbeitet? Oder gibt es Elemente, die über intrapersonale Habitus-StrukturKonflikte hinausweisen? Wie werden also soziale Ungleichheit und mit ihr zusammenhängende Konflikte ausgetragen bzw. bearbeitet? Diesen Fragen wurde noch nicht ausreichend nachgegangen. Dies ist umso verwunderlicher, als doch bereits vermeintliche Lösungsansätze angeboten werden. Die Umstellung auf das gestufte Studiensystem im Zuge des sogenannten Bologna-Prozesses beansprucht zumindest in Teilen, auf die in Deutschland sehr hohe Studienabbruchquote zu reagieren. In Kenntnis, dass der Studienabbruch für Studierende aus bildungsfernen Milieus ein wahrscheinlicheres Ereignis darstellt, wurde sogar damit argumentiert, dass die Kürze und stärkere Strukturierung der neu einzurichtenden B.A.-Studiengänge den habituellen Voraussetzungen Studierender bildungsferner Herkunft, durchaus im Sinne einer rationalen, ungleichheitssensiblen Pädagogik à la Bourdieu, entgegenkommen würde. Das klingt zwar zunächst plausibel, müsste aber erst mal empirisch erfasst werden. Die allgemeinen und konkreten Kenntnisse über Schwierigkeiten von Arbeiterkindern an der Universität sowie das Wissen über statistische Zusammenhänge von Studienabbruch, Studienerfolg, Studierzufriedenheit etc. und sozialer Herkunft reichen hierzu keinesfalls aus, da sie weder eine Aussage über Prozesse der Habitus-Struktur-Begegnung machen können noch empirische Anknüpfungspunkte liefern, wie sich diese Prozesse so gestalten können, wie sie bildungspolitisch – nach wessen Definition auch immer – zu wünschen wären. In diese Lücke versucht die vorliegende Arbeit zu stoßen. Es wurde dazu die soziologische Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten entwickelt, weil die Analyse dabei nicht auf der psychologischen Ebene stehen bleiben darf, da auf dieser nur allgemeine Aussagen wie etwa die folgende zur psychischen Gesundheit bzw. zur Studienmotivation gemacht werden können.
3.1 Zur Methodologie II – Methoden und Ablauf des empirischen Teils
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„Die Gestaltung der Lernatmosphäre, des Lern- und Arbeitsplatzes sowie die unmittelbare Verfügbarkeit von Lehrbüchern und technischen Hilfsmitteln sind notwendige Rahmenbedingungen für einen lang andauernden erfolgreichen Lernprozess. Gleiches gilt für eine ausgewogene Ernährung, Freizeit und Ausgleich in Form von körperlicher Betätigung. Die Ausgestaltung dieser eher globalen Rahmenbedingungen sind Hinweise auf die Wertschätzung, die der eigenen Person entgegengebracht wird, und spiegeln den Wert und Stellenwert des Lernprozesses für das Studium als Lebensphase wider. Studienmotivation ist keine abstrakte Worthülse, sondern die Einsicht, dass Lebens- und Studienziele durch die eigene Person erarbeitet werden müssen“ (Graf/Krischke 2004, 65).
Allein schon beim letzten Punkt leuchtet unmittelbar ein, dass dies jenen Menschen mit einer größeren Habitus-Struktur-Diskrepanz schwerer fallen könnte als anderen. Selbst wenn es unter anderem auch um psychische Folgen für die Betroffenen geht, bedarf es also eines soziologischen Konzeptes zur Interpretation der Erfahrung Studierender. Ersteres ersetzt letzteres allerdings nicht. Wenn es um Fragen des Erlebens geht, müssen selbstverständlich die leibhaftigen Akteure selbst zu Wort kommen. Im Gegensatz zu der – zwar empirisch informierten und begründeten – aber dennoch ‚Generalsperspektive’ der ersten beiden Kapitel, sollen nun Sichtweisen der ‚Soldaten im Getümmel’, sprich: der Studierenden erfasst werden. Dies geschieht in drei Schritten: (1) Um nicht allein auf eigene Erfahrungen im Kontext von HabitusStruktur-Problemen angewiesen zu sein,53 habe ich bei zwölf Studienberatungsgesprächen in der zentralen Studienberatung der Universität Marburg hospitiert. Die Studienberatungssituation ist eine solche, die gesucht wird, wenn Probleme im Studienablauf auftreten. Damit geht also bereits eine Konstellation der Reflexivität einher. Studierende wollen hier über Probleme sprechen; sie können und/oder wollen Anforderungen welcher Art auch immer nicht (mehr) quasiautomatisch bedienen. Es können hier also Problemdimensionen erfasst werden, bei denen Reflexivität bereits eingesetzt hat und zwar zunächst unabhängig von der sozialen Herkunft der Studierenden. Die Gedächtnisprotokolle dieser Beratungsgespräche dienten als Grundlage für die Suche von Problemdimensionen sowie von Erklärungen und Bearbeitungsstrategien, wie sie von den Akteuren selbst benannt werden. Die Ergebnisse sollten sodann die Entwicklung eines Leitfadens für Interviews mit Studierenden unterstützen. (2) In einem zweiten Schritt wurden 21 Interviews mit Studierenden verschiedener Fächer geführt. Die ersten fünf dienten gewissermaßen als Pretest und der Leitfadenmodifikation. Sie wurden bewusst mit Studierenden geführt, die weder klar der Gruppe der ‚Bildungsfernen’ noch klar der Gruppe der ‚Bil53 Diese wären allerdings auch schon aufschlussreich und sollen, gerade um die analytische Distanz zum Gegenstand zu wahren, nicht ausgeblendet werden.
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen
dungsnahen’ zuzuordnen waren. Es sollte ja schließlich darum gehen zu ergründen, ob das Interview geeignet ist, Umgangsweisen mit dem Studium zu erfassen, unabhängig davon, welche soziale Herkunft die Person mitbringt und in welcher Fachkultur sie sich bewegt. Die Überlegung war also, dass das Instrumentarium dann als geeignet erscheint, wenn es auch bei Personen, die aufgrund der Bildungsabschlüsse und Berufe bzw. der aktuellen beruflichen Tätigkeiten der Eltern nicht einer der beiden ‚Extremgruppen’ zuzuordnen sind, sensibel genug ist, Berührungspunkte habitueller und feld-struktureller Elemente freizulegen. Die Auswahl der 16 Interviewpartnerinnen und -partner erfolgte dann nach einer Mischvariante zwischen Theoretical Sampling und qualitativem Stichprobenplan, der die Variablen soziale Herkunft – operationalisiert über Bildungsabschluss und Beruf beider Elternteile –, Geschlecht und Studienfach berücksichtigt. Im Gegensatz zu der Exploration der Studienberatungsgespräche wurden hier zum einen Studierende ausgewählt, die sich mindestens im dritten Fachsemester ihres aktuellen Studienfaches befanden. Sie sollten bereits Erfahrungen im Umgang mit ihrem Studium gesammelt haben. Mit den Ausführungen von Graf und Krischke (2004) kann nämlich vermutet werden, dass die Trennschärfe bezüglich etwaiger Probleme ausgeprägter ist als zu Studienbeginn, was auf den ‚negativen Sozialisationseffekt’ (Wittenberger 1992) der Hochschule zurückgeführt wird sowie auf die Tatsache, dass der Studienbeginn zunächst für alle Studierenden einen mehr oder weniger tiefen Einschnitt bedeutet. Zum anderen wurden die Interviewpartnerinnen und -partner gerade nicht danach ausgewählt, ob sie Probleme mit ihrem Studium haben. Es sollen ja auch Prozesse des Umgangs von Habitus mit Anforderungen des Studiums sichtbar werden, die nicht als Konflikte reflexiv geworden sind bzw. die auf eine Passung von Habitus und Struktur verweisen oder trotz mangelnder Passung auf eine gelungene Integration bzw. Vermittlung hindeuten. Sollte die Analyse der Studienberatungsgespräche noch für Probleme sensibilisieren, ging es bei den Interviews allgemein um das Erleben des Studierens sowie den Umgang damit. (3) In der Erhebungsphase stellte sich jedoch heraus, dass sowohl für – nach dem Empfinden der Betroffenen – gelungene als auch misslungene bzw. sich schwierig gestaltende Sozialisationsprozesse das erste Studiensemester durchaus wichtig ist bzw. sich schon zu Studienbeginn große Unterschiede im Umgang mit der für alle Studierenden neuen Situation zeigen. Deshalb habe ich eine dritte Datengrundlage geschaffen, indem ich Studierende im ersten Semester des B.A. Sozialwissenschaften gebeten habe, über sechs Wochen, eine Art ‚Tagebuch’, aber nicht mit täglichen, sondern mit wöchentlichen Berichten anzufertigen. Der Rücklauf war hier leider recht gering, was aufgrund des Arbeitsaufwandes allerdings auch nicht verwundert. Es wurden sechs Wochenbü-
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cher ausgewertet, von denen drei von Personen erstellt wurden, deren Eltern kein Abitur haben, die also der ‚bildungsfernen’ Gruppe zuzuordnen waren und zwei, bei denen sogar beide Elternteile einen Hochschul- bzw. Fachhochschulabschluss aufweisen. Ein Wochenbuch wurde von einer Studentin verfasst, deren Mutter zwar Abitur hat, deren Eltern aber beide nicht über Hochschulerfahrung verfügen. Bevor jedoch die Ergebnisse der Auswertung der Studienberatungsgespräche (3.2.1), der Wochenbücher (3.2.2) und der Interviews (3.2.3) vorgestellt werden, soll die der Untersuchung zugrunde liegende Methodologie erläutert werden, die für die Auswertung aller drei Datenquellen einschlägig war. Besonderheiten zur jeweiligen Datenerhebung und -aufbereitung werden in den betreffenden Ergebnisteilen erörtert. Die Reihenfolge der Ergebnisdarstellung entspricht dem Interpretations- und nicht dem Erhebungsablauf, das heißt es wurden nach einer Durchsicht des kompletten Materials zunächst die übersichtlicheren Wochenbücher analysiert, bevor die Interviews zur Auswertung gelangten. Die methodologische Grundlage der Arbeit besteht darin, die Perspektive des ‚Generals auf dem Hügel’ und die Sichtweisen der ‚Soldaten im Getümmel’ miteinander zu konfrontieren und zu vermitteln. Dies bedeutet nicht, dass der empirische Teil durch die Habitus-Struktur-Konflikt-Heuristik konstituiert oder im Nachhinein konstruiert wurde. Die Studierenden erleben und reflektieren ihre Wirklichkeit nicht nach Maßgabe der Generalsperspektive. Wie das, was aus der Perspektive des Wissenschaftlers als regelhafte und sozial generierte Wirklichkeit erscheint, sich in der Handlungswirklichkeit der betroffenen Akteure gestaltet, ist zu erkunden, indem Studierende über ihr Studium berichten. Dabei soll aufgedeckt werden, welche Möglichkeiten bzw. Strategien Studierende verfolgen, um ihre Handlungszusammenhänge zu meistern bzw. welche ungenutzten Möglichkeiten sich auftun. Der Schwerpunkt liegt also auch in methodologischer Hinsicht nicht auf der Erkundung dessen, was seit den 1960er Jahren bekannt ist, nämlich dass Studierende aus bildungsfernen Schichten sich mit dem Studium schwerer tun. Vielmehr soll expliziert werden, wie sich dies lebensweltlich als Prozess äußert. Dass die Heuristik hier vorgestellt wurde, bevor die leibhaftigen Akteure zu Wort kommen, könnte den Vorwurf nach sich ziehen, dass die Empirie nur zur Reifikation der Heuristik dient bzw. dass die Untersuchungsanlage damit nicht mehr dem qualitativen Ideal der reinen Exploration, dem qualitativen Paradigma entspricht (vgl. Hoffmann-Riem 1980, 343; Lamnek 1995, 61f.). Dem muss erstens entgegengehalten werden, dass die Heuristik dem Entdecken empirieinterner Muster nicht im Wege steht. Sie dient vielmehr dazu, empirisch ermittelte Dimensionen vor einem bestimmten Hintergrund zu selektieren und zu interpretieren. Die Dimensionen und ihre Ausprägungen stammen also aus-
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schließlich aus dem Material. Zweitens ist empirisches Material nicht von sich aus soziologisch. Erst durch das Erkenntnisinteresse der Forscherin oder des Forschers und durch deren betreffende Selektionen und Interpretationen wird es zu einer Sozio-Logie (vgl. Kelle/Kluge 1999, 25ff.). Damit zusammenhängend kann sogar drittens angenommen werden, dass die eigenen Vorannahmen und Kenntnisse dann weniger die ‚forschende’ Wahrnehmung der Wirklichkeit der Akteure verstellen, wenn sie nicht geleugnet oder ignoriert werden – man kann sie auch nicht an der Garderobe abgeben. Sie sollten vielmehr bewusst als Generalsperspektive, als ‚Brille’, als Heuristik explizit gemacht werden. Dies scheint am ehesten der Objektivierung des objektivierenden Subjektes zu entsprechen (vgl. Bourdieu 1988, 9-59; 1987, 57-78; Bourdieu/Wacquant 1996, 95-249; Krais 2004) und am wenigsten der Gefahr zu unterliegen, unkontrolliert, scheinbar objektiv und neutral eigene Vorannahmen einfließen zu lassen. Im Übrigen stehen solche Überlegungen nicht einmal im Widerspruch zu etwa einer späteren Variante der Grounded Theory, wie sie Anselm Strauss (1991) in Abgrenzung zum ‚naiven Induktionismus’ (vgl. Kelle 1996) seines Co-Autoren der ‚Gründungsschrift’ der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967), Barney Glaser, formulierte (vgl. Strübing/Schnettler 2004, 427). Natürlich werden ‚reine’ Ethnographien, die ohne Heuristik operieren, gar nicht erst dem Verdacht der Reifikation ausgesetzt, weil vorab nichts expliziert wird, was reifiziert werden könnte. Um nicht falsch verstanden zu werden: es geht nicht darum, „im Modus einer falschen Vertraulichkeit mit der eigenen Kultur“ (Amann/Hirschauer 1997, 10) zu verharren. Ganz im Gegenteil teile ich nahezu alle methodologischen Distanzierungs-Hinweise, die Amman und Hirschauer benennen. Dass aber eine reflexive Distanz zum Eigenen, eine gelungene Verfremdung der eigenen Kultur, in Vollkommenheit stattfinden kann, wäre ein kognitivistischer Fehlschluss, da hierbei übersehen wird, dass die sozialisierten Körper der Forschenden trotz aller Distanzierungstechniken, Körper bleiben, die eine verinnerlichte Geschichte, einen Habitus mitbringen und die nicht zuletzt in eigene Feldkämpfe verstrickt sind. Als methodologische Leitlinie sind die Distanzierungsgesuche zu berücksichtigen, sie als komplett gelingend vorauszusetzen hingegen lässt Verstrickungen, als Distanz getarnt, noch wirksamer werden. In diesem Sinne kann das Explizieren der forschungsleitenden Heuristik sogar als Distanzierungsmethode, als ‚Othering’ verstanden werden, weil erst durch ihre Benennung eine Differenz zu ihr konstruiert werden kann. Ich möchte also gar nicht den Eindruck erwecken, als hätte die analytische Heuristik nichts mit dem Geschehen zu tun. Im Gegenteil speist sie sich zum Teil aus empirischen Befunden und eigenen Beobachtungen nicht zuletzt in dem hier interessierenden akademischen Feld. Deshalb lässt sich der komplette Forschungsprozess auch nicht einer einzigen Variante ‚logischer’ Operationen zu-
3.1 Zur Methodologie II – Methoden und Ablauf des empirischen Teils
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ordnen: es wechseln sich induktive, deduktive und abduktive Prozesse ab. Sich überhaupt mit Studium und sozialer Herkunft zu beschäftigen, ist eigenen Beobachtungen während des Studiums geschuldet. Das Entwickeln der Fragestellung und der analytischen Heuristik ist also ein induktiver Prozess. Einzelne Situationen lassen Zusammenhänge auf höherer Ebene vermuten und setzen Theorie- bzw. Heuristikbildungsprozesse in Gang. Von dieser Heuristik aus wieder auf einzelne Handlungszusammenhänge als wahrscheinliche oder unwahrscheinliche Ereignisse zu schließen, ist ein deduktiver Vorgang. Situationen und empirische Fälle zu explizieren, die als Ausnahmen erscheinen, die nicht zwanglos in den Rahmen der Heuristik passen und die zu deren Erweiterung und Modifikation führen, entspricht einem abduktiven Vorgehen. Der heuristische Rahmen erlaubt es, die Dimensionen, Ausprägungen und Zusammenhänge, die aus dem empirischen Material gewonnen werden, vor dem Hintergrund von sozialer Ungleichheit zu sehen und zu explizieren und damit auf die Fragestellung einzugehen. Dieser methodologischen Haltung ist auch die Auswertungsmethode der drei unterschiedlichen Datenquellen geschuldet. Es wird in einem ersten Schritt zunächst darum gehen, das Studiengeschehen unter der Perspektive der Betroffenen zu rekonstruieren. Deshalb erscheint ein Verfahren, das latente (‚objektive’) Sinnstrukturen freilegt, zunächst gar nicht angebracht. Vielmehr soll nachvollzogen werden, wie die Akteure selbst ihre Wirklichkeit wahrnehmen und konstruieren. Deshalb steht eine qualitative Inhaltsanalyse am Beginn der Materialauswertung (vgl. Mayring 2008). Die Kategorien, die sich so aus den Paraphrasen der Interview-Transkripte, der Wochenbuch-Aufzeichnungen und der Gedächtnisprotokolle der Studienberatungsgespräche ergaben, wurden zunächst nach ihren Zusammenhängen innerhalb der Einzelfälle befragt. Es wurden also die ‚Einzelfallgeschichten’ anhand der Kategorien erzählt, um sodann fallübergreifend Zusammenhänge und Muster freizulegen. Diese Muster wurden in einem zweiten Schritt vor dem Hintergrund der Habitus-Struktur-Konflikt-Heuristik interpretiert und die Ergebnisse dann wieder anhand ausgewählter Einzelfälle überprüft. Dieser interpretative Schritt entspricht dann also eher einer hermeneutischen als einer qualitativen Inhaltsanalyse. Es gibt nicht nur zahlreiche Forschungsbeispiele – davon viele im Bereich der Bildungssoziologie –, in denen eine hermeneutische Rekonstruktion mit dem Habituskonzept konfrontiert wurde (vgl. etwa Schelle 2003, BülowSchramm/Gerlof 2004, Schittenhelm 2001, Haas 1999), sondern auch Arbeiten, in denen es explizit um eine typenbildende, hermeneutische Rekonstruktion von Habitus ging (vgl. etwa Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004, Bremer 2004). Hierzu wurde das Erhebungsverfahren der mehrstufigen Gruppenwerkstatt entwickelt und spezielle Überlegungen zu einer habitushermeneutischen Auswer-
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tung angestellt (vgl. Bremer 2004a, Teiwes-Kügler 2001 sowie Bremer/TeiwesKügler 2003). In der vorliegenden Untersuchung war eine reine Habitusrekonstruktion weder das Ziel noch der Weg. Vielmehr war es bedeutsam, Umgangsweisen mit dem Studium nachzuzeichnen und vor dem Hintergrund von sozialer Ungleichheit zu explizieren. Der Habitus kann nicht unabhängig davon aus dem Material gleichsam herauspräpariert werden. Ohnehin gibt es in der ‚BourdieuCommunity’ die Debatte, ob der Habitus nicht eigentlich nur in actu und in situ, das heißt nicht durch ein Zu-Wort-Kommen-Lassen der leibhaftigen Akteure, sondern durch Beobachtung in deren realen Handlungskontexten, erfasst werden kann. Daran anknüpfend wird gefragt, ob der Habitus-Begriff in der deutschen Bourdieu-Rezeption überbewertet wurde und nicht besser mit dem PraxisBegriff operiert werden müsse. Dem ist zu entgegnen, dass zweifelsohne der Habitus-Begriff inflationär gebraucht wird und teilweise mit dem KollektivHabitus gleichgesetzt wird, was es den Kritikern dann wiederum leicht macht, Deterministisches zu entdecken. Mir scheint es angebracht, zwar den Praxis-Begriff in der empirischen Forschung stark zu machen, aber die Analysen dennoch nicht ‚vom Habitus zu entbinden’. Dies würde die Gefahr bergen, etwa die Konstruktion sozialer Ungleichheit, nur in der Praxis nachzuzeichnen und damit gerade die vorgängige Geschichte der Akteure und des Feldes zu ignorieren – diese Geschichte wird nämlich nicht in jeder Praxis aktualisiert, was aber keineswegs heißt, dass sie für einen Akteur bedeutungslos ist. Damit wäre Bourdieu von den Füßen auf den Kopf gestellt. Es könnte soziale Ungleichheit ausschließlich in der Praxis der Akteure diagnostiziert werden und dann wäre es sehr leicht, die Verantwortlichkeiten auch dort zu verorten. Damit wäre symbolische Gewalt aktualisiert. Die reinen Praxisanalysen würden sich nicht von den ‚herkömmlichen subjektivistischen’ unterscheiden, die den ‚ersten wissenschaftlichen Bruch’ nach Bourdieu nicht vollziehen. Allerdings scheint es sehr plausibel, habituelle Modifikationen und Schöpfungen am besten mit einem Konzept losgelöst vom Habitusbegriff beschreiben zu können. Die Verwirrung um die Anwendbarkeit des Habitus-Begriffs kommt möglicherweise auch deshalb zustande, dass zum einen die Unterscheidung zwischen individuellem und Kollektiv-Habitus zu wenig verdeutlicht wird, was man nicht Bourdieu vorwerfen kann. Zum anderen sei daran erinnert, dass Habitus nicht nur die präreflexiven Handlungen umfasst, sondern auch bewusste Strategien in ihm zu verorten sind. Es gibt keinen Grund, reflexive und/oder rekonstruktive Akte, wie etwa Textpassagen eines Interviews nicht mit dem Habitus-Konzept zu analysieren. Ich möchte bei der Auswertung dennoch von
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Habitus-Struktur-Hermeneutik sprechen, weil eben der Habitus nicht separat rekonstruiert wurde. Ein weiteres, eher emanzipatorisches als methodologisches Problem ergibt sich dadurch, dass entdeckte und benannte Unterscheidungen immer die Gefahr bergen, soziale Ungleichheit zu reproduzieren und nicht zu dekonstruieren. Auch Erika Haas stellt die Reproduktion sozialer und geschlechterspezifizierter Ungleichheit in ihren Interviews fest. Sie bemüht sich jedoch ausdrücklich, mit ihrer Untersuchung nicht selbst gewichtiger Teil dieser Reproduktion zu sein, indem sie den Spagat zwischen Rekonstruktion, d.h. dem Nachzeichnen der Ungleichheits(re)produktionen, und Dekonstruktion, also der Sensibilität für neue Identitätsbildungen und der Nicht-Aktualisierung alter Dichotomien und Muster, wagt. „Denn in der Verleugnung der Unterschiede auf der faktischen Ebene und dem aus dekonstruktivistischer Sicht angezeigten Aufzeigen von Zwischentönen und Gemeinsamkeiten von konstruierten Gegensätzen liegt auch eine politisch durchaus problematische Komponente. Eine so einfach gestrickte Relativierung könnte durchaus eine gefährliche problemverharmlosende Wirkung nach sich ziehen“ (Haas 1999, 57).
Diesem Problem versucht sie zu begegnen, indem sie durch die Explikation ihrer eigenen ‚Arbeitertochter-Uni-Geschichte’ zu Beginn eine bemerkenswert reflexive analytische Distanz zum Gegenstand erzeugt und zweitens die verschiedenen Ansätze der sozialen Ungleichheitsforschung in ihren reproduzierenden, verschleiernden und dekonstruierenden Momenten erfasst. Drittens wählt sie mit dem Habitus-Konzept einen Ansatz, der – im Sinne Bourdieus verstanden – Ungleichheit zu benennen vermag, ohne Individualität und Neuschöpfung zu verleugnen. Mit einer ähnlich wohlwollenden, neugierigen, respektvollen und offenreflexiven Haltung habe ich mich ‚meinen’ Akteuren zu nähern versucht. 3.2 Ergebnisse 3.2.1 Studienberatungsgespräche Die Gespräche fanden zur sogenannten freien Sprechstunde der Zentralen Allgemeinen Studienberatung (ZAS) der Universität Marburg statt. Diese wird von Studierenden oder Studieninteressierten aufgesucht, die Informationsbedarf haben, Probleme in ihrem Studienablauf empfinden und/oder einen Studienfachwechsel oder -abbruch erwägen. Zunächst wird am Empfang in einem so-
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genannten Clearing-Gespräch festgestellt, was das Anliegen der oder des betreffenden Ratsuchenden ist. Bei einfachem Informationsbedarf wird der oder die Ratsuchende direkt von der für das Clearing zuständigen Person versorgt. Andernfalls erfolgt die Weiterleitung an eine Beraterin oder einen Berater. Damit ist sichergestellt, dass es bei den Gesprächen in irgendeiner Form um eine Problematik des Studierens geht. Für die vorliegende Untersuchung war dies insofern wichtig, als dass dieser erste empirische Schritt dazu dienen sollte, mögliche Schwierigkeiten im Studium und zugehörige Dimensionen freizulegen. Die anderen Studierenden, die später als Gesprächspartner bzw. ‚Wochenbuchautoren’ zur Verfügung standen, wurden explizit nicht danach ausgewählt, ob sie ihr Studium – in welcher Form auch immer – als problematisch empfinden oder nicht. Es sollten dort dann vielmehr Prozesse der Begegnung von Habitus und Strukturen erkundet werden, auch und gerade, wenn sie sich als unproblematisch ausweisen. Denn aus gelungenen Prozessen der Hochschulsozialisation lassen sich mindestens ebenso gut Rückschlüsse auf die Funktionsweisen des akademischen Feldes oder besser: des Studierens ziehen und Veränderungsnotwendigkeiten und -wege ableiten wie aus Habitus-Struktur-Konflikten. Dennoch sollte zur Leitfadenkonstruktion ein Sensorium für Probleme des Studierens vorliegen. Dazu diente die Analyse der Beratungsgespräche. Außerdem suchen Studierende eine Beratungsstelle explizit auf, um die im Studium empfundenen Rupturen zu reflektieren und gegebenenfalls zu bearbeiten. Rupturen entstehen Bourdieu zufolge, wenn Situationen nicht mehr adäquat qua Habitus bedient werden können, der Habitus sich nicht sofort neuen Gegebenheiten anpassen kann, was bereits als Trägheit des Habitus oder hysteresis vorgestellt wurde. Dieser Fall tritt dann ein, wenn Akteure ein ihrem Habitus fremdes Feld aufsuchen, oder wenn sie von außen mit neuen Habitusanforderungen konfrontiert werden, sie also quasi von einem neuen Feld aufgesucht werden. Letzteres konnte Bourdieu etwa bei der traditional-ökonomischen Prägung des ‚kabylischen Habitus’ beobachten, der sich den neuen Anforderungen einer kapitalistischen Ökonomie nicht postwendend anzupassen vermochte. Diese Fälle, in denen ein größeres Kollektiv einem plötzlichen Wandel ausgesetzt ist, sind eher selten.54 Häufiger ist hingegen die erste Kategorie, nämlich dass eine Person ein Feld betritt, für das der Habitus (noch) nicht adäquat ausgebildet ist. Dort ist dann zunächst eine individuelle Bruchstelle bzw. nach der Habitus-Struktur-Heuristik ein individualisierter Konflikt zu beobachten. In der naiven Wahrnehmung stimmt dann nicht mit dem System bzw. dessen Anforde54 Auch wenn es in Deutschland seit der ‚Wende’ hochaktuell ist, weil das Spektrum der ‚OstHabitus’ sich nach wie vor einem Spektrum der ‚West-Habitus-Anforderungen’ ausgesetzt sieht. Nach dem vorgestellten Habitus-Struktur-Modell wäre diese kollektive hysteresis ein erleichternder Faktor für Klassenkämpfe im Bourdieuschen Sinne.
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rungen irgendetwas nicht, sondern die vermeintlichen Defizite liegen in der betreffenden Person. Dennoch oder gerade deshalb stellen diese Bruchstellen Momente dar, an denen der Habitus reflexiv wird und kognitive Spielräume genutzt werden könnten. Dies gilt, auch wenn die Habitusmodifikationen selbst möglicherweise weniger kognitiv erfolgen, sondern sich eher mimetisch als ‚Körper-Lernen’ vollziehen (vgl. Alkemeyer 2008; Schmidt 2004; Gebauer 2003). Die zentrale Studienberatung ist ein Ort, der aufgesucht wird, weil Ansprüche des Studiums nicht (mehr) quasi-automatisch, habituell bedient werden können. Allerdings ist sie nicht mit der Psychologischen Beratungsstelle der Universität zu verwechseln. Sie ist vielmehr eine niederschwelligere Anlaufstelle für Schwierigkeiten im Umgang mit dem Studium. Sollte sich in den Gesprächen dort herausstellen, dass psychisches Leiden vorliegt, kann sie natürlich als Schaltstelle zur psychologischen Beratung fungieren. Mir war es wichtig, eine Institution zu wählen, die zwischen einer reinen Fach- und einer psychologischen Beratung angesiedelt ist. Die reine Studienfachberatung bzw. Sprechstunden von Lehrenden versprechen erstens keine Reflexion über allgemeinere Studienprobleme, zweitens stellen sie bereits eine Hürde für Studierende aus bildungsfernen Milieus dar (vgl. Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004, 181), was meiner eigenen Erfahrung sowohl als Student als auch als Lehrender und Fachberater entspricht und sich auch in meinen Interviews wiederfindet. Drittens hätte dann bereits eine Vorauswahl bezüglich der Studienfächer stattfinden müssen. Dies wäre zu jenem Zeitpunkt der Untersuchung verfrüht gewesen. Gegen das andere ‚Extrem’ der psychologischen Beratungsstelle spricht, dass hier anzunehmen ist, dass die Probleme bereits aus dem Bereich der Studienerfahrung herausdefiniert wurden bzw. ohnehin ganz woanders angesiedelt sind oder werden. Selbst wenn aus guten Gründen davon ausgegangen werden kann, dass sich dort überhäufig Studierende aus bildungsfernen Milieus finden lassen (vgl. Steinmann 1981, 29; mit Verweis auf Sperling/Jahnke 1974 und Bohleber u.a. 1976), deren Probleme sich mit der Heuristik als Folgen von HabitusStruktur-Konflikten deuten ließen, dürfte dort der Psychologisierungsdiskurs bereits soweit im Gang sein, dass diese Gespräche, so wichtig sie für die Betroffenen sein mögen, für die vorliegende Untersuchung als ungeeignet erscheinen. Dass es generell nicht einfach ist, Studierende aus bildungsfernen Milieus zu gewinnen, ist bekannt (vgl. etwa Haas 1999, 89f.) und hat sich bei meiner Untersuchung bestätigt. Zum einen gibt es diese Studierenden seltener. Zum anderen kann vermutet werden, dass sie – obwohl oder vielleicht sogar weil der Leidensdruck größer sein mag – aus ihrer Unsicherheit heraus in geringerer Zahl an einer derartigen Untersuchung teilnehmen. Daran dürfte auch die Tatsache, dass ich für ein Interview 20 Euro gezahlt habe, kaum etwas ändern, obwohl
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bekannt ist, dass der Finanzierungsdruck bei Studierenden aus bildungsfernen Milieus größer ist bzw. sie zumindest trotz überdurchschnittlicher Erwerbstätigkeit weniger Geld zur Verfügung haben (BMBF 2007, 195ff.). Etwas anders sieht es bei der Frequentierung der Zentralen Allgemeinen Studienberatung aus. Hier waren Studierende aus bildungsfernen Milieus zumindest Ende der 1970er Jahre überrepräsentiert (vgl. Krüger/Steinmann 1981, 29). Dies dürfte sich kaum geändert haben. Dass der Beratungsbedarf bei diesen Studierenden deutlich höher ist, wurde bereits mit Verweis auf die aktuellste Sozialerhebung des Studentenwerks ausgeführt (BMBF 2007, 426). Leider wird dort nicht aufgeschlüsselt, wie sich die tatsächlich Beratenen nach ihrer sozialen Herkunft verteilen. Von Studienabbrechern ist bekannt, dass diejenigen, die vor ihrem Studienabbruch eine inner- oder außeruniversitäre Beratungsstelle aufgesucht haben, bezüglich der sozialen Herkunft gemäß der erwarteten Häufigkeiten verteilt sind, wobei Studierende der Herkunftsgruppe ‚niedrig’ die Beratungsangebote des Studienwerks doch etwas häufiger genutzt haben als jene der Herkunftsgruppe ‚hoch’.55 Auch das Problem der sozialen Erwünschtheit vor allem bei Befragungen von Arbeiterkindern (vgl. Bublitz 1980, 19; Haas 1999, 37f.) dürfte für die Studienberatungskonstellation als gering eingeschätzt werden. Meine Hospitation bei den Studienberatungsgesprächen erfolgte über die Dauer von drei Wochen an je zwei Tagen pro Woche. Weder der Berater noch ich wussten vorher, wer da gleich zur Tür reinkommen würde. Dementsprechend fand auch keine Quotierung nach sozialer Herkunft oder anderen Variablen statt. Es handelte sich für den betreffenden Zeitraum und ‚meine Präsenztage’ um eine Vollerhebung der bei diesem Berater zur freien Sprechstunde stattfindenden zwölf Gespräche. Da es um die Erfassung eines Problemhorizontes ging, war eine Quotierung auch nicht vonnöten. Aufgrund meines Interesses erfragte der Berater bei einigen Gesprächen dennoch die soziale Herkunft, wenn sie nicht ohnehin thematisiert wurde. Bei sechs der zwölf Ratsuchenden wurde die soziale Herkunft offenbart, zwei davon kamen aus einem hochschulbildungsnahen Elternhaus, drei aus einem bildungsfernen. Unter hochschulbildungsnaher Herkunft fasse ich diejenigen Studierenden, von denen mindestens ein Elternteil studiert hat und die bei diesem auch aufgewachsen sind. Eine bildungsferne Herkunft56 liegt vor, wenn beide Elternteile als höchsten Schulab55 Diese Berechnungen hat Ulrich Heublein vom Hochschul-Informations-System (HIS) im Anschluss an seine Befragung von Studienabbrechern (Heublein/Spangenberg/Sommer 2003) gesondert für mich vorgenommen, wofür ich ihm herzlich danke. 56 Dass ich im empirischen Teil oft von ‚hochschulbildungsnah’, aber nicht von ‚hochschulbildungsfern’, sondern von ‚bildungsfern’ spreche, hat den Grund, dass bei der erst genannten Gruppe mindestens ein Elternteil, in den meisten Fällen gar beide, einen Hochschulabschluss hat bzw. haben. Bei der anderen ‚Extremgruppe’ haben beide Elternteile maximal einen Realschul-
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schluss maximal einen Realschulabschluss besitzen. Der Vater des verbleibenden Ratsuchenden ist zwar Arzt, die Eltern des jungen Mannes sind aber von seiner Geburt an getrennt gewesen und er wuchs bei seiner Mutter, einer Krankenschwester, auf. Bei den restlichen sechs Studierenden, zu denen es keine Aussagen über die Herkunft gab, vermute ich bei dreien eine bildungsferne, bei einer Person eine bildungsnahe Herkunft und bei zwei weiteren hatte ich keine Einschätzung vornehmen können. Die Gespräche wurden von mir gedächtnisprotokolliert. Im Anschluss an jedes Protokoll habe ich festgehalten, was für meine Untersuchung relevant sein könnte. Diese verschiedenen Punkte scheinen sich in den folgenden vier Dimensionen zu bewegen bzw. sich zu diesen Dimensionen zusammenfassen zu lassen: (1) (2) (3) (4)
Aktive vs. Passive Haltung; Wunsch nach Freiheit vs. Wunsch nach Struktur; Inklusionsgefühl vs. Exklusionsgefühl; Lage, Habitus und Haltung von Bezugspersonen (gegenüber der betreffenden Person).
Die Auswertung kann als Inhaltsanalyse nach Mayring (2008) begriffen werden, zumal sich nach einer erneuten Überprüfung der Protokolle zeigt, dass diese vier Dimensionen nahezu das komplette Protokollmaterial abzubilden vermögen. Zur besseren Übersicht werden im Folgenden nur vier Protokolle wiedergegeben. Die Analyse erfolgte aber auf Grundlage aller zwölf Mitschriften. Diese vier wurden aus den zwölf Gesprächen ausgewählt, weil sie zum einen am anschaulichsten erscheinen, die Dimensionen-Konstruktion nachzuvollziehen und weil sie zum anderen das Spektrum an sozialen Herkünften wiedergeben. Sodann wird das Herausarbeiten der bzw. das Zusammenfassen zu Dimensionen erläutert. In der folgenden Übersicht sind alle Protokolle aufgeführt, die vier ausgewählten Beispiele sind fett gedruckt (vgl. Abbildung 3). Auffallend ist, dass der Anlass für fast alle Beratungsgespräche ein beabsichtigter Studienfachwechsel war, d.h. Probleme ganz unterschiedlicher Art wurden von den Betroffenen mit dem vermeintlich falschen Studienfach attribuiert.
abschluss, so dass ‚hochschulbildungsfern’ eine irreführende Bezeichnung wäre. Ich bin mir bewusst, wie problematisch diese Begriffe ohnehin sind, weil sie dahingehend interpretiert werden könnten, dass Schul-/Hochschulbildung die einzige Form von Bildung seien.
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Abbildung 3:
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Übersicht zu den Studienberatungsgesprächen
Studienberatungsgespräch mit Frau B Frau B studiert im ersten Semester Germanistik und Geographie auf Gymnasiallehramt. Sie erwägt, in den Diplomstudiengang Geographie zu wechseln. Germanistik sei ihr zu philosophisch, theoretisch und nicht so wie Deutsch in der Schule. Im Verlauf des Gesprächs stellt sich heraus, dass sie Schwierigkeiten hat, die theoretischen Texte zu verstehen. Ihre Kommilitoninnen hingegen scheinen diese zu verstehen. Ab und zu lässt sie sich die Texte erklären, aber auch das hilft nicht. Der Schritt von zu Hause nach Marburg scheint ein für sie
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wichtiger gewesen zu sein. Sie will nicht den Studienort wechseln. Überhaupt ist ihre Haltung sehr von hilfloser Passivität gekennzeichnet. Nach ihrer AbiNote gefragt, sagt sie, dass die 3,7 nicht das Problem seien. Immerhin bestätige das Abi ja die Studierfähigkeit. Sie fragt, was sie tun soll und entwickelt keine eigenen Vorstellungen. Sie spricht mit einem sehr negativen Vokabular. Sehr oft sagt sie „das macht überhaupt keinen Spaß“. Auch als der Studienberater versucht, die für sie wichtigen Kriterien eines Studienfachs mit ihr zu erarbeiten, kommt nichts und auf die Bitte, das Negative in etwas Positives umzuformulieren, äußert sie erneut etwas Negatives. Auch die bisher besuchten PädagogikVeranstaltungen hält sie für untauglich, was auch der Ansicht einer Freundin entspräche. Auf die Frage, ob man dies nicht thematisieren könne, entgegnet sie: „die würden doch sowieso nichts dran ändern.“ Sie spricht sehr oft von ‚die’, wenn sie die Lehrenden meint. Dass Geographie ihr Spaß macht, begründet sie damit, dass das ohne Theorie abläuft. Dort sei bisher noch kein Text ausgeteilt worden. Es wird über mögliche Studien-Alternativen geredet, ohne dass Frau B selbst eine Vorstellung davon zu entwickeln scheint. Genauso wenig interessiert sie aktuell offenbar, dass auch bei der für sie naheliegenden Alternative ‚Diplom-Geographie’ irgendwann Theorie ins Spiel kommt. Sie scheint akut in Nöten zu sein, auch wenn sie dies nicht äußert und eher abwehrt. Im Verlaufe des Gespräches wird deutlich, dass es um ein Anerkennungsbedürfnis geht. Zum einen vergleicht sie sich bei Nachfrage mit ihren Kommilitoninnen, die die Texte verstehen. Zum anderen könnten die anstehenden Germanistik-Klausuren ihre Wechselabsichten beeinflussen, wenn sie wider Erwarten erfolgreich verlaufen sollten. Bei der Diskussion weiterer auf Nachfrage hin genannter Interessen (Kunst, Graphik, Archäologie), scheinen sich diese Alternativen als unmöglich zu entpuppen, weil sie Aktivität erfordern. Für ein Kunststudium etwa bräuchte man eine Mappe. Frau B hat während des Gespräches Tränen in den Augen, versucht aber offensichtlich, Haltung zu bewahren. Sie scheint zumindest gedanklich daran festzuhalten, dass es sich um ein konkretes Studienfachproblem handelt und nicht um ein grundsätzliches Problem des Umgangs mit dem Studium oder um ein noch grundsätzlicheres Problem, was für Außenstehende offensichtlich ist. Dies zeigt sich in meinem kurzen Gespräch mit dem Berater im Anschluss an die Beratung. Neben diesem Problem äußert der Berater Zweifel an der Studierfähigkeit von Frau B. Sie konnte teilweise auch auf die eher einfachen Fragen nicht eingehen und schien völlig blockiert. Auch bei vorsichtigen Versuchen seitens des Beraters, an etwas Tieferes heranzukommen, scheint sie vordergründig darum bemüht, Fassung zu bewahren. Der Berater versucht zusammenzufassen, wie er glaubt, dass sie sich jetzt fühlt: „ich stelle mir es so vor, als würden sie gerade nur Mauern um sich herum sehen können.“ Daraufhin nickt sie leicht
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mit dem Kopf. Der Berater muss sehr indirekt agieren, um überhaupt etwas aus ihr raus zu bekommen (z.B. „Haben Sie eine Freundin hier?... Was würden Sie ‚Melanie’ erzählen, wie Sie sich fühlen?“) Er bietet ihr ein weiteres Gespräch an und verweist auf die Notwendigkeit für Frau B, sich mit dem Fachberater der Geographie zu besprechen und Studierende dieses Faches zu befragen. Es hat den Anschein, als würde selbst dies zu viel selbstgesteuerte Aktivität einfordern. Frau B ist BAFöG-Empfängerin. Auf die Frage, wie die Eltern die Situation sehen, reagiert sie überrascht. Die Eltern scheinen gar keine Rolle zu spielen, keinen Einfluss oder Druck auszuüben, ganz weit weg zu sein. Der Vater ist arbeitslos und gelernter Chemielaborant, die Mutter Kindergärtnerin. Interessantes für die Untersuchung Frau B ist völlig am Schwimmen und absolut passiv. Es wird kein Bedürfnis nach aktiver Gestaltung deutlich. Nach Marburg zu gehen, scheint ein Stück aktiver Errungenschaft für sie zu sein, was sie festhalten möchte, sei es, um diesen Erfolg nicht zu verlieren. Des Weiteren hat sie offenbar große Schwierigkeiten, wenn aktive Leistung von ihr verlangt wird. Dies zeigt sich unter anderem an ihrer Einschätzung ihres Textverständnisses, der Kunst-Mappe, deren Erstellen undenkbar scheint sowie an dem Umgang mit den anstehenden Germanistik-Klausuren. Für meine Untersuchung könnten die Dimensionen aktive vs. passive Haltung, Wahrnehmung der Erreichbarkeit von Erfolgserlebnissen/ Anerkennung sowie Anzeichen für Inklusions- vs. Exklusionsgefühl bzw. für Distanz zum Studium (‚die’ für ‚die Lehrenden’) sich als interessant erweisen. Studienberatungsgespräch mit Herrn C Herr C studiert im vierten Semester Germanistik und Geschichte auf Lehramt. Er würde gerne zu Jura wechseln, weil dort kontinuierlicher Leistung eingefordert würde. Im fehle jemand, „der ihm in den Arsch tritt“. Bisher habe er nicht so viele Scheine gemacht. Geschichte macht ihm bei seinem Studium mehr Spaß und er würde dieses Fach auch gerne in sein neues integrieren. Er berichtet, ohne danach gefragt worden zu sein, dass seine Eltern meinten, er müsse sich jetzt entscheiden. Beide sind Lehrer. Er hatte bis vor kurzem eine Beziehung mit einer berufstätigen Frau. Zwischenzeitlich war er in Großstadt, jetzt ist er wieder zurück in Marburg. Die Beziehung hat er beendet. Dennoch habe er jetzt hier innerhalb kürzester Zeit einen eigenen Freundeskreis aufgebaut. Herr C ist sehr zuversichtlich, dass er mit Jura zurechtkommt, weil er ohnehin einen Lebenswandel angestrebt habe. Er ist sich darüber bewusst, dass die Leute da
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nicht zu seinem Lebensstil passen, aber das sei kein Problem. Er verweist dabei auf seine lockere, eher ‚alternative’ Kleidung und die Tatsache, dass er sehr viele Konzerte besucht und darüber in Foren schreibt und diskutiert. Die Frequenz und Intensität wolle er aber vermindern. Er sei ohnehin sehr kulturinteressiert und lese viel Zeitung. Er tritt recht selbstsicher auf, entgegnet dem Studienberater z.B.: „Das hätte ich gerne von Ihnen gewusst“. Als Motivation für ein Jura-Studium sei auch der ‚Gerechtigkeits-Aspekt’ wichtig. Er könne sich im Übrigen auch nicht vorstellen, Lehrer zu sein. Die Atmosphäre des Gesprächs ist lockerer als bei den bisherigen Gesprächen. Der Berater baut mich sogar kurz mit in das Gespräch ein, was sonst nicht vorgekommen ist. Es wird darüber diskutiert, ob Herr C tatsächlich auf seine KulturAktivitäten verzichten möchte (Konzerte und darüber schreiben), zumal er in seinem aktuellen Studium auch zwei Hausarbeiten geschrieben hat, die er als gelungen empfand. Er glaubt über die angestrebte Reduzierung diese Aktivitäten integrieren zu können. Herr C jobbt in einem Call-Center. Der Studienberater fragt diesbezüglich in eigenem Interesse nach, weil die ZAS ein Telefonberatungszentrum aufbauen wird (und mittlerweile sehr erfolgreich aufgebaut hat). Herr C soll sich über das Jura-Studium informieren, sich in Veranstaltungen setzen und Studierende befragen. Herr C wurde nicht nach der Abi-Note gefragt. Seine Eltern sind beide Lehrer. Auch Juristen gibt es in der Familie. Interessantes für die Untersuchung Herr C hat Studienprobleme, die nicht seine Identität in Frage stellen. Dies ist auch relativ schnell klar, was vermutlich ein Grund für die lockere Atmosphäre ist. Verschiedene Hintergründe, die sonst von Bedeutung sind, werden gar nicht erfragt wie etwa die Abi-Note. Auch der elterliche Hintergrund wird von Herrn C selbst ins Spiel gebracht und sogar als Entscheidungs-Impulsgeber genannt. Zu den bereits herausgearbeiteten Dimensionen, die sich hier erneut als einschlägig erweisen, scheint die Haltung der Eltern gegenüber dem vorgebrachten Anliegen hinzuzutreten. Herr C arbeitet offenbar aktiv an der Suche nach einem ‚richtigen Weg’. Es tauchen keine Anzeichen von Milieufremdheit auf, weder bezüglich der Uni allgemein, noch bezüglich des neuen Faches. Hier wird sogar ein Lebensstilunterschied thematisiert, aber nicht als Problem empfunden. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass ein Explizitmachen von Unterschieden ein leichteres Umgehen mit Differenzen ermöglicht. Werden Unterschiede als bewältigbare Unterschiede oder als Exklusionsgefühle erzeugend wahrgenommen und benannt? Die entsprechende Dimension könnte sich zwi-
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schen den Polen Exklusions- und Integrationswahrnehmung wie folgt aufspannen: Exklusion – Distanz – explizierte Unterschiede – Nähe – Integration. Studienberatungsgespräch mit Herrn E Herr E studiert im zweiten Semester Politologie auf Diplom. Er sei unglücklich mit dem Studium und spiele mit einem Wechsel zu Jura. Das Problem sei, dass er von sich aus nichts arbeitet bzw. liest. Zum einen läge das daran, dass für die Scheine, die er zwar mache, ein sehr kurzfristiges Arbeiten ausreicht. Zum anderen sei die Fülle an Lesemöglichkeiten so groß, dass man gar nicht wisse, was zu lesen sei, ob die Literatur richtig bzw. einschlägig sei. Bei Jura vermutet er, so etwas wie Hausaufgaben zu haben und klarer zu wissen, welche Texte zu lesen seien. Das Berufsbild eines Politologen sei zudem diffus. Bei einem Juristen sei dies anders. Herr E scheue zwar nicht das Risiko, sondern würde jeden Berg erklimmen, Bungeejumping machen etc., aber in die völlige Offenheit könne er nicht gehen. Er könnte zum Beispiel nie in dem Betrieb seines Vaters eine Entscheidung fällen, weil dies möglicherweise zu dessen Untergang führte. Auch an der Börse würde er sein Geld nie unsicher anlegen. Auf die Frage, was seine Eltern zu seinen Absichten meinten, entgegnet er, dass er mit seinen Eltern nicht reden könne. Die seien nie aus ihrem Dorf hinaus gekommen. Der Vater ist selbständig. Er hat ein Planungsbüro, hat aber nicht studiert, sondern ‚nur’ seinen Meister. Mit den Eltern seiner Freundin hingegen könne er gut reden. Die seien das Gegenteil: weltoffen, Ärzte, viel rumgekommen, haben in irgendeiner Form etwas mit Entwicklungshilfe zu tun. Für die Schule habe er nie viel getan, von der 8. bis zur 10. Klasse sogar überhaupt nichts. Mit relativ wenig Aufwand konnte er ein Abi von 2,1 machen. Er hat die Lehrer immer gehasst, nur eine Meinung sei da die richtige. Seine Freundin, die noch Schülerin ist, sei sehr fleißig, tue sich aber viel schwerer in der Schule. Sie glaubt, er könne was Besseres studieren als Politologie. Das Gespräch kippt, als der Berater nach den zwei Seiten fragt: ob Politologie nun eine Über- oder Unterforderung darstelle: die eine Seite, die sich in Strukturen begeben möchte, sich unter Zwang stellt und weiter ohne Aufwand Anerkennung haben will (verkörpert durch das imaginierte Jura-Studium) und die andere, freiheitssuchende Seite, die durch das Politikstudium dargestellt würde. Es wird gefragt, woher dieser Wunsch komme, sich wieder in alte sichere Gewässer zu begeben? Herr E fängt an zu weinen und sagt sinngemäß: „Jetzt bohren Sie aber ganz schön nach“. Er möchte das Gespräch dennoch fortführen. Schuld seien seine Eltern. Er berichtet über deren Anerkennungsverweigerung („Vier war eine schlechte Note und eine Zwei gar keine“). Immer hätte man noch besser sein können. Herr E hat noch viele Freunde aus seinem Dorf ganz
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unterschiedlichen Alters und in ganz anderen Welten befindlich. Er könne zum Teil nicht verstehen, dass die etwa glücklich damit seien, eine Ausbildung im Klärwerk zu machen. Nachdem Möglichkeiten des weiteren Vorgehens besprochen wurden, bedankt sich Herr E sehr herzlich. Man merkt, dass ihn das Gespräch erleichtert und ihm Emanzipations-Perspektiven eröffnet hat. Es wird über die Möglichkeit geredet, eine Therapie zu machen. Die Voraussetzungen seien günstig, weil Herr E sehr reflektiert ist und offensichtlich sehr offen sein kann. Außerdem habe er sich mit den ‚Schwiegereltern’ bereits neue Bezugspersonen gesucht. Des Weiteren solle er sich Jura gut anschauen. Interessantes für die Untersuchung Als neue Dimension taucht hier Freiheit als Überforderung auf. Die unklare Berufslage und das Problem, die ‚richtigen’ Texte zu finden, bereiten Herrn E Schwierigkeiten. Interessant ist des Weiteren, dass seine Freundin ihm auch ein höherwertiges Studium zutraut. Dies korrespondiert mit Untersuchungen, die im zweiten Kapitel vorgestellt wurden, nämlich dass der Status des gewählten Faches mit der sozialen Herkunft korreliert. Über Freunde bzw. Beziehungen kann sich möglicherweise ein Milieuwechsel leichter vollziehen. Herr E scheint zumindest in seinem Selbstwunschbild näher bei seinen ‚Schwiegereltern’ zu liegen als bei seinen eigenen. Für den späteren Interview-Leitfaden wäre also das Thema Milieuzugehörigkeit aktueller Bezugspersonen zu berücksichtigen. Studienberatungsgespräch mit Herrn H Herr H studiert im ersten Semester Geschichte und Anglistik. Letzteres ginge, aber Geschichte sei nichts für ihn, obwohl es ihn eigentlich interessiere. Das Gespräch geht sehr schnell weg vom Studium hin zu der Lebenssituation des Herrn H, was von diesem selbst initiiert wurde. Er wirkt sehr besorgt und schildert, dass seine Mutter gerade ins Krankenhaus gekommen ist, er selbst sei krank: er schlafe nicht mehr, nehme immer mehr ab, habe aber keine Bulimie. Er wolle deshalb seinen Arzt in der Nähe von Großstadt aufsuchen, der ihn schon von Geburt an kenne. Herr H hat Angst, von seinen aktuellen Verpflichtungen im Fach Geschichte zurückzutreten. Dies betrifft vor allem ein Referat bei Herrn Dr. Y. Er weiß nicht, wie er es diesem beibringen soll. Dies scheint ihn zunächst mehr zu sorgen als seine eigene Zukunft. Auch seine Wohnsituation bedrückt ihn. Sein Mitbewohner kümmere sich um nichts. Er müsse alles machen. Wenn das mögliche neue Fach, über das gar nicht gesprochen wird, auch nichts sei, dann müsse er eine Lehre „oder irgend etwas“ machen.
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Der Berater empfiehlt, sich erst mal um die Gesundheit zu kümmern und am besten ein Urlaubssemester wegen Krankheit einzulegen. Er äußert seine Besorgnis bezüglich der Gesundheit, beruhigt den Ratsuchenden aber dahingehend, dass es überhaupt kein Problem sei, dem Lehrenden für das anstehende Referat abzusagen und dass es Herrn H sogar ehre, dass er sich dort überhaupt abmelden möchte. Es werden keine Angaben zum sozialen Hintergrund gemacht. Dass Herr H relativ ‚dicht’ an der Familie zu sein scheint (=> Ausführungen zur Mutter, zum Arzt der Familie, Herkunftsort nicht weiter als 100 km vom Studienort entfernt) und die Tatsache, dass eine Ausbildung als (wenn auch Not-) Lösung gesehen wird, sprechen für eine bildungsferne Herkunft. Interessantes für die Untersuchung Eine interessante Dimension könnte das Verantwortung- und Verpflichtungsgefühl anderen gegenüber sein. Dies scheint sich vor allem Autoritäten, wie hier dem Seminarleiter, gegenüber zu zeigen. Aber auch für die Mutter und seine Wohnung äußert er ein Verpflichtungsgefühl, das ihn aber zu belasten scheint. Eine Dimension könnte also sein Verantwortung als Verpflichtungsgefühl gegenüber einem freudvollen Bezug zu ‚den Dingen’. Bildung der Dimensionen und Herleitung aus den Protokollen Nach der Vorstellung der Beispiel-Protokolle sollen nun die vier Dimensionen erläutert werden. Dabei fließen auch Aussagen aus den nicht-präsentierten Protokollen ein. (1) Aktive vs. passive Haltung Frau B ist völlig am Schwimmen und absolut passiv, geradezu blockiert. Es wird weder das Bedürfnis nach noch die aktuelle ‚Fähigkeit’ zu aktiver Gestaltung deutlich. Sie fragt, was sie tun soll und entwickelt keine eigenen Vorstellungen. Es hat eher den Anschein, als sei ihr Wunsch, dass sie irgendwo ‚rein gesteckt’ wird, wo die Probleme nicht auftreten werden. Selbst die vom Berater initiierte Suche nach für sie relevanten Kriterien eines Studienfachs findet in einer negativ-regressiven Weise statt. Von ihrem Heimatort nach Marburg gegangen zu sein, ist offenbar ein Stück aktiver Errungenschaft für sie, weshalb sie gerne daran festhalten möchte, sei es, um diesen Erfolg nicht zu verlieren. Des Weiteren hat sie augenscheinlich große Schwierigkeiten, wenn aktive Leistung von ihr verlangt wird. Dies zeigt sich unter anderem an ihrer Einschätzung
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ihres Textverständnisses, der Kunst-Mappe, deren Erstellen undenkbar scheint sowie an dem Umgang mit den anstehenden Germanistik-Klausuren. Die passive Haltung ist offenbar eng mit einem Anerkennungsbedarf verknüpft. Die mangelnde Anerkennung scheint eine lähmende Wirkung zu haben. Dies zeigt sich an dem negativ für sie ausfallenden Vergleich mit den Kommilitoninnen und an der Tatsache, dass ein unerwarteter Erfolg bei den Klausuren ihre Wechselabsichten beeinflussen könnte. Der mögliche Erfolg könnte also in ihrer Wahrnehmung die notwendige aktive Strukturierungsleistung ersetzen, was Frau B wiederum noch abhängiger von dieser Studienleistung macht. Selbst die Empfehlung des Beraters, sich mit dem Fachberater des angestrebten Diplomfachs Geographie auseinander zu setzten, wirkt auf Frau B wie eine unüberwindbare Hürde. Dies ist bei Herrn C ganz anders. Er wirkt aktiv an der Suche nach einem ‚richtigen Weg’ beteiligt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er sich selbst innerhalb des Studiums gerne als engagierter wahrnehmen würde und den Wunsch äußert, dass „ihm jemand in den Arsch tritt“. Hier wird nicht nur das Bedürfnis nach Engagement und Aktivität geäußert, sondern das Gespräch suggeriert bereits ein hohes Maß an eigenem Gestaltungswillen. Er entwickelt konkrete Vorstellungen und nimmt Einschätzungen bezüglich des anvisierten JuraStudiums vor. Er tritt selbstsicher auf und fordert Informationen vom Berater ein. Außerdem spricht er von seinen kulturellen Aktivitäten und strebt bereits einen Modus an, der ihm deren Beibehaltung im anvisierten Studienfach ermöglichen soll. Nach Marburg zurückgekehrt hat er sich innerhalb kürzester Zeit einen neuen Freundeskreis aufgebaut. Ein sehr aktiver Bezug scheint auch bei Frau I gegeben. Sie wirkt sehr offensiv-gestaltend und hat als Studentin der Sprache und Kommunikation bereits ein Praktikum bei einem mexikanischen Fernsehsender absolviert. Auch Frau D macht einen engagierten Eindruck. Die Aktivität bezüglich ihrer Nebenfach-Wechselabsicht wirkt nicht von negativen Gefühlen bestimmt, sondern eher interessegeleitet. Die anderen Ratsuchenden lassen im Gegensatz zu Frau B zwar Aktivität erkennen, die aber in Abgrenzung zu den positiv Motivierten eher eine Folge aus einer Art Zukunftsangst zu sein scheint. Sie wirken nicht fröhlich suchend, sondern empfinden einen Druck, aktiv werden zu müssen bzw. wären gerne aktiver, fühlen sich dazu aber nicht in der Lage. Frau G würde sich gerne in einer politischen Gruppierung engagieren, tut dies aber nicht, weil sie einerseits zu perfektionistisch sei, sich aber andererseits zu wenig zutraue. Herrn A, Herrn E, Herrn F und Herrn L ist es wichtig, etwas zu studieren, das ein klares Berufsbild mit sich bringt. Die zukunftsgerichtete Sinnorientierung für das Studium scheint hier wichtiger zu sein als eine mögliche aktuelle Freude am ‚Studium an sich’. Bei Herrn E ist der Wunsch nach Aktivität offenbar dem Spannungsver-
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hältnis zwischen dem Wunsch nach Freiheit – verkörpert durch sein aktuelles Politologie-Studium – und dem Wunsch nach Struktur und Sicherheit – verkörpert durch das angestrebte Jurastudium geschuldet (vgl. Dimension (2)). Er begründet dieses Spannungsverhältnis mit der Anerkennungsverweigerung durch seine Eltern. Bei Herrn L ist diese Zukunftsangst – ähnlich wie bei Frau G – mit einer Tendenz zur Unsicherheit und Selbstabwertung gekoppelt. Erst im Laufe des Beratungsgespräches wird klar, dass seine Studienleistungen deutlich besser sind, als von ihm zuvor dargestellt. Ohnehin scheint die Einschätzung der eigenen Leistung mit der aktiven bzw. passiven Haltung verknüpft. Herr H empfindet Aktivität als Druck bzw. Pflicht und es fällt ihm schwer, aufgrund seiner Erkrankung von dieser zurückzutreten, vor allem wenn Autoritäten im Spiel sind. Diese Aktivitätsanforderungen scheinen ihn im wahrsten Sinne des Wortes eher krank zu machen. Bei diesen Fällen vermitteln die Aktivitäten deshalb eher den Eindruck aus Zukunftsangst bzw. wahrgenommener Notwendigkeit oder Pflichtgefühl heraus entstanden zu sein. Sie sind nicht – wie bei Herrn C und Frau I – mit Freude und Neugierde besetzt. Es wird bei der weiteren Untersuchung also nicht nur nach passiven bzw. aktiven Haltungen zu schauen, sondern auch zu rekonstruieren sein, wie eine vermeintlich aktive Haltung motiviert ist. Die Dimension könnte sich wie folgt aufspannen: Aktive Haltung aus Interesse – Aktive Haltung aus Notwendigkeitswahrnehmung heraus – Passive Haltung. Sie scheint verknüpft mit den Variablen: Verantwortungs/Verpflichtungsgefühl, Wahrnehmung der Erreichbarkeit von Erfolgserlebnissen/ Anerkennung und der Selbstachtung bzw. -abwertung. Auffallend ist, dass die aktiven Haltungen aus Interesse und Neugierde heraus bei den beiden hochschulbildungsnahen Studierenden (Herr C und Frau I) vorzufinden sind, wohingegen Aktivität aus Notwendigkeit (Herr A, E, F, H und L) und erst recht Passivität (Frau B) eher am bildungsfernen Pol angesiedelt scheinen. (2) (Wunsch nach) Freiheit vs. (Wunsch nach) Struktur Einerseits ist Herr A sehr interessiert an stabilen Strukturen und macht sich Gedanken über die spätere Verwertbarkeit des Studiums. Ein festes Berufsbild scheint wichtig und das Studium soll praxisnah sein. Ein mögliches Informatikstudium kommt nur in der ‚angewandten’ Variante in Frage und auch Medienwissenschaften habe er sich ‚angewandter’ vorgestellt. Außerdem sei die bisherige Fächerkombination – Medienwissenschaften, Anglistik und Friedens- und Konfliktforschung auf Magister – nicht handfest genug. Falls das neue Studienfach auch nicht das richtige sei, komme nur noch eine Ausbildung in Frage. Dies wäre dann ein deutlicher Schritt in Richtung ‚Strukturierung’. Andererseits
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hat er sich für ein relativ unstrukturiertes Magister-Studium entschieden. Selbst wenn dies teilweise aus Unwissenheit geschah, kann ein gewisser Freiheitswunsch hier kaum geleugnet werden. Dieser scheint hier aber nicht so handlungsleitend zu sein wie der Wunsch nach Struktur und Zukunfts/Anwendungsorientierung. Auch für Herrn H ist eine mögliche Ausbildung die letzte Lösung, falls sich das neue Fach als untauglich herausstellt. Hier lässt sich allerdings weniger der Wunsch nach Struktur erkennen, als vielmehr die gefühlte Notwendigkeit, aus den aktuellen Verhältnissen auszubrechen. Die Tatsache, dass Herr H kaum noch isst und schlecht schläft, erzeugt einen Veränderungsdruck. Sein Festhalten an der aktiv-verantwortlichen Gestaltung seiner Lebenswelt scheint ihn zu überfordern. Er selbst ist krank, für seine ebenfalls kranke Mutter fühlt er sich verantwortlich, es fällt ihm schwer, von der Referatsverpflichtung zurückzutreten und auch in seiner WG-Wohnung müsse er sich wegen der Versäumnisse seines Mitbewohners um alles kümmern. Auch der Wechselwunsch von Frau B vom Lehramtsstudium Germanistik und Geographie auf Diplom-Geographie kann als Bedürfnis nach Klarheit und Praxisorientierung angesehen werden, weil ihr Germanistik zu philosophisch und theoretisch sei und gar nicht so wie Deutsch in der Schule. Geographie hingegen laufe ohne Theorie ab, dort sei noch kein einziger Text ausgeteilt worden. Herr L lässt sich von schlechten Prognosen bezüglich einer beruflichen Tätigkeit nach dem Studium verunsichern. Er wertet seine eigenen Leistungen an verschiedenen Stellen ab, und eine zukunftsgerichtete Sinngebung für sein Studium scheint wichtiger als die Freude am Studium an sich. Auch Herr E fühlt sich in seinem Politikstudium von den dortigen Freiheiten überfordert. Das Berufsbild eines Politologen sei unklar, außerdem reiche kurzfristiges Arbeiten für die Scheine aus, ohne dass man das Gefühl habe, etwas zu lernen; von sich aus arbeite bzw. lese er nicht. Des Weiteren wisse man nie, was zu lesen sei, bzw. ob dies richtig oder einschlägig sei. In seinem anvisierten Studienfach Jura hofft er so etwas wie Hausaufgaben zu haben. Herr E thematisiert sein großes Bedürfnis nach Sicherheit. Obwohl er beim Sport kein Risiko scheue, würde er nie sein Geld unsicher anlegen bzw. könne in dem Betrieb seines Vaters keine Entscheidung treffen, weil die Angst zu groß wäre, dass diese zu dessen Untergang führe. Der Berater greift den Gegensatz auf zwischen dem Wunsch nach Freiheit und dem Bedürfnis, sich wieder in sichere Gewässer zu begeben – verkörpert durch die beiden Studienfächer Politik und Jura. Herr E begründet dieses Problem mit der Anerkennungsverweigerung durch die Eltern und deren „begrenzten, dörflichen Horizont“. Dass es auch weltoffener geht, hat er über die Eltern seiner Freundin erfahren. Herr E begründet also seine Angst und den Widerspruch zwischen Freiheit und Sicher-
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heitsbedürfnis mit seiner sozialen Herkunft. Einen ähnlichen Fachwechsel strebt Herr C an, der aber eine ganz andere soziale Herkunft hat. Seine Eltern sind Lehrer. Auch ihm ist sein Studium (Lehramt Germanistik und Geschichte) offenbar zu unstrukturiert. Ihm fehle jemand, „der ihm in den Arsch tritt“. Dennoch ist er mit seinen bisherigen Studienleistungen zufrieden und er würde Geschichte auch gerne in sein neues Fach integrieren, weil es ihm Spaß macht. Der Fachwechselwunsch ginge mit einem Wunsch nach einem Lebenswandel einher. Strukturierung ist hier also nicht negativ konnotiert bzw. resultiert nicht aus einem Angst erzeugenden Umgang mit Freiheit, sondern ist eher mit der aktiven Zukunftsgestaltung verknüpft. Dementsprechend zuversichtlich ist Herr C auch, dass er mit dem neuen Fach Jura zurechtkommt. Er strebt diesen Wechsel nicht aus einer inneren Zerrissenheit oder Not heraus an. Hatte man bei Herrn E beispielsweise den Eindruck, dass er lieber Politik weiterstudieren würde und den Umgang mit Freiheit lernen möchte, so sieht es bei Herrn C so aus, als könne er mit Freiheit umgehen, möchte aber seine Karriere nicht gefährden. Ähnlich ist es bei Frau I. Sie empfindet den B.A.-Studiengang Sprache und Kommunikation als zu ‚wischi-waschi’, vor allem bezogen auf ihr im weiteren Sinne journalistisches Berufsziel. Der Berater empfiehlt ihr, weiterhin so selbstbewusst zu agieren und sich ihr Profil selbst zu kreieren. ‚Ihren’ Studiengang gebe es nicht. Der Wunsch nach Struktur äußert sich auch hier nicht aus einer Position der Not heraus, sondern eher aus einer der Freiheit. Herr F möchte von BWL zu Pädagogik wechseln, unter anderem weil er glaubt, dass er sich selbst dort besser einbringen kann. Er schreibe Gedichte und bringe gerne Leute zum Lachen. Dennoch möchte er „trotz Pädagogik“ viel Geld verdienen und auch seine Oma poche immer auf einen hohen Status. Auch Frau G ist sich unsicher, ob sie wirklich von dem Diplomstudiengang Politik auf die Magistervariante wechseln soll, weil diese möglicherweise von potenziellen Arbeitgebern nicht so anerkannt würde. Hier entspricht der Wunsch nach mehr Freiheit in Form des Magisterstudiums einer Art psychischen Hygienemaßnahme. Frau G fühlt sich durch die Beschäftigung mit ihrem Diplomfach sehr mitgenommen, da Themen wie Globalisierung und Arbeitsmarktpolitik sie sehr berührten. Sie erhofft sich durch die Aufwertung des Nebenfaches Geographie einen Ausgleich dafür. Es scheint unabhängig von der sozialen Herkunft eine grundlegende Problemstellung zu sein, wie sich das Studium zwischen Struktur, Status und Sicherheit auf der einen Seite sowie Freiheit und Kreativität auf der anderen Seite ausloten lässt. Auffallend ist jedoch, dass am hochschulbildungsnahen Pol eine größere Freiheitlichkeit gegeben ist, die dann sogar einen Wunsch nach Strukturierung aufkommen lässt (Herr C, Frau I), wohingegen am bildungsfernen Pol zwar der Wunsch nach Freiheit auszumachen ist, dem allerdings kaum eine
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freiheitliche Haltung entspricht, so dass eine stärkere Strukturierung und mehr Sicherheiten hier nicht als Wunsch, sondern eher als Notwendigkeiten formuliert werden, um der Spannung zwischen Wunsch nach Freiheit und akuter Unmöglichkeit, diesem zu entsprechen, zu entgehen (Herr A, Frau B, Herr E, Herr F, Herr H). Die Dimension könnte sich also wie folgt aufspannen: Freiheit – Wunsch nach Strukturierung – Wunsch nach Freiheit – Strukturierung aus Notwendigkeit – Unfreiheit. Diese Dimension scheint, wenn nicht gar Grundlage der vorherigen (Aktivität – Passivität) zu sein, sich doch wenigstens strukturhomolog zu dieser zu verhalten. (3) Inklusions- vs. Exklusionsgefühl Frau B fühlt sich nicht wohl in ihrem Studiengang. Die Germanistik-Texte bleiben ihr verschlossen, im Vergleich zu ihren Kommilitoninnen schneidet sie schlechter ab und scheint kaum Einflussmöglichkeiten zu sehen bzw. eine große Distanz zum Studieren zu empfinden. Sie glaubt, dass ein Ansprechen auf die als Missstand empfundenen Verhältnisse nichts nützen würde und sie spricht von „die“, wenn sie die Lehrenden meint. Frau B äußert eine Distanz gegenüber ihrer akademischen Umgebung, bei Frau G handelt es sich hingegen eher um ein Gefühl des Ausgeschlossen-Seins, das die allgemeine Lebensführung betrifft. Sie bekomme kaum Kontakt zu anderen Leuten. Für Frau B beispielsweise war der Schritt nach Marburg eine aktive Errungenschaft und sie will unbedingt dort bleiben, wohingegen Frau G Aversionen gegen die Stadt empfindet, in der sie ausgeschlossen wird. Für Frau G ist ihre Heimat eine Art goldener Käfig, in dem auch ihr Freund lebt und den sie so oft wie möglich aufsucht. Bei Herrn C tauchen keine Anzeichen von Fremdheitsgefühlen auf, weder bezüglich des Studiums noch bezüglich des angestrebten neuen Faches. Er hat sehr schnell neue freundschaftliche Kontakte geknüpft. Was das Fach betrifft, wird von ihm sogar ein Lebensstilunterschied thematisiert („Juristen sind schon anders“), aber nicht als Problem empfunden. Hier ist allerdings anzumerken, dass der Lebensstilunterschied zwischen Herrn C und dem in der juristischen Fakultät dominanten kaum einem extremen Habitusunterschied entspricht. Beide Ausprägungen gehören zu den Freiheitsgraden, die ein legitimer Habitus ermöglicht. Die Dimension scheint sich von einem Integrationsgefühl hin zu dem Gefühl, eine große Distanz zu erleben, bzw. ausgeschlossen zu sein, zu erstrecken. Ist eine subjektive Integration gegeben, können sogar Lebensstilunterschiede als nicht bedrohlich wahrgenommen werden. Eine Strukturhomologie zu den anderen Dimensionen ist zunächst nicht zu erkennen.
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(4) Lage, Habitus und Haltung von Bezugspersonen Eine Beteiligung der Eltern am Entscheidungsprozess bezüglich eines Studienfachwechsels ist bei Frau B gar nicht vorstellbar, entsprechend verwundert reagiert sie auf die betreffende Frage des Beraters. Die Eltern repräsentieren ein bildungsfernes Milieu und scheinen in der Wahrnehmung von Frau B auch meilenweit von ihrem aktuellen Leben und ihrer aktuellen Entscheidung entfernt. Über Bezugspersonen aus ihrer aktuellen Umgebung wird nichts bekannt. Bei Herrn A finanzieren die Eltern einen Teil des Studiums. Für seinen Vater, der leitender Industriekaufmann ist, wäre ein Studienfachwechsel o.k., wenn das Fach nicht das richtige ist und der Wechsel bald erfolgt. Die Eltern von Frau M würden ihr ein neues Studium komplett finanzieren, obwohl sie bereits im fünften Semester Jura studiert. Herr L thematisiert eine Abweichung der elterlichen Wünsche bezüglich seines Studiums. Die Eltern sind seit seiner Geburt getrennt und er ist bei seiner Mutter aufgewachsen. Sein Vater ist Arzt und hätte es gerne gesehen, dass sein Sohn auch Medizin studiert. Seine Mutter, eine Krankenschwester, unterstützt den Sohn in dessen Wünschen. Bei Herrn E dienen die Eltern als negatives Vorbild. Er ist der einzige, der seine Probleme unter anderem mit seiner sozialen Herkunft in Verbindung bringt. Die Eltern seien nie über die Dorfgrenzen hinaus gekommen und entsprechend verbohrt. Mit ihnen könne er nicht reden, im Gegensatz zu den Eltern seiner Freundin, die als in der Entwicklungshilfe tätige Ärzte viel weltoffener seien. Möglicherweise kann sich über diese Beziehung zu seiner Freundin und deren Eltern ein Milieuwechsel leichter vollziehen. Herr E hat zwar noch viel Kontakt zu Leuten aus seinem Dorf, kann aber deren Zufriedenheit nicht nachvollziehen, etwa damit, eine Ausbildung im Klärwerk zu machen. Die einzigen Gespräche, in denen die Eltern von den Ratsuchenden selbst ins Spiel gebracht werden, sind die mit den beiden hochschulbildungsnahen Studierenden. Von Herrn C werden die Eltern sogar als Impulsgeber für seine Veränderungswünsche genannt. Frau I berichtet, dass ihr Vater ihr als Unternehmer in Mexiko ein Praktikum bei einem mexikanischen Fernsehsender verschafft hat. Zu den bereits herausgearbeiteten Dimensionen scheint die Haltung der Eltern gegenüber dem vorgebrachten Anliegen hinzuzutreten (‚Impulsgeber’ vs. ‚sie tolerieren es’, vs. ‚ihre Beteiligung ist gar nicht vorstellbar’). Über Freunde bzw. Beziehungen kann sich möglicherweise ein Milieuwechsel leichter vollziehen. Für den Leitfaden wäre also das Thema Milieuzugehörigkeit aktueller Bezugspersonen zu berücksichtigen. Neben allen subtilen Mechanismen wird in dem Gespräch mit Frau I das ‚Substanzielle’, nämlich über Beziehungen an konkrete Stellen, aber auch an Zukunftsvorstellungen heran zu kommen (‚Vitamin B’), deutlich. In dem Ge-
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spräch mit Frau K erweist sich einzig die Ausprägung ‚Alleine mit allem Zurechtkommen Müssen’ als einschlägig, so dass sich die Dimension wie folgt darstellt: Vitamin B als substanzielle Hilfe – Zugang zu milieuadäquaten Beziehungen als moralisch-ideelle Unterstützung – Peers als psychische Stütze – ‚Mit allem alleine zurecht kommen müssen’. Am bildungsnahen Pol sind substanzielle Helfer und Impulsgeber in Form der Eltern quasi-natürlich vorhanden, wohingegen man am bildungsfernen Pol auf sich reduziert ist oder – aus welchen Gründen auch immer – im privaten Bereich, d.h. über Studienkontakte hinausgehende, Beziehungen zu Personen aufgebaut hat, die die Freiheitlichkeit des akademischen Feldes, also des Zielmilieus, verkörpern. Auch diese Dimension verhält sich strukturhomolog zu den anderen. 3.2.2 Wochenbücher Die Notwendigkeit, lebensweltliche Konstruktionen aus der Phase des Studienbeginns zu sammeln, ergab sich aus einer ersten groben Analyse der Interviews mit fortgeschrittenen Studierenden. Einerseits zeigt diese, dass große Unterschiede der Habitus-Struktur-Bewältigung vorliegen, wo doch häufig von einem Sozialisationseffekt der Hochschule die Rede ist, der einhergeht mit einer Habitusmodifikation, weg von bisher Verinnerlichtem hin zu Elementen eines Fachhabitus, also zu einer größeren Schnittmenge mit anderen individuellen Habitus im gleichen Studienfach (vgl. Vosgerau 2005). Andererseits steht in der psychologischen Literatur das ähnliche Leiden vieler Studierender bzw. die Anforderungen, die zu Beginn der neuen Statuspassage Studium an mehr oder weniger alle gestellt werden, im Vordergrund. Unterschiedliche Umgangsweisen und -möglichkeiten geraten dabei leicht aus dem Blickfeld. Die Untersuchung von Friebertshäuser (1992) thematisiert bereits sozial differenziert habituelle Passungsprobleme in der Übergangsphase. Dies macht es notwendig, sich auch den Beginn des Studiums anzuschauen und diesen danach zu befragen, inwieweit hier im Wechselspiel von Habitus und Strukturen möglicherweise spätere Umgangsweisen vorstrukturiert werden. Margret Bülow-Schramm (BülowSchramm/Gerlof 2004) versucht, Habitus-Muster sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive zu erfassen. Ihr geht es dabei vor allem um das jeweilige Zusammenspiel der sozialen Herkunft mit dem Fachhabitus. Mit der Analyse von Studierendentagebüchern in Längsschnittperspektive versucht sie, Entwicklungen zu ergründen. Mit dieser Methode sieht sie vor allem ‚direkte’ habituelle Aspekte, weniger (kognitiv gebrochene) Reflexionen der Studierenden erfasst. Hier werden also kulturelle Entäußerungen des Habitus über einen Zeitverlauf nachgezeichnet. Durch Interviews mit diesen Studierenden erhofft sie
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sodann, in synchroner Perspektive deren lebensweltliche Konstruktionen, also die kognitive Seite, zu erfassen. Im Gegensatz dazu vermeidet meine Untersuchung diese Aufteilung in habituelle und reflexive Aspekte, weil davon auszugehen ist, dass auch die Reflexion (evt. sogar über den eigenen Habitus) nicht außerhalb des Habitus stattfindet. Selbstverständlich liegen mit dem Material der Wochenbücher, das hier präsentiert werden soll – genau wie bei Interviews – Interpretationen der Studierenden über ihr Studienleben vor, also lediglich kognitiv evaluierte Aspekte werden berichtet. Dies macht insofern Sinn, als dass Situationen des Studierens, die nicht reibungsfrei qua Habitus bedient werden können, von den Studierenden in einer ähnlichen Weise reflexiv bearbeitet werden. Wer sich in Seminaren unsicher fühlt, wer sein Studienfach gerne wechseln möchte, wer sich in einer anonymen Umgebung nicht wertgeschätzt fühlt etc., reflektiert darüber und sei es nur in der Form, dass er oder sie sich selbst als defizitär erlebt und dies für sich thematisiert. Wenn Studierende also – wie geschehen – über die ersten Wochen des Wintersemesters bis zu den Weihnachtsferien in sechs Wochenberichten über ihr Studienleben berichten, sind dies keine lebensfernen MetaErzählungen, sondern es handelt sich um höchst relevante subjektive Aufschlüsse des Studienlebens. Dass ich, um die erste Studienphase zu erfassen, nicht auf Interviews, sondern auf Wochenberichte zurückgegriffen habe, liegt daran, dass ein Interview etwa nach der ersten Hälfte des ersten Semesters die Erlebnisse über den gesamten Zeitraum möglicherweise etwas verklärt hätte. Umgekehrt wäre ein Interview direkt nach der zweiten Studienwoche ungeeignet gewesen, Aspekte zu erfassen, die für die komplette Übergangsphase stehen, sich aber erst nach einigen Wochen abzeichnen. Außerdem ist nicht anzunehmen, dass sich bereits nach zwei Wochen Umgangsmodi mit wahrgenommenen Anforderungen etablieren. Es ging mir bei den einzelnen Wochenberichten nicht in erster Linie darum, intrapersonale Entwicklungen nachzuzeichnen, sondern vielmehr darum, ‚frische’ Eindrücke und Bewertungen zu erhalten. Die Konzentration auf ein Studienfach sollte sicherstellen, dass unterschiedliche Muster nicht bloß unterschiedlichen Fachkulturen geschuldet sind. Mit dem gleichen Argument hätte ich freilich auch etwa nur männliche Studierende auswählen können. Wie die Ergebnisse aber zeigen, finden sich Geschlechtergrenzen transzendierende Muster der Wahrnehmung der Anforderungen des Studienlebens und des Umgangs damit. Die Berichte wurden von Erstsemester-Studierenden des Faches B.A. Sozialwissenschaften der Universität Marburg verfasst. In der zweiten Sitzung einer
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Einführungsveranstaltung57 habe ich die – mir nicht bekannten – Studierenden über mein Vorhaben informiert und diese konnten mir über einen kleinen Rekrutierungsfragebogen ihre Bereitschaft zur Teilnahme signalisieren. Der Fragebogen enthielt bereits Angaben zum formalen Bildungsgrad der Eltern und zu deren Berufstätigkeit, also zur sozialen Herkunft der Studierenden. Ich habe daraufhin vorwiegend diejenigen angeschrieben, die klar einer der beiden Gruppen ‚bildungsfern’ und ‚hochschulbildungsnah’ zuzuordnen waren. Es handelte sich hierbei um 26 Personen, von denen ich zehn für die Untersuchung gewinnen konnte. Von den sechs Wochenbüchern, die ich an Rücklauf hatte, stammten drei von Studierenden aus bildungsfernen Familien, zwei von solchen aus hochbildungsnahen Elternhäusern und eine Person stammt aus einer Familie, in der keine Hochschulbildungserfahrung vorliegt, die Mutter aber eine Hochschulzugangsberechtigung (Abitur) hat. Die Analyse der sechs Wochenbücher erfolgte zunächst mit einem inhaltsanalytischen Verfahren. Dabei wurden nicht die kompletten Wochenbücher transkribiert, sondern die nach mehrmaligem Materialdurchgang für die hiesige Fragestellung als wertvoll erscheinenden Textstellen, insgesamt etwa 3/4 des kompletten Textes. Nach mehrmaligen Paraphrasierungs- und Komprimierungsdurchgängen wurde der Text zunächst auf sechzehn Kategorien kondensiert, die teilweise noch Unterkategorien aufweisen. Im Anschluss daran wurden die sechs Einzelfälle anhand der Kategorien expliziert, so dass sechs Einzelfalldarstellungen vorliegen, die auf die Kategorien Bezug nehmen. Dazu wurde erneut das komplette Textmaterial gesichtet und die Interpretation dort entsprechend erweitert, wo Textstellen aus dem nicht-transkribierten und kategorisierten Material zum Verstehen des Einzelfalls beitrugen. Die Analyse der Einzelfälle zeigt bereits, wo Kategorien sich überschneiden, wo sie Teil oder Pole derselben Dimension darstellen, bei welchen Personen, welche Kategorien wie ausgeprägt und wie wesentlich erscheinen. Die Überschneidung von Kategorien ergibt sich zum Teil bereits aus der Codierung, d.h. es gab Textstellen, die doppelt oder gar mehrfach vercodet wurden. Die Analyse der Einzelfälle konnte zeigen, ob und welche Kategorien darüber hinaus zusammenhängen und sich eventuell sogar als zwei Pole einer Dimensionierung begreifen lassen. So gibt es einerseits innerhalb mancher Kategorien verschiedene Muster, so dass diese sich zu Dimensionen aufspannen. Andererseits treten manche Kategorien nur bei bestimmten Studierenden auf. Wieder andere Kategorien konnten zu einer Dimension zusammengefasst werden, weil ein gemeinsamer Oberbegriff gefunden wurde, der die ursprünglichen Labels nicht 57 An dieser Stelle danke ich dem Veranstaltungsleiter, Markus Weber, sehr herzlich für seine Unterstützung.
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entstellt. So wurden verschiedene Textstellen etwa mit ‚Studieninhalte’, andere mit ‚Studienablauf’ vercodet. Die Zusammenschau der betreffenden Textstellen zeigt, dass Studieninhalte bei bestimmten Personen gar nicht erwähnt werden, diese jedoch viel stärker kritisch über den Studienablauf berichten. Diese beiden Kategorien wurden deshalb zur Dimension ‚Studium’ zusammengefasst, mit den vermeintlichen Polen ‚Studieninhalte’ und ‚Studienablauf’. Zum Aufschlüsseln einer Kategoriegeschichte wurden nicht nur die Einzelfallgeschichten verwendet, sondern vor allem auch die Zusammenschau aller Aussagen über alle Fälle, die einer Kategorie zugeordnet wurden, bzw. die zur Bildung dieser Kategorie beigetragen hatten. Die Kategorien wurden also inhaltsanalytisch ausschließlich aus dem Material gebildet. Letztlich können die folgenden sechs dimensionierten Kategorien, die zum Teil noch Unterkategorien aufweisen, das Material explizieren: (1) Neue Situation (Neugierde/Emanzipation vs. Fremdheit/Angst/Zweifel); (2) Kommilitoninnen und Kommilitonen (Gesamtgruppenwahrnehmung vs. Gruppen-/Klassenbezug); (3) Anonymität (Kontaktprobleme vs. Anerkennungsprobleme); (4) Freiheit/Struktur (Freiheit als Tatsache vs. Freiheit als Wunsch; Struktur als notwendiges Übel vs. Struktur als Bedürfnis); (5) Aktivität (Aktivität aus Interesse vs. Aktivität aus Pflichtbewusstsein bzw. Passivität/Rückzug; studiennahe Freizeit vs. studienflüchtige Freizeit; symbolorientiertes politisches Engagement vs. personenbezogene Mikropolitik); (6) Studium (Studieninhalte und Kritik vs. Studienablauf und Kritik; Auslandsaufenthalt aus Interesse vs. kein Auslandsaufenthalt bzw. präsent als Qualifizierungsdruck). Geschichten der Einzelfälle Es sollen zunächst Kurzvarianten der sechs ‚Geschichten der Einzelfälle’ präsentiert werden, bevor dann die ‚Geschichte der Kategorien’ vorgestellt und vor dem Hintergrund der Habitus-Struktur-Konflikt-Heuristik expliziert werden kann. Dass bereits bei den folgenden Beschreibungen einige Überlegungen einfließen, die an diese Heuristik anknüpfen, entspricht also nicht den Analyseschritten, sondern ist dem begrenzen Darstellungsraum geschuldet. Alle auftretenden Personennamen sind selbstverständlich geändert. Dies gilt auch für die Ausführungen zu den Interviews im Kapitel 3.2.3.
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Mira (19 Jahre alt) Für Mira kommt bereits der erste Kontakt mit ihrem Studium bzw. ihren Kommilitoninnen in der Orientierungswoche einem Schock gleich. Sie empfindet sich als anders als die Anderen, was sie zunächst am Aussehen vor allem der Frauen festmacht. Die Kommilitoninnen sind viel alternativer angezogen und nicht so geschminkt wie sie selber: „Ich war vermutlich das Mädchen mit dem meisten Make-up im Gesicht und niemand außer meiner Freundin trug pinke Schuhe passend zum Haarreif. Der Rest der Leute, zumindest der größte Teil sah aus, als würden sie sich ihre Anziehsachen selbst stricken und nebenbei auf Bauernhöfen arbeiten“ (Abs. 2). Dieser Eindruck verfestigt sich in den ersten Wochen des Studiums und wird in Miras Empfinden neben dem Äußerlichen auch durch die Haltung ‚der Anderen’ gedeckt. Mira nimmt wahr, dass viele sich keine Gedanken gemacht haben, was sie da studieren würden und Sozialwissenschaften entweder mit Sozialarbeit verwechselt hätten, oder es einfach ohne Ziel, ‚so zum Spaß’ studieren. Viele ihrer Kommilitoninnen kehren ihre ‚sozial engagierte’ Seite heraus, wüssten aber gar nicht, wofür sie dieses Fach studieren und seien entsprechend frustriert und abbruchgeneigt. Zusammengefasst nimmt Mira ihre Kommilitonen als nicht-ehrgeizig, falsch informiert, alternativ-lotterig, pseudointellektuell, ziellos und mit einer Art ‚Helfer-Syndrom’ belastet, wahr. „Ich will damit übrigens nicht sagen, dass ich die Leute alle wegen ihrem Aussehen nicht mag, es ist nur so, dass man sich ja meist Leute mit ähnlichen Interessen sucht und letztens habe ich mit ner Kommilitonin im Bus geredet und sie hat erzählt, wieso sie SoWi studiert. Sie sagt, sie wolle Menschen helfen. In ihrer Freizeit würde sie in ihrer Gemeinde alte Menschen pflegen und so. Ja, ich weiß, dass das total toll und nobel ist, aber ich dachte mir echt, ich wär im falschen Film. Dann soll die soziale Arbeit oder so studieren, sie meinte, sie hatte vorher auch schon ein freiwilliges soziales Jahr gemacht und all solche Sachen. [...] und wenn dann Ivana (ebenfalls Kommilitonin, 25) sagt, sie hat 12 Semester Jura studiert, ist aber erst im dritten !!! (kein Scherz) und bricht das Studium jetzt ab, weil sie Sozialwissenschaften studieren will ohne Berufsziel, dann frage ich mich ehrlich, wie es diese Leute geben kann, die gar kein Ziel vor Augen haben, ja, das war sehr unangenehm.“ (Abs. 7). Mira empfindet sich als andersartig und ist der Auffassung, dass die Leute ‚hier’ nicht zu ihr passen. „Eigentlich ist der größte Punkt, der mich hier stört, dass ich keine Leute um mich hab, die ich gerne mag. Ich war es irgendwie von zu Hause gewohnt, meine Leute zu haben, ich hatte sie gerne, sie mich und vor allem hatten wir hier alle den gleichen Humor. Wenn man in der Uni irgendwas aus Spaß sagt, drehn sich schon 3 Leute vor mir um und gucken blöd, weil sie
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denken, dass ich es ernst meine. Mir fehlen echt Leute, die zu mir passen“ (Abs. 10). Dennoch hält sie sich selbst für ‚normal’ und ‚vernünftig’, was sie den Anderen teilweise abspricht. Sie hat eher den Eindruck, dass nicht sie, sondern die Anderen im ‚falschen Film sind’. „Jetzt zum Thema ‚vernünftig’, echt alle Leute, die ich bisher kennen gelernt hab, sind es kein bisschen. Zumindest nach meiner Definition. Von der mit dem Alkoholproblem hab ich berichtet, die die Treppen bei der UB runtergestürzt ist. Ihre beste Freundin, auch in unserem Studiengang, kommt fast nie zur Uni und hat ‚auch eigentlich kein Bock mehr auf Sozialwissenschaften’. Sie will lieber was auf Lehramt machen (früh überlegt). Und die zwei Mädels aus Großstadt, die gehen gar nicht“ (Abs. 14). „Ja echt krass finde ich nach wie vor, dass hier irgendwie jeder, mit dem ich rede, dieses Studium abbrechen will. Das geht mir auf die Nerven, haben die sich alle vorher nicht informiert oder was? Verena sagt, SoWi ist ihr zu lahm, wechselt zu BWL, das Mädel aus der FuK58-Gruppe sagt ‚Studieren ist nichts für mich’, Carla sagt: Ich will lieber was anderes machen, bewirbt sich für Kunstpädagogik. Aber am heftigsten war dieser Bursche aus dem Theorienkurs, mit dem ich geredet hab, der will das Grundstudium zu Ende machen, auf meine Frage, was er dann vorhat, meinte er, er wolle Lehrer werden. Für Politik oder was, fragte ich. Nein, Kunst und Sport, war seine Antwort. SoWi studiere er nur aus Interesse, weil ihn die Gesellschaft interessiert, aber damit will er nichts machen später. Mein Gott, eigentlich will ich die Leute jedes mal fragen: ‚Sag mal, geht’s noch?’ Kostet ja auch alles nix! Mich nerven diese ganzen Leute, die ihr Leben und ihre und unsere Zeit verschwenden, weil sie nicht wissen, wohin sie wollen. Als hätte man nicht 13 lange Schuljahre Zeit gehabt, sich zu überlegen, was man mit sich anfangen will. Mich nerven die einfach total, weil ich einfach niemanden finde, der auch nur ansatzweise das gleiche Ziel hat und mit der gleichen Motivation an das Studium herangeht wie ich. Es kann doch nicht sein, dass die es alle total verpeilt haben, sich über die Zukunft Gedanken zu machen, bevor sie anfangen irgendwas zu studieren. Ich weiß auch nicht, wo all die normalen Leute hin sind. [...] Was ich bisher so mitgekriegt hab, sind die Leute einfach total erschrocken darüber, dass man mit Sozialwissenschaften direkt niemandem hilft, dass man keine Brötchen für Lau auf der Straße verteilt, sondern dass es um Staat, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft geht. Überraschung! Wie gut, dass ich vorher die Studieninfo gelesen hab, sonst hätte ich wohlmöglich auch geglaubt, ich wär beim Hilfswerk gelandet. Wie gesagt, wo sind nur die normalen Leute geblieben?“ (Abs. 31).
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Diese Souveränität des eigenen ‚Normal- bzw. Vernünftig-Seins’ spiegelt sich jedoch eher auf der Ebene der Rationalisierung wider und bedeutet nicht, dass Mira nicht unter der Situation leidet. Ganz im Gegenteil vermisst sie Leute, die so ‚ticken wie sie’ und sie hat Angst, von den anderen mit runtergezogen zu werden. Obwohl bzw. weil sie ihre Kommilitoninnen größtenteils nicht mag, hat sie Desintegrationsempfindungen. „Ich hasse die Gruppe, alle kennen se sich da ganz pralle mit Politik aus und ich sitz da nur und beehre die mit meiner Anwesenheit, klar hab ich auch Zeitungsartikel und allen Scheiß rausgesucht, aber ich fühl mich da nie so wirklich integriert“ (Abs. 9). Dieser Angst begegnet sie mit einer kämpferischen Haltung („aber so leicht geb ich nicht auf“), mit Fleiß im Studium, wo sie verschiedene anstehende Aufgaben – wie Referate halten – schon frühzeitig ‚wegschafft’ und mit der Übernahme von exponierten Rollen, die etwas Anerkennung versprechen. Dennoch ist es schwierig, der von ihr bemängelten Anonymität der Uni etwas entgegen setzen zu können. In der Schule war es für sie deutlich leichter, als Person wahrgenommen zu werden, herauszustechen. „Ich empfand es als sehr angenehm die Referate zu halten, weil man im Studium, anders als z.B. in der Schule, nie etwas eigenes zu Themen beitragen kann. Es interessiert sich während einer Vorlesung niemand für deine Meinung, bei den Referaten wurde man erstmals als Person, nicht als ‚Gruppe’ wahrgenommen. Und ich fand es toll, mal wieder vor Publikum zu stehen (viel Theater-/Musikerfahrung). [...] Gefallen hat mir an den Referaten auch noch, dass echt viele Leute nachher ankamen und gesagt haben, dass sie es toll fanden, Leute, die ich gar nicht kannte. Ja das war mal ein Erfolgserlebnis“ (Abs. 4/5). „Noch schön fand ich diese Woche, dass der Professor gesagt hat, unsere Gruppe sollte die Aufgabe vorstellen, und da keiner wollte, ich das dann gemacht hab. Ist doch viel interessanter alles so“ (Abs. 24). Außerdem sucht Mira Sicherheit durch eine intensive Beschäftigung mit ihrer beruflichen Zukunft. Sie lässt sich von der Arbeitsagentur informieren, recherchiert im Internet nach Berufs- und Praktikummöglichkeiten. Dennoch benötigt sie Nischen der Geborgenheit und Gemütlichkeit, die es ihr erlauben, dem Uni-Leben, das seine negative Konnotation vor allem durch die Kommilitoninnen und Kommilitonen erfährt, zu entfliehen. Sie beneidet eine Freundin, die in Freiburg Jura studiert, wo sich alle gegenseitig mit Küsschen begrüßten. Sie fährt sehr oft nach Hause und freut sich jedes Mal darauf, insbesondere auf die Weihnachtszeit und ihre nun gemütliche und weihnachtlich geschmückte Wohnung; außeruniversitäre, ‚alte’ Kontakte sind ihr wichtig und sie plant, das Semesterticket ausgiebig zu nutzen und Marburg am Wochenende den Rücken zu kehren. „Was noch toll war, ich hab meine Cousine in Mittelstadt besucht, die is Krankenschwester und ihr kann ich mein ganzes Leid klagen *g*, sie
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findet ’s in Mittelstadt genau so Scheiße wie ich hier in Marburg. O.K. und zum Schluss noch: es ist echt schwierig sich bei mieser Laune so viele positive Sachen aus der Nase zu ziehen!“ (Abs. 9). Zudem freut sie sich über die Anschaffung eines Fernsehgerätes, das ihr Ablenkung verschafft, genau wie der günstige Vertrag mit einem Fitnessstudio. Ihr Lebensstil, den sie in einem aufstiegsorientierten, bildungsfernen Milieu erworben hat, ist geprägt von dem Anspruch, herauszuragen und Anerkennung zu bekommen. Diese Haltung ist logischerweise kombiniert mit einer großen Sensibilität für die kulturellen Performanzen anderer. Mira weist gewissermaßen eine hohe analytische Sozialraumkompetenz auf. Sie beschreibt nicht nur ihre Kommilitoninnen sehr genau, sondern sie thematisiert beispielsweise Lebensstilunterschiede zwischen Studierenden unterschiedlicher Fächer. „Nächste Woche wollen wir auf die Juristenparty, in anderen Studiengängen Freunde suchen. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass sich die Leute in verschiedenen Studiengängen anders kleiden? [...], na ja, deshalb andere Partys, andere Studiengänge“ (Abs. 7). Außerdem ist Mira sensibel dafür, die Mitarbeiterin der UniversitätsBibliothek als zuvorkommend wahrzunehmen, deren Engagement anderen Studierenden mit großer Wahrscheinlichkeit als selbstverständliche Dienstleistung erscheint. Diese praktische Solidarität mit dominierten Positionen – z.B. mit nicht-wissenschaftlichen Angestellten im akademischen Feld – lässt sich als eine Art ‚Mikropolitik’ sozialer Aufsteiger bezeichnen. Es findet sich aber nicht nur die strukturhomologe Solidarität, die im Habitus-Struktur-Modell thematisiert wurde, sondern die ebenso beschriebene negative kollektive Identitätszuschreibung, wie hier der ‚Russenakzent’: „Ich hab in dem supertollen Modehaus ‚Takko’ meinen Job gekündigt. Es war da doch echt nur mies. 5 Euro die Stunde und ich musste jedes Mal den ganzen Laden saugen und obwohl ich alles 3 mal gemacht hab, damit es sauber wurde, kam nachher noch die dämliche Mitarbeiterin mit ihrem Russenakzent an und meinte (nachdem ich den Staubsauger weggeräumt hatte), ‚Frau Ingelbert, hier müssen Sie aber noch mal machen, ist noch alles dreckig’“ (Abs. 13). Am Beispiel des Jobbens zeigt sich auch ein Wissen um die eigene Zugehörigkeit zur Gruppe der wenig privilegierten Studierenden, das mit Verachtung aber auch Neid gegenüber den Kommilitonen gekoppelt scheint: „Hab mir letzte Woche ‚n Job gesucht. Ich finde es blöd, sich das Studium von den Eltern bezahlen zu lassen und ihnen ständig auf der Tasche zu hängen und zu wissen, dass ich so lange studieren kann, wie ich will, weil Mami und Papi ja zahlen. Meine zahlen die Miete und sonst nichts“ (Abs. 8). Mira weist zwar gerade nicht das von ihr bemängelte ‚strukturelle Helfersyndrom’ ihrer Kommilitoninnen auf, dennoch ist sie solidarisch mit dominier-
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ten Positionen und hilfsbereit. Sie trägt beispielsweise einer alten Frau ihre Einkaufstüten zu der wegen einer Baustelle versetzten Bushaltestelle. Ihr aufstiegsorientierter, anerkennungs- und geborgenheitsbedürftiger Habitus, der zudem nach Strukturierung und beruflicher Anwendungsorientierung verlangt, widerspricht den Ansprüchen des Studienfaches Sozialwissenschaften keinesfalls. Ganz im Gegenteil scheint Mira recht mit der Einschätzung zu haben, dass eher die anderen sich ein falsches Bild des Faches gemacht hätten, wenn sie davon ausgingen, dass es sich um so etwas wie Sozialarbeit handelte. Vor allem die ausgeprägte Sozialraumkompetenz vermittelt vielmehr den Eindruck, dass sie das richtige Fach studiert. Mira ist zudem selbst in der Lage, ihrem Studium die für sie nötige Strukturierung und Berufsorientierung zu geben, auch wenn sie unter der vermeintlichen Offenheit des Studiengangs leidet: „Ich hab mich auch wieder sehr viel informiert wegen Weiterbildung, dieser vollkommen offene Studiengang bereitet mir schon Kopfschmerzen, aber es sieht echt ganz gut aus, wenn ich mal im zweiten oder dritten Semester anfange, Praktika zu machen. => Ich hab übrigens schon total tolle Angebote im Internet gesehen, dann klappt das schon alles. Man kann sich echt viel weiterbilden, hab auch so Broschüren von ILS (Fernhochschule) und vom Arbeitsamt angefordert. Das motiviert mich echt, einen Sinn hinter diesem ‚Methodenvollsaugen’ zu sehn“ (Abs. 29). Was einem zufriedenen und möglicherweise später auch erfolgreichen Studium dennoch im Wege zu stehen scheint, ist zum einen, dass das Studium nicht ausreichend Anerkennung zu spenden vermag, weil die Anonymität zu groß ist und man nicht ausreichend als Persönlichkeit wahrgenommen wird: „Und was mich auch noch immer stört ist, dass man niemand ist. Zu Hause kannte jeder einen, in der Schule die Lehrer, man konnte sich selbst ausleben, wurde vielseitig gefordert. Hier sitzt man nun jeden Tag rum und wartet“ (Abs. 12). Zum anderen – und das ist das zentrale Thema für Mira – sind es die Kommilitoninnen, die sie zwar losgelöst vom Fachlichen betrachten kann, die aber dennoch das Leben in diesem Studienfach, die Fachkultur, die hier offenbar gar keine Fachkultur im eigentlichen Sinne ist, prägen. Die Geschichte von Mira lässt sich sehr gut über die aus dem gesamten Material der Wochenbücher extrahierten Dimensionen abbilden: Dem Empfinden von Anonymität und dem Bedürfnis nach Anerkennung wird eine Aktivität aus Notwendigkeit sowie Pflichtbewusstsein und Fleiß entgegengesetzt, der sich weniger aus dem freudvollen Bezug zu den Dingen speist, als aus dem Gefühl heraus, bereits etwas hinter sich gebracht zu haben: „Ja, ganz gut finde ich, dass wir (ich und 5 Kommilitoninnen) uns entschieden haben, unsere Teilmodulprüfung zusammen bei Hr. Althaus zu machen. Die Gruppe ist ganz O.K. und wir machen mal was Sinnvolles. Außerdem haben wir das dann hinter uns und nächstes Semester weniger zu tun“ (Abs. 9). „Am Montag hab ich auch ein
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Exzerpt abgegeben, welches ich am Wochenende geschrieben hab. Ist ganz gut, jetzt hab ich die schriftliche Übung damit gemacht und muss nur noch eine Hausarbeit schreiben“ (Abs. 19). „Was mich sehr angekotzt hat, war, dass wir uns Montag mit unserer Gruppe treffen wollten (6 Leute, Exposé (über sozialschwache Familien)) aber die eine nicht gekommen ist und sie hatte die Unterlagen. Dienstag waren 3 Leute nicht da und ich muss sagen, mit jedem Mal, das ich in so ner scheiß inkompetenten Gruppe mitmachen muss, hasse ich Gruppen mehr. Teamwork ist halt, wenn alle mitmachen und nicht so. Die FuK-Gruppe ist zwar aufgrund des Themas nicht gerade ne Erfüllung, aber 100% verlässlich und weiß Gott nicht so dämlich. Bloß weil die Leute nett sind in dieser 6er Gruppe ham sie noch lange keinen Bock, auch was zu tun. Das sind schon wieder alles so Leute, die in der Vorlesung sitzen und sagen, wie Scheiße und langweilig alles ist. Solche Leute brauch ich nicht um mich herum, die hab ich schon in der Schule gemieden. Solche ziehn einen nur runter. Mir macht hier auch nicht alles Spaß, aber ich interessiere mich dafür, weil ich weiß, wofür ich es mache. [...] Die Leute sind hier einfach nach wie vor das Schlimmste. [...] Ich fang jetzt bald an mit meiner ersten Hausarbeit (Bin wahrscheinlich die einzige, die schon ein Thema hat, ‚Streber’), aber was soll’s, kann ich mich wieder um andere Dinge kümmern“ (Abs. 27). Außerdem versucht Mira der Anonymität durch ein Herausragen zu begegnen. Als entsprechend problematisch empfindet sie es, dass die Uni im Gegensatz zur Schule und ihrer ‚Bühnenvergangenheit’ dazu kaum Gelegenheit bietet und wenn das äußerliche Auffallen durch eine Kommilitonin konterkariert wird: „Was ich noch total nervig finde, ist, dass eine Kommilitonin, mit der ich ziemlich viel zu tun habe, mir im Moment alles nachmacht. Mich nervt das total. Ist zwar eigentlich total unwichtig, dass ich es erwähne, aber das regt mich auf. Sie hat sich eine Jacke gekauft, die ich auch hab, einen Pullover und jetzt hat sie sich noch die gleiche Frisur schneiden lassen. Na ja, ich glaube ja immer noch, dass Leute, die alles nachmachen, sowieso nicht weit kommen im Leben. ‚Wer keinen eigenen Weg findet, muss im Schatten anderer wandeln’. Außerdem steht ihr die Frisur nicht -“ (Abs. 16). Weitere Umgangsweisen scheinen der schon angesprochene Rückzug in Geborgenheit und Gemütlichkeit sowie in Freizeitaktivitäten (Fitness, Fernsehen) zu sein, die wenig Berührungspunkte mit dem Studium aufweisen. Markus (23 Jahre alt) Markus hat schon bei der Orientierungswoche, obwohl er die meisten Kommilitoninnen und Kommilitonen nett fand, das Gefühl, älter bzw. erwachsener zu sein als die anderen, was aufgrund seines bisherigen Lebensweges auch einen
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objektiven Hintergrund hat. An seinen Kolleginnen und Kollegen stört ihn – darin ist er Miras und Olivers Einschätzung sehr ähnlich – vor allem deren pseudoalternatives Auftreten, wobei es weniger das Alternative ist, was ihn abstößt, als vielmehr die Tatsache, dass es ihm nicht authentisch erscheint: „Auch extrem viele Studenten, die sich der Pseudo-Alternativität verschrieben haben, was äußerlich alternativ aussieht, ist bei 75% über 200-300€ wert, jeden Tag so angezogen, als gehe es in eine Disco. Die höheren Semester sind meist sehr viel netter, offener, ehrlicher“ (Abs. 2). Er solidarisiert sich gleich mit den höheren Semestern und bemängelt vor allem die Oberflächlichkeit seiner Kommilitoninnen und Kommilitonen, wobei er aber die Angst empfindet, dass diese Oberflächlichkeit sich mit der Entwicklung der Welt deckt und er selbst mit seiner Nachdenklichkeit dort nicht hineinpasst: „Oberflächlichkeit bei Personen, wenn diese mit anderen zusammen sind (Kneipe), unlustige Witze, banale Gespräche, Spiele wie mit 16 Jahren“ (Abs. 7). „Weil ich merke, dass ich weiter bin als viele, zu viel nachdenke, keine Zeit auf Dummheiten verschwenden will“ (Abs. 8). „Angst habe, dass ich falsch liege, ausgestoßen zu werden aus einer Welt, weil diese sich immer zur Oberflächlichkeit hin entwickelt. Zu versagen, während die ganzen Leute, die Party machen, auf mysteriöse Weise überall an der Uni super abschneiden“ (Abs. 9). Ohnehin besteht die Sorge, dass die eigene Leistung nicht ausreichend wertgeschätzt wird und andere unverdientermaßen zu Meriten kommen. Dabei kann auch die wahrgenommene Art der Leistungsüberprüfung eine Rolle spielen. Markus hat Angst, „dass die Klausuren sich zu ‚Auswendiglernarbeiten’ entwickeln“ (Abs. 4). Die Nicht-Anerkennung durch die Lehrenden wird als demotivierend empfunden: „Schade, dass kein Lob von Profs kommt, Arbeit zahlt sich kaum aus, da Texte meist nicht in die Übungen einfließen“ (Abs. 15). „An den Diskussionen zu Referaten beteilige ich mich (wie 99% der Studenten) kaum noch, da man nie weiß, ob es stimmt oder gar nicht kommentiert wird“ (Abs. 19). „Ich höre auf, die Basistexte zu lesen, da es nichts bringt für das Seminar“ (Abs. 22). Hier wird auch der auf ‚Auszahlung’ ausgerichtete Arbeitsbegriff deutlich, der im zweiten Kapitel als typisch für bildungsferne Herkünfte ausgewiesen wurde. Das Problem der mangelnden Anerkennung scheint mit dem Problem ‚KommilitonInnen’ verknüpft. Auch da hat Markus den Eindruck bzw. die Befürchtung, dass die ‚Falschen’ geliebt werden könnten und obwohl er sich selbst als nachdenklicher und erwachsener empfindet, ist ihm der Zuspruch durch andere sehr wichtig bzw. er empfindet sich als einsam: „Bei OE waren alle nett. Einige komisch, da sehr zurückhaltend und unaktiv, z.B. bei Stadtrallye, wenn man den Geschmack einer Öko-Banane feststellen musste, also schätzen, wie diese schmeckt, traut sich keiner, etwas zu sagen. => typisch Schüler. Ansonsten
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eine Person X1, die nach Abi 1 Jahr in Australien war, dann 2 Jahre als Fahrradkurier, die sich verhält, als würde sie über allem stehen. => Ist aber mega der Volltrottel und Wichtigtuer. Nur seltsam, dass er bei allen so gut ankommt. Sehr oberflächlich“ (Abs. 1). „Angst gehabt, dass auf der Party vom Kommilitonen nur so blöde Mitstudenten kommen => X1, der unsympathische Schlaumeier z.B.; es ist keiner gekommen und es war sehr nett“ (Abs. 29). „Sehr allein, aber mit Studienkollegen 2-5 alles okay – niemand zu pushy und alles spontan – joggen, feiern“ (Abs. 31). Ähnlich wie bei Mira sind auch bei Markus Engagement und Fleiß bzw. ‚Aktivität aus Notwendigkeit’ einerseits, sowie die ‚Flucht’ nach Hause andererseits Möglichkeiten, mit den Problemen des Studiums umzugehen, wobei erstere Teil des Problems zu sein scheint und sich durch den ohnehin zu großen Arbeitsaufwand und die fehlende Honorierung offenbar als untauglich erweist: „Ich merke langsam, dass mein Workload zu groß ist. Basistexte oft 60 Seiten +; keine Möglichkeit, Thematiken zu vertiefen, sehr schade. Morgens 8h aus dem Haus, abends ca. 20h wieder daheim, dann 4h Texte lesen => kein Spaß“ (Abs. 12). „Muss aber soviel arbeiten, da ich sonst Anschluss an Stoff verliere“ (Abs. 14). „Langsam ist ein Rhythmus drin, immer sehr viel Basistexte und die Pausen werden ganz ausgenutzt. Kaffee als neue Droge“ (Abs. 18). „Klausurstress – keine Zeit für nichts. Hoffe, ich pack alles. Fahre bis 9.2. nicht heim, weil ich zu Hause nichts lernen kann“ (Abs. 30). „Kaum Zeit für Sport zum Abreagieren“ (Abs. 16). Die zweite Möglichkeit der Problembewältigung, nämlich der Kontakt zu seiner Familie und seiner Freundin kollidiert in Form eines Entscheidungskonfliktes mit dem Versuch, sich in Marburg einen Freundeskreis aufzubauen: „WE daheim oder Besuch von Freundin totale Erholung“ (Abs. 13). „Sehr traurig, am Nikolaus keine Freundin da zu haben. Das WE dafür nach Hause, aber schlechtes Gewissen, dass ich nicht mit MR-Kommilitonen Party machen kann. Daheim kaum/keine Möglichkeit zu lernen“ (Abs. 23). „War nicht schlimm, dass ich nicht da war. Außerdem gut, Freundin und guten Freund zu treffen, weil man mit denen einfach offener reden kann und bescheid weiß“ (Abs. 25). Auch Markus beschreibt seine Mitstudierenden genau, greift dabei auf Gruppenzugehörigkeiten zurück und sieht sich selbst in einer weniger privilegierten Position. „Weil man oft dieser Übermacht an Kapital ausgesetzt ist (den Studenten, die ohne Skrupel Geld ihrer Eltern verprassen)“ (Abs. 10). Ähnlich wie bei Mira gibt es auch die Kehrseite dieser analytischen Sozialraumkompetenz, nämlich, dass eine als unsympathisch wahrgenommene Person auf eine dominierte Gruppenzugehörigkeit reduziert wird: „Erstes Referat: 1. Unerfahrene; 2. Ossi; 3. Ich: Keine Teamarbeit, da der Ossi zu selbstüberzeugt von seiner Arbeit; Kreativität = 0; 1. kurz vor Tränen, als klar wird, dass alles
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auf diese Weise den Bach runtergeht. Habe auf dem WC mitangehört, wie Ossi sich am Telefon über uns aufregt; Diskussion gut gelaufen, Referat sehr gut“ (Abs. 11). Das Gefühl, weniger Geld zur Verfügung zu haben als andere, manifestiert sich nicht nur auf der symbolischen Dimension der Gruppenzugehörigkeit, sondern hat direkte Effekte, wie Markus mehrfach erwähnt: „Geld geht aus, ich muss zum ersten Mal meine Eltern anpumpen – ab jetzt immer – sehr blöd“ (Abs. 17). „Geld zum Glück noch nicht so knapp – Budget für Geschenke (4 Personen) 30 Euro“ (Abs. 27). „War seit 4 Wochen nicht mehr in der Mensa – viel zu teuer und man wird nicht satt. – Nehme immer selbst gemachte Brote mit und setzte mich alleine in einen VL-Saal oder Seminarraum“ (Abs. 28). Auch Markus’ Geschichte lässt sich gut über die extrahierten Dimensionen abbilden. Sein in einem bildungsfernen Milieu erworbener Habitus ist möglicherweise nicht ganz so aufstiegsorientiert wie der seiner Kommilitonin Mira, aber die Studienprobleme und die eingesetzten Mittel dagegen, ähneln sich auf verblüffende Weise: es besteht die Sorge, dass die Universität die eigene Cleverness und den eigenen Einsatz nicht anerkennt, stattdessen die falschen, oberflächlichen, von zu Hause gesponserten, pseudoalternativen Studierenden honoriert. Anders als Mira hat Markus stärker die Befürchtung, dass die Welt, auch die der Sozialwissenschaften, sich so gestaltet, dass er nicht passt. Mira hingegen empfindet sich als besser passend als die anderen. Sie passt lediglich dadurch nicht, dass die anderen, die nicht passen, in Miras Wahrnehmung in der absoluten Mehrzahl sind und deshalb möglicherweise die Passungsfrage eher entscheiden, als dies die Studienstruktur tut. Oliver (22 Jahre alt) Für Oliver ist der Schritt in das Studium der Sozialwissenschaften in Marburg ein emanzipatorischer. Nach der zweijährigen Ausbildung in Großstadt und dem Wohnen dort in einer WG, erlebt er sein Studium und das Wohnen in den eigenen vier Wänden als angenehme Herausforderung. „Diesmal wollte ich alleine wohnen, da ich zuvor die letzten 2 Jahre nach meinem Auszug von zu Hause in Großstadt in einer 2er-WG gewohnt habe“ (Abs. 1). „Es ist wirklich sehr angenehm, Herr seiner eigenen 4 Wände zu sein, [...]. Generell ist es total angenehm, komplett eigenverantwortlich für alles zu sein“ (Abs. 9). Oliver hat mit seiner Freundin einen wichtigen Pol der Geborgenheit in seinem neuen Leben. Die Freundin lebte schon vorher in Marburg und aus der Fernbeziehung ist nun eine intensivere Nahbeziehung geworden. „Die ersten Wochen waren für mich und meine Freundin eine ziemliche Umstellung, da wir uns früher aufgrund des räumlichen Abstandes (80 km) nur zweimal die Woche
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gesehen haben, nun sehen wir uns fast jeden Tag, aber sie und ich haben schnell gemerkt, dass es sogar noch schöner für unsere Beziehung ist“ (Abs. 6). „Stets ausgleichend wirkt die herrliche Beziehung mit meiner Freundin auf mich und auch mit einigen Kommilitonen beginnt sich ganz eine engere Freundschaft zu entwickeln“ (Abs. 21). „Werde mir immer sicherer, das richtige Studium gewählt zu haben (hatte noch Germanistik + Medienwissenschaft auf meiner Auswahlliste). Auslöser für diese Einsicht sind die Vorlesungen und Seminare, die sich insbesondere mit der grundlegenden Thematik und den Theorien der Sozialwissenschaft beschäftigen. Obwohl die Theorien teils hochkomplex und kompliziert erscheinen, wird es nie langweilig, den Dozenten bei ihren Ausführungen zuzuhören oder sich mit der dazugehörigen Literatur zu beschäftigen“ (Abs. 7). Dennoch hat Oliver den Eindruck, noch nicht ‚richtig’ zu studieren: „Das Luhmannsche Zettelkastensystem, das lustigerweise sogar auf YouTube im Internet zu sehen ist, war der Ausschlag dafür, dass ich mir zum ersten Mal im Leben Karteikarten gekauft habe... Dieses Wochenende habe ich mir daher vorgenommen, die ersten bescheidenen Schritte hin zum ‚richtigen’ Lesen und wohl letztendlich Studieren zu machen“ (Abs. 14a). Dies zeigt sich auch an der Wahrnehmung eines Entscheidungskonfliktes. Trotz der Geborgenheit und der generellen Zufriedenheit auch mit der Studienfachwahl, erfordert das Studium Entscheidungs- und Strukturierungsleistungen, die Oliver nicht leicht fallen und vor allem die Frage, ob ‚Privates’ oder ‚Karriere’ scheint bei dem selbsternannten ‚Familienmenschen’ Oliver Druck zu erzeugen: „Bin gespannt, ob sich im fortschreitenden Studium noch derart viele Möglichkeiten / bzw. verbleibende Zeit für derartige Aktivitäten [Clubs, mögliche Radio-Moderation] bietet“ (Abs. 18). „Dieses Wochenende bekam ich das erste mal Besuch von meiner Family, was sehr großen Spaß gemacht hat“ (Abs. 20). „Meine Eltern und Freunde in und um Großstadt besuche ich alle 1-2 Wochen mit der Bahn, Semesterticket sei Dank. Die Bahnzeit verfliegt mit sozialwissenschaftlicher Lektüre wie im Flug. Trotz der doch recht hohen Besuchfrequenz würde ich alle recht gerne öfter sehen, besonders meine Familie, da ich ein großer Familienmensch bin. Deshalb, und wegen meiner Freundin, kann ich mir auch einfach kein Auslandssemester vorstellen. Es besteht jedoch ein recht hoher Druck, den ich mir selber mache, zumindest ein Auslandspraktikum oder etwas ähnliches zu machen, da der Großteil meiner Kommilitonen schon über zig Auslandsaufenthalte, Auslandspraktika, Rucksackreisen-Erfahrungen verfügt, sodass ich mich selbst diesbezüglich manchmal als etwas horizontarm sehe“ (Abs. 16). „Die Entscheidung, ‚möglichst viel sozialwissenschaftliche Literatur lesen’ oder ‚Freundin’ fällt derzeit oft auf Zweiteres. Ich hoffe, das einigermaßen im Laufe des Studi-
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ums ins Gleichgewicht zu bekommen, was mit Sicherheit noch schwer fallen wird und zu Komplikationen führen wird“ (Abs. 12). Auch die eigenständige Strukturierungsleistung stellt für Oliver eine Herausforderung dar: „Das Zusammenstellen deines eigenen WochenVeranstaltungsplans etc. sowie der hohe Anspruch an Selbstverantwortung seitens der Uni empfand ich als größere Herausforderung, da mir durch Schule, danach Berufsschule immer ‚ein fester Wochenplan in die Hand gegeben war’. Ein weiteres Problem bei der Erstellung eines Wochenplans (mit den notwendigen, ‚viel gepriesenen’ 30 ECTS-Punkten) war auch deshalb schwierig, da ein Seminar zulassungsbeschränkt war, was dann mit dem ‚viel gepriesenen’ Musterstudienplan kollidierte. Widersprüchliche Angaben von höhersemestrigen Kommilitonen aus der OE-Woche zur Empfehlung des Musterstundenplans taten ihr übriges“ (Abs. 4). Oliver genießt einerseits das offenbar als relativ locker empfundene bzw. locker gehandhabte Studienleben, sehnt sich andererseits aber – in Abgrenzung zu Schulerfahrungen – nach strukturierter Wissensvermittlung durch die Dozierenden: „Der neue Tagesrhythmus ist sehr angenehm, die Vorlesungen beginnen erst um 11 oder 14 Uhr, sodass ich nachts erst um 2 Uhr ins Bett gehe, was sehr zu mir passt, da ich schon immer ein Nachtmensch war und zu Schul- und Ausbildungszeiten erst im späten Vormittag richtig wach“ (Abs. 5). „Gleich zu Wochenbeginn wieder zu spät in die Vorlesung gekommen, trotz der Tatsache, dass diese erst um 14.00 Uhr beginnt. Grund ist natürlich wieder der Umstand, dass ich bei meiner Freundin in Randdorf übernachtet habe und um soviel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen erst auf den letzten Drücker aus dem Haus gegangen bin. Aus Bequemlichkeit fahre ich aus Randdorf gerne mit dem Auto“ (Abs. 13). „Die Veranstaltung selbst als sehr langweilig empfunden. [...]. Stattdessen stellt der Dozent Fragen an das Auditorium im Stile von ‚was würden Sie noch ergänzen?’, ‚wo würden Sie das nachschlagen?’, ‚worauf sollte man hierbei achten?’ etc., was in meinen Augen nicht zum Lernprozess beiträgt, da nur halbgare Antworten provoziert werden, ohne auf eine einheitliche Lösung/Antwort zu kommen. Es sind diese Art von Fragen, die früher in der Schule vom Lehrer gefragt wurden, obwohl dieser die Lösung/Antwort sowieso schon im Kopf wusste. In meinen Augen sollte dieses vorgefertigte FrageAntwort-Spiel in der Schule bleiben. Dort hat es seine Daseinsberechtigung, da mit ihm Wissen abgefragt und direkt mündlich benotet werden kann. Da die Uni fortschrittlicher Weise auf mündliche Noten verzichtet, sollte auch auf stumpfe, nicht diskussionserzeugende Fragen von Seiten des Dozenten verzichtet werden. An der Uni erwarte ich lieber, dass der Dozent sein geballtes Wissen fundiert vermittelt und auf das Auditorium nur zurückgreift, wenn es keine Einheitslösung gibt oder eine Diskussion didaktisch sinnvoll ist...“ (Abs. 14).
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Wie Mira und Markus hat auch Oliver eine hohe analytische Sozialraumkompetenz bzw. macht seine Kommilitoninnen und Kommilitonen bzw. andere ‚Gruppen’ zum Gegenstand seiner Ausführungen. „Der Umzug verlief relativ reibungslos, obwohl das Kurven durch die Oberstadt anfangs doch sehr gewöhnungsbedürftig war. Beim Ausladen der Möbel und Hochtragen in den 2. Stock halfen mir und einem beim Umzug helfenden Freund zwei zufällig vorbei kommende Mormonen, was doch ein sehr amüsant-positiver ‚Erstkontakt’ mit der Marburger Bevölkerung war“ (Abs. 2). „Die OE-Woche empfand ich als etwas langweilig organisiert und hin und wieder menschlich anstrengend aber auch menschlich angenehm. Anstrengend insofern, als dass die schiere Masse an plötzlichen Mitkommilitonen beim intensiven kennen Lernen überfordert und immer wiederkehrender gleichthemiger Small-Talk ermüdend ist. So musste zwangsläufig der Fokus auf ein knappes Dutzend an Kommilitonen erfolgen, um Unterhaltungen und Austausch jenseits von Small-Talk führen zu können“ (Abs. 3). „Die ‚Grüppchen-Bildung’ zwischen den Kommilitonen scheint abgeschlossen, es ist schon interessant zu beobachten, wie meistens die gleichen Leute zusammen sitzen. Auch ich bilde da kaum eine Ausnahme. Mit den Leuten, mit denen ich in der OE-Woche am meisten zu tun hatte, habe ich nach wie vor am meisten zu tun“ (Abs. 15). „Es ist wirklich so, dass man an Verhalten, Auftreten und ‚Charakter’ der Leute recht schnell einschätzen kann, was die studieren. Ich bin sehr froh, Sozialwissenschaftler als ziemlich ‚positiv sozial’ offen und relativ locker zu erleben. Dadurch fühle ich mich meist recht wohl und unter ‚meinesgleichen’“ (Abs. 10). Und ähnlich wie Mira und Markus kritisiert Oliver die ‚Pseudoalternativität’ einiger Kommilitoninnen und Kommilitonen: „Interessant aber auch etwas betrüblich ist es, festzustellen, dass ausgerechnet die Kommilitonen, die später unbedingt in die Entwicklungshilfe wollen, oftmals am egoistischsten und ‚kältesten’ wirken. Das passt nicht zusammen, da ich das Arbeiten in der Entwicklungshilfe für am ‚sozialsten’ erachte (neben einem Studium für Pädagogik/soziale Arbeit)“ (Abs. 11). Dabei versucht Oliver auch, in sozialwissenschaftlichen Kategorien zu analysieren: „Außerdem scheint jeder 3. in die Entwicklungshilfe zu wollen, was mit Sicherheit zu Spannungen auf dem späteren Arbeitsmarkt führen wird“ (Abs. 11a). Auch die Geschichte von Oliver lässt sich gut anhand der extrahierten Dimensionen erzählen. Im Gegensatz zu seinen Mitstudierenden, die auch aus einem bildungsfernen Milieu stammen und in Form eines Wochenbuches über ihr Studium berichtet haben, scheint Oliver etwas zufriedener, obwohl auch bei ihm der Karrieredruck zu spüren ist und auch er nicht frei ist von kleinbürgerlichen Gefühlen der Fremdscham der Kategorie ‚Was sollen die Leute denken?’ „Spaziergänge zum Schloss muten aufgrund der archaisch und teils rechtsge-
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sinnten Burschenschaftsburgen auf dem Weg nach oben hin und wieder ‚gruselig’ an und machen auch auf Besucher keinen guten Anblick“ (Abs. 19). Allerdings gibt es durch die Beziehung zu seiner Freundin eine feste Konstante, die ihn in dem Übergang hin zu seinem Studienleben begleitet. Des Weiteren stellt der rege Kontakt zu seiner Familie eine Möglichkeit dar, das alte Leben mit in das neue zu nehmen. Die Angst allerdings, dass dies dauerhaft zu einer Spannung führt, ist bereits vorhanden. Es scheint jedoch auch realisierbare ‚Angebote’ der Studierumgebung an seinen Habitus zu sein: „Super sind die vielen, günstigen von der Uni angebotenen Sport-Angebote, in die man am Anfang sogar überall kostenlos ‚reinschnuppern’ konnte. Habe mich auch für zwei davon für dieses Semester angemeldet“ (Abs. 6a). „Der Posterverkauf im HG [Hörsaalgebäude; L.S.] lockerte die Pausen zwischen den Vorlesungen sehr gut und das schrittweise Gestalten meiner kleinen Wohnung schreitet dank 1-2 Postern gut voran“ (Abs. 8a). Angebote scheinen dann für Oliver sinnvoll, wenn sie seinen Pragmatismus bedienen können: „Nachdem Marburg als Studienort klar war, habe ich nicht lange mit der Wohnungssuche aufgebracht, der Pendelvorgang zur Wohnungsbesichtigung von Großstadt nach Marburg war einfach zu nervig. Mir war nur eine Wohnung möglichst nahe der Uni sowie bezahlbar wichtig [...]“ (Abs. 0). „Die gute Erreichbarkeit und Nähe von diesen Angeboten, generell die Tatsache, dass in Marburg alles schnell und unkompliziert per Fuß, Fahrrad, Bus erreichbar ist, ist sehr angenehm“ (Abs. 14b). Steffi (20 Jahre alt) Steffi hat nach ihrem Abi noch ein paar Monate in einem Restaurant im Ausland gejobbt und dann direkt mit ihrem aktuellen Studium angefangen. Sie genießt bei Studienbeginn die ihrer Meinung nach große Vielfalt an Menschen. Außerdem erlebt sie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen als offen und hilfsbereit: „Ich habe sehr viele unterschiedlichste Menschen kennen gelernt (vom Typ her, unterschiedliche Nationen etc.)“ (Abs. 1). „Jeder scheint aufgeschlossen zu sein und anderen helfen zu wollen“ (Abs. 2). „Endlich Leute kennen zu lernen, weil ich vorher dort gar keinen kannte, so gut betreut zu werden (von den Fachschaftlern und Teamern), langsam an das Studentenleben herangeführt worden zu sein“ (Abs. 3). „Ob hier nun Russen, Slowenen, Chinesen, Amerikaner oder Lateinamerikaner studieren, es ist ziemlich aufregend all ihre Geschichten kennen zu lernen. Es lebe das Multi-Kulti! Zudem ist der Umgang mit Behinderten hier in Marburg sehr vorbildlich. Sie werden, ob Rollstuhlfahrer oder Blinde...,
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alle integriert und als völlig ‚normal’ angesehen, [...] was mir sehr gut gefällt“ (Abs. 18). Steffi scheint Freude an dem neuen Leben mit neuen Menschen zu empfinden und ist ‚neugierig’ aktiv: „Zudem habe ich mir einen ‚afrikanischen Film’ angesehen, der jede zweite Woche in der Philfak angeboten wird. Dies gefällt mir auch ausgesprochen gut, zumal die Veranstaltungen meist auch nichts kosten. An diesen Abenden lernt man auch viele neue und interessante Kommilitonen kennen, die dieselben oder ähnliche Interessenlagen haben“ (Abs. 35). „Da ich als Ersti noch gar keine Ahnung von alledem habe, werde ich mich auf der Vollversammlung mal näher darüber informieren. Ich finde es gut, dass es einiges hier an der Uni gibt, wo man sich aktiv beteiligen kann“ (Abs. 32). „Zudem habe ich mich diese Woche über einen spanischen Vortrag im Weltladen gefreut, der Dank Übersetzung sehr zugänglich war. Man findet mittlerweile ein umfangreiches Programm für ‚einsame Abende’! Dort habe ich auch einige sehr nette Leute kennen gelernt, die sich auch im Bereich Entwicklungshilfe interessieren und engagieren. Es gibt zudem sehr viele schöne Cafés und Kneipen in Marburg, die so manchen Abend oder Nachmittag versüßen!“ (Abs. 16). Steffi zeigt ein ausgeprägtes ‚soziales’ Interesse an Benachteiligungen und generell an Interkulturalität. Sie schätzt den ‚Marburger’ Umgang mit Behinderten, interessiert sich für Entwicklungshilfe, den Weltladen und ausländische Studierende. Allerdings ist es offenbar auch für Steffi ein Problem, dass man zwar viele Menschen kennen lernt, die Kontakte aber größtenteils temporär und demzufolge wenig intensiv bleiben. Der Vorwurf der Anonymität scheint sich hier also eher auf das Problem der Einsamkeit zu beziehen und weniger die Frage zu berühren – wie dies vor allem bei Mira und Markus der Fall war –, dass man selbst nicht als Persönlichkeit wahrgenommen wird. „Die Uni ist zuerst ziemlich anonym, man lernt unzählige Menschen kennen, deren Namen man sich gar nicht behalten kann. Man sieht diese ein-zwei Mal und lernt wieder andere kennen. Selbst nach der OE ist man immer noch ziemlich alleine“ (Abs. 5). „Wenn man völlig allein in eine noch unbekannte Stadt kommt, möchte man gerne einen Punkt haben, an dem man sich orientieren/festhalten kann. Wir hatten in der OE zwar viel Spaß und reichlich Infos, aber letztlich kommt man abends ‚nach Hause’ und ist immer noch allein“ (Abs. 8). Im Gegensatz zu Mira, Markus und Oliver liegt Steffis Problem offenbar nicht in der ‚Art der Leute’, sondern schlicht in der Einsamkeit, weshalb sie sich auch über den Umzug in eine WG freut: „In einer WG zu leben ist wesentlich angenehmer als in einer privaten Unterkunft. Nicht nur gemeinsames Kochen oder auch gemeinsame Abende lockern den Studenten-Alltag auf und man fühlt sich nicht mehr so allein“ (Abs. 19). „Mittlerweile hat sich der Studentenalltag einigermaßen eingependelt und ich habe mich an das meiste gewöhnt. Da ich
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jetzt auch schon viele Mitkommilitoninnen und -kommilitonen kennen gelernt habe, unternehme ich auch öfter etwas mit diesen“ (Abs. 15a). Ein größeres Problem als der Kontakt zu Menschen scheint für Steffi jedoch die Schwierigkeit, Zusammenhänge in Studienfragmenten zu erkennen oder zu konstruieren und Relevanzsetzungen vorzunehmen. Dies scheint zu verunsichern: „Abgesehen davon, dass manche Veranstaltungen eher überflüssig sind, fragt man sich als ‚Ersti’, in welchen Zusammenhang man das Erlernte bringen kann. Man lernt etwas über einzelne ‚Puzzlestücke’, die aber nicht in das Gesamtpuzzle einzuordnen sind. Es gelingt nur wenigen Professoren, uns einen hilfreichen Überblick zu verschaffen“ (Abs. 12). „Im Allgemeinen geht man in einzelne Veranstaltungen und bereitet diese vor [...], aber ehrlich gesagt, weiß niemand so genau, was nun essenziell zu tun wäre. Lesen, lesen, lesen und nochmals lesen; aber wo und wie erkennt man, was jetzt sinnvoll ist und was Zeitverschwendung ist“ (Abs. 13). „So kann man letztlich sagen, dass wir in einem großen Wasser treiben, ohne jegliche Orientierung zu haben, wohin die Reise geht. Ich hoffe, dass dies sich bald ändern wird“ (Abs. 14). Steffi hat eine hohe Identifikation mit der Studierendenschaft zumindest ihres Fachbereichs und den dazugehörigen Symbolen des Studienlebens wie etwa den Marburger Kneipen und der Kritik der Politik des Präsidiums. Sie engagiert sich gegen die Beschneidungsprozesse und -vorhaben, die ihrem Fachbereich zugemutet werden. Dies ist zum Teil gekoppelt mit der Kritik an der Organisation ihres Studienfaches: „Die Kneipen und Cafés für abendliche Treffen gefallen mir in Marburg auch ziemlich gut und es gibt auch ein relativ breites Angebot, so dass eine gewisse Abwechslung möglich ist. Mir hat es weiterhin auch gefallen, dass ich auf mehrere WG-Partys aufmerksam wurde, die auch sehr viel Spaß garantieren“ (Abs. 35a). „In dem Bereich der Geisteswissenschaften (PhilFak) wird ordentlich gespart: Nachdem der Gebäudekomplex weniger beeindruckend und vielmehr einsturzgefährdet ist, stellt sich heraus, dass auch an Lehrpersonal gespart wird. Nur die Hälfte der neuen B.A. SoWis kam in Statistik 1 rein und auf die Frage hin, warum das so sei, wurde von Prof. Deuß erwidert, dass nicht mehr Profs zur Verfügung stehen. Hätte man das nicht auch schon vorher wissen können? Ich habe keine Ahnung, wer für das Uni-Personal verantwortlich ist, aber nachdem wir auch noch 500 Euro Studiengebühren bezahlen müssen, fragt man sich schon, warum man mit Modul 7 und Modul 8 anfängt, anstatt mal ‚von vorne’ anzufangen. Uns wurde auch vermittelt, dass einige Millionen Euro zu anderen Fachbereichen gehen, die unserem zustehen...schon komisch! Schade ist auch, dass Professoren wie Herr Lambertz keine Vertragsverlängerung bekommen, wo sie doch die einzigen sind, die Veranstaltungen in Spanisch etc. durchführen“ (Abs. 10/11). „Ich höre aufs Neue wieder etwas Negatives von dem Uni-Präsidium: In diesem Zusammenhang
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geht es um einen unserer (meiner Meinung nach) kompetentesten Professoren, dessen Stelle nicht mehr verlängert werden soll, ohne dass irgendwelche konkreten Gründe angegeben werden. Für mich als ‚Sprachenfreak’ ist das besonders schlimm, weil dieser Professor der einzig fremdsprachig unterrichtende für meinen Studiengang ist und auch Internationales betreffend sehr gebildet erscheint. Ich glaube, dass er der einzige vorhandene Professor ist, der mir spezielle Zusammenhänge klar machen kann, so dass es schade ist, dass das Geld für diese eine Professur ANGEBLICH nicht vorhanden ist.“ (Abs. 27). „Die allgemeine Studiensituation bei den Geisteswissenschaftlern ist nicht gerade prickelnd. Nachdem wir auf der FB 03-Vollversammlung auch über andere Zustände, z.B. denen, bei den Politikwissenschaftlern, informiert wurden, sind wir alle nur noch unzufriedener. Trotz des teilweise extrem breiten und großen Engagements der Studenten (z.B. Fachschaftsmitgliedern) scheinen wir dennoch nichts zu erreichen und je erreichen zu können. Eine klassische Entdemokratisierung! [...] Und nach der ziemlich kleinen Demo nach der Vollversammlung ist mir aufgefallen, dass es immer noch viel zu wenig Widerstand gibt“ (Abs. 37). Ohnehin konzentriert sich Steffi in ihren Berichten weniger darauf, eigene Probleme als vielmehr die schlechte kollektive Lage zu schildern bzw. Dinge im Studienablauf und im Studienleben zu kritisieren, wie zum Beispiel die mangelnde Kommunikation zwischen einem Professor und ihrer Tutorin, die nicht eingehaltene Modulreihenfolge oder auch ihre als viel zu teuer empfundene Wohnung. Einen besonderen Stellenwert scheint hier das Bewerbungsverfahren für ein Auslandsstudium einzunehmen. Es gelingt Steffi offenbar, Missstände external zu attribuieren, sie nicht zu einem intrapersonalen Habitus-StrukturKonflikt werden zu lassen. Allerdings spricht sie auch von ‚persönlichen Dingen’, die sie nicht benennen möchte, so dass die externale Attribuierung möglicherweise ein Stück weit der Darstellung geschuldet ist oder aber es auch daneben noch Elemente gibt, die individualisierter erlebt werden. „Meine Wohnung ist, einfach gesagt, ‚Ausbeute’ => teuer. Ich wohne am Ende von Randdorf und habe dort keinen ‚Kontakt zur Außenwelt’ (Wohnung im Keller, kein Telefon, kein Internet, Mitbewohner, die Trinker, Drogenabhängige etc. sind)“ (Abs. 4). „Die Uni (bzw. Philosophische Fakultät) ist erschreckend alt und unangenehm“ (Abs. 6). „Dinge, die ich persönlich auch nervend fand (welche aber nichts zur Sache tun)“ (Abs. 7). „Schlechter Automaten-Kaffee!!! Eine, ätzende, penetrante Frau in der Mensa, die durch ihre Lautsprecherdurchsage alle Studenten extrem nervt !!!“ (Abs. 7a). „Extrem viel zu organisieren und ziemlich lange Organisationszeiträume für z.B. ERASMUS (wer im 3. Semester ins Ausland möchte, muss das bis Mitte November organisiert haben!)“ (Abs. 9). „Diese Woche liefen die Fristen für die ERASMUS-Anmeldung aus, die ich aber
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unbedingt einhalten musste, weil ich im 3. Semester schon ins Ausland möchte. Tja, das sind ja ziemlich lange Vorbereitungszeiten, müssen die sooo lange sein? Man muss die Wahl und die Bewerbung schließlich sorgfältig angehen... Da ist man gerade in Marburg angekommen und muss schon so viel Unterschiedliches organisieren“ (Abs. 17). „Nachdem ich mich vor drei Wochen bei dem ERASMUS-Programm angemeldet hatte, haben die Zuständigen ihre Rückmeldefrist auch eingehalten und ich habe nach allem Bangen endlich meine Antwort erhalten: Ich wurde für mein Favoriten-Land genommen und freue mich, auf diese tolle Uni gehen zu können, die auf mich einen sehr guten Eindruck gemacht hat. Leider konnte ich mir die Infos dafür nur auf der UniHomepage holen und weiß immer noch nicht, ob die ausgewählte Uni auch im Bereich Sozialwissenschaften ‚gut’ ist. Eine Info seitens der ERASMUSBeratung wäre nicht schlecht, aber allein schon dort fünf Minuten zu ergattern, erscheint mir schwer zu sein...“ (Abs. 28). „Ich habe immer noch keinen genauen Überblick über alles Organisatorische und die Bachelor-Regelungen. Zudem finde ich auch schlecht, dass die Semesterferien gekürzt werden, wofür ich immer noch nicht die Gründe kenne. Weiterhin frage ich mich, wieso die ERASMUS-Beratung nur eine Stunde pro Woche zur Verfügung ist und es dann selbst nach den Anmeldefristen noch immer einen unglaublichen Anlauf gibt. Ich stelle immer wieder Dinge fest, die ich noch gar nicht geklärt oder durchschaut habe, oder muss irgendein Formular abgeben. [...]“ (Abs. 36). Es ‚gelingt’ Steffi offenbar, selbst eigens erlebten Misserfolg ein Stückweit external zu attribuieren: „Nachdem wir dann auch noch Missverständnisse mit unserer Tutorin hatten, die uns unterstützen wollte und sollte, ist das erste Referat dann auch den Bach runtergegangen (ich hoffe, Alltagssprache ist in diesem Rahmen okay!)“ (Abs. 30). „Wobei ich glaube, dass meine Probleme im ersten Referat mit dem Tutorium zu tun hatten: [...] sind wir dann durch jenes Tutorium völlig verunsichert worden und haben uns letztendlich viel mehr Arbeit als notwendig gemacht. Die Verunsicherung durch die Tutorin liegt unserer Meinung auch daran, dass diese gar nicht mal wusste, was der Professor erwartet hat. Also ein eindeutiger Mangel an Professor Ù Tutor-Kommunikation (rein soziologisch - )! Die Tutorin ließ dann auch mit sich reden, aber unser Professor versuchte nicht wie erstere, die Missverständnisse zu beseitigen. Er redete vielmehr an uns vorbei und wich aus. Ich denke, dass es noch mehrere Professorinnen und Professoren hier gibt, die ‚ihr Ding durchziehen’, ohne auf die (rein gut gemeinte) Kritik einzugehen“ (Abs. 31). Auch in dieser Passage ist eine hohe Identifikation mit ihrem Fach vorzufinden. Steffi freut sich bzw. ist stolz, eine soziologische Erklärung für das von ihr diagnostizierte Problem der Verunsicherung durch eine Tutorin anzubieten.
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Allerdings zeigt sich bei der – im Ergebnis zwar erfolgreichen – ErasmusBewerbungsgeschichte, dass nicht alle Schwierigkeiten external attribuiert werden: „Im Allgemeinen finde ich es schwierig an Informationen über das Programm zu kommen, aber vielleicht suche ich nur nicht richtig danach...“ (Abs. 29). Außerdem werden institutionelle Dienstleistungsangebote als willkommene Angebote gewertet, den eigenen Defiziten zu begegnen: „Ganz nebenbei finde ich die Uni-Bibliotheks-Organisation toll; denn man kann die meisten Bücher nicht nur relativ lange ausleihen, sondern wird auch darauf hingewiesen, wenn man kurz vor der Abgabefrist ist... hilfreich, wenn man schon mal verpeilt ist!“ (Abs. 33). „Einige (in manchen Veranstaltungen alle) Diskussionen bestehen aus einzelnen Statements und ‚man’ dreht sich nur im Kreis, ohne dass man vorankommt. => Ich frage mich, ob es überhaupt sinnvoll ist zu solchen Veranstaltungen zu gehen“ (Abs. 24). Steffi hat offenbar soviel Freiheitsempfinden, darüber nachzudenken, die nicht-weiterbringenden Veranstaltungen sausen zu lassen. Gerade zu Studienbeginn ist eine kritische Haltung gegenüber vermeintlich unprofessionellem, unwissenschaftlichen Verhalten von Kommilitoninnen und Kommilitonen und vor allem von Lehrenden durchaus üblich und verstärkt bei Studierenden aus bildungsfernen Milieus anzutreffen, die neben großen Ansprüchen an Strukturierung auch eine gewisse wissenschaftliche ‚Rigidität’ einfordern. Auch Steffi zeigt diese kritische Haltung, die sich mit dem Habitus-Struktur-Konfliktmodell als das aggressiv wirkende Aufbegehren der Dominierten deuten lässt, was nicht bedeutet, dass die Kritik unangebracht ist. Sie ist ganz im Gegenteil möglicherweise ein Verweis auf die Unzulänglichkeiten des Feldes bezogen auf die Integration des eigenen Habituskollektivs. „Gruppenarbeit: man muss sich auf andere verlassen, wird dabei aber auch oft enttäuscht => Probleme“ (Abs. 21). „Manche Vorlesungen/Übungen sind nicht sehr weiterbringend: entweder wird nur vorgelesen, was im Skript steht oder es werden Sachverhalte erklärt, was schon längst (seit der Schule) klar ist/sein muss)“ (Abs. 22). „Viele Professoren gehen nicht richtig auf die Studenten ein, reden an ihnen/ihren Fragen vorbei“ (Abs. 23). „Manche Tutoren sind nicht sicher und haben kein überblickendes Wissen, um uns helfen zu können“ (Abs. 25). „Nach mehreren Wochen stehen manche Folien/Materialien noch immer nicht in der Lernplattform Ilias (Internet) und auch nicht in der Soziologie-Bibliothek im Handapparat. Trotz mehrfachem Nachfragen nach diesen Materialien reagieren manche Professoren immer noch nicht und wir Studenten haben nach diesem langen Zeitraum immer noch keine vollständigen Lernmaterialien“ (Abs. 26). „Es ist zudem echt blamabel, wenn ein Professor mit Assistent nicht in der Lage ist, die Lehrfolien zur Verfügung zu stellen. Erst nach mehrmaligem Fragen wurden einige Folien der Ver-
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anstaltung in Ilias gestellt – und das nachdem die halbe Veranstaltung schon fast vorbei ist! Und das ist noch nicht einmal ein Einzelfall!“ (Abs. 34). Steffis Studienleben lässt sich anhand der extrahierten Dimensionen wie folgt zusammenfassen: Steffi zeigt eine positiv-neugierige Haltung gegenüber ihrem Studium und ihrem (neuen) Studienleben in Marburg. Vorhandene Probleme nimmt sie nicht allzu sehr persönlich, sondern attribuiert sie external. Das kann sie auch deshalb so gut, weil sie nicht so sehr – wie bspw. Mira – auf Anerkennung angewiesen scheint. Externale Attribution bis hin zu harscher Kritik an für den Studiengang relevanten Akteuren (Lehrende, Tutoren, Präsidium) können als Mittel begriffen werden, mit vorhandenen Verunsicherungen umzugehen. Weniger kritisch als Mira, Markus und Oliver, die der Gruppe der bildungsfernen Herkünfte zuzuordnen sind, ist Steffi gegenüber ihren Kommilitoninnen, von denen sie zwar auch Engagement erwartet, die sie aber nicht als pseudoalternativ wahrnimmt. Ganz im Gegenteil empfindet Steffi ihre Kolleginnen als nett und offen und sie könnte selbst zu jenen gehören, die von den besagten Dreien aufgrund ihres hochschulpolitischen Engagements, ihres Interesses für benachteiligte Gruppen etc. als pseudosozial wahrgenommen wird. Im Gegensatz zu den benannten Personen zeigt Steffi weniger die ‚Mikropolitik der sozialraumanalytischen Kompetenz’, sondern eher eine direkt politisch-aktive Haltung. Steffi analysiert nicht ihre Kommilitoninnen, sondern sie geht mit auf die Demo gegen Studiengebühren; eine Zugehörigkeit, die eher auf eine in der Studienfachkultur dominante Position verweist. In Steffis Haltung finden sich sowohl kleinbürgerliche als auch Elemente eines legitimen Habitus. Das verwundert nicht, wenn man sich ihre soziale Herkunft betrachtet: Ihre Mutter hat Abitur und engagiert sich ehrenamtlich in einem Nationalpark-Projekt und ihr Vater hat sich nach Hauptschulabschluss und Bäcker-, dann Kochlehre in einem Lebensmittelkonzern soweit hochgearbeitet, wie es mit seinen formalen Abschlüssen nur geht. Maria (20 Jahre alt) Ganz anders als Steffi berichtet Maria weniger über das Studium und dessen Missstände, sondern über die persönliche Verarbeitung von Erlebtem. Maria hat hohe Ansprüche, ist sehr engagiert und fleißig, hat aber oft das Gefühl, daran zu zerbrechen. Sie zweifelt an sich und an ihrem Studium und empfindet zunehmend Leistungsdruck: „Das Statistiktutorium empfinde ich als langweilig, weil es viel zu langsam vorangeht“ (Abs. 11a). „Das Referat ist ein kleiner Stein auf meinem Rücken, weil ich nicht genügend Zeit finde, mich darauf vorzubereiten“ (Abs.5). „Ich habe das Gefühl, mich nicht richtig ordnen zu können und Gehörtes (Wissen) für mich zu verarbeiten, es rauscht alles an mir vorbei und ich
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würde gerne mehr Zeit zum Nacharbeiten haben. Es macht mir deshalb Sorgen, weil ich mir für dieses Semester ziemlich viel vorgenommen habe und da auch nicht mehr zurück kann“ (Abs. 6). „Ich habe Angst vor Semesterende (Jan./Feb.), da alle Klausuren, Präsentationen, Referate auf diese drei Wochen fallen“ (Abs. 10). „Ich bin zu ehrgeizig und überfordere mich systematisch“ (Abs. 12). „Mein Klausurenplan für dieses Semester steht und es wird mir jetzt schon Angst und Bang, denn alles kommt auf einmal“ (Abs. 23a). „Bin immer noch am Zweifeln, ob das Studium das Richtige ist (weil ich nicht weiß, was ich damit beruflich machen möchte/kann)“ (Abs. 24). „Ich merke, wie mir alles zu viel wird und ich nicht gut auf mich und meinen Körper achte“ (Abs. 31). „Ich lebe nur für die Uni und das Lernen. Ich kasteie mich wieder selber, weil ich so unsicher bin: Wohin will ich mit meinem Leben/Studium, wer mag mich, wem bin ich wichtig“ (Abs. 50). „Mit Bangen sehe ich auf die Wochen Ende Januar, Anfang Februar, wo ich so geballt Leistung erbringen muss“ (Abs. 35). „Was mache ich nur mit meinem Studium?? Mein Leistungsdruck wird immer schlimmer“ (Abs. 44). „Meine Gruppe bei FuK belastet mich, ich habe das Gefühl, als einzige inhaltlich hohe Ansprüche zu stellen und damit bei den anderen anzuecken. Das Projekt empfinde ich deshalb als sehr zeit- und arbeitsaufwändig“ (Abs. 59). „Meine Motivation fürs Studium sinkt, es liegt alles wie ein Berg vor mir, ich habe Rückenschmerzen und Kreislaufprobleme und mein Leben besteht nur aus Uni. => Ich werde wohl etwas ändern müssen“ (Abs. 61). Vor allem Festlegungsgesuche verunsichern Maria. Sie hat einige Entscheidungskonflikte auszutragen: „Mein Stundenplan ist nach vielem Hin und Her endlich fest und ich habe keine Entscheidungsschwierigkeiten in diesem Bereich“ (Abs. 0). „Ich muss mich bis diese Woche für ein Auslandssemester im 3. oder 4. Semester entscheiden und das krieg ich überhaupt nicht hin, denn ich fühle mich hier noch gar nicht in Marburg angekommen und bin mir auch mit der Wahl des Studienfaches noch gar nicht sicher, weshalb es so schwierig ist, sich schon für nächstes Jahr festzulegen“ (Abs. 7). „Ich kann mich immer noch nicht entscheiden, ob VWL oder Psychologie als Nebenfach, das ist belastend“ (Abs. 23). „Ich könnte nach Großstadt/Ausland... für neun Monate dort studieren ~ was soll ich nur tun?“ (Abs. 49). „Ich kann mich nicht entscheiden, welches Nebenfach ich wähle, und ich muss/will (?) mich bis nächste Woche entscheiden“ (Abs. 52). „Soll ich Erasmus-Stipendium annehmen?“ (Abs. 53). Die Zweifel begründet Maria weniger mit Studieninhalten und -abläufen, von der Diagnose des generellen Zeitmangels mal abgesehen. Auch vermeintliches Versagen wird eher individualisiert: „Ich hatte ein Bewerbungsgespräch für ein Stipendium und das hat mich völlig aus der Bahn geworfen, denn es war erniedrigend und ich ärgere mich sehr über meine eigene ‚Dummheit’“ (Abs. 60). „Die Gruppenarbeit in Friedens- und Konfliktforschung überfordert mich,
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weil das Thema so groß ist, mir die Erstellung einer Konfliktanalyse sehr, sehr fremd ist und ich mich bis jetzt in meiner Gruppe eher als kleine dumme Erstsemestlerin fühle“ (Abs. 9). Lediglich bei der für Maria sehr belastenden Suche nach einem Hausarbeitsthema gesellt sich zu der negativen Selbstwahrnehmung vorsichtige Kritik. „Ich komme nicht damit klar, eine Hausarbeitsfrage zu finden. Es gibt so viele Möglichkeiten und ich weiß nicht, wie ein Thema aussehen könnte“ (Abs. 22). „Ich fühle mich überfordert und allein gelassen bei der Themenfindung für meine Hausarbeit, die Anweisungen sind so grob und unspezifisch“ (Abs. 32). „Das Semester ist so kurz, so voll und ich beschäftige mich gedanklich viel mit dem Thema meiner Hausarbeit, was ich nicht finde und wovor ich viel Angst habe“ (Abs. 34a). „Ich bin völlig überfordert innerlich. Vor allem die Hausarbeitsthemenfindung belastet mich. Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll/kann. Trau mich nicht, Professor anzusprechen, da ich mir blöd vorkomme“ (Abs. 41). „Meine Hausarbeit nimmt Formen an und ich habe mich getraut, Tutorin zu fragen“ (Abs. 45). An der Episode ‚Hausarbeit’ zeigt sich das Wechselspiel zwischen der Selbstwahrnehmung als defizitär und ‚Struktur-Kritik’. Die Schwelle, den Professor anzusprechen, ist für Maria offenbar zu hoch und das Problem wird letztendlich mit der niederschwelligeren Anlaufstelle ‚Tutorin’ gelöst, was aber auch Überwindung kostet. Das Gefühl der Überforderung trägt einerseits zu der Einschätzung bei, ‚klein und blöd’ zu sein, andererseits wird gesehen, dass zu grobe Anweisungen und ein allein-gelassen Sein (mit-)verantwortlich sind. Nur an wenigen Stellen übt Maria Kritik an der Universität, wie sie ihr begegnet und dies auch in sehr defensiver und verständnisvoller Art und Weise: „Ich war bei der Sprechstunde von einem meiner Professoren und musste solange warten, bis die Sprechzeit um war, obwohl ich eingetragen war. Im Grunde verständlich, aber ich war so aufgeregt, dass ich mir diese 45min Nervenkitzel hätte sparen können“ (Abs. 58). „Wenig individuelle Beratung fürs Auslandsemester, sehr frühe Festlegung nötig“ (Abs. 14). Maria schildert ihr Studium neben all den Zweifeln dennoch größtenteils als interessant und sie scheint es auch erfolgreich zu absolvieren. „Bis jetzt gefallen mir Vorlesungen und andere Veranstaltungen, in keiner habe ich das Gefühl, am falschen Fleck zu sein“ (Abs.1). „Es gibt bei der Veranstaltung ‚Einführung in die Theorien der Sozialwissenschaften’ super Gesprächsdiskussionsgruppen, in denen wir ungestört über interessante Themen diskutieren können“ (Abs. 3). „Ich habe eine Einladung für ein Auswahlgespräch zum Stipendium bekommen“ (Abs. 27). „FuK-Gruppenarbeit beginnt Spaß zu machen, weil die Leute nett sind und ich mich ins Thema reingefunden habe“ (Abs. 38). Das Engagement für das Studium geht offenbar über das ‚Pflichtprogramm’ hinaus.
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„Wir haben eine Lerngruppe gemacht, die sich von nun an regelmäßig trifft, das Diskutieren macht Spaß“ (Abs. 55). „Ich habe einen tollen, interessanten Text gelesen (fürs Studium). Ich habe meine ERASMUS-Bewerbung fertig bekommen und abgegeben, bin zufrieden mit meiner Länderwahl. Ich habe sehr interessante Vorträge gehört, einen im Rahmen der FuK-Ringvorlesung und den anderen im Eineweltladen“ (Abs. 20). „Ich freue mich daran, in der Bibliothek zu stöbern und Spannendes zu entdecken“ (Abs. 30). Auch außerhalb ihres Studiums ist Maria sehr aktiv. Sie engagiert sich im Weltladen, in ihrem Wohnheim und macht einen Sprachkurs. „Ich habe an einem sehr interessanten Seminar zum Thema Welthandel teilgenommen (organisiert vom Weltladen)“ (Abs. 44a). „Ich habe ein Flurtreffen [im Wohnheim] organisiert, was ganz schön war“ (Abs. 39). „Der Spanischkurs ist zwar stressig, aber ich bin froh, den ersten Vokabeltest gut überstanden zu haben und in einer ganz anderen Gruppe zu sein als im übrigen Studium und ein ganz anderes Fach zu lernen“ (Abs. 4). „Zeitung lesen macht immer mehr Spaß (weil ich Zusammenhänge besser verstehe, mir das Lesen leichter fällt, weil ich in Übung bin)“ (Abs. 48). Auffallend ist, dass, wenn Maria sonst von einem Erfolg oder einem Voranschreiten berichtet, dies in einem abschließenden Halbsatz immer wieder relativiert wird: „Ich habe eine Gliederung für meine Hausarbeit hinbekommen (auch wenn sie vermutlich schlecht ist)“ (Abs. 56). „Meine Entscheidung für die Nebenfachwahl ist getroffen, wenn auch zögerlich“ (Abs. 57). Es gibt eine Ausnahme, wo ein Erfolg nicht gleich relativiert, aber dennoch mit einem individualisierten Symptom (hier: Stress) in Verbindung gebracht wird, was auch wieder auf ihr vermeintliches Defizit verweist: „Wir haben das Referat gut hinbekommen, Lob geerntet und ich habe es geschafft, relativ stressfrei vorzutragen“ (Abs. 15). Die generellen Zweifel entpuppen sich eher als Selbstzweifel denn als Zweifel an konkreten Studieninhalten. Selbst die quälende Frage, ob das Studienfach überhaupt das richtige sei, leitet sich kaum aus den fachlichen Erfahrungen ab und scheint vielmehr von den Selbstzweifeln und der Haltung ihrer Eltern beeinflusst. Ihre Mutter vermittelt ihr das Gefühl, brotlose Kunst zu betreiben und von ihrem Vater würde sie sich mehr Interesse an ihr erwarten. „Immer wieder kommen Zweifel und Ängste, ob es das richtige ist hier. Meine Mutter gibt mir das Gefühl, ein Fach zu studieren, mit dem ich nie Erfolg und Berufschancen haben werde“ (Abs. 8). „Habe das Gefühl, meinem Vater nicht wichtig zu sein (er meldet sich nicht und wenn nur sehr oberflächlich)“ (Abs. 43). Offenbar ist nicht nur die Haltung zum Studium von vermeintlichen Widersprüchen gekennzeichnet. Auf der einen Seite stehen Ehrgeiz, Freude, Aktivität und Eigeninitiative, auf der anderen Seite Verunsicherung, Zweifel und Druck:
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„Die nächste Woche liegt schon wieder wie ein Berg vor mir, ich bin fast immer eingespannt (ist aber auch freiwillig und irgendwie schön...)“ (Abs. 25). Auch die Eltern spielen eine ambivalente Rolle. Einerseits nährt die Mutter die Zweifel am Studienfach, andererseits stellt das zu Hause auch bei Maria einen willkommenen Hort der Geborgenheit dar, an dem keine erwachsenen Entscheidungen gefällt werden müssen: „Ich hatte ein sehr schönes Wochenende zu Hause mit wunderbarem Geburtstag. Es tat gut, Vertrautes zu fühlen und Kind sein zu dürfen bei seinen Eltern“ (Abs. 19). „Ich hatte nach dem Wochenende zu Hause oft Heimweh, nach der Ordnung und dem Sich-Anlehnen-Können in meiner Familie“ (Abs. 33). „Gutes Telefonat mit meiner Mutter, denn ich habe mich geborgen gefühlt, jemand interessiert sich für mich und kennt mich gut“ (Abs. 37). „Ich habe ein schönes Weihnachtspäckchen von meiner Mutter bekommen“ (Abs. 40). Das neue Leben scheint aber auch mit Emanzipationsbestrebungen im familiären Bereich mindestens einherzugehen: „Ich habe mich getraut, meinen Großeltern Fragen zu stellen und sie zum ersten Mal ohne Begleitung zu besuchen“ (Abs. 29). Auch das Verhältnis zu ihren Kommilitoninnen ist nicht eindeutig. Einerseits hat sie das Gefühl, dass die Leute aus ihrem Studienfach nicht ihrer Wellenlänge entsprechen, andererseits berichtet sie immer wieder von netten Kolleginnen, die ihr z.B. einen Kuchen zum Geburtstag backen und von Menschen, die ähnlich denken wie sie. So lässt sich auch hier vermuten, dass die Leute nicht das eigentliche Problem von Maria darstellen, sondern dass Maria dieses Thema im Kontext ihrer generellen Zweifel wahrnimmt: „Ein Mädchen aus höherem Semester (Fachschaft) hat mich zu ihrer WG-Party eingeladen“ (Abs. 25a). „Wenn ich die Mädels nicht hätte, würde ich mich sehr allein fühlen und unwohl unter meinen Kommilitoninnen, da ich mit vielen überhaupt nichts anfangen kann“ (Abs. 11). „Die Mädchen, die mit mir studieren und die ich sehr gerne mag, haben mit mir Geburtstag gefeiert und sogar einen kleinen Kuchen für mich gebacken“ (abs. 16). „Ich war in einer Aktionsgruppe vom Eineweltladen, wo ich interessante Menschen und eine Atmosphäre meiner Wellenlänge getroffen habe“ (Abs. 17). „Die Friedens- und Konfliktpräsentationsgruppe hat gut funktioniert und ich fühle mich mehr integriert als das letzte Mal“ (Abs. 18). „Es gab für mich unausgesprochene Konflikte, was Referatsvorbereitung betraf, ich fühlte mich in dem 3-Gespann ausgegrenzt und habe mir darüber viele Gedanken gemacht“ (Abs. 21). „Für die Bildungs-/politische-Eineweltgruppe habe ich mich mit einem fremden Mädchen gut vorbereiten können, ich konnte mich einbringen und wir haben eine gemeinsame Wellenlänge gefunden“ (Abs. 26). „In meiner Projektgruppe merke ich, dass die meisten sich nicht bemühen und das nervt mich (bzw. ärgert meinen Ehrgeiz)“ (Abs. 34). „Guter Theaterbesuch
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mit zwei Kommilitonen“ (Abs. 36). „Habe das Gefühl, zu keiner Gruppe dazuzugehören, keine Freunde hier zu haben“ (Abs. 42). „Die Fachschaftssitzung war nicht so unproduktiv wie sonst und ich habe mich ernstgenommen und willkommen gefühlt“ (Abs. 46). „Ich hatte ein intensives Treffen/ Gespräch mit zwei Mitstudentinnen, was einfach gut getan hat“ (Abs. 47). „Der Junge, der mit mir nach Großstadt/Ausland gehen würde, geht mir (glaube ich) bewusst aus dem Weg => warum?“ (Abs. 51). „Ich habe viel Schönes mit Mädels aus meinem Studiengang unternommen: WG-Party, Frühstücken, Kneipentour und Party... Es war gut zu reden, Gedanken auszutauschen über das Studium und einmal auf andere Gedanken zu kommen, sich zugehörig zu fühlen, eine soziale Rolle zu spielen und vom Lernen abgehalten zu werden“ (Abs. 54). „Ich bin immer froh, nach Hause in mein eigenes Reich zu kommen, in dem ich mich sehr wohl fühle“ (Abs. 28). „Das Alleinewohnen ist schwer für mich, auch wenn ich es genieße, meine Ruhe zu haben. Mir fehlen Gespräche mit Mitbewohnern, gemeinsames Kochen und Essen und Ablenkung von dem Studium“ (Abs. 62). Marias Studienwelt ist von erlebten Widersprüchen gekennzeichnet. Ausgangspunkt scheint Marias genereller Selbstzweifel zu sein, der durch die Strukturen des Studiums kaum aufgefangen wird, so dass ‚selbst erarbeitete’ positive oder stimmige Elemente kaum als solche erlebt werden. Das Studieren dieses Faches scheint Maria eigentlich Spaß zu machen und das richtige für sie zu sein. Dennoch erlebt sie das nicht unbedingt so. Ihre Mutter kritisiert das Fach als brotlos, spendet ihr außerhalb der neuen Welt Trost, Geborgenheit und Verständnis. Zentrale Figuren der neuen Erwachsenenwelt innerhalb der Studienwelt tun dies nicht. Ganz im Gegenteil fühlt sich Maria beispielsweise bei der Suche nach einem Hausarbeitsthema vom betreffenden Professor alleine gelassen und traut sich aber auch nicht, von sich aus die Hilfe zu suchen. Trotz Marias bildungsnahen Herkunft scheinen hier alte Welt und neue Welt auseinander zu driften. Sie hat an sich einen fruchtbaren Zugang zum Studium. Die Veranstaltungen gefallen ihr und sie begibt sich eigenständig auf die Suche, besucht thematisch anknüpfende außeruniversitäre Veranstaltungen, stöbert mit Freude in der Bibliothek. Das sind Aneignungsweisen, die einem legitimen Habitus entsprechen. Die fehlende Integration von Altem und Neuem, die als Habitus-Struktur-Konflikt herausgearbeitet wurde, findet hier nicht auf der Ebene kollektiver Kultur-Muster-Passung statt, sondern eher auf direkter Beziehungsebene, wie es für dominante Habitus als typisch vermutet wurde. Dennoch sind Marias Probleme als Habitus-Struktur-Konflikt zu betrachten, weil mitgebrachte Geborgenheitsbedürfnisse in der neuen Welt kaum bedient werden. Einen Link, d.h. Ansprechpartner, Geborgenheitsspender etc. sucht und findet sie zwar sowohl in oberflächlichen als auch freundschaftlichen Kontakten und dies innerhalb des Studiums genauso wie außerhalb, z.B. in ihrem Weltla-
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denengagement. Diese ‚selbst erarbeiteten’ Angebote auf der Peer-Ebene scheinen aber nicht auszureichen. Sarah (20 Jahre alt) Sarah macht zum Teil ähnliche Beobachtungen wie die anderen. Sie findet es zum Beispiel im Vergleich mit der Schule schwierig, tiefer gehende Kontakte zu knüpfen, was sie aber ‚logisch’ mit der Größe und dem fehlenden Klassenverbund erklärt. Die Anonymitätsdiagnose scheint hier eher eine relativ gelassene Beobachtung zu sein und bezieht sich nicht auf die Problematik des eigenen Beachtet-Werdens: „Obwohl ich mit sehr vielen meiner Kommilitonen gut klarkomme, haben sich noch keine wirklichen Freundschaften gebildet. Die Beziehungen kommen mir eher oberflächlich vor – man grüßt sich, quatscht etwas und verabschiedet sich wieder. [...] Ich habe das Gefühl, dass man eher offensiv sein muss, um mit den Kommilitonen in näheren Kontakt zu treten“ (Abs. 6). „Bei dem ‚Kontaktproblem’ glaube ich, dass ich einfach vom Schul-Alltag verwöhnt bin: ca. 30 Leute sind den ganzen Schultag über zusammen, man ist meistens am selben Ort und kann gar nicht anders, als mit den Mitmenschen in Kontakt zu treten. Wenn ich jetzt in der Uni einmal etwas später in einen vollen Hörsaal komme, kann ich mit Glück vielleicht ein paar Leute grüßen und muss mich dann neben einen ‚Fremden’ setzen. Nach der Vorlesung versuchen dann 500 Leute gleichzeitig aus dem Saal zu gehen, und mit Pech sehe ich dann gar keine Bekannten mehr..., es ist also auf jeden Fall eine Umstellung vom System Schule zur Uni, und man muss viel aktiver sein, um wirklich Anschluss zu finden“ (Abs. 9). Dass es schwerer ist als in der Schule, Freundschaften zu bilden, bedeutet nicht, dass Sarah ihre Kommilitoninnen nicht mag. Ganz im Gegenteil ist sie die einzige, die durchweg positiv berichtet: „Positiver Ersteindruck bei OE, v.a. wegen der sympathischen Kommilitonen“ (Abs. 1). „Der Zusammenhalt der ‚Sowi-Erstis’ gefiel mir sehr gut – selbst wenn man jemanden nur flüchtig vom Sehen kennt, ist eine Konversation immer freundschaftlich. Man kommt sich eben gleich bekannter vor, wenn man das Gleiche studiert!“ (Abs. 2). „Ich war bei einer WG-Party und habe mich lange mit Kommilitonen unterhalten, mit denen ich normalerweise nicht sehr viel zu tun habe – das habe ich sehr genossen“ (Abs. 15). Auch wenn sie von der Gemeinsamkeit des gleichen Faches spricht, nimmt Sarah, ähnlich wie Maria, aber anders als Mira, Oliver und Markus, andere Menschen kaum bezüglich ihrer Gruppenzugehörigkeiten wahr oder berichtet nicht darüber. Die Dimension Sozialraumkompetenz kommt bei Sarah kaum zum Tragen. Auch ihr politisches Engagement ist weniger sozialraumanalytisch-
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mikropolitisch ausgelegt, sondern sie ist klassisch politisch aktiv: „Diese Woche habe ich mich politisch engagiert! Am Mittwoch war Vollversammlung, und danach bin ich mit auf die Spontan-Demo gegangen. Es war ein tolles Gefühl mit Gleichgesinnten durch die Straßen zu laufen und meine Meinung kundzutun! Natürlich muss man bei solchen Ereignissen darauf achten, dass man nicht von seiner Begeisterung mitgerissen wird und das Ziel der Demo nicht beachtet, aber ich achte darauf, dass ich nur bei Demos mitmache, die für etwas kämpfen, das mir persönlich wichtig ist. [...] Ich habe jedenfalls meine Scheu vor ‚politischen Aktionen’ verloren und werde in Zukunft bestimmt noch an vielen Demos teilnehmen!“ (Abs. 20). „Was mir im Moment etwas Bedenken macht, sind die Umstände an der Uni. In der Vollversammlung wurde uns noch mal vor Augen geführt, wie schlecht gerade die Soziologie dran ist – Platzprobleme, die einsturzgefährdete Phil Fak, Professorenmangel... Am eigenen Leib merke ich im Moment zwar noch nicht so viel davon, aber ich bin ja auch erst im ersten Semester! Wenn ich diese Beschwerden höre, denke ich mir manchmal: ’Hätte ich das vor Beginn des Studiums gewusst, hätte ich mich wahrscheinlich abschrecken lassen und wäre gar nicht nach Marburg gegangen...’. Ich hoffe nur, dass sich da bald etwas ändert, und dafür werde ich auch weiterhin demonstrieren“ (Abs. 22). Ohnehin scheint Sarah das Studienleben mit großer Offenheit, Neugierde und Souveränität anzugehen. Sie genießt den Neuanfang geradezu: „Ich liebe das Gefühl, wenn eine fremde Stadt (oder Umgebung) mir langsam vertraut wird und ich anfange, mich dort heimisch zu fühlen. Ich weiß noch, wie stolz ich war, als ich jemandem zum ersten Mal den Weg zum Bahnhof zeigen konnte!“ (Abs. 3). „Ich habe es schon immer gemocht, mich in eine fremde Umgebung einzugewöhnen und mich neu zu orientieren – das habe ich bei meinen Auslandsaufenthalten auch beobachtet. Und obwohl Marburg bei Weitem nicht so fremd ist wie z.B. Südamerika, so ist es doch etwas Unbekanntes und ein Neuanfang. Ich kann ‚von vorne’ anfangen – da mich niemand kennt, kann niemand Vorurteile mir gegenüber haben“ (Abs. 4). Sarah steht hier geradezu idealtypisch für das Erleben von Neuem nicht als etwas Bedrohliches, sondern als etwas Chancenbehaftetes, dem im wahrsten Sinne des Wortes mit Neugierde begegnet wird. Auch sonst ist Sarah sehr freudvoll aktiv: „Ich habe einige interessante Abendveranstaltungen besucht, zum Beispiel eine Diskussion über die Konsumkritik und ein Film über Afrika. Ich genieße das breite Angebot an Veranstaltungen und habe jede Woche nur das Problem, dass ich nicht überall hingehen kann!“ (Abs. 10). „Ich habe außerdem zwei sehr interessante Vorträge besucht und hatte wie jedes Mal wieder das Gefühl, meinen Horizont erweitern zu können. Ich habe eine Kommilitonin gefunden, die eine ähnliche politische Sicht hat wie ich und mit der ich immer
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gesellschaftskritische Vorträge besuche. Es tut gut, sich mit ihr austauschen zu können und mit ihr zu diskutieren – so festigt sich meine politische Einstellung“ (Abs. 18). Auch wenn sie zu Beginn des Studiums ähnliche Entscheidungskonflikte bzw. Unsicherheiten empfindet wie zum Teil ihre Kommilitoninnen, scheinen die bei Sarah kaum gravierend bzw. vorübergehender Natur zu sein. Dies zeigt sich zum Beispiel an dem – im Gegensatz zu ihren Kommilitoninnen Steffi und Maria – lockeren Handling mit der Bewerbung für ein Auslandsstudium oder bei Sarahs Wahrnehmung ihres Umgangs mit Referaten: „Ich hatte schon etwas Angst vor dem Referat (es war immerhin mein erstes!), da der Prof ziemlich anspruchsvoll ist, aber letztendlich klappte es ganz gut. Leider hatten wir einiges falsch verstanden und wurden so während des Referats von dem Prof verbessert, und das war schon etwas frustrierend. Nach den stundenlangen Diskussionen mit der Gruppe hatte ich gedacht, ich hätte es endlich verstanden, und nach ein paar Sätzen vom Professor schrumpfte mein Wissen plötzlich wieder zu einem kleinen Häufchen...“ (Abs. 11). „Diese Woche habe ich mein zweites Referat gehalten und war sehr zufrieden damit. Ich war gar nicht aufgeregt und trug meinen Teil sicher vor – langsam fange ich an, am Referieren Gefallen zu finden!“ (Abs. 17). „Letzte Woche habe ich mich für einen ErasmusAuslandsaufenthalt beworben und hoffe nun, dass ich im 4. Semester in A-Stadt studieren werden kann! Leider haben sich sehr viele für ‚meine’ Uni beworben, und es ist nur ein Platz pro Semester frei... na ja, vielleicht habe ich ja Glück!“ (Abs. 13). „Am Freitag habe ich die Ergebnisse von der Erasmus-Bewerbung bekommen, und leider wurde ich nicht für A-Stadt genommen! Ich kann jetzt entweder nach B-Stadt oder nach C-Stadt, und habe keine Ahnung, für was ich mich entscheiden soll... immer diese schweren Entscheidungen!“ (Abs. 19). „Ich habe mich jetzt für ein Auslandssemester in C-Stadt entschieden und freue mich schon sehr darauf. Ich bin sehr froh, dass es Studenten durch Erasmus so leicht gemacht wird, ins Ausland zu gehen!“ (Abs. 21). Im Gegensatz zu den Anderen äußert sich Sarah auch zu Studieninhalten und dies sowohl positiv als auch negativ, wobei sich auch die Kritik nicht nur auf die Abläufe bzw. die Dozenten bezieht, sondern als ‚Fachkritik’ formuliert wird: „Einige Vorlesungen entpuppten sich mit der Zeit als ziemlich langweilig, und ich habe das Gefühl, dass der Grund dafür eher die Dozenten als die Inhalte sind. Manchmal schaue ich mir eine Folie an und denke: das klingt ja alles ganz interessant... wenn es mir nur richtig vermittelt werden würde!“ (Abs. 7). „Was mich aber freut, ist, dass mir das bis jetzt Gelernte immer wieder in Texten begegnet – vor allem dann, wenn ich es gar nicht erwarte. Gerade Marx wird in vielen Texten behandelt, und ich freue mich jedes mal, wenn ich über seinen Namen stolpere und mit kindlichem Stolz bemerke, dass ich schon etwas Hin-
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tergrundwissen besitze!“ (Abs. 12). „Einige Aspekte meines Studiengangs beginnen, mich etwas zu stören. Es geht zum Beispiel immer nur um die Gesellschaft, und alle Soziologen und Philosophen, die wir durchnehmen, werden nur unter diesem Gesichtspunkt behandelt. Somit werden meiner Meinung nach essenzielle Fragen, die beispielsweise moralischer Natur sind, einfach übergangen. Wenn wir dann mal doch an einer diskutierbaren Frage hängen geblieben sind, heißt es sofort: ‚Soziologen glauben nicht, sie erkennen!’. Ich muss dann oft unwillkürlich seufzen... Na ja, wahrscheinlich erwarte ich zu viel, ich studiere nun mal nicht Philosophie!“ (Abs. 16). Sehr erhaben wirkt die Art der Kritik an der Soziologie durch die Philosophie und auch die Tatsache, dass Sarah sich im Gegensatz zu den anderen inhaltlich äußert. Sarah hat keine Angst vor ihrem Studienfach, sie kann mit ihm spielen. Auf die Hierarchie und Relationen der Fächer und deren Entwicklungen aus der ‚Königsdisziplin’ Philosophie heraus, wie Bourdieu (1988) sie dargelegt hat, sei hier am Rande verwiesen. Bei Sarah ist kein Habitus-Struktur-Konflikt zu erkennen, auch kein individueller, wie er bei Maria auszumachen ist. Das heißt nicht, dass nicht auch Sarah mit Schwierigkeiten des Studienbeginns konfrontiert ist. Für alle scheint es beispielsweise schwierig, die erste Hausarbeit anzugehen: „Im Moment mache ich mir ziemlich viel Gedanken über die Hausarbeit, die ich dieses Semester machen muss. [...] Allerdings ist Herr Teffler nicht für wissenschaftliches Arbeiten zuständig, und bei ihm fühle ich mich auch nicht so gut begleitet (ich habe ja noch gar keine Ahnung, wie man eine Hausarbeit schreibt...). Außerdem habe ich noch gar keine Idee für ein Thema“ (Abs. 13a). Die Geschichte der Kategorien Für alle Studierenden des B.A. Sozialwissenschaften ist die Situation an der Universität eine neue. Lediglich Markus hatte schon Erfahrungen gesammelt. Diese neue Situation stellt für alle Studierenden vielfältige Herausforderungen dar, wie sie allgemein im zweiten Kapitel beschrieben wurden. Einerseits besteht der Wunsch, ein eigenständiges Leben zu führen und auch eine Freude beispielsweise darüber, für einen eigenen Haushalt und Mahlzeiten verantwortlich zu sein. Andererseits existiert ein großes Bedürfnis nach Geborgenheit, nach einem Sich-Anlehnen-Können. Außerdem sind jede Menge Zweifel, Ängste, Unsicherheiten zum Beispiel bezüglich der Wahl des Studienfaches vorzufinden. Die Präsentation der aus den Wochenbüchern herausgearbeiteten Kategorien und ihrer Zusammenhänge untereinander erfolgt aus darstellungstechnischen Gründen anhand einer Aufteilung in Anforderungsdimensionen und Um-
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gangsdimensionen. Mit Anforderungsdimensionen sind die Kategorien gemeint, die wahrgenommene Probleme, Anforderungen und Herausforderungen benennen. Umgangsdimensionen bezeichnen Kategorien, die auf Aktivitäten und (bewusste oder vorbewusste) Strategien des Umgangs mit eben jenen Problemen und Anforderungen verweisen. Es versteht sich von selbst, dass manche Aktivitäten als Teil des Problems, aber auch als Teil eines Lösungsversuches wahrgenommen werden können. Diese Aufteilung hat also keine erkenntnisleitende Funktion und beeinflusst die Explikation der Fragestellung, nämlich wie Studierende den Herausforderungen ihres Studiums unter Aspekten übergreifender sozialer Ungleichheitsverhältnisse begegnen, nicht. Dimensionen der Anforderung Sarah genießt das Gefühl, wenn Neues langsam vertraut wird, was sich nicht nur am Umgang mit der zunächst fremden Stadt zeigt. „Ich liebe das Gefühl, wenn eine fremde Stadt (oder Umgebung) mir langsam vertraut wird und ich anfange, mich dort heimisch zu fühlen. Ich weiß noch, wie stolz ich war, als ich jemandem zum ersten Mal den Weg zum Bahnhof zeigen konnte!“ (Sarah, Abs. 3) „Ich habe es schon immer gemocht, mich in eine fremde Umgebung einzugewöhnen und mich neu zu orientieren – das habe ich bei meinen Auslandsaufenthalten auch beobachtet. Und obwohl Marburg bei Weitem nicht so fremd ist wie z.B. Südamerika, so ist es doch etwas Unbekanntes und ein Neuanfang. Ich kann ‚von vorne’ anfangen – da mich niemand kennt, kann niemand Vorurteile mir gegenüber haben“ (Sarah, Abs. 4).
Hier ist die neue Situation mit freudiger Erwartung und sogar mit Genuss verbunden und nicht durch Zweifel und Angst gekennzeichnet. Auch Steffi begegnet ihrem neuen Leben mit Freude. Die Vielfalt an Menschen und Möglichkeiten scheint ihr eher zu gefallen, als sie zu beunruhigen. „Ich habe sehr viele unterschiedlichste Menschen kennen gelernt (vom Typ her, unterschiedliche Nationen etc.) Jeder scheint aufgeschlossen zu sein und anderen helfen zu wollen.“ (Steffi, Abs. 1). „Ob hier nun Russen, Slowenen, Chinesen, Amerikaner oder Lateinamerikaner studieren, es ist ziemlich aufregend all ihre Geschichten kennen zu lernen. Es lebe das Multi-Kuilti! Zudem ist der Umgang mit Behinderten hier in Marburg sehr vorbildlich. Sie werden, ob Rollstuhlfahrer oder Blinde..., alle integriert und als völlig ‚normal’ angesehen, [...] was mir sehr gut gefällt.“ (Steffi, Abs. 18)
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Oliver freut sich auf sein neues Leben und vor allem dessen eigenverantwortliches Gestalten, über Zeitstrukturen, die ihm entgegenkommen und über das Zusammenwohnen mit seiner Freundin. „Der neue Tagesrhythmus ist sehr angenehm, die Vorlesungen beginnen erst um 11 oder 14 Uhr, sodass ich nachts erst um 2 Uhr ins Bett gehe, was sehr zu mir passt, da ich schon immer ein Nachtmensch war und zu Schul- und Ausbildungszeiten erst im späten Vormittag richtig wach“ (Oliver, Abs. 5). „Die ersten Wochen waren für mich und meine Freundin eine ziemliche Umstellung, da wir uns früher aufgrund des räumlichen Abstandes (80 km) nur zweimal die Woche gesehen haben, nun sehen wir uns fast jeden Tag, aber sie und ich haben schnell gemerkt, dass es sogar noch schöner für unsere Beziehung ist (Oliver, Abs. 6) „Es ist wirklich sehr angenehm, Herr seiner eigenen 4 Wände zu sein, [...]. Generell ist es total angenehm, komplett eigenverantwortlich für alles zu sein“ (Oliver, Abs. 9).
Auf der anderen Seite finden sich Ängste, Unsicherheiten, Zweifel und Kritik. Diese betreffen unterschiedliche Ebenen und Gegenstände. Sarah zweifelt weder an sich selbst, noch kritisiert sie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen. Auch Studienorganisation bzw. -ablauf sind weniger in ihrem Kritik-Fokus. Sie ist hingegen die Einzige, die auf Studieninhalte eingeht und etwa bedauert, dass Sozialwissenschaften eben ‚nur’ Sozialwissenschaften sind, wobei auch dies keine tiefer gehende Kritik zu sein scheint. „Was mich aber freut, ist, dass mir das bis jetzt Gelernte immer wieder in Texten begegnet – vor allem dann, wenn ich es gar nicht erwarte. Gerade Marx wird in vielen Texten behandelt, und ich freue mich jedes mal, wenn ich über seinen Namen stolpere und mit kindlichem Stolz bemerke, dass ich schon etwas Hintergrundwissen besitze!“ (Sarah, Abs. 12). „Einige Aspekte meines Studiengangs beginnen, mich etwas zu stören. Es geht zum Beispiel immer nur um die Gesellschaft, und alle Soziologen und Philosophen, die wir durchnehmen, werden nur unter diesem Gesichtspunkt behandelt. Somit werden meiner Meinung nach essenzielle Fragen, die beispielsweise moralischer Natur sind, einfach übergangen. Wenn wir dann mal doch an einer diskutierbaren Frage hängen geblieben sind, heißt es sofort: ‚Soziologen glauben nicht, sie erkennen!’. Ich muss dann oft unwillkürlich seufzen... Na ja, wahrscheinlich erwarte ich zu viel, ich studiere nun mal nicht Philosophie!“ (Sarah, Abs. 16).
Mira zweifelt demgegenüber von Beginn an sehr an ihren KommilitonInnen, vermisst Leute, die zu ihr passen und hofft, sich von den Anderen nicht runterziehen zu lassen. Dennoch leidet sie sehr:
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„Als meine Schwester anfing zu studieren, fand sie es wirklich übel, war noch so oft wie möglich zu Hause und hat immer erzählt, wie furchtbar die Leute an der Uni sind. Ich hab ihr nie so recht geglaubt, wie könnte es auch sein, dass nur seltsame Leute im Studiengang sind... Tja, wie könnte es. Schon der erste Tag der OE war sehr ernüchternd. Hoch motiviert kam ich mit meiner Freundin, die mit mir Abi gemacht hat und das gleiche studiert wie ich, in die Uni. Mh, die Begeisterung schwand schnell. Ich war vermutlich das Mädchen mit dem meisten Make-up im Gesicht und niemand außer meiner Freundin trug pinke Schuhe passend zum Haarreif. Der Rest der Leute, zumindest der größte Teil sah aus, als würden sie sich ihre Anziehsachen selbst stricken und nebenbei auf Bauernhöfen arbeiten. Sorry! (aber Sie wollten ja Ehrlichkeit)“ (Mira, Abs. 2). „Ich, auch wenn mir hier gerade nichts gefällt, habe nicht vor, mein Studium abzubrechen. Ich bin ehrgeizig und zielstrebig und wenn dann Ivana (ebenfalls Kommilitonin 25) sagt, sie hat 12 Semester Jura studiert, ist aber erst im dritten !!! (kein Scherz) und bricht das Studium jetzt ab, weil sie Sozialwissenschaften studieren will ohne Berufsziel, dann frage ich mich ehrlich wie es diese Leute geben kann, die gar kein Ziel vor Augen haben, ja, das war sehr unangenehm“ (Mira, Abs. 7). „Was noch toll war, ich hab meine Cousine in Mittelstadt besucht, die is Krankenschwester und ihr kann ich mein ganzes Leid klagen *g*, sie findet ’s in Mittelstadt genau so Scheiße wie ich hier in Marburg. O.K. und zum Schluss noch: es ist echt schwierig sich bei mieser Laune so viele positive Sachen aus der Nase zu ziehen!“ (Mira, Abs. 9). „Eigentlich ist der größte Punkt, der mich hier stört, dass ich keine Leute um mich hab, die ich gerne mag. Ich war es irgendwie von zu Hause gewohnt, meine Leute zu haben, ich hatte sie gerne, sie mich und vor allem hatten wir hier alle den gleichen Humor. Wenn man in der Uni irgendwas aus Spaß sagt, drehn sich schon 3 Leute vor mir um und gucken blöd, weil sie denken, dass ich es ernst meine. Mir fehlen echt Leute, die zu mir passen“ (Mira, Abs. 10).
Bei Markus mischt sich eine ähnliche Kritik an den KommilitonInnen mit Selbstzweifeln und mit der Angst, nicht in die Welt, wie sie sich ihm darstellt, zu passen. „Oberflächlichkeit bei Personen, wenn diese mit anderen zusammen sind (Kneipe), unlustige Witze, banale Gespräche, Spiele wie mit 16 Jahren“ (Markus, Abs. 7). „Weil ich merke, dass ich weiter bin als viele, zu viel nachdenke, keine Zeit auf Dummheiten verschwenden will“ (Markus, abs. 8). „Angst habe, dass ich falsch liege, ausgestoßen zu werden aus einer Welt, weil diese sich immer zur Oberflächlichkeit hin entwickelt. Zu versagen, während die ganzen Leute, die Party machen, auf mysteriöse Weise überall an der Uni super abschneiden“ (Markus, Abs.9).
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Bei Oliver findet sich eine moderate Kritik an seinen KommilitonInnen und an einigen organisatorischen Elementen des Studienablaufs, ohne dass er sich dies zu sehr zu Herzen nehmen würde. Er hat im Großen und Ganzen das Gefühl, das richtige zu studieren. In diesen Punkten wird er von Steffi übertroffen. Sie kritisiert am heftigsten Elemente des Studienablaufs und scheint ohnehin, Probleme external zu attribuieren bei einer großen Identifikation mit ihrem Studienfach. „Das Zusammenstellen deines eigenen Wochen-Veranstaltungsplans etc. sowie der hohe Anspruch an Selbstverantwortung seitens der Uni empfand ich als größere Herausforderung, da mir durch Schule, danach Berufsschule immer ‚ein fester Wochenplan in die Hand gegeben war’. Ein weiteres Problem bei der Erstellung eines Wochenplans (mit den notwendigen, ‚viel gepriesenen’ 30 ECTS-Punkten) war auch deshalb schwierig, da ein Seminar zulassungsbeschränkt war, was dann mit dem ‚viel gepriesenen’ Musterstudienplan kollidierte. Widersprüchliche Angaben von höhersemestrigen Kommilitonen aus der OE-Woche zur Empfehlung des Musterstundenplans taten ihr übriges“ (Oliver, Abs. 4). „Werde mir immer sicherer, das richtige Studium gewählt zu haben [...]“ (Oliver, Abs. 7). „Der Dozent liest fast nur aus seinem Skript ab und scheint nicht einmal zu bemerken, dass sich 2/3 der Zuhörer mit etwas anderem beschäftigen“ (Oliver, Abs. 8). „Die Veranstaltung selbst als sehr langweilig empfunden. [...]. Stattdessen stellt der Dozent Fragen an das Auditorium im Stile von ‚was würden Sie noch ergänzen?’, ‚wo würden Sie das nachschlagen?’, ‚worauf sollte man hierbei achten?’ etc., was in meinen Augen nicht zum Lernprozess beiträgt, da nur halbgare Antworten provoziert werden, ohne auf eine einheitliche Lösung/Antwort zu kommen. Es sind diese Art von Fragen, die früher in der Schule vom Lehrer gefragt wurden, obwohl dieser die Lösung/Antwort sowieso schon im Kopf wusste. [...] An der Uni erwarte ich lieber, dass der Dozent sein geballtes Wissen fundiert vermittelt und auf das Auditorium nur zurückgreift, wenn es keine Einheitslösung gibt oder eine Diskussion didaktisch sinnvoll ist....“ (Oliver, Abs. 14). „Im Allgemeinen geht man in einzelne Veranstaltungen und bereitet diese vor [...], aber ehrlich gesagt, weiß niemand so genau, was nun essenziell zu tun wäre. Lesen, lesen, lesen und nochmals lesen; aber wo und wie erkennt man, was jetzt sinnvoll ist und was Zeitverschwendung ist. So kann man letztlich sagen, dass wir in einem großen Wasser treiben, ohne jegliche Orientierung zu haben, wohin die Reise geht. Ich hoffe, dass dies sich bald ändern wird.“ (Steffi, Abs. 13-14). „Manche Vorlesungen/Übungen sind nicht sehr weiterbringend: entweder wird nur vorgelesen, was im Skript steht oder es werden Sachverhalte erklärt, was schon längst (seit der Schule) klar ist/sein muss. Viele Professoren gehen nicht richtig auf die Studenten ein, reden an ihnen/ihren Fragen vorbei. Einige (in manchen Veranstaltungen alle) Diskussionen bestehen aus einzelnen Statements und ‚man’ dreht
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sich nur im Kreis, ohne dass man vorankommt. [...] Manche Tutoren sind nicht sicher und haben kein überblickendes Wissen, um uns helfen zu können. Nach mehreren Wochen stehen manche Folien/Materialien noch immer nicht in der Lernplattform Ilias (Internet) und auch nicht in der Soziologie-Bibliothek im Handapparat. Trotz mehrfachem Nachfragen nach diesen Materialien reagieren manche Professoren immer noch nicht und wir Studenten haben nach diesem langen Zeitraum immer noch keine vollständigen Lernmaterialien“ (Steffi, Abs. 22-26). „Es ist zudem echt blamabel, wenn ein Professor mit Assistent nicht in der Lage ist, die Lehrfolien zur Verfügung zu stellen. Erst nach mehrmaligem Fragen wurden einige Folien der Veranstaltung in Ilias gestellt – und das nachdem die halbe Veranstaltung schon fast vorbei ist! Und das ist noch nicht einmal ein Einzelfall!“ (Steffi, Abs. 34).
Bei beiden zeigt sich – neben der Studienablaufkritik und der rigiden Anspruchshaltung bei Steffi gegenüber KommilitonInnen, Tutorin, Lehrenden und Präsidium – die Dialektik von Freiheit und Strukturierung. Einerseits freuen sie sich am eigenverantwortlichen Leben, andererseits wird die Offenheit des Studiengangs, die auch von Mira bemängelt wird, sowie die Notwendigkeit, selbst strukturierend einzugreifen, als Herausforderung erlebt. Gänzlich anders sieht es bei Maria aus. Sie findet ihr Studium einerseits spannend, studiert mit Interesse, stöbert gerne in der Bibliothek, besucht extracurriculare Vorträge und nimmt an Lerngruppen teil, zweifelt andererseits permanent an sich und ihrem Studium. Es hat den Anschein, dass sie eigentlich gerne studiert, sich aber selbst mit Ansprüchen überfordert und Probleme internal attribuiert. Außerdem vermittelt ihre Mutter ihr das Gefühl, dass sie nicht das richtige Fach studiert. „Bis jetzt gefallen mir Vorlesungen und andere Veranstaltungen, in keiner habe ich das Gefühl, am falschen Fleck zu sein“ (Maria, Abs.1). „Es gibt bei der Veranstaltung ‚Einführung in die Theorien der Sozialwissenschaften super Gesprächsdiskussionsgruppen, in denen wir ungestört über interessante Themen diskutieren können“ (Maria, Abs. 3). „Das Referat ist ein kleiner Stein auf meinem Rücken, weil ich nicht genügend Zeit finde, mich darauf vorzubereiten. Ich habe das Gefühl, mich nicht richtig ordnen zu können und Gehörtes (Wissen) für mich zu verarbeiten, es rauscht alles an mir vorbei und ich würde gerne mehr Zeit zum Nacharbeiten haben. Es macht mir deshalb Sorgen, weil ich mir für dieses Semester ziemlich viel vorgenommen habe und da auch nicht mehr zurück kann“ (Maria, Abs. 5-6). „Immer wieder kommen Zweifel und Ängste, ob es das richtige ist hier. Meine Mutter gibt mir das Gefühl, ein Fach zu studieren, mit dem ich nie Erfolg und Berufschancen haben werde“ (Maria, Abs.8).
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen „Ich habe Angst vor Semesterende (Jan./Feb.), da alle Klausuren, Präsentationen, Referate auf diese drei Wochen fallen“ (Maria, Abs. 10). „Ich bin zu ehrgeizig und überfordere mich systematisch“ (Maria, Abs. 12). „Ich habe einen tollen, interessanten Text gelesen (fürs Studium). Ich habe meine ERASMUS-Bewerbung fertig bekommen und abgegeben, bin zufrieden mit meiner Länderwahl. Ich habe sehr interessante Vorträge gehört, einen im Rahmen der FuK-Ringvorlesung und den anderen im Eineweltladen“ (Maria, Abs. 20). „Bin immer noch am Zweifeln, ob das Studium das Richtige ist (weil ich nicht weiß, was ich damit beruflich machen möchte/kann). Die nächste Woche liegt schon wieder wie ein Berg vor mir, ich bin fast immer eingespannt (ist aber auch freiwillig und irgendwie schön...)“ (Maria, Abs. 24-25). „Ich freue mich daran, in der Bibliothek zu stöbern und Spannendes zu entdecken. […] Ich merke, wie mir alles zu viel wird und ich nicht gut auf mich und meinen Körper achte. Ich fühle mich überfordert und allein gelassen bei der Themenfindung für meine Hausarbeit, die Anweisungen sind so grob und unspezifisch“ (Maria, Abs. 30-32). „Vor allem die Hausarbeitsthemenfindung belastet mich. Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll/kann. Trau mich nicht, Professor anzusprechen, da ich mir blöd vorkomme.“ (Maria, Abs. 41). „Wir haben eine Lerngruppe gemacht, die sich von nun an regelmäßig trifft, das Diskutieren macht Spaß“ (Maria, Abs. 55). „Meine Motivation fürs Studium sinkt, es liegt alles wie ein Berg vor mir, ich habe Rückenschmerzen und Kreislaufprobleme und mein Leben besteht nur aus Uni. => Ich werde wohl etwas ändern müssen“ (Maria, Abs. 61).
So lassen sich Stufen des Zweifelns und der Unsicherheit ausmachen von intrapersonaler Konfliktattribution (Maria) über Leiden, das mit Strukturkritik gekoppelt ist (Mira, Markus) und Strukturkritik, die kaum mit individuellem Leiden verknüpft wird (Oliver, Steffi), hin zur relativen Abwesenheit von Unsicherheit, Zweifel und Kritik (Sarah). Die Strukturkritik bezieht sich bei Mira und Markus vor allem auf die KommilitonInnen, bei Oliver darüber hinaus auf den Studienablauf, bei Steffi ausschließlich auf diesen. Eine große Rolle für das Wohlfühlen in der neuen Situation spielen – das verwundert nicht – andere Menschen, vor allem Kommilitoninnen und Kommilitonen sowie darüber hinaus potenzielle Freunde und die Möglichkeit über Familie, Freunde und Paarbeziehungen, die schon vor Studienbeginn bestanden, sich in die alte, vertraute Welt zurückziehen zu können. Demzufolge ist in nahezu allen Wochenbüchern die Kategorie ‚KommilitonInnen’ stark besetzt. Dies wird vor allem vor dem Hintergrund verständlich, dass die Studierenden die Universität zumindest in dem Berichtszeitraum, d.h. in der ersten Hälfte ihres
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ersten Semesters, als anonym im Vergleich zur Schule wahrnehmen. Wie jedoch mit der für alle neuen Situation umgegangen wird, ist höchst unterschiedlich. Was die Hoffnungen betrifft, welche die Berichtenden zu Beginn ihres Studiums in ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen setzen, sind diese ähnlich gelagert. Alle wünschen sich freundschaftlichen Kontakt zu Menschen ihrer Wellenlänge und bedauern es, wenn dieser schwer zu realisieren scheint bzw. sich nicht einstellt. „Zudem habe ich mir einen ‚afrikanischen Film’ angesehen, der jede zweite Woche in der Philfak angeboten wird. Dies gefällt mir auch ausgesprochen gut, zumal die Veranstaltungen meist auch nichts kosten. An diesen Abenden lernt man auch viele neue und interessante Kommilitonen kennen, die dieselben oder ähnliche Interessenlagen haben.“ (Steffi, Abs. 35). „Ich habe schnell drei, vier wirklich nette Mädels kennen gelernt, die auf meiner Wellenlänge sind und mir viel Halt geben.“ (Maria, Abs. 2). „Die Mädchen, die mit mir studieren und die ich sehr gerne mag, haben mit mir Geburtstag gefeiert und sogar einen kleinen Kuchen für mich gebacken. Ich war in einer Aktionsgruppe vom Eineweltladen, wo ich interessante Menschen und eine Atmosphäre meiner Wellenlänge getroffen habe.“ (Maria, Abs. 17-18). „Für die Bildungs-/politische-Eineweltgruppe habe ich mich mit einem fremden Mädchen gut vorbereiten können, ich konnte mich einbringen und wir haben eine gemeinsame Wellenlänge gefunden.“ (Maria, Abs. 26). „Ich habe viel Schönes mit Mädels aus meinem Studiengang unternommen: WG-Party, Frühstücken, Kneipentour und Party... Es war gut zu reden, Gedanken auszutauschen über das Studium und einmal auf andere Gedanken zu kommen, sich zugehörig zu fühlen, eine soziale Rolle zu spielen und vom Lernen abgehalten zu werden.“ (Maria, Abs. 54). „Obwohl ich mit sehr vielen meiner Kommilitonen gut klarkomme, haben sich noch keine wirklichen Freundschaften gebildet. Die Beziehungen kommen mir eher oberflächlich vor – man grüßt sich, quatscht etwas und verabschiedet sich wieder. [...] Ich habe das Gefühl, dass man eher offensiv sein muss, um mit den Kommilitonen in näheren Kontakt zu treten“ (Sarah, Abs.5). „Ich war bei einer WG-Party und habe mich lange mit Kommilitonen unterhalten, mit denen ich normalerweise nicht sehr viel zu tun habe – das habe ich sehr genossen“ (Sarah, Abs. 14). „Ich habe außerdem zwei sehr interessante Vorträge besucht und hatte wie jedes Mal wieder das Gefühl, meinen Horizont erweitern zu können. Ich habe eine Kommilitonin gefunden, die eine ähnliche politische Sicht hat wie ich und mit der ich immer gesellschaftskritische Vorträge besuche. Es tut gut, sich mit ihr austauschen zu können und mit ihr zu diskutieren – so festigt sich meine politische Einstellung“ (Sarah, Abs. 18).
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen „Die OE-Woche empfand ich als etwas langweilig organisiert und hin und wieder menschlich anstrengend aber auch menschlich angenehm. Anstrengend insofern, als dass die schiere Masse an plötzlichen Mitkommilitonen beim intensiven Kennen lernen überfordert und immer wieder kehrender gleichthemiger Small-Talk ermüdend ist. So musste zwangsläufig der Fokus auf ein knappes Dutzend an Kommilitonen erfolgen, um Unterhaltungen und Austausch jenseits von Small-Talk führen zu können“ (Oliver, Abs. 3). „Sehr allein, aber mit Studienkollegen 2-5 alles okay – niemand zu pushy und alles spontan – joggen, feiern“ (Markus, Abs. 31). „Aber was langsam besser wird, ist, dass man nicht mehr ganz so alleine ist, man kennt mittlerweile ‚n paar mehr Leute in Marburg und die grüßen einen dann in der Stadt, was einem mal ‚n bisschen bessere Laune beschert. Aber nur ‚n bisschen, richtig wohl fühl ich mich hier noch lange nicht. Mit den meisten Leuten ist man halt so zusammen, aber möchte es eigentlich gar nicht wirklich...“ (Mira, Abs. 6). „Noch ganz schön fand ich, dass ich mich heute ganz gut mit nem Mädchen bei mir aus’m Studiengang unterhalten hab. Sonst hat die mich immer ziemlich dämlich angekuckt, aber heute hatte sie wohl ‚n guten Tag. Oft gucken mich Leute schon von Anfang an so an, als würden sie was gegen mich haben. Auch wenn mir viele Leute nicht besonders sympathisch sind, ich bemühe mich wenigstens, mich vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Obwohl das eben bei manchen Leuten einfach nicht möglich ist“ (Mira, Abs. 25).
Große Unterschiede gibt es jedoch, was die Einschätzung der Kommilitoninnen angeht. Steffi freut sich über das ‚Multi-Kulti’, das sie bei ihren Kommilitonen wahrnimmt. Sie hat, wie die Einzelfallanalyse zeigt, eine große Identifikation mit ihrem Studienfach. Ähnlich ist es bei Sarah. Auch sie hat von Anfang an einen positiven Eindruck ihrer Kommilitoninnen und nimmt sie als eine Gruppe wahr. „Positiver Ersteindruck bei OE, v.a. wegen der sympathischen Kommilitonen“ (Sarah, Abs. 1). „Der Zusammenhalt der ‚Sowi-Erstis’ gefiel mir sehr gut – selbst wenn man jemanden nur flüchtig vom Sehen kennt, ist eine Konversation immer freundschaftlich. Man kommt sich eben gleich bekannter vor, wenn man das Gleiche studiert!“ (Sarah, Abs. 2).
Gänzlich anders sieht es bei Oliver, Markus und Mira aus. Zwar bringen zumindest Oliver und Markus eine positive Grundeinschätzung ihrer Kommilitoninnen mit bzw. entwickeln diese in der Orientierungswoche: „Es ist wirklich so, dass man an Verhalten, Auftreten und ‚Charakter’ der Leute recht schnell einschätzen kann, was die studieren. Ich bin sehr froh, Sozialwissen-
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schaftler als ziemlich ‚positiv sozial’ offen und relativ locker zu erleben. Dadurch fühle ich mich meist recht wohl und unter ‚meinesgleichen’“ (Oliver, Abs. 10). „Bei OE waren alle nett. Einige komisch, da sehr zurückhaltend und unaktiv, z.B. bei Stadtrallye, wenn man den Geschmack einer Öko-Banane feststellen musste, also schätzen, wie diese schmeckt, traut sich keiner, etwas zu sagen“ (Markus, Abs. 1).
Aber alle drei nehmen als einzige eine gruppenbezogene Einschätzung ihrer Mitstudierenden vor und noch dazu eine ähnliche. Sie grenzen sich von der Gruppe der ‚Pseudoalternativen’. Miras Aussage bezüglich ihrer Antipathie gegenüber dem alternativen Aussehen ihrer KommilitonInnen wurde oben bereits zitiert. „Interessant aber auch etwas betrüblich ist es, festzustellen, dass ausgerechnet die Kommilitonen, die später unbedingt in die Entwicklungshilfe wollen, oftmals am egoistischsten und ‚kältesten’ wirken. Das passt nicht zusammen, da ich das Arbeiten in der Entwicklungshilfe für am ‚sozialsten’ erachte (neben einem Studium für Pädagogik/ soziale Arbeit)“ (Oliver, Abs. 11). „Die ‚Grüppchen-Bildung’ zwischen den Kommilitonen scheint abgeschlossen, es ist schon interessant zu beobachten, wie meistens die gleichen Leute zusammen sitzen. Auch ich bilde da kaum eine Ausnahme. Mit den Leuten, mit denen ich in der OE-Woche am meisten zu tun hatte, habe ich nach wie vor am meisten zu tun“ (Oliver, Abs. 15). „Auch extrem viele Studenten, die sich der Pseudo-Alternativität verschrieben haben, was äußerlich alternativ aussieht, ist bei 75% über 200-300€ wert, jeden Tag so angezogen, als gehe es in eine Disco. Die höheren Semester sind meist sehr viel netter, offener, ehrlicher“ (Markus, Abs. 2). „Nächste Woche wollen wir auf die Juristenparty, in anderen Studiengängen Freunde suchen. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass sich die Leute in verschiedenen Studiengängen anders kleiden?“ [...], na ja, deshalb andere Partys, andere Studiengänge. Ich will damit übrigens nicht sagen, dass ich die Leute alle wegen ihrem Aussehen nicht mag, es ist nur so, dass man sich ja meist Leute mit ähnlichen Interessen sucht und letztens habe ich mit ner Kommilitonin im Bus geredet und sie hat erzählt, wieso sie SoWi studiert. Sie sagt, sie wolle Menschen helfen. In ihrer Freizeit würde sie in ihrer Gemeinde alte Menschen pflegen und so. Ja, ich weiß, dass das total toll und nobel ist, aber ich dachte mir echt, ich wär im falschen Film. Dann soll die soziale Arbeit oder so studieren, sie meinte, sie hatte vorher auch schon ein freiwilliges soziales Jahr gemacht und all solche Sachen.“ (Mira, Abs. 7).
Eine ungewöhnliche Zwischenstellung diesbezüglich scheint Maria einzunehmen. Sie findet zwar schnell Kommilitoninnen, die auf ihrer Wellenlänge liegen, hält diese aber für nicht repräsentativ für ihren Studiengang. Auffallend bei Maria ist, dass sie nicht kategorisch oder gar gruppenbezogen negativ über ihre
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Studienkolleginnen spricht, sondern nur einzelne Situationen wie zum Beispiel fehlendes Engagement in einer Arbeitsgruppe kritisiert und ansonsten eher sich selbst in Frage stellt bzw. bestimmte Beziehungs-Situationen gegen sich selbst gerichtet interpretiert: „Wenn ich die Mädels nicht hätte, würde ich mich sehr allein fühlen und unwohl unter meinen Kommilitoninnen, da ich mit vielen überhaupt nichts anfangen kann.“ (Maria, Abs. 11). „In meiner Projektgruppe merke ich, dass die meisten sich nicht bemühen und das nervt mich (bzw. ärgert meinen Ehrgeiz).“ (Maria, Abs. 34). „Habe das Gefühl, zu keiner Gruppe dazuzugehören, keine Freunde hier zu haben“ (Maria, Abs. 42). „Der Junge, der mit mir nach Großstadt/Ausland gehen würde, geht mir (glaube ich) bewusst aus dem Weg => warum?“ (Maria, Abs. 51). „Meine Gruppe bei FuK belastet mich, ich habe das Gefühl, als einzige inhaltlich hohe Ansprüche zu stellen und damit bei den anderen anzuecken. Das Projekt empfinde ich deshalb als sehr zeit- und arbeitsaufwändig“ (Maria, Abs. 59).
Maria scheint insofern ein besonders interessanter Fall zu sein, als dass ihre Wahrnehmung der KommilitonInnen sich einerseits im Einklang mit dem Habitus-Struktur-Modell zu bewegen scheint. Sie siedelt Konflikte auf der Beziehungsebene an und verknüpft dies nicht mit (kollektiven) Machtverhältnissen, was im Modell als typisch für dominante Habitusanteile postuliert wurde. Andererseits dürfte sie dem Modell zufolge keine gravierenden Habitus-StrukturDiskrepanzen erleben bzw. es müsste erkennbar sein, wo Muster der neuen Umgebung mit ihrem Habitus kollidieren. Die Ausführungen im zweiten Kapitel, die sich unter dem Rückgriff auf George Herbert Mead mit dem Einbringen der eigenen Biographie in neue Situationen bzw. Umgebungen beschäftigen, verweisen allerdings bereits darauf, dass mangelnde Anschlussmöglichkeiten nicht unbedingt kollektive Muster berühren müssen, sondern sich auf die individuelle Konstellation beziehen können. In der Individualität des Habitus sind alle Erfahrungen gebündelt, unabhängig davon, welchen einzelnen Kollektiven diese zuzuordnen sind. Dass Mira, Markus und Oliver einen Teil ihrer Kommilitonen ablehnend als pseudoalternativ bezeichnen, wurde bereits ausgeführt. Diese Kategorisierung lässt sich als Aufbegehren gegen dominante und womöglich als besser zum akademischen Feld passend wahrgenommene Habitus deuten. Es wird soziale Ungleichheit erlebt und benannt, teilweise auch sehr direkt, ohne die Gruppenverschlüsselung ‚pseudoalternativ’. Diese Kategorie soll hier als Sozialraumkompetenz bezeichnet werden. Damit ist nicht eine bessere Beherrschung des
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Sozialraumes gemeint, sondern eine reflexiv-analytische Behandlung, das heißt die Thematisierung von Gruppenzugehörigkeiten. „Weil man oft dieser Übermacht an Kapital ausgesetzt ist (den Studenten, die ohne Skrupel Geld ihrer Eltern verprassen)“ (Markus, Abs. 10). „Hab mir letzte Woche ‚n Job gesucht. Ich finde es blöd, sich das Studium von den Eltern bezahlen zu lassen und ihnen ständig auf der Tasche zu hängen und zu wissen, dass ich so lange studieren kann, wie ich will, weil Mami und Papi ja zahlen. Meine zahlen die Miete und sonst nichts“ (Mira, Abs. 8). „Schön ist auch, dass FuK (das Gruppentreffen) diese Woche ausfällt. Ich hasse die Gruppe, alle kennen se sich da ganz pralle mit Politik aus und ich sitz da nur und beehre die mit meiner Anwesenheit, klar hab ich auch Zeitungsartikel und allen Scheiß rausgesucht, aber ich fühl mich da nie so wirklich integriert“ (Mira, Abs. 9). „Mein Gott, eigentlich will ich die Leute jedes mal fragen: ‚Sag mal, geht’s noch?’ Kostet ja auch alles nix! Mich nerven diese ganzen Leute, die ihr Leben und ihre und unsere Zeit verschwenden, weil sie nicht wissen, wohin sie wollen. Als hätte man nicht 13 lange Schuljahre Zeit gehabt, sich zu überlegen, was man mit sich anfangen will. Mich nerven die einfach total, weil ich einfach niemanden finde, der auch nur ansatzweise das gleiche Ziel hat und mit der gleichen Motivation an das Studium herangeht wie ich. Es kann doch nicht sein, dass die es alle total verpeilt haben, sich über die Zukunft Gedanken zu machen, bevor sie anfangen irgendwas zu studieren. Ich weiß auch nicht, wo all die normalen Leute hin sind. [...] Was ich bisher so mitgekriegt hab, sind die Leute einfach total erschrocken darüber, dass man mit Sozialwissenschaften direkt niemandem hilft, dass man keine Brötchen für Lau auf der Straße verteilt, sondern dass es um Staat, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft geht. Überraschung! Wie gut, dass ich vorher die Studieninfo gelesen hab, sonst hätte ich wohlmöglich auch geglaubt, ich wär beim Hilfswerk gelandet. Wie gesagt, wo sind nur die normalen Leute geblieben?“ (Mira, Abs. 31).
Darüber hinaus sind bei ihnen im Gegensatz zu ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen weitere Gruppenkategorisierungen zu beobachten, die sich zum Teil als Habitus-Struktur-Konflikte verstehen lassen. Diese wurden im Modell als projizierte HSK bezeichnet und beziehen sich auf andere dominierte Habitus (d.h. Gruppenzugehörigkeiten), wie hier ‚die Russen’ oder ‚die Ossis’. Diese Art von HSK lässt sich so betrachtet als Ventil begreifen, das einen Umgang mit der eigens erfahrenen Benachteiligung ermöglicht. Hier zeigt sich beispielsweise, dass diese Kategorie auch bei den Umgangsdimensionen hätte genannt werden können: „Ich hab in dem supertollen Modehaus ‚Takko’ meinen Job gekündigt. Es war da doch echt nur mies. 5 Euro die Stunde und ich musste jedes Mal den ganzen Laden saugen und obwohl ich alles 3 mal gemacht hab, damit es sauber wurde, kam nachher noch die dämliche Mitarbeiterin mit ihrem Russenakzent an und meinte (nach-
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen dem ich den Staubsauger weggeräumt hatte), ‚Frau Ingelbert, hier müssen Sie aber noch mal machen, ist noch alles dreckig’“ (Mira, Abs. 13). “Keine Teamarbeit, da der Ossi zu selbstüberzeugt von seiner Arbeit; Kreativität = 0; 1. kurz vor Tränen, als klar wird, dass alles auf diese Weise den Bach runtergeht. Habe auf dem WC mitangehört, wie Ossi sich am Telefon über uns aufregt; Diskussion gut gelaufen, Referat sehr gut“ (Markus, Abs. 11).
Auffallend ist, dass aber nicht nur die Abwertung anderer Gruppen, bei denen zu vermuten ist, dass sie als dominiert wahrgenommen werden, als habituelle, d.h. vorbewusste Strategie erscheint, sondern dass umgekehrt eine Solidarität mit kategorial anders Dominierten gelebt wird. Hier sei an das Heidi-Beispiel aus dem ersten Kapitel erinnert. Der Diener hilft Heidi, die Schwierigkeiten hat, mit dem feinen Leben in dem gutbürgerlichen Hause in Frankfurt zurechtzukommen. Heidi hat dominierte Habitus-Elemente (Mädchen-Habitus; LandHabitus) und der Diener eine dominierte Lage – eben als Diener – in dem bürgerlichen Haus. Eine ähnliche ‚Solidarität der Dominierten’ lässt sich im akademischen Feld beobachten. Mit Beschäftigten beispielsweise, die selbst nicht akademisch ausgebildet sind, verstehen sich Studierende aus bildungsfernen Milieus häufig gut bzw. deren Nähe wird gesucht. Dies können Reinigungskräfte, Hausmeister oder Bibliotheksangestellte sein. Erika Haas hatte bereits festgestellt: „Es gibt eine starke Affinität zu ihrer Herkunftsschicht, die sich in unterschiedlichem Kontaktverhalten äußert, das jedoch nicht erfolgreich ist: [...]. Darin – nämlich in der Solidarisierung und Gruppenbildung – besteht die von Theling vorgeschlagene Lösung des Problems von Arbeitertöchtern an der Universität. Sie müssen sich zu Wort melden und eine starke Gruppe bilden, die kollektive Veränderungen ermöglichen könnte [...]“ (Haas 1999, 41).
Die Suche nach Kontakten zu Unterschichtangehörigen ist häufig zu beobachten und könnte nicht nur als Symptom eines Konfliktes, sondern bereits als der Versuch seiner Lösung angesehen werden. In der ‚neuen Welt’ Menschen zu begegnen, die leichter mit der ‚alten Welt’ in Verbindung gebracht werden können, etwa dienstleistende Angestellte, hat vermutlich den Effekt, die Fremdheitsgefühle abzumildern und die beiden Welten als miteinander in Verbindung stehend zu betrachten. „Die waren echt so super nett da [in der Universitätsbibliothek; L.S.] , erst hat der Mann mir erklärt, wie ich das mit Kabel machen kann und dann hat mir noch ne Mitarbeiterin die Wireless-Lan Software draufgemacht, damit ich jetzt immer und überall im Unigebäude ins Net kann. Ist echt super“ (Mira, Abs. 23).
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Selbstverständlich wird Vertrautes aus der Herkunftswelt nicht nur im neuen Milieu, sondern auch außerhalb gesucht. Diese Variante wird unter den Umgangsdimensionen geschildert. Bereits die Dimension ‚Kommilitoninnen und Kommilitonen’ verweist auf das Problem: alle suchen nach vertrauten Menschen und diagnostizieren, dass dies an der Uni schwieriger zu bewerkstelligen ist als an der Schule, weil sich hier alles größer und anonymer gestaltet. Für Studierende aus bildungsfernen Milieus ist das Problem umso gravierender, weil sie stärker auf die Anerkennung durch die Institution – das bedeutet auch durch Kommilitonen – angewiesen sind. In seiner Zusammenschau der Ergebnisse der Studierendensurveys hält Bargel (2007) fest, dass die soziale Herkunft bei einigen Probleme keine Rolle spielt, wie etwa beim Kontakt zu Kommilitonen oder zu Lehrenden und bei Schwierigkeiten bezüglich der Leistungsanforderungen. Die Orientierung im Studium hingegen und auch die Anonymität stelle für Arbeiterkinder eine größere Belastung dar als für Akademikerkinder. Das spricht für die Beobachtung, dass Anonymität für Studierende bildungsferner Herkunft weniger wegen des Kontaktmangels ein Problem ist, sondern wegen mangelnder Anerkennung. Die Wochenbücher zeigen nämlich, dass es hier auch ein Spektrum der Anonymitätsdiagnose gibt. Am brisantesten ist es, wenn die Anonymität Missachtungserfahrungen erzeugt, wenn also ein Habitus dringend auf Anerkennung und Bestätigung angewiesen ist, diese aber aufgrund der Anonymität nicht erhält. Dies ist tendenziell bei bildungsfernen Habitus der Fall, denen nicht nur das Netz des Klassenverbundes in der Schule am ehesten entgegenkommt, sondern die daraus gerade ihre Anerkennung, Motivation und Legitimation erfahren, ein Studium auf sich zu nehmen, trotz geringerer Studierneigung ihresgleichen. Mit dem Wechsel an die Universität setzt dann ein Schock ein, weil dort genau das nicht geboten wird, was der Antrieb für den Schritt an die Universität war. Gerade für Mira ergibt die Einzelfallanalyse, dass ein zentrales Motiv für sie das ‚Auffallen-Wollen’, als Persönlichkeit wahrgenommen und anerkannt werden ist: Sie hatte sich selbst bereits in der Orientierungswoche als das ‚am stärksten geschminkte Mädchen’ wahrgenommen. Auch andere Textstellen dokumentieren den Wunsch nach einer exponierten Position und die Suche nach sowie Freude über Anerkennung oder das Leiden unter Anonymität: „Ich empfand es als sehr angenehm die Referate zu halten, weil man im Studium, anders als z.B. in der Schule nie etwas eigenes zu Themen beitragen kann. Es interessiert sich während einer Vorlesung niemand für Deine Meinung, bei den Referaten wurde man erstmals als Person, nicht als ‚Gruppe’ wahrgenommen. Und ich fand es toll, mal wieder vor Publikum zu stehen (viel Theater-/Musikerfahrung).
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen Gefallen hat mir an den Referaten auch noch, dass echt viele Leute nachher ankamen und gesagt haben, dass sie es toll fanden, Leute, die ich gar nicht kannte. Ja das war mal ein Erfolgserlebnis.“ (Mira, Abs. 4-5). „Und was mich auch noch immer stört ist, dass man niemand ist. Zu Hause kannte jeder einen, in der Schule die Lehrer, man konnte sich selbst ausleben, wurde vielseitig gefordert. Hier sitzt man nun jeden Tag rum und wartet“ (Mira, Abs. 12). „Noch schön fand ich diese Woche, dass der Professor gesagt hat, unsere Gruppe sollte die Aufgabe vorstellen, und da keiner wollte, ich das dann gemacht hab. Ist doch viel interessanter alles so“ (Mira, Abs. 24).
Auch, dass eine Kommilitonin ihre Einzigartigkeit angreift, indem sie Mira imitiert, stört sie: „Was ich noch total nervig finde, ist dass eine Kommilitonin mit der ich ziemlich viel zu tun habe, mir im Moment alles nachmacht. Mich nervt das total. Ist zwar eigentlich total unwichtig, dass ich es erwähne, aber das regt mich auf. Sie hat sich eine Jacke gekauft, die ich auch hab, einen Pullover und jetzt hat sie sich noch die gleiche Frisur schneiden lassen. Na ja, ich glaube ja immer noch, dass Leute, die alles nachmachen, sowieso nicht weit kommen im Leben. ‚Wer keinen eigenen Weg findet, muss im Schatten anderer wandeln’. Außerdem steht ihr die Frisur nicht -“ (Mira, Abs. 16).
Auch Markus vermisst die Möglichkeiten, sich bei den Lehrenden Anerkennung zu verschaffen. Stattdessen hatte er die Angst geäußert, dass die ‚Falschen’ erfolgreich sind bzw. honoriert würden: „[...] Angst habe, dass ich falsch liege, ausgestoßen zu werden aus einer Welt, weil diese sich immer zur Oberflächlichkeit hin entwickelt. Zu versagen, während die ganzen Leute, die Party machen, auf mysteriöse Weise überall an der Uni super abschneiden“ (Markus, Abs. 9).. „Schade, dass kein Lob von Profs kommt, Arbeit zahlt sich kaum aus, da Texte meist nicht in die Übungen einfließen“ (Markus, Abs. 15). „An den Diskussionen zu Referaten beteilige ich mich (wie 99% der Studenten) kaum noch, da man nie weiß, ob es stimmt oder gar nicht kommentiert wird“ (Markus, Abs. 19). „Ich höre auf, die Basistexte zu lesen, da es nichts bringt für Seminar“ (Markus, Abs. 22).
Dem steht die Diagnose von Anonymität gegenüber, wie Steffi und vor allem Sarah sie stellen:
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„Die Uni ist zuerst ziemlich anonym, man lernt unzählige Menschen kennen, deren Namen man sich gar nicht behalten kann. Man sieht diese ein-zwei Mal und lernt wieder andere kennen. Selbst nach der OE ist man immer noch ziemlich alleine“ (Steffi, Abs.5). „Bei dem ‚Kontaktproblem’ glaube ich, dass ich einfach vom Schul-Alltag verwöhnt bin: ca. 30 Leute sind den ganzen Schultag über zusammen, man ist meistens am selben Ort und kann gar nicht anders, als mit den Mitmenschen in Kontakt zu treten. Wenn ich jetzt in der Uni einmal etwas später in einen vollen Hörsaal komme, kann ich mit Glück vielleicht ein paar Leute grüßen und muss mich dann neben einen ‚Fremden’ setzen. Nach der Vorlesung versuchen dann 500 Leute gleichzeitig aus dem Saal zu gehen, und mit Pech sehe ich dann gar keine Bekannten mehr..., es ist also auf jeden Fall eine Umstellung vom System Schule zur Uni, und man muss viel aktiver sein, um wirklich Anschluss zu finden“ (Sarah, Abs.9).
Diese zweite Stufe des Anonymitätsempfindens bezieht sich weniger auf die Anerkennung der eigenen Person als vielmehr auf das Problem, in engeren Kontakt mit Kommilitoninnen zu treten. Sarah hat kein so ausgeprägtes Bedürfnis, durch Strukturen des Studiums anerkannt, bestätigt zu werden, wie dies bei Mira und Markus der Fall ist. Die Anonymität, die sie diagnostiziert, berührt eher die Frage, wie schnell und intensiv man Leute kennen lernt. Dass dies zumindest zu Beginn des Studiums nicht so leicht scheint, kann schmerzhaft erfahren oder einfach nur beobachtet werden, wie dies bei Sarah zu vermuten ist. Am Ende dieser Dimension steht das Nicht-Erleben und Nicht-Beobachten von Anonymität. Dieses Feld bleibt bei der Analyse der Wochenbücher leer, d.h. es gibt keinen Fall, der sich nicht – wie distanziert auch immer – mit Anonymität auseinandersetzt. Die Analyse der Interviews mit Studierenden, die sich mindestens im dritten Fachsemester befinden, zeigt, dass das Anonymitätsproblem zu Studienbeginn offenbar stärker ausgeprägt ist. Dies bedeutet nicht, dass es später keine Missachtungserfahrungen mehr gibt. Das Problem mit der Anonymität scheint in dieser Hinsicht eine Prozesskomponente aufzuweisen. Geht es bei der Diagnose ‚nur’ darum, dass es schwierig ist, Leute kennen zu lernen, erledigt sich dieses Problem, sobald man Leute kennen gelernt hat. Es ist also vorwiegend einschlägig für Studienanfänger und Studienfach- bzw. -ortwechsler. Ist die Anonymitätsdiagnose aber mit dem Wunsch nach und der Notwendigkeit der Anerkennung verknüpft, erledigt sich das Problem nicht so leicht. Die Kategorie Anonymität überlappt also gewissermaßen die beiden Kategorien ‚Kommilitonen’ auf der einen Seite und ‚Anerkennung’ auf der anderen Seite. Dabei entspricht der erste Pol dem hochschulbildungsnahen und der andere dem bildungsfernen. Zwischen dem Problem, Leute kennen zu lernen und dem
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Wunsch nach ‚struktureller’ Anerkennung (etwa durch Lehrende) steht das individuelle Erleben von Einsamkeit. Aus der Analyse der Anforderungsdimensionen ergibt sich folgendes Hypothesengeflecht bezogen auf die Habitus-Struktur-Konflikt-Heuristik. Diese Hypothesen sind nicht bloß aus der Analyse dieser Kategorien entstanden, sondern aus den Einzelfallanalysen, die auf alle Kategorien bezogen sind. Das heißt, dass sie im Verlauf der Darstellung der Umgangsdimensionen an Plausibilität gewinnen dürften, weil sie in Kenntnis aller Kategorien und deren Zusammenwirken bei den Einzelfällen entwickelt wurden: Für Studienanfänger spielen die Kommilitoninnen und Kommilitonen eine wichtige Rolle für das Zufriedenheitsgefühl im Studium. Im Vergleich zur Schule ist ein größeres Maß an Aktivität erforderlich, um befriedigende Kontakte zu knüpfen. Als wie gravierend dieses Problem wahrgenommen wird, ist davon abhängig, wie stark das Bedürfnis nach Anerkennung ausgeprägt ist bzw. wie stark dieses Bedürfnis anderweitig befriedigt werden kann. Der Wunsch, dieses Bedürfnis durch Strukturen der Institution ‚Studium’ zu befriedigen, ist bei Studierenden aus bildungsfernen Milieus stärker ausgeprägt, weil sie ihren intergenerationellen Aufstieg subjektiv der Institution ‚Schule’ verdanken, unabhängig davon, dass auch dort nach sozialer Herkunft selektiert wurde bzw. wird. „Der Verlust der Rollendistanz erklärt sich daraus, dass das studierende Arbeiterkind in der 'marginalen' Situation sein Selbstwertgefühl allein aus dem Erfolg seines sozialen Aufstiegs bezieht, der es in hohem Maß von der den Aufstieg allein ermöglichenden Bildungsinstitution abhängig macht“ (Haeberlin/Niklaus 1978, 95).
Das heißt, um an ihren ohnehin gespaltenen Aufsteiger-Habitus anknüpfen zu können, sind sie stärker auf die Anerkennung durch die Institution, auch und nicht zuletzt durch ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen angewiesen. Aus diesem Grund und wegen ihrer starken Orientierung an anderen Menschen ist die Performanz ihrer Kommilitoninnen für Studierende aus bildungsfernen Milieus wichtiger. Diese unterliegt einer negativen Konnotation, sofern sie von der eigenen Performanz abweicht und Elemente eines legitimeren Habitus erkennen lässt. Diese Abwertung, hier verkörpert durch die Figur der ‚Pseudoalternativen’, wird vor dem Hintergrund des interpersonalen Habitus-StrukturKonfliktes verständlich. Die betreffenden Studierenden thematisieren auf diese Art die Chancenungleichheit dahingehend, dass sie Kommilitoninnen und Kommilitonen wahrnehmen, die es leichter haben, unverdientermaßen zu Meriten kommen etc. Für die Frage, inwieweit das Studium strukturell Anschlussmöglichkeiten an den eigenen Habitus anbietet, ist das Strukturelement ‚Kommilitoninnen’
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sehr bedeutsam. Für bildungsfernere Habitus ist die Habitus-Struktur-Passung nicht nur durch die tatsächlichen (wenigen) Wiedererkennungsmöglichkeiten durch ‚ähnliche’ Kommilitoninnen geregelt, sondern wird dadurch zusätzlich erschwert, dass sie genauer hinschauen bzw. die Wahrnehmung ihrer Kommilitoninnen reflexiv gebrochen stattfindet, weil sie stärker auf die Anerkennung durch ‚den Anderen’ angewiesen sind und sie sich durch fremde, legitimere Habitus eher bedroht fühlen, zunächst unabhängig davon, ob jene als fremd wahrgenommenen besser oder schlechter zum Studiengang passen als der eigene Habitus. Das Habitus-Struktur-Konflikt-Modell ist zu erweitern bzw. zu differenzieren: es gibt offenbar nicht nur Konflikte, die an einer kollektiven Habitusdimension festzumachen sind und die möglicherweise verstärkt auch wieder kollektive Zuschreibungen zur Folge haben (wie hier die einhellige, negativ bewertete Einschätzung der Gruppe ‚Pseudoalternative’ durch Oliver, Markus und Mira). Vielmehr leidet auch Maria sehr unter der neuen Situation, obwohl sie nicht nur eine bildungsnahe Herkunft aufweist, sondern – wie Gesamt- und Einzelfallanalyse zeigen – auch ihr Studium mit typisch bildungsnahen Mustern angeht. Ihr Leiden lässt sich in sofern als Habitus-Struktur-Konflikt bezeichnen, als dass Elemente/Ansprüche ihres Habitus durch ihre neue Umgebung nicht aufgegriffen werden. Bei diesen Ansprüchen ist allerdings nicht offensichtlich, dass sie mit einer kollektiven Dimension verknüpft sind und interessanterweise wird der Konflikt von Maria auch nicht kollektiviert, sondern auf den betreffenden Beziehungsebenen angesiedelt oder gar sich selbst zugeschrieben. Es wird also Habitus-Struktur-Konflikt umfassender zu definieren sein als Folge eines mangelnden Angebotes der Umgebung, ausreichende Anknüpfungspunkte an den eigenen Habitus zur Verfügung zu stellen oder als mangelnde Möglichkeit, vorhandene Angebote zu nutzen. Dabei muss differenziert werden, ob diese Ermangelung an Angeboten eine kollektive Dimension verletzt, oder Elemente eines Habitus berührt, die keinem Kollektiv zuzuordnen sind. Natürlich ist eine solche Unterscheidung ihrerseits heuristisch, weil schon der Habitusbegriff eine Konstruktion für analytische Zwecke darstellt und keine Substanz bezeichnet. Bei der Variante, wo keine kollektiven Muster zu erkennen sind, ist anzunehmen, dass diese sich auch bei der Konfliktaustragung nicht auf Kollektive bezieht, sondern der Konflikt auf der Beziehungsebene angesiedelt wird. Dies hatte das Habitus-Struktur-Modell bereits nahegelegt, nämlich dass dominante (hier: bildungsnah erworbene) Habitus eigens erlebte Konflikte weniger mit Kollektiven und Machtverhältnissen in Verbindung bringen. Bei Maria zeigt sich das so: sie weist Passungsprobleme zu ihrer neuen Umgebung auf, unter denen sie extrem leidet. Diese Passungsprobleme scheinen darauf zurückzufüh-
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ren sein, dass mitgebrachte Geborgenheitsbedürfnisse nicht genügend bedient werden. Die Strukturen gehen gewissermaßen nicht ausreichend auf aktuelle biographische Bedürfnisse ein. Dennoch wird hier kein kollektives Einstellungsmuster verletzt und Maria siedelt diese Konflikte entsprechend auf der Interaktionsebene an und/oder bezieht sie auf vermeintliche eigene Defizite. Es kann interessant sein, der Frage nachzugehen, ob zuvor erlebte Habitus-Brüche – unabhängig von Kollektiven wie Milieu oder Geschlecht – dazu führen, dass der Habitus reflexiv wird und spätere Habitus-Struktur-Konflikte wahrscheinlicher macht. Dies soll nicht suggerieren, dass es nur die beiden Kategorien gibt, nämlich ‚gebrochen und reflexiv’ vs. ‚ungebrochen und nicht-reflexiv’. Selbstverständlich ist von einem Kontinuum der Brüche auszugehen und von keinem einzigen Menschen ist anzunehmen, dass er oder sie ohne Reibungen verinnerlichter Muster mit solchen der Umgebung aufgewachsen ist. Im Gegenteil können diese Reibungen sogar als Bedingung für gelingende Sozialisation angenommen werden. Zu vermuten ist vielmehr, dass etwa Brüche im Elternhaus dazu führen können, dass die eigenen individuellen Habitusmuster unabhängig von der sozialen Herkunft reflexiv werden. So wird beispielsweise die Trennung der Eltern und deren Verarbeitung durch die Kinder Habitusmodifikationen hervorrufen. Die Kinder haben dann einen größeren Grund, nicht einfach das eins zu eins zu übernehmen, was von den Eltern kommt. Ein anderes Beispiel wäre, wenn ein Kind, das in einem bildungsnahen Elternhaus aufwächst, die Aufstiegskonflikte der Eltern mitbekommt und ‚verarbeiten muss’. Dies könnte bei den Konflikten von Maria der Fall sein, die – an sich bildungsnah performierend – durch die Aufstiegsängste der Mutter beeinflusst wird, die ihre Tochter damit konfrontiert, dass man mit dem Fach Sozialwissenschaften keine guten Karrieremöglichkeiten hat. Das heißt, dass HabitusRupturen vorzufinden sein können, die sich in einem betreffenden Feld in Habitus-Struktur-Konflikten niederschlagen, auch wenn ‚von der Papierform’ her ein für das betreffende Feld mehr oder weniger passender Habitus vorliegt. Es ist also davon auszugehen, dass die Passungsfrage sich nicht bloß nach einem hinter einem Habitus stehenden Kollektiv richtet, sondern nach den hochgradig individuellen Mustern, die sich im Habitus niederschlagen. Es lässt sich aber vermuten – dies zeigt das Material deutlich –, dass es ein Kontinuum gibt von Habituselementen, die – an dem einen Pol – leicht an ein Entstehungskollektiv zurückgebunden werden können hin zu solchen – am anderen Pol gelegen –, bei denen dies nicht möglich ist. Es ist ein struktureller Unterschied zwischen Markus, der unter Milieufremdheit und der vermeintlichen Bevorzugung legitimer Habitus leidet und Maria, die zwar mit Symbolen des Studiums umzugehen
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weiß und die sich etwa in der Bibliothek wohlfühlt, aber dennoch keinen Schutzraum der Geborgenheit geboten bekommt und darunter enorm leidet. Daher lassen sich auch auf der individuellen Ebene strukturell unterschiedliche Habitus-Struktur-Konflikte ausmachen. In diesem Spektrum kann dann ein ‚Wendepunkt’ vermutet werden, an dem der Übergang von einem kollektiven zum individuellen Habitus-Struktur-Konflikt stattfindet. Dies legt die Analyse des unerwarteten Falls ‚Maria’ nahe. Sie liegt in diesem Spektrum der Brüche so weit auf der dominanten Habitus-Seite, dass sie keine gruppenbezogenen Habitus-Struktur-Konflikte ausmacht und ihre Kommilitoninnen eben nicht als ‚pseudoalternaiv’ oder in anderer Form ungleichheitsbezogen diskreditiert. Der kollektive Habitus-Struktur-Konflikt des sozialen Aufstiegs könnte bereits in ihrer Elterngeneration ausgetragen worden sein und vermittelt über die Ansprüche der Mutter als individueller HSK bei Maria fortwirken. Dem stehen intrapersonale HSK gegenüber, die sehr wohl einen Kollektivbezug aufweisen, aber nicht auf dieser Ebene ausgetragen werden. Darunter fallen die vielfach beschriebenen individualisierten und ggf. psychologisierten Leiden von Arbeiterkindern an der Uni, die auch die Analyse meines Materials zutage fördert. Dimensionen des Umgangs Die zweite Gruppe von Kategorien benennt (vorbewusste) Strategien, wie den Anforderungen und Problemen der ersten Gruppe begegnet wird. Sie werden als Umgangsdimensionen bezeichnet. Hier sind vor allen Dingen der Rückzug auf Vertrautes (Geborgenheit/Heimeligkeit), Fleiß/Pflichtbewusstsein/Ehrgeiz sowie eine ausgeprägte Zukunfts-/Berufsorientierung zu nennen. Außerdem spielt die Freizeitgestaltung eine Rolle, hierbei insbesondere deren Nähe bzw. Ferne zum Studium und zu politischen Aktivitäten. Diese beiden Kategoriengruppen – die Anforderungs- bzw. Problemdimensionen auf der einen Seite und Handlungsstrategien auf der anderen – gehen in der erlebten Realität selbstverständlich fließend ineinander über. So steckt bereits in der Kategorie ‚Neues erkunden‘ ein Umgang mit der Situation – genau wie das Streben nach Anerkennung bereits einen Verarbeitungsmechanismus darstellt, der selbst wieder zur Problemdimension wird, nämlich dann, wenn durch die erfahrene Anonymität an der Universität eben nicht ausreichend Anerkennung gespendet wird. Die Aktivität, die Mira an den Tag legt, um wahrgenommen zu werden, kann bereits als Strategie bezeichnet werden, mit dem Anerkennungsdefizit bzw. den Missachtungserfahrungen umzugehen. Hier zeigen sich neben einer bestimmten Art der Aktivität – nämlich derjenigen, die weniger aus Interesse als
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vielmehr aus Notwendigkeit zu erfolgen scheint – weitere Muster, bei denen nicht eindeutig ist, ob sie Teil des Problems oder Teil der Lösung sind. Auf der einen Seite finden sich Strategien des aktiven Umgangs, auf der anderen Seite Strategien des Rückzugs, des Schaffens von Nischen der Geborgenheit. Die Tatsache, dass beide Varianten der Kategorien nahezu ausschließlich dort auftauchen, wo Probleme und Zweifel geäußert werden, legt nahe, sie eben als Strategien des Umgangs mit Habitus-Struktur-Konflikten zu verstehen. Diese sind tendenziell am bildungsfernen Pol angesiedelt, aber wie der Fall Maria exemplarisch zeigt, nicht auf diesen beschränkt. Eine Möglichkeit des Umgangs mit dem Neuen besteht darin, sich in eine protestantische Arbeitsethik zu begeben, ein großes Pflichtbewusstsein an den Tag zu legen und fleißig zu sein. Diese Strategie bietet sich an, wenn sie ohnehin schon im Habitus verankert ist. Auf Miras Versuch, sich dadurch Anerkennung zu verschaffen, dass sie sich in eine exponierte Position begibt bzw. Dinge, wie etwa das Vorstellen der Gruppenarbeitsergebnisse, an sich zu reißen versucht, wurde bereits verwiesen. Darüber hinaus versucht sie formale Anforderungen und Arbeitsaufträge möglichst schnell zu erledigen und ohnehin das Studium zielstrebig anzugehen. Vor allem das Beispiel ‚Erstellen der Hausarbeit’ ist auffällig, weil Sarah, Steffi und Maria Probleme äußern, ein Thema zu finden, wohingegen Mira diese Aufgabe durchaus mit einer Art Erfüllungsfreude zügig angeht und erledigt und sich selbst in den Augen der Anderen sogar als Streberin wahrnimmt. „Ach ja, um zu freudigen Ereignissen zu kommen, ich fand es toll, dass meine Freundin Eni und ich in den letzten Wochen schon 3 Referate gehalten haben“ (Mira, Abs. 3). „Ich bin ehrgeizig und zielstrebig und wenn dann Ivana (ebenfalls Kommilitonin 25) sagt, sie hat 12 Semester Jura studiert, ist aber erst im dritten !!! (kein Scherz) und bricht das Studium jetzt ab, weil sie Sozialwissenschaften studieren will ohne Berufsziel, dann frage ich mich ehrlich wie es diese Leute geben kann, die gar kein Ziel vor Augen haben, ja, das war sehr unangenehm“ (Mira, Abs. 7). „Ja, ganz gut finde ich, dass wir (ich und 5 Kommilitoninnen) uns entschieden haben, unsere Teilmodulprüfung zusammen bei Hr. Althaus zu machen. Die Gruppe ist ganz O.K. und wir machen mal was Sinnvolles. Außerdem haben wir das dann hinter uns und nächstes Semester weniger zu tun“ (Mira, Abs. 9). „Am Montag hab ich auch ein Exzerpt abgegeben, welches ich am Wochenende geschrieben hab. Ist ganz gut, jetzt hab ich die schriftliche Übung damit gemacht und muss nur noch eine Hausarbeit schreiben“ (Mira, Abs. 19). „[…] Solche [Leute] ziehen einen nur runter. Mir macht hier auch nicht alles Spaß, aber ich interessiere mich dafür, weil ich weiß, wofür ich es mache. [...] Die Leute sind hier einfach nach wie vor das Schlimmste. [...] Ich fang jetzt bald an mit
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meiner ersten Hausarbeit (Bin wahrscheinlich die einzige, die schon ein Thema hat ‚Streber’), aber was soll’s, kann ich mich wieder um andere Dinge kümmern“ (Mira, Abs. 27).
Markus nimmt seinen Fleiß einerseits als etwas seiner zielorientierten Haltung Geschuldetes wahr, aber andererseits als eine direkte Studiennotwendigkeit, die ihn belastet. „Weil ich merke, dass ich weiter bin als viele, zu viel nachdenke, keine Zeit auf Dummheiten verschwenden will“ (Markus, Abs. 8). „Ich merke langsam, dass mein Workload zu groß ist. Basistexte oft 60 Seiten +; keine Möglichkeit, Thematiken zu vertiefen, sehr schade. Morgens 8h aus dem Haus, abends ca. 20h wieder daheim, dann 4h Texte lesen => kein Spaß“ (Markus, Abs. 12). „Muss aber soviel arbeiten, da ich sonst Anschluss an Stoff verliere“ (Markus, Abs. 14). „Langsam ist ein Rhythmus drin, immer sehr viel Basistexte und die Pausen werden ganz ausgenutzt. Kaffee als neue Droge“ (Markus, Abs. 18).
Oliver empfindet auch den Druck, fleißig sein zu müssen, dem er seiner Meinung nach noch nicht ausreichend nachgibt. Er erlebt einen Entscheidungskonflikt zwischen der Umgangsdimension Geborgenheit, die weiter unten geschildert wird und hier verkörpert ist durch seine Beziehung zu seiner Freundin und dem notwendigen Fleiß. „Die Entscheidung ‚möglichst viel sozialwissenschaftliche Literatur lesen’ oder ‚Freundin’ fällt derzeit oft auf Zweiteres. Ich hoffe, das einigermaßen im Laufe des Studiums ins Gleichgewicht zu bekommen, was mit Sicherheit noch schwer fallen wird und zu Komplikationen führen wird“ (Oliver, Abs. 12). „Gleich zu Wochenbeginn wieder zu spät in die Vorlesung gekommen, trotz der Tatsache, dass diese erst um 14.00 Uhr beginnt. Grund ist natürlich wieder der Umstand, dass ich bei meiner Freundin in Randdorf übernachtet habe und um soviel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen erst auf den letzten Drücker aus dem Haus gegangen bin. Aus Bequemlichkeit fahre ich aus Randdorf gerne mit dem Auto“ (Oliver, Abs. 13).
Bei Sarah wird die Dimension Fleiß gar nicht thematisiert. Bei Maria spielt das Thema Anforderungen eine große Rolle, wobei sie auch hier das Problem größtenteils ihren eigenen Ansprüchen und Überforderungstendenzen zuschreibt, aber auch erwähnt, dass sie sich alleine gelassen fühlt.
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen „Ich habe das Gefühl, mich nicht richtig ordnen zu können und Gehörtes (Wissen) für mich zu verarbeiten, es rauscht alles an mir vorbei und ich würde gerne mehr Zeit zum Nacharbeiten haben. Es macht mir deshalb Sorgen, weil ich mir für dieses Semester ziemlich viel vorgenommen habe und da auch nicht mehr zurück kann“ (Maria, Abs. 6). „Ich bin zu ehrgeizig und überfordere mich systematisch“ (Maria, Abs. 12). „Ich fühle mich überfordert und allein gelassen bei der Themenfindung für meine Hausarbeit, die Anweisungen sind so grob und unspezifisch“ (Maria, Abs. 32). „In meiner Projektgruppe merke ich, dass die meisten sich nicht bemühen und das nervt mich (bzw. ärgert meinen Ehrgeiz)“ (Maria, Abs. 34). „Was mache ich nur mit meinem Studium?? Mein Leistungsdruck wird immer schlimmer“ (Maria, Abs. 44). „Meine Gruppe bei FuK belastet mich, ich habe das Gefühl, als einzige inhaltlich hohe Ansprüche zu stellen und damit bei den anderen anzuecken. Das Projekt empfinde ich deshalb als sehr zeit- und arbeitsaufwändig“ (Maria, Abs. 58).
Eine besondere Form des Aktiv-Seins als Möglichkeit, mit den gegenwärtigen Problemen umzugehen, die zum Teil auf die Biographie verweisen, ist die Herstellung eines Zukunftsbezuges über eine starke Berufsorientierung. Für Mira ist das sehr kennzeichnend und es scheint zumindest in den Berichtswochen eine Möglichkeit zu sein, die wenigstens temporären Auftrieb verschafft. Es wurde bereits ausgeführt, dass Mira ihre Kommilitoninnen verachtet, die das Studium ohne Berufsziel anzugehen scheinen oder sogar Sozialwissenschaften mit Sozialarbeit verwechselt hätten. „Ich will auch in den nächsten Tagen mal zur Studienberatung. Es ist viel leichter, sein Studium ernst zu nehmen, wenn man weiß, wohin man will und wie man dort hin kommt. Hoffe, die können mir ‚n paar Perspektiven geben. 3 Jahre gehen schnell rum“ (Mira, Abs. 12). „Ich war am Wochenende auch ziemlich lange im Internet und hab mich über ‚Personalplanung’ informiert. Hab da ne ziemlich gute PDF-Datei vom Arbeitsamt gefunden, wo halt genau drin steht, was für Aussichten Sozialwissenschaften da haben, was man für Grundvoraussetzungen mitbringen muss, wie das mit Weiterbildung und Praktikum ist und auch was für Verdienstmöglichkeiten man da so hat. So kann ich jetzt schon mal planen, Praktika machen und so weiter. So was mag ich, dient auch ein bisschen dazu, sich selbst zu überzeugen, wenn man gerade mal wieder daran zweifelt, ob es überhaupt richtig war Sozialwissenschaften zu studieren. Lieber nicht darüber nachdenken, immer sicher geradeaus gucken, dann wird’s schon klappen“ (Mira, Abs. 20). „Ich hab mich auch wieder sehr viel informiert wegen Weiterbildung, dieser vollkommen offene Studiengang bereitet mir schon Kopfschmerzen, aber es sieht echt ganz gut aus, wenn ich mal im zweiten oder dritten Semester anfange, Praktika
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zu machen. => Ich hab übrigens schon total tolle Angebote im Internet gesehen, dann klappt das schon alles. Man kann sich echt viel weiterbilden, hab auch so Broschüren von ILS (Fernhochschule) und vom Arbeitsamt angefordert. Das motiviert mich echt, einen Sinn hinter diesem ‚Methodenvollsaugen’ zu sehn“ (Mira, Abs. 29).
Etwas anders verhält es sich mit dem Thema Auslandsstudium, obwohl auch jenes als berufsbezogen wahrgenommen werden könnte. Doch hier zeigt sich die erwartete Kluft, die mit den Umfragen im zweiten Kapitel referiert wurde, nämlich dass ein Auslandsstudium am hochschulbildungsnahen Pol angesiedelt ist. Dass das Thema überhaupt bereits in den ersten Wochen aufkommt, verweist auf ein straffes Zeitregiment im Bachelor-Studiengang. Dies wird von Maria und Steffi auch als problematisch thematisiert. Für Mira und Markus ist das Auslandsstudium kein Gegenstand ihrer Überlegungen. Oliver, der wie diese beiden eine bildungsferne Herkunft aufweist, wird auch keinen Auslandsaufenthalt realisieren, thematisiert dies aber als Qualifizierungsdruck. Ein Auslandsstudium ist hier also nicht intrinsisch motiviert, sondern über eine berufsorientierte Haltung. „Es besteht jedoch ein recht hoher Druck, den ich mir selber mache, zumindest ein Auslandspraktikum oder etwas ähnliches zu machen, da der Großteil meiner Kommilitonen schon über zig Auslandsaufenthalte, Auslandspraktika, RucksackreisenErfahrungen verfügt, sodass ich mich selbst diesbezüglich manchmal als etwas horizontarm sehe“ (Oliver, Abs. 16).
Sarah, Maria und Steffi bewerben sich (erfolgreich) um ein ErasmusStipendium. Bei Maria ist diese Bewerbung mit für sie typischen Entscheidungskonflikten verbunden, wohingegen Steffi eher das Procedere kritisiert. Sarah erlebt ihre Bewerbung ganz anders. Sie freut sich, dass es Studierenden so leicht gemacht wird. „Ich muss mich bis diese Woche für ein Auslandssemester im 3. oder 4. Semester entscheiden und das krieg ich überhaupt nicht hin, denn ich fühle mich hier noch gar nicht in Marburg angekommen und bin mir auch mit der Wahl des Studienfaches noch gar nicht sicher, weshalb es so schwierig ist, sich schon für nächstes Jahr festzulegen“ (Maria, Abs. 7). „Ich könnte nach Großstadt/Ausland... für neun Monate dort studieren ~ was soll ich nur tun?“ (Maria, Abs. 49). „Soll ich Erasmus-Stipendium annehmen?“ (Maria, Abs. 53). „Extrem viel zu organisieren und ziemlich lange Organisationszeiträume für z.B. ERASMUS (wer im 3. Semester ins Ausland möchte, muss das bis Mitte November organisiert haben!)“ (Steffi, Abs. 9).
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen „Diese Woche liefen die Fristen für die ERASMUS-Anmeldung aus, die ich aber unbedingt einhalten musste, weil ich im 3. Semester schon ins Ausland möchte. Tja, das sind ja ziemlich lange Vorbereitungszeiten, müssen die sooo lange sein? Man muss die Wahl und die Bewerbung schließlich sorgfältig angehen... Da ist man gerade in Marburg angekommen und muss schon so viel Unterschiedliches organisieren“ (Steffi, Abs. 17). „Eine Info seitens der ERASMUS-Beratung wäre nicht schlecht, aber allein schon dort fünf Minuten zu ergattern erscheint mir schwer zu sein...“ (Steffi, Abs. 28). „Weiterhin frage ich mich, wieso die ERASMUS-Beratung nur eine Stunde pro Woche zur Verfügung ist und es dann selbst nach den Anmeldefristen noch immer einen unglaublichen Anlauf gibt. Ich stelle immer wieder Dinge fest, die ich noch gar nicht geklärt oder durchschaut habe, oder muss irgendein Formular abgeben. [...].“ (Steffi, Abs. 36). „Letzte Woche habe ich mich für einen Erasmus-Auslandsaufenthalt beworben und hoffe nun, dass ich im 4. Semester in A-Stadt studieren werden kann! Leider haben sich sehr viele für ‚meine’ Uni beworben, und es ist nur ein Platz pro Semester frei... na ja, vielleicht habe ich ja Glück!“ (Sarah, Abs. 13). „Ich habe mich jetzt für ein Auslandssemester in C-Stadt entschieden und freue mich schon sehr darauf. Ich bin sehr froh, dass es Studenten durch Erasmus so leicht gemacht wird, ins Ausland zu gehen!“ (Sarah, Abs. 21).
Dass die Freizeitgestaltung sich eher nach dem Habitus als nach der aktuellen sozialen Lage bzw. nach dem aktuellen Status – der ja bei allen gleich ist, nämlich Student/in des B.A. Sozialwissenschaften – richtet, ist nicht verwunderlich und dokumentiert die hysteresis, die Trägheit des Habitus: auf der bildungsfernen Herkunftsseite liegen Fernsehen, Freund/Freundin und Sport/Fitnessstudio; auf der anderen Seite Theater, Engagement im Welt-Laden, der Besuch von extracurricularen, oft gesellschaftskritischen Vorträgen sowie Protest gegen Studiengebühren und sonstiges hochschulentwicklungspolitisches Engagement. Diese speziellen Varianten des bildungsnahen Freizeitverhaltens hängen selbstverständlich mit der Studienfachkultur zusammen. Im Jurastudium etwa sieht bildungsnahe Freizeitaktivität ganz anders aus. Zwischen beiden Polen finden sich Kinobesuche und WG-Partys, was zum Repertoire von mehr oder weniger allen Berichtenden gehört. Die folgenden Zitate bringen den Ablenkungscharakter von bildungsfernen Freizeitaktivitäten gut zum Ausdruck. Das heißt, der Sinn liegt hier gerade nicht in der Nähe zum Studium, sondern in der Distanz. Es handelt sich gewissermaßen um studienflüchtiges Freizeitverhalten. „Bin gespannt, ob sich im fortschreitenden Studium noch derart viele Möglichkeiten / bzw. verbleibende Zeit für derartige Aktivitäten [Clubs, mögliche RadioModeration] bietet“ (Oliver, Abs. 18).
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„Kaum Zeit für Sport zum Abreagieren“ (Markus, Abs. 16). „Mh, noch was positives? Ach ich war am Dienstag in Gießen. Find ich toll, dass man mit dem Semesterticket überall hinfahren kann und Städte erkunden kann. Nächste oder übernächste Woche fahre ich nach Frankfurt“ (Mira, Abs. 15). „Sonst ist eigentlich gar nichts vorgefallen diese Woche. Außer, dass ich jetzt Fernsehen hab, was ich echt klasse finde. So kann ich mich wenigstens informieren, was in der Welt los ist. Und natürlich auch meine Langeweile bekämpfen“ (Mira, Abs. 18). „Ich glaube wirklich, dass ich im Moment so gut gelaunt bin, liegt daran, dass ich jetzt zufrieden bin mit mir selbst. Ich habe hier jetzt etwas, woran ich Freude habe (kann jetzt jeden Tag im Fitnessstudio trainieren) und schon geht’s mir besser. Ich glaube, man braucht, um sich in fremder Umgebung wohl zu fühlen, etwas, das einen von allem anderen ablenkt und einem Spaß macht, dann ist es viel leichter, mit einem Grinsen durch die Gegend zu laufen und es zu schätzen zu wissen, dass man überhaupt studieren darf“ (Mira, Abs. 34).
Demgegenüber stehen die studien- und bildungsnahen Aktivitäten: „Der Spanischkurs ist zwar stressig, aber ich bin froh, den ersten Vokabeltest gut überstanden zu haben und in einer ganz anderen Gruppe zu sein als im übrigen Studium und ein ganz anderes Fach zu lernen“ (Maria, Abs. 4). „Ich war in einer Aktionsgruppe vom Eineweltladen, wo ich interessante Menschen und eine Atmosphäre meiner Wellenlänge getroffen habe“ (Maria, Abs. 17). „Ich habe sehr interessante Vorträge gehört, einen im Rahmen der FuKRingvorlesung und den anderen im Eineweltladen“ (Maria, Abs. 20). „Für die Bildungs-/politische-Eineweltgruppe habe ich mich mit einem fremden Mädchen gut vorbereiten können, ich konnte mich einbringen und wir haben eine gemeinsame Wellenlänge gefunden“ (Maria, Abs. 26). „Guter Theaterbesuch mit zwei Kommilitonen“ (Maria, Abs. 36). „Zeitung lesen macht immer mehr Spaß (weil ich Zusammenhänge besser verstehe, mir das Lesen leichter fällt, weil ich in Übung bin)“ (Maria, Abs. 48). „Ich habe einige interessante Abendveranstaltungen besucht, zum Beispiel eine Diskussion über die Konsumkritik und ein Film über Afrika. Ich genieße das breite Angebot an Veranstaltungen und habe jede Woche nur das Problem, dass ich nicht überall hingehen kann!“ (Sarah, Abs. 10). „Ich habe außerdem zwei sehr interessante Vorträge besucht und hatte wie jedes Mal wieder das Gefühl, meinen Horizont erweitern zu können. Ich habe eine Kommilitonin gefunden, die eine ähnliche politische Sicht hat wie ich und mit der ich immer gesellschaftskritische Vorträge besuche. Es tut gut, sich mit ihr austauschen zu können und mit ihr zu diskutieren – so festigt sich meine politische Einstellung“ (Sarah, Abs. 18).
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen „Diese Woche habe ich mich politisch engagiert! Am Mittwoch war Vollversammlung, und danach bin ich mit auf die Spontan-Demo gegangen. Es war ein tolles Gefühl mit Gleichgesinnten durch die Straßen zu laufen und meine Meinung kundzutun! Natürlich muss man bei solchen Ereignissen darauf achten, dass man nicht von seiner Begeisterung mitgerissen wird und das Ziel der Demo nicht beachtet, aber ich achte darauf, dass ich nur bei Demos mitmache, die für etwas kämpfen, das mir persönlich wichtig ist. [...] Ich habe jedenfalls meine Scheu vor ‚politischen Aktionen’ verloren und werde in Zukunft bestimmt noch an vielen Demos teilnehmen!“ (Sarah, Abs. 20). „Zudem habe ich mich diese Woche über einen spanischen Vortrag im Weltladen gefreut, der Dank Übersetzung sehr zugänglich war. Man findet mittlerweile ein umfangreiches Programm für ‚einsame Abende’!“ (Steffi, Abs. 16). „Zudem habe ich mir einen ‚afrikanischen Film’ angesehen, der jede zweite Woche in der Philfak angeboten wird. Dies gefällt mir auch ausgesprochen gut, zumal die Veranstaltungen meist auch nichts kosten. An diesen Abenden lernt man auch viele neue und interessante Kommilitonen kennen, die dieselben oder ähnliche Interessenlagen haben“ (Steffi, Abs. 35).
Besonders interessant und erklärungsbedürftig ist jedoch, dass sich bei der Freizeitgestaltung, insbesondere bei vermeintlich politischen Aktivitäten die Verhältnisse gewissermaßen umkehren. Rekurriert die Wahrnehmung der eigenen Situation am bildungsfernen Pol sehr auf das Kollektiv der (‚anderen’) Kommilitonen und wird am bildungsnahen Pol eher individualisiert oder in Beziehungskonstellationen wahrgenommen, so handeln diejenigen mit bildungsnaher Herkunft eher kollektiv und darüber hinaus sogar mit kollektiv-politischem (Macht-)Bezug, wofür die kritischen Vorträge, das Weltladen-Engagement und der Protest in Sachen Hochschulentwicklung paradigmatisch sind. Dies spiegelt die Ergebnisse der Protestforschung für Deutschland wider, wonach sozialer Protest sowohl der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen Ende der 1970er, Anfang bis Mitte der 1980er Jahre (Brand/Büsser/Rucht 1986), als auch heutzutage eher Sache des bildungsnahen Pols ist (Schmitt 2007).59 Ich habe dies an anderer Stelle mit dem legitimen Habitus begründet, der ‚sich eher traut’. Ich finde durch die Analyse der studentischen Wochenbücher und der Interviews diese Vermutung gestärkt. Eine Erklärung für das seltenere kollektive Aufbegehren der Bildungsfernen könnte umgekehrt darin liegen, dass sie mehr Angst haben, ein negatives Bild von sich zu erzeugen.
59 Allerdings muss dazu gesagt werden, dass bei den Untersuchungen der Protestforschung der formale Bildungsstatus erhoben wurde und nicht die bildungsnahe oder -ferne Herkunft. Die Studierenden, um die es hier geht, haben ja die gleiche formale Bildung, nämlich eine Hochschulzugangsberechtigung.
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Eine andere Erklärung wäre, zumindest für das Feld des Studiums der Sozialwissenschaften, wahrscheinlich aber darüber hinaus, dass der politische Raum bereits als bildungsnah dominiert wahrgenommen wird. Das bedeutet – wie bereits dargelegt – nicht unbedingt, dass Spielarten eines bildungsferneren Habitus schlechter zu den Anforderungen dieses Studienfaches und -modus ‚B.A. Sozialwissenschaften’ passen; sie passen aber schlechter zu der eher bildungsnahen studentischen Fachkultur, selbst wenn diese im Vergleich zu anderen vor allem den klassischen Prestigefächern Medizin und Jura sogar noch gering ausgeprägt ist. Dies offenbart, dass, wenn nicht gar für den Studienerfolg so doch zumindest für das subjektive Wohlbefinden Maßnahmen der vermeintlichen Strukturanpassung des Studiums etwa an stärkere Strukturierungsbedürfnisse der bildungsferneren Milieus, wie sie zum Teil mit dem Bologna-Prozess anvisiert wurden, zu kurz greifen, wenn es ein Ziel sein soll, die Bildungspotenziale bildungsferner Milieus stärker auszuschöpfen, wie die Autoren der Studentenwerks-Umfrage dies nahe legen. Das herrschaftskritische Potenzial bildungsferner Studierender bzw. die Habitus-Struktur-Konflikte scheinen hier also alle Formen anzunehmen, die im Modell dargestellt wurden, jedoch gerade nicht die kollektive Form: Diese Studierenden leiden individuell (individualisierte HSK), aber weisen auch negative Einstellungen gegenüber Angehörigen der als dominant wahrgenommenen Gruppe(n) auf (interpersonale HSK) und es finden sich negative Äußerungen gegenüber anderen dominierten Habitusdimensionen, die nicht das Feld des Studierens berühren (projizierte HSK). Die vermeintlich politischste Form der HSK, nämlich der kollektiv ausgetragene Machtbezug bleibt ironischer-, aber verstehbarerweise den bildungsnahen Habitusformen vorbehalten. Es gibt zwar auch eine Art ‚Mikropolitik des Sozialen’ bei den Studierenden bildungsferner Herkunft, nämlich das Solidarisieren mit anderen als dominiert Wahrgenommenen und bei Bedarf die Hilfe für Schwächere. Diese ‚Mikropolitik’ findet jedoch nicht im öffentlich wahrnehmbaren Raum statt. Das Private bleibt unpolitisch. Die Aktivitäten lassen sich danach gliedern, ob sie aus Interesse oder aus Notwendigkeit realisiert werden und ob sie mit dem Studium in Verbindung stehen oder gerade als Flucht bzw. Ablenkung praktiziert werden. Letzteres verweist bereits auf einen regressiven Charakter und damit auf eine weitere Möglichkeit, mit den wahrgenommenen Ansprüchen umzugehen, nämlich mit dem Rückzug in Nischen der Geborgenheit. Zunächst einmal ist klar, dass in einer neuen Statuspassage Elemente, die einen Halt bieten, generell enorm wichtig sind, wie Steffi es zum Ausdruck bringt.
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen „Wenn man völlig allein in eine noch unbekannte Stadt kommt, möchte man gerne einen Punkt haben, an dem man sich orientieren/festhalten kann. Wir hatten in der OE zwar viel Spaß und reichlich Infos, aber letztlich kommt man abends ‚nach Hause’ und ist immer noch allein“ (Steffi, Abs. 8).
Die wichtigste Rolle scheinen dabei Beziehungskonstanten zu spielen. Über den Wunsch, nette Leute auch verbindlicher kennenzulernen, wurde oben schon berichtet. Hier geht es jetzt jedoch nicht darum, sich im neuen Leben zu arrangieren, sondern vor allem um die Funktion, altes und neues Leben zu vermitteln, bzw. sogar vor dem neuen Leben flüchten zu können, sich Nischen zu suchen, in denen die neuen Anforderungen und Probleme nicht vorhanden sind. Wichtig scheinen hier vor allen Dingen ein enger Kontakt zur Familie sowie zu einer Partnerin oder einem Partner zu sein, zu der oder dem schon vor Studienbeginn eine Beziehung bestand. In geringerer Intensität können diese Funktion auch alte Freundschaften übernehmen. Sarah und Steffi sind die Einzigen, die nicht über den Kontakt zu ihren Eltern, PartnerInnen oder Freunden von früher berichten. Sie sind dafür umso stärker involviert, was neue Leute betrifft. Die anderen schildern ihre Verbindungen zu ihrer Familie in zunächst ähnlich erscheinender Weise: „Meine Eltern und Freunde in und um Großstadt besuche ich alle 1-2 Wochen mit der Bahn, Semesterticket sei Dank. Die Bahnzeit verfliegt mit sozialwissenschaftlicher Lektüre wie im Flug. Trotz der doch recht hohen Besuchfrequenz würde ich alle recht gerne öfter sehen, besonders meine Familie, da ich ein großer Familienmensch bin. Deshalb, und wegen meiner Freundin, kann ich mir auch einfach kein Auslandssemester vorstellen“ (Oliver, Abs. 16). „Dieses Wochenende bekam ich das erste mal Besuch von meiner Family, was sehr großen Spaß gemacht hat“ (Oliver, Abs. 20). „WE daheim oder Besuch von Freundin totale Erholung“ (Markus, Abs. 13). „Wenn ich es packe, mache ich nächstes Semester weniger Punkte, dafür mehr Zeit und Arbeiten, weil mein Vater schon wieder im Krankenhaus liegt“ (Markus, Abs. 32). „Und am allerschönsten ist, dass ich jedes Wochenende wieder nach Hause fahren kann“ (Mira, Abs. 3). „Was noch toll war, ich hab meine Cousine in Mittelstadt besucht, die is Krankenschwester und ihr kann ich mein ganzes Leid klagen *g*, sie findet ’s in Mittelstadt genau so Scheiße wie ich hier in Marburg“ (Mira, Abs. 9). „Ich hatte ein sehr schönes Wochenende zu Hause mit wunderbarem Geburtstag. Es tat gut, Vertrautes zu fühlen und Kind sein zu dürfen bei seinen Eltern“ (Maria, Abs. 19).
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„Ich hatte nach dem Wochenende zu Hause oft Heimweh, nach der Ordnung und dem Sich-Anlehnen-Können in meiner Familie“ (Maria, Abs. 33). „Gutes Telefonat mit meiner Mutter, denn ich habe mich geborgen gefühlt, jemand interessiert sich für mich und kennt mich gut“ (Maria, Abs. 37).
Fast ein Symbol für eine gemütliche Nische des Rückzugs in die Geborgenheit scheint die ‚Weihnachtszeit’ zu sein, was natürlich auch dem Berichtszeitraum November und Dezember geschuldet ist. Dennoch greifen mit Sarah, Steffi und Oliver gerade diejenigen nicht auf dieses Symbol zurück, bei denen kein Leiden unter dem neuen Leben zu erkennen ist. Für die anderen ist das Weihnachtliche von Bedeutung. „Ich habe ein schönes Weihnachtspäckchen von meiner Mutter bekommen“ (Maria, Abs. 40). „Sehr traurig am Nikolaus keine Freundin da zu haben […]“ (Markus, Abs. 23). „Am Wochenende ist der erste Advent. Ich freu mich voll. Weihnachten ist immer das, was ich am liebsten mag im Jahr“ (Mira, Abs. 21). „Ja ich glaub, es gefällt mir einfach besser, weil ich ein Ziel vor Augen habe, weil ich mich auf Weihnachten freu, und weil ich fast nur noch Menschen um mich hab, die ich gerne mag. Na ja und außerdem ist Nikolaus und ich kriege morgen Geschenke (ganz viel Schokolade), wenn ich nach hause fahre“ (Mira, Abs. 30).
Mira ‚rettet’ dieses Gemütlichkeitsgefühl in ihre neue Umgebung, indem sie ihre Wohnung weihnachtlich dekoriert. „Bei uns sieht es jetzt so schön aus in der Wohnung. So langsam fühle ich mich hier zu Hause. Alles ist schön weihnachtlich dekoriert, mit Lichtern und Kerzen und alles ist schön warm. Doch, das gefällt mir“ (Mira, Abs. 28).
Für Markus und Oliver sind zusätzlich zu den Familien ihre Freundinnen ein wichtiger, Halt spendender Faktor, wobei sich bei beiden auch ein Entscheidungskonflikt auftut, welchem Leben man sich mehr widmen sollte; dem alten, repräsentiert durch die Freundinnen und das zu Hause oder dem neuen, repräsentiert durch neue Leute bzw. Studienanforderungen. „[…] Das WE dafür nach Hause, aber schlechtes Gewissen, dass ich nicht mit MRKommilitonen Party machen kann. Daheim kaum/keine Möglichkeit zu lernen“ (Markus, Abs. 23). „War nicht schlimm, dass ich nicht da war. Außerdem gut, Freundin und guten Freund zu treffen, weil man mit denen einfach offener reden kann und bescheid weiß“ (Markus, Abs. 25).
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen „Die ersten Wochen waren für mich und meine Freundin eine ziemliche Umstellung, da wir uns früher aufgrund des räumlichen Abstandes (80 km) nur zweimal die Woche gesehen haben, nun sehen wir uns fast jeden Tag, aber sie und ich haben schnell gemerkt, dass es sogar noch schöner für unsere Beziehung ist“ (Oliver, Abs. 6). „Die Entscheidung ‚möglichst viel sozialwissenschaftliche Literatur lesen’ oder ‚Freundin’ fällt derzeit oft auf Zweiteres. Ich hoffe, das einigermaßen im Laufe des Studiums ins Gleichgewicht zu bekommen, was mit Sicherheit noch schwer fallen wird und zu Komplikationen führen wird. Gleich zu Wochenbeginn wieder zu spät in die Vorlesung gekommen, trotz der Tatsache, dass diese erst um 14.00 Uhr beginnt. Grund ist natürlich wieder der Umstand, dass ich bei meiner Freundin in Randdorf übernachtet habe und um soviel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen erst auf den letzten Drücker aus dem Haus gegangen bin. (Oliver, Abs. 12-13). „Stets ausgleichend wirkt die herrliche Beziehung mit meiner Freundin auf mich und auch mit einigen Kommilitonen beginnt sich ganz eine engere Freundschaft zu entwickeln“ (Oliver, Abs. 21).
Es kann sogar sein, dass Oliver diese Geborgenheit in der Beziehung so stark auslebt, dass die Habitus-Struktur-Konflikte nicht zutage treten bzw. (noch) nicht existieren. Seine Freundin war sogar ausschlaggebend dafür, dass Oliver nun in Marburg studiert. Das ist das Besondere an Olivers Darstellungen, dass hier bis auf die Kritik an der Gruppe der Pseudoalternativen kaum etwas auf störende Elemente verweist, von Strukturierungsproblemen einmal abgesehen. Die Suche nach Gemütlichkeit und Geborgenheit ist zwar eine Möglichkeit des Umgangs, die aber umgekehrt auf einen Mangel an Geborgenheit verweist. Außerdem stellt sich die Frage, inwieweit die Geborgenheits-Nische in die neue Welt integriert werden kann, bzw. ob sie nicht zwei getrennte Welten etablieren hilft. In Abbildung 4 sind noch einmal die Dimensionen und ihre Polaritäten zusammengetragen. Die Zuordnungen sind als Tendenzen zu verstehen. Die Abbildung soll nicht suggerieren, dass etwa Neugierde ausschließlich am hochschulbildungsnahen und Angst ausschließlich am bildungsfernen Pol vorzufinden sind.
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Abbildung 4:
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Anforderungs- und Umgangsdimensionen
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen
Zusammenfassung der Analyse Habitus-Struktur-Konflikte sind vorwiegend am bildungsfernen Pol angesiedelt, aber nicht auf diesen begrenzt. Generell besteht im ersten Studiensemester das Problem, das neue erwachsene Leben mit dem zu vermitteln, was man verinnerlicht hat und an Ansprüchen und Bedürfnissen in die neue Lebensphase mitbringt. Dies ist zwar eine beständige Anforderung an alle Phasen des Lebens, doch stellt der Schritt an die Hochschule einen besonderen Einschnitt dar: erstens, weil er in die Phase der Adoleszenz fällt; zweitens, weil die Situation an der Hochschule widersprüchliche Anforderungen stellt, nämlich einerseits erwachsenes, selbstständiges Agieren voraussetzt, andererseits aber Studierende finanziell und auch qua Status kaum unabhängig agieren, also noch keine ‚vollwertigen’ Mitglieder einer Gesellschaft sind, die sich immer noch über Erwerbsarbeit definiert. Drittens und damit zusammenhängend ist das Studium mit einem Moratorium, einer Experimentierphase konnotiert, die von eben den Ansprüchen an ein erwachsenes Gesellschaftsmitglied ein stückweit befreit. Folglich verwundert es nicht, dass, wie im zweiten Kapitel gezeigt werden konnte, die Phase des Studiums eine besonders krisenanfällige ist, oder mit dem Habitus-Struktur-Modell gesprochen: die Wahrscheinlichkeit ist in dieser Phase groß, dass es zu Habitus-Struktur-Konflikten kommt. Dies bedeutet, dass Elemente des individuellen Habitus, also dessen, was man im Laufe des Lebens bislang an Wahrnehmungs-, Denk-, Bewertungs-, und Handlungsschemata entwickelt und verinnerlicht hat, so wenig zu den Mustern der aktuellen relevanten Umgebung passen, dass es zu Konflikten kommt. Dabei ist die Frage, ab wann von einem Konflikt zu sprechen ist, Ansichtssache. Unabhängig davon bestätigt die Analyse der Wochenbücher zum einen, dass es zu Beginn der neuen Phase Diskrepanzen zu den biographischen Bedürfnissen gibt. Sie zeigt zum anderen aber auch, dass diese Diskrepanzen nicht nur strukturiert unterschiedliche Formen annehmen, bzw. strukturiert unterschiedlich verarbeitet werden, sondern dass sie auch insofern eine Soziologie darstellen, dass es kollektive Elemente des vor allen Dingen bildungsfernen Habitus gibt, die eine besondere Diskrepanz zu den Strukturen des Studierens aufweisen. Für alle stellt der Studienbeginn – wie beschrieben – eine besondere Herausforderung dar, die aber auch mit Hoffnungen und Wünschen einhergehen. Regt diese neue Situation bei einigen am bildungsnahen Pol tatsächlich eine aktive Gestaltung ihres Lebens an, die mit Freude ‚vollzogen’ wird, stehen diesem Vollzug bei anderen Zweifel, Ängste und Unsicherheiten im Wege, was nicht heißt, dass nicht auch beides zusammen auftreten kann. Weil am bildungsnahen Pol das Bedürfnis nach institutioneller Anerkennung weniger ausgeprägt ist, wiegt die einhellig geteilte Diagnose, dass die Universität, gerade im Vergleich zur Schule
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sehr anonym ist, hier nicht so schwer. Es wird lediglich bedauert, dass es schwieriger ist, Leute kennen zu lernen. Dass indvidualiserte Habitus-Struktur-Konflikte nicht nur am bildungsfernen Pol vorliegen, zeigt das Beispiel Maria. Ihre Zweifel sind sehr ausgeprägt, obwohl sie bildungsnah aufgewachsen ist, und sie Erfordernisse des Studierens auch bildungsnah meistert. Sie stöbert gerne in der Fachbibliothek, findet vieles spannend und besucht Vorträge, die nicht curricular verpflichtend sind. Dennoch werden auch bei ihr aktuelle biographische Bedürfnisse, die sie selbst mit „Kind sein dürfen“ benennt, nicht ausreichend bedient. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es auch bei Maria Rupturen gibt, die den Habitus reflexiv werden lassen. Maria scheint die Aufstiegskonflikte ihrer Eltern mit zu verarbeiten. Sie ist Aufsteigerin der zweiten Generation und ist somit zwar bildungsnah aufgewachsen, hat aber auch die Verarbeitung der Habitus-Struktur-Konflikte ihrer Eltern mitbekommen und ist sogar noch aktuell damit konfrontiert. Diese Beobachtung führte zu einer Erweiterung des Modells von HabitusStruktur-Konflikten hin zu der Vorstellung, dass alle Studierenden dahingehend Habitus-Struktur-Konflikte aufweisen, dass sie eine neue Situation mit bisherigen Elementen ihrer Identität vermitteln müssen. Es ist also von einem Kontinuum an Habitus-Struktur-Konflikten auszugehen, an dessen einem Ende die idealtypische Konfliktlosigkeit steht, nämlich dass neue Elemente und alte völlig reibungslos vermittelt werden können (hier repräsentiert durch Sarah) und an dessen anderem Ende Habitus-Struktur-Konflikte stehen, bei denen kollektive habituelle Muster verletzt werden (hier repräsentiert durch Mira und Markus), bzw. eine große Integrationsleistung vonnöten ist, die möglicherweise nicht erbracht werden kann. Damit ist auch analytisch eingefangen, was selbstverständlich ist, nämlich dass es bei Studierenden, die bildungsnah aufgewachsen sind, ebenso zu einem Konflikt zwischen verinnerlichten Mustern und solchen der wahrgenommenen Strukturen des Studierens kommen kann. Die beiden Pole stellen insofern zwar idealtypische Konstruktionen dar, die aber einer Wahrscheinlichkeitsempirie entsprechen. Das heißt, es ist zu vermuten, dass bei vielen Studierenden, die bildungsfern aufgewachsen sind, gravierende HabitusStruktur-Konflikte vorliegen. Bei Studierenden, die hochschulbildungsnah aufgewachsen sind, ist dies weniger wahrscheinlich, aber möglich. Lassen sich bei diesen Studierenden dennoch Konflikte beobachten, ist zu fragen, ob der betreffende Habitus bereits anders reflexiv geworden ist als durch die Verletzung kollektiver Muster. Beispielswiese kann das Wahrnehmen der Habitus-StrukturKonflikte der Eltern, die Trennung der Eltern oder Gewalterfahrungen etc. die bis dato kaum hinterfragte Weitergabe der elterlichen Habitusmuster erschüttern und kognitive Spielräume zum Tragen kommen lassen. Allerdings ist dann anzunehmen, dass hier weniger kollektive kulturelle Muster des eigenen Habitus
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen
im neuen Feld verletzt werden und dass der Konflikt dann eher in individueller Auseinandersetzung, in Beziehungen, aber ohne Macht-Bezug ausgetragen wird. Anders sieht es am bildungsfernen Pol aus. Dort sind es Muster der eigenen (Herkunfts-) Gruppe, die von der neuen Situation nicht angemessen bedient werden können. Hier wird das selbstverständlich auch individuelle Leiden an dem Konflikt noch um die kollektive Komponente ergänzt. Es wird nämlich einhellig eine bestimmte Gruppe der Kommilitonen abgewertet, die sich in den Augen der Studierenden bildungsferner Herkunft als ‚Pseudoalternative’ bezeichnen lassen. Dabei ist offensichtlich, dass das ‚Pseudo’ aus der Wahrnehmung resultiert, dass es sich um Studierende handelt, die gar nicht so sozial und alternativ sind, wie sie sich geben, sondern die das Studium von den Eltern finanziert bekommen, die bevorzugt behandelt werden, die es ungerechtfertigter Weise leichter haben, kurz: die im Sozialraum weiter oben angesiedelt sind. Dass die bildungsfernen Studierenden ihre Kommilitonen selbst mit soziokulturellen Begriffen analysieren, ist ganz auffällig. Die anderen Studierenden tun dies gar nicht. Dieses ‚Blaming’ macht vor dem Hintergrund des vorgestellten Modells Sinn, nämlich dahingehend, dass dominierten Habitus kaum etwas anderes übrig bleibt, als über aggressive Performanz auf verschleierte Machtverhältnisse, also auf symbolische Gewalt, aufmerksam zu machen. Bei diesen Studierenden finden sich weitere Formen des Umgangs mit symbolischer Gewalt, nämlich auch das als projizierte HSK bezeichnete Abwerten anderer dominierter Habitus, aber auch eine Solidarität mit anderen dominierten Positionen im akademischen Feld. Diese Umgangsweisen tun jedoch den eigens erlebten Diskrepanzen keinen Abbruch. So sind vor allem die bildungsfernen Studierenden sehr auf die Wahrnehmung ihrer Person und ihrer Leistung angewiesen. Es ist anzunehmen, dass dies umso mehr der Fall ist, je stärker sie durch die Anerkennung durch die Institution ‚Schule’ ihre Legitimation, ein Studium auf sich zu nehmen, erfahren haben. Ein Muster, sich die Anerkennung zu holen oder zumindest zu imaginieren, besteht in ausgeprägtem Fleiß und dem Ergreifen von exponierten Positionen. Doch auch hierzu sind die Gelegenheiten sehr begrenzt und trotz ihrer diesbezüglich immensen Anstrengung bleibt etwa bei Mira das Fazit, dass man „niemand ist“. Eine weitere Variante des Umgangs ist die des Rückzugs in Vertrautes bzw. in Aktivitäten, die fernab vom Studium liegen. Hier besteht die Gefahr, dass dies letztlich zur Aufrechterhaltung zweier getrennter Welten beiträgt. Ein Mangel der notwendigen Anerkennung lässt sich offenbar nicht einfach durch eigenes Zutun, wie Fleiß und Gruppen-Arbeiten an sich Reißen oder Rückzug beheben, sondern es scheint schon auf, dass diese Strategien zum Teil
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ins Leere laufen, weil eben auch in der Wahrnehmung der Betroffenen die strukturelle (Ungleichheits-)Dimension des Konfliktes sichtbar wird, die sich nicht einfach individuell außer Kraft setzen, sondern bestenfalls in Form interpersoneller HSK – wie dem Blaming der Privilegierten – thematisieren lässt. 3.2.3 Interviews Es wurden im Zeitraum von August bis November 2007 16 Interviews mit Studierenden geführt, auf denen die Auswertung basiert. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich fünf Studierende zu Pretest-Zwecken interviewt, um den Leitfaden daraufhin zu überprüfen, ob er den Studierenden ausreichend Narrationsspielräume bietet und ob er sensibel genug ist, sowohl kritische als auch als positiv erlebte Elemente der ‚Studierenden-Studium-Interaktion’ zu erfassen. Hierfür spielte die soziale Herkunft keine Rolle. Die Auswahl der InterviewpartnerInnen für die Analyse der eigentlichen Untersuchung erfolgte dann nach einem qualitativen Stichprobenplan. Nicht zuletzt aufgrund des im zweiten Kapitel geschilderten Vorwissens zu statistischen Zusammenhängen zwischen Studium und sozialer Herkunft gab es vor allen Dingen das Interesse, Umgangsweisen mit den Ansprüchen des Studienlebens über verschiedene soziale Herkünfte mit Fokus auf Studierende aus bildungsfernen Elternhäusern zu explorieren. Berücksichtigt man dabei nur die beiden Extremherkunftsgruppen, zwei Ausprägungen der Variable Geschlecht und zwei Studienfächer oder Fachgruppen, wären bei zwei Fällen pro Zelle 16 Interviews zu führen gewesen. Aufgrund des Fokus habe ich eine andere Gewichtung vorgenommen und zwölf Interviews mit ‚bildungsfernen’ und vier mit ‚hochschulbildungsnahen’ Studierenden geführt. Letztere habe ich trotz der Rekrutierungsprobleme bezüglich der Studienfächer so gewählt, dass sie ein Fach studieren, das auch in der Interview-Gruppe der bildungsfernen Herkünfte vorzufinden ist. Die Studierenden wurden über Aushänge mit dem Titel „Untersuchung zu sozialen Bedingungen des Studierens“ angesprochen, die an zentralen Orten der Universität (Mensen, Fachbereiche, Hörsaalgebäude) angebracht waren und eine Aufwandsentschädigung von 20€ ankündigten. Die Interviews dauerten zwischen zwei und drei Stunden und wurden vorwiegend in Cafés geführt. Wenn man die Interviewart charakterisieren möchte, ließe sich von einem Leitfadeninterview mit stark narrativem Charakter sprechen. Der Minimal-Leitfaden sollte sicherstellen, dass bestimmte Aspekte des Studienlebens ausgeführt werden. Dazu gehörten Fragen zum Studieren des Faches, was den Studierenden am Fachstudium gefällt, was nicht und aus welchen Gründen sowie Fragen zu ihren Lehrenden und KommilitonInnen, zu Lehrveranstaltungen und Prüfungsleistungen, zu unschönen und schönen Erleb-
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nissen, zu Orten, die als schön bzw. unschön empfunden werden, zur Wohnsituation, zur Freizeit, zur Struktur des Tagesablaufs, zu besonderen Plänen. Diese Fragen sollten bei Bedarf zum einen das Angebot darstellen, zu vermuteten relevanten Strukturkomponenten des Studierens (Orte, Zeitstrukturen, KommilitonInnen,...) Stellung zu nehmen und zum anderen ein Erfassen der aus der Analyse der Studienberatungsgespräche hervorgegangenen ‚Problemdimensionen’ gewährleisten. Allerdings musste auf die meisten Fragen kaum zurückgegriffen werden. Der Stimulus zu Beginn („Was gefällt Ihnen denn an Ihrem Fach?“) initiierte eine Erzählung über das Studieren, die keinen expliziten Rekurs auf die Fragen nötig machte. Die Interviews wurden wörtlich und mit Lautfärbungen transkribiert, jedoch nicht lautschriftlich wiedergegeben. Eine lautschriftliche Transkription läuft Gefahr, fast positivistisch eine Nähe zu einem vermeintlichen Original, einer Substanz zu suggerieren, und damit gerade den Konstruktionscharakter zu negieren, den interpretative Verfahren zu Tage fördern sollen. Vielmehr wurde hier in Kenntnis der Fragestellung und der analytischen Heuristik die Transkribierung so vorgenommen, dass an den möglichen ‚Schlüsselstellen der Konfrontation’ von Habitus und Struktur jeweils darauf geachtet wurde, inwieweit die Phonetik des Gesprächs und der Kulisse bedeutungstragend sein könnte. Die Interviews wurden in der Reihenfolge der bezogen auf die Fragestellung vermuteten Ergiebigkeit sukzessive kategorisiert, bis eine theoretische Sättigung sich andeutete. In die Analyse sind auf diesem Wege – in umfangreicher Kenntnis des Gesamtmaterials – vorwiegend die in Abbildung 5 fett gedruckten Fälle eingeflossen: Ergebnisse Die aus der Analyse der Wochenbücher herausgearbeiteten Dimensionen wurden in ihrer Bedeutsamkeit durch die Interviews bestätigt. Auch diese Studierenden berichten von ihren Kämpfen um Anerkennung, von Anonymitätserfahrungen, auch von positiven Ausnahmen, die aber ihrerseits auf das Problem verweisen, etwa wenn die betroffene Person sich darüber freut, dass ein Professor sich an ihren Namen erinnern konnte. Die ‚harmlosere’ Variante des Anonymitätsempfindens, nämlich, dass es schwierig ist, Leute kennen zu lernen, war bei den Interviews nicht Gegenstand der Ausführungen. Dies mag daran liegen, dass sich meine GesprächspartnerInnen bereits mindestens im dritten Semester befanden und entweder das Problem dann nicht mehr auftritt oder ein alternatives Arrangement gefunden wurde, wie etwa bei Peter, der seinen KommilitonInnen weitestgehend aus dem Weg geht und privat nur Kontakte zu Nicht-Studierenden unterhält.
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Abbildung 5:
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Übersicht zu den Interviews
Auch die Varianten des Umgangs mit den Anforderungen lassen sich wiederfinden. So gibt es selbstverständlich ein großes Spektrum an Freizeitverhalten und auch hier zeigen sich Praktiken, die eher studiennah sind und solche, die eine
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Distanz zum Studium aufweisen, und bei denen der Sinn genau in der Fluchtmöglichkeit liegt. Es sollen hier nun lediglich die Dimensionen vorgestellt werden, die auf zentrale neue Aspekte verweisen oder die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen besonders gut bebildern können. Hierbei sind vor allem Textpassagen zu den Kategorien ‚Herkunftsmilieu/Familie’ und ‚Milieufremdheit bzw. -vertrautheit’ von Bedeutung. Dies verspricht neue Erkenntnisse, da zum Studienbeginn (bei den Wochenbüchern) noch kaum eine durch Studienerlebnisse hervorgebrachte Haltung zum Studium vorliegt und Auseinandersetzungen etwa mit dem Herkunftsmilieu erst dann stattfinden können, wenn Studierende schon ein Stückweit in die ‚neue Welt’ eingetaucht sind und die alte reflexiv, mit etwas Distanz, behandeln können. Darüber hinausgehende, für den jeweiligen Einzelfall charakteristische Aspekte, die auf soziale Ungleichheit verweisen, ergänzen die Ausführungen direkt an den betreffenden Stellen. Es sollen hier vor allem Eindrücke derjenigen betrachtet werden, die nicht aus einer Akademikerfamilie stammen. An einigen Stellen fließen jedoch zur Verdeutlichung Erlebnisse von Studierenden hochschulbildungsnaher Herkunft ein. Es gibt zwei zentrale Muster bzw. Motive, die in der Auseinandersetzung mit dem Herkunftsmilieu bzw. mit der eigenen Person in Bezug auf das Herkunftsmilieu eine Rolle spielen: (1) anerkennende Schulerfahrung und Selbstwahrnehmung als ‚Allrounder’; (2) ‚Auf dem Boden bleiben’ und Herkunfts-Konflikt. Die Anerkennungs-Problematik der ‚Allrounder’ Die Interviews verdeutlichen, dass eine Selbstwahrnehmung des vielseitig begabten Menschen, des Allrounders, existiert, der sich schwer auf Spezialisierungen festlegen kann, weil dies eine Nicht-Beachtung der anderen Fähigkeiten und Kompetenzen bedeuten würde. Diese Figur taucht bereits bei Mira in den Wochenbüchern auf. Die betreffenden Personen profitierten von der Vielseitigkeit des Fächerkanons in der Schule und der Möglichkeit, dort als Person wahrgenommen und multipel anerkannt zu werden. Sie sind entsprechend gerne zur Schule gegangen. Damit geht auch einher, dass Lehrer als anerkennende und motivierende Personen bedeutsam sind. Tobias etwa thematisiert seine Herkunft als ‚working-class Kind’, benennt diese aber nicht als Problem. Zwar hegt er Zweifel und erwägt einen Studienabbruch, bringt dies aber nicht mit seiner Herkunft in Verbindung, sondern mit seinem Gefühl, dass er sich bei seinem Lehramtsstudium mit den Fächern Geographie und Chemie ‚unter Wert’ verkauft. Davon abgesehen vermittelt das gesamte Interview den Eindruck, dass seine Herkunft kaum ein Problem dar-
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stellt bzw. sich sein individueller Habitus so gestaltet, dass er relativ unbelastet und glücklich durch sein Studium gehen kann. Bei Tobias fällt auf, dass er sehr hohe Ansprüche an sich stellt und darunter leidet, dass er so vielseitig ist, ein Allrounder, der gerne alle seine Fähigkeiten einbringen können möchte, vor allem seine analytische, künstlerische und soziale Kompetenz. Dementsprechend schwer ist ihm auch in der Schule die Leistungskurswahl gefallen. Die wahrgenommene Vielfältigkeit war auch ein Grund, sich für dieses Lehramtsstudium zu entscheiden. Dennoch hat er auch hier zuweilen das Gefühl, dass er sich unter Wert verkauft, dass er was Besseres studieren könnte. Er spricht davon ‚nur’ Lehramt zu studieren. Alle Bewerbungen, die Tobias getätigt hatte, waren erfolgreich. Er hätte auch Architektur an der renommierten Bauhaus-Universität studieren können. I: […] was war's denn, was Sie gestört hat, wo Sie dachten, ah, ich weiß gar nicht, ob ich's weitermachen möchte mit dem Studium, kann man das irgendwie benennen, oder is des eher so'n vages Gefühl? T: Ja. Das, das große Gefühl, sich unter Wert zu verkaufen. Ich bin ein furchtbarer Per, Perfektionist und hab mich halt dann, weil ich halt so'n Allrounder bin und ich kann kreativ genauso gut arbeiten, im Bereich Musik, Kunst et cetera wie ich's in ner Naturwissenschaft kann, wo halt sonst immer der große Zwiespalt war. Des ein, des eine waren halt die Leute, die dann irgendwann Germanistik oder Kunst studiert haben, die so immer kreativ waren und dann so mit Ach und Krach durch's Abitur gekommen sind in Mathe oder Physik. Bei mir war immer alles vorhanden und alles auch relativ gut und em, dann hab ich mich halt auch auf die vielseitigsten Sachen beworben, wie gesagt, ich wollt'n vielseitigen Beruf haben, des ging dann von den Bewerbungen her in Richtung Lehramt oder Umwelttechnik, Umweltingenieurwesen, Umweltschutz oder halt ganz groß Architektur bzw. Sicherheit/Gefahrenabwehr in Magdeburg hab ich mich auch beworben mit dem Ziel halt in Katastrophenschutz oder in Richtung Feuerwehr zu gehen, was ich jetzt vielleicht mit dem Abschluss immernoch irgendwo machen kann, auch wenn se den Abschluss gar nicht so mögen in die Richtung, em und ich wurde eigentlich für fast alles genommen, ich hab Eignungstests bestanden, gerade in Architektur, wo andere Leute Kunstunterricht für genommen haben, Zeichenunterricht und sind dann doch durchgefallen und ich bin aus Jux und Dollerei hingefahren, hab mir am Tag vorher überlegt, ob ich jetzt nach Weimar oder nach Karlsruhe fahr, hingefahren, bestanden, zwei Wochen später die Zulassung da und des war das große Gefühl, warum mach ich jetzt nur Lehramt. Warum sitz ich jetzt hier, studier das, was all die anderen könnten, wobei ich auch ne Zu, ne Psychologie-Zulassung in Marburg hatte, das wonach sich jeder die Finger leckt, […] (Tobias, 163). T: O.K. Nee aber halt insgesamt diese ganze Sache, ich hatte da so viel, da ham halt auch viele Freunde einfach gesacht, warum machst Du jetzt nur Lehramt, warum, dafür, dass Du irgendwann vierzig Jahre lang desinteressierte äh Plagen durch die Welt scheuchen musst, die überhaupt keinen Bock auf Schule ham, Du könntest so
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vieles haben, gerade in Richtung Architektur da in Weimar, mein Gott BauhausUniversität kommt auch nicht jeder rein. Und em, ja ich weiß nicht, war lange das Gefühl da und diesen Sommer hab ich mich erst so richtig, dass es eigentlich das hier genau das ist, was ich möchte, was ich will. (Tobias, 168). T: Em, ich hab mich gerade selber dabei ertappt, dass ich Nur-Lehramt gesagt habe, em, […], aber des is, man bekommt's von der Gesellschaft eingeredet (I: O.K. Lehrer sind nicht viel wert in der Gesellschaft?). Lehrer sind nicht viel wert, des sin äh nur halbe Akademiker, gerade diese, diese Schmalspurgesicht, äh -geschichte, man bekommt's dann gerade von Naturwissenschaftlern oft eingeredet. Lehrer sind auch nicht so viel wert wie'n Arzt, weil ja Lehrer offiziell nicht ganz so viel arbeiten, davon abgesehen, dass es halt auch 'n fünfzig Stunden Job ist, wie ich's jetzt im Praktikum kennengelernt hab, weil sechsundzwanzig Wochenstunden auch sechsundzwanzig Stunden Minimum benötigen, am Anfang eher noch viel mehr. Und äh ja, man bekommt halt von der Gesellschaft oft eingeredet, Lehrer werden doch die, die a) es bequem haben wollen oder b) das Studium in ihrem Fach direkt nicht geschafft haben und deswegen jetzt die halbe Portion machen müssen. In der Chemie is es oft so, dass halt die Diplomer oder Bachelor-Leute ausstrahlen, dass die Chemie-Lehramtler des leistungsmäßig nicht schafften […] (Tobias, 170). T: Man verkauft sich unter Wert, das Gefühl war da. Ich muss mich auch permanent vor mir selber rechtfertigen, ich bin schlimmer Perfektionist und des hat mich schwer ins Straucheln gebracht, dann wirklich mir selber vielleicht auch einzugestehen, dass ich jetzt Lehramt studier und nicht Nur-Lehramt, weil ich mich selber auch irgendwo, ja, unterbewertet habe in dieser Hinsicht. Des is, wie gesagt, ich hätte wahrscheinlich genauso gut 'n Diplomingenieur oder 'n Diplom in irgend ner, in ner andern Wissenschaft und mir selber erst mal klarzumachen, dass ich nicht Nur-Lehramt studier, des hat ne Weile gedauert, also ich hab mich selber auch unterbewertet und das Gefühl war bei mir selber schon dagewesen. I: Ja, kann ich wie gesagt sehr gut nachvollziehen, ich vermute dann auch mal, dass es schon bei der Leistungskurswahl Schwierigkeiten gab, weil man eigentlich gerne alles genommen hätte. T: Ganz richtig, ganz richtig. Volltreffer, der Leistungskurs war Physik und Geschichte, sowas von grundverschieden (I: Chemie und Französisch bei mir (beide lachen)). O.K. Em des war, da war schon die große Krise, wie gesagt durch diesen Perfektionismus hab ich extreme Probleme mit der Entscheidungsfindung […] und des hat damals wie gesagt schon angefangen Leistungskurse, das zu wählen, ich hätt gern alles genommen, ich hätt auch gerne Geographie genommen und dann das hessische Kultusministerium, dass es nicht ging, em, aber ich hab dann im Endeffekt das genommen, was mich Breitband mäßig am meisten weiterbringt und das waren halt Physik und Geschichte, einfach kreuz und quer, es war damals schon der Gedanke da, wenn ich jetzt Architektur mach, sind das beides Fächer, die ich da gebrauchen kann und auch so, wie gesagt Studium is für mich erstmal Wissen anreichern. Ich möchte einfach, em in der Breite gebildet sein, so, so Lieblingsjob Universalgelehrter, der von allem en bisschen was weiß, da is der Lehrer glaub ich
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auch nicht verkehrt und das war der Anfang des Ziels, des war halt auch ne ganz furchtbare Krise, da erst mal reinzufinden (Tobias 174-176).
Auch bei Martina war, neben dem Wunsch einen nicht-kapitalistischen Beruf auszuüben und der Sehnsucht nach einem gemächlichen Familien-Leben, die Vielfältigkeit ein Grund, Lehramt Mathematik und Geschichte sowie eventuell Anglistik zu studieren. Auch sie hat die Schulzeit sehr genossen und dies scheint von Anfang an eine hohe Messlatte für das Studium gewesen zu sein. Martina betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit des personenbezogenen, interaktiven Lernens. M: Also, em, zum einen weiß ich nicht, wollt ich das irgendwie schon lange mal, also immer, war das auch immer so ne Idee, Lehramt, Lehrerin wär 'n schöner Beruf. Mir hat die Schule halt sehr gefallen, […] Orientierungspraktikum, des war auch schon ganz schön, gerade Englisch, em, hab' ich mal ne Stunde gehalten, hat mir schon Spaß gemacht und so und is halt auch schön, dass man da so ne Fächerkombination studieren kann, also wenn ich jetzt irgendwie Diplom mache, dann kann ich ein Fach und vielleicht noch ein Nebenfach machen, was dann glaub ich auch schon schwieriger wird. Ich weiß es nicht, ich kenn mich da nicht so aus, aber em jetzt bei Lehramt kann ich zum Beispiel die drei Fächer alle machen und des find ich auch ganz gut, ganz schön. I: Also 'n bisschen breit gefächert sein. (M: Genau). Was ist daran so schön, dass man nicht eins macht, sondern mehrere Sachen? Was würden Sie sagen? M: Ich weiß nicht, is vielleicht abwechslungsreicher und des sind, in der Schule hatte man ja sehr viel Abwechslung mit den verschiedenen Fächern. […] Em genau, in der Schule hatte man ja so ne breite Abwechslung und em das fand ich halt auch an der Schule eigentlich ganz schön, also dass man, ja viele verschiedene Sachen kennengelernt hat und so, und, und, also Mathe und Englisch war'n auch meine Leistungskurse und […] ich könnte mich nicht entscheiden, welches ich von den dreien jetzt machen würde, wenn ich auf, eins auf Diplom machen sollte. Un also Mathe wär natürlich, em, hatt ich auch überlegt, ob ich Mathe auf Diplom mache vielleicht, weil de man da ja auch sehr gute Berufschancen hat und gut verdient mit, aber irgendwie, des wär glaub ich nichts für mich, also die Berufe, die ich mir damit vorstellen kann, so, gerade in Versicherungen oder so, des äh möcht ich jetzt nicht machen, auch so dieses ganz arg Kapitalistische is irgendwie nich so mein Ding, em, da find ich Lehrerin is eher schon so'n sozialer Beruf vielleicht auch und äh bringt's, bringt wirklich was und nicht irgendwie jetzt, dass ich nur mei, versuche meiner Versicherung irgendwie zu helfen, möglichst viel Geld zu sparen oder so was (Martina, 14-16). M: Das kann schon sein, weil ich hab eigentlich auch von Anfang an, eben, ich fand ja Schule sehr schön und ich wollte gar nich so richtig ins Studium kennen, ich hätt halt lieber noch Schule weitergemacht. Ich hab mir immer vorgestellt, dass Studium nich so schön sein kann wie Schule und dass ähm diese, ich kannte halt nur die
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen Form Vorlesung, so aus Filmen oder irgendwas und das hab ich mir furchtbar langweilig vorgestellt, weil an ner Schule fand ich grade schön, dieses Interaktive, die Lehrer ham einen so n bisschen, grade z.B. in Mathe oder so, dazu gebracht, dass man selbst auf die Lösung kam, durch geschickte Fragen und es war eben ganz, ganz viel, ja Interaktion, Schüler, Lehrer zusammen und ähm, man hat viel mündlich selbst gemacht, machen können, wenn man das halt eben wollte, und ähm, Vorlesung is das ja gar nich so und das war halt das einzige, was ich kannwas ich ausm Fernsehen oder so kannte und deshalb hab ich mir das direkt auch eigentlich schon negativ vorgestellt und hatte, vielleicht bin ich auch schon mit ner negativen Einstellung an Studium rangegangen, das kann sein, also, ich hab halt von Anfang an gedacht, so toll wie Schule kann's auf jeden Fall nich werden (Martina, 306).
Stephan studiert aus diesem Grunde Geographie, weil er die Geographen als ‚die Allrounder’ wahrnimmt (Stephan, 64). Dorothee stellt einen Übergangsfall bei den Studierenden bildungsferner Herkunft dar, weil sie zwar auch ihre Vielseitigkeit schätzt, aber wie Christian und Sabine zu einer Gruppe gehört, die Schule nicht aus der Position des ‚universellen Genies’ erlebt, sondern dort auch zu kämpfen hatte. Dorothee hat ihr Abitur zwar nicht wie die beiden anderen auf dem zweiten Bildungsweg gemacht, hat aber mit dem Wechsel von der Realschule aufs Gymnasium einen ähnlichen Sprung vollzogen, der für sie sehr schwierig war (Dorothee, 87-91). Es lässt sich vermuten, dass dadurch die Erfahrung, die sonst mit dem Wechsel von der Schule an die Universität vonstatten geht, hier vorverlegt wurde. Ihr Deutschlehrer, den sie sehr bewundert, war es dann, der sie nicht nur gelobt hatte, sondern ihr auch ein Germanistikstudium in Marburg empfahl (Dorothee, 105; 76-79). Dorothee ist also mit einer konkreten Empfehlung für einen Studiengang und einer Anerkennungsspritze zum Studieren nach Marburg gegangen. Auch wenn also die Schule jemanden nicht als Allrounder würdigt, spielt die personenbezogene Anerkennung doch eine große Rolle. Dementsprechend war auch ihr Interesse an ihrem Studium personenvermittelt. Dies könnte ein wichtiger Einstiegsbonus gewesen sein, der es – unabhängig davon, was einem in der neuen Situation im Studium begegnet – ermöglicht, eigene Habitusanteile einzubringen: der Ort, an dem auch der lobende und bewunderte Deutschlehrer mit Freude studiert hatte. Dorothee überträgt das personenbezogene Lernen auf die Universität und bezeichnet die Professoren auch als Lehrer: D: Ja, eben das is auch viel, es wird ja ähm, viele Kurse nimmt man auch an der, an der, an der Universität nur wegen Profs. Vielleicht interessiert einen das Thema gar nich so sehr, aber man weiß, der Prof is gut und der kann das einem rüberbringen. (I: hm-m) Und äh dann wird das Thema auch plötzlich […] interessant und spannend, also das- […] Ja. Manchmal geht das einfach nich anders, also bis auf Schei-
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ne, die man vielleicht unbedingt machen muss wie diese blöden Linguistikscheine. Aber da hatten wir auch, da ham wir auch einen sehr guten Lehrer, Herr Lämmle, also der's auch, also, also Prof is er […]. (Dorothee, 111).
Im Gegensatz zu Mira und den ‚Allroundern’, welche die ‚AnerkennungsBühne’ suchen, ist Dorothee nicht gerne auf dem Präsentierteller. Sie sucht Nischen des Rückzugs, ist Mittelalterfan und mag Rollenspiele. Verkleidet flaniert sie etwa auf Mittelaltermärkten. Sie begründet die Haltung, nicht gerne im Mittelpunkt zu stehen, mit ihrer Herkunft aus einer armen Großfamilie, in der es geboten war, sich nicht in den Mittelpunkt zu stellen, bzw. in der jeder gleich behandelt wurde. Dass sie die einzige in der Familie ist, die Abitur gemacht hat, bekommt sie zu Hause in Form von Konflikten zu spüren. Ihr Bruder sei neidisch bzw. eifersüchtig (Dorothee, 83). Dorothee scheint nicht mit einer enormen Erwartung bezüglich ihrer eigenen Leistung belastet in das Studium eingestiegen zu sein, so dass sich Verletzungen des Glaubens an die eigene Leistungsfähigkeit in Grenzen halten und sie recht locker das Studienleben genießen kann. Auch das Verhältnis zu ihrer Freundin und gleichzeitig Mitbewohnerin gestaltet sich offenbar relativ problemlos, auch wenn – oder vielleicht sogar weil – die ökonomischen und kulturellen Unterschiede thematisiert und sogar humorvoll bearbeitet werden: D: […] Caro würde das halt nich so gut gefallen. Also sie's halt auch ähm, das lustige is auch, sie is ja aus ner ähm begüterten Familie. Hätt ich gar nich gedacht, dass das bei uns so zusammenpasst, geldlich gibt's zwar trotzdem da immer so'n paar Differenzen, weil sie halt gern im tegut einkäuft und ich sag so, nee, das kann ich mir nich leisten, das geht nich. Und da warn halt am Anfang so Differenzen, aber es hat sich jetzt gut eingependelt. Und ich hab ihr dann halt auch gezeigt, wo das günstige Zeugs zu holen is und hab ihr dann, die hat auch vorher, ja, sie hat auch vorher nie im Takko oder im Kik eingekauft. Fand ich ganz unverständlich […]. Also ich kauf da eigentlich alle meine Klamotten. Und da hatte sie vorher nie eingekauft, ähm, ihre Mutter hat ja, is zusammen mit ihr in diese, in diese teuren Oberstadtläden da in Kleinstadt, Esprit, S’ Oliver, ach, die Jacke kostet ja nur 60 Euro, 60 Euro (lacht). Also das is halt, das- das schon sehr lustig. Und dann machen unsere Freunde machen sich schon immer so lustig über uns, so da wohnt die Kirchenmaus und (lacht) immer, im kleineren Zimmer, und da wohnt halt die die reiche Stadtmaus. Das' voll lustig (Dorothee 141).
Dorothee schildert ihr Wohnen zu Hause mit den vielen Kindern und dem nicht fertig renovierten Haus als chaotisch. Auch ihren Vater scheint sie im Vergleich zum Vater ihrer Freundin nicht als Fels in der Brandung wahrzunehmen. Es gibt offenbar eine Sehnsucht nach dem haltenden Ruhepol (Dorothee, 143). Dieser
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könnte durch die Lehrenden in der Germanistik repräsentiert werden, so wie Dorothee sie schildert. Es gibt also möglicherweise auch Ansprüche der eigenen Biographie, die zwar im Herkunftsmilieu entstanden sind, aber gerade dort nicht bedient werden konnten. In Bezug auf die Anerkennung wertet sie ihren Bildungsaufstieg und die räumliche Trennung von ihrer Familie bereits als Emanzipationsschritt, weil sie die einzige in der Familie ist, die einen solchen Weg beschreitet. Das bedeutet nicht, dass ihr Familie und das Zu-Hause-Sein nicht wichtig wären. Dorothee sieht das Studium gar als Chance, aus sich herauszugehen, selbstbewusster zu werden und begreift es in dieser Hinsicht auch als Moratorium zum ‚Erwachsenwerden’. D: Das is schon so, ja ja ja, das isses, weil- weil meine Mutter da ja auch, weil die das auch nich wollte, also die war schon froh, dass ich das erste Semester noch daheim gewohnt hab. Das, halt, sie will halt alle eher so'n bisschen beinander halten, was manchmal n bisschen anstrengend is. Aber, das geht schon jetzt, also hat sie's jetzt auch schon mit einen, mit eingespielt und ähm, ja, aber für mich sind das eher alles Erfolgserlebnisse, weil ich vorher halt äh viel mehr in mich gekehrt war. Und das Studium bringt einem eigentlich ma dazu, aus sich herauszugehen auch. Und ähm einfach auch mehr Selbstbewusstsein aufzubauen, also das- vielleicht wär das bei der Arbeit noch mehr, also ich glaub, ich würd das- so ne kleine Vorstufe noch. Das is noch für Leute, die vielleicht n bisschen mehr Zeit brauchen, um- für's Berufsleben, also is meine Meinung so, also- und ich, ich hab, ich brauch diese Zeit auch, also und ich find das auch gut, dass das so is. Und es wird halt kontinuierlich besser. Mit dem Selbstbewusstsein, mit meim, mit meim äh Vorstellungen, die ich vom Leben habe und so, da 's das Studium ne sehr große Hilfe. Also es bereitet mich n bisschen drauf vor, was ich halt nur gesehen habe (unverständlich), ich woll- ich will ja Journalistin werden […] (Dorothee, 489).
Dorothee hat sich einen neuen Freundeskreis aufgebaut, aber auch eine Freundin aus dem ‚alten Leben’ mitgebracht. Als ‚Dreiergespann’ harmonieren sie sehr gut (Dorothee, ihre Freundin von früher und Caro, ihre neue Freundin und Mitbewohnerin). Das scheint fast ideal zu sein, wenn es darum geht, Vertrautes im neuen Leben zu entdecken. Auch hier bestätigt sich die Vermutung, dass sich bei Dorothee der erste gravierende Habitus-Struktur-Konflikt bereits mit dem Wechsel von der Realschule ans Gymnasium eingestellt hatte. Sie betont, dass die Leute vom Gymnasium für sie eher eine Zweckverbindung dargestellt hätten. Von daher bietet auch in dieser Hinsicht das Studium neue Chancen. Dorothee hatte sich im Gymnasium schnell vereinnahmt gefühlt, so dass sie die größere wahrgenommene Unverbindlichkeit im Studium als positiv erlebt. Diese Unverbindlichkeit entspricht ihrem Habitus möglicherweise eher aufgrund der Erfahrung in einer sehr großen Familie aufgewachsen zu sein, wo sich alles auf mehrere Leute verteilt (492-543). Bei Dorothee scheinen Habitus-Struktur-
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Konflikte weniger in ihrem Studienleben aufzutauchen als vielmehr beim Kontakt mit ihrer Familie. Ihre Mutter wollte sie zunächst gar nicht ‚ziehen lassen’ und ihr Bruder ist neidisch darauf, dass sie studiert. Dorothees Studienleben scheint ihr die Gelegenheit zu geben, sich verstecken und langsam vor wagen zu können. Sie wird nicht vereinnahmt, aber auch nicht alleine gelassen. Vorteilhaft ist hierbei, dass sie zwei sehr gute Freundinnen hat, wobei die eine eine Verbindung zu ihrer Zeit vor dem Studium darstellt und die andere trotz unterschiedlicher sozialer Herkunft Habituselemente aufweist, an die Dorothee anknüpfen kann, wie etwa an den gemeinsamen Musikgeschmack. Dennoch bietet diese Freundin aufgrund sonstiger Performanzen auch eine Brücke zu höheren Milieus im Sozialraum. Auch Sabine hat mit konkreten Lehrern auf dem Abendgymnasium so positive Erfahrungen gemacht, dass sie Lehrerin werden wollte (Sabine, 5-14). Wie für die anderen auch, die sehr von der persönlichen Atmosphäre im Klassenverbund der Schule gelebt haben, ist für Sabine die fehlende persönliche Anerkennung im Studium ein Problem. Als positives Erlebnis schildert sie, dass ein Professor sich mal an sie erinnern konnte (Sabine, 605). Studierende mit bildungsferner Herkunft sind entweder gerne in die Schule gegangen und haben von der Vielfältigkeit und Anerkennung dort profitiert (‚Allrounder’: Tobias, Martina, Mira) oder sie haben durch den zweiten Bildungsweg bzw. den Wechsel von der Realschule aufs Gymnasium bereits eine Art Training als Vorläufer zum Studium (‚gelerntes Durchboxen’: Christian, Dorothee, Sabine, Markus) hinter sich. Ganz anders sieht es bei Dörte aus, die aus einer Akademikerfamilie stammt. Für sie bietet das Chemie-Studium eine Emanzipation von der Schule in mehrerlei Hinsicht. Erstens, weil sie sich auf etwas konzentrieren kann, was sie gerne macht und nicht Fächer belegen muss, die sie nicht mag. Zweitens findet sie die Leute im Studium sympathischer, weil ihr ähnlicher und ihr gegenüber aufgeschlossener. Sie begründet dies mit der erhöhten ‚Trefferwahrscheinlichkeit’ unter Gleichgesinnten. Drittens und damit zusammenhängend passt das Chemiestudium besser zu ihrer Variante eines weiblichen Habitus. In der Schule gehörte sie nie zu den typisch geschminkten, ‚erwachsenen’ Mädchen und wurde sogar als Streberin gemobbt. Dörte hatte zudem während der Schulzeit bereits Kontakt zur Universität durch die Teilnahme an Matheolympiaden etc. Sie hatte die Atmosphäre damals schon genossen. I: Gilt des generell, dass mer sa, dass Sie sagen können, äh Studium is irgendwie 'ne schönere Erfahrung für mich als Schule? D: Ja. […] Deswegen hab ich für mich persönlich das Gefühl, dass ich mehr leiste als in der Schule, auch wenn die Noten schlechter ausfallen. Und halt die soziale Verbesserung macht auch 'n großen Aspekt aus, also dadurch dass em hab ich eigent-
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lich auch das Gefühl, dass es für mich persönlich eine Leistung is, wenn ich äh mit andern Leuten besser kann und so. I: Mhm. Im Vergleich zur Schule, warum? D: Ja, weil halt in der Schule mehr Leute sind, die man nicht so gern mag oder na eher anders rum, die einen nich so gerne mögen. […] Also wenn man in der Schule das Gefühl hat, man, man passt nich ganz rein und so und man is nicht von allen akzeptiert, äh, das is ja schon etwas, wo man sich anstrengen kann, wo man sich bemühen kann akzeptiert zu werden und so und wenn das dann besser klappt, auch wenn es rein zufällig ist, weil man halt mit den Leuten besser zusammen passt, dann fühlt man sich trotzdem also, glaubt man trotzdem, dass es ne Leistung ist, also rein em unterbewusst. Des is dann äh also etwas, was, was dann glaub ich mit der Allgemeinbewertung auch äh so zusammenhängt. Also wenn ich das Gefühl hab, dass ich von den Leuten besser akzeptiert bin, dann, dann bewerte ich glaub ich auch meine eigenen Leistungen in der Uni besser und so, jo. Deswegen bin ich eigentlich auch mit meinen Noten bisher ganz zufrieden (Dörte, 147-150). D: Ich hatte mir in der Schulzeit, äh erhofft, äh halt an dieser, dieser netten Atmosphäre in Uni teilzuhaben, was ich halt in der Uni Großstadt dann ab und zu schon mal mitgekricht hab, dass man da rumsitzt und sich unterhält und es, es kam mir irgendwie alles sehr nett vor und em nich so viel Mobbing und so weiter und äh, das hat sich eigentlich bestätigt, also da hab ich genau das gekricht, was ich haben wollte und auch leistungsmäßig, dass es in der Schule manchmal so, schon so'n bisschen langweilig war und dass man auch alle Fächer machen musste, die einen gar nicht interessierten, Geschichte jetzt zum Beispiel in meinem Fall, oder Politik oder so und äh, auch, auch da is Studium genau das, was ich erwartet hab, nämlich dass ich, em, Fächer lernen kann, die mir Spaß machen […]. Deswegen is, is es eigentlich genau das, was ich erwartet hab und deswegen fühl ich mich auch so wohl. Weil, weil es einerseits sozial das ist, was ich haben wollte, was ich mir erträumt hatte in der Schule und andererseits auch fachlich halt das, was ich machen möchte und was mir Spaß macht und der richtige Anspruch für mich und so. […] D: […] und em in der Schule, des is das ja sowieso ne ganz andere Atmosphäre, also immer so mit, mit geschminkten Mädchen und sowas alles, da hatt ich halt nie so richtig dran teil. Also ich war nicht eine von diesen aufgemotzten Tussis und äh natürlich kriecht man da auch Mobbing mit, also des is glaub ich an fast jeder Schule so (I: Mhm). Und speziell bei Mädchen. Ich hatte auch noch das Problem, dass ich ne Klasse übersprungen hab, das war dann auch eher so Ziel der Aufmerksamkeit. I: Weil des so 'ne Streberin dann is, die sogar ne Klasse überspringt, oder weil se, oder weil se jünger is einfach als die anderen, dann? D: […] Sie haben mich trotzdem immer damit aufgezogen, dass ich jünger war, war ich ja nicht, aber meinten sie. Sie meinten, ich müsste jünger sein. Ja und, und dieses ganze erwachsene Gehabe und so, das hab ich halt auch nicht mitgemacht und em. Ja und äh, ich spiele halt gerne und, und ich mag Humor und ich mag Witze
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machen und so und für viele gehört das glaub ich zum Erwachsensein nicht dazu, gerne zu spielen und äh, weiß nicht. I: Aber, und des war in der Schule präsenter als an der Uni? (D: Ja, auf jeden Fall). Also des Erwachsenengehabe, mein ich jetzt, (D: Ja). Ach ja, oh, das is ja spannend. D: Also zum Beispiel bei'n Chemikern gibt es jetzt auch sehr viele Leute, die gerne spielen, oder die mal 'n Scherz machen, die mal auf der Straße rumhüpfen oder so. […] D: Genau, und, und das war, an, also an der Schule haben die sich sehr viel erwachsener aufgeführt, obwohl sie jünger waren und ich, ich war jetzt halt, äh, ich war eigentlich kein typischer Streber, also ich hab kaum Hausaufgaben gemacht und so, ich hab halt auch nicht richtig viel gelernt, aber man wird ja trotzdem so bezeichnet. Also allein, ni, nich wegen dem, was man tut, sondern wegen dem, was man für Noten kriecht. Ja hat man 'n Stempel. Genau und da hatt ich halt mir schon gedacht, dass das in der Uni anders ist und das is ja jetzt tatsächlich so. […] (Dörte, 331346).
Dörte fühlt sich nicht nur wohl im Studium, sondern speziell auch im ChemieLabor. Hier gibt es ein interessantes Missverständnis im Gespräch, das Dörtes Lust und Neugierde auf das ‚action-reiche’ Arbeiten im Labor belegt im Gegensatz zu meiner Angst vor der unkontrollierbaren Labor-Arbeit in meinem eigenen Chemie-Semester. Ich hatte ihr erzählt, dass mich unter anderem die Aussicht auf die im Vergleich zu quantitativen Analysen noch unübersichtlicheren qualitativen Analysen und die Angst vor dem damit verbundenen Chaos, mein Chemiestudium trotz sehr guter Leistungen hat abbrechen lassen. Sie versteht aber fälschlicherweise, dass ich von den langweiligen quantitativen Analysen angeödet gewesen sei: D: […]. Aber das hätte mich glaub ich auch genervt, zuerst die Quantis zu machen. (I: Ja das fand ich, es sei ja angeblich das Leichtere, wird gesacht, oder?) Ja, aber des is auch 'n bisschen öder (I: Weil's nich so gruselig is, nicht mit so viel, genau, öder aber eben auch überschaubarer, dann gleichzeitig halt) Ja, aber darum geht's ja nicht, wenn man anfängt zu studieren (I: O.K. Da will mer ja). Ich fand's eigentlich auch gut, wenn's 'n bisschen komplex war […] (Dörte, 66).
Diese Szene illustriert sehr eindrücklich den Gegensatz zwischen der bildungsfernen Angst vor Unstrukturiertheit und Chaos auf der einen Seite und der hochschulbildungsnahen Lust genau auf dieses Unerwartete. Dörte hätte Langeweile als Studienabbruchgrund nachvollziehen können. Mein Grund war aber genau das Gegenteil, nämlich die Angst davor, dass es künftig noch chaotischer ablaufen würde.
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Es lässt sich festhalten, dass der ‚Allrounder-Habitus’, der am bildungsfernen Pol angesiedelt ist, im Studium schlechter aufgehoben scheint als ein Habitus, der sich gerne auf eine Spezialisierung einlässt. Die Spezialisierungslust und das Fachinteresse sind nicht nur bei Dörte ausgeprägt vorhanden, sondern auch bei den anderen ‚hochschulbildungsnah’ aufgewachsenen Studierenden vorzufinden (André, Simone und Tanja). Die Schwierigkeiten der ‚Allrounder’ scheinen mit dem schon herausgearbeiteten Wunsch nach umfassender Anerkennung, wie sie die Schule im Gegensatz zum Fachstudium in anonymer Umgebung bieten konnte, verknüpft zu sein. ‚Auf dem Boden bleiben’ und Herkunfts-Konflikt Eine zweite Figur, die typisch scheint für die bildungsferne Studiererfahrung, ist der Anspruch, auf dem Boden bleiben zu wollen, nicht abgehoben zu werden. Es herrscht eine große Sensibilität dafür vor, dass man tatsächlich vom eigenen ‚Milieu-Boden’ abgehoben ist. Dies erzeugt Angst und Schamgefühle. Tobias vereint zwar in seinem Habitus Elemente, welche die Aufstiegsangst vermutlich abmildern. So schildert er sein Heimatdorf, das er liebt und in dem er sich ehrenamtlich in der Feuerwehr und als Sanitäter engagiert, als dahingehend außergewöhnlich, dass dort alle sozialen Schichten vermischt seien und es nicht die übliche Trennung gebe zwischen dem ungebildeten Dorfkern und den zugezogenen Bildungsbürgern. Außerdem hat seine Familie dadurch, dass der Vater ein Fotostudio im Dorfkern betreibt, eine symbolische Präsenz und es ist inkorporiertes kulturelles Kapital, wenn auch nicht in institutionalisierter Form, in der Familie vorhanden. T: […] Wir sind zwar 'n Dorf, aber bei uns gibt's zum Beispiel auch wenig so diese, ja ich nenn se Hosentaschen-Nazis, so diese kleinen, vierzehnjährigen BomberjackenKids, die sich dann auf irgendwelchen Zeltdiscos profilieren müssen, da rumprügeln, sonst was, das existiert bei uns gar nicht, wir haben ne, sagen wer mal sehr bunt durchmischte, aber zum Teil wirklich hochgebildete und, und gut zusammen haltende Dorfjugend und ich weiß nicht, wenn Sie aus 'm Main-Kinzig-Kreis kommen, Kirmes und diese Feste dürften auch 'n Begriff sein? (I: Ja, ja, klar). Des is bei uns kein Dorfproletengehabe, des is bunt durchmischt, dass halt die Studis dafür, dafür, dafür auch nach Hause kommen, wirklich Null Nazis, ne engagierte Jugend und (I: Cool). Des is halt einfach bunt gemischt vom Bauarbeiter oder vom Arbeitslosen bis hoch zum, zum Studenten, äh Polizisten, Beamten sonst was, ham wir da eigentlich alles dabei und das is eigentlich sowas, was ich an meiner Heimat auch schätze, in Nachbargemeinden sieht's schon total anders aus […] und deswegen bin ich halt des Öfteren auch wirklich zu Hause und hab das sehr gerne, weil da bei uns der Zusammenhalt sehr groß ist und auch die Neubaugebiete is es so, ja, da
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gibt's einige Zugezogene, aber em, es is nicht so, dass die jetzt unbedingt abgehoben sind, oder irgendwie auf'm andern Status leben, haben auch so aus'm Kerndorf sehr viele Lehrer, Ärzte, Priester et cetera, äh, das is eigentlich bunt gemischt und das is auch nicht so, dass jetzt das Dorf über's Neubaugebiet schimpft, dass die keinen Anschluss suchen oder so, gar nicht. Des is eigentlich ne bunte Mischung und ja ich glaub gerade aus Heimdorf schaffen viele so den Absprung, dass se dann halt auch studieren und äh irgendwie was Höheres erlangen, aber trotzdem noch den, den Kontakt zum Dorf haben (Tobias, 103).
Trotz dieser offenbar angenehmen ‚Schichten nivellierenden’ Dorferfahrung, gibt es bei Tobias eine ‚Aufstiegsbremse’ oder zumindest den Anspruch, auf dem Boden zu bleiben. T: Ja, mein Bruder is da halt auch einfach der total andere Mensch, das is so'n typischer Arbeiter. Hin und wieder wird da auch hin- und hergeneckt, der eine is der faule Student, der andere der blöde Bauarbeiter und äh aber es is wirklich interessant und mer sieht da ne andere Welt auch vom Freundeskreis her. Er hat 'n Freundeskreis mit dem ich mich sehr gut verstehe, aber es sind halt wie gesagt alles Handwerker und ja da gibt's interessante Einblicke und es hält einem auch so'n bisschen auf'm Boden (Tobias, 84). T: Äh ich bin 'n working-class Kind, insofern würde ich, glaube ich meine Eltern, wenn ich mich wirklich so, so Standesdünkel mäßig verhalten würde, einfach verhöhnen damit, das, das wär einfach 'n unheimlicher Schlag für die, wenn ich meine Wurzeln leugnen würde und, und würde sagen, ich bin jetzt was Besseres als die Leute, die halt Gott weiß wo arbeiten, oder nich so viel Kohle haben, oder nur 'n Volks- oder Hauptschulabschluss haben und dann auf die Baustelle müssen. Des wär 'n großer Hohn für meine Familie, das möcht ich einfach nicht und die Sache is, weil ich Lehrer werden möchte, ich arbeite mit Leuten, die ich erst an, an den wissenschaftlichen Teil heranführen möchte, ich mach zwar Gymnasiallehramt, aber em ich bin da des heranführende Element und was wollen die mit'm Menschen, der zwar wahnsinnig gebildet is, aber dafür auch so eingebildet, dass er sich besser als all die anderen fühlt, des is sowas von demotivierend, dass meine Leute dann irgendwann garantiert abschalten würden, äh ich bin derjenige, der für sowas begeistern möchte und da vermitteln möchte und da is ganz wichtig, dass ich auf'm Boden bleibe. (Tobias, 86).
Ganz ähnlich geht es Christian. Er beschreibt zwar eindrücklich die positive Seite der Medaille, nämlich das tolle Gefühl, der einzige Akademiker in der Familie zu sein, schildert aber gleichermaßen seine Fremdheitsgefühle und die Nachteile im neuen Milieu. C: Ja, also em, so eine überhaupt noch nich fest abgesteckte, aber doch mehr als latenter Traum is irgendwann ne Doktorarbeit fertig zu haben und dann Doktor der Medienwissenschaft zu sein. Also des is einfach geil, sich des vorzustellen. Man hat
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so'n akademischen Abschluss, 'n hohen akademischen Abschluss. Das is schon einfach geil, das sich vorzustellen, […] (Christian, 55). C: Das is nich im Vordergrund, aber ich denke schon, dass es auch ne Rolle spielt, dass ich eh, wenn ich beim irgendnem Familientreffen ankomme und werde wieder mal gefragt, ja, wie läuft's denn mit dem Studium und ich kann dann irgendwann sagen, ja ich schreib grad meine Doktorarbeit. Das is nartürlich, der einzige Doktor in der Familie zu sein is, also des is einfach geil. Billig ausgedrückt, das macht einfach Sauspaß. Aber des is nicht der Grund, also ich hab, hab nich angefangen zu studieren, weil ich, weil ich irgendwen überflügeln wollte, oder irgendwem zeigen wollte, dass ich, dass ich was wert bin, oder so was, […] (Christian, 69). C: Also, ma weiß überhaupt nicht, was auf einen zukommt und ob man in der Lage is, das zu schaffen und ob's eim zusagt und diese ganzen Sachen und was eigentlich 'n Prof is. Also, wenn man damit ja irgendwie keinen Kontakt hatte und hatt ich vorher wie gesagt keinen. Für mich is'n Professor das, was in der Sesamstraße war, jemand, der zerstreut ist, weiße Haare und en Plüschgesicht, die gibt's, gibt's hier so also ohne Plüschgesicht zumindest und des is natürlich, sich da einzufinden is schwierig (Christian, 155). C: Also ganz am Anfang im ersten Semester vielleicht als ich dann doch von der Praxisferne von der ich ja wusste, wie ich schon erwähnt hab, als ich da schon so'n bisschen nich scho, doch schockiert war, em weil teilweise Professoren, so die Sachen, die für mich, dadurch, dass ich vier Jahre gearbeitet habe in der Richtung selbstverständlich warn eben, völlig abstrus behandelt wurden. Also Sachen, die, wo ich dann teilweise mich ertappt hab dabei 'n Kopf zu schütteln. Dieses Kopfschütteln is mir mittlerweile abhanden gekommen, weil ich halt die akademische Seite besser verstehe und em des auch akzeptiere oder auch und auch richtig finde. […]. Also ich fühl mich da schon, also ich komm ja aus einem, eh, ich weiß nicht, ob das schon dazuzählt, aber das ein bildungs, eine bildungsferne Schicht, also ich bin der einzige Akademiker in der Familie und da fehlt einem natürlich son bisschen der Bezug und auch 'n gewisser Bildungshintergrund, des is des, was ich ab und zu spüre und em was ich eigentlich nacharbeiten muss, was aber natürlich schwierig ist, also ich kann em keine Ahnung siebzehn Jahre, em mit Adorno aufwachsen, kann ich nich in vier Jahren nachholen und em das is sowas wo man manchmal denkt, gehör ich überhaupt hierher? Aber die Noten und der Spaß an der Sache zeigen mir eigentlich, dass ich zumindest nicht ganz verkehrt bin und eh, ja denk ich wieso eigentlich, wieso auch nicht, also wieso soll ich, ich mein es is ja nix, was vererbt wird, Akademikertum is ja jetzt nicht in den Genen festgeschrieben, obwohl es, ja Theorien gibt, die des besagen, aber. Des einzige, was mit vererbt wird, is die Möglichkeit zu studieren von der finanziellen Seite. […] (Christian, 59). C: Das is natürlich 'n Unterschied und das merk ich auch im Umgang mit Kommilitonen, die dann mit Bildung aufkreuzen, die mir völlig fremd is, oder die ich jetzt gerad mal so angekratzt habe. Das sind, das macht die Sache natürlich auf der einen Seite sehr schwer, weil man, also ich bin auch nicht gefeit vor dem Gefühl, ja (seufzt), was mach ich eigentlich an der Uni. Sollt ich nicht vielleicht damit aufhö-
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ren und Kabelträger werden oder irgendsowas. Vielleicht bin ich ja besser aufgehoben, aber dann is es auch so 'ne Sache, em, wieso soll man nich aus eigener Kraft, eh sich irgendwie gesellschaftlich aufsteigen […]. Wenn natürlich jetz 'n Prof sacht, em Herr Kammel, […] was Sie da abgeben, das können Sie gleich wieder mitnehmen, gut, dann, dann hat des nix damit zu tun, em, mit wo ich herkomme oder auch nix mit, mit Geld, sondern dann bin ich einfach unfähig, da muss mer des akzeptieren, […] (Christian, 61).
Hier wie an anderen Stellen wird deutlich, dass Christian trotz seiner Einsicht in die Ungleichheitsproblematik beim Studium, die vermeintlichen Defizite dennoch individualisiert und sich selbst die Schuld gibt. C: Ich glaub' ich hatte es erwähnt, dieses, dieses Ding dass mer ja aus'm Prekariat kommt und dass man das hin und wieder spürt, wo ich mir dann auch denke, ja, was mach ich hier. Gehör ich hier her? Und sollte ich nich lieber irgendwo auf'm Bau arbeiten und, so's immer und des Intellektuelle einfach mal sein lassen? Bin ich überhaupt, kann ich irgendwann von mir sagen, dass ich zu den Intellektuellen gehöre, oder bin ich immer der Möchtegern, also solche Gedanken kommen immer mal wieder, wobei ich da wirklich nicht festmachen kann, da gibt es bestimmt Ursachen, die mir aber so nicht […] (Christian 188). C: […] also ne Freundin von mir, die hat'n keine Ahnung zum, zum siebten Geburtstag ne, ne Lesung bei ner bekannten Dichterin geschenkt bekommen. Die zehrt da heute noch von, findet des ganz toll und ich denk mir ja, ich hab mit sieben, hab ich noch nie 'n Gedicht gelesen, also. Des sind halt solche Sachen, die, wo ich dann denke, wo ich ja manchmal denke, em, ob ich nicht vielleicht, ob ich mich glücklicher fühlen würde, wenn ich eben diesen Background hätte. Also wenn meine Mutter andere Bücher gelesen hätte und nicht die, die sie gelesen hat, oder wenn, wenn mein Onkel nicht Dreher wär, sondern Professor für weiß der Geier was. Aber dann, also des, diese Gedanken kommen, aber die verscheuch ich und em ich glaube auch zurecht, weil ich halt meine Kindheit und meine Jugend eigentlich nich eintauschen wollte, also einzelne Sachen schon, hätt ich ganz gerne weg, aber so im Großen und Ganzen fühl ich mich ganz gut aufgewachsen und deswegen denk' ich, da gehört natürlich alles dazu und da gehört auch dazu, dass ich eben nicht, also dass ich auch 'ne Bravo lesen konnte […] (Christian, 190).
Auch bei Christian gibt es den Anspruch, ja fast die Pflicht, eben nicht ‚abgehoben’ zu werden. Interessant ist, dass er eine Zuschreibung zu den beiden Milieus vornimmt. Das neue Milieu ist das praxisferne, intellektuelle, das alte das lebensnahe, sozial kompetente, emotionale. Soziale Kompetenz und Emotionalität auf der einen Seite werden also dem Intellektuellen auf der anderen Seite gegenübergestellt. Diese Vorstellung erklärt, warum Christian sich nicht vollständig dem neuen Milieu verschreiben, sondern eben auf dem Boden bleiben möchte, um nicht zu den sozial Inkompetenten zu gehören.
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C: Also ich bin bei solchen Sachen immer sehr vorsichtig, weil, weil ich auf der einen Seite durch diese Selbstzweifel em halt immer mich halt sehe in meiner Hierarchie so in der, in der, grad was Studium angeht, Wissenshierarchie oder Intellektualitätshierarchie, wie auch immer mer des benennen möchte, dass ich einfach ziemlich weit unten auf der Leiter stehe im Vergleich mit, mit einigen Leuten, aber die Gefahr is natürlich auch, im Vergleich mit andern Leuten, dass mer sich da zu hoch auf dieser Leiter einschätzt, oder die andern zu weit unten. Und deswegen bin ich da immer sehr vorsichtig, wenn ich versuch, andere einzuschätzen. Ich bin manchmal, packt mich die Arroganz und ich denke, gut achtundneunzig Prozent aller Leute sind einfach dumm, des hat auch nix mit dem Studium zu tun, sondern. […] em ich möcht unbedingt vermeiden, dass ich diesen Eindruck bei Leuten habe, die mir nahestehen, also, weil, weil in meiner Familie keiner studiert hat, möcht ich da nicht irgendwie was Dummes finden und em, aber die Gefahr besteht natürlich schon […]. Wenn, wenn, also ich merk des, wenn ich nach Hause und dann sich die Themen radikal ändern und ich halt aufpassen muss, was ich sage, damit ich verstanden werde. Des, des klingt jetzt alles sehr, sehr überspitzt, aber im Prinzip ist das so und, dann die Themen halt wie gesagt, ganz andere sind und das liegt nich nur an dem, an, em Interessengebieten, sondern an der Art, wie man diskutiert und wie man halt auch in der Uni auch lernt durch das Studium eh kritischer auch mit, mit andern Sachen umzugehen und, em die Sachen mehr zu reflektieren. Und sowas verleitet hin und wieder, dass man sich so, dass man versucht, so zu vergleichen und das halt ich aber für sehr gefährlich, weil das der erste Schritt zur, zur Arroganz is und das is der erste Schritt zum Idioten zu werden (Christian, 206). C: […] also ich hab keine Probleme, mein, meine, meine Großmutter und den Professor Benn, na die sind nich gleich alt, aber, die nebeneinander zu stellen, dass ich sagen könnte, hey er is eindeutig der Intellektuellere. Das is klar, des kann auch keiner eh bestreiten und des is ja auch, is ja auch nich weiter schlimm. Gefährlich wird's, wenn ich mich da mit einschalte und mir jetzt sach, also im Vergleich zu, zu meiner Mutter bin ich verdammt intellektuell, weil man sowas nich denken darf, also ich verbiete mir sowas, weil ich auch, em, weil man halt dieses Intellektuelle, was mir sehr wichtig is, aber was, was halt em vielleicht trotzdem überschätzt wird, auch von mir. Denn ohne diese, den ganzen emotionalen Background, den ich von meiner Mutter zum Beispiel bekommen hab und diese ganze Wertevermittlung, würd, würd mir des alles, des ganze Studium nix bringen. Wahrscheinlich wär ich da nie gelandet. Und deswegen versuch ich sowas möglichst auszumerzen, bevor solche Gedanken bei mir auftauchen (Christian, 208).
Christian vergleicht das (vertikale) Milieu-Hopping, also den Habitus-StrukturKonflikt, mit einem (horizontalen) Rollen-Hopping zwischen verschiedenen sozialen Kreisen (vgl. Simmel 1890) und sieht dabei keine Schwierigkeitsunterschiede. Es lässt sich fragen, ob dies nicht eine perfide Funktion symbolischer Gewalt ist, Habitus-Konflikte, die den eigenen Körper, die ganze eigene Geschichte betreffen und Konflikte sozialer Ungleichheit darstellen (etwa bildungsferner Habitus in akademischem Milieu), als ‚einfache’ Rollenkonflikte
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(etwa Mitgliedschaft in einer pazifistischen Partei und Beruf als Soldat) erscheinen zu lassen. Dies bedeutet nicht, dass Rollenkonflikte in irgendeiner Form harmloser sind. Aber sie fokussieren konzeptionell je auf Teilaspekte der betreffenden Person und weniger auf ‚die ganze Identität’, wie es eine Betrachtung von Konflikten als Habitus-Struktur-Konflikte ermöglicht. C: Ja, ja ich glaub' schon. Em, ich glaube nicht, dass, dass es ne besondere Leistung ist [das Switchen zwischen dem Herkunfts- und dem Uni-Milieu; L.S:], sondern es is, em, es is ja generell so, dass mer, wenn man mit verschiedenen Personenkreisen zu tun hat, die untereinander keinerlei Verbindung ham, dass mer da immer wechselt zwischen verschiedenen, keine Ahnung, Kommunikationsmodi vielleicht, also, wenn ich, wenn ich zu meiner alten Firma gehen würde, dann würd ich ganz anders reden müssen und mich verhalten müssen als hier. I: Ja, aber is des schwer? Des mein ich. Also ob des nich auch irgendwie anstrengend sein kann, so? C: Es is manchmal, es is, es is manchmal schwierig, also man, es is zu leisten, also es is glaub ich jetzt keine besondere körperliche oder intellektuelle Leistung, das zu tun, aber es is ne emotionale Leistung, weil sich eben immer dieser Vergleich aufzwängen will, den man, den man halt niederkämpfen muss. Weil es halt was is, was mir sehr unsympathisch is, wenn jemand so denkt und ich denke manchmal, also manchmal erwisch ich mich, wie ich sowas denke. Und em, wie ich möchte sehr ungern unsympathisch sein und deswegen versuch ich das zu bekämpfen und das macht die Sa, ich manchmal schon schwierig, weil man einfach gewisse Differenzen nicht verleugnen kann. […] Denn, em, wie gesagt, des sin halt, des is halt jetzt der Fokus hier auf diesen, dieses Intellektuelle, dieses, ja, 'n anderes Wort, kenn ich jetzt auch keins und dieser Fokus, der is, der wird, also ich erwisch mich manchmal und es is ja generell an der Uni oft so, dass es als die Qualität schlechthin gesehen wird. Und da seh ich dann von Leuten, die, die sehr, sehr schlau, sehr klug sind, 'ne unglaubliche Intelligenz und äh und Bildung an den Tag legen und dann aber 'ne soziale Kompetenz gegen Null aufweisen. Und, das find ich schon alarmierend, also allein äh, Leute, die keine Ahnung sich, sich hochtrabend in Anführungsstrichen, hochtrabend über die Gesellschaft unterhalten, wie man die besser machen kann wie ein oder alle am selben Strang ziehen und dabei ihr, ihre Kippe auf'n Boden schmeißen. […] äh deswegen find ich auch, es muss beides irgendwo stimmen und man darf des, den Fokus nicht zu sehr auf eines, es gibt wahrscheinlich noch viel mehr Qualitäten, aber des Emotionale und, und das Intellektuelle, des muss beides vorhanden sein und in verschiedenen Gewichtungen. Mer kann nich sagen, wenn einer jetzt also emotionaler is, em oder sozial kompetenter, des verbind ich damit eher, em dass er dann irgendwie in irgendeiner Hierarchie abzuwerten wäre. […] Des is ne sehr schwierige Geschichte find ich, weil ich's ja selbst auch nicht weiß, wie ich, wie ich mich da einordnen kann, wie ich andere einordnen darf […] (Christian, 210-212).
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Jeder Versuch, das alte Milieu mit dem neuen zu konfrontieren, bedeutet offenbar, das alte zu entwerten. Dies erzeugt wiederum Scham- und Schuldgefühle, wie an der folgenden Szene besonders deutlich wird. C: Ja. Ja. Also ich kann mich erinnern, ich hab, meine Mutter hat mir ma offenbart, dass sie schon gerne, des was ich schreibe so für die Uni, schon gerne lesen würde. Fand ich natürlich toll, hätt ich auch nich damit gerechnet, […] und ich hab ihr dann em 'ne Hausarbeit, so'n Essay von mir mal mitgebracht und sie hat sich wirklich durchgequält, wie sie mir gestanden hat und hat […]. Also sie, sie war selbst also schon fast schockiert. Sie hat irgendwann gesagt, Christian, also ich glaub, es ich is was ganz Schlimmes, ich hab des nich verstanden, was Du geschrieben hast und da hab ich, da, da hab ich erst in dem Moment hab ich gedacht, oh Gott, die arme Frau, was hab ich ihr, aber dann hab ich, ich hab ihr dann gesacht, wo ich auch dahintersteh, wo ich sach, das wär ja auch schlimm. Also ich studier hier vier Semester und eh […] und Du, Du könntest den Text einfach so. [….] Das hat sie glaub ich akzeptiert und da hab ich ihr des auch erzählt, dass ich, ich hatte auch mit ihr drüber geredet, dass ich manchmal so den, nee ich glaub, sie hat so, sogar damit angefangen, ja, manchmal wünscht sie, weil ich halt so Schwierigkeiten hab, mich da einzuordnen, ja manchmal wünschte sie, sie hätte mir 'ne bessere Erziehung gegeben, in dieser Richtung. Und das is natürlich, sowas zu hören, is schlimm […] (Christian, 214).
Es gibt zwei Komponenten in Christians Studienleben, die es ihm ermöglichen, beide Milieus zu integrieren. Zum einen kann er im Studium seine langjährige Film-Praxiserfahrung, die er in einer Videofirma erlangt hat, einbringen und ist deshalb auch oft Ansprechpartner in Sachen Technik. Zum anderen und möglicherweise damit zusammenhängend arbeit er bei einem Professor als Tutor. In dieser Zusammenarbeit macht er die Erfahrung, wertgeschätzt zu werden, aber auch die Beobachtung, dass das vermeintlich Praxisferne, Intellektuelle seines neuen Milieus durchaus seinen Sinn und seine Daseinsberechtigung hat. C: […] Also ich em hatte am Anfang so des den Eindruck, dass er, is 'n bisschen stocksteif und eh sehr, er redet gerne sehr verklausuliert, so dass mer erst mal nich weiß, was er will und ich hatt eben dann früher den Eindruck, dass er zwar kompetent is, aber sehr eingeschränkt, also Art Fachidiot. […] Mittlerweile, weiß ich erstens, dass das nich stimmt, sondern dass er zwar immer noch verklausuliert redet und teilweise auch Sachen sacht, die mir nicht entsprechen, also die ich auch falsch finde, em. Aber dass er dennoch, also unheimlich kompetent is, also. Ich glaub es gibt nichts, was der Mann nicht weiß, in seinem sehr großen Fachgebiet. Em, das find ich toll und des is einmal diese fachliche Kompetenz, die ich gut finde und natürlich er is menschlich also find ich ihn, er is gerissen, so er schafft es schon einen durch Höflichkeit und Freundlichkeit, eh noch mehr Arbeit aufzubrummen und das und jenes zu machen, das macht der sehr geschickt, man durchschaut des nach ner gewissen Weile, aber, des is ja auch nich verkehrt, ich mein, man muss des ja nicht
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tun, aber er is, ich halt ihn für, also für, im Umgang mit Menschen halt ich ihn für also is schon so 'ne Art Vorbild. Also ich, des is, des is so'n Beispiel, was des ganz gut illustriert, find ich, ich hab bei so nem Symposium, em, geholfen, em des vorzubereiten und endete damit, dass ich praktisch die zwei Tage lang die Technik betreut habe, weil der Hausmeister im Urlaub war. […] Des hab ich gerne gemacht, des macht mir auch Spaß, ich kann des ja auch so'n bisschen durch meine Arbeit damals und em, ich hab da auch'n Dankeschön von ihm bekommen und des war auch ganz gut und sonntags klingelt mein Handy und er ruft an und nur aus dem Grund um mir, also er hat ganz vergessen, mir noch mal explizit zu danken und da will ich des ma, und das is natürlich, da macht ne Arbeit Spaß, also wenn man sowas erfährt, em, das is natürlich toll und genau diese Wertschätzung für Sachen, die man tut und die man, em die man leistet, die vermittelt er […] (Christian, 170).
Auch Sabine wird mit dem Gedanken konfrontiert, abgehoben zu sein, über ihrem Herkunftsmilieu zu stehen, allerdings nicht so indirekt über Scham- und Schuldgefühle wie bei Christian, sondern ganz direkt in einem Konflikt mit ihrer eigentlich besten Freundin. Dieses Thema nimmt einen großen Raum im Interview ein (371-423). S: Also bei, bei meiner Freundin fällt's mir z.B. immer wieder auf, dass äh ich mein ich studiere ja die Fächer, weil sie mich interessieren. Ja, und dementsprechend beschäftigen mich auch immer ma so inhaltliche Sachen. Und wenn ich ihr davon erzähle […], dann hat sie gern ma das Gefühl, dass ich sie irgendwie belehrn will. Ähm, und ähm, ja, so, ich wei- ich weiß nich, woran's liegt, aber ähm irgendwie das, das was ich was ich im gr- in den den größten Teil meines Tages mache, irgendwie, kann ich mit mei- mit meinem alten Freundeskreis nicht so wirklich teilen. Das is öhm, selbst wenn ich einfach nur mal was erzählen will, was ich total spannend, interessant, oder sonstiges finde, äh, das wird gerne irgendwie anders angenommen als es von mir gemeint wird und äh, oder gemeint is, und da weiß ich schon manchmal schon gar nich mehr, toll, ja, was soll ich dann überhaupt noch erzählen? Weil das sind ja, das sin ja die Sachen, auf die unsere Freundschaft irgendwo auch begründen, dass man von sich was erzählen kann, dass man sich austauschen kann über die Sachen, die einen beschäftigen. Und wenn das jetzt halt nun mal Sachen sind, die mit der Uni zu tun haben, dann sind das halt nun mal Sachen, die mit der Uni zu tun, ja, aber das das heißt nich, dass ich mich irgendwie der Freundin gegenüber aufspielen will oder irgendwie, hier to-, guck ma, was ich hier alles zustande bringe und wie toll ich bin, das hat ja überhaupt nix damit zu tun. […] Das, weiß nich, seit ich, seit ich angefangen hab, zu studieren, wird das immer schlimmer. Und, ich weiß nich, ob das äh ob das n aussichtsloser Kampf (Sabine, 371). S: Ja, aber das, was bedeutet aber wiederum, dass dass ma im Grunde genommen dazu verdammt is, Brücken von früher ähm abzubrechen und neue Brücken zu bauen (Sabine, 383).
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S: Nee, das äh das sin' das sind schon richtige teilweise Krisen, so von meinem-, äh, durch-, also was die Freundschaft angeht und ähm, wir ham da schon ziemlich versucht, das auch zu analysieren un', woran das liegt […] ich kann mir vorstellen, dass sie, dass sie das, dass das, äh, dieses Problem gar nich so sehen wollen (Sabine, 387).
Ähnlich wie bei Christian ist auch bei Sabine eine Vorstellung von ‚Oben’ und ‚Unten’ eher in einer Art Rollenhierarchie gegeben und im Verhältnis zu ihrer Freundin weniger durch die Tatsache repräsentiert, dass sie selbst studiert, ihre Freundin jedoch nicht. S: Ja, aber ich steh ja net über meiner Freundin. Weil ich bin, also sie is jetzt Krankenschwester und ich will Lehrerin werden und ich wäre nie Ihre Vorgesetzte, weil das in nem ganz anderen Bereich is (Sabine, 395). S: Ja, aber sie stellt's immer so hin, als hätt ich, als hätt ich zu hohe Erwartungen, die man nich erfüllen kann, und ähm, ähm, toleranter zu sein, ähm. Wobei ich mich jetzt nich als intolerant äh irgendwo ansehe, aber gewisse Dinge, die ich jetzt sag ich mal erwarte, die kommen mir nich hochgestochen vor. Also wenn ich, wenn ich, hm, was weiß ich, Ehrlichkeit erwarte und werde angelogen, dann bin ich halt enttäuscht, aber äh wenn es wenn es jetzt nach ihr z.B. ginge, dann würd ich erst gar nich erwarten, dass ich, ähm, mit Ehrlichkeit behandelt werden würde. Oder dass man ehrlich zueinander is. Und ähm, da versteh ich dann immer nich, was is da jetzt bitte schön zu hoch dran. Weil das, was ich erwarte, das geb ich ja irgendwo auch. Und ähm, anders könnt ich's ja auch nich erwarten, wär ja sonst unfair (Sabine, 413). S: Ja, aber-, ich ha- ich hab das von anderen auch schon gehört, dass das wohl sehr schwierig is, ähm, die die Kontakte oder die Freundschaften zu dem Leben vorher quasi irgendwie abbrechen zu müssen, weil's einfach nich mehr geht. Weil's nich akzeptiert werden kann, dass man, dass man n anderen Lebensweg eingesch-, äh, eingeschl-, ähm, tz, eingeschlagen hat, so (Sabine, 415). S: Aber ich find's dann auch wieder albern zu sagen, ja, soll ich jetzt mein Studium abbrechen, nur damit ich meine Freundschaften retten kann, weil auf was sind denn diese Freundschaften begründet, wenn äh wenn man nicht irgendwie ehrlich seinen Weg gehen kann? Also ich mein, ich- es is ja nich so, dass ich irgendwie kriminell geworden bin oder irgendwas, ja, also dann könnt ich's noch verstehen, aber ich verfolge mein, mein berufliches Ziel, und ähm, mit meiner Ausbildung bin ich nich weit gekommen, also probier ich was anderes und abgehoben wird man glaub ich wirklich erst dann, wenn man, wenn man die, oder die Gefahr droht, dass man dann abgehoben wird, weil, weil man die Brücken zu früher vielleicht abgebau- äh abgebrochen hat. Weil Freundscha-, also wirkliche Freunde holen einen ja auch immer wieder auf'n Boden der Tatsachen zurück, die sagen einem, was, was Scheiße läuft. Und ähm wo man sich verändert, deswegen kann man kann man oder sollte
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man Freundschaften eigentlich, also wirkliche Freundschaften eigentlich nich aufgeben (Sabine 417).
Hier wird das Dilemma deutlich. Einerseits kritisiert Sabine ihre Freundin und findet den Vorwurf, dass sie hochgestochen sei, unfair. Ihre Diagnose geht so weit, dass man eigentlich die Kontakte zu Personen aus dem ‚vorherigen Leben’ aufgeben müsste, weil jene den eigenen Werdegang nicht respektierten. Andererseits scheinen diese Freundschaften gerade mit dem Argument als wichtig eingestuft zu werden, dass sie dabei helfen können, eben nicht abgehoben zu werden. Die Bodenhaftung wird also von Studierenden mit bildungsfernem Hintergrund nicht nur thematisiert, sondern als wichtig eingestuft. Es herrscht eine große Angst, sie zu verlieren, möglicherweise aus Sorge, die eigenen Wurzeln und damit einen wesentlichen Teil des eigenen Habitus zu leugnen und zu hintergehen. Die Konflikte und Schamgefühle sind eine Variante der Konfrontation mit dem Herkunftsmilieu. Eine andere Möglichkeit besteht in simplem Unverständnis den eigenen Problemen im neuen Milieu gegenüber. Dieses kann von der Person selbst empfunden, aber auch etwa von den Eltern geäußert werden, wie dies bei Martina der Fall ist. M: […] Ähm, so ne richtige Vorstellung, weiß ich nich, glaub ich nich, weil ich hab mir das ja auch nich genauso vorgestell-, vorstellen können, also ich glaube, wenn man das einfach nich selber gemacht hat, dann und auch irgendwie in Studiengängen is es ja nochmal ganz unterschied-, also ich mein, ich kann mir auch nich vorstellen, wie'n Medizinstudium is z.B., also, is ja auch wieder was ganz anderes. Und dann, ja, das, das, dann isses halt so, dass sie [die Mutter] einerseits sagen, ach komm, vielleicht schaffst du Mathe ja doch, guck doch mal, ob du das nicht kannst, und so, und ähm, das dann nich nachvollziehen können, wo die Schwierigkeiten liegen. I: Dass sie nicht nachvollziehen können. M: Genau. Auch, ähm, jetzt mit den Hausarbeiten, als ich dann so'n bisschen gestresst damit war und ähm, da hat meine Mutter das irgendwie gar nich nachvollziehen können, also sie hat gesagt, ja, klar, da is man dann gestresst, aber da musst du halt machen, jetzt mach doch einfach, und, ähm (I: hm), das ist dann schon so'n bisschen frustrierend, dass sie das irgendwie gar nich nachvollziehen kann. […] M: […] Ähm, also die versuchen schon, mich zu bestärken und alles, aber eben dieses eine mit der Hausarbeit, da war ich dann schon so'n bisschen vor den Kopf gestoßen, auch grade, also, mit meiner Mutter konnt ich eher noch so reden und die hat mir dann immer bei allem so'n bisschen Trost gespendet und so und da war ich irgendwie so'n bisschen vor'n Kopf gestoßen, als sie da so überhaupt kein Verständnis für hatte und ähm, also manchmal kotz ich mich da schon aus, aber andererseits
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3 Empirie: Prozesse des Umgangs mit (fremden) Strukturen
dann auch eher viel, grade in Mathe jetzt, z.B. bei den Kommilitoninnen, dass man da drüber redet, oder mit meinem Freund, weil der ja auch studiert, […] (Martina 202-206). M: Also ich weiß es nich, is irgendwie schon so, es war halt in, bei uns zu Hause isses halt so, in der Schule hab ich ja eher keine Probleme gehabt, ähm, meine beiden Schwestern, also ich hab vier Schwestern, aber jetzt die beiden, die noch zu Hause wohnen und die so altersmäßig am nächsten sind, die hatten halt immer Probleme in der Schule, die eine hatte, die waren beide auch auf der Schlossschule, und die eine ist halt auch einmal sitzengeblieben und hat dann nach der Zwölf aufgehört und Fachabi gemacht und die andere ist jetzt grade in der Elf, ist in der Zehn auch sitzengeblieben, also da gab's immer Probleme, das hatt ich halt nich, äh, ich hatte nur, Latein war mein Problemfach, aber das war auch, dadurch dass es das einzige war, war es ja egal, so, dann so insgesamt. Und deshalb sind die das vielleicht von mir nicht gewöhnt, dass ich irgendwie in so was Probleme mache. Ich glaub, das kann schon da mit reinspielen, dass sie dann halt sa-, dass sie, ja, da nich so viel Verständnis für hat, oder so (Martina, 212). M: […] Man muss sich sehr selbstorganisiert diese zum Beispiel Hausarbeiten oder auch schon im Semester die Referate, da muss man sich ja auch em ziemlich, also meistens alleine em drum kümmern und irgendwie hatt ich das Gefühl, am Anfang dass sie einem sehr, also ham sie mir sehr viel Angst gemacht, des, des, des is jetzt des Studium und des is nicht mehr Schule und die Referate sind nicht mehr wie in der Schule, also dann, zum Beispiel Internet is verboten, ich mein, das is ja kein Problem, man hat ja ne Riesenbibliothek zur Auswahl und so, aber irgendwie ham die das alles immer so wieder so viel betont, dass ich jetzt zum Beispiel vor dieser Hausarbeit unglaubliche Angst hatte irgendwie, immer gedacht hatte, wenn ich das so mache, das reicht nicht, es is ja jetzt Studium, äh des ham die ja immer wieder betont, das muss ganz professionell sein und alles irgendwie, na, also, das werd ich jetzt auch sehen, ob, ob das gereicht hat, was ich letztendlich gemacht hab, aber, em, also mein Freund hat mich da immer wieder beruhigt, Du musst jetzt kein, des is keine Doktorarbeit, des is nur ne Hausarbeit und em, aber irgendwie ham sie einem immer wieder so betont, des is halt jetzt Studium und des is ne Hausarbeit und Ihr müsst jetzt wissenschaftlich arbeiten und so und so Sachen, also, das fand ich 'n bisschen belastend schon (Martina, 94).
Hier wird der Widerspruch deutlich. An der Uni bekommt Martina zu spüren, dass man nicht mehr an der Schule ist, sondern man wird vielmehr mit abstrakten wissenschaftlichen Ansprüchen konfrontiert, wohingegen zu Hause kein Verständnis dafür herrscht, dass man die Dinge nicht mehr so angehen kann wie in der Schule. Dass die Mutter Martinas Arbeitsblockade nicht nachvollziehen kann, liegt nicht nur daran, dass Martina in der Schule keine Probleme hatte und die Mutter ihr Kind erstmals so erlebt, dass etwas nicht ‚flutscht’. Vielmehr verkörpert die
3.2 Ergebnisse
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Mutter die alte schulische Form von arbeiten, weil sie das wissenschaftliche Arbeiten und die damit verbundenen Ansprüche nicht kennt. Die Auseinandersetzung mit dem Herkunftsmilieu ist ein zentraler Gegenstand der Studierenden mit bildungsfernem Hintergrund. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Angst, ‚abgehoben’ zu werden, sich zu weit von den eigenen Wurzeln zu entfernen auf der einen Seite, aber auch die Zweifel bzw. Angst, im neuen Milieu aufgrund der Herkunft nicht gut aufgehoben zu sein und die dort vorhandenen Ansprüche nicht ausreichend bedienen zu können. Diese Ängste repräsentieren die intrapersonale Variante des Habitus-Struktur-Konflikts. Darüber hinaus gibt es nicht nur konflikthafte Auseinandersetzungen mit Symbolen des privilegierten Milieus, wie schon die Analyse der Wochenbücher gezeigt hat, sondern es kommt zu Konflikten bzw. Unverständniserfahrungen mit vertrauten Personen aus dem Herkunftsmilieu.
4 Studium und Habitus-Struktur-Konflikte – Zusammenfassung und Ausblick
Soziale Ungleichheit ist keine abstrakte Größe, sondern sie wird im Studium konkret erlebt und es besteht auch hier die Notwendigkeit, mit ihr umzugehen. Da sie nur symbolvermittelt auftreten kann, müssen Reaktionen auf sie zwangsläufig ebenso indirekt ausfallen. Soziale Ungleichheit hat verschiedene Erscheinungsformen und nicht nur deshalb gibt es verschiedene Arten, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Sie ist immer auch individuelle Ungleichheit. Jeder Habitus bezeichnet eine einzigartige Konstellation, weshalb es nicht einmal zwei identische Formen des Erlebens von sozialer Ungleichheit geben kann. Dennoch lassen sich Muster der Wahrnehmung und des Umgangs erkennen, die ihrerseits auf Zusammenhänge sozialer Ungleichheit verweisen. Diese Muster können mithilfe der Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten abgebildet und nachvollzogen werden. Diese Heuristik wurde im ersten Kapitel entwickelt. Sie richtet den Blick darauf, wie Akteure mit symbolischer Gewalt, das heißt mit verborgenen Mechanismen der Macht (Bourdieu 1992), umgehen, wie soziale Ungleichheit erlebt und ‚ausgetragen’ wird. Dabei wurde zunächst gezeigt, dass symbolische Gewalt als ein gesellschaftliches Funktionsprinzip verstanden werden kann. Sie sorgt dafür, dass soziale Ungleichheitskonflikte nicht in Form von Klassenkämpfen oder sonstigem Aufbegehren von beherrschten Akteuren ausgetragen werden, sondern eher in einer Art ‚Stellvertreterkonflikte’ Ausdruck finden. Die Verschleierung von sozialer Ungleichheit über ihre symbolische Vermittlung sowie die Komplizenschaft von Habitus und Hierarchie sorgen dafür, dass Machtverhältnisse selten direkt zum Gegenstand von Auseinandersetzungen werden. Stattdessen finden (Konkurrenz-) Kämpfe um Anerkennung in den betreffenden Handlungsfeldern statt, in denen Menschen agieren. Akteure versuchen eher, trotz einer im Vergleich mit anderen Akteuren möglicherweise schlechteren Chancenstruktur, sich die Feldgewinne anzueignen, d.h. die symbolische Leiter nach oben zu klettern. Ihr Leiden unter etwaigen Benachteiligungen findet eher individualisiert und ohne direkten Machtbezug statt. Dennoch kommt es auch zu Auseinandersetzungen mit anderen Akteuren oder Symbolen, die auf gegebene Machtverhältnisse verweisen, entweder in der Form, dass (eher vorbewusst) Symbole eines privilegierteren Milieus oder Habi-
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4 Zusammenfassung und Ausblick
tus angegriffen werden oder dass andere, als noch weniger privilegiert wahrgenommene Symbole als negative Abgrenzungsfolie verwendet und abgewertet werden. Die Heuristik von Habitus-Struktur-Konflikten liefert also ein Spektrum der Umgangsmöglichkeiten mit sozialer Ungleichheit, ohne dass diese verschiedenen Formen sich wechselseitig ausschließen müssen. Das heißt ein betroffener Akteur kann individuell leiden und dieser intrapersonale Konflikt kann psychologisiert, d.h. aus dem Geltungsbereich sozialer Ungleichheit herausdefiniert werden. Derselbe Akteur kann aber gleichzeitig in seinen Handlungsfeldern um Anerkennung kämpfen und sich sowohl gegen privilegierte Symbole als auch gegen andere dominierte Habitus wenden. Diese Perspektive beleuchtet freilich eher den Umgang von Akteuren, die qua dominierter Habitusanteile von sozialer Ungleichheit negativ betroffenen sind. Dies soll keineswegs suggerieren, dass diese Akteure die alleinigen ‚Konfliktherde’ und ‚Leidtragenden’ einer Gesellschaft darstellen. Da es in der vorliegenden Untersuchung aber um Konflikte geht, die in einem ‚privilegierten Milieu’, dem akademischen Feld, stattfinden und speziell darum, wie sich soziale Ungleichheit dort für Akteure darstellt, die eine bildungsferne soziale Herkunft aufweisen, scheint eine solche Brille, wie sie die analytische Heuristik darstellt, bezüglich ihrer ‚Sicht- und Reichweite’ angebracht. Dass sie im Vergleich zu anderen Sichtgeräten auch über geeignete ‚ZoomQualitäten’ verfügt, wurde im zweiten Kapitel erörtert. Hier wurde zunächst ausgewiesen, dass der Gegenstand ‚soziale Ungleichheit’, auch aus einer statistischen Makroperspektive betrachtet, eine hohe Relevanz für Angelegenheiten des Studierens aufweist. Diese Makroperspektive ist jedoch nicht geeignet und es ist auch nicht ihr Ziel, auf die leibhaftigen Akteure zu zoomen und deren Umgangsweisen mit dem Studieren festzuhalten. Andere Perspektiven, etwa psychologische, beabsichtigen genau diese Nahsicht. Ihnen fehlt jedoch einerseits die nötige Sicht- bzw. Reichweite, um übergreifende soziale Ungleichheit zu erkennen, andererseits sind sie kaum in der Lage, sozial differenzierte ‚Zoom-Bilder’ zu erstellen, d.h. sie sind gleichzeitig zu dicht dran und zu weit weg. Sie können detailliert beschreiben, wie sich etwa Probleme beim Studieren darstellen, aber nicht wahrnehmen, wie sich diese Probleme sozial ausdifferenzieren. Mithilfe des begrifflichen Instrumentariums George Herbert Meads wurde demgegenüber am Ende des zweiten Kapitels eine Möglichkeit aufgezeigt, wie sich die Zoom-Perspektive von Identitätsbehauptung und -entwicklung in und durch Interaktionen sozial ausdifferenzieren oder, um in der Sprache der Optik zu bleiben, in verschiedene Licht-Spektren auffächern lässt. Die Möglichkeit, sich selbst im Anderen wiederzuerkennen, ist in doppelter Hinsicht sozial struk-
4 Zusammenfassung und Ausblick
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turiert: auf der Seite des Selbst in Form verinnerlichter kultureller Muster, also in Form des Habitus, und auf der Seite des betreffenden Milieus durch spezifische, sozial bewertete Muster, also Symbole. Um sich selbst im Anderen wiedererkennen zu können, muss das Studium, so wie es sich den Betroffenen jeweils darstellt, Anknüpfungspunkte an den eigenen Habitus bieten. Im dritten Kapitel sollte geschaut werden, wie dies vonstatten geht, wie Studierende mit den Ansprüchen ihres Studiums umgehen und wie dies wiederum mit sozialer Ungleichheit vermittelt ist. Es gibt also zunächst das individuelle Erleben des mehr oder weniger guten Passens zu den Anforderungen, die im eigenen studentischen Leben wahrgenommen werden. Dabei spielen vor allen Dingen andere Menschen eine große Rolle. Es finden Vergleiche mit Kommilitoninnen und Kommilitonen statt, Beschreibungen und Bewertungen des Verhältnisses zu den Lehrenden, aber auch neue Reflexionen und Auseinandersetzungen mit Personen, zu denen schon vor Studienbeginn eine enge Beziehung existierte, allen voran mit den Eltern. Es zeigen sich dabei große Unzufriedenheiten, die an der Fortsetzung des Studiums zweifeln lassen. Die Diagnose wird seitens der Betroffenen zwar verständlicherweise über die Frage der individuellen Passung geregelt („Gehöre ich hierher?“; „Ist das Studienfach das richtige für mich?“, „Würde nicht dieses oder jenes besser zu mir passen?“), mündet aber nie in ein eindeutiges Ergebnis, sonst wären die Verunsicherungen vermutlich auch nicht so nachhaltig, sondern es gäbe dann klare Handlungsoptionen für oder gegen eine Fortführung des Studiums. Diese Uneindeutigkeit ist nicht verwunderlich, da es unabhängig von der sozialen Herkunft im individuellen Habitus immer Elemente gibt, die in dem Sinne ‚passen’, dass sie an vorhandene Muster im jeweiligen Studium anknüpfen können: die Filmtechnikkompetenz einerseits und der Bedarf an praktischem Filmwissen im Studium der Medienwissenschaften andererseits bei Christian; der Wunsch herauszuragen und die Möglichkeit, ein Referat zu halten bei Mira; der Wunsch, nicht auf dem Präsentierteller zu sein und die Möglichkeit, sich in Lehrveranstaltungen verstecken zu können bei Dorothee; der Wunsch, viele Kompetenzen zeigen zu können und die Möglichkeit im Chemie- und Geographiestudium analytische und in den schulpraktischen Studien soziale Kompetenzen auszuspielen bei Tobias; der Wunsch, nicht mehr gemobbt zu werden und sich nicht ‚tussig’ verhalten zu müssen, um akzeptiert zu werden und die fachkulturellen Muster eines weiblichen Habitus im Chemiestudium bei Dörte. Auf der anderen Seite gibt es jedoch immer Elemente, die mit der individuellen Konstellation des Aufwachsens zusammenhängen, die weniger zu den im Studium vorgefundenen Anforderungen passen. Diese Schwierigkeiten im Umgang mit dem Studium standen bei der Auswertung im Fokus der Aufmerksamkeit und hier fällt es deutlich schwerer, eine ähnliche Liste der individuellen
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4 Zusammenfassung und Ausblick
Konstellationen in Kombination mit strukturellen Elementen des Studiums anzugeben. Die Frage der Nicht-Passung verweist viel stärker auf übergreifende Muster sozialer Ungleichheit. Dies ergibt sich bereits aus dem empirischen Befund, dass diejenigen Studierenden, die aus einer Akademiker-Familie stammen, tatsächlich über alle drei Datenquellen hinweg kaum Passungsprobleme thematisieren oder erkennen lassen. Probleme der Nicht-Passung sind also stärker am bildungsfernen Herkunftspol angesiedelt. Diese Probleme wurden vorab als Habitus-StrukturKonflikte bezeichnet. Im Studium kommt es zu Konflikten zwischen verinnerlichten kulturellen Mustern und solchen der Umgebung, die typisch sind für die bildungsferne Studiererfahrung, aber definitorisch nicht auf diese begrenzt. Empirisch wird soziale Ungleichheit auf diese Weise zum bewussten oder vorbewussten Gegenstand des Studiums. Es kann gar nicht ausbleiben, dass die eigenen biographischen Erfahrungen durch das Studienleben in irgendeiner Form gespiegelt bzw. angesprochen werden. Hatte bereits die Analyse der Studienberatungsgespräche nahegelegt, dass die vier Problemdimensionen Aktivität – Passivität; Freiheit – Struktur; Inklusionsgefühl – Exklusionsgefühl und Bezugspersonen mit sozialer Ungleichheit vermittelt sind, so gilt schon für die erste Studienphase, die über die Wochenbücher erhoben wurde, dass soziale Ungleichheit in unterschiedlichen HabitusStruktur-Konfliktvarianten erlebt wird. Auch die Interviews mit fortgeschrittenen Studierenden aus unterschiedlichen Fächern lassen dies erkennen. Es sind individuelle Konflikte in Form von Zweifeln und Ängsten auszumachen, die dennoch auf soziale Ungleichheit verweisen, nicht nur weil sie fast ausschließlich bei Studierenden vorzufinden sind, die aus einem bildungsfernen Milieu stammen, sondern weil diese Ängste ihrerseits mit Anerkennungsdefiziten verknüpft sind. Die Wahrnehmung von Anonymität in dieser Variante, nämlich, dass es schwierig ist, Anerkennung zu bekommen, ist typisch für die bildungsferne Studiererfahrung. Dort spielt es eine große Rolle, als Person wahrgenommen und gelobt zu werden. Dies ist eine Erfahrung, die vor allem die ‚Allrounder’ aus der Schule mitnehmen und die sie möglicherweise sogar bestärkt hatte, ein Studium aufzunehmen. Umso schwieriger ist es, wenn genau diese Komponente an der Universität nicht aufgegriffen wird. Am hochschulbildungsnahen Pol ist demgegenüber Anonymität nur zu Studienbeginn und in Form der Schwierigkeit, Leute kennenzulernen, zu beobachten. Hinzu kommt, dass dort auch stärker die Haltung vorhanden ist, sich mit Neugierde in das Studium und vor allem in ein spezielles Studienfach zu begeben. Es steht nicht das Bedürfnis im Vordergrund, in allen möglichen Bereichen anerkannt und geschätzt zu werden. Offenheit und Freiheit in der Studienstrukturierung erzeugen dort auch weniger Unsicherheit als Gestaltungslust. Das bedeutet umgekehrt nicht, dass
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bei den Studierenden bildungsferner Herkunft nicht auch Sehnsüchte nach freier Gestaltung und Realisierungsansätze dazu vorhanden sind. Hier scheint Strukturierung jedoch nicht Wunsch, sondern ‚psychische Notwendigkeit’ zu sein, wohingegen sie auf der ‚anderen Seite’ als notwendiges Übel begriffen wird. Es gibt verschiedene Varianten des Umgangs mit dieser individuellen Habitus-Struktur-Konflikt-Konstellation. Eine Möglichkeit besteht darin, sich über Fleiß sowohl Anerkennung als auch Strukturierung zu verschaffen. Auch eine Orientierung an einer möglichen beruflichen Zukunft kann wenigstens temporären Auftrieb verschaffen. Dies bedeutet, dass die Aktivitäten, die hier gezeigt werden, eher aus einer inneren Notwendigkeit heraus erfolgen und weniger ein freudvolles Interesse widerspiegeln. Eine andere Möglichkeit des Umgangs mit Zweifeln und Anerkennungsdefiziten im Studium besteht im Rückzug in vetraute Gefilde. Familiäre Geborgenheit und Partnerschaft sind hier viel wichtiger als am hochschulbildungsnahen Pol. Bildungsferne Studierende suchen auch innerhalb ihres neuen Milieus Kontakt zu Menschen, die ein Stückweit ihr Herkunftsmilieu repräsentieren, etwa Bibliotheks-Angestellte, Hausmeister oder Reinigungskräfte. Auch die Freizeitaktivitäten lassen mit Individualsport, Fitness und Fernsehen eher eine Studienferne erkennen und dies scheint zumindest zu Studienbeginn nicht nur die Facette einer Gewohnheit zu sein, sondern tatsächlich eine Milieuflucht-Funktion zu haben. Auf der hochschulbildungsnahen Seite sind Aktivitäten im Weltladen, politisches Engagement, Universitätsorchester und Theaterbesuche vorzufinden. Wichtige Moderatoren des Umgangs mit den individualisierten HabitusStruktur-Konflikten sind Bekanntschaften, die stärker das neue Milieu repräsentieren, aber dennoch Anknüpfungspunkte an den jeweiligen Habitus bieten: die gebildeten Eltern der Partnerin, oder Freunde mit zum Teil ähnlichen Lebensstilelementen, die dennoch aus einem oberen Milieu des Sozialraums stammen. Solche Bekanntschaften können sich über eine frühe Mitarbeit in der Fachschaft oder über Wohnsituationen und Arbeitsgruppen im Studium ergeben, auf die man sich aber auch erst einlassen können muss. Eine unter diesem Aspekt positive, aber vermutlich sehr spezielle Konstellation liegt vor, wenn bereits vor Studienbeginn ‚schichtenübergreifende Erfahrungen’ über den Schulbesuch hinaus gemacht wurden. So schildert etwa Tobias die diesbezügliche Besonderheit seines Herkunftsdorfes. Es soll nicht vergessen werden, dass auf der individuellen Ebene nicht nur die Erfahrungen von Zweifeln und mangelnder Passung vorliegen, sondern das Studium auch am bildungsfernen Pol als emanzipatorisch erlebt werden kann. Diese Empfindungen sind vor allem bei jenen Studierenden vorzufinden, die bereits den Wechsel an das Gymnasium, etwa über den zweiten Bildungsweg, als Einschnitt erlebt haben.
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Neben der individualisierten Variante sozialer Ungleichheit, die etwa über ein Leiden unter der mangelnden Anerkennung bei hohem Anerkennungsbedarf erlebt wird, sind auch die anderen Austragungsformen von Habitus-StrukturKonflikten vorzufinden. Studierende mit einer bildungsfernen Herkunft thematisieren ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen intensiver und nehmen im Gegensatz zu den Studierenden aus Akademikerfamilien Gruppenkategorisierungen vor. Sie scheinen aus anerkennungstechnischen Gründen stärker auf deren Urteil angewiesen zu sein, so dass sie offenbar intensiver beobachten (müssen). Es finden dabei auch Abwertungen von als privilegiert wahrgenommenen Studierenden statt, die als interpersonale Habitus-Struktur-Konflikte bezeichnet wurden. Bei den Studierenden des ersten Semesters im B.A.Studiengang Sozialwissenschaften etwa ist sehr augenscheinlich, dass die Gruppe der ‚Pseudoalternativen’ abgewertet wird. Auch projizierte Habitus-StrukturKonflikte sind wahrnehmbar. Damit ist der abwertende Bezug zu anderen dominierten Gruppenzugehörigkeiten gemeint. Die Interviews sind darüber hinaus durch Auseinandersetzungen mit Personen aus dem Herkunftsmilieu gekennzeichnet. Diese Konflikte verursachen einerseits Scham- und Schuldgefühle, andererseits aber auch Stolz, was auf die eigene Emanzipation und die herausgehobene Rolle des ‚einzigen Akademikers’ in der Familie verweist. Sie stehen jedoch mit der Angst in Verbindung, sich zu sehr von seinen Wurzeln zu entfernen und ‚abzuheben’. Diese Konflikte können auch zu der Einschätzung führen, dass die Verbindungen zu alten Bekanntschaften gekappt werden müssen. Dabei fungieren die Studierenden ungewollt als Repräsentanten eines fremden und höheren Milieus in den Augen der nicht mit dem akademischen Feld Vertrauten. Interessanter- und bezeichnenderweise lässt sich die kollektive Form von Habitus-Struktur-Konflikten, also das, was Bourdieu als Klassenkampf bezeichnet hatte, gerade nicht am bildungsfernen Pol finden. Politische Aktivitäten, wie etwa Proteste gegen Studiengebühren sind zumindest in meinem quantitativ kleinen Ausschnitt eher Sache des legitimen Habitus. Dies korrespondiert mit Ergebnissen der Protestforschung in Deutschland (vgl. Schmitt 2007). Das Studiengeschehen lässt sich mit der vorgeschlagenen Heuristik insgesamt vielversprechend in seinen Bezügen zu sozialer Ungleichheit abbilden. Inwieweit die von den Akteuren verwandten bewussten oder vorbewussten Strategien des Umgangs mit Habitus-Struktur-Konflikten Erfolg versprechend sind, ist schwer einzuschätzen. Die Momente und Möglichkeiten, sich eigenständig Anerkennung zu verschaffen, scheinen sehr begrenzt zu sein. Auch die Frage, inwieweit eine an Bourdieu angelehnte Heuristik erfolgreich als Medium der Konfliktbearbeitung eingesetzt werden kann, lässt sich an dieser Stelle nur durch eigene Erfahrungen und theoretische Erwägungen positiv beantworten.
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Die hier vorgelegte Empirie liefert dazu keine Hinweise, da die Studierenden aufgrund der Fragestellung nicht mit Erkenntnissen zu Habitus-StrukturKonflikten konfrontiert wurden. Sicherlich wäre eine derartige Konfrontation kognitiv relativ voraussetzungsreich. Deshalb bietet sich gerade das akademische Feld weiterhin an, gezielt in diese Richtung zu forschen. Auch wenn es aus guten Gründen als hilfreich eingeschätzt werden kann, vorhandene Grenzen mithilfe einer derartigen Heuristik auszuloten, also dem ‚Schuster’ zu zeigen, warum er angeblich lieber bei ‚seinen Leisten bleiben soll’ und dies meistens auch will, ist damit nur die Habitusseite der Konfliktbearbeitung benannt. Bourdieus Vorstellung, „sich der Kenntnis des Wahrscheinlichen zu bedienen, um die Chancen des Möglichen zu vergrößern“ (Bourdieu 1993a, 45f.) lässt sich allerdings auch auf die Strukturseite des Konfliktes beziehen. Dies scheint vor allem deshalb enorm wichtig, weil symbolische Gewalt sehr leicht reproduziert werden kann, wenn der Konflikt einzig der Habitusseite zur Bearbeitung aufgebürdet wird, etwa in Form einer sozioanalytischen Habitustherapie, was nichts an der Tatsache ändert, dass diese trotzdem vielversprechend sein kann. Im Falle des akademischen Feldes wäre es darum mindestens genauso wichtig, dass Vertreterinnen und Vertreter der Hochschule, also Lehrende, Beratende und in der Hochschulentwicklung tätige Personen um Aspekte sozialer Herkunft wissen, die sowohl über statistische Zusammenhänge als auch über psychisches Leiden hinausgehen; und dies nicht nur mit dem Ziel, die Bildungspotenziale bildungsferner sozialer Milieus besser auszuschöpfen, wie es einem der Eingangszitate dieses Buches zu entnehmen ist, sondern um individuelles Leiden abzumildern und eine Gesellschaft zu emanzipieren. Studierende aus weniger privilegierten Milieus zu ‚bestellen’ reicht nicht aus, sie müssen auch kulturell ‚abgeholt’ werden.
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