Wolfgang Schinwald
Aus dem Schatten der Stanze
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Wolfgang Schinwald
Aus dem Schatten der Stanze
layout by AnyBody Lehrlingsroman
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis .................................................................2 Die blaue Montur ..................................................................3 Der Aufstieg ........................................................................13 Der unbefleckte Meister .....................................................16 die Heizkörper-Crew...........................................................24 Zu Mittag .............................................................................40 Das Moped .........................................................................47 Ein Schlafdorf erwacht .......................................................51 Eigentor ..............................................................................54 Unterwegs mit Mäxle ..........................................................58 Der Schlapfenmax..............................................................81 Die Berufsschule ................................................................85 Das Weihnachtssingen.......................................................96 Auf dem Weg....................................................................100 Im Schutz der Stanze.......................................................104 Ganz Anders.....................................................................113 Die Konfrontation ..............................................................117 Ganz allein ........................................................................126 Herbstbeginn und Lehrabschluß......................................134 Auf in eine neue Welt! ......................................................139
Die blaue Montur Es war halb sechs Uhr morgens, als der Wecker Karl aus dem Schlaf riß, wer weiß, ob er gerade etwas geträumt hatte, jedenfalls war dieses Aufwachen noch lange nicht das Erwachen aus dem unbekümmerten Schlaf der Jugend für ihn. Er hantierte schlaftrunken an seinem läutenden Wecker und schaffte es schließlich, ihn zum Schweigen zu bringen. Er rollte sich aus dem alten Bett in seinem 10m2 Zimmer und warf einen Blick in den Spiegel. Der Anblick war entsetzlich, und außerdem trug er noch die blaue Montur, die ihm seine Großmutter zum Arbeitsanfang geschenkt hatte. Er hatte sie über Nacht angezogen, damit sie nicht so neu aussah am ersten Arbeitstag. Aus diesem Grunde hatte er sie auch schon mehrmals gewaschen, aber ohne Erfolg. Karl haßte nicht nur die neue Montur, er haßte fast alles, was neu war, insbesondere neue Kleidung, daher war ihm auch die Kirche am Sonntag zuwider, weil er schöne Kleidung anziehen mußte. Die Pyjama Aktion mit der Montur war wirklich in die Hose gegangen. Eine neue Montur sieht eben eine ganz schön lange Zeit neu aus, und wenn du in so etwas steckst, dann kommst du dir ganz schön beschissen vor. So eine neue Montur macht dich zu dem, was du an einem ersten Arbeitstag als Lehrling einfach bist, ein Häufchen Nichts. Mensch, war die Hose steif und zerknittert, so konnte Karl einfach nicht seine Arbeit beginnen, aber es half nichts, die Zeit verrann unbarmherzig und nach einem kargen Frühstück sah er sich bereits im 6 Uhr Frühbus sitzen, mit einer Wochenkarte bewaffnet, die er sich bereits am Vortag besorgt hatte, damit nur ja nichts schiefgehen konnte. Die Montur befand sich mit drei Wurstwecken in seiner Tasche, einer Sporttasche mit der Aufschrift Lufthansa. Als in den Haltestellen die verschiedenen Typen in den Bus drängten, konnte man sofort erkennen, dass es für diese Leute, die wahrscheinlich an diesem Tag wie an jedem anderen zur Arbeit -3 -
fuhren, ein Arbeitstag wie jeder andere werden würde. Für Karl aber war es ein ganz besonderer Tag, der erste Arbeitstag. Es wäre für ihn eine große Erleichterung gewesen, wenn die zwei Henndorfer, die mit ihm schon den Polytechnischen Lehrgang in Neumarkt besucht hatten, zugestiegen wären. Auch sie sollten an diesem Tag in der selben Firma die Lehre beginnen. Aber sie waren nicht da, sie hatten, wie sich später herausstellte, bereits einen früheren Bus genommen. Karl war also ganz allein mit seiner Ungewißheit vor dem ersten Arbeitstag. Der Tag schien heiß zu werden, es war ja schließlich der 8. August. Nach einer ¾-stündigen Fahrt näherte sich der Bus der Haltestelle Hofwirt, von wo Karl zu Fuß in die Vogelweiderstraße gehen wollte. Viel Zeit blieb nicht bis 7 Uhr, der Zeit, zu der die Arbeit begann. Er ging zügig, ließ den Verkehr, die Passanten, die Häuser, die Gerüche und die Atmosphäre auf sich einwirken, als würde er jetzt schon wissen, dass er diese Eindrücke nie mehr vergessen würde. Über Jahre hinweg sollten diese Rückstrahler in einer Auslage, die Firmennamen an den Häusern, die selben Menschen, die ihm zur selben Zeit immer begegneten, zu seinem Alltag gehören. Schließlich sah Karl von weitem das Firmenschild "Elektro MACHS" und beeilte sich, mit einem flauen Gefühl im Magen, die Werkstatt zu erreichen. Dort angekommen, erblickte er bereits vier andere Lehrlinge im ersten Lehrjahr, die nic ht weit von der Eingangstür entfernt in wunderschönen blauen Monturen den anderen Arbeitern im Weg standen. Unter ihnen befanden sich auch die zwei Henndorfer Hasi und Hias, die Karl zu verstehen gaben, er möge sich beeilen und sich umziehen. Man zeigte ihm seinen neuen Spind, und ehe er sich's versah, stand er in seiner herrlichen blauen Montur, der man das mehrmalige Waschen und die Verwendung als Pyjama kaum anmerkte, bei den anderen Lehrlingen und wartete auf das, was da kommen sollte. Fast alle standen mit ihren dunkelblauen steifen Monturen da und teilten mit ihm das unangenehme -4 -
Gefühl. Nur einer der Frischgefangenen hatte einen Overall an, hellblau, irgendwie modischer, er war ja auch aus der Stadt, wie sich später herausstellen sollte. Karl bewunderte ihn nahezu und beneidete ihn um seinen hellblauen Overall. Er stand regungslos da und nahm nur entfernt wahr, wie die anderen Arbeiter, Gesellen, Meister und älteren Lehrlinge die Neuankömmlinge musterten und belächelten, manchmal etwas zueinander sagten wie: "Das sind die neuen Maxen, hast du sie schon gesehen?" Besonders die Lehrlinge im zweiten Lehrjahr lächelten sie nahezu glücklich an, bedeutete die neue Crew schließlich, dass man sich berechtigte Hoffnungen machen konnte, niedere Dienste abtreten zu können. Einer machte dann eine symptomatische Bemerkung und zeigte in Richtung Putzraum, wo Maschinenteile mit Diesel und Putzflüssigkeit gereinigt wurden: "Eure Monturen glänzen ja wie Smokings, die werden bald anders aussehen! Wie Leder werden die aussehen!" Irgendwie war Karl beruhigt, dreckiges Gewand war ihm lieber als diese neue Montur, die jedem verriet, dass er den ersten Tag da war. Schließlich kam der Meister, sein Name war Herbst, und begrüßte die Frischgefangenen. Bevor er jeden einem älteren Lehrling zuteilte, gab er allen noch einen guten Tip mit auf den Weg. Er sagte: "Wenn ihr euch irgendwo nicht auskennt, gibt es nur eines: fragen, fragen und wieder fragen". Nun teilten sich die Wege der Maxen, und Karl verschwand mit Katschthaler, das war ein Lehrling im letzten Lehrjahr, und die wurden immer mit den Nachnamen angesprochen. Dieser Katschthaler war ein Autonarr, was Karl bereits nach zehn Minuten BrockenKonversation herausfand. Bevor noch die erste Jause gegessen war, stand schon fest, dass Karls Cousin Otto, der manchmal Autos lackierte, Katschthalers Cortina spritzen sollte. Karls erste Arbeit war einen Motor "abzureißen", oder besser gesagt, Teile dieser Arbeit zu verrichten. Zu diesem Zweck wurde ein Stator, das ist der äußere, feststehende Teil eines -5 -
Elektromotors, dessen Wicklung durchgebrannt war, im sogenannten Abreißraum in Schraubzwingen eingespannt. Dann mußte die Wicklung auf einer Seite mit einer Flex abgetrennt werden. Darauf drehte man dann diesen Stator, vom Hören hätte Karl auf das bekannte Wort Starter getippt, umgedreht und erneut festgespannt. Dann wurde der gesammte Stator mit einer Flamme erhitzt, bis der Tränklack weich wurde und die Wicklung samt Isolation mit einer elektrischen Winde aus den Nuten gezogen werden konnte. Dieses Abreißen sollte von jetzt an Maxenarbeit sein, denn der richtige Motorwickler, ein Lehrling in einem höheren Lehrjahr oder ein Geselle, fing seine Tagesarbeit mit einem bereits abgerissenen und geputzten Stator an, den er dann isolierte und wickelte. Karl hatte von all dem noch keine Ahnung und auch die Werkzeuge wie Flachzange oder Mutternzieher oder Dreikantschaber waren ihm unbekannt, obwohl er durch die jährliche Inventur in der Eisenhandlung seines Großvaters natürlich eine gewisse Vorbildung hatte. Aber jetzt ging es darum, wenn der zugeteilte Ausbilder irgend etwas murmelte, das zwischen den Wortfetzen "Hol mir" und "her" eingebettet war, sofort das Richtige zu bringen. Das konnte nur der Hias aus Henndorf, der wie eine Klette an seinem Ausbilder Kehrer hing und alles, was an Know How vorhanden war, bereits am ersten Tag in sich aufsaugen wollte, so wie das Vakuumfaß, mit dem er am Bauernhof seines Vaters arbeitete. Hias lächelte immer und betete gewisse Leute in der Werkstatt nahezu an. Er hatte vermutlich das gefunden, was ihn wirklich interessierte. Karl war anders. Für ihn war alles neu und beängstigend. Er hatte immer den Eindruck, er würde das, was er hier sah, nie selbst können. Die coole Art Katschthalers brachte für ihn das Problem mit sich, dass er manchmal nicht wußte, ob er etwas ernst meinte, oder ob er ihn "schälen" wollte. Vor diesem Schälen oder Schiefern war er von seinen Nachbarn, die Mechanikerlehrlinge -6 -
waren, gewarnt worden. Sie hatten ihm erzählt, dass jeder Lehrling am Anfang entsprechend getestet wurde, zum Beispiel um etwas ins Magazin geschickt wurde, das es nicht gab. Karl wollte auf keinen Fall bereits am ersten Tag auf so einen Trick hereinfallen. Als der Stator also abgerissen war, gab Katschthaler Karl ein Bündel Drähte, die aus dem Stator gerissen worden waren und bedeutete ihm, die einzelnen Drähte zu zählen. Auch Hias, der gerade vorbeikam, erhielt ein solches Bündel. Karl hielt diese Anordnung für einen Scherz und zählte anfangs nicht, später nur ungenau. Hias war sofort fertig und nannte eine Zahl. Karl nannte später eine andere. Beide mußten erneut nachzählen, und es stellte sich heraus, dass Hias richtig gezählt hatte. Hias wußte auch bereits, dass das Zählen der Drähte notwendig war, und zwar deshalb, weil zur Neuwicklung natürlich die Ermittlung der Windungszahl der alten Wicklung Voraussetzung war. Sie und einige andere Daten wurden dann in ein kleines Heft eingetragen. Dies war Karls erster Patzer, der ihn bei Katschthaler etwas unzuverlässig erscheinen ließ. Hias machte sich hingegen bereits am ersten Tag einen Namen, nicht nur, weil er alle Werkzeuge bereits kannte, sondern weil er am Bauernhof seines Vaters bereits geschweißt hatte und schon damals alles über Mopeds und Motorräder wußte. Schweißen konnten in der Werkstatt nicht viele, das war nämlich den Schlossern in der hauseigenen Schlosserei vorbehalten, die andere nicht gerne an ihre Schweißgeräte ließen, um sich ihre Überlegenheit in dieser Disziplin zu bewahren. Wenn also der Hias bereits im ersten Lehrjahr schweißen konnte, dann war das schon ein bißchen Respekt von Seiten der Alt-Lehrlinge wert. Danach mußte Karl lernen, wie man einen Stator vor der Neuwicklung isoliert. Also ging es ran an die Falzmaschine, die das Isolationsmaterial entsprechend anpaßte. Aber schließlich kam da noch etwas, was für die Lehrlinge im ersten Lehrjahr sehr wichtig war, das Jauseholen. Vor der neunminütigen Jausenzeit mußte immer eine Woche lang ein Lehrling bei allen -7 -
Arbeitern die Jausenwünsche aufnehmen, mit dem Fahrrad zu einem nahen Geschäft fahren und die Jause dann austeilen und abrechnen. In der ersten Woche erwischte es den Kollegen mit dem Overall, der bereits am ersten Areitstag einen kleinen Betrag aus der eigenen Tasche drauflegen mußte, weil er bei der Abrechnung nicht aufgepaßt hatte. "Das ist jedem schon passiert", hörte er von mehreren Seiten, als er sich achselzuckend nach Hilfe umsah. Während der Jausenholer rechnete und rechnete, Restgeld herausgab und Jause verteilte, saßen alle anderen bereits gemü tlich in der Werkstatt und schmatzten vor sich hin. Bevor der Jausenholer noch dazukam, seine eigene Jause auszupacken, war die Jausenzeit vorbei, und er mußte sich anschicken, die Flaschen in der ganzen Werkstatt einzusammeln. Früher, so erzählte man Karl, mußten die Lehrlinge die selbe Prozedur auch vor dem Mittagessen durchexerzieren, was fast einen halben Tag Jausendienst bedeutete. Dieses Jauseholen sollte vor allem für den sonst so schlauen Hias ein größeres Problem werden, der mit dem Kopfrechnen geringfügige Probleme hatte und für Scherze aller Art ein williges Opfer darstellte. Ein weiterer wichtiger Arbeitsbereich für einen Lehrling war die Arbeit im Putzraum, für die man eben auch alle fünf Wochen herangezogen wurde, allerdings nicht in der selben Woche wie zum Jausendienst. Dies hatte den Grund, dass der Putzmax natürlich so nach Diesel stank, dass man ihn nicht auch noch mit der Jause hantieren ließ. Im Putzraum gab es zwei Hauptwerkzeuge: Zum einen die Pressluft zum Durch- und Ausblasen von beispielsweise Kugellagern und zum anderen die Pinsel mit der Reinigungsflüssigkeit, die automatisch durch diese Pinsel gepumpt wurde. Im Putzraum arbeitete auch noch ein Jugoslawe mit Namen Slavko. Mit ihm arbeitete Hasi aus Henndorf am besten zusammen, der den gleichen Satzbau wie er verwendete und ohnehin die Hauptkonversation per Hand betrieb. Abends hörten die Maxen etwas früher zu arbeiten auf -8 -
und mußten die fertig gewickelten Motoren mit Isolationslack tränken und in den Ofen stellen. Dann durften sie die Werkstatt zusammenräumen. Da gab es am ersten Tag natürlich größte Schwierigkeiten mit der richtigen Besenhaltung. Auch Karl hatte größte Mühe, die Werkstatt zusammenzukehren. Er hielt den Besen eher wie einen Golfschläger. Als die Klingel ertönte, rannten alle Arbeiter zu ihren Spinden und verließen so schnell als möglich die Werkstatt. Auch Hias hielt für ein paar Minuten inne, um die Mopeds, die er bereits in der Mittagspause bewundert hatte, wegfahren zu hören. Er grinste bis über beide Ohren, als er den ersten Mopedmotor laufen hörte. Dann beendeten die Maxen die Reinigungsarbeit und fuhren nach Hause. Der Bus war übervoll, und Karl saß mit den Henndorfern in der letzten Reihe. Dort saß noch ein Henndorfer, der auch von seinem ersten Arbeitstag in der Firma Porsche erzählte und davon schwärmte, dass es an heißen Tagen ein gratis Hitzegetränk gab. Er sprach sehr langsam und hatte einen kleinen Sprachfehler, den man gemeinhin als Blutschen bezeichnet. Somit wurde das Wort Hitzegetränk zu einem geflügelten Wort. Immer wieder wollten die drei es von ihm hören, und er wurde nicht müde, dieses Wort Hitzegetränk dahinzublutschen wie ein Spanier das "c" in Barcelona ausspricht. Später verwendeten die drei das Wort Hitzegetränk sogar als Namen für ihn und sagten "Der Hitzegetränk kommt", wenn er beim Turnerwirt in den Bus einstieg. Die Seitenwände des alten Saurer Busses zitterten, wenn er den Eggerberg hinunterfuhr. Je näher er Neumarkt kam, desto schneller schien der Bus zu werden, wie bei den Pferden, wenn sie den Weg nach Hause erkennen. Das Zeichen für die baldige Endstation war immer das laute Geräusch der Motorstaubremse, das besonders in der letzten Bank sehr laut zu hören war. Dieses Geräusch war bei der Heimfahrt am Eggerberg hörbar und bei der Stadtfahrt am Rengerberg. Als Karl am ersten Tag von der Arbeit nach Hause kam, fragte man ihn, wie es gewesen sei. Er -9 -
gab wie immer eine knappe Antwort und meinte: "Gut". Im Heimatort hatte er zwei Freunde, mit denen er die meiste Zeit verbrachte: da war einerseits Than, der auch gerade eine Lehre als Elektroinstallateur angefangen hatte, und Ru, der das Gymnasium besuchte. Nur mit ihnen besprach er wirklich, wie der erste Arbeitstag verlaufen war. Sie waren in dieser Zeit sein Feedback, wie die Schüler das, wo für Than und Karl kein Wort fanden, bei ihren Zusammenkünften in den Kaffeehäusern nannten. In dieser Runde wußte einer, was der andere meinte, ohne dass er es aussprechen mußte. Es war aber nicht so, dass alle drei so soziale Typen waren, dass sie immer füreinander da waren, nein, sie verstanden sich gut, weil sie im selben Boot saßen. Müde fiel Karl ins Bett und wurde vom Wecker am nächsten Tag um 5:50 Uhr wieder herausgeklingelt. Ehe er sich's versah, saß er schon wieder im Bus, nahm die bekannten Mitfa hrer und Zusteiger so nebenbei wahr und wäre gerne noch sitzengeblieben, als der Bus die lange Gerade der Schalmooser Hauptstraße dahinratterte, um sich beim Hofwirt zu entladen. Doch schon strebte Karl zügigen Schrittes der Werkstatt in der Vogelweiderstraße zu, zog sich um und wartete auf Katschthalers Anweisungen. Am Morgen mußten immer die neu gewickelten Motoren aus dem Tränkofen geholt und mit dem Dreikantschaber ausgekratzt werden. Jetzt konnte er schon Motoren abreißen und aufnehmen, isolieren und auskratzen. Eigentlich hatte er auch schon einen ganzen Elektromotor zerlegt und neu gelagert, oder zumindest dabei zugeschaut und das Werkzeug gehalten. Jetzt aber wurde er an eine richtige Maschine gesetzt und sollte für Katschthaler Spulen wickeln, die dieser dann in den isolierten Stator einlegen würde. Es war eigentlich alles nicht so wild, und die Lehrlinge machten nur deshalb immer Pfusch, wie man Fehler zu nennen pflegte, weil ihnen nie genau gesagt und gezeigt wurde, wie etwas wirklich zu machen war. Mit diese Taktik arbeiteten Meister, Gesellen -1 0 -
und ältere Lehrlinge gleichermaßen, um sich eine gewisse Distanz zu den Maxen zu sichern, die sich natürlich jedesmal sehr dumm und schlecht vorkamen, wenn sie einen Fehler, also einen Pfusch machten. Solche Pfuschs passierten, wenn auch selten, auch dem Hias, der dann so deprimiert war, dass er den ganzen Tag mit gesenktem Haupt herumlief. Im Laufe der Zeit kam Karl natürlich auch zum Putzen im Putzraum dran. Da stank er so nach Diesel oder Putzflüssigkeit, dass sich im Bus oft niemand neben ihn setzte. Auch das Jauseholen blieb ihm nicht erspart. Wenn er die Jause aufnahm, wußte er natürlich von vielen Mitarbeitern nicht die Namen. Immer zu fragen, war ihm zu blöde, und deshalb gab er manchen Arbeitern, vor allem den Türken oder Jugoslawen, die ja unmögliche Namen hatten, selbst einen Namen, einen eingeösterreichischten. Da konnte es schon vorkommen, dass er Türken in der Schlosserei Fredl nannte oder einen Gesellen in der Kleinmaschinenabteilung HW für Händewascher, weil er ihn immer nur beim Händewaschen sah. Beim Jauseholen zeigte sich auch der wahre Charakter von manchen Arbeitern, denen es nichts ausmachte, einen Lehrling mit dem Geld zu betrügen, dessen Wochenlohn 200 Schilling, damals 20 Cola Flaschen betrug. Da gab es diesen Heinz Leitner, der sich im dritten Lehrjahr befand und ein totales Ekel war. Rein äußerlich erinnerte er Karl an Arbeiter, die sich jedes Jahr mit einem Autodrom in Neumarkt niederließen: Hutschenschleuderer, Autodrom- Einparker, Schießbuden-Betreiber. In charakterlicher Hinsicht aber würde sich keiner der Genannten mit ihm vergleichen lassen wollen. Er borgte sich Geld aus und gab es nicht zurück, erklärte nie etwas und lachte die Maxen aus, wenn sie einen Pfusch bauten. Sie konnten ihn nie etwas fragen, und wenn er einem etwas sagte, wußte der nicht, ob er es ernst meinte, oder ob er ihn schälte. Dieses Pockengesicht, so nannten ihn die Lehrlinge heimlich wegen seiner unreinen Gesichtshaut, hatte noch einen Lieblingsscherz, auf den ihm Karl wie alle -1 1 -
anderen Maxen natürlich auch hereinfiel. Als Karl die leeren Flaschen nach der Jausenzeit einsammelte und die Hände voll hatte, warf ihm dieser Heinz Leitner über die ganze Werkstatt hinweg noch eine leere Flasche zu und rief "Fang, Max!" Das hatte bei Neulingen immer zur Folge, dass sie alle Flaschen fallenließen, so auch Karl. Trotz des Holzbodens ging sicher eine Flasche drauf und die ganze Belegschaft lachte über den guten Schmäh des Pockengesichtes. Das waren die besten Scherze, bei denen alle bis auf einen lachen konnten.
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Der Aufstieg Mittlerweile waren einige Wochen vergangen, und eines Morgens kam ein kleiner braungebrannter Meister in die Werkstatt und handelte mit Meister Herbst aus, dass Karl von nun an in seiner Abteilung arbeiten sollte. Karl begleitete ihn einen Stock höher. Dort bekam er von Herrn Seltsamer, so hieß der italienisch aussehende Meister mit hellbraunem Arbeitsmantel, sofort einen Arbeitsplatz mit eigenem Werkzeug zugewiesen. Außerdem bemerkte er, dass keiner der Arbeiter in dieser Werkstatt eine Montur trug, sondern einen Arbeitsmantel. Sie waren auch nicht so schmutzig, und es schien nicht so hektisch zuzugehen wie in der Wickelei. Durch große Glasfenster sah er eine kleine und eine große Drehbank, eine Ständerbohrmaschine und eine Schlagschere zum Schneiden von Blech, eine Fräse und eine Blechbiegemaschine. Er malte sich schon aus, welchen Eindruck er auf die Maxen in der Wickelei machen würde, wenn er als einziger von ihnen auf der Drehbank arbeiten könnte. In der Mitte der Werkstatt arbeitete ein Lehrling im vierten Lehrjahr, also fast schon ein Geselle, an einem riesigen grünen Verteilerkasten. Diesem Lehrling, sein Name war Jaga, wurde er zugeteilt. Er mußte ihm helfen, diesen großen Verteilerschrank fertigzustellen. Erst einmal ging es mit dem Schrank in die Schlosserei, um große Löcher für die Anschlüsse zu bohren. Karls Arbeit bestand darin, den Kasten festzuhalten, während Jaga die Bohrmaschine betätigte. Das Vorbohren mit einem kleinen Bohrdurchmesser war ja nicht so problematisch, aber bei den großen Bohrern konnte es schon vorkommen, dass es den Karl samt dem Jaga herumwirbelte. Der Jaga war vom Typ her ein Hippie, mit ausgeprägter Sympathie zur Salzburger Drogenszene. Er hatte schulterlanges Haar und war körperlich relativ schwach. Irgendwie war er aber in der ganzen Firma geachtet, weil er Seltsamers bester Lehrling war, und Seltsamer, so wurde in der Werkstatt gemunkelt, -1 3 -
suchte sich immer die besten Lehrlinge für sich aus. Da fühlte sich auch Karl geehrt, bis er herausfand, dass diese Annahme nur Seltsamers Lehrlinge vertraten. Karl arbeitete gern mit Jaga. Er schützte ihn irgendwie vor der bösen Welt. Wenn er einen Bohrer abriß, konnte er im Magazin einen neuen holen und sagen, er sei für den Herrn Jaga. Vor allem bei den Gewindebohrern, die ja nicht billig waren, passierte das ziemlich oft. Jaga machte zwar Späße mit den Maxen, vor allem mit Feibl, er war aber ein sehr toleranter, äußerlich ausgeglichen scheinender Mensch, der es offenbar nicht notwendig hatte, Maxen zu schälen oder zu demütigen. Von ihm lernte Karl viel über das Leben an sich und vor allem auch viel über die Arbeit. Jetzt konnte er nicht nur Jauseholen und Putzen, sondern auch Halten. Halten war neben dem Holen und Putzen fast die Hauptbeschäftigung für Maxen. Und noch eine gute Eigenschaft hatte dieser Jaga, wenn er schlecht gelaunt war, das kam natürlich vor, ließ er seine schlechte Laune nie an Maxen aus. Dieses angenehme Arbeiten mit Jaga wurde aber manchmal jäh dadurch unterbrochen, dass Meister Seltsamer schnell etwas von Karl wollte. Diese Aktionen kündigten sich immer dadurch an, dass er das Wort Max - so redete Seltsamer Lehrlinge im ersten Lehrjahr nun einmal an - gefolgt von "komm her" in den Raum warf, so wie man es von Hundebesitzern kennt, die ihre vierbeinigen Freunde rufen. In dieser Werkstatt wurde irgendwie jeder Lehrling mit der Hauptoder Zusatzbezeichnung Max gekennzeichnet. Lehrlinge im ersten Lehrjahr hießen Max ohne Zusatz, bei allen anderen Lehrlingen wurde der Name Max an den Nachnamen angehängt. Ja selbst der Jaga, der ja schon fast Geselle war, wurde vom Feiblmax meist Jagamax genannt. Bei besonderen Gelegenheiten betitelte Seltsamer die Maxen auch mit dem Wort "Freund", meistens dann, wenn sie etwas angestellt hatten. Er rief also Karl zu sich der nahm natürlich sofort an, dass er mit dem Namen Max gemeint sein mußte, denn von dieser Gattung gab es ja in dieser -1 4 -
Werkstatt nur einen - und erklärte ihm einen Auftrag so, dass er ihn nicht verstand. Deshalb fragte er auch am Schluß immer: "Verstanden?" worauf Karl fast nicht nein sagen konnte. Das war immer das Schlimmste, wenn Karl von vornherein schon wußte, dass das Werk nicht das werden würde, was Seltsamer wollte, und warten mußte, bis er es bemerkte. Oft sollte das erst am nächsten Tag geschehen, und Karl konnte die ganze Nacht über nicht abschalten. Manchmal betete er sogar, ein Pfusch möge sich von selbst reparieren. So nach dem Motto: "Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus". Aber das war in der Praxis halt nie so. Ein Pfusch war ein Pfusch, er verschwand nicht von einem Werktag auf den anderen, weder Vollmond noch gute Werke halfen da. Die Aufdeckung des Pfusches war so unaufhaltsam wie die Zeit. Ein Pfusch wurde bei Seltsamer immer knallhart aufgedeckt und so lautstark kommentiert, dass Karl noch kleiner wurde, als er schon war und jeder in der Werkstatt es mitanhören mußte. Manche Arbeiter dachten dabei nicht nur: "Gott sei Dank, dass es mich nicht erwischt hat, sondern auch "Recht geschieht ihm, wenn er so blöd ist." Das waren genau die, die Karl auf Fragen keine entsprechende Antwort gegeben hatten oder geben konnten. Neben der Arbeit mit Jaga stellten auch sehr einfache Fließband-Tatigkeiten, bei denen Karl Wochen verbringen sollte, einen gewissen Schutz vor Seltsamer dar. Ja, Karl freute sich fast auf solche Trottelarbeiten, weil er dann seine Ruhe hatte, obwohl diese Arbeiten eigentlich Hilfsarbeit waren, beispielsweise Gewindebolzen abrunden, Nuten in Zahnräder stoßen, Spulen wickeln für Läutemaschinen, stanzen, biegen, spritzen. Manchmal glaubte er dabei, dass in seinem Kopf etwas nicht mehr richtig laufen würde, da er Trottelarbeiten solchen Arbeiten vorzog, bei denen er etwas lernen konnte.
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Der unbefleckte Meister Seltsamer sah aus wie ein kleiner Italiener, immer braun gebrannt, seine schwarzen Haare nicht nur gepflegt, sondern einzeln arrangiert, sein Arbeitsmantel immer sauber wie auch seine Hose. Bedächtigen Schrittes und mit ernster Miene verließ er sein Büro zur manuellen Arbeit abseits des Zeichentisches und des Telephons. Er war unbeliebt bei den Maxen, ein Komplexler, wie der Feiblmax es ausdrückte. Er war wie eine Bedrohung, eine tägliche Bedrohung der Psyche der Maxen. Ja, er wirkte psychologisch auf sie ein, schon allein damit, dass er sie meist nie mit dem Namen anredete, dass er sie schon befragte, bevor er ihnen etwas gezeigt hatte, die Art, wie er sich verhielt, wenn er einen Pfusch feststellte: Er verhielt sich, als ob er nichts anderes erwartet hatte, nach dem Motto: "Natürlich, wie könnte es auch anders sein". Er machte jeden zum Versager. Oft fragte er einen und gab sich die Antwort selbst, ohne dem Gefragten die Chance oder die Zeit zum Nachdenken zu geben. Das klang dann so: "Weil du es wahrscheinlich sowieso nicht weißt, werde ich es dir sagen....." Oft rätselten die Maxen, warum er so war, was er davon hatte, wenn er sie so erniedrigte, linkte, ignorierte. Da kamen sie zu den verschiedensten Theorien. Dieser Seltsamer, der sich pausenlos die Hände wusch und eincremte, war klein, verdammt klein, wie Jaga es einmal ausdrückte. Jaga vertrat einmal die Theorie, dass er deshalb so seltsam und tyrannisch war, weil er klein war. Es war natürlich schon zu beobachten, dass er größeren Menschen gegenüber sehr unsicher wurde, wenn sie ihn zum Beispiel anlachten, was er vermutlich als Auslachen interpretierte. Bei einer längeren Diskussion in der Mittagspause überdachte Jaga seine Theorie und überlegte, ob Seltsamer wirklich so unausstehlich war, weil er klein war? "Eines steht fest, Burschen, der Mann hat offensichtlich Komplexe, Minderwertigkeitskomplexe, da bin -1 6 -
ich sicher. Aber ob das mit seiner Körpergröße zusammenhängt? Schaut euch einmal um, jeder Mensch scheint irgendwo überragend sein zu wollen, um ein Makel oder eine Schwäche dadurch auszugleichen. Man ist oft mit etwas an sich unzufrieden und will durch eine besondere Anstrengung auf irgendeinem Gebiet davon ablenken oder diese Schwäche wettmachen. Aber wer ist schon perfekt? Der eine kommt sich zu dick vor, der andere zu dürr, einen anderen stört seine Glatze oder seine roten Haare. Manche Menschen haben Schuppen, Pockennarben oder Warzen im Gesicht oder ein Glasauge. Andere schielen, haben abstehende Ohren oder stottern. Manche merken, dass sie dumm sind. Und dann gibt es eben sehr große oder sehr kleine Leute". Ich frage mich eines: "Kann wirklich nur der ein ausgeglichener Mensch sein, der aussieht wie ein Filmstar, ein Photomodell vom Versandhauskatalog? Unsere Gesellschaft, aber eigentlich brauchen wir uns nur selbst betrachten, orientiert sich zu sehr am äußeren Erscheinungsbild eines Menschen, das ist auch nicht verwunderlich, weil man halt einfach nicht in einen Menschen hineinschauen kann, also beurteilt man ihn zunächst einmal von seinem Äußeren. Dabei kann er für sein Äußeres am allerwenigsten. Er wird also nach dem beurteilt, zu dem er nichts beitragen kann, das für ihn meist unbeeinflußbar ist. So haben in unserer Gesellschaft die Menschen Vorteile, deren Äußeres ansprechend, lieb, unschuldig, schön, ehrlich, anziehend ist. Schon allein ein teurer Anzug trägt dazu bei, dass ein Mensch falsch eingeschätzt wird, nämlich erfolgreich, intelligent, geschäftstüchtig und reinlich. Wie man uns mit unseren dreckigen Händen einschätzt, das habt ihr ja schon gemerkt. Ihr braucht nur an unser Büro denken. Irgend ein Manko hat jeder. Damit muß er leben. Wenn er nicht damit leben kann, kann er es möglicherweise ändern. Das kann zwar nicht jeder, aber der Dicke beispielsweise kann abnehmen, der Rothaarige kann sich die Haare färben, der Glatzkopf kann sich ein Toupet kaufen. Doch er wird damit -1 7 -
nicht viel glücklicher werden. Wenn er diesen Mangelzustand nicht ändern kann, kann er natürlich kompensieren: besonders gescheit sein, ein besonders guter Sportler sein, ein besonders guter Klavierspieler werden, sein Leben bei Autorennen oder waghalsigen Klettertouren auf's Spiel setzen, seine ganze Zeit dem Beruf widmen und zum Beispiel als Top Manager Karriere machen. Er kann täglich die Frauen wechseln, die ihm den Eindruck geben, wieder etwas erobert zu haben. Nun, wer kompensiert? Sind es nur die Kleinen, nur die Dicken oder Rothaarigen? Na also. Ich bin sicher, der Dicke wird nicht unbedingt glücklicher und ausgeglichener, wenn er abnimmt, der Rothaarige nicht nach dem Haarefärben. Also wo liegt das wirkliche Problem und dessen Lösung? Wie wär es damit, dass er sich akzeptiert, wie er ist, oder dass er jemanden hat, der ihn akzeptiert wie er ist. Das scheint genau der springende Punkt zu sein: Wer setzt in Autorennen sein Leben auf's Spiel, wer am Berg, wer quält sich 24 Stunden am Tag mit der Geige oder ist auch am Sonntag in seinem Büro. Wer versucht mit allen Mitteln Bürgermeister zu werden? Ich nehme an, es sind Leute, die sich nicht akzeptiert vorkommen, die sich selbst nicht akzeptieren können, die sich zu dumm, zu klein, zu dick, zu häßlich vorkommen. Dabei haben ihnen vermutlich ihre Eltern, ihre Bezugspersonen geholfen, die sie in ihrer frühesten Jugend nie akzeptiert haben, nie so genommen haben, wie sie waren. Auch die Werbung trägt dazu bei, dass wir Idealen nachjagen, die nicht den Normalmenschen darstellen. So wie man Tomaten und Äpfel hochzüchtet und der Mensch nur mehr die großen Äpfel kauft, wobei die kleinen vielleicht die besseren sind, so wird uns auch das Ideal des gut angezogenen großgewachsenen Schönlings mit reiner Haut und vollem Haar und das untergewichtige, zellulitislose Photomodell mit den Idealmaßen als der anzustrebende Standard verkauft. Da ist es nicht ganz leicht, sich zu akzeptieren und ausgeglichen zu sein." Während Jaga seine neuen Theorien und Erklärungsmodelle -1 8 -
von sich gab, lauschten die Maxen andächtig und vergaßen fast auf ihr Mittagessen. Die Mittagsstunde war schon fast aus, und gerade bevor Seltsamer zur Tür hereinkam, sagte der Jaga noch: "Aber irgendwie stimmt es schon, er ist einfach verdammt klein", grinste und schwang sich von der Werkbank. Gut, aus irgend einem der von Jaga genannten Gründe war Seltsamer nicht ausgeglichen, nicht mit sich zufrieden, brauchte die Maxen als Standard, um sich selbst als Übermensch zu sehen. Wann immer sie sich blöd anstellten, etwas nicht verstanden, was er verstand, einen Pfusch bauten, triumphierte er innerlich und wußte, dass er besser und gescheiter war. Alles, was ihn in dieser Position bedrohte, wie beispielsweise das Ignorieren seiner Anweisungen von Jaga, brachte ihn sichtlich aus der Fassung. Dagegen baute ihn das blöde Geschaue von Feibl, wenn er bei einem Pfusch ertappt wurde, augenscheinlich auf, vor allem dann, wenn er Publikum hatte wie den Krainer, der von seinen Läutemaschinen - das waren Elektromotoren, mit denen in den Kirchtürmen die Glocken zum Läuten gebracht wurden - hervorlächelte, oder den Händewascher. Dann hatte er ja auch noch andere um sich, die ihm bestätigten, dass es einen Dümmeren als ihn gab. Dieser Krainer, von dem gerade die Rede war, hatte ja auch eine wichtige Funktion: Er arbeitete an Maschinen, die die Maxen nicht verstanden, obwohl sie wahrscheinlich nicht schwer zu verstehen waren. Nur erklärte sie ihnen niemand. Doch das war Teil des Plans, der Strategie, die den Lehrling immer auf einer niederen Stufe hielt, um die Distanz zu wahren. Erst wenn er älter wurde, durfte er ein bißchen näherkommen und in Dinge Einblick bekommen, die er vielleicht sogar schon im ersten Lehrjahr verstanden hätte. Aber im ersten Lehrjahr sollte der Lehrling ja den Eindruck haben, dass das, was diese Arbeiter machten, meilenweit von seinen Fähigkeiten entfernt war, dass er sie erst nach den ganzen Erfahrungen der Lehre verstehen würde, oder vielleicht überhaupt nie. Nur so aber war -1 9 -
die Distanz zu wahren, das Vorbild des Meisters und der Gesellen aufrecht zu erhalten und zu gewährleisten, dass er sich den Maxen gegenüber später auch so verhält, wie man sich ihm gegenüber verhalten hat. Das war eine Tatsache, die auch Karl am eigenen Leib verspürte, als er sich einmal dabei ertappte, bei den neuen Maxen dieselben Mechanismen laufen zu lassen, die man an ihm erprobt hatte. Krainer war der einzige Geselle in der Abteilung, er war ein Jasager, einer, der das, was Seltsamer machte, billigte. Er war ein Wunschkonzert-Fan, der erzkonservativ war. Er ließ Jaga manchmal am Nachmittag nicht die damalige Jugendsendung Musikbox hören und schaltete auf das Wunschkonzert um. Das paßte zu ihm wie die Kronenzeitung und die Krainer mit zwei süßen Senf und seine Läutemaschinen. Wenn ihm der Karl von einer Fahrrad-Dienstfahrt in die Stadt seine Krainer vom Würstlstand neben dem Limmert mitbrachte, strahlten seine Augen, wenn er die Würste auspackte. Seine Augen glänzten vor Ergriffenheit, wenn er etwas zu Essen sah, so viel Wert räumte er der Nahrungsaufnahme ein, dem vermutlich zentralen Geschehen in seinem Leben. Dieser Mann konnte aber alles, Drehen, Schweißen, Motorwickeln. Leider zeigte er es niemandem, ließ keinen zuschauen. Das einzige, das er einem Lehrling genau erklärte, war die exakte Position des Würstlstandes beim Elektro-Handel Limmert. Krainer verhielt sich immer loyal, wenn Seltsamer glaubte seinen Status unter den Arbeitern dadurch verbessern zu müssen, dass er die niedermachte, die das, was ihnen als Arbeit aufgetragen wurde, nicht verstanden. Jahrelang sah Krainer zu, wie Lehrlinge zu Leerlingen ausgebildet wurden. Diese Tatsache war das verwerflichste an Krainer. Karl unterhielt sich manchmal mit Jaga darüber und konnte keinen Sinn in Seltsamers Strategie erkennen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich der Dicke besser fühlt, wenn er einen noch Dickeren auslacht, der Dumme den Dümmeren, der Kleine -2 0 -
den Kleineren, der mit spärlichem Haarwuchs den Glatzkopf oder der Patscherte den noch Patscherteren, der Stotterer den Taubstummen. Die Maxen waren Seltsamers Methoden völlig ausgeliefert. Sie waren in einer schlimmen Lage, sie hatten mit ihrem Selbstwertgefühl allein schon altersbedingt zu kämpfen, darüberhinaus hatten sie eines gemeinsam, dass sie von ihren Bezugspersonen in der Familie keine positiven Rückmeldungen bekamen, also als Person nicht respektiert wurden. Daher versuchten sie krampfhaft Aufmerksamkeit zu erlangen, akzeptiert zu werden. Dies konnten sie sich nur teilweise gegenseitig geben, waren im System gefangen und erwarteten Akzeptanz genau von den Menschen, die aus dieser Schwäche eigenes Kapital, sprich Aufbesserung der eigenen Persönlichkeit durch Niedermachen der Untergebenen, schlage n wollten. Genau ihnen, Seltsamer und Krainer, wollten sie beweisen, dass sie keine Versager waren. Dabei bemühten sie sich vor allem bei den einfachen Arbeiten sehr schnell zu arbeiten, was ihnen oft sogar Prämien von Seltsamer einbrachte. Gelegentlich konnten sie auch Seltsamer linken, wenn sie unter Jagas Anleitung schwere Bleche mit Haken über die Stiege hinauf tragen mußten. Seltsamer konnte sie ja nur dann beobachten oder hören, wenn sie die Bleche durch die Werkstatt ins Farbenmagazin trugen. Kaum waren sie aus der Werkstatt, rauchte sich Jaga eine Zigarrette an und ließ sich Zeit. Dann wurden gemächlich die Bleche über die Stiege getragen. Sobald aber die Werkstattür offen war, hetzten sie mit den schweren Blechen durch die Werkstatt, dass Seltsamer Jagas Keuchen und ihre schnellen Schritte hören konnte. Kaum wieder aus dem Raum, widmete sich Jaga wieder seiner an der Stiege abgelegten Zigarette und regenerierte sich. Seltsamer war ein kalter, ja sogar eiskalter Mensch, voller Hochmut, Arroganz und Geltungsbedürfnis. Er baute eine Mauer zwischen ihm und den Maxen auf. Er war immer sehr -2 1 -
ernst, den man nur lachen sah, wenn sein Freund Hermann einen derben Witz erzählte oder die Damen aus dem Büro zu Besuch kamen. Seltsamer und Krainer stellten eine bedrohende Umwelt vor allem für Karl dar. Fuhr Seltsamer weg, atmeten alle auf, und Karl konnte alle Maschinen ausprobieren und etwas lernen, paradoxerweise lernte er immer nur dann etwas in der Lehre, wenn der, der ihm etwas lernen hätte sollen, nicht da war. Wenn er da war, mußte man immer und überall mit ihm rechnen, vor allem hinter der eigenen Schulter. Bald tauchte er da auf und schaute skeptisch, bald dort. Unter diesen Umständen brachte Karl überhaupt nichts mehr zusammen. Dieses Bei-der-Arbeitbeobachtet-Werden lähmte ihn völlig, das war schon in der Schule so, wenn der Lehrer während der Schularbeit in sein Heft schaute, und vor allem bei der Arbeit, wenn jeder Schritt, den er tat, jedes Messen und Anreißen, genau beobachtet wurde, jede einzelne Handlung und die Reihenfolge der Handgriffe auf die Waagschale gelegt wurde. Wenn ihm jemand von hinten über die Schulter schaute, der nichts Gutes im Sinn hatte, fühlte er sich von allen Seiten ungeschützt, der Kritik voll ausgeliefert. Seltsamer wollte sich offensichtlich die Hände nicht schmutzig machen, und wenn es unvermeidlich war, wusch er sie sofort, in Unschuld, um sauber weiterarbeiten zu können, nicht so wie der Händewascher, der es hauptberuflich tat, um sich sehen zu lassen, um zu dokumentieren, dass er arbeitete, denn wenn einer nicht arbeitet, werden die Hände nicht schmutzig, also sind schmutzige Hände der Garant für Arbeit, ist das Händewaschen die wortlose Aussage: "Ich habe mir beim Arbeiten die Hände schmutzig gemacht". Seltsamers Zeichentisch war wie seine Hose und sein Mantel, unbefleckt. Auf seinen Plänen gab es keine Patzer, keine verschmierten Bleistiftstriche. Inmitten einer von Fett und Öl umgebenen Arbeitsstätte hatte er sein steriles Domizil, sein Büro, in dem er wie ein Chirurg agierte. Er hob sich dadurch von der dreckigen Arbeiterschaft ab, war keiner von denen, die mit Dreck ihren -2 2 -
Lohn verdienten. Mit Dreck wollte er offensichtlich nichts zu tun haben. Seine Arbeit fand im Kopf statt. Gespräche mit Seltsamer gab es nicht, es gab nur Befehle, Anweisungen, Belehrungen, Kritik oder Niedermachen. Höchstens "Schöne Weihnachten" als Antwort auf "Schöne Weihnachten, Herr Seltsamer" konnten sich die Maxen erwarten. Tägliche Redewendungen wie "Wie geht's" gab es nicht. Eigentlich kannte Karl diesen Menschen überhaupt nicht, er kannte nur die Seite, die befahl und tadelte, dies meist ohne Worte. Zu besonderen Anlässen redete Seltsamer die Maxen auch mit dem kollegialen Wort Freund an, vor allem dann, wenn sie einen Pfusch gebaut hatten. In Wirklichkeit war keiner sein Freund, keiner legte Wert auf diese Anrede, jeder dachte jedesmal, wenn er Freund sagte, ich bin ja gar nicht sein Freund, und schon gar nicht ist er mein Freund. Doch niemand wagte es, ihm das einmal zu sagen, so groß war die Distanz, ja, er hätte auch Volltrottel zu ihnen sagen können, und keiner hätte wahrscheinlich etwas dagegen unternommen, ja nicht einmal im Traum daran gedacht, sich zu wehren.
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die Heizkörper-Crew Eines Morgens saß ein neuer Arbeiter auf einer Werkbank als Karl die Werkstatt betrat. Es war der Fastmax, der gerade vom Urlaub zurückgekommen war. Er war bereits zwei Jahre älter als Karl, da er es schon ein Jahr in der HTL, der Höheren Technischen Lehranstalt, versucht hatte. Als dort der Erfolg ausblieb, hatte ihn sein Vater in die Lehre gesteckt. Jetzt war er im zweiten Lehrjahr und schien es zu genießen, dass von nun an einer da war, der die Dreckarbeit übernehmen mußte, die vor dem Urlaub noch er zu tun gehabt hatte. Er war jetzt in der Hierarchie aufgestiege n und dankte diesen Umstand dem Karl damit, dass er ihm vieles von dem erklärte und zeigte, was er selbst sich bereits angeeignet hatte. Es dauerte nicht lange, und all die Arbeiter, die für diesen Tag noch keine Arbeit ausgefaßt hatten, versammelten sich vor dem erlauchten Raum, in dem sich der Meister aufhielt und schnell noch seine Arbeitskleidung adjustierte und warteten auf die "Befehlsausgabe". Da erschien er, sich die Hände eincremend, und wandte sich nach und nach den Arbeitern zu, bis er sich schließlich eingehend mit dem Fastmax und dem Karl befaßte. Karl ahnte, dass sie für längere Zeit zusammenarbeiten sollten, es war wie ein großes Projekt und nannte sich Heizkörperproduktion. Auch der Feiblmax sollte für gewisse Arbeitsphasen zur Verfügung stehen, ja selbst der Jaga, falls es seine wichtigeren Aufgaben beim Verteilerbau zuließen. Gott sei Dank schien sich der Fastmax bereits damit auszukennen, denn der Karl verstand von den ganzen Offenbarungen des Meisters kein Wort. Als sich der Meister schließlich erhabenen Schrittes entfernte, wandte sich der Fastmax an den Karl: "Hast du kapiert, worum es geht? Heizkörper, mein Freund, monatelang Heizkörper! Kirchenbankheizkörper! Das heißt Blech biegen, stanzen, Gewinde schneiden, spritzen! Sei froh, dass du noch nicht weißt, was auf uns zukommt". Und schon -2 4 -
schwebte er lässig mit seinem blauen Arbeitsmantel die Stiege hinunter und sperrte einen dem Karl bisher unbekannten Raum im Bürotrakt der Firma auf. Dort befand sich eine riesige Blechbiegemaschine und mehrere Rollen Alublech und Eisenblech. "So", sagte der Fastmax, "jetzt werden wir die Bleche in den verschiedenen Längen zuschneiden! Hilf mir die Rollen einspannen!" Bald stellte sich heraus, dass die beiden für die schweren Rollen zu gering übersetzt, also zu schwach waren. Da mußte auch der Feiblmax her und schließlich auch der Jaga, der erst einmal eine Zigarette rauchte, bevor er anpackte. Mit vereinten Kräften wurde dann eingespannt und zugeschnitten. All das passierte sozusagen in der Auslage, denn der Raum hatte nach vorne, also zur Werkstatteinfahrt hin, ein riesiges Auslagefenster. Jeder, der vorbeikam, lachte herein, sogar die Maxen aus der Wickelei mit ihren blauen Monturen, von denen sich der Karl bereits äußerlich unterschied, weil er einen Arbeitmantel trug. Irgendwo mußte doch ein Unterschied sichtbar sein, wie sich der Jaga auszudrücken pflegte. Diese Arbeit dauerte mehrere Tage, dann mußte der Karl mit dem Meister in den Stanzraum gehen. Diese Stanze, die dem Raum den Namen gab, war ein riesiges gußeisernes Ungetüm, das uralt und mit einem Ölfilm überzogen war. Mit riesigen Schraubenschlüsseln befestigte der Meister den sogenannten Stempel in der Maschine. Dieser Stempel war von ihm selbst entworfen und vom Feiblmax in wochenlanger Arbeit an der Fräse geschaffen worden. Immer wieder hatte der Karl den Feiblmax bei der Arbeit zugeschaut und ihn gefragt, was das werden sollte. Er bekam nie eine erschöpfende Antwort, vermutlich deshalb, weil der Feiblmax selbst nicht wußte, was er da machte. Der Meister tauchte immer wieder mit verschiedenen Meßinstrumenten auf und überprüfte das Werkstück, dem Feiblmax äußerst selten zu verstehen gebend, dass er mit der Arbeit zufrieden war. Aber jetzt sollte das Werk des Feiblmax auf seine -2 5 -
Tauglichkeit überprüft werden. Und auch der Karl mußte sich an diesen langen Schraubenschlüsseln versuchen, was dazu führte, dass ihn der Meister fragte, ob er schon einmal etwas vom Hebelgesetz gehört hätte. Das dämmerte dann dem Karl irgendwo im Hinterstübchen, und er sprudelte heraus: "Kraft mal Kraftarm ist gleich Last mal Lastarm." Obwohl er diesen Satz in der Schule gelernt hatte, wußte er nicht, worauf der Meister hinauswollte. Ohne Kommentar steckte dieser ein Rohr über den Schraubenschlüssel und verlängerte ihn somit. Nun war es ihm möglich, eine riesige Mutter zu lockern. Nach dieser Demonstration des Hebelgesetzes schmunzelte er den Karl an, der sich wieder einmal ziemlich überflüssig vorkam und nur registrierte, dass er den Meister das erste Mal mit wirklich schmutzigen Händen gesehen hatte. Auch sein bisher unbefleckter brauner Arbeitsmantel war diesmal in Mitleidenschaft gezogen worden. Obwohl Karl durch die erniedrigende Demonstration des Hebelgesetzes dem Meister gegenüber fast nur Haß empfinden konnte, bewunderte er doch seine Genialität, die ihn dazu befähigte, einen derartig genau geplanten und gefertigten Stempel zu schaffen. Ja, er dachte damals, ein Mann wie Seltsamer würde nie Fehler machen und alles können, was in dieser Berufssparte möglich war. Dieser begabte Mensch war offensichtlich mit einem Gefühl für Maschinen und unbelebte Werkstoffe ausgestattet. Obwohl sich alles in Karl dagegen sträubte, bewunderte er Seltsamer, zumindest seine fachliche Kompetenz, weniger seine menschliche Seite oder gar seine pädagogische. Der Fastmax behauptete immer, Seltsamer mache diese Demonstrationen und Erniedrigungen mit pädagogischen Hintergedanken, er würde also seine Anbefohlenen bewußt "anrennen" lassen, das heißt, jemanden einen Fehler bis zur bitteren Konsequenz durchführen lassen, obwohl das Problem für den Außenstehenden bereits vorher sichtbar war. Das sollte den Effekt haben, dass sie es sich dann besonders gut merkten. -2 6 -
Das konnte der Karl einfach nicht glauben, aber der Fastmax sagte es immer so überzeugend, dass es eine Überlegung wert war. Der Fastmax behauptete auch, dass sich Seltsamer seine Leute genau aussuchte, was für den Karl hieß, der Jaga, der Feiblmax, der Fastmax und er selbst, der Karl, seien Ausgesuchte, aus dem Haufen der gemeinen Maxen erwählte Seltsamer-Maxen, die schon im ersten Lehrjahr Arbeitsmäntel statt Monturen trugen und nie mit der niedrigen Arbeit des Motorwickelns in Berührung kommen sollten. Irgendwie konnte Karl das nicht recht glauben, denn war es nicht dieses Reparieren von Elektromotoren, das der eigentliche Inhalt seines Lehrberufes hätte sein sollen, waren da nicht die Heizkörper, Verteiler und Blechkästen eher etwas Exotisches. Manchmal hörte der Karl von den Wickelei-Maxen auch Schimpfwörter wie Blechkasten-Max oder Spritzmax. Auf so eine Anrede hin warf ihnen der Jaga schon einmal einen Schraubenschlüssel nach. Aber der Karl dachte lange darüber nach und konnte sich noch keinen Reim darauf machen. Schließlich war der Stempel doch nicht so ideal und der Feiblmax mußte ihn überarbeiten. Das gab dem Karl und dem Fastmax genügend Zeit, die ganzen Blechstreifen in den Stanzraum zu schaffen. Die Arbeit im Stanzraum hatte zur Folge, dass der Karl sogar bei der Heimfahrt im Bus noch nach Öl roch. Er war fast süchtig nach diesem Ölgeruch, er roch dieses Öl wirklich gern und sogar Jahrzehnte später sollte ihn dieser Ölgeruch auf Bahnhöfen in aller Welt, bei Rolltreppen und Bussen noch an die Zeit im Stanzraum erinnern. Es war ein ganz eigener Ölgeruch, den dieses Öl an sich hatte, dieses Öl, das er bisher hauptsächlich beim Einölen des Drehbankschlittens nach der Reinigung verwendet hatte. Nachdem dann der vom Feiblmax überarbeitete Stempel entsprechend eingebaut war und der Mantel des Meisters wie auch seine Hände ihren gerechten Anteil an Schmutz und Öl abbekommen hatten, konnte es mit der Stanzerei losgehen. -2 7 -
Berge von Blechen warteten auf den, der die nächsten Wochen in diesem Raum verbringen würde. Es sollte der Fastmax sein. Entsprechend seiner grundsätzlich loyalen Arbeitshaltung stanzte der Fastmax tagelang wie eine Maschine, er stanzte im Akkord aber ohne Akkordlohn, er achtete neben der Schnelligkeit aber auch noch darauf, dass er möglichst wenig Ausschuß produzierte. Da konnte der Karl manchmal beobachten, wie ihn selbst der Meister lächelnd besuchte und dem Fastmax sozusagen sein Lächeln als Akkordprämie schenkte und mit Respekt auf die Menge der gestanzten Bleche blickte. Vermutlich brauchte der Fastmax damals dieses Lächeln der Anerkennung genausosehr wie der Karl einmal ein solches Zeichen benötigt hätte. Und als der Karl den Fastmax so effizient arbeiten sah, war er ihm fast neidisch und mußte die Fastmax-Theorie, dass der Meister pädagogisch und psychologisch alles aufbot, um das Beste aus seinen Leuten herauszuholen, bestätigen. Er schenkte einem ein anerkennendes Lächeln für die optimale Ausführung einer Arbeit, die eigentlich keine Arbeit für Lehrlinge war, koppelte also ein angenehmes Gefühl der Achtung, Anerkennung, des Wertes mit einer an und für sich primitiven und stup iden Hilfsarbeit. Psychologisch war es ihm also möglich, seine Arbeiter so weit zu manipulieren, dass sie diese stupide Arbeit, für die es aber Anerkennung gab, lieber zu tun schienen als richtige Lehrlingsarbeit wie das Wickeln eines Motors, die ja die Montur-Maxen verrichten mußten. Als am Freitag der Zahltag kam, trauten die Mantelmaxen ihren Augen kaum, als sie mehr Lohn erhielten als die Monturmaxen. Auch das war natürlich ein Hinweis darauf, dass sie etwas Besseres waren. Daraufhin konnte die Heizkörper Aktion ja nur ein voller Erfolg werden. Die Maxen waren ja schon regelrecht auf eine effiziente Produktion getrimmt, und der Fastmax war wie ein Zugpferd und wirkte als Vorbild. Selbst in der Nacht träumte er vom Stanzen und verinnerlichte -2 8 -
dieses Geräusch Tatatum Tatatum Tatatum, das mit dem Geräusch in einem Schnellzug zu vergleichen ist, wenn er über die Nahtstellen der Schienen fährt. Es versetzte ihn in Trance wie das Rosenkranzgebet oder ein Schlagzeug-Solo von Ginger Baker. Die Monturmaxen schlugen sich auf die Schenkeln und lachten, wenn sie am Stanzraum vorbeikamen, die Mantelmaxen aber dachten, die Elitemaxen der Firma zu sein. Während der Fastmax mit dem Stanzen beschäftigt war, mußte der Karl natürlich wieder richtige Elektromaschinenbauerarbeit verrichten. Er wurde aus dem eintönigen, aber vertrauten Trott der Heizkörperarbeit immer wieder kurzfristig herausgerissen und mit Aufgaben wie zum Beispiel dem Ausmessen, Anreißen, Bohren und Zuschneiden von Blechkästen beauftragt. Diese Arbeiten hatten eines gemeinsam, bevor sie nicht fertig waren, konnte sich der Karl nie vorstellen, wie sie aussehen würden. Dieser offensichtliche Mangel an Information führte sehr oft zu einem mißlungenen Endprodukt, zu einem Pfusch, den der Meister mit einer äußerst negativen Zuwendung bedachte, einem Blick, der bis tief in die Seele ging und in den Nebennieren alle greifbaren Substanzen gleichzeitig ausschüttete. Der Karl konnte sich damals noch keinen Reim darauf machen und durchschaute die psychologische Komponente der Aktion nicht. Er spürte nur, wie ihn dieses Versagen bei der anspruchsvollen Arbeit so weit brachte, dass er sich nach der stupiden Heizkörperarbeit regelrecht sehnte, weil sie so berechenbar war, weil er beruhigt am Abend schlafen gehen konnte, weil er ja schon wußte, dass am nächsten Tag nichts Unerwartetes kommen würde, weil er mit dieser Arbeit so erfolgreich war, weil er um Anerkennung durch den Meister - ohne dass er es sich eingestehen wollte bettelte. Ganz blöd war der Karl aber auch nicht und ahnte instinktiv, dass dieser Mechanismus, in dem er gefangen war, nicht gesund sein konnte, wenn das so weiterginge, dass er nur die Hilfsarbeit -2 9 -
verrichtete. Er fürchtete, die Lehre zu beenden, ohne wirklich etwas gelernt zu haben. Er spürte, dass etwas faul war, hatte aber Angst, zu versagen. Seine Angst dehnte sich nach und nach auf alle Lebensbereiche aus, er hatte oft Angst und wußte gar nicht mehr warum, aber hauptsächlich hatte er Angst vor dem Versagen. Damit sank sein Selbstwertgefühl auf null. Wenn er nach Hause kam und sich mit Than und Ru unterhielt, merkte er, dass es ihnen nicht viel besser erging, Than in der Lehre, Ru in der Schule. Dann mußten sie sich abreagieren und hielten sich mal da und mal dort auf und ließen den Sound von Jethro Tull und Iron Butterfly aus den Lautsprechern ihrer Röhrenradios, die sie als Verstärker einfacher Radiorekorder, die sie vom ersten Lohn gekauft hatten, verwendeten. Dies war ein Mittel der Frustbewältigung. Beim 13- minütigen Schlagzeugsolo von In-A-Gadda-Da-Vida vergaßen sie den Druck, der auf ihnen lastete, bei Atomheart Mother von Pink Floyd entschwebten sie ins Universum. Für jeden von ihnen war es das Schlimmste, ein Versager im Beruf zu sein, so etwas durfte in ihren Familien nicht vorkommen, in Familien, in denen man seit Generationen nur ein Mensch war, wenn man von früh bis spät arbeitete und im Beruf erfolgreich war. Die drei Freunde aber waren ehrlich zueinander, sie brauchten sich in dem kleinen Freundeskreis nicht durch Angabe profilieren, sie akzeptierten sich auch so, saßen sie doch im selben Boot. Auch Than war mit seiner Arbeit unzufrieden, aber er hatte als Elektoinstallateur wenigstens schon richtig mit dem Strom zu tun, und er war auch ein Bastler, er bastelte elektronische Geräte. Da konnte sich Karl einiges abschauen, er konnte von Than lernen. Manchmal zeigte auch er dem Than etwas, zum Beispiel wie man eine Lichtorgel mit NeonröhrenStartern machen konnte. Er baute auch einen Blechkasten dazu, in den Kontrollampen und Schalter eingebaut wurden. Für diesen Zweck hatte er sich in der Mittagspause den Umgang mit -3 0 -
dem Punktschweißgerät beigebracht. Zu all dem Frust in der Arbeit kam bei den Burschen natürlich auch noch die entwicklungsbedingte Orientierungslosigkeit, das Fehlen richtiger Be zugspersonen, Ideale und Ziele. Die Pubertät rotierte in Karl und er war verletzlich und sensibel, war auf der Suche nach der eigenen Identität und trug etwas in sich herum, das ihn manchmal aggressiv machte, ohne dass ein Grund dafür zu erkennen war, oft auch aggressiv gegen sich selbst, das heißt leichtsinnig, risikofreudig, unüberlegt. Auch hier war es wie mit der Angst, er wußte nicht, woher diese Stimmungen kamen. Er konnte sich auch nicht vorstellen, wozu er auf der Welt war, er wollte wissen, was Gott mit ihm vorhatte. Immer dann, wenn er glaubte, eine Antwort auf seine tausend Fragen zu haben, stellte sie sich als falsch oder unhaltbar heraus. Seine Gefühle betrogen ihn, er konnte sich auch auf sie nicht mehr verlassen, er wußte nicht, wo er herkam, wo er war und wohin er ging, drängte trotzdem ungeduldig der Zukunft, dem Führerschein, der Volljährigkeit, und der vermeintlichen Freiheit entgegen. Er war lediglich gewiß, dass seine Freunde und er im selben Boot waren, obwohl auch sie von ihren Eltern nicht mit der Fähigkeit ausgestattet waren, darüber zu reden, sich zu öffnen. Dieses Im-selben-Boot-Sein war ein Familienersatz, es war ihre Heimat, ihr Zuhause, ihre ganz kleine geschützte Welt. Karl mußte aber auch den ganzen Müll loswerden, der in seinem bisherigen Leben auf ihn abgeladen worden war, in den ersten Jahren seiner Kindheit und in der Schule. Mit diesem Müll war er regelrecht zugeschüttet worden, mit ungetrenntem und unrecyclebarem Müll, geistigem Müll, geistigem Sondermüll, noch bevor in Siggerwiesen die Mülldeponie errichtet worden war. Das kostete Kraft und behinderte ihn durchzublicken, würde noch Jahre dauern, bis er frei atmen konnte. So ließen sie eben in Thans Zimmer ein Schlagzeugsolo so -3 1 -
lange auf sich eindreschen, bis sie der Vergangenheit und Gegenwart entkamen, sich der Fragen, die ihnen durch den Kopf jagten, kurzfristig entledigten und das In-einem- Boot-Gefühl verstärkten. So waren sie zusammen einsam und trieben aneinandergeschweißt, aber ohne Halt im reißenden Strom des Lebens. Ihre Gedanken hoben ab und der Karl kam erst wieder in die Realität zurück, als der laute Weckschrei der Motorstaubremse den Rengerberg und den erbarmungslos nahenden neuen Arbeitstag ankündigte. Was würde an diesem Tag wieder auf ihn zukommen, dachte er sich während des langen Fußmarsches zur Bude, wie die Maxen ihre Werkstatt nannten. Aber es sollte diesmal nicht so schlimm werden. Der Fastmax hatte fertig gestanzt und das Heizkörperteam, dem auch Karl angehörte, sollte nun mit dem Blechbiegen beginnen. Da wurden die gestanzten Bleche in die Biegemaschine gesteckt, ordentlich ausgerichtet und per Fußpedal fixiert. Dann mußte die Biegemaschine von zwei Leuten bedient werden, weil diese Arbeit einen enormen Kraftaufwand verlangte. Diese zwei waren abwechselnd der Feiblmax und der Fastmax, der Jaga und Karl. Um die Bleche im gewünschten Winkel zu kanten, mußte ein Anschlag eingestellt werden, was der Meister in souveräner Art selbst erledigte. Dann wurde unter seiner Aufsicht mit der Arbeit begonnen. Wieder mußte in der Auslage, also vor der großen Fensterscheibe bei der Einfahrt, ungeschützt vor den Monturmaxen, die ständig vorbeigingen und die Mantelmaxen verarschten, gearbeitet werden. Diese Arbeit ging tagelang dahin, der Fastmax hielt sich dabei eher zurück, denn dies war die Domäne des bärenstarken Feiblmaxes, der manchmal die Biegemaschine allein bediente, oft sogar einhändig, was ihm weniger Bewunderung als Schmunzeln von denen einbrachte, die sich eine Zigarette anrauchten, während er seine Kraftdemo nstraton vorführte. Die Maxen wußten, dass sie dieser Arbeit nicht entkommen konnten und machten das Beste daraus, -3 2 -
ja sie hatten sogar phasenweise Spaß dabei und diskutierten alles mögliche. Der absolute Hammer aber war, als sich der Meister dazu herabließ, auch einmal Hand anzulegen und zu biegen. Um seinem Image als Schwächling entgegenzuwirken, wendete er natürlich all seine Kraft auf, was an der starken Durchblutung seiner Gesichtshaut ablesbar war. Das Dumme an der Sache war nur, dass er gemeinsam mit dem Feiblmax bog, der ja schon allein die ganze Arbeit tat. So kam es dazu, dass der Anschlag brach und gefährlich durch den Raum flog. Keiner der Maxen wagte es zu lachen, doch innerlich zerfetzte es sie fast vor Schadenfreude, und der Meister drehte seinen Kopf zum Feiblmax und sprach dessen Nachnamen so aus, wie er ihn immer betonte, wenn dieser einen Pfusch gemacht hatte. "Feibl", sagte er, wie man "du Trottel" oder "du Blingänger" oder "das ist ja wieder einmal typisch" sagt. Er mußte diese Namen nicht verwenden, es genügte, wenn er nur den Nachnamen des Feiblmax aussprach, die Betonung und der Blick machte die ganze Erniedrigung aus. Dieses eine Wort beinhaltete in diesem Moment die ganze Schande des Versagens und traf den Feiblmax wie ein Messerstich ins Herz, er machte aus diesem bärenstarken Riesen in einer Sekunde ein Stück Dreck, vernichtete ihn, nahm ihm die Existenz. Der Meister kam gar nicht auf den Gedanken, dass auch er an dem Schlamassel mitschuldig war. Doch nun mußte repariert werden, das war nicht leicht. Der Anschlag war aus Gußeisen, und das ist schwierig zu schweißen, es mußte so genau gearbeitet werden, dass die alten Winkelmaße immer noch übereinstimmten. Da mußte ein Spezialist her, einer aus der Schlosserei, und während der arbeitete, stand die Partie. Jedenfalls veranlaßte das den Meister, seine gute Laune, die er manchmal zeigte, wenn er sah, dass gut und schnell gearbeitet wurde, für Tage mit schlechter Laune zu vertauschen. Erst Tage danach trauten sich die Maxen über den Vorfall zu lachen und -3 3 -
auch der Feiblmax schmunzelte wieder und erzählte begeistert, dass er in seiner Heimatgemeinde, bei seinem Stammwirt der war, der das Bier aus der Flasche am schnellsten ex trinken konnte. Natürlich mußte er wieder eine Demonstration abliefern und die Zeit wurde gestoppt. Von nun an setzte er sich immer selbst unter Druck, indem er diese Zeit unterbieten wollte. Vor allem der Jaga stachelte ihn immer wieder dazu an und einmal erfand er in der Mittagspause sogar ein Spiel, das der Feiblmax noch bitter bereuen sollte. Er legte auf den Holzboden in der Werkstatt ein kleines Holzstück, setzte sich mit einem Hocker hin und versuchte es mit einem Kabelmesser zu treffen. Der Feiblmax setzte sich ihm gegenüber und schon ging das Zielwerfen los. Sie waren so begeistert, dass die Messer nur so flogen und im Boden steckten. Plötzlich rotierte der Feiblmax auf einem Bein in Richtung Verbandskasten. Der Jaga hatte ihm das Messer auf den Fuß geschossen und leider war der Feiblmax der einzige in der Werkstatt, der offene Schlapfen anhatte. So dauerte es nicht lange, bis auf seinen schwarzen Socken eine vom Kontrast her schwer erkennbare, aber aus Erfahrung rote Flüssigkeit auftauchte, die nichts Gutes erahnen ließ. Der Jaga entschuldigte sich damit, dass er die Messer wusch und wegräumte und dem Feibl genau sagte, wie er sich selbst verbinden solle. Auch der Krainer machte dem Feiblmax den Vorwurf, dass in der Werkstatt eben keine Schlapfen angebracht seien. Dann kam auch noch der Händewascher daher, ein Geselle aus der Kleinmaschinenabteilung, der sich in der Verteilerwerkstatt die Hände waschen mußte, weil in der Kleinmaschinenabteilung nicht nur kleine Maschinen waren, sondern auch die Werksatt selbst zu klein für ein Waschbecken war. Der Händewascher kam oft Händewaschen und hatte immer einen blöden Spruch drauf. Man hatte den Eindruck, dass er mit dem häufigen Händewaschen Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte und außerdem Abnehmer für seine blöden Sprüche suchte. Natürlich konnte er nicht anders als auch -3 4 -
diesmal den Feiblmax blöd anzureden, was dessen Versager Image drastisch verstärkte. Als der Meister die Werkstatt betrat war alles wieder beim alten und der Feiblmax konnte getrost seinem nächsten Pfusch entgegenarbeiten. Im nächsten Arbeitsgang wurden dann Halterungen mit dem Punktschweißgerät in den Heizkörpern befestigt. Dabei wurden tagelang die Bleche auf und ab geschleppt. Die Krönung der Arbeitsgänge war das Spritzen der Heizkörper-Unterteile, und zwar mit goldenem Hammerschlaglack. Auch das unterschied die Monturmaxen von den Mantelmaxen, dass sie nämlich nicht mit einem einfachen grauen Maschinenlack spritzten, sondern mit Hammerschlaglack, der so seine Tücken hatte. Mit Hammerschlaglack konnten nur die Mantelmaxen spritzen, und wenn die Mantelmaxe n einmal einen besonders schönen Motor mit grünem Hammerschlaglack spritzen mußten, dann waren sie sich oft so unsicher, dass sie einen Mantelmaxen fragten. Wenn gar eine größere Fläche gespritzt werden mußte, lieh sich der Meister Herbst einen Mantelmaxen aus, um das zu tun. Der absolute Meister des Hammerschlaglackspritzens war der Fastmax, der so viel spritzte, dass er einmal ohnmächtig wurde und vom Chef selbst gefunden und behandelt werden mußte. Der Vorfall hatte zur Folge, dass das Arbeitsinspektorat sofort die Spritzkabine sperren ließ und einen Umbau vorschrieb. Bevor aber gespritzt werden konnte, mußten die Heizkörperunterteile mit einer stark riechenden halluzinogenen Flüssigkeit entfettet werden. Wenn die Maxen mit der Entfettung beschäftigt waren und zusätzlich ein paar Schluck Bier zur Jause tranken, waren sie vollkommen high und der Alltag wurde zum Erlebnis. Also der Fastmax sollte Heizkörper spritzen und der Karl legte sie im Hof auf Schrägen auf und trug sie in den ersten Stock in den großen Verteilerraum. Das ging tagelang und die Monturmaxen, die im Hof vorbeikamen, machten sich -3 5 -
manchmal über den Fastmax lustig, der ihnen dann ganz cool mit dem Hammerschlaglack ein Kreuz oder einen goldenen Kreis auf den Rücken der Montur spritzte. Der Karl und der Fastmax arbeiteten gut im Team, und der Karl bekam so manch gute Anregung vom Fastmax was das Spritzen von Hammerschlaglack betraf, ja er durfte sogar selbst einige Heizkörper spritzen. Wenn mit dem Fastmax gearbeitet wurde, dann wurde immer schnell und effizient gearbeitet, das würdigte der Meister, indem er von Zeit zu Zeit im Hof oder im großen Verteilerraum vorbeikam, die Heizkörper begutachtete und sich schmunzelnd nach dem Befinden der Crew erkundigte. Er war zufrieden, und diese Zufriedenhe it gab den Maxen die Gewißheit, dass er sie für die Zeit der Heizkörperproduktion in Ruhe lassen würde. Im nächsten Arbeitsgang wurde dann ein Gewinde in die vorgestanzten Löcher der Heizkörperunterteile geschnitten. Karl hielt die Heizkörper und schmierte den Gewindebohrer. Er war beeindruckt, wie der Fastmax mit der Maschine die Gewinde schnitt und äußerst selten einen Gewindebohrer abriß. Das Gewindebohren war nämlich nicht so leicht, und das Abreißen eines Gewindebohrers mit großen Problemen verbunden. Gewindebohrer waren sehr teuer und man mußte sie im Magazin vom Magazinär holen. Der wollte natürlich immer genau wissen, wie und warum der Bohrer abgerissen wurde, erwähnte schließlich den Preis und ermahnte zu absoluter Vorsicht. Karl bewunderte die Geschicklichkeit des Fastmax deshalb so, weil er selbst schon die größten Schwierigkeiten mit dem Gewindeschneiden gehabt hatte: Er war wieder einmal von einer stupiden, aber für ihn angenehmen Arbeit abgezogen worden, um für des Meisters Freund Hermann, der hin und wieder mit Bastelarbeiten vorbeikam, ein Gewinde in mehrere Bohrungen zu schneiden. Es dauerte nicht lange, da steckte der Gewindebohrer im Bohrloch. Karl spannte ihn aus dem Bohrfutter aus und -3 6 -
versuchte ihn im Schraubstock herauszubekommen. Dabei brach er ab. Der Rest mußte herausgebohrt und ein neuer Bohrer im Magazin geholt werden. Dann konnte sich der Karl auf die restlichen Löcher stürzen. Es war ein Aluminiumkörper und die Löcher waren sehr tief, das ausgeschnittene Material verstopfte leicht die Löcher, und immer wieder mußte der Karl den Bohrer herausdrehen und das entsprechende Loch mit der Druckluft ausblasen. Aber an diesem Tag war das Glück nicht auf seiner Seite. Gerade als er des Meisters Freund Hermann in den Hof fahren hörte, brachte er den nächsten Bohrer nicht mehr heraus. Diesmal handelte es sich um ein äußerst schwer zugängliches Loch, und bevor er es selbst wagte, wollte er sich beim Feiblmax, der gerade in der Nähe war, wichtige Informationen holen. Dieser begutachtete das Werkstück und legte gleich selbst Hand an. Mit einer kraftvollen Zangenaktion schaffte er es, den Bohrer justament zu dem Zeitpunkt abzureißen, in dem der Meister mit seinem Freund zur Tür hereinkam. Jetzt war natürlich der Teufel los. Sich von seinen Leuten bei seinem Freund blamieren zu lassen, war zu viel für Seltsamer. Er sprach das Wort Feibl wieder so aus, dass kein Schimpfwort der Welt damit konkurrieren konnte, nahm dem Karl das Werkstück weg und strafte ihn mit einem verachtenden, Herz und Selbstwertgefühl zerschmetternden Blick und schickte ihn um einen neuen Gewindebohrer ins Magazin. Dort erinnerte sich der Magazinär, dass der Karl ja gerade vor ein paar Minuten einen solchen Gewindebohrer geholt hatte und ermahnte ihn mit einem erneuten Hinweis auf den Preis. Der Karl war fix und fertig und rannte mit dem Gewindebohrer in die Werkstatt, wo der Feiblmax gesenkten Hauptes zwischen den beiden Freunden stand und dreinschaute, als ob er zu sich selbst sagen würde "Ich bin wirklich ein Versager". Dem Karl tat es außerordentlich leid, dass er den Feiblmax in diese blöde Situation gebracht hatte, aber er hatte in diesem Augenblick selbst alle Hände voll zu tun, um sich zu rehabilitieren. Doch jetzt erledigte der Meister selbst -3 7 -
den Rest und händigte gerade noch vor der Mittagspause seinem Freund das Werkstück aus, der es mit Ergriffenheit in Empfang nahm. Wie üblich kam auch gerade der Händewascher zur Tür herein, der natürlich sofort ahnte, dass es wieder Stunk gegeben hatte und blöd grinste. Also bei diesem gefährlichen Unternehmen des Gewindeschneidens, bei dem der Karl schon bei ein paar Bohrungen Schwierigkeiten gehabt hatte, brillierte der Fastmax so sehr, dass er hunderte Gewinde schnitt, ohne einen einzigen Bohrer abzureißen. Er wechselte den Bohrer erst, als er nicht mehr schnitt, worauf sich der Karl diesen Bohrer sofort organisierte, um ihn im Ernstfall im Magazin als stumpfen Bohrer vorzeigen zu können, wenn er wieder einmal einen abriß. Nach dem Gewindeschneiden mußten Klemmen und Zugentlastungen eingeschraubt und Blechreflektoren eingesetzt werden, was nicht besonders schwierig war. Dann aber kamen die Heizstäbe. Bevor man sie verwenden konnte, mußte in diese gläsernen Heizstäbe Heizspiralen eingezogen und befestigt werden. Das geschah in der kleineren Werkstätte. Es war die Aufgabe des Feiblmax. Lange Zeit ging alles glatt, aber als er die fertigen Stäbe wegtragen wollte, rief ihm jemand zu, der Feiblmax drehte sich um und vergaß auf seine Stäbe und schon zerbrach ein Großteil an einer Schlagschere. Das Geräusch des brechenden Glases lockte natürlich vom Händewascher bis zum Meister alle an und der Feiblmax war wieder einmal das Objekt der Erniedrigung. Er war tagelang fast unansprechbar und arbeitete mit seinen Heizstäben wie mit rohen Eiern oder Handgranaten. Ein einziger Glasstab kostete nämlich so viel wie ein Gewindebohrer, nur um eine Vorstellung von der Schwere des Vergehens zu erhalten. Mit allergrößter Vorsicht klemmten nun der Fastmax und der Karl die Ausführungen der Heizkörper und die Zuleitungskabel an. Da stellte sich auch der Karl ganz geschickt an, weil er mit seinen kleineren Händen besser arbeiten konnte als die anderen. -3 8 -
Mit der Zeit wurde immer schneller und effizienter gearbeitet und der Karl fühlte sich sehr gut, weil er zumindest gleich schnell, manchmal sogar schneller anklemmte als der Fastmax. Sie klemmten um die Wette an, der Fastmax auf der Fensterseite vom Magazin bis zur Werkstattür, der Karl an der Aufzugseite von der Werkstattür zum Magazin. Als der Meister das sah, zog er an den Ausführungen, um zu sehen, ob auch richtig angeklemmt war. Er konnte keine Mängel feststellen und warf einen Blick der Anerkennung auf die Heizkörper-Maxen, die sich mächtig gut vorkamen. Dafür fand sich auch wieder ein extra Hunderter im Lohnkuvert. Der Karl war so begeistert, dass er fast traurig war, wenn er daran dachte, dass die stupide Heizkörperarbeit bald zu Ende sein würde. Am Schluß wurden nur mehr die Abdeckungen draufgegeben und die Heizkörper waren fertig, brauchten also nur noch einer eingehenden Prüfung unterzogen und gelagert werden. Mit einem eigens vom Meister konstruierten Aufzug, den anfangs nur er selbst bedienen durfte, weil natürlich keine Sicherheitsvorkehrungen vor einem Fall in den tiefen Aufzugschacht schützten, wurden die fertigen Heizkörper dann in das Erdgeschoß verfrachtet und in einem eigens dafür gemauerten Bereich bei den Radständern gelagert.
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Zu Mittag In den Mittagspausen traf sich immer die ganze Maxenpartie in einem kleinen Raum der Wickelei, wo die Wickelmaschinen waren und der Hasi seinen Arbeitsplatz hatte. Man traf sich nicht zufällig am Arbeitsplatz des Hasi, nein, dieser Hasi war der Spruchführer in der Mittagspause. Er war ein hervorragender Arbeiter, der aber immer untertrieb und sich selbst als dumm bezeichnete. Er konnte schon hilfsbereit sein, zeichnete sich aber hauptsächlich durch seine Schadenfreude aus, die er vor allem denen gegenüber empfand, die sehr angaben, aber auch vor denen nicht halt machte, die nichts dafürkonnten. Manche lachten insgeheim über ihn, weil er so angepaßt war, weil er italienische Schnulzen in seinem Zimmer zu Hause so laut aufdrehte, dass die Nachbarn wahnsinnig wurden, weil der Hias und er wie siamesische Zwillinge waren und sich trotzdem immer gegenseitig verarschten. Er verbrachte die meiste Zeit in seinem Henndorfer Stammlokal, dem Hennernest, in dem er sich scharfe Mischgetränke hinter die Kiemen goß und so viele Zigaretten rauchte, dass er schon als Lehrling gelbe Finger hatte. Oft ging er deshalb ins Kino, weil er dann zwei Stunden lang kein Geld im Hennernest ausgeben konnte, also sparte. Solch logische Erklärungen für sein Handeln hatte er massenhaft, was die Maxenmeute in der Mittagspause natürlich immer bei Laune hielt. Doch was die Arbeit betraf, war er wirklich ein Könner. Er arbeitete schnell, zuverlässig und genau. Das sicherte ihm einen gewissen Status unter den Maxen, die ihn oft um Hilfe bitten mußten. In den ersten Lehrjahren drehten sich die Gespräche jeden Tag ums Moped. Der Spruchführer war immer der Hias, der zusammen mit Harald Jaun ein eigenes Vokabular aufbaute, das das Wort Moped so gut als möglich vermied. Es war immer nur von Eisen und Hobel und ähnlichen Begriffen die Rede, und wer -4 0 -
einen Delorto Vergaser nicht kannte, der konnte sowieso nicht mitreden. Das Mopedgeschwätz gab es Tag für Tag. Karl konnte es bald nicht mehr hören, aber die Alternativen waren gering, Hasis Werkplatz war einfach das Kommunikationszentrum. Oft gab es auch etwas zu lachen. Meistens über den Hias, der, obwohl er sich bei den Mopeds am besten auskannte, immer die kaputtesten Eisen anschleppte, einfach deshalb, weil er beim Verkäufer mit seinen Kenntnissen prahlte und dieser ihm dann leicht einreden konnte, dass die Reparatur für einem Mann mit solchem Fachwissen ein Kinderspiel sein müßte und obendrein auch billig käme. Da kam es schon vor, dass er ein gar nicht so günstig gekauftes Mopedwrack von Salzburg nach Henndorf schob und mehr Geld für die Reparatur hineinsteckte als ein neues gekostet hätte. Darauf gratulierte ihm der Hasi im Rahmen der Maxenrunde um seinen Arbeitsplatz dann täglich zu dem guten Kauf, bis der Hias dem Stammtisch mehrere Tage fernblieb. Auch das Auffrisieren von Mopeds war tägliches Gesprächsthema. Abgedrehte Zylinderköpfe zur Kompressionserhöhung wurden da als non plus ultra verkauft, was den Karl dazu veranlaßte, sich auf der Drehbank selbst weiterzubilden, als einmal niemand in der Werkstatt war. Der Hasi war eigentlich der Initiator, denn der hatte den Karl gefragt, ob er nicht seinen Zylinderkopf abdrehen könnte, wo er doch in der bessern Abteilung der Firma arbeitete. Daraufhin verbrachte der Karl mehrere Stunden seiner Freizeit an der Drehbank und versuchte sich in der Produktion von Messingringen, die er dann den Monturmaxen zeigte. Nach einer längeren Testphase wagte er sich an den ersten Zylinderkopf, hatte aber Probleme beim Einspannen. Schließlich spannte er ihn mit einer alten Zündkerze ein und drehte ein Stück vom Zylinderkopf ab, sodass der Verbrennungsraum kleiner wurde. Das sollte eben die Kompression erhöhen und den Motor stärker machen. Dies war die erste Mopedfrisur, die -4 1 -
der Karl durchführte, und derjenige, der den Motor dann ausprobierte, hatte sogar das Gefühl, dass er schneller sein würde. Es dauerte nicht lange und der Hias war wieder voll da und bestimmte die Gespräche in der Mittagspause. Jetzt gings um den Salzburgring, den er immer nur als Ring bezeichnete, und um das Rennfahren an sich. Er verbrachte ja jede freie Minute an seinem Ring und verehrte einen Mechaniker mit dem Namen Edi, der es schaffte, jedes Motorrad so um den Ring zu treten, dass die Fußraster angekratzt waren, weil sie in den Kurven streiften. Das mußten die anderen Maxen monatelang hören. Ein anderer unverbesserlicher Spruchführer in der Mittagspause war Harald Jaun, ein Max, der erst später zur Mannschaft gestoßen war, weil er es ursprünglich in der HTL probiert hatte, jedoch offensichtlich nicht sehr erfolgreich gewesen war. Dieser Jaun war mit allen Wassern gewaschen und hatte den Wissens- und Erfahrungsvorsprung eines Stadtkindes und Schulabbrechers. Er konnte also viel erzählen, auch über Mopeds, und der Hias lauschte ihm wie einem Referenten eines Motorradrennstalls. Schließlich stieß noch einer zu der Runde, Gerhard Gartl, die Gründe für seinen verspäteten Einstieg waren nicht ganz klar. Er hatte bei den Bundesbahnen in der Lehrwerkstätte begonnen, aber wieder aufgehört. Er fügte sich bald in die Gemeinschaft ein, war aber ständig Objekt von Feindseligkeiten und Verspottungen. Er war zwar mit seinem Mundwerk stets zur Stelle, war aber körperlich schwach, obwohl er riesengroß war. Irgendwie war er zu gutmütig und wurde ausgenutzt. Auch arbeitsmäßig waren ihm die anderen natürlich durch den früheren Eintritt voraus, und er machte alle Fehler, die die anderen schon gemacht hatten, fragte all die Fragen, die die anderen schon gefragt hatten. Und er hatte eine Montur mit einer Latzhose, die eher für Tischler als für Metallbearbeiter gedacht war. Auch seine Art, sich fortzubewegen, erinnerte an die alten -4 2 -
Zyklopenfilme und die Munsters. Als er dann auch noch versuchte, direkt in die von Hias und Jaun dominierte Mopedthematik einzusteigen, wurde er von den Experten in seine Schranken verwiesen. Hias und Hasi waren keine Angeber, sie waren eher Tiefstapler, dagegen war der Jaun ein richtiger Angeber und der Gartl hatte zwar selbst nichts erlebt, kannte aber immer einen, der genau das schon gemacht hatte, von dem die anderen redeten. Es war kaum auszuhalten, den Gesprächen dieser drei Leerschatzer zuzuhören. Sie redeten aber unentwegt, während der ganzen Mittagspausen, fast immer über Mopeds. Jaun gab an, erzähle eine unglaubwürdige Begebenheit, Hias und Hasi hörten fasziniert zu und bestätigten, dass das möglich sei, dass sie es aber nie könnten, Gartl behauptete, er kenne einen, der das schon gemacht hatte und noch ein bißchen mehr. "Ja, Ja," waren sich dann alle einig und sagten, "und dann bist du aufgewacht, Gartl, und dein Bett war naß. Ha Ha Ha." Obwohl der Karl fast jeden Tag beim Hasi-Stammtisch an dessen Arbeitsplatz war, interessierte alle anderen Mantelmaxen diese lähmende Unterhaltung natürlich nicht. Nur der Karl ging in die andere Werkstatt hinunter, weil er die Henndorfer ja auch im Bus immer traf und weil er mit ihnen zur Schule gegangen war. Er beteiligte sich auch an den Diskussionen, war aber eine Randerscheinung. Obwohl er auch ein Mopedfanatiker war, merkte er, dass die alleinige Abdeckung dieses Themas nicht alles sein konnte, was die Mittagspause zu bieten hatte. Aber er war in dem Umfeld gefangen und ertappte sich manchmal dabei, selbst mit dem Thema Moped anzufangen. Der Hasi erzählte aber auch manchmal über seine Eskapaden im Hennernest oder über die markanten Leute im Bus, beispielsweise drei Henndorfer Brüder, von denen jeder in seiner Art interessant war. Da gab es Billy, den jüngeren der Brüder, der so scharfe Brillen hatte, dass er einem ein Loch in das Hemd brennen konnte, wenn die Sonne hinter ihm stand. -4 3 -
Vitus, der mittlere, war so stark, dass er seinen 500er Puch in die Parklücke heben konnte, und der älteste war so groß, dass er in den alten Bussen den Kopf schräg halten mußte, wenn er keinen Sitzplatz bekam. Da konnte auch der Karl manchmal mitreden, weil ja auch er oft im selben Bus saß und weil er zusätzlich noch jene Typen beschreiben konnte, die zwischen Neumarkt und Henndorf einstiegen, zum Beispiel einen schlitzohrigen Bauern, der fast täglich in Hankham zustieg und sich beim Einsteigen jeden genau anschaute, bevor er sich niedersetzte. Wenn er einen vergessen hatte, drehte er sich sogar im Sitzen noch einmal um, um nur ja keinen auszulassen. Dann gab es noch den Ledernacken, einen älteren biberartigen Mann, der beim ersten Stop in Henndorf zustieg. Der Bursche roch immer nach Alkohol und anderen Substanzen, war absolut ungepflegt und hatte einen dreckigen Nacken, auch der Kragen seiner Jacke war wie Leder. Eine Partie Frauen mit Kopftüchern stieg dann in Eugendorf bei der Parkettfabrik Brüderl und Hauser aus. Und dann drängten sich noch beim Berghof Graml in Esch sonderbare Leute in den Bus, unter denen ein Mann und sein ca. sechzehnjähriger Sohn besonderes Interesse erweckten. Erstens hatten sie immer irgendwelche Kappen auf, und zweitens gab der Bub, wenn sie beim Hofwirt ausstiegen, seinem Vater immer die Hand und sagte: "Pfürt dich, Papa". Das war dann für Karl und wenn sie im selben Bus fuhren, auch für die zwei Henndorfer das Zeichen, auszusteigen. Nach dem "Pfürt dich, Papa" mußten sie raus. Das war beinahe wie die Jausenglocke oder die Motorstaubremse, oder der Wecker. Hasi erzählte auch gerne vom Gondler, dem Diskjockey im Hennernest, den ein besoffener Gast einen Finger brach, weil er seine Lieblingplatte nicht auflegen wollte, der, um Hundeschmalz für die speziellen Salben seines Chefs, des Postwirts, eines nebenberuflichen Heilpraktikers, zu beschaffen, losgeschickt wurde, einen alten Hund zu kaufen. Gondler kaufte -4 4 -
den Hund, zerrte ihn nach dem Einkauf aus dem Haus seines früheren Besitzers und wollte ihn ohne lange Verzögerungen mit der Winchester aus der Waffensammlung seines Chefs auf dem Pflaster vor dem Haus erschießen. Er war aber ein so schlechter Schütze, dass selbst nach mehreren Schüssen, deren vom Pflaster abprallenden Querschläger alle Schaulustigen vertrieben hatten, der Hund immer noch röchelte und vom 14-jährigen Sohn seines Chefs mit einem Messer erstochen werden mußte. Diese Geschichten vom Gondler unterbrachen das Mopedgewäsch zwischendurch immer wieder und die Geschichten, die der Hasi erzählte, und über die der Hias so lachen konnte, waren so unglaubwürdig, dass der Karl eines Tages den Gondler besichtigten mußte, um von der Wahrheit der Geschichten überzeugt zu sein. Manchmal versuchte sich auch der Karl im Geschichtenerzählen. Vor allem dann, wenn er über den Karlmetzger Hias erzählte, der im Turnverein, in dem der Karl am Montag immer trainierte, ständig Objekt von Feindseligkeiten war. Diesen Hias hatte man im Wirtshaus einmal in eine Wette verstrickt. Die Turner wetteten mit ihm um einen Doppelliter Wein, dass einer von ihnen, der Schneider war, all die Knöpfe, die sein Gilet zierten, in einer Minute annähen könnte. Das glaubte der Hias natürlich nicht und ließ sich zu der Wette überreden. Schon schnitten sie ihm Stück für Stück die Knöpfe von seinem Gilet und der Schneider machte sich bereit, indem er Zwirn in eine Nadel einfädelte. Nachdem die Stoppuhr gedrückt war, begann er emsig zu nähen, brach aber nach 20 Sekunden ab und sagte: "Das schaffe ich nicht." Unter dem Gelächter der Turner wurde dem Hias ein Doppelliter Wein ausgehändigt, bevor man ihn mit einer Handvoll Knöpfe nach Hause schickte. Seine Frau empfing den Mann im offenen Gilet natürlich mit wenig Begeisterung. Mit solchen Geschichten vom Karlmetzger Hias, der auch Jäger war und genügend eigene Geschichten, gespickt mit Jägerlatein, zu -4 5 -
erzählen wußte, konnte der Karl das Mopedgelaber manchmal unterbrechen.
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Das Moped Eines Tages war es so weit. Hasi aus Henndorf hatte für Karl ein Moped gefunden, das einmal das schnellste Moped Henndorfs gewesen sein soll. Also fuhr man los, es abzuholen. Der Zustand des Mopeds ist kaum zu beschreiben, denn der Umstand, dass es einmal sehr schnell gegangen sein soll, war auch Grund dafür, dass es entsprechend "gebraucht" war. Natürlich fand der Verkäufer auch den Typenschein nicht mehr, aber all das war jetzt völlig nebensächlich, der Hobel mußte einfach her, schließlich wußte man ja, wie man so ein Moped repariert und ein Duplikat für einen Typenschein bekommt. Zuerst einmal wurde das Moped total in seine Bestandteile zerlegt, dann Ersatzteile gekauft oder in der Werkstatt angefertigt. Das ist jetzt schnell geschrieben, dauerte aber äußerst lang, ja, es gab Zeiten, da war zu befürchten, dass es überhaupt nicht mehr fertig werden würde. Karl war ja wahrlich ein Meister im Zerlegen und Verlegen. Schließlich war der Hobel aber doch so weit, dass er zum sechzehnten Geburtstag fertig wurde und auch die begehrte Nummerntafel mit dem Zulassungschein erhielt. Schon in die Firma nahm Karl einen billigen Whisky mit und für den Abend hatte er Jaga eingeladen, mit ihm und anderen Freunden in Henndorf zu feiern. Nach dem Dienstschluß wurde Jagas VW Käfer mit Hilfe mehrerer Maxen durch Anschieben gestartet, und ab ging's nach Henndorf. In einer Disco war ein Tisch reserviert, Freunde und Freundinnen wurden erwartet. Auf Anraten von Jaga wurde Vodka getrunken, was Karl bereits sehr früh unfähig machte, sich auf der Tanzfläche auf den Beinen zu halten. Schließlich brachte ihn Jaga nach Hause, und Karl schlief sich den Rausch aus. Der nächste Tag war ein dienstfreier Samstag. Als Karl zu sich kam, entdeckte er, dass er seine Geldtasche mit dem Busausweis, der Versicherungsnummer und dem begehrten Zulassungsschein verloren hatte. Da er sie nicht wieder bekam, mußte bald das -4 7 -
nächste Duplikat her. Das erwähnte ehemals schnellste Moped Henndorfs erweiterte natürlich den Aktionsradius enorm. Than, Karl und Ru erkundeten nun die Discotheken der näheren Umgebung. Wenn man von der Arbeit angefressen war, wurde mit dem Moped der Frust rausgelassen, die sogenannte Aurunde, eine wilde Fahrt in eine Aulandschaft mit Abstechern ins Gelände, brachte für Than und Karl die ersehnte Entspannung. Ru war Schüler und konnte sich oft den Benzin nicht leisten. Wenn ihn dann die anderen fragten, warum er nicht zu einer Ausfahrt mitkomme, hatte er immer Kleingeld im Hosensack mit dem er dann schepperte, um ohne Worte auszudrücken, dass er nicht tanken konnte. Da griffen dann manchmal die Lehrlinge in die Tasche und spendierten ihm ein paar Liter Sprit. Manchmal kam es aber auch vor, dass Ru auf Grund von Spritmangel nicht mitfuhr, dann aber doch am selben Tag mit dem Moped gesehen wurde. Weit weg kam Karl mit Than und Ru aber nicht, die waren Stubenhocker. Da war ein Freund aus Henndorf, Ritchie, schon unternehmungslustiger. Er war Schüler in einer Schule für Flugzeugmechaniker in Langenlebarn. Wenn er seine Ferien in Henndorf verbrachte, war er viel mit Karl beisammen. Ritchie war im Internat, auch seine Eltern waren geschieden, daher war auch er sehr frei in seinen Unternehmungen. Eines Tages beschlossen die beiden, einen Freund in Gmunden zu besuchen, das sagten sie zumindest zu Hause. Sie reisten aber mit Schlafsack und Paß nach Gmunden ab, was etwas verwunderlich war. Die Mopedfahrt ging tatsächlich zuerst nach Gmunden, wo sie den Freund nicht antrafen und schließlich in einem Stadel übernachteten. Am nächsten Tag gab's bereits einen bösen Sturz von Ritchie, der von Karl in einen Straßengraben gelegt und fachmännisch verarztet wurde. Er hatte Schürfwunden am ganzen Körper, vor allem aber an den Händen und jammerte wie ein Schwerverletzter. Karl war aber ziemlich angefressen auf ihn, weil er nämlich nicht mit -4 8 -
seinem eigenen sondern mit Karls Moped gestürzt war und Licht und Fußraster demoliert hatte. Er wollte auf einer kurvigen Bergstraße ausprobieren, ob Karls Moped höhere Kurvengeschwindigkeiten zuließ als sein eigenes. Nach Ritchies Notversorgung mußten dann Ersatzteile eingekauft und das Moped repariert werden. Die Nacht verbrachten die beiden dann wieder in demselben Stadel in der Nähe von Gmunden. Am frühen Morgen beschlossen die beiden, überhaupt eine ordentliche Reise zu machen und nach Italien zu fahren. Ihre Hosen waren so dreckig vom Stadel und vom Sturz, dass es aussah, als ob sie schon dort gewesen wären. Gesagt, getan, auf ging's über den Großglockner nach Italien. Ritchies Moped war viel schneller als Karls Moped. Es war neu und mit einem überragenden Motor ausgestattet, dem auch der abgedrehte Zylinderkopf und die ausgeschliffenen Überströmkanäle an Karls Eisen nichts anhaben konnten. Solange es Kurven gab, in denen er sich hineinlegen konnte, dass die Fußraster streiften, wie Hias es von Edi Stöllinger erzählte, konnte Karl am Mann bleiben und den Vorsprung, den Ritchie auf der Geraden herausholte, wieder wettmachen. Auf den langen Geraden aber fiel er oft gnadenlos zurück. Übernachtet wurde immer in Heustadeln, und gegessen wurden anfangs Konserven, die sie von zu Hause mitgenommen hatten. Es war wirklich ein Wunder, dass diese Mopeds täglich 6 bis 8 Stunden Vollgasfahrt ausgehalten haben. Die Hände waren von der Sonne ganz rot. In Cortina d'Ampezzo, lösten sich bei Karls Moped die Bolzen, die den hinteren Radkranz hielten. Zum Glück hatte er neben dem Verbandszeug auch 10 kg Werkzeug mit. Dagegen war die Kleidung auf 2 T-Shirts und eine Hose beschränkt. Nach tagelanger Vollgasfahrt und gestärkt von Jagdwurst-Konserven und Nutella Broten rollten die Jungs in Venedig ein. Diese lange Brücke über das Meer war wirklich imposant, die Tatsache aber, dass die Kupplung von Karls Moped gerade hier verrückt spielte, beunruhigte die Freunde sehr. Sie waren so -4 9 -
erschöpft, dass sie sich Venedig gar nicht anschauten und legten sich im Schatten auf dem Asphalt nieder. Einer mußte immer wachen, dass nichts gestohlen wurde. Man entschloß sich, nach Jesolo zu fa hren und dort zu übernachten. Selbst die damaligen Preise waren den beiden zu teuer, deshalb gab es auch in Jesolo wieder Brot mit Nutella. Gegen Abend mußten sie sich natürlich um ein Quartier umsehen, das war nicht so leicht, wie in den Tagen zuvor, denn es gab hier keine Stadeln. Da kam ihnen entgegen, dass zwei Italiener eine Fahrgelegenheit suchten, um nach Hause zu kommen. Da mußte man sich natürlich anbieten. Karl und Ritchie waren hungrig und durstig. Man tischte aber nur Wein und Käse auf. Die Verständigung war nur auf Englisch möglich. Die Italiener konnten aber maximal 20 Wörter, und die auch nur mit Zusatzzeichen der Arme und Beine. Schließlich stellte sich heraus, dass es auch mit der Übernachtung nichts werden würde und die zwei fuhren spät in der Nacht nach Jesolo zurück. An einer Straße sahen sie ein paar Zelte und Lastwägen. Dort stellten sie auch ihre Mopeds auf und legten sich neben sie mit ihren Schlafsäcken in die Wiese. Doch mit dem Schlafen sollte es nichts werden. Zuerst beschleunigten die Italiener ihre Motorräder genau auf dieser langen Geraden, dann fing es zu tröpfeln an und schließlich fiel Karl, als er gerade eingeschlafen war, das Moped auf die Beine. Am nächsten Tag schliefen sich die beiden erst einmal am Strand aus, mußten dann aber bald aus Geldmangel die Heimreise antreten. In Spittal an der Drau sahen sie sich zum letzten Mal, dann hörten sie erst zu Hause wieder voneinander. Die Mütter staunten nicht schlecht, als die nach Gmunden Aufgebrochenen schließlich aus Italien nach Hause kamen, das schien ihnen nicht geheuer zu sein. Es war aber wirklich eine abenteuerliche Fahrt, und sie sollte nicht die letzte gewesen sein. Than und Ru waren auch irgendwie beeindruckt, konnten sich aber nie aufraffen, weiter als 50 km wegzufahren.
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Ein Schlafdorf erwacht Noch bevor Karl 16 Jahre alt war und mit dem Moped fahren durfte, geschah in Neumarkt etwas, das den Ort zu dem machte, als was man ihn heute gerne sehen würde, zum zentralen Ort des Flachgaus, zumindest aus der Sicht eines Jugendlichen. Bis dahin war der Ort eigentlich ein Schlafdorf. Der Großteil der Bewohner pendelte nach Salzburg zur Arbeit und kam zum Schlafen heim. Der Feuerwehrball und das Seefest waren die einzigen Ereignisse, die das Jahr zu bieten hatte. Nun aber kam der Annahof mit angeschlossenem Internat nach Neumarkt, eine Mädchenschule, die vor allem aus dem angrenzenden Oberösterreich ein schier unerschöpfliches Reservoir an Gast- und Landwirtstöchtern nutzen konnte. Diese Mädchen brachten nicht nur die einheimische Jugend total aus dem Häuschen, sondern lockte auch so manchen BMW-Fahrer mit Polster in der Hutablage aus dem oberösterreichischen Raum an. War früher der Feuerwehrball der einzige kulturelle Höhepunkt des Ortes, so hatte Neumarkt jetzt das ganze Jahr über Saison. Die Mädchen durften zwar am Abend nicht lange aus dem Haus gehen, aber wenn sie am Sonntag anreisten, gab es immer einen Fünf-Uhr-Tee in der Kegeltenne, einer damals florierenden Diskothek. Auch das Park Cafe und das Cafe Kreuz waren regelrechte Sammelpunkte. Ganz normale Feste wie der Krampustag oder bestimmte Bälle erhielten plötzlich eine Attraktivität, die niemand für möglich gehalten hätte. Zur Ferienzeit dagegen war der Ort wie ausgestorben. Karl, Than und Ru verbrachten wie alle anderen Neumarkter Burschen in ihrem Alter die meiste Freizeit damit, sich zu überlegen, wie man am besten an die Mädchen herankäme. Nicht alle wohnten im Hauptinternat, einige wohnten sogar in unmittelbarer Nähe Thans. Die Mädchen schauten so lange aus den Fenstern, bis Than und seine zwei Freunde die Fassung verloren und den alten -5 1 -
Brauch des Fensterlns wieder aufleben ließen. Than arbeitete ja beim örtlichen Elektriker und konnte so mit seinem Zentralschlüssel die Straßenbeleuchtung des gesamten Ortsteils abschalten, wenn die Scheinwerfer den zu erklimmenden Balkon zu stark beleuchteten. Gerade in Thans Nachbarschaft konnten sich die drei natürlich keine Skandale leisten. Balkone waren oft nicht so schwer erklommen, meist aber war die Ausbeute dieser Einstiege eher unbefriedigend und endete oft mit einer überstürzten Flucht vor dem erwachten Hausherrn. Bei den nächtlichen Einstiegen kamen sie sich oft vor wie Diebe. Einmal fiel Karl mit einem ganzen Holzstoß um, ein andermal sprang sein Moped gerade noch an, bevor ihn ein Hausherr in der Dunkelheit am Kragen packen konnte. Einmal weckte ein Dackel die ganze Nachbarschaft, ein andermal stürzten sie bei einer übereilten Flucht in der Dunkelheit in einen kleinen Bach. Bei den Annahof Mädchen hatten sie einfach nicht solchen Erfolg wie die Draufgängertypen, denen nichts zu blöd war. Zum Aufreißen waren sie manchmal zu blöd, zu ungeschickt. Karl verliebte sich am schlimmsten in die, die ihn nicht wollten, die er nicht wollte, verliebten sich in ihn. Ein zentraler Treffpunkt waren Charlys Parties. Charly war der beste Freund von Karls Bruder. Er hatte ein Kellerstüberl im Haus seiner Eltern eingerichtet. Dorthin wurden die AnnahofBekanntschaften immer wieder eingeladen. Waren die Parties anfangs so schlecht besucht, dass sich die fünf Gäste gegenseitig schon Reißnägel unterlegen mußten, um Akzente zu setzen, so wurden sie schließlich so populär, dass viele der Mädchen sie als Teil ihrer Schulausbildung betrachteten. Die Annahof-Girls waren recht beliebt bei den Jugendliche n im Umkreis von bis zu 40 Kilometern. Manche Burschen hatten sogar schon Autos, die meisten aber kamen noch mit den Mopeds. Die Mädchen waren nicht so eingebildet wie die Schülerinnen bei den Salzburger Parties, sie kamen ja schließlich vom Land, viele aus Oberösterreich, mit einem -5 2 -
Bauernhof oder einem Wirtshaus daheim. Auch Kochen konnten sie, was ja auch kein Nachteil sein sollte. Bei den Parties gab es nur alkoholische Mischgetränke, vor allem Orangen Juice mit Rum, tanzen und schmusen. Das Schmusen stand von der Priorität her an erster Stelle, alles Andere wurde dem Schmusen untergeordnet. Wenn man bei sonstigen Parties Pärchen beim Tanzen schmusen sah, dann konnte man bei Charlies Parties höchstens Paare beobachten, die beim Schmusen zu tanzen versuchten. Einmal kam Karl mit einem anderen Freund zu spät zu einer Party. Als sie das dunkle Kellerstüberl betraten, wurden sie gleich wie wild von zwei Blondinen umarmt und geküßt. Sie sollten erst später herausfinden, dass diese zwei die Übriggebliebenen waren, die von den anderen Burschen vermutlich keiner gewollt hatte. Da aber die Beleuchtung sehr schummrig war und man beim Küssen laut Bravo-Ratschlägen ohnehin am besten die Augen zu schließen hatte, schöpften die zwei Neuankömmlinge lange keinen Verdacht, außerdem fanden sich etwas später bekannte Gesichter, die man ja auch begrüßen mußte. Als Karl aber ein paar Tage später von seinem Bruder darauf aufmerksam gemacht wurde, dass eine Blondine, die gerade aus einem Geschäft kam, diejenige war, die ihn damals so stürmisch begrüßt hatte, mußte er sich fast übergeben und hatte längere Zeit keinen richtigen Appetit mehr auf Blondinen.
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Eigentor Nach dem Urlaub in Italien fand Karl eine neue Situation in der Werkstatt vor. Die Anwesenheit eines neuen Lehrlings versprach Verbesserungen für ihn. Der Meister hatte also wieder einmal einen besonders cleveren Frischgefangenen aus der neuen Lieferung herausgepickt und für sich reserviert. Es war ein großer, kräftiger Bursche, der schon am ersten Arbeitstag mit einem dunkelblauen Arbeitsmantel einrückte, als ob er bereits wußte, dass er seine Tage nicht mit der schmutzigen Arbeit eines Elektromaschinenbauers verbringen, sondern seinen neuen Wirkungsbereich in der oberen Etage finden würde, der Ideenschmiede, dem Atelier der HeizkörperDesigner, dem Ort, an dem die Läutemaschinen erschaffen wurden, die der Firma bundesweite Popularität verschafften. Der Fastmax machte dem Karl schon den Mund wässrig, indem er ihm ausmalte, was sich von diesem Tag an für ihn ändern würde. Erstens würde er die Werkstätte nicht mehr zusammenräumen müssen, das Jauseholen und Flaschensammeln würde entfallen und bei der Heizkörperproduktion würde er eine Stufe in der Hierarchie vom Assistenten zum echten Stanzer, Spritzer und Glasstabendfertiger aufsteigen. Dabei lächelte er, denn auch er sollte eine Stufe aufsteigen und die Stanze nur mehr im Vorbeigehen hören und beim Frontalangriff des Hammerschlaglacks die Fenster schließen. Da der Jaga bald die Gesellenprüfung machen sollte und daher als Vorbereitung für den praktischen Teil auch einmal ein Monat in der richtigen Wickelei bei richtiger Maschinenbauerarbeit verbringen sollte, dachte er natürlich auch daran, vom Meister zukünftig für die Hi-Tech Arbeit an den Verteilerschränken auserwählt zu werden, da noch dazu der Feiblmax für längere Zeit an die Glockenmonteure verliehen worden war. Tatsächlich trug der Meister dem Karl auf, dem Fresh-Max in -5 4 -
sein neues Aufgabengebiet einzuführen, und der Fastmax arbeitete an seinem ersten Verteilerkasten. Der Karl fühlte sich in den folgenden Wochen wie ein Abteilungsleiter und prahlte natürlich auch bei seinen Freunden daheim. In der Mittagspause belagerten nun auch die Fresh-Maxen der Wickelei den HasiArbeitsplatz. Der konnte nun mit seinen Geschichten wieder aus dem vollen schöpfen und war für die Fresh-Maxen wie ein Gott. Auch der Hias mit seinem Mopedgesülze und seinem Salzburgring Berichten kam monatelang gut an. Er hatte Konkurrenz bekommen, was dazu führte, dass das Thema Moped einfach nicht aussterben wollte. Auch der Gartl steuerte seine Beiträge bei, die meist damit begannen, dass er sagte: "Ich kenne einen der..." oder "Ein Freund von mir, der Eduard G., der..." Er hatte also immer einen Gewährsmann zur Stelle, wenn er über etwas berichtete, das er selbst nie erlebt hatte, somit vergrößerte er seinen Erfahrungsschatz, aus dem er schöpfte, quadratisch. Irgendwie waren zu dieser Zeit alle Alt-Maxen nahezu glücklich, einfach weil sie nicht mehr die Maxen waren, weil sie jetzt zu denjenigen gehörten, die Befehle wie "Komm her und hilf mir! Halt das mal. Bring mir... Hol mir... Putz mir..." verwenden durften. Der erste Finger der Macht war ihnen hingestreckt worden, und sie ergriffen ihn mit Genugtuung. Der Fresh-Max in der Entwicklungsabteilung aber machte ganz und gar keinen glücklichen Eindruck und wagte es nicht nur, sich mit den Alt-Maxen anzulegen, sondern auch mit dem Meister selbst. Das konnte nicht lange gutgehen. Ersteinmal versuchte ihm jeder zu zeigen, wo es langgeht und wer das Sagen hat. Er wurde schikaniert, indem man ihm sagte, er solle einen Lichtschalter einschalten, der so angebracht war, dass man sich bei einer Biegemaschine abstützen mußte. Jeder wußte, dass er dadurch einen ordentlichen Stromstoß erhalten würde. Wenn er etwas brauchte oder wissen wollte, verweigerten ihm alle die entsprechende Information. Das führte zunächst einmal -5 5 -
dazu, dass er mit der Ständerbohrmaschine statt einem Blechstreifen gleich mehrere durchbohren wollte, ohne die Streifen in den Schraubstock einzuspannen. Der Erfolg war eine zerschnittene Hand, die ihn für Wochen außer Gefecht setzte. In diesen Wochen lernte er, dass Krankenstand schöner als Arbeit war und machte sich von Zeit zu Zeit einen Tag zum Geschenk. Der Fastmax und der Karl waren ganz und gar nicht begeistert, da sie in diesen Zeiten wieder zu Arbeiten herangezogen wurden, die eigentlich nicht ihrem Niveau entsprachen. Schließlich blieb der Fresh-Max ganz zu Hause und ließ dem Meister einen schönen Gruß von seiner Mutter ausrichten. Der Karl und der Fastmax bekamen die Tragweite dieser Kündigung erst nach und nach mit, als sie erkennen mußten, dass für das gesamte Jahr kein Fresh-Max mehr kommen würde. Also kehrte der Karl wieder zusammen, räumte auf. Hier hätte wahrlich aufgeräumt gehört, in dieser Werkstatt, aber nicht der Dreck, der durch die Arbeit verursacht wurde. Der Fastmax war wieder Produktionsleiter für die Heizkörper. Es wurde wieder gespritzt, gestanzt, gebogen und angeklemmt, und die Monturmaxen schlugen sich auf die Schenkel vor Lache n, wenn sie ihre Kollegen sahen. Das sollte ein ganzes weiteres Jahr so gehen, und so ein Jahr hatte nun mal, wenn man den Urlaub abzieht, elf Monate. Diesmal aber fühlte der Fastmax einen gewissen Lehrauftrag in sich und zeigte dem Karl alle wichtigen Arbeistgänge und Tricks beim Stanzen, aber auch beim Spritzen mit Hammerschlaglack. Er ließ den Karl spritzen und probieren und gab ihm somit einen gewissen Vorsprung für das folgende Jahr. Das war das erstemal, dass ihm jemand etwas wirklich gezeigt hat. Der Fastmax hatte also etwas, das er sich in Monaten angeeignet hatte, in ein paar Minuten weitergegeben. Das war beileibe nicht üblich. Üblich war, dass jeder auf alles selbst draufkommen mußte, weil er es sich dann besser merkte und weil natürlich die Distanz zu den älteren Arbeitern nicht so -5 6 -
schnell aufgeholt werden konnte. Aber der Fastmax verstieß gegen dieses ungeschriebene Gesetz der Nicht-Weitergabe von Erfahrungen, er zeigte Charakter. Vom Fastmax erfuhr der Karl auch, wie er sich andere Fähigkeiten aneignen konnte: "Schweiß in der Schlosserei einfach Eisenstücke zusammen, wenn keiner da ist, probier die Drehbank in der Mittagspause aus, oder wenn der Meister nicht da ist. Warte nicht, bis dir jemand etwas zeigt, schau überall zu und mach's einfach. Der Jaga hat sich das Drehen auch selbst beigebracht und es zu so einer Meisterschaft gebracht, dass sich die Polizei für ihn zu interessieren begann. Vor Jahren hat er Münzen auf der Drehbank nachgemacht und in Zigarettenautomaten geworfen. Er bekam nicht nur Zigaretten dafür, sondern auch Retourgeld und eine Vorstrafe." Diese Ratschläge befolgte der Karl von da an und nützte seine Freizeit dazu. Anstatt sich das Mopedgelaber anzuhören, ließ er sich von einem türkischen Kollegen in der Schlosserei das Schweißen beibringen, testete auch das Punktschweißgerät und schliff Bohrer und Drehstähle, anfangs mit wenig Erfolg. Was daneben ging, warf er weg. Er nutzte jede Gelegenheit, mit all den Maschinen, die in der Werkstatt vorhanden waren, umgehen zu lernen. Auch ließ er sich von seinem Freund Than zu Hause verschiedene Schaltungen erklären und bastelte mit ausrangierten Schützen und anderen Schaltelementen Testanordnungen zum Verständnis der Elektrizität. So ging also wieder ein Jahr vorbei, das, wenn er nicht selbst die Initiative ergriffen hätte, nur eine Wiederholung des Vorjahres gewesen wäre. Doch dann kam wieder ein Sommer und der Karl wollte mit dem Zug Europa erkunden.
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Unterwegs mit Mäxle Nach dem ganzen Frust des zweiten Jahres als Max war es Zeit für einen Urlaub. Der Jaga war gerade aus England zurückgekommen und erzählte davon, dass es bei der Bahn die sogenannte Interrail-Karte gab, mit der man zu dem äußerst günstigen Preis von 1.900.- einen Monat lang in ganz Europa herumfahren konnte. Das war gena u, was der Karl wollte, und er erkundigte sich einmal bei Than und Ru, ob sie mit von der Partie wären. Sie blieben aber aus vielfältigen Gründen daheim. Da versuchte er es bei seinem Venedig- Begleiter Richie, der ja Ferien haben mußte. Dieser war sofort Feuer und Flamme, und so waren die Karten und Schlafsäcke gleich gekauft und der Urlaub angemeldet. Leider bekam der Karl keinen ganzen Monat Urlaub, aber das war dann auch schon egal, und bevor noch richtige Pläne gemacht werden konnten, saßen die beiden schon im Zug nach Venedig, im sogenannten Mostar-Express, den man schon riechen konnte, als er in den Bahnhof einfuhr. Nachdem dann die Insassen ihre Motorräder und anderen Gepäckstücke aus den Fenstern gehoben hatten, konnte man versuchen, einen Platz zu suchen. Karl und Richie entdeckten ein Abteil mit zwei freien Plätzen, das lediglich den Nachteil hatte, dass es bereits von einer Jugoslawen Familie besetzt war, einer fast vollständig verhüllten Frau, einem stoppelbärtigen Mann, der wie eine fleischgewordene Zwiebel roch, und einem Kind samt Kinderwagen in der Mitte. Das Paar war von den Zusteigenden wenig begeistert, weil sie bereits geschlafen hatten. Als Karl und Richie endlich saßen und die Tür zu war, wurde ihnen erst das ganze Ausmaß der Zwiebelausdünstung bewußt, was zusätzlich durch die Tatsache, dass die Schlafenden die Schuhe ausgezogen hatten, unterstrichen wurde. Hier also sollten sie die Nachtfahrt bis Villach verbringen, ein fast unvorstellbarer Gedanke. Irgendwann zwischen Mitternacht und dem Morgen stiegen sie in Villach um und fuhren nach Venedig -5 8 -
weiter. Nichts erinnerte sie mehr an die Mopedfahrt außer der langen Brücke über das Meer, auf der Karls Kupplung gestreikt hatte. Schließlich waren sie wirklich in Venedig, gingen durch die Stadt und wollten sich am Markusplatz niederlassen, um zu rasten und zu jausnen. Als Karl seine Jacke auf den Boden warf, gab es einen derartigen Knall, dass die Tauben nur so aufflogen und die Menschen auseinander rannten. Aus der linken Brusttasche von Karls Jeansjacke rauchte es heraus, die Brusttasche hatte ein Loch. All das stammte von Karls Gaspistole, die er während der Zugfahrt entsichert in der Brusttasche getragen hatte. Die Gaspistole hatte er vom Händewascher um 300 Schilling samt Munition und Manipulation gekauft, der Lauf war durchgebohrt, sodass man auch mit richtigen Patronen hätte schießen können. Ausprobiert war sie nur einmal worden, zu Hause in der Waschküche. Damals hatten Karl und sein Bruder kaum etwas verspürt und deshalb auch gleich einen zweiten Schuß aus dem Magazin abgefeuert. Dann aber hat es ihnen den Schleim aus der Nase und den Augen getrieben, dass sie sich einige Zeit niederlegen mußten. Die Pistole war also getestet und für gut befunden worden. Sie war die 300 Schilling für den Händewascher wert gewesen und für den Urlaub gerade richtig. Jetzt war aber der denkbar ungünstigste Probeschuß am Markusplatz abgefeuert worden, das hätte ins Auge gehen können, und Karl und Richie hatten alle Hände voll zu tun, um nur ja keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, die noch leicht rauchende Jacke wieder aufzunehmen und so schnell als möglich zu verschwinden. Sie streunten dann den ganzen Tag durch Venedig und wollten die Nacht wieder im Zug verbringen, um Geld zu sparen. Für die Aufbewahrung und Absicherung des Geldes hatten sie sich natürlich eine ganz raffinierte Sache ausgedacht. Natürlich hatten sie nur Bargeld. Schecks und dergleichen kannten sie überhaupt nicht. Den Paß, die Interrail-Karte und das Bargeld in -5 9 -
Schilling Banknoten hatten sie in einem Waschlappen aufbewahrt, der mit einem Reißverschluß geschlossen werden konnte und mit einer Schlinge an einer Gürtelschlaufe der Hose befestigt war. Dieser Waschlappen wurde dann unter der Unterhose getragen und sollte so vor Räubern geschützt sein. Das Geld in der jeweiligen Landeswährung hatte Karl in einem Geldbeutel und einer normalen Geldtasche, Richie nur in einer Geldtasche aufbewahrt, die sie einfach im Hosensack hatten. Im Ernstfall sollte ein Räuber also annehmen können, dass das ihre gesamte Habe sei. Rein äußerlich konnte man ja auch nicht gerade annehmen, dass es sich um zwei besonders reiche Reisende handelte, denn nach Jagas Ratschlägen hatten sie für jede Woche ein T-Shirt und insgesamt zwei Hosen mit. Die Rucksäcke waren nicht viel größer als die Lufthansa Tasche, in der Karl immer die drei Wurstwecken für die Jause in der Firma mit hatte. In den Händen trugen sie Plastiktaschen, Jugoslawenkoffer wie sie sie nannten, mit Konserven, die ihnen schon bei der Mopedfahrt gute Dienste ge leistet hatten, vorzüglich Jagdwurst und Leberaufstrich. Sie waren also wieder im Zug und mußten in Mailand umsteigen. Der Anschlußzug ging aber erst am nächsten Morgen. Also schliefen sie am Bahnhof in Mailand auf einer Bank. Das war keine gute Idee. Im Schlaf verspürte Karl einen dumpfen Schlag ins Gesicht. Er wußte plötzlich nicht, ob er noch träumte oder bereits wach war. Dann dachte er, Richie hatte ihn gestoßen, weil der Anschlußzug schon da war. Als er um sich schaute, bemerkte er, dass Richie noch schlief. Er merkte, dass seine Geldtasche aus seiner Hintertasche fehlte und weckte unverzüglich Richie, der sofort seine Taschen durchsuchte, aber nur feststellen konnte, dass eine seiner Seitentaschen aufgeschnitten war und aus dem Rucksack Kaugummis fehlten. Als sie um sich blickten, sahen sie, dass eine mehrköpfige Bande sich einen Spaß mit den Menschen am Bahnhof machte. Sie konnten sehen, wie sie einen schlafenden -6 0 -
Sandler an Händen und Füßen aufhoben und auf den Boden fallen ließen. Vermutlich hatten sie auch versucht, Richies Geldtasche zu nehmen, nachdem sie seine Seitentasche mit einer Rasierklinge aufgeschnitten hatten. Karl fehlte eine Geldtasche mit umgewechselten Lire-Scheinen. Obwohl es nicht sehr viel war, waren beide irrsinnig deprimiert und sauer. Das war wirklich ein guter Morgen, wer weiß, welch schöner Tag das noch werden sollte. Es blieb ihnen aber nichts anderes übrig, als auf den Anschlußzug zu warten. Zu schlafen wagten sie nicht mehr, und überhaupt wollten sie ab dieser Nacht immer abwechselnd wachen. Sie wollten weiter nach Monaco und bestiegen den ersehnten Zug. In ihrem Abteil saßen mehrere Italiener, die die ganze Fahrt die Klappe nicht halten konnten. Aus irgendeinem Grund kamen sie nach mehrstündiger Fahrt ohne Frühstück und Essen bei brütender Hitze darauf, dass sie in die falsche Richtung unterwegs waren. Sie sprachen und gestikulierten mit dem Schaffner, der ihnen schließlich klarmachen konnte, dass auf italienisch für München und Monaco das selbe Wort verwendet wurde und sie auf dem Weg nach München waren, was sie aber nicht wollten. Einer der Italiener, die im selben Abteil saßen, mit dichtem schwarzen Haar, überdimensionalen Kauwerkzeugen und einer Schmollippe, lüftete sein an Brust und Rücken klebendes Hemd, erfüllte das Abteil mit seinem Schweißgeruch und bemerkte dann in seiner hilfreichen Art: "Auf deutsch sagt man: ein bißchen dumm". Das traf die Interrailer nach dem Raub in Mailand wie ein Messerstich ins Rückenmark. Dass man ausgeraubt wurde, sich um hunderte Kilometer verfuhr und dann von so einem Ignoranten als dumm bezeichnet wurde, war zu viel, das ließen sie dem Burschen schon merken, beim Aussteigen, als sie ihre Rucksäcke herunterholten und ihm im Umdrehen eine mit den Seitentasche unabsichtlich überzogen, dem Blödmann mit dem großen Maul. Das sollte er schon spüren, dieser Grattler. Da half ihm auch sein blödes Geschaue -6 1 -
und Geschimpfe nicht. Wenn es Winter gewesen wäre, hätten sie vorher noch das Fenster aufgemacht und ihm nach dem Aussteigen ein paar Schneebälle auf den Schädel gefeuert, dem Trottel, diesem blöden italienischen Klugscheißer. Der würde es sich das nächste Mal genau überlegen, ob er noch einmal einen als dumm bezeichnete, dieser im neunten Monat hirnschwangere Quatschkopf, der Gott sei Dank nicht verstand, was sie ihn alles nannten. Nun saßen sie am Bahnhof von Rovereto in der brütenden Hitze, atmeten die verschmutzte Luft Italiens, die durch die imprägnierten Bahnschwellen eine besondere Würze erfuhr. Nach längerem Warten bestiegen sie einen zwar äußerst stromlinienförmig gebauten, aber um so langsameren Personenzug nach Mailand, der an jedem Misthaufen anhielt und fast den ganzen Tag konsumierte. Sie waren wieder in Mailand und suchten diesmal den Zug nach Monaco Monte Carlo. Das war die genaue Bezeichnung. Der nächste Zug ging aber wieder erst in der Nacht. Noch einmal wollten sie nicht im Bahnhof von Mailand übernachten, und nicht nur deshalb, sondern auch weil sie den Italienern den Raub heimzahlen wollten, gingen sie in die Stadt. Auf einem Stand waren mehrere Kappen aufgehängt. Der Verkäufer schnauzte die zwei Freunde aus irgendeinem Grund an, weil sie nur schauten und nichts kauften, das war sein Pech. Nach einer kurzen Absprache starteten die zwei eine Aktion, die sie noch Jahre danach, nicht aber ihren Eltern oder Kindern, erzählen könnten. Als der Verkäufer einem Kunden etwas zeigte, nahm Karl eine Kappe und rannte so schnell er konnte davon, Richie dicht hinter ihm, der Verkäufer unter großem Geschrei auch, aber mit Bauch. Ja, sein Bauch hinderte ihn daran, den beiden über eine längere Strecke zu folgen. Und so hatten sich Richie und Karl mit der Kappe, die sie ohnehin nicht brauchten und später wegwarfen, an dem Raub, der ihnen am Bahnhof passiert war, aber auch an dem bescheuerten Italiene r im Zug und den -6 2 -
Italienern überhaupt revanchiert. Sie konnten also beruhigt das Land verlassen und in Monte Carlo ihr nächstes Quartier aufschlagen. Die Nacht im Zug verlief problemlos. Karl konnte im Zug gut schlafen, er fuhr ja jeden Tag mit dem Bus zur Arbeit, der schaukelte ja auch immer so wie der Zug, und da schlief er auch immer bald einmal ein, bis dann die Motorstaubremse zu hören war. Die gab es beim Zug ja nicht, da schlief er also noch viel besser. Jetzt waren sie tatsächlich in Monte Carlo, dem Paradies der Reichen, dort, wo immer das Formel 1 Rennen stattfand, wo schon ihr großes Idol Jochen Rindt gefahren war. Der Bahnhof war so mickrig, dass sie es gar nicht glauben konnten, dass hier der Ort war, wo sich die Welt traf, wo das Casino war und der Fürstenpalast, die Jachten und Motorboote. Dass dieser Ort etwas Besonderes war, bemerkten sie aber gleich, als sie sich etwas zu essen kaufen wollten. Sogar das Brot und die Tomaten waren so teuer, dass sie wußten, sie konnten hier nicht lange bleiben, und wo sollten sie schlafen? Das war kein so großes Problem für Karl. Wenn er sonst im täglichen Leben nicht der versierteste war, so fand er doch in Extremsituationen immer schnell eine Lösung, in diesem Fall einen Schlafplatz. Richie wollte immer in einem guten Bett schlafen und ordentlich essen. Das bedeutete dem Karl so gut wie gar nichts. Schlafen konnte er an jeder Straßenecke und zum Essen genügte Brot und Senf, und solange sie noch Konserven hatten, war das Essen sowieso keine Frage. Karl dachte sich, dass irgendwo oben auf dem Berg ein freier Wiesenplatz sein würde, weit abseits der Straße, wo keine Räuber und auch keine Polizei hinkommen würde. So machten sie sich auf den langen Weg den Berg hinauf. Sie registrierten bald, dass das Gras und der Boden hier nicht so weich war wie zu Hause, man konnte sich nirgends niedersetzen, weil überall Disteln und ähnliche Stechpflanzen den Boden bedeckten. Die Nacht brach aber unbarmherzig über sie herein und zwang sie, ihre Schlafsäcke in der Fakirwiese -6 3 -
auszurollen. Sie schliefen schlecht, es stach überall, man hörte überall Geräusche und mußte mit Hunden und Katzen rechnen. Anderseits war es aber genau das, was Karl so schätzte, berühmte Orte nicht nur wie Touristen zu besuchen, sondern genau an diesen Plätzen im Freien zu übernachten, die Sterne und den Himmel vor dem Einschlafen über sich zu sehen, die Laute der Vögel, Insekten, Autos, Züge, Motorräder und Flugzeuge zu hören und der Natur absolut ausgeliefert zu sein, und das alles gratis. Richie haßte das, er war lieber in Häusern, Jugendherbergen, Hotels, aß gern in Restaurants und wollte überhaupt gut leben und genießen. Karl stand auf die Erfahrungen, die man nur als Stadt- und Landstreicher erleben konnte wesentlich mehr. In diesem Fall konnte Richie nicht aus, er war mit Gedeih und Verderb seinem Freund Karl, dem Sparmeister, ausgeliefert, auf den er sich aber verlassen konnte, wie er von der Mopedfahrt nach Venedig wußte. Am nächsen Morgen schritten sie Meter für Meter die Rennstrecke ab, von der natürlich nichts zu sehen war, sie kannten jedoch die markanten Punkte wie die Tabakkurve, das Cassino und vor allem den Tunnel aus den Fersehübertragungen. Vergebens suchten sie nach den Sprunghügeln, die ausgerechnet in diesem Jahr entfernt worden waren. Die Rennfahrerei war wie die Fliegerei eine Leidenschaft, die beide gemeinsam hatten. Wer sonst würde die ganze Strecke zu Fuß abgehen. Unterhalb des Fürstenpalastes fanden sie dann aber auch den herrlichsten Schlafplatz für die nächsten Tage, riesige Steine am Meer. Dort hausten sie in der Gesellschaft von anderen Langhaarigen, die sich mit ihnen in der Nacht bei der Wache ablösten. Sie konnten von dort schwimmen gehen und hatten den idealen Schlafplatz. Sparmaßnahmen drängten sie aber doch nach ein paar Tagen zu Aufbruch nach Nizza. Im Zug trafen sie drei Freunde aus dem Schwabenland, die sie dann die ganze Reise über begleiten sollten, sie hießen Hubert, Hans und Hennes und hatten noch länger Haare als Karl und -6 4 -
Richie. Sie kamen gerade aus Griechenland und schwärmten von den dortigen Preisen. Außer den neuen Freunden hatte Nizza nichts zu bieten, was sie vom Hocker hauen hätte können, so legten sie sich am Tag an den Strand und genossen das Meer. Die damals daheim noch überhaupt nicht anzutreffenden Damen ohne Bikini Oberteil beeindruckten sie außerordentlich und irritierten sie so, dass sie ihre Hosen ausgerechnet in einen Teerlache legten, die an Land gespült worden war. Jetzt mußten sie auch noch Hosen waschen. Sie versuchten es mit Meerwasser und den eigens dafür mitgebrachten Waschmitteln. Die Strandbrause wurde auch zweckentfremdet und die Sonnenanbeter staunten nicht schlecht, als sich die fünf total verwilderten Interrailer an der Strandbrause mit Seife wuschen und die Haare reinigten. Sie kamen sich vor wie neugeboren und das Shampoo rann in einem dicken Bach den Sandstrand hinunter. Es sah so aus, als ob sich schon einige beschweren wollten, als endlich der fünfte seine Waschung beendet hatte. Wie wohltuend es war, sich nach so langer Zeit wieder einmal zu waschen, vor allem, wenn die Haare schon tagelang vom Meerwasser verklebt sind, kann sich ein zivilisierter Mensch wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Als nächstes nahm sich Karl einen ausgemachten Trickser vor, der auf einer Mauer einen Handstand machte und sich von den Zuschauern bewundern ließ. Karl war lange genug beim Turnverein gewesen, um den Handstand nicht nur am Boden oder Barren, sondern auch auf einer Mauer zu beherrschen. Vermutlich hätte er nicht so lange stehen können wie dieser französische Angeber mit seinen mächtigen Armen, aber der stand ja schon eine ganze Zeit lang. Also schwang sich Karl unter der Anfeuerung seiner Freunde neben dem Trickser in den Handstand auf. Dadurch gewannen die Zuschauer den Eindruck, dass das ohnehin jedes Kind hier konnte und der Trickser packte beschämt seine Sachen und haute ab. Das war doch irgendwie ein Spaß für die Freunde, und ein Grinser machte die Runde. -6 5 -
Nach einem wunderschönen Tag am Strand, der jedem einen ordentlichen Sonnenbrand auf dem Rücken eingebracht hatte, suchte Karl nach einem Schlafplatz, konnte aber keinen finden. Da waren wie aus heiterem Himmel zwei Marokkaner zur Stelle, die mit Richie und den Schwaben sprachen, Hubert konnte ja Französisch. Sie zeigten ihnen einen wunderschönen Schlafplatz auf den Klippen, wo das Meer so richtig rauschte und die Wellen wuchtig anbrandeten. Marokko war ja ihr nächstes Ziel, und deshalb waren die Marokkaner auch interessant. Sie konnten auch Englisch und wollten sogar Mädchen auftreiben, die zu ihnen auf die Klippen kommen würden. Die fünf Interrailer waren schon so müde, dass ihnen das Geschwätz der Marokkaner bald auf die Nerven ging. Obwohl laut Abmachung eine Wache aufgestellt hätte werden sollen, schliefen sie nach und nach ein. Das monotone Geräusch der Wellen und die große Müdigkeit trugen das ihre dazu bei. Am nächsten Morgen gab es ein böses Erwachen. Die Rucksäcke lagen offen und durchwühlt umher, Konserven und Kaugummis waren gestohlen, Karls Gaspistole, die er entsichert mit dem Finger am Abzug unter dem Pullover auf dem er schlief versteckt in der Hand hatte, war ebenso weg, wie sein lederner Geldbeutel mit dem französischen Kleingeld, den er sich um einen Finger der anderen Hand gewickelt hatte, um bei einem erneuten Raub sofort geweckt zu werden. Die Müdigkeit und das Geräusch der Wellen hatten also diesen zweiten Raub begünstigt, die Waschlappen in den Unterhosen hatten sich aber wieder einmal bewährt. Trotzdem war der Frust groß und der Haß richtete sich nun nicht mehr nur auf die Italiener und Franzosen, sondern vordergründig auf die Marokkaner, die sogar noch Mädchen bringen wollten. Das war wieder einmal eine große Pleite, und die Freunde latschten gesenkten Hauptes dem Bahnhof entgegen und bestiegen ohne Frühstück mit schreiendem Magen den Zug nach Spanien. Das nächste Ziel war Barcelona. -6 6 -
Die Zugfahrt an der Riviera war sagenhaft schön. Karl konnte sich an der Landschaft nicht satt sehen, er liebte das Meer und die schier grenzenlose Freiheit, die nur durch den akuten Geldmangel ge trübt wurde, aber alles, was die Firma, die Lehre und den Meister betraf, vorübergehend vergessen machte. Es war für Karl wie eine neue Welt, in der er sich hervorragend bewährte, in der er selbständig war und überlebensfähig. Erstmals spürte er das richtige Leben, ein Leben, in dem alles, was er tat, unmittelbar Konsequenzen hatte, existentielle Konsequenzen. Und genau in dieser für einen Menschen seines Alters so schwierigen Situation fühlte er keine Angst, konnte er auf sich bauen, sich auf sich selbst verlassen, mehr als auf alle anderen. Jeder Tag begann so, dass sie nicht wußten, wo sie die Nacht verbringen würden, aber sie fanden immer einen Weg. Karl fühlte ganz stark wie lebensfähig er war. Er leistet seinen Teil für das Gelingen jedes einzelnen Tages, dieses Gefühl gab es in der Arbeit nie. In Barcelona angekommen, wurden erst einmal Celtas gekauft, das waren Zigaretten, von denen ein Packerl lediglich zwei Schillinge kostete. Sie schmeckten scheußlich, sollten aber noch hervorragende Dienste bei Landstreichern und Stadtstreichern in ganz Europa leisten. Wann immer nämlich ein Bettler daherkam, brauchten sie kein Geld herausholen, sondern sie schenkten einfach ein paar Celtas her. In Spanien ging das natürlich nicht, denn jeder Sandler verschmähte die Celtas, die er natürlich kannte. Richie wollte wieder einmal in einem Bett schlafen, so schlug Hubert vor, in eine Jugendherberge zu gehen. Alle waren einverstanden, nur Hubert war der einzige mit einem Jugendherbergsausweis. Als sie versuchten, mit den Pässen Einlaß zu bekommen, waren sie an der falschen Adresse. Ein Bär von einem Mann schrie so lautstark auf sie ein, dass Hubert sofort das Weite suchte. Immer wieder erzählte er davon, wie ihn dieser Schreier, wie er ihn nannte, zu Tode erschreckt hatte. Mehrmals überlegten die Freunde, ob sie es noch einmal -6 7 -
versuchen sollten, Hubert riet aber immer wieder ab, er wollte mit diesem Schreier nichts mehr zu tun haben, auch wenn das bedeutete, dass Karl wieder den Schlafplatz aussuchte. Hubert war eigentlich auch ein Max, er wurde von den anderen Schwaben immer Mäxle gerufen. Dieser Mäxle war blitzgescheit und konnte Englisch und Französisch, ja sogar mit Italienern und Spaniern konnte er sich verständigen, er war eben Schüler. Auch seine Orientierung und sein geographisches, geschichtliches, kunstgeschichtliches und allgemeines Wissen war beeindruckend. Während der Urlaubsreise erweiterte er Karls geistigen Horizont um 1000 Prozent. Sie verbrachten also den Tag in Barcelona bei größter Hitze und mit den Rucksäcken am Rücken. Am Abend schrieben sie Torragona in den Interrail Paß, um über Nacht die Sicherheit des Zuges genießen zu können. Als aber der Zug mitten in der Nacht bei einer Baustelle fast Schrittempo fuhr, konnte sie Karl überreden, aus dem Zug zu springen und am Land einen Schlafplatz zu suchen. Sie legten sich unweit der Bahnstrecke ins Gras, konnten aber kaum schlafen. Der Grund war das süße spanische Brot, das sie irgendwo herumliegen ließen und so ganze Geschwader von Ameisen anlockten, die ihnen schließlich den Schlaf raubten. Am nächsten Morgen wachten sie wie gerädert auf und schleppten sich zur nächsten Bahnstation in einem Ort namens Sitges. Von dort fuhren sie wieder zurück nach Barcelona und bei Port Bou über die Grenze nach Frankreich. An der Grenze mußten sie aussteigen und wurden gefilzt. Wieder war es ein sehr autoritärer Zollbeamter, der Mäxle aufforderte, den Inhalt seines Rucksackes auf dem Tisch auszubreiten. Mäxle erschrak wieder bis auf die Knochen und hätte sich beim Anblick seiner eigenen Schmutzwäsche bald übergeben. Kreidebleich und zitternd bewältigte er die Zollhindernisse und war schon wieder auf dem Weg nach Bordeaux, das sogar der Karl vom Namen des Rotweines kannte. In Bordeaux verbrachten sie eine angenehme Nacht in -6 8 -
einer Jugendherberge, konnten sich selbst und auch ihre Wäsche waschen. Hans war von Karl ganz beeindruckt, weil er seine Hose flicken konnte. Das konnte der Karl wirklich, vermutlich weil es nichts mit dem elektrischen Strom zu tun hatte. In der herrlichen Atmosphäre der Jugendherberge, mit dem wunderbaren Gefühl des Gewaschenseins, erwachte neuer Tatendrang, und Hans gebar die Idee, an die Atlantikküste zu reisen, nach La Rochelle. Auch Karl war begeistert, hatte er mit dem Wort Atlantik doch die wunderbaren Assoziationen Flug und Amerika. Der Atlantik war aber dann eher enttäuschend, in erster Linie deshalb, weil er nicht so warm war wie die Adria, und überall roch es nach Fisch, und Fisch konnte der Karl nicht ausstehen. Als Richie irgend ein Fischgericht probierte, beneidete er ihn kaum, auch wenn er sich selbst nur Baguette mit Senf gönnte. Auf ging's nach Paris. Schon der Name zerrann auf der Zunge: Paris. Aber der Karl dachte auch mit Schaudern an die Hauptschulzeit zurück, als sie alle vor der Wandtafel standen und mit einem wie eine Antenne ausziehbaren Kugelschreiber Orte suchen mußten, die ihnen der Oberschulrat ansagte. Als er Karl einmal schnell und forsch gefragt, besser gesagt eingeschüchtert hatte, konnte er Paris nicht finden, war mit der Antenne die ganze Europakarte bis Finnland und Griechenland abgefahren, konnte Paris nicht finden und wurde zur Sau gemacht. Jetzt waren sie unterwegs dorthin, ins richtige, echte Paris. Als sie mit dem Zug im Pariser Bahnhof ankamen, befanden sie sich im Tiefschlaf und lagen wie tot in ihrem Abteil, bis sie von sehr attraktiven jungen Putzfrauen geweckt wurden. Der Anblick dieser ersten Pariserinnen entlockte dem Mäxle die verwunderte Feststellung: "Dass solche Weiber den Zug wasche müsse!" In Paris, sagte der Mäxle, gäbe es keine Möglichkeit umsonst zu übernachten. Der Karl wollte ihm nicht glauben und wollte es am Bahnhof versuchen. Tatsächlich wurde um -6 9 -
Mitternacht abgesperrt, nachdem alle zwielichtigen Figuren, auch die fünf Abenteurer, entfernt worden waren. Karl hatte keine Probleme und ließ sich Minuten später gleich vor dem Bahnhof nieder und schlief wie die meisten anderen wieder weiter. Nur der Mäxle konnte nicht schlafen. Ein Clochard hatte ausgerechnet ihn als Gesprächspartner auserkoren. Mäxle war auch der einzige der Freunde, der ihn verstehen konnte. Die Kommunikation des Clochards enthielt eindeutige Angebote und Aufforderungen, die er mit dem Herzeigen seines Geschlechtsorgans unmißverständlich machen wollte. In seiner Panik weckte Mäxle den Karl, dem er alles erzählte und der auch noch in den Genuß der Demonstration kommen sollte. Karl schlief nach der Vorstellung sofort wieder ein, Mäxle machte nur die Augen zu, hatte aber die ganze Nacht keine ruhige Minute. Am nächsten Tag mußte ein Hotelzimmer genommen werden, darauf bestand der Mäxle, da gab es kein Jammern und Sparen mehr. Sie nahmen ein Hotel, das diese Bezeichnung nur am Fußabstreifer trug, sonst nirgends. Zwei Doppelbetten für 5 Personen zu einem angemessenen Preis, das konnten sie einige Tage aushalten. Das Klo war zwar am Gang, aber dafür war ein Fußwaschbecken im Zimmer, das man ja während der Nacht auch verwenden konnte. Einer mußte jeden Tag mit dem Schlafsack am Boden liegen. Das Hotel war angesichts der Preisteilung durch fünf nicht sehr teuer und bot den Inerrailern etwas, was sie bisher nicht gekannt hatten, ein Basislager, von dem aus sie eine Stadt erforschen konnten. Sonst war ja jeder Tag ein Abenteuer. Karl hatte auch sonst nie Angst vor der Ungewißheit des neuen Tages. Was konnte ihm schon geschehen? Er hatte schon zwei Lehrjahre hinter sich gebracht, bei denen jeder einzelne Tag die Hölle gewesen war. Paris war die erste Stadt, in der Mäxle seine großen Talente ausspielen konnte. Er war der Reiseführer, kannte alle Plätze und Orte, die sehenswert waren und wußte über alle diese Orte und Plätze etwas zu berichten. Er war damals schon gebildet und -7 0 -
hatte ein umfassendes Allgemeinwissen. Er schaffte es sogar, alle dazu zu bewegen, in den Louvre zu gehen, obwohl der Eintritt natürlich nicht gerade billig war. Bei Schlössern, Kirchen und Palästen war der Karl sowieso zu keinem Besuch zu bewegen. Er haßte diese Bauwerke aus dem Grund, weil sie nur durch Ausbeutung und Erniedrigung, die Knechtschaft und den Schweiß der armen Hunde gebaut werden konnten, die in keinem Reiseführer erwähnt wurden. Je größer und pompöser diese Bauwerke waren, desto widerwärtiger waren sie ihm. In dieser Hinsicht war er immer auf der Seite der Armen. Deren Leben studierte er, wenn sie nachts durch die Straßen von Paris gingen, denen gab er schon einmal ein Baguette oder ein paar Celtas. Dieses Paris wurde kreuz und quer erkundet. Dabei kam ihnen die einfache Durchschaubarkeit der Metro entgegen, die im Gegensatz zum heimischen Salzburger Obus-System ein Kinderspiel war. Außerdem war sie ungemein günstig, besser gesagt gratis. Fahrscheine kauften sie nur am Anfang, dann gab es mehrere Tricks, ohne Fahrschein zu fahren. Meist sprangen sie über die Drehkreuze, während ein anderer den Mann in der Kabine ablenkte, aber sie hatten noch bessere Tricks, die aber dem Mäxle nicht geheuer waren. Wenn er auch vom Wissen her der absolute Star war, zu dem all die anderen aufblickten, so war er doch in den alltäglichen Dingen, vor allem wenn es um Verbotenes ging, äußerst unbeholfen. Dieses Über-dieDrehkreuze-Springen war einfach nicht seine Sache. So kaufte er sich immer ein paar Fahrscheine. Einmal aber hatte er keinen mehr und blieb als einziger hinter dem Drehkreuz. Immer wenn er versuchte zu springen, schaute ihn der Mann in der Kabine an und Mäxle hob seitlich die Arme, was unmißverständlich heißen sollte, es geht nicht. Die anderen kamen wieder zu ihm zurück und zeigten ihm den zweiten Trick: Am Drehkreuz zu warten, bis jemand durchging, sich dann hinten an diesen fremden Menschen so knapp anzuschleichen und mit ihm durch das -7 1 -
Drehkreuz zu gehen. Alle waren wieder drüben, Mäxle hob nur die Arme und schaute verzweifelt drein. Dann faßte er sich aber doch ein Herz und schlich sich an einen Franzosen an. Als ihn dieser von hinten spürte, drehte er sich um und schaute Mäxle an. Das war den anderen nicht viel anders ergangen, es war ihnen aber egal gewesen. Mäxle aber nahm sofort wieder von der Aktion Abstand, ging zurück und hob seitlich die Arme. Da aber die Rush Hour war, fiel er weiter nicht auf und ließ sich doch von den anderen zu mehreren Versuchen überreden, von denen dann einer erfolgreich war. Seine Probleme waren aber noch nicht ausgestanden. Die Züge waren prallvoll und die Türen knallten unerbittlich zu, wenn der Zug abfuhr. Als sich alle noch gerade in den Zug gedrängt hatten und die Türen zuknallten, stand nur einer vor der Tür und hob seitlich die Arme. Er sah dabei aus wie Jesus am Kreuz. Natürlich zwängten sich die anderen bei der nächsten Station wieder aus dem Waggon, um auf Mäxle zu warten. Sie konnten ihn auch gleich wieder im nächsten Zug bewundern, er schaffte es aber nicht, auszusteigen, fuhr also weiter, diesmal aber ohne die Arme zu heben, weil er nicht konnte. Also drängten die anderen in den nächsten Zug wieder hinein und bei der nächsten Station heraus, als sie Mäxle mit gehobenen Armen sahen. Für diesen Tag war er erledigt. Dafür aber trieben sie sich am Abend bei den Malern herum, lungerten auf der Stiege des Sacre Coeur und lauschten Gitarrenspielern, entdeckten das Rotlicht-Viertel und gönnten sich schließlich einen von Mäxle ausgesuchten Wein. Als sie am Morgen ins Hotel zurückkehrten, wurden sie nicht eingelassen. Nach allen möglichen Versuchen half nur mehr der Weg zur Polizei. Ein Polizist von der Wachstube um die Ecke ging mit ihnen und läutete an der Glocke. Als niemand öffnete, steckte er einen Zahnstocher in die Glocke und stellte sie somit auf Dauerton. Als auch das nicht half, sagte er, er könne ihnen auch nicht helfen und ging wieder. Gerade als er weg war, öffnete -7 2 -
eine alte Frau und schimpfte fürchterlich, ließ die späten Gäste aber ein. Täglich fanden sie mehr Gefallen an Paris, das Geld aber wurde immer weniger. Hungrig schlenderten sie durch die Straßen und konnten den Verlockungen der Auslagen, den Grüchen des Weißbrotes und der vielen Lebensmittel am Markt fast nicht mehr widerstehen. Daher nahmen sie das Wort Selbstbedienung all zu wörtlich und kamen aus einem Supermarkt mit den Taschen voller Konserven heraus, nur Mäxle bezahlte eine Kleinigkeit. Fünf Meter vor dem Selbstbedienungsladen setzten sie sich auf eine Mauer und schlangen den Doseninhalt zu ihren Baguettes hinunter. Sie deklarierten es als Rache für den Raub in Nizza! Nach ein paar Tagen verließ Hennes die Truppe und reiste nach Amsterdam weiter. Irgend jemand hatte ihm eingeredet, dass Amsterdam der absolute Hammer war, vor allem wegen der Hausboote und wegen des Haschisch. Er rauchte sowieso so viele Gauloises und Gitannes Zigaretten, dass Haschisch keinen großen Umstieg bedeuten würde. Die anderen vier aber brachen nach London, in die Metropole der Popmusik auf. London war mehr oder weniger der Höhepunkt der Reise, the ultimate experience, in jeder Hinsicht. Mäxle war wieder der Reiseführer, Karl aber hatte vom Jaga bereits Informationen über die besten Schlafplätze in der Tasche. Zuerst aber ging es mit der Fähre von Calais nach Dover. Auf der Fahrt lernten sie Amerikaner kennen, die sie auf die richtige Verwendung der Englischen Sprache vorbereiteten, und auf London selbst. Die beeindruckenden Kreidefelsen an der Küste und die Atmosphäre der guten alten Victoria Station gruben sich als erster Kontakt mit der Insel tief in ihr Gedächtnis ein. Und diesmal waren alle der Sprache mächtig, mehr oder weniger. Der Karl konnte sich auch ganz gut verständigen, auch wenn er sich über die grammatischen Besonderheiten der Frage und Verneinung keine Gedanken machte. "Take it easy", sagten die Amis und entließen sie in die rauhe Wirklichkeit Londons. -7 3 -
Jaga hatte dem Karl geraten, die Nacht in einem Vorort zu verbringen. Also trugen sie spät abends den Ort Orpington in ihren Interrailpaß ein und fuhren los. Sie gingen eine Wohnsiedlung entlang und wollten einfach keinen geeigneten Schlafplatz finden. Doch dann erspähte Karl einen Hang mit Bäumen, wo sie etwas abgeschieden und sicher waren. Alle legten ihre Schlafsäcke aus und waren schon beim Einschlafen, als sie bemerkten, mit welchen Schwierigkeiten Mäxle zu kämpfen hatte. Er wollte seinen Schlafsack schonen und außerdem eine gewisse Isolierung zum Boden hin bewirken, indem er Zeitungspapier auslegte. Jedesmal wenn er den Schlafsack drauflegte und hineinschlüpfte, rutschte er den Hang hinunter. Trotz seiner Intelligenz blieb es nicht bei einem Versuch, und die anderen rutschten auch scho n ab, weil sie so lachen mußten. Als sie am nächsten Morgen durch Gespräche von Arbeitern geweckt wurden, die unterhalb an der Straße vorbeigingen, bemerkten sie, dass der Mäxle wieder bis zur Straße abgerutscht war und im größten Dreck lag und schlief. Die vorbeikommenden Arbeiter betrachteten ihn wie einen Außerirdischen. Voller Dreck fuhren die vier Travellers wieder nach London und wuschen sich in der Toilette der Victoria Station. Von dort aus wurden dann die Sehenswürdigkeiten Londons erkundet. Die Angebote in der Carnaby Street, in der aus jedem Geschäft Pink Floyd oder die Rolling Stones dröhnten, waren so verlockend, dass sie nur die Wahl hatten zu kaufen und früher heimzufahren, oder nichts zu kaufen und dazubleiben. Sie kauften fast nichts, setzten sich auf die Straße und lauschten Rory Gallaghers "A Million Miles Away". Dann entdeckten sie den Hyde Park und ruhten sich in den bereitgestellten Liegestühlen aus. Das war für Karl der ideale Übernachtungsplatz, an dem sogar die Liegestühle bereitstanden. Er dachte wieder an das Rolling Stones Konzert im Hyde Park, wo man all die Luftballons hatte fliegen lassen, dieses Konzert für den verstorbenen Brian Jones. Und in diesem -7 4 -
Hyde Park würde er, der Karl aus Neumarkt, die Nacht verbringen, die Sterne und den Mond vor dem Einschlafen sehen, die Luft Englands atmen. Er war einfach überwältigt. Jetzt schien alles wie am Schnürchen zu klappen. Nachdem dann die Pubs geschlossen waren und der Leicester Square zum Zentrum geworden war, ging's nach Soho. Mäxle führte sie herum und sagte plötzlich: Ja, das hier ischt also SOHO, das werden wir genauer anschauen, was? Irgendwann fanden sie sich halt mit den letzten Kreaturen am Piccadilly Circus, konnten das Gras riechen und paßten auf, dass ihnen keiner eins über den Schädel zog. Es war wirklich Zeit, sich im Hyde Park zur Ruhe zu legen. Aber so schön wie es sich der Karl vorgestellt hatte, war es nicht, es begann zu regnen, und sie wollten sich mit den Liegestühlen und den Bäumen vor dem leichten Regen schützen. Italiener kamen vorbei und sagten ihnen, dass sie sich in einen eingezäunten Bereich legen würden, weil die Polizei den Park in der Nacht räumen würde. Sie ignorierten die Italiener, und als die Bullen um 24.00 Uhr noch immer nicht da waren, schliefen sie beruhigt unter den Liegestühlen ein. Um 3 Uhr früh knallte Karl ein Suchscheinwerfer ins Gesicht und riß ihn jäh aus dem Schlaf. Ein Bobby begrüßte ihn artig und verlangte den Paß. Dann machte er die Jungs darauf aufmerksam, dass es sich um einen englischen Park handelte, in dem der Aufenthalt während der Nacht nicht gestattet sei. Die Schlafsäcke wurden wortlos eingerollt, und die Freunde stampften in Richtung Bahnhof. Die Italiener waren natürlich nicht aufgestöbert worden, dachten sie. Sie gingen und gingen, sahen zwischendurch Stellen und verkommene Häuser, bei denen sie überlegten, ob sie nicht als Nachtquartier zu gebrauchen wären. Bevor sie in der Victoria Station ankamen, konnten sie es nicht lassen, die vor den Türen der Häuser wartende Milch mitzunehmen, für das Frühstück, und eine Zeitung dazu. Im Bahnhof lagen sie schon, die anderen -7 5 -
Interrailer, am Boden und überall, aber nicht lange. Punkt sechs Uhr kamen die Bobbies und gaben ihnen einen Fußtritt. Dann mußten sich alle zumindest aufsetzen, dann hatten sie Ruhe, rutschte einer wieder in die Schlafposition, mußte er einen weiteren Fußtritt riskieren. Wenn man die Spielregeln einmal kannte, war die Victoria Station kein schlechter Schlafplatz. Sie trieben sich von da an jeden Tag, besser gesagt jede Nacht in der Stadt herum und trafen allerhand seltsame Leute, marschierten dann in den Morgenstunden zum Bahnhof, versorgten sich mit Milch und Zeitungen, schliefen bis sechs, saßen bis acht, wuschen sich in der Toilette und gingen wieder in die Stadt. Hatten sie in Italien überhaupt keine Hemmungen gehabt, das Kapperl mitgehen zu lassen, so machten sie sich in Frankreich schon Gedanken, wie sie den Gratiseinkauf im Pariser Supermarkt und die Drehkreuz-Übersprünge rechtfertigen konnten, waren sie doch von Marokkanern und keinen Franzosen bestohlen worden. Aber sie waren in Frankreich bestohlen worden, und das was Österreichern in Frankreich genommen wurde, hatten Österreicher Frankreich wieder weggenommen, der volkswirtschaftliche Schaden war also wieder aufgehoben. Wie kamen aber die freundlichen Engländer dazu, dass sie am Morgen keine Milch vorfanden und keine Zeitung lesen konnten? Darauf wußten sie wirklich keine Antwort, verteilten nur den Schaden, indem sie die Milch immer wo anders abholten. Irgendwie war es aber doch nicht zu rechtfertigen, aber es war einfach irrsinnig cool, so im Vorbeigehen eine Milchflasche zu nehmen, total cool war das, sonst nichts. Mäxle wußte alles, in welchen Stadtteilen die Popstars wohnten, wo die Durbridge Krimis gedreht wurden und noch viel mehr. Alles mußte besucht werden, die Untergrundbahn war aber nicht so billig wie in Paris. Wenn man die Bahn verließ, mußte man immer die Karte vorweisen, also war es nichts mit dem Überspringen der Drehkreuze. -7 6 -
Als sie wieder einmal eine harte Nacht hinter sich gebracht hatten und sich in der Victoria Station aufsetzen mußten, faßten sie den Entschluß, noch einmal so richtig im Meer baden zu gehen und den Urlaub ausklingen zu lassen. Das Meer fehlte ihnen plötzlich. Gesagt getan, auf ging's wieder in den sonnigen Süden. Nichts sollte dazu besser geeignet sein, als das wohlbekannte Monaco. Über Dover, Ostende, Brüssel und Mailand ging's zurück an die Cote d'Azur. Sie fühlten sich wie zu Hause, als sie am bekannten kleinen Bahnhof von Monaco ankamen. Sofort ging es runter zu den Steinen am Meer, raus mit Baguettes und Senf und ab in die Schlafsäcke zur Nachtruhe. So glatt ging es natürlich nicht. Da standen Menschen, die ihnen zuzuwinken schienen, die plötzlich zu rufen und zu schreien anfingen, zu ihnen hinunterliefen und sie verjagten. Minuten später starteten aus den Steinen, auf denen sie sich niedergelassen hatten, Raketen. Es wurde ein imposantes Feuerwerk genau von dort abgeschossen, wo sie lagen, wirklich abenteuerlich, aber wunderschön. Karl kannte nur das Feuerwerk beim Seefest in Neumarkt. Da ging immer ein gewisser Herr Spannlang mit einem Kübel voller Feuerwerkskörper auf den Steg hinaus und zündete einen nach dem anderen. Dazwischen war aber immer eine Pause vom mehreren Minuten. Nach einer Serie von 5 Feuerwerkskörpern spielte wieder die Blasmusik. Zwischendurch jagten die Seehäusl- Bewohner vereinzelt Leuchtraketen in den Himmel und Kinder zündeten Schweizerkracher. Wenn die Zuseher klatschten, war es nicht wegen einem besonders schönen Feuerwerkskörper, sondern weil das Feuerwerk zu Ende war. Hier aber kam man aus dem Staunen nicht heraus. In jeder Sekunde schienen hunderte Feuerwerkskörper zu explodieren, und Leuchtkugeln oder eine Blasmusik wie in Neumarkt gab es auch nicht. Es war phantastisch. Nach dem Feuerwerk genossen die Freunde noch die herrliche -7 7 -
Stimmung und legten sich schließlich auf ihre altbekannten Steine. Der nächste Tag begann für Mäxle fatal. Während der ganzen Reise hatte er jedem genau erklärt, dass er die Form seiner Brille selbst entworfen und nach eigenen Ideen anfertigen ließ, eine wahrlich interessante Brille. Als er aber nach dem morgendlichen Kopfsprung aus dem Wasser kam, fragte er Karl, ob er mit oder ohne Brille gesprungen war. Es stellte sich heraus, dass er mit der Brille gesprungen war, und die war jetzt weg. Von da an sah er nur mehr alles halb so gut. Viel Geld war nicht mehr übrig. Das Abschlußfest fand in einem schäbigen Cafe am Bahnhof statt. Das ganze französische Geld wurde auf den Tisch gelegt, die Kellnerin brachte immer wieder Pommes und Wein und nahm sich das Geld weg, bis es aufgebraucht war. Dann ging's ab in den Zug nach Hause. Auch ein Whisky vom Duty Free Shop am Schiff war noch da, der wurde jetzt aufgemacht, und der Mäxle schü ttete seinen Frust hinunter. Gemeinsam gingen sie durch den Zug, rissen die Türen zu den Abteilen auf und weckten die schlafenden Fahrgäste mit den Worten "pass apporti, pass apporti". Dann schlugen sie die Türen zu und gingen zum nächsten Abteil. Auf einmal war für Mäxle der Spaß zu Ende. Er hatte sich plötzlich nicht mehr unter Kontrolle und wankte in Richtung Toilette. Als die anderen nach einiger Zeit nach ihm sahen, trauten sie ihren Augen nicht. Mäxle hatte sich und das ganze Klo angekotzt, lag um die Muschel herum am Boden, sodass die Tür nur einen Spalt geöffnet werden konnte, und sprach nur mehr Englisch. Meistens sagte er: "Get out here!" Er lag dort fast die ganze Nacht. Die anderen schliefen im Abteil. Irgendwann kamen zwei blonde Nordländerinnen und fragten, ob für sie Platz sei. Karl bot ihnen Platz an. Kaum hatten sie sich eingewöhnt, ging die Tür auf und Mäxle kam herein, selbst in der Dunkelheit konnte man das gebrochene Speiseallerlei auf seiner Kleidung sehen, und geruchlich war er überhaupt nicht zu überbieten. Er roch wie ein verdorbener Fisch, den einer aus -7 8 -
dem Klo geholt hatte. Wie ein Sack ließ er sich zwischen Karl und die zwei Blondinen fallen. Trotz seines Rausches hatte Karl Mühe, den Geruch und den Anblick Mäxles zu ertragen, und er konnte sich vorstellen, wie es den Mädchen gehen würde. Es war offensichtlich, dass sie jetzt nicht mehr schlafen konnten. Eine von ihnen stand auf, holte sich eine Zitrone aus ihrem Rucksack und lutschte sie. Als Mäxle das sah, füllte er Karls Schuhe mit weiterem Speisebrei, oder war es schon die Galle, und flüchtete wieder zur Toilette. Karl folgte ihm, um Klopapier zur Abteil- und Schuhreinigung zu besorgen. Nur durch seinen Vollrausch schaffte er es, die Säuberung ohne größere Probleme durchzustehen. Die Mädchen zogen es vor, sich am Gang des nächsten Waggons niederzulassen. Über Zürich und Genf ging es nach München, und irgendwo davor verließen Hans und Mäxle den Zug. Karl und Richie fuhren weiter nach Salzburg und schließlich nach Neumarkt. Diese Reiselust sollte Karl, aber auch viele andere in seinem Bekanntenkreis, nicht mehr loslassen. Immer und immer wieder sollte es ihn in die Ferne ziehen. War es doch eine versuchte Flucht vor der Realität des Alltags. Wegfahren war im Grunde genommen ein Davo nlaufen, das nicht gelang, denn immer wieder holte ihn die Realität unbarmherzig ein, spätestens dann, wenn er wieder zu Hause war, dort, wo sich halt die Realität in der Form des Alltags abspielte. Schnell weg, weit weg, abenteuerlich weg, alles waren nur Variationen einer Flucht, einer versuchten Flucht aus dem Leben, aus dem Alltag, in die Unwirklichkeit des Urlaubs, der Ferne, der Träume. Statt der Selbstmordgedanken, die andere oft in Lebenskrisen haben, wollte Karl weglaufen, weit weg auf Urlaub fahren, weil er glaubte, damit die Probleme daheim zu lösen. Für kurze Zeit vergessen oder verdrängen ja, aber lösen nein, lösen konnte er sie mit dem Weglaufen nicht. Am liebsten hätte er jahrelange Fernreisen gemacht, um den Problemen zu enteilen. Zuhause konnte viel erzählt werden, der Urlaub war aber -7 9 -
vorbei, Richie ging wieder zur Schule und Karl wurde wieder knallhart in die Realität der Lehre zurückgeholt. Aber er war anders geworden, war gereift, hatte Selbstvertrauen getankt. Er wußte, dass er sich in Extremsituationen auf sich verlassen konnte, er schätzte sich jetzt als überlebensfähig ein. Selbst einer von den Zerrern, einer Gruppe von Neumarkter Jugendlichen, die in der Neumarkter Szene tonangebend waren und das Wort "zerren" für alles verwendeten, was gut oder super oder aufregend oder herrlich war, fragten den Karl, wie das so sei mit Interrail, ob das zerre, wie man billig über die Runden komme, wo es sich in der Welt abspiele, was man so mitnehme und so weiter. Der Karl gab gern Auskunft, fühlte sich wie einer, der eine Erstbesteigung gemacht hatte, er war in diesen Wochen erwachsener und selbständiger geworden. Auf Than und Ru machten die Reiseerzählungen keinen großen Eindruck, sie waren lieber daheim und wollten diesen Zustand auch nicht ändern. Auch bei den Mittagsgesprächen in der Firma waren Reise-Erzählungen kein wirklicher Konkurrent für das Mopedgewäsch, das nun auch schon 125er bis 750er Motorräder einbezog und die in- und ausländische Rennszene kommentierte.
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Der Schlapfenmax Als Karl vom Urlaub zurückkam, brach sein drittes Lehrjahr an, der Fastmax war auf eigenen Wunsch in die Wickelei gegangen, weil er auch diesen Teil der Arbeit kennenlernen wollte, der Jaga war beim Bundesheer und ein neuer Max war da, der Schlapfenmax. Dieser Max trug bei der Arbeit Schlapfen, die nicht zu übersehen beziehungsweise zu überhören waren. Den ganzen Tag hörte man ihn schon von weitem daherschlapfen. Er hatte einen monotonen Gang, nicht zu schnell, aber monoton. Dem Karl schien es, als ob der Schlapfenmax genetisch für das Stanzen vorprogrammiert war, er stellte sich schon vor, wie der Schlapfenmax einmal im Rhythmus seines Schlapfenganges stanzen würde. Der Schlapfenmax übernahm nun alle Arbeiten, die der Karl gemacht hatte, wohlgemerkt zwei Jahre lang gemacht hatte, und der Karl war für höhere Tätigkeiten vorgesehen, zumal der Fastmax ja auch nicht mehr da war und der Feiblmax bereits ausgelernt hatte und auf Glockenmontage unterwegs war. In der Wickelei mußte der Karl mitansehen, wie ein Eugendorfer Elektriker seinen Sohn zur Lehre anmeldete, eigentlich zur Werkstattür hereinstieß und sagte: "Das ist er, mein Bua", ihn stehen ließ und ging. Karl war eigentlich genauso in dieses Schauspiel der Lehre gestoßen worden, hineingeworfen worden, ohne zu wissen, was auf ihn zukam, auf Anraten eines Bekannten seiner Mutter, der den Lehrplatz ausgesucht hatte, weil der Meister so ein netter Mensch war, damit meinte er aber Herbst und nicht Seltsamer. Karl sah, wie dieser neue Lehrling in die Werkstatt gestoßen und im Stich gelassen wurde, er mußte sich daran erinnern, dass auch er in entscheidenden Phasen seines bisherigen Lebens im Stich gelassen worden war. Der Schlapfenmax war nicht so sensibel wie der Karl, er fluchte zwar auf den Seltsamer, nahm sich aber seine miese -8 1 -
Behandlung nicht so zu Herzen, ignorierte ihn manchmal sogar, nahm ihn gar nicht ernst, zeigte überhaupt keinen Respekt. Er war ein netter Kerl, überall beliebt und überall zu hören. Tausende Male sagte ihm jemand, er solle doch nicht mit diesen Schlapfen herumlaufen, aber es war ihm egal. Er war ohne Schlapfen undenkbar, es war, als ob schon immer einer in der Werkstatt herumgeschlapft wäre. Vielleicht war er mit Schlapfen auf die Welt gekommen, vielleicht würden auch seine Kinder einmal mit Schlapfen zur Welt kommen. Seine Schlapfen waren ein Teil seiner Persönlichkeit, und er ließ sich diesen Teil nicht nehmen. Mittlerweile durfte der Karl sogar ein paar Mal offiziell die Drehbank bedienen, zumindest die alte, die kleine Drehbank, auch den Punktschweißer und überdies die Stichsäge, die wahrhaft ein nahezu heiliges Instrument war, das ein Lehrling nicht so bald in die Hand bekam. Alles in allem schien es für ihn aufwärts zu gehen. Bald folgte die unausweichliche Heizkörperproduktion, bei der der Karl jetzt alle Arbeiten des Fastmax übernahm und der Schlapfenmax die Arbeiten des Karl. Karl schnitt, stanzte, punktierte, entfettete und spritzte, klemmte an und prüfte. Der Schlapfenmax half ihm dabei. Für Seltsamer war das alles schon Standardprogramm, Akkord war Standard, nichts mehr war da von einer Prämie zu hören oder zu sehen. Wenn Karl stanzte, kamen ihm allerhand Gedanken. Er war allein mit dem monotonen Geräusch und sich selbst, tagelang. Wenn er stanzte, zählte er sich in den Rhythmus hinein, fühlte sich wie ein afrikanischer Trommler, genoß die Sicherheit der Monotonie. Wenn er stanzte, war er sicher, sicher vor Seltsamer und vor einem Pfusch. Stanzen konnte er, diese Tätigkeit hatte er wirklich in der Hand, ja im kleinen Finger. Nur der Fastmax hätte ihm hier die Vormachtstellung streitig machen können, der war aber bereits weg. Karl fand es unpassend, ja paradox, dass ausgerechnet ein so -8 2 -
kalter Mensch wie Seltsamer Heizkörper produzierte, mit entleerten Lehrlingen, entleert und abgekühlt, frierend nach Wärme, Heizkörper für die Kirche, die seiner Meinung nach nicht effizient genug für menschliche Wärme sorgen konnte. Er stellte sich vor, welch große Ehre es eigentlich für ihn war, an der Erwärmung der Kirche teilzuhaben. So viele Menschen, die nichts als Kälte in die Kirche hineintragen, würden gewärmt werden, durch ihn, durch seine Arbeit, indirekt durch Seltsamer, der all das ersonnen und ihn zu dem ausgebildet hatte, was er war, ein Stanzer mit Kenntnissen in der HammerschlagLackierung. Bei der Heizkörperproduktion fühlte er so etwas wie die Identifizierung mit einem Werk, er war gewiß, für die Menschheit etwas Nützliches zu tun. Er konnte dafür sorgen, dass die Menschheit mit Wärme versorgt wurde, etwas, das sonst nur Schriftstellern, Priestern und Psychiatern, zugegebenermaßen aber auch den Holzknechten, den Heizungstechnikern, Bergarbeitern, Kohlenhändlern und Heizdeckenproduzenten vorbehalten war. Aber er war dabei, gehörte dazu, hatte einen wesentlichen Anteil an einer lebenswichtigen Tätigkeit, der Bereitstellung von Wärme für die Menschheit. Wenn er sich das durch den Kopf gehen ließ, lächelte er wie in Dankbarkeit. Sein Leben lang würde er die Menschen nicht vergessen, die für ihn etwas getan hatten. Eines Tages kam Karl während der Arbeit der Gedanke, dass es nichts mehr gab, was er hier noch lernen konnte, alles, was er hier machte, hätte er schon in den ersten drei Monaten seiner Lehre beherrschen können. Wenn ihm sein Freund Than von den Arbeiten mit dem richtigen Strom erzählte, verstand er kein Wort, er konnte nur biegen und Stanzen und Blechkästen zusammennieten. Er wollte jetzt alles daransetzen, zu Meister Herbst in die Wickelei zu kommen, endlich das zu lernen, was Inhalt des Lehrberufs war, nicht auch noch von Seltsamer bis zum vierten Lehrjahr für Hilfsarbeiten mißbraucht und dann entlassen zu werden. -8 3 -
In Seltsamers Abteilung wurden nur Arbeiten verrichtet, die nichts mit dem Strom selbst zu tun hatten, man bereitete nur darauf vor, dass Geräte dann mit Strom funktionierten und hatte keine Ahnung wie. Selbst der Jaga, der seine gesamte Lehrzeit in dieser Abteilung ausgebildet worden war und diese riesigen Verteilerschränke verdrahtete, konnte nicht einmal ahnen, wie sein Meisterwerk unter Spannung arbeitete. Er hatte lediglich gelernt, Seltsamers Schaltpläne zu lesen und Drähte wunderschön zu biegen, zu bandagieren und einzupassen. Also was konnten Seltsamers Lehrlinge, nachdem sie jahrelang von ihm ausgebildet worden waren? Hatte er einen Lehrauftrag oder einen Leerauftrag? Ach ja, die Lehrlinge hätten ihn halt fragen müssen, bitten müssen, dass er ihnen das zeigte, wozu er verpflichtet war. Er war halt nur ein Meister für sich selbst, nicht für die Lehrlinge. Er konnte ja alles, sie hätten es ihm nur abschauen müssen. Karl konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie hier Tag für Tag übers Ohr gehauen wurden, dass man sie ausnahm, ausnützte, zweckentfremdet verwendete und zusätzlich lächerlich machte und für ihr Leben mit fachspezifischer Unwissenheit ausstattete, ihnen fü r ihr weiters Leben eine in 3½ jähriger Lehrzeit erworbene fachspezifische Bildungslücke mit auf den Weg gab. Hatte er schon ein Jahr im Polytechnischen Leergang verloren, so war auch die Lehre hauptsächlich eine Leere, zumindest was den Inhalt dessen anbelangte, was Seltsamer lehrte. Seltsamer entleerte selbst das, was bereits vorhanden war, vor allem Selbstvertrauen, er entleerte die Maxen und machte sie zu Vakuumfässern. Er lehrte sie nicht, er entleerte sie. Jaga war nach dem Bundesheer kurz wieder eingestellt worden, hatte weiter Verteiler gebaut, sonst hatte er ja nichts gelernt, und war nach mehrmaligem Zuspätkommen entlassen worden. Seltsamer hatte ihm grinsend den blauen Brief in der Werkstatt überreicht. -8 4 -
Die Berufsschule Neben der Pseudoausbildung in der Werkstatt war es auch verpflichtend, wöchentlich einmal die Berufsschule zu besuchen. Auch die Inhalte, die dort vermittelt wurden, gingen meilenweit an den Erfordernissen für den Lehrberuf vorbei. Das Unterrichtssystem der Berufsschule und der Wissensstand der Lehrer, vor allem der Werkstattlehrer, war so überaltet wie die Weitergabe der Fertigkeiten und die Lehre selbst. Viele Lehrer konnten sich gar nicht vorstellen, was die Lehrlinge in den Werkstätten taten. Es mußte nur genau gearbeitet werden, darauf wurde größter Wert gelegt. Das begann schon mit den Mappen und Heften. Ersteinmal mußten überall genaue Ränder gezogen werden, dann durfte darin in Normschrift geschrieben werden. Die Mühsamkeit des Schreibens in Normschrift lenkte davon ab, dass die Inhalte eigentlich nichts mit der Realität in der Werkstatt zu tun hatten. Theorie und Praxis wußten nichts voneinander, Absprachen gab es nur bei disziplinären Schwierigkeiten mit den Lehrlingen. Die Berufsschule trug also auch entscheidend zur Leere der Lehre bei. Der erste Kontakt mit dem Werkstatttrakt der Schule war furchterregend. Als die Lehrlinge vor der Eingangstür zu ihrem Unterrichtsraum nicht entsprechend ruhig warteten, kreuzte ein Werkstattlehrer auf, der dem Frankensteinmonster nicht unähnlich war. Sein Gesicht, das sich aus einer Wollhaube stülpte, setzte sich aus verschiedenen zusammengenähten Hautfetzen zusammen, die höchstwahrscheinlich dem Körperteil entstammten, dem dieses Gesicht verblüffend ähnelte. Wenn man ihn sah und hörte, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der im Krieg gewesen war, und zwar in der Hölle des Gefechts, dort wo keiner ohne Sprengmeisterausbildung hinsehen darf. Sein befehlsartiger Konversationsstil machte den Haubenmann selbst in den zivilen Berufsschulgewölben zu -8 5 -
einem Hauptmann. Feilt, so hieß diese lebende Wollhaube, plärrte so entsetzlich laut und unartikuliert durch den Korridor, dass den Lehrlingen das Herz für kurze Zeit zu schlagen aufhörte. Feilt war der unumschränkte Beherrscher der Korridore, der Chef des Werkstattraktes. Die Akustik dieser Korridore und Hallen war auf ihn zugeschnitten wie die Akustik des Festspielhauses auf die Wiener Philharmoniker und das Ohr des erlauchten Opernfreundes. In diesen Korridoren spielte die brüllende Wollhaube die erste Geige und gab Konzerte des Entsetzens. In seinen Festspielen führte er täglich etwas auf, das bleibende Eindrücke hinterließ, nicht nur bei den Landmaschinenmechanikern, die er als Bauern titulierte, sondern vor allem bei den KFZ-Mechanikern, in deren Lehrwerkstätte ein Citroen DS, sein Privatwagen, Dauergast war und unablässig repariert, gepflegt, geserviced und konserviert wurde. Karl spürte plötzlich, wie er von hinten von einer Hand so groß wie ein Abortdeckel am Kragen gepackt wurde und mit einem anderen Körper zusammenstieß, der am anderen Arm des Wollhaubenmonsters hing. Zusammen mit dem anderen Körper wurde er in einer sich hastig formierende Zweierreihe positioniert und mit einem unverständlichen befehlsartigen Geplärre, das aus der kopfförmigen Wollhaubenöffnung des Fleischberges durch den Korridor dröhnte, abgesetzt. Zum Glück war der Lehrer, der Karls Klasse dann ein Jahr lang in die Geheimnisse des Feilens einführte, ein anderer, zwar auch einer, der den Kommandoton anschlug, aber harmlos. Bevor ein Jahr lang jeden Dienstag Nachmittag gefeilt werden konnte, mußten die Voraussetzungen für genaue Arbeit geschaffen werden. Jeder Lehrling mußte sich eine Schiebelehre kaufen, die genau einen Wochenlohn ausmachte. In dieses Präzisionswerkzeug wurde mit einem Elektrograviergerät der Name eingraviert. Das dauerte natürlich seine Zeit, bis jeder -8 6 -
Lehrling dieses Gerät in die Hand bekam. Einem ungeduldigen Lehrling aus Taxham, sein Name war Günther Karpf, war das entschieden zu lange. Mit zielsicheren Hammerschlägen drosch er die Schlagbuchstaben so lange auf seine Schiebelehre, bis der Name Karpf auf ihr zu lesen war. Die Hammerschläge erregten nicht nur die Aufmerksamkeit der anderen Lehrlinge, nein, auch der Lehrer kam aus seiner Kammer gelaufen und betrachtete Karpfs erstes Meisterwerk, eine Schiebelehre, bei der nichts mehr zu schieben ging. Neben Karl feilte ein Repetent. Er feilte schon das zweite Jahr. Er wohnte in einem Lehrlingsheim und seine Montur roch so stark nach Kaffee, dass Karl ganz schlecht wurde. Die Kommunikation im Feiljahr war auf wenige Worte beschränkt, von denen das gefährlichste das Wort Untermaß war. Dieses Wort fuhr dem in die Knochen, dessen Werkstück der Werkstattlehrer mit der Schiebelehre vermaß und feststellte, dass bereits zu viel weggefeilt worden war. Karl erwischte es Gott sei Dank nicht, aber den Repetenten-Feiler neben ihm mehrmals. Der war für dieses Wort besonders sensibel, vermutlich war er bereits im Vorjahr damit in Berührung gekommen. Hias und Hasi waren von den anderen Lehrlingen in der Firma sehr verunsichert worden. Vor allem den Hias hatten sie damit aufgezogen, dass es ihn in der Berufsschule leicht aufdrehen könnte, vor allem in Fachrechnen oder in Fachzeichnen. Dieses Fachzeichnen war immer am Nachmittag und dauerte vier Stunden. Da konnte es schon vorkommen, dass zu Mittag ein paar Lehrlinge in die Hamburger Kajüte gingen und ihren Durst - von den trockenen Unterrichtsstunden angeregt - mehr als befriedigten. Diese angeheiterten Mitschüler kamen dann oft daher und zerstörten in ihrem Rausch Zeichnungen, denen einer schon mehrere Stunden gewidmet hatte. Einmal wälzten sich zwei bärenstarke riesige Lehrlinge raufend auf dem Boden als Ing. B. eingriff, einen der beiden mit -8 7 -
zwei Fingern am Hemd festhielt und mit der leise geflüsterten Formel: "Machen Sie keinen Unsinn, Mösenbichler" zu beschwören versuchte. Dieses Geflüster machte natürlich keinen Eindruck auf die Kampfhähne, die nicht eher aufhörten, bis einer aus der Nase blutete. Ing. B. war gezwungen, seinen sanften Griff vom Hemd Mösenbichlers zu lösen und sich durch einen ballettartigen Hopser in Sicherheit zu bringen, bevor er durch einen Rundumschlag niedergemäht worden wäre. Ein anderes Mal fand Günther Karpf heraus, dass Ing. B., bevor er Lehrer geworden war, bei Elektro Florian gearbeitet hatte. Dieser Karpf fragte Ing. B. während des Unterrichts immer irgendwelche dummen Fragen, ob er einen gewissen Erwin R. kenne, ob er Junggeselle sei, und eben ob er einmal bei Elektro Florian gearbeitet habe. Er wußte natürlich alle Antworten bereits von vornherein, weil eben dieser Erwin R. bei besagter Firma arbeitete und mit Karpf bekannt war. Mit diesem Wissen störte er den Unterricht und machte Ing. B. unsicher. Die Konversation ging meist so: "Herr Ingenieur!" "Ja, Karpf." "Kennen Sie Erwin R?" "Ja, wieso fragen Sie, Karpf?" "Nur so." Pause. "Herr Ingenieur!" "Ja, Karpf." "Sind Sie Junggeselle?" "Ja, wieso?" "Sie wollen aber auch alles wissen, Karpf! Ich weiß wirklich nicht, was das mit dem Fachzeichnen zu tun hat." "Nichts." Pause. "Herr Ingenieur!" "Ja, Karpf, was wollen Sie denn jetzt schon wieder?" "Haben Sie einmal beim Elektro Florian gearbeitet?" "Ja, woher wissen Sie das, Karpf?" "Von Erwin R". "Ach ja, den kennen Sie ja auch". Der gutmütige Ing. B. gab ihm immer verwundert aber bereitwillig Auskunft. Eines Tages mußte eine Berechnung durchgeführt werden, die äußerst schwierig war, vor allem deshalb, weil damals der Rechenschieber verwendet wurde und der Taschenrechner noch nicht existierte. Mit diesem -8 8 -
Rechenschieber konnte man sich bei den Kommastellen teuflisch vertun, deshalb machte sich der Karl oft nebenbei Notizen und rechnete händisch nach. Karpf aber tat nach fünf Minuten bereits etwas anderes und erregte so die Aufmerksamkeit von Ing. B. "Na", sagte dieser, "sind sie schon fertig, Karpf?" "Ja, natürlich", war die Antwort. "Sagen sie uns auch, was sie herausbekommen haben, Karpf?" fragte Ing. B. wieder. "Ja, natürlich", war erneut die Antwort. "Was denn?" fragte Ing. B. geduldig. "Zweiundsiebzigzweiachtundvierzig", war die Antwort Karpfs. "Aber das ist doch die Telephonnummer von Elektro Florian!", sprudelte Ing. B. unter dem Gelächter der ganzen Klasse heraus. Ing. B. war wirklich ein netter, aber armer Kerl, dem von den Lehrlingen alles angetan wurde, was man sich nur vorstellen kann. Was andere Lehrer autoritär unterdrückten, bei Ing. B. fand es ein Ventil. Er war der Sündenbock für alle. Sein Körper bäumte sich gegen diese Bedrohung auf, indem er ihn mit zwei kurz aufeinander folgenden Herzpatschen, also Infarkten, für Monate aus dem Schulgeschehen abzog. Er aber konnte nicht einsehen, wie wenig dieser Beruf zu ihm paßte, und blieb Berufsschullehrer. Die Schüler ließen an ihm das aus, was ihnen bei den autoritären Schlapfenkommandanten Feilt, Winter und Erasmus nicht möglich war. Schlapfenkommandanten nannte man sie deshalb, weil diese Herren das Gehabe von Kommandierenden auf dem Schlachtfeld in die Werkstätten und Klassenzimmer der Berufsschule trugen, wo jeder, der mit Straßenschuhen erwischt wurde, sofort mit Sanktionen zu rechnen hatte. Ein anderer bemerkenswerter Lehrer war Grufti. Er unterrichtete Wirtschaftsrechnen und Staatsbürgerkunde. Seine Erscheinung erinnerte an diese possierlichen Stofftierchen, die damals manc he Oberösterreicher neben einem Polster mit der Aufschrift Gute Fahrt in der Hutablage ihres Opel Kadett hatten. -8 9 -
Er hatte einen Vollbart, den er ausgerechnet an jenen Stellen rasierte, an denen er am besten zu wachsen schien. Dieser Schnitt des Bartes ergab ein irgendwie verzogenes Gesicht, ein Gesicht, das bei Menschen mit Zahnschmerzen zu beobachten ist. In der Aussprache war er mehr als gehandicapped, er blutschte und sprach das s genauso aus wie der Engelbert das tz im Wort Hitzegtränk oder die Engländer das th. Wenn ein Schüler nicht aufpaßte, hatte er einen Standardsatz zur Verfügung, der gleich acht Zungenbrecher enthielt: "Glauben thie, thie können mit mir machen wath thie wollen? Ich werde ihnen eine thaftige Hautharbeit verpathen, da wird ihnen dath Lachen schon vergehen." Zu diesen Worten schritt er durch die Bankreihen wie ein Pfarrer bei einer Prozession. Einmal spielte ihm Karl einen richtigen Streich. Karl und die meisten anderen Schüler hatten mit den Berechnungen, die er bei den Schularbeiten verlangte, die größten Probleme. Einmal aber war die Gelegenheit so günstig, verbotene Hilfe in Anspruch zu nehmen und dadurch die Zeugnisnote aufzubessern, dass Karl einfach zuschlagen mußte. Sein Freund Than hatte in diesem Jahr bei den Elektroinstallateuren am Dienstag Berufsschule und Karl bei den Elektromaschinenbauern am Donnerstag. Beide hatten Grufti in Wirtschaftsrechnen. Beide hatten vermutlich die selbe Schularbeit. Than gab am Dienstag die Schularbeitsangaben nicht ab und brachte sie mit nach Hause. Karl gab sie seinem Bruder, der die Handelsschule besuchte. Sein Bruder löste alle Aufgaben und gab Karl für den Donnerstag den Zettel mit. Als alle kapiert hatten, dass es sich um die gleichen Angaben handelte, gab Karl während der Schularbeit den Zettel an seine Firmenkollegen und andere Freunde weiter. Die Schularbeit war ein voller Erfolg. Alle Abschreiber hatten ein Sehr gut. Grufti aber war dem Herzinfarkt nahe, er ahnte, dass abgeschrieben worden war, denn Jaun hatte den handgeschriebenen Zettel von Karls Bruder in seinem Heft vergessen. Jauns Schularbeit wurde -9 0 -
annulliert, und Grufti verglich alle Handschriften, um den ausfindig zu machen, der den Zettel geschrieben hatte. Jaun gab es nicht preis, auch nicht, als Grufti sagte: "Dath eine kann ich ihnen thagen, Jaun, ich werde herauthfinden, von wem der Tthettel itht". Grufti kann es jetzt herausfinden, wenn er das liest. Um diesen Grufti rankten sich auch andere Geschichten. So soll er einmal Schülern des vierten Lehrjahres den Weg zu den Friseurinnen im vierten Stock mit den Worten: "Vorbei kommt ihr nur über meine Leiche" versperrt haben. Darauf sollen ihn die Burschen gepackt und kopfüber vom Geländer des vierten Stockes baumeln haben lassen. Wer weiß, ob das wahr war, aber jeder Berufsschüler hatte davon gehört. Im dritten oder vierten Lehrjahr wurde das Drehen gelernt. Der Lehrer, der für diese schwierige Aufgabe ausersehen war, hieß Erasmus. Erasmus war kein Holländer, schon gar nicht von Rotterdam, war auch kein Akademiker, aber immerhin Alkoholiker. Er teilte auch nicht das humanistische Gedankengut seines berühmten Namensvetters, sondern war auch ein Anhänger der Schrei- und Brüllpädagogik. Den Grad seiner Alkoholisierung konnte man an der Lautstärke seines Radios ablesen. Im Laufe eines Nachmittags drehte er das Radio in seiner Kammer immer lauter auf. Als das erste Mal gedreht wurde, kündigte er an, dass jeder, der den Schliff eines Drehstahls ruinierte, 60 Schilling an ihn zu bezahlen hätte. Nur er selbst dürfte dann den Stahl schleifen. Kein anderer solle sich unterstehen, sich an der Schleifmaschine zu versuchen. Eingeschüchtert standen die Lehrlinge an den Drehbänken herum, mit Haarnetzen auf den Köpfen, die ihnen Erasmus vorher zum Kauf angeboten hatte. Diese Haarnetze mußten beim Drehen und Fräsen getragen werden. Fast jeder Lehrling hatte damals lange Haare. Sie waren das Zeichen der Auflehnung, der Freiheit, die sie sich damit erworben hatten. Die ganze Gesellschaft schien sich damals an den langen Haaren zu stoßen, gerade deshalb waren sie so begehrenswert, und so mancher -9 1 -
Lehrling machte seine Lehrstelle davon abhängig, ob er lange Haare tragen durfte. Aber hier in der Berufsschule mußten aus Sicherheitsgründen Haarnetze getragen werden, selbst Kappen waren nicht erlaubt. Für einen Lehrling mit langen Haaren war ein Haarnetz erniedrigend unmännlich, einer schaute dümmer aus der Wäsche als der andere, wie eine Goldhaubengruppe fühlten sie sich. Das Haarnetz zerstörte all die Freiheit, Coolness, Aufmüpfigkeit, die sich die Lehrlinge durch das Haare-wachsen-Lassen erobert hatten. Wie getaufte Mäuse oder übergossene Pudel hatte sie sich der Werkstattlehrer zurechtgemacht, domestiziert. Durch das Haarnetz war selbst den härtesten Typen die harmlose Weiblichkeit einer alten Frau übergestülpt worden. An den Drehbänken wurde immer zu zweit gearbeitet und wie es der Teufel haben wollte, ruinierte Karls Partner Hasi den Drehstahl. Er bat Karl, von dem er glaubte, dass er Drehstähle schleifen konnte, weil er ja lange in der Seltsamer Werkstatt gearbeitet hatte, den Stahl zu schleifen, während Erasmus in seiner mit Wunschkonzert-Musik dröhnenden Kammer war. Er würde in der Zwischenzeit Schmiere stehen. Tatsächlich konnte Karl Stähle schleifen, der Fastmax hatte es ihm mehrmals in den Mittagspausen gezeigt und bei seinen Drehexperimenten in Seltsamers Abwesenheit hatte er oftmals von diesen Kenntnissen Gebrauch machen müssen. Obwohl das Wunschkonzert sehr laut aufgedreht war, der Alkoholspiegel des Erasmus dementsprechend hoch gewesen sein muß, hatte Karl ein ungutes Gefühl, als er die Schleifmaschine aufheulen ließ. Er schaffte es, den Stahl zu schleifen, die Schleifmaschine lief aber noch minutenlang nach. Als Erasmus einen Kontrollgang ansetzte, bemerkte er, was geschehen war, sah die Schleifmaschine noch laufen und Karl und Hasi den Stahl einspannen. Er machte ein Donnerwetter, wie wenn er sie bei einem Ladendiebstahl erwischt hätte, nahm ihnen den Stahl weg und gab ihnen einen neuen, den sie voll bezahlen mußten. Von -9 2 -
da an hatte Erasmus Karl auf der Latte. Das ließ er ihm einmal spüren, als zu zweit an der Fräse gearbeitet wurde. An die Massenproduktion gewöhnt, hatte der Karl mit seinem Partner zwei identische Werkstücke mit einer einzigen Einstellung produziert. Karl bekam darauf ein Befriedigend, sein Partner ein Sehr gut. Wie gesagt, die Werkstücke waren identisch. Eine Reklamation half nichts, auch als Karl beim nächstenmal das Werkstück des Partners vorzeigte, Erasmus blieb bei Befriedigend. Gespräche in den Mittagspausen mit Lehrlingen anderer Firmen zeigten Karl, wie mies er es mit seinem Meister erwischt hatte. Vor allem die Lehrlinge, die in ganz kleinen Firmen arbeiteten, durften von Anfang an alles machen, es war ja kein anderer dafür da. Bereits im ersten Lehrjahr wickelten sie Motoren, wurden in den Umgang mit einer Drehbank eingewiesen und konnten bald schweißen. Sie wußten über Dinge bescheid, die Karl nur vom Hörensagen kannte. Das machte Karl oft sehr traurig und führte auch dazu, dass er unbedingt aus der Werkstatt weg wollte. In den Mittagspausen fand der Hias auch in der Berufsschule Zuhörer für seine Moped-Vorträge. Einen besonderen Eindruck machte bereits im ersten Lehrjahr ein Schüler namens Koidl auf den Karl. Er war der einzige in der Klasse, der sich als Nichtraucher deklarierte. Damals gehörte es einfach dazu, dass jeder in den Pausen im Rauchergang vor dem Buffet eine Zigarette rauchte. Nur Koidl sagte: "Ich bin Nichtraucher!" Diese Aussage hob ihn von allen Mitläufern ab und zeugte von einer Karl bis dahin nicht wahrgeno mmenen Selbstsicherheit. Im zweiten Lehrjahr unterrichtete auch ein Lehrer namens Winter, dem der ärgste Ruf vorauseilte. Generationen von Lehrlingen kannten und fürchteten ihn, selbst der Krainer. Von harten Frühstücksgetränken gezeichnet, zitterte Winter immer am ganzen Leib und hatte bereits bei Unterrichtsbeginn am -9 3 -
Morgen eine Alkoholfahne. Vom Aussehen her erinnerte er stark an den Schauspieler Hans Albers, den Karl sowieso nicht leiden konnte und ihn schon als Kind Hans Albern nannte. Er haßte diesen Hans Albern deshalb, weil er für ihn in seinen Filmen den Inbegriff des blauäugigen deutschen Offiziers verkörperte, der die Frauen, die ihm zu Füßen lagen, wie Dreck behandelte und selbst nach einem Bombenabwurf als der Gute, der Retter des Vaterlandes, da stand, der bei Szenen als Lastwagenfahrer oder Pilot immer lenkte als ob er einen Slalomkurs vor sich hätte oder ein entsprechendes Lenkspiel, der die Mütze immer so schief auf hatte wie Rus Vater und Karls Großvater, die ihn vermutlich zu imitieren versuchten. Außerdem haßte er ihn, weil sie sich daheim immer Hans Albers Filme ansahen, wenn auf einem anderen Sender ein besserer Film war. Und jetzt hatte er diesen Hans Albern alias Johnny Winter als Kommandanten in der Berufsschule. Im Krieg soll er U-Boot Kapitän gewesen sein, dort paßte er vermutlich besser hin als in die Berufsschule. Gleich bei der ersten Begegnung zeigte er sich von seiner besten Seite. Als er mit dem Zirkel etwas an die Tafel zeichnen wollte, drückte er mit seiner Zitterei die Kreide ab und zerlegte den Klassenordner verbal in seine Bestandteile, indem er ihn zusammenschrie, einen Sumper, das war sein Standardausdruck, nannte und zum sofortigen Ersatz der Kreide aufforderte. Dieser Klassenordner war völlig unschuldig gewesen. Seine Aufgabe als Klassenordner hatte lediglich darin bestanden, den Zirkel mit einer Kreide auszustatten, was er ja getan hatte. In diesem Stil unterrichtete der General, und der Karl kann sich nicht erinnern, irgend etwas in seinem Unterricht gelernt zu haben, aber vielleicht war das seine pädagogische Absicht. Auch diesem Winter soll einmal etwas Schreckliches passiert sein, was aber nicht mehr nachprüfbar ist. Auf der Autobahn sollen ihn einmal ehemalige Schüler zum Anhalten an einem Parkplatz genötigt und mit einer Flasche niedergeschlagen haben. Das erzählten jedenfalls ältere -9 4 -
Lehrlinge. Wenn sich auch manche Lehrer um einen gediegenen Unterricht bemühten und vor allem in den Laborübungen anschaulich und verständlich ihr Wissen weitergaben, ging die Berufsschule an Karl vorbei wie die Lehre selbst, sie änderte kaum etwas an seiner Ungebildetheit. Er war nicht bei den besten, trotzdem schaffte er die dreieinhalb Jahre. Es hatte ihn also nicht aufgedreht, wie er manchmal befürchtet hatte.
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Das Weihnachtssingen Jedes Jahr vor Weihnachten versuchten ein paar Gesellen, den neuen Maxen einzureden, dass es üblich war, zu Weihnachten im Büro vor dem Chef ein Weihnachtslied zu singen. Dazu mußten die Maxen mehrere Male mit den Gesellen proben. Meist war schon das Proben so eine unterhaltsame Angelegenheit für die, die nicht singen mußten, dass man den Spaß beim Proben bewenden ließ und tatsächlich nie so weit ging, dass die Maxen beim Chef vorsangen, der von der ganzen Angelegenheit natürlich gar nichts wußte. Einmal aber waren zwei Maxen vorhanden, die wirklich nicht auf die Idee kamen, dass alles ein Jux war, und als Karl die Toilette im Bürotrakt aufsuchte, drang etwas an seine Ohren, das ihn vor der Toilettentür erstarren ließ. Er hörte dieses "Hei, hei, schlaf süß herzliabs Kind! Hei, hei". Dieses "Hei, hei" war zuviel für ihn. Er wußte sofort, dass es sich um das Lied "Es wird scho glei dumpa" handelte, sogar er erkannte, dass hier falsch gesungen wurde. Mit Schaudern mußte er sich vorstellen, wenn er dort oben singen müßte, in diesem sterilen Glasbüro mit Rundumsicht, in dem sich jeder Arbeiter wie ein schmutziger Fremdkörper, wie ein Bazillus vorkam, in diesem zerbrechlichen Büro, wo sich ein Arbeiter die Glastür fast nicht öffnen und schließen getraute, aus Angst, das Glas zu zerbrechen. Wenn jemand das Büro betrat, waren die Blicke der Damen sofort auf den Arbeiter gerichtet, Damen, die gutes Parfum verwendeten, hübsch gekleidet waren, Arbeiter mit gewählter Sprache per Sie und mit Herr vor dem Nachnamen anredeten. Er konnte sich die Unsicherheit der zwei Lehrlinge vorstellen, als sie angeklopft hatten, den fragend aufblitzenden Blicken der Damen mit einem Weihnachtslied begegnet waren, in der Meinung, dass das jedes Jahr so üblich gewesen wäre. Karl wurde ganz übel. Seine Gedanken rasten zurück in seine Schulzeit, die mit dem -9 6 -
Singen untrennbar verknüpft war. Dieses beschissene verfluchte Singen hatte ihn fast fertiggemacht. Er konnte es nicht, mochte es nicht, schämte sich dabei und mußte sogar allein vor der Klasse vorsingen, jedes Jahr, damit der Oberschulrat feststellen konnte, welche Stimme er sang. Manches Jahr sang er erste Stimme, dann mußte er die zweite Stimme versuchen, mit dem Erfolg, dass der Oberschulrat an einer Gruppe vorbeiging und sagte: "Ein Brummer". Dann wurde er zielsicher herausgefischt, auch wenn er aus Angst gar nicht mitgesungen hatte, und abgefotzt, als pädagogische Maßnahme, um nächstesmal besser zu singen und vor allem nicht zu brummen. Dieses Vorsingen vor der Klasse war das Widerlichste an der Schule. Da kannte der Oberschulrat keine Gnade, auch wenn die anderen Schüler schon vor Lachen in die Hose machten, wenn der Edi, ein anderer Anti-Sänger und Karl hinausmarschierten zum Katheder, wenn der Michi, der ihn am Harmonium begleiten sollte, zuerst einmal die Spucke aus seinem Instrument blies und dann den Ton angab, oder wenn der Oberschulrat selbst mit der Zieharmonika oder der Stimmgabel oder mit so einem beschissenen Pfeiferl den Ton angab, den der Karl sowieso nicht erwischte, wenn er zu "Was schlagt denn da obm aufn Tannabam" ansetzte. Selbst der Text war ihm nicht geläufig, und so mußte er immer vom Blatt lesen: "Was schlagt denn da obm aufn Tannabam - was kann so schen singa und schrei" Am liebsten hätte er gesungen "Ich kann doch net singa nur schrein". Doch da schrie schon ein anderer: "Voooorne singen", schrie ihn der Oberschulrat an und fuchtelte mit der Stimmgabel vor seinem Gesicht herum, "vooorne singen", schrie er, obwohl er genau wußte, dass der Karl vorne und hinten nicht singen konnte. Der wollte sich am liebsten unter den Tischen verkriechen, wenn das Vorsingen angesagt war, da drehte er einmal sogar am Zebrastreifen in der Ortsmitte um, ging wieder heim und hielt den Fiebermesser zum Ofen bis er auf 40 Grad war, schlug ihn dann wieder auf 38 herunter und präsentierte ihn -9 7 -
der Großmutter, die sich dann rührend um ihn kümmerte, so rührend, dass er es eine ganze Woche lang durchhielt und auch bei der nächsten Geographieprüfung machte, die auch der Oberschulrat angesagt hatte. Er flüchtete sich kurzfristig in die Geborgenheit der Krankheit. Einmal mußte die Klasse komponieren. Es waren ja lauter Musik-Genies in der Klasse. Da schrieb der Oberschulrat Noten an die Tafel, und jeder mußte etwas dazuschreiben, das paßte, komponieren, wie er es nannte. Karl wußte nicht, was ganze und halbe Noten waren, lange hatte er auch den Violinschlüssel nicht zeichnen können. Da kritzelte er halt irgend etwas hin. Als der Oberschulrat das sah, drehte er am Stand durch und schrie: "Soll ich dir das vorspielen, was du da komponiert hast?" Ohne die Antwort abzuwarten spielte er auf der Ziehharmonika, brach sich dabei fast die Finger beim Greifen und entlockte ihr Töne, die dem Gesang Karls ebenbürtig waren. Daraufhin drehte er völlig durch und schrie: "Wenn du schon nicht singen kannst, dann lerne wenigstens die Noten, du Esel". Entweder erfaßte der Oberschulrat die Aussichtslosigkeit, dem Karl das Singen beizubringen nicht, oder er hatte Spaß an seinen Qualen. Deprimiert verzog sich Karl zu seinem Platz. Wenn er doch gefragt worden wäre, ob er einen Text zu einer Melodie schreiben könnte, in fünf Minuten hätte er einen geschrieben, sogar gereimt, mindestens so gut und geistreich wie "Was schlogt denn do drobn aufn Dunnabam?" aber komponieren, wie sollte er denn das können, kein Mensch in seiner Familie konnte das, auch nicht singen, den Onkel hatte er auch schon so gequält, der Oberschulrat. Wie konnte er es wagen, den Karl und seinen Onkel beim Singen so zu erniedrigen, wo sie doch einfach nicht singen konnten, die ganze Familie konnte nicht singen, zu Weihnachten mußte man warten, bis im Radio Stille Nacht gespielt wurde, weil keiner singen konnte, der Karl und sein Onkel schon gar nicht, weil sie immer an das Vorsingen beim Oberschulrat denken mußten. -9 8 -
Dieser Oberschulrat hatte den Karl wieder einmal voll erwischt, vor der ganzen Klasse lächerlich gemacht, obwohl im Moment der Erniedrigung keiner zu lachen wagte, vor allem Edi nicht, der der nächste war. Obwohl dem Karl das Singen so verhaßt war, hatte er die Musik an sich gern. Mittlerweile war fast die gesamte Werkstatt im Bürotrakt versammelt und lauschte den Sängern. Schließlich war der Chef ganz begeistert und gab den beiden ein kleines Trinkgeld. Die versammelten Arbeiter hielten sich die Bäuche vor Lachen, nur Karl konnte nicht, er mußte immer daran denken, wie er da oben gestanden wäre, wenn er sich nicht damals, als sie es bei seinem Jahrgang versucht hatten, bereits bei den Proben geweigert hätte.
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Auf dem Weg Der Karl machte sich viele Gedanken über das Leben, nein, eigentlich machte sich nicht er diese Gedanken, sondern sie drängten sich ihm auf. Sie jagten durch seinen Kopf, wenn er allein war, wenn er stanzte oder mit dem Bus zur Arbeit fuhr, wenn er vom Hofwirt zur Bude unterwegs war. Da nahm er nur peripher wahr, dass er auf der Straße war. Er ging wie ferngesteuert ein Stück die Franz-Josef-Straße runter, dann rechts in die Paris Lodron Straße, dann eine Linksrechts-Kombination vor dem Auersperghotel, vorbei am Quelle Kundendienst, dann links in die Bayerhamerstraße. Er registrierte die Firma Farbenquell und Zwettler AED, wo immer Autoradios und Leuchten in der Auslage waren, dann rechts die Firma Schmirl mit Fiats und Motorboot-Außenbordern und Schiffsschrauben, dann die Bayerhamerstraße runter, vorbei am Fallenegger mit den Tennisplätzen, auf denen manchmal zu dieser Zeit schon jemand spielte, vorbei an einer Auslage mit Schweißgeräten, bei der er sich immer ärgerte, dass er immer noch nicht schweißen konnte, dann vorbei an der Speditionen Hauthaler auf der linken Seite und dem Feinkostladen Schweighofer, wo er im ersten Lehrjahr immer die Jause holen mußte, irgendwo war da auch noch ein Stadtcampingplatz, dann bog er rechts ein, an der Ecke war die Firma Oce van der Grinten, wo Seltsamers Freund Hermann arbeitete. Dann gings vorbei an Plakatwänden die Breitenfelderstraße entlang. Während dieser ganzen Strecke entgleisten täglich seine Gedanken, führten ihn in seine Kindheit zurück und marterten ihn mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Manchmal, nein eigentlich sehr oft, fragte er sich, wozu er eigentlich auf der Welt war, was Gott mit ihm vorhatte, warum er nicht deutlicher mit ihm sprach, warum er ihm keine Orientierungshilfen gab, warum er ihn mit solchen Menschen wie dem Seltsame r quälte. Er ertappte sich oft, dass er sein Leben und seine Handlungen zu -1 0 0 -
sehr danach ausrichtete, dass er anderen Menschen sympathisch war, aber das machte der Fastmax ja auch, wenn er sich mit seinem wahnsinnigen Arbeitseinsatz so um die Anerkennung des Meisters bemühte. Und der Fastmax war wahrlich ein Vorbild für den Karl. Wen sonst hätte er sich als Vorbild nehmen können? Vielleicht den Meister selbst? In manchen Bereichen ja, nicht aber von der menschlichen Seite. Was er alles so konstruierte und wie genau alles ausgeführt und abgemessen wurde, imponierte dem Karl schon, aber von diesem Mann ging einfach keine Wärme aus, er war wie Eis und noch dazu weit entfernt, unnahbar, er hielt alle auf Distanz, damit ihnen der Unterschied ständig gegenwärtig war, er ließ sich keinen zu nahe kommen, da wäre er vielleicht viel zu verletzlich gewesen. Karls Eltern waren geschieden und bis über beide Ohren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Sie hatten beide wieder geheiratet. Karl wußte, dass sie ihn gern hatten, es war aber in seiner Familie nicht üblich, Gefühle oder Schwächen zu zeigen, um Hilfe zu bitten, sich preiszugeben. Das hatten seine Eltern schon von ihren Eltern gelernt und die wahrscheinlich von den ihren, das wurde wie eine Tradition weitergegeben, wie eine Familienkultur. Jeder hatte schlechte Erfahrungen damit gemacht, konnte aber nicht aus seiner Haut heraus, deshalb auch der hohe Stellenwert der Selbständigkeit, der Arbeit und der Karriere. Vielleicht wurde ihnen nie Liebe entgegengebracht, und was man nie erfahren hat, kann man auch nicht weitergeben, zumindest hatten sie Probleme damit, es zu zeigen. Alles was sie für ihren Sohn taten, war gut gemeint, ging aber an den lebenswichtigen Bedürfnissen vorbei. Er fragte sich, ob er selbst für seine Kinder einmal so viel übrig haben würde, wie er es sich von seinen Eltern gewünscht hatte. Er wollte keine Karriere, keinen Ruhm, wenn seine Kinder einmal von ihm berichten würden, dass er ein guter Vater war, dann hatte er nicht umsonst gelebt, nicht umsonst -1 0 1 -
nachgedacht und überlegt, dann hat sein Leben einen Wert gehabt. Was der Karl benötigt hätte, wäre ein verständnisvolles Gespräch gewesen, das hatte er das letztemal in seiner Kindheit erlebt, bei seiner Urgroßmutter, bei der er wohnte, als sie drei Jahre lang bettlägrig war, in ihrer schlichten Wohnung, in der alles überschaubar war, das Röhrenradio, das Bett und die Kommode mit Aussendungen vom Imkerverein darauf. Dieser Frau hatte er viel zu verdanken, sie war seine eigentliche Bezugsperson, die aber starb, als er 13 Jahre alt war. Bei dieser Frau fühlte er sich geborgen, sie ersetzte ihm seine Familie, bei ihr fühlte er sich akzeptiert. Sie war immer für ihn da, wenn er von der Schule heimkam, vom Schwimmen oder Schifahren, und selbst wenn er nur im gleichen Raum mit ihr war und Zeitungen las und Soletti aß, fühlte er, dass jemand ausschließlich für ihn da war, sich um seine Gegenwart und Zukunft Gedanken machte, ihm uneingeschränkte Liebe schenkte. Er wußte genau, dass sie ihn nie fallen lassen würde, nicht einmal, wenn er das schwerste Verbrechen verübt hätte. Ihr weisester Satz war: "Man weiß nie, wozu es gut war". Damit meinte sie, dass alles, was vordergründig auch unangenehm war, für irgend etwas gut sein würde. Wenn der Karl an seine Probleme in der Lehre dachte, drehte er den Satz meist um zu: "Wozu das wieder gut sein hätte sollen, weiß kein Mensch." Diese Frau aber gab ihm die innere Ausgeglichenheit und die Kraft zur kreativen Lebensbewältigung, weil sie an ihn glaubte, weil sie alles, was er ihr erzählte ernst nahm, sich dafür interessierte und sich damit auseinandersetzte. Obwohl er noch ein Kind war, behandelte sie ihn als vollwertigen Menschen. Der Karl wußte genau, dass alles Gute, das in ihm war, das er auch seiner Umwelt zuteil werden lassen konnte, von ihr war, von ihr weitergegeben wurde und in ihm weiterlebte. Wann immer Verwandte über sie Schlechtes sagten, kränkte ihn das, weil er sich nur an das Gute erinnern konnte und wollte. Sie gab ihm -1 0 2 -
nicht nur Ruhe und Geborgenheit, auch seine Liebe für die Sprache und die Poesie. Sie las ihm jeden Tag eine Gute-NachtGeschichte vor, auch wenn das Schlafzimmer kalt und ungeheizt war und sie ihre Gesundheit aufs Spiel setzte. Oft hat sie ihm auch Geschichten erzählt, die ihm die wirklichen Werte im Leben nahegebracht haben. Sie hatte auf jede Frage eine Antwort, meist sogar eine Geschichte aus ihrem Leben parat, sie war die erste Erklärerin und Aufklärerin, die erste, wichtigste und einzigartigste. Alles erklärte sie so logisch und einfach, so einfach, schlicht und unkompliziert wie ihre Wohnung eingerichtet war, ihre Bilder, ihre Möbel. Durch ihren starken Glauben an Gott, den sie nie für etwas Negatives verantwortlich machte und durch ihre echte Zufriedenheit lebte sie dem Karl das vor, was andere schon wieder vergessen haben, bevor es ihren Mund verlassen hat. Doch nun war sie nicht mehr da, die Erinnerungen allein konnten keine Ordnung in das Chaos bringen, das in seinem Kopf herrschte. Während der ersten zwei Lehrjahre wollte er jeden Tag das Handtuch werfen. Er war total unglücklich. Doch es half nichts, schon sah er die Vogelweiderstraße, die Vogel Pumpen, Garvens, die Pension Elisabeth am Anfang des Hauses, das schon zur Firma MACHS gehörte und in dem der Jaga und der Krallinger wohnten. Die Uhr zeigte schon fast sieben und die Arbeit begann.
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Im Schutz der Stanze Als er am Ende seines Weges angelangt war, ging er raschen Schrittes am Stanzraum vorbei, jedoch nur, um sich umzuziehen und sogleich dorthin zurückzukehren ohne erst Seltsamers Befehlsausgabe abzuwarten. Als er die Tür aufsperrte, verspürte er die Vertrautheit, die ihn mit diesem Ungetüm bereits verband. Wenn er die Tür hinter sich zumachte, war er in einer geschützten Werkstatt. Noch stand sie da, massiv wie ein Berg, in völliger Morgenruhe. Er hatte es in der Hand, die Ruhe zu beenden. Er mußte nur noch die Lager ölen und dann konnte er loslegen. Es spürte die pure Macht, die er über dieses Gerät hatte. Und sie, die Stanze, sie schien geradezu darauf zu warten, dass er ihr Schwungrad in Bewegung setzte, ihr mit dem Treten des Pedals den Auftrag gab, die Bleche zu durchstoßen. Er konnte es ihr befehlen, wann immer er wollte, ihr Lärm machte ihn taub gegenüber Seltsamers Befehlen. Hier war er allein. Hier war er der Chef, der Meister. Wenn er stanzte, war er wie ein Besessener. Er liebte den Geruch des Öls, die Mächtigkeit, mit der der Stempel die Bleche durchstieß, die Freiheit, die er in diesem keine 5 m2 kleinen Stanzraum genoß, eine Freiheit in der totalen Isolation. Kein Mens ch störte ihn, er war allein mit seiner Stanze, der mächtigen Maschine, dem wahnsinnigen Lärm. Ihr Lärm war seine Stimme, der Schrei der Auflehnung. Er war der Herrscher über diese Maschine. Sie tat, was er wollte, war ganz allein für ihn da, half ihm, von Seltsamer loszukommen, seiner ständigen Überwachung zu entrinnen. Dieser Lärm, diese Monotonie war wie der Herzschlag. Blech rein bis zum Anschlag, Fußpedal, nachschieben, Anschlag, Fußpedal, immer wieder, immer wieder, wie links, zwo, drei vier - links zwo drei, vier, wie In-a-gadda-da-vida, wie Schlagzeug, wie Musik, wie Trance, wie Rosenkranz. Stanzen war eine Droge, mit dem Beigeschmack der Idiotenarbeit. Die -1 0 4 -
Handgriffe waren nach kurzer Zeit so automatisiert, dass Karl wie auf Schienen arbeitete, während seine Gedanken völlig entgleisten. Er dachte an alles Mögliche, zwang das stanzende Ungetüm mit dem Fußpedal unbarmherzig in die Knie und fütterte es mit Blech, zeigte ihm, wer der Herr war und betrieb Philosophie. Er wachte nur auf, wenn Seltsamer durch die Glastür hereinschaute oder sich zu einer Inspektion der Ausschußbleche in den Raum zwängte. Angesichts der äußerst effizienten Arbeitsweise Karls war durchaus auch einmal ein Lächeln auf Seltsamers Miene wahrzunehmen. Im Stanzraum war er unverwundbar. Er liebte die Stanze und behandelte sie gut. Nie vergaß er, ihre Lager zu ölen. Durch sie lernte er sich selbst kennen. Er dankte es ihr mit einem Gedicht. Oh du Stanze, mein Freund, mein Schutz mit all deinem Öl und deinem Schmutz. Du bist mein Herzschlag, meine Musik, obwohl ich dich trete, trittst du nie zurück. Dein Lärm, der die Ohren der andern so quält, trägt mich davon in meine eigene Welt. Er ist der Schrei aus meiner Kehle, die Energie meiner verdunkelten Seele. Du bist mein Antrieb, meine Motivation, Deine Prägung ist für meine Arbeit der Lohn All meinen Fragen gibst Du Raum, dafür bin ich dankbar, denn ich kenne mich kaum. Du gibst mir Zeit, über mich zu sinnen, dem Alltag eilig zu entrinnen. -1 0 5 -
Dein Rhythmus treibt mich durch meine Gedanken, ich fühle mich frei und ohne Schranken. Laß mich verschmelzen mit deiner eisernen Brust, stampf in den Boden all meinen Frust! Leih mir dein Schwungrad nur zu einem Zweck, damit ich mich rauszieh aus diesem Dreck. Ich dank dir für viel, was ich nicht kann benennen dein Öl und mein Blut sind nicht mehr zu trennen Vor allem aber dank ich Dir für deine Hilfe bei der Suche nach mir. Dieses sollte überhaupt ein besonderer Tag werden. Karl war verabredet, mit Elfi, einer Schülerin, die er mit Ru und Than kennengelernt hatte. Sie besuchte nicht den Annahof. Sie ging in ein richtiges Gymnasium. Er war stark beeindruckt von ihr, und sie hatte in den letzten Tagen immer gewartet, um mit ihm im Bus nach Hause zu fahren. Bisher hatte noch nie jemand auf ihn gewartet, es war immer er gewesen, der auf jemanden gewartet hatte. An diesem Tag wollten sie gemeinsam ein Konzert der Schmetterlinge besuchen. Karl kannte die Schmetterlinge noch nicht. Es war eine Band von Intellektuellen, die sich der Aufarbeitung der Geschichte des Proletariats verschrieben hatten und nun mit ihrer "Proletenpassion" von Stadt zu Stadt tingelten. Karl hatte keine Ahnung, was das Wort Prolet eigentlich bedeutete. Er wollte nur mit Elfi etwas unternehmen und stanzte dem Dienstschluß entgegen. Als er in den Bus stieg, erblickte er sofort Elfi, die ihm bereits einen Platz besetzte. Auf sie war Verlaß. Beide freuten sich schon auf den gemeinsamen Abend und plauderten die ganze -1 0 6 -
Fahrt, zumindest bis Elfi in Henndorf ausstieg, noch bevor die Motorstaubremse für Karl die Endstation ankündigte. Ein paar Stunden später saßen sie wieder nebeneinander, auf dem Rücksitz eines Mini Coopers, der einem Bekannten gehörte. Das Konzert begann, und die Kongas und Trommeln führten den Rhythmus der Stanze weiter. Karl wurde regelrecht davon mitgerissen. Die Proletenpassion handelte von der Geschichte derer, die nicht in den Geschichtsbüchern erwähnt werden, der Bauern, der Arbeiter, ja der Arbeiter. Dieses Wort ging Karl durch Mark und Bein. Auch Lehrlinge waren Arbeiter. Er war auch damit gemeint. Und wie recht die hatten, die da sangen. Es gibt wirklich keine Geschichte der Beherrschten, die Geschichtsbücher kennen nur Kaiser, Könige und Feldherren. Doch wer schleppte die Felsbrocken für die Pyramiden, wer errichtete die Triumphbögen, wer mauerte die Kathedralen - und wer spritzt die Kirchenbankheizkörper? Was da gesungen wurde, hatte er immer schon geahnt, deshalb hatte er das flaue Gefühl gehabt, als er mit seinen Freunden die wunderbaren Bauwerke auf der Interrail-Reise besuchte. Immer hatte er sich darüber Gedanken gemacht, welch arme Teufel all das bauen mußten, von ihren Vorgesetzten für einen Pfusch geschimpft und niedergemacht worden waren. "Auf zum Kampf, Bauersmann, der Thomas Münzer führt dich an!" Beim Hören dieser Zeile verspürte auch er den Auftrag, sein Geschick selbst in die Hand zu nehmen. Und als die Rede von der Ausbeutung der Schlesischen Weber war, meinte er überhaupt, es wären nicht Weber, sondern Stanzer gemeint. Im düstern Auge keine Träne, sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: "Deutschland, wir weben dein Leichentuch, -1 0 7 -
wir weben hinein den dreifachen Fluch wir weben, wir weben! Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten in Winterskälte und Hungersnöten; wir haben vergebens gehofft und geharrt, er hat und geäfft und gefoppt und genarrt wir weben, wir weben! Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, den unser Elend nicht konnte erweichen, der den letzten Groschen von uns erpreßt, und uns wie Hunde erschießen läßt wir weben, wir weben! Ein Fluch dem falschen Vaterlande, wo nur gedeihen Schmach und Schande, wo jede Blume früh geknickt, wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt wir weben, wir weben! Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, wir weben emsig Tag und Nacht Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, wir weben hinein den dreifachen Fluch, wir weben, wir weben!" Als Willi Resetarits im Rhythmus der Trommeln, eigentlich im Rhythmus der Stanze das Gedicht von Heinrich Heine über die Schlesischen Weber sang, klang es für Karl anders als für all die anderen Zuhörer: -1 0 8 -
Im düstren Auge keine Träne, sie sitzen im Stanzraum und fletschen die Zähne: "Meister, wir stanzen Dein Werkstattbuch, wir stanzen hinein den dreifachen Fluch wir stanzen, wir stanzen! Ein Fluch dem Meister, für den wir uns schinden, in schlechter Luft bei Nitro-Gebinden, wir haben vergebens gehofft und geharrt, er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt wir spritzen, wir spritzen! Ein Fluch der Werkstatt, dem Ort der Loyalen, die uns das Elend nicht wollen ersparen, die sich erfreuen und über uns lachen, und so uns zu echten Verlierern machen wir biegen, wir biegen! Ein Fluch der Firma ganz am Rande, wo nur gedeihet Schmach und Schande, wo jede Blume früh geknickt, wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt wir putzen, wir putzen! Das Alublech fliegt, die Stanze kracht, wir stanzen emsig Tag und Nacht Ja, Meister, wir stanzen Dein Werkstattbuch, wir stanzen hinein den dreifachen Fluch -1 0 9 -
wir warten - wir warten auf Menschlichkeit" Das Konzert war für Karl ein Schlüsselerlebnis, es machte ihm Mut, Mut zum Aufstand. Der Gesang von der Unterdrückung war für Karl Realität in seiner zweiten Identität als Max. Für ihn wurde die eigene Realität, nicht die der Bauern während der Bauernkriege und der Arbeiter in der Industriellen Revolution besungen. Er glaubte, die singen über die heutige Zeit, über seine tägliche Arbeit, die Akkordarbeit bei Seltsamer. Seine Identifikation mit den Schwachen und Unterdrückten, seine Sympathie für diese Menschen erweckte sein Interesse für den Kommunismus. Sein vordergründigster Gedanke aber war: Ich muß mich selbst aus meiner Lage befreien. Von selbst kommt nichts und Verlaß ist nur auf mich selbst. Diese Formel hämmerte der Rhythmus der Stanze in seinen Schädel. Da sprach Elfi zu ihm und erinnerte ihn daran, dass er ja auch sie hatte, jemanden, der ihn zu verstehen schien. Endlich wurde ihm ein unverfälschtes, nicht auf Vorteil gerichtetes Gefühl der Liebe entgegengebracht. Er wußte, dass er sich hundertprozentig auf einen Menschen verlassen konnte. Er war so froh, dass es Elfi gab, dass sie existierte. Sie redete über alles, konnte alles beim Namen nennen, was der Karl nur spürte, ahnte, in sich als Frage oder sonst etwas herumtrug. Sie war das, was er bisher an Frauen noch nicht kennengelernt hatte: unkompliziert. Sie schien seine hinter einer Fassade versteckte Einsamkeit wahrzunehmen und so zu verstehen, wie sie nur jemand verstehen kann, der sie auch selbst versteckt. Sie lehrte ihn mit Messer und Gabel zu essen und brachte ihn mit Büchern in Kontakt, mit Borchert, Brecht und Hesse. Bevor er sie kannte, hatte er kaum Bücher gelesen, war also unverdorben, hatte seine Augen geschont, war mit -1 1 0 -
Literatur ja nur über die von seiner Urgroßmutter vorgelesenen Geschichten in Kontakt gekommen. Sie hatte sich ihr Augenlicht und ihre Gesundheit zerstört, damit er seine guten Augen behielt. Er war unverdorben, das bedeutete auch, dass er von der Erziehung in der Schule und vom Fernseher, in dem ja noch nicht so viel zu sehen war, nicht sehr beeinflußt worden war, zumindest was die Kunst und die Literatur betraf. Jetzt kam er mit dieser Literatur in Kontakt, konnte sie aber noch nicht optimal nutzen, da er vieles nicht verstand, ja, er benötigte immer wieder das Fremdwörterbuch, das ihm Elfi geschenkt hatte, und in dem er sich die wichtigsten Wörter mit dem Stift markierte. Er lernte die Fremdwörter wie Vokabel. Elfi glaubte an ihn und seine Fähigkeiten, das hatte er vorher von nicht vielen Menschen erlebt. Sie war klug und deckte die schwachen Seiten an ihm ab, sie reflektierte seine Aktionen und ließ sie ihm in einem anderen Licht erscheinen. Er schien zu schweben und gewann Vertrauen zu sich selbst. Aber auch Elfi war verletzlich und instabil, nur zusammen waren sie stark, halfen sich gegenseitig, betankten sich mit Leben. Eigentlich hatte Karl Schülern gegenüber immer Vorurteile. Für ihn waren die Schüler auf der Gewinnerseite, die Arbeiter auf der Verliererseite. Bei Parties in Mülln und im Kolpinghaus hatte er Hemmungen, mit Schülern ins Gespräch zu kommen. Er hatte keine Gesprächsbasis mit Schülern, vielleicht weil er keine Bücher las. Er konnte in Büchern so vieles nicht verstehen. Jedes zweite Fremdwort mußte er nachschlagen. Er war absolut blank in Geschichte und Geographie, weil ihn der Oberschulrat immer so traktierte, so schnell fragte, dass er Angst hatte. Er hatte auch keine Ahnung von Politik. Bücher las er auch nicht, weil sie ihm zu langweilig waren. Krimis, Verbrecherjagden, Spionage und Science Fiction interessierten ihn überhaupt nicht, lediglich die Fliegerei, wenn er ein Flugzeug oder einen Hubschrauber sah, oder wenn einer in einem Film vorkam, war -1 1 1 -
für ihn der Tag gerettet. Vielleicht durch die Bewunderung seines Onkels in Wien, der bei der AUA arbeitete und etwas mit Computern zu tun hatte. Auch Autorennen liebte er, aber nur in der Hauptschule, nicht mehr so sehr in der Lehre. Wenn er ein Buch las, fragte er sich immer, warum der Autor das Buch eigentlich geschrieben hatte, was er damit bezwecken wollte. Meist kam er nicht dahinter, was ihn sehr frustrierte. Die ersten Bücher, die ihn wirklich beeindruckten waren Siddhartha und der Steppenwolf von Hermann Hesse. Auch Bert Brecht hatte sein Interesse geweckt, allein durch sein Gedicht "Der Radwechsel" und ein Photo, auf dem er eine blaue Monturjacke anhatte. Die soll er immer getragen haben, eine blaue Monturjacke wie der Hasi.
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Ganz Anders Eines Tage saß der Karl mit Than und Ru beim Karlwirt, dem Treffpunkt der Zerrer, die im Grunde genommen nur durch ihre Mitläufer existierten, und der Gewöhnlichen. Am hintersten Tisch in der hintersten Ecke, dort wo die Absaugung dem Fettgeruch der Küche nicht mehr Herr wurde, nahm er in einer Gruppe von Bekannten, dem Vatschke, dem Andi und dem Amigo, einen für ihn bis dahin unbekannten, unscheinbaren offensichtlich Gleichaltrigen wahr, der nicht aus der Gegend sein konnte. Die Leute, die da im hintersten Eck saßen, bildeten eine Band, die im entlegenen Ortsteil Wertheim ihr schöpferisches Zentrum hatte. Vatschke war der Schlagzeuger, Amigo spielte Gitarre und die anderen zwei würden auch etwas mit der Band zu tun haben, dachte Karl. Im Laufe des Abends begrüßte ihn Vatschke und stellte ihm Franz Anders vor, er erzählte ihm, dass er der Bassist der Band war. Karl blieb am Tisch sitzen und unterhielt sich mit Franz, während die anderen schon Pläne für Auftritte bei Open Air Konzerten machten, obwohl der erste Song den sie spielten, mangels Englischkenntnissen nur eine mehrmalige Wiederholung der Zeile "So far, far away" war. Der spärliche Text mußte also zumindest pausenlos von Gitarre-, Bass-, oder Schlagzeugsoli abgelöst werden, das war klar. Mit "So far, far away" konnte man in Neumarkt sicher einige Zeit über die Runden kommen, zumindest bei den Zerrern, die für jede Unterhaltung dank bar waren, auch wenn sie nachher angewidert behaupteten, dass das Konzert oder sonst irgendwas nicht gezerrt hätte. Franz machte den Eindruck, dass er weder ein Zerrer war, noch an die Verwirklichung der Open Air Träume der Band glaubte. In der aggressiven Diskussion nahm er sich wie ein ruhender Pol aus, der abseits der Macher in der Band saß, in der Diskussion nicht tonangebend war, auch nicht mit seinem Bass, wie er Karl sagte. Es fiel auch auf, dass er unter all den -1 1 3 -
rauchenden Musikern ein Nichtraucher war, das wies auf eine starke Persönlichkeit hin. Damals hatten alle lange Haare, das war nicht mehr außergewöhnlich, in diesem Alter rauchte man einfach, und schon gar, wenn man zu den Musikern gehören wollte, der Nichtraucher war die Ausnahme, der Mitläufer-Typ rauchte damals, Franz rauchte nicht. Er war aus Hof und hatte ein Auto. Nicht die Brillanz seiner Bass-Soli, sondern die Tatsache, dass er ein Auto, einen alten Ford Cortina Baujahr 68, hatte, machte ihn für die Band nützlich, deshalb saß er dabei und spielte er Bass, sagte er zu Karl. Er fuhr die Band überall hin, verstaute die Instrumente in seinem Wagen und spielte nebenbei Bass. Er war die Mitfahrgelegenheit und der Bassist, in dieser Reihenfolge. Noch dazu konnte er sich den Benzin selbst beza hlen, weil er brav arbeitete und sparte. Von Beruf war er Orthopädiemechaniker, wie er Karl erzählte, er war im selben Lehrjahr wie er, er ging in die Berufsschule und hatte Lehrer, die Karl auch hatte. Über das Gespräch über die Lehrer kamen sie auch auf die Lehre zu sprechen und Franz, der immer lächelte, nicht weil er wie Hias unsicher war, sondern weil er ausgeglichen und lebensfroh zu sein schien, konnte gar nicht fassen, welches Trauma die Lehre bei Karl bereits hinterlassen hatte und sprach von der Lehre ganz anders. Für ihn war jeder Tag der Lehre ein Gewinn, eine Erweiterung des Horizonts. Er, der in der Hauptschule im zweiten Klassenzug verbringen mußte, hatte in der Lehre seine AHA-Erlebnisse, seine Selbstbestätigung, seine Erfolge, die die Danebensitzenden vermutlich mit der Band suchten, er erzählte von der Hilfsbereitschaft seines Meisters, der ihn lobte, schützte, ihm etwas lernte, in ihn Vertrauen hatte. Der Karl war fasziniert von den Erzählungen. Was er hörte, war für ihn fast unglaublich. Alles, was er bisher von Lehrlingen gehört und gesehen hatte, war über den Haufen geworfen worden. Dieser Franz gab ihm eine neue Perspektive und bestärkte ihn in dem, was er selbst schon herausgefunden hatte, nämlich dass er selbst jetzt für -1 1 4 -
Erfolg oder Mißerfolg, Weiterbildung oder Absandeln, Lebensfreude oder Frust verantwortlich war. Es mußte einfach etwas geschehen, dachte Karl, so konnte es einfach nicht weitergehen, das war ihm gewiß. Interessant war auch die Hochachtung, die Franz einem beiden bekannten Berufsschullehrer zukommen ließ, der bei den Schularbeiten immer nur richtig oder falsch ohne Zwischenabstufungen anerkannte. Dieser Lehrer hielt nichts von der Bewertung richtiger Rechengänge. Wenn das Ergebnis falsch war, war die Aufgabe falsch. Als Erklärung für seine Vorgangsweise hatte er der Klasse von Franz folgende Geschichte erzählt. Als er für sein Haus Fensterstöcke bestellte, hatten sich die Vermesser lediglich um eine Zehnerstelle vertan, alle Stöcke mußten weggeworfen werden. Kein Kunde gibt etwas darauf, dass ein Facharbeiter Rechengänge richtig hat. Wenn das Produkt nicht der Bestellung entspricht, ist die Arbeit wertlos. Das war einleuchtend, selbst für Karl. An diesem Lehrer Freinbichler ist Franz noch etwas aufgefallen, seine konträre Lebensweise, wie er sagte. Einerseits war er so genau und konservativ, anderseits hat er bei seinem Hausbau die Stiege erst nach zehn Jahren fertiggestellt, weil er sein Geld lieber für seine VW-Bus Reisen nach Afganistan, Nepal oder Afrika ausgegeben hatte. Dieser Freinbichler hatte die Lehrlinge auch darauf aufmerksam gemacht, dass man die Lehrstelle unbedingt wechseln mußte, um die Chance zu bekommen, in der Hierarchie aufzusteigen. Wer in der Firma bleibt, in der er gelernt hat, wird immer den Makel des Lehrlings mit sich herumschleppen wie einen Putzfetzen, jede Dummheit, die er einmal gemacht hat, würde jedem seiner untergebenen Arbeiter jederzeit gegenwärtig sein. Jetzt, da er es aus dem Munde von Franz hörte, leuchtete Karl die Tragweite dieser Aussage ein. Das war für ihn absolut nachvollziehbar. Auch er würde in seiner Firma nie Erfolg haben. Innerhalb dieser Mauern konnte er nur versagen. Die beiden hätten noch die -1 1 5 -
ganze Nacht diskutiert, auch über ihre Reiselust - auch Franz war schon Interrail gefahren - wenn da nicht der wahnsinnige Bäcker gekommen wäre. Dieser wahnsinnige Bäcker, der einen Tupolino fuhr, war auch Musiker, oder zumindest sang er. Vielleicht wollten sie ihm das "So far, far away" beibringen. Wenn noch einer dieses "So far, far away" sang, klang es vielleicht nach mehr Text, nach mehr Englisch, dann war es vielleicht sogar als Solo tauglich, so wie das Schlagzeugsolo von Vatschke. Jedenfalls setzte er sich an den Tisch und konzentrierte das Gespräch wieder auf die Musik, und es war nicht mehr möglich, mit Franz weiterzureden. Karl setzte sich wieder zu Ru und Than zurück und verfolgte vom Nebentisch die Vörgänge auf dem Musikertisch. Er konnte es nicht glauben, dass dieser Franz, den sie nahezu links liegen ließen, auf ihn so zuversichtlich, so lebesnbejahend wirkte, der da in der Dunkelheit der Sparlampen-Atmosphäre des Karlwirts, kaum sichtbar, im dunklen, den Tönen der Bass-Gitarre entsprechenden Eck saß, ja selbst wenn er in der Mitte gesessen wäre, nie der Diskussionsmittelpunkt gewesen wäre. Er beneidete diesen Franz um seine Ausgeglichenheit. Dieser Franz schien es nicht nötig zu haben, eine totale Stage Performance mit seiner Bass Gitarre abzuliefern, um sein Image aufzubessern. Allein dass er in der Dunkelheit des letzten Ecks beim Karlwirt seine zuversichtlichen Augen hinter seinen Brillen aufblitzen ließ, erhellte die Sicht auf Karls weiteres Leben.
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Die Konfrontation Am darauffolgenden Montag war Karl wieder im Stanzraum. Im höllischen Lärm gab er sich seinen Gedanken hin. Was würde eigentlich eine Stanze empfinden, wenn sie einer Empfindung mächtig wäre? Würde sie lieber dastehen und in Ruhe gelassen werden wollen, oder würde sie es genießen, verwendet zu werden, für das verwendet zu werden, wofür sie gebaut wurde. Würde es ihr Spaß machen, wenn sie zur vollen Belastung gezwungen wird, oder wäre ihr ein mäßiges Arbeitstempo lieber? War es ihr egal, wer sie bediente, oder hatte sie Lieblings-Arbeiter. Wie würde sie einen Arbeiter wahrnehmen, wenn sie könnte? Sie könnte Arbeiter vielleicht daran unterscheiden, mit welchem Rhythmus sie stanzten, ob sie sie regelmäßig ölten und warteten. Karl war sich sicher, dass die Stanze es am liebsten hatte, wenn er und nicht irgend ein anderer das Fußpedal betätigte, dass sie grinste, wenn er am Morgen zur Tür hereinkam und die Lager ölte. Karl glaubte, die Stanze gehörte ihm. Sie schien ihm helfen zu wollen, innerhalb der chaotischen Struktur ihres Lärms schien sie ihm zu sagen: "Du kannst nicht ewig stanzen". Diesen Satz trommelte sie ihm plötzlich ins Ohr, wie einen Vorwurf. "So kann es nicht weitergehen" wurde ihm im Rhythmus der Stanze ins Ohr gehämmert. "Mach schon, mach's, du kannst nicht ewig stanzen, so kann es nicht weitergehen, geh weg von hier, mach schon, mach's, geh weg und lern was". Am Ton der Stanze erahnte Karl, dass ein Fremdkörper im Raum war. Hatte sie gerade noch hechelnd geatmet und gebrüllt, so schien sie jetzt endlos auszuatmen. Seltsamer war zur Tür hereingekommen und hatte die Stanze abgeschaltet. Eingeschüchtert lief ihr Motor langsam leiser werdend nach. Karl erblickte Seltsamer und hörte, dass etwas hinter ihm herwatschelte. Es war der Schlapfenmax. Seltsamer lächelte und teilte Karl mit, dass er seine Geschicklichkeit mit einer neuen -1 1 7 -
Aufgabe testen wolle, die so wichtig war, dass die Stanzarbeit für einige Zeit unterbrochen bzw. vom Schlapfenmax weitergeführt werden mußte. Die Damen im Büro hatten sich eingebildet, dass unbedingt eine Klimaanlage installiert werden müsse, um die schweißtreibende Schreibtischarbeit auch an den heißen Tagen unter erträglichen Bedingungen gewährleisten zu können. Seltsamer konnte ihnen diese Bitte natürlich nicht abschlagen und versprach, sich persönlich um den Einbau zu kümmern. Karl sollte dabei sein Assistent sein. Karl hatte das Wochenende ausgesprochen sorglos verbracht und war unbelastet in die Arbeit gefahren, hatte er doch annehmen können, dass die Stanzarbeit nicht eher beendet sein würde als die Bleche aufgebraucht waren. Und jetzt dieser Sonderauftrag. Karl haßte Sonderaufträge, ob sie für Seltsamers Freund Hermann oder sonst jemanden waren. Er haßte sie einfach. Noch dazu würde das bedeuten, unmittelbar mit Seltsamer zusammenzuarbeiten, tagelang. Er würde ihm permanent auf die Finger sehen. Nach längerer Zeit hatte Karl wieder einmal Angst, Angst vor dem Versagen. Er dachte, dass Seltsamer insgeheim sowieso schon darauf wartete, dass Karl wieder versagte. Sofort ging es daran, die Vorbereitungen für die Montage zu treffen. Vorerst wurde im Dachboden gearbeitet, ein Schacht gebaut und verlegt. Immer war Seltsamer in der Nähe Karls. Er war wie eine Klette. Von weiter Ferne hörte Karl die gleichmäßigen Erschütterungen der Werkstatt, die der Schlapfenmax mit seinen bedächtigen Tritten auf das Fußpedal der Stanze verursachte. Fast widerwillig und bockig schien sie den Befehlen zu gehorchen, ganz und gar nicht mehr im Gleichklang mit Karls Herzschlag. Der Schlapfenmax stanzte genauso langsam wie er durch die Werkstatt watschelte. Auch für ihn war die Stanze ein Verstärker seiner Unzufriedenheit. Konnte er sonst nur innerhalb eines Raumes durch sein Dahinschlapfen auf seinen Frust hinweisen, so erlangte er jetzt -1 1 8 -
in der ganzen Werkstatt Aufmerksamkeit. Erstmals wurde es dem Karl bewußt, dass auch der Schlapfenmax unglücklich war. Er sah es ihm nicht an, aber er hörte es am Ton der Stanze. Sie teilte es ihm mit, wie so vieles. Sie erschütterte die ganze Firma. Jeder konnte es hören, nur Karl konnte es verstehen. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie der Fastmax gestanzt hatte. Damals hatte die Stanze nicht traurig geklungen, ja, sie hatte irgendwie glücklich geklungen. Der Fastmax hatte in einem anderen Rhythmus gestanzt, beschwingt, unbekümmert, selbstsicher. Abends fuhr Karl deprimiert nach Hause, obwohl er bisher noch keinen gröberen Fehler gemacht hatte. Er konnte kaum schlafen und war schon wieder im Frühbus auf dem Weg zur Arbeit. Im Halbschlaf blickte er aus dem Bus. In der Langwied war die Oase der Nacht, ein Nachtlokal, dort schaute ein kleiner Affe aus dem Fenster. Der Bus hielt vor der Ampel des Motorradgeschäftes Frohnwieser, dann war links der Bremsen Eder in der Linzer Bundesstraße zu sehen, dann stiegen die Gnigler Eisenbahner aus, bei der Haltestelle vor der Eisenbahnbrücke, links war die Renault Plätzer Werkstätte, deren Maxen in der Berufsschule mit orangen Overalls auffielen, es ging am Albus vorbei, vorbei an der Kreuzung Vogelweiderstraße, an der man nicht aussteigen konnte, dann ging's die holprige Schallmoser Hauptstraße entlang bis zum Hofwirt. Links war Schöpps mit dem Scheckstüberl und der Haidenthaler, wo eine Mitschülerin aus dem Polytechnischen Lehrgang arbeitete, dann das Hotel Hofwirt rechts. Während er ging und ein- und ausatmete, eigentlich seine Beine wie Maschinen gingen, malte er sich schon aus, welche Schwierigkeiten er mit Seltsamer wieder haben würde. Die Beine gingen schnell, um pünktlich in der Werktatt zu sein, der Kopf wehrte sich dagegen, Karl sah sich wie eine verzerrte Comics Figur. Zwischendurch aber dachte er daran, dass er es ihm doch einmal zeigen wollte, dem Meister. Dass er stanzen -1 1 9 -
konnte, das wußte er ja schon, aber jetzt hatte er Gelegenheit, dem Meister zu zeigen, dass er auch bei anderen Arbeiten geschickt war. Endlich wollte er ihm beweisen, dass er intelligent und geschickt war. Schon marschierten seine Beine in die Sterneckstraße, registrierten seine Augen die Firma Schmirl, dann links Landmaschinen Riermeier, Schurich, rechts StihlMotorsägen und Elektrowerkzeuge, einbiegen in die Vogelweiderstraße, rechts Hochenburger, links Brown Bovery und Weber Auspuffanlagen, rechts Hofmann Autoersatzteile, da war die Raika, bei der er am Freitag oft Geld für die Auszahlung holte, dann Schäcke und die Gebrauchtwagen, und schließlich die Trafik. Schon stand er umgezogen vor Seltsamers Büro. Auf ging's ins Chef-Büro. Der Schlapfenmax half ihm die Klimaanlage und das Werkzeug zu tragen, der Meister ging voraus und öffnete die Türen. Als sie durch die Glastür schritten, fühlte sich Karl wie nach einem verlorenen Boxkampf. Die Damen lächelten, der Meister auch, die Lehrlinge grüßten, die Damen auch. Es duftete nach Parfüm wie üblich, und Karl fühlte sich als Bazillus wie üblich. Als ihn die Damen ansahen, befürchtete er sofort, das Hosentürl nicht zugemacht zu haben. Oder hatte er sich beim Frühstück angepatzt? Er war entsetzlich unsicher und paßte auf, mit seinen schmutzigen Fingern nur ja keine Schriftstücke oder Möbel zu beschmutzen. Die riesige Öffnung für die Klimaanlage lachte schon vom Plafond entgegen. Dort also sollte der schwere Vorderteil des Schachtes eingebaut werden. Zu allem Unglück waren auch der Chef, die Chefin und Meister Herbst anwesend. "Weiß der Teufel, was die hier zu suchen haben", dachte er und grüßte sie freundlich. Die schweren Teile wurden abgesetzt und der Schlapfenmax mußte wieder in die Werkstatt zurück. Karl stand auf der Leiter und mühte sich allein ab, den schweren Vorderteil eines Holzschachtes in die Plafondöffnung einzusetzen und zu befestigen. Allein hatte er den schweren Teil -1 2 0 -
die Leiter hoch befördert und positio niert. Mit dem Kopf fixierte er ihn, während er nach den Schrauben in seiner Manteltasche suchte. Das Holzteil war ganz schön schwer und prägte ihm einen tiefen Streifen in die Stirn, bis er den Schraubenzieher im Anschlag hatte. Seltsamer, dem er ja bei der Montage persönlich half, verbrachte die Zeit damit, mit den Sekretärinnen und der jungen Chefin zu scherzen und ihnen Funktionsweise und Vorteile einer Klimaanlage zu erklären. Er verschwendete keine Sekunde dafür, dem auf der Leiter balancierenden Karl eine Stütze oder Hilfe zu sein. Karl war es ja, der da war, ihm zu helfen, und nicht umgekehrt. Seltsamers Arbeitsmantel mußte sauber und unbefleckt bleiben, er konnte sich doch nicht hier die Hände schmutzig machen, hier, wo Schmutz nur bei der Auszahlung am Freitag anzutreffen war, wenn die Arbeiter vor der Glastür standen und auf das Lohnsackerl warteten, hier, wo sich die teuersten Parfums einen Wettkampf um die Vorherrschaft lieferten. Karl hatte fast keine Zeit dafür, dass sich diese Gedanken aufdrängten. Seine Balance war plötzlich gefährdet. Die Schraube wollte nicht anbeißen. Er verstärkte den Druck auf den Schraubenzieher, indem er sich in eine extreme Vorlage begab, um den nicht existierenden Rückhalt zu kompensieren. Plötzlich kippte die Schraube. Er stieß den Schraubenzieher gerade noch seitlich an der Holzkonstruktion vorbei und stützte sich an der Wand ab. Er konnte somit das Umfallen mit der Leiter nocheinmal verhindern, nicht aber das Herausrutschen des schweren hölzernen Endstücks der Klimaanlage. Hilflos mußte er mitansehen, wie es unaufhaltsam weiter und weiter herausrutschte. Verzweifelt blickte Karl zu Seltsamer, der nicht weit entfernt stand und mit den Damen nichtsahnend schäkerte. Wenn er doch nur die Zeit anhalten könnte, wie er es in den Filmen immer gesehen hatte! Karl wußte es, das Holzstück würde unweigerlich zu Boden fallen. Was würde dann geschehen? Wie würde ihn Seltsamer bloßstellen? -1 2 1 -
Welchen Eindruck mußten die Damen im Büro von ihm haben, der Chef selbst, den er bald darum bitten wollte, ihn in die Wickelei zu versetzten. Meister Herbst würde ihn nach dieser Blamage vielleicht gar nicht nehmen. Er hatte keine Zeit mehr, darüber zu grübeln, schon krachte das Holzteil neben ihm auf einen Schreibtisch, zerscherbte zwei Familienbilder der Chefin samt ihrem Telephon und einer Kaffeetasse und begrub sie unter sich. In der absoluten Stille nach dem Verdruß waren alle Augen auf ihn gerichtet, weit aufgerissen und so intensiv, dass er es spüren konnte, obwohl er ihnen noch den Rücken zukehrte. Es war, als würden sie die Blicke als Strahlen genau in seiner Selbstachtung fokussieren. Er hörte nur mehr seinen eigenen Atem. Überraschenderweise war es ihm plötzlich überhaupt nicht mehr peinlich, es konnte ihn nicht treffen. Er spürte nur mehr Wut ohne Verzweiflung, er genoß die Blicke derer, für die er bisher nur namentlich existiert hatte, in der Personalkartei vielleicht, in der Lohnempfängerliste, als einer, der bei Seltsamer arbeitete, ein Posten in der Buchhaltung war, dem Urlaubstage zustanden, der eine Versicherungsnummer hatte, von dem ein Lehrvertrag in einem Ordner existierte. Jetzt war er für sie Fleisch geworden, war für kurze Zeit ein Entertainer wie Frank Sinatra, der von der Leiter herunterstieg, um den Applaus entgegenzunehmen. Er fühlte sich wie der Alleinunterhalter mit Zieharmonika im Pitterkeller. Sein Publikum im Büro wartete auf eine Äußerung von ihm wie auf eine Ansprache vom Chef bei einer Geburtstagsfeier oder bei einer Ehrung, wie wenn jemand mit einem Löffel auf ein Glas geklopft hätte, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. Er hatte jetzt tatsächlich die ganze Aufmerksamkeit der Chefetage, auch die eines Mädchens, das manchmal im selben Bus fuhr und vom Hofwirt zur Firma ging, eines Bürolehrlings. Er war dabei, eine Berühmtheit zu werden. Dies alles mußte sich innerhalb von Sekunden abgespielt haben, -1 2 2 -
für ihn aber war es eine Ewigkeit. Wenn es wirklich wahr war, dass Scherben Glück bringen, dann durfte er keine Zeit verlieren, seines Glückes Schmied zu werden. Fest entschlossen setzte er jetzt alles auf eine Karte. Er hatte keine Hemmungen, auch wenn das ganze Büro zuhörte, auch Meister Herbst anwesend war, der Installateurmeister Krimpei mit dem grinsenden Kindergesicht und der Chef. Im Gegenteil, es war ihm gerade recht, und von ihm aus hätten auch noch der Krainer und der Händewascher dabei sein können. Er klappte die Leiter zusammen und lehnte sie an die Wand. Seltsamer verschaffte seiner Empörung Ausdruck und begann damit, den Namen Max so auszusprechen, wie er den Namen Feibl bei einem Pfusch immer aussprach. Diesmal aber verfehlte seine verbale Vernichtung ihre Wirkung. Indem er mit dem Schraubenzieher in seiner Hand auf Seltsamer zeigte, signalisierte Karl unmißverständlich seine Sprechabsicht und machte sich und seine Zuhörerschaft zu Beteiligten und Zeugen einer unvergeßlichen Konfrontation, eines Frontalzusammenstoßes. Respektlos und offensichtlich stark erzürnt hob Karl an zu reden, um nicht eher aufzuhören, bis er sich entleert hatte. "Jetzt hören Sie mir einmal gut zu", begann er mit Unterstützung des Schraubenziehers, "weil ein zweites Mal will oder werde ich es nicht sagen." "Was sie hier mit mir und anderen Lehrlingen aufgeführt haben, Herr Seltsamer, ist eine einzige Frechheit. Seit drei Jahren bin ich hier und habe nichts außer spritzen, biegen, stanzen und Blechkastenschustern gelernt. Mit dem Lehrberuf hat das nichts, aber auch schon gar nichts zu tun, das ist Hilfsarbeit, wozu sie uns Lehrlinge seit Jahren mißbrauchen. Ich bin weder ihr Freund, noch ist me in Name Max, ich heiße Steiner, und wenn sie etwas von mir wollen, nennen sie mich gefälligst bei meinem Namen. Sie können nicht davon ausgehen, dass ich alles von vornherein kann oder mir selbst beibringe. Da brauche ich ja -1 2 3 -
keine Lehre zu machen. Sie als Meister sind dazu da, uns Lehrlingen etwas zu lernen. In dieser Hinsicht haben sie total versagt. Nicht ich bin der Versager, sondern sie. Wenn sie mir geholfen hätten, anstatt mit den Damen herumzuschäkern, wäre der Schacht nicht heruntergefallen." Gerade will ihm Seltsamer ins Wort fallen, aber Karl denkt gar nicht daran, still zu sein. Im Gegenteil, er spricht immer schneller und wird immer mutiger. Jetzt ist sowieso schon alles egal, denkt er und registriert, wie die Bürodamen immer noch größere Augen bekommen und wie erstarrt dastehen. Ihm ist, als würden sie gar nicht mehr schlucken, vielleicht auch nicht mehr atmen. Erstmals hat er die Führungsrolle, und erscheint nicht als Bittsteller, der darauf wartet, dass ihm das Lohnsackerl ausgehändigt wird. Er spielt hier nicht die Rolle des Untergeordneten. Obwohl er von der Leiter schon längst herabgestiegen ist, hat er das Gefühl, diesmal über allen anderen zu stehen. Er ist nicht mehr zu stoppen und setzt seine Angriffe auf Seltsamer fort: "Den Jaga und den Feibl haben sie schon mit Null Wissen zur Gesellenprüfung geschickt, einen einzigen Motor haben die gewickelt. Den Fast haben sie so lange in der alten Spritzkabine spritzen lassen, bis er umgefallen ist. Den Jaga haben Sie entlassen, weil ein Freund Krainers unbedingt aus der Händewascherabteilung zu ihnen wechseln wollte. Grinsend haben sie ihm den blauen Brief unter die Nase gehalten. Mir sind drei Jahre genug, jetzt will ich wirklich etwas lernen, auch wenn es bedeutet, dass ich wieder von vorne anfangen muß, weil ich in der Wickelei weniger weiß und kann als die Lehrlinge im ersten Lehrjahr. Sie haben uns alle auf dem Gewissen, Herr Seltsamer. Sie haben uns nichts gelehrt, sie haben uns höchstens geleert, richtiger ausgedrückt, entleert, erniedrigt, zu Robotern und Arbeitsmaschinen gemacht, zu Spritzern und Stanzern, Biegern und Blechkastenschustern, zu den Trotteln der Firma. Wenn ich morgen nicht versetzt werde, -1 2 4 -
steht mein Vater da, das sage ich ihnen. Dann werden wir uns vor Gericht wiedersehen. So einer wie sie soll nicht länger auf unschuldige Lehrlinge losgelassen werden". Seltsamer wollte nach unsicherem Lächeln und Seitenblicken zu den anderen Anwesenden gerade zu einer Antwort ansetzen, als Karl ein Geräusch vernahm, ein Geräusch, das er zu gut kannte und das er jetzt am allerwenigsten brauchte, es war das Geräusch der Motorstaubremse, das ihn aus seinen Tagträumen weckte und den Rengerberg ankündigte und ihn von der Leiter der Glückseligkeit holte. Bevor er sich richtig ärgern konnte, hatten ihn seine Beine schon wieder bis zum Schmirl getragen, Karl war fertig. So hatte er sich zusammengenommen, all das loszuwerden, was ihn bedrückte, und jetzt war es nur ein Traum gewesen. Er mußte alles nocheinmal durchstehen. Aber er war entschlossen, als er zur Werkstatt ging, fluchend und mit sich unzufrieden. Als er bei der Auslage mit den Skihl-Maschinen vorbeikam, fühlte er irrsinnigen Haß, dass er im dritten Lehrjahr immer noch keine solchen Maschinen reparieren konnte, schon in der ersten Arbeitswoche hatte der Hias behauptet, dass sie bald in der Lage sein würden, solche Elektrowerkzeuge zu reparieren. Noch nicht einmal jetzt hatte er eine Ahnung, wie so etwas repariert wird, nach fast drei Jahren Lehrzeit.
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Ganz allein Karl war fest entschlossen, in den nächsten Tagen Seltsamer mitzuteilen, dass er seine Abteilung verlassen werde. Er wollte sich aber alles gründlich überlegen und ging daher am Sonntag morgen zum Wallersee. Er mußte mit sich allein sein. Manchmal brauchte er die Einsamkeit, genoß sie sogar, weil er sie so gut kannte, weil er mit ihr schon auf die Welt gekommen war. Er zog sich dorthin zurück, wo es sonst nur den Privilegierten vorbehalten war, auf den Veranden ihrer Seehäusl die Natur pur zu genießen. Karl suchte die Stimmung des Sees nicht nur an schönen Tagen, nein, vor allem ein regnerischer Morgen wie dieser strich den beruhigenden Einfluß des Sees mit seinen Enten und Schwänen, die unermüdlich tauchten und schwammen, besonders hervor. Dieses Leben der unermüdlichen Wassertiere, die immer wieder neuen Muster, die sie der Seeoberfläche aufsetzten, ließen Karl mit der Natur verschmelzen. Lediglich eine orange Boje und das entfernte Geräusch des Zuges erinnerten ihn an die Zivilisation. Hier konnte er sich selbst näherkommen, den Weg zu sich selbst eher finden, als auf Reisen um die ganze Welt. Hier war er ganz Mensch und konnte die entmenschte Welt, in der er den Alltag verbrachte, wie mit einem Fernglas betrachten. Woher kam er? Wohin ging er? Dachten diese Enten, die voller Begeisterung nach Nahrung tauchten, darüber nach, woher sie kamen und wohin sie gingen? War es nötig, darüber nachzudenken? Hatte er überhaupt Aussicht auf eine Antwort? Er wußte es nicht, genoß aber die Reise in sich selbst. Hier, wo die Zivilisation nur durch die orange Plastikboje und das Geräusch des Zuges präsent war, hatte er Zugang zu sich selbst. Hier drängten sich Gedanken auf, die er sonst nur auf dem Weg vom Hofwirt zur Bude hatte, oder im Stanzraum, oder im Bus, wenn sein Kopf im Halbschlaf an die Fensterscheibe schlug. Manchmal hatte er diese Gedanken auch im Kino oder beim -1 2 6 -
Joggen oder bei einer Aurunde mit dem Moped, auf einem anderen Lieblingsplatz zwischen Mondsee und Unterach, dort, wo der Güterweg Mühlbach abzweigt, bei Kilometer 36.0, dort, wo man auf den Steinen ganz am Wasser sitzen kann, also ganz unten. Das liebte er, unten am Wasser zu sein und links den Schafberg aufragen zu sehen, das Rauschen des Sees gepaart mit dem Rauschen des Windes, der nicht nur die Wellen, sondern auch seine Gedanken in Bewegung brachte. Die Schönheit dieses Platzes war ihm damals noch nicht richtig bewußt geworden, ihn faszinierte nur das Gefühl der Freiheit und die Stimulanz der Sinne und Gedanken. Das Alleinsein war wichtig für ihn, war er doch zu sehr von anderen abhängig in all seinen Entscheidungen. Er verglich sich immer mit anderen, weil er es gewohnt war, immer mit anderen verglichen zu werden. Seine ganze Schulzeit über war er mit jenen Nachbarkindern verglichen worden, die in der Schule Genies waren, singen konnten, die Hausaufgaben immer richtig machten, ja sogar immer wußten, was auf war, und nie irgend etwas taten, was verboten war. Mit jenen, mit denen er verglichen wurde, hatte er außerhalb der Schule nicht viel zu tun. Er trieb sich immer mit denen herum, die genauso unwissend waren wie er, die auch Beethoven für eine Ortschaft in Oberösterreich hielten wie er. Das Vergleichen konnte er nicht abschütteln. Er verglich sich mit den "Unterlegenen", um selbst besser dazustehen, er verglich sich mit den "Überlegenen", um sich wie ein Versager vorzukommen. Das Vergleichen drängte sich ihm auf. Er hatte seine eigene Person einfach noch nicht ausgelotet und festgemacht. Manchmal dachte er: "Wozu dieses blöde Vergleichen? Es ist doch so einfach: Ich bin ich! Ich bin mein eigener Maßstab, meine eigene Moral." Er brauchte für wichtige Entscheidungen, aber auch für die Absicherung seiner Ansichten und Gedanken immer das Urteil anderer. Das war seine größte Abhängigkeit, die Abhängigkeit vom Urteil anderer, von deren Akzeptanz, dies -1 2 7 -
in Ermangelung von Vertrauen in die eigene Urteilskraft. Nur beim Essen funktionierte alles anders. Da war er heikel. Auch wenn andere vom Fleisch schwärmten, er aß es nicht, konnte es nicht essen, da richtete er sich nur nach seinem Geschmack, da blieb ihm nichts anderes übrig. Im Grunde genommen war das Essen das einzige, wo das Urteil anderer nicht zählte. Nur beim Essen hatte er seine eigene Meinung. Was hatte er in der Schule mit dem Singen mitgemacht! Auch hier wurde verglichen. Jeder konnte singen, nur er nicht. Wenn das Singen und das Fach Musik nicht gewesen wären, hätte er vielleicht sogar eine höhere Schule besucht. Die Ruhe und Abgeschiedenheit dieser Idylle am Wallersee war für ihn eine schützende Umgebung. Hier konnte ihm der Alltag nichts anhaben. Die orange Boje und der Zug waren keine wirkliche Gefahr. Solche Plätze dienten ihm schon während der Schulzeit als Zufluchtsorte. Während seiner Schulzeit in Neumarkt verbrachte er so gut wie jeden Nachmittag mit seinen Freunden in der Steinerwehr, einer Aulandschaft mit Höhlen, einer verlassenen Mühle einem Fischteich und mehreren kleinen Wasserfällen. Im Zustand der Hilflosigkeit, einem Zustand, in dem vielleicht jeder Mensch in diesem Schulalter einmal ist, war er immer auf der Suc he nach Schutz gewesen. Die Bäckerhöhle in der Steinerwehr war ein Ort der Geborgenheit, ein Schutz, eine Schutzhöhle. Sie bot ihm Schutz vor der Unsicherheit der Schule. In dieser Bäckerhöhle fühlte er eine Geborgenheit, die er sonst nur von Krankheiten kannte. Wie schön war es doch, wenn er glücklicherweise einmal krank wurde, all die wunderbaren Kinderkrankheiten wie Mumps, Masern, Keuchhusten oder Grippe hatte. Am liebsten hätte er sie alle mehrmals bekommen. Wenn er krank war, genoß er das Gefühl der Geborgenheit, dass man sich um ihn richtig kümmerte, sich ihm zuwandte. Als ganz kleines Kind schon erfreute ihn diese angenehme Fürsorge während der -1 2 8 -
Krankheiten, das Einwickeln in eine Decke, die vor dem Schlafengehen am Ofen gewärmt worden war und einen ganz einzigartigen Duft nach frischgewaschener Wäsche verbreitete. Krankheit war in seiner Familie die Rechtfertigung, umsorgt zu werden. Krankheit gab die Berechtigung, sich fallen zu lassen. Nur Kranken war das erlaubt. Um Kranke durfte man sich kümmern. Wenn er krank war, wurde für die Zeit der Krankheit nichts von ihm erwartet. Auch er selbst brauchte in dieser Zeit nichts von sich erwarten. Kein Druck lastete auf ihm. Da lag er als wichtigster Mensch in der Bauernstube beim Ofen. Wenn er als Kind krank war, dann hatte ihn seine Großmutter in heiße Decken eingewickelt und ins kalte Schlafzimmer gebracht. Allein der Geruch der frisch gewaschenen am Ofen gewärmten Leintücher deckte ihn mit Geborgenheit und Sicherheit zu. Normalerweise war seine Familie nic ht in der Lage, diese Fürsorge zu zeigen, es gab keine Umarmungen, keine körperliche Nähe, es gab ja keinen Grund dafür. Krankheit aber war ein Grund, insbesondere Fieber. Mit Fieber hatte Karl Anspruch auf Fürsorge. Nie sonst hatte er seine Großmutter oder Mutter so für sich allein als bei den Krankenbesuchen. Da zeigten sie, wieviel Liebe in ihnen steckte, da trauten sie sich Gefühle zu zeigen, weil ein Grund dafür bestand, weil der Patient hilflos schien. Nur die Urgroßmutter war imstande, diese Fürsorge auch im Alltag zu zeigen. Solange sie noch gehen konnte, mühte sie sich allabendlich in Karls eiskaltes Schlafzimmer um ihm Geschichten zu erzählen oder vorzulesen. Sie erzählte die schönsten Geschichten, die sich ein Kind nur vorstellen kann. Ja, mit einer Krankheit, und wenn sie eine noch so geringfügige war, konnte er der Ungeschütztheit entkommen, vor allem mit Fieber. Niemand konnte so gut und eindringlich erzählen und vorlesen als Karls Urgroßmutter, spannend, ergreifend, phantasievoll, improvisierend. Sie füllte Karl mit Worten, Namen, Satzmelodien, und er saugte alles auf. Noch bevor er lesen und schreiben konnte, hatte er schon die deutsche -1 2 9 -
Sprache bis ins Kleinhirn inhaliert, Gefühle, die sein Herz empfand, im Kopf zurechtgelegt, um sie irgendwann niederzuschreiben, weil er sie mündlich nicht ausdrücken konnte. Nur die Angst vor dem autoritären Erziehungsstil der Lehrer, vor allem des Oberschulrates, der ihn fünf Jahre lang unterrichtete, hinderte ihn daran, bereits in der Schule seine gespeicherten Sprachelemente, seine Poesie, seine Kreativität und Phantasie wie einen drängenden Strom aus sich herausfließen zu lassen. Diese Urgroßmutter war Karls Halt in seiner Kindheit. Sie hatte ein gutes Herz und hätte ihn gern als Feinmechaniker mit sauberen Händen und weißem Arbeitsmantel gesehen. Er hätte ihr noch gern zu Lebzeiten gezeigt, was aus ihm geworden ist, aus dem, für das sie den Grundstock, die Grundlage geschaffen hatte, zu einem Menschen, der schließlich doch in der Lage war, Liebe weiterzugeben. Mit seiner Urgroßmutter hatte er mit 13 Jahren seinen liebsten Menschen verloren, den Menschen, dem er auch etwas anvertrauen konnte, was bei den anderen nicht möglich war. Zu verlockend war der Tratsch im Geschäft, im Gemischtwarenladen des Großvaters. Das Geschäft war der Mittelpunkt des Lebens der ihn Umgebenden. Ob er wollte oder nicht, das Geschäft war Teil seines Lebens, und sein Leben, seine Erziehung war Teil des Geschäfts. Es gab nie den hundertprozentigen Verlaß, dass man jemandem etwas vertraulich sagen konnte. Es wurde immer im Geschäft ausgeplaudert, etwas leiser zwar als andere Themen, und mit dem Zusatz "das bleibt natürlich unter uns". Auch der Oberschulrat, der schon Generationen von Neumarktern zu guten Grüßern erzogen hatte, kaufte im Geschäft ein, und wenn er Karl oft ansah, als wüßte er etwas über ihn, dann konnte er sicher sein, dass im Geschäft geplaudert worden war. Sein Problem war nicht, dass keiner für ihn da war, dass ihn niemand liebte, nein, sein Problem war, dass er nicht wuß te, wohin er -1 3 0 -
gehörte, wer für ihn verantwortlich war, wo er daheim war. Er gehörte zwar nicht zu den Heimatlosen, aber zu den Daheimlosen. Nicht viele konnten die gefährliche Felskletterei zur Bäckerhöhle bewältigen, eigentlich nur die Freunde Karls, die in der Schule nicht zu den besten Schülern gehörten. Karls Cousin, der Lötschen Karli, hatte ihm die Griffe gezeigt und ihm gelernt, zur Bäckerhöhle zu klettern, ganz nebenbei auch das Rauchen und Erdäpfelbraten. Alle seine Onkeln hatten diese Höhle schon bewohnt und als Zufluchtsort geschätzt. An seinen geschützten Plätzen stellte sich Karl immer wieder die Frage nach Gott, von dem er mehrere Bilder hatte. Seine Urgroßmutter hatte ihm einen guten Gott vermittelt, einen netten Kerl, der für seine Geschöpfe da war, ein Ohr für ihre Anliegen hatte und manchmal ihm allein gehörte. Mit dem Gott der Schule konnte er wenig anfangen. In der Schule war meist vom gefürchteten, stafenden Gott die Rede, unterstrichen durch die autoritäre Vermittlung durch den Pfarrer, der auch den Haselnußstecken in der Hand hatte und manchmal auf den Tisch knallte, wenn er von Gottes Barmherzigkeit, Toleranz, Güte und Großzügigkeit sprach. Da konnte sich der Karl beim besten Willen keinen netten Gott vorstellen und fürchtete lediglich, dass der Pfarrer mit dem Haselnußstecken zu großzügig umgehen würde, was meist auch eintraf. Ein drittes Bild von Gott wurde vom Oberschulrat geprägt, der den Eindruck vom strafenden Gott verstärkte und mehrmals unterstrich durch das verhaßte Singen, das Singen, das Karl mehr als alles andere haßte, ja sogar mehr als das schöne Sonntagsgewand, das er am Sonntag in der Kirche anhaben mußte und die Ohrenbeichte, bei der er bereits beim allerersten Mal manches verschwiegen hatte, insbesondere das Schießen mit den doppelläufigen Stoppelrevolvern im Untermarkt, weil er befürchtete, der Pfarrer würde ihn schimpfen und bestrafen. Das war also der Gott der Schule und des Herrn Oberschulrats, ähnlich dem der -1 3 1 -
katholischen Kirche, des Herrn Pfarrers. Mit der Dreieinigkeit Gottes konnte Karl nichts anfangen, weil er nicht glauben konnte, dass die drei Götter, die er kannte, der nette Kerl, der strafende Gott mit dem Haselnußstecken und der Sängergott mit Kleidungszwang, dem jeder Brummer unter der Sonne ein Dorn im Auge sein mußte, ein und derselbe Gott waren. Die würden sich seiner Meinung nach sicher nicht so gut miteinander vertragen, dass sie eine Einheit sein könnten. Diese Theorie mußte einen Haken haben. Außerdem, was sollten die zehn Gebote? Die Urgroßmutter kam problemlos mit einem aus: "Wenn du mit anderen Menschen so umgehst, wie du möchtest, dass sie mit dir umgehen, kann nicht viel falsch sein". Karl betete nur zum Gott seiner Urgroßmutter, zum netten Kerl, dem er alles anvertrauen konnte, ohne bestraft zu werden, den der bedauernswerte Herr Oberschulrat und der bedauernswerte Herr Pfarrer wahrscheinlich noch gar nicht kennengelernt hatten. Ein anderer Gott existierte für ihn nicht, zumindest konnte er nicht der gleiche sein, wenn er nur Strafe, Singzwang, Kle idungszwang und Beichtzwang bedeutete. Paradoxerweise war Karl an den Stätten der Einsamkeit nicht einsam. Einsam war er im Alltag. Er fühlte, dass nicht einmal er selbst für ihn da war, weil er noch kein selbstdenkender freier Mensch war, der ohne Vergleiche auskam. Dazu mußte er einmal aus dem Müll heraus, der Müll seiner Gedankenwelt mußte entsorgt werden. Dieser Müll verdeckte seine Phantasie, hemmte seine Kreativität, Lernfähigkeit, Urteilskraft und trübte seinen Durchblick wie eine Schweißbrille. Karl hatte die Fähigkeit, seinen inneren Zustand nicht an die Außenwelt treten zu lassen, er verdeckte ihn, lange hatte er seine Probleme mit sich selbst ausgemacht, sie nicht gezeigt, sondern überdeckt. Da hat er sich plötzlich in einer ganz neuen Familie wiedergefunden, der Familie seines Onkels, die früher die Familie des Großvaters gewesen war, er aß in der Familie mit, in der seine Cousins und seine Tante aßen, aber auch noch seine -1 3 2 -
Großmutter. Eigentlich war die Familie nicht neu, der Übergang aber war ihm nicht bewußt geworden, er hatte es nicht bemerkt, es war für ihn eigentlich immer selbstverständlich gewesen, hier zu wohnen und Anspruch auf Essen zu haben. Von einem auf den anderen Tag merkte er, dass er nicht mehr richtig dazugehörte. Er wußte nicht, warum er in diese Familie gekommen war, obwohl die Mutter im selben Haus wohnte. War es die Tatsache, dass der Großvater immer gerne kleine Kinder um sich hatte, weil bei der Mutter die Wohnung zu klein war? Die Eltern waren bis über beide Ohren mit sich selbst beschäftigt, steckten bis zum Hals in ihren eigenen Schwierigkeiten. Nach dem Gespräch mit Franz Anders ging Karl eine Frage nicht mehr aus dem Kopf: "Warum ist für mich die Lehre ein so traumatisches Erlebnis geworden? Andere Menschen werden von den Geschehnissen in ihren ersten Lebensjahren ein Leben lang verfolgt, ich von denen der Lehre". Als Antwort darauf konnte er sich nur vorstellen, dass ihm erst in dieser Zeit der Lehre bewußt wurde, dass er zu der Familie, in der er damals wohnte, nicht gehörte - er wurde sich seiner Daheimlosigkeit bewußt. Er hatte zwar Menschen um sich, die ihn offensichtlich mochten, das genügte aber nicht, er war plötzlich nirgends mehr daheim.
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Herbstbeginn und Lehrabschluß Nach all den reiflichen Überlegungen und der Erkenntnis, dass nur er selbst sich aus dem ganzen Schlamassel befreien konnte, dass er auch seinen Beitrag dazu leisten mußte, wenn er etwas lernen wollte, wenn die Lehre doch nicht umsonst gewesen sein sollte, bat er den Senior Chef persönlich um einen Gesprächstermin und teilte ihm seine Wünsche mit. Der Chef war ein ruhiger und verständnisvoller Mensch, der daraufhin mit den betroffenen Meistern Seltsamer und Herbst sprach. Seltsamer bestand noch darauf, dass Karl die Heizkörper-Serie fertigstellen mußte, dann aber ließ er ihn ziehen und versuchte so zu tun, als ob er sowieso froh wäre, dass er weg war. Karl hatte geschafft, was er wollte. Der erste Schritt war der Wechsel zu Herbst. Dort lag das Wissen, das seinen Beruf betraf. Damit wollte er beginnen. Er hatte schon kein Vertrauen mehr darin gehabt, dass er die Firma einmal geistig gesund verlassen würde. Jetzt aber war er voller Hoffnung, obwohl er wußte, dass es nicht leicht werden würde für ihn. In vielen Dingen wußte er weniger als die Lehrlinge im ersten Lehrjahr. Meister Herbst erwartete von ihm weit mehr als er konnte. Karl aber arbeitete hart an sich. Durchhalten, dachte er sich, es wird bald anders werden. Was ihm dabei entgegen kam, war sein unbändiger Wille, etwas zu lernen, alles aufzuholen, was er versäumt hatte. Diese Einsicht kam sehr spät, er war ein Spätzünder. Das konsequente Versagen, dass ihn bisher begleitet hatte, mußte ein Ende haben. Meister Herbst nahm natürlich an, dass Karl schweißen und drehen konnte, wenn er so lange in der Seltsamer-Werkstatt gearbeitet hatte, und gab ihm oft Spezialaufträge zur Reparatur. Karl ging dann meist zu einer Drehbank in der Schlosserei, weil er sich die in der SeltsamerWerkstatt nicht verwenden traute. Er drehte und schweißte auch in den Mittagspausen, um etwas mehr Praxis zu bekommen und brachte es schließlich zu passablen Leistungen. Die Seltsamer-1 3 4 -
Werkstatt mied er so gut er konnte. Verlorene Jahre seines Lebens sah er dort überall herumliegen, es war wie ein Feindland, ein Land des gepachteten Mißerfolgs. Auch Seltsamer selbst ging er aus dem Weg so gut er konnte. Eines Tages gingen die Aufträge spürbar zurück, und für viele Mitarbeiter gab es einfach keine Arbeit. Da faßte der Chef den Entschluß, im Garten vor der Werkstatt ein Swimmingpool zu bauen. Für diese Arbeit wurden hauptsächlich Lehrlinge herangezogen. Sie hoben mit Krampen und Schaufel in wochenlanger Arbeit eine Grube aus, für die ein Bagger vielleicht einen Tag gebraucht hätte. Und weil es so glatt ging und die Aufträge noch immer nicht mehr wurden, wurde dasselbe Loch auch im Ferienhaus in Ibm ausgehoben und zu einem Swimmingpool weiterverarbeitet. Bei diesen Arbeiten gewann der Gartl das besondere Vertrauen des Senior Chefs und wurde zu seinem persönlichen Adjutanten. Er arbeitete fast ausschließlich für den Chef. Der Haken an der Sache war, dass sich der Chef schon aus dem Werkstattbetrieb zurückgezogen hatte und nur mehr im Garten arbeitete. Gartl erhielt also eine doppelte Ausbildung. Ganz nebenbei erlernte er die wichtigsten Tätigkeiten eines HobbyGärtners. Der Garten war genau vor dem Fenster von Hasis Werkplatz, und Hasi sah daher während der Arbeit vieles, mit dem er den Gartl in den Pausen auf die Palme treiben konnte. Gartl pflegte bald nicht nur den Garten vor der Werkstatt, sondern auch den Garten beim Wochenendhaus in Ibm. Er durfte mit dem Pritschenwagen fahren, den sonst kein Führerscheinneuling anrühren durfte. Er stellte aber keine Motoren zu oder holte Maschinenteile ab, nein, er war immer mit Erde für die Gärten unterwegs. Gartl war so gutmütig und angepaßt, dass ihm diese Zweckentfremdung sogar Spaß zu machen schien. Der Spaß hörte sich nur dann auf, wenn ihn die anderen Arbeiter als Gärtner bezeichneten oder Hasi und Hias in der Berufsschule von seiner Haupttätigkeit berichteten. -1 3 5 -
Als der achtzehnte Geburtstag nahte, faßten Ru, Than und Karl den Entschluß, den Führerschein zu machen, jeder bei einer anderen Fahrschule. Die aufs erste Antreten bestandene Führerscheinprüfung war eine Bestätigung für Karl, die erste wirkliche Prüfung in seinem Leben. Nach der Prüfung durfte Ru mit dem VW Variant seines Vaters fahren, Than kaufte seinem Vater einen Fiat ab und Karl kaufte einen alten Renault R4. Durch den Besitz dieses Wagens wuchs der Freundeskreis Karls sprunghaft an, da es natürlich viele Typen gab, die nach einer Fahrgelegenheit suchten. Wenn ein Pop-Konzert zu Ende war und es ums Heimkommen ging, kannten ihn plötzlich Zerrer, die ihn vorher keines Blickes gewürdigt hatten. Diese Mobilität mit dem R4 brachte Ru, Tha n und Karl mit Jugendlichen zusammen, die früher nicht zu ihrem Umgang gezählt hatten, mit Schülern. Schüler außer Ru und Elfi waren für Than und Karl früher tabu gewesen. Sie paßten nicht zu den Lehrlingen, waren in einer anderen Welt daheim. Die Grundproblematik des Lehrlings war, dass er so erzogen wurde, dass er immer dachte: "Das werde ich nie können", wogegen der Schüler immer alles total einfach fand, auch wenn er es nicht verstand oder konnte. Die Lehrlinge warfen den Schülern praktische Unfähigkeit und Lebensunfähigkeit vor. Schüler konnten in den Kaffeehäusern Pläne schmieden, sich über die Gesellschaft, die Lehrer und ihre Eltern gegenseitig den Schädel volljammern, während die Lehrlinge arbeiten und putzen mußten. Den Schülern wurde in den höheren Schulen die Bildung mit einem Kübel über den Kopf gegossen, sie benahmen sich, als ob sie die Gescheitheit mit dem großen Löffel gegessen hätten. Es schien als ob man den Schülern in der Schule Überheblichkeit gegenüber dem Proletenvolk beibrachte, ihnen sagte, dass sie die besseren seien. Sie blickten auf die Versager herab, hatten mehr Geld und kannten mehr Mädchen, Mitschülerinnen, mit denen sie ja tagtäglich zusammensein konnten, während die Kontakte der Lehrlinge auf die Diskothek und einige Veranstaltungen -1 3 6 -
beschränkt waren. Die HTL-Praktikanten, die den Sommer über in der Firma arbeiteten, schienen theoretisch alles über den Strom, das Schweißen, das Drehen und Löten, die Elektromotoren und Kondensatoren zu wissen, waren aber meist nicht in der Lage, einen Elektromotor zu reparieren, zu schweißen oder zu drehen. Am schlimmsten traten die Unterschiede zu den Schülern bei den Parties in der Stadt zu Tage, die Karls Bruder immer ausfindig machte. Diese fanden in Mülln oder im Kolpinghaus statt. Während die Schüler mit einer Mischung aus Salzburger Tracht und Jeans und mit Kenntnissen frisch von der Tanzschule auftricksten, konnte man den Lehrlingen ihr Arbeiterdasein an den schmutzigen Händen und den schlechten Manieren ansehen. Lehrlinge hatten das Vorurteil, dass Schüler nur in die Schule gingen, weil sie ihre Eltern hinschickten, damit sie den gleichen Beruf ergreifen konnten wie sie, oder zumindest Rechtsanwalt oder Arzt würden. Es gab kaum eine Gesprächsbasis mit den Schülern. Wenn Schüler miteinander redeten, verwendeten sie Fremdwörter, die die Lehrlinge nicht verstanden. Ihre Sprache war affektiert wie bei Adeligen. Sie begannen jeden Satz mit "Hast's gseh'n,... Hast' ghört,..." Diese Sprachbarriere trug dazu bei, dass eine echte Annäherung der Lehrlinge an die Schüler nicht möglich war. Ru war in dieser Angelegenheit ein Vermittler und zeigte Karl und Than immer wieder auf, dass gerade vor Tests und Schularbeiten das Leben des Schülers kein Honiglecken war. Schließlich kam die Gesellenprüfung immer näher und der Chef hatte die Idee, seinen in der Gartenarbeit und Fließbandarbeit bestens geschulten Lehrlingen Nachhilfestunden in Sachen Elektrizität zu geben. Das zählte für Karl zu den wenigen Stunden, die in seiner Lehrzeit mit dem zu tun hatten, was für seinen Lehrberuf charakteristisch war. Es war, wie wenn man einem Schuster nach drei Lehrjahren zum erstenmal einen Schuh zeigt, ihn bei der Reparatur der Sohle zusehen läßt, und -1 3 7 -
dann sagt: "Na, ist das vielleicht schwierig?" Zur Prüfung fuhren die angehenden Gesellen in Karls R4. Jaun und Hias waren nicht mehr dabei. Jaun war nach einem Trafik-Einbruch entlassen worden und Hias hatte aus gesundheitlichen Gründen die Lehre abgebrochen. Die Gesellenprüfung schafften alle, und sie war für Karl eine Selbstbestätigung. Für den Chef, der ja auch Innungsmeister war, bedeutete die erfolgreiche Ablegung der Prüfung, dass in seiner Firma ordentlich ausgebildet wurde. Tatsächlich aber war es eine Meisterleistung seiner Lehrlinge. Es war nicht alltäglich, dass ein Hobby-Gärtner und ein Blechkastenschuster eine Lehrabschlußprüfung als Elektromaschinenbauer ablegten. Karl arbeitete noch ein paar Monate in der Firma und erhielt dann den Einberufungsbefehl zum Bundesheer. Da er noch etwas Urlaub übrig hatte, verließ er die Firma schon drei Wochen vor seinem Einrückungstermin und setzte sich in den Zug nach Griechenland.
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Auf in eine neue Welt! Gerade noch hatte er Angst gehabt, dass er die Firma nicht geistig gesund verlassen würde, jetzt dachte er daran, dass er nach einer Kündigung nicht mehr bei der Gebietskrankenkasse versichert sein würde, kein geregeltes Einkommen mehr haben würde. Was wäre, wenn er krank würde? Aber ersteinmal wollte er seine letzte Freiheit vor dem Bundesheer, seinen Urlaub genießen. Er mußte wieder einmal weg. Elfi konnte das nicht ganz verstehen. Sie hatte jetzt keine Ferien und konnte daher nicht mitkommen. Für Karl aber ging es einfach nicht anders, er mußte wieder einmal weg, diesmal ganz allein. Griechenland hatte er sich ausgesucht. Immer noch hatte er die Geschichten im Ohr, die die Schwaben bei seiner ersten Interrail-Reise über Griechenland erzählten. Er dachte nicht mehr lange nach, kaufte eine Interrail Karte, sagte der Firma Ade und stand ohne Sitzreservierung im Zug. Der Abschied von Elfi fiel so schwer, dass er am liebsten wieder umgekehrt wäre. Vierzig Stunden verbrachte er am Gang, sitzend, liegend, wartend und nachdenkend. Nach vierzig Stunden war er in Athen, stieg aus und wünschte, er wäre daheimgeblieben. Es suchte eine Bleibe und fand ein billiges Zimmer in einem Hotel. Das Zimmer war eigentlich ein Abstellraum, aber es war wirklich billig. Als er am nächsten Morgen das Hotel verließ, merkte er, dass die Besitzerin und er die einzigen Weißen in dem Hotel waren. Alle anderen waren schwarz. Außerdem vernahm er am Morgen des ersten Wochentages ein komisches Geräusch vor dem kleinen Fenster des Zimmers. Es waren monotone Schläge mit einem anschließenden metallenen Rascheln. Bald wußte er, dass es eine Stanze sein mußte. Weiß der Teufel, was da gestanzt wurde, aber es raschelte metallen, wenn es zu Boden fiel. Es war also wie daheim. Er konnte nur den Schrei der Stanze vernehmen, er konnte sie nicht sehen, er brauchte sie nicht zu sehen, auch den nicht, der sie bediente. Zu genau wußte er, wie -1 3 9 -
die Maschine funktionierte, was da passierte, was der Grieche, der sie bediente, machte: Blech rein bis zum Anschlag, Fußpedal, nachschieben, Anschlag, Fußpedal, immer wieder, immer wieder, wie links, zwo, drei vier - links zwo drei, vier. Karls Herzschlag paßte sich an. Er fühlte eine starke Sympathie zu diesem unsichtbaren Eisenmonster, eine Sympathie, die andere für ein Haustier empfinden. Nur am Wochenende wurde nicht gestanzt. Erst einmal erkundete Karl die Stadt Athen und beobachtete die Leute an der Bushaltestelle, bevor er wagte, eine Karte zu lösen und zum Hafen zu fahren. Der Hafen beeindruckte ihn so sehr, dass er sofort wieder zum Hotel fuhr, zahlte, seine Sachen mitnahm und eine Insel ansteuerte. Die griechischen Inseln gefielen ihm sehr, und er fand immer billige Schlafplätze. Schließlich erkundete er noch den Peloponnes mit der Bahn und fuhr mit dem Bus nach Delphi. Bei der vierzigstündigen Heimfahrt am Gang des Zuges malte er sich schon aus, was ihm beim Bundesheer bevorstehen würde. Aber was sollte ihm schon geschehen, für ihn konnte es nur eine willkommene Abwechslung sein, wenn er an das dachte, was er in vier Jahren erlebt hatte, konnte es nicht schlechter kommen. Alles würde seine Ordnung haben, sogar richtiges Essen würde er zu den Mahlzeiten erhalten. Angesichts der Tatsache, dass er vier Jahre täglich drei Wurstwecken aus der Lufthansa Tasche gegessen hatte, war das eine schöne Aussicht. Lediglich das Buch "Draußen vor der Tür" von Borchert, das ihm Elfi mitgegeben hatte, beunruhigte ihn. Würde er je so einen General mit roten Streifen an der Hose sehen? Franz Anders kam ihm in den Sinn. Vatschke hatte Franz einmal beim Karlwirt als Holzfußschnitzer betitelt. Aus diesem Stichwort hatte sich damals eine Diskussion über das Bundesheer entwickelt. Franz hatte damals von seinem alternden Arbeitskollegen erzählt, der dem Alkohol nicht abgeneigt war und nach einem gewissen Quantum mit den Säbeln rasselte und von den Heldentaten des -1 4 0 -
Zweiten Weltkriegs schwärmte. Aber ab einer gewissen Promille-Grenze, die nicht exakt bekannt war, wurden die Heldentaten durch die aufkommende, fast weinerliche Stimme immer unglaubwürdiger, bis am Ende von der Kriegsverwundung in Murmansk berichtet, ja fast nur mehr gestammelt wurde und der Geselle mit dicken Tränen in den Augen nur mehr schluchzte und schließlich zu weinen begann. Ein neuerlicher tiefer Zug aus der Flasche und tröstende Worte beruhigten zwar den Beinamputierten wieder, die Arbeit war aber nicht mehr zu beschleunigen. Franz hatte täglich mit kriegsamputierten zu tun und war verwundert, dass gerade die, denen der Krieg so viel genommen hatte, so begeistert vom Krieg und von der Disziplin und dem starken Führer sprachen, und erst durch Alkoholeinfluß die wahren Wirkungen auf ihre Psyche erkennen ließen. Deshalb wollte Franz mit dem Bundesheer nichts zu tun haben. In einem Kriegsfall wäre für ihn eine militärische Ausbildung sowieso nutzlos, weil er bei den vielen zu befürchtenden Amputierten mit den Prothesen genug zu tun hätte. Wenn Karl aus dem Fenster sah und die Landschaft an ihm vorbeizog, zog auch seine Lehre nocheinmal an ihm vorbei. Er fragte sich, ob die vier Jahre verloren waren, oder ob sie doch wie seine Urgroßmutter immer gesagt hatte - für irgend etwas gut waren. Kurzzeitig drängte sich ihm sogar die Auffasung auf, dass die Marter der Lehre gar nicht so schlecht für ihn war. Hatte sie ihn doch zum Nachdenken über so viele Dinge gezwungen, seine geistige Produktivität herausgefordert. Vermutlich hätte er so viele Dinge nicht getan, Überlegungen nicht angestellt, Freunde nicht getroffen, Gedanken nicht gehabt, wenn er nicht unglücklich und allein gewesen wäre. Vielleicht wäre er nie auf die Idee gekommen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ja, dieses Leben, diese Lehre war ihm wirklich eine Lehre gewesen, hatte ihm alle Träume aus dem Leib geprügelt. Jetzt hatte er die Lehre durchgestanden, jetzt war -1 4 1 -
er frei - zumindest bis zum Bundesheer. Nach dem Griechenlandurlaub rückte er in die Schwarzenbergkaserne ein. Genau dort sollte er wieder einmal einen Menschen treffen, der an ihn glaubte. Mehrmals in seinem Leben hatte er zur richtigen Zeit die richtigen Menschen getroffen. Ob beim Heer oder sonst wo, nie wieder sollte er sich so unterlegen fühlen, wie in den ersten Lehrjahren bei Seltsamer. Der traute ihm einfach nichts zu, was dazu führte, dass er sich selbst nichts zutraute, oder umgekehrt. Er versagte nicht mehr so konsequent wie in der Lehre. Er fiel nicht auf, war genauso gut und genauso schlecht wie alle anderen Grundwehrdiener auch. Nicht einmal beim Singen fiel er auf, besser gesagt, es fiel nicht auf, dass er nicht mitsang beim Marschieren. Schon bald fühlte er sich nicht voll ausgelastet und kam auf die Idee, die Matura nachzumachen. Eigentlich kam er nicht so einfach auf die Idee. Mehrere Faktoren trugen dazu bei, dass er auf diese Idee kam. Nach dem Dienst beim Bundesheer gab es immer etwas zu feiern. Irgendeiner hatte immer Geburtstag oder sonst etwas. Karl merkte, wie er von einem Tag auf den anderen zu leben begann, von einer Geburtstagsfeier auf die andere, von Rausch zu Rausch, von Kater zu Kater. Dazwischen Grundausbildung. "So geht's nicht weiter", sagte er sich nach jedem Kater und hatte es bis zur nächsten Geburtstagsfeier wieder vergessen. Er fühlte sich leer wie ein Vakuumfaß. Der Leerlauf beim Bundesheer kam zu dem dazu, was man ihm in der Lehre angetan hatte. Die Lehre hatte ihn geistig so entleert, dass er ein Verlangen nach Füllung hatte, eine Saugwirkung verspürte. Er wollte lernen. Karl kam zu den Kraftfahrern und lernte überaus nette Vorgesetzte kennen. Er wurde schließlich Fahrer der hochrangigsten Herrn in der Schwarzenbergkaserne. Meistens fuhr er den Chef des Generalstabes, einen Oberst. -1 4 2 -
Die Kraftfahrer saßen oft in einem Aufenthaltsraum und warteten. Bei diesem Warten fiel Karl ein anderer Wehrmann auf, der immer Taschenbücher las. Sie kamen ins Gespräch und der andere Kraftfahrer erzählte ihm, dass er das Gymnasium für Berufstätige besuche und im nächsten Jahr maturieren würde. Er nannte ihm einen wichtigen Grund, die Matura nachzumachen: "Wenn du die Matura hast, ist sie zwar nichts mehr wert, aber wenn du sie nicht hast, geht sie dir ab". Karl war beeindruckt und erkundigte sich genauer. Nach einem Telephonat mit Elfi stand sein Entschluß fest. Er ging zur Direktion der Schule, erkundigte sich und meldete sich fürs Sommersemester an. Von nun an hatte er ein konkretes Ziel. Alles war jetzt anders. Aber würde er es schaffen? Um weiterzukommen, brauchte er die Matura. Er wußte nicht, wohin er weiterkommen wollte, aber er wußte, er brauchte dazu die Matura. Mit einer Lehre war keine Karriere zu machen. Es gibt kaum einen Lehrling in Österreich, der zehn Jahre nach der Lehrabschlußprüfung noch in seinem erlernten Beruf tätig ist. Das sagte auch Wachtmeister Jawohl, der sich maßlos darüber ärgerte, dass für ihn als Vizeleutnant die Laufbahn ohne Matura zu Ende sein würde: "Auch wenn ich noch so viele Kurse mache, kann ich nicht weiterkommen. Ich bleibe immer Unteroffizier. Ein Maturant kann von vorneherein über mir einsteigen. Dasselbe passiert bei der Post und bei der Bahn. Ohne Matura bist du im Staatsdienst blockiert. Die Bürscherl von der Schule sind automatisch über dir. Da wird dir ein nicht einmal 20-jähriges Kind vor die Nase gesetzt, das vielleicht nur mit viel Nachhilfe und nur auf Wunsch der Eltern die Matura im dritten Anlauf gepackt hat und keine Ahnung von dem Betrieb hat, in dem es eine Führungsposition übernimmt". Das leuchtete dem Karl ein. Der Unteroffizier klärte ihn dann auch noch auf, warum bei der Landesregierung, bei der Bahn, bei der Post und bei der Bundesgebäudeverwaltung immer noch mehr Dienstposten -1 4 3 -
geschaffen werden, obwohl die Angestellten jetzt schon keine Arbeit haben: "Es ist völlig egal, wenn in diesen Betrieben einer keine Arbeit hat, also den ganzen Tag nichts zu tun hat. Statistisch gesehen ist er kein Arbeitsloser. Seit Bundeskanzler Kreisky sind in unserem Land die Arbeislosen statistisch gesehen nicht viel mehr geworden, diejenigen aber, die an ihrer Dienststelle den ganzen Tag nicht wissen, was sie tun sollten, sind mehr geworden. Jeder, der in einem Staatsbetrieb arbeitet, will seine Verwandten hineinbringen, verstehst du? Auch in den Raiffeisenkassen am Land sitzen lauter Verwandte. Gehe am Allerheiligentag auf den Friedhof, da wirst du dich wundern, warum alle Raiffeisenkassen-Angestellten um ein und dasselbe Grab herumstehen. Für manchen Säugling steht schon bei der Geburt fest, dass er 24 Jahre später Lagerhaus-Leiter in seinem Heimatort sein wird, wenn sein Opa in Pension geht. Wenn bei der SAFE oder den Tauernkraftwerken einer stirbt, muß die Arbeit eingestellt werden, weil alle Angestellten zu ihm verwandt sind und beim Begräbnis einen freien Tag haben wollen. Meist nimmt noch vor dem Begräbnis ein Verwandter den Arbeitsplatz des Verstorbenen ein und zwei neue Angestellte werden in den Betrieb aufgenommen. Manchmal werden Verwandte schon eingestellt, bevor ein Arbeitsplatz frei wird, sozusagen als Reserve, falls einmal einer stirbt, damit sie dann nicht erst eingestellt werden müssen, sondern schon da sind, als Springer, auf extra für sie geschaffenen Übergangsposten, sogenannten Sprungbrettern, die nach dem Absprung in die Politik oder auf einen freigewordenen Verwandtenarbeitsplatz sofort wieder mit Verwandten nachbesetzt und zu sogenannten Planposten gemacht werden. Nur gut, dass in diesen Firmen nicht viele bei der Arbeit sterben. Die meisten gehen in Pension, nachdem sie ihre Verwandten gut untergebracht haben und planen bereits bei der Geburt eines Enkels, an welche Planstelle er einmal gesetzt werden soll und welche Ausbildung dafür nötig ist." -1 4 4 -
Karl schien zu verstehen. Angesichts der Tatsache, dass ihm keine Verwandten einfielen, die ihn irgendwo unterbringen konnten, mußte er die Matura machen, was immer er damit einmal anfangen würde. Aber vorher wollte er mit Elfi in eine kleine Wohnung ziehen, die gerade frei wurde, eine Altbauwohnung, besser gesagt, ein Raum mit 17 Quadratmetern und eine gemeinsame Toilette mit dem Nachbarn. Karl und Elfi restaurierten die Wohnung, Than installierte mit Karl, Elfi bemalte die Möbel in poppigen Farben, sie hängten den Fernseher mit Ketten auf und bauten Stellagen. Als es um die Verlegung des Teppichbodens ging, benötigten sie die Unterstützung eines Spezialisten. Der Spezialist ließ zu lange auf sich warten, und so mußte um 11 Uhr nachts ein anderer Spezialist aus seiner Wohnung geläutet werden, der bei Karl einen bleibenden Eindruck hinterließ. Es war Toni Wisser. Die erste Aktion, die er setzte, war, dass er seine Kassette in das Tonband steckte und laut aufdrehte. Karl wunderte sich, warum die Musikstücke immer nach kurzer Zeit unterbrochen wurden und pausenlos eine andere Platte begann. Toni, der bereits ausgibig Durst gelöscht hatte, gab folgende Antwort: "Passn muaß". Auf Hochdeutsch heißt das: "Es muß passen". Was er damit meinte erfuhr Karl ohne zu fragen. Toni hatte den Radiorekorder immer bei der Arbeit dabei. Manchmal hörte er bloß Radio und nicht Kassette. Wenn dann ein Lied kam, das ihm gefiel, nahm er es sofort auf, egal, an welcher Stelle sich die eingelegte Kassette gerade befand. Das meinte Toni Wisser mit "Passn muaß" und war sich gar nicht im klaren darüber, welch philosophische Tragweite diese Aussage hatte, wie sehr es Karl zum Grübeln anregte. Karl erfaßte sofort, dass dieser Toni Wisser, der Weltmeister im Bodenlegen und Ausmalen, der neben seinen beruflichen Aktivitäten auch der Neumarkter Gastronomie als Stammgast vieler Gasthäuser fest unter die Arme griff, mit seinem "Passn muaß" die Grundsätze des Lebens, des Glücks und des -1 4 5 -
Schicksals auf einen Nenner brachte. War es nicht das Allerwichtigste, dass etwas paßte, dass sich die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort begegneten? Als ihm Karl erzählte, dass er bald in der Abendschule anfangen würde, sagte er ihm: "Ja, das ist eine gute Idee, lern nur! Dumme Menschen gibt es eh schon genug. Genug gibt es, sag ich dir". Bald war der Boden gelegt und auch die übrigen Arbeiten erledigt. Elfi hatte es geschafft, diese alte Wohnung wohnlich und gemütlich zu machen, zu einem Daheim. Nach so langer Zeit war Karl wieder daheim, genau dort, wo er schon einmal daheim gewesen war, in der ehemaligen Wohnung seiner Urgroßmutter. Die Wohnung stand aber nur mehr in ihrer Hälfte zur Verfügung, es war die damalige Küche. Karl erinnerte sich an die damalige karge Einrichtung. Die andere Hälfte wurde von einer Jugoslawenfamilie bewohnt und war nur durch eine dünne Tür getrennt, vor der die blau gestrichene Kredenz stand. Auch die alte Sitzecke war noch da und der Tisch, aber jetzt alles in blau. Auf diesem Tisch war immer der kleine Christbaum der Urgroßmutter gestanden, zu Weihnachten, den schönsten Weihnachten, an die sich Karl erinnern konnte. Hier hatte er seinen Matador-Baukasten gekriegt, beim Aufstellen des Baumes mitgearbeitet, den ersten Likör getrunken, aus dem alten Röhrenradio Stille Nacht gehört. Selbst der Kühlschrank war blau, der Kasten und das Bett aber waren rot. Elfi gestaltete ihr neues Zuhause so, dass Weihnachten wie früher sein konnten. Irgendwann kam der erste Schultag. Karl fühlte sich fast wie am ersten Arbeitstag mit der blauen Montur. Diesmal aber hatte er Menschen, die an ihn glaubten. Sogar der Oberst, den er fuhr, hatte in ihn Vertrauen. Es ist nicht unerheblich, wer einem sagt, "das wirst du schon schaffen!" Das hat nur Gewicht, wenn der, der es sagt, abschätzen kann, was es bedeutet, wenn er es vielleicht selbst gemacht hat. Vor allem als der Oberst gar nicht überrascht zu sein schien, als Karl ihm sein Vorhaben schilderte, -1 4 6 -
ja geradezu darauf gewartet zu haben schien, es als logische Konsequenz für Karls berufliches Weiterkommen sah, hatte Karl die Gewißheit, dass dieser Mensch, der seine Hochachtung genoß, der jeden Tag schwerwiegende Entscheidungen traf, jeden Tag seine Unterschrift unter dutzende Dokumente setzte, die andere minutiös vorbereiten mußten, um sie nicht zurückgeworfen zu bekommen, an ihn und die erfolgreiche Ablegung der Matura glaubte. Dass dieser Oberst an ihn glaubte, ein Mann, der mehr goldene Aufschläge auf seinem Rever hatte als alle anderen Offiziere, die Karl gesehen hatte, der sicher mehr wußte als Seltsamer, mehr als der Oberschulrat, der schon einmal Lehrer gewesen war und viele Jahre im Ministerium in Wien ein hohes Tier gewesen war, der mit dem Minister zusammentraf, das bestärkte Karl außerordentlich. Wenn er auch nicht wußte, wie er lernen sollte, weil er das Lernen erst wieder lernen mußte, so konnte einfach nichts schiefgehen. Er hatte ein Ziel, auf das alles ausgerichtet war, und er hatte jede Menge Energie hinter sich, Energie, die er daraus gewann, dass er es all jenen zeigen wollte, die nicht an ihn glaubten. Er hatte außerdem bisher nicht viel geistige Energie verbraucht, weil er noch fast keine Bücher gelesen hatte, weil er in der Schule nicht viel gelernt hatte und statt dessen in der Steinerwehr herumgestreunt war. Er war ein Vakuumfaß, das unendlich Wissen aufsaugen konnte. Er wollte die Bildung gierig in sich hineinfressen. Wie damals mit der blauen Montur ging er in sein Klassenzimmer und grüßte schüchtern. Doch da sah er vertraute Gesichter, Vatschke und Franz. Da saßen sie nun wieder alle, an einem Rosenmontag, im Fasching, der Schlagzeuger Vatschke und der Bassist Franz, Franz Anders, und natürlich Karl, ohne dass Karl vom Vorhaben der anderen wußte und umgekehrt. Im Fasching also wagten sie sich in die Welt der Schüler. Der Fasching war bezeichnend für diesen Neubeginn. Keiner von ihnen wußte, was kommen würde. War es ein Faschingsscherz -1 4 7 -
oder sollte es tatsächlich die entscheidende Wende im Leben bringen? Würden sie aufgeben oder abschließen. Während der Klassenvorstand die Anwesenheit der neuen Schüler registrierte, kritzelte Karl ein paar Gedanken auf einen Zettel: Am Anfang war der Müll, der mich in sich begraben, ich mußte hindurch, aus meinen Augen ihn haben. Dann wurd' ich entleert bis zum letzten Gedanken, und wußt' es gewiß, ohne zu wanken: So kann es einfach nicht weitergehn, ich will mehr von der Welt verstehn. Vollsaugen werd' ich meinen Vakuumgeist und knapp bevor es ihn zerreißt, schreib ich nieder auf Papier, was sonst so schwer verdaubar mir. Karl konnte es noch gar nicht fassen, dass er jetzt zu den Schülern gehörte. Allein die Tatsache, dass er sich bei einer Schule angemeldet hatte, setzte ihn von den Arbeitern ab. Ohne noch die erste Prüfung abgelegt zu haben, war er bereits mehr als ein einfacher Arbeiter. Als Schüler im Abendgymnasium eingeschrieben zu sein, war bei bestimmten Gelegenheiten Beweis genug, lesen und schreiben zu können. Ab sofort genoß er das Ansehen eines Federakrobaten. Wann immer es bei seiner Dienststelle zu Komplikationen kam, war damit zu rechnen, dass er sich beschwerte, sich informierte, wo eine Beschwerde einzubringen war und diese formgerecht einbrachte. Er war in der sozialen Hierarchie aufgestiegen.
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