Igor Podkolsin
Allein an Bord
Verlag Neues Leben Berlin
Titel des russischen Originals: OAHH Ha 6opTy Ins Deutsche ...
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Igor Podkolsin
Allein an Bord
Verlag Neues Leben Berlin
Titel des russischen Originals: OAHH Ha 6opTy Ins Deutsche übertragen von Aljonna Möckel
© Verlag Neues Leben, Berlin 1977 Lizenz Nr. 303 (305/71/77) LSV 7324 Umschlag: Günther Lück Illustrationen: Horst Kleint Typografie: Walter Leipold Schrift: 10 p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 6425100 DDR 0,25 M
Als Jegor die Augen aufschlug, hatte er den Eindruck, rings um ihn habe sich eine Schwärze dicht wie zäher Asphalt ausgebreitet. In den Ohren tönte es, als würde jemand über seinem Kopf gedämpft und beharrlich gegen ein Kupferbekken hämmern. Vom Knie bis zur Hüfte spürte er einen dumpfen, anhaltenden Schmerz. Jegor versuchte aufzustehen, doch vor seinen Augen begannen orangefarbene Pünktchen zu tanzen, ein krampfartiges Würgegefühl befiel ihn, und er kollerte zurück auf den Fußboden. Nachdem er sich etwas erholt hatte, ertastete er in der undurchdringlichen Finsternis die Stiegen der Schiffstreppe und kletterte nach oben, wobei er nur mühsam ein Stöhnen unterdrückte. Unter dem Kragen seiner Matrosenbluse fühlte er etwas KlebrigWarmes den Nacken und Rücken hinunterrinnen. Plötzlich stieß er mit dem Kopf gegen den Lukendeckel. Er wollte ihn mit der Hand anheben, doch der Deckel rührte sich nicht vom Fleck. Jegor krümmte den Rücken und stemmte sich, indem er die Beine durchdrückte, mit den Schultern gegen die Eisenplatte. Alles umsonst. Wie sollte er diesen verdammten Deckel aber auch hochkriegen, wenn der an die drei Pud* wog! Hätte er wenigstens ein Brecheisen oder etwas Ahnliches zur Verfügung gehabt. Er stieg wieder hinab und begann den Boden in der Hoffnung abzusuchen, irgendeinen Gegenstand zu finden, der ihm helfen konnte, sich aus diesem Stahlkasten zu befreien. * Pud, alte russische Gewichtseinheit, entspricht 16,38 Kilogramm
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Eimer kamen ihm unter die Finger, Seilenden, Farbbüchsen und der verschiedenartigste Bootsmannskram. Endlich fand er ganz in der Ecke einen Feuerwehrhaken. Genau das, was ich brauche, dachte Jegor und schob sich an der glitschig-nassen Wand entlang zur Treppe vor. Als Jegor einige Stufen erklommen hatte, versuchte er, den Haken unter den Deckel zu schieben. Wiederholt fiel ihm das sperrige Gerät aus den Händen und krachte mit Donnergepolter hinunter. Jegor hob ihn immer wieder auf und bemühte sich aufs neue, den festgeklemmten Deckel zu lösen. Das Schiff begann unerwartet zu schlingern, und in eben diesem Augenblick traf Jegor ein Lichtstrahl in die Augen. Ein Spalt! Mit zitternden Händen schob der Junge den Feuerwehrhaken in ihn und legte sich mit seinem ganzen Körpergewicht darauf, so d a ß er sich fast das Rückgrat verrenkte. Der schmale Streifen wurde breiter, und Jegor konnte bereits einen Teil vom Deck und ein Stück grauen Himmels erspähen. Ein bißchen noch, wenigstens ein bißchen, flehte er innerlich, so als wollte er jemanden beschwören. Er nahm all seine Kraft zusammen, schob und preßte, bis es ihm schließlich gelang, den Haken stoßweise weiter in d e n Spalt zwischen Luke und Deck zu bringen. Plötzlich aber legte sich das Schiff scharf auf die andere Seite. Jegor verlor das Gleichgewicht und fiel die Treppe hinunter, wobei er mit dem Kopf gegen einen vorstehenden Spant stieß. Ein durchdringender Schmerz spaltete ihm fast den Schädel. Und abermals hatte er einen widerlichen Kloß in der Kehle. Vor Ärger und Verzweiflung hätte er losheulen mögen, doch als er nach oben blickte, sah er den rettenden Spalt klaffen. Er griff nach einem neben ihm liegenden Brett und stieg erneut die Leiter hoch. Der Feuerwehrhaken steckte noch am selben Fleck, eingekeilt von zwei Stahlrippen. „Der Sturz macht nichts, immer mit der Ruhe", flüsterte der Junge vor sich hin. Jegor drückte den Hebelarm wieder nach unten und spürte, wie der Deckel nachgab. D a n n schob er das Brett in die schmale Öffnung, zog den Haken mehr an den Rand und wälzte sich mit der Brust darauf. Der Spalt verbreiterte sich. Jegor zwängte sich in die entstandene Lücke, wobei die Knöpfe seiner Matrosenjacke abrissen, und während er sich 4
mit den Fingern in den Dielen des Decks festkrallte, gelang es ihm, sich nach außen zu schieben. Wenn es jetzt schlingert, ist alles aus — dann zerquetscht es mich wie einen Floh, fuhr es dem Jungen durch den Sinn, und er glaubte zu hören, wie seine Knochen knirschten. Mit einem letzten Ruck, bei dem ihm die Fingernägel abbrachen, riß er sich hoch und rollte aufs Deck. In ihm war ein Gefühl, als würde sein Herz in Stücke gerissen. Wie ein an Land geworfener Fisch schnappte er gierig nach der kalten Meeresluft. In den Schläfen pulste in regelmäßigen Wellen das Blut. Nachdem Jegor zu Atem gekommen war, richtete er sich auf den Knien auf und blickte um sich. Die „Leutnant Schmidt" lag noch genauso da wie nach dem letzten Stoß, stark auf die rechte Bordseite überkrängend, als hätte sie sich an einen Steinhaufen gelehnt. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, nur über dem Heck, das fast völlig unter Wasser stand, kreisten schreiend Möwen. Wo aber 5
waren die anderen? Sollten sie etwa fort sein? Ihn hier, auf dem gekenterten Schiff allein gelassen haben? Es konnte einfach nicht sein, d a ß alle davongefahren waren und ihn, den Moses, im Stich gelassen hatten! Plötzlich, während er den Himmel betrachtete, wurde ihm klar, wieviel Zeit bereits verstrichen sein mußte, in der er offenbar bewußtlos dort in der Gerätekabine gelegen hatte. Als er wegen des vermaledeiten Fäßchens zurückrannte, war es noch Morgen gewesen, jetzt dagegen neigte sich die Sonne schon dem Horizont zu. Wohin also waren die anderen verschwunden? Jegor fühlte sich furchtbar einsam, er w a r sowohl auf die Matrosen als auch auf den Bootsmann wütend, seinen Freund Jewsejitsch, und dieser Zorn füllte sein ganzes Wesen aus. Ohne daß er es wollte, traten ihm Tränen in die Augen; er begann zu weinen. Nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte, wischte er sich mit den Fäusten die Tränen aus den Augen und schleppte sich hinkend — er hielt sich dabei am Manntau fest — ins Gemeinschaftslogis. Als er d a n n auf dem Sofa lag, wollte er weiter über seine Lage nachdenken, doch die Lider wurden ihm schwer; er war selbst zum Überlegen zu müde. Das aufgeschlagene Knie schmerzte, und auch der Kopf schmerzte ihm furchtbar. Der Schiffsjunge kauerte sich zusammen, steckte die abgeschürften Fingerkuppen, die wie Feuer brannten, in den Mund, zog die Knie bis ans Kinn und schlief ein, gewiegt von dem leichten Plätschern der Wellen gegen das Schiff... Die „Leutnant Schmidt", ein Militärtransporter, fuhr ihre letzte Tour. Das Schiff war alt, es hatte lange und redlich gedient, doch die J a h r e waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Auf Beschluß einer Kommission sollte es nach seiner F a h r t in den Norden auf die Abwrackliste gesetzt werden. Ob das Schiff dies auch gefühlt hatte? Man könnte meinen, ja. Es ächzte, wenn es die hohen Wellenberge erklomm, zeitweise ermüdete es, hustete gequält und spie Schwaden von schwarzem Rauch und weißem Dampf aus. Die Besatzung liebte ihre „Schmidt". Bevor sie in See stachen, hatte der Bootsmann seinen gesamten Vorrat an Farbe geopfert, um die beschädigten und abgeblätterten 6
Stellen an Bord und in der Takelage auszubessern. Sie waren wohlbehalten in ihrem Bestimmungshafen angekommen. Nachdem sie die Ladung gelöscht, Wasser und Kohle aufgefüllt und Passagiere an Bord genommen hatten, die auf eine günstige Gelegenheit warteten, nach Petropawlowsk zu kommen, lichteten sie die Anker. An den ersten beiden Tagen verlief alles normal. Das Leben auf dem Schiff nahm seinen gewohnten, nach strengen Regeln durchgeführten Gang. Doch dann zeigten sich am Horizont dunkle, unheilverkündende Wolken. Es begann zu regnen, Sturm kam auf. Riesige Wogen warfen das Schiff von einer Seite auf die andere. Mächtige Brecher flössen über Deck. Die Schaumkämme der Wellen überfluteten die Brücke. Zu allem Unglück traten an der Schiffsschraube, die zu häufig frei lag, technische Mängel auf. Nachts setzte schließlich die Maschine aus — das Herz des arbeitsamen Schiffes hatte aufgehört zu schlagen. Vergebens mühten sich die ölverschmierten Maschinisten und die Heizer, deren weiße Zähne von der Schwärze ihrer Haut abstachen, die Maschine wieder in Gang zu bringen. Sie schwieg beharrlich. Dampffontänen entwichen mit kläglichem Pfeifton aus den Rohrleitungen. Die Zylinder glucksten und schnauften, hatten aber nicht mehr die Kraft, die Kurbelwelle in Bewegung zu setzen. Die Wellen, so schien es, warteten nur darauf, sich mit neuer Wucht auf das hilflos treibende Schiff zu stürzen. In der undurchdringlichen Finsternis klatschten die Wassermassen gegen den Schiffskörper, sie bissen ihn, nagten an ihm und schlugen dumpf auf ihn ein. Der durchgerostete Schiffsrumpf stöhnte und ächzte, als wollte er sich über sein unglückliches Los beklagen. Ein mächtiger Wellenschlag zertrümmerte beide Schaluppen. Einige Male hätten die Wassermassen den Transporter um Haaresbreite überrollt. Die Rettungsflöße waren allesamt von ihren Halterungen losgerissen und ins Meer getrieben worden. Gegen Morgen schickte der Kapitän nach einer Beratung mit dem Politoffizier einen Hilferuf per Funk an den Hafen. Nachdem der Regen etwas nachgelassen hatte, "sahen die Matrosen, daß sie durch Sturm und Strömung vom Kurs abgekommen waren. Unter den tiefhängenden Wolken 7
wurde in der Ferne ein grauer Landstreifen sichtbar, dessen einzelne Hügel sich gegen den Himmel reckten. Die „Schmidt" driftete auf die Kronozki-Bucht zu. Kaum hatten sie flacheres Wasser erreicht, wurden die Anker geworfen. Das treibende Schiff verhielt, stellte sich quer gegen die Wellen und verharrte schließlich, als wollte es sich zum Ausruhen hinlegen. Aus dem Hafen kam die Antwort, daß das Rettungsschiff „Najesdnik" und der Schleppdampfer „B-26" zum Havarieort ausgelaufen seien. Gegen Abend verstärkte sich der Sturm wieder. Weiße Gischtkämme bedeckten — gleich den Spuren eines riesigen Besens — das Wasser. Die schweren Wellen schlugen, als wollten sie all ihren Zorn an dem ungehorsamen Schiff auslassen, mit neuer Kraft gegen die Bordwände. Die morschen Ankerketten spannten sich in ihrer Halterung bis zum Zerreißen. Der Wind, heulend und in kräftigen Böen von See kommend, riß die Wellenkämme mit sich fort und schleuderte sie gegen das Takelwerk der „Schmidt". Beide Ketten rissen gleichzeitig. Wie ein Pferd, das sich von seinen Fesseln gelöst hat, stürmte das Schiff davon und trieb durch Schaum und brodelnde Strudel dem Ufer zu. Voller Hast wurde der Reserveanker ausgeworfen. Er war aber kaum hinuntergelassen worden, da riß auch schon das Seil, als wäre es nicht aus Stahl, sondern aus zusammengedrehtem Papier. Eine Stunde später saß die „Leutnant Schmidt" — anderthalb Meilen vom Ufer entfernt — auf einem Riff fest. Und dann, seiner Ausgelassenheit wie überdrüssig, begann sich der Sturm zu legen. Als dann die „Najesdnik" und der Schleppdampf er auf das festgefahrene Schiff zusteuerten, war auf dem Meer kaum noch Seegang. Regen und Wind hatten fast gleichzeitig aufgehört, und zwischen den Wolkenfetzen blinkten kalt die Sterne des Nordhimmels... Im Morgengrauen war der Ozean ruhig und friedlich, nur weniges erinnerte noch an den Sturm vom Vortag. Die beiden Rettungsschiffe lagen eine halbe Meile von der „Schmidt" entfernt. Ein Boot wurde ins Wasser gelassen; mit ihm kam ein Taucher, er untersuchte den Schiffskörper. Nach einer langen Beratung kam man zu dem Schluß, daß es mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht möglich sei, das ha8
varierte Schiff vom Riff zu lösen. Es wurde beschlossen, die Fahrgäste auf den Schlepper überzusetzen, das wichtigste Inventar hingegen auf das Rettungsschiff zu bringen und Petropawlowsk anzulaufen. Von dort aus würden d a n n Schiffe des Bergungsdienstes ausgeschickt und entschieden werden, was weiterhin zu unternehmen sei. Gegen Mittag begann die Ausbootung. Zuerst wurde für die Passagiere ein Motorboot geschickt. Anschließend w u r d e n die Masten der „Schmidt" und der „Najesdnik" mit Tauen verbunden und die Fracht ballenweise in großen Hanf netzen umgeladen. Am Morgen des zweiten Tages war das Schiff vollständig entladen, es war alles mitgenommen worden, was nur irgendwelchen Wert besaß. Schließlich kam eine Schaluppe an Bord, um die letzten Mitglieder der Besatzung aufzunehmen. Der Schiffsjunge Jegor Bulytschow, ein Bürschchen von vierzehn Jahren, war schon im Begriff gewesen, in die Schaluppe zu klettern, als ihm plötzlich einfiel, daß in der Gerätekammer des Schiffes der ganze Stolz des Bootsmannes zurückgeblieben war — ein neues Eichenholzf äßchen. Er stürzte zur Back, öffnete den schweren Lukendeckel, legte statt des Spreizhakens eine Kehrbürste dazwischen und stieg die obersten Sprossen der Treppe hinunter. In diesem Moment wurde der Bug von einer Welle angehoben, und das 'Schiff neigte sich auf die Seite. Der Besengriff brach ab, und krachend fiel der schwere Lukendeckel Jegor auf den Kopf. Er verlor das Bewußtsein und flog in die Tiefe... „Ist ein Rundgang durch das Schiff gemacht worden? Niemand mehr drauf? Alles übergesetzt?" fragte der Kapitän den Bootsmann. „Jawohl, alle. Ich habe persönlich nachgesehen. Nur Jegor kann ich irgendwie nicht entdecken, die ganze Zeit war er hier in der Nähe. Wahrscheinlich ist er schon mit dem ersten Durchgang weg. Auf dem Schiff ist er nicht mehr, ich habe selbst alle Abschnitte durchgesehen." „Sicher, er wird auf der ,Najesdnik' sein." Der Kapitän wandte sich an den Signalgast: „Fragen Sie rasch an, ob Bulytschow dort ist." Der Signalgast rief mit den Flaggen das Rettungsschiff. 10
Von der „Najesdnik" kam auch gleich die Antwort. „Na, was sagen sie, ist er dort oder nicht?" Der Bootsmann wurde schon nervös. „Sie antworten, er wäre bei ihnen, wo sollte er sonst sein", sagte lächelnd der Signalgast. „Gott sei Dank, ich habe schon Blut und Wasser geschwitzt." Der Bootsmann warf einen Blick auf das verlassen daliegende Schiff und sagte: „Leb wohl, Alter, wir kommen noch mal zu dir, auf Wiedersehen, Freund!" Die Schiffe lichteten die Anker und nahmen Kurs auf Petropawlowsk. Als die „Najesdnik" in der Bucht von Awatschinak angelangt war, ging sie an der Reede vor Anker, während die „B-26" das Sorrtau auswarf. Die Mannschaft der „Schmidt" stellte sich am Pier auf. Der Kapitän gab Befehl, den Personalbestand zu prüfen. Nach, einer halben Stunde meldete der Adjutant: „Alle angetreten. Schiffsjunge Bulytschow fehlt, er ist auf dem Rettungsschiff. Offenbar hat er dort Freunde gefunden und sich dort eingelebt." „Wie denn, wird die ,Najesdnik' ebenfalls hier vor Anker gehen?" „Nein, sie hat Order bekommen, für etwa zwei Wochen nach Wladiwostok zu fahren." „Na gut, soll Jegor dort bleiben, für einen Seemann ist das Herumfahren nie von Schaden. Da kann er gleich mal seine Tante besuchen." Die Besatzung der „Schmidt" ging an Land. Am nächsten Morgen lichtete die „Najesdnik" ihre Anker und n a h m Kurs auf Wladiwostok. Jegor erwachte, weil es grimmig kalt war. Sein ganzer Körper wurde von Schauern geschüttelt. Hinter dem Bullauge graute der Morgen. Mit einiger Mühe bewegte der Junge die erstarrten Beine, kroch vom Sofa und tastete sich über den schrägen Fußboden zum Ausgang des Gemeinschaftslogis. Lange Zeit war er mit dem Öffnen der Tür beschäftigt, die sich durch die Seitenlage des Schiffes verklemmt hatte. Endlich gelangte er an Deck. 11
Die zartrosa Sonne lugte gerade erst hinter dem Horizont hervor. Alles an Bord atmete feuchte Morgenkühle. Niemals bisher hatte Jegor die „Schmidt" so ausgestorben gesehen. Irgendwo knarrte und klappte eine unverschlossene Luke. Gegen die Bordwand plätscherten träge und gleichförmig die Wellen. Es war gerade Ebbe, und das wuchtige-Schiff ragte noch steiler über das schwarze Gestein hinaus. Jegor fühlte auf einmal, wie hungrig er war und daß er schrecklich gern etwas trinken würde. Er ging zum Offizierskasino und öffnete das Büfett. Da sprang mit bösartigem Pfeifen eine große graue Ratte auf ihn zu. Sie klatschte vor ihm auf den Fußboden und verschwand, auf dem nassen Linoleum ausgleitend und krampfhaft mit den Pfoten zappelnd, unter dem Sofa der Gemeinschaftskajüte. Als sich Jegor von seinem Schrecken erholt hatte, ging er daran, irgend etwas Eßbares aufzutreiben. Auf den leeren Regalen lagen verstreut Brotkrümel, Lorbeerblätter und ein angenagtes Stück von einem Lachs. Jegor durchwühlte die Schubladen und fand ein abgebrochenes Messer. Er schnitt 12
den angeknabberten Fischschwanz ab und schlug gierig die Zähne in das rosafarbene Fleisch. Er aß so lange, bis ihm von dem vielen Salz der Mund brannte. Dann trank er sich satt, untersuchte anschließend alle Schränke nach Lebensmitteln, fand aber nichts. So ging er zur Speisekammer hinunter, deren Falltür geöffnet war. Sie war fast völlig überschwemmt. Mit einem Widerhaken stocherte Jegor im Wasser herum, blieb auch tatsächlich an einem Kasten hängen, den herauszuziehen ihm jedoch nicht gelang. Dann ging der Junge wieder an Deck auf die Brücke. Die Kabine des Steuermanns war völlig ausgeräumt worden — selbst das Sofa, auf dem sich der Kommandant zuweilen ausruhte, war fort. Jegor setzte sich hin und überlegte. Ihm wurde nun klar, daß hier irgendein Irrtum vorlag und daß ihn seine Leute früher oder später holen kämen. Bis dahin mußte er selbst etwas tun, mußte vor allem versuchen, den Kasten aus der Vorratskammer herauszubekommen, denn offensichtlich befanden sich keine weiteren Lebensmittel auf dem Schiff. Er stieg also wieder hinunter und fischte lange mit dem Ankerstock nach dem Behälter, um ihn anzuheben. Aber er glitt immer wieder ab, und der Kasten rutschte nur noch weiter fort. Da zog sich Jegor aus und kletterte über das Fallreep in das eisige Wasser. Vor Kälte verschlug es ihm fast den Atem, ihm war, als würde ein stählerner Ring seine Brust zusammenpressen. Er ging bis zum Hals hinein, doch der Kasten war noch weit entfernt. Da pumpte sich Jegor die Lungen voll Luft und tauchte, wobei er sich mit den Armen an der Griffstange entlangtastete. Die Luft wurde ihm so knapp, daß er glaubte, sein Kopf würde in einem Schraubstock stecken und die Brust ihm zerspringen, trotzdem glitt er beharrlich tiefer. Seine Hände berührten auch schon den Kasten, als es Jegor vor den Augen zu tanzen begann. Er konnte es nicht mehr aushalten und schnellte aus dem Wasser. Halb auf das Fallreep geklettert, ruhte er einige Zeit aus. Nun spürte er die Kälte schon nicht mehr so. Er holte erneut tief Luft und tauchte abermals. Es gelang ihm, den Kasten etwas anzuheben. Als ihm der Atem wiederum knapp wurde, schwamm er an die Oberfläche. Diesmal mußte er eine längere Ruhepause einlegen. 13
Nach dem vierten Versuch endlich war es ihm geglückt, den Behälter zu fassen. Gleich darauf stieß er sich vom Fußboden ab und tauchte nach oben. Jegor klammerte sich ans Geländer, setzte seine Beute auf dem Knie ab und kraxelte umständlich aus der Speisekammer. In dem Kasten befanden sich drei Kompottbüchsen von je einem Kilogramm Gewicht. Er brachte sie ins Gemeinschaftslogis und setzte zu einem weiteren Erkundungsgang durch das Schiff an. Gegen Mittag kehrte Jegor an seinen Ausgangspunkt zurück. Nachdem er alle Räumlichkeiten durchkämmt hatte, waren eine Decke, ein Stück Segeltuch, eine alte Wattejacke und einige Zwiebäcke zusammengekommen. In der Kombüse fand er in einem Fäßchen etwa drei Liter Trinkwasser. Jegor öffnete eine der Blechbüchsen mit dem Messer, tunkte die Zwiebäcke in den Fruchtsaft und aß voller Genuß den süßen Brei. Er merkte gar nicht, daß er die Dose völlig geleert und den Zwieback fast ganz aufgegessen hatte. Als Jegor dann noch reichlich Wasser getrunken hatte, machte er es sich auf dem Sofa bequem, legte die Jacke unter den Kopf, breitete die Decke über sich und kam allmählich zur Ruhe. Lange lag er so da und lugte aus seinem Zufluchtsort hervor wie ein Mausejunges aus der Höhle, bis er endlich in tiefen Schlaf fiel... Früher war Jegor auf einem Krabbenverarbeitungsschiff gewesen. Seiner Tante war es damals nach hartnäckigem Bemühen und mit Hilfe eines ihr bekannten Bordmechanikers gelungen, ihn dort als Zögling unterzubringen. So nannte man die Kinder, meistens Waisen, die zur Erziehung und Lehre oft von den Schiffsbesatzungen aufgenommen wurden. Die alte Frau selbst lebte nur von der Rente und den Erträgen ihres kleinen Gartens. Seinen Vater, der noch im ersten Kriegsjahr gefallen war, kannte Jegor überhaupt nicht. Die Mutter, damals noch eine junge Frau, hatte einige Jahre später einen Bergmann geheiratet, der auf Fronturlaub gekommen war, und war mit ihm in den Donbass gezogen. In die neue Familie kamen auch neue Kinder. Zudem war es weit von der Ukraine bis zur Küste. Die Mutter 14
kam so selten, d a ß Jegor von einem Wiedersehen zum anderen fast vergaß, wie sie aussah. Auf dem Krabbenfänger dann gewöhnte sich Jegor schnell an die fröhlichen, ausgelassenen Fischer, die ihn in jeder Hinsicht verwöhnten, und an die Matrosen, die ihn die Grundbegriffe der Schiffahrt lehrten. Und die Weiten erst, die sich der begeisterungsfähigen Phantasie des Jungen boten! Es gefiel ihm auch, daß er sich zusammen mit den Erwachsenen nützlich machen konnte. Freilich kränkte es ihn zuweilen, daß er wie ein Kleinkind bemuttert wurde, und d a n n . . . , na ja, ein Krabbenfänger w a r nun mal kein Kreuzer. Aber auf ein Militärschiff zu kommen war schon von jeher sein Wunsch gewesen. Wahrscheinlich würde er noch immer auf einem Krabbenfänger zur See fahren, wäre er nicht an Scharlach erkrankt. Der Junge kam ins Krankenhaus von Petropawlowsk, wo das Schiff gerade vor Anker lag. Als er aber wieder gesund war und sich zum Hafen begab — erstaunt darüber, daß ihn niemand abgeholt hatte —, war das Fangschiff nicht mehr an seinem Platz: Es war eines Nachts ganz plötzlich aufgebrochen und kreuzte nun irgendwo im Ochotskischen Meer, befand sich auf der Jagd nach den riesigen Kamtschatkakrabben. Ziellos streifte Jegor den ganzen Tag durch die Stadt, gegen Abend dann näherte er sich, hungrig und frierend, einem Schiff mit der Aufschrift „Leutnant Schmidt", das am Pier lag. An der Schiffstreppe stand, gegen das Geländer gelehnt, ein bärtiger, schon älterer Leutnant, neben ihm der wachhabende Matrose. „Ohkelchen, fahren Sie vielleicht nach Wladiwostok?" fragte Jegor schüchtern. „Wozu willst du das denn wissen, Kleiner?" Der Bootsmann betrachtete das Bürschchen neugierig. „Mein Schiff, ein Krabbenfänger, ist wahrscheinlich dort. Ich habe es verpaßt." „Wieso verpaßt, hast wohl zu lange an Land rumgebummelt, was?" Die beiden Männer lachten. „Nein, ich bin k r a n k geworden und mußte ins Krankenhaus, das Schiff aber ist nun weg." „Krank geworden bist du also." 15
„Ja, auf einmal." Jegor druckste herum. Er genierte sich, die Krankheit beim Namen zu nennen, weil er sie für allzu kindlich hielt, und so beschloß er, eine Bezeichnung zu gebrauchen, die er von der Schwester aufgeschnappt hatte. „Ich hatte einen Iftfarkt." , „Einen Infarkt?" Der Bootsmann lachte schallend auf. „Nein, so was, einen Inf arkt hatte er, was soll m a n dazu sagen! So eine Sprotte!" Doch der Junge sah tatsächlich schlecht aus. Auf seinem kurzgeschorenen Haar hielt sich wie durch ein Wunder ein Monstrum von Käppi, die Wattejacke war ihm viel zu groß, und an seinen Beinen prangte ein P a a r dreckverschmierter Stiefel. „Du bist sicher hungrig, nicht wahr? O du meine Güte, wie kann man nur so dünn sein — ein wahres Elend ist das", sagte der Bootsmann mitleidig. „Ich habe seit dem Morgen nichts zwischen die Zähne gekriegt. Und frieren tu ich auch mächtig." „Komm nur, wir gehen in die Kombüse und schauen mal nach, ob was vom Mittagessen übriggeblieben ist." Der Bootsmann nahm ihn bei den Schultern und führte ihn aufs Schiff. Satt und aufgewärmt saß Jegor eine Stunde später im Mannschaftslogis und erzählte dem Kapitän sowie dem Steuermann seine Geschichte. Daneben stand, die Tür mit seinem breiten Kreuz versperrend, der Bootsmann und lächelte in seinen Bart hinein. „Du bist also auf einem Krabbenfänger gewesen?" fragte der Kommandant und schaute Jegor aufmerksam an. „Und dann hast du einen Infarkt bekommen, so war es doch wohl?" „Ja, und wir sind im Ochotskischen aucr? auf die Inseln gekommen, schön war es dort", lenkte Jegor schnell ab. „Lustig war es, und auch das Essen war gut. Bloß die Krabben, die schmecken mir nicht." „ S o . . . und was soll nun weiter werden? Der Krabbenfänger ist ein halbes J a h r unterwegs. Wo willst du jetzt bloß hin? Was hast du vor?" „Das weiß ich selbst nicht. Vielleicht schlage ich mich irgendwie zu meinen Leuten durch." „Wie heißt du eigentlich?" 16
„Jegor. Jegor Bulytschow." „Wie, wie?" entfuhr es dem Kapitän. Er tauschte mit dem Steuermann ein Lächeln aus. „Jegor Bulytschow, was ist da schon Besonderes dran, ein Name wie jeder andere." „Schon gut, natürlich ist nichts Besonderes dran, außer daß Gorki über dich geschrieben hat." „Niemand hat über mich geschrieben, und ich hab ja auch keine Adresse." Dann fügte er, für sich selbst überraschend, hinzu: „Ob Sie mich nicht zu sich nehmen könnten?" „Das hier ist aber doch ein Kriegsschiff." „Ein schönes Kriegsschiff, wo nicht mal ein Maschinengewehr drauf ist, von einer Kanone ganz zu schweigen." „Wir haben andere Aufgaben. Wir versorgen die Flotte und beliefern die Matrosen der Kriegsmarine mit allem Notwendigen." „Da würde ich sie eben mitversorgen." „So, und in welcher Funktion sollen wir dich zu uns nehmen?" „Na... wie in dem Film ,Der Sohn des Regiments' zum Beispiel, als Zögling oder so... oder einfach als Sohn des Schiffes, als Sohn von ,Leutnant Schmidt' vielleicht." Der Kapitän und der Steuermann lachten aus vollem Halse. „Als Sohn des berühmten Leutnants also." „Warum nicht, Genosse Kommandeur, der Kleine ist doch ganz aufgeweckt, und wo soll er außerdem hin?" mischte sich der Bootsmann ins Gespräch. „Wir werden ihn schon anstellen, er wird Hornist, wie sie die Torpedoboote haben. Da wird er sich gut machen." Einen Hornisten an Bord zu haben, wünschte sich der Kapitän schon seit langem, und der Bootsmann hatte mit seiner Bemerkung genau ins Schwarze getroffen. „Kannst du Trompete blasen?" „Na... na ja", sagte Jegor unbestimmt. „Wenn Sie mich nur nehmen." „Also gut, wir werden es dir beibringen. Wir haben schon ganz andere Sachen gemacht." Und zum Leutnant gewandt: „Nehmen Sie ihn mit allen Rechten in die Mannschaft auf. Händigen Sie ihm eine Uniform aus und alles, was dazu gehört." 17
„Vielen Dank, Onkel Kapitän, ich werde mir auch Mühe geben. Ich werde...", vor Freude konnte Jegor kaum sprechen, „alles, alles werde ich machen!" So wurde Jegor Bulytschow Zögling und Hornist auf dem Militärtransporter „Leutnant Schmidt". Jegor war es, als würde ihm jemand direkt ins Ohr posaunen, als würden über seinem Kopf Steine auf rostiges Eisenblech geworfen. Halb im Unterbewußtsein dachte er, das Sofa sei ins Rutschen gekommen und stürze in einen Abgrund. Er öffnete die Augen und richtete sich schnell auf. Das Mannschaftslogis schaukelte tatsächlich, der Fußboden neigte sich mehr und mehr und wurde von gurgelndem Wasser überspült. In der Tiefe knirschten unheilverkündend Stahl und Steine gegeneinander. Jegor sprang mit einem Satz vom Sofa, schlurfte durch das Wasser zur Tür und stieß sie auf. Das Heulen des Windes und das Tosen der Wellen betäubten ihn fast. Das Schiff hatte sich noch seitlicher gelegt. Das Meer ringsum kochte, gewaltige Wogen mit weißen Schaumkronen durchpflügten die Bucht. In der Ferne, am Ufer, brodelte die Brandung. Durch die Takelage peitschten salzige, eiskalte Fontänen, und über das Deck ergossen sich riesige Wellen, die in zischenden Strudeln an den Aufbauten entlangliefen. Mal hob sich das Deck, mal senkte es sich, wobei es gegen die Felsen geschleudert wurde. Der Schiffskörper bebte unter dem Ansturm der Wassermassen. Im Kesselhaus, das völlig überschwemmt war, ächzte und klapperte es. Jegor wurde es unheimlich. Vor allem, so sagte er sich, mußte er die Luken dicht machen, die er bei seinem Rundgang durch das Schiff geöffnet hatte, dann würde sich die „Leutnant Schmidt" trotz allem in der Schwebe halten. Und er rannte, sich an die Haltegriffe klammernd, über das von kalten Sturzbächen überflutete Deck. Er warf die schweren Klappen, die ihm fast aus den Händen rutschten, auf die Luken und zog die Schraubenmuttern der Verschlüsse an. Einmal riß ihn eine gewaltige Woge von der Luke fort und wirbelte ihn in ihrem kräftigen Sog zum Schornstein. Jegor schluckte Wasser und versuchte, einen Halt zu finden, doch er wurde mit dem Rückstrom fortgespült, und wären nicht die Manntaue gewesen, an 18
denen sich der Junge krampfhaft festkrallte, so wäre er über Bord geschwemmt worden. Als das Wasser sich verlaufen hatte, sprang er auf und lief über das wildbewegte Deck auf die Brücke, kletterte die Treppe empor, stieg in die Kajüte, schloß fest die Tür hinter sich und sank gegen das Bullauge. Der Ozean tobte gefährlich, er schien dem schwerverwundeten Schiff den vernichtenden Schlag versetzen zu wollen und überschüttete es mit seinem Zorn. Die Wellen, schwer gegen den Bug klatschend, verspritzten ihre Fontänen bis hoch zur Brücke hinauf. Erst jetzt, nachdem Jegor halbwegs wieder zu Atem gekommen war, spürte er, wie ihm vor Entsetzen und nervöser Schwäche die Knie zitterten. Warum kam man ihn nicht holen? Wo waren der Kapitän und der Bootsmann? Hier würde er doch, inmitten der entfesselten Elemente, auf dem sinkenden, von der Mannschaft verlassenen Schiff, zugrunde gehen! 19
Jegor klammerte sich an den Balken und schluchzte auf. Hatte man denn bis jetzt noch nicht entdeckt, daß er fehlte? Die hatten es gut dort in der Wärme, er aber war allein, hungrig und durchgefroren bis auf die Knochen... Der Junge weinte immer lauter, immer stärker. So verbrachte" er die ganze Nacht in der Kajüte. Starke Stöße gegen das Schiff ließen ihn immer wieder zusammenschrecken, das schauerliche Stöhnen und Heulen des Sturmes jagten ihm Angstein. Jede Minute erwartete er, daß seine kleine, hoffnungslose Insel in tausend Stücke bersten würde und von den Wogen verschlungen würde. Am Morgen toste der Ozean noch immer. Jegor sah, daß die Wellen in der Nacht den Mast und einen Teil der Schaluppenanlage weggerissen hatten. Die Reling war fast vollständig abgerissen. Das Schiff, dessen Heck nun völlig unter Wasser stand, hatte sich um dreißig Grad geneigt und bot einen traurigen Anblick. Jegor hätte gern etwas gegessen, ihn quälte furchtbarer Durst. Vor Schwäche war ihm schwindlig, und in den Beinen hatte er ein watteweiches Gefühl. Von einem Haltepunkt zum anderen springend, gelangte er in das Mannschaftslögis, wo einige magere Eß- und Trinkvorräte zurückgeblieben waren. Er schloß die Tür fest hinter sich und verschraubte die Bullaugen, dann kroch er aufs Sofa und begann den im Wasser aufgeweichten Zwieback zu kauen. Im Hintergrund kroch eine Ratte unter Rohrleitungen hervor. Sie starrte ihn aus bösen Glasperlenaugen an, dann putzte sie sich und schüttelte das Wasser ab. Jegor warf einen Schuh nach ihr, sie machte aber keine Anstalten fortzulaufen, sondern rückte nur etwas näher an die Rohre heran und begann, die bärtige Schnauze verziehend, zu zischen. „Mach, daß du fortkommst!" schrie Jegor wild auf und fuchtelte mit den Armen. „Weg, du verdammtes Biest, weg da!" Die Ratte wedelte mit ihrem langen nassen Schwanz und verschwand. Nachts wachte der Junge mehrmals davon auf, wie die Ratte über seine Beine lief, doch Hunger und Erschöpfung hatten ihn dermaßen entkräftet, daß er immer wieder für kurze Zeit einschlief. 90
Als der Morgen graute, hatte sich der Sturm beruhigt, die Wellen hatten nicht mehr die zerstörerische Kraft. Über dem bleigrauen Himmel ging eine kalte, rote Sonne auf. Jegor aß den letzten Zwieback, legte die ihm verbliebene Kompottkonserve in den Tischkasten und begab sich auf einen neuen Rundgang durch das Schiff. Er zitterte vor Kälte, doch er hatte keine Streichhölzer und konnte kein Feuer machen, um sich zu wärmen. In einer der Truhen fand Jegor eine englische Schlipsnadel, die er in einen Haken verwandelte, indem er sie zurechtbog, und an eine dünne Schnur fädelte, wie sie zum Toppen der Signale verwendet wird. Als Köder benutzte er für seine Angel die Reste des Lachses, den die Ratte angenagt hatte. Am Tage, als sich das Meer endgültig beruhigt hatte, setzte er sich auf die Bordkante und warf die Schnur aus. Wie oft hatte er früher mit dem Bootsmann geangelt, und sie hatten stets eine reiche Beute gehabt. Ach, wo w a r er jetzt nur, sein Bootsmann Jewsejitsch? Jegor fühlte, wie es ihm in den Augen brannte, und um nicht loszuheulen, verfolgte er mit den Blicken die eintauchende Schnur. Wie lange er so dagesessen hatte — ob eine Stunde oder zwei —, d a r a n konnte er sich nicht mehr erinnern. Plötzlich jedenfalls hatte sich die Angel gestrafft, d a n n ruckte es kräftig an ihr, und sie zog scharf nach rechts davon. Jegor, der an einen Erfolg noch nicht glauben konnte, begann verkrampft und mit zitternden Händen die Angel einzuholen. Endlich tauchte ein silbrig glänzender Fisch aus dem Wasser. Außer sich vor Freude, riß ihn Jegor zu sich aufs Deck, und da er Angst hatte, der Fisch könnte über Bord rutschen, warf er sich bäuchlings auf den Kabeljau. Er fühlte, wie der große Fisch unter ihm zappelte. Als vom Fisch nur noch der Kopf übriggeblieben war, sah Jegor die Ratte wieder. Sie k a m aus dem Mannschaftslogis hervorgelaufen, setzte sich auf den Schwanz u n d starrte den Jungen fest an. Er warf ihr schließlich das Fischskelett hin, mit dem sie sofort im Innern des Schiffes verschwand. — „Die ,Najesdnik' nimmt Kurs auf uns", sagte der Bootsmann und öffnete die Tür zur Kapitänskajüte. „Jetzt wird gleich Jegor angetrabt kommen. Na, dem Bürschchen werd ich's geben!" 21
„Signalisieren Sie, daß Bulytschow zu mir kommen soll", dei Kapitän blinzelte ihm listig zu. „Fahrt hin, Fahrt her, aber Disziplin muß sein. Der treibt sich zwei Wochen lang Gott weiß wo herum, während ich — um ehrlich zu sein — richtig Sehnsucht nach ihm und seiner vielen Fragerei gehabt habe." „Ich gebe es sofort an den Signalgast weiter. Ordnung muß sein, wir werden diesem kleinen Teufel die Leviten lesen", brummte der Bootsmann gutmütig. „Ohne ihn ist es hier fast wie ausgestorben, dieser Lausebengel aber schert sich keinen Pfifferling drum." Eine halbe Stunde später klopfte es an die Tür der Kapitänskajüte. „Gestatten Sie, Genosse Kommandeur?" Auf der Schwelle stand ein kraftstrotzender, pausbäckiger Seemann. „Bitte." „Matrose Bulytschow meldet sich zur Stelle." „Ich habe Sie nicht rufen lassen. Ach... wie sagten Sie, ist Ihr Name?" „Bulytschow", der Matrose lächelte. „Ich weiß nicht, weshalb, aber nach mir hatte sich schon in der Kronozki-Bucht jemand von Ihnen erkundigt. Na ja, der Name ist schließlich berühmt." „Moment mal, warten Sie", der Kapitän erhob sich, „ich verstehe überhaupt nichts mehr. Sie sagen, daß Sie Jegor Bulytschow sind?" „Natürlich ich, wer denn sonst?" fragte der Seemann erstaunt. „War denn bei euch auf dem Rettungsschiff kein Schiffsjunge, der ebenfalls Jegor Bulytschow heißt? So ein kleiner, blasser mit rundem Gesicht?" „Nein, wir hatten während der Fahrt gar keine Fremden an Bord, nur die eigene Besatzung. Und einen Schiffsjungen haben wir überhaupt nicht." „Was ist denn das für eine Teufelei?! Und Sie haben niemanden von der .Leutnant Schmidt' aufgenommen?" „Doch, aber ein Moses war nicht dabei." Aus der Awatschinsker Bucht jagte, Schaumkämme hinter sich lassend, in voller Fahrt ein Torpedoboot. Ohne die Feldstecher von den Augen zu nehmen, standen auf der 22
Brücke der Kapitän und der Bootsmann der „Leutnant Schmidt". In der Ferne tauchte die graue Silhouette ihres havarierten Schiffes auf... „Ich habe überall nachgesehen, auf dem Bauch bin ich fast gekrochen, er ist nirgends zu finden!" Der Bootsmann nahm die Mütze ab, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und setzte sich schwerfällig. „Aber er war hier, daran gibt es keinen Zweifel. Sein Käppi liegt auf dem Deck. Ich kann mir einfach nicht erklären, wo der Kleine steckt. Wo mag er bloß hingeraten sein? Wie furchtbar, wenn er umgekommen wäre. Immerhin waren es mehr als zwei Wochen. Und dann der Sturm dazu. Und ich alter Dummkopf habe an diese Möglichkeit nicht gedacht." „Machen Sie keine Panik, Leutnant, wir suchen alles noch einmal durch." Der Kommandant sprang an Bord und ging auf die Brücke. „Wenn wir ihn nicht finden, geben wir eine Meldung zum Hafen und an die Flieger durch." Sie überprüften wiederum alle Räume, durchwühlten mit Widerhaken die überschwemmten Abschnitte, doch ihr Su23
chen blieb erfolglos: Jegor Bulytschow war verschwunden! Schon den dritten Tag hatte Jegor nichts zu essen. Ein schwerer Fisch hatte den Haken von der Angelschnur abgerissen, und die Seevögel—Wasserraben, Schnäpper und Sturmvögel — vermieden es, sich auf dem menschenleeren Schiff niederzulassen; ganz so, als ahnten sie die Gefahr. Anfangs versuchte Jegor, kleine Lederstücken zu kauen, die er in der Kapitänskajüte gefunden hatte, doch sie verursachten ihm Leibschmerzen und rieben ihm den Mund wund. Heute hatte er auch die letzten Tropfen Wasser getrunken, die er während des Regens gesammelt hatte. Der Schiffsjunge lag auf dem Deck und schaute voller Wehmut zum fernen Ufer hinüber. So geht es nicht mehr weiter, dachte er, wenn sie mich nicht holen kommen, muß ein furchtbarer Irrtum vorliegen. Er mußte also handeln! Nur nicht weiter hier sitzen und warten. Auf diese Weise büßte er seine letzten Kräfte ein und starb fast vor Hunger und Durst. Jegor stand auf und bewegte sich, mühsam ein Bein vor das andere setzend, auf das Heck zu, das nur noch bis zum Deck unter Wasser stand. Das Meer rieb sich sanft an dem Schiffswrack. Die Bucht lag, so weit man sehen konnte, ausgesprochen ruhig, ja friedlich da. Lediglich ein leichtes Zittern, von schwachen Winden hervorgerufen, ging zuweilen über sie hin und pflanzte sich zum Ufer hin fort, über dem ein bläulicher Dunstschleier lag. Der Junge legte die Hand über die Augen und schaute in die Richtung, wo an der Uferbrandung die weißen Schaumkämme ausrollten. Ja, bis dahin waren es sicher zwei Meilen. Die Möglichkeit, schwimmend ans Land zu gelangen, schied von vornherein aus. Selbst im Hochsommer war das Wasser hier kalt wie in Bergflüssen. Aber wenn... Jegor schoß nur eine flüchtige Idee durch den Kopf, doch er spürte, daß es ihn bei diesem Gedanken heiß überlief. Wieso war er nicht schon eher daraufgekommen? Wahrscheinlich, weil er sich darauf verlassen hatte, daß man ihn irgendwann holen käme. So hatte er sich gar nicht 24
erst die Mühe gemacht, nach einem Ausweg zu suchen, sondern hatte nur dagesessen und mehr oder weniger geduldig gewartet. Doch jetzt? Es gab für ihn nichts anderes, als die Bucht irgendwie zu überqueren. Wenn er versuchte, sich ein Floß zu zimmern? Der Junge machte sich hastig daran, alles zusammenzusuchen, was auf dem Wasser schwimmen konnte. Nach einiger Zeit hatte er zwei Fässer, einen Farbtopf, ein Holzgatter, mit dem der Bootsmann gewöhnlich die Heckluke schloß, und eine Korkmatratze zum Heck geschleppt. Jegor wußte auch, daß sich auf dem Schiff große Havariebalken befanden, die zur Ausbesserung von Lecks verwendet werden sollten. Der Schiffsjunge ging in den Kesselraum hinunter. Da lagen tatsächlich noch die vierkantigen, mit Mennige gestrichenen Holzbohlen. Er versuchte, eine von ihnen herauszuziehen, mußte aber bald einsehen, daß er mit seinen schwachen Kräften nichts ausrichten konnte. Mehrmals ruckte er an ihnen mit verzweifelter Anstrengung. Den Tränen nahe, mühte er sich verzweifelt ab, sie aus ihrer Halterung herauszulösen—aber alles blieb umsonst. Schließlich ging er in die Gerätekabine und kramte aus dem herumliegenden Gerumpel ein Sägemesser hervor. Gegen Abend lagen die in vier Teile zersägten Balken an Deck. Völlig erschöpft stapfte Jegor in die Kajüte und ließ sich aufs Sofa fallen... Kurz vor dem Erwachen träumte der Junge, wie er den Balken zersägte und sich das Sägemesser gleichzeitig auch in sein Bein senkte, wie sich die rostigen Zähne des Sägemessers in Haut und Muskeln seines Beines schlugen. Er zuckte am ganzen Körper zusammen, schrie auf und saß sofort aufrecht — das rechte Hosenbein war an einigen Stellen zerfetzt, sein Bein brannte, als wäre es mit siedendem Wasser übergössen worden! Etwas abseits von ihm saß auf dem Sofa die Ratte und wischte mit den Pfoten Blut von ihrer Schnauze. „Verschwinde, du Vieh!" Der Junge prallte entsetzt zurück gegen die Wand und suchte einen Gegenstand, den er nach der Ratte werfen konnte. „Mach, daß du wegkommst!" Ihm 25
fiel eine leere Konservendose in die Hände. „Da hast du's, Dreckstück!" Er holte aus und warf die Blechbüchse, mit einem widerlichen Fiepen huschte das Tier in den Gang davon. Schwankend ging Jegor zum Heck, zog einen Stiefel aus und wusch sich die Bißwunde mit Meerwasser aus. Dann holte er aus der Gerätekammer einen Strick und band die Balken zu einem Rahmen zusammen. In die Mitte kamen die beiden Fäßchen und der Farbtopf, von oben wurde das Ganze mit dem Holzgatter bedeckt. Nach einigen Stunden mühevoller Arbeit war das Floß fertig und tanzte wie ein Schwimmer auf dem Wasser. Jegor stellte sich drauf, versuchte sogar umherzuspringen — das Floß hielt stand! So, das war's also, dachte der Junge, griff nach einem Brett, das er schon vorher von dem Gatter abgetrennt hatte, stieß sich von der Bordwand ab und ruderte in Richtung Ufer los. Er wußte, daß selbst der geringste Seegang seinen Untergang bedeuten würde, doch einen anderen Ausweg gab es nicht. Nun heißt es vorwärts kommen, dachte Jegor. Der Wind half auch ein bißchen nach, schade nur, daß er nichts hatte, um einen Mast zu setzen, sonst hätte er ein Segel hissen können. Als er einige Dutzend Meter vom Schiff entfernt war, sah er, wie die Ratte übers Deck lief und sich an dem Platz zu schaffen machte, an dem er wenige Minuten zuvor noch gesessen hatte... Als die Sonne am Horizont versank, hatte Jegor ungefähr die Mitte seines Weges zwischen Ufer und Schiff erreicht. Die Wellen trieben das Floß gemächlich vor sich her. Ab und an benetzten sie ihn, und der Junge war mittlerweile völlig durchnäßt. Um nicht übermäßig zu frieren, ruderte er ununterbrochen, wenn auch in gemäßigtem Tempo, mit seinem Brett. Schließlich senkte sich die Nacht über die Bucht, Jegor konnte nun weder das Schiff noch das Ufer sehen. Ringsum breitete sich zähe Finsternis aus, nur die blaßblauen Wellenkämme leuchteten hier und da in phosphoreszierendem Schimmer auf, um sich sofort wieder mit dem Wasser zu vermischen. Für Bruchteile von Sekunden ergriff den Jungen Furcht. In welcher Richtung sollte er sich halten? Er konnte ins offene 26
Meer abgetrieben werden. Selbst im Wald geschah es, daß man im Kreise ging. Hier aber war weit und breit nur Wasser. „Ruhig, nur ruhig bleiben", wiederholte Jegor für sich den Lieblingsausdruck des Bootsmannes. „Wir werden es schon schaffen. Als ich losfuhr, blies mir der Wind in den Nacken, also muß ich das Floß so lenken, daß ich ihn immer im Rücken spüre. In einer so kurzen Zeitspanne wird sich die Windrichtung schwerlich ändern." Bei diesem Gedanken lebte er merklich auf und fing wieder an, mit dem Brett zu rudern. Die ganze Nacht über schloß er kein Auge. Als dann der Morgen dämmerte, lag das Ufer direkt vor ihm: Jegör sah die Brandung ans Ufer rollen, den Strand mit dem dichten Gewirr der Zedernbäume, das gleich einem grünlich-gelben Teppich in kegelförmige Erhebungen überging. Vor Freude verschlug es ihm fast den Atem. Selbst als der Brandungssog die Stricke zerriß, die Holzbalken auseinanderstoben, er ins Wasser glitt und ans Ufer geschwemmt wurde, fühlte Jegor keine Angst mehr. In seinen Schläfen hämmerte nur der eine Gedanke: Gerettet! Hier war fester Boden! Hier war das Ufer! Der Junge umklammerte ein Faß, und wenige Minuten später lag er bereits auf dem Strand. Unter seinen Händen spürte er Muscheln, und langsam kroch er weiter, um den ans Ufer 27
rollenden Wellen zu entkommen... Nachdem Jegor wieder genug Kraft hatte, schleppte er sich auf allen vieren ins Gras und stukte sein Gesicht in feuchtes, aromatisch duftendes Moos. Nach einer weiteren Ruhepause stand er auf, wrang seine nasse Kleidung aus und breitete sie auf einem niedrigen Busch zum Trocknen aus. Dann ging er ins Gestrüpp hinein und sammelte mit beiden Händen Blaubeeren, Preiselbeeren und Molterbeeren und stopfte sie sich gierig in den Mund... Als seine Kleider ziemlich trocken waren, zog sich Jegor an und ging langsam am Ufer entlang in westlicher Richtung, wo hinter den blauen Hügeln der Hafen liegen mußte. Hin und wieder machte er halt, um sich auszuruhen. Doch je länger er ging, desto länger wurden die Ruhepausen. Zur Nacht kletterte er aus Angst vor Bären in eine Höhle, die sich zwischen den Uferfelsen befand, und fiel dort, zitternd vor Kälte, in einen langen, bleiernen Schlaf. Am Morgen des dritten Tages konnte Jegor, der zerlumpt, furchtbar abgemagert und schwach war, mit seinen blutenden und aufgeschlagenen Füßen nicht mehr gehen. Er lag auf dem Bauch und schaute zu, wie vor seiner Nase Ameisen auf einem dünnen Grashalm emporkletterten. Eine völlige Gleichgültigkeit hatte sich seiner bemächtigt, er wollte nur eins — schlafen. Und warm haben wollte er es. Ihm wurde schwindlig; ein zitternder Schleier senkte sich über seine Augen. Nein, so konnte er nicht liegenbleiben. Er mußte kriechen, klettern, gehen. Verzweifelt hob Jegor den Kopf und lauschte, Leute liefen auf ihn zu. Jegor wollte schreien, doch die Kräfte verließen ihn, und er verlor das Bewußtsein... Eine Strandwache hatte Jegor entdeckt, dreißig Kilometer von der Kronozki-Bucht entfernt. Der Junge wurde unverzüglich in ein Krankenhaus gebracht. Als er wieder sprechen konnte, sagte er, daß er der Schiffsjunge der „Leutnant Schmidt" sei. Der Bootsmann holte Jegor aus dem Krankenhaus ab. Er mußte lange warten, bis die junge Schwester die Papiere fertiggemacht hatte und er zu dem Jungen gelassen wurde. Als er Jegor erblickte, zuckte es im Gesicht des alten Seemanns, er zeigte eine klägliche Grimasse. 28
„Wie du abgemagert bist! Ach du großer Himmel! Na, macht nichts, wir päppeln dich schon wieder hoch." Zwei Gestalten, eine große und eine kleine, sah man in die Richtung zum Hafen davongehen. Plötzlich blieb Jewsejitsch stehen, griff Jegor unter die Arme und hob ihn in die Höhe, so daß er in das blasse Gesicht des Jungen schauen konnte. Dann sagte er: „Ein Prachtjunge bist du, Jegor, weiß Gott! Ein Prachtkerl, ein richtiger Seemann! Halt es weiter so im Leben, Moses! Du bist zum zweitenmal auf die Welt gekommen. Man muß es nur verstehen, sich im Leben zurechtzufinden."
Ich spürte durch das dünne Hemd die gespeicherte Sonnenwärme der Wand in meinem Rücken. Ich saß auf der Terrasse meines Hauses und blickte hinunter auf den weiten Talkessel mit meiner Stadt darin. Der Hitzedunst des Tages begann sich zu heben, das Gewebe der Straßen und der Häuserblocks lag vor mir. Ich war zu Hause. Eine ganze Woche schon, ich begriff es aber noch immer nicht. Vielleicht weil ich, wenn ich die Augen schloß, wieder Rioseco sah. Ich wurde, was ich dort oben erlebt hatte, nicht los. Die düsteren, steinigen Gebirgstäler, in denen die Bauern zu Hunderten von ihrem Land vertrieben wurden. Die staubigen Wege, an deren Rand verhungertes und verdurstetes Vieh lag. Die Ratlosigkeit, die Verzweiflung und das Nichtverstehen in den Augen der Menschen. Als wäre von irgendwoher eine böse Macht über diesen hermetisch abgeschlossenen Erdenwinkel hergefallen, um mit seinen Bewohnern ihr mörderisches Spiel zu treiben. Und warum das alles? Eine bündige Erklärung brachte ich nicht zurück. Bestenfalls Ansätze. Wahrscheinlich saß ich deshalb noch nach einer Woche auf der Terrasse meines Hauses, in meinem Garten, blickte auf meine Stadt hinunter und begriff nicht voll, wo ich mich befand. „Sie haben, was m a n einen Riecher nennt", hörte ich Vergara sagen. „Von zehn Zeitungsleuten hätten hinter den paar Notizen neun nicht diese Schlagzeile gewittert. Sie haben einiges riskiert."
Doch Carlos Berger, der südamerikanische Journalist, wird noch mehr riskieren, wenn er den Europa-Auftrag der „News Agency" annimmt. Berger wird in einen Kontinent zurückkehren, aus dem er vor den Nazis geflohen ist, er wird Leute, Städte, Erinnerungen treffen und seine Ansichten über Europa mehr als zwei Jahrzehnte nach Kriegsende aufs Spiel setzen. Eduard Klein hat mit dem Roman
Nächstes Jahr in Jerusalem ein Buch voller innerer und äußerer Spannung geschrieben.
408 Seiten • Ganzleinen 8,—M Verlag Neues Leben Berlin
Er stellt den Holzkoffer auf die Steinplatten und holt den Brief der Mutter aus der Wattejacke. Noch einmal will er es genau wissen. Zionskirchstraße 42. Da liegt das Haus, er braucht nur schräg über die Straße zu gehen. Kein Zweifel, das Schild, kaum lesbar noch: Fleischerei Pahlow. Und die Rolläden sind vor Fenster und Tür heruntergelassen, hängen schief, sind an manchen Stellen zerrissen. So hat es Mutter beschrieben. Das Haus ist grau, der Putz von Granatsplittern zersiebt. Davon hat Mutter nichts geschrieben, das braucht sie auch nicht, weil das selbstverständlich ist. Gibt es überhaupt ein Haus in der Stadt, dessen Fassade nicht von Splittern oder Kugeln getroffen wurde? Auf dem langen Weg vom Bahnhof bis hierher — sofort hat er den Weg nicht gefunden — sah er kein heiles Haus. Immer noch bleibt er auf der anderen Straßenseite. Den Holzkoffer hat er aber schon aufgenommen. Die Wattejacke, die er trägt, ist blau und neu. Die Mütze dagegen alt, der Schirm läppt, das Futter ist speckig, der Stoff brüchig. Am Tag vor der Abfahrt wurden an den ganzen Transport Wattejacken ausgegeben, mußten ausgegeben werden. Wie Tresemann prophezeit hatte, war Schnee gefallen. Doch dann fuhren sie dem Winter davon. Und an der Wolga zog Martin in den Mittagsstunden die Wattejacke aus. Über der Zionskirchstraße strahlt eine stille Herbstsonne, sie verschönt die graue Straße, läßt die Fensterscheiben blitzen. Das eigentliche Leben soll nun anfangen. Der Mann, der da, zurückgekehrt aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft, vor einem Mietshaus in Berlin NO steht, ist voller Hoffnung. Was wird das Leben für ihn bereithalten? Noch weiß Martin Stein nicht, daß er bald wieder eine Uniform tragen wird. Doch diesmal, um einen neugegründeten Staat zu schützen. Günter Görlich erzählt in seinem Buch
Heimkehr in ein fremdes Land die Geschichte einer langen, mühevollen, abenteuerreichen Suche nach Arbeit, nach Liebe, nach einem Zuhause. 384 Seiten • Ganzleinen 8.80M Verlag Neues Leben Berlin
„Ich habe eigentlich, seit ich denken kann, so ein ausgesprochenes Montagsgesicht; man muß sich einen Kopf vorstellen, irgendeinen Kopf, fast kahl, nur etwas Flaumhaar bedeckt die Schädelmitte, als hätte dort ein Vogel begonnen, sein Nest zu bauen, was er bald aus Materialmangel wieder aufgegeben hat. Und das mit neunzehn Jahren... Dafür lasse ich's über der Oberlippe und ums Kinn herum sprießen, ist zwar auch nicht zum Hinschmeißen, was da gedeiht, aber es sind wenigstens Haare... Das edelste der zu meinem Kopf gehörenden Teile ist meine Römernase, an der es rein gar nichts auszusetzen gibt, vielleicht nur, daß sie eben nicht in mein Gesicht paßt. Von meinen Augen haben alle meine Pauker behauptet, daß sie unverschämt und anmaßend blicken würden. Mein Mund wäre sinnlich, so jedenfalls hat es mal ein Mädchen gesagt... In meiner Kluft — Kordhosen, Lederweste und Sandalen — schwinge ich mich auf meine Jule und strampele wie doof durch die vergaste Stadt... Dann stehe ich vor dem Fernmeldeamt, so einem neuen Schuppen ohne Gesicht... Mir ist wie bei meinem eigenen Begräbnis, und ich verfluche die pingeligen Medizinmänner, die mich immer wieder für die Arbeit auf See als untauglich befunden haben..." Wenn es nach Bruno Jäger, genannt Muzelkopp, ginge, wäre er schon längst auf großer Fahrt, um seinen Platz im Leben zu finden. Aber man weist ihm andauernd einen an, auf dem er's aushalten soll, alle müßten das. Aber er kann's nicht. „Es geht nicht los", bejammert er den Alltag und ist doch gerufen, selbst etwas losgehen zu lassen. Muzelkopps Geschichte hat Gunter Preuß neben sechs anderen in seinem Buch
Die großen bunten Wiesen aufgezeichnet. Illustriert 300 Seiten • Pappband mit Schutzumschlag 6,50 M
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN DDR
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