DORT UNTEN IM MÜHLENGRUND Roman von Leni Behrendt
Julius Erdmann hat die Mühlenwerke von seinem Vater übernommen, hat d...
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DORT UNTEN IM MÜHLENGRUND Roman von Leni Behrendt
Julius Erdmann hat die Mühlenwerke von seinem Vater übernommen, hat den Betrieb weiter ausgebaut und ihn zu einem großen, blühenden, ertragreichen Unternehmen gemacht. Da ihm eigene Kinder versagt blieben, nahm er Benno und
Renate Nieritz, die verwaisten Kinder seines Freundes, an Kindes Statt an. Renate ist ihm eine gute, liebevolle Tochter geworden, doch mit Benno, den er als seinen Erben und Nachfolger ansieht, erlebt Erdmann schwere Enttäuschungen. Die Windmühle, die schon auf dem Mühlenberg klapperte, bevor unten im Tal die Erdmannschen Mühlenwerke entstanden, ist noch immer in Betrieb, doch das alte Müllerehepaar Frank lebt recht kümmerlich und bescheiden. Jürgen, der einzige, begabte Sohn, ist der Stolz und die Hoffnung der beiden alten Leute. Als Jürgen nach langer Abwesenheit in die Heimat zurückkehrt, trifft er dort seinen Kindheitsfreund Norbert Haller und dessen Schwester Rosemarie wieder. Die Harmlosigkeit der Kinderzeit ist dahin, zu verschieden haben sich die äußeren Lebensbedingungen und auch die einzelnen Charaktere entwickelt. Eines Tages scheint die Sonne wieder über dem Mühlengrund, und Vater Erdmann hat die Gewißheit, daß er sein Lebenswerk einmal in treue, zuverlässige Hände legen wird.
Wir verwenden Papier, das bis zu 70% aus Altpapier besteht. Das ist unser Beitrag zum Umweltschutz. Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.), Mühlenstieg 16-22,2000 Hamburg 70, Postfach 70 10 09, Telefon: Sa.-Nr. (040) 68 28 95-0, Telefax (040) 68 28 95 50, Fernschreiber: 213.126 Verantwortlich: Verleger Otto Melchert. Im Verkaufspreis ist die gesetzliche Mehrwertsteuer enthalten. Gesamtherstellung: Eisnerdruck, Berlin Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Gewähr. Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman. Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt oder zum gewerbsmäßigen Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden. Printed in Germany.
»Hallo, Wilhelm Frank, haben Sie denn noch nicht genug an Ihrer anstrengenden Tagesarbeit, müssen Sie denn auch noch die Abendstunden mit Arbeit ausfüllen?« rief Julius Erdmann, der Besitzer der großen Mühlenwerke im Mühlengrunde, seinem Obermüller zu. Der alte Mann, der vor der Windmühle stand, deren mächtige Flügel sich lustig im Winde drehten, brachte mit einem Handgriff das laute Geklapper zum Schweigen, nahm die Pfeife aus dem Munde und ging seinem Brotherrn, der in Begleitung seiner Pflegetochter war, entgegen. »Die Armen brauchen ihr Brotmehl, Herr Erdmann«, entgegnete der Müller in seiner bedächtigen Art. »Was Sie Arbeit nennen, das ist für mich Erholung. Wenn meine Mühle nicht mehr klappern soll, dann mag ich auch nicht mehr länger leben. Ich bin unter dem Geklapper geboren und will auch unter ihm sterben, wie es Vater und Großvater vergönnt gewesen ist.« »Sie verstehen mich falsch, lieber Frank«, erwiderte Herr Erdmann hastig, »ich will Ihnen bestimmt keine Vorschriften machen. Ich fürchte nur, daß Sie sich zu sehr ausnutzen lassen und daß alle die, für die Sie Ihre Feierstunden opfern, nicht so bedürftig sind.« Sein Blick ging an der Mühle hoch, die so trutzig und frei dastand, so schmuck und ansehnlich wirkte wie kaum eine zweite ihrer Art. Er konnte es nur zu wohl verstehen, daß der alte Müller so an seiner Mühle hing. Wohl ebenso wie er an seinem großen Werk, dessen Stattlichkeit von keinem Punkt so gut zu übersehen war wie vom Mühlenberg aus. Vor nahezu fünfzig Jahren hatte Michael Erdmann, sein verstorbener Vater, im Mühlengrunde eine Mühle errichtet. Doch die Wasserkraft, mit der die Mühle anfangs betrieben wurde, hatte nicht lange ausgereicht. Dampfmaschinen von ungeheurer Kraft waren hinzugekommen, und nach und nach waren aus der Wassermühle die weltbekannten Erdmannschen Mühlenwerke geworden. Roggen-, Weizenund Ölmühle, standen friedlich nebeneinander, jede ein stattliches Werk für sich. Hohe Schornsteine ragten in die Luft, mächtige Getreidespeicher behaupteten breit und behäbig ihren Platz. Ein Frohgefühl ohnegleichen schwellte des Mannes Brust, der da hinunterschaute auf alles, was sein war.
Dort unten wurde mit frohem Eifer gearbeitet und geschafft. Viele Menschen fanden in dem Betrieb ihr Brot. Und daß es noch mehr werden sollten, von Jahr zu Jahr immer mehr, dafür wollte er schon sorgen. Sein strahlender Blick suchte den Mann an seiner Seite, der so ruhig dastand und versonnen an seiner Pfeife sog. Ja, der alte Müller Frank, das war noch ein ganz Getreuer vom alten Schlag. Tat mit seinen sechsundsiebzig Jahren seine Pflicht wie ein Junger. Der Besitzer vom Mühlengrund glich ihm in vielen Stücken. Allerdings nur innerlich; äußerlich gab es wohl kaum zwei verschiedenere Menschen als Julius Erdmann und Wilhelm Frank. Erdmann mit seiner kräftigen, untersetzten Gestalt wirkte fast klein neben dem großen, hageren Müller, dessen Nacken noch vollkommen ungebeugt war und dessen Augen aus dem verwitterten, von schneeweißen Haaren umrahmten Gesicht noch genauso hell und durchdringend herausschauten wie in der Jugend. Auch Julius Haupthaar war schon gebleicht. Wie eine Bürste umgab es seine Stirn und ließ sich nur schwer zum Scheitel zwingen. Das volle Gesicht mit der gesunden Hautfarbe zierte ein gestutztes Bärtchen, das ebenso dicht und weiß war wie das Haupthaar. Eine starke, immer ein wenig rote Nase verriet, daß ihr Besitzer einem guten Tropfen nicht abhold war, und zwei strahlende Augen lachten vergnügt in die Welt. Aber der gemütliche Papa Erdmann konnte auch anders sein, davon wußten seine Leute ein Liedchen zu singen. Allein es dauerte lange, bis Herr Erdmann so durchdringend blickte und scharf dazu sprach, so daß jedes Wort wie ein Peitschenhieb saß. Es mußte schon ein arger Sünder sein, der seinen Zorn herausforderte. Jedenfalls war der »Mühlen-Erdmann«, wie man ihn allgemein nannte, eine beliebte und sehr geachtete Persönlichkeit, deren Güte und Menschenfreundlichkeit überall bekannt waren. Jetzt dehnte Erdmann seine Glieder, und seine Hand zeigte hinunter in den Mühlengrund. »Wenn ich hier oben stehe und auf mein Werk hinabschaue, dann komme ich mir so beneidenswert glücklich vor, daß ich mit keinem Menschen auf der Welt tauschen möchte«, sagte er mit frohem Lachen. »Aber das soll mich nicht etwa bestimmen, nun die Hände in den
Schoß zu legen und mich mit dem zufriedenzugeben, was ich bereits besitze. Und außerdem bekomme ich eine tatkräftige Hilfe, denn mein Junge kommt heute endgültig nach Hause. Er hat sich drei Jahre lang in fremden Betrieben umgesehen, ist ein Jahr lang ausgiebig in der Welt herumgebummelt, und es wird nun langsam Zeit, daß er sein Erbe mit verwalten hilft. Und wie steht es mit Ihrem Jürgen, Vater Frank?« »Der schwimmt wieder einmal auf dem großen Wasser, Herr Erdmann. Ist wohl augenblicklich Maschinist oder so was ähnliches. Hat sich vorher tüchtig in Amerika umgesehen und zugelernt, was sich eben zulernen ließ. Auch Geld gespart hat er sich, so daß er nun endlich an das letzte Semester denken kann. Als wenn das nicht alles einfacher gegangen wäre«, knurrte er ärgerlich. »Dieser dickschädelige Bengel!« »Ist er auch«, bekräftigte Herr Erdmann. »Es geschieht ihm ganz recht, daß er sich so quälen und plagen muß, um sein Studium vollenden zu können. Daß er von Ihnen kein Geld mehr nahm, als er erst dahintergekommen war, wie sehr seine Eltern sich seinetwegen einschränken mußten, das spricht nur für ihn. Doch daß er auf meinen Vorschlag, ihm das Geld für sein Studium vorzustrecken, nicht einging, damit hat er sich das Leben viel schwerer gemacht, als es nötig gewesen wäre.« »Und doch hat der Junge recht gehandelt«, verteidigte der Vater den abwesenden Sohn. »Ein Mensch, der ins Leben tritt, soll nicht gleich mit Schulden anfangen, soll frei sein und sich nirgends gebunden fühlen.« »Hauptsächlich nicht an mich, weiß schon Bescheid«, lachte Herr Erdmann. »Der Jürgen ist genauso ein Querkopf, wie der Vater es ist und der Großvater es war.« Nun zog ein frohes Lachen über des Müllers faltiges Gesicht. »Ein wahres Glück, daß der Junge einen solchen Eisenschädel besitzt, Herr Erdmann, sonst hätte er nie und nimmer durchführen können, was er sich vorgenommen hat.« »Er ist dabei ein ganzer Kerl geworden«, schmunzelte Erdmann. »Wann kommt er wieder einmal her? Ich sehne mich schon ordentlich nach dem Draufgänger.« »Zum ersten Oktober kommt er.« »Aha – also doch!« nickte Julius Erdmann zufrieden. »Müßte ja auch nicht der Jürgen sein, wenn er sich am goldenen
Hochzeitstag seiner Eltern womöglich unter den Hottentotten umhertreiben wollte. Und wissen Sie auch, welche Feier am ersten Oktober noch stattfindet, Wilhelm Frank?« »Was werde ich nicht!« lachte der Alte behaglich. »Den doppelten Freudentag kann ich unmöglich vergessen. Muß doch immer daran denken, daß vor fünfzig Jahren die neue Erdmannsche Mühle am ersten Oktober eingeweiht wurde und ich mit meiner Alten Hochzeit hielt…« »Und ich ein zweijähriger Knirps war und das erste Höschen trug«, vollendete der Chef lachend. »Ja, ja, Wilhelm Frank, die Jahre vergehen, und wir beide sind alt geworden.« »Wir und alt!?« entrüstete sich der alte Müller. »Mit Verlaub zu sagen, Herr Erdmann, bei uns in Ostpreußen heißt es: De Düwel is olt!« »Und das kann auch stimmen«, schmunzelte Herr Erdmann. »Was zählen schließlich die Jahre, wenn das Herz nur jung geblieben ist? Und solange wir arbeiten können, sind wir immer noch jung«, setzte er ernst hinzu. »Aber ich schwatze hier und denke nicht an meine Reni, die vor Aufregung ja förmlich zappeln muß«, meinte er ein wenig verlegen und umfaßte die Schulter seiner neben ihm stehenden Pflegetochter. »Sie freut sich auf die Ankunft ihres Bruders wie auf die eines Liebsten.« »Du erwartest ihn wohl mit weniger Ungeduld, Väterchen?« neckte sie. »Du zählst nämlich die Minuten, bis Benno kommt, genauso emsig wie ich.« »Hast recht, Kleine, so ist es und nicht anders. Wie froh können wir sein, daß wir einen Erben für unsere Mühlen haben, wie, Wilhelm Frank?« »Gewiß, Herr Erdmann«, nickte der bedächtig. »Und wir wollen hoffen, daß die Söhne sich ihres Erbes auch würdig zeigen.« »Na, warum sollten sie nicht?« fragte Julius Erdmann befremdet. »Wenn alle Söhne so wären wie Ihrer und meiner, dann könnten die Väter wohl zufrieden sein. – Doch nun komm, Reni, wir müssen eilen, sonst versäumen wir tatsächlich noch die heißersehnte Ankunft unseres Weltenbummlers.« Er schüttelte dem alten Müller die Hand und eilte mit seiner Tochter den Fußsteg hinab, der vom Mühlenberge zum Mühlengrunde führte. Wilhelm Frank sah ihnen nach, und es lag ein Ausdruck in seinen Augen, als sei von der Ansicht seines Brotherrn, daß die Väter
zufrieden sein könnten, die über Söhne wie Benno Nieritz verfügten, nicht ganz überzeugt. Sein Jürgen allerdings, das war einer – doch Benno… Nun, hoffentlich sah er zu schwarz, und sein gütiger Chef erlebte an seinem Pflegesohn die Freude, die er wahrlich verdiente. Dann wandte er sich ab und schritt seiner Wohnung zu, die unter der Mühle lag. Schritt durch den kleinen Flur und betrat die niedere Stube, in der seine Frau geschäftig herumwirtschaftete. »Mutter, fertig? Ich habe einen Mordshunger«, sagte er und setzte sich auf die Holzbank. »Kann ich mir denken«, nickte das Weiblein. »Es ist ja heute auch schon später als sonst, hast dich mit dem Herrn Erdmann gehörig verplappert.« Dabei eilte sie an den mächtigen Kachelofen, öffnete dort eine Tür, hinter der die Herdstelle wie in einem Schrank lag, und förderte eine dickbauchige Steingutkanne zutage, in der ein gutgebrannter Malzkaffee brodelte. Dann kam noch eine Schüssel mit Bratkartoffeln auf den Tisch, ein Teller mit zwei Scheiben Rauchschinken, und die beiden Leutchen konnten mit dem Abendessen beginnen. Draußen dunkelte es bereits, doch die alte Frau dachte noch gar nicht daran, Licht zu machen. An allen Ecken und Enden sparten sie, obgleich der Sohn kein Geld mehr von ihnen annahm. Es war in der Tat die allerhöchste Zeit, daß er sein Studium beendete; denn er war mittlerweile achtundzwanzig Jahre. Seine Schuld war es allerdings nicht, daß er so langsam vorwärtskam, denn er hatte stets mit großem Eifer gelernt. Es lag vielmehr daran, daß er später als andere Jungen auf das Gymnasium gekommen war, weil man erst in den oberen Klassen der Volksschule auf seine überragende Begabung aufmerksam geworden war und dafür gesorgt hatte, ihm eine Freistelle auf dem Gymnasium zu verschaffen. Trotz allen Fleißes hatte er dennoch die Zwanzig überschritten, ehe er die Reifeprüfung machte. Bis dahin war noch alles verhältnismäßig glatt- und gutgegangen. Schlimm war es erst geworden, als die Inflation kam und das kleine Vermögen des Alten verschlang. Als der Sohn danach die Hochschule bezog, da wollte das Geld, das Wilhelm Frank seinem Einzigen zur Verfügung stellen konnte, niemals reichen. Jürgen hatte immer noch dazuverdienen müssen und war
außerdem gezwungen gewesen, Zuschüsse aus mildtätigen Stiftungen entgegenzunehmen. Dabei hatte er nie geahnt, wie die Eltern sich seinetwegen einschränken mußten, und die wiederum hüteten sich ängstlich, ihn etwas davon merken zulassen. Aber der Bengel mit seiner Spürnase kam durch Zufall doch einmal dahinter. Ausgerechnet im vorigen Semester mußte es ihm zur Gewißheit werden, wie seine Eltern seinetwegen darbten; und schon setzte er seinen Dickkopf auf. Nahm keinen Pfennig mehr von ihnen und vagabundierte fortan in der Welt umher, um möglichst viel Geld zu verdienen, damit er sein Studium beenden konnte. Drei Jahre hatten die Eltern ihren Einzigen nicht mehr gesehen, und die Sehnsucht nach ihm wurde mächtiger mit jedem Tag. Nach dem Abendessen zündete Wilhelm Frank sein Pfeifchen an, um es in Ruhe und Beschaulichkeit zu rauchen. Als Julius Erdmann und seine Tochter Renate den Mühlenberg hinabgestiegen waren, wandte Renate sich noch einmal zurück, und ihre Augen umfaßten die Windmühle mit fast liebevollem Blick. »Es ist dem Vater Frank nicht zu verdenken, daß er so stolz auf seine Mühle ist«, sagte sie nachdenklich. »Sie ist die schönste, die ich jemals sah.« »Da hast du recht«, nickte der Vater. »Die Mühle gehört hierher, ich könnte mir unser Fleckchen Heimaterde ohne sie einfach nicht denken. Und ich kann es sehr wohl verstehen, daß Gottlieb Frank sich weigerte, sie meinem Vater zu verkaufen.« »Und ich kann mir nicht vorstellen, daß die Mühlenwerke einmal nicht vorhanden gewesen sein sollten«, meinte Renate lebhaft und zeigte hinunter in den Mühlengrund. »Außerdem kann ich nicht begreifen, warum der Vorfahr des alten Frank sich eine Windmühle baute und nicht den Erdmannschen Erben die Wassermühle abkaufte.« »Ja, Kind, das ging nicht so einfach, wie du dir das denkst«, belehrte der Vater sie. »Es konnte sich früher eben nicht jeder, der wollte, eine Mühle erbauen oder gar kaufen, dazu gehörte allemal eine Gerechtsame, die in diesem Falle den Erdmannschen Erben gehörte, wenn sie auch keinen Gebrauch davon machten. Als nämlich unser Vorfahr, der als Sonderling in der
Wassermühle gehaust, gestorben war, gab es unter den Erben keinen, der die Neigung gehabt hätte, das Müllerhandwerk zu erlernen. Sie verpachteten daher das ererbte Land, und die Wassermühle, die bisher so eifrig geklappert hatte, blieb fortan stumm und still. Den Bauern jedoch, die ringsum wohnten und die alle ihr Korn in die Mühle zum Mahlen gebracht hatten, kam deren Verstummen sehr ungelegen. Bis zur nächsten Mühle war es immerhin eine halbe Tagesreise. Sie kamen daher zusammen und hielten lange Rat, wobei sie schließlich einig wurden, an die Erdmannschen Erben heranzutreten und ihnen nahezulegen, die stillgelegte Wassermühle wieder flottzumachen. Doch die lehnten ab. Sie hielten einen Mühlenbetrieb nicht für hinreichend einträglich, da sie ja selbst keine Müller waren und die Mühle verwalten lassen müßten. Also kamen die Bauern noch einmal zusammen, und da wurde beschlossen, eine eigene Mühle zu bauen. Der Berg, der hart an der Erdmannschen Grenzscheide lag, eignete sich vorzüglich als Standort für eine Windmühle, die dann auch kurz entschlossen gebaut wurde. Es fand sich auch sehr bald ein Pächter für sie; denn damals waren die Mühlen alle noch recht einfach, und diese galt daher als eine Sehenswürdigkeit. Sie wurde zur wahren Goldgrube, und da Müller Frank, der Pächter, außerdem noch ein geschäftstüchtiger, tatkräftiger Mann war, so konnte er seinem Sohn die Mühle nicht nur als Pachtgut, sondern als Eigentum hinterlassen. Sie vererbte sich von Geschlecht zu Geschlecht, und die Müller wurden wohlhabende Männer, die wie kleine Könige auf ihrem Besitz lebten. Bis dann wieder einmal ein Erdmann geboren wurde, dem das Müllerblut seines Urahnen kräftig in den Adern pulste. Er erlernte das Müllerhandwerk, und es war daher nur verständlich, daß er sich sein Erbe zunutze machte und im Mühlengrund eine neue Wassermühle erstehen ließ, weil die alte doch gar zu verwittert war. Ein junger Bursch noch, doch kraftvoll und arbeitsfroh, von rastlosem, unermüdlichem Eifer; seine Arbeit wurde ihm zum Segen, und die Wassermühle wurde größer von Jahr zu Jahr. Doch – >Wat dem eenen sin Uhl, is dem andrem sine Nachtigall, heißt es bei uns treffend. Und so war es auch hier. Denn was dem
Wassermüller Erfolg und Reichtum brachte, das brachte dem Windmüller Armut und Verdruß. Meines Vaters Angebot, ihm die Windmühle zu verkaufen, die wie ein störender Fleck inmitten seines Besitztums lag, da er noch Land jenseits des Mühlenberges zugekauft hatte, wies Gottlieb Frank hohnlachend zurück. War gerade entrüstet, als der Wassermüller ihm vorschlug, als Obermüller in seine Dienste zu treten. Mein Vater ließ den Mann gewähren, denn er konnte seine Verbitterung nur zu gut verstehen. Fünf weitere Jahre beharrte Gottlieb Frank auf seinem Starrsinn, dann wurde er mürbe. Nur ganz wenige Kunden hatte er noch behalten, und zwar solche, die schlechte Zahler waren und in der Wassermühle nicht gern gesehen wurden. Zwar hätten er und seine Frau von dem Land, das zur Mühle gehörte, leben können, zumal der einzige Sohn sich sein Brot schon selbst verdiente. Die Not war es also nicht, die ihn zermürbt hatte. Vielmehr war es der Kummer, daß seine geliebte Mühle nicht mehr klappern durfte, und das untätige Umhersitzen des früher so Rastlosen, Unermüdlichen. Und als mein Vater dann wieder mit dem Angebot, das er ihm schon vor fünf Jahren gemacht, an ihn herantrat, da stieß er auf keinen Widerstand mehr. Mein Vater ist jedoch ein gütiger, allzeit einsichtsvoller Mann gewesen, und es war ihm daher nicht wohl dabei, daß er gezwungen war, einen Druck auf einen Menschen auszuüben. Er erklärte daher dem verbitterten Mann, daß er ihm seine geliebte Mühle ja gar nicht nehmen wolle. Er könne sie in Gottes Namen behalten und auch so viel Land, wie dazu gehöre, um Futter für eine Kuh zu haben und Kartoffeln und Gemüse für den eigenen Bedarf darauf zu bauen. Nur das übrige Land möchte er ihm verkaufen, da er es nötig für neue Unternehmungen gebrauche. Aber da er genau wisse, daß Gottlieb Frank hinfort gezwungen sein würde, sehr genau zu rechnen, biete er ihm nochmals die Stellung eines Obermüllers in seinen Werken an. So griff Gottlieb Frank denn zu, trat in die Dienste meines Vaters, tat still und unverdrossen seine Pflicht – kannte aber gleichwohl keine größere Freude, als wenn er seine Windmühle bedienen durfte. Mahlte für die Armen und Ärmsten unentgeltlich das Getreide. Fünf Jahre später starb er, und sein Sohn Wilhelm, der
selbstverständlich ebenfalls das Müllerhandwerk erlernt hatte, erhielt den Posten seines Vaters. Sehr jung noch für dieses Amt, füllte er trotzdem den Platz voll aus, auf den man ihn gestellt. Und die alte Windmühle klapperte immer weiter, alles blieb wie in alten Zeiten und ist es geblieben bis auf den heutigen Tag.« »Dann verstehe ich aber den Jürgen nicht«, meinte Renate zögernd. »Warum ist er denn nicht Müller geworden wie Vater, Ahn und Urahn? Liebt er seine Mühle weniger als die?« »Nein, mein Kind«, erklärte der Vater entschieden. »Die Mühle ist dem Jürgen genauso heilig wie allen Franks. Er hat auch genau wie diese das Müllerhandwerk erlernt. Doch das allein genügte dem außergewöhnlich begabten Jungen nicht. Und zudem hatte Wilhelm Frank es sich in den Kopf gesetzt, sein einziger Sohn solle es im Leben einmal weiter bringen als er. Ingenieur sollte sein Jürgen werden. Der Beruf erschien dem alten Müller als der schönste und aussichtsreichste. Solange die guten Leutchen noch das kleine Vermögen besaßen, das der Verkauf ihres Ackers an meinen Vater ihnen gebracht, und das, was sie sich außerdem erarbeitet hatten, war der Plan Wilhelm Franks auch keineswegs unvernünftig. Allein er ließ auch nicht von ihm, als die Inflation kam und das Geld verschlang. Führte mit seiner Frau zusammen ein entbehrungsreiches Leben, um dem Sohn das Studium zu ermöglichen. Jürgen ahnte nichts davon. Als er jedoch dahinterkam, wie sehr die beiden Alten seinetwegen, darbten, da nahm er von Stund an kein Geld mehr und verdiente es sich zum Studium selbst.« Vater und Tochter hatten nun den Mühlengrund erreicht und schritten die breite Straße entlang, zu deren Seiten schmucke, saubere Häuschen standen. Es waren die Heime der Arbeiter und Angestellten der Mühlenwerke; sie machten, inmitten von Gärten, einen recht freundlichen Eindruck. Dazwischen lagen noch einige zweistöckige Gebäude, die je vier Wohnungen enthielten. Und weiter seitwärts, wo die Romantik des eigentlichen Mühlengrundes begann, erhob sich das Herrenhaus. Ein Schloß fast konnte man es nennen, so stolz stand der langgestreckte Bau mit seinem Turm, seinen Altanen und Terrassen da. Schneeweiß schimmerte er durch die Bäume des Parkes. Von der anderen Seite des Parkes führte eine breite Steintreppe
stufenförmig abfallend zu dem alten Mühlengrund hin, dem die Besitzer absichtlich die ursprüngliche Wildheit gelassen hatten und den manche Sage um wob. Schwärmerische Seelen wollten zu bestimmten Nachtstunden die Klagen des unglücklichen Knaben vernommen haben, der um das zerbrochene Ringlein weint, während ängstliche Gemüter die Seele des verstorbenen Sonderlings, die nach ihrer Ansicht keine Ruhe finden konnte, seufzen und stöhnen zu hören meinten. Das alte Mühlrad stand noch genauso da, wie zu des alten Sonderlings Zeiten, war längst morsch und mit Moos bewachsen und wurde auf Geheiß Herrn Erdmanns immer wieder sorgfältig ausgebessert. Auch das Häuschen, in dem der menschenscheue Sonderling vor Zeiten gewohnt hatte, wurde in Ehren gehalten und gelegentlich gestützt. Das blonde Müllertöchterlein hatte sich ein allerliebstes Nestchen darin geschaffen, in dem es sich wundervoll träumen ließ. Erst einige hundert Meter weiter hatte der verstorbene Michael Erdmann das neue Wehr errichten lassen. Hier brauste das Wasser des Mühlbaches über die Schleusen und wälzte sich schäumend über die Turbinen. Herr Erdmann und Renate bogen von der Straße ab und kamen in den Bereich der Mühlenwerke. Vor dem Verwaltungsgebäude blieb der Herr des Ganzen stehen und zeigte nach zwei Fenstern, den einzigen, die in dem großen Gebäude erhellt waren. »Ich will mich nicht wundern, wenn der Norbert wieder Überstunden macht«, sagte er unwillig. »Wie oft schon habe ich dem Bengel das untersagt, doch er scheint meine Befehle ganz einfach nicht ernst zu nehmen.« Er betrat, von Renate gefolgt, das Gebäude, durchquerte einige Gänge und stand bald darauf in einem großen Zimmer, in dem ein junger Mann an einem Schreibtisch saß und eifrig schrieb. Als Herr Erdmann ihn anrief, schrak er auf und erhob sich. »Bleib sitzen, du Sünder«, sagte der Chef, als er nun das abgespannte Gesicht seines Angestellten sah, viel milder, als er gewollt hatte. »Habe ich dir nicht schon oft genug gesagt, Norbert, daß ich eine Arbeit nach Feierabend nicht dulde?« »Sehr wohl, Herr Erdmann«, gab der junge Mann ruhig zurück. »Wenn ich die mir übertragene Arbeit jedoch nicht schaffe…« »Dann kannst du sehr wohl den Schnabel aufmachen und es mir
sagen, jawohl, mein Lieber«, unterbrach der Chef ihn nun wieder unwilliger. »Aber dich kenne ich schon; du beißt dir eher die Zunge ab, als daß du mir ein vertrauendes Wort schenkst « Tief erblaßt, doch sehr ruhig verharrte der junge Mann und hielt den mißbilligenden Blicken seines Chefs tapfer stand. Bis der sich unwirsch abwandte, etwas wie »dummer störrischer Bengel« murmelte und mit Renate das Zimmer verließ. »Nicht mehr wiederzuerkennen ist der Junge, seitdem er aus Königsberg zurückgekehrt ist«, brummte er im Weiterschreiten. »Wird nie den Schnabel aufmachen und mehr reden, als geschäftlich unbedingt nötig ist. Obgleich ich doch schon deutlich genug durchblicken lasse, daß ich mehr in ihm zu sehen wünsche als einen Angestellten. Da hat man nun den Bengel aufwachsen sehen, freut sich darüber, daß er ein so begabter, brauchbarer Mensch geworden ist, möchte ihm die Wege ebnen, damit noch einmal etwas aus ihm werden kann, und stößt immer wieder auf schroffste Unzugänglichkeit. Da ist der Jürgen Frank doch ein anderer Kerl.« Renate hörte sich die unwilligen Worte des Vaters schweigend an. Sie wußte selbst am besten, wie sehr sich der Kindheitsgespiele verändert hatte. Heute jedoch blieb ihr keine Zeit, lange über das nachzudenken, was auch ihr unerklärlich erschien. Denn als sie einige Minuten später an des Vaters Seite das Herrenhaus betrat, war es allerhöchste Zeit, in Küche und Haus nach dem Rechten zu sehen. Herr Erdmann warf einen Blick auf die große Standuhr in der Halle des Hauses. »Höchste Zeit, daß wir uns in Wichs werfen, Maus«, meinte er schmunzelnd, »denn bald werden wir den verlorenen Sohn ans Herz drücken können. Ich werde also nach meinem Ankleidezimmer flüchten und mich schönmachen. Daß es mit dem Empfangsschmaus klappen wird, deswegen mache ich mir keine Sorge, weil sich ja mein Hausmütterchen Reni darum kümmern wird.« Er fuhr noch einmal liebkosend über die Wange seines Lieblings und eilte davon. Eine halbe Stunde später hielt er den ersehnten Pflegesohn in seinen Armen. Sah ihm voll Liebe in das hübsche, ein wenig müde Gesicht. »Grüß Gott, Junge, endlich habe ich dich hier. Und nun lasse ich dich so bald nicht wieder fort.«
»Tag, Vater, ich bleibe gern; denn nirgendwo kann es so schön sein wie zu Hause. – Ah, das ist ja auch das Schwesterlein. Bist in den paar Jahren, seitdem ich dich nicht gesehen, ordentlich hübsch geworden, Kleine!« »Willkommen zu Haus – lieber Benno!« Mit beiden Armen umfing sie den Bruder und schmiegte das Köpfchen an seine Brust. Freute sich – ach – so sehr, daß er wieder daheim war. Und Benno, der verwöhnte Erbe seines nachsichtigen, reichen Pflegevaters, der während mehrerer Jahre ein mehr als behagliches Nichtstuerleben geführt und die Frauen gründlich kennengelernt hatte, sah mit einem Gemisch von Verlegenheit und Hohn auf das flimmernde Köpfchen an seiner Brust nieder. Himmel, sie war ja ein recht empfindsames Gänschen, die kleine Schwester! So hätte ihn nur eine der Schönen, denen er draußen gehuldigt und denen er immer den Herrn gezeigt hatte, sehen sollen – bei dieser rührenden Familiensimpelei! »Nun, Schwesterlein, du umfängst mich ja so liebevoll wie einen Geliebten«, meinte er gönnerhaft. »Wenn ihr Mädchen nicht euern Gefühlsduseleien nachgeben könnt, dann ist euch nicht recht wohl.« Jetzt ruckte der Mädchenkopf hoch, und zwei Blauaugen sahen den Bruder vorwurfsvoll an. »Kannst du denn meine Freude nicht verstehen, Benno? Du bist doch mein einziger Bruder! Doch komm, laß dich anschauen. – Gut siehst du aus!« »Will ich meinen«, lächelte er geschmeichelt. »Ja, ja, Kleine – unsereins gibt den kleinen Mädchen schwere Rätsel auf.« »Warum auch nicht, du Schwerenöter«, schmunzelte der Vater. »Hast es dich ja auch einen guten Batzen kosten lassen, um die kleinen Mädchen gründlich kennenzulernen. Nein, nein, Junge – das soll durchaus kein Vorwurf sein«, winkte er ab, als sein Pflegesohn einen Schritt zurückwich und ihn befremdet ansah. »Ich habe das Geld gern gegeben. Wozu habe ich es denn, wenn es meinen Kindern nicht zugute kommen soll!« Sehr richtig, bekräftigte der Sohn im Innern. Hoffentlich handelst du auch so großzügig, wie du jetzt tust. »Nun, hopp, Benno, nach oben in deine Klause«, ermunterte der Vater. »Den hübschen Kerl aufgefrischt, und dann angetreten zum Empfangsschmaus, den dein Schwesterlein sicherlich zu einem Mahl für Götter gemacht hat.«
Er sah dem Sohn schmunzelnd nach, der jetzt die Treppe hinaufsprang, während der alte, im Hause ergraute Diener ihm das kleine Gepäck nachtrug. Renate entschuldigte sich bei dem Vater, da sie noch einmal rasch in die Küche wollte, um nachzusehen, ob auch alles mit dem Essen klappen würde, und der Hausherr schlenderte langsam dem Speisezimmer zu. Wie das ganze Haus, war auch dieses Zimmer gediegen, aber nicht prunkvoll eingerichtet. Die Möbel waren durchaus nicht der Neuzeit entsprechend, denn die verstorbene Hausfrau hatte sie vor siebenundzwanzig Jahren mit in die Ehe gebracht. Im ganzen Herrenhaus vom Mühlengrund sah man nichts von moderner Sachlichkeit. Trotzdem – oder gerade deshalb – strömten die hohen, lichten Räume eine gewisse Vornehmheit und Behaglichkeit aus. Vor das große Bild der Verstorbenen trat der Hausherr hin und sah mit wehen Blicken zu ihm auf. Genauso hatte sie ausgesehen, seine Elise, ganz genauso – so lieb, so gütig, so fein und zart. Wie der Schmerz ihn noch immer schüttelte, den er um seine verstorbene Gattin litt! Ein frischer, würziger Duft umschmeichelte ihn, und er sah lächelnd auf die Blumen nieder, die auf dem kleinen Tischchen unter dem fast lebensgroßen Bild stand. Renate, die kleine zärtliche Reni, sorgte immer dafür, daß das Tischchen nie leer war, daß immer Blumen darauf dufteten. Wie er das kleine Mädchen deswegen liebte, das gleich ihm tiefen Schmerz um die Heimgegangene trug! --Viel zu früh hatte seine Elise ihn allein gelassen. Wenige Tage nach der silbernen Hochzeit. Wie gut, daß er jetzt die Kinder hatte, diese Kinder, die er einst aus erbarmendem Mitleid ins ein Haus genommen. Als nämlich sein einziger Freund vor achtzehn Jahren mit seiner Frau zusammen auf tragische Weise ums Leben kam, sahen er und seine Elise, die beide schwer unter ihrer Kinderlosigkeit litten, es als einen Fingerzeig des Geschickes an, holten die Geschwister in ihr Haus und gaben ihnen alle Liebe, die sonst ihren eigenen Kindern zugute gekommen wäre. Mit einem schmerzlichen Seufzer trat er von dem Bild seiner Gattin zurück, denn er hörte die Geschwister kommen, und schon zog es wie Sonnenschein über sein eben noch so trauriges
Gesicht. Da traten sie schon Arm in Arm ein. Wie jedesmal beim Betreten des Zimmers ging Renates Blick zuerst zu dem Bild der Toten hin, es mit den Augen förmlich liebkosend, und ihre Lippen bewegten sich, als flüsterten sie einen leisen Gruß. Benno hatte keinen Blick für das Bild, sah es anscheinend gar nicht, was dem trauernden Mann sehr weh tat; denn solche Gleichgültigkeit hatte die Tote wirklich nicht verdient. Die harmlose, weltunkundige Renate fand ihren Bruder sehr interessant, vielleicht darum, weil sie noch nie die Gelegenheit gehabt hatte, eine wirklich bedeutende Persönlichkeit kennenzulernen. »Übrigens wird mich in den nächsten Wochen mein Freund, ein Herr Waldemar Kyd, dessen Vater ein großes Unternehmen im Rheinland sein eigen nennt, besuchen«, erzählte Benno wichtig. »Da nimm dein Herzchen nur fest in beide Hände, Reni, damit du es nicht verlierst. Denn der schöne Waldemar ist eine fabelhafte Persönlichkeit, dazu reich und unabhängig. Kannst dir was einbilden, Kleine, denn er hat sich auf den ersten Blick in dein Bild, das du mir vor nicht langer Zeit schicktest, verliebt.« »Junge, spiele um Himmels willen nicht Vorsehung«, wehrte der Vater lachend. »Ich bin von Herzen froh, daß mein Röslein hier im verborgenen blüht. Wir sind auf Freier gar nicht besonders erpicht, wie, mein Vögelchen?« »Ganz gewiß nicht, Väterchen«, stimmte Renate zu. »Dann müßte ich ja von hier fort, und wo kann es auf der Welt schöner sein als bei uns im Mühlengrund.« Sie hob die Tafel auf und schritt den Herren voraus in den kleinen lauschigen Salon. Der Hausherr ließ sich in einen tiefen Sessel, der schon immer sein Stammplatz gewesen, nieder und zündete sich eine Zigarre an. »Ach ja, Kinder, so ist es schön«, sagte er so recht aus tiefem Herzensgrund. »Und wenn mein Singvögelchen nun noch Musik macht, dann bin ich restlos zufrieden. Auf meine Abendmusik verzichte ich auch heute nicht, Renilein.« »Brauchst du auch nicht, Papichen«, entgegnete Renate zärtlich und schritt zum Flügel. Zuerst kam sein Lieblingswalzer. Dann folgten schlichte Liedchen und zuerst immer sein schönstes
und ihm liebstes: Dort unten in dem Mühlengrund sah ich zuerst mein Liebchen, es hat gar langes blondes Haar und in den Wangen Grübchen… Dabei dachte er an seine Elise, die er im Mühlengrund kennengelernt hatte. Er sang auch manchmal dazu, was Renate jedesmal zum Lachen reizte, weil der Vater so hingebend und doch so falsch sang. Auch heute ließ er seine kräftige Stimme zu dem Lied erschallen und sang falscher denn je. Renate lachte herzlich, und Benno lächelte geringschätzig, denn er fand das alles so spießig wie nur möglich. Wie sie da am Flügel saß, die feine weißgekleidete Gestalt, und traumverloren die Hände über die Tasten gleiten ließ! Donnerwetter, sie ist ja bildhübsch, die Kleine! dachte der Bruder immer wieder, das habe ich ja gar nicht gewußt. Mit einem Gefühl tiefster Befriedigung legte Benno sich in seinen Sessel zurück, denn ihm war soeben der sprichwörtlich gewordene schwere Stein vom Herzen gefallen. So recht hatte er nämlich nicht daran glauben wollen, daß der schöne, vielumschwärmte Waldemar Kyd sich in seine Schwester verlieben könnte, da Renate ihm, dem Bruder stets reichlich hausbacken vorgekommen war. Am nächsten Morgen ging der Vater mit dem Sohn durch die Mühlenwerke und zeigte ihm voller Stolz die Neuerungen, die während seiner Abwesenheit eingeführt worden waren. Überall, wohin man sah, wurde emsig gearbeitet und geschafft; Benno war dieser Fleiß von Herzen unbehaglich. Der gute Alte, dachte Benno mit bedauernder Geringschätzung. Da plagt er sich nun ab, tagaus, tagein, und ist sie stolz darauf, daß er selbst in dem entlegensten Winkel des großen Betriebes sozusagen zu Hause ist. Und dabei könnte er es doch viel bequemer haben. Wie dumm von ihm, sich die paar Jahre seines Lebens noch so zu schinden! Sollte er es lieber genießen, weite Reisen machen und erkennen lernen, wieviel Schönes und Erfreuliches die weite Welt einem Menschen zu bieten hat. Gewiß, der Betrieb war glänzend geleitet, das mußte man anerkennen. Überall tadellose Ordnung, strahlende Sauberkeit. Anders war es allerdings in den Versandräumen, da gab es genug weißbestaubte Gestalten, die so aussahen, wie man sich eben
einen Müller vorstellt. Nirgends jedoch gab es eine Stockung, das war Benno sofort aufgefallen, alles ging wie am Schnürchen. Obwohl Benno von seiner Klugheit und Gewandtheit in tiefster Seele überzeugt war und sich einbildete, es könnte einfach keinen Menschen geben, der sich seinem Einfluß zu entziehen vermochte, so war er dennoch nicht dumm genug, um anzunehmen, daß er den Vater nun gleich um den Finger wickeln könnte. So gut und nachsichtig dieser auch war, so gab es immerhin gewisse Grenzen, über die niemand, der mit ihm zu tun hatte, sich hinauswagen durfte. Mithin hielt Benno zunächst größte Vorsicht für geboten. Man durfte vorderhand nur tastend die Fühler ausstrecken. Schließlich mußte doch alles klappen. Der Alte war vertrauensselig. Somit konnte es einem Kerl wie ihm unmöglich schwerfallen, den Herrn der großen Mühlenwerke an der Nase herumzuführen. Ob die Besichtigung denn gar kein Ende nahm? Eben betraten die Herren den Saal, in dem der alte Frank arbeitete. Er grüßte höflich, ließ sich jedoch nicht in seiner Arbeit stören. Das empörte Benno, denn er verlangte als Juniorchef, wie der Vater ihn überall vorgestellt hatte, unterwürfige Höflichkeit. Der selbstherrliche Benno bildete sich ein, man müsse ihm wie einem Halbgott huldigen, und war sehr enttäuscht, daß die Leute ihn kaum zu sehen schienen. Nun trat er zu dem alten Müller und schlug ihm auf die Schulter. »Na, Frank, immer noch so fleißig bei der Arbeit?« fragte er von oben herab. »Sind Sie nicht schon zu alt für diesen Posten, mein Lieber?« »Solange der Mensch seine Pflicht zu tun vermag, ist er zum Arbeiten nie zu alt, Herr Nieritz«, entgegnete der alte Frank gelassen und drehte seinem Juniorchef in aller Gemütsruhe den Rücken zu. Die Herren gingen weiter. Wilhelm Frank sah ihnen mit einem seltsamen Blick nach. Ganz zuletzt betraten Vater und Sohn die Buchhaltung, in der ungefähr zwölf Menschen beschäftigt waren. Er stellte auch hier Benno als Juniorchef vor und sagte dann, sich an ihn selbst wendend: »Hier kannst du dich besonders betätigen mein Junge, denn die
Arbeit wächst den braven Leutchen hier über den Kopf, zumal der Geschäftsführer erkrankt ist. Doch zuerst will ich dich bekannt machen.« Als sie das Verwaltungsgebäude verließen und langsam dem Herrenhaus zugingen, erinnerte der Vater den Sohn an dessen alte Kinderfreundschaft mit Norbert Haller, doch Benno zuckte die Achseln. »Kinderfreundschaften verpflichten doch zu nichts, Vater. Ich bin mit Norbert Haller eben ganz auseinandergekommen und habe längst jeden Zusammenhang mit ihm verloren.« Norbert Haller eilte dem kleinen Heim zu, das er in einem der zweistöckigen Häuser im Mühlengrunde mit seiner Mutter bewohnte. Er schloß die Korridortür auf und ging nach der Küche, wo er um diese Zeit die Mutter zu finden pflegte. Sie stand am Herd, hochrot und verärgert, wie sie es fast immer war, wenn sie Arbeit hatte. Und heute hatte sie Wäsche. »Guten Tag, Mama!« * »Guten Tag, Norbert. Geh nur schon ins Zimmer, ich komme sofort nach, habe mich mit dem Essen verspätet. Wie soll ich das alles nur allein schaffen, ich habe doch auch nur zwei Hände.« »Kann ich dir irgendwie behilflich sein, Mama?« »Danke, laß nur, du hältst mich mehr auf, als daß du mir nützest«, murrte sie und hantierte am Herd, den Sohn nicht mehr beachtend. Da wandte Norbert sich ab und suchte das Wohnzimmer auf; die beiden anderen Zimmer dienten ihm und seiner Mutter als Schlafräume. Dann war noch ein Kämmerlein vorhanden, das unbenutzt war, eine Küche und ein kleiner Korridor; das war die Wohnung. Norbert ließ sich müde in den abgenutzten Lehnstuhl fallen, der am Fenster stand. Wenn ich nur irgendwie Abhilfe schaffen könnte, damit die Mutter es leichter hat, dachte er gequält; denn was andere Frauen mit Leichtigkeit erledigen, das ist für die Mama schon schwere Arbeit und Plage. Wie friedlich und zufrieden könnte man hier in dem kleinen Heim leben, wenn sie anders wäre, wenn sie nicht ewig über das schelten und jammern würde, was nun einmal nicht zu ändern ist!
Aber die Mama war niemals zufrieden gewesen, auch damals nicht, als der Vater noch als gut bezahlter Geschäftsführer in den Mühlenwerken arbeitete. Der plötzliche Tod Hallers – ein Gehirnschlag hatte sein in letzter Zeit nur mit Widerwillen ertragenes Leben geendet – war für die eigensüchtige, verblendete Frau ein herber Schlag gewesen. Und was sie in ihrem bisherigen Leben gefehlt, das mußte sie nun doppelt büßen. Die Dienstwohnung mußte geräumt werden, denn der Nachfolger Herrn Hallers wollte einziehen. Ihr blieb nur so viel von ihrem schönen Heim, daß sie sich mit den einfachsten Sachen, die früher unbeachtet auf dem Boden herumgestanden hatten, gerade noch eine kleine Wohnung einrichten konnte. Völlig mittellos stand sie nun da, und es wäre ihr schlimm ergangen, wenn der gutherzige Herr Erdmann nicht geholfen hätte. Besonders viel hatte er für die Frau nicht gerade übrig. So überließ er ihr eine bescheidene Wohnung in einem der zweistöckigen Häuser und zahlte ihr eine kleine Rente. Viel war es nicht, es reichte eben nur dazu hin, sich über Wasser zu halten. Ihre junge, noch nicht erwachsene Tochter hatte eine Schwester des Verstorbenen, damals mit sich nach Berlin genommen. Norbert hatte ein Jahr vor dem Tod des Vaters sein Abitur gemacht und war danach als Lehrling in ein Bankgeschäft eingetreten. Nun stand auch er ratlos da, denn das Geld für seine banktechnische Ausbildung konnte nach dem Zusammenbruch der häuslichen Verhältnisse nicht weitergezahlt werden. Auch hier war es Herr Erdmann, der sich erbot, die Kosten zu tragen. Norbert wollte das durchaus nicht annehmen, und erst als der gütige Mann ihm erklärte, daß er später, wenn er selbst verdiene, alles vorgestreckte Geld auf Heller und Pfennig zurückzahlen könne, nahm er schweren Herzens das großmütige Anerbieten an. Nach dreijähriger Lehrzeit wurde Norbert als Buchhalter bei der Bank angestellt. Sofort bat er Herrn Erdmann, weitere Zuschüsse einzustellen. Norbert schrak aus seinen Gedanken auf, denn soeben betrat die Mutter das Zimmer. Sie deckte den Tisch und trug das
Mittagessen auf. Schweigend löffelte sie ihre Kartoffelsuppe, und immer wieder streifte Norberts Blick über ihr müdes, verhärmtes Gesicht. Norbert ergriff über den Tisch ihre Hand und streichelte sie. »Mußt nicht immer so mutlos sein, Mama«, bat er leise, »das Schlimmste hast du nun bald überstanden. In einigen Wochen ist Rosmarie hier, dann wirst du es leichter haben. Sie wird dir dann im Haushalt helfen und sicherlich auch von ihrem Verdienst etwas beisteuern.« »Hat Nieritz sich schon in den Werken sehen lassen?« fragte die Mutter, indem sie das Geschirr zusammensetzte, um in die Küche zu tragen. »Ja.« »Hat er sich sehr verändert?« »Eigentlich nicht. Er ist so geworden, wie er als Knabe zu werden versprach.« »Also sehr selbstherrlich und eingebildet.« In dem Herrenhaus vom Mühlengrund herrschte große Aufregung, denn der Freund Bennos wurde erwartet. Und da Benno schon sehr viel von dem schönen Waldemar erzählt hatte, war man außerordentlich neugierig auf diesen Gast. Renate stand in ihrem entzückenden kleinen Ankleidezimmer vor dem Spiegel und streifte ein Kleid über, von dem sie genau wußte, wie gut es ihr stand. »Mädelchen, du wirst von Tag zu Tag hübscher«, schmunzelte der Vater, als sie die Diele betrat, in der er mit Benno saß und auf den Gast wartete. Auch Benno nickte sehr zufrieden vor sich hin. Wenn Waldemar sich für diese Art von Schönheit begeistern konnte, dann mußte er sich Hals über Kopf in die ganz entzückende Kleine verlieben. Und der Freund tat ihm sofort den Gefallen und verliebte sich sozusagen auf den ersten Hieb in das reizende Müllerstöchterlein. Tat es in dem Augenblick, als Renate ihn mit ihren großen Unschuldsaugen anstrahlte und ihn mit ihrer süßen, jungen Stimme herzlich willkommen hieß. »Gnädiges Fräulein, ich habe durch Benno schon sehr viel von Ihnen gehört…« »Ich von Ihnen auch«, lachte sie ihn an, und in ihren groß aufgeschlagenen Augen konnte er lesen, wie gut er ihr gefiel. Nun war er hier. Der erste Schritt war mithin getan.
Die Kleine gefiel ihm sehr gut, außerordentlich gut sogar. Wenn alles so verlief, wie er es wünschte, dann konnte er schon nach kurzer Zeit seinem Vater das ersehnte Töchterlein in die weit geöffneten Arme legen. Außerdem gefiel es ihm hier sehr. Dieses Haus war einfach fabelhaft, war sogar noch schöner als Waldemars Elternhaus, auf das er sehr stolz war. Immer mehr nahm die Traulichkeit dieses Heims Waldemar gefangen; stets aufs neue stellte er fest, daß es hier urgemütlich war. Wie gut die Speisen waren und wie auserlesen die Weine! Und alles – und überhaupt – einfach zum Sichwohlfühlen schön! »Gnädiges Fräulein, ich irre wohl kaum, wenn ich annehme, daß Sie die kleine Zauberin sind, die dieses Göttermahl zubereitet hat?« wandte sich Waldemar an Renate, und sie lachte. »Selbst zubereitet ist zuviel gesagt, denn an den Herd brauche ich mich nicht gerade zu stellen, was ich übrigens sehr gern täte, wenn es sein müßte. Aber hier bei uns herrscht in der Küche unser gutes Malchen, das sich beileibe nicht in seinen Kram hineinreden läßt.« Er hob ihr sein Glas entgegen und sah ihr mit einem Blick in die Augen, unter dem sie ihren Kopf errötend zur Seite wandte. »Und darf ich wissen, woher gnädiges Fräulein die beglückenden wirtschaftlichen Kenntnisse haben?« fragte er schmeichelnd. »Ich war zwei Jahre in einem Töchterheim.« »Na, prost, Kinder«, fiel die Stimme des Hausherrn in die Stille hinein. Etwas bebend zwar, doch sonst so munter wie gewöhnlich. Alle atmeten auf, alle hoben ihre Gläser dem gütigen Mann entgegen, der seinen eigenen Schmerz hinunterwürgte und die anderen aufzuheitern versuchte. Renate hob alsbald die Tafel auf, und auch heute war alles so wie sonst. Man begab sich in den kleinen Salon, der Hausherr schmiegte sich behaglich in seinen Sessel, hatte die übliche Flasche Wein vor sich und bat sein Singvögelchen, wie er Renate nannte, um Lied und Spiel. Die beiden jungen Herren suchten gleichfalls irgendeinen Sitz, tranken ihren Mokka und rauchten dazu, während Renate zum Flügel schritt. Dort wandte sie sich höflich an den Gast mit der Frage, ob er wegen der Musik besondere Wünsche habe. Als er
verneinte, spielte sie wie immer zuerst den Lieblingswalzer des Vaters und sang dann die gewohnten Liedchen. Als er beim Gutenachtwünschen Renates Hand an die Lippen zog, stand es bei ihm bombenfest, daß sie und keine andere seine Frau werden müsse. Und Renate? Sie stand in dem Ankleidezimmer vor dem Spiegel und nahm die Kette vom Hals, die von dem Mütterlein herstammte und die sie deshalb ganz besonders in Ehren hielt. Das also ist Waldemar Kyd, dachte sie verträumt. Sie beendete dann schnell ihre Nachttoilette, legte sich in das mollige Bett. Mit was für Gedanken ich mich unnötigerweise quäle, dachte sie unwillig, indem sie die seidene Decke um den sich wohlig dehnenden Körper zog. Einige Türen weiter hatte der Bruder sein Zimmer. Auch er lag schon im Bett, doch er schlief noch nicht, rauchte eine Zigarette und sah nachdenklich vor sich hin. An der Tür klopfte es. »Herein!« Er richtete sich im Bett auf und sah seinem Freund entgegen, der das Zimmer betrat. »Ich kann noch nicht schlafen, Benno. Darf ich noch zu einem kleinen Plausch hier bleiben?« »Bitte sehr, mein Verehrtester. Suche dir einen behaglichen Sitz und schieß los, ich bin ganz Ohr. Nehme an, dein Herz wird übervoll sein. Na und wes des Herz voll ist, des läuft der Mund eben über.« Der D-Zug Berlin-Eydtkuhnen stand in der Halle des Königsberger Bahnhofes. An dem offenen Fenster eines Abteils dritter Klasse stand ein junges Mädchen und sah mit frohen Blicken auf das bunte Treiben. Ein weißes Mützchen saß keck auf einem rosigen Öhrchen, ihr Mantel war nicht aus dem ersten Modesalon, aber trotzdem nett und fesch – kurz und gut: es war eine kleine Schönheit, die dort stand. Jetzt blickte sie nach einem Herrn, der mit Riesenschritten heranstürmte, denn es fehlten nur noch wenige Minuten bis zum Abgang des Zuges. Mit dessen langen Beinen könnte ich nicht Schritt halten, dachte
das Mädchen. Und wie groß er ist – bestimmt einen Kopf größer als alles Volk, er überragt tatsächlich alle, an denen er vorüberhastet. Nun war er am Zug, spähte die Wagenreihen entlang – und da zuckte das Mädchen zusammen. »Jürgen!« rief es dem Vorübereilenden nach. »Jürgen Frank!« Er hemmte den Schritt, wandte sich herum – stutzte. Und eilte dann mit schnellen Schritten wieder zurück. »Einsteigen!« erklang der laute Ruf des Bahnhofvorstehers. »Schnell, Herr Frank, ich öffne Ihnen die Tür!« rief das junge Mädchen dem wie erstarrt Dastehenden zu, streckte ihm beide Hände entgegen und zog ihn zu sich herein, während der Zug sich schon in Bewegung setzte. »Das war Rettung im letzten Augenblick«, lachte sie ihn an. »Kennen Sie mich überhaupt, Herr Frank?« »Ja, wie ist das denn möglich?« schüttelte er immer noch verwundert den Kopf. »Sie sind Fräulein Haller – die kleine Rosmarie! Ja, warum sind Sie denn so groß geworden?« »Na, hören Sie mal!« lachte sie hellauf. »Ich konnte schließlich doch nicht immer das kleine Gör bleiben, als das Sie mich in Erinnerung haben, mußte mich doch einmal zu einem fertigen Menschen aus wachsen. Sie sind in den sechs Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben, auch nicht eben weniger geworden! Sie verfügen ja über geradezu unheimliche Ausmaße.« »Also trösten wir uns, mein Fräulein – aus Kindern werden eben Leute.« »Dann sind wir uns ja einig«, meinte sie vergnügt. »Kommen Sie in mein Abteil, ich fahre nämlich ganz vornehm, habe ein Abteil für mich allein! Ich muß mich erst mal eine Weile setzen, um mich von der Überraschung dieses Wiedersehens zu erholen.« Sie zog ihn mit sich, und dann saßen sie sich in einem Abteil, in dem sie tatsächlich die einzigen Fahrgäste waren, gegenüber. Er sah sie unentwegt an, und der Blick seiner kristallklaren Augen verwirrte sie. »Erzählen Sie, Herr Frank, woher kommen Sie so plötzlich?« fragte sie hastig, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Er fuhr wie aus tiefem Sinnen auf, und ein Schatten huschte über sein eben noch so strahlendes Gesicht. Rosmarie konnte sich nicht erklären, warum – er um so mehr. Herr Frank…
Die formelle Anrede aus diesem Mund tat weh. Na, Schwamm drüber, sie waren beide keine Kinder mehr, und er durfte nicht empfindlich sein. Er raffte sich auf und lachte sie an. »Dieselbe Frage möchte ich an Sie richten, Fräulein Haller – oder muß ich gnädiges Fräulein sagen?« Sie errötete heftig, denn seine Frage hatte sehr eigen geklungen. Sie tat jedoch, als habe sie sie überhört. »Ich komme aus Berlin.« »Und ich aus Hamburg.« »Ich fahre nach Hause.« »Und ich auch.« Nun mußten sie beide lachen, doch Rosmarie wurde gleich wieder verlegen, denn der strahlende Blick des jungen Mannes verwirrte sie immer mehr. »Wissen Sie auch, daß Sie schön sind, Fräulein Haller, wunderschön?« fragte er unvermittelt, und nun war das feine Mädchengesicht wie in Glut getaucht. »Sind Sie immer so aufrichtig, Herr Frank – oder soll das gar eine Schmeichelei sein?« »Um Himmels willen!« wehrte er entsetzt ab. »Liebe Kleine, wo denken Sie hin! Ich und Schmeicheleien sagen! Sehen Sie mich bitte an, und dann wiederholen Sie das Wort.« Sie kam seiner Aufforderung nach und sah ihn lange aufmerksam an – bis sie dann doch den Kopf zur Seite wenden mußte unter seinen bewundernden Blicken. Sie zwang sich zu einem harmlosen Lachen. »Sie haben recht, Schmeicheleien würden ganz und gar nicht zu Ihnen passen.« »Na also«, bemerkte er befriedigt. »Und nun seien Sie mal nett und erzählen Sie mir, warum Sie gerade heute nach Hause fahren.« »Warum gerade heute? Weil morgen das fünfzigjährige Bestehen der Erdmannschen Mühlenwerke gefeiert wird und ich diese Feier gern mitmachen möchte.« »Fahren Sie wieder nach Berlin zurück?« »Nein, ich bleib zu Hause – für immer, Gott sei Dank! Meine Tante, die mich erzog, ist tot. Die drei Lehrjahre in einer Lichtbildanstalt sind auch herum, und ich habe mich in unserem Heimatstädtchen bei dem Fotografen Bott als Gehilfin verpflichtet. Wie ich mich darüber freue, das weiß nur ich allein.
Sechs Jahre von der Heimat fort – von Mutter und Bruder, überhaupt von allem, was dreizehn Kinderjahre hindurch mein Glück ausmachte, das tut weh, Jürgen Frank – sehr, sehr weh.« Die letzten Worte waren nur geflüstert. Sie senkte das Köpfchen mit dem schimmernden Gelock, von dem das Mützchen herabgefallen war, tief, ganz tief – um die Tränen nicht sehen zu lassen, die ihr in die Augen schossen. Daher merkte sie nicht, wie mitleidig der Mann sie ansah, wie zärtlich, wie liebevoll seine Augen auf ihr ruhten. Er streckte seine Hand aus. »Rosmarie!« Ohne den Blick zu heben, legte sie ihre Hand in die seine: Eine kleine, sehr feine Hand, die in seiner harten Arbeitsfaust vollkommen verschwand. Er lächelte und sah auf das feine Händchen nieder, das noch immer in seiner harten Arbeitsfaust lag. Sie sah den Blick, errötete jäh und zog die Hand hastig zurück. Sie machte sich an ihrer Handtasche zu schaffen. Er aber ließ keinen Blick von dem schimmernden Köpfchen. Jetzt hielt der Zug. Rosmarie legte ihre Tasche zur Seite, erhob sich und schritt zum Gang. »Ob ich hier etwas Trinkbares bekommen kann?« fragte sie zögernd und wandte sich zu Jürgen um, der dicht hinter ihr stand – so dicht, daß sein Atem über ihren Kopf hinwegstreifte. Himmel, sie reichte diesem Riesen nur knapp bis zur Schulter! Und sie bildete sich doch immer ein, größer zu sein als die meisten Mädchen. Sie sagte ihm das, und er lachte. »Püppchen«, flüsterte er zärtlich, eilte den Gang entlang und war gleich darauf ihren Augen entschwunden. Rosmarie trat an das Fenster, und da sah sie ihn wieder. Er stand vor einer Erfrischungsbude und reichte dem bedienenden Mädchen eine Feldflasche zum Füllen hin. Jetzt reichte das Fräulein ihm die Flasche, und er eilte mit langen Sätzen zum Zug zurück. Unterwegs stieß er mit einem Herrn zusammen. »Hoppla, hoppla, junger Mann – man immer sachte mit den jungen Pferdchen! Meine Hühneraugen sind gar zu empfindliche Dingerchen.« Jürgen sah nicht auf und wollte mit einer höflichen Entschuldigung weiter, als er seinen Arm umfaßt fühlte. »Potztausend, wenn das nicht der Jürgen Frank ist?!«
Jetzt hob Jürgen den Blick – stutzte und lachte dann über das ganze Gesicht. »Herr Erdmann!« rief er erfreut. »Ja, Kerlchen, selbstverständlich! Da lasse ich schon ganz gern meine Hühneraugen mißhandeln, wenn ich dich so vor mir sehen darf, so frisch, so froh, daß einem das Herz im Leibe lacht. Doch zuerst mal guten Tag, Jürgen – muß ich etwa Sie sagen?« »Einen Augenblick.« Bevor Jürgen die Hand, die sich ihm so herzlich bot, ergreifen konnte, mußte er die seinen erst frei bekommen. Er stopfte alles in die Tasche, wobei er energisch den Kopf schüttelte. »Ich bleibe für Sie der Jürgen, Herr Erdmann.« Dann ergriff er endlich die ihm dargebotene Hand und schüttelte sie, daß Erdmann schmerzlich das Gesicht verzog. »Donnerwetter, Junge, hast du eine Faust – unter die möchte ich nicht einmal geraten! Und deine spätere Frau? Na, ich danke!« »Wird nur an hohen Fest- und Feiertagen angefaßt«, lachte Jürgen. »Wer dir das glaubt, du Draufgänger«, schmunzelte Erdmann. »Kannst du nicht einen Zug überspringen? Ich habe hier eine Kleinigkeit zu erledigen und fahre dann nach dem Mühlengrund zurück.« »Leider kann ich das nicht, Herr Erdmann, meine Eltern erwarten mich schon seit gestern. So muß ich denn eilen, denn der Mann mit der roten Mütze hebt erbarmungslos seinen Stab.« Sie schüttelten sich die Hände, Jürgen sauste davon, und Erdmann sah ihm schmunzelnd nach. Jürgen kam zum zweitenmal heute nur noch gerade zurecht, denn der Zug hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt, als er auf das Trittbrett sprang und Rosmarie ihm hilfreich die Hand entgegenstreckte. »Habe ausgerechnet auf diesem winzigen Bahnhof Herrn Erdmann getroffen«, lachte er sie an. »Doch nun kommen Sie, Kleinchen, damit Sie endlich Ihren Durst stillen können.« Rosmarie schaute sinnend zum Fenster hinaus, und die Erinnerung an ihre Jugend wurde wach. Sie sah sich als Kind – verzogen und verhätschelt von allen, die um sie waren. Ihr Beschützer war Jürgen, während Norbert die kleine Renate vergötterte. Er tat ihr jeden Willen und konnte es ja auch, denn die süße Reni hatte niemals unvernünftige Wünsche, was man von Rosmarie gerade nicht behaupten konnte. Sie war
ein kleines Trotzteufelchen und wollte hauptsächlich Jürgen unterjochen. Aber wenn der sich das nicht gefallen ließ, dann war sie höchst empört, zürnte ihm und wollte tagelang nichts von ihm wissen. Rosmarie lächelte, als sie an alles das dachte, und sah nun wieder zu Jürgen hin, dessen Augen listig funkelten. »Sie waren ja so versunken, Fräulein Haller – dachten Sie etwa an unsere Kinderkriege?« »Ja.« »Ich ebenfalls. Sind Sie immer noch ein so entzückendes Böckchen, in dessen Nähe es manchmal geradezu lebensgefährlich war?« »In dem Maße wohl nicht mehr«, lachte sie, während ihr dunkle Röte bis in die Stirn kroch. »Man hat mir in Berlin den Bock gehörig ausgetrieben, Herr Frank. Nicht mit Schlägen, nicht mit Schelten – mit Nichtachtung. Und die zu ertragen, ist vieltausendmal schlimmer als die kräftigsten Hiebe. – Doch wie ich sehe, nähern wir uns schon dem Bahnhof unseres Heimatstädtchens.« Das gleiche stellte auch Jürgen fest, sprang auf, suchte sein Gepäck zusammen und legte das ihre daneben. Dann hielt auch schon der Zug. »Ich habe nicht geschrieben, daß ich heute schon ankäme; ich wollte die Mama und Norbert überraschen.« »Das ist famos. Meine Eltern wissen nämlich auch nicht, wann ich eintreffe. Erwarten werden sie mich wohl zu jeder Stunde, doch den genauen Zeitpunkt kennen sie nicht.« Sie verließen den Zug und schritten über den Bahnsteig durch die Sperre. Jürgen und Rosmarie gingen durch die Straßen der Stadt. Vor jedem größeren Schaufenster blieben sie stehen, staunten alles an – sie, die doch aus Großstädten kamen. Aber dieses kleine Städtchen war eben etwas Besonderes, es war ihr Heimatstädtchen, nach dem beide sich längst gesehnt hatten. Zehn Minuten gingen Jürgen und Rosmarie schweigend nebeneinander her. Sie mochten nicht mehr sprechen, denn je mehr sie sich ihrem Zuhause näherten, um so erregter wurden sie. Hemmten dann schließlich den Schritt – denn vor ihnen auf der Anhöhe reckte sich die Windmühle empor.
Jürgen Frank verharrte unbeweglich. Die Augen wurden ihm feucht. Rosmarie stand neben ihm und wagte nicht, sich zu rühren und ihn in seiner Andacht zu stören. Jürgen wandte sich ihr langsam zu. Seine Augen leuchteten und strahlten. »Rosmarie – ist es nicht schön, wunderschön, ein solches Nachhausekommen?!« jauchzte er. Und mit einem Jauchzen, das ihm aus tiefstem Herzen kam, stürmte er den Mühlberg hinan und umfing einige Minuten später mit beiden Armen sein Mütterlein. Rosmarie folgte ihm nicht. Ganz still ging sie weiter, dem Tal zu. Sie wollte nicht bei diesem Wiedersehen stören. Und auch sie wollte nach Hause. Plötzlich war es ihr, als drücke eine harte Faust ihr das Herz zusammen. Ihre Mama – sie war doch so ganz anders als Mutter Frank. Wird sie mich auch so willkommen heißen wie Mutter Frank ihren »Jung«? dachte sie beklommen. Rosmarie ging hastig weiter. Der Mühlengrund war auch nicht mehr so, wie sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Vieles war hier neu und fremd. Und wer war der Mann, der ihr auf dem Fußsteig entgegenkam? »Norbert!«jubelte Rosmarie auf und hatte im Nu alles vergessen, was sie eben so seltsam bewegt. Schon hing sie am Hals des Überraschten, der sie fest in die Arme schloß. »Rosmarie – mein Schwesterchen.« Nun hob sie den Kopf, und die Geschwister sahen sich in die Augen – lange, forschend. Dann leuchtete es in Norberts Augen auf, er zog die Schwester wieder an sich. »Rosmarie – also du bist doch wiedergekommen.« »Mit solchen Gedanken hast du dich geplagt, du lieber, dummer Bruder?« sagte sie zärtlich. »Doch komm, gehen wir nun zur Mama.« Jetzt glitt ein Schatten über Norberts eben noch so strählendes Gesicht. Es wollte ihm schwer über die Lippen, was doch gesagt werden mußte. »Rosmarie«, begann er stockend, »die Mama ist sehr verbittert. Sie hat dich lieb, sehr lieb sogar, mein Kleines, das darfst du
nicht vergessen, wenn es manchmal auch anders aussehen sollte. Du hast mich doch verstanden, Rosmarie?« O ja, sie hatte verstanden – nur zu gut verstanden, und ein paar Tränen rollten über ihre Wangen. Nun wußte sie, daß es für sie kein so glückseliges Nachhausekommen geben konnte wie für Jürgen Frank. Doch sie hatte ja Norbert, ihren großen Bruder. Sie schritten Arm in Arm weiter. Dorthin, wo in einer breiten Straße unter anderen Häuschen ein schmuckes, zweistöckiges Gebäude stand. Die Geschwister schritten durch ein Vorgärtchen und stiegen die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Schon im Treppenhaus hörte Rosmarie der Mutter scheltende Stimme. Rosmarie stand niedergeschlagen und still da. »Komm, Rosmarie, alles hört sich von fern schlimmer an, als es in Wirklichkeit ist«, tröstete er sie. »Die Mama meint es gar nicht so böse, nach Minuten bereut sie ihre Heftigkeit bereits wieder.« Norbert drückte auf die Türklingel. Sofort wurde es drinnen still. Dann wurde die Tür geöffnet, und es klang ein ärgerliches: »Andermal kannst du auch den Schlüssel mitnehmen, Norbert!« Dann hatte Frau Haller Rosmarie entdeckt, stutzte – und öffnete die Arme weit. »Rosmarie – mein Kind!« »Laß dich mal erst richtig ansehen, Liebchen.« Sie schob das Mädchen mit den Armen von sich und betrachtete es sehr eingehend. »Du bist die Schönheit geworden, die ich bei meiner Tochter zu sehen erwartet habe«, stellte sie befriedigt fest. Schon war sie hinaus. Norbert nahm Rosmarie Mantel und Mütze ab, legte beides auf den nächsten Stuhl und zog die Schwester in die Arme. »Willkommen, Schwesterchen, zu Hause«, sagte er zärtlich. »Mußt du die Mama eben nehmen, wie sie ist. Mußt nie vergessen, daß sie seit Vaters Heimgang nicht eben auf Rosen gebettet war. Wir leben sehr karg, es reicht oft kaum zum Notwendigsten.« Weiter konnten die Geschwister nicht miteinander sprechen, denn die Mutter kam zurück. »Ich habe das Kaffeewasser bereits aufgesetzt«, berichtete sie
aufgeräumt. »Else holt Kuchen, und dann werden wir die Ankunft unseres Töchterleins ein wenig festlich begehen. Warum hast du dich nicht angemeldet, mein Mädelchen? Ich erwartete dich erst morgen.« »Ursprünglich wollte ich auch erst morgen kommen. Dann besann ich mich jedoch darauf, daß am ersten Oktober das fünfzigjährige Bestehen der Mühlenwerke gefeiert wird. Darum habe ich mich schon einen Tag früher freigemacht, um mitfeiern zu können.« »Daran hast du recht getan, mein Kind.« Wieder ging sie hinaus; die Geschwister waren still. Bis Rosmarie endlich sagte: »Die Mama ist alt geworden, Norbert.« »Das ist sie, Kleines, und ihre Nerven sind verbraucht. Sie tut mir leid, und ich habe mir von deiner Heimkehr viel für sie versprochen, Schwesterchen.« »Ich werde selbstverständlich alles tun, was ich kann, Norbert.« »So vergingen die Jahre. Nun, ich beklage mich deshalb nicht, es ist mir recht gut bekommen. Was ich bisher an Vergnügungen versäumt habe, das läßt sich nachholen, ich bin ja noch so jung.« In dem Versandhaus der Erdmannschen Mühlenwerke herrschte reges Leben und Treiben. Fleißige Hände hatten hier einige Räume blitzblank gescheuert und alsdann ausgeschmückt; denn heute sollte ein Fest stattfinden, auf das sich jung und alt in .den Mühlenwerken freute. Man hatte diese Räume zum Feiern ausersehen, weil sie groß waren. In dem Mühlengrunder Herrenhaus hätten die erwarteten Gäste nicht Platz gehabt, denn zu dem Freudenfest kamen die Mühlengrunder Einwohner sozusagen mit Kind und Kegel. Fünfzig Jahre waren es nun her, seitdem der Vater Herrn Erdmanns mit seiner Wassermühle den Grundstock zu den heutigen Mühlenwerken gelegt hatte. Der größte Raum war zum Tanzsaal bestimmt, und der blitzblank gebohnerte Fußboden sah verlockend genug aus. Einige kleinere Zimmer waren mit Tischen bestellt und dazu ausersehen, weniger tanzlustigen Leutchen als gemütlicher Aufenthalt zu dienen. In einem dieser Räume saßen Benno und Waldemar. Man hatte sie dahin verwiesen, weil, wie Renate lachend behauptete, sie überall störten. Beide waren bereits im Smoking, denn der Frack war heute nicht
angebracht. Während Benno sich mißmutig auf seinem Stuhl rekelte, ließ Waldemar keinen Blick von dem Nebenzimmer, in dem Renate mit Hilfe des alten Dieners Girlanden um zwei Lehnstühle wand, die für das Jubelpaar bestimmt waren. Herr Erdmann stand neben Renate, auch schon in Wichs, wie er lachend sagte, und strahlte über das ganze Gesicht. Waldemar winkte unwillig. »Schau, da kommen schon die ersten Gäste – pünktlich wie die Maurer. Sehen übrigens ganz annehmbar aus.« »Warum sollten sie nicht«, maulte Benno verdrießlich. »Sie beziehen ja auch Gehälter danach. Der Alte ist in der Beziehung sehr großzügig; ich wünschte nur, er wäre es auch zu mir.« »Na, hör einmal, Benno, du kannst dich doch wirklich nicht beklagen!« entrüstete sich Waldemar. »Ich finde deinen Vater sehr freigiebig; meiner ist es lange nicht in dem Maße.« »Na ja, halte du nur auch noch Volksreden und nimm mir den letzten Rest der Stimmung«, brummte der Sohn des Hauses. »Sieh dir lieber deinen heimlich angebeteten Schwarm an, wie er vor Liebenswürdigkeit förmlich zerfließt.« Er wies mit einer Kopfbewegung nach Renate hin, die die Gäste herzlich begrüßte. »Beneidenswerte Leute«, seufzte Waldemar, »zu mir ist sie nie so herzlich.« Es blieb ihm jedoch keine Zeit, seinem Kummer weiter nachzuhängen; denn es kamen immer mehr Gäste, und es gab nun viel zu sehen und zu beobachten. »Wer ist denn das?« fragte er den Freund interessiert und zeigte nach dem Frankschen Ehepaar hin, das soeben den Saal betreten hatte – sehr feierlich, sehr würdig. Er im gutsitzenden Gehrock, sie im rauschenden schwarzen Seidenkleid. Der goldene Kranz, den Renate der alten Frau am Morgen gebracht, funkelte in dem weißen Haar. »Das ist das Jubelpaar«, entgegnete Benno gelangweilt. »Die Müllerleute?« »Na, wer denn sonst?« »Die habe ich mir ganz anders vorgestellt, lange nicht so würdig. Und die beiden Herren hinter ihnen, sind das Privatgäste?« »Keine Spur, die gibt es hier heute nicht – leider! Daher wird es ja auch zum Auswachsen langweilig werden. Der Jüngling ist
Norbert Haller, ein Buchhalter von uns. – Und der andere Bengel – der andere? Ach, richtig, das wird Jürgen Frank sein, der Sohn des Jubelpaares.« »Na, so was!« staunte Waldemar immer mehr. »Das ist ja eine Erscheinung, die Aufsehen erregen muß.« »Dann gib nur recht auf deine Renate acht«, grinste Benno, doch Waldemar bemerkte es nicht. »Sieh nur, wie er angezogen ist«, wunderte er sich weiter. »Der Smoking, die Lackschuhe – und überhaupt so. Und schau mal die Leutchen – alle Achtung!« Soeben betrat Frau Haller mit ihrer Tochter den Saal. Die alte Dame, in silbergrauer Seide, sah sehr stattlich aus. Sie hätte noch besser gewirkt, wenn ihre Aufmachung nicht zu jugendlich gewesen wäre. Und neben ihr schritt – nein, schwebte – ein elfenzartes, wunderfeines Wesen, schneeweiß gekleidet; das flimmernde Köpfchen hocherhoben tragend wie eine kleine Königin. »Donnerwetter!« entfuhr es dem verblüfften Benno. »Wie kommt dieser Glanz in unsere Hütte?! Die silbergraue Dame ist Frau Haller, das steht fest – also muß dieses Märchenwesen ihre Tochter Rosmarie sein.« Benno war plötzlich wie umgewandelt. »Die muß ich mir aus der Nähe ansehen. Kommst du mit, Waldemar?« »Selbstverständlich, ich muß doch dabeisein, wenn es dir so gehörig wie eben jetzt an Kopf und Kragen geht«, lachte der Freund. Benno verzog das Gesicht und steuerte rasch auf Rosmarie zu, um sie zu begrüßen. Doch Renate kam ihm zuvor; denn sie eilte der Freundin bereits mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Rosmarie, Liebste, endlich sehen wir uns wieder!« Dann begrüßte sie Frau Haller und Norbert – und lachte dann zu Jürgen Frank auf. »Wenn ich mich nicht irre, dann ist dies…« »Jawohl, gnädiges Fräulein, er ist es«, entgegnete Jürgen mit seiner sonoren Stimme. »Jürgen, du bist wohl närrisch!« lachte Renate hellauf. Er beugte sich zu ihr hinab, und seine Augen blitzten. »Renate – kleine Reni.« »Na also«, lachte sie vergnügt. Ach, es war seit gestern ein Wirrwarr in ihrem Herzen, in dem sie
sich nicht mehr zurechtfand. Dann stand Benno Nieritz vor ihr, so plötzlich und so unerwartet, daß sie zusammenzuckte. Eben nickte er Jürgen und Norbert gönnerhaft zu. »Tag, Frank, Tag, Haller – nun, wie schaut’s?« Und nun hatte er auch schon Rosmaries Hände gepackt, und sie fühlte seinen heißen Atem ihre Haut streifen. Wenn sie nur ihre Hände aus den weichen, glühenden Bennos lösen könnte. Zu auffallend durfte sie es aber nicht tun; denn sie sah viele Augenpaare auf sich gerichtet und mußte Haltung bewahren. »Rosmarie, welche Überraschung!« Schmeichelnd war seine Stimme. Bewundernd seine Blicke. Empörung stieg in ihr auf. Was fiel dem Burschen ein, sie in so zutraulicher Weise zu begrüßen! Wenn er sich bei Norbert und Jürgen nicht auf die alte Kinderfreundschaft besonnen hatte – warum bei ihr? Hilflos ging ihr Blick umher und blieb auf Jürgen haften, der ihr zunickte, als wollte er sagen, daß sie nicht unbeschützt sei. Da wurde Rosmarie ruhig, lachte sogar und befreite ihre Hände aus den festumklammernden Fingern Bennos. »Herr Nieritz«, staunte sie, »ich habe Sie im ersten Augenblick tatsächlich nicht erkannt.« »Rosmarie, weißt du denn nicht mehr, wie ich heiße?« fragte er vorwurfsvoll. »Doch – aber ich habe kein Recht mehr, Sie so vertraulich anzureden, Herr Nieritz – wir sind keine Kinder mehr«, entgegnete sie liebenswürdig, aber ablehnend zugleich. Benno biß sich ärgerlich auf die Lippen… In dem zum Tanzsaal eingerichteten Raum standen schon die Gäste und hielten vor Spannung den Atem an, als Herr Erdmann ihn betrat. Männer, Frauen und Kinder, Jungmädel und Burschen standen hier dichtgedrängt nebeneinander. Herr Erdmann begab sich zu dem erhöhten Platz, der eigens für ihn errichtet worden war, und gedachte des Jubelpaares. Dankte Wilhelm Frank mit bewegten Worten. Er überreichte dem alten Mann als Ehrengabe eine Brieftasche, die zehn funkelnagelneue Hundertmarkscheine enthielt. Dann dankte Wilhelm Frank seinem gütigen Chef mit kurzen, schlichten Worten. Mutter Frank war so gerührt, daß ihr die hellen Tränen über die Wangen liefen. Und Jürgen strahlte der
Stolz auf seine alten Eltern nur so aus den Augen. Rosmarie mußte ihn unausgesetzt ansehen und freute’ sich mit ihm. Obgleich diese strahlenden Blicke gar nicht ihr galten, trafen sie doch mitten in ihr Herz hinein. Nun nahm der Chef wieder das Wort. Er wies auf das fünfzigjährige Bestehen der Werke hin. Zuletzt bat Herr Erdmann seine Gäste, sich heute recht nach Herzenslust zu tummeln. . An dem »Ehrentisch« ging es lebhaft zu. Herr Erdmann hatte Frau Haller gebeten, an seiner Seite Platz zu nehmen. Benno hatte sich rasch an Rosmaries Seite niedergelassen. Waldemar saß neben Renate. »Gnädiges Fräulein, darf ich Ihnen ein Glas Sekt holen?« Sie schüttelte lachend den Kopf. »Jetzt schon, Herr Kyd? Nun, da würde ich bald arg aussehen! Aber ein Glas Bier möchte ich gern trinken.« Schon war er davon und kam nach kurzer Zeit wieder. Trug zwei gefüllte Seidel in der Hand, von denen er eines Renate reichte. Sie lachte übermütig. Renate fühlte sich heute so froh und frei wie noch nie in ihrem Leben. Rosmarie ging es nicht anders, aber bei ihr war dieses Gefühl durchaus berechtigt; denn ihr gegenüber saß Jürgen. Rosmarie mußte die Augen schließen unter seinem strahlenden Blick, der ihr tief ins Herz hineinleuchtete und alles darin in Aufruhr brachte. Jürgen – ihr Jürgen – der liebste Gefährte ihrer Kindheit. »Rosmarie, du hörst ja gar nicht auf das, was ich sage«, klang es leise an ihr Ohr. Sie wandte den Kopf und schaute in Bennos Augen hinein – in diese flimmernden, begehrlichen Augen. Sein Gebaren widerte sie an; sie schob ihren Stuhl ein wenig zur Seite und sah plötzlich sehr hochmütig aus. »Herr Nieritz – ich möchte dringend bitten!« sagte sie laut. Sie sah nicht ein, warum sie flüstern sollte wie er. »Selbstverständlich – ich vergesse immer…«, tat er zerknirscht. »Haben Sie doch Nachsicht mit mir, Rosmarie!« Rosmarie ließ ihn nicht aussprechen, sie lachte auf. »Reden Sie doch keinen Unsinn, Herr Nieritz – Sie glauben ja selbst nicht daran. Renate, hat dein Bruder heute etwa schon die Festweine
gekostet?« »Mag schon sein«, gab das Müllerstöchterlein, einen Seitenblick auf Waldemar werfend, zu. »Herr Kyd scheint ihm übrigens dabei Gesellschaft geleistet zu haben, er ist heute nämlich auch so – merkwürdig.« »Fräulein Haller, Sie haben doch nicht etwa vergessen, daß der erste Tanz mir gehört?« fragte Jürgen in aller Seelenruhe über den Tisch hinweg. Benno wußte im Augenblick nicht, wie er sich hier verhalten sollte und sagte mit näselnder Stimme: »Mein Lieber, Sie scheinen nicht zu wissen, daß der erste Tanz dem Tischherrn gehört, wie?« Doch Jürgen ließ sich nicht verblüffen. Er lachte Benno liebenswürdig an und meinte: »Wenn bei Festlichkeiten eine Tischordnung besteht, dann ist es allerdings üblich, daß der Tischherr seine Dame zum ersten Tanz führt. Doch hier kann von einer Tischordnung wohl kaum die Rede sein. Jedenfalls hat Fräulein Haller mir bereits gestern im Zug den ersten Tanz versprochen«, schwindelte er auf gut Glück los, Rosmarie dabei keck anlachend. Sie war einen Augenblick lang verdutzt. Dann aber hatte sie begriffen. Die Achseln zuckend, wandte sie sich an Benno. »Ja, da ist halt nichts zu machen«, bedauerte sie scheinheilig und sandte einen Blick des Einverständnisses zu Jürgen hin, den dieser mit einem strahlenden Gegenblick vergalt. »Ihr seid mir schon eine Bande«, schmunzelte Herr Erdmann, der sich recht von Herzen wohl fühlte, wenn er viel Jugend um sich hatte. Er konnte sich mit dem »jungen Gemüse«, wie er die junge Welt nannte, so von Herzen mitfreuen. Auch Frau Haller war heute ganz in ihrem Fahrwasser. Benno und Rosmarie – wenn die sich finden würden, dann könnte auch ihr Leben noch einmal schön und rosig werden. Und warum nicht, dachte Frau Haller. Ist Rosmarie nicht ein wunderschönes Mädchen, das wohl einen Mann fesseln kann? Eine gute Erziehung hat sie genossen, aus gutem Haus ist sie auch. Fehlt also nur noch Geld. Na – und davon haben Erdmanns doch, weiß Gott, genug, da braucht der einzige Sohn keine reiche Heirat zu schließen. Einmal hatte sich allerdings schon eine Hoffnung, die sie tief im
Herzen gehegt, zerschlagen. Das war, als Norbert aus Königsberg nach Hause kam, – da hatte sie sich in den kühnen Träumen gewiegt, daß aus ihm und Renate ein Paar werden könnte. Sie hatten doch als Kinder so sehr aneinander gehangen und wären doch wirklich ein Paar nach dem Herzen Gottes gewesen. Aber Norbert war zu wenig berechnend, war zuwenig lebensklug. Hatte zu viele Ideale und zu wenig Wirklichkeitssinn – leider! Den Traum, ihren Jungen als Schwiegersohn Erdmanns zu sehen, hatte sie also blutenden Herzens begraben müssen. Und auch jetzt benahm sich Norbert wie ein rechter Dummkopf. Träumte weiter in den Tag hinein und ließ sich das Goldfischchen kampflos von diesem Kyd wegschnappen, er, der doch kraft der Kinderfreundschaft viel ältere Rechte an Renate hatte als dieser plötzlich aufgetauchte Freier. Nein, aus diesem vertrottelten Jungen wurde nichts mehr, da konnte sie jede Hoffnung aufgeben. Also war Rosmarie ihre ganze Hoffnung. Ihre Gedanken gingen noch weiter, beschäftigten sich sogar mit ihrer eigenen Person. War sie nicht noch ansehnlich und hübsch? Sie mußte nur die richtigen Kleider haben – oho, dann nahm sie es noch mit der Jüngsten auf! Und Herr Erdmann zählte erst zweiundfünfzig Jahre. Er fühlte sich gewiß vereinsamt, seit dem frühen Tod seiner Frau. Wenn man immer mit ihm zusammen sein könnte – jeden Tag… Ach ja, Frau Haller träumte gar stolze, kühne Träume. Sie schrak plötzlich auf, als Herr Erdmann, mit dem sie sich doch gerade so eingehend beschäftigte, sie ansprach. »Sehen Sie nur meinen Bengel an, Frau Haller!« schmunzelte er. »Aber einen guten Geschmack hat er, die kleine Rosmarie könnte mir auch gefallen.« »Damenwahl!« verkündete der Geiger. Und da waren die Weiblein Feuer und Flamme. ›Damenwahl‹ ist nun einmal ein aufreizendes Wort. Da bekommt auch das dauerhafteste Mauerblümchen, das beharrlich die Wand des Tanzsaales ziert, einen Tänzer. Denn – o Wonne! – es darf sich sogar den Herrn, mit dem es zu tanzen wünscht, aussuchen. So gab es denn ein eifriges Suchen und Drängen, und der sehr große Tanzsaal schien noch zu klein, um alle Paare aufnehmen zu können. Alles mußte tanzen, keiner blieb verschont.
Alte und Junge, Mädchen und Burschen, Frauen und Kinder, alles drehte sich vergnügt im Kreis, ließ sich schieben und drängen. Es war gar zu schön! Das fand auch Jürgen Frank. »Also komm, kleines Mädchen, schunkeln wir los«, meinte er vergnügt und wollte Rosmarie umfassen, doch sie sträubte sich. »Wer sagt dir, daß ich mir nicht einen anderen Tänzer holen will?« fragte sie kampflustig. Doch er blitzte sie nur mit seinen gefährlichen Augen siegessicher an. »Das bekommst du ja doch nicht fertig, Fräulein Rosmarie Haller, zukünftige Frau Rosmarie Frank.« »Jürgen, du bist mir zu selbstbewußt.« »Nein Süße – nur sehr, sehr glücklich.« Sogar Herr Erdmann tanzte, und zwar mit Frau Haller. Auch Renate wollte sich unter den vielen Jünglingen, die mit ihr getanzt hatten, einen Partner aussuchen. Da sah sie an einem Fenster des Saales Norbert Haller stehen. Sie stutzte und trat dann kurz entschlossen auf ihn zu. »Aber Norbert, ganz allein? Und so traurig, wo alles kreuzfidel ist? Tanzt du denn nicht?« »Doch – sehr gern sogar.« »Und dann stehst du einsam und verlassen da?« »Es ist doch Damenwahl, Renate – mich mag eben keine«, entgegnete er halb lachend, halb trübselig. »Ach, du Armer«, lachte sie und versank vor ihm in einem tiefen Knicks. »Darf ich bitten, du Mann, den niemand mag?« Da leuchteten seine schwermütigen Augen auf, und er führte sie in die Mitte des Saales. Norbert legte seinen Arm um Renate – leicht, behutsam, als berühre er eine Kostbarkeit. Renate wurde hin und her gestoßen. Doch sie war nicht empfindlich, lachte glückselig zu Norbert auf, der sie geschickt um alle Klippen herumführte, so gut es in dieser Brandung gehen wollte. Er tanzte ohne Fehl und Tadel, war selbst in diesem Gedränge ängstlich bemüht, die erforderliche Haltung zu wahren, und Renate ärgerte sich über ihn. Er war doch früher nicht so stocksteif gewesen – was hatte er nur? Als er vor einigen Monaten ihr nach jahrelanger Trennung wieder begegnet war, hatte er sich höchst eigentümlich benommen.
Niemals konnte sie ihn allein sprechen, da er ihr geflissentlich aus dem Weg ging. War keiner Einladung, die aus dem Herrenhaus des öfteren an ihn ergangen war, gefolgt, sondern hatte immer eine Ausrede gefunden. Forschend ging ihr Blick zu ihm hoch; und sie erschauerte. Denn in seinen Augen lag ein solcher Schmerz. Aller Groll, den sie in letzter Zeit gegen ihn gehegt, war mit einem Male dahin. Nun war es ihr klar, daß er um irgend etwas litt. Sie wollte Norbert bitten, den Tanz zu beenden, und sagte doch kein Wort, die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Nun verstummte die Musik, augenblickslang nur, um gleich mit einer Kreuzpolka wieder zu beginnen. Und dann ging es los. Wie schwenkte der alte Müller die Beine, wie flog der schwere Seidenrock der Mutter Frank! Sie tanzten ganz allein, denn niemand der Anwesenden wollte es sich entgehen lassen, dieses greise Paar sich im Kreis drehen zu sehen. Jürgen bahnte sich, als der Tanz beendet war, energisch einen Weg durch die Menschenmauer, stand dann vor seinen Eltern, und seine Augen blitzten. Umfaßte beide zugleich. »Potztausend, Alterchen, da kann sich ja euer Sohn verstecken! Da muß er sich bemühen, um mit euch Schritt zu halten.« Dann eilte man allgemein dem Ausgang zu, denn der eine Musiker hatte eine längere Tanzpause angesagt. Die wollte man benutzen, um sich tüchtig zu laben an Speise und Trank. So vernachlässigt die langen Tische mit den Delikatessen während der letzten Stunden gewesen waren, so sehr bestürmte man sie jetzt. Man hatte Hunger und Durst bekommen, und so war jeder darauf bedacht, sich gut und reichlich zu stärken und zu laben. Am »Ehrentisch« hatten sich alle, die an ihn herangehörten, wieder zusammengefunden. Rosmarie ließ sich ihr Glas füllen und holte sich auch noch einige Leckereien. Benno wich nicht von ihrer Seite. Es dauerte lange, bis Rosmarie wieder zum Tisch zurückkehren konnte; denn sie stieß überall auf Menschen, die ihr noch von früher bekannt und vertraut waren und die sie nun anhielten, sich nach ihrem Ergehen erkundigten und sie nach diesem und
jenem fragten. Als sie endlich wieder an ihren Tisch zurückkam, lagen auf ihrem Platz drei blutrote Rosen, die zu ihr emporflammten wie ein heimlicher, zärtlicher Liebesgruß. Diese Rosen konnten nur von dem Einen stammen, der jedoch harmlos und unwissend tat, keinen Blick für sie hatte und in seiner liebenswürdigen, unwiderstehlichen Art die ganze Tischrunde unterhielt. Rote Rosen – Rosen der Liebe – es waren die ersten, die sie in ihrem jungen Dasein empfing! Und noch dazu von dem Mann, den sie liebte – schon immer geliebt hatte. Zart und unendlich behutsam, als berührte sie eine Kostbarkeit von unermeßlichem Wert, nahm sie die Rosen auf – neigte das Antlitz über sie, streifte sie mit den Lippen – und ließ den aufstrahlenden Blick hinschweifen zu dem Mann, der vollkommen gelassen dasaß und ganz unwissend tat. So still, so heimlich war das alles geschehen, daß es sogar den argwöhnischen Blicken Bennos entgangen war. Er bemerkte die Rosen erst, als sie an des Mädchens schneeweißem Kleid steckten. »Rosmarie, woher haben Sie denn die Rosen?« fragte er verwundert. Sie lachte. »Da Sie mir keine geschenkt haben, so muß ich sie mir eben selbst besorgen«, neckte sie ihn übermütig, und er biß sich auf die Lippen. Selbstverständlich stammten sie von keinem anderen als von Jürgen Frank! Nun, dem wollte er schon noch zu verstehen geben, daß er Rosmarie keine roten Rosen zu schenken hätte. Aber noch jemand wußte um das Geheimnis der Rosen – Frau Haller. Denn sie hatte gleich bemerkt, daß Jürgen sie gebracht – unauffällig, heimlich – und doch für ihre argwöhnischen Blicke deutlich bemerkbar. Frau Haller ergrimmte immer mehr und saß mit einem so wütenden Gesicht da, daß niemand sie anzusprechen wagte. Schließlich beachtete man sie nicht mehr. Jetzt gab es auch keine Pflichttänze mehr, jetzt hatte sich jeder seine Ballkönigin erwählt und tanzte nur noch mit ihr. Und wer war froher darüber als Jürgen? Als er mit Rosmarie dicht an den Musikern vorüberkam, bemerkte einer dieser die Rosen an des Mädchens Kleid. Er
blinzelte seinen Kollegen zu – und mitten aus Walzermelodie stieg eine andere, noch nie gehörte auf:
einer
»Drei Rosen hast du einmal mir aus Liebe geschenkt, Rosen – blutrote Rosen…« sangen die Musiker den Text dazu, und alle Tanzenden horchten auf. Die Stimmen schmeichelten, die Geigen sangen zärtlich und süß. »Rosmarie, ich liebe dich – liebe dich bis zum Wahnsinn«, flüsterte Jürgen, und sie sah zu ihm auf – zärtlich, befangen, traumverloren. Als die Musik schwieg, erwachten alle wie aus einem wunderherrlichen Traum. »Ich möchte nach Hause«, sagte Rosmarie leise. »Nach alldem traumhaft Schönen soeben peinigt mich alles hier.« »Das glaube ich dir, mein Lieb; mir geht es nicht anders. Wollen wir nach Hause gehen, ja? « Sie nickte und schritt ihm voran zum gemeinsamen Tisch. Da hatte die Fröhlichkeit auch schon abgenommen, und Rosmarie sowie Jürgen stießen auf keinen Widerstand, als sie vom Nachhausegehen sprachen. So schlich man sich leise von dannen. Die Bewohner des Herrenhauses verabschiedeten sich gleich vor der Tür, denn sie hatten den entgegengesetzten Weg; doch die Familien Frank und Haller gingen noch ein Stückchen zusammen. Dann verabschiedeten sich auch Franks und stiegen den Mühlberg hinan, während Hallers ihrem Haus zugingen. Sie schritten schweigend dahin, jeder mit sich selbst beschäftigt. Sprachen auch noch nicht, als sie das Wohnzimmer betraten. Doch als Rosmarie mit einem leise Gutenacht in ihr Kämmerlein gehen wollte, da hielt die Mutter sie zurück. Stand vor der Tochter in all ihrer Stattlichkeit, sie um halbe Haupteslänge überragend. Ihr volles Gesicht war krebsrot, und die Stimme klang heiser und kehlig. »Rosmarie, du hast dich heute unglaublich benommen«, stieß sie, sich vorläufig zur Ruhe zwingend, hervor. »Nicht wie eine Tochter mit guter Erziehung, sondern wie ein x-beliebiges hergelaufenes Mädchen!«
»Mama!« bat Rosmarie erschrocken, und ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen. »Was habe ich denn Böses getan?« »Was du getan hast?!« fragte die Mutter, und ihre Stimme wurde schon erheblich lauter. »Du hast diesen Müllerbengel angeschmachtet bis zur Lächerlichkeit, während du dich Herrn Nieritz gegenüber wahrhaft unerhört benahmst.« Rosmarie stand wie erstarrt. Sie hatte keinen Blutstropfen im Gesicht, und ihre Lippen zitterten. Norbert hatte sich abgewandt, hielt die Augen mit der Hand beschattet und verharrte regungslos. Und die Frau, der es langsam gelungen war, ruhig zu werden, ergrimmte dieser Anblick aufs neue. Ihr Blick fiel auf die Rosen, die Rosmarie am Herzen hielt – so behutsam, so zart, sie schützend wie ein Heiligtum. Diese Rosen, über die die erbitterte Frau sich schon den ganzen Abend über geärgert hatte, so ängstlich und zärtlich behütet zu sehen, nahm ihr auch den letzten Rest von Beherrschung. Mit einem Satz war sie bei der Tochter, riß ihr die Rosen aus der Hand und schleuderte sie zu Boden, daß die Blätter nur so umherflatterten. »So, da gehören sie hin – diese Boten der Liebe«, höhnte sie, die in diesem Augenblick einer Megäre glich. »Ich wünsche nicht, daß du von diesem Prahlhans noch irgend etwas annimmst, hast du mich verstanden? Sonst läufst du Gefahr, daß ich ihn ganz gehörig in seine Schranken zurückweise!« Rosmarie schien gar nicht zu hören, was die Mutter schrie. Sie stand da, als wäre kein Leben in ihr. Eine Rose war an der Tischdecke hängengeblieben – nun fielen die Blätter zu Boden, ganz langsam, Stück für Stück, und das Mädchen hatte das Gefühl, als wäre es ihr Herzblut, das da vertropfte. Jetzt hob sie den Blick, sah die Mutter an. Es war ein so weher, herzzerreißender Blick, daß er selbst dieser Mutter unbequem wurde. »Ja, nun tu nur so, als hätte man dir ein großes Unrecht zugefügt«, schalt sie aufs neue, um ihr Gewissen, das sich nun doch regte, zu ersticken. Rosmarie antwortete auch darauf nichts, taumelte vorwärts wie eine Schwerkranke, kniete auf den Fußboden nieder und las mit bebenden Händen die Rosenblätter auf. Nun war auch das letzte Blatt gesammelt und Norbert hob sein
Schwesterchen vom Boden auf, umfaßte die noch immer bebende Gestalt. »Komm, Rosiliebchen, ich bringe dich nach deinem Zimmer.« »Das reinste Affentheater«, knirschte die Mutter und sah ihren Kindern nach, wie sie im Nebenzimmer verschwanden. Nach einigen Minuten kam Norbert zurück, und nun richtete sich der Mutter Wut gegen ihn. »Wenn ich dir eine Last bin, Mama, dann kann ich mir ja eine andere Bleibe suchen«, sagte er tonlos. Aber das war ihr auch wieder nicht recht. Sie brach in Tränen aus. »Gewiß, tue auch das noch! Du kannst mich ja eigentlich nicht mehr enttäuschen, als du es schon getan hast.« Sie hielt inne, denn der Sohn hatte das Zimmer verlassen. Klipp-klapp – klipp-klapp – machte die alte Windmühle und drehte ihre mächtigen Flügel geschäftig im Kreise – unermüdlich immerzu. Es war noch früh am Morgen, und unten im Mühlengrund lag noch alles im tiefen Schlaf. An den kleinen Häuschen sah man überall geschlossene Fensterläden, und auch im Herrenhaus lagen die Läden noch dicht vor den Fenstern. Jedermann hatte sich auf dem gestrigen Freudenfest müde getanzt und benutzte nun den arbeitsfreien Tag, um erst mal gründlich auszuschlafen. Nur der alte Windmüller tat das nicht. Zwar hatte er heute eine Stunde länger im Bett zugebracht als sonst, aber damit war seinem Ruhebedürfnis vollkommen Genüge getan. Ihm kam der arbeitsreiche Tag sehr gelegen, denn in der Mühle gab es noch viel fremdes Korn, das er heute zu Mehl mahlen konnte. Der günstige Wind machte ihm seinen Vorsatz leicht, und befriedigt ging Wilhelm Frank seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Seine Frau war auch schon auf und hantierte in der großen Stube herum, ganz leise, ganz behutsam, um den schlafenden Sohn nicht zu wecken. Diese Rücksichtnahme wäre jedoch nicht nötig gewesen, Jürgen war schon erwacht, durch das Geklapper der Mühle. Und wie schön war dieses Erwachen für ihn! Mit einem Satz war er aus dem Bett, zog sich notdürftig an und schloß dann erst mal sein Mütterlein in die Arme, das ihn zärtlich schalt ob seines Ungestüms.
»Schlaf doch noch, Jung’«, riet sie ihm. »Die Ruhe tut dir wirklich not. Ganz schmal bist du geworden.« »Das ist nur gut, Mutterchen«, lachte er vergnügt. »Überflüssiges Fett kann ich nicht gebrauchen, das macht denkfaul und träge.« »Recht so, Jung’«, bekräftigte der alte Müller, der soeben die Stube betrat. »Müßtest ja auch nicht unser Sohn sein, wenn du die Trägheit über dich Herr werden lassen wolltest. Und nun dalli, angezogen – mein Magen verlangt sehr entschieden nach Frühstück.« Jürgen ließ sich von der Mutter Handtuch und Seife geben, versprach, sich zu beeilen, und ging nach draußen zum Brunnen. Der Herbstmorgen war unvergleichlich schön. Eben stieg die Sonne am Horizont empor. Der Rauhreif, der in der Nacht gefallen war, lag noch unberührt auf Wiesen und Bäumen. Jürgen Frank sah das alles mit leuchtendem Blick. Hatte schon zu unzähligen Malen dieses Naturschauspiel erlebt, und sich nach seinem Anblick krankgesehnt, da draußen in der Fremde. Sein Blick suchte das Haus, in dem er sein Mädchen wußte. Ruhig und still lag es im Licht der Morgensonne da. Sie schlief wohl noch, seine süße Kleine, und träumte sicherlich von – ihm. Ein solches Glücksgefühl durchflutete sein Herz, daß er aufjauchzen mußte, so recht froh und unbeschwert in den herbstfrischen Morgen hinein. Dann eilte er seiner Mutter entgegen, die soeben in die Haustür trat, um den Sohn zum Frühstück zu holen. Immer höher stieg die Sonne empor, und unten im Mühlengrunde öffneten sich nach und nach die Fensterläden. In dem Herrenhaus lag Renate schon seit Stunden wach. Sie hatte in dieser Nacht überhaupt keinen so festen Schlaf finden können wie sonst. Die Hände hinter den Kopf geschoben, den Blick auf das Fenster gerichtet, durch dessen heruntergelassene Rolläden sich Sonnenstrahlen in das Zimmer stahlen, lag sie regungslos da. Und noch nie in ihrem Leben hatte sie sich in einem solchen Widerstreit befunden, wie es seit gestern der Fall war. Waldemar Kyd hatte ihr bisher eigentlich ganz gut gefallen. Und wenn sie sich ihm gegenüber auch immer sehr zurückhaltend benommen hatte, so daß er bisher noch zu keinem Antrag gekommen war, so war ihr der Gedanke, seine Frau zu werden, doch noch nie so unerträglich gewesen wie jetzt.
Und warum? Bis gestern hatte sie eben noch nicht gewußt, was Liebe war, wie sehr sie das Herz eines Menschen auszufüllen vermag. Daher war Waldemar ihr ganz annehmbar erschienen. Doch seit gestern war alles anders geworden. Es schien ihr, als läge eine Spanne von Jahren zwischen diesem Gestern und dem Heute, als hätte sie bisher geschlafen und wäre jetzt erst erwacht. Als hätte der gequälte Blick zweier Männeraugen sich eingebrannt in ihr Herz und es aufgerüttelt zu neuem Leben. Auch schien es ihr, als könne sie nie mehr froh werden, solange Norberts Augen so todtraurig blickten. Und wie konnte es möglich sein, daß ein einziger Blick einen Menschen so sehr wandeln konnte, daß er sich selbst ein Rätsel war? Schon als Kind war ihr Norbert Haller nächst ihren Pflegeeltern der liebste von allen Menschen gewesen – lieber als ihr Bruder. Es hatte ihr auch sehr weh getan, daß er, als er nach langjähriger Abwesenheit wieder nach dem Mühlengrunde kam, ihr so förmlich begegnet war. Vielleicht liebte er gar eine andere, und diese Liebe war es, um die er litt. Und dann – was dann?! Sie drückte das Gesicht in die Kissen, um ein Schluchzen zu unterdrücken, sie zwang sich mit aller Gewalt zur Ruhe. Nicht weinen, nur nicht weinen, ermutigte sie sich selbst. Sonst bin ich verloren und weiß nicht mehr aus noch ein. Sie schluckte die Tränen hinunter und sprang aus dem Bett. Ihr Blick fiel auf Waldemar Kyds Bild, das er ihr geschenkt und das sie eigentlich nur aus gedankenloser Laune in ihr Zimmer gestellt hatte. Jetzt nahm sie es zur Hand und sah es an – lange. Und dann schüttelte sie den Kopf, konnte nicht begreifen, wie sie dieses Bürschchen hatte interessant finden können. Was ihr aus dem Bild entgegensah, war ein weichliches, hübsches Gesicht – nichts weiter. – Wenn sie dagegen an ein anderes dachte – an ein herbes, männliches… Mit einem Seufzer stellte sie das Bild an seinen Platz zurück und ließ sich müde in den nächsten Sessel sinken. Mit dem klaren Denken wollte es doch nicht so leicht gehen. Was mache ich nur, wenn Waldemar Kyd um mich wirbt, dachte sie mutlos. Denn daß er nur auf eine günstige Gelegenheit wartet,
um seinen Antrag anbringen zu können, das weiß ich längst schon. Ich gefalle ihm wohl ganz gut, arm bin ich auch nicht – eine solche Schwiegertochter könnte er seinen Eltern also guten Gewissens ins Haus bringen. Aber ich kann seine Werbung doch unmöglich annehmen, dann doch nicht mit der Liebe zu einem anderen im Herzen Waldemar Kyds Frau werden! Und außerdem weiß ich viel zuwenig von ihm. Immer ratloser fühlte Renate sich werden, und immer schwerer wurde ihr das Herz. Wenn sie doch jemand wüßte, der ihr über Waldemar Kyd genaue Auskunft geben könnte! Doch halt mal – war da nicht Else Steidinger – wohnte die nicht mit Kyd in einer Stadt? Aber gewiß – daß ihr das nicht früher eingefallen war! Der zuerst lebhafte Briefwechsel zwischen Else und ihr war allmählich eingeschlafen, und die Vermählungsanzeige, die Renate vor ungefähr einem Jahr erhalten, war die letzte Nachricht gewesen. Allerdings hatte Else der Anzeige noch einige recht herzliche Zeilen beigefügt, und es war gut so, sonst würde Renate die neue Anschrift ihrer Pensionsfreundin gar nicht wissen. Wenn ihr jemand zu raten vermochte, so war es die kluge Else, auf deren Urteil man schon etwas geben konnte. Mit einem Male war die trostlose Stimmung von ihr gewichen. Sie eilte in das Badezimmer und verscheuchte durch ein kühles Bad noch den letzten Rest von Müdigkeit. War, als sie wieder in das Ankleidezimmer zurückkehrte, die alte zielbewußte Renate. Was konnte aus dem Herrenhaus im Mühlengrund Gutes kommen – für ihn, für seine Schwester? Am besten wäre es für sie beide, sie gingen fort von hier. Rosmarie wäre dann vor dem gewissenlosen Burschen in Sicherheit. Doch diese einfache Lösung war leider nicht möglich. Er konnte froh sein, daß er den Mühlenwerken einen einigermaßen gutbezahlten Posten hatte, und auch für Rosmarie würde es schwerfallen, in einer anderen Stadt eine passende Stellung zu finden. Außerdem war das Mädchen so glücklich, daß es wieder in der Heimat war, die sie – ach, wie lange – schmerzlich entbehrt hatte. Norbert war so in Gedanken versunken, daß er nicht gewahr wurde, wie ein einspänniger Gabelwagen vor ihm auf dem Fahrdamm hielt. Erst als er angerufen wurde, schrak er auf und
sah in Renates lachendes Gesicht. »Norbert, was ist denn mit dir los, bist du unter die Träumer gegangen? Du warst vollkommen weltentrückt. Wo willst du denn hin?« »Nach Hause.« Sehr kühl, sehr abweisend kam es heraus; Renate schob die feinen Brauen zusammen. Trotzdem klang es noch freundlich, als sie sagte: »Dann kannst du ja mit mir fahren. Ich habe noch einige Besorgungen zu machen, indessen kannst du das Pferd halten, dann brauche ich nicht erst ausspannen zu lassen.« »Es tut mir leid, Renate – aber ich muß auf dem schnellsten Weg nach dem Mühlengrund zurück. Ich habe viel Geld bei mir und möchte das möglichst rasch loswerden.« Renate verlor die Geduld noch immer nicht. »Wenn du mit mir fährst, bist du doch viel schneller dort, als wenn du zu Fuß gehst, du dummer Bub. Also, komm schon, deine Ausrede ist einfach lächerlich.« »Es ist keine Ausrede, Renate.« »Das kannst du mir doch nicht erzählen!« rief sie nun ärgerlich. »Schließlich habe ich ja nicht nötig, mich dauernd von dir abblitzen zu lassen, du unhöflicher Bengel! Wenn alle, die dir freundlich entgegenkommen, vor den Kopf stößt wie mich, dann wundere dich nicht, wenn du auf dich allein angewiesen bleibst!« Ehe Norbert noch etwas darauf erwidern konnte, fuhr der Wagen schon davon. Nun war das gnädige Fräulein also schwer gekränkt – na gut, mochte sie es sein – ihn sollte und durfte das nicht weiter stören! Je weniger Renate ihm in den Weg lief, um so besser für ihn und sein Herz. Wenn sie sich doch erst mit Waldemar Kyd verloben und mit ihm in das Rheinland ziehen würde – dann könnte er leichter überwinden. Norbert schritt immer schneller aus, als könne er seinen trostlosen Gedanken entfliehen. Hielt den Kopf tief gesenkt und hob ihn erst, als vom Mühlenberg herab frischer Gesank an sein Ohr drang. Er erblickte Jürgen Frank, der vor der Mühle saß, ein einfaches Butterfaß zwischen den Knien hielt und zum Takt einer frohen Melodie frisch drauflos butterte. Da mußte Norbert lachen, so wenig ihm eigentlich danach
zumute war. Ist doch ein ganzer Kerl, der Jürgen! Immer vergnügt und guter Dinge, obgleich das Leben ihn doch auch hart genug anpackt, dachte er. Ob er ihm sagte, daß Benno Nieritz hinter Rosmarie, der vergötterten Kindheitsgespielin, her sei? Ihn darauf aufmerksam machte, daß ein Gegner wie der Erbe der Erdmannschen Mühlenwerke nicht zu unterschätzen sei? Doch nein – lieber nicht! Der Tollkopf bekam es fertig, Nieritz zur Rede zu stellen und… an das Weitere durfte man gar nicht denken. Und für Rosmarie war es am besten, wenn alles ruhig blieb, wenn sie ihre Unbefangenheit behielt. Norbert hatte inzwischen das Verwaltungsgebäude erreicht, schritt zum Privatbüro des Seniorchefs, brachte ihm das gewünschte Geld und ging dann wieder nach Hause. Rosmarie lag noch im Bett, war müde und matt von dem vielen Weinen. Aus umflorten Augen blickte sie Norbert entgegen. »Mädelchen, du solltest doch endlich ruhig werden«, sagte der Bruder vorwurfsvoll. »Wie sollen deine Kopfschmerzen vergehen, wenn du dich immer wieder erregst? So traurig der Vorfall gestern auch war – so viele Tränen ist er bestimmt nicht wert.« Rosmarie sah ihn mit einem Blick an, der ihm ins Herz schnitt. »Du hast recht, Norbert«, entgegnete sie leise. »Doch laß mich nur, ich finde mich schon wieder zurecht – nur heute und morgen ist es mir nicht möglich. Hast du Jürgen gesprochen?« »Nein, Kleines. Hat er sich nach dir erkundigt?« »Nein. Ich nehme jedoch an, daß er nicht zu .Hause ist und von meiner Unpäßlichkeit nichts weiß.« »Er ist zu Hause, Rosmarie, ich sah ihn eben vor der Mühle. Er butterte und sang aus voller Kehle dazu. Soll ich ihm sagen…« »Nein – nicht«, wehrte sie hastig ab. »Es ist mir lieber so – denn ich könnte ihm jetzt nicht in die Augen sehen.« Sie drückte das Gesicht in die Kissen und weinte wieder. »Rosmarie, nun nimm dich endlich zusammen«, sagte Norbert energisch. Er mußte sich zu einem schärferen Ton zwingen, wie schwer es ihm auch fiel. »Hat die Mama sich gestern zu einer Unbedachtsamkeit hinreißen lassen, darfst du das nicht allzu tragisch nehmen. Du wirst dich langsam daran gewöhnen müssen, daß die Mama oft Dinge tut, die sie selbst nicht verantworten kann. Am besten, man beachtet ihre Launen gar
nicht. Und was die Liebe anbetrifft…« Nun fuhr Rosmarie herum und sah den Bruder an – ihre Augen waren fast schwarz vor schmerzlicher Erregung. »Meine Liebe?« sagte sie, und ihre Stimme klang ganz tief. »Meine Liebe? Schau hin – das ist alles, was von ihr übrigblieb.« Sie zeigte nach einem Tischchen, auf dem die Rosenblätter lagen – und so viel mutlose Verzweiflung lag in der einen Bewegung, daß Norbert nichts weiter zu sagen wagte. Zu hart war das arme Kind aus seiner Glückseligkeit gerissen worden, hatte zu böse Worte gehört und einen zu tiefen Blick in das Herz der Mutter getan. Norbert wußte ja längst, daß die Mama nicht einem Mutterideal entsprach – doch die Rosmarie mußte sich erst damit abfinden lernen. Rosmarie wartete vergebens auf ein Lebenszeichen von Jürgen. Sie konnte ja nicht wissen, daß die Mutter die Blumen und Briefe, die er brachte, nicht an sie weitergab. Frau Haller meinte, es sehr gut vor ihrem Gewissen verantworten zu können, wenn sie diese Dinge unterschlug. Rosmarie war in ihrer Liebe augenblicklich unzurechnungsfähig, da mußte eben sie, die erfahrene Frau, für dieses junge, törichte Ding handeln. Später würde die Tochter ihr diese Maßnahme noch einmal danken, davon war sie fest überzeugt. So wanderten denn die Briefe Jürgens – nachdem sie von Frau Haller gelesen und mit einem hämischen Lächeln bedacht worden waren – ins Feuer und die Blumen in den Müllkasten. Eine Entdeckung brauchte sie nicht zu fürchten, denn ihre Niedertracht wurde gar noch vom Schicksal begünstigt. Norbert war nämlich nicht zu Hause, er war von Herrn Erdmann nach Berlin geschickt worden, wo er für ihn eine Bankangelegenheit regeln sollte. Also war Norberts Späherblick nicht zu fürchten, und Rosmarie lag immer im Bett. Konnte mithin nicht wissen, was im Haus vorging. Die Mutter lachte sich ins Fäustchen. Ganz recht tat das vertrotzte Ding! Mochte es nur liegen, wenigstens so lange, bis dieser anmaßende Müllerbengel abgereist war. Dann wollte sie schon dafür sorgen, daß Rosmarie nicht faul herumlag, sondern ihren Dienst versah. Jürgen, der einige Male am Tag zu Frau Haller kam und sich nach
Rosmaries Befinden erkundigte, wurde auf so gerissene Art beruhigt, daß er keinen Argwohn schöpfen konnte. Doch als schon drei Tage vergangen waren und er keine Antwort auf seine besorgten Zeilen erhielt, da wurde er stutzig. Liebte Rosmarie ihn nicht – war dieses zärtliche Anschmiegen an jenem Abend etwa nur eine Laune von ihr gewesen? Als der Zweifel ihn gar zu arg zu quälen begann, sprach er mit Frau Haller darüber; denn sie als Mutter mußte ihre Tochter doch am besten kennen. Frau Haller frohlockte und bekam es fertig, durch geschickte Anspielungen Zweifel über Zweifel in Jürgen zu erregen, so daß der sonst so kluge Mann sich ernstlich von Rosmarie hintergangen fühlte. Und das war etwas, was Jürgen Frank, der die Aufrichtigkeit in Person war, durchaus nicht vertragen konnte! Und überhaupt – einem Mädel nachlaufen? Das war schon gar nicht des stolzen, eigenwilligen Jürgen Art! War Rosmarie so, dann war er eben um eine Enttäuschung reicher. Und wenn es noch so weh tat – unterkriegen konnte sie ihn noch lange nicht. Er wußte wohl, daß Rosmarie die große Liebe seines Lebens war, und daß er nie mehr so recht von Herzen glücklich werden konnte ohne sie. Aber deswegen jammern und klagen, sich in Verzweiflung verrennen und sich das Leben verbittern? Das hätte zu Jürgen Frank gewiß nicht gepaßt! Jürgen Frank fuhr nach Danzig und sah sich dort nach einer passenden Unterkunft um. Einige Tage lief er umher und konnte sich nicht schlüssig werden. Es war auch bestimmt nicht so einfach, das, was er suchte, zu finden. Es durfte nicht teuer sein, mußte in der Nähe der Hochschule liegen, ein wohnliches Zimmer sein und noch verschiedene andere Vorteile haben – und das alles beieinander gibt es eben selten. Heute war Jürgen schon in drei verschiedenen Fremdenheimen gewesen und hatte sich über deren Unzulänglichkeiten geärgert. Darüber war es Abend geworden. Am liebsten wäre er in dem netten Heim, in dem er augenblicklich wohnte, geblieben, aber er hatte sich zu spät um einen Platz darin bemüht. Er hauste in einem Zimmer, dessen eigentlicher Besitzer morgen von den Ferien zurückkam, und so
mußte er denn die nette kleine Bude räumen. Mißmutig schlenderte er eine Hauptstraße entlang, als ein Herr so heftig gegen ihn anprallte, daß Jürgen fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Mein Herr, haben Sie denn keine Augen?!« Der Herr zog den Hut, sagte einige entschuldigende Worte – stutzte dann. »Ja, Menschenskind – ist so etwas überhaupt möglich? Bist du nun Jürgen Frank, oder bist du es nicht?« »Selbstverständlich bin ich es, du tolpatschiger Kerl, der einem fast die Eingeweide einrennt«, lachte Jürgen vergnügt. »Was machst du denn hier in Danzig, du Sohn eines reichen Vaters?« »Bin geschäftlich hier, Jungchen. Wo hast du dich denn überall rumgetrieben, du Draufgänger?« »Nicht ganz überall, Dieterchen.« »Und was machst du denn hier in dem schönen Danzig?« »Ich gedenke, mich durch das letzte Semester zu büffeln, und bin auf der Suche nach einer Bleibe.« »Bist du denn noch nicht mit der Büffelei fertig?« fragte Dieter Bronk erstaunt. »Ich habe doch bereits vor zwei Jahren mein Examen gemacht.« »Mir ging es eben nicht so gut wie dir verhätscheltem Jungchen. Ich mußte mir erst das Geld zum vorletzten und letzten Semester verdienen, bevor ich es belegen konnte.« »Armer Kerl!« sagte Dietrich mitleidig, doch Jürgen wehrte ab. »Bedaure mich nicht, mein Sohn, mir ist es immer noch beneidenswert gutgegangen. Freue mich riesig, daß ich dich wieder einmal treffe, alter Junge.« »Ich nicht minder, Jürgen. Habe manches Mal an dich gedacht und mir den Kopf zerbrochen, wo du eigentlich geblieben sein könntest.« »Zuviel Ehre!« verneigte sich Jürgen, und Dieter lachte. »Spotte nur nicht, alter Kronensohn, komm lieber mit in irgendeine nette Kneipe, wo wir unser Wiedersehen gebührend feiern können. Ich wollte eigentlich schon heute nach Hause, weil ich sehr Wichtiges vorhabe. – Du, Jürgen – das ist ja einfach großartig!« schrie er plötzlich so laut, daß die Vorübergehenden sich nach ihm umsahen. »Daß ich nicht gleich darauf gekommen bin!« Und ohne auf Jürgens verdutztes Gesicht zu achten, faßte er ihn beim Ärmel und zerrte ihn in ein kleines Lokal, das zufällig ganz
in der Nähe war. Und nun fand Jürgen auch die Sprache wieder. »Sag mal, Dieterchen, wenn du nicht übergeschnappt bist…?« »Nein, nein – mache dir deswegen keine Sorge«, lachte der junge Mann, der einen gediegenen, vornehmen Eindruck machte. »Mir fiel nur ganz plötzlich ein, daß du der Mann bist, nach dem ich wochenlang fieberhaft suche.« »Du suchst einen Mann?« fragte Jürgen immer verblüffter. »Du verwechselst wohl die Begriffe, mein Liebling – du meinst vermutlich eine Frau?« »Und doch suche ich einen Mann«, lachte Dietrich Bronk. »Ich will dich auch nicht lange im unklaren lassen, du Armer, sonst glaubst du am Ende noch felsenfest daran, daß ich so ein wenig tülütütü bin. Also, paß mal auf: Daß mein Vater eine Flugzeugund Autofabrik besitzt, das brauche ich dir ja nicht erst zu erzählen?« »Nein, du Beneidenswerter, das ist mir bekannt. Auch, daß du ein guter Flugzeugführer bist.« »Bitte, keine Schmeicheleien, Jürgen«, unterbrach der Freund ihn, »sondern sei fein still und höre zu: Mein Vater hat nämlich ein Flugzeug herausgebracht, ein ganz famoses Ding, mußt du wissen, mit vielerlei Neuheiten. Auf kurze Strecken habe ich den Vogel schon ausgeprobt; dabei hat er sich vortrefflich bewährt. Doch ob das auch bei einem Langstreckenflug der Fall sein wird, das eben muß noch ergründet werden. Daß ich das tue, ist bei uns selbstverständlich. Doch möchte ich nicht allein starten und weiß niemand, der mich auf dem immerhin nicht ganz einfachen Flug begleiten könnte. Es ist nämlich sehr schwer, einen passenden Mann zu finden. Er muß mir zusagen, ich muß mich auf ihn voll und ganz verlassen können, und zudem muß er etwas vom Flugwesen verstehen, darf sich vor Tod und Teufel nicht fürchten, kurzum: Er muß ein ganzer Kerl sein. Nun finde mal dieses vollkommene Wesen – ich jedenfalls suche schon lange danach. Aber als ich dich vor mir sah, da kam mir blitzschnell der Gedanke, du seiest der, nach dem ich wie wild suche. Willst du also mit mir starten, Jürgen?« »Man immer sachte, sachte – dein Tempo ist ja wahrhaftig schwindelerregend!« meinte Frank gemütlich und tat einen
langen Zug aus dem Bierseidel. »Ich kann mich doch nicht mir nichts dir nichts von dir entführen lassen. Dazu gehören doch erst mal lange Besprechungen mit dem nötigen Für und Wider, mit Zweifeln und Nichtzweifeln. Ich bin bei meiner angeborenen Gründlichkeit immer dafür, daß sich alles hübsch der Reihe nach abwickelt. Was du willst, das habe ich bereits begriffen – doch wie du dir das alles denkst, das möchte ich erst einmal lang und breit erklärt haben.« »Was heißt hier erklären«, wehrte Dietrich ab. »Beim vielen Überlegen kommt selten etwas Gescheites heraus. Kurz entschlossen rein ins Vergnügen, das ist das einzig Wahre!« »Dieterchen, du bist mir zu stürmisch; ich bin ja der reinste Großvater gegen dich. Dein Standpunkt, nicht zu überlegen, ist ganz gewiß großartig, aber gleichwohl so gut die undurchführbar. Also, da wäre erst mal das Semester, das mir wieder flöten ginge, wenn ich mit dir flöge. Es wird allerhöchste Zeit, daß ich endlich mit meinem Studium fertig werde, denn ich bin eigentlich schon ein ziemlich alter Knabe. Habe erst ein paar Jahre studiert, habe mich dann überall in der Welt herumgetrieben, um so ziemlich alles zu sein, was ein Mensch nur sein kann. Dann habe ich alte Eltern, die vor einigen Tagen ihre goldene Hochzeit gefeiert haben, und ich bin ihr einziges Kind. Sie haben in den Jahren meiner Studier- und Wanderzeit wenig von mir gehabt, es ist Zeit, daß ich mich ihnen widme. Man kann nicht wissen, wie lange ich die lieben Altchen noch habe. – So, das wären meine Bedenken.« Dietrich Bronk, der aufmerksam zugehört hatte, lachte befreit auf. »Wenn du keine weiteren hast, alter Freund – die will ich schon gern zerstreuen. Du tust ja so, als ob du jahrelang in den Lüften schaukeln solltest. Rechne dir doch aus, wie lange schlimmstenfalls so ein Flug dauern kann, dann wirst du wissen, daß wir bald wieder zurück sein werden. Und diese kurze Zeit, die du im Semester versäumst, holst du bestimmt rasch ein. Allerdings, deine Eltern sind größere Bedenken wert. Es ist aber nicht nötig, Jürgen, daß du sie vorher etwas von dem Flug wissen läßt. Dann beunruhigen sie sich nicht, und du kannst ihnen später, wenn du sie besuchst, viel Interessantes erzählen. Und nun, Jürgen, schlag ein! Du tust mir, wenn du mit mir startest, einen sehr großen Gefallen, den ich dir nie vergessen werde.«
»Also gut, du komische Kruke, wenn gerade und ausgerechnet ich es sein muß, der dich begleiten soll, dann – bitte sehr.« »Ich danke dir, Jürgen«, lachte Dietrich vergnügt. »Nun habe ich endlich den Mann, den ich brauche. Bei dir weiß ich jederzeit, woran ich bin, kann dir vertrauen wie mir selbst. Außerdem weiß ich, daß du sehr viel vom Flugwesen verstehst und mich tatkräftig unterstützen kannst. Du bist wirklich der einzige, der für mich als Begleiter in Frage kommt.« »Dieterchen, mach mich nicht eitel«, neckte Jürgen. »Rede doch nicht so geschwollen von Selbstverständlichkeiten. Wann gedenkst du denn in die Luft zu gehen, alter Freund?« »So bald wie möglich, Jürgen. Und ganz ohne Klimbim soll es vor sich gehen, nicht mehr Leutchen sollen darum wissen als unbedingt notwendig. Warum soll die liebe Konkurrenz unnötig hellhörig werden? Wenn das Vögelchen nicht so ist, wie wir annehmen, gibt es Schadenfreude genug. Sollte es sich aber bewähren und wir als Sieger heimkehren, können wir uns seelenruhig feiern lassen, und die Zeitungsleute können uns in allen möglichen Stellungen knipsen.« »Das ist ganz nach meinem Geschmack«, entgegnete Jürgen trocken. »Also brauche ich mir nicht erst eine Bleibe zu suchen?« »Nein, mein Junge, du kommst mit mir. Mein alter Herr wird riesig erfreut sein, daß ich endlich einen Begleiter gefunden habe, der nach meinem Herzen ist. Du bist ihm übrigens nicht fremd, ich habe ihm schon viel von dir erzählt, um so zufriedener wird er daher sein, daß ich ausgerechnet dich finden mußte.« Die Freunde lachten sich an, schlenderten Arm in Arm davon und suchten ein Lokal auf, in dem sie zuerst gut und reichlich speisten. Dann setzte Dietrich dem Freund seines Pläne auseinander, die dieser nur gutheißen konnte, so sorgfältig waren sie ausgearbeitet. »Was wirst du nun mit deinen Eltern machen, Jürgen?« erkundigte er sich später. »Willst du sie vor unserem Flug noch einmal besuchen und ihnen sagen, was du vorhast?« Jürgen blickte ernst und nachdenklich vor sich hin. »Nein – das brauchen sie nicht zu wissen, so ausführlich wenigstens nicht. Ich werde sie nicht noch einmal besuchen – es ist für beide Teile besser so.« »Sehr richtig, Jürgen. Ich hätte einen Vorschlag: Wir schreiben
hier einige Karten, übergeben sie einer gewissenhaften Person, die sie in bestimmten Abständen deinen Eltern schickt, und so kommen sie gar nicht dahinter, daß du nicht in Danzig bist. Was meinst du dazu?« »Daß du ein großer Schwindler bist, Dieterchen. Dein Vorschlag ist gut, soweit es sich um überängstliche Eltern handelt. Doch meine Altchen sind vernünftige Leute und wissen ganz genau, daß sie mich von einem einmal gefaßten Plan nicht mehr abbringen können. Sie versuchen es daher erst gar nicht. Also werden sie es mit Würde ertragen, wenn ich ihnen mitteile, daß ich meinen Plan geändert habe und wieder auf und davon gehe. Ganz aufrichtig werde ich allerdings nicht sein können – leider! Werde ihnen zwar mitteilen, daß ich wieder einen kleinen Bummel in die Welt wage, doch das Wie und Wozu werde ich ihnen wohlweislich vorenthalten. Das erfahren sie immer noch früh genug.« Renate Nieritz saß in ihrem Wohnzimmer und las den schon mit Ungeduld erwarteten Brief ihrer Freundin. Zuerst überflog sie die zierlichen Schriftzeichen hastig und flüchtig mit angehaltenem Atem. Die Hand, die das Briefblatt hielt, bebte, und auf ihrem beweglichen Antlitz kam und ging die Farbe. Dann ließ sie das Schreiben sinken und atmete auf – ganz tief, als hätte man sie soeben von einer drückenden Last befreit. Nahm dann wieder den Brief zur Hand und las ihn diesmal ganz langsam, Wort für Wort. Waldemar Kyd ist ein netter, leichtfertiger Junge, schrieb die junge Frau. Und damit wäre eigentlich alles über ihn gesagt. Von der Mutter verzogen, vom Vater nicht ernst genommen, führt er ein beschauliches Drohnendasein. Ist ein großer Selbstling, der nur seinen Neigungen lebt und sehr ungnädig werden kann, wenn man ihn dabei zu stören wagt. Macht noch recht oft dumme Streiche, die die gute Mama dann vertuscht, damit nichts davon zu den Ohren des Vaters gelangt. Daß Waldemar so geworden ist, daran trägt wohl sein Vater die meiste Schuld. Er duldet keinen Willen neben dem seinen und verlangt von allen, über die er zu bestimmen hat, unbedingten Gehorsam. Behandelt den Sohn immer noch als Bübchen, das keine eigene Meinung haben darf. So müßte also die Frau, die Waldemar ins Haus bringt, in erster Linie danach trachten, die Gunst ihres Schwiegervaters zu erringen. Weiter müßte sie, sollte die Ehe einigermaßen glücklich sein, sich damit
abfinden daß Waldemarchen auch als Ehemann seinen Liebhabereien unbehelligt nachgehen kann. Dürfte nicht mucken, wenn er kleine Seitensprünge macht. Und müßte endlich, wollte sie mit ihrer Schwiegermutter in Frieden leben, Waldemarchen abgöttisch lieben und verwöhnen. Müßte also ein Wesen mit einer Engelsgeduld sein, eines ganz ohne Gift und Galle, wenn sie sich in diesem Haus behaupten wollte. Die Hauptliebhabereien Waldemars will ich Dir kurz nennen. Sie heißen: Nichtstun, Frauen und kostspielige Reisen. Mein Urteil über den guten Jungen mag Dir vielleicht hart erscheinen, hieß es in dem Brief weiter, aber ich habe nicht zuviel gesagt. Vorschnell zu urteilen, ist nicht meine Art. Außerdem bin ich mit der Familie Kyd verwandt und habe in ihrem Haus meinen Mann kennengelernt. Kann daher über Waldemar besser urteilen als einer, der ihn nur flüchtig kennt. Renate nickte befriedigt und war sehr froh, daß sie den Einfall gehabt hatte, an die Freundin zu schreiben und sie um Auskunft über Waldemar Kyd zu bitten. Sie hatte eine derartige Auskunft eigentlich erwartet und konnte nur nicht begreifen, wie sie einmal auf den Gedanken hatte kommen können, Waldemars Frau zu werden. Renate war zumute, als wäre sie einer schweren Gefahr entronnen, und sie pries den Einfall, der sie den Brief an die Freundin schreiben ließ, immer mehr. Wie unangenehm waren doch die letzten Tage für sie gewesen! Waldemar hatte nichts unversucht gelassen, um sie ungestört sprechen zu können, und sie hatte alle Vorsicht nötig gehabt, um ein Alleinsein mit ihm immer wieder zu vereiteln. Am besten wäre ja, es käme überhaupt zu keinem Antrag. Dann blieb dem selbstherrlichen Waldemar eine fatale Niederlage und ihr eine peinliche Stunde erspart. Allein Waldemar konnte es sich einfach nicht denken, daß es ein weibliches Wesen geben könnte, dem er nicht gefiele und das ihn nicht zum Gatten begehrte. Auch Benno faßte die heutige Freundlichkeit der Schwester falsch auf. Glaubte nichts anderes, als daß Waldemar sie jetzt endlich »kirre gekriegt« hätte, und war darum sehr zufrieden mit sich und der ganzen Welt, und gefiel sich darin, allerlei anzügliche Bemerkungen zu machen. Renate hatte diese – zumal in den letzten Tagen – ziemlich ärgerlich abgetan, heute aber hatte sie
nur ein nachsichtiges Lächeln. Selbst Papa Erdmann glaubte, daß es in der Mühle bald eine Verlobung geben würde. Ein Urteil über seinen künftigen Schwiegersohn versagte er sich. Renate hatte ihn gewählt – und daher gefiel Waldemar ihm so, wie er war. Nur daß sein Singvögelchen so weit von ihm gehen wollte, das tat weh, bitter weh. Immer mehr sah Renate ein, daß der Vater nicht so bald hinter Bennos Wesensart kommen durfte. Wenigstens nicht ganz unvorbereitet. Armer Vater, dachte sie traurig, hoffentlich tut es dir nicht gar zu weh, wenn dir die Erkenntnis wird, daß du auf den Sohn nicht stolz sein kannst, sondern ihn verachten mußt. Mag Benno es noch so schlau anfangen, mag es ihm bisher gelungen sein, dich zu täuschen – einmal werden dir doch die Augen aufgehen. »Nun wieder Kopf hoch, mein Kleines«, ermahnte der Vater in frischem Ton. »Du bist zwar um eine böse Erfahrung reicher, aber lasse dich das nicht weiter anfechten. Überall auf Gottes weiter Welt gibt es gute und schlechte Menschen. Und nun wird mein Kleines einfach zu Bett gehen, wird diesen bösen Tag verschlafen und morgen wieder mein munteres Singvögelchen sein.« »Ach ja, Vater, du hast recht«, atmete Renate tief auf. »Ich bin ganz schrecklich müde.« »Na also!«lachte er. Er war ja so froh, daß seine geliebte Kleine nun nicht mehr so unglücklich war wie vorhin. Er küßte ihre Augen, die unverwandt an seinem Gesicht hingen. »Schlaf wohl, mein Liebling!« »Gute Nacht, du lieber Vater, hab’ Dank für alle deine Güte«, sagte sie leise und drückte ihre Lippen auf seine Hand. »Aber, Renichen, das tut man doch nicht«, schalt er halb verlegen, halb gerührt. »Kind, wenn du wüßtest, wie teuer du meinem Herzen bist, dann würdest du nicht so bescheiden sein. Du warst mir neben der Mutter immer der liebste Mensch auf Erden – lieber als Benno, meine süße Kleine.« Ach, nun war ja alles nicht so schlimm! Wenn der Vater sie lieber hatte, als den Sohn, dann konnte es ihm auch nicht allzu schwer treffen, wenn ihm offenbar wurde, wie und was dieser in Wahrheit war. Sie nickte ihm, der das Zimmer verließ, unter Tränen lächelnd zu und ging dann zu Bett, sie war wirklich zum Umfallen müde.
Der Gram um Benno ließ sie aber noch lange Zeit keine Ruhe finden. Doch allmählich siegte die Müdigkeit über ihren Kummer, und sie schlief ein. Die Herbstarbeit in der Mühle hatte in diesem Jahr ganz besonders stark eingesetzt. Der Mehl- und Getreideversand war viel größer als in den Vorjahren, und Herr Erdmann hatte noch zehn kräftige Burschen einstellen müssen, damit die Mehrarbeit geschafft werden konnte. Die jungen Leute waren in einer Baracke untergebracht, wurden auf Herrn Erdmanns Kosten beköstigt und lebten recht behaglich und zufrieden. Nur mit einem waren sie nicht zufrieden, genausowenig wie die ansässigen Leute: mit dem Juniorchef. Auch Herr Erdmann verlangte strenge Pflichterfüllung und konnte Unzuverlässigkeit nicht vertragen, doch er behandelte seine Arbeiter wie Menschen und hatte Verständnis für sie. Wie ganz anders war da der Juniorchef! Dünkelhaft und hochfahrend, launenhaft und unberechenbar – so machte er sich unbeliebt bei jedermann. Und immer gerade dann spielte er sich auf, wenn er den Vater nicht in den Werken wußte. Schon längst hatten die Leute ihn durchschaut, wußten, daß dieser gerissene Junge sich in Gegenwart des Vaters als Tugendbengelchen aufspielte, aber in Wirklichkeit ein Ekel erster Güte war. Aber Herrn Erdmann über seinen Sohn aufzuklären, dazu fehlte allen der Mut. In der letzten Zeit hatten die Leute einigermaßen Ruhe. Denn augenblicklich war für Benno etwas ganz anderes viel wichtiger, als in den Werken herumzulungern und die Leute zu ärgern: er stieg Rosmarie Haller nach. Daß er sie sich nur zum Zeitvertreib erwählt hatte, das war klar; denn ein Mensch wie er heiratete kein armes Mädchen. Gehässige Gemüter wünschten der kleinen Rosmarie einen Hereinfall nur zu gern; denn sie hielten sie für eingebildet und hochmütig. Vernünftigen Leuten jedoch tat das Mädchen von Herzen leid. Und wie das so geht – alle im Mühlengrund waren über die Neuigkeit, die augenblicklich Tagesgespräch war, im Bilde – nur die, die es am nächsten anging, waren ahnungslos. Und zwar: Herr Erdmann, Renate und Norbert Haller. Selbst Benno und
Rosmarie ahnten nicht, wie sehr man sich im Mühlengrund mit ihnen beschäftigte. Frau Haller allerdings wußte Bescheid und – frohlockte. Mochten die Klatschmäuler nur geifern! Eines Tages bekamen sie bestimmt eins darauf – und zwar dann, wenn ihre Rosmarie als junge Frau Nieritz in das Herrenhaus im Mühlengrund Einzug halten würde. Wie ihre Tochter über eine Ehe mit Benno dachte, darüber zerbrach diese »liebevolle« Mutter sich nicht den Kopf; das war auch vollkommen unwichtig für sie. Rosmarie ging zwar umher wie das Leiden selbst, dachte immer noch an den Hallodri, diesen Jürgen Frank; aber das würde sich mit der Zeit schon noch geben. Frau Haller freute sich heute noch spitzbübisch, wenn sie daran dachte, wie gut es ihr gelungen war, Jürgen und Rosmarie auseinanderzubringen. Zuerst hatte sie gefürchtet, daß Jürgen sich noch einmal melden könnte und somit ihre netten kleinen Ränke an den Tag kommen würden. Aber der anmaßende Müllerbengel war dümmer, als sie angenommen hatte. Bockte jetzt, fühlte sich hintergangen und verraten und hatte keine Ahnung, wie sehr das Gänschen ihm nachtrauerte. Höchst zufrieden mit sich, arbeitete Frau Haller in der Küche herum. Sie summte sogar ein Liedchen. Nickte Norbert freundlich zu, der nach Hause kam und zur Tür hereinschaute. »Guten Abend, Mama.« »Guten Abend, mein Sohn. Gehe nur schon ins Zimmer, das Essen ist gleich fertig.« Norbert ging in sein Zimmer, wusch sich die Hände, zog den Scheitel frisch und setzte sich dann an das Fenster. Wie frohgelaunt die Mama jetzt immer war! Das hatte sicherlich Rosmarie zuwege gebracht, obgleich sie immer still und zurückhaltend war. Sie saß meist in ihrem Kämmerlein, war traurig und bedrückt; geradezu unnatürlich für ein so junges Mädel! Er wußte ganz genau, was der Kleinen fehlte: Sie konnte Jürgen Frank nicht vergessen, dem sie doch nur einen lustigen Abend lang ein Zeitvertreib gewesen war. Arme Kleine! Er konnte sich denken, wie ihr zumute war, er wußte ja selbst genau, wie es tat, wenn man sich in Liebe und
Sehnsucht nach einem Wesen verzehrte, wenn man hoffnungslos liebte. Wenn sie beide, Rosmarie und er, wenigstens noch ein trautes, sonnenwarmes Zuhause gehabt hätten, dann wäre alles leichter zu ertragen gewesen; aber bei dieser Mutter wurde das Leben zur Qual. Die Mama hatte ihm niemals sehr nahe gestanden, selbst nicht, als er noch ein Junge gewesen, doch er hatte sie stets als seine Mutter geachtet und geehrt. Allein seit jener Nacht nach dem Fest in der Mühle, als sie so hart, so erbarmungslos mit Rosmarie verfahren war, als sie ihre Gesinnung rückhaltlos gezeigt – seitdem war die Mutter ihm vollends fremd geworden. Norbert hörte die Mama in das Wohnzimmer gehen, hörte sie mit den Tellern klappern und laut singen – mit einer schrillen, hochgeschraubten Stimme, die dem Ohr weh tat. »Norbert, komm zum Essen!« rief sie jetzt, und er ging in das Wohnzimmer hinüber. »Wollen wir nicht auf Rosmarie warten?« fragte er, doch sie schüttelte den Kopf. »Die kommt ja viel zu spät nach Hause, das arme Ding weiß vor Arbeit kaum noch aus und ein. Der gute Bott nutzt sie für die paar Mark Gehalt, die er ihr zahlt, gehörig aus, genauso wie Erdmann dich.« »Mama, laß doch endlich einmal diese ewigen Nörgeleien«, wehrte er unwillig ab. »Sie verbittern dich nur und helfen dir doch nicht. Herr Erdmann gibt mir genausoviel, wie ich verdiene, und Herr Bott der Rosmarie ebenfalls. Ein Mensch kann immer nur so viel arbeiten, wie er wirklich schaffen kann. Was mich beunruhigt, ist, daß sie abends allein den Bach weg entlanggehen muß.« »Sie geht ja nicht allein, das weißt du doch«, entgegnete sie so harmlos sie konnte. »Fritz Böhlke und Herta Reisewitz haben denselben Weg und warten immer auf sie.« »Das ist mir eine große Beruhigung«, nickte er. Unterdessen schritten Rosmarie und Benno die Chaussee, die von der Stadt zum Mühlengrund führte, entlang. Den Bachpfad ging sie niemals in seiner Begleitung; denn so harmlos und unerfahren sie auch war, etwas in ihrem Innern warnte sie davor. Schon oft hatte sie ihm zu verstehen gegeben, daß sie seine
Begleitung nicht wünsche; aber er war dickfellig, er ließ sich nicht abschütteln. Jetzt fuhr sie zusammen und zog ihren Arm zurück. »Rosmarie, seien Sie doch nicht gleich immer so grantig«, sagte er vorwurfsvoll. »Was ist schon dabei, wenn ich Ihren Arm nehme?« »Wenn es Ihnen nicht paßt, dann brauchen Sie sich mir nicht mehr zu nähern, ich würde sogar recht froh darüber sein.« Benno zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. Daß er Rosmarie heiraten und so am schnellsten und sichersten zum Ziel gelangen könnte, das kam für ihn selbstverständlich nicht in Frage. Du lieber Himmel, wenn man jedes Mädchen, für das man entflammt war, heiraten sollte, dann hätte man bald einen wohlbesetzten Harem! Als Flirt war ein Mädchen wie Rosmarie Haller einfach unvergleichlich, doch als Frau… Na, er als Sohn des reichen, hochangesehenen Mühlen-Erdmann durfte doch wirklich etwas anderes beanspruchen! Rosmarie hatte keine Ahnung, wie schwer sie ihrem Anbeter das Leben machte. Ihr lag an seiner Zuneigung ganz und gar nichts. Doch Benno schien das nicht zu merken; wie sollte er auch – er war doch schon als Kind immer sehr begriffsstutzig gewesen. So sehr, daß Jürgen und Norbert ihm oft und auf ziemlich derbe Art hatten beibringen müssen, was er durchaus nicht begreifen wollte. Ach ja – Jürgen! Da waren ihre Gedanken glücklich wieder bei dem angelangt, der ihr so bitter weh getan und den sie nicht vergessen konnte. Daß ein Mensch so lügen konnte, mit so treuen Augen. Oh, Jürgen Frank, warum hast du mir das angetan! – dachte sie voll bitteren Wehs. Warum hast du mein Herz, das noch schlief, geweckt, wenn es dir nur auf etwas ankam, was nicht länger als einen Tanzabend dauern sollte! Oh, Jürgen Frank, das war nicht recht von dir! »Rosmarie, Sie sind ja wieder einmal wie weltentrückt«, hörte sie Benno sagen. Gottlob, daß sie wieder einmal den Mühlengrund erreicht hatten! Rosmarie atmete dann jedesmal befreit auf. Man ließ an der armen Rosmarie kein gutes Haar, stempelte sie zu einem ehrlosen, berechnenden Geschöpf. Allein nicht alle taten das – Gott sei Dank nicht! Es gab im Mühlengrund recht viele, denen das Mädchen von Herzen leid
tat. Und zu denen gehörten auch die jungen Burschen in der Baracke. Hauptsächlich einem unter ihnen, einem jungen Werkstudenten, der sich in den Mühlenwerken das Geld für das nächste Semester erarbeitete, ging das Geschick der wunderschönen und feinen Rosmarie zu Herzen. Armes Ding, dachte er bedauernd, und das Herz wurde ihm schwer. Er ging in die Baracke zurück, in deren großem Tagesraum die Kameraden vollzählig beieinander saßen. Sie sangen Lieder, die ein Kamerad auf dem Schifferklavier begleitete. Selbstverständlich wurden zuerst allerlei Müllerlieder, die man kannte, gesungen. Das war einfach Ehrensache, da man sich ja in einer Mühle befand. »Die Mühle, sie dreht ihre Flügel, Es brauset der Sturmwind dahin. Und unter der Linde am Hügel, Da weinet die Müllerin…« sangen sie gerade, als Hubert Reiner, der Werkstudent, die Baracke betrat. »Unsere süße Müllerin weint jetzt vermutlich auch«, lachte er und meinte dabei Renate. »Laß sausen den Sturm, laß brausen, Ich habe gebaut auf den Wind, Ich habe gebauet auf Schwüre, Da war ich ein törichtes Kind…« sangen die frischen, frohen Stimmen weiter. »Na schön«, meinte Hubert. »Wenn die kleine Rosmarie doch endlich auch einsehen wollte, ein wie törichtes Kind sie ist! Ich sah sie nämlich wieder mit Benno zusammen.« Sofort verstummten Spiel und Gesang. »Ob Nieritz annimmt, daß alle, die im Mühlengrund leben, mit Blindheit geschlagen sind?« meinte Hubert nachdenklich. »Der schlaue Herr hält uns alle hier für dämlich«, behauptete Hans Hein, der kleinste und keckste Bursche von allen. »Er zeigt sich mit der Rosmarie ja nur im Dunkeln.«
»Ob Norbert Haller immer noch nicht weiß, daß seine Schwester sich ausgerechnet Benno Nieritz zum Ritter erkoren hat?« fragte ein anderer. »Bestimmt weiß er das nicht«, entgegnete Hubert. »Sonst würde er das nicht so ruhig mit ansehen.« »Man müßte ihm einen Wink geben«, meinte ein dritter, doch Hubert winkte ab. »Daß man als Petzmaul dasteht und gehörig eins auf den Rüssel bekommt«, bemerkte Hans Hein, und die anderen lachten. »Hast recht, Hans«, nickte Hubert. »Doch nun spiele weiter, Hans«, forderte er den Harmonikaspieler auf. »Helfen können wir dem Mädel doch nicht.« Auch in einem anderen Haus sprach man um diese Zeit von Rosmarie – und zwar in der Windmühle. Da saßen die beiden alten Leutchen beieinander. »Heute sah ich die Rosmarie wieder mit Benno«, sagte soeben Vater Frank. »Ich bin nur froh, daß der Jung’ das nicht mit ansehen muß; ich glaube, der würde dreinschlagen vor lauter Verzweiflung. Es ist schon ein Jammer mit der Liebe, Mutter – wie?« »Ach ja, Vater«, nickte sie kummervoll. »Wenn der Jung’ es nur nicht so schwer nehmen wollte! Mir ist richtig bange davor. Man muß froh sein, daß er jetzt nicht kommt. Ich habe diese Nacht wieder so schlecht geträumt – wenn das nur nichts zu bedeuten hat.« »Na, Mutter, deine Träume sind doch immer nur Blindgänger«, spottete der alte Mann gutmütig. »Gott geb’s«, seufzte sie. »Wo der Jung’ wieder stecken mag!« »Irgendwo bestimmt, Mutter. Möchte nur wissen, von wem er das unruhige Blut, das ihn nie auf einer Stelle sitzen läßt, geerbt hat.« »Von mir bestimmt nicht.« Doch gleich trat wieder der bekümmerte Ausdruck in ihr gutes altes Gesicht. Und wieder sagte er: »Wenn der Jung’ sich doch bloß melden möchte!« Sie waren in großer Sorge, die beiden Alten. Vor fünf Wochen war ein Brief von Jürgen gekommen, in dem er schrieb, daß er mit einem Freund eine Reise machen müsse, die sich vielleicht über längere Zeit ausdehnen könnte. Die Eltern möchten sich
nicht sorgen. Drei bis vier Wochen waren sie ruhig gewesen, doch dann begannen sie sich Gedanken zu machen. Schon am nächsten Tag sollte ihre Sorge beendet sein. Sie erhielten ein Telegramm: herzliche grüße aus afrika – stop bin auf dem wege zu euch – stop mopsfidel Jürgen Die gute Mutter Frank erregte das Telegramm so sehr, daß ihr Mann ernstlich für sie fürchtete. »Bist doch eine närrische Alte«, brummte er und sah ihr zärtlich in das liebe Gesicht. »Wenn der Jung’ nicht schreibt, plinst du, und wenn er schreibt, plinst du auch – wie soll der Bengel es dir da recht machen?« »Ich weine doch vor Freude, Alter«, entgegnete sie zwischen Lachen und Weinen. Vier Wochen später war der Junge da. Er stürmte um die Abendstunde in die Stube. »Mutterchen, nun wein doch nicht, nun ist dein Ausreißer ja wieder hier und heil und ganz.« »Schmal bist geworden, Jung’, und hast etwas Fremdes im Gesicht.« »Na, Mutter, nun Herz wieder auf Deck?« schmunzelte der alte Müller. »Jung’, das sag’ ich dir, es ist das letztemal gewesen, daß du uns so unverschämt auf den Propfen gesetzt hast. Hier schwingt er große Töne von Motorrad anschaffen, jeden Sonntag rüberkommen – und kaum hat er den Rücken gekehrt, da ist er auch schon wieder über alle Berge. Die Mutter hat sich geängstigt, das hält sie nicht aus.« »Braucht sie auch nicht mehr«, entgegnete Jürgen weich und streichelte der Mutter die welke Wange. »Jetzt bleibe ich wirklich und wahrhaftig im Lande, es war das letzte Mal, daß ich meiner Abenteuerlust nachgab. Aber schau, Muttchen, da traf ich ganz zufällig meinen guten Freund Dietrich Bronk, dessen Vater eine Flugzeugfabrik hat. Der hatte nun ein neues Flugzeug herausgebracht, das Dieter prüfen sollte. Nun wollte Dietrich nicht allein starten.
Zuerst wollte ich nicht recht, doch schließlich sagte ich zu. Also fuhren wir von Danzig zu Dietrichs Eltern, und dann schaukelten wir los gen Afrika. Zuerst ging alles tadellos, aber dann merkten wir, daß das Vögelchen doch nicht mehr so recht wollte, und suchten uns noch rechtzeitig eine passende Stelle zum Landen. Es war auch höchste Zeit, denn die letzten Meter versagte das Dings bereits, aber wir waren gottlob heil und ganz geblieben. Dem Flugzeug war auch nicht viel geschehen, nur daß ausgerechnet der kleine Kurzwellensender zerstört war und wir ihn trotz größter Anstrengung nicht wieder in Ordnung bekamen. Also saßen wir da mit unseren Kenntnissen. Sahen uns dumm an. Wir saßen beide allein auf weiter Flur. Mit einer Notlandung hatten wir freilich immer rechnen müssen und hatten uns daher mit Nahrungsmitteln eingedeckt. Wir bauten also unser Zelt auf. So lebten wir recht und schlecht zwei Wochen, dann sahen wir plötzlich Geschöpfe auftauchen. Es verging wieder eine Woche, in der wir uns mit dem Flugzeug beschäftigten. Die Buschmänner tauchten immer öfter auf, und jedesmal waren es mehr. Sie wurden allmählich zutraulicher, ganz nahe wagten sie sich aber doch nicht heran. Es kreiste zu unserem Erstaunen eines Tages über uns ein Flugzeug, das schließlich dicht neben uns niederging. Und, o Wonne, wir hörten deutsche Laute! Es hatte sich nämlich unter den Wilden herumgesprochen, daß wir uns im Busch ganz gehörig breit gemacht hätten, und diese Neuigkeit war bis zur Missionsstation vorgedrungen. Unser persönliches Glück war, daß diese Station bereits über ein Flugzeug verfügte. Und so machten sich denn sogleich zwei brave Patres zu uns auf den Weg. Was nun kam, wickelte sich schnell und schmerzlos ab. Wir mußten das Flugzeug abmontieren, sonst hätten wir es nicht fortschaffen können. Die Buschmänner waren bereit, die einzelnen Teile des Flugzeuges zu tragen, und so machten wir uns langsam, aber sicher auf den Weg zur Missionsstation. Es klappte alles gut, und wir kamen heil und wohlbehalten dort an.
Dort wurden die Teile des Flugzeugs für den Seetransport verpackt und zum nächsten Hafen befördert. Wieder hatten wir Glück, daß bereits nach einigen Tagen ein Europadampfer auslief, mit dem wir der Heimat zufuhren. Also, Mutterchen, meine schaurige Abenteuergeschichte ist aus. Die beiden Helden sind glorreich daraus hervorgegangen, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«, schloß er lachend und küßte die Mutter, die ihn strahlend ansah. So einfach, wie Jürgen alles wiedergegeben hatte, war es nicht gewesen. Aber wozu die alte Frau erregen, sie war es schon gerade genug. Sie glaubte Wort für Wort, was ihr Jung’ erzählte. Der Müller jedoch ahnte, daß Jürgen nur das erzählt hatte, was er für richtig hielt. Allein auch er schwieg um seiner Frau willen und meinte nur so nebenbei mit einem Augenzwinkern zu dem Sohn hin: »Einzelheiten über alles wirst du mir noch erzählen müssen, Jung’. Jetzt wollen wir von etwas anderem reden, und vor allen Dingen wird Mutterchen uns etwas zu essen geben.« Nach dem Essen rauchten Vater und Sohn noch ein Pfeifchen. Da meinte der alte Müller so ganz nebenbei: »Weißt du schon von der Kleinen, Jung’?« Mit einem Schlag verdüsterte sich Jürgens eben noch so frohes Gesicht. Er legte die Pfeife auf den Tisch, denn sie schmeckte ihm auf einmal nicht mehr. »Ja«, entgegnete er kurz, und dieses Ja klang, als wenn Eisen auf Stein klirrte. Mutter Frank, die mit dem Abwaschen des Geschirrs beschäftigt war, kam an den Tisch. Die Hände an der Schürze abtrocknend, setzte sie sich an des Sohnes Seite auf die Bank und sah ihm mit banger Sorge in das finstere Gesicht. »Na – dann bleibt es Mutter und mir ja erspart, dich darüber aufzuklären«, meinte der Vater bedächtig. »Das wäre auch kein schönes Amt für uns gewesen. Wo hast du es denn erfahren?« »In der Stadt«, erwiderte Jürgen ebenso kurz wie vorher, und seine Stimme klang noch eisiger. Die Mutter betrachtete ihn besorgt, und ein Seufzer entrang sich ihren Lippen. Da fuhr Jürgen herum, sah in die treuen, jetzt so bangen Mutteraugen, und da stahl sich ein Lächeln um seinen harten Mund. Er ergriff die welke Altfrauenhand und drückte seine
Lippen darauf. »Hast schon deine liebe Not mit deinem Jung’, wie, Mutterchen?« versuchte er zu scherzen, was aber vorbeigelang. Es stand allzuviel in seinen Augen, in seinem Gesicht, was davon sprach, wie sehr er unter der Untreue des Mädchens litt. »Jung’, so sprich dich doch aus«, mahnte die Mutter leise und fuhr liebevoll über sein düsteres Gesicht. »Das erleichtert doch dein Herz. Wir sind ja keine Fremden, denen du deinen Kummer und dein Herzeleid anvertrauen sollst.« Da atmete Jürgen auf – ganz tief, so, als müsse der Atem ihm die Brust zersprengen. »Hast recht, Mutter«, bekräftigte er. »Also: Als ich heute in der Stadt ankam, fühlte ich mich verschönerungsbedürftig und suchte einen Friseur auf, der mir zu der ersehnten Schönheit verhelfen sollte. Nun hat der Friseurladen noch ein sogenanntes Damenzimmer, das nur durch eine dünne Bretterwand von dem für die Herren bestimmten getrennt ist. Na ja – und da waren so einige Dämchen darin…« »Ach so – na ja«, unterbrach der Vater ihn schmunzelnd, und da mußte Jürgen lachen. »Waren einige Dämchen darin«, fuhr er dann in seiner Erzählung fort, »die sich sehr angeregt unterhielten. Und als ich aufmerksam hinhörte, vernahm ich, daß da der Fall Benno Nieritz – Rosmarie Haller ziemlich eindeutig erörtert wurde. Jedenfalls brachten mir die Weiberchen – wohlgemerkt, ohne es zu wollen – so langsam bei, was ich wissen mußte, um genau im Bild zu sein. Nun, meinen Segen hat sie, mag sie mit Benno Nieritz glücklich werden.« Die letzten Worte kamen sehr bitter heraus, auch konnte er es nicht verhindern, daß seine Stimme bebte, so sehr er sich auch darüber ärgerte. Die Wunde, die in seinem Herzen blutete, war eben noch zu frisch, zu groß. Und die alten Eltern litten mit ihm. Im Mühlengrund ging alles seinen alten Gang. Ein Tag verfloß wie der andere, und es geschah nichts, was die Gemüter besonders erregt hätte. Daß Benno Nieritz der Rosmarie Haller nachstieg, war schon alt, darüber hielt sich kein Mensch mehr auf. Man wunderte sich höchstens über die Ausdauer, mit der der junge Mann seine Ziele verfolgte.
Was vielleicht sonst noch Unterhaltungsstoff darbot, betraf Jürgen Frank. Man hatte ihn zuletzt am ersten Oktober beim Jubiläumsfest gesehen. Besuchte er denn seine Eltern gar nicht mehr? Oder war er etwa wieder auf einer Abenteuerreise? In diesem Jahr war der Winter besonders streng. Der Schnee lag hart und fest im Mühlengrund, und wer nicht hinauszugehen brauchte, blieb lieber in der warmen Stube und bedauerte die anderen, die sich in Schnee und Kälte hinauswagen mußten, um ihrer Beschäftigung nachzugehen. Rosmarie ging es gerade in dieser Zeit recht gut. Sie brauchte nicht durch den tiefen Schnee zu stapfen, um zu ihrer Arbeitsstätte zu kommen, sondern wurde von Benno jeden Morgen im Schlitten zur Stadt gefahren und am Abend wieder abgeholt. Darum wußten selbst Herr Erdmann, Renate und Norbert und fanden es sehr nett von Benno, daß er die Kindheitsgespielin in dieser Weise betreute. Oft fuhr auch Renate den Schlitten, weil ihr das großen Spaß machte; Rosmarie fühlte sich in ihrer Begleitung stets bedeutend wohler; denn Bennos Aufmerksamkeiten wurden ihr lästiger mit jedem Tag. Doch auch der Winter verging, und der März kam und wartete manchmal mit einem Sonnenschein auf, der an den des Mai erinnerte. An einem dieser Tage war es, als der alte Müller Frank sich mit schweren, schmerzenden Gliedern von seinem Lager erhob. Er nahm sich zusammen, um seine Frau nicht zu beunruhigen, schleppte sich zu seiner Arbeitsstätte hin und versuchte, seinen Dienst zu tun. Allein immer wieder mußte er innehalten, weil ihn große Schwäche überfiel und der Schweiß ihm aus allen Poren brach. Der Kopf war ihm wie ausgehöhlt, und vor den Augen flimmerte es ihm so sehr, daß er kaum etwas sehen konnte. Doch schlappmachen? Nein, das gab es für den alten Frank nicht! »Meister Frank, Ihnen fehlt anscheinend etwas?« fragte Hubert Reiner besorgt, der mit seinen Kameraden in demselben Raum, wie der Alte arbeitete. »Kommen Sie, ruhen Sie sich ein wenig aus, dann wird Ihnen besser werden.« »Sie sind ein guter Junge«, nickte Frank ihm freundlich zu. »Sorgen Sie sich nur nicht, mir fehlt nichts. Eine kleine
Unpäßlichkeit befällt jeden wohl einmal, man darf sie nur nicht ernst nehmen.« Auch Herr Erdmann, der ungefähr eine Stunde später den Arbeitssaal betrat, fand den Müller heute sehr verändert. »Nanu, Wilhelm Frank, Sie sind doch nicht etwa krank?« fragte er und erschrak heftig, als der alte Mann den Kopf hob und ihn aus erloschenen Augen ansah. »Ja, Alterchen, da ist nun nichts zu machen, Sie gehören schleunigst ins Bett. Geht, Jungens, ruft mal den Arzt an«, wandte er sich an die Burschen. Jedoch der Müller wehrte ab. »Der alte Frank und einen Arzt? Da lachte ja ein Schimmel!« versuchte er zu scherzen. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Arzt gebraucht. Nur nicht der Krankheit den Willen lassen, das wäre ja noch schöner! – Jungens, ihr bleibt hier!« rief er die beiden Burschen, die sich entfernen wollten, energisch zurück. »Es ist ja nett von euch, daß ihr alle so besorgt um mich seid, aber es ist bestimmt unnötig.« Und um seine Worte zu bekräftigen, machte er sich eifrig an seine gewohnte Arbeit. Die Burschen entfernten sich, und auch Herr Erdmann setzte seine allmorgendliche Wanderung durch die Mühlenwerke fort. Eine Weile danach kam Benno Nieritz in den Saal. Er wußte den Vater, der in seinem Privatbüro mit einem Kunden verhandelte, gut untergebracht, und es gelüstete ihn, seine schlechte Laune an den Arbeitern und Angestellten der Mühlenwerke auszulassen. Denn schlechte Laune hatte Benno jetzt immer. Die Unzugänglichkeit Rosmaries begann ihm endlich auf die Nerven zu fallen. Also hieß es, sich ab und zu recht von Herzen auszutoben – und wo konnte er das besser als in den Mühlenwerken? Da mußten alle hübsch stillhalten, wenn er sie mit seinen Niederträchtigkeiten beehrte, was er auch jetzt wieder zu tun gedachte. Nun war es aber sein persönliches Pech, daß die Unterredung Herrn Erdmanns mit dem Kunden nicht lange dauerte, und daß es den Seniorchef zu Müller Frank zurücktrieb, um den er sich ernstlich sorgte. So kam er denn gerade dazu, seinen Sohn einmal so mitzuerleben, wie er in Wirklichkeit war. Das war für den alten Herrn ein harter Schlag! – Im ersten Augenblick wollte er den Sohn zurechtweisen, trat dann aber
hastig hinter einen Stapel Getreidesäcke, denn eben brüllte Benno: »Wenn ich euch noch einmal so rumlungern sehe, dann fliegt ihr, verstanden?! Bildet euch nur nicht ein, daß ihr euer Geld für Nichtstun bekommt. Und Sie, Frank, was ist mit Ihnen los? Ich glaube, Sie können auch lieber einpacken…« »Um Gottes willen, Herr Nieritz – still!« unterbrach Hubert Reiner ihn erregt; doch da hörte für Benno alles auf! »Sie wagen es, mir hier den Mund zu verbieten – Sie – Sie – Lümmel!« brüllte er. »Das wird ja immer schöner hier!« »Herr Nieritz – Meister Frank – er darf nicht erregt werden!« flehte Hubert, die Beleidigung überhörend. »Er ist krank!« »Wenn er krank ist, dann soll er nicht zur Arbeit kommen, dann soll er zu Hause bleiben!« tobte Benno weiter. »Aber das ist es ja, viel zuviel alte Leute in den Werken, hier ist ja schon das reinste Altersheim. Wenn man achtzig Jahre ist, dann soll man…« Er hielt erschrocken inne, denn der alte Müller stand auf einmal vor ihm. Hatte sich zu voller Größe aufgerafft, stand so aufrecht da, wie man ihn stets gekannt. Nur sein Gesicht war leichenblaß, und die Augen sahen aus tiefen Höhlen zu Benno hin. »Junger Mann, ich habe mein Leben lang gearbeitet, arbeite auch jetzt noch und werde arbeiten bis an mein Lebensende«, sagte er ganz rauh, ganz tief. »Sie aber haben bisher nichts anderes getan, als dem lieben Gott die Tage weggestohlen, daher haben Sie auch kein Recht, sich hier als Herr aufzuspielen. Der liebe Gott sieht jedem Menschen ins Herz, er kennt auch das Ihre, junger Mann. Daher nehmen Sie sich in acht! Unserem Herrgott kannst du nichts vormachen – du – du – Menschenschinder!« schrie er plötzlich, daß ihm die Stimme überschlug. »Er bringt jeden Frevler zu Fall!« Der alte Mann war schrecklich anzuschauen. Die Augen flackerten wild in dem leichenblassen Gesicht. Jäh lief es blaurot an, die Augen wurden seltsam glasig, der Atem ging pfeifend und mühsam, und die geballte Faust, die Benno in das frech lächelnde Gesicht hatte schlagen wollen, fuhr nach dem Herzen. Wie ein gefällter Baumstamm fiel der schwere Körper des Hünen an der Stelle nieder, an der er jahrzehntelang in treuester Pflichterfüllung gearbeitet hatte. * Alles war so plötzlich gekommen, daß die Leute nicht einmal
zuspringen konnten, um den alten Mann vor dem Fall zu bewahren. Nun eilten alle hinzu, und auch Herr Erdmann trat vor. Sein sonst so blühendes Gesicht war aschfahl. Keinen Blick hatte er für seinen Sohn, dessen freches Lächeln sich bei dem Erblicken des Vaters in ein feiges, hilfloses verwandelte, und der nicht wußte, ob er gehen oder bleiben sollte. Herr Erdmann beugte sich zu dem alten Mann nieder, wandte dessen Kopf zur Seite. »Noch lebt er!« sagte er erregt. »Schnell, Jungens, einen Arzt! Dann eine Trage! Sie, Hubert, laufen zu Frau Frank und bereiten sie darauf vor, daß man ihren Mann krank ins Haus bringen wird. Machen Sie es geschickt.« Hubert und noch einige Burschen stürmten davon, um die Aufträge ihres Herrn auszuführen, die anderen blieben im Saal zurück. Jetzt sah der Vater zu dem Sohn hin, der unbeweglich dastand. Ein Blick traf ihn – ganz kurz nur. »Geh hinaus, Benno«, sagte er ruhig, und der entfernte sich mit einem Achselzucken. Die Trage war schnell zur Stelle, der todkranke Mann wurde daraufgebettet und in die Windmühle getragen. Auf dem halben Weg kam ihnen schon Frau Frank entgegen – aufgelöst vor Angst und Entsetzen. »Wilhelm – was ist mit meinem Wilhelm?« schrie sie auf, als sie die Trage sah, umklammerte Herrn Erdmanns Arm in Angst und Not. »Nicht sich unnötig aufregen, Mutter Frank«,“beschwichtigte der sie gütig und umfaßte die zitternde alte Frau. »Er lebt ja – und wo Leben ist, da ist noch Hoffnung.« In der Mühle wurde der Müller in das große Himmelbett gelegt. Einige Minuten später kam der Arzt. »Schlaganfall«, sagte er kurz, als er den Kranken untersucht hatte. Da weinte die verstörte alte Frau laut auf. Hockte sich verzweifelt auf dem Bettrand nieder und umklammerte die Hände ihres kranken Mannes. »Wilhelm, Wilhelm, du darfst doch nicht sterben – du darfst doch nicht sterben!« wimmerte sie. »Jetzt nicht – jetzt doch noch nicht!« Länger als eine Stunde blieb Renate mit dem Kranken und der
alten Frau allein, und es wurde ihr immer banger zumute. Hier untätig sitzen zu müssen und nicht helfen zu können – wie schrecklich war das! Mutter Frank, die immer so lieb und so frohgemut gewesen, war heute wie geistesgestört. Sie schien Renate nicht zu erkennen, sah sie feindselig an und murmelte unverständliche Worte vor sich hin, die Renate ängstigten. Daher war sie froh, als die Gemeindeschwester endlich kam. Nach vielem gütigen Zureden gelang es der Schwester, Frau Frank so weit zu beruhigen, daß sie sich in einen Lehnstuhl, der dicht an das Bett gerückt wurde, setzte. Am Nachmittag traf Jürgen ein, und Frau Frank, die sich schon einigermaßen beruhigt hatte, brach wieder in hilfloses Weinen aus. »Mutterchen, mein Mutterchen – wer wird denn gleich so verzagt sein!« Über ihren Kopf hinweg ging sein Blick zu dem Vater hin – und der mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzustöhnen. Also so stand es – so. Jürgen drückte die Mutter fest an sein Herz – ihm war sterbensweh zumute. Behutsam setzte er sie in den Sessel zurück und begrüßte dann die Schwester und Renate. »Renilein, wie lieb von dir, daß du hier bist«, sagte er leise und küßte dankbar die Hände des Mädchens. »Doch ich glaube, du gehst jetzt nach Hause«, meinte er. »Das hier ist zu traurig für dich, mein Mädel.« In der Mühle schlich der Tag bleiern hin und brachte bange, trostlose Stunden. Noch immer lag der Kranke besinnungslos da, und für Jürgen war es eine Seelenqual, seinen Vater, dessen urwüchsige Kraft er immer aufrichtig bewundert hatte, jetzt vollkommen hilflos vor sich zu sehen. Als sich die Abendsonne in die düstere Stube stahl, alles ringsum mit ihrem Strahl vergoldend, trat noch einmal ein Leuchten in des Sterbenden müdes Gesicht. »Sonne – sehen«, lallte er. Da nahm Jürgen den Kopf des Vaters, drehte ihn dem Fenster zu, und nun war auch das bleiche Antlitz golden überstrahlt. Eine ganze Weile lag der Kranke so da. Dann wieder ein Stammeln, kaum noch verständlich: »Jung – unsere – Mühle…«
»Ich werde sie immer in Ehren halten, Vater, ich verspreche es dir«, sagte Jürgen, und es klang wie ein Schwur. Er bemerkte jedoch, daß der Kranke noch etwas auf dem Herzen hatte, sah es an dem angstvoll bittenden Blick. Endlich begriff er. Winkte die Schwester herbei, die ihn ablösen und des Kranken Kopf halten sollte. Er selbst kletterte die schmalen Stiegen hinauf, um die Mühle in Gang zu bringen. Und als er zurückkehrte, traf ihn ein dankbarer Blick aus den immer matter werdenden Augen des Sterbenden. Nun hielt wieder der Sohn des Vaters Kopf der Sonne entgegen, während die Mutter ihres Wilhelm Hände fest umklammerte. In der Stube die Sonne, die immer goldener strahlte, dazu das eilfertige, muntere Geklapper der Mühle… So hatte Wilhelm Frank immer zu sterben gewünscht. Und ehe noch die Sonne aus der niederen Stube huschte, tat er seinen letzten Atemzug. Ein unendlich liebevoller Blick zu Weib und Sohn hin – ein seltsam klares: »Jung’ – verlaß die – Mutter – nicht…« Ein wohliges Sichstrecken, ein tiefer Seufzer… Wilhelm Frank war tot. Die Tage, die nun folgten, waren für Jürgen Frank eine wahre Seelenfolter. In der großen Stube der Mühle lag der Tote aufgebahrt – denn es war selbstverständlich, daß der alte Frank von seiner Mühle aus zum Grab getragen wurde – und in der Kammer nebenan lag die völlig niedergebrochene Mutter. Jürgen und Renate sowie Schwester Hanna hatten sie gebeten, sie beschworen, bis nach dem Begräbnis in das Mühlengrunder Herrenhaus überzusiedeln – doch kein Bitten, kein Zureden half. Herr Erdmann hatte darauf bestanden, für das Begräbnis seines lieben Wilhelm Frank Sorge tragen zu dürfen. So wurde dem alten Müller ein Begräbnis zuteil, von dem man in der ganzen Umgegend noch lange sprach. Keiner, der den Alten gekannt, ließ es sich nehmen, ihm die letzte Ehre zu erweisen und mit zum Friedhof zu gehen. Ein langer Zug bewegte sich unter den Klängen der Musik zu dem Friedhof hin. Der Sarg war mit Kränzen bedeckt, und außerdem folgten noch zwei Wagen mit den übrigen Kränzen nach. Dicht hinter dem Sarg, zwischen dem Pfarrer und Jürgen, ging die alte Frau Frank. So haltlos sie auch die letzten Tage über
gewesen war, so tapfer zeigte sie sich jetzt. Sie blieb es auch während der Trauerrede des Geistlichen und wies den Sohn fast entrüstet zurück, wenn er sie stützend umfassen wollte. Der nächste Tag brachte für Jürgen Frank neue Sorge und neues Leid; denn seine Mutter war sehr schwer erkrankt. Er war in bebender Angst, auch noch dieses teure Leben hergeben zu müssen und tat alles, was sich nur tun ließ, um es zu erhalten. Nach zwei Wochen war das Ärgste überstanden und die alte Frau endlich außer Gefahr. Aber richtig gesund wurde sie nicht mehr. Sie konnte zwar aufstehen und sich langsam fortbewegen, blieb aber kraftlos und anfällig. Jürgen wagte es nicht, sie allein zu lassen, und mußte doch daran denken, sich nach Arbeit umzusehen, um endlich wieder Geld zu verdienen. Vorläufig hatte er ja noch seine Ersparnisse und das, was sein Vater zurückgelegt hatte. Außerdem war noch die Summe da, die die Versicherung auszahlte, doch die mußte als Notgroschen bleiben. Viel war es nicht, was Jürgen besaß, denn die Krankheit der Mutter hatte viel Geld verschlungen. Also mußte er arbeiten, durfte jedoch auch nicht lange von der Mutter wegbleiben – und das ließ sich schwer miteinander vereinen. Er machte sich große Sorgen um die Zukunft und sprach einmal mit Renate darüber, die jeden Tag in die Mühle kam. Renate hätte ihn gern beraten, wenn sie nur selbst Rat gewußt hätte. Sie tat aber das Beste, was sie tun konnte – sie sprach mit ihrem Vater und schilderte ihm die Not ihres Kindheitsgespielen. Die Folge davon war, daß Herr Erdmann Jürgen Frank zu sich in sein Privatbüro bestellte. Als der blonde Hüne vor ihm stand – gänzlich verändert, überhaupt nicht wiederzuerkennen – so ernst, so fremd, so viel männlicher als früher, aber ebensoviel verschlossener und unzugänglicher – da wurde es dem gütigen Mann ganz eigen ums Herz. »Komm, Jürgen, nimm Platz. Rauchst du, nein? Du hast es doch aber früher getan.« »Meine Mutter kann den Geruch des Tabaks nicht vertragen, Herr Erdmann, daher habe ich das Rauchen eingestellt. Ich habe seit vier Wochen stündlich bei ihr gesessen.« »So, na ja – das ist dann ja zu verstehen. Deiner Mutter wegen wollte ich übrigens mit dir sprechen, Jürgen. Renate sagte mir, du
könntest sie nicht allein lassen?« »Das stimmt, Herr Erdmann. Meine Mutter würde, wollte ich sie aus der Mühle entfernen, daran zugrunde gehen.« »Ja, aber lieber Jürgen, wie denkst du dir das? Eine Arbeit, wie du sie mit deinem Wissen und deiner Vorbildung zu beanspruchen hast, wirst du in unserem Städtchen kaum finden.« »Ich will mir keine Stellung suchen, die meinen Fähigkeiten entspricht, Herr Erdmann. Ich will mir eine Arbeit suchen, bei der ich Geld verdiene.« »Soso – hm ja«, räusperte sich Herr Erdmann. »Wenn das so ist, dann kannst du jederzeit bei mir eintreten. Ich habe zwar keinen Ingenieurposten zu vergeben, aber als Werkmeister könnte ich dich schon einstellen. Was meinst du dazu, Jürgen?« »Wenn Sie mich haben wollen, Herr Erdmann, ich greif selbstverständlich mit beiden Händen zu.« »Dann sind wir uns bereits einig, mein Junge«, schmunzelte Herr Erdmann. Nun gab es für Jürgen noch eine besondere Sorge: Er. mußte der Mutter eine zuverlässige Pflegerin besorgen, die zugleich den Haushalt versah. Doch da wußte Schwester Hanna, die die alte Frau während ihrer Krankheit betreut hatte und auch jetzt noch jeden Tag nach ihr sehen kam, guten Rat. Sie empfahl ein ältliches Fräulein, das noch am gleichen Tag zur Vorstellung erschien. Sie sagte Jürgen zu und wurde sofort eingestellt. So erschien Jürgen am nächsten Tag in den Mühlenwerken, um seinen Werkmeisterposten anzutreten. Zufrieden damit waren Herr Erdmann und Renate; nicht so sehr jedoch die Arbeiter. Am wenigsten einverstanden mit Jürgens Einstellung in den Mühlenwerken war wohl der Juniorchef. Ihm war die Anwesenheit des klugen und gelassenen Mannes geradezu ein Dorn im Auge. Nicht nur, weil er diesen anmaßenden Burschen in den Tod nicht leiden konnte, sondern weil er für ihn eine Gefahr bedeutete. Denn seine Eifersucht hatte schon längst aufgespürt, daß Jürgen das Hindernis war, das ihn noch immer von Rosmarie Haller trennte. Was er zuerst dunkel geahnt, das war ihm am Begräbnistag des alten Frank zur Gewißheit geworden – Rosmarie hatte sich in den anmaßenden Müllerbengel vergafft. Allein Benno hatte sich damit getröstet, daß Jürgen wieder aus dem Mühlengrund verschwinden würde und Rosmarie somit
nicht weiter gefährlich werden könnte. Und nun blieb er, und Rosmarie hatte Gelegenheit, jeden Tag mit ihm zusammenzukommen – das hatte ihm gerade noch gefehlt! März und April waren vergangen, und der Mai kam und entfaltete alle Reize, die ihm eigen sind. Die Windmühle klapperte wieder lustig und eifrig. Jürgen nutzte die günstigen Frühlingswinde aus und mahlte das Getreide, das vom Winter her liegengeblieben war. Tat es unentgeltlich für die Armen, wie es Vater und Großvater schon getan hatten. An einem dieser Abende holte Benno Nieritz Rosmarie wieder einmal aus der Stadt ab. Es war heute besonders spät geworden, denn Rosmarie hatte viel zu tun gehabt. Mit Beginn des Frühlings zückten die Liebhaberfotografen wieder fleißig ihre Apparate und brachten Platten und Filme in das Fotogeschäft zum Entwickeln. Damit begann Rosmaries hauptsächlichste Arbeit, und die war so reichlich, daß sie oft bis in den späten Abend hinein zu tun hatte. Eben trat sie aus der Dunkelkammer in den kleinen Arbeitsraum, als Benno Nieritz ihr schon entgegenkam. »Herr Nieritz, ich habe Ihnen doch bereits oft genug verboten, diesen Raum zu betreten«, sagte sie unwillig. »Er ist Fremden durchaus nicht zugänglich.« »Aber Rosmarie, warum schelten Sie mich immer so aus?« entgegnete er vorwurfsvoll. »Herr Bott hat mir das Betreten des Raumes gestattet, also kann ein so böses kleines Mädchen es mir noch lange nicht verbieten.« Rosmarie schwieg. Er hatte recht – leider. Wie oft hatte sie Herrn Bott schon gebeten, Herrn Nieritz fortzuschicken, wenn er nach ihr fragte! Doch der gute Mann glaubte ein wenig Vorsehung spielen zu müssen und ahnte nicht, wie sehr er damit ihren Wünschen zuwider handelte. »Nun, Rosiliebchen, fertig für heute?« fragte Benno zärtlich. Rosmarie, die am Waschbecken stand und sich die Hände säuberte, fuhr herum. »Ich bin Ihr Liebchen noch lange nicht, Herr Nieritz!« entgegnete sie ärgerlich. »Wenn Sie doch endlich begreifen wollten, daß ich von Ihnen in Ruhe gelassen zu werden wünsche. Warum laufen Sie mir immer nach?« »Rosmarie, wollen wir heute nicht in das Cafe gehen?« schmeichelte er. »Der Abend ist einfach wundervoll. Es ist eine vorzügliche Kapelle in dem Lokal, und das Eis ist köstlich.«
»Danke«, entgegnete Rosmarie kurz. »Ich bin müde und möchte nach Hause.« Wenn sie so bestimmt sprach, dann beharrte sie auf ihrem Willen, das wußte Benno aus Erfahrung. So fügte er sich und ging an ihrer Seite brav dem Mühlengrund zu. Als sie dort ankamen, war es schon ziemlich dunkel geworden. Die Luft war warm und still. Von der Baracke her klang Harmonikamusik, und die Burschen sangen dazu mit frischen Stimmen. » Was weißt du von mir? Ich liebe dich und weiß nicht warum und schließe dich ein in meinem Herzen…« klang es wehmütig durch den stillen Abend. Rosmarie verhielt den Schritt und lauschte. Sie standen auf einer kleinen Anhöhe, von der sich ein schmaler Fußweg zur Baracke hinabschlängelte. Rosmaries schlanke Gestalt hob sich vom Himmel, der den Hintergrund bildete, scharf ab. »Was weißt du von mir? Die Liebe ist verschwiegen und stumm in seligem Glück und bitteren Schmerzen« hieß es weiter, und Rosmarie lauschte wie gebannt. So spielte und sang nur einer – unter Tausenden hätte sie Spiel und Gesang herausgehört. »Ich hob’ so viele Nächte geweint, verzweifelt, in bitterer Pein, du weißt nicht, daß nur dich ich gemeint dich nur immer, von allen allein« drang es an Rosmaries Ohr. Da senkte sie den Kopf, und ihr Herz preßte sich zusammen in Leid und Qual. Da saß er nun und sang gedankenlos hin, was sie hätte hinausschreien mögen in tiefster Verzweiflung! »Ich hob’ so viele Nächte geweint, verzweifelt, in bitterer Pein!«
Was wußte er davon? Er, dem sie ein Spielzeug gewesen, einen vergnügten Tanzabend lang! Er sang es hier mit lachendem Mund – sie jedoch hatte das alles erlebt und erlitten – wochenlang, monatelang - und erlitt es immer noch weiter. Sie sehnte sich krank nach ihm, und was tat er? Er ging ihr aus dem Weg, wo er nur konnte, und wenn er trotzdem einmal mit ihr zusammentraf, war er schroff und abweisend bis zur Ungezogenheit. Und warum? Nur, weil er ein böses Gewissen hatte, weil ihr Anblick ihm unbequem war. Er machte sich sicherlich Vorwürfe, daß er sich an jenem Abend hatte zu einer Dummheit hinreißen lassen. Das brauchte er doch gar nicht. Er hatte diese Dummheit im Sektrausch begangen – damit war eben alles entschuldigt. Rosmarie biß die Zähne fest zusammen, um nicht die Qual ihres Herzens laut hinausschreien zu müssen. Großer Gott, so sollte das immer weitergehen, ein Leben lang? Das konnte doch niemand ertragen! Nein, gewiß nicht, das ging über eines Menschen Kraft! Rosmarie hatte alles um sich her vergessen, hörte nur auf die Stimme ihres Herzens. Ganz und gar hatte Rosmarie den anderen vergessen, der an ihrer Seite stand; der sie in einem fort anstarrte und dem sie noch niemals so schön erschienen war wie in diesem Augenblick. Und als sie jetzt ganz unerwartet aufweinte – schmerzgequält, bitterlich und hemmungslos – wer konnte es da schließlich dem arg verliebten Mann verdenken, daß er endlich seine auf so harte Probe gestellte Beherrschung verlor, daß er überhaupt den Kopf verlor, daß ihm jede Vorsicht und Vernunft, die er bisher noch nie außer acht gelassen hatte?! Daß er das weinende Mädchen an sich riß und es küßte – küßte mit all der Siegestrunkenheit, die jetzt in ihm war! Und daß er das Mädchen nicht losließ, obwohl es sich verzweifelt gegen ihn wehrte? Erst als ihn ein Schlag der kleinen Faust traf mitten in das Gesicht hinein –, kam er zur Besinnung und ließ von seinem Opfer ab, das nun zornbebend vor ihm stand – zum Sprechen ansetzte und doch kein Wort hervorbrachte. Das sich endlich von
ihm abwandte – zornig, verächtlich, und den schmalen Pfad hinunterlief wie gehetzt. Sein kühner Angriff wäre ungesühnt geblieben, wenn er nicht Zeugen gehabt hätte. Zwei Burschen saßen nämlich am Fenster der Baracke. Unweit von ihnen Jürgen Frank, der die Harmonika spielte, und neben diesem lehnte Norbert Haller. Er war vor ungefähr einer Stunde mit einem Auftrag des Chefs in die Baracke gekommen, hatte es da urgemütlich gefunden und war auf die höfliche Aufforderung der Burschen hin noch dort geblieben. Die beiden Burschen am Fenster hatten das Pärchen auf der Anhöhe, das sich scharf von dem Abendhimmel abhob, schon eine Weile beobachtet -* wußten dann auch schließlich, wer die beiden waren. Als sie jedoch sahen, wie der Mann das Mädchen küßte, da erschraken sie und schielten zu Norbert und Jürgen hin, die gleich ihnen die Anhöhe übersehen konnten, das Pärchen aber anscheinend noch nicht bemerkt hatten. Sie wollten sich gerade vor das Fenster stellen, um so den Anblick zur Anhöhe zu verdecken, als Norbert just in diesem Augenblick auf die verliebten Leutchen aufmerksam wurde und interessiert an das Fenster trat. »Dieses Pärchen hat die Wunderkraft des Frühlings erfaßt«, meinte er mit leichter Anzüglichkeit. »Und warum auch nicht? Es heißt doch nicht umsonst: Alles fühlt der Liebe Freuden, schnäbelt, tändelt, herzet, küßt. Und jetzt sträubt sie sich sogar«, stellte er lachend fest, als Rosmarie sich bemühte, sich aus der unerwünschten Umarmung zu befreien. »Die Kleine hat recht, man muß dem Mann den Sieg nicht zu leicht machen, sonst wird er übermütig und…« Er hielt inne, denn soeben lief Rosmarie die Anhöhe hinab. Und nun… Nun hatte Norbert seine Schwester erkannt – und Benno Nieritz… Todblaß wurde er, umkrallte das Fensterkreuz mit beiden Händen. Die Burschen, die auf seine Bemerkungen hin sämtlich an das Fenster getreten waren, wagten nicht, sich zu rühren. Nun hatte das Mädchen die Baracke erreicht, wollte links abbiegen.
Da riß Norbert das Fenster auf. »Rosmarie!« rief er befehlend. Sie erschrak und blieb stehen – zitternd, zagend, schuldbewußt. Wagte den Bruder, der sich aus dem Fenster geschwungen hatte und nun vor ihr stand, nicht anzusehen. »Komm!« herrschte er sie an, umklammerte ihr Handgelenk und wollte sie mit sich ziehen, doch Benno Nieritz vertrat ihm den Weg. »Sofort lassen Sie Rosmarie los!« schrie er wütend. Da wandte Norbert sich herum, stand vor ihm, war so furchterregend anzusehen, daß Benno scheu zurückwich. »Wer ist hier für Sie eine Rosmarie, Herr Nieritz?« fragte er ganz ruhig, ganz eisig. »Haben Sie das Recht, meine Schwester so zu nennen?« »Nun, ich meine – das ist überhaupt eine bodenlose Frechheit – benehmen Sie sich gefälligst anständig!« verbuchte Benno zu retten, was irgend noch zu retten war. »Selbst als Bruder haben Sie nicht das Recht, die Schwester so roh zu behandeln!« »Kein Recht?« lachte Norbert rauh auf. »Ich habe als Bruder nicht nur das Recht, sondern ich habe sogar die – Pflicht, meine Schwester vor einem gewissenlosen – Mädchenjäger zu schützen.« »Herr, was erlauben Sie sich?!« brüllte Benno. »Sie werden mir Genugtuung geben!« »Ihnen?« fragte Norbert verächtlich. »Nein, Herr Nieritz, Ihnen bin ich keine Genugtuung schuldig.« Damit zog er Rosmarie mit sich fort und ließ den andern in rasender Wut zurück. Jürgen und die Burschen, die an dem offenen Fenster der Baracke Zeugen des ganzen Vorfalles gewesen waren, standen da wie erstarrt. In der Baracke brach ein großes Hallo los. Alle schrien durcheinander. »Ruhig, Jungens!« donnerte Hubert dazwischen. »Ihr brüllt ja den ganzen Mühlengrund zusammen, und es ist nicht gerade nötig, daß die Leutchen hellhörig werden. Wir wollen hoffen, daß wir die einzigen sind, die das Pärchen belauscht haben, sonst ist die Kleine morgen in aller Leute Mund. Daß ihr dicht haltet, Jungens, verstanden?!« »Ehrensache!« kam es prompt aus neun Kehlen, und Hubert nickte zufrieden. »Nun ist das Pärchen also doch einmal erwischt worden«, sprach
er weiter. »Lange genug hat es ja gedauert, aber der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht. Mir tut nur das Mädel leid und der Bruder nicht minder.« »Mir tut sie gar nicht leid«, widersprach Hans Hein gelassen. »Ausgerechnet auf die Anhöhe müssen die Dummköpfe sich stellen, damit sie ja recht deutlich gesehen werden können! Als wenn es nicht genug verschwiegene Plätzchen gäbe, wo sie sich nach Herzenslust schnäbeln können und wo sie dabei nicht ertappt werden. Zum Beispiel der romantische Grund.« »Halt den Mund, Hans!« fuhr Hubert dazwischen. »Das Mädel ist nicht mal zu verurteilen. Vielleicht gedenkt die Kleine sich einen reichen Freier zu kapern und hat sich nur insofern verrechnet, daß sie gerade an Benno geraten mußte. Der heiratet sie bestimmt nicht.« Frau Haller hob den Kopf von dem Buch, in dem sie gelesen, und sah ihren Kindern entgegen, die soeben das Zimmer betraten. Sie schob den Kopf vor – schaute. Ja, was hatten die beiden denn? Sie sahen ja aus, als wären sie soeben dem Grabe entstiegen, so weiß und starr waren ihre Gesichter. Und warum hielt Norbert Rosmaries Handgelenk so fest umklammert? »Was habt ihr denn?« fragte sie. Da schleuderte Norbert seiner Schwester Arm so heftig von sich, daß das Mädchen gegen den Tisch taumelte. »Frage nur dein Fräulein Tochter, das wird dir darauf Antwort geben können!« lachte er auf, doch das Lachen klang seltsam rauh. »Ein Liebchen ist sie – ein Liebchen des sauberen Herrn Benno Nieritz!« Rosmarie, die dem Bruder widerstandslos gefolgt war, die auch hier noch geduldig blieb, obgleich Norberts Behandlung sie hatte empören müssen, fuhr bei seinen letzten harten Worten doch auf. »Das ist nicht wahr!« rief sie drohend, und ihre Augen flammten vor Entrüstung. »Herr Nieritz hat mich heute gegen meinen Willen geküßt – das erstemal, Norbert – ich schwöre es dir!« »Und das soll ich dir glauben?« fragte er bitter. »Wenn mir heute noch, bevor ich dieses Niegeahnte gesehen, jemand gesagt hätte, meine Schwester lasse sich von einem Benno Nieritz küssen – ich hätte ihn niedergeschlagen vor ehrlichster Empörung! Denn ich hielt meine Schwester für das reinste, feinste Geschöpf…«
Er konnte nicht weitersprechen, wandte sich ab und bedeckte die Augen mit der Hand. »Und was gibt dir das Recht, jetzt an mir zu zweifeln?« fragte Rosmarie müde und gequält. »Was ich heute sah!« schrie er so laut hinaus, daß nicht nur Rosmarie, sondern auch die Mutter zusammenzuckte. »Norbert, du benimmst dich wie ein Irrsinniger!« mischte sich nun die Mutter ein. »Was ist schon dabei, wenn ein junges Mädchen sich von einem jungen Mann, den sie seit ihrer Kindheit kennt, küssen läßt? Deswegen brauchst du nicht gleich ein großes Geschrei zu erheben, als wäre die Welt aus den Fugen gegangen.« Norbert sah die Mutter an, als sähe er sie heute zum erstenmal. »Dabei findest du nichts?« rang er sich endlich von seinen Lippen. »Du – als Mutter?! Dann allerdings!« Er wandte sich ab mit müder, hoffnungsloser Gebärde, öffnete die zu seinem Zimmer führende Tür. »Weißt du denn, ob Benno Nieritz Rosmarie nicht zu heiraten gedenkt?« meinte die Mutter lauernd. Da verhielt Norbert noch einmal den Schritt. »Das glaubst du wohl selbst nicht, Mama«, winkte er müde ab. »Ein Mann wie Benno Nieritz heiratet kein Mädchen, das nichts ist und nichts hat.« »Komm her, Rosiliebchen«, flötete Frau Haller honigsüß. Da fuhr das Mädchen auf. Dieses Kosewort – von diesen Lippen – in dieser Stunde! Das war zuviel für sie! Sie schrie auf – ganz laut, ganz hell – mußte aufschreien, wenn sie nicht an dem ersticken wollte, was ihr Herz und Seele zerriß! Dann stürmte auch sie aus dem Zimmer. Nun war endlich eingetroffen, worauf sie schon sehnsüchtig gewartet hatte. Lange genug hatte es ja gedauert. Nun galt es für sie, alles so geschickt wie nur möglich anzufangen, galt für ihre dösigen, unbeholfenen Kinder zu handeln und wenigstens dem Mädel zu seinem Glück zu verhelfen. »Herr Erdmann, Frau Haller möchte Sie sprechen«, meldete der Bürodiener am nächsten Vormittag seinem Chef. Der hob den Kopf von dem Buch, das er gerade prüfte. »Wer will mich sprechen?« »Frau Haller. Und zwar in einer dringenden Angelegenheit.«
»Ich lasse bitten.« Nun setzte Herr Erdmann sich in seinem Schreibtischstuhl zurecht und sah der Frau entgegen, die gar herrlich geschmückt zu ihm hereinrauschte. Doch das Gesicht paßte nicht zu dem festlichen Gewand; es war verweint und sehr kläglich. »Nun, meine liebe Frau Haller, was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?« erkundigte sich Herr Erdmann und wußte nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Jedenfalls war ihm sehr unbehaglich zumute, und als Frau Haller nun gar aufweinte, da zuckte er betroffen zusammen. »O Gott – o Gott – ich bin so unglücklich, so über alle Maßen unglücklich!« schluchzte sie, und Herrn Erdmann wurde es immer schwüler zu Sinn. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« fragte er, doch sie schüttelte den Kopf und weinte noch heftiger, noch haltloser. »Es ist wegen meiner Rosmarie«, kam es endlich unter dem Taschentuch hervor, das sie gegen das Gesicht gedrückt hielt. »Nun beruhigen Sie sich erst einmal, und dann erzählen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben.« »Meine Rosmarie – und Ihr Sohn«, schluchzte sie nun doch wieder, und Herr Erdmann hatte begriffen. Also, das war es! Na, eine schöne Bescherung! So ein verflixter Bengel! Und dann die Kleine – der hätte er derartiges bestimmt nicht zugetraut! »Wann ist es denn soweit?« erkundigte er sich verlegen; aber da fuhr Frau Haller auf. »Herr Erdmann!« rief sie schwer gekränkt. »Was trauen Sie meiner Tochter zu? Rosmarie ist ein anständiges Mädchen.« »Und was wollen Sie dann von meinem Sohn?« fragte er verblüfft. »Er hat sie bloßgestellt«, sagte sie großartig. »Hat sie in aller Leute Mund gebracht«, bekräftigte sie, falls er das erstere nicht verstehen sollte. »Schon seit Oktober holt er sie jeden Abend vom Geschäft ab – na, Sie kennen die Menschen ja, Herr Erdmann. Jedenfalls zeigt man mit Fingern auf mein unschuldiges Kind«, weinte sie nun wieder herzbrechend. »Und gestern abend – da hat er sie sogar – geküßt. Mein Norbert hat es gesehen und will seine Schwester nun umbringen.« »Er wird sich noch besinnen«, meinte Erdmann trocken, der das
Theater, das die Frau ihm vormachte, langsam zu begreifen begann. »Und ich weiß immer noch nicht, was Sie eigentlich von mir wollen, Frau Haller. Ich kann meinem Sohn doch nicht verbieten, daß er mit seiner Jugendgespielin verkehrt – in allen Ehren, versteht sich.« »Herr Erdmann, meine Rosmarie ist nicht irgendwer«, erklärte sie würdevoll. »Sie ist eine Tochter aus guter Familie – ist meine Tochter.« »Ich werde meinem Sohn selbstverständlich ins Gewissen reden«, versprach er Frau Haller, die ein langes Gesicht machte. »Sie sind eben leichtsinnig gewesen, die beiden Leutchen, haben nicht an die geifernden Klatschmäuler gedacht. Ich werde meinem Sohn nahelegen, Ihre Tochter in Zukunft ihrer Wege gehen zu lassen; Sie wiederum sagen Rosmarie das gleiche, und somit hätten wir beide dann getan, was wir für unsere Pflicht halten.« Ein Glück, daß die Kinder von dieser Mutter nicht viel mitbekommen hatten; sie schienen mehr .dem Vater nachgeschlagen zu sein. Norbert glich ihm nicht nur im Aussehen, sondern auch in seiner ganzen Art. Und die kleine Rosmarie? Ein bildhübscher Racker war das! Hatte ein Paar Augen im Kopf, die einem das Herz warm werden ließen. Also, der Benno hatte sich in die Kleine verguckt – hatte keinen schlechten Geschmack, der Bengel! Wenn die Rosmarie auch innerlich* so blitzsauber war wie äußerlich, dann wäre gegen sie als Schwiegertochter nichts einzuwenden. Im Gegenteil, bei dem Mädel wußte man wenigstens, woran man war, kannte es von Kindheit an. Allerdings mußte man zuerst ergründen, was mit Rosmarie los war, ob sie dem Vater oder der Mutter nachartete. In letzterem Fall ließ man wohl lieber die Finger davon; denn diese Frau Haller war einfach unmöglich! Er ließ Benno rufen. Dem wurde schwül zumute; denn er konnte sich nichts anderes denken, als daß dem Vater etwas über die Geschichte von Gestern zu Ohren gekommen war. Na, wenn schon! Mochte der Alte sich nur nicht mausig machen, – man war schließlich doch kein kleines Kind mehr, das man ganz nach Gefallen gängeln konnte! Wenn der Alte ihn auch in den Werken in geradezu lächerlicher Weise bevormundete, so hatte er noch lange kein Recht, sich in seine
Privatangelegenheiten zu mischen. Jedenfalls konnte es so nicht weitergehen, er mußte dem Alten langsam beibringen, daß er nicht ganz das gutmütige Lamm war, das er sein sollte. Ganz Benno Nieritz – die Nase in die Luft, anmaßend und dummdreist – erschien er bei dem Vater, der ihn erstaunt ansah. »Du hast mich rufen lassen, Vater?« meinte Benno leichthin. »Nimm Platz«, sagte er und deutete auf einen Sessel, der seinem Schreibtisch gegenüberstand. »Sag mal, Benno«, begann er in seiner ruhigen, freundlichen Art, »*da ist mir zu Ohren gekommen, daß du mit der Rosmarie Haller angebändelt hast. Stimmt das?« »Was heißt hier angebändelt?« entgegnete Benno nachlässig. »Die Kleine gefällt mir, und ich habe einen netten Flirt mit ihr begonnen.« »Schon lange?« fragte der Vater weiter. Benno begann sich bereits über den Ton zu ärgern, den der Alte anzuschlagen beliebte. »Seit Oktober«, gab er kurz zurück. »So, also seit Oktober«, wiederholte Erdmann nachdenklich. »Und ist dir noch gar nicht in den Sinn gekommen, daß du das Mädel bloßstellst?« Jetzt trat jenes niederträchtige Lächeln in Bennos Gesicht, das der Vater heute zum erstenmal sah. »Gott, Vater, du tust ja so, als ob es sich hier um ein Mädchen von Familie handelte.« Herr Erdmann sah plötzlich sehr erhitzt aus. Er griff nach einem Bleistift, spielte mit ihm und meinte so nebenbei: »Die Kleine ist für dich also nichts weiter als ein bloßer Zeitvertreib?« »Na, was denn sonst?« sagte Benno wegwerfend. »Hm – na ja – und hat sie dich auch nicht enttäuscht? Ich meine – na, du verstehst mich ja wohl.« »Wie mann’s nimmt«, entgegnete Benno nachlässig. »Sie wirkt jedenfalls nicht langweilig. Der Mann, der sie erringen will, muß schon mit so spröden kleinen Rackern umzugehen wissen. Selbst mir gibt sie manchmal noch Rätsel auf, und ich weiß nicht, was sie mit ihrer schroffen Zurückhaltung bezweckt. Entweder ist sie sehr gerissen, oder – unbequem anständig.« Benno hatte den Eindruck, dem Vater mache das Ganze großen Spaß. »Na, sage einmal, Benno, wenn das Mädel so – unbequem anständig ist, wie du dich ausdrückst – ist dir da nicht der
Gedanke gekommen, daß du es – heiraten könntest?« erkundigte sich Erdmann. Da lachte Benno auf. Ein sehr häßliches Lachen war es. »Mach noch so ’nen Witz, Vater! Möchtest wohl eine verdammt schlechte Meinung von deinem Sohn bekommen, wenn er sich mit einer kleinen – Fotogehilfin als Gattin begnügen wollte.« »So hältst du eine kleine Fotogehilfin wohl für so *ne Art Freiwild, wie?« fragte Erdmann. Benno zuckte die Achseln. »Gott – wie man’s nimmt. Sie würde zweifellos einen Mann bekommen, wenn sie sich mit einem Aschenputteldasein begnügen wollte. Aber dazu ist sie viel zu schlau und weiß ganz genau, daß sich aus ihrer Schönheit mancherlei herausschlagen läßt.« Er zuckte auf einmal erschrocken zusammen und sah den Vater verblüfft an. »Und du wirst sie heiraten!« schrie er den völlig verdatterten Sohn an. »Für deine schmutzigen Abenteuer suche dir gefälligst Mädchen aus, die dazu geeignet sind, aber nicht ein so – unbequem anständiges Mädchen wie die Rosmarie! Sie ist für deine Raubzüge denn doch zu schade!« »Aber ja, ich verstehe dich ja schon – schreie doch nicht so!« brummte der aus allen Wolken gefallene Benno. »Es ist doch nicht nötig, daß die Leute hier alles hören.« Da ging Benno Nieritz hinaus. »Fräulein Haller! Herr Nieritz möchte Sie sprechen.« Herr Bott steckte sein gerade nicht gepflegtes Haupt durch die Tür, die zu Rosmaries kleinem Arbeitszimmer führte. »Herr Bott, wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß ich für Herrn Nieritz nicht zu sprechen bin«, entgegnete Rosmarie vorwurfsvoll. »Ich habe zu arbeiten und möchte nicht gestört werden.« Der gute Bott schloß die Tür und sah Benno, der neben ihm stand, bekümmert an. »Nun haben Sie es ja selbst gehört, Herr Nieritz, ich soll Sie jedesmal abweisen«, meinte er bedauernd und verlegen zugleich. »Da muß ich schon gehorchen, sonst geht mir das Fräulein womöglich auf und davon. Und ich kann sie nicht entbehren, sie ist eine tüchtige Kraft.« »So werde ich mir den Eintritt selbst verschaffen«, entgegnete Benno kurz entschlossen, schob den verdutzten Bott zur Seite
und war schon in dem Zimmer, bevor dieser dagegen Einspruch erheben konnte. »Bei Ihnen dürfte mich eigentlich gar nichts mehr wundern«, wandte Rosmarie sich achselzuckend an den Eindringling. »Ich habe mir monatelang Ihre Aufdringlichkeit gefallen lassen. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß ich um Hilfe rufen werde, falls Sie mich belästigen sollten.« »Ach nein, Kind, was du nicht sagst«, erwiderte er in seiner gewohnt nichtswürdigen Art, die Rosmarie allerdings noch nicht kannte, da er sich in ihrer Gegenwart immer zusammengenommen hatte. Er stand vor ihr, hatte die Hände in den Taschen seines Beinkleides vergraben und musterte sie mit dreisten Blicken. Rosmarie war unter seinen Blicken abwechselnd errötet und erblaßt und wandte unwillig das Antlitz zur Seite. »Ich habe zu arbeiten, Herr Nieritz«, sagte sie kurz und schroff, doch er lachte nur. Riß sie mit einem Ruck an sich und küßte den Hals, der zart und fein aus dem Ausschnitt des Kleides herausblühte. »Herr Nieritz, ich verbitte mir Ihre Unverschämtheiten!« rief sie empört. »Sofort lassen Sie mich los!« »Aber nein, mein Liebchen«, lächelte er behaglich. »Mach dich doch nicht immer so niedlich, das wird auf die Dauer langweilig. Weißt du was? Du sollst meine kleine Frau werden – was sagst du nun?« Zuerst sagte sie gar nichts, starrte ihn nur wie entgeistert an. »Nicht wahr, Liebchen, da bist du sprachlos?« nickte er zufrieden. »Aber es ist schon so, wie ich sage. Sogar mein Vater billigt meine Wahl. Es ist also mein gutes Recht, dich jetzt zu küssen nach Herzenslust. Also, komm schon her.« Er wollte sie wieder an sich ziehen, doch Rosmarie entwand sich ihm und stand nun da – hoch und schmal, sehr ruhig, sehr blaß. »Und wenn ich auf die Ehre, Ihre Frau zu werden, verzichte?« Da war es an Benno, sie entgeistert anzustarren. – »Du willst damit doch nicht etwa sagen, daß du mich – mich – abweist?« fragte er drohend. Sie nickte nur. »Mach keine geschmacklosen Witze, du dummes Gör!« schrie er unbeherrscht. »Was bist du denn eigentlich?« »Was ich bin?« entgegnete Rosmarie kalt und ruhig wie bisher.
»Ich bin ein Mensch, der darauf Anspruch hat, von seinem Mitmenschen höfliches Benehmen zu fordern.« »Na ja – gewiß«, lenkte er ein, denn ihm kam selbst eine leise Ahnung, daß er sich nicht gerade taktvoll benommen hatte. »Du machst ja ein Gesicht, als solltest du auf das Schafott«, brummte er. »Lache doch, sei doch vergnügt und nicht immer so transusig und ehrpusselig. Sollst doch Frau Nieritz werden, du Dummchen! Sollst es nicht mehr nötig haben, deine Tage in diesem Affenkasten zu verbringen. Sollst als meine Frau Reisen machen, schöne Kleider tragen, sollst haben, was du dir wünschest. Nur gib endlich deinen Widerstand auf – ich werde sonst noch verrückt!« Rosmarie fühlte, daß er die Wahrheit sprach, daß er wirklich in sie verliebt war. Er tat ihr in gewisser Hinsicht leid. Und dennoch – und dennoch… »Lassen Sie mir einige Tage Bedenkzeit«, bat sie gequält. »Ihr Antrag kommt mir zu unerwartet.« »Das kannst du nicht von mir verlangen«, begehrte er auf. »Was denkst du dir eigentlich, Rosmarie, wie? Du behandelst mich ganz einfach wie deinen Schuhputzer.« »Ich bitte Sie, Herr Nieritz, seien Sie doch nicht gleich ärgerlich«, unterbrach sie ihn fast weinend. »Können Sie denn nicht verstehen, daß ich in Minuten unmöglich einen Entschluß fassen kann, der entscheidend für mein ganzes Leben ist?« »Nein, das kann ich nicht«, grollte er gereizt. Warf sich in einen altersschwachen Korbsessel, daß er in allen Fugen krachte, und brannte sich eine Zigarette an. Rosmarie war an das Fenster getreten und starrte hinaus. Ihr war weh, grenzenlos weh zumute! Benno verhielt sich jetzt ganz still, mußte wohl erst seinen Groll niederkämpfen. Von nebenan, aus dem Laden, klangen gedämpfte Stimmen. Also, ich soll Bennos Frau werden, dachte Rosmarie gequält. Aber das kann ich doch nicht – mit der Liebe zu einem andern im Herzen. Wie anders, wie ganz anders hatte er um sie geworben! Ja – um dich gleich darauf zu^ verraten, höhnte eine Stimme in ihr. Selbstverständlich, trauere ihm immer weiter nach und verpfusche dir damit dein ganzes Leben! Die Hand eines Benno Nieritz schlägt man nicht aus, denn er kann einer Frau viel bieten. Was ist denn besser: Frau Nieritz werden, in dem schönen Haus im Mühlengrund wohnen, eine Rolle in der Gesellschaft
spielen, weite Reisen machen, elegante Kleider tragen… Oder: In diesem engen Raum arbeiten, tagaus, tagein. Die Nörgeleien des alten Bott über sich ergehen lassen und ewig um das jammern, was nicht wiederkommt? Nach Jahren alt und verbittert sein, dann endlich zur Einsicht kommen und um das weinen, was man sich in seiner Dummheit verscherzt hat? Dem Jürgen Frank tust du keinen Gefallen damit, wenn du ihm ewig nachtrauerst. Und dann überhaupt – willst du etwa einen Werkmeister heiraten – wenn du dessen Chef haben kannst?! Die Stimme raunte immer dringlicher, immer beschwörender. Rosmarie wollte schon schwankend werden – als vom Laden her eine Melodie aufklang, die sie so heftig zusammenzucken ließ, als habe sie ein Stich getroffen durch und durch! Herr Bott verkaufte nämlich neben seinen Fotoartikeln auch Schallplatten; spielte nun wohl einem Kunden eine Platte vor. »Drei Rosen hast du einmal mir aus Liebe geschenkt, Rosen – blutrote Rosen…« sang eine schmiegsame Männerstimme wehmütig. Und diese schlichte Melodie zauberte Rosmarie noch einmal das vor, was sie beseligt hatte, einen kurzen Tanzabend lang. Um das sie nun so sehr litt und das ihr junges Leben verbitterte. Da wußte Rosmarie plötzlich Antwort auf die raunende Stimme, die sie augenblicklang hatte schwankend werden lassen. »Gräßlich, dieses süßliche, rührselige Zeug«, hörte sie Bennos Stimme hinter sich. Rosmarie schrak auf, wandte sich langsam herum und sah Benno so aufmerksam an, als sähe sie ihn heute zum ersten Male – schauerte zusammen. Ihr war zumute, als wäre sie einer großen Gefahr entronnen. »Rosmarie, wie lange soll ich noch auf eine Antwort warten?« fragte er ungeduldig. Das Mädchen trat einen Schritt vor und stand nun vor dem ärgerlichen Mann, der sich in seinem Sessel rekelte. »Nun, was für nette Überraschungen hast du noch auf Lager?« höhnte Benno. »Also bitte, wie lange geruhen Gnädigste die Bedenkzeit auszudehnen?« »Gar nicht, Herr Nieritz«, gab Rosmarie kalt zurück. »Ich kann
Ihnen nämlich jetzt schon sagen, daß ich Ihre Frau nicht werden kann.« Das kam so bestimmt, so fest heraus, daß Benno nun doch aufsprang. »Zum Donnerwetter, jetzt habe ich aber genug!« brüllte er sie an. »Bist du überhaupt noch bei Sinnen?« »Warum denn nicht?« fragte sie spöttisch. »Etwa, weil ich die Werbung eines Benno Nieritz auszuschlagen wage?« Benno starrte sie zuerst an, zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. Schon war Rosmarie mit einem Satz an der Tür und verschwand im Laden, in dem außer dem Inhaber noch einige Kunden standen. Benno blieb sekundenlang auf dem Feld seiner Niederlage zurück, fluchte und ging dann Rosmarie nach. Diese bediente gerade einen Kunden. Hatte keinen Blick für Benno, der zu ihr trat. Zu seinem Pech kam auch Herr Bott dazu, sehr höflich nach den Wünschen des guten Kunden fragend. »Danke«, lehnte Benno kurz ab; denn er sah ein, daß es ihm unmöglich sein würde, vor den neugierigen Augen und Ohren Herrn Botts und seiner Kunden Rosmarie ungestört sprechen zu können. So verließ er denn den Laden, und Rosmarie atmete auf. Am nächsten Morgen herrschte im Haus Haller wahre Gewitterschwüle, Frau Haller konnte die Niederlage, die sie am gestrigen Tag erlitten, immer noch nicht verschmerzen. Sie tat ihre gewohnte Morgenarbeit verbissen und nachlässig. Es fiel ihr gar nicht ein, den Frühstückstisch heute im Zimmer zu decken. Weshalb sich so viel Mühe machen mit den Kindern, an denen sie doch nur Enttäuschungen über Enttäuschungen erlebte? Ein grimmiger Blick traf die Tochter, die aus ihrem Kämmerchen soeben in die Küche trat. »Aussehen tust du heute wieder, daß einen das Grauen packt«, begrüßte die Mutter ihre Tochter hämisch. Rosmarie schwieg und setzte sich an den Küchentisch, um ihr Frühstück einzunehmen. »Wenn du so weiter machst, dann wird dich bald kein Mann mehr reizend und anziehend finden«, erregte Frau Haller sich. »Das ist doch wirklich nicht so wichtig, Mama«, gab Rosmarie achselzuckend zurück, und das ergrimmte die Mutter noch mehr. »So – und an deine Zukunft denkst du wohl nicht, wie?« rief sie und stemmte die Arme in die Seiten. »Glaubst du, ich werde dich
immer hier im Haus behalten? Sieh nur zu, daß du bald unter die Haube kommst! Später nimmt dich keiner mehr.« Rosmarie lächelte seltsam müde und schwieg. Nahm einen Schluck aus der Tasse, die eine bittere Zichorienbrühe enthielt, und erhob sich. »Ach so, der Kaffee schmeckt der Prinzessin wieder mal nicht«, höhnte die Mama und sah Norbert wütend an, der soeben in die Küche trat. »Na, der Herr Sohn sieht ja auch aus, als wollte er alles ringsumher fressen. Wenn ich euch schon am frühen Morgen solche Gesichter machen sehe, dann habe ich genug für den ganzen Tag.« Norbert hörte kaum auf das, was die Mutter sagte. Sein Blick hing an der Schwester, die blaß und müde aussah. Doch dieser Anblick verminderte seinen Groll nicht, im Gegenteil, er verstärkte ihn noch. »Ich werde dich jeden Abend nach Dienstschluß aus der Stadt abholen, Rosmarie, richte dich also danach ein«, bemerkte er kurz und befehlend. Er machte gar nicht erst Miene, sich an den wenig einladenden Küchentisch zu setzen, sondern wandte sich kurz herum und verließ die Küche. Gleich darauf hörte man die Korridortür klappen. »Das läßt du dir so ohne weiteres bieten, Rosmarie?« empörte sich die Mutter. »Selbstverständlich, laß dich doch nur immer tiefer von dem Grobian ducken, damit ihm der Kamm immer mehr schwillt! Bist du denn schon so vertrottelt, daß du diesem anmaßenden Bengel nicht Bescheid sagen kannst?« »Das mußt du schon für mich tun, Mama«, entgegnete die Tochter gleichmütig, indem sie sich im Korridor den Mantel anzog. »Guten Morgen, Rosmarie«, hörte sie eine lachende Stimme, und Renate Nieritz streckte ihr vom Pferd aus die Hand hin. »Du gehst so gedankenverloren dahin, daß du nicht einmal einem Gaul ausweichst. Siehst blaß und elend aus, Kleine, du arbeitest sicherlich zuviel.« »Ich kann mir keine Morgenritte leisten«, gab Rosmarie gereizt zurück. »Ich habe keinen reichen Vater, ich muß mir meinen Lebensunterhalt selbst verdienen und muß daher arbeiten.« »Rosmarie!« rief Renate betroffen.
Mit einem Satz war sie vom Pferd, umfaßte der Freundin Schulter und suchte deren Blick, der sich trotzig senkte. »Rosmarie, du bist doch nicht etwa neidisch?« fragte Renate vorwurfsvoll. »Ich kann doch nichts dafür, daß du dich so auffallend von mir zurückziehst, ich habe dir doch wirklich nichts getan. Wenn du oft zu mir kämest, dann könnte ich vielleicht dazu beitragen, dir das Leben zu verschönen. Dann wärest du nicht so allein – und ich auch nicht«, setzte sie traurig hinzu. Und da schämte sich Rosmarie. »Verzeih, Renate«, bat sie leise. »Ich – ach, es hat ja doch keinen Zweck«, winkte sie müde ab und ging schnell davon, bevor jene sie noch zurückhalten konnte. Renate sah ihr bekümmert nach und saß wieder auf, um langsam nach Hause zu reiten. Als Renate im Mühlengrund ankam, stieß sie vor der Ölmühle auf Benno. Mißmutig, verschlafen und schlecht gelaunt, schlenderte er daher. Als er die Schwester so sicher und elegant im Sattel sitzen sah – etwas, wofür er viel gegeben hätte, was ihm aber leider nicht glücken wollte – nahm seine schlechte Laune noch erheblich zu. Und als Renate nun gar noch so dicht an ihm vorbei ritt, daß er zur Seite springen mußte, da war es um seine Selbstbeherrschung geschehen. »Wenn du nicht reiten kannst, dann laß es gefälligst bleiben!« schalt er wütend. »Außerdem könntest du lieber aufpassen, daß im Haushalt alles richtig klappt, als mit deinem Gaul die Gegend unsicher zu machen. Der Morgenkaffee war heute wieder einmal scheußlich.« »Ach nein, wirklich?« wunderte Renate sich. »Wie wäre es denn, wenn du früher aufständest? Wenn Vater und ich frühstücken, was allerdings reichlich zwei Stunden früher geschieht als bei dir, dann ist der Kaffee immer tadellos.« »Ich könnte wohl verlangen, daß ich frisch aufgebrühten Kaffee bekomme!« »O nein, das kannst du nicht«, erwiderte Renate gelassen. »Deinetwegen wird die Hausordnung noch lange nicht umgeworfen.« »Freche Kröte!« zischte Benno wütend, doch Renate lachte nur. Gab ihrem Gaul einen leichten Schlag mit der Gerte, so daß der nur so davonschoß.
Benno war in einer Stimmung, daß er alles ringsumher hätte in Stücke schlagen mögen. Nun, die Rosmarie sollte sich nur nicht einbilden, daß er sich ohne weiteres abblitzen ließ! Zuerst mußte mal dieser Müllerbengel unschädlich gemacht werden, damit Rosmarie ihn nicht immer vor Augen hatte. Benno hob auf einmal den Kopf – sein Blick fiel auf ein junges Mädchen, das sich eben der Mühle näherte. Ei, sieh mal an, die Kleine ist ja reizend, dachte er und kniff das Mädchen, das nun in seiner Reichweite war, in die Backen. Zwei große erschrockene Kinderaugen sahen ihn an, doch das störte Benno Nieritz nicht im geringsten. Diese blutjunge reizende Kleine – das war gerade etwas für ihn! Die mußte ihn über vieles trösten, mußte ihm die Zeit einstweilen verkürzen helfen. Benno Nieritz trat an die Seite des schüchternen Mädchens. Er zog die Kleine kurz entschlossen in einen Lagerraum, in dem sich um diese Zeit kein Mensch aufzuhalten pflegte, schob sie hinter einen Berg aufgestapelter Kisten, und schon nach einer halben Stunde war die kleine Ella betört. Benno merkte in seiner Versunkenheit nicht, daß Norbert Haller den Raum durchschritt, stutzte, stehenblieb – und sich die Beteuerungen und Versprechungen mit anhörte, die Ella unter Küssen gegeben wurden. Zuerst war es, als wollte Norbert sich auf diesen gewissenlosen Frauenjäger stürzen – doch dann wandte er sich ab. Öffnete die Tür zum Schaltraum, wollte auch den durchqueren, als er Jürgen Frank an der Schalttafel stehen sah. Er war so vertieft in seine Arbeit, daß er Norbert nicht bemerkte. Der blieb stehen, sah zu dem Freund hin. Sah die kraftvolle Gestalt, die selbst in der blauen Arbeitskleidung so eindrucksvoll war, daß sie wohl nie und nirgends übersehen werden konnte, sah den schmalen Kopf mit dem vollen blonden Haar, das hartgeformte Kinn, das so viel eiserne Energie verriet, und sah endlich die blauen Augen, die jetzt mit gespanntester Aufmerksamkeit an der Schalttafel hingen, die so kristallklar blitzten und in denen kein Falsch und kein Fehl war. Und diesem Mann hatte er zugetraut, daß er sich die Schwester seines Freundes als Spielzeug erwählen könnte?!
»Jürgen«, würgte er hervor. Dieser fuhr herum. »Norbert – du?« fragte er verwundert. Der trat auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen mit bittendem Blick. »Jürgen, verzeih – ich habe dir viel abzubitten.« Jürgen sah ihn zuerst verblüfft an – doch dann begriff er. Es zuckte in seinem Gesicht, und er erfaßte die sich ihm bittend entgegenstreckende Hand mit warmem Druck. »Laß es gut sein, Norbert«, sagte er fest und bestimmt. »Nun weiß ich auch, warum deine Freundschaft mir verlorenging. Beruhige dich – ich hätte in dem Fall nicht anders gehandelt als du.« Sie drückten sich die Hände, sahen sich fest in die Augen, und das Freundschaftsbündnis war wieder erneuert, sollte fester und unzerreißbarer werden denn je zuvor. In diesem Augenblick ging Herr Erdmann durch den Raum. »Jungens, habt ihr den Benno nicht gesehen?« fragte er in seiner gewinnenden Art, doch die Freunde verneinten. Jürgen harmlos, Norbert jedoch mit leichter Verlegenheit. »Hoffentlich erwischt er ihn nicht mit der kleinen Ella zusammen«, sagte er, als Herr Erdmann den Raum verlassen hatte. »Ich fand ihn nämlich nebenan mit ihr, küssend und kosend hinter einem Kistenstapel.« »Dann hat er sich ja schnell getröstet«, entgegnete Jürgen bitter, und Norbert, der an seine Schwester dachte, stieg das Blut ins Gesicht. »Er ist ein Lump!« stieß er hervor, und Jürgen nickte dazu. »Möge es dem guten Papa noch recht lange verborgen bleiben, was für ein Früchtchen sein lieber Sohn ist!« Sie horchten beide auf, denn aus dem danebenliegenden Lagerraum klang die Stimme des Seniorchefs laut und scharf bis zu ihnen hin. »Also hat er das Söhnchen doch erwischt«, sagte Norbert. »Armer, lieber Papa Erdmann!« »Und die kleine Ella ist bei der ganzen ekligen Geschichte die Leidtragende«, bemerkte Jürgen grimmig; denn es war zu vernehmen, daß Herr Erdmann das Mädchen ziemlich hart anfuhr und ihm seine Ungehörigkeit vor Augen hielt. »Und du kommst mit mir«, wandte er sich dann an Benno. »Also, so einer bist du«, stellte der Vater ohne Schärfe im Ton fest. »Wirbst gestern um ein Mädchen, das du wie verrückt zu lieben
angibst, und küßt dich heute mit einer kleinen Arbeiterin an deren Arbeitsstätte.« »Vater, das dürfte wohl meine eigene Angelegenheit sein.« Es kam ziemlich scharf heraus – gleichwohl klopfte Benno das Herz heftig. Erdmann schwieg eine Weile; dann meinte er nachdenklich: »Du meinst also, das wäre allein deine Angelegenheit? Trotzdem interessiert es mich, zu erfahren, was du dir dabei denkst, wenn du der kleinen, dummen Ella himmelhohe Versprechungen machst, die du doch nie im Leben erfüllen kannst.« »Vater, nun ist es aber wirklich genug!« fuhr Benno wutschnaubend auf. »Ich bin kein Hosenmatz mehr, daß ich mir deine unwürdige Behandlung immer weiter gefallen lassen kann.« »So, willst du das nicht?« erkundigte sich der Vater ruhig. »Dann kannst du auch nicht länger hierbleiben. Denn solange du von mir abhängst, hast du dich meinen Wünschen zu fügen. Vor allen Dingen hast du dich mir gegenüber anständig zu benehmen und hast die Mätzchen zu unterlassen, mit denen du auf harmlose Gemüter Eindruck zu machen suchst. Es gibt da verschiedenes, auf das ich dich aufmerksam machen muß. Zum Beispiel auf folgendes: daß es ganz und gar nicht angängig ist, wenn der Juniorchef sich mit einer kleinen Arbeiterin im Arbeitsraum küßt. Chef sein hat nämlich nicht nur Sonnenseiten, mein lieber Benno. Wenn du dich den Leuten gegenüber als Weltmann aufspielst, dann mußt du dich so benehmen, daß sie dir den Weltmann auch glauben. Sonst könnte es leicht dazu kommen, daß du ihnen als – dunkler Ehrenmann erscheinst. Damit wäre allerdings dein Ansehen erledigt, weil die Leute einen Chef beanspruchen dürfen, der ihnen ein Vorbild sein kann. So, mein lieber Benno, nun weißt du, wie ich über diesen Punkt denke. Und daß ich dich nicht wieder bei etwas zu treffen wünsche, worüber ich, als dein Vater, mir am liebsten die Augen aus dem Kopf schämen möchte, das brauche ich dir wohl nicht erst besonders zu sagen. – Nun etwas anderes: Wie stehst du zu Rosmarie?« Benno versuchte bei dieser heiklen Frage wieder einmal den Überlegenen zu spielen. »Nun laß mich allein, Benno, und denke einmal über das nach,
was ich dir gesagt habe.« »Norbert, gehst du zur Stadt?« Norbert Haller, der den Bachweg vom Müheingrund zur Stadt entlangschritt, wandte sich herum. »Ja, Jürgen.« »Dann gehen wir zusammen. Mutter ist in letzter Zeit wieder sehr unruhig und verzagt. Ich weiß nicht, was werden soll, wenn ich auch noch mein Mutterchen verliere.« »Ja, wer eine solche Mutter sein eigen nennt wie du«, meinte Norbert bitter. In der Stadt verabschiedeten die Freunde sich vor dem Haus des Arztes. »Gehen wir wieder zusammen nach Hause?« erkundigte sich Jürgen, doch Norbert schüttelte den Kopf. »Nein – das geht nicht«, wehrte er ab. »Ich hole nämlich Rosmarie ab – jeden Abend – damit der Schuft nicht…« »Ach so, dann sehen wir uns heute nicht mehr. Gute Nacht, Norbert.« »Gute Nacht, Jürgen.« Sie schüttelten sich die Hände; Jürgen ging zu dem Arzt hinauf, und Norbert schlug den Weg zu dem Fotoatelier ein. Rosmarie war noch nicht fertig, und so wartete der Bruder in dem kleinen Zimmer auf sie. »Bist du nun fertig, Rosmarie?« fragte er schroff. Sie sah ihn verwundert an. »Nein«, entgegnete sie kurz. »Es wird auch noch eine gute Weile dauern, bis ich es bin.« »Du sollst doch um achtzehn Uhr dienstfrei sein, und jetzt ist es mehr als eine Stunde später.« »Ich soll wohl dienstfrei sein, gewiß – aber wie du siehst, bin ich es nicht«, gab sie gelassen zurück. »Ich werde mit Herrn Bott reden, daß er dich nicht so ausnutzt und du deine Arbeitszeit besser einhalten kannst.« »Versuche es nur«, meinte sie achselzuckend. »Mir persönlich tust du jedoch keinen Gefallen damit, wenn du mir einen früheren Feierabend erwirkst. Ich arbeite gern, weil ich dann von zu Hause fortbleiben kann«, fügte sie bitter hinzu. In die Stille hinein erklang vom Laden her eine Stimme, die den Geschwistern sehr bekannt war. Dann klopfte es auch schon kurz, und in der Tür stand Benno Nieritz. »Rosmarie, du wirst…« Jetzt bemerkte er Norbert und war von dessen Anblick ganz offensichtlich sehr, sehr unangenehm
berührt. »Was machen Sie denn hier, Haller?« fragte er ärgerlich. »Ich will meine Schwester vom Dienst abholen, Herr Nieritz«, gab dieser gelassen zurück. »Als wenn Rosmarie nicht allein gehen könnte!« »Das kann sie eben nicht, Herr Nieritz.« »Na, mich geht das auch nichts weiter an«, tat Benno gleichgültig. »Sind die Abzüge meiner Bilder fertig, Fräulein Haller?« »Welche Abzüge?« fragte Rosmarie verwundert. »Na, die – sie wissen doch!« »Nein, ich weiß nicht, Herr Nieritz«, entgegnete sie kalt. »Die Bilder bestehen sicherlich nur in ihrer Einbildung.« »Hören Sie mal, mein Fräulein, Sie wissen wohl nicht, daß Sie sich den Kunden gegenüber anständig zu benehmen haben, wie?« erboste er sich. »Ich werde mich bei Herrn Bott über Sie beschweren.« »Bitte«, meinte Rosmarie, ohne sich irgendwie stören zu lassen, und Benno Nieritz mußte wieder einmal den Rückzug antreten, ohne das erreicht zu haben, was ihm doch sehr am Herzen lag. Der Mai ging vorüber, der Juni kam und mit ihm ein schöner Sommer, wie man ihn schon seit Jahren nicht mehr gehabt hatte. Im Mühlengrund war es jetzt zauberhaft schön. Renate hielt sich mehr denn je in dem kleinen Häuschen am Wehr auf. Die Burschen in der Baracke waren noch immer da. Hubert Reiner wollte im Herbst fortgehen und sein Studium beenden. Jürgen Frank lebte nach wie vor in seiner Mühle und ging ganz auf in der Sorge um seine greise Mutter. Im Hause Haller herrschte noch immer eine gespannte Stimmung, unter der die Geschwister sehr litten. Norbert glaubte Rosmarie verachten zu müssen, weil er sie vollkommen verkannte, und sie konnte es dem Bruder wiederum nicht verzeihen, daß dieser sie auf den bloßen Schein hin verurteilte. Benno Nieritz hoffte noch immer zuversichtlich auf den Tag, an dem Rosmarie sein werden würde. Nebenbei tröstete er sich mit den Zärtlichkeiten der kleinen Ella. Seit einigen Tagen war Benno arg im Druck, Er hatte nämlich von Waldemar Kyd einen Brief erhalten, in dem dieser ihm seine Verlobung mit einem entzückenden Mädchen seiner Bekanntschaft mitteilte. Diese Nachricht wäre für Benno nicht weiter erschütternd
gewesen, denn Waldemar war ihm mit der Zeit vollkommen gleichgültig geworden. Doch was am Schluß des Briefes stand, das bereitete ihm Kummer und schlaflose Nächte. Waldemar verlangte nämlich nachdrücklich die zehntausend Mark zurück, die er Benno seinerzeit geliehen hatte. » Wenn Du mir das Geld nicht endlich wiedergibst, dann muß ich mich an Deinen Vater wenden«, hieß es in dem Schreiben. Bums – nun saß Benno ganz gehörig in der Patsche. Gewiß hatte er damals die zehntausend Mark von Renate erhalten, allein sie waren zu dem Geldverleiher gewandert, der damals gerade in sehr unangenehmer Weise mit dem Gericht gedroht hatte. Nun mahnte Waldemar ebenso unerwartet wie dringend. Was nun? Daß er seine Drohung wahrmachen und an den Vater schreiben würde, daran zweifelte Benno nicht. Das fehlte gerade noch, daß der Alte hinter seine Schulden kam! Und Renate noch einmal um Geld bitten? Nein, das ging auch nicht; die Schwester war jetzt immer so borstig. Also war Benno eifrig damit beschäftigt, einen Ausweg zu suchen. Zunächst sah es allerdings sehr traurig aus. Doch endlich nahte Benno das Glück. Ausgerechnet jetzt mußte Herr Erdmann zu einer Sitzung nach Berlin fahren und mußte Norbert Haller die Kasse, in die um diese Zeit reichlich Geld floß, übergeben. Die Nachricht, daß der Vater verreiste und Norbert Haller die Kasse verwaltete, klang Bennos gespitzten Ohren wie Musik. Und um seine Ziele zu erreichen, scheute er vor keiner Gemeinheit zurück. Benno arbeitete gut, arbeitete sehr sorgfältig und genau. Nur schade, daß er die Fähigkeit, fremde Schriftzeichen täuschend ähnlich nachzuahmen, in so schmutziger Weise verwendete. Benno Nieritz wußte darum, daß Norbert Haller während der Abwesenheit des Seniorchefs in dem kleinen Zimmer arbeitete, das neben dem Privatbüro lag und in dem sich der neuzeitliche Geldschrank befand. In diesem Zimmerchen trat Benno Nieritz zwei Tage nach seines Vaters Abreise. »Guten Tag, Haller. Na, was macht die Kunst?« fragte der Juniorchef leutselig. Norbert sah nur flüchtig von seiner Arbeit auf. »Guten Tag, Herr
Nieritz.« »Sehen Sie mal, Haller, hier schickt mein Vater einen Zettel, in dem er anordnet, daß zehntausend Mark an mich gezahlt werden sollen. Des guten Geschäfts wegen, das wir soeben gemacht haben, läßt er sich herbei und bewilligt mir ein Auto, das ich mir zu meinem morgigen Geburtstag kaufen soll.« Norbert nahm arglos den Zettel, prüfte ihn sorgfältig, erkannte die Schriftzüge des Seniorchefs und befand alles für richtig. Da er gerade so viel Geld in der Kasse hatte, zahlte er Benno den Betrag aus. »Danke«, sagte dieser und steckte die Scheine in die Tasche seines Rockes. »Wollen Sie eine Zigarette rauchen, Haller?« fragte er, und ließ sich in den tiefen Ledersessel sinken, der dicht neben dem Schreibtisch stand. Tat, als ob er in Gedanken versunken sei, während er in Wirklichkeit mit luchsartiger Aufmerksamkeit verfolgte, wo Norbert den Zettel, den er unterschrieben hatte und der als Quittung gelten sollte, verwahrte. Der wurde hübsch säuberlich bei den anderen Quittungen eingeheftet und in den Aktenschrank getan, der ein ganz einfaches Schloß hatte. Benno nickte sehr befriedigt und wurde ganz gesprächig und aufgeräumt. Fragte Norbert, was für ein Auto er sich aussuchen würde, wenn er sich eines beschaffen könnte. Der entgegnete zurückhaltend, daß er das nicht zu sagen vermöge, weil er von Autos zu wenig Ahnung habe. Der nächste Morgen brachte trübseliges Regenwetter. Renate hatte sich gerade in dem gemütlichen Frühstückszimmer an den Tisch gesetzt, als Benno eintrat. »Sieh einer an, Benno, was ist denn mit dir los, daß du dich so früh aus den Federn gefunden hast?« »Laß doch deine geschmacklosen Witze!« fuhr Benno die Schwester an. »Gib mir lieber Kaffee.« »Was sofort geschehen wird, mein Lieber«, bekräftigte Renate und ließ den braunen Trank aus der Kaffeemaschine in die hauchdünne Tasse rinnen. »Weißt du, wann der Vater zurückkommt?« fragte Benno lauernd, und als Renate verneinte, tat er schwer gekränkt. »Wenigstens an meinem Geburtstag könnte er doch zu Hause sein.« »O Himmel, Benno, verzeih!« rief Renate erschrocken. »Ich habe
deinen Geburtstag vollkommen vergessen.« »Ist ja weiter kein Wunder – was gelte ich denn schon in diesem Haus!« »Benno, sei nicht böse«, bat Renate ehrlich beschämt. »Ich will alles nachholen, damit du an deinem Geburtstag nichts vermißt: Vielleicht kommt auch der Vater noch.« »Mir wäre es lieber, er bliebe, wo der Pfeffer wächst«, murmelte Benno verbissen, und als Renate ihn darob fragend ansah, weil sie ihn nicht verstanden hatte, winkte er ungnädig ab. »Laß nur, nichts von Bedeutung.« Benno erhob sich und wollte das Zimmer verlassen, als der Diener erschien und Norbert Haller meldete. Renate glaubte, nicht richtig verstanden zu haben und sprang erschrocken auf. »Mein Gott – es wird doch nichts vorgefallen sein?!« fragte sie bang. »Norbert kommt doch sonst nie in das Herrenhaus. Norbert – ist etwas mit meinem Vater?« fragte sie mit versagender Stimme. Als er die Angst und Not des Mädchens sah, vergaß er sich und sah Renate mit einem Blick an, der ihr viel, unendlich viel verriet. »Nein, Reni, mit deinem Vater ist nichts. – Gottlob!« gab er leise zurück. Sie preßte ihr Gesicht gegen seinen Arm – einen Augenblick nur – dann wurde der Arm ihr sanft entzogen. Aufschauend bemerkte sie erst, wie blaß und hart sein Gesicht war, wie seine Augen mit einem höchst eigentümlichen Blick auf Benno ruhten, der den Gleichgültigen zu spielen versuchte. »Herr Nieritz, ich möchte Sie fragen, wo der Zettel, den Sie mir gestern vorlegten, damit ich Ihnen zehntausend Mark auszahlte, hingekommen ist?« fragte Norbert. Da stand Benno auf, trat vor ihn hin und spielte den Verwunderten; tat es mit wahrer Meisterschaft. »Sie haben mir zehntausend Mark gegeben?« fragte er scheinbar erstaunt. »Lieber Haller, Sie haben bestimmt geträumt. Besinnen Sie sich nur, wo Sie das Geld gelassen haben könnten, dann wird sich dieser Irrtum schon aufklären.« »Sie wollen abstreiten, Herr Nieritz, daß Sie gestern nachmittag bei mir im Büro waren und mir einen Zettel gaben, den Herr Erdmann geschrieben haben soll – er trug jedenfalls die Handschrift des Chefs – und auf dem stand, daß ich zehntausend
Mark an Sie zu zahlen hätte!« »Ja, mein lieber Haller, das bestreite ich sehr entschieden!« Renate sah, wie Norberts Hände sich zu Fäusten ballten, wie er so stark schluckte, als müsse er etwas hinunterwürgen. Sie atmete auf, als nichts geschah, was sie befürchtet hatte, als Norbert sich wieder in Gewalt hatte und nun kurz und scharf fragte: »Und wollen Sie auch bestreiten, daß Sie mir dabei mitteilten, Sie wollten sich für das Geld ein Auto kaufen – Herr Erdmann habe Ihnen zu Ihrem Geburtstag eines bewilligt?!« »Aber, lieber Haller, Sie haben ja eine geradezu fabelhafte Einbildungskraft. Geburtstag habe ich wohl, aber von einem Auto keine Ahnung. Gott gebe, es wäre so!« »Nehmen Sie den Namen Gottes nicht in Ihren schmutzigen Mund – Sie Lump!« sagte Norbert so ruhig, so eisig, daß Benno nun doch betroffen zusammenzuckte. Doch gleich darauf lief er blaurot an vor Wut. »Herr – was erlauben Sie sich!« brüllte er. »Sofort verlassen Sie das Haus, oder ich lasse Sie hinauspeitschen!« »Das traue ich Ihnen schon zu – Sie armselige Kreatur«, entgegnete Norbert mit unheimlicher Ruhe. »Glauben Sie nur nicht, daß Ihre Niederträchtigkeiten immer weiter unentdeckt bleiben werden wie bisher.« »Anmaßender Lümmel!« brüllte Benno so laut, daß ihm die Stimme überschnappte, und stürzte sich auf Norbert, der nur kurz und rauh auflachte und das verweichlichte Jungchen von sich fortstieß. »Ich sehe schon, hier ist jedes weitere Wort umsonst«, sagte Norbert müde. »Man hat meine Vertrauensseligkeit ausgenutzt, und ich muß dafür büßen – geschieht mir ganz recht so! Aber wie hätte ich ahnen können, daß es solche Halunken – die mit dem Namen ihres gütigen Vaters – pfui Teufel!« Er warf noch einen Blick auf Benno, der wieder blaurot anlief – und dieser Blick war fast mitleidig. Dann verließ er das Zimmer und Renate mit ihm. »Norbert, nein – so lasse ich dich nicht gehen!« weinte sie und klammerte sich an ihn. Er verhielt jetzt den Schritt, sah sie an. »Renate weißt du auch, wessen ich beschuldigt bin?« fragte er. »Ach, laß doch, Norbert, was geht mich das an?« Da schritt er weiter; Renate blieb an seiner Seite. Folgte ihm in
das Büro, wo er nun endlich zeigen durfte, daß er nicht so ruhig war, wie er scheinen wollte. Mit einem dumpfen Stöhnen ließ er sich in einen Stuhl sinken. »Norbert, du darfst nicht so furchtbar verzweifelt sein«, bat Renate. »Es muß sich ja alles aufklären. Komm, ich werde dir behilflich sein, bis ich das Geld gefunden habe.« »Da kannst du lange suchen«, entgegnete Norbert bitter. »Ich habe es deinem Bruder gegeben, und der streitet ab, es erhalten zu haben. Das Gegenteil beweisen kann ich nicht, weil der Zettel, der als Quittung diente, auf rätselhafte Weise verschwunden ist. Was nun kommen muß. Norbert Haller wird als gemeiner Dieb entlarvt und mit Schimpf und Schande aus den Mühlen werken gejagt.« »Norbert, so darfst du nicht sprechen«, schluchzte Renate nun ebenso verzweifelt wie er. »Vielleicht irrst du dich doch, und du hast das Geld.« Sie sprach nicht weiter, denn er sah sie an – traurig, todtraurig war der Blick. »Ach ja – ich irre mich«, sagte er müde. »Geh nur, Renate, laß mich allein.« »Norbert, so höre mich doch weiter an!« bettelte sie, doch er winkte müde ab. »Damit ich noch mehr so nette Sachen zu hören bekomme«, lachte er hart auf. »Ich danke, mein Bedarf ist für heute gedeckt – ich möchte jetzt allein sein.« Sie schlich hinaus, stand draußen vor der Tür mit laut pochendem Herzen. Da fiel ihr Jürgen ein, und so schnell sie konnte, eilte sie zu ihm, fiel ihm ganz einfach um den Hals. Stammelte und weinte in ihrer Herzensangst so heftig, daß Jürgen nicht aus ihr klug werden konnte, und nur so viel verstand, daß etwas mit Norbert und zehntausend Mark nicht stimmte. »Aber Puttelchen, deswegen regt man sich doch nicht so unerhört auf«, tröstete er sie zärtlich. »Das Geld wird sich schon wiederfinden, da Norbert es in den Händen hat.« »Oh, Jürgen, so einfach ist das nicht«, schluchzte sie. »Komm, hilf doch, lieber Jürgen, Norbert ist vollkommen verzweifelt.« »Und das kann ein gewisses kleines Herzchen nicht ertragen, nicht wahr?« scherzte er. »Aber gut, laß uns zu Norbert gehen, um diese dunkle Angelegenheit aufzuklären. Wem will er denn das Geld gegeben haben?«
»Benno. Doch der behauptet entschieden, daß er keines erhalten hat.« »Benno?« wiederholte Jürgen langsam, und Renate sah mit Grausen, wie jeder Blutstropfen aus seinem Antlitz wich. »Dann allerdings«, murmelte er, erfaßte Renates Arm und zog sie mit sich zu dem kleinen Büro hin. Dort saß Norbert noch immer am Schreibtisch; die Arme darauf gelegt, das Gesicht darin vergraben. »Norbert!« rief Jürgen ihn an. Da ruckte dessen Kopf hoch, und Jürgen sah in ein gramverzerrtes Gesicht, in sterbensmüde, erloschene Augen. »Norbert«, mahnte der Freund. »Reiß dich gefälligst zusammen, ja! Wie kann man nur gleich so verzweifelt sein! Komm, erzähle mir, vielleicht kann ich dir helfen.« Norbert erzählte nun, wie alles gewesen war – und wie es nun doch nicht sein sollte, weil Benno es bestritt. »Und du bist wirklich sicher, daß du den Zettel zu den anderen Belegen getan hast?« fragte Jürgen sachlich. Da fuhr Norbert auf. »Glaubst du auch, daß ich das Geld gestohlen habe?« »Mach keine Sperenzchen, du dummer Bengel!« fuhr Jürgen ihn an. »Wer wird auf den Gedanken kommen, dich auch nur eine Sekunde lang zu verdächtigen?! – Also, der noble Herr wollte sich ein Auto von dem Geld kaufen«, murmelte er vor sich hin. »Dann allerdings. Da wird schlecht etwas zu machen sein, da mußt du daran glauben, du armer Kerl!« Renate, die abseits im Zimmer stand und sich ganz still verhielt, stöhnte auf. Da fuhr Jürgen erschrocken herum. »Renate, verzeih«, murmelte er. »Ich hatte vollkommen vergessen, daß du noch da bist.« »Ach, laß doch, Jürgen«, winkte sie müde ab. »Ich kenne Benno nämlich auch schon ganz gut. Der arme Vater! Ihn wird das alles ganz furchtbar treffen!« »Was wird den Vater treffen?« fragte eine Stimme von der Tür her, in der Benno stand – scharf, herausfordernd und schadenfroh. Er hatte nämlich überlegt, daß es besser sei, den gelassenen Weltmann zu spielen als gleich wütend aufzufahren. Wer konnte ihm schließlich etwas beweisen? Das Zettelchen war hübsch zu Asche verbrannt und in alle Winde gestreut – und der
Vater würde seinem Sohn hoffentlich mehr glauben als einem Angestellten. Aber daß Renate hier war und sich auf die feindliche Seite stellte, das ärgerte ihn denn doch. »Was tust du hier?!« fuhr er sie an. »Sofort machst du, daß du nach Hause kommst!« »Fällt mir gar nicht ein!« wehrte sich das Mädchen energisch, und da Benno einsah, daß er doch nichts bei ihr ausrichten würde, wandte er sich achselzuckend ab. »Herr Nieritz, ich fragte Sie im Namen meines Freundes, wo der Zettel geblieben ist«, sagte Jürgen sehr ruhig. Es lag jedoch eine so deutliche Drohung in dieser Frage, daß es Benno reichlich unbehaglich zumute wurde. Mit dem vertrauensseligen Norbert fertig zu werden, das war vielleicht nicht schwer. Aber wenn Jürgen sich einmischte, dann konnte die Sache verdammt kritisch werden. »Was haben Sie sich in fremde Angelegenheiten zu mischen?« fragte Benno mit seinem niederträchtigen Lächeln. »Und vor allen Dingen, denken Sie daran, daß Sie vor Ihrem Chef stehen, Sie – Sie – Lümmel!« Jürgen zuckte mit keiner Wimper; er trat nur so nahe an Benno heran, daß dieser unwillkürlich zurückwich. »Ich will wissen, wo der Zettel geblieben ist?« fragte Jürgen noch einmal. »Das fragen Sie nur Ihren lieben Freund«, höhnte Benno. »Er wird Ihnen sicherlich sagen können, wie es gewesen ist, wenn man so – na, ein Griff und fünf Minuten Angst – Sie verstehen mich doch!« Dabei warf er einen Blick auf den Geldschrank und machte zugleich mit der Hand eine Bewegung in die Rocktasche hinein. Nach diesen Worten war es sekundenlang sehr still. Norbert hatte sich von seinem Stuhl erhoben, und Renate war unwillkürlich an seine Seite getreten. Jürgen stand stumm und starr da. Sah vor sich diesen Mann, um dessentwillen sein Vater einen Schlaganfall erlitten – der ihm das geliebte Mädchen genommen – der nun auch noch den Freund beschuldigte. Und alles mit diesem Zynismus, mit dieser gemeinen Unverfrorenheit. Langsam machte er einen Schritt auf Benno zu, der schnell zurückwich. Als Jürgen den feigen Burschen sah, der an allen Gliedern bebte,
aus dessen Augen die Angst förmlich heraussprang – als er an alle die Niederträchtigkeiten dachte, mit denen Benno ihm Unterstellte quälte – ihnen die Ehre absprach – da wußte Jürgen Frank nicht mehr, was er tat. Das Blut stieg ihm zu Kopf, Nebel wallten vor seinen Augen auf. Und schon saß Benno Nieritz die eisenharte Arbeitsfaust in dem angstverzerrten Gesicht. Der Getroffene brüllte laut auf. Und sackte blutüberströmt zusammen. Ein entrüsteter Ausruf von der Tür her: »Jungens, seid ihr denn verrückt geworden?!!!« Herr Erdmann stand auf einmal im Rahmen der Tür. Den Atem anhaltend, starrten alle auf ihn hin. Der alte Herr wollte sich zu dem laut stöhnenden Benno niederbeugen, als dieser gerade emportaumelte. »Benno, dein Nasenbein ist ja zerschlagen!« rief der Vater erschrocken und fuhr dann herum. »Na, weißt du, Jürgen, das ist aber doch unerhört!« schalt er entrüstet. »Wie kommst du eigentlich dazu, dich an deinem Chef zu vergreifen?« »Das wird Ihnen der Herr Juniorchef selbst erklären können«, entgegnete Jürgen in so verächtlichem Ton, daß Erdmann betroffen zusammenzuckte. »Ich selbst halte es für meiner unwürdig, auch nur noch ein Wort über diese – schmutzige Angelegenheit zu verlieren. Übrigens – wenn Herr Nieritz mich wegen Körperverletzung verklagen will, ich stehe jederzeit zur Verfügung.« Er warf einen Blick auf Benno, der kaum noch verachtungsvoll zu nennen war – dann ergriff er Norbert am Arm und zog ihn mit sich fort. Da weinte Renate auf – so leidenschaftlich, so hemmungslos –, daß Herr Erdmann zwischen seinem blutüberströmten Sohn und seiner schluchzenden Tochter stand und sich keinen Rat wußte. »Wenn man nur erst wüßte, was das alles zu bedeuten hat!« polterte er los. »Sei jetzt endlich still, Renate. Und du, Benno, du siehst ja niedlich aus. Komm nach Hause, damit du in ärztliche Behandlung kommst.« Sie gingen in das Herrenhaus hinüber, und dort wurde zuerst der Arzt gerufen. Es war eine schmerzhafte Behandlung, der Benno sich
unterwerfen mußte. Er ächzte und stöhnte kläglich dabei. Endlich war er erlöst und durfte sich ins Bett legen, bekam ein Schlafmittel und war bald sanft entschlummert. Er konnte es sich ja leisten, hatte doch alles viel besser geklappt, als er zu hoffen gewagt. Nun war er gar noch krank, und das würde den Alten sanft und milde stimmen. Herr Erdmann jedoch war erregter, als er zugeben wollte. Als Benno fest schlief, ging er mit Renate nach seinem Arbeitszimmer und ließ sich von ihr über die merkwürdige Angelegenheit ausführlich berichten. Renate tat es, so gut sie dazu imstande war, und der Vater erregte sich immer mehr. »Das habe ich dem Norbert doch nicht zugetraut«, schalt er entrüstet. »Wenn er in Geldschwierigkeiten ist, dann hätte er doch so viel Vertrauen aufbringen und zu mir kommen können, ich hätte ihm bestimmt geholfen. Ich weiß ja, daß er mit seinem Gehalt schlecht auskommen kann, zumal er mir noch monatlich hundert Mark von der Summe, die ich ihm zu seiner Ausbildung vorgestreckt habe, abzahlt. – Aber das kommt davon, wenn die Jugend kein Vertrauen zu uns Alten hat. Anstatt die Beurteilung der Angelegenheit einem ruhigen, erfahrenen Menschen zu überlassen, da wichsen die Hitzköpfe darein, was Zeug und Leder hält, daß die Nasenbeine nur so krachen. – Laß mir die beiden Bengel nur kommen, ich werde ihnen schon die Flötentöne beibringen!« »Vater – so glaubst du an Norberts Schuld?« fragte Renate entsetzt, und er sah sie erstaunt an. »Na, was denn sonst, Reni. Es geht hier doch um Geld, das Norbert dem Benno gegeben haben will – das Benno aber nicht erhalten hat – ich meine, das läßt doch nur eine Erklärung zu. – Oder glaubst du etwa, daß Benno…?« fragte er scharf. Da schlug sie die Augen nieder. »Nein – gewiß nicht«, stammelte sie. »Ich meinte nur, weil Norbert ein so ehrenhafter Mensch ist.« »Na ja, warum auch nicht«, unterbrach der Vater sie unwillig. »Es soll ihm ja auch nicht der Kopf abgerissen, sondern nur gehörig zurechtgerückt werden. Er muß für diesen Fehltritt einen Denkzettel erhalten, an den er ewig denken wird. Man braucht ihm ja nicht gleich sein ganzes Leben zu verpfuschen. Die zehntausend Mark verschmerze ich schon, auf die soll es mir nicht ankommen. Aber nun will ich zuerst noch einmal nach Benno sehen und
mich dann ein wenig niederlegen. Ich bin rechtschaffen müde, bin die ganze Nacht durchgefahren, um zu Bennos Geburtstag zurechtzukommen, und muß hier diese nette Bescherung finden.« Renate ging mit dem Vater nach oben und suchte dort ihr Zimmer auf. Es war auch die höchste Zeit, daß sie allein war, sie hätte sich nicht mehr lange beherrschen können. »So, mein Junge, jetzt den Nacken steif gehalten und keine Dummheiten gemacht«, sagte Jürgen zu Norbert, als sie sich verabschiedeten, um jeder seine Wohnung aufzusuchen. Norbert lächelte matt. »Das sagt der, der soeben gleichfalls eine grenzenlose Dummheit begangen hat.« »Warum?« fragte der Freund erstaunt. »Ach so – du meinst, weil ich dem sauberen Patron eins auf die Nase gegeben habe? Beruhige dich, das würde ich im gegebenen Fall immer wieder tun.« Er reichte Norbert die Hand, die dieser mit festem Druck ergriff. »Ich danke dir, Jürgen«, sagte er einfach, aber dieser winkte unwirsch ab. »Für eine Selbstverständlichkeit bedankt man sich nicht, Jungchen, merke dir das. Entweder man hält Freundschaft und steht füreinander ein – oder man hält keine und hat es dann nicht nötig.« Damit schieden beide voneinander. Norbert suchte seine Wohnung auf, und Jürgen schritt den Berg zur Windmühle hinan. Als er die Stube betrat, kam ihm Fräulein Milchen mit verweinten Augen entgegen. »Gut, daß Sie kommen, Herr Frank«, schluchzte sie. »Ich wollte Sie schon holen lassen und habe auch schon den Arzt bestellt – denn es wird mit der Frau Mutter – wohl – zu Ende – gehen.« Jürgen trat leise an das Bett der Mutter, die ihm zwar sehr müde, doch mit klarem Bewußtsein zulächelte. Ihre welken Hände griffen nach dem Sohn. »Mutter, mein Mutterchen«, sagte er leise und zärtlich. »Dein großer Jung’ ist schon wieder bei dir. Hast du einen Wunsch?« Sie schüttelte den Kopf und sah ihn an. – So unendlich liebevoll war der Blick, daß es Jürgen heiß in die Augen stieg. »Bist immer – mein braver – Jung’ gewesen«, stammelte sie mühsam. »Bleib so, wie – du bist – habe vor nichts – so Angst
wie vor – Unehre – ich gehe jetzt – zum Vater.« Ein Lächeln, das schon nichts Irdisches mehr an sich hatte, ein tiefer Seufzer… »Mutter!« stammelte Jürgen verzweifelt. »Mutter, laß mich doch nicht allein!« Doch die Mutter hörte ihn nicht mehr. Und als Jürgen sah, daß er nun auch noch seine Mutter verloren hatte – jetzt, nachdem er so Erschütterndes erlebt –, da war das selbst für dieses Mannes Nerven zuviel. Er brach vor dem Bett in die Knie und weinte so wild und hemmungslos, wie er nicht einmal als Knabe geweint. Als er seine Schulter berührt fühlte, schrak er auf und sah in des Arztes Gesicht. »Na, na, nicht gar so verzweifelt, Sie junger Riese«, tröstete er. »Sie haben viel verloren, denn eine Mutter wie die Ihre gibt es sobald nicht noch einmal. Doch gönnen Sie ihr die Ruhe, sie hat sie sich gewünscht.« Jürgen hörte kaum, was der Arzt sagte. Er starrte nur immer auf die tote Mutter. Er wurde auch nicht gewahr, daß der Arzt den Totenschein ausstellte und dann wieder ging. Erst als Fräulein Milchen mahnte, daß man die Mutter umbetten müsse, da erhob er sich von den Knien. »Mutter«, flüsterte er, »Mutter – nun habe ich kein Zuhause mehr. Denn was soll ich nun noch hier, wo ich das bitterste Leid meines Lebens erfahren mußte?« »Herr Frank«, mahnte Milchen nun dringlicher, und da trat Jürgen zurück. Und unten im Mühlengrund verlor noch jemand die Mutter – Norbert. War sie ihm auch niemals die Mutter gewesen, wie er sie ersehnt, so hatte doch immer noch ein Band bestanden. Denn als Norbert zu ihr kam – verzweifelt, zerquält – als er ihr erzählte, wessen man ihn beschuldigte, da glaubte sie nicht an seine Unschuld. Und das tat weh – sehr, sehr weh. So sehr, daß Norbert kein Wort zu seiner Verteidigung finden konnte, daß er der Mutter böse Worte schweigend über sich ergehen ließ. Eben stand sie vor ihm und schleuderte ihm Schmähungen über Schmähungen ins Gesicht. »Ein Feigling bist du, und ich bereue die Stunde, in der ich dich
gebar!« schrie sie ihm entgegen. »Was gibt es denn hier?« fragte Rosmarie, die in der Tür stand und mit entsetzten Augen auf die tobende Mutter und auf den müden blassen Bruder schaute. »Mama, was ist denn?« fragte sie dringender. Da wandte die Mutter sich zu ihr herum. »Frage nur deinen Herrn Bruder«, höhnte sie. »Zehntausend Mark hat er unterschlagen und behauptet dabei, unschuldig zu sein!« »Norbert!« stammelte Rosmarie mit entfärbten Lippen. »Wie konntest du nur…« Norbert, der trotz aller Entfremdung in dieser bitteren Stunde von der Schwester ein teilnehmendes Wort erwartet hatte, konnte das alles kaum noch ertragen. »Ist gut, Rosmarie«, sagte er ruhig – so ruhig, daß es unheimlich wirkte. »Sprich nicht weiter, denn ich weiß, was du sagen willst. Ich habe keine Mutter mehr – warum soll ich dann noch eine Schwester haben?« »Habe keine Mutter mehr!« äffte Frau Haller ihm nach. »Seht doch mal an, er setzt sich noch großartig auf das hohe Pferd. Du bleibst hier!« herrschte sie Rosmarie an. »Norbert«, schluchzte Rosmarie. »So ist es nicht – so doch nicht!« Doch er hörte nicht mehr, war schon da vongestürmt in Groll und Grimm. Eilte hin zu dem einen, der an ihn glaubte. Jürgen hatte mit dem alten Fräulein zusammen die Mutter gewaschen und sie in die Kammer gelegt. Er war eben dabei, die Stube gründlich zu säubern, als Norbert über die Schwelle hastete. »Still, Norbert«, bat Jürgen, »meine Mutter ist tot.« Da blieb Norbert wie erstarrt stehen, wagte keinen Schritt mehr zu tun. »Also doch«, sagte er leise. »Trotzdem bist du zu beneiden, Jürgen, denn du kannst an deine Mutter denken wie an eine Heilige. Aber ich – ich – der ich auch die Mutter soeben verlor…« Er schluckte krampfhaft. Da trat Jürgen zu ihm, umfaßte seine Schulter. »Armer Kerl«, sagte er mitleidig. »Ich habe fast so etwas geahnt. Und was nun?« »Am liebsten möchte ich fort von hier«, entgegnete Norbert finster. »Aber ich darf es nicht. Ich kann Rosmarie dem Lumpen doch nicht kampflos überlassen, damit er sie unglücklich macht für das ganze Leben.« »Und wo wirst du Arbeit finden?« fragte Jürgen.
»Es muß sich irgend etwas finden lassen für einen, der arbeiten will«, sagte er mit stiller Verzweiflung. »Und wenn es nicht hier in der Nähe sein kann, dann gehe ich fort und nehme Rosmarie mit mir. Auf meine Mutter kann ich keine Rücksicht mehr nehmen.« »Schade«, meinte Jürgen. »Sonst würde ich dir sagen: Komm mit mir, denn ich bleibe auch nicht mehr hier. Meine Mutter, um derentwillen ich es hier aushielt, ist ja nun tot. Aber wenn Rosmarie mit dir geht – ich das Mädchen immer vor Augen haben soll – das halte ich nicht aus, Norbert, wirklich nicht – und wenn du mich deswegen auch schlapp und energielos nennst.« »Das werde ich auch gewiß nicht tun, Jürgen. Ich weiß selbst, wie es ist, wenn man das Mädchen – na, einerlei! Wann findet die Beerdigung deiner Mutter statt?« »In drei Tagen. Ich werde ihren Tod so geheimhalten, wie es irgend geht. Werde die lieben Mühlengrunder wohl um eine Sensation bringen, aber ich kann ihnen beim besten Willen nicht helfen.« »Ich werde zu einem Freund fahren, mit dem ich zusammen das Bankfach erlernt habe. Zum Begräbnis deiner lieben Mutter bin ich jedoch wieder zurück.« »Also gut, Norbert, halt den Nacken steif!« Sie drückten sich die Hände. Drei Tage darauf wurde Frau Frank zu Grabe getragen. Der Tod der Frau Frank war selbst den Mühlengrundern bis zum letzten Tag unbekannt geblieben. Im Herrenhaus vom Mühlengrund hörte man von dem Tod der alten Frau Frank erst, als sie schon in der Erde ruhte. Herr Erdmann brachte die Nachricht, am Abend mit nach Hause. »Die Bengel sind wie vom Erdboden verschwunden«, schalt er ärgerlich. »Lassen einfach die Arbeit Arbeit sein und damit holla! Nun sitze ich ohne Werkmeister da, und auch der Norbert fehlt mir an allen Ecken und Enden. Nun, da die Jungens fort sind, merkt man erst, wieviel sie geleistet haben. Morgen ist Sonntag, da ist ja sowieso nichts los. Doch wenn sie Montag* nicht eintrudeln, dann werde ich sie holen lassen – aber ein wenig mit Trara!« »Das würde ich an deiner Stelle nicht tun, Vater«, meldete sich Benno, der mit einem riesigen Pflaster auf der Nase schon wieder obenauf war. Und wie obenauf! Denn seine Krankheit hatte es
bewirkt, daß der Vater wieder so gütig zu ihm war wie früher. Am nächsten Vormittag war es, als Rosmarie, die eben aufgestanden war, zu ihrer Mutter in die Küche trat. Sie sah so blaß aus, daß Prau Haller sie besorgt ansah. »Nimmst dir die Sache mehr zu Herzen als der aufsässige Bengel«, schalt sie. »Leg dich nur wieder hin, du siehst zum Erbarmen aus.« »Laß nur, Mama«, winkte sie müde ab. »Ist Norbert gestern nach Hause gekommen?« »Ich glaube doch«, brummte die Mutter. »Mantel und Hut hängen jedenfalls im Vorsaal. Wo er sich rumgetrieben hat, das wissen die Götter. Drei Tage lang war er überhaupt wie vom Erdboden verschwunden, dann tauchte er gestern plötzlich wieder auf, wahrscheinlich, um dem Begräbnis der alten Frau Frank beizuwohnen, und war dann wieder futsch und weg. Selbstverständlich, das sieht ihm ähnlich!« »Ist kein Schreiben für ihn angekommen?« fragte Rosmarie. »Du wartest wohl auf eine Vorladung für ihn?« »Man muß damit rechnen, Mama.« »Damit sie ihn von hier aus zur Polizei holen – das hat mir gerade noch gefehlt.« »Soweit will ich es eben nicht kommen lassen, Mama. Ich will heute zu Herrn Erdmann gehen und ihn bitten, von einer Anzeige abzusehen. Ich werde ihn auch davon zu überzeugen suchen, daß Norbert unschuldig ist.« »Also du glaubst an Norberts Unschuld?« fragte Frau Haller, und als Rosmarie nickte, brach sie in ein nervöses Lachen aus. »Mama, lassen wir das«, wehrte Rosmarie ab. »Ob ich mal versuche, mit Norbert zu sprechen?« »Das kannst du ja versuchen, aber ich glaube nicht, daß du dazu kommen wirst.« Es hatte an der Korridortür geklingelt. »Nanu, wer kommt denn da – um elf Uhr?« Sie eilte zur Tür, öffnete sie. »Oh, Herr Nieritz, das ist wirklich zu liebenswürdig!« rief sie erfreut. »Kommen Sie doch bitte näher! Rosmarie, Herr Nieritz ist da!« meldete sie der Tochter. Sie sah Benno feierlich angetan – einen Blumenstrauß in der Hand – und es beschlich sie tiefes Grauen. »Guten Morgen, Rosmarie«, sagte er. »Du siehst mich so sonderbar an, Mädel – na ja, ich sehe nicht
gerade schön aus«, lachte er gezwungen auf. »Aber sobald das Pflaster entfernt ist, wird alles wieder gut sein.« »Selbstverständlich«, bekräftigte Frau Haller überzeugt und bat den Gast in das Zimmer, wo sie ihm einen Sessel zuschob. »Nehmen Sie Platz, Herr Nieritz, Sie sehen doch sehr angegriffen aus. Einen Menschen in solcher Weise zuzurichten, das ist mehr als empörend!« Benno war wieder einmal in seinem Fahrwasser, blähte sich wohlgefällig und kam sich vor wie ein Held und Märtyrer. »Man ist vor den Rohheiten solcher Burschen nie und nirgends sicher. Ich werde schon dafür sorgen, daß er ins Kittchen kommt.« Sein Blick ging lauernd zu Rosmarie hin, die tief erblaßt war und sich kaum noch auf den Füßen halten konnte. Also habe ich richtig hintergehakt, frohlockte er. Na, dann immer weiter so! »Was können Sie von einem solchen Menschen auch mehr verlangen, Herr Nieritz«, ereiferte sich Frau Haller. Nun weinte sie, und der rechte Augenblick war für Benno gekommen. Er setzte sich in seinem Sessel zurecht. »Tja, meine liebe Frau Haller, das ist nun mal der Lauf der Welt«, meinte er leutselig. »Wir wollen den guten Norbert nicht zu sehr verdammen. Wenn der Mensch mit Geld umgehen muß, dann kann ein derartiger kleiner Fehltritt leicht vorkommen. Ich gäbe etwas darum, ließe sich die dumme Geschichte totschweigen. Aber es wird nicht gehen. Allzu viele wissen darum. Jürgen Frank hat so gebrüllt, daß die Leute im Werk zusammenliefen und alles mit angehört haben. Nun möchte ich aber nicht, daß Norbert in aller Leute Mund kommt – weil er doch – na ja – das später! Jedenfalls gedenke ich alles zu tun, was sich in dieser Sache irgendwie tun läßt, denn Norbert und ich sind schließlich Kindheitsgespielen. Allerdings muß Rosmarie dabei mithelfen – was meinst du dazu, Rosiliebchen?« Sie zuckte zusammen bei diesem Kosewort. »Wenn ich kann«, stammelte sie verwirrt. »Aber selbstverständlich kannst du das, indem du – ehern – indem du ganz einfach – meine Frau wirst.« »Rosmarie, du Glücksmädel!« rief die Mutter entzückt. Aber die Tochter konnte ihr Entzücken nicht teilen, hatte vielmehr das Gefühl, als ob sie sterben müsse.
Jetzt trat Benno zu ihr hin, umfaßte ihre Schultern. »Sieh mal, Rosiliebchen, wenn du erst meine Frau bist, dann werden die Leute sich mit ihrem Klatsch nicht an Norbert heranwagen, er ist ja dann mein Schwager.« Frau Haller weinte vor Rührung und Glück, doch Rosmarie konnte sich kaum noch aufrecht halten, so elend fühlte sie sich. Was sollte sie tun?! Ach, wenn sie jetzt doch einen Menschen hätte, der ihr raten könnte! – So hilflos und verlassen kam sie sich vor. Aber mußte sie nicht tun, was Benno verlangte? Sie konnte doch damit dem Bruder und dem Geliebten helfen. »Rosmarie, so stehe doch nicht so stocksteif da«, mahnte die Mutter. »Gib Herrn Nieritz doch eine vernünftige Antwort. – Es ist schrecklich mit dem Mädel«, klagte sie ihrem zukünftigen Schwiegersohn. »Gar kein Leben oder Geist steckt in der Kleinen. Falle doch deinem Bräutigam um den Hals und gib ihm einen Kuß – so gehört es sich!« »Wird auch noch alles kommen«, beschwichtigte Benno die aufgeregte Frau. Er war ja noch nicht sicher, ob Rosmarie mit seiner Werbung einverstanden war. »Rosmarie, du allein kannst deinen Bruder retten«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Mein Vater ist fest entschlossen, die dunkle Angelegenheit mit dem verschwundenen Geld aufzuklären.« Furchtbar mußte die arme Rosmarie mit sich und ihrem störrischen Herzen kämpfen. Das wollte durchaus nichts von dem Mann an ihrer Seite wissen, sondern schrie immer nach dem andern. In dieser Stunde lauter denn je. Aber es mußte doch sein – mußte! Sie durfte Norbert doch nicht vor Gericht schleifen lassen. Und dann Jürgen, der wegen Körperverletzung bestimmt bestraft werden würde. Läßt man einen geliebten Menschen im Stich, wenn man in der Lage ist, ihm helfen zu können? Nein – und tausendmal nein! Also mußte sie helfen. Ihr Leben war ja sowieso verpfuscht; glücklich werden konnte sie sowieso niemals mehr. Sie sah zu Benno auf, der ungeduldig auf eine Antwort wartete. Noch ein kurzer Kampf – dann streckte sie ihm die Hand entgegen. »Wenn Sie mich so haben wollen, wie ich bin – ohne jede Liebe zu Ihnen – dann will ich Ihre Frau werden«, sagte sie
leise. »Na endlich!« lachte er befreit auf. Er wußte ganz genau, warum sie ihm das Jawort gegeben hatte. Er reichte ihr die Blumen hin. »Hier, Rosiliebchen, das Geschenk kommt nach. Ich muß jetzt leider fort. – Um eines müßte ich allerdings bitten: Bringen Sie nicht Jürgen Frank mit, ich kann den ungeschlachten Burschen nicht mehr sehen.« »Aber wie werden wir denn eine derartige Geschmacklosigkeit begehen«, wehrte Frau Haller beleidigt ab. »Der gehört doch nicht in unsern Kreis und wird hoffentlich so viel Taktgefühl haben, sich fortan von uns fernzuhalten.« »Wenn Sie bei dem Kerl Taktgefühl voraussetzen, dann haben Sie sich schwer geirrt«, höhnte Benno. Rosmarie konnte das alles kaum noch ertragen. Wenn Benno nur erst gehen wollte! Endlich schloß sich die Tür hinter ihm. Nun eilte die Mutter auf Rosmarie zu. »Komm an mein Herz, mein liebes Kind!« rief sie in dem hochgeschraubten Ton, in den sie leicht verfiel. »Laß dir alles Glück der Erde wünschen!« Rosmarie lächelte gequält. »Aber selbstverständlich, Mama«, entgegnete sie schroff. »Herrgott nein – entschuldige nur schon! Dir scheint wohl nicht einmal Benno Nieritz als Mann zu passen, wie? Ein Werkmeister wäre dir wohl lieber?« »Laß mich bitte endlich in Ruhe!« fuhr Rosmarie heftig auf. »Ruhe dich ein wenig aus, dann wirst du dich wieder zurechtfinden.« Damit verschwand sie in ihrem Schlafzimmer, während Rosmarie sich erschöpft in den nächsten Stuhl sinken ließ. Gott sei Dank – nun war sie allein! Und Braut war sie – Braut des Benno Nieritz. Sie sollte nun tagaus, tagein – ein ganzes Leben lang immer mit Benno Nieritz zusammen sein – der ihren Bruder des Diebstahls verdächtigt hatte?! Hatte sie nicht doch übereilt gehandelt. Aber wenn sie die kaum eingegangene Verlobung wieder löste, was dann? Nein, es war der einzige Ausweg, um Norbert und Jürgen vor Schande zu retten. Rosmarie sah mit traurigen Augen auf den Strauß in ihrem
Schoß. Rosen – blutrote Rosen! Zum zweiten Male, daß man ihr in ihrem jungen Leben solche Blumen geschenkt. Sie legte ihn zur Seite. In diesem Augenblick trat die Mutter ein. »Ja, gib den Strauß nur her, mein Kind, damit ich ihn in Wasser stellen kann«, sagte sie eifrig. »Es wäre jammerschade, würden die wunderschönen Rosen verwelken.« Verwelkt lagen jene Blätter in einem Kästchen, in dem sie alle ihre kleinen Kostbarkeiten verwahrte. Ein tiefer Seufzer entrang sich Rosmaries Lippen. Die Rosen, die du mir gebracht, Sind jetzt ein welker Blumenstrauß Das Lied ist aus nn zog es ihr durch den Sinn. Ja, das Lied war jetzt wirklich aus – das Lied der Liebe, das sie nur einen kurzen Tanzabend lang vernommen hatte. »Was für ein Kleid wirst du heute anziehen?« klang der Mutter Stimme in ihre quälenden Gedanken hinein. »Es muß doch eines sein, zu dem die Rosen passen. – Rosen – blutrote Rosen…«, trällerte sie gut gelaunt. Auch das noch! Rosmarie sprang auf und hielt sich die Ohren zu. »Mama – laß doch das!« rief sie weinend. »Eine Närrin bist du, weiter nichts«, brummte die Mutter. »Ah, der gnädige Herr«, begrüßte sie Norbert. »Aussehen tust du allerdings, als hättest du schon im Grabe gelegen. Suche nur deinen Smoking hervor, mein Sohn, damit du heute würdig die Verlobung deiner Schwester mitfeiern kannst.« Norbert starrte die Mutter groß an – da lachte sie wieder. »Ja, ja – wünsche Rosmarie nur Glück«, ermunterte sie ihn. »Sie hat sich mit Benno Nieritz verlobt.« Sein Blick hing an Rosmarie, die ebenso bleich war wie er. »Rosmarie – ist – das – wahr?!« Als sie schweigend nickte, warf er den Oberkörper zurück und lachte, lachte – als habe er den Verstand verloren. Ehe Mutter und Tochter sich von ihrem Entsetzen erholen konnten, war er schon vorangestürmt. »Na, wenn der Bengel nicht verrückt geworden ist, dann weiß ich
es nicht«, murmelte Frau Haller. »Kind!« schrie sie auf und sprang herzu, um die in die Knie sinkende Tochter aufzufangen. »Norbert!« wimmerte das Mädchen. »Norbert!« Da wurde die Mutter böse. »Laß ihn doch laufen, den Narren!« schalt Frau Haller. »Er wird schon noch zu Kreuze kriechen, verlaß dich darauf. – Komm, mein Kind«, redete sie Rosmarie freundlich zu, »leg dich ein wenig nieder, das wird am besten für dich sein.« Rosmarie war viel zu erschöpft, um sich gegen der Mutter Gebot aufzulehnen. Sie ließ alles willenlos über sich ergehen. Ließ sich zu Bett bringen und konnte doch nicht schlafen. Unterdessen war Norbert zur Windmühle hingestürmt, wo er Jürgen beim Packen seiner Sachen fand. »Was ist dir denn widerfahren, Norbert?« fragte er erschrocken. »Du siehst ja aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.« Norbert ließ sich auf die Holzbank fallen, stützte die Arme auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Norbert – um alles in der Welt, was hast du denn?!« Da hob dieser den Blick und sah den Freund an – weh, verzweifelt. »Daß sie uns das antun konnte, Jürgen – uns beiden, die wir sie so zärtlich lieben«, sagte er tonlos. Und als Jürgen verständnislos den Kopf schüttelte, setzte er hinzu: »Rosmarie hat sich mit Benno Nieritz verlobt.« Diese Nachricht traf Jürgen mehr als hart. Auch er lachte auf, wie Norbert noch kurz vorher gelacht – nur daß in seinem Lachen ein Schluchzen mitschwang. Da wurde Norbert ruhiger, legte den Arm um des Freundes Schulter. »Mußt es nicht zu schwer nehmen, Jürgen«, versuchte er ihn zu trösten. »Rosmarie ist nun einmal nicht die, wofür wir beide sie gehalten haben.« »Na ja«, sagte Jürgen bitter. »Was haben wir also noch hier zu suchen?« Als Benno Nieritz aus der Hallerschen Wohnung fortging und dem Herrenhaus des Mühlengrundes zuschritt, war er sehr zufrieden mit sich. Zu Hause suchte er den Vater auf, der in seinem Zimmer saß und in aller Ruhe und Beschaulichkeit seine Sonntags Vormittagszigarre rauchte. »Nun, Benno, was gibt es?« fragte er gemütlich, als der Sohn bei
ihm eintrat. »Du machst ja ein Gesicht, als hättest du das Große Los gewonnen.« »Noch mehr als das, Vater«, frohlockte Benno. »Ich habe mich mit Rosmarie verlobt. Ja, da bist du platt, wie?« »Wie eine Flunder«, gab der Vater zu und lachte über das ganze Gesicht. »Das hast du fein gemacht, Benno. Wann kommt denn unsere kleine Braut?« »Heute nachmittag zum Kaffee.« »Kommt Norbert mit?« »Selbstverständlich.« »Und Jürgen?« »Nein, Vater – das heißt…« »Na, Junge, sei nicht nachtragend. Weiß Renate schon von deiner Verlobung?« »Nein.« »Dann muß sie es schleunigst erfahren.« Er sagte dem Diener Bescheid, und einige Minuten später trat Renate ein. »Liebchen, nun tue mir einen Gefallen und lache mal wieder«, sagte der Vater. »Schau dir mal deinen Bruder an, der ist Bräutigam, jawohl! Und wer die Braut ist – rätst du es?« »Rosmarie etwa?« fragte sie tonlos. »Jawohl«, bestätigte der Vater schmunzelnd. »Freust du dich denn nicht?« »Doch«, entgegnete sie hastig. »Die Nachricht kommt mir nur ein wenig zu überraschend.« »Kann ich mir denken, Vögelchen. Und nun wirst du ein nettes Fest in Szene setzen. Es kommen unsere Anverwandten.« »Auch Norbert?« »Auch der!« Der Vater zwinkerte ihr verschmitzt mit den Augen zu, und des Mädchens Wangen überzogen sich mit heißer Glut. Norbert kommt! Norbert kommt! sang und klang es in ihrem Innern. Selten war sie so wählerisch gewesen wie an diesem Nachmittag, als sie in ihrem Ankleidezimmer vor dem Schrank stand und sich nicht schlüssig werden konnte, in welchem Kleid sie vor Norbert erscheinen sollte. Schön will ich sein – sehr schön! dachte sie beglückt. Ich will ihm heute sagen, daß ich auch nicht einen Herzschlag lang an
seine Schuld geglaubt habe – werde ihm auch zeigen, daß ich ihn liebe. Jawohl, das werde ich! trumpfte sie auf, als der Stolz sich wieder melden wollte. Ich will glücklich werden! Endlich entschloß Renate sich für ein schneeweißes Kleid, das ihr besonders gut stand. Norbert, ihr Schwager – und vielleicht bald ihr Liebster! Und es legte sich wie Rauhreif auf ihr Glücksgefühl, als wohl Frau Haller und Rosmarie erschienen – doch Norbert nicht. Sie begrüßte die aufgeputzte Frau, schloß ihre Schwägerin in die Arme – aber hatte nur den einen Gedanken: Wo ist Norbert? »Renate, ich bin dir nicht willkommen als Schwägerin?« fragte Rosmarie. Da schrak sie zusammen. »Rosmarie, du weißt ganz genau, wie lieb du mir bist. Doch sage mir eines: Wo ist Norbert?« »Ich weiß es nicht«, gab Rosmarie bedrückt zurück. »Er ist heute vormittag davongelaufen und bis jetzt nicht wieder zurückgekehrt. Reni – ich sorge mich unbeschreiblich um ihn!« Der Tag verging recht harmonisch und schön. Die beiden Mädchen, in deren Herzen es tobte und stürmte, beherrschten sich so vollkommen, daß ihnen nichts anzumerken war. Herr Erdmann war zuerst wohl aufgebracht gewesen, daß Norbert und Jürgen nicht mitgekommen waren, hatte sich dann aber bald beruhigt. »Die Jungen hole ich mir morgen«, hatte er gedroht und über das ganze Gesicht dabei gestrahlt. Allein, als er sie am nächsten Morgen wirklich holen ließ, waren die Freunde nirgends aufzufinden. Nun begann Herr Erdmann sich ernstliche Sorge zu machen. Und diese Sorge wuchs noch, als ihm zwei Anweisungen gebracht wurden, die beide auf zehntausend Mark ausgestellt waren und die beide Norberts Schulden decken sollten. »Das verstehe, wer kann«, murmelte er und schrak zusammen, als Renate ins Büro stürmte – zitternd, weinend, aufgelöst vor Erregung und Ratlosigkeit. »Vater, Norbert und Jürgen sind fort!« schluchzte sie so jämmerlich, daß es ihm ins Herz schnitt. »Aber Renilein, wer wird denn gleich so kopflos werden«, beschwichtigte er sie. »Woher weißt du, daß sie fort sind?« »Rosmarie war bei mir. Sie hat in ihrem Zimmer einen Zettel
gefunden mit der Mitteilung, daß Norbert mit Jürgen aus dem Mühlengrund gegangen ist. Während Rosmarie und ihre Mutter bei uns waren, hat Norbert seine Sachen gepackt und ist auf und davon gegangen.« »Hm, das ist ja eine ganz verzwickte Geschichte«, murmelte der Vater bedrückt. »Es ist überhaupt vieles sehr merkwürdig! Habe ich da heute zwei Geldanweisungen über je zehntausend Mark erhalten, die beide dazu bestimmt sind, den mir durch Entwendung des Geldes zugefügten Schaden wiedergutzumachen. Die eine Begleichung können vielleicht die Bengels geschickt haben – aber die andere…« Da hob Renate den Kopf, sah den Vater an – und da wußte er plötzlich Bescheid. »Mädelchen – steht es so?« fragte er leise. »Ja, Vater, ich habe ihn doch so lieb – so sehr, sehr lieb! Und nun ist er fort!« Seinen Herzensliebling so erschütternd weinen zu sehen, das war allerdings mehr, als der zärtliche Vater vertragen konnte. »Verflixte Bengels!« ergrimmte er sich. »Immer mit dem Kopf durch die Wand, und wenn sie sich dabei den Schädel einrennen! Gleich davonzulaufen, diese dickköpfige Bande! Man hätte ihnen ihre Dummheit von Herzen gern verziehen. Aber da wird nicht gefragt, da wird einfach da vongestürmt.« »Sei nicht so böse, Väterchen«, bat Renate, die den Vater selten so ungehalten gesehen hatte, tief erschrocken. »Dir tut es ja selbst leid, daß sie fort sind.« »Was heißt hier leid tun!« polterte er unwirsch. »Ich habe die Jungen liebgehabt wie meine Kinder. Das müssen sie doch gemerkt haben – und tun mir trotzdem das an! – Die zehntausend Mark stammen doch sicherlich von Jürgen. Da hat der Bengel wahrscheinlich seine Notgroschen zusammengekratzt, um den Freund wieder ehrlich zu machen.« »Vater, glaube mir – Norbert ist unschuldig«, sagte Renate leise. »Das will mir nun fast auch so scheinen, Reni. Um so unangenehmer ist die Geschichte! Ich werde jetzt mal gehörig die Augen offen halten, vielleicht findet sich der Schweinehund noch, der dem Norbert die Suppe eingebrockt hat. Aber dann wehe…!« Renate hätte dem Vater den Frevler wohl verraten können – doch sie schwieg – mußte ja schweigen.
So tat sie denn das Klügste, was sie tun konnte – sie forschte in Bennos Zimmer nach Beweismaterial. Lange brauchte sie nicht zu suchen, denn sie fand etwas, was die Schuld des Bruders klar bewies. Fand zwar den verhängnisvollen Zettel nicht, jedoch Waldemar Kyds Brief fiel ihr in die Hände. Der genügte vollkommen, um Benno zu überführen. Sie legte sich auf die Lauer, um Benno abzufangen. Sie brauchte nicht lange zu warten, da hörte sie ihn schon kommen. Kyds Brief in der Hand, traf sie auf ihn zu und schob den über ihr unerwartetes Erscheinen vollkommen Verdutzten in ihr Zimmer hinein. Ohne Übergang, ohne Einleitung ging sie auf ihr Ziel los. »Wo sind die zehntausend Mark geblieben?« fragte sie drohend. »Wovon sprichst du eigentlich, mein Kind?« fragte er. »Spiele nicht den Ahnungslosen«, entgegnete sie kalt und entschlossen. »Es hilft dir alles nichts, dieser Brief hier klagt dich an.« »Ach, sieh mal an, die Kleine hat nachgeschnüffelt«, lächelte er niederträchtig. »Und wenn es so wäre, mein Fräulein, was dann?« »Dann wärest du ein Lump!« rief Renate erregt. »Gott, wie du den Mund vollnimmst! Kindchen, errege dich nicht so, darunter leidet deine Schönheit. Trauerst wohl um den lieben Norbert, nicht wahr? Oder ist es gar der Müllerbengel?« »Schmähe du die beiden Jungen nicht, denn sie sind ganze Kerie, während du ein ganz gemeiner Schuft bist, der nicht einmal mehr einen Fußtritt wert ist!« »Na, hör mal, Renate, nun wird es mir aber doch zu bunt«, brauste Benno auf. »Ich bin wohl ein großer Kinderfreund, aber trotzdem ist meine Geduld nicht unerschöpflich.« »Und meine erst recht nicht. Daher wirst du mir jetzt sagen, wo du das Geld, das du von Norbert auf so gemeine Art erpreßt, gelassen hast.« »Kind, stellst du Fragen! Wenn du es durchaus wissen willst, dann erkundige dich bei Waldemar Kyd. Siehst du, Kleine, hättest du ihn damals genommen, wäre das alles nicht nötig gewesen. Aber es ist besser so, der liebe Norbert war mir schon lange ein Dorn im Auge. Er bewachte die süße Rosmarie nämlich wie ein Zerberus – und daher mußte er unschädlich gemacht werden. Und der andere Bursche war mir gleichfalls im Weg, daher war es
ein Fingerzeig des Geschickes, daß er sich so gründlich – vorbeibenehmen mußte. Dadurch bin ich ihn losgeworden und brauche nicht zu befürchten, daß meine zukünftige Frau sich ihre schönen Augen nach dem klobigen Kerl ausguckt – und ihren eigenen Mann darüber vergißt. Wenn du mich nicht verstehst und meine Handlungsweise nicht billigen kannst, dann tust du mir leid.« Je länger der Bruder sprach, um so mehr rückte Renate von ihm fort. Und zuletzt packte sie ein solcher Ekel, daß sie sich nur so schüttelte. »Nun ist mir alles klar«, sagte sie tonlos. »Aber deine Gedanken sollen dir doch nicht glücken. Ich werde…« »Ich werde zum Vater gehen und ihm sagen, daß sein Sohn so ein wenig…«, höhnte er. »Tue es nur, wenn du den Mut dazu hast.« »Den Mut habe ich allerdings nicht, weil mir der Vater dazu zu lieb ist. Aber ich werde zu Rosmarie gehen und sie darüber aufklären.« »Nicht mehr nötig, Renate«, kam eine helle Stimme von der Tür her, unter der Rosmarie stand – todblaß, doch aufrecht und in entschlossener Haltung. Jetzt näherte sie sich Benno, der wie erstarrt dastand – zog den Ring vom Finger und ließ ihn zu seinen Füßen gleiten. »Du bist ein Lump, Benno Nieritz«, sagte sie hart und fest. Wandte sich herum und war schon wieder verschwunden, ehe er wußte, wie ihm geschehen war. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Benno aus seiner Erstarrung aufwachte. »Das hast du fein gemacht, du Hexe!« brüllte er. Wollte sich wutbebend auf die Schwester stürzen – wich jedoch zurück. Denn dicht vor seinen Augen sah er einen Revolver blitzen – klein und allerliebst wie ein Spielzeug. »Ja, mein lieber Benno, bei dir kann man nur noch solche Mittel anwenden, wenn man nicht in Grund und Boden gerannt werden will«, sagte Renate äußerst ruhig. »Ich fordere dich auf, mein Zimmer zu verlassen. Und hüte dich, mich noch einmal anzugreifen – ich trage dieses kleine Ding bei mir, solange du noch im Hause bist, weil ich gezwungen bin, mich vor deinen Wutanfällen zu schützen.« Was blieb Benno anders übrig, als zu gehen?
Rosmarie hatte nicht zu sagen gewußt, wie sie überhaupt nach Hause gekommen war. In der Absicht, Renate einen Besuch zu machen, war sie nach deren Zimmer gegangen und somit unfreiwillig Zeugin des Gespräches der Geschwister geworden. »Barmherzigkeit, was gibt es schon wieder?!« schrie Frau Haller auf, als die Tochter in das Zimmer taumelte. »Mama – er ist ein ganz gemeiner Halunke, ein Betrüger, ein Verbrecher!« schluchzte Rosmarie verzweifelt. »Er hat das alles nur getan, um seine Schulden zu bezahlen und Norbert und Jürgen aus dem Mühlengrund zu entfernen!« »Himmel, Kind – von wem sprichst du?!« fragte die Mutter entgeistert. »Doch nicht etwa von Benno?« »Von wem denn sonst?« Unter Weinen und Schluchzen erzählte Rosmarie der Mutter alles, was diese wissen mußte. Da brach Frau Haller gleichfalls in bitterliches Weinen aus. Und die Tränen, die sie diesmal weinte, kamen wirklich aus betrübtem, leiderfülltem Herzen. Sie dachte an den Sohn, den sie verdammt hatte und den sie vielleicht nie mehr wiedersehen würde. »Herr Bronk, Herr Jürgen Frank wünscht empfangen zu werden«, meldete der Bürodiener seinem Juniorchef, der in seinem Büro saß und an einer Zeichnung herumstrichelte. »Jürgen Frank will mich sprechen? Herein mit ihm!« rief er erfreut und eilte dem eintretenden Freund mit offenen Armen entgegen. »Jürgen, alter Junge, das ist aber lieb von dir!« Nun sah er auch Norbert stehen und verbeugte sich höflich. »Mein Freund«, stellte Jürgen vor, und da streckte Dietrich Bronk Norbert Haller sofort die Hand entgegen. »Wer Jürgen Franks Freund ist, der ist auch der meine«, sagte er einfach. »Kommt, nehmt Platz.« Er schob den Besuchern zwei Sessel hin, holte Wein aus einem kleinen Wandschrank und freute sich. »Wie ich sehe, geht es dir recht gut«, stellte Jürgen lächelnd fest, und Dietrich strahlte ihn an. »Und ob es mir gutgeht! Bin seit drei Tagen verheiratet.« »Daher auch die Flitterwochenaugen, Dieterchen«, nickte Jürgen verständnisinnig. »Doch sage, alter Junge, hast du Beschäftigung für mich?« »Beschäftigung?« fragte Bronk verwundert. »Aber massig, kann ich dir sagen! Du kannst dich sofort in die Arbeit stürzen.«
»Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt«, entgegnete Jürgen müde. »Paß auf, was ich dir zu sagen habe.« Und er erzählte dem aufhorchenden Freund alles, was ihn bedrückte. Verschwieg auch die peinliche Geldgeschichte nicht. »Das muß ja ein netter Bruder sein, dieser Herr Benno Nieritz. Doch halt mal, eigentlich müßte ich den doch kennen? Ist das nicht ein Bürschchen mit einem Monokel, das zu ihm paßt wie der Igel zu einer Zahnbürste?« »Ja, ja – trifft alles zu!« »Du, dann kenne ich ihn bestimmt. Ein ganz gefährlicher Kunde, ein Mädchenjäger ersten Ranges. Dem traue ich es glatt zu, daß er vor solchen Gemeinheiten nicht zurückschreckt. Und was nun, Jürgen?« »Nun möchte ich dich fragen, ob ich in den Werken deines Vaters Beschäftigung finden kann, ganz gleich welcher Art.« »Aber Ehrensache, Jürgen. Mein Vater hält sehr große Stücke auf dich.« »Und mein Freund ist auch arbeitslos.« »Welches Fach?« »Bankfach, jedoch auch in jeder anderen Büroarbeit bewandert.« »Wird sich auch unterbringen lassen. Wart mal, ich werde bei meinem Vater anfragen, ob er augenblicklich ein wenig Zeit hat.« Herr Bronk war zufällig zu sprechen, und so ging Dietrich mit Jürgen und Norbert hinüber nach seines Vaters Privatbüro, wo der Fabrikherr Jürgen Frank sehr herzlich begrüßte. Nun wurde auch dem alten Herrn erzählt, was sich im Mühlengrund zugetragen hatte; er war sofort bereit, die beiden jungen Leute einzustellen. »Es ist zwar augenblicklich jeder Posten besetzt, doch es wird sich schon noch ein freies Arbeitsplätzchen finden lassen. Leitende Posten werden es nicht sein, meine Herren.« »Ist auch nicht erforderlich«, entgegnete Jürgen hastig. »Mein Freund und ich sind an Arbeit gewöhnt.« »Wie ist es nun mit Ihrem letzten Semester, lieber Jürgen?« erkundigte sich der alte Herr. »Das mußte ich wieder unterbrechen, weil mein Vater starb und ich meine alte Mutter nicht allein lassen konnte. Ich trat daher als Werkmeister in die Erdmannschen Mühlenwerke ein.« »Aber es ist doch jammerschade, daß Sie Ihr Studium nicht beenden können«, bedauerte der Fabrikherr.
»Dazu fehlt mir jetzt das Geld.« »Ich könnte es Ihnen vorstrecken.« »Vielen Dank, Herr Bronk; aber mit Schulden zu arbeiten, ist mir ein Greuel. Ich werde mir das Nötige wieder zusammensparen.« »Soviel ich weiß, hattest du doch einige tausend Mark zurückgelegt, Jürgen?« fragte Dieter, worauf Jürgen sehr verlegen wurde. »Ja, weißt du, Dieterchen, das Geld gibt sich so leicht aus«, wollte er sich herausreden. »Na ja, Jungchen, schwindle nicht! Ich denke wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß du wieder einmal einem Bedrängten aus der Patsche geholfen hast.« »Was er dir gerade auf die Nase binden wird«, schmunzelte Bronk Vater. »Also, mein lieber Jürgen, dann ist es wohl am besten, wenn ich Ihnen zuerst mal irgendwelche kleinen Aushilfsposten gebe. Hauptsächlich Dieter können Sie zur Hand gehen, der wird ja in absehbarer Zeit nicht gerade viel leisten – weil er in seine kleine Frau so verliebt ist, daß er nichts anderes hört und sieht als nur sie.« »Du bist doch ein ganz böser Verleumder, Vater«, wehrte Dietrich verlegen ab. »Aber wenn ich Jürgen als Hilfe bekommen kann – nichts Besseres könnte ich mir wünschen. Hauptsächlich Probeflüge und kleine Autoprüfungen kann er mir abnehmen, damit bin ich zur Zeit gar zu sehr überlastet.« »Na also, dann wäre unser Jürgen ja glänzend untergebracht«, schmunzelte der alte Herr* »Und für unseren jungen Freund habe ich auch schon ein Pöstchen. Mein Privatsekretär ist stark mit Arbeit überlastet und wird nicht böse sein, wenn ich ihm eine Hilfe stelle. Was meinen Sie dazu, Herr Haller?« »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Bronk, und werde mich bemühen, Sie nicht zu enttäuschen.« So wurden denn die Freunde in den Bronkschen Werken angestellt und blieben für die Menschen, die im Mühlengrund um sie bangten, verschollen. Zwei Mädchen weinten sich nach ihnen fast die Augen aus, eine Mutter vergoß bittere Reuetränen um den verlorenen Sohn, und Herr Erdmann hätte nie geahnt, daß die beiden Jungen ihm einmal so sehr fehlen könnten. Nur Benno Nieritz vermißte die Verschollenen nicht. Als Rosmarie ihm damals den Ring zurückgegeben hatte, war er
zuerst verreist. War jedoch nach einigen Wochen wiedergekommen – unausstehlicher denn je. Der Vater beachtete ihn so wenig es anging; denn das Vertrauen war ganz und gar erschüttert. Es war mehr als ein Vierteljahr vergangen seit dem Scheiden Jürgens und Norberts aus dem Mühlengrund. Der Herbst kam langsam ins Land und mit ihm vermehrte Arbeit für die Mühlenwerke. Da hätte es für Benno Gelegenheit genug gegeben, sich dem Vater wieder zu nähern. Aber Benno dachte gar nicht daran. Er hatte alles schon dermaßen satt, daß er es nicht einmal mehr für nötig hielt, dem Vater Dienstbeflissenheit vorzutäuschen. Was hatte alles überhaupt noch für einen Zweck? Wenn er Rosmarie nicht bekommen konnte. So suchte Benno bei anderen Mädchen Trost. Die kleine Ella hatte er schon längst abgeschoben, weil sie ihm lästig geworden war. An einem Tag, als Herr Erdmann in den großen Versandraum kam, standen viele Arbeiter zusammen. Als sie den Chef sahen, gingen sie verlegen an ihre Arbeit. »Was habt ihr denn?« fragte Erdmann verwundert; doch sie beugten die Köpfe tiefer über die Arbeit und schwiegen. »Na, nun mal raus mit der Sprache! Ihr kommt mir gar zu sonderbar vor. – Koller, Sie sind der älteste hier«, rief Erdmann einen alten Mann an, »Sie werden mir erzählen, was hier los ist.« Der Mann trat vor – zögernd – sehr verlegen. »Es ist nur wegen dem, Herr Erdmann«, leitete er seine Rede ein. »Und es geht uns ja nichts an – und zu was sollen wir da reden?« »Koller, sie sind wohl ein ausgezeichneter Müller, aber ein guter Redner sind Sie nicht«, lachte der Chef herzlich. »Stammeln Sie nur ruhig weiter, ich werde schon klug daraus werden.« Widersprechendes Gemurmel erhob sich, und Erdmann nickte zufrieden. »Na, dann los, Koller. Ist etwas in den Werken nicht in Ordnung?« »Das ist es nicht«, druckste Koller und kratzte sich den Kopf. »Es ist – es ist nischt Besonderes – es ist bloß wegen dem Kerkeleit seiner Ella.« »So – was ist denn mit der Kleinen?« »Nu is sie dot«, platzte Koller heraus. Herr Erdmann horchte auf. »Tot – das junge, frische Mädel! Habe
ja gar nicht gewußt, daß die Kleine krank gewesen ist.« »War se auch nich – se hat sich man bloß ertränkt.« »Ja, warum das?« fragte der Chef immer befremdeter, und Koller krümmte sich förmlich vor Verlegenheit. »Es hat sie einer verführt – na ja, und da – sie konnte die Schande nicht überleben – und eben darum.« »Schade um das nette Mädel«, sagte Erdmann bedauernd. »Ach, das ist noch nicht alles«, fuhr Koller, sich seiner Wichtigkeit auf einmal bewußt werdend, bedächtig fort: »Als sie nämlich heute die Ella aus dem Mühlbach gefischt haben und dem alten Kerkeleit brachten, dem doch die Ella sein ein und alles war, da hat er sich so gegrämt, daß er einen Herzschlag bekam und auf der Stelle starb.« »Na, ihr seid mir ja gute Geister!« polterte der Chef ärgerlich los. »Es geschehen im Mühlengrund die unerhörtesten Dinge, und die sollen mir wohl verschwiegen werden, wie? Wer hat das Mädel denn unglücklich gemacht, weiß das einer von euch?« Sie wagten ihren Herrn nicht anzusehen und senkten die Köpfe tiefer und tiefer. Erdmann sah von einem zum anderen. »Redet nun endlich!« rief er befehlend, und da ruckten die Köpfe hoch. »Koller, wird es bald!« Den verehrten Herrn so böse zu sehen, war allen entsetzlich – doch ihm weh tun zu müssen, war noch viel entsetzlicher. Einer stieß den anderen an, und keiner wollte sprechen. »Na, denn muß ich ja man«, meinte Koller in die drückende Stille hinein, und es klang sehr, sehr kläglich. »Es ist – vielleicht ist es auch nicht – die Leute sagen nämlich – der Herr Benno…« Er sah erschrocken auf seinen Herrn hin, dem die Röte aus dem Gesicht wich. Er taumelte gegen die aufgestapelten Säcke, und die Männer sprangen herzu. Doch nur augenblicklang, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Herr Erdmann, wir alle gehen für Sie durchs Feuer«, beteuerte der alte Koller treuherzig. »Wenn wir Ihnen helfen könnten…« »Da kann keiner mehr helfen – wer tot ist, bleibt tot«, entgegnete der Chef. »Aber ich danke euch für den guten Willen, Leute. Jetzt geht wieder an eure Arbeit, und vergeßt nie, daß ihr Vertrauen zu mir haben sollt.« Da schlichen die Leute still davon, und Erdmann ging in sein Haus hinüber. Er gedachte mit Benno, der wohl noch nicht
aufgestanden war, Abrechnung zu halten. Als er die Treppe emporstieg, hörte er aus Bennos Schlafzimmer erregte Stimmen. Er ging hinein. Da stand Renate vor Benno, der sich wirklich noch im Bett befand. »Hüte dich, du, daß dein Maß nicht einmal voll wird«, sagte Renate mit seltsam klingender Stimme. »Dein Schuldkonto ist schon so überlastet, daß nichts mehr drauf geht. Und laß es nicht darauf ankommen, daß ich zu sprechen anfange – dann erfährt Vater alles – alles! Erfährt, daß du in gemeinster Weise Geld erschwindelt und den armen Norbert um Ehre und Heimat gebracht hast. Vielleicht gar um sein Leben. – Daß du ein Mädchen, das bisher unverdorben und gut war, gewissenlos an dich gerissen und in den Tod gejagt – und nun noch mein Sparkassenbuch wie ein gemeiner Dieb gestohlen hast. Wie gut du Schriftzeichen fälschen kannst, das ist mir ja bekannt. Also dürfte es dir nicht schwerfallen, auch meinen Namenszug zu fälschen, Geld von meinem Konto abzuheben und es zu vergeuden. Wo hast du übrigens die zehntausend Mark gelassen, die ich dir seinerzeit gab, um deine Schulden bei Waldemar Kyd damit zu bezahlen?« »Ach, Kleine, du fällst mir auf die Nerven«, meinte Benno gelangweilt und streckte sich behaglich im Bett – um jedoch gleich wieder hochzuschnellen, denn jetzt wurde er des Vaters ansichtig, der plötzlich wie hergezaubert vor ihm stand. »Also so einer bist du, Herr Benno Nieritz«, sagte Erdmann sehr ruhig, sehr eisig. »So will ich dich nur darauf aufmerksam machen, daß in meinem ehrlichen Haus kein Bleiben für Halunken ist. Schreibe deine Schulden auf; ich werde sie noch ein letztes Mal bezahlen. Ferner sollst du monatlich dreihundert Mark von mir erhalten, damit du etwas zu leben hast. Solltest du dich einmal ändern und doch noch ein nützliches Glied der Menschheit werden, dann steht dir mein Haus wieder offen. Aber daran glaube ich nicht, denn ein Mensch, der solcher Gemeinheiten fähig ist wie du, der ist von Grund auf schlecht. – Und nun gib Renates Sparkassenbuch heraus. Lege es zusammen mit dem Zettel, auf dem du deine Schulden vermerkt hast, auf den Tisch. Dich selbst möchte ich heute mittag, wenn ich aus den Werken komme, nicht mehr hier sehen.« Damit ging er hinaus, und Renate schlich hinter ihm her. »Vater,
ich bin ja noch bei dir«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. Da schloß er sie fest in seine Arme. »Ein Glück, daß ich dich habe, mein Mädel«, atmete er tief auf. »Sonst wäre es jetzt schlecht um mich bestellt. Doch ich muß nun gehen, Kind, ich habe eine dringende Unterredung mit einem Kunden, die sich nicht aufschieben läßt. Mittags sehen wir uns wieder.« Als Erdmann zu Tisch kam, erkundigte er sich bei dem Diener, ob der junge Herr schon aufgestanden sei. »Herr Nieritz ist bereits am Vormittag fortgegangen«, entgegnete der Alte erstaunt. »Es war so ungefähr um zehn Uhr. Ich sollte diesen Brief für Herrn Erdmann abgeben.« »Danke«, sagte der Hausherr und legte den Brief neben den Teller. Öffnete ihn erst, als er mit Renate in dem kleinen Salon beim Kaffee saß. Es waren nur wenige Zeilen, die Benno hinterlassen hatte, aber sie genügten dem Vater vollständig. Wenn Du nach Renates Sparkassenbuch suchst, hieß es in dem Brief, dann suche bitte nicht zu lange – das habe ich nämlich mitgehen lassen. Außerdem habe ich den Scheck über einige zwanzigtausend Mark, den Du leichtsinnigerweise in der Brieftasche, die in Deinem Zimmer herumlag, hast stecken lassen, an mich genommen. Ich muß doch wenigstens etwas von dem haben, was Du im Überfluß besitzt. Mit den lumpigen dreihundert Mark, die Du mir gnädig zubilligtest, kann ein Mann wie ich nichts anfangen. Gehab Dich wohl – mich siehst Du nicht wieder. »Hoffentlich«, sagte Erdmann hart und riß den Brief in kleine Fetzen. Und Renate, die den Vater mit banger Sorge betrachtete, da sie annahm, daß dieser furchtbarste und herbste Schlag ihn niederwerfen würde – atmete tief auf. »Vater, gräme dich nicht«, bat sie herzlich. »Er ist es nicht wert, glaube es mir.« »Hast recht, Kleine«, entgegnete er. »Nun bist du meine Einzige; daß du mich niemals enttäuschen wirst, und daß ich ein Vertrauen in dich setzen kann wie in mich selbst, dessen bin ich gewiß.« Zwei Jahre waren vergangen. Für die Freunde Jürgen und Norbert waren es harte Arbeitsjahre gewesen, doch nun hatten sie es beide geschafft, nahmen angesehene Stellungen ein und lebten in jeder Beziehung gut und behaglich.
Hauptsächlich das erste Jahr war schwer gewesen. Jürgen hatte keine Arbeit verschmäht, die man ihm anbot. War Schlosser und Schmied gewesen, hatte Flugzeuge und Rennwagen erprobt. Hatte nach seiner Tagesarbeit am Abend mit Norbert zusammen an seiner Erfindung herumgetüftelt und es erreicht, daß sie eines Tages glückte. Nun besaß Jürgen Zeit und Geld genug, um endlich sein Studium beenden zu können. Er machte nebst seinem Schlußexamen noch den Dr. ing. und trat als Ingenieur in die Bronkschen Werke ein. Auch Norbert hatte jede Arbeit verrichtet, bis er Leiter der Bankabteilung geworden war. Im Bronkschen Haus gingen die Freunde längst schon ein und aus und waren dort gern gesehene Gäste. Bronk Vater erinnerte in seiner ganzen Art an Herrn Erdmann und war ein ebenso guter Chef wie ein vortrefflicher Mensch. Sein Sohn glich ihm ganz und gar, und oft schon hatten Jürgen und Norbert ihren jetzigen Juniorchef mit dem früheren aus dem Mühlengrund verglichen. Eben kam Norbert vom Dienst nach Hause. Er war eine blendende Erscheinung – eine ganz andere als Benno Nieritz – schlank, elegant, interessant. Ein Liebling der Frauen. Wenn Frau Haller ihren »vertrottelten« Sohn jetzt hätte sehen können, sie hätte vor Verwunderung die Hände zusammengeschlagen. »Du bist noch nicht in Wichs, Jürgen«, wunderte Norbert sich. »Hast du vergessen, was heute bei Bronks los ist?« »Ach ja, richtig, es heißt mal wieder sich in den Frack werfen, weil das schöne Kind, die Gunda, heute Geburtstag feiern will. Und ich habe ihr keine Blumen geschickt; unangenehm, so etwas!« »Habe ich für dich mitbesorgt«, lachte Norbert. »Weißt du, was Schön-Gunda mir gestern verraten hat, Jürgen?« »Nun?« »Daß sie für ihr Leben gern mal in einem so strahlendblonden Schopf wie dem deinen wühlen möchte, so recht herzhaft mit beiden Händen.« »Das soll sie nur bei ihrem Rennfahrer tun«, gab Jürgen gelassen zurück. »Was für Blumen hast du ihr denn geschickt?« »Einen ganzen Prunkgarten von Orchideen – der schönen Gunda würdig. Ich wollte schon rote Rosen…« »Untersteh dich!« fuhr der sonst so gelassene Jürgen auf. »Rote
Rosen kann ich in den Tod nicht leiden.« Sein Gesicht verfinsterte sich auffallend, und Norbert wußte ganz genau, woran der Freund dachte. »Hopp, Jungchen, mach fix«, ermunterte er ihn, »Klemme dich also in den Frack, schön Gundalein wird deiner schon sehnsüchtig harren.« »Und Ingelorchen deiner«, neckte Jürgen ihn. »Sie liebt dich sehr, die reizende Kleine.« »Und die noch reizendere Gunda dich«, gab Norbert lachend zurück. »Na, diese Liebe ist aber erst entstanden, nachdem ich den Arbeitskittel ausgezogen habe und mich allabendlich in Frack und Lack in den verschiedensten Salons herumtreibe und seitdem ich ihren kleinen Rennfahrer mit einigen Kilometern mehr geschlagen habe«, entgegnete Jürgen spottend. »Aber deine Kleine liebte dich bereits brav und heiß, als du noch ein kleiner Angestellter in der Fabrik ihres Vaters warst. Wir sind eigentlich schön dumm, Norbert. Könnten uns hier nett warm und weich in die Wolle setzen. Heute abend bietet sich eine noch nie dagewesene Gelegenheit dazu.« »Jürgen, mach keine Dummheiten!« warnte Norbert. »Du bist nicht der Mann, der in einer Ehe ohne Liebe glücklich werden kann.« »Daß du von der Liebe noch immer nicht genug hast«, gab Jürgen achselzuckend zurück. »Gerade wir beide haben doch wirklich keinen Grund, ein himmelhohes Loblied auf sie anzustimmen – uns hat sie noch nichts weiter als Qual und Pein gebracht.« »Wer dich nicht kennt, Jürgen, und dich so sprechen hört, der könnte dir den Unsinn, den du manchmal zu schwatzen beliebst, vielleicht noch glauben. Aber mir kannst du nichts vormachen, Jungchen.« »Bitte sehr – ich verlobe mich heute abend mit Gunda Bronk. Und wenn du schlau bist, dann tust du dasselbe mit Ingelore. Aber wenn du willst, magst du ewig um deine verlorene Liebe jaulen – ich jedenfalls mache da nicht mehr mit!« Das war so hart, so fest gesagt, daß Norbert um den Freund zu bangen begann. Er wußte, wie sehr Gunda diesen Mann liebte. Sie brauchte nur eine solche Stunde wie die jetzige abzupassen, dann hatte sie ihn fest in ihren Banden. Und was eine Gunda Bronk in ihren Händen hielt, das ließ sie nimmermehr los.
Anders war Ingelore, ganz anders als ihre Schwester. Warum konnte er dieses reizende Mädchen nicht lieben? »Nun, an wen denkst du schon wieder?« spottete Jürgen. »Du warst ja förmlich weltentrückt. Laß doch die blonde Müllerin, die weint bestimmt nicht unter der Lind am Hügel um dich. Die ist schon längst junge Frau und wiegt einen Buben auf ihren Armen.« »Jürgen, du bist manchmal einfach gräßlich!« fuhr Norbert gereizt auf. »Die Mädchen haben schon recht, wenn sie dich einen herzlosen Spötter nennen.« Eine Stunde später erschienen die »beiden Siegfriede«, wie sie allgemein in der Gesellschaft genannt wurden, in der Villa Bronk. »Meinen herzlichen Glückwunsch, mein gnädigstes Fräulein.« »Danke«, entgegnete sie kurz. »Warum kommen Sie so spät?« »Weil ich nicht früher kommen konnte«, gab er gelassen zurück, und Gunda biß sich auf die Lippen. Einfach verheerend wirkte dieser Mann auf Mädchenherzen! Norbert wiederum stand neben Ingelore Bronk. Die war wirklich ganz anders als Gunda, war weich, süß und lieb und konnte niemals so launenhaft sein wie die Schwester. Hatte sanfte blaue Träumeraugen, weichfallendes blondes Haar und eine zierliche Gestalt, während Gunda von der Natur mit grünschillernden Augen, kupferrotem, widerspenstigem Haar und der Gestalt einer Walküre bedacht worden war. »Meine Schwester Ingelore ist ein süßes, reizendes Dummchen und meine Schwester Gunda ein gefährlicher Racker«, pflegte Dieter zu sagen und traf damit das Rechte. »Sie sind ja heute so still, Herr Haller?« fragte Ingelore leise. »Haben Sie Kummer?« »Nein, gnädiges Fräulein«, wehrte er ab. »Ich bin eben ein langweiliger Geselle, das müßten Sie doch bereits wissen.« »So schlimm ist es nun gerade nicht«, lächelte sie und sah ihn mit einem Blick an, der ihm viel verriet. Sie mußte es selbst merken, denn sie errötete und fragte hastig: »Kennen Sie einen Hubert Reiner?« »Ja«, entgegnete Norbert verwundert. »Er hat in dem Erdmannschen Betrieb als Werkstudent gearbeitet. Wo steckt er denn jetzt?« »Er hat sein Studium beendet und tritt als Ingenieur in unsere Fabrik ein. Er ist mein Kindheitsfreund; sein Vater war
Abteilungsleiter bei uns, und wir Kinder waren unzertrennlich. Leider starb sein Vater, als Hubert noch nicht fertig war, und so mußte er sich das Geld zum weiteren Studium verdienen. Seine Schwester war schon immer meine beste Freundin und ist jetzt meine Schwägerin, die Frau meines Bruders. Hubert und ich hatten uns als Kinder geschworen, einander zu heiraten. Darauf machte Hubert mich gestern, als wir uns nach langer Zeit wiedersahen, aufmerksam.« »Und damit hat er recht«, bestätigte Norbert. »Ein Versprechen muß man halten.« »Wie meinen Sie das, Herr Haller?« »Daß Sie den Jugendfreund nehmen sollen, wenn er Ihnen gefällt.« Da wußte Ingelore, daß sie bei diesem Mann nichts zu hoffen hatte, und das Herz tat ihr weh. Warum mußte er ihr in den Weg kommen? Sie hatte Hubert Jahre hindurch die Treue gehalten, bis dieser Mann ihren Weg gekreuzt hatte. »Wie gefällt Ihnen Hubert Reiner?« fragte sie hastig, um der traurigen Gedanken leichter Herr werden zu können. »Soviel ich weiß, galt er als ein anständiger Kerl – na, und damit wäre wohl alles gesagt. Jürgen Frank kennt ihn übrigens besser als ich. – Jürgen, komm doch einmal her!« rief er dem Freund zu, der noch immer neben Gunda stand. »Jürgen, erinnerst du dich noch an Hubert Reiner?« »Gewiß, ein anständiger Junge durch und durch. Was ist mit ihm?« »Sehen Sie, gnädiges Fräulein, da haben Sie das Urteil«, lachte Norbert. »Ein anständiger Junge durch und durch. Wenn das schon mein anspruchsvoller Jürgen sagt, dann muß es stimmen.« »Ach ja, richtig, der liebe Hubert ist ja wieder im Lande«, lachte Gunda ihr girrendes Lachen. »Das Getue zwischen ihm und Ingelore hätten Sie nur mit ansehen sollen, meine Herren! Ich habe als Kind manches liebe Mal von Hubert meine Wichse bezogen, wenn ich dem vergötterten Herzensliebling Ingelore irgendwie zu nahe getreten war.« »Das war recht von dem Jungen«, meinte Jürgen trocken zu Gunda, die ihn kokett ansah. »Das tat ich auch, wenn man einer Lieblingsgespielin etwas anzutun wagte.« »Sie haben auch eine Lieblingsgespielin gehabt?« fragte Gunda
lauernd. »Davon haben Sie mit noch nie etwas erzählt, Herr Dr. Frank. Wie heißt sie denn?« »So fragt man Kinder aus«, spottete Jürgen. »Wetten, daß ich es erfahre?« »Wetten, daß Sie es nicht erfahren?« »Wenn ihr beide euch nicht streiten könnt, dann ist euch nun einmal nicht wohl«, lachte Dietrich, der mit seiner Frau zu der Gruppe trat. »Um was geht denn die Wette?« »Um die Jugendfreundin Dr. Franks«, entgegnete Gunda. »Ich möchte wissen, wie sie heißt, und er will es mir nicht sagen.« »Oh, da kann ich dir helfen, Gunda«, rief Frau Bronk, eine entzückende kleine Frau, die irgendwie an Rosmarie erinnerte, lebhaft. »Dr. Frank erzählte nämlich mal bei uns von einem süßen kleinen Mädchen, das ihn immer arg tyrannisiert hat. Die Kleine hieß Rosmarie.« »Ah – Rosmarie, Rosmarie, sieben Jahre mein Herz nach dir schrie«, trällerte Gunda und blitzte Jürgen mit gefährlichen Augen an. »Nein, meine Gnädigste. So lange schreit es nun gerade noch nicht«, meinte Jürgen gelassen. »Es sind noch nicht einmal drei Jahre.« »Jürgen!« mahnte Norbert und wandte sich dann an Gunda, die leicht erblaßt war. »Gnädiges Fräulein, er ist und bleibt ein ungezogener Junge. Das kommt davon, weil die Frauen ihn zu sehr verwöhnen. Darum kann er sich eben alles ungestraft erlauben. Er glaubt das jedenfalls…« »Na, höre einmal, Norbert, du kannst dich wirklich auch nicht beklagen«, lachte Dieter. »Dich verwöhnen die Frauen gewiß nicht weniger.« »Er ist nur von Natur artiger als der lange Schlingel Jürgen«, lachte Frau Bronk spitzbübisch. »Stimmt’s, Herr Haller?« Norbert zog ein unschuldiges Gesicht. »Da müssen Sie Jürgen fragen, gnädige, Frau.« »Der von deiner Musterhaftigkeit noch wenig gemerkt hat, mein Junge.« Er verbeugte sich vor Gunda und reichte ihr den Arm, denn es wurde zu Tisch gebeten. Gunda ließ heute all ihren Charme spielen. Es mußte ihr doch einmal gelingen, diesen spöttischen, gelassenen Mann aus der Ruhe zu bringen.
Und fast wäre es ihr auch gelungen. Denn als der Tanz begann und sie mit ihm in den gemessenen Schritten eines Tangos dahinglitt, da fühlte sie, daß ihr Partner heute nicht so gelassen war wie sonst. Und er war es auch wirklich nicht. Er preßte seine Tänzerin immer fester an sich, sein Gesicht war dem ihren so nahe, daß sein Mund fast ihre Lippen berührte. Ihr Mund lockte und lachte. Die grünschillernden Augen blitzten ihn an – den Haaren entströmte ein Duft, der Jürgen die Sinne verwirrte. Schon beugte Jürgen sich nieder, um dem Mädchen werbende Liebesworte ins Ohr zu flüstern… als er plötzlich so heftig zusammenfuhr, daß Gunda aus allen Himmeln gerissen wurde und ihn erschrocken anstarrte. Eben spielte die Musik eine Melodie – eine längst vergessene Weise, die auf einmal in dem Herzen des Mannes etwas aufriß, das schon halb vernarbt war. Die seine Liebe, die er beinahe überwunden geglaubt, heißer und mächtiger aufflammen ließ als je zuvor. »Drei Rosen hast du einmal mir aus Liebe geschenkt, Rosen – blutrote Rosen Drei Rosen hast du einmal mir zum Pfande geschenkt, Damals, beim zärtlichen Kosen, Die Rosen sind verblüht, und ihr Duft ist verweht, Die Liebe vergeht, die Sehnsucht besteht…« sang der erste Geiger den Text des Tanzliedes mit. »Mein Gott, Jürgen – was ist Ihnen?« fragte Gunda entsetzt, als er sie plötzlich losließ, daß sie taumelte. Da besann er sich. »Mir ist sehr heiß«, murmelte er. »Ich glaube, ich habe zuviel getrunken.« »Das nehme ich auch an«, lachte sie ärgerlich auf. Das war doch das reinste Verhängnis! Eben war sie kurz vor dem Ziel gewesen – dem Ziel ganz, ganz nahe – und dann plötzlich dieses mehr als seltsame Benehmen, nur weil die Musik eine
rührselige Weise spielte und der Geiger das süßliche Zeug sang! Sie sah Jürgen in das starre Gesicht, in seine wie erloschenen Augen. »Ich möchte den Tanz beenden, Herr Dr. Frank«, befahl sie sehr hochmütig, und er nickte dazu. Führte sie an den Platz, den sie wünschte. Dann schritt er rasch davon, durch einige Zimmer auf die mondhelle Terrasse hinaus. Er wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn, preßte die zitternde Hand auf das Herz, das wie rasend pochte. »Rosmarie!« stöhnte er auf. »Also doch Rosmarie…« Er fuhr herum und stand vor Gunda Bronk. Ihr weißes Gesicht wirkte unheimlich in dem Licht des Mondes, und die Augen schillerten wie die einer bösen Katze. »Also gibt es doch eine Stelle, wo man den gehörnten Siegfried treffen kann!« spottete sie. »Rosmarie – und blutrote Rosen. – Ich hasse diese Romarie!« stieß sie leidenschaftlich hervor. »Gnädiges Fräulein, kommen Sie, ich führe Sie in den Saal zurück«, bat Jürgen. Doch sie wollte nicht, stampfte mit den Füßen auf wie ein ungezogenes Kind. »Ich will nicht – ich will hierbleiben!« schrie sie unbeherrscht. »Dann bitte, aber ohne mich«, sagte er, sich verbeugend. »Jürgen!« rief sie verzweifelt. Doch er hörte nicht, eilte in den Saal zurück und verhielt erst den Schritt, als Norbert, der hinter ihm herkam, ihn anrief. »Jürgen, was um alles in der Welt ist denn los?!« fragte er bestürzt. »Ich kam auf der Terrasse gerade hinzu, als Gunda mit den Füßen aufstampfte und wie irrsinnig schrie: ›Ich will nicht‹.« »Na, warum soll sie nicht«, gab Jürgen gelassen zurück. »Es sah sogar sehr niedlich aus, wie sie wie ein wildgewordenes Pferdchen trapste. Und wäre ich nicht der Narr, der ich leider Gottes einmal bin, so hätte ich die kleine Furie ganz einfach auf die Arme genommen und sie so lange geküßt, bis die trapsenden Beinchen Ruhe gegeben hätten.« »Und warum tatest du es nicht, Jürgen? Du wolltest dich doch sowieso heute mit Gunda verloben.« »Blutrote Rosen«, entgegnete Jürgen kurz; da wußte Norbert Bescheid. Sie verließen unbemerkt die Villa und gingen zu ihrem Auto, das
mit anderen zusammen auf einem Seitenweg parkte. Jürgen sagte dem Chauffeur, daß er den Wagen selbst zu steuern wünsche und fuhr in einem Tempo davon, daß Norbert, der an seiner Seite saß, bereits nach Minuten Einspruch erhob. »Siehst du, hier sind wir bereits zu Hause.« Als die Freunde in ihr gemeinschaftliches Arbeitszimmer traten und die auf dem Schreibtisch liegende Post durchsahen, sah Jürgen kopfschüttelnd auf ein Bild, das aus einer Zeitschrift fein säuberlich ausgeschnitten und auf Karton geklebt war. »Dietrich Bronk, der Sohn des berühmten ›Fliegerbronk‹ und Dr. Jürgen Frank, die kühnen Rekordflieger«, stand unter dem Bild, das Dietrich und Jürgen zeigte, wie sie an dem neuesten Flugzeug lehnten. »Wirst du daraus klug, Norbert?« fragte Jürgen und reichte dem Freund das Bild hin. Norbert besah das Bild eingehend und drehte es dann herum. Da stand in großer, markiger Schrift: »Jürgen Frank, vergiß deine Mühle nicht!« Die Freunde sahen sich an – starrten dann wieder auf das Bild. »Papa Erdmann!« sagten sie wie aus einem Mund, Jürgen ließ sich wie erschlagen in einen Sessel sinken. »Das hat mir gerade noch gefehlt«, stöhnte er und fuhr sich hastig durch das dichte Haar. »Zuerst Rosmarie – dann blutrote Rosen – und jetzt noch die Mühle. Und dazu wieder einmal die tolle, heiße Sehnsucht im Herzen.« »Und du hättest um ein Haar heute ein Mädel gefreit – du mit deinem sehnsuchtsvollen Herzen nach Heimat und Liebesglück«, sagte Norbert ernst. »Ich selbst halte es ja kaum noch aus. Nach Hause – einmal nur – wer das könnte!« »So fahre doch hin«, riet Jürgen kurz, doch Norbert schüttelte traurig den Kopf. »Wenn ich nicht so entsetzlich feige wäre«, würgte er hervor. Da lachte Jürgen hart auf. »Feige sind wir – weil wir vor unseren eigenen Herzen fürchten.« »Ob wir es nicht doch versuchen, Jürgen?« begann Norbert. »Wenn es uns gar zu weh tut, was wir da vorfinden, dann gehen wir wieder auf und davon.« »Und reißen alles auf, was jetzt einigermaßen vernarbt ist«, setzte Jürgen bitter hinzu. »Wenn du den Mut dazu hat, Norbert – ich habe ihn nicht.« Im Mühlengrund war alles so geblieben wie einst.
Die Arbeiter und Angestellten in den Mühlenwerken waren noch zum Teil die gleichen. Rosmarie Haller ging jeden Morgen zur Arbeitsstätte, ihre Mutter wirtschaftete noch in der kleinen Wohnung, und auch im Herrenhaus war alles unverändert. In den kleinen Häuschen lebte man wie seit langen Jahren in behaglicher Ruhe dahin. Man ging seiner Arbeit nach, klatschte gern und viel und war doch wie eine große Familie. Daß Jürgen Frank, Norbert Haller und Benno Nieritz einst im Mühlengrund gelebt, hatte man schon halb vergessen. Die Franksche Mühle klapperte nicht mehr, sie hielt ihre mächtigen Flügel in den Himmel gestreckt, und in ihrem Fachwerk nisteten Eulen. Nur vier Menschen im Mühlengrund hatten Jürgen und Norbert nicht vergessen, dachten Tag für Tag an sie und hofften zuversichtlich auf ihre Wiederkehr. Renate und Rosmarie mit sehnsuchtsbangem Herzen. Frau Haller und Herr Erdmann voll Sorge und Angst. Frau Haller hatte sich sehr verändert. Wenn manchmal auch ihre alte Art noch hervorbrach, dann überwand sie sich immer wieder so schnell und schämte sich hinterher ihrer Heftigkeit. Denn was der Tod ihres Mannes, ihr späteres armseliges Leben nicht zu bewirken vermocht, das hatte die nagende Reue zuwege gebracht, mit der sie des verschollenen Sohnes gedacht. Es war an einem wunderschönen Herbstabend, als Rosmarie vom Dienst nach Hause kam und durch den Mühlengrund schritt. Als sie in die Nähe des Mühlenberges kam, stutzte sie – und schritt dann den Berg die Hälfte hinan, wie einem Zwang gehorchend. Sie hatte sich nicht getäuscht – durch die Fenster der niederen Stube drang ein Lichtschein. Wie gehetzt rannte sie den Berg hinauf, und als sie gerade die Mühle erreicht hatte, öffnete sich die Tür, und Jürgen Frank trat heraus. »Jürgen!« schrie sie auf. »Jürgen!« »Gnädige Frau?« fragte er sehr kalt. »Jürgen, ich bitte dich – nicht so!« flehte Rosmarie. »Ich bin nicht verheiratet – Jürgen – ich muß dich sprechen – bitte!« bettelte sie, und da zeigte er mit einladender Bewegung auf die Tür hin. Sie schritt zögernd an ihm vorbei – blieb noch einmal stehen. »Ich müßte allerdings wissen, ob ich – ich meine – ob ich das
Recht habe – ob ich einer anderen nichts damit antue«, stammelte sie, und Jürgen verstand sie nur zu gut. »Nein, Sie dürfen ruhig eintreten«, entgegnete er mit grausamem Hohn. »Ich bin unverlobt und unverheiratet.« Da ging sie rasch weiter, stand in der Stube und sah mit bangen Augen zu ihm auf. »Jürgen, warum gingst du ohne Abschied von mir?« fragte sie. »Ich habe gelitten – die ganzen Jahre hindurch.« »Sie haben um mich gelitten – an der Seite eines anderen Mannes?« fragte er scharf. »Was hat denn der andere dazu gesagt?« »Höre doch endlich mit dem anderen auf!« rief Rosmarie, heftig werdend. »Ich habe keinen anderen, bin immer noch die Rosmarie Haller wie einst. Benno Nieritz ist schon seit zwei Jahren vom Mühlengrund fort und ist vor ungefähr einem Jahr bei einer Messerstecherei in Spanien ums Leben gekommen.« »Also hat er Sie im Stich gelassen?« Wie spöttisch das klang – höhnisch beinahe. Da schnellte Rosmarie empor. »Nein!« sagte sie voll leidenschaftlichen Zürnens. »Nein! Wenn ich mich schon so weit demütige, daß ich dir, der du mir so viel angetan, die Hand zur Versöhnung biete – beleidigen lasse ich mich dennoch nicht von dir! Ich war nur einige Tage mit Benno Nieritz verlobt und gab ihm dann den Ring zurück, weil ich erfahren mußte, was für ein Lump er war.« »Und weshalb gaben sie ihm dann erst Ihr Jawort?« »Weil das die einzige Möglichkeit war, um Norbert zu retten – und - dich«, sagte sie leise und schob den Mann, der nun dicht vor sie hin trat, mit müder Gebärde zurück. »Höre mir doch weiter zu, und dann urteile, ob ich deine Verachtung verdient habe. Ich nahm Bennos Antrag an, nachdem ich ihn einige Wochen vorher abgelehnt hatte. Es war gleich nach dem Abend, als du und Norbert mich mit Benno auf der kleinen Anhöhe sähet. Es war nicht meine Schuld, daß er mich – küßte, es geschah bestimmt nicht mit meinem Einverständnis, das schwöre ich dir in dieser Stunde. Er belästigte mich zwar schon sehr lange mit seiner ständigen Begleitung, er hatte sich jedoch immer leidlich gut gehalten. Nun, kurz und gut – er hatte es sich einmal in den Kopf gesetzt, daß ich seine Frau werden müßte, und nutzte
damals, als Norbert in so häßlichem Verdacht stand, meine Notlage aus. Gott sei Dank ließ sich das Schlimmste vermeiden; ich kam noch zur rechten Zeit hinter seine Gemeinheiten und konnte die Verlobung rückgängig machen. Später gingen auch Herrn Erdmann die Augen über seinen Sohn auf, und er wies ihn aus dem Haus. Benno verschwand – und mit ihm das Sparkassenbuch Renates und ein Scheck aus Herrn Erdmanns Brieftasche über einen hohen Betrag. Später kam dann die Nachricht von seinem Tod. Die spanische Behörde schickte dem Vater einige Wertsachen – es war jedenfalls kein Zweifel, daß der Tote Benno war. Wahrscheinlich hat er sich an ein Mädchen gemacht, und in der Beziehung verstehen die heißblütigen Spanier bekanntlich keinen Spaß. So, Jürgen, nun weißt du, was ich dir unbedingt sagen mußte. Und wenn ich dich mit meiner Beichte belästigt habe – dann verzeihe gütigst die Störung.« Sie wollte das Zimmer verlassen, doch Jürgen vertrat ihr den Weg. Sein Gesicht war immer noch hart und verschlossen, und Rosmarie scheute sich, länger zu bleiben, weil sie sich vor ihm fürchtete. »Warum hast du mich nach jenem Fest, als du zu Hause krank lagst, ohne jede Nachricht gelassen?« »Wie sollte ich dir Nachricht zukommen lassen, da du mir selbst keine sandtest«, entgegnete sie bitter. »Himmeldonnerwetter – ich soll dich ohne Nachricht gelassen haben? Fast stündlich bin ich bei deiner Mutter gewesen und habe mich nach deinem Ergehen erkundigt, weil ich in namenloser Sorge um dich war. Habe dir Briefe und Blumen geschickt – und nie eine Antwort von dir erhalten.« Da brach sie in erschütterndes Weinen aus. »Jürgen – ich glaube, wir sind die Opfer eines schändlichen Ränkespiels geworden«, sagte sie tonlos, »denn ich habe nie – hörst du, Jürgen – niemals eine Nachricht oder Blumen von dir erhalten. Ich nahm an, du wolltest nichts mehr von mir wissen.« Mit einem Schritt war er bei ihr, beugte sich zu ihr nieder. »Rosmarie?« fragte er ungläubig. »Rosmarie?!« Da schlang sie die Arme um seinen Hals, und er drückte das weinende Mädchen gegen seine Brust. »Wie hast du meine Liebe jemals bezweifeln können, Jürgen! Ich habe dich immer geliebt – liebe dich heute noch.«
Weiter kam sie nicht, denn sie fühlte zwei Lippen auf den ihren, und da war alles Leid, war alle Herzensnot zu Ende. Unterdessen saß Norbert bei seiner Mutter, die sich über des Sohnes Heimkehr noch immer nicht beruhigen konnte. Immer wieder streichelte sie sein Gesicht, sein Haar und wußte nicht, wie sie ihm zeigen sollte, wie glücklich sie war. Norbert, der sich das Heimkommen ganz anders gedacht hatte, war so erschüttert, daß er nicht viel sagen konnte. In diese stille Stunde platzte die glückstrahlende Rosmarie mit ihrem nicht minder strahlenden Jürgen hinein. »Mama, er liebt mich doch!« jauchzte das Mädchen und fiel der Mutter um den Hals. »Schwiegermutter, heute darf hier nicht geweint werden«, scherzte Jürgen. Sie nickte und drückte die glückstrahlende Tochter an sich. »Kind, wie sehr freue ich mich mit dir«, sagte sie leise. »Und Norbert wird bald ebenso strahlen wie du.« Die Tür wurde aufgerissen, und herein stürmte Renate – hinter ihr schritt gemächlich der schmunzelnde Papa Erdmann. »Norbert!« jauchzte Renate. »Norbert!« Und schon hing sie dem fassungslosen Mann am Hals. »Du Böser!« schalt sie zärtlich. »Mich so lange allein zulassen!« Da ging ein Glücksleuchten über Norberts Gesicht, und er drückte das heißgeliebte Mädchen an sich. »Na also«, schmunzelte Papa Erdmann. Das Herrenhaus im Mühlengrund erstrahlte in hellem Lichterglanz. Wie lange war es her, daß man ein Fest darin gefeiert hatte; nicht mehr, seitdem die gütige Hausfrau tot war. Papa Erdmann strahlte, und man gönnte ihm sein Glück von ganzem Herzen; denn er hatte mit diesem Schludrian, diesem Benno Nieritz, genug auszustehen gehabt. Jürgen und Norbert – ja, das war freilich ein anderer Schlag! Und die beiden Bräutchen – einfach bezaubernd! Ja, über solche Kinder konnte Papa Erdmann sich schon freuen. »Sagt mal, Mädels, haben die beiden Bengels euch denn keinen Verlobungsstrauß geschenkt?« fragte er soeben Renate und Rosmarie, die lachend auf ihre weißen Kleider zeigten, deren einziger Schmuck drei blutrote Rosen waren. »Mehr nicht?« fragte er verblüfft. »Drei schäbige Rosen – schämt euch, Jungens!«
»Warum es gerade drei Rosen sein müssen, erzähle ich dir in einer stillen Stunde, Väterchen«, tröstete Rosmarie, die aus freiem Antrieb dem gütigen Mann den Vaternamen gegeben und ihn damit tief beglückt hatte. Später, als der Tanz begann und die beiden Brautpaare über das Parkett glitten, klang eine schlichte Weise auf, die hauptsächlich Rosmarie und Jürgen viel bedeutete, jedoch auch die Herzen von Renate und Norbert höher schlagen ließ. »Rosiliebchen – unser Lied«, flüsterte Jürgen. Ganz in ihrer Nähe tanzte das andere Brautpaar, und Norbert konnte sich nicht satt sehen an Renates glückstrahlenden Augen. -ENDE-