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Scan by Schlaflos Buch: Zwei der vier Domänen des Landes Dhrall wurden bereits von den monströsen Horden des Vlagh, des Erzfeindes von Menschen und Göttern, angegriffen. In banger Ungewissheit fragen sich die vier Götter, wo sich die nächste Attacke ereignen wird. Keiner der Träumer hatte bislang eine entsprechende Vision. Da bricht zwischen den Göttern ein erbitterter Streit aus, denn Aracia, die furchtsame Bewahrerin der östlichen Domäne, versucht alles, um die aus fremden Ländern angeheuerten Armeen in ihren Bereich zu holen. Um ihr Ziel zu erreichen, schreckt sie auch vor einer arglistigen Täuschung der anderen Götter nicht zurück. Als der Tag des
befürchteten Angriffs schließlich gekommen ist, sind die Befestigungsanlagen in der Kristallschlucht, durch welche die Kreaturen des Ödlands heranmarschieren, dem Ansturm nicht gewachsen. Den Verbündeten bleibt nur die Hoffnung auf die ominöse dritte Macht, die »unbekannte Freundin« ... Autoren: David Eddings, geboren 1931 in Spokane, Washington, wurde 1982 mit seinem ersten Fantasy-Epos, der »Belgariade«, bekannt. Seither hat er teils alleine, teils in Zusammenarbeit mit seiner Frau Leigh von der Kritik viel beachtete Werke in der Tradition Tolkiens verfasst, die ihm eine ständig wachsende, begeisterte Leserschaft eingetragen haben. David und Leigh Eddings leben in Carson City /Nevada. Außerdem bei Blanvalet erschienen: GÖTTERKINDER: I. Das wilde Land (24279), 2. Dämonenbrut (24280), 3. Im Flammenmeer (24281)
David & Leigh Eddings
Im Flammenmeer Götterkinder 3 Deutsch von Andreas Heiweg blanvalet Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Dreamers, vol. 3, Crystal Gorge« bei Aspect, Warner Books, New York. Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-OIOO Das für dieses Buch verwendete Fsc-zertifizierte Papier München Super liefert Mochenwangen. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © der Originalausgabe 2005 by David and Leigh Eddings Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Hanka Steidle und Luserke/Fedorov Redaktion: Werner Bauer UH ■ Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN-10: 3-442-24281-9 ISBN-13: 978-3-442-24281-8 www.blanvalet-verlag.de
Vorwort So sind wir nun beschämt, denn auch unsere Wanderung ins Land der längeren Sommer endete in einem Desaster. Die Menschenwesen dieser Region erwiesen sich als noch grausamer als diejenigen, denen wir im Lande des Sonnenuntergangs begegneten, und unser geliebtes Vlagh schrie auf in höchster Pein, während wir es rasch von dem weiten Wasser forttrugen, welches sich mehr und mehr ausdehnte mit jedem Vorüberziehen dessen, was Licht in das Reich bringt. Denn siehe, die Menschenwesen aus dem Land der längeren Sommer überschwemmten uns mit Wasser, ebenso wie die Menschenwesen aus dem Land des Sonnenuntergangs uns mit dem heißen Licht überspült hatten, das aus den Bergen sprühte. Und der Verlust an Dienern unseres geliebten Vlagh nahm größere Ausmaße an als im Land des Sonnenuntergangs. Der Überverstand, an dem wir alle teilhaben, schrumpfte aufgrund dieses Verlustes, denn wir alle wurden weniger. Und unser Leid war groß. Diejenigen von uns, die Wissen suchen, unterscheiden sich sehr von denen, deren einzige Aufgabe darin besteht, für die Mutter zu sorgen, die uns alle hervorgebracht hat, da wir weit in die Lande der Menschenwesen vorgedrungen sind und vieles gesehen haben, was sich als nützlich erweisen könnte.
7 Viel haben wir im Land der Gedanken entdeckt, und wahrheitsgetreu präsentieren wir es der Mutter, die uns hervorgebracht hat, und der Überverstand nimmt Anteil an dem, was wir der Mutter berichten. Zunächst zeigte sich der Überverstand, der uns alle führt, verwirrt angesichts dessen, was wir herausgefunden hatten. Entsetzen befiel den Überverstand, als er nach unseren Schilderungen begriff, dass die Menschenwesen auch dann Aufgaben ausführen können, wenn sie nicht unter der Kontrolle anderer Gedanken als ihrer eigenen stehen. Furchtbarer noch war das Wissen, dass diese Menschenwesen, die uns wieder und wieder besiegt hatten, Lebendgebärende sind und nicht, wie wir, Eier legen. Wahrlich, diese Menschenwesen stellen eine Abscheulichkeit dar, deren Existenz nicht länger erlaubt sein sollte, denn, wie alle Welt weiß, sollten Lebendgebärende keine andere Aufgabe haben, als sich mit denen zu paaren, welche die Eier legen, welche wiederum die Anzahl der Diener derjenigen erhöhen, die sie alle hervorgebracht hat. Diese Menschenwesen verfügen über eine weitere Eigenheit. Sie erzeugen Laute, mit denen sie anderen eine Art Informationen übermitteln können. Manche derjenigen, die Wissen suchen, haben diese Laute nachgeahmt, aber sie entdeckten bald, dass die Menschenwesen häufig Laute erzeugen, die nicht stimmen. Und es wurde uns eines klar: Wenn die Menschenwesen keine Möglichkeit haben, zu unterscheiden, welche Laute wahr und welche unwahr sind, könnten wir auch unwahre Laute machen, und dadurch könnten wir die Wahrheit vor den Menschenwesen verbergen, was uns zu einem großen Vorteil verhelfen würde. Wie wir sehr zum Leid des Überverstandes erfahren haben, verfügen die Menschenwesen über viele Stöcke mit Zähnen, mit denen sie bei den Dienern des Vlagh Schmerzen - und sogar unseren Tod - verursachen können, aber diese Stöcke mit Zähnen sind nicht Teil ihres eigenen Körpers, sondern von ihm getrennt 8 und können leicht von denjenigen davongetragen werden, die unserem geliebten Vlagh dienen, und der Überverstand in seiner Weisheit hat uns geraten, diese Stöcke mit Zähnen zu sammeln, die von vielen Menschenwesen getragen wurden, die in den Kämpfen mit uns gestorben sind. Aber dann fiel dem Überverstand auf, dass uns noch das mächtigste dieser Dinge, die töten, fehlte, und das ist das Ding, das flackert und Wolken auf dem Boden oder oben am Himmel erzeugt. Und als der Überverstand begriff, dass dieses Ding flackert und Licht aussendet und Wolken erzeugt, die sich nahe dem Boden oder weit oben am Himmel befinden, erfuhren wir alle davon, und wir waren alle der Ansicht, dieses Ding, das flackert und Licht aussendet, sei das beste der Dinge, die töten, denn wenn wir dieses Ding, das tötet, in unserem Besitz hätten, könnten wir viele Menschenwesen aus der Ferne töten, und dann könnten uns die Stöcke mit Zähnen der Menschenwesen nicht mehr erreichen. Doch obwohl wir weit und breit suchten, fanden wir keines dieser Dinge, die flackern und Licht aussenden, und wieder waren wir beschämt. Schließlich kam der Überverstand auf die Idee, wir sollten nicht nach dem Flackern oder dem Licht suchen, sondern nach den Wolken, die nahe dem Boden liegen oder oben am Himmel schweben, suchen, denn diese Wolken seien ja ein sicheres Zeichen dafür, dass das Ding, das flackert und Licht aussendet, sich nahe der Quelle dieser Wolken befindet. Und viele Wolken, die aus den Nestern der Menschenwesen aufstiegen, suchten wir auf, doch wagten wir es nicht, diese Nester zu betreten, denn die Menschenwesen, die dort leben, haben viele Stöcke mit Zähnen und würden, sollten sie uns in der Nähe ihrer Nester sehen, gewiss ihre Stöcke mit Zähnen durch die Luft schleudern und uns alle töten. Aber dann erfuhren diejenigen von uns, die Wissen über die 9 Menschenwesen im Lande der längeren Sommer gesucht hatten, dass die Menschenwesen häufig eine bestimmte Art von niedrigem Baum verwendet hatten, um uns von ihren Dingen-zum-Essen zu vertreiben, denn die niedrigen Wolken, die diesem besonderen Baum entströmen, machen es uns schwer, zu atmen, und im Verlaufe vieler Perioden von Licht und Dunkelheit waren viele von unserer Art gestorben, weil sie nicht mehr atmen konnten. Und so geschah es, dass viele Sucher des Wissens das neue Wasser, das vielen Dienern unseres Vlagh den Tod gebracht hatte, umrundeten und nach einem niedrigen Baum suchten, der die Wolken hervorbrachte, die das Atmen schwierig machten. Und nach langer Suche sahen sie eine dünne, dunkle Wolke, die von einem einzigen niedrigen Baum aufstieg. Vorsichtig gruben sie sich durch die Erde zu dem niedrigen Baum heran, um die Glieder loszumachen, die er in den Boden gestreckt hatte, damit er sich halten konnte, und als der niedrige Baum sich nicht mehr festkrallen konnte, brachten sie ihn aus dem Land der längeren Sommer mit. Und jetzt hatten wir das, was flackert und Licht aussendet - aber nur ein Einziges. Es dämmerte dem Überverstand, dass wir viele dieser Flackerdinge, die Licht aussenden, haben sollten. Und daher untersuchten wir den einzigen niedrigen Baum und kehrten erneut ins Land der längeren Sommer zurück, um weitere dieser Bäume zu sammeln, und wir trugen sie zu dem Ort, wo unser erster niedriger Baum flackerte und Licht aussendete und dicke Wolken erzeugte, die so dunkel waren wie der Teil des Tages, wenn das Licht am Himmel verschwunden ist. Und dann legten wir viele der niedrigen Bäume auf den einsamen niedrigen Baum, der flackerte und Licht aussandte, und siehe! Hatten wir zuerst nur einen gehabt, so besaßen wir jetzt viele.
Es folgte eine Zeit der Verwirrung für den Überverstand. Das Land des Sonnenuntergangs und das Land der längeren Sommer 10 waren für uns nicht mehr erreichbar, wegen der roten zähen Glut, die sich aus den Bergen im Land des Sonnenuntergangs ergoss, und des Wassers, das aus dem Land des längeren Sommers heranfloss. Doch blieben noch zwei Länder, in die wir aufbrechen konnten - das Land des Sonnenaufgangs und das Land der kürzeren Sommer. Nun lag das Land des Sonnenaufgangs viel näher, aber es war auch für die Menschenwesen leichter zu erreichen, die so viele Diener unseres geliebten Vlagh getötet hatten. Das Land der kürzeren Sommer war weit von dem Ort entfernt, an dem wir lebten, aber es war auch fern der Menschenwesen. Viele Sucher des Wissens stimmten für »Sonnenaufgang!«, und viele andere verlangten: »Kürzere Sommer!« Und zwischen diesen beiden konnte sich der Überverstand nicht entscheiden. Und dann nahmen die Sucher des Wissens zum ersten Mal Stöcke mit Zähnen zur Hand, und diejenigen Sucher, die »Sonnenaufgang« meinten, töteten diejenigen, die für »kürzere Sommer« stimmten, während diejenigen, die sich für »kürzere Sommer« aussprachen, diejenigen töteten, die für »Sonnenaufgang« waren. Und so verminderte sich die Zahl der Diener des Vlagh immer mehr, und unser geliebtes Vlagh schrie auf in höchster Pein, während die Kinder sich gegenseitig umbrachten, was zuvor nie geschehen war. Wir werden nicht erfahren, was unser geliebtes Vlagh zu seiner Entscheidung trieb, doch plötzlich zeigte es in die Richtung des Landes der kürzeren Sommer und rief: »Geht dorthin!« Und das Töten fand ein Ende, und wir nahmen unsere Dinge-die-Schmerzen-machen und drehten uns um und zogen in Richtung des Landes der längeren Sommer davon und trugen unsere niedrigen Bäume, die flackern und Licht aussenden, und erzeugten viele dunkle Wolken hinter uns. Der widerspenstige Häuptling 1 In den Ländern des Westens herrschte Sommer, und der Junge mit dem roten Haar erwachte, bevor die Sonne über den Bergen im Osten des Dorfes Lattash aufging. Er entschied, es könnte ein guter Tag zum Angeln in dem kleinen Fluss sein, der aus dem Gebirge herunterkam. Es stand zwar eine Reihe von Aufgaben an, die er an diesem Tag zu erledigen hatte, doch der Fluss schien ihn regelrecht zu rufen, und es wäre nicht höflich gewesen, einer solchen Aufforderung nicht nachzukommen - vor allem nicht, wenn die Fische sprangen. Leise zog er sich die weiche Hirschlederkleidung an, nahm seine Angelleine, verließ die Hütte seiner Eltern und begrüßte den neuen Sommertag. Der Sommer war für den Jungen die schönste Jahreszeit, denn es gab immer genug zu essen, der Schnee türmte sich nicht hoch auf den Hütten, und es wehte kein bitterkalter Wind aus der Bucht. Er stieg über den Damm, der zwischen Dorf und Fluss lag, und ging ein gutes Stück flussaufwärts. Oberhalb des Dorfes befanden sich die besseren Angelplätze, und überhaupt wäre es vermutlich keine gute Idee, in der Nähe zu bleiben, für den Fall, dass sein Vater nach ihm suchte, um ihn an seine Pflichten zu erinnern. Die Fische bissen an diesem Morgen voller Begeisterung, und der Junge hatte bereits mehrere Dutzend gefangen, noch ehe die Sonne ganz über die Berge geklettert war. 13 Am Vormittag erschien auf dem Kiesufer des Flusses sein großer Onkel, der älteste Sohn des Stammeshäuptlings. Wie alle Angehörigen des Stammes, so trug auch sein Onkel Kleidung aus goldfarbenem Hirschleder, und mit seinen weichen Schuhen verursachte er kaum ein Geräusch, als er sich zu seinem jungen Neffen gesellte. »Dein Vater möchte dich sehen, Junge«, sagte er leise. »Du wusstest doch, dass du heute einiges für ihn erledigen sollst, oder?« »Ich bin heute Morgen früh aufgewacht«, erklärte der Junge. »Da dachte ich, es wäre nicht höflich, die anderen zu wecken, und so ging ich hier herauf, um zu sehen, ob ich genug Fische für das Abendessen fangen kann.« »Beißen die Fische denn?« »Sie scheinen sehr hungrig zu sein, Onkel«, erwiderte der Junge und zeigte auf die vielen Fische, die im Gras am Ufer lagen. Sein Onkel zeigte sich überrascht angesichts der morgendlichen Ausbeute. »Du hast schon so viele gefangen?«, fragte er. »Sie beißen heute Morgen wie verrückt, Onkel. Ich muss mich hinter einem Baum verstecken, wenn ich den Köder am Knochenhaken befestige, sonst springen sie aus dem Wasser und reißen mir den Köder aus der Hand.« »Also dann«, sagte sein Onkel begeistert. »Warum angelst du nicht weiter, Junge? Ich gehe zu deinem Vater und erzähle ihm, du hättest im Augenblick zu viel zu tun und könntest dich nicht um deine Aufgaben kümmern. Einen Tag, an dem die Fische wie verrückt beißen, gibt es jedes Jahr nur ein- oder zweimal, und ich denke, vielleicht wird unser Häuptling alle Männer des Stammes auffordern, alles stehen und liegen zu lassen und sich hierher zu dir ans Ufer zu gesellen. Was hat dich eigentlich dazu gebracht, dich heute Morgen für das Angeln zu entscheiden?« »Ich bin mir nicht ganz sicher, Onkel. Ich hatte so ein Gefühl, als würde mich der Fluss rufen.« 14 »Wenn er dich wieder ruft, geh und schau nach, was er möchte, Junge. Ich glaube, er mag dich, also enttäusche ihn nicht.«
»Das würde mir im Traum nicht einfallen, Onkel«, erwiderte der Junge und zog den nächsten Fisch aus dem Wasser. Und so versammelten sich alle Männer des Stammes am Fluss und gesellten sich zu dem rothaarigen Jungen. Einen derart guten Fang hatten viele von ihnen noch nicht erlebt, und wieder und wieder bedankten sie sich bei dem Jungen. Die Sonne stand schon tief über dem Horizont im Westen, als der Junge die vielen Fische, die er an diesem Tag aus dem Fluss geholt hatte, über den Damm zu den Hütten von Lattash trug, und alle Frauen des Stammes kamen ihm entgegen und bewunderten den Fang, und sogar Pflanzerin, die selten lächelte, grinste breit, als er ihr die Fische überreichte. Der Junge ging hinunter zum Strand, um sich den wunderschönen Sonnenuntergang anzusehen, und das Licht der untergehenden Sonne bildete einen glänzenden Pfad auf dem Wasser, der den Jungen irgendwie einzuladen schien, über das Wasser hinauszugehen bis zu dem schmalen Kanal, der sich zum Antlitz von Mutter Meer öffnete. »Schläfst du noch, Rotbart?«, fragte Langbogen. »Jetzt nicht mehr«, erklärte Rotbart seinem Freund sauer. Er setzte sich auf und blickte sich in seinem Zimmer im Hause von Veltan um. Es war ein recht hübsches Zimmer, musste Rotbart zugeben, doch die Steinmauern fand er nicht so schön, wie die Hütten von Lattash gewesen waren. »Ich habe von den alten Zeiten im Dorf Lattash geträumt, und ich hatte gerade genug Fisch gefangen, um den ganzen Stamm satt zu machen. Alle waren sehr glücklich. Dann ging ich hinunter zum Strand, schaute mir den Sonnenuntergang an und wollte gerade einen Spaziergang über die Bucht machen, um der Mutter Meer Guten Tag zu sagen, da kamst du vorbei und hast mich geweckt.« 15 »Möchtest du jetzt weiterschlafen?«, fragte ihn Langbogen. »Ich denke nicht«, entgegnete Rotbart. »Wenn ich jetzt wieder eindöse, würden die Fische mir vermutlich in die Zehen beißen und nicht den Köder nehmen, den ich benutzt habe. Ist dir das schon einmal aufgefallen, Langbogen? Wenn du einen schönen Traum hast und aufwachst, ehe er zu Ende ist, wird dein nächster Traum mit Gewissheit scheußlich sein. Gibt es Neuigkeiten, die ich wissen sollte?« »In Veltans Kartenraum spielt sich ein kleiner Familienstreit ab, mehr nicht. Aracia und Dahlaine schreien sich schon seit einer Stunde an.« »Vielleicht lege ich mich dann doch lieber wieder schlafen«, meinte Rotbart. »Du brauchst ja niemandem zu verraten, dass ich es gesagt habe, aber die alten Götter lassen jeden Tag mehr nach.« »Es ist dir also aufgefallen«, erwiderte Langbogen trocken. »Muss das eigentlich ständig sein?«, wollte Rotbart wissen, warf die Decke zur Seite und erhob sich umständlich. »Was denn?« »Musst du immer versuchen, dich über alles lustig zu machen?« »Tut mir Leid. Ich wollte nicht auf deinem Territorium wildern. Sollen wir gehen?« »Es steht ziemlich fest, dass die Wesen des Ödlands nach Osten ziehen, Dahlaine«, behauptete Aracia gerade entschlossen, als Rotbart und Langbogen in Veltans Kartenzimmer eintraten. »Nachdem Yaltars Vulkan die Angreifer in Zelanas Domäne vernichtet hatte, wandten sie sich nach Süden und griffen den ihnen nächstgelegenen Teil des Landes Dhrall an, und der Osten liegt dem Süden näher als der Norden. Als Nächstes werden sie über mich herfallen. Das dürfte doch wohl offensichtlich sein.« »Du übersiehst etwas, Aracia«, widersprach Dahlaine. »Die 16 Diener des Vlagh fassen tausende oder sogar Millionen von Jahren evolutionärer Entwicklung in einer sehr kurzen Zeitperiode zusammen. Wenn wir davon ausgehen, dass sie weiterhin auf der primitivsten Ebene denken, werden wir, so fürchte ich, ein paar üble Überraschungen erleben. Ihr >Überverstand<, da bin ich mir sehr sicher, wird inzwischen begriffen haben, dass der Überfall hier im Süden in einem Desaster geendet hat, und demnach dürfte >näher< wenig attraktiv sein. Aus diesem Grund bin ich davon überzeugt, dass der nächste Angriff so weit wie möglich von hier entfernt stattfinden wird.« »Übertreiben wir es nicht ein wenig?«, warf Zelana ein. »Wir werden nicht erfahren, in welche Richtung sich die Insekten bewegen, ehe uns nicht einer der Träumer einen Hinweis gibt. Ich würde vorschlagen, wir warten ab. Angesichts dessen, was in meiner und in Veltans Domäne geschehen ist, verfügen wir einfach nicht über genug Informationen, um irgendetwas als gesichert anzunehmen.« »Zelana hat Recht, finde ich«, stimmte Veltan zu. »Nichts ist entschieden, ehe nicht eines der Kinder einen >dieser< Träume hatte.« »Darf ich vielleicht einen Vorschlag machen?«, fragte der silberhaarige Trogit Narasan. »Ich werde mir zunächst einmal alles anhören«, erwiderte Dahlaine. »Nun, ich bin, wie ihr wisst, mit den Ländern im Norden und Osten nicht so vertraut, doch würde es nicht Sinn ergeben, die dortige Bevölkerung vor einer bevorstehenden Invasion zu warnen? Wenn die Menschen in beiden Gebieten wissen, dass die Möglichkeit eines Angriffs der Insektenmenschen besteht, können sie schließlich Vorkehrungen treffen.«
»Das erscheint mir sinnvoll, Aracia«, räumte Dahlaine ein. »Wenn das, was hier und drüben im Westen geschehen ist und sich in deiner und meiner Domäne höchstwahrscheinlich wie17 derholen wird, einen Schluss zulässt, dann den, dass die ansässige Bevölkerung eine wichtige Rolle dabei spielen wird, den nächsten Sieg zu erringen.« Aracia starrte ihren Bruder böse an, entgegnete jedoch nichts. Langbogen tippte Rotbart auf die Schulter. »Warum schnappen wir nicht ein wenig frische Luft?«, schlug er im Flüsterton vor. »Hier drin ist es in der Tat ein bisschen stickig«, meinte auch Rotbart. »Geh voraus, Freund Langbogen.« Sie verließen den Kartenraum und gingen ein Stück durch den trübe beleuchteten Korridor. »Bilde ich es mir nur ein, oder benimmt sich Zelanas ältere Schwester ein wenig kindisch?«, fragte Langbogen. »Ich kenne sie nicht so gut«, antwortete Rotbart, »und ich glaube, mir würde es gefallen, wenn es so bliebe. Offensichtlich hat sie Schwierigkeiten, sich zu benehmen.« »Oder vielleicht hat sie sogar ein schlimmeres Problem. Erinnerst du dich, was in der Schlucht passiert ist? Plötzlich und ohne jeden Grund sprang Zelana auf, packte sich Eleria und floh zu ihrer Grotte auf der Insel Thurn.« »Oh ja«, sagte Rotbart. »Sorgan hätte fast einen Anfall bekommen, als sie davonrannte, ohne ihm das versprochene Gold zu geben. Wenn ich mich recht erinnere, ist es erst Eleria gelungen, sie wieder zur Vernunft zu bringen.« »Ich weiß nicht viel über Aracia«, gestand Langbogen, »aber von ihr scheint ein starker Duft nach Unvernunft auszugehen. Ihr Verstand scheint nicht mehr richtig zu funktionieren.« »Da wäre ich mir nicht so sicher, Langbogen«, widersprach Rotbart. »Möglicherweise funktioniert er noch ganz gut. Nach allem, was ich gehört habe, tritt jeder, der sich vor ehrlicher Arbeit scheut, in ihre Priesterschaft ein und verbringt seine Zeit damit, sie zu verehren.« »Das habe ich auch gehört.« 18 »Soldatentum ist doch auch eine ehrliche Arbeit, oder?« »Nicht so anstrengend wie Ackerbau, aber doch härter, als jemanden zu verehren.« »Wenn die Dinge in ihrer Domäne so stehen, lässt das nicht vermuten, dass sie dort drüben über nichts verfügt, das mit einer Armee vergleichbar wäre? "Würde das nicht erklären, warum sie alle Soldaten, die Zelana und Veltan angeheuert haben, auf ihr Gebiet holen möchte, damit sie Schutz hat, falls sich die Insektenmenschen tatsächlich entscheiden, in ihre Richtung zu ziehen?« »Also gut, Rotbart«, sagte Langbogen. »Vielleicht ist sie gar nicht so unvernünftig, wie es nach außen wirkt. Falls ihre Domäne vollkommen ohne Verteidigung dasteht, braucht sie jeden Mann, der ein Schwert oder einen Bogen halten kann, um ihr Land zu beschützen. Das ist natürlich ausgesprochen egoistisch, aber das wiederum dürfte sie am wenigsten stören, glaube ich. Anscheinend hält sie sich für das wichtigste Wesen der Welt, und aus ihrer Sicht der Dinge gibt es für uns alle nur die eine Pflicht, nämlich zu ihrer Verteidigung zu eilen.« »Daran können wir im Augenblick nicht viel ändern, Freund Langbogen - außer Zelana vielleicht vorzuschlagen, sie möge ihre große Schwester genau im Auge behalten.« »Gewiss kennt Zelana die Eigenheiten ihrer Schwester längst, doch könnten wir für alle Fälle Sorgan und Narasan warnen.« »Damit hast du vermutlich Recht. Sollen wir zurückgehen und uns das Geschrei anhören? Oder würdest du lieber angeln gehen?« Die Streiterei von Dahlaine und Aracia setzte sich noch eine gute halbe Stunde fort, dann gesellte sich Omagos wunderschöne Gemahlin zu ihnen auf die Galerie des Kartenraums. »Das Abendessen ist fertig«, verkündete sie. »Das ist die beste Nachricht des ganzen Tages«, rief Sorgan Hakenschnabel. »Beeilen wir uns, bevor alles kalt wird.« 19 Damit brachen sie zu Veltans improvisiertem Esszimmer auf. Diese Eigenschaft der älteren Götter hatte Rotbart nie ganz begriffen. Es hatte natürlich etwas Praktisches an sich, dass sie nicht schlafen mussten. Wenn ein Notfall eintrat, konnte man mit einem schlafenden Gott nichts anfangen, aber in seinem ganzen Leben würde Rotbart nicht verstehen, weshalb sie nicht aßen. Sicherlich brauchten sie sich nicht zu ernähren, aber Essen ging doch weit darüber hinaus, nur den knurrenden Magen zu füllen. Insbesondere das Abendessen war für gewöhnlich ein soziales Ereignis, bei dem man sich näher kam und die eine oder andere Meinungsverschiedenheit ausräumen konnte. Rotbart war sich ziemlich sicher, dass es das kunstvolle Esszimmer in Veltans Haus noch gar nicht gegeben hatte, ehe die Ausländer eingetroffen waren, und bestimmt stammte die Idee für diesen Raum zum Speisen von Ära. Omagos Frau war vermutlich die beste Köchin in der ganzen Welt, aber sie war weise und wusste: Die Menschen zusammenzubringen und Freundschaft zu schließen musste als wichtiger erachtet werden als das Essen an sich. Allerdings gab es auch bei Ära einige Eigenheiten, die Rotbart nicht vollkommen verstand - bisher jedenfalls. Nun, er würde diese Ungereimtheiten nicht aus den Augen verlieren. Seltsamerweise begleiteten Veltan und Zelana sie ins Esszimmer. Da diese beiden kein Essen brauchten - oder
wollten -, hatten sie wohl etwas anderes im Sinn. Das Gespräch am Tisch drehte sich um allgemeine Themen, doch nachdem man gespeist hatte - mehr als reichlich, versteht sich -, nahmen Zelana und Veltan den Maag Sorgan und den trogitischen Kommandanten Narasan zur Seite und unterhielten sich lange mit ihnen. Rotbart stupste seinen Freund Langbogen nach dem Essen an. »Ich könnte mich ja irren, aber ich glaube, Zelana und Veltan haben einen Weg gefunden, den Familienfrieden wiederherzustel20 len, und vermutlich werden Sorgan und Narasan dabei eine Rolle spielen.« »Was für eine seltsame Idee«, murmelte Langbogen. »Du hast es doch auch gesehen, oder?« »Es war offensichtlich, Freund Rotbart. Ich denke, die heilige Aracia könnte trotzdem ein wenig enttäuscht reagieren.« »Wie schade«, meinte Rotbart und grinste breit. »Wie hässlich von dir, so etwas zu sagen.« »Dann hau mich doch.« Als sie in den Kartenraum zurückkehrten, räusperte sich Sorgan Hakenschnabel, um anzudeuten, dass er das Wort ergreifen wollte. »Narasan und ich haben die Angelegenheit besprochen, und ich denke, wir sind zu einer Lösung gelangt, wie wir uns des Problems annehmen können«, verkündete er. »Weil wir nicht sicher sein können, wo die Insektenmenschen als Nächstes zuschlagen, müssen wir beide Möglichkeiten in Betracht ziehen. Da nun das Territorium des werten Herrn Dahlaine weiter entfernt ist als das seiner Schwester, stimmten Narasan und ich darin überein, dass ich diesen Teil des Landes Dhrall übernehmen sollte - nicht, weil meine Männer bessere Krieger wären, sondern weil unsere Schiffe schneller sind als die von Narasan. Im Lande Maag besteht unser Hauptgeschäft darin, die trogitischen Schiffe zu jagen und auszurauben, aber darüber können wir uns bei einer anderen Gelegenheit unterhalten. Während meine Leute also den Norden übernehmen, zieht Narasan gen Osten.« Er deutete auf Veltans »Skulpturenkarte«. »Wenn diese Karte auch nur einigermaßen genau ist, braucht Narasans Flotte nur wenige Tage, um das Territorium der hochverehrten Dame Aracia zu erreichen, und dann kann er dieses Gebiet beschützen. Demnach haben wir dann im Osten und im Norden Leute vor Ort, welche die Insektenmenschen abwehren können, und unsere werten Arbeitgeber vermögen sich ja sowieso binnen kürzes21 ter Zeit von einem Ort zum anderen zu bewegen. Sollte der Angriff also im Osten stattfinden, segele ich nach Süden und vereine meine Truppe innerhalb weniger Wochen mit Narasans. Falls die Insektenmenschen hingegen in den Norden marschieren, sollten wir Maags in der Lage sein, sie aufzuhalten, bis Narasan bei mir eintrifft. Wenn wir die Pferdesoldaten im Norden und die Kriegerinnen im Osten einsetzen, haben wir ausreichend Leute, um jede Insekteninvasion zum Stillstand zu bringen. Sobald dann die anderen eintreffen, können wir die Eindringlinge einmachen und den dritten Krieg im Lande Dhrall gewinnen.« »Also wird es so ähnlich laufen, wie wir die Dinge vor diesem Krieg in der Domäne der werten Dame Zelana gehandhabt haben«, fügte Narasan hinzu. »Es sind genug Leute von uns in jedem Gebiet, um eine Invasion zu verhindern, bis sich unsere Freunde zu uns gesellen. Danach ziehen wir los zum großen Einmachen.« »Wie klug ausgedrückt, Narasan«, merkte Sorgan an. »Mit Worten konnte ich schon immer gut umgehen«, erwiderte Narasan bescheiden. »Ich will mich ja nicht einmischen«, sagte der narbengesichtige Ekial, »aber auf welche Weise werden wir mein Volk - und die Pferde - hinauf in Herrn Dahlaines Territorium schaffen? Pferde können schnell laufen, allerdings vermutlich nicht schnell genug, um über die Oberfläche des Meeres zu galoppieren.« »Ich glaube, ich weiß schon, wie wir das schaffen«, meinte Narasan leichthin. »Gunda hat doch diese kleine Fischerjolle, die fast fliegen kann. Er kann dich nach Castano bringen, und dort könnt ihr Schiffe anheuern. Damit segelt ihr beiden nach Malavi und nehmt die Männer und Pferde an Bord. Daraufhin fahrt ihr nach Norden zum Territorium des werten Herrn Dahlaine weiter.« »Ich denke, ich sollte sie vielleicht begleiten, Kommandant«, mischte sich Veltan ein. »Wenn man trogitische Schiffe anheuert, 22 braucht man Gold, und ich weiß recht gut, wie ich verhindern kann, dass Gundas Jolle durch zu viel Gold an Bord sinkt.« »Also hätten wir, wie ich glaube, unsere Probleme gelöst«, meinte Narasan und blickte in die Runde. »"Wann, denkt ihr, sollten wir loslegen?« »Hast du morgen schon etwas auf dem Feuer?«, fragte Sorgan ihn. »Nicht dass ich wüsste«, antwortete Narasan. »Gut, dann morgen«, verkündete Sorgan. Rotbart hatte Zelanas Schwester beobachtet, während Sorgan und Narasan ihr langsam den Boden unter den Füßen wegzogen. Es war offensichtlich, dass sie protestieren wollte, doch die beiden klugen Ausländer hatten ihr nicht viel Grund gegeben, sich zu beschweren. Offensichtlich wollte sie alle Ausländer zum Schutz ihrer Domäne nach Osten holen, doch Sorgan und Narasan hatten, augenscheinlich auf Zelanas und Veltans Vorschlag
hin, jegliche Einwände ausgeräumt, die sie erheben konnte. »Ich weiß nicht, ob du zugeschaut hast, Freund Rotbart«, sagte Langbogen leise, »aber scheint es dir nicht auch so, dass sich die Kriegerkönigin namens Trenicia ständig in der Nähe von Kommandant Narasan aufhält und offensichtlich sehr von ihm beeindruckt ist?« »Meinst du etwa, sie könnte möglicherweise gewisse Gedanken hegen, was den guten alten Narasan angeht?«, fragte Rotbart. »Nun, sicher bin ich mir da nicht«, gab Langbogen zurück, »aber es wäre doch höchst interessant, wenn das gerade jetzt passieren würde, oder was sagst du dazu?« »Solange ich einigermaßen bei klarem Verstand bin, würde ich sagen - nein.« 23 2 Beim ersten Licht am folgenden Tag brachten die Bauern aus Veltans Domäne riesige Mengen an Vorräten zum Strand, um die Schiffe der beiden Flotten auszurüsten. Solch stahlgraues Licht wie an diesem Morgen weckte stets Rotbarts Instinkte. »Es wäre bestimmt ein guter Tag zum Jagen«, sagte er zu Langbogen, während dieser die Bauern beobachtete. »Ich glaube, Veltan würde es nicht gerade mögen, wenn du jetzt anfängst, Pfeile auf seine Bauern abzuschießen«, erwiderte Langbogen. »Lustig, Langbogen, sehr lustig«, antwortete Rotbart. »Dieses erste Licht vor Sonnenaufgang erzeugt in mir immer das Gefühl, es könnte einer dieser perfekten Tage werden - weißt du, einer dieser Tage, an denen nichts schief geht.« Langbogen blickte hinauf zum farblosen Himmel. »Da könntest du Recht haben, Freund Rotbart«, stimmte er zu, »und wenn du sehr viel Glück hast, wird heute bis zum Vormittag tatsächlich nichts schief gehen.« Er schaute zu den Schiffen der Trogiten und Maags hinüber. »Wahrscheinlich brauchen sie den größten Teil des Morgens, um die Vorräte auf ihre Schiffe zu laden«, sagte er. »Gehen wir doch zu Zelana und fragen sie, ob sie noch etwas für uns zu tun hat, ehe wir Veltans Territorium verlassen.« Zelana und ihre beiden Brüder beobachteten die Bauern von einem Hügel aus, der ein Stück entfernt vom Strand lag. Rotbart und Langbogen gesellten sich zu ihnen. »Ich will dir ja nicht vorschreiben, was du zu tun hast, kleiner Bruder«, meinte Zelana gerade zu Veltan, »aber ich finde, du solltest zumindest einmal darüber nachdenken, ob du nicht ein wenig >herumpfuschen< möchtest, damit Gunda und Ekial so schnell wie möglich nach Castano gelangen. Wir wissen schließ24 lieh nicht genau, wo die Wesen des Ödlands ihren nächsten Angriff starten werden, bis eines der Kinder wieder träumt. Von hier bis zu Aracias Domäne ist es nicht weit, daher sollte Narasan dort in wenigen Tagen eintreffen, und von Aracias Tempel zur Insel Akalla, wo Trenicias Kriegerinnen leben, dauert die Reise nicht so lange. Bis zu Dahlaines Domäne ist es viel weiter. Sorgans Schiffe sind schnell genug, um diesen Teil des Landes Dhrall rechtzeitig zu erreichen, aber du wirst eine Weile brauchen, um in Castano trogitische Schiffe anzuheuern, und dazu einige Tage mehr, um hinunter ins Land der Malavi zu segeln. Dann hast du außerdem die lange Reise auf den schwankenden Trogiten-Schiffen von dort zu Dahlaines Land vor dir.« »Im Herumpfuschen bin ich sehr begabt, liebe Schwester«, erklärte Veltan ihr und lächelte schwach. »Mutter Meer ist zu dieser Zeit des Jahres freundlich, und sicherlich werden die Malavi die Schiffsreise sehr genießen, aber im Augenblick hat eine Vergnügungsfahrt nicht unbedingt Vorrang, also werden wir auf den Spaß verzichten und uns beeilen. Es wird Ekials Malavi so erscheinen, als würde sich die Domäne des großen Bruders gar nicht so weit im Norden befinden, aber das spielt keine große Rolle.« Dann wandte er sich zu seinem älteren Bruder um. »Sind uns die Bewohner deiner Domäne von Nutzen, wenn die Wesen des Ödlands sich entscheiden, nach Norden zu ziehen?« »Die Eingeborenen der Tonthakan-Region sind ziemlich gute Bogenschützen«, erwiderte Dahlaine. »Ihr Territorium ähnelt der Domäne von Schwester Zelana, die Tonthakaner sind in erster Linie Jäger. In der mittleren Region, Matakan, findet man offenes Grasland, wo man vor allem auf Bisons Jagd machen kann. Die sind größer als das Wild im Wald, und ihr Fell ist viel dicker. Gegen solche Tiere sind Pfeile nicht besonders wirksam, daher benutzen die Matakaner Speere anstelle von Pfeil und Bogen.« »Beschränkt das nicht die Reichweite?«, wollte Langbogen wissen. 25 »Bisons sind nicht so ängstlich wie Hirsche«, erklärte Dahlaine. »Sie geraten auch nicht so leicht in Panik. Die Matakaner benutzen die so genannte >Speerschleuder<, um die Reichweite zu erhöhen.« »Ich glaube, von einer >Speerschleuder< habe ich noch nie gehört«, gab Rotbart zu. »Wie funktioniert die?« »Im Wesentlichen handelt es sich um eine Verlängerung des Wurfarms. Es ist ein Stock mit einer Art Becher am Ende. Der Jäger steckt das hintere Ende des Speers in diesen Becher, und dann schleudert er den Stock nach vorn. Durch die zusätzliche Länge wird die Hebelkraft erhöht, und auf diese Weise fliegt der Speer fast doppelt so weit. Die Speerspitze ist aus Stein und viel schwerer als eure Pfeilspitzen, deshalb kann sie durch das Fell und die dicke Haut des Bisons dringen. Das klingt vielleicht wenig elegant und ein bisschen primitiv, aber die Matakaner haben regelmäßig zu essen. Vermutlich werdet ihr, wenn wir dort ankommen, die Gelegenheit erhalten, euch anzuschauen, wie gut die Speerschleuder funktioniert.«
»Gibt es weitere Regionen dort oben?«, erkundigte sich Veltan. Dahlaine schnitt ein säuerliches Gesicht. »In Atazakan hätte ich schon vor einiger Zeit etwas unternehmen müssen, aber ich war leider hier zu sehr beschäftigt. Die Atazakaner haben eine übertrieben hohe Meinung von sich - was vermutlich mit dem zusammenhängt, was man in jener Gegend als >königliche Familie< bezeichnet. Ich hatte nie Gelegenheit, das Phänomen des >vererbten Wahnsinns< zu studieren, aber der Begriff scheint mir in Hinsicht auf Atazakan genau zutreffend zu sein. Ihr gegenwärtiger Häuptling, Anführer, König - oder was auch immer -ist vollkommen verrückt. Er ist absolut davon überzeugt, ein Gott zu sein, und er hält mich für einen Usurpator, der versucht, ihm zu entreißen, was rechtmäßig seines ist.« »Aha?«, meinte Zelana. »Und was ist es für ein wertvolles Ding, das du ihm stibitzt hast?« z6 »Die Welt, natürlich - oder womöglich gar das gesamte Universum.« »Warum befreien sich die Bewohner nicht einfach von ihm -vielleicht mit einem Messer oder einer Axt?«, fragte Rotbart. »Weil er tausende von Wachen hat«, erklärte Dahlaine. »Nach meiner Schätzung ist jeder dritte Mann in Palandor Mitglied dessen, was der Heilige Kaiser Azakan >die Wächter der Göttlichkeit nennt - und diese Wächter führen ein angenehmes Leben. Ihre einzige Pflicht besteht darin, vor Sonnenaufgang und Sonnenuntergang herumzustehen und dabei eine grimmige Miene aufzusetzen.« »Wie ist denn das Wetter da oben?«, wollte Rotbart wissen. »Im Herbst gar nicht so schlecht«, antwortete Dahlaine. »Ein warmer Strom draußen in Mutter Meer mildert das Wetter im Herbst, aber am Ende des Herbstes ändert er die Richtung, und dann wird es sehr kalt. Schneestürme können wochenlang anhalten, und die Frühjahrsschmelze setzt wesentlich später ein als im übrigen Land Dhrall. Die Sommer sind angenehm, aber hin und wieder haben wir Schlechtwetterperioden. Auf dem Meer im Osten meiner Domäne bilden sich heftige Orkane, die über die Küste von Atazakan hinwegfegen.« Er lächelte zaghaft. »Der Heilige - oder verrückte - Azakan versucht immer, diesen Stürmen zu befehlen fortzugehen, aber sie gehorchen ihm nie.« »Stürme gehorchen eben nicht gut, großer Bruder«, sagte Zelana. »Wenn Mutter Meer miesepetrig wird, sollte man lieber Deckung suchen.« »Glücklicherweise müsste die von den Menschen in Matakan so genannte >Wirbelwindzeit< schon dem Ende zugehen.« »Mein Volk nennt diese Orkane >Zyklone<«, meinte Veltan, »wahrscheinlich, weil sie sich wie ein Zyklus immer im Kreis bewegen.« »In meinem Teil des Landes Dhrall kommen sie eher selten vor«, sagte Zelana. 27 »Schätz dich glücklich«, erwiderte Dahlaine. »Diese rotierenden Stürme neigen dazu, alles platt zu walzen. In Matakan gibt es sie häufig, weil in der Gegend wenige Berge stehen, die sie zurückhalten könnten. Die Matakaner suchen deshalb meist unter der Erde Zuflucht.« »In Höhlen?«, fragte Langbogen. »Nicht direkt. Die Matakaner graben tiefe Keller mit dicken Dächern, und wenn ein Wirbelwind aufzieht, gehen sie unter die Erde und sitzen ihn aus.« In diesem Moment kam Hase vom Strand herauf. »Der Käpt'n hat mir aufgetragen, ich soll euch sagen, die Möwe sei bereit zum Auslaufen, wenn ihr sagt, es sei so weit«, verkündete der kluge kleine Eisenschmied. »Sag ihm, wir werden in ein paar Minuten da sein«, antwortete Dahlaine. Dann sah er seinen Bruder und seine Schwester an. »Eigentlich könnten wir ja schon vorausreisen zu meiner Domäne«, meinte er, »aber vielleicht ist es besser, bei den Maags zu bleiben. Irgendjemand muss sie führen, und wir können ihnen alles erklären, was sie wissen müssen, während sie hinauf in mein Land segeln. Es wird eine Weile dauern, bis wir dort ankommen selbst mit diesen schnellen Langschiffen der Maags -, also sollten wir die Zeit wenigstens sinnvoll nutzen.« »Wärst du wohl so nett und würdest Narasan um etwas bitten?«, fragte Langbogen den jüngeren Gott auf dem Weg zum Strand. »Ich denke, es wäre von Vorteil, Keselo mit uns in den Norden zu nehmen. Als junger Mann hat er sehr eifrig studiert, und er hat in seinem Kopf viel Wissen gespeichert, das wir in Dahlaines Domäne gebrauchen können.« Langbogen lächelte schwach. »Hase und ich haben herausgefunden, dass man nur ein Stichwort zu geben braucht, und Keselo kann aller Wahrscheinlichkeit nach etwas zu dem Thema sagen, weil er es studiert hat.« »Ja, er ist in der Tat ziemlich gebildet«, stimmte Veltan zu. »Ich werde mit Narasan sprechen, ehe ich zu Gunda und Ekial in die 28 kleine Jolle steige. Bestimmt wird Narasan nichts dagegen haben. Sicherlich ist euch doch aufgefallen, dass Narasan nur deshalb nach Osten zieht, damit Schwester Aracia sich nicht mehr beleidigt fühlt, weil nicht alle gleich in ihre Domäne gerannt sind, um sie zu verteidigen.« »Nun ja, ich glaube, so ganz stimmt das nicht, Veltan«, widersprach Langbogen. »Rotbart und ich haben uns außerhalb deines Kartenraums unterhalten, während sich Aracia und Dahlaine stritten, und wir waren uns einig, dass das Problem deiner Schwester weniger mit Beleidigt sein als vielmehr mit Angst zu tun hat. Wenn die Beschreibungen, die wir über ihren Teil des Landes Dhrall gehört haben, auch nur ungefähr den Tatsachen
entsprechen, verfügt sie über nichts, das einer Armee auch nur annähernd ähnlich ist. Bei ihr leben Bauern, Händler und Priester, aber kein einziger Soldat. Falls die Wesen des Ödlands ihre Domäne angreifen, kann den Feinden niemand Widerstand leisten. Deshalb wollte sie die Maags und die Trogiten zu sich holen. Ohne Frage ist sie ein wenig selbstbezogen, aber ihr eigentlicher Antrieb war, wie gesagt, die Angst.« »Also, das hatten wir überhaupt nicht in Betracht gezogen«, räumte Veltan ein. »Aber es sieht ihr durchaus ähnlich. Am Ende unseres Zyklus werden wir alle ein bisschen seltsam und verwirrt, und der Rest der Familie dachte, dass es ihr allein um ihren Stolz ginge und dass die Verehrung durch all diese Priester ihr Denkvermögen beeinträchtigt haben könnte. Auf den Gedanken, sie könnte Angst haben, sind wir gar nicht gekommen. Vielleicht möchtest du das auch Dahlaine und Zelana erzählen und sie fragen, was sie darüber denken. Das erklärt immerhin Aracias eigenartiges Benehmen in letzter Zeit.« An Bord der Möwe ging es ein wenig beengt zu, als die Segel gesetzt wurden und man an diesem Spätsommertag von Veltans Haus nach Süden in See stach. Sorgan war nicht allzu begeistert 29 davon, dass sich Zelana und Dahlaine seine Kabine angeeignet hatten, aber das war natürlich eine logische Entscheidung, denn sie hatten ja die Kinder dabei, Eleria, Ashad und Yaltar. Maag-Seeleute verwendeten häufig eine äußerst farbenfrohe Sprache, wenn sie sich unterhielten, und vermutlich wäre es für die Kinder das Beste, solche Wörter nicht zu hören. Aus Gründen, die Rotbart nicht richtig verstand, hatte Dahlaine darauf bestanden, Omago und seine wunderschöne Frau Ära mitzunehmen. Ära hatte so etwas an sich, das Rotbart nicht so ganz in den Kopf wollte. Ohne Frage war sie unglaublich hübsch, aber vor allem passierten in ihrer Gegenwart manchmal unglaubliche Dinge. Gewiss konnte es sich dabei um Zufälle handeln, aber dennoch blieb Rotbart misstrauisch. Im Augenblick jedenfalls musste sich Rotbart über Wichtigeres Gedanken machen. Nachdem die Möwe und die anderen Schiffe der Maag-Flotte an der Südküste von Veltans Domäne entlang gesegelt wären, mussten sie entlang der Küste von Zelanas Teil des Landes Dhrall nach Norden fahren, und es bestand entfernt die Möglichkeit, dass sie aus einem von einem Dutzend guten Gründen in der Bucht von Lattash anlegen würden. Es dauerte eine Weile, bis er genug Mut gesammelt hatte, um mit Zelana über diese Angelegenheit zu sprechen. »Bist du gerade beschäftigt?«, fragte er sie an einem hellen, sonnigen Morgen, während die Möwe an der Ostküste entlangsauste und Zelana vorn am Bug stand. »Gibt es ein Problem?«, fragte sie ihn. »Nun, ich hoffe nicht«, antwortete er. »Könntest du vielleicht Sorgan Hakenschnabel überreden, die Bucht von Lattash zu meiden?« »Ist in Lattash etwas nicht in Ordnung, Rotbart?« »Neu-Lattash«, berichtigte er sie. »Das alte Lattash war schön, aber das Dorf gibt es nicht mehr. Wegen NewLattash liegt mir etwas ein wenig schwer im Magen.« 30 »Und wieso, wenn ich fragen darf, lieber Junge?« »Junge?« Rotbart erschien die Bezeichnung ein wenig beleidigend. »Der Begriff ist doch sehr relativ«, erwiderte sie lächelnd. »Was bereitet dir solchen Kummer, Rotbart?« »Es wäre mir lieber, wenn sich die Nachricht, dass ich hier an Bord des Schiffes bin, im Dorf nicht verbreiten würde.« »Es ist deine Heimat, nicht wahr?« »Nun, sie war es. Nachdem mein Onkel Weißzopf nicht mehr so ganz beieinander war, weil das alte Lattash unter dem Lavastrom begraben wurde, entschieden die Dorfbewohner, ich solle der nächste Häuptling werden.« »Davon habe ich, glaube ich, schon gehört. Habe ich dir eigentlich gratuliert?« »Nein, und es wäre mir lieber, du würdest es auch gar nicht tun. Um ehrlich zu sein, ich wollte überhaupt nicht Häuptling werden, und ich will es noch immer nicht. Wenn ich Glück habe, wird dieser Krieg in den anderen Teilen des Landes Dhrall ein paar Jahre andauern. Ich wollte niemals Häuptling des Stammes werden, und mir steht der Sinn auch jetzt nicht danach.« Zelana lachte. »Du und meine Schwester, ihr wärt ein hübsches Paar, Rotbart. Sie will möglichst viel Autorität und Verehrung, und du rennst davor weg.« »Wie kann sie diesen ganzen Unfug aushalten!« »Sie fühlt sich wichtig dabei, Rotbart, und wichtig zu sein macht es ihr leichter, zu akzeptieren, dass unser ältester Bruder in diesem Zyklus im Rang über ihr steht.« Sie hielt inne und blickte Rotbart nachdenklich an. »Du weißt doch über unsere Zyklen Bescheid, oder, Rotbart?«, fragte sie. »So ungefähr. Wie ich es verstanden habe, bleiben du und deine Familie immer tausend Jahre wach, und dann übergebt ihr die Auf gaben an die jüngeren Verwandten und legt euch für lange Zeit schlafen. Wird das irgendwann in Kürze passieren?« 31 »Ziemlich bald, ja - nur stimmt die Zahl nicht. Unsere Zyklen dauern fünfundzwanzigmal länger als eintausend Jahre.« Rotbart blinzelte. »So lange bist du schon wach?«, fragte er sie voller Verwunderung. »Nicht ganz, aber die Schlafenszeit rückt näher. Als unser gegenwärtiger Zyklus begann, lebten die Menschen -
also deine Spezies - auf einem sehr primitiven Niveau. Sie hatten das Feuer noch nicht entdeckt, und ihre ausgeklügeltste Waffe war die Keule. In vieler Hinsicht ist dies die wichtigste Periode in der Weltgeschichte. Die Menschenwesen - also deine Spezies - verbringen den größten Teil ihrer Zeit damit, Dinge zu verändern. Dadurch machen sie diesen Zyklus zu einem sehr wichtigen -und sehr gefährlichen. Manches sollte eben nicht verändert werden - und damit wären wir wieder beim Vlagh. Kennst du dich mit Bienen aus?« Rotbart zuckte mit den Schultern. »Sie stellen Honig her und stechen jeden, der ihn stehlen will. Honig schmeckt gut - aber nicht so gut, dass ich mich tausendmal stechen lassen würde, nur um ihn zu bekommen.« »Weise Entscheidung, Rotbart. Bienen und eine Anzahl anderer Arten von Insekten haben sehr umfangreiche Gesellschaftsgebilde entwickelt, die dazu dienen, ihre Territorien auszudehnen und damit ihre Nahrungsversorgung. Darum geht es letztlich auch in diesem Krieg hier im Lande Dhrall. Unglücklicherweise ist das Vlagh ein Imitator. Wenn eines der Wesen im Ödland auf eine Eigenschaft stößt, die ihm nützlich erscheint, beginnt das Vlagh mit Experimenten, und die nächste Generation, die ausgebrütet wird, verfügt über diese Charakteristiken.« »Am Ende haben wir es also mit Insektenmenschen zu tun, die sprechen können.« »Nicht genau Insektenmenschen, Rotbart. Insekten/rawera würde es besser treffen. Es gibt eigentlich nicht viele Männchen unter den Wesen des Ödlands. Fast alle sind Weibchen, doch das 32 Vlagh selbst ist das einzige von ihnen, das Eier legt - tausende und abertausende auf einmal.« »Ich glaube, Insektensäuglinge sind nicht so gefährlich«, höhnte Rotbart. »Vielleicht nicht, aber sie wachsen schnell.« »Wie schnell?« »Innerhalb einer Woche sind sie erwachsen. Nun ja, sie leben auch nur sechs Wochen, aber währenddessen ist die nächste Generation bereits wieder in Arbeit. Die Ausländer, die wir zu unserer Hilfe angeheuert haben, verstehen das nicht ganz, aber das brauchen sie auch nicht unbedingt. Vermutlich ist es so auch besser. Wenn unsere Freunde wüssten, dass das Vlagh innerhalb von zwei Wochen alle ersetzen kann, die sie getötet haben, gäbe es auf der ganzen Welt nicht genug Gold, um sie zu überzeugen, uns zu helfen.« »Warum erzählst du mir all das, Zelana?«, fragte Rotbart dann unvermittelt. Sie zuckte mit den Schultern. »Ein paar Menschen müssen wissen, was wirklich vor sich geht, Rotbart, und du bist zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich werde mich mit Sorgan über dein Problem unterhalten, und wenn es unausweichlich sein sollte, in der Bucht von Lattash anzulegen, werden wir ein Versteck für dich finden, wo dich niemand von deinem Stamm entdeckt.« »Das nimmt mir eine große Last von der Seele.« Rotbart zögerte. »Du verstehst doch, weshalb ich nicht Häuptling des Stammes werden möchte?«, fragte er sie. »Hat es vielleicht mit Freiheit zu tun?« »Genau.« Er runzelte die Stirn. »Du bist gleich darauf gekommen, Zelana. Woher wusstest du es?« »Mir ist es schon einmal ebenso ergangen, Rotbart. Deshalb habe ich mich vor langer Zeit auf die Insel Thurn zurückgezogen. Wenn du >Häuptling< sein für ermüdend hältst, stell dir einmal vor, was es heißt, >Göttin< zu sein. Genau wie du wollte ich 33 damit nichts zu tun haben und lief davon. Tausende von Jahren habe ich in meiner rosa Grotte gelebt, komponierte Musik, schrieb Gedichte und spielte mit meinen rosa Delfinen. Dann kam mein großer Bruder zu mir und brachte mir Eleria, und mein ganzes Leben hat sich dadurch komplett verändert.« »Du liebst sie aber trotzdem, oder?« Zelana seufzte. »Mehr als alles in der Welt. Das hatte Dahlaine im Sinn, als er uns die Träumer andrehte. In gewisser Hinsicht war es sehr grausam, aber auch notwendig.« »Nun, ich bin für den Stamm nicht so unbedingt notwendig. Sie können sich jemand anderen suchen, der herumsitzt und wichtig tut.« Dann ging Rotbart ein Gedanke durch den Kopf, und plötzlich musste er lachen. »Was ist so lustig?« »Ich weiß, wer der beste Häuptling werden würde, den unser Stamm jemals hatte«, antwortete er. »Der Stamm würde die Idee vielleicht nicht mögen - zumindest nicht die Männer -, aber eigentlich sollte Pflanzerin Häuptling sein.« Zelana lächelte. »Ist sie doch längst, Rotbart. Den Titel braucht sie nicht. Der Stamm tut, was sie sagt, und das ist es, was zählt, oder was meinst du?« »Ich würde es allerdings nicht laut sagen«, gab Rotbart zurück. Der Wind wehte von Osten heran, als Sorgan Hakenschnabels Langschiffflotte die erste Halbinsel umrundete, die von der Südküste der Domäne Veltans ins Meer ragte, und als der Wind in die Segel fuhr, blähten sie sich mit lautem Knattern auf. Es erschien Rotbart, als würden die Langschiffe fast fliegen. Das erregte einen bestimmten Verdacht in ihm. Zelana und ihre Familie sprachen häufig von »Herumpfuschen«, und ein Wind, der aus Osten wehte, war sehr ungewöhnlich. Zu dieser Jahreszeit herrschten West- und Südwinde vor, aber Ostund Nordwind? Höchst unwahrscheinlich ... 34 Einige Tage später umschiffte die Möwe die dritte und letzte der Halbinseln an der Südküste von Veltans
Domäne, und nun wandte sich die Maag-Flotte nach Norden. In der Luft lag inzwischen schon der leichte Geruch des frühen Herbstes, und Rotbart verspürte den in dieser Jahreszeit stets am stärksten ausgeprägten Drang, auf die Jagd zu gehen. Der Herbst war immer die Zeit, in der man reichlich Vorräte anlegte, um den Stamm durch den bevorstehenden Winter zu bringen. An einem Vormittag stand er mit Zelanas älterem Bruder vorn am schlanken Bug der Möwe, als sich Sorgan Hakenschnabel zu ihnen gesellte. »Gestern Abend ist mir eingefallen, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, wenn ich und meine Männer ein wenig über die Menschen in deiner Domäne erfahren, werter Herr Dahlaine«, sagte er. »Mein Vetter Skell hat herausgefunden, was für eine schlechte Idee es ist, Maags auf die Eingeborenen in diesem Teil der Welt loszulassen, ohne ihnen ein wenig die hiesigen Sitten und Gebräuche zu erklären.« »Damit könntest du allerdings Recht haben, Kapitän«, stimmte Dahlaine zu. »Ich denke, eine kleine Zusammenkunft in deiner Kabine würde nicht schaden. In meiner Domäne gibt es tatsächlich ein paar Eigentümlichkeiten, die ihr kennen solltet.« Sorgans Kabine am Heck war nicht sehr groß, daher wurde es ziemlich eng, als man sich eine Viertelstunde später dort versammelte. »Kapitän Hakenschnabel hat vor kurzem mit mir gesprochen, und er wollte ein paar Dinge über meine Domäne erfahren«, erklärte Zelanas großer Bruder ihnen. »Das halte ich für keine schlechte Idee, wirklich. Ich werde euch einen allgemeinen Überblick über mein Volk und die Beschaffenheit des Landes geben, und dann beantworte ich gern alle offenen Fragen.« »Er klingt fast wie ein Häuptling von einem unserer Stämme, nicht wahr, Langbogen?«, sagte Rotbart leise zu seinem Freund. »Manche Dinge sind überall gleich, Freund Rotbart«, erwi35 derte Langbogen. »Ein Häuptling ist ein Häuptling, gleichgültig, wo er lebt.« »Wenn wir nördlich von Schwester Zelanas Domäne angekommen sind, gehen wir bei der Tonthakan-Nation an Land«, begann Dahlaine. »Nation?«, fragte Zelana neugierig. »Auf diese Idee bin ich vor einiger Zeit gekommen, liebe Schwester«, erläuterte Dahlaine. »Es war die beste Art, die mir einfiel, um endlich diese dummen Kriege zwischen den Stämmen zu beenden. Es gibt drei Kulturen mit wesentlichen Unterschieden in meiner Domäne, also bildete ich drei >Nationen< -Tonthakan, Matakan und Atazakan -, und die verschiedenen Stämme dieser Nationen regeln ihre Meinungsverschiedenheiten mit Zusammenkünften und nicht mit Kriegen.« »Wie unnatürlich«, sagte Rotbart mit geheuchelter Missbilligung. »Sei nett«, schalt Zelana ihn. »Entschuldigung«, erwiderte er, obwohl er das eigentlich gar nicht wollte. »Die Nation der Tonthakaner liegt an der Westküste meiner Domäne«, fuhr Dahlaine fort, »und sie ähnelt in Landschaft und auch Kultur sehr der Domäne von Schwester Zelana. Die Berge sind schroff und hoch, die Wälder dicht und überwiegend immergrün, und es gibt einige Arten von Rotwild, das durch diese Wälder streift. Die Tonthakaner sind vor allem Jäger, und sie können sehr gut mit ihren Bögen umgehen. Sicherlich werden sich Langbogen und Rotbart in dieser Gegend sehr zu Hause fühlen - nur sind eben die Winter länger und kälter als weiter im Süden. Im Sommer sind die Tage dort oben länger, im Winter kürzer, doch jetzt im Herbst wird es kaum Unterschiede geben.« Er blickte Keselo an. »Ich bin sicher, unser gebildeter junger Freund aus dem trogitischen Reich wird uns das erklären können.« 36 »Das hat mit der Schräglage unserer Welt zu tun, Herr Dahlaine«, antwortete Keselo. »Unsere Welt steht in Bezug zur Sonne nicht genau lotrecht, und dadurch entstehen die Jahreszeiten. Sie dreht sich, deswegen haben wir Tag und Nacht, und sie bewegt sich um die Sonne, in einem >Orbit<, wie es die Gelehrten nennen. Wenn sie sich nicht drehen würde, herrschte auf der einen Hälfte ewiges Tageslicht und auf der anderen immer währende Dunkelheit, aber die Jahreszeiten entstehen eben eigentlich durch diese leichte Neigung.« »Ich habe immer gewusst, dass mit unserer Welt etwas nicht stimmt«, warf Hase ein und zeigte nicht den Anflug eines Lächelns. »Nun, ich würde es nicht gerade als >nicht stimmen< bezeichnen, Hase«, erwiderte Keselo ernst. »Wenn wir den Wechsel der Jahreszeiten nicht hätten, könnte hier vermutlich gar nichts existieren. Ein unendlicher Sommer klingt zwar sehr schön, doch würde ich ihn mir nicht unbedingt wünschen.« »Weiter also«, unterbrach ihn Dahlaine. »Die zentrale Region meiner Domäne ist ein Gebiet mit weiten Wiesen, überwiegend Grasland ohne viele Bäume.« »Das hat sich im letzten Frühjahr als nützlich erwiesen«, sagte Langbogen. »Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen, Langbogen«, meinte Dahlaine und sah ihn verwirrt an. »Es hat mit gewissen Sitten in Zelanas Domäne zu tun«, erwiderte Langbogen. »Manche Aufgaben nennen wir >Männerarbeit<, und andere >Frauenarbeit<. Männer jagen in der Regel und tragen die Kriege aus, Frauen sollen Gemüse pflanzen und Essen kochen. Das klingt vielleicht ganz gerecht, aber die Männer der Stämme haben eine Menge Zeit, um herumzusitzen und über die Jagd und das Kämpfen zu reden. Als der Feuerberg den ersten Krieg für uns gewonnen hat, wurde Rotbarts Dorf, Lattash, unter geschmolzenem Fels begraben, also
mussten die Menschen 37 von dort zu einem anderen Platz in der Bucht umziehen. Es gab offenes Land, wo die Frauen eigentlich genug Platz zum Pflanzen gehabt hätten - nur war der fruchtbare mit dicken Grassoden bedeckt. Die Soden abzustechen wäre normalerweise >Frauenarbeit< gewesen, aber Alter Bär, der Häuptling unseres Stammes, berichtete uns, dass er einmal das Grasland besucht habe, das du gerade beschrieben hast, und während er dort war, sah er Hütten, die aus Soden gebaut waren und nicht aus den Ästen von Bäumen. Hütten zu bauen ist >Männerarbeit<, und nachdem Rotbarts Stamm sich in dem neuen Dorf niedergelassen hatte, bauten die Männer die traditionellen Hütten aus Ästen, doch der Wind weht dort, wo das Dorf jetzt steht, ein wenig kräftiger als an der alten Stelle, und eines Nachts wurden alle Hütten umgeblasen.« »Das muss aber ein sehr starker Wind gewesen sein«, meinte Omago, der Bauer. »Nicht so richtig stark«, erwiderte Langbogen und grinste. »Rotbart und ich haben ein wenig nachgeholfen. Am nächsten Morgen zogen wir lange Gesichter und erklärten den Männern des Stammes, die Hütten aus Ästen seien nicht stabil genug, um in diesem >Wind-Dorf< dem Wetter standzuhalten, und stattdessen schlugen wir Soden als Baumaterial vor. Die Männer knurrten, doch gingen sie auf die Wiesen und stachen Soden, was das Zeug hielt, während die Frauen hinter ihnen hergingen und Bohnen und andere Pflanzen aussäten, die sich gut für den Kochtopf eignen. Niemand fühlte sich gekränkt, und niemand wird im kommenden Winter verhungern.« »Ihr beiden seid ein hinterhältiges Pärchen«, meinte Omagos Gemahlin Ära. »Man sollte stets sein Bestes geben, wenn das Wohlergehen des Stammes auf dem Spiel steht«, erwiderte Rotbart phrasenhaft. Die hübsche Dame lachte sogar. »Weiter also«, fuhr Dahlaine fort. »Auch in den westlichen 38 Bergen von Matakan gibt es ein paar Herden verschiedenen Wildes, aber am häufigsten sind in Matakan die Bisons. Diese Tiere sind wesentlich größer als Rotwild, und sie haben Hörner und keine Geweihe. Da die Winter in meiner Domäne sehr kalt sind, haben die Bisons dichtes Fell, und ihre Haut ist dick. Pfeile können dieses Fell und diese Haut zwar durchbohren, aber Speere scheinen besser geeignet zu sein. Die Matakaner benutzen die so genannte >Speerschleuder<, um die Reichweite ihrer Speere zu erhöhen. Ein Mann mit kräftigem Arm kann einen Speer vielleicht über eine Distanz von fünfzig Schritt werfen, durch die Speerschleuder wird diese Entfernung verdoppelt.« »Mit so einem Ding dürfte doch schlecht zu zielen sein, denke ich«, wandte Hase ein. »Die Matakaner üben viel, und sie sind gut genug, um eine Menge Bisonfleisch nach Hause zu bringen.« »Das allein zählt«, meinte Langbogen. »Die Spitzen sind aus Stein, nicht wahr?« »Natürlich«, antwortete Dahlaine. »Das einzige Metall, das wir im Lande Dhrall haben, ist Gold - und ich glaube, aus Gold kann man keine besonders guten Speerspitzen anfertigen.« »Mich dünkt, ich kann wieder an die Arbeit gehen«, stellte Hase fest und schaute ein wenig bedrückt drein. »Jetzt fehlt nur noch das >verrückte Lands nicht wahr?«, meinte Rotbart mit ernster Miene. »Macht er das immer, Zelana?«, fragte Dahlaine seine Schwester. »Was denn, lieber Bruder?« »Sich über alles lustig machen?« »Es macht ihn glücklich, Dahlaine, und glückliche Leute sind angenehmer als schlecht gelaunte. Ist dir das nie aufgefallen?« Er sah sie scharf an, doch sie lächelte nur. »Also gut«, fuhr Dahlaine abermals fort. »Die Nation im Osten meiner Domäne heißt Atazakan, und wie unser Freund hier, 39 der noch nicht gelernt hat, wie man sich rasiert, gerade angedeutet hat, ist der Herrscher dieser Region ziemlich wahnsinnig -was eigentlich nicht seine Schuld ist, denn die letzten fünf Generationen seiner Familie waren genauso verrückt. Der gegenwärtige Herrscher von Atazakan hat den Wahnsinn allerdings auf die absolute Spitze getrieben. Er ist der festen Überzeugung, ein Gott zu sein. Jeden Morgen stellt er sich auf den öffentlichen Platz der Stadt Palandor und erlaubt der Sonne aufzugehen. Und spät am Nachmittag geht er wieder dorthin und erlaubt ihr unterzugehen.« »Sie würde es doch auch ohne seine Erlaubnis tun, oder nicht?«, fragte Hase skeptisch. »Natürlich«, gab Dahlaine mit einem dünnen Lächeln zurück, »aber durch diese absurde Zeremonie fühlt sich der >Heilige Azakan< noch gotthafter.« »Ich glaube, das Wort >gotthaft< gibt es nicht, Dahlaine«, wandte Zelana ein. »Du hast verstanden, was ich meine, oder nicht, liebe Schwester?«, fragte Dahlaine sie. »Nun, so in etwa.« »Demnach gibt es das Wort doch, oder?« »Jedenfalls würde ich es niemals benutzen.« »Du bist eine Dichterin, Zelana, deshalb ist deine Sprache gefälliger als meine. Jedenfalls wünscht sich dieser alte Azakan nichts mehr als Göttlichkeit. Ob er nun tatsächlich glaubt, er sei ein Gott, könnte man durchaus
hinterfragen, seine Untertanen allerdings - oder vielleicht seine Anbeter - haben gelernt, die Verkündungen seiner Göttlichkeit zu akzeptieren, weil davon ihr Leben abhängt.« »Gibt es in diesem Teil deiner Domäne so etwas wie eine Armee?«, fragte Sorgan. »Eigentlich nicht«, erwiderte Dahlaine. »Azakan hat eine gute Anzahl von "Wachen, die sich >die Wächter der Göttlichkeit nen40 nen. Deren wichtigste Aufgabe besteht darin, die Bevölkerung von Palandor einzuschüchtern, damit die Menschen jedes Mal bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang Azakan und seinen Befehlen zujubeln. Sie sind mit schlecht gearbeiteten Speeren und Keulen ausgerüstet, aber sie wissen kaum, wie sie damit umgehen sollen. Ich würde sagen, in einem Krieg gegen die Wesen des Ödlands würde ihre bevorzugte Form der Gegenwehr darin bestehen, den Angreifern aus dem Weg zu gehen.« 3 Die Möwe und hinter ihr die Maag-Flotte segelten an dem schmalen Kanal vorbei, der in die Bucht von Lattash führte, ohne Anstalten zu machen, in dem Dorf anzulegen, und Rotbart stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus - in dem auch ein Hauch Scham mitschwang. Er war sich der Tatsache bewusst, dass er sich einer bestimmten Verantwortung entzog, wusste aber, der Stamm würde auch ohne einen Häuptling Rotbart von Lattash überleben. So ging es weiter nach Norden, und nun ließ es sich immer weniger übersehen, dass sich der Sommer dem Ende näherte. Zwischen Kiefern, Föhren und Fichten standen Zitterpappeln und Birken, deren Laub sich langsam bunt färbte und den immergrünen Wald mit roten und goldenen Flecken durchsetzte. Der Herbst war im Wald die schönste Jahreszeit, doch hielt er auch eine Mahnung bereit: Der Winter war nicht mehr fern! Nur Narren setzten sich über diese stumme Warnung untätig hinweg. Ungefähr drei Tage nachdem sie die Bucht von Lattash passiert hatten, unterrichtete Langbogen Sorgan Hakenschnabel, dass er mit seinem Kanu an Land paddeln und mit Alter Bär, dem Häuptling seines Stammes, reden wollte. »Wenn im Land 41 der Tonthakaner Ungewöhnliches vor sich geht, wird Alter Bär es gehört haben.« Sorgan wirkte ein wenig überrascht. »Ist dein Volk wirklich 50 vertraut mit den Eingeborenen in Herrn Dahlaines Territorium?«, fragte er. »Ich war selbst schon einige Male dort oben«, antwortete Langbogen. »Es ist immer gut, zu den Nachbarn ein gutes Verhältnis zu pflegen. Das kann natürlich auch gelegentlich zu Streitigkeiten führen, aber für gewöhnlich können wir denen aus dem Weg gehen. Soweit ich es jedenfalls überblicken kann, brauchen wir die Bogenschützen aus Zelanas Domäne nicht im Land ihres Bruders - solange die Wesen des Ödlandes nicht gerade in Millionenzahl angreifen, aber es wäre vermutlich eine gute Idee, mit Häuptling Alter Bär in Verbindung zu bleiben. Wenn es einen Notfall gibt, kann er die Nachricht an die anderen Stämme weiterleiten. Dann bekommen wir Hilfe, falls wir sie brauchen.« »Ich leihe dir ein Skiff, wenn du möchtest.« »Danke, danke, Sorgan, aber mein Kanu genügt mir.« »Wie wäre es denn mit ein wenig Gesellschaft?«, fragte Rotbart seinen Freund. »Boote sind zwar nett, nehme ich an, doch würde ich gerne auch mal wieder für eine Weile festen Boden unter den Füßen haben.« »Schiffe«, korrigierte Sorgan ihn abwesend. »Was meinst du, Sorgan?« »Wir nennen sie >Schiffe<, nicht >Boote<.« »Bitte entschuldige.« »Ich werde es mir überlegen.« Rotbart folgte seinem Freund auf das Deck der Möwe, dann holten die beiden Langbogens Kanu aus dem vorderen Frachtraum und ließen es zu Wasser. Es fühlte sich gut an, wieder in einem Kanu zu sitzen, und Langbogens Kanu war eines der elegantesten, die Rotbart je gesehen hatte. Ein wenig niedergeschlagen stellte er fest, dass 42 Langbogen alles, was er tat, immer mit äußerster Perfektion durchführte. Manchen hätte das vielleicht gestört, doch Rotbart hatte damit eigentlich keine Probleme. Langbogen war sein Freund, und er versuchte so gut wie nie, mit ihm in Wettbewerb zu treten. An diesem milden Herbsttag plätscherten die Wellen sanft an den Rumpf, und Langbogens Kanu flog regelrecht über das Wasser auf den Kiesstrand zu. Rotbart fiel auf, dass die Männer des Stammes Langbogen zu meiden schienen, was er nicht unbedingt als überraschend empfand. Bereits in der Vergangenheit hatte er festgestellt, dass viele Menschen Langbogen aus dem Weg gingen. »Vermutlich hängt es mit seiner grimmigen Miene zusammen«, erklärte sich Rotbart dies. »Ich bin sicher, wenn er wüsste, wie man gelegentlich einmal lächelt, wäre er wesentlich beliebter.« Die Hütte von Häuptling Alter Bär stand auf einem kleinen Hügel, von dem aus man den Strand überblicken konnte. Rotbart erschien dies sehr ungewöhnlich. Die meisten Häuptlinge ließen sich in der Mitte ihres Dorfes nieder, doch Alter Bär hatte es wohl lieber ein wenig einsam und abgeschieden.
Der Häuptling begrüßte Langbogen ziemlich förmlich, dachte Rotbart, doch unterschiedliche Stämme haben halt auch unterschiedliche Sitten. »Wie stehen die Dinge in der Domäne von Zelanas Bruder, mein Junge?«, fragte Alter Bär. Langbogen zuckte mit den Schultern. »Es war ein wenig komplizierter als hier, mein Häuptling«, berichtete er, »dennoch ist alles recht gut gelaufen. Anscheinend haben wir eine Freundin, die Dinge bewerkstelligen kann, zu denen Zelanas Familie nicht in der Lage ist, und zwar sogar ohne die Hilfe der Träumer.« »Dann stimmen also die alten Mythen«, stellte der Häuptling zufrieden fest. »So mag es erscheinen, und sie hat mich als ihren Sprecher aus43 gewählt. Das wurde nach einer Weile ein wenig anstrengend, und ich habe eine Weile gebraucht, bis ich den Schlaf nachgeholt hatte.« Alter Bär wirkte ein wenig erschrocken. »Ich muss den Mythos falsch verstanden haben. Ich nahm immer an, sie würde die Träumer-Kinder benutzen, um ihre Befehle an die Ausländer zu übermitteln. Was wollte sie unseren Freunden denn mitteilen?« »Ihre Rede in meinen Träumen war ein wenig geschwollen, mein Häuptling, mehr oder wenig lief es jedoch hinaus auf: >Geht aus dem Weg.< Sie wusste, was sie tut, und sie wollte sich von uns nicht stören lassen. Wir hatten zwei unterschiedliche Feinde, und die haben sich alle Mühe gegeben, sich gegenseitig umzubringen - bis unsere Freundin dann den Rest von beiden vernichtet hat.« »Feuer oder Wasser?« »Diesmal hat sie Wasser benutzt - viel Wasser. Die Wesen des Ödlandes können nicht mehr nach Süden ziehen, weil zwischen ihnen und Veltans Domäne jetzt ein großer See liegt.« Häuptling Alter Bär lachte fröhlich. »Ich kann mir vorstellen, dass sich das Vlagh ein bisschen darüber aufgeregt hat.« »Mehr als nur ein bisschen, mein Häuptling«, erwiderte Langbogen. »Wir konnten die Schreie noch über viele Meilen hinweg hören.« »Redet ihr möglicherweise über etwas, in das ich eingeweiht werden sollte?«, fragte Rotbart neugierig. »Es gibt da eine sehr alte Geschichte, die in unserem Stamm über Jahre und Jahre hinweg von Generation zu Generation weitergegeben wurde«, erklärte Langbogen. »Sie hat mit einer Krise zu tun, die eines Tages in der Zukunft ausbrechen wird, und damit, auf welche Weise wir dieser Krise begegnen müssen. In diesem Mythos kommen auch Fremde vor - bei denen es sich vermutlich um Sorgan und Narasan handelt - und einige Elementargewalten wie Feuer, Wasser, Wind ... solche Dinge eben. 44 Im Laufe der Jahre ist die Geschichte möglicherweise ein wenig durcheinander geraten, aber im Grunde kommt sie dem recht nahe, was wir bisher erlebt haben.« »Gibt es vielleicht Hinweise darauf, auf was wir oben im Norden oder im Osten besonders achten sollten?« »Leider keine Einzelheiten«, meinte Langbogen. »Visionen der einen oder der anderen Art werden im Laufe der Zeit immer verwässert.« »Glaubst du, die Ausländer werden unsere Hilfe überhaupt brauchen, wenn die Wesen des Ödlandes die Domäne von Zelanas älterem Bruder angreifen, mein Junge?«, fragte Alter Bär. »Wahrscheinlich nicht, mein Häuptling«, antwortete Langbogen. »Die Tonthakaner sind ziemlich gute Bogenschützen, und wenn die Schmiede der Maags bronzene Pfeilspitzen für sie herstellen, sollten sie ohne nennenswerte Schwierigkeiten allein bewältigen können, was zu erledigen ist. Falls es notwendig wird, kann ich dir immer noch eine Nachricht schicken.« Er hielt kurz inne. »Wie geht es Einer-Der-Heilt?«, erkundigte er sich. »Nicht allzu gut, mein Junge«, antwortete Alter Bär. »Mir will es scheinen, das Alter ist eine der Krankheiten, die er nicht zu heilen vermag.« »Zu schade«, sagte Langbogen. »Er ist - oder war - ein so guter Lehrer.« Er blickte Rotbart an. »Ich bin in einer Weile zurück, und dann können wir zurück zur Möwe und unseren Freunden paddeln.« Daraufhin verließ er die Hütte von Häuptling Alter Bär. »Wohin geht er?«, wollte Rotbart von Langbogens Häuptling wissen. »Vermutlich besucht er Trübes Wasser«, erwiderte Alter Bär. »Oh«, sagte Rotbart. »Ich glaube, er hat sie weder mir noch sonst jemandem gegenüber jemals erwähnt, doch einige Männer aus eurem Stamm haben gelegentlich über sie gesprochen. Diejenigen, die ihre Geschichte nicht kennen, können Langbogens 45 Wesen nicht verstehen, und diesen Menschen macht er Angst. Allerdings macht er auch mir manchmal Angst.« »Er war nicht immer so, wie er heute ist, Rotbart«, erklärte Alter Bär. »Irgendwann jedoch wird die Zeit kommen, davon bin ich überzeugt, wenn er seinen Bogen spannt und auf das Vlagh zielt.« »Ich hoffe, sein Pfeil wird das Ziel nicht verfehlen, wenn der Tag gekommen ist.« »Darüber würde ich mir keine Sorgen machen, Rotbart«, sagte Alter Bär. »Langbogen verfehlt sein Ziel nie, wenn er den Bogen spannt.« »Das ist mir auch schon aufgefallen.« »Sicherlich. Jedem, dem er begegnet, fällt das auf.«
Castano 4 Das Weideland von Ekials Clan, den Malavi, lag nahe der Nordküste, und damit hatte der Clan einen gewissen Vorteil gegenüber anderen Clans, die weiter im Süden lebten. Die Viehhändler aus dem trogitischen Weltreich trieben Handel mit den Küstenstädten, die von riesigen Pferchen umgeben waren und außerdem über Anleger zum Verladen verfügten, welche weit ins Meer reichten. Das war sehr günstig für die nördlichen Clans, da sie das Vieh nicht so weit treiben mussten, sobald die Zeit gekommen war, die Kühe zu verkaufen. Das Dorf des Clans war ein hübscher Ort am südlichen Rand des Malavi-Gebietes, wo ein murmelnder Bach plätschernd aus den Hügeln herunterkam. Die Weiden in der Umgebung des Dorfes waren üppig und grün, und das Vieh hatte wenig Grund davonzuwandern. Die Zelte des Dorfes waren natürlich aus Leder gefertigt, und auch das hatte einen gewissen Vorteil. Die trogitischen Viehhändler in den Küstenstädten lebten in Häusern aus Holz, und wenn diese Häuser einmal gebaut waren, blieben sie an der jeweiligen Stelle stehen. Mit Lederzelten hingegen konnte man ohne große Schwierigkeiten umziehen, falls es sich als notwendig erwies. Bei den Malavi war es nicht ungewöhnlich, dass ein stolzer Vater verkündete, sein Sohn sei schon geritten, ehe er laufen konn47 te. Dabei handelte es sich zwar vermutlich um eine Übertreibung, aber Ekial konnte sich nicht an einen Tag seiner Kindheit erinnern, an dem er nicht den größten Teil seiner Zeit im Sattel verbracht hatte. Es gab mehrere andere Jungen im Dorf, die im gleichen Alter wie Ekial waren, und natürlich verbrachten sie ihre Zeit mit Pferderennen. Die Tiere, die ihre Väter den Jungen schenkten, wenn sie noch klein waren, gehörten zu den alten und müden, und deshalb waren die Rennen nicht sehr schnell, trotzdem hatten Ekial und seine Freunde viel Spaß dabei. Ariga war vielleicht ein Jahr jünger als Ekial, Baltha und Skarn hingegen ein wenig älter, trotzdem kamen sie sehr gut miteinander aus. Ekial war nicht ganz sicher, warum sich die anderen drei beim Spiel immer nach ihm richteten. Er war keineswegs der Größte, und das Pferd, das sein Vater ihm geschenkt hatte, lief nicht sonderlich schnell, doch aus irgendeinem Grund schienen sie von ihm immer die wichtigen Entscheidungen zu erwarten - »Machen wir ein Rennen!«, »Scheuchen wir die Pferde, bis sie außer Atem sind!« oder: »Ist nicht langsam Mittagszeit?« Im Laufe der Jahre lernten die Jungen vieles dadurch, dass sie den Gesprächen der Älteren lauschten, die nach Sonnenuntergang um das Feuer herumsaßen. Die bekannteste Legende im Weideland erzählte davon, wie der Gott Mala den Malavi vor langer, langer Zeit die Pferde geschenkt hatte. Diese Geschichte war sehr unterhaltsam und wurde nach dem Abendessen immer wieder am Feuer erzählt, doch Ekial und seine Freunde waren ziemlich sicher, dass sie nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Ein ungezähmtes Pferd konnte man schließlich kaum als Geschenk bezeichnen. Ekial machte die entsprechende Erfahrung, als er zwölf Jahre alt war. Der Tradition zufolge musste jeder Mann sein Pferd selbst zähmen, um als richtiger Malavi anerkannt zu werden. Das wilde Pferd, das ihm sein Vater an seinem zwölften Geburtstag 48 schenkte, war »feurig«, ein Begriff, mit dem die Malavi das wahre Wesen wilder Pferde umschrieben. Im Stillen glaubte Ekial jedoch, »tückisch«, »bösartig« und »gemein« wären der Wahrheit viel näher gekommen. Ganz selbstverständlich spielte es dabei, wie er zu dieser Einsicht gelangte, eine Rolle, dass er sich den Arm brach, als er die Bestie zum ersten Mal bestieg. Nachdem sein Arm ausgeheilt war, näherte sich Ekial seinem »Geschenk« mit einem gewissen Respekt. Er hatte einigen Erfolg damit, wenn er das Ohr des Pferdes packte und verdrehte - sehr kräftig -, doch dann tauchte das Problem des Beißens auf. Ekial lernte, seinem Pferd niemals den Rücken zuzuwenden, und er gewöhnte sich an, einen dicken Riemen bei sich zu tragen. Hatte er dem Pferd mit diesem Riemen ein paar Mal aufs Maul gehauen, entschied die Bestie für gewöhnlich, dass es keine so gute Idee war, ihren Besitzer zu beißen. Im Laufe der Zeit lernten sich Ekial und Bestie besser kennen, und zwischen ihnen entstand eine Art Frieden mit beiderseitigem Misstrauen. Ekial kehrte Bestie weiterhin nicht den Rücken zu, ansonsten kamen sie jedoch recht gut miteinander aus. Ekial entwickelte sogar einen gewissen Stolz, als sich zeigte, dass Bestie jedem anderen Pferd im Clan davonrennen konnte. Im Weideland fanden häufig Rennen statt, und für gewöhnlich wurde dabei auf den Sieger gewettet. Ekial war zwar zu dieser Zeit noch ein Junge, und Bestie blieb all seinen Bemühungen zum Trotz halb wild. Die Männer des Clans sprachen abschätzig von »dem kleinen Jungen mit dem kaum gezähmten Pferd«, und sie täuschten Widerwillen vor, wenn sie größere Geldbeträge auf ihn setzten. Stets ging es dabei auch um etwas, das die Malavi »Quoten« nannten. Zwei gegen eins war in den Pferderennen der Malavi ziemlich verbreitet, doch die Männer von Ekials Clan verlangten für gewöhnlich vier zu eins für Ekial und sein Pferd, und die Männer anderer Clans ließen sich darauf ein. 49 In diesem ersten Sommer gewannen die Männer von Ekials Clan eine Menge Geld, aber dann machte die Geschichte die Runde, Ekial und Bestie könnten vermutlich sogar dem eigenen Schatten davonlaufen, und die Quoten veränderten sich beträchtlich. Die Männer etlicher anderer Clans verlangten nun zehn zu eins. Aber da
Ekial und Bestie niemals in einem Rennen unterlegen waren, gewannen die Männer seines Clans weiterhin Geld. Im dritten Sommer jedoch wollte niemand aus den anderen Clans mehr Wetten akzeptieren, gleichgültig, zu welchen Quoten, und Ekial und Bestie hörten auf, an den Rennen teilzunehmen - und zwar ungeschlagen. Trotz der Tatsache, dass die Clans des Weidelandes der Malavi Pferderennen höchst unterhaltsam fanden, ging es in ihrem Hauptgeschäft um die Aufzucht und den Verkauf von Rindern. Wie man überall in diesem Teil der Welt wusste, wuchs auf den üppigen Weiden der Malavi das beste Rindfleisch heran, das man weit und breit finden konnte. Gelegentlich hatte es Versuche der Trogiten gegeben, die Malavi ihrem wachsenden Imperium einzuverleiben, doch hatten sich diese Bemühungen für die Männer, die sich als »Zivilisierte« bezeichneten, nicht ausgezahlt. Da die Trogiten keine Pferde hatten, konnten sie sich nicht so schnell wie die Männer der Malavi bewegen, und ihre gelegentlichen Einfälle ins Weideland endeten stets in einem Desaster. Der letzte dieser Einfälle hatte sich ereignet, als Ekial und seine Freunde noch Jungen gewesen waren, und die Clans hatten auf brillante Weise reagiert. Anstatt die Eindringlinge zu bekämpfen, hatten sie die trogitischen Viehhändler an der Nordküste benachrichtigt, dass die niemandem auch nur eine einzige Kuh verkaufen würden, solange sich die Soldaten nicht von ihrem Land zurückgezogen hätten. Da alle Trogiten Gold wie einen Gott verehrten, konnten die 50 Viehhändler das Palvanum, die herrschende Körperschaft des Imperiums, überzeugen, die Armeen aus dem Weideland abzuziehen. Nach diesem Vorfall begriffen die Malavi, dass sie den Viehmarkt beherrschten und dass sie nicht den erstbesten Preis für ihre Kühe akzeptieren mussten, der ihnen von skrupellosen Viehkäufern angeboten wurde. Und so versammelten sich die Clanhäuptlinge des Weidelandes im Frühjahr und entschieden, welchen Preis sie verlangen würden, sobald die trogitischen Händler ins Land der Malavi kamen. Die Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit auf den Gesichtern der Viehkäufer verwandelte sich in pures Entsetzen, als die Clans die Angebote der Trogiten zurückwiesen und einen viel höheren Preis verlangten. Und mit dem knappen Satz »Das ist der Preis, nehmt ihn an oder nicht« unterbanden sie jegliche Feilscherei. Gerüchten zufolge ging der Preis für Rindfleisch in jenem Jahr im Imperium erheblich in die Höhe, und in den heiligen Hallen des Palvanums wurde manche Hetzrede gegen die Malavi geführt. Einige trogitische Abenteurer sahen darin eine hervorragende Gelegenheit, viel Geld zu verdienen, indem sie eine »Rindfleischkrise« herbeiredeten. Bei den Malavi gab es Millionen von Kühen, und offensichtlich hütete sie niemand. Der Viehhandel könnte also riesigen Gewinn abwerfen, wenn man die Kühe nicht bezahlen müsste, dachte sich so manch einer. Allerdings gab es eine Reihe kleinerer Probleme. Die trogitischen Abenteurer übersahen leider die Tatsache, dass Kühe Hörner haben und dass die Malavi - gleichgültig, wie es vielleicht ansonsten wirken mochte -, stets bewaffnet mit Säbeln und langen, spitzen Lanzen, ihre Herden immer bewachten. So folgte eine Anzahl unangenehmer Zwischenfälle, und der Gedanke an »Kühe ohne Bezahlung« wurde rasch fallen gelassen. Ekials Clan erhob einen übellaunigen alten Bullen, der fünf 51 trogitische Viehdiebe kurz nacheinander auf die Hörner genommen hatte, zum »Beschützer der Herde« und fütterte ihn besser, als es eigentlich für ihn gut war. Nicht lange nach seiner Beförderung starb er - entweder aufgrund seines Alters oder weil er sich überfressen hatte. Der Clan sorgte daraufhin für eine angemessene Beerdigung. Ekial und die übrigen jungen Männer fanden die Geschichte des »einheitlichen Preises« sehr amüsant, aber sie hatten andere, ernste Probleme. Das Hüten von Rindern mochte recht leicht erscheinen, doch die jungen Männer des Clans bemerkten bald, wie extrem kompliziert es war. Kühe sind nicht gerade die klügsten und mutigsten Tiere der Welt, und es gehört nicht viel dazu, eine Kuh zu verängstigen. Eine verängstigte Kuh stellt kein großes Problem dar, hundert verängstigte Kühe können jedoch eine Katastrophe auslösen. In der Regel verwendete man zur Lösung dieses Problems das Verfahren »die Herde umlenken«, und das war extrem gefährlich. Ekials Jugendfreund Baltha kam bei einer solchen Gelegenheit ums Leben, als sein Pferd strauchelte und ihn während einer Stampede abwarf. Andere Dinge im Leben der Malavi-Viehhüter hatten sehr wenig mit Kühen zu tun. Häufig kam es zu Misshelligkeiten über den Besitz von Bächen und Seen, und nicht selten gab es Zank darüber, wem eine verirrte Kuh gehörte. Diese Streitigkeiten wurden oft mit Säbeln oder Lanzen beigelegt. Während Ekial, Ariga und Skarn heranwuchsen, zeigten ihnen die älteren Männer des Clans, wie man den Säbel benutzte. »Hauen, nicht stechen« war die wichtigste Regel, die den Säbelkampf betraf. Wie es ein alter Mann mit Narbengesicht ausdrückte: »Sollte sich dein Säbel in den Eingeweiden deines Gegners verfangen, kann dir die Waffe leicht aus der Hand gerissen werden, wenn du mit dem Pferd weiterreitest, und das ist eine hervorragende Art, als Toter zu enden.« 52 Die Lanze der Malavi hingegen war zum Stechen gemacht. Sie war ungefähr zwanzig Fuß lang, und der ursprüngliche Zweck hatte darin bestanden, fliehende Kühe zum Einlenken zu bringen. In jenen Tagen hatte die Lanze ein stumpfes Ende gehabt, und so konnte man die Kühe damit buchstäblich in eine andere Richtung schubsen. Die Metallspitze war eine verhältnismäßig neue Entwicklung, die während der trogitischen Invasion
entstanden war, und hatte wiederum zur Vergrößerung des trogitischen Schildes geführt. Die Welt der Waffen schien sich in stetem Wandel zu befinden. Während die Jahreszeiten eine nach der anderen ins Land gingen, gründete sich Ekials Ruf mehr und mehr auf seine Gewandtheit als Hirte und Krieger und weniger auf seine gewonnenen Rennen, wie in den frühen Jahren. Die älteren Männer erkannten seine wachsende Reife an. Und dann, nicht lange vor seinem achtundzwanzigsten Geburtstag, erwuchsen Streitigkeiten mit einem benachbarten Clan, der sich entschieden hatte, einen kleinen Bach aufzustauen. Es war keine Frage, dass der Bach seine Quelle auf dem Territorium des anderen Clans hatte, doch war es stets als kriegerischer Akt angesehen worden, wenn ein Stamm einen Wasserlauf mit Damm versah. Ekial reagierte darauf ziemlich ungewöhnlich. Anstatt bei Tageslicht auf dem Rücken von Pferden anzugreifen, warteten Ekial, Ariga und Skarn bis zum Einbruch der Nacht und folgten dem ausgetrockneten Bachbett zu Fuß ins Territorium des anderen Clans. »Das ist so unnatürlich«, murmelte Ekials Freund Ariga, während sie über trockene Felsen und durch dichtes Gebüsch schlichen. »Hör auf zu jammern, Ariga«, entgegnete Skarn. »Eine der Hauptregeln im Krieg lautet: Überrasche deinen Feind stets. Das, was wir tun werden, ist das Letzte, was diese Wasserdiebe 53 erwarten. Wir greifen sie nicht zu Pferd bei hellem Tageslicht an. Wir attackieren ihren Damm des Nachts und außerdem zu Fuß.« »Der Mond geht auf«, flüsterte Ekial. »Wir sollten uns lieber im Schatten halten, bis wir unser Ziel erreicht haben. Der feindliche Clan hat möglicherweise an der Grenze Wachen aufgestellt.« Der bleiche Mond stieg über das Weideland, und es erschien Ekial, dass er die gesamte Farbe aus dem Land sog. Alles sah anders aus. Die Büsche entlang dem ausgetrockneten Bach waren nicht grün, wie es hätte sein sollen, sondern eher schwarz und wirkten beinahe bedrohlich. Ekial gefielen die Büsche nicht besonders. Andauernd standen sie im Weg, und auch die Pferde machten sie nervös - vermutlich, weil sie nicht wie Gras rochen. In ihrer gegenwärtigen Lage jedoch waren die Büsche ziemlich nützlich, da sie ihre Schatten auf das Bachbett warfen, und auf diese Weise verbargen sie ihn und seine Freunde vor dem Dammbauerclan. Der bleiche Mond stieg am sternenübersäten Himmel höher und höher, und er stand schon fast direkt über ihnen, als Ekial und seine Freunde den Damm erreichten. »Vielleicht hätten wir ein bisschen eher aufbrechen sollen«, flüsterte Skarn. »Wir werden eine Weile brauchen, bis wir das Ding eingerissen haben.« Ekial betrachtete den Damm im hellen Mondschein. »Nicht ganz so lange, wie du denkst, Skarn«, widersprach er. Er stieß mit dem Fuß gegen einen recht großen Felsen in der Mitte des Bauwerks. »Dies ist der eigentliche Damm. Der Rest ist nur Kies, der um ihn herum aufgeschüttet wurde, damit das Wasser nicht weiterläuft.« Er blickte seine Freunde an. »Kann einer von euch schwimmen?« Ariga lachte. »Wo bist du all die Jahre gewesen, Ekial? Wir reiten Pferde, keine Fische.« »Wenn wir diesen Felsen hier wegziehen, wird sich das Wasser 54 hinter dem Damm augenblicklich in den Bach ergießen«, erklärte Ekial. »Ich denke, wir sollten lieber ein wenig vorsichtig sein.« Ariga zuckte mit den Schultern. »Wir brauchen doch bloß lange Stangen zu nehmen, Ekial, und mit langen Stangen haben wir auch einen besseren Hebel.« Er unterdrückte ein Lachen. »Was ist so lustig?«, wollte Skarn wissen. »Die Dammbauer werden sich schwarz ärgern, wenn sie sehen, was wir gemacht haben«, kicherte Ariga. »Sie waren diejenigen, welche die Regeln gebrochen haben«, antwortete Ekial. »Wir stellen schließlich nur den alten Zustand wieder her.« »Das weißt du, und ich weiß es auch, aber ich glaube, sie werden die Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Sie müssen wochenlang an diesem Ding gebaut haben, aber morgen früh wird es nicht mehr da sein.« »Du weißt doch, dass wir damit vermutlich einen Krieg vom Zaun brechen, Ekial?«, fragte Skarn. Ekial zuckte mit den Schultern. »Wir haben schon seit einiger Zeit keinen guten Krieg mehr gehabt, Skarn. Die Pferde werden faul, und ein netter kleiner Krieg sollte sie wieder in Schwung bringen.« »Das ist auch wieder richtig«, stimmte Skarn zu, »und da wir dies zum Wohle der Pferde tun, sollte eigentlich niemand etwas dagegen haben, oder?« »Natürlich nicht«, meinte Ekial scheinheilig. »Die Sorge um die Pferde ist eine unserer wichtigsten Pflichten. Versuchen wir doch mal, ob wir den großen Felsen lösen können. Ich bin sicher, wenn wir ihn zur Seite schieben, bricht der ganze Damm zusammen, und unser kleiner Bach wird wieder dort fließen, wo er hingehört.« Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie den Felsen in der Mitte herausgestemmt hatten - und dann schwappte das Wasser plötzlich über den Damm. Ekial und seine Freunde wurden sehr nass, 55 während sie aus dem Bachbett kletterten, und ehrfürchtig schauten sie zu, wie eine riesige Flutwelle hinunter in das Land ihres Clans rauschte. »Ich hoffe, die Kühe haben sich nicht zu dicht am Bach zum Schlafen gelegt«, meinte Ariga.
»Das wäre eine Möglichkeit, den trogitischen Viehkäufern eine Herde sehr schnell zur Küste zu bringen«, meinte Skarn nachdenklich. »Ich glaube, für ertrunkene Kühe bekommst du keinen guten Preis, Skarn«, hielt Ariga dagegen. »Ich würde sagen, dass wir erledigt haben, weshalb wir hergekommen sind«, meinte Ekial. »Warum gehen wir nicht nach Hause und legen uns noch ein bisschen schlafen?« »Großartige Idee!«, stimmte Ariga ihm zu. »Ich denke, wir sollten besser schnell von hier verschwinden. Falls die Dammbauer Wachen aufgestellt haben, wird diese Wasserwand, die den Berg hinunterrauscht, vermutlich bald ihre Aufmerksamkeit erregen. Ich möchte nicht extra sagen, was sowieso offensichtlich ist, aber wir sind nur zu dritt, und wir sind zu Fuß.« »Gehen wir also?«, fragte Ekial. Der benachbarte Clan griff am Vormittag des nächsten Tages zum ersten Mal an, aber Ekial und seine Freunde schlugen die feindlichen Krieger ohne große Schwierigkeiten zurück, da sie diese Reaktion ja mehr oder weniger erwartet hatten. Alles in allem wurde es ein netter kleiner Krieg. Das Land von Ekials Clan lag im Norden des feindlichen Gebietes, und sie konnten die gewohnte Route des gegnerischen Stammes zur Nordküste unterbrechen, wo die trogitischen Viehkäufer darauf warteten, Kühe zu kaufen. Der gegnerische Clan verdiente in diesem Jahr nicht besonders viel Geld, aber aus Sicht der nördlichen Clans stellte sich die Sache als Vorteil heraus. Da es in diesem Sommer nicht so viele Kühe gab, ging der Preis in die Höhe. 56 Während eines Gefechts am Südrand des Clanlandes erhielt Ekial seine erste Säbelnarbe. Es war eine recht hübsche Narbe auf der linken Wange, die sich vom Ohr bis zur Kinnspitze zog. Ekial war durchaus stolz darauf, und er bewahrte eines der Ohren des Gegners, der ihm den Schnitt verpasst hatte, als Erinnerung auf. Der Clankrieg dauerte ungefähr zwei Jahre, und dann setzten sich die weiseren Köpfe im feindlichen Clan durch. Dessen Viehherden waren während des Krieges weiter angewachsen, doch da man keinen Zugang mehr zu den trogitischen Viehkäufern hatte, war das Weideland fast bis zu den Wurzeln abgegrast. Die Verhandlungen dauerten einige Zeit an, weil die Ältesten aus Ekials Clan dem Feind ziemlich harte Bedingungen auferlegen wollten. Man sollte fünfhundert Kühe für jeden während des Krieges gefallenen Mann bezahlen, und hundert Kühe für jede Verwundung. Das rief lautes Geschrei hervor, aber nicht so viel wie die Forderung, dass die Grenze zwischen den Stämmen neu gezogen werden sollte, damit die Quelle des Baches jetzt und für alle Zeiten auf dem Gebiet von Ekials Clan liegen würde. Die Alternative »dann eben wieder Krieg« ließ das Geschrei zu einem leisen Jammern abebben, und damit war die Sache erledigt. Ekial fand, es war alles in allem ein durchaus interessanter Krieg gewesen, aber nun war es an der Zeit, wieder zum Frieden zurückzukehren. Kriege waren recht nett, aber sie hatten halt die Tendenz, wichtigere Angelegenheiten zu behindern. Die Jahre verstrichen, und Bestie wurde merklich langsamer. Ekial entschied, es sei möglicherweise an der Zeit, ein neues Pferd zu zähmen und Bestie auf die Weide zu schicken. Ekial brauchte mehrere Wochen, bis er sein neues Pferd ausgewählt hatte, und schließlich entdeckte er einen Hengst - einen Fuchs mit einer Blesse auf der Stirn. Der Besitzer hatte das junge Pferd »Heller Stern« genannt, vermutlich wegen der Blesse. 57 Heller Stern war nicht so aggressiv wie Bestie, aber er lief fast genauso schnell, und er verfügte offensichtlich über große Ausdauer. Im Land der Malavi war das von großer Wichtigkeit. Eki-al brauchte nicht annähernd so lange, um Heller Stern zu brechen, wie es bei Bestie gedauert hatte, und die beiden kamen recht gut miteinander aus. Heller Stern war verspielter, aber er war auch jünger, als Bestie zu dem Zeitpunkt gewesen war, als Ekial mit seiner Ausbildung begonnen hatte. In den folgenden Jahren gab es weitere Clankriege, und Ekial sammelte neue Säbelnarben - und auch Ohren -, während die Zeit ins Land ging. Die Bewunderung von Seiten des Clans für ihn schien mit jeder Narbe - und jedem Ohr - zu wachsen, und als er Mitte dreißig war, hielt man ihn allgemein für den besten Pferdekrieger im Land der Malavi. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es dieser gute Ruf, der einen Fremden namens Dahlaine dazu brachte, ihn in einer der Enklaven der Nordküste aufzusuchen, wo die trogitischen Viehkäufer ihre Geschäfte abwickelten. Dahlaine war ein älterer Mann mit kräftigen Schultern und einem eisengrauen Bart. »Mir wurde gesagt, du seiest der beste Reiter im ganzen Land der Malavi«, meinte er. »Das stimmt wahrscheinlich«, erwiderte Ekial, »aber ich mache keine Pferderennen mehr.« »Nun, mir geht es eigentlich nicht um Pferderennen, Ekial. Im Lande Dhrall findet ein Krieg statt, und ich brauche Soldaten. Hast du schon an vielen Kriegen teilgenommen?« »Gelegentlich, ja. In letzter Zeit gab es nicht so viele. Anscheinend hat sich herumgesprochen, dass es keine gute Idee ist, sich auf einen Krieg einzulassen, bei dem ich auf der anderen Seite stehe.« »Bist du wirklich so gut?« »Ich bin der Beste. Natürlich haben meine Pferde vermutlich ihren Anteil daran gehabt. Heller Stern ist fast so gut wie mein
58 früheres Pferd Bestie, aber er ist immer noch besser als die anderen Pferde im Land der Malavi.« »Ist >Bestie< nicht ein eigenartiger Name für ein Haustier?« »Ich habe Bestie nie als Haustier betrachtet. Als ich das erste Mal auf ihm reiten wollte, hat er mich abgeworfen, und ich habe mir den Arm gebrochen. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn überredet hatte, sich anständig zu benehmen. Und er war das schnellste Pferd im Land der Malavi, daher haben wir jedes Rennen gewonnen.« »Welche Waffen verwenden die Malavi?« »Säbel und Lanzen. Wir hauen mit den Säbeln und stechen mit den Lanzen.« »Du hast einige Narben im Gesicht. Das deutet doch darauf hin, dass du Kämpfe verloren hast, oder?« Ekial schüttelte den Kopf. »Ich bin aus diesen Kämpfen lebend hervorgegangen; meine Gegner nicht. So grenzen wir im Land der Malavi Sieg und Niederlage voneinander ab. Ich glaube, ich bin nicht besonders daran interessiert, einen Krieg in einem fremden Land auszutragen, Dahlaine. Krieg macht Spaß, aber wir verdienen unseren Lebensunterhalt, indem wir unsere Kühe an die Trogiten verkaufen - für Gold.« »Ich denke, dann werden wir uns gut verstehen, Ekial«, sagte Dahlaine und lächelte schwach. »Du magst Gold, und ich zahle mit Gold.« Er langte unter sein Gewand aus Fell und holte einen hellen gelben Block hervor. »Hübsch, nicht wahr?«, fragte er mit verschlagenem Grinsen, als er den Block Ekial reichte. Ekial bemerkte, wie heftig seine Hand zitterte, als er das Gold entgegennahm. »Warum suchen wir uns nicht ein ruhigeres Plätzchen und unterhalten uns ein wenig?«, schlug er vor. 59 5 Sie gingen ein Stück bis zu einer Weide, auf der weit und breit niemand zu sehen war, und blieben dort stehen. »Ich habe gehört, manche Männer deines Clans nennen dich >Prinz Ekial<«, sagte Dahlaine. »Demnach bist du der Herrscher hier, oder?« »Nun, ich nehme an, so etwas Ähnliches«, antwortete Ekial. »Eigentlich haben wir diesen Begriff vor einer Weile von den Trogiten gelernt. Er beeindruckt die trogitischen Viehkäufer, also nutzen wir das aus, um den Preis zu erlangen, den wir herausholen wollen, wenn wir ihnen Kühe verkaufen. Im Grunde genommen hat der Clan keinen >Herrscher<, wie man ihn bei anderen Völkern kennt. Wir besprechen alles gemeinsam, ehe wir eine Entscheidung fällen. Das Clanoberhaupt ist älter als die Männer und Jungen, welche die Arbeit erledigen, und für gewöhnlich befolgen wir seine Ratschläge, aber wir sind in dieser Hinsicht nicht so starrsinnig wie zum Beispiel die Trogiten. Sprechen wir doch über diesen Krieg, der in deinem Teil der Welt stattfindet, und darüber, wie viel Gold du uns zu zahlen bereit bist, damit wir gegen deine Feinde kämpfen.« »Wie viele Reiter könnte dein Clan uns denn schicken?« Ekial schaute blinzelnd hinaus aufs offene Grasland. »Ich würde sagen, ungefähr zehntausend oder so. Wir können nicht alle Männer mitnehmen, wie du verstehen wirst. Zumindest die Hälfte des Clans muss bleiben und sich um das Vieh kümmern.« Ekial wog den Goldblock in der Hand. »Ich bin sicher, damit könnte ich auch das Interesse der anderen Clans wecken, wenn ich es ihnen zeige«, fügte er hinzu. »Darüber können wir uns später unterhalten«, sagte Dahlaine. »In der Domäne meines Bruders findet im Augenblick bereits ein Krieg statt, und ich denke, es wäre keine schlechte Idee, 60 wenn ich dich als Beobachter mit dorthin nehme. Dann kannst du unseren Feind beobachten und dir Taktiken überlegen, mit denen wir ihn zurückdrängen können.« »Das wäre in der Tat keine schlechte Idee«, stimmte Ekial zu. »Also, wie werden wir hinkommen?« »Überlass das mir, Prinz Ekial«, erwiderte Dahlaine und lächelte schwach. Es kam Ekial vor, als wäre er plötzlich aus irgendeinem Grund eingedöst, während er sich noch mit Dahlaine unterhielt, und er wachte abrupt vor einem eigenartig aussehenden Gebäude auf, das offensichtlich nicht im Weideland stand. Genauso offensichtlich war, dass es Nacht geworden war. »Was geht hier vor sich, Dahlaine?«, fragte er misstrauisch. »Kein Grund zur Aufregung, Ekial«, beschwichtigte ihn dieser. »Wir haben nur eine kleine Reise gemacht, mehr nicht. Jetzt befinden wir uns im südlichen Teil des Landes Dhrall, und unser Feind wird in Kürze seinen Angriff beginnen. Dieses Gebäude gehört meinem jüngeren Bruder Veltan, und in dem Haus sind Leute, die du kennen lernen musst.« »Was meinst du genau mit >eine Reise<, Dahlaine? Ich werde nirgendwohin gehen, ehe du mir nicht sagst, was passiert ist.« Dahlaine seufzte. »Wir sind in sehr kurzer Zeit von einem Ort zu einem anderen gelangt. Ich habe zufällig ein Reittier, das sogar schneller ist als Bestie. Zwar ist es ein bisschen laut, aber es bringt mich fast augenblicklich überall dorthin, wo ich möchte.« »Ich würde es nicht gerade >augenblicklich< nennen, Dahlaine«, beharrte Ekial. »Es war Morgen, als wir uns im Land der Malavi unterhalten haben, und hier herrscht jetzt Nacht.« »Das liegt daran, dass wir nach Osten gereist sind. Wir befinden uns nun ein gutes Stück östlich von deiner Heimat.« »Ein paar hundert Meilen vielleicht?« »Nein, ein bisschen weiter schon. Darüber können wir uns
61 später unterhalten, Ekial. Wie du schon festgestellt hast, ist hier Nacht, also brauchst du einen Platz zum Schlafen - und vermutlich auch etwas zu essen. Gehen wir hinein und erledigen das. Morgen wirst du die Leute treffen, die du kennen lernen solltest. Sie sind in diesem Krieg auf unserer Seite, sind also unsere Freunde.« Ekial zuckte mit den Schultern. »Du bist derjenige, der zahlt«, sagte er, »daher machen wir es so, wie du es willst - für den Moment jedenfalls.« Sie betraten das Steinhaus und gingen einen langen, von Fackeln erhellten Gang entlang, der vollkommen verlassen erschien. »Wie spät ist es denn, Dahlaine?«, erkundigte sich Ekial leise. »Ungefähr Mitternacht, würde ich sagen. Warum?« »Wir sind viel weiter östlich vom Weideland, als ich dachte.« »Mach dir deshalb keine Sorgen. Wir gehen in der Küche vorbei, damit du etwas zu essen bekommst.« »Ich brauche eigentlich nichts«, erwiderte Ekial. »Ich habe erst vor einer Stunde gefrühstückt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich denke, es wird eine Weile dauern, bis ich mich an diesen Ort gewöhnt habe.« Dann kam ihnen auf dem Gang aus der anderen Richtung ein junger Kerl entgegen. Offensichtlich war es ein Trogit, doch die schwarze Lederkleidung, die er trug, war fast eine genaue Kopie der Kleidung, wie sie die Malavi-Reiter trugen, und das gefiel Ekial eigentlich gar nicht. »Wie geht es denn, Keselo?«, fragte Dahlaine den jungen Mann. »Sie werden immer besser, Herr Dahlaine. Kommandant Narasan hat Jalkans Offizierspatent zurückgenommen und ihn gestern in Ketten legen lassen, und nachdem wir Jalkan nun los sind, sieht die Welt viel freundlicher aus.« Mit einer gewissen Neugier schaute er Ekial an. 6z »Das ist Prinz Ekial von den Malavi, Keselo«, erklärte Dahlaine. »Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er uns mit seinen Truppen unterstützen, und ich habe ihn mitgebracht, damit er den Krieg in der Domäne meines Bruders beobachten kann.« »Ein Pferdesoldat?«, fragte Keselo. Dann verneigte er sich. »Ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen, Prinz Ekial.« »Soll ich etwa mit dem sprechen?«, erkundigte sich Ekial bei Dahlaine. »Es würde nicht schaden, Ekial«, antwortete Dahlaine. »Ich bin ziemlich sicher, über kurz oder lang werdet ihr beiden zusammenarbeiten.« »Nicht alle Trogiten sind so korrupt wie die Viehkäufer, die dir sicherlich in der Vergangenheit über den Weg gelaufen sind, Prinz Ekial«, sagte der junge Mann. Er zögerte ein wenig. »Eine Frage, aus reiner Neugier: Welchen Preis werden die Malavi in diesem Jahr für eine Kuh verlangen?« »Wir haben noch nicht endgültig entschieden. Ich könnte mir vorstellen, er wird ebenso hoch sein wie im letzten Jahr.« »Das habe ich mir fast gedacht. Wenn du nach Hause zurückkehrst, solltest du deinen Freunden sagen, sie könnten durchaus vier- oder fünfmal so viel herausholen, wie die Viehkäufer euch bisher gezahlt haben. Die Viehkäufer haben dein Volk seit Generationen betrogen. Wenn sie eine der Kühe verkaufen, die sie von euch erstanden haben, verlangen sie das Zehnfache des Preises, den sie euch gezahlt haben. Ich war schon oft auf dem Viehmarkt, Prinz Ekial, deshalb weiß ich, wovon ich spreche. Die Viehkäufer werden ein großes Geschrei veranstalten und wild mit den Armen fuchteln, doch am Ende werden sie zahlen, was ihr verlangt.« Ekial starrte den jungen Trogiten an, und dann lachte er plötzlich. »Ich glaube, ich habe gerade einen Freund gefunden, Dahlaine«, sagte er. Nun blickte er den jugendlichen Trogiten an. »Darüber können wir uns später unterhalten, Keselo. Aus wel63 chem Grund erzählst du mir das eigentlich? Ich dachte immer, alle Trogiten sind Schwindler.« »Nicht ganz alle, Prinz Ekial. Bald wirst du Kommandant Narasan kennen lernen, und er ist vermutlich der ehrenhafteste Mann der Welt.« Keselo lächelte schwach. »Es gibt schlechte Trogiten, aber auch gute.« »Das Gleiche könnte man über die Malavi sagen«, stimmte Ekial zu. Kurz nach Tagesanbruch am nächsten Morgen kam Dahlaine mit einem sehr gut aussehenden jungen Mann in das Zimmer, in dem Ekial geschlafen hatte. »Das ist mein jüngerer Bruder Veltan, Prinz Ekial«, sagte Dahlaine. »Dieses Haus gehört ihm - und diese Domäne natürlich auch. Ich dachte, es wäre vielleicht das Beste, wenn er dich den Ausländern vorstellt.« »Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen, Prinz Ekial«, sagte Veltan. »Ebenfalls«, antwortete Ekial knapp. Er sah Dahlaine an. »Ist diese Förmlichkeit eigentlich unbedingt notwendig?«, fragte er. »Nun, ich denke schon«, erwiderte Dahlaine. »Wir haben die verschiedensten Leute hier, und Höflichkeit scheint zu verhindern, dass ständig aufs Neue ein Streit ausbricht. In ein paar Minuten wirst du Königin Trenicia von der Insel Akalla kennen lernen. Ich würde dir raten, ein wenig vorsichtig mit ihr umzugehen. Sie ist eine Kriegerin was dir möglicherweise eigenartig vorkommen mag -, aber ich an deiner Stelle würde das lieber für mich behalten. Sie ist eine stolze, schlecht gelaunte Frau, und sie greift sogleich nach dem Schwert, wenn jemand etwas sagt, das ihr nicht passt.«
Ekial lächelte schwach. »Ein Freund von mir - Ariga - reitet eine Stute, und ich schwöre, sie ist das übellaunigste Pferd in ganz Malavi. Weibliche Wesen - ob nun Tiere oder Menschen -neigen häufig dazu, sich eigenartig zu benehmen.« 64 »Ich würde solche Dinge nicht unbedingt in Anwesenheit unserer Schwestern von mir geben, Prinz Ekial«, meinte Veltan und grinste. »Ich werde versuchen, es mir zu merken«, meinte Ekial und wälzte sich aus dem Bett. »Ansonsten habe ich ein bisschen nachgedacht und glaube, ich sollte während dieser kleinen Zusammenkünfte überhaupt nicht viel sagen, weder zu den Einheimischen noch zu den Ausländern. Ich bin hier, um zu lernen, nicht um zu lehren, und deshalb werde ich zuhören und zuschauen.« »Vielleicht wäre dies das Beste, Prinz Ekial.« »Müssen wir denn wirklich ständig auf diesem >Prinz< herumreiten?«, wollte Ekial wissen. »Vermutlich erweist es sich als nützlich«, erwiderte Veltan. »Bei diesen Ausländern sind Ränge anscheinend fürchterlich wichtig, und deshalb sollten die anderen den >Prinzen< ruhig mitbekommen.« Die Besprechungen in Veltans so genanntem »Kartenraum« kamen Ekial ein wenig albern vor. Die Trogiten und die Maags genossen es offensichtlich, sich in alle möglichen heiklen Details zu vertiefen, wenn sie einen Krieg planten, und ständig tauchte der Begriff »Befestigungsanlagen« auf. Augenscheinlich war ihnen nie die Idee gekommen, Entscheidungen zu treffen, während sich der Kampf bereits entwickelte. Gewiss, sie mussten zu Fuß zu ihren Kriegen und wieder zurück marschieren. Durch die Pferde war im Weideland alles viel einfacher, und was vermutlich wichtiger war - die Malavi konnten das Unerwartete, sobald es eintrat, zu ihrem Vorteil nutzen. Ekial hielt sich jedes Mal die Hand vor den Mund, wenn er gähnen musste. »Weitschweifig, nicht wahr?«, fragte ihn Langbogen, ein hoch gewachsener Eingeborener. Ekial grinste. »Ist mir auch schon aufgefallen. Glauben sie 65 wirklich, sie können alles vorausberechnen, was passieren wird, wenn sie auf den Feind stoßen?« »Die Maags zeigen sich in dieser Hinsicht ein wenig flexibler«, meinte Langbogen. »Die Trogiten kämpfen zwar sehr effizient, mögen aber keine Überraschungen.« Ekial war neugierig auf die Eingeborenen des Landes Dhrall gewesen. Ihre Kleidung war, wie die der Malavi, aus Leder gefertigt, aber einem weicheren, geschmeidigeren, das eine goldene Farbe aufwies. »Stimmt eigentlich diese Geschichte mit dem >Gift«, erkundigte sich Ekial bei dem Eingeborenen. »Oh ja«, antwortete Langbogen. »Unser Feind benutzt tatsächlich Gift anstelle von Schwertern, Speeren und Bögen. Dadurch wirken selbst kleinere Wunden - sogar Kratzer - tödlich.« »Da könnten meine Leute ja auf ernsthafte Probleme stoßen«, sinnierte Ekial. »Wenn dieses Gift unsere Pferde tötet, müssten wir ja am Ende lernen, wie man zu Fuß geht. Das würde uns eine Menge Spaß an diesem Krieg nehmen.« »Wann hat dein Volk eigentlich angefangen, Pferde zu zähmen?« »Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, Langbogen - vor hunderten von Jahren, schätze ich. Das Weideland von Malavi ist die natürliche Heimat von Tieren, die Gras fressen. Wir reiten Pferde und essen Kühe - oder verkaufen sie an die Trogiten.« Ekial zögerte. »Kennst du zufällig diesen jungen Trogiten namens Keselo?« »Ziemlich gut sogar«, meinte Langbogen. »Hältst du ihn für ehrlich?« »Ja. Er sagt stets die Wahrheit. Aus welchem Grund fragst du?« »Ich habe ihn gestern Nacht kennen gelernt, und er hat mir gesagt, die trogitischen Viehverkäufer haben mein Volk seit langer Zeit betrogen. Sie schreien und stöhnen, wenn wir ihnen sagen, 66 wie viel sie uns für unsere Kühe zahlen müssen, aber im Trogiten-Land verkaufen sie dann die Kühe für den zehnfachen Preis.« »Das stimmt vermutlich.« »Warum verrät Keselo seine eigenen Leute?« »Aus Ehrlichkeit. Keselo mag keine Betrüger.« Ekial grinste. »Wenn diese Kriege vorüber sind, solltest du deine Ohren spitzen und in Richtung des Landes der Malavi lauschen. Es ist zwar ein gutes Stück von eurem Teil der Welt entfernt, aber vielleicht kannst du das Geschrei hören, wenn wir den Viehkäufern sagen, wie viel sie von nun an für unsere Kühe bezahlen müssen.« »Dieses Geschrei wird ziemlich gut in meinen Ohren klingen, nehme ich an«, sagte Langbogen. »Mir jedenfalls wird es ganz bestimmt gefallen«, meinte auch Ekial, »insbesondere, da es von jenen stammen wird, die glauben, sie könnten mich übers Ohr hauen. Wie lange wird es wohl dauern, bis jemand entscheidet, hinauf in die Berge zu ziehen und sich den echten Boden anzusehen, anstatt diese Nachbildung, die Veltan erschaffen hat?« »Ein paar Tage wohl noch.« »Nun, da sollte ich mich vielleicht mal mit Dahlaine unterhalten«, sagte Ekial. »Ich möchte gern gut mit diesen Leuten auskommen. Dazu muss ich wissen, in welcher Gegend dieser Krieg tatsächlich stattfindet. Mein Volk wird sich nicht besonders behaglich fühlen, falls das Land mit Bäumen bewachsen sein sollte.«
»Da müsstest du am besten mit Veltan reden«, meinte Langbogen, »aber falls stimmt, was uns Dahlaine bisher über seine eigene Domäne erzählt hat, wird er dich und deine Freunde in deren mittlerem Teil einsetzen wollen in dem Land, das Matakan genannt wird. Dort oben gibt es vor allem Grasland.« »Jetzt ergibt das alles endlich einen Sinn«, sagte Ekial. »Als die 67 Leute hier über diesen ersten Krieg sprachen, kam dauernd das Wort >Bäume< vor, und ich wollte Dahlaine schon sagen, dass ich nun nicht im Mindesten an einem Gefecht im Wald interessiert bin. Wenn es in seinem Teil des Landes Dhrall jedoch Grasland gibt, werde ich ihn begleiten -falls wir uns darüber einigen, wie viel er bezahlen will, versteht sich.« 6 Ekial war ein bisschen übel während der Reise nach Norden zur Mündung des Flusses Vash, die sie an Bord von Skells Schiff, der Hai, vornahmen. Die Maags erklärten ihm, diese, wie sie es nannten, »Seekrankheit« sei durchaus nicht ungewöhnlich. Sogar Männer, die den größten Teil ihres Lebens auf See verbracht hatten, litten gelegentlich darunter. Sein Magen beruhigte sich, sobald die Hai in die Mündung eines Flusses hineinsegelte, und er fühlte sich wesentlich besser, nachdem das Schiff aufgehört hatte, auf den Wellen zu tanzen. Es gab einige ausgedehnte Diskussionen darüber, aus wie vielen Männern die Truppe bestehen sollte, die man »die Vorhut« nannte, aber Ekial hatte bereits entschieden; er würde sich nicht daran beteiligen, zwischen den Bäumen hindurchzukriechen und zum Land am oberen Ende der schmalen Schlucht vorzustoßen, welches einer der hiesigen Schafhirten entdeckt hatte. »Das liegt mir gar nicht«, erklärte er Langbogen. »Ich mag Bäume und Büsche nicht besonders gern. Wenn ich nicht mindestens fünf Meilen weit sehen kann, werde ich ziemlich nervös.« »Ich glaube, das kann ich gut verstehen«, sagte Langbogen. »Mir ging es ganz genauso, als keine Bäume in der unmittelbaren Umgebung waren. Ich lasse dich wissen, wie es da oben ist, nachdem ich Gelegenheit hatte, es mir anzuschauen.« 68 Der Voraustrupp brach beim ersten Licht am folgenden Morgen auf, und Ekial schlenderte hinüber zur Lerche, dem Schiff von Skells jüngerem Bruder. »Ich frage mich, ob du mir ein paar Dinge über den Krieg im Frühjahr erzählen könntest«, sagte er zu Tori. »Ich bin dabei ziemlich nervös geworden«, gestand Tori ein. »Bäume sind, finde ich, ganz hübsch, wenn man sie aus einiger Entfernung betrachtet, doch wenn man mitten zwischen ihnen steht, lösen sie Beklemmung bei mir aus.« »Dieses Gefühl kenne ich«, erwiderte Ekial. »Im Weideland gibt es nicht viele Bäume, und ich glaube, wir möchten gar nicht, dass sich das ändert.« Er zögerte. »Wie ich gehört habe, führt ihr Maags schon seit langer Zeit Krieg gegen die Trogiten.« »Ich würde es nicht gerade einen Krieg nennen, Ekial. Wir müssen nicht oft gegen sie kämpfen. Wenn eine trogitische Schiffsmannschaft uns kommen sieht, springt sie für gewöhnlich einfach über Bord. Sie kennen uns gut genug und wissen, wir wollen sie bloß ausrauben. Natürlich würden wir sie notfalls töten, aber uns geht es um ihr Gold, nicht um ihr Leben.« Ekial lachte. »Es scheint, die Zivilisation ist komplizierter, als ich dachte.« »Die Trogs wären vermutlich beleidigt, wenn du uns zivilisiert nennst«, meinte Tori. »Habt ihr viele Kriege bei euch im Land der Malavi?«, fragte er. »Den einen oder den anderen, ja, doch nur hin und wieder -meistens, wenn jemand versucht, die Grenzen zwischen den Clangebieten des Landes anzutasten. Vor einer Weile wollten ein paar Narren mit Ackerbau anfangen, aber das nahm für sie kein gutes Ende, weil die Reiter immer wieder ihre Felder abbrannten. Dann gab es einen Clan südlich von uns, der einen Bach aufgestaut hatte, welcher uns seit Generationen als Wasserquelle diente. Ich habe mir ein paar Freunde genommen, und wir sind im Bachbett hochgewandert und haben ihren Damm eingeris69 sen. Also, wenn ich mir das jetzt recht überlege, war das der längste Fußmarsch meines Lebens. Der Krieg dauerte einige Jahre, doch da unser Land zwischen ihrem Gebiet und der Küste liegt - wo die Viehkäufer ihre Geschäfte tätigen -, konnten sie ihre Kühe nicht mehr loswerden. Schließlich haben sie aufgegeben.« »Musstet ihr schon einmal gegen Trogiten in den Kampf ziehen?« Ekial zuckte mit den Schultern. »Sie sind einmal bei uns eingefallen, aber unsere Clanhäuptlinge sind zur Küste gegangen und haben den Viehkäufern mitgeteilt, wir würden ihnen keine Kühe mehr verkaufen, solange die Soldaten nicht nach Hause zurückgekehrt wären. Das war das Ende des Überfalls. Es scheint, die Viehkäufer haben im Weltreich einiges zu sagen, denn den Armeen wurde sofort der Heimmarsch befohlen.« »Geld ist für die Trogs ganz schön wichtig, glaube ich«, stimmte Tori zu. »Besonders, wenn sie Leute darum betrügen können«, fügte Ekial hinzu. Dann erzählte er Sorgans Vetter davon, wie ihm der junge Keselo geraten hatte, dass die Malavi einen deutlich höheren Preis für ihre Kühe verlangen sollten. »Sobald dieser Krieg vorbei ist, wird es ein hübsches Gejammer und Geheule in den Viehstädten entlang der Küste geben. Wenn der Preis für eine Kuh plötzlich so hoch sein wird, wie er wirklich sein sollte, wird jeder
Viehkäufer in diesen Städten einen Zusammenbruch erleiden und bittere Tränen weinen.« »Die Armen«, heuchelte Tori spöttisch und tat so, als würde er Mitleid empfinden. Dann blinzelte er Ekial zu. »Wie ich es verstanden habe, sind eure Pferde meist wilde Tiere - bis du und dein Volk sie gezähmt habt. Ist es schwierig, ein Pferd zu zähmen?« »Es hängt ganz vom Pferd ab«, antwortete Ekial. »Bei manchen gibt es überhaupt keine Schwierigkeiten, bei anderen ist es 70 eine recht haarige Angelegenheit. Beim Zähmen meines allerersten Pferdes habe ich mir den Arm gebrochen, als ich zum ersten Mal versucht habe, es zu reiten. Der Hengst hat sich mir allerdings nach und nach untergeordnet.« Ekial seufzte. »Letztes Jahr ist der arme alte Bestie gestorben, und ich vermisse ihn doch sehr.« »Nichts währt ewig, Ekial«, meinte Tori, »außer dem Meer, versteht sich.« Der Krieg in dem Talkessel oberhalb der Fälle von Vash gestaltete sich schwieriger, als Ekial erwartet hatte. Die Invasion der Insektenmenschen lief ungefähr so ab, wie Dahlaine es ihm vorausgesagt hatte - nur waren die Käfer größer und dafür nicht so beweglich. Gundas Mauer und Keselos Brustwehren schienen ihren Zweck zu erfüllen, und die Maschinen, die Feuer auf den Feind warfen, machten die Pferdesoldaten überflüssig. Die zweite Invasion hingegen, an der trogitische Soldaten beteiligt waren, eröffnete verschiedene Möglichkeiten. Ekial dachte, diese zweite Invasion lade geradewegs zur Standardtaktik der Malavi, dem »Zuschlagen und Abhauen« ein. Fußsoldaten trabten stets vor sich hin, ohne großartig darauf zu achten, was um sie herum vor sich ging, und sie wären die perfekten Opfer für die Malavi gewesen, wenn sich welche in der Nähe aufgehalten hätten. Ekial runzelte die Stirn und berichtigte sich im Stillen. Falls die rot uniformierten Kirchensoldaten mit Pfeil und Bogen bewaffnet gewesen wären, hätte ein Angriff genauso gut in einer Katastrophe enden können. Ein Hagel dieser Pfeile mit Bronzespitzen hätte bei einer angreifenden Reiterschar Mann und Ross ohne Unterschied getötet, und die angreifende Truppe hätte vielleicht nie ihr Ziel erreicht. Er nahm sich vor, diesen Umstand nicht aus den Augen zu verlieren. Kein Reiter sollte jemals einen Feind attackieren, der mit Pfeil und Bogen ausgerüstet war. Was Ekial jedoch regelrecht erschütterte, war das »Meer aus 71 Gold«, wie Langbogen es nannte. Sogar nachdem der kleine Schmied namens Hase mehr oder weniger bewiesen hatte, dass es sich keineswegs um echtes Gold handelte, konnte Ekial nicht die Augen von der Stelle abwenden, die ihm wie das größte Lager dieses wertvollen Metalls in der ganzen Welt erschien. »Schau einfach nicht mehr hin, Ekial«, riet ihm Keselo. »Sonst könnte dir am Ende der Anblick noch das Hirn aufweichen.« »Aber es ist so schön.« »Ich glaube, das war auch ursprünglich die Idee, die dahinter steckte, doch soll das falsche Gold den Kirchensoldaten den Kopf verdrehen - nicht dir oder mir. Wir wissen, es ist so gut wie wertlos, sie hingegen nicht. Das war die Idee dahinter, glaube ich. Die Kirche von Amar ist gierig, und dieses falsche Gold wird diese Gier bis zum Schmelzpunkt aufheizen. Soweit wir es feststellen konnten, können die Kirchensoldaten - und die Priester - nicht mehr zusammenhängend denken, und das scheint der Grundgedanke gewesen zu sein. Die Kirchenleute werden den Hang hinunterrennen, genau in die Hände - oder was auch immer - der Insektenwesen. Die Männer werden die Käfer töten, und die Käfer werden die Männer töten. Wenn alles vorbei ist, gibt es keine Feinde mehr, weder von der einen noch von der anderen Sorte. Es handelt sich lediglich um eine sehr ausgeklügelte Falle, und in die willst du doch nicht hineintappen.« »Du sprichst sehr weise, Keselo«, räumte Ekial ein. »Vielleicht sollte ich mir zur Abwechslung mal die Berge anschauen.« »Ich an deiner Stelle würde das tun.« Ekial fand das Gerede über die »unbekannte Freundin« ziemlich verwirrend. Von Anfang an hatte es bei diesem Krieg im südlichen Teil des Landes Dhrall so ausgesehen, als ob Dahlaine und seine Familie die Sache mehr oder weniger unter Kontrolle hatten, doch hatte sich da wohl jemand ohne jegliche Vorwarnung 72 eingemischt, und dieser Jemand konnte Dinge tun, zu denen Dahlaine und die anderen bei weitem nicht in der Lage waren. Dahlaines ältere Schwester betrachtete dies offensichtlich als so etwas Ähnliches wie eine persönliche Beleidigung, und Ekial bereitete das durchaus Sorgen. Er hatte ein paar Bemerkungen aufgeschnappt, denen zufolge Dahlaine und die anderen sich am Ende ihres so genannten »Zyklus« befanden, und sie bekamen wohl gar nicht mehr richtig mit, was alles passierte. Allmählich begann er sich ernsthaft Gedanken zu machen, ob er überhaupt etwas mit diesen Kriegen im Lande Dhrall zu tun haben wollte. Die versprochene Bezahlung war sehr gut, und dennoch ... Die Maags und die Trogiten schienen die Sache mithilfe von Langbogen und den Bogenschützen recht gut unter Kontrolle zu haben. Die Insektenmenschen kamen bei ihrem Vormarsch am Hang nördlich von Gundas Mauer kaum voran, und die Soldaten der trogitischen Kirche stürmten aus dem Süden heran und dachten nur an eines: an dieses »Meer aus Gold«. Der Befehl der »unbekannten Freundin«, aus dem Weg zu gehen, ergab in Ekials Augen durchaus Sinn, doch löste er unter den Anführern im Lande Dhrall weiteren Zank und wilde Spekulationen aus.
Dann, als sie in der Nähe des Geysirs angekommen waren, der die Fälle von Vash speiste, ertönte ein tiefes Grollen weit unter der Oberfläche der Erde, und Dahlaine tauchte in einem grellen Blitz aus dem Nichts auf und erklärte ihnen, sie sollten unbedingt schnellstens den Bereich des Geysirs verlassen. Die Erde bebte heftig unter ihren Füßen, während sie in die relative Sicherheit am Ostrand des grasbewachsenen Tals flohen, und nun war Ekial vollkommen davon überzeugt, dass er an diesen Kriegen im Lande Dhrall nicht teilnehmen wollte. Er war bereit, sein Volk in jeden Krieg in welchem Teil der Welt auch immer zu führen, aber wenn die Erde selbst zu grollen und zu zittern begann, war es an der Zeit, den Heimweg anzutreten. 73 »Diese Geysire sind nicht so ungewöhnlich, habe ich gehört«, erklärte Keselo ihnen, als sie auf dem östlichsten Turm von Gundas Mauer standen und ehrfürchtig auf die Wasserfontäne starrten, die hoch aus der Erde aufstieg. »Sie kommen durch riesige Wasservorkommen tief unter der Erdoberfläche zustande - das Wasser steht unter enorm hohem Druck. Wenn es in einem solchen Gebiet ein Erdbeben gibt, bricht der feste Fels, der das Wasser zurückhält, und das Wasser schießt plötzlich aus der Tiefe hervor.« »Die nächste Frage wäre, wie lange dieser unterirdische Teich brauchen wird, bis er trocken gelaufen ist«, wollte Sorgan Hakenschnabel wissen. »Ich würde darauf nicht warten, Kapitän«, antwortete Keselo. »Ich habe von einem Geysir im Süden des trogitischen Reiches gehört, der schon seit mehreren hundert Jahren Wasser in die Luft spuckt. Es gibt keine Möglichkeit, so etwas festzustellen, denn solche Wasservorräte befinden sich meilenweit unter der Erde, und diejenigen, die derartige Phänomene studiert haben, behaupten häufig, ganze unterirdische Seen würden nur darauf warten, an die Oberfläche zu kommen.« »Nun, gut für sie«, meinte Padan und grinste breit. »Wenn dieser Teil des Ödlands tiefer liegt als der Rest und das Wasser weiterhin aus der Erde sprudelt wie jetzt, wird es hier am Ende der Woche einen See geben, und in einem Jahr wird dieser See zu einem riesigen Binnenmeer angeschwollen sein.« »Also, meine Herren«, meinte Dahlaine, »ich denke, damit wäre unsere Arbeit hier oben erledigt. Wir können zusammenpacken und wieder hinuntersteigen.« Nach ihrer Rückkehr zum Haus von Veltan wurden einige Feiern abgehalten. Sie hatten in einem weiteren Krieg gegen die Insektenmenschen den Sieg errungen, doch kam es Ekial so vor, als würden die Feiernden vor allem die Tatsache bemänteln, dass die »unbekannte Freundin« den Krieg ganz allein gewonnen hatte. 74 Dann folgten ausufernde Diskussionen darüber, in welchem Teil des Landes Dhrall der nächste Angriff der Insektenmenschen zu erwarten wäre, aber Ekial fand den Streit zwischen Dahlaine und seiner Schwester ermüdend und gelinde gesagt ziemlich albern - eine Meinung, die Zelana und Veltan offensichtlich teilten. Ekial mied den Kartenraum immer öfter und verließ hin und wieder Veltans Haus, um sich auf dem Ackerland in der näheren Umgebung umzuschauen. Inzwischen war es Spätsommer geworden, und die Bauern hatten mit der Ernte begonnen. Das Zusammenspiel von Pflügen und Pflanzen war Ekial fremd, doch begriff er durchaus, welchen Wert ausreichende Nahrungsvorräte für den nächsten Winter darstellten. Rindfleisch war schmackhaft, aber nach einigen Monaten, in denen man nichts anderes bekommen hatte, bot selbst eine Rübe willkommene Abwechslung. Während er durch die Bauernhöfe wanderte, überlegte er sich nochmals seine Entscheidung, Dahlaine die Teilnahme am Krieg in seiner Domäne abzusagen. Das Erdbeben oben im Talkessel hatte einen bestimmten Zweck erfüllt und ihn nun auch wieder nicht so fürchterlich erschreckt. All das Gold, welches Dahlaine ihm anbot, würde die Pferdemänner aus dem Weideland reich machen, und Ekial war sicher, wenn die Dinge im Norden außer Kontrolle geraten sollten, würde abermals diese »unbekannte Freundin« einschreiten. Zwar hatte er nicht die geringste Vorstellung davon, wie sie es machen würde, doch würde sie da sein, wenn man sie wirklich brauchte. Das überzeugte ihn mehr oder weniger davon, dass es töricht wäre, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, diesen derart einfachen Krieg auszufechten, den man ihm versprochen hatte. Allerdings gah es ein gewisses Problem, deshalb kehrte er zum Haus von Veltan zurück und wollte sich darüber mit ihrem Gastgeber unterhalten. Er ging geradewegs zum Kartenraum, wo Sorgan und Narasan in ein Gespräch vertieft waren. 75 »Ich möchte mich nicht aufdrängen«, sagte er, »aber wie bringen wir eigentlich meine Männer - und ihre Pferde hinauf in Dahlaines Territorium? Pferde können schnell laufen, aber vermutlich nicht schnell genug, um über die Oberfläche des Meeres zu galoppieren.« Narasan blinzelte zur Decke des Kartenraums. »Ich glaube, ich könnte die Antwort auf dein Problem haben, Prinz Ekial«, sagte er. »Gunda hat da diese kleine Fischerjolle, die fast fliegen kann. Er kann dich nach Castano bringen, wo ihr Schiffe anheuert. Dann fahrt ihr mit den Schiffen nach Malavi und holt deine Männer und Pferde. Im Anschluss segelt ihr nach Norden zur Domäne des Herrn Dahlaine. Wie klingt das?« »Solange wir dort eintreffen, bevor es mit dem nächsten Krieg weitergeht, wäre ich damit einverstanden«, erwiderte Ekial. Dann erklärte Veltan dem Kommandanten Narasan, dass er Gunda begleiten würde, weil vermutlich einiges an Gold notwendig wäre, um so viele Schiffe anzuheuern. »Ich schließe daraus, dass du deine Meinung geändert hast, Ekial«, meinte Dahlaine daraufhin. »Du hast einen so
unentschlossenen Eindruck gemacht, als es oben bei den Fällen von Vash rundging.« »Ich hatte inzwischen Zeit, mir die Sache noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen«, gab Ekial zurück. »Die Angelegenheit dort oben ist am Ende doch recht gut gelaufen, und die von dir angebotene Bezahlung reizt mich sehr. Ihr habt schon zwei Kriege im Lande Dhrall gewonnen, und warum sollte nicht auch der nächste siegreich für euch enden? Leichte Kriege für gute Bezahlung wecken immer meine Aufmerksamkeit.« Dann blickte er den Trogiten Gunda mit dem schütteren Haar an. »Wann wolltest du aufbrechen?«, fragte er. »Würde es dir morgen früh passen?«, fragte Gunda zurück. »Ziemlich gut«, meinte Ekial. »Aber auf dem Wasser sollten wir ein bisschen vorsichtig sein. Ich kann nämlich überhaupt 76 nicht schwimmen, daher wäre es mir lieber, wenn du dein kleines Boot nicht umkippen lässt.« »Daran würde ich nicht im Traum denken, Freund Ekial«, erwiderte Gunda und grinste breit. 7 Das Licht am nächsten Morgen war grau wie Stahl, als Gunda mit Veltan und Ekial aus dem Haus trat, und Ekial hatte das Gefühl, die Landschaft sei aus irgendeinem Grunde ohne Tiefe. Dann erkannte er, dass dies durch das Fehlen der Schatten verursacht wurde und die Welt deshalb so flach wirkte. Schatten dienen keinem besonderen Zweck, aber sie verleihen der Landschaft eine gewisse Tiefe. Als sie auf der Spitze des Hügels zwischen Veltans Haus und dem Strand ankamen, bemerkte Ekial, dass auch das Meer grau war. »Das Wasser ist abgelaufen«, sagte Gunda, als sie seine Jolle erreichten. »Wir müssen die Albatros zum Wasser ziehen.« »Das Wasser scheint im Laufe des Tages anzusteigen und zu fallen«, sagte Ekial zu Veltan, während die drei das schlanke kleine Boot packten. »Wie kommt das eigentlich zustande?« »Dafür ist die Mutter Mond verantwortlich«, erwiderte Veltan. »Dadurch hat sie etwas zu tun, wenn ihr langweilig wird.« »Das verstehe ich nicht ganz«, gab Ekial zu. »Es ist auch ein bisschen kompliziert«, räumte Veltan ein. »Bringen wir die Albatros erst einmal ins tiefere Wasser hinaus, dann versuche ich es dir zu erklären.« Sie brauchten eine Weile, bis sie die Albatros in tieferes Wasser gebracht hatten, und dann stiegen sie, bis zu den Hüften nass, in die schmale Jolle. Gunda setzte sich an die Riemen und ruderte 77 sie aufs offene Meer hinaus. »Das ist ungefähr weit genug«, murmelte er vor sich hin. Dann legte er die Riemen zur Seite und zog mit einem langen Seil das Segel hoch. »Von jetzt an übernimmt der Wind«, erklärte er Ekial. »Und das Schönste ist, dafür muss man nicht einmal bezahlen.« »Und wenn der Wind aus der falschen Richtung weht?«, fragte Ekial. Gunda zuckte mit den Schultern. »Dann heißt es wieder rudern. Ich habe noch keine Möglichkeit gefunden, wie man den Wind bestechen könnte, aber ich arbeite daran.« »Du wolltest mir gerade erklären, wie der Mond das Meer ansteigen und fallen lässt«, sagte Ekial zu Veltan. »Oh ja«, meinte Veltan. »Das wollte ich, nicht wahr?« Er blinzelte zum Horizont. »Ich denke, der Begriff >Schwerkraft< könnte es verdeutlichen.« Dann ließ er sich in aller Breite über etwas aus, das für Ekial überhaupt keinen Sinn ergab. Der Sinn stellte sich jedoch ein, als Veltan das Wort »Anziehung« erwähnte. »Oh«, sagte Ekial. »Das erscheint mir doch gleich viel logischer als das, was du vorher erklärt hast.« »Tatsächlich?« Veltan wirkte ein wenig überrascht. »Gewiss. Das ähnelt immens dem, wie sich eine Kuh benimmt, wenn sie paarungsbereit ist. Das Meer bemerkt, dass der Mond vorbeikommt, und es bekommt diesen >Drang<, zu - also ...« Er stockte. »Du weißt schon, was ich meine.« Er war ein bisschen verlegen. »Also, das erscheint mir wirklich sinnvoller als diese Geschichte mit der >Schwerkraft<, würde ich sagen«, fügte Gunda hinzu. »Meint ihr denn, das Meer hat zweimal am Tag seinen Paarungstrieb?«, wollte Ekial wissen und wirkte ziemlich überrascht. »Ich würde es bestimmt nicht meinen«, entgegnete Veltan. »Denn vor langer Zeit habe ich gelernt, dass niemand, der ganz 78 richtig im Kopf ist, Mutter Meer beleidigt. Auch ihr beiden solltet lieber nicht ihren Zorn heraufbeschwören.« »Trotzdem ergibt es doch durchaus Sinn, Veltan«, sagte Gunda. »Ich habe gehört, alles Leben stamme ursprünglich aus der Mama Meer - Menschen, Tiere, Fische und alles eben -, daher hat sie vermutlich andauernd diesen Trieb, oder nicht?« »Nicht, wenn ich eine Meile vor der Küste in einem Boot sitze«, erwiderte Veltan. »Dann ganz bestimmt nicht.« Sie brauchten mehrere Tage, um die Hafenstadt Castano an der Nordküste des trogitischen Weltreiches zu erreichen, und Gunda führte sie zu einem Gebäude, das er »Gasthaus« nannte. »Ich werde im Hafenviertel die Nachricht verbreiten, dass du Schiffe anheuern willst und gut bezahlst«, sagte er. »Und dabei werde ich die
Goldblöcke ein bisschen herumzeigen.« Dann blickte er Ekial an. »Für wie viele Pferdesoldaten brauchen wir eigentlich Schiffe?« Ekial schaute blinzelnd hinaus auf die belebte Straße. »An der Nordküste gibt es sechs Clans«, erwiderte er, »und wenn ich richtig verstanden habe, was Dahlaine mir gesagt hat, braucht er uns ziemlich bald in seinem Teil des Landes Dhrall. Es gibt noch mehr Clans im Süden, aber es würde eine Weile dauern, sie zu verständigen. Ich bin sicher, die nördlichen Clans können ungefähr fünfzigtausend Mann stellen - und natürlich ebenso viele Pferde. Die Clans verfügen zwar über noch mehr Männer^ aber alle werden wir nicht bekommen. Ungefähr die Hälfte von ihnen muss im Land der Malavi bleiben, um das Vieh zu hüten.« Veltan kratzte sich an der Wange. »Wenn wir jeweils fünfhundert Mann auf ein Schiff stopfen, brauchen wir hundert Schiffe.« »Du vergisst die Pferde, glaube ich«, wandte Ekial ein. »Pferde brauchen mehr Platz als Männer.« »Das wird eine ziemlich große Flotte, Veltan«, stellte Gunda fest. »Du wirst eine ganz schöne Menge Goldblöcke benötigen.« 79 »Das stellt für mich kein großes Problem dar, Gunda«, erwiderte Veltan. »Ich habe so viele, wie wir brauchen.« »Wie denn das? Wir sind hier, und das Gold ist in deiner Heimat.« »Ich muss eben ein bisschen mogeln. Wenn es ums Mogeln geht, bin ich Experte.« »Ich hätte wissen sollen, dass so etwas passiert«, meinte Gunda. »Dann werde ich mal losgehen und die Nachricht verbreiten, dass du Schiffe anheuerst; anschließend werde ich ein bisschen in Castano herumschnüffeln. Die amaritische Kirche ist möglicherweise ein wenig sauer wegen dem, was in diesem Talkessel in deinem Teil des Landes Dhrall vorgefallen ist, und falls sie irgendwelche Machenschaften im Sinn haben, sollten wir darüber Bescheid wissen.« »Gute Idee«, stimmte Veltan zu, »aber erzähle zuerst herum, dass ich Männer und Schiffe anheuere. Mein großer Bruder wird ungehalten werden, wenn es zu lange dauert.« Es nahm nicht viel Zeit in Anspruch, die Nachricht in Castano zu verbreiten, dass Veltan Schiffe anheuern wollte und dass er mehr als doppelt so viel zahlte, wie in diesem Teil der Welt üblich war. Obwohl er sich alle Mühe gab, sah Ekial jedoch nie richtig, auf welche Weise Veltan immer wieder einen der Goldblöcke aus der Luft zog - oder wo er sie auch verstaut haben mochte -, doch die Goldblöcke waren stets da, wenn er sie benötigte. Die meisten Schiffseigner - beziehungsweise Kapitäne oder wie auch immer sie sich nannten - akzeptierten Veltans erstes Angebot, ohne zu zögern. Zuerst hatte eine Reihe von Trogiten versucht zu feilschen, aber Veltan unterband dies, indem er die Feilscher einfach hinausschickte und sagte: »Der Nächste, bitte.« Am Ende des ersten Tages wandte sich Veltan an Ekial. »Ich habe den Überblick über die Zahl verloren«, gestand er. »Wie viele haben wir heute bekommen?« 80 Ekial ließ den Finger über den Stock gleiten, in den er für jedes Schiff mit dem Dolch eine Kerbe geschnitzt hatte. »Dreiundzwanzig«, antwortete er. »Vielleicht sollten wir die Sache ein wenig beschleunigen«, grübelte Veltan. »Du lässt sie zu viel reden«, meinte Ekial. »Alle wollen dir lange Geschichten darüber erzählen, wie schön ihre Schiffe und wie gut ausgebildet ihre Mannschaften sind, all so ein Zeug, das niemanden interessiert. Das kannst du doch unterbinden.« »Ja?« »Wir treiben mit den Trogiten an der Nordküste des Landes Malavi Handel, und wir haben einen Weg gefunden, wie wir das Geschwätz unterbinden.« »Ich würde es zu gern hören.« »Versuch es mit: >Ja oder nein?< Das bringt die Sache auf den Punkt, und dann wissen sie, dass du an ihren Märchen nicht interessiert bist. Ich denke, du bist einfach zu höflich.« Er zögerte kurz. »Ich will dich ja nicht beleidigen, Veltan, aber ist es wirklich schlau, jedem, der hier hereinkommt und behauptet, er habe ein Schiff, einen von diesen Blöcken zu geben? Er könnte ja auch lügen, weißt du?« Veltan lächelte. »Darum habe ich mich gekümmert, Prinz Ekial. Jeder Trogit, der kein Schiff besitzt, wird auch den Goldblock nicht mehr haben, wenn wir von Castano in See stechen.« »Es könnte eine Weile dauern, alle Betrüger aufzuspüren, weißt du.« »Das brauche ich nicht. Ist dir vielleicht aufgefallen, dass die Goldblöcke immer dann erscheinen, wenn ich es will?« »Also, ja, tatsächlich, und ich begreife einfach nicht, wie du das anstellst.« »Die Goldblöcke kommen, wenn ich sie rufe, Prinz Ekial. Ich muss daher nur diejenigen rufen, die ich den Betrügern gegeben habe, und sie werden alle zu mir zurückkommen.« 81 »Und wenn der Betrüger seinen Block nun in eine dieser eisernen Kisten gelegt hat?« »Das macht keinen Unterschied, mein Freund. Sie werden kommen, wenn ich sie rufe.« Zwei Tage später hatte Ekials Stock achtundsiebzig Kerben. »Morgen sind wir wahrscheinlich fertig, Veltan«, sagte Ekial. »Du wirst diejenigen, die wir schon angeheuert haben, sicherlich wissen lassen, dass wir übermorgen aufbrechen.« Dann fiel ihm etwas ein. »Wir brauchen auch noch Schiffe für die Pferde.«
»Ich habe da schon eine Idee, wie ich das anstelle, Prinz Ekial«, antwortete Veltan. »Oh? Und wie?« »Hast du schon einmal die Redewendung gehört: >Das wirst du bestimmt gar nicht wissen wollen« »Du wirst wieder mogeln, oder?« »Ich würde es nicht gerade >mogeln< nennen, Prinz Ekial. Sagen wir stattdessen >regeln<.« In diesem Moment kam Gunda in ihr Zimmer in dem Gasthaus und grinste breit. »Du wirkst heute aber fröhlich, Gunda«, bemerkte Veltan. »Die amaritische Kirche scheint sich einer Läuterung zu unterziehen, Veltan«, erwiderte Gunda und grinste immer noch. »Das könnte ziemlich aufwändig sein, Gunda.« »Offensichtlich hat der neue Naos - das ist der Titel des Anführers der Kirche - einen ganz, ganz schlimmen Anfall von Anstand, und er steckt alle anderen an. Er hat die Paläste der hochrangigen Kirchenmänner beschlagnahmt und sie in Häuser für die Armen verwandelt, und die früheren Besitzer dieser Paläste müssen nun in den winzigen Zellen in den Kellern unter den Kirchen wohnen, in denen sie ihren Dienst verrichten.« »Ich könnte mir vorstellen, dass es da ein großes Geschrei gegeben hat«, sagte Veltan. 82 »Nein, nein«, entgegnete Gunda. »Die hochrangigen Kirchenmänner, die zu viel Geschrei machen, werden von einer neuen Generation von >Regulatoren< verhört - wenn man das so ausdrücken kann. Jedenfalls gibt es nur mehr drei oder vier von diesen Adnaris, nämlich die, die wenigstens ein bisschen ehrlich waren. Die meisten anderen wurden vor ein Kirchengericht geschleppt, dem der Naos Udar IV als Richter vorsitzt, und wegen bedeutender - und weniger bedeutender - Verbrechen schuldig gesprochen. In der Kirche gibt es keine Todesstrafe, aber der heilige Udar hat sich noch etwas Schlimmeres ausgedacht.« »Was kann schlimmer sein als die Todesstrafe, Gunda?«, wollte Veltan wissen. »Er verkauft sie als Sklaven. Vermutlich geben sie keine sehr guten Sklaven ab, aber er verlangt auch nicht viel Geld für sie, also kann sich der neue Besitzer nicht beschweren.« Veltan starrte Gunda einen Augenblick lang an, dann lachte er schallend. Zwei Tage später, nicht lange nach Tagesanbruch, setzte die Albatros, gefolgt von einer Flotte riesiger, schwankender Handelsschiffe der Trogiten, die Segel, verließ den Hafen von Castano und stach nach Westen in See. Ekial hatte noch immer seine Zweifel, aber Veltan schien ausgesprochen sicher zu sein, dass alles so laufen würde, wie sie es geplant hatten. Ekial wusste nicht genau, wie weit nördlich Dahlaines Domäne im Lande Dhrall lag und wie lange die Reise mit den langsamen Trogiten-Schiffen dauern würde, aber Veltan riet ihm, sich deswegen keine Sorgen zu machen. Aus irgendeinem Grunde fand Ekial das ärgerlich. Schließlich hatte er das Recht, sich so viele Sorgen zu machen, wie er wollte. Die Reise nach Osten 8 Das schwache Licht am Horizont im Osten kündigte den Beginn der Dämmerung über dem Hafen nahe von Veltans Haus an, und Unterkommandant Andar stand am Bug der Sieg und genoss die Stille, die sich stets über das Wasser senkte, wenn die Mutter Meer die Ankunft des neuen Tages erwartete. Andar fand das Antlitz des Meeres in diesen ruhigen Momenten unglaublich schön. Manchmal schien es ihm, die Mutter Meer halte den Atem an, während sie des Eintreffens der Sonne harrte. Während er nun das friedliche Wasser des Hafens betrachtete, sah er den Piraten Sorgan Hakenschnabel, der in einem schäbigen kleinen Beiboot auf die vor Anker liegende Sieg zuruderte. »Würdest du zu Kommandant Narasan gehen und ihm mitteilen, dass ein Maag zu ihm unterwegs ist?«, fragte Andar leise einen vorbeigehenden Seemann. »Jawohl, Herr!«, gab der Matrose zurück, nahm Haltung an und salutierte schneidig. »Das ist eigentlich nicht notwendig, junger Mann«, antwortete Andar fast im Flüsterton. »Für solche Förmlichkeiten ist es noch zu früh am Tag.« »Der Käpt'n hat uns gesagt, wir sollen uns respektvoll benehmen, Herr«, antwortete der Matrose entschuldigend. »Natürlich ist der Käpt'n noch nicht aus der Koje, also können wir es so halten, wie du möchtest.« 84 »Dafür wäre ich dir dankbar, junger Mann«, gab Andar zurück und schaute weiter zu dem Piraten hinaus. Sorgan hatte etwas Massiges an sich, vermutlich deshalb, weil er - wie alle Maag-Seeleute - den größten Teil seiner Jugend mit Rudern verbracht hatte, wenn der Wind nicht stark genug wehte. Allein der Gedanke, Tag um Tag auf der Ruderbank zu sitzen, ließ Andar schaudern. Das Leben eines Seemanns reizte ihn wirklich wenig. Ohne Frage war das Meer wunderschön, doch verlangte die Mutter Meer jenen, die ihr folgten, eine Menge harter Arbeit ab. »Nun, was will er denn?«, murmelte Kommandant Narasan, als er sich zu Andar an die Reling gesellte. »Er ist noch nicht hier gewesen, um es mir zu sagen, Herr«, antwortete Andar. »Ich bin sicher, er wird es dir mitteilen - irgendwann.« »Ho! Narasan!«, brüllte Sorgan, während sich sein Boot der Sieg näherte. »Du bist früh auf, Sorgan«, rief Kommandant Narasan zurück. »Gibt es Schwierigkeiten?«
»Im Moment nicht«, erwiderte Sorgan. »Natürlich ist es noch früh. Der Tag hat noch reichlich Zeit, einen üblen Verlauf zu nehmen. Nicht mehr lange, dann werden uns unsere Wege in unterschiedliche Richtungen führen, daher dachte ich, wir unterhalten uns ein letztes Mal, ehe wir die Segel setzen.« »Komm an Bord, Sorgan«, sagte Narasan und warf eine Strickleiter über die Reling. Der Pirat vertäute den Bug seines Bootes an der Leiter und stieg nach oben. Dort schaute er sich um. »Ist die Schwester der werten Dame Zelana irgendwo in der Nähe?«, flüsterte er. »Ich glaube nicht«, antwortete Narasan. »Allerdings ist das bei dieser Familie immer schwer zu sagen. Die können fast überall stecken, und nicht immer kann man sie sehen.« »Ist mir auch schon aufgefallen«, erwiderte Sorgan mit leicht säuerlichem Ton in der Stimme. »Hat sie dich schon bezahlt?« 85 »Oh ja. Diese Leute werfen mit Gold um sich, als wäre es wertlos.« »Wie viel?«, wollte Sorgan wissen. »Ich will bestimmt nichts aus dir rauskitzeln, was mich nichts angeht, Narasan. Ich möchte nur sichergehen, dass Dahlaine mich nicht übers Ohr haut.« »Ich glaube, unsere Arbeitgeber haben sich zusammengesetzt und sich auf bestimmte Zahlen geeinigt, Sorgan. Aracia hat mir erst gestern Abend fünfundzwanzig dieser hübschen Goldblöcke gegeben.« Sorgan nickte. »Dahlaine hat mir gestern auch fünfundzwanzig gegeben. Dabei hast du doppelt so viele Männer wie ich. Du hättest mehr verlangen sollen, meinst du nicht auch?« »Ich hatte keine Lust, mit ihr zu feilschen, mein Freund. Von ihrer schrillen Stimme bekomme ich immer Zahnschmerzen. Wie lange, meinst du, wird deine Flotte brauchen, um in den Norden zu Dahlaines Teil des Landes Dhrall zu gelangen?« Sorgan zuckte mit den Schultern. »Drei - vielleicht dreieinhalb Wochen. Das hängt auch vom Wetter ab. Langsam wird es Herbst, und das Wetter kann sich ohne große Vorwarnung verschlechtern. Jedenfalls haben wir beide jetzt zweimal diese Kriege mitgemacht, daher dürfte es uns keine Schwierigkeiten bereiten, die Insektenmenschen aufzuhalten, falls es nötig ist, und wir können uns auch auf ein bisschen Hilfe von unseren Arbeitgebern verlassen. Nachdem wir erfahren haben, welcher Teil des Landes Dhrall als Nächstes angegriffen wird, sollten wir in der Lage sein, unsere Leute zu vereinen, ehe die Sache aus dem Ruder läuft.« »Wahrscheinlich, ja«, stimmte Kommandant Narasan zu. »Wie steht es mit deinem Vorrat an Insektengift?« »Wir haben reichlich davon, Narasan«, antwortete Sorgan. »Dieses Gift ist fast so viel wert wie Gold.« »Das ist mir auch schon aufgefallen, ja.« »Hat Veltan dir ungefähr gesagt, wie lange es dauern wird, diese Tierreiter herüberzuholen, die mir helfen sollen?« 86 »Pferde, Sorgan«, erklärte Narasan. »Die nennen ihre Tiere Pferde.« Sorgan zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer«, sagte er. »Ich glaube, die werden nicht gerade sehr nützlich sein, wenn die Insektenmenschen angreifen.« »Da wäre ich mir nicht so sicher, Sorgan«, widersprach Narasan. »Ich habe Geschichten über das Land Malavi gehört. Die Pferdesoldaten sind auf Überraschungsangriffe spezialisiert. Sie schlagen zu, töten die Hälfte der Fußsoldaten des Gegners und reiten wieder davon - mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. In vielerlei Hinsicht ähneln sie euch Maags. Ihr habt euch beide auf schnelle Aktionen spezialisiert.« »Aus diesem Blickwinkel habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet«, räumte Sorgan ein. »Ich muss die Leute wohl erst einmal eine Weile beobachten, ehe ich ein Urteil über sie fälle. Wann, denkst du, wird Veltan sie ins Nordland gebracht haben?« »Er hat sich in dieser Hinsicht nicht sehr eindeutig ausgedrückt, Sorgan.« Dann zuckte Narasan mit den Schultern. »Du weißt ja, wie er manchmal ist. Ich glaube, sein Zeitgefühl entspricht nicht unbedingt unserem.« »Vermutlich liegt das daran, dass ihm sein Lieblingsblitz das Hirn geröstet hat«, meinte Sorgan. »Gib dir Mühe, die Schwester der werten Dame Zelana vor dem völligen Zusammenbruch zu bewahren, wenn du kannst. Ach, eine Sache wäre da noch.« »Und?« »Wäre es in Ordnung, wenn ich mir diesen jungen Offizier Keselo von dir borge? Er und Hase und Langbogen sind eine gute Mannschaft, und wir sollten sie vielleicht nicht voneinander trennen.« Kommandant Narasan grinste seinen Freund verschlagen an. »Natürlich, Sorgan«, sagte er. »Über den Preis können wir ja bei anderer Gelegenheit reden, oder?« »Das meinst du nicht ernst«, rief Sorgan. 87 »Gerechtigkeit muss sein, Sorgan«, psalmodierte Kommandant Narasan mit gespieltem Ernst. In seiner Besonnenheit überließ Kommandant Narasan der Maag-Flotte beim Verlassen des Hafens den Vortritt. Die Maags hatten einerseits die längere Reise vor sich, doch war Andar andererseits ziemlich sicher, die Entscheidung des Kommandanten hänge nicht nur mit reiner Höflichkeit zusammen. Die Maags standen untereinander ständig in einem harten Wettbewerb, und Andar war bereits aufgefallen, dass Sorgan die anderen Schiffskapitäne allenfalls knapp unter Kontrolle halten konnte. Andar war fast vollständig davon überzeugt, dass einige Maags - oder gar alle - es als Herausforderung betrachtet hätten, wenn Kommandant Narasan der
trogitischen Flotte das Auslaufen zuerst befohlen hätte, und eine Bootsregatta war nun wirklich das Letzte, was sie brauchten. Nachdem die Maag-Schiffe den Hafen verlassen hatten, befahl Kommandant Narasan der trogitischen Flotte, die Segel zu setzen. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, und Andar musste die Augen beschatten, als die Flotte das offene Meer erreichte. Das war eine Sache, die Andar an Seefahrten nicht mochte. Nirgendwo ließ sich Schatten finden, und die Sonne schien immer genau vor dem Schiff zu stehen, auf dem er mitfuhr. Er drehte sich um und ging zum Heck der Sieg. Der Rest der Flotte schlingerte hinter ihnen her, und Andar machte sich zur Hauptkajüte auf, um dem Kommandanten Bericht zu erstatten. Veltans ältere Schwester sprach gerade mit lauter Stimme, als Andar die Kabine betrat. »Jeder Narr kann sehen, dass die Wesen des Ödlands als Nächstes meine Domäne angreifen werden«, erklärte sie Kommandant Narasan in schrillen Tönen. »Mein älterer Bruder unternimmt schlicht den Versuch, seine Autorität durchzusetzen, indem er mich der Hälfte der Truppen beraubt, die ich in Kürze brauchen werde.« 88 »Sorgan und ich sind das zweimal genau durchgegangen, werte Dame Aracia«, versicherte der Kommandant ihr. »Wir sind durchaus dazu fähig, den Feind aufzuhalten, falls sich die Notwendigkeit ergibt. Maag-Schiffe sind fast so schnell wie der Wind. Wenn der Feind uns in deiner Domäne angreift, werden sich meine Leute ihm entgegenstellen, bis sich Sorgan zu uns gesellt.« Er wandte sich an Andar. »Wie ist die Lage?«, fragte er. »Das letzte Schiff hat inzwischen den Hafen hinter sich gelassen, Kommandant«, erstattete er Bericht, »und der Wind steht günstig. Ich bin sicher, wir werden heute gut vorankommen.« »Könntest du mir eine Schätzung geben, wie lange wir brauchen, um den Tempel der werten Dame Aracia zu erreichen?« Andar kratzte sich an der Wange. »Wenn der Wind nicht dreht, ungefähr zehn oder elf Tage. Falls das, was uns über die Insektenmenschen gesagt wurde, stimmt, brauchen die allerdings mindestens doppelt so lange, um eine größere Armee in die Domäne der werten Dame Aracia marschieren zu lassen, und damit bliebe uns genug Zeit, um Befestigungsanlagen zu errichten. Nachdem wir unsere Männer am Ziel ausgeschifft haben, kann unsere Flotte zur Insel Akalla segeln und dort Königin Trenicias Armee aufnehmen und zu uns bringen. Ich würde sagen, die Domäne der werten Aracia wird gut geschützt sein, ehe sich die Insektenmenschen in nennenswerter Zahl blicken lassen.« »Da hörst du es, werte Aracia«, erklärte Narasan seiner aufgelösten Arbeitgeberin. »Wenn alles gut geht - und das wird es bestimmt -, sind Sorgans Maags schlicht überflüssig. Wir werden sie zunächst gar nicht benötigen.« »Nun - vielleicht«, stimmte Aracia widerwillig zu. »Mag Dahlaine also diese Piraten behalten. Sie sind auch gar keine richtigen Soldaten, und dieses schmuddelige Land im Norden ist viel besser geeignet, von ihnen verteidigt zu werden. Meine Domäne ist das Herz des Landes Dhrall, deshalb ist es wichtig, es vor dem Einfall der Diener des Vlagh zu schützen.« 89 »Dafür werden wir sorgen, meine Dame«, versicherte Andar ihr. »Deine werten Männer sind sehr emsig«, sagte Aracia dann. »Falls ihr auf Probleme stoßt, lasst es mich wissen. Ich kann sie gewiss für euch lösen.« Damit verließ sie die Kabine. »Ich denke, ich stehe in deiner Schuld, Andar«, sagte Narasan, nachdem Aracia gegangen war. »Diese Frau fällt mir mit ihrem Gezeter langsam auf die Nerven, und du hast eine echte Begabung dafür, sie zu beruhigen.« Andar zuckte mit den Schultern. »Ich habe eine ältere Schwester, die mindestens so reizbar ist wie Aracia«, erklärte er. »Sie zu beruhigen habe ich schon früh im Leben gelernt. Wie ich mich erinnere, war mir mein Vater dafür sehr dankbar.« »In eurer Gesellschaft geht es aber kompliziert zu«, merkte Königin Trenicia von Akalla an. »Auf unserer Insel wird das alles sehr viel einfacher gehandhabt.« »Komplikationen sind die Würze des Lebens, Königin Trenicia«, wandte Kommandant Narasan ein und lächelte schwach. »Ich habe es lieber schlicht, Herr Narasan«, gab die Kriegerkönigin zurück und lächelte breit. »War Veltans ältere Schwester schon immer so, Königin Trenicia?«, fragte Narasan. »Ich habe sie nicht >immer< gekannt, Herr Narasan. Sie erschien im letzten Frühjahr mit diesen Stangen, die sie >Gold< nennt und die jeder für so wertvoll hält auf unserer Insel. Ich habe natürlich abgelehnt, aber anschließend hat sie Diamanten, Rubine, Smaragde und Saphire angeboten. Für Edelsteine arbeite ich gern, aber nicht für dieses gelbe Blei.« »Ich möchte dich nicht beleidigen, Königin Trenicia«, sagte Narasan, »doch eine Gesellschaft, in der die Frauen das Geschäft des Herrschens - und der Kriegsführung - übernommen haben, ist sehr ungewöhnlich. Wie ist es denn dazu gekommen?« 9° Die Kriegerkönigin zuckte mit den Schultern. »Aus unserer Sicht sind die Gesellschaften ungewöhnlich, in denen Männer regieren. Die Männer auf der Insel Akalla eignen sich für wenig -außer zur Fortpflanzung. Sie sitzen stundenlang vorm Spiegel und versuchen sich hübsch zu machen, indem sie sich die Gesichter anmalen.« »Das kann nicht dein Ernst sein!«, rief Narasan. »Oh doch«, erwiderte Trenicia. »In gewisser Weise ist Schönsein ihre einzige Möglichkeit, ihr Leben zu
schützen. Hässliche Männer haben auf der Insel Akalla kein langes Leben zu erwarten.« Dann lachte sie. »Ich hatte eine Vorgängerin, die vor vielen Jahren auf der Insel geherrscht hat und sich wenig aus Männern machte. Mit einigen hat sie sich eingelassen, wurde ihrer jedoch müde, schnitt ihnen die Nase ab und vertrieb sie aus ihrem Haus. Als sie in einem Krieg mit Frauen aus einem anderen Teil der Insel getötet wurde, hatte sie eine hübsche Nasensammlung.« Kommandant Narasan starrte die Kriegerkönigin entsetzt an. »Keine Sorge, Narasan«, sagte sie und lächelte niederträchtig. »Deine Nase sieht gut aus, wo sie sich gerade befindet.« Andar schluckte heftig. Diese Frau war sehr, sehr eigenartig, und sie blickte Kommandant Narasan sehr, sehr lange in die Augen. »Besser ihm als mir«, murmelte er vor sich hin. 90 Während die Sieg an der Küste des Landes Dhrall entlang segelte, verbrachte Andar mehr und mehr Zeit damit, sich die Bäume anzuschauen. »Überlegst du dir, ins Holzgeschäft einzusteigen, Andar?«, fragte ihn sein magerer Freund, der Brigadier Danal mit dem 91 dunklen Haar, am vierten Tag, nachdem sie den Hafen bei Veltans Haus hinter sich gelassen hatten. »Eigentlich nicht«, erwiderte Andar mit seiner dröhnenden Bassstimme. »Ich suche eher nach Farbe. Der Herbst ist nicht mehr weit, und das Laub der Bäume wechselt sicherlich bald die Farbe. Rote Blätter bedeuten Winteruniform, meinst du nicht auch?« »Ich hasse diese Winteruniformen«, gab Danal zurück. »Die Wolle juckt so auf der Haut.« »Jucken ist besser als frieren, nicht?« Die Grenze zwischen Veltans Domäne und Aracias ließ sich nicht eindeutig ausmachen, doch nach drei oder vier Tagen auf See war Andar sicher, dass sie inzwischen in Aracias Teil des Landes Dhrall angekommen waren. Aracia und ihr kleines Mädchen, Lillabeth, kamen ein paar Mal auf Deck, doch verbrachten sie die meiste Zeit in der Kabine am Bug der Sieg. Andar vermisste Veltans ältere Schwester nicht besonders. Er mochte weder ihr überhebliches Getue noch ihre schrille Stimme, also ging er ihr möglichst aus dem Weg. Schließlich schlugen die Sieg und mit ihr die gesamte Flotte einen nordwestlichen Kurs ein, und Andar entdeckte die ersten Bauerndörfer und sogar ein paar kleine Städte an der Küste. Die Städte erweckten in Andar einen unfertigen Eindruck, überwiegend deshalb, weil sie keine Mauer hatten, wie es sich für eine richtige Stadt gehört. Ohne Frage herrschte im Lande Dhrall allgemein Frieden, und deshalb entfiel die unbedingte Notwendigkeit einer Mauer, dennoch erschienen diese Orte Andar aus irgendeinem Grunde unvollständig. Die Weizenfelder dehnten sich grenzenlos aus, und auch das erschien ihm ungewöhnlich. Im trogitischen Reich markierten Landbesitzer die Grenzen ihrer Ländereien mit Zäunen, aber soweit Andar sehen konnte, bedeutete den Menschen hier »Mein« und »Dein« nicht viel. Dieser Umstand kam Andar vielleicht am 92 ungewöhnlichsten vor, allerdings galt hier möglicherweise als oberstes Prinzip »Unser«. Mittlerweile ließ sich das Nahen des Herbstes nicht mehr verleugnen, die endlosen Weizenfelder leuchteten golden in der Spätsommersonne. Die Erde musste deutlich fruchtbarer sein als im Imperium, da die Getreidehalme fast doppelt so hoch wuchsen wie in der Heimat. »Offensichtlich werden wir hier immer genug zu essen haben«, murmelte er. »Das ist lächerlich, Narasan«, protestierte Padan, als sie sich einige Tage später zur täglichen Besprechung trafen. »Die Stadt muss einen Namen haben.« »Ich denke, sie betrachtet es nicht als Stadt, Padan«, widersprach Narasan. »Sie redet immer vom >Tempel<. Wie ich es verstanden habe, gibt es durchaus Geschäfte, aber wir sprechen immerhin von einem Land ohne Geld, daher verstehen wir vielleicht etwas anderes unter >Geschäften< als sie. Außerdem ist, was Aracia betrifft, dieser Tempel der einzig bedeutende Teil der Stadt. Vielleicht solltest du dich ein wenig außerhalb des Tempels umschauen, nachdem wir dort eingetroffen sind. Das Wort >Tempel< lässt auf Priesterschaft schließen, und manchmal stehen Priester nicht mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Finden wir also heraus, was die richtigen Menschen denken. Wir müssen zudem in Erfahrung bringen, ob es in diesem Teil des Landes Dhrall so etwas Ähnliches wie eine Armee gibt. Omago hat in Veltans Domäne ein ganz brauchbares Militär aufgebaut, und die Bogenschützen von Langbogen haben in Zelanas Domäne ihren Teil zum Sieg beigetragen. Es könnte also eine Verteidigungstruppe geben, auch wenn ich kaum glaube, dass Aracia darüber Bescheid weiß. Sie hat zu viel damit zu tun, wichtig zu sein, um sich großartig dem zu widmen, was um sie herum vor sich geht.« Andar war ziemlich sicher, dass Narasan eine ganze Anzahl 93 von Aracias Makeln unter den Teppich gekehrt hatte. Gewiss, falls das, was sie über die älteren Götter gehört hatten, auch nur ungefähr stimmte, näherten sich diese dem Ende ihres Zyklus, und natürlich tauchten dann schnell so hässliche Begriffe wie »Altersschwachsinn« oder »Senilität« auf, obwohl keiner der Götter, abgesehen von Dahlaine mit seinem grauen Haar und Bart, irgendwelche Anzeichen seines extrem fortgeschrittenen Alters zeigte - jedenfalls nicht äußerlich.
Am Nachmittag des folgenden Tages führte die Sieg die trogitische Flotte in das, was unter zivilisierten Menschen »der Hafen« von Aracias Tempelstadt genannt worden wäre. Zwei einfach konstruierte Anleger ragten vom Strand ins Wasser, doch nichts erinnerte auch nur entfernt an die Größe der Piers von Castano. Oberhalb der Flutlinie standen einige kleine Gebäude, doch das größte Bauwerk der Stadt - wenn man es denn eine Stadt nennen konnte - war offensichtlich der Tempel. »Ich glaube, es wäre keine gute Idee, die Männer hier an Land gehen zu lassen«, meinte Narasan, als sie sich in der großen Kabine am Heck der Sieg versammelten. »Wir wissen äußerst wenig über die Bevölkerung in diesem Teil des Landes Dhrall, daher wollen wir kein Risiko eingehen. Benehmen wir uns also höflich, bis wir die Leute hier ein wenig besser kennen.« »Sollen wir die Schwerter hier lassen, Kommandant?«, fragte Brigadier Danal misstrauisch. »Ich denke nicht, nein«, antwortete Narasan. »Schließlich sind wir Soldaten, und wir wurden angeheuert, um in einem Krieg zu kämpfen. Allein unsere Schwerter werden jedem in dem Tempel schon zeigen, dass wir da sind und wozu wir in der Lage sind. Es werden keine Scherze gemacht, es wird nicht gelacht, Padan. Sicherlich werden deine Gesichtsmuskeln hinterher wehtun, aber zwing dich, grimmig und unfreundlich auszusehen. Wir wollen die wichtigen Leute - also wahrscheinlich die Priester - genau wissen lassen, wer wir sind und aus welchem Grund wir uns hier 94 aufhalten.« Er blickte in die Runde. »Fragen?«, erkundigte er sich und zog eine Augenbraue hoch. Niemand antwortete. »Gut. Andar, sei so gut und teile der >Heiligen< Aracia mit, wir seien angekommen und bereit, an Land zu gehen, wann immer sie möchte.« »Ich werde mich darum kümmern, Kommandant«, gab Andar ein wenig widerwillig zurück. Dann ging er aufs Deck der Sieg, die bereits vor Anker lag. Er klopfte an Aracias Kabinentür. »Wir sind in der Tempelstadt angekommen, meine Dame«, rief er. »Kommandant Narasan würde gern wissen, ob wir dich zu deinem Tempel begleiten sollen.« »Ich halte das für keine gute Idee«, antwortete sie durch die geschlossene Tür. »Am besten gehe ich voraus und bereite mein Volk auf euch vor. Meine Untertanen sind den Anblick von Soldaten nicht gewöhnt, und wir wollen sie doch nicht verängstigen.« »Wie du meinst, werte Dame Aracia«, sagte Andar neutral und kehrte in Narasans Kabine zurück. »Sie möchte uns noch nicht an Land gehen lassen«, berichtete er. »Stattdessen möchte sie ihre Leute erst auf unser Erscheinen vorbereiten.« »Oder vielleicht einen Hausputz vornehmen«, meinte Padan. »Ihr wisst ja - Boden fegen, Möbel abstauben, Fenster putzen, den Dienern befehlen, saubere Decken auf die Tische zu legen -all diese wichtigen Dinge, die eine gesittete Dame unbedingt erledigen muss, damit die Besucher keinen falschen Eindruck von ihr bekommen.« »Das ist absurd, Padan«, höhnte Danal. »Ich weiß«, räumte Padan ein, »aber unglücklicherweise könnte es ziemlich nahe an der Wahrheit liegen.« Es war schon fast Mittag am folgenden Tag, als ein eher ungeschickt gebautes Kanu an der Sieg festmachte. Anders als bei den 95 Kanus in der Domäne der werten Dame Zelana schien es sich bei diesem um einen ausgehöhlten Baumstamm mit einem Dutzend Paddler auf jeder Seite zu handeln. Ein äußerst dicker Mann in einer schwarzen Leinenrobe und mit einer reich verzierten Mitra auf dem Kopf stand am Bug - was in Andars Augen keine gute Idee war. In diesem Kanu aufrecht zu stehen konnte leicht damit enden, sehr schnell sehr nass zu werden. »Die Heilige Aracia lädt euch in ihren Tempel ein, mächtige Krieger«, verkündete der Mann in einem Tonfall, als würde er eine Predigt halten. »Seid willkommen in ihrer Domäne in diesen Zeiten der Krise, denn wir, ihre Diener, sind schlecht vorbereitet, um uns den gottlosen Eindringlingen entgegenzustellen, die doch aller Wahrscheinlichkeit nach längst Anstalten treffen, dieses wundervolle Land in übler Absicht zu überfallen, und obwohl wir alle freudig unser Leben geben würden, hat die geliebte Aracia in ihrer höchsten Weisheit einen anderen Pfad beschritten, und ihr, o mächtige Krieger, habt euch großzügig einverstanden erklärt, an unsere Stelle zu treten und den Feind mit unvorstellbarer Zerstörung zu überziehen. Seid also willkommen, ihr alle, in der heiligen Domäne der Göttlichen Aracia, und auf ihren Befehl hin bin ich zu euch gekommen, um euch zu unterrichten, dass sie eurem Besuch freudig entgegensieht, damit ihr mit ihr über wichtige Angelegenheiten zur Vorbereitung auf den bevorstehenden Konflikt sprechen könnt.« Padan drehte sich ziemlich abrupt um und eilte auf die andere Seite der Sieg, und Andar hörte sein ersticktes Lachen. »Du magst die Heilige Aracia unterrichten, dass wir unverzüglich kommen werden, verehrter Herr«, nahm Narasan die Einladung an, und auf seinem Gesicht war nicht die geringste Spur eines Lächelns zu finden. »Wie überaus freundlich von dir, mächtiger Krieger«, erwiderte der Einheimische, »und ich werde schnellstens die Rückkehr zum Tempel der Heiligen Aracia vornehmen, um sie über 96 euer Kommen in Kenntnis zu setzen.« Er gab den Männern mit den Paddeln ein Zeichen, und man kehrte zum
Strand zurück. »Keinen Ton!«, zischte Kommandant Narasan scharf. »Ich möchte nicht das leiseste Kichern hören - zumindest nicht, bis dieser prunkvolle Dummkopf außer Hörweite ist.« »Bilde ich es mir ein, oder wurde die Stadt auf einer Art Hügel gebaut?«, fragte Brigadier Danal seinen Freund Andar, als sie vom Strand aus losgingen. »Sie scheint tatsächlich ein wenig höher zu liegen als der Rest der Küste«, stimmte Andar zu. »Vermutlich ist es bloß ein kleiner Berg.« »So dicht am Strand findet man nicht viele kleine Berge, wenn das Land ansonsten so flach ist«, erinnerte Danal seinen Freund. »Ich sage es wirklich nicht gern, aber könnte der Hügel möglicherweise durch die Hand von Menschen entstanden sein?« Andar blickte sich um, und die Vorstellung, die ihm in den Sinn kam, ließ ihn schaudern. »Das hätte Jahrhunderte gedauert, Danal, und welchem Zweck sollte es dienen?« »Ein Tempel, der auf höherem Gelände gebaut ist, würde mehr Eindruck machen als einer, der auf dem flachen Küstengrund steht, und beeindruckend zu wirken ist für Veltans ältere Schwester durchaus wichtig, wie mir aufgefallen ist.« »Ich denke, ihr überseht da etwas«, meinte Padan. »Wenn die werte Aracia etwas möchte, wird es vermutlich geschehen. Sie braucht doch nur zu sagen: >Erhebe dich!<, und der Boden wird ihr gehorchen.« »Vielleicht«, meinte Danal zweifelnd, »aber wenn die Dinge, die ich gehört habe, auch nur ungefähr der Wahrheit entsprechen, besteht die halbe Bevölkerung dieses Teils des Landes Dhrall aus Priestern, und einen Berg aufzuhäufen, der einen Durchmesser von mehreren Meilen hat, würde ihnen eine Weile lang etwas zu tun geben.« 97 »Schließt auf, meine Herren«, sagte Kommandant Narasan. »Versuchen wir wenigstens so auszusehen wie Militär.« Soweit Andar sagen konnte, ähnelte die Siedlung, die Aracias Tempel umgab, von allem, was er bislang im Lande Dhrall gesehen hatte, am meisten einer Stadt. Die Gebäude hatten weiß gestrichene Wände und rote Ziegeldächer, und die Straßen waren gepflastert. Der Tempel erhob sich auf der Spitze des Hügels, und es gab hohe Türmchen, vermutlich Zierrat, die weit in den Himmel ragten. Das gesamte Bauwerk machte auf Andar einen völlig übertriebenen Eindruck, doch begriff er, dass Aracia solchen Prunk brauchte. Während des Feldzuges in Veltans Domäne hatte es einige Hinweise darauf gegeben, wie sehr Aracia ihren Bruder um seinen Rang als oberster Gott im Lande Dhrall beneidete, und ihr protziger Tempel diente vor allem der Selbsterhöhung. Eigentlich war es fast traurig, aber eben nicht ungewöhnlich. Die Treppe, die hinauf zum Tempel führte, war breit, und die massiven Türen waren mit einem Metall verkleidet, bei dem es sich allem Anschein nach um Gold handelte. Auch hier also übertriebener Protz. Der dicke Redner, der im Hafen zu ihnen gesprochen hatte, erwartete sie an der Tür, und erneut entfesselte er seine Wortgewalt zu ihrer Begrüßung. Andar hörte nicht zu. Dann - endlich - gingen sie hinein. Andar war durchaus überrascht, als er feststellte, dass die Priesterschaft nicht ausschließlich aus Männern bestand. Es gab auch Priesterinnen, und ihre Mienen wirkten sogar hochmütiger als die ihrer männlichen Gegenstücke. Sie brauchten einige Zeit, um den zentralen Raum des Tempels zu erreichen, der nicht einmal entfernt einem trogitischen Konvent ähnelte, da ein Thron und nicht ein Altar das wichtigste Merkmal darstellte. Das war bestimmt ein Vorteil, den die Men98 sehen von Dhrall gegenüber den Trogiten hatten. Sie wussten, wie ihre Götter aussahen, da diese für gewöhnlich in der unmittelbaren Nähe zu finden waren. Andar war ziemlich sicher, dass weder Zelana noch Veltan besonders viel für die Verehrung übrig gehabt hätten, mit der Aracias Priesterschaft ihre Göttin überhäufte, doch Aracia schien in den langen, ermüdenden Reden der Priester regelrecht zu schwelgen. Kommandant Narasan stupste Andar an, und die beiden begaben sich in den hinteren Teil des prachtvollen Thronsaales. »Ich würde sagen, sie wärmen sich gerade erst auf«, meinte Narasan leise, »es wird also voraussichtlich den größten Teil des Tages dauern. Warum nimmst du nicht Danal mit, schlenderst ein bisschen durch die Stadt und siehst dir alles genau an? Wir müssen schließlich langsam wissen, ob man diesen Ort überhaupt verteidigen kann. Mich beschleichen inzwischen ernsthafte Zweifel. Warum sollte irgendwer, der oder die - bei klarem Verstand ist, eine Stadt bauen und dann die Mauer vergessen?« »Ich finde, >bei klarem Verstand< ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht gerade der passende Ausdruck, Kommandant«, erwiderte Andar. »Für mich wirkt das alles hier eher so, als würde unsere geschätzte Arbeitgeberin nicht eben mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen. Ich werde mich umschauen, aber an deiner Stelle würde ich die Erwartungen nicht zu hoch setzen, Kommandant. Diese Leute wissen vermutlich nicht einmal, was das Wort >Krieg< bedeutet.« »Da magst du Recht haben, Andar«, stimmte Narasan zu, »sieh dich trotzdem um und rede mit den
Einheimischen. Wir müssen erfahren, ob es in Aracias Domäne so etwas Ähnliches wie eine Armee gibt. Wenn die Insektenmenschen sich entscheiden, hier anzugreifen, werden wir sie aufhalten müssen - zumindest so lange, bis Sorgan eintrifft, und das wiederum könnte eine Weile dauern.« 99 »Ich werde mal sehen, was ich herausfinden kann, Kommandant, aber sehr optimistisch bin ich nicht.« 10 Andar und Brigadier Danal verließen in aller Stille Aracias Thronsaal und den Tempel. »Dieser Fette, der die langen, hochtrabenden Reden hält, heißt >Takal von Aracia<«, erklärte Danal seinem Freund. »Wie hast du das denn herausgefunden?« Danal zuckte mit den Schultern. »Ich habe einen jungen Kerl gefragt, der neben ihm stand«, antwortete er. »Er erzählte mir, er sei erst kürzlich der Priesterschaft beigetreten, und gab sein Bestes, um mich zu beeindrucken. Du weißt ja, wie Novizen sind. Sie hören nicht auf zu reden, solange du sie nicht einfach unterbrichst. Jedenfalls ist >Takal<, insofern ich ihn richtig verstanden habe, etwas in der Art wie der >Naos< in der trogitischen Kirche -nur hat er vier Frauen, und da würden die amaritischen Priester wohl die Wände hochgehen.« »Es würde sie schon ein wenig durcheinander bringen, stelle ich mir vor«, stimmte Andar zu. »Hat der junge Kerl dir den Namen dieses Hohepriesters genannt?« »Bersla, glaube ich, hat er erwähnt. Der junge Kerl redete so schnell, dass ich ziemliche Schwierigkeiten hatte mitzukommen. Er erzählte mir, der Fette sei reich, aber ich habe keine Ahnung, wie man einen Mann >reich< nennen kann in einem Land, in dem es gar kein Geld gibt. Vermutlich ist das lediglich eine Anspielung auf seinen Bauch.« Nachdem sie das Tempelgelände verlassen hatten, teilten sie sich auf, und Andar machte sich zum westlichen Rand der Stadt auf. Seine Uniform zog viele verwunderte Blicke auf sich, und 100 aus irgendeinem Grund versuchten die Eingeborenen, ihn zu meiden. Ihm gelang es trotzdem, ein paar Antworten auf seine Fragen von einigen der Städter zu erhalten, doch die Antworten strotzten nicht gerade vor Klarheit. Als er nach einer »Mauer« fragte, dachten die Leute, er meine eine Hauswand. Offensichtlich war ihnen das Konzept einer schützenden Mauer, die eine Stadt umgab, vollkommen fremd, und die meisten, so erschien es ihm, hatten auch das Wort »Krieg« nie zuvor gehört. Methodisch zog er durch die Außengebiete der Stadt und stellte jedem Eingeborenen, der bereit war, mit ihm zu sprechen, die gleichen Fragen. Als er wieder am Strand ankam, erwartete Danal ihn bereits. »Es gibt in der ganzen Stadt kein einziges Wirtshaus«, beschwerte sich Danal. »Auf meine Frage, wohin ich gehen solle, wenn ich etwas trinken wolle, zeigten alle auf die Brunnen. Offensichtlich gibt es hier außer Wasser nichts zu trinken.« »Möglicherweise hat das etwas mit ihrer Religion zu tun«, mutmaßte Andar. »Ihr Gott ist eine Frau, und Frauen haben manchmal seltsame Ideen. Hast du etwas über ihre >Tauschhandelswirtschaft< herausgefunden?« »Nicht viel, das Sinn ergibt. Ich möchte nicht drauf schwören, aber ich glaube, sie benutzen Obst und Getreide, wenn sie etwas kaufen wollen - so und so viele Äpfel für so und so viel Wolle -in dieser Art eben. Bei diesen Geschäften wird auch gelegentlich gefeilscht. Ist dir zufällig jemand begegnet, der wusste, was du meinst, wenn du von einer Mauer sprichst?« »Sie denken dann immer nur an Häuserwände«, erwiderte Andar. »Der Gedanke an eine frei stehende Mauer ist ihnen wohl nie gekommen. Sehen wir der Sache ins Gesicht, Danal, diese Menschen sind sehr primitiv. Das einzige Metall, das sie kennen, ist Gold, und Gold benutzen sie nur für Zierrat, nicht als Geld.« »Erbärmlich«, sagte Danal. »Haben wir genug gesehen?« »Ich denke, wir haben alles erfahren, was der Kommandant wissen möchte.« 101 »Gehen wir also zurück zum Tempel.« »Müssen wir?«, erwiderte Danal kläglich. Bersla, der fette Hohepriester des Tempels, redete wieder, und die werte Dame Aracia saß auf ihrem Thron und trug einen verträumten Ausdruck zur Schau. Andar und Danal gesellten sich zu Kommandant Narasan und der Kriegerkönigin. »Und, Glück gehabt?«, fragte Narasan leise. »Ich würde mir nicht allzu viele Hoffnungen machen, Herr«, antwortete Danal. Er blickte zu den Priestern, die in der Nähe standen. »Glaubst du, Aracia wäre beleidigt, wenn wir draußen ein wenig frische Luft schnappen? Es gibt da einige Dinge, die du wissen solltest, und ich glaube, die Priesterschaft wäre nicht sehr glücklich, wenn einer von ihnen zufällig unseren Bericht hören würde.« »Vermutlich wird es ihr nicht einmal auffallen, wenn wir hinausgehen«, meinte Narasan. Er schnippte mit den Fingern, und Padan, der neben ihm stand, blickte zu ihnen herüber. Narasan deutete zur Tür auf der anderen Seite von Aracias Thronsaal, und Padan gesellte sich zu ihnen, während sie zur Haupttür des Tempels unterwegs waren. »Was ist los?«, fragte er leise. »Warten wir, bis wir draußen sind«, gab Narasan flüsternd zurück. »Ich denke, wir wollen nicht, dass die Einheimischen uns hören.« Sie schlenderten wie beiläufig durch die Menge der aufgeputzten Priester und dann nach draußen. Die Kriegerkönigin Trenicia folgte ihnen. »Was hast du herausgefunden, Andar?«, fragte Narasan, während sie durch die goldene Tür hinausgingen.
»Es gibt nichts, das auch nur entfernt an eine Verteidigungsanlage erinnern würde, Herr«, antwortete Andar, »und die hiesigen Bürger scheinen die Bedeutung des Wortes >Mauer< nicht 102 zu begreifen. Wenn wir eine Mauer wollen, werden wir sie uns selbst bauen müssen. So, wie die Dinge im Augenblick stehen, würde ich sagen, ist diese >heilige Stadt< überhaupt nicht zu verteidigen.« »Warum machen wir uns Gedanken deswegen?«, fragte Padan. »Ich denke, die >heilige Stadt< ist die Arbeit gar nicht wert. Was wir wirklich bald brauchen, ist eine von diesen >Skulpturenkarten<. Wenn wir herausfinden, welche Route die Insektenmenschen aller Wahrscheinlichkeit nach wählen werden, wenn sie einmarschieren, sollten wir sie aufhalten können, ehe sie offenes Gelände erreichen. Wenn sie sich erst einmal auf dem Land der Bauern verteilt haben, ist der Krieg für uns verloren.« »Das ergibt Sinn, Kommandant«, stimmte Andar zu. »Wenn wir eine gute Stelle finden, um ein Fort zu bauen, an dem die Insektenmenschen nicht vorbeikommen, gewinnen wir den Krieg.« »Ich weiß«, erwiderte Narasan verdrießlich, »doch die >Heilige Aracia< möchte, dass wir uns bei der Verteidigung auf den >Heiligen Tempeh konzentrieren. Er ist das Einzige, das ihr ein bisschen wichtig ist, und sie möchte die Mehrzahl der Soldaten hier behalten, wo sie die Männer auch sehen kann. Hat vielleicht einer von euch etwas über eine möglicherweise bestehende einheimische Armee in Erfahrung bringen können - so eine wie die der Bauern in Veltans Domäne?« »Sie haben nicht einmal Gesetzeshüter hier, Kommandant«, sagte Danal, »und soweit ich feststellen konnte, gehört das Wort >Waffe< nicht zu ihrem Wortschatz.« »Ich habe da eine Idee, bin jedoch nicht sicher, ob sie funktionieren würde, Kommandant«, sagte Andar, »doch sobald wir die wahrscheinlichste Route einer Invasion herausgefunden haben, sollten wir vielleicht überall den Begriff >Verteidigungsmauer< fallen lassen. Dann erzählen wir der >Heiligen Aracia< und dem >Fetten Hohepriester^ dass sich Lehmziegel für diese Aufgabe 103 nicht eignen. Wir brauchen Bruchsteine, und nach allem, was ich gesehen habe, sind Felsen in der Küstengegend sehr selten. Wenn wir zweitausend Mann daran arbeiten lassen, Felsen aus den Bergen im Westen zu holen, könnte es die Dame, die uns angeheuert hat, vielleicht davon überzeugen, dass wir Vorbereitungen treffen, tatsächlich eine Verteidigungsmauer für ihren Tempel zu bauen. Damit wäre sie zufrieden, und sie könnte sich weiterhin darauf konzentrieren, angebetet zu werden, während wir uns darauf konzentrieren, eine richtige Mauer dort zu bauen, wo sie gebraucht wird.« »Das ist eine ausgesprochen kluge Idee, Narasan«, meinte Trenicia. »Während sie den Reden zuhört, wird sie den Einzelheiten der Verteidigung nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenken, und solange die Felshaufen in der Nähe ihres Tempels anwachsen, wird sie niemanden stören und sich weitere Reden anhören, während du und deine Männer tut, was getan werden muss.« »Als Erstes brauchen wir jedoch eine Karte«, beharrte Padan, »und ich bin nicht sicher, ob sich unsere Arbeitgeberin überhaupt jemals die Mühe gemacht hat, sich den Rest ihrer Domäne auch nur anzusehen. Verehrt zu werden ist anscheinend eine Arbeit, die den ganzen Tag in Anspruch nimmt.« Allerdings mussten sie bis zum Abendessen warten, ehe sie mit der werten Dame Aracia sprechen konnten. Takal Bersla füllte den gesamten Nachmittag mit Anbetungen aus, doch das Essen war vermutlich sogar ihm sehr wichtig. Aracia blieb jedoch auf ihrem Thron sitzen und wartete höchstwahrscheinlich ungeduldig auf die Fortsetzung der Verehrung. »Wir müssen uns unterhalten, werte Aracia«, sagte Narasan, sobald Bersla gegangen war. »Ist es wichtig?«, wollte Aracia wissen. »Äußerst wichtig, meine Dame«, antwortete Narasan. »Wenn 104 ich diesen Teil des Landes Dhrall verteidigen will, brauche ich eine Karte. Ich muss wissen, wie das Gelände beschaffen ist, ehe ich irgendwelche Entscheidungen treffen kann.« »An der Küste ist es recht flach«, erwiderte sie ziemlich gleichgültig. »Dann beginnen die Ausläufer des Gebirges im Westen. Anschließend folgen die Berge selbst, die meine Domäne vom Ödland trennen. Das wäre alles, Kommandant.« »Einzelheiten, meine Dame«, beharrte Narasan. »Ich kann keine Pläne machen, ohne die Details zu kennen. Ich bin ziemlich sicher, dass wir eine dieser >Skulpturenkarten< brauchen, die uns in den vergangenen beiden Kriegen sehr nützlich waren.« »Wir werden uns irgendwann einmal darüber unterhalten, Kommandant«, antwortete sie. »Mein Takal wird gleich zurück sein, und er hat mir bestimmt noch viel zu sagen.« »Er kann warten«, meinte Narasan unverblümt. »Ich nicht. Ich will es mal einfacher ausdrücken, meine Dame. Wenn ich bis morgen früh keine Karte der Domäne habe, gebe ich dir die hübschen Goldblöcke zurück und segele mit meiner Armee wieder nach Hause.« »Das wirst du nicht!«, rief sie, und ihre gebieterische Pose bekam einen Riss. »Lass es doch drauf ankommen«, entgegnete Narasan ungerührt. Takal Bersla wirkte am folgenden Morgen sehr unzufrieden, höchstwahrscheinlich, weil seine Ansprache nach
dem Abendessen äußerst überraschend von der Göttlichen Aracia verschoben worden war. Seine Unzufriedenheit wurde vermutlich noch von der Entdeckung verstärkt, dass ihm sein luxuriöses »Meditationskämmerchen« genommen worden war und sich auf dessen Boden nun stattdessen lauter Lehmklumpen befanden. »Unsere Verteidiger brauchten eine Karte von meiner Domäne, mein treuer Takal«, erklärte Aracia. »Die Karte ist zwangs105 läufig recht groß, daher benötigten wir einen entsprechenden Raum.« »Was ist eine >Karte<, Heiligste?«, wollte Bersla wissen. »Ein Abbild des Bodens«, erläuterte Aracia. »Unsere Freunde möchten die Gestalt meiner Domäne studieren, damit sie das Land verteidigen können, wenn die Wesen des Ödlands uns angreifen.« »Vor allem muss der Tempel verteidigt werden, Heilige Aracia. Die Gebiete außerhalb des Tempels sind nicht wichtig.« Andar war entsetzt, weil Bersla offensichtlich gar nichts begriff, dennoch versuchte er, dem fetten Mann die Tatsachen vorsichtig beizubringen. »Ich stelle ja nur Vermutungen an«, sagte er, »aber wie ich verstanden habe, dient deine Familie der Heiligen Aracia schon seit vielen Generationen.« »Wir dienen ihr seit Jahrhunderten im Tempel«, verkündete Bersla stolz. »Aha«, machte Andar. »Das würde erklären, warum du etwas ziemlich Wichtiges übersehen hast.« »Ich übersehe selten etwas, Ausländer.« »Gut. Dann sag mir doch bitte, welchen Teil des Tempels du essen möchtest, sobald die Nahrungsvorräte ausgehen.« »Es ist immer genug zu essen da. Die Pflicht der gewöhnlichen Menschen besteht darin, die Priesterschaft zu versorgen.« »Aber wenn sie nichts mehr haben, das sie euch geben können, hättet ihr doch nichts mehr zu essen, oder? Wenn du nur einmal kurz darüber nachdenkst, wirst du sicherlich begreifen, dass das Ackerland viel wichtiger ist als dieser Tempel.« »Wie kannst du es wagen}«, brauste Bersla auf. »Die Wahrheit hat manchmal einen sehr bitteren Beigeschmack«, sagte Andar. »Wie viele Mahlzeiten nimmst du jeden Tag ein?« »Drei, natürlich. Alle Menschen essen dreimal am Tag.« »Und woher kommt das Essen?« 106 »Nun, von den Bauernhöfen, aber es gibt sehr viele Bauernhöfe in der Domäne der Heiligen Aracia. Wir haben immer genug Vorräte.« »Nicht, wenn wir die Invasion der Insektenmenschen nicht aufhalten, dann nicht mehr. Die Insektenmenschen fressen alles - Gemüse, Obst, Fleisch, Bäume und die Bauern selbst. Wenn die Insektenmenschen einmal zu fressen angefangen haben, dauert es nicht lange, bis alles vertilgt ist. Dann ist der Moment gekommen, in dem du und die anderen Priester in diesem heiligen Tempel verhungern werden. Mir wurde von Leuten, die sich mit solchen Dingen wie Verhungern auskennen, erzählt, dass es bei einem Mann von deinem Leibesumfang vermutlich ungefähr drei Monate dauert, bis er stirbt, und wahrscheinlich würden dies die schlimmsten drei Monate deines Lebens sein. Du müsstest auch sehr gut aufpassen, nachdem die Vorräte ausgegangen sind, denn nach einigen Wochen ohne Essen könnten deine Mitpriester auf den Gedanken kommen, ein rundlicher Kerl wie du schmecke sehr gut.« »Das ist ungeheuerlich!«, schrie Bersla. »Ich weiß, aber in solchen Situationen passiert es tatsächlich. Also, wenn deine Mitpriester dich nicht töten und essen, wird dein Körper anfangen, dein eigenes Fleisch zu absorbieren. In gewisser Weise wirst du dich selbst aufessen, und deine Haut wird an dir herunterhängen wie eine nasse Decke. Ich würde mir nicht zu viele Sorgen deswegen machen, weil die Insektenmenschen, nachdem sie alles im Land gefressen haben, hierher kommen werden, und dann fressen sie euch. Am besten trägst du ein hübsches scharfes Messer bei dir, damit du dich umbringen kannst, ehe die Insekten kommen. Käfer halten es nicht unbedingt für notwendig, das zu töten, was sie fressen, und lebendig gefressen wäre gewiss noch schrecklicher, als einfach nur zu verhungern. Wenn du möchtest, kann ich dir zeigen, wie du das Messer ansetzen musst, um dich schnell und mit möglichst we107 nig Schmerzen zu töten. Oder vielleicht kannst du dich irgendwo verstecken, um in Ruhe zu verhungern, ehe die Insekten dich finden. Aber täusch dich nicht, großer Priester, wenn die Vorräte ausgehen, wirst du sterben - auf die eine oder die andere Weise.« Bersla starrte Andar mit blankem Entsetzen an, und Aracias Gesicht spiegelte diese Miene. »Das hat er sich doch bloß ausgedacht, Narasan, nicht wahr?«, erkundigte sie sich. »Eigentlich, finde ich, hat er die Sache noch recht milde dargestellt, werte Aracia«, antwortete Narasan. »Mit Hungersnöten gehen schreckliche Ereignisse einher, die man sich nicht vorzustellen vermag. Verhungern ist sogar schlimmer als Krieg, und wenn es zu einer wirklich großen Hungersnot kommt, stirbt jeder - letztlich -, und je länger einer lebt, desto mehr leidet er. Jetzt begreifst du hoffentlich, was hier geschehen könnte, und
vielleicht hast du jetzt Zeit, dich mit uns darüber zu unterhalten, wie wir es verhindern können. Ich würde sagen, wir sollten uns darauf konzentrieren, die Insektenmenschen ganz aus deiner Domäne fern zu halten. Sobald sie aus den Bergen herauskommen und sich ausbreiten können, haben wir diesen Krieg verloren, und dein Volk ist dann ein gefundenes Fressen für die Insekten.« Das Nordland 11 Beim ersten Licht ruderte Kapitän Hakenschnabel in einem Beiboot durch den Hafen bei Veltans Haus, um sich mit Narasan zu unterhalten, ehe die beiden Flotten sich trennten. Hase stand am Bug der Möwe, als sein junger trogitischer Freund Keselo an Deck kam. »Wohin ist dein Kapitän unterwegs?«, fragte er. »Er will ein paar Dinge mit deinem Kapitän besprechen, ehe wir uns trennen und in verschiedene Richtungen davonsegeln«, antwortete Hase. »Vermutlich werden wir uns ein oder zwei Monate lang nicht mehr sehen, also will der Käpt'n sichergehen, dass wir alle bereit sind, wenn der Ärger losgeht, nehme ich an.« Er blickte Keselo an. »Weißt du über diese Pferdesoldaten Bescheid, wegen denen alle so aufgeregt sind?«, erkundigte er sich. »In dem Teil der Welt bin ich nie gewesen«, erwiderte Keselo, »aber ich habe ein paar Geschichten gehört, und wenn die auch nur ungefähr der Wahrheit entsprechen, möchte ich die Pferdesoldaten in einem Krieg nicht als Gegner haben.« »Was ist ein Pferd eigentlich genau?«, fragte Hase neugierig. »Eines der Tiere, die Gras fressen«, erklärte Keselo. »Dabei ähnelt es nur wenig einem Schaf oder einer Kuh oder einem Reh. Es ist viel größer, und es kann schneller laufen. Den Malavi ist es irgendwie gelungen, sie zu zähmen, und sie sitzen auf dem Rücken der Pferde, wenn sie Viehherden von einem Ort zum anderen treiben. Pferde rennen schneller als Kühe - sogar dann, wenn 109 ein Malavi darauf sitzt. Im Laufe der Jahre haben sich die Pferde als sehr nützlich herausgestellt, und die Kuhherden der Malavi sind äußerst wertvoll.« »Was haben Kühe denn mit Krieg zu tun?« »Rindfleisch schmeckt viel besser als Schwein oder Hammel, Hase, und in den Städten des Weltreichs kann man dafür einen hohen Preis erzielen. Es gibt eine Reihe Viehhändler, die glaubten, einen Weg gefunden zu haben, wie sie ihren Gewinn deutlich erhöhen könnten. Wenn sie für die Kühe, die sie verkauften, nicht mehr zahlen müssten, würden sie doppelt so viel Geld verdienen. Sie boten den eher korrupten Mitgliedern des Palvanums der herrschenden Körperschaft des Weltreichs - Bestechungsgelder an, und das glorreiche Palvanum verabschiedete eine Deklaration, dass das Land der Malavi nunmehr rechtmäßig dem Weltreich gehöre. Dann schickten sie mehrere Armeen los, um diese Deklaration durchzusetzen.« »Das klingt ziemlich trogitisch, gut«, meinte Hase. »Was geschah als Nächstes?« »Die Dinge entwickelten sich schlecht, nachdem die Armeen angekommen waren«, fuhr Keselo fort. »Ein Malavi auf einem Pferd kann sich viel schneller bewegen als ein Mann, der gehen muss, und die Pferdemänner schlugen die Armeen regelmäßig. Die Pferdesoldaten gingen nach einer Strategie des plötzlichen Zuschlagens und raschen Rückzugs vor, und die trogitischen Armeen konnten darauf nicht schnell genug reagieren. Das dauerte ein paar Jahre, dann verlangten die Armeen mehr Geld. Das Palvanum war damit nicht glücklich, stimmte jedoch zähneknirschend zu. Man hatte bereits mehr ausgegeben, als man in den nächsten Jahren verdienen konnte, und jetzt würden sie erneut zusätzliches Geld einsetzen müssen, um die Stellung in Malavi nicht ganz aufgeben zu müssen.« »Wie schade«, meinte Hase höhnisch mitfühlend. »Nicht wahr?«, sagte Keselo und lächelte schwach. »Was den 110 >großartigen Plan< jedoch vollends scheitern ließ, hatte gar nichts mit den Schlachten zwischen Pferdesoldaten und Fußsoldaten zu tun. Die Anführer der verschiedenen Clans im Lande der Malavi setzten sich zusammen und überlegten sich einen Weg, wie sie den Krieg sofort beenden konnten. Sie verkündeten einfach, sie würden keine Kühe mehr verkaufen, bis die trogitischen Armeen wieder nach Hause abgezogen wären. Die trogitischen Viehkäufer segelten zu allen Küstenorten im Lande der Malavi und ließen bekannt geben, sie wären bereit, jede Kuh zu kaufen, doch keine einzige Herde wurde in diesem Jahr zur Küste getrieben. Die Viehkäufer warteten mit ihrem Geld und ihren Schiffen, doch die Malavi kamen nicht. Das brachte die Invasion schließlich zu einem abrupten Ende. Das glorreiche Palvanum nahm seine Deklaration zurück und zog im gleichen Atemzug die Armeen aus dem Land der Malavi ab. Die Malavi besitzen ihr Land auch heute noch, und die Viehkäufer müssen weiterhin für die Kühe bezahlen.« »Arme Kinder«, sagte Hase und gab sich erneut voller Spott mitleidig. »Haben die Pferdemenschen denn irgendwelche ungewöhnlichen Waffen?« »Ihre Schwerter und Speere unterscheiden sich ein wenig von unseren. Sie nennen ihre Schwerter >Säbel< und hauen damit, anstatt zu stechen. Ihre Speere nennen sie >Lanzen<, und sie sind ein ganzes Stück länger als unsere. Ich glaube, mit den Insektenmenschen hätten sie allerdings ein paar Probleme. Gift würde ihre Pferde so schnell wie Menschen töten, denke ich, und ein Malavi ohne Pferd ist nicht sehr effektiv.« »Tragen sie denn keine Rüstung?« Keselo schüttelte den Kopf. »Die wäre ihnen vermutlich nur im Weg, und das zusätzliche Gewicht würde ihre
Pferde langsamer machen. Bei der Angriffstaktik der Malavi spielt Geschwindigkeit die entscheidende Rolle. Als sie gegen die einmarschierte trogitische Armee kämpften, unternahmen sie ständig Überra111 schungsangriffe. In gewisser Hinsicht ähneln sie euch Maags, Hase. Sie verlassen sich auf Schnelligkeit.« Keselo lächelte kurz. »Wenn ich es mir recht überlege, sind die Malavi beinahe die Landversion der Maags, und die Pferde sind so ähnlich wie die Möwe.« »Ich denke, dann werden wir gut mit ihnen auskommen«, sagte Hase. Er seufzte. »Ich sollte besser das Feuer meiner Schmiede in Gang bringen. Langbogen hat mir gesagt, die Bogenschützen im Norden werden vermutlich auch bronzene Pfeilspitzen wollen, wenn sie seine sehen.« »Wäre Eisen nicht besser?« »Vielleicht ein bisschen, aber nicht viel. Bronze ist fast so gut wie Eisen, wenn es um Pfeilspitzen geht, sie ist jedoch viel leichter zu verarbeiten. Das Feuer in meiner Schmiede muss nicht so heiß sein, um Bronze zu schmelzen. Ich kann in der gleichen Zeit zehnmal so viele Spitzen aus Bronze wie aus Eisen anfertigen.« »Hast du denn so viel Bronze hier auf der Möwe}«, wollte Keselo wissen und klang überrascht. Hase grinste seinen Freund an. »Im Frachtraum gibt es einiges«, sagte er. »Trogitische Schiffe haben meist Reserveanker dabei, falls das Seil des Hauptankers reißt, aber seit einiger Zeit sind diese Reserveanker immer wieder verschwunden. Ist das nicht eigenartig?« Keselo lachte. »Du bist ein echter Pirat, Hase«, verkündete er. »Natürlich. Ich bin schließlich ein Maag, und wir sind alle Piraten. Das weiß doch jeder.« Hase erschien es, die Luft sei trockener als sonst, während die Maag-Flotte an der Südküste von Veltans Domäne entlangsegelte. Das war ihm in der Vergangenheit schon bei mehreren Gelegenheiten aufgefallen. Der Herbst war häufig schön, wenn das Laub sich in Gold und Rot verwandelte, aber die Jahreszeit, die dem Sommer folgte, hatte stets auch etwas Trauriges an sich. 112 »Du wirkst heute so bedrückt, Häschen«, sagte Eleria, als sie sich zu ihm an den Bug der Möwe gesellte. »Der Winter steht vor der Tür«, sagte Hase. »Das ist die bedrückendste Zeit des ganzen Jahres.« »Wir könnten die Geliebte fragen, ob sie den Winter nicht vertreiben kann, wenn du möchtest«, sagte sie und lächelte damit wieder einmal hinterhältig. »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee wäre, kleine Schwester«, entgegnete Hase. »Wenn sie anfängt, mit den Jahreszeiten herumzuspielen, schickt Mutter Meer sie vielleicht auf den Mond, wie sie es damals mit Veltan gemacht hat.« »Mutter Meer würde das der Geliebten niemals antun«, gab Eleria zurück. Sie streckte die Arme aus. »Ich muss in den Arm genommen werden, Häschen. In dieser Hütte, in der wir wohnen, reden alle immer nur, und niemand hat Zeit für mich.« »Man nennt es eine >Kabine<, kleine Schwester, nicht eine >Hütte<.« »Und worin besteht der Unterschied?« »Ich bin mir nicht sicher«, räumte Hase ein, »aber ich denke, >Hütte< würde den Käpt'n nicht sehr viel weniger aufregen, als wenn du sein Schiff ein >Boot< nennst. Da würde er gleich an die Decke gehen.« »Du hast mich immer noch nicht in den Arm genommen, Häschen«, schalt sie ihn. »Tut mir Leid, kleine Schwester. Ich mache ja schon.« Er hob sie hoch und schlang die Arme um sie. »Das ist 50 viel netter«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange. Später an diesem Tag kam Langbogen an Deck und gesellte sich am Bug der Möwe zu Hase. »Es ist gut, wieder unterwegs zu sein«, sagte er leise. »Ich war die ganze Zankerei langsam leid.« »Worum ging es denn eigentlich? Das habe ich nie richtig begriffen.« 113 Langbogen zuckte mit den Schultern. »Zelanas ältere Schwester wollte alle Ausländer haben, damit sie ihre Domäne verteidigen, aber ihr großer Bruder wollte ihr das nicht gestatten. Seinem Gefühl nach ist seine Domäne genauso wichtig wie ihre - wenn nicht sogar wichtiger. Zelana und Veltan dachten, die beiden wären ein wenig töricht. Wir vergessen manchmal, dass sich die älteren Götter dem Ende ihres Zyklus nähern, und sie werden inzwischen schon ein bisschen wunderlich.« »Mehr als >ein bisschen< manchmal«, meinte Hase. »Ich denke, Eleria wird schon in Kürze an Zelanas Stelle treten, nicht wahr?« »Ich glaube auch, aber die Götter haben vielleicht einen anderen Begriff von >in Kürze< als wir. Ich könnte mir vorstellen, dass die jüngeren Götter erst noch erwachsen werden müssen, ehe die älteren ihnen die Verantwortung in die Hände legen.« 12 »Ich sehe, du arbeitest wieder, Hase«, sagte der Bauer Omago, als er später am Tag nach vorn zum Bug kam. »Ich versuche nur, ein wenig Vorsprung vor Langbogen zu halten«, antwortete Hase. »Er glaubt, die Tonthakaner werden bronzene Pfeilspitzen verlangen, wenn wir den Teil des Landes Dhrall erreichen, der dem werten Herrn Dahlaine gehört. Im Augenblick mache ich nichts wirklich Wichtiges, und solange ich auf meinem Amboss herumhämmere, kommen Ochs und Schinkenpranke wenigstens nicht ständig mit Aufgaben an, die ich erledigen soll.« Er legte den Hammer auf den Amboss. »Was macht Ära denn so in letzter Zeit?«, fragte er.
»Man bekommt sie ja kaum zu Gesicht.« »Sie ist natürlich in der Küche«, sagte Omago und lächelte 114 milde. »Sie hat dem, den ihr >der Fette< nennt, ein paar Kochstunden gegeben.« Hase lachte. »Ich hätte wissen sollen, dass sie so etwas tut«, meinte er. »Der Fette ist nicht gerade der beste Koch der Welt, das steht einmal fest. Normalerweise wird er ziemlich unwirsch, wenn jemand in seine Kombüse kommt.« »Na ja, wenn Ära vorbeischaut, bleibt niemand lange unwirsch«, sagte Omago. »Nachdem sie ein paar der Speisen probiert hat, die er serviert hat, entschied sie, ihm ein wenig Unterricht zu erteilen. Ich bin fast sicher, wenn wir Dahlaines Teil der Welt erreicht haben, wird er sehr viel besser kochen.« »Das würde mich nicht unbedingt stören«, sagte Hase. »Allerdings weiß ich nicht, wie viel sie ihm auf dieser Reise beibringen kann. In der Kombüse gibt es kaum andere Vorräte außer Bohnen, und mit Bohnen kann man eben nur eine begrenzte Menge Gerichte zubereiten.« »Ich glaube, du wirst eine wunderbare Überraschung erleben, Hase«, sagte Omago. »Ära ist schließlich die beste Köchin der Welt, und sie wird irgendeinen Weg finden, die Bohnen schmackhafter anzurichten.« Einige Tage später umrundete die Flotte die letzte Halbinsel an der Südküste und wandte sich nach Norden. Sie hatten einen guten Rückenwind, und die Langschiffe schienen fast zu fliegen. Hase fand das sehr erfrischend. So musste Segeln sein. Er verbrachte den größten Teil des Tages auf dem Deck in der Nähe des Bugs der Möwe, wo er in seinem Schmiedefeuer Bronze erhitzte. »Luftig, nicht wahr?«, meinte Langbogen, als er sich zu ihm an die Reling gesellte. »Ein hübscher Wind«, stimmte Hase zu, während er den Eisentopf auf seinem Feuer überprüfte, der mit Bronzestücken gefüllt war. »Wenn das so bleibt, werden wir die Reise schneller 115 hinter uns bringen, als der Käpt'n je gedacht hätte. Haben wir Zelanas Territorium inzwischen erreicht?« Langbogen blinzelte zur Küste hinüber. »Nicht ganz, glaube ich. Es dauert noch ungefähr einen Tag.« Er blickte auf Hases Schmiede. »Deine Bronze schmilzt.« »Ich weiß«, erwiderte Hase. »Ich möchte sie jedoch ein wenig flüssiger haben, ehe ich sie in die Formen gieße. Wenn ich sie zu früh einfülle, gibt es Klumpen, die aus den Spitzen herausragen. Wie weit ist es wohl noch bis zur Bucht von Lattash?« »Ungefähr zwei Tage, schätze ich.« Dann trat der Erste Maat Ochs mit dem Bullenkreuz zu ihnen. »Der Bruder der werten Dame Zelana will uns etwas über seinen Teil des Landes erzählen«, sagte er, »und der Käpt'n möchte euch beide dabeihaben. Ich denke, im Norden sieht es ein bisschen anders aus als an den Orten, wo wir bisher waren.« »Es würde auch nicht so viel Spaß machen, wenn es überall gleich wäre, oder?«, sagte Hase und grinste. »Geh einfach nur in die Kabine des Käpt'ns, Hase«, meinte Ochs ein bisschen müde. »Wenn du Spaß haben möchtest, musst du dich schon selbst drum kümmern.« Die Kabine am Heck der Möwe war überfüllt, doch hatte es jeder geschafft, sich hineinzudrängen. Zelanas graubärtiger Bruder schaute in die Runde. »Ich nehme an, alle sind da«, begann er. »Kapitän Hakenschnabel möchte ein paar Dinge über das Volk in meiner Domäne erfahren, und ich dachte, vielleicht würde es Zeit sparen, wenn ihr alle dabei seid. Ich werde euch einen Überblick über mein Volk und die Beschaffenheit des Landes geben, und dann beantworte ich gern alle Fragen.« Er hielt kurz inne und blickte sich um. »Sobald wir nördlich von Schwester Zelanas Domäne angekommen sind, gehen wir bei der TonthakanNation an Land. Es gibt drei Kulturen mit wesentlichen Unterschieden in meiner Domäne, also bildete ich drei >Nationen< - die Tonthakaner, die dem Volk in der 116 Domäne meiner Schwester Zelana sehr ähnlich sind, die Matakaner, die in der Mitte auf einer Graslandebene wohnen, und die Atazakaner. Die Tonthakaner sind vor allem Jäger, die nördlichen Matakaner haben riesige Getreidefelder, und die Atazakaner haben eine ähnliche Kultur wie das Volk meiner Schwester Aracia. Letztere leben mehr in Städten als in Dörfern, und sie verehren einen Verrückten, der glaubt, ein Gott zu sein.« »Das scheint ja in letzter Zeit häufiger vorzukommen«, meinte Hase und lächelte. »Gibt es in deiner Domäne so etwas wie eine Armee?«, fragte Sorgan.
Metall besser sein als die aus Stein, die wir bisher immer benutzt haben.« Hase zuckte mit den Schultern. »Dafür bezahlen sie mich«, sagte er. »Ich muss mir allerdings eine deiner Speerspitzen ansehen, ehe ich meine Werkstatt einrichte. Vermutlich sollen das Gewicht und die Größe so ähnlich sein wie bei euren Spitzen aus Stein.« Tlantar nickte. »Wenn sich das Gewicht zu sehr von dem bisherigen unterscheidet, wird der Speer nicht dorthin fliegen, wo er hinsoll.« Er reichte dem kleinen Maag seinen Speer. »Er ist tatsächlich viel größer - und schwerer - als ein Pfeil«, sagte Hase, »aber die Form ist eigentlich die gleiche, daher sollte es nicht allzu schwierig werden. Also dann, was hat es mit dieser >Speerschleuder< auf sich, von der alle ständig reden?« Tlantar hielt seine Speerschleuder in die Höhe. »Wir stecken das Ende des Speers in diesen becherähnlichen Teil der Schleuder, und dann schleudern wir die Schleuder mit dem Arm nach vorn. Es dauert eine Weile, bis man damit exakt zielen kann, aber nachdem man es geschafft hat, wird der Speer viel schneller, als würde man ihn nur aus der Hand werfen. Ein schnellerer Speer schlägt mit größerer Wucht ein, und die Spitze bohrt sich tiefer in die Beute.« 319 »Und das funktioniert wirklich}«, fragte Hase skeptisch. »Wir haben jedenfalls immer genug zu essen«, antwortete Tlantar. »Dahlaine hat mir erzählt, du würdest dich schon dein ganzes Leben lang damit beschäftigen, die Wesen des Ödlands zu töten«, sagte Tlantar zu Langbogen, während sie den kleinen Maag mit dem Namen Hase beobachteten, wie er ein Stück erhitztes Metall in die Form einer steinernen Speerspitze brachte. »Er hat mir jedoch den Grund nicht gesagt. Es geht mich ja eigentlich nichts an, und wenn du lieber nicht darüber sprechen möchtest, vergiss einfach, dass ich dich danach gefragt habe.« Langbogen warf ihm einen forschenden Blick zu. »Wir werden in Kürze gegen unseren gemeinsamen Feind antreten, Tlantar«, erwiderte er, »daher sollten wir uns so gut wie möglich kennen lernen, denke ich.« Dann seufzte er. »Als ich sehr jung war, gab es ein Mädchen, und wir entschlossen uns zu heiraten. Am Tag der Zeremonie ging sie in den Wald, um in einem Teich mit klarem Wasser zu baden. Die Insektenmenschen schlichen in dem Wald nahe bei unserem Dorf herum, und ich nehme an, sie wollten nicht, dass wir von ihrer Anwesenheit erfuhren, deshalb haben sie meine Verlobte getötet. Jetzt töte ich im Gegenzug die Wesen des Ödlands.« Er lächelte schwach. »Zelana erfuhr von meinem Tun, und sie entschied, ich könne ihr nützlich sein, daher kam sie in unser Dorf und fragte mich, ob ich ihr helfen wolle, wenn die Wesen des Ödlands in ihre Domäne einfallen würden. Ich lehnte ab, doch dieses kleine Mädchen, das sie begleitete, hatte mich schon in die Falle gelockt, ehe ich begriff, was sie anstellte. Wenn du jemals mit diesem kleinen Mädchen zu tun hast, sei sehr, sehr vorsichtig. Zuerst bezaubert sie dich, und dann beherrscht sie dich.« »Er hat Recht, Tlantar«, meinte Hase. »Wenn du in ihrer Nähe bist, halte dich möglichst weit von ihr fern. Mancher versucht, 320 dich mit Drohungen zu beeinflussen. Eleria benutzt stattdessen Küsse, und sie gewinnt jedes Mal.« »Ich würde mir gut merken, was Hase gerade gesagt hat, Tlantar«, riet Langbogen. »Eleria bekommt immer, was sie will. Jedenfalls begriff sie sofort, dass ich so viele Diener des Vlagh wie möglich töten wollte, und sie redete mir ein, die Maags könnten bestimmt noch mehr töten als ich, selbst wenn ich tausend Jahre lebte. Dann fuhr sie fort und stellte mir in Aussicht, wir könnten vielleicht sogar das Vlagh töten, und mehr brauchte sie nicht, um mich zu überreden.« »Wer ist dieses Vlagh eigentlich, von dem alle ständig reden?«, fragte Tlantar. Langbogen blickte ihn ein wenig überrascht an. »Hat Dahlaine dir das nicht erklärt?« »Nicht in allen Einzelheiten«, antwortete Tlantar. »Er erwähnt den Namen gelegentlich, und ich bekomme so den Eindruck, er würde vom Häuptling des Ödlands sprechen, aber mehr hat er eigentlich nicht erwähnt.« »Das ist ja nicht das erste Mal, was, Langbogen?«, sagte Hase und grinste verschlagen. Langbogen murmelte etwas vor sich hin und sah Tlantar dann neugierig an. »Wie viel weißt du über Bienen oder Ameisen?« »Nicht sehr viel«, gab Tlantar zurück. »Ich habe gehört, Honig soll sehr lecker schmecken, habe ihn jedoch nie probiert«. »Ich glaube, da hast du einiges vor dir, Langbogen«, meinte Hase. »Möglicherweise«, stimmte Langbogen zu. »Also gut, Tlantar. Mit Bisons bist du aber vertraut, du weißt also, was Herdentiere sind. In gewisser Weise gilt das auch für Bienen und Ameisen. Tiere denken bis zu einem gewissen Grad selbstständig, aber in einer Insektenherde übernimmt die Königin das Denken.« »Königin?« »Das ist die Biene oder Ameise, die Eier legt. Sie ist die Mut321 ter der anderen, und die tun alles, was sie ihnen sagt - sogar dann, wenn es unmöglich ist. Sie leben nur ungefähr sechs Wochen, aber die Königin - oder Mutter - ersetzt sie fortwährend. Wenn wir eine Million töten, gibt es nach einer Woche eine weitere Million. Die einzige Möglichkeit, diesen Krieg je zu gewinnen, besteht darin, das Vlagh - die Mutter all dieser Wesen - zu erwischen und zu töten. Zum größten Teil ist das Vlagh auch nur ein
Insekt, aber es experimentiert, und dadurch wird es einzigartig und extrem gefährlich. Wenn es eine Eigenschaft sieht, die nützlich sein könnte, vervielfältigt es diese. Deshalb gibt es diese Insekten, die wie Menschen aussehen - oder Schildkröten, Spinnen, Wölfe oder Bären.« »Worauf ist das Vlagh aus?«, fragte Tlantar. »Ich meine, warum kommt es aus dem Ödland und greift uns an?« »Es will das Land, Zweihand - das gesamte Land Dhrall. Wenn das Vlagh mehr Land hat, können seine Diener mehr Nahrung finden, und wenn es mehr Nahrung gibt, kann es mehr Eier legen. Wenn es damit Erfolg hat, wird es nicht lange dauern, bis das ganze Land Dhrall von seinen Kindern bevölkert ist. Dann zieht das Vlagh weiter in einen anderen Teil der Welt und nimmt sich dieses Land ebenfalls. Falls es bekommt, was es will, wird es bald über die ganze Welt herrschen.« »Was macht es denn mit den Menschen?« »Vermutlich fressen«, erwiderte Langbogen und zuckte mit den Schultern. »Wir standen uns näher, glaube ich, als jedes andere Paar in unserem Dorf«, erzählte Tlantar ihnen mit trauriger Stimme. »Tle-ri war nicht wie die anderen Frauen. Sie konnte selbst jagen, und das ist in Dahlaines Teil des Landes Dhrall höchst ungewöhnlich. Sie jagte sogar sehr gut, und kochen konnte sie noch besser. Dann starb sie bei der Geburt unseres Kindes, und ich war wieder allein. Die Ältesten sagten, ich solle mir eine neue Frau su322 chen, doch ich weigerte mich. Tleri war meine Frau gewesen, und ich wollte ihren Geist nicht beleidigen, indem ich mich mit einer anderen vermählte. Dieser Teil meines Lebens ist mit ihr gestorben, und von da an war ich allein.« »Ich glaube, du und ich, wir werden Freunde werden, Tlantar«, verkündete Langbogen mit ernster Miene. »In letzter Zeit habe ich aus irgendeinem Grund viele Freunde gefunden. Allein sein ist gar nicht so schlecht, denke ich, aber man hat doch niemanden, mit dem man sich unterhalten kann.« »Weißt du, das ist mir manchmal auch schon aufgefallen«, antwortete Tlantar. »Ist es nicht seltsam, dass wir die gleiche Beobachtung gemacht haben?« Dann sah er den kleinen Maag namens Hase an. »Gehört er auch dazu?«, fragte er Langbogen. »Ohne Zweifel«, stimmte Langbogen zu. »Hin und wieder ist er sehr nützlich, und wenn du mal dringend etwas zu lachen brauchst, kann er sogar witzig sein.« 35 Der Versuch von Dahlaines Schwester Aracia, den Traum ihres kleinen Mädchens zu verheimlichen, beunruhigte die anderen Familienmitglieder sehr, und insbesondere Zelana schien ihn nach wie vor als persönliche Beleidigung aufzufassen. »Ich glaube, im Augenblick möchte ich nicht in Aracias Haut stecken«, sagte Hase zu Langbogen, nachdem Zelana aus der Höhle gestürmt war. »Ich würde meinen, Zelana wird über sie herfallen wie ein Erdrutsch.« »Das würde meine Gefühle nicht besonders verletzen«, erwiderte Keselo. »Wenn es eine Liste derer gäbe, die es verdient haben, dann würde Aracia bei mir sicher ganz oben stehen.« »Anscheinend ist sie nicht sehr beliebt«, stellte Tlantar fest. 323 »Sie ist überzeugt, die Sonne scheine nur, um sie glücklich zu machen«, erwiderte Hase ... Tlantar verstand nicht ganz, warum Dahlaine so sehr staunte, als Zelana zurückkehrte und dem Gott des Nordens erzählte, die Kinder, die sie Träumer nannten, würden ihre Träume gemeinsam erleben. Wenn Kinder in die Zukunft sehen konnten, waren sie vermutlich auch in der Lage, noch andere Dinge zu bewerkstelligen. Keselo, der Gelehrte, wirkte angesichts des Satzes »eine Seuche, die keine Seuche ist« aus dem jüngsten Traum ausgesprochen beunruhigt. »Brechen denn in diesem Teil der Welt häufig Seuchen aus?«, erkundigte er sich bei Tlantar, als sie sich am folgenden Tag in Dahlaines Kartenhöhle versammelt hatten. »Ich habe einiges über diese neue Krankheit gehört«, antwortete Tlantar. »Es gibt durchaus ein paar Krankheiten, die sich immer wieder in Dahlaines Teil der Welt ausbreiten. Vermutlich sind es die gleichen wie überall auf der Welt, diejenigen, die Kinder ständig bekommen. Ich hatte sie auch als Kind, und ich lebe immer noch. Aus dem Norden von Matakan ist ein Bote eingetroffen, bevor du mit deinen Freunden aus Tonthakan aufgebrochen bist, und seinem Bericht zufolge sind die Menschen dort oben verängstigt wegen dieser Seuche so verängstigt, dass sie niemanden mehr, ob gesund oder krank, näher als hundert Schritte an sich heranlassen. Ich nehme an, was sie am meisten erschüttert, ist die Geschwindigkeit, mit der die Krankheit zum Tode führt. Der Bote hat mir berichtet, ein Mann könne beim Frühstück noch vollkommen gesund und zur Mittagszeit bereits kalt wie ein Stein sein.« »Das kann nicht wahr sein, Häuptling Zweihand«, widersprach Keselo. »Keine Krankheit verläuft so dermaßen schnell.« »Du kannst ja in den Norden hinaufgehen und es den Toten sagen, dass sie gar nicht tot sind. Ich glaube, sie werden dir allerdings nicht sehr aufmerksam zuhören.« 3M »Da die Krankheit auch im Traum des kleinen Mädchens erwähnt wurde, könnte das nicht bedeuten, dass die Insektenmenschen dahinter stecken?«, fragte Hase. »Wenn einer der Träumer uns eine Warnung zukommen lässt, hat es für gewöhnlich mit einem Komplott der Käfer zu tun.« »Am besten schicke ich mal ein paar Männer in den Norden, damit sie mehr Einzelheiten in Erfahrung bringen«,
sagte Tlantar. »Wir brauchen genauere Informationen über diese Krankheit.« »Falls es sich tatsächlich um eine Krankheit handelt«, warf Keselo ein. »Es könnte ja auch etwas ganz anderes sein.« »Und zwar was?«, fragte Hase. »Eine Art Gift, würde ich sagen«, erwiderte Keselo. »Krankheiten führen nicht so rasch zum Tode, doch bei Gift geht es viel, viel schneller.« »Ich bin überzeugt, sie glauben es dir nicht, bis du ihnen vorgeführt hast, wie gut die Speerschleuder funktioniert, Tlantar«, sagte Dahlaine einige Tage später, als die beiden in seiner Kartenhöhle allein waren. Tlantar zuckte mit den Schultern. »Ich werde sie zu einer Bisonjagd einladen«, schlug er vor. »Drei oder vier tote Bisons sollten sie davon überzeugen, dass wir Matakaner genau wissen, was wir tun.« »Es sollte nur keiner unserer Freunde zu Tode kommen«, mahnte Dahlaine. »Ohne Zweifel hätte es sehr üble Folgen, wenn so etwas Katastrophales passierte.« »Ich weiß, was ich tue, Dahlaine«, gab Tlantar zurück. »Ich jage jetzt schon seit über dreißig Jahren Bisons, und bisher haben sie mich nicht erwischt.« Er ging aus der Höhle und traf, wie es der Zufall wollte, Langbogen, Athlan, Keselo und Hase, die sich vor dem Eingang unterhielten. »Ich denke, es ist an der Zeit, etwas zu klären«, sagte 325 er zu seinen neuen Freunden. »Wie fändet ihr es denn, wenn wir an einem der nächsten Tage auf die Jagd gehen?« »Ich bin immer zur Jagd bereit«, erwiderte Athlan, »aber wie ich gehört habe, würden meine Pfeile wohl die Bisons nicht töten, die durch das Grasland wandern.« »Vermutlich nicht«, stimmte Tlantar zu. »Deshalb wollte ich euch einladen, uns bei der Jagd zu begleiten. Ihr müsst einmal mit eigenen Augen sehen, wie nützlich die Speerschleuder sein kann, wenn das Tier, das man erlegen will, fünf- oder zehnmal so groß ist wie die Hirsche, die ihr sonst jagt. Bis ihr nicht selbst gesehen habt, wie man mit der Speerschleuder einen dieser riesigen Bisons tötet, werdet ihr unserer Waffe sicherlich ein wenig skeptisch gegenüberstehen. Nachdem ihr euch persönlich allerdings angeschaut habt, was man mit der Speerschleuder anstellen kann, werdet ihr gewiss ruhiger schlafen.« »Wahrscheinlich wird es zu einem recht dauerhaften Schlaf führen, falls wir bei einer dieser Stampeden, von denen ich gehört habe, niedergetrampelt werden«, meinte Hase. »Ich kenne einen sicheren Platz, wo ihr stehen und zuschauen könnt, ohne in Gefahr zu geraten«, erklärte Tlantar daraufhin. »Es gibt da einen großen Felshaufen, der aus den Wiesen ragt, und zwar nahe einer Wasserstelle, an der die Bisons trinken. Über das Grasland laufen die Bisons ohne Schwierigkeiten, doch die Aussicht, einen steilen Felshaufen hinaufzuklettern, würde sie nicht begeistern, und ihr könnt euch alles ansehen, ohne euch einem Risiko auszusetzen.« »Darauf legst du ziemlich viel Wert, ja, Zweihand?«, fragte Langbogen. »Ich habe es schon immer genossen, anderen etwas beizubringen, Freund Langbogen«, erwiderte Tlantar und grinste breit. »Diesmal bringe ich dir und deinen Freunden bei, sich nicht so viele Sorgen zu machen. Eurem nächtlichen Schlaf ist das gewiss förderlich.« 326 »Morgen früh also?«, fragte Langbogen. »Warum eigentlich nicht jetzt gleich? Bisons grasen den ganzen Tag, und da es keine Wälder in der Nähe gibt, in denen sie sich verstecken können, stehen sie im offenen Gelände herum. Sollen wir aufbrechen?« Der Himmel hing an diesem Vormittag voller Wolken, als Tlantar seine neuen Freunde nach Asmie hinunterführte, um einige der anderen Jäger abzuholen. Tlantar betrachtete das als gutes Vorzeichen. Bisons wurden manchmal recht nervös, wenn ihnen die Sonne auf den Pelz brannte. Einmal hatte er gesehen, wie eine Herde das Weite suchte, als an einem sonnigen Tag der Schatten eines Falken über sie hinweghuschte. Während der langen Jahre, die Tlantar nun schon Bisons jagte, war er zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Stampede manchmal von einem winzigen Vorfall ausgelöst werden konnte - von einem flackernden Schatten, einem leisen Geräusch oder einer schwachen Lichtspiegelung. Bei einer anderen Gelegenheit hingegen hatte er eine Herde mitten in einem Gewitter seelenruhig grasen gesehen. Die Nachricht der geplanten Jagd sprach sich rasch herum, das jedoch bereitete Tlantar kein Kopfzerbrechen. Er stellte eine Gruppe der erfahrensten Jäger des Dorfes zusammen, also würden aller Voraussicht nach keine groben Fehler passieren. Ihre Freunde dürften demnach eine sehr erfolgreiche Jagd verfolgen können, und nachdem sie berichtet hätten, was sie gesehen hatten, sollten alle Bedenken gegen die Speerschleuder ausgeräumt sein. »Hier halten wir an«, sagte er leise, als sie den Felshaufen an einem größeren Bach erreichten, welcher aus dem im Süden liegenden Gebirge herunterfloss. »Es wird vielleicht eine Weile dauern, bis ihr dort hinaufgestiegen seid, aber warten wir doch mal ab, ob sich auch Bisons in der Nähe aufhalten. Vor einiger Zeit habe ich Späher ausgeschickt, und die müssten bald zurück327 kommen. Die Bisons drängt es für gewöhnlich um diese Zeit zum Wasser.« »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich euch gern begleiten, Tlantar«, sagte Langbogen. Er hob die Hand, als
Tlantar widersprechen wollte. »Ich glaube, ich muss sie mir mal aus der Nähe ansehen«, sagte er. Dann lächelte er. »Keine Sorge, Freund Tlantar. Ich kann ziemlich schnell laufen, wenn es notwendig wird, und zwar im Falle aller Fälle den ganzen Tag.« »Warum bist du plötzlich so neugierig auf die Bisons, Langbogen?«, fragte Hase seinen Freund. Langbogen zuckte mit den Schultern. »Man weiß nie, was sich unter Umständen mal als nützlich herausstellen wird, Hase. Nach allem, was ich gehört habe, werden bei diesen Stampeden jedes Jahr einige Bisonjäger getötet. Wenn die Wesen des Ödlands nun in diesen Teil des Landes Dhrall einmarschieren, könnte eine aufgescheuchte Bisonherde von mehreren tausend Exemplaren unserem Feind doch einige Verluste beibringen, oder? Dies ist die Heimat der Bisons, und deshalb ist es auch ihre Pflicht, sie gegen Feinde zu verteidigen, nicht wahr?« Keselo lachte. »Dein Verstand macht wirklich nie Pause, Langbogen. Diese Bisons könnten für uns fast so nützlich werden wie die Kirchenarmeen während des Kriegs in Veltans Domäne. Wenn das möglich wäre, könnten wir wieder einen Krieg gewinnen, indem wir uns einfach heraushalten, wie?« »Die erprobten Pfade führen am schnellsten zum Ziel«, stimmte Langbogen zu. Dann kehrte der erste von Tlantars Spähern zurück. »Eine große Herde nähert sich dem Bach von Osten her, mein Häuptling«, berichtete er. »Ich würde sagen, sie wird in ungefähr einer Viertelstunde hier sein.« »Gut«, befand Tlantar. »Klettert auf den Felshaufen, meine Freunde«, forderte er Hase, Keselo und Athlan auf. »Ihr solltet von dort oben alles beobachten können. Danach kehren wir zu 328 Dahlaines Höhle zurück, und dort könnt ihr allen berichten, wie hervorragend unsere Speerschleudern funktionieren.« Tlantar hielt sich immer dicht bei Langbogen, während die Jagdgesellschaft vorsichtig um den Felsvorsprung schlich. »Hast du Erfahrung mit Kriechen, Langbogen?«, flüsterte er. »Sicherlich«, erwiderte Langbogen leise. »Für gewöhnlich ist es im Wald jedoch nicht so notwendig. Die Bäume geben uns Deckung, wenn wir uns an eine Hirschherde heranpirschen.« »Diesen Vorteil haben wir im Grasland nicht«, flüsterte Tlantar. »Gras ist nicht so hoch wie Bäume, daher gehen wir meist auf Hände und Knie runter, wenn wir in die Reichweite einer Bisonherde kommen.« »Wie weit kannst du mit der Speerschleuder einen Speer werfen?« »Bei etwa hundert Schritten liegt die Grenze. Die Speerspitze muss schwer genug sein, um sich durch Haar und Haut eines erwachsenen Bisons zu bohren, und damit ist die Entfernung schon stark eingeschränkt. Wie weit fliegt ein Pfeil von deinem Bogen?« »Ich habe schon Hirsche auf zweihundertfünfzig Schritte erlegt«, erwiderte Langbogen leise. »Sag mal, worauf zielt ihr, wenn ihr den Speer werft? Auf den Kopf?« »Nein. Die Hörner eines Bisons sind dick und hart. Wenn man den Kopf trifft, zersplittert die Speerspitze vielleicht. Allerdings, hm, dies ist meine erste Jagd mit einer Metallspitze, also könnte ich es eigentlich mal ausprobieren, auf den Kopf zu zielen.« »Ich würde das lieber auf ein anderes Mal verschieben, Zweihand«, meinte Langbogen. »Denn jetzt willst du doch deine Zuschauer mit der Speerschleuder beeindrucken, deshalb ist es kein guter Augenblick für Experimente. Mach es lieber so wie immer.« »Damit hast du natürlich Recht«, stimmte Tlantar leise zu. Er 329 hob langsam den Kopf und zog ihn sofort wieder ein. »Noch ungefähr zwanzig Schritte«, murmelte er. »Dann pfeife ich, und wir stehen alle gleichzeitig auf und laufen auf die Bisons zu.« »Laufen?« »Mit Anlauf wird der Speer schneller, und diese zusätzliche Geschwindigkeit kann den entscheidenden Unterschied ausmachen.« »Ah. Sehr sinnvoll, glaube ich.« Sie krochen weiter durch das hohe Gras, dann hob Tlantar den Kopf. »Nahe genug«, murmelte er und pfiff. Die matakanischen Speerwerfer erhoben sich wie ein Mann aus dem Gras und rannten auf die Bisons zu, die aus dem kleinen Bach tranken. Dann stieß Tlantar einen weiteren schrillen Pfiff aus, und alle schleuderten ihre Speere auf die erschreckten Bisons. Mehrere Tiere gingen sofort zu Boden, einige taumelten noch ein wenig im Kreis, ehe sie umfielen. »Ich würde sagen, sieben!«, rief Tlantar überglücklich. »Acht!«, entgegnete Langbogen und spannte den Bogen. Als er den Pfeil fliegen ließ, gab die Sehne einen fast musikalischen Ton von sich. Der Pfeil zischte in gerader Linie davon und traf einen riesigen Bison direkt in ein Auge. Das Tier brach gleich darauf zusammen. »Hast du das absichtlich gemacht?«, fragte Tlantar erstaunt. »Ja«, antwortete Langbogen ziemlich gleichgültig. »Er war kaum mehr als siebzig Schritte entfernt, daher war es auch nicht besonders schwierig.« Dann setzte er eine entschuldigende Miene auf. »Eigentlich war es lediglich eine Art Experiment, Freund Tlantar. Das Hörn des Bisons und der Schädel schützen seinen Kopf und was darin ist. Die Augenhöhle ist jedoch zum Gehirn hin offen, daher dachte ich, einen Versuch wäre es wert.« »Das war doch nur ein Glückstreffer«, behauptete Tlantar.
»Eigentlich nicht«, widersprach Langbogen. »Ich bin nicht sicher, ob es mit der Speerschleuder funktioniert, aber beim Bogen33° schießen geht es ganz gut. Es heißt >Einheit<, Freund Tlantar. Der Bogenschütze muss eins mit Augen, Händen und Bogen sein, um sein Ziel zu treffen. Wenn er es richtig macht, schießt er nie daneben.« Dann lachte er. »Als Hase seine Pfeilfabrik in Lattash eröffnet hatte, gab es einen Schmied namens Hammer, der glaubte, wir würden nur Zeit und Metall verschwenden. Ich reichte ihm eine Muschel und sagte ihm, er sollte sie über seinen Kopf halten und am Strand entlanggehen. Er war zweihundertfünfzig Schritt weit gekommen, da schoss ich ihm die Muschel direkt aus der Hand. Danach hat er nie wieder einen Einwand erhoben.« »Wie eigenartig«, sagte Tlantar. Dann lachte er. »Glaubst du, dieses Konzept könnte bei der Speerschleuder auch funktionieren?«, fragte er mit durchaus ernsthaftem Interesse. »Wir sollten es ausprobieren«, antwortete Langbogen ein wenig skeptisch. »Du musst einige andere Dinge mit einbeziehen, um diese Einheit zu erlangen, daher ist es vielleicht komplizierter. Wir können es versuchen, aber Versprechungen kann ich dir keine machen.« »Dies muss die Stelle sein«, sagte ein wuchtiger Kerl mit langem rotem Bart, der auf dem Rücken eines recht großen Tieres saß und an den Riemen zog, die anscheinend am Maul befestigt waren, um das Tier zum Halten zu bringen. »Sie war es noch, als ich das letzte Mal hingeschaut habe«, meinte Langbogen. »Ist dieses Tier, auf dem du sitzt, eines dieser Pferde, von denen Ekial immer geredet hat?« »Nein, Langbogen, es ist eine Kuh, die ihre Hörner verloren hat.« »Sehr lustig, Rotbart«, gab Langbogen mit ausdrucksloser Stimme zurück. »Hast du es gestohlen?« »Nein, ich musste es nicht einmal stehlen. Es gehörte einem Malavi, der beim Würfelspiel betrogen hat. Ariga und Ekial haben mir sein Pferd geschenkt und mir beigebracht, wie man 331 darauf reitet. Ein Pferd zu reiten ist viel leichter, als zu gehen, nur nach einer Weile bekommt man einen wunden Hintern. Der alte Sieben ist nicht ganz so schnell wie die anderen Pferde, aber mich stört das nicht. Auf und ab zu hüpfen ist nicht so angenehm, wenn der Hintern wehtut.« Er blickte über die Schulter zu einigen anderen Männern, die auf Tieren saßen und näher kamen. »Da ist ja Ekial«, sagte er. »Vielleicht möchtest du Dahlaine Bescheid sagen, dass wir da sind. Sind die Insektenmenschen schon eingetroffen?« »Die Armeen nicht. Das Vlagh hat wie gewohnt seine Schnüffler ausgeschickt.« Langbogen legte Tlantar die Hand auf die Schulter. »Dies ist Häuptling Tlantar von den Matakanern. Die Matakaner jagen lieber Bisons als Hirsche, und sie benutzen dafür Speere anstelle von Pfeilen, weil Pfeile nicht schwer genug sind, um die Haut der Bisons zu durchbohren.« »Ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen, Häuptling Tlantar«, sagte Rotbart förmlich. Dann kamen Dahlaine und einige andere aus der Höhle, und Dahlaine unterhielt sich kurz mit seinem jüngeren Bruder. »Sie hat was getan?«, platzte es aus Dahlaines Bruder heraus. Daraufhin lieferte ihre Schwester eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse in der Domäne der anderen Schwester. Der junge Kerl wirkte richtiggehend erschüttert vom Verhalten seiner älteren Schwester. Tlantar hatte bei mancher Gelegenheit schon festgestellt, dass sogar Dahlaine bestürzt sein konnte, wenn er erfuhr, dass jemand versuchte, ihn zu hintergehen. Es gab Zeiten, da erschien es Tlantar, die vier Götter des Landes Dhrall seien fast so unschuldig wie Kinder. Nachdem Veltan die Fassung zurückerlangt hatte, stellte er Ariga und einige andere Malavi vor, dann führten die Pferdemänner stolz ihre Fertigkeiten im Reiten vor, und allem Anschein nach freuten sie sich riesig darüber, welches Staunen sie bei den Zuschauern hervorriefen. Tlantar begriff augenblicklich, wie 332 wertvoll die Pferdemänner im nächsten Krieg sein würden, doch diese »Angeberei« kam ihm ein bisschen kindisch vor. In letzter Zeit wirkte aus irgendeinem Grunde so manches kindisch. Tlantar seufzte. »Oh, gut«, murmelte er. »Wenn es sie glücklich macht, kann ich bestimmt damit leben.« Dann fiel sein Blick auf die wunderschöne Gemahlin des Bauern Omago, die ihn amüsiert ansah. Und ihm durchtrieben zuzwinkerte. 36 Die Pferdesoldaten der Malavi waren überaus beunruhigt, als sie von den Giftzähnen ihrer Feinde hörten - nicht so sehr, weil sie um ihre eigene Sicherheit fürchteten, sondern um die ihrer Pferde. Tlantar fand für dieses Problem eine einfache Lösung. »Wir jagen die Bisons zwar vor allem wegen des Fleisches«, erklärte er den Malavi, »aber wir verwerten auch ihre Felle. Ein Bisonfell ist sehr dick, und der Pelz hält uns selbst im kältesten Winter warm. Wenn unsere Mäntel das Wetter abhalten können, sind sie möglicherweise auch dick genug, um zu verhindern, dass die Giftzähne die Haut eurer Pferde verwunden.« Die Malavi waren nicht sicher, ob ihre Pferde sich solche Bisonfellgewänder gefallen lassen würden, doch Schutz war wichtiger als die Zufriedenheit der Tiere. Dann stellten die Ausländer Fragen über diese »Seuche, die keine Seuche ist«. Tlantar erzählte ihnen das wenige, das ihm die Männer, die er nach Norden geschickt hatte, über diese neue und tödliche Krankheit berichtet hatten, aber dieser junge Trogit Ke-selo widersprach. »Keine Krankheit tötet Menschen 50 schnell«, verkündete er.
»Ich gebe nur weiter, was die Männer, die ich nach Norden geschickt habe, gehört haben«, erwiderte Tlantar. »Die Matakaner 333 dort oben sind sehr verängstigt, und sie haben Maßnahmen ergriffen, um sich nicht gegenseitig anzustecken. Ich werde weitere Männer losschicken, damit sie mehr Informationen sammeln.« Daraufhin kam die Sprache auf die Invasion der Atazakaner ins nördliche Matakan, und Dahlaine lachte bei der Vorstellung, dass die Atazakaner eine ernsthafte Gefahr darstellen könnten, weil schließlich die meisten nicht einmal wussten, an welchem Ende sie einen Speer halten sollten. Aber Dahlaines gut aussehender jüngerer Bruder machte einen Vorschlag, den alle für sinnvoll hielten. »Ist es nicht möglich, dass diese dummen Ablenkungsmanöver nur ein Versuch der Wesen des Ödlands sind, einen Teil unserer Streitmacht aus der Kristallschlucht abzuziehen?« Auch er führte die »Seuche, die keine Seuche ist« eher auf ein Gift denn auf eine Krankheit zurück. Tlantar hatte das Gefühl, man suche nach Erklärungen, ohne handfeste Tatsachen zu kennen, allerdings entschied er sich, das Thema lieber nicht anzusprechen. Was sie wirklich brauchten, waren weitere Informationen, doch die standen ihnen - noch -nicht zur Verfügung. Immerhin ließ er seine Männer bereits danach suchen. Früh am nächsten Morgen kehrte einer der Männer, die Tlantar nach Norden ausgeschickt hatte, mit Tlorak, dem Angehörigen eines nördlichen Stammes, zum Berg Shrak zurück. »Bei diesem hier scheint der Verstand noch zu funktionieren, Häuptling Zweihand«, sagte Tlantars Mann. »Die meisten Leute dort oben hatten alleine schon Angst davor, mit mir auch nur zu reden.« »Es liegt an dieser verfluchten Pestilenz, Häuptling Zweihand«, erklärte der junge Tlorak. »Alle haben solche Angst davor, sich bei anderen anzustecken, dass wir nicht einmal diese Volltrottel aus Atazakan verscheuchen können.« »Ihr könnt aber noch miteinander reden, oder?«, fragte Tlantar den aufgeregten jungen Mann. »Selbst wenn ihr schreien 334 müsst? Mit euren Speerschleudern könnt ihr Speere über hundert Schritt werfen. Ihr müsst ja nicht direkt nebeneinander stehen, weißt du. Du und deine Freunde, ihr bleibt ein Stück voneinander entfernt, und trotzdem könnt ihr euch wirkungsvoll verteidigen. Dabei steckt ihr euch dann nicht gegenseitig an - falls die Gefahr tatsächlich von einer möglichen Ansteckung ausgeht - und wehrt gleichzeitig die Atazakaner ab. Ihr müsst nur dafür sorgen, dass ihr so nah beieinander steht, dass sich die Reichweite eurer Speere überschneidet.« »Darauf hätten wir auch selbst kommen können, Häuptling Zweihand«, meinte Tlorak verlegen. »Diese verfluchte Seuche hat uns einen solchen Schrecken eingejagt, dass wir nicht mehr klar denken können.« »Es gibt da einen jungen Trogiten, der für Dahlaines jüngeren Bruder arbeitet, und der glaubt, bei dem, was die Menschen der nördlichen Stämme tötet, handele es sich nicht um eine Krankheit. Er kennt sich gut mit Krankheiten aus, und er schwört, keine Krankheit könne einen Mann innerhalb eines halben Tages umbringen. Er sagt, Krankheiten töten nicht so schnell.« »Was lässt unser Volk dann sterben?« »Der Trogit denkt, es müsse ein Gift sein. Wenn die Atazakaner herumgeschlichen sind und Brunnen und Teiche vergiftet haben, würde jeder, der daraus Wasser trinkt, sterben. Ich denke, das dürfte schon ziemlich nahe an der Wahrheit liegen. Am besten erzählst du deinem Häuptling davon. Wenn er Männer abstellt, welche die Brunnen, Quellen und Teiche bewachen, hat es vielleicht ein Ende mit dem Sterben.« Nun verfinsterte sich das Gesicht des jungen Matakaners. »Sollte dieser Trogit herausgefunden haben, was wirklich vor sich geht, dürfte das zur Ausrottung der Atazakaner führen, Häuptling Tlantar«, verkündete er. »Wenn sich diese Neuigkeit verbreitet, werden die Speere auf Atazakan niederprasseln wie Hagel bei einem Frühlingssturm. Wir werden diesen Teil von 335 Dahlaines Herrschaftsgebiet in einem Monat menschenleer gemacht haben.« Tlantar zuckte mit den Schultern. »Dein Häuptling soll tun, was immer er für richtig hält, mein junger Freund«, sagte er. »Das ist seine Sache, nicht meine.« Einige Tage später brachen die Maags in das südliche Gebirge auf, um mit der Arbeit an dem so genannten »Fort« zu beginnen. Tlantar war nicht ganz sicher, was das zu bedeuten hatte, also suchte er Langbogen auf. »Die Trogiten sind Experten, wenn es um den Bau von Forts geht«, erklärte der groß gewachsene Bogenschütze. »Die Maags gehen in die Kristallschlucht, um ein Fundament anzulegen. Dann, wenn Narasan mit seiner Armee eintrifft, werden sie sich dort ebenfalls einfinden und etwas errichten, das einer sehr geraden Mauer aus Steinen ähnelt. Diese Mauer blockiert die Schlucht, und die Wesen des Ödlands können nicht weiter nach Norden vordringen.« »Und das funktioniert?«, fragte Tlantar skeptisch. »In den letzten beiden Kriegen hat es das, ja«, erwiderte Langbogen, »zumindest teilweise. Im ersten Krieg hatten die Käfer Tunnel gebaut, die hinter dem Fort in die Schlucht mündeten. Während des Kriegs im Süden hatten wir ein sehr hübsches Fort, doch uns wurde gesagt, wir sollten es aufgeben. In dem Krieg hatten wir zwei Feinde anstelle von nur einem, und diese beiden haben sich dann hübsch gegenseitig umgebracht, bis eine
Wasserfontäne aus scheinbar massivem Fels sprudelte und beide Feinde fortspülte.« »So, wie du mir das jetzt erzählt hast, sind solche Forts nicht besonders nützlich, Langbogen«, sagte Tlantar. »Im ersten Krieg ist der Feind dahinter gelangt, und im zweiten habt ihr es aufgegeben.« »Genau«, meinte Langbogen. »Wenn du die Sache richtig be336 trachtest, Freund Tlantar, waren diese Forts eher ein Täuschungsmanöver. Unsere Feinde aus dem Ödland hielten die Forts für unsere einzige Verteidigungsmaßnahme, und deshalb achteten sie lediglich auf die Festungswerke, anstatt dem Aufmerksamkeit zu schenken, was tatsächlich vor sich ging. Du brauchst das ja nicht unbedingt weiterzusagen, Zweihand, aber wir haben eine Freundin dort draußen, die Dinge bewerkstelligen kann, zu denen unsere Götter nicht in der Lage sind. Diese Freundin kann Berge explodieren lassen oder ganze Meere aus dem Erdinneren hervorbringen.« »Warum brauchen wir dann überhaupt diese Armeen von Ausländern?« »Eigentlich brauchen wir sie nicht«, entgegnete Langbogen. »Ich glaube, unsere Freundin dort draußen möchte die ausländischen Armeen hier haben, damit diese einfach nur erleben, wie mächtig sie ist. Die Ausländer streifen ständig auf der Suche nach Gold durch die Welt, und im Lande Dhrall gibt es riesige Vorkommen dieses Metalls. Nachdem die Ausländer erkannt haben, wozu unsere unbekannte Freundin in der Lage ist, wenn sie gereizt wird, kehren die Fremden nach Hause zurück und warnen ihre Freunde, sie sollten sich vom Lande Dhrall fern halten, weil sie hier vermutlich ums Leben kommen würden, ehe sie auch nur ein Körnchen Gold finden könnten.« »Wer ist denn diese unbekannte Freundin, Langbogen?« »Ich bin mir nicht ganz sicher, Häuptling Tlantar, aber ich kann dir nur eins raten: Komm ihr nicht in die Quere.« Mehrere Tage später traf die trogitische Armee am Berg Shrak ein, und Tlantar brauchte eine ganze Weile, bis er sich an diese Menschen gewöhnt hatte, die Kleidung aus Metall trugen. Nachdem man einander vorgestellt worden war, ging man in die Höhle unter dem Berg Shrak und versammelte sich in der »Kriegshöhle«, wie Dahlaine es nannte. Die Ausländer betrach337 teten die Miniaturdarstellung der Kristallschlucht eingehend und stimmten im Allgemeinen zu, dass sie tatsächlich zu verteidigen war. »Wenn wir dort ein Fort gebaut haben, werden sie an uns nicht mehr vorbeikommen«, behauptete der silberhaarige Kommandant der Trogiten. Daran zweifelte Tlantar allerdings. Langbogens Einschätzung der vorangegangenen Kriege deutete stark darauf hin, dass diese Verteidigungsanlagen eher nur zur Schau gedacht waren. Dann, als Tlantar sich dessen sicher war, drängte sich die Frage mit der Pestilenz auf, und Tlantar erstattete Bericht über das, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte. »Für die Stämme im Norden stellt das ein ziemlich ernstes Problem dar«, fuhr er fort. »Die Menschen haben Angst, sich in die Nähe anderer zu wagen, und deshalb haben sie sich so weit verteilt, dass sie ihr Stammesgebiet nicht mehr verteidigen können - nicht einmal vor den unfähigen Atazakanern. Ich habe ihnen geraten, weit genug voneinander entfernt zu bleiben, um eine Ansteckung zu vermeiden, aber dicht genug, damit sich die Reichweite ihrer Speere überlappt. So sind sie vor der Seuche sicher, aber sie können auch die Eindringlinge aus Atazakan vertreiben.« »Und, klappt das?«, fragte der Trogit namens Padan. »Es sollte eigentlich«, erwiderte Tlantar, »allerdings habe ich noch keine Bestätigung aus dem Norden erhalten.« Nach einer längeren Diskussion schlug die hübsche Gemahlin des Bauern Omago vor, einer der Götter könne doch die Leiche eines Matakaners aus dem Norden holen und damit einen alten Schamanen in Zelanas Domäne aufsuchen, der sich mit den Eigenheiten der Wesen des Ödlands sehr gut auskannte. Und dieser Schamane könnte dann die Leiche untersuchen und feststellen, was zum Tod geführt hatte. Dahlaine wirkte ein bisschen verlegen, als er zustimmte und den Vorschlag der Dame zur vermutlich besten Lösung des Problems erklärte. 338 Als Zelana, Veltan und Langbogen aus der westlichen Region des Landes Dhrall zurückkehrten, unterrichteten sie Dahlaine und die anderen davon, dass der alte Schamane von Langbogens Stamm Spuren von Schlangengift in der Nase des toten Matakaners gefunden hatte, und das erklärte natürlich die »Seuche, die keine Seuche ist« und die alle vor ein Rätsel gestellt hatte. Der Bauer Omago schlug als Gegenmaßnahme nasse Tücher vor, aber Tlantar war skeptisch. Ganz bestimmt würde ein wenig von diesem Giftnebel jeden derartigen Schutz durchdringen, und würde man sich nur auf »nasse Tücher« verlassen, wären wahrscheinlich viele weitere Tote die Folge. Dahlaine weigerte sich unerschütterlich, die Windrichtung zu ändern, damit das Gift zurück zu den Atazakanern und ihren Insektenverbündeten geweht wurde, und er erinnerte Veltan und Zelana daran, dass es ihnen strikt verboten war, ihre fast unbegrenzten Kräfte einzusetzen, um den Tod selbst des gefährlichsten Feindes herbeizuführen. Schließlich erinnerte Langbogen an die »unbekannte Freundin«, die er Tlantar gegenüber bereits erwähnt hatte und die vermutlich ihre Macht einsetzen könnte und würde, um den Feinden den Giftnebel zurück ins Gesicht zu wehen. »Aber wie können wir sie denn benachrichtigen?«, fragte Veltan.
»Ich bin sicher, sie weiß längst Bescheid, Veltan«, erwiderte Langbogen und zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass es viel gibt, über das sie nicht Bescheid weiß.« Dann sah Tlantar, wie die Kriegerkönigin Trenicia mit offensichtlichem Erstaunen die hübsche Frau des Bauern Omago anstarrte. Die hübsche Dame lächelte, sagte jedoch nichts. Vermutlich lag es nur an einer leichten Lichtveränderung in Dahlaines Höhle, dass das hübsche Gesicht der Dame plötzlich älter und härter wirkte, aber ganz plötzlich erkannte Tlantar sie, und dieses Gesicht würde er niemals vergessen, ganz ungeachtet 339 der Tatsache, dass er es vor fünfundzwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Nun wirkte diese Frau jünger und schlanker, aber Tlantar war sicher, sie war es gewesen, die so unermüdlich versucht hatte, Tleri in jener schrecklichen Nacht zu retten. Plötzlich begann er heftig zu zittern, und Verwirrung traf ihn wie ein Schlag. Der Fortgang von Azakan 37 Langbogen hatte spät am Nachmittag des Tages, an dem Nara-san mit seiner Armee am Berg Shrak eingetroffen war, nicht weit von Asmie entfernt ein kleines Lager für sich errichtet. Die Leute in der Höhle waren gewiss seine Freunde, doch nach langen Jahren des einsamen Lebens in den Bergen von Zelanas Domäne konnte er in Anwesenheit anderer nicht mehr gut schlafen. Die Sterne boten ihm eine bessere Gesellschaft. Sie waren schön anzusehen, und sie schnarchten nicht. Er erwachte beim ersten Licht am Morgen nach dem Tag, an dem Narasans Armee eingetroffen war, und kehrte in die Höhle zurück. Er folgte dem langen gewundenen Gang zu dem großen zentralen Raum. Ära, die wunderschöne Frau des Bauern Ömago, bereitete das Frühstück zu, und Langbogen sah, dass sie den einfachen Ofen, den Dahlaine nach der Ankunft des kleinen Jungen Ashad konstruiert hatte, durch verschiedene Maßnahmen verbessert hatte. Aras Herd bestand gewissermaßen aus einer Reihe von Kochplatten, von denen manche näher am Feuer waren und andere weiter entfernt. Anscheinend brauchten einige Speisen mehr Hitze als andere. Da Ära sich mit der Zubereitung von Essen besser auskannte als jeder andere, war Langbogen sicher, ihre verschiedenen Platten seien jeweils genau so heiß, wie Ära sie brauchte. Langbogen betrachtete Kochen nicht als Kunstform, 34i doch hatte die Frau des Bauern Omago es wohl zu einer erhoben, denn bei ihr schien jeder Handgriff zu sitzen. Eleria saß am Tisch und schaute mit großem Interesse zu. »Wo warst du, Langbogen?«, fragte Zelanas kleines Mädchen. »Ich habe das Land der Träume besucht«, erwiderte er und lächelte schwach. »Wirklich. Ist dort etwas Spannendes passiert?« »Möglicherweise, allerdings war ich so mit Schlafen beschäftigt, dass ich es verpasst habe.« »Das ist überhaupt nicht lustig, Langbogen«, schimpfte Eleria. »Hau mich doch.« »Ich glaube, du verbringst einfach zu viel Zeit mit Rotbart. Langsam redest du schon genauso wie er, und er ist nicht halb so lustig, wie er von sich glaubt.« Langbogen zuckte mit den Schultern. »Niemand ist vollkommen. Möchtest du dein >Küsschen< jetzt sofort, oder willst du lieber bis nach dem Frühstück warten?« »Eins vor und eins nach dem Frühstück, Langbogen. Du schuldest mir eine Menge Küsschen für diese >Hau mich<-Be-merkung.« »Geht das immer so, Langbogen?«, fragte Ära neugierig. »Ständig«, antwortete Langbogen. »Eleria ist verrückt nach Küsschen, und wenn man zu viel Zeit in ihrer Nähe verbringt, hat man hinterher ganz wunde Lippen.« Ära lächelte. »Daran habe ich so meine Zweifel. Sobald ihr beide eure >Küsschen<-Zeremonie beendet habt, könntet ihr doch die anderen wecken. Das Frühstück ist so gut wie fertig, also holt eure Freunde, ehe es kalt wird.« Trotz der Tatsache, dass Dahlaines Höhle unter dem Berg Shrak riesig war, wand sich der schmale Gang von der zentralen Kammer fast wie eine Schlange durch den massiven Fels. Auch zweig342 ten einige Tunnel in den Berg ab, führten jedoch eigentlich nirgendwohin. Angesichts dieser Besonderheiten hatte Dahlaine entschieden, nur die Anführer und ihre wichtigsten Ratgeber in der Höhle unterzubringen. Die anderen Soldaten lagerten draußen. »Wir könnten die Hälfte der Männer, die wir hergebracht haben, in dem Labyrinth verlieren«, stimmte Sorgan Hakenschnabel zu. »In einem Tunnel, der zehn Meilen oder so in den Berg reicht, ohne zu einem Ziel zu führen, könnten sich hunderte von Männern verirren, die wir dann nie wieder sehen.« »Gut ausgedrückt, Kapitän Sorgan«, sagte Kommandant Na-rasan. Nach dem Frühstück suchten sie an diesem Morgen erneut den so genannten »Kriegsraum« auf und studierten weiter die Karte des nördlichen Landes. Es war fast Mittag, da kam ein Matakaner herein und suchte nach Häuptling Zweihand. »Ich könnte mich ja
irren, Tlantar«, berichtete er, »aber es scheint, als wäre die gesamte Bevölkerung von Atazakan an dieser Invasion beteiligt. Es sind nicht nur die >Wächter der Göttlichkeit, wie sie sich nennen, dabei, sondern auch andere, darunter eine große Anzahl Frauen und Kinder. Das bereitet uns große Schwierigkeiten. Wir wollen doch unsere Speere nicht auf Unschuldige werfen, aber diese schrecklich tapferen >Wächter der Göttlichkeit verstecken sich hinter ihnen.« »Sind dir zufällig welche aufgefallen, die sehr klein und ungewöhnlich blass sind?«, erkundigte sich Keselo bei dem Matakaner. »Oh ja«, erwiderte Tladan. »Die habe ich zu hunderten gesehen. Sie sehen allerdings überhaupt nicht aus wie die gewöhnlichen Atazakaner.« »Sie sind auch keine«, meinte Keselo. »Es sind diejenigen, die für diese >unbekannte Seuche< verantwortlich sind. Sie sind giftig, wie bestimmte Arten von Schlangen, und sie sprühen ihr 343 Gift in die Luft, wo es der Wind aus dem Osten in eure Richtung trägt. Wenn man es unglücklicherweise einatmet, stirbt man.« Tladan wandte sich an Dahlaine. »Kennst du nicht zufällig eine Möglichkeit, das zu verhindern?«, verlangte er zu wissen. »Wir arbeiten daran, Tladan. Im Augenblick lass deinen Freunden erst einmal mitteilen, sie sollten den Atazakanern und ihren kleinen Freunden aus dem Weg gehen. Es gibt nicht viel, was wir gegen dieses >Gift, das mit dem Wind heranweht< unternehmen können, bis wir das Problem gelöst haben.« Dann schnippte Langbogens kleiner Freund Hase mit den Fingern. »Ich wusste ja, wir haben etwas übersehen!«, rief er. »Wir sind alles ein Dutzend Mal durchgegangen, Hase«, sagte Langbogen. »Wir haben nichts übersehen.« »Vielleicht doch, Langbogen«, widersprach Hase und grinste breit. »Den Wind in die andere Richtung zu drehen und so das Gift zu den Atazakanern und ihren kleinen Freunden zurückzuwehen hätte sehr gut funktioniert, nur dürfen Dahlaine und Veltan und Zelana niemanden töten, nicht einmal die Feinde, die es auf sie selbst abgesehen haben. Wenn der Wind aber das Problem ist, warum lässt man ihn nicht einfach einschlafen? Das Gift würde sich nicht mehr verteilen, wenn der Wind nicht weht, also braucht Dahlaine nur dafür zu sorgen, dass sich der Wind legt.« Er blickte Dahlaine an. »Das darfst du doch, oder? Wenn du dem Wind bloß sagst, er soll aufhören zu wehen, benutzt du ihn doch nicht, um deine Feinde zu töten. Damit sorgst du nur dafür, dass Ruhe herrscht.« Dahlaine blinzelte, und dann machte sich ein verlegener Ausdruck auf seinem Gesicht breit. »Gibt es da noch ein Problem, das du nicht lösen kannst?«, fragte Zelana mit einem hinterhältigen Grinsen. »Falls ja, lass es uns einfach wissen, und wir kümmern uns gern darum.« »Ich hätte selbst daran denken sollen«, meinte Dahlaine reumütig zu seinem Bruder Veltan. »Ich möchte annehmen, Aracia ist 344 nicht die Einzige von uns, die mit einem nachlassenden Verstand zu kämpfen hat.« »Deshalb sind wir ja losgezogen und haben Ausländer angeheuert, damit sie uns helfen, großer Bruder«, erwiderte Veltan. »Sie übernehmen das Denken für uns. Das Leben ist doch viel schöner, wenn man nicht seine ganze Zeit damit verbringen muss, sich den Kopf zu zerbrechen.« Alle folgten Dahlaine durch den langen, gewundenen Gang nach draußen. Von Osten wehte eine ziemlich starke Böe heran, doch Dahlaine hob die Hand, und der Wind legte sich sofort. Veltan runzelte die Stirn. »Ich möchte dich nicht beleidigen, großer Bruder«, sagte er, »aber denkst du nicht, dass du gleichzeitig Einfluss auf die Jahreszeiten nimmst, wenn du den Wind zum Stillstand bringst?« »Das bezweifle ich«, gab Dahlaine zurück. »Ich habe den Wind eigentlich nicht zum Stillstand gebracht, sondern ihn lediglich in einer Entfernung von zehn Meilen umgelenkt. Der Wind weht immer noch, nur hier nicht mehr. Wir brauchen absolute Windstille dort, wo die Wesen des Ödlands stehen und ihr Gift in die Luft sprühen. Überall sonst kann der Wind so sehr wehen, wie er möchte.« Sorgan Hakenschnabel kratzte sich am Kinn. »Diese dummen Schlangenmenschen werden doch vermutlich eine Weile brauchen, bis sie begreifen, dass der Wind ihnen nicht mehr hilft, oder?« Dahlaine zuckte mit den Schultern. »Das wäre möglich, denke ich. Worauf willst du hinaus, Sorgan?« »Wenn sie ihr Gift in die Luft sprühen und der Wind nicht bläst, wird es auf sie selbst niederrieseln, oder? Würdest du damit nicht eine dieser Regeln verletzen, die ihr nicht übertreten dürft?« Dahlaine lächelte breit. »Nicht dass ich wüsste. Wenn sie dumm genug sind, sich selbst zu vergiften, liegt die Verantwor345 tung dafür nicht bei mir.« Dann warf er einen Blick in Richtung von Hase. »Lass diesen kleinen Mann nicht gehen, Sorgan. Er ist einer der wichtigsten Leute, die für uns arbeiten.« Kommandant Narasan legte die Stirn leicht in Falten, als er Häuptling Tlantar ansah. »Ich möchte ja nicht neugierig sein«, sagte er, »aber wie bist du zu diesem Beinamen >Zweihand< gekommen?« Tlantar zuckte mit den Schultern und erzählte es ihm. Daraufhin blickte Narasan Keselo an. »Hast du von so etwas schon einmal gehört?«, fragte er. Keselo nickte. »Ich hatte an der Universität einen Lehrer, der mit beiden Händen schreiben konnte - und sogar
gleichzeitig, wenn er angeben wollte. Er sagte uns, das wäre ziemlich selten. Die meisten Menschen bevorzugen eine Hand - die rechte oder die linke -, und Leute, die keinen Unterschied zwischen den zweien merken, kommen nicht häufig vor.« Dann sah er Tlantar neugierig an. »Ist dir jemals ein Unterschied aufgefallen, Häuptling Tlantar?«, wollte er wissen. »Ich meine, fliegt der Speer weiter, wenn du die Rechte und nicht die Linke einsetzt?« Tlantar schüttelte den Kopf. »Es ist bei beiden gleich«, erwiderte er. »Manchmal werfe ich den Speer mit der Rechten ein paar Fuß weiter als mit der Linken, aber an anderen Tagen ist es genau umgekehrt. Vielleicht hängt es davon ab, auf welcher Seite ich in der Nacht zuvor geschlafen habe.« »Einen Mann wie dich findet man selten, Häuptling Tlantar«, meinte Narasan. »Wie gut kennst du dich mit dem Volk von Ata-zakan aus? Sind das gute Krieger?« Tlantar lachte. »Ich würde sie eigentlich nicht einmal als >Krieger< bezeichnen, Kommandant Narasan«, sagte er voller Hohn. »Die einzigen Männer, die dort eine Art Waffen tragen dürfen, sind die >Verteidiger der Göttlichkeit<. Dabei handelt es sich um Faulpelze, die herumlaufen und die gewöhnlichen Leu346 te bedrohen, wenn sie sich nicht schnell genug vor dem >Heiligen Azakan< verbeugen. Sie haben Speere, doch wissen sie kaum, wie man damit umzugehen hat. Über ein gewisses Stochern und Stechen sind sie nicht hinausgekommen. Soweit ich weiß, haben sie noch nie einen richtigen Krieg geführt, also würde ich sagen, sie haben nicht die geringste Ahnung, was sie tun.« »Gibt es einen Grund dafür, dass sie nur Speere haben?«, erkundigte sich Narasan. »Ich habe gehört, der >Heilige Azakan< habe seinem Volk eine Menge Beschränkungen auferlegt. Er ist wahnsinnig und verbringt den größten Teil seiner Zeit damit, sich neue Regeln auszudenken, die keinen Sinn ergeben.« Erneut lachte Tlantar. »Wenn es stimmt, was ich gehört habe, hat er sich einmal den Knöchel verstaucht, und danach waren alle Bewohner von Ata-zakan sechs Monate lang verpflichtet zu humpeln, und die Verteidiger der Göttlichkeit bedrohten alle mit dem Tod, die sich an dieses Gebot nicht gehalten haben.« »Warum entledigt sich das Volk seiner nicht?«, wollte der Tro-git mit Namen Padan wissen. »Sie könnten ihn doch einfach einsperren oder sogar umbringen?« »Vermutlich, weil seine erste Handlung nach seiner Krönung zum Kaiser, König, Gott oder was auch immer es nun ist, darin bestand, hunderte von Männern anzuheuern, die ihn beschützen. Das war eine sehr gute Gelegenheit für jeden, der sich wichtig machen, sich aber dafür nicht anstrengen wollte.« »Hört sich durchaus bekannt an, Narasan, oder?«, sagte die Kriegerkönigin Trenicia. »Dieser fette Priester Bersla in Aracias Domäne hat auch nur vom Reden gelebt und ansonsten vor allem nichts getan - außer essen, versteht sich.« »Da gibt es tatsächlich ein paar unschöne Ähnlichkeiten, ja?«, meinte Veltan und lächelte hinterhältig. »Wir könnten vermutlich eine stattliche Zahl von Matakanern in den Norden schicken, damit sie sich darum kümmern«, warf 347 Keselo ein, »aber wäre es nicht besser, nur eine kleine Truppe von jeder unserer Armeen zu nehmen, um ihnen diesen Schwachsinn auszutreiben? Unsere wichtigste Schlacht müssen wir in der Kristallschlucht austragen. Wir wollen uns doch nicht zu tief in diese Atazakaner-Invasion hineinziehen lassen und die Hauptsache aus den Augen verlieren, und wir wollen auch nicht zu wenige Bogenschützen, Speerwerfer oder Pferdekrieger im Süden stehen haben, wenn der eigentliche Krieg losgeht.« »Da hat er Recht, Narasan«, stimmte Sorgan Hakenschnabel zu. »Außerdem werden die Angehörigen der verschiedenen Armeen dort oben lernen, wie man am besten zusammenarbeitet, und zwar auf bessere Weise als in der Schlucht, durch welche die Schlangenmenschen heranstürmen werden. Dann, nachdem wir die Atazakaner eingemacht haben, können unsere Leute wieder zu uns stoßen und uns berichten, was gut klappt und was nicht.« »Das klingt durchaus sinnvoll, Sorgan«, meinte Narasan zu seinem Freund. »Jedes Mal, wenn wir von einem Teil des Landes Dhrall zum nächsten ziehen, hast du deine Fertigkeiten in der Kriegsführung zu Lande wieder verbessert. So langsam redest du schon wie ein Berufssoldat.« 38 Langbogen sprach leise zu denen, die ihn bei dem Marsch nach Norden begleiten sollten. »Wir wären doch hier in Dahlaines Kartenraum lediglich im Weg«, sagte er, »und draußen im Freien kann ich sowieso klarer denken.« »Da kann ich dir nur zustimmen«, meinte der Pferdesoldat mit dem Narbengesicht, Ekial. »Wenn ich solche Wände um mich herum habe, kann ich überhaupt nicht denken.« »Gehen wir also nach draußen«, schlug Langbogen vor. 348 Sie gingen durch den gewundenen Gang zum Eingang der Höhle. »Das ist besser«, sagte Langbogen und schaute über das weite, leere Grasland hinweg. Dann wandte er sich an seinen langjährigen Freund Athlan. »Sind noch viele Bogenschützen in Tonthakan geblieben?« Athlan runzelte die Stirn. »Die meisten Stämme sind bereits am Berg Shrak eingetroffen, und ich glaube, Dahlaine wäre nicht sehr glücklich, wenn wir uns welche von denen stibitzen würden. Allerdings lebt eine Anzahl von Stämmen ein wenig weiter entfernt. Ich könnte ihnen einen Boten schicken, und vielleicht könnten sie uns dann oben im Norden aushelfen.«
»Ich habe zufällig einen Boten, der sehr schnell laufen kann«, sagte Langbogen und warf Rotbart einen hinterhältigen Blick zu. »Irgendwie habe ich es geahnt«, erwiderte Rotbart und setzte eine bedrückte Miene auf. »Du hast die Pferdesoldaten von der Küste hierher geführt, Rotbart«, erinnerte Langbogen seinen Freund, »du kennst den Weg also. Athlan kann dir sagen, mit wem du sprechen musst und wo du diese Leute findest. Auf deinem Pferd Sieben wirst du rasch dorthin gelangen. Wenn du die in Tonthakan gebliebenen Stämme benachrichtigst und sie über die Berge kommen, erreichen sie den Norden von Matakan vermutlich ungefähr gleichzeitig mit uns.« »Schon gut, Langbogen«, stimmte Rotbart zu. »Du brauchst es mir ja nicht ständig unter die Nase zu reiben.« »Wie viele Bogenschützen sind noch in Tonthakan?«, erkundigte sich Langbogen bei Athlan. »Sechs- bis achttausend«, antwortete Athlan. »Das ist nur eine Schätzung, aber sie sollte einigermaßen stimmen.« »Wenn du damit einverstanden bist, Langbogen, würde ich vorschlagen, dass ich mir vielleicht hundert Reiter nehme und nach Norden vorausreite, sobald wir den Berg Shrak hinter uns 349 haben«, schlug Ekial vor. »Wir brauchen einen Überblick über das Land, und wir müssen unbedingt wissen, wie weit die Ata-zakaner bereits auf das Territorium der Matakaner vorgedrungen sind. Sicherlich besteht kein Grund zur Eile. Wir kommen viel schneller voran als deine Leute. Falls Dahlaine den Wind umleiten kann, besteht auch nicht sehr viel Gefahr für uns.« »Bist du sicher, Dahlaine wird das tatsächlich dulden?«, fragte Padan. »Wenn ich die Sache recht verstanden habe, hat er euch angeheuert, um gegen die Insektenmenschen zu kämpfen.« »Dort unten in der Schlucht liegt im Augenblick nichts anderes an, als ein Fort zu bauen. Außerdem werden unsere restlichen Reiter nach Süden ziehen, dort auf Kundschaft gehen und nach dem Feind Ausschau halten, und darum kümmert sich Ariga. Im Augenblick hat diese Invasion durch die Atazakaner Vorrang. Wir müssen sie aufhalten, ehe sie weiter vordringen. Schließlich sollen sie uns ja nicht in den Rücken fallen, während wir damit beschäftigt sind, die Wesen des Ödlands zurückzuschlagen, oder?« »Das ist in der Tat sinnvoll, denke ich«, räumte Padan ein. Dann warf er Ekial einen forschenden Blick zu. »Ich kenne mich mit deinem Volk nicht sehr gut aus«, sagte er. »Welche Waffen sind denn am besten, wenn man beim Kämpfen im Sattel sitzt?« »Wir finden Lanzen sehr gut«, antwortete Ekial. »Das ist eine ähnliche Waffe wie die, die ihr, die Trogiten, und eure Freunde, die Maags, >Speer< nennen. Eine Lanze ist allerdings fast zwanzig Fuß lang. Wir haben schon vor langer Zeit angefangen, sie zu benutzen - nur war es damals keine richtige Waffe. Es handelte sich einfach um lange Stangen, die an einem Ende gepolstert waren. Wir haben damit Kühe in die Richtung gelenkt, in die sie laufen sollten. Erst vor ungefähr fünfzig Jahren kam jemand auf die Idee, eine Eisenspitze anstelle des Polsters zu benutzen. Bis zu einem gewissen Abstand funktioniert das sehr gut, aber beim Nahkampf benutzen wir Säbel.« »Schwerter, meinst du?« 35° »Ein Säbel entspricht nicht genau dem, was Trogiten >Schwert< nennen, Padan. Eure Schwerter sind dick und gerade. Der Säbel der Malavi ist länger und gekrümmt. Er ist besser zum Hauen als zum Stechen geeignet - vor allem deshalb, weil wir im Kampf ständig in Bewegung sind. >Stechen< ist sicherlich sehr gut, wenn man mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, aber sobald man sich schnell bewegt wie auf einem Pferd, ist es keine gute Idee. Es besteht dann nämlich die Gefahr, dass der Säbel in den Innereien des Gegners oder zwischen den Rippen hängen bleibt. Das könnte einem glatt den Säbel aus der Hand reißen.« »Klingt durchaus logisch, finde ich«, meinte Padan. Ekial wandte sich an Langbogen. »Wie weit im Norden findet diese Invasion aus Atazakan eigentlich statt?« »Laut Dahlaines Karte sind es ungefähr neunzig Meilen«, antwortete Langbogen. Er blickte Tlantar Zweihand an. »Stimmt das ungefähr?« »Ziemlich genau, ja«, meinte Tlantar. »Meine Pferdemänner sollten das in zwei Tagen schaffen«, sagte Ekial, »daher brauchen wir heute noch nicht aufzubrechen. Sobald wir dort angekommen sind, schauen wir uns um, und dann schicke ich euch einen Mann, der euch berichtet, was wir gesehen haben.« »Ich werde Dahlaine mitteilen, dass du vorausreitest, Ekial«, sagte Langbogen. »Er muss ja den Wind auf jeden Fall anhalten, ehe du mit deinen Leuten im nördlichen Matakan eintriffst.« »Keine schlechte Idee, Langbogen.« Dann grinste Ekial. »Wenn dort oben kein Wind weht, können meine Männer und ich ein paar Überfälle auf die Atazakaner veranstalten. Wenn wir die Giftspucker ein bisschen provozieren, bringen sie vielleicht die Hälfte unserer Feinde selbst um, und wir brauchen nicht einmal unsere Säbel zu ziehen.« »Wie viele Männer wird Narasan uns wohl zugestehen?«, erkundigte sich Langbogen bei Padan. 35i »Ich nehme an, zehn Kohorten«, erwiderte Padan. »Wenn Ha-ses Idee mit der Windstille funktioniert und kein Gift auf uns niederregnet, sollten zehn Kohorten genügen. Kommen auch ein paar Maags mit?«
»Wahrscheinlich. Sorgans Vorstellung, die Truppen für diese Maßnahme im Norden zu vermischen, ist ja durchaus sinnvoll. Auf die Weise haben wir uns durch die vergangenen beiden Kriege gearbeitet, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, es würde diesmal nicht funktionieren. Ach, und sag Sorgan und Narasan, wir nehmen auch Hase und Keselo mit. Die beiden kommen gelegentlich wirklich auf sehr nützliche Ideen.« Keselo hatte sich zu Ekial gesellt, und Langbogen, der ein Stück vor ihnen ging, konnte ihre Unterhaltung recht gut hören. »Ich stelle mir ja schon seit längerem eine Frage, Prinz Ekial«, sagte Keselo. »Haben die Malavi ihre Pferde schon einmal benutzt, um sie Gegenstände tragen zu lassen, oder reitet ihr sie nur?« »Zunächst haben wir sie nur zum Tragen verwendet«, erklärte Ekial. »Das Reiten kam ein wenig später. Warum fragst du?« »Wie du vermutlich während des Kriegs in Veltans Domäne bemerkt hast, hatten wir eine Reihe von Kriegsmaschinen, die sich als sehr vorteilhaft erwiesen. Unglücklicherweise sind sie ausgesprochen schwer, deshalb braucht man viele Männer, um sie zu transportieren. Darüber habe ich kürzlich nachgedacht. Dieses Grasland ist doch ziemlich flach, wenn man also einige Schlitten zusammenbinden und die Kriegsmaschinen darauf laden würde, könnten eure Pferde diese Schlitten ziehen, und zwar wesentlich schneller als Menschen.« »Du sprichst von diesen Katapult-Dingern, die große Haufen flüssigen Feuers auf die Insektenmenschen geworfen haben, nicht wahr?«, wollte Ekial wissen. Dann grinste er. »Dieses Feuer auf die Atazakaner zu schleudern würde ihnen das Leben un352 gemütlich machen, oder?« Dann warf er Keselo einen Blick zu. »Ich glaube, hier habe ich noch keine Katapulte gesehen.« »Auf den Schiffen gab es nicht genug Platz, um sie mitzubringen, als wir aus dem Süden heraufgekommen sind, daher müssen wir zunächst neue bauen.« Keselo schaute über das Grasland hinweg. »Allerdings stellt sich da ein Problem. Ich habe noch nicht viele Bäume gesehen, also haben wir nichts, woraus wir sie machen können.« Er seufzte. »Ach, ja«, sagte er. »Trotzdem eine interessante Idee, nur will mir einfach nicht einfallen, wie wir neue Katapulte bauen können.« Langbogen drehte sich um. »Lass den Gedanken nicht gleich wieder fallen, ehe wir alle Möglichkeiten bedacht haben, Keselo«, sagte er. »Im Westen von Tonthakan gibt es sehr viele Bäume, und Padan hat zehn Kohorten, die sich bald zu uns gesellen. Du kannst also zwei Kohorten nehmen, nach Westen ziehen, Bäume fällen und Katapulte bauen. Danach lädst du sie auf Schlitten.« Er wandte sich an Ekial. »Kannst du deine Pferde dazu bringen, diese Schlitten zu ziehen und die Katapulte hierher zu holen, wo wir sie brauchen?« »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Es gibt schließlich keinen Grund, warum die Pferde das alles selbst machen müssen, oder? Im Land Malavi ziehen wir ziemlich häufig herum, aber ein Pferd braucht eben einen Reiter, der ihm sagt, was es zu tun hat. Wenn wir jeweils ein Ende des Seils an einen Katapultschlitten binden und das andere an den Sattel des Pferdes, sollten wir in der Lage sein, die Katapulte ohne große Schwierigkeiten zu schleppen.« »Es scheint, Sorgan Hakenschnabel wusste, wovon er gesprochen hat«, warf Keselo nun ein. »Wenn du Leute aus verschiedenen Kulturen zusammenbringst, finden sie gemeinsam früher oder später die Lösung für jedes Problem, was?« Dann richtete er sich auf. »Ich sollte wohl besser mit Unterkommandant Padan reden«, sagte er. »Wir brauchen ein paar Fässer Naphtha und 353 Teer, wenn wir Brandgeschosse auf die Atazakaner abschießen wollen.« »Musst du eigentlich unbedingt immer bis zur letzten Minute warten, um das Gebräu zusammenzumischen?«, fragte Ekial. »Es ist zu gefährlich, die Bestandteile vorher zu mischen«, erklärte Keselo. »Ein einziger Funke kann diese Mixtur in Brand setzen, daher warten wir immer bis zum letztmöglichen Moment.« »Du bist der Fachmann, Keselo«, meinte Ekial. »Um ganz ehrlich zu sein, möchte ich diesem Gebräu gar nicht zu nahe kommen.« Am nächsten Tag wurde das Wetter schlecht. Beim Aufbruch gesellte sich zu einem stetigen Nieseln auch noch Schnee, der aus dem düsteren Himmel fiel. Hase war ein Stück vorausgegangen und kehrte nun zurück. »Es scheint, Dahlaine hat den Wind recht gut unter Kontrolle«, berichtete er Langbogen und den anderen. »Dieses Unwetter wird uns einen Tag oder so treu bleiben, weil es nicht weiterzieht. Der Regen und der Schnee fallen senkrecht, und in der Luft weht nicht der leiseste Hauch.« Dann kam Tlantar Zweihand zurück, der noch weiter vorausgegangen war, und ihn begleitete ein Malavi. »Eine Meile vor uns befindet sich eine recht große Bisonherde«, sagte Tlantar. »Wir sollten sie am besten vorbeiziehen lassen. Schließlich wollen wir die Tiere nicht erschrecken.« »Ich würde an eurer Stelle auf Tlantar hören, meine Freunde«, riet der Malavi. »Diese zotteligen Viecher sind mindestens viermal so groß wie die Kühe bei uns in Malavi. So große Tiere habe ich nie zuvor gesehen.« »Das ist übrigens Skarn«, stellte Tlantar seinen Begleiter vor. »Er wird die Malavi anführen, die nach Tonthakan reiten, um Keselos Katapultschlitten zu ziehen. Ich habe mit Padan gespro354
chen, und er sagt, die Trogiten würden nicht lange brauchen, um Katapulte und Schlitten zu bauen, wenn sie den Wald erst erreicht haben. Und es wird auch nicht lange dauern, die Schlitten hierher zurückzubringen.« »Solange ihnen nicht ein paar Bisonherden in den Weg geraten«, wandte Skarn ein. »Mir macht es nichts aus, Kühe aus dem Weg zu scheuchen, um an mein Ziel zu gelangen, aber diese Bisons werde ich bestimmt nicht herumtreiben. Ich habe ja schon manche Dummheit begangen, aber ich bin nicht dumm genug, um dermaßen große Tiere zu verärgern.« »Sie liefern uns einen großen Teil unseres Essens«, erinnerte Häuptling Zweihand ihn. Er sah die anderen der Gruppe an. »Seid vorsichtig in der Nähe dieser Bisonherden«, mahnte er. »Manchmal kann sie schon ein leises Geräusch erschrecken, und dann stürmt die ganze Herde los.« »Das kommt mir bekannt vor«, meinte Skarn. »Unsere Kühe reagieren genauso. Wir nennen es >Stampede<.« »Wir auch«, erwiderte Tlantar. »Viele unserer Männer sind bei solchen Stampeden schon ums Leben gekommen. Mein eigener Vater ist gestorben, weil er nicht schnell genug lief, um einer rennenden Bisonherde aus dem Weg zu gehen.« Ekial führte die Vorhut von hundert Malavi-Reitern am nächsten Tag nach Norden, während die übrigen Männer ihren Marsch fortsetzten. Spät am Nachmittag sahen sie eine eigenartig geformte Wolke, die Dahlaines »Kein Wind«-Gebot offensichtlich ignorierte. »Ich dachte, der Wind wäre abgestellt«, meinte Hase. »Das nennen wir hier oben einen >Wirbelwind<«, erklärte Tlantar, »und ich glaube, den könnte auch Dahlaine nicht zum Stillstand bringen.« »In anderen Teilen der Welt heißen sie >Zyklone<«, fügte Padan hinzu, »und vermutlich hast du Recht, Häuptling Zweihand. Ich 355 glaube, die kann nichts aufhalten, wenn sie sich erst einmal in Bewegung gesetzt haben. Wie schützt sich dein Volk vor ihnen?« »Wir haben gute Erfahrungen mit Erdlöchern gemacht«, antwortete Tlantar. »Jedes Dorf hat eine stabil gebaute Erdhöhle, in der die Menschen Schutz finden. Die Wirbelwinde ziehen zwar selten über eines der Dörfer hinweg, aber besser ist besser.« Die dunkle, trichterförmige Wolke zog nach Norden von dan-nen, und Langbogen und die anderen fanden das sehr nett von ihr. Gegen Abend schlugen sie ihr Nachtlager auf und nahmen eine eher kärgliche Mahlzeit zu sich. Nicht lange nach Einbruch der Dunkelheit kam ein narbengesichtiger Malavi über das weite Grasland angeritten. »Ich heiße Orgal«, verkündete er, während er sich von seinem verschwitzten Pferd schwang, »und Prinz Ekial hat mich geschickt, um euch von den jüngsten Ereignissen im Norden zu berichten. Wir haben die Atazakaner aufgespürt, und sie sehen so aus, als würden sie uns keine großen Schwierigkeiten bereiten. Es sind zwar ziemlich viele, aber wir haben sie uns näher angeschaut, und mindestens die Hälfte sind Frauen und Kinder. Einige von ihnen schwangen Gegenstände, die sie möglicherweise für gefährlich halten, aber sie brauchen noch eine Menge Übung, bevor irgendwer sie ernst nehmen wird. Ich würde sagen, die meisten wissen gar nicht, was das Wort >Krieg< bedeutet. Natürlich haben wir alle auf Pferden gesessen, und vermutlich haben sie geglaubt, Mann und Ross seien nur ein Wesen - vier Beine, zwei Arme und zwei Köpfe. Sobald sie uns kommen sahen, rannten sie davon.« »Wie weit sind sie ungefähr von uns entfernt?«, fragte Langbogen den Malavi. »Ich würde schätzen, etwa sechzig Meilen.« »Dann brauchen wir noch drei Tage, um sie zu erreichen«, überlegte Langbogen. »Hält Prinz Ekial so lange durch?« Der Pferdemann grinste. »Da der Feind so dumm ist und 356 nichts über Kriege weiß, könnte Ekial einfach losziehen und sie alle allein besiegen.« »Das wäre aber nicht höflich«, meinte Langbogen und lächelte schwach. »Könntet ihr vielleicht einen Boten nach Westen schicken? Die Bogenschützen mehrerer Stämme sind hierher unterwegs, und einige Trogiten bauen Katapulte. Sie benötigen einen Führer, der sie dorthin bringt, wo wir sie einsetzen wollen. Drüben bei Keselo ist ein Malavi namens Skarn, und er hat Reiter bei sich, welche die Nachricht zu unseren Verbündeten bringen könnten, sobald sie die Route erfahren haben.« »Skarn ist ein alter Freund von mir«, sagte Orgal. »Ich werde hinreiten und selbst mit ihm reden.« Damit wendete er sein Pferd und preschte in Richtung Westen davon. 39 Am späten Nachmittag zwei Tage danach war Langbogen ziemlich sicher, dass sie sich dem Gebiet im nördlichen Matakan näherten, wo Prinz Ekial gegen die Invasion der Atazakaner vorging. Unglücklicherweise jedoch würden Langbogen und seine Freunde an diesem Tag nicht weiter vorankommen, und auch am darauf folgenden Tag wohl nicht. »Es sieht fast aus wie ein Ozean aus Fell, nicht wahr?«, stellte Hase fest, während sie auf dem Hügel standen und die riesige Bisonherde beobachteten, die in Panik nach Westen rannte und Langbogen und seinen Freunden den Weg vollkommen versperrte. »Was mag sie wohl diesmal erschreckt haben?« »Vielleicht hat in zehn Meilen Entfernung jemand geniest«, antwortete Häuptling Zweihand. »So ziemlich alles
kann dazu führen, dass eine Bisonherde anfängt zu rennen. Ein einziger verängstigter Bison kann genügen, um eine Stampede auszulö357 sen. Wenn einer zu rennen beginnt, rennen die anderen hinterher - obwohl sie vielleicht gar nicht wissen, was den ersten aufgescheucht hat.« »Das sorgt doch für ein bisschen Aufregung, wenn man durch diesen Teil der Welt reist«, meinte Hase. »Ich glaube, ich habe noch nie so viele Tiere auf einmal gesehen«, merkte der Bogenschütze Athlan an. »Vermutlich, weil du im Wald lebst, Athlan«, sagte Padan. »Die Tiere im Wald verstecken sich. Wahrscheinlich sind sie zwar da, aber du siehst sie vor lauter Bäumen nicht.« »Also, ich denke, Tiere von dieser Größe möchte ich nicht hüten«, warf der Malavi Tenkla ein. »Diese Bisons scheinen ja fast so schnell zu laufen wie Pferde, und dabei sind sie doppelt so groß. Ich wünschte, Ekial hätte jemand anderem den Befehl gegeben, als er nach Norden davongezogen ist. Wenn ich versehentlich einen Fehler mache, könnten viele Männer ums Leben kommen.« Er blickte Häuptling Zweihand an. »Du hast gesagt, wenn sich ein Bison erschreckt und losläuft, würde ihm die Herde mit großer Wahrscheinlichkeit hinterherrennen. Stehen sie denn sonst herum und beobachten sich die ganze Zeit gegenseitig?« »Ich habe gehört, es hänge mit einem Duft zusammen«, erwiderte Zweihand. »Der verängstigte Bison strömt einen bestimmten Geruch aus, und daraufhin springt die Herde auf und flieht.« »Ich habe schon Seeleute getroffen, die eine Woche getrunken haben«, sagte Hase. »Die rochen so entsetzlich, dass ich auch am liebsten weggelaufen wäre.« Dann grinste er. »Vielleicht ist das die Lösung des Problems, Langbogen. Wenn uns eine Bisonherde den Weg blockiert, könnten wir Ochs betrunken machen, und dann riecht er so übel, dass die Bisons sich umdrehen und davonrennen.« »Wirklich witzig, Hase«, meinte Langbogen. »Schön, dass du darüber lachen kannst«, erwiderte Hase und grinste breit. 358 Ungefähr zwei Tage später erreichten sie den nördlichen Teil von Matakan, wo Ekial und seine Männer gegen die Eindringlinge aus Atazakan vorgingen. »Ich wollte gerade Reiter ausschicken, die euch suchen sollen«, sagte Ekial. »Warum habt ihr so lange gebraucht?« »Wir sind auf eine Herde aufgescheuchter Bisons gestoßen«, erklärte Padan. »Sie haben uns den Weg versperrt.« »Ach«, sagte Ekial. »Das hätte ich mir denken können. Seid ihr in Gefahr geraten, Langbogen?« »Eigentlich nicht«, antwortete Langbogen. »Wir haben auf einem Hügel gewartet, und es scheint, Bisons haben nun nur sehr wenig mit Ziegen gemein. Sie steigen jedenfalls nicht auf Berge, oder?« »Das habe ich auch noch nie gesehen. Wenn sie so ähnlich wie Kühe sind, geht eine Stampede vermutlich schon mal einen Hügel hinauf, aber dadurch werden sie langsamer, und es bereitet ihnen auch nicht solch ein Vergnügen.« »Wie steht die Sache denn so, Ekial?«, fragte Padan. »Wir haben viel Spaß«, antwortete Ekial und grinste fies. »Diese Atazakaner sind hoffnungslos unfähig. Sie sind mit Waffen ausgerüstet, die jemand, der keine Ahnung hat, vielleicht als >Speere< bezeichnen würde, aber sie sind schlecht gearbeitet, und die Atazakaner wissen nicht, wie man damit umzugehen hat. Wir galoppieren auf sie zu, wenn sie es gerade nicht erwarten, spießen ein paar von ihnen mit unseren Lanzen auf, dann galoppieren wir wieder davon. Das wird irgendwann ermüdend, also ziehen wir die Säbel und hauen sie nieder. Ich glaube, sie erkennen in den Säbeln nicht einmal Waffen.« »Wenn ich mich recht entsinne, hat irgendwer einmal gesagt, ein dummer Feind sei ein Geschenk der Götter«, meinte Hase. »Mir ist vielleicht etwas aufgefallen, das ihnen das Leben noch unangenehmer machen könnte«, sagte Padan. »Eine Meile von hier entfernt gibt es eine Reihe Hügel. Auf einem könnten wir 359 ein Fort aus Grassoden bauen und uns dahinter verschanzen. Wenn die Atazakaner das Fort angreifen, werden wir sehr unangenehme Überraschungen für sie bereithalten. Dann, wenn sie uns ausweichen wollen, können wir von dem Hügel herunterkommen, ein paar hundert von ihnen töten und uns wieder in das Fort zurückziehen. Am Ende werden sie fast gezwungen sein, uns anzugreifen, und danach werden nicht mehr viele von ihnen übrig bleiben.« »Und noch weniger, wenn meine Männer und ich im Gras lauern, bis sie das Fort angreifen«, fügte Ekial hinzu. »Wir attackieren sie von hinten. Vielleicht wird der Rest der Atazakaner dann diese dumme Invasion abbrechen und ins eigene Territorium zurückkehren.« Padan schüttelte den Kopf. »Sie werden von unseren wahren Feinden kontrolliert, Prinz Ekial«, sagte er düster. »Gehen wir kein Risiko ein. Wir wollen doch nicht, dass sie uns im Laufe des richtigen Krieges in der Kristallschlucht von hinten angreifen.« Ungefähr zu diesem Zeitpunkt kam der Malavi Orgal angeritten. »Rotbart hat mir gesagt, ich solle euch unterrichten, dass er die Bogenschützen aus Tonthakan herführt, und er wird in ungefähr zwei Tagen eintreffen. Außerdem soll ich euch sagen, dass Keselos Trogiten mit dem Bau der Kriegsmaschinen fertig sind und sie auf die Schlitten geladen haben. Skarns Männer ziehen mit ihren Pferden die Schlitten, und sie werden ebenfalls bald hier sein.«
»Ohne sie wäre es auch nicht das Gleiche, Orgal«, sagte Padan und grinste breit. »Sollte das jetzt ein Scherz sein?«, wollte Orgal wissen. Kurz nach der Dämmerung am folgenden Tag machten sich Langbogen, Athlan, Zweihand und Ekial auf, um sich die Eindringlinge aus Atazakan ein wenig genauer anzusehen. »Die mit den Waffen halten sich weiter hinten auf«, erklärte 360 Ekial. »Diese hier vorn sind nur gewöhnliche Leute. Das macht uns eigentlich ein bisschen zu schaffen. Die Gewöhnlichen dürfen, soweit wir sagen können, keine Waffen tragen. Die mit den prächtigen Kleidern und den Speeren sind die Soldaten - oder zumindest nennen sie sich so. Sie schubsen die Unbewaffneten vor, sodass sie als eine Art beweglicher Barrikade dienen, um meine Reiter - und die hiesigen Matakaner - auf Distanz von denjenigen zu halten, die eigentlich wichtig sind. Ich habe mich anheuern lassen, um gegen Krieger zu kämpfen, und nicht, um unschuldige, unbewaffnete Menschen niederzureiten, daher habe ich ungefähr das gleiche Problem wie Tlantar und seine Speerwerfer. Ich werde keine Unschuldigen töten, aber die Kämpfer schieben sie vor sich her, und meine Männer und ich können deswegen die Krieger mit den Speeren nicht angreifen.« »Warum treibst du sie nicht einfach aus dem Weg?«, schlug Langbogen vor. »Ich bin nicht so gut darin, Menschen zu hüten, Langbogen.« Darüber dachte Langbogen nach. »Ich denke, wir müssen warten, bis Athlans Bogenschützen eintreffen«, sagte er. »Nachdem sie angekommen sind, könnt ihr einen Scheinangriff auf die Front der Atazakaner starten.« »Einen Scheinangriff?« »Stürmt auf sie los, als wolltet ihr jeden Atazakaner in eurer Nähe töten. Die mit den Speeren werden die unbewaffneten gewöhnlichen Leute nach vorn schicken, um euren Angriff abzublocken. Dann können die Bogenschützen aus Tonthakan über die Gewöhnlichen hinwegschießen und hunderte von denen töten, die sich für so wichtig halten. Die Überlebenden werden zurückrennen, um außer Reichweite der Pfeile zu gelangen. Dann stehen die gewöhnlichen Leute ganz allein da. Es sollte nicht schwer fallen, sie nun zu einer sicheren Stelle zu treiben. Nachdem sie aus dem Weg sind, wird der Heilige - wenn auch verrückte - Azakan Befehle brüllen, welche die nicht sehr tapferen 361 >Wächter< vermutlich nicht befolgen wollen, da sie gewissermaßen die unbewaffneten Unschuldigen bei einem Kampf ersetzen müssten, den sie jedoch unmöglich gewinnen können, weil sie abermals in Reichweite der Bogenschützen geraten werden, und eure Pferdesoldaten können jeden von ihnen umbringen, der noch nicht von einem Pfeil getroffen wurde. Ich glaube, nach einer Stunde werden nicht mehr so viele >Wächter< übrig sein, und diejenigen, die noch leben, werden so schnell wie möglich das Weite suchen. Damit bleibt der arme alte Heilige - wenn auch verrückte - Azakan ganz allein und schreit seine Befehle den Wolken zu, der Sonne, dem Mond und den Sternen, allen Dingen eben, die sowieso nicht auf ihn hören. Ein Pfeil - oder eine Lanze - wird dann gewiss für Ruhe sorgen.« »Was ist denn mit den Insektenmenschen?«, fragte Padan. »Wir wissen, wie wir mit denen zu verfahren haben«, sagte Hase. »Die Unschuldigen werden in Sicherheit sein, der verrückte Mann und seine Beschützer tot, und die Insektenmenschen werden nicht mehr existieren. Dann können wir in die Kristallschlucht marschieren und unseren Freunden helfen, den eigentlichen Feind zu eliminieren, und der heißt >das Vlagh<. Den Krieg müssen wir gewinnen. Diese Invasion der Atazakaner ist doch nur ein Ablenkungsmanöver, das uns aus der Kristallschlucht fortlocken sollte.« »Ist dieses >Vlagh< tatsächlich nur ein Käfer?«, erkundigte sich Ekial bei Langbogen. »Ich habe es noch nie gesehen«, antwortete Langbogen, »aber früher oder später werde ich ihm begegnen, und dann werde ich diese Angelegenheit ein für alle Mal zu Ende bringen.« 362 40 Gegen Mittag am folgenden Tag kroch Langbogen durch das dichte Gras zur Kuppe eines kleinen Hügels, um die Eindringlinge aus Atazakan zu beobachten. Sie wirkten nicht besonders gut organisiert, und es herrschte großes Durcheinander bei ihnen. Die »Wächter der Göttlichkeit« waren leicht von den gewöhnlichen Atazakanern zu unterscheiden, da sie grellbunte Kleidung und einfache Speere trugen, welche die gewöhnlichen Leute offensichtlich nicht besitzen durften. Wie Ekial gesagt hatte, trieben die »Wächter« die Gewöhnlichen als Schild gegen die Malavi vor sich her. Dann schlich Hase durch das Gras zu ihm. »Machen sie schon irgendetwas?«, fragte er Langbogen leise. »Nichts Wichtiges«, antwortete Langbogen. »Sie haben sich vor allem damit beschäftigt, die gewöhnlichen Leute nach vorn zu treiben. Anscheinend wollen sie wirklich jede Menge unbewaffnete Atazakaner zwischen sich und Ekials Pferdesoldaten stellen. Ekial und seine Männer zeigen sich gelegentlich, um die >Wächter< glauben zu machen, sie würden tatsächlich bedroht. Wir wollen doch nicht, dass sie sich überlegen, die gewöhnlichen Leute könnten auch andere Dinge an anderen Orten für sie tun.« »Rotbart sollte irgendwann morgen mit den Bogenschützen aus Tonthakan eintreffen«, erwiderte Hase. »Sobald die Bogenschützen die >Wächter< ein wenig zurückgetrieben haben, kann Ekial eingreifen und die Gewöhnlichen nach Norden scheuchen. Darüber habe ich mit ihm gesprochen, und wir stimmten eigentlich darin überein, dass der sicherste Platz für sie vermutlich auf der Rückseite dieser Berge liegt, wo Padan sein Fort baut.
Ekial zeigt es zwar nicht, aber er entwickelt einen richtigen Beschützerinstinkt, was die gewöhnlichen Atazakaner angeht. Fast so, als wären sie eine Art Haustiere.« 363 »Vieh, Hase«, sagte Langbogen. »Nicht gerade Haustiere. Die Malavi verbringen ihre Zeit damit, ihr Vieh zu beschützen. Ich denke, Ekial sieht in diesen hilflosen gewöhnlichen Atazaka-nern so etwas wie eine Viehherde, und die Malavi tun natürlich alles, um ihre Kühe zu beschützen.« »Aus diesem Blickwinkel habe ich die Sache noch nicht betrachtet«, räumte Hase ein. »Ich bin ziemlich sicher, diese Gewöhnlichen sagen nicht sehr oft >Muh<, aber vermutlich kann Ekial es fast hören.« Dann lachte Hase. »Vielleicht sagen sie auch >Mäh<, schließlich ähneln sie durchaus den Schafen in Veltans Domäne, nicht wahr? Omagos Freund, der Schafhirte Nanton, beschützte seine Schafe auch um jeden Preis vor den Wölfen, und Ekial benimmt sich fast mehr wie ein Schafhirte denn wie ein Rinderhüter.« »Man sieht allerdings nur selten Schafhirten mit Narben im Gesicht«, meinte Langbogen. »Jedenfalls können wir uns, nachdem Ekial und seine Männer die Gewöhnlichen aus dem Weg und in Sicherheit getrieben haben, auf die Eliminierung der >Wächter< konzentrieren. Es dauert vielleicht eine Weile, bis der Heilige - aber verrückte Azakan begreift, dass wir die meisten seiner Verehrer fortgebracht oder umgebracht haben, doch irgendwann wird es ihm gewiss auffallen.« Hase hob den Kopf und blickte hinüber zu den Atazakanern, die verwirrt herumliefen. »Ist er das?«, fragte er und zeigte auf einen prachtvoll gekleideten Atazakaner, der auf einem sehr großen Stuhl ungefähr im Zentrum der Invasionstruppe saß. »Ich denke schon«, meinte Langbogen. »Er hat vor einer Weile dem Himmel Befehle zugeschrien. Ich glaube allerdings, die wurden nicht besonders beachtet.« »Und diese Kleinen, die sich um ihn versammelt haben, dürften die Giftsprüher sein, nicht wahr?« Langbogen nickte. »Sie sehen denen ganz ähnlich, die ich nun schon seit langer Zeit töte. Ich habe heute jedoch noch keine 364 sprühen gesehen. Da der Wind nicht weht, ist es keine sehr gute Idee, Gift zu spritzen, da es ja auf sie selbst herunterrieseln würde.« »Ich hatte gehofft, das würde ihnen nicht auffallen«, sagte Hase. »Feinde, die sich selbst vernichten, sind mir nämlich die liebsten.« Dann erhob sich der prächtig gekleidete Atazakaner und brüllte den Himmel wieder einmal an. Das meiste von dem, was er schrie, ergab nicht sehr viel Sinn, aber soweit Langbogen es verstehen konnte, wollte er einem Blitz einen Befehl erteilen -der jedoch leider gerade nicht in der Nähe war. »Zerschmettere meine Feinde!«, verlangte er. »Ich befehle es dir: Stoße auf sie hernieder. Dann mache mir den Weg frei, damit ich meinen Erzfeind, Dahlaine den Usurpator, stellen kann! Tu, was ich dir befehle, denn ich bin der Gott des ganzen Landes Dhrall! Du musst mir gehorchen, oder ich werde dich für jetzt und immerdar vom Himmel verbannen - denn auch der Himmel gehört zu meinem Reich.« »Der ist aber wirklich verrückt«, kommentierte Hase. »Ich glaube, jemanden, der so verrückt ist, habe ich noch nie gesehenl Gibt es denn kein Mittel dagegen?« »Ich hatte bisweilen Erfolg mit einem Pfeil, den ich Wahnsinnigen mitten in die Stirn geschossen habe«, erwiderte Langbogen, »aber der liebe alte Heilige ist ungefähr dreihundert Schritt entfernt, und ich will meinen Bogen doch besser nicht bei dem Versuch verstauchen, so weit zu schießen.« »Kann man einen Bogen denn verstauchen?«, fragte Hase ziemlich skeptisch. »Ich bin nicht sicher«, gab Langbogen zu. »Aber ich werde es nicht darauf ankommen lassen.« Spät am Nachmittag des folgenden Tages kam Skarn, begleitet von Rotbart, ins provisorische Lager geritten. »Die Bogenschüt365 zen sind nicht weit hinter uns«, berichtete Skarn und schwang sich aus dem Sattel. »Und Keselos Schlitten wiederum sind nicht weit hinter ihnen«, fügte Rotbart hinzu. Er blickte Tladan an, der aus diesem Teil von Matakan stammte. »Westlich von hier muss es früher mal einen Fluss gegeben haben, oder?« »Er ist ausgetrocknet«, erwiderte Tladan. »Wie hast du das herausgefunden ?« »Es gibt da ein niedriges Tal, das von hier in diese Richtung verläuft«, antwortete Rotbart. »Als Schlucht oder Klamm würde ich es nicht gerade bezeichnen, doch wurde es offensichtlich von fließendem Wasser ausgewaschen. Im Winter habt ihr ziemlich viel Schnee hier, nicht wahr?« »Oh ja«, bestätigte Tladan. »Und dieses trockene Flussbett füllt sich jedes Jahr im Frühjahr mit Wasser, stimmt's?« »Du hörst dich an, als wärst du schon einmal hier gewesen.« »Also, nicht genau hier«, meinte Rotbart. »Das Gleiche passierte jedes Jahr dort, wo ich aufgewachsen bin. Es ist doch schön, zu wissen, dass manche Dinge anderswo genauso sind wie daheim.« Er schaute sich um. »Euer Lager sieht ein wenig unordentlich aus, Langbogen«, bemängelte er. »Wir wollen uns nicht dauerhaft niederlassen, Rotbart. Wenn alles so läuft wie geplant, sind wir in ein paar Tagen wieder zum Berg Shrak unterwegs.«
»Demnach stellen die Atazakaner keine große Bedrohung dar?« »Eher gar keine. Sie haben die Unfähigkeit zur Perfektion getrieben.« Rotbart blickte sich erneut um. »Wo ist Padan?«, fragte er. »Er baut ein Fort aus Grassoden auf einem Hügel ein Stück weiter nördlich«, erklärte Langbogen. »Du weißt ja, wie wichtig den Trogiten Forts sind. Auf jeden Fall ist er fast fertig damit. 366 Dann wird er von seinen Männern im Osten Brustwehren errichten lassen, um die Atazakaner aufzuhalten.« »Ist deren glorreicher Anführer tatsächlich so verrückt, wie alle sagen?« »Noch verrückter«, sagte Langbogen. »Hase und ich haben gestern beobachtet, wie er einem Blitz Prügel angedroht hat.« »Das ist allerdings verrückt«, befand auch Rotbart. »Wir arbeiten daran, ihn von seiner Verrücktheit zu heilen.« »Ach?« »Ich glaube, man nennt es >Töten<, Rotbart. Mir ist aufgefallen, dass das >Töten< so ungefähr jede Krankheit heilen kann.« »Sie sehen eigentlich gar nicht wie Soldaten aus, Athlan«, höhnte der junge Bogenschütze namens Zathan, als er den Hügel hinunter zu den Eindringlingen aus Atazakan schaute. »Ich würde sie auch nicht Soldaten nennen, Zathan«, antwortete Athlan. »Diejenigen, die sich unten am Hang versammelt haben, sind die gewöhnlichen Leute, die überhaupt nicht hier sein sollen. Der Wahnsinnige, der die Befehle gibt, hat entschieden, sie als menschliche Barrikade zu benutzen, wenn der Krieg beginnt. Sie haben nicht einmal Waffen. Bestimmt sind sie nicht freiwillig hier, aber die mit den Speeren hinter ihnen haben sie gezwungen, damit sie zwischen uns und denen stehen können, die sich für wichtig halten. Wir werden ihren großartigen Plan allerdings durchkreuzen. Wenn sie den Hang hinaufrennen, schießen wir unsere Pfeile über die ohne Waffen hinweg und töten die Wichtigtuer stattdessen. Die so genannten Wichtigen, beziehungsweise also die von ihnen, die dann noch leben, werden daraufhin, so schnell sie können, davonrennen, um außer Reichweite unserer Pfeile zu gelangen. Dann kommen die Pferdesoldaten ins Spiel und treiben die ohne Waffen nach Norden zu einem sicheren Ort. Diejenigen, die sich für wichtig halten, werden sich uns dann ohne ihre menschliche Barrikade stellen müs367 sen. Langbogen glaubt, die meisten würden auf der Stelle kehrtmachen und ihr Heil in der Flucht suchen. Das dürfte den Verrückten noch verrückter machen - bis wir so nahe an ihn herangekommen sind, um ihm ein Dutzend Pfeile oder so in den Bauch zu schießen. Nach seinem Tod werden diejenigen, die sich für wichtig halten, vollkommen zusammenbrechen, und damit hat dieser unsinnige Krieg ein Ende.« »Das gefällt mir!«, sagte Zathan und grinste breit. »Wenn alles vorbei ist, schleppen wir die Toten hinüber zur Grenze des matakanischen Territoriums, sodass die Leichen dort verrotten können und der Gestank die Luft im Land der Atazakaner verpestet?« »Wir sollten Dahlaine fragen, was er davon hält«, meinte Ath-lan. »Wenn es im Grenzgebiet richtig übel stinkt, brauchen wir uns vermutlich über weitere Invasionen keine Gedanken zu machen.« »Bei den Rentierstämmen hat das doch auch gut geklappt«, sagte Zathan. »Und was einmal geklappt hat, sollte vermutlich nochmals funktionieren.« »Schauen wir mal«, antwortete Athlan. Langbogen lächelte. Die Tonthakaner hatten so eine schlichte Art an sich, die er sehr mochte. Meistens zog er Schlichtheit der Kompliziertheit vor, aber leider hatte Langbogen so seine Zweifel, dass er die Ausländer davon überzeugen könnte. 41 »Ich bin nicht sicher, warum«, berichtete Keselo, als er am nächsten Tag zu ihnen stieß, »aber gestern ist den ganzen Tag eine Bisonherde hinter unseren Schlitten hergelaufen.« »Möglicherweise haben die Pferde der Malavi damit zu tun«, 368 schlug Padan als Erklärung vor. »Mir ist schon aufgefallen, wie stark die Pferde riechen, wenn sie hart arbeiten. Meinst du, diese Herde, die euch folgte, könnte eine dieser großen sein, von denen uns die Matakaner erzählt haben? Eine, bei der es eine Woche dauert, bis sie vorbeigezogen ist?« »So viele Tiere waren es auch wieder nicht, Unterkommandant«, erwiderte Keselo. Plötzlich verwoben sich in Langbogens Kopf ein paar lose Fäden. »Sag mal, Zweihand, diese Bisons, haben die Angst vor Feuer?«, fragte er. »Alle Tiere haben Angst vor Feuer, Freund Langbogen«, antwortete Zweihand. »Gelegentlich gibt es hier in Matakan Grasbrände, und dann brechen die Bisons in Panik aus.« »Sagen wir mal, ein Feuer würde genau hinter der Herde ausbrechen, die Keselos Schlitten gefolgt ist. Dann würde sie doch nach Osten rennen, oder?« »Ich glaube, ich verstehe, worauf du hinauswillst, Langbogen«, sagte Hase, »aber übersiehst du nicht etwas? Ein Feuer breitet sich nicht sehr schnell aus, wenn es nicht vom Wind angefacht wird, und wir wollten doch nicht, dass der Wind wieder weht.«
»Darauf komme ich gleich zu sprechen«, sagte Langbogen. »Also, Zweihand, du und Tladan, ihr habt sicherlich schon häufig beobachtet, wie Bisonherden in Panik losrennen, oder?« Tlantar nickte. »Zu häufig«, gab er düster zurück. »Sei nicht so traurig, Freund Zweihand. Diesmal wird es dir sicherlich gefallen. Eine große Bisonherde ist Keselos Schlitten durch das alte Flussbett hierher gefolgt. Wenn jetzt hinter ihnen ein Feuer ausbricht, werden sie vermutlich in dem Flussbett bleiben, oder?« »Nicht unbedingt, Langbogen. Wenn eins der Tiere ausbrechen und am Ufer hinaufklettern würde, könnte ihm die gesamte Herde hinterherstürmen.« 369 »Nicht, wenn vor ihnen plötzlich weitere Brände auftauchen würden.« »Das ist eine interessante Idee, Langbogen«, sagte Zweihand, »aber Hase hat gerade gute Einwände vorgebracht. Wenn das Feuer nicht vom Wind angefacht wird, brennt es nicht lange. Willst du etwa hinter den Bisons herrennen und alle hundert Schritte einen neuen Brand legen?« »Ich denke, das wird nicht notwendig sein, Häuptling Zweihand«, entgegnete Langbogen und grinste breit. »Ich habe da diesen Freund namens Keselo, und der kann fast alles in Brand setzen, was er will. Dazu hat er ein spezielles Werkzeug, das eigens dafür gebaut wurde, Brände zu legen. Keselo kann hinter den Bisons Feuer anzünden und außerdem vor jedem Tier, das ausbrechen will, um in Sicherheit zu gelangen. Wenn Keselo sich dort unten mit seinen Maschinen aufstellt, wird die Stampede der Bisons durch das alte Flussbett stürmen, und keines der Tiere wird weit kommen, wenn es versucht, das Flussbett zu verlassen. Sobald sie losrennen, kann Keselo sie durch das Flussbett treiben, bis sie dort zu diesem Hügel kommen. Dann rennen sie nach Osten, weil weitere Feuer nach ihren Schwänzen schnappen. Vermutlich werden sie den Heiligen Azakan und seine edlen und unfähigen Wächter gar nicht bemerken. Die Herde wird einfach über die Atazakaner hinwegrennen und nicht einmal die Geschwindigkeit verringern.« »Das wird vermutlich ein bisschen heikel, Langbogen«, meinte Ekial skeptisch. »Meine Männer und ich müssen die gewöhnlichen Leute von den anderen trennen und in Sicherheit bringen, ehe Keselo die Stampede der Bisons auslöst, und niemand kann genau vorhersagen, wie lange das in Anspruch nehmen wird. Schlimmer noch, wir werden vermutlich außer Sicht sein, wenn wir diesen sicheren Ort erreichen. Woher soll Keselo dann wissen, wann er das Gras in Brand stecken muss?« 37° »Das hört sich an, als könnten wir mal wieder auf Hörner zurückgreifen, nicht wahr, Langbogen?«, schlug Hase vor. »An so etwas in der Art habe ich auch schon gedacht«, stimmte Langbogen zu. »Du hast doch den Krieg in Veltans Domäne beobachtet, Ekial, und wahrscheinlich hast du gelegentlich ein Tuten gehört.« »Tuten?«, fragte Ekial und runzelte die Stirn. »Den Begriff hat Eleria dafür ziemlich oft benutzt«, erklärte Langbogen. »Die Maags benutzen Messinghörner, um sich miteinander zu verständigen, und die Eingeborenen von Zelanas Domäne benutzen die Hörner von Tieren zum gleichen Zweck. Wenn Rotbart dich auf Sieben begleitet, kann er in sein Hörn stoßen, sobald ihr die gewöhnlichen Atazakaner in Sicherheit geführt habt. Keselo wird das Feuer hinter den Bisons erst anzünden, wenn er Rotbarts Hörn hört.« Langbogen legte die Stirn in Falten. »Um kein Risiko einzugehen, könnte Keselo ebenfalls in sein Hörn stoßen, wenn er mit den Katapulten die Feuergeschosse hinter die Bisonherde schießt. Dann werden diejenigen, die hinter den Brustwehren stehen, diese auseinander brechen und wegrennen.« »Du willst doch nicht etwa die Brustwehren zerstören, die meine Männer und ich zu eurem Schutz gebaut haben?«, protestierte Padan. »Wir wollen schließlich nicht, dass den Bisons irgendetwas den Weg versperrt, oder? Die Tiere sind sich dessen zwar vermutlich nicht bewusst, aber sie arbeiten für uns. Deshalb wollen wir unseren zotteligen Freunden die Sache so leicht machen wie möglich, oder? Die Bisons werden eine freie Bahn haben, der sie folgen können, und so preschen sie einfach über den Heiligen -aber verrückten - Azakan und seine ergebenen Wächter der Göttlichkeit hinweg, und diese >Invasion< findet damit ihr Ende. Der >Heilige Azakan< wird den Blitzen Befehle zubrüllen, und wahrscheinlich auch dem Gras und dem Boden, aber ich nehme 37i an, die werden ihm nicht gehorchen. Und das ist noch nicht alles: Ein weiterer Vorteil wird sich erst im nächsten Frühjahr zeigen. Das Gras hier oben wird sehr grün sein und viel höher wachsen als gewöhnlich. Die vielen Atazakaner, die zu Brei getrampelt werden, dürften einen hervorragenden Dünger abgeben, oder meint ihr nicht?« »Du bist ein bösartiger Mann, Langbogen«, erwiderte Ekial und brach in schallendes Gelächter aus. Beim ersten Licht des nächsten Tages stiegen Langbogen und mehrere seiner Freunde einen kleinen Hügel hinauf, der sich neben dem seichten Flussbett erhob und von dem aus man Padans Brustwehren und den Hang überblicken konnte, auf dem die Eindringlinge aus Atazakan lagerten. »Es ist noch ein wenig dunkel, um viel zu erkennen«, meinte Hase. »Die Tage werden immer kürzer, oder?« »Das gehört zu den Eigenheiten dieser Jahreszeit«, meinte Tladan und lächelte dabei nicht. »Der Winter scheint aus irgendeinem Grund lange Tage nicht zu mögen.« »Ich habe es selbst noch nicht mit eigenen Augen gesehen«, erzählte Athlan, »aber ich habe gehört, einer der
Rentierstämme lebe so weit im Norden, dass die Sonne im späten Herbst untergeht und erst wieder im Frühling über ihrem Gebiet aufgeht. Das macht sie jedoch im Mittsommer wieder wett. Dann geht sie überhaupt nicht mehr unter, und so lebt dieses Volk einen Monat lang ohne Nächte. Vierzig Tage lang herrscht ununterbrochen helllichter Tag.« »Da ist es sicherlich schwierig, nachts Schlaf zu finden«, meinte Häuptling Zweihand. »Wahrscheinlich holen sie den Schlaf im nächsten Winter nach«, vermutete Athlan und spähte hinunter zum Flussbett. »Soweit ich erkennen kann, hat Keselo seine Maschinen ungefähr zwei Meilen von dem ausgetrockneten Fluss entfernt aufge372 stellt. Sie stehen anscheinend am äußersten Rand des Tals. Ist das nicht zu weit von dem Punkt entfernt, wo Keselo das Gras in Brand stecken soll?« »Ich denke, seine Katapulte werden dich überraschen, Athlan«, antwortete Hase. »Die Trogiten haben ihre Feuerbälle in Veltans Land gut eine halbe Meile weit geschleudert.« Er sah Langbogen an. »Hat Ekial eine Andeutung fallen lassen, wann er anzufangen gedenkt, die gewöhnlichen Atazakaner von denen mit Speeren fortzutreiben?«, erkundigte er sich. »Er wird sicherlich ein wenig mehr Licht brauchen«, gab Langbogen zurück. »Schließlich will er sicher sein, dass er alle Gewöhnlichen erwischt. Außerdem muss ja auch Keselo die Bisons sehen, ehe er das Feuer legen kann. Es soll schließlich hinter der Herde brennen und nicht mitten zwischen den Tieren.« Die Bogenschützen aus Tonthakan schössen ihre Pfeile über die unbewaffneten Atazakaner hinweg, und aus einer stattlichen Anzahl von »Wächtern der Göttlichkeit« ragten gefiederte Pfeilschäfte an Stellen, die sich niemand gern durchbohrt wünscht. »Ich war der Ansicht, wir würden diese dummen Atazakaner von den Bisons niedertrampeln lassen«, meinte Häuptling Zweihand. »Nicht, bevor Ekial die Gewöhnlichen in Sicherheit gebracht hat«, erklärte Langbogen. »Athlan und ich haben uns darüber unterhalten, und es erschien uns nur logisch, dass ein kurzer Pfeilhagel die >Wächter der Göttlichkeit< dazu anregen würde, sich zurückzuziehen. Dann sind sie Ekial nicht im Weg, er wird also nicht gestört, wenn er die Gewöhnlichen forttreibt. Außerdem haben die Bisons mehr Zeit und Platz, um richtig Anlauf zu nehmen. Wenn sie rennen, können sie die Atazakaner besser niedertrampeln, als wenn sie gehen.« Er setzte sein Florn an die Lippen und gab das verabredete Signal. »Jetzt wird sich Ekial in Bewegung setzen«, erklärte er den anderen. »Wir wissen nicht, wie 373 schnell sich die Gewöhnlichen bewegen. Vermutlich haben sie nicht besonders viel gegessen in letzter Zeit, also sind sie möglicherweise ein wenig geschwächt.« Prinz Ekial und seine Männer gingen überraschend behutsam vor, als sie die unglücklichen »Gewöhnlichen« aus der Gefahrenzone brachten. Ekial nahm häufig eine bedrohliche Haltung ein, aber Langbogen dachte sich schon, dass es sich dabei nur um eine Pose handelte. Tief im Innern, dort, wo es darauf ankam, war Ekial überhaupt nicht bedrohlich. Das ergab durchaus Sinn. Schließlich hatte Ekial sein Leben damit verbracht, Vieh zu treiben, und in gewisser Hinsicht waren ihre Kühe in Malavi beinahe Haustiere. Prinz Ekials Pose wurde vollends als solche entlarvt, als er sich aus dem Sattel nach unten beugte, ein kleines Kind aufhob, das hingefallen war, und den Jungen nun in Sicherheit trug. »Hast du das gesehen?«, meinte Hase und lächelte schwach. »Anscheinend hat der große böse Ekial doch einen weichen Kern.« »Ich würde ihn nicht unbedingt darauf ansprechen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe, kleiner Freund«, schlug Langbogen vor. »Daran würde ich nicht im Traum denken«, erwiderte Hase. »Allerdings werde ich ein wenig humpeln. Wenn ich genug humpele, darf ich vielleicht auf seinem Pferd mitreiten.« Im Osten begann der Horizont schwach zu leuchten, als Rotbarts Hörn ertönte und verkündete, dass die unbewaffneten Atazakaner aus dem Weg waren, und Hase nahm sein Hörn und gab das Signal an Keselo weiter. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte der kleine Schmied zu Langbogen und den anderen. »Keselo ist ein ganzes Stück entfernt, und es ist ziemlich wichtig, dass er jetzt die Feuer legt.« Langbogen blickte nach Osten. Die »Wächter« hatten sich 374 nur ein kurzes Stück zurückgezogen, bis sie außer Reichweite der Pfeile waren. Offensichtlich hatte der Heilige Azakan die Männer, die ihn beschützen sollten, immer noch fest im Griff. Dann hörten sie Keselos Hörn aus dem trockenen Flussbett, und Langbogen und seine Freunde schauten zu, wie die zotteligen Bisons auf das Feuer aufmerksam wurden. Den Umständen entsprechend fiel ihre Reaktion angemessen aus. Sie rannten. Nach einer Weile begann Keselos erstes Feuer zu flackern und erstarb, und ein anderes Katapult schoss ein weiteres Geschoss ins Flussbett. Die Bisons setzten ihre Flucht fort. »Es scheint zu funktionieren«, beobachtete Athlan. »Keselo ist ein zuverlässiger junger Mann«, erwiderte Hase.
»Das werden wir sehen«, sagte Häuptling Zweihand. »Ich würde gern erfahren, ob er die Bisons daran hindern kann, dieses Flussbett zu verlassen. Dann wüssten wir nämlich, ob die Sache funktioniert. Wenn nämlich nur einer der Bisons in Sicherheit gelangt, wird die ganze Herde folgen, und alles wäre umsonst gewesen.« »Du siehst aber ziemlich schwarz«, meinte Hase. »Versuch doch mal, die Sache von der guten Seite her zu betrachten.« »Seit diese Seuche hier ausgebrochen ist, gibt es keine gute Seite mehr«, entgegnete Zweihand. »Wir werden bald Bescheid wissen, Häuptling Zweihand«, mischte sich Tladan ein. »Drüben auf der Südseite des Flusses versucht gerade ein Bison, die Uferböschung hinaufzuklettern.« Langbogen sah den fliehenden Bison und hielt den Atem an. »Da kommt Keselos Antwort«, sagte Hase. Alle schauten gespannt zu, wie der Bison die mit Felsen übersäte Böschung hinaufstieg. Im nächsten Moment sauste eine Feuerkugel wie ein Komet über den ausgetrockneten Fluss hinweg, schlug auf dem grasbewachsenen Teil des Uferhangs ein und verspritzte Teer und Baumharz in alle Richtungen. 375 Der fliehende Bison fuhr herum und rannte zu seiner Herde zurück. »Na, das war doch mal eine gute Seite, Häuptling Zweihand, oder?«, fragte Hase und grinste besserwisserisch. »Ist er immer so?«, erkundigte sich Zweihand bei Langbogen. »Es kommt jedenfalls gelegentlich bei ihm vor«, erwiderte Langbogen. »Hase ist sehr klug, und das reibt er den Leuten gern unter die Nase. Wir haben versucht, es ihm abzugewöhnen, aber leider bricht diese Eigenart immer wieder durch.« Padans Soldaten und die Bogenschützen aus Tonthakan brachen die Brustwehren nieder und machten sich so schnell wie möglich aus dem Staub. »Lass dir nicht zu viel Zeit, Padan!«, rief Langbogen. »Stoß einfach nur die Brustwehren um. Du hast keine Zeit, die Sodenblöcke aus dem Weg zu räumen. Die Bisons werden sie sowieso platt trampeln.« »So wird's gemacht und nicht anders, Käpt'n«, rief Padan zurück und grinste breit. »Dieser Spaßmacher«, murmelte Langbogen in sich hinein. »Sie werden langsamer, Langbogen«, rief Hase von der Vorderseite des Hügels. »Mir scheint, sie sind schon ein bisschen außer Atem.« »Verschießt Keselo immer noch Feuer?« »Ich glaube, ihm ist das Gras ausgegangen. Die Katapulte schleudern allerdings immer noch Brandgeschosse hinter die Herde. Soll ich das Tut-Signal zum Aufhören geben?« »Das wäre vielleicht besser«, meinte Langbogen. »Padan hängt ein wenig hinterher.« Hase setzte das Hörn an die Lippen und blies zwei scharfe Töne. Keselos Katapulte stellten den Beschuss ein, und die fliehenden Bisons verlangsamten ihr Tempo noch mehr. 376 Langbogen blickte nach Osten, wo er die Staubwolke gewahrte, welche die Malavi-Pferdemänner während der Rettung der gewöhnlichen Atazakaner aufgewirbelt hatten und die sich nun nach und nach senkte. Die »Wächter der Göttlichkeit«, die dem Pfeilhagel der Tonthakaner entgangen waren, wurden ziemlich nervös, als sie begriffen, dass zwischen ihnen und dem Feind keine Gewöhnlichen mehr standen. Die höherrangigen Wächter in der Nähe des Göttlichen Azakan schienen dies ein wenig schneller zu begreifen als ihre Kameraden, denn sie drängten vorwärts und hoben ihre Speere bedrohlich, um den Atazakanern, die nun die vorderen Reihen bildeten, zu bedeuten, dass die Möglichkeit der Flucht für sie nicht länger infrage kam. »Sie verbringen mehr Zeit damit, sich gegenseitig mit den Speeren zu bedrohen, als damit, ihre Waffen gegen den Feind einzusetzen«, beobachtete Hase. »Den Atazakanern ist es offensichtlich sehr wichtig, jemanden - irgendwen - zwischen sich und dem Feind zu wissen«, sagte Langbogen. »Persönliche Sicherheit ist ihre Hauptsorge.« Dann stellte sich Hase auf die Zehenspitzen und beschattete die Augen. »Die kleinen Giftsprüher haben wohl beschlossen, dass sie nicht mehr mitspielen wollen. Sie schlagen sich in die Büsche. Nun, da Dahlaine den Wind zum Erliegen gebracht hat, sind sie nicht mehr nützlich, und das hat den alten Heiligen vermutlich ziemlich aufgebracht. Einen Verrückten zu verärgern ist keine so gute Idee, oder?« »Langbogen!«, rief Padan. »Wir haben die Brustwehren fast vollständig aus dem Weg geräumt. Brauchst du uns noch?« »Im Moment fällt mir nichts ein«, rief Langbogen zurück. »Führe deine Männer aus der Gefahrenzone.« Dann schaute er zum trockenen Flussbett. Die Bisons liefen immer weiter herum und hatten noch nicht wieder begonnen zu grasen. »Es ist Zeit für das nächste Tuten«, sagte er zu Hase. »Teil Keselo mit, er solle die Bisons wieder in Bewegung versetzen.« 377 »Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr darum bitten«, erwiderte Hase und hob das Hörn an die Lippen. Im Osten hingen Wolkenfetzen am Horizont, und die Sonne, die kurz davor stand, aufzugehen, strahlte sie in farbenfrohem Spiel an. Langbogen fühlte sich in diesem baumlosen Grasland noch immer nicht richtig wohl, doch musste er zugeben, dass die Sonnenauf- und -Untergänge in dieser Gegend von unglaublicher Schönheit waren.
Er riss seine Gedanken von der Landschaft los und schaute hinunter ins trockene Flussbett, wo Keselos Brandgeschosse Flammen spuckend keine zwanzig Schritt hinter den verängstigten Bisons niedergingen. Die riesigen Tiere flohen panisch durch die Flussniederung. Ganz offensichtlich waren die Bisons nicht so schlau wie das Rotwild in Zelanas Domäne - und auch keineswegs so zaghaft. Ein Rudel Hirsche konnte beim leisesten Geräusch im Wald verschwinden. Bisons hingegen waren nicht so furchtsam, zumindest, solange nicht jemand Feuer nach ihnen warf. Dann kam die Bisonherde über den Bergrücken im Norden des kleinen Hügels, von dem aus Langbogen und seine Freunde zuschauten. »Ich habe bisher gar nicht richtig begriffen, wie groß sie sind«, meinte Hase, und Ehrfurcht schwang in seiner Stimme mit. »Sie werden doch nicht hier heraufkommen, Häuptling Zweihand?« Tlantar schüttelte den Kopf. »Sie wählen immer den leichtesten Weg, und der führt den Hang hinunter. Ich bin sicher, sie werden möglichst viel Raum zwischen sich und das Feuer bringen wollen, und sie laufen schneller, wenn es bergab geht.« »Gibt es drüben in Atazakan auch Bisonherden?«, fragte Ath-lan. »Ich bin nie da gewesen«, antwortete Zweihand, »aber ich be378 zweifle es. Bisons fressen Gras, keine Bäume, daher interessieren sie sich nicht für Waldgebiete.« »Die Atazakaner haben demnach vermutlich noch nie eine Bisonherde gesehen, oder?« »Das ist jedenfalls unwahrscheinlich. Und selbst wenn es dort drüben Bisons gäbe, leben der Heilige Azakan und seine Wächter in der Stadt Palandor, und bei den wildesten Tieren, die sie je gesehen haben, dürfte es sich um Vögel handeln. Vermutlich erkennen sie die Gefahr, in der sie schweben, erst, wenn es zu spät ist. Ich glaube, das nennt man >etwas auf die harte Tour lernen<, und es ist meist die schlimmste Art, etwas Neuem zu begegnen.« »Für den Rest ihres Lebens werden sie umso weiser sein«, meinte Hase, »auch wenn das nur noch fünf Minuten dauert.« Wie Zweihand vorausgesagt hatte, nahm die Stampede der Bisons an Geschwindigkeit zu, während die Herde den Hügel hinunter floh. Die »Wächter«, die am oberen Ende des Hangs standen, starrten die riesigen Tiere, die auf sie zupreschten, mit offenem Mund an, dann drehten sie sich um und versuchten da-vonzurennen. Diejenigen, die weiter unten am Hang standen, begrüßten die Herde hingegen mit Speeren und Befehlen an die übrigen Atazakaner, ihre Positionen wieder einzunehmen. Diese Auseinandersetzung dauerte allerdings nicht sehr lange, weil die verängstigte Bisonherde einfach über die erste der beiden Gruppen hinwegpreschte. Dann demonstrierte der Heilige Azakan ein letztes Mal seinen Wahnsinn, erhob sich von seinem verzierten Stuhl - oder möglicherweise seinem Thron - und hob befehlend die Hand. »Kommt nicht näher!«, ordnete er an. »Ich bin euer Gott! Kniet vor mir nieder, sonst werde ich euch alle mit Vernichtung überziehen. Wenn ihr mir den Gehorsam verweigert, werde ich euch bestrafen, und groß wird euer Leid sein. Ich werde der Erde befehlen, sich zu öffnen und euch zu verschlucken! Ich werde so379 gar der Sonne befehlen - die mein Vater ist -, euch zu Asche zu verbrennen. Wahrlich, so sage ich euch, ihr alle habt euren letzten Tag gesehen, und groß wird das Klagen sein - denn wahrlich ...« In diesem Moment unterbrach er sich, blickte sich um und riss entsetzt die Augen auf, da er begriff, dass er allein dastand. Seine »Wächter« hatten entweder voller Schrecken die Flucht ergriffen oder verschwanden mit lautem Angstgeschrei unter den Hufen der aufgescheuchten Bisons. »Mutter!«, schrie Azakan. »Rette mich! Rette mich, bitte, Mutter, bitte! Sie dürfen mir nicht wehtun!« Dann wurde seine Stimme schriller und drückte sein ganzes Entsetzen aus, doch die Bisons nahmen darauf keine Rücksicht, und Azakans Gebrüll ging im Donnern tausender Hufe unter. »Das passt ja hervorragend!«, meinte Häuptling Zweihand. »Ich kann dir nicht ganz folgen«, meinte Langbogen. »Zwar weiß ich es nicht mit Sicherheit, Freund Langbogen«, sagte Tlantar, »doch vor langer Zeit hörte man in Asmie die Geschichte, dass die erste Sache, die Azakan tat, nachdem er den Thron von Atazakan bestiegen hatte, darin bestand, seine Mutter und ihre anderen Kinder hinrichten zu lassen. Nun musste er selbst erleben, wie das ist. Er starb, während er seine Mutter anflehte, ihn zu retten, aber sie war nicht mehr da.« »Ein paar haben sich retten können, Häuptling Zweihand«, erstattete Tladan gegen Mittag Bericht. »Das waren die Klügeren -oder vielleicht auch Glücklicheren -, die sich hinter den großen Felsen auf dem Hang versteckt haben. Wir haben sie umzingelt und ihnen die Speere abgenommen. Was sollen wir nun mit ihnen anstellen?« Zweihand zuckte mit den Schultern. »Sag ihnen, sie können nach Hause gehen«, schlug er vor. Dann kratzte er sich an der Wange und wandte sich zu Ekial um. »Du möchtest doch den Gewöhnlichen sicherlich mitteilen, dass es den >Heiligen Aza380 kan< nicht mehr gibt und dass die meisten seiner >Wächter< tot sind. Sollen sie entscheiden, was sie mit den Überlebenden anstellen.« »So, wie die Wächter sie behandelt haben, werden die gewöhnlichen Atazakaner bestimmt nicht sehr nett mit
ihnen umgehen.« »Das liegt ganz bei ihnen«, meinte Zweihand. »Wir müssen uns um wichtigere Dinge kümmern.« »Sind eigentlich welche von den kleinen Wesen in grauen Mänteln entkommen?«, erkundigte sich Hase bei Tladan. »Das ist schwer zu sagen«, antwortete Tladan. »Wir können nicht einmal genau sagen, wie viele Atazakaner niedergetrampelt wurden, als die Bisons über sie hinweggelaufen sind. Die wenigsten sind nämlich noch in einem Stück.« Langbogen ging ein wenig fort von den anderen. »Bist du da?«, schickte er einen stummen Gedanken an Zelana. »Natürlich bin ich da«, erwiderte sie. »Wie läuft es denn bei euch dort oben?« »Es ist vorüber - und ich denke, man könnte sagen, wir haben gewonnen.« »Das ging schnell.« »Wir hatten Hilfe.« »Was ist mit dem verrückten Atazakaner passiert?« »Er ist nicht mehr verrückt.« »Habt ihr ihn etwa geheilt? Wie ist euch denn das gelungen?« »Er stand zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort - oder vielleicht auch zur richtigen Zeit. Jedenfalls hat er jetzt keine Zeit mehr, verrückt zu sein. Er muss sich zu sehr damit beschäftigen, tot zu sein.« »Also hast du ihm einen Pfeil mitten in die Stirn geschossen, ja?« »Nein. Das war gar nicht notwendig. Wir könnten vielleicht noch ein paar Fetzen von ihm finden, um sie deinem großen Bru381 der zu übergeben, aber darauf möchte ich keine Wetten abschließen. Er hörte ziemlich plötzlich auf, in einem Stück zu bestehen. Willst du die Einzelheiten hören?« Zelana gab ein Würgen von sich. »Erspar sie mir«, erwiderte sie. »Konntest du die restlichen Atazakaner davon überzeugen, nach Hause zurückzukehren?« »Es sind gar nicht mehr so viele übrig. Wir werden ein paar Tage brauchen, bis wir am Berg Shrak eingetroffen sind. Ekial und die anderen Malavi können schneller da sein, falls Dahlaine sie braucht. Haben die Diener des Vlagh bereits mit ihrer Invasion begonnen?« »Nein, soweit ich es einschätzen kann. Beeil dich, Langbogen. Mir fehlt etwas, wenn du nicht da bist.« »Es dauert nicht mehr lange. Richte Eleria Grüße von mir aus.« »Wie süß, Langbogen«, sagte Zelana. »Versuch doch einmal, nicht so zu übertreiben«, sagte er. Das Fort 42 An einem kühlen Tag im späten Herbst führten Narasan und Sorgan die trogitische Armee und ihre Verbündeten aus dem Lager am Berg Shrak in Richtung des südlichen Gebirges. »Wer hat das Kommando über die Männer, die du in die Schlucht geschickt hast, damit sie Gunda beim Bau der Fundamente für das Fort helfen?«, fragte Narasan seinen Freund. »Skell und Tori«, antwortete Sorgan. »Ich übergebe den Befehl immer Verwandten, wenn ich nicht dabei bin.« Er blickte sich um und holte tief Luft. »Es ist gut, wieder an der frischen Luft zu sein«, sagte er. »Du brauchst es ja nicht unbedingt Dahlaine weiterzusagen, aber ich bin gar nicht davon begeistert, wochenlang am Stück in einer Höhle zu hocken.« »Ja, man muss sich doch erst daran gewöhnen«, stimmte Narasan zu. »Wir sind Krieger, Sorgan. Aus dem Grund sollten wir draußen leben - und nicht ständig in Häusern oder in Höhlen herumsitzen.« Er lächelte seinen Freund kurz an. »Ich bin nicht sicher, warum, aber ich hatte das Gefühl, diese Höhle schien zu schrumpfen, als Dahlaines kleiner Junge den Bären in den Kartenraum gebracht hat.« »Der war ziemlich groß, ja«, meinte Sorgan. »In den Bergen oberhalb von Weros im Land Maag gibt es ebenfalls Bären, doch im Vergleich zu dem Ungeheuer, das Ashad für seinen Bruder hält, sind es Zwerge. Ich wusste gar nicht, dass Bären so groß werden.« 383 »Verschiedene Arten, könnte ich mir vorstellen«, sagte Nara-san. »So wie die Unterschiede zwischen den Menschen meiner Rasse und euch Maags. Dein Erster Maat Ochs ist doppelt so groß wie Gunda oder Padan.« »Damit könnte es natürlich etwas zu tun haben«, stimmte Sorgan zu. »Sicherlich ist Ochs einer der größten Männer, denen ich je begegnet bin.« Er lächelte. »Das hat mir das Leben viel leichter gemacht. Wenn jemand hinter dir steht, der so groß ist wie Ochs, fängt die Mannschaft keinen Streit mit dir an. Wie viele Meilen, würdest du schätzen, sind es bis zur Kristallschlucht? Ich bin mit Karten leider nicht so gut vertraut. Mein Leben habe ich zum größten Teil auf See verbracht, und wir denken eher in Tagen als in Meilen.« »Ich denke, es sind vielleicht vierzig Meilen bis zum Anfang der Schlucht, und Gunda baut das Fundament ungefähr zehn Meilen von dort entfernt.« »Und deine Männer schaffen zehn Meilen am Tag?« »Das hängt stark vom Gelände ab, Sorgan. Wenn es flach ist und nicht viele Bäume herumstehen, marschieren wir fünfzehn. Wenn es steil und waldig ist, dürfen wir uns glücklich schätzen, wenn es fünf werden.«
Sorgan blickte nach vorn. »Da kommt diese Kriegerfrau namens Trenicia«, sagte er. »Aus der werde ich ja überhaupt nicht schlau. Nachdem sie Zelanas Schwester die Edelsteine vor die Füße geworfen und ihr gesagt hat, sie würde nicht mehr für sie arbeiten, ist sie trotzdem mit in den Norden gekommen, anstatt sich auf den Heimweg zu machen. Warum das?« »Ich weiß es auch nicht genau, Sorgan«, räumte Narasan ein. »Vielleicht wollte sie nur noch ein bisschen vom Lande Dhrall sehen - oder sie wollte erfahren, ob Dahlaine sie wohl für den Krieg in seiner Domäne anheuert. Sie ist eine schwierige Frau, aber sie ist zu Dingen fähig, die ich gar nicht erst ausprobieren würde. Auf dem Marsch von der Ostküste zum Berg Shrak wur384 de ihr langweilig, und sie ist vor unserer Armee herumgestreift. Dabei schien es ihr Spaß zu machen, sich an Hirsche heranzuschleichen und diese riesigen Bisons zu erschrecken. Wie sich herausstellte, ist sie eine hervorragende Kundschafterin. Jeden Abend kam sie ins Lager zurück und beschrieb uns ausführlich -und sehr genau - das Gelände, das wir am nächsten Tag vor uns haben würden. Auf irgendetwas ist sie aus, aber ich komme ums Verrecken nicht darauf, auf was.« »So sind die Frauen eben, Narasan. Immer wollen sie irgendetwas, bloß verraten sie dir nie, was.« »Na, Narasan, trotten wir so vor uns hin?«, fragte die Kriegerkönigin, als sie sich zu ihnen gesellte. »Das ist ein ganz hervorragender Trott, Trenicia«, gab Narasan zurück. »Gibt es von vorn etwas Interessantes zu berichten?« »Eigentlich nicht - nur Meilen und Meilen und immer mehr Meilen und Meilen. Das südliche Gebirge ist noch ein paar Tagesmärsche entfernt.« »Hast du Bisonherden gesehen?«, wollte Sorgan wissen. »Nicht genau vor uns«, antwortete sie. »Acht oder zehn Meilen westlich von hier grast eine ziemlich große Herde, aber sie bewegt sich nicht in unsere Richtung.« »Da bin ich aber erleichtert«, sagte Sorgan. »Nach dem, was uns Häuptling Zweihand über diese übergroßen Tiere erzählt hat und was den Leuten passiert ist, die ihnen nicht schnell genug aus dem Weg gehen, wenn sie zu rennen beginnen, bereitet mir der Gedanke, möglicherweise irgendwann zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, doch ein wenig Kopfschmerzen. Wenn Langbogen bei uns wäre, würde ich das alles ein wenig lockerer sehen, aber er musste ja unbedingt mit diesen anderen Leuten hinauf in den Norden ziehen, um die Atazakaner dorthin zu vertreiben, wo sie herkommen.« »Sie werden nicht mehr sehr lange brauchen, Sorgan«, erwiderte Narasan. »Wenn ich mich an das halte, was uns Dahlaine 385 über dieses Volk aus Atazakan erzählt hat, werden sicherlich nicht viele den Angriff unserer Soldaten überleben.« »Allerdings verstehe ich nicht ganz, wieso Dahlaine diesem Verrückten erlaubt hat, diesen Teil seines Landes zu übernehmen.« »Idealismus, Sorgan«, erklärte Narasan seinem Freund. »Dahlaine mischt sich nicht gern in das Leben der Menschen seiner Domäne ein. Sie sollen selbstständig die richtigen Entscheidungen treffen.« »Das mag unter normalen Umständen ja richtig sein, Narasan, aber ein >Verrückter< ist ja nun nicht gerade zur Führerschaft geeignet, oder?« »Hängt davon ab, wie viele Menschen der - oder die - Verrückte davon überzeugen kann, sich ihm - oder ihr anzuschließen. Dahlaines Schwester hat da einige Probleme, und ihre Priester sind ihr auch nicht gerade eine große Hilfe. Dahlaine hätte sie schon Vorjahren einsperren sollen.« Dann kam Unterkommandant Andar von den Vorhut-Kohorten angelaufen. »Der Malavi namens Ariga ist aus dem Süden zurück, Kommandant«, berichtete er in seiner tiefen Stimme. »Er bat mich, euch mitzuteilen, dass er und seine Freunde bisher noch keinem Wesen des Ödlands begegnet sind.« »Haben sie Gundas Mauer schon erreicht?« »Noch nicht, Kommandant. Sie sind allerdings inzwischen am Nordende der Schlucht eingetroffen. Nun überprüfen sie alle Ecken und Winkel darauf, ob sich dort Insektenmenschen in den Gebüschen an unserem Ende der Schlucht versteckt haben.« »Sehr gut«, sagte Narasan. »Offensichtlich müssen wir selbst erst die Schlucht erreichen, um zu erfahren, wie weit Gunda schon gelangt ist.« »Ich bin sicher, er macht seine Sache gut, Kommandant«, sagte Andar. »Gunda ist schlicht der Beste, wenn es ums Mauerbauen geht.« 386 Zwei Tage später endete das Grasland abrupt, und sehr felsige Berge ragten aus dem Boden auf. »Jedes Mal, wenn man sich hier im Land Dhrall umdreht, steht man wieder vor einem dieser dummen Gebirge«, knurrte Narasan. »Sie sind doch hübsch anzuschauen«, meinte Sorgan. »Anschauen ist nicht schlimm, Sorgan«, erwiderte Narasan. »Mir gefällt eher der Aufstieg nicht. Unten im Imperium gibt es Hügel, die aber viel flacher sind als diese Felshaufen hier, mit denen wir es ständig zu tun haben.«
Sorgan seufzte. »Ich kann dich schon verstehen, mein Freund«, sagte er. »Hügel und Berge sind auch einer der Gründe, aus denen ich mich für das Seemannsleben entschieden habe. Auf dem Meer gibt es große Wellen - die sind manchmal so steil wie diese Berge hier -, aber unsere Schiffe übernehmen das Klettern für uns.« »Wie nett von ihnen«, meinte Narasan. Dann beschattete er die Augen und blickte hinauf zum Berggrat. »Da kommt sie schon wieder«, sagte er zu Sorgan und zeigte auf den Hang, über den Trenicia auf ihn zulief. »Gerät sie eigentlich nie außer Atem?«, wollte Sorgan wissen. »Soweit ich es beobachtet habe, rennt sie ständig.« »Üben wir immer noch Trotten, Narasan?«, rief ihm Trenicia schon von weitem zu. »Warum rennst du so viel?«, fragte Sorgan die Kriegerkönigin. »Es gefällt mir«, erwiderte sie und zuckte mit den Schultern. »Es ist die beste Möglichkeit, in guter Form zu bleiben-viel besser als den ganzen Tag herumsitzen und Bier trinken.« »Sei nett«, erwiderte Sorgan leise. »Ich bin immer nett, Hakenschnabel.« Dann zeigte sie nach links. »Wenn ihr mit euren Leuten dort entlang geht, ist es viel einfacher. Auf dem anderen Weg erwarten uns bald eine Menge Bäume.« 387 »Wie weit ist es noch bis zum Anfang der Kristallschlucht?«, erkundigte sich Narasan. »Ich könnte in drei Stunden hinrennen«, gab sie zurück. »Für dich und deine anderen Trotter wird es wahrscheinlich noch ungefähr zwei Tage dauern. Ich gehe voraus und halte nach euren Feinden Ausschau. Falls mir welche begegnen, kehre ich zurück und warne euch.« Damit drehte sie sich um und lief wieder davon. »Diese Frau geht mir langsam ein wenig auf die Nerven«, murmelte Sorgan. Die nächsten zwei Tage ging es langsam voran, und Narasan gab daran teilweise Dahlaine die Schuld. Die Zeit, die sie in der Höhle unter dem Berg Shrak verbracht hatten, hatte ihm eine Mahnung in Erinnerung gerufen, die der alte Sergeant Wilmer in Na-rasans Kindheit wieder und wieder vorgebetet hatte. Er hörte die Warnung des alten Soldaten noch immer in den Ohren gellen: »Wenn man drei Tage nicht exerzieren tut, wird man schlaff und schlapp werden. Wenn man sich nicht in Form halten tut, tut dich der Feind in Stücke hauen, sobald er auf dich treffen tut -und darauf kannst du dich echt verlassen.« »Ich glaube, das hätte ich besser beherzigen sollen«, gestand sich Narasan im Stillen ein. Am Nachmittag des zweiten Tages in den zerklüfteten Bergen, welche die Südgrenze von Dahlaines Domäne bildeten, ritt ihnen Ariga, der Pferdesoldat, entgegen. »Es sind nur noch ein paar Meilen bis zum Nordende der Kristallschlucht«, rief er und schwang sich aus dem Sattel. »Und wie sehen die Kristalle dort aus?«, wollte Sorgan wissen. »Ich glaube, es handelt sich um einen hellen Stein, den man Quarz nennt«, antwortete Ariga, »nur ist dieser Quarz nicht so rein wie der, den man gelegentlich bei uns in Malavi findet. Er hat so einen rosa Schimmer.« Plötzlich lachte Sorgan. »Wir sollten Eleria besser davon fern 388 halten - und Zelana vermutlich auch. Allein beim Wort >rosa< würden sie schon völlig außer Rand und Band geraten.« »Warst du schon unten bei Gunda und Sorgans Männern, die an dem Fundament für unsere Mauer arbeiten?«, fragte Narasan. »Ein paar Mal«, erwiderte Ariga. »Wir müssen immer durch das Tor, das sie gebaut haben, wenn wir das Land südlich der Mauer durchsuchen.« »Wie ist es dort unten?« Ariga grinste. »Es gibt jede Menge kleine Seitenschluchten, die aussehen, als wären sie für den perfekten Hinterhalt geschaffen. Ich bin sicher, wir können den Insektenmenschen das Leben richtig unangenehm machen.« »Bis zu dem Moment, in dem sie eure Pferde beißen und ihr zu Fuß gehen müsst«, warf Sorgan ein. »In dieser Hinsicht haben wir schon Maßnahmen getroffen, Kapitän«, sagte Ariga. »Habt ihr die Pferde darauf abgerichtet, Bisonfellmäntel zu tragen?«, fragte Sorgan. Ariga schüttelte den Kopf. »Wir haben uns für Stiefel entschieden.« »Stiefel?« »Ich habe noch keinen von diesen Insektenmenschen gesehen, aber Ekial sagt, sie seien sehr klein. Um unsere Pferde vor Bissen zu schützen, brauchten wir also nur zwei Lagen Bisonhaut um ihre Beine zu wickeln, bis zum Gelenk. Jedenfalls werden wir, wenn die Käferdinger in die Schlucht kommen, aus den Seitenschluchten preschen, ein paar hundert von ihnen töten und uns dann wieder in die Canons zurückziehen.« »Mit den Insektenmenschen auf den Fersen?«, fügte Sorgan hinzu. »Das ist ja die Idee, die dahinter steht, Kapitän«, sagte Ariga und grinste hinterhältig. »Wir haben uns mit den Bogenschützen aus Tonthakan zusammengetan, und die verstecken sich in den 389 Canons. Wir galoppieren los, greifen die Käfer an und ziehen uns zurück. Die Käfer jagen uns hinterher, und die Bogenschützen töten sie mit ihren Giftpfeilen.« »Das ist brillant!«, rief Narasan. Am späten Nachmittag des folgenden Tages erreichten Narasan und Sorgan die Spitze eines felsigen Bergs und erblickten das Nordende der Kristallschlucht. Im Westen hing eine große Wolkenbank am Himmel, und die
untergehende Sonne tauchte den Himmel in prächtige Farben. »Ich möchte ja niemandem etwas unterstellen«, meinte Sorgan, »doch diese Kluft sieht aus, als hätte jemand ziemlich daran >herumgepfuscht<.« »Mit diesem Gebirge kenne ich mich ja nicht besonders gut aus«, räumte Narasan ein, »aber mir erscheint diese Schlucht auch nicht so, als hätte sie sich auf natürliche Weise gebildet.« Sorgan zuckte mit den Schultern. »Es ist Dahlaines Teil des Landes Dhrall, und wenn er die Spitzhacke genommen und Löcher in diese Berge geschlagen hat, ist das seine Angelegenheit.« »Da hätte man allerdings eine ganz hübsche Spitzhacke gebraucht, Sorgan«, erwiderte Narasan und betrachtete die weite Lücke in den ansonsten glatten Felswänden. »Immerhin verstehe ich jetzt, warum sie es eine >Schlucht< nennen.« Er betrachtete die eigenartigen Steinwände. »Wenn ich Ariga richtig verstanden habe, handelt es sich bei diesem >Kristall<, welcher der Schlucht ihren Namen gibt, um Quarz. Den findet man gelegentlich auch im Imperium. Er ist ganz hübsch, doch leider zu brüchig, um ihn für irgendetwas gebrauchen zu können. Ich würde mir jedenfalls kein Haus daraus bauen - wenigstens keins, in dem ich wohnen möchte. Wir bevorzugen Granit.« »Mir scheint, Ariga hatte Recht«, sagte Sorgan. »Die Wände der Schlucht sind eindeutig rosa.« »Vermutlich, weil der Quarz durch Eisenerz verunreinigt ist«, 390 sagte Narasan. »Eisenerz verleiht offenbar allem in seiner Umgebung einen rötlichen Schimmer.« »Vielleicht hat Langbogens >unbekannte Freundin< wieder ihre Finger im Spiel«, gab Sorgan zu bedenken und grinste sarkastisch. »Ich würde mich lieber hüten, jemandem Unterstellungen irgendeiner Art zu machen, Sorgan«, entgegnete Narasan. »Und schon gar nicht dieser Unbekannten. Wenn du sie beleidigst, verwandelt sie dich am Ende in eine Kröte.« »Das ist nun überhaupt nicht lustig, Narasan.« Sorgan betrachtete erneut den Anfang der Schlucht. »Durch die Schlucht scheint ein kleiner Bach zu fließen.« »Das muss wohl so sein, Sorgan. Der Bär, der uns in Dahlaines Höhle besucht hat, geht doch weiter unten in der Schlucht immer Fische fangen.« Der kräftige Matakaner namens Tlodal gesellte sich zu ihnen und schaute hinunter in die Schlucht. »Könnt ihr glauben, dass ich das noch nie gesehen habe?«, fragte er. »Unser Dorf ist keine vierzig Meilen entfernt, aber ich bin nie auf die Idee gekommen, hierher zu kommen und mir die Gegend anzuschauen. Gewiss ist sie recht hübsch, aber die Bisonherden sind nicht im Mindesten daran interessiert. Sie fressen Gras, keine Steine.« »Du hast sozusagen den Befehl in Asmie, wenn Zweihand unterwegs ist, oder?«, erkundigte sich Narasan. »Ich weiß nicht genau, wie viel ich den anderen Männern des Stammes zu sagen habe, Narasan. Sie tun, was Zweihand ihnen aufträgt, und ich mache höchstens Vorschläge«, erwiderte Tlodal ein wenig unschlüssig. »Jedenfalls habe ich mit Häuptling Kathlak von Statha gesprochen, und wir haben uns geeinigt, seine Bogenschützen sollten sich darauf konzentrieren, ihre Pfeile auf die kleinen Insektenmenschen abzuschießen, die angreifen werden. Die Speerwerfer aus Asmie sowie die aus den anderen matakanischen Dörfern werden abwarten, bis die größeren We391 sen die Mauer - oder das Fort oder wie immer ihr es nennt - angreifen, und erst dann kommen wir zum Einsatz. Die Tonthaka-ner können ihre Pfeile viel weiter schleudern als wir unsere Speere, aber ihre Pfeile werden vermutlich nicht schwer genug sein, um einen Panzer zu durchbohren - oder womit sich die Insektenmenschen auch sonst schützen mögen.« »Ihr zwei scheint ja gut miteinander auszukommen«, merkte Sorgan an. Tlodal zuckte nur mit den Schultern. »Wir sind schließlich beide Jäger«, sagte er, »deshalb kennen wir die Regeln.« »Regeln?«, fragte Sorgan ein wenig überrascht. »Eigentlich gibt es nur eine einzige Regel, und die ist ausgesprochen einfach. Sie hat mit Wildern zu tun. Ich versuche nicht, sein Wild zu töten, und er hält sich gleichermaßen von meinem fern. Sollen wir unser Lager dort draußen im offenen Gelände aufschlagen oder noch eine Meile oder so nach da unten in die Schlucht ziehen? Kathlak und ich sind eigentlich der Meinung, >dort draußen< sei besser als >da unten<, aber die Entscheidung liegt bei dir. Was möchtest du?« »Ich sehe schon, du hast extra abgewartet, bis die Sonne untergeht, ehe du gekommen bist, um mir diese Frage zu stellen«, meinte Sorgan. »Ich würde sagen, >da unten< hat sich erledigt, als die Sonne sich entschieden hat, schlafen zu gehen.« »Es gehört zu unseren Pflichten, die Entscheidungen für dich einfacher zu machen, mächtiger Häuptling«, erwiderte Tlodal. »Soll ich herumgehen und überall verbreiten, welchen weisen Entschluss du getroffen hast, indem du >dort draußen< als Lagerplatz für die Nacht gewählt hast?« Narasan musste sich arg zusammenreißen, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Das Lager war recht einfach, musste Narasan einräumen. Hätte die Truppe nur aus trogitischen Soldaten bestanden, hätte Nara392
san vermutlich einige ordentliche Tadel ausgesprochen, doch »Ordnung« und »gerade Linien« waren für die Speerwerfer aus Matakan und die Bogenschützen aus Tonthakan eher unbekannte Konzepte, und daher beschloss Narasan, keine große Sache daraus zu machen. Schließlich würden sie sowieso nur eine Nacht hier bleiben, und von daher war es nicht so wichtig. Nach einem erstaunlich reichhaltigen Abendessen, das aus Bohnen und Bisonfleisch bestand, gesellten sich Tlodal, Kathlak und Trenicia zu Narasan und Sorgan, um einige Angelegenheiten zu besprechen. Dann traf auch der Malavi Ariga ein und schilderte ihnen in allen Einzelheiten, was sie weiter unten in der Schlucht zu erwarten hatten. »Ihr werdet auf einige schwierige Stellen stoßen«, erklärte er, »und Gunda dachte, ich könnte euch vielleicht helfen, sie zu umgehen.« »Was genau meinst du mit schwierige Stellen<, Ariga?«, wollte Sorgan wissen. »Vor allem Erdrutsche - oder vielleicht besser >Quarz-Rut-sche<«, antwortete Ariga. »Ich glaube, Quarz ist ziemlich brüchig, und in kalten Wintern gefriert er. Wenn das Frühjahr sich dann blicken lässt, wird es ziemlich schnell warm, und ganze Quarzplatten lösen sich und krachen hinunter zum Grund der Schlucht. Vermutlich werdet ihr ständig im Zickzack laufen und immer wieder den Bach überqueren müssen. Das ist der einzige Weg, wie man um die Haufen von herabgestürztem Quarz herumgelangt - solange ihr es nicht bevorzugt, ihn aus dem Weg zu räumen.« »Das erklärt das dauernde Gerede von >bröckeligem< Quarz, wenn irgendwer die Schlucht beschrieben hat«, warf Sorgan ein. Dann runzelte er die Stirn. »Wenn der Quarz hier oben rutscht, musste er das weiter unten in der Schlucht doch auch tun, oder?« »Nicht unbedingt«, erwiderte Narasan. »Dahlaine hat mir erzählt, wenn Quarz aus der Wand bricht, sei daran Wasser beteiligt. Hier im Norden am Ende der Schlucht gibt es Quellen und 393 Bäche, und das Wasser sickert durch die Risse in den Quarz ein. Weiter unten im Süden ist es trockener, es gibt also nicht genug Wasser, um den Quarz loszubrechen. Demnach sollten zu beiden Seiten von Gundas Fort stabile Felswände aufragen.« »Das ist natürlich das Entscheidende«, meinte Sorgan. Er sah Ariga an. »Du bist doch schon mehrmals in dieser Schlucht gewesen, ja?« »Oft genug, um einen ganz guten Überblick über das Land zu haben«, erwiderte Ariga. »Dann müsstest du doch eigentlich wissen, wo diese >Durchs Wasser waten<-Stellen sind.« »So ungefähr, ja.« »Worauf willst du hinaus, Sorgan?«, fragte Narasan seinen Freund. »Wir haben Matakaner und Tonthakaner bei uns«, erklärte Sorgan, »und die bewegen sich in diesem rauen Gelände ein wenig schneller als deine Männer. Angenommen, wir schicken sie morgen früh voraus. Ariga zeigt ihnen diese >Durchs Wasser wa-ten<-Stellen, und dann bleiben an jeder dieser Stellen einige von ihnen sitzen und warten auf deine Männer, um sie an den holprigsten Wegstücken vorbeizuführen. Damit könnten wir doch ein wenig Zeit sparen, und eigentlich sollten wir morgen alle vor Sonnenuntergang bei Gundas Mauerfundament eingetroffen sein. Auf diese Weise können sich die Männer eine Nacht richtig ausschlafen und sind dann am nächsten Tag bereit, um mit dem Bau der eigentlichen Mauer zu beginnen.« »Du steigerst dich ein ums andere Mal, Sorgan«, lobte Narasan seinen Freund. »Ich habe stets gedacht, >Vorausdenken< wäre ein fremdes Konzept für Maags und das Standardprozedere bestehe aus Trgendwie wird es schon hinhauen<.« »In letzter Zeit hatte ich ein paar gute Lehrer«, erwiderte Sorgan. »Gewiss gehörst du mit zu den besten, aber der allerbeste ist natürlich Keselo.« 394 »Das müsstest du mir jetzt unter die Nase reiben, Sorgan?« »Es ist gut für dich, Narasan«, gab Sorgan zurück und grinste breit. »Ich habe gehört, Bescheidenheit sei eine Tugend, und Keselo überhäuft einen geradezu mit Bescheidenheit.« 43 Am späten Nachmittag färbte sich der Himmel im Westen rot. Aus irgendeinem Grund konnte Narasan nicht recht verstehen, weshalb der Himmel hier in Dahlaines Teil des Landes Dhrall immer - oder zumindest fast immer - rot war. An diesem Tag war eigentlich alles gut gelaufen. Der Pferdesoldat Ariga hatte sie um mehrere Stellen herumgeführt, die durch Haufen von abgerutschtem Quarz blockiert waren. Schließlich bogen Narasan und Sorgan um einen ziemlich scharfen Knick in der Schlucht, und Gundas solide konstruiertes Fundament kam in Sicht. »Wir sind gut vorangekommen«, stellte Sorgan fest. »Ich möchte meinen, Ariga hat sich heute seinen Sold redlich verdient.« »Ja, er war durchaus nützlich«, stimmte Narasan zu und betrachtete Gundas Fundament. Es war aus großen Blöcken rosafarbenen Quarzes gebaut, und Narasan befiel eine gewisse Skepsis. Quarz war sehr hübsch, aber auch sehr brüchig. Schließlich trat Gunda aus dem teilweise fertig gestellten Fundament. »Wo habt ihr so lange gesteckt?«, rief er. »Wir haben ein paar Mal angehalten, um zu schauen, ob die Fische beißen«, rief Sorgan zurück. »Du klingst schon fast wie Padan«, sagte Narasan zu seinem Freund. »Er hat auch immer eine Ausrede parat,
wenn er zu spät kommt. Könntest du dir nicht etwas Originelleres einfallen lassen?« 395 Sorgan zuckte mit den Schultern. »Warum soll man etwas ändern, das so lange so gut funktioniert hat?« Er schaute sich das Mauerfundament an. »Das sieht doch sehr gut aus«, urteilte er. »Jetzt, da deine Männer hier sind, sollte das Fort binnen weniger Tage fertig sein.« Gunda kam den Hang herauf zu ihnen. »Du möchtest dir bestimmt das Fundament anschauen«, begrüßte er Narasan, »aber sicherlich wirst du nicht viel Grund zum Meckern finden.« »Außer, dass es aus Quarz und nicht aus Granit gebaut wurde«, entgegnete Narasan. »Wir hatten nichts anderes als Quarz zur Verfügung«, rechtfertigte sich Gunda. »Skell und Tori haben nach Granit gesucht, aber das nächste Vorkommen liegt zehn Meilen weiter unten in der Schlucht. Sie meinten, es würde den ganzen Winter dauern, den Granit loszuschlagen und hier heraufzubringen. Wahrscheinlich haben wir nicht so viel Zeit, und aus diesem Grund haben wir uns dann für den Quarz entschieden. Zwar ist der ein bisschen brüchig, finde ich, aber Tori erinnerte uns daran, dass die Insektenmenschen außer ihren Zähnen und Greifern keine Werkzeuge haben. Wenn die Insektenmenschen versuchen, mit bloßen Händen und Zähnen eine Bresche in unsere Mauer zu schlagen, werden sie vermutlich zehn oder fünfzehn Jahre brauchen, um überhaupt eine kleine Ausbuchtung hineinzubekommen, und danach werden unsere Feinde nur noch zahnlose Krüppel sein.« »Du hast ein paar recht massive Blöcke aufgebaut, Gunda«, sagte Sorgan. »Es war einfacher, die großen zu benutzen, als sie erst zu kleinen zu hauen. Jetzt kann ich garantieren, dass niemand diese großen Blöcke bewegen wird - und erst recht nicht, wenn wir sie an den Rändern der Schlucht verkeilt haben.« »Das scheint die schmälste Stelle in der ganzen Schlucht zu sein«, sagte Sorgan. Gunda nickte. »Hier ist die Schlucht nur vierzig Fuß breit. 396 Auf diese Weise können wir uns darauf konzentrieren, in die >Höhe< zu bauen anstatt in die >Breite<, und die Forts mit den höchsten Mauern sind immer die besten.« »Wie würdest du die Schlucht weiter südlich beschreiben?«, wollte Narasan wissen. »Als steil und schmal, und viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, gibt es auch nicht«, erwiderte Gunda und grinste fies. »Auf dem Gelände herrschte ein ziemlicher Wirrwarr, als wir hier ankamen. Dort lagen ein paar große Felsen, aber den größten Teil haben wir für das Fundament verwendet, und den Rest benutzen wir vermutlich, wenn wir die Mauer bauen. Dann finden die Insektenmenschen an diesem Hang keine Deckung mehr, und sie werden also gut zu sehen sein, sobald sie kommen.« »Schauen wir uns alles mal genau an«, schlug Sorgan vor. »Wenn es dich glücklich macht, Kapitän Hakenschnabel«, stimmte Gunda zu. Narasan begutachtete, wie massiv die Blöcke des Fundaments waren, und die vielen Bearbeitungsspuren verrieten ihm, mit welcher Sorgfalt die Maags den Stein behauen hatten. Der Hang fiel nach Süden sehr steil ab, und es gab nichts, hinter dem die Insektenmenschen Schutz finden würden. »Gute Arbeit, Gunda«, lobte er seinen Freund. »Mir selbst gefällt es auch«, meinte Gunda. »Habt ihr schon das >Hoch und runter<-Tor eingebaut?«, fragte Sorgan. »Keselo und Hase haben es zwar beschrieben, aber ich würde es mir gern einmal ansehen.« Er hielt inne. »Funktioniert es wirklich so, wie es uns Keselo beschrieben hat? Ich habe schon eine Menge Ausfalltore gesehen, doch noch keins, das hoch- und runtergeht.« »Man braucht eine Menge Schmiermittel«, erklärte Gunda, »aber Ochs kann es ziemlich gut bedienen.« »Wie konntet ihr es denn einbauen, obwohl die Mauer noch nicht steht?«, wollte Narasan wissen. 397 »Ich habe ein wenig gemogelt«, gestand Gunda. »Wir haben den Rahmen gebaut und ihn mit Quarzblöcken verstrebt. Ich war sicher, das Tor würde das Erste sein, das ihr sehen wollt, deshalb haben wir es uns zuerst vorgenommen. Ochs ist unser Torwächter, und er hat fast eine Woche daran herumgebastelt. Es funktioniert genau so, wie Keselo gesagt hat. Ochs hat eine Mannschaft aus Kerlen zusammengestellt, deren Schultern mindestens vier Fuß Breite messen. Wenn die am Seil ziehen, ist das Tor so schnell oben, dass du, wenn du gerade blinzelst, nichts davon mitbekommst.« »Offen ist gut, denke ich«, meinte Sorgan, »aber es ist doch auch wichtig, wie schnell es wieder geschlossen werden kann.« »Das ist überhaupt kein Problem«, antwortete Gunda. »Wenn man das Tor zumachen will, braucht man nur das Seil loszulassen. Das Tor kracht wie ein Stein nach unten. Es gibt einen lauten Knall, wenn es auf den Boden schlägt, und dann weiß man, es ist zu. Als Keselo und Hase dieses Tor entworfen haben, wollten sie das Gewicht niedrig halten, damit es für die Mannschaft leichter wird, es hochzuziehen, und deshalb haben sie Eisenstangen anstelle von dicken Platten verwendet. Ich bin nicht sicher, warum sie darin einen großen Vorteil sahen. Jedenfalls können wir nun durch das Tor schauen, und so wissen wir immer, was der Feind vorhat. Wenn es unseren Leuten dann nicht gefällt, was der Feind macht, können sie durch das Tor Pfeile auf ihn abschießen. Damit wird die Sache für diejenigen auf der anderen Seite doch entsetzlich spannend, meint ihr nicht auch?«
»Werfen wir mal einen Blick darauf, Narasan«, schlug Sorgan vor. »Ich möchte dieses hübsche neue Tor wirklich zu gern sehen.« »Hast du eigentlich etwas darüber gehört, wie sich die Dinge oben im Norden entwickelt haben?«, erkundigte sich Skell abends bei Narasan. 398 »Viel besser als erhofft«, antwortete Narasan. »Nachdem wir erkannt haben, dass es sich bei dieser >Seuche< gar nicht um eine Krankheit handelt, ging alles reibungslos vonstatten.« »Wenn es keine Krankheit war, was war es dann?«, wollte Gunda wissen. »Anscheinend sind die Wesen des Ödlands inzwischen viel klüger als noch zu Anfang der Kriege im letzten Frühjahr«, erwiderte Narasan. »Sie haben herausgefunden, dass ihr Gift genauso tödlich ist, wenn ihr Opfer es einatmet. Also haben sie es in den Wind gesprüht, und jeder, der im Wind stand und es einatmete, starb innerhalb weniger Stunden.« »Entsetzlich!«, rief Gunda. »Ziemlich entsetzlich, ja, aber dieser kluge kleine Maag namens Hase fand eine sehr einfache Lösung.« »Und?« »Er nannte es >den Wind einschlafen lassen<, wenn ich mich recht entsinne. Der mächtige Dahlaine, der Wunder vollbringen kann, schaute ein wenig verlegen drein, als Hase seinen Einfall erklärte. Wenn der Wind nicht weht, ist es ziemlich dumm, Gift in die Luft zu sprühen, denn es würde natürlich nicht verweht und stattdessen denjenigen umbringen, der es versprüht hat. Sie hätten sich also am Ende selbst vergiftet - und die Atazakaner, die auf ihrer Seite kämpften.« »Hat es funktioniert?« Narasan zuckte mit den Schultern. »Wir sind vom Berg Shrak aufgebrochen, ehe Berichte aus dem Norden eingetroffen sind, aber ich würde sagen, wenn Langbogen, Keselo und Hase zusammenarbeiten, machen sie dem Feind das Leben sehr schwer.« Er hielt kurz inne. »Kannst du ungefähr abschätzen, wie lange unsere Männer noch brauchen werden, bis sie diese Mauer fertig gestellt haben? Die Wesen des Ödlands haben sich viel Mühe gegeben, uns von dieser Schlucht abzulenken, also wird es vermutlich noch eine Weile dauern, ehe ihre Hauptarmee hier eintrifft, 399 doch hätte ich einfach ein besseres Gefühl, wenn das Fort so bald wie möglich steht.« »Lange wird es nicht mehr dauern, Narasan«, beruhigte ihn Gunda. »Wir haben ja dazu den größten Teil der Maags hier unten, die uns helfen. Sie schleppen die rohen, unbehauenen Steine zum Fort, und unsere Männer können sich auf den Bau der Mauer konzentrieren. Ich würde sagen, eine Woche noch, dann käme die Käferinvasion an dieser Stelle jederzeit zum Stillstand.« »Wir haben hier nichts gefunden, das man in irgendeiner Weise als Mörtel benutzen könnte, Kommandant«, berichtete ein alter Sergeant spät am folgenden Tag. »Diese Schlucht besteht nur aus Quarz. Wir werden es morgen weiter unten versuchen, Herr, aber ich glaube, dort werden wir ebenfalls kein Glück haben.« »Das hatte ich bereits befürchtet, Narasan«, meinte Gunda. »Wie können wir eine Festung ohne Mörtel bauen?«, wollte Narasan wissen. »Wir müssen die Steine genau passend setzen, schätze ich«, antwortete Gunda. »Wird das nicht ein wenig wackelig?« »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Man braucht beim Bauen länger, doch die Stabilität wird dadurch nicht eingeschränkt. Es ist ja nicht so, als wären die Insektenmenschen entsprechend ausgerüstet - oder wüssten über Katapulte und Rammböcke Bescheid. Ihre Werkzeuge sind Zähne und Fingernägel. Wenn sie sich durch die Mauer beißen wollen, haben sie einige Jahre Arbeit vor sich, und vermutlich werden sie erst im nächsten Frühjahr die äußerste Schicht von Steinen geschafft haben.« Er stieß mit dem Fuß gegen einen der riesigen Blöcke des Fundaments. »Wenn wir mehr Zeit hätten, wäre dies die einfachste Lösung. Würden wir nämlich das ganze Fort aus so großen Blöcken bauen, stünden diese dummen Käfer noch in tausend Jahren davor.« 400 »Mir würden zehn Jahre schon genügen, Gunda«, erwiderte Narasan. »Wenn wir es richtig anstellen, gibt es in zehn Jahren keine Wesen des Ödlands mehr. Bau deine Mauer, Gunda. Ich muss mich mal darum kümmern, wie die Männer zurechtkommen, die mit der Konstruktion der Katapulte beschäftigt sind.« Vorsichtig ließ er sich auf der Rückseite von Gundas Fort herunter und ging zurück zu den Männern seiner Armee, die man die »Katapultfabrik« nannte, in offensichtlicher Anspielung auf Hases »Pfeilfabrik« am Strand von Lattash. Die Kriegerkönigin Trenicia schaute zu, wie die hervorragenden Ingenieure die trogitischen Standardkatapulte konstruierten. »Ach, da bist du ja, Narasan«, sagte sie. »Ich dachte, diese Dinger würden benutzt, um die Mauern von Städten oder Forts zu zertrümmern. Wozu werden wir sie einsetzen?« Narasan lächelte. »Ein Katapult kann man auf vielfältige Weise verwenden. Wenn wir eine Mauer brechen wollen, nehmen wir sehr große Steine, wenn es uns jedoch darum geht, die Zahl des Feindes zu dezimieren, der uns angreift, laden wir es mit hunderten kleinerer Steine. Ein gut gebautes Katapult wird diese Kiesel hundert Fuß in die Luft werfen, und dann hagelt es plötzlich Steine auf den Gegner hernieder. Unser kleiner Steinschauer wird möglicherweise nicht alle Feinde töten, aber er wird ihre Anzahl deutlich verringern. Mit
Quarzbruchstücken wird es sicherlich noch besser gehen als mit Kieseln. Quarz zerbricht in sehr scharfe Teile, und wenn die auf den Feind niederhageln, werden sie die Insektenmenschen regelrecht zerschnippeln.« »Ihr macht den Krieg wirklich viel komplizierter als wir auf der Insel Akalla«, stellte Trenicia fest. »Wir töten unsere Feinde einfach einen nach dem anderen und stehen uns für gewöhnlich von Frau zu Frau gegenüber. Ihr aus dieser so genannten Zivilisation tötet über große Distanzen hinweg, und dazu Wesen und Menschen, die ihr noch nicht einmal kennt.« »Das Wichtigste an jedem Krieg ist doch, ihn zu gewinnen, 401 Trenicia«, erinnerte Narasan sie. »Wenn mehr Feinde als eigene Soldaten getötet werden, hast du den Sieg errungen. Verhält es sich andersherum, hast du verloren. Ich kann dir versichern, im Laufe der Jahre sind die Dinge durch Maschinen der einen oder anderen Sorte komplizierter geworden, dennoch läuft es weiterhin stets auf eines hinaus: Du musst mehr Gegner töten, als der Feind von deinen Leuten umbringt.« »Aber sind diese Maschinen, die du bauen lässt, denn wirklich ehrenhaft?« Narasan zuckte zusammen. Manchmal schien es, jedes Mal, wenn er sich umdrehte, schlug ihm wieder jemand das Wort »ehrenhaft« um die Ohren. Trenicia setzte sich auf eine große Quarzscheibe und zog eine ernste Miene. »Ich muss noch so vieles lernen«, seufzte sie. »In der Domäne von Dahlaines jüngerem Bruder sind Dinge geschehen, die ich bis heute nicht verstehe. Den Wert dieser Maschinen kann ich natürlich verstehen, aber ich dachte, sie würden vor allem gebaut, um die Forts des Gegners niederzureißen. Dann sah ich, wie ihr sie eingesetzt habt, um mit Feuerkugeln auf die feindlichen Soldaten zu schießen. Ich glaubte ja, in zivilisierten Kriegen seien die Forts das Wichtigste, doch schien es, sobald ihr ein Fort gebaut habt, macht ihr euch davon und lasst es einfach stehen.« »Das war ein äußerst ungewöhnlicher Krieg, Trenicia«, erklärte Narasan ihr. »Forts sind normalerweise unsere bevorzugte Methode, Eindringlinge an der Invasion zu hindern, aber Langbogens >unbekannte Freundin< hat in Veltans Domäne alles auf den Kopf gestellt. Sie verfügt über Fähigkeiten, von denen Dahlaine oder Zelana oder Veltan nur träumen dürfen.« »Ich weiß. Sie hat mit mir gesprochen, nicht lange, nachdem wir den Berg Shrak erreicht haben.« »Was hat sie?« Narasan war bestürzt. »Warum hast du uns davon nichts erzählt?« 402 »Sie wollte es nicht. Manchmal tue ich ziemlich törichte Sachen, aber mit ihr wollte ich mich nun wirklich nicht anlegen. Das wäre sehr dumm, meinst du nicht auch? Sagen wir einfach, sie ist hier und wird uns helfen, und dabei können wir es ja belassen. Wenden wir uns doch noch einmal diesen zivilisierten Kriegen< zu. Worum geht es dabei denn eigentlich?« »Meistens um Land«, antwortete Narasan, »und natürlich um Gold. Wir nehmen anderen das Land weg, damit wir darauf etwas anbauen können. Dann verkaufen wir anderen die Ernte -wenn sie bereit sind, dafür zu bezahlen.« Er lächelte schwach. »Du interessierst dich nicht für Gold, oder?« »Nicht besonders«, sagte Trenicia. »Ich bevorzuge Juwelen. Sie sind hübscher und viel wertvoller als dieses gelbe Blei, das bei den zivilisierten Menschen diese große Aufregung auslöst. Was ist denn das Wichtigste, wenn man einen zivilisierten Krieg austrägt?« »Wir nennen es >die höhere Stellung besetzen<, Trenicia. Man will stets seine Stellung über dem Feind haben. Dann muss er nämlich den Berg hinauflaufen, wenn er dich erreichen will.« Er runzelte leicht die Stirn. »Wenn man es sich recht überlegt, geht es darum auch bei unseren Forts. In gewisser Weise bauen wir mit ihnen unsere erhöhte Stellung aus.« »Aber damit sitzt ihr doch an einem Ort fest, oder? Ihr baut ein Fort, und dann müsst ihr dort bleiben. Werden die Kriege dadurch nicht langweilig? In unseren Kriegen auf der Insel Akalla verbringen wir die meiste Zeit mit Laufen. Wir laufen hin, schlagen viele Gegnerinnen nieder und laufen wieder weg. Dann läuft uns die Feindin hinterher. Nachdem wir ein paar Meilen Vorsprung vor ihnen haben, schlagen wir einen Bogen und greifen sie von hinten an. Nachdem man die Feindin mehrmals so überfallen hat, bleiben ihr nicht mehr viele Kriegerinnen.« Sie schob die Lippen vor. »Ich glaube, am besten unterhalte ich mich mal mit Langbogen oder diesen Bogenschützen aus Tonthakan. 403 Wenn ich einen Bogen hätte und meine Kriegerinnen wüssten, wie man damit umgeht, könnte ich die ganze Insel Akalla besitzen.« Narasan lächelte. »Ich dachte, sie gehört dir längst.« »Oh ja, gewiss«, antwortete Trenicia, »allerdings gibt es eine Reihe von Frauen, die das nicht begriffen haben - bisher.« Gundas Fort nahm inzwischen langsam Gestalt an, und Narasan schaute ein wenig gelassener in die Welt. Dahlaine hatte ihm versichert, der Feind würde noch eine ganze Weile brauchen, bis er die Kristallschlucht erreichte, und dennoch ... Ariga und die Pferdesoldaten waren im Süden auf Kundschaft unterwegs gewesen, und sie waren bisher keinem der Eindringlinge begegnet. Wenn es noch eine Weile dabei bliebe, würde das Fort lange vor der Ankunft der Wesen des Ödlands fertig sein. Dann, an einem kalten, bewölkten Nachmittag, kam Ariga die Schlucht heraufgaloppiert. »Wir bekommen Besuch!«, schrie er und schwang sich aus dem Sattel.
»Na endlich«, sagte Gunda und grinste angespannt. »Ich habe schon gedacht, sie hätten sich draußen in der Wüste verirrt.« Ziemlich stolz betrachtete er sein nahezu vollendetes Fort. »Sollen sie nur kommen«, fügte er hinzu. »Wir sind bereit.« Sorgan Hakenschnabel grinste ebenfalls. »Ich habe schon geglaubt, sie würden uns nicht mehr mögen, dabei haben wir uns so viel Mühe gegeben, dieses Ding zu ihrer Begrüßung zu bauen, und eine solche Verschwendung wäre mir doch arg gegen den Strich gegangen.« »Noch würde ich nicht jubeln, Hakenschnabel«, meinte Ariga. »Ekial hat mir erzählt, die Insektenmenschen in Veltans Land hätten keine Waffen gehabt - außer ihren Zähnen und Fingernägeln. Das hat sich inzwischen geändert. Wir haben eine stattliche Anzahl von ihnen gesehen, die aus der Wüste den Berg heraufmarschieren, und sie sind jetzt viel besser ausgerüstet.« 404 »Was für Waffen haben sie denn?« »Alle möglichen - Schwerter, Speere, Äxte und Keulen mit Eisendornen.« »Sie haben angefangen, richtige Waffen herzustellen?«, rief Sorgan. »Ich weiß nicht, ob >herstellen< der treffende Ausdruck ist«, gab Ariga zurück. »Ich würde sagen, >aufgesammelt passt besser. Die Schwerter, die sie tragen, ähneln sehr denen von deinen Männern, und die Speere scheinen trogitischer Herkunft zu sein. In Kriegen sterben Menschen, wie ihr wisst, und ich würde sagen, unser Feind hat sich auf verschiedenen Schlachtfeldern umgeschaut und sich diese wundervollen freien Waffen geholt.« »Sie werden überhaupt nicht wissen, wie man damit umgeht, oder, Narasan?«, fragte Sorgan. »Sie haben uns doch schon in zwei Kriegen beobachten können, Sorgan«, erinnerte Narasan seinen Freund, »daher bin ich sicher, sie haben eine gewisse Vorstellung, wie sie diese erbeuteten Waffen einzusetzen haben. Zuerst werden sie nicht sehr geschickt damit umgehen, aber mit der Zeit lernen sie es gewiss.« »Das ist nicht recht«, knurrte Sorgan. »Alles war doch so schön, und jetzt stehen wir plötzlich Dieben gegenüber, die uns unsere Waffen gestohlen haben.« »Ich glaube, ich habe noch nie gehört, dass ein Maag das Wort >Dieb< ausgesprochen hätte«, sagte Narasan milde. Drei Tage später hatte sich noch keins der nun bewaffneten Wesen des Ödlands blicken lassen, und das ließ bei allen eine gewisse Nervosität aufkommen. Nicht lange nach Mittag ritt Prinz Ekial von den Malavi ins Lager, und im Laufe der nächsten Tage trafen immer mehr Pferdesoldaten von denjenigen Malavi ein, die zu dem Nebenkrieg im Norden von Matakan abgestellt worden waren und nun die Kristallschlucht erreichten. Weiter und weiter nach Süden streif405 ten die Kundschafter, um die feindlichen Truppen beim Sammeln zu stören und ihren Aufmarsch zu verzögern. Die Malavi beanspruchten eine Unabhängigkeit, die Narasan ein wenig störte. Soldaten sollten stets Teil eines größeren Ganzen sein - einer Armee in den meisten Fällen. Sie sollten nicht durch die Gegend reiten und tun und lassen, was sie wollten, wie es bei den Malavi üblich war. »Reg dich doch nicht so sehr darüber auf«, meinte Gunda, als sich Narasan bei seinem Freund im Vertrauen darüber beschwerte. »Sie gehen eben ein bisschen anders vor, mehr ist nicht dran. Wir bauen Forts und sitzen dann in ihnen herum und warten -und warten und warten -, bis unser Feind ebenso vergebliche wie dumme Anstrengungen unternimmt, unsere uneinnehmbaren Verteidigungsanlagen einzunehmen. Die Malavi bevorzugen es, immer wieder über den Feind herzufallen, während der auf unser Fort zumarschiert. Ich sage ja nicht, die Malavi würden den Feind vertreiben, ehe er jemals unser Fort erreicht, aber vermutlich werden sie die Herde ganz ordentlich dezimieren.« »Du hörst dich schon wie ein Malavi an, Gunda. >Die Herde dezimieren So reden Pferdesoldaten.« »Ja, und? Nimm es dir nicht so zu Herzen, Narasan. Unsere Malavi-Freunde haben ihren Spaß - und vermindern die Zahl der Feinde, die noch leben werden, wenn der Angriff auf das Fort losgeht. Hast du eine Ahnung, wie lange es noch dauern wird, bis Langbogen und die anderen hier sind?« »Ekial sagte, nur ein paar Tage«, antwortete Narasan. »Sie marschieren nicht in Kolonnen wie wir, deshalb können sie sich schneller voranbewegen.« Gunda richtete sich ein wenig auf und schaute über die vordere Mauer des Forts hinweg. »Brauchst du ein Versteck?«, fragte er. »Ein Versteck?« »Da kommt Trenicia. Wenn du ihr die Gelegenheit gibst, wird sie dich bis Sonnenuntergang voll quasseln.« 406 »Sehr lustig, Gunda«, meinte Narasan. »Freut mich, wenn es dich amüsiert.« 44 Einige Tage später erreichten Padan, Langbogen, Keselo und Hase die Kristallschlucht und gesellten sich zu ihren Freunden hinter Gundas Mauer. Narasan entschied sich, keine Bemerkung in dieser Richtung von sich zu geben, aber ihm schien es, als wären alle sehr erleichtert über Langbogens Ankunft. Zelanas Bogenschütze strahlte aus irgendeinem Grunde eine Aura der Unbesiegbarkeit aus. Langbogen gehörte zu den Besten, daran gab es keinen Zweifel, auch wenn Narasan ziemlich sicher war, dass diese Eigenschaft nicht einfach so auf
andere abfärbte. »Jetzt werden wir endlich erfahren, was es mit diesem Verrückten von Atazakan auf sich hatte«, meinte Sorgan. »Wieso in aller Welt hast du dich entschieden, ihn von den Bisons töten zu lassen, anstatt ihm selbst einen Pfeil in den Kopf zu schießen?« Langbogen zuckte mit den Schultern. »Sie waren zufällig da, und sie konnten die Aufgabe viel schneller erledigen als wir. Natürlich hätten wir auch den Krieg gegen den Heiligen Azakan führen können, aber möglicherweise wäre er uns entflohen, nach Atazakan zurückgekehrt und hätte uns später weitere Schwierigkeiten gemacht. Die Bisons haben fast alle Wächter der Göttlichkeit getötet, und ich brauchte keine Pfeile zu verschwenden -und auch unsere eigenen Leute gerieten nicht in Gefahr.« Er lächelte flüchtig. »Und, was ebenso erfreulich ist, bei der Stampe-de kam kein einziger Bison ums Leben.« »Woher wusstet ihr denn, dass diese wilden Tiere genau das tun würden, was ihr wolltet?«, erkundigte sich die Kriegerkönigin Trenicia. 407 »In Matakan weiß man, dass Bisons Angst vor Feuer haben«, erklärte Langbogen. »Gewiss, alle Tiere haben Angst vor Feuer. Keselo und seine Männer hatten Katapulte gebaut, und sie verfügten über die notwendigen Kenntnisse, wie man verschiedene Flüssigkeiten mischen muss, um die so genannten >Brandge-schosse< herzustellen. Und auf diese eigenartige Weise konnten wir die Bisonherde so steuern, wie die Maags und Trogiten es mit ihren Schiffen tun. Wir brauchten nur das Gras immer dort in Brand zu stecken, wo die Bisons nicht hinlaufen sollten. Wir haben ihnen lediglich eine Richtung frei gelassen, und sie rannten viel, viel schneller, als j emand aus Atazakan dazu in der Lage war.« »Und dadurch kamen alle Eindringlinge zu Tode?«, wollte Trenicia wissen. »Nicht alle«, sagte Tlantar. »Allerdings ließ sich das hinterher nicht mehr so gut unterscheiden. Wenn ein Bison über einen Menschen hinwegrennt, bemerkt das Tier es vermutlich gar nicht. Nachdem tausend Bisons über jemanden gelaufen sind, ist nicht mehr sehr viel von dem Menschen übrig. Meist findet man nur noch ein paar kleine Fetzen.« Trenicia erschauerte. »Ich wünschte, du würdest mir diese unappetitlichen Einzelheiten ersparen, Häuptling Zweihand«, sagte sie. Tlantar zuckte mit den Schultern. »Es handelte sich doch um unsere Feinde. Denen sollen schlimme Sachen zustoßen, nicht wahr?« »Schon, aber wir müssen allerdings nicht auch noch darüber reden, finde ich.« Früh am nächsten Morgen wurde Narasan von Padan aus tiefem Schlaf geweckt. »Wir haben Gesellschaft«, berichtete er. Narasan reckte sich und gähnte. »Haben die Insektenmenschen auf einen Besuch vorbeigeschaut?«, fragte er. »Das würde ich nicht sagen«, antwortete Padan. »Allerdings 408 überrascht es mich, dass du noch schläfst. Der Donner hätte fast Gundas Fort einstürzen lassen. Herr Dahlaine ist nämlich mit seiner Familie angekommen, um zu schauen, wie die Dinge so laufen.« »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, fuhr Narasan ihn an und schlüpfte in seine Uniform. »Habe ich doch. Du brauchst dich nicht zu beeilen, ruhmreicher Kommandant. Gunda zeigt unserem Besuch gerade sein Fort. Du weißt, wie gern sich Gunda in den Mittelpunkt manövriert. Ich bin sicher, die Kinder fangen bald vor Langeweile an zu weinen.« »Dahlaine und die anderen haben die Kinder mitgebracht?« Das beunruhigte Narasan ein wenig. »Ich halte das für keine gute Idee. Die Insektenmenschen haben zwar noch nicht angegriffen, aber sie sind dort draußen im Anmarsch.« »Eigentlich nicht«, widersprach Padan. »Die Malavi sind vor Tagesanbruch losgeritten und wollten herausfinden, was der Feind vorhat, und soweit sie feststellen konnten, hält sich in der ganzen Schlucht kein einziger Käfer auf. Das könnte eine Erklärung dafür sein, weshalb Dahlaine und seine Familie uns einen Besuch abstatten. Immerhin hat Dahlaine den Bauern Omago und seine Frau mitgebracht, und Ära mit den hübschen Füßen bereitet gerade das Frühstück zu.« »Machst du dich lustig, Padan?«, knurrte Narasan säuerlich. »Ich erfülle nur meine Pflicht, mächtiger Führer«, erwiderte Padan und grinste breit. Narasan grunzte und stieg die schmale Treppe hinauf, die auf die vordere Mauer von Gundas Fort führte. »Ach, da bist du ja, Kommandant«, begrüßte ihn der graubärtige Dahlaine. »Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe, aber dieses plötzliche Verschwinden unseres Feindes finde ich ein wenig beunruhigend. Hast du schon irgendwelche Hinweise darauf, aus welchem Grund sie alle weg sind?« 409 »Ich wusste bislang nicht einmal, dass sie abgezogen sind«, erwiderte Narasan. »Prinz Ekial hat uns gestern Abend noch gesagt, sie wären da.« »Vielleicht haben sie einen Blick auf dein Fort geworfen und entschieden, dass sie nicht mehr mitspielen wollen«, schlug Sor-gan vor und grinste. »So funktioniert ihr Denken nicht, Sorgan«, sagte Zelana. »Bist du sicher, dass sie nicht wieder angefangen haben, sich durch den Boden zu graben?«, fragte Rotbart.
Langbogen schüttelte den Kopf. »Dazu haben sie nicht genug Zeit gehabt«, sagte er. »Das ist hier schließlich keine einfache Erde.« »Wo stecken sie dann?«, wollte Rotbart wissen. »Ich werde mal nach ihnen suchen«, sagte Zelana. »Das brauchst du nicht, liebe Schwester«, hielt Dahlaine sie zurück. »Das fällt in meine Verantwortung.« »Du machst zu viel Lärm, großer Bruder«, gab Zelana zurück. »Ich erledige das, und ich werde dabei auch nicht die Wände dieser Schlucht zum Beben bringen. Bleib du einfach hier. Es dauert nicht lange.« Narasan erschauerte und sah zur Seite, als Zelana sich lautlos in den Himmel erhob. »Ich wünschte, sie würde das unterlassen«, murmelte er. »Ach, die gibt doch nur ein bisschen an«, meinte Dahlaine. »Sie erschreckt die Menschen gern auf diese Weise.« »Trotzdem mögen wir sie«, erklärte Veltan und lächelte milde. »Wenn es sie glücklich macht, solche Spielchen zu treiben, können wir damit leben, nicht wahr?« Dahlaine warf Langbogen einen forschenden Blick zu. »Ich will dich ja nicht kritisieren, mein Freund«, sagte er, »aber was hat dich dazu veranlasst, diese Bisonherde im Norden von Mata-kan auf unsere Feinde zu hetzen?« Langbogen zuckte mit den Schultern. »Sie waren zufällig da, 410 und ich hatte schon einige Geschichten über diese Stampeden gehört. Die Atazakaner waren so hoffnungslos unfähig, aber ich wollte das Leben unserer Freunde nicht unnötig in Gefahr bringen. So kamen mehrere Dinge zusammen, und ich dachte, eine Stampede könnte etliche Probleme lösen. Das ging besser, als ich erwartet habe. Ich würde sagen, ungefähr vier oder fünf >Wäch-ter der Göttlichkeit lebten noch, nachdem die Bisons diesen Hang entlanggelaufen sind.« »Planst du eine weitere Stampede, um die Überlebenden auszulöschen?« »Die Bisons haben doch schon genug gearbeitet, oder? Ekial hat eine Anzahl Pferdesoldaten dort oben gelassen, welche die gewöhnlichen Atazakaner zurück in ihr Gebiet begleiten. Bestimmt haben die Malavi die letzten Wächter längst zur Strecke gebracht, die Nation von Atazakan ist also von ihnen befreit. Vielleicht solltest du dir überlegen, einen neuen Anführer für sie zu finden, der auch genug Verstand hat, um diesen Teil deiner Domäne zu regieren.« »Vermutlich sollte ich ihnen mehr Aufmerksamkeit widmen«, räumte Dahlaine reumütig ein. »Ich war nur in letzter Zeit so sehr mit den Angriffen dieser Wesen des Ödlands beschäftigt.« »Die Invasion im Land der Matakaner war ein Teil ihres Angriffs«, erinnerte Langbogen ihn. »Die Diener des Vlagh versuchen jetzt schon eine ganze Weile, uns abzulenken. Sie steckten hinter Kajaks Angriffen auf Sorgans Flotte im Hafen von Kweta im Lande Maag, soweit ich mich erinnern kann, und sie haben die Rentierstämme gegen die Hirschjägerstämme aufgehetzt. Ich würde sagen, das Vlagh hat inzwischen begriffen, dass sich seine Diener in einem normalen Krieg nicht gegen uns durchsetzen können, und deshalb versucht es, keinen gewöhnlichen Krieg zu führen.« Plötzlich erschien Zelana wie aus dem Nichts. »Ich habe sie gefunden«, berichtete sie. »Sie hecken eindeutig etwas aus.« 411 »Das wäre ja nichts Neues«, meinte Veltan. »Was machen sie denn diesmal?« »Sie haben sich aus der Schlucht zurückgezogen, kleiner Bruder«, erzählte sie, »und versammeln sich vor dem südlichen Zugang, wo sie anscheinend auf etwas warten.« »Auf eine neue Brut, die aus einer ganz neuen Art von Feinden besteht?«, schlug Veltan vor. »Ich glaube nicht«, erwiderte Zelana. »Ich habe einen kleinen Abstecher über das Ödland gemacht, um nachzuschauen, ob weitere von ihnen in diese Richtung unterwegs sind, aber es ist vollkommen verwaist.« Narasan blickte hinunter in die Schlucht und holte plötzlich scharf Luft. »Ich denke, da haben wir ein Problem.« »Ach?«, sagte Gunda. »Das Fort hält den Feind davon ab, uns zu nahe zu kommen.« »Der Feind hat einen Freund, fürchte ich«, sagte Narasan. »Und dieser Freund heißt >Rauch<. Seht nur mal in die Schlucht.« Alle drehten sich um und starrten auf die dichte schwarze Rauchwolke, die in die Schlucht hinaufwallte. »Bedeckt die untere Hälfte eurer Gesichter!«, rief Omago. »Sagt euren Männern, sie sollen dazu nasse Tücher verwenden! Wenn sie zu viel Rauch einatmen, ersticken sie!« »Was ist das?«, wollte Gunda wissen. »Derart schwarzen Rauch habe ich noch nie gesehen.« »Sie verbrennen Fettholz«, erklärte Omago. »Das machen wir in Veltans Teil des Landes Dhrall, um Käfer von den Obstgärten und Feldern zu vertreiben. Wenn die Insekten dann nicht verschwinden, tötet sie der Rauch.« »Wir sind keine Käfer, Omago«, spottete Gunda. »Aber atmen musst du trotzdem, oder? Wenn du diesen Rauch einatmest, wird er dich fast so schnell wie diese Käfer töten.« »Kannst du ihn von uns fern halten, Dahlaine?«, fragte Veltan. 412 »Eine Weile lang«, sagte Dahlaine, »aber diese Schlucht hat fast die gleiche Wirkung wie ein Kamin. Der Rauch wird von unten nach oben gezogen.« »Regen«, schlug Langbogen vor. »Wenn das Feuer gelöscht wird, gibt es keinen Rauch mehr.«
Veltan drehte sich um. »Ich brauche dich, Liebste!«, rief er. Plötzlich gab es einen grellen Lichtblitz und ein ohrenbetäubendes Donnern, und Veltan war verschwunden. »Ich kann es nicht leiden«, murmelte Padan. »Wenn er auf diese Weise das Feuer löscht, können wir vermutlich damit leben«, widersprach Gunda. Eine Weile lang flackerten Blitze von Horizont zu Horizont, auf die jeweils lauter Donner folgte. Dann endete das Gewitter so abrupt, wie es begonnen hatte, und Veltan kehrte, in mehreren Sprachen fluchend, zurück. »Es hat keinen Zweck«, verkündete er. »Stellt euch vor, sie haben die Feuer in Höhlen angezündet! Versammle deine Männer, Narasan. Ihr müsst die Schlucht verlassen, und euch bleibt nicht viel Zeit. Dahlaine und ich können die Rauchwolke eine Weile aufhalten, aber irgendwann wird sie zu uns vordringen. Wenn ihr eure Männer nicht aus dieser verfluchten Schlucht schafft, werden sie sterben.« Der Rückzug 45 Die dicke Wolke aus dichtem schwarzem Rauch wallte weiterhin die Schlucht hinauf, während die trogitischen Soldaten und ihre Maag-Freunde hastig ihre Ausrüstung zusammenpackten und sich auf den Marsch nach Norden vorbereiteten. Keselo hatte sich in seiner Studentenzeit an der Universität von Kaldacin auch ein wenig mit Botanik beschäftigt, doch soweit er sich erinnern konnte, hatte er von einem Baum oder Busch, wie ihn Omago beschrieb, nie gehört. »Was genau bringt denn diesen Baum dazu, solch dicken Rauch abzugeben?«, fragte er den Bauern. »Ich bin nicht sicher«, antwortete Omago. »Er wurde schon immer >Fettholz< genannt, und wir haben gelernt, ihn nicht als Feuerholz zu verwenden. Vor langer Zeit jedoch erkannten die Bauern in Veltans Domäne schon, dass eine Wolke des dichten, öligen Rauchs Käfer aus unseren Obstgärten und Feldern vertreibt. Der Rauch eines Fettholz-Feuers verklebt ihre Atemlöcher, und sie sterben durch den Mangel an Luft. Es läuft also darauf hinaus, sich zwischen Weglaufen oder Sterben zu entscheiden. Käfer sind nicht sehr intelligent, trotzdem haben sie im Laufe der Jahre gelernt, den Rauch des Fettholzes zu erkennen. Ich habe mehrere Arten von Käfern gesehen, die sonst eigentlich natürliche Feinde sind, die jedoch Seite an Seite vor dem Rauch geflohen sind.« 414 »Tötet der Rauch alle Arten von Insekten?«, erkundigte sich Keselo. »Es beschränkt sich nicht auf Käfer, Keselo. Der Rauch des Fettholzes tötet auch andere Tiere - und Menschen. Gelegentlich dreht der Wind und weht uns den Rauch ins Gesicht. Dann sind wir diejenigen, die husten und davonrennen. Nasse Tücher bieten ein wenig Schutz, allerdings nur eine Weile lang. Ich habe gehört, etliche Bauern, die das Fettholz benutzt haben, um die Käfer zu vertreiben, gerieten durch ein Drehen des Windes selbst in die Falle und erstickten wie die Insekten.« Keselo schauderte. »Manchmal scheint es, ein Bauer lebt gefährlicher als ein Soldat.« »Setzt euch in Bewegung, Leute!«, rief Gunda. »Der Rauch kommt immer schneller die Schlucht herauf.« »Veltan und ich tun unser Bestes, um ihn aufzuhalten«, sagte Dahlaine. »Wir werden Regenwolken heranziehen und es so stark regnen lassen, wie wir können, doch ist es nicht gerade die richtige Jahreszeit für Regen, und daher sollten sich eure Männer lieber beeilen.« »Ich bringe die Kinder in Sicherheit, großer Bruder«, sagte Zelana. »Lass dich nicht von diesem Rauch einholen.« Dann wandte sie sich um und lief über die Mauer zu dem Turm, in dem die Kinder sich aufhielten. »Du hast etwas von nassen Tüchern gesagt, Omago«, meinte Gunda. »Wenn wir zurück ins Fort gehen und alle Türen und Fenster mit nassem Tuch abdichten, würde das den Rauch abhalten?« Omago schüttelte den Kopf. »Ihr müsstet das Wasser eimerweise über die Tücher schütten«, sagte er, »und der Bach in der Schlucht ist doch bloß ein Rinnsal.« »Mir gefällt es ganz und gar nicht, so davonzulaufen!«, schimpfte Gunda. »Wir haben ein perfektes Fort, doch dieser verfluchte Rauch zwingt uns, es aufzugeben.« 415 »Uns bleibt keine andere Wahl, Gunda«, sagte Narasan. »Wir müssen uns zurückziehen.« »Oder weglaufen«, fügte Sorgan hinzu. »Was immer am besten klappt.« Sie brachen nach Norden auf, und die trogitischen Soldaten schlugen »schnelles Marschtempo« an, wie es in der Armee genannt wurde. Das entsprach nicht gerade Laufen, aber sie kamen rasch voran. »Die Insektenmenschen haben also gelernt, Feuer zu machen, sonst hätten sie ja keinen Rauch«, folgerte Hase, während sie spritzend durch den kleinen Bach hasteten, um einen der Quarzhaufen zu umgehen. »Ich würde es nicht gleich >Feuer machen< nennen«, entgegnete Keselo. »Wahrscheinlich haben sie eher brennende Äste oder Büsche gefunden. Einer meiner Lehrer hat uns erzählt, der Mensch der Frühzeit habe das Feuer eher aufbewahrt und seltener mit Funken von Feuersteinen selbst entzündet.« »Das würde ja bedeuten, die Käfer folgen dem gleichen Weg, den die Menschen genommen haben, oder?« »Ungefähr, ja«, erwiderte Keselo, »aber bei ihnen geht es wesentlich schneller voran als bei den Menschen. Diese Kriege hier im Lande Dhrall haben im Frühjahr begonnen, also vor sechs oder sieben Monaten, und die Wesen des Ödlands haben bereits eine Menge unserer Waffen übernommen und auch begriffen, was man mit Rauch anstellen kann.« »Es ist fast wie ein Wettlauf, wie?«
»So in der Art, denke ich, aber ich fürchte, sie sind viel schneller, als wir es damals geschafft haben. Für das, was sie von Frühling bis Herbst erreicht haben, brauchten wir tausende von Jahren.« »Wir sollten also einen Weg finden, ihre Entwicklung ein wenig ins Stocken zu bringen«, befand Hase. 416 »Wenn dir etwas einfällt, Hase, lass es mich wissen. Ich zerbreche mir schon seit einiger Zeit darüber den Kopf, und bisher ist mir noch keine Idee gekommen.« »Ich werde sehen, was ich tun kann, Keselo, im Augenblick jedoch bin ich zu sehr damit beschäftigt, wegzulaufen.« »Wie weit müssen wir denn noch, ehe wir diese dumme Schlucht hinter uns haben?«, erkundigte sich Gunda bei Langbogen, während sie voranhasteten. Langbogen blickte sich um. »Ich würde sagen, sechs Meilen ungefähr, aber ich fürchte, am Ende der Schlucht können wir trotzdem nicht einfach stehen bleiben. Wir müssen uns eine Stelle suchen, wo wir vor dem Rauch geschützt sind.« »Eine Höhle oder so etwas?« »Bei unseren Feinden scheint das auch zu funktionieren«, erwiderte Langbogen und zuckte mit den Schultern. »Was für sie gut ist, sollte für uns nicht schlechter sein.« »Ich glaube, das wird unser Problem nicht lösen, meine Herren«, sagte Kommandant Narasan. »Wir sind hier, um den Feind aufzuhalten, und ich glaube, wenn wir uns in einer Höhle verstecken, werden wir dieses Ziel kaum erreichen können. Aus diesem Grunde müssen wir das Ende der Schlucht unbedingt blockieren. Falls es den Insektenmenschen gelingen sollte, das Land dahinter zu erreichen, werden sie ausschwärmen, alle Menschen töten und sich das Land unter den Nagel reißen.« »Wir könnten es erneut mit einer Mauer versuchen, denke ich«, schlug Gunda vor, »doch der verfluchte Rauch, der hinter uns heranzieht, macht das ein bisschen gefährlich, oder?« »Ich schlage vor, wir lassen die Schlucht oben am Ende einfach einstürzen«, meinte Keselo. »Wie sollen wir das anstellen?«, wollte Gunda wissen, und die Skepsis stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Also«, sagte Keselo, »wenn ich mich recht erinnere, sagte ei417 ner der Leute, die uns die Schlucht am Berg Shrak beschrieben haben, der Quarz am oberen Ende sei brüchiger, weil das Wasser hineinsickert und im Winter gefriert. Wenn wir nun nach oben gehen und mit Hämmern und langen Stangen große Mengen Quarz abbrechen könnten, würde er doch in die Schlucht fallen.« »Und dadurch würde sich der Rauch noch weiter ausbreiten«, fügte Gunda hinzu. »Ich glaube nicht, Herr«, widersprach Keselo. »Der Rauch zieht die Schlucht hinauf, weil die Wände ihn vor den vorherrschenden Winden schützen, die nämlich aus Westen kommen. Außerdem müsste der Rauch über die Barriere steigen, und das ist ja noch einmal höher. Falls er dann aus der Schlucht kriechen würde, könnte der Wind ihn nach Osten wehen - und das Gebiet dort ist so gut wie unbewohnt.« »Ob das klappen könnte?«, fragte Gunda seinen Kommandanten. »Es hört sich zumindest plausibel an«, erwiderte Narasan. »Warum probieren wir es also nicht aus?« 46 Am Nachmittag erreichten sie das Ende der Kristallschlucht. Das fortgesetzte Donnern, das von unten herangrollte, deutete darauf hin, dass Veltan und Dahlaine immer noch bei der Arbeit waren, und die Rauchwolke kam merklich langsamer voran. »Wenn die beiden so viel Regen auf die Schlucht niedergehen lassen, wird vermutlich eine richtige Flutwelle unten aus dem Südende schießen«, überlegte Hase. »Das wäre dann ziemlich unangenehm für die Wanzen, würde ich sagen.« »Wanzen?«, hakte Gunda nach. 418 »Man sollte niemals eine Gelegenheit auslassen, den Feind zu beleidigen«, sagte Hase und grinste hinterhältig. »Wenn ich mich recht an die Karte entsinne, die Herr Dahlaine in der Höhle unter dem Berg Shrak aufgestellt hat, sind die Westhänge der Schlucht ziemlich steil«, sagte Keselo. »Ja, so habe ich das auch in Erinnerung«, bestätigte Häuptling Zweihand. »Dann wird es für mich und eine Mannschaft nicht allzu schwierig sein, dort hinaufzugelangen und den Eingang der Schlucht einzureißen«, meinte Keselo. »Wir wissen nicht sicher, wie weit sich die Insektenmenschen hinter der Rauchwolke befinden, also sollten wir den Durchlass schließen, so schnell wir können.« »Der junge Mann verbringt viel Zeit mit Nachdenken, nicht wahr?«, wandte sich Häuptling Zweihand an Langbogen. »Fast seine ganze Zeit«, erwiderte Langbogen. »Er glaubt, er habe uns schon eine Menge harter, ehrlicher Arbeit erspart, daher ermutigen wir ihn immer wieder.« »Also gut«, sagte Hase und nahm seinen Hammer, »gehen wir nach oben und zertrümmern Quarz.« Wie sich herausstellte, war der Quarz auf der Westseite der Schlucht viel brüchiger, als Keselo erwartet hatte, und seine »Bröckel-Mannschaft« bestand hauptsächlich aus Maags, die größer und kräftiger waren als die trogitischen Soldaten. Eigentümlicherweise schienen die Maags eine Menge Spaß beim Zertrümmern des Quarzes zu haben, und eine Steinlawine nach der anderen sauste in die Schlucht. Einige der Maags schlangen
Seile um die Bäume, die am oberen Rand der Schlucht wuchsen, und ließen sich ein Stück herunter, um von dort Quarz aus der Wand der Schlucht zu hauen, wobei sie bei jedem Schlag riefen: »Auf-gepasst da unten!« »Ich werde diese Menschen nie verstehen«, murmelte Keselo 419 vor sich hin, während er an den Rand der Schlucht trat, um zu sehen, wie weit der Rauch inzwischen heraufgezogen war. Die Wolke hatte sich merklich gelichtet. Der Regen, den Dah-laine und Veltan auf das untere Ende der Schlucht niederprasseln ließen, hatte ganze Arbeit geleistet. Wenn alles so weiterlief wie im Augenblick, würde der »Fettholz-Rauch«-Plan der Insektenmenschen überhaupt nicht aufgehen. Gegen Abend kamen Keselo und seine »Bröckel-Mannschaft« den steilen Hang herunter und gesellten sich zu ihren Freunden. »Das scheint ja besser zu klappen, als wir gehofft hatten«, sagte Kommandant Narasan zu Keselo. »Der Rauch muss ziemlich hoch steigen, um über das Geröll zu gelangen, das du mit deinen Männern in die Schlucht geschüttet hast, und der Wind, der ja aus Westen weht, treibt ihn außerdem von uns weg. Ich denke, wir sollten bis morgen warten, um sicherzugehen, dass der Rauch tatsächlich abzieht. Dann beginnen wir mit dem Bau der Wälle. Die Insektenmenschen werden nicht durch die Schlucht nach oben ziehen können, ehe die Feuer erloschen sind, und daher haben wir ein wenig Zeit.« »Ich hatte gerade eine Idee, die ihr vielleicht bedenken wollt«, sagte nun Langbogens Freund Athlan. »Der Boden an diesem Ende der Schlucht besteht doch überwiegend aus Erde.« »Es gibt auch einige Felsen dazwischen«, warf Gunda ein, »aber vermutlich werden wir sie für unsere Wälle verwenden, sodass sich davor hauptsächlich Erde befindet. Was hast du dir überlegt?« »Es gibt einige Bäche in der Nähe«, sagte Athlan, »und wenn man Erde und Wasser mischt, bekommt man Schlamm, nicht wahr?« »In den meisten Fällen, ja. Worauf willst du hinaus, Athlan?« »Drüben bei uns in Tonthakan gibt es einige Sümpfe, und im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass es sehr mühsam vorangeht, 420 wenn man durch weichen Schlamm waten muss. Sofern der Boden vor einem eurer neuen kleinen Forts also aus Schlamm besteht, würde es die Insektenmenschen bei ihrem Vormarsch so sehr verlangsamen, dass sie leichte Ziele für die Bogenschützen abgeben. Ich glaube, auf diese Weise werden nicht sehr viele eure Forts erreichen, oder?« »So etwas nennt man >Wallgraben<, Athlan«, erklärte Keselo Langbogens Freund. »Im trogitischen Weltreich ist das eigentlich Standard.« Athlan wirkte geknickt. »Und ich dachte, ich hätte eine Idee gehabt, auf die vorher noch niemand gekommen ist«, sagte er. »Du brauchst deswegen nicht niedergeschlagen zu sein«, riet ihm Keselo. »Wir haben schon immer Wasser benutzt, um den Graben vor unseren Forts oder Wällen aufzufüllen. Ich glaube jedoch, an Schlamm hat noch nie jemand gedacht. Wasser verlangsamt den Feind natürlich, aber Schlamm wird sogar noch eine bessere Wirkung erzielen.« »Allerdings müsste man dazu die Bäche umleiten«, mischte sich nun Padan ein, »und glücklicherweise haben wir hier oben eine Menge Freunde. Einige arbeiten an den Wällen, andere werden dir und deinen Leuten bei den Schlammgruben helfen.« »Ich fürchte, uns könnte das Wasser ausgehen, wenn wir versuchen, diese Schlammgruben vor jedem Wall anzulegen«, sagte Hase. »Wäre es nicht besser, wenn wir vor dem zweiten Wall einfach offenes Gelände lassen? Dann hätten die Pferdesoldaten festen Boden zum Reiten und können alle Insektenmenschen töten, die versuchen, die zweite Mauer anzugreifen.« »Und vielleicht wollen wir ja auch unsere Katapulte mit Brandgeschossen zum Einsatz bringen, um diejenigen anzugreifen, die den dritten Wall angreifen«, fügte Keselo hinzu. »Die Wesen des Ödlands haben ziemliche Probleme mit Veränderungen, und wenn wir jeden Wall anders gestalten, werden sie damit überhaupt nicht glücklich sein.« 421 »Und wie wäre es mit vergifteten Pfählen vor dem vierten Wall?«, meinte nun Ochs. »Dann könnten wir wieder Schlammgruben vor dem fünften anlegen. Nach einer Weile werden sie nicht mehr wissen, was sie als Nächstes erwartet.« »Wir haben wirklich ein paar fiese Gestalten auf unserer Seite, Narasan«, meinte Sorgan und grinste hinterhältig. »Anders würde ich es mir auch gar nicht wünschen, Freund Sorgan«, erwiderte Narasan. Die Sonne war untergegangen, und in den Bergen, die den südlichen Teil von Dahlaines Domäne begrenzten, kühlte es deutlich spürbar ab. Keselo hatte nie längere Zeit im Gebirge verbracht, daher war er auf den plötzlichen Temperatursturz nicht vorbereitet - und dabei war es erst Herbst. Als Keselo die dicken Fellmäntel der Matakaner zum ersten Mal gesehen hatte, waren sie ihm ziemlich übertrieben vorgekommen, doch wenn die Winter hier mit so unerbittlicher Kälte Einzug hielten, wie es die herbstliche Kühle verhieß, würden diese Mäntel gerade einmal ausreichen.«
»Frisch, nicht wahr?«, sagte Hase, als er sich nahe dem Ende der Kristallschlucht zu Keselo gesellte. »Ich finde, es geht schon ein wenig über >frisch< hinaus, mein kleiner Freund«, antwortete Keselo und zitterte. »Versuch dies mal«, schlug Hase vor und hielt ihm einen ma-takanischen Mantel hin. »Aber gern doch«, sagte Keselo, nahm den Mantel und legte ihn sich über die Schultern. »Du hast ihn doch nicht gestohlen, oder?« »Ich stehle nicht sehr häufig Kleidung«, gab Hase zurück. »Die meiste Kleidung auf Maag-Schiffen hat so etwas wie Seife nie auch nur aus der Ferne gesehen, daher riecht sie nicht unbedingt sehr angenehm. Nein, dein Mantel - und meiner - ist ein Geschenk von Häuptling Zweihand. Da wir diesen Krieg für ihn 422 austragen, scheint er Wert darauf zu legen, dass wir gesund bleiben. Wie lange wird es wohl deiner Meinung nach dauern, diese Wälle zu bauen?« »Höchstens eine Woche. Hier in den Bergen liegen viele Felsen herum, daher sollte es recht schnell gehen.« Plötzlich gab es einen grellen Blitz und einen doppelten Donnerschlag. »Rate mal, wer das ist«, meinte Hase ironisch. »Zelanas Brüder sind eigentlich ganz nett, finde ich, nur ein bisschen laut.« »Ist dir das tatsächlich aufgefallen, ja? Wie aufmerksam du bist.« Dahlaine und sein jüngerer Bruder gesellten sich zu ihnen. »Wo ist Narasan?«, fragte Veltan. »Höchstwahrscheinlich irgendwo hier auf dem Hang vor dem Ende der Schlucht«, antwortete Hase. »Er ist mit Gunda und Pa-dan unterwegs, um die Stellen auszusuchen, wo seine Männer morgen mit dem Bau der Wälle anfangen sollen. Sind die Insektenmenschen schon in der Schlucht unterwegs?« »Wir haben noch keine gesehen«, antwortete Dahlaine. Dann zeigte er auf die Quarztrümmer, die den Ausgang der Schlucht blockierten. »Wer ist denn auf die Idee gekommen?«, fragte er. »Kommandant Narasan meinte, es würde den Rauch vielleicht umleiten«, erwiderte Keselo, »und natürlich soll es auch die Wesen des Ödlands aufhalten.« »Wie habt ihr in der kurzen Zeit so viel Quarz aufgehäuft?« Keselo zuckte mit den Schultern. »Wir haben ihn einfach von den Wänden der Schlucht abgeschlagen«, sagte er. »Das war nicht so schwer, Herr Dahlaine. Der Quarz an diesem Ende der Schlucht ist im Laufe der Jahrhunderte an vielen Stellen brüchig geworden.« »Es wäre vielleicht gut, wenn dieser Wall ein wenig höher wäre.« »Leider wurde es dunkel, Herr Dahlaine. Wir können uns al423 lerdings morgen wieder an die Arbeit machen und den Wall erhöhen, wenn du möchtest.« »Warum nehmen wir das nicht in die Hand, Bruder?«, sagte Veltan und lächelte breit. »Ich weiß nicht, wie es bei deiner Lieblingsblitzdame aussieht, aber meine genießt es immer, Dinge zu zertrümmern. Sie hatte wirklich großen Spaß, als wir diesen Kanal durch Aracias Eiszone geschaffen haben, damit Narasans Armee Zugang zum Land Dhrall bekommt.« »Und dir hat es auch nicht so viel ausgemacht, oder, kleiner Bruder?«, meinte Dahlaine grinsend. »Es war schließlich meine Pflicht«, erwiderte Veltan scheinheilig. »Und meine Pflichten erledige ich stets mit großer Freude, du etwa nicht?« Dahlaine lachte. »Hast du eigentlich vor, irgendwann einmal erwachsen zu werden, Veltan?«, fragte er. »Nicht, wenn ich es vermeiden kann.« »Also gut, dann wollen wir mal ein wenig Quarz zertrümmern.« Der Lärm war ohrenbetäubend, und die Blitze taten Keselo in den Augen weh, so grell waren sie, aber die Barriere am Ende der Kristallschlucht wurde mit jedem Donnerschlag höher. »Ist es nicht nett, Götter in der Nähe zu haben, welche die anstrengende Arbeit erledigen?«, fragte Gunda scheinheilig. »Sollten wir nicht lieber mit dem ersten Wall anfangen?«, schlug Narasan vor. »Das musste jetzt ja wieder kommen, nicht wahr?« 424 47 Auch am nächsten Morgen fiel noch kalter Nieselregen, doch die spärlichen Reste der Rauchwolke zogen nach Osten ab, wohin sie der Wind trieb, sobald der Qualm über den Quarzdamm stieg, welcher inzwischen den Eingang zur Schlucht blockierte. Seit dem Frühjahr beschäftigten sie sich immer wieder damit, Forts zu errichten, angefangen in der Schlucht oberhalb von Lat-tash. Die Maag-Seeleute sammelten große Felsen und schleppten sie zum Bauplatz, und die trogitischen Soldaten setzten diese dann zu einer Mauer zusammen, die den feindlichen Vormarsch zum Stillstand bringen sollte. Das hatte nicht immer hingehauen, aber Keselo glaubte, es war trotz allem stets ein guter Anfang. Der erste Wall war fast fertig, als Athlan vorbeikam und sich kurz mit Keselo unterhalten wollte. »Es klappt nicht«, berichtete er düster. »Das Wasser versickert nicht tief genug in der Erde. Wir haben zwar nasse Erde, aber von Schlamm ist sie weit entfernt.« »Hört sich an, als hätte sich gerade wieder mal eine gute Idee zerschlagen«, meinte Hase.
Plötzlich hatte Keselo wie aus dem Nichts einen eigenartigen Einfall. »Ist die Frau von dem Bauern Omago in der Nähe?«, fragte er Hase. »Ich glaube, ich habe sie hinter diesem Fort gesehen, das du und deine Männer hier bauen«, antwortete Hase. »Warum willst du das wissen? Denkst du, sie weiß, wie man Schlamm macht?« »Vielleicht«, sagte Keselo. »Komm mit, Athlan. Vielleicht kenne ich jemanden, der uns helfen könnte.« Sie stiegen über den teilweise fertig gestellten Wall und fanden Omago und seine wunderschöne Frau ein kleines Stück dahinter. »Ich weiß zwar nicht genau, warum«, sagte Keselo zu Ära, 425 »aber aus irgendeinem Grund bin ich sicher, dass du uns verraten kannst, was wir falsch machen.« »Oh?«, sagte sie. »Worin besteht denn das Problem?« »Also, wenn man Wasser mit Erde mischt, bekommt man Schlamm, unsere Freunde aus Tonthakan jedoch haben mehrere kleine Bäche auf den nackten Boden vor den Wällen umgeleitet, und die Erde verwandelt sich nicht in Schlamm.« Ära sah den Bogenschützen an. »Habt ihr umgerührt?«, fragte sie. »Umgerührt?«, antwortete Athlan bestürzt mit einer Gegenfrage. »Ach, du meine Güte«, seufzte Ära. »Du hast noch nicht häufig gekocht, oder?« »Seit ich ein kleiner Junge war, röste ich Fleisch über offenem Feuer«, sagte Athlan. »Fleisch garen ist nicht ganz das Gleiche wie Mehl kochen«, meinte Ära. »Ich möchte dir ja nicht den Spaß verderben, aber Erde in Schlamm verwandeln ist mit ein wenig harter Arbeit verbunden.« »Wenn sich das Wasser in den Sümpfen von Tonthakan mit der Erde mischt, braucht es gar keine Hilfe von uns«, widersprach Athlan. »Dafür dauert es Jahre«, erklärte Ära. »So etwas geht nicht von heute auf morgen. Wenn du den Schlamm noch in diesem Jahr haben möchtest, musst du eben umrühren.« Sie legte die Stirn in Falten. »Am leichtesten geht es vermutlich so: Ihr grabt ein tiefes Loch an der Stelle, an der ihr den Schlamm haben wollt, und häuft die Erde daneben auf. Dann lasst ihr das Wasser hineinlaufen, bis die Grube halb voll ist. Anschließend schaufelt ihr die Erde wieder hinein.« »Das klingt allerdings nach viel Arbeit«, befand Athlan. »Nicht wahr? Allerdings hat auch niemand gesagt, es ginge leicht, oder?« 426 Athlan seufzte. »Immerhin klang es wie eine gute Idee.« »War es auch - und ist es immer noch«, sagte Keselo. »Ihr müsst euch nur ein bisschen anstrengen, dann bekommen wir, was wir wollen.« »Ich fürchte, du hast Recht«, stimmte Athlan niedergeschlagen zu. Kurz vor Mittag des folgenden Tages kam Langbogen vom Rand der Schlucht herunter. »Die Insektenmenschen haben die Feuer ausgehen lassen, und der letzte Rauch sollte bis Sonnenuntergang zum oberen Ende abgezogen sein.« »Wann wird sich der Feind schätzungsweise in Marsch setzen?«, fragte Kommandant Narasan. »Hat er bereits. Sie halten einen ziemlichen Abstand zu den letzten Rauchschwaden, aber sie sind unterwegs.« »Haben sie tatsächlich Waffen, die sie uns gestohlen haben?«, wollte Kapitän Sorgan wissen. »Ein paar«, antwortete Langbogen. »Manche haben Schwerter, andere Äxte, aber meistens tragen sie lange, spitze Stöcke.« »Das sollte keine große Bedrohung darstellen«, sagte Gunda. »Dessen wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Sorgan. »Sie haben ihr Gift gleich in den vorderen Zähnen, sie brauchen also keine Gefäße dafür herumzuschleppen wie wir. Deshalb brauchen sie nur auf die Speerspitze zu spucken, und ihre spitzen Stöcke sind so tödlich wie unsere. Wie lange werden sie brauchen, um hier oben anzukommen, Langbogen?« »Nicht mehr als anderthalb Tage«, erwiderte Langbogen. »Sie werden einige Schwierigkeiten mit dem Geröllhaufen haben, der den Eingang der Schlucht blockiert - vor allem, wenn Athlans Bogenschützen oben an den Rändern stehen. Vielleicht versuchen sie sogar, nach Sonnenuntergang über die Barrikade zu krabbeln. Für gewöhnlich greifen sie nicht in der Dunkelheit an, aber ich würde dafür meine Hand nicht ins Feuer legen.« 4V Die Wolken, mit denen Veltan und Dahlaine den Rauch gemindert hatten, welchen die Wesen des Ödlands freigesetzt hatten, zogen während der nächsten Tage weiterhin die Schlucht hinauf und ließen mit Schnee vermischten Regen niedergehen. Kommandant Narasan hatte umsichtig mehrere Fähnchenwinker auf dem Rand der Schlucht postiert, die vor der unausweichlichen Ankunft der Insektenmenschen warnen sollten. Ke-selo hatte immer noch Probleme mit dem Begriff »Insektenmenschen«, da es sich eigentlich um Käfer handelte. »Einer deiner Leute oben auf dem Rand winkt mit der Fahne, Keselo«, sagte Hase früh am Morgen des dritten Tages, nachdem der Rauch sich aufgelöst hatte. Keselo schaute genau in dem Moment auf. »Er sagt, die Feinde kommen«, berichtete er. »Welche Überraschung«, meinte Hase. »Wir wussten doch, dass sie kommen, oder?« »Eine Bestätigung kann nicht schaden«, erwiderte Keselo und beobachtete weiterhin die Zeichen des
Fähnchenwinkers. »Er sagt, die Bogenschützen haben den Feind bereits arg dezimiert.« Dann kam die Kriegerkönigin Trenicia vom Wall herunter und gesellte sich zu ihnen. »Was meldet der Posten dort oben?«, fragte sie Keselo. »Die Feinde sind unterwegs«, antwortete Keselo. »Jedenfalls die wenigen, die noch leben. Der Fähnchenwinker sagt, die Bogenschützen aus Tonthakan haben schon hunderte getötet.« »Sie werden aber doch nicht alle umbringen?«, wollte Trenicia wissen und klang dabei ein wenig besorgt. »Meine Gefühle würde es nicht verletzen«, verkündete Hase. Trenicia zog eine finstere Miene, gab jedoch nichts zurück. Der Fähnchenwinker oben auf dem Rand der Schlucht gab weiterhin Zeichen, aber soweit Keselo erkennen konnte, ereignete sich nichts Neues oder Ungewöhnliches. 428 »Einer von ihnen hat gerade den Kopf über den Quarzhaufen geschoben«, flüsterte Hase. »Du brauchst nicht so leise zu sprechen«, meinte Keselo. »Sie sind noch eine halbe Meile entfernt.« Dann erfolgte das nächste Signal vom Fähnchenwinker. »Ich war ziemlich sicher, das würde früher oder später passieren«, sagte Keselo. »Was ist denn?«, wollte Hase wissen. »Den Tonthakanern gehen die Pfeile aus.« »Wie bitte?«, fuhr Hase auf. »Ich habe tausende Pfeilspitzen gemacht.« »Unglücklicherweise hat das Vlagh etliche tausend Diener in die Schlucht gesandt«, antwortete Keselo. »Dann bleiben wenigstens ein paar Feinde für uns übrig«, sagte Trenicia und klang erleichtert. Beim ersten Licht am folgenden Morgen schwärmten die inzwischen bewaffneten Käfer über die Barrikade aus Quarzgeröll und überquerten das offene Gelände zwischen dem Nordende der Kristallschlucht und dem Rand von Athlans Schlammgrube - aber sie hielten dort nicht einmal kurz an. Zum Erstaunen aller, die hinter den Wällen standen, setzten die Insektenmenschen ihren Ansturm fort, obwohl die jeweils erste Reihe immer wieder im Schlamm verschwand. »Sind die denn blind?«, rief Sorgans Vetter Tori. »Können sie nicht sehen, was mit ihren Freunden passiert?« »Käfer haben keine Freunde«, erklärte Veltan. »Sie verstehen vermutlich einfach nicht, was mit denen geschieht, die in die Schlammgrube laufen. Draußen im Ödland gibt es wenig Wasser, und deshalb haben die meisten wahrscheinlich noch nie Schlamm gesehen. Sie begreifen nicht, dass er nicht fest ist.« »Das sollte uns doch eine Menge Pfeile ersparen«, fügte Hase hinzu. »Wenn sie sich alle selbst ertränken, müssen die Tontha429 kaner sie nicht erschießen. Die Insekten kümmern sich um sich selbst.« Keselo runzelte die Stirn. »Ich fürchte, so wird es leider nicht kommen, kleiner Freund. Im Prinzip bauen sie eine Art Damm, der am Ende quer über die Schlammgrube führen wird.« »Und sie benutzen ihre eigenen Leute als Steine?«, fragte Hase empört. »Du solltest endlich aufhören, >Leute< in ihnen zu sehen, Hase«, sagte Langbogen. »>Leute< können nämlich denken; Käfer nicht. Wenn sie einen festen Weg durch eine Schlammgrube brauchen, bauen sie sich diesen Weg eben - aus dem Material, das ihnen zur Verfügung steht. Da sie keine Steine haben, benutzt der Überverstand eben seine eigenen Käfer als Baustoff - und die anderen Käfer brauchen sie noch nicht einmal zu schleppen.« »Das ist ja entsetzlichl«, rief Hase. »Dieser ganze Krieg ist entsetzlich, kleiner Freund«, erwiderte Langbogen. »Das wird sie verwirren, Unterkommandant«, meinte Keselo später an diesem Morgen zu Gunda, »und wir werden keinen einzigen Mann dabei verlieren.« »Ich werde langsam ein wenig sauer. Ständig bauen wir Forts -oder in diesem Fall Wälle -, und dann machen wir kehrt und verlassen sie wieder.« »Aber unsere Leute kommen nicht zu Schaden, Gunda«, entgegnete Padan. »Geht es darum nicht im Krieg? Soll doch der Feind das Sterben übernehmen. Unsere erste Pflicht besteht darin, am Leben zu bleiben, oder nicht?« »Findest du das etwa auch, Narasan?«, fragte Gunda ziemlich traurig. »Es ergibt durchaus Sinn, Gunda«, meinte Narasan. »Das Fort - und natürlich auch die Schlammgrube - hat bereits mehrere tausend unserer Feinde getötet, und es hat uns noch keinen 430 einzigen Mann gekostet, falls die Wälle verlassen sind, wenn der Feind dort eintrifft, wird er sehr verwirrt sein, mindestens einen Tag lang. Dann wird er versuchen, einen weiteren sinnlosen Angriff zu starten, und dann fallen die Malavi über sie her.« »Und wir verlassen auch noch den zweiten Wall?«, fragte Gunda. »Ich sehe keinen Grund, warum wir das nicht tun sollten«, erwiderte Narasan. »Wenn die Insektenmenschen den dritten Wall angreifen, werden sie es mit Katapulten und Brandgeschossen zu tun bekommen. So haben wir eine gute Chance, allein bei den ersten drei Wällen eine Million Feinde zu eliminieren, und zwar ohne einen einzigen Mann zu verlieren. Besser kann man es doch nicht antreffen, Gunda. Diesem Vlagh werden am Ende die Soldaten ausgehen.« Die Schlammgrube der Tonthakaner war in der Mitte tiefer als am südlichen Rand, und im Laufe des Tages
versanken immer mehr Insektenmenschen darin. Langbogen sprach mit seinem Freund Athlan und dessen Häuptling Kathlak, und die Bogenschützen konzentrierten ihre Pfeile auf die armselig bewaffneten Insektenmenschen, die den Damm überquerten. »Wenn wir diesen ersten Wall nach Sonnenuntergang verlassen, werden wir die Diener des Vlagh nicht auf den Fersen haben wollen«, erklärte er. »Falls sie morgen noch ein paar hundert Fuß hinter sich zu bringen haben, ist es wahrscheinlich längst Mittag, bis sie herausfinden, dass wir nicht mehr da sind. Dann werden sie hier im ersten Fort herumlaufen, während der Überverstand überlegt, wie er weiter vorgehen soll. Ich bin sicher, bis zum Morgen des darauf folgenden Tages werden sie nicht viel vorankommen.« »Wann sollen wir sie denn angreifen?«, fragte Ekial. »Ich würde vorschlagen, gegen Mittag, oder was meinst du, Keselo?« 431 »Das wäre vermutlich das Beste«, stimmte Keselo zu. »Wir brauchen auch ein bisschen Zeit, um den zweiten Wall zu verlassen, und ich denke, der Feind sollte nicht so nahe kommen, dass er uns stören kann. Bei Sonnenuntergang scheinen sie immer anzuhalten - vermutlich, weil sie im Dunkeln nicht so gut sehen können. Denkst du, sie werden sich in der Nacht zurückziehen, Langbogen?« »Während des letzten Krieges haben sie das immer gemacht. Wahrscheinlich rein instinktiv. Wir können mit dem Rückzug aus dem zweiten Fort beginnen, sobald die Malavi ihren Angriff starten.« »Und dann laufen die armen kleinen Wanzen einen Tag lang in dem leeren zweiten Fort herum und suchen jemanden, den sie umbringen können«, fügte Hase hinzu. »Wanzen?«, fragte Narasan und wirkte ein wenig verwirrt. »Hase ist da vor ein paar Tagen drauf gekommen«, erklärte Gunda. »Er glaubt anscheinend, der Name würde den Feind beleidigen und seine Gefühle verletzen.« »Wie viele dieser Wälle haben deine Männer bislang errichtet?«, erkundigte sich Häuptling Kathlak. »Acht, oder?«, fragte Gunda Kommandant Narasan. Narasan nickte. »Andar lässt seine Männer an zwei weiteren arbeiten. Er ist schon ziemlich nah am Ende des Hangs angekommen. Oben müssen wir uns wohl etwas Imposanteres überlegen. Der Feind soll doch schließlich nicht an uns vorbeigelangen, ehe das Wetter schlecht wird, oder? Sobald der Winter Einzug hält, wird dieser Krieg ein sehr plötzliches Ende finden.« »Wie schade«, meinte Sorgan Hakenschnabel und heuchelte Bedauern. 432 48 »Er ist anders«, verkündete Sorgans jüngerer Vetter Tori und deutete auf den prachtvollen Sonnenuntergang. »Sicherlich ist er hübsch, nehme ich an, aber er ist nicht so wie die Sonnenuntergänge draußen auf dem Meer. Berge scheinen den Himmel irgendwie eigenartig zu verändern.« »Das machen die Wolken, Kapitän Tori«, erklärte Keselo. »Die meiste Zeit, so könnte ich mir vorstellen, ziehen die Wolken draußen auf dem Meer von hier nach dort. Wenn man ins Gebirge kommt, müssen sie jedoch auf der einen Seite nach oben steigen und auf der anderen wieder heruntersinken. Dadurch werden sie gewissermaßen auseinander gezogen, und an manchen Stellen sind sie dann dicker und an anderen dünner. Aus diesem Grunde sehen wir so viele verschiedene Rottöne bei einem Sonnenuntergang in den Bergen.« »Hast du eigentlich alles in der Schule gelernt?«, fragte Tori. »Na ja, nicht ganz alles, Kapitän«, antwortete Keselo. »Mein Vater hatte Pläne mit mir, die mich nicht so sehr begeistert haben, daher habe ich mich jahrelang an der Universität versteckt. Ich hatte kein Interesse an Politik oder Geschäften, deshalb habe ich getrödelt. Dann trat ich in Kommandant Narasans Armee ein - vermutlich mehr, um meinen Vater zu ärgern, als aus echter Begeisterung.« »Drüben im Lande Maag gibt es nur eine mögliche Laufbahn für uns«, sagte Tori. Dann lachte er. »Als Skell und ich noch Jungen waren, haben wir uns im Hafen von Kormo an Bord von Schiffen geschlichen und gehofft, wir wären weit fort von der Küste, ehe die Seeleute uns entdeckten. Du wirst nicht glauben, wie oft Skell und ich in die Bucht geworfen wurden. Immerhin sind wir gute Schwimmer geworden.« Tori schaute hinüber auf die steile Wiese, die zwischen dem ersten und dem zweiten Wall 433 lag. »Nichts, das auch nur ein bisschen Deckung geben würde«, bemerkte er. »Ich denke, das Leben wird für diese Insektenmenschen sehr unangenehm werden, wenn die Malavi über sie hinweggaloppieren.« Der zweite Wall ähnelte stark dem ersten - und auch allen anderen, die Narasans Armee während der letzten Generationen errichtet hatte, was das betraf. Soldaten waren Gewohnheitstiere, und solange etwas so funktionierte, wie es sollte, pfuschte niemand an dem ursprünglichen Entwurf herum. Der erste Wall befand sich ungefähr fünfhundert Schritte weiter im Süden. Die Entfernung zwischen den beiden war ein wenig größer als zwischen den Übrigen, womit man vor allem einer Bitte Ekials gefolgt war. »Wir brauchen Platz, Narasan«, hatte der Pferdemann erklärt. »Wir werden den Feind mehrmals angreifen, deshalb macht es nicht zu eng für uns.« Dann hatte er gegrinst. »Schließlich darfst du eins nicht vergessen: Jeder, den wir da draußen töten, wird dein Fort nicht mehr angreifen.« Es wurde Vormittag, ehe Keselo eine Bewegung hinter dem nun verlassenen Wall ausmachte. Es schauderte ihn schon, als er nur versuchte, die Zahl der Feinde zu schätzen, die sinnlos für diesen Damm geopfert worden
waren, nur damit die Armee sicher durch Athlans Schlammgrube marschieren konnte. Da der erste Wall etwa fünfhundert Schritt entfernt war, konnte Keselo nicht sehr viele Einzelheiten erkennen, was die Aktivitäten der Insektenmenschen anging, aber es schien ihm, die Eindringlinge waren ziemlich verwirrt. »Aha, also haben sie es endlich über die Schlammgrube geschafft«, stellte der jugendliche Veltan fest, als er sich zu Keselo gesellte. »Und, gibt es etwas Interessantes zu berichten?« »Leider ist es schwierig, die Einzelheiten zu erkennen«, antwortete Keselo. »Es liegt ein ganz schönes Stück zwischen uns und ihnen.« 434 Veltan spähte über den ersten Wall. »Soweit ich sehen kann, sind sie verwirrt.« »Ich dachte, Insekten können nicht verwirrt sein«, meinte Keselo. »Als Einzelwesen nicht«, erwiderte Veltan. »Der Überverstand hingegen ist verwirrt. Wir haben gerade etwas getan, das kein Insekt der Welt tun würde.« »Ach? Und was?« »Wir haben unser Nest aufgegeben.« »Nest?« »Das ist für die Insekten das, was für euch ein >Fort< ist, Keselo. Von ihrem Standpunkt aus sind diese Befestigungsanlagen Nester, Orte, an denen wir unsere Königin und ihre Nachkommen beschützen sollten. Diejenigen, die am Ende die Schlammgrube überwunden haben, suchen jetzt hinter dem Wall - vermutlich in der Hoffnung, unsere Königin und ihre Jungen zu finden -, damit sie sie töten und ihre Kinder fressen können, und natürlich auch die Eier, die noch nicht ausgeschlüpft sind. Es gibt nur wenige Lebensformen, die noch primitiver sind, aber Insekten haben ihnen nicht viel voraus. Für ein Insekt ist das Leben sehr einfach. Die erste Pflicht besteht darin, die Mutter um jeden Preis zu beschützen. Ein Insekt verhungert sogar, damit die Mutter genug zu fressen hat. Denn wenn sie nicht frisst, wird sie keine Eier legen. Und das bedeutet für die Insekten den >Untergang<.« »Sie sind ja beinahe ein >ehrenwertes< Volk, nicht wahr?« Veltan lächelte. »>Ehre< ist ihnen völlig fremd, Keselo. Das ist ein menschlicher Begriff. Insekten würden Ehre nicht erkennen, wenn sie vor ihnen aufmarschierte und ihnen ins Gesicht schreien würde - na ja, sie haben ja nicht einmal etwas, das wir Gesicht nennen würden. Die Insektenkönigin - in ihrer Sprache das >Vlagh< erschafft sie mit dem Trieb, sie um jeden Preis zu beschützen, und dieser Trieb ist allem in der Insektenwelt überge435 ordnet. Käfer denken nicht selbstständig, Keselo. Die >Mutter< erledigt das gesamte Denken, und was mein Bruder den >Über-verstand< nennt, ist das Instrument ihrer Gedanken. Was sie denkt, denken sie alle. Das ist sehr einfach, aber es funktioniert. Das Vlagh lebt jetzt schon seit Millionen von Jahren, und es ist immer noch da. Demnach müssen sie ja irgendetwas richtig machen, oder?« »Ich glaube, das Vlagh hat gerade eine Entscheidung gefällt«, meinte Keselo. »Einige der Insektenmenschen haben den ersten Wall hinter sich gelassen und kommen über den Hang auf uns zu.« »Also«, sagte Veltan, »das ist höchst interessant. Ich hätte schwören mögen, das würden sie frühestens morgen machen. Langsam wird das Vlagh wohl erwachsen. Ich wäre nicht sonderlich überrascht, wenn es den Kindern befohlen hätte, den ersten Wall Stein für Stein auseinander zu nehmen.« Aus den Augenwinkeln nahm Keselo eine Bewegung wahr, und als er genauer hinschaute, sah er die MalaviPferdesoldaten, die sich unter den Bäumen an der Ostseite des Hangs versammelten. Dann wandte er sich um und schaute zu einer ähnlichen Baumgruppe auf der Westseite. Es überraschte ihn nicht, dass sich auch dort Malavi zusammenscharten. »Ich denke, wir haben eine Überraschung für sie, Herr Veltan.« »Ach?« »Wenn du genau hinschaust, kannst du Pferdesoldaten sehen, die sich dort im Westen versammeln. Und dort im Osten ebenfalls. Ich würde sagen, den Insektenmenschen blüht eine ziemlich eklige Überraschung. Ganz offensichtlich werden die Malavi von beiden Seiten gleichzeitig angreifen, und danach werden nicht mehr viele Käfer übrig sein.« »Das ist ja entsetzlich]«, rief Veltan. »Wir reden über den Feind, Herr Veltan«, erinnerte Keselo seinen Freund. 436 Von Westen her hörte man einen Ruf, und Keselo erkannte die Stimme von Prinz Ekial. Die Malavi preschten aus den Waldstücken im Osten und Westen heran und galoppierten los. Der Westen schien ein wenig höher zu liegen als der Osten, aber es machte keinen großen Unterschied aus. Der Feind auf dem Hang wirkte verwirrt und wusste offensichtlich nicht, in welche Richtung er fliehen sollte. Einige Insektenmenschen zückten die gestohlenen Waffen, andere hoben ungeschickt etwas, das man für Speere halten mochte, doch hatten sie den angreifenden Malavi nichts Rechtes entgegenzusetzen. Innerhalb weniger Minuten standen nur noch wenige der Gegner. Dann stieß Ekial erneut einen Ruf aus, die beiden Gruppen der Pferdesoldaten wendeten und ritten auf ihren Reittieren einfach über die Überlebenden hinweg.
Keselo schauderte. »Erinnere mich daran, niemals die Malavi zu beleidigen, Herr Veltan. Ich glaube, niemand auf der ganzen Welt kann einen solchen Angriff lebend überstehen.« Die Malavi beendeten die zweite Attacke und schwangen ihre Säbel in einer für Keselos Geschmack übertrieben dramatischen Weise. Der Hang oberhalb des ersten Walls war nun mit toten Soldaten des Feindes übersät, und soweit Keselo sehen konnte, bewegte sich keiner mehr von ihnen. »Es tut immer schwieriger werden, Subaltern Keselo«, sagte der rotgesichtige Sergeant Shwark einige Tage später, als die beiden neben einem Katapult hinter dem dritten Wall standen. »Brandgeschosse tun anders als Steine fliegen, und etwas hügelabwärts zu schießen ist schwieriger als hügelaufwärts oder über ebenes Gelände. Ein Mann, der nicht genau wissen tut, was er zu tun hat, wird fast jeden Schuss zu weit ansetzen.« »Du bist der Experte«, antwortete Keselo dem Sergeanten. »Ich würde mir ziemlich dumm vorkommen, wenn ich einem 437 Mann, der die letzten zwanzig Jahre damit verbracht hat, Steine und Feuer mit dem Katapult auf den Feind abzuschießen, vorschreiben sollte, wie er seine Arbeit zu machen hat, denkst du nicht auch?« »Laut sagen würde ich es bestimmt nicht tun«, meinte der Sergeant Shwark. »Ich bin viel zu höflich, um ein schlechtes Wort über unsere Offiziere zu äußern.« »Du hast wirklich gute Manieren, Sergeant«, meinte Keselo. »Was ich gern sehen würde, wäre eine Möglichkeit, ein Brandge-schoss dazu zu bringen, sich in der Luft in mehrere kleinere Teile aufzulösen. Ich denke, es sollte auseinander brechen oder sich aufteilen, bevor es den Feind trifft. Wenn die Brandgeschosse in einem Stück bleiben, erwischen sie vier oder fünf Gegner mit Feuer, was wiederum diesem speziellen Feind nicht sehr viel ausmacht.« »Nun, die sind aber ziemlich blöd, Subaltern.« »Ich würde sagen, >blöd< ist eine durchaus angemessene Beschreibung, Sergeant.« Der Blick des Sergeanten Shwark schweifte über den Hang. »Ein Futscher könnte die Lösung sein«, meinte er. »Ich tu ja nicht wissen, ob überhaupt schon einmal jemand einen Aufsetzer mit Brandgeschossen versucht hat, aber vermutlich ist es genau das, was du möchtest.« »Gut«, sagte Keselo. »Warum erklärst du mir nicht, was du mit einem Flitscher meinst?« »Die Idee haben wir vor einer Weile einer anderen Armee geklaut, Herr«, erwiderte der Sergeant. »Meistens werden die Katapulte ja nicht vorrangig benutzt, um auf Soldaten zu schießen. Diese andere Armee hat allerdings ein bisschen drüber nachgedacht und kam auf den Gedanken, dass es nicht so dumm wäre, einen Haufen kleinerer Steine auf die Armee zu schießen, was dieser bestimmt nicht so gut gefallen täte, weil dadurch sicher mehr Männer sterben tun würden als die vier oder fünf, die ein 438 großer Felsen zermatschen würde. In unserem Fort zu Hause in Kaldacin haben wir es ein paar Mal ausprobiert, und es geht echt gut - oder jedenfalls dachten wir das. Wir konnten es ja nicht genau sagen, ehe wir nicht ausprobiert hatten, ob es bei Soldaten genauso gut klappen tut wie bei Baumstümpfen. Dann hatte ein junger Soldat, der eigentlich gar nicht so hell in der Birne war, den Einfall, man könne die kleinen Steine auch direkt vor den Soldaten, die wir nicht mögen, auf den Boden schießen. Er sagte, dann würde das genauso funktionieren wie ein flacher Stein, den man übers Wasser flitschen lässt. Also, wir haben es ein paar Mal versucht, und glaub mir, Herr, da möchtest du wirklich nirgends in der Nähe sein, wenn diese kleinen Steine angeflitscht kommen, nachdem sie auf den Boden geprasselt sind. Also, wenn wir jetzt noch Feuer nehmen anstelle von Kieseln, wird es denen da unten ziemlich übel ergehen.« »Ich glaube, du hast dir gerade den Sold für diesen Monat verdient, Sergeant«, sagte Keselo und grinste breit. »Ich bin ziemlich sicher, dass es funktionieren wird, Kommandant«, erklärte Keselo bei der morgendlichen Versammlung am nächsten Tag. »Wenn wir dieses >Flitschen< anwenden, wie Sergeant Shwark es nennt, lassen wir das Feuer einfach über den Hang vor dem Wall nach unten sausen.« »Es hört sich an, als wäre das möglich, Narasan«, meinte Padan. »Ich würde sagen, lassen wir es auf einen Versuch ankommen. Die Insektenmenschen achten vermutlich nicht so besonders darauf, ob ihre Freunde einfach tot umfallen, aber wenn jemand, den ich kenne, plötzlich in Flammen stünde, würde das meine sofortige Aufmerksamkeit wecken.« »Und wenn es nicht klappt, können wir auch wieder große Brandgeschosse auf sie abschießen«, fügte Gunda hinzu. »Ich werde diesmal bei Padan bleiben. Versuchen wir mal ein paar Flitscher, und dann sehen wir weiter.« 439 Kurz nach Mittag wagten sich die ersten Insektenmenschen hinter dem zweiten Wall hervor und marschierten den Hang hinauf. Keselo schien es, bei ihrem Feind sei plötzlich die Wachsamkeit ausgebrochen. In den letzten Tagen waren die Wesen des Ödlands auf einige unangenehme Überraschungen gestoßen, und sie hatten keine Ahnung, was sie diesmal erwartete. »Es liegt nur an dir, Subaltern«, sagte Sergeant Shwark, »aber wenn es nach mir ginge, täte ich noch ein bisschen abwarten. Sollen erst noch ein paar mehr feindliche Soldaten im offenen Gelände auftauchen, ehe wir auf sie schießen.« »Ich richte mich ganz nach dir, Sergeant«, antwortete Keselo.
»Ich muss dir danken, weil du so viel Zeit auf dieser Schule da in Kaldacin verbracht hast, Subaltern. Die normalen Leute sind alle nie so höflich wie du.« »Ich weiß«, gab Keselo zurück. »Ich hoffe, das wird sich nicht ändern. Hast du eine Vorstellung von dem, was wir zu erwarten haben, Sergeant?« »Nee. Soweit ich weiß, hat das noch nie einer versucht.« »Wir betreten also Neuland«, sagte Keselo. »Ich glaube, wir sollten das >Flitschen< von nun an das >ShwarkManöver< nennen. Dann wirst du berühmt, Sergeant.« »Nur, wenn es klappen tut, Subaltern«, erwiderte Shwark. »Wenn das Brandgeschoss nicht auseinander bricht, möchte ich meinen Namen nicht in Verbindung mit dieser Idee hören.« Keselo wurde immer nervöser, je mehr feindliche Soldaten den Hang hinaufstiegen. Es war unübersehbar, dass das Vlagh endlos viele Diener zur Verfügung hatte. »Ich habe da grad noch eine Idee gehabt, Subaltern«, meinte Sergeant Shwark begeistert. »Was hältst du davon, wenn wir das erste Geschoss nicht in Brand setzen und einfach so auf den Gegner abschießen tun. Wenn das brennbare Zeug über allen verspritzt ist und wir dann auf den Hügel schießen tun, fangen sie fast alle gleichzeitig Feuer, oder?« 440 Keselo blinzelte. »Das ist genial, Sergeant!«, rief er. »Wie in aller Welt bist du darauf gekommen - und auch noch in letzter Minute?« »Ich bin nicht ganz sicher, Subaltern«, antwortete Sergeant Shwark. »War einfach plötzlich in meiner Birne drin.« »Mach es genau so. Schauen wir mal, was passiert.« »Dann drück mir die Daumen«, sagte Shwark und grinste. Er ging hinüber zum ersten Katapult und nahm dem Soldaten, der die Geschosse normalerweise in Brand setzte, die Fackel ab. »Also gut, schießen!« »Aber ...«, protestierte der Anzünder. »Mund halten!«, brüllte Shwark. Dann starrte er die Katapultmannschaft an. »Ich hab gesagt: Schießen! Jetzt! Sofort!« Der Anführer der Katapultmannschaft legte den Hebel um, und die zähe Flüssigkeit, die normalerweise in Brand gesetzt wurde, flog in hohem Bogen durch die Luft und regnete auf den heranmarschierenden Feind nieder. Shwark wandte sich dem zweiten Katapult zu. »Ladung anzünden!«, befahl er. Der Anzünder hielt die Fackel an die zähe Flüssigkeit in der Katapultschaufel, und Flammen und Rauch stoben auf. »Schießen!«, brüllte der Sergeant. Der Anführer der Katapultmannschaft legte den Hebel um, und der Feuerball sauste über den Hang. Langsam ging er nieder, krachte auf den Boden und zerstob in hunderte kleiner Flammenkugeln. Das an sich hätte schon eine verheerende Wirkung auf den heranmarschierenden Feind gehabt, doch als sich nun auch die Ladung vom ersten Katapult entzündete, stand plötzlich der gesamte Hang in Flammen. Keselo starrte entsetzt über den Wall. Gleichgültig, wohin er blickte, überall sah er brennende Feinde - und sie rannten vollkommen von Sinnen in alle Richtungen. Und so wiederum setz441 ten sie andere feindliche Soldaten, die von der Ladung des ersten Katapultschusses etwas abbekommen hatten, in Brand. »Ziemlich heftig vielleicht«, meinte Tori, der Schiffskapitän, »aber damit dürften wir die Aufmerksamkeit des Vlagh selbst erringen.« Dann kam die Kriegerkönigin Trenicia, dicht gefolgt von Kapitän Narasan, zum Wall gelaufen. »Was tut ihr da?«, kreischte sie. »Man nennt es >Krieg<, Majestät«, antwortete Keselo respektvoll. »Ein bisschen ungewöhnlich vielleicht, aber es scheint zu funktionieren.« »Kriege trägt man mit Schwertern aus!« Sie rauchte vor Zorn. »Früher schon, glaube ich«, räumte Keselo ein, »aber Feuer ist viel wirkungsvoller. Sieh es auch einmal von der positiven Seite. Dein Schwert bekommt so gut wie keine Scharten, und wir gewinnen trotzdem.« Er hielt inne. »Ist das nicht großartig?«, fragte er sie unschuldig und mit großen Augen. »Sei nett, Keselo«, murmelte Kommandant Narasan und gab sein Bestes, das breite Grinsen von seinem Gesicht zu verbannen. Inferno 49 Es erschien Ära, dass Dahlaines Entscheidung, sich auf die Kristallschlucht zu konzentrieren, durchaus in Ordnung ging. Zwar gab es auch andere Pässe, die durch die Berge zwischen dem Ödland und dem Nordland führten, aber nachdem Ära eine körperlose Reise unternommen hatte, um die fraglichen Wege in Augenschein zu nehmen, war sie recht sicher, dass die Diener des Vlagh sich auf die Kristallschlucht konzentrieren würden, da die anderen Pässe alle in diese eine Schlucht mündeten, welche also die einzige Route durch das Gebirge darstellte, das wiederum alle übrigen möglichen Invasionsrouten blockierte. Die Trogiten hatten nahe am unteren Ende der Schlucht ein Fort errichtet, das den Vormarsch der Wesen des
Ödlands eigentlich hätte zum Stillstand bringen sollen, doch die Diener des Vlagh hatten eine Möglichkeit gefunden, die Trogiten und ihre Freunde direkt anzugreifen. Ära war darüber sehr verärgert. Was es noch schlimmer machte, war dieser Diebstahl der Idee, Rauch zum Vertreiben der Ausländer aus der Schlucht zu verwenden. Das Vlagh war ein Dieb - ein sehr guter Dieb zwar, nichtsdestotrotz ein Dieb. Die Trogiten und ihre Freunde hatten sich vieles ausgedacht, um die Wesen des Ödlands aufzuhalten. Die Barriere, die sich nun quer vor dem Nordende der Schlucht befand, sah durchaus wirkungsvoll aus, und die Schlammgrube hätte sie als Genie443 streich gefeiert, falls es sich bei den Feinden um Menschen gehandelt hätte. Die Diener des Vlagh waren allerdings nicht intelligent genug, um Angst zu kennen, und daher überquerten sie die Schlammgrube mit enormen Verlusten und nahmen den ersten Wall ein. Der wilde Angriff der Malavi verlangsamte ihren Vormarsch abermals, doch nicht sehr. Als am effektivsten erwiesen sich die von den Trogiten so genannten »Brandgeschosse«. Ära hielt auch die Erfindung des »Flitschers« von diesem alten humorigen Veteranen namens Shwark für einen vollendeten Geistesblitz. Sie hatte sich jetzt noch eine Möglichkeit ausgedacht, die Wirkung zu steigern, und es war nicht schwierig gewesen, diese Shwark in der letzten Minute einzugeben. Feuer, so schien es, war das Einzige, vor dem die Wesen des Ödlands tatsächlich Angst hatten, und daher dachte Ära, dass Feuer die beste Waffe in diesem Krieg sein könnte. Das wurde ja durch die Erwähnung von »Feuer, wie es noch niemand gesehen hat« in Lillabeths Traum bestätigt. Dies ergab für Ära allerdings nicht sehr viel Sinn. Feuer war eben Feuer, und es sah eben immer irgendwie ähnlich aus. Der Rauch, der die Freunde aus der Kristallschlucht vertrieben hatte, war inzwischen abgezogen, und die Wolken, die Dah-laine und Veltan über der Schlucht versammelt hatten, um es regnen zu lassen, waren weitergewandert. Der Himmel strahlte wieder in herrlichstem Blau. Das Wort »blau« ging Ära plötzlich nicht mehr aus dem Sinn. Natürlich! Das hatte Lillabeths Traum gemeint. Blaues Feuer war äußerst ungewöhnlich, jedoch nicht hier in der Domäne des Nordens. Der Bogenschütze Athlan hatte von »Sumpffeuer« gesprochen, und der überaus kluge Trogit Keselo hatte einen Begriff wie »Methan« oder »Kohlengas« fallen gelassen. Er hatte seinen Freunden von einer Kohlenmine unten im trogitischen Weltreich erzählt, die seit siebzig Jahren brannte und vermutlich noch eini444 ge Jahrhunderte vor sich hin lodern würde. Der Gedanke an ein blaues Feuer, das bis in alle Ewigkeit brannte, verscheuchte Aras Zweifel und Verwirrung. Jetzt brauchte sie nur noch ein Lager dieses Stoffes zu finden, den Keselo »Kohle« genannt hatte. Erneut schickte sie ihren Geist aus und durchsuchte die Bergkette zu beiden Seiten der Schlucht. Sie entdeckte mehrere große Kohlelager, aber die befanden sich nicht gerade dort, wo sie es gern gehabt hätte. Also forschte sie tiefer und stieß auf das, was sie wollte. Ein Flöz erstreckte sich entlang der Berge und lag am oberen Ende der Schlucht nur wenig unter der Oberfläche. Besser noch, es gab große Einschlüsse mit Kohlengas, wie Keselo es beschrieben hatte. »So, das wäre doch schon mal was«, murmelte Ära. Sie würde ein paar Felsen aufbrechen müssen, um das Kohlengas freizusetzen, aber das stellte kein großes Problem dar. Dann hielt sie inne, und ihr Geist erstarrte im Inneren des Flözes. Der Wind in der Kristallschlucht wehte aufwärts in Richtung von Dahlaines Teil des Landes Dhrall, und ein ewiges Feuer zu entzünden, das dorthin getrieben würde, könnte sich leicht in eine Katastrophe verkehren. Feuer war nicht schlecht, dachte Ära bei sich, aber nur, wenn es an der richtigen Stelle brannte. »Darüber muss ich mir noch ein paar Gedanken machen«, murmelte sie vor sich hin und zog sich durch hartes Gestein und glänzenden Quarz wieder zurück. Sie versenkte sich in ihre Erinnerungen an die ferne Vergangenheit, an die Zeit, lange bevor das Land Dhrall vom Rest der Welt getrennt worden war. In jener Ära war dieses Gebiet von einem dichten Wald uranfänglicher Bäume bewachsen gewesen, in gewisser Weise die Urväter dessen, was Keselo »Kohle« nannte. Das Gebiet war ein Sumpf gewesen, und daher wurzelten die Bäume nicht fest im Boden und konnten von jedem kleineren Sturm umgestürzt werden. Sie erkannte, dass die von Keselo so genannte Kohle vor allem aus diesen kurzlebigen Bäumen entstanden war, 445 und damit auch das Gas, welches in so hübschen blauen Flammen brannte. Das erklärte, was Ära zunächst als Widerspruch erschienen war. Ging man der Sache richtig auf den Grund, hatten Sümpfe und Berge eigentlich gar nicht so viele Unterschiede. Je mehr Ära über ihren Plan nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass vor allem die Windrichtung über Erfolg und Misserfolg entscheiden würde - und die Stärke des Windes. Es gab da eine bestimmte Art von Sturm, die genau das Richtige wäre. Die Eingeborenen des nördlichen Dhrall nannten es einen »Wirbelwind«, und Keselo hatte es als »Zyklone« bezeichnet. Solch ein Sturm verfügte über enorme Kraft, und das weckte Aras Skepsis. Hier schien ein wenig Experimentieren angebracht. Sie schickte ihren Geist hoch in die nördlichste Region der Matakan-Nation und begann, mit dem Wind herumzuspielen. Natürlich war das nicht so leicht. Wirbelwinde hatten ihren eigenen Kopf. Nach mehreren
Versuchen fand Ära jedoch heraus, wie man diese dummen Dinger steuern konnte. Sie würde die Ausländer warnen müssen, aber sie wusste genau, an wen sie sich zu wenden hatte, wenn es so weit war. Nun überlegte sich Ära ihre Möglichkeiten. Das Feuer, das durch den Wirbelwind vorangetrieben wurde, sollte gewaltig werden. Zuerst musste es die Kristallschlucht befreien, das verstand sich von selbst. Dann gab es noch die kleineren Pässe im Süden der Schlucht, und Ära wollte auch sie von Feinden frei wissen. Wenn sie es richtig anstellte, konnte sie eine ganze Brutgeneration der Diener des Vlagh in einer halben Stunde auslöschen. »Das würde das Vlagh vielleicht davon überzeugen, woanders spielen zu gehen«, murmelte Ära. Trotzdem schien etwas zu fehlen. »Ich glaube, ich brauche wohl noch ein zweites Feuer - vielleicht am Südende der Schlucht. Das Vlagh kann manchmal ziemlich stur sein, daher sollte ich ihm diesen Weg für alle Zeiten versperren.« Seufzend erforschte sie das südliche Ende der Schlucht. Es 446 ging jetzt ein bisschen leichter, musste sie einräumen. Kohle hatte einen sehr charakteristischen Geruch, und Ära war schon aufgefallen, dass sie das Kohlengas sogar schmecken konnte. Unter dem Südende der Schlucht befand sich ohne Frage ein Kohlenlager, und während Ära darauf zusteuerte, brach sie plötzlich in schallendes Gelächter aus. Sie war sicher, es war keine Absicht, aber Gundas Fort lag genau über der Kohle. Das Fort selbst war schon eine relativ undurchdringliche Barriere, ein Fort, das in blaue Flammen gehüllt war, würde das Maximum an »Undurchdringlichkeit« darstellen. »Eins nach dem anderen«, mahnte sie sich und suchte nach Langbogen. Auf die Wälle der Trogiten im Norden der Schlucht senkte sich die Nacht, und als Ära den Kontakt zu Langbogen herstellte, schlief der Bogenschütze bereits. »Erschrick bitte nicht, mein Lieber«, sagte sie. »Ich bin's nur.« »Mal wieder?«, erwiderte Langbogen im Kopf. »Sollen wir wieder weglaufen?« »Eigentlich nicht«, antwortete Ära. »Warne unsere Freunde nur vor einem Sturm, damit sie Schutz suchen. Am besten in einer Höhle. Außerdem solltest du sie besser vom Rand der Schlucht abziehen. Der Wind wird keine sanfte Brise sein, daher wird es oben auf den Rändern möglicherweise gefährlich werden. In der Schlucht wird es auch ein Feuer geben, und die Flammen könnten gelegentlich über den Rand schlagen.« »Diesmal klingst du nicht so selbstsicher.« »Ich habe so etwas noch nie gemacht«, gab Ära zu. »Es sollte klappen, aber ich möchte kein Risiko eingehen. Schlaf jetzt weiter, Langbogen. Ich kümmere mich um alles. Das hoffe ich jedenfalls.« Damit schwebte sie davon. Eine wichtige Entscheidung musste sie noch treffen. Zuerst hatte es so geschienen, dass Yaltar, der in Wirklichkeit Vash, der jüngere Gott, war, der geeignetste 447 Träumer war, um die bevorstehende Katastrophe anzukündigen, aber da es nun ein Wirbelwind sein würde, der das blaue Feuer durch die Kristallschlucht zum Ödland trieb, wäre das Wetter von größerer Bedeutung. Enalla, jetzt als Lillabeth bekannt, hatte schon viel zu diesem dritten Krieg beigesteuert, doch Enalla mangelte es ein wenig an der nötigen Raffinesse, und außerdem war sie weit entfernt. Da der Wirbelwind diesmal ihre Hauptwaffe war, musste der Träumer ein Mädchen sein, und damit blieb eben nur Balacenia. Je länger Ära darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu der Überzeugung, dass Balacenia - den Menschen bekannt unter dem Namen Eleria - der perfekte Träumer wäre, um die Pässe vom Ödland zu Dahlaines Domäne des Nordens dauerhaft zu sperren. Ära bewegte sich zum Berg Shrak, wo Zelana die Kinder hütete, und stellte sanft eine Verbindung zu Balacenia her. »Schlaf weiter, liebes Kind«, sagte Ära. »Aber vereine dein Denken mit meinem, damit wir wieder einmal den Dienern des so genannten >Vlagh< entgegentreten können.« »Nun, es ist ja Zeit«, erwiderte Balacenia. »Hast du mich vergessen?« »Ich vergesse dich nie, mein Liebes«, erwiderte Ära. »Du bist die Scharfsinnigste von allen Kindern - und auch von den Alten. Meinst du, dass du einen Wirbelwind erzeugen könntest?« »Das sollte mir keine Schwierigkeiten bereiten«, sagte Balacenia. »Vielleicht ist es nicht so schwer, ihn ins Leben zu rufen, Liebes, aber er muss einen bestimmten Weg nehmen.« »Ich war ziemlich sicher, dass das notwendig werden würde. Womöglich werde ich mir ein wenig Mühe geben müssen, damit er nicht aus der Kristallschlucht ausbricht, aber er wird tun, was ich will. Was hast du dir für dieses >Feuer, wie es noch niemand gesehen hat< aus Enallas Traum überlegt?« »Es wird blau werden, Kind.« 448 »>Sumpffeuer<, meinst du?« »Ein bisschen mehr als Sumpffeuer, Liebes«, sagte Ära. »Das Gas, das aus den verrottenden Bäumen in den Sümpfen entsteht, findet man auch in Kohlenflözen unter der Erde. In einem Kohlelager unter der Kristallschlucht gibt es einen Einschluss dieses brennbaren Gases. Wir werden die Felsplatte ein wenig aufbrechen, unter der sich dieses Gas aufgestaut hat. An dieser Stelle kommt der Wirbelwind ins Spiel. Er wird nicht nur das Gas nach Süden in Richtung des Ödlands wehen, sondern Wirbelstürme bringen auch viele Blitze mit sich, und diese werden das Gas entzünden, sodass eine riesige Welle blauen Feuers ins Ödland rauscht.« »Du erschaffst also ein weiteres Binnenmeer«, meinte Balacenia schlau. »Das in Veltans Domäne bestand aus
Wasser. Dieses hier besteht aus Feuer. Die Farben passen aber gut zusammen. Veltan wird sich freuen. Er liebt Blau.« »Du sollst nicht immer so weit nach vorn preschen, ohne es mich wissen zu lassen, Balacenia«, schalt Ära. »Eine Angewohnheit, fürchte ich«, gestand Balacenia. »Es tut mir sehr Leid, Mutter. Wirst du mir je vergeben können?« 50 Das Wetter wurde kalt, und Sorgan Hakenschnabel war ausgesprochen dankbar für den Bisonfellmantel, den Häuptling Zweihand ihm geschenkt hatte. Nach Sonnenaufgang schaute er hinauf zum klaren blauen Himmel. »Wenigstens schneit es noch nicht«, murmelte er. Seit fast einem Jahr hielt er sich jetzt hier im Lande Dhrall auf, und er konnte sich gut an den hohen Schnee erinnern, der in dem Dorf Lattash gelegen hatte, als er dort mit seiner Flotte eingetroffen war. 449 Zumindest hatte er damals in jenem ersten Krieg die Verantwortung getragen, doch je mehr Ausländer hier im Lande Dhrall ankamen, desto stärker hatte er das Gefühl, seine eigene Bedeutung würde abnehmen. Das passte ihm aus irgendeinem Grunde nicht. Vermutlich, so entschied er, sollte er sich mit seinem Freund Narasan darüber unterhalten. Es gab ja noch eine andere Eigentümlichkeit an diesem Teil der "Welt. Wenn ihm vor einigen Jahren jemand gesagt hätte, er würde eines Tages mit einem Trogi-ten Freundschaft schließen, hätte er dem Narren nur ins Gesicht gelacht. Narasan hatte sich zunächst ein wenig steif gezeigt, doch nachdem sie sich besser kennen gelernt hatten, kamen sie sehr gut miteinander aus. »Du bist früh auf, Sorgan«, stellte der dunkelhaarige Trogit fest, als sich Sorgan auf der Westseite der Wälle zu ihm gesellte. »Eigentlich nicht«, widersprach Sorgan. »Die Sonne geht spät auf, daran liegt es. Ich mache mir ein wenig Sorgen wegen der Reaktion der Insektenmenschen, als sie deinen ersten Wall angegriffen haben. Ich war sicher, die Schlammgrube würde sie zu einem abrupten Stillstand bringen, aber sie hat den Feind kaum aufgehalten. Natürlich hätte ich auch nie gedacht, dass sie ihre Freunde als Baumaterial verwenden würden.« »Vermutlich deshalb, weil wir einfach anders denken als die Käfer, Sorgan«, erwiderte Narasan. »Mich hat es noch mehr entsetzt als dich. Ich würde sagen, in der Sprache der Käfer gibt es nicht einmal ein Wort für >Freund<. Bei dem, was sie getan haben, ist mir richtig übel geworden, aber es war extrem praktisch. Sie mussten etwas in die Schlammgrube werfen, und weil sie sonst nichts anderes zur Verfügung hatten, nahmen sie einfach ihre Artgenossen.« »Wahrscheinlich hast du Recht«, räumte Sorgan ein. »Meinst du, es gibt für uns eine Möglichkeit, zu dem Fort zurückzukehren, das wir weiter unten in der Schlucht gebaut haben?« 450 »Ich würde mir nicht allzu viele Hoffnungen machen, Sorgan. Nachdem die Insektenmenschen uns dort einmal vertrieben haben, wissen sie ja, wie sie es machen müssen.« »Vielleicht könnten die Pferdemenschen in diese Höhlen reiten und die Brände löschen. Das Fort hätte die Käfer aufgehalten, wenn dieser verfluchte Rauch nicht gewesen wäre.« »Ich würde keine Wetten darauf abschließen, mein Freund.« »Deine Leute haben doch einen Weg gefunden, die Aufmerksamkeit der Insektenmenschen auf sich zu lenken. Diese Brandgeschosse, die deine Männer gestern auf sie abgeschossen haben, funktionierten sehr gut. Wenn man jemanden oder etwas in Brand setzt, scheint derjenige - oder dasjenige - alles zu vergessen, was er eigentlich tun soll.« »Es hat besser funktioniert, als wir erwartet hatten. Das einzige Problem besteht darin, dass die Käfer jetzt selbst über Feuer verfügen. Wenn wir zu oft mit Feuer auf sie schießen, klauen sie uns vermutlich die Idee und bewerfen uns auch damit.« Sorgan spähte nach Süden. »Im Augenblick bin ich nicht gerade von großem Nutzen, Narasan«, sagte er. »Deine Männer -und natürlich die Pferdesoldaten - haben offensichtlich alles unter Kontrolle. Ich denke, ich könnte ein wenig am Rand der Schlucht entlangwandern und nachschauen, wie viele Insektenmenschen in unsere Richtung kommen. Das müssen wir unbedingt wissen.« »Willst du das Kundschaften zum Hobby machen, Sorgan?«, fragte Narasan und lächelte schwach. »Ich muss einfach irgendetwas tun, Narasan«, erklärte Sorgan. »Ich fühle mich so nutzlos, wenn ich nur herumsitze und zuschaue, wie meine Freunde diesen Krieg austragen.« »Es ist keine schlechte Idee, Sorgan«, erwiderte Narasan nachdenklich. »Du hast einen klaren Kopf, und jüngere Kundschafter sind häufig zu aufgeregt und übertreiben dann in ihren Berichten. Ältere Soldaten sind da zuverlässiger. Warum nimmst du 45i nicht Padan mit? Er hat ebenfalls einen klaren Verstand, und ihr beide kommt doch gut miteinander aus.« »Wenn du das so wollen tust, tun wir es so tun«, sagte Sorgan und grinste seinen Freund an. »Oh, ein Witzbold«, entgegnete Narasan. Und dann lachten beide. Es erschien Sorgan keine so schlechte Idee zu sein, einen oder zwei Freunde auf die Expedition entlang der
Schlucht mitzunehmen. Die Insektenmenschen benahmen sich manchmal unvor-hersagbar, und es gab keinen Grund, die Größe der Gruppe auf zwei Personen zu beschränken. Langbogen wäre natürlich die erste Wahl gewesen, doch war wohl nicht nur Sorgan auf diese Idee gekommen, und daher fragte Sorgan einige seiner Verwandten. Skell hatte offensichtlich schlechte Laune. Das Fort weiter unten in der Schlucht aufgeben zu müssen hatte Sorgans Vetter schrecklich verärgert. »Wochenlang haben wir an diesem Fort geschuftet, und dann vertreiben uns die Insektenmenschen in weniger als einem Tag. Wir bekommen für diesen blöden Krieg nicht genug Sold, Vetter. Wenn es nicht bald besser wird, packe ich meinen Kram zusammen und segele nach Hause.« »Wir haben das Gold angenommen, Skell«, erinnerte Sorgan seinen Vetter. »Jetzt müssen wir auch hier bleiben.« »Was erwartest du eigentlich, in der Schlucht zu entdecken, Vetter?«, wollte Tori wissen. »Ich bin mir nicht ganz sicher«, gab Sorgan zu. »Deshalb hielt ich es für eine gute Idee, mich ein wenig umzuschauen. Die Insektenmenschen stecken voller Überraschungen, und sich in einem Krieg überraschen zu lassen ist einer der besten Wege, die am Ende zum eigenen Tod führen.« »Das klingt durchaus einleuchtend, großer Bruder«, sagte Tori 452 zu Skell. »Warum bleibst du nicht hier und versuchst, deine miese Laune zu überwinden? Ich begleite Vetter Sorgan und passe auf, dass er nicht in Schwierigkeiten gerät.« »Danke vielmals, Tori«, gab Sorgan darauf unfreundlich zurück. »Familienpflicht, Vetter«, sagte Tori und zuckte mit den Schultern. »Wer kommt sonst mit? Wenn diese Kriegerfrau mit dabei sein sollte, würde ich meine Meinung vermutlich doch ändern. Aus irgendeinem Grund bekomme ich bei ihr immer eine Gänsehaut - wahrscheinlich, weil sie nie lachen gelernt hat.« »Wie würde dir denn Padan gefallen?«, fragte Sorgan. »Sehr gut«, meinte Tori. »Padan kann fast so lustig sein wie ich.« »Wir werden nicht unterwegs sein, um uns zu amüsieren, Tori.« »Ich kann mich zur Not auch beherrschen. Suchen wir Padan, und dann los.« Padan hatte sich hinter dem dritten Wall am Hang postiert -demjenigen, von dem aus Narasans Männer die Insektenmenschen mit Feuer beschossen hatten. »Narasan hat mir gesagt, ich solle mich eurer Kundschafterexpedition anschließen, Kapitän Hakenschnabel«, sagte er. »Wonach halten wir denn Ausschau?« »Wenn ich es wüsste, brauchten wir nicht zu gehen«, antwortete Sorgan. »Dieses Feuer, das eure Männer auf die Insektenmenschen abgeschossen haben, hat ja gute Wirkung gezeigt.« »Mir hat es auch gefallen«, meinte Padan. »Ich wünschte nur, wir würden eine Möglichkeit finden, wie wir unseren Feind ohne diese klobigen Kater-Pulte mit Feuer bewerfen könnten.« »Kater-Pulte?« »Als wir noch Jungen waren, gab es in dem Fort in Kaldacin einen Sergeanten«, erzählte Padan, »der aus irgendeinem Grunde nicht >Katapult< aussprechen konnte. Stattdessen sagte er im453 mer >Kater-Pult<. Ich habe so den Verdacht, dass er gerade einen schweren Kater hatte, als er das Wort zum ersten Mal gehört hat.« Tori lachte. »Ich habe das mal mit einem Fischer gemacht. Mit voller Absicht habe ich die Namen bestimmter Fische falsch ausgesprochen, und danach sprach er stundenlang über >Schellen< und >Höringe<. Die anderen Fischer hat er damit fast in den Wahnsinn getrieben, aber er konnte einfach nicht anders. Was sollen wir denn nun eigentlich in der Schlucht anstellen, Vetter?« »Vor allem die Zahl der Käfer feststellen«, antwortete Sorgan, »aber ich glaube, wirklich wichtig ist, zu erfahren, ob die Insektenmenschen auch schon Pfeil und Bogen übernommen haben und ob sie eine Ahnung haben, wie man damit umgeht. Wir wollen ja wohl keinesfalls gegen Insektenmenschen antreten, die Pfeile auf uns abschießen können.« »Na, dann mal los«, schlug Padan vor. »Wenn es irgendwelche Käferbogenschützen gibt und diese durch die Schlucht hochmarschieren, sollten wir sie besser umbringen, ehe sie hier oben eintreffen. Wenn die Insektenmenschen tatsächlich Pfeile auf uns niederhageln ließen, hätten wir ein echtes Problem.« »Er ist gut, das stimmt«, befand auch Tori und schaute den steilen Hang hinauf. »Da kommt der Häuptling von Athlans Stamm. Ich glaube, er heißt Kathlak«, sagte er. »Vielleicht kann er uns etwas sagen, das uns die lange Wanderung bis nach unten in die Schlucht erspart.« »Am besten überlässt du mir das Reden, Tori«, meinte Sorgan. »Diese Eingeborenen pflegen einen sehr formalen Umgang miteinander, und ich bin sozusagen das für die Maags, was die Einheimischen den >Häuptling< nennen.« »Kann ich euch irgendwie helfen?«, fragte der silberhaarige Häuptling des Hirschjägerstammes. »Wir sind auf Kundschaft, Häuptling Kathlak«, antwortete 454 Sorgan. »Die Insektenmenschen haben während der vergangenen Tage angegriffen. Kommen noch viele die Schlucht herauf?«
»Oh ja«, erwiderte Kathlak ernst. »Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?«, erkundigte sich Tori. »Die jungen Männer meines Stammes haben einen dummen Fehler begangen, das ist alles. Der Boden der Schlucht war vollkommen mit unseren Feinden übersät, und unsere jungen Bogenschützen hatten viele, viele Ziele, und sie haben sich davon hinreißen lassen. Könnt ihr euch vorstellen, dass sie all diese Metallspitzen verschwendet haben, die der kleine Mann aus dem Lande Maag für uns gemacht hat? Jetzt müssen wir wieder die alten aus Stein benutzen.« »Ich werde mit Hase reden, sobald wir zurück sind«, versprach Sorgan. »Dann kann er seine Pfeilfabrik wieder aufmachen.« »Das wäre wundervoll«, sagte Kathlak. »Die Insektenmenschen, die wir bislang gesehen haben, waren mit verschiedenen Waffen ausgerüstet, Häuptling Kathlak«, fuhr Sorgan fort. »Ich würde sagen, in den ersten zwei Kriegen sind sie über die Schlachtfelder gezogen und haben unseren toten Freunden die Waffen gestohlen. Wir haben bei ihnen jetzt Schwerter und Äxte und Speere gesehen.« »Wir auch«, antwortete Häuptling Kathlak. »Kommen wir also zu der entscheidenden Frage: Haben deine Leute auch schon welche gesehen, die Bögen haben?« »Ich glaube, es gab einen«, sagte Kathlak und schaute den Hang hinunter. »Darüber würde ich mir nicht so viele Sorgen machen. Bestimmt hat derjenige gar nicht begriffen, worum es sich handelt. Er hatte die Bogensehne durchgeschnitten und sie verwendet, um an den Enden Speerspitzen zu befestigen.« »Das meinst du nicht ernst!«, entfuhr es Padan. »Niemand hat unseren Feinden je unterstellt, besonders helle 455 im Kopf zu sein«, erwiderte Kathlak. »Ich glaube, >schwer von Begriff< würde es schon eher treffen.« »Sind dir irgendwelche besonders eigenartigen Exemplare aufgefallen?«, fragte Sorgan. »Im letzten Krieg gab es welche, die wie eine Kreuzung zwischen Käfer und Schildkröte aussahen. Als Langbogens Schützen auf sie geschossen haben, prallten die Pfeile einfach von den Panzern ab.« »Athlan hat uns davor gewarnt. Sein Freund Langbogen hat sie uns beschrieben. Ich habe gedacht, er macht Scherze.« »Langbogen weiß gar nicht, wie man Scherze macht«, sagte Tori. »Haben die Insektenmenschen schon versucht, über den Rand der Schlucht zu klettern?« »Ein paar, ja«, sagte Kathlak, »aber damit haben sie uns nur dazu verführt, weitere Pfeile zu verschwenden. Unsere Schützen haben auf die Insektenmenschen auf der anderen Seite geschossen, und unsere Freunde von den Rentierstämmen drüben haben unsere Wand freigehalten. Diese Käferwesen können sehr gut klettern, nicht wahr? In diesen Quarzwänden gibt es eigentlich gar keinen Halt für die Hände.« »Käfer haben keine Hände, Häuptling Kathlak«, erklärte Pa-dan. »Fliegen können sogar an der Decke gehen, wenn sie wollen.« »Wie stehen die Dinge denn oben in der Schlucht?«, wollte Kathlak wissen. »Gar nicht so schlecht. Du solltest stolz auf Athlan sein, Häuptling Kathlak. Er hatte eine Idee, auf die keiner von uns gekommen ist, und wir ziehen schließlich in den Krieg, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Trogiten hatten eine Art niedriger Fortmauer gebaut, um den Feind aufzuhalten, und Athlan schlug vor, davor eine Schlammgrube anzulegen, um den Marsch des Feindes noch mehr zu verlangsamen.« Kathlak lächelte. »So ist Athlan«, sagte er. »Und, wie hat es geklappt?« 456 »Nicht so gut, wie wir gedacht haben. Die Insektenmenschen überlegten sich, eine Art Damm würde ihnen helfen, die Schlammgrube zu überqueren, und sie benutzten ihre eigenen Artgenossen, um diesen Damm zu bauen.« »Solche ... Artgenossen möchte ich aber nicht haben.« »Wir haben sie allerdings später erwischt«, berichtete Padan. »Da haben wir sie mit brennendem Teer - oder Pech - bespritzt, alle in den vordersten Reihen der Angreifer. Dann liefen die brennenden Käfer in alle Richtungen davon. Im Laufe der Jahre haben wir herausgefunden, dass es eine der besten Möglichkeiten ist, einen angreifenden Feind von seinem Tun abzulenken, wenn man ihn schlicht in Brand setzt.« »Eure Männer sind sehr gut«, lobte Kathlak. »Wir geben uns auch große Mühe«, sagte Padan bescheiden. 51 Es war Vormittag, und ein starker kalter Wind wehte von Westen heran und trieb dunkle Wolken vor sich her, die stürmisches Wetter ankündigten. Sorgan blickte von Zeit zu Zeit in die Schlucht, in der es von Insektenmenschen wimmelte. Diese drängten sich in dem schmalen Tal von einer Wand bis zur anderen. Fast alle trugen Waffen der einen oder anderen Art. Einige waren offensichtlich während der beiden vorhergegangenen Kriege eingesammelt worden, aber die Großzahl der Käferdinger hatte lediglich angespitzte Stöcke. Ein angespitzter Stock mochte zwar keine gute Waffe sein, aber allein die Tatsache, dass die Insektenmenschen nicht mehr nur Zähne und Krallen einsetzten, beunruhigte Sorgan, und zwar nicht wenig.
Anscheinend wurden die Wesen des Ödlands mit jedem verstreichenden Tag intelligenter. Falls das in dieser Geschwindigkeit so weiter 457 ging, würde es nicht mehr lange dauern, bis die Insektenmenschen die Menschenmenschen in Sachen Intelligenz übertrumpften. Im Lande Maag gab es ein altes Sprichwort, demzufolge ein dummer Feind ein Geschenk der Götter sei. Ein plötzlich intelligenter Feind wäre demnach mehr als ein Fluch. »Ich denke, es wäre vielleicht Zeit, diese verdammten Dinger dort unten in der Schlucht bis zum letzten Käfer umzubringen und dann ins Ödland einzufallen und auch dort alle zu töten.« »Ich habe dich nicht recht verstanden, Vetter«, sagte Tori. »Habe nur laut gedacht, Tori«, erwiderte Sorgan. »Machen wir, dass wir vorankommen. Zwischen uns und dem Südende der Schlucht liegen noch ein paar Meilen. Schauen wir uns dort unten um, und dann beeilen wir uns, wieder zurückzukehren. Na-rasan wartet dringend auf unseren Bericht.« Am Nachmittag heulte der Wind, der von Westen heranwehte, bereits in den Bergen, und die Wolken waren sogar noch düsterer geworden. Sorgan schaute zum Himmel. »Könnt ihr euch nicht einen anderen Ort zum Spielen suchen?«, knurrte er. »Käpt'n!« Er hörte einen Ruf hinter sich. Es war Hase, und der kleine Schmied schien so schnell zu laufen, wie er konnte. »Ihr alle solltet euch so weit wie möglich vom Rand zurückziehen, Käpt'n«, rief er, »und dann brauchen wir vermutlich eine Höhle, um uns ein paar Stunden lang zu verkriechen.« »Wovon redest du, Hase?«, wollte Sorgan wissen. »Langbogens >unbekannte Freundin< fängt wieder mit ihren Spielchen an, Käpt'n«, sagte Hase. »Diesmal glaube ich, wird sie eine dieser Land-Wasserhosen benutzen.« »Einen Zyklon, meinst du?«, fragte Padan. »Ich glaube, so nennen die Landleute sie«, antwortete Hase. »Wie auch immer sie heißen, das ist im Moment nicht so wichtig. Langbogen sagte mir, einer dieser drehenden Winde sei un458 terwegs in diese Schlucht. Er wird die Insektenmenschen tausend Fuß oder noch höher in die Luft wirbeln. Das ist einer der Gründe, weshalb wir Schutz suchen müssen. Nachdem dieser Drehwind hier durchgezogen ist, wird es mindestens ein oder zwei Stunden lang Insektenmenschen regnen.« »Oh«, meinte Tori und grinste breit. »Wie schade. Ich würde sagen, wir werden sie überall >aufklatschen< hören, und ich möchte bestimmt nicht, dass ein Käfer auf meinen Kopf >auf-klatscht<.« »Vielleicht sollten wir die Bogenschützen aus Tonthakan oben in der Schlucht warnen«, gab Padan zu bedenken. »Wenn es tatsächlich einen Zyklon gibt, sollten sie sich wenigstens eine Meile vom Rand entfernen.« »Darum habe ich mich schon gekümmert, Padan«, sagte Hase. »Sie sind losgerannt, als ich von ihnen aufgebrochen bin. Jetzt müssen wir uns selbst einen Unterschlupf suchen.« »Dort, glaube ich«, sagte Padan und zeigte auf eine Gruppe grauer Felsen in der Nähe. »Da sollten wir eine Höhle finden -oder zumindest einen gut geschützten Platz in diesem Steinhaufen.« »Wir sollten uns lieber beeilen«, drängte Hase und schaute nach Norden. »Ich erkenne zwar noch nichts von dem Sturm, aber vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis der Wirbelwind da ist. Langbogens Freundin kann ganz schön fix sein, wenn sie es für notwendig hält, und ich würde sagen, wir sind nicht mehr weit von >notwendig< entfernt.« »Na, dann los!«, stimmte Sorgan zu. Sie erreichten den Haufen mit moosbewachsenen Felsen, und wie Padan vermutet hatte, gab es eine Reihe von Spalten zwischen diesen riesigen Blöcken. Wenn sich ein großer Fels an seinen Nachbarn lehnt, bildet er etwas, das durchaus an einen Tunnel erinnert. 459 »Versuchen wir den da drüben«, schlug Padan vor. »Der Fels ist fast so groß wie ein Haus und steht quer zur Windrichtung, und wenn ein Zyklon hierher unterwegs ist, werden wir einen Schutz brauchen, der groß und schwer ist und quer zur Windrichtung steht.« »Da kommt er«, rief Tori. Dann blieb er abrupt stehen. »Guter Gott«, entfuhr es ihm. »Das dumme Ding brennt]« Sorgan drehte sich um und starrte den heranziehenden Wirbelsturm an. Wie Tori gesagt hatte, brannte der wirbelnde Wind tatsächlich - aber es handelte sich nicht um gewöhnliches Feuer. Gewöhnliches Feuer war gelb und rot. Dieses dagegen war blau. 52 Sorgan und seine Freunde duckten sich in den geschützten Gang zwischen zwei riesigen Felsen und lauschten dem Heulen des Windes. Hase kroch jedoch mehrmals auf Händen und Knien zur schmalen Öffnung. »Ich glaube, hier sind wir in Sicherheit«, rief er über das Tosen des Wirbelwindes hinweg. »Dieser Sturm brennt, das ist mal sicher, allerdings bleibt das Feuer unten in der Schlucht. Gelegentlich schaut mal eine Flamme über den Rand, breitet sich aber nicht weiter aus.« »Deine Neugier wird dich noch irgendwann umbringen, Hase«, schrie Sorgan.
»Ich glaube nicht, Käpt'n«, erwiderte der kleine Schmied, »zumindest nicht, solange Langbogens Freundin ihre Finger im Spiel hat. Sie hat für diesen Wirbelwind gesorgt. Die Flammen hinter dem Sturm haben die gleiche Farbe wie das Feuer im Sumpf oder das, was aus Kohleminen kommt - nur wird hier in der Nähe vermutlich niemand nach Kohle graben. Ich glaube, 460 ich weiß, wie sie es gemacht hat, wenn du so neugierig bist und es hören willst, Käpt'n.« »Ich höre«, gab Sorgan zurück. »Vermutlich hat sie einen riesigen Einschluss dieses Gases, das blau brennt, am oberen Ende tief unter der Schlucht gefunden. Dann hat sie den massiven Fels gespalten, unter dem das Gas festgehalten wurde. Anschließend, nachdem eine ganze Menge von diesem Gas ausgetreten war, hat sie sich diesen Wirbelwind geschnappt, der es in diese Richtung treibt.« »Zu so etwas ist niemand fähig, Hase«, höhnte Tori. »Wir reden nicht über irgendwen, Tori. Das ist diese Dame, die meilenweit falschen Goldsand verstreut und dann einen Berg aufgebrochen hat, um mit einem unirdischen Meer die Insektenmenschen und die Kirchensoldaten zu ertränken. Ich würde sagen, es gibt fast nichts, was sie nicht könnte, wenn sie wirklich will.« »Also gut«, meinte Tori. »Und wie hat sie das Gas in Brand gesetzt?« »Wir haben doch alle solche Wasserhosen auf See gesehen. Ich weiß nicht, ob du sie dir schon einmal genau angeguckt hast, aber anscheinend werden sie immer von Blitzen begleitet. Wenn du etwas in Brand stecken willst, kann ein Blitz das schneller erledigen als alles andere. Ich stelle ja nur Vermutungen an, aber ich glaube, so ähnlich muss ihr Plan ausgesehen haben. Zuerst befreit sie das Gas; dann setzt sie es mit einem Blitz in Brand; und dann treibt sie es mit einem Wirbelwind durch die Schlucht. Der Wind zieht das Feuer hinter sich her, und das wäre es dann. Eine Feuerwand wälzt sich durch die Schlucht und verbrennt alle Insektenmenschen, die das trogitische Schanzwerk angreifen wollten. Und - wie ich Langbogens Freundin kenne - das Feuer wird unten am Ausgang der Schlucht nicht einfach ausgehen. Wahrscheinlich wird es eine ähnliche Barriere bilden wie das Wasser unten im Süden. Das Feuer wird vermutlich ins Ödland vorsto461 ßen und innerhalb eines Umkreises von hundert Meilen alle Insektenmenschen vernichten.« »Ein Meer aus Feuer anstelle eines Meeres aus Wasser?«, fragte Tori. »Ich würde sagen, ja«, meinte Hase. Nachdem der heulende Wirbelwind nach Süden abgezogen war, wagten sich Sorgan und seine Freunde vorsichtig wieder ins Freie und schauten sich an, was in der Schlucht passiert war. Auf jeden Fall rannten keine tausende von Insektenmenschen mehr in Richtung Norden, so viel war offensichtlich. Viele der Käfer waren in diese eigenartigen Panzer gehüllt, die Sorgan und seine Männer auch schon während des Krieges in Veltans Domäne gesehen hatten. Keselo hatte sie als Außenskelette bezeichnet. Offensichtlich trugen manche Arten dieser Käfer ihre Knochen auf der Außenseite ihrer Körper und nicht innen. Sorgan begriff, dass eine Rüstung, gleich welcher Art, einen schlechten Schutz abgeben würde, wenn der Feind Feuer als Waffe einsetzte. Äußerlich verbrannt zu werden war eine Sache, lebend gekocht zu werden eine ganz andere. Eine dicke Schicht Asche bedeckte den Boden der Schlucht und wurde von Zeit zu Zeit durch einen Windstoß aufgewirbelt. Da es in der Schlucht keine Pflanzen gab, bildete die Asche mit Sicherheit die Überreste von hunderten - oder gar tausenden -Insektenmenschen. Sorgan schüttelte sich heftig. Gewiss, die Käfer waren ihre Feinde, und dennoch ... Obwohl die Notwendigkeit jetzt vermutlich nicht mehr bestand, setzten Sorgan und die anderen ihren Marsch am Westrand der Schlucht entlang fort, um einen Blick auf das Fort zu werfen, das sie vor kurzem hatten aufgeben müssen. Sorgan redete sich ein, Narasan würde bestimmt wissen wollen, ob das Fort noch stand, und deshalb war es angebracht, es sich anzu462 schauen. Außerdem gab es nun keine Eile mehr, ins Lager zurückzukehren. Der Feind existierte schließlich nicht mehr. Im Stillen gestand sich Sorgan, dass es eigentlich reine Neugier war, die ihn die letzten Meilen durch die Schlucht trieb. Das Fort selbst schien intakt zu sein, doch gab es einen unübersehbaren Unterschied. Das Fort war in blaues Feuer gehüllt, das aus der Erde aufwallte. »Nun, das würde ich ein Wunder nennen!«, rief Padan. »Ein Fort, das nicht mehr von Soldaten besetzt werden muss. Wunderbar blaues Feuer hat unsere Arbeit übernommen.« »Unsere >unbekannte Freundin< muss die Insektenmenschen wirklich hassen«, meinte Hase. »Das erste blaue Feuer rauscht weiter hinunter ins Ödland und verbrennt jeden Käfer, der ihm in den Weg kommt. Und für den Fall, dass das Feuer im Laufe des nächsten Jahres ausbrennt, hat sie ein zweites entfacht, das für die nächsten hundert Jahre brennen wird.« »Ich schätze, jetzt können wir umkehren und zum Berg Shrak zurückkehren«, sagte Sorgan. »Mit diesem Feuer oder besser: mit den zwei Feuern - ist dieser Krieg beendet. Unsere Hinbekannte Freundin< hat den zweiten Krieg mit einem Meer aus Wasser abgeschlossen und diesen mit einem Meer aus Feuer.«
»Drei wären erledigt, und einen haben wir noch vor uns«, stellte Padan fest. »Wenn wir jetzt gleich weiterziehen, sollten wir diesen letzten Krieg wohl vor dem nächsten Frühjahr hinter uns gebracht haben. Dann können wir endlich nach Hause und die nächsten dreißig oder vierzig Jahre damit verbringen, all das Gold zu zählen, das wir in diesem Jahr verdient haben.« Die Rückkehr ins Land der Träume 53 Balacenia hielt sich in einer selten genutzten Kammer von Dah-laines Höhle unter dem Berg Shrak auf. Es gab einige Dinge, über die sie nachdenken musste, und so spaltete sie ihr Bewusst-sein von der schlafenden Eleria ab, damit sie mit ihren Gedanken allein sein konnte. Sie war ziemlich entsetzt darüber gewesen, wie weit Mutter gegangen war, um die Invasion des Nordens durch die Wesen des Ödlands zu verhindern. Ein ewiges Feuer auf sie loszulassen erschien ihr doch ein wenig extrem. »Es war notwendig, Herzliebste«, hörte sie Mutters Stimme aus der Dunkelheit im hinteren Teil der Höhle. Ihre Gegenwart überraschte Balacenia nicht. Mutter war fast immer zur Stelle, wenn Balacenia beunruhigt war. »Ich begreife nur den Grund nicht, Mutter«, erwiderte Balacenia. »Die Ausländer hatten die Sache doch gut im Griff, und ich bin sicher, sie hätten die Diener des Vlagh besiegt.« »Aber nicht rechtzeitig, Balacenia.« »Ist Zeit tatsächlich von so großer Wichtigkeit, Mutter?« »Von größerer, als du dir vorstellen kannst, Herzliebste. Wenn etwas nicht geschieht, wenn es geschehen soll, werden die Diener des Vlagh deine Freunde überwältigen, und dann gehört die Welt ihnen. Seine Kinder können viel schneller marschieren, als du es dir vorzustellen vermagst, Balacenia. Wenn wir sie nicht alle bald 464 vernichten, werden sie intelligenter als Menschen, und dann werden die Menschen ausgelöscht. Wir müssen jetzt gegen das Vlagh vorgehen.« » Wir?« »Du und die anderen Kinder, Herzliebste. Ich liebe die Älteren natürlich sehr, aber sie sind dem Ende ihres Zyklus inzwischen viel zu nahe, um noch von großem Nutzen zu sein. Deshalb hat das Vlagh so lange gewartet. Seine Beobachter haben die Verlangsamung des Denkens beschrieben, unter der die Älteren leiden, und das Vlagh hat absichtlich gewartet, ehe es seine Diener ausgeschickt hat. Die hiesigen Eingeborenen und die Ausländer sind zwar im Augenblick noch klüger als die Wesen, die dem Vlagh dienen, aber diese Überlegenheit wird nicht mehr lange andauern, fürchte ich. Die Diener des Vlagh stibitzen von den Menschen. Es ist noch kein ganzes Jahr vergangen, seit die Einfälle begannen, und bereits jetzt haben die Diener des Vlagh gelernt, wie wertvoll Waffen sind und wie wichtig Feuer. Ich schaudere vor dem Gedanken, wie weit sich ihr Verstand bis zum nächsten Frühjahr entwickelt haben mag. Versammle deine Brüder und deine Schwester, Balacenia, und führe sie in das Land der Träume, das du mit Vash erschaffen hast. Wir müssen einige Entscheidungen treffen, und uns bleibt nicht viel Zeit.« »Wir müssen uns unterhalten, Eleria«, schickte Balacenia einen Gedanken zu ihrer schlafenden Stellvertreterin. »Wer bist du?«, murmelte Eleria im Schlaf. »Ich bin du, Eleria. Ich bin die, zu der du werden wirst.« »Ich verstehe nicht.« »Doch, doch - denk nur einmal darüber nach.« »Bist du aus der Zukunft gekommen, um mich zu besuchen?« »Oder aus der Vergangenheit. Wir sind jetzt im Land der Träume, Eleria, also hat Zeit keine Bedeutung. Mutter braucht unsere Hilfe.« 465 »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich werde tun, was immer Mutter möchte.« »Ich weiß«, erwiderte Balacenia. »Ich empfinde genau das Gleiche.« Sie zögerte. Sie und Eleria waren ein und dieselbe Person, aber es gab ein paar Unterschiede, und sie wollte ihr anderes Ich nicht beunruhigen. »In Zukunft wird es ein paar Mal vorkommen, dass ich mich einmischen und für dich einspringen muss, Eleria. Manche Dinge, die sonst geschehen, müssen unbedingt verhindert werden. Ich bin erfahrener als du, deshalb kann ich besser mit diesen Dingen umgehen. Bitte, stell dich mir nicht in den Weg, wenn es so weit ist, Eleria.« »Nun gut«, antwortete das Kind, »aber das kostet dich ein paar Küsschen.« Balacenia lachte. Eleria, so schien es, war schon weiter fortgeschritten, als man auf den ersten Blick vermuten mochte. Da hatte Balacenia einen Einfall, der ihr vermutlich niemals gekommen wäre, falls Eleria nicht von Küssen gesprochen hätte. »Eigentlich wollte ich einen bestimmten Ort allein besuchen«, sagte sie zu ihrer Stellvertreterin, »aber vielleicht möchtest du mich ja begleiten?« »Welchen Ort denn?« »Er befindet sich in meiner Fantasie, Liebste - in meiner und der unseres Bruders Vash - oder Yaltar, ganz, wie es dir lieber ist.« »Wie heißt dieser Ort?« »Es ist das Land der Träume, Eleria. Ich glaube, dort wird es dir gefallen. Ich weiß, Mutter mag es auch.« »Wird sie dort sein?« »Wenn du es möchtest, ja.« »Worauf warten wir dann noch?«, sagte Eleria begeistert.
Das Land der Träume, von Balacenia und Vash vor langer Zeit erschaffen, hatte etwas heimatlich Vertrautes an sich. Der dunkle 466 Wald war immer noch frei von Buschwerk, die Bäche wiesen kein Zeichen von Schlamm auf, und - das war das Schönste - die vielfarbige Aurora hing über dem Horizont wie ein Regenbogen, der endlich den Weg nach Hause gefunden hatte. »Deine Fantasie kann auch hübsche Dinge erfinden, Balacenia«, meinte Eleria. »Unsere Fantasie, Kind«, berichtigte Balacenia. »Nicht ganz, meine Stellvertreterin«, widersprach Eleria verschlagen. »Du hast das Meer vergessen, und nirgendwo ist eine Spur von meiner rosa Perle zu sehen.« »Kannst du mir verzeihen?« »Ich werde darüber nachdenken.« Dann kamen Vash, Dakas und Enalla aus dem Wald, blieben jedoch verblüfft und ungläubig stehen, als sie Eleria sahen. »Ob das eine gute Idee war, sie mitzubringen, Balacenia?«, fragte Vash und klang ein wenig besorgt. »Eine sehr gute Idee, Yaltar«, meinte Eleria und trat neben ihrer älteren Identität vor. »Ich hätte der armen Balacenia wochenlang die Ohren voll gejammert, wenn sie mich nicht mitgenommen hätte. Sie hat mir gesagt oder hätte es zumindest irgendwann -, dass Mutter oft hierher kommt. Ich möchte Mutter so gern sehen und mit ihr reden.« »Worüber?«, fragte Balacenia verwirrt. »Das wirst du schon rechtzeitig erfahren, Großes Ich«, erwiderte Eleria grinsend. »Wie du meinst, Kleines Ich«, sagte Balacenia. Dann sah sie ihre Brüder und ihre Schwester an. »Ich möchte euch ja nicht vorschreiben, was ihr zu tun habt«, sagte sie zu ihnen, »aber ich bin mir fast sicher, dass ihr alle das Gleiche tun müsst wie ich. Als Dahlaine uns im Schlaf erwischte und uns in die Kindheit zurückverfrachtet hat, trennte er uns von unseren ehemaligen Identitäten. Eleria ist ich, oder bin ich, gewiss, aber sie ist nicht mein Ich, das ihr alle kennt und liebt. Dasselbe trifft auf Yaltar, 467 Ashad und Lillabeth zu. Ihnen sind Dinge begegnet, die wir nie gesehen haben, und wir müssen darüber Bescheid wissen.« »Das wissen sie alle, Großes Ich«, sagte Eleria. »Ich glaube, ihr solltet lieber alle lächeln. Mutter kommt.« Balacenia drehte sich rasch um, und tatsächlich kam Mutter gerade an, eingehüllt in die leuchtenden Farben der Aurora am imaginären Himmel. »Haben wir mal wieder eine kleine Familienzusammenkunft?«, fragte sie mit leicht amüsierter Miene. »Ich dachte, es sei das Beste, allen von der möglichen Vernichtung der Menschen zu erzählen, Mutter«, antwortete Balacenia, »und Eleria wollte gern mit dir reden.« Mutter warf dem Kind Eleria einen erschrockenen Blick zu. »Du hast sie mitgebracht? Was hast du dir dabei gedacht, Balacenia?« »Es ist nicht ihre Schuld, Mutter«, sagte Eleria. »Es war meine Idee. Sie hat den anderen unserer Generation bereits erklärt, dass Dahlaine, als er uns während unseres Schlafes holte und wieder zu Kindern machte, uns gespalten hat. Sind dann nicht, wenn sich die Alteren schlafen legen, acht von uns da anstelle von nur vier? Wir könnten unsere Aufgabe jeweils in nur einem Körper erledigen, aber wir unterscheiden uns stark genug, dass jeder eine eigene Persönlichkeit haben wird. Ich hätte allerdings nichts dagegen. Wir Kiemen werden vermutlich andere Dinge als die Großen vorschlagen - und wir wissen natürlich auch viel darüber, was dort draußen in Wirklichkeit vor sich geht. Du hast meinem Großen Ich - Balacenia - gesagt, dass das Vlagh die Menschen auslöschen will. Wir kennen die Menschen besser als unsere älteren Ichs, daher können wir sie bei uns behalten, wenn wir sie brauchen.« »Da könnte sie Recht haben, nicht wahr?«, meinte Mutter zu Balacenia und ihren Geschwistern. »Natürlich habe ich Recht, Mutter«, sagte Eleria. »Ich habe immer Recht - oder ist dir das noch nie aufgefallen? So, ich den468 ke , jetzt schuldest du mir eine Menge Küsschen, nicht wahr}« Sie streckte Mutter die Arme entgegen. 54 Narasan und Sorgan waren gerade erst vom oberen Ende der nun ewig brennenden Kristallschlucht zum Berg Shrak zurückgekehrt. Nachdem sie Bericht erstattet hatten, was in der Schlucht vorgefallen war, gingen sie hinaus, um unter vier Augen zu besprechen, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nun auf sie zukommen würde. Balacenia war natürlich da, aber nicht da zur gleichen Zeit. Der Eleria-Teil ihrer Persönlichkeit hatte den klugen Trick ihrer Mutter durchschaut, und es war nicht schwer geworden, sich zu verdoppeln. »Du weißt, was in nicht langer Zeit passieren wird, nicht wahr, Sorgan?«, fragte Narasan seinen Freund. »Lass mich einen oder zwei Momente darüber nachdenken«, erwiderte Sorgan und runzelte ironisch die Stirn. Dann schnippte er mit den Fingern. »Ich glaube, da wird jemand vorbeikommen und uns Tonnen von Gold versprechen, wenn wir uns bereit erklären, auch an einem weiteren Krieg in einem Teil des Landes Dhrall
teilzunehmen, in dem bisher noch keine Invasion stattgefunden hat.« »Es ist nur noch einer übrig, Sorgan«, antwortete Narasan darauf. »Nun, wo du es erwähnst, glaube ich tatsächlich, du hast Recht, Freund Narasan. Ist es nicht seltsam, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin?« »Bist du langsam mit deinen Spaßen fertig?«, fragte Narasan. »Du wirkst aber ganz schön mürrisch für einen Mann, der in 469 drei Kriegen auf der Siegerseite gestanden hat, mein Freund«, sagte Sorgan. »Eigentlich bin ich nicht mürrisch, Sorgan«, gab Narasan zurück. »Zwar wird es eine Menge Geschrei und Gejammer geben, aber ich werde nicht für die Königin des Ostens arbeiten, gleichgültig, wie viel Gold sie mir anbietet.« »Beiß dir lieber auf die Zunge«, meinte Sorgan. »Wir arbeiten für Gold, Narasan, und wir siegen stets, weil wir Gold lieben.« »Ich nicht«, entgegnete Narasan, »zumindest nicht genug, um mich noch einmal mit der Göttlichen Aracia zu befassen. Allein bei ihrem Anblick möchte ich mich am liebsten übergeben.« »Dann sieh sie nicht an. Ich werde die Verhandlungen und all das übernehmen. Und nein, ich werde dich nicht übers Ohr hauen, was deinen Anteil betrifft. Waren deine Leute in der Lage, die wahrscheinlichste Route zu bestimmen, die der Feind bei seinem Angriff wählen wird?« »Das war nicht allzu schwer, Sorgan. Es ist der >Lange Pass<, und dabei handelt es sich um die einzige Route, die unser Feind wählen kann. Der Gebirgszug blockiert alle anderen Wege.« »Das vereinfacht die Sache erheblich«, sagte Sorgan. »Meine Männer und ich gehen einfach in die >Tempelstadt< und schwatzen unserer Arbeitgeberin alles ab, was von Wert ist. Ich werde ihr sagen, du wärst damit beschäftigt, Forts zu bauen, und hättest keine Zeit, ihr einen Besuch abzustatten.« »Ich würde trotzdem lieher nach Hause zurückkehren, Sorgan«, erwiderte Narasan. »Ich bin auch gar nicht sicher, ob ich dort unten gebraucht werde. Unsere >unbekannte Freundin< hat vielleicht schon wieder zehntausend unserer Feinde geröstet, ehe wir überhaupt zum Schwert greifen können.« Dann traten Ekial und Trenicia aus Dahlaines Höhle und gesellten sich zu ihnen. »Haben wir schon eine Entscheidung getroffen?«, fragte Ekial. »Wir beschäftigen uns gerade noch mit einem kleinen Prob470 lern«, sagte Sorgan. »Unser Freund, der ehrenwerte Narasan, möchte nichts mit Zelanas älterer Schwester zu tun haben. Sie hat ihn ein paar Mal vor den Kopf gestoßen, während er dort unten war. Aber wir haben einen Weg gefunden, wie wir ihn von ihr fern halten können - fern genug wenigstens, damit er nicht versucht, sie in ihre Einzelteile zu zerlegen.« »Erwägst du etwa wirklich, nach Hause zurückzukehren, Narasan?«, wollte Trenicia wissen. »Sorgan hat mich an das Wort >Verpflichtung< erinnert, Trenicia«, antwortete Narasan. »In gewisser Weise hat er wohl Recht. Unser Krieg gegen dieses Ding im Ödland ist noch nicht vorüber. Vielleicht mögen wir Aracia nicht besonders, aber wenn wir sie im Stich lassen, setzen wir auch ihre Verwandten einer großen Gefahr aus.« »Wenn du sie verteidigst, musst du dich nun einmal in ihre Nähe begeben, nicht wahr, Narasan?«, warf Ekial ein. »Eigentlich nicht, Prinz Ekial«, widersprach Narasan. »Die Invasion ihrer Domäne wird höchstwahrscheinlich im Langen Pass stattfinden, und dort brauchen wir Forts, um den Vormarsch der Insektenmenschen zu verhindern. Ich bringe meine Männer dort hinauf, und wir bauen diese Forts. Sorgan hat sich bereit erklärt, die Verhandlungen mit der unsäglich Heiligen Aracia zu führen. Unser lieber Freund Sorgan ist der Welt begabtester Gauner, daher wird er Aracias Schatzkammer vermutlich bis zur letzten Münze leer räumen, aber ich werde mich nicht einmal blicken lassen müssen.« »Gauner?«, protestierte Sorgan. »Das ist ein oder zwei Schritte von >Dieb< entfernt, Freund Sorgan«, meinte Narasan und lächelte schwach. »Ich begleite dich zum Tempel, wenn du nichts dagegen hast, Kapitän Hakenschnabel«, sagte Ekial. »Ich kenne ein paar gute Methoden, um den Preis in die Höhe zu treiben, also bin ich vielleicht von Nutzen.« 47i »Und ich bleibe bei Narasan«, sagte Königin Trenicia. »Haltet nur diese Lügnerin von mir fern. Allein beim Gedanken an sie juckt mir schon das Schwert.« »Es gibt allerdings ein Problem, das wir lösen müssen, ehe wir weitermachen«, sagte Narasan, »und es hat mit Rauch zu tun. Wir können im Langen Pass von einem Ende bis zum anderen Forts bauen, doch sie werden nichts wert sein, wenn die Insektenmenschen wieder mit ihren Rauchwolken ankommen.« »Ich bin sicher, damit werden wir schon zurechtkommen, Narasan«, meinte Trenicia. »Darum würde ich mir nicht allzu viele Sorgen machen«, sagte Sorgan zu ihr. »Langbogen hat diese >unbekannte Freundin<, die fast alles erledigen kann, was notwendig ist.« Balacenia lächelte. Mutters Ansehen schien mit jedem Tag zu wachsen. »Es scheint sie stets früher - und härter - zu treffen als uns andere«, sagte Zelana einige Zeit später zu ihren Brüdern, als sie wieder in Dahlaines Kartenraum allein waren ... wie sie glaubten. Balacenia war natürlich dabei, aber die Alteren bemerkten ihre Gegenwart offensichtlich nicht.
»Ich denke, das ist die Schuld dieser idiotischen Priesterschaft«, mutmaßte Veltan. »Nein, kleiner Bruder«, widersprach Zelana. »Das war schon lange vor dem Auftauchen der Menschen so. Aracia kann einfach den Gedanken nicht ertragen, dass Enalla den Osten übernimmt, nachdem wir in Schlaf gefallen sind. Wenn ich mich recht entsinne, ist das Gleiche passiert, als die einzigen Lebewesen im Lande Dhrall noch Grashalme waren. Aracia kann es einfach nicht ertragen, dass sie nicht mehr das Sagen hat, wenn sie schlafen geht. Eigentlich, so glaube ich, hasst sie Enalla.« »Das ergibt doch keinen Sinn«, hielt Veltan dagegen. »Ich weiß. Aber wenn man es sich genau überlegt, was ergibt 472 bei Aracia schon Sinn? Sie ist so versessen auf ihre Position, dass darüber ihr Verstand ausgesetzt hat. Mir schaudert bei dem Gedanken daran, zu was sie geworden sein könnte, wenn wir diesen speziellen Schlafzyklus hinter uns haben.« »Damit können wir uns später befassen, liebe Schwester«, sagte Dahlaine. »Im Augenblick haben wir jedoch dieses andere Problem. Wie werden wir mit dem Vlagh fertig?« »Die Trogiten scheinen einen Weg gefunden zu haben, die Diener des Vlagh davon zu überzeugen, woanders spielen zu gehen«, meinte Veltan. »Selbst seine ergebensten Diener scheinen sich ablenken zu lassen, wenn sie in lodernden Flammen stehen.« »Das gelingt offensichtlich gut«, stimmte Zelana zu. »Unglücklicherweise ist das Vlagh ein Imitator, und deshalb wird es wohl nicht lange dauern, bis die Wesen des Ödlands Feuer auf unsere Freunde werfen. Ich bin nicht sicher, ob es so laufen wird, wie wir gerne möchten, aber acht bis zehn Fuß nasser Schnee würden schon einen Unterschied ausmachen, wenn es darum geht, ein Feuer anzuzünden, oder?« »Wir sollten diese Idee vielleicht Lillabeth übermitteln«, sagte Dahlaine. »Oder vielleicht Eleria«, fügte Zelana hinzu. »Ich sage es ja nicht gern, aber Aracia könnte sich einmischen, wenn wir uns auf Lillabeth verlassen.« »Darum kümmern wir uns später«, meinte Dahlaine. »Im Augenblick würde ich sagen, wir sollten uns darauf konzentrieren, die Ausländer in Aracias Domäne zu verschiffen.« Veltan folgte seinem älteren Bruder aus dem Kartenraum, doch aus irgendeinem Grunde verweilte Zelana noch. »Also gut, Balacenia«, sagte sie, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihre Brüder außer Hörweite waren, »was hast du nun vor?« »Ich sammele lediglich Informationen, Geliebte«, sagte Balacenia, ahmte dabei Elerias Stimme nach und benutzte ihre gewohnte Anrede. 473 »Lass das sein«, schimpfte Zelana. »Du bist nicht Eleria, und ich weiß das ebenso gut wie du selbst.« Balacenia zuckte mit den Schultern und trat vor. »Es war einen Versuch wert, denke ich. Bleib ganz ruhig, Zelana. Eleria und ich kennen uns inzwischen, und wir wissen, dass wir nicht völlig identisch sind.« Sie lächelte. »Eleria ist die wunderbarste Person, der ich je begegnet bin.« »Du hast mit ihr gesprochen?« Zelana klang verwundert. »Natürlich. Wir schmieden schließlich selbst Pläne für den Krieg in Aracias Domäne. Halte dich bitte heraus, Zelana. Wir wissen, was wir tun. Bestimmt hast du bemerkt, dass Eleria alle davon überzeugen kann, sich ihren Gedankengängen anzuschließen. Sicherlich wird es nicht mehr lange dauern, dann hat sie auch Mutter oft genug geküsst, damit sie ihrem Willen nachgibt.« »Willst du damit sagen, sie haben Mutter kennen gelernt}« »Oh ja. Mutter liebt sie bereits, aber das dürfte niemanden verwundern.« »Ich möchte dich ja nicht beleidigen, Balacenia, aber du klingst überhaupt nicht wie Eleria.« »Weil ich nicht herumlaufe und um Küsschen bettele, meinst du? Dahlaines Idee war höchst interessant, aber sie hat uns voneinander getrennt. Ich bin nicht Eleria.« Balacenia lächelte. »Ein wenig erschrocken war ich schon, als sie mich >Großes Ich< nannte. Aber irgendwie hat sie damit den Nagel auf den Kopf getroffen, und jetzt nenne ich sie >Kleines Ich<. Ihr ist sofort etwas aufgefallen, das mir gewiss entgangen wäre. In unserem Zyklus wird es diesmal acht Götter geben und nicht nur vier.« Sie blickte Zelana unschuldig mit großen Augen an. »Ist das nicht lustig?« Als Balacenia in Dahlaines Höhle nach Langbogen suchte, war er nirgendwo zu finden, und als sie bemerkte, dass mehrere an474 dere wichtige Eingeborene ebenfalls fehlten, war sie sicher, Langbogen habe sie zur Seite genommen und bespreche mit ihnen einige Dinge, welche die Ausländer nicht unbedingt hören sollten. Sie brauchte eine Weile, bis sie Langbogen und die anderen aufgetrieben hatte. Langbogen war sehr gut, wenn es darum ging, sich zu verstecken. »Wir brauchen ja gegenüber den Ausländern keine große Sache daraus zu machen«, sagte er gerade, »aber ich wittere doch bei einigen von ihnen einen starken Widerwillen dagegen, in Aracias Domäne zu ziehen und dort den letzten Krieg hier im Lande Dhrall auszutragen. Nachdem Ara-cia versucht hat, Lillabeths Traum zu verheimlichen, sind unsere Freunde zu der Ansicht gelangt, sie sei nicht gerade vertrauenswürdig. Ich weiß, einige von ihnen wollen mit Zelanas älterer Schwester nichts zu tun haben.« »Ich frage mich bloß, warum?«, meinte Rotbart ironisch.
»Es gibt nur eine Sache, die unsere Freunde aus den anderen Teilen der Welt nicht richtig begreifen«, fuhr Langbogen fort. »Das Vlagh stiehlt Ideen, nicht Gold, und durch die Ideen werden seine Diener intelligenter und intelligenter. Wenn sie den Punkt erreichen, an dem sie intelligenter sind als die Menschen, werden die Menschen ausgelöscht - und zwar nicht nur hier im Lande Dhrall. Das Vlagh will die ganze Welt erobern, und nachdem die Menschen verschwunden sein werden, wird es bekommen, was es will.« Balacenia sah Mutters Hand am Werk. Mutter hatte Langbogen offensichtlich genau das Gleiche erzählt wie Balacenia vor kurzem in Dahlaines Höhle. Dann ergriff Kathlak, der Häuptling des Hirschjägerstammes in Tonthakan, das Wort. »Warum sind wir nicht ehrlich und erklären den Ausländern, dass, wenn die Diener des Vlagh einen von diesen Kriegen gewinnen, über kurz oder lang keine Menschen mehr auf dieser Welt leben werden?« 475 »Sie würden uns nicht glauben, Kathlak«, wandte Tlantar Zweihand ein. »Die Ausländer denken, sie wären viel, viel intelligenter als wir - hauptsächlich, weil sie das Metall vor uns entdeckt haben.« »Wenn man es recht betrachtet, brauchen wir die Ausländer gar nicht mehr unbedingt«, meinte der Bogenschütze Athlan. »Wir könnten vielleicht Hase - und auch Keselo - hier behalten, aber falls etwas passiert, mit dem wir nicht fertig werden, wird sich vermutlich Langbogens >unbekannte Freundin< der Sache annehmen. Sie hat ein Meer aus Wasser in Veltans Domäne entstehen lassen, und dann ein Meer aus Feuer hier bei uns. Wenn wir eine Freundin haben, die zu solchen Dingen in der Lage ist, wozu brauchen wir dann die Armeen der Ausländer?« Balacenia entschied an diesem Punkt, es sei notwendig, einzuschreiten. Sie nahm Elerias Gestalt an und gesellte sich zu den versammelten Häuptlingen. »Das war eine gute Idee, Athlan«, sagte sie, »aber übersiehst du nicht etwas? Falls das Vlagh bemerkt, dass die Ausländer nicht mehr bei uns sind, wird es davon überzeugt sein, diesen letzten Krieg endlich zu gewinnen, und deshalb wird es alles, was ihm zur Verfügung steht, gegen uns ins Feld werfen. Das Vlagh kann jede Menge Nachwuchs erzeugen -Millionen und Abermillionen von Dienern -, wenn es will. Käfer sind in ungefähr einer Woche erwachsen, und demnach werden jedem Krieger hier im Lande Dhrall in Kürze tausende von Gegnern gegenüberstehen, wenn der Krieg im Osten beginnt. Dann, nachdem das Vlagh die Menschen im Lande Dhrall getötet hat, wird es noch mehr Nachkommen hervorbringen, und dann nimmt es die ganze Welt ein. Wir mögen die Ausländer vielleicht nicht so sehr, aber wir brauchen sie.« »Wenn sie nun selbst entscheiden, dass sie nicht mehr mitmachen wollen?«, fragte Kathlak. Balacenia zuckte mit den Schultern. »Wir können ihnen immer mehr Gold anbieten, oder? Wenn man einem Ausländer 476 mehr Geld gibt, als er tragen kann, wird er fast alles tun, was du von ihm möchtest.« 55 Später an diesem Nachmittag verkündete Dahlaine, dass es Zeit für die inzwischen traditionelle Siegesfeier sei. Balacenia fand das durchaus witzig, dass Mutter, die den Krieg in der Kristallschlucht eigentlich gewonnen hatte, nun auch noch das Festmahl zubereitete, das ein wichtiger Teil der Feier war. Balacenia bewegte sich leise und unauffällig in Dahlaines Höhle umher und lauschte den Ausländern, die sich ehrfürchtig über die Verbrennung der Diener des Vlagh unterhielten. Der gewissermaßen überbildete junge Trogit Keselo ließ sich lang und breit über die enorme Gewalt dessen aus, was die Ausländer einen »Zyklon« nannten. »Für gewöhnlich wäre ein Feuer die Schlucht eher hinaufgezogen als hinunter«, stellte er klar, »aber wenn man es mit einem Zyklon zu tun hat, kann man >für gewöhnlich< vergessen. Ein Zyklon kann sogar fast einen Berg niederreißen. Der Zyklon in der Kristallschlucht zog das blaue Feuer hinter sich her, und dadurch verbrannte alles, was der Wirbelsturm selbst nicht zerschmettert hatte. Die feindlichen Soldaten, die nicht durch den Zyklon vernichtet worden waren, wurden von der blauen Flammenhölle verzehrt.« Keselo hielt inne und sah zur Decke. »Ich würde sagen, dass wir hier wieder einen Fall von >Herumpfu-schen< hatten. Ein normaler Zyklon wäre mit ziemlicher Sicherheit nicht durch die Schlucht ins Ödland gerauscht. Ein Zyklon ist ein Wind, und Wind geht dahin, wo er will. Jemand hat sich diesen Zyklon geschnappt und ihn buchstäblich durch die Schlucht nach unten getrieben.« 477 »Dann schulden wir Langbogens >unbekannter Freundin< vermutlich eine Menge Küsseben, nicht wahr?«, warf Balacenia ein. »Ich werde jemanden, der 50 etwas zustande bringt, nicht küssen«, verkündete Sorgans Vetter Skell. »Wenn ich irgendetwas falsch mache, reißt sie mir vielleicht die Eingeweide - durch die Nase - heraus, wenn sie es unbedingt möchte.« »Oder sie könnte deine Innenseite nach außen kehren, Bruder«, meinte Tori und grinste. »Du würdest schon ziemlich komisch aussehen, wenn deine Eingeweide außen wären.« »Bitte, lass das doch, Tori«, beschwerte sich Gunda. »Da spielt mein Magen einfach nicht mit.« »Hau mich doch«, erwiderte Tori und grinste noch breiter. »Essen ist fertig«, verkündete Mutter. »Kommt, ehe es kalt wird.« In diesem Moment ging Balacenia ein eigentümlicher Gedanke durch den Kopf. Da Mutter das Kochen
offensichtlich so sehr genoss, warum aßen dann die Götter im Lande Dhrall nicht? »Darüber unterhalten wir uns ein andermal, Herzliebste«, sagte Mutters Stimme leise. »Und jetzt geh und iss.« Nachdem die Gäste satt waren, erhob sich Dahlaine mit dem grauen Bart und hielt eine Rede. Aus irgendeinem Grunde hielt Dahlaine dauernd irgendeine Rede. »Insbesondere möchte ich unseren Freunden von der anderen Seite der Welt danken für den Sieg, den wir hier im Norden errungen haben. Ich muss ihnen allerdings auch sagen, dass noch ein Teil des Landes Dhrall bleibt, dem der Krieg bislang fern geblieben ist, und es scheint doch eindeutig zu sein, dass das Vlagh sich nicht einfach abwenden und die Domäne von Schwester Aracia in Ruhe lassen wird. Über kurz oder lang wird der Angriff im Osten erfolgen, und deshalb sollten wir Pläne schmieden, wie wir den Osten verteidigen können.« 478 »Wenn ich mich dazu äußern darf«, sagte Narasan und erhob sich widerwillig. »Meine Männer und ich haben einige Zeit in der Domäne der werten Aracia verbracht, und ich habe Unterkommandant Andar losgeschickt, um mit den Eingeborenen zu sprechen und die Möglichkeiten zur Verteidigung von Aracias Tempelstadt sowie die Möglichkeiten - oder den Mangel daran -der einheimischen Bevölkerung dazu einzuschätzen. Warum berichtest du nicht unseren Freunden, was du erfahren hast, Andar?« Der Offizier mit der dunklen Stimme stand auf. »Soweit Brigadier Danal und ich feststellen konnten, ist dieser Ort mit dem Namen >Tempelstadt< überhaupt nicht zu verteidigen. Er hat keine Mauer und keinerlei Befestigungsanlagen irgendeiner Art. Was die Hilfe von Einheimischen bei der Verteidigung angeht: Vergesst es. Sie haben nicht einmal den Hauch einer Ahnung davon, was Waffen sind.« Andar kratzte sich am Kinn. »Kommandant Narasan war letzten Endes in der Lage, die werte Dame Aracia zu überreden, eine >Skulpturenkarte< für uns anzufertigen. Brigadier Danal und ich haben uns die Karte genau angeschaut und kamen zu der Überzeugung, es gebe nur eine mögliche Invasionsroute. Sie heißt >Langer Pass< und ist ganz bestimmt lang, aber >Pass< ist vielleicht ein wenig ungenau. Es handelt sich um ein altes Bachbett, das sich durch die Berge schlängelt. Daher gibt es etliche hervorragende Stellen für Forts, und ich würde dringend empfehlen, dass wir uns auf diese Forts konzentrieren.« »Aber du vergisst doch wohl den Rauch nicht, mit dem die Feinde uns aus der Kristallschlucht vertrieben haben, Andar?«, meinte Gunda. »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, Gunda«, erwiderte Andar. »In dieser Gegend weht der Wind meistens von der Ostküste her. Das bedeutet, der Rauch wird - falls der Feind sich entschließt, dieses Mittel abermals einzusetzen - von Osten 479 nach Westen ziehen. Unsere Forts werden auf der Ostseite des Passes stehen, und der Wind wird aus unserem Rücken wehen, uns also nicht ins Gesicht blasen. Falls der Feind dumm genug ist und brennendes Fettholz verwendet, wird er selbst unter dem Rauch leiden, und nicht wir.« »Danke, Andar«, sagte Narasan und erhob sich erneut. »Ich glaube, damit hätten wir alles Wichtige zur Erwähnung gebracht, Herr Dahlaine. Meine Männer und ich bauen die Forts im Langen Pass und verteidigen sie gegen den Feind - gegen angemessene Bezahlung, versteht sich. Es gibt nur eine Bedingung, die ich dieses Mal stellen möchte.« »Ach?«, fragte Dahlaine. »Und die wäre?« »Du wirst deine Schwester von mir fern halten. Wenn sie mit ihrem fetten Priester, diesem Takal Bersla, in die Berge kommt, werden meine Männer und ich unsere Sachen zusammenpacken und nach Hause zurückkehren. Ich werde unter gar keinen Umständen Befehle von deiner Schwester entgegennehmen. Sorg dafür, dass sie nicht in meine Nähe kommt. Und das ist mein letztes Wort.« »Hasst du sie denn so sehr, Narasan?« »Ich würde es nicht als >Hass< bezeichnen, werte Dame Zela-na«, erwiderte Narasan. »>Verachtung< dürfte es wohl viel besser treffen.« Balacenia schlug sich die Hand vor den Mund, damit niemand das gemeine Grinsen sah, das sich auf ihrem Gesicht breit gemacht hatte.