Markus Kastenholz
Dorniger Sieg Version: v1.0
Die weißhaarige Frau nahm den Feldstecher von den Augen, doch ihr Blick...
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Markus Kastenholz
Dorniger Sieg Version: v1.0
Die weißhaarige Frau nahm den Feldstecher von den Augen, doch ihr Blick blieb weiter auf die gewaltige Burg gerichtet, die auf dem höchsten Berg ringsum thronte. Sie konnte einfach nicht ihren Blick davon abwenden, wie gebannt klebte er darauf. Es handelte sich um keine jener Burgen aus dem Mit telrhein-Tal, die zu Recht Teil des Weltkulturerbes waren. Wo man den Eindruck gewann, trotz aller Zweckmäßigkeit waren sie einst nicht zuletzt auch er richtet worden, um dem Auge des Betrachters zu gefallen. Diese Konstruktion war eine Festung! Hier, wusste sie, würde sich ihr Schicksal erfüllen …
Imposant anzusehen, beeindruckend und auf bizarre Weise sogar ästhetisch. Trotz ihrer eiskalten Mauern strahlte die Craque des Che valiers etwas aus, das den Betrachter direkt ins Herz traf. Ein Hauch von Ewigkeit. Wie hypnotisiert war Tatjana Thorn von der Feste, die im 12. und 13. Jahrhundert von Kreuzrittern erbaut worden war, um Macht und Einfluss im heiligen Land zu sichern. Eindrucksvoll ruhten die massigen Mauern in sich selbst. Etwa ein Dutzend runder Wachtürme säumte die Ringmauer, die mit Wehr gängen, Zinnen und mehreren Schießscharten ausgestattet war. Da hinter befand sich eine etwas kleinere Schildmauer – das letzte Hin dernis vor der eigentlichen Festung, dem Wohnbereich, der etwas erhaben lag. Selbst diese Gebäude, in denen sich vermutlich die Ka pelle, das Zeughaus, Vorratsräume und Unterkünfte befanden, mu teten unbezwingbar an. Von hieraus überblickte man halb West-Syrien. Schon von weitem hatte man hier nahende Angreifer entdeckt und vermochte, Gegen maßnahmen zu treffen. Und wenn die Übermacht zu groß war, konnte man sich immer noch hinter den schier uneinnehmbar di cken Mauern verschanzen. Dort hoffte man entweder auf Ver stärkung oder wartete, bis den Feinden die Vorräte, die Soldaten oder die Lust ausgegangen waren. Die Craque des Chevaliers erschien auf dem ersten Blick unbezwing bar. Thorn graute es. Ausgerechnet dies war das Refugium von Rotauge, dem AlbinoVampir. Dem Mörder ihrer Eltern. Obwohl die Vampirjägerin eine beachtliche Erfolgsliste vorzuweisen hatte, hatte sie eigentlich immer nur Rotauge gejagt. Allzeit in der Hoffnung, bei ihren aktu ellen Kontrahenten einen Hinweis auf ihre Nemesis zu finden. Sie war am Ende des Weges angekommen. In Thorns Magen machte sich ein unangenehmes Ziehen bemerk bar, sobald sie daran dachte, dass sie irgendwie in die Festung ge
langen musste. Freiwillig würde Rotauge niemals herauskommen und sich ihr stellen. Er würde nicht einmal einen Austausch akzeptieren. Francesca Blake, die Mutter von Philip Cesarini – mittlerweile selbst Knappe der ROSE – befand sich noch immer in seiner Gewalt. Rotauge würde sie nicht herausgeben, selbst wenn sich Thorn als Tausch objekt anbot. Er wusste genau, dass sie noch ein As im Ärmel hatte. Immerhin, auch die Craque war einst gefallen, noch vor Akkon. Das gab Grund zum Optimismus. Die Kreuzfahrer waren längst aus dem Heiligen Land vertrieben worden ebenso wie ihre Ansprüche darauf. Wenn Thorn in sich hineinhörte, meinte sie sogar das Echo der Geschichte zu vernehmen, wie die heranrückenden Armeen immer und immer wieder gegen die Mauern verlustreich vorge gangen waren und sie attackiert hatten. Geschrei, Feuer, Blut und Schmerz … Doch irgendwann war die Zermürbetaktik aufgegangen. Leider hatte sie keine Armee Sarazenen oder Mamelucken in ih rem Rücken. Und ihr Selbstbewusstsein war nicht genügend ausge prägt, sich vor das Tor zu stellen und zu brüllen: »Aufmachen! Ich habe die Festung umstellt!« »Und?« Es war das erste Wort, das Cesarini seit ihrer Ankunft in Syrien, gestern Nachmittag, sprach. Seitdem bebte der kleinge wachsene, dunkelhaarige Gun-Man. Obwohl er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, waren seine Nerven doch bis zum Zer reißen gespannt. »Kommen wir da rein?« »Wir müssen da rein! So oder so …« Er nickte nur. Ebenso wie Thorn hatte er mit dem Nachtsicht-Fern glas die Festung ausgekundschaftet. Sie die eine Hälfte der Nacht, er die andere. Was sie dort beobachtet hatten, war kein Grund, in Ju belschreie auszubrechen. Rotauge – oder Adamus, wie er sich nannte – verfügte über eine Armee. Schließlich war er als einer der Ersten ein Herrscher der
Vampire. Zahlreiche Kreaturen hatten Thorn und Cesarini während der vergangenen Nacht in den Mauern der Festung entdeckt und eine war abscheulicher als die andere. Sämtliche Arten von Vampiren von allen Kontinenten schienen in seinem Dienst zu sein. Werwölfe durften ebenso wenig fehlen wie eine Gorgone, ein Dämon mit Scheren statt Händen, eine Kreuzung aus Mensch und Fledermaus … Womit auch immer das Zwischenreich aufzuwarten hatte, es schi en hier versammelt zu sein. Ein Wanderzirkus in den 20er Jahren des vergangenen Jahr hunderts wäre mit einer Absurditäten-Ausstellung wie dieser – am besten ausgestopft – nicht nur immens reich, sondern auch weltbe rühmt geworden. Die Privat-Armee stellte sicher, dass einerseits kein unerwünschter Besuch eintraf und andererseits – falls ein Angriff nicht zu verhindern war –, dass sich der Erste nicht mit dem Geschmeiß her umärgern musste. Vermutlich hätte er gar nichts davon mitbekommen, während er sich in seinem Gemach bei Satelliten-TV, Havannas und einer am Bett gefesselten Jungfrau ein schönes, untotes Leben machte, überlegte Thorn. Wie war es Rotauge bloß gelungen, all diese Kreaturen nicht nur hierher zu holen, sondern auch dafür zu sorgen, dass sie ihm dienten? Eilte ihm sein Ruf voraus und lehnte man ein Angebot von ihm nicht ab? Weder Thorn noch Cesarini wussten eine Antwort darauf. Sie wussten nur, es würde kein Spaziergang werden. »Was ist mit den Camouflage-Amuletten?«, fragte der Gun-Man tonlos, nachdem er von seiner Begleiterin keinen genialen, bahnbre chenden Plan hörte. »Negativ.« Unwillkürlich griff Thorn nach dem Anhänger mit dem grünen, magischen Stein, den sie an einer Kette noch immer um den Hals trug. Wohltuende Wärme schien davon auszugehen.
»Der wirkte bei dem Mond-Pack. Das hier ist zwei Nummern grö ßer.« »Was einmal funktioniert, funktioniert vielleicht auch zweimal …« »Rotauge wird darauf vorbereitet sein. Vielleicht hat er sogar ein, zwei erfahrene Magier engagiert, die uns sofort enttarnen würden.« »Und was ist mit dem Prokurator?« Fragend sah sie ihn an. »Na ja … Er verfügt doch über gewisse Tricks.« Seine Stimme wurde ein wenig schneller, Hoffnung keimte auf. »Vielleicht hat er …« Er wurde leiser, als er merkte, dass er vermutlich Unsinn sprach. »Was soll er haben?« Thorn verzog skeptisch den Mund. »Vielleicht ein Maschinchen, mit dem man hineinteleportieren kann?« Cesarini schwieg, kraftlos sackten seine Schultern nach unten. Auch er wusste nicht weiter, außer einen Verband Kampfbomber anzufordern und den gesamten Berg samt Festung in Schutt und Asche legen zu lassen. Ein Großteil der Monster wäre dabei vernich tet worden, zweifelsohne. Doch wie sie Rotauge kannten, würde ihm die Flucht gelingen. Er würde eine Weile die Wunden seiner Niederlage lecken und an schließend genau dort fortfahren, wo er aufgehört hatte. Ganz zu schweigen von Francesca, die das Inferno gewiss nicht überleben würde. Nein! Unwillkürlich schüttelte Thorn den Kopf. Sie durften Rot auge keine Möglichkeit zur Flucht lassen. Sie musste es hier und jetzt zu Ende bringen. Fast apathisch, ohne hinzusehen griff sie nach dem silbernen Ziga rettenetui in ihrer Manteltasche. Ohne den Blick von der Festung abzuwenden, öffnete sie es, schob sich einen Glimmstängel zwi schen die Lippen und zündete ihn an. »Mit einer Armee kommst du nicht rein«, stellte sie teilnahmslos fest. »Aber ein, zwei Leute, ganz auf sich allein gestellt, könnten eine
Chance haben …«
* Kreyven nannte er sich und er war ein Chupacabra. Ein Ziegensauger. Jedenfalls hatten die Menschen in Puerto Rico seinen Vorfahren einst diese wenig schmeichelhafte Bezeichnung gegeben und er be hielt ihn bei. Obwohl Kreyvens Leibspeise nicht das Blut von dür ren, stinkenden Ziegen war, sondern das der Straßenkinder in den Slums von Rio de Janeiro. Die waren genauso dürr und sie stanken ebenfalls – doch im Gegensatz zu den Ziegen vermisste sie niemand. Die Gefahr, entdeckt zu werden, hielt sich in den Hängen des Ghettos und den Häuserschluchten für ihn in Grenzen. Jeder küm merte sich vorwiegend um sich selbst und verschwendete keinen Gedanken an vermisste Mitmenschen. Und seine Opfer? Meist wussten die gar nicht, was mit ihnen ge schah, wenn Kreyven aus der Anonymität der Nacht nach unten stieß, sich seine Klauen um sie schlossen und er sie mit nach oben riss. In dieser Nacht sollte Kreyven berühmt werden. Er war zur Wache eingeteilt und hockte auf dem höchsten Turm der Craque des Chevaliers. Wache war für niemanden angenehm. Wa che war jedes Mal der ideale Zeitpunkt, sich zu fragen, weshalb man Adamus’ Angebot angenommen hatte. Klar – es war zu verlockend! Vermutlich keiner hier hatte sich ihm aus freien Stücken angeschlossen. Man arbeitete für ihn, weil es immer von Vorteil war, auf der Seite des Mächtigen zu stehen, an statt ihn sich zum Gegner zu machen. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn, genauso hatte er sich ausgedrückt und keinen Hehl aus seinen Ansichten gemacht.
Von den Wachen abgesehen konnte sich Kreyven nicht beschwe ren; für alles war gesorgt. Die eher Menschlichen schwärmten von ihren luxuriösen Zimmern, er selbst hingegen bevorzugte einen düsteren Raum unterm Dach; durch eine geräumige Luke konnte er jederzeit nach draußen fliegen. Auch fürs leibliche Wohl war bes tens gesorgt: Die Ghouls aus Damaskus, die die Festung dreimal pro Woche mit frischen Vorräten versorgten, leisteten hervorragende Arbeit, auch wenn man sich besser nicht den Kopf darüber zerbrach, aus welchen dubiosen Quellen sie ihre Vorräte bezogen. Trotzdem fühlte sich der Chupacabra in seiner blauschwarzen Haut nicht wohl. Viel zu sehr vermisste er die Freiheit und seine In dividualität. Tun und lassen können, wonach ihm war, sich selbst seine Beute aussuchen und seinen Jagdinstinkt zu schärfen, anstatt Blut und Fleisch portioniert vorgesetzt zu bekommen. Neidlos musste er trotzdem anerkennen, dass ihm das Wache schieben zwar nicht behagte, doch dass er wie dafür geschaffen war. Seine turmalinartigen Augen durchdrangen die nächtliche Dunkel heit wie die kaum eines anderen Geschöpfs. Chupacabras sahen nicht nur besser als jeder andere, ihre Sinne waren auch viel weiter entwickelt. Kreyven vermochte Dinge zu hören, die jedem Geschöpf auf Erden verborgen blieben. Die Chimäre Evolution hatte sie dafür geschaffen und perfekte Arbeit geleistet. Wahrscheinlich war es sogar die richtige Entscheidung gewesen, ihn zur Wache einzuteilen, sagte er sich. In der Craque herrschte Alarmstimmung. Adamus selbst hatte zur Vorsicht gemahnt; vermutlich drohe in absehbarer Zeit ein Angriff. Von wem? Darüber hatte er sich ausgeschwiegen. Das tat aber auch nichts zur Sache.
Wahrscheinlich geschah alles nur wegen dieser dummen Men schenfrau, die der Erste gefangen hielt. Weshalb machte man nicht einfach kurzen Prozess mit ihr? Vielleicht weil Adamus angegriffen werden wollte! Weil er die Geisel als Köder für einen noch größeren Preis brauchte? Kreyven hob den Kopf, als er ein Geräusch wahrnahm, das nicht hierher gehörte. Es stammte von keiner Gazelle, keinem Schakal und von keiner der zahlreichen Echsen, die sich in der Gegend tum melten. Auch nicht von einem Adler, mit denen sich der Chupacab ra gelegentlich eine Verfolgungsjagd lieferte, um später jedes Mal aufs Neue festzustellen, wie köstlich diese Viecher doch schmeckten. Es handelte sich um eine Stimme – um eine menschliche Stimme. Er verstand nicht, was sie sagte, vermutlich sprach sie zu sich selbst. Doch immerhin, er konnte die Richtung bestimmen, aus der die Stimme kam. Auf einem Bergrücken, unmittelbar gegenüber der Festung, ent deckte sein unbestechlicher Blick eine menschliche Gestalt. Soweit er es erkennen konnte, eine Frau. Obwohl sie versuchte, hinter einigen Felsbrocken in Deckung zu gehen, gelang es ihr nicht, sich vor ihm zu verbergen. Sie trug einen dunklen Hosenanzug, fingerlose Handschuhe und einen Trenchcoat. Und: Sie hatte weißes, schulterlanges Haar … Thorn!, durchfuhr es ihn. Er hatte die stigmatisierte Ritterin vom Orden der ROSE noch nie mals zu Gesicht bekommen. Die ROSE hatte es auch weniger auf Kreaturen wie ihn abgesehen, doch Adamus hatte besonders vor ihr gewarnt. Es hatte den Anschein, als verbinde die beiden eine lange Feindschaft. Wie auch immer – Kreyven wusste, sie zu fangen würde ihn in der Hierarchie um einige Sprossen nach oben bringen. Denken und Handeln waren eins für ihn. Einen Wimpernschlag später hatten ihn seine kräftigen Beine bereits von der Zinne abge
stoßen, hatten sich die imposanten Flügel entfaltet und stieß er nach unten wie ein Raubvogel, der Beute entdeckt hatte. Wenige Meter über dem Boden schlugen seine Schwingen mehrmals heftig und jagten ihn auf einer Windbö nach oben. Sorgsam machte er einen weiten Bogen um Thorn. Er durfte sie nicht von vorn attackieren. Er musste vorsichtig sein und erst im letzten Moment zuschlagen, wenn es sowohl für Gegenwehr als auch Flucht zu spät war. Zu viel hing für ihn davon ab, um leichtsinnig zu sein. Leise flappten seine Schwingen in der Nacht, die gelben Augen des Chupacabra glühten vor Freude. Er ließ die Weißhaarige nicht aus den Augen. Weiterhin starrte sie auf die Craque des Chevaliers, ohne den Blick davon abzuwenden. Fast als suche sie nach Schwä chen, um unbemerkt hineinzukommen. Seine beiden Herzen schienen erregt schneller zu schlagen, als er sich der Rosenritterin von hinten näherte. Schwarzrotes Blut wurde durch seinen Körper gepumpt, vermischt mit Unmengen an Ad renalin und Endorphinen. Kaum konnte er es erwarten, seine Klau en um die Menschenfrau zu schließen. Doch er wusste, lebend war sie mehr wert als nur ein kleiner Imbiss zu Mitternacht. Adamus würde es zu schätzen wissen, wenn er sie ihm lebend brachte. Kaum hatte es begonnen, war es bereits vorüber. Mit aller Wucht stürzte sich der Chupacabra auf seine Beute. Erst im letzten Moment bemerkte ihn die Vampirjägerin, hörte sie ein Säuseln, das seine Flügel im Wind verursachten. Sie wollte sich umdrehen und nachsehen, woher das Geräusch gekommen war, da prallte er bereits auf sie und begrub die Rosenritterin unter sich. Kreyven ballte die Fäuste – bemüht, die Krallen nicht auszufahren – und versetzte seinem Opfer einen Schlag gegen die Schulter. Er musste vorsichtig sein, durfte nicht seine ganze Kraft einsetzen. Of fenbar hatte er jedoch die richtige Mischung getroffen. Noch bevor die Weißhaarige auch nur den Gedanken fassen konnte, nach ihren
Waffen zu greifen, hatte der Hieb sie bereits gefällt. Augenblicklich verlor sie das Bewusstsein und sackte zu Boden. Er musste sie auffangen, damit sie sich beim Sturz nicht noch den Schädel einschlug …
* »Soll mich der Teufel holen!«, knurrte Cesarini von einem der um liegenden Berge aus, ohne das Infrarot-Fernglas abzusetzen. Soeben war die Fledermaus-Kreatur wie ein lebendig gewordener Sturzkampfbomber auf die weißhaarige Frau niedergesaust und schien sie überwältigt zu haben, noch bevor die bemerkt hatte, was geschah. Ob die ›Beute‹ noch lebte – Cesarini übte sich in Zweck optimismus. Etwas anderes als die Hoffnung blieb ihm nicht. Besser, er dachte nicht daran, wohin das Biest sie bringen würde. Kein schneller Tod erwartete sie – dieses Privileg würde ihr nicht vergönnt sein –, sondern eine Audienz bei dem rotäugigen Teufel höchstpersönlich. Was dort zu erwarten war, wagte sich Cesarini nicht, sich vorzustellen … Das Monster flog in Richtung der Craque, den leblosen Körper fest zwischen den Fußklauen. Bald würde es darin verschwunden sein und sich seine Belohnung holen. Fuck!, sagte sich der kleinwüchsige Knappe und ein Ruck schien durch ihn zu gehen. Unwillkürlich spannten sich seine Sehnen an und fast zärtlich berührten seine Finger die silbernen Knäufe seiner Pistolen. Er würde den Teufel tun und däumchendrehend hier abwarten, bis die Monster-Bande Schlachtfest feierte …
*
Manche Menschen und vermutlich ebenso viele Vampire hätten sie eine wunderschöne Frau genannt. Francesca war kein Teenager mehr, sondern irgendwo Anfang, Mitte vierzig. Eine wahrhaftige Frau, kein Kind. Ihr langes, brü nettes Haar mit einem tizianroten Schimmer verlieh ihr einen Hauch von Eleganz. Nicht anders ihre ebenmäßigen Züge, als habe ein wahrer Künstler sie auf Leinwand verewigt, um ihre Schönheit für die Nachwelt zu bewahren, auf dass man sich ihrer erfreute. Sie wäre es gewiss wert gewesen. Adamus fand sie einfach nur abstoßend! Es gab für ihn nichts Widerlicheres, als sich der ROSE anzu schließen. Er kannte die ROSE nicht erst seit jenem Tag, an dem er ungewollt einen seiner erbittertsten Feinde geschaffen hatte. Nicht erst seit dem Abend, als ihm Heiko Thorn begegnet war und er sich ent schieden hatte, ihn zum Teil seiner Brut zu machen. Dass aus dessen kleiner Schwester eine Kreuzritterin werden würde, hatte Adamus nicht ahnen können. Hätte er ihr doch damals, wie er es bei ihren Eltern getan hatte, kurzerhand den Hals umgedreht und sich ihr köstliches Blut die Kehle hinab rinnen lassen. Inzwischen hatte sich Thorn verändert, aus dem Kind war eine Vampirkillerin geworden. Und ihr Blut … Es war besser, er erinnerte sich nicht daran, wie er vor etwa einem Jahr die Zähne in ihre Schulter geschlagen hatte. Die Schmerzen, die der Kontakt mit ihrem Blut bei ihm ausgelöst hatten, waren nichts, woran er gern dachte. Selbst das Virus in seinem Speichel, das Men schen zu Sklaven machte, hatte nicht gewirkt. Zu viele seiner Blutkinder hatte Thorn schon ermordet, zu viele seiner Pläne zerschlagen, als dass er sie noch länger gewähren lassen durfte. Der Blick aus dem rubinroten Auge ruhte auf der schlafenden
Francesca. Einige Lamier-Diener hatten sie in sein breites, antikes Bett gelegt, weil sie annahmen, Adamus werde mit ihr verkehren wollen; ihnen war seine Libido bekannt. Dementsprechend trug sie lediglich ein leichtes, dunkles Nachthemd, ihr blutroter Mund war halb geöffnet. Ihre Rundungen mochten reizvoll sein – gleichzeitig stieß sie ihn ab! Denn Francesca Blake war die Witwe eines Knappen des verhass ten Franziskaners Magnus. Shatash, einem Sucker-Meister, war es einst gelungen, dem Knappen zunächst die Beine zu brechen und danach das Genick. Nur wenig später hatte Shatash seinen Kopf an den Rosenritter verloren. Die Schlafende war mit einem Angehörigen der ROSE vermählt gewesen! Wahrscheinlich sogar mit einer römisch-katholischen Hei rat und allem drum und dran. Ekelhaft! Wie lange kannte er jetzt die ROSE?, fragte er sich, während er langsam in dem großen Zimmer auf und ab wanderte. Fast seitdem es sie gab. Über tausend Jahre mussten das nun schon sein. Er hätte nie gedacht, wie mächtig der Orden jemals werden würde. Hätte er das erahnt, er hätte ihm schon damals, als die Rosenritter mit ihren Schwertern in Jerusalem eingefallen waren, ein Ende bereiten sollen. Als er von jenseits der Tür vernahm, wie sich hastige Schritte nä herten und die Treppe zu seinem Gemach hochkamen, fuhr der Erste herum. Er war auf einen Überraschungsangriff vorbereitet, nicht umsonst hatte er Francesca Blake in seine Gewalt gebracht. Früher oder später würde Thorn hier auftauchen, geradewegs in der Höhle des Löwen, aus der es für sie kein Entkommen gab. Aber jetzt bestand noch keine Gefahr! Anhand des trippelnden Takts der Schritte stellte Adamus fest, es musste sich um einen der Lamier-Eunuchen handeln. Automatisch entspannte sich sein Kör per. Nur einen Atemzug später wurde die Tür aufgerissen. »Herr!«, zischte der aufgedunsen wirkende Blutsauger; sein
Gesicht war blasser als ohnehin, ein Zeichen seiner Nervosität. Der Erste hielt ihn nicht für wert zu antworten. »Thorn!«, stammelte der Lamier. »Tatjana Thorn!« Die Erwähnung dieses Namens jagte einen heißkalte Schauer über den Rücken des Albinos, doch er gab sich nicht die Blöße vor einem Diener, es sich anmerken zu lassen. »Wir haben sie!« »Was?« Adamus fuhr herum und sah sein Gegenüber durch dringend an. Zu unfassbar klangen die Worte. »Wie ist das möglich?« »Sie lag auf der Lauer, außerhalb der Festung.« Der Vampir, dem Teint seiner Haut zufolge aus dem arabischen Raum stammend, jappte nach Luft. Das Treppensteigen hatte ihn angestrengt. »Krey ven, der Chupacabra in Eurera Dienst, hat sie entdeckt und über wältigt.« »Lebt sie?« »Kreyven wusste, Ihr würdet sie lebend haben wollen.« »Gut. Bringt sie in die Bibliothek. Und der Chupacabra soll sofort herkommen.« Eine ärgerliche Geste des Ersten bedeutete dem Diener, das Gemach zu verlassen. Wie der Lakai, der er war, verbeugte er sich tief und trollte sich rückwärts gehend nach draußen. Adamus wusste nicht, was er denken, wie er fühlen sollte. Teils war er erleichtert, teils aber auch zornig. Thorn in seiner Gewalt – darauf hatte er lange hingearbeitet. Andererseits: Niemandem außer ihm selbst stand es zu, Thorn zur Strecke zu bringen, dafür waren sie zu gute Feinde. Wenigstens lebte sie noch. Das gab ihm Gelegenheit, über ihre Zu kunft zu entscheiden. Er hätte sie zu gern zu seiner Konkubine gemacht. Dies hätte sei nen Triumph perfekt gemacht. Nicht, weil es sich bei Thorn um eine
außergewöhnlich schöne Frau handelte; ein Mensch hätte Francesca Blake vermutlich attraktiver eingeschätzt. Doch mit anzuhören, wie die einst erbitterte Erzfeindin vor Lust quiekte wie ein Schwein, wäre für Adamus die letzte, die größte Genugtuung gewesen. Nek tar für seine unsterbliche Seele und seinen ewigen Körper. Er mochte all diejenigen hassen, die sich der ROSE anschlossen und es dadurch auf ihn abgesehen hatten. Aber nichts bereitete ihm mehr Vergnügen, als deren aktive Kriegerinnen in sein Bett zu holen und sie zu unterwerfen. Nur aus diesem Grund hatte er einst Janine de Bors zur Vampirin gemacht, nur aus diesem Grund hatte er sich mit ihr abgegeben – wenngleich es ihr gelungen war, ihm die eine oder andere Nacht zu verkürzen. Ob er dazu im Stande war, würde sich zeigen. Deshalb hatte er auch gelernt, nicht wählerisch zu sein. Solange er als endgültiger Sieger hervorging, genügte es ihm auch, Thorn den Kopf abzu schlagen, ihn in einem Glas mit Formaldehyd zu konservieren und ihn sich als Trophäe auf den Kaminsims zu stellen.
* Cesarini wurde fast schlecht, als er behutsam durch eine der Schieß scharten in den Hof der Festung blickte. Was sich dort im gespenstischen Schein von Fackeln tummelte, übertraf jeden Spezialeffekt Hollywoods. Etwa hundert Kreaturen hatten sich dort unten versammelt und keiner von ihnen wäre der Knappe gern unfreiwillig in einer dunklen Gasse begegnet. Oder wenigstens nicht erschöpft und waffenlos: Vampire aller Couleur: Lander, Onis, Wurdalaken, Rattenkönige, aber auch Monster und Dämonen, für die er keinen Namen hatte. Fast durchweg trugen sie säbelzahnartige Zähne, oder Tentakel ragten aus ihren Köpfen und ihren Schultern, Hörner richteten sich
in den nächtlichen Himmel. Angesichts der zahllosen böse leuch tenden Augen der Bestien hätte es der Fackeln gar nicht bedurft. Sie tuschelten miteinander in fremden Sprachen und Dialekten. Aus einigen Stimmen konnte er Bewunderung heraushören. Unver hohlene Bewunderung für den etwa drei Meter großen, wuchtigen Fledermauskerl, den Cesarini liebend gern mit seinem Gewehr hätte Bekanntschaft machen lassen. Das Biest war völlig nackt, ohne dass Geschlechtsorgane zu er kennen waren. Es ruhte auf zwei stämmigen Beinen, die ebenso wie die Pranken mit tödlichen Krallen bewehrt waren. Aus den Schultern ragten Schwingen, ähnlich denen einer mutierten Fle dermaus. Entfaltet musste er eine Spannweite von fast zwanzig Me tern haben, die bei einem Gewicht wie diesem vermutlich auch nö tig waren, ihn in der Luft zu halten. Stolz wie ein Pfau schritt er das Rund seiner Monster-Kollegen ab, die im Burghof einen Kreis gebildet hatten. Er ließ sich feiern. Vermutlich war er durch seinen Erfolg unter seinesgleichen zu einer großen Nummer geworden. In der Mitte dieses Kreises lag die weißhaarige Vampirjägerin. Nicht nur bewusst-, sondern auch waffenlos. Äußere Verletzungen waren nicht zu erkennen. Sie hatte die Augen geschlossen und ob wohl der Knappe nicht erkennen konnte, ob sie noch atmete, wusste er, dass sie nicht tot sein konnte. Trotz der Sorge, die dieser Anblick in ihm auslöste, bemühte er sich, pragmatisch zu denken. Durch die kleine Freudenfeier war Rotauges Monster-Schwadron abgelenkt und nicht mehr auf ihrem Posten. Vorerst rechnete niemand mit dem Auftauchen von Ver stärkung oder vielmehr: der Kavallerie. Cesarini selbst … Die Gunst des Moments ausnutzend war der Gun-Man den Berg hochgeklettert, auf dem die Craque des Chevaliers thronte. An Händen und Füßen hatte er sich Steigeisen montiert, die ihm für den
Aufstieg Halt gaben. Als er am Absatz der hoch aufragenden Mauer angekommen war, hatten sie ihm ebenfalls beste Dienste geleistet, auch wenn Bergsteigen nicht unbedingt sein größtes Talent war. Niemand schien ihn zu erwarten. Jeder hier schien zu wissen, dass Thorn eine Einzelgängerin aus Überzeugung war. Vielleicht in einigen Stunden, wenn ihr Verschwinden bemerkt wurde, würde man Verstärkung schicken, aber erst dann. Mühsam widerstand Cesarini dem Impuls, einzugreifen, während er sich über die Zinne schwang und sofort die Steigeisen von seinen Händen und Füßen entfernte. Er steckte sie in eine der Innentaschen seines Staubmantels. Am liebsten hätte er sich eine sichere Deckung gesucht und von dort aus mit seinem silbernen Scharfschützenge wehr systematisch ein Monster nach dem anderen abgeknallt. Er wusste, wie töricht das gewesen wäre. Früher oder später hätte man ihn überwältigt, spätestens wenn ihm die Munition ausge gangen war. Es gab Wichtigeres, als sich der Rache hinzugeben; hier irgendwo musste seine Mutter festgehalten werden. Thorn würde schon irgendwie alleine zurecht kommen, wie er sie einschätzte. Anders als Francesca. Aus den Augenwinkeln bemerkte Cesarini, wie unten im Burghof Bewegung aufkam. Ein aufgedunsener Lamier war hinzugekommen und rief den anderen mit schnarrender Stimme Befehle zu. Was er zu sagen hatte, verstand der Knappe nicht. Solange die Bande abge lenkt war, huschte er über den Wehrgang. Weit und breit befand sich niemand, der ihn aufhielt. Umso besser! Er hatte freie Bahn …
* Adamus’ Schlafgemach war das am höchsten liegende Zimmer in der Festung, nur zu erreichen über eine steinerne Treppe.
Als er die schwerfälligen Schritte auf den ersten Stufen vernahm und sie sich kontinuierlich nach oben wälzten, wusste er, Kreyven war auf dem Weg zu ihm. Der Chupacabra mochte in der Luft elegant sein, zu Fuß war er allerdings tumb, fast unbeholfen. Mit dem Handrücken wischte sich Adamus das Blut von den Lippen und noch bevor die mächtige Kreatur bis nach oben gelangt war, hatte er bereits die Tür aufgerissen. Abrupt blieb der Chupacabra stehen, als über ihm die wuchtige, hölzerne Tür gegen die Wand krachte. Er befand sich etwa in der Mitte der steinernen Treppe, die von altem Mauerwerk gesäumt wurde. Groß, fast eindrucksvoll blickte der Albino Kreyven aus seinem Auge an. Das dahinter wallende Blut verlieh ihm den Eindruck, rot zu sein. Die rechte, leere Augenhöhle wurde von einer schwarzen Klappe bedeckt. Gekleidet war er in einem maßgeschneiderten Anzug aus schwarzem Leder, das dunkel gefärbte Haar fiel ihm über die Schultern. »Herr …« Der Chupacabra konnte nur dieses eine Wort durch sei ne Lippen pressen, ein gutturales Knurren tief aus seinem Bauch. Unvermittelt nahm er eine etwas gebeugte Haltung an und sah zu Boden. Er wusste, um die Gunst des mächtigen Adamus zu erlangen, war mehr nötig, als ein kleiner Erfolg. »Du warst es, der Thorn überwältigt hat?« »Jawohl, Herr.« Kreyven wagte nicht aufzuschauen. »Man sagte mir, sie ist am Leben?« »Ich wusste, Ihr würdet sie unverletzt haben wollen.« »Wer hat dir das erlaubt?« Adamus’ Stimme war plötzlich ein Schwert geworden, das sich tief in die Trommelfelle seines Gegen übers bohrte. Sein Tonfall machte deutlich, dass er den Chupacabra nicht hierher bestellt hatte, um ihn zum General seiner Truppen zu befördern.
»Ich dachte …« »Seit wann kannst du denken?« Schneller als ein Blitz hatte der Erste die Distanz zu Kreyven überwunden und stand nur noch zwei Stufen über ihm, so dass sie sich in die Augen blicken konnten. Weiterhin unterwürfig sah der Riese auf. Was er in dem rot glü henden Auge entdeckte, war blanker Hass! »Herr, sollte ich etwas falsch gemacht …« »Dein Fehler ist es, mich mit deinem stinkenden Anblick zu beläs tigen!« Noch bevor sein Handlanger reagieren konnte, waren Ada mus’ Hände vorgeschnellt. Doch es handelte sich nicht länger um fast filigrane Finger, sondern um todbringende Klauen, die in rasier messerscharfen Krallen endeten. Mit der Wucht eines Vorschlaghammers rammten sie sich in die Kehle der geflügelten Kreatur. Schwarzrotes Blut spritzte dem Ersten ins Gesicht, während seine Klauen im Hals seines Opfers suchten, den Kehlkopf fanden und ihn mit einem wütenden Ruck herausriss. Nach Luft japsend, sank der Chupacabra auf die Knie. Verzweifelt fasste er sich an die gähnende Wunde in seinem Hals, versuchte die Blutung zu stoppen und wusste doch, sein Schicksal war besiegelt. Die Kraft verließ ihn bereits und das Leben würde bald folgen. Fragend sah er den Vampir an, der in seiner Rechten seine blutige Beute hielt. Kreyven verstand nicht, wodurch er den Zorn des Albinos auf sich geladen hatte. »Thorn gehört mir«, erklärte Adamus, dessen Stimme die Mauern eiskalt werden ließ. »Ich gönne niemandem den Sieg über sie außer mir.« Bevor Kreyven etwas tun konnte, versetzte ihm der Erste mit dem Fuß einen Tritt gegen den Schädel. Die imposante Gestalt des Chupacabra wurde nach hinten ge schleudert und rollte sich überschlagend die Treppe hinab.
Höhnisch schleuderte Adamus den zerfetzten Kehlkopf klat schend gegen die Wand. Er wusste, damit würde er sich keine Freunde machen, doch das musste er auch nicht. Er war Adamus. Der Erste. Eines der mächtigsten Wesen, das je auf diesem Erdball gewandelt war. Er konnte sich alles erlauben, denn er besaß die Macht dazu …
* Die hellen Mauern waren gleichzeitig Ehrfurcht gebietend und muf fig. Der Mief der Jahrhunderte schien sich in ihnen festgesetzt zu haben. Überall lagen Staub, Spinnweben und Sand, der aus der na hen Wüste in die Festung geweht worden war. Nichts davon machte Cesarini etwas aus; seit die Leidenschaft für den Wilden Westen in ihm entfacht worden war, hatte er auch über steigerte Hygieneansprüche aufgegeben. Das bedeutete nicht, dass er das Wasser scheute, doch die harten Burschen auf den Viehtrecks und in Dodge-City waren nicht deshalb so hart gewesen, weil sie unter einem Waschzwang gelitten hatten. Offenbar waren Vampire ähnlich veranlagt. Ans Saubermachen schien hier niemand jemals gedacht zu haben. Systematisch durchsuchte er die Craque des Chevaliers. Alles in allem ein hoffnungsloses Unterfangen, wusste er. Noch dazu für einen Einzelnen, der bei aller Eile unentdeckt bleiben wollte. Ständig musste er stehen bleiben und lauschen, um herauszufinden, ob sich in dem Gang, in den er soeben einbiegen wollte, eines der Monster befand. Was das anging, hatte er bislang Glück gehabt. Doch die wenigen Räumlichkeiten in dem Nebengebäude, die er bislang inspiziert hatte, waren leer gewesen. Keine Francesca Blake, nirgends. Obwohl er seine Hand dafür ins Feuer gelegt hätte, dass
seine Mutter hier festgehalten wurde. Abermals blieb Cesarini an der Kreuzung zweier Gänge stehen. Fackeln an den Wänden blakten im Wind. Er presste sich eng an die Mauer, so dass er im Schatten verschwand und Teil davon wurde. Sein Herz schlug fiebrig, die Linke hielt eine der entsicherten Pisto len, das Silber kühlte die heißen Wangen des Knappen. Plötzlich vernahm er ein Geräusch. Ein Schleifen, verbunden mit schwachem Ächzen. Sein Griff um die Waffe wurde fester, der Vampirjäger wagte kaum zu atmen. Sein Gaumen war trocken, als habe er das Tal des Todes ohne Proviant durchwandert, dafür rann ihm Schweiß in die Augen. Es kostete ihn Überwindung, es nachzuprüfen. Er war auf alles gefasst, redete er sich ein. Nichts und niemand, keine noch so selt same Kreatur konnte ihn noch überraschen. Let’s go!, sagte er sich und sprang aus der Deckung. Was er entdeckte, überraschte ihn dann doch. Es handelte sich um eine bleiche, fast nackte Gestalt, die lediglich einen zerschlissenen Lendenschurz trug. Ein zu großer Kopf thronte über zu hageren Schultern. Die Augen blickten verdutzt drein und das Maul, in dem einige braune Stümpfe darüber Auskunft gaben, dass dort einst Zähne gewachsen waren, stand sperrangelweit offen. Der Ghoul zog einen Sack hinter sich her, der um ein Vielfaches größer war als er selbst. »Was tot ist, kann nicht sterben, sagt man«, zischte der Knappe auf Englisch und hoffte, er wurde verstanden. »Wollen wir’s doch aus testen …« Wie erstarrt war der Ghoul. Er konnte sich weder rühren, noch schreien. Abwehrend hob er die Hände, als wolle er damit zeigen, dass er unbewaffnet war. »Was schleppst du da?« Cesarini trat einen Schritt an ihn heran.
»Vorräte«, antwortete der Leichenfresser ebenfalls auf Englisch. Cesarini entschied, besser nicht nachzusehen, was der Kerl unter ›Vorräte‹ verstand. Ob er ahnte, wen er vor sich hatte? Der Knappe vermutete es. Um als Bewohner durchzugehen, hätte er sich mindestens zusammengewachsene Brauen ankleben müssen, damit man ihn vielleicht für einen Mondvampir gehalten hätte. »Ich … ich hab euch nichts getan«, sprudelte es unerwartet aus dem Maul. »Ich habe noch nie getötet, wir versorgen nur die Leute hier …« »Aber du frisst Menschen«, stellte der Gun-Man ungerührt fest. »Tote, die sich nicht mehr wehren können.« »Von irgendetwas muss ich mich ernähren!«, argumentierte der Ghoul dagegen. »Und die Toten merken nichts mehr davon, ich schade niemandem. Ihr begrabt sie auf großen Friedhöfen und über lasst sie dann den Würmern. Dabei ist das gutes, nahrhaftes Essen! Viel zu schade für die Würmer. Alles ist ein Kreislauf, Recycling so zusagen …« »Halts Maul!« Bedrohlich deutete er mit der Mündung seiner Waffe auf den Leichenfresser. »Du weißt, wie leicht ich dich um legen könnte?« Ein Nicken war die Antwort, vielleicht zitterte er aber auch nur so sehr vor Angst, dass es wie ein Nicken aussah. »Du kannst deinem rotäugigen Meister bedingungslos loyal sein oder überleben. Du hast die Wahl.« »Aber wenn ich den großen Adamus hintergehe, dann ist mein Schicksal bestimmt. Manchmal ist der Tod das kleinere Übel, als sich mit ihm anzulegen. Niemand hat ihn bis jetzt ungestraft …« »Dann wird’s ja höchste Zeit, dass einer den Anfang macht«, un terbrach Cesarini den plappernden Ghoul erneut. »Ich will nur eines wissen: Wird hier Francesca Blake festgehalten? Und wenn ja: Wo?«
* Mit federnden Schritten hatte Adamus den luxuriös eingerichteten Raum betreten. An den Wänden standen großzügige Regalschränke mit lederge bundenen Büchern unbekannten Inhalts. Vermutlich waren sie durchweg mit der Hand geschrieben und gemalt, uralt in längst aus gestorbenen Sprachen, die höchstens ein Erster noch nicht gänzlich vergessen hatte. Der Kamin, in dem ein Feuer vor sich hinprasselte und die edlen Teppiche sollten dem Raum ebenso ein behagliches Ambiente geben wie die Lüster mit den brennenden Kerzen und die edle, schwarzle derne Sitzgarnitur, die um einen weißen Marmortisch drapiert war. Sie konnten nicht über die Identität des Hausherrn hinweg täuschen. Man hatte Thorn auf die Couch gelegt, auf der anderen Seite des Tischs. Ungefesselt. Handschellen waren nicht nötig, wenn man sich in den Händen eines Vampirmeisters befand. Lediglich die Waffen hatten die Lamier ihr abgenommen. »Es ist nicht nötig, sich zu verstellen«, stellte Adamus fest und ließ sich in einem der Sessel nieder. Er wirkte völlig ruhig. »Dein Herz schlag verrät dich, du bist bei Bewusstsein.« »Mhm«, knurrte die Vampirjägerin und schlug die Augen auf, da es offenbar keinen Zweck hatte, sich zu verstellen. Sie wischte sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. »Bist du unverletzt?«, erkundigte sich Adamus in höflichem Ton fall. Abermals antwortete sie nur mit einem Knurren und setzte sich auf. Sie wusste, die vermeintliche Sorge um ihre Gesundheit war nur eine Seifenblase, die jederzeit platzen konnte. Ihr fröstelte bei dem Anblick des Albinos, wie er in all der ihm eigenen Arroganz in
seinem Sessel saß und sie mit seinem einen, rubinroten Auge mus terte. »Du enttäuschst mich. Ich dachte nicht, dass es einem Verlierer wie Kreyven gelingt, dich zu überwältigen.« »Wer ist Kreyven?« Thorn schloss die Arme um ihren Körper. »Ein Chupacabra. Ein widerliches Biest. Er war einer Beute wie dir nicht würdig. Wahrscheinlich hat er dafür eine Belohnung erwartet. Nun … Er hat sie erhalten.« Ein zynisches Lächeln kroch in seine Mundwinkel. »Du hast ihn ermordet? Warum?« Die Angriffslust war völlig aus Thorns Blick gewichen. Sie schien zu wissen, wann sie verloren hatte. »Gebührt keinem anderen als dir das Privileg, mich zu besiegen?« »So könnte man sagen«, erwiderte er und sprang plötzlich ansatz los auf seine Füße, schnell wie ein Schatten. »Oh, Thorn …« Pathe tisch hob er die Arme. »Du jagst mich fast seit du denken kannst und weißt doch so wenig über mich.« »Die ROSE …« »Ja, ja, die ROSE …«, unterbrach er lachend und ging einige Schritte umher. »Die ROSE ist ein Bund von Dilettanten. Sie be hauptet, die meisten unserer Geheimnisse zu kennen und weiß doch gar nichts. Was weißt du zum Beispiel über mich?« »Genug. Du hast meinen Bruder Heiko …« »Ja, ja …« Er wischte ihre Bemerkung mit einer Geste fort. »Dein dämlicher Bruder Heiko. Und gleich wirst du mir vorhalten, dass ich deine Eltern ermordet habe. Du bist durchschaubar wie alle Menschen.« Er trat hinter das Sofa, auf dem sie saß, stützte sich auf die Rückenlehne und flüsterte ihr ins Ohr: »Aber was wäre aus dir geworden ohne mich?« Keine Antwort. Thorn presste lediglich die Lippen aufeinander. »Was wäre ohne mich aus dir geworden?«, wiederholte Adamus,
diesmal lauter und er setzte seinen Weg ins Leere fort, umrundete die Sitzgarnitur. »Wärst du inzwischen geschieden, hättest ein, zwei missratene Kinder, mit denen dich dein Mann sitzen gelassen hätte? Hasst du sie, weil er der Vater ist? Oder wärst du eine kleine Sekre tärin, die ihre acht Stunden Arbeit hinter sich zu bringen hat und springen muss, wenn ihr Chef Kaffee haben will?« Die Vampirjägerin schwieg. »Wärst du mit diesem schrecklich eintönigen Leben zufrieden? Vermutlich ja. Weil du es nicht anders kennen würdest. Aber würdest du auch damit tauschen wollen?« Der Erste baute sich di rekt vor ihr auf. »Sieh es ein: Ohne mich hätte es dich niemals gege ben!« »Soll ich dir dafür dankbar sein? Was ist mit meinen Traumata?« »Traumata …« Seine Stimme troff vor Ironie. »Jedes denkende Wesen trägt seine Traumata mit sich. Denkst du, es war angenehm für mich, als du Janine ins Gesicht geschossen hast?« »Lange geärgert hast du dich nicht darüber. Du hast ihr den Lauf pass gegeben, weil ihre Narben nicht verheilt sind und sie dir nicht mehr hübsch genug war.« »Und was ist mit meinen Freunden und Vertrauten, die die ROSE ermordet hat?«, setzte er erneut an. »Denkst du …« »Wir töten deine Leute, deine Leute töten unsere.« Thorns Stimme klang unerwartet entschlossen; sie hatte nichts zu verlieren. »Mal gewinnen die einen, mal die anderen. Wer letztlich den längeren Atem hat, wird sich zeigen.« Scheinbar kraftlos ließ er sich wieder in seinen Sessel fallen, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Seine Fingerspitzen berührten sich, während er Thorn weiter taxierte wie eine Kobra, die auf den besten Moment wartete, zuzustoßen. »Was soll ich nur mit dir tun?«, fragte er in den Raum hinein, als erwarte er von ihr eine Antwort.
»Dasselbe, was ich mit dir tun würde …« »Wäre so ein Tod nicht Verschwendung? Dir würde ohne mich ebenso etwas fehlen wie mir ohne dich. Welchen Lebenszweck hät test du denn, wenn ich tot wäre?« »Gib mir meine Waffen und lass es mich ausprobieren«, schlug Thorn ungerührt vor. »Sieh es ein: Wir brauchen einander. Du brauchst mich! Ohne mich würdest du nicht nur nicht existieren, ohne mich wäre dein Leben sinnlos.« »Darauf lasse ich es gern ankommen.« »Du hast ja keine Ahnung, wen du vor dir hast …«, behauptete er viel sagend. Er wusste, er war Herr der Lage und kostete sie voll aus. »Deine kleine ROSE weiß nicht einmal, wer wir Ersten sind.« »Meinst du?« Skeptisch hob Thorn die Brauen. »Ihr denkt, wir sind irgendein Abschaum, der …« »Ihr seid Diener!« Thorns Stimme war ein Knurren geworden. »Nicht mehr und nicht weniger. Diener der ALLmächtigen, der bö sen Kräfte des Kosmos’, die nach dem Großen Chaos das junge Uni versum beherrschten.« Der Erste schien darüber verblüfft zu sein; konsterniert sah er die Weißhaarige an, die sich unversehens aufgerichtet zu haben schien. »Als die Götter die ALLmächtigen einst in das Dunkle Universum bannten, seid ihr als ihre Diener zurückgeblieben.« Lange schwieg Adamus sie an. In seinem Auge blitzte Zweifel. »Wir wissen von so manchem, das du nicht ahnst, mein Lieber.« Nun war es an der Weißhaarigen zu grinsen. »Ihr Erste mögt mächtige Wesen gewesen sein, kein Zweifel. Angefüllt mit dunkler, magischer Kraft aus dem Energiesmaragd der ALLmächtigen. Ihr habt die primitiven Völker der Erde unterworfen. Einige hielten euch sogar für Götter und Engel, weil eure Fähigkeiten ihren Verstand übertrafen. Doch ihr habt die Urmenschen nicht zu euch
ins Paradies geholt und auf magische Weise genetisch aufgewertet, damit sie vom Baum der Weisheit kosten sollten. Nicht aus Nächs tenliebe. Ihr brauchtet Arbeiter. Sklaven! Früher ward ihr die Skla ven, nun wolltet ihr die Sklavenhalter sein!« Auch jetzt schwieg der Erste. Thorn fuhr ungerührt fort. »Die meisten von euch wurden sogar zu faul, sich unter euresgleichen fortzupflanzen. Es war viel einfa cher, sich einen der menschlichen Sklaven zu holen, von deren Blut ihr euch ernährt habt. Sie waren eurem Willen unterworfen, konnten nicht ablehnen, denn ihr ward ihre Herrn.« »Ja, wir waren mächtig.« Melancholie schlich sich in die Stimme des Albino, er schien wie in Gedanken versunken zu sein. »Jeden falls meine Väter.« »Ich weiß, du bist erst nach der Rebellion geboren worden, mein Lieber«, zischte sie mit einem Hauch von Wölfigkeit. »Nachdem sich eure Sklaven gegen euch aufgelehnt und den Energiesmaragd zer stört haben. Ihr Ersten könnt die Fragmente weiter benutzen, wenn auch nur in sehr bescheidenem Maße. Und einige von euch suchen nach den Puzzleteilen, weil sie absurderweise hoffen, den ALL mächtigen ein Portal zurück in unser Universum zu öffnen. Mag sein, dass es funktionieren würde – die guten Mächte sind schwach geworden –, aber es wird euch niemals gelingen, das Juwel wieder zusammenzufügen. Dafür sorgen unter anderem Leute wie ich.« Noch immer saß Adamus wie erstarrt in seinem Sessel. Thorns Worte hatten nicht nur einen Nerv bei ihm getroffen, sondern vermutlich auch sein größtes Geheimnis gelüftet. Wie eine Schaufensterpuppe mit gläsernem Blick sah er sie frontal an. »Woher weißt du das?«, wollte er wissen. »Ich weiß vieles, wovon du keine Ahnung …« Die Rosenritterin kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Wie ein Blitz war der Erste plötzlich aufgesprungen. Aus seinen Händen waren abermals Klauen geworden, die sich schneller, als
ein menschliches Auge der Bewegung hätte folgen können, um ih ren Hals legten. »Du magst vieles wissen«, knurrte der Albino, ohne den Blick den erschrocken weit aufgerissenen Augen zu nehmen. »Aber du wirst nicht dazu kommen, es jemandem zu verraten.« Ein rascher Ruck brach Thorn das Genick, begleitet von einem hässlichen Knacken …
* Natürlich hatte er den Ghoul nicht verschont. Was tot war, konnte bekanntlich nicht noch einmal sterben. Deshalb hatte Cesarini auch kein schlechtes Gewissen, dem Leichen fresser das Herz herauszuschneiden. Er packte den Kadaver in den großen Sack, in dem sich angeblich die Vorräte befanden. Dabei handelte es sich um die geflügelte Bes tie, die Thorn überwältigt hatte. Jemand hatte ihr den Kehlkopf her ausgerissen und der Knappe brauchte nicht viel Phantasie, um zu ahnen, wer das gewesen war. Unter dem dunklen Fledermausmons ter fiel der schmächtige Ghoul kaum auf. Immerhin wusste Cesarini nun, wo man seine Mutter festhielt. Dem Ghoul zufolge befand sie sich im obersten Raum der Festung, der gleichzeitig das Schlafgemach von Adamus war. Sobald der Knappe daran dachte, was Rotauge seiner Mutter angetan haben mochte, verkrampfte sich einerseits sein Herz. Andererseits wuchs der blanke Zorn ins Unbändige und hätte den Knappen am liebsten zum Amokläufer werden lassen. Später!, sagte er sich, während er über einen Wehrgang in Rich tung Hauptgebäude eilte. Von dem Ghoul wusste er ebenfalls, der Erste befand sich zwei Stockwerke unter seinem Schlafzimmer in der Bibliothek. Dort verhöre er die gefangene Rosenritterin.
Auch das war eine Vorstellung, die keineswegs dazu beitrug, dass er sich besser fühlte. Wo war er hier nur hineingeraten? Wahrschein lich war es in der Hölle angenehmer. Erschwerend hinzu kam, dass in der Festung die Normalität lang sam zurückkehrte und die Monstrositäten allmählich wieder ihre Posten besetzten. Mehrfach musste der Knappe Umwege nehmen, um Patrouillen sowie Wachen auszuweichen. Irgendwann hatte er die nächste Etappe trotzdem geschafft und stieg über das Dach eines Nebengebäudes durch ein Fenster des Bergfrieds. Er kauerte wie ein Wasserspeier im Fenster und spähte nach rechts und links. Niemand war zu sehen, auch keine Schritte erklangen von irgendwoher. Er hörte lediglich eine etwas knarrende Stimme von unten. Als er begriff, wem sie gehörte, hätte er das Leben seiner Mutter am liebsten weggeworfen. Der Ghoul hatte ja erzählt, Rot auge habe sich dort Thorn vorgeknöpft. Auch das später!, mahnte er sich, dem Impuls zu widerstehen und der Kameradin zu Hilfe zu eilen. Jetzt hatte Francesca erst einmal Vorrang. Das ungute Gefühl, das von dem Knappen Besitz ergriffen hatte, blieb dennoch. Vorsichtig ließ er sich auf die steinerne Treppe hinab. Bemüht, möglichst kein Geräusch zu verursachen, setzte er einen Fuß vor den anderen, nahm die Stufen deutlich langsamer als ge wohnt. Als er an eine schwere Holztür gelangte, wurde sein Mund schlag artig trocken und die Hände dafür feucht. Noch immer war nichts zu hören, weder von innen, noch von der Treppe unter ihm. Fast kostete es ihn Überwindung, die Klinke anzufassen und sie nach un ten zu drücken. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete …
* Adamus’ Anspannung gab jäh nach, seine Schultern sackten kraftlos nach unten, als er die Hände vom Kopf der Rosenritterin nahm. Fast war er enttäuscht, dass es jetzt schon vorüber sein sollte. So einfach, so simpel – so banal! Sie war eine gute Gegnerin gewesen, hatte ihm so manche Nie derlage beigebracht und ihm damit sein schier ewiges Leben ver süßt. Was war das Leben ohne Herausforderungen? Doch das war Vergangenheit. Jetzt lag sie nur noch leblos auf dem Sofa, bald würde ihr Fleisch verwelken und anfangen zu stinken. Letztlich war Thorn niemals eine echte Gefahr für ihn gewesen, keine wirkliche Herausforderung, sondern lediglich ein Zeitvertreib. Sie war ebenso unspektakulär durch seine Hand gestorben wie Tausende andere vor ihr. »Schade«, sagte er leise zu sich und wandte sich ab. »Nicht so hastig, mein Lieber!« Abrupt fuhr der Erste herum. Das Erstaunen stand ihm nicht nur ins Gesicht geschrieben, sondern auch in sein rotes Auge. Sprachlos müsste er mit ansehen, wie sich die vermeintliche Leiche der Vam pirjägerin wieder aufsetzte. Mit beiden Händen umfasste sie ihren Kopf und drehte ihn mit einem ähnlichen Geräusch zurück wie dem, als das Genick gebro chen war. Rotauge war wie paralysiert, konnte weder etwas sagen, noch sich rühren. Er konnte lediglich beobachten, wie auf Thorns Gesicht ein höhnisches Grinsen erschien. »Das haben schon viele vor dir versucht und sind gescheitert«, sagte sie spöttisch. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich wollte mir selbst mehrmals das Leben nehmen und habe es nie geschafft …«
»Du …« Vor Bestürzung stand Adamus’ Mund weit auf. »Du … bist nicht Thorn!« »Doch!«, erschallte es laut, doch die Stimme kam nicht aus dem Mund der weißhaarigen Frau vor ihm, sondern von außerhalb des Zimmers. Fast gleichzeitig dröhnten drei Schüsse, schnell hintereinander abgefeuert. Ein Splitterregen ergoss sich über das Zimmer, als die Kugeln die Fensterscheiben durchschlugen und zielsicher den Weg in Rotauges Körper fanden. Sie trafen ihn in den Rücken und in die Seite: großkalibrige, mit Silber ummantelte Projektile, deren Spitzen zudem kreuzförmig ein geritzt waren, wodurch aus ihnen Dumdum-Munition geworden war. Faustgroße Trichter wurden in sein untotes Fleisch gerissen. Dennoch war es vermutlich eher die Verwirrung als die Verletzungen, dass der Erste in die Knie sackte. Ungläubig wanderte sein Blick von der Gestalt, die im Fenster rahmen aufgetaucht war zu der, der er soeben das Genick gebro chen hatte. Sie waren völlig identisch. Nur mit dem Unterschied, dass die zweite Thorn eine rauchende Pistole in der Hand hielt und zwei Schwerter im Gürtel trug. Ein weiterer Schuss aus ihrer Waffe traf Adamus direkt in die Stirn, riss ein klaffendes Loch in seinen Kopf. Stinkendes Blut spritz te daraus hervor und legte sich auf den Scherbenteppich. Der halbe Schädel wurde ihm dabei zerfetzt und der Körper nach hinten gerissen. Dessen ungeachtet war er noch immer nicht tot. Allzu lange würde es nicht dauern, bis seine Selbstheilungskräfte einsetzten und sich die Wunden schlossen. Thorn dachte nicht daran, ihm die Gelegenheit zu geben, sich zu erholen. Flink sprang sie vom Fensterrahmen in das Zimmer, schob
ihre Pistole zurück ins Hohlster und zog stattdessen das kleinere ih rer Schwerter. Bevor sich Adamus aufrappeln konnte, drückte sich ihr Fuß be reits auf seine Brust. Sie war über ihm, das Wakizashi hoch erhoben. All ihren Hass bürdete sie ihm auf. Für jede tränendurchweinte Nacht sollte er hier und jetzt bezahlen. Für jedes Mal, dass sie sich schmerzhaft erinnerte, wie er ihre Eltern ermordet hatte. Für alles und noch mehr! Er verdiente keinen ehrenvollen Tod, sondern eine Hinrichtung. Ohne Henkersmahlzeit, ohne Augenbinde und ohne priesterlichen Beistand. Nichts von dem hatte er seinen Opfern gewährt, nichts von alledem. Heiseres Ächzen drang aus Rotauges Mund; Blut sickerte daraus hervor, als er versuchte, sich mit den Händen am Boden abzu stützen. Das Schwert sauste hinab. Der Kopf des Ersten wurde mit einem raschen Hieb vom Körper getrennt und rollte davon …
* Cesarini platzte in die Bibliothek, kaum dass aus der scheinbaren Vampirjägerin wieder der Prokurator der ROSE geworden war: ein Mann mit vielen Namen. Ahasver war einer davon. Oder der Ewige Jude. Der Mann, den Jesus Christus auf seinem Weg zum Berg der Kreuzigung selbst verflucht hatte, nicht sterben zu können. Soeben hatte er das Ca mouflage-Amulett um seinen Hals deaktiviert und seine wahre Gestalt wieder angenommen – die eines in die Jahre gekommenen, graumelierten Südländers. In den Händen hielt der Knappe sein Gewehr, bereit, keine Gefangenen zu machen. Als er die Situation mit einem Blick erfasste,
ließ er die Waffe sinken. »Ist das …?« Er deutete auf den Schattenriss aus Staub und Asche auf dem Boden, Thorn stand die mittendrin. Wortlos nickte sie. »Rotauge ist tot. Und hoffentlich bleibt er es auch.« Nachdem sie seinen Hals durchschlagen hatte, war der gesamte Körper in einer hellen Stichflamme aufgegangen. Bestialischer Gestank hing in einer schwefelstinkenden Wolke in dem Zimmer. »Ihr Plan hat hervorragend funktioniert, meine Liebe«, stellte der Prokurator an Thorn gewandt fest. »Nicht ganz.« Cesarinis Stimme, die plötzlich schneller wurde, war zu entnehmen, es gab keinen Grund für eine ausgelassene Siegesfeier. »Dieser Hurensohn hat meine Mutter gebissen.« Thorn biss die Zähne zusammen. Für einen Moment schloss sie die Augen und versuchte, sowohl das Erlebte als auch diese Nachricht zu verarbeiten. Vergebens. Dazu würde sie mehr als eine halbe Se kunde Stille benötigen oder es womöglich nie schaffen. »Ist Fran cesca … tot?« »Leider nein.« Der Knappe schüttelte den Kopf. »Sie wird zu einer der Brut.« »So oder so, wir müssen uns beeilen«, stellte sie mit einem gehetz ten Blick zur Tür fest. »Garantiert hat jemand gehört, wie ich durchs Fenster bin. Gleich wimmelt es hier vor Monstern.« »Haben Sie die Hubschrauber angefordert?« Der Prokurator strich sich über die ungewohnte Kleidung aus Thorns Koffer. »Als ich draußen gewartet habe«, bestätigte sie. »Aber die werden ein bisschen brauchen, bis sie hier sind.« »Dann hoch!«, entschied der Prokurator und schob Cesarini vor sich durch die Tür.
* Fast wie ein Kunstwerk lag Francesca Blake auf dem großen, antik wirkenden Bett im höchsten Raum der Craque des Chevaliers. Die dunklen Locken fielen ihr ins Gesicht, die Brust hob und senkte sich leicht und ihre Lippen waren lasziv geöffnet. Ihr Blick hinter den geschlossenen Augen mochte ins Nichts gerichtet sein oder in sich selbst. Ein friedlicher Anblick, sie ähnelte ein wenig Schneewittchen in ih rem gläsernen Sarg – wären da nicht die beiden Wundmale in ihrer Schulter gewesen! Thorn schluckte hart. Sie kannte diese Wunden, sie selbst trug sie in den Schultern. Nur dass aus ihnen inzwischen Narben geworden waren; ihr Blut hatte die Verwandlung in einen Vampir verhindert. Francescas Blut war anders. Es war normal! In Thorns Augen lag ein feuchter Glanz, sie kämpfte mit den Tränen, als sie sich an den Knappen wandte. »Du weißt, dass es keine Hoffnung für sie gibt?« Cesarinis Gesicht war zu einer Maske geworden, die keinerlei Emotionen durchließ. Er nickte nur, für mehr fehlte ihm die Kraft. »Am besten sollte man sie … erlösen.« Die Stimme des Prokura tors klang sanft. Mitfühlend berührte er den Arm des Gun-Man. »Auf gar keinen Fall bringt jemand sie um!« Aus Cesarinis Trauer war Verzweiflung geworden. Sein Vater war noch vor seiner Geburt für die ROSE gestorben. Dieses Schicksal sollte nun nicht auch noch seiner Mutter zuteil werden. »Sie ist bereits tot«, bedachte Ahasver. Die Jahrhunderte seines Lebens mochten aus ihm einen weisen Mann gemacht haben, doch ihm fehlte die emotionale Verbindung zu Francesca. Er versuchte ra tional zu argumentieren, doch in manchen Situationen half Logik
nicht weiter. »Wir tun ihr nur einen Gefallen, wenn …« Cesarinis Verzweiflung wurde zu Wut, die sich wie ein Vulkan entlud. Viel zu schnell, als dass es Thorn verhindern konnte, hatte er das Gewehr hochgerissen und legte die Mündung auf die Brust des Prokurators. »Wenn jemand sie anfasst …« Den Rest ließ er offen. Doch der Ausdruck in seiner Stimme machte deutlich: Er war wild ent schlossen! »Keine Sorge, ich werde es nicht tun«, versuchte der Prokurator die Verantwortung abzuwälzen. »Ich dachte nur …« »Leider hat er Recht«, knirschte Thorn, deren Blick unverrichtet auf der scheinbar schlafenden Frau ruhte. Irgendwann in den nächs ten Stunden würde sie sterben, um wiedergeboren zu werden in ein neues Leben, das sie abgrundtief verabscheute – wenn auch ohne sich an ihren Ekel zu erinnern. »Wahrscheinlich würde uns Fran cesca sogar darum bitten, wenn sie könnte …« »Wenn du …« Cesarini riss seine Waffe herum und deutete damit auf die Ritterin. Er würde das Leben seiner Mutter mit allen Mitteln verteidigen. Sie vernahmen lautes Gepolter von der Treppe unten. Jetzt erst hatte Adamus’ Monsterbrut kapiert, dass sich der Feind längst in der Festung befand – mehr noch, er hatte bereits zugeschlagen. Wie ihre Reaktion darauf aussehen würde, niemand konnte es vorausse hen. Vielleicht würden sie das Trio angreifen und für ihren infamen Mord an den Ersten büßen lassen wollen. Möglicherweise würden die Bestien auch ihre eigenen Wege gehen, weil sie ihres Kopfes be raubt worden waren. Keiner der drei war willens, es herauszufinden. Mit einer Kom mode und mehreren Möbelstücken hatten sie die Tür blockiert. All zu lange würde dieses Hindernis die Schwadron nicht aufhalten, je doch lange genug. Wenn Thorn nach draußen lauschte, vernahmen sie bereits leise das stete Geräusch der nahenden Hubschrauber.
»Also?« Der Prokurator klatschte deprimiert in die Hände; er war noch immer hin und her gerissen. Vernunft und Gefühl fochten einen unnachgiebigen Kampf in seiner Brust. »Wir nehmen Mom mit!«, beschloss Cesarini, um Zeit zu ge winnen. »Es gibt doch dieses Forschungszentrum in der Bretagne. Ich habe keine schönen Sachen darüber gehört, wie Vampire dort behandelt werden. Aber wer weiß, vielleicht findet man irgendwann …« Den Rest ließ er offen, mehr war aber auch nicht nötig. Er hatte die Entscheidung gefällt. Falls jemand das Recht hatte, über seine Mut ter zu bestimmen, wenn sie nicht dazu in der Lage war, dann aus schließlich er und niemand anders.
* Epilog Den aufmunternden Klaps des Prokurators, den er Thorn auf den Rücken gab, spürte sie kaum. Und falls doch, so reagierte sie nicht darauf. Die Craque des Chevaliers lag in der Dunkelheit der Nacht, nur vom gelegentlichen Lichtschein aus einigen wenigen Fenstern erhellt. Die Kreuzfahrerburg wurde ständig kleiner und würde bald gänzlich verschwunden sein wie ein tumber Albtraum. Thorns Blick war starr vor sich ins Nichts gerichtet. Die Vibra tionen des Hubschraubers, der sie in Sicherheit brachte, bemerkte sie kaum. Ebenso wenig hörte sie das ohrenbetäubende Rattern der Rotorblätter über ihr oder die anderen Personen, die sich mit ihr in der Maschine befanden. Nicht die beiden Piloten registrierte sie, nicht den Prokurator, nicht den Knappen – und erst recht nicht Francesca Blake, die sich
weiterhin still, fast regungslos verhielt. Obwohl Letzter die Augen noch immer geschlossen hielt, hatte man ihr Handschellen angelegt. Dennoch: Sobald sie die Grenze überschritt, würden die wenig nutzen. Der Sieg war keiner. Zu hoch waren die Verluste, um sich zu freu en. Auch Adamus’ Monster-Armee, die in der Festung geblieben war, bereitete Thorn Kopfzerbrechen. Die Bestien hatten kapituliert. Der Anblick der heranrückenden Staffel Kampfhubschrauber und der Tod ihres Anführers hatte ihren Aggressionen einen Dämpfer versetzt. Niemand dort wollte jetzt noch kämpfen. Vorerst würden sie sich ruhig verhalten und womöglich wieder in alle Himmelsrich tungen davonziehen, woher sie gekommen waren. Und dann? Dann werden wir sie mit allem bekämpfen, was wir haben, dachte Thorn bitter und wusste, auch bei dieser Auseinandersetzung würden wieder viele unschuldige Menschen ihr Leben lassen. Zu viele! Die Rosenritterin rührte sich nicht auf ihrem Sitz. Sie hatte ihr Schwert gezogen, das Rotauge enthauptet hatte. Noch immer war es mit seinem dunklen Blut besudelt. Fast konnte die weißhaarige Vampirjägerin nicht begreifen, dass er nicht mehr existieren sollte. Ihr ganzes Leben hatte er geprägt, vom unbändigen Hass auf ihn hatte sie sich treiben lassen und fast er nährt. Obwohl sie jahrelang auf genau diesen einen Moment der Ra che hingearbeitet hatte, empfand sie keinerlei Freude. Im Gegenteil. Als Thorn die Klinge in die Scheide zurück gleiten ließ, war ihr, als werde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen. Sie fühlte in sich nur noch Leere. Vielleicht hatte Rotauge Recht ge habt … ENDE