Daphne du Maurier Doch mich verschlang das wild’re Meer Roman
In eindringlichen Bildern entsteht die dämonische Welt de...
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Daphne du Maurier Doch mich verschlang das wild’re Meer Roman
In eindringlichen Bildern entsteht die dämonische Welt des Branwell Brontë, dessen gewaltige Erfindungskraft die unsterblichen Werke seiner Schwestern inspirierte, der selbst jedoch unrühmlich vergessen wurde.
Daphne du Maurier Doch mich verschlang das wild’re Meer Originaltitel: «The infernal world of Branwell Brontë» Aus dem Englischen von N. O. Scarpi © 1982 by SV international/Schweizer Verlagshaus AG, Zürich ISBN 3-7263-6347-7
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt
Die Autorin
«I walked this land with a dreamer’s freedom and with a waking man’s perception – places, houses whispered to me their secrets and shared with me their sorrows and their joys. And in return I gave them something of myself – a few of my novels passing into the folklore of this ancient place.» Daphne du Maurier, 1907-1989
Daphne du Maurier (1907-1989) war die Tochter eines berühmten Schauspielers und das «Golden Girl» der Londoner High Society. Bei einem Aufenthalt in Cornwall verliebte sie sich in Major «Boy» Browning und heiratete ihn kurze Zeit später. Sie begann schon in jungen Jahren zu schreiben und wurde durch die Veröffentlichung ihres Romans Rebecca, der von Hitchcock verfilmt wurde, weltberühmt.
Daphne du Maurier
Doch mich verschlang das wild’re Meer Der Lebensroman des dämonischen Branwell Brontë
SV INTERNATIONAL SCHWEIZER VERLAGSHAUS ZÜRICH
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel «The infernal world of Branwell Brontë» Ins Deutsche übertragen von N. O. Scarpi
© Daphne du Maurier © 1982 by SV international/Schweizer Verlagshaus AG, Zürich Printed in Switzerland by Druckerei Carl Meyers Söhne AG, CH-8645 Jona 3-7263-6346-7
Drum träum’ ich nicht, noch will ich sehn besing ich auch sein Leid, daß dieses traurige Geschehn nachwirke in die Zeit. Doch Elend ist noch stets beglückt, wenn es verwandten Gram erblickt. Kein göttlich Wort dem Sturm gebot, es blinkt’ kein Rettungsschein, wir waren hilflos in der Not und er und ich allein. Doch mich verschlang ein wild’res Meer, und tiefer stürzte ich als er William Cowper, «Der Schiffbrüchige»
VORWORT
A
ls Mrs. Gaskell im Jahr 1857 ihre Biographie Charlotte Brontës veröffentlichte, da entwarf sie ein so lebendiges Bild des Lebens im Pfarrhaus von Haworth und der begabten, kurzlebigen Familie, die in seinen Mauern weilte, daß jede seither geschriebene Brontë-Biographie sich darauf gründet. Hundert Jahre sind seither vergangen, die Biographie ist noch immer unübertroffen, doch in der Zwischenzeit ist viel über die frühen Schriften der jungen Brontës ans Licht gekommen und beweist, daß sie von Kindheit an und in ihrer Jugend ein Leben von ganz außerordentlicher Phantastik lebten, sich eine Welt ihrer Einbildung schufen und mit Menschen bevölkerten, die in ihren Augen wirklicher waren als die Bewohner von ihres Vaters Kirchspiel. Charlotte Brontës «Jane Eyre», Emily Brontës «Sturmhöhe», Anne Brontës «Pächter von Wildfell Hall» waren durchweg berühmte Romane und ihre Verfasserinnen bereits tot, als Mrs. Gaskell daran ging, über sie zu schreiben. Was sie nicht begriff, war, daß keiner dieser Romane je entstanden wäre, hätten ihre Schöpferinnen nicht, als Kinder, in dieser Phantasiewelt gelebt, die in weitem Ausmaß von ihrem einzigen Bruder angeregt und gelenkt wurde, von Patrick Branwell Brontë. 6
Weder Mrs. Gaskell noch Mr. Brontë vermuteten, daß unter dem Dach des Pfarrhauses Manuskripte von Branwells Hand lagen, die viele Hunderttausende von Wörtern enthielten – weit mehr als die veröffentlichten Werke von Charlotte, Emily und Anne. Obgleich sie bei näherer Prüfung merken lassen, daß Branwell nicht das erstaunliche Talent seiner berühmten Schwestern besaß, so zeigen sie doch, daß er eine Knabenzeit und Jugend von fast unglaublicher Fruchtbarkeit verbracht hat und sich in der Schilderung von Leben und Liebe seiner Phantasiegestalten derart ausgab, daß seine Erfindungsgabe, als er das einundzwanzigste Jahr erreicht hatte, erschöpft war. Mr. Brontë, der Vater, schrieb an Mrs. Gaskell, nachdem sie die Biographie seiner Tochter Charlotte veröffentlicht hatte: «Die Schilderung meines glänzenden, unglücklichen Sohnes ist ein Meisterstück.» Er begriff ebenso wenig wie Mrs. Gaskell, daß dieser «Glanz» in weitem Maß nur in seiner eigenen Einbildung bestand, dem Stolz eines einsamen Witwers auf die außerordentliche Frühreife und hinreißende Lebhaftigkeit eines Knaben, dessen vermutliches Genie sich mit der Entwicklung zur Mannheit zersetzte, und dessen Unglück nicht durch die von Mrs. Gaskell geschilderte mißlungene Liebesgeschichte verursacht wurde, sondern durch seine Unfähigkeit, Wahrheit von Dichtung, Wirklichkeit von Phantasie zu unterscheiden, und der im Leben versagte, weil es von seiner eigenen «höllischen Welt» abwich. Eines Tages werden die Manuskripte, die aus Branwells Feder strömten, vielleicht kopiert werden, und zwar nicht bloß für die Gelehrten, die sich mit der Familie befassen, sondern für eine breite Leserschaft. Eines Tages wird man die vollständige, endgültige Biographie dieses tragikumwitterten jungen Mannes veröffentlichen. Unterdessen ha7
ben viele Jahre von Interesse an dem Gegenstand und gründliche Lektüre die heutige Verfasserin gedrängt, eine Studie seines Lebens und Werks zu versuchen, die als Einleitung für beide dienen mag. Wenn diese Arbeit ein gewisses Maß von Verständnis für eine lange verleumdete, vernachlässigte und geringgeschätzte Persönlichkeit zu schaffen vermag und dazu beiträgt, ihm seinen ursprünglichen Platz in der Familie Brontë wiederzugeben, wo er, bis zu den letzten Jahren des Verfalls, so geliebt wurde, wie übrigens auch im Dorfe Haworth, dann ist dieses Buch nicht vergebens geschrieben worden. Cornwall, 1960
Daphne Du Maurier
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I
E
r starb am Sonntagmorgen, dem 24. September 1848. Er war einunddreißig Jahre alt. Er starb in dem Zimmer, das er so lange mit seinem Vater geteilt hatte und darin er als kleiner Knabe erwacht war, um den Mond durch die vorhanglosen Fenster scheinen und den Vater betend auf den Knien zu erblicken. Das Zimmer war für allzu viele Monate teils Zuflucht- und teils Gefängniszelle gewesen. Es war Zuflucht vor den anklagenden oder gleichgültigen Augen der Schwestern, Zuflucht vor dem abgewendeten Blick des Vaters, dessen Angebot, ihm beim Ankleiden zu helfen, einen Vorwurf enthielt. Doch wenn er wieder allein war, die Familie unten und bei ihren Beschäftigungen und nur die vertrauten Geräusche des Alltags in seine Einsamkeit drangen – der Schrei eines Kindes auf der Straße, das Läuten der Kirchenglocke, das öffnen und Schließen der Gartentüre, wenn jemand mit den Angelegenheiten des Kirchspiels kam –, dann verwandelte sich das Zimmer zu den kalten Mauern eines Kerkers oder, schlimmer noch, bedrückte ihn mit dem würgenden Gewicht einer Gruft, unter deren schwerem Stein der Lebend-Tote ständige Erstickung litt. Die Minuten tickten weiter, bis es halb eins oder halb fünf war – denn die Stunden hatten, sobald der Hunger gestillt war und der Alltag weiterging, ihre Bedeutung verloren; und das langsame Hüsteln der Uhr auf der Treppe setzte sich 9
unerbittlich bis zu jenem halben Würgelaut vor der vollen Stunde fort, dem sogleich, ohne Pause, ohne Rast, der Schlag vom Kirchturm folgte. Ewiger Vorwurf, ewige Anklage. «Ich weiß nur, daß es Zeit für mich ist, etwas zu sein, da ich nichts bin. Daß mein Vater nicht lange zu leben haben kann, und daß, wenn er stirbt, mein Abend, der schon Zwielicht ist, zur Nacht werden wird. Daß ich dann noch immer eine so kräftige Konstitution haben werde, daß sie mich jahrelang in Marter und Verzweiflung erhalten wird, da ich doch jede Stunde darum beten sollte, daß ich sterben könnte.» Das Gekritzel war bereits ein, zwei Jahre alt, und der Freund, an den es geschrieben war, hatte seine eigenen Sorgen; überdies war die Geschichte selbst, die es erzählte, jetzt durch ständige Wiederholung abgenützt. Die Wahrheit war, daß kein Mensch sich darum kümmerte. Kein Mensch hatte wirklich ein Interesse. Und er, der die Geschichte selber fabrizierte und jetzt sterbend auf seinem Bett lag, war der Lügen und Ausflüchte und der Phantasie, die ihn im Griff hielt, müde. Und so, als plötzlich, unglaublich, am Freitagabend die Verzweiflung sich lockerte und dieser Zustand den folgenden Tag und die folgende Nacht andauerte und er zum ersten Mal nach Monaten und Jahren von Bedrückung, Grauen und Bitterkeit frei war, da glaubte er, ihm sei vergeben worden und das Leben werde neu beginnen. Sein Vater kniete neben dem Bett und betete. Es war keine Qual mehr, keine Langweile, kein Spott, das unnütze Gebrummel eines alten Mannes, der sich an einen verschlissenen Glauben klammerte, nein, es war die starke, liebende Stimme des Papas, seines ersten Gottes, der ihn immer geliebt, ihn nie verleugnet hatte. Die drei Frauen, die ihn beobachteten, hatten ihre erwachsenen Gesichter 10
verloren. Sie waren nicht Charlotte, Emily und Anne, sie waren wieder seine Spielgefährtinnen, seine Sklavinnen, seine Teilhaberinnen am Zauber, seine geliebten guten Geister. Der Genius Tallii kauerte neben seinem Kissen, der Genius Anniie glättete ihm die Stirne, der Genius Emmii wachte am Fußende des Bettes; sie alle warteten auf das Wort des Obergenius Brannii. Er lächelte ihnen zu, beschaute die leere Hand und wunderte sich eine verstörte Sekunde lang, warum er nicht mehr die ungefüge Gestalt Sneakys umklammerte, des hölzernen Soldaten, der andere Namen getragen hatte und doch immer er selbst gewesen war. Dann erinnerte er sich, daß, obgleich sein eigener Körper gewachsen war, der Soldat sich nicht verändert hatte, ja, sogar eingeschrumpft war, so daß man eines Tages auf ihn getreten, ihn zerquetscht hatte und er mit dem Staub des Hauses fortgefegt worden war. Als der freundliche, tapfere Soldat in sein Grab gegangen war, so entsann sich sein Besitzer schließlich, wie diesem Freund seiner Knabenzeit das Leben eingehaucht worden war. Sein Vater hatte ihm einige Spielsoldaten heimgebracht. Er hatte die Schachtel aufgerissen, war zu seinen drei Schwestern gelaufen und hatte jeder eine der kleinen hölzernen Figuren gegeben. Im Nu hatten die Soldaten Namen und Persönlichkeit angenommen, und rund um sie hatten die vier Kinder einige ihrer beliebtesten Spiele aufgebaut. Aus ihnen waren die heldenhaften Gestalten hervorgewachsen, welche die Schwestern später in ihre Erzählungen eingewoben hatten. Der Soldat, den Charlotte Wellesley getauft hatte, war jetzt Rochester, der Geliebte Jane Eyres. Parry, Emilys Soldat, war Heathcliff, allein auf der «Sturmhöhe». Annes Soldat Ross wurde zu Arthur Huntingdon, dessen Frau nach Wildfell Hall floh. Nur Sneaky, sein eigener Soldat, sollte wohl später zu Alexander Percy werden, aber verborgen und unbekannt 11
bleiben. Doch noch war es Zeit. Das Gefühl des Friedens, das sich über Brannii senkte, hatte gewiß zu bedeuten, daß Kraft und Stärke wiedergekommen waren und er bald wieder gesund sein sollte. Er würde von diesem Bett aufstehn, wieder in das Eßzimmer hinuntergehn, die alten Bücher mitnehmen und die Blätter, mit seiner Schrift bedeckt, und in dem Hinterzimmer eingestaubt, darin er gearbeitet hatte. Dann würden die vier alles von neuem beginnen, und aus der seit langem verdrängten, geliebten höllischen Welt Gespenster und Geschöpfe heraufbeschwören. Eines Tages, so sprach er jetzt zu ihnen, würden alle ihre Bücher veröffentlicht. Eines Tages würden sie alle vier berühmt sein. Eines Tages würden Männer und Frauen von ganz England und aus der Welt kommen, um den Ort zu sehen, wo der Obergenius gewohnt hatte. Doch statt sein Lächeln zu erwidern, wandten sie, wie in Scham, die Köpfe ab. Zu sprechen vermochten sie nicht. Sie vermochten ihn nicht anzusehen. Und er meinte, vielleicht seien sie ihm noch böse wegen all des Kummers, den er ihnen die Jahre hindurch verursacht hatte; so zerknirscht, so ruhig bat er sie um Vergebung. Das schien ihnen die Herzen zu brechen. Sie konnten es nicht ertragen. Doch als er sie vor wenigen Tagen verflucht hatte, waren sie gleichgültig geblieben. Verdutzt schwieg er, lauschte den Gebeten des Vaters, und zum ersten Mal seit vielleicht fünfzehn Jahren oder mehr wiederholte er das Wort Amen. Er begriff nicht, warum das sie aufregte, noch warum – sein Gedächtnis war von all dem trüben Dunst befreit, der es so lang umhüllt hatte – die Erinnerungen an die glückliche Vergangenheit, an die Kinderspäße, die vertrauten Wörter und Sätze, selbst an das lächerliche Gerede, das er erfunden hatte, einen Yorkshiredialekt, indem man die Nase zwischen Zeigefinger und Daumen preßte, sie in dieser nächtlichen Stunde so plötzlich zu Tränen rührte. 12
Eines nach dem andern schlich davon, um vielleicht stumm oder gemeinsam zu weinen, und aus dem Nebel, welcher der Tod war, obgleich er ihn nicht erkannte, sah er statt des gebeugten Kopfes seines Vaters das Gesicht John Browns, seines Freundes. Dann begriff er. Zu gut kannte er die Augen, um nicht zu verstehen, was sie ihm sagten. Von Tränen überquellend, die Säcke darunter schlaff vor Gram, ein Zittern in den Winkeln des fleischigen Mundes, das waren nicht die Nachwehen eines heiteren Gelages oder einer Begräbnisfeier. Jetzt wußte er, daß er bald seinem Schöpfer von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehn würde. Er ergriff die rauhe Hand und sagte: «O John, ich sterbe.» Doch der Küster, einst sein Verbündeter, sein Vertrauter, sein Führer und Lenker, konnte ihm nicht mehr helfen, wie er es früher so oft getan, ihn mit sicherer Hand in hilflosem Gelächter, an einem umgestürzten Tisch oder Stuhl vorbeigeführt hatte. Die Grabsteine, die John ausgehauen hatte, die flachen Gräber, die übereinander gerutscht waren, jetzt erhoben sie sich vor dem Fenster wie warnende Hände. Zu viele vermorschte Knochen, über die sie gespottet hatten, formten sich jetzt zu den Skeletten, die sie einst gewesen waren, und grinsten. Die Deckel der Särge öffneten sich. Die eingehüllten Gestalten richteten sich auf. Und John selber, statt mit abwärtsgekehrten Daumen zu winken – «Da geht wieder ein Sünder ins künftige Reich ein» – saß hilflos am Bett und konnte nicht sprechen. Woran also konnte der Sterbende glauben? Wo war das Heil, wo waren die Engel? Was war sein Credo? Irgendwo, in einer vergessenen Schublade, zerknüllt und zerknittert, war die halbe Seite eines unvollendeten Manuskripts. Geschrieben in Weißglut, in einem Augenblick des Aufruhrs, des Hohns, hatte es ihm die Parodie auf ein Gebet eingegeben: 13
«Möge Er dich vor dem brennenden Hügel beschützen, der auf Christen zu fallen bereit war, vor den Steinen, die den Lebenshauch aus dem heiligen Stephan schlugen, vor dem Rost, auf dem der heilige Laurentius gebraten wurde, vor der Kreuzigung, kopfabwärts, die Sankt Peter am Schlagfluß sterben ließ, vor dem Märtyrertod des heiligen Polycarp, vor dem ungestümen Stolz Tertullians, vor der Eitelkeit des Athanasius, vor dem lachenden Atheismus Lukians, vor dem Schwindel des Verrats des Judas, den Plagiaten des Virgil, den Wiederholungen Homers, vor dem Schicksal von Karls I. Kopf, vor dem Tod der reizenden Königin Maria Stuart, vor der Hartherzigkeit des Brutus, vor der Milde des Titus, die fünfzig Juden rund um die Mauern ihrer Stadt kreuzigen ließ, vor der Barmherzigkeit des Großinquisitors, der malayischen Seeräuber, der Sklavenhändler, vor der zarten Milde Heinrichs VII., Georgs IV., Marschall Blüchers – vor all diesen Schrecken, guter Gott, erlöse uns!» Mochte sein Freund Joe Leyland die Schrift entwerfen und sein lieber John, der Küster, die Worte einmeißeln; hier war gewiß ein Zitat aus den unveröffentlichten Werken des Obergenius Brannii, stolz genug, um ihn unsterblich zu machen. Doch es wäre zu lang. Etwas kürzeres vielleicht, geschrieben, als er noch ein Knabe war, und nicht in Zorn ausgespien, würde als Grabschrift dienen: «O Du, große Gottheit, Du einziger Gott, vor dem mein Geist sich stets in Ehrfurcht beugen könnte, den ich seit langem verehrt habe und immer anbeten werde. Ich kann lieben, ich kann hassen, ich kann Zärtlichkeit fühlen, ich kann Rache nähren, ich kann all das tun, was sie tun, ausgenommen Freundschaft empfinden und die Bande des Blutes … wenn die Menschen Dich sehen könnten – Lebenskraft – und ihren eitlen Aberglauben, ihre Ewigen, ihre Erlöser, ihre Heiligen und Engel ließen, so würden sie 14
sich wenden und Dir anhangen, dem einzigen lebenden und wahren Gott.» Es war beinahe neun Uhr. Statt Gebet oder Herausforderung sagte er zu John: «In meinem ganzen vergangenen Leben habe ich nichts Großes oder Gutes getan.» Dann veränderte sich sein Ausdruck, und ein Krampf, wie so viele ihn befallen hatten, überkam ihn zum letzten Mal. Seine Schwestern kehrten in das Zimmer zurück, sein Vater auch, und als er seinen Vater erblickte, richtete er sich auf und starb.
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II
A
ls der Pfarrer Patrick Brontë, im Wunsch, mehr über die Seelen seiner sechs mutterlosen Kinder zu erfahren, als er bisher entdeckt hatte, jedes von ihnen hinter eine Maske stellte, damit sie mit geringerer Scheu sprächen als vorher, da schenkte er den drei Schwestern, die überlebten, die erste köstliche Spannung der Anonymität. Laut zu sprechen und dennoch, scheinbar, unerkannt zu bleiben, sein Ich hinter einem hohlen Antlitz zu verbergen; Kritik, Spott, Vorwurf, all diese Dinge konnten den Träger der Maske nicht berühren. Nicht nur ein einziges Mal, nein, viele Male mußte die Maske aus dem Studierzimmer des Vaters ihren Dienst tun, doch welche Form sie hatte, welche Größe, welchen Ausdruck, das ist nie festgestellt worden. Ein Mummenschanz vielleicht, töricht oder abschreckend, ein Überbleibsel aus des Vaters Studentenjahren in Cambridge – das könnte erklären, wie solch eine Seltsamkeit sich im Pfarrhaus von Haworth finden ließ. Und die Kinder konnten, wenn sie erfuhren, daß ihr Vater seine Person einst auf solche Art versteckt hatte, kühn gemacht werden. Ihr Vater, der, groß und aufrecht, würdig einherschritt wie der Herzog von Wellington selber, wünschte vielleicht, sich auf das Niveau der Kinder zu versetzen, band wohl manchmal die Maske vor, beantwortete Fragen, und die Stimme, die aus der Mundöffnung drang und grotesk 16
klang, mochte der Phantasie der sechs Zuschauer eine Anregung gegeben haben. Hier war Papa und doch nicht Papa, hier war ein Geschöpf, das, hinter dem grinsenden Kopf verborgen, sich zu einem Riesen oder zu einem Popanz verändern konnte und Schauer der Erregung wecken, die gleichfalls, bei aller Schrecknis, köstlich waren. Oder die Maske mochte bloß die Augen eines Straßenräubers verdeckt haben, war auf dem Moor gefunden und dem Pfarrer gebracht worden. Das hätte dem Spiel einen neuen Reiz verliehen, denn der Vater wurde im Nu zu einem Turpin oder einem Claude Duval und die Kinder, selbst die jüngsten, zu kleinen Lehrlingen der Spitzbüberei. So diente die Maske ihrem Zweck, wie die Schachtel mit den Soldaten diente, die der Vater später für seinen Sohn heimgebracht hatte. Zur Seite gelegt oder müßig auf einem Stuhl vergessen, besaß sie keinen Zauber und war ein lebloses Ding; von einem der Kinder getragen aber, verlieh sie sogleich einen Schutz vor den Alltagsregeln, so daß Gedanken und Gefühle sich auf eine sonst nicht mögliche Art lockern konnten. Ebenso gewann ein Holzsoldat mit gemaltem Gesicht und Leib, aus seiner Schachtel befreit, eine eigene Persönlichkeit, konnte zum Wortführer seines Besitzers werden – ja, die Launen und Ungezogenheiten des Besitzers auf sich nehmen. Als der verwitwete Vater seine Kinder zum ersten Mal hinter die Maske stellte, war das älteste, Maria, zehn Jahre alt, das jüngste nicht mehr als vier. Branwell, der einzige Knabe, mußte wohl sechs oder sieben sein. Die Antwort, die er hinter der Maske hervor seinem Vater gab, verriet eine Beschäftigung mit körperlichen Problemen, die sehr von den moralischen Grundsätzen abwich, wie sie von den Lippen seiner Schwestern tropften. «Was», fragte Mr. Brontë, «ist der beste Weg, um den Unterschied zwischen dem Geist von Männern und Frauen 17
zu erkennen?» Blitzschnell kam die Antwort des Knaben: «Daß man den Unterschied zwischen ihren Körpern bedenkt.» Sogleich stellt sich das Bild eines Küchenfeuers ein, vor dem die Kinder gebadet werden, und das Kindermädchen, Sarah oder Nancy Garrs, ihnen befiehlt, das Wasser nicht über den Boden zu verspritzen; mit einem rauhen Tuch reibt sie den Knaben ab, und während er dasteht, stolz in seiner Nacktheit, da schweift sein Auge von einer Schwester zur andern, sieht ihre Körper, glatt und weiß, während er selber nicht nur das rote Haar hat, ganz wie sein Vater, sondern noch etwas anderes, und da verspottet er seine Schwestern wegen ihrer Unvollständigkeit. Es waren noch georgianische Zeiten, die künftige Königin Victoria ein kleines Kind, und ein schlichtes Kindermädchen aus Yorkshire, das seine Rangen vor einem Küchenfeuer im Pfarrhaus eines Kirchspiels auf dem Moor abrieb, mochte wahrscheinlicher über den Knaben gelacht haben, der sich da mit solchem Selbstvertrauen großtat, als daß sie ihn eingehüllt und ins Bett verbannt hätte. Die kleinen Mädchen beobachteten mit Neid oder Abscheu, je nach ihrer Veranlagung, doch wenn es zu einer Balgerei kam, und das war sehr möglich, sobald ein kleiner Junge seine Stellung zu verteidigen suchte, dann dürfte es die um ein Jahr jüngere Emily gewesen sein, die den Kampf begonnen hatte. Bezeichnend ist es, daß es eher die damals fünfjährige Emily war und nicht die zehnjährige Mary, die der verblüffte Vater unter dem Schutz der Maske um Rat fragte: «Was soll ich mit Branwell machen, wenn er ungezogen ist?» «Bring ihm Vernunft bei, und wenn er nicht hören will, so verprügle ihn!» 18
Branwell mag an jenem Tage ungezogen gewesen sein und hatte auf diese Art den durch den Lärm bei der Arbeit gestörten Vater ermutigt, das Experiment mit der Maske zu unternehmen. Emily wurde vor Branwell befragt, und ihre Anregung, ihn zu verprügeln, mochte den Knaben aufgereizt haben, wenn er an die Reihe kam, die Maske vorzubinden. Seine Antwort mochte gewesen sein, daß er sie, wenn nicht alle seine Schwestern, geschlagen hatte. «Mir Vernunft beibringen und mich prügeln, das mögen sie», hat er wohl erwidert. «Aber ich habe eine schärfere Zunge als ihr und zudem noch etwas anderes, was mir hilft.» * Der Knabe, am 26. Juni 1817 in Thornton, in der Umgebung von Bradford geboren, wo sein Vater Geistlicher war, vergaß seinen Geburtsort schnell. Doch das erste Jahr in Haworth, wohin seine Eltern übersiedelten, als er drei Jahre alt war, mußte bedrückend gewesen sein. Nach Monaten eines Todeskampfes wurde die Kranke im obern Stockwerk, welche die jüngeren Kinder während des langen Leidens kaum gesehen hatte, endlich zur Ruhe gebracht. Mama war zu Jesus gegangen. Jesus hatte sie heimgerufen. Da sie gelitten hatte und Jesus gütig war, so schien das wohl das Beste zu sein. Schon konnte Branwell sich kaum der Hände entsinnen, die ihn geliebkost hatten, denn wenn jemand lange krank ist und die Stimmen gedämpft werden müssen und man den Kindern einprägt, still zu sein und auf der Treppe keinen Lärm zu machen, dann wird sie, die krank und abgesondert ist, aus einer lebendigen Mutter zu einer Sage. Überdies war ja immer Maria da. Die älteste Schwester, die mit ihrem Bruder mehr Geduld hatte, als jene, die ihm 19
im Alter näher standen, und wahrscheinlich des Versprechens gedachte, «sich um den Knaben zu kümmern», den Liebling der müden, armen Leidenden dort oben, lehrte Branwell die ersten Buchstaben, half ihm beim Rechnen, erzählte ihm Geschichten, zeigte ihm Bilder, so daß das Kind, wenn es der dummen Streiche in der Küche müde war und es satt hatte, die jüngeren Geschwister zu plagen, in das kleine Zimmer oberhalb der Haustüre stieg, das Marias und Elizabeths «Arbeitszimmer» war. An die ältere Schwester geschmiegt, deren Bücher und Papiere großzügig über den Boden verstreut waren, und die sich selber unordentlich hinlümmelte, nie wußte, wie spät es war oder wann sie sich waschen sollte, wurde er durch den Klang ihrer Stimme in Frieden und Sicherheit gewiegt und lernte zum ersten Mal und immer wieder das Glück kennen, jemandem zu lauschen, der laut vorlas. Es war eine seltsame Kost für einen kleinen Jungen in seinen ersten Hosen – zumeist die Zeitungen, wann immer Mary ihrer habhaft werden konnte, denn so ahnungslos sie in Geschichte und Geographie war, konnte sie doch über die Tagesnachrichten mit einer Zuständigkeit reden, die weit über ihre Jahre hinausging, ihrem Vater ein Lächeln entlockte, während die Tante die Brauen hob. Der Tod der Frau des Pfarrers wäre in Yorkshire, abgesehen vom Kreis der Familie und des Kirchspiels, unbeachtet geblieben, dagegen waren die Zeitungen des Vormonats erfüllt gewesen von den Nachrichten vom Tod der unglücklichen Königin Caroline, von den bitteren Streitigkeiten zwischen ihr und dem jetzt herrschenden König Georg IV. Denn die Journalisten begeisterten sich damals wie heute daran, Skandale in Fürstenhäusern aufzuwärmen, und die Namen lebender Staatsmänner im fernen London waren dem Knaben, der seiner Schwester nachschwatzte, ebenso geläufig wie die Namen des Küsters oder des Totengräbers. 20
Maria wurde zur Stellvertreterin Mamas, die jetzt bei Jesus weilte. Maria ließ Branwell die Hände falten und seine Gebete sagen. Maria erzog auch Elizabeth und Charlotte, und auf stille, aber sehr entschiedene Art erwies sie sich bald als die stärkste Persönlichkeit im Pfarrhaus. Die Stellung der Tante, der Schwester der verstorbenen Mutter, war, als sie von Cornwall herüberkam, um für den Schwager und die Kinder zu sorgen, keineswegs beneidenswert. Sie war in der Mitte der Vierzig und nicht mehr jung. Sie hatte die Schwester während der langen, schmerzensreichen Krankheit hingebungsvoll gepflegt. Stolz wie jede Frau aus Cornwall, weigerte sie sich, von ihrem Schwager «ausgehalten» zu werden; sie bestand darauf, aus ihrem eigenen kleinen Einkommen von fünfzig Pfund im Jahr, ihre Bedürfnisse selber zu bestreiten und einen Anteil am Haushalt zu bezahlen. Sie war klein, hatte blaßbraune Augen und weiches braunes Haar, hielt sehr auf sich, war überaus genau, aber der Ausdruck ihrer Augen, wie eine vorhandene Miniatur merken läßt, verrät, daß sie in den Händen eines Mannes leicht zu Ton werden konnte. Heutzutage hätte Mr. Brontë nicht jahrelang seiner toten Maria nachgetrauert. Vielleicht hätte er auch nicht zwei Jahre nach ihrem Tod die Feder in die Hand genommen und seiner Jugendliebe, Mary Burder, geschrieben, daß seine «alte Liebe wieder aufgelebt sei und er das heftige Verlangen hege, sie wiederzusehen». Kein Zweifel, er hätte seine Schwägerin Elizabeth geheiratet, und man darf ruhig annehmen, daß diese Ehe durchaus glücklich geworden wäre. Die Lebensregeln des neunzehnten Jahrhunderts machten das unmöglich. Ein Mann, der die Schwester seiner verstorbenen Frau an die Brust zog, beging Blutschande. Mit vierundvierzig und fünfundvierzig durften Patrick 21
Brontë und Elizabeth Branwell wohl das Dach, nicht aber das Bett teilen. Und obgleich diese Lebensform, die mehr als zwanzig Jahre dauern sollte, ohne äußerliche Zeichen von Mißstimmung blieb, mußte die ständige Nähe den Nerven zusetzen, und das zeigte sich darin, daß der eine sich immer mehr in sein Studierzimmer oder in das Wohnzimmer zurückzog, die andere aber in ihr Zimmer im ersten Stock. Patrick Brontë, warmherzig, ja, sogar leidenschaftlich, überspannt, aber enttäuscht und unglücklich durch die seltsame Veränderung an seiner sterbenden Frau, die, nach seinen eigenen Worten, nach «einem Leben von Heiligkeit», ihre Seele «häufig durch den letzten Kampf mit dem großen Feind verstört sah», sehnte sich nach dem physischen Behagen, das eine liebende Gefährtin ihm zu geben imstande gewesen wäre. Und die einsame altjüngferliche Elizabeth Branwell, abgeschnitten von allen ihren Freunden und Verwandten und all dem, was Penzance, ihre Heimat, zu einem Bienenstock von Geschäftigkeit und Tätigkeit machte, fragte sich gewiß, wie sie am besten diesem zerfahrenen irischen Haushalt vorstehn sollte, darin jedes Mitglied, bis zum Baby hinunter, ein Individuum und eine Merkwürdigkeit war. Oft muß sie sich nach einem Lebensraum gesehnt haben und weniger nach dem ständigen Putzen und Kochen – zumal da die Küche von Yorkshire so verschieden von der Cornwalls ist. Und wenn das Baby auch reizend war und der kleine Branwell sehr an den Vetter Tom erinnerte, der vor langer Zeit auf See verschollen war, erwiesen sich die älteren Mädchen doch als schwierig und eigensinnig. Vielleicht war es ihre Tante, die zur Schule riet. Die Zucht der Schule würde die runden Schultern straffen, die gebeugten Rücken kräftigen, selbst die ungelenken Finger geschmeidig machen, welche Nadel und Faden nicht zur Befriedigung der Tante halten konnten oder wollten. Ma22
sern und Keuchhusten, welche die Kinder wochenlang ans Bett fesselten, mochten mit den endlosen, auf dem Tablett ins Zimmer getragenen Mahlzeiten, den Nachtwachen am Bett, dem Wechsel der Wäsche, dem Ärger mit den zwei jungen Dienstmädchen, die nicht gehorchen wollten, der unbezähmbaren Lebhaftigkeit des Knaben, der beständig ins Krankenzimmer und aus dem Krankenzimmer sprang, den Ausschlag gegeben haben. Im Juli 1824 gingen Maria und Elizabeth nach Cowan Bridge, jener ausgezeichneten Schule für Pfarrerstöchter, wo, wie nach Jahren ein Verteidiger es ausdrückte, «der Behaglichkeiten viele und der Einschränkungen wenige» waren. Mr. Carus Wilson, der Direktor, der, nach den Worten seines Sohnes, «eine lange Lebenszeit im Dienst der Andern verbrachte», gab seinen Ansichten in einem Band, betitelt «Gedanken», Ausdruck, und darin zeigt sich nur zu deutlich seine Schätzung des Maßhaltens in jeder Beziehung. «Die Schülerinnen», erklärte er, «sind, unvermeidlich, sehr einfach und einheitlich gekleidet. Viele von ihnen leiden zweifellos darunter. Sie sind unglücklicherweise, vielleicht im Übermaß, an jene vorherrschende und immer noch wachsende Liebe zum Putz gewöhnt, denn leider sind Pfarrersfamilien, selbst die ärmsten, von dieser Sucht nicht ausgenommen. Für mich war es immer ein Ziel, jedes vordringliche Symptom von Eitelkeit in der Knospe zu ersticken.» Patrick Brontë, mit einem Einkommen von hundertsiebzig Pfund im Jahr, hatte seine kleinen Töchter keineswegs ermutigt, sich zu putzen; doch die bescheidenen Kosten der Schule waren für einen Mann in seiner Stellung eine Gottesgabe. Der ganze Versuch schien tatsächlich so erfolgreich zu verlaufen, daß er im September des selben Jahres mit einer andern Tochter hinfuhr, der achtzehnjäh23
rigen Charlotte, und nur Emily, das Baby und den Knaben bei sich behielt. Der Haushalt schien sich sehr friedlich zu gestalten. Doch ganz so war es nicht. Es gab gewisse Reibungen. Miss Branwells «Anschauungen» stimmten nicht mit denen der beiden jungen Dienstmädchen überein, und der geplagte Pfarrer entschied, daß es besser wäre, eine ältere Frau in Dienst zu nehmen. Tabitha Aykroyd, dreiundfünfzig Jahre alt, trat an die Stelle der schnatternden Mädchen und zeigte, daß sie eine Frau von großer Charakterstärke war, die sich der Dame aus Cornwall gegenüber behaupten konnte, ohne sich doch mit ihr zu überwerfen, und gleichzeitig die Kinder zu bemuttern und, wenn nötig, zu verprügeln wußte. Als auch Emily zu ihren Schwestern in die Schule geschickt wurde, verliefen endlich die langen Abende ohne Störung, und Miss Branwell, die das Zimmer ihrer verstorbenen Schwester mit allerlei Andenken an Cornwall ausschmückte, konnte ein gewisses Gleichgewicht genießen. Jetzt, da Maria und die andern Mädchen nicht im Wege standen, mußte ihr Schwager zugänglicher gewesen sein. Er konnte die Tagesgeschäfte ohne das Hineinreden einer frühreifen Tochter erörtern, und Miss Branwell durfte sich, an gute Gesellschaft und Unterhaltung gewöhnt, gleichberechtigt fühlen. Sie konnte, damit die Augen des Schwagers geschont wurden, laut vorlesen und scharfe kleine Bemerkungen zu den Angelegenheiten des Kirchspiels machen. Wenn er zu höflich war, um zu widersprechen, so blieb ihr doch der Austausch bedeutungsvoller Blicke zwischen den Mädchen erspart. Branwell, zunächst ohne seine Schwestern ziemlich verloren, fühlte sich bald wieder glücklich, denn die beiden Erwachsenen – drei, wenn man «Tabby» mitzählte – suchten sich über ihre eigene Einsamkeit hinwegzutrösten, in24
dem sie seine Einsamkeit erleichterten. Und die alternde Frau, die wußte, daß sie jetzt nie mehr heiraten, nie ein Kind haben würde, verwöhnte den kleinen Jungen, dessen Art sie so sehr an ihre eigene Familie erinnerte, an den lieben Vetter, der draußen auf dem Meer verschollen war, und sie meinte, daß, ohne die ältesten Schwestern, die ihn verhätschelten, ohne Charlotte und Emily, die ihm seine kleinen Besitztümer abstritten, ihr Branwell kaum je unartig war. Er tat sogar, wie ihm geheißen wurde – oder, richtiger, was er tat, mißfiel den Erwachsenen nicht, die ihn vergötterten. Wenn das Kind in den Augen seiner Tante ein Stück Cornwall war, so daß sie, mit ihren Erzählungen vom Meer, von Schiffbrüchen, von dem Riesen, den man auf dem Sankt Michaelsberg begraben gefunden hatte, ihre eigene Jugend wiedererlebte, war er in den Augen seines Vaters, im Gegenteil, ein reiner Ire. Rothaarig, lebhaft, reizbar, auf Unfug sinnend wie ein Kobold vom Moor, eben noch eitel Sonnenschein und im nächsten Augenblick nichts als Tränen, war er für den einsamen, zurückhaltenden, freundlosen Witwer im entlegenen Sprengel auf dem Moor gleichsam ein Glied der eigenen Knabenzeit. Mit seinem affenartigen Nachahmungsvermögen schwatzte der Kleine am Montag mit irischem Akzent, am Dienstag in breitem Yorkshire und am Mittwoch wieder im Dialekt von Cornwall. Schon wußte er die Besucher des Pfarrhauses vollendet nachzuahmen, schüttelte alle Vorwürfe mit sorglosem Grinsen von den schmalen Schultern, und das Funkeln in seinen Augen war nicht mehr und nicht weniger als der gleiche Glanz in den Augen der Mutter des Pfarrers, Elinor McClory – oder Alice, wie sie oft genannt wurde – Gott schenke ihrer Seele Frieden, sie war das reizendste Mädchen in County Down gewesen, und ihr Lächeln hätte einen wütenden Bullen zu zähmen vermocht. 25
Der Knabe war der Schatten seines Vaters. Er folgte ihm ins Wohnzimmer, er begleitete in die Sakristei, er wanderte mit ihm über das Moor, er half ihm, Pistolen und Flinte zu putzen, und er lernte auch den Gebrauch der Waffen. Mit einer Kunst, die einem Stein eine Geschichte entlokken konnte, hörte er, wie sein Vater einmal daran gedacht hatte, Berufssoldat zu werden. Er hätte wohl den Kopf dazu gehabt, erzählte er dem Knaben, und die Fähigkeit, Schlachtpläne zu ersinnen; ja, wäre er Soldat geworden, so hätte er es in diesem Beruf vielleicht sehr weit gebracht. Das Leben wäre ganz anders gewesen, er wäre gereist, hätte die Welt gesehen, doch wie es nun einmal war … der Allmächtige hatte anders entschieden, und Er wußte es am besten. Papa, dachte das Kind, Papa war tatsächlich drei Personen in einer, wie die Dreieinigkeit. Er war der Vater des Knaben, gütig, geduldig, zeitweilig auch verärgert, das höchste männliche Wesen im Haus, der Lehrer des Wissens, der Erzähler von Geschichten, wenn der Unterricht vorbei war. Doch er war auch Gottes Vertreter auf Erden oder zum mindesten hier in Haworth, und stand er einmal auf der mächtigen Kanzel, über der geschrieben war: «Denn ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, als allein Jesum Christum, den Gekreuzigten», dann blickte sein Auge streng, seine Stimme klang drohend, es war, als wäre Papa zu Gott geworden, zur Verkörperung des Zornes. In solchen Stunden dachte Branwell an den gewaltigen Ausbruch, der sich im vergangenen September ereignet hatte, bevor Charlotte und Emily sich den Schwestern in der Schule gesellt hatten, als die furchtbare Geschichte inmitten des Moores sich begab und sie alle in einem Bauernhaus Schutz gesucht hatten, während die Erde grollte und sich spaltete und der mächtige Sumpf sich selber in die Luft schleuderte. Papa hatte etwa 26
zehn Tage später eine Predigt darüber gehalten, die Gott selber ihm eingegeben haben mußte. Und doch war das ein Rätsel. Fern von der Kanzel, fern von seinem Sprechzimmer war Papa so schwach wie er selber. Hatte Branwell ihn nicht jeden Abend auf den Knien im Gebet vor seinem Bett gesehen, wie er um Stärke flehte, um der Versuchung zu widerstehn? Stöhnte er nicht manchmal im Schlaf und warf sich hin und her? Rief er nicht manchmal nach Mary – nicht nach der Mutter Gottes, sondern nach Branwells eigener toter Mutter, die jetzt an zwei Stellen gleichzeitig war, sicher in Jesu Armen und unter der Steinplatte in der Kirche, des Gerichtstags harrend? Drei in Einem, Eins in Dreien. Gott Vater stand auf der Kanzel, Gott Sohn war im Sprechzimmer oder konnte auch Branwell selbst im Bett gegenüber sein. Und Gott der Heilige Geist war keine rundliche weiße Taube, sondern ein unheimliches, schleichendes Ding, kalt anzurühren, das wisperte, das schlafende Kinder unter den Decken hervorzog und sie unter der Erde erstickte. Der Schlag für sein Sicherheitsgefühl war groß gewesen. Diesmal waren er und seine Schwestern verschont geblieben, der Ausbruch hatte sich beruhigt, das Moor war wieder still. Doch es mußte nicht immer so sein. Überall konnte eine Gefahr lauern. Im Februar fanden seine Ängste, die er in den Wintermonaten vergessen hatte, ihre Rechtfertigung. Maria erkrankte in der Schule, und Papa holte sie heim, um sie zu pflegen. Zuerst war seine Freude groß. Die Schwester war heimgekehrt, das Vorlesen, das Geschichtenerzählen würde wieder beginnen. Doch bald wurde es selbst dem unachtsamen Knaben offenbar, daß Maria zu krank war, um Geschichten zu erzählen, zu krank, um vorzulesen, und abermals begann das alte, lange verdrängte, alltägliche Elend – oben das Krankenzimmer, gedämpfte Stimmen, 27
gedämpfte Schritte, besorgte, unglückliche Mienen auf den Gesichtern der Welt der Erwachsenen. Die Frühlingstage gingen vorüber, und seine Schwester wurde schwächer. Es war ihm nicht einmal mehr erlaubt, ihr mit einem Kuß guten Morgen oder gute Nacht zu wünschen. Am 6. Mai 1825 sagte ihm seine Tante, Maria sei zu Mama gegangen. Nun ruhe auch sie gesichert in Jesu Armen. Sie würde nicht mehr leiden. Wenn es so war, warum der Kummer? Warum Papas gequälte Augen? Und warum hörten Gott und Jesus nicht auf Papa, der Abend um Abend gefleht hatte, Maria möge verschont werden? «Maria ist wohler dort, wo sie jetzt ist», sagte man ihm. Doch allein in ihrem Bett liegend, eingeschrumpft und klein und sehr blaß, Blumen in der leblosen Hand, die Augen geschlossen, war Maria nicht besser dran, wo sie war, Maria war schlimmer, viel schlimmer dran, und war sie erst im Sarg zugenagelt und in die Kirche getragen und unter den Stein gesenkt, dann würde sie bestimmt aus Angst vor der Finsternis erwachen und versuchen, den Stein fortzuschieben, jedoch der Stein würde sich nicht rühren. Kaum war Maria begraben, als die Haushälterin aus der Schule kam und Elizabeth heimbrachte. Auch Elizabeth war krank. Auch Elizabeth mußte im Krankenzimmer liegen, und die Stimmen waren gedämpft und die Schritte lautlos, alles begann von neuem – diesmal allerdings ging es schnell, als wäre Maria selber zurückgekommen, aufgebahrt wie ihre jüngere Schwester. Gott wollte auch Elizabeth. Maria hatte ihm nicht genügt. «Ist es der Heilige Geist, der sie geholt hat?» Niemand antwortete ihm auf seine Frage. Der Vater brachte in seiner Angst auch die beiden andern Kinder heim. Und dann wurde Elizabeth wie Maria und Mama begraben. Gott nahm Heilige und Sünder hinweg. Die Sünder wurden vom Sumpf verschlungen, die Heiligen unter die Steine gelegt. 28
«Während ihrer Krankheit», so schrieb der schwer getroffene Vater von Maria, «ließ ihr Herz viele Kennzeichen eines göttlichen Einflusses merken.» Das war sein Trost. Nicht aber der Trost des Knaben. Denn wenn Himmel und Erde sich in Flammen auflösen und der Mond zu Blut werden sollte, wie Papa in seiner Predigt gesagt hatte, was sollte da aus den Leibern werden, die geblieben waren? Was sollte mit Elizabeth und Maria geschehen? Wo war es denn eigentlich, das Paradies? Langsam und traurig fiel der Sarg Ins enge Haus, das sie nun barg; Und tief erschloß sich meinem Leid Der Blick in jene Ewigkeit, Wo, lebensfeind, Verwesung harrt, Schönheit zu Lehm und Erde ward. Halb ungewußt und ungewollt Als letzter Gruß die Träne rollt. Wild schluchzte ich, als hohl und bang Die erste kalte Scholle sank, Bald würde Glanz zu Todes Raub, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Der junge Mensch von neunzehn Jahren, der mehr an die Verse von James Hogg und John Wilson in «Blackwood’s Magazine» dachte als an die tote Maria, würde fortfahren, auf diese Art Vers um Vers zu schreiben. Doch im Jahre 1825 scheuchte der jähe Tod von Maria und Elizabeth, knapp vor seinem achten Geburtstag, den kleinen Knaben in eine Angst, die ihn nie verlassen, die Jahre hindurch nachts seine Träume erfüllen sollte, wieviel Energie und Eifer er auch in seine Tage legen mochte.
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III
D
en vier am Leben gebliebenen Kindern wurde gesagt, ihre beiden Schwestern seien an «Auszehrung» oder «Schwindsucht» gestorben. Diese Worte sollten sie ihr Leben lang verfolgen. Inwiefern diese Erklärung stimmte, wird sich nie feststellen lassen. Die Schwindsucht war tatsächlich im frühen neunzehnten Jahrhundert eine Geißel; dennoch ist in der Geschichte der letzten Wochen der beiden Mädchen vieles, was sich nur schwer erklären läßt. Warum wurde Maria, bevor sie wegen «schlechten Gesundheitszustands» im Februar die Schule verließ, ein «Zugpflaster» an der Seite angesetzt? In jener Zeit legte man Zugpflaster auf, um einen Schmerz zu bekämpfen. Und was war jener geheimnisvolle «beunruhigende Unfall», der Elizabeth traf, deren Kopf dadurch einen «schweren Schnitt» erlitt – so sehr, daß Miss Evans, die diensthabende Lehrerin, die später Mrs. Gaskell über den Unfall berichtete, das Kind in ihr eigenes Zimmer nehmen mußte, «nicht bloß der größeren Ruhe wegen, sondern damit ich selber über sie wachen konnte»? Es ist nicht entdeckt worden, ob Elizabeth zur Zeit ihres «Unfalls» von dem Tode ihrer Schwester wußte. Und wenn – war sie durch den Tod ebenso erschüttert wie ihr kleiner Bruder Branwell? Ist sie im Schlaf gewandelt und gestürzt? 30
Sechs Jahre später erzählte Charlotte Brontë ihren Zimmergefährtinnen in einer andern und glücklicheren Schule als Cowan Bridge Geschichten und erschreckte ihre Zuhörerinnen mit der Schilderung des Nachtwandelns; so lebhaft war ihre Darstellung, daß sie plötzlich aufschrie und nicht weitererzählen wollte. Ja, noch tagelang beunruhigte ihr Gewissen sie, so sehr schämte sie sich dessen, was sie getan hatte. War es möglich, daß sie wußte, was Elizabeth zugestoßen war, und sich dessen nur allzu deutlich erinnerte? Im Jahre 1825, zurück im Pfarrhaus, schlossen die vier Kinder sich enger aneinander, als sie es vor der doppelten Tragödie getan hatten. Ein primitiver Herdeninstinkt hieß sie, sich zusammenzuschließen – denn bestimmt war in der Masse eine gewisse Sicherheit. Die beiden, die daheim geblieben waren, wurden zu kleinen Schatten von Vater und Tante, und nun wandten sie sich zu den heimkehrenden Schwestern Charlotte und Emily wie Mücken zur Flamme; Branwell zu Charlotte, Anne zu Emily. Dem Knaben war es gar nicht bewußt geworden, wie sehr ihm die Gesellschaft von Gleichaltrigen gefehlt hatte. Papa war der All-Wichtige, doch Papa «spielte» nicht. Und Charlotte, nur um ein Jahr älter als er und mit einer Phantasie begabt, die sich an der seinen entzündete, war jederzeit bereit, sich seinen wechselnden Launen anzupassen, wurde Abenteurer oder Prinz, Soldat oder Bandit, eine der Figuren, die sie, je nach der Lektion des Tages, der vorgelesenen Geschichte, den Ereignissen in der Tageszeitung, für sich erfanden. Branwell, den sein Vater unten im Wohnzimmer unterrichtete, während seine Schwestern oben im Schlafzimmer der Tante simplere Unterweisung erhielten, besaß bereits einen bei einem achtjährigen Knaben ungewöhnlichen Wortschatz. Er hatte die Fähigkeit, eine Seite auf einen 31
einzigen Blick zu lesen und seinem Gedächtnis einzuverleiben, eine Lektion zu hören und Wort für Wort zu wiederholen, Namen von Menschen, Orten, Gestalten, Ländern in einer besondern Kammer seines Geistes aufzuspeichern und sie, wenn er wollte, ohne den geringsten Fehler ans Licht zu fördern und so seine Umgebung, insbesondere seinen Vater, in Erstaunen zu versetzen. Von Natur aus Linkshänder, konnte er doch ebenso gut mit der rechten Hand schreiben und sogar, in späteren Jahren, zwei Briefe gleichzeitig, jeden mit einer Hand. Mr. Brontë, der seinen Sohn für ein Wunderkind hielt, fütterte ihn, abgesehen von dem normalen Studiengang, noch mit Latein und Griechisch. Da war ein Knabe, so meinte er, der sich auf dem besten Weg befand, ein erstklassiger Gelehrter der klassischen Wissenschaft zu werden, und der, mit seiner außerordentlichen Gabe, Kenntnisse in sich zu sammeln, eines Tages seine Zeitgenossen in Oxford oder Cambridge überglänzen würde. Eine Gefahr bestand. Sein Sohn war vielleicht allzu klug. So klug, daß jene Krankheit, damals als «Gehirnfieber» bekannt, ihn anfallen könnte. Der Knabe war geistig überhitzt und sehr reizbar. Begeisterte er sich zu sehr, so schien er einen Gipfel der Verzückung zu erreichen, der an Hysterie grenzte, und dann sank er, ohne Sinn und Grund, zusammen, und es folgten Schauer und Tränen. Sein Temperament war viel zu nervös für eine Schule, das lag auf der Hand. Davon konnte nie die Rede sein. Hier, im Heim, konnte der Vater seinen Sohn bewachen, konnte dafür sorgen, daß ihn kein Leid traf. Dadurch, daß er ihn in seinem eigenen Zimmer schlafen ließ, war er doppelt sicher, daß der Knabe vor jeder Gefahr bewahrt blieb. Er konnte ihn beobachten, auch wenn das Kind schlief. Die hohe Stirne, die schöne römische Nase, die Fülle rotbraunen Haars, das so sehr dem eigenen glich. Es 32
war auch rührend mitanzusehen, daß der Knabe, in der Nähe des Vaters, von Zeit zu Zeit dessen Stimmungen zu übernehmen schien, schwermütig oder fröhlich war, je nachdem sich die Laune des Vaters zeigte. Das Kind war so frühreif, daß der Vater in seiner Einsamkeit oft das Bedürfnis gefühlt haben mußte, mit ihm zu reden, als wären sie Altersgenossen. Vielleicht erzählte er Branwell von vergangenen Zeiten, von seiner Liebe zu Maria, seiner Gattin, zu Maria, seiner Tochter, die jetzt als Heilige im Himmel und glücklich dieser sündigen Erde entrückt waren, obgleich seine eigene Einsamkeit schwer zu ertragen war und bis ans Ende seiner Tage dauern mußte. Maria … Maria … auch in unbehüteten Augenblicken mußte der Name seinen Lippen entglitten sein – denn es tat nicht gut, die Lebenden ständig an die Toten zu erinnern, es sei denn, um sie als Beispiele von Anmut und Reinheit hinzustellen. Branwell, mit der linken Hand beschäftigt, die private Zeitschrift zu schreiben, die er und Charlotte herausgaben, bemerkte vielleicht nicht einmal, wenn die rechte Hand «Maria» kritzelte, oder wenn er es bemerkte, war er am Ende entzückt von dieser Leistung, denn das war ein Kunststück, das keiner außer ihm fertig brachte. Die Kinder spielten verschiedene Spiele, die von Branwell und Charlotte gemeinsam erfunden waren. Da gab es das «Junge-Männer-Spiel», das begonnen hatte, als Branwell fast neun Jahre alt war und der Vater ihm eine Schachtel mit zwölf Holzsoldaten heimbrachte, um jene zu ersetzen, die verloren gegangen waren. «Als ich sie an jenem Morgen, nachdem sie gekauft waren, zum ersten Mal sah», schrieb Branwell mit dreizehn Jahren in einer Notiz zu seiner «Geschichte der jungen Männer», wie er seine Soldaten genannt hatte, «da brachte ich sie zu Emily, Charlotte und Anne. Jede nahm einen 33
Soldaten, nannte ihn mit einem Namen, den ich guthieß, und so gab ich Charlotte Twemy, das war Wellington, Emily Pare, das war Parry, und Anne Trott, das war Ross, damit sie sie hegten, obgleich sie mir gehören sollten und ich nach meinem Gutdünken über sie verfügen konnte. Bald darauf aber gab ich sie ihnen zu eigen.» Die «Geschichte» selbst enthielt eine phantastische Darstellung der Episode, darin Branwell, nicht länger ein kleiner Junge in seinem Nachthemd, sich zu einem «riesigen und schrecklichen Ungeheuer» verwandelt und seine Schwestern auch. «Sein Kopf, der an die Wolken rührte, war von einem wilden, roten Schein umkreist, seine Nüstern schnaubten Flammen und Rauch, und er war in ein dunkles, verschwommenes, unbeschreibliches Gewand eingehüllt.» Das Ungeheuer sprang auf die Holzsoldaten herab, die jetzt in der Einbildung des Knaben zu einer Schar zitternder, verängstigter junger Männer wurden, packte sie «mit seiner mächtigen Hand und flog im Nu davon. Nach kurzer Zeit aber landete das Ungeheuer vor einem riesigen Palast, den es betrat, und brachte sie in eine Halle von unvorstellbarer Weite und Herrlichkeit. An dem einen Ende des Raumes saßen drei Wesen, ungefähr von der gleichen Größe wie das Ungeheuer, in Wolken gehüllt, lodernde Flammen um die Köpfe. Als es eintrat, standen alle auf und fragten: ,Sind sie gekommen?’ ,Ja’, erwiderte es und sagte gleichzeitig: ,Nieder vor ihnen! Auf der Stelle!’ Das größte der drei Ungeheuer packte Arthur Wellesley, das nächste E. W. Parry und das letzte J. Ross. Lange Zeit betrachteten sie sie in einem Schweigen, das durch das Ungeheuer unterbrochen wurde, welches die drei hergebracht hatte und sagte: ,Wißt denn, daß ich sie eurem Schutz anvertraue, doch nicht als euer Eigentum, diese drei Sterblichen, die ihr in euren Händen haltet.’ 34
Als sie das hörten, begannen Wellesley, Parry und Ross kläglich zu weinen, denn sie meinten, nun wären sie für immer von ihrem König und ihren Kameraden getrennt, doch die drei Ungeheuer sprachen zunächst ihrem Wohltäter ihren Dank aus und beruhigten sie dann; sie würden über ihr Leben wachen und ihre Schutzgeister sein, wohin sie auch gehn mochten. Das erste Ungeheuer ergriff jetzt Sneaky und sagte: ,Du stehst unter meinem Schutz, und ich will über dein Leben wachen. Denn ich sage euch allen, daß ihr eines Tages Könige sein sollt.’» Ein anderes Spiel hieß «Die Inselbewohner», darin jedes Kind eine Insel wählte und mit Helden seiner Wahl bevölkerte. Branwell wählte die Insel Man und als Helden John Bull, den Literaten Leigh Hunt und den Arzt Astley Cooper. Diese zwei Spiele entwickelten sich zum «Afrikanischen Abenteuer», darin die Soldaten, als Schiffbrüchige an der Küste von Guinea, mit den Eingeborenen kämpften und schließlich eine Kolonie gründeten, die sie in zwölf Königreiche teilten, für jeden Soldaten eines. Branwell entwarf in seiner glühenden Erfindungsgabe Landkarten, um die Kolonie deutlich zu machen, und dann ging er daran, eine Verfassung aufzustellen und die Königreiche mit Führern, Staatsmännern, Verlegern zu bevölkern, die natürlich Zeitungen und Zeitschriften herausgaben. Er fand sogar Zeit, in der Gestalt von Jung Soult, dem Dichter von Glas-Stadt, der Hauptstadt der jetzt sehr ausgedehnten afrikanischen Kolonie, in Blankversen ein zweiaktiges Stück zu schreiben, das «Caractacus» hieß. Was auch Branwell las, was er gelehrt wurde, was er von Ortsklatsch oder anderen Neuigkeiten tagsüber aufschnappte, wurde sogleich in seinem Geist gesiebt, mit Charlotte durchgesprochen und zu Papier gebracht. Sie arbeiteten – oder spielten, wie die Erwachsenen es nannten – in dem selben kleinen Kinder- und Arbeitszim35
mer, das Maria gehört hatte. Das war ihr Reich. Hier herrschten die vier Genien unbeschränkt. Könige und Soldaten kämpften und starben, Staatsmänner wurden gewählt und gestürzt, Rebellen erhoben sich, Aufstände wurden unterdrückt, und der Obergenius Brannii schwenkte seinen Zauberstab, sein Haar war ein feuriger Kamm, seine kleinen Augen blitzten hinter der Brille hervor – denn sowohl er wie Charlotte waren kurzsichtig; er war mit zwölf Jahren kaum größer, als er mit neun gewesen war, aber er lenkte und leitete das Spiel, das zu ihrer Leidenschaft geworden war und nur durch die Mahlzeiten und die Unterrichtsstunden unterbrochen wurde. Die ersten Gedichte und Erzählungen, die sich aus ihren Spielen entwickelten, waren unbeholfen und vielleicht nicht einfallsreicher und nicht besser geschrieben als ähnliche Erzeugnisse anderer begabter Kinder, aber die Fülle war erstaunlich. Die kleinen Hefte, geschrieben mit einer Reißfeder in einer winzigen Schrift, die nur die Verfasser lesen konnten, und säuberlich zusammengenäht, enthielten viele tausend Wörter. Manchmal, um das Spiel noch geheimnisvoller zu gestalten, benützte Branwell eine von ihm erfundene Sprache, eine Mischung von YorkshireDialekt, Griechisch und Latein, die nur zwischen den vier Kindern gesprochen werden konnte und die Erwachsenen irreführte. Kriegerische Verwicklungen waren Branwells Spezialität. Es mußte Schlachten geben und immer noch mehr Schlachten. Blut und Schlamm und Tod und Verheerung. In den Jahren 1830 bis 1832 schrieb er, von den Zeitschriften und von «Caractacus» abgesehen, sechs Bücher, betitelt «Briefe eines Engländers», die phantastischen Abenteuer eines Bankiers, der Glas-Stadt in der afrikanischen Kolonie besucht. Das Stück «Caractacus», geschrieben am 26. Juni 1830, als sein Vater krank zu Bett lag 36
und, wahrscheinlich von einer Influenza, so geschwächt war, daß er, nach Charlottes Angabe, «sich nicht ohne Hilfe erheben konnte», mag in der Absicht verfaßt worden sein, den Kranken aufzuheitern und mit klassischen Kenntnissen zu erfreuen. In den «Briefen eines Engländers» löste sich Branwell von den Klassikern, und obgleich er scheinbar Afrika schilderte, ließ er in Wirklichkeit seine Phantasie über das Moor von Haworth streifen, wo er sich wahrscheinlich am selben Nachmittag herumgetrieben hatte; und so schrieb er denn: «In dem freundlichen, entzückenden Land, das wir eben verlassen hatten, zeigten sich keine Bäume oder wenn, so nur einige mächtige, schwarze schottische Fichten, die in Gruppen am Straßenrand standen, da und dort kleine Büschel Heidekraut auf den Gipfeln der Berge, das reife Getreide wich dem Stechginster, das frische grüne Gras wurde zu Sumpf und Röhricht, und nach einem Ritt von nur wenigen Minuten fanden wir uns auf einem ungeheuren Moor, das dem Auge nichts bot als ein ununterbrochenes Meer von Heidekraut – kein einziger Gegenstand, der die öde Weite belebt hätte, bis auf, dann und wann, einen Flug roter Birkhühner oder einen riesenhaften, ungehobelten Wilderer … Doch um die Summe unserer Mißgeschicke zu vervollständigen, brach die Nacht jäh herein … und dann ergoß sich ein unbarmherziger Sturz von Regen und Hagel über uns, als würden wir von einer Batterie beschossen. Plötzlich rief Lord Charles: ,Ich sehe ein Licht!’ Eifrig spähten wir, und wirklich, kaum eine Steinwurfweite von uns entfernt, stand ein Bauernhaus. Der Marquis klopfte an die Türe. Sie wurde von einem riesigen Kerl geöffnet, der sich auf ihn stürzte und ihn beim Kragen packte.» Miss Branwell, die ruhig im Nebenzimmer nähte, mochte sich über die Ausrufe wundern, über das unterdrückte 37
Gelächter, über mögliche Diskussionen wie etwa: «So kann es sich nicht abspielen …» und «doch … doch … ich habe es selber gesehen.» Und die Stimme des Knaben hob sich erregt. Da war es an der Zeit einzugreifen, mahnend an die Wand zu klopfen: «Spielt leiser; Papa kann euch hören.» Im Nu wurde es still, die Stimmen sanken zu einem Geflüster herab, und die Geschichte wurde ganz leise weitergelesen, bis sie für Anne, die jüngste, vielleicht zu blutdürstig wurde und sie bei ihrer Tante Zuflucht suchte. «Ich mag Branwells Spiel nicht!» hieß es dann. Das kleine Zimmer, sechs Fuß auf vier, war wunderbar dazu geeignet, mit gerundeten Schultern und über den Tisch gebeugten Köpfen zu schreiben; belebte sich aber das Spiel, und es ging darum, die edle Kunst des Boxens zu zeigen, und wenn Branwell sich mit gehobenen Fäusten bis zur Raserei erhitzte, so wurde es eng, und es bestand die Gefahr, daß eines der Kinder getroffen wurde. War es Anne, so gab Emily, ihre Beschützerin, Branwell wahrscheinlich seine eigene Medizin zu kosten. Für seinen Stolz war es nicht schmeichelhaft, eine jüngere Schwester zu haben, die schon größer war als er und ebenso gut zu geben wie zu nehmen wußte. Da war es vielleicht besser, die beiden in die Küche zu verbannen, wo sie eher Tabbys Geschichten lauschen konnten als seinen eigenen. Was für ein Spaß war es, sich manchmal mit andern Knaben zu treffen, denn das erlaubte sein Vater, wenn sie wohlerzogen waren und aus der Sonntagsschule kamen. Sie benahmen sich nicht immer so wohlerzogen, sobald Mr. Brontë den Rücken gekehrt hatte. Eine kleine Schar sammelte sich, zunächst noch gedämpft, bald aber schreiend, einander in die Schienbeine stoßend, und Branwell beobachtete sie, ein wenig abseits, hingebungsvoll. Eine Hälfte seines Geistes erfaßte das wirkliche Bild, die Jungen, die lachten und schrien und sich zum Kampf auf dem 38
«Pfarrersfeld» rüsteten, wie sie die wenigen Morgen hinter dem Pfarrhaus nannten. Dann aber verwandelte sich die Szene vor seinen Augen in einen Teil seines geheimen Spiels, das Johlen und Schreien kam aus Glas-Stadt in Afrika und nicht aus Haworth in Yorkshire. Mit einem Mal waren seine Freunde Aufständische, eine bewaffnete Masse von etwa dreihunderttausend Mann und im Begriff, die Regierung vor der Sankt Michaelskirche anzugreifen, unter der Führung von Alexander Rogue, einem «hochgewachsenen Mann mit blassen Zügen, die von Sorge und Angst gefurcht waren. Seine Erscheinung, einst offenbar stattlich, schien durch Ungemach und verderbte Gewohnheiten gebrochen zu sein.» Charlotte und Emily mochten sich weigern, die Geschichten zu glauben, die er ihnen nach diesen Begegnungen mit den Dorfbuben erzählte; hatte er die Szene aber einmal vor ihnen gespielt und niedergeschrieben, so wurden seine Schilderungen so wahrhaftig, daß sie wußten, so habe es sich zugetragen. Nicht nur hatte er gegen sechs Jungen gekämpft und sie derart zugerichtet, daß sie heulend heimgerannt waren, sondern er hatte auch eine Revolution entfesselt. Jetzt war Alexander Rogue kein anderer als er selbst. Was sich wirklich ereignet haben mochte, was nicht – wie prachtvoll verschmolzen die Szenen in Branwells fröhlicher, glücklicher, freier Phantasie! Während in den Köpfen einiger seiner Schulkameraden, die nichts von dem geheimen Spiel, nichts von Glas-Stadt und Alexander Rogue wußten, nach Jahren nur vereinzelte Zwischenfälle erhalten blieben, die sie den Besuchern von Haworth erzählten – die Erinnerung, zum Beispiel, an einen rothaarigen Burschen in einer Schaukel beim Jahrmarkt von Keighley. Die Trommeln rasselten, die Zimbeln dröhnten, die Pferde des Ringelspiels bäumten sich in ihrem Kreislauf. 39
Wenn der Abend sich hinzog, die Lichter angezündet wurden und das Treiben gehetzter und ungestümer wurde, dann hob sich eine einzige Schaukel in den Himmel über den lichtflackernden Buden, wurde immer schneller aufwärts gejagt von dem Knaben, der sich an die Seile klammerte, und der, wenn die Schaukel sich hob oder senkte, vor Erregung taumelig, aus Leibeskräften schrie: «O meine Nerven … meine Nerven … meine Nerven!»
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IV
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m Januar 1831 wurde Charlotte, die jetzt vierzehneinhalb war, wieder in die Schule geschickt. Wie Branwell war sie für ihr Alter klein, und wie ihre Schulkameradinnen später Mrs. Gaskell berichteten, «alles andere als hübsch, ihr von Natur aus schönes Haar von weichem, seidigem Braun war damals trocken und zu engen, kleinen Löckchen gedreht; und mit ihrer Kurzsichtigkeit schien sie immer irgend etwas zu suchen. Sie war sehr schüchtern und nervös, und sie trug ein dunkles, verschossenes, grünes Kleid von altmodischem Schnitt, das ihr Äußeres noch mehr beeinträchtigte». Die neue Schule war Roe Head bei Mirfield, keine zwanzig Meilen von Haworth entfernt, und die Direktorin war Miss Margaret Wooler, welche die Schule gemeinsam mit ihren Schwestern, Miss Catherine, Miss Marianne und Miss Eliza, leitete. Keine zwei Meilen davon entfernt wohnte ein alter Freund von Charlottes Vater, der Pfarrer Hammond Roberson, der mit Mrs. Franks aus Huddersfield, einer Freundin aus der Thorntoner Zeit, Roe Head wahrscheinlich als in jeder Hinsicht ausgezeichnet und ganz anders als das frühere Cowan Bridge empfohlen hatte. Es gab anscheinend keinen Grund für den Entschluß, Charlotte in die Schule zu schicken. Sie war wohl dem 41
recht bescheidenen Unterricht ihrer Tante entwachsen, aber sie konnte mit Branwell die Stunden bei ihrem Vater teilen und tat es zweifellos auch. Zwei kluge Kinder zu unterrichten, wäre für Mr. Brontës Schultern keine allzu schwere Bürde gewesen; ja, und der Wetteifer zwischen den beiden hätte den Knaben zu größeren Leistungen angespornt. Möglicherweise war die Intensität der schriftstellerischen Tätigkeit oben, im früheren Kinderzimmer, für beide, Vater und Tante, eine Sorge geworden. Die Kinder strengten ihre Augen an, ihre Rücken wurden rund, und die verkrampfte, winzige Schrift würde später die Lesbarkeit ihrer Handschrift beeinträchtigen. Überdies mochte auch die Heimlichkeit des Spiels ungesund sein. Den Erwachsenen konnten all die seltsamen Namen und Orte nicht verborgen bleiben, welche zwischen den beiden erwähnt wurden, als existierten sie in Wirklichkeit; mit einem Nicken oder einem Lächeln oder Andeutungen, einem Wort Charlottes oder einer dramatischen Geste Branwells. Es würde Charlotte gut tun, mit andern, gleichaltrigen Mädchen zusammenzukommen – all diese Komödien waren, wie die Tante erklärt haben mag, nicht passend. Vielleicht hatte sie angeregt, daß auch Branwell in die Schule gehn sollte. Doch darin blieb Mr. Brontë unerschütterlich. Charlotte ja; der Knabe nicht. In seiner nervösen Überspanntheit würde er die rauhe Behandlung eines Internats nie überleben. Die Reizbarkeit seiner Natur würde mißverstanden werden, und wer, in einem Schlafsaal, gefüllt mit spottlustigen Spielgefährten, würde zwischen Traum und Albdruck oder, schlimmer noch, jenen gelegentlichen Nervenzuständen unterscheiden, die ebenso gefährlich waren wie Krämpfe? Der Knabe war am besten daheim, in der Hut seines Vaters. 42
So fuhr Charlotte nach Roe Head. Dieser Bruch einer Gemeinschaft traf Branwell am härtesten. Er und Charlotte waren unzertrennlich, und gerade jetzt, da ihr «Spiel» einen neuen Höhepunkt des Interesses erreicht hatte, wurde sie ihm entrissen! Emily und Anne waren ein kläglicher Ersatz, denn sie spielten lieber ihr eigenes «Spiel» – in weitem Umfang Nachahmungen seiner Erfindung, und für ihre nichtsnutzigen Gestalten verwendeten sie sogar die selben Namen! Er tröstete sich, so gut er konnte, indem er die Arbeit an der Geschichte von den «Briefen eines Engländers» fortsetzte, die er, während der Schulzeit, seiner Schwester jede Woche schicken wollte, um sie über die Nachrichten aus Afrika auf dem Laufenden zu halten. Wenn Tante Branwell und Mr. Brontë hofften, die Trennung werde einen Schluß des Unsinns zwischen Bruder und Schwester bedeuten, sobald die größeren Interessen des Lebens in der Schule mit all diesen kindischen Dingen aufräumen sollten, so waren sie im Irrtum. Anderthalb Jahre in Roe Head gaben der jungen Schriftstellerin, die bereits ebenso viele Geschichten verfaßt, ebenso viele Zeitschriften herausgegeben hatte wie ihr Bruder, eine Grundlage in englischer Grammatik, in Geographie. Zumal in Geographie war sie von einer kläglichen Ahnungslosigkeit, obgleich sie doch geholfen hatte, die Küste von Guinea zu kolonisieren. Auch ihre Kenntnisse des Französischen und der Geschichte vervollkommnete sie und preßte in ihr aufnahmebereites Gedächtnis jeden Brocken Wissen, den Miss Wooler ihr zukommen lassen konnte. Dennoch ging das «Spiel» ebenso lebendig weiter wie immer. Der Gedanke daran war an vielen langweiligen Schultagen ihr Trost, und mehr noch, die zahlreichen Gestalten ihrer Schulkameradinnen und Lehrerinnen ließen sich in Personen der Handlung umwandeln – natürlich ohne daß sie etwas davon wußten. 43
Branwell konnte jetzt die Liste seiner Figuren erheblich verlängern, denn er führte nicht bloß die Bewohner von Haworth ein, die er Tag für Tag sah, sondern auch die Damen Wooler in Roe Head, die zu Gattinnen seiner Offiziere werden konnten. Miss Margaret, Charlottes Direktorin, deren «langes, geflochtenes Haar eine Krone bildete, und der große Locken vom Kopf bis auf die Schultern fielen», war doch gewiß eine ausgezeichnete Lady Zenobia Ellington, die spätere Gattin Alexander Rogues. Und Charlottes zwei Freundinnen, Ellen Nussey und Mary Tailor, die eine dunkel, still und sanft, die andere blond, intelligent und so hübsch, daß die Direktorin häufig sagte, sie sei «zu hübsch für das Leben», waren wie geschaffen zu Heldinnen und warteten nur darauf, ihre Plätze an der afrikanischen Küste einzunehmen. Das durften sie natürlich nie erfahren. Das Geheimnis mußte gewahrt bleiben. Wenn irgendwer je etwas von dem Spiel entdeckte, die verborgenen Bücher las, in einer der handelnden Personen ein lebendes Vorbild erkannte … das wäre eine Katastrophe. Das prägte Charlotte ihrem Bruder ein, der in der Unterhaltung weniger verschwiegen war als sie; und mit einem seltsamen, halb-bewußten Gefühl, daß das, was sie erfanden, irgendwie unrecht war und von jedermann außer von ihnen mißbilligt und verurteilt würde, nannten sie ihre Schöpfung die «höllische Welt», als wäre Satan selbst der Lord Oberanstifter. Im Sommer 1832 begann Miss Branwell zu merken, daß die Ausbildung der beiden jüngeren Mädchen ihre Kräfte überstieg. Die einfachste und gewiß am wenigsten kostspielige Lösung in dem knappen Haushalt war es, daß Charlotte heimkehrte und ihre neuerworbenen Kenntnisse den Schwestern beibrachte. Das tat sie denn auch. Und so waren die vier wieder vereint. Das «Spiel» ging weiter. Noch immer kam ein Schulbesuch Branwells nicht in Fra44
ge. Darin blieb Mr. Brontë fest. Das Temperament seines Sohnes würde sich nicht mit einer öffentlichen Schule vertragen. Körperlich war der Knabe gesund. Seine Konstitution war stärker als die seiner Schwestern. So wie ein Geheimnis die Krankheit der kleinen Mädchen in Cowan Bridge umschwebt, so ist in der Frage von Branwells Unterricht etwas ungeklärt. Kein Vater, so zärtlich er auch sein mochte, wäre ohne einen guten Grund, den er nach Möglichkeit für sich behielt, so verstockt gewesen. Kann die Erklärung darin zu finden sein, daß Branwell bereits Symptome jener Anfälle merken ließ, die ihn gegen das Ende seines Lebens mit steigender Häufigkeit quälen sollten? Epilepsie verband sich im Denken des neunzehnten Jahrhunderts mit Wahnsinn, war ein Leiden, dessen man kaum Erwähnung tun konnte, eines, das um jeden Preis verheimlicht werden mußte. Ein Internat kam für so einen Knaben nicht in Betracht. Mister Brontë, dem viele vorwarfen, daß er seinem einzigen Sohn gegenüber so duldsam war, mochte über dieses Leiden, von dem er hoffte, die Zeit werde es heilen, ein stolzes Schweigen bewahrt haben. Unterdessen entwickelte sich der Holzsoldat Sneaky, alias schlimmer junger Mann, alias Alexander Rogue, der Aufrührer und Seeräuber, langsam zu Alexander Percy, dem künftigen Viscount Ellrington und Earl von Northangerland, jenem unheimlichen, verbitterten Mann, dessen zahlreiche Liebesgeschichten und wechselnde Schicksalsschläge so wenig mit allem zu tun hatten, was einem Knaben von sechzehn Jahren je zugestoßen war oder zustoßen konnte. Diese Persönlichkeit kann nur nach dem Ideal Branwells von einer heldenhaften Gestalt gebildet sein, die er selber so gern gewesen wäre. Dieser Branwell war nicht klein, trug keine Brille, wurde nicht von seinem Vater unterrichtet, kritzelte nicht mit der linken Hand Gedichte und 45
Geschichten; er war mehr als sechs Fuß groß, hatte braunes Haar, war schön, veranstaltete Revolutionen und fällte Nebenbuhler mit einer starken rechten Hand. Die Entwicklungsjahre brachten nicht nur eine Wandlung des Stils mit sich, sondern auch in den Themen der beiden geheimen Schriftsteller. Das Abenteuer machte der Liebesgeschichte Platz. Nicht dem Krieg gehörte mehr das größte Interesse. Liebe und Intrigen – vor allem verbotene Liebe – waren eine neue Würze für die Schreibenden und die Lauschenden. Moores «Leben Byrons» eröffnete neue Ausblicke, und alte Nummern von «Blackwood’s» wurden zweifellos für die «Noctes Ambrosianae» verwendet, wo Dinge, die bisher nur um des Vergnügens am Lesen willen verschlungen worden waren, jetzt eine eindrucksvolle Bedeutung annahmen. Was waren die «schlimmen Dinge», die Lord Byron getan hatte? Ebenso fruchtbar, wenn auch auf andere Art, waren die aufgeschnappten Bruchstücke von Klatsch um Haworth selbst, die sich mit dem ortsansässigen Kleinadel und den Fabrikanten befaßten und plötzlich von Möglichkeiten trächtig wurden. Charlotte, die das Fieber einer Schulmädchenleidenschaft für jede ihrer Freundinnen, Ellen Nussey und Mary Tailor, erlebt hatte, war begeistert davon, die beiden jetzt in den Rollen verängstigter dramatischer Heldinnen zu sehen, verzehrt von der Leidenschaft zu ihrem, Charlottes eigenem Byronschen Ich – denn das häßliche, übertrieben scheue, siebzehnjährige Mädchen, das kaum die Schule verlassen hatte, war kein anderer als Arthur Wellesley, Marquis von Douro und bald Herzog von Zamorna; obgleich diese selben Freundinnen, denen sie beständig schrieb, denen sie erzählte, wie sie ihre Schwestern unterrichtete und die Tage in einem «entzückenden, wenn auch ein wenig eintönigen Ablauf» verbrachte, nicht im Entferntesten ahnten, daß sie ihre Identität nicht einmal, son46
dern zweimal gewechselt hatten, daß sie alle beide gestorben und wiederbelebt worden waren, und daß die eine vielleicht zur Herzogin wurde. Branwell, dem keine Erinnerung an eine Schulzeit die Phantasie belebte, steuerte zu der gemeinsamen Arbeit wunderliche Einfälle bei – und der Umstand, daß, obgleich die meisten Manuskripte mit Charlottes Namen gezeichnet sind, die Schrift zu großem Teil von Branwell herrührt, beweist, wie eng die Zusammenarbeit war. Halbverdaute, halbverstandene Wörter sprenkelten jetzt die Seiten. Afrikanische Mädchen, von den adligen Kolonisten verführt, gebaren Ungeheuer. Helden waren nicht länger die Söhne ihrer Väter, sondern Ergebnisse schuldhafter Leidenschaften; in Afrika – oder Angria, wie das größte Königreich jetzt hieß – gedieh die Illegitimität und nicht nur die Illegitimität, sondern auch die Blutschande. Das Thema, das damals und auch in späteren Geschichten häufig wiederkehrt, war das der Leidenschaft eines verheirateten Mannes zu der jüngeren Schwester seiner Frau. Daß dieses Thema seinen Ursprung weder in «Blackwood’s» noch in der Byronschen Literatur hatte, sondern im Kirchspiel auf dem Moor, wurde viele Jahre später von Charlotte selber zugegeben, als sie sich in einem unbesonnenen Augenblick darüber zu Mrs. Gaskell aussprach. Die Geschichte, im Zusammenhang mit der «Familie eines leidlich wohlhabenden Wollfabrikanten», hatte, nach Mrs. Gaskell, «auf Charlottes Geist in ihrer frühen Mädchenzeit tiefen Eindruck gemacht». Aus zweiter Hand übernommen und entstellt, war die Geschichte nicht einmal wahr. Doch die betreffende Familie der Heatons von Ponden Hall und Bridge House sollte im Verlauf der Zeit in den Händen Charlottes, Branwells und auch Emilys zahlreiche Veränderungen erleiden. Ein goldener Zauber der Phantasie, verbunden mit viel romantischer Lektüre und schlecht 47
verdautem Geschwätz, das in junge Ohren fiel, verschaffte den Heatons die Unsterblichkeit. Die düstere Vergangenheit der Pfarrkinder ihres Vaters zu phantastischen Liebesgeschichten im Lande Angria zu verflechten, war zu jener Zeit nicht die einzige Beschäftigung Branwells und seiner Schwestern. Im Jahre 1834 packte sie die Leidenschaft für das Zeichnen, und Mr. Brontë wurde dazu überredet, ihnen einen Zeichenlehrer zu halten, einen Mr. Robinson aus Leeds, der bei Sir Thomas Lawrence studiert und sogar den Herzog von Wellington gemalt, ein Detail, das Charlotte, alias den Marquis von Douro, bestimmt für ihn eingenommen hatte. Jahre später bemerkte Mrs. Gaskell, daß der Zeichenlehrer «ein Mann von beträchtlichem Talent, aber sehr geringen Grundsätzen» gewesen sei. Sie läßt sich nicht ausführlicher über das Thema aus, doch die mikroskopischen Manuskripte von Mister Robinsons Schülern während dieser Zeit – Arbeiten, die Mrs. Gaskell nie gelesen hatte – machen viel Aufhebens von dem Liebesleben Sir William Ettys, eines berühmteren Zeitgenossen des Künstlers aus Leeds. In einer der Geschichten stellt sich heraus, daß er der uneheliche Sohn Alexander Percys ist – die Frucht einer unglückseligen Liebe zwischen Branwells Helden und einer italienischen Gräfin. Bestimmt regte der Zeichenlehrer die Phantasie an, doch er tat noch mehr; er bestärkte in dem siebzehnjährigen Branwell, der immer und bei allem der Erste unter den vier Kindern war, den Ehrgeiz, das Malen als Beruf auszuüben, einen Ehrgeiz, der im Sommer 1834 nach dem Besuch einer Ausstellung in Leeds, die zur «Ermutigung der Schönen Künste» stattfand, erheblich gesteigert wurde. Mr. Robinson selber steuerte auch Porträts zu dieser Ausstellung bei, doch das Kunstwerk, das Branwells Blick und auch das Lob der Kritik auf sich zog, war kein Ge48
mälde, sondern eine Skulptur, eine gigantische Büste Satans, geschaffen von einem Dreiundzwanzigjährigen aus Halifax, einem gewissen Joseph Bentley Leyland. Leyland hatte schon einer anderen Kolossalstatue – Spartakus – wegen viel Lob geerntet, die zwei Jahre vorher bei einer Ausstellung in Manchester gezeigt worden war. Die Büste Satans wurde später nach London gebracht, und der Kritiker des «Morning Chronicle» schrieb davon, daß «Mr. Leyland die Schwierigkeiten seiner Aufgabe mit Meisterhand überwunden hatte. Der Augenblick, den der Bildhauer gewählt hatte, ist jene berühmte Stelle in Miltons Dichtung, bekannt als Satans Ansprache an die Sonne. Die charakteristischen Kennzeichen der Gesichtszüge sind die verächtliche Lippe, die geöffneten Nüstern und eine Stirne, die mehr durch ihre Breite als ihre Wölbung auffällt, ein Zeichen für große geistige Fähigkeiten, aber einen Mangel an moralischen Grundsätzen. Mr. Leyland hat aus seinem Satan nicht lediglich ein schreckenerregendes Geschöpf gemacht, sondern auch von jener satanischen Schönheit, die so sehr Miltons Auffassung entspricht.» Als Branwell mit seinem Zeichenlehrer die Galerie in Leeds besuchte, muß er immer wieder zu der Büste Satans zurückgekehrt sein. Ja, hier war Alexander Percy, nicht bloß ein Produkt seiner eigenen Phantasie, geboren in Kindheitsträumen, sondern vor seinen Augen in Gips gestaltet, entworfen von einem Mann, der nur sechs Jahre älter war als er und in Halifax, keine fünfzehn Meilen von Haworth entfernt, lebte. Wenn Joseph Leyland mit dreiundzwanzig berühmt geworden war, warum nicht Branwell Brontë? Auch er konnte in einem Atelier im Pfarrhaus arbeiten, wie Leyland in seinem eigenen Heim in Halifax gearbeitet hatte; er würde in Öl malen, wie Leyland in Ton geschaffen hatte, und später in London studieren, 49
mit andern Malern und Bildhauern zusammenkommen, wie Leyland es getan hatte, und dann zurückkehren und in Leeds seine Werke ausstellen. Solche Pläne befeuerten Branwells Geist, als er nach Haworth zurückkehrte. Jetzt sprach er nur noch von Leyland, vom Malen, von London; und in der geheimen Chronik ihres angrischen Spiels erschien eine neue Schilderung Alexander Percys, diesmal von Charlotte niedergeschrieben, die gleichfalls in der Galerie in Leeds Leylands Büste Satans gesehen haben mußte. «Der Ausdruck ist leicht besinnlich, gesammelt, frei von Spott, bis auf die höhnend geschürzte Lippe und das seltsam starke Glitzern des Auges, dessen Blick – ein Gemisch von heftigstem Trotz und tiefster Nachdenklichkeit – das Blut des Beschauers gefrieren läßt. Meiner Meinung nach verwirklicht dieser Kopf die lebhafteste Vorstellung, die wir uns von Lucifer zu machen vermögen, dem aufrührerischen Erzengel; so eisig erstarrter Stolz ist darin, so unauslotbare Macht des Geistes, eine so leidenschaftslose und doch vollendete Schönheit … Und dann sein Auge … ein kaum menschliches, düsteres, böses Glühen … Mir war es, als könnte er meine Seele lesen, und ich erlitt eine quälende Angst, es könnte etwas Gutes auftauchen, das die furchtbare Macht des Spottes wecken würde, die ich in jedem Zug seines Gesichtes lauern sah. Northangerland hat einen schwarzen Tropfen in seinen Adern, der jedes Glied färbt, um sein Herz lagert und dort, in der Hochburg des Lebens, das ruhmreiche Blut der Percy zur bittersten, greulichsten Galle verwandelt …» Branwell, inmitten seiner Schilderung der Gründung des Königreichs Angria – etwa dreiundzwanzig Seiten gefüllt mit mikroskopischer Schrift – läßt Percy ausrufen:
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So sehe auf mein Leben ich zurück, Und Sturm und Streit in Wüsten schaut mein Blick, Ein Wrack von Sorgen, Hoffnungen und Leid, Sie schwinden, und sie steigen auf erneut, So ging durch Nacht mein Leben ohne Morgen, Wo ständig Schatten mir die Welt verborgen, Aufwärts von meiner Jugend Horizont Zur Lebenshöhe, kalt und unbesonnt. Die Frage war – wer konnte erlöst werden? War Lucifer selbst von dem Allmächtigen aus dem Himmel hinuntergeschleudert worden, als die Welt erschaffen wurde? Wurde er geheißen, Männer und Frauen, die sie bevölkern sollten, in Versuchung zu führen? Hatte James Hogg in seinen «Erinnerungen eines gerechtfertigten Sünders» recht, als er behauptete, der Satan könne in irgendeiner Verkleidung umherstreifen, Mord und Unzucht verüben, und ein unglückliches, schuldloses Wesen, das kein Verbrechen begangen hatte, würde dennoch eines Verbrechens angeklagt, denn die Welt ahnte nicht, daß Satan sich den Körper angeeignet hatte? War es so, dann bedeutete es, daß Satan sich Branwells rechter Hand bemächtigen und sie zwingen konnte, zu schreiben, was sie gar nicht zu schreiben verlangte. Diese Möglichkeit war allzu abscheulich, um in Betracht gezogen zu werden. Die beiden Seiten von Branwells Wesen lagen auf der Waage. Die eine zärtlich, warm, seiner Familie und vor allen seinem Vater hingegeben, um ihrer willen ebenso wie um seiner selbst willen hoffend, er könnte sich durch Schreiben oder Malen so erfolgreich erweisen, daß nicht nur sie, sondern die ganze Welt sein Talent anerkennen würde. Die andere mißtrauisch, spöttisch, skeptisch, ebenso im Zweifel an der eigenen Macht wie an einer Macht über ihm, und manchmal so voll Angst 51
vor dem schwarzen Abgrund der Ewigkeit, daß der einzige Weg, diese Furcht zu sänftigen, anscheinend war, sich in Laster und Tollheit zu stürzen.
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ir, da ich den ernsten Wunsch hege, auf Probezeit als Schüler in die Königliche Akademie einzutreten, nicht aber über die Mittel unterrichtet bin, durch die ich eine Erfüllung meines Wunsches erlangen könnte, erlaube ich mir, von Ihnen, als dem Sekretär der Akademie, eine Antwort auf folgende Fragen zu erbitten: Wo soll ich meine Zeichnungen vorlegen? Zu welcher Zeit? Und insbesondere, kann ich es im August oder September tun? Der Entwurf zu diesem Brief ist auf die Rückseite eines Blattes gekritzelt, das drei poetische Fragmente enthält. Es ist kein Datum notiert, und man kann unmöglich feststellen, ob der endgültige Brief geschrieben und abgesandt wurde. Zwei Spuren deuten darauf hin, daß es im Frühsommer 1835 gewesen sein muß. Die erste ist ein Brief Charlottes an ihre Freundin Ellen Nussey, datiert vom 2. Juli dieses Jahres, darin sie mitteilt, daß sie als Lehrerin nach Roe Head wiederkehren und Emily als ihre Schülerin mitbringen solle, und daß Branwell nach London gehe, wo er hoffentlich bei der Königlichen Akademie aufgenom53
men würde. Die zweite Spur ist ein Brief Mr. Brontës vier Tage später, geschrieben an seine alte Freundin Mrs. Franks in Huddersfield, darin er ihr sagt: «Es ist meine Absicht, meinen Sohn an die Königliche Akademie für Malkunst in London zu schicken.» Zwei Monate später scheint Branwell noch nicht nach London gefahren zu sein, denn am 7. September schrieb sein Vater an den Zeichenlehrer in Leeds, Mr. Robinson, bedankte sich für dessen «große Güte gegen meinen Sohn» und setzte fort: «Wenn alles gut geht, hofft Branwell, am nächsten Freitag bei Ihnen zu sein, um seinen Zeichenunterricht zu beenden.» Das hat Branwell sehr wahrscheinlich getan; er fuhr nach Leeds, nahm seine letzte Lektion – wie er meinte – und machte sich auf den Weg nach London und an die Königliche Akademie. Der Rest ist Schweigen. Ob Branwell seine Zeichnungen vorgelegt hat, ob sie dort für seine Aufnahme als Schüler nicht zureichten, ist nie festgestellt worden; in den Archiven der Königlichen Akademie sind keine Briefe über diese Frage vorhanden. Branwells einzige Ausgaben wären Wohnung und Verpflegung gewesen, und darüber muß man sich wohl erkundigt haben, bevor er nach London fuhr. Der Unterricht war damals, wie er es auch heute ist, frei, denn die jährlichen Ausstellungen in der Königlichen Akademie decken die Kosten der Zeichenschule. Schüler werden ihrem Können entsprechend aufgenommen. Sie müssen etwa zehn Arbeiten ihrer eigenen Wahl vorlegen, und es sollen auch Zeichnungen «nach dem Leben» darunter sein. Die Maßstäbe waren jederzeit hoch. All diese Tatsachen müßte Mr. Robinson gekannt haben. Er hätte einem Schüler kaum erlaubt, Zeichnungen vorzulegen, wenn er selbst nicht Hoffnungen auf den Erfolg gesetzt hätte. Charlottes Briefe aus Roe Head an ihre Freundin Ellen Nussey sprechen nie wieder von Branwells 54
möglicher Zulassung zur Königlichen Akademie, und Mrs. Nussey selber sagte, von Mrs. Gaskell befragt, Jahre später: «Ich weiß nicht, ob es sein Verhalten oder der Mangel an Geld war, was Branwell gehindert hat, an die Königliche Akademie zu gehn. Wahrscheinlich gab es Schwierigkeiten beider Art.» Branwell war achtzehn geworden. Er war nicht schüchtern wie seine Schwestern. Er hatte großes Selbstvertrauen. Früher in diesem Sommer war er Sekretär des lokalen Konservativen Ausschusses während einer umstrittenen Wahl für den Bezirk West Riding von Yorkshire gewesen; die beiden Gegner waren John Stuart-Wortley, zweiter Baron Wharncliffe, und Viscount Morpeth, und er scheint jedermann mit seiner Redegabe beeindruckt zu haben, überdies auch – vielleicht ein Trumpf mehr bei der Tätigkeit eines Ausschusses – durch seine Fähigkeit, mit beiden Händen gleichzeitig zu schreiben. Zweifellos fuhr Branwell nach London; doch ob er von seinem Vater, von Mr. Robinson oder von John Brown begleitet wurde, der jetzt Küster bei St. Michael in Haworth und mit einunddreißig ein Mann von einiger Bedeutung in der kleinen Gemeinde geworden war, bleibt unbekannt. Am wahrscheinlichsten dürfte es Mr. Robinson gewesen sein. Der Zeichenlehrer dürfte auch gewußt haben, daß Joseph Leyland zu jener Zeit in London wohnte. Es gibt die Aussage eines Mannes, der damals in London war und Branwell Brontë in der Castle Tavern in Holborn gesehen haben soll. Dieser Mann, ein gewisser Moolven, später Fahrkartenabnehmer auf der Leeds- und Manchesterbahn, sagte, er habe Branwell zum ersten Mal in der Taverne getroffen, anscheinend allein, und sei sehr beeindruckt gewesen von des jungen Menschen «ungewöhnlicher Sprachgewandtheit und Gedächtnisstärke»; es war so, daß «die Zuschauer ihn zum Schiedsrichter in einem Streit 55
machten, der sich über die Daten bestimmter berühmter Schlachten erhob». Kein Wort allerdings davon, was sich in der Königlichen Akademie begab … Branwell selbst hatte, als er fast ein Jahr später «Die Abenteuer von Charles Wentworth» schrieb, am 28. Mai 1836 zu berichten: «Es war ein heller, erfrischender Maimorgen, und als er sich in seinem Sitz zurückwarf, wurde er rasch in eine Welt des Denkens fortgetragen, und der Inhalt seiner Gedanken war, daß all diese befeuernde Hast nach der mächtigsten Stadt der Welt, wo er das wirkliche Leben beginnen sollte, nicht die Hälfte oder auch nur ein Viertel jener Erregung, jener Freude geschaffen, die er sich immer davon erwartet hatte. Nun, dachte er, war es das, was ich immer als eine meiner größten Quellen des Glücks angesehen hatte, und als ich entdeckte, daß der Strom der Freude trockener und trockener wurde, tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß ich, während ich mich den Einundzwanzig näherte, auch der großen Quelle näher kam, wo all mein Durst gestillt werden sollte. Was aber war es, das mir seit ein oder zwei Jahren ins Ohr geflüstert worden war – Glück besteht in der Vorfreude … Dann gedachte er daran, was seine Lehrer ihm gesagt hatten, als sie ihn in der Erwartung eines großen Vermögens sahen, das ihm in die Arme fiel, wie er sich dem Müßiggang ergab, umherging, ohne etwas zu tun und sich um nichts kümmerte, sondern Luftschlösser zur Ausschmükkung seines künftigen Lebens baute. ,Nun’, sagten sie, ,du kannst nie wirkliches Glück erwarten, ohne dafür zu arbeiten. Mühe ist die Nußschale, welche die Freude birgt, knack sie auf, und du kannst sie finden. Sonst nie. Je härter die Schale, desto besser die Nuß.’ 56
Meine erste Erwägung führt mich zu dem Schluß, daß ich nichts haben werde, um meine Mühe zu belohnen. Warum also sollte ich arbeiten? Es gibt zahlreiche Wege in diesem Leben. Welchen soll ich einschlagen? Nur verlangen sie alle, daß man geht, um zu ihnen zu gelangen. Doch jetzt habe ich es. Das Leben ist eine Reise abwärts; alles fügt sich zusammen, um zu sagen, daß es uns abwärts trägt. Darum, wenn die Menschen im Leben vorwärtskommen, zielen sie immer dorthin. Und ich kann nicht auf dem Gipfel der Kindheit bleiben, denn die Zeit schwebt an mir vorüber, nimmt mich bei der Hand und jagt mich weiter, ob ich will oder nicht. Ich will auf Nebenpfaden durch das Leben gehn und niemals abwärts.» Und später: «Den ganzen Tag war Wentworth ziellos umhergestrichen, doch den Eindrücken hingegeben, die ihm die wandelnden Szenen boten, ohne sich je aufzuhalten, um zu essen oder zu trinken oder auf sein Äußeres zu achten, sondern mit einem wilden, mutlosen Blick kümmerlicher Abgekehrtheit. Sein Denken war zu unruhig, um innezuhalten und irgendetwas genau zu prüfen. Er ging herum und schlug Funken aus seinem Geist. Er empfand jenes Bedürfnis, jenes ruhelose, unbehagliche Gefühl, bei dem Ruhe eine Qual ist und Behagen Betäubung erzeugt. Die Blitze des Gefühls, welche ständig funkelnd seine Seele erregten, und nichts mehr war ihm wichtig, an nichts anderes dachte er. Vor ihm dehnten sich Docks und Schiffe und Waren und das blaue, grenzenlose Meer …» War es Branwell Brontë nicht gelungen, in die Schule der Königlichen Akademie aufgenommen zu werden? Oder verkündeten die «Blitze von Gefühl» und die «Ruhelosigkeit», die Charles Wentworth bestürmten, in dem achtzehnjährigen Burschen einen epileptischen Anfall? 57
Über Branwells Besuch in London wurde für alle Zeit in Haworth Schweigen gewahrt. Im Dezember des selben Jahres erhielt der Redakteur von «Blackwood’s Magazine» einen leidenschaftlichen Brief aus Haworth, darin es hieß: «Sir, lesen Sie, was ich schreibe. Und gebe der Himmel, daß Sie es für wahr halten könnten, denn dann würden Sie es beachten und danach handeln. Ich habe mich schon zweimal an Sie gewendet, und jetzt tue ich es wieder … nun, Sir, Sie haben den Eindruck, daß ich mit anmaßender Sicherheit schreibe. Das tue ich nicht; denn ich kenne mich selbst so weit, um an meine eigene Ursprünglichkeit zu glauben; und auf dieser Grundlage erbitte ich von Ihnen Aufnahme in Ihre Reihen. Und wundern Sie sich nicht darüber, daß ich mich so entschieden bewerbe … aber der Gedanke, bei einer andern Zeitschrift mitzuarbeiten, ist schrecklich abstoßend. Mein Entschluß ist, meine Fähigkeiten Ihnen zu widmen, und, um Himmels willen, bevor Sie erkennen, ob ich Ihnen von Nutzen sein kann oder nicht, lehnen Sie mein Angebot nicht so kalt ab. Alles, was ich von Ihnen erbitte, Sir, ist, daß Sie in Beantwortung meines Briefes eine oder mehrere Proben meiner Tätigkeit anfordern, und ich wünschte sogar, daß Sie das Thema nennen, über welches ich Ihrem Wunsch nach schreiben soll.» Hätte der Schreiber seinen Brief hier geendet, so wäre ihm vielleicht eine Antwort zuteil geworden. Doch der letzte Absatz mußte sein Unglück besiegelt haben: «Und jetzt, Sir, handeln Sie nicht wie ein Durchschnittsmensch, sondern wie ein Mann, der gewillt ist, selber zu prüfen. Wenden Sie sich nicht von der nackten Wahrheit meiner Briefe ab, sondern erproben Sie mich – und wenn ich die 58
Prüfung nicht bestehe, so will ich mich Ihnen nicht länger aufdrängen. Wenn ich sie aber bestehe – nun, Sie haben an James Hogg einen fähigen Mitarbeiter verloren, und Gott gebe, daß Sie einen finden mögen in Patrick Branwell Brontë.» Man fand den Brief erheiternd genug, um ihn in den Archiven von «Blackwood’s» aufzubewahren, doch nicht, um ihn zu beantworten. Die Königliche Akademie war Branwell verschlossen. «Blackwood’s» wollte ihn nicht als Mitarbeiter. Da blieb nichts übrig, als die Geschichte von Angria fortzusetzen und Seite um Seite mit zweitklassigen Versen zu füllen. Ein Trost für den gekränkten Stolz war es, daß Emily, jetzt siebzehn und die Größte der Familie, mit den «Augen einer halbgezähmten Kreatur», durch die Schuldisziplin derart aus den Fugen geraten war, daß sie Roe Head nicht länger als drei Monate ertrug. Anne hatte ihren Platz eingenommen, und Emily war jetzt wieder daheim und konnte die Tage mit Branwell teilen. Sie lasen und erörterten die grausigsten Geschichten James Hoggs, darin Geister aus den Gräbern auferstanden, um Bräute sterblicher Männer zu werden, Ärzte Liebeselixiere entdeckten und nicht nur Männer und Frauen bezauberten, sondern auch Stiere, und darin Baron St. Gio, der Mann ohne Gewissen, eine Erbin und ihre Familie ermordete, deren blutige Leiber ein Stallknecht in einen Graben warf. Charlotte hatte sich nie etwas aus Hoggs unheimlicheren Schriften gemacht, doch sie waren die gegebene Kost für Emily, und wenn sie und Branwell über das Moor wanderten – denn sie war eine leidenschaftliche Fußgängerin und sprang über Sümpfe und Gräben, ohne sich darum zu kümmern, wie durchnäßt sie wurde – dann wetteiferten sie miteinander, wer die grauenvollere Phantasie zu produzie59
ren imstande wäre, die verwegenere Gestalt, die natürlich eine Ähnlichkeit mit einem lebenden Menschen auf einem der benachbarten Höfe hatte – mit dem alten Jonas Sunderland, zum Beispiel, oben auf Top Withens, der mit seiner Frau an einem Handwebstuhl arbeitete, oder mit Jonas Pickles, der mit seinen drei Töchtern auf den Hügeln lebte und einmal Diebe mit geschwärzten Gesichtern zwei Stunden lang mit einem Beil in Schach gehalten hatte. Mit der Zeit lernten sie, während der Monate, da Charlotte und Anne in der Schule waren, jeden Zoll von Haworth und Stanbury Moors kennen, wanderten bis Hebden Bridge und Heptonstall oder nordwärts über Jackson’s Ridge nach Wycoller. Jedes einsame Gehöft barg eine Sage – ein Stückchen Wahrheit aus den Geschichten der Heatons oder ein Drama, das an die phantastischen Erzählungen James Hoggs erinnerte. In Rush Isles, zum Beispiel, hatte Betty Heaton ihren Stiefbruder John Shackleton geheiratet – die Verwicklungen solcher Heiraten begeisterten Branwell und Emily – Bettys Vater William selber war der jüngste Sohn eines dreimal verehelicht gewesenen Vaters. Welche vetterliche Anziehungskraft oder Rivalität hielt sie von den Heatons von Ponden Hall fern? Und warum hatte John Murgatroyd Heaton, der älteste Bruder der unglücklichen Elizabeth, die mit siebzehn Jahren verführt worden war, von seines Vaters Vermögen fünfhundert Pfund veruntreut und war mit vierundzwanzig Jahren gestorben? In Sladen Beck, unterhalb Bottoms Farm, war zu ihrer Zeit ein Kind tot aufgefunden worden; und wenn sie die Hauptstraße nach Colne überquerten und an der Two Laws Farm vorüberkamen, konnten sie gar etwas vom armen Bill hören, der mit dreißig Jahren, im Jahre 1817, dem Jahr, da Branwell geboren war, von seiner Liebsten abgewiesen wurde, sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, 60
das neun Fuß auf sechs maß, und dort bei geschlossenem Fenster in seinem Bett lag und nie ein Wort sprach. Die Leute sagten, er müsse sich auf die Seite rollen, um zu essen, denn seine Beine seien so verkrampft und an den Körper gezogen, daß er sie auf der vierpfostigen Bettstelle nicht mehr zu rühren vermochte, und wenn die Krümel auf die Decke fielen, so leckte er sie dort auf, wo sie gerade lagen. Näher ihrem Heim und an Sowdens vorüber, jetzt eine Farm, aber in früheren Zeiten ein Pfarrhaus, sannen sie über die Persönlichkeit des Pfarrers Grimshaw, der zwanzig Jahre hier gelebt und die Gemeinde von Haworth mit seinen Predigten vom höllischen Feuer derart eingeschüchtert hatte, daß die Leute aus den Fenstern des Wirtshauses sprangen und rannten, was sie nur konnten, wenn sie ihn kommen sahen. Während des Gottesdienstes verließ er die Kirche, um nachzusehen, ob etwa lässige Gemeindemitglieder auf dem Kirchhof herumstanden, und fand er sie, so trieb er sie in die Kirche, wie ein Hirt seine Herde treibt. Keinem war es erlaubt, am Tag des Herrn auf das Feld zu gehn; Pfarrer Grimshaw zog selber aus, um die Sünder zu verjagen. Einmal stand ein Mann, der sich des Ehebruchs schuldig gemacht hatte, in einem Laden in Haworth, und Pfarrer Grimshaw, der ihn erblickte, rief: «Der Teufel ist in dieser Gegend sehr geschäftig gewesen. Mit meinem Stock kann ich den Mann berühren, der vorige Nacht bei der Frau eines andern Mannes gelegen ist – das Ende solcher Dinge wird der Tod sein, der Untergang von Leib und Seele für alle Ewigkeit!» Papa, darüber mochten Bruder und Schwester einig sein, benahm sich wenigstens nicht so. Vielleicht war es dem Pfarrer Grimshaw recht geschehen, als sein Sohn Johnny mit zwölf Jahren von seinem Großvater Ewood, drüben in Midgley, erbte und tat, was ihm beliebte. Es war merk61
würdig, wie oft Pfarrersöhne auf Abwege gerieten. Der Klatsch wollte wissen, daß Johnny Grimshaw sich, zwei Jahre nachdem sein Vater gestorben war, zu Tod getrunken hatte. «Einst hast du einen Engel getragen, aber jetzt trägst du einen Teufel!» brüllte er, als er das Pferd seines Vaters zu Schanden ritt. Emily mußte Mitgefühl mit Johnnys junger Schwester Jane empfunden haben, die in die Schule von Kingswood bei Bristol geschickt worden war und dort mit dreizehn Jahren starb – vor Heimweh vielleicht oder vor Sehnsucht nach der Freiheit der Moore! Wer konnte das wissen? Zusammen spähten Bruder und Schwester zu den dunklen Fenstern von Sowdens hinauf, wo Grimshaws gelebt hatten, und fragten sich vielleicht, ob Johnny und Jane dabei gewesen sein mochten, als ihrem Vater der «strahlende Ausblick auf den Siebenten Himmel» zuteil wurde. Pastor Grimshaw hatte zu John Wesley gesagt: «Zwei unter meinem Dach haben gerade jetzt die wahre Überzeugung, ein Mädchen von etwa achtzehn und der andere ein Knabe von etwa vierzehn; und ich hoffe auch mein eigenes kleines Mädchen, das zwischen zehn und elf ist.» Emily war allerdings nicht immer frei, um über das Moor zu wandern oder in dem «Studierzimmer» oben Gedichte und Geschichten zu kritzeln; sie mußte Tabby in der Küche helfen und unter den Augen der Tante die verwünschten Näharbeiten erledigen – eine Strafe, die nur durch die Geschichten von Tristan von Cornwall erträglich gemacht wurde. So brach Branwell allein auf und wanderte nach dem Kirchhof, um sich dort mit John Brown zu unterhalten, der als Großmeister der Loge der Drei Grazien in Haworth, versuchte, ihn für die Freimaurerei zu gewinnen. Das war, wie John ihm versicherte, eine Art Geheimgesellschaft mit seltsamen Riten und feierlichen Einwei62
hungszeremonien, und ein Bruder hütete die Türe, so daß niemand herein konnte; und brach man je seinen Eid und erzählte einem Außenstehenden, was sich innerhalb der Loge begab – John machte eine bedeutungsvolle Geste mit der Hand quer über die Kehle. Branwells Vater gegenüber machte John Brown seiner Begeisterung für die Freimaurerei in einer etwas vorsichtigeren Sprache Luft. Es würde in dem jungen Menschen ein neues Interesse wecken, mußte er wohl gesagt haben, würde ihn davon abhalten, sich allzusehr wegen der Enttäuschung zu quälen, die er in London erlebt hatte; und so gab Mr. Brontë seine Einwilligung dazu, daß Branwell eingeweiht wurde. Am 1. Februar 1836 wurde Branwell vorgeschlagen und aufgenommen, und am 29. Februar – das Schaltjahr verlieh dem Tag eine besondere Bedeutung – wurde er als Mitglied der Loge der Drei Grazien eingeweiht. Er war noch nicht neunzehn – das übliche Alter für die Aufnahme war einundzwanzig – und die Einweihungszeremonie war ein aufregendes Erlebnis für jedermann. Zunächst mußte Branwell in einem Vorraum vorbereitet werden. Hier nahm ihm der Bruder, der ihn einzuführen hatte, alles Geld und Metall ab und entblößte ihm die rechte Brust, den rechten Arm und das rechte Knie. Dann wurden ihm die Augen verbunden, ein Strick um den Hals gelegt und ein Schwert auf die bloße Brust gerichtet. Er wurde an dem äußeren Wachthabenden der Logentüre vorbeigeführt, der sein Kommen mit dreimaligem Klopfen ankündigte. Der innere Wachthabende schlug Alarm, und der äußere Wächter erwiderte, «ein armer Kandidat sei hier im Stand der Dunkelheit, komme aus freiem Willen, sei entsprechend vorbereitet und bitte demütig darum, zu den Mysterien und Privilegien der Freimaurerei zugelassen zu werden». 63
Branwell wurde erlaubt einzutreten, und er mußte vor dem Großmeister – John Brown – knien, während der Segen des Himmels auf das Ereignis erfleht wurde. Dann mußte er einen Rundgang durch die Loge machen, um von allen Brüdern gesehen zu werden, und wurde schließlich von dem Zeremonienmeister dem Großmeister vorgestellt, der ihn einem Katechismus unterzog, weit aufregender als jener, den er auf den Knien seiner Tante gelernt hatte. Es wurde ihm befohlen, niederzuknien und die rechte Hand auf die Bibel zu legen, während er mit der linken die Spitze eines Zirkels auf seine entblößte Brust hielt. Es folgten die feierlichen Gelübde, Geheimhaltung wurde beschworen. «Ferner verspreche ich feierlich, daß ich diese Geheimnisse nicht niederschreiben, drucken, schnitzen, eingraben oder sonstwie darstellen werde … so daß unsere Geheimnisse, Künste und verborgenen Mysterien nicht durch meine Unwürdigkeit unschicklich bekannt würden. Ich schwöre feierlich, diese verschiedenen Punkte zu beobachten, und bei Verletzung von einem davon, keine geringere Strafe zu erleiden, als daß mir die Kehle durchschnitten, die Zunge bei der Wurzel herausgerissen und mein Körper im Seesand begraben wird, bei Ebbe oder auf eine Kabellänge von der Küste, wo Flut und Ebbe regelmäßig zweimal im Tag strömen; oder die schwerere Strafe zu büßen, als leichtfertig meineidiges Geschöpf gebrandmarkt zu werden, jedes moralischen Wertes bar und ungeeignet in diese … oder jene andere befugte Loge aufgenommen zu werden …» Dann wurde er geheißen, die Bibel zu küssen, und der Großmeister fragte ihn, was der vorherrschende Wunsch seines Herzens sei. «Licht», erwiderte der Kandidat, woraufhin der Aufseher geringeren Weihegrads ihm die Binde von den Augen nahm. 64
Endlich konnte Branwell die feierlichen Gesichter der Männer sehen, an denen er in Haworth jeden Tag vorüberging, und die nun würdig als Brüder angereiht standen, und John, sein Freund, so seltsam und einschüchternd in seinem Amt als Großmeister – bestimmt war der Großinquisitor selbst aus dem Mittelalter hervorgeschritten! Die verschiedenen Riten wurden ihm erklärt, und er wurde auch den geheimen «Griff» gelehrt. Schließlich reichte man ihm Maßgerät, Hammer und Meißel, und nachdem man ihm gestattet hatte, sich wieder anzukleiden, dankte er für seine Einweihung und wurde dem Großmeister gegenüber aufgestellt. Es folgte ein langer Vortrag, dann ein Katechismus über die drei Klauseln, damit war die Zeremonie beendet, die Loge wurde von dem Zeremonienmeister «in vollendeter Harmonie» und «im Namen des großen Architekten des Weltalls und auf Befehl des Großmeisters» geschlossen. Dann stand es den Brüdern frei, «sich in unschuldiger Fröhlichkeit zu erheitern, doch sorgsam jede Ausschweifung zu vermeiden ebenso unmoralische oder unanständige Reden». Wenn der Verwalter des Getränkeschreins an diesem Schalttagabend einen Punsch braute, so tat Branwell zweifellos nicht mit, denn er war Mitglied des Mäßigkeitsvereins von Haworth. Als er von jenem obern Raum in das Haus auf dem Newell Hill kam, war sein Geist noch von Bildern erfüllt. Noch immer konnte er das Schwert auf der nackten Brust spüren, den Strick um den Hals, die Binde vor den Augen; doch wenn er je auch nur eine Andeutung gegenüber Charlotte oder Emily fallen ließ, erwartete ihn ein gräßliches Los. Immerhin knüpfte dies das Band zwischen ihm und John noch viel fester. Jetzt, da er eingeweiht war, fühlte er sich, als Mann, seinen Schwestern seltsam überlegen, überlegen 65
auch seinem Vater, der nie erfahren würde, welche Riten geübt, welche Gelübde geleistet wurden. Von jenem ersten Abend der Einweihung an machte Branwell schnelle Fortschritte im Handwerk, und am 25. April wurde er zum Maurermeister erhoben, in den Zeichen der Freude und des Jubels unterwiesen und in den fünf Graden der Bruderschaft. Wie aufregend muß es gewesen sein, von John, dem Großmeister, einen Schlag auf die Stirne zu empfangen, sich niederzulegen, den Toten zu spielen und dann von John aufgehoben zu werden, der ihn Fuß zu Fuß, Knie zu Knie, Brust zu Brust an sich zog. Es mußte ihm das Gefühl einer geteilten und doch geheimen Kameradschaft verliehen haben. John, als Großmeister, strahlte von Macht und Glorie; er war nicht mehr Papas Küster, sondern etwas viel Größeres, Aufregenderes, eine Art Halbgott … oder war er ein böser Geist? Aufregend auch war es, mit ihm in der Sakristei geheime Zeichen zu wechseln, und das vor Papa, der nicht wußte, was sie bedeuteten, sondern ernsthaft über die Angelegenheiten der Kirche weiterredete. Diese Dinge waren ein Ausgleich für die Enttäuschung über das dauernde Schweigen des Redakteurs von «Blackwood’s», der nicht einmal höflich genug gewesen war, ihm seine lange Dichtung «Elend» zurückzuschicken, die am 8. April eingesandt worden war und jetzt zweifellos, in Fetzen gerissen, in irgendeinem Abfalleimer von Edinburgh lag. * Jetzt vielleicht war die Stunde gekommen, um in der höllischen Welt eine blutige Revolution anzuzetteln und Alexander Percy, Earl von Northangerland, seinen Schwieger66
sohn, Arthur Zamorna, König von Angria – alias Charlotte, in Roe Head eingekerkert – zweitausend Meilen fern auf die Felsen der Insel Ascension verbannen zu lassen. Sobald die Revolution ausgebrochen war, gab es auch wieder Zeit, zu malen – zum Teufel mit der Königlichen Akademie! – das kleine Zimmer, darin er jetzt allein schlief, zu einem Atelier zu machen und John dazu zu bereden, seinen Sonntagsanzug anzuziehen und sein Porträt malen zu lassen, den Löwenkopf und die breiten Schultern vor einem bösen Sturm.
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VI
B
ranwells literarische Produktion, zwischen seinem neunzehnten und seinem einundzwanzigsten Jahr, war phantastisch. Die vollkommene Geschichte des Königreichs Angria in fünf Teilen, eingeschlossen mehrere längere Geschichten und zahlreiche Gedichte, bedeckte Seite um Seite mit mikroskopischer Handschrift. Diese Manuskripte, heute verstreut und in verschiedenen Sammlungen überall im Land aufbewahrt, könnten, nach Jahren von Studium, dem geduldigen Leser eine Vorstellung von diesem außerordentlichen Entwurf geben. Da war die Kolonie seiner Einbildung, ungefähr, wo wir heute Ghana und Nigeria fänden, gegründet von den ursprünglichen abenteuerlichen Soldaten, als Branwell elf oder zwölf Jahre alt war; dann zersplitterte sie sich in Königreiche, wurde zu einem Kaiserreich vereinigt, erhielt eine geschriebene Verfassung und eine Armee, seine Geographie und seine Bevölkerung wurden in jeder Einzelheit festgelegt, Landkarten wurden gezeichnet, die militärische und politische Geschichte geschildert, die Lebensgeschichte der einzelnen Führer, ihr persönliches Auftreten, ihre Qualitäten, ihre Mängel, ihre Empfindungen, alles, alles mit den kleinsten Kleinigkeiten. Das Ganze war eine gigantische Phantasie, heraufbeschworen in der Vorstellungskraft eines Bruders und einer Schwester, die durch den Schulaufenthalt der Schwester ständig getrennt waren, 68
und von denen keiner irgendwelche persönlichen Erfahrungen außerhalb ihrer kleinen nachbarlichen Umwelt hatte. Jene Manuskripte Branwells, die abgeschrieben, die Gedichte und Geschichten, die gedruckt wurden, verraten keine hervorragenden literarischen Gaben. Manier und Stil sind ungelenk, die geschilderten Ereignisse zeigen die naive Beschäftigung des Verfassers mit Spiel und Ausschweifung, den schlimmsten Sünden vielleicht in den Augen eines Knaben, der von einer methodistischen Tante und einem evangelischen Vater aufgezogen wurde. Dennoch, obgleich viele Dichter und Romanschriftsteller in ihrer Jugend allerlei schmieren, was reifere Werke voraussagen läßt, haben nicht viele eine Kolonie gegründet und bevölkert, wie dieser Knabe und seine Schwester Angria gegründet und die Geschichte des Landes und das Leben seines Volkes derart gestaltet haben, daß für ihre Schöpfer die Kolonie zu einer lebendigen Einheit wurde. Im August 1836 schrieb Branwell eine Zusammenfassung der Jugendjahre seines Helden Alexander Percy, mit der Absicht, sie später auszugestalten: «Dieses Kind war in seinen ersten Lebensjahren ein schönes, engelhaftes Wesen mit goldenem Haar und blauen Augen und einer wohltönenden Stimme, mit einer launischen, leidenschaftlichen Seele und mit verblüffendem Eifer der Wissenschaft von der Musik gewidmet, für die er in seiner frühesten Kindheit eine Hingabe entdeckte, die immer stärker wurde, als sie sich zu einer seelenbestrikkenden Vergötterung auswuchs. Er lebte in der Musik, und wenn er sich von seinen großen Aufgaben löste, so wanderte er umher oder legte sich stundenlang in den prächtigen Park oder in die Wälder ringsum unter dem strahlenden Himmel eines afrikanischen Sommernachmittags. Die reiche Üppigkeit der Natur, das tiefe Blau des Himmels, 69
die goldene Helle der Wolken, die blendende Glut der Sonne, das alles erfüllte seinen noch unvernünftigen, aber empfindsamen Geist mit einem Entzücken, das er nicht ausdrücken, noch benennen konnte. Das Gleiche war es, wenn er seine Mutter zu ihrem Landhaus am Gestade des Atlantischen Ozeans begleitete, wo er auf ihrem Schoß saß und stundenlang nach der weiten, rollenden, wogenden See blickte; das Gleiche nachts, wenn er sich aus den überfüllten, betäubenden Räumen der Halle seines Vaters stahl, um nach dem Mond oder den Sternen auf dem mitternächtlichen Himmel zu schauen. Dieses Gefühl war es, das ihn dahin lenkte, immer über Religion, über die Bibel und den Himmel zu reden; oder zu wünschen, er könnte doch, um dorthin zu gelangen, sterben. Doch mit dem Anbruch der Jugendjahre stellten sich auch andere Gefühle ein; vor allem ein völlig unbeherrschter Geist, leidenschaftlich und empfindlich, der ihn beständig in Streit mit seinem harten, herzlosen, galligen Vater brachte, aber geradewegs in die Bahn und in die Bekanntschaft des betrunkenen alten Viehtreibers Robert Sdeath gedrängt wurde, dessen verstockte Seele ihn entzündete und nicht mehr loslassen wollte, bis sogar seine edle, aber duldsame Mutter die Augen vor den Ausschweifungen ihres geliebten Sohnes nicht verschließen konnte.» Noch unter zwanzig heiratete Alexander Lady Augusta Romana di Segovia, eine schöne, aber skrupellose Dame, die es im weiteren Verlauf so einrichtete, daß Sdeath den Vater ihres Gatten ermordete, der auf diese Art den Besitz erbte. Die Dame selbst wurde später mit Gift ins Jenseits befördert, und Alexander heiratete «Mary Henrietta Wharton, die Tochter Lord Georg Whartons von Alnwick, Nigritia … ein liebenswürdiges junges Geschöpf mit großmütigem Herzen und raschem, warmem Gefühl, mit einer Phantasie, die aus der Mitte ihrer Augen sprach, und ei70
nem Herzen, das kaum ohne Freunde und Freundschaft leben konnte». Als sie an der Schwindsucht starb, begann Alexander, dessen Herz gebrochen war, «eine Hast leerer, herzloser Ausschweifung» und wurde wegen Verrats an seinem vorgesetzten Offizier eingekerkert. Von seinen Gläubigern und dem Gatten einer Dame, die er verführt hatte, bedroht, entschied er sich in Verzweiflung, die Gestade seines heimatlichen Afrikas zu verlassen. «Doch draußen auf dem offenen Meer begann sein tätiger, grundsatzloser Geist über eine Methode nachzusinnen, wie er seinem verunglückten Schicksal wieder aufhelfen könnte. Mit seinen Leuten und seinen Mitteln schien Seeräuberei der geeignetste Weg zu sein. Er durchkreuzte den Atlantischen Ozean bis zu den europäischen Gewässern, gab sich dem gesetzlosen, blutigen Handwerk hin, enterte und vernichtete auf grausame Art die Schiffe, bis sein Name, der ‚Rover’, zum Schrecken der Meere wurde. Er fuhr die Küste von Südamerika entlang, von dort nach Westindien, dann wandte er sich wieder zurück nach Norwegen, durch die britischen Meere ins Mittelmeer, und endlich, von Schwermut erschöpft und ruhelos wie Kain, ließ er das Schiff unter dem Befehl von Sdeath heimwärts fahren und ging allein an der Küste von Sidon an Land. Wie er durch Palästina wanderte, wie er nach Afrika zurückkehrte, ist nicht bekannt, denn er wird es nie berichten, doch im Jahre 1824 erschien er ganz plötzlich, nach einer Abwesenheit von sechs dunklen, blutigen Jahren, in Percy Hall vor seinem Bruder und seinem Kind.» Diesen Mann umzubringen, von dem sein Schöpfer so besessen war, kam nicht in Frage. Noch durfte ihm erlaubt werden, zu altern und zu verblassen. Branwells Lösung war, zu Percys Jugend zurückzukehren und ihn durch die Augen einer verabschiedeten Geliebten zu schildern, in Vers und Prosa zu erzählen, wie Harriet O’Connor, später 71
Harriet Montmorency, die Gattin von Percys Freund und Verbündeten, den Gatten um des Liebhabers willen verließ, von Percy verlassen wurde und starb. Bis dahin hatte Branwell immer Percy selbst sprechen lassen oder Charles Wentworth, den angrischen Dichter und Historiker, oder den Edelmann Baron Richton; jetzt, als schlichte, leidenschaftliche junge Harriet, schilderte er nicht bloß die Qualen und Ängste ehebrecherischer Liebe, sondern auch die Folter der religiösen Zweifel, die folgten. Die Umstellung auf geschlechtliche Probleme ist interessant. Bruchstücke Angrischer Geschichten, Andeutungen in Gedichten, das alles sind tragische Hinweise auf diese Harriet, die Percy begegnete, als er seine erste Frau umwarb, die Italienerin Augusta di Segovia. An einer Stelle wirken Percy und Harriet sogar als Rivalen um die Liebe Augustas, eine Wirrnis der Gefühle, die eher heutige Möglichkeiten ahnen läßt als das Leben von Haworth im neunzehnten Jahrhundert. Der Tod Carolines, der altern Schwester Harriets, sollte Branwell zu ganzen Reihen von Gedichten anregen, die den Einfluß von John Wilson in «Blackwood’s» mit seinen eigenen Erinnerungen an seine Schwester Maria vereinen und wohl ohne Angst vor Mißbilligung seiner Tante und seinem Vater vorgelesen worden sein mochten. Sie kamen, und sie schlossen fest den Sarg, darinnen meine Caroline lag, und nun für alle Ewigkeit verborgen war meiner Schwester Antlitz vor dem meinen. Da fuhr ich auf, noch denke ich des Leids, als aus dem armen, unbewehrten Herzen die erste Träne meines Elends fiel, 72
wie der Gedanken Schwall zu füllen schien mein zuckend Herz, mein überfließend Auge, die Gegenwart verblich, ob gut, ob schlimm, vor jener Dinge Schatten, die vorbei. Alles ist öd – der Zug der Trauernden, das stolze Schaugepränge eines Grams, der Weg durch das gewölbte Tor des Kirchhofs, die Menge, die zu gaffen war gekommen. Doch was ich dachte, wo mein Platz im Zug, umsonst such ich mich dessen zu entsinnen, nicht sehen konnte ich, ich konnt’ nicht denken, mir war es gleich, daß ich geboren war, nur eines fühlt’ ich – daß der Tod mir heut entrissen hatte meine Caroline. Obgleich manche Verse dieser Gedichte recht unsinnig klingen, fühlt der Leser dennoch das Bedauern darüber, daß so vieles ungesagt geblieben ist. Jordan Hall, der Wohnsitz der bösen Lady Augusta di Segovia, das «die ganze Höll’ in seinen Mauern hegt», muß seinen Schöpfer zu höchster Erregung aufgepeitscht haben, während die böse Augusta selbst bestimmt eine Vorläuferin von Emilys Augusta war, der unheilvollen Heldin ihrer GondalDichtung, die im selben Jahr begonnen wurde. Es ist über jeden Zweifel erhaben, daß Branwell und Emily während der Zeit, da Charlotte und Anne in Roe Head waren, in ihren Ideen, wenn nicht sogar in Episoden oder Versen zusammengearbeitet haben. Eine der früheren Angrischen Geschichten, «Ein Blatt aus einem ungeöffneten Buch», Charlotte zugeschrieben und jetzt in der Bibliothek A. Edward Newtons, enthält so viele Namen, die Emily später in ihrer Gondal-Dichtung verwendet hat, daß diese Geschichte tatsächlich ein Beitrag der jüngeren Schwester zu der angrischen Reihe sein kann. 73
Das Leben im Pfarrhaus und auch in Roe Head mochte um diese Zeit durch einen Mißklang aufgestört worden sein. Religiöse Zweifel stellten sich plötzlich bei allen vier jungen Brontës ein. Charlotte, noch immer zwischen ihren Freundinnen Ellen und Mary schwankend, hatte an Ellen geschrieben: «Ich wünschte, ich könnte immer mit dir leben … wenn wir nur ein Häuschen und unser eigenes Einkommen besäßen, glaube ich, daß wir bis zum Tod leben und lieben könnten, ohne mit unserem Glück von irgendeiner dritten Person abhängig zu sein.» Und später, im selben Jahr, im Dezember 1836: «Wenn ich immer mit dir leben, täglich mit dir die Bibel lesen, wenn deine Lippen und meine gleichzeitig den gleichen Schluck aus der gleichen reinen Quelle der Barmherzigkeit trinken könnten, dann hoffe ich, dann baue ich darauf, daß ich eines Tages besser, viel besser werden würde, als meine bösen, schweifenden Gedanken, mein verderbtes Herz, kalt dem Geist und warm dem Fleisch, mir jetzt zu sein erlauben.» Die Glut von Charlottes Briefen verriet das Fieber darin, das schuldhafte Bewußtsein, daß sie in wenigen Wochen zu den Ferien daheim sein und in den Liebesabenteuern ihres Helden Zamorna und seiner neuen Geliebten schwelgen würde. Abermals hätte die höllische Welt sie in ihren Fängen. Während der Weihnachtsferien 1836/37 bemühten sich beide, Branwell und Charlotte, das geheime Entzücken zu büßen, das sie erfüllte, wenn sie die Angrischen Geschichten schrieben; sie verfaßten und verbesserten mühsame Verse, denn sie meinten, wenn sie je Anerkennung ernten sollten, müßte es durch eine hohe moralische und religiöse Auffassung geschehen. Sie waren entschlossen, eher Dichter zu sein als Erzähler; Verse konnte man an Mr. Wordsworth und Mr. Southey zur Kritik schicken, 74
doch Verführung und Leidenschaft mußten vor fremden Augen verborgen bleiben. Charlotte schrieb an Southey und Branwell an Wordsworth; Branwell legte ein langes Gedicht bei, darin das schlafende Kind Percy geschildert wird, bevor es der Gnade verlustig geht. In seinem Brief erklärte er: «Was ich Ihnen sende, ist die einleitende Szene einer viel längeren Arbeit, in der ich mich bestrebt habe, starke Leidenschaften und schwache Grundsätze im Kampf mit einer hohen Vorstellungskraft und heftigen Gefühlen zu schildern, bis, nachdem die Jugend sich im Altern verhärtet, böse Taten und kurze Freuden in geistigem Elend und körperlichem Zusammenbrach enden.» Natürlich bezog sich das auf seine ganze Percy-Dichtung, und ein Wort der Ermutigung aus dem Mund des größten englischen Dichters der Zeit hätte ihn zweifellos dazu veranlaßt, eine gefeiltere Form dessen auszuarbeiten, was, wie er hoffte, ein Epos werden sollte, länger als Wordsworths «Prelude». Er empfing keine Antwort. Sein Brief stieß den alternden Dichter ab, der zu Southey darüber sagte, er «enthalte grobe Schmeichelei und eine Menge Schmähungen anderer Dichter». Um Branwell Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß dieser oft zitierte Brief auch hier angeführt werden. Er war vom 19. Januar 1837 datiert: Sir, ich ersuche Sie in tiefstem Ernst zu lesen, was ich Ihnen geschickt habe, und darüber Ihr Urteil zu fällen, denn seit dem Tag meiner Geburt bis zu diesem, dem neunzehnten Jahr meines Lebens, habe ich zwischen abgelegenen Bergen gelebt, wo ich weder wissen konnte, wer ich war, noch was ich zu tun vermochte. Ich las aus demselben Grund, aus dem ich aß und trank; weil es ein wirkliches Bedürfnis der Natur war. Ich schrieb aus demselben Grundsatz heraus, aus dem ich spreche – aus dem Drängen 75
und Fühlen des Geistes. Ich vermochte ihm nicht zu wehren, denn was herauskam, kam heraus, und damit war es erledigt. Denn Selbstgefälligkeit konnte keine Nahrung an Schmeichelei erhalten, da bis zu dieser Stunde kein halbes Dutzend Menschen auf der Welt wissen, daß ich eine Zeile geschrieben habe. Jetzt aber ist eine Wandlung eingetreten, Sir; und ich bin in ein Alter gelangt, da ich etwas für mich tun muß. Die Kräfte, die ich besitze, müssen zu einem entschiedenen Zweck geübt werden, und da ich selber sie nicht kenne, muß ich andere danach fragen, was sie wert sind. Hier aber ist niemand, der es mir sagen könnte; und doch, wenn sie wertlos sind, wird die Zeit hinfort zu kostbar sein, um sie an diese Kräfte zu vergeuden. Vergeben Sie, Sir, daß ich es gewagt habe, vor einen Mann zu treten, dessen Werke ich in unserer Literatur am meisten liebe, und der für mich eine Gottheit des Geistes war, ihm eine meiner Schriften vorlege und ihn um ein Urteil über ihren Inhalt bitte. Ich muß vor jemanden treten, gegen dessen Urteil es keine Berufung gibt; und solch ein Mann ist jener, der die Theorie der Dichtung ebenso entwickelt hat wie ihre Übung, und beide in solcher Weise, daß er einen Platz in der Erinnerung der kommenden tausend Jahre beanspruchen kann. Mein Ziel, Sir, ist, in die offene Welt einzudringen, und dafür vertraue ich nicht der Dichtung allein; sie könnte wohl das Schiff von Stapel laufen lassen, nicht aber vorwärtstreiben. Vernünftige, wissenschaftliche Prosa, kühne, kräftige Bemühungen auf meinem Lebensweg würden ein größeres Recht auf die Beachtung der Welt verleihen; und dann sollte abermals die Dichtung diesen Namen mit Ruhm erhellen und krönen. Doch nichts von all dem kann ohne Mittel je begonnen werden, und da ich sie nicht besitze, muß ich in jeder Weise trachten, sie zu erringen. Be76
stimmt muß heutzutage, da es doch keinen einzigen schreibenden Dichter gibt, der sechs Pence wert wäre, das Feld offen sein, wenn ein besserer Mann vortreten kann.» Abermals hatte Branwell einen Verstoß begangen. Der Satz «kein schreibender Dichter, der sechs Pence wert wäre», verurteilte ihn in den Augen des bejahrten Wordsworth. Davon abgesehen, war der Brief aufrichtig und gut ausgedrückt. Der Neunzehnjährige schilderte dann, welche Art von Dichtung er beilegte, und schloß: «Ihnen jetzt die ganze Arbeit zu senden, wäre eine Herausforderung Ihrer Geduld; was Sie sehen, maßt sich nicht an, mehr zu sein als die Schilderung eines phantasiebegabten Kindes. Lesen Sie es aber, Sir; und wenn Sie einem Menschen in tiefster Dunkelheit ein Licht reichen würden – bei Ihrer Güte! – senden Sie mir eine Antwort, sei es auch nur ein Wort, um mir zu sagen, ob ich weiterschreiben oder nicht mehr schreiben soll. Vergeben Sie die unziemliche Wärme, denn meine Gefühle in dieser Angelegenheit könnten nicht kühl sein; und sehen Sie in mir, Sir, Ihren mit tiefer Achtung wahrhaft demütigen Diener P. B. Brontë.» Es hätte Wordsworth keine fünf Minuten gekostet, den Empfang des Briefes zu bestätigen. Ein einziges Wort der Ermutigung, auch wenn das Gedicht vielleicht ungelesen blieb, und der junge Mensch hätte dem Jahr mit einer Spur Hoffnung darauf standgehalten, daß er doch in das durchbrechen könnte, was ihm als eine undurchdringliche Welt erschienen sein muß. Keine Antwort kam. Weder von Wordsworth noch von dem Redakteur von «Blackwood’s», dem Branwell auch zehn Tage vorher geschrieben hatte. Es ist ganz offenbar, daß er kein Urteil hatte, ob es nun seinem eigenen Werk galt oder dem von bekannten Dichtern. Die schwächsten, sentimentalsten Verse in den Gedichten anderer wurden als Maßstab dessen angesehen, was richtig 77
wäre; er konnte nicht zwischen den nichtssagendsten Versen Wilsons und den besten Cowpers unterscheiden. Das Gedicht, das er an Wordsworth geschickt hatte, enthielt Verse, die ein siebenjähriges Kind aus der Sonntagsschule besser gemacht hätte. Vielleicht waren es tatsächlich Produkte, die Branwell in viel früheren Jahren fertiggebracht und in einer Schublade verstaut, jetzt aber in der irrigen Vorstellung wieder hergerichtet hatte, solches Zeug könnte dem Dichter des Seelands Eindruck machen. * Mr. Brontë und seine Schwägerin wurden ihrer Unduldsamkeit wegen getadelt und auch, weil sie im Pfarrhaus eine Atmosphäre religiöser Schwermut geschaffen hatten. Die Wahrheit scheint anders zu sein. Weder die Schwestern noch der Bruder haben Vater oder Tante ihre eigenen vorübergehenden, verzagten Stimmungen zum Vorwurf gemacht. Ellen Nussey, eine geliebte und geschätzte Besucherin des Hauses, erinnerte sich nur: «Mrs. Branwell war lebhaft und intelligent; sie las nachmittags Mr. Brontë vor, und die Erörterungen über das Gelesene wurden beendet, wenn wir uns alle beim Tee trafen. Des gesellschaftlichen Lebens ihrer jüngeren Jahre pflegte sie sich mit Wehmut zu entsinnen; sie weckte im Hörer die Vorstellung, daß sie unter ihren heimatlichen Bekannten eine Schönheit gewesen war. Sie schnupfte aus einer sehr hübschen goldenen Dose, die sie einem manchmal mit einem leisen Lachen anbot, als hätte sie ihren Spaß an dem Mißfallen, an dem Erstaunen, das sich in den Zügen des andern malte.» Das war kein methodistischer Drache, der für gute Laune nur ein Stirnrunzeln übrig hatte, sondern eine kleine Da78
me, die, obgleich sie im Jahre 1837 ihren sechzigsten Geburtstag hinter sich hatte, doch wähnte, es mit ihren Nichten und ihrem Neffen an Bildung aufnehmen zu können, und deren georgianische Manieren sehr wohl einen Hauch jenes achtzehnten Jahrhunderts an sich gehabt haben mochten, das sie auf ihrer Höhe gesehen hatte. Wo sonst als von ihrer Tante hätten Charlotte und Branwell etwas von Bällen und Gesellschaften erfahren können, von der neckischen Handhabung des Lorgnons, von dem Fächerschlagen, das in der romantischen Welt von Angria eine so große Rolle spielte? Es war das Gewissen, das Charlotte hin und wieder an den Rand eines Zusammenbruchs brachte; die Angst, daß das Unterrichten und die höllische Welt miteinander unvereinbar wären, ein Schuldgefühl, weil ihre Neigung zu Ellen Nussey, Mary Taylor und Marys unwiderstehlicher jüngerer Schwester Martha, der pikanten, bezaubernden «Patty», sie verführte, diese Freundinnen in Zamornas Braut und Geliebte zu verwandeln. Branwell stand Charlotte zu nahe, als daß ihm diese Gewissensbisse seiner Schwester entgangen wären. Die reizende Mary Taylor war ein köstlicher Haken, an den man Mary Henrietta Percy hängen konnte – Alexanders Tochter und Zamornas Braut – und wie anregend war es, eine illegitime jüngere Schwester Caroline zu erfinden, die «Patty» Taylors bezwingend liebenswürdige Art besaß. Die Schulzeit verging für Charlotte um so schneller, wenn er mit dem Zauberstab winkte. Branwells Kummer war nicht das Gewissen, sondern die Enttäuschung. Die Enttäuschung darüber, daß er mit zwanzig Jahren nicht die Fähigkeit besaß, sein Leben zu verdienen, daß die häusliche Unterweisung, auf die sein Vater so stolz war, ihn zu keiner Tätigkeit ausgerüstet hatte. Jetzt war es für die Universität zu spät. Zu spät für die 79
Königliche Akademie. Der Redakteur von «Blackwood’s» wollte ihn nicht empfangen. Wie, in Himmels Namen, sollte er die Gaben verwerten, die er zu besitzen glaubte? Die Tradition will, daß er ungefähr um diese Zeit für ein Semester als Hilfslehrer in eine Schule kam, und daß er sie verließ, weil die Jungen sich «über seinen kleinen Wuchs lustig machten». Die Schule ist nie genannt worden. Diese Geschichte bedarf noch einer Bestätigung. Emily war es, die im Herbst 1837 ihr Glück außerhalb des Hauses versuchte, an der Law Hill-Schule bei Halifax unterrichtete und dort, Ellen Nussey zufolge, sechs böse Monate blieb. Das Verlangen, Geld zu verdienen und so in gewissem Ausmaß unabhängig zu werden, muß sie zu diesem Schritt getrieben haben, der ihrer Natur so wenig entsprach; dennoch kann Law Hill nicht jene Zwangsarbeit gewesen sein, für die man es hielt. Allzu viele Gedichte, die in diesen sechs Monaten geschrieben wurden, deuten auf Augenblicke schöpferischer Leidenschaft hin, und die Direktorin, Miss Elizabeth Patchett, «eine sehr schöne Frau von vierundvierzig, die ihr Haar in Locken trug, eine gewandte Reiterin, deren tägliche Spaziergänge mit den Mädchen eine sehr beliebte Erholung waren», bot der schwerarbeitenden Emily bestimmt ein gewisses Maß an Interesse und Erheiterung, sei es auch nur in ihren Briefen nachhause. Anne, die an Asthma litt – eine Beschwerde, die sich so oft mit Ängsten vereinigt – und in Dewsbury Moor, wohin Miss Woolers Schule von Roe Head übersiedelt war, von religiösen Zweifeln geplagt wurde, mochte es vielleicht schwerer gehabt haben als ihre geliebte Schwester in Law Hill. Annes Trost war wohl die Erinnerung an den vierunddreißigjährigen Herrnhuter Geistlichen, den Pfarrer James La Trobe, der sie während einer Krankheit in Roe Head mehrmals besucht und ihr die milde Botschaft einer Hoffnung, eines Trostes gebracht hatte, die sich wesent80
lich von dem daheim gelehrten strengen Credo unterschied. Solchen geistlichen Beistand hatte Branwell nicht. Nonkonformistische Geistliche waren nichts für ihn, wenn man sie nicht in einer Angrischen Geschichte verwerten konnte. Pfarrer Moses Saunders und Pfarrer Winterbotham, baptistische Geistliche in Haworth, lieferten von Zeit zu Zeit großartige Gestalten, und seine Bundesbrüder in der Loge der Drei Grazien – einige waren auch konservative Parteigenossen – konnten zu angrischen Revolutionären umgewandelt werden, die in der Wildnis von Afrika kämpften und tranken, ohne darum auch nur um eine Spur klüger zu werden. Der rothaarige, bebrillte «Pfarrerssohn» Patrick, wie er für das Dorf hieß, mit seiner Buchgelehrtheit und seiner Fähigkeit, mit beiden Händen Protokolle zu schreiben, war zweifellos eine Bereicherung für die allmonatlichen Zusammenkünfte; doch daß jedes Wort, jede Handlung der Mitglieder und Brüder in aller Stille in «Patricks» Geist aufgespeichert wurde, um, sobald er ins Pfarrhaus zurückgekehrt war, in irgendeiner Angrischen Geschichte verwendet zu werden, das sollten die andern Herren nie erfahren. Selbst der Gemeindearzt entging der Beobachtung nicht und mußte bei einem angrischen Schenkenstreit seine kleine Rolle spielen. Branwell hatte vom 12. Juni bis zum 11. Dezember 1837 die Stelle des Sekretärs in der Loge inne und schrieb bei jeder Gelegenheit die Protokolle nieder, wie er auch als Organist waltete – was bedeutete, daß er Klavier spielte. In dieser Zeit machte es ihm möglicherweise mehr Spaß, sich daheim auf dem Papier über die Brüder zu amüsieren, als an den Versammlungen selbst teilzunehmen. Denn hatte sich einmal die Ehrfurcht und der Reiz der Neuheit abgenützt, so konnte der Kobold in seinem Hirn, der alle würdigen, ernsten Dinge verspottete, diese Bundesbrüder 81
nur verachtet haben, die in ihrer Versammlung eine zweite Sonntagsschule erblickten. Der beste Teil der Riten war es zweifellos, wenn der Verwalter des Getränkeschreins Erfrischungen auftischte und John Brown, der Großmeister, zeitweilig von der erhabenen Höhe seiner Macht herabstieg und mit seinen Geschichten aus der Vergangenheit von Haworth die Gesellschaft köstlich unterhielt. Doch selbst John, der, wenn er gerade in Stimmung war, mit seinen Geschichten von Särgen, die sich öffneten, von lebendig Begrabenen, von verzerrten Leichentüchern, das Blut in den Adern der Zuhörer gefrieren lassen konnte, John, der Branwell überredete, eine Nacht neben dem Hilfspfarrer Hodgson in einem verwunschenen Doppelbett zu verbringen, das sich unter seiner Last hob und Branwell einen derartigen Schrecken einjagte, daß er im Nachthemd ins Pfarrhaus gelaufen war – selbst John, mit seinem rauhen Humor und seiner warmen Persönlichkeit, konnte nicht über jene Dinge sprechen, die wirklich wichtig waren – Bücher, Bilder, Musik, Leben. Wenn die Schwestern fort waren und sein Vater nicht gelaunt, sich teilnehmend mit ihm zu beschäftigen, gab es in Haworth keinen Menschen von Branwells geistigem Niveau. Fast sicher ist es, daß Mr. Brontë Branwell von dem Versuch abgehalten hätte, sich in die Welt der Literatur oder der Malerei einzudrängen, und das mit der Begründung, daß weder da noch dort Geld zu verdienen war, es sei denn mit einem reichen oder adligen Gönner. Besser, so mußte er gesagt haben, war es, daß sein Sohn, wie die Schwestern, sich dem Unterricht widmete oder der Berufung des Vaters folgte und Geistlicher wurde. Wenn die ältere Generation auf solche Art redete, so gab es nur eines – die Ratschläge nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ein Kamerad, der auch bei Mr. Robinson in Leeds studiert hatte, sagte ihm, er vergeude seine Zeit, sein Ta82
lent, wenn er in dem Atelier zu arbeiten versuche, das er aus einem Schlafzimmer des Pfarrhauses gemacht hatte. Er müßte in Bradford leben und sich bei Leuten einführen lassen, die ihm sitzen und für ihre Porträts bezahlen würden. Thompson hatte leicht reden. Wie sollte Branwell das Geld aufbringen? Natürlich, seine Tante war da … seine Tante könnte vielleicht durch ihren angeheirateten Vetter, den Pfarrer William Morgan in Bradford, einen Weg aus den finanziellen Schwierigkeiten finden. Schließlich gönnte sie ihm ja, ebenso wie jeder andere, eine erfolgreiche Laufbahn. Er mußte ihr also Ehre machen. Ob es tatsächlich seine Tante war, die ihn unterstützte, oder Mr. Morgan selbst oder beide, das Ende war, daß irgendwann zwischen 1838 und 1839 Branwell eine seiner Bestrebungen erfüllt sah. Es war nichts von ihm von «Blackwood’s Magazine» angenommen worden, aber er zog bei Mr. und Mrs. Kirby in der Fountain Street in Blackford ein und mietete dort ein Zimmer, das er als Atelier benützte; zum Wochenende fuhr er heim, ins Pfarrhaus. Er war zwanzig, und es war, von dem fruchtlosen Besuch in London abgesehen, das erste Mal, daß er fern vom Hause, fern von seinem Vater schlief. Es war der Anfang der Unabhängigkeit, der Beginn, so hoffte er, einer erfolgreichen Zukunft als Maler und, jedenfalls zeitweilig, ein Bruch mit den Ansprüchen der höllischen Welt.
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VII
B
ranwells Versuche, sein Leben als Porträtmaler in Bradford zu verdienen, dauerten etwa zwölf Monate. Wenig von seinem Werk hat überlebt. Das bekannteste Porträt, das seiner drei Schwestern, das in der National Portrait Gallery hängt, muß wohl daheim gemalt worden sein, ebenso das Profil von Emily oder Anne, das daneben hängt. Gefühl und Tradition wollen, daß es Emilys liebliches Profil ist, doch die Ähnlichkeit mit Annes Gestalt auf dem Gruppenbild würde dagegen sprechen. Es ist ein rührendes Erlebnis, diese Porträts zu betrachten. Der Beschauer hat das Gefühl, ein Eindringling zu sein, denn er steht auf der Schwelle des Pfarrhauses von Haworth. Die verblaßten Farben steigern nur die merkwürdige Traumhaftigkeit der drei Gesichter, die von der Leinwand in die Welt blicken; doch sie scheinen eher auf die höllische Welt ihrer eigenen Schöpfung zu blicken als auf die Wände von Branwells Schlafzimmer-Atelier. Genauere Prüfung der Gruppe hat jüngst ergeben, daß das, was man für einen Pfeiler hielt, in Wirklichkeit Kopf und Schultern des Malers selber sind. Die breite, hohe Stirne, das Haar an den Seiten gebauscht, der Umriß von Rock und Kragen, alles ist vorhanden. Vielleicht hatte Branwell gefunden, daß er seinem Gesicht nicht gerecht geworden war, und hatte, gereizt, sich selber unkenntlich gemacht. 84
Es gab auch noch eine zweite Gruppe, mit Branwell zwischen seinen Schwestern, ein Gewehr in der Hand. Auch eine dritte Gruppe muß vorhanden gewesen sein, aus der das empfindsame Profil Emilys oder Annes gerissen worden war. Diese Gruppe soll von Mr. Nicholls, Charlottes Gatten, vernichtet worden sein, der nicht fand, daß es seiner Frau oder ihren Schwestern entsprach. Daß er vom künstlerischen Standpunkt aus im Irrtum war, beweist das erhalten gebliebene Profil in der National Portrait Gallery. Bestimmt haben auch andere Zeichnungen seiner Schwestern das Pfarrhaus früher ausgeschmückt. Ein Maler benützt seine Familie immer wieder als Modell. Branwell dürfte seinen Vater, seine Tante, ja, auch die treue Tabby gezeichnet haben. Doch heute ist von all dem keine Spur zu finden. Einige wenige Porträts sind der Nachwelt gerettet worden und hängen jetzt in Branwells altem Zimmer in dem zu einem Museum verwandelten Pfarrhaus. Jene von John und William Brown nehmen Ehrenplätze ein. Vor den jüngsten Veränderungen im Museum hingen sie in Mr. Brontës Schlafzimmer, zu beiden Seiten des Kamins. Sie waren nicht restauriert worden, sondern genau, wie Branwell sie hinterlassen hat, und das Bild Williams ist nur halb vollendet. Das Laienauge findet sie eindrucksvoll. Diese beiden Männer, von allen Biographen der Schwestern Brontë lediglich als der Küster und dessen Bruder, Personen von niedriger Herkunft und geringer Wichtigkeit, abgetan, treten hier als lebendige Gestalten von Branwells höllischer Welt hervor. Der Großmeister der Loge der Drei Grazien steht würdig da, trotz dem drohenden Sturm im Hintergrund; die Augen konnten zurechtweisen, wenn es ihnen so gefiel, der Mund schürzt sich zu einem Befehl. Und doch, welch schwache, fügsame Sentimentalität versteckt sich hinter diesen Augen, 85
welch fette Selbstzufriedenheit, wenn der Mund sich entspannt, welch üppiger, leicht zu beeinflussender, sinnlicher Charme. William war anders. Hier sind keine lebhaften Farben, ist kein stürmischer Hintergrund. Vor der Restaurierung war der Gesamteindruck ein gewisses Mißtrauen, und die verbitterten Augen, der gestraffte, grausame Mund verraten einen Mann, der, abseits von seinem Sonntagsanzug und seinen Pflichten als Freimaurer, in einem dunklen Winkel der Kirche, wo Hacken und Spaten und Schubkarren aufbewahrt wurden, den «Pfarrerssohn» in dessen zarten Jugendjahren über die rauheren Probleme des Lebens aufklärt. Er ist tatsächlich genau neun Jahre älter als Branwell. Die beiden Porträts sind kürzlich restauriert worden. Man hat Williams Porträt «vollendet» – und der Zauber ist verschwunden. Die Bilder von Mr. und Mrs. Kirby, Branwells Quartiergebern in der Fountain Street in Bradford, zeigen einen Sinn für Satire bei dem spottlustigen Mieter. Mrs. Kirby schaut mißbilligend aus ihrem Rahmen, die breite, gekräuselte Haube betont köstlich die vorspringende Nase und das eingezogene Kinn, während Mister Kirby, humorlos und argwöhnisch, den entschlossenen Ausdruck eines Mannes zeigt, der sich nur widerwillig zu einer Sitzung hergegeben hat und es jetzt zum ersten und letzten Male tut. Miss Margaret Hartley, ihre Nichte, die bei ihnen lebte, vervollständigt das Trio. Sie ist anscheinend eine junge Frau etwa im Alter des Malers. Weit davon entfernt, unvorteilhaft auszusehen, besitzt sie sogar Charme. Was Branwell von ihr dachte, läßt sich unmöglich sagen, aber Miss Hartley selber – später Mrs. Ingram – erklärte nach Jahren, als Biographen Charlottes den Bruder Brontë, 86
schon bevor er zwanzig war, als Trunkenbold schildern, daß der junge Mr. Brontë während der zwölf Monate, da sie mit ihm in Bradford verkehrt hatte, «ruhig, fleißig und voller Selbstachtung» gewesen sei. Mrs. Kirby hatte zwei Kinder; das eine, nach Mrs. Ingram «ein schönes kleines Mädchen», war sein – Branwells – besonderer Liebling. «Auf seinen wiederholten Wunsch speiste sie mit ihm in seinem privaten Wohnzimmer, und ihr heiteres Lächeln und fröhliches Geplapper entzückten ihn stets». Branwell hatte für Kinder eine Vorliebe, die seine Schwestern nicht teilten. Da er die Kinder nicht unterrichtete, sondern nur malte, bestanden seine Geduld und seine Gutmütigkeit die Prüfung. In späteren Jahren gedachten die kleinen Jungen, denen er Händevoll Pennies auf den Straßen von Haworth schenkte, dankbar seiner – nicht nur seiner Freigebigkeit, sondern auch seines Sinns für Scherze, seiner Neigung zu richtigen Possen wegen. Ein Selbstporträt schenkte er einem seiner Günstlinge von der Sonntagsschule in Haworth und sagte ihm verstohlen, das sei ein Porträt Sir Robert Peels. Erst als der Knabe heimkam, entdeckte er, daß Branwell ihn zum Besten gehalten hatte. Dieser selbe Junge erinnerte sich auch, daß Branwell ihm das Privatzimmer in der Loge der Drei Grazien gezeigt hatte, vielleicht als Gegengift gegen die Sonntagsschule. Dieses Selbstporträt ist ebenso verschwunden wie das Bild von Mrs. Kirbys kleiner Tochter. Der junge Maler in der Fountain Street mußte von Mr. und Mrs. Kirby für ihre Porträts wohl ein Honorar verlangt haben; Verwandte und Freunde dagegen erwarten gewöhnlich, daß sie nichts bezahlen müssen. Obgleich Kost und Quartier von Pfarrer William Morgan, wahrscheinlich mit Hilfe der Tante, bezahlt wurden, mußte Branwell ja auch noch Geld für Kleidung und dringende Notwendig87
keiten auftreiben. Die Pennies, die er an die Kinder in Haworth verschenkte, weisen nicht darauf hin, daß er geizig war. Der hohe Hut, der schwarze Rock, die grauen Hosen, der kleine Rohrstock, das alles von Charlotte in einer der Angrischen Geschichten humorvoll beschrieben, lassen ihn als einen jungen Mann erscheinen, der gefallen wollte und Wert auf ein vorteilhaftes Äußeres legte. Die voraussichtlichen Kunden in Bradford, Fabrikanten und Mühlenbesitzer, würden ihre Gunst keinem heruntergekommenen Burschen geschenkt haben. Branwell hätte seine Kunden in Gasthäusern wie dem George Hotel suchen müssen, wo nicht nur die reichen Kaufleute des Tages verkehrten, sondern auch eine Clique minderer Dichter und Maler. Leeds, Halifax und Bradford, sie alle hatten ihre «Barden», die für die Tageszeitungen schrieben. Einer von ihnen war William Dearden, der unter dem Pseudonym William Oakendale schrieb, der «Barde von Caldene». Von Beruf war er Lehrer des Lateinischen und Griechischen und hatte ein Mädchen aus Cumberland geehelicht, das selber im Griechischen und Lateinischen so bewandert war, daß die beiden einander ihre Liebesbriefe in diesen Sprachen schrieben. William Dearden, etwa um fünfzehn Jahre älter als Branwell, mag ihn ungefähr um diese Zeit kennen gelernt haben, als er in der Schule von Keighley unterrichtete, und man hat angenommen, daß das Original der Caroline in Branwells im Jahr 1837 geschriebener Dichtung in Wahrheit William Deardens Cousine dieses Namens war, die zehn Jahre vorher vom Typhus hinweggerafft wurde. Jede Person, ob lebend oder tot, diente als Brennstoff für das angrische Feuer. Eines ist sicher. Der Name Caroline war gewissermaßen, bewußt oder unbewußt, bei beiden, bei Branwell und Charlotte, zur Manie geworden. Caroline Vernon war der 88
Name von Percys unehelicher Tochter, Caroline Helstone war eine der beiden Heldinnen in Charlottes «Shirley», und eine tote Caroline wird in einem andern von Branwells Gedichten, «Der Wanderer», betrauert. Ähnlich geht es mit Harriet, die nicht nur von Percys Geliebter geboren worden war, sondern, im wirklichen Leben, von der achtzehnjährigen Harriet Robinson aus Stanbury, die ein oder zwei Jahre später einen von Branwells Jugendfreunden, Hartley Merall aus Springhead bei Haworth, heiraten sollte. Während er in Bradford war oder vielleicht auch knapp bevor er hinfuhr, sollte Branwell endlich den jungen Bildhauer kennen lernen, den er so lange aus der Ferne bewundert hatte, den sardonischen, temperamentvollen Joseph Leyland. Nach den Angaben von Leylands Bruder Francis nahm William Dearden Branwell nach Halifax mit, wo der Bildhauer zu jener Zeit an einer Gruppe afrikanischer Bluthunde arbeitete. Als diese Gruppe später in London ausgestellt wurde, galt sie, nach dem «Art Journal», als «von keiner andern Skulptur der modernen Zeit übertroffen». Das Modell für diese Tiere war Leylands eigener Bluthund, der zu den Füßen seines Herrn starb. Eine Gruppe afrikanischer Bluthunde, das Modell, das so tragisch endet – das war eine Szene, die unmittelbar aus der Geschichte Angrias stammen konnte! Und der Bildhauer selbst, erst sechsundzwanzig Jahre alt, doch schon von allen Kunstkritikern der Zeit hoch gepriesen, ein Freund vieler berühmter Londoner Künstler, mit der Verheißung einer hervorragenden Zukunft vor sich, war in den Augen des strebsamen Branwell alles, was er selbst gern gewesen wäre. Ja, er war ein zweiter Alexander Percy, mit seiner bissigen Zunge, seiner Verhöhnung der Religion, seiner Verachtung für alle, die nicht mit ihm übereinstimmten, sei89
nem Entschluß, nur zu arbeiten, wenn es ihm beliebte – zum Teufel mit den Folgen, ob Schulden, ob Fehlschlag! – seiner Großzügigkeit gegenüber befreundeten Künstlern, seiner Fähigkeit, sie unter den Tisch zu trinken, seiner mächtigen, massigen Gestalt, den dunklen Augen, dem spöttischen Ausdruck – all diese Eigenschaften verbanden sich miteinander, um den Bildhauer für Branwell zu einer üppigen Quelle von Reiz und Gefahr zu machen – wie es der Satan war, den Leyland drei Jahre vorher in Ton gestaltet hatte. Dieser jüngste Percy, der ein halbes Leben voll Erfahrungen mit Frauen und ihrer Art hatte, war ein hervorragender Doppelgänger, in dessen Gestalt Branwell schlüpfen konnte und sich darin behaglich fühlte. Der unbedeutende, bebrillte, kleine Brontë, der seit seinem vierzehnten Jahr um keinen Zoll gewachsen war, verschwand im Nu, und an seiner Stelle stand Alexander Percy, eine drohende Gefahr für die Frauenwelt. Das ging so weit, daß eine Teestunde bei Mrs. Thompson, der Frau eines befreundeten Malers, zu einer leichten Erregung wurde und nicht zu sechzig Minuten Unbehagen. Mrs. Thompson wurde, ohne es zu ahnen, von einem abschätzenden Auge beurteilt; der höfliche junge Mann, der, Teetasse und Untertasse balancierend, vor ihr saß, konnte sie in wenigen Sekunden entkleiden. Und nicht nur Mrs. Thompson: jedes Mädchen, jede Frau, jede Witwe, die durch die Straßen von Bradford oder an andern Orten ging, wurde für Percy zur leichten Beute, wenn der Sinn ihm danach stand. Dieses Doppel-Dasein hätte ihm ermöglicht, das Leben mit größerem Genuß zu leben. Die Abfuhr, die Geringschätzung, die einem jungen Mann zuteil wurde, der sich seinen Weg in weitere Kreise zu öffnen strebte, mußten nicht einmal empfunden werden. Alexander Percy war es, welcher abfahren ließ. Er hatte den lähmenden Blick, die sengende 90
Zunge. Das Bewußtsein, daß er, ganz nach Belieben, diese zweite Persönlichkeit annehmen konnte, mußte für Branwell zu einer Quelle geheimen Entzückens, zu einem stets vorhandenen Heilmittel alles Leids geworden sein. Unterdessen stellten sich die finanziellen Ergebnisse der Porträtmalerei nur langsam ein, und er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, den Weg zum Druck zu finden. Wenn William Dearden imstande war, seine Arbeiten veröffentlicht zu sehen, gab es keinen Grund, warum Branwell nicht auch eines Tages zu Erfolg gelangen sollte. So legte er denn Pinsel und Palette beiseite und griff wieder nach der Feder; und weil «Oakendale, der Barde von Caldene» mit seiner Frau Griechisch sprach und einen gewissen lokalen Erfolg hatte, meinte Branwell, mit seinem üblichen Mangel an Urteil, der Stil des Schulmeisters müsse besser sein als sein eigener und einer Nachahmung würdiger – wenn denn nachgeahmt werden mußte – als irgendetwas, das Shakespeare oder Keats geschrieben hatten. Friede deiner Asche, edler Dearden! Der Barde von Caldene ahnte nicht, was hundert Jahre später sein einziger Anspruch auf Ruhm sein würde; daß er im Gasthaus an der Straßenkreuzung zwischen Keighley und Haworth saß und – wie er selber berichtet – Emily Brontës Bruder zuhörte, der Teile aus der «Sturmhöhe» vorlas. Während des Jahres in Bradford verbrachte er die Wochenenden in Haworth. Abermals widerhallte, wenn alle drei Mädchen da waren, das Pfarrhaus von Leben. Emily und Anne waren jetzt wieder daheim, Emily hatte – wie Ellen Nussey berichtet – ihre sechs Monate in Law Hill überlebt; Anne dagegen hatte Dewsbury Moor, ihrer angegriffenen Gesundheit wegen, um Weihnachten 1837 verlassen. Vielleicht war es der Zusammenbruch der jüngsten Schwester, der Emily veranlaßt hatte, das Unterrichten unter der «gewandten Reiterin» Miss Patchett aufzugeben. 91
Charlotte unterrichtete noch immer in Miss Woolers Schule, aber gegen Ende Mai 1838 war sie wieder daheim; sie hatte ihre Stelle nach «Wochen unbeschreiblicher geistiger und körperlicher Not» aufgegeben. Der Umstand, daß sie sogleich in ein angrisches Liebesabenteuer einbrach, darin der jetzt bejahrte Percy, Earl von Northangerland, über seine Geliebte und seine uneheliche Tochter Caroline mit seinem Schwiegersohn Zamorna, dem Gatten der legitimen Tochter Mary, spricht, beweist, wie leicht Charlotte sich von allen Sorgen lösen konnte, sobald sie wieder in die höllische Welt eingetreten war. «Wo ist Louisa jetzt?» Der Schwiegervater, Northangerland, erkundigt sich bei Zamorna nach seiner abgeschobenen Geliebten. «Ist sie noch immer in deiner Hut?» «Ja, in guter Hut – ich halte sie an einem kleinen Ort am andern Ufer des Calabar … warum fragst du mich das denn so eingehend? Du bist doch gewiß nicht eifersüchtig, du alter Puritaner?» Kein Wunder, daß Charlotte ihrer Freundin Ellen berichtete: «Ein ruhiger, gelassener Geist wie der deine kann die Gefühle des kläglichen Geschöpfs nicht begreifen, das dir jetzt schreibt.» Wenn Ellen je die abstoßende Zügellosigkeit der Welt dahinter entdeckte … doch die winzige Schrift bürgte für die Sicherheit jedes Manuskripts. Noch würden Mary Taylor und ihre junge Schwester Martha – die bezaubernde «Patty» – die einige Tage später im Pfarrhaus weilten, je erfahren, daß Marys «lebhafter Geist und kluge Reden» und ihre «häufigen Fieberanfälle» und Martha, «die schwatzte, so rasch ihre kleine Zunge laufen konnte», und Branwell, «der vor ihr stand und über ihre Lebhaftigkeit lachte» – so wird das alles in einem Brief an Ellen geschildert – kaum daß sie Haworth verlassen hatten, Bruder und Schwester anregen würden, in der Ekstase der Schöpfung zu ihren Manuskripten zu stürzen, eifrig 92
darauf bedacht, aus der neunzehnjährigen Martha nicht bloß die Frucht verbotener Liebe, sondern auch die Beute ihres zügellosen Schwagers Zamorna zu machen. Branwell schwankte manchmal zwischen den Möglichkeiten, Charlottes Freundinnen in angrische Heldinnen zu verwandeln und Gestalten einzuführen, die seiner Schwester unbekannt waren. Seine Schießkunst trug ihm schließlich Einladungen zu rauhen, aber fröhlichen Jagdpartien ein. Auch lagen da und dort auf den Mooren von Haworth und Stanbury verstreut Farmhäuser, deren Bewohner entweder Brüder von der Freimaurerloge her waren oder Mitglieder der örtlichen Musikkapelle. Ein Haus scheint Branwells Phantasie besonders angeregt zu haben. Ob es tatsächlich Ponden Hall, der Sitz Mr. Robert Heatons, war oder eines der drei Farmhäuser in einiger Entfernung, mitten auf dem Moor, bekannt als Low, Middle und Higher Withens, in jedem Fall müßte es, nach Branwells Beschreibung, das selbe Haus, halb Herrenhaus, halb Bauernhaus, sein, das seine Schwester Emily in «Sturmhöhe» schildern sollte. Branwell hatte es in einer Skizze aus dem Dezember 1837 Darkwall genannt, seinen Besitzer William Thurston und dessen Gattin – unvermeidlich – Maria. «Das fernste Haus war jenes, das auf dem höchsten Punkt des weiten Weidelands stand, mit dicken, schwarzen Mauern und moosbedeckter Vorhalle und einer Pflanzung düsterer Fichten, einer Gruppe von Bäumen, deren älteste und höchste ihre waagrechten Arme über einen Giebel streckten wie die Geister dieses öden Schauplatzes. Hinter diesem Haus bildeten seine langgestreckten Mauern eine Linie mit dem Novemberhimmel, und der Weg führte durch sie auf ein endloses Moor, dessen Spuren zu einem langen Tag Jagd nach Sumpfschnepfen und Birkhühnern verlocken konnten. Doch kein Vogel flog dem Haus näher, bis auf Hänflinge, die zu Hunderten auf irgendeiner feuch93
ten alten Mauer zwitscherten, und doch, trotz seiner Einsamkeit, hatte dieses Haus in dem ausgedehnten Kirchspiel nicht seinesgleichen, und bestimmt wählte die Hälfte aller von alten Tagen erzählenden Geschichten am Kamin ‚Darkwall’ zum Schauplatz und seine Bewohner zu den Personen der Handlung.» Die kurze Schilderung von Darkwall und die Ankunft Alexander Percys auf dieser Szene – dann bricht das Manuskript jäh ab – sind vor allem bezeichnend für die Naivität des Schreibers. Da war Branwell, zwanzig Jahre alt, mit klassischem Wissen genährt, und schrieb mit ansehnlicher Erzählergabe, aber kläglicher Unkenntnis von Interpunktion und Orthographie und verriet da und dort eine Ahnungslosigkeit, die man bei einem Kind von zwölf Jahren voraussetzen konnte. Das deutet darauf hin, daß sein häuslicher Unterricht und die Gesellschaft seiner Schwestern ihn in einem Zustand fast kindlicher Unbefangenheit zu dem Alter der Reife geführt haben. Die rauhen Scherze seiner Kameraden im Dorf, der grobe Humor seiner Bekanntschaften auf dem Moor hatten ihn unberührt gelassen. Er wußte mit zwanzig nicht mehr vom «Leben», als er mit zehn gewußt hatte, und sein «zügelloser» Held war die Vorstellung eines Knaben von dem, was ein kühner, böser Mann sein sollte. Die Dichtung «Azrael» oder «Der Vorabend der Vernichtung» sollte ein ernsterer Vorwurf sein als die Geschichten von Percy. Das war der Aufruhr des Menschen vor der Sintflut. Es begann damit, daß Noah vor Methusalems Grab steht und die Menschen aufruft, sich von der Sünde abzuwenden und zu bereuen! Bereuen! Noah hatte kaum seine Mahnungen beendet, als er unterbrochen wurde: Und er stand auf, in seine Züge haben Wollust und Mord sich ihre Spur gegraben, Und er, mit unbezähmtem Hohn und Spott Trotzt er dem Menschen, trotzt er seinem Gott. 94
Branwell nannte seinen Rebellen Azrael – das freimaurerische Symbol für «vollendeten Geist» und auch der mohammedanische Todesengel – doch abermals war er natürlich, unter anderer Verkleidung, Percy. Azrael bäumte sich gegen Noah, gegen Jehovah, gegen das Schicksal und alle Tradition auf und rief der Menschheit zu, eher ihm zu folgen, als den Drohungen eines zornigen Gottes zu lauschen. Das Thema ist nicht sehr bedeutend, die Verse ebenso wenig. «Azrael» ist interessant, weil es Branwell ist, der die unvermeidliche Herausforderung des jungen Mannes gegen hingenommenes Denken, hingenommene Lehre hinausschreit, gegen das Kirchenliederbuch seiner Tante, gegen die Predigten seines Vaters, gegen das Gespenst von Tod und Krankheit, das um die Ecke lauert und dem kein Ausmaß an Gebeten entrinnen kann. Die Vision Marahs, Azraels sterbender Frau, die ihm plötzlich erscheint, um ihn vor der nahenden Sintflut zu warnen, war nicht bloß Mary, die den jungen Percy vor den Gefahren eines bösen Lebens warnt, sondern auch der Geist der toten Maria, Branwells ältester Schwester, deren Schatten stets im Grab in Haworth lauerte und den Knaben schalt, der sie vergessen wollte. Maria … Mary … Marah … Branwell konnte dem Gespenst, das seine Träume durchdrang, ebensowenig entfliehen, wie er sein zweites Ich bannen konnte; mit zwanzig stellte er noch immer die Fragen, die er mit elf gestellt hatte – wohin … welchen Weg … welche Hand, die rechte oder die linke? Die Dichtung blieb unvollendet. Vielleicht fand Branwell, sie sei nicht wert, zu Ende geschrieben zu werden. Es genügte ihm, der Stimme der Autorität den Handschuh hingeworfen zu haben, die er von seines Vaters Kanzel hörte und die Symbol eines Glaubens war, den er selber nicht mehr besaß, und einer Lebensform, der er nicht anzugehören wünschte. 95
VIII
Ein Exemplar von «Moderner Hausmedizin» von Dr. Thomas John Graham war eines von Mr. Brontës meistbenützten Büchern. Notizen in seiner Schrift bedeckten die Ränder, vor allem auf jenen Seiten, die sich mit den Verdauungsorganen befassen. Denn Mr. Brontë war ein Märtyrer der Verdauungsstörungen. Es ist lehrreich zu erfahren, daß er doppelkohlensaures Natron als «sehr schädlich» beurteilte und die Ansicht vertrat, braunes Brot sei für empfindliche Mägen aufreizend und erhitzend. Er notierte auch, daß die Menschen mit dem Kopf gegen Norden schlafen und alle drei Stunden Wasser lassen sollten, weder mehr noch weniger. Drei Unzen weißer Mohnkörner und eine halbe Unze Holunderblüten sei gut für den Haarwuchs – kurz, der «liebe, kecke Pat», an den Maria Branwell aus Cornwall im Jahre 1812 geschrieben hatte, war in seiner einsamen Witwerschaft ein Hypochonder geworden. Auch Wein wird erwähnt, darunter Sherry und Madeira, zu sechsundzwanzig bis dreißig Shilling das Dutzend Flaschen. Das ist unerwartet, denn Mr. Brontë war Präsident des lokalen Mäßigkeitsvereins. Vielleicht besteht ein Zusammenhang zwischen der Erwähnung des Weins und dem Brief, den er im Oktober 1838 an Mr. Milligan, einen Arzt in Keighley, schrieb, darin er ihm für ein Medikament dankte, das nicht näher bezeichnet wird: 96
«Ich habe Ihr Rezept genommen und nach entsprechender Zeit und nachdem ich die Wirkungen gründlich ermessen habe, kann ich Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung, die ich für die beste Richterin halte, aufrichtig versichern, daß nichts, was ich je aus den Händen irgendeines Arztes erhielt, mir besser getan hätte … ich habe häufig angenommen, Sie könnten sich darüber gewundert haben, warum ich so dringend bedacht war, Ihre Unterschrift zu erbitten – die Wahrheit ist, daß ich eine medizinische Ermächtigung für das haben wollte, was ich etwa tue, um mit Gottes Hilfe in der Lage zu sein, vorsorglich die grundlosen, aber bösartigen Kritiken der Schwachen, Verderbten und Durchtriebenen zu vereiteln, die oft auf der Lauer liegen, um jene zu schmähen, die klüger und besser sind als wir.» Mr. Brontë fährt in seinen Danksagungen fort, gibt aber keinen Hinweis auf die Art des Heilmittels, das er so wohltätig gefunden hat. Die Formulierung seines Briefes läßt vermuten, daß er, wie Sankt Paul, den Rat erhalten hatte, «um seines Magens willen» ein wenig Wein zu trinken, und fürchtete, daß ihm das ungünstige Bemerkungen eintragen könnte. Am Ende mußte der Wein ja gekauft werden, Haworth war ein kleiner Ort, und es ist schwer, solche Dinge geheimzuhalten. Bezeichnend aus einem andern Grund ist seine Unterstreichung eines Mittels gegen Trunkenheit in dem Band «Moderne Hausmedizin». «Zwölf Tropfen reines Ammoniak in einem Weinglas mit Milch und Wasser, nach zehn Minuten wiederholt und dann nochmals nach einer halben Stunde.» Eine Notiz von Mr. Brontës Hand sagt: «Kaltes Wasser dürfte am besten entsprechen. B.» Im Text heißt es weiter: «Dr. Plet berichtet den Fall eines jungen Mannes von nervös reizbarer Konstitution, der so heftig betrunken war, daß er die unziemlichsten Dinge tat und alles zerbrach, was ihm in die Hände kam. Zwölf 97
Tropfen Ammoniak wurden ihm in einem Glas Zuckerwasser gereicht, und er beruhigte sich unverzüglich, war seines Betragens wegen verlegen und beschämt.» Der Pfarrer von Haworth notiert: «Nur geringe Wirkung, nur ein kleines Quantum gut aufgelöst. B. 1837.» Man muß dem entnehmen, daß einmal – oder vielleicht auch mehr als einmal – während des Jahres 1837 die «gut aufgelösten» Tropfen Ammoniak tatsächlich angewendet wurden. Nicht für ihn selbst natürlich, möglicherweise aber für einen überreizten Branwell. Wenn der Pfarrer seines Magens wegen Wein trank, so muß der Sohn das bemerkt und desgleichen getan haben – obschon aus einem weniger harmlosen Grund. Der Mäßigkeitsverein kannte ihn nicht mehr. Wenn ein junger Mann großjährig wird, wie es Branwell im Juni 1838 wurde, so läßt er sich nicht länger von einem bejahrten Vater im Ruhestand diktieren. Irgendwer in den Mauern des Pfarrhauses schlief schlecht; ob es Branwell, Emily, Charlotte, Anne oder gar Mr. Brontë selber war, das enthüllt die «Moderne Hausmedizin» nicht. Der einzige Hinweis findet sich in einem «B. 1838» neben dem Titel «Albdruck». Im Text heißt es: «Dr. McNash, der sehr klug über die Philosophie des Schlafs geschrieben hat, schilderte richtig das Gefühl des Albdrucks als das schrecklichste, das eine menschliche Natur quälen kann – eine Unfähigkeit, sich während des Krampfes zu bewegen, furchtbare Visionen von Gespenstern usw. Nach Dr. Buchan stöhnen Menschen im Schlaf, wenn sie von einem Albdruck geplagt werden, und man sollte sie wecken.» War Mr. Brontë im Nachthemd, den Kerzenhalter in der Hand, in das hintere Schlafzimmer gegangen, wo am 14. Mai desselben Jahres sein Sohn im Schlafe lag, dem Datum, das Branwells Hand unter das Gedicht schrieb, das Harriets Qualen schilderte?
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O Percy, sag, wo bist du? Hörst du mich? Zum Opfer bracht’ ich meinen Gott für dich, Und dennoch kommst du nicht, läßt mich allein; Mir war’s, als bräche jäh ein Strahl herein, In flücht’ger Helle, wie ein Blitz entschwunden! O komm, so kalt und dunkel sind die Stunden, Ein Wesen steht an meines Bettes Rand, O löse mich aus seiner eis’gen Hand, Die mich bedrückt, o hebe meinen Kopf, Ich kann nicht atmen… Mr. Brontë wußte nichts von Harriet, nichts von Azrael, dem Todesengel – zwei Tage vorher abgeschrieben – nichts von einer Geschichte, die «Sturmhöhe» hieß und später im Gasthaus am Kreuzweg laut vorgelesen werden sollte, vielleicht aber selbst heute noch in einer ersten Skizze vorhanden, die Branwell zu sehen erlaubt gewesen war: «… Meine Finger schlossen sich um die Finger einer kleinen, eiskalten Hand! Das heftige Grauen des Albdrucks überkam mich; ich versuchte, meinen Arm zurückzuziehen, doch die Hand klammerte sich daran, und eine schwermütige Stimme schluchzte: ‚Laß mich ein – laß mich ein! …’ Als es sprach, unterschied ich dunkel ein Kindergesicht, das durch das Fenster schaute. Der Schreck machte mich grausam; und da ich den Versuch zwecklos fand, das Geschöpf abzuschütteln, zog ich sein Handgelenk in die zerbrochene Scheibe und rieb es hin und her, bis das Blut rann und die Bettücher durchnäßte; noch immer klagte es: ,Laß mich ein!’ hielt mich in zähem Griff fest, machte mich fast toll vor Furcht … ‚Hinweg!’ schrie ich. ,Nie werde ich dich einlassen, und wenn du zwanzig Jahre flehst.’ ,Es sind zwanzig Jahre’, klagte die Stimme, ‚zwanzig Jahre bin ich heimatlos gewesen …’» 99
Kein Heilmittel gibt es jetzt für diese Träume; der Schaden ist vor langen Jahren angerichtet worden, in der Kindheit. Die unbewußten Ängste des schlafenden Branwell erfüllten das Pfarrhaus mit Gespenstern, die Furcht vor vorzeitiger Krankheit und Tod beschwört den Geist der verlorenen Maria herauf, die in alle Ewigkeit wanderte und ihren Bruder sein ganzes Leben lang verfolgte. Mit dem Tag verblich das Grauen. Gedichte konnten unvollendet bleiben, Manuskripte in eine Schublade geworfen werden, Bilder durften auf der Staffelei trocknen. Das Leben war allwichtig – neue Schauplätze aufzusuchen, neuen Menschen zu begegnen, all die Geister zu vergessen, die nachts kamen. Tätigkeit war es, was Branwell am heißesten begehrte. Die ganze Welt wandelte sich. Diese Tatsache konnte er dem Vater und der Tante gar nicht stark genug einprägen. Die Erfindung der Dampfmaschine, das Aufkommen der Eisenbahn hatten das Antlitz der Landschaft gewandelt, waren im Begriff, es bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Bald würde kein Mensch mehr auf der Straße reisen, sondern mit dem Zug von einem bis zum andern Ende des Landes fahren. Das würde die ältere Generation nicht wesentlich berühren; für die junge aber, für Menschen wie ihn selbst, bedeutete es neue Möglichkeiten, neue Wagnisse, eine soziale Revolution, und nichts würde mehr sein wie früher. Zweifellos wurden solche Reden im Pfarrhaus gelassen aufgenommen. Weder Mr. Brontë noch seine Schwägerin trugen das geringste Verlangen zu reisen, nicht mit der Postkutsche, nicht auf Schienen. Ihre Haltung mußte für Branwell erbitternd gewesen sein. Bewegung erregte ihn – das Zischen des Dampfes, die Kraft der Maschinen, das Gespräch der Techniker, die beim Bau tätig waren. Es war lebendig, es war neu, es gehörte der Zukunft. Im Jahre 100
1839 redete er weniger von seinem Malen. Seine Begeisterung galt ganz und gar der Eisenbahn. Wann immer eine Gelegenheit sich finden ließ, ging er nach Hebden Bridge oder Todmorden hinüber, um das Fortschreiten der Arbeit zu beobachten, denn die Linie von Manchester nach Leeds sollte durch das Tal von Todmorden gelegt werden. Der Kanal, der von Littleborough nach Todmorden führte und bei Sowerby, Luddenden Foot und Hebden Bridge vorbeifloß, war das wichtigste Beförderungsmittel für Material, das beim Bahnbau verwendet werden sollte. Tag für Tag fuhren Kähne hin und her, ankerten nachts sehr oft in der Sackgasse, dem «Basin» in Luddenden Foot, wenn die Mannschaft ihre Abende im «Woodman», in «Weaver’s Arms» oder im «Anchor and Shuttle» verbringen wollte. Diese Männer fesselten Branwell. Sie bildeten eine Gemeinschaft unter sich, waren rauflustig, grob, ungehobelt, aber schöne Burschen; das waren die Menschen, die er gern gezeichnet und gemalt hätte, nicht langweilige, stumpfe Kreaturen wie Mr. und Mrs. Kirby. Diese Bootsleute scherten sich um nichts und niemanden. Sie waren wandernde Zigeuner, tranken, rauften, lachten. Ihre Lebensform war rauh, aber frei. Bei ihnen fühlte Branwell sich wohl. Sie wußten nicht, daß er der «Pfarrerssohn» aus Haworth war; sie fragten nicht, wer er war, es war ihnen gleichgültig. Alles, was sie sahen, war ein rothaariger kleiner Bursche, der hinter seinen Brillengläsern zu ihnen aufblickte und lächelte. Sie hießen ihn an Bord ihrer Kähne willkommen. Er tat nicht vornehm. Er brachte sie zum Lachen. Das, mußte Branwell gedacht haben, war sogar besser als der «George» in Bradford, denn im «George» oder im «Union Cross» in Halifax hatten die Dichter, denen er begegnet war, es fertig gebracht, daß ihre Gedichte veröffentlicht wurden, und die Maler hatten ihre Bilder verkauft, während er, Branwell, in ihren Augen 101
noch immer ein Lehrling, eine Null war. Bei den Bootsleuten war es anders. Hier fühlte er sich anonym und sicher. Auch das Wissen, daß sein Vater das mißbilligen, daß er entrüstet, ja, vielleicht entsetzt sein würde, mochte einen zusätzlichen Anreiz bilden. Da Universität und Königliche Akademie ihm verschlossen geblieben waren, mochte es das Beste sein, ins andere Extrem zu gehn und sich Männern zu gesellen, die sich nicht um Intellekt scherten, die mit ihren Händen arbeiteten. Daheim wurde es stiller als je. Anne nahm, mit ihrer stummen Entschlossenheit, einen Posten als Gouvernante bei einer Mrs. Ingham in Blake Hall, Mirfield, an. Etwa einen Monat später entriß sich auch Charlotte den verbrecherischen Entzückungen Caroline Vernons, die den eigenen Schwager liebte, und nahm zeitweilig eine Stelle als Gouvernante bei einer Mrs. Sidgwick in Stonegappe an. Die älteste und die jüngste Schwester verdienten Geld. Die beiden andern Kinder nicht. Emily bürstete den Teppich, fegte die Stufen, schälte, unter Tabbys Augen, in der Küche Kartoffeln und war vor jeder Annäherung abgeschlossen wie ein Einsiedlerkrebs. Ihre private Welt hatte keine Schrecken für sie. Jeder dunkle, namenlose Gast war willkommen. Branwell hatte Mrs. Kirbys Zimmer in der Fountain Street verlassen. Kein reicher Kunde war aufgetaucht, um sein Porträt malen zu lassen. Zwölf Monate Aufenthalt in Bradford hatten wenig Ertrag aufzuweisen, bis auf einen Haufen Bilder, die meisten unvollendet, die er ebenso gut seinen Modellen als Honorar geben konnte; die übrigen konnte man an einer Wand im Atelier-Schlafzimmer aufstapeln. Im Juni 1839 war er zweiundzwanzig, und in diesem Alter hatte Joseph Leyland Spartacus geschaffen und bei der Ausstellung in Manchester gezeigt. Doch Branwell hatte 102
nicht Leylands Möglichkeiten gehabt, darunter die Gönnerschaft reicher Leute wie der Rawsons von Hope Hall in Halifax. Nein, irgendwas würde sich ergeben. Er würde doch ein Porträt verkaufen, ein Gedicht gedruckt sehen; unterdessen war es Sommer geworden, und er unterhielt sich damit, aufs Land zu wandern und, was das Schönste war, mit dem jungen Hartley Merrall und ein oder zwei andern vielleicht mit dem Schiff einen Ausflug nach Liverpool zu machen, wo sie sich so gut unterhielten, daß sie länger blieben als beabsichtigt und Branwell in seiner überschäumenden Stimmung knapp mit Geld wurde. Was Branwell und seine Freunde in Liverpool taten, bleibt dunkel. Das Meer und der Hafen müssen eine große Anziehungskraft ausgeübt haben. So sehr, daß, nach der Angabe von Leylands Bruder Francis, der nicht mit von der Partie war, «ein Anfall von krampfhaften Zuckungen ihn – Branwell – zwang, beim Opium in irgendeiner Form als schmerzstillendem Mittel Zuflucht zu suchen, dessen besänftigende Wirkung er bereits früher erkannt hatte». So mag es später erzählt worden sein. Solch ein Anfall trieb de Quincey zum Laudanum – das mochte Branwell in de Quinceys «Bekenntnissen» gelesen haben. Das selbe Mittel beruhigte abgenützte Nerven und war ein allgemein verwendetes Medikament gegen Diarrhöe und Husten. Bezeichnender noch – es sollte auch die Auszehrung verhüten. Aus einem dieser Gründe mag Branwell seine erste Dosis Laudanum genommen haben. Die Furcht vor einem Krampfanfall, die ihn in Liverpool ergriff, wie sie es möglicherweise vier Jahre vorher in London getan hatte, genügte wohl, um ihn in die nächste Apotheke zu treiben. Sein Vater notierte in dem Buch «Hausmedizin», tic douloureux sei französisch und bedeute «einen schmerzhaften Krampfanfall». In jener Zeit konnte man sich Opium mit 103
der größten Leichtigkeit für ein paar Pence beschaffen. Alles, was einen Schmerz stillte oder auch nur die Angst vor einem Schmerz besänftigte, war dazu angetan, eine Anziehungskraft auf Branwell auszuüben; zudem verlieh der Umstand, daß Opium bei Coleridge und de Quincey befeuernd gewirkt hatte, dem Mittel einen romantischen Reiz. Wenn de Quincey an einem seiner großen Tage dreiundfünfzig Unzen Laudanum nehmen durfte, so konnte es wohl nicht schaden, wenn Branwell drei nahm. Das war etwas, das auch daheim nicht bemerkt würde. Es war anders als trinken. Die «Pharmakologische Grundlage der Therapie», ein moderneres Werk als Mr. Brontës «Hausmedizin», sagt, «die große Mehrzahl der Süchtigen sind Menschen, die als neurotisch oder konstitutionell psychopathisch minderwertig bezeichnet werden, und ihre Sucht ist nur eine Erscheinung ihrer fundamental defektiven Persönlichkeit … die Droge verschafft einen Fluchtmechanismus vor der Wirklichkeit, einen Weg, sich von den Fehlschlägen und Enttäuschungen des Alltagslebens zu befreien, ein Mittel, um die Kluft zwischen Ehrgeiz und Erfüllung zu überbrükken.» Für einen jungen Menschen von zweiundzwanzig, der nicht die Schule der Königlichen Akademie durchlaufen, noch das Bild des Jahres gemalt hatte, dessen Gedichte von «Blackwood’s» abgelehnt, dessen Briefe an Wordsworth nicht beantwortet wurden, und der noch immer leidenschaftlich an sein Genie glauben wollte, war Laudanum, mit seinen zehn Prozent Opium, gleichbedeutend mit Freiheit. Hier war ein Weg müheloser Erfüllung. Ein nagendes Gewissen verstummte. Und – von allem am wunderbarsten – aus Albdrücken wurden Träume, aus den Erinnyen die Eumeniden, aus der vorwurfsvoll warnenden Marah 104
eine liebliche Proserpina. Von nun an wußte Branwell, wohin er sich wenden sollte, wenn Zweifel und Enttäuschung in seines Vaters Stimme mitklangen, wenn seine Tante ihn zum zwanzigsten Mal fragte, ob er ein Bild verkauft habe, wenn Charlotte sich barsch nach seinen Plänen erkundigte. Eine Zeitlang wurde nur von Liverpool gesprochen. Branwells Begeisterung war ansteckend. Die Familie mußte hinfahren – sein Vater, seine Tante, die Mädchen; man hatte nicht gelebt, wenn man Liverpool nicht gesehen hatte. Doch wie es mit dem zaudernden Pläneschmieden der älteren Generation immer geschieht, verblaßte unvermeidlich das Interesse. Sein Vater hatte zu viel zu tun – er wartete immer noch auf einen Hilfsgeistlichen, der Mr. Hodgson, seinen früheren Helfer, ersetzen sollte – und, kein Zweifel, seine Tante hatte den Eindruck, daß das Haus nicht Tabithas Obsorge überlassen werden konnte. Und was die Mädchen betraf – nun, sie hatten, jede, ihre eigene Ausrede. Emily würde nicht ohne Anne fahren, und Anne mußte zu Mrs. Ingham zurück. Nur Charlotte, der zeitweiligen Stelle bei Mrs. Sidgwick entronnen, war frei, Ferien zu machen, doch sie zog natürlich vor, mit Ellen Nussey nach Bridlington zu fahren. Branwell konnte nichts unternehmen. Der Juli in Liverpool hatte seine schmale Börse geleert. Er konnte es sich nicht einmal leisten, der armen Mrs. Robinson, der Witwe seines alten Zeichenlehrers in Leeds, zwei Sovereigns zu schicken, als Anerkennung – so schrieb er in einem Brief an seinen Freund, den Maler Thompson, für «die Güte, mit der sie und unser armer Lehrer uns behandelt hat. Aber ich fahre wohl binnen kurzem nach Leeds, und dann bin ich hoffentlich in der Lage, jemandem in gewissem Ausmaß zu helfen, den, wie ich fürchte, allzu viele gekränkt haben.» 105
Der Bildhauer Leyland war wieder in Halifax, und dadurch wurde diese Stadt noch interessanter als Bradford. In London hatte er den Ruhm gefunden, nicht aber Seßhaftigkeit. Er mietete ein Atelier, und mit einer zynischen Mißachtung seines eigenen Rufs als Künstler zeigte er an: Halifax Marmorarbeiten Square Road J. B. Leyland, Bildhauer Denkmäler, Büsten, Grabsteine, Gedenktafeln, Platten für Kommoden und alle Arten von Marmorarbeit, wie man sie bei Zimmereinrichtungen benützt, werden hier ausgeführt Große Auswahl an Marmorkaminen, ferner Reinigung, Reparatur und Installation Wenn Joseph Leyland, der Liebling der Kritiker, nicht von der Bildhauerei leben konnte, dann war auch einem unbekannten Künstler kein Vorwurf zu machen. So meinte Branwell, nachdem er zwölf Monate in Bradford erfolglos geblieben war. Am 14. Oktober wurde in der Schule in Sowerby Bridge eine große Ausstellung zugunsten der Fortbildungsschule für Fabrikarbeiter eröffnet, in der Leyland einen Kopf seines geliebten, betrauerten afrikanischen Bluthundes zeigte und eine Büste der «Lady von Kirklees», inspiriert von seinem und Branwells unermüdlichem Freund William Dearden. Branwell ging mit Leyland und seinen Freunden in die Ausstellung, wo eine zusammenhanglose Menge von allerlei Gegenständen dargeboten wurde, von einem Degen, der angeblich Napoleon gehört hatte, angefangen bis zur Perücke Wesleys. 106
Es war eine vergnügliche Art, einen Herbsttag zu verbringen; man brach vom Halteplatz des Postwagens auf, dem Hotel Swan in Halifax, machte auf dem sieben Meilen langen Weg nach Sowerby Bridge und Luddenden Foot mehrmals Rast, um sich zu erfrischen, und dann kehrte man nach Halifax zurück, Leyland und seine Freunde zu seinem Atelier, während Branwell beim Wheatsheaf Inn den Postwagen nach Haworth bestieg. Aber es war keine Methode, um Geld zu verdienen. Der Winter näherte sich. Leyland hatte Bestellungen auszuführen, die erst halb beendet waren, und mit denen er sich schon im Rückstand befand, und Branwell mußte sich damit abfinden, daß er entweder den Posten als Hauslehrer annahm, der ihm angeboten war und ihm endlich die Gelegenheit gab, das Seenland kennen zu lernen, das er immer zu besuchen gewünscht hatte, die Heimat Wordsworths, Southeys und Hartley Coleridges, oder genötigt war, den Winter 1839/40 ohne einen Penny in der Tasche in Haworth zu verbringen. Charlotte schrieb drei Tage nach Weihnachten an Ellen Nussey: «Eines wird den Alltag noch eintöniger machen als je. Branwell, der uns immer belebte, soll uns in wenigen Tagen verlassen, um die Stelle eines Privatlehrers in der Nachbarschaft von Ulverston anzunehmen. Wie es ihm behagen wird, das muß abgewartet werden; derzeit ist er voll Hoffnung und Entschlossenheit. Ich, die ich seine schwankende Natur und seine starke Neigung zu einem tätigen Leben kenne, wage nicht, allzu zuversichtlich zu sein.»
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IX
B
ranwells eigene Eindrücke von dem Leben bei Mr. Robert Postlethwaite in Broughton-in-Furness sind in einem Brief geschildert, den er am 13. März 1840 an John Brown schrieb, und der den Großmeister der Loge der Drei Grazien und dessen Bruder William derart erheiterte, daß das Schriftstück in der Familie Brown bis wenige Jahre vor Williams Tod im Jahre 1876 aufbewahrt wurde; dann verschwand es. Der Brief ist häufig als Beweis für Branwells aufreizenden Charakter zitiert worden. Er muß abermals zitiert werden, nicht nur, weil er Hinweise auf Personen enthält, die unbemerkt geblieben waren, sondern auch weil er um seiner selbst willen unterhaltend ist. Alter Trumpfbube, glaubt nicht, daß ich Euch vergessen habe, wenn ich es auch solange hinausschob, Euch zu schreiben. Es war meine Absicht, Euch ein Garn zu senden, sobald ich das Material fände, mit dem ich es spinnen könnte, und erst jetzt ist es so weit, daß ich Zeit hatte, mich umzuschauen und zu wissen, wo ich bin. Wenn Ihr mich jetzt sehen würdet, könntet Ihr mich nicht erkennen, und Ihr würdet lachen, wenn Ihr hörtet, was die Leute aus mir machen. Oh der Falschheit und Heuchelei dieser Welt! Ich halte 108
mich an einem kleinen, abgelegenen Ort am Meer auf, zwischen wilden, waldigen Bergen, die sich rings um mich erheben – mächtig, schroff und mit Wolken bemützt. Mein Brotgeber ist ein Grafschaftsrichter im Ruhestand, ein großer Landbesitzer und von recht herzlichem und großzügigem Wesen. Seine Frau ist eine stille, schweigsame, liebenswürdige Dame, und seine Söhne sind zwei prächtige, hochgemute Burschen. Mein Hauswirt ist ein ehrbarer Arzt, und sechs Tage von sieben ist er betrunken wie ein Lord. Seine Frau ist eine geschäftige, schwatzhafte, gutherzige Seele; und seine Tochter – o Tod und Verdammnis! Nun, was ich bin? Das heißt, wofür halten sie mich? Für einen sehr ruhigen, gesetzten, nüchternen, enthaltsamen, geduldigen, mildherzigen, tugendhaften, vornehmen Philosophen, das Bild guter Werke und die Schatzkammer rechtschaffener Gedanken. Karten werden unter das Tischtuch geschoben, Gläser in dem Büffet versorgt, wenn ich das Zimmer betrete. Ich nehme weder Spirituosen noch Wein noch Malzgetränke. Ich kleide mich in Schwarz und lächle wie ein Heiliger oder ein Märtyrer. Jedermann sagt: «Was für ein braver junger Herr ist doch Mr. Postlethwaites Hauslehrer!» Das ist eine Tatsache, so wahr ich eine lebende Seele bin, und ich mache mich sehr behaglich lustig über sie. Ich gedenke, mir ihre gute Meinung zu erhalten. Ich habe in Kendal, am Abend, als ich fortfuhr, für ein halbes Jahr Abschied vom alten Freund Whisky genommen. Es gab einen Herrenabend im Royal Hotel, zu dem ich mich gesellt habe. Wir bestellten ein Abendessen und Whisky-Toddy «heiß wie die Hölle». Man hielt mich für einen Arzt und setzte mich in den Ehrenstuhl. Ich hielt verschiedene Tischreden, die gleichzeitig hinuntergespült wurden, bis der Raum sich drehte und die Kerzen in unseren Augen tanzten. Einer der Gäste war ein ehrenwerter alter Herr mit gepudertem Haar, rosigen 109
Wangen, einem runden Bauch und beringten Fingern. Er trank auf «Die Damen!» … und nachher gröhlte er eine Rede. Binnen zwei Minuten, inmitten eines langen Satzes, blieb er stecken, wischte sich den Kopf, blickte wild um sich, stotterte, hustete, blieb wieder stecken und rief nach seinen Pantoffeln. Der Kellner half ihm ins Bett. Dann begannen ein langer irischer Gutsbesitzer und ein Eingeborener aus dem Land Israel einen Streit über ihre Länder; und in der Hitze des Zanks leerten sie ihre Gläser, jeder auf die Kehle des Nachbarn statt in die eigene. Ich empfahl Aderlaß, Abführen und Zugpflaster; aber sie verabreichten einander einen starken «Jem Warder», und so warf ich mein Glas auch auf den Boden und schwur, ich würde mich «Alt Irland» anschließen. Ein richtiger Spektakel folgte, aber endlich wurden wir gebändigt. Ich fand mich am nächsten Morgen im Bett mit einer Flasche Porter, einem Glas und einem Pfropfenzieher neben mir. Seither habe ich nichts Kräftigeres gekostet als Milch und Wasser und werde hoffentlich dabei bleiben, bis ich im Sommer zurückkehre; dann werden wir weiter sehen. Ich werde so dick wie Prinz William in Springhead und so gottesfürchtig wie sein Freund, Pfarrer Winterbotham. Meine Hände zittern nicht mehr. Ich fahre mit Mr. Postlethwaite zum Bankier in Ulverston und sitze da und trinke Tee und tausche Klatschgeschichten mit alten Damen. Und was die jungen betrifft! Ich kenne eine, die gerade jetzt bei mir sitzt – schön, blauäugig, dunkelhaarig, süße Achtzehn – sie ahnt nicht, daß der Teufel ihr so nahe ist! Ich war entzückt, Eure Botschaft zu sehen, alter Ritter, aber einen Satz verstehe ich nicht – Ihr werdet vielleicht wissen, was ich meine … Wie geht’s Euch allen. Ich sehne mich danach, Euch wieder zu sehen und zu hören. Wie geht’s dem «Teufelsdaumen», den die Menschen … nen110
nen, und dem «Teufel in Trauer», den die Menschen … nennen? Wie geht’s …? Und …? Und dem Doktor? Und ihm, aus dessen Augen Satan schaut wie aus Fenstern … ich meine … esquire? Wie geht’s den kleinen …, …, …, «Longshanks» und den übrigen? Sind sie verheiratet, begraben, vom Teufel geholt und verdammt? Wenn ich wiederkomme, werde ich ihnen fest die Hand drücken; bis dahin bin ich zu fromm, um an sie zu denken. Jener krummbeinige Teufel pflegte mir unverschämte Fragen zu stellen, auf die ich entsprechend geantwortet habe. Beelzebub wird einen Spazierstock aus ihm machen! Bleibt bei Eurer Enthaltsamkeit, alter Ritter, bis ich heimkehre, ich werde Euren alten Leib flicken … Glaubt «Little Nosey», ich hätte ihn vergessen? Nein, bei Jupiter, auch seine Uhr nicht. Eines dieser Tage werde ich ihm einen Gruß schikken! Aber ich muß mit jemandem reden, der hübscher ist als Ihr! Und so gute Nacht, alter Junge, und seid versichert, daß ich bin Euer Philosoph. Schreibt mir unmittelbar. Diesen Brief werdet Ihr natürlich nicht zeigen, und um Himmels willen streicht alle Stellen durch, die mit roter Tinte geschrieben sind. * Dieser Brief, der von einem sorglosen Branwell so heiter hingeworfen worden war, wurde ganz Haworth gezeigt; oder doch jenem Teil der Gesellschaft von Haworth, der sich, nachdem die Loge der Drei Grazien ihre Tagung in vollendeter Harmonie in ihren Maurerischen Gemächern beendet hatte, in aller Gemütlichkeit im «Black Bull», unter dem wohlwollenden Auge des Wirts, «Little Nosey», versammelte. 111
Daß der Großmeister die mit roter Tinte geschriebenen Zeilen ausstrich, geht aus der noch vorhandenen Abschrift des Briefes hervor, doch eine noch vor wenigen Jahren vorhandene Liste der Mitglieder der Loge im Jahr 1840, nannte einen «Esquire» unter den Brüdern. Das war John Heaton. John Heaton, Wollkämmerer, dreiundzwanzig Jahre alt, als er im Jahre 1830 Mitglied der Loge wurde, war einer von den vielen Vettern aus Ponden Hall, die im Worthtal verstreut waren. Wenn Branwells «Esquire», «aus dessen Augen Satan schaut wie aus Fenstern», Nelly Deans Schilderung von Heathcliffs Augen inspiriert hat, «jenem Paar schwarzer Teufel, so tief vergraben, die nie kühn ihre Fenster öffneten, sondern unter ihnen glitzernd lauerten wie Spione des Satans», dann wird die Identifizierung Heathcliffs mit John Heaton möglich. Der Abend im Royal Hotel in Kendal klingt so sehr nach einem Zechgelage Percys mit O’Connor und Montmorency, daß ein Zweifel aufsteigt, ob das Ereignis wirklich stattgefunden hat oder nur in Branwells Phantasie. Würde ein junger Hauslehrer es wagen, sich am Abend, bevor er seine Stelle antritt, zu betrinken, und das an einem Ort, wo sein Brotgeber bekannt sein mochte? So viel darin war Wunschtraum, so viel Parodie, so viel gute Laune, aus Zweifel geboren. Percy verrichtete all diese Taten in der Phantasie; er trug den Lorbeerkranz und winkte mit der Hand, er war Bösewicht, König und Held, und er trug die Last des Tadels, wenn es schief ging, ganz wie einst ein hölzerner Soldat die vielen Sünden beging, zu denen einem kleinen Jungen der Mut gebrach. Der Erfolg bei Frauen, das war es, womit Percy am meisten prahlte. Vom Tage an, da der junge Alexander zu Füßen Augustas gekniet hatte, die seine erste Frau werden sollte, bis zu der Zeit, da der alternde Earl von Northan112
gerland seine Geliebte an seinen Schwiegersohn verschacherte, spielten sich Percys einzige, von Frauengeschichten freie Stunden auf dem Schlachtfeld ab. Branwell, der im selben Zimmer mit der Tochter des Arztes von Broughton saß, bei dem er wohnte, erinnerte sich wohl an die kleinen Versuche zu Galanterie, die bisher erfolgreich schienen: einen Arm, den er Ellen Nussey reichte, ein Duett mit Mary Taylor, ein Gelächter über die unbezähmbare «Patty», ein höfliches Zwiegespräch mit Mrs. Kirbys Nichte während der Sitzungen zu dem Porträt. Jetzt, für sechs Monate auf sich selbst gestellt, vollständiger von der Heimat getrennt, als er es in Bradford je gewesen war, mußte doch der bescheidene Versuch einer Eroberung gemacht werden. Charlotte sagte, etwa acht Monate später, in einem Brief an Ellen Nussey: «Habe ich dir einmal von dem Fall eines jungen Verwandten von mir erzählt, der sich für eine junge Dame interessierte, bis er zu argwöhnen begann, daß sie sich noch mehr für ihn interessierte, und dann im Nu eine Art Verachtung für sie faßte? Du weißt, worauf ich anspiele. Nie, bei deinem Leben, erwähne die Umstände – Mary ist mein Studienobjekt – wegen der Verachtung, der Gewissensbisse, der Mißverständnisse, welche der Entwicklung von an sich edlen, warmen, großherzigen, zärtlichen und tiefen Gefühlen folgen, die aber, zu frei enthüllt, zu offen angewendet, nicht nach ihrem wahren Wert geschätzt werden.» Daß die spöttische, energische Mary Taylor je eine Schwäche für Branwell gehegt haben soll, ist unwahrscheinlich, beide aber, Charlotte und Branwell, von den Geschlechtsbeziehungen in Angria besessen, lebten ihre Phantasie im wirklichen Leben aus. Ein Blick Marys mochte in der Meinung von Bruder und Schwester einer Erklärung gleichgekommen sein. 113
Es ist bezeichnend, daß der Erzähler zu Beginn von «Sturmhöhe», Mr. Lockwood, Gefühle beschreibt, die vollkommen jenen Branwells in Broughton-in-Furness entsprechen, und das in Branwells eigenem, besondern Stil. Lockwood sagte: «Während ich einen Monat schönes Wetter an der Seeküste genossen habe, geriet ich in die Gesellschaft eines ungemein bezaubernden Geschöpfs; eine wahre Gottheit in meinen Augen, solange sie keine Notiz von mir nahm. Ich habe nie ein Wort von meiner Liebe geäußert; doch wenn Blicke eine Sprache haben, so hätte der dümmste Mensch ahnen müssen, daß ich über beide Ohren verliebt war; schließlich verstand sie mich und erwiderte mir mit einem Blick – dem süßesten aller vorstellbaren Blicke. Und was tat ich? Ich gestehe es beschämt – ich zog mich eisig in mich selbst zurück wie eine Schnecke; bei jedem Blick kälter und weiter; bis endlich die arme Unschuldige dahin gebracht wurde, an ihrem eigenen Verstand zu zweifeln und von Verwirrung über ihren vermeintlichen Irrtum überwältigt, ihre Mutter dazu überredete abzureisen. Durch diese seltsame Wendung meiner Gemütsart gelangte ich in den Ruf bewußter Herzlosigkeit; wie unverdient, das kann nur ich allein beurteilen.» Branwell war, wie der junge Mr. Lockwood, auf dem Papier kühn, bestimmt in dem Brief an John Brown und vielleicht in Briefen an seine Schwestern im Pfarrhaus. Ob er auch in Wirklichkeit der Tochter des Arztes gegenüber so kühn war, muß noch bewiesen werden. Die Tradition will, daß seine Tätigkeit bei Mr. Robert Postlethwaite im Juni 1840 «auf Wunsch seines Vaters» ein Ende fand. Mr. Brontë wollte wahrscheinlich nicht, daß es sich in Haworth herumsprach, der pensionierte Beamte habe ihn aufgefordert, seinen Sohn abzuberufen, der, wie ein Enkel berichtet, «allzu hemmungslos getrunken» und sich nicht 114
eben als der beste aller möglichen Einflüsse auf die jungen Söhne John und William erwiesen hatte. Wie auch Branwells Verhalten als Hauslehrer in Broughton House gewesen sein mag und welche Seufzer und Blicke zwischen ihm und der Tochter des Arztes in dem Haus, wo er wohnte, ausgetauscht werden mochten, Branwells wichtigstes Anliegen, sich Hartley Coleridge in Nab Cottage, am Ufer des Rydal Water, vorzustellen, fand Erfüllung, während er bei Mr. Postlethwaite war. Der Brief, den er am 20. April an den Dichter schrieb, darein er seine zweite Harriet-Dichtung beilegte und auch zwei Übersetzungen von Oden des Horaz, war ungefähr in der gleichen Stimmung geschrieben, wie jener, mit dem er sich Coleridges Nachbarn Wordsworth genähert hatte, obgleich vielleicht bescheidener und sorgfältiger aufgesetzt: Sir, Mit großem Widerstreben nur erlaube ich mir, für das Durchlesen der folgenden Zeilen einen Teil der Zeit eines Mannes zu erbitten, an den ich keinen Anspruch habe, und bei dem einzudringen ich nicht wagen sollte; aber ich kenne persönlich keinen Mann, an den ich mich wegen einer Antwort auf die Frage wenden könnte, die ich stelle, und ich vermochte meinem Verlangen nicht zu widerstehn, einen Mann zu fragen, gegen dessen Urteil es nur wenig Hoffnung auf eine Berufung gibt. Seit meiner Kindheit war ich es gewohnt, die Stunden, die ich mir von anderen und sehr verschiedenen Beschäftigungen absparen konnte, den Bemühungen zu literarischer Arbeit zu widmen, deren Ergebnisse ich immer für mich behalten habe und nur bei zwei oder drei Gelegenheiten andere sehen ließ. Doch ich bin im Begriff, in ein tätiges Leben einzutreten, und die Vorsicht mahnt mich, 115
die Zeit nicht zu vergeuden, die mir meine Unabhängigkeit schaffen muß; doch, Sir, ich liebe das Schreiben zu sehr, um seine Übung beiseite zu werfen, ohne einen Versuch, mich zu vergewissern, ob ich sie nicht benützen könnte, nicht um mich völlig zu erhalten, doch um zu meinem Unterhalt beizutragen, denn ich lechze nicht nach Ruhm, und die Torheit oder das Schicksal jener ist mir nicht unbekannt, welche, ohne Begabung, ihr Leben von ihren Federn abhängig machen wollen; aber ich wünsche zu wissen und wage, obgleich verschämt, einen Mann zu fragen, dessen Wort ich achten muß, ob ich durch Schreiben für Zeitschriften oder auf andere Art eine Genugtuung bei dieser Tätigkeit fände und sie dazu verwenden könnte, zu meinem Lebensunterhalt beizutragen. Ich würde Sie, von diesem Gesichtspunkt aus, nicht mit einer Arbeit in Versen behelligt haben, doch jede Prosaarbeit, die ich habe, würde allzu große Ansprüche an Ihre Geduld stellen, die, wie ich fürchte, wenn Sie die Verse durchsehen wollen, mehr als genügend erprobt sein wird. Ich spüre den Egoismus meiner Sprache, doch in meinem Herzen habe ich keinen, Sir, denn ich fühle mich jenseits aller Ermutigung von mir selber und erhoffe keine von Ihnen. Sollten Sie mir über das, was ich Ihnen sende, ein Urteil geben, so wird es, wie vernichtend es auch sein mag, höchst dankbar empfangen werden von, Sir, Ihrem sehr bescheidenen Diener P. B. Brontë. Das erste Stück ist nur ein Stück von einer Arbeit, die versucht, den Sturz von unbeherrschter Leidenschaft in Vernachlässigung, Verzweiflung und Tod zu schildern. Es sollte eine Stunde zeigen, die den Freuden zu nah für Reue 116
und dem Tod zu nahe für Hoffnung ist. Die Übersetzungen sind zwei von sehr vielen aus den Werken des Horaz und sollen zu einer Antwort auf die Frage mithelfen – wäre es möglich, eine Vergütung für solche Übersetzungen dieses oder jenes andern beliebigen klassischen Autors zu erhalten? * Hartley Coleridge, zu seinem ewigen Ruhm sei es gesagt, muß geantwortet haben, denn Branwell erinnerte in einem am 27. Juni, dem Tag nach seinem Geburtstag, geschriebenen Brief den Dichter an den köstlichen Tag, den Branwell in seiner Gesellschaft in Ambleside verbracht hatte. Hartley Coleridge, der älteste Sohn Samuel Taylor Coleridges und eine der am wenigsten bekannten und interessantesten Gestalten in der englischen Literatur, wäre zu dieser Zeit dreiundvierzig gewesen. Ein vielverheißendes Kind, von seinen Eltern vergöttert, geliebt von Wordsworth, Southey, ja, von allen, die ihn kannten, gab er in der Zeit des Reifens Zeichen einer so gesteigerten Empfindsamkeit, einem so nervösen, reizbaren Wesen, daß, obgleich er die Schule überstand, an die Universität ging und eine Stelle im Oriel-College in Oxford fand, der Zusammenbruch, als es dazu kam, halb erwartet war; mochte der Vater auch nicht gerade Wahnsinn auf seinen Sohn vererbt haben, so hatte er doch ein Geschöpf gezeugt, das in keiner Weise der Wirklichkeit standzuhalten wußte, das vor jedem Schmerz zurückschrak, das keinen Brief öffnen konnte, ohne zu zittern, und das, seiner Konstitution nach, außerstande war, ein normales Leben zu führen. Der jähe Wechsel von übertriebener Heiterkeit zu tiefer Schwermut, verstärkt durch Anfälle heftiger Trunksucht, 117
machte es ihm unmöglich, seine Stelle beizubehalten; er mußte sie zu Schmach und Kummer seiner selbst und seiner Familie aufgeben. Hartley Coleridges Gedichtesammlung, veröffentlicht im Jahre 1833, seine Beiträge für «Blackwood’s Magazine» und seine Aufsätze über «Yorkshirer Käuze» hatte Branwell wohl gelesen und genossen, bevor er seine Stelle als Hauslehrer in Broughton-in-Furness antrat. Ja, das Sonett, geschrieben mit einem Blick auf die Kindheit, wirkt so sehr als ein Echo von Branwells eigenen Empfindungen, daß es merkwürdig ist, wenn der junge Mensch sich nicht von Anfang an Hartley Coleridge näherte, statt seine Bemühungen mit Briefen an den bejahrten Wordsworth zu vergeuden. Eines der seltsamsten Dinge an Hartley Coleridge war seine Erscheinung. Er war kaum fünf Fuß groß, und – dafür muß es wohl eine angeborene Ursache gegeben haben – als er noch ganz jung war, färbte sein dichtes, dunkles Haar sich weiß, und er ging mit der Haltung eines alten Mannes. Dieser rührende, schwerfällige Mensch mit den dunklen, leuchtenden Augen, der alle Tiere und kleinen Kinder liebte, der manchmal in Zerstreutheit sein Haus verließ und vergaß zurückzukehren, eine Sorge für die Freunde, die an ihm hingen, war einer der wenigen anerkannten Schriftsteller, die je Branwell in dessen Hoffnung ermutigt hatten, daß er eines Tages in der Literatur einen bescheidenen Platz erringen könnte. Leider ist kein Bericht von ihrem Beisammensein an jenem Tag am Rydal Water erhalten, oder darüber, was der ältere Mann von Harriet, Augusta, Percy und den Sünden von Jordan Hall dachte; ganz bestimmt aber mußte Branwell bei diesem Gespräch einmal entdeckt haben, daß er und Charlotte in ihrer höllischen Welt nicht allein waren, daß lange, bevor in Haworth Angria geschaffen worden 118
war, für den jungen Hartley Coleridge der Traumkontinent Ejuxria sich zur Wirklichkeit gestaltet hatte; diese Inseln, Länder, bevölkert mit Staatsmännern und Generälen hatten ihr Dasein in seinem Geist von der Knabenzeit durch das Entwicklungsalter bis zur Reife bewahrt und waren vielleicht für den vorzeitig gealterten Mann von dreiundvierzig lebendiger und wirklicher als die Schäfer auf den Hügeln. Sein Bruder Derwent berichtet, als er nach Hartleys Tod von dessen «Kinderspiel» erzählt: «Ein Fleck öden Bodens entsprach seinen Zwecken; das Land wurde in Königreiche eingeteilt, diese wiederum in Provinzen, jede einem seiner Spielkameraden zugesprochen. Ein Kanal sollte durch das ganze Gebiet führen, darauf Schiffe gebaut würden. Ein Turm und ein Zeughaus, ein Theater und ein ,Chemie-Haus’, unter dem Bergwerke zu graben geplant wurde, sollten gebaut und als gemeinsames Eigentum betrachtet werden. Zwischen den souveränen Mächten sollte Krieg erklärt, sollten Schlachten geschlagen werden … und er hatte einen Plan, Katzen, ja, sogar Ratten für bestimmte Ämter und Tätigkeiten auf zivilem und militärischem Gebiet abzurichten.» Diese Ähnlichkeit mit dem «Spiel» von Angria und Gondal der Brontës ist unheimlich; und die Entdeckung dieser gemeinsamen Besessenheit mußte wohl zwischen dem zweiundzwanzigjährigen Branwell und dem dreiundvierzigjährigen Dichter sehr rasch ein Band von Sympathie schmieden. Der Drang, der Hartley Coleridge zum Trinken getrieben hatte und zu einer in den Augen seiner Freunde ziellosen Existenz in den Bergen unter einfachen Leuten, war ganz gewiß die gleiche Flucht vor der Wirklichkeit, die, Jahr um Jahr, Branwell tiefer in die höllische Welt trieb. Hier war er Herr, hier beherrschte er seine Marionetten, und hier konnte der unermeßliche Ehrgeiz, der 119
in beiden, in ihm wie in Hartley Coleridge, ein Minderwertigkeitsgefühl zu überwinden strebte, am besten befriedigt werden, da er ja auf keine Herausforderung stieß. Besser Herr und Meister von Angria und Ejuxria zu sein, als sich mit überlegenen Geistern messen zu müssen; besser mit Schäfern und Bootsleuten zu schwatzen, ein kleiner Gott und ein anerkannter Freund, als bei einem Zusammenstoß nicht bloß mit Intellektuellen, sondern ebenso mit Alltagsköpfen überwunden zu werden. Eines der beliebten ejuxrianischen «Spiele» des jungen Hartley war die Geschichte von Scauzan, einem raffinierten, vergeistigten Bösewicht, und Scauzans Vater, einem Riesen, der von seinem Sohn ständig geächtet und verfolgt wurde. Die Bedeutung dieser Phantasie – Hartleys unbewußter Groll gegen das Genie seines Vaters, dem er zu gleichen nie hoffen konnte – ist offenbar, obgleich Hartleys Bruder Derwent, wenn er von dem Kinderspiel spricht, sich dessen Sinn nicht bewußt wird. Auf ähnliche Art mußte Branwells angrischer Held bestimmt in den Tiefen, vielleicht unbewußt, von Mr. Brontë inspiriert gewesen sein. In dem Charakter Alexander Percys mit dessen toter Frau Mary, die er nicht vergessen konnte, und einer geliebten Tochter desselben Namens liest man nicht nur Branwell selbst, sondern auch seinen Vater. Branwell, das Kind, in Mr. Brontës Zimmer schlafend, das unbewußte Medium für seines Vaters Einsamkeit und Enttäuschung, gestaltete in der Phantasie den Aufruhr beider und brachte die Träume, die Bestrebungen zur Frucht, die nie zur Wirklichkeit wurden, noch werden konnten. Heute hätten Branwell Brontë und Hartley Coleridge, die einander so ähnlich waren, die gleichen Schwächen besaßen, bestimmt waren, nur wenige Monate voneinander getrennt zu sterben, nachdem Geist und Körper durch die 120
gleiche Ursache verwüstet waren, am Rydal Water beisammensitzen, den Grund für ihre tiefliegenden Ängste an den Tag bringen und vielleicht sogar einander helfen können, eine gewisse Entspannung in ihren Nöten zu finden. Im Frühjahr 1840 konnte Hartley Coleridge Branwell nur die Hand schütteln und ihm Glück wünschen, vielleicht raten, welche Bücher er lesen sollte, und ihm empfehlen, mit der Übersetzung der Oden des Horaz fortzufahren. Er mag sich nicht berufen gefühlt haben, über die introspektive Harriet mit ihren Zweifeln am Allmächtigen, ihrer Sehnsucht nach dem geliebten Percy – trotz der ehebrecherischen Schande – ein Urteil zu fällen. Ein junger Mann, der in so vielen Zeilen als junge Frau geschrieben hatte und nicht über eine junge Frau, mochte selbst auf einen überspannten Menschen wie Hartley Coleridge sonderbar gewirkt haben. Und als Branwell der gebeugten, weißhaarigen Gestalt am Seegestade ein Lebewohl zuwinkte, erwog er keinen Augenblick lang, daß die Tragödie des Dichters seiner eigenen glich, daß Coleridge, obgleich in der literarischen Welt bekannt und geachtet, dennoch, als Mann und als Dichter, ein Versager war, und daß diese schwermütigen Augen, diese zitternden Hände Branwell warnten, nicht allzu tief in seine höllische Welt zu versinken, um nicht von den Ozeanen verschlungen zu werden, ebenso wie Hartley Coleridge in der ejuxrianischen See ertrank. Die Notiz, die er Jahre früher, als er siebzehn war, beim Abschluß eines angrischen Manuskriptes hingekritzelt hatte, sie wäre eine weitere Mahnung gewesen, hätte er die Eingebung besessen, sie richtig zu deuten: «In jener Nacht träumte ich, ich sähe Angria, wie es Percy verschlingt …» Daß die Unterhaltung an jenem Frühlingstag in Ambleside sich hauptsächlich mit Literatur beschäftigte, geht aus dem Brief hervor, den Branwell, als er nach Haworth zu121
rückgekehrt war, an Hartley Coleridge schrieb. Er hatte sich schon in den letzten Jahren von Zeit zu Zeit damit beschäftigt, Oden von Horaz zu übersetzen; jetzt, durch Coleridges eigene Übersetzungen angeregt und ermutigt, hatte Branwell den gesamten Inhalt des Ersten Buches übersetzt mit Ausnahme der Ode XXXVIII – eine Notiz unter dieser Nummer erklärt, warum: «Mich an diese Ode zu wagen, habe ich nicht den Mut, nachdem ich an einem Maitag in Ambleside Mr. H. Coleridges Übersetzung gehört habe.» Sein Brief an den Dichter lautete: Sir, Sie haben mich vielleicht vergessen, aber es wird lange dauern, bevor ich mein erstes Gespräch mit einem Mann von wahrem Geist, bei meinem ersten Besuch an den klassischen Seen von Westmorland vergessen werde. An diesem köstlichen Tag, den ich die Ehre hatte, mit Ihnen in Ambleside zu verbringen, empfing ich die Erlaubnis, Ihnen, sobald es beendet sei, das erste Buch einer Übersetzung des Horaz zu senden, damit Sie mir, nach rascher Durchsicht, sagen, ob es weiterer Aufmerksamkeit wert ist oder sich eher für das Feuer eignet. Ich habe – wie ich fürchte, sehr nachlässig und mitten unter anderen sehr andersartigen Beschäftigungen – unternommen, zwei Bücher zu übersetzen, deren erstes ich mir erlaubt habe, Ihnen zu senden; wollen Sie, Sir, Ihre frühere Güte noch dahin erstrecken, daß Sie mir sagen, ob ich das Werk korrigieren und fortsetzen soll oder es in Frieden lassen. Großer Verbesserungen, das fühle ich, bedarf es, aber wenn ich nicht fühle, daß die Arbeit mir einen Nutzen bringt, habe ich nicht den Mut, sie vorzunehmen; wenn sich aber Ihr Urteil in irgendeiner Beziehung als günstig 122
erweist, will ich das Ganze, ohne Arbeit zu scheuen, noch einmal schreiben, um eine Vollendung zu erreichen. Ich hätte nicht gewagt, mich an Horaz zu versuchen, aber ich erkannte die völlige Wertlosigkeit aller bisherigen Übersetzungen und meinte, eine bessere, von wem auch immer ausgeführt, könnte ein wenig Ermutigung finden. Ich bange danach, meine Zweifel durch das Urteil eines Mannes zu klären, dessen Meinung ich verehre, und eines Mannes – doch vermutlich träume ich – dem ich mit Stolz etwas von mir widmen würde, das ein Verleger in Betracht zöge, wenn auch, wie das wahrscheinlich genug ist, das Werk den Namen ebenso schänden, wie der Name das Werk ehren würde. Auf die Höhe des Honorars würde ich nicht achten, und, was immer es auch betrüge, möchte ich doch sagen, daß meine Knochen keine Ruhe fänden, wenn nicht durch ein schriftliches Übereinkommen eine Teilung des Nutzens, ob groß, ob klein, zwischen mir und jenem Mann festgelegt würde, durch den allein ich hoffen kann, eine Besprechung mit jener mächtigen Persönlichkeit, einem Londoner Verleger, zu erreichen. Verzeihen Sie meine Verwirrung, Hast und scheinbare Anmaßung und seien Sie versichert, Sir, daß ich Ihr sehr ergebener und dankbarer Diener bin. P. B. Brontë. Wenn etwas in dieser Botschaft Ihnen mißfallen sollte, Sir, so setzen Sie es auf Rechnung von Unerfahrenheit und nicht von Unverschämtheit. * Es war vielleicht ein Fehler, die Bestrebungen von Cowley, Pope, Dryden, Congreve und vielen andern HorazÜbersetzern zu schmähen; und auch ein Fehler in Ge123
schmack und Urteil, das Wort Honorar mit der Anregung zu erwähnen, daß der Nutzen geteilt werden und der ältere Dichter gewissermaßen ein Trinkgeld dafür erhalten sollte, daß er entgegenkommend genug war, um die Sache eines Unbekannten zu fördern – ein Fehler, den viele angehende Schriftsteller begehen – aber Hartley Coleridge wäre wohl der letzte Mensch auf der Welt gewesen, der daran Anstoß genommen hätte. Ob er diesen Brief beantwortete, welchen Rat er gab, das teilt Branwell nicht mit. Seine Horaz-Übersetzungen blieben bis zum Jahr 1923 unveröffentlicht, als der verstorbene John Drinkwater sie beim Pelican-Verlag drucken ließ. In seiner Vorrede sagt Drinkwater: «Sie sind ungleich, und sie haben viele jener üblen handwerklichen Kniffe an sich, welche einem tiefverwurzelten Charaktermangel entstammen. Aber sie besitzen auch sehr viele Stellen von reiner lyrischer Schönheit, und sie haben etwas von jenem Stil, der von einem geistigen Verständnis – abgesehen von rein formeller Kenntnis – des großen Modells herkommt.» Abschließend schreibt John Drinkwater: «Ich wünsche nicht, für dieses Büchlein übertriebene Ansprüche zu stellen, aber es trägt, wie ich glaube, wesentlich zu dem Beweis dafür bei, daß Branwell Brontë der zweite Dichter in seiner Familie war und zudem ein sehr guter zweiter …» * Abermals fand sich Branwell bei seiner Rückkehr von Broughton-in-Furness ohne regelmäßige Beschäftigung. Das Buch der Oden war beendet, doch niemand legte Wert darauf, es zu veröffentlichen. Die Bilder blieben in dem Atelier-Schlafzimmer unverkauft. Das Unterrichten hatte sich als Irrtum erwiesen, Lehren war nicht seine Stärke. 124
Mit seinen Finanzen stand es aber schlecht, und irgendwie mußte er sein Leben verdienen. Welchen besseren Weg gab es, als in den Dienst der Leeds- und Manchesterbahn zu treten? Die Arbeit daran schritt rasch fort; bald wäre die Verbindung fertiggestellt, und der Zug von Manchester nach dem Osten würde an Todmorden vorbei durch das Caldertal dröhnen. An der Strecke ging es lebendiger zu als daheim, und binnen kurzem wäre Sowerby Bridge ein wichtiger Knotenpunkt von Zügen, die nach Osten und Westen fuhren. Da gäbe es Arbeit genug für ehrgeizige, unternehmungslustige, gefestigte junge Leute, die an den Fortschritt und an die Morgendämmerung eines neuen, mechanischen Zeitalters glaubten. Ob Branwell selber eine Stelle fand, ob Drähte von einem gewissen Mr. Fletcher gezogen wurden, dessen Porträt er gemalt hatte, und der bei den Kanälen im Caldertal Einfluß besaß, oder ob sein Freund William Dearden, der in Brockwell, Sowerby Bridge wohnte, in der Lage war, ein Wort für ihn einzulegen, kurz, es fand sich tatsächlich für ihn ein Posten bei der Leeds- und Manchesterbahn. Ende September 1840 wurde Branwell Buchhalter in Sowerby Bridge.
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ein Bericht meldet, was Mr. Brontë von dem neuen Abenteuer seines Sohnes hielt; kein Brief, den er über diese Angelegenheit geschrieben haben mochte, ist erhalten. Wie viele andere Eltern war auch er schweigsam, wenn es sich um die Leistungen seiner Töchter handelte, bis sie tot waren und eine von ihnen berühmt; und ebenso schweigsam war er über seinen Sohn. Seine einzige bekannte Bemerkung über Branwell bezieht sich auf die Zeit, als der Plan mit der Königlichen Akademie fehlgeschlagen war; in einem Brief an Mrs. Gaskell, nachdem er ihre Biographie Charlottes gelesen hatte, schrieb er: «Die Schilderung meines glänzenden und unglücklichen Sohnes … ist ein Meisterstück.» Daß er sehr an Branwell hing, geht klar aus Charlottes Brief an W. S. Williams hervor, als ihr Bruder starb: «Mein armer Vater hatte natürlich von seinem einzigen Sohn mehr gehalten als von seinen Töchtern» und «Branwell war in seiner Knabenzeit seines Vaters und seiner Schwestern Stolz, doch als er erwachsen war, lag der Fall anders.» Wenn Charlotte Zweifel an dem Erfolg seiner Tätigkeit in Broughton-in-Furness gehegt hatte, so hegte sie ebenso Zweifel an seiner Tätigkeit bei der Eisenbahngesellschaft. Als sie Ellen Nussey die Nachricht als halben Scherz, der nicht ganz gelingen wollte, mitteilte, schrieb sie: 126
«Ein entfernter Verwandter von mir, ein gewisser Patrick Boanerges hat sich aufgemacht, um sein Glück in der wilden, schweifenden, abenteuerlichen, romantischen, einem fahrenden Ritter gemäßen Tätigkeit als Angestellter bei der Leeds- und Manchesterbahn zu suchen. Leeds und Manchester, wo sind diese Städte? Städte in einer Wildnis – wie Tadmor, alias Palmyra? Nicht?» Die Anspielung auf eine Oase in der syrischen Wüste, die ihre Blüte im ersten oder zweiten Jahrhundert vor Christus unter einer Königin Zenobia erreichte, dürfte Ellen nicht viel bedeutet haben. Vielleicht hatte Charlotte diesen Hinweis bei Branwell selbst aufgepickt, denn Percys dritte Frau trug den Namen Zenobia. Sie meinte, der hochbegabte Bruder, den sie liebte, der Stolz und die Hoffnung der Familie, hätte unterdessen mit seinem Geist schon etwas erreichen sollen. Er war dreiundzwanzig. Sein Freund Joseph Leyland hatte in seinem Alter in Leeds, Manchester und London ausgestellt. Ortsdichter ohne ein Viertel von Branwells Talent hatten ihre Werke gedruckt gesehen. Soviel war davon geredet worden, was er werden sollte und nun … ein Buchhalter. Um Branwell gerecht zu werden – die Stelle mußte doch gewisse Möglichkeiten gehabt haben. Ein Posten bei einer Eisenbahn mußte im Jahre 1840 für einen jungen Mann ebenso verheißungsvoll gewesen sein wie heutzutage eine Stelle in einem Zentrum für Atomenergie. Die Eisenbahn nicht zur Kenntnis zu nehmen, hieß, den Fortschritt nicht zur Kenntnis zu nehmen, hieß, das Auge vor der Zukunft zu verschließen. Bei den Eisenbahnen war Geld zu verdienen, und die Stelle als Buchhalter an einem kleinen Bahnhof konnte zu einer besser bezahlten und wichtigeren Stelle in einer der großen Städte führen wie Leeds oder Manchester. Wenn Branwell sich bewährte, konnte er es bin127
nen zehn Jahren zu einem behaglichen Einkommen bringen und in seinen Mußestunden schreiben. Das waren wohl die Gründe, die Branwell seiner Familie anführte, und sie wurden zweifellos als vernünftig betrachtet. Was Charlotte befürchtete, war der Mangel an Stetigkeit, der Umschwung der Stimmung, jener Überschwang, der in seiner Knabenzeit so ansteckend gewesen war, der einen Gipfel erreichte und dann rasch zusammenbrach, wenn das Ergebnis ungünstig sein konnte, weil niemand anwesend war, der ihn verstand. Sie, die älteste, die Planerin der Familie, hatte den Eindruck, daß in gewissem Ausmaß für alle vier eine Möglichkeit erreicht werden müßte, sich selbst zu erhalten. Ihr Vater war dreiundsechzig. Seine Gesundheit konnte jederzeit versagen. Und wenn das Schlimmste geschah, wenn er sterben sollte, dann müßten sie das Pfarrhaus verlassen, um es seinem Nachfolger zu übergeben. Das wäre der Augenblick, da ein Bruder zum Haupt der Familie werden und seine Schwestern wenigstens teilweise erhalten sollte. Charlotte erwog keine Heirat, sonst das Ziel jedes Mädchens. Unabhängigkeit war es, was sie begehrte, – für sich, für ihre Schwestern und, vor allem, für Branwell. Er mußte, wo immer er arbeitete, ein Gefühl der Verantwortlichkeit entwickeln. Branwell, der im Pear Tree Inn, gerade oberhalb des Bahnhofs von Sowerby Bridge und in der Nähe von Brockwell, wohnte, wo Deardens hausten, konnte schwer zu einem Gefühl der Verantwortlichkeit gelangen, da seinem unmittelbaren Vorgesetzten gerade diese Eigenschaft mangelte. Der Stationsvorstand war berüchtigt dafür, daß er zehn Pinten Bier, eine nach der andern, trank, bevor er am Morgen seinen Dienst antrat; und mit dem Pear Tree in so bequemer Nähe und dem Royal Oak gerade auf dem Hügel – ganz abgesehen vom Old Wharf Inn und dem Wirtshaus am 128
Kanal – kam es bald zu einem Wettstreit zwischen Stationsvorstand und Buchhalter, wer von beiden mehr vertrug. Die «Kanzleien» waren nichts weniger als behaglich; der Bahnhof war noch in seinen Anfängen, steinerne Bauten wurden als Luxus angesehen, und Branwell und sein Chef wurden in Holzbaracken untergebracht. Das Hin und Her der Züge bildete die einzige Aufregung des Tages, und wenn der Stationschef abermals eine Pinte Bier trinken ging und dem Buchhalter den Dienst überließ, so hatte Branwell wenig anderes zu tun, als nach White Windows zu starren, dem großen, dreistöckigen Gebäude auf dem Hügel, das ganz Sowerby beherrschte. Es war der Wohnsitz Mister George Priestleys, vor dem die ärmeren Ortsbewohner die Hüte zogen und sich verbeugten, wenn der Wagen vorbeirollte, mit Kutscher und Lakai in prächtiger himmelblauer Livree und roter Weste. Die Herrlichkeit von White Windows war nicht für einen Buchhalter geschaffen. Die Gastfreundschaft Mr. George Richardsons, des Kaimeisters der Brücke, dem der Landungsplatz und der ganze Verkehr auf dem Kanal unterstand, war näher; hier war das wirkliche Leben von Sowerby Bridge. Die neuen, rumpelnden Züge von Normanton ermangelten der Farbe neben den Kähnen, die alles trugen, von Kohle bis Holz, von Weizen bis Wolle; und die Bootsleute selbst waren interessanter als Lokomotivführer, Heizer und Kondukteur. Wenn Branwell keinen Dienst hatte und das Wetter schön war, wanderte er über den Schleppweg längs des Kanals oder stieg vom Tal zu den Mooren hinauf oder, noch besser, er ging nach Halifax, das nur zweieinhalb Meilen entfernt war, und suchte Leyland auf. Hier konnte er auch sich selber wieder für einen Künstler halten, wenn er den Bildhauer bei der Arbeit an einer Gruppe von fünf Kriegern für die Ausstellung in Manchester beobachtete. 129
Leyland war natürlich der Riese unter Zwergen. Sein Freund Illidge in London sagte ihm, er verschwende sein Talent in der Provinz, doch schon hatte die Trägheit sich seiner bemächtigt, die Zeit glitt vorüber, er hatte zu viele Alltagsaufträge, die er ausführen mußte, bevor er wieder an London denken durfte. Es war einfacher, Arbeit und Schulden zu vergessen und stattdessen im «Talbot» zu trinken und sich über die handgreifliche Heldenverehrung des jungen Branwell Brontë zu amüsieren. Ob das Trinken allein der Grund für Leylands langsamen Niedergang war, oder ob er, wie Branwell, Opium versuchsweise in irgendeiner Form nahm und süchtig wurde, darüber liegt kein Bericht vor. Das Atelier war der Schauplatz für Prahlerei und seltsame Träume. Ein eigenartiges Verhängnis schwebte über Leylands Werk. Seine Kriegergruppe wurde auf dem Transport von der Ausstellung in Manchester zu ihrem neuen Heim in Gisburn, dem Haus Lord Ribblesdales, zerschmettert; sein Theseus verlor Hände und Füße, und Jahre später zerbrach auch ein anderes Denkmal. Heute gibt es keine Spur von Spartacus oder Satan mehr. Der einstige Günstling der Kritiker ist unbekannt. Ein Mangel im Material mag dazu geführt haben, daß seine Werke zersplitterten, aber die Schuld lag auch beim Bildhauer selbst; wie sein eigener Spartacus begann er zu jener Zeit, sich aufzulösen und zu verfallen. Im Jahre 1841 war es, daß Leylands Bruder Francis, der, wie ihr Vater, Maler und Verleger war, Branwell zum ersten Mal in Sowerby Bridge traf, und etwa vierzig Jahre später beschrieb er ihn folgendermaßen: «Der junge Bahnangestellte wirkte äußerlich vornehm und schien für eine viel bessere Stelle bestimmt zu sein als jene, die er sich erwählt hatte. In seinem Wuchs war er ein wenig unter Mittelgröße. Er war schlank und lebhaft, aber wohlgestaltet. Seine Hautfarbe war hell und gesund, und 130
der Ausdruck seines Gesichts zu jener Zeit licht und heiter. Seine Stimme war angenehm und klangvoll, und seine Aussprache des Englischen tadellos. Branwell schien bei ausgezeichneter Laune zu sein und zeigte keine Spuren von Trunksucht, die manche Schriftsteller ihm zu dieser Zeit seines Lebens zu Unrecht zugeschrieben haben. Mein Bruder hatte mir oft von Branwells dichterischen Talenten, seiner Unterhaltungsgabe und seiner verfeinerten Bildung erzählt; und bei persönlicher Bekanntschaft fand ich an dieser Beurteilung seiner geistigen Gaben und an seinen literarischen Kenntnissen nichts auszusetzen.» Diese Schilderung läßt vermuten, daß der ehrenwerte Mister Francis nicht in das Wirtshaus am Kanal oder an der Anlegestelle mitgenommen wurde, um die Bootsleute kennen zu lernen, noch wurde er eingeladen, mit dem Stationschef um die Wette Bier zu trinken. Leyland, der Bildhauer, und Brontë, der Buchhalter, wußten, wie sie sich der Familie gegenüber zu benehmen hatten, und darum verteidigte Francis die beiden bis ans Ende seiner Tage. Branwells «Aussichten» bei seiner Anstellung waren sechs Monate als Buchhalter in Sowerby Bridge gewesen und dann eine Beförderung. Die Beförderung kam, doch es war nicht, was die Familie erwartet hatte. Er wurde zwei Meilen weiter an der Strecke nach Luddenden Foot versetzt. Gewiß, hier war er sein eigener Herr und seine Stelle die des Stationsvorstands, wie er sorgsam betonte, obgleich er, um der Wahrheit die Ehre zu geben, seine Pflichten mit demselben Mr. Woolvern teilte, dem er vor etwa sechs Jahren zum ersten Mal in der Castle Tavern, Holborn, in London begegnet war. Luddenden Foot war kein Kreuzungspunkt wie Sowerby Bridge. Der Dienst war nicht anstrengend, der Züge gab es nur wenige. Es war noch weiter von Halifax und Leylands Atelier entfernt. Doch der Kanal war nahe und auch das «Basin». 131
Hier lagen die Kähne vor Anker, und die Bootsleute, die hier über Nacht blieben, um sich im «Woodman» oder in «Weaver’s Arms» einen guten Abend zu gönnen, waren ungemein gastfreundlich. Das waren auch George und William Thompson, denen die Getreidemühle am Kanal gehörte, und James Titterington, der ungebärdige junge Sohn des reichen Kammgarnspinners und Fabrikanten Ely Titterington, dem Fabriken auf dem Hügel in Midgley und ein Haus, genannt «Old Kidings», gehörte, welches das Luddendental überschaute. James Titterington war um zwei Jahre älter als Branwell und immer geneigt zu bummeln. Er war auch ein begeistertes Mitglied der Lesegesellschaft von Luddenden, die ihre Sitzungen im «Lord Nelson» im Dorf Luddenden selbst abhielt, etwa eine Meile vom Bahnhof von Luddenden Foot entfernt. Es war möglich, daß Titterington Branwell den andern Mitgliedern der Lesegesellschaft vorstellte, obgleich Branwells Name nicht auf der Mitgliederliste verzeichnet ist. Die Lesegesellschaft im «Lord Nelson» konnte wenigstens über die Bücher sprechen, welche die Mitglieder lasen, und das verlieh ihr einen Vorteil vor den Bootsleuten im «Basin». So mußte auch Branwell gedacht haben, der zwischen der dünneren Luft des «Lord Nelson» und der dickeren Atmosphäre von «Weaver’s Arms» schwankte. Die Bücher waren eine gemischte Sammlung, und am meisten gelesen waren vielleicht die Bände des «Newgate Calendar», darin sich die Lebensgeschichten, Verbrechen, Prozesse und Foltern der berühmtesten Mörder des Jahrhunderts fanden. «Geschichten von Dämonen», die auch auf den Regalen standen, mochten in Branwell wehmütige Gefühle geweckt haben, wenn er die Gelegenheit hatte, sich das Buch auszuleihen. Diese Gottheiten, die den Menschen durch das Leben begleiten, die einen glückbringend, die andern unheilvoll, waren derart ständig im 132
Kampf mit ihm, daß sich der Obergenius Brannii der Kindheitstage irgendwo zwischen den beiden Gruppen verloren hatte. Das Pendel seiner Stimmung schwankte auf und ab. Hoch war es, wenn er mit Männern beisammen war, die jünger waren als er, wie Francis Grundy, der Eisenbahntechniker, hoch stand es auch in der Gesellschaft von William Heaton, einem Handweber, der allein lesen und schreiben gelernt hatte, indem er die Aufschriften der Grabsteine auf dem Friedhof von Luddenden kopierte. Beide Männer erinnerten sich in späteren Jahren liebevoll an Branwell. Grundy, gutmütig, herzlich, furchtbar ungenau, wenn es darum ging, sich an Daten und Begegnungen zu erinnern, lieferte eine sachlichere Schilderung des Stationsvorstands von Luddenden als der zurückhaltende Drucker Francis Leyland. Branwell war, nach Grundys Angaben, «beinahe lächerlich klein – eine der Prüfungen des Lebens. Er hatte eine Fülle rotes Haar, das er hoch von der Stirne aufwärts bürstete – um größer zu wirken, glaube ich; eine große, höckrige, geistige Stirne, die fast die Hälfte des ganzen Gesichts einnahm; kleine, funkelnde, tief eingesunkene Augen, die von der nie abgenommenen Brille noch mehr verborgen wurden, eine vorstehende Nase, aber die Züge darunter weichlich. Seine Augen waren unabänderlich gesenkt, bis auf ein rasches, plötzliches Aufblicken nach langen Zwischenräumen. Klein und mager von Gestalt, war er auf den ersten Blick alles eher als anziehend. Er schloß sich mir überraschend an …» Es ist interessant, diese Schilderung mit einer Stelle aus einer von Branwells eigenen Skizzen zu vergleichen. «Ein Farbenreiber stellte sich vor und sagte zur Antwort etwas in so hastigem Ton, daß Edward den Sinn nicht verstehn konnte. Dieser Farbenreiber war ein Mann von seltsamem Äußern. Er war ein Bursche von etwa siebzehn 133
Jahren, seinem Aussehen nach aber hätte man ihn um wenigstens zehn Jahre älter eingeschätzt, und sein mageres, sommersprossiges Gesicht mit der großen römischen Nase, von einem dichten Busch roten Haars gedeckt, wechselte beständig und runzelte sich in eine endlose Vielfalt nervöser Zuckungen. Wenn er sprach, wandte er, statt den Zuhörer gerade anzusehen, die Augen, die noch durch eine Brille verschönt wurden, von ihm ab, und wenn ein Wort stammelnd aus seinem Mund kam, wurde es durch ein Chaos eines seltsamen, darauf folgenden Jargons verwirrt oder ins Gegenteil verkehrt.» Grundy war es, mit dem Branwell gewöhnlich über Land ging, während er seinem Kollegen William Woolvern die Hut des Bahnhofs überließ, und dann redete er «mit erstaunlicher Kenntnis über moralische, intellektuelle und philosophische Themen … in den Anfällen von Leidenschaft schlug er die geballte Faust gegen die Füllung einer Türe. Manchmal fuhren wir in einem zweirädrigen Wagen nach Haworth, seine Familie besuchen. Dann war er auf der Höhe und konnte beredt und amüsant sein, obgleich er manchmal bei der Rückkehr in Tränen ausbrach und schwur, er gedenke, sich zu bessern …» Eine von Grundys bezeichnendsten Enthüllungen war es, daß Branwell «die Gewohnheit hatte, das Wort ,Sir’ zu gebrauchen, auch wenn er sich an seine vertrautesten Freunde wandte», und das würde die Förmlichkeit in manchen Briefen erklären, die er später an Joseph Leyland schrieb. Heaton, der autodidaktische Dichter und Weber, wußte nichts von Branwells Leidenschaftlichkeit. «Seine Stimmung», erzählte er dem Bruder des Bildhauers, «war mir gegenüber immer sanft. Ich werde nie seine Liebe für die erhabenen, prächtigen Werke der Natur vergessen, und ich habe gehört, wie er sich ausführlich über die süßen Melodien der Nachtigall verbreitete … er war heiter und ver134
gnügt, manchmal aber wirkte er niedergeschlagen und traurig …» Wie die meisten Menschen von irischem Blut wußte Branwell sich einem Publikum von einem einzigen oder von einem Dutzend Menschen anzupassen. Älter als Grundy, konnte er vor dem Techniker den Weltmann, den Philosophen spielen; jünger als Heaton, der Weber, mit allen Vorteilen der Bildung und eines verfeinerteren Geistes, konnte er seine Freundschaft als Geschenk erscheinen lassen und niemals als Gnade. Die aufkommenden Fabrikanten seiner Bekanntschaft stellten ein schwierigeres Problem dar. Ein Mann mit klassischer Bildung war niemand, wenn er nicht auch Geld hatte; diese Männer hatten in den Fabriken ihrer Väter gearbeitet, als Branwell in dem Kinder- und Studierzimmer mit seinen Schwestern Seiten füllte. Sie konnten einen Tag mit Geschäften in der Piece Hall in Halifax verbringen und nachher mit ihren Kunden im «Talbot» oder im «Old Cock» enden, tranken in zwei Stunden mehr starke Getränke als Branwell in Monaten zu trinken gewohnt war, um dann, am nächsten Morgen, in der Fabrik, ein hartes Tagewerk zu erledigen. Wenn der geweckte Lebejüngling von Stationsvorstand in Luddenden Foot mit diesen Burschen Schritt halten wollte, so mußte er aufhören, bei jeder Gelegenheit Latein und Griechisch zu zitieren, mußte einen guten Schluck vertragen und nachher keinen Katzenjammer haben und mußte sich als Mann erweisen, wenn um die Ecke ein Frauenrock wehte. Reden genügte nicht. Wie war es mit der Tat? «Du kleiner Abriß der Überreste in der Werkstatt der Natur, du Gemisch von allen Arten und Geschlechtern, du fahler kleiner Hermaphrodit …» Dieser seltsame Ausbruch von Percys Freund O’Connor in einer frühen Angrischen Geschichte fand vielleicht jetzt in Luddenden einen Wider135
hall. Ein Brief an Grundy, geschrieben 1842, als beide Luddenden verlassen hatten, weist auf ein Verhalten hin, das dem Techniker unbekannt gewesen war: «Lieber würde ich meine Hand hergeben, als abermals die niedrige Liederlichkeit, die bösartige und dabei kalte Ausschweifung über mich ergehn zu lassen, den Entschluß, festzustellen, wie weit der Geist den Körper mitreißen kann, ohne daß beide in die Hölle geschleudert werden, was allzu oft mein Benehmen kennzeichnete, als ich dort war, fern von allem, was ich wirklich liebte, und Erleichterung in der Hingabe an Gefühle suchend, die den schwarzen Fleck auf meinem Charakter bedeuten.» Das ist Alexander Percys Sprache, geschraubt, übertrieben, aber nicht völlig falsch; ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit entströmte Mr. Brontës reuigem Sohn. Obgleich «kalte Ausschweifung» nach angrischer Zügellosigkeit schmeckt, mag das übermäßige Zechen mit den Bootsleuten die Flammen der Hölle auf einen Menschen herabbeschworen haben, der unter dem Dach eines Pfarrhauses aufgewachsen war. Doch die Bootsleute waren nicht die einzige Quelle einer wirklichen oder eingebildeten Ansteckung. Eine ganze Anzahl von Iren aus Liverpool, von den örtlichen Arbeitern verachtet, von den reichen Fabrikbesitzern aber beschäftigt, weil diese Iren ihre Arbeitskraft billig verkauften, hausten mitsammen am Kanal bei Luddenden Foot. Und daß Branwell sie unter seine Bekannten zählte, scheint deutlich aus Eintragungen in sein Notizbuch aus dieser Zeit hervorzugehn. Auch der Name Jesu findet sich häufig in seinem Notizbuch aus diesem Jahr. «Jesus … Jesus … Jesus …» heißt es aufs Geratewohl zwischen fünf Shilling für Putzen und zwei Shilling sechs Pence für Becher. «Jesus Rex» ist neben die Londoner Adresse der Motetten-Gesellschaft gekritzelt, deren Aufgabe eine Sammlung alter Kirchenmu136
sik war. Es ist leicht genug, zu glauben, daß die Liverpooler Iren in Luddenden Foot, mit ihrer schlampigen, liebenswürdigen Art – und durchweg Katholiken – der Anlaß zu all diesen «Jesus» und auch zu dem geplagten Gewissen waren. Die Wahrheit ist, daß Branwell Brontë, geboren und aufgewachsen in Yorkshire, nichts von dem Wesen von Yorkshire an sich hatte; er mochte Art und Gewohnheiten der Leute von Yorkshire nachäffen, aber er war keiner von ihnen. Die Höhen von Haworth, die Schornsteine von Bradford und Halifax, die Räder der Züge, die von Manchester durch das Caldertal dröhnten, das alles war seiner Natur zutiefst fremd. Er gehörte nach Blut und Charakter zu der großen Gemeinschaft begabter, verbummelter Iren, die in ihrem Mutterland zufrieden sind, zu versagen und zu träumen, doch, in ein anderes Land verpflanzt, mit Leib und Seele zusammenbrechen. «Heiliger Jesus … Jesus Salvator …» findet sich verstreut zwischen: «Habe etwas Kohl für Mr. Woolvern» – hier ist nichts von dem Methodismus von Cornwall oder Yorkshire, sondern ein katholischer Schrei um Hilfe für Elinor McClorys Enkel. Inmitten dieser weiten Welt Getöse vernehm ich fernher feierlichen Ton, er spricht zu mir, er sagt: «Gedenke mein! Und sei dein Schicksal noch so sehr verschieden von dem, was du vor Zeiten ausgemalt, so glaube dennoch, daß ich dir noch lieb, da deiner Seele ward geschenkt mein Licht, um Himmels Abglanz deiner Welt zu geben, und wenn dich meine Strahlen nicht mehr finden, o deine Nacht, wie dunkel wird sie sein!» Was war der Ton? Es war nicht eine Stimme von Lippen wie Rubin, saphirnen Augen, 137
noch war’s ein Widerhall sinnlicher Freuden, noch seufzte ihn eine verlaß’ne Schöne. Als ich sie hörte, saß ich mitten drin in einer Stadt Geschäftigkeit und Lärm, der Himmel über mir von Rauch verborgen, an Fenstern, die nur Dunst und Nebel zeigten, der Schreibtisch aber, der mein Hauptbuch trug, ich spürt’ ihn zittern unter dem Gedröhne von Dampfmaschinen, die vorüberfuhren; das Rattern eines Zuges, der sich nahte, es war das Einzige, was ich erhoffte, um mein versiegtes Denken aufzurütteln. Und doch, wie des verbannten Bergbewohners letztes Lebwohl über des Meeres Fluten getragen in die Heimat wird, nach Schottland, hört’ ich die sanfte, wohlbekannte Stimme so weihevoll wie eine Totenglocke, und wieder sagte sie: «Gedenke mein!» Nie hätte er den Mut gehabt, der Messe in dem Versammlungsraum beizuwohnen, den die irischen Arbeiter für Sonn- und Feiertage gemietet hatten; noch immer war der Papst der Antichrist für einen Mann, der in evangelischen Traditionen aufgewachsen war, und der Katholizismus selbst die Große Hure. Darin vielleicht lag die starke Anziehungskraft. Für jene Wanderprediger, die ihr Hallelujah auf den Höhen rund um Haworth donnerten, und die er so tief verachtete, ja, und auch für seine Brüder, die Freimaurer, war Rom der Fluch. Versuchung lag in jenen blutenden Kruzifixen, jenen billigen, allzu grell gefärbten Statuen der Mutter Gottes und Christi, dem berauschenden Duft des Weihrauchs, dem verschleierten, unheimlichen Blick des Geistlichen im schwarzen Gewand. Die schmutzigen Hütten der Liverpooler Iren hatten eine Glut an sich, 138
eine köstlich schmutzige Wärme, die Branwells Sinne durchdrang, sein Hirn umnebelte; Whisky, Lust und möglicherweise auch Laudanum schufen eine Gestalt, gütiger noch und erbarmungsvoller als die seiner toten Schwester oder jener andern Mary, Percys zweiter Frau. Jahre früher, in seiner Darstellung von dieser Marys Tod, hatte Branwell dem gramgebeugten Gatten die Worte in den Mund gelegt: «Hättest du nie gelebt, so wäre ich jetzt nicht am Leben.» Ein Widerhall auf jenen Schrei, der sich in einem seiner Gedichte aus der Zeit in Luddenden Foot finden läßt. Das ist nur ein Teil einer Dichtung unter sehr vielen, die über die Seiten von Branwells Notizbuch aus Luddenden verstreut sind. Keine von ihnen verrät ein besonderes Talent. Ein Fragment über Burns ist noch vorhanden, auf einem andern Fetzen Papier Beziehungen auf Johnson, und schließlich auch eine endlose Elegie auf Leben und Tod Nelsons, die Branwell wahrscheinlich für sein bestes Gedicht hielt, die aber möglicherweise sein schlechtestes ist. Wenn es den Mitgliedern der Lesegesellschaft von Luddenden vorgelesen wurde, mußte es reichlichen Beifall geerntet und dadurch seinen Verfasser ermutigt haben. Das Thema war zugkräftig, denn Nelson war ein volkstümlicher Held. Und Verse wie: «Es liegt ein Schiff in Englands schönstem Hafen, wo Tausende verehrungsvoll sich trafen …» mochten den Wirt Timothy Wormold veranlaßt haben, verständnisvoll zu nicken: «Ja, ja – das ist Portsmouth!» Interessanter als die mühsamen Verse dieser Dichtung sind die geheimnisvollen Notizen und Skizzen; der Titel eines Buches «Mannheit, die Ursache ihrer Bewahrung und ihres Verfalls»; das «Memorandum für Sonntag, den 139
24. Oktober, 1841 –» Am nächsten Montag Besuch der «Schöpfung» in der Versammlungshalle in Halifax – das mochte eine Aufführung von Haydns «Schöpfung» in dem Saal neben dem «Talbot Inn» sein; das gequälte Profil eines langhaarigen Mannes, flankiert von einer Bemerkung, betreffend drei Waggons für Sowerby und überhöht von einem «Heiliger Jesus»; und, am verwirrendsten die Skizze eines Mannes, der mit übergeschlagenen Beinen auf einem hochlehnigen Stuhl sitzt, den Zylinder auf dem Kopf, darüber die Buchstaben ΙΩΑΝΝΕΣ ΜΥΡΓΑΤΡΟΙ∆ΕΣ und darunter: ΓHΩΡΓΕ ΡΙΧΑΡ∆ΣΩΝ John Murgatroyd und George Richardson – der eine ein reicher Wollfabrikant in Luddenden, zweiunddreißig Jahre alt und seit kurzem verwitwet, der Brotgeber der Liverpooler Iren, der andere der Kaimeister von Sowerby Bridge, der Aufseher der Lagerhäuser und Werften. Warum wurden die beiden in einem gemeinsamen Porträt dargestellt und ihre Identität hinter griechischen Buchstaben durchsichtig versteckt? Das Mysterium, wenn es eines gab, blieb auch im Notizbuch verborgen. Der «arme, glänzende, heitere, launische, schwermütige, reizbare, armselige Brontë», wie Grundy, der Techniker, ihn schilderte, hat es nie enthüllt. Die Skizzen waren vielleicht nur ein Zeitvertreib, das Gegengewicht einer wachsenden Verzweiflung, als der Herbst herannahte, die Bäume auf dem Kirchhof von Luddenden tropften, das so tief im Tal lag, daß die Sonne, war einmal der Oktober vorbei, es nie mehr 140
fand, der angeschwollene Mühlenbach rauschte ihm selbst dort oben auf dem Hügel, wo er wohnte, in die Ohren. Immer mehr überkam ihn die Gleichgültigkeit, und nicht nur oben, in seiner Wohnung, nein, sogar unten, im «Nelson», oder wenn er sich zu seiner Tätigkeit auf dem Bahnhof in Luddenden Foot schleppte; denn während seine Aussichten sich im Verlauf der Monate verschlechtert hatten und er erkannte, daß es ihm unmöglich sein würde, sich je über die kümmerliche Stellung eines Stationsvorstands auf einer Nebenstrecke zu erheben, wo er sein klägliches Gehalt ausgegeben hatte, bevor es ihm bezahlt worden war, kamen von daheim Briefe, erfüllt von hohen Hoffnungen, und es wurde davon gesprochen, daß die Mädchen, von der Tante finanziell unterstützt, selber eine Schule eröffnen wollten, und als dieses Vorhaben verblaßte, kam die Idee einer Reise auf; Charlotte und Emily sollten den Schwestern Taylor nach Brüssel folgen, Anne würde sich ihnen vielleicht später gesellen, und Tante und Vater billigten diesen Plan von ganzem Herzen. Doch nie eine Andeutung darauf, daß er das Gleiche tun könnte, daß auch er reisen würde, die Mädchen begleiten, wie einer der Brüder Taylor Mary und Martha begleitet hatte, kein Wort, keine Silbe, daß seine Anwesenheit vermißt wurde. Ihm hatte man in Bradford seine Möglichkeit geboten. Er hatte versagt. Jetzt mußte er sich mit seiner Nebenstrecke im Tal abfinden. Es war seine eigene Wahl, sein eigener Entschluß. Nun waren die Schwestern an der Reihe. Die Bitterkeit der Erkenntnis, daß er durch eigene Schuld versagt hatte, durch Mangel an Eifer, durch Mangel an Konzentration, mußte irgendwie verdrängt werden, und dafür war Whisky das einzige Heilmittel, denn er verwandelte zeitweilige Verzweiflung in gedämpftes Behagen und langweilige Bekannte in umgängliche Freunde. Mochten die Mädchen nach Brüssel fahren, wenn sie Lust 141
hatten – in einer Pension eingesperrt, würden sie sehr wenig vom Leben sehen. Bei den Kähnen dagegen oder bei den Iren unten am Kanal oder bei irgendeinem Zufallsgefährten, der angetrunken mit der Post aus Halifax kam und sich amüsieren wollte, konnte er das Wesen alles Lebens, alles Schmerzes, den Gipfelpunkt verzerrter Freuden finden. Beide, Branwell und Emily, schrieben am 19. Dezember 1841 Gedichte. Der eine war in Luddenden, die andere in Haworth. Keines der beiden Gedichte ist besonders gut. Beide lassen den Einfluß des Reimgeklingels der Kirchenlieder spüren, das sie als Kinder in sich aufgenommen hatten, und das jetzt zu ihrem Blutkreislauf gehörte, obgleich Emilys spätere Gedichte davon frei waren. Jetzt sollte die Schwester, zum ersten Mal seit Roe Head, in Brüssel dem Wetteifer in einem Klassenzimmer standhalten müssen, und, besser noch, sich der Disziplin der französischen Sprache unterziehen, die hier von einem Sachverständigen gelehrt wurde. Das und die neun Monate Abwesenheit vom Haus müssen eine unberechenbare Rolle dabei gespielt haben, das verborgene Genie an die Oberfläche zu fördern; ohne diesen Anreiz wäre es vielleicht stockend und unreif geblieben. Solch eine Möglichkeit hatte der Bruder nicht. Kein strenger belgischer Professor würde seine Aufsätze mit einem Blaustift bearbeiten oder ihn zwingen, Montaigne oder Racine zu lesen. Nie hatte er seine geistigen Fähigkeiten an denen eines Mitbewerbers messen können; sein Maßstab an Leistung war William Dearden. Hätte Branwell neun Monate intensiver Beschäftigung mit dem Französischen, dem Deutschen oder irgendeiner anderen Sprache unter einem Lehrer von Verständnis und Persönlichkeit haben können, wie das Charlotte und Emily bei Monsieur Heger in der rue d’Isabelle zuteil wurde, so wäre die 142
Begabung, die er besaß, vielleicht aufgeblüht, statt zu welken, und der Glanz, der noch immer darauf wartete, Raum zu gewinnen und auszustrahlen, wäre nicht zu dumpfer Erschöpfung erloschen, ein kläglicher Überrest dessen, was vielleicht möglich gewesen wäre. Im Januar 1842 fuhren Charlotte und Emily nach Brüssel. Anne war als Gouvernante in der Nähe von York. Bruder und Schwestern waren noch nie so abgesondert, so getrennt gewesen. Ende März war es, daß Branwell wegen Nachlässigkeit aus seinem Dienst als Stationschef in Luddenden Foot entlassen wurde.
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XI
B
rontë, der Stationsvorstand, und Woolvern, der Billettabnehmer, waren gemeinsam für die Buchhaltung auf dem Bahnhof in Luddenden Foot verantwortlich. Beide mußten vor den Revisoren der Eisenbahngesellschaft erscheinen, als man entdeckte, daß die Buchhaltung nicht in Ordnung war. Es gab eine Unstimmigkeit bei den Eintragungen; der Erlös der Fahrkarten deckte sich nicht mit den eingenommenen Beträgen. Nähere Untersuchungen stellten nachlässige Buchungen fest, und am Rande Skizzen der Bekannten des Stationsvorstands. Der Billettabnehmer gab zu, daß der Stationsvorstand dem Dienst oft ferngeblieben war. Keiner von beiden konnte erklären, was aus dem fehlenden Geld geworden war. Ein Diebstahl ließ sich nicht beweisen, doch die Buchführung war nachlässig. Woolvern scheint seinen Posten behalten zu haben, Branwells «Dienste» dagegen wurden nicht mehr gewünscht. Seine ruhmlose Amtsführung bei der Leeds- und Manchesterbahn hatte ein Ende gefunden. Vielleicht war die Versetzung von Sowerby Bridge nach Luddenden Foot überhaupt keine Beförderung gewesen, sondern nur eine zweite Gelegenheit, sich auf einem kleineren Bahnhof zu bewähren, wo die Verantwortung geringer war als an dem Knotenpunkt, obgleich Emily damals zu Charlotte gesagt hatte: «Es sieht aus, als ginge es vorwärts …» 144
Nun hatte Branwell schon drei Fehlschläge auf seiner Liste – vier, wenn er dazu zählte, daß er nicht zur Königlichen Akademie zugelassen worden war. Mangel an Kunden hatte seine Laufbahn in Bradford beendet, aber auch Mangel an Konzentration. Die Hauslehrerstelle in Broughton-in-Furness? Beinahe sicher ist es, daß schlechtes Benehmen ihn nach sechs Monaten gezwungen hatte, die Heimreise anzutreten. Und jetzt bei der Eisenbahn … Ein Zusammenbruch war unvermeidlich. In einem Brief an Leyland vom 15. Mai sprach Branwell von «ernster Unpäßlichkeit». Die Heimkehr, nach dem Zusammenstoß mit den Revisoren der Bahngesellschaft, und die nötige Aufklärung gegenüber Vater und Tante waren ein bitteres Erlebnis. Krankheit war die einzige Reaktion, und die Welle von Niedergeschlagenheit, die ihn überflutete, war keine Ausflucht. Hätten sein Vater und seine Tante geahnt, wie er seine Zeit in diesem Jahr in Luddenden Foot verbracht hatte, sie wären entsetzt gewesen, ja, vielleicht wäre die Türe des Pfarrhauses ihm für immer verschlossen geblieben. Wie alle zur Hysterie neigenden Menschen vergrößerte Branwell seine Fehler. Er war schuldig, für ihn gab es keine Wiedergutmachung, er war tiefer gesunken als der Tiefste. Und am schlimmsten war der Schlag für seinen Stolz. Er, Branwell Brontë, das glänzende, vielseitige Genie der Familie, war nicht imstande gewesen, sich in der lumpigen Stelle eines Stationsvorstands auf einer Nebenstrecke zu halten! Gegen Ende Mai schwang das Pendel wieder nach der andern Seite; der Friede, die Stille des Vaterhauses hatten den verwundeten Stolz geheilt, das Gefühl der Schuld gesänftigt, und Branwells eingeborene Neigung, sich von Null in Höhen aufzuschwingen, trat abermals in ihr Recht. Heutzutage würde man einen so raschen Umschwung als 145
verhängnisvoll, die steigende Empfänglichkeit für Gefühlsüberschwang, als ein Zeichen einer Neurose und üble Vorbedeutung nahender Störungen betrachten, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aber sah man in dem jähen Umschwung von Niedergeschlagenheit zu Hochgestimmtheit nur das natürliche Wiederaufleben von Jugend und Kraft. Dr. Thomas Andres, ein hochgeachteter Bürger von Haworth, war vor kurzem gestorben; man beschloß, ihm in der St. Michaelskirche ein Denkmal zu setzen und Joseph Leyland damit zu betrauen. Branwell wurde aufgefordert, die Verbindung mit dem Bildhauer herzustellen, und zum ersten Mal konnte er seinen Gott nach Haworth einladen, ihn seinem Vater vorstellen, auch John Brown, der als Steinmetz die Schrift auf dem Denkmal einzugraben hätte. Branwell mußte den Eindruck gehabt haben, daß Leyland nicht mehr der geduldige, heitere Bekannte aus Halifax war, den ständig eine Schar von Anhängern umgab, sondern ein persönlicher Freund, der auf Branwells Einladung hin Haworth besuchte. Die Aufregung darüber, daß er ihn einladen konnte, die liebenswürdige Annahme Leylands stellten Branwells Gefühl von Würde und Stolz wieder her. Die Torheit von Luddenden Foot konnte vergessen werden. Die Schmach der Eisenbahnepisode gehörte der Vergangenheit an. Welchen Eindruck der Bildhauer auf Mr. Brontë und das Denkmalskomitee machen konnte, war in Branwells Augen nichts im Vergleich zu der Wirkung, die die kleine Gemeinde auf seinen Freund übte. Er litt alle Leiden des Vermittlers, der mit einem Fuß in zwei Kreisen steht. Eifrig darauf bedacht, Leylands guten Willen zu bestärken, und bewußt, daß der Bildhauer es darauf anlegte, ihm gefällig zu sein, mußte er zu seinem größten Verdruß hören, wie Mitglieder des Komitees zu dem großen Mann spra146
chen, als wäre er ein gewöhnlicher Maurer. Vielleicht ein Streit über das Honorar, vielleicht eine Meinungsverschiedenheit über den Wortlaut oder den Entwurf, was es auch war, das den Glanz des Besuchs schmälern konnte, Branwell fühlte sich jedenfalls gedemütigt. «Ich habe mich nicht sehr oft tiefer beschämt gefühlt», schrieb er am 29. Juni 1842 an den Bildhauer, «als damals, da Sie das Komitee in Haworth verlassen haben; doch ich wollte zu jener Zeit nichts sagen, und ich vertraute darauf, daß Sie jene Nachsicht, die Sie vielleicht oft mit roher Unbildung und schlechten Manieren haben müssen, auch hier üben würden; und einer oder zwei der Anwesenden fühlten später, daß man keineswegs einen beneidenswerten Eindruck auf Sie gemacht hatte. Obgleich das nur ein armseliges Kompliment ist – ich sehne mich sehr danach, Sie wieder in Haworth zu sehen und einen halben Tag die liebenswürdige Gesellschaft zu vergessen, in der ich mich befinde, und wo ich nie einen wohltönenderen Laut höre als das I-aen eines Esels …» Daß er für seine Umgebung um Verzeihung bat, brachte auch ihm Einladungen ein. Branwell, der so lange am Rand jener geschlossenen Gruppe geweilt hatte, die sich so gern im Atelier versammelte, war jetzt ein vertrauter Freund. Gedichte wurden ausgetauscht und vorgelesen, Ratschläge wurden erteilt. Grundy, der Techniker, dem Branwell im Mai, nach seiner Erholung von dem Zusammenbruch, geschrieben, den er gefragt hatte, welche Aussichten auf eine Anstellung bei der Eisenbahn sich böten, erfuhr jetzt, daß Branwell «empfohlen worden war, seine Aufmerksamkeit der Literatur zuzuwenden», daß er ja wirklich ein Narr wäre, «unter den gegenwärtigen Umständen irgendwelche Hoffnungen auf eine Stellung zu hegen». Branwell sah einige seiner alten Gedichte und Geschichten durch, suchte aus der gemischten Sammlung jene ohne 147
angrische Namen und Beziehungen hervor, die Leyland und dessen Freunden gefallen könnten. William Dearden forderte ihn zu einem Wettkampf heraus, doch sein Brief an den «Guardian» in Halifax, darin er diesen Vorfall berichtet, wurde erst im Jahre 1867 geschrieben, als alle vier Brontës tot waren. «Vor vielen Jahren», schrieb er, «kamen Patrick Brontë und ich überein, daß jeder ein Drama oder eine Dichtung schreiben sollte, darin die Hauptfigur eine wirkliche oder erdichtete Existenz vor der Sintflut haben sollte; und daß wir uns in einem Monat im Cross Road Inn, das auf halbem Weg zwischen Keighley und Haworth liegt, treffen und das Produkt unserer Mühen vorweisen sollten. Wir trafen uns zur bestimmten Zeit und am bestimmten Ort, und in Gegenwart eines gemeinsamen Freundes, des verstorbenen J. B. Leyland, des verheißungsvollen Bildhauers, las ich den ersten Akt der ‚Geisterkönigin’, doch als Branwell in seinen Hut griff – den gewohnten Behälter seiner flüchtigen Schnitzel, und wo er seine Dichtung versorgt zu haben glaubte, entdeckte er, daß er versehentlich einige lose Blätter eines Romans mitgebracht, an denen er seine ‚ungeübte Hand’ versucht hatte. Bekümmert über die Enttäuschung, die er verursacht hatte, war er schon dabei, die Blätter wieder in den Hut zu legen, doch da drängten ihn beide Freunde sehr ernsthaft, sie ihnen vorzulesen, denn sie waren neugierig darauf zu sehen, wie er seine Feder als Romanschriftsteller zu handhaben vermochte. Nach einigem Zögern fügte er sich der Bitte und fesselte unsere Aufmerksamkeit etwa eine Stunde; jedes gelesene Blatt ließ er in seinen Hut fallen. Die Geschichte brach jäh in der Mitte eines Satzes ab, und er erzählte uns viva voce die Fortsetzung, gab auch die wirklichen Namen der Modelle seiner Figuren an; doch da einige dieser Personen noch leben, versage ich es mir, sie dem Publikum preiszugeben. 148
Er hatte gesagt, er habe sich noch nicht zu einem Titel für sein Werk entschlossen, und fürchte, er würde nie einen Verleger zu finden vermögen, der so kühn wäre, es in die Welt einzuführen. Der Schauplatz des Fragments, das Branwell las, und die Figuren darin waren – soweit es damals ausgeführt war – die gleichen wie in ‚Sturmhöhe’, das nach der vertrauensvollen Behauptung Charlotte Brontës das Werk ihrer Schwester Emily gewesen ist.» Der Brief enthielt noch Deardens Urteil über den veröffentlichten Roman und schloß mit einer «poetischen Skizze», seiner eigenen Schilderung davon, wie entrüstet sie beide, er und Leyland, über die Figur des Heathcliff in dem vorgelesenen Fragment waren, und wie sie allen Ernstes Branwell geraten hatten, den geplanten Roman ins Feuer zu werfen. Branwell weigerte sich, das zu tun, und sagte, sein Held solle «noch ein wenig länger leben», und daß er eines Tages vielleicht Branwells «leere Schatzkammer» füllen würde. Sollte er dem Geschmack des Publikums zusagen, so würde Branwell eine «Gefährtin» schaffen, und dieses Paar sollte ein «Geschlecht von Ungeheuern» hervorbringen, das «die verschlissenen Helden und Heldinnen überwältigen sollte, die in Flitterkram durch die erdichtete Welt stolzieren.» «Doch», sagte Branwell, «laßt mir meinen verunglimpften Romeo zunächst noch in der Gruft all meiner Capulets schlafen.» Und damit wies er auf seinen Hut. Der klassische Schulmeister war ein schlechter Dichter, aber kein Lügner. Wenn es tatsächlich ein Embryo von «Sturmhöhe» war, was Branwell vorgelesen hatte, so vermutet der gesunde Menschenverstand, daß diese erste Skizze dessen, was später ein weltberühmter Roman Emily Brontës werden sollte, in Wahrheit entweder Branwells eigenes Werk war oder das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen Bruder und Schwester. Charlotte 149
und Branwell hatten an den Angrischen Geschichten gemeinsam gearbeitet; Emily und Branwell mochten das Gleiche getan haben. Die Handschrift aller drei, wenn sie die winzigen Buchstaben kritzelten, die sie für ihre privaten Schriften verwendeten, war sehr ähnlich; die Handschrift Emilys und Branwells so ähnlich, daß kaum ein Unterschied zu merken war. Gerade aus diesem Grund ist viel Verwirrung über die wahre Autorschaft ihrer Gedichte entstanden. Es bleibt noch die Möglichkeit, daß Branwell, in seiner Kurzsichtigkeit, ein Manuskript nahm, das er für sein eigenes hielt, und als er es aus dem Hut zog, merkte er, daß es eine Erzählung Emilys war. Sein Hang zu allerlei Schabernack ließ es ihn vorlesen, und wäre es auch nur gewesen, um die Wirkung auf Dearden und Leyland festzustellen. Daß die beiden entrüstet, ja, entsetzt waren, mochte sein Vergnügen nur steigern. Der Umstand, daß Branwell sehr bezeichnenderweise seinen Freunden nicht nur die «wirklichen Namen der Modelle» nannte, deren einige noch lebten, als Dearden seinen Brief schrieb, sondern auch die Fortsetzung erzählte, beweist, daß er die Quelle der Geschichte kannte und auch den Verlauf, den sie nehmen sollte; und das bestätigt Charlottes Worte, nachdem Branwell und Emily tot waren, daß «Sturmhöhe» «in einer wilden Werkstatt mit einfachen Geräten aus schlichtem Material zusammengeschlagen war». Jene, die etwas von Alexander Percy und seinem satanischen Wesen wissen, welche die Angrischen Geschichten von Charlotte und Branwell gelesen haben, finden sich gelassen mit einem Embryo von «Sturmhöhe» ab, der aus wenigen Kapiteln besteht, seien sie von Branwell oder von Emily oder von beiden in Zusammenarbeit geschrieben. Bruder und Schwestern machten ungehemmt Anleihen beieinander; Angrische Geschichten und Gondal150
Dichtungen wurden im Pfarrhaus vorgelesen und von allen vier jungen Autoren genossen. Der Kritik des neunzehnten Jahrhunderts, die nichts von den frühen Schriften wußte und «Jane Eyre» und «Sturmhöhe» in der Meinung beurteilte, die beiden Werke seien frisch dem Geist zweier abgesondert lebender Schwestern entsprungen, die sich nie zuvor auf dem Papier ausgedrückt hatten, müssen ihre wütenden Angriffe verziehen werden, als William Dearden im Jahr 1867 seinen Brief an den «Guardian» in Halifax schrieb. Daß Edward Sloane, ein anderes Mitglied des Freundeskreises in Halifax, Deardens Darstellung bestätigte und erklärte: «Branwell habe ihm, Stück für Stück, den Roman vorgelesen, wie er damals entstanden war; und so kam es, daß er, kaum hatte er ‚Wuthering Heights’ zu lesen begonnen – erschienen Dezember 1847 – imstande war, die Figuren und die Episoden vorauszusagen», steigerte nur den Grimm aller, die den Roman bewunderten. Sie hatten, ebenso wenig wie Dearden und Sloane, eine Ahnung davon, daß Bruder und Schwestern von früher Kindheit an gemeinsam an ihren Geschichten gearbeitet hatten. Wer auch immer im Jahre 1842 oder früher – denn Branwell erzählte Dearden, es sei ein Roman, an dem er «vor einiger Zeit» seine ungelenke Hand geübt habe – die erste Skizze des weltberühmten Romans niederschrieb, der Ruf Emilys, die das ganze Werk in den Herbst- und Wintermonaten 1845/46 vervollständigte und revidierte, braucht nicht zu leiden. Ihr gebührt die Ehre und der Ruhm, mag auch der Keim der Idee im Geist ihres Bruders entsprungen sein. Wieder daheim, verbrachte Branwell seine Zeit damit, daß er die Percy-Manuskripte durchsah. Nicht den alten Percy der angrischen Zeit, sondern jene modernere, sardonische Fassung, die er im Jahr 1837 erdachte und im 151
Sommer 1840 entwickelte. Der spöttische Percy ist eine weit überzeugendere Gestalt als Percy, der schwermütige Liebhaber der früher niedergelegten Angrischen Geschichten. So ging der Sommer 1842 weiter, zwischen die gelegentlichen Hinzufügungen zu der Percy-Geschichte mischte sich eine sorgfältigere Durchsicht alter Sonette, und die Eintönigkeit des Schauplatzes von Haworth wurde durch die wachsende Freundschaft mit William Weightman, dem Hilfsgeistlichen, belebt und fand eine gewisse Abwechslung in Ausflügen nach Halifax. Charlotte schrieb wohlgelaunt aus Brüssel; gelegentliche Anfälle von Heimweh hielten weder Emily noch sie selbst davon ab, noch ein halbes Jahr im Pensionat Heger zu bleiben, wo sie, für den Unterricht, den sie erteilten, Unterkunft und Verpflegung erhielten. Dieser Beschluß, im Verein mit Mary Taylors Erklärung Ellen Nussey gegenüber in einem Brief vom September 1842, daß «Charlotte und Emily sich wohl fühlen; nicht nur gesundheitlich, sondern auch in Geist und Hoffnung … sie sind in ihrer jetzigen Stellung zufrieden und sogar heiter, und ich glaube, daß sie recht haben, nicht nach England zurückzukehren …» widerlegt die Tradition, derzufolge Emily Brüssel haßte und sich nach Haworth sehnte, gründlich. Als Branwell von seinen Schwestern in Brüssel die Nachricht vom jähen Tod Martha Taylors, Marys jüngerer Schwester, erfuhr, mochte es ihm entweder als ein Beweis mehr für Gottes völlige Herzlosigkeit erschienen sein oder, wahrscheinlicher noch, als die Bestätigung dafür, daß es keinen Gott gab, der Gebete hörte. Denn sechs Wochen vorher war der junge Hilfsgeistliche William Weightman, bei seiner Ankunft in Haworth scherzhaft Celia Amelia genannt und bald der allgemeine Liebling des Pfarrhauses – obgleich, nach Charlottes Urteil, ein unver152
besserlicher Hofmacher – erkrankt und am 6. September gestorben. Als Todesursache wurde «Cholera und Peritonitis» angegeben – in jener Zeit ein weiter Begriff, der alles, von einem Blinddarmdurchbruch bis zu einer Sommerdysenterie, umfassen konnte. Der junge Weightman war um ein Jahr älter als Branwell und, nach Branwells Brief an Grundy vom 25. Oktober, «einer meiner liebsten Freunde». Was in der Zeit von Sowerby Bridge und Luddenden Foot, als Branwell noch gelegentlich für einen Nachmittag nach Haworth kam, eine flüchtige Bekanntschaft gewesen wäre, hatte sich seit Branwells Rückkehr vor sechs Monaten zu einer herzlichen Neigung zwischen ihm und dem Geistlichen entwikkelt, der im Pfarrhaus täglich ein und ausging. Martha Taylor und William Weightman. Zwei junge Menschen in Branwells Alter, die bei jedermann beliebt waren, die nichts Unrechtes getan hatten, binnen fünf Wochen hinweggerafft! Wenn das Gerechtigkeit war, so wollte Branwell nichts damit zu tun haben. Wenn das Gottes Liebe war, so hatte das Wort keinen Sinn. Und noch eine Prüfung des Glaubens sollte hinzukommen – wenn Branwells Vater es so nennen wollte. Branwells Tante, jetzt Sechsundsechzig, hatte nie Zeichen einer Krankheit merken lassen, bis sie um die Mitte des Oktobers über Schmerzen klagte. Am 25. des Monats, als Branwell seinem Freund Grundy von Weightmans Tod schreibt, setzt er hinzu: «Und jetzt sitze ich am Totenbett meiner Tante, die zwanzig Jahre lang meine Mutter gewesen war. Ich erwarte, daß sie binnen weniger Stunden sterben wird …» Am 29. schrieb er abermals: «Ich fürchte, daß ich unzusammenhängend schreibe, aber ich habe zwei Nächte als Zeuge von so entsetzlichen Leiden gewacht, daß ich sie meinem schlimmsten Feind nicht wünschte; und jetzt habe ich die Führerin und Leiterin all der glück153
lichen Tage verloren, die mit meiner Kindheit verknüpft sind …» Am selben Tage war Elizabeth Branwell gestorben. Die Todesursache: «Erschöpfung durch Constipation». Diese kurze Angabe beschwört in ihrer Wortkargheit das ganze Elend einer Krankheit vor hundertfünfzig Jahren herauf. Die mutige kleine Frau aus Cornwall, die zwanzig Jahre vorher ihre Heimat verlassen hatte, um ihr Leben dem Gatten und den Kindern ihrer Schwester zu widmen, war gezwungen, durch den Mangel an ärztlichem Können, unaussprechlich zu leiden und zu sterben, da heutzutage eine Behandlung oder schlimmstenfalls eine unverzügliche Operation ihr nicht nur das Leiden erspart, sondern das Leben gerettet hätte. Dieser Brief Branwells an Grundy ist das einzige Zeugnis ihrer letzten Stunden. War er es allein, der an ihrem Bett saß? Blieb sein Vater unten, da er doch nicht helfen konnte? Machte die kleine vierzehnjährige Martha, die Tochter John Browns und Hilfe der verkrüppelten alten Tabby, sich nützlich? Branwell hatte in früher Kindheit zwei Schwestern sterben gesehen. Vor etwa sieben Wochen hatte er einen heiteren, liebevollen Freund verloren. Jetzt war die Tante, die sich zweiundzwanzig Jahre bemüht hatte, den Platz seiner Mutter auszufüllen, nach vierzehn Tagen eines Leidens hingegangen, das kein Arzt, kein Mittel zu heilen vermocht hatte. Anne kehrte vor der Beerdigung zurück; Charlotte und Emily kamen heim, als alles vorüber war. Doch Branwell genügte die Vereinigung mit den Schwestern nicht. Er hatte mit eigenen Augen die Gräßlichkeit des Todes gesehen. Sie logen, die da behaupteten, der Tod sei schön. Seine Tante hatte durchaus nicht den Wunsch gehegt, ihrem Schöpfer von Angesicht zu Angesicht entgegenzutreten. 154
Alles, was sie verlangt, wonach sie geschrien hatte, war, Erlösung von den Schmerzen. Und das war ihr versagt worden. Gebet war von jetzt an zwecklos, war ein Spott, und alles, wofür seine Tante gelebt, wobei sie geschworen, was sie aufrecht erhalten hatte, verließ sie, da sie es am dringendsten benötigte. Wenn er je dahin gelangen sollte, körperlich zu leiden, so würde er keines Menschen Gebete begehren. Er selber würde nicht beten. Nur ein Heilmittel gab es gegen Schmerzen – das Vergessen. Und Vergessen konnte man in Whisky, Gin oder Laudanum finden. Das sollten seine Götter sein, wenn die Stunde der Abrechnung kam. Unterdessen … unterdessen nichts als die Erinnerung an dieses Leiden, die verstörten, verständnislosen Züge, die unsteten, gequälten Augen. Und wenn er es gewußt hätte! Es war nicht die Stille des Pfarrhauses, die ihn je trösten konnte, noch das vertraute Ticken der Uhr auf der Treppe, noch die stummen Gebete seines Vaters, der sich im Wohnzimmer verschloß; die natürliche Lösung für Branwells aufgestaute Gefühle wäre die laute Klage einer irischen Totenwache gewesen, die Nachbarinnen, die mit verhüllten Köpfen neben dem Sarg saßen, das Jammern, das Singen, das Schaukeln, die geröteten, weinenden Gesichter, die Kameradschaftlichkeit, die Tränen.
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XII
B
ranwell war jetzt fünfundzwanzig und besaß keinen Penny. Die Tante, die ihn geliebt hatte, vertraute im Jahre 1833, als sie ihr Testament machte, auf seine erfolgreiche Zukunft und hinterließ ihr kleines Vermögen zu gleichen Teilen ihren Nichten. Der Knabe von sechzehn – so alt war damals ihr Neffe gewesen – mit einer glänzenden Laufbahn vor sich, würde, wenn es einmal so weit war, ihre Hilfe nicht brauchen; und das «japanische Toilettenkästchen», das er vielleicht als Kind neugierig betrachtet und bewundert hatte, war ihre einzige Verlassenschaft für den Neffen, den sie von seinen frühesten Jahren großgezogen hatte. Branwells sprunghafte Lebensweise, seit er zum Mann geworden war, hatte ihren Glauben an ihn nicht zu erschüttern vermocht. Ein Vertrauen stirbt schwer. Der Junge würde bestimmt eines Tages seinen Weg machen. Die Mädchen brauchten eine Hilfe, und nicht nur Charlotte, Emily und Anne, sondern auch eine vierte Nichte, Elizabeth Jane Kingston, das Kind ihrer Schwester Anne. Die Frage, der Branwell sich jetzt gegenüber sah, war: Was nun? Daß er Leyland und dem Freundeskreis in Halifax seine Gedichte vorgelesen hatte, führte nicht zu ihrer Veröffentlichung, obgleich der Bruder des Bildhauers Drucker und Verleger war. Freunde im Bahndienst machten ihm keine Hoffnung auf eine Wiedereinstellung. Er 156
schien in eine Sackgasse geraten zu sein. Charlotte und Emily, die ihren Bruder seit etwa einem Jahr nicht mehr gesehen hatten, mußten die Veränderung seines Äußern bemerkt haben, die sich nicht nur dem Gram über den Tod der Tante zuschieben ließ. Und Branwell mußte seinerseits gespürt haben, daß Charlotte, die ihm immer am nächsten gewesen war, sich gleichfalls sehr verändert hatte. Denn, wie sehr sie es auch vor ihrer Familie und ihrer eigenen Vernunft geheimhalten wollte, ihre Leidenschaft für ihren Lehrer, Monsieur Heger, entwickelte sich aus der üblichen Schulmädchenschwärmerei zu einem Wahn. Ebenso wie einst die Gefühle der leicht erregbaren Charlotte sich in Tagträumen von einem Leben mit Ellen Nussey erschöpft hatten – nur ihr System intensiver Arbeit an Angrischen Liebesgeschichten half ihr darüber hinweg – so näherten sich jetzt ihre Gefühle wieder dem Siedepunkt, nur kam das bisher ungekannte Erlebnis einer Beziehung zwischen Mann und Frau hinzu. Die Geschichten, die sie vor ihrer Reise nach Brüssel geschrieben hatte, strebten alle in diese Richtung – das jüngere Mädchen, der ältere Mann und der Mann verheiratet. Einmal in der Phantasie erlebt und zu Papier gebracht, mußten die Geschichten sich in die Wirklichkeit übertragen, und Monsieur Heger, der Lehrer, war der Haken, an den man vorgefühlte Ideen hängen konnte. Wäre es nicht Monsieur Heger gewesen, so hätte es auch ein Anderer sein können; das Mädchen, das seit seiner Kindheit in der Phantasie mit dem Herzog von Zamorna gelebt hatte, war durch den Zwang der Gefühle gedrängt, ihn lebendig werden zu lassen. Es kam nicht darauf an, daß er ein «kleines, schwarzes, häßliches Geschöpf» war, etwas zwischen «einem kranken Kater und einer irrsinnigen Hyäne», wie sie ihn in einem Brief an Ellen schildert; der Augenblick war gekommen, da Phantasie und Wirklich157
keit verschmolzen. Kein Wunder, daß Charlotte entschlossen war, nach Brüssel zurückzukehren. Und so blieb nur wenig später Emily allein zurück und war es zufrieden, die Sorge um ihren Vater zu übernehmen und auch um Branwell, wenn er Wert darauf legte, sich anständig zu verhalten. Doch Emilys satirischer Aufsatz, im vergangenen Herbst in französischer Sprache geschrieben, darin sie den Tod zeigt, der die Unmäßigkeit als Vizekönig vor allen andern Bewerbern erwählt, deutet kaum auf eine duldsame Haltung der Trunksucht gegenüber; sie würde kaum schelten, doch sie konnte es leicht übersehen, und der Mann, der trank, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder aus Mangel an Charakterstärke, würde nichts ernten als ein Achselzucken und vielleicht ein Schweigen. Zurückhaltend und beherrscht, wie sie war, verrieten Emily die leicht erregbaren Gefühle anderer Menschen nur Schwäche; vor langer Zeit schon hatte sie beschlossen, nie Gefühle merken zu lassen. Aus diesem Grund wurde sie häufig mißverstanden, und flüchtige Bekannte mochten sie nicht leiden. Die Damen Wheelwright, englische Nachbarn in Brüssel, mit denen Charlotte befreundet war, schilderten Emily als «hochaufgeschossen und linkisch, immer unordentlich aussehend», und klagten darüber, daß die kleinen Wheelwright-Kinder von zehn und acht Jahren, die sie in Musik unterrichtete, mehr als einmal in Tränen von ihrer Lektion heimgekommen seien. Doch Ellen Nussey, die sie besser kannte, sagte: «Ihre außerordentliche Zurückhaltung schien undurchdringlich, und doch war sie unendlich liebenswert … wenige Menschen haben die Gabe, so dreinzusehen und zu lächeln, wie sie dreinsehen und lächeln konnte – einer ihrer selten ausdrucksvollen Blicke war etwas, dessen man sich sein Leben lang entsann.» Es war Anne, mit ihrem starken Pflichtgefühl, verbunden mit ruhiger Entschlossenheit und einem Sinn für Humor, 158
die zu jener Zeit am besten geeignet zu sein schien, Branwells Gefährtin zu sein. Seit März 1841 war Anne Gouvernante bei den Töchtern von Mr. und Mrs. Robinson in Thorp Green Hall bei York gewesen. Als sie vier Monate dort gewesen war, schrieb sie Emily in ihrem Geburtstagsbrief, der nach einer privaten Übereinkunft vier Jahre später geöffnet werden sollte: «Mir mißfällt die Stelle, und ich möchte sie mit einer andern vertauschen.» Nichts hinderte sie daran, und dennoch blieb sie bis zum Januar 1843, und wenige Monate nach dem Tod der Tante empfahl sie Branwell sogar, die Stelle als Hauslehrer bei Mr. Robinsons Sohn und Erben anzunehmen und mit ihr nach Thorp Green Hall zu gehn. Wenn Anne ihre Schülerinnen nicht gemocht, wenn sie Mr. und Mrs. Robinson mißtraut, wenn sie sich in ihrer Umgebung unbehaglich und unglücklich gefühlt hätte, wäre sie nie mit so einem Vorschlag gekommen, denn sie kannte ja die besonderen Schwächen von ihres Bruders Charakter. Robinsons mußten sich demnach, welchen Eindruck sie auch im Frühjahr 1841 auf Anne gemacht haben mochten, zwei Jahre später zu mitfühlenden Freunden entwickelt haben, daß sie es wagte, Branwell in das Haus einzuführen. Wenn aber Anne selber ihren Brotgebern den Vorschlag machte, ihren Bruder als Hauslehrer mitzubringen, so mußte das bewiesen haben, daß sie Vertrauen zu dem Charakter der Robinsons hatte und auch die Zuversicht, daß die heitere Atmosphäre von Thorp Green belebend auf schwermütige Stimmung wirken würde. Waren es Robinsons, die den Plan faßten, so hatten sie zum mindesten einen gutmütigen Versuch gemacht, eine Familienschwierigkeit zu lösen, und den Wunsch gezeigt, der Gouvernante zu helfen, die ihren Schülerinnen lieb geworden war. Vielleicht würde der Bruder sich als Lehrer ebenso fähig, 159
als Gefährte ebenso freundlich erweisen wie die Schwester? Murrays in «Agnes Grey», reiche, rohe, seichte, ungebildete und unangenehme Menschen, als deren Vorbilder im Leben Robinsons ständig und überzeugt betrachtet werden, wären bestimmt die letzten Menschen auf Erden gewesen, bei denen man einen überspannten, empfindlichen, leicht zu beeinflussenden und reizbaren jungen Mann wie Branwell eingeführt hätte. Wenn die Murrays der Dichtung die Robinsons der Wahrheit gewesen wären, so war Anne entweder verrückt oder verbrecherisch, wenn sie ihren Bruder zu ihnen brachte. Doch sie war keines von beiden. Sie hatte eine natürliche Gabe zur Satire, und, wie Jane Austen, machte sie sich über die Gesellschaft lustig, in der sie sich befand; die Robinsons aber mußten, anders als die erfundenen Murrays, manche guten Eigenschaften gehabt haben, eine Dosis echtes Wohlwollen, eine Dosis gutmütige Heiterkeit, damit Schwester und Bruder es zweieinhalb Jahre bei ihnen aushielten, bevor die Katastrophe eintrat. Die Lage von Thorp Green Hall, in einem Wäldchen, auf flachem Land, zweieinhalb Meilen vom Dorf Little Ouseburn und zwölf Meilen von York entfernt, war nicht dazu angetan, Branwell zu verlocken, der das «tätige Leben» und die Reize von Halifax schätzte. Das wußte Anne sehr gut. Gelegentliche Besuche in York, um das Münster zu bewundern und mit der Familie Besorgungen zu machen, wären zahme Vergnügungen, verglichen mit den Ausflügen ins «Talbot» und in den «Old Cock». Sie kannte ihres Bruders angeborene Ruhelosigkeit, seine Neigung, mit Dichtern, Malern, Bildhauern zu verkehren. Doch sie war sich der Wirkung bewußt, die diese Gesellschaft auf ihn hatte, und hielt sie für schädlich; da hatte sie denn angenommen, daß Robinsons die entgegengesetzte Wirkung ausüben würden, und daß ein normaler Familienkreis es 160
wäre, was Branwell am dringendsten benötigte. Ein stilles Landleben, ein Knabe von elf Jahren als Gefährte – und Branwell war der Einzige in seiner Familie, der wirklich kinderlieb war – eine behagliche häusliche Atmosphäre mit freien Abenden, die er am Schreibtisch verbringen konnte – hier bot sich eine Möglichkeit, so erwog sie wohl, und so mußten alle erwogen haben, als der Plan im Pfarrhaus erörtert wurde, für Branwell, ein neues Leben zu beginnen und zu dem verantwortungsbewußten Erwachsenen zu werden, als den seine Familie ihn zu sehen wünschte. Anne hätte ihren Bruder ebensowenig in ein Haus eingeführt, wo Trinken und Spielen an der Tagesordnung war, wo die Männer ihre Frauen schlecht behandelten, wo ein Gatte unter dem eigenen Dach eine «Affäre» mit einer Besucherin hatte – all das wird in ihrem zweiten Roman, «Die Pächterin von Wildfell Hall», geschildert und von den Lesern für ein echtes Bild des Lebens in Thorp Green gehalten – wie sie ihn, falls Luddenden Foot ihr Aufenthaltsort gewesen wäre, bei den Liverpooler Iren oder den Bootsleuten in Weaver’s Arms eingeführt hätte. Branwells Gehalt betrug achtzig Pfund im Jahr. «Mr. Brontës Gehalt zwanzig Pfund» ist jedes Vierteljahr eingetragen. Daß die ersten Monate nicht besonders glücklich waren, geht deutlich aus dem Gedicht hervor, das «Thorp Green» hieß und vom 30. März 1843 datiert ist. Branwell vergaß alles, was er bei Hartley Coleridge gelernt hatte, und kehrte statt dessen zu dem Tonfall der methodistischen Kirchenlieder zurück, die er auf Marias Knie gesungen hatte; abermals war es der Geist der toten Schwester, der ihn verfolgte. Was war es, das sie von ihm verlangte? Es war, als wäre er in zwei Teile gespalten; der eine Teil sehnte sich danach, an den ersten Eindrücken der Kindheit festzuhalten, an dem Glauben, den er bei Maria 161
und bei seiner Tante gelernt hatte, und an den Anne sich noch immer so ernsthaft klammerte, weil er die einzige Rettung vor Verzweiflung war; und der andere Teil wünschte sich nichts so sehr, als wieder in Halifax zu sein, frohgelaunt und mehr als nur ein wenig angeheitert, und seine Freunde mit den spöttischen Schilderungen des Lebens in Thorp Green zum Lachen zu bringen. Leyland und Halifax waren meilenfern; die Phantasie und die höllische Welt mit all ihren Freuden, all ihren furchtbaren Tröstungen, die dem Körper abwechselnd Erregung und Erschlaffung, dem Geist Spannung und Betäubung brachten, mußten wohl die einzige Befriedigung sein. Folgte Charlotte in Brüssel nicht dem selben Weg? «Es ist eine merkwürdige metaphysische Tatsache», schrieb sie ihm am 1. Mai 1843, «daß ich immer abends, wenn ich allein im großen Schlafraum bin und keine andere Gesellschaft habe als eine Anzahl von Betten mit weißen Vorhängen, so fanatisch wie je zu den alten Vorstellungen, den alten Gesichtern, den alten Szenen der Welt dort unten zurückkehre.» Als Mr. und Mrs. Robinson Mr. Brontë im Frühjahr 1843 zu einem kurzen Besuch einluden und zu den hervorragenden Eigenschaften seines Sohnes und seiner Tochter beglückwünschten, hatten sie, ebenso wenig wie ihr Gast, eine Ahnung, daß der wohlgesittete und höchst ehrbare junge Mann, den sie als Hauslehrer angestellt hatten, während seiner einsamen Abende so gewagte Verführungsszenen erfand, daß er sich am nächsten Morgen, der Realität seiner Stellung und den Alltagspflichten gegenüber, beherrschen mußte, um das Bild nicht zu zerstören, das man sich von ihm gemacht hatte. * 162
Anfangs Januar 1844 kehrte Charlotte endgültig aus Brüssel in das Pfarrhaus zurück; sie war zutiefst enttäuscht und seelisch wund, denn ihr geliebter Professor Heger hatte sich in ihrer Gegenwart höchst ausweichend verhalten und seine Frau geradezu mit betonter Kälte, und das konnte nur bedeuten, daß sich in einer Lage, die peinlich zu werden drohte, eine geeinte eheliche Front gebildet hatte. Im späteren Verlauf des Monats schrieb sie an Ellen Nussey: «Anne und Branwell haben uns eben verlassen, um nach York zurückzukehren. Sie werden in ihren Stellungen, alle beide, erstaunlich hoch geschätzt.» Weder Bruder noch Schwester werden vor dem 23. Juni, fünf Monate später, wieder erwähnt, als sie Ellen mitteilte: «Anne und Branwell sind jetzt daheim, und sie und Ellen gesellen sich meiner Bitte, daß du uns anfangs nächster Woche besuchen sollst. Schreib und laß uns wissen, an welchem Tag du kommst und wie – wenn mit dem Postwagen, so erwarten wir dich in Keighley. Verschieb deinen Besuch nicht über den Anfang der nächsten Woche, sonst würdest du nur wenig von A und B zu sehen bekommen, da ihre Ferien nur sehr kurz sind. Sie werden bald zu der Familie nach Scarborough fahren müssen.» Am 16. Juli waren Charlotte und Emily emsig damit beschäftigt, Hemden zu nähen, wahrscheinlich für Branwell, der sie brauchte, wenn er mit Robinsons in Scarborough war. In diesem Jahr kam die Familie am 11. Juli hin und mietete sich, wie gewöhnlich, in dem elegantesten Viertel der Stadt ein. Bestimmt waren sie bis zum 9. August dort; dann verschwanden ihre Namen von der Liste der Gäste Scarboroughs. Auf Branwells Reizbarkeit und Neigung zu Erregungszuständen während der kurzen Ferien daheim, die dem Aufenthalt in Scarborough vorangingen, deutet, Monate später, ein Brief Charlottes an Ellen Nussey hin; und in ei163
nem ihrer vielen, nie beantworteten Briefe an Professor Heger, am 24. Oktober, heißt es: «Mein Vater und meine Schwester empfehlen sich Ihnen. Die Sehschwäche meines Vaters nimmt nach und nach zu. Dennoch ist er nicht vollkommen blind. Meinen Schwestern geht es gut, dagegen ist mein armer Bruder immer krank.» Kein Hinweis findet sich auf die Ursache von Branwells Krankheit, doch sie war offenbar nicht ernst genug, um zu rechtfertigen, daß er seine Stelle aufgegeben hatte und heimgekommen war. Hätte er getrunken, so würde Anne das bemerkt und Charlotte gewarnt haben, und Charlotte hätte ihren Brief an Monsieur Heger anders gefaßt oder ihren Bruder überhaupt nicht erwähnt. Nur zu gut wußte sie aus eigener bitterer Erfahrung, wie ein Überschwang sich in Verzweiflung verkehren konnte. Warum hatte sie ihre Zeit in Brüssel vergeudet, hatte Tag um Tag auf einen Blick, ein Lächeln ihres Professors gewartet, das, wenn es kam, sie nur in noch tieferes Elend schleuderte? Vernunft und Gewissen führten sie heim. Branwell mußte sich im Lauf des Herbstes, als Mrs. Robinson und Miss Lydia in Kreisen verkehrten, wo der Hauslehrer keinen Zutritt hatte, die gleiche Frage stellen, die auch Charlotte sich oft gestellt haben mochte. Was habe ich mit siebenundzwanzig Jahren und bei meinen vielen Talenten vorzuweisen? Soll ich den Rest meines Lebens ein bezahlter Angestellter bleiben, ein besserer Lakai, dessen einzige Leistungen darin bestehen, Türen zu öffnen, Seidensträhnen aufzuspulen und Sonnenschirme zu tragen? Die Vertraulichkeit, die ihm Robinsons ein Jahr zuvor ihrer älteren, eben der Schule entwachsenen Tochter gegenüber erlaubt hatten, würde jetzt mißfällig betrachtet werden und nicht am Platz sein. Wie freundlich sie auch gewesen sein mochten, war im neunzehnten Jahrhundert die Trennung zwischen Brotgebern und Angestellten doch sehr streng. 164
Diese Haltung war es, die Charlotte in ihren zwei Stellen als Gouvernante so verärgerte, daß sie in unbewußter Rache «Jane Eyre» geschaffen hatte, die berühmteste Gouvernante nicht nur des Jahrhunderts, sondern aller Zeiten. Anne gab ihre Antwort in «Agnes Grey». Es waren nicht so sehr die Menschen, die sie angriff, wie das System, den Snobismus einer Gesellschaft, darin Geburt und Reichtum die Brotgeber in den Glauben wiegten, den Menschen in bescheideneren Stellungen, aber mit mehr Geist und Begabung, überlegen zu sein. Hatte dieser Groll auch Branwell gepackt? Und hatte er seiner Bitterkeit erlaubt, sich einwärts zu kehren? Hatte er sich stolz geweigert, sich mit dem abzufinden, was er als Erniedrigung ansah? War es so, dann mag ein Tagtraum von Percy ihn dahin geführt haben, eine Zeitlang mit der Hoffnung zu spielen, daß Lydia ihm ihre Gunst geschenkt hatte. Und hatte er dann, zurückgewiesen, seine Verliebtheit von der Tochter auf die Mutter übertragen? Das wäre wohl die wahrscheinlichste Erklärung für das, was Branwell im Jahre 1844 und in den ersten Monaten des Jahres 1845 zustieß. Verwundete Gefühle vermögen sich rasch einem andern Ziel zuzuwenden. Ein Lächeln, ein Blick, ein gütiges Wort im Gespräch, gewissermaßen ein Krümelchen Trost, kann zum Brot des Lebens umgewandelt werden. Darbende Gefühle finden sich nicht mit der Niederlage ab. Wenn Branwell liebte, so wagte er zu glauben, daß auch er geliebt werde. Das waren Phantasien, die Charlotte um Monsieur Heger gewoben hatte; sie aber war vernünftig genug gewesen, sie beizeiten im Zaum zu halten. Im Januar 1845, als Branwell seine letzten Monate in Thorp Green begann, schrieb sie an Monsieur Heger: «Monsieur, die Armen brauchen nicht viel, um sich zu erhalten – sie bitten nur um die Krümel, die von des reichen Mannes Tisch fallen. Werden 165
ihnen aber die Krümel versagt, so sterben sie Hungers. So brauche auch ich nicht viel Zärtlichkeit von jenen, die ich liebe. Ich wüßte nicht, was mit einer völligen, vollständigen Freundschaft anzufangen – ich bin nicht daran gewöhnt. Sie aber haben mir einst ein geringes Interesse gezeigt, als ich in Brüssel Ihre Schülerin war, und ich klammere mich an die Aufrechterhaltung dieses geringen Interesses – ich klammere mich daran, wie ich mich an das Leben klammern würde …» Auch Branwell klammerte sich an sein kleines Interesse, er aber begnügte sich nicht mit den Krümeln, noch mit Gnaden des Alltags, noch mit Träumen. Die üppigen Freuden seiner höllischen Welt müßten in der Wirklichkeit genossen werden.
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XIII
K
ein Brief hat sich erhalten, um zu berichten, was sich in jenem Monat Juli des Jahres 1845 ereignete, als Branwell aus seiner Stelle entlassen wurde. Alles ist Hörensagen, Klatsch und Annahme. Die wenigen Wochen vor seiner Entlassung enthalten nichts als Fetzen mittelbarer Informationen – schwache Spuren, die in Verbindung mit Branwells Vergangenheit nur zu Theorie und Vermutung, nie aber zu feststehenden Tatsachen führen. Mr. Robinsons Ausgabenbuch für Mai liefert keinen Hinweis darauf, daß etwas nicht in Ordnung gewesen wäre. Es teilt uns mit, daß Miss Brontës Gehalt von zehn Pfund am 8. des Monats fällig war; daß Mrs. Robinson und die Mädchen am 12. in York gewesen waren und für das Quartier ein Pfund, ferner ein Pfund, zehn Shilling für Sodawasser ausgegeben hatten. Am 17. fanden Rennen in Little Ouseburn statt, zu denen Mr. Robinson nur fünf Shilling beitrug, aber am 21. bezahlte er zwei Pfund für Sonnenschirme seiner Töchter und am 29. ein Pfund für ihren Ausflug nach Harrogate. Der junge Edmund erhielt am l. Juni zehn Shilling für Frettchen. Am 11. erhielt Miss Brontë drei Pfund zehn Shilling, und es findet sich eine Notiz, daß Branwell am 21. Juli, somit in sechs Wochen, zwanzig Pfund erhalten sollte. Unter das Wort «Juli» hatte Mr. Robinson einen 167
kleinen Strich gezogen, vielleicht, um daran zu erinnern, daß das Gehalt im Juli und nicht im Juni fällig war. Daß Anne bereits «ihren Dienst aufgesagt» hatte, wird aus Charlottes Brief vom 18. Juni an Ellen Nussey klar: «Branwell und Anne kommen, beide, heim, und Anne hat, wie ich mit Freude sage, beschlossen, nicht zu Robinsons zurückzukehren – ihre Anwesenheit im Haus wird bestimmt bewirken, daß ich mich freier fühle.» Charlotte bemühte sich, einen Besuch bei Ellen Nussey in die Wege zu leiten, konnte das aber nicht, wenn ihre Schwestern nicht daheim waren und sich um den Vater kümmerten, der nach und nach die Sehkraft verlor und infolgedessen sehr niedergeschlagen war. Am 24. Juni schrieb sie abermals an ihre Freundin, versuchte immer noch, Pläne zu machen, und setzte hinzu: «Branwell ist nur eine Woche bei uns geblieben, aber er soll wiederkommen, wenn die Familie nach Scarborough fährt.» Montag, den 30. Juni, unternahmen Emily und Anne einen Ausflug von zwei Tagen nach York – die erste Reise, die sie je in ihrem Leben gemeinsam gemacht hatten. Ursprünglich war der Plan gewesen, nach Scarborough zu fahren, doch aus irgendeinem Grund änderten sie ihren Entschluß. Vielleicht wäre es Anne peinlich gewesen, Freunde der Robinsons zu treffen und Gründe für ihre Kündigung angeben zu müssen; doch die Schwestern hätten Robinsons selbst ebenso gut auch in York begegnen können. Die Zeitbestimmung für die kurzen Ferien war seltsam, denn war es die Absicht, Emily das Münster zu zeigen, und so hätte man auch einen Tag wählen können, wenn Robinsons mit Sicherheit aus dem Weg, nämlich in Scarborough waren. Anne sprach in ihrer Geburtstagsnotiz, die einen Monat später geschrieben wurde, nicht von diesen Ferien, aber Emily tat es, sagte nichts von Sehenswürdigkeiten, weder 168
vom Einkaufen noch vom Münster, sondern nur, daß sie sich sehr gut unterhalten hatten. Robinsons fuhren am 5. Juli nach Scarborough. Der junge Edmund kann nicht mit der übrigen Familie nach Scarborough gefahren sein, denn sein Name ist erst im «Herald» von Scarbourough vom 24. Juli unter den Ankünften verzeichnet. Wahrscheinlich blieb er bis Mitte des Monats in Thorp Green, denn in Mr. Robinsons Ausgabenbuch steht, daß er ihm am 16. zwölf Shilling sechs Pence gegeben hat. Er wäre nicht ohne seinen Hauslehrer zuhause geblieben. Und eine bezeichnende Begründung für all dies vielfältige Kommen und Gehn ist, daß es Donnerstag, der 17., war, vermutlich just nachdem Edmund in Scarborough ankam, als Branwell, derzeit daheim in Haworth, von Edmunds Vater jenen verhängnisvollen Brief erhielt, der ihm seine Entlassung mitteilte. Dieser klare Tatbestand weist darauf hin, daß der Knabe oder der Diener, der ihn begleitete – denn ein Knabe von dreizehn oder vierzehn Jahren wäre kaum allein gereist – bei der Ankunft in Scarborough gewisse Mitteilungen über den Hauslehrer machte, die Mr. Robinson zu unverzüglichem Vorgehn veranlaßten. Charlotte war nicht daheim, sie war bei Ellen Nussey, als der Brief ankam. Sie kehrte zwei Tage später nach Haworth zurück und erfuhr, was geschehen war. Als sie zwölf Tage später Ellen Nussey davon unterrichtete, war der erste Schreck schon vorüber. Branwell, zunächst von dem Schlag schwer getroffen, dann bis zur Bewußtlosigkeit betrunken, wurde rasch in der Hut von John Brown nach Liverpool geschafft. In ihrem Brief schrieb Charlotte nicht, wann Branwell von Thorp Green heimgekehrt war. Sie gab auch keinen Grund für die Entlassung an. Die Worte, die sie Ellen Nussey gegenüber gebrauchte, waren bezeichnend: 169
«Es war zehn Uhr abends, als ich daheim ankam. Ich fand Branwell krank; er ist durch eigene Schuld sehr oft so. Ich war darum zunächst auch nicht erschrocken, doch als Anne mir den unmittelbaren Anlaß seiner jetzigen Krankheit mitteilte, war ich sehr entsetzt. Er hatte am letzten Donnerstag einen Brief von Mr. Robinson erhalten, der ihn mit strengen Worten entläßt, zu verstehn gibt, daß er seine Handlungsweise entdeckt habe, die er als unbeschreiblich schlecht bezeichnet, und ihn unter Drohung mit öffentlicher Preisgabe auffordert, augenblicklich und für immer alle Beziehungen zu sämtlichen Mitgliedern der Familie abzubrechen. Seither haben wir mit Branwell traurige Zeiten erlebt. Er dachte an nichts anderes, als sein Unglück zu ertränken. Kein Mensch im Hause konnte Ruhe finden …» Die Ausdrücke «Handlungsweise», «unbeschreiblich schlecht» und «Drohung mit öffentlicher Preisgabe» klingen, als wären sie wörtlich aus Mr. Robinsons Brief zitiert. Vater und Schwestern dürften gefragt haben: «Was hast du denn getan?» Entsetzen, Scham, Gewissensbisse, dann eine halbe Flasche Whisky mochten Branwells erste Schutzmaßnahmen gewesen sein. Ein Mann, der von Alkohol betäubt ist, kann keine Fragen beantworten. Branwell war nicht mit Robinsons in Scarborough gewesen. Er hatte also entweder in Thorp Green oder in der Nachbarschaft irgend etwas getan, das seinem Brotgeber mitgeteilt worden war. Wenn Branwell an Mrs. Robinson Liebesbriefe geschrieben hätte, so würde der Gatte ihm nicht mit «öffentlicher Preisgabe» gedroht haben, denn Branwell preiszugeben, hätte bedeutet, auch die Dame preiszugeben, welche die Briefe erhielt. Hatten Robinsons um Annes willen Schweigen bewahrt, und um Mr. Brontë zu schonen, nachdem sie etwas über Branwell erfahren hatten, das für den beinahe blinden Vater, dessen Gesund170
heit zudem unsicher war, einen tödlichen Schlag bedeuten konnte? Es ist möglich, daß Branwell, allein mit Edmund in Thorp Green und frei von der hemmenden Gegenwart seines Brotgebers, auf irgendeine Art versucht hatte, den Jungen auf Abwege zu führen; keine andere «Handlungsweise … unbeschreiblich schlecht …» schiene «öffentliche Preisgabe» zu begründen und die Aufforderung, «augenblicklich und für immer alle Beziehungen zu sämtlichen Mitgliedern der Familie abzubrechen». Luddenden und die Zeit der «niedrigen Liederlichkeit, der bösartigen und dabei kalten Ausschweifung» waren schon drei Jahre her; welche fieberhafte Erregung, welcher verzweifelte Drang Branwell Brontë, in der Verkleidung seines bösen Geistes Percy, dazu trieb, in Thorp Green oder in der nächsten Umgebung, in Gegenwart eines Zeugen, die Herrschaft über sich zu verlieren, so war er dagegen ebenso hilflos wie jedes andere Geschöpf, das die Beute einer schweren Neurose ist. Sein Zustand muß so gewesen sein, daß die Notwendigkeit zu vergessen an erster Stelle kam. Percy hatte eine Handlung begangen, die Branwell verurteilen würde, darum mußte die Handlung ausgetilgt werden; doch das Gefühl, das die Handlung überstürzte, mußte in ein Gefühl umgewandelt werden, das Branwell sich selber verzeihen konnte. Was anderes konnte er also tun, da er aus seiner Betäubung erwachte und Charlottes anklagende Augen vor sich sah, als eine Geschichte seiner Liebe für Mrs. Robinson hervorstottern? Gewiß, dachte er, so ein Bekenntnis würde verstanden werden, und als er es in seinem Geist hin und her wendete, wurde es zur Wahrheit und gab dem Zorn seines Brotgebers Sinn und Grund. Anne, deren Ursache für die Aufgabe ihrer Stelle bei Robinsons nie entdeckt wurde, konnte das Benehmen ihres Bruders zwar nicht verzeihen, täte aber wohl ihr Möglichstes, um es zu entschuldigen. Der Gegensatz in der 171
Haltung zwischen Emily und Anne zeigte sich in den Geburtstagsnotizen, die am 31. Juli niedergeschrieben wurden. Anne sagte, als sie von der vier Jahre vorher, 1841, niedergeschriebenen Notiz sprach: «Ich war damals in Thorp Green, und jetzt bin ich dem gerade nur entronnen. Ich wollte es damals verlassen, und wenn ich gewußt hätte, daß ich noch vier Jahre länger bleiben sollte, wie unglücklich wäre ich da gewesen; doch während meines Aufenthalts hatte ich einige sehr unangenehme und unerträumte Erfahrungen mit der menschlichen Natur … Branwell hat Luddenden Foot verlassen, war Hauslehrer in Thorp Green und hatte viele Widerwärtigkeiten und Krankheiten zu erdulden. Donnerstag war er sehr krank, aber er fuhr mit John Brown nach Liverpool, wo er vermutlich derzeit ist; und wir hoffen, daß es ihm besser gehn und er sich in Zukunft besser halten wird.» Sie schloß ihre Notiz mit dem Zugeständnis: «Ich, meinesteils, könnte nicht niedergeschlagener sein und mich älter fühlen, als mir jetzt zumute ist.» Die «unerträumten Erfahrungen mit der menschlichen Natur» sind dahin ausgelegt worden, daß Anne die stumme Zeugin einer Liebesgeschichte zwischen ihrem Bruder und der Frau seines Brotgebers gewesen war. Die Worte passen wohl, und doch … noch immer fehlen in dieser Beweiskette Glieder; daß Anne vier Jahre in Thorp Green geblieben ist, bedarf noch eines anderen Grundes als die Sorge um ihren Bruder. Emilys Geburtstagsnotiz spielte nur kurz auf Branwells «Widerwärtigkeiten» an: «Wir alle sind bei leidlicher Gesundheit, nur daß Papa mit seinen Augen zu tun hat, und mit der Ausnahme von B., dem es hoffentlich nachher besser gehn und der sich besser halten wird.» Sie fuhr fort: «… lediglich zu wünschen, daß alle sich so behaglich fühlen könnten wie ich selbst und so unverzagt, und dann hätten wir eine sehr erträgliche Welt.» 172
Unerwiderte Leidenschaft war nicht ihr Schicksal gewesen, ebensowenig unerträumte Erfahrungen. Jene, die solche Schmerzen litten, waren unglücklich. Emily meinte offenbar, man habe mit den Ereignissen in Thorp Green zu viel hergemacht. Es war Dienstag, der 29. Juli, als Branwell sich genügend erholt hatte, um mit John Brown nach Liverpool geschickt zu werden. Charlotte schloß ihre Mitteilungen an Ellen Nussey am 31. – dem Tag, da ihre jüngeren Schwestern ihre Geburtstagsnotizen schrieben – mit den Worten: «Schließlich mußten wir ihn für eine Woche mit jemandem, der ihn betreute, fortschicken; er hat mir heute morgen geschrieben und eine gewisse Reue wegen seiner tollen Torheit ausgedrückt; er verspricht, sich nach seiner Rückkehr zu bessern, doch so lange er daheim bleibt, wage ich kaum, auf Frieden im Haus zu hoffen. Wir alle müssen, wie ich fürchte, auf eine Zeit von Not und Unruhe gefaßt sein.» Ellen Nussey, deren ältester Bruder, George, derzeit nach einer Reihe von Zusammenbrüchen in einer Irrenanstalt in York war, wo er auch sterben sollte, war kaum in der Lage, mit tröstlichem Rat zu erwidern. Charlotte sah sich mit einem blinden Vater und einem neurotischen Bruder in der Falle. Kein Wunder, daß sie sich, kaum hatte sie ihren Brief beendet, auf das Sofa im Eßzimmer warf und zu Anne sagte, sie hoffe, eine andere Stelle zu finden, und wünschte, sie könnte nach Paris gehn. Die Atmosphäre im Pfarrhaus an jenem Donnerstagnachmittag trieb Emily dazu, ihre Notiz in der Küche hinzuschreiben. Tabby und Marthe waren bessere Gefährtinnen als eine ihrer Schwestern. Und Branwell, die Ursache allen Ungemachs, der «Widerwärtigkeiten» erlitten hatte, versuchte in Merseyside, dem Schauplatz früherer Lustbarkeit, seine Schande zu vergessen. Doch Bootsleute und Matrosen hat173
ten ihren Reiz eingebüßt, und John Browns rauhem Humor gelang es nicht, ihn zu zerstreuen; und er konnte nicht vergessen, daß jeder, auf den es ihm am meisten ankam, nach Norden schaute und nicht nach der Irischen See. Ein Ausflug mit dem Dampfer nach North Wales mit einer Musikkapelle an Bord – mit welchem Entzücken hätte er früher mit John in den Chor eingestimmt! – steigerte nur seine Schwermut. Nach seiner Rückkehr, Sonntag, den 3. August, schrieb er dem Bildhauer Leyland: «Ich habe während meiner Abwesenheit entdeckt, daß, wohin ich auch ging, eine gewisse Dame in Schwarz, die sich ‚Elend’ nannte, an meiner Seite schritt und sich so zärtlich auf meinen Arm stützte, als wäre sie meine gesetzliche Gattin. Wie manche anderen Ehemänner hätte ich auf ihre Anwesenheit verzichten können.» «Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß ich sehr entzückt sein werde, Sie wiederzusehen», fuhr Branwell in seinem Brief an Leyland fort, der wieder den Auftrag erhalten hatte, eine Gedenktafel für die Kirche von Haworth zu entwerfen, diesmal zur Erinnerung an William Weightman, «wie Gott weiß, habe ich gerade jetzt eine reichlich schwere Last auf meiner Seele und würde mich freuen, eine Stunde mit einem Menschen wie Ihnen zu verbringen, um diese Last wenigstens zeitweilig zu erleichtern.» In jenem August rechnete in Scarborough Mr. Robinson in seinem Ausgabenbuch zusammen: Fünfundsechzig Guineas für einen Aufenthalt von zehn Wochen, fünf Shilling für die Musikkapelle, zehn Pfund für den Metzger, ein Pfund sechs Shilling für Hauswäsche und zwei Pfund für einen Hund, den er am 7. August seiner Frau schenkte. Was den jungen Edmund betraf, nun, um ganz sicher zu sein, daß er in Zukunft nicht der Berührung mit unerwünschten Leuten in oder bei Thorp Green ausgesetzt würde, sollte er in die Hut eines Geistlichen, des Pfarrers 174
Theophilous Williams aus Charlton Mackwell bei Somerton in Somerset, gegeben werden – kurz, so weit wie möglich von Yorkshire entfernt. Fünf Jahre blieb der junge Edmund bei Mr. Williams, bis er achtzehn war, und bei seinem Abschied schrieb sein geistlicher Beschützer, daß «nur wenige junge Leute die kritische Periode des Lebens, in die er geraten war, mit größerer Reinheit und Unschuld durchgemacht haben. Seine moralische Führung war beispielhaft, und daß seine geistigen Errungenschaften um so viel geringer sind, ist mehr sein Unglück als seine Schuld». So hatten also die Stallungen und Scheunen von Thorp Green nicht seinen Niedergang herbeigeführt, noch war Branwell Brontës Einfluß für seinen Charakter verhängnisvoll gewesen. Branwell selbst hatte sich im Verlauf von August und September 1845 genügend von dem Schlag erholt, um sich in sein altes Arbeitszimmer im obern Stockwerk zurückzuziehen und seine Manuskripte mit der Absicht durchzusehen, aus den vielen Bruchstücken einen Roman zu formen. Charlotte berichtete Ellen: «Seine Gesundheit und somit auch seine Stimmung haben sich in diesen letzten ein oder zwei Tagen einigermaßen gebessert, weil er jetzt gezwungen ist, enthaltsam zu leben.» «Ich habe», schrieb Branwell am 10. September an den Bildhauer Leyland, «seit ich Sie zuletzt in Halifax sah, die Stunden, die ich einer richtigen Krankheit stehlen konnte, zu dem Aufbau eines dreibändigen Romans benützt, wovon der erste Band fertig ist, und mit den beiden andern zusammen ist er tatsächlich das Ergebnis von einem halben Dutzend vergangener Jahre, von Gedanken darüber, von Erfahrungen darin, auf diesem krummen Pfad des Lebens. Ich fühlte, daß ich mich zusammenreißen mußte, um, während ich Tag und Nacht an langsamem Feuer brate, 175
etwas zu versuchen, was meine Qualen vertreibt; und ich wußte, daß beim heutigen Zustand der verlegenden und lesenden Welt ein Roman der verkäuflichste Artikel ist, so daß dort, wo zehn Pfund für eine Arbeit angeboten würden, deren Schaffung das äußerste Bemühen eines menschlichen Geistes erforderte, zweihundert Pfund ein verschmähtes Angebot für drei Bände wären, deren Abfassung das Rauchen einer Zigarre und das Summen einer Melodie erforderten. Mein Roman ist das Ergebnis von Jahren Denkarbeit, und wenn er ein lebendiges Bild menschlicher Gefühle im Guten wie im Bösen bietet – verhüllt durch jenen täuschenden Mantel, der Mann und Frau umgeben muß – wenn er so treu wie die Seiten, die in ,Hamlet’ oder ,Lear’ das Menschenherz entblößen, die widerstreitenden Gefühle und die aufeinanderprallenden Bestrebungen auf unserem unsicheren Lebenspfad widerspiegelt, wäre ich ebenso erfreut – und ebenso erstaunt – wie ich es wäre, wenn ich gewettet hätte, ich könnte über den Mersey springen, und über die Irische See gesprungen wäre. Es wäre nicht vergnüglicher, in Dublin zu landen statt in Birkenhead, als von dem heutigen Tiefstand der Romanliteratur auf den festgegründeten Felsen zu springen, den der Fuß eines Smollet oder eines Fielding geehrt hat. Diesen Sprung gedenke ich zu unternehmen, wenn ich einen Nebenbuhler Ihres edlen Theseus modellieren kann, der mich in meinen Träumen verfolgte, als ich schlief, nachdem ich ihn gesehen hatte – unterdessen aber kann ich nur mein Äußerstes tun, um mich aus den beinahe tötenden Sorgen zu erheben, und das allein wird schon ein Lohn sein.» War dieser geplante Roman eine Fortsetzung jener Skizze, die er einige Jahre zuvor Leyland und William Dearden vorgelesen hatte, und in der seine Freunde nachher 176
«Sturmhöhe» erkannten, so hätte Branwell seinen Freund gewiß an diesen Umstand erinnert. Jedenfalls deuten die in seinem Brief gebrauchten Wendungen nicht auf das Leidenschaftsdrama eines Liebesromans. Ein angehender Romanschriftsteller, der Fielding und Smollet nachzuahmen begehrt, würde sich nicht hinsetzen und «Sturmhöhe» schreiben. Möglich ist es, daß Branwell versuchte, auf satirische Art die Lebensgeschichte Alexander Percys zu schreiben, in eine zeitgenössische Umgebung versetzt, der ganzen alten angrischen Historie, ihrer Kriege, ihrer Politik entkleidet, und Percy als Grundbesitzer in Yorkshire darzustellen, der sich in Ausschweifungen aller Art stürzt. Die langen Monologe Percys am Grab seiner toten Frau Mary wären das, was Branwell im Sinn hatte, als er in seinem Brief an den Bildhauer «Hamlet» und «Lear» erwähnte. Während die geräuschvolle Lustigkeit desselben Percy, als Methodistenprediger verkleidet, begleitet von der Bande seiner Kumpane, einen Teil jenes täuschenden Mantels bildete, jener «widerstreitenden Gefühle und aufeinanderprallenden Bestrebungen», die Branwell selbst während seiner Mannesjahre hin und hergerissen hatten. Was auch seine Absichten gewesen sein mögen, der Roman wurde nie beendet; oder war es Branwell selbst, der ihn später in einem Anfall von Verzweiflung «den Flammen im Pfarrhaus vorwarf», damit er dem «Feuer eines Druckers» entginge, was, wie er fürchtete, das Schicksal des Werks wäre. Sein Entschluß, sich abzusondern und zu schreiben, muß durch die schöpferische Energie gefördert worden sein, welche alle drei Schwestern zu jener Zeit entfalteten. Es war im Herbst 1845, als Charlotte ihre berühmte Entdekkung jenes Buchs mit Versen in Emilys Handschrift machte, und die drei Schwestern einigten sich, nach einem gewissen Widerstand Emilys, in Charlottes Worten «eine 177
kleine Auswahl unserer Gedichte zusammenzustellen und sie, wenn möglich, drucken zu lassen. Jeder persönlichen Zurschaustellung abhold, verbargen wir unsere Namen hinter die Namen Currer, Ellis und Acton Bell.» Auch Branwell schrieb in jenem Herbst Verse. Bruder und Schwestern mußten das heftige Verlangen gespürt haben, des Geistes der alten Tage wieder habhaft zu werden, als das Kinder- und Arbeitszimmer ihr Zufluchtsort gewesen war und der Obergenius Brannii der Anreger jedes Plans, jeder Laune. Jetzt war alles anders. Sie schrieben getrennt und allein; Charlotte in ihrem Schlafzimmer, das das Schlafzimmer der Tante gewesen war, Emily im alten Kinderzimmer, das jetzt ihr Zimmer war, Anne im Eßzimmer, Branwell in seinem Arbeitszimmer. Nur Emily war glücklich. Kein Gewässer konnte von außen her in ihre eigene unbesudelte Quelle der Eingebung rieseln. Wenn sie durch ihr Fenster nach Osten blickte, so sah sie die Gruppe der Plejaden an dem nächtlichen Himmel und die Hörner des Stiers; und wie viel auch Charlotte um ihren verlorenen Professor seufzen mochte, wie viel Anne um einen idealisierten Weightman, Branwell um eine erträumte Lydia, sie selber hätte ihren eigenen Trost, der dauerhafter war, als die Tröstungen der andern je sein konnten. Er naht mit westlichen Winden, mit den wandernden Lüften der Nacht, mit dem hellen Dämmern des Himmels, mit der Sterne leuchtendster Pracht. Die Winde wehen versonnen, so zärtlich die Sterne glüh’n, und Bilder kommen und schwinden, und die Sehnsucht rafft mich hin. 178
Danach bleiben die düstere «Penmaenmawr», Branwells Ode an die Waliser Berge, geschrieben in der Erinnerung an den Dampferausflug nach Liverpool, und die noch düsterere Ode «Wahre Ruhe» lieber unzitiert. Phantasie und Laudanum zerstörten schnell, was noch an schöpferischen Kräften in ihm war. Am 24. Oktober begab sich etwas, das alle Gedanken an das Dichten aus Branwells Kopf vertrieb. Anne mochte es erwartet haben, meinte seufzend, das habe einem Menschen zustoßen müssen, der so eigensinnig war und nie Selbstbeherrschung erlernt hatte; für Branwell aber mußte es Möglichkeiten erschlossen haben, von denen zu träumen er nie gewagt hatte. Ein wenig mehr Zureden, ein wenig mehr Wagemut, und die Beute, Mister Robinson vor der Nase weggeschnappt, hätte ihm gehören können. Die neunzehnjährige Lydia Robinson brannte mit dem Schauspieler Henry Roxby aus Scarborough durch und heiratete ihn in Gretna Green.
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XIV
E
rst nach Lydia Robinsons Entführung erklärte Branwell öffentlich, in Briefen an seine Freunde, daß er Lydias Mutter geliebt habe und sie ihn auch. Die Heirat der beiden Durchbrenner wirkte wie eine Fackel auf Zunder, und in seiner Einbildungskraft loderten die Möglichkeiten hoch auf. Zuerst kam das Bedauern, daß er seine eigenen Möglichkeiten verzettelt hatte – was besaß denn dieser Schauspieler, das ihm abgegangen wäre? – und dann die neue Vorstellung, daß, was die Tochter getan hatte, auch die Mutter tun könnte. Die Wirrnis zwischen Mutter und Tochter des selben Namens muß sehr heftig in einem Geist wirksam gewesen sein, der nicht mehr zwischen Illusion und Wirklichkeit zu unterscheiden vermochte. Sein böser Geist Percy besaß ihn jetzt völlig, raubte ihm jede Selbstkontrolle, ließ die Schale Branwells, des Urteilsvermögens entleert und aller Gefühle entblößt, zurück – nicht der große Eroberer Alexander der frühen Angrischen Geschichten, sondern der bejahrte Earl von Northangerland, der Frau, Geliebte und Tochter verloren hatte. Branwell mußte über Entführung und Heirat der Tochter Schweigen bewahrt haben, denn kein Mensch in Haworth wußte davon. Selbst zehn oder mehr Jahre später, als Mrs. Gaskell Material für ihre Biographie Charlottes 180
sammelte, wurde zu ihr kein Wort darüber geredet. Worauf es Branwell im Sommer 1845 einzig und allein ankam, war, die Trauer der Mutter über die Schande der Tochter in Verzweiflung über ihre Trennung von ihm, von Branwell, zu verwandeln. Das war ein Brennstoff, mit dem man das Feuer des Klatschs und Branwells eigenen Wahn nähren konnte. Das war vielleicht die Quelle der Geschichten, die in Haworth umgingen und mit größtem Vergnügen Mrs. Gaskell gegenüber wiederholt wurden, daß nämlich Mrs. Robinson die Flucht mit Branwell vorgeschlagen und sich heimlich mit ihm in Harrogate getroffen habe. Er hatte jetzt keine andere Quelle, aus der er sich nähren konnte, als die dauernde Tragödie seines gebrochenen Herzens. Hier war die letzte Entschuldigung, die gültige Begründung seines Versagens. Wenn das gebrochene Herz geflickt, die Blutung der Wunde gestillt war, wäre er ja nichts gewesen als ein Mann von achtundzwanzig, der die besten Jahre seines Lebens vergeudet hatte. Francis Grundy war es, den er zuerst zum Vertrauten seines Geständnisses machte; und obgleich der Brief, als Grundy ihn drucken ließ, kein Datum trug, so ergibt sich doch aus verschiedenen Beweisen, daß er im Oktober geschrieben worden zu sein scheint. Grundys «Bilder der Vergangenheit», im Jahre 1879 veröffentlicht, als Mrs. Robinson, die spätere Lady Scott, bereits seit zwanzig Jahren tot war, ist ihren Nachkommen wahrscheinlich nie bekannt geworden; andernfalls hätten sie den beleidigenden und seither so oft angeführten Brief bestritten und seine Behauptungen in Abrede gestellt. Mrs. Gaskell, die, in ihrer im März 1857 zum ersten Mal veröffentlichten Biographie Charlottes, Mrs. Robinson als Branwells «Geliebte» bezeichnete und «schuldhafter Annäherung» bezichtigte, wurde von Mrs. Robinsons Anwalt mit einer Verleumdungsklage bedroht und mußte durch ihre eigenen 181
Anwälte eine öffentliche Abbitte leisten, die in der «Times» erschienen ist. Der Drucker Leyland, der den Vorfall berichtete, als er im Jahre 1886 selber ein Buch über die Familie Brontë veröffentlichte, schrieb, daß «die Empörung der gekränkten Dame keine Grenzen kannte, und nur auf den dringendsten Wunsch ihrer Freunde ließ sie sich davon abraten, die Sache vor Gericht zu bringen. Er erklärte auch, ein Herr, mit dem er gesprochen hatte, und «der die Dame persönlich kannte, habe guten Grund, die Geschichten für durchaus unglaubhaft zu halten, die sich auf diese Dame bezögen». Bestimmt war es Francis Leylands eigene Meinung, daß die Affäre «keinen andern Ursprung hatte als in Branwells überhitzter Einbildung», und sein Bruder, der Bildhauer, hatte nie daran geglaubt. «Eine Zeitlang konnte Branwell von nichts anderem sprechen als von der Dame, mit der er verbunden war», schrieb Francis Leyland. «Diese Dame, so sagte er, liebe ihn bis zum Wahnsinn. Sie sei in einem Zustand unvorstellbaren Jammers über seinen Verlust gewesen. Ihr grausamer, brutaler, gefühlloser Mann habe sie mit seinem schlimmsten Zorn und mit der Beraubung jeglichen Trostes bedroht. Branwell teilte einem Freund in einem Brief mit, daß die arme Dame sich, dieser Verfolgung wegen, ‚unter seinen Schutz gestellt’ habe, und viele andere ebenso unbegründete, überspannte, unmögliche Geschichten wurden umhergeboten. Mit einem Wort, er ging von einem Freund zum andern und erzählte jedem im strengsten Vertrauen alle Leiden, die er zu erdulden hatte, und malte in düstersten Farben das Elend, das die Dame seines Herzens zu erleiden gezwungen worden war.» Das ist der Brief, den Branwell im Herbst 1845 an Grundy schrieb: «Ich fürchte, daß du diesen Brief verbrennen wirst, sobald du die Handschrift erkennst; liest du ihn aber durch, 182
so wirst du vielleicht den Seelenzustand, der meine Botschaft nach einem Schweigen von fast drei – für mich – ereignisreichen Jahren veranlaßt, eher bemitleiden als verachten. Während ich sehr krank und an mein Zimmer gebunden war, schrieb ich dir vor zwei Monaten, als ich hörte, du seist bei der Skipton-Eisenbahn angestellt, an das Hotel in Skipton. Ich erhielt nie eine Antwort, und da mein Brief nur um einen Tag deiner Gesellschaft bat, um einen sehr erschöpften Geist in der Gesellschaft eines Freundes zu erleichtern, der immer das besessen hatte, was ich immer, jetzt aber am meisten brauchte – Frohsinn. Ich bin überzeugt, daß du meinen Brief nie erhalten hast, sonst hätte dein Herz eine Antwort erzwungen. Seit ich dir vor zwei Sommern in Halifax die Hand geschüttelt habe, ist mein Leben, bis in die letzte Zeit, anscheinend glücklich und zufrieden verlaufen. Du wirst fragen: ,Warum beklagt er sich also?’ Ich kann dir nur damit antworten, daß ich dir die unglückliche Unterströmung aufdecke, die meinen Kahn zu einem Wirbel fortriß, obgleich die Wellen an der Oberfläche mich scheinbar friedlich trugen. In einem im Frühjahr begonnenen und, infolge beständiger Anfälle von Krankheit, nie beendeten Brief unternahm ich es, dir zu erzählen, daß ich Hauslehrer bei Edward Robinson gewesen war, einem reichen Grundbesitzer, dessen Frau eine Schwester der Frau von Mr. Evans, dem Abgeordneten für die Grafschaft North Derbyshire, ist und die Cousine von Lord … Diese Dame bewies mir, obgleich ihr Gatte mich haßte, eine Güte, die eines Tages, als ich über das Benehmen ihres Mannes zutiefst gekränkt war, zu der Erklärung von mehr als gewöhnlichen Gefühlen heranreifte. Meine Bewunderung ihrer geistigen und persönlichen Reize, meine Kenntnis ihrer uneigennützigen Aufrichtigkeit, ihr sanftes Wesen, ihre unermüdliche Sorge um andere, die unbelohnt blieb, wo 183
sie am meisten Lohn verdient hätte … obgleich sie um siebzehn Jahre älter ist als ich, verband sich doch alles, um auch bei mir eine Neigung zu wecken, und führte zu Beziehungen, auf die ich kaum gefaßt gewesen war. Beinahe drei Jahre lang hatte ich täglich ‚gestörte Freude, bald durch Furcht gezüchtigt’. Vor drei Monaten erhielt ich einen wütenden Brief meines Brotgebers, darin er mir drohte, mich zu erschießen, wenn ich von meinen Ferien zurückkäme, die ich daheim verbrachte; und Briefe von der Dienerin der Dame und dem Arzt unterrichteten mich von dem Krach, der nur durch ihren unerschütterlichen Mut und ihren Entschluß gedämpft wurde, daß, was auch immer ihr zustieße, ich von allem verschont bleiben solle … Neun lange Wochen bin ich gelegen, mein Körper völlig erschüttert und mein Geist niedergebrochen. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie frei würde, um sich und alles, was sie besaß, mir zu geben, vermochte nie den Gedanken an ihren Verfall unter ihrem jetzigen Leid zu verscheuchen. Ich befürchtete auch den Zusammenbruch von meinem Geist und Leib, die, weiß Gott, während eines kurzen Lebens hart geprüft worden sind. Elf Nächte hintereinander von schlaflosem Grauen ließen mich beinahe erblinden, und als ich zur Erholung nach Wales gebracht wurde, verursachte mir die liebenswürdige Landschaft, das Meer, der Klang von Musik Anfälle unaussprechlichen Kummers. Du wirst sagen ,Was für ein Narr!’, kenntest du aber die zahlreichen Gründe eines Leids, die ich hier nicht einmal andeuten kann, so würdest du mich vielleicht ebenso sehr bemitleiden wie tadeln. Auf die gütige Aufforderung von Mr. Macaulay und Mr. Baines hin habe ich versucht, meinen Geist so weit aufzurütteln, daß ich etwas schreibe, das wert ist, gelesen zu werden, aber ich kann es wirklich nicht. Du wirst natürlich den Schreiber von all diesem verachten. Ich kann nur 184
erwidern, daß der Schreiber dasselbe tut und nicht zu leben wünschte, hätte er nicht die Hoffnung, daß Arbeit und Veränderung ihn immer noch heilen könnten. Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung für das, was als klägliche Ichsucht wirken muß, wage kaum, an die Tage zu erinnern, in denen ich, in deiner Gesellschaft, manchmal die Gedanken zu begraben vermochte, die mich ,an vergang’ne Tage mahnen’, zu denen ich nie den Rückweg zu finden fürchte, und ich verbleibe usw …» Wenn Francis Grundy, dessen geschwätzige Erinnerungen ihn als unermüdliche Plaudertasche entlarven, den Inhalt von seines Freundes Brief seinen vielen Bekannten unter den Bahnangestellten erzählte, so mußte, durch Wiederholung und Entstellung, daraus geschlossen werden, daß ein unschuldiger junger Mann in die Schlingen einer Dame von schwankender Tugend geraten war. Gleichzeitig deutet der Umstand, daß Branwells ständige Bitten um Wiederanstellung anscheinend nie bis zu den leitenden Stellen vorgedrungen waren, darauf hin, daß der Techniker, an den Branwell diese Bitten richtete, die Schwächen seines Freundes nur zu gut kannte und, bei aller Neigung für ihn, kein Verlangen danach trug, ihn für eine Stelle zu empfehlen. «Ich glaube, daß er halb verrückt war und sich nicht selber im Zaum halten konnte», gab Grundy mit Beziehung auf das Jahr in Luddenden 1841/42 zu. Am 25. November sandte Branwell sein Gedicht «Penmaenmawr» an Joseph Leyland und bat ihn, es dem «Guardian» in Halifax weiterzugeben. «Ich habe keinen andern Weg», schrieb er dem Bildhauer, «der nicht gefahrenträchtig wäre, um mich mit jemandem in Verbindung zu setzen, den ich nicht umhin kann zu lieben. Gedruckte Zeilen mit meiner gewöhnlichen Unterschrift ‚Northangerland’ würden keinen Verdacht erregen 185
– da mein früherer Brotgeber vor der bloßen Idee erschauert, daß ich imstande sein könnte, etwas zu schreiben, und sich einen ganzen Tag lang elend fühlte, als er vernahm, daß Macaulay mir einen schmeichelhaften Brief geschrieben hatte, und so wird er jedenfalls den Namen nicht erkennen. Ich habe auf einem privaten Weg einen Brief mit Tröstungen bei ihren jetzigen großen, schmerzlichen Nöten geschrieben, doch ich habe ihn aus Angst vor den Folgen einer Entdeckung wieder zurückgerufen.» Die «Nöte» waren natürlich Kummer und Angst wegen der Entführung ihrer Tochter, doch der Bildhauer konnte das nicht wissen. Leyland mußte, wie jeder andere, glauben, daß Mrs. Robinson sich vor Gram über Branwells Abwesenheit abhärmte. «Ich leide sehr», schrieb Branwell, «an jener geistigen Erschöpfung, die daher kommt, daß man über Dinge brütet, an die man derzeit gar nicht denken darf, und eine Tätigkeit wäre ein Segen und die beste Kur – denn wirklich, nach Stunden von Gedanken, die eine Beschäftigung zum Schweigen gebracht hätte, war mir zumute, als könnte ich nicht leben, und auf die Dauer wird so ein Zustand eine ununterbrochene Inanspruchnahme des Herzens zur Folge haben, das ohnehin schon durch ein höchst unbehagliches Pochen bedrängt wird. Es wäre mir außerordentlich lieb, eine Stunde mit Ihnen beisammen sitzen zu können, und wenn ich dazu Gelegenheit fände, verspräche ich zu versuchen, nicht allzu düsterer Stimmung zu sein. Sie sagten, Sie würden binnen kurzem in Haworth sein, doch dieses ‚binnen kurzem’ hat sich zweifellos in ‚binnen langem’ verändert, und so muß ich wünschen, einmal nach Halifax zu fahren, um Sie zu sehen.» 186
Der Bildhauer mußte den Kopf über die Verse von «Penmaenmawr» geschüttelt und seufzend an den erregbaren jungen Menschen zurückgedacht haben, der vor wenigen Jahren im Cross Roads Inn einige Seiten ganz anderer Art vorgelesen hatte. Er gab das Gedicht seinem Bruder, dem Drucker, der davon gefesselt war und spürte, «daß die Dame, deren Reiz seine – Branwells – Phantasie verwirrt hatte, ihn mit einem Thema für gramvolle Erinnerungen versorgte». Francis Leyland, selber frisch verheiratet und im Begriff, Katholik zu werden, hatte mehr Mitleid, wenn auch vielleicht weniger Verständnis als der Bildhauer, und er hoffte, nicht nur seinen ungläubigen Bruder, sondern auch seines Bruders irrenden Freund zu bekehren. Es scheint unglaubhaft, daß Branwell und Charlotte, die sich in der Kindheit so nahe waren, in der Jugend so viel Verständnis für einander gehabt hatten, in dieser Zeit nicht auch ihr Leid zu teilen vermochten. Vielleicht taten sie es. Kein noch vorhandener Brief sagt, daß sie es nicht taten. Es gibt einen Beweis dafür, daß Charlotte sich nach ihrem Professor sehnte; aber nur Branwells Briefe an seine Freunde berichten uns, daß seine Leidenschaft für Mrs. Robinson echt war. Weniger als eine Woche, bevor Branwell an seinen Freund, den Bildhauer, von Mrs. Robinsons «großen, schmerzlichen Nöten» geschrieben hatte, sandte Charlotte folgende Botschaft an Monsieur Heger: «Ich habe alles getan; ich habe eine Beschäftigung gesucht; ich habe mir völlig die Freude versagt, von Ihnen zu sprechen – selbst zu Emily. Aber ich bin nicht imstande gewesen, meine Trauer oder meine Ungeduld zu überwinden. Das ist allerdings demütigend – unfähig zu sein, die Herrschaft über seine eigenen Gedanken zu gewinnen, der Sklave einer Trauer, einer Erinnerung zu sein, der Sklave einer fixen, beherrschenden Idee, die über den Verstand siegt. Warum 187
kann ich für Sie nicht ebenso viel Freundschaft empfinden wie Sie für mich – weder mehr noch weniger? Dann wäre ich so ruhig, so frei – ich könnte mühelos zehn Jahre lang Schweigen bewahren.» Bestimmt dachte sie an Branwell, als sie schrieb: «Der Sklave einer fixen, beherrschenden Idee», und die Möglichkeit, daß sie aus dem gleichen Grunde litt und mit ebenso wenig Haltung, war ihr zuwider. «Ihr letzter Brief war Halt und Stütze für mich», schrieb sie ihrem früheren Lehrer, «Nahrung für ein halbes Jahr. Jetzt brauche ich eine andere, und Sie werden sie mir geben; nicht, weil Sie Freundschaft für mich empfinden – viel kann es nicht sein – aber weil Sie eine mitleidige Seele haben und keinen Menschen zu verlängerten Qualen verdammen würden, um sich selber einige Augenblicke Belästigung zu ersparen. Mir zu verbieten, Ihnen zu schreiben, mir eine Antwort zu verweigern, hieße, mich von meiner einzigen Freude auf Erden loszureißen, mich meines letzten Vorrechts zu berauben – eines Vorrechts, auf das ich niemals freiwillig verzichten werde. Glauben Sie mir, mein Meister, wenn Sie mir schreiben, ist es eine gute Tat, die Sie tun. Solange ich daran glaube, daß Sie Gefallen an mir haben, solange ich hoffe, Nachrichten von Ihnen zu erhalten, kann ich ruhig und nicht zu traurig sein. Wenn aber ein längeres, düsteres Schweigen mich mit einer Entfremdung von meinem Meister bedroht – wenn ich Tag um Tag einen Brief erwarte, und wenn Tag um Tag die Enttäuschung kommt, und mich in den überwältigenden Gram schleudert, und wenn das süße Entzücken, Ihre Handschrift zu sehen, Ihren Rat zu lesen, sich mir wie eine eitle Vision entzieht, dann erhebt das Fieber seinen Anspruch auf mich – ich verliere Appetit und Schlaf – ich sieche dahin.» Keine Schwester, die solche Zeilen an einen viel älteren verheirateten Mann schrieb, konnte einen Bruder völlig 188
verdammen, der schwur, daß er von seinem Posten als Hauslehrer entlassen worden war, weil er just solche Gefühle ausgedrückt hatte. Der Brief, den Branwell, wie er Leyland mitteilte, an Mrs. Robinson geschrieben und dann zurückgerufen hatte, mag zur gleichen Zeit geschrieben worden sein, da Charlotte an ihren Professor schrieb, eine gewisse Note von Mitempfinden oder Einfühlung vereinigt Bruder und Schwester in ihrem gemeinsamen Leid, wie sie Jahre zuvor die gleichen Personen in den Angrischen Geschichten erfunden und entwickelt hatten. Denn Monsieur Heger und Lydia Robinson waren in Wirklichkeit jene Personen, in lebende Menschen umgewandelt. Die höllische Welt war für beide, für Branwell und für Charlotte, lebendig geworden, aber ohne das alte Entzükken, den glücklichen Trost. Figuren von Fleisch und Blut konnten, zum Unterschied von Zamorna und Mary Percy, nicht nach Belieben geformt werden, sondern wählten sich ihre Richtung selber. Ellen Nussey gegenüber, die so oft ihre Vertraute war, konnte sich Charlotte, wenn sie auch nichts von Monsieur Heger und dem Manuskript sagte, das sie einrichtete, und das sie «Der Professor» nennen wollte, oder von den Gedichten, die sie sammelte und zu veröffentlichen beabsichtigte, doch immerhin über Branwell beklagen, wenn auch nur, weil ein kranker, verirrter Bruder das Einzige auf der Welt war, was Ellen verstehen würde, da sie ja selber einen Bruder im Hause pflegen mußte und einen zweiten in der Irrenanstalt hatte. «Branwell läßt keine Aussicht auf eine Hoffnung merken – er erklärt, er sei zu krank, um daran zu denken, sich eine Beschäftigung zu suchen – er macht, daß es im Hause nur selten behaglich ist», schreibt sie an Ellen am 23. Januar, 1846, just jenem Tag, da Emily ein Gedicht mit den Zeilen begann: 189
«Nicht eines Feiglings Herz ist mein, es zittert nicht in sturmdurchtobter Welt, ich seh des Himmels lichten Glorienschein, und Glaubens Schein schlägt Ängste aus dem Feld.» Welch gesegnete Erleichterung muß es für Emily gewesen sein, mit ihrem Hund über das Moor zu streifen und die Erinnerung an einen Bruder, wenn auch nur für eine Stunde, zu verdrängen, der in seinem Bett kauerte und an seine Lydia dachte, und an ihre Schwester, die auf dem Sofa im Eßzimmer hockte und sich nach ihrem Professor sehnte. Der März war ein böser Monat, war kalt und grau, und als Charlotte sich zum ersten Mal seit Juli zu einem Besuch bei Ellen Nussey fortstehlen konnte, gelang es Branwell, seinem Vater einen Sovereign zu entlocken. So konnte er sich einen kleinen Vorrat an Gin und Laudanum anlegen. Welch segensreiche Erleichterung von Qual und Elend bot das, welch eine Verdrängung allen Fühlens, und bevor das völlige Vergessen einsetzte, füllten so seltsam schweifende Bilder das Zimmer, die beiden Lydias neben ihm, Mutter und Tochter verschmolzen, und ihre schimmernden Gesichter verwandelten sich in die Gesichter seiner eigenen Mutter, seiner eigenen Schwester, der beiden Marias. «Ungefähr eine Stunde, nachdem ich heimgekommen war, ging ich in das Zimmer, wo Branwell sich aufhielt, um mit ihm zu sprechen», schrieb am 3. März Charlotte an Ellen Nussey. «Es war ein harter Zwang, ihn anzureden. Ich hätte mir den Verdruß sparen können, denn er nahm keine Notiz von mir und antwortete nicht. Er war betäubt. Meine Ängste waren nicht unbegründet gewesen. Emily sagt mir, daß er, während meiner Abwesenheit, einen Sovereign von Papa erhalten hatte, unter dem Vorwand, er müsse eine dringende Schuld bezahlen. Er ging auf der 190
Stelle hin, wechselte den Sovereign in einer Schenke und verwendete das Geld, wie es zu erwarten war. Sie schloß ihren Bericht mit den Worten, er sei ein ‚hoffnungsloses Geschöpf’; und das ist nur zu wahr. In seinem jetzigen Zustand ist es kaum möglich, in dem Zimmer zu bleiben, in dem er ist. Was die Zukunft noch auf Lager hat, weiß ich nicht.» Am selben Tag schrieb sie an die Herren Aylott & Jones und sandte ihnen einen Wechsel über einunddreißig Pfund zehn Shilling, um die Druckkosten der Gedichte von Currer, Ellis und Acton Bell zu decken. Die Erbschaft nach ihrer Tante konnte gut verwendet werden. Welch glückliche Vorsehung, mochte sie gedacht haben, daß nichts davon an Branwell gekommen war – er hätte es nur für Alkohol ausgegeben. Am 28. März ersuchte Charlotte die Verleger, alle Druckbogen und Briefe in Zukunft an Miss Brontë zu schicken und nicht an C. Brontë Esq. – am Tag zuvor sei ein kleiner Irrtum unterlaufen. Hatte Branwell das Paket geöffnet und gesehen, was seine Schwestern trieben? Wenn sie auf ihre Kosten Gedichte drucken lassen wollten, mochten sie doch! Sie konnten es sich ja leisten. Er nicht! Dennoch sollten sie sich nicht für die Einzigen im Haus halten, die dichten konnten. Sechs Tage später schrieb er einen «Brief eines Vaters an ein Kind in seinem Grab»: Interessant an diesem Gedicht sind die Bilder, die von manchen Versen heraufbeschworen werden. «Auf blauem Himmel und auf grünem Wasser», das «Beet von Rosen», der «marmorne Himmel», der «Wanderer», der «würz’ge Brise auf dem Gipfel atmet» – all das sind aufeinander folgende Traumbilder, während das tote Kind nicht allein Branwell selbst ist, der «hingestreckt ruht», sondern auch sein anderes, wanderndes Ich auf den Höhen. 191
Das Gefühl, «außerhalb des Körpers zu sein» und auf das andere Ich hinabzuschauen, ist ein wohlbekanntes Symptom von jener geistigen Störung, die man heute Schizophrenie nennt. Das Einnehmen von Alkohol oder Laudanum mußte unvermeidlich Branwells Anfälligkeit für Bilder steigern, die grauenhaft und schön sein konnten; auf solche Art war er jedem Impuls zugänglich und darum eine mögliche Gefahr für seine Umgebung. Die Geschichten von umgeworfenen Kerzen, brennenden Bettüchern, versteckten Tranchiermessern, später in Haworth an der Tagesordnung und jedem Besucher erzählt, mußten aus dieser Periode stammen, als Branwell, seiner gesteigerten Phantasie und der versagenden Konzentration bewußt, gezwungen war, nach außenhin irgendwie das Drängen des Dämons in ihm vorzuspiegeln. Wenn Emily ihrem Bruder, wie auch ihren Schwestern, Szenen aus «Sturmhöhe» vorlas, die, nach Charlottes Aussage, «den Schlaf bei Nacht vertrieben und den Seelenfrieden bei Tag störten», dann war es sehr möglich, daß er sich mit Hindley Earnshaw eins fühlte. Er mochte alle drei Schwestern in diesen Monaten an ihren Romanen arbeiten gesehen haben. Ihre Arbeitsmethode war ihm bekannt, die Art, wie sie sich daran machten, die unabänderliche Alltagsgewohnheit. War er nicht einst ihr Führer, war er nicht Genius Brannii gewesen? Am 6. April 1846 war es, daß Charlotte abermals an Aylott & Jones schrieb, welche die Gedichte druckten, um sie um Rat wegen eines «literarischen Werks, bestehend aus drei verschiedenen, nicht miteinander zusammenhängenden Erzählungen» zu fragen, das «C. E. und A. Bell für den Druck vorbereiteten». Branwell kannte alle drei «Geschichten». Der erste Teil von Charlottes «Der Professor» war aus ihren Angrischen Geschichten von Alexander Percys Söhnen ausgearbeitet; «Sturmhöhe» war das Ende 192
der Erzählung von Heathcliff, vervollständigt mit der zweiten Generation; und «Agnes Grey», die «Ereignisse in dem Leben einer Einzelnen», mit denen Anne in Thorp Green gekämpft hatte. Er glaubte kaum, daß ein Verleger Geld und Ruf dadurch aufs Spiel setzen würde, daß er Romane oder Gedichte unbekannter Autoren veröffentlichte, wenn die Mädchen aber ihr Glück versuchen wollten, nun, das war ihre Sache. Von ihm würden sie gewiß keine Ermutigung erfahren. Sein eigener Plan war ehrgeiziger. Er wollte eine Dichtung über eine Gestalt aus der Ahnenreihe Leylands schreiben, die schöne Anne Leyland von Morley Hall bei Lancaster, die älteste Tochter des strengen Sir Thomas Leyland. Anne verliebte sich in einen gewissen Edward Tyldesley, ging eines Nachts, trotz Mißbilligung und Zorn ihres Vaters, durch und floh nach dem befestigten Sitz des Geliebten. Um den Leib hatte sie ein Seil geschlungen, dessen Ende sie dem wartenden Geliebten am andern Ufer des Wassers zuwarf, so daß er es ans Ufer ziehen konnte und die Geliebte dazu. Die Geschichte war um so interessanter, als der Herrensitz Morley, obgleich der erzürnte Vater einen Sohn und Erben hatte, durch diese heimliche Eheschließung an die Familie Tyldesley fiel. Die Ähnlichkeit zwischen dieser Erzählung und Lydia Robinsons Flucht ist zu auffallend, um ein bloßer Zufall zu sein. «Du fragst, ob es jetzt bei uns behaglicher ist», schrieb Charlotte am 14. April an Ellen. «Ich wollte, ich könnte etwas Günstiges berichten – wie aber sollen wir uns behaglicher fühlen, solange Branwell im Hause ist und verkommt, statt sich zu bessern? Es wurde ihm vor kurzem zu verstehn gegeben, daß man ihn wieder bei derselben Bahngesellschaft anstellen könnte, wo er schon früher tätig gewesen war, wenn er sich vernünftiger benehmen wollte, doch er weigert sich, irgendeine Anstrengung zu 193
machen, er will nicht arbeiten – und daheim erschöpft er alle unsere Kräfte, ist ein Hindernis für jedes Glück. Doch es hat keinen Zweck zu klagen.» Nein, es hatte keinen Zweck. Und dennoch muß Charlotte sich über sein Benehmen beklagt haben. Kalte Blicke, nörgelnde Worte oder, schlimmer noch, ein versteinertes Schweigen, ein rasches Abbrechen jedes Gesprächs, wenn er zufällig das Eßzimmer betrat, veranlaßten ihn, nach Halifax zu fliehen und sich Leylands Barmherzigkeit anzuvertrauen. Die drei Stunden, die er zu bleiben geplant hatte, dehnten sich zu drei Tagen. Das notdürftige Lager bei dem Bildhauer war immer noch besser als das Hinterzimmer im Pfarrhaus, zumal wenn sein Freund ihm einen Schluck Whisky oder Gin bewilligte, um seinen Geist zu stärken. Der Dankbrief, den Branwell am 28. April an den Bildhauer schrieb, wies darauf hin, daß die Veränderung von Luft und Gesellschaft ihm nur gut getan, ihm neue Tatkraft und Hoffnung verliehen hatte: «Mein lieber Herr, da ich darauf brenne – obgleich mein Dank für Ihre Güte so ist, als gäbe man sechs Pence für einen geliehenen Sovereign zurück – in meinen geplanten Versen über Morley mein Bestes zu tun, benötige ich Antworten auf die folgenden Fragen. 1. Da ich es nicht auf der Landkarte oder im Geographischen Lexikon finden kann – in welchem Bezirk von Lancashire liegt Morley? 2. Hat der Wohnsitz einen besonderen Namen? 3. Kennen Sie den Familiennamen seiner Besitzer, zur Zeit, da sich die Geschichte ereignete, mit der ich mich beschäftigen will? 194
4. Können Sie mir sagen, in welchem Jahrhundert sie sich abgespielt hat? 5. Was, mit wenigen Worten geschildert, war das Wesentliche an den entscheidenden Vorfällen? Wenn ich diese Daten erfahren, will ich mein Bestes tun, aber bei allem, was ich zu schreiben versuche, wünsche ich mich an die Wahrscheinlichkeit und an die charakteristischen Merkmale der Örtlichkeit zu halten. Jetzt, nachdem ich Sie so sehr behelligt habe, zweifle ich nicht, daß Sie die Faust durch die verdammte Plakette in Ihrem Atelier stoßen werden, weil sie doch das Ebenbild eines gründlichen Langweilers ist. Nicht ohne heimliches Lächeln kann ich an meinen Aufenthalt von drei Tagen in Halifax einer Sache wegen denken, die keine drei Stunden in Anspruch zu nehmen gebraucht hätte; doch in Wahrheit, wenn ich wieder auf mich selbst gestellt bin, fühle ich mich so unglücklich, daß ich der Versuchung nicht widerstehen kann, aus mir hinauszugelangen – und aus diesem Grund setze ich die Suche nach Stellungen fort, die für mich passend wären und mir eine Reise ins Ausland erlaubten. Das Haus ist zu ruhig, und meine Familie ist unfähig, die Art meines Leidens zu begreifen. Schwierigkeiten kommen nie allein – und ich habe gewisse kleine Schwierigkeiten auf dem Hals – neben den großen. Literarische Anstrengung wäre anscheinend eine Hilfe, doch die Demütigung, die damit zusammenhängt, die fast völlige Hoffnungslosigkeit, durch die Schranken literarischer Kreise zu brechen, von Verlegern angehört zu werden, macht mich mutlos und gleichgültig; denn ich kann nicht schreiben, was ungelesen in das Feuer einer Bibliothek geworfen würde. Andrerseits habe ich das Material für einen ansehnlichen Band, und wäre ich selber in London, so könnte ich es vielleicht bei Henry Moxton versu195
chen, einem Gönner der Söhne des Reims; obgleich ich sagen muß, daß der arme Mann häufig seine Großzügigkeit beim Veröffentlichen schrecklichen Mists zu bereuen hat. Da ich weiß, daß ich von hier aus ein Manuskript nach London schicken und ihm Lebewohl sagen müßte, halte ich es für töricht, die Flammen des Feuers eines Verlegers zu füttern. So viel von mir selber! Ich lege eine furchtbar schlecht gezeichnete Schmiererei bei, heute morgen gemacht, um die Zeit zu vertreiben. Sie sollte eine sehr rohe Gestalt in Stein darstellen.» Branwell legte die Skizze einer Frau mit gebeugtem Kopf bei, deren Gesicht von dem fallenden Haar verborgen war. Darüber hatte er geschrieben «Unsere Frau vom Kummer» und «Nuestra Señora de la pena». Vielleicht hatten die drei Tage bei Leyland auch religiöse Erörterungen mit sich gebracht, eine Diskussion darüber, ob der Bruder des Bildhauers seine Seele rettete oder verkaufte, wenn er sich im katholischen Glauben unterweisen ließ. Der Bildhauer, bis dahin an der Spitze der Spötter, war durch die Aufrichtigkeit seines Bruders beeindruckt worden, und Branwell entsann sich wohl der gipsernen Madonnen und der tropfenden Kerzen in den Wohnungen der Liverpooler Iren in Luddenden Foot. An ihm selbst aber war jede Rettung verloren. Für ihn war die Lösung, sich von seiner Familie, von Haworth zu befreien, von allem, was ihn an die unmittelbare Vergangenheit erinnerte. Jene «kleinen Schwierigkeiten auf dem Hals – neben den großen» waren zweifellos Schulden, Anleihen, die er in Thorp Green oder Little Ouseburn bei einem Pächter oder einem Angestellten der Familie Robinson oder bei seinen Freunden in Haworth 196
aufgenommen hatte. Und war es in Liverpool, daß er «die Suche nach Stellungen fortsetzte, die ihm eine Reise ins Ausland erlauben würden», wie er das in seinem Brief an Leyland erwähnt hatte? Die einzige Möglichkeit, Gläubigern zu entrinnen, wäre gewesen, das Land zu verlassen. Die einzige Möglichkeit, diesem ganzen Elend des Lebens ein Ende zu machen, war, von neuem zu beginnen. Doch wie? Und wo? Einer Sache war er sicher, und das war die «Hoffnungslosigkeit, durch die Schranken literarischer Kreise zu brechen». Ende Mai 1846 erschien ein kleiner Band Gedichte von Currer, Ellis und Acton Bell, veröffentlicht auf ihre eigenen Kosten, im Verlag von Aylott & Jones, 8 Paternoster Row in London. Im folgenden Jahr wurden genau zwei Exemplare verkauft. Branwell mag von diesem unglückseligen Abenteuer gewußt haben oder nicht. Am Tag der Veröffentlichung wäre es ihm ziemlich gleichgültig gewesen, hätten Aylott & Jones eine Vorbestellung von tausend Exemplaren gemeldet. Denn aus Thorp Green war die Nachricht gekommen, daß Edmund Robinson, sein früherer Brotgeber, am 26. Mai gestorben war.
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dmund Robinson war sechsundvierzig Jahre, als er am 26. Mai starb, und als Todesursache wurde auf dem Schein angegeben «Verdauungsstörungen seit vielen Jahren, Lungenschwindsucht seit drei Monaten». Die Ortszeitung schrieb, Mr. Robinson sei «von den Mitgliedern seiner Gemeinde hoch geachtet» worden, und er sei «gestorben, wie er gelebt hatte, im festen, demütigen Vertrauen auf seinen Erlöser». Daß seine Frau Lydia ihn sehr geliebt hatte, geht deutlich aus den Eintragungen in das kleine Kassabuch während der Monate Mai und Juni hervor. Am 29. Mai notierte sie achtzehn Pfund «an alte Dienstleute bezahlt» und in Klammern: «für meinen Engel». Am 7. Juni empfangen die Armen von Great Ouseburn fünf Pfund in barem Geld und zwei Arme in der Gemeinde Little Ouseburn zehn Pfund. Mr. Lascelles, der Pfarrer von Little Ouseburn, erhielt fünf Pfund für die Abhaltung der Begräbniszeremonie, die sechs Träger, der Küster und der Totengräber weitere sechs Pfund, die Sänger sechs Shilling, und «Joe und Braggs, zu alt, um zu helfen» auch ein Pfund. Am 17. Juni wurde «Taylors Begräbnisrechnung» – zweifellos der Leichenbestatter – mit dreißig Pfund neun Shilling bezahlt, und auf das Löschpapier gegenüber schrieb die Witwe: «Mein Engel Edmund». 198
Hier ist endgültig und für alle Zeiten der Beweis, daß Lydia Robinson ihren Mann geliebt hatte. Edmund Robinson hatte seinen, ursprünglich in den Jahren 1825 und 1831 aufgesetzten Letzten Willen am 2. Januar 1846, weniger als drei Monate, nachdem seine älteste Tochter Lydia durchgebrannt war und geheiratet hatte, und vier Monate vor seinem eigenen Tode, abgeändert. Der Grund für diesen neuen Entwurf war, sicherzustellen, daß diese Tochter und ihr Mann, der Schauspieler, nicht von seinem eigenen Heiratskontrakt Nutzen ziehen sollten, was sie getan hätten, wenn das Testament aus dem Jahre 1831 unverändert geblieben wäre. Nach den Bestimmungen dieses jetzigen Testaments erbten Robinsons gesamtes Geld und seine andern Besitztümer seine Frau, sein Sohn Edmund und seine Töchter Elizabeth und Mary. Seiner Frau wurde die Vormundschaft über die Kinder übertragen. Die Tochter Lydia wurde nicht einmal erwähnt. Noch – im Gegensatz zu der Geschichte, die Branwell in die Welt setzte – fand sich eine Klausel, die Mrs. Robinson im Fall ihrer Wiederverheiratung von der Erbschaft ausschloß. Die Gedenktafel für Edmund Robinson in der Marienkirche in Little Ouseburn trug die Inschrift: «Köstlich in den Augen des Herrn ist der Tod seiner Heiligen. Und ist man endlich in dem Hafen, Wer zählt die Schläge, die uns trafen?» Das war der beispielhafte Charakter des ehrenwerten Mannes, der, nach Branwells Behauptung, gedroht hatte, ihn zu erschießen! Der Totenschein bestätigt, daß er an Verdauungsstörungen gelitten hatte, das aufschlußreiche Kassabuch aber bewahrt der Nachwelt die Kunde auf, daß er auch seiner Frau «Engel Edmund» gewesen war. 199
Ob Branwell die Nachricht vom Tod seines früheren Brotgebers zuerst durch eine Zeitung, durch einen Brief eines der Angestellten in Thorp Green oder durch den Besuch des Robinsonschen Kutschers erfahren hat, läßt sich aus dem nun entfesselten Klatsch von Haworth nicht ermitteln. Jedenfalls kam es unerwartet und war ein beinahe ebenso schwerer Schlag wie seine Entlassung. Der Tratsch in Haworth bei der Nachricht von Robinsons Tod, das Gewäsch, das man Jahre später im «Schwarzen Ochsen» Mrs. Gaskell und anderen wiederholte – daß nämlich Branwell, nach einer Begegnung mit einem von Robinsons Bedienten, in einem Privatzimmer des Gasthauses in einer «Art von Anfall» gefunden worden, daß «der Mann seine Rechnung bezahlt hatte und davongefahren» war – deutet darauf hin, daß die Nachrichten, die der Bediente gebracht haben mochte, einen Anfall von Epilepsie bewirkt hatten, der weder von den Leuten im Wirtshaus noch von Branwells Familie als solcher erkannt worden war. Die Leute außerhalb des Zimmers, berichtete Mrs. Gaskell, «hörten ein Geräusch, wie wenn man ein Kalb absticht». Das entspricht der Schilderung des Schreis eines Epileptikers, jenes Schreis, der nicht durch Schreck oder Schmerz erzeugt wird, sondern durch das krampfhafte Zusammenziehen der Rachenmuskeln. Irgendwie mußte Branwell einen Grund dafür zurechtzimmern, daß er nicht sofort zur Witwe fuhr, um ihr sein Beileid auszusprechen. Seine Familie, seine Freunde, alle erwarteten, er werde sie, nach einer schicklichen Trauerzeit, heiraten. Hatte er denn nicht jedermann erzählt, seine Liebe zu Mrs. Robinson sei erwidert worden? Er mußte, um welchen Preis auch immer, an seiner Geschichte festhalten. Francis Grundy war einer der Ersten, welche die Geschichte hörten. Branwell war um diese Zeit auf der Suche nach einer Stellung, und das zeigt, daß er noch immer entschlossen war, irgendeine Art von Tätigkeit zu finden. 200
Unglücklicherweise ließ er, obgleich der Techniker diese Bitte erwähnt, nur einen Teil von Branwells Brief drucken und strich den Anfang, darin die Bitte um eine Beschäftigung enthalten war: «Der Herr, bei dem ich gewesen war, ist tot. Sein Besitz wird für die Familie verwaltet, vorausgesetzt, daß ich die Witwe nicht sehe; und wenn ich es tue, so fällt er an die Verwalter, wodurch sie zugrunde gerichtet würde. Sie ist jetzt ganz außer sich vor Gram und Leid; und die Schilderung ihrer Lage, wie ich sie von dem Kutscher erfahren habe, der mich in Haworth aufsuchte, erfüllt mich mit unaussprechlichem Kummer. Ihr Geist ist an der Grenze des Wahnsinns, und mein eigener ist so erschöpft, daß ich wünschte, ich wäre in meinem Grab.» Leyland, der Bildhauer, empfing einen längeren Brief: «Mein lieber Herr, ich hätte Ihnen ‚Morley Hall’ bereits senden sollen, aber derzeit bin ich unfähig, es zu beenden, und das eines Schmerzes wegen, dem das Grab bei weitem vorzuziehen wäre. Mr. Robinson von Thorp Green ist tot, und er hat seine Witwe in einem furchtbaren Gesundheitszustand hinterlassen. Sie hat gestern den Kutscher zu mir herübergeschickt, und die Schilderung, die er mir von ihren Leiden gab, genügte, um mir das Herz zu sprengen. Durch das Testament ist sie ganz machtlos zurückgeblieben, und ihre älteste Tochter, die eine unvorsichtige Heirat geschlossen hat, ist enterbt und ohne einen Shilling. Die Erbschaftsverwalter hassen mich, und einer von ihnen erklärt, wenn er mich sehe, werde er mich niederschießen. Um diese Dinge sorge ich mich nicht, aber ich sorge mich um das Leben eines Menschen, der mehr leidet als 201
ich. Ihr Kutscher sagte, es sei ein Jammer, sie zu sehen, denn sie sei nur imstande, in bittern Tränen und Gebeten in ihrem Schlafzimmer zu knien. Sie hat sich mit seiner Pflege erschöpft, und sein Verhalten in den wenigen Tagen vor seinem Tod war außerordentlich mild und reuig, doch das hat ihr Unglück nur verdoppelt. Ihr Gewissen hat dazu beigetragen, ihre Qual zu steigern, und vor diesem Elend bin ich gerettet. Sie, obgleich nicht viel älter als ich, haben das Leben gekannt. Ich kenne es jetzt, und wie kenne ich es, denn vier Nächte habe ich nicht geschlafen, drei Tage keine Speise gekostet, und wenn ich an den Zustand der Frau denke, die ich auf Erden am innigsten liebe, so könnte ich wünschen, mein Kopf wäre so kalt und blöde wie die Plakette, die in Ihrem Atelier liegt. Ich schreibe sehr egoistisch, das kommt aber daher, daß mein Geist mit einer Reihe von Gedanken erfüllt ist und ich mich nach einem Wort eines Freundes sehne. Was ich tun soll, weiß ich nicht – ich bin zu zäh, um zu sterben, und zu unglücklich, um zu leben. Mein Unglück hat nichts mit Luftschlössern zu schaffen, sondern mit harten Wirklichkeiten; meine Zähigkeit liegt in meiner körperlichen Kraft. Aber, lieber Herr, mein Geist erschaut nur eine öde Zukunft, in die ich ebenso wenig einzutreten wünsche, wie ein Märtyrer wünschen könnte, auf den Scheiterhaufen gebunden zu werden. Ich vertraue aufrichtig darauf, daß es Ihnen gut geht, und hoffe, daß dieses unglückselige Gekritzel mich nicht als wertlosen Narren oder als gründlichen Langweiler erscheinen läßt. Ich verbleibe Ihr höchst aufrichtiger P. B. Brontë» 202
Ein anderer undatierter Brief folgte rasch im Kielwasser des ersten: «Nun, mein lieber Herr, habe ich schließlich den endgültigen Streich erhalten – und ich fühle mich durch den Schlag zu Marmor betäubt. Ich habe diesen Morgen einen langen, gütigen und ehrlichen Brief von dem Arzt empfangen, der Mr. R. in dessen letzter Krankheit behandelt und der seither eine Unterredung mit jemandem gehabt hat, den ich nicht vergessen kann. Er kennt mich gut, und er hat das aufrichtigste Mitleid mit meinem Fall, denn er erklärt, daß er, obgleich an das rauhe Auf und Ab dieser beschwerlichen Welt gewöhnt, Tränen vergossen hat, als er den Zustand der Dame feststellte und wußte, was ich fühlen müßte. Als er meinen Namen erwähnte, starrte sie ihn an und wurde ohnmächtig. Als sie sich erholte, verweilte sie wiederum bei ihrer unauslöschlichen Liebe für mich, ihrem Grauen davor, daß sie die Erste war, die mich getäuscht und unglücklich gemacht, ihrem Schmerz darüber, daß sie die Schuld an dem Tode ihres Mannes gewesen war, der in seinen letzten Stunden sein Verhalten ihr gegenüber bitter bereut hat. Ihr empfindsamer Geist war völlig gebrochen. Sie kam darauf zu sprechen, daß sie in ein Kloster eintreten wolle; und der Doktor benimmt mir jede Hoffnung auf eine Zukunft. Es ist hart für mich, lieber Herr; ich würde es tragen – doch meine Gesundheit ist so schlecht, daß es scheint, als könnte der Körper den geistigen Schlag nicht aushalten. An Besitz war mir nie gelegen. Mir lag nur an ihr – und so wird es immer bleiben. Gott möge sie segnen, aber ich wünschte, ich hätte sie nie kennen gelernt! 203
Ich habe den Appetit verloren; meine Nächte sind schrecklich, und da ich nichts zu tun habe, verweile ich bei den vergangenen Bildern – bei ihr selbst, ihrer Stimme, ihren Gedanken, bis ich froh wäre, wenn Gott mich nähme. In der nächsten Welt könnte es mir nicht schlimmer gehn, als es mir in dieser geht. Ich bin kein Jammerer, lieber Herr, wenn aber ein junger Mann wie ich seine Seele an ein aller Liebe würdiges Wesen geheftet – und es ihm Jahre hindurch alle Liebe gegeben hat, dann verzeihen Sie, wenn er einen Freund mit einem Elend langweilt, das nur ein schwarzes Ende haben kann. Ich war auf eine Abänderung des Testaments durchaus gefaßt und auf Schwierigkeiten, die mir von mächtigen und reichen Männern in den Weg gelegt werden, doch ich erwartete kaum den hoffnungslosen Zusammenbruch der Seele, die ich noch mehr geliebt habe als den Leib. Verzeihen Sie meine Ichsucht und seien Sie überzeugt, lieber Herr, daß ich verbleibe Ihr P. B. Brontë» Die «Abänderung des Testaments» war jetzt sein Alibi, und die «Erbschaftsverwalter» waren in der Lage, den Platz Robinsons einzunehmen und die mächtigen Gegner darzustellen, die seine Dame völlig in ihrer Gewalt hielten. Auf diese Art bewahrte er das Gesicht nicht nur vor seinen Freunden, sondern auch in den eigenen Augen. Erstaunlich war nur, daß seine Familie ihm glaubte. «Der Tod Mr. Robinsons, der vor drei Wochen oder einem Monat eintrat», schrieb Charlotte am 17. Juni an Ellen Nussey, «diente Branwell als Vorwand, alles rund um sich in Wirrwarr und Unordnung zu versetzen. Kurz darauf traf aus allen Quellen die Nachricht ein, daß 204
Mr. Robinson vor seinem Tode sein Testament abgeändert und wirksam jede Möglichkeit einer Heirat zwischen seiner Witwe und Branwell verhindert hat, indem er festlegte, daß sie keinen Shilling haben sollte, wenn sie wagte, irgendeine Verbindung mit ihm wiederaufzunehmen. Daraufhin wurde er natürlich unerträglich. Er läßt Papa weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe und entlockt ihm beständig Geld, manchmal mit der Drohung, er werde sich töten, wenn es ihm vorenthalten würde. Er sagt, Mrs. Robinson sei jetzt von Sinnen; ihr Geist sei ein völliges Wrack infolge der Vorwürfe, die sie sich ihres Verhaltens Mr. Robinson gegenüber macht – dessen Ende anscheinend durch seelisches Unglück beschleunigt wurde – und infolge des Kummers über seinen Verlust. Ich weiß nicht, wie viel von dem, was er sagt, man glauben kann, aber ich fürchte, daß sie sehr krank ist. Branwell erklärt, er könne weder, noch wolle er etwas für sich tun, gute Stellen seien ihm mehr als einmal angeboten worden, für die er sich binnen vierzehn Tagen vielleicht als geeignet erwiesen hätte, doch er will nichts tun als trinken und uns alle unglücklich machen.» Branwell trank, das ist außer Frage, aber er fuhr fort, Francis Grundy um eine Stelle zu bitten, was er vielleicht seiner Schwester nicht sagte. Er wiederholte auch die Geschichte von Mrs. Robinsons Krankheit: «Seit ich Mr. George Gooch sprach, habe ich sehr unter der Schilderung der verfallenden Gesundheit jener gelitten, die ich auf dieser Welt am meisten liebe, und die, durch meine Schuld, einen Kummer leidet, den sie ganz bestimmt nie verdient hat. Mein Vater ist jetzt auch völlig erblindet, und aus diesen Gründen ist literarisches Streben zu etwas geworden, dem nachzugehn ich nicht den Mut habe. Wenn ich Sie sehen könnte, wäre es eine aufrichtige Freude, aber …» 205
Inmitten von all dem hatte Currer Bell, alias Charlotte Brontë, von dem Mißerfolg der Gedichte nicht abgeschreckt, am 4. Juli an einen andern Verleger, Mr. Henry Colburn, geschrieben und ihn gefragt, ob sie ihm die vollständigen Manuskripte von «Der Professor», «Sturmhöhe» und «Agnes Grey» schicken dürfe. Diese drei Romane, welche die drei Schwestern während des Winters und des Frühjahrs «für den Druck vorbereitet» hatten, traten nun die Rundreise von einem Verlag zum andern an. Irgendeinmal mußte Branwell die Rückkehr der verschmähten Sendungen gesehen haben, und das mochte ihn in seiner festen Überzeugung bestärken, daß es für einen unbekannten Autor hoffnungslos war, in die literarische Welt eindringen zu wollen. Er hoffte, eine Einladung Grundys für den 31. Juli zu erhalten, doch die Entfernung von siebzehn Meilen mußte wohl zu viel für ihn gewesen sein, denn er fuhr nie hin, und kurz darauf kam statt dessen Grundy nach Haworth herüber. Grundys Zeitbegriffe sind außerordentlich unbestimmt. In seinen «Bildern der Vergangenheit», die dreißig Jahre später veröffentlicht wurden, verlegte er sämtliche Ereignisse von 1846 in das Jahr 1848. Der Inhalt von Branwells Briefen beweist jedoch, daß sie 1846 geschrieben wurden, und deutet darauf hin, daß dieser besondere Besuch in Haworth wahrscheinlich im August stattfand. Grundy war entsetzt darüber, wie niedergeschlagen und zerrüttet Branwell wirkte. «Doch noch immer sehnte er sich nach einem Posten, um die Erregung eines Wechsels zu spüren; natürlich zwecklos. Ich hörte jetzt seine schmerzliche Geschichte von seinen eigenen Lippen – sein Glück, sein Elend und das traurige Ereignis, welches das Ende bedeutete. Er war jämmerlich dran.» War es tatsächlich im August, daß Grundy Branwell besuchte, dann waren sehr wahrscheinlich Charlotte und ihr 206
Vater schon nach Manchester abgereist, wo Mr. Brontë sich einer Staroperation unterziehen sollte. Branwell, immer ungehemmter in den Tagen, da Charlotte, einst seine unzertrennliche Gefährtin, aus dem Weg war, mochte Grundy ins Pfarrhaus eingeladen haben. «Patrick Brontë erklärte mir», sagte Grundy im Jahr 1879, «und was seine Schwester sagte, bestärkte den Eindruck, daß er selber einen großen Teil von ‚Sturmhöhe’ geschrieben hatte.» Diese Feststellung, von den Kritikern seinerzeit ebenso niedergeschrien wie William Deardes Mitteilungen etwa zwölf Jahre vorher, konnte den einfachst möglichen Ursprung haben. Branwell mochte in Gegenwart von Emily oder Anne seinen Freunden erzählt haben, daß alle vier Mitglieder der Familie zu verschiedenen Zeiten an Erzählungen zusammengearbeitet hatten. So eine gleichgültig hingeworfene Bemerkung mag sich im Unterbewußtsein Grundys festgesetzt haben, und als er «Sturmhöhe» las, brachte er die Geschichte von den «seltsamen Phantasien eines krankhaften Genies» aus den Tagen von Luddenden Foot sogleich in Zusammenhang mit der Bemerkung Branwells über die frühere gemeinsame Arbeit. Charlotte und Mr. Brontë waren einen Monat in Manchester, und die Operation verlief erfolgreich. Während ihrer Abwesenheit verursachte Branwell keinerlei Störungen. Es mag wohl sein, daß die beiden Mitglieder der Familie, die immer die höchsten Hoffnungen auf seinen Erfolg gesetzt hatten, just die Menschen waren, deren Anwesenheit er am wenigsten ertragen konnte. Er hatte den Vater enttäuscht, der ihn beinahe vergöttert hatte, und er hatte die Schwester enttäuscht, die die liebste Gefährtin seiner Knabenzeit gewesen war. Sie beide waren es, deren unausgesprochene Vorwürfe und müde Seufzer am meisten an seinem Gewissen genagt hatten. Anne war doch wenig207
stens ein Bindeglied mit Thorp Green, und Emily … Emily zeigte weder Mitgefühl, noch verurteilte sie ihn; sie hatte den außerordentlichen Takt, ihn in Ruhe zu lassen. John Brown blieb so zuverlässig wie immer, und wenn die Atmosphäre im Pfarrhaus zu unerträglich wurde, konnte Branwell immer zu John gehen und war eines freundlichen Willkomms gewiß, übrigens auch zu William; weder Mary, Johns Frau, noch Anne, Williams Frau, musterten ihn mit jenen Blicken, denen er daheim begegnete. Dennoch gehörte die Freimaurerei der Vergangenheit an. Nie nahm er jetzt an einer Zusammenkunft teil. Manchmal mag er sich an die Gelübde der Einweihung und an die verschiedenen Zeremonien erinnert haben, und daran, welch furchtbare Strafen des Verräters harrten. Es war leicht, im Rückblick darüber zu lachen, was aber, wenn all das Elend seines Lebens durch eine Art Verrat über ihn gekommen wäre? Er konnte sich nicht entsinnen, ob er je irgendwem die Geheimnisse der Freimaurerei verraten hatte. Doch die Möglichkeit, daß er es im Rausch getan hatte, und daß eines Tages der Teufel selbst ihn holen werde, war in Stunden der Spannung nicht die geringste seiner Ängste. Der Erfolg der Operation seines Vaters beruhigte Branwells Gewissen für einige Zeit. Der Anblick des fast erblindeten Mannes, der so geduldig im Wohnzimmer saß und um den die Mädchen, insbesondere Charlotte, Sorge trugen, hatte die eigene Bitterkeit nur gesteigert; jetzt aber, da der Pfarrer sein Sehvermögen wiedererlangt hatte und wohl imstande war, binnen kurzem seinen Pflichten nachzugehn, war eine Angst behoben – die Furcht vor dem Tod des Vaters oder vor dessen völliger Erblindung lauerte gewissermaßen vor seiner eigenen Türe, nicht der Vorwürfe seiner Schwestern wegen, sondern um seines eigenen Gewissens willen. 208
Sein Freund Leyland, wie gewöhnlich mit Arbeit überhäuft, hatte etwas davon an John Brown abgegeben, und anfangs Oktober fühlte sich Branwell wohl genug, um in dieser Angelegenheit als Vermittler zu wirken. «Mein lieber Herr, Mr. John Brown bittet mich, Ihnen mitzuteilen, daß er oder sein Bruder, wenn Sie ihm postwendend die Art der geplanten Arbeit und die Zeit, die ihre Ausführung wahrscheinlich in Anspruch nehmen wird, bekannt geben können, Sie anfangs nächster Woche aufsuchen wird. Er hat die Beantwortung Ihrer Botschaft nur verschoben wegen seiner unvermeidlichen Pilgerfahrt von ‚Rochdale am Rhein’ nach dem ‚Lande Hams’ und von dort nach der Gehenna, nach Tophet, Golgatha, Erebus, dem Styx und nach dem Ort, den er jetzt bewohnt, genannt Tartarus, wo er zusammen mit Sisyphus, Tantalus, Theseus und Ixion Kost und Quartier erhält. Immerhin hoffe ich, daß er, wenn er sie trifft, sich der Gesellschaft von Moses, Elias und den zwölf Propheten anschließen wird, die ‚Psalmen singend auf einer nassen Wolke sitzen’, wie einer meiner Bekannten die Beschäftigung der Seligen schildert.» Warum Tophet, das in der Sprache der Freimaurer «Verständnis bedürfend» heißt, und Golgatha, die «Ausdehnung der fünf Sinne durch den menschlichen Schädel, insbesondere in der Stirn», sich mit Erebus vereinigen sollten, einem der Götter des Hades, einem Sohn des Chaos, und Tartarus, einem Gebiet in der Hölle, wohin nur die allerschlimmsten Sünder geschickt wurden, das dürfte wohl nur Branwell und vielleicht Leyland verstanden haben. Zweifellos hätte John Brown über die Anspielung ebenso gelacht wie über die Skizze von ihm, das Glas in der 209
Hand, vor fliegenden Tischen, die den Kopf des Briefpapiers schmückte. «Ist die Plakette, die Thorwaldsen von Augustus Caesar anfertigte, gesprungen?» Hier zeichnete Branwell seinen eigenen Kopf auf eine Münze mit dem Namen des Kaisers rundherum. Thorwaldsen, der dänische Bildhauer, der zwei Jahre vorher gestorben war, sollte wahrscheinlich zeitweilig ein Spitzname Leylands sein. «Ich wünschte, ich könnte Sie sehen, und da der Markt in Haworth am übernächsten Montag abgehalten wird, wäre Ihre Anwesenheit eine Freude für einen Gefallenen.» Hier stellte er sich selbst dar, wie er kopfüber in einen Golf taucht. «In meinem eigenen Register von Transaktionen während meiner Nächte und Tage finde ich nichts, was einer Erwähnung für Ihren Gebrauch würdig wäre. Alles ist bei mir noch Wolken und Dunkel. Hoffentlich haben Sie wenigstens blauen Himmel und Sonnenschein. Ständige und unabwendbare Bedrückung von Seele und Leib halten mich traurig in Banden, sodaß ich nicht einmal versuchen kann, irgendeine geistige Anstrengung fortzusetzen, die mich vor dem Schicksal eines trockenen Toasts erretten könnte, das sechs Stunden in einem Glas kalten Wassers aufgeweicht wird und der zimperlichen Katze einer alten Jungfer verabreicht werden soll. Gibt es wirklich etwas wie den Risus Sardonicus – das sardonische Lachen? Hat je ein Mann an dem Morgen gelacht, da er gehängt werden sollte?» Die Skizze eines Galgens und eine Hand, die einem lächelnden John Brown einen Strick hinhält, beschließt den Brief. Daß das Opfer sein Freund, der Küster, und nicht er selbst ist, deutet darauf hin, daß der Grund für John 210
Browns Abwesenheit nicht bloß eine Runde durch die Schenken war, sondern eine maurerische Einweihungszeremonie, vielleicht um den Grad des «königlichen Erzmaurers» zu erlangen. John Brown würde, als Kandidat, mit einem Strick vorbereitet werden – nicht um den Hals, sondern um den Leib; der Galgen aber wäre Branwells eigener spöttischer Gruß zu diesem Anlaß. Von dem Epos «Morley Hall» besteht nach «acht Monaten Schwangerschaft» nur ein einziges Stück, das ein Fragment der Einleitung darstellt und noch keinen Hinweis auf die Liebesgeschichte enthält. Die lahmen Reimpaare, die Branwell in Gott weiß wie vielen Stunden zusammengehämmert hat, waren lediglich ein Widerhall seiner eigenen müden Gedanken. Er sandte Leyland einige Dutzend Verse, und dann bricht die Dichtung jäh ab – und nicht zu früh, muß Leyland wohl gedacht haben, als er dieses Muster dessen, was noch kommen sollte, las. Nichts konnte deutlicher den katastrophalen Niedergang von Vorstellungskraft und Gedanken zeigen als diese armseligen Verse aus Branwells Feder. Verglichen mit den wenige Jahre zuvor entstandenen Sonetten und der Flüssigkeit des Ausdrucks, die er beim Übersetzen der Oden des Horaz aufbrachte, war «Morley Hall» viertklassiges Zeug, ein dilettantenhaftes Bemühen, das ebenso gut einem von Branwells Bekannten bei der Eisenbahn in Luddenden Foot entstammen konnte. * Nicht daß es der erhabensten Dichterin der Familie, Emily, viel besser ergangen wäre als dem Bruder. Ihr Meisterwerk «Nicht eines Feiglings Herz ist mein» war im Januar desselben Jahrs geschrieben worden, des Jahres 1846. Da211
nach Schweigen bis zum 14. September, da sie eine frühere Ballade zu überarbeiten begann, und die Verse waren gewiß schwungvoller als die ihres Bruders, und doch fehlte es ihnen an dem Feuer, an der Visionskraft ihres früheren Werkes. Vielleicht hatte der Mißerfolg der veröffentlichten Gedichte sie enttäuscht, oder sie hatte sich bei der Arbeit an «Sturmhöhe» ausgegeben, dem Werk, das noch immer die traurige Runde bei den Verlagen machte. Die Ballade war, wie «Morley Hall», nie beendet worden; ja, man hat nie mehr ein späteres Gedicht von ihr gefunden, mit Ausnahme einer überarbeiteten Fassung dieses selben Gedichtes, datiert vom 13. Mai 1848. Eine Erklärung für Emilys Verstummen hat es nie gegeben. Anne, mit weniger Talent, schrieb beständig und gut, und im Frühsommer des Jahres 1848 erschien ihr zweiter Roman, «Die Pächterin von Wildfell Hall». Man hat die Meinung geäußert, Emily habe tatsächlich noch weitere Gedichte und noch einen Roman geschrieben, doch vor ihrem Tod aus irgendeinem Grund vernichtet. Wenn es sich so verhielt, warum hatte sie dann nicht alle ihren früheren unveröffentlichten Gedichte und Fragmente vernichtet? Warum hatte sie der Nachwelt überhaupt etwas hinterlassen? Vielleicht überkam sie, als sie die Gedichte gedruckt und erfolglos sah, ein seltsamer Widerwille gegen die gesamte schriftstellerische Tätigkeit, eine Abneigung, je wieder, sei es auch unter einem Pseudonym, die Maske zu lüften. Charlotte, unter dem innern Drang, einen Ausdruck zu suchen – und schon in Manchester hatte sie eifrigst an «Jane Eyre» gearbeitet – und Anne, gleichfalls durch ein gewisses Pflichtgefühl getrieben, die Gesellschaft zu schildern, wurden dadurch angeregt, daß sie die Namen Currer und Acton Bell gedruckt sahen. Nicht so Elli. Die zynische Unterströmung ihrer Natur, zum ersten Mal in den franzö212
sischen Aufsätzen wahrnehmbar, die sie in Brüssel geschrieben hatte, trat jetzt an die Oberfläche; nicht nur waren «die tausend Credos, die der Menschen Herz bewegen, unsagbar eitel»; auch die Hoffnungen und Bestrebungen waren es. Im Dezember 1846 erlitt Branwell abermals eine Demütigung. Wem er auch in Great oder Little Ouseburn oder in Thorp Green selbst Geld schulden mochte – der Gläubiger erwies sich als unbarmherzig. Ein Gerichtsbeamter kam von York ins Pfarrhaus mit einem behördlichen Erlaß; entweder das Geld wurde bezahlt, oder Branwell mußte mit ihm ins Gefängnis. Die Schulden wurden bezahlt – vom Vater, von den Schwestern oder von allen gemeinsam. Und, wie man annehmen muß, nicht zum ersten Mal. «Es ist nicht angenehm, immer wieder auf solche Art um Geld zu kommen», schrieb Charlotte am 13. Dezember an Ellen Nussey. «Zehnmal schlimmer aber ist es, die Schäbigkeit seines Benehmens bei solchen Gelegenheiten mitansehen zu müssen.» Schäbigkeit … das Wort beschwört in seiner ganzen Kraft die unglückselige Rolle herauf, die Branwell in diesen Stunden gespielt haben mußte. Zuerst Überraschung, dann vielleicht Entrüstung beim Auftauchen des Gerichtsbeamten, rasch gefolgt von einer Ablehnung der Verantwortlichkeit. Dann, wenn die Hoffnungslosigkeit der Lage eindeutig wurde, schob man die Katastrophe auf andere Schultern. Kameraden hätten ihn verleitet, er sei getäuscht worden, Menschen, die er für Freunde gehalten, hatten sich als Feinde erwiesen; und nach einer Schimpftirade gegen den Gläubiger, wer er auch sein mochte, in York, der jetzt Zahlung verlangte, kam der Zusammenbruch, ein keuchendes Ringen um Atem, die Ausrede auf die Krankheit, Klagen über Verständnislosigkeit, ja, schlechte Behandlung durch seine Umgebung, und schließlich Tränen, klägliche, widerwärti213
ge Tränen, die völlige Einbuße des letzten Restes von Selbstbeherrschung. Und dann endlich ins Bett! Nicht im Arbeitszimmer, wo er sich etwas antun könnte, sondern in dem Schlafzimmer seines Vaters, das er schon als Knabe geteilt hatte und jetzt, in Schmach und Erniedrigung, wieder teilen mußte. Mr. Brontë, der seine Sehkraft wiedererlangt hatte, konnte noch immer nachts über seinem geliebten Sohn wachen und Lästerungen und Gebete anhören. Das war die Zeit, da Grundy, der Techniker, zum letzten Mal nach Haworth kam und Branwell zum Abendessen in den «Black Bull» einlud. «Jetzt öffnete sich behutsam die Türe, und ein Kopf erschien. Es war eine Fülle von rotem, ungekämmtem, ungeschnittenem Haar, das wild um eine hohe, finstere Stirn flutete; die gelben, hohlen Wangen, der eingesunkene Mund, die dünnen, weißen Lippen, die nicht zitterten, sondern krampfhaft bebten, die tief liegenden Augen, einst klein, jetzt vom Licht des Wahnsinns funkelnd – das alles erzählte nur allzu eindeutig die traurige Geschichte. Ich eilte auf meinen Freund zu, begrüßte ihn auf die heiterste Art, zog ihn, wie er das gern hatte, schnell in die Stube und drängte ihm ein steifes Glas heißen Branntwein auf. Unter dessen Einfluß und auch unter dem Einfluß der hellen, freundlichen Umgebung sah er verängstigt drein – verängstigt vor sich selber. Sekundenlang sah er mich an, murmelte etwas davon, daß er ein warmes Bett verlassen habe, um in den kalten Abend hinauszugehn. Noch ein Glas Branntwein, und die wiederkehrende Wärme machten ihn nach und nach zu etwas, das dem Brontë der früheren Zeit glich. Er aß sogar etwas zu Abend, was er, wie er sagte, seit langem nicht mehr getan hatte; und so war unsere letzte Begegnung angenehm, wenn auch ernst. Nie habe ich seinen Geist klarer gekannt. Er schilderte, wie er 214
begierig auf den Tod warte, ja, sich danach sehne und in seinen lichten Augenblicken glücklich bei dem Gedanken sei, daß der Tod so nahe war. Wieder einmal erklärte er, daß der Tod der Geschichte zuzuschreiben sei, die ich kannte, und sonst nichts. Als ich schließlich Abschied nehmen mußte, zog er ruhig ein Tranchiermesser aus seinem Rockärmel, legte es auf den Tisch, ergriff meine beiden Hände und sagte, da er jede Hoffnung, mich je wiederzusehen, aufgegeben habe, sei für ihn meine Botschaft wie ein Ruf Satans gewesen. Beim Anziehen habe er das Messer genommen, das er seit langem versteckt hatte, und sei mit dem festen Entschluß in das Wirtshaus gekommen, in die Stube zu stürzen und den Wartenden zu erstechen. In seiner Erregung habe er mich nicht erkannt, als er die Türe öffnete, doch meine Stimme, mein Verhalten habe ihn überwältigt und ,zu sich selber heimgebracht’, wie er es ausdrückte. Als ich ihn verließ, stand er barhaupt auf der Straße, gebeugt, und die Tränen fielen.» Der gutmütige Grundy, bei dem alle Daten durcheinander gehen, erklärte in seinen Erinnerungen, Branwell sei wenige Tage später gestorben. Er tat nichts dergleichen. Doch wahrscheinlich zwangen die Gläser Branntwein ihn abermals für vierzehn Tage ins Bett. Die mühselige Arbeit, ihn vom Alkohol zu entwöhnen, mußte von neuem beginnen, und Dr. Wheelhouse, der die nicht gerade beneidenswerte Aufgabe hatte, ihm jedes Rauschmittel zu untersagen, wurde für Branwell die meistgehaßte Gestalt in Haworth.
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XVI
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r. Brontë wandte sich wieder seinem Buch über die «Moderne Hausmedizin» zu und machte zu dem Abschnitt «Wahnsinn» einige Notizen: «Manchmal kann d. t. auch durch Trunkenheit herbeigeführt werden – der Patient glaubt, er sei von bösen Geistern besessen, sieht in seiner Einbildung leuchtende Stoffe, hat ein häufiges Zittern der Glieder, und wenn die Trunkenheit weicht, geht im Allgemeinen auch dieser Wahnzustand zurück.» Es ist fraglich, ob Branwell je an delirium tremens gelitten hat. Dr. Wheelhouse mag es so genannt haben, aber diese Störungen können ebenso gut die Anfälle gewesen sein, an denen Branwell litt. Obgleich sie zweifellos durch das kleinste Quantum Alkohol hervorgerufen wurden, waren sie gleichzeitig völlig unvorhersehbar. Es konnten Wochen ohne Anfälle verstreichen. Sein Geist war gesund und, nach Grundys Aussage, nie klarer als an jenem Winterabend, da sie miteinander im «Black Bull» aßen. Wäre Branwell durch Trunkenheit in den Straßen von Haworth unangenehm aufgefallen, so hätten Klagen über sein Verhalten seinen Vater bestimmt erreicht. Ein strengeres Vorgehn wäre notwendig gewesen. Doch kein Mensch außerhalb der Familie scheint je bemerkt zu haben, daß sein Zustand ernst war. Martha Brown, John 216
Browns Tochter, die im Pfarrhaus arbeitete, erzählte Francis Leyland, Branwell sei nie so bösartig, wie man es glauben machen wolle. Branwell war wohl genug, um ohne üble Nachwirkung seine Freunde in Halifax zu treffen. Das kam daher, daß die Atmosphäre neutral war; da stellte sich keine Erregung ein. Daheim mußte er stets dessen bewußt sein, daß man ihn verurteilte, und das steigerte nur den eigenen Groll; und wenn er sah, wie seine drei Schwestern an ihrer Gesellschaft Befriedigungen fanden – der glückliche Kreis, den er einst vervollständigt hatte – dann wandte seine Bitterkeit sich in sein Inneres, und er fühlte sich ausgestoßen, verlassen, als der wahre Schiffbrüchige, eine Vorstellung, die ihn schon als Kind gepeinigt hatte. Und wie ein Kind benützte er denn auch die Waffen eines Kindes. Wenn sie ihm ihre Liebe entzogen, mußte er sich gewalttätig verhalten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Lieber gehaßt werden, als unbeachtet sein. Einst, vor langer Zeit, war er daheim der unbestrittene Führer gewesen. Jede seiner Launen war Gesetz. Wenn er fröhlich war, dann waren es alle. Wenn er weinte, trösteten sie ihn. Jetzt, verworfen, verachtet, wollte er sein Ziel mit andern Mitteln erreichen – indem er ihren Frohsinn störte, ihren Glauben verhöhnte, ihre Ideale vernichtete. Wenn ein friedliches Heim ihn nicht in sich einschließen wollte, dann sollte es eben keinen Frieden geben. Auch das Wissen, daß alle drei Schwestern «Mittel» besaßen, daß sie, falls der Vater starb, dank der Erbschaft der Tante, versorgt waren, während er selbst ohne einen Penny dastand, war eine bittere Pille, die jederzeit die Beziehung zwischen ihnen vergiftete. Die achtzehnjährige Martha konnte das Ungreifbare dieser Atmosphäre kaum wahrgenommen haben. Die Küche, die Emily anvertraut war, erfreute sich einer gemütliche217
ren, zwangloseren Stimmung als das Eßzimmer, das gleichzeitig auch das Wohnzimmer der Schwestern und wohl auch Branwells war. Er stöberte wieder in den alten Annalen Percys, und Zenobia, Percys dritte Frau, mußte in seinen Augen heute zahlreiche charakteristische Merkmale der reifen, doch noch immer schönen Lydia gehabt haben, deren Bild seine Träume und seine wachen Stunden erfüllte. Abermals setzte er sich hin, um ihr einen Brief zu schreiben, den er vielleicht mit Northangerland unterzeichnete, um erkannt zu werden. Der Brief fand seinen Weg nach Little Ouseburn und, wie der folgende Brief an Leyland bezeugt, auch wieder zurück: «Ich will etwas hinkritzeln», schrieb er dem Bildhauer am 24. Januar 1847, «aus dem nörglerischen Egoismus heraus, für den ich Ihre Barmherzigkeit erflehe, aber wenn ich auf meine Vergangenheit, meine Gegenwart und Zukunft schaue und dann in mein eigenes Ich, so finde ich vieles, das, wenn auch unerfreulich, nach Ausdruck drängt. In der vergangenen Woche hat ein redlicher, gütiger Freund mich wissen lassen, daß verborgene Hoffnungen auf eine Dame aufgegeben werden sollten, koste es auch, was es wolle. Er ist der Arzt der Familie und wurde von Mr. Evans, dem Abgeordneten für North Derbyshire, beauftragt, mir einen Brief uneröffnet zurückzugeben, den ich nach Thorp Green gerichtet hatte, und den zu sehen, der Dame nicht erlaubt worden war. Auch sie ist, umgeben von mächtigen Leuten, die mich hassen wie die Hölle, in religiöse Schwermut versunken, glaubt, die Last ihres Grams sei Gottes Strafe, und hat sich hoffnungslos mit ihrer Verdammung abgefunden. Gott allein weiß, was das kostet, und was es mich nachher kosten wird, aus meinem Herzen und meiner Erinnerung die tausend Andenken zu 218
reißen, die beim Gedanken an die verflossenen vier Jahre auf mich einstürmen. Wie die Vorstellungen des Sonnenlichts für einen Mann, der die Sehkraft verloren hat, müssen sie leuchtende Phantome sein, die sich nie mehr verwirklichen lassen. Ich hatte Grund zur Hoffnung, daß ich binnen kurzem der Gatte der Dame sein könnte, die ich am meisten auf der Welt geliebt hatte, und mit der ich, in mehr als einer Beziehung, behaglich dem Versuch leben könnte, mir einen Namen vor der Nachwelt zu machen, ohne von den kleinen, aber zahllosen Scherereien belästigt zu werden, die uns in der Welt der Werktagsfron stechen wie Mücken. Diese Hoffnung und sie – die Frau – sind entschwunden, sie – die Frau – um in geduldig ertragenem Niedergang dahinzuwelken, die Hoffnung, um der Plackerei Raum zu geben, die einen Menschen befällt, der jetzt schlecht dazu taugt, sie zu ertragen. Diese Untauglichkeit entspringt Ursachen, die ich zum Teil selber zu überwinden imstande sein sollte, hätte ich nur die körperliche Kraft, doch da es daran mangelt und mit den täglich gefolterten Nerven, ist die Aufgabe nicht leicht. Ich bin in Wahrheit zu viel im Leben verhätschelt worden, und in meiner letzten Stellung war ich so sehr der Herr und konnte mich so sehr den Freunden hingeben, daß es jetzt, da die Wolke des schlechten Befindens und der Mißhelligkeiten über mich gekommen ist, eine abschreckende Arbeit sein wird, mich von der Stellung vor fünf Jahren aus, von der ich mich mit schwerer Einbuße und ohne Nutzen zurückziehen mußte, durch einen neuen Lebenskampf hindurchzuschlagen. Mein Heer steht jetzt dort, wo es damals stand, trauert aber um die Vernichtung von Jugend, Hoffnung und geistiger wie körperlicher Schwungkraft. Die letzten zwei Verluste sind tatsächlich wichtig für einen Menschen, der einst auf ihren Besitz seine Hoffnun219
gen auf einen Aufstieg in der Welt gebaut hatte. Edle Schriften, Werke der Malerei, Musik oder Dichtkunst verursachen jetzt, statt meine Phantasie zu entfachen, einen Wirbelwind von verderblichen Sorgen, der mit unsäglicher Öde über mich hinwegfegt, und wenn ich mich hinsetze und versuche, alle Ideen niederzuschreiben, die sich mir gewöhnlich, von Sonnenlicht umhüllt, näherten, drängen sie sich in düsterem Schwarz um mich; denn fast jede freudige Erregung, die ich sonst kannte, hat sich zu Nichtigkeit und Qual verwandelt. Nie werde ich imstande sein, die allzu optimistischen Hoffnungen meiner Freunde zu verwirklichen, denn mit achtundzwanzig –» in Wahrheit war er neunundzwanzig – «bin ich durch und durch, geistig und körperlich ein alter Mann. Weit mehr sogar, als ich aussprechen möchte. Gott weiß, daß ich nicht wie ein Dichterling kritzle, wenn ich Byrons furchtbar wahre Worte zitiere: Nie mehr, o nimmermehr auf dieser Welt wie Tau des Herzens Frische auf mich fällt, der in den holden Dingen, die wir sehn, Gefühle wecken könnte, neu und schön. Ich glaubte stets, wenn ich eine Woche lang das ganze Arbeitsfeld des Britischen Museums, einschließlich der Bibliothek, haben könnte, würde ich mich fühlen, als wäre ich für sieben Tage ins Paradies versetzt; jetzt aber, wahrhaftig, lieber Herr, würden meine Augen über die Elgin-Sammlung, durch den aegyptischen Saal und über die kostbarsten Bände schweifen wie die Augen eines toten Dorschs. Meine ungebildeten, rauhen Bekannten hier schreiben mein Unglück lediglich Ursachen zu, die mein manchmal unregelmäßiges Leben verschuldet hat, weil sie keine anderen Schmerzen kenne als jene, die in Ausschweifungen 220
oder Mangel an barem Geld begründet sind. Sie wissen nicht, daß ich lieber ein Hemd entbehren würde als einen beschwingten Geist, und daß mein völliger Mangel an Glück, wenn ich jetzt ins Münster von York träte, viel, viel schlimmer wäre als ihr Mangel an hundert Pfund, wenn sie sie zufällig brauchen würden, und wenn ein Dutzend Glas oder eine Flasche Wein ihren Zustand vertreibt, so können solche Kuren mich nur äußerlich in Gesellschaft erträglich machen, nie aber meinen Zustand vertreiben. Ich weiß nur, daß es an der Zeit für mich ist, etwas zu sein, da ich nichts bin. Daß mein Vater nicht lange zu leben haben kann, und daß, wenn er stirbt, mein Abend, der bereits Zwielicht ist, zur Nacht wird – daß ich dann eine Konstitution haben werde, die so stark ist, daß sie mich Jahre hindurch in Qual und Verzweiflung erhalten wird, wenn ich doch jede Stunde darum beten sollte, sterben zu können. Ich weiß, daß ich beim Schreiben eine größte Ursache meiner völligen Verzweiflung umgehe – doch, bei Gott, Herr, sie ist fast zu bitter, als daß ich sie andeuten könnte. Vier Jahre lang – ein Jahr des Fernseins eingeschlossen – liebte eine Dame mich ebenso innig, wie ich sie liebte, und jeder opferte dieser Liebe alles, was wir zu opfern hatten, und hielt für den andern die Hoffnung als Leitstern der Zukunft aufrecht. Sie war alles, was ich bei einer Frau wünschen konnte, und stand im Rang hoch über mir, und sie liebte mich sogar mehr als ich sie. Und was ist heute das Ergebnis dieser vier Jahre? Ein völliger Schiffbruch. Die ‚Great Britain’ ist nicht so gründlich gestrandet wie ich. Heute, als ich mein Geschreibsel anfing, erhielt ich eine Botschaft ihres Kindermädchens Miss Ann Marshal, und daher weiß ich, daß sie durch Gelübde so weit eingeschüchtert wurde, die sie am Totenbett ihres Mannes abzulegen gezwungen war – mit jedem zusätzlichen Grauen, 221
welches das gespenstische sterbende Auge in der Seele einer empfindungsvollen und beinahe sinnverwirrten Frau erregen kann – sich von jenem völlig loszusagen, dem das ganze Fühlen ihres Herzens gehörte. Als dieser Gatte kaum kalt in seinem Grabe lag, überwältigten die Verwandten, die das ganze Vermögen in der Macht hatten, sie mit ihrem Gerede, und ich bin mir vollkommen bewußt, daß sie sich in ihrer Angst allem unterwarf, was sie sagten.» Es ist fraglich, ob Ann Marshall, Mrs. Robinsons Kammermädchen, in der Lage gewesen sein kann, Ereignisse innerhalb der Familie Robinson während der ersten Monate des Jahres 1847 zu schildern, denn am 16. April starb diese Ann Marshall selber fern von Thorp Green an der Schwindsucht. Es ist sogar möglich, daß die «religiöse Schwermut» und der «geduldig ertragene Niedergang», die Branwell Mrs. Robinson zuschreibt, in Wirklichkeit bei der Magd vorhanden waren und nicht bei der Herrin. Branwell schließt seinen Brief: «Zu keinem Lebenden habe ich gesagt, was ich jetzt Ihnen sage, und ich würde Sie nicht mit meiner zusammenhanglosen Schilderung behelligen, wenn ich nicht glaubte, daß Sie fähig wären, etwas von dem, was ich meine, zu begreifen – wenn auch nicht alles – denn jener, der ohne Hoffnung ist und weiß, daß seine Uhr auf Mitternacht steht, kann seine Gefühle nicht einem Menschen mitteilen, der seine eigene Uhr auf zwölf Mittag stehn sieht. Ich sehne mich danach, Ihnen begegnen zu können, und ich werde versuchen, das am nächsten Freitag, dem 29., zu ermöglichen oder Samstag, wenn ich überhaupt imstande bin, die Reise zu unternehmen. Bis dahin bin ich, lieber Herr, Ihr aufrichtiger P. B. Brontë» 222
Es ist fast sicher, daß diesem sehr langen Brief ein viel kürzerer, undatierter, voranging, den Branwell an den Bildhauer geschrieben hatte, und darin er den Wunsch aussprach, Mr. Thomas Nicholson vom «Old Cock» möge seine Rechnung einsenden, denn «im Augenblick, da ich mein ausgelegtes Geld zurückerhalte oder irgendein Betrag durch die Hände eines Menschen, den ich vielleicht nie wiedersehen werde, in meine Hände fällt, werde ich sie begleichen. Diese Begleichung wird, wie ich Grund habe zu hoffen, binnen kurzem erfolgen.» J. B. Leyland mußte darum beim Empfang der beiden Briefe – wie wohl jeder – den Eindruck haben, daß sein Freund einen Geldbetrag von der Dame erwartete, die er einst zu heiraten gehofft hatte, einen Betrag, mit dem er seine Schulden zahlen könnte; und daß die völlige Vernichtung dieser Hoffnungen jetzt jede Aussicht auf finanziellen Beistand unmöglich machte. Der letzte Teil des langen Briefes stellte die Sache ganz klar. «Gründlich gestrandet» ist der Ausdruck, den eine junge Frau verwenden könnte, die, nach vier Jahren Verlobung und Hochzeitsvorbereitungen und manchen damit zusammenhängenden Auslagen, von der Familie des Bräutigams brutal verhöhnt wird. Die Sitzengelassene wendet sich dann an die ihr verbleibenden Freunde und sucht bei ihnen nicht nur Mitgefühl, sondern auch Beistand; und Branwell, der Leylands Großzügigkeit kannte, mußte gehofft haben, daß sein Brief ebenso sehr an die Tasche seines Freundes rühren werde wie an dessen Herz. Als anfangs Mai Charlotte Ellen Nussey berichtete: «Branwell ist jetzt ruhiger und mit gutem Grund; er ist mit einer beträchtlichen Summe Geld, zu der er im Frühjahr gelangt war, fertig geworden, und das nötigt ihn, sich in gewissem Ausmaß zurückzuhalten», da glaubte sie wahrscheinlich, wie ihr Vater, ihre Schwestern und jedermann 223
in Haworth, der es zufällig bemerkt hatte, die Quelle von Branwells Geldflüssigkeit entspränge in Thorp Green. Das mag er ihnen gewiß gesagt haben. Wahrscheinlicher aber ist es, daß J. B. Leyland sich ihm gegenüber ebenso großzügig erwies wie seinen andern Freunden gegenüber. In der zweiten Hälfte des Februars 1847 hatten die beiden jüngeren Töchter Robinson, Elizabeth und Mary, plötzlich wieder angefangen, Anne zu schreiben und damit einen Briefwechsel aufgenommen, der in den sechs Monaten nach ihres Vaters Tod eingestellt worden war. Ihre Briefe waren, wie Charlotte Ellen Nussey mitteilt, «gestopft voll von warmen Kundgebungen unendlicher Achtung und Dankbarkeit – sie sprechen mit großer Zärtlichkeit von ihrer Mutter – und machen nie die leiseste Andeutung darauf, daß auch ihre Irrungen ihnen bekannt wären. Es ist zu hoffen, daß sie in dieser Beziehung in Unkenntnis sind und immer bleiben werden, besonders da sie, wie ich glaube, diese Irrungen bitter bereut hat. Wir sind sorgfältig darauf bedacht, daß Branwell nichts von diesen Briefen an Anne erfährt.» Charlottes Anwendung des Wortes «Irrungen» deutet darauf hin, daß Branwell seiner Familie zu verstehn gegeben hatte, er sei von Mrs. Robinson ermutigt worden und sie trage in Wahrheit die Schuld an seinem Zusammenbruch. Die Geschichte, die er in Haworth unter die Leute brachte, lautete anders als die, die er seinen Freunden erzählte. Für Grundy, für Leyland war die Dame seines Herzens ein Muster von Selbstlosigkeit, von Mitleid, vernachlässigt von ihrem ungehobelten Mann, der sie auch mißhandelte. Der Eindruck, den er daheim weckte, war anderer Art. In diesem Jahr war es, daß Anne an der «Pächterin von Wildfell Hall» arbeitete. Dieser Roman besteht aus zwei getrennten Geschichten, die mit großem Geschick zu einer 224
verschmolzen werden. Die ersten sechzehn Kapitel und die letzten neun werden von einem jungen Mann erzählt und berichten von seiner Bewunderung und wachsenden Liebe für eine geheimnisvolle, bezaubernde neue Nachbarin – die Pächterin von Wildfell Hall – die er für eine Witwe hält, da sie Trauerkleidung trägt und anscheinend allein für ihren jungen Sohn zu sorgen hat. Eine Freundschaft reift, und der Erzähler wird auf einen andern häufigen Besucher des Hauses eifersüchtig. Schließlich werden Zorn und Eifersucht so heftig, daß er den vermeintlichen Nebenbuhler anfällt. An dieser Stelle legt die Witwe ein Manuskript in die Hände des verdutzten, zürnenden jungen Mannes, und die zweite Geschichte beginnt. Diese Geschichte, welche den Mittelteil des Buches bildet, ist die Lebensgeschichte der geheimnisvollen Pächterin, erzählt von ihr selber, und schildert das unglückselige Abenteuer ihrer Heirat mit dem schönen, reichen Arthur Huntingdon und ihre schlimme Enttäuschung über Trunkenheit und Ausschweifung ihres Gatten und seiner Freunde. Schließlich, nach allzu schwer zu ertragenden Erlebnissen läuft sie ihm davon und sucht Schutz in Wildfell Hall, um in der Nähe ihres Bruders zu sein – der keineswegs ein Liebhaber, sondern der mysteriöse Nebenbuhler der ersten sechzehn Kapitel ist. Die letzten neun Kapitel, abermals von dem jungen Mann der ersten Geschichte in Ich-Form erzählt, bringen alles zu einem befriedigenden Abschluß; der zügellose Gatte wird krank, bereut auf dem Totenbett, und zum Schluß finden der junge Erzähler und die Witwe glücklich zueinander. Wieviel von diesen zwei ineinander verwobenen Geschichten hatte Branwell gelesen – oder war ihm vorgelesen worden? Der junge Erzähler der ersten Geschichte, Gilbert Markham, gleicht so sehr Lockwood, dem selbst225
bewußten jungen Erzähler der Anfangskapitel von «Sturmhöhe», mit seinem hemmungslosen Vertrauen zu seiner Anziehungskraft auf das andere Geschlecht, daß diese Gestalt bestimmt dem fünfundzwanzigjährigen Branwell nachgebildet ist; und Markhams Liebe zu der Pächterin von Wildfell Hall, seine Freundlichkeit zu ihrem Kind hätten eine unbewußte Skizze der tatsächlichen Lage von Annes Bruder sein können, als er, von Hoffnung und guten Absichten erfüllt, im Jahre 1843 Hauslehrer bei Mrs. Robinsons jungem Sohn wurde. Die zweite Erzählung, die Geschichte der verhängnisvollen Ehe und der furchtbare Niedergang des Gatten, mögen als Warnung für Branwell und für die Welt geschrieben sein; doch der schuldige, gleichgültige Gatte, die fromme, betende Gattin gleichen unheimlich der Version des Robinsonschen Ehelebens, die Branwell im Jahre 1846 seinen Freunden mitgeteilt – und das war gewiß das Letzte, was Anne, die Verfasserin, im Sinn hatte. Manchmal kann die Kappe so gemacht sein, daß sie auf den Kopf paßt, dem sie zuletzt zugedacht war; Branwell war weit davon entfernt, die Schilderung von Huntingdon auf dem Sterbebett als eine prophetische Ahnung seines eigenen Schicksals zu betrachten, sondern er vereinte das Bild mit dem seines an Verdauungsstörungen gestorbenen Brotgebers und sah die vergrämte, gequälte Lydia in der Rolle Helen Huntingdons. In früheren Jahren hatte er an der schriftstellerischen Tätigkeit seiner Schwestern einen Anteil gehabt; irgendwie mußte er fortfahren, ihre Gestalten in der Welt seiner Phantasie auszuleben. Hindley Earnshaw und das Tranchiermesser, Heathcliff, der den Kopf gegen einen Baum stößt und aufbrüllt wie ein wildes Tier, sie alle gehörten zu Branwells höllischer Welt. Sie hatten nichts in der Stube eines Verlegers zu tun, als von einem schwachsinnigen Angestellten abgelegt zu werden. 226
Anne wurde um so mehr zur Weiterarbeit an ihrem Buch ermutigt, als «Agnes Grey» und «Sturmhöhe» zur Veröffentlichung in einem Band von einer Firma namens Newby in der Mortimer Street, London, angenommen wurden. Der Verlag erwartete, daß Elli und Acton Bell einen Teil der Kosten der Veröffentlichung tragen sollten, und doch erwies endlich die Annahme, daß sie wirklich Schriftstellerinnen waren. Peinlich war nur, daß «Der Professor» keinen ähnlichen Erfolg hatte. Noch immer machte er seine Runde. Und Charlotte war die Anregerin der ganzen Angelegenheit gewesen. Diesmal wurde die Wahrheit Branwell vorenthalten. Daß Emilys und Annes Romane angenommen und Charlottes Buch abgelehnt wurde – das hätte dem Bruder den Spott gar zu leicht gemacht. Charlotte, von keinem Fehlschlag eingeschüchtert, arbeitete noch immer eifrig an «Jane Eyre», obgleich dieser Roman, nach allen ihren Erfahrungen, keinen größeren Erfolg ernten würde als «Der Professor». Ellen Nussey, die Vertraute, der nichts von den vielen Geschichten mitgeteilt worden war, die ihre Freundin als Kind und als heranwachsendes Mädchen während ihrer langen, niemals wankenden Freundschaft geschrieben hatte, wurde noch immer in Unkenntnis gehalten. Die Anonymität war der Mantel, war der Schutz, der die drei Schwestern vor der argwöhnischen, spottlustigen Welt bewahrte. Nur «Northangerland», ihr Bruder, brauchte dergleichen nicht, und während Charlotte ihre Schriften zu einem Meisterwerk ausarbeitete, stöberte er in seinen alten Manuskripten und sandte eines davon an Leyland: Ich konnt’ sie nicht ertragen, die Gedanken von dem, was war, von dem, was werden muß, und immer noch enthüllt die dunkle Nacht ihr kummervoll prophetisches Gemälde, 227
und immer wieder sah ich, ach, mich Armen, die langen Nächte in einsamem Gram, mit zeitgebleichten Locken, knieeschlotternd, hilflos und hoffnungslos zum Grabe wanken, dann innehalten, einer Antwort lauschen – so sehr hat Wahnsinn meinen Geist verzerrt – als plötzlich auf dem mitternächt’gen Himmel mit langem Heulen Winterwind erwachte und in mir weckte, wenn auch unbestimmbar, ein drängend Bild von aufgewühlten Meeren, mit wilden Wogen, die ins Weite wandern und ferne schwellen, leise wispernd: «Friede!» Ich kann das seltsame Gefühl nicht schildern, das dieses mächt’ge Wintermeer mir weckte, noch sagen, wann der jähe Wandel kam von diesem Elend ohne Hilf’ und Hoffnung, doch schenkte er mir eine Offenbarung von einem Leben – wenn dahin die Dinge, die ich geliebt – des freie Einsamkeit mir wohl entspräche auf dem Weg zum Grab. «Ich lege nur das Bruchstück bei», schrieb Branwell, «das so verschmutzt ist, daß ich es abgeschrieben hätte, wenn ich den Mut fände, mich anzustrengen, um von Ihnen zu erfahren, ob es, wenn einmal vollendet, wert wäre, an irgendeine namhafte Zeitschrift wie «Blackwood’s Magazine» geschickt zu werden.» «Blackwood’s» war noch immer sein Mekka. Vor zwölf Jahren, als er achtzehn war, hatte er vom Redakteur verlangt: «Sir – lesen Sie, was ich schreibe» und geschlossen: «Sie haben in James Hogg einen fähigen Mitarbeiter ver228
loren, und Gott gebe, daß Sie einen in Patrick Branwell Brontë gewinnen mögen.» Das Gedicht und der Brief aus dem Jahr 1847 wurden zu allen andern Dingen gelegt, welche die Regale von Leylands Atelier füllten. «Ich selber», schrieb Branwell am 14. desselben Monats, «bin, nach einem Anfall von unaussprechlichem Grauen und nach heftigem Herzklopfen, daran gegangen, mich zu pflegen, doch wozu? Auch die beste Gesundheit kann den stechenden und nicht eingebildeten seelischen Schmerz nicht töten. Heitere Gesellschaft tut mir gut, bis eine bittere Wahrheit durch mein Hirn fegt, und dann würde das Geschenk einer Kugel dankbar angenommen werden. Ich wollte, ich könnte zum Schreiben flüchten wie in eine Schutzstätte, doch das kann ich nicht, und mein Geist ist, im Wachen wie im Schlaf, sieben Wochen lang ununterbrochen in Tätigkeit gewesen.»
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m 16. Oktober 1847, wurde bei dem Verlag Smith, Elder & Co. in London ein Roman eines unbekannten Autors veröffentlicht. Man hatte ein früheres Werk desselben Schriftstellers bereits abgelehnt, doch als Ende August das zweite Manuskript eintraf, da war man im Verlag von den bemerkenswerten erzählerischen Fähigkeiten des Verfassers so beeindruckt, daß – Mr. Smith hatte die Geschichte in einem Sitz zwischen Frühstück und Abend gelesen, ohne sich auch nur die Zeit zu Mittag- und Abendessen zu gönnen – man schon am nächsten Tag das Manuskript annahm und sofort in den Satz gab, um das Buch im Frühherbst herausbringen zu können. Das Buch, «Jane Eyre», war im Nu ein Erfolg, bildete das Gespräch nicht nur des literarischen Londons, sondern des ganzen lesenden Publikums im Land, und der Name Currer Bell war auf allen Lippen. Wer war das? Ein Mann oder eine Frau? Nicht einmal die Verleger wußten es. Die Maske der Anonymität, die Charlotte vor aller Welt verbarg – nur nicht vor den beiden Schwestern, deren Romane bei einem andern Verlag noch nicht über das Stadium der Prüfung hinaus waren – sollte die Autorin des Buches auch vor ihrem Bruder verborgen halten, mit dem sie – lang, lang war’s her – jeden Ehrgeiz, jedes Geheimnis des Schreibens, jeden geflüsterten Traum geteilt hatte. Ihr 230
Vater könnte es später erfahren, wenn sich der erste Sturm gelegt hatte, doch der Bruder? Bevor er es nicht selber entdeckte, sollte es ihm nicht mitgeteilt werden. Als die Briefe und die Besprechungen einströmten und sie wußte, daß das Buch von Schriftstellern wie Thackeray und Kritikern wie George H. Lewes gelesen und gelobt wurde, und als eine zweite Auflage in Druck ging, da dachte sie vielleicht – einen kurzen Augenblick lang – an ihren einen und einzigen Mitarbeiter; an den Knaben, der im alten Kinderzimmer neben ihr gesessen war und zu ihrem Entzücken, zu ihrer künftigen Inspiration jene angrischen Gestalten der höllischen Welt geschaffen hatte. War Jane Eyres Rochester nicht ihrer beider Byronscher, schwermütiger Zamorna, dessen einstige Geliebte mit ihrem Kind unter seinem Dach lebte? Würde Branwell nicht jede veränderte Person, nicht jedes vermummte Haus wiedererkennen – vor allem aber jene Seiten, die lebenswahr und nicht erfunden waren, Charlottes frühe Schulzeit in Cowan Bridge mit den Gestalten ihrer toten Schwestern Maria und Elizabeth, die sich verschmolzen, um die Helen Burns ihres neuen Romans zu bilden? Kein «Currer Bell» würde ihre Autorschaft vor «Northangerland» verbergen können, sollte ihm das Buch in die Hände fallen. Worte, Sätze, Stil, alles war ihm so vertraut, als wäre es sein eigenes Werk gewesen. Einst hatten sie miteinander geplant und geschaffen. Einst hatte die winzige Schrift, die von den Erwachsenen mißbilligt wurde, die gemeinsamen Manuskripte vor spähenden Augen verborgen. Welche Blicke hatten sie gewechselt, welches geheime Lächeln, welches unterdrückte Gelächter! Wie hätte der Knabe Branwell sich über ihren Erfolg gefreut! Nicht aber der Mann. Dem Mann durfte nichts verraten werden. Er durfte keinen Anteil daran haben. 231
Am Tag, bevor «Jane Eyre» erschien, schrieb Charlotte an Ellen Nussey: «Bei uns geht alles seinen gewohnten Gang – nur daß Branwell in der letzten Zeit schwieriger und unangenehmer gewesen ist als gewöhnlich; er bereitet Papa ein unglückseliges Leben.» Worüber sprachen sie, der siebzigjährige Vater und der dreißigjährige Sohn, wenn sie allein in dem vordern Schlafzimmer beisammen waren, von dem aus man auf die Gräber schaute? Betete der Vater abends lange? Beobachtete ihn der Sohn dabei? Und warteten sie dann beide, wenn die Kerze ausgelöscht war, auf Schlaf und zeitweiliges Vergessen? Vor langer Zeit, als er seine Soldaten umklammert hielt oder über die Bettdecke marschieren ließ, hatte der Knabe gehört, wie der Vater den eigenen Verlust betrauerte, sich um die eigene vergeudete Männlichkeit grämte; jetzt war es der gebrechliche, weißhaarige Vater, der auf seinen Kissen den erwachsenen Sohn beobachten mußte, den Vorstellungen quälten, die einst auch in vergangenen Tagen die eigenen gewesen sein konnten und sich jetzt in dem Labyrinth der Erinnerungen eines alten Mannes verloren. Mary Burder, Maria Branwell, sie waren Fleisch und Blut gewesen, lebendig und unwiderstehlich für Mr. Brontë; die erste, ein Herzensschatz, den er nie besessen hatte, die zweite eine warme, liebende Gattin. Beider Frauen beraubt, hatte er sich nach und nach mit der Einsamkeit abgefunden. Um welchen Preis? Dessen entsann er sich jetzt nicht mehr. Nur daß er sich immer wieder gesagt haben mußte, es sei Gottes Wille gewesen. Und dieser Sohn wälzte sich auf dem Bett und konnte sich nicht abfinden. Branwell betete nicht mit seinem Vater. Er glaubte nicht an das Gebet. Nie hatte es eine Antwort auf ein Gebet gegeben. Was man aushalten mußte, hielt man aus, doch im 232
Zorn, im Aufstand, mit Hohn; mußte er denn verdammt sein, so sollte es zu Recht geschehen, damit er, wie Luzifer, trotzig ins Verderben geschleudert wurde. Und doch … wenn der Morgen kam, sein Vater sich angezogen hatte, ins Wohnzimmer hinunterging und die tägliche Runde begann, da blieb etwas von dem mitternächtlichen Geflüster bei Branwell haften, so daß seine halbgeformte Reue ihn verwirrte; noch ungewaschen und unangekleidet ging er in das alte Arbeitszimmer, wo er seine Papiere aufbewahrte, und suchte eines der Gedichte hervor, die Percy an seine erste Frau, Mary, geschrieben hatte, bevor sie starb. Solche Unordnung herrschte jetzt in seinen Manuskripten, daß er kaum eines vom andern unterscheiden konnte. Manche waren an Leyland geschickt worden und hatten nie den Rückweg gefunden. Andere hatten sich damals mit Charlottes Schriften vermischt, als sie abwechselnd, Kapitel um Kapitel, eine Angrische Geschichte geschrieben hatten. Mit losen Blättern, durch den letzten Tropfen Laudanum, der noch in einer Phiole war, besänftigt, stolperte er zu seinem Bett zurück und las wieder einmal von Mary Percy, als sie auf ihrem Totenbett lag. Doch unterdessen mußte er dem Tag Trotz bieten, mußten die Stunden erduldet werden, die abgewandten Blicke ertragen, mit all dem geheimnisvollen Kommen und Gehn von Briefen und Paketen und dem strahlenden Lächeln und dem Gerede, das im Nu verstummte, wenn er ins Zimmer trat. Er hatte sich an Charlottes Korrespondenz gewöhnt. Sie schloß sich oben im Schlafzimmer ein, das sie mit Anne teilte, dem früheren Zimmer ihrer Tante, und dann kratzte ununterbrochen die Feder, wurde geflüstert und manchmal gelacht, wenn die Schwestern beisammen waren. Und dann kam, um Mitte Dezember, ein Paket mit Büchern für Emily und Anne, und, wie gewöhnlich, wurde kein Wort 233
vom Inhalt der Pakete gesprochen, fiel keine Andeutung darauf, was sich begab. Vielleicht wieder abgelehnte Manuskripte! Wenn sie nicht das Bedürfnis hatten, ihm etwas zu erzählen – nun, er stellte keine Fragen. «Vermutlich ist ‚Sturmhöhe’ am Ende doch erschienen», schrieb Charlotte an Mr. Williams von Smith & Elder am 14. Dezember. «Mr. Newby hat den Verfasserinnen wenigstens ihre sechs Exemplare geschickt. Ich bin neugierig, wie es aufgenommen werden wird. Ich möchte sagen, daß es die Bezeichnungen ‚kraftvoll’ und ‚originell’ weit entschiedener verdient als ‚Jane Eyre’. ‚Agnes Grey’ sollte Kritikern wie Mr. Lewis gefallen, denn es ist ‚wahr’ und ‚unübertrieben’ genug. Die Bücher sind nicht gut herausgebracht worden – sie strotzen von Druckfehlern. Bei einer früheren Gelegenheit habe ich mich vielleicht mit zu wenig Zurückhaltung über Mr. Newby ausgesprochen, aber ich kann nicht umhin, zu fühlen und schmerzlich zu fühlen, daß Ellis und Acton nicht jene Sorgfalt bei ihm gefunden haben, die mir bei den Herren Smith & Elder zuteil wurde.» Emilys und Annes Romane wurden von Kritikern und Publikum nicht mit dem gleichen Lob aufgenommen, das «Jane Eyre» errungen hatte. Currer Bells Roman war zu dem geworden, was eine heutige Zeitung einen «Bestseller über Nacht» nennen würde; «Sturmhöhe» und «Agnes Grey» machten verhältnismäßig geringen Eindruck. Der Verleger Newby druckte nur zweihundertfünfzig Exemplare, und er hoffte, sie dadurch zu verkaufen, daß er aussprengen ließ, es seien frühere Werke der jetzt so berühmten Currer Bell. Das nützte weder ihm noch seinen Autorinnen. «Jane Eyre» und ihre Schöpferin, Currer Bell, verdunkelten völlig jeden Ruhm, jeden Erfolg, der den beiden andern Romanen etwa zugefallen wäre, und daran trägt zum Teil das gleiche Pseudonym die Schuld. 234
Ein oder zwei Kritiker erkannten die Ursprünglichkeit und die Kraft von «Sturmhöhe», doch in der Mehrzahl waren sie in der Klemme, und die Leserschaft fand im Allgemeinen die Geschichte unglaubhaft, die Personen unangenehm. Selbst Charlottes und Emilys kluge Jugendfreundin Mary Taylor, die nach Neu-Seeland übersiedelt war und bis zum Juli 1848 alle drei Bücher der Schwestern gelesen hatte, nannte Emilys Roman «dieses seltsame Ding ‚Sturmhöhe’» und meinte, es sei geschrieben worden, um eine bestimmte Leserschaft vor den Kopf zu stoßen. Anne ließ sich von dem geringen Echo ihrer eigenen wunderbaren «Agnes Grey» nicht abschrecken und war noch immer eifrig an der Arbeit an der «Pächterin von Wildfell Hall» – trotz ungünstiger Kritik ihrer beiden Schwestern – während Charlotte über einem neuen Roman, «Shirley» grübelte. Emily, das Rätsel, von der keine Geburtstagsbotschaften mehr der Nachwelt meldeten, wie ihr Geist sich seit 1845 entwickelt hatte, war die Einzige, die stumm blieb. Sie wußte nur, daß ihr einziger Roman fehlgeschlagen war und ihre Gedichte auch. Charlotte war der Erfolg der Familie. «‚Jane Eyre’ ist nach Yorkshire gekommen», schrieb Charlotte ihrem jetzigen ständigen Korrespondenten, Mr. Williams von Smith & Elder im Januar 1848. «Ein Exemplar ist sogar in die Nachbarschaft gedrungen; ich sah unlängst einen bejahrten Geistlichen darin lesen, und ich hatte die Genugtuung, ihn ausrufen zu hören: ‚Ja – sie sind doch in die … Schule gegangen, und Mr. … hier und Miss … er nannte die Urbilder von Lowood, Mr. Brocklehurst und Miss Temple’. Er hatte sie alle gekannt; ich fragte mich, ob er die Porträts erkennen würde, und war zufrieden festzustellen, daß er es tat, und daß er sie getreulich und richtig aussprach – er sagte auch, daß Mr. … Brocklehurst ,die Strafe verdient habe, die er erhielt’. 235
Currer Bell hat er nicht erkannt. Welcher Autor möchte auf den Vorteil verzichten, unsichtbar wandeln zu können? Man ist dadurch imstande, seine Seelenruhe zu bewahren. Diese kleine Bemerkung mache ich im Vertrauen.» Wenn ein Geistlicher in der Nachbarschaft «Jane Eyre» gelesen hatte, so bedeutete das, daß über den Roman vielleicht auch in Haworth selbst gesprochen wurde. Ganz bestimmt in Halifax und Bradford. Nicht lange würde es dauern, und der Titel des Buches, der auf allen Lippen war, mochte ganz unschuldig vor Mr. Brontë erwähnt werden. Charlotte beschloß, auf das Zureden ihrer Schwestern hin, dem Vater von ihrem Erfolg zu erzählen, ihn aber zu tiefstem Schweigen zu verpflichten. Um welchen Preis auch immer – Branwell durfte nichts erfahren. «Mein unglückseliger Bruder wußte nie, was seine Schwestern in der Literatur geleistet hatten», schrieb Charlotte nach Branwells Tod an Mr. Williams. «Er hatte keine Ahnung, daß sie je eine Zeile veröffentlicht hatten. Wir konnten ihm von unserer Tätigkeit nichts sagen, aus Angst, ihm einen allzu tiefen Schmerz wegen seiner eigenen vergeudeten Zeit und schlecht verwendeten Begabung zu bereiten. Jetzt wird er es nie mehr wissen.» Konnten die Schwestern ein Geheimnis bewahren, so konnte es auch der Bruder … manchmal. Der Beweis, daß er wußte, wer Currer Bell war, aber aus Stolz und Verbitterung dieses Wissen vor seiner Familie geheimhielt, scheint eindeutig erbracht, nicht nur durch seine wachsende Verzweiflung nach 1847, aber auch durch die Aussage von George Searle Phillips, Kritiker, Schriftsteller und früher Redakteur der «Times» in Leeds, der als außenstehender Beobachter keinen Grund zu lügen hatte. Wie Searle Philipps, der, wie Francis Grundy, seine Erinnerungen an Branwell Brontë viele Jahre später schrieb, berichtet, war er, bald nachdem «Jane Eyre» und seine eigene 236
Kritik erschienen waren – das heißt irgendwann zwischen Dezember 1847 und September 1848 – in Haworth gewesen, und dort hatte er, im «Black Bull», mit Branwell selbst über Charlottes Roman gesprochen. Die Begegnung fand beinahe sicher in einem Privatzimmer statt, denn kein Wort von Currer Bells wirklicher Identität drang, als Ergebnis dieses Zusammentreffens, nach Haworth. «Branwell», schrieb Searle Philipps, «war, obgleich sein Äußeres sich seit früheren Zeiten ungünstig verändert hatte, keineswegs ein Dummkopf; seine Augen waren hell, und sein ganzes Wesen verriet ehrliche Freude. Er schilderte einige der Personen der Romane und sprach viel von seinen Schwestern, zumal von Charlotte, deren Berühmtheit, wie er sagte, mehr Fremde in das Dorf gelockt hatte, als man sonst zu sehen bekam.» Nun war diese Behauptung Branwells natürlich unwahr, denn noch wußte kein Mensch, wer «Jane Eyre» geschrieben hatte. Currer Bell war noch immer eine Maske. Ebenso wie er nicht gezögert hatte, seinen eigenen Freunden von Mrs. Robinson zu erzählen, so auch jetzt, als Searle Philipps ihn fragte, wer Currer Bell eigentlich sei, verbarg er seinen Groll hinter einem Lächeln und erklärte, das Geheimnis ganz genau zu kennen. Alle Menschen lieben ein Mysterium. Auch Searle Phillips mußte Verschwiegenheit schwören. Und der fremde Professor, der, wie der Kritiker berichtete, plötzlich während des Gesprächs auftauchte, Branwell die Hand schütteln wollte und ihm sogar Geld anbot, wenn Branwell ihn seiner Schwester vorstellte – ja, auch er mußte sich bei einem Glas Branntwein zum Schweigen verpflichten, und Branwell spielte zum ersten und letzten Mal in seinem Leben die kleine Rolle des Bruders einer Berühmtheit. «Der arme Branwell», berichtete der Kritiker, «sprach mit den zärtlichsten Worten von seiner Schwester, mit Worten, 237
wie nur ein Mann von tiefem Gefühl sie äußern kann. Er kannte ihre Kraft, er wußte, welch erschütternde Tiefen von Leidenschaft und Pathos in ihrem großen, schwungvollen Herzen Raum hatten, lange bevor sie ihnen in ‚Jane Eyre’ Ausdruck verlieh.» «Ich weiß», sagte Branwell, nachdem er von Charlottes Begabung gesprochen hatte, «daß auch ich das Zeug in mir hatte, um erfolgreiche Geschichten zu schreiben; doch der Fehlschlag bei der Akademie richtete mich zugrunde. Ich war wie ein Baum im Wald durch einen jähen, starken Wind umgeworfen worden, um mich nie wieder zu erheben. Stellen Sie sich vor – ich, mit meiner Erziehung und jenen frühen Träumen, die beinahe zu Wirklichkeiten gereift waren, als Ladenschwengel oder als Angestellter bei einer Eisenbahn, was, wie Sie wissen, einige Zeit meine Beschäftigung war. Es demütigte mich einfach in meinen eigenen Augen und brach mir das Herz.» Der Professor, der an der Universität London Griechisch lehrte, und den Williams von Smith & Elder dazu überredet hatte, «Jane Eyre» zu lesen, hatte es tatsächlich auf einen Sitz zu Ende gelesen; doch er erreichte mit allem Schmeicheln nicht, daß Branwell ihn seiner Schwester vorstellte. Das würde doch bestimmt beweisen, daß diese Begegnung tatsächlich stattgefunden hatte. Wenn Searle Phillips erst nach Jahren die Zusammenkunft erfunden hätte, dann hätte er gewiß behauptet, daß nicht nur der Londoner Professor, sondern auch er selbst ins Pfarrhaus gegangen sei und der berühmten Charlotte Brontë die Hand geschüttelt habe. Statt dessen wehrte Branwell sich gegen den Vorschlag. Und das war nur natürlich. Weder Charlotte noch sonst ein Mitglied der Familie wußte, daß er das Geheimnis kannte. Und er wollte ihnen nicht die Genugtuung bereiten, die Wahrheit festzustellen. 238
Beide, der Professor und Searle Phillips, blieben über Nacht im «Black Bull». Und bevor sie am nächsten Tag abfuhren, hielt Branwell die Täuschung aufrecht und erzählte dem Kritiker, er habe Charlotte und seine beiden andern Schwestern mit der Geschichte von dem Professor amüsiert, der eine ganze Nacht wach geblieben war, um «Jane Eyre» zu lesen. Diese letzte Nuance konnte Searle Phillips nicht erfunden haben. Aber Branwell hatte es offenbar getan. Und als der Professor abgereist war und der Kritiker auch und das Mysterium und das Durcheinander vorüber waren, kehrte Branwell in das leere Zimmer im «Black Bull» zurück und sagte sich, daß er, wenn auch sonst nichts, doch das Gesicht gewahrt hatte. Kein Mensch würde ihm glauben, wenn er die Wahrheit erzählte, die Wahrheit, daß die Verfasserin von «Jane Eyre» ihr Geheimnis nicht mit ihrem Bruder geteilt hatte. «Ich war nicht berauscht, als ich Sie das letzte Mal sah, lieber Herr», schrieb Branwell anfangs Januar 1848 an Leyland, «aber ich war so niedergeschlagen und im Herzen verbittert, daß es keines großen Anlasses bedurfte, damit ich, nach dem Abschied von Ihnen, im ‚Talbot’ einen Ohnmachtsanfall erlitt und einen zweiten, schwereren bei Mr. Crowthers – im ‚Commercial Inn’ beim Nordtor. Wenn Sie mir die Manuskripte zurückschicken, die ich in Ihre Hände gelegt habe, wollen Sie – wenn Sie es mühelos finden können – auch das Manuskript ‚Caroline’ beifügen, das schon seit vielen Monaten bei Ihnen ist – und an dem mir ebenso wenig liegt wie an den andern, nur daß ich von beiden keine Kopien besitze …» Diese Anspielung auf die Manuskripte, gleich nachdem er die Verbitterung seines Herzens gestanden hatte, war bezeichnend. Branwells drei Schwestern waren jetzt alle anerkannte Schriftstellerinnen, eine von ihnen sogar be239
rühmt, seine Gedichte und Erzählungen aber lagen in den vergessenen Schubladen seiner Freunde. «Wenn ich mich ein wenig besser fühle als jetzt», schloß er, «schreibe ich Ihnen einen Brief, darin ich Ihnen mehr von meinem Geisteszustand mitteile, als ich es jetzt zu tun wage, und überlasse Ihnen, den Brief zur Kenntnis zu nehmen oder zu vernichten, ganz wie Sie wollen.» Seinen Brief illustrierte Branwell mit zwei Zeichnungen. Die eine zeigte ihn im Profil mit dunkler Brille und um den Hals einen Strick. Francis Leyland, der Bruder des Bildhauers, bewahrte den Brief; er glaubte, diese Zeichnung stelle Branwell als Märtyrer früherer Zeiten dar. Wahrscheinlicher ist es, daß Branwell sich im Gedenken an die freimaurerische Einweihung zeichnete. Die zweite Skizze, unmittelbar unter der ersten, zeigte fünf Gefährten zechend um einen Tisch und mit dem Namen Sugdeniensis, Draco, der feurige Enterich, St. Johannes in der Wildnis – mit dem gespaltenen Schwanz des Teufels – Phidias und St. Patrick alias Lord Peter genannt. Unter die Zeichnung hatte Branwell gekritzelt: «Die Rettung der Punschbowle. Eine Szene im ‚Talbot’.» Vielleicht hatten einmal die fünf oder möglicherweise die vier einen «Höllenfeuerklub» gebildet, und bei diesen Anlässen mag Lord Peter der Spitzname für Branwell gewesen sein. Es kann sein, daß der «Sugdeniensis» Genannte nicht den toten Kapellmeister Sugden darstellte, sondern einen Verwandten der Wirtin des «Talbot», die selber eine Mrs. Sugden war. «Ich war, als ich Sie letzte Woche in Halifax traf, weit entfernt davon, mich wohl zu fühlen», schrieb Branwell zu Beginn seines Briefes, «und wenn Sie zufällig in nächster Zeit Mrs. Sugden vom ‚Talbot’ sehen, so würden Sie mich sehr verbinden, wenn Sie ihr sagen wollten, daß ich ihr Verhalten mir gegenüber als höchst 240
gütig und mütterlich empfinde, und daß, sollte ich während meines zeitweiligen Unwohlseins etwas getan haben, was sie kränken könnte, ich das tief bedaure und sie bitte, mein Bedauern als Entschuldigung gelten zu lassen, bis ich sie wiedersehe, was hoffentlich bald der Fall sein wird.» Die Anfälle stellten sich damals häufiger ein als vorher. Sie ließen sich nicht voraussehen, noch konnte man sie bezwingen, und Branwell selber, aus vergangener, bitterer Erfahrung darüber aufgeklärt, daß er für seine Handlungen vor einem Anfall nicht verantwortlich war, bemühte sich, jede mögliche Feindseligkeit durch seine Entschuldigung zu entwaffnen und gleichzeitig seinen guten Ruf zu schützen. Nicht einmal der Bildhauer erkannte das Wesen der Krankheit. Das Zusammenbrechen, die jähe Erregung, der ein Aussetzen des Bewußtseins folgte, wurde dem übermäßigen Alkoholgenuß zugeschrieben und sonst nichts. «Wir haben es in der letzten Zeit daheim nicht sehr gemütlich gehabt», schrieb Charlotte am 11. Januar an Ellen Nussey, «weit davon entfernt. Branwell ist es irgendwie gelungen, sich aus der gewohnten Quelle Geld zu beschaffen, und er hat uns mit seinem sinnlosen und oft unerträglichen Verhalten ein trauriges Leben bereitet. Papa ist Tag und Nacht gequält – wir haben nur wenig Freuden – er ist immer krank, ist zwei oder dreimal bei seinen Anfällen zusammengebrochen – was das Ende sein wird, weiß Gott –.» Weder Charlotte noch sonst einem Mitglied der Familie kam es in den Sinn, daß nur eines zu tun war, und daß sich die Befragung der besten medizinischen Autorität der Zeit aufdrängte, wenn Branwells Leben und Verstand gerettet werden sollten. Charlotte und Emily hatten zwei Jahre vorher nicht gezaudert, nach Manchester zu fahren, um alles für die Staroperation ihres Vaters in die Wege zu leiten, und nach Branwells Tod, als Emily im Sterben lag 241
und sich nicht behandeln lassen wollte, da schrieb Charlotte wenigstens an einen Londoner Spezialisten und bat um Rat. Nichts dergleichen wurde für ihren Bruder unternommen. Dr. Wheelhouse in Haworth empfahl, sich des Alkohols zu enthalten, und das war alles. Der rapide Gewichtsverlust, der beständige Husten, die erschreckende Schlaflosigkeit, das alles durfte seinen Lauf nehmen. War Branwell krank, so war es durch sein eigenes Verschulden. Dagegen gab es kein Heilmittel. In den vergangenen zwölf Monaten mußten dauernd Nachrichten von Robinsons ins Pfarrhaus eingesickert sein. Einige Monate vorher hatte Charlotte Ellen Nussey erzählt, wie die beiden jüngeren Mädchen an Anne geschrieben hatten und «mit großer Zärtlichkeit von ihrer Mutter sprachen». Jetzt, im Januar, 1848, hatte die Lage sich offenbar verändert. «Die Fräulein Robinson», schrieb Charlotte am 28. Januar, «setzen mich noch immer durch die Häufigkeit und Beständigkeit ihrer Korrespondenz in Erstaunen. Arme Mädchen! Noch immer beklagen sie sich über das Vorgehen ihrer Mutter; diese Frau ist ein hoffnungsloses Geschöpf; dazu angetan, durch die Mischung von Schwäche, Verderbtheit und Tücke in ihrer Natur überallhin, wohin sie geht, einen Fluch mitzubringen. Sir Edward Scotts Frau soll im Sterben liegen; wenn sie dahingeht, werden die beiden vermutlich heiraten, das heißt, wenn Mrs. R. heiraten kann. Sie behauptete, das Testament ihres Mannes verpflichte sie, allein zu bleiben, doch ich glaube nichts von dem, was sie sagt.» Diese Anklage gegen Mrs. Robinson, erhoben von Charlotte und von Mrs. Robinsons eigenen Töchtern, ist für den Leser eine Neuigkeit, sichtlich aber nicht für Ellen Nussey, die diesen Brief erhielt. Viele Jahre später, nach Charlottes Tod, gab Ellen Nussey zu, daß sie eine große 242
Anzahl von Charlottes Briefen vernichtet hatte. In einigen dieser Briefe mag sich ein eingehenderer Bericht über die Schwankungen im Familienleben der Robinsons gefunden haben. Bestimmt schien Mrs. Robinson sich unterdessen von dem Tod ihres «Engels Edmund» erholt zu haben; sie verbrachte einen Teil ihrer Zeit mit Besuchen in Yoxall Lodge, dem Haus ihres alten Vaters, und in Barr Hall in Staffordshire, dem Landsitz des zweiundsiebigjährigen Baronets, Sir Edward Dolman Scott, dessen Frau eine Cousine von ihr war. Lady Scott sollte im folgenden August sterben, und am 8. November, 1848, genau drei Monate später heiratete Sir Edward Lydia Robinson, nur um zwei Jahre später auch zu sterben, sodaß sie abermals als Witwe zurückblieb. Der bejahrte zweite Gatte liebte sie nicht weniger als sein Vorgänger, denn er hinterließ ihr eine Jahresrente von sechshundert Pfund und sein Haus auf dem Bryanston Square in London, völlig eingerichtet, zur lebenslänglichen Nutzung, dazu auch den Familienschmuck, der nach ihrem Tod auf seinen Erben nach seiner ersten Frau übergehn sollte. Das war die Lady Scott, von der Mrs. Gaskell «in Londoner Salons» hörte, «wie sie bis zu diesem Tage in der guten Gesellschaft umherstolzierte; für ihr Alter eine aufgetakelte Frau, gestützt durch den Ruf ihres Reichtums …» Ein Schutzengel oder eine verführerische Sirene? Branwell hätte das eine behauptet, seine Familie das andere; die Nachwelt muß sich, mangels an Beweisen für beides, des Urteils enthalten. Bestimmt hatten Lydia Robinsons Nachkommen nie etwas gehört, das ihrem Ruf abträglich gewesen wäre. Eine Urenkelin, die in Derbyshire lebte, hatte als Kind gehört, daß eine der Schwestern Brontë Lehrerin bei ihrer Großmutter Elizabeth gewesen war, wußte aber nichts von einem Hauslehrer. Nachkommen Charles Thorps, Mr. Robinsons Schwager, hörten die glei243
che Geschichte. Kein Wort von einem Skandal drang bis zur zweiten oder dritten Generation. Der verhängnisvolle Zauber Lydia Robinsons mag nur in der Phantasie eines jungen Menschen vorhanden gewesen sein, der lange nach einer Hexe für seine höllische Welt gesucht hatte. Lydia Robinson, später Lady Scott, starb am 19. Juni 1859, im Alter von neunundfünfzig Jahren. Als Todesursache war ein Leberleiden angegeben. Das war das traurige, unromantische Ende der Dame, die, ohne es zu wissen, soviel Kummer verursacht hatte. Sie hinterließ ihr ganzes Vermögen ihrem Sohn Edmund, der sie nur um zehn Jahre überlebte, mit Ausnahme des Schmucks, der zwischen den drei verheirateten Töchtern aufgeteilt werden sollte, ein Beweis dafür, daß die Mutter auch der Durchbrennerin vergeben hatte. Das Testament endete mit der rührenden Bitte, in Thorp Green begraben zu werden, «wenn es meinem Sohn nicht ungelegen ist, das, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, zu tun; andernfalls möchte ich begraben werden, wo immer ich sterbe.» Der junge Edmund heiratete nie. Er verkaufte Thorp Green an einen Nachbar, Henry Stephen Thompson, drei Jahre vor dem tragischen Unglücksfall, bei dem er ertrank. Einer seiner Testamentsvollstrecker war sein Onkel Charles Thorp, der, wie es in einem Brief an Leyland hieß, Branwell haßte und ihn zu erschießen drohte. Mr. Thorp wohnte in Alnwick, Northumberland, und Alnwick war auch in so vielen Angrischen Geschichten der Sitz von Alexander Percy, Earl von Northangerland. Das war ein Zusammentreffen, das Branwell stark beeindruckt haben mußte, als er nach Thorp Green kam, und vielleicht war das auch der erste Funke jener fieberhaften Vorstellungen, die schließlich zum Ausbruch des Brandes führen sollten. Doch das geschah später. In jenem Sommer 1848, bevor Mrs. Robinson Lady Scott geworden war, siechte ihr ein244
stiger Hauslehrer langsam dahin. Der Wirt vom «Old Cock» in Halifax drängte ihn wegen der Begleichung einer offenen Schuld und hatte einen Brief an Mr. Brontë geschrieben, darin er, unter Drohung mit gerichtlichem Vorgehn, die Bezahlung verlangte. Abermals wandte sich Branwell an Leyland und bat ihn, Nicholson, den Wirt, aufzusuchen, wie auch Mrs. Sugden, die Wirtin vom «Talbot», und beiden mitzuteilen, daß die Schulden binnen kurzem bezahlt würden. Dr. Crosby in Great Ouseburn würde, wie Branwell sagte, das Geld vorstrecken. Der Empfang des Geldes durch ihn sei «moralisch gesichert». War das richtig oder falsch? Welchen Druck konnte Branwell auf einen Landarzt ausüben, wenn es nicht Mitleid gewesen wäre? Es sei denn, daß der Arzt die Bitte an Mrs. Robinson weiterleitete, die, gerührt von dem Bericht über Branwells schlechten Gesundheitszustand, das Geld durch den Arzt überweisen ließ. «Wenn er – Nicholson – mein Angebot ablehnt und mich mit dem Gericht bedroht», schrieb Branwell an den Bildhauer, «so bin ich zugrundegerichtet. Ich habe fünf Monate mit solcher Schlaflosigkeit, mit so heftigem Husten und so schrecklichen seelischen Leiden verbracht, daß das Gefängnis mich für immer vernichten würde … Verzeihen Sie das Gekritzel. Seit langem habe ich beschlossen, Ihnen einen Brief von fünf oder sechs Seiten zu schreiben, doch unerträgliches geistiges Elend und körperliche Schwäche haben mich daran gehindert.» Leyland, der nur drei Jahre später selber in der Schuldhaft sterben sollte, bezahlte ganz gewiß diese Schulden für seinen Freund. Dr. Crosby war für den Bildhauer nichts als ein Name und – nach allem, was er wußte – ebenso erfunden wie so viele andere. Der Brief an Leyland war am 17. Juni geschrieben worden. 245
Etwa eine Woche vorher war Annes zweiter Roman, «Die Pächterin von Wildfell Hall», bei Newby erschienen. Sie zog die Aufmerksamkeit des Publikums weit mehr auf sich, als das «Sturmhöhe» oder «Agnes Grey» gelungen war. Newby hatte die Nachricht ausgesprengt, die Verfasserin aller Bücher sei in Wirklichkeit Currer Bell, die das berühmte Buch «Jane Eyre» geschrieben hatte, und er hatte sogar Druckbogen von Annes neuem Roman an einen amerikanischen Verleger geschickt, dem er dieselbe Geschichte erzählte. Dieses Lügengewebe, das auch zu Charlottes Verlegern Smith & Elder drang, die es, einigermaßen verärgert, der geheimnisvollen «Currer Bell» weitergaben, die sie nie gesehen hatten, veranlaßte Anne und Charlotte, sogleich nach London zu fahren. Sie nahmen den Zug von Keighley nach Leeds und kamen am Abend desselben Tags nach London, an dem der Brief des Verlags sie erreicht hatte. Es war Freitag, der 7. Juli. Die drei Tage, die sie in London verbrachten, als sie sowohl Charlottes wie Annes Verleger aufsuchten, in die Oper, in die Akademie, in die National-Galerie gingen, die Überraschung von Mr. Smith und Mr. Williams, als sie entdeckten, daß Currer Bell und sein Bruder Acton zwei bescheiden gekleidete junge Damen waren, gehören natürlich der Literaturgeschichte an. Die Nachwelt hat nie erfahren, welche Ausrede Charlotte und Anne daheim erfanden – nicht vor ihrem Vater, der wahrscheinlich bei dieser Gelegenheit von dem wahren Tatbestand unterrichtet wurde, aber vor Tabitha, vor der jungen Martha Brown und vor allem vor Branwell. Geschäftsangelegenheiten? Was für Geschäfte? Gerüchte, daß die kleinen Eisenbahnaktien, die sie besaßen, schlecht standen? Eine plötzliche Lust, die Sehenswürdigkeiten Londons zu besichtigen und Haworth inmitten eines 246
sommerlichen Schneesturmes zu verlassen? Daß der Besuch in London mit Büchern und Verlegern zusammenhängen mußte, daran konnte Branwell nicht zweifeln. Er mochte Gleichgültigkeit erheuchelt haben; er geruhte wohl nicht einmal, Fragen zu stellen. Doch er kannte seine Schwestern zu gut, um sich durch das Gerede von Besichtigung von Sehenswürdigkeiten oder von finanziellen Angelegenheiten foppen zu lassen. Etwa vierzehn Tage nach ihrer Rückkehr aus London schrieb Charlotte an Ellen: «Branwell ist in seinem Benehmen unverändert; seine Konstitution scheint sehr erschüttert zu sein. Papa und manchmal wir alle haben traurige Nächte mit ihm. Er schläft den größten Teil des Tages und liegt infolgedessen nachts wach.» Anfangs August starb Sir Edward Scotts leidende Frau. Noch vor ihrem Tod mußte Branwell von einem Gewährsmann in Little Ouseburn – Dr. Crosby oder einem andern Bekannten – von der Beziehung der für ihn verlorenen Lydia zu dem bejahrten Gatten ihrer Cousine gehört haben. Jetzt war Sir Edward endlich Witwer, und Charlotte schrieb an Ellen: «Mrs. Robinson ist sehr besorgt darum, Männer irgendwelcher Art für ihre Töchter zu finden, damit sie sie los wird und frei ist, um Sir Edward Scott zu heiraten, dessen verliebte Sklavin sie, wie es scheint, derzeit ist.» Für Branwell war es jetzt zwecklos, so zu tun, als sehnte Lydia Robinson sich nach ihm oder sei in ein Kloster gegangen. So eine Fabel wäre daheim mit Spott und Verachtung aufgenommen worden. Selbst seine Freunde in Halifax würden sie nicht glauben. Nun war das Ende da. Nach allen phantastischen Vorstellungen war es aus. Ein undatiertes Blatt Papier, mit der rechten Hand an Leyland bekritzelt, doch mit der linken adressiert, in der Schankstube des «Old Cock» in Halifax geschrieben, fand sich später unter den Briefen des Bildhauers. 247
«Um Himmels willen kommen Sie zu mir, denn ich habe Sie gesucht, bis ich heute abend mein Knie und meine Sehkraft nicht mehr aufs Spiel zu setzen wagte. Ich werde einen schlechten Abend und eine schlechte Nacht haben, wenn ich Sie nicht sehe, doch ich weiß kaum, wohin ich den Träger dieser Botschaft schicken soll, damit er Sie findet.» Freitag, am 2. September ging Branwell in das Dorf Haworth hinunter. Kein Bericht meldet, wohin er ging. Vielleicht auf das Postamt. Vielleicht lag dort sogar ein Brief von einer Zeitung in Leeds oder Halifax, die ein Gedicht angenommen hatte. William Brown fand ihn auf halbem Weg zwischen Kirche und Pfarrhaus. Er war erschöpft und außerstande, die wenigen Schritte bis zum Haus allein zu gehn. William Brown half ihm durch die Gartentüre und die Stufen hinauf. Branwell sollte das Haus nie wieder lebend verlassen. Zwei Tage später war er tot.
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XVIII
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ie Ursache von Branwells Tod wurde auf dem Totenschein als «chronische Bronchitis und Entkräftung» bezeichnet. Die Wirkung seines Todes auf die Familie und vor allem auf Charlotte ist aus dem Brief erkennbar, den sie am 6. Oktober, 1848, an W. S. Williams vom Verlag Smith & Elder schrieb: «Als ich das edle Gesicht und die Stirne meines toten Bruders betrachtete – die Natur hatte ihn mit einem glücklicheren Äußern und einer kräftigeren Gesundheit begnadet als seine Schwestern – und mich fragte, was dazu geführt hatte, daß er je auf Abwege, daß er je auf die schiefe Ebene geraten war, da er doch so viele Gaben besaß, die ihm auf dem Weg aufwärts helfen konnten, so war es mir, als empfinge ich eine bedrückende Offenbarung der Schwäche des Menschengeschlechts; der Unzulänglichkeit selbst des Genies, zu wahrer Größe zu gelangen, wenn nicht Religion und Grundsätze stützen. An den Wert oder auch nur an die Wirklichkeit dieser beiden Dinge wollte er bis wenige Tage vor seinem Ende nicht glauben, und dann, mit einem Mal, schien sich sein Herz der Überzeugung von ihrem Vorhandensein und Wert zu öffnen. Die Erinnerung an diese seltsame Wandlung ist jetzt ein großer Trost für meinen armen Vater. Ich selber hörte ihn mit 249
schmerzlicher, trauriger Freude in seinen letzten Augenblicken beten, und zu dem letzten Gebet, das mein Vater an seinem Bett sprach, fügte er ein ,Amen’ hinzu. Wie ungewöhnlich dieses Wort von seinen Lippen klang, das können Sie, der Sie ihn nicht kannten, natürlich nicht begreifen. Dieser Wandlung entsprach es, daß in den Gefühlen seinen Verwandten gegenüber jede Bitterkeit verschwunden zu sein schien. Als der Kampf vorüber war und eine marmorne Ruhe der letzten furchtbaren Pein folgte, da fühlte ich, wie ich es nie zuvor gefühlt hatte, daß für ihn im Himmel Friede und Vergebung war. All seine Irrungen – um ganz offen zu sprechen – all seine Laster schienen mir in diesem Augenblick zu nichts zu werden; jedes Unrecht, das er getan, jeder Schmerz, den er verschuldet hatte, verblich; nur an seine Leiden erinnerte man sich, nur die Wendung zu der natürlichen Liebe war spürbar. Wenn der Mensch auf solche Art völliges Vergessen der Unvollkommenheit seines Nebenmenschen erleben kann – um wieviel mehr kann das Ewige Wesen, das den Menschen geschaffen hat, seinem Geschöpf vergeben? Wären seine Sünden scharlachrot gefärbt gewesen, so glaube ich, daß sie jetzt weiß wie Wolle waren. Er hat seine Ruhe, und das tröstet uns alle. Lange bevor er diese Welt verlassen, hatte das Leben kein Glück für ihn …» F. A. Leyland stellt in seiner im Jahre 1885 veröffentlichten Biographie «Die Familie Brontë» eine bestimmte Behauptung Mrs. Gaskells in Abrede und spricht kurz von Emilys und Annes Tod: «Unter Mrs. Gaskells anderen, ihn betreffenden Behauptungen ist eine, die sich auf seinen Tod bezieht, und die nicht schweigend übergangen werden kann … diese Behauptungen sollten bekräftigen, daß, als Branwell starb, seine Taschen mit Briefen der Dame gefüllt waren, die er 250
verehrt hatte. Dieser kühnen Behauptung hat mir gegenüber Martha Brown eindeutig widersprochen; sie erklärte, sie sei zu jener Zeit im Krankenzimmer beschäftigt gewesen und wisse genau, daß kein einziger Brief, noch auch nur die Spur eines Briefes der betreffenden Dame gefunden wurde. Die Briefe waren zumeist von einem von Branwells Bekannten, der in der Nähe des Ortes seiner früheren Anstellung lebte. Martha war entrüstet über diese falsche Darstellung. Es mag hier nicht unangebracht sein, auf möglichst kurze Art einen Umriß der weiteren Geschichte der Familie Brontë zu geben. Nach Branwells Tod, der ein großer Schlag für sie war, begann es mit Emilys Gesundheit schnell abwärts zu gehn, und nach dem folgenden Sonntag verließ sie das Haus nicht mehr. Ihr Husten war sehr hartnäckig, und ihre Kurzatmigkeit peinigte sie. Charlotte erkannte die Gefahr, konnte aber nichts tun, um sie abzuwenden, denn Emily war stumm und zurückhaltend, gab auf Fragen keine Antworten und nahm die Medikamente nicht, die ihr verordnet waren. Sie wurde täglich schwächer, und das Ende trat Dienstag, den 19. Dezember ein. Zur gleichen Zeit verfiel auch Anne langsam, doch sie hielt sich länger … zum Unterschied von Emily erwartete sie Mitgefühl, nahm Medikamente und tat ihr Möglichstes, um gesund zu werden. Schließlich wurde es so eingerichtet, daß Charlotte und sie nach Scarborough fahren sollten. Man hoffte, die Luftveränderung werde sie kräftigen. Am 24. Mai 1849 verließen sie das Pfarrhaus. Doch der Wechsel hatte keine heilende Wirkung, und Anne starb am 28. Mai in Scarborough, wo sie auch begraben wurde.» * 251
Charlotte selbst schrieb am 25. Juni, 1849, nach dem Tod Emilys und Annes, wieder einmal an Mr. Williams, und ihr Brief hinterließ einen dauernden Eindruck von Einsamkeit und Gram, den Branwells undatiertes Sonett, von dem ursprünglichen «Letzten Sonett Percys» aus dem Jahre 1837 abgeschrieben, so ergreifend ahnen läßt: «Ich bin jetzt wieder in meinem Heim, wohin ich am letzten Donnerstag zurückkehrte. Ich nenne es noch immer ,Heim’ – ebenso wie London London genannt würde, wenn ein Erdbeben seine Straßen in Trümmer verwandelte. Doch ich möchte nicht undankbar sein; das Pfarrhaus von Haworth ist noch immer ein Heim für mich und kein ganz zertrümmertes oder verzweifeltes Heim. Papa ist hier und zwei ungemein treue und ergebene Dienstleute und zwei alte Hunde, auch sie auf ihre Art treu und ergeben – Emilys großer Haushund, der am Fußende ihres Sterbebetts lag, ihrem Begräbnis bis zu der Gruft folgte und in der Kirche zu unseren Füßen kauerte, während die Totengebete gelesen wurden, und Annes kleiner Spaniel. Das Entzücken dieser armen Tiere, als ich heimkam, war etwas Einzigartiges; sonst, wenn ich nach kurzer Abwesenheit zurückkehrte, bewillkommneten sie mich immer warm, aber doch nicht so seltsam und herzbewegend. Ich bin gewiß, daß sie meinten, wenn ich heimkehrte, wären meine Schwestern auch nicht fern – doch hierher kommen meine Schwestern nie mehr. Keeper – der große Hund – mag Emilys kleines Schlafzimmer Tag für Tag aufsuchen, wie er es noch immer tut, und Flossy – der Spaniel – mag sich wehmütig nach Anne umschauen; sie werden sie nie wiedersehen. Und auch ich nicht – zum mindesten der irdische Teil meines Ichs. Ich darf nicht so traurig schreiben, wie aber kann ich mich dagegen wehren, traurig zu denken und zu fühlen? Tagsüber hilft Anstrengung und Beschäftigung mir, doch wenn der Abend dunkelt, dann sträubt sich 252
etwas in meinem Herzen gegen die Bürde der Einsamkeit; das Gefühl des Verlustes und des Elends wird dann fast zu viel für mich. In solchen Augenblicken bin ich nicht gut oder liebenswürdig – ich bin widerspenstig – und nur die Gedanken an meinen lieben Vater im Nebenzimmer oder an die guten Dienstboten in der Küche oder eine Zärtlichkeit der armen Hunde sind es, die mich zu sanfteren Gefühlen und vernünftigeren Ansichten bekehren. Und die Nacht – könnte ich mir ohne Bett behelfen, so würde ich es nie aufsuchen. Wachend denke ich an sie, schlafend träume ich von ihnen – und ich kann sie mir nicht in die Erinnerung rufen, wie sie in ihrer Gesundheit waren; immer erscheinen sie mir in Krankheit und Leiden. Doch meine Nächte waren nach dem ersten Schlag von Branwells Tod noch schlimmer. Sie waren damals furchtbar, und die Eindrücke, die ich im Wachen erlebt habe, waren zu jener Zeit so, daß wir sie nicht in Worte bringen …»
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Friedvoller Tod und glückliches Leben Die glücklich schieden, willst du sie beklagen? Ihr Sein ist hin, doch ist in jenem Land auch alles Leid und Elend unbekannt, und als sie noch in ird’schen Betten lagen, kannten sie nie das traumlose Behagen der finstern Kammern dort am fernen Strand, den Nacht und Schweigen schützen Hand in Hand; um sie nicht mußt du Gram im Herzen tragen, der lebend Tote sei von dir beweint, der Geist entflieht, bevor der Tod erscheint, dem hinter Lebens Dunst kein Himmel lacht, dem keine Hoffnung je den Nebel löst, er ist’s, er spürt den Wurm, der nie verwest, das wahre Dunkel von des Grabes Nacht. Northangerland
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